Friedrich Barbarossa in den Nationalgeschichten Deutschlands und Ostmitteleuropas (19.–20 Jh.) 9783412508722, 9783412504540


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Friedrich Barbarossa in den Nationalgeschichten Deutschlands und Ostmitteleuropas (19.–20 Jh.)
 9783412508722, 9783412504540

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Knut Görich, Martin Wihoda (Hg.)

Friedrich Barbarossa in den Nationalgeschichten Deutschlands und Ostmitteleuropas (19.–20. Jh.)

2017 B ÖH L AU V E R L AG

KÖL N W E I M A R W I E N



Gedruckt mit freundlicher Unstützung der Philosophischen Fakultät der Universität Brno sowie des Historischen Seminars der LMU München

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Barbarossa im Kyffhäuser. Fotograf: Vera Findeis © dpa. © 2017 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Hans-Peter Schmit, Jena Umschlaggestaltung: Satz + Layout Werkstatt Kluth, Erftstadt Satz: Bettina Waringer, Wien Druck und Bindung: Prime Rate, Budapest Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50454-0

Inhalt

Knut Görich, Martin Wihoda Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Christoph Cornelißen Zum Spannungsverhältnis von nationaler Geschichtsschreibung und europäischer Erinnerungskultur . . . . . . . 13 Eduard Mühle Polen im 12. Jahrhundert Wahrnehmungen deutschsprachiger Mediävisten des 19. und 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Andrzej Pleszczyński Die polnische Öffentlichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert gegenüber den preußischen Initiativen zur Verherrlichung Friedrichs I. Barbarossa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Jiří Němec Das Bild des Mittelalters in den tschechischen und deutschen Erinnerungskulturen Böhmens, Mährens und Schlesiens. Eine Stichprobe aus den österreichischen und tschechischen Lehrbüchern für Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Knut Görich Friedrich Barbarossa in den deutschen Erinnerungskulturen . . . . . . 105

Inhalt

Christoph Dartmann „Eine besondere, der deutschen Weise vollkommen entgegengesetzte Nationalität“ Friedrich Barbarossas Verhältnis zum kommunalen Italien in der Bewertung der deutschen Historiographie des 19. Jahrhunderts . . . . . 131 Jochen Johrendt Friedrich Barbarossa und Alexander III. Die Universalgewalten in der Perspektive des 19. Jahrhunderts . . . . . 173 Jan Keupp Von Strukturverweigerern zu Strukturbezwingern Friedrich Barbarossa, die Fürsten und das Reich in der historiographischen Rezeption des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . 205 Jürgen Dendorfer Der König von Böhmen als Vasall des Reiches? Narrative der deutschsprachigen Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts im Licht der Diskussion um das Lehnswesen . . . . . 229 Martin Wihoda Friedrich Barbarossa und die böhmische Staatlichkeit . . . . . . . . . . 285 Zbigniew Dalewski Kaiser und Polen Polnisch-deutsche Beziehungen in der polnischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Marcin R. Pauk Auf dem Weg zur Scheidung? Schlesien und die Staufer in der polnischen Historiographie des 19. und 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Beiträgerverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335

Knut Görich, Martin Wihoda

Einleitung

Es ist kein Geheimnis, dass manche Kapitel der ostmitteleuropäischen Geschichte noch vor nicht allzu langer Zeit in besonderem Maße der nationalen Sinnstiftung verpflichtet waren und man in der fernen mittelalterlichen Vergangenheit Beweise gesucht und auch gefunden hat, um jeweils aktuelle politische Positionen zu verteidigen. Und wie ein Blick auf den derzeitigen öffentlichen Umgang mit mittelalterlicher Geschichte in Ostmittel- und Südosteuropa zeigt, ist eine solche instrumentalisierende Inanspruchnahme der nationalen Erinnerungskultur zur Schaffung nationaler Mythen auch nicht ausschließlich ein Phänomen der Vergangenheit.1 Blickt man zurück auf die Verhältnisse im 19. Jahrhundert, so ist unverkennbar, dass unter dem Eindruck der entstehenden Nationalstaaten die Auslegungen der Nationalgeschichten der Geschichte Ostmitteleuropas eine gleich dreifache nationale Dimension verliehen haben, nämlich eine reichsdeutsche, eine engere polnische und eine engere tschechische. Der Grund für diese Aufsplitterung liegt darin, dass die ostmitteleuropäische Vergangenheit von der jeweiligen nationalen Historiographie im Laufe des 19. Jahrhunderts parzelliert, nationalisiert und heroisiert wurde. Auf diesem Wege wurde Großmähren für 1

Vgl. die einschlägigen Beiträge in: Bak, János M./Jarnut, Jörg/Monnet, Pierre/Schneidmüller, Bernd (Hg.): Gebrauch und Missbrauch des Mittelalters: 19.–21. Jahrhundert – Uses and abuses of the Middle Ages: 19th–21st century – Usages et mésusages du Moyen Age du XIXe au XXIe siècle (MittelalterStudien 17) München 2009. Ein prominentes Beispiel ist die geschichtspolitische Instrumentalisierung der Privilegien des Stauferkaisers Friedrich II. für Přemysl Otakar I. und seinen Bruder, Markgraf Vladislav Heinrich von Mähren, als Marksteine auf dem Weg zur tschechischen Staatsbildung; dazu Wihoda, Martin: Die sizilischen Goldenen Bullen von 1212. Kaiser Friedrichs II. Privilegien für die Přemysliden im Erinnerungsdiskurs (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 33) Wien u.a. 2012.

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die Tschechen zum angeblich ersten gemeinsamen Staat von Tschechen und Slowaken, und das Hussitentum wurde als Schutz des Tschechentums vor dem mächtigen deutschen Nachbarn verstanden. Für die Polen wurde der schicksalhafte Kampf mit dem Deutschen Ritterorden, der durch den polnischen Sieg in der Schlacht bei Tannenberg/Grunwald 1410 gekrönt wurde, zum Fluchtpunkt nationaler Geschichtsmythen; ein zweites Beispiel ist die Monarchie der ersten Piasten, welche die nach dem Zweiten W ­ eltkrieg „wiedergewonnenen“ Länder bereits im Mittelalter hatte entstehen lassen – wodurch die Verschiebung der polnischen Staatsgrenze an die Oder-Neiße-Linie nach dem Zweiten Weltkrieg legitimiert und damit gleichzeitig die historischen Ostgebiete Polens vergessen gemacht werden sollten. In der deutschen Historiographie, die zugleich Spiegelbild wie auch methodisches Vorbild der polnischen und tschechischen Geschichtsschreibung war, konzentrierte sich das Interesse dagegen auf ein staatsgründendes Handeln der „deutschen“ Kaiser und Könige, das die westslawischen Reiche in „staatsrechtliche“ Abhängigkeit gebracht und durch „Ostkolonisation“ und „Ostsiedlung“ nicht nur ganz Mittelosteuropa geprägt, sondern auch deutsche Herrschaftsansprüche bis ins 20. Jahrhundert begründet haben soll. Die Konfrontation mit dem „Fremden“ ist (noch immer) ein Leitmotiv der unterschiedlichen nationalen Erinnerungskulturen, das ungeachtet der geschichtsund gesellschaftspolitischen Wenden des annus mirabilis 1989, der Internationalisierung der Geschichtswissenschaft und einer ansatzweise zu beobachtenden Europäisierung der Erinnerungskulturen lebendig geblieben ist und in neuen nationalen Identitätskonstruktionen keineswegs selbstverständlich oder gar zwangsläufig an Gewicht verloren hätte. Durch die Einsicht der Nationalismusforschung, dass nationale Gemeinschaften ihre Geschichte nach jeweils aktuellen Bedürfnissen gestalten, wird nachvollziehbar, auf welchem Wege viele historische, an konkrete Orte gebundene Ereignisse zu einem Ort in der memorialen Topographie einer Nation geworden sind – zu jenem Inventar der geistigen und nationalen Traditionen, die Pierre Nora als „lieux de mémoire“ bezeichnet. Gerade den ostmitteleuropäischen Erinnerungsorten und Erinnerungskulturen widmet sich das an der Philosophischen Fakultät der Masaryk-Universität angesiedelte Exzellenz-Zentrum für transdisziplinäre Erforschung kultureller Phänomene in der mitteleuropäischen Geschichte (Centrum pro transdisciplinární výzkum kulturních fenoménů ve středoevropských dějinách: obraz, komunikace, jednání), das von der Czech Science Foundation gefördert ist. Das Pro-

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jekt selbst besteht dabei aus vier Modulen, die sich parallel der Theorie und Praxis der kulturgeschichtlichen Geschichtsschreibung (1), den Bildern als raumstiftenden Elementen (2), der Imagination in den kulturgeschichtlichen und kunsthistorischen Texten (3) und den Orten der Erinnerung (4) widmen. Ein Schnittpunkt der einzelnen Unterprojekte ist die vergleichende Untersuchung der nationalen Historiographien des 19. und 20. Jahrhunderts. Am 6. und 7. Oktober 2015 trafen sich deutsche, polnische und tschechische Historiker am Historischen Institut der Philosophischen Fakultät der MasarykUniversität in Brno, um solche Beobachtungen und Zusammenhänge am Beispiel eines konkreten ‚Erinnerungsortes‘ der ostmitteleuropäischen Geschichte zu diskutieren und zu vertiefen. Während der langen und konfliktträchtigen Herrschaft des ersten Stauferkaisers Friedrich Barbarossa (1152/55–1190) ergaben sich mehrfach Anlässe zu Konfrontation und Kooperation mit dem Reich der polnischen Piasten und den böhmischen Přemysliden. Welches Bild des Staufers entwarf die nationale Geschichtsschreibung in Deutschland, Polen und Tschechien im 19. und frühen 20. Jahrhundert? Die verschiedenen historiographischen Traditionen sind ursächlich für gänzlich unterschiedliche Deutungen ein- und desselben historischen Sachverhalts. Während Friedrich Barbarossa zum deutschen Nationalmythos heranwuchs und von deutschen Historikern zum Machtpolitiker stilisiert wurde, zog er aus polnischer und mehr noch aus tschechischer Perspektive massive Kritik auf sich. Die damit verbundenen ­Vor-Urteile bilden heute ein breites Feld für vergleichende Untersuchungen der natio­nalen Historiographien, auf dem die Entwicklung und die Veränderung des historischen Denkens seit dem 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart nachgezeichnet werden können. Dies gilt insbesondere für die Auslegung der – modern und damit auch gleichzeitig anachronistisch gesagt – ‚staatsrechtlichen‘ Verhältnisse und für die immer wieder aufgeworfene Frage, ob Böhmen und Polen Teile des römisch-deutschen Reiches waren oder nicht. Die Auswirkungen der nationalen Geschichtsbilder des 19. Jahrhunderts machen Friedrich Barbarossa und das 12. Jahrhundert allgemein zu einem dankbaren Objekt historischer und historiographischer Analysen, die sich modernisierungsgeschichtlichen Forschungsparadigmen wie Säkularisierung und Verrechtlichung widmen, aber auch der Stellung der monarchischen Zentralgewalt und ihrem Verhältnis zu den Reichsfürsten, zu den Städten und zur päpstlichen Kirche.

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Der vorliegende Band versammelt die – zur Veröffentlichung teilweise er­heblich erweiterten – Beiträge des in Brno veranstalteten Workshops zum Thema „Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa – Friedrich Barbarossa im Wandel des historischen Denkens im 19. und 20. Jahrhundert“. Während vier allgemeiner gehaltene Beiträge entweder methodologischen Fragen oder den gesellschaftlichen Werterahmen galten, in denen sich die Historiker des 19. und früheren 20. Jahrhunderts bewegten, untersuchten acht weitere Vorträge die aktualisierende, natio­nalen Interessen unterworfene Beurteilung und Instrumentalisierung des Stauferkaisers in diesem Zeitraum. Christoph Cornelißen umriss einleitend das spannungsreiche Verhältnis zwischen wissenschaftlicher Geschichtsschreibung und weiter gefasster Erinnerungskultur, aber auch zwischen der Europäisierung von Geschichtsbildern und dem Beharrungsvermögen der Narrative der Nationalgeschichten; dabei wurde eine Enthistorisierung der Vergangenheit ebenso als Gefahr erkennbar wie die Versuchung zur politischen Instrumentalisierung von Ergebnissen der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung. Weiter zurück in die Vergangenheit blickte Eduard Mühle, der am Beispiel des seit 1891 in zehn Auflagen erschienenen, bekanntesten Handbuchs der Deutschen Geschichte – des „Gebhardt“ –nachvollzog, welchem Wandel die Sicht der deutschsprachigen Historiographie auf die Geschichte Polens im 12. Jahrhundert unterlag. Eine Betrachtung aus Sicht der anderen Seite bot Andrzej Pleszczyński, der in seiner Untersuchung der zeitgenössischen Presse nachweisen konnte, dass die polnische Öffentlichkeit in allen Teilungsgebieten, d.h. nicht nur im österreichischen und russischen, sondern auch im preussischen, dem Barbarossakult im Hohenzollernreich vollkommen gleichgültig gegenüberstand. Auf nationalistische Gegensätze, diesmal zwischen Tschechen und Deutschen in den böhmischen Ländern, konzentrierte sich auch Jiří Němec, indem er seine Aufmerksamkeit auf die unterschiedlichen Auslegungen des Mittelalters in den Geschichtslehrbüchern richtete, die in der Habsburgermonarchie vor 1918 und in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit (1918–1938) an den Grund- und Oberschulen verwendet wurden. Den Auftakt zum zweiten, direkt auf Friedrich Barbarossa bezogenen Themenkreis der Beiträge machte Knut Görich, der die Verbindung zwischen der mittelalterlichen Kaisersage und dem entstehenden Barbarossa-Mythos des 19. Jahrhunderts skizzierte, um dann der gegenseitigen Beeinflussung von allgemeinem und wissenschaftlich abgesichertem Geschichtsbild nachzugehen, die die Ambivalenz zwischen kleindeutsch-preussisch-protestantischer National-

Einleitung

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staatsgründung und dem durch den Mythos aufgerufenen mittelalterlichen Reich ungelöst ließ. Auf Ambivalenzen wies auch Christoph Dartmann hin; er untersuchte die historischen Urteile, mit denen deutsche Historiker – häufig in Abhängigkeit von den politischen Debatten und Interessen ihrer eigenen Gegenwart – die Beziehungen Friedrich Barbarossas zu den norditalienischen Kommunen bewerteten. Jochen Johrendt widmete sich der vor dem Hintergrund von kleindeutsch-protestantischer Reichsgründung und Kulturkampf vergleichsweise differenzierten historiographischen Beurteilung des konfliktträchtigen Verhältnisses zwischen Friedrich Barbarossa und Papst Alexander III. Jan ­Keupp blickte auf die Kommentare der deutschen Geschichtsschreibung zum komplizierten Verhältnis des Kaisers zu den Fürsten und betonte, dass Friedrich Barbarossa zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit einem Napoleon des Mittelalters und einem Despoten verglichen wurde, um dann nach der Einigung Deutschlands 1870/71 zu einem Staatsmann heranzuwachsen, der sich seiner Pflichten gegenüber dem Reich und der Nation bewusst gewesen sein soll. Jürgen Dendorfer erörterte im Licht der jüngeren Forschungsdiskussion über das Lehnswesen die von aktuellen tagespolitischen Interessen geprägten Kontroversen in der älteren Forschung um das Verhältnis Böhmens zum Reich; dabei zeigten sich die historiographischen Auseinandersetzungen noch von der Fernwirkung frühneuzeitlicher Feudistik geprägt, wobei auf (sudeten-)deutscher Seite unter dem Einfluss verfassungs- und rechtshistorischer Sichtweisen das Lehnrecht eher als zeitenübergreifende, die Beziehungen zwischen dem Reich und Böhmen schon früh regulierende normative Ordnung gesehen, auf tschechischer Seite dagegen die Situationsgebundenheit der jeweiligen politischen Konstellation betont und eine generelle Lehnsbeziehung verneint wurde. In diesen Kontext führten auch die Beobachtungen von Martin Wihoda, der auf die Bedeutung hinwies, welche die tschechischen Historiker im 19. und in der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts als Folge des dominant rechtsgeschichtlichen Erkenntnis­ interesses den ‚staatsrechtlichen‘ Fragen im 12. Jahrhundert beimaßen. Unter dem Eindruck der einflussreichen deutschen Mediävistik lehnten sie deren Ansichten entweder direkt ab oder übernahmen sie mit umgekehrten Vorzeichen, wobei Friedrich Barbarossa nicht selten als schädlich für die tschechische Staatlichkeit bezeichnet wurde. Die Verteidigung von Nation und Staatlichkeit war auch für die polnische Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts ein zentrales Ziel; zwar wurde, wie Zbigniew Dalewski ins Gedächtnis rief, ein deutscher Druck auf das Piastenreich kritisiert, der Verlust Schlesiens und Pom-

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merns jedoch vor allem mit der Uneinigkeit und dem kurzsichtigen Egoismus der Piastenfürsten begründet. Damit übereinstimmend belegte Marcin R. Pauk am Beispiel Schlesiens, dass die polnische Mediävistik die deutsche Ostsiedlung traditionell stärker und kritischer betonte als die im 12. Jahrhundert erfolgten machtpolitischen Veränderungen im Verhältnis zwischen staufischem und piastischem Reich. Im Verlauf der Tagung wurde deutlich, dass Friedrich Barbarossa zwar durchaus ein „Erinnerungsort“ für die deutsche und auch für die tschechische Geschichte ist, ihm aus polnischer Sicht aber keine vergleichbare Bedeutung zukommt. Der ebenso vergleichende wie bilanzierende Blick auf die mit dem Stauferkaiser verbundenen historiographischen Narrative in der nationalen Geschichtsforschung und Erinnerungskultur, in deren Schatten auch moderne Forschungsdiskussionen häufig und oft genug unvermeidlicherweise stehen, legt die Frage nach der Wahrnehmung Friedrich Barbarossas in den mittelalterlichen Quellen selbst nahe. So war der Workshop des Jahres 2015 gleichsam der Prolog zu einer Diskussion über Motive und Urteilskategorien, denen das politische Handeln des Staufers in seiner eigenen Gegenwart unterworfen war; sie sollen im Herbst 2017 im Zentrum einer zweiten von der Czech Science Foundation geförderten Tagung stehen. Dabei wird die natürlich auch schon im 12. Jahrhundert aktuellen Bedürfnissen und Parteinahmen untergeordnete Wahrnehmung des politischen Geschehens gewissermaßen als Pendant der modernen politischen Ins­ trumentalisierung des Stauferkaisers und mittelalterlicher Geschichte erkennbar werden. Der Philosophischen Fakultät der Masaryk-Universität und der Czech S­ cience Foundation danken wir herzlich für die im Rahmen des Projekts GACR 14-36521G des Exzellenz-Zentrums gewährte Förderung, außerdem Stefan Frankl (LudwigMaximilians-Universität, München) für die Erstellung des Registers sowie, last but not least, dem Böhlau Verlag und namentlich Frau Dorothee Rheker-Wunsch für die reibungslose Zusammenarbeit. München/Brno, im März 2017

Christoph Cornelißen

Zum Spannungsverhältnis von nationaler Geschichtsschreibung und europäischer Erinnerungskultur

Sowohl die wissenschaftliche Geschichtsschreibung als auch die öffentliche Erinnerungskultur beschäftigen sich mit der Vergangenheit. Aber, sie tun dies auf unterschiedlichen Wegen, und sie stellen dabei verschiedene Ansprüche. Während Gedächtnisgemeinschaften, seien es Nationen oder gesellschaftliche Gruppen anderen Zuschnitts, sich in der Erinnerung auf das Vergangene meist auf das subjektiv Erfahrene beziehen und hierbei eher selektiv vorgehen, indem sie die Rolle ihrer jeweiligen Gemeinschaft in den Mittelpunkt rücken, steht der Anspruch der Historiker auf eine quellenkritische Prüfung möglichst aller relevanten Faktoren und Entwicklungen hierzu oftmals in einer Deutungskonkurrenz. Offensichtlich treffen also bei diesen beiden Wegen der Erinnerung an das Vergangene unterschiedliche Logiken aufeinander, und kaum zufällig hat der Nestor der französischen Memorialforschung, Pierre Nora, einmal festgehalten, während die Geschichte zu einen vermöge, rufe das Gedächtnis eher Trennendes in Erinnerung.1 Dass eine solche Beobachtung durchaus ihre Berechtigung hat, vermag die Auseinandersetzung mit Erinnerungskulturen in Europa eindrucksvoll aufzuzeigen. Über viele Jahrzehnte oder teilweise noch länger zurückreichend haben sich hier national überformte Erinnerungskulturen ausgeprägt, die einerseits auf den Opfern der eigenen Nation und für die eigene Nation sowie andererseits auf dem Gegensatz zum „Fremden“ aufbauten.2 In der westlichen und seit den 1 2

Nora, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Die Gedächtnisorte, Berlin 1991, vor allem S. 7–33. Für einen kurzen Überblick dazu vgl. Cornelissen, Christoph: „Vergangenheitsbewältigung“. Ein deutscher Sonderweg?, in: Hammerstein, Katrin u.a. (Hg.): Aufarbeitung der Diktatur, Diktat der Aufarbeitung? Normierungsprozesse beim Umgang mit diktatorischer Vergangenheit, Göttingen 2009; Jarausch, Konrad H./Lindenberger, Thomas (Hg.): Con-

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Christoph Cornelißen

1990er Jahren gesamteuropäischen Geschichtswissenschaft sind dagegen spätestens seit den 1970er Jahren Bestrebungen zu einer Internationalisierung zum Durchbruch gekommen, so sehr auch hierbei große Teile der Forschung eher einem nationalen Mainstream verhaftet geblieben sind.3 Insgesamt aber richtete sich der Blick der Historiker zunehmend über den nationalen Tellerrand hinaus, was gerade in jüngster Zeit zu einer bemerkenswerten Konjunktur transnationaler Studien führen sollte. Freilich sollte man den angeführten Gegensatz nicht überpointieren. Denn obwohl die Historiker sich bereits seit der Ausentfaltung einer professionalisierten Geschichtswissenschaft im Laufe des 19. Jahrhunderts immer wieder in einen Gegensatz zu populären Formen der Beschäftigung mit der Vergangenheit und damit zu den Erinnerungskulturen ihrer Länder stellten, ja sie immer öfter in der Deutungskonkurrenz mit anderen Akteuren eine Führungsrolle beanspruchten, stellt sich die Lage insgesamt weitaus vielschichtiger dar. So vermochte zum einen die kritische Historiographiegeschichte der letzten Jahrzehnte eindrucksvoll herauszuarbeiten, dass vor allem die Historiker, die seit dem Durchbruch des modernen Nationalstaats als Verfechter einer nationalen Geschichtsschreibung aufgetreten sind, oft genug die Regeln der eigenen Kunst verletzten. Im Grunde leisteten sie mit ihren „Meistergeschichten“ oft überhaupt erst einen wichtigen Beitrag zur Begründung eines nationalen Mythenarsenals. Dabei spielte immer wieder auch die einseitige geschichtspolitische Instrumentalisierung des Mittelalters eine bedeutende Rolle.4 Für die deutschsprachige Historiographie ist Wilhelm von Giesebrecht hierfür nur ein besonders bekannter Fall, denn mit seiner seit 1855 in fünf Bänden publizierten Eloge auf die Zeit der mittelalterlichen Kaiser als einer Periode, in der das deutsche Volk durch Einheit stark und zu seiner höchsten Machtentfaltung durchgedrungen sei, wollte er seinen Lesern unmissverständlich den Weg zeigen, den aus seiner Sicht die Deutschen in näherer Zukunft erneut einschlagen sollten.5 Es braucht keineswegs umfassende flicted Memories. Europeanizing Contemporary Histories, New York 2007. Raphael, Lutz: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, München 2003. 4 Vgl. Conrad, Christoph/Conrad, Sebastian (Hg.): Die Nation schreiben. Geschichtswissenschaft im internationalen Vergleich, Göttingen 2002; Oexle, Otto Gerhard: Mittelalterforschung in der sich ständig wandelnden Moderne, in: Goetz, Hans-Werner (Hg.): Mediävistik im 21. Jahrhundert. Stand und Perspektiven der internationalen und interdisziplinären Mittelalterforschung, München 2003, S. 227–252. 5 Schieffer, Rudolf: Wilhelm von Giesebrecht, in: Wiegand, Katharina (Hg.): Münchner

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Zum Spannungsverhältnis von nationaler Geschichtsschreibung und europäischer Erinnerungskultur

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Recherchen, um sowohl auf deutscher Seite oder auch in anderen Ländern weitere bekannte Exponenten einer geschichtspolitisch informierten Geschichtsschreibung zu identifizieren. Heinrich von Sybel oder Heinrich von Treitschke in Deutschland, aber auch der Brite Thomas Babington Macaulay oder der Franzose Adolphe Thiers sind nur wenige bekannte Namen, die hier stellvertretend für eine weit bis in das 20. Jahrhundert reichende Tradition angeführt werden. In diesem Sinne resümiert der Herausgeber einer von der Europäischen Gemeinschaft finanzierten mehrbändigen Reihe zur Geschichte der Nationalgeschichten in Europa noch im Jahr 2015 eher ernüchtert: „No reader of this volume will be able to escape the sense of the sheer power and longevity of national histories and their influence on national identity formation across Europe“.6 Und an anderer Stelle des gleichen Bandes führt Stefan Berger ergänzend dazu aus: „Historiographical nationalism is far from being a spent force in Europe today. There is no shortage of national histories anywhere, and still in many parts of Europe at least some of these national histories still espouse a nationalist message. Even where they do not, the pervasiveness of national history guarantees the propping up of collective national identities and national master narratives“.7 Zum anderen hat die eingehende Beschäftigung mit nationalen Erinnerungskulturen zeigen können, dass gerade auf diesem Gebiet, das neben politischen Gedenkritualen verschiedene weitere Formen der öffentlichen und privaten ­Verständigung über die Vergangenheit umfasst, die Ubiquität des nationalen Selbstbezugs dauerhaft im Vordergrund stand. Allem Anschein nach sind die Erinnerungskulturen in Europa noch weit stärker als die professionelle Geschichtsschreibung im Banne der großen historischen-nationalen Meistererzählungen stehen geblieben, und es dürfte daher kaum verwundern, dass bislang sämtliche Versuche zu einer Europäisierung von Geschichtsbildern auf ein nur verhaltenes Echo getroffen sind.8 Zwar sind schon seit mehreren Jahren – nicht zuletzt gefördert von der Europäischen Union – verschiedene Versuche über Museums­

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Historiker zwischen Politik und Wissenschaft: 150 Jahre Historisches Seminar der LudwigMaximilians-Universität, München 2010, S. 119–136. Berger, Stefan: The Past as History. National Identity and Historical Consciousness in Modern Europe, London 2015, S. 373. Ebd., S. 376. Hier und in weiteren Passagen folge ich meiner Argumentation in: Cornelissen, Christoph: Die Nationalität von Erinnerungskulturen als ein gesamteuropäisches Phänomen, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 62 (2011), S. 5–16.

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Christoph Cornelißen

projekte und historische Ausstellungen, internationale Schulbücher oder auch eine stärker transnational akzentuierte Geschichtsschreibung unternommen worden, die Abkehr von einem überzogenen nationalen Selbstbezug einzuleiten. Tatsächlich dürfte aber dadurch die Kluft zwischen einem inzwischen stärker internationalisierten Wissenschaftsbetrieb sowie eines ebenso internationalisierten Ausstellungsbetriebs auf der einen Seite und der Virulenz nationaler oder gar nationalistischer Geschichtsbilder in den Erinnerungskulturen auf der anderen Seite eher noch größer geworden sein. Schon seit den 1980er Jahren ist dieser Trend in vielen Ländern Europas zu beobachten, und es wirkt nur wenig überzeugend, dahinter allein das residuale Phänomen des Rechtspopulismus zu vermuten. Tatsächlich kommt man wohl nicht umhin festzustellen, dass die Europäisierung von Erinnerungskulturen zuweilen sogar die Gefahr einer Renationalisierung heraufbeschworen hat. Jedenfalls zeigen die seit den 1990er Jahren immer wieder aufflammenden Konflikte über die Einbettung der Geschichte des Holocaust in die Nationalgeschichten Europas auf der einen Seite, aber auch das Ansinnen auf der anderen Seite, die Opfer des Stalinismus und der anderen Diktaturen des 20. Jahrhunderts gleichermaßen öffentlich zu würdigen, wie nachhaltig insbesondere die Kriege und Krisen dieses Jahrhunderts die Erinnerungskulturen der Gesellschaften Europas bis in die Gegenwart prägen.9 Eine genaue Prüfung dieses Sachverhalts zeigt zudem, dass die moderne Geschichtswissenschaft hierbei immer wieder eine unterstützende Rolle gespielt hat und sie daher keineswegs unbesehen aus den jeweiligen Erinnerungsgemeinschaften als eine unabhängige, allein wissenschaftlichen Kriterien verpflichtete Gruppe herausgelöst werden kann. Letztlich bilden die Historiker, auch da wo sie inzwischen erfolgreich nationale Oppositionshistorie betreiben, einen integralen Bestandteil nationaler Erinnerungskulturen. Vor diesem Hintergrund erscheint es angemessen, erstens einige weiterführende Überlegungen zum Verhältnis von Geschichtsschreibung und Erinnerungskulturen anzustellen. Zweitens geht es mir darum, die durchdringende Wirkmacht nationaler Erinnerungskulturen weiter zu ergründen, bevor drittens und abschließend ausgewählte Spannungsverhältnisse bei der Europäisierung von Erinnerungskulturen und ihr Verhältnis zur nationalen Geschichtsschreibung beleuchtet werden.

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Allgemein dazu Leggewie, Claus: Schlachtfeld Europa. Transnationale Erinnerung und europäische Identität, in: Blätter zur deutschen und internationalen Politik 64 (2009), H. 2, S. 81–93.

Zum Spannungsverhältnis von nationaler Geschichtsschreibung und europäischer Erinnerungskultur

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I. Zum Verhältnis von nationaler Geschichtsschreibung und Erinnerungskulturen – einige grundsätzliche Bemerkungen Das Beziehungsgeflecht zwischen Geschichtsschreibung und Erinnerungskulturen ist alles andere als einfach zu ergründen, was unter anderem mit der Offenheit des Terminus „Erinnerungskultur“ zu tun hat. Eine der entscheidenden Fragen ist hierbei, ob man die Historiker als Teil von Erinnerungskulturen begreift oder eben nicht. Der Münchner Historiker Hans Günther Hockerts sieht beispielsweise die Historiker außen vor, weil er unter Erinnerungskultur einen lockeren Sammelbegriff „für die Gesamtheit des nicht spezifisch wissenschaftlichen Gebrauchs der Geschichte in der Öffentlichkeit – mit den verschiedensten Mitteln und für die verschiedensten Zwecke“ versteht.10 Nun haben allerdings die Debatten im Zuge der „linguistische Wende“ sowie die PostmodernismusDebatten in den Kulturwissenschaften das Bewusstsein für die konstruktiven Seiten auch in der Historiographie deutlich geschärft. Auf dieser Grundlage habe ich schon vor mehr als zehn Jahren in gemäßigt relativistischer Weise dafür plädiert, die Historiker als integralen Bestandteil moderner Erinnerungskulturen zu begreifen. Gewiss, indem sich die Geschichte seit der Aufklärung als forschende Wissenschaft konstituierte, stellte sie sich in einen Gegensatz zur Tradition, ja, sie verstand sich ihr gegenüber als eine kritische Prüfungsinstanz.11 Gleichwohl, Studien zur Geschichtskultur, aber auch Arbeiten zur Historiographiegeschichte vermochten wiederholt zu demonstrieren, dass das fachwissenschaftliche Interesse der Historiker durchaus von praktischen und ebenso von erinnerungskulturellen Orientierungsbedürfnissen angeleitet, streckenweise sogar überlagert wurde. Die Historiker und ihre Werke bilden somit einen integralen Bestandteil der Erinnerungskultur moderner Gesellschaften, was jedoch keineswegs ihren Anspruch auf eine unabhängige Deutungshoheit beeinträchtigt. Diese bleibt ein notwendiger Bestandteil ihres professionellen Selbstverständnisses, ungeachtet der Tatsache, dass sie in kollektive Deutungs- und Erinnerungshorizonte sowie prägende Zeitumstände eingebunden sind. 10

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Hockerts, Hans Günter: Zugänge zur Zeitgeschichte. Primärerfahrung, Erinnerungskultur, Geschichtswissenschaft, in: Jarausch, Konrad H./Sabrow, Martin (Hg.): Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt, Frankfurt a. M. 2002, S. 39–73, hier S. 41. Cornelissen, Christoph: Was heißt Erinnerungskultur? Begriff, Methoden, Perspektiven, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 54 (2003), S. 548–563.

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Christoph Cornelißen

Gleichzeitig sollte uns das inzwischen durchaus modisch gewordene Reden über Erinnerungskulturen nicht übersehen lassen, dass es sich hierbei nicht um dauerhaft fixierte, unveränderliche historische Deutungsangebote handelt. Tatsächlich lassen sich ja je nach Land und dem Grad der Autonomie zivilgesellschaftlicher Organisationen spezifische Funktionsweisen und Dynamiken von Erinnerungskulturen aufzeigen, deren Hauptakteure demgemäß differenziert beobachtet werden können. Im Hinblick darauf spielen regelmäßig die Angehörigen aus den Erfahrungsgenerationen und ihre Nachfahren eine bedeutsame Rolle, denn diese bilden regelmäßig Erinnerungs- und Erzählgemeinschaften aus. Dies schließt die intergenerationell ausgebildeten Familiengedächtnisse ein, die oft in einen Gegensatz zu politisch sanktionierten Erinnerungskulturen geraten können. Zweitens geht es um die Angehörigen der politischen Eliten, weil sie jeweils die Normen und Tabubrüche für das öffentlich Sagbare markieren. Genau das konnte sich über die Jahre und Jahrzehnte sehr stark wandeln, wie die Beschäftigung mit der öffentlichen Fest- und Gedenkkultur eindringlich aufzuzeigen weiß. Entscheidend ist jedoch, dass die öffentlich zelebrierte Gedenkpraxis über die Zeit hinweg jeweils ihr eigenes Gewicht entfaltete, so dass ­national geprägte Deutungen sich tief in den Erinnerungshaushalt der Völker Europas eingraben konnten. Hierbei sind vor allem dann immer wieder entschiedene Konflikte aufgetreten, als der Moment des Übergangs von dem in der Regel auf drei Generationen beschränkten kommunikativen Gedächtnis zu einem nur noch kulturell begründeten kollektiven Gedächtnis eintrat. In diesem Sinne kann man unter Erinnerungskulturen „kollektiv geteiltes Wissen über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewusstsein von Einheit und Eigenart stützt“, begreifen. Sie liefern damit den „jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, Bildern und Riten“, in deren Pflege sich ihr Selbstbild stabilisiert.12 Was nun im Einzelnen in diese öffentlich gepflegten Erinnerungskulturen einging, darüber entschieden oftmals auch die Historiker mit – und unter ihnen vor allem diejenigen, die als Autoren einer nationalbewussten Geschichtsschreibung wirkten. Im Blick darauf zeigt sich, dass in allen Ländern viele bekannte Historiker sich seit dem 19.  Jahrhundert aktiv an der Ausgestaltung eines 12

Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1997; Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006.

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­ ationalen Pantheons beteiligten, wobei sie gerade den älteren Epochen der n ­nationalen Gründungsgeschichte eine hohe Beachtung schenkten.13 Insbesondere die 1000jährige Geschichte des Mittelalters galt ihnen dabei als ein reichhaltiger Fundus, aus dem sie sich jeweils so bedienten, um darauf die Nationalität ihrer „Reiche“ und Nationen zu konstruieren. Im Blick auf die neueren Entwicklungen darf man darüber jedoch nicht übersehen, dass in den letzten Jahrzehnten immer lauter vernehmbar auch die Journalisten beziehungsweise genaugenommen die modernen elektronischen Medien an die Seite der Historiker getreten sind. Mit ihrer unverkennbar größeren Ausstrahlung vermögen die Medien meist eine erheblich größere Resonanz als die klassische Geschichtsschreibung zu erzielen. Teilweise geschah dies in einem engen Schulterschluss mit den Historikern, zuweilen aber auch im Gegensatz zur professionellen Geschichtswissenschaft. Aus diesen Konstellationen heraus erklären sich sowohl die fortlaufende Dynamik als auch der Richtungswandel von Erinnerungskulturen, die eben nie allein staatszentriert oder monologisch begriffen werden dürfen, sondern das Ergebnis andauernder politischer und gesellschaftlicher Aushandlungen abgeben. Hierbei traten qualitativ entscheidende Wenden immer dann ein, wenn zwischen den genannten Akteursgruppen Dissonanzen auftraten und darüber ein Formwandel der Erinnerungskultur bewirkt wurde. Was dabei konkret Eingang in das kulturelle Gedächtnis fand, darauf nahmen unter anderem die Historiker und unter ihnen vor allem diejenigen Einfluss, die als Autoren der bekannten Nationalgeschichten in Erscheinung traten. Im Zuge der Professionalisierung der modernen Geschichtswissenschaft seit dem 19. Jahrhundert sorgten sie mit ihren großen Erzählungen – in den Worten von François Hartog – für den Durchbruch eines neuen régime d’historicité.14 Gemeint ist damit der Trend, Geschichte von einem bestimmten Telos aus rückwärtsorientiert zu schreiben, was dann letztlich bedeutet, die Geschichte der Staaten und Völker auf die Entstehung des modernen Nationalstaats hin zu schreiben und alle anderen historischen Prozesse genau dieser Entwicklungslinie unterzuordnen. Hiermit wurde letztlich die Grundlage dafür geschaffen, dass Vorstellungen einer gemeinsamen Vorfahrenschaft (ancestry) beziehungsweise einer gemeinsamen Kultur in Gestalt von Religion, Sprache und Gebräuchen in die historiographische Konstruktion nati13 14

Conrad/Conrad: Die Nation schreiben (wie Anm. 4). Hartog, François: Régimes d’historicité. Présentisme et Expériences du temps, Paris 2003.

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onaler Identitäten einfließen konnten, was insgesamt die Entstehung modernen Nationalbewegungen begünstigte. Nun wissen wir aus der modernen Nationalismus-Forschung schon des Längeren, dass dies keineswegs allein ein Resultat historiographischer Deutungsangebote war, denn an der Baustelle der modernen Nation wirkten viele weitere Gruppen mit: die Linguisten, Philologen, Archäologen, Volkskundler, Geographen und auch die Kunstwissenschaftler, wobei die Schulen und Universitäten, zunehmend aber ebenso die Medien als die entscheidenden Vermittlungsinstanzen fungierten. Die Rolle der Historiker sollte man aber trotz dieser lebhaften Konkurrenz nicht allzu kleinschreiben. In England waren sie es, die im Gefolge Babington Macaulays der Deutung des Weges der englischen Geschichte zu einer immer größeren Ermöglichung individueller Freiheiten den Weg ebneten, während deutsche Historiker sich immer stärker auf eine zunächst positiv, später negativ akzentuierte Beurteilung eines vermeintlichen deutschen Sonderwegs in Absetzung vom westlichen Modell einließen. Das hatte tief reichende Folgen bis weit in das 20. Jahrhundert, weil sich die Historiker zunehmend für das Schicksal der eigenen Nationen verantwortlich erklärten und die Rolle von „nationalpolitischen Pädagogen“ einzunehmen bereit waren. „Wir Historiker sind nicht Dichter, aber wir sind Sprecher in unserm Volk, für unser Volk“, äußerte der Kölner Historiker Peter Rassow genau in diesem Sinne noch im Jahr 1955.15 Für unsere Betrachtung ist dabei entscheidend, dass die öffentliche Erinnerungskultur derartige Deutungsangebote bereitwillig absorbierte und sie in Gestalt von Denkmälern, Ausstellungen, theatralischen Inszenierungen bis hin zum Geschichtskitsch in einer Weise übersetzte, so dass darüber populäre Geschichtsbilder entstehen beziehungsweise gefestigt werden konnten. Der schon genannte François Hartog hat uns im Blick darauf ebenfalls belehrt, dass seit dem Aufkommen moderner Erinnerungskulturen in den 1970er Jahren – Pierre Noras erste Überlegungen zu den Erinnerungsorten Frankreichs reichen daher auch keineswegs zufällig in dieses Jahrzehnt zurück – das régime d’historicité einen erneuten Wandel durchlief. Endgültig nach dem Ende des Kalten Krieges lässt sich beobachten, dass überall in Europa der Bedarf nach öffentlicher Erinnerung einen erheblichen Aufwind erfuhr. Hartog spricht im Blick darauf von einem 15

Rassow, Peter: Nationalgeschichte und Universalgeschichte (1955), in: Ders.: Die geschichtliche Einheit des Abendlandes. Reden und Aufsätze, Köln 1960, S. 72–82, hier S. 82.

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neuen Präsentismus, das heißt einer Sichtweise, die von dem Postulat ausgeht, die Geschichte könne allein noch vom Standpunkt der Gegenwart begriffen werden. Hierbei spielten die neuen Medien eine entscheidende Rolle, denn sie waren es, die Ausstellungen, Geschichtssendungen im Radio, im Fernsehen und im Internet, aber auch andere, zunehmend populäre Varianten einer Vermittlung von Geschichte in der Öffentlichkeit einen entscheidenden Auftrieb gaben. Vor diesem Hintergrund ist die Geschichte auch für die Tourismuswerbung, als Geschichtsschauspiel und in vielen anderen Varianten für die öffentliche Wahrnehmung von Geschichte immer bedeutsamer geworden, wobei kritisch anzumerken bleibt, dass es sich hierbei meist um rein nationale Perspektiven handelt. Der wachsende Präsentismus sorgte außerdem dafür, dass die Amateurhistoriker, die im Zuge der Professionalisierung unserer Wissenschaft vor allem in Kontinentaleuropa zunächst an den Rand gedrückt worden waren, inzwischen einen beträchtlichen Bedeutungsgewinn verbuchen konnten. Auch dieses Phänomen trug in den letzten Jahren zu einer erheblichen Auffächerung der Erinnerungskulturen bei.

II. Zur Persistenz nationaler Geschichtsschreibung und nationaler Erinnerungskulturen seit 1945 Kehren wir aber nochmals an die Anfänge der zweiten Nachkriegszeit im 20. Jahrhundert zurück, um einige der damals vorherrschenden Herausforderungen etwas genauer in Augenschein zu nehmen. Für die Frage nach der ­Europäisierung von Geschichtsbildern handelte es sich damals um eine Schlüsselphase und dies in einem eher kritischen Sinne, denn sowohl in geschichtswissenschaftlicher als auch in erinnerungskultureller Hinsicht zeigte sich nach 1945 relativ rasch, dass die ausgesprochen blutigen Erfahrungen während des Zweiten Weltkriegs und namentlich der Holocaust, aber auch der sich ab 1947 durchsetzende Umbruch zum Kalten Krieg den Blick der Gesellschaften in fast ganz Europa rasch auf die eigenen, die nationalen Opfer lenkte.16 Bemerkenswert ist dabei unter anderem, wie sehr in erinnerungskultureller Hinsicht die Phase bis zur Mitte der 1960er Jahre von einem ubiquitären nationalen Selbstbezug und deutlichen Spuren des Vergessens, des beredten Schweigens und 16

Judt, Tony: Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 2009.

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des Ausgrenzens geprägt worden ist. Wir sprechen in diesem Zusammenhang von einem „kommunikativen Beschweigen“ der jüngsten, der dunklen Vergangenheit, während andere Phasen der Geschichte dafür in einem umso helleren Licht erscheinen konnten. Genau dies war der Grund dafür, dass nunmehr eher die „Glanzzeiten“ der nationalen Geschichte in den Vordergrund gerückt wurden. Hierfür bezeichnend trug beispielsweise eine der ersten größeren historischen Ausstellungen im westlichen Deutschland den Titel „Werdendes Abendland an Rhein und Ruhr“. Die im Jahr 1956 in der „Villa Hügel“ (Essen) gezeigte Ausstellung präsentierte eine Vielzahl von Exponaten zur Christianisierung Nordwestdeutschlands, womit nicht nur die besonders in konservativen Kreisen populäre und antikommunistisch aufgeladene Abendland-Idee aufgegriffen, sondern darüber hinaus ein handfestes geschichtspolitisches Ziel verfolgt wurde, indem sie die geistigen und kulturellen Verbindungen herausstellte, die zwischen der Kölner Kirchenprovinz und weiten Teilen Westfalens bereits seit dem Mittelalter be­standen.17 Derartige Instrumentalisierungen waren jedoch keineswegs allein ein Spezifikum der deutschen Nachkriegsgeschichte, nur waren sie hier besonders ausgeprägt. Außerdem kam es hier zu besonders intensiven, ja quälenden Debatten, wie man und ob man überhaupt noch eine Nationalgeschichte ­schreiben könne.18 Diejenigen jedenfalls, die eine neue Synthese vorlegen ­wollten, konnten der Frage nach dem Ort des Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte letztlich kaum ausweichen. Hermann Heimpel spitzte dieses ­Problem in einem „Entwurf einer deutschen Geschichte“ von 1953 zu der Frage zu, ob man es nach der „Begegnung mit dem Unmenschlichen“ überhaupt noch wagen könne, eine deutsche Nationalgeschichte zu schreiben. Im Anschluss an eine Zeit, in der die Guillotine von „grässliche(n) und schändliche(n) Dämpfe(n)“ abgelöst worden sei, könne sie jedenfalls nicht mehr naiv den Quellen nach­erzählt werden.19 Darüber hinaus 17

Vgl. den Katalog „Werdendes Abendland an Rhein und Ruhr“, Ausstellung in der Villa Hügel, Essen, 18.5.–15.9.1956, Essen 1956, sowie Böhner, Kurt/Elbern, Victor H. (Hg.): Das erste Jahrtausend. Kultur und Kunst im werdenden Abendland an Rhein und Ruhr, 3 Bde., Düsseldorf 1962–1964. 18 Cornelissen, Christoph: Der wiederentstandene Historismus. Nationalgeschichte in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre, in: Jarausch, Konrad H./Sabrow, Martin (Hg.): Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, Göttingen 2002, S. 78–108. 19 Heimpel, Hermann: Entwurf einer Deutschen Geschichte. Eine Rektoratsrede [1953], in: Ders.: Der Mensch in seiner Gegenwart, Göttingen 1954, S. 162–195, hier S. 179.

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brachte die Gründung von zwei deutschen Staaten es mit sich, dass der überkommene Fokus auf den von Bismarck 1870 begründeten Nationalstaat für viele Historiker fragwürdig geworden war. Gleichwohl, schon im Laufe der 1950er Jahre führten die gewandelten politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse die Mehrheit unter ihnen doch erneut dazu, an dem überlieferten Anspruch festzuhalten, mit Hilfe breit angelegter Überblicksdarstellungen das nationale Geschichtsbild zu bestimmen. Als Zeugen der politischen und gesellschaftlichen Desintegrationserfahrungen in der Endphase des „Dritten Reiches“ glaubten sie sogar, dass einem solchen Ansatz nun eine umso höhere Bedeutung zukomme, da nur so die Identität der deutschen Nation überhaupt noch bewahrt werden könne. Bereits im Jahr 1946 erschienen kleine, aber in ihrem Deutungsanspruch gleichwohl gewichtige ­Darstellungen über „Die deutsche Katastrophe“ von Friedrich Meinecke und über „Geschichte als Bildungsmacht“ von Gerhard Ritter, die im Kern als Versuche verstanden werden können, all diejenigen Traditionsbestände älterer deutscher „Meistererzählungen“ zu kondensieren, denen die Autoren weiterhin einen positiven Gehalt zumaßen. Was sich an dieser Stelle als der Versuch zu einer moderaten Revision ankündigte, manifestierte sich an anderer Stelle als Ausdruck einer bruchlosen Kontinuität. Ein besonders eklatantes Beispiel hierfür war die Wiederauflage von Johannes Hallers „Epochen der deutschen Geschichte“ im Jahr 1950, die erstmals 1923 erschienen waren. Diese – posthum – neu aufgelegte Darstellung zeichnete sich dadurch aus, dass ihr Bearbeiter Kürzungen auf all die Passagen beschränkte, in denen er zuvor die Leistungen Hitlers und des NS-Staates vorbehaltlos bejubelt hatte, während ihn die weitere Revisionsarbeit neben die Jahre 1648, 1815, 1918 nun auch 1933 als wichtige Wegscheide „unserer nationalen Geschichte“ hinzufügen ließ. Das Ganze lief letztlich darauf hinaus, wie zeitgenössisch bereits Ludwig Dehio beklagte, dass ein „retouchiertes“ nationales Geschichtsbild als ein modernes angeboten werde, wohingegen sich andere um dessen wirkliche Erneuerung bemühten.20 Das neu gewonnene Bekenntnis zur „Schule des Historismus, der niemand entlaufen kann“, wie Reinhard Wittram 1955 ausführte, bedeutete, dass die individualisierende Methode im Sinne der einfühlenden Nachzeichnung vergangenen Geschehens, die den expliziten Bezug auf die eigene Gegenwartsorientierung ausschloss, 20 Diese und weitere Zitate nach Cornelissen: Der wiederentstandene Historismus (wie Anm. 18).

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sowie ein alles durchdringender „Objektivismus“ zu Kernmerkmalen der Nachkriegshistoriographie aufsteigen konnten. Parallel dazu bekräftigte der Freiburger ­Gerhard Ritter, dass die Beschäftigung mit der Geschichte immer auch als ein Stück „nationaler Selbstbesinnung“ zu begreifen sei. Und selbst wenn sich andere nunmehr dazu bekannten, jetzt mehr Universalgeschichte im Sinne Leopold von Rankes betreiben zu wollen, weil nur so die die gesamte Menschheit lebensbestimmenden Kräfte näher ergründet werden könnten, engten sie dieses Ansinnen an anderer Stelle gleich wieder ein. So sprach der Kölner Peter Rassow davon, dass seine Idee von Menschheit bedeute, „eine Schicksalsgemeinschaft aufeinander unaufhörlich und intensiv einwirkender Kollektive an[zu]erkennen, von denen für uns Europäer der Beziehungspunkt Europa, für uns Deutsche der Beziehungspunkt Deutschland ist.“21 In dieser ersten langen Phase stand mithin weder in erinnerungskultureller noch in geschichtswissenschaftlicher Hinsicht eine Europäisierung der Geschichtsbilder auf der Agenda – und wenn dies dennoch der Fall war, dann eher in dem kulturkritisch gemeinten Sinn, dass der Nationalsozialismus ein Produkt der Abkehr vom Christentum seit der Aufklärung und der Französischen Revolution gewesen sei. Und dass gerade die Deutschen versuchten, sich nunmehr – so Rassow – „im Kulturbezirk des Abendlandes“ fest zu verankern, lässt evident politische beziehungsweise apologetische Gründe erkennen. Charakteristisch für das vorherrschende Klima war dabei, dass selbst die moderaten Revisionisten der Nationalgeschichtsschreibung bald eher zurückruderten, meinte doch Heimpel, „dass diese neuesten Geschichtserneuerer kürzer leben als wir“. Und der Bonner Historiker Paul Egon Hübinger sprach bereits 1950 von einem „Masochismus im Studium der Nationalgeschichte“.22 Vor diesem Hintergrund überrascht es nur wenig, dass die hochgesteckten Erwartungen an ein revidiertes deutsches Geschichtsbild kaum wirklich befriedigt wurden. Immerhin, schon 1958 formulierte Golo Mann in seiner viel gelesenen „Deutschen Geschichte“ das Postulat, europäische Geschichte mit deutscher Akzentuierung zu konzipieren. Außerdem müssten die Deutschen das Geschehen im „Dritten Reich“ als Teil der eigenen Vergangenheit annehmen. 21 Rassow, Peter: Die geschichtliche Einheit des Abendlandes (1946/47), in: Ders.: Die geschichtliche Einheit (wie Anm. 15), S. 3–34, hier S. 33. 22 Hier zitiert nach Dann, Otto: National History in Germany after the Second World War, in: Lönnroth, Erik/Molin, Karl/Björk, Ragnar (Hg.): Conceptions of National History, Berlin 1994, S. 123–131, hier S. 125.

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Aber das war der Appell eines Außenseiters in der Wissenschaft, der auch in der Erinnerungskultur seiner Zeit kaum auf ein breites Echo traf. Dieses Missverhältnis sorgte dafür, dass bis weit in die 1960er Jahre die Erinnerungskulturen in Deutschland und anderen Ländern Europas anti-pluralistisch ausgerichtet blieben. Während im Osten des Makroraumes der Schirm einer letztlich doch weitgehend sowjetisch verordneten Deutung über die jeweils nationalen Teilkulturen aufgespannt wurde, beließen ihre Gegenspieler im westlichen Europa die düsteren Kapitel der nationalen Vergangenheit meist eher im Vagen, und regelmäßig standen die eigenen Opfer im Vordergrund des öffentlichen Erinnerns. Wollten hiervon dissentierende Zeitgenossen sich in der Öffentlichkeit Gehör verschaffen, wurden sie ausgegrenzt, marginalisiert oder sogar unterdrückt. Da auch die Zeitgeschichtsschreibung in dieser Phase in allen Ländern Europas eher national-affirmativ argumentierte, ergab sich eine ausgesprochen konformistische Gesamtausrichtung von Erinnerungskulturen und Geschichtsschreibung. Die Lage änderte sich erst im Gefolge der methodischen, aber auch politischen Umbrüche der nachfolgenden Jahrzehnte. Im Blick auf die Geschichtsschreibung führte sie in Deutschland, aber erneut nicht nur hier, zu einer fundamentalen Neubewertung der Nationalgeschichte und einer neuen Variante von Traditionskritik, die Thomas Nipperdey anlässlich der Debatten um das breit rezipierte Buch von Fritz Fischer über „Deutschlands Griff nach der Weltmacht“ auf den Punkt brachte.23 So sprach er zum einen davon, dass „kein Historiker meiner Generation […] wie die drei berühmtesten anti-nationalsozialistischen Historiker, [...] Friedrich Meinecke, Gerhard Ritter oder Ludwig Dehio, davon sprechen [würde], daß ‚wir‘ Deutsche 1870 oder 1890 das oder das taten oder dachten.“ Zum anderen sei über die Fischer-Kontroverse die Zeitgeschichte als eine nationalkritische „Oppositionshistorie“ konstituiert, und damit also die westdeutsche Geschichtswissenschaft aus den Traditionen der nationalpolitischen Historie im Stil der vorangegangenen Generationen förmlich befreit worden. Wie auch immer es sich damit verhält, die 1970er Jahre mündeten in ein verändertes régime d’historicité, das auch die Beziehungsgeflechte zwischen nationaler Geschichtsschreibung und Erinnerungskulturen neu justierte. Einerseits kam nun in vielen Ländern Westeuropas ein kritischer Bezug auf die Nationalgeschichte zum Durchbruch, andererseits aber wurde die His23 Nipperdey, Thomas: 1933 und die Kontinuität der deutschen Geschichte, in: Ders.: Nachdenken über die deutsche Geschichte, München 1986, S. 186–205, hier S. 186.

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torie im Zeichen eines wachsenden Präsentismus immer öfter in den Dienst der Erinnerungskultur gestellt.

III. Die Nationalität von Erinnerungskulturen als ein gesamt­ europäisches Phänomen Aus der Rückschau ist unübersehbar, dass seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts die Ressource ‚Erinnerung‘ eine deutlich steigende Konjunktur erfuhr. In vielen Ländern (zunächst Westeuropas, seit den 1990er Jahren in ganz Europa) stieg sie zu einem wichtigen Bestandteil der politischen Kulturen auf. Zum einen vermochte die Geschichtswissenschaft davon erheblich zu profitieren (Personal, Publikationen und öffentliche Resonanz), zum anderen aber verästelten sich die Debatten über Erinnerungskulturen rasch. Wegweisend waren hierfür die Studien Pierre Noras über die „lieux de mémoire“ der französischen Nation, denen danach ähnliche Projekte in vielen anderen Ländern gefolgt sind.24 Die Stränge dieser Debatten können hier im Einzelnen nicht weiter nachgezeichnet werden. Wichtiger ist vielmehr, dass diese Verständigung keineswegs auf wissenschaftliche Foren beschränkt blieb, sondern mit einer immensen und wachsenden Nachfrage nach Erinnerung im öffentlichen Raum verknüpft war und wohl zum Teil auch noch ist. Genau in diesen Zusammenhang gehört die zuweilen unheimlich anmutende Konjunktur historischer Ausstellungen, von zahllosen Jubiläumsfeierlichkeiten und auch eine von oben betriebene Inszenierung von Erinnerung in Gedenkritualen, die das öffentliche Leben immer stärker in den Griff nehmen sollte. Manche haben deswegen von einer „Geschichtsversessenheit“ gesprochen.25 Der Scheitelpunkt dieser Entwicklung dürfte inzwischen erreicht oder sogar überwunden worden sein. Noch mehr und für unsere Belange aufschlussreich 24 Nora, Pierre: Les Lieux de Mémoire, 7 Bde., Paris 2001; François, Etienne/Schulze, Hagen (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2001; Isnenghi, Mario (Hg.): I luoghi della memoria, 3 Bde., Rom 1996/97; de Boer, Pim/Frijhoff, Willem (Hg.): Lieux de mémoire et identités nationales, Amsterdam 1993; Feldbaek, Ole (Hg.): Dansk identitetshistorie, Kopenhagen 1991/92; Csáky, Moritz (Hg.): Die Verortung des Gedächtnisses, Wien 2001. 25 Nora, Pierre: Gedächtniskonjunktur, in: Transit 22 (2001/02), S. 18–31; Assmann, Aleida/ Frevert, Ute: Geschichtsvergessenheit – Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart 1999.

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ist dabei, dass bislang sämtliche Versuche zur Begründung einer gesamteuropäischen Erinnerungskultur im Sande verlaufen sind. Ohnehin sehen diese sich oft dem Vorwurf ausgesetzt, ein willfähriges Instrument der vielerorts kritisch beobachteten Brüsseler Identitätspolitik abzugeben. Und selbst dann, wenn das Urteil milder ausfällt, werden der Verbreitung von transnational oder supranational begründeten Geschichtsbildern kaum realistische Chancen eingeräumt. Dies trifft auch auf die Vorstellungen des Politikwissenschaftlers Claus Leggewie zu, wonach beispielsweise die großen Katastrophen des langen 20. Jahrhunderts als mögliche Anker- und Fluchtpunkte zur Begründung eines europäischen Geschichtsbewusstseins dienen könnten.26 Unter Einbeziehung der Migrationsgeschichte, nicht zuletzt aber auch von „Europas Erfolgsgeschichte“ seit 1945 könne derart die Basis für eine europäische Identität des größten „Noch-NichtVolks der Erde“ gelegt werden. Auch aus der Sicht einer anderen Kennerin der Materie, Aleida Assmann, kann Europa als Erinnerungsgemeinschaft über das „Erbe einer traumatischen Gewaltgeschichte“ konstituiert werden. So sehr solche Argumente eine eingehende Betrachtung verdienen, erscheint das Ansinnen allein deswegen wenig aussichtsreich, weil Leggewie und letztlich auch Assmann die tief reichenden und noch sehr präsenten Nachwirkungen der sowjetischen Unterdrückungspolitik in Ost- und Ostmitteleuropa nur am Rande berücksichtigen. Sicher, auf die Existenz der Gulags und die langfristigen Nachwirkungen der politisch-militärischen Oberherrschaft der Sowjetunion in dem ihr vorgelagerten europäischen Herrschaftsbereich geht auch Leggewie ein, aber er streift die Mehrschichtigkeit der Diktaturerfahrungen, welche insbesondere den ostmittel- und südosteuropäischen Raum seit 1918 geprägt haben, nur am Rande. Überdies geht sein Überblick auf die anhaltende Virulenz der Konflikte innerhalb der in diesem Raum wieder selbstständig gewordenen beziehungsweise seit 1989/90 neu entstandenen europäischen Nationalstaaten viel zu wenig ein, die wie in einem Nachgang zur Geschichte seit 1918 die Ahnengalerie ihrer Nationen ein weiteres Mal mit den Fürsten und Königen der zuvor lange verdrängten oder zumindest in die zweite Reihe verschobenen Glanzepoche des Mittelalters und der Frühen Neuzeit bevölkerten.27 Vor diesem Hintergrund haben sich in ganz Ost- und Ostmitteleuropa in den letzten 25 Jahren wie in 26 Leggewie, Claus: Der Kampf um die europäische Erinnerung, München 2011; Assmann, Aleida: Auf dem Weg zu einer europäischen Gedächtniskultur, Wien 2012. 27 Zu Mitteleuropa vgl. Le Rider, Jacques/Csáky, Moritz/Sommer, Monika (Hg.): Transnationale Gedächtnisorte in Zentraleuropa, Innsbruck 2002.

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einem Zeitraffer mehrere Erinnerungswellen entladen, über die zahlreiche, teilweise über Jahrzehnte verschüttete Gedächtnisse erneut an die Öffentlichkeit zurückgelangt sind.28 Der nachfolgende Streit um die jeweils legitimen, genauer: die politisch sanktionierten Erinnerungen war somit programmiert, und es verwundert ebenfalls nicht, dass die erinnerungspolitischen Konflikte sowohl in den jungen National- als auch in den so genannten Transformationsstaaten meist besonders heftig ausgetragen worden sind. Selbst im äußersten Westen Europas, wo nach dem Untergang der spanischen Diktatur in der Mitte der 1970er Jahre das öffentliche Erinnern an diese Zeit zunächst mit einem Schweigegebot belegt wurde, toben seit den 1990er Jahren heftige Auseinandersetzungen.29 Ähnliche Tendenzen können wir – wenngleich mit einigen Abstrichen – in den politisch vergleichsweise ruhigeren und deswegen oft weniger beachteten Ländern des europäischen Nordens beobachten. So wird etwa heute in Schweden die lange als unumstritten geltende Neutralitätspolitik der eigenen Regierung im Zweiten Weltkrieg deutlich kritischer eingestuft, als dies vorher der Fall gewesen ist. Noch sehr viel heftiger fallen bereits seit Jahren die Pendelausschläge der vergangenheitspolitischen Diskussionen in Italien aus, wo eine geradezu erdrückende Verquickung von Erinnerung und historisch-politischer Gegenwartsbestimmung zu beobachten ist. Dass derartige Konflikte die Öffentlichkeit in gleich mehreren Ländern Europas aufzurütteln vermögen, zeigte sich, als das französische Parlament zu Beginn der 1990er Jahre verschiedene Erinnerungsgesetze, die so genannten „lois mémorielles“, verabschiedete.30 Denn die neuen gesetzlichen Bestimmungen stellten nicht nur das Leugnen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder auch des Genozids an den Armeniern unter Strafe, sondern stuften ebenfalls den transatlantischen Sklavenhandel als Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein. Zweifelsohne konnten sie damit in vielen Kreisen moralischen Zuspruch erzwingen, aber die ungeteilte Zustimmung des Fachhistorikers blieb aus. In Frankreich jedenfalls traten 15 Historiker Ende 2005 mit einem Appell unter dem bezeichnenden Titel „Liberté pour l’histoire“ an die Öffentlichkeit, der sich gegen die Beeinträchtigung der Freiheit von Lehre und 28 Jaworski, Rudolf/Kusber, Jan/Steindorff, Ludwig (Hg.): Gedächtnisorte in Osteuropa, Frankfurt a. M. 2003. 29 Troebst, Stefan (Hg.): Postdiktatorische Geschichtskulturen im Süden und Osten Europas. Bestandsaufnahme und Forschungsperspektiven, Göttingen 2010. 30 Vgl. Schulze, Winfried: Erinnerung per Gesetz oder „Freiheit für die Geschichte“?, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 59 (2008), S. 364–381.

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Forschung richtet. Der Historiker, so heißt es hier, dürfe keine Tabus akzeptieren und eben auch keine Dogmen. Alle diese Beispiele und Hinweise können an dieser Stelle nur eines verdeutlichen: Bei der Debatte über das Verhältnis von Geschichtsschreibung und offizieller Erinnerungskultur handelt es sich inzwischen um eine europaweit geführte Diskussion, die jedoch ausgesprochen nationale Prägungen aufweist. In aller Regel sind die nationalen Gedächtnisse monologisch organisiert geblieben, eben weil sie die Aufgabe haben, die gerade erst wieder gewonnene oder durch moderne Globalisierungserfahrungen in Frage gestellte Unabhängigkeit zu stützen. Zwar wirkt auf Seiten der historischen Wissenschaften das seit den 1990er Jahren ebenfalls deutlich gestiegene Interesse an der Erforschung transnationaler Entwicklungen hiergegen als ein wichtiges Korrektiv, aber dennoch ist die Nationalität der Erinnerungskulturen in Europa bis heute omnipräsent. Dies gilt sogar ungeachtet der neuerlichen Anstrengungen zu ihrer Europäisierung oder gar Universalisierung. Noch mehr, das angedeutete Resultat könnte sogar – so lauten Überlegungen des Soziologen Natan Sznaider zum „Gedächtnisraum Europa“– eine direkte Folge hiervon abgeben. In seiner, an dieser Stelle nur verkürzt wiedergegebenen These heißt es: Transnationalisierung ermöglicht Renationalisierung.31 Gleichzeitig bieten sich an diesem Punkt des Historizitätsregimes für eine methodisch ausgefeilte und für politische Strömung sensible Geschichtswissenschaft jedoch durchaus Chancen, um aus dem Ghetto einer national-fixierten Erinnerungskultur einen Ausweg zu weisen.32 Im Blick darauf kann eine an der Kulturtransferforschung orientierte und vergleichend angelegte historische Forschung durchaus ein Instrument abgeben, einen Beitrag zur Überwindung nationalgeschichtlicher Paradigmen zu leisten. Dies kann sicherlich nicht einfach der Weg des 19. Jahrhunderts sein, indem über die Erfindung oder die Setzung gemeinsamer Wurzeln (beispielsweise das antike Griechenland oder Rom, das Christentum, der Humanismus oder die Aufklärung usw.) ein „europäisches Gedächtnis“ postuliert wird. In grundsätzlicher Weise geht es vielmehr darum, dialogische Kulturen zu fördern, wobei den widerstreitenden, partikularen und gewaltbereiten Elementen der Geschichte Europas insbesondere in Krisen ein 31 Sznaider, Natan: Gedächtnisraum Europa. Die Visionen des europäischen Kosmopolitismus. Eine jüdische Perspektive, Bielefeld 2008. 32 Vgl. hierzu Hahn, Hans Henning/Traba, Robert (Hg.): Deutsch-Polnische Erinnerungsorte, 5 Bde., Paderborn 2013.

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besonderes Augenmerk geschenkt werden sollte. Dafür bietet die Gegenwart vielfältige Möglichkeiten, denn offensichtlich sind in den letzten 25 Jahren derart viele historische Meistererzählungen und damit eben auch die den Erinnerungskulturen zugrunde liegenden Narrative unter einen solchen Druck geraten, ja sie haben sich in vielen Fällen einfach als unhaltbar erwiesen, dass ein einfaches Festhalten an der „Tradition“ vielen Menschen kaum mehr sinnstiftend erscheint. In einer solchen Lage, in der auch die politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen sich rapide ändern, wirkt selbst Pierre Noras monumentales Projekt der „Lieux de Mémoire“ und die der vielen anderen nationalen Parallelunternehmungen kaum mehr überzeugend, da sie sich trotz aller Dekonstruktion letztlich an der Mystifizierung der nationalen Gedächtnisse beteiligen. Die Versuche zu einer Europäisierung des nationalen Paradigmas stehen gleichwohl vor beträchtlichen Herausforderungen. Zum einen haben sie damit zu kämpfen, dass ein europäisches Mythendefizit es schwer macht, Begeisterung in einem breiten Publikum hierfür zu erzeugen.33 Auch die Historiker tun sich bislang mit europäischen Meistererzählungen eher schwer, zumal anti-europäische politische Diskurse inzwischen einen starken Zulauf erfahren. Gerade der Verlust nationaler Identität sowie die Furcht vor einer Vorherrschaft Europas über die Nation dienen immer wieder dazu, europäische Argumentationslinien zu durchkreuzen. Außerdem macht sich heute das Erbe einer Europäisierungsdebatte im Kalten Krieg bemerkbar, die vor allem in der Neuzeithistoriographie weiterhin eine erhebliche Differenz zwischen West- und Osteuropa aufweist. Überdies zeigt die Beschäftigung mit der Europäisierung von Geschichtsbildern, dass ihnen dieselben Gefahren der Homogenisierung unterschiedlicher Identitätsvorstellungen innewohnen, wie dies beim nationalen Paradigma der Fall gewesen ist. Homogenen europäischen Identitätskonstruktionen ist letztlich mit ebensolcher Vorsicht zu begegnen wie einheitlichen nationalen Identitätskonstruktionen. Dennoch, es gibt schon jetzt verschiedene Ansatzpunkte für eine gesamteuropäische Geschichtsschreibung: Diese weisen einerseits besondere thematische Zuschnitte auf, können doch die Bilder etwa des euro-mediterranen Raumes heute ein ganz anderes Verständnis vom Mittelalter befördern, 33 Vgl. Rousso, Henri: Das Dilemma eines europäischen Gedächtnisses, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 1 (2004), H. 3, URL: http://www. zeithistorische-forschungen.de/3-2004/id=4663 (letzter Zugriff: 16.02.2017).

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als dies in der herkömmlichen Mediävistik der Fall war. Zweitens sind sie institutioneller Art, denn inzwischen sind mit dem Europäischen Hochschulinstitut, wissenschaftlichen Zeitschriften, Kulturzeitschriften und anderen mehr wichtige Foren für eine transnationale Verständigung entstanden. Darüber hinaus darf man aber nicht übersehen, dass europäische Geschichte ebenso wie die Nationalgeschichte ein Kampfplatz für verschiedene soziale und politische Interessen geworden ist. Im Grunde reproduzieren sich auf europäischer oder auch supranationalstaatlicher Ebene die nationalstaatlichen Konflikte um die „richtige“ Erinnerung, ja zum Teil fallen sie hier noch schärfer aus, weil Europa als Forum missbraucht wird, um offene Rechnungen im eigenen Land zu begleichen. Hierfür ließen sich zahlreiche Beispiele anführen. Statt darauf aber weiter einzugehen, sollen hier abschließend nur noch zwei Entwicklungen herausgestellt werden. Zum einen wohnt den neueren Bestrebungen zur Europäisierung der Erinnerungskulturen die Tendenz inne, eine ältere Fassung der europäischen Meistergeschichte wiederzubeleben. Europa als ein Kontinent der noblen Traditionen, das Europa der Menschenrechte und das Europa der Demokratie oder auch des Christentums, kurz: das Europa der „westlichen Zivilisation“. Damit wird die Rückkehr zu einer Historiographie bezeichnet, die schon einmal in den 1950er Jahren einen deutlichen Aufwind erfahren hat. Über eine solche Deutung werden jedoch zentrale Konfliktlinien und auch ganz anders gerichtete Bewegungen in der Geschichte Europas ausgeblendet, zumal sich die Frage stellt, inwiefern eine solchermaßen verstandene europäische Geschichte überhaupt noch in einer direkten Beziehung zu den gelebten Erinnerungen großer Teile der Bevölkerungen steht. Noch mehr aber ist in dem Bestreben zur Universalisierung des Erinnerns – dies bezieht sich vor allem auf das sog. Holocaust-Gedächtnis – die Tendenz angelegt, von den realen Geschehnissen immer stärker zu abstrahieren. Im Grunde zielen die politisch formierten öffentlichen Erinnerungskulturen in vielen Ländern heute darauf ab, die Beschäftigung mit dem historischen Erbe von Diktaturen primär als Anlass einer zeitlosen Ermahnung zur Humanität zu begreifen. Kurz: In den Erinnerungskulturen ist eine schleichende Enthistorisierung der Vergangenheit zu beobachten, was wohl nicht nur auf die Historiker der Neuzeit irritierend wirken muss. Denn auch die Forschungsergebnisse der Mediävisten werden heute nur allzu leichtfertig in dem Sinne geschichtspolitisch instrumentalisiert, dass sie die Grundlage für eine weitere politische und kulturelle Integration des Kontinents abgäben. Ob aber genau das dann noch etwas mit dem „wirklichen“ Mittelalter zu

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tun hat, dies sei den Spezialisten der Epoche überlassen. Jedenfalls gilt es für die Historiker, um hiermit zu schließen, wachsam zu bleiben, wenn sie ihre Erkenntnisse in den Dienst öffentlicher Erinnerungskulturen stellen. Daran muss sich auch die moderne Mediävistik messen lassen.

Eduard Mühle

Polen im 12. Jahrhundert Wahrnehmungen deutschsprachiger Mediävisten des 19. und 20. Jahrhunderts

An den Beginn dieser Ausführungen seien zwei banale Feststellungen gestellt.1 Erstens, das 12. Jahrhundert liegt zwischen dem 10.–11. und dem 13. Jahrhundert, und zweitens, Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts war nahezu ausschließlich nationale Geschichtsschreibung. Beide Banalitäten sind für die Frage, wie die deutschsprachige Historiographie in eben diesem 19. und 20. Jahrhundert auf die Geschichte Polens im 12. Jahrhundert geblickt hat, bei näherem Hinsehen durchaus aufschlussreich. Deutschschreibende Historiker haben sich von den 1840er bis 1970er Jahren in der Regel als Deutsche gesehen und ihre Deutung der Vergangenheit aus einem explizit oder implizit nationalen, wenn nicht völkischen Standpunkt heraus entwickelt und vertreten.2 Aus dieser Perspektive haben sie sich für die Geschichte anderer Nationen, auch die ihrer unmittelbaren Nachbarn nur insoweit interessiert, wie diese fremde 1 2

Der um Quellen- und Literaturnachweise ergänzte Text behält die Form des am 6. Oktober 2015 in Brünn gehaltenen Vortrags bei. Aus der inzwischen umfangreichen einschlägigen Forschung seien beispielhaft genannt: Faulenbach, Bernd: Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1980; Schulze, Winfried: Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989; Oberkrome, Willi: Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der deutschen Geschichtswissenschaft 1918–1945, Göttingen 1993; Chickering, Roger: Karl Lamprecht. A German Academic Life (1856–1915); Atlantic Highlands 1993; Chun, Jin-Sung: Das Bild der Moderne in der Nachkriegszeit. Die westdeutsche ‚Strukturgeschichte‘ im Spannungsfeld von Modernitätskritik und wissenschaftlicher Innovation 1948–1962, München 2000; Cornelissen, Christoph: Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2001; Raphael, Lutz: Geschichtswissenschaft im Zeitalter der Extreme. Theorien, Methoden, Tendenzen von 1900 bis zur Gegenwart, München 2003.

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Geschichte Bezüge zur eigenen Nationalgeschichte besaß. Solche Bezüge wurden im Fall der mittelalterlichen polnischen Geschichte aber vor allem im 10.– 11. und 13.–14. Jahrhundert gesehen.3 Dies geschah zum einen im Kontext der Beziehungen des ottonisch-salischen Reiches zur frühen piastischen Herrschaftsbildung, deren Etablierung und Konsolidierung aus deutscher Sicht in hohem Maße als Ergebnis reichsseitiger Einwirkung und Unterstützung gedeutet wurde; zum anderen im Zusammenhang des ostmitteleuropäischen Landesausbaus, der als ‚deutsche Ostsiedlung‘ zur ‚größten Leistung des deutschen Volkes im Mittelalter‘ stilisiert und als kulturbringende deutsche Aufbauarbeit im Osten ideologisch instrumentalisiert wurde.4 Die zwischen diesen beiden thematischen Großkomplexen liegenden deutsch-polnischen Ereignisse und Entwicklungen des 12. Jahrhunderts waren aus Sicht der deutschen Mediävisten e­ ntschieden weniger spektakulär und haben daher deutlich weniger Aufmerksamkeit erregt.5 3 4

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Kersken, Norbert: Deutsche mediävistische Polenforschung. Traditionen, Themen, Tendenzen, in: Inter Finitimos 2 (2004), S. 22–35. Vgl. beispielhaft Seraphim, Ernst: Geschichte Liv-, Est- und Kurlands, Reval 1895, S. 3; Class [alias Einhart], Heinrich: Deutsche Geschichte, Leipzig 1909 (5. Auflage 1914), S. 66 oder S. 366; dann vor allem Hampe, Karl: Der Zug nach dem Osten. Die kolonisatorische Großtat des deutschen Volkes im Mittelalter, Leipzig 1921 und Schäfer, Dietrich: Osteuropa und wir Deutschen, Berlin 1924. Zur Forschungsgeschichte ausführlich Ost, Peter: Die deutsche Ostbewegung in der deutschen Geschichtsschreibung von G. A. Stenzel bis zu Dietrich Schäfer, Münster 1962; Backhaus, Fritz: ‚Das größte Siedelwerk des deutschen Volkes’. Zur Erforschung der Germania Slavica in Deutschland, in: Lübke, Christian (Hg.): Struktur und Wandel im Früh- und Hochmittelalter. Eine Bestandsaufnahme aktueller Forschungen zur Germania Slavica, Stuttgart 1998, S. 17–29; Hackmann, Jörg/Lübke, Christian: Die mittelalterliche Ostsiedlung in der deutschen Geschichtswissenschaft, in: Piskorski, Jan M. (Hg.): Historiographical Approaches to Medieval Colonization of East Central Europe. A Comparative Analysis against the Background of Other European Inter-Ethnic Colonization Processes in the Middle Ages, Colorado 2002, S. 179–217; zur Verklärung und Instrumentalisierung des deutschen Bildes von der mittelalterlichen Ostsiedlung insbesondere Wippermann, Wolfgang: Die Ostsiedlung in der deutschen Historiographie und Publizistik. Probleme, Methoden und Grundlinien der Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg, in: Fritze, Wolfgang M. (Hg.): Germania Slavica I, Berlin 1908, S. 41–69; Lübke, Christian: Barbaren, Leibeigene, Kolonisten. Zum Bild der mittelalterlichen Slaven in der deutschen Geschichtswissenschaft, in: Hardt, Matthias u.a. (Hg.): Inventing the Pasts in North Central Europe. The National Perception of Early Medieval History and Archaeology, Frankfurt a.  M. u.a. 2003, S. 155–193, bes. S. 171–186. Zur Geschichte der deutschsprachigen Mediävistik vgl. Berg, Dieter: Mediävistik – eine ‚politische Wissenschaft‘. Grundprobleme und Entwicklungstendenzen der deutschen mediävistischen Wissenschaftsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, in: Küttler, Wolfgang u.a. (Hg.): Geschichtsdiskurs, Bd. 1: Grundlagen und Methoden der Historiographiegeschichte, Frankfurt

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Worum es sich dabei handelte, lässt sich überblicksartig und zugleich in seiner chronologisch-inhaltlichen Verschiebung sehr schön an einem der zentralen Hilfsmittel der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft vor Augen führen, nämlich dem „Gebhardt“, dem bekanntesten Handbuch der Deutschen Geschichte.6 Während sich das geschichtspolitische Anliegen und der methodische Ansatz dieses Werkes zwischen seiner ersten, 1891 von dem in Breslau promovierten, seit 1887 in Berlin wirkenden deutsch-jüdischen Realschullehrer großpolnischer Herkunft, Bruno Gebhardt, besorgten Ausgabe und der seit 2001 erscheinenden 10. Auflage selbstverständlich erheblich verändert haben, ist der Kanon der deutsch-polnischen Ereignisse des 12. Jahrhunderts, der in diesem Handbuch begegnet, erstaunlich konstant geblieben. Bruno Gebhardt wollte seinerzeit mit einer möglichst „vollständige[n], dem gegenwärtigen Stande der Wissenschaft entsprechende[n] deutsche[n] Geschichte […] mehr die Teilnahme der Gebildeten als der Fachgelehrten erringen […] und dazu beitragen, die Kenntnis der deutschen Geschichte zu verbreiten, aus der vaterländische Gesinnung und ­politische Reife erwächst.“7 An die Stelle der vom reichsdeutschen Patriotismus des gerade entstandenen zweiten Kaiserreiches inspirierten bzw. diesem dienenden „vaterländischen Gesinnung“ Gebhardts und der bis 1913 erschienenen vier weiteren, unveränderten Auflagen8 setzte der Münsteraner Mediävist und Landeshistoriker Aloys Meister in der ersten wirklichen Neubearbeitung des Werkes9 1922/23 die nüchterne Hoffnung, dass es in seiner neuen Gestalt beitragen

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a. M. 1993, S. 317–330; Goetz, Hans-Werner: Moderne Mediävistik. Stand und Perspektiven der Mittelalterforschung, Darmstadt 1999, S. 65–103; Moraw, Peter/Schieffer, Rudolf (Hg.): Die deutschsprachige Mediävistik im 20. Jahrhundert, Ostfildern 2005; Nagel, Anne Christine: Im Schatten des Dritten Reiches. Mittelalterforschung in der Bundesrepublik Deutschland 1945–1970, Göttingen 2005; Thimme, David: Percy Ernst Schramm und das Mittelalter. Wandlungen eines Geschichtsbildes, Göttingen 2006; Reichert, Folker: Karl Hampe, das Mittelalter und die Geschichte der Deutschen, Göttingen 2009. Eine umfassende historiographiegeschichtliche Analyse dieses besonderen, Generationen und Paradigmen überspannenden Langzeitprojektes steht bislang aus. Gebhardt, Bruno (Hg.): Handbuch der Deutschen Geschichte, Bd. 1: Von der Urzeit bis zur Reformation, Stuttgart/Berlin/Leipzig 1891, S. III–IV. Die zweite Auflage erschien 1901, die dritte, nun von Gebhardts ältestem Schüler, dem 1843 in Danzig geborenen, seit 1867 an einem Berliner Realgymnasium tätigen Historiker Ferdinand Hirsch herausgegebene Auflage 1906; ihr folgten 1910 und 1913 zwei weitere, von Hirsch besorgte Ausgaben; Hirsch starb am 31. März 1915. Meister, Aloys (Hg.): Gebhardts Handbuch der Deutschen Geschichte, 3 Bde., Stuttgart 6. Aufl. 1922–1923.

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möge „zur historischen Betrachtung der Gegenwart und zur Verbreitung eines verständigen historischen Sinnes, den wir so nötig haben.“10 Der nach Gebhardt und Ferdinand Hirsch dritte Herausgeber des Werkes huldigte hier, in seiner Einleitung zur 6. Auflage, weder dem versunkenen kleindeutsch-wilhelminischen Staatspatriotismus noch griff er bereits zu den Hoffnungsleinen einer neuen großdeutschen Volksgeschichte. Deren Paradigma trat erst 1930 in der von Robert Holtzmann besorgten 7.  Auflage deutlich in Erscheinung.11 Ihr gab ­Holtzmann die Hoffnung mit auf den Weg, dass sie das Ihre dazu beitragen möge, „den Sinn für die deutsche Geschichte und die Liebe zum deutschen Volk zu stärken. Denn so viel Hader, Unglück und tiefe Trauer im Laufe der Jahrhunderte und in der jüngsten Vergangenheit über uns gekommen sind, unsere Geschichte ist doch so unendlich reich, dass wir mit keinem anderen Volk dieser Erde tauschen möchten.“12 Für Herbert Grundmann, der 1954 bis 1960 eine vierbändige Neubearbeitung bzw. die 8. Auflage herausgab,13 sollte der „Gebhardt“ „in neuer Gestalt mit frischen Kräften in veränderter Zeit die gleiche Aufgabe wie früher erfüllen.“14 Zwar räumte er bereits die Notwendigkeit einer „europäischen Ausweitung“ ein, verteidigte aber explizit die fortgesetzte Beschränkung auf die deutschnationale Perspektive bzw. – wie er 1970 in der ebenfalls von ihm besorgten 9. Auflage formulierte – auf „die wandlungsreiche Geschichte unseres Volkes“.15 Welchen tiefgreifenden konzeptionellen und methodischen Wandel die deutschsprachige Geschichtswissenschaft seither durchlaufen hat, verdeutlichen die Herausgeber der 10. Auflage, wenn sie dezidiert erklären, dass das Verständnis deutscher Geschichte im Jahr 2001 „europäischer geworden [sei], zugleich differenzierter, vielseitiger und pluralistischer“, es „auf dem Weg [sei],

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Meister, Aloys: Vorwort zur sechsten Auflage, in: ebd., Bd. 1: Von der Urzeit bis zur Reformation, S. IV–V. Holtzmann, Robert (Hg.): Gebhardts Handbuch der Deutschen Geschichte, 2 Bde., Völlig neu bearbeitete 7. Auflage, Stuttgart 1930–1931. Holtzmann, Robert: Vorwort, in: ebd., Bd. 1: Von der Urzeit bis zur Thronbesteigung Friedrichs des Großen, S. V–VI. Grundmann, Herbert (Hg.): Bruno Gebhardt. Handbuch der Deutschen Geschichte, 4 Bde., 8. vollständig neubearbeitete Auflage, Stuttgart 1954–1960; vgl. Borgolte, Michael: Sozialgeschichte des Mittelalters. Eine Forschungsbilanz nach der deutschen Einheit, München 1996, S. 132–134. Grundmann, Herbert: Vorwort, in: Gebhardt. Handbuch (wie Anm. 13), S. V–VI. Grundmann, Herbert: Vorwort, in: Gebhardt. Handbuch der Deutschen Geschichte, 4 Bde., 9. neu bearbeitete Auflage, Stuttgart 1970, Bd. 1, S. VIII.

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im globalen Zusammenhang neu konturiert zu werden.“16 In der Tat hat das europäisierte, ja globalisierte Bild von der deutschen Geschichte das nationalistische Hochgefühl bzw. die nationale Hybris der älteren Geschichtsschreibung wohl weit hinter sich gelassen. Wie präsentiert sich innerhalb dieses Entwicklungsrahmens nun das Bild der deutschsprachigen Historiographie vom polnischen 12. Jahrhundert? Schauen wir uns dazu zunächst weiterhin den „Gebhardt“ an. Was hat er im Verlaufe seiner Auflagen hierzu wie zu erzählen? Es sind im Wesentlichen fünf Episoden, mit der das polnische 12. Jahrhundert hier in die deutsche Geschichte hineinragt oder genauer: ein Ausgreifen der deutschen Geschichte in die polnische Geschichte hinein beschrieben wird. Dabei handelt es sich 1. um den Feldzug Heinrichs V. von 1109; 2. die Pommern-Mission Ottos von Bamberg in den 1120er Jahren; 3. die Huldigung Bolesławs III. vor Lothar III. im Jahr 1135; 4. Konrads III. Unterstützung für den vertriebenen Senior Władysław II. im Jahr 1146 und 5. um Friedrich Barbarossas Interventionen zugunsten der schlesischen Junioren in den 1150–1160er Jahren. Nur kurz erwähnt wird jeweils der Feldzug Heinrichs V. von 1109. Auch auf die Pommern-Mission Ottos von Bamberg geht die 1. Auflage nur knapp ein. Bolesław III. habe sich an den Bamberger Bischof gewandt, um in Pommern das Christentum einzuführen, der dann 1127, „schon ein Greis […] zum zweitenmal die beschwerliche Reise zu den Pommern“ unternommen habe.17 Mit dem großen Erfolg Ottos, und das sollte die entscheidende Botschaft der Darstellung dieser Episode sein, begann „das Deutschtum […] in Pommern einzudringen.“18 Erst die 8. Auflage streicht die Vokabel „Deutschtum“, spricht aber weiter von der „Missionsarbeit der deutschen Kirche“, die Bolesław deshalb heranziehen musste, „da er zur Christianisierung des eroberten Gebietes in der polnischen Geistlichkeit keine geeignete Persönlichkeit fand“.19 Die 10. Auflage enthält sich in dem 2005 von Alfred Haverkamp vorgelegten Band zum 12. Jahrhundert 16

Haverkamp, Alfred u.a.: Zur 10. Auflage des Gebhardt, in: Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, 24 Bde., 10. völlig neu bearbeitete Auflage, Stuttgart 2001 ff.; die Vorbemerkung in jedem Band, S. IX–XV, das Zitat S. X; vgl. auch Kaiser, Michael: Inmitten einer pluralisierten Geschichtswissenschaft. Der neue Gebhardt, in: Zeitschrift für historische Forschung 31 (2004), S. 93–108. 17 Gebhardt (Hg.): Handbuch (wie Anm. 7), S. 340. 18 Meister (Hg.): Gebhardts Handbuch (wie Anm. 9), Bd. 1, S. 390; Holtzmann (Hg.): Gebhardts Handbuch (wie Anm. 11), Bd. 1, S. 305. 19 Grundmann (Hg.): Bruno Gebhardt (wie Anm. 13), Bd. 1, S. 289.

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selbstverständlich derartiger Anspielungen auf mögliche Unzulänglichkeiten der polnischen Seite. Sie lässt Bolesław den Bamberger Missionar weniger aus personeller Not denn aus politischer Einsicht zur Missionsarbeit einladen.20 Die dritte Episode beklagt, wie Bolesław III. sich 1135 weigerte, persönlich vor Lothar zu erscheinen. Er musste erst gezwungen werden, im August nach Merseburg zu kommen, um dort den rückständigen Tribut nachzuzahlen, Pommern und Rügen zu Lehen zu nehmen, den Treueid zu leisten „und als Zeichen seiner Lehnsuntertänigkeit dem Kaiser beim Kirchgang das Schwert voranzutragen.“ Der polnische Senior wird hier explizit als Untertan des Kaisers bzw. Reiches dargestellt. Und da auch Ungarn und Böhmen nach Lothars Winken agieren, kann das Handbuch gleich folgern, dass „die kaiserliche Autorität im Osten“ „seit mehr als einem Jahrhundert“ „nicht die gleiche Stellung gehabt [habe], wie in diesen Tagen.“21 Diese Darstellung bleibt bis in die 7. Auflage hinein wörtlich identisch; erst die 8. Auflage strafft 1954 die ganze Episode und streicht den expliziten Hinweis auf Bolesławs allgemeine Lehnsuntertänigkeit.22 Das kann nicht aus Gründen des Platzmangels geschehen sein, fiel die 8. gegenüber der 7. Auflage doch um zwei Bände umfangreicher aus. Durch die Streichung klärt die 8. und 9. Auflage zum Teil bereits, was die 10. Auflage noch deutlicher macht: Dass es nicht – wie die Auflagen 1 bis 7 nahelegen – um eine förmliche Abhängigkeit des polnischen Seniors bzw. seines gesamten Herrschaftsgebietes vom Reich ging, sondern lediglich darum, dass der polnische Herzog eine ältere, mit Heinrich V. geschlossene Vereinbarung bezüglich Tributzahlungen einhielt und die kaiserliche Lehnshoheit über Rügen und das von ihm (im Gegensatz zu Rügen tatsächlich) eroberte Pommern anerkannte. Ganz knapp geht das Handbuch auf die nach dem Tod Bolesławs III. einsetzenden innerpolnischen Thronfolgestreitigkeiten ein. Dabei steht das erfolglose Eingreifen Konrads III. zugunsten des 1146 vertriebenen Seniors Władysław im Vordergrund. Zwischen der 1. bis 6. und der 7. Auflage verschiebt sich der Akzent leicht insofern, als zunächst die Betonung auf der unzureichenden Vorbereitung der Konrad’schen Intervention liegt, mithin eine gewisse Kritik am ersten Stauferherrscher artikuliert wird. In der 7. Auflage tritt dagegen – zu dieser Kritik – neu die Aussage hinzu und in den Vordergrund, dass es um „Kämpfe mit Polen“ 20 Haverkamp, Alfred: Zwölftes Jahrhundert 1125–1198 (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte 5) Stuttgart 2005, S. 101. 21 Gebhardt (Hg.): Handbuch (wie Anm. 7), S. 339. 22 Grundmann (Hg.): Bruno Gebhardt (wie Anm. 13), Bd. 1, S. 291.

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gegangen sei und diese „unerfreulich“ verlaufen seien; 1930 wird mithin der deutsch-polnische Antagonismus stärker hervorgehoben.23 In der 8. Auflage werden diese Kämpfe dann neutraler nur noch als „unglücklich“ charakterisiert, während die Schuldzuweisung an einen sich vermeintlich unzureichend rüstenden König hier und in der 9. Auflage entfällt und in der 10. Auflage dann nur noch von einem erfolglosen Heereszug Konrads an die Oder die Rede ist.24 Dass Bolesław IV. dann „die Konrad III. gemachten Versprechungen nicht erfüllt[e]“, zudem die Huldigung und den „üblichen Zins“ verweigerte, sah der „Gebhardt“ in der 1.–6. Auflage als das entscheidende Motiv Friedrichs I. an, im Sommer 1157 gegen Polen zu ziehen.25 Mit einem „deutschen Heer“, so der Text, „drang [er] verwüstend über Breslau nach Posen vor“ und unterwarf Bolesław. Dieser leistete dem Kaiser daraufhin „den Huldigungseid“, versprach auch „Unterstützung zum italienischen Zug“ sowie die Beilegung des Zwistes mit seinem verbannten Bruder Władysław. Doch selbst obwohl er Geiseln gestellt habe, habe der polnische Herzog seine Versprechen in keiner Weise gehalten. Erst 1163 habe er sich bereit gefunden, den Söhnen seines inzwischen in der Verbannung verstorbenen Bruders Schlesien abzutreten. „Diese Abtretung“, so die ersten sechs Auflagen, „war wichtig, weil damit der engere Anschluss Schlesiens an Deutschland begann.“ Die 7. Auflage verschob den Akzent stärker auf das Handeln Friedrichs I. Dieser habe, so heißt es nun, die Herausgabe Schlesiens von Bolesław IV. erzwungen und damit der Reichspolitik „ein neues Kolonisationsgebiet erschlossen.“ Denn obgleich die schlesischen Herzogtümer „fürs erste noch ein Teil Polens“ geblieben seien, seien sie damit doch bereits „in eine nahe politische und kulturelle Berührung mit Deutschland“ getreten.26 Auch die 8. und 9.  Auflage folgen in weiten Teilen fast wörtlich der alten Schilderung der Barbarossa’schen Interventionen von 1157 und 1163 und behalten den Akzent auf Friedrichs Agieren bei: Er erreichte die „Herausgabe Schlesiens“ und durch seine Maßnahme bahnte er „die allmähliche Loslösung Schlesiens von Polen und sein[en] Anschluss an das Reich“ an.27 Erst die 10. Auflage löst die ganze Episode von Friedrichs Agieren insofern teilweise wieder ab, als sie diese zum 23 Holtzmann (Hg.): Gebhardts Handbuch (wie Anm. 11), Bd. 1, S. 316. 24 Grundmann (Hg.): Bruno Gebhardt (wie Anm. 13), Bd. 1, S. 294; ebd., S. 103; Haverkamp: Zwölftes Jahrhundert (wie Anm. 20), S. 69 f. 25 Gebhardt (Hg.): Handbuch (wie Anm. 7), S. 359; hier auch die nachfolgenden Zitate. 26 Holtzmann (Hg.): Gebhardts Handbuch (wie Anm. 11), Bd. 1, S. 324. 27 Grundmann (Hg.): Bruno Gebhardt (wie Anm. 13), Bd. 1, S. 305 f.

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einen im Kontext des Handelns Heinrichs des Löwen bzw. des Böhmen Vladislavs II. schildert und die ‚Überlassung‘ Schlesiens an die Söhne Władysławs an dieser Stelle allein dem Handeln Bolesławs IV. zuschreibt. Sieben Seiten später allerdings wird dann auch in der 10. Auflage diese Überlassung eher der Durchsetzungskraft Barbarossas zugeschrieben, wenn auch hier keine Rede mehr von einem Übergang Schlesiens an das Reich oder von der Erschließung neuen Kolonisationsgebietes ist, sondern lediglich nüchtern konstatiert wird, dass sich die von Friedrich durchgesetzte Herrschaft der schlesischen Junioren „als langfristig bedeutsam erwies.“28 Folgen wir dem „Gebhardt“, so beschränkt sich das Interesse der allgemeinen deutschsprachigen Mediävistik des ausgehenden 19. und 20. Jahrhunderts am polnischen 12. Jahrhundert auf einige wenige Episoden der kaiserlichen Ostpolitik bzw. des politischen und kulturellen Ausgreifens des Reiches in das polnische Herrschaftsgebiet hinein. Dieser Befund findet, solange wir in der allgemeinen deutschsprachigen Mediävistik bleiben, d.h. weder die altostdeutsche Landesgeschichtsschreibung bzw. ‚Ostforschung‘ noch die spezialisierte Osteuropahistorie einbeziehen,29 auch andernorts seine Bestätigung. Es genügt dazu einen Blick in die entsprechenden Passagen des Handbuchs der europäischen Geschichte, das seit 1968 von Theodor Schieder mit der erklärten Absicht herausgegeben wurde, „die deutsche Geschichte und Geschichtsschreibung aus der nationalistischen Verengung entschlossen“ herauszuführen.30 Im 1987 von Fer28 Haverkamp: Zwölftes Jahrhundert (wie Anm. 20), S. 119 und 126. 29 Dieser Komplex muss hier unberücksichtigt bleiben; zur einschlägigen Forschung vgl. Burleigh, Michael: Germany Turns Eastwards. A Study of Ostforschung in the Third Reich, Cambridge u.a. 1988; Piskorski, Jan M./Hackmann, Jörg/Jaworski, Rudolf (Hg.): Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. Disziplinen im Vergleich, Poznań/Osnabrück 2002; Mühle, Eduard: Für Volk und Deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung, Düsseldorf 2005; Unger, Corinna: Ostforschung in Westdeutschland. Die Erforschung des europäischen Ostens und die Deutsche Forschungsgemeinschaft 1945–1975, Stuttgart 2007; Kleindienst, Thekla: Die Entwicklung der bundesdeutschen Osteuropaforschung im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Politik, Marburg 2009; Eckert, Eike: Zwischen Ostforschung und Osteuropahistorie. Zur Biographie des Historikers Gotthold Rhode (1916–1990), Osnabrück 2012. 30 Vorwort des Verlages, in: Schieder, Theodor (Hg.): Handbuch der europäischen Geschichte. Bd. 2: Europa im Hoch- und Spätmittelalter, Stuttgart 1987, S. VII; das insgesamt siebenbändige Werk erschien ab 1968 (nicht in chronologischer Folge) und wurde 1987 mit Band 2 abgeschlossen; zur Gesamtkonzeption vgl. Schieder, Theodor: Vorwort zum Gesamtwerk, in: Ders. (Hg.): Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 1: Europa im Wandel von der Antike zum Mittelalter, Stuttgart 1976, S. 1–21.

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dinand Seibt vorgelegten Band zum Hoch- und Spätmittelalter bleibt Helmut Beumann im Rahmen seiner Darstellung des Staufer-Reiches ganz den alten Mustern verhaftet, wenn er als Folge von Friedrichs Polenfeldzug von 1157 die „Rückkehr Herzog Bolesławs zur Lehns- und Tributpflicht gegenüber dem Reich“ und als Ergebnis seines Einsatzes für eine Herrschaftsbeteiligung der schlesischen Junioren den allmählichen „Anschluss Schlesiens an das Reich“ betont.31 Es liegt auf der Hand, dass sich dieses Interpretationsmuster bzw. diese deutsche Sicht auf Aspekte der polnischen Geschichte des 12. Jahrhunderts vor allem in einschlägigen Barbarossa-Studien sowie in Arbeiten zur hochmittelalterlichen schlesischen Politikgeschichte im Detail weiterverfolgen lässt. Blicken wir hier aus Anlass unseres Konferenzthemas nur auf einige beispielhafte BarbarossaArbeiten. 1877 legte der schlesische Gymnasiallehrer Gerhard Krüger eine kleine Studie über Barbarossas Beziehungen zu Polen vor. Darin kritisierte er zunächst die zeitgenössischen Chronisten – Wibald von Stablo und Rahewin – dafür, dass sie die Bedeutung und Folgen von Friedrichs Polenfeldzug nicht erkannt hätten, nämlich dass es, so Krüger, „Kaiser Friedrich vorbehalten war, zum letzten Mal die polnischen Herzöge zu einer scheinbaren Anerkennung der von den Sachsenkaisern begründeten deutschen Oberlehnshoheit zu zwingen und den Anstoß zur Germanisierung des damals noch ganz slavischen Schlesien zu geben.“ Gleichzeitig warnte Krüger davor, den „schwülstigen und überpatriotischen Berichten des Vinzenz Kadlubek, Boguchwal und Dzierswa und den sehr ausführlichen Schilderungen des phantasiereichen und wenig gewissenhaften Dlugosch allzu großen Werth beizulegen.“32 Solche Vorbehalte entsprachen ganz den ab­schätzigen Urteilen, die Alfred von Gutschmid oder Heinrich Zeissberg in den 1850–70er Jahren über die mittelalterlichen polnischen Geschichtsschreiber fällten.33 Friedrich habe, so Krüger weiter, freilich im Bestreben, „im Vollgefühl seiner Macht […] die unbotmäßigen Polenfürsten vor Allem zur Erfüllung ihrer Pflicht gegen 31 Beumann, Helmut: Das Reich von den salischen Kaisern bis Friedrich III., in: Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 2 (wie Anm. 30), S. 280–382, hier S. 343. 32 Krüger, Gerhardt: Friedrich Barbarossa in seiner Beziehung zu Polen, Freiburg in Schlesien 1877 (Dritter Jahresbericht über die Höhere Bürgerschule zu Freiburg i. Schl.) S. 3–12. 33 Gutschmid, Alfred von: Kritik der polnischen Urgeschichte des Vincentius Kadłubek, in: Archiv für Kunde österreichischer Geschichtsquellen 17 (1857), S. 297–326, bes. S. 305–308; Zeissberg, Heinrich: Vincentius Kadłubek, Bischof von Krakau (1208–1218; † 1223) und seine Chronik Polens. Zur Literaturgeschichte des dreizehnten Jahrhunderts, in: [Archiv für Österreichische Geschichte] Archiv für Kunde österreichischer Geschichtsquellen 42 (1870), S. 1–211, bes. S. 4, 94, 199 und 205.

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das Reich […] zu zwingen“, die „scythische Kriegsführung“ […] diese[r] wilden und treulosen Barbaren“ unterschätzt.34 Zwar sei der Kaiser letztlich „in seinem leichten Siegeszug nicht“ aufzuhalten gewesen, doch habe Bolesław IV. Friedrich letztlich doch durch eine Scheinunterwerfung getäuscht. Die Charakterisierung, dass der polnische Herzog „eine kleine Demüthigungs-Comödie vor seinem Gegner“ aufgeführt habe35, entsprach ganz dem deutschen Bild vom verschlagenen, betrügenden, unredlichen Polen, der seine wahre Gesinnung sogleich im fortgesetzten Treuebruch offenbarte. Auch Hermann Pelzer hat 1906 in seiner Münsteraner Dissertation über „Friedrichs I. von Hohenstaufen Politik gegenüber Dänemark, Polen und Ungarn“ den Misserfolgen der Konrad’schen Ostpolitik „die Entschlossenheit und Energie“ des jungen Friedrich gegenübergestellt. So habe Friedrich insbesondere „gegenüber dem östlichen […] Nachbarreich“ einen neuen frischen Zug in die deutsche Politik gebracht und darauf gedrungen, „überall wo das Ansehen Deutschlands unter der schwachen Regierung seines Vorgängers Einbußen erlitten hatte, den Schaden gut zu machen und ihm wieder eine gebietende Stellung gegenüber den Grenzvölkern zu verschaffen.“36 Indem es ihm gelungen sei, Polen zur Anerkennung der deutschen Oberhoheit zu zwingen und beständig unter dieser zu halten, habe er, so Pelzer, „unserem Volke dauernde Früchte getragen. Wir sehen unter seiner Regierung ein energisches Vordringen der deutschen Kolonisation, die wesentlich durch die kaiserlichen Polenzüge gefördert wurde.“37 Noch entschiedener nahm dann Erich Maschke 1941 in den Nationalsozialistischen Monatsheften die Staufer im Allgemeinen und Friedrich Barbarossa im Besonderen vor dem alten Vorwurf in Schutz, sie hätten die Aufgaben und Möglichkeiten des Reiches im Osten nicht erkannt. Die Staufer und vor allem Friedrich hätten ganz im Gegenteil eine durchaus zielstrebige Ostpolitik verfolgt. An der Planmäßigkeit der Unterwerfung Polens und der Angliederung Schlesiens an das Reich könne ebenso wenig gezweifelt werden „wie an der Verbundenheit der staufischen Könige mit dem deutschen Osten.“ Schließlich sei durch Friedrichs Eingreifen in Polen bzw. durch die von ihm erzwungene Einsetzung der Söhne Władysławs, die – wie Maschke darlegte – als Kinder einer deutschen 34 Krüger: Friedrich Barbarossa (wie Anm. 32), S. 5. 35 Ebd., S. 7. 36 Pelzer, Hermann: Friedrichs I. von Hohenstaufen Politik gegenüber Dänemark und Ungarn, Münster 1906, S. 7. 37 Ebd., S. 52.

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Mutter „dem Blute nach überwiegend“ und als Zöglinge des kaiserlichen Hofes „der Kultur nach ganz und gar Deutsche“ waren, die entscheidende Voraussetzung für die Eindeutschung Schlesiens geschaffen worden.38 Wie zäh sich dieses Bild, wenn auch leicht modifiziert, nach 1945 weiter hielt, zeigen die Ausführungen des Gießener, dann Göttinger Landeshistorikers Hans Patze von 1962, die 1979 an keinem geringeren Ort als in den „Vorträgen und Forschungen“ des Konstanzer Arbeitskreises nachgedruckt wurden.39 Friedrichs Feldzug von 1157 wird hier einmal mehr als Strafaktion gegen die Unbotmäßigkeit des polnischen Herzogs beschrieben, in dessen Ergebnis „Polen die Oberhoheit des Reiches abermals“ anzuerkennen hatte. Zwar enthält sich Patze in diesem Zusammenhang jeglicher negativer Charakterisierungen der Polen, geht auch etwas näher auf die innerpolnischen politischen Verwicklungen ein und entkoppelt – an dieser Stelle – die politischen Interventionen Barbarossas auch vom Landesausbau, wenn er feststellt, das „die deutsche Besiedlung Schlesiens […] indes vor 1180 nicht in Gang gekommen zu sein“ scheint. Doch zugleich fällt Patze erkennbar in das alte deutschtumszentrierte Deutungsmuster zurück. So spricht er nicht von Eingriffen Barbarossas in „Polen“, sondern in „Schlesien“ und hebt nachdrücklich hervor, dass „das Land […] in der Folge deutsches Land geworden“ sei. Die staufische Ostpolitik, so Patze, „konnte im 12. Jahrhundert nicht mehr in Kriegs- und Unterwerfungszügen gegen die Slawen bestehen.“ Vielmehr musste „das Reich [...] nach Osten als Staat fortgebaut werden“, indem Friedrich „Männern mit außergewöhnlichen Fähigkeiten“, nämlich Reichsfürsten wie Heinrich dem Löwen, die Aufgabe übertrug, die Marken des Reiches in territoriale Flächenstaaten, in „Landstaaten im deutschen Osten“, umzubauen. Und so habe Friedrich „durch direkten Eingriff, Gewährenlassen und politische Lenkung der deutschen Reichsfürsten im Osten […] entscheidend die Grenzen bestimmt, die in den folgenden Jahrhunderten den Lebensraum des deutschen Volkes bezeichneten und die auszufüllen das deutsche Volk die Kraft hatte.“ Dass Patze hier – 1979 ! – noch ganz explizit von „deutschem Volksboden“ spricht, lässt an seiner mentalen Verwurzelung im Paradigma der deutschen Ostforschung keine Zweifel. 38 Maschke, Erich: Die Ostpolitik der staufischen Könige, in: Nationalsozialistische Monatshefte 12 (1941), H. 134, S. 442–470, die Zitate S. 445 f. 39 Patze, Hans: Kaiser Friedrich Barbarossa und der Osten, in: Mayer, Theodor (Hg.): Probleme des 12. Jahrhunderts. Reichenau-Vorträge 1965–1967, Konstanz 1968, S. 337–408; die nachfolgenden Zitate S. 357, 378 und 407.

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Das zentrale Charakteristikum dieser Ostforschung, auf die ich hier nicht ausführlich eingehen kann, bestand bekanntlich darin, dass auch sie sich – wie die allgemeine deutschsprachige Mediävistik – für die Geschichte Ostmittel­ europas bzw. Polens nur als Funktion der deutschen Geschichte interessierte, d.h. Ostmitteleuropa eben nur als Deutschen Osten wahrnahm.40 Aus dieser Perspektive gab es neben der vermeintlichen politischen Abhängigkeit vom Reich und der vermeintlich frühen „Deutschwerdung“ Schlesiens und Pommerns aus dem polnischen 12. Jahrhundert für einen deutschen Ostforscher wenig Bemerkenswertes. Eine prominente Ausnahme war die Gestalt eines im zweiten Viertel des 12. Jahrhunderts wirkenden piastischen Amtsträgers, des comes palatinus Petrus Vlostides.41 Sein Schicksal hat schon die mittelalterlichen Zeitgenossen zu Legendenbildungen veranlasst und die Historiographie seit der Frühen Neuzeit bewegt – er blieb denn auch ein beliebtes Thema der schlesischen Landesforschung und deutschen Ostforschung des 19. und 20. Jahrhunderts. Colmar Grünhagen charakterisierte diesen – in der deutschsprachigen Forschung Peter Wlast genannten – Mann 1874 noch als einen der „angesehenste[n] Magnaten des polnischen Reiches“ und wies zugleich dessen von Teilen der mittelalterlichen Chronistik und späteren Historiographie angenommene dänischskandinavische Herkunft als Legende zurück.42 Doch schon in der Zwischenkriegszeit neigten schlesische Heimatforscher wieder vermehrt zur Annahme einer nordischen Herkunft des Peter Wlast, verbanden diese aber entweder mit einer endogenen mütterlichen schlesischen Abstammung aus einem, wie Fedor von Heydebrandt von der Lasa formulierte, „zu Breslau sitzenden Häuptlings-

40 Mühle, Eduard: ‚Ostforschung‘. Beobachtungen zu Aufstieg und Niedergang eines geschichtswissenschaftlichen Paradigmas, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung 46 (1997), S. 317– 350. 41 Bieniek, Stanisław: Piotr Włostowic. Postać z dziejów średniowiecznego Śląska, Wrocław u.a. 1965; Bieniak, Janusz: Polska elita polityczna XII wieku. Część III A. (Arbitrzy książąt – krąg rodzinny Piotr Włostowica), in: Społeczeństwo Polski średniowiecznej 4 (1990), S. 13–107; Rosik, Stanisław: Peter Wlast († um 1151), in: Bahlcke, Joachim (Hg.): Schlesische Lebensbilder, Bd. 11, Insingen 2012, S. 11–24; Mühle, Eduard: Zu den Anfängen des mittelalterlichen Adels in Polen. Das Beispiel des Piotr Włostowic, in: Bagi, Daniel u.a. (Hg.): ‚KöztesEuropa‘ vonzásában. Ünnepi tanulmányok Font Marta tiszteletére, Pécs 2012, S. 357–374. 42 Grünhagen, Colmar: Die Vertreibung Władysławs II. von Polen und die Blendung Peter Wlasts, in: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 12 (1874), S. 77–97, das Zitat S. 78.

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geschlecht des Gaus Slenzane“43 oder, wie Friedrich Reiche, mit der Abstammung von einem rus’ischen Varäger.44 Zu einem „Wikinger auf ostdeutschem Boden“, zu einem Spross aus einer jener „mächtigen Familien germanischen Blutes“, zu einer Gestalt, die „nur dann wirklich verständlich“ wird, wenn man sie „als Nordgermanen“ sieht, wurde Peter Wlast dann naheliegenderweise vor allem um 1940. Es war der Breslauer Aubin-Schüler Hermann Uhtenwoldt, der den piastischen Amtsträger mit den angeführten Zitaten vorstellte, ihn als „Wegbereiter eines deutschen Schlesiens“ charakterisierte und ihn zu einer „Kriegerund Feldherrngestalt […] von der großartigen Unbefangenheit d[…]er Menschen des wikingischen Zeitalters [stilisierte], die Gewissensskrupel herzlich wenig kennen […] und […] Menschen ohne inneren Bruch, mit einem Wort: ganze Kerle sind.“45 Die ideologische Stoßrichtung solcher Beschwörungen lag auf der Hand – sie waren nicht zuletzt an jene Soldaten adressiert, die wie Uhtenwoldt selbst an der Ostfront kämpften und fielen.46 Auch nach 1945 blieb Petrus Vlostides für vertriebene Schlesienforscher wie Karl Eistert und Eberhard Richtsteig ein Mann „nordischer Abstammung“ bzw. Abkömmling einer Großenfamilie „wikingischen Blutes“.47 Auch dies ist ein bezeichnendes Beispiel dafür, wie hartnäckig sich die Bilder und Vorstellungen der deutschen Ostforschung hielten. Immerhin begannen gleichzeitig, d.h. seit den späten 1950–60er Jahren,

43 Heydebrand und der Lasa, Fedor von: Peter Wlast und die nordgermanischen Beziehungen der Slaven, in: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 61 (1927), S. 247–278, das Zitat S. 263. 44 Reiche, Friedrich: Die Herkunft des Peter Wlast, in: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 60 (1926), S. 127–132. 45 Uhtenwoldt, Hermann: Peter Wlast. Graf von Breslau. Ein Wikinger auf ostdeutschem Boden, Breslau 1940, die Zitate S. 11 und 20. 46 Zu Uhtenwoldts Verankerung in der Breslauer Schule der Aubinschen Ostforschung Mühle, Eduard: Die ‚schlesische Schule der Ostforschung‘. Hermann Aubin und sein Breslauer Arbeitskreis in den Jahren des Nationalsozialismus, in: Hałub, Marek/Mańko-Matysiak, Anna (Hg.): Śląska republika uczonych/Schlesische Gelehrtenrepublik/Slezká vědecká obec, Wrocław 2004, S. 568–607, bes. S. 580 f., 600 f. 47 Eistert, Karl: Peter Wlast, Vinzenzstift und Wallonen in Stadt und Kreis Ohlau, in: Zeitschrift für Geschichte Schlesiens 76 (1942), S. 10–39; Ders.: Peter Wlast und die Ohlauer Blasiuskirche, in: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 13 (1955), S. 1–16; Richtsteig, Eberhard: Peter Wlast, in: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 18 (1960), S. 1–27; 19 (1961), S. 1–24; 20 (1962), S. 1–28.

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professionelle Osteuropahistoriker wie Herbert Ludat,48 Manfred Hellmann,49 aber auch der im Auswärtigen Amt tätige, vormalige Mitarbeiter der Berliner Publikationsstelle um Albert Brackmann und Hermann Aubin, Oskar Eugen Kossmann50 einen differenzierteren Blick auf das ostmitteleuropäische Mittelalter im Allgemeinen und das polnische 12. Jahrhundert im Besonderen zu entwickeln und zu verbreiten. Freilich blieben ihre einschlägigen verfassungs-, siedlungs-, sozial- und agrarhistorischen Arbeiten weiterhin vom größeren Interesse an der deutsch-polnischen beziehungsgeschichtlichen Verflechtung während der ottonisch-salischen Zeit einerseits und während der Zeit des intensiven Landesausbaus andererseits überschattet. Welche konkreten Themen, Fragestellungen und Interpretationsansätze bezüglich des polnischen 12. Jahrhunderts diese „verwissenschaftlichte“, an der genuinen polnischen Geschichte interessierte Ostmitteleuropa- bzw. Polenforschung entwickelt hat und heute entwickelt, wäre ein lohnender Gegenstand eines weiteren Beitrags.

48 Vgl. etwa Ludat, Herbert: Soziale und politische Strukturprobleme des frühpiastischen Polen, in: Ders. (Hg.): Agrar-, Wirtschafts- und Sozialprobleme Mittel- und Osteuropas in Geschichte und Gegenwart, Wiesbaden 1965, S. 371–392; Ders.: Deutsch-slawische Frühzeit und modernes polnisches Geschichtsbewusstsein. Ausgewählte Aufsätze, Köln/Wien 1969, S. 82–127 und S. 202–221. 49 Vgl. etwa Hellmann, Manfred: Wandlungen im staatlichen Leben Altrußlands und Polens während des 12. Jahrhunderts, in: Mayer, Theodor (Hg.): Probleme des 12. Jahrhunderts, Konstanz u.a. 1968, S. 273–290. 50 Vgl. etwa Kossmann, Oskar Eugen: Polen im Mittelalter. [Bd. 1:] Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte, Marburg 1971; Ders.: Polen im Mittelalter. Bd. 2: Staat, Gesellschaft, Wirtschaft im Bannkreis des Westens, Marburg 1985.

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Die polnische Öffentlichkeit im 19. und frühen 20. Jahrhundert gegenüber den preußischen Initiativen zur Verherrlichung Friedrichs I. Barbarossa

Als ich mit der Bearbeitung des im Titel genannten Themas begann, hatte ich eine Vermutung, wie die polnische Öffentlichkeit seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert Aktionen der preußischen Behörden kommentiert haben könnte, die zur Verherrlichung Friedrichs I. Barbarossa dienen sollten.1 Ich dachte, die polnische öffentliche Meinung hätte sich sehr intensiv für diese Frage interessiert, weil in den künstlerischen und zugleich propagandistischen Initiativen die Ambitionen des Deutschen Reichs auf mehr Bedeutung in Europa und der Welt sehr gut zum Ausdruck kamen. Schließlich knüpfte man an die Zeit der Herrschaft dieses großen Kaisers an, als das staufische Kaiserreich nicht nur ganz Deutschland und Italien beherrschte, sondern seine Oberherrschaft auch auf große Teile Mitteleuropas ausdehnte. Dies schien mir umso offensichtlicher zu sein, als ich im Verlauf meines schulischen Geschichtsunterrichts öfter Interpretationen begegnet war, die die deutsch-polnischen Konflikte im Mittelalter mit der „Geschichtspolitik“ Preußens und dessen antipolnischen Aktivitäten sowie dem Widerstand der polnischen Bevölkerung in der Provinz Posen in Zusammenhang brachten, dessen Symbole der „Wagen des Drzymała“2 oder der Schul­streik 1

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Seeber, Gustav: Von Barbarossa zu Barbablanca. Zu den Wandlungen des Bildes von der mittelalterlichen Kaiserpolitik im Deutschen Reich, in: Töpfer, Bernhard/Engel, Evamaria (Hg.): Kaiser Friedrich Barbarossa. Landesausbau – Aspekte seiner Politik – Wirkung, Weimar 1994, S. 205–220; Boockmann, Hartmut: Friedrich I. Barbarossa in der Malerei und bildenden Kunst des Historismus, in: Federico I Barbarossa e l’Italia nell’ottocentesimo anniversario della sua morte (Bullettino dell’Istituto Storico Italiano per il Medio Evo e Archivio Muratoriano 96) Roma 1990, S. 347–365. Sprungala, Martin: Das Leben des polnischen „Helden“ Michel Drzymała (1857–1937), in: Jahrbuch Weichsel-Warthe (2006), S. 152–161; Gründler, Karl Friedrich: Nationalheld auf Rädern, http://www.zeit.de/2004/26/A-PolBoden (letzter Zugriff: 09.04.2016).

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in Września (Wreschen) waren.3 Für die Polen, so schien mir, sollte nicht nur die allgemeine Bedeutung der preußischen Initiativen interessant und denkwürdig gewesen sein; sie müssten sich auch mit den Objekten dieser spezifischen Geschichtspolitik und der ideologischen Verknüpfung des mittelalterlichen Kaisers mit dem damals regierenden Herrscher des Zweiten Reiches, Wilhelm I. (1871–1888), auseinandergesetzt haben.4 Das nach einem Entwurf von Bruno Schmitz errichtete Monument auf dem Kyffhäuser war schließlich monumental und enthielt ein komplexes ikonografisches Programm. Dieses Denkmal für Wilhelm I. wurde zwischen 1890 und 1896 mit großem materiellen und finanziellen Aufwand errichtet.5 Seine Enthüllung am 19. Juni 1896 war ein Ereignis, an dem neben Kaiser Wilhelm II. auch die deutschen politischen Eliten teilnahmen. Ähnliche ideologische Bedeutung besaß die Restaurierung, oder besser gesagt der Umbau, der ehemaligen Kaiserpfalz in Goslar und ihre Ausmalung mit einem Freskenzyklus von Hermann Wislicenus, die zehn Jahre lang dauerte und im Jahre 1897 beendet wurde. Ihr Inhalt war von dem Gedanken der Vollendung des mittelalterlichen Reiches durch das Zweite Reich dominiert, wobei Friedrich Barbarossa und sein Erwachen aus dem mythischen Schlaf typologisch auf Wilhelm I. verwies, der Deutschlands Macht und Rolle in der Welt gewährleisten sollte.6 Eine weitere, Polen viel stärker betreffende, weil auf dem Territorium des ehemaligen polnischen Staates errichtete preußische Unternehmung, die die oben genannten Ideen in gewisser Weise ebenfalls verkörperten, war die Errichtung des sogenannten Kaiserviertels in Posen am Ende des 19. Jahrhunderts nach

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Borodziej, Łucja: Pruska polityka oświatowa na ziemiach polskich w okresie Kulturkampfu, Warszawa 1972, S. 169–222; Balzer, Brigitte: Die preußische Polenpolitik 1894–1908 und die Haltung der deutschen konservativen und liberalen Parteien (unter besonderer Berücksichtigung der Provinz Posen), Frankfurt a. M./New York 1990; Trzeciakowski, Lech: Prusy wobec kwestii polskiej, Poznań 1987. Seeber: Von Barbarossa zu Barbablanca (wie Anm. 1), S. 211. Mai, Gunther: Das Kyffhäuser-Denkmal 1896–1996, Köln 1997. Baumunk, Bodo M./Brune, Thomas: Kyffhäuser – Deutschlands Sagenthron, in: Weigend, Friedrich/Baumunk, Bodo/Brune, Thomas: Keine Ruhe im Kyffhäuser. Das Nachleben der Staufer. Ein Lesebuch zur deutschen Geschichte, Stuttgart/Aalen 1978, S. 35–82, hier. S. 65 f.; Boockmann: Friedrich I. Barbarossa (wie Anm. 1), S. 359 f.; Seeber: Von Barbarossa (wie Anm. 1), S. 215; Schreiner, Klaus: Die Staufer in Sage, Legende und Prophetie, in: Die Zeit der Staufer. Geschichte – Kunst – Kultur. Katalog der Ausstellung Stuttgart 1977, Bd. 3: Aufsätze, Stuttgart 1977, S. 249–262.

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einem Entwurf des renommierten Stadtplaners Joseph Stübben.7 Wichtig war besonders der Bau des von Franz Schwechten entworfenen Königlichen Residenzschlosses in den Jahren 1905–1910, des wichtigsten Objektes dieses Viertels.8 Bestimmte Elemente der Verzierung der kaiserlichen Residenz in Posen betonten ganz besonders die Verbindungen des Herrschers des Zweiten Reiches mit den mittelalterlichen Kaisern, vor allem mit Karl dem Großen und Friedrich Barbarossa. Diese Ideen wurden am klarsten in den Interieurs des prächtigen Thronsaales und der Kapelle hervorgehoben, die im Stil der berühmten Capella Palatina im normannischen Königspalast in Palermo gestaltet wurden. Ich betone schon jetzt, dass die Reaktion polnischer intellektueller Kreise auf all diese Unternehmungen ganz anders aussah als von mir erwartet. Die Sache ist interessant und bedeutsam, wenn auch nicht sofort offensichtlich und leicht zu interpretieren. Wir versuchen, diese Frage zuerst durch eine Analyse der Presseberichte zu untersuchen, danach betrachten wir verschiedene populäre und politische Publikationen und beschließen unsere Untersuchungen mit Beispielen aus der Belletristik. Der zeitliche Rahmen unserer Untersuchung umfasst die Periode vom Bau des Kyffhäuserdenkmals bis zur Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Das erste Datum ist recht offensichtlich, da mit ihm eine Art preußische „Geschichtspolitik“ beginnt, die bewusst an Friedrich Barbarossa anknüpft. Das zweite Datum bedarf hingegen einer gewissen Begründung. Der Zweite Weltkrieg und die Periode davor bilden eine für die polnisch-deutschen Beziehungen völlig außergewöhnliche Epoche. Obwohl die vom Hitlerregime entfaltete Propaganda an gewisse, von den preußischen Behörden gepflegte, antipolnische Stereotype anknüpfte, lässt sie sich nicht als deren bloße Fortsetzung beschreiben. Denn die Politik Preußens gegenüber Polen verblieb ja irgendwie immer im Rahmen der europäischen Zivilisation. Demgegenüber überschritt die Propaganda und schlimmer noch die Politik der nationalsozialistischen Regierung jegliche Grenzen des Verhaltens zivilisierter Völker. In Polen führte dies zu starken antideutschen Reaktionen von früher unbekanntem Ausmaß. Aber dieses Thema bildet bereits eine gesonderte Forschungsproblematik. 7 8

Pałat, Zenon: Architektura a polityka. Gloryfikacja Prus i niemieckiej misji cywilizacyjnej w Poznaniu na początku XX wieku, Poznań 2011, S. 20 f. Schwendemann, Heinrich/Dietsche, Wolfgang: Hitlers Schloß. Die „Führerresidenz“ in Posen, Berlin 2003; Pazder, Dariusz/Dolczewska, Aleksandra: Atlas architektury Poznania, Poznań 2008, S. 184 f.; Topolski, Jerzy/Trzeciakowski, Lech: Dzieje Poznania 1793– 1918 (Dzieje Poznania, Bd. 2, Tl. 1), Warszawa/Poznań 1994, S. 569–572.

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Daher wollen wir jetzt, nachdem wir den zeitlichen Rahmen bestimmt haben, untersuchen, wie die oben genannten preußischen Unternehmungen von den wichtigsten Trägern der Meinungsbildung in der polnischen Gesellschaft wahrgenommen wurden, d.h. von der Presse und vom Universitätsmilieu. Wir dürfen nicht vergessen, dass diese in einer Zeit ohne andere Medien die wichtigsten Zentren für den Erhalt von Informationen und für die Beeinflussung der allgemeinen Ansichten bildeten. Wie wir wissen, waren die polnischen Gebiete im ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwischen Preußen und dem daraus entstandenen Deutschen Reich, Russland und Österreich-Ungarn aufgeteilt. Die größte Freiheit zur Pflege der Wissenschaft und auch die größte Pressefreiheit gab es im sogenannten Galizien, in dem Teil des ehemaligen Polen, der innerhalb der Habsburger Monarchie lag. Diese Provinz war autonom und besaß eine von Polen dominierte eigene Regierung. Lemberg (Lwiw) war die Hauptstadt Galiziens, die vor dem Ersten Weltkrieg über 200.000 Einwohner hatte. Für ca. 65 % von ihnen war Polnisch die Muttersprache.9 Dort befand sich damals die größte und beste polnische Universität.10 Krakau (Kraków), die zweitgrößte Stadt in Galizien, hatte etwas weniger als 140.000 Einwohner, von denen ca. 70 % Polen waren.11 In Krakau (Kraków) existierte schon seit dem 15. Jahrhundert ununterbrochen eine Universität12. Zwar hatte sie im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert eine etwas geringere Bedeutung als die in Lemberg (Lwiw), aber die Stadt selbst bildete das wichtigste Zentrum des literarischen und künstlerischen Lebens im damaligen Polen.13 Warschau (Warszawa), die Hauptstadt des russischen Teils Polens, zählte vor

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Papee, Fryderyk: Historja miasta Lwowa, Lwów/Warszawa 1924, S. 228 f.; Podhorecki, Leszek: Dzieje Lwowa, Warszawa 1993, S. 127: Fast 87 % der Bewohner hätten ständig die polnische Sprache verwendet. Dybiec, Julian: Uniwersytet Lwowski pod zaborem austriackim, in: Lohman, Wanda (Hg.): Universitati Leopoliensi. Trecentesimum quinquagesimum anniversarium suae fundationis celebranti in memoriam, Kraków 2011, S. 65–76. Zyblikiewicz, A. Lidia: Ludność Krakowa w drugiej połowie XIX wieku. Struktura demograficzna, zawodowa i społeczna, Kraków 2010; Purchla, Jacek: Jak powstał nowoczesny Kraków, Kraków 1990, S. 81, 261–290. Banach, Andrzej K./Dybiec, Julian/Stopka, Krzysztof: Dzieje Uniwersytetu Jagiellońskiego, Kraków 2000. Purchla, Jacek: Matecznik Polski. Pozaekonomiczne czynniki rozwoju Krakowa w okresie autonomii galicyjskiej, Kraków 1992, S. 36–40.

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dem Ersten Weltkrieg ca. 700.000. Einwohner, von denen etwa 62 % Polen waren.14 In der Stadt gab es nur eine russische Universität.15 Auch Wilna (Vilnius) besaß keine polnische Universität. Die Bevölkerung dieser Stadt zählte ca. 140.000 Einwohner, davon waren 54 % Polen.16 Sowohl Warschau (Warszawa) als auch Wilna (Vilnius) verfügten jedoch über Traditionen kultureller Aktivitäten der früher dort existierenden, polnischen Universitäten, die von den russischen Behörden liquidiert worden waren, und über eine relativ zahlreiche Intelligenz.17 Die Hauptstadt des preußischen Großherzogtums Posen hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwas weniger als 160.000 Einwohner, davon waren ca. 57 % Polen.18 Es gab dort keine polnische Universität, obwohl die Stadt selbst eine Tradition der alten Universität besaß, die die preußischen Behörden liquidiert hatten.19 Unsere Untersuchung der Medienberichte über den preußischen Kult um Friedrich Barbarossa beginnen wir in Posen, denn wie es scheint, müsste die polnische Öffentlichkeit gerade dort am intensivsten auf das uns interessierende Phänomen reagiert haben. Seit 1859 war Dziennik Poznański [Posener Tageszeitung]20 die wichtigste polnischsprachige Zeitung der Preußen gegenüber versöhnlich eingestellten, polnischen liberalen Kreise. Dieses Blatt war an Grundbesitzer und eine im weitesten Sinne verstandene Intelligenz (Intelligenzija) adressiert. Es erreichte im ausgehenden 19. Jahrhundert relativ hohe Auflagen.21 Wenn wir die Seiten der Zeitung durchsehen und nach Berichten über die Enthüllung des 14 15

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Drozdowskie, M. Marek/Zahorski, Andrzej: Historia Warszawy, Warszawa 2004. Królikowski, Lech: Szkolnictwo dawnej Warszawy. Rzecz o korelacji pomiędzy rozwojem miasta a szkolnictwem (od połowy XVII wieku do wybuchu drugiej wojny światowej), Warszawa 2008. Chojnowski, Andrzej: Koncepcja polityki narodowościowej rządów polskich w latach 1921– 1939, Wrocław 1979; Skarbek, Jan: Białoruś, Czechosłowacja, Litwa, Polska, Ukraina: Mniejszości narodowe w świetle spisów statystycznych XIX–XX w.: liczebność i rozmieszczenie – stosunki narodowościowe – polityka narodowościowa, Lublin 1996. Baranowski, Henryk: Uniwersytet Wileński, 1579–1939, Toruń 1996. Topolski/Trzeciakowski: Dzieje Poznania (wie Anm. 8), S. 226, 235. Boras, Zygmunt: Tradycje uniwersyteckie Poznania, Poznań 2003; Chmarzyński, Gwidon/ Piwowarski, Kazimierz/Ziółkowska, Hanna (Hg.): Dziesięć wieków Poznania, Bd. 2: Kultura umysłowa, Poznań/Warszawa 1956; Topolski/Trzeciakowski: Dzieje Poznania (wie Anm. 8), S. 462–478. http://www.wbc.poznan.pl/publication/2290 (letzter Zugriff: 20.04.2016). Łojek, Jerzy/Kmiecik, Zenon: Prasa polska w latach 1864–1918, Warszawa 1976.

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Denkmals auf dem Kyffhäuser suchen, dann ist dort weder am 19. noch am 20. Juni 1896 etwas zu finden. Erst in der Ausgabe vom 21. Juni, auf der dritten Seite, in der Abteilung Berichte, bemerken wir einen nicht unterzeichneten Pressebericht mit einer falschen Datierung des Ereignisses. Dort können wir lesen: „Gestern gab es eine feierliche Enthüllung des Denkmals für Kaiser Wilhelm I. auf dem Kyffhäuser. Der Kaiser wurde vom General der Infanterie Spitz begrüßt. Die Inaugurationsrede hielt Dr. Westphal, dem der Kaiser antwortete. Er richtete seine Rede vor allem an die Verbände der Soldaten und äußerte den Wunsch, dass es Deutschland nie an Männern fehlen möge, die in Bezug auf Treue, Hingabe und Liebe fürs Vaterland denen ähnelten, die dem großen Kaiser gedient hatten.“ Es ist nicht bekannt, ob sich der Autor mit dem Begriff des „großen Kaisers“ auf Friedrich Barbarossa bezog, dessen sitzende Gestalt auf dem Sockel des Denkmals dargestellt wurde, oder auf Wilhelm I., dessen aus Bronze gegossenes Reiterstandbild das obere Podest beherrscht. Eher handelte es sich wohl um letzteren. Allerdings war dieser Pressebericht nur sehr knapp, so dass der nicht mit den Details des Kyffhäuserdenkmals vertraute Leser dieses Monument überhaupt nicht mit Friedrich I. Barbarossa verbinden konnte. Eine andere wichtige Tageszeitung, der Kurier Poznański [Posener Kurier], die eine ähnliche Position wie das oben erwähnte Blatt vertrat und in Bezug auf Preußen ebenfalls loyal, aber enger mit der katholischen Kirche verbunden war, veröffentlichte einen ähnlichen Bericht.22 Er wurde ebenfalls auf der dritten Seite abgedruckt, aber einen Tag früher und mit korrekter Angabe, wann das Ereignis stattgefunden hatte. Allerdings fehlt dort die Erwähnung des „großen Kaisers“. Auch in diesem Fall konnte der einfache Leser das Kyffhäuserdenkmal nicht mit Friedrich I. Barbarossa in Verbindung bringen. Ähnlich zurückhaltende Berichte über dieses Ereignis, die lediglich mit der loyalen Haltung gegenüber dem Herrscher Wilhelm II. in Zusammenhang standen, ohne die historischen Kontexte des Denkmals zu erwähnen, erschienen in allen polnischen Zeitungen in Posen und in ganz Preußen, von der schlesischen Gazeta Opolska [Oppelner Zeitung] oder den Wiadomości Raciborskie [Ratiborer Nachrichten] über die Gazeta Grudziądzka [Graudenzer Zeitung] bis hin zur Gazeta Olsztyńska [Allensteiner Zeitung]. Dies waren jedoch Blätter mit einer 22 http://www.wbc.poznan.pl/dlibra/publication?id=16370&from=&dirids=1&tab=1&lp=1&QI (letzter Zugriff: 20.04.2016).

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viel geringeren Auflage und einer entsprechend kleineren Leserschaft als diejenigen in Großpolen.23 Diese knappen Informationen in der polnischen Presse kontrastierten mit den Nachrichten der auflagenstarken deutschsprachigen Zeitungen.24 Zum Beispiel brachte das Posener Tageblatt bereits am Tag der Veranstaltung (am 19. Juni 1896) in der Ausgabe Nummer 284 auf der dritten Seite zwar ebenfalls nur einen Pressebericht über die feierliche Enthüllung des Kyffhäuserdenkmals; dieser war jedoch sehr umfangreich. Einen Tag später (am 20. Juni 1896) erschien dann in der Nummer 285, diesmal bereits auf der ersten Seite unten, ein umfangreicher Artikel mit dem Titel „Das Kyffhäuser-Denkmal“.25 Dieser Text beschrieb detailliert die allgemeine Form des Denkmals, das Aussehen der unteren und der oberen Statue: die von Friedrich I. mit Bezug zur Barbarossa-Legende, die zweite mit einem Kommentar über das Verhältnis zwischen Wilhelm I. Barbablanca (Weißbart) und Friedrich I. Barbarossa (Rotbart). Kein Leser sollte Zweifel daran hegen, welche Ideen dieses Denkmal präsentierte. Wenn wir den Charakter der Berichte polnischer Zeitungen über das hier erwähnte Ereignis zusammenfassen wollen, dann kann mit Sicherheit von einem gewissen Ignorieren dieser Zusammenhänge die Rede sein. Der Loyalismus und eine gewisse Verpflichtung, den Leser zu informieren, geboten zwar, das Ereignis zu erwähnen, aber das war dann auch schon alles. Ebenso berichteten die Warschauer Zeitungen nur ganz kurz über die Einweihung des Kyffhäuserdenkmals, und zwar unter Bezug auf die Aktivitäten des gegenwärtigen deutschen Kaisers. Es wurde nur mitgeteilt, dass dieses Denkmal errichtet wurde, um Wilhelm I. zu ehren. Irgendwelche Hinweise auf Friedrich I. Barbarossa gab es nicht. Zum Beispiel berichtete der populäre auflagenstarke Kurier Warszawski [Warschauer Kurier]26 in seiner Nachmittagsausgabe vom 23 Notkowski, Andrzej: Infrastruktura materialno-techniczna polskiej prasy prowincjonalnej 1864–1914, in: Adamczyk, Mieczysław/Notkowski, Andrzej (Hg.): Życie społecznokulturalne ośrodków lokalnych ziem polskich w dobie popowstaniowej (1864–1914), Kielce/ Warszawa 1993, S. 34–50; Bednorz, Zbyszko: Nad rocznikami dawnych gazet śląskich. Studium z polskiego życia literacko-kulturalnego przełomu XIX i XX wieku, Wrocław 1971. 24 Nowakowski, Andrzej: Deutschsprachige Presse aus Großpolen und Pommern in den Beständen der Unversitätsbibliothek zu Poznań, in: „IIE aktuelle“ 28 (2005), S. 7–9; Dasselbe auch: https://repozytorium.amu.edu.pl/handle/10593/2377 (letzter Zugriff: 20.04.2016). 25 http://www.wbc.poznan.pl/dlibra/docmetadata?id=301578&from=publication (letzter Zugriff: 20.04.2016). 26 http://ebuw.uw.edu.pl/dlibra/docmetadata?id=152081&from=publication (letzter Zugriff: 20.04.2016); Kmiecik, Zenon: Prasa warszawska w latach 1886–1904, S. 30–36.

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20. Juni 1896 im Wesentlichen recht wohlwollend: „Gestern enthüllte Kaiser Wilhelm auf dem legendären Kyffhäuser ein Denkmal für Wilhelm I., diesen glücklichen Monarchen, den sich die Geschichte als Werkzeug für ihre großen Bestimmungen ausgewählt hatte“. Einzig das Wort „legendär“ hätte den erfahrenen Leser irgendwie in Richtung Friedrich Barbarossas führen können, mehr aber auch nicht. Keine der populären Tageszeitungen oder Kulturzeitschriften im polnischen Teil des Romanow-Imperiums hat irgendeine noch so geringe Beschreibung des Denkmals gebracht oder die Bedeutung des Denkmals für die, wie wir heute sagen könnten, „preußische Geschichtspolitik“ analysiert. Auch habe ich keinerlei Spuren anderer Kommentare gefunden, zum Beispiel in der damaligen Literatur oder in wissenschaftlichen Schriften, nicht einmal in touristischen Reiseführern. Lediglich den Schatten einer solchen, vielleicht übertrieben gesagt, historiosophischen Reflexion finden wir in der polnischsprachigen und von Polen in St. Petersburg herausgegebenen Wochenzeitung Kraj [Das Land].27 Diese konservative Zeitung war im gesamten russischen Teilungsgebiet Polens sowie in anderen Teilen des Zarenreiches sehr beliebt.28 In ihrer Ausgabe vom 26. Juni, Nummer 26 auf Seite 12, in der Spalte „Berichte aus dem Ausland“, beschrieb ein anonymer Verfasser ziemlich ausführlich das Denkmal Wilhelms I., aber er betonte auch deutlich die Verbindung der gesamten Anlage mit der BarbarossaLegende, dessen „sitzende Figur auf der ‚anderen Seite‘ des Denkmals dargestellt wurde“. Diese Bemerkung zeigt, dass der Kommentator das von ihm beschriebene Monument überhaupt nicht gesehen hatte, sondern seine Informationen von einem Pressezentrum oder einer Nachrichtenagentur übernommen hatte, die sicherlich von der russischen Regierung kontrolliert war. Die ganze russische Presse wurde damals von der zaristischen Administration gesteuert, überwacht und zensiert.29

27 http://pbc.biaman.pl/dlibra/publication?id=29526 (letzter Zugriff: 20.04.2016); Jarowiecki, Jerzy: Studia nad prasą polską XIX i XX wieku, Bd. 2, Kraków 2006, S. 12–33. 28 Kmiecik, Zenon: „Kraj“ za czasów redaktorstwa Erazma Piltza, Warszawa 1969. 29 Bałabuch, Henryk: Cenzura a rusyfikacja. Tożsamość czy podobieństwo celów i metod? (Uwagi na przykładzie prasy polskiej prowincjonalnej końca XIX wieku, in: Annales UMCS, Sectio F: Historia, S. 52–53 (1997/98), S. 177–199; Ders.: Prasa prowincjonalna Królestwa Polskiego w rosyjskim systemie prasowym w latach 1865–1915, Lublin 2001, S. 29–44.

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Der Charakter dieses Presseberichts war ganz offensichtlich antipreußisch, was von einer Wende in der Politik des Romanow-Imperiums zeugte. Eindeutig spöttisch gemeint war die Feststellung, dass an diesem Ereignis nur der König von Württemberg und der Großherzog von Baden teilgenommen hatten, „obwohl der Kaiser [Wilhelm II.] von seinen hochgestellten Verbündeten redete. Das Wetter war günstig, das Völkchen genoss es, und die preußischen Zeitungen betonten die Tatsache der germanischen Einheit.“ Aber eigentlich war dieser Kommentar keine typische Stimme der polnischen Öffentlichkeit, die, was aus unserer Sicht erstaunlich ist, die Geschichtspolitik der deutschen Regierung nicht offen kommentierte. Dies war noch nicht einmal in Galizien der Fall, das seine eigene Landesregierung und eine fast unabhängige politische Elite besaß. Die populärste Lokalzeitung Gazeta Lwowska [Lemberger Zeitung]30 berichtete über die Enthüllung des Kyffhäuserdenkmals in ihrer Ausgabe vom 19. Juni 1896, Nummer 139 auf Seite 5, in der Spalte „Presseberichte“ ungewöhnlich lakonisch: „Heute hat die Enthüllung eines Denkmals für Kaiser Wilhelm I. stattgefunden; anwesend war Kaiser Wilhelm II., der von einer begeisterten Menschenmenge empfangen worden sein soll. An der Zeremonie nahm auch Prinz Günter von Schwarzburg-Rudolstadt teil“. Ebenso knapp war die Nachricht im Krakauer Czas [Die Zeit]31 in der Ausgabe vom 19. Juni 1896, Nummer 139 auf Seite 3 in den Auslandsberichten. Auffallend ist demgegenüber, dass beide Zeitungen, wie auch andere galizische Blätter, über andere Fragen sehr ausführlich informierten, die das innere Leben des Reiches, die Wirtschaftsunternehmen, sittliche und kriminelle Skandale in Galizien, Ungarn, Österreich und anderen Ländern des Habsburgerstaates betrafen. Das Gleiche trifft übrigens auch auf die Zeitungen in anderen Teilen des damaligen Polen zu. Es ist klar, wie eng Herkunft und Verbreitung der Informationen mit dem Staatsapparat verbunden waren, auch im Zusammenhang mit Geschichte. Daher überrascht es nicht, dass allein das mit dem St. Petersburger Kraj, d.h. mit dem Machtzentrum des zaristischen Russland verbundene, polnische Milieu auf die preußische Geschichtspolitik aufmerksam machte, die durch die Errichtung dieses Denkmals auf dem Kyffhäuser zum Ausdruck kam. Nur die Journalisten des Kraj beschrieben die Feierlichkeiten auf dem Kyffhäuser als 30 http://jbc.bj.uj.edu.pl/publication/8776 (lezter Zugriff: 21.04.2016); Jarowiecki: Studia nad prasą (wie Anm. 27), S. 45–80. 31 http://mbc.malopolska.pl/publication/20747 (lezter Zugriff: 21.04.2016); Jarowiecki: Studia nad prasą (wie Anm. 27), S. 188–220.

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Propaganda „germanischer Einheit“ und wiesen überhaupt auf den BarbarossaMythos hin. Diese Situation ist auch darauf zurückzuführen, dass es im Berichtszeitraum keine einheitliche polnische öffentliche Meinung gab und die verschiedenen polnischen Gemeinschaften eng mit den in den Teilungsstaaten politisch dominierenden Gruppen und deren Einbindung in das jeweils bestehende politische System verbunden waren. Daraus resultierte dann wohl auch das mangelnde Interesse polnischer Presseautoren an tiefergehenden Analysen; stattdessen kopierten sie nur die einfachen, von den offiziellen Agenturen erhaltenen Informationen. Neben der Errichtung des Denkmals auf dem Kyffhäuser wurden auch die sonstigen Projekte der preußischen Geschichtspolitik, die mit der Förderung einer Art von Barbarossa-Kult verbunden waren, also die oben genannte Renovierung der Pfalz in Goslar mit dem Bilderzyklus und vor allem der Bau der Residenz für Wilhelm II. in Posen, nicht weiter kommentiert, weder in der polnischen Presse noch in anderen Publikationen. Die Pfalzrenovierung wurde überhaupt nicht wahrgenommen. Der Posener Bau dagegen stieß auf eine ganze Reihe oppositioneller polnischer Stimmen, die aber in erster Linie von Kommentatoren im russischen Teilungsgebiet formuliert wurden, in geringerem Maße auch in Galizien. Die Schärfe der Angriffe gegen die preußischen Bauinitiativen war jedoch ausschließlich mit dem Vorwurf einer bewussten Germanisierung der polnischen Bevölkerung Großpolens verbunden. Das Problem der im künstlerischen Programm dieser Bauten enthaltenen historischen Inhalte wurde überhaupt nicht thematisiert.32 Bezeichnend ist, dass nicht einmal Józef Buzek, der sich noch am ernst­haftesten mit der preußischen Polenpolitik befasste,33 die Bedeutsamkeit historischer Fragen und der daraus resultierenden ideologischen Bedeutungen erkannte. Buzek war immerhin ein hervorragender Politiker, Wirtschaftswissenschaftler, Statistiker und Professor der Rechtswissenschaften an der Lemberger (Lwiwer) Universität.34Aber selbst wenn als Kommentar zu den preußischen Unternehmungen historische Analysen erschienen wären, hätten sie für Friedrich  I. ­Barbarossa nicht unbedingt negativ sein müssen. Dieser mittelalterliche Kaiser 32 Pałat: Architektura a polityka (wie Anm. 7), S. 198–202. 33 Buzek, Józef: Historya polityki narodowościowej rządu pruskiego wobec Polaków, Lwów 1909. 34 Głąbiński, Stanisław: Buzek Józef, in: Brożek, Jan/Chwalczewski, Franciszek (Hg.): Polski Słownik Biograficzny, Bd. 3, Kraków 1937, S. 155 f.

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hatte in der frühen polnischen Geschichtsschreibung keine negativen Konnotationen. Im Grunde bestimmte, selbstverständlich höchst vereinfachend gesprochen, Magister Vincentius (Kadłubek) bis in das 19. Jahrhundert das Bild dieses Kaisers in der polnischen Historiographie. Zwar wurde Friedrich I. in seiner Chronik draco rufus („der rote Drache“) genannt,35 aber dieser Name war für die späteren Geschichtsschreiber nicht mehr verständlich, und selbst die kaiserliche Intervention in Polen im Jahre 1157 wurde eher der bösartigen Haltung Władysławs II. zugeschrieben. Weder wollte der deutsche Herrscher das Land der Piasten überfallen noch sich in den dynastischen Konflikt einmischen; vielmehr musste er, bestürmt durch Bitten des aus dem Land vertriebenen Władysław und seiner Frau, einer Verwandten des Kaisers, schließlich reagieren. Diese Art der Darstellung Friedrichs I. Barbarossa als eines von rechtschaffenen Motiven geleiteten Herrschers, der im Grunde genommen zuerst von Władysław II. getäuscht und später von Bolesław IV. Kraushaar irregeführt wurde, dominierte in der alten polnischen Geschichtsschreibung. Nur Adam Naruszewicz ging in seiner Geschichte der polnischen Nation, die im späten 18. Jahrhundert erschien, in einem breiteren Rahmen auf die Aktivitäten Barbarossas ein. Er schrieb über Barbarossas italienische Expeditionen und über den Kreuzzug. Aber auch seine Darstellung des Feldzuges von 1157 bewegte sich in den von Magister Vincentius vorgezeichneten Bahnen. Und obwohl er dies nicht explizit schrieb, bot seine Geschichte der polnischen Nation eine Erklärung für das mangelnde Interesse des Kaisers an Polen, dessen Politik ja nach Süden orientiert gewesen sei.36 Andere polnische Historiker des 19. Jahrhunderts unterschieden sich voneinander zwar in Details, was die Erwähnungen Barbarossas betrifft, aber im Allgemeinen beurteilten ihn alle neutral; die Informationen über ihn waren nichtssagend. Somit stand die polnische Öffentlichkeit des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts den Initiativen der mit Friedrich Barbarossa verbundenen preußischen Geschichtspolitik eher gleichgültig gegenüber. Ähnlich spielte auch in der historischen Reflexion in Polen die Gestalt des Kaisers keine größere Rolle, weil man sich mehr auf innere Angelegenheiten konzentrierte. Auch die Abtrennung 35

Magistri Vincentii dicti Kadłubek Chronica Polonorum 3, 30, ed. Marian Plezia (Monumenta Poloniae Historica nova series 11) Kraków 1994, S. 124. Des Weiteren siehe auch: Eduard Mühle (Hg.): Die Chronik der Polen des Magisters Vincentius (Ausgewählte Quellen zur Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 48) Darmstadt 2014. 36 Naruszewicz, Adam: Historya narodu polskiego, Bd. 2, Lipsk 1836, S. 296–308.

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Schlesiens von Polen wurde nicht mit den Söhnen Władysławs II. in Verbindung gebracht, obwohl diese das Land auf Druck des Kaisers erhalten hatten und seine Vasallen geworden waren. Den Verlust dieser Provinz verbindet die polnische Historiographie, gewissermaßen zu Recht, nicht mit Friedrich Barbarossa oder überhaupt mit dem Reich, sondern mit dem verlorenen Krieg Kasimirs III. des Großen gegen den König von Böhmen, der die meisten schlesischen Herzogtümer von sich abhängig machte, sowie mit dem mangelnden Interesse der Jagiellonen an der Rückgewinnung Schlesiens. In der polnischen Belletristik des 19. Jahrhunderts spielt die Gestalt Barbarossas keine wesentliche Rolle. Schriftsteller wie Bolesław Prus37 oder Henryk Sienkiewicz, die für ihre antipreußischen, aber nicht unbedingt antideutschen Ansichten bekannt sind, messen den Aktivitäten dieses mittelalterlichen Herrschers nicht die geringste Bedeutung für die polnisch-deutschen Beziehungen zu.38 Ähnlich erkannte der herausragende polnische Politiker und Deutschenfeind Roman Dmowski weder die Bedeutung der mit der Person Friedrich Barbarossas verbundenen preußischen Geschichtspolitik, noch stellte er diesen Kaiser als jemanden dar, der irgendwann die polnischen Interessen geschmälert hätte.39 Allerdings gibt es doch wenigstens eine Spur der Rezeption seines Mythos. Und zwar handelt es sich um eine am Ende des 19. Jahrhunderts auftauchende Sage, die von Krakauer Schriftstellern wie Kazimierz Przerwa-Tetmajer und Jan Kasprowicz thematisiert wurde. Diese Geschichte, angeblich eine alte Volkslegende, hat verschiedene Varianten. Alle sprechen von einer großen und tiefen Höhle, die sich im Inneren des in der Nähe von Zakopane gelegenen Berges Giewont befinden soll, eines beliebten Reiseziels der Krakauer Intelligenz. Innerhalb dieser Grotte schläft ein König mit seinen Rittern. Meistens ist das Bolesław der Kühne, ein aus dem Lande vertriebener und im Exil gestorbener Herrscher. In dieser Sage jedoch wartet jener König in seiner Höhle auf die Zeit der Prüfung. 37 Karpowicz-Słowikowska, Sylwia: „Kwestia niemiecka“ w publicystyce Bolesława Prusa, Gdańsk 2011; Wajda, Kazimierz: Obraz Niemców w publicystyce polskiej lat 1871–1915, in: Wrzesiński, Wojciech (Hg.): Wokół stereotypów Niemców i Polaków, Wrocław 1993, S. 133– 153. 38 Bujnicki, Tadeusz: Polska powieść historyczna XIX wieku, Wrocław 1990. 39 Feldman, Wilhelm: Dzieje polskiej myśli politycznej w okresie porozbiorowym, Bd. 2: 1864– 1914, Kraków 1913–1920; Stadtmüller, Elżbieta: Polskie nurty polityczne wobec Niemiec w latach 1871–1918, Wrocław 1994.

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Wenn sein Land tödlich bedroht ist, wird er aufwachen, um mit seinem Heer das Land zu retten und in seinem früheren Glanz wiederherzustellen.40 Zum Schluss muss noch eine relativ ausführliche Darstellung der Person Friedrich Barbarossas in der polnischen Belletristik Erwähnung finden. Barbarossa ist nämlich eine der Schlüsselfiguren des Romans „Die roten Schilde“ von Jarosław Iwaszkiewicz, einem der bedeutendsten polnischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. „Die roten Schilde“ erschien erstmals im Jahre 193441 – und die Zeitumstände haben Iwaszkiewiczs Bild Friedrich Barbarossas sichtlich geprägt. Als Hauptheld fungiert einer der jüngeren Söhne des polnischen Herrschers Bolesław III. Schiefmund, der Sandomirer Herzog Heinrich (Henryk). Während seines Aufenthalts in Deutschland soll dieser Piast den Staufer kennengelernt und sich mit ihm angefreundet haben. Beide verbindet ihr Idealismus, und sowohl der Piast als auch der Staufer träumen von großen Taten und wollen die Welt verbessern. Heinrich wollte Iwaszkiewicz zufolge Polen vereinigen und Friedrich die gesamte Christenheit. In diesem Roman stellt der polnische Herzog eine Art Hamlet-Figur dar.42 Ihn quälen Zweifel, ob ehrenwerte Absichten moralisch zweifelhafte oder überhaupt der Moral widersprechende Mittel des politischen Kampfes rechtfertigen können. Dabei ist er ziemlich unentschlossen, wie er sein Ziel erreichen soll. Friedrich Barbarossa dagegen sind derartige Zweifel fremd; Iwaszkiewicz zufolge war er ein hartnäckiger und methodisch vorgehender Mann, der sich seiner Absichten sicher war und sie mit eiserner Konsequenz umzusetzen vermochte. Der Kaiser tritt in zwei Episoden des Romans in Erscheinung. Die erste ist relativ lang und erstreckt sich über drei Kapitel (8, 9 und 10), die zweite dagegen umfasst nur ein Kapitel (21). Die Handlung der ersten Sequenz, in welcher Barbarossa vorkommt, steht in Zusammenhang mit dem Tod Konrads III. im Jahre 1152. Heinrich von Sandomir weilt zu dieser Zeit in Deutschland, bereitet sich auf eine Wallfahrt nach Jerusalem vor und begegnet Friedrich, der damals noch Herzog von Schwaben und zum Hoftag nach Bamberg unterwegs ist. Beide Her40 Ziejka, Franciszek: Z dziejów literackiej sławy śpiących rycerzy, in: Pamiętnik Literacki 74 (1983), S. 23–49. 41 Deutsche Übersetzung von Harrer, Kurt: Die roten Schilde,Weimar 1954. 42 Tyszecka-Grygorowicz, Elżbieta: „Czerwone tarcze” Jarosława Iwaszkiewicza w kręgu tradycji modernistycznej, in: Ludorowski, Lech (Hg.): Polska powieść historyczna XX wieku, Lublin 1990, S. 187–195.

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zöge finden Gefallen aneinander. Dem Staufer gefällt Heinrichs Liebe zum Ritterhandwerk, und der Piast bewundert das Wissen und den politischen Sinn Friedrichs sowie dessen weiten intellektuellen Horizont, und ihn fasziniert sein leidenschaftliches Verlangen, die gesamte Christenheit zu vereinigen. Jarosław Iwaszkiewicz bemühte sich aufzuzeigen, wie die Macht Friedrich I. Barbarossa veränderte. Daher zeigt sich schon in der ersten Episode, in der ihm der sterbende Konrad III. in Bamberg die Herrschaft über das Reich anvertraut, ein Bruch in der bisher recht herzlichen Beziehung zwischen Friedrich und Heinrich, eine bislang unübliche herrische Distanz. Dieser Riss wird noch zunehmen und dann bei der Wiederbegegnung unserer Helden eine Rolle spielen. Im Jahre 1157 zog Friedrich I. Barbarossa, wie bereits erwähnt, mit einem Heer nach Polen, wo er zur Verteidigung der Thronansprüche Władysławs II. intervenierte. Dessen Halbbrüder, unter ihnen auch Heinrich, kämpften nicht gegen den Kaiser, sondern waren bemüht, mittels Abkommen ihren Besitzstand zu wahren. Diese historisch verbürgte Episode kommt auch in „Die roten Schilde“ vor. Da der Sandomirer Herzog den Kaiser kennt, wird er zu Verhandlungen ins deutsche Lager gesandt. Dort unterbreitet ihm Friedrich den Vorschlag, die Königskrone aus seiner Hand anzunehmen, und will ihm bei der Vereinigung Polens helfen. Der Kaiser sagt, von allen Geschwistern sei nur er allein des Herrschertitels würdig, während die anderen unbedeutende Leute seien, Gesindel, das keine Beachtung verdiene. Jarosław Iwaszkiewicz stellte sowohl Heinrich als auch Friedrich als eine Art Aristokraten des Geistes dar, als Menschen, die über ihre Umgebung hinausragten und mehr wollten als andere. Vermutlich hat sich der Schriftsteller in diesen Gestalten selbst porträtieren wollen – als einen familiär mit der europäischen Aristokratie verbundenen Menschen, dessen Eitelkeit und Ehrgeiz die Wirklichkeit übersteigt.43 Aber wichtiger für uns ist, dass der polnische Herzog und der deutsche Monarch ein topisches Heldenpaar bilden, dem der Archetyp der Dioskuren zugrunde liegt. Friedrich Barbarossa wäre demnach der männliche Typ, der in der nordischen Mythologie von den Asen verkörpert wird, da er ein entschlossenes Handeln repräsentiert, Heinrich von Sandomir dagegen ist eher der von den Wanen verkörperte weibliche Typ, welcher sich durch Kontemplation und Unentschlossenheit auszeichnet.44 Obwohl die Helden so unterschiedlich 43 Zawada, Andrzej: Jarosław Iwaszkiewicz, Warszawa 1994. 44 Lindow, John: Norse Mythology. A Guide to Gods, Heroes, Rituals, and Beliefs, Oxford 2002,

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sind, verbindet sie dennoch ein enges Band, aber sie müssen ihr eigenes Dasein bewahren und können sich nicht einig werden. Deshalb muss Heinrich von Sandomir Friedrichs Vorschlag, die ihm „auf einem goldenen Teller“ angebotene Königskrone, ablehnen. Aber die Gestalt Friedrich Barbarossas in „Die roten Schilde“ erfüllt nicht nur eine bestimmte mythische Struktur. Es scheint vielmehr, als ginge in seiner Person der verschwommene, für Iwaszkiewicz typische Wunsch nach einer „starken Hand“ in Erfüllung, die Europa vereinigen und den Teufelskreis sinnloser, den Kontinent zerstörender Kriege durchbrechen sollte. Wer weiß, ob der polnische Schriftsteller, ein linksorientierter Aristokrat, hier nicht sogar eine gewisse Präfiguration Adolf Hitlers gezeichnet hat. Denn nicht nur in der deutschen Publizistik, sondern auch in der Literatur machten verworrene Hirngespinste über einen „starken Mann“ von sich reden, der als einziger dem „Chaos der Realität“ einen Sinn verleihen kann. Kaum jemand war damals so vorausschauend, um zu erkennen, dass ein großes Volk im Herzen Europas die Herrschaft über sich einem Wahnsinnigen mit der Seele eines jeglicher Skrupel entbehrenden Mörders anvertrauen würde. Eine Spur, wie der Führer des sogenannten Dritten Reiches mit der mittelalterlichen Monarchie in Verbindung gebracht wurde, findet sich auch in der damaligen polnischen Publizistik von Antoni Sobański, des Pressekorrespondenten in Deutschland.45 Im Wesentlichen wurde Friedrich I. Barbarossa im gesamten polnischen Schrifttum vor dem Zweiten Weltkrieg neutral dargestellt. Keinesfalls wurde dieser Herrscher mit dem Verlust Schlesiens oder mit der Oberherrschaft über Pommern in Verbindung gebracht. Selbst sein Kriegszug gegen das Land der Piasten im Jahre 1157 wurde nicht negativ kommentiert. Überhaupt spielte diese Episode in der polnischen historischen Publizistik und Literatur keine große Rolle. Vielleicht war dies deshalb so, weil der Rückzug ohne Kampf Bolesławs IV. Kraushaar zu der seit Beginn des 19. Jahrhunderts lancierten polnischen, in gewissem Sinne imaginierten heroischen Tradition passte. All diese Umstände bewirkten, dass in Polen die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in Preußen S. 49–53; Arvidsson, Stefan: Aryan Idols. Indo-European Mythology as Ideology and Science, Chicago 2006, S. 221–282; auch: Banaszkiewicz, Jacek: Gerwazy groźny ręką, językiem Protazy. Wzorzec bohaterów dioskurów w „Panu Tadeuszu“ Adama Mickiewicza i we wcześniejszej tradycji, in: Przegląd Humanistyczny 31 (1987), S. 51–80. 45 Sobański, Antoni: Cywil w Berlinie, Warszawa 1934, S. 199; siehe auch: Wrzesiński, Wojcech: Sąsiad czy wróg? Ze studiów nad kształtowaniem obrazu Niemca w Polsce w latach 1795–1939, Wrocław 1992, S. 617–619.

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entfaltete Ideologie, die Friedrich Barbarossa als Präfiguration der Hohenzollernkaiser verstand, nicht als besondere Bedrohung oder gar als Gefahr für das nationale Interesse Polens betrachtet wurde. Wie viele Helden der Vergangenheit wurde auch die Gestalt dieses herausragenden Kaisers der jeweiligen Gegenwart angepasst. Meine einleitend erwähnten Vermutungen über die polnische Wahrnehmung des sich in Preußen im ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelnden Kultes um Friedrich Barbarossa waren, wie gesagt, meiner eigenen Erfahrung mit der populären Auslegung von Geschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschuldet. Dies ist ein weiterer Beweis dafür, wie relativ unsere Sicht von Phänomenen der Vergangenheit sein kann.

Jiří Němec

Das Bild des Mittelalters in den tschechischen und deutschen Erinnerungskulturen Böhmens, Mährens und Schlesiens Eine Stichprobe aus den österreichischen und tschechischen Lehrbüchern für Geschichte1

Ein Erinnerungsort ist nach Pierre Nora ein Ort, in allen Bedeutungen des Wortes, an dem sich die Erinnerungskraft eines sozialen Kollektivs (einer Nation) über seine eigene Vergangenheit „kondensiert, verkörpert und kristallisiert“.2 Es können einfache Gedenkstätten und Denkmäler, verschiedene Symbole und Embleme, Gebäude und Kunstwerke oder literarische Texte sein, in denen sich eine Nation erkennt und zu denen sie sich bekennt. Kann auch das Mittelalter ein solcher Erinnerungsort werden? Kann ein spezifischer, deutlich abstrakter Begriff, der mit der gesamten geschichtlich-philosophischen Gliederung der menschlichen Geschichte zusammenhängt, Bestandteil der Erinnerungskultur einer Gesellschaft werden?3 Wie sehr wurde ein solcher Begriff allgemein in der Gesellschaft, also nicht nur unter den Gelehrten, verwendet? Wie sehr konnte die politische Kultur auf ihn zurückgreifen?

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Die vorliegende Studie wurde im Rahmen des Projektes Center of excellence GACR 14-36521G (Centrum pro transdisciplinární výzkum kulturních fenoménů ve středoevropských dějinách: obraz, komunikace, jednání/Zentrum für transdisziplinäre Forschung kultureller Phänomene in der mitteleuropäischen Geschichte: Bild, Kommunikation, Handeln) verfasst. Ins Deutsche übersetzt von Frau Silvia Klein. François, Etienne/Schulze, Hagen (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, Bd. I, München 2001, S. 15 f. Zum Konzept der Erinnerungskultur siehe Assmann, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006.

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Ich nehme an, dass außer für Intellektuelle beziehungsweise Historiker der Begriff Mittelalter in der breiten Öffentlichkeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts recht nebulös war und dass er eher zu einem nur ganz allgemeinen Geschichtswissen gehörte. Damit er zu einem Erinnerungsort werden konnte, war es nämlich notwendig, dass in der Gesellschaft nicht nur ein intellektuelles Interesse hervorgerufen wurde, sondern vor allem ein emotionales Interesse eines bestimmten sozialen Kollektivs. Auf den ersten Blick hat es den Anschein, dass der Begriff Mittelalter einfach ein periodisierender Zeitabschnitt war. Sicher, die romantische Literatur der Ritterromane machte es ab dem Beginn des 19. Jahrhunderts als Zeitalter der Ritter, Burgen und Schlösser, des galanten Verhaltens und der Ritterlichkeit und wohl auch mit der Zeit des echten und reinen Christentums gegenwärtig. Auf der anderen Seite brachte es die intellektuelle Welt der Aufklärung und des Liberalismus mit religiöser Finsternis, mit der Inquisition, dem Herrschen einer autokratischen Kirche und unzivilisierter Barbarei in Verbindung. Beide Auffassungen überleben zweifelsohne in der populären Kultur der breiten Öffentlichkeit bis heute. Betrachtet man jedoch die damaligen Lexika vom Ende des 19. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts, so findet man beim Begriff Mittelalter normalerweise nur einen sehr kurzen Eintrag, wonach es sich um eine geschichtliche Epoche handle, die ihre periodisierenden Meilensteine aufweise. Normalerweise wird der Leser auf das Stichwort Geschichte verwiesen. Mehr ist nicht, das Mittelalter gehörte wahrscheinlich als Ganzes, als Epoche nicht zum kollektiven Gedächtnis der Einwohner der böhmischen Länder und ihrer kulturellen und politischen Eliten. Und doch ist aus Fachstudien bekannt, dass die einzelnen Phänomene, die zur Epoche des Mittelalters gehören, Erinnerungsorte waren. Oft hatten sie ihren Ursprung in einer alten einheimischen religiösen Tradition, viele tauchten jedoch erst mit der entstehenden Nationalkultur auf. In diesem Zusammenhang reicht es aus, an den Kult des hl. Wenzel, des hl. Johann Nepomuk oder in Mähren an die hl. Cyrill und Method einerseits und an die hussitische Bewegung der Volksmanifestationen, die sog. Tábor-Bewegung Ende der 1860er und 1870er Jahre andererseits zu erinnern. Über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg waren legendäre Gestalten vom Beginn der böhmischen Geschichte sehr beliebt, die lange Zeit die künstlerische Vorstellungskraft tschechischer und deutscher Schriftsteller nährten. Doch die intellektuelle Welt in den böhmischen Ländern unterteilte sich langsam in eine tschechische und eine deutsche.

Das Bild des Mittelalters

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Während die deutsche natürlich zur deutschen Kulturwelt in Österreich und außerhalb seiner Grenzen tendierte, formierte sich eine parallele tschechische intellektuelle Welt vor allem um das Projekt der „Rettung“ von Sprache und Volk; sie suchte Wege zu verwandten slawischen Völkern und begrüßte mit unkritischer Begeisterung alle – tatsächlichen und vermeintlichen – Belege der ältesten slawischen, also eigentlich mittelalterlichen Zeiten. Keiner dieser Enthusiasten machte sich wahrscheinlich einen sonderlich großen Kopf darüber, dass die ältesten böhmischen Zeiten, eine Morgendämmerung der tschechischen Geschichte, die mit der Ankunft der Slawen in Böhmen, mit Urvater Čech, mit Sámo, Libussa oder Přemysl in Verbindung standen, aus der Sicht der Weltgeschichte zur Epoche des Mittelalters gehörten. Wichtiger war vielmehr, dass man die tschechischsprachige Kultur als ebenso alt bezeichnen konnte wie die übrigen europäischen Nationalkulturen und vor allem die deutschsprachige Konkurrenzkultur, die Anfang des 19. Jahrhunderts auch viel weiter entwickelt war. Deshalb wurde auch bis ins letzte Viertel des 19. Jahrhunderts hinein ein Zweifel verschwiegen, den einige einheimische und viele ausländische Gelehrte bezüglich einiger überraschender Funde sehr alter Denkmale des tschechischen Schrifttums äußerten. Die Heldengestalten der Handschriftenfälschungen aus Dvůr Králové (Königinhof) und Zelená Hora (Grünberg) lebten deshalb das gesamte 19. Jahrhundert über in der Phantasie der intellektuellen und künstlerischen Eliten weiter. Man muss nur beispielsweise an Myslbeks Skulpturen der erfundenen Recken Záboj und Slavoj zur Verzierung der Palacký-Brücke über die Moldau denken, die nach Sámos Vorbild die heidnischen Tschechen Anfang des 9. Jahrhunderts in die Schlacht gegen die Heere Karls des Großen geführt haben sollen.4 Die neuzeitliche Legende über Jaroslav von Sternberg, der mongolische Angreifer in der nie stattgefundenen Schlacht bei Olomouc (Olmütz) im Jahre 1241 besiegt haben soll, wurde dann durch das umfangreiche Gedicht der Königinhofer Handschrift O velikých bojech křesťan s Tatary („Über die großen Kämpfe der Christen gegen die Tataren“), auch als Jaroslav bezeichnet, bekannt. Sie trug nicht nur dazu bei, dass ihre Hauptgestalt, der nicht existierende Adelige Jaroslav, in Smetanas Oper Libussa auftauchte,5 sondern sie beeinflusste wohl auch die Entscheidung des Stadtrates von Olomouc, im Jahre 1841 eine großartige Feier zum 600. Jahrestag des vermeintlichen Sie4 5

Heute stehen die Skulpturen am Vyšehrad in Prag. Wenzig, Josef: Libuše. Slavnostní opera o 3 dějstvích, Praha 1997.

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ges der Tschechen über die Mongolen zu veranstalten.6 Kunst, Literatur, Musik, Wissenschaft, Architektur, Politik, Feste und populäre Kultur. Die Erinnerungskultur erstreckt sich auf all diese sozialen Bereiche. Das Thema, das sich dem Historiker bei der Untersuchung des Mittelalterbildes in der Erinnerungskultur stellt, wäre völlig unüberschaubar, würde man die Erinnerung an das Mittelalter in einzelnen Gestalten und Ereignissen untersuchen. Es übersteigt nicht nur den Rahmen meines Textes, sondern durch sein Übergreifen auf die Geschichte der Literatur, der bildenden Kunst und der Musik auch meine Möglichkeiten und Fähigkeiten. Aus der schon recht umfangreichen Forschung kann man jedoch auch Lehren ziehen. Rudolf Jaworski hat anhand einer originellen Analyse symbolischer Inhalte von Ansichtskarten gezeigt, wie notwendig es für die Untersuchung der Kulturphänomene in den böhmischen Ländern ist, die Ausprägungen der deutschen Kultur und des sich gemeinsam und parallel entwickelnden tschechischen Zwillings zu untersuchen.7 Um das Thema erfassen zu können, bot sich entweder die Möglichkeit, sich auf ausgewählte einzelne Erscheinungen des Mittelalters zu begrenzen, oder das Bild des Mittelalters als Ganzes zu untersuchen, jedoch nur in einem sozialen Bereich. Da mich das damalige Bild vom Mittelalter als Ganzes interessiert, habe ich mich für die zweite Möglichkeit entschieden, konkret für die sozialen Bereiche Schule und Bildung. In meinem Beitrag werde ich versuchen, das Bild vom Mittelalter in Geschichtslehrbüchern in Alt-Österreich und in der Tschechoslowakei nachzuverfolgen. Der Begriff Mittelalter als geschichtliche Epoche gelangte eher über den Geschichtsunterricht in der Schule als über fachliche oder populärwissenschaftliche geschichtliche Texte ins Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Vor allem in den unteren Schulklassen war es aus der Sicht des Staates nicht der eigentliche Sinn des Geschichtsunterrichts, fachliche Kenntnisse über den Verlauf und die Gliederung der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit zu vermitteln, sondern die Jugend zu Menschlichkeit und vor allem bis 1918 zu einem österreichischen Staatspatriotismus bzw. später zu einem tschechoslowakischen republikanischen Patriotismus zu erziehen. In der österreichischen Monarchie ab der Regierungszeit Franz’ I. und mit noch stärkerer Intensität ab Mitte des 19. Jahrhunderts 6 7

Ich danke Frau Hana Jakůbková für die Auskunft, dass sich ein Kunstwerk von dieser Feier im Vlastivědné muzeum in Olomouc (Olmütz) befindet. Jaworski, Rudolf: Deutsche und tschechische Ansichten. Kollektive Identifikationsangebote auf Bildpostkarten in der späteren Habsburgermonarchie, Innsbruck 2006.

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bedeutete dies, die jungen Menschen vor allem in tiefer Hochachtung gegenüber dem gemeinsamen Kaiser und dem Herrscherhaus der Habsburger überhaupt zu erziehen und ein verständliches historisch-geographisches Narrativ über die Entstehung und die historischen Grundlagen des österreichischen Reiches anzubieten.8 Erst sekundär und auf den höheren Stufen des Bildungsprozesses, also an den Sekundarschulen, bestand die Absicht des Unterrichts darin, auch die Erkenntnisse zur allgemeinen Geschichte der Menschheit zu erweitern, und so bot sich Raum für detailliertere geschichtliche Kenntnisse. Es ist also kein Wunder, dass methodische Handbücher für Lehrer der unteren Stufen vom Ende des 19. Jahrhunderts verlangten, die geschichtlichen Darlegungen auf Beispielen bedeutender Gestalten der Geschichte, Herrscher und Krieger basieren zu lassen und zu zeigen, „jak vznikl náš mocný stát a příklady sebeobětování se říši“ [„wie unser mächtiger Staat entstand, und Beispiele der Selbstaufopferung gegenüber dem Reich zu bringen“].9 Außerdem spielte in der Herausbildung der österreichischen staatlichen Identität im 19. Jahrhundert auch die Konzeption zweier Heimaten in Form einer breiter und einer enger gefassten Heimat eine Rolle. Das Bewusstsein, Österreicher, Untertan des österreichischen Kaisers und so auch Einwohner einer breiter gefassten Heimat (das Reich Österreich) zu sein, sollte die Identitätsbindung zur enger gefassten Heimat (einem Land) stärken. Die Bindung an das Land, in dem ein konkreter Bürger lebte, und immer mehr auch zu dem Volk, dessen sprachlich-kultureller Gemeinschaft er sich zugehörig fühlte, sollte nicht aus­ geschlossen, sondern gefördert werden. Die Konzeption zweier Heimaten ermöglichte es somit, dass der Lehrstoff der geisteswissenschaftlichen Fächer einschließlich des Geschichtsunterrichts neben dem österreichischen Kanon auch spezifische Unterschiede sprachlicher Versionen von Lehrtexten in den einzelnen Ländern der österreichischen Monarchie einschloss. Inwieweit diese österreichischen Bemühungen, den multiethnischen Charakter Österreichs zu beherrschen, die Form der schulischen Darlegungen zum Mittelalter beeinflusste, gehört zu den wichtigen Fragen meines Beitrags. 8

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Kovářová, Jana: Učebnice dějepisu jako nástroj formování českého historického povědomí ve druhé polovině 19. století, in: Acta universitatis Carolinae – Philosophica et Historica 5, Studia historica (1976), S. 78. Sušová, Veronika: Školství jako nástroj státní propagandy. Výchova k patriotismu na příkladu rakouských učebnic druhé poloviny 19. století, in: Bláhová, Kateřina/Petrbok, Václav (Hg.): Vzdělání a osvěta v české kultuře 19. století. Sborník příspěvků z 24. ročníku sympozia k problematice 19. století, Praha 2004, S. 106 f.

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Wenngleich man in Betracht ziehen muss, dass es im Unterricht immer sehr auf die pädagogischen Qualitäten eines Lehrers ankommt, sind die primäre Quelle behördlich genehmigte Lehrbuchtexte, denn Lehrbücher waren, wie einmal Jana Kovářová bemerkte, oft die einzigen Bücher, die es in einigen, vor allem ärmeren Haushalten, überhaupt gab.10 Sie boten so oft eine erste umfassende Vorstellung von einer historischen Epoche oder einem historischen Phänomen. Ich habe nicht die Möglichkeit, systematisch alle Lehrbuchtexte zu untersuchen. Bis auf eine Ausnahme stehen mir nur Lehrbücher zur Verfügung, die zwischen den 1850er Jahren und den 1930er Jahren herausgegeben wurden. Ich habe aber auch diese nur stichprobenartig behandelt. Dabei habe ich mich nur auf Lehrbücher zur allgemeinen Geschichte konzentriert, vor allem auf die, die wiederholt und manchmal auch in beiden Sprachen, hier besonders die erfolgreichen Texte von Anton Gindely, herausgegeben wurden.11 Die Basis meiner Fragestellung sind zwei Fragen: Welcher Zeitraum der Geschichte wurde in den Lehrbüchern als Mittelalter bezeichnet und warum? Wurde das resultierende Bild vom Mittelalter inhaltlich dadurch bestimmt, ob es für einen Schüler mit tschechischer oder deutscher Unterrichtssprache bestimmt war und wie?

I. Definition des Mittelalters Beginnen wir mit einem Lehrbuchtext, der sich in der Auffassung und der chronologischen Definition des Mittelalters von den übrigen Lehrbüchern deutlich unterscheidet. Sein Autor war der konservative Katholik deutschnationaler Gesin10

Kovářová: Učebnice (wie Anm. 8), S. 74. Geschichtliche Lesebücher als Hilfsmittel für den Geschichtsunterricht, die von Kovářová auch analysiert wurden, lasse ich beiseite. 11 Ich habe 45 Bände Lehrbücher für österreichische Bürgerschulen und Sekundarschulen (UnterGymnasien und Mittelschulen, Realschulen, obere Klassen von Gymnasien) und auch LehrerAnstalten in verschiedenen Auflagen untersucht. 28 von ihnen sind in tschechischer und 17 in deutscher Sprache geschrieben. Die tschechischen Lehrbücher erschienen in Prag und Wien, die deutschen auch in Graz und Leipzig und nach 1918 in Brno (Brünn) und Liberec (Reichenberg). Eine wichtige Anmerkung zur Verwendung der Adjektive tschechisch/deutsch im Zusammenhang mit den Lehrbüchern: Wenn ich „tschechisch“ oder „deutsch“ schreibe, meine ich eigentlich „tschechisch geschriebenes Lehrbuch“ und „deutsch geschriebenes Lehrbuch“, also national indifferent. Inwieweit und wie die Lehrbücher auf den nationalen Diskurs der Zeit reagierten, ist eine der Aufgaben dieser Analyse.

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nung Constantin von Höfler (1811‒1897). Sein Lehrbuch für die unteren Klassen der Gymnasien und Sekundarschulen erschien im Jahre 1857, also vor dem politischen Tauwetter der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts. Höfler fasste den Lauf der allgemeinen Geschichte ab dem Altertum im Kontext eines langen geschichtlichen Ringens des europäischen Abendlandes mit dem Morgenland auf, Europas mit Asien.12 Ähnlich wie in seinen Universitätsvorlesungen legte er den Beginn des Mittelalters in das Jahr 330,13 als von Kaiser Konstantin der Sitz des römischen Reiches nach Osten verlegt wurde, an die Schwelle zwischen Asien und Europa, um ein Gleichgewicht zwischen beiden Kontinenten zu gewährleisten. So entstand Konstantinopel als führende christliche Stadt in der Welt mit dem neu aufkommenden Christentum. Dort wurden heidnische Gebräuche durch christliche ersetzt, und an der Spitze des Reiches stand nicht mehr der römische Pontifex maximus wie zu Zeiten des Augustus, sondern der weltliche Kaiser im europäischen Osten und dann auch im europäischen Westen. Das Ende des Mittelalters legte Höfler in das Jahr, in dem das christliche Konstantinopel von osmanischen Türken erobert wurde.14 Das Mittelalter war für ihn 12

Höfler, Constantin von: Lehrbuch der allgemeinen Geschichte für Unter-Gymnasien und Mittelschulen. Erster Band. Geschichte des Alterthums, Prag 1857, S. 3. Weitere Bände habe ich leider nicht zur Verfügung. Ich folge darum Höflers Konzeption aus der Einführung. 13 Kazbunda, Karel: Stolice dějin na Pražské univerzitě. Část 2. Od obnovení Stolice dějin do rozdělení univerzity (1746–1882), Praha 1965, S. 111. 14 Höfler schilderte die Hauptlinien des Mittelalters in sechs Punkten: 1. vergeblicher Versuch einer Wiedergeburt des heidnischen römischen Reiches durch das Christentum; 2. Einfall der nordischen Völker (Deutsche, Hunnen und Slawen) und allmähliche Umwandlung eines Teils des römischen Reiches in ein germanisches westliches Reich und ein byzantinisch-griechisches östliches Reich; 3. Schaffung eines christlichen Verbands von Staaten (republica christiana) unter einem geistlichen Oberhaupt, dem Papst, und dem höchsten weltlichen Herrscher, dem katholischen Kaiser; 4. arabische Völkerwanderung als zweite große Völkerwanderung, in deren Folge sich auch zwei arabische Reiche herausbildeten, ein westliches und ein östliches. So beginnt der jahrhundertealte Konflikt zwischen den zwei römischen und den zwei arabischen Reichen, während durch den Einfall in Europa weitere neue Völker die Bühne der Geschichte betreten (Türken, Magyaren, Mongolen, Tataren und Berber); 6. In diesem Ringen ermöglichen die Kreuzzüge die Entstehung christlicher Staaten an der Grenze zwischen Asien und Afrika. Diese Erfolge sind jedoch zum Scheitern verurteilt, denn die Einheit des Westens wurde schnell durch innere Konflikte, den großen Streit zwischen Papst und Kaiser, die Handelspolitik der europäischen Völker und die Familienpolitik der Herrscher zerschlagen. Im Osten erobern die türkischen und mongolischen Völker das arabische Reich, während sich das westliche arabische Reich in Spanien noch zwei Jahrhunderte lang bis zum Jahre 1492 hält. Die osmanischen Türken erobern dann einen christlichen Ort im Osten nach dem anderen, Mitte des 14. Jahrhunderts gelangen sie auf den europäischen Kontinent, ein Jahrhundert später

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somit eine Epoche, in der nach der geschichtlichen Epoche des Heiden- und des Judentums nun das Christentum die Welt und die Geschichte erneuerte.15 Das christliche Europa setzte dann sein Ringen mit Asien fort, dessen neuer Inbegriff nach den altertümlichen Persern die östlichen Reitervölker und die muslimischen Reiche der Araber und der osmanischen Türken waren. Die Neuzeit wird in dieser geschichtlichen Linie einerseits in der Verteidigung der christlichen Staaten Europas gegenüber dem, was als türkische Barbarei bezeichnet wird, und andererseits in herausragenden geographischen Entdeckungen und der auf ihnen basierenden europäischen Kolonisierung der übrigen Erdteile geboren. In der inneren geschichtlichen Entwicklung hatte in der Zwischenzeit die politische und religiöse Wandlung der europäischen Staaten allmählich die gesamte vom Mittelalter geschaffene kirchliche und staatliche Ordnung beseitigt. Höflers Auffassung entsprach dem katholischen, aristokratischen Umfeld Österreichs, das in Österreich die Verkörperung des Retters des christlichen Europas sah, und überdauerte noch im 20. Jahrhundert im deutschnationalen österreichischen Konservatismus. Allgemein jedoch wurde diese Auffassung im Laufe der 1860er Jahre von einer liberal-nationalen geschichtlichen Konzeption ersetzt, die das Christentum im Narrativ hinter das Volk (die Nation), den Staat und die Dynastie stellte. Allein mit Ausnahme von Höflers Lehrbuch war lange Zeit das dominierende Schuldatum für den Bruch zwischen Altertum und Mittelalter nicht ein bedeutendes Jahr der christlichen Geschichte, sondern das Jahr des Untergangs des römischen Reiches im Jahre 476. Dies entsprach wahrscheinlich der staatspolitischen Tradition der Geschichtsschreibung, die nur von der Geschichte großer beherrschen sie Konstantinopel und bedrohen allmählich „die ganze Cultur, Freiheit und Nationalität des christlichen Abendlandes mit gleichmäßiger Vernichtung.“ Höfler: Lehrbuch (wie Anm. 12), S. 3 f. 15 „Konstantinopel wurde nicht blos [sic] die neue Hauptstadt des verjüngten und christlichen Römerreiches, sondern die erste christliche Stadt des Erdreiches 330. Der ganze Anblick der Welt wurde neu. Aber auch die alten Staatseinrichtungen paßten nicht mehr für den christlichen Staat, an dessen Spitze kein pontifex maximus wie Augustus und seine Nachfolger, sondern ein weltlicher Kaiser stand. Die heidnischen Sitten mußten den christlichen weichen, sollte das Christenthum wirklich zur Herrschaft gelangen. Der Unterschied von Barbaren und Römern sollte schwinden, seitdem die römischen und nicht römischen Völker aufhörten, ihre alten Götter zu verehren, die Tempel allmälig [sic] leer standen, die ganze bisherige Geschichte als ein Werk von Verblendung und des Wahnes betrachtet wurde. Alle Völker sollten sich als Söhne Eines Vaters fühlen lernen. Das Heidentum wie das Judentum hatten dadurch ihr natürliches Ende gefunden und dem Christentum kam es nun zu, die Weltgeschichte wieder von Neuem zu beginnen.“ Höfler: Lehrbuch (wie Anm. 12), S. 207 f.

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Reiche, von Herrscherdynastien und ihren Konflikten erzählte. Man findet das Datum 476 zum Beispiel in einem Lehrbuch, das 1830 in Wien herausgegeben wurde,16 aber auch in den ersten Ausgaben deutscher Lehrbücher der allgemeinen Geschichte von Anton Gindely vom Ende der 1860er Jahre,17 auch in ihren tschechischen Übersetzungen vom Beginn der 1870er Jahre, bearbeitet von Josef Erben,18 ähnlich wie in ursprünglich tschechischen Lehrbüchern bis zum Beginn der 1890er.19 Ab der zweiten Hälfte der 1870er Jahre jedoch tauchte am Beginn des Mittelalters besonders in den deutschen Lehrbüchern eine Datierung in Verbindung mit dem Einfall der Hunnen und der Vernichtung der ostgotischen Siedlungen am Schwarzen Meer im Jahre 375 auf, was allgemein als Ursache für die Völkerwanderung betrachtet wurde. Dies war eigentlich ein verständlicher und logischer Schritt, da der Fall des weströmischen Reiches früher als Folge der von den Hunnen hervorgerufenen Migration der germanischen Völker interpretiert wurde. Diese Änderung erschien, soweit ich feststellen konnte, erstmals in Gindelys Lehrbuch für die oberen Klassen der Gymnasien, Realschulen und Handelsschulen im Jahre 1877 und setzte sich natürlich bei den weiteren Versionen von Gindelys Lehrbuch und auch bei anderen deutschen Autoren von Lehrbüchern zur allgemeinen Geschichte durch.20 Diese scheinbar geringfügige 16

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Das Lehrbuch zur Geschichte alter Staaten und Völker. Für die II. Humanitäts-Classe der k.k. Gymnasien, Wien 1830. Die Auslegung der ältesten Geschichte hat noch einen völlig biblischen Charakter. Das Altertum ist der Zeitraum von etwa 4000 Jahren vorchristlicher Zeit, die vom Beginn des biblischen Beginns der Welt abgeleitet wurde. Gindely, Anton: Lehrbuch der allgemeinen Geschichte für untere Klassen der Mittelschulen. Zweiter Band: Mittelalter, Prag 2. Aufl. 1869, S. 1. Erben, Josef: Prof. Dra. Ant. Gindelyho dějepis všeobecný. Pro střední školy. Svazek první: Věk starý, Praha 1872, S. 1. Kovář, Matěj Radoslav: Všeobecné dějiny odrůstajícím dívkám českoslovanským, Praha 1871; Sobek, František: Dějiny všeobecné pro nižší třídy škol středních. Díl I. Věk starý, Praha 1884, S. 1 und Ders.: Dějiny všeobecné pro nižší třídy škol středních. Díl II. Věk střední, Praha 1885, S. 1. Lepař, Jan: Všeobecný dějepis k potřebě žáků na vyšších gymnásiích českoslovanských. Díl II. Středověk, Praha 3. Aufl. 1890. Gindely, Anton: Lehrbuch der Allgemeinen Geschichte für die Oberen Klassen der Gymnasien, Real- und Handelsschulen. II. Band. Mittelalter, Prag 4. Aufl. 1877, S. 1, und Ders.: Lehrbuch der allgemeinen Geschichte für die Oberen Classen der Mittelschulen. II. Band. Mittelalter, Prag 6. Aufl. 1885, S. 1; Mayer, Franz Martin: Lehrbuch der Geschichte für die unteren Classen der Mittelschulen. Zweiter Teil: Mittelalter, Wien/Prag 1893, S. 1. Mayer definiert zwar nicht eindeutig, wann das Mittelalter beginnt und endet und verwendet das Wort ‚Völkerwanderung‘ auch in den Titeln von Kapiteln nicht; der erste Absatz des Buches aber beginnt mit dem Einfall der Hunnen und erzählt über die Völkerwanderung.

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Veränderung war wohl nicht ohne Bedeutung. Das Lehrbuch sagte dem Schüler dadurch indirekt, worin die eigentliche ursprüngliche Ursache für die epochale Veränderung bestand. Am Beginn der geschichtlichen Epoche ‚Mittelalter‘ stand keine individuelle Erscheinung der Politikgeschichte in Form einer Nichtbesetzung des Herrscherthrones und somit des Endes einer bestimmten kontinuierlichen Reihe von Herrschern des römischen Weltreichs, sondern ein länger wirkendes Phänomen kollektiven Charakters. Nach dieser Vorstellung können nicht nur große Persönlichkeiten, sondern auch nationale Kollektive wesent­liche Weichensteller in der Geschichte sein, was eine Ansicht war, die zweifelsohne mit der Überzeugung der bürgerlichen liberalen Gesellschaft in Österreich-Ungarn im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts konvenierte. Es ist interessant, dass sich in den tschechischen Lehrbüchern diese Datierung auch in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts nicht eindeutig durchsetzte. Die tschechischen Lehrbücher beharrten gern auf dem Jahre 476 n. Chr. Nur der Budweiser Gymnasiallehrer František Šembera (1842–1898) führte in seinen Lehrbüchern und ihren Wiederauflagen bis in die 1920er Jahre hinein als Beginn des Mittelalters das Jahr 375,21 was aber im Widerspruch zu seinem mehrbändigen Buch über das Mittelalter stand, das ab dem Untergang des weströmischen Reiches konzipiert wurde.22 Doch Nováks und Tills Lehrbuch für Geschichtslehrer aus dem Jahre 1915 begann wieder mit dem Jahre 476.23 Das Lehrbuch für Sekundarschulen von dem Gymnasialprofessor František Hýbl (1875–1929) und den Universitätsprofessoren Josef Šusta (1874–1945) und Jaroslav Bidlo (1869–1937) aus den Jahren 1911 und 1912, in dem den drei traditionellen Zeitaltern auch noch eine vierte, eine prähistorische Zeit vorangestellt wurde, löste dieses Problem salomonisch. Das Lehrbuch markierte den Beginn des Mittelalters lieber mit zwei Daten, wenn auch mit einer gewissen Präferenz 21 Šembera, František/Koníř, Jindřich: Obrazy z dějin všeobecného pro školy měšťanské. Díl druhý pro 2. třídu školy měšťanské, Praha 1898; Dies.: Obrazy z dějin všeobecného pro školy měšťanské. Díl třetí pro 3. třídu školy měšťanské, Praha 1899; Dies.: Obrazy z dějin všeobecného pro školy měšťanské. Díl první pro 1. třídu školy měšťanské, Praha 1909; Šembera, František/ Brdlík, František: Učebná kniha dějepisu všeobecného pro nižší třídy škol středních. Díl. 2: Dějiny věku středního a nového do konce 12. století, nově zpracoval František Brdlík, Praha 3. Aufl. 1910. 22 Šembera, František: Dějiny středověké. Od konce století pátého až do konce století patnáctého. 4. svazky, Praha 1879, 1881, 1886, 1891. 23 Novák, František/Till, Alois: Dějepis pro ústavy ku vzdělávání učitelů a učitelek. Díl II. Dějiny středního věku se zvláštním zřetelem k dějinám naší říše, Praha 1915, S. 5.

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für das Jahr 375. In der eigentlichen Interpretation, die dem Untergang des Altertums gewidmet war, brachte jedoch Hýbl, der Autor dieses Teils, den „Beginn einer neuen Entwicklung der europäischen Menschheit“ mit dem Jahr 476 in Verbindung, als die germanischen Anführer die Kontinuität der Herrschaft des weströmischen Kaisers beendeten.24 Das herausragende Lehrbuch, das zum Standardtext der tschechoslowakischen Sekundarschulbildung in der ersten Tschechoslowakischen Republik avancierte, gab dann nach 1918 wiederum eben diesem Datum den Vorrang, und in einer weiteren, deutlich überarbeiteten Ausgabe setzte sie zum Verweis auf den Fall des römischen Reiches zusätzlich noch einen von der Datierung her nicht näher bestimmten „Sieg der christlichen Weltanschauung“ hinzu.25 Dabei ist bemerkenswert, dass die Lehrbücher für deutsche Sekundarschulen in der Tschechoslowakei, die in den 1920er Jahren ebenfalls per Erlass des tschechoslowakischen Ministeriums für Schulwesen und Volksbildung genehmigt wurden, auch weiterhin in der Tradition der deutschen Lehrbücher aus Österreich-Ungarn bei dem Datum des Beginns der Völkerwanderung verharrten.26 Der Hauptgrund hierfür ist wohl in dem Bemühen zu 24 Bidlo, Jaroslav/Hýbl, František/Šusta, Josef: Všeobecný dějepis pro vyšší třídy škol středních. Díl první. Dějiny starého věku, Praha 1911, S. 11, 197. Auf Seite 11 steht, dass Altertum dauert bis in die ersten Jahrhunderte n. Chr. (gewöhnlich bis zum Jahre 375 und auch 476 n. Chr.). Bidlo, Jaroslav/Hýbl, František/Šusta, Josef: Všeobecný dějepis pro vyšší třídy škol středních. Díl druhý. Dějiny středního a nového věku do roku 1648, Praha 1912. 25 Bidlo, Jaroslav/Hýbl, František/Šusta, Josef: Všeobecný dějepis pro vyšší třídy škol středních. Díl 1. Dějiny starého věku, Praha 2. Aufl. 1920, S. 5, wo steht, dass das Altertum bis in die ersten Jahrhunderte n. Chr. dauert (gewöhnlich bis zum Jahre 476 oder auch 375 n. Chr.). Weitere Auflagen wurden bearbeitet durch den Altertumshistoriker Josef Dobiáš. Die älteste Epoche wird neu als pravěk (Urzeit) bezeichnet und die Periodisierung der Neuzeit kennt neuerlich auch Frühneuzeit 1492‒1646, Neuzeit 1648‒1789 und neueste Zeit von 1789 bis zur Gegenwart. Bidlo, Jaroslav/Dobiáš, Josef/Šusta, Josef: Všeobecný dějepis pro vyšší třídy škol středních. Díl I. Dějiny starověku a raného středověku, Praha 1932, S. 5. 26 Czuczka, Ernst: Woynars Lehrbuch der Geschichte für die Oberstufe der Mittelschulen in der Čechoslowakischen Republik. II. Band, Reichenberg 1924. Das Lehrbuch des Direktors des Gymnasiums in Mikulov (Nikolsburg) und Brno (Brünn), Anton Altrichter (1882–1954), wurde ein Standardwerk für die deutschen Gymnasien in der Tschechoslowakei bis 1938. Es definiert das Mittelalter theoretisch zwar von der Mitte des fünften Jahrhunderts bis zum Ende des fünfzehnten Jahrhunderts, im Text aber beginnt Altrichter seine Darstellung des Mittelalters mit zwei Unterkapiteln über Germanen und über Völkerwanderung. Altrichter, Anton: Lehrbuch der Geschichte für die unteren Klassen der Mittelschulen. II. Teil: Altertum und das Mittelalter bis 1200, Brünn 1924, S. 128‒130. Zweiter Bd.: Lehrbuch der Geschichte für die unteren Klassen der Mittelschulen. III. Teil: Mittelalter seit 1200 und Neuzeit, Brünn 1923. Zur

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suchen, indirekt die Bedeutung der deutschen bzw. germanischen Grundlage der Epoche ‚Mittelalter‘ zu betonen oder zu schwächen. Ich werde versuchen, dies später anhand einer inhaltlichen Analyse der Lehrbücher zu zeigen. Andererseits stimmen die Lehrbücher bezüglich der Datierung des Endes des Mittelalters überein. Die Reisen des Kolumbus und die Entdeckung der neuen Welt sind das Hauptsymbol des Übergangs zu einem neuen Zeitalter, in dem, wie der Pädagoge Jan Lepař (1827–1902) schrieb, „podstata dějin nabývá rázu v pravém smyslu všeobecného“ [„das Wesen der Geschichte einen im wahrsten Sinne allgemeinen Charakter annimmt“], „jeviště dějin novověkých rozchází se téměř po celém povrchu zemském“ [„der Schauplatz der Geschichte der Neuzeit sich fast über die gesamte Erde ausdehnt“] und „předním činným živlem na divadle tom jsou Evrópané a plémě jejich“ [„das führende aktive Element in diesem Theater die Europäer und ihre Rasse“] sind.27 Das Jahr 1492 wird dann in den Ausführungen verschiedenartig um weitere geschichtliche Ereignisse bzw. zumeist Erfindungen des Mittelalters (Kompass, Schießpulver, Papier, Buchdruck) ergänzt, obwohl in der schematischen Periodisierung in den Einleitungen zu den Lehrbüchern durchweg auf dem Datum der ersten Reise des Kolumbus beharrt wird, sofern man nicht vom Jahre 1500 oder vom Ende des 15. Jahrhunderts spricht.28 Bei Gindely tauchte jedoch im Periodisierungsschema ausdrücklich auch das Jahr 1517 als „lutherische Kirchentrennung“, in der tschechischen Version „vzniknutí protestantismu“, also Entstehung des Protestantismus, auf.29 Gindely bezeichnete mit diesem Datum die geschichtliche Bestimmung der ersten Phase der neuen Zeit. Er gründete nämlich seine geschichtliche Interpretation auf die Vorstellung, dass jede Epoche eine eigene konkrete Bestimmung hat, wie es Gesamtanalyse der deutschen Lehrbücher in der Tschechoslowakei siehe Němec, Mirek: Erziehung zum Staatsbürger? Deutsche Sekundarschulen in der Tschechoslowakei 1918–1938, Essen 2010, S. 280‒298. 27 Lepař, Jan: Všeobecný dějepis k potřebě žáků na vyšších gymnásiích československých. Díl III. Nový věk, Praha 1871, S. 1. 28 Das Jahr 1500 findet sich in Lepař’ Lehrbuch, und es handelt sich wahrscheinlich um eine gewisse Aufrundung, da sich das Jahr 1500 auf kein Ereignis bezieht. Vom Ende des 15. Jahrhunderts spricht man in den Lehrbüchern der Autoren Hýbl, Bidlo und Šusta. In einer überarbeiteten Ausgabe aus der zweiten Hälfte der 1930er Jahre taucht schon eindeutig auf, dass es sich um einen Wandel im Denken und im wirtschaftlichen Leben handelt, bewirkt durch die Entdeckungen in Übersee, die ihren Höhepunkt in der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus fanden. 29 Gindely: Lehrbuch (1877) (wie Anm. 20), S. 1; Erben: Prof. Dra. Ant. Gindelyho dějepis (1872) (wie Anm. 18), S. 1.

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vereinfacht im Lehrbuch für die Bürgerschulen heißt.30 Während man in der Epoche des Mittelalters den Zweck der Zeit schrittweise in der Völkerwanderung, im Aufschwung des christlichen Glaubens und schließlich im „boji křesťanského západu s mohamedánským východem“ [„Kampf des christlichen Westens gegen den mohammedanischen Osten“], also in den Kreuzzügen, nachverfolgen konnte, sind die Anfänge des neuen Zeitalters in den Jahren 1492 bis 1648 eine Zeit der spanischen und portugiesischen „objevení zámořských a (německých) bojů za víru“ [„überseeischen Entdeckungen und (deutschen) Glaubenskämpfe“].31 Eine ähnliche Konzeption verfolgten in der Auslegung auch die Autoren der übrigen Lehrbücher, auch wenn diese in den Periodisierungsschemata nur das Jahr 1492 als Ende des Mittelalters angaben.32 Und in den 1920er Jahren führte Altrichter ein Kapitel über die Neuzeit direkt unter der Überschrift der Reformation an. Die Entdeckungen in Übersee und die humanistische Bildung hatte er wiederum bereits im Mittelalter geschildert. Nur im Lehrbuch von Jan Lepař aus den 1870er Jahren spielte die Reformation an sich keine erstrangige Rolle. Neben den Entdeckungen der Seefahrer ermöglichten es nach Lepař’ Ansicht weitere Erscheinungen im Zusammenhang vor allem mit den geopolitischen Veränderungen im 14. und 15. Jahrhundert, eine neuzeitliche Globalisierung der Geschichte zu erreichen. Es handelte von der Etablierung eines Gleichgewichts der christlichen Mächte in Europa, wo weder der Kaiser noch der Papst den dominierenden Machtmittelpunkt darstellen, von der Verdrängung der Mongolen aus Europa, von der Entstehung des osmanischen Reiches und nicht zuletzt auch von der Legung der „Grundsteine für die neuzeitliche Bildung“.33 30 Vávra, Josef: Gindelyho učebnice pro školy měšťanské. Díl druhý, Praha 9. Aufl. 1895, S. 57. Siehe auch Gindely, Antonín: Učebnice dějepisu pro školy měšťanské. Pro české školy upravil Josef Vávra. Díl prvý. Vypravování z dějin obecných, Praha 9. Aufl. 1891; Vávra, Josef: Gindelyho učebnice pro školy měšťanské. Díl třetí, Praha, Vídeň 9. Aufl. 1895. 31 Vávra: Gindelyho učebnice. Díl druhý (1895) (wie Anm. 30), S. 57. 32 Siehe z.B. Sobek, František: Dějiny všeobecné pro nižší třídy škol středních. Díl III: Věk nový, Praha 1884. 33 So argumentiert Lepař bereits in den ersten Ausgaben seiner Lehrbücher für unterschiedliche Typen der sekundären Bildung, zum Beispiel Lepař, Jan: Všeobecný dějepis pro ústavy učitelské. Díl II. Středověk, Praha 1876, S. 26. Wahrscheinlich legt er deshalb den Bruch zwischen Mittelalter und Neuzeit nicht ins Jahr 1492, sondern auf 1500. Die Reformation betont er dabei nicht allzu stark – wahrscheinlich wegen der bemerkenswerten politologischen Konzeption des Lehrbuchs, durch die es sich etwas von den übrigen Lehrtexten unterscheidet, wenngleich es im Grunde nur die Gedanken umschmiedet, die in der Auslegung der grundlegenden geschichtlichen Merkmale des Mittelalters auch in anderen Lehrbüchern aufgetaucht waren,

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Diese Bildung bringt Lepař jedoch noch nicht mit dem epochalen Einfluss der europäischen Renaissance in Verbindung, wie sie Jakob Burckhardt in seinem bekannten Buch aus dem Jahre 1860 vorgenommen hat.34 Gindelys älteste Lehrbuchausgaben widmeten der Renaissance nur einige Zeilen und bezeichneten diese als neuen künstlerischen Stil. In der ersten Ausgabe aus dem Jahre 1865, im Kapitel „Vorboten der Neuzeit“, sprach er neben den technologischen Erfindungen auch von einem „Wiederaufblühen der klassischen Studien“, die eine Entwicklung bisher vernachlässigter Wissenschaften, vor allem der Naturwissenschaften, ermöglichten, indem man beim Wissen dort anknüpfen konnte, wohin die „Alten“ im Altertum gelangt waren. Gindely ordnete dem – etwas inhomogen – den Satz zu, die Kunst habe in Italien eine „plötzliche Blüte“ erlebt und am Beginn der Neuzeit ihren Höhepunkt erreicht.35 Im Vergleich zu Ginzum Beispiel in Gindely: Lehrbuch (1885) (wie Anm. 20), S. 1 f. Lepař unterteilt die Geschichte nach dem politischen Gesichtspunkt der dominierenden politischen Macht bzw. nach dem Anteil der gesellschaftlichen Schichten an der staatlichen Macht. Das Mittelalter unterteilt er dann in fünf Zeiträume: 1. als das byzantinische Reich dominiert, 2. als sich im Frankenreich das abendländische Kaisertum erneuert, 3. als die deutschen Kaiser von Otto I. die Vorherrschaft erhalten, 4. als der päpstliche Stuhl die Vorherrschaft gewinnt, 5. als ein Gleichgewicht zwischen den einzelnen Mächten des christlichen Europa geschaffen wird. Vgl. Lepař: Všeobecný dějepis (1876) (wie Anm. 33), S. 25 f. und Lepař: Všeobecný dějepis (1871) (wie Anm. 27). 34 Jakob Burckhardt veröffentlichte erstmals 1860 das Buch „Die Kultur der Renaissance in Italien“, in dem er ähnlich wie der französische Historiker Jules Michelet vor ihm den Begriff des Kunststils für die gesamte Epoche verwendete. Sieben Jahre später veröffentlichte Burckhardt dann noch einen Band über die Renaissancekunst. Burckhardt sah in der Renaissance eine Epoche, in der das moderne Lebensgefühl der Individualität entstand. Er ließ dabei den Individualismus nicht aus einer Erneuerung der klassischen Studien, sondern eher aus den Verhältnissen des politischen Chaos der Gewalt und der Rechtlosigkeit im Italien des 14. und 15. Jahrhunderts erstehen. Vgl. Hardtwig, Wolfgang: Jacob Burckhhardt (1818‒1897). Die Kultur der Renaissance in Italien, in: Reinhardt, Konrad (Hg.): Hauptwerke der Geschichtsschreibung, Stuttgart 1997, S. 74‒78. 35 Gindely, Anton: Lehrbuch der allgemeinen Geschichte für Ober-Gymnasien. 3. Band, Prag 1865, S. 3. In der dritten, überarbeiteten Ausgabe aus dem Jahre 1873 wird nur kurz erklärt, dass es nach dem Fall Konstantinopels zu einer Blüte der klassischen Studien kam. Gindely sprach in den ältesten Ausgaben im Rahmen der Kultur des Mittelalters von einer Entwicklung der Wissenschaften gegen das Ende des Mittelalters, die von der Ankunft der byzantinischen Gelehrten an italienischen Universitäten nach dem Fall Konstantinopels initiiert wurde, und diese Kenntnisse, die sich nach ganz Europa verbreiteten, „bahnen eine neue wissenschaftliche Entwicklung an“. Weder der Begriff Humanismus, noch der Begriff Renaissance wurden dabei verwendet. Zit. nach Gindely: Lehrbuch (1869) (wie Anm. 17), S. 124 f. Daran wird dann einleitend zum nächsten Teil über die Neuzeit unter den „Vorboten“, in der tschechischen Version unter den „rozličné příčiny přímo i nepřímo působící“ [„unterschiedlichen, direkt und indirekt

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dely sieht Lepař das Wachstum der europäischen Bildung nicht als Folge der humanistischen Studien, sondern als Folge der Entwicklung der Naturwissenschaften dank der erweiterten Horizonte des Europäers, der neue Kontinente entdeckt. Es sei besonders wichtig gewesen, genaue Karten zu zeichnen, und dies habe zu einer Entwicklung der Kartografie und weiterer Naturwissenschaften geführt. „Duch lidský na ten způsob neustále se tříbil a z  přemnohých předsudků střízlivěl“ [„Der menschliche Geist hat sich auf diese Art ständig verfeinert und erfuhr aus unzähligen Vorurteilen Ernüchterung“], erklärte Lepař.36 Diese heute ungewöhnliche Auslegung des Beginns der Neuzeit geht ebenso ungewöhnlich weiter. Die neue Welt öffnete sich Lepař’ Argumentation zufolge auch „následkem osvobození života veřejného a tudy i písemnictví z okov cizích jazyků, přístupných toliko jednotlivým osobám, nikoli celým národům“ [„infolge der Befreiung des öffentlichen Lebens und somit auch der Literatur aus der Umklammerung fremder Sprachen, die nur einzelnen Personen und nicht ganzen Völkern zugänglich waren“]. Vor allem die Verbreitung der Nationalsprachen und das Abrücken vom Lateinischen, das breiten Schichten der Bevölkerung nicht zugänglich war, führten zu einer Entwicklung der Bildung. Lepař argumentierte, die „osvícení mužové“ [„aufgeklärten Männer“] hätten dann mittels der Übersetzung von Texten aus dem Altertum in die Nationalsprachen und des eigenen Schaffens „národy své povznášeli a obohacovali“ [„ihre Völker erhaben gemacht und bereichert“], und der Prozess der Kultivierung der Völker sei dann von den Erfindungen des Mittelalters, Papier und Buchdruck, beschleunigt worden. Auch die Ankunft der griechischen Gelehrten aus dem von den Türken eroberten Byzanz müsse wertgeschätzt werden, denn diese sei die Grundlage für die Entwicklung des Studiums klassischer Schriften im Abendland gewesen. Doch zeitgleich habe diese Wiedergeburt der klassischen Studien die Rückkehr der Beliebtheit des Lateinischen ermöglicht. Und dies war im Verständnis dieses tschechisch-national, aber versöhnlich gesinnten Intellektuellen und Pädwirkenden Ursachen“] für die beginnende Neuzeit erinnert. In Erbens tschechischer Version schreibt man genauer von einer „opětovném rozkvětu věd a umění vůbec“ [„wiederholten Blüte der Wissenschaften und der Kunst überhaupt“] vor allem am Hofe der Medici. Die Gesamtkonzeption blieb bei Gindely in einer von F. M. Mayer überarbeiteten Ausgabe auch später gültig (aber ohne das Kapitel über Vorboten). Für die Datierung und den Beginn des Mittelalters waren die Entdeckungen in Übersee und die Reformation wichtig. Mayer, Franz Martin: Gindely’s Lehrbuch Der Allgemeinen Geschichte für die Oberen Classen der Gymnasien. III. Teil: Neuzeit, Prag/Wien/Leipzig 9. Aufl. 1896. 36 Lepař: Všeobecný dějepis (1890) (wie Anm. 19), S. 251. Hier auch die folgenden Zitate.

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agogen in der gesamten geschichtlichen Entwicklung eher ein verlangsamender Schritt, der gegen die neuzeitliche Tendenz gerichtet war, weil die Entwicklung der Literatur in den Nationalsprachen positiven Einfluss auf die Entstehung einer neuzeitlichen Bildung hatte. Lepař erkennt an, dass dadurch die Renaissance als Kunststil, der an die Gotik anknüpfte, entstehen konnte, doch dies habe nicht zu einem tiefgreifenden kulturellen Wandel geführt. „Mravy a obyčeje v dosavadní podstatě se nezměnily. Krásným znamením zbožnosti byli skutkové, kterými se Španělé a Portugalové uvazovali v držení objevených zemí, zařizujíce kříže na jistých místech a vykonávajíce upřímnou pobožnost obecnou po přestálých těžkostech a utrpeních.“ [„Die Sitten und Gebräuche in ihrem bisherigen Wesen haben sich nicht verändert. Ein schönes Zeichen für die Frömmigkeit war das Handeln, mit denen die Spanier und Portugiesen die entdeckten Länder einnahmen, indem sie Kreuze an gewissen Stellen aufstellten und aufrichtige allgemeine Frömmigkeit nach den überstandenen Schwierigkeiten und Leiden übten.“].37 Der Einfluss von Burckhardts Interpretation der italienischen Renaissance setzte sich erst allmählich an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert durch, als dieser Begriff erstmals auch in die Titel der Kapitel Einzug hielt. Šemberas Lehrbuch für die Bürgerschulen in Koníř’ Überarbeitung führt zwar bereits Ende der 1890er Jahre den Humanismus und die Renaissance unter den Bildern aus der Neuzeit an, bringt sie jedoch noch nicht mit der neuzeitlichen Auffassung des Menschen in Verbindung, sondern mit „pravým vzděláním“ [„echter Bildung“] im Studium klassischer Schriften.38 Außerdem führte auch das österrei37 Ebd. 38 Šembera/Koníř: Obrazy z dějin (1909) (wie Anm. 21), S. 42: „Nadšení, jež pro tyto jazyky vzbudili tito horlitelé, šířilo se později do ostatních zemí, neboť pěstitelé spisů klasických mínili na základě jejich přivésti lidstvo k pravému vzdělání čili humanitě (humanus = lidský, lidumilný). Proto směr tento nazývá se humanismus a pěstitelé jeho humanisté. Působením humanistů byl starověk řecký a římský jako znovu zrozen. Proto jmenuje se doba tato dobou znovuzrození čili francouzským slovem renessance. Humanismus z Italie se brzy rozšířil o celé skoro v Evropě. V Čechách počátky jeho viděti už za krále Jiřího z Poděbrad.“ [„Die Begeisterung, die diese Eiferer für diese Sprachen weckten, verbreitete sich später in die übrigen Länder, denn die Pfleger der klassischen Schriften meinten, auf ihrer Basis die Menschheit zu wahrer Bildung bzw. Humanität (humanus = menschlich, menschenfreundlich) zu führen. Deshalb wird diese Richtung als Humanismus, werden ihre Pfleger als Humanisten bezeichnet. Durch das Wirken der Humanisten wurden das griechische und das römische Altertum im Prinzip wiedergeboren. Deshalb heißt diese Zeit Wiedergeburt oder auf Französisch Renaissance. Der Humanismus breitete sich von Italien schnell in fast ganz Europa aus. In Böhmen sind seine Anfänge schon unter König Georg von Podiebrady zu sehen.“].

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chische, auf Deutsch geschriebene Lehrbuch für das dritte Schuljahr der Bürgerschule von Ignaz Pennerstorfer an der Jahrhundertwende die Renaissance in der Auffassung eines neuen Kunststils unter den Bildern der Neuzeit an und ordnete sie dem Zeitalter der Reformation zu. Während die Entdeckungen durch die Schifffahrt, die Reformation und die epochalen Erfindungen bereits in den Bänden für die ersten beiden Schuljahre der Bürgerschulen als Lehrstoff auftauchten, kann man schließen, dass darauf im Zusammenhang mit dem Beginn der Neuzeit auch im Unterricht deutlich stärkerer Nachdruck gelegt wurde.39 Die Anfang des 20. Jahrhunderts überarbeitete Version von Šemberas Lehrbuch für die unteren Klassen der Sekundarschulen sprach zwar auch noch nicht von einer Wende in der Auffassung des Menschen, ließ jedoch schon den Begriff Renaissance ins Eingangskapitel des Abschnitts über die Neuzeit einfließen, das den Titel trug „doba velikých objevů zámořských, renaissance a reformace“ [„Zeit der großen Entdeckungen in Übersee, Renaissance und Reformation“].40 In Hýbls, Bidlos und Šustas Lehrbuch aus dem Jahre 1912 wird das Kapitel am Beginn der Neuzeit noch nicht einmal nach den Entdeckungen in Übersee benannt, sondern es handelt sich um die „dobou humanismu a renaissance“ [„Zeit des ­Humanismus und der Renaissance“]. Um die Übergangsperiode zwischen Mittelalter und Neuzeit adäquat zu erfassen, führten die Autoren dieses Lehrbuchs in der neuesten Ausgabe Mitte der 1930er Jahre auch die völlig neue Epoche der Frühen Neuzeit ein. Die Autoren des entsprechenden Teils des Lehrbuchs, ­Jaroslav Bidlo und Josef Šusta, beschrieben sie als Zeitraum, der in einigen Zügen das neue Zeitalter ankündigt, etwa in den Entdeckungen durch die Schifffahrt und der Expansion europäischer Staaten in die Welt, in neuen Ansichten des M ­ enschen und der Erneuerung der Wissenschaften, in anderen Zügen aber immer noch stark an das Mittelalter erinnert: Die Politik schart sich um die richtige Religion und religiöse Fragen. Die eigentliche Neuzeit, „vlastní novověk“, beginnt ihrer Ansicht zufolge erst nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges als des letzten 39 Pennerstorfer, Ignaz: Lehrbuch der Geschichte für Bürgerschulen. Dritter Teil. Bilder aus der mittleren und neueren Geschichte, Wien 7. Aufl. 1907, S. 58–64. Mir standen nur die Bände der fünften, sechsten und siebten Ausgabe von Pennerstorfers Lehrbuch aus den Jahren 1898, 1902 und 1907 zur Verfügung, deshalb weiß ich nicht, in welchem Zeitraum darin der Begriff Renaissance auftaucht. Trotzdem wurde auch in Pennerstorfers Lehrbuch die Vorstellung vermittelt, dass der Übergang zur Neuzeit primär von den Erfindungen des Mittelalters, den Entdeckungen durch die Schifffahrt und der Reformation bewirkt wurde, während die Renaissance ein Kunststil war, der diese Veränderungen begleitete. 40 Šembera/Brdlík: Učebná kniha (1910) (wie Anm. 21), S. 104.

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Religionskrieges des christlichen Europas. Die Religion, die mit der Entwicklung der modernen wissenschaftlichen Rationalität schrittweise auch das Monopol auf die Interpretation der Welt verliere, werde demnächst, in der Neuzeit, in machtpolitischen Streitigkeiten von einem Wettstreit wirtschaftlicher Interessen der einzelnen Mächte abgelöst, die sich gleichzeitig in zentralisierte, absolutistische und bürokratische Staaten verwandelten.41 In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre wurde somit den tschechischen und slowakischen Sekundarschülern erstmals die Ansicht von einem gewissen Überdauern einiger Merkmale des Mittelalters bis in eine viel kürzer zurückliegende Zeit präsentiert, als es noch die Generationen ihrer Väter und Großväter gelernt hatten.

II. Das unterschiedliche Bild des Mittelalters in tschechischen und deutschen Geschichtslehrbüchern Die grundlegenden Umrisse des Mittelalters stimmten in tschechischen und deutschen Lehrbüchern zur allgemeinen Geschichte überein, was nicht sonderlich überrascht. Es gibt nur eine einzige Ausnahme, die bereits erwähnt wurde, und zwar datierten die deutschen Lehrbücher systematischer den Beginn des Mittelalters mit dem Hunneneinfall und dem Beginn der germanischen oder, in älteren Texten, ‚deutschen‘ Völkerwanderung, weil die Germanen in den tschechischen und deutschen Lehrbüchern vor allem in den unteren Klassen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts oft als Deutsche oder Alte Deutsche bezeichnet wurden. Gerade diese Ausnahme deutet jedoch an, dass zwischen der tschechischen und der deutschen schulischen Interpretation des Mittelalters Unterschiede bestanden. Waren diese Unterschiede so wesentlich, dass sie eine abweichende Vorstellung vom Mittelalter hervorbrachten? Veronika Sušová hat bemerkt, dass dank der Konzeption der zwei Heimaten tschechisch geschriebene Geschichtslehrbücher für die unterste Bildungsstufe nicht nur von den Lehrplänen mit ihrem österreichischen Ethos (bezogen vor allem auf das Haus der Habsburger) geprägt waren, sondern darin auch und recht erfolgreich der nationale und sogar der panslawistische Diskurs Einzug

41 Bidlo, Jaroslav/Dobiáš, Josef/Šusta, Josef: Všeobecný dějepis pro vyšší třídy škol středních. Díl II: Dějiny středního a nového věku do osvícenství, Praha 4. Aufl. 1937, S. 103, 161.

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hielt.42 Blättert man diese Lehrbücher auch unter Berücksichtigung des Mittelalters durch, so bestätigt sich diese These, wenngleich Panslawismus wohl ein zu starkes Wort ist. Betrachten wir zuerst die Lehrbücher für Bürgerschulen, die nicht chronologisch, sondern in kurzen historischen Geschichten, die Bilder genannt wurden, über Geschichte erzählten. Im Grunde wurden alle Bilder aus der Zeit des Mittelalters im ersten Band von Šemberas Lehrbuch für Bürgerschulen, in Koníř’ Überarbeitung aus dem Jahre 1909, mit der ältesten und auch legendären Geschichte der böhmischen und mährischen Slawen und den Přemysliden bis Přemysl Otakar II. gefüllt sowie um obligatorische Verweise auf die Germanen (Deutschen), die Hunnen, Kaiser Justinian, Karl den Großen, den Beginn des Islams, den hl. Benedikt, die Kreuzzüge und die aus reichsösterreichischer Sicht notwendigen Babenberger, Rudolf von Habsburg und den hl. Stefan von Ungarn ergänzt.43 Demgegenüber boten die von Kovář und Vávra überarbeiteten tschechischen Lehrbücher von Gindely im ersten Jahr der Bürgerschule insgesamt weniger Bilder, doch wurden diese Bilder in eine ausgewogene Komposition mit den deutschen, slawischen, tschechischen und allgemeinen Bildern gemischt. Doch auch diesmal fehlte ein kleiner Verweis auf das Österreichertum nicht, wenngleich in Form des Streits zwischen Rudolf von Habsburg und Přemysl Otakar II. Völlig anders sah das auf Deutsch geschriebene Lehrbuch für die erste Klasse der Bürgerschule von Ignatz Pennerstorfer aus, das im ersten Jahr dem Mittelalter nur sechs Bilder vergönnte, von denen sich drei altdeutschen (germanischen) Szenen und die drei verbleibenden den Kreuzzügen, den Rittern und Rudolf von Habsburg widmeten. Die Slawen werden wiederum in einem Absatz im zweiten Band gemeinsam mit den Normannen und Magyaren im Kapitel über die Nachbarn Deutschlands und einzeln erst im letzten, dem dritten Jahr der Bürgerschule behandelt, in dem außerdem im Zusammenhang mit Kaiser Sigismund auch die Hussiten erwähnt werden.44 Das erste Jahr ist für die Analyse der Formung von Geschichtswissen etwas wichtiger als die anderen Jahre, vor allem deshalb, weil der Geschichtsunterricht 42 Sušová: Školství (wie Anm. 9), S. 106 f. 43 Šembera/Koníř: Obrazy z dějin (1909) (wie Anm. 21), S. 67 f. 44 Pennerstorfer, Ignaz: Lehrbuch der Geschichte für Bürgerschulen. Erster Teil. Für die I. Klasse der dreiklassige Bürgerschulen, Wien 6. Aufl. 1902; Ders.: Lehrbuch der Geschichte für Bürgerschulen. Zweiter Theil. Für die II. Klasse der dreiklassige Bürgerschulen. Gänzlich umgearbeitete Auflage, Wien 5. Aufl. 1898; Pennerstorfer: Lehrbuch der Geschichte (1907) (wie Anm. 39).

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an den österreichischen Bürgerschulen auf einer zyklischen Wiederholung basierte. Die Lehrbücher waren nicht streng chronologisch aufgebaut, sondern brachten kurze Bilder aus der Geschichte eines bestimmten Zeitalters (Altertum, Mittelalter oder Neuzeit) im Umfang von einigen Absätzen, und zwar in jeder Klasse. Jede höhere Klasse wiederholte deshalb durchgehend auch den Lehrstoff aus früheren Klassen, an den sie dann anknüpfte und manchmal nur etwas weiterentwickelte. Es ist anzunehmen, dass man in der Schule von dem ausging, was man als das Wichtigste erachtete und was die Schüler wahrscheinlich am besten lernen sollten, weil der Stoff aus dem ersten Jahrgang manchmal sogar zweimal wiederholt wurde, z.B. bei Pennerstorfer Alte Deutsche, Kreuzzüge oder Rudolf von Habsburg. Wenn man nach den Themen urteilt, die sich wiederholten, gelangt man zu diesem Schluss. Das schulische Bild des Mittelalters an österreichischen Bürgerschulen war allgemein mit Mönchen, Rittern, Kreuzrittern, Mohammed, dem byzantinischen Kaiser Justinian, Karl dem Großen und Rudolf von Habsburg verbunden. Zum Bild der Schülerinnen und Schüler, die die tschechische Bürgerschule nach Šemberas Lehrbuch absolvierten, gehörte immer auch, wenn man vom Einfluss der Lehrer absieht, die Geschichte der Tschechen, also die Ankunft der Slawen nach den Alten Deutschen, die während der Völkerwanderung das Land verlassen hatten, die großmährischen Fürsten, die hl. Cyrill und Method, die Přemysliden von Ludmila bis Přemysl über den hl. Wenzel bis Přemysl Otakar II., die Luxemburger, vor allem Karl IV. und Sigismund und wohl auch Jan Hus, die Hussiten und der böhmische König Georg von Poděbrady. Demgegenüber hätten ihre Altersgenossen an deutschen Schulen wohl bei dem Wort Mittelalter an die Germanen, die deutschen Kaiser aus dem Geschlecht der Karolinger, der sächsischen Dynastie und der Staufer, die österreichischen Babenberger und die ersten Habsburger gedacht. Wie bereits gesagt wirkten die von tschechischen Autoren bearbeiteten Lehrbücher von Gindely für Bürgerschulen wesentlich weniger tschecho-slawisch, auch wenn sie sich gleich im ersten Jahr der Bürgerschule neben den Germanen auch den Slawen, neben den Kreuzzügen auch den Hussitenkriegen, neben Rudolf von Habsburg auch Přemysl Otakar II. widmeten und ab dem zweiten Jahr in eigenständigen Kapiteln auch eine ganze Reihe mährischer und böhmischer Herrscher näherbrachten. Aus österreichischer Sicht erschienen sie jedoch viel ausgeglichener und boten dem tschechischen Schüler reiche Informationen aus der österreichischen und der reichsdeutschen Geschichte. Es ist jedoch eher den tschechischen Autoren zuzuschreiben, dass die tschechischen

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Ausgaben von Gindelys Lehrbüchern nicht deutscher wirkten. In ähnlicher Form wurde offensichtlich im Sinne einer Betonung der slawischen Geschichte und der tschechischen Staatlichkeit die tschechische Ausgabe von Gindelys Lehrbuch für Sekundarschulen bearbeitet und erweitert.45 Gindelys ursprüng45 Erbens Übersetzung verschob die ältesten Slaven in die einleitenden Passagen hinter die germanischen Wanderungen und die germanischen frühmittelalterlichen Reiche. Die Änderungen tauchen also auch dann auf, wenn die Beziehung zwischen dem mittelalterlichen Reich und den böhmischen Fürsten und Königen geschildert wird. So enthielt beispielsweise das Kapitel über Karl den Großen immer auch einen Abschnitt über die Kriege gegen die Slaven. Während jedoch die deutsche Ausgabe zweifellos den Fakt der Tributzahlung anführte und betonte, dass es gegenüber den Slaven im unteren Elbgebiet trotz ihrer Niederlage nicht zu Gebietsverlusten auf Kosten der Tschechen kam (Gindely: Lehrbuch (1869) [wie Anm. 17], S. 20: „Die Slawen, die längs der Elbe wohnten und in zahlreiche Stämme zerfielen, wie die Obodriten, Serben, Wenden und Čechen, wurden sämtlich besiegt, ein Theil ihres Gebietes ihnen abgenommen und auf demselben die nord- und südthüringische Mark und die Nordmark begründet. Die Čechen, die keinen Gebietsverlust erlitten, wurden zur Tributzahlung verpflichtet.“), spricht Erbens Übersetzung von harten Kämpfen der Elbslaven und betonte den Schutz der Gebiete der Tschechen durch die Unzugänglichkeit des Landes und stellte leicht die Tribute in Frage, die darüber hinaus nicht erzwungen worden, sondern freiwillig abgeführt worden sein sollen (Erben: Prof. Dra. Ant. Gindelyho dějepis (1872) [wie Anm. 18], S. 20: „Slované, sousedící s říší franckou podél Labe a Šumavy, a dělící se zde v početné kmeny, z nichž Bodrci, Havolané, Srbové a Češi nejmocnější, podstoupili po tuhých bojích věčím dílem poplatnost franckou, část oblastí jejich vzata v přímé držení Frankův a v nich zřízeno krajiště severní a durynské. Čechové, chráněni přirozenou nepřístupností země, zavázali se, jak se podobá, toliko dobrovolně k poplatku.“ [„Die Slaven, die Nachbarn des Frankenreiches entlang von Elbe und Böhmerwald, die sich hier in zahlreiche Stämme aufsplitterten, von denen die Abodriten, Heveller, Serben und Tschechen die mächtigsten sind, begaben sich nach harten Kämpfen zu einem Großteil in Abhängigkeit von den Franken, ein Teil ihrer Gebiete ging in den direkten Besitz der Franken über, und dort wurden ein nördliches und ein thüringisches Gebiet eingerichtet. Die Tschechen verpflichteten sich, geschützt von der natürlichen Unzugänglichkeit des Landes, wie es scheint, freiwillig zur Tributzahlung.“]). Ähnlich wurde auch Břetislav I., den sich Kaiser Heinrich III. in der deutschen Version erneut untertan machte, weil er „sich unabhängig machen wollte“, in der tschechischen Version vom Kaiser zu einer „nový poplatek“ [„einem neuen Tribut“] gezwungen, als Břetislav versuchte, ein „zřízení nové velké říše slovanské“ [„neues großes Slavenreich“] zu gründen (Erben: Prof. Dra. Ant. Gindelyho dějepis (1872) [wie Anm. 18], S. 44). Gründliche und wohl bis zu dreifache Erweiterungen und Änderungen wurden bei der Schilderung der Geschichte der böhmischen Länder vor der Vereinigung unter der Macht der Habsburger vorgenommen. Während Gindely Samo, Libussa und Přemysl, die Anhänger des Mojmír, den hl. Wenzel, Boleslav I. und II., Břetislav I. und die böhmischen Přemyslidenkönige bis hin zu Přemysl Otakar II. erwähnt und andeutet, dass das Geschlecht der Přemysliden ruhmreich bis ins 14. Jahrhundert herrschte, liefert Erbens Überarbeitung auch eine Reihe weiterer Fürsten aus der frühen Geschichte der Přemysliden, den sagenhaften Neklan und fast die vollständige Reihe der Fürsten eingeschlossen. Erneut liegt

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lich deutsche Version des Lehrbuchs für Sekundarschulen ist nämlich vor allem eine Geschichte der Deutschen und des deutschen mittelalterlichen Reiches und eine Interpretation der Entstehung des habsburgischen Österreich. Die Slawen und ihre Reiche tauchen erst ganz am Ende auf, ebenso wie die italienische, französische, englische, byzantinische, spanische oder türkische mittelalterliche Geschichte. Man muss jedoch sagen, dass es sich um eine Gesamtübersicht über die slawischen Stämme und Reiche außer den böhmischen Ländern handelte. Die Geschichte der böhmischen und der mährischen Slawen bis zum 13. Jahrhundert war schon früher in das Narrativ der Herausbildung einer österreichischen Geschichte aufgenommen und kurz im Rahmen des Kapitels „Vorgeschichte des heutigen österreichischen Staates bis 1273“ als Einleitung zur Geschichte Rudolfs von Habsburg abgehandelt worden.46 Gindely interpretierte hier in getrennten Unterkapiteln die deutsche – in tschechischer Übersetzung auch als altösterreichische angeführt –, böhmische und ungarische Ländergruppe für sich. An der Wende der 1870er zu den 1880er Jahren überarbeitete Gindely das Lehrbuch, denn nach den Instruktionen der österreichischen Behörden sollte die österreichische Geschichte in einem gesonderten Lehrbuch abgehandelt werden.47 Die neue Version des Lehrbuchs ließ dann die Entwicklung der österreichischen, also auch der böhmischen Länder eher beiseite und war noch konsequenter eine Geschichte der Deutschen und des Aufstiegs und des Falls des deutschen Reiches im Mittelalter.48 Die böhmischen Ereignisse wurden nur am Rande behandelt und nur, wenn sie die reichs­ deutsche Entwicklung betrafen. Standard in der schulischen Betrachtungsweider Streit vor allem an der Stelle des Bezugs der böhmischen Macht zum Reiche. Bei Gindely war es so, dass beispielsweise Fürst Wenzel „willig die deutsche Oberherrlichkeit anerkannte“ (Gindely: Lehrbuch (1869) [wie Anm. 17], S. 71), bei Erben führte der heilige Wenzel zuerst einen Krieg gegen Heinrich den Vogler, ehe er sich zur Oberhoheit Deutschlands „za celou zemi přiznati se musil“ [„für sein ganzes Land bekennen musste“] (Erben: Prof. Dra. Ant. Gindelyho dějepis (1872) [wie Anm. 18], S. 99). 46 Gindely: Lehrbuch (1869) (wie Anm. 17), S. 70–72. 47 Vgl. z.B. Bachmann, Adolf: Lehrbuch der österreichischen Reichsgeschichte, Prag 1895. 48 Gindely: Lehrbuch (1885) (wie Anm. 20), S. 2 teilte das Mittelalter in vier Perioden: „I. 375– 751: Zerfall des römischen Reiches; Gründung germanischer Staaten, Einigung der Deutschen im fränkischen Reiche; Herrschaft der Araber im Oriente. II. 751–1096: Blüte und Verfall des Frankenreiches unter den Karolingern. Das deutsche Reich und seine Vorherrschaft. III. 1096– 1273: Sinken der deutschen Kaisermacht, Aufstreben und Obmacht des Papstthums. IV. 1273– 1492: Allmählicher Niedergang des Papstthums, Bildung nationaler Reiche und eines europäischen Gleichgewichts.“

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se war die Auffassung, dass das Mittelalter seinem Wesen nach eine deutsche Epoche war. Es waren die Alten Deutschen, deren Migration und Angriffe am Beginn der neuen Epoche standen, damit dann im Reich Karls des Großen eine neue Kultur entstehen konnte, „deren Grundlage wohl die römische war, die aber durch germanische Kraft genährt, durch christlichen Geist beseelt ward.“ Es waren die Deutschen, die die eigentlichen „Träger der mittelalterlichen Geschichte“ waren, und es war Deutschland mit seinen Herrschern, das nach dem Untergang des Reiches Karls des Großen die bestimmende Macht war, wenngleich geschwächt durch die Macht der römischen Päpste.49 Eine ähnliche Konzeption behalten dann auch weitere untersuchte deutsche Lehrbücher der allgemeinen Geschichte für Sekundarschulen bei. Sogar die nach 1918 in der Tschechoslowakei erlaubten deutschen Lehrbücher für Sekundarschulen gingen von dieser Konzeption aus, mit dem Unterschied, dass in jedem geschichtlichen Abschnitt gesonderte Kapitel den Text ergänzten, die sich insbesondere nicht nur der Ankunft der Slawen, sondern auch dem großmährischen Reich und der Geschichte der Tschechen in Bezug auf das deutsch-römische Reich und die Verhältnisse in den böhmischen Ländern widmeten. Altrichters Lehrbuch aus dem Jahre 1923 kommt der tschechischen Auffassung bei den verwendeten Begriffen einen Schritt entgegen, da es einige Gepflogenheiten aus den damaligen tschechischen Lehrbüchern übernahm. Es verwendet beispielsweise statt des Ausdrucks Deutschland oder deutsch-römisches Reich oft die Wortverbindung Mitteleuropa und umgeht die Betonung des deutschen Charakters der mittelalterlichen Geschichte, z.B. bei der Darlegung der mittelalterlichen Kolonisation.50 Dies hindert jedoch auch Altrichter nicht daran, im Großen und Ganzen bei der Auslegung des Stoffes im Rahmen der bestehenden deutschen Interpretation des Mittelalters zu bleiben. 49 Gindely: Lehrbuch (1885) (wie Anm. 20), S. 1. Vgl. eine ähnliche Aussage bei Gindely: Lehrbuch (1877) (wie Anm. 20), S. 1: „Obwohl im Mittelalter verschiedene Völker und Staaten gleich mächtig neben einander standen, so wurde doch der Gang der Ereignisse vornehmlich durch das Auftreten der Deutschen bedingt, da sie der römischen Weltherrschaft ein Ende machten, den meisten Antheil an der Neubildung zahlreicher Staaten hatten und später das neue christliche Kaiserthum begründeten.“ (Im Original hervorgehoben). 50 Es stellt sich jedoch die Frage, inwieweit dies infolge eines amtlich gegebenen Curriculums oder einer Selbstzensur des Autors gegeben war. Derselbe Altrichter beteiligte sich in der Zeit der NS-Okkupation der böhmischen Länder an der Vorbereitung eines NS-Geschichtslehrbuches für die tschechischen Sekundarschulen, wo die Epoche des Mittelalters wieder eindeutig als deutsches, sogar nordisch-germanisches Zeitalter ausgelegt wurde.

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Ein Schüler einer tschechischen Sekundarschule in Österreich-Ungarn lernte, anders als sein Mitschüler an einer deutschen Schule, das Bild eines allgemeinen Mittelalters kennen, das in vielerlei Hinsicht deutsch blieb, in dem die Slawen und die böhmischen Länder jedoch eine recht bedeutsame und vom Reich oft unabhängige Rolle spielten. Wenngleich auch hier der Prozess der Herausbildung großer mittelalterlicher Reiche auf den Trümmern des römischen Imperiums mit dem römischen Reich deutscher Nation nachverfolgt wurde, wird die tschechische Geschichte, mit Ausnahme der tschechischen Übertragungen Gindelys, in eigenständigen Kapiteln angeordnet und geschildet. František Sobek beispielsweise wählte in seinem Lehrbuch eine Konzeption nach großen ethnischen Gruppen (Germanen, Slawen, Magyaren) und in den älteren Zeiten nach Staatsgebilden. Er stellte deshalb im ersten Teil besonders die Germanen und die germanischen Reiche vor, zu denen er auch das erneuerte Kaiserreich Karls des Großen zählte, extra dann die Slawen und die slawischen Reiche, denen er auch die mittelalterliche Entwicklung Polens, Russlands und der böhmischen Länder bis zum Aussterben der Přemysliden zurechnete. Später verfolgt er ebenso wie die Entwicklung der übrigen europäischen Staaten auch die Entwicklung des mittelalterlichen Deutschlands und erneut in gesonderten Kapiteln die Entwicklung des Königreichs Böhmen.51 Obwohl im eigentlichen Text eine gegenseitige und enge Bindung zwischen den böhmischen Ländern und dem Reich festgestellt werden kann, ist der erste Eindruck klar: Die böhmischen Länder gehören zu den slawischen Reichen und existierten im Mittelalter unabhängig von Deutschland. Der gleiche Eindruck ergibt sich bei Lektüre des traditionellen, chronologisch konzipierten Lehrbuchs für die unteren Klassen an Sekundarschulen von František Šembera, das von František Brdlík überarbeitet wurde, wenngleich es von der Gesamtkonzeption her ausgewogener ist als Šemberas früher erwähntes Lehrbuch für Bürgerschulen. Doch auch so betrachtet es aufmerksam vor allem die Geschichte des böhmischen, letztlich tschechischen Staates.52 Trotz des abweichenden konzeptionellen Herangehens unterschied sich von den tschechischen Lehrbüchern auch das Lehrbuch für höhere Klassen der Sekundarschulen von Lepař nicht.53 Lepař ging von der Konzeption einer Schilderung 51 Sobek: Dějiny všeobecné (1885) (wie Anm. 19). 52 Šembera/Brdlík: Učebná kniha (1910) (wie Anm. 21). 53 Lepař: Všeobecný dějepis (1876) (wie Anm. 33).

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der wichtigsten politischen Mächte der damaligen Zeit und ihrer Konflikte aus, wobei jedes Kapitel ein besonderes synchrones Element enthielt, anhand dessen Verfassung und Bildung besprochen wurden. Die Geschichte der einzelnen Staatsgebilde wurde hier vor dem Hintergrund des Wachstums der kaiserlichen und der päpstlichen Macht, des Konflikts zwischen weltlicher und geistlicher Macht, beschrieben, wobei es gleichzeitig die Tendenz entweder zur Dominanz einer einzigen Macht auf dem Kontinent oder zu einem Gleichgewicht mehrerer Mächte gegeben habe. Lepař’ Lehrbuch zielte somit nicht so sehr auf die Schilderung der Geschichte Deutschlands ab wie Gindely und die deutschen Lehrbücher, doch man konnte es auch nicht als Konflikt zwischen Germanen und Slawen lesen, der zu einem Ringen um die tschechische Unabhängigkeit vom deutschen Reich wurde.54 Damit hob sich das Lehrbuch von einem Trend ab, der sonst immer, wenn auch in unterschiedlichem Maße, in tschechischen Lehrbüchern vorkommt. Ein zweiter, detaillierterer Blick zeigt jedoch, dass auch Lepař’ Lehrbuch in den einzelnen Unterkapiteln dabei blieb, die böhmische Geschichte mehr oder weniger unabhängig von der Geschichte des deutschen Reiches zu schildern. Auch dort wird nicht nur neben der Geschichte des Streits um die Dominanz zwischen Kaiser und Papst die Entwicklung weiterer europäischer Staaten geschildert; nicht im Rahmen des deutschen Reiches, sondern neben Frankreich, England, Polen oder Ungarn, ist die Geschichte Großmährens, des Fürstentums Böhmen und des Königreichs Böhmen beschrieben – sogar so, als lehne das Lehrbuch die Konzeption des Mittelalters als Geschichte des deutschen Reiches direkt ab, denn entgegen den deutschen Lehrbüchern verwendete es in den Kapi54 Genau in dieser Weise jedoch dachten in der Tradition der vulgarisierten Geschichtssendung Palackýs auch einige Lehrbuchautoren. František Šembera brachte in seinem Buch über das Mittelalter (nicht in Lehrbüchern) den Sieg des Reiches des Samo mit der geschichtlichen Berufung der Tschechen in Verbindung, die immer aktuell bleiben sollte: „Samem Čechové [byli] zasvěceni světovému svému úkolu: býti baštou kmeni slovanskému proti návalu Germánstva a strážci západu a vzdělanosti proti barbarství mongolskému. Bitva u Vogastisburka předehrou byla bitev u Tachova a u Domažlic, vítězství pak nad Avary dobyté předehrou vítězství Jaroslavova u Olomouce, Otakarova u Kressenbrunnu a jiných podobných!“ [„Mit Samo (waren) die Tschechen ihrer Weltaufgabe geweiht: eine Bastion für den Stamm der Slaven gegen den Ansturm der Germanen und Wächter des Abendlandes und der Bildung gegen die mongolische Barbarei zu sein. Die Schlacht bei Wogastisburg war das Vorspiel der Schlachten bei Tachov und bei Domažlice, der Sieg über die Awaren dann das Vorspiel des Sieges des Jaroslav bei Olomouc, des Otakar bei Kressenbrunn und anderer!“]. Šembera: Dějiny středověké. Svazek 1, Praha 1879, S. 320. Wie man sieht, glaubte Šembera an die Echtheit der gefälschten Handschriften.

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telbezeichnungen für die Zeit des Spätmittelalters die Begriffe deutsches Reich oder Deutschland überhaupt nicht, sondern sprach stattdessen von Mitteleuropa.55 Den Begriff Mitteleuropa verwendete da, wo die deutschen Lehrbücher normalerweise vom deutschen Reich sprachen, auch das modernste tschechische, um strukturelle, wirtschaftliche und soziale Exkurse bereicherte und vom Geist des europäischen Liberalismus durchdrungene Lehrbuch der Autoren Hýbl, Šusta und Bidlo. Auch dieses konnte nur schwer auf das verzichten, was sich in der Zwischenzeit im tschechischen geschichtlichen und historiographischen Narrativ als nicht anzuzweifelndes Axiom durchgesetzt hatte: Die Geschichte der böhmischen Länder ist eine Geschichte für sich, unabhängig von der Geschichte Deutschlands und des deutschen Reiches, auch wenn die böhmischen Länder politisch und rechtlich in vielerlei Hinsicht und für lange Jahrhunderte mit ihm verbunden waren. In der Konzeption des Lehrbuchs, das detailliert von der Entstehung Europas berichtet, gehören die böhmischen Länder auch zu den ältesten europäischen Ländern, die aus dem Gärkessel langer Jahrhunderte nach dem Untergang des weströmischen Reiches und ihrer frühen germanischen Nachfolger hervorgegangen waren, die ihre eigenständige Existenz die gesamte Epoche des Mittelalters über verteidigt und sogar in Person der letzten Přemysliden versucht hatten und denen es dank der letzten Luxemburger auch gelungen war, sich an die Spitze der europäischen Entwicklung zu stellen. In der ersten Ausgabe aus dem Jahre 1912 von Bidlo und Šusta wird diese Interpretation noch etwas unterdrückt, wohl mit Rücksicht auf die österreichische Staatsidee, wegen der die Autoren zusammen mit der historischen Entwicklung der böhmischen Länder auch die historische Entwicklung der österreichischen Länder betrachteten.56 Doch in den überarbeiteten Versionen des Lehrbuches in der Tschechoslowakischen Republik, vor allem dann in der Ausgabe aus dem Jahre 1937, erhielt die erste Phase des Spätmittelalters sogar die Bezeichnung „země české v popředí dějin evropských“ [„die böhmischen Länder im Mittelpunkt der europäischen Geschichte“].57 55 Lepař: Všeobecný dějepis (1876) (wie Anm. 33). Vgl. folgende Bezeichnungen von Kapiteln: „Česká koruna v popředí věcí středoevropských“ [„Böhmische Krone im Mittelpunkt der mitteleuropäischen Angelegenheiten“] oder „Rod habsburský v popředí středoevropském“ [„Die Habsburger im Vordergrund der mitteleuropäischen Ereignisse“]. 56 Bidlo/Hýbl/Šusta: Všeobecný dějepis (1912) (wie Anm. 24). 57 Bidlo/Dobiáš/Šusta: Všeobecný dějepis (1937) (wie Anm. 25), vgl. auch Bidlo/Hýbl/Šusta: Všeobecný dějepis (1920) (wie Anm. 25).

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Gleichzeitig allerdings wurde das Lehrbuch so gekürzt, dass es seinen ursprünglichen, bemerkenswert detaillierten, doch für Sekundarschulen zu ambitionierten Umfang einbüßte. Der Text reflektierte aufgrund dieser Einengung stärker die mitteleuropäische Entwicklung und wurde um eine Interpretation der Ereignisse bereichert, die irgendwie mit der tschechischen bzw. tschechoslowakischen Geschichte zusammenhing. Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass die Veränderungen im Text nicht nur den üblichen Anforderungen der staatlichen Ideologie und den praktischen Fähigkeiten der Schüler, sondern auch der national zugespitzten Atmosphäre der 1930er Jahre unterlagen. Eine der Veränderungen führte nämlich überraschenderweise in den Titel eines Kapitels die Losung „Drang nach Osten“ ein, der aus der deutschnationalen Terminologie stammt. Diese Losung bezeichnete das neu geschaffene Kapitel des dritten Teils des Lehrbuchs zu Mittel- und Osteuropa im Hochmittelalter, das die in den älteren Ausgaben enthaltenen Passagen zu den deutschen Eroberungen und die Kolonisation ­Mittelund Osteuropas, vor allem entlang der Ostsee, aber auch in Polen und Schlesien, zusammenfasste. Die Darlegung zum Besiedlungsprozess mit Pflug und Schwert erfolgte fast ausschließlich im Kontext des Konflikts zwischen Deutschen und Slawen. Das Kapitel berichtete auch vom Prozess der „poněmčování“ [„Ver­ deutschung“] der slawischen Gebiete, von der „národní nebezpečnosti“ [„nationalen Gefahr“] einer Unterstützung der Bildung der slawischen Bevölkerung durch die deutschen Städte, und die Entstehung des preußischen Staates des Deutschen Ritterordens wurde in den Termini der deutschen wirtschaftlichen „vykořisťování“ [„Ausbeutung“] des Baltikums und Polens kommentiert.58 Die Lehrbücher legten auch trotz der notwendigen Kürzungen den Schülern tschechischer Sekundarschulen weiterhin ein europäisch gezeichnetes Bild des Mittelalters vor. Die vorgenommenen Veränderungen zeugten jedoch davon, dass es in den 1930er Jahren zu einer neuen Welle der Nationalisierung des schulischen geschichtlichen Diskurses in der Tschechoslowakei kam.

58 Bidlo/Dobiáš/Šusta: Všeobecný dějepis (1937) (wie Anm. 25), S. 60.

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III. Drei ausgewählte Analysen Wie spiegelten sich diese unterschiedlichen Konzeptionen in der Auffassung konkreter Ereignisse und Personen der mittelalterlichen Geschichte wider? Betrachten wir drei Fälle aus dem 12., 13. und 14. Jahrhundert. Šembera, in Überarbeitung von Brdlík, beschreibt beispielsweise Karl IV. als böhmischen Herrscher, der nach dem Vorbild seiner Vorväter unter den letzten Přemysliden das Königreich Böhmen durch Erhebung des Bistums zum Erzbistum und die Gründung der Universität in Prag, „aby Čechové na studie nemuseli choditi do ciziny“ [„damit die Tschechen zum Studium nicht ins Ausland gehen müssen“], zur Blüte führte.59 Als der böhmische König deutscher Kaiser wurde, schuf er mit seiner Goldenen Bulle Ordnung bezüglich der Wahl eines neuen Kaisers und „upravil také právní poměry mezi Čechy a říší německou, zabezpečiv královstvi českému samostatnost“ [„regelte so auch die rechtlichen Beziehungen zwischen den Tschechen und dem deutschen Reich, indem er dem Königreich Böhmen die Eigenständigkeit sicherte“].60 In ähnlicher Form wurde Karl IV. im Grunde auch regelmäßig in tschechischen Lehrbüchern dargestellt. Lepař’ Lehrbuch, von dem noch die Rede sein wird, beschrieb die Zeit Karls IV. als „zlatý věk království českého“ [„goldenes Zeitalter des Königreichs Böhmen“].61 Dieses trat der weiteren Darlegung zufolge unter anderem eigentlich deshalb ein, weil Karl die Unterschiedlichkeit „jazyka národa českého od jazyka německého“ [„der Sprache des tschechischen Volkes und der deutschen Sprache“] bestätigte und als römischer König sogleich auch die politischen Rechte des Königreichs Böhmen bekräftigte.62 Šembera betonte dann Karls Bemühungen, das Königreich Böhmen aus der Unterordnung unter eine höhere Macht zu befreien, denn Karl hatte während seines Aufenthalts in Frankreich „naučil se ceniti onu touhu po svrchovanosti národů, ke které Francouzové právě byli dospěli“ [„gelernt, jenes Verlangen nach einer Souveränität der Völker wertzuschätzen, zu der die Franzosen gerade gelangt waren“].63 Zum Vergleich: Viele deutsche Lehrbücher sahen in Karl IV. einen deutschen Kaiser, der sich verhältnismäßig wenig64 um 59 Šembera/Brdlík: Učebná kniha (1910) (wie Anm. 21), S. 83. 60 Ebd., S. 84. 61 Lepař: Všeobecný dějepis (1890) (wie Anm. 19), S. 208. 62 Ebd., S. 208. 63 Ebd. 64 Gindely: Lehrbuch (1877) (wie Anm. 20), S. 159; Gindely, Anton: Lehrbuch der allgemeinen

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das Reich kümmerte und vor allem die Dominien seines Hauses ausdehnte und die Macht Böhmens stärkte. Trotzdem erinnerten sie daran, dass er, sofern dies beim damaligen Zustand des Reiches möglich war, in der Goldenen Bulle die Machtverhältnisse im Reich durch Regeln für die Wahl eines neuen deutschen Königs festschrieb. Doch im Ergebnis werten sie Karls Herrschaft aus Sicht der Zentralgewalt des Reiches oft negativ. Mayers Lehrbuch vergaß nicht hinzuzufügen, dass die Macht des Reichskönigs geschwächt wurde, weil den Kurfürsten Rechte zugestanden wurden, so dass sie ab dieser Zeit vom Kaiser fast unab­ hängig waren.65 Gindely fügte noch hinzu, dass der zweite bedeutende Artikel der Bulle das freie Recht Böhmens war, nach dem Aussterben der Königsdynastie einen neuen König zu wählen.66 In einer späteren Version des Lehrbuchs für die oberen Klassen der Sekundarschulen betonte Gindely: „er (Karl IV.) sanctionierte geradezu die Auflösung des Reiches.“67 Die deutschen Lehrbücher führen unter anderem auch an, Karl IV. habe die Prager Universität gegründet, weil „Deutschland noch keine solche Schule (hatte)“,68 er habe sie als erste deutsche Universität69 gegründet und Prag somit zum Mittelpunkte der Gelehrsamkeit für ganz Deutschland70 gemacht. Zu einer gewissen Veränderung in der Auffassung Karls IV. kam es in den deutschen Lehrbüchern nach dem Jahre 1918. In der neuen Ausgabe des Lehrbuchs von Woynar-Czucka vom Beginn der 1920er Jahre wurde das Motiv der fortschreitenden, mit der Herrschaft Karls IV. beginnenden Auflösung des Reiches direkt in die Gesamtkonzeption der Auffassung vom Mittelalter eingearbeitet und bildete die zweite Phase des achten Periodisierungszeitraums, in dem sich das deutsche Königtum von seinen Weltherrschaftsplänen verabschiedete. Doch das Lehrbuch äußerte nun gegenüber Karl IV. gewisse Sympathien und Verständnis für die komplizierte politische Lage im Reich. Es charakterisierte Karl IV. zwar als neuen Pfaffenkönig, jedoch auch als unglaub-

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Geschichte für die Oberen Klassen der Mittelschulen. II. Band. Das Mittelalter, Prag 7. Aufl. 1888, S. 154. Mayer: Lehrbuch (1893) (wie Anm. 20) S. 68 f. Gindely: Lehrbuch (1869) (wie Anm. 17), S. 78 und 94. Karl IV. wird von Gindely zweimal und in beiden Fällen ausgewogen erwähnt. Einmal folgt er Karls Reichspolitik, zweitens stellt er seine wohltuende Wirkung in Böhmen dar, besonders beschreibt er die Gründung der Prager Universität und ihre Auswirkungen für Deutschland und die östlich angrenzenden Länder. Gindely: Lehrbuch (1885) (wie Anm. 20), S. 159. Mayer: Lehrbuch (1893) (wie Anm. 20), S. 68 f. Pennerstorfer: Lehrbuch der Geschichte (1898) (wie Anm. 44), S. 64‒66. Gindely: Lehrbuch (1885) (wie Anm. 20), S. 159.

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lich gebildeten, wirtschaftlich weitsichtigen und in der Diplomatie fähigsten Herrscher seiner Zeit, der unter den ungünstigen Verhältnissen einer nie dagewesenen Hungersnot und der Pestepidemie in Italien und im Reich auf eine Erneuerung der zentralen Macht des Reiches verzichtete und sich vor allem bemühte, den Frieden aufrechtzuerhalten, wobei er sich mit einer führenden Stellung unter den deutlich gestärkten Kurfürsten im Reich, das dann zu einem Staat der Kurfürsten umgebaut werden sollte, zufrieden gab. Das Lehrbuch sah es deshalb auch nicht so negativ, dass der Luxemburger sein Hauptaugenmerk auf das slawisch-deutsche Königreich Böhmen richtete. Das Land erlebte durch die Unterstützung des Königs nicht nur für die bestehenden Handwerke, sondern auch dank neuer Handwerke, die aus Deutschland und Italien ins Land geholt worden waren, eine allseitige wirtschaftliche Blüte. Unter Karls Herrschaft blühte dem Lehrbuch zufolge auch die „deutsche Kultur“, die unter Přemysl Otakar II. in die böhmischen Länder gelangt sei.71 Der vorsichtige, aber sichtliche Nachdruck bezüglich des deutschen Charakters der kulturellen Leistungen aus der Zeit Karls war ein Motiv, das bisher in den deutschen Lehrbüchern bei der Schilderung Karls IV. überhaupt nicht erwähnt wurde – im Unterschied zu den tschechischen Lehrbüchern, in denen das angeblich bereits seit den letzten Přemysliden nicht immer günstige Wachstum der deutschen Bevölkerung und der Kultur der deutschen Sprache in den böhmischen Ländern erwähnt wurde. Wahrscheinlich ergab sich dieser Nachdruck aus der gesamten Stimmung in der deutschböhmischen intellektuellen Welt nach 1918 und schöpfte seinen Stoff aus der zivilisatorischen Argumentation der deutschen Historiographie um den „Verein für die Geschichte der Deutschen in Böhmen“. Obwohl Altrichter auch in diesen Kreis gehörte, umging sein etwa aus derselben Zeit stammendes Lehrbuch diese Interpretation vorsichtig und sprach von Karls Unterstützung für ausländische und einheimische Dichter und Gelehrte, Italiener, Deutsche und Einheimische. Sogar die Gründung der Universität, die im tschechoslowakischen Staat ein Feld der aufgeregten kulturpolitischen Kämpfe wurde, brachte Altrichter nicht, wie Woynar-Czucka, mit dem deutschen Reich, sondern, wahrscheinlich nach tschechischem Vorbild, mit der ersten Universität in Mitteleuropa in Verbindung. Obgleich jedoch Altrichter auch sonst vor allem Karls erfolgreiche Regierung in den böhmischen Ländern beschreibt, trennt er diese nicht von der Geschichte Deutschlands. Auch deshalb wird am Rande erwähnt, dass es Prag 71 Czuczka: Woynars Lehrbuch (wie Anm. 26), S. 171 f.

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war, wo die Residenz des römisch-deutschen Kaisers lag und das somit auch Sitz der kaiserlichen Kanzlei war, die bei der Entwicklung des schriftsprachlichen Deutsch nicht unbedeutend war.72 Es ist in diesem Zusammenhang eine charakteristische Erscheinung erwähnenswert. In der national-politischen Argumentation der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde eine historiographische Frage leidenschaftlich diskutiert. Es war die Frage nach den Einflüssen in der böhmischen Kultur. Die tschechische Historiographie betonte westeuropäische Quellen der böhmischen Kultur, allgemein christliche, dann deutsche, spanische, italienische, französische; die deutschböhmische, später sudetendeutsche Geschichtsschreibung beharrte demgegenüber auf der Betonung der eindeutigen Dominanz deutscher Kultur. Es ist nur signifikant, wenn das tschechische Lehrbuch von Hýbl, Bidlo und Šusta es der Zeit Karls IV. positiv anrechnete, dass nach den Zeiten, in der die französische Bildung nur durch deutsche Vermittlung nach Böhmen gekommen war, nun erstmals die Bildung der böhmischen Länder durch den direkten Einfluss aus Frankreich bereichert wurde.73 Eine ähnliche Ausprägung national unterschiedlicher Bilder lässt sich auf vielen Seiten der Lehrbücher, auch an der Veranschaulichung der Person und der Politik des Stauferkaisers Friedrich I. Barbarossa verfolgen. Sein Spitzname wurde normalerweise aus dem Italienischen in die Lehrbuchsprache übersetzt (tschechisch Rudobradý, deutsch Rotbart). Ab dem ältesten Lehrbuch von Gindely wird der Staufer ohne Ansehen der Lehrbuchsprache als körperlich „krásně rostlý“ [„schön gewachsen“] dargestellt, als „přítel spravedlnosti, pln válečné mysli, pronikavého rozumu a moudré rozvahy“ [„Freund der Gerechtigkeit, voller Kriegssinn, durchdringendem Verstand und weiser Besonnenheit“].74 Alle Lehrbücher aus der Zeit Österreich-Ungarns betonen ebenfalls einmütig, das Hauptziel seiner Politik, seine „angelegentlichste Sorge“ sei es gewesen, „die gesunkene Kaisermacht zu heben“,75 vor allem in Italien, aber auch im Reich, das schon lange von dem Streit zwischen Welfen und Staufern erschüttert worden sei. Die 72 Altrichter: Lehrbuch der Geschichte (1923) (wie Anm. 26), S. 169‒175. 73 Bidlo/Hýbl/Šusta: Všeobecný dějepis (1912) (wie Anm. 24), S. 176; Bidlo/Hýbl/Šusta: Všeobecný dějepis (1920) (wie Anm. 25), S. 102; Bidlo/Dobiáš/Šusta: Všeobecný dějepis (1937) (wie Anm. 25), S. 75. 74 Gindely, Anton/Kovář Matěj Radoslav: Dějepis pro školy obecné a měšťanské. Díl první, Praha 1876, S. 13. 75 Gindely: Lehrbuch (1888) (wie Anm. 64), S. 102.

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deutschen Lehrbücher konzentrierten sich deshalb auf eine Auslegung der Verhältnisse im Reich, auf die Italienfeldzüge des Herrschers und die mehrmalige Belagerung Mailands, den Streit mit Papst Alexander III. und den Frieden mit ihm nach dem Verrat Heinrichs des Löwen sowie auf die Folgen für die Geschichte des Reichs und Österreichs. Friedrich I. ist ein Musterbeispiel für einen gerechten deutschen Herrscher, der unbarmherzig sein kann, wenn es nötig ist, allerdings auch großzügig gnädig gegenüber denjenigen, die einen Fehler begangen haben, sich gegen den Kaiser stellten und danach Buße taten, z.B. die Mailänder bei der Belagerung 1158 oder Heinrich der Löwe. Die böhmische Spur ist in den deutschen Lehrbüchern nur in der Anmerkung enthalten, der böhmische Herzog Vladislav sei für seine Unterstützung bei den kaiserlichen Italienfeldzügen von Friedrich Barbarossa als persönliche Auszeichnung in den Königsstand erhoben worden.76 Demgegenüber ist für die tschechisch geschriebenen Lehrbücher die Erteilung der Königswürde an Vladislav II. einer der wesentlichen Fakten der Geschichte um Barbarossa. Wenn diese vom Charakter des Königstitels berichten, erwähnen sie dessen Erblichkeit. Bis auf eine Ausnahme, die älteste Übertragung von Gindelys Lehrbuch für Bürgerschulen, nutzen die tschechischen Autoren dann das Kapitel über Friedrich I. Barbarossa zur detaillierten Schilderung der „české udatnosti“ [„tschechischen Tüchtigkeit“] beim zweiten Feldzug Barbarossas gegen Mailand.77 Die Sympathien für den Kaiser werden sofort zu Antipathien, sobald die Autoren zur Beschreibung von Barbarossas Politik gegenüber dem böhmischen Fürstentum nach dem Rückzug König Vladislavs ins Kloster gelangen. In den böhmischen Ländern seien nun „zlé časy“ [„böse Zeiten“] angebrochen.78 Es sei zu einer „velikému ponížení“ [„großen Erniedrigung“] gekommen,79 und der „jednotě i samostatnosti českého státu“ [„Einheit und der Eigenständigkeit des böhmischen Staates“] habe „veliké nebezpečenství“ [„große Gefahr“] gedroht,80 als Friedrich Barbarossa das böhmische Fürstentum in die Markgrafschaft Mähren, das Fürstentum des Prager Bischofs und sein eigenes Fürstentum unterteilt und diese direkt der kaiserlichen 76 Vávra: Gindelyho učebnice. Díl druhý (1895) (wie Anm. 30), S. 29; vgl. auch Lepař: Všeobecný dějepis (1876) (wie Anm. 33), S. 140; Sobek: Dějiny všeobecné (1885) (wie Anm. 19), S. 28; Šembera/Brdlík: Učebná kniha (1910) (wie Anm. 21), S. 69 f. 77 Vávra: Gindelyho učebnice. Díl druhý (1895) (wie Anm. 30), S. 29. 78 Sobek: Dějiny všeobecné (1885) (wie Anm. 19), S. 29. 79 Vávra: Gindelyho učebnice. Díl druhý (1895) (wie Anm. 30), S. 34. 80 Erben: Prof. Dra. Ant. Gindelyho dějepis (1872) (wie Anm. 18), S. 101.

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Macht unterstellt habe. Er soll dies einem Lehrbuchtext zufolge aus Angst vor einer künftigen „velkou mocí panovníků českých a vojenskou sílou jejich“ [„großen Macht der böhmischen Herrscher und ihrer militärischen Stärke“]81 oder, wie es andernorts wiederum heißt, aus der willkommenen Gelegenheit heraus getan haben, die Macht der Přemysliden in eine engere Abhängigkeit vom Reich zu bringen.82 Die tschechischen Lehrbücher sprechen aus diesem Grunde vom Glück, das dem böhmischen Staate in der Person Přemysl Otakars I., der die Macht des Herrschers vereinte und dauerhaft beförderte, zuteilwurde. Nach dem Jahre 1918 färbte sich das Bild der Zeit Friedrich Barbarossas noch etwas anders ein. Altrichter blieb bei dem ursprünglichen hervorragenden Bild des Kaisers und ergänzte den Text lediglich um das Bild von den Verhältnissen in Böhmen, in denen er jedoch zu erreichen versuchte, dass Barbarossas Eingriffe nicht negativ wahrgenommen wurden. Barbarossa wird in wenigen trockenen Sätzen eher als Herrscher dargestellt, der durch das Chaos, die Streitigkeiten und den Krieg um die Nachfolge auf dem Fürstenthron im Grunde gezwungen ist, in den böhmischen Ländern einzugreifen. Dabei erhöhte er Mähren zur Markgrafschaft, was nicht mit der üblichen ungünstigen Bewertung der tschechischen Lehrbücher konform geht, und der erste Markgraf Konrad Ota beherrschte auch Böhmen. Denkt man die Logik der trockenen Auslegung zu Ende, ist Barbarossas Eingreifen eigentlich für Recht und Ordnung im Land ein Segen, da es nach dem Tode Konrad Otas wieder ins Chaos stürzt, bis schließlich Přemysl Otakar I. als Sieger auftaucht.83 Woynar-Czcuckas Lehrbuch setzt dem Bild der Zeit Friedrich Barbarossas allerdings noch ein bereits erwähntes, doch bisher noch nicht so sehr betontes Element hinzu: die deutsche Kolonisation des Nordens und des Ostens Europas mittels kriegerischer Eroberungen und der Gründung deutscher Städte, was als „die große Kulturarbeit“ von Barbarossas größtem Konkurrenten Heinrich dem Löwen verstanden wurde, deren Ergebnis die positiv gemeinte „Germanisierung“ des slawischen Osteuropa angeblich war.84 Dies war ein neuer Trend in der schulischen Auslegung des Mittelalters, in der ganze Völker als Subjekte der Geschichte größeren Raum erhielten. Eben auf diese Welle der neuen Nationalisierung reagierten dann auch die neuesten Ausgaben des jüngsten tschechischen Lehrbuchs. 81 82 83 84

Šembera/Koníř: Obrazy z dějin (1909) (wie Anm. 21), S. 60. Lepař: Všeobecný dějepis (1890) (wie Anm. 19), S. 134. Altrichter: Lehrbuch der Geschichte (1924) (wie Anm. 26), S. 7. Czuczka: Woynars Lehrbuch (wie Anm. 26), S. 79 f.

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Damit jedoch keine falsche Vorstellung vom schulischen Bild Karls IV. oder Friedrich Barbarossas entsteht, muss daran erinnert werden, dass beide Kaiser im Rahmen der gesamtheitlichen Auffassung des Mittelalters an österreichischen Schulen etwa gleich viel Raum erhielten wie die meisten anderen Herrscher des Mittelalters. Im Gegenteil, eine viel bedeutendere Rolle nahm in österreichischen Lehrbüchern vor allem im dritten Viertel des Jahrhunderts und ohne Rücksicht auf die Sprachversion die Gestalt Rudolfs von Habsburg als Begründer des Aufstiegs der Habsburger ein. Die Wahl Rudolfs zum römisch-deutschen König wurde sogar in Gindelys Lehrbuch insoweit zu einem periodisierenden Meilenstein der inneren Gliederung der mittelalterlichen Epochen, als mit ihr die letzte Phase des Mittelalters eingeleitet wurde. Diese Auffassung übernahmen die tschechischen Versionen von Gindelys Text, und in freierer Form auch das Lehrbuch von Sobek. Es hat trotzdem den Anschein, dass die neueren österreichischen Lehrbücher ab der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert von Gindelys periodisierendem Schema abwichen, auch wenn sie Rudolf von Habsburg im Rahmen der Geschichte des Mittelalters weiterhin einen bedeutenden Platz einräumten. Es wird wahrscheinlich nicht nötig sein, hinter dieser Feststellung irgendeinen bedeutenderen Zusammenhang zu suchen als den, dass neben den Lehrbüchern zur allgemeinen Geschichte im Geschichtsunterricht parallel noch Lehrbücher zur österreichischen Geschichte verwendet wurden und dass, wie an Gindelys überarbeiteten Lehrbüchern ab dem Ende der 1870er Jahre zu sehen ist, der österreichische Kontext aus dem Wesen des zu vermittelnden Stoffes heraus einem allgemeinen Kontext wich, der in seiner breiteren Bedeutung als europäischer und in seiner engeren Bedeutung als deutscher Kontext aufgefasst wurde. Das Bild Rudolfs von Habsburg war in den tschechischen und deutschen Lehrbüchern immer mit der Geschichte des Konflikts mit dem böhmischen König Přemysl Otakar II. um die österreichischen Länder nach dem Aussterben der Babenberger verbunden. Auch hier lassen sich jedoch deutliche Unterschiede in der Darlegung in den tschechischen und deutschen Lehrbüchern beobachten. In den Titel eines Kapitels gelangte der Name des Přemyslidenkönigs nur in den tschechischen Lehrbüchern, wenngleich man nicht sagen kann, dass die deutschen Lehrbücher Ottokar II., wie Přemysl Otakar II. dort manchmal bezeichnet wird, ausgesprochen negativ geschildert hätten. Sie beschrieben ihn als fähigen, beherzten, aber pragmatischen Herrscher, der nach dem Aussterben der österreichischen Babenberger die chaotischen Verhältnisse im römischen

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Reich in der Zeit des Interregnums zur Stärkung seiner eigenen Macht, zur Erlangung Österreichs und zur Schaffung eines großen, reichen Dominiums vom Riesengebirge bis zum Adriatischen Meer nutzte, bis er nach Pennerstorfers Lehrbuch für Bürgerschulen „der mächtigste Fürst des deutschen Reichs“ war.85 Mayers Lehrbuch für ältere Schüler schätzte darüber hinaus seine gefürchteten, fast unüberwindbaren Ritter und auch die kluge Herrschaft des goldenen Königs, der besonders die Tschechen zu Blüte und Reichtum geführt haben soll. Mayer verwendete dabei in den 1890er Jahren erstmalig auch das Argument, die Länder Přemysl Otakars II. seien deshalb reich geworden, weil er zahlreiche deutsche Kolonisten, welche Dörfer und Städte gründeten, ins Land geholt habe.86 Das Argument, das den bestehenden Bedarf andeutete, sich mit der Frage der Entstehung einer ethnischen Pluralität in den böhmischen Ländern auseinanderzusetzen, tauchte auch in einem Lehrbuch aus der ersten Republik auf und kam dann im Zusammenhang mit der Herrschaft Přemysl Otakars II. und ebenso seines Vaters Wenzel I. ab dem Ende des 19. Jahrhunderts auch bei den tschechischen Autoren vor. Bei ihnen allerdings hatte die Innenpolitik beider tschechischer Könige eine ambivalentere Bewertung. Die Ankunft der deutschen Kolonisten für die Stärkung der königlichen Macht mag aus wirtschaftlichen Gründen zwar sehr vorteilhaft gewesen sein, doch aus der Sicht der Nationalitätenentwicklung betrachtet hatte sie sehr unschöne Folgen, weil das Land künftig aus zwei Völkern bestand.87 Wurde also in den deutschen Lehrbüchern Přemysl Otakar II. sachlich und stellenweise auch mit einer gewissen Sympathie dargestellt, zeichnete man Rudolf von Habsburg, die Hauptfigur der Geschichte, in direkt strahlenden Farben. In den Augen der deutschen Lehrbuchautoren für höhere Bildungsstufen wurde Rudolf auch als geradliniger und durchweg gerechter Herrscher dargestellt, der darum bemüht war, die Reichsinteressen aus der Anarchie herauszureißen. Die jüngeren Schüler lernten die Legende von dem edlen, frommen und deshalb 85 Pennerstorfer: Lehrbuch der Geschichte (1902) (wie Anm. 44), S. 115. 86 Mayer: Lehrbuch (1893) (wie Anm. 20), S. 61. 87 Die Interpretation der Gründe für die Ankunft der Deutschen war auch bemerkenswert, vor allem bei Šembera/Brdlík: Učebná kniha (1910) (wie Anm. 21), S. 61 und 65. Das Lehrbuch behauptet, dass die deutschen Kolonisten aus Deutschland kamen, weil dort, in ihrer alten Heimat, Gewalt, Räubertum und Chaos herrschten und sie in Böhmen von Přemysl Otakar II. wie bereits von seinem Urgroßvater nicht nur den Boden und verschiedene Freiheiten, sondern vor allem königlichen Schutz bekamen.

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beliebten Grafen kennen, in der Rudolf sein Pferd einem Priester für den kirchlichen Dienst schenkt. Die Illustration, die die Passage begleitet, zeigt einen jungen Grafen, wie er demutsvoll kniend dem Priester in die Steigbügel hilft.88 Es war wahrscheinlich Aufgabe des Lehrers, die mittelalterliche Legende, die in Balladenform von Friedrich Schiller bearbeitet wurde, zu Ende zu erzählen und zu erklären, dass der Priester nicht über einen wilden Alpenbach zu einem Sterbenden gelangen konnte. Das Ganze rundete Rudolfs Bild als eines treuen und frommen Herrschers ab, der der Kirche bei ihren Aufgaben hilft. Auch aus rein menschlicher Sicht soll Rudolf im Grunde eine volkstümliche, vom ganzen Volk geliebte Persönlichkeit gewesen sein: Er lebte einfach, verhielt sich allen gegenüber freundlich und erwiderte stets gut gelaunt einen Scherz mit einem Scherz.89 Der Streit mit dem böhmischen König wurde den deutschen Lehrbüchern zufolge um die Anerkennung rechtmäßiger Ansprüche und der Autorität des rechtmäßig gewählten deutschen Königs geführt, der versuchte, dem Reich das zu Unrecht entwendete Vermögen zurückzugeben, und der auch nach dem Tode Přemysl Otakars II. unermüdlich im Reich die Politik des Faustrechts zu unterbinden versuchte, die zu Zeiten des Interregnums im Reich Einzug gehalten hatte. Im Rahmen dieser Interpretation wurde eher beiläufig erwähnt, dass Rudolf mittels dieser Politik gleichzeitig die Grundlagen für den Machtantritt der Habsburger Dynastie in der Zukunft legte. Gewissermaßen spiegelbildlich dazu sind die Bilder der Herrscher in den tschechischen Lehrbüchern; der Hauptheld ist nun Přemysl Otakar II., und im Mittelpunkt steht das Schicksal der böhmischen Länder, auch wenn man merkt, dass Rudolf von Habsburg auch weiterhin die edelsten Eigenschaften zugeschrieben werden, besonders wenn man allgemein von ihm in Bezug zum Reich und nicht zum böhmischen König spricht. Es ist auch zu beobachten, dass in den neueren Lehrbuchtexten, vor allem für höhere Bildungsstufen, zumindest in der Auslegung des Mittelalters das österreichische Geschichtsnarrativ der narrativen Linie der tschechischen Geschichte weicht. Die älteste Erben’sche Übersetzung von Gindelys Lehrbuch für Sekundarschulen stand noch stark im Einklang mit Gindelys Originalinterpretation und betont zusätzlich nur, dass der böhmische König auf dem Marchfeld „opuštěn v rozhodné chvíli od záložního vojska moravs88 Pennerstorfer: Lehrbuch der Geschichte (1907) (wie Anm. 39), S. 111. Ähnlich Mayer: Lehrbuch (1893) (wie Anm. 20), S. 61 f. 89 Mayer: Lehrbuch (1893) (wie Anm. 20), S. 65.

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kého“ [„im entscheidenden Moment vom mährischen Reserveheer verlassen“] wurde, womit im tschechischen Lehrbuch als Ursache für die Niederlage die Zwietracht im tschechischen Heer hervorgehoben wurde.90 Fast der gleiche Satz und die gleiche Schlussfolgerung lassen sich auch in Kovář’ Überarbeitung von Gindelys Lehrbuch für Bürgerschulen finden, wo sich der böhmische König außerdem entschließt, sein Leben lieber stolz im Kampf zu beenden als seinen eigenen Sturz zu erleben.91 Rudolf von Habsburg ist in beiden Texten ebenso wie im deutschen Original von Gindely eine großzügige Person, nach dem Sieg gibt er sich nur mit der Begleichung der Kriegsschäden zufrieden und überlässt die böhmischen Länder dem Sohn des geschlagenen Königs, Wenzel II., den er mit einer seiner Töchter verlobt. Vávras neuere Überarbeitung desselben Lehrbuches verschob allerdings den Kontext etwas, konkret auf die Ebene des Verhältnisses zwischen Tschechen und Deutschen, ohne dass dabei die österreichische Interpretationslinie besonders gelitten hätte. Der Text ist nun in folgender Sequenz von Argumenten angeordnet: hervorragender böhmischer König, wegen seiner Gerechtigkeit gegenüber dem Volk bei diesem beliebter als beim oft verräterischen Adel, erhielt – ohne militärische Eroberung, wie Gindelys deutsche Ausgabe des Lehrbuchs aus dem Jahre 1885 besagt – nach den Babenbergern Österreich und die Steiermark und erbte vom letzten Kärntner Fürsten Kärnten und die Krain. Damit rief er Hass bei den „německých knížat“ [„deutschen Fürsten“] hervor, „že český král tolik německých zemí drží“ [„weil ein böhmischer/ tschechischer König so viele deutsche Länder halte“], und sie verlangten von dem „statném a přičinlivém“ [„mutigen und tatkräftigen“] Rudolf von Habsburg, nachdem dieser zum „deutschen“ König gewählt worden war, alle nach dem Tode des Stauferkaisers Friedrich II. gestohlenen Länder zurückzufordern. Deshalb brach ein Streit zwischen beiden Königen aus, der im Jahre 1278, nach dem Verrat des „moravského pána Miloty z Dědic“ [„mährischen Herren Milota von Dědice“] mit dem Tode Přemysl Otakars II. in der Schlacht endete.92 Rudolf war somit nicht der eigentliche Initiator des Streits, sondern nur ein Werkzeug der „deutschen Fürsten“. Dadurch wurde auch die tatsächliche Schuld am Tode des böhmischen Königs vom Gründer der Habsburger Monarchie genommen, und der Gewinn der österreichischen Länder für Habsburg erschien nicht als Folge 90 Erben: Prof. Dra. Ant. Gindelyho dějepis (1872) (wie Anm. 18), S. 101. 91 Gindely/Kovář: Dějepis (1876) (wie Anm. 74), S. 67 f. 92 Vávra: Gindelyho učebnice. Díl druhý (1895) (wie Anm. 30), S. 38 f.

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einer persönlichen Usurpation, sondern als Ergebnis der deutschen Bemühung, eine Stärkung des tschechischen Staates zu verhindern. Der gewaltlose Gewinn der österreichischen Länder durch den böhmischen König, der durch die Wahl der österreichischen Magnaten abgesegnet worden war, der Verrat des mährischen Heeres, der letzte heldenhafte Kampf Přemysl Otakars II., aber auch der Scharfsinn Rudolfs von Habsburg, der vor allem dann erwähnt wurde, wenn sein Handeln nicht direkt den Streit mit dem böhmischen König betraf, tauchten als stabile Züge der Interpretation dieses Teils der Geschichte des Mittelalters in den tschechischen Lehrbüchern bis zum Ende des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts auf. Der grundlegenden Erzählung wurden manchmal noch weitere Verwicklungen hinzugefügt, die an einem Beispiel die Motive der Kurfürsten bei Rudolfs Wahl und gleichzeitig auch den Widerstand der Přemysliden erklärten. Der böhmische König erkannte Rudolf nicht an, weil er sehr mächtig war und als solcher von den übrigen Kurfürsten bei der Wahl Rudolfs von Habsburg ignoriert wurde. Die Lehrbücher aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzten darüber hinaus die Geschichte Přemysl Otakars II. manchmal direkt in den Kontext der Herausbildung des österreichischen Staatengebildes hinein. Die Expansionspolitik Přemysl Otakars II. in südliche Richtung bot sich dazu selbst an. In einem tschechischen Lehrbuch ist deshalb eine Aktualisierung zu verfolgen, die in keinem deutschen Lehrbuch zu finden ist. Es handelte sich um eine Aktualisierung, die Palackýs Vorstellung von der austroslawistischen Berufung Österreichs spiegelte. Jan Lepař schrieb 1890 dem „velříši Otakarově“ [„Großreich des Otakar“] buchstäblich eine habsburgisch-österreichische geschichtliche Berufung zu. Seinen Worten zufolge war das Bemühen Přemysl Otakars II. „prvním znamenitým pokusem po obou stranách Dunaje založiti říši ve smyslu nynějšího mocnářství rakouského, založiti říši, jejíž úkolem bylo zastaviti proudy divokých národů těkajících sem od východu (Tatarů, Kumánů) a smířiti v hranicích svých netoliko rozdílné živly národní, nýbrž i směry vzdělanosti západo- a východoevropské“ [„der erste bedeutsame Versuch, auf beiden Seiten der Donau ein Reich im Sinne der jetzigen österreichischen Monarchie zu gründen, ein Reich zu gründen, dessen Aufgabe es war, die Ströme wilder Völker, die von Osten hierher fließen (Tataren, Kumanen) aufzuhalten und an seinen Grenzen die so unterschiedlichen nationalen Elemente, aber auch die Richtungen des west- und ost-

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europäischen Bildungsgrades zu versöhnen“].93 Das Reich des böhmischen Königs wurde somit indirekt als früher Versuch dargestellt, ein einheitliches Dominium der böhmischen und der österreichischen Länder zu schaffen, wie es dazu dank der Habsburger einige Jahrhunderte später kam. Schwer zu sagen, ob in diesem Gedanken auch das Bemühen lag, irgendeine historische Notwendigkeit oder Gesetzmäßigkeit der politischen Schaffung des mitteleuropäischen Raumes hervorzuheben oder ob man nur das Bedürfnis hatte, eine mögliche Alternative zur geschichtlichen Entwicklung aufzuzeigen. Es scheint, dass sich mit dem beginnenden 20. Jahrhundert die Situation langsam zu verändern begann. Während in den Lehrbüchern für Bürgerschulen ein deutlicher Verweis auf den ersten Habsburger als „praotce naší rodiny Habsbursko-Lotrinské“ [„Urvater unserer Familie Habsburg-Lothringen“] bis zum Ende der Monarchie erhalten blieb,94 wurde in dem detaillierten Sekundarschullehrbuch von Hýbl, Bidlo und Šusta zwei Jahre vor dem Ersten Weltkrieg die Figur des Habsburgers, abgesehen vom Streit mit dem böhmischen König, auf viel weniger Raum als früher geschildert, wenngleich der Verweis auf seine Reichspolitik hier erhalten blieb. Rudolf wurde nun ähnlich wie sein böhmischer Gegner in den deutschen Lehrbüchern geschildert: als Herrscher, der geschickt jede Gelegenheit nutzt, um „svému rodu zajistil větší moc teritoriální“ [„seinem Geschlecht eine größere territoriale Macht zu sichern“].95 Von einer verdeckten ‚Entösterreichisierung‘ des schulischen Bildes der Geschichte des Mittelalters vor dem Ende der Monarchie zu sprechen, wäre ohne weitere Forschung voreilig und wohl übertrieben. Seit 1918 bewegte sich die Interpretation in den tschechischen Lehrbuchtexten in eben diese Richtung. Die Habsburger wurden von der Ideologie des neuen Staates als Erzfeinde wahrgenommen, und eine der ideellen Losungen war die von der ‚Entösterreichisierung‘ des tschechischen (tschechoslowakischen) politischen und kulturellen Lebens. Die erste tschechoslowakische Ausgabe desselben Lehrbuchs vom Beginn der 1920er Jahre veränderte erstaunlicherweise noch nicht viel an der ursprünglichen Einschätzung der Habsburger vor dem Krieg, dafür aber kommentierte die Ausgabe aus den 1930er Jahren die Wahl Rudolfs von Habsburg zum römischen König deutlich negativ: 93 Lepař: Všeobecný dějepis (1890) (wie Anm. 19), S. 149. Ähnlich sprach František Sobek in seinem Lehrbuch Děje mocnářství Rakousko-Uherského pro střední školy, Praha 1890, S. 39 von einer „unii českorakouské“ [„böhmisch-österreichischen Union“] in den Jahren 1251–1276. 94 Šembera/Koníř: Obrazy z dějin (1909) (wie Anm. 21), S. 66. 95 Bidlo/Hýbl/Šusta: Všeobecný dějepis (1912) (wie Anm. 24), S. 167.

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„Tím vstoupili do dějin evropských Habsburkové, aby v nich pak měli úlohu velmi závažnou a zvláště pro dějiny naše [myšleno dějiny české, respektive českého národa] osudnou.“ [„Damit betraten die Habsburger die europäische Geschichte, um dann in ihr eine sehr schwerwiegende und besonders für unsere Geschichte [gemeint ist die tschechische Geschichte bzw. die des tschechischen Volkes] schicksalhafte Rolle zu spielen“].96

IV. Zusammenfassung Die Darstellung des Mittelalters in den tschechischen und deutschen Lehrbüchern der allgemeinen Geschichte bot den Schülern und Studenten in den böhmischen Ländern bis zum Ersten Weltkrieg und auch nach dem Untergang Österreich-Ungarns ein verhältnismäßig stabiles Bild an, das in der zeitlichen Periodisierung der gesamten Geschichtsepoche zwischen dem 5. und 15. Jahrhundert sowie in den allgemeinsten Umrissen der Epoche bis auf eine kleine Ausnahme, in der Definierung des Anfangs der Epoche, keine relevanten Unterschiede aufweist. Im konkreten inhaltlichen Konzept der Epoche, in Auswahl sowie Darstellung der einzelnen historischen Persönlichkeiten und Ereignisse unterschied sich das tschechische und deutsche Schulbild des Mittelalters bereits seit den 1860er Jahren bedeutend, und diese Situation hat sich in der Zwischenkriegszeit nur wenig geändert. Jedes dieser Bilder wurde nach einem im Grunde fast spiegelbildlichen Master narrative gestaltet. In den tschechischen Schulbüchern wurde eine Geschichte des unabhängigen tschechischen Staates erzählt, während die deutschen Schulbuchtexte die Geschichte des Aufstiegs und Falls des „deutschen“ mittelalterlichen Weltimperiums verfolgten. Das in Alt-Österreich behördlich verlangte und unterstützte geschichtliche Narrativ von der Entstehung des österreichischen Reiches und der Geschichte der regierenden Habsburger-Lothringer Dynastie war aber in allen Lehrbüchern der allgemeinen Geschichte immer präsent, auch als seit den 1870er Jahren für die Geschichte des österreichischen Staates spezielle Lehrbücher erschienen. Tschechische und auch deutsche Interpretationen des Mittelalters respektierten die Dominanz des staatsösterreichischen Narrativs natürlich kritiklos. Die eigentlichen Motive dieser Sicht, die sich offenbar erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg zu ändern schien, 96 Bidlo/Dobiáš/Šusta: Všeobecný dějepis (1937) (wie Anm. 25), S. 68.

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wären noch zu erforschen. Bereits zu diesem Zeitpunkt der Analyse darf man mindestens die Tatsache in Betracht ziehen, dass die ganze Produktion der Lehrbücher einem Genehmigungsprozess durch die staatlichen Behörden unterlag. Ähnlich war es übrigens mit der Darstellung des Mittelalters in der Tschechoslowakei, wo auch deutsche Lehrbücher die Notwendigkeit der Schilderung der Entstehung und Geschichte des böhmischen Staates allgemein respektierten. Jedoch zeigte die Analyse, dass neben dem Grundton, der unter dem offiziellen Staatsnarrativ in der schulischen Darstellung der Geschichte des allgemeinen Mittelalters erklang, in den tschechischen Lehrbüchern eindeutig tschechischnationale Töne erklangen und in den deutschen Lehrbüchern deutschnationale Töne. Das Geschichtswissen über das Mittelalter, das den Schülern und Studenten in den böhmischen Ländern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dank der Lehrbuchtexte zur Verfügung stand, war somit eindeutig national gefärbt.

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Friedrich Barbarossa in den deutschen Erinnerungskulturen

Als Kaiser, der im Berg schläft, eines Tages wiederkehren und dann die verlorene Herrlichkeit des Reiches wieder aufrichten wird, wurde Barbarossa im 19. Jahrhundert den Deutschen zum Symbol der Hoffnung auf nationale Einheit und zu einem deutschen Nationalmythos. Zur Natur eines Mythos gehört, dass er Wiederholbarkeit suggeriert. In einer Zeit des politischen Umbruchs, wie das 19. Jahrhundert als Jahrhundert der nationalen Einigung für Deutschland eine war, können Mythen deshalb Gewissheit vermitteln; „sie schaffen Ordnung und Zuversicht und sind damit kognitive wie emotionale Ressourcen der Politik.“1 Der in den Berg entrückte Staufer erinnerte an die Herrlichkeit mittelalterlicher Kaiserherrschaft und weckte Hoffnung auf ihre Wiederkehr. Wie jeder Nationalmythos verband er die Vergangenheit mit der Zukunft und lieferte damit Hinweise für das Handeln in der Gegenwart. Auf seine Weise trug er zur Ausgestaltung des kollektiven Gedächtnisses und damit zur Identität der Deutschen als politischer Gemeinschaft bei; indem er die Reichsherrlichkeit als verloren 1

Münkler, Herfried: Die Deutschen und ihre Mythen, Berlin 2009, S. 11; Kotte, Eugen: „Barbablanca“ und die Wiederkehr des Reiches. Der Reichsmythos im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Nitschke, Peter/Feuerle, Mark (Hg.): Imperium et comitatus, Frankfurt a. M. 2009, S. 241–274; Kellermann, Karina: „Kaiser Friderich ist komen!“ Der Wiederkehrmythos und die frühe Vision eines 1000jährigen deutschen Reiches, in: Bernsen, Michael/Becher, Matthias/Brüggen, Elke (Hg.): Gründungsmythen Europas im Mittelalter, Göttingen 2013, S. 177–199. Speziell zur Barbarossa-Rezeption vgl. Berg, Stefanie: Heldenbilder und Gegensätze. Friedrich Barbarossa und Heinrich der Löwe im Urteil des 19. und 20. Jahrhunderts, Münster/Hamburg 1994; Kaul, Camilla G.: Friedrich Barbarossa im Kyffhäuser. Bilder eines nationalen Mythos im 19. Jahrhundert, 2 Bde., Köln 2007; Dies.: Erfindung eines Mythos – Die Rezeption von Friedrich Barbarossa im Kyffhäuser im frühen 19. Jahrhundert und ihre national-politische Implikation, in: Haubrichs, Wolfgang/Engel, Manfred (Hg.): Erfindung des Mittelalters (Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 38, Heft 151) Stuttgart 2008, S. 107–147.

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benannte und die Wiederkehr dieses Verlorenen verhieß, betonte er ein unbestimmtes Noch-Nicht und hatte insoweit auch orientierende Funktion.2 Freilich war die Barbarossa-Sage keineswegs ein so authentischer Ausdruck nationaler Tradition, wie sie die Romantik in Volkssagen zu erkennen glaubte, sondern zum guten Teil eine Neuschöpfung, deren Suggestionskraft das Wissen um ihre eigentlich erst moderne Entstehung lange Zeit einfach unnötig oder unwichtig machte. Wie aber erklärt sich die Suggestionskraft des Barbarossa-Mythos? Zunächst bleibt die Entstehung der deutschen Kaisersage als Grundlage des BarbarossaMythos zu skizzieren (I), dessen Breitenwirkung eine Folge seiner vielfältigen Instrumentalisierung war (II) und auch das Bild beeinflusste, das die wissenschaftliche Geschichtsschreibung von dem Staufer vermittelte (III).

I. Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es keine nationale Kaisersage und keine nationale Kyffhäusertradition – die Barbarossa-Sage, die den Staufer im thüringischen Bergmassiv schlafen lässt, ist, wie František Graus treffend formulierte, „erst ein legitimes Kind der Romantik“,3 integrierte freilich einige Motive der mittelalterlichen Kaisersage, in der Barbarossa aber ursprünglich keine Rolle spielte. In dieser älteren Kaisersage vermischten sich zwei verschiedene Motive – zum einen die eschatologische Vorstellung vom Endkaiser, zum anderen die bald sozialutopisch und kirchenreformerisch aufgeladene Vorstellung von der Wiederkehr des Stauferkaisers Friedrich II. oder eines dritten Friedrich. Beide Motive waren mit Weissagungen der tiburtinischen und der erythräischen Sibylle verbunden. Weil bereits der Kirchenvater Augustinus diese heidnischen Wahrsagerinnen als eine Quelle christlicher Offenbarung gewertet hatte, wurden sie im Mittelalter als den alttestamentarischen Propheten gleichwertig angesehen; diese Hochschätzung erklärt das über Jahrhunderte nicht versiegende Interesse an diesen Texten ebenso wie ihre verhältnismäßig große Verbreitung. Die Vorstellung vom Endkaiser führt zurück in das 4. Jahrhundert, als mit dem Sieg des Christentums eine Weissagung entstand, die von einem kurz vor 2 Vgl. Münkler: Die Deutschen (wie Anm. 1), S. 26 und 28; Kaul: Friedrich Barbarossa (wie Anm. 1), S. 132. 3 Graus, František: Lebendige Vergangenheit. Überlieferung im Mittelalter und in den Vorstellungen vom Mittelalter, Köln/Wien 1975, S. 344.

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dem Weltende regierenden idealen Herrscher handelt. Demnach wird ein letzter Kaiser der Römer namens Constans alle Feinde des Christentums vernichten oder bekehren, ein die ganze Welt umfassendes Reich des Friedens und Wohlstands schaffen und am Ende seiner Regierung alle Macht an Gott zurückgeben, indem er in Jerusalem die Zeichen seiner Herrschaft ablegt. Durch seine Abdankung macht er dem Antichrist Platz, dessen Schreckensherrschaft dann die Rückkehr Christi auf Erden herausfordert. Die älteste Fassung dieser Constans-Vaticinium genannten Weissagung ist zwischen 337 und 411 entstanden und in der sogenannten tiburtinischen Sibylle überliefert.4 Unter dem Eindruck der Ausbreitung des Islam wurde diese Weissagung im 7. Jahrhundert in Byzanz aktualisierend bearbeitet und unter dem Namen des syrischen Bischofs und Märtyrers Methodios verbreitet (sog. Pseudo-Methodios). Neben der Vernichtung des Islam ist ein weiteres neues Motiv in dieser Variante, dass der Herrscher zunächst für tot gehalten werde, dann aber wie aus einem Rausch erwache, bevor er gegen die Araber in den Kampf ziehe. Die Übersetzungen des Pseudo-Methodios ins Griechische und Lateinische während des 7. und 8. Jahrhunderts machten aus dem König der Griechen einen König der Römer, der als Folge der Wiederbegründung des Kaisertums im Westen durch Karl den Großen 800 erst auf den fränkischen Imperator Romanorum bezogen wurde, dann, nach der Kaiserkrönung Ottos I. 962, auch auf dessen ostfränkisch-deutsche Nachfolger.5 Eschatologische Hoffnungen und Befürchtungen, die mit dem Endkaiser rechneten, erhielten im 13. Jahrhundert Nahrung durch die Rezeption der Lehren des Abtes Joachim von Fiore († 1202). Joachim rechnete mit drei Weltzeitaltern, die er Zeitalter des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes nannte. Den Beginn der letzten Periode berechneten der Abt bzw. die Anhänger seiner Lehre, die Joachiten, auf das Jahr 1260 voraus, jedoch sollten der Kirche zuvor Kämpfe und Verfolgungen drohen, ja sogar die Ankunft und Herrschaft eines ersten Antichrist. Der Konflikt zwischen Friedrich II. und dem Papsttum bot genügend Anlass, diese geweissagten Kämpfe in der eigenen Gegenwart zu erkennen und den Staufer zum Antichrist oder dessen Vorläufer zu stilisieren.6 Diese eschato4 5 6

Vgl. dazu Möhring, Hannes: Der Weltkaiser der Endzeit, Stuttgart 2000, S. 28–53, zur Entstehungszeit S. 42 f. Ebd., S. 54–104. Schaller, Hans Martin: Endzeit-Erwartung und Antichrist-Vorstellungen in der Politik des 13. Jahrhunderts, in: Festschrift für Hermann Heimpel zum 70. Geburtstag, Göttingen 1972, S. 924–947, wiedergedruckt in: Ders.: Stauferzeit. Ausgewählte Aufsätze (MGH-Schriften 38)

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logische Aufladung der Auseinandersetzung erklärt die zeitgenössischen Zweifel an der Nachricht vom Tod des Kaisers, die besonders in franziskanischen Kreisen lebendig waren. So wollte der Chronist Salimbene de Adam aus Parma, nach eigenen Worten ein Anhänger von Joachims Lehren, die Nachricht vom Tod Friedrichs II. lange Zeit nicht glauben.7 Der zweite Motivstrang der alten Kaisersage betrifft die im dritten Buch der erythräischen Sibylle überlieferte Vorstellung, dass Friedrich II. nicht sterben werde. Dieser Teil der Prophezeiung wurde aber erst im Frühsommer 1241 von einem anonym gebliebenen Verfasser aus dem Umkreis der päpstlichen Kurie geschrieben.8 Vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund des in die Perspektive eines endzeitlichen Kampfes gerückten Streites zwischen Kaiser und Papst bündelte der Autor die religiösen, politischen und militärischen Konflikte seiner Gegenwart und formulierte in der dunklen und andeutungsreichen Sprache einer Offenbarung Prognosen über deren Ausgang, genauer gesagt: über das Schicksal eines Adlers und dessen Nachkommen. Der Adler war schon in der Antike das Symbol des Kaisertums und spätestens seit Friedrich Barbarossa auch das Wappentier des Reichs,9 also ein leicht entschlüsselbarer Verweis auf Friedrich II. und seine Familie. Dieser Adler habe mehrere Köpfe und 60 Füße, seine Farbe sei wie die eines Panthers, seine Brust wie die eines Fuchses, sein Schwanz wie der eines Löwen.10 Dieses Mischwesen verweist auf den Antichrist und ist der Apokalypse entlehnt, wo über das Tier aus dem Meer steht, es sei dem Panther ähnlich, und sein Rachen sei wie der eines Löwen (Apoc. 13,2). Dieser Adler, also Friedrich II., werde die Augen schließen und nur eines von seinen Jungen und von den Jungen Hannover 1993, S. 25–52; Herde, Peter: Friedrich II. und das Papsttum. Politik und Rhetorik, in: Fansa, Mamoun/Ermete, Karen (Hg.): Kaiser Friedrich II. 1194–1250. Welt und Kultur des Mittelmeerraums. Begleitband zur Sonderausstellung „Kaiser Friedrich II. (1194–1250). Welt und Kultur des Mittelmeerraums“. Im Landesmuseum für Natur und Mensch, Oldenburg, Mainz 2008, S. 53–65, S. 61 f. 7 Salimbene de Adam: Cronica, ed. Giuseppe Scalia, 2 Bde. (Corpus Christianorum. Continuatio mediaevalis 125 und 125A) Bd. 1, Turnhout 1998, S. 264; Doren, Alfred: Die Chronik des Salimbene von Parma, Bd. 1 (Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit 93) Leipzig 1914, S. 139. 8 Jostmann, Christian: Sibilla Erithea Babilonica. Papsttum und Prophetie im 13. Jahrhundert (MGH-Schriften 54) Hannover 2006, S. 297. 9 Giese, Martina: Der Adler als kaiserliches Symbol in staufischer Zeit, in: Burkhardt, Stefan u.a. (Hg.): Staufisches Kaisertum im 12. Jahrhundert. Konzepte – Netzwerke – Politische Praxis, Regensburg 2010, S. 323–360. 10 Jostmann: Sibilla (wie Anm. 8), S. 276.

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der Jungen werde überleben; sein Tod aber „wird verborgen und unerkannt sein, und es wird im Volk erschallen: er lebt, er lebt nicht“ – cuius mors erit abscondita et incognita sonabitque in populo: vivit, non vivit.11 Unter Bezug auf genau diesen Passus der erythräische Sibylle erklärte der schon erwähnte Salimbene de Adam den kurzfristigen Erfolg, den jene Betrüger hatten, die sich nach dem Tod des Staufers sowohl in Italien als auch in Deutschland als Friedrich II. ausgaben.12 Soweit die Überlieferung erkennen lässt, machte sich jedoch keiner dieser falschen Friedriche die Weissagung zunutze.13 Ihres Legitimationspotentials bedienten sich vielmehr tatsächliche Nachkommen des Staufers – wie beispielsweise Friedrich der Freidige, Markgraf von Meißen und Landgraf von Thüringen, der über seine Mutter, die Kaisertochter Margarethe, ein Enkel des Kaisers war. Als ihn italienische Ghibellinen als Kandidaten für den sizilischen Thron gewinnen wollten, machten sie ihn mit Weissagungen vertraut, denen zufolge ein gleichnamiger Nachfahre Friedrichs II. erst die Herrschaft Karls von Anjou über das sizilische Königreich vernichten und schließlich als „dritter Friedrich“ (Fredericus tertius) die Weltherrschaft erringen werde.14 Um 1280 notierte der Kölner Kleriker Alexander von Roes, in Deutschland laufe eine Weissagung über einen Abkömmling Friedrichs II. namens Friedrich um, der die Geistlichkeit in Deutschland, aber auch die Römische Kirche insgesamt mit aller Kraft erniedrigen werde.15 Die hier anklingende Verbindung zwischen der Erwartung eines dritten Friedrich und dem Motiv des Endzeitkaisers war um die Wende des 13. zum 14. Jahrhunderts keine Seltenheit. Unter ausdrücklicher Anknüpfung an die zirkulierenden Weissagungen über einen dritten Friedrich wurde auch Friedrich von Aragon, ein Urenkel Friedrichs II., 1296 zum König von Sizilien akklamiert.16 Fra Dolcino, der Anführer der Apostelbrüder, die den Reichtum des Weltklerus bekämpften und dafür als Häretiker verfolgt wurden, sah in diesem Friedrich den prophezeiten Herrscher, der alle Geistlichen töten und dann bis zum Erscheinen des Antichrist gemeinsam mit einem von Gott gesandten heiligen Papst die Welt regieren werde.17 11 12 13 14 15 16 17

Ebd., S. 300 und Anm. 1055. Salimbene de Adam: Chronica (wie Anm. 7), S. 264; Doren: Chronik (wie Anm. 7), S. 139. Möhring: Weltkaiser (wie Anm. 4), S. 238. Ebd., S. 242 f. Ebd., S. 241 und 248. Ebd., S. 245 f. Ebd., S. 247.

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Um die Mitte des 14. Jahrhunderts war die Endkaiserweissagung in Deutschland mit scharfer Kritik an den bestehenden sozialen und religiösen Verhältnissen verbunden. Der Franziskaner Johann von Winterthur berichtet, viele Leute glaubten, „dass Kaiser Friedrich, der zweite dieses Namens, in überaus großer Machtfülle wiederkehren werde, um den gänzlich zerrütteten Zustand der Kirche zu erneuern“ und eine friedliche Gesellschaft zu errichten. Danach werde er als der von Gott erwählte Endkaiser „mit einem starken Heer über das Meer fahren und auf dem Ölberg oder bei dem dürren Baum der Kaiserherrschaft entsagen.“18 Im 15. Jahrhundert waren die Weissagungen vom Endkaiser Friedrich ein selbstverständlicher Bezugspunkt der Erwartungen, die man mit dem 1440 zum König gewählten und 1452 zum Kaiser gekrönten Habsburger Friedrich III. verband.19 In Thüringen blieb die Friedrich-Erwartung – vielleicht wegen ihrer erwähnten alten Verbindung mit Friedrich dem Freidigen – auffällig lange lebendig.20 Johannes Rothe berichtet in seiner um 1421 aufgezeichneten Thüringischen Chronik, im Volk liefen Vorstellungen von einem Kaiser Friedrich um: Man glaube, dass er noch lebe und bis zum jüngsten Tag lebendig bleiben solle und dass er in den Ruinen auf dem Kyffhäuser in Thüringen umherwandere, sich zuweilen sehen lasse und mit den Leuten rede.21 Aus der Zeit der Bauernkriege erfährt man, dass sich die Bauern am Kyffhäuser versammeln wollten, wo der Kaiser Friedrich auferstehen und das unschuldig vergossene Blut rächen werde; 1546 gab sich ein alter Mann auf dem Kyffhäuser als der wiedererstandene Kaiser Friedrich aus, der Frieden in die Welt bringen wolle.22 Zu diesem Zeitpunkt war aus Friedrich II. aber bereits sein Großvater geworden. Im 1519 erschienenen „Volksbuch von Kaiser Friedrich Barbarossa“ liest man, der auf dem Kreuzzug ertrunkene Kaiser sei nicht gestorben, sondern „ist zuletst ver18 Johannes von Winterthur: Chronica, ed. Friedrich Baethgen/Carl Brun (MGH SS rer. Germ. Nova series 3) Berlin 1924, S. 280 Z 10–15: In hiis temporibus aput homines diversi generis, immo cuncti generis, multos valde assertissime vulgabatur imperatorem Fridricum secundum huius nominis, a quo secundam partem presentis operis inchoavi, ad reformandum statum omnino depravatum ecclesie venturum in robore maximo potentatus. Ebd., Z. 30–33: Post resumptum imperium iustius et gloriosius gubernatum quam ante cum exercitu copioso transfretabit et in monte Oliveti vel aput arborem aridam imperium resignabit. 19 Möhring: Weltkaiser (wie Anm. 4), S. 248–253. 20 Kaul: Friedrich Barbarossa (wie Anm. 1), S. 40; Möhring: Weltkaiser (wie Anm. 4), S. 239. 21 Kaul: Friedrich Barbarossa (wie Anm. 1), S. 38; Möhring: Weltkaiser (wie Anm. 4), S. 226. 22 Kaul: Friedrich Barbarossa (wie Anm. 1), S. 41; Schreiner, Klaus: Die Staufer in Sage, Legende und Prophetie, in: Die Zeit der Staufer. Geschichte, Kunst, Kultur. Katalog der Ausstellung Stuttgart 1977, Bd. 3: Aufsätze, Stuttgart 1977, S. 249–262, S. 255.

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lorn worden“ und warte lebendig „in ainem holen Perg“ auf seine Wiederkunft, um die Geistlichen zu strafen und seinen Schild am dürren Baum aufzuhängen.23 Die Hoffnung auf Erneuerung der Kirche verschwand dann mit der Reformation,24 übrig blieb eine thüringische Lokalsage über den im Berge schlafenden Kaiser; sie nahm im 17. und 18. Jahrhundert einige neue Motive auf – den runden Tisch, den langen Bart und die Raben, die um den Berg fliegen. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts blieb die Verbindung Barbarossas mit dem Kyffhäuser „eine reine Ortssage“25 – wie sie, im Motiv des verborgenen Kaisers übereinstimmend, auch in Kaiserslautern oder in der Gegend des zwischen Berchtesgaden und Salzburg gelegenen Untersberg erzählt wurde.26

II. Dass aus dieser Ortssage eine Nationalsage und aus Barbarossa ein National­ mythos wurde, ist eine Entwicklung allein des 19. Jahrhunderts. An ihrem Anfang stand die 1816 erschienene Märchensammlung der Gebrüder Grimm. Sie machte die Sage, die zuvor nur in der engeren thüringischen Region bekannt war, unter dem Titel „Friedrich Rotbart im Kyffhäuser“ einem breiteren Publikum in ganz Deutschland bekannt. 1817 publizierte Friedrich Rückert seine während der Befreiungskriege gegen Napoleon als „Zeitgedicht“ entstandene Fassung des Stoffs unter dem Titel „Barbarossa“: Darin ist der alte „Kaiser Friederich“ nicht gestorben, sondern wohnt verzaubert in einem unterirdischen Schloss; dort schläft er an einem Marmortisch, durch den sein langer Bart hindurchgewachsen ist; in langen Abständen erwacht er und schickt einen Knaben vor den Berg, 23 Eine warhafftige historij von dem Kayser Friderich der erst seines namens mit ainem langen rotten Bart den die Walhen nenten Barbarossa derselb gewan Jerusalem Vnnd durch den Babst Alexander den dritten verkuntschafft ward dem Soldanischen Künig, Augsburg 1519, (unpaginiert) letzte Seite; verwendet wurde das Digitalisat der Bayerischen Staatsbibliothek München, http://daten.digitale-sammlungen.de/~db/0006/bsb00066835/images/ (letzter Zugriff: 09.07.2016). Zum Volksbuch vgl. Kaul: Friedrich Barbarossa (wie Anm. 1), S. 43 f. 24 Dazu Möhring: Weltkaiser (wie Anm. 4), S. 243. 25 Graus: Überlieferung (wie Anm. 3), S. 341. 26 Dazu Lang, Johannes: Das Erbe der „Lazarusgeschichte“. Zur Entstehung und Instrumentalisierung der Untersbergsage, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 150 (2010), S. 125–178; vgl. auch Erben, Wilhelm: Untersberg-Studien. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Kaisersage, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 54 (1914), S. 1–96.

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um nachzusehen, ob draußen noch immer die Raben fliegen, die ihn zu einem weiteren Jahrhundert Schlaf zwingen. Aber dennoch bleibt eine große Hoffnung, denn der Kaiser „hat hinabgenommen / Des Reiches Herrlichkeit, / Und wird einst wiederkommen / Mit ihr, zu seiner Zeit.“ Es gibt „wohl kein Gedicht in der deutschen Literatur, von dem so beträchtliche außerliterarische Wirkungen ausgegangen sind.“27 Das Erfolgsgeheimnis lag darin, dass der endzeitliche Kern der alten Kaisersage verschwand und durch eine innerweltliche Erlösungshoffnung, eine politische Prophetie ersetzt, also gewissermaßen säkularisiert wurde.28 Die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und die Niederlegung der Reichskrone durch Kaiser Franz II. 1806, die traumatischen Niederlagen Preußens gegen Napoleon bei Jena und Auerstedt im selben Jahr, die beklagte politische Zersplitterung und militärische Machtlosigkeit Deutschlands sowie die durch den Sieg über Napoleon in den Befreiungskriegen gewaltig geschürte Hoffnung auf künftige nationale Einigung bildeten den zeitgeschichtlichen Hintergrund, vor dem die Geschichte vom schlafenden, aber wiederkehrenden Kaiser zum Symbol der erhofften Einheit Deutschlands wurde – und Barbarossa in einer über Jahrzehnte andauernden und alles andere als geradlinig verlaufenden Entwicklung zum deutschen Nationalmythos. Herfried Münkler sieht die Wirksamkeit politischer Mythen „in ihrer dreifachen Gliederung von narrativer Variation, ikonischer Verdichtung und ritueller Inszenierung“ begründet;29 ihre volle Kraft entfalten sie dann, „wenn sie auf allen drei Ebenen präsent sind. Dabei stellt die Narration mit ihren Variationen die Grundstruktur des Mythensystems her, auf der Verbildlichung und Fest aufruhen.“30 Die 2007 erschienene Dissertation von Camilla G. Kaul macht diesen Prozess durch die erstmals in ganzer Fülle erschlossenen Bild- und Textquellen im Detail nachvollziehbar und verständlich.31 Frau Kaul untersucht nicht nur die Barbarossa-Rezeption in Literatur und bildender Kunst – die zuvor schon Gegenstand einzelner, allerdings mehr aspekthafter Untersuchungen war –, son27 Boockmann, Hartmut: Ghibellinen oder Welfen, Italien- oder Ostpolitik. Wünsche des deutschen 19. Jahrhunderts an das Mittelalter, in: Elze, Reinhard/Schiera, Pierangelo (Hg.): Italia e Germania. Immagini, modelli, miti fra due popoli nell’Ottocento: Il Medioevo. Das Mittelalter. Ansichten, Stereotypen und Mythen zweier Völker im neunzehnten Jahrhundert: Deutschland und Italien, Bologna/Berlin 1988, S. 127–150, S. 134. 28 Ebd., S. 135. 29 Münkler: Die Deutschen (wie Anm. 1), S. 14 f. 30 Ebd., S. 21 mit Anm. 28. 31 Kaul: Friedrich Barbarossa (wie Anm. 1).

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dern auch die Rolle des Staufers in der Selbstrepräsentation der Sänger-, Turnerund Schützenvereine. Sie waren die wirksamsten Gruppierungen der Nationalbewegung und trugen nicht nur „zur Verbreitung patriotischer Begriffe und Vorstellungen und damit zur Nationalisierung weiter Kreise“ bei,32 sondern durch ihre Feste auch zur Emotionalisierung des Nationalbegriffs: „Im Massenerlebnis Fest konnte Nation erfahren und dargestellt werden.“33 Entstehung und Verbreitung des Mythos waren von den Konjunkturen abhängig, denen die nationale Einigung als das größte politische Anliegen des 19. Jahrhunderts in vier verschiedenen Phasen unterworfen war: in der Zeit von den Befreiungskriegen bis zur mit dem Wiener Kongress 1815 einsetzenden Restauration, in der Zeit des Vormärz und der Revolutionsjahre, in den Jahrzehnten vom erneuten Erstarken der Reaktion 1850 bis zur Reichsgründung 1870/71 und schließlich in den Jahren nach der Reichsgründung. Vor allem in den ersten beiden Phasen war das mittelalterliche Kaisertum in mehrfacher Hinsicht attraktiv, weil es gleichzeitig zentrale Forderungen der Nationalbewegung für die politische Zukunft Deutschlands transportierte: „1. Der Kaiser war ein Symbol außenpolitischer Stärke. 2. Indem er als übergeordnete Instanz galt, war er antipartikularistisch und delegitimierte den Anspruch der deutschen Fürsten auf Souveränität. Er war daher ein nationales Einheitssymbol. 3. Der Kaiser galt als Garant bürgerlicher Freiheit. 4. Da der Kaiser als ein starker Führer imaginiert wurde, verwirklichte er den bürgerlichen Mythos der großen Persönlichkeit.“34 Die erste Phase stand noch unter dem Vorzeichen der Romantik, als patriotische Gelehrte und Publizisten in Sprache, Sage und Geschichte nach den Wurzeln der Nation und ihrer Tradition suchten. Die Hinwendung zur Vergangenheit geschah in der Absicht, der Gegenwart Vorbild und Orientierung zur Erneuerung zu liefern. Der schlafende Barbarossa im Kyffhäuser wurde in der Fassung von Rückerts Gedicht schon damals zu einem rasch popularisierbaren Sinnbild der Hoffnung auf nationale Einheit und erfuhr zwar eine Politisierung, als die Erinnerung an den mittelalterlichen Kaiser gleichzeitig auf eine Wieder32 Ebd., S. 144. 33 Ebd., S. 260; Hardtwig, Wolfgang: Nationsbildung und politische Mentalität. Denkmal und Fest im Kaiserreich, in: Ders.: Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990, S. 264–301. 34 Möller, Frank: Historische Erinnerung und politische Vision. Die Idee des Kaisers im deutschen Liberalismus 1815–1871, in: Hein, Dieter/Hildebrand, Klaus/Schulz, Andreas (Hg.): Historie und Leben. Der Historiker als Wissenschaftler und Zeitgenosse. Festschrift für Lothar Gall zum 70. Geburtstag, München 2006, S. 657–669, S. 660.

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herstellung verlorener Reichsherrlichkeit zielte, nicht aber eine inhaltliche Festlegung, weil mit Barbarossa noch kein bestimmtes politisches Programm verbunden war.35 Diese inhaltliche Unbestimmtheit wirkte sich in der zweiten Phase, der Zeit des Vormärz und der Revolution, integrierend aus, weil der sagenhafte Kaiser eben nicht zum Symbol einer einzigen Strömung der Nationalbewegung geworden war, sondern unabhängig von monarchischer oder demokratischer Zielrichtung mit spezifisch eigener Bedeutung das Wunsch- und Sehnsuchtsziel nationaler Einheit verkörperte. Bestimmt in der Forderung nach Einheit und Freiheit, aber offen gegenüber der staatlichen Gestaltung eines künftigen Reiches, „war der Kaisergedanke des Vormärz in der Lage, sowohl föderalistisch-partikularistische Vorstellungen als auch die Nationalstaatsidee zu integrieren und damit eine breite Basis der bürgerlichen Nationalbewegung sicherzustellen.“36 Mit den zunehmend verschiedenen Gruppen und Schichten, die sich des Kaisers zu ihren jeweiligen Zwecken bedienten, erweiterte sich auch der Kreis der eingesetzten Medien. Flugschriften, Gedenkblätter, Einblattdrucke, kleine Hefte mit Titelbildern und Illustrationen von Texten und Gedichten, szenische Darstellungen und Lebende Bilder hatten vor allem in der sich verbreiternden nationalen Festkultur der Sänger, Turner und Schützen ihren Platz.37 Die Resignation nach dem Scheitern der Revolution von 1848 und die erneut einsetzende Restauration sicherten der inzwischen ebenso popularisierten wie politisierten Identifikationsfigur des schlafenden Kaisers ungebrochene Bedeutung, die politischen Ereignisse in den Jahren der Einigungskriege und die damit verbundene nationale Aufbruchsstimmung schließlich eine Omnipräsenz in den unterschiedlichsten Medien. Erst in dieser Phase erreichte der Barbarossa-Mythos die breite Masse – die Kaiseridee aber verlor „ihre klare und integrierende Bedeutung als Symbol von Einheit und Freiheit“.38 Zusammen mit der demokratischen Komponente der Barbarossa-Rezeption, die schon im Jahrzehnt vor 1871 deutlich in den Hintergrund getreten war, verschwand nach 1871 auch die ursprünglich oppositionelle Tradition der Vereinsfeiern vollständig. An ihre Stelle trat ein reichsaffirmativer Patriotismus,39 denn das vordringlichste Ziel – die ­Nationalstaatsgründung – war nun erreicht. Der Nationalmythos Barbarossa 35 Zusammenfassend Kaul: Friedrich Barbarossa (wie Anm. 1), S. 131–133 und 756 f. 36 Möller: Historische Erinnerung (wie Anm. 34), S. 663. 37 Zusammenfassend Kaul: Friedrich Barbarossa (wie Anm. 1), S. 275–279 und 758 f. 38 Möller: Historische Erinnerung (wie Anm. 34), S. 668. 39 Kaul: Friedrich Barbarossa (wie Anm. 1), S. 748 und 762.

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v­ ermittelte dem neuen Reich nun die Aura historischer Notwendigkeit und geschichtliche Kontinuität – wohlgemerkt unter Umgehung der habsburgischen Jahrhunderte als „unwichtige[r] Hohlperiode“40. Die Reichseinigung von oben fand ihr Pendant in einer zunehmend offiziellen Instrumentalisierung des Staufers, die die dynastische Herrschaft der Hohenzollern in legitimierender Weise absicherte.41 Gerade weil der Barbarossa-Mythos in der bürgerlichen Nationalbewegung wurzelte und ursprünglich politisch unbestimmt war, taugte er als „verbindende[s] Moment zwischen dem neuen Kaiserreich und der Nationalbewegung“42 – was ein nur oktroyierter Mythos nicht hätte leisten können. Barbarossa-Darstellungen in Wort und Bild durchdrangen so gut wie alle Lebensbereiche, „Schule, Verein, Studentenschaft, Fest, Gedicht, Geschichtsbuch, historische(n) Roman, illustrierte Zeitschrift, öffentliche Gebäude, Kirche, Denkmal.“43 Die entscheidende, im Verheißungscharakter des Mythos schon angelegte Veränderung war das nach dem Tod W ­ ilhelms I. eingesetzte und variierte typologische Muster,44 das den von Felix Dahn noch zu Lebzeiten als Barbablanca bezeichneten Hohenzollernkaiser45 auf dessen mittelalterlichen Vorgänger bezog und diesen als Gründer, jenen als Vollender erscheinen ließ – das Mittelalter als Verheißung nationalstaatlicher Einigung, das Hohenzollernreich als ihre Erfüllung. Ein Beispiel dafür ist die Pfalz der salischen Kaiser in Goslar, die nach 1871 im Geschmack des Historismus aufwendig restauriert und in ein Denkmal des neuen Kaisertums verwandelt wurde. Die zwei Reiterstandbilder Barbarossas und Wilhelms I. vor der Pfalz vermitteln ebenso wie der Freskenzyklus im Kaisersaal den Eindruck von Vorgänger und Nachfolger, von Vorgeschichte und 40 Borst, Arno: Reden über die Staufer, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1978, S. 127. 41 Dazu Kroll, Frank-Lothar: Herrschaftslegitimierung durch Traditionsschöpfung. Der Beitrag der Hohenzollern zur Mittelalterrezeption im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 274 (2002), S. 61–85. 42 Kaul: Friedrich Barbarossa (wie Anm. 1), S. 764. 43 Ebd., S. 752. 44 Ebd., S. 749. – Die fehlende reale historische Entwicklungslinie von den Hohenstaufen zu den Hohenzollern ersetzte schon Christian Dietrich Grabbe in seinem Drama „Kaiser Friedrich Barbarossa“ (1829) durch die Behauptung einer „mythische[n] Kontinuität“, die für „die mangelnde geschichtliche Kontinuität“ aufzukommen hatte, so Bulang, Tobias: Barbarossa im Reich der Poesie. Verhandlungen von Kunst und Historismus bei Arnim, Grabbe, Stifter und auf dem Kyffhäuser (Mikrokosmos 69) Frankfurt a. M. 2003, S. 182. 45 Dazu Kaul: Friedrich Barbarossa (wie Anm. 1), S. 348 f.; Berg: Heldenbilder (wie Anm. 1), S. 117 f.

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Vollendung; die Kluft, die die Gegenwart vom fernen 12. Jahrhundert trennte, wurde in der Visualisierung vermeintlich ungebrochen weiterwirkender Reichstradition überbrückt.46 Das eindrucksvollste Beispiel für die staatliche Mythen­ aneignung und das damit verbundene Geschichtsbild ist das von den deutschen Kriegervereinen finanzierte, riesenhafte Denkmal auf dem Kyffhäuser, das im 25. Gründungsjahr des Reiches im Rahmen eines großen Nationalfestes von Kaiser Wilhelm II. in Anwesenheit der meisten deutschen Bundesfürsten eingeweiht wurde.47 An seinem Sockel thront eine sechs Meter hohe Steinfigur des schlafenden Barbarossa. Über ihm ragt ein 81 Meter hoher Turm empor, dem ein elf Meter hohes Reiterstandbild Wilhelms I. vorgelagert ist. Der Turm wird bekrönt von der Kaiserkrone als dem Symbol einer Mittelalter und Gegenwart verbindenden Reichs- und Kaiseridee. Übrigens existierte die Krone des neuen Reiches nie als tatsächliche Insignie, sondern nur als heraldisches Bild – ein schöner Beleg für die Widersprüche, die einer Verlängerung mittelalterlicher Kaiserherrlichkeit in die Gegenwart des neuen Staates in der politischen Wirklichkeit entgegenstanden.48 Dass Barbarossa in diesem Geschichtsbild alles andere als ein harmloser Märchenkaiser war, zeigt das Datum, das Wilhelm II. persönlich zur Denkmaleinweihung festgelegt hatte. Es war der 18. Juni 1896; an diesem Tag war 1815 Napoleon in der Schlacht von Waterloo besiegt worden, an diesem Tag war 1871 Wilhelm I. nach dem Sieg über Frankreich in Berlin eingezogen. Schon diese Datumssymbolik weist darauf hin, in welchem Ausmaß die Geschichte Barbarossas in machtpolitischen Kontinuitäten gesehen und als politischer Auftrag an die eigene Gegenwart verstanden wurde.

46 Vgl. dazu ausführlicher Christoph Dartmann in diesem Band. 47 Zum Kyffhäuserdenkmal vgl. Kaul: Friedrich Barbarossa (wie Anm. 1), S. 643–681; Mai, Günther (Hg.): Das Kyffhäuser-Denkmal 1890–1996. Ein nationales Monument in europäischem Kontext, Weimar u.a. 1996; Bulang: Barbarossa (wie Anm. 44), kontrastiert S. 271–300 die integrative Wirkung der ambivalenten Botschaft von kleindeutscher Politik und großdeutscher Symbolik mit dem bei Achim von Arnim, Christian Dietrich Grabbe und Adalbert Stifter zwar auch und gerade in Gestalt Friedrich Barbarossas präsenten Reichskomplex (S. 13), der aber keine „Literarisierung des Reiches“ (S. 294) habe bewirken können. 48 Boockmann: Ghibellinen (wie Anm. 27), S. 149 f.; Bringmann, Michael: Das neue Deutsche Reich und die Kaiserkrone – Realität und Mythos, in: Kamp, Mario (Hg.): Krönungen. Könige in Aachen – Geschichte und Mythos, Bd. 2, Mainz 2000, S. 795–808.

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III. Von den nicht-wissenschaftlichen Aneignungsweisen der Vergangenheit ist der wissenschaftliche Umgang mit ihr zu unterscheiden.49 Allerdings ist die Geschichtswissenschaft trotz ihres Anspruchs auf Systematik und Reflexivität immer auch Bestandteil einer viel weiter zu fassenden Erinnerungskultur, deren Bilder auf die wissenschaftliche Darstellung von Geschichte einwirken, weshalb das historische Urteil über Barbarossas Herrschaft nicht unbeeinflusst von den Sehnsüchten und Hoffnungen der politischen Gegenwart blieb. Schon die nationalromantischen Historiker versprachen sich von der Vergegenwärtigung des Glanzes mittelalterlicher Kaiserzeit Impulse für die nationale Erneuerung ihrer eigenen Gegenwart. Worin diese Impulse jedoch bestehen konnten, welches Ziel erstrebenswert war, wurde dann in Abhängigkeit von subjektiven Überzeugungen und politischen Verhältnissen der Gegenwart durchaus unterschiedlich eingeschätzt, wenngleich die Überzeugung von der Bedeutung eines mächtigen Königtums allgemein geteilt wurde. Die 1820–25 erschienene sechsbändige „Geschichte der Hohenstaufen und ihrer Zeit“ Friedrich von Raumers war für das Bild der Staufer bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts prägend. Raumer, Professor in Berlin, sah Barbarossas Verdienst darin, dass er den Gliedern seines Reiches eine Art korporatistischer Freiheit gesichert habe, indem er die Übermacht einzelner – etwa Mailands oder Heinrichs des Löwen – zu Gunsten einer harmonischen Machtbalance zum Vorteil aller bekämpft habe; diese ­Vielfalt sei das Fundament der überragenden Machtstellung des Reiches in Europa gewesen.50 Ganz anders maß Heinrich Luden, Professor in Jena, in seiner 1825–37 erschienenen zwölfbändigen „Geschichte des teutschen Volkes“ Barbarossa am Interesse der deutschen Nation und verurteilte die Italienpolitik als seinen Hauptfehler; sie habe den Kaiser in ein Bündnis mit den eigensüchtigen deutschen Fürsten getrieben, das die Entwicklung der Städte und des Bürgertums als 49 Rexroth, Frank: Das Mittelalter und die Moderne in den Meistererzählungen der historischen Wissenschaften, in: Haubrichs/Engel (Hg.): Erfindung des Mittelalters (wie Anm. 1), S. 12–31, S. 22. 50 Vgl. Raedts, Peter: The Once and Future Reich. German Medieval History Between Retrospection and Resentment, in: Bak, János M. u.a. (Hg.): Gebrauch und Missbrauch des Mittelalters, 19.–21. Jahrhundert – Uses and Abuses of the Middle Ages: 19th–21st Century – Usages et Mésusages du Moyen Age du XIXe au XXIe siècle (MittelalterStudien 17) München 2009, S. 193–204, S. 196–198 mit weiteren Nachweisen; Berg: Heldenbilder (wie Anm. 1), S. 51–55.

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Zukunftsträger der Nation gehemmt habe.51 Hier klingt bereits die Kritik am Universalismus der staufischen Kaiserpolitik und ihrer Ausrichtung auf Italien an, mit der Heinrich von Sybel, Professor in München, 1859 ganz programmatisch in die politische Debatte darüber eingriff, ob Preußen den Krieg Österreichs in Oberitalien unterstützen und damit auch gegen die italienische Nationalbewegung vorgehen solle. Im anschließenden Historikerstreit Sybels mit Julius Ficker, Professor in Innsbruck, wurde die Kontroverse um die kleindeutsche oder großdeutsche Ausrichtung des zu gründenden Nationalstaats im Mantel eines Streits um die mittelalterliche, insbesondere staufische Kaiserpolitik ausgetragen.52 Dieser Streit setzte sich noch bis ins 20. Jahrhundert fort;53 er begünstigte zum einen die Einschätzung der Ostkolonisation Heinrichs des Löwen als angebliche Erfüllung einer nationalen Aufgabe,54 zum anderen die Suche nach jenseits der angeblich Weltherrschaft verheißenden Kaiseridee rationaleren Grundlagen der Italienpolitik – die man dann in Barbarossas angeblichem Versuch fand, dem deutschen Königtum die finanziellen Ressourcen der wirtschaftlich hoch entwickelten italienischen Kommunen zu erschließen.55 51 Einschlägig ist Luden, Heinrich: Geschichte des teutschen Volkes, Bd. 11, Gotha 1836. Zu Luden vgl. Raedts: The Once (wie Anm. 50), S. 198–203; Berg: Heldenbilder (wie Anm. 1), S. 92–95. – Auch Zimmermann, Wilhelm: Geschichte der Hohenstaufen, Stuttgart 1838, kritisierte Barbarossas Kampf gegen die lombardischen Städte als Kampf gegen bürgerliches Freiheitsstreben; vgl. dazu Schmidt, Walter: Barbarossa im Vormärz, in: Engel, Evamaria/Töpfer, Bernd (Hg.): Kaiser Friedrich Barbarossa, Weimar 1994, S. 171–204, S. 188–190. 52 Klein, Christian: Von der Aktualität einer überholten Fragestellung, in: Jostkleigrewe, Christina (Hg.): Geschichtsbilder. Konstruktion – Reflexion – Transformation, Köln 2005, S. 203–242. 53 Below, Georg von: Die italienische Kaiserpolitik des deutschen Mittelalters. Mit besonderem Hinblick auf die Politik Friedrich Barbarossas. Ein Beitrag zur Frage der historischen Urteilsbildung (HZ Beihefte 10) München/Berlin 1927; dazu Cymorek, Hans: Georg von Below und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900 (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beiheft 142) Stuttgart 1998, S. 303–306. Bei Hostenkamp, Heinrich: Die mittelalterliche Kaiserpolitik in der deutschen Historiographie seit von Sybel und Ficker, Berlin 1934, S. 114–124 ein Überblick über die vor allem durch Below erneuerte scharfe Kritik an der Italienpolitik, die aber schon damals nicht mehr konsensfähig war. 54 Erstmals bei Luden: Geschichte (wie Anm. 51), S. 387–391; dazu Berg: Heldenbilder (wie Anm. 1), S. 93–95; vgl. auch Prutz, Hans: Kaiser Friedrich I., Bd. 2: 1166–1177, Danzig 1871, S. 270–276; die Weigerung Heinrichs des Löwen bei Chiavenna als „nationale That der Sachsen“, ebd., S. 273. 55 Eine Erhebung einschlägiger Quellen erstmals durch Deibel, Gertrud: Die italienischen Einkünfte Kaiser Friedrich Barbarossas, in: Neue Heidelberger Jahrbücher 1932, S. 21–58, aber mit immer noch der Frage vom Nutzen oder Nachteil der Italienpolitik verpflichtetem Erkennt-

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Der Sybel-Ficker-Streit war paradigmatisch für die schon mit Beginn der national-romantischen Historiographie einsetzende Praxis, das historische Urteil über Friedrich Barbarossa – wie über andere mittelalterliche Herrscher auch – danach auszurichten, in welchem Ausmaß er die monarchische Zentralgewalt, die man als Voraussetzung der Nationsbildung betrachtete, gestärkt oder geschwächt habe.56 Verantwortlich für diese aktualisierende Vereinnahmung des Mittelalters war die Auffassung der Nationalgeschichte als Erklärungsmodell der Vergangenheit. Die Suche nach ‚Vorgeschichte‘ und ‚Anfängen‘ künftiger Entwicklungen machte mittelalterliche Kaiser zu Helden oder zu Versagern in einer Fortschritts- und Modernisierungsgeschichte, als deren eigentliches Ziel die Entstehung der Nation galt. Als sich der ‚politische‘ Historiker Georg von Below 1914 ausdrücklich zu der für diese Perspektive entscheidenden Kategorie historischer Urteilsbildung bekannte – nämlich dass der Historiker die Geschichte am politischen Ideal der Entfaltung des Nationalstaats und nach dem Maßstab der nationalstaatlichen Idee zu beurteilen habe57 –, war das eine bereits seit langem eingeübte Praxis gewesen.58 Freilich tat die Debatte um Vor- und Nachteil nisinteresse. Kritisch dazu Haverkamp, Alfred: Die Regalien-, Schutz- und Steuerpolitik in Italien unter Friedrich Barbarossa bis zur Entstehung des Lombardenbundes, in: Zeitschrift für bayrische Landesgeschichte 29 (1966), S. 3–156, S. 5; Ders.: Herrschaftsformen der Frühstaufer in Reichsitalien, Bd. 1 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 1.1) Stuttgart 1970, S. 56 f. 56 Althoff, Gerd: Das Mittelalterbild der Deutschen vor und nach 1945. Eine Skizze, in: Heinig, Paul-Joachim u.a. (Hg.): Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit, Festschrift für Peter Moraw, Berlin 2000, S. 731–749; Schneidmüller, Bernd: Konsensuale Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter, in: ebd., S. 53–87, S. 61–67 und 85–87; Kluge, Stephanie: Kontinuität oder Wandel? Zur Bewertung hochmittelalterlicher Königsherrschaft durch die frühe bundesdeutsche Mediävistik, in: Frühmittelalterliche Studien 48 (2014), S. 39–120. 57 Below, Georg von: Der deutsche Staat des Mittelalters: Ein Grundriss der deutschen Verfassungsgeschichte, Leipzig 1914, S. 363. Vgl. Oexle, Otto Gerhard: Ein politischer Historiker: Georg von Below (1858–1927), in: Hammerstein, Notker (Hg.): Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Stuttgart 1988, S. 283–312; ferner Ders.: „Staat – Kultur – Volk“. Deutsche Mittelalterhistoriker auf der Suche nach der historischen Wirklichkeit 1918–1945, in: Moraw, Peter/Schieffer, Rudolf (Hg.): Die deutschsprachige Mediävistik im 20. Jahrhundert (Vorträge und Forschungen 62) Ostfildern 2005, S. 63–101, S. 76–80. – Zur Staatsfixierung der deutschen Mediävistik vgl. Ders.: Was deutsche Mediävisten an der französischen Mittelalterforschung interessieren muß, in: Borgolte, Michael (Hg.): Mittelalterforschung nach der Wende 1989 (HZ Beiheft 20) München 1995, S. 89–127. 58 Vgl. zur Aufgabe der Historiographie z.B. Giesebrecht, Wilhelm von: Über einige ältere Darstellungen der deutschen Kaiserzeit. Vortrag in der öffentlichen Sitzung der kgl. Akademie

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von Barbarossas Politik für die deutsche Nation der allgemeinen Hochschätzung seiner Herrscherpersönlichkeit keinen Abbruch. Ganz abgelöst von seiner umstrittenen historischen Rolle blieb er unverändert populär und politisch ­instrumentalisierbar.59 In der von nationaler Euphorie geprägten Ära der Reichsgründung verschwammen die Grenzen zwischen der mythischen und der ­historischen Person. Ferdinand Gregorovius bezeichnete 1862 in seiner „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ Barbarossa als „unterbliche[n] Held“, als „wahre[n] Kaiserkoloß des Mittelalters“, der in der Geschichte Deutschlands fortlebe „als Stolz der Nation, in der Volkssage als der Repräsentant der wiederkehrenden Herrlichkeit des Deutschen Reiches“.60 Hans Prutz, Gymnasiallehrer in Danzig (Gdańsk), sah es bei Erscheinen des ersten Bandes seiner wissenschaftlichen Biographie des Staufers Ende 1870 als günstiges Zeichen, dass „die bisher mit dem im Kyffhäuser schlummernden Rothbart entschwundene Macht und Herrlichkeit Deutschlands durch die Siege der seit Jahrhunderten zum erstenmale wieder geeinigten Deutschen so wunderbar und glänzend verjüngt ist.“61 Bei aller Skepsis gegen Barbarossas Italienpolitik erkannte er in der „Einmü­ thigkeit der deutschen Nation in der Verehrung für Kaiser Friedrich … eine höchst wirksame politische Macht“, die im 12. Jahrhundert ersetzt habe, „was dem Reiche an politischer Einigung“ damals fehlte; „als Mittelpunkt des Reiches“ der Wissenschaften am 28. März 1867 zur Feier ihres einhundert und achten Stiftungstages gehalten, München 1876, S. 20: „Unsere Geschichtsschreibung ist nationaler geworden, weil sich in uns allen das deutsche Bewußtsein jetzt mächtiger regt, als in den beiden verflossenen Jahrhunderten. Ihre ganze patriotische Kraft wird sie aber erst dann entfalten, wenn der deutsche Staat geschaffen ist, der unser Volk aus der Enge in die Freiheit führt, es zum Herrn und Meister seiner Geschicke macht.“ Freilich sind die anachronistischen Einseitigkeiten in der Beurteilung Barbarossas auch immer wieder bemerkt und kritisiert worden, vgl. die Zusammenstellung in der historiographiegeschichtlichen Untersuchung von Hostenkamp: Kaiserpolitik (wie Anm. 53), S. 181–233. 59 Vgl. Kaul: Friedrich Barbarossa (wie Anm. 1), S. 307 und 437. Vgl. auch Weinfurter, Stefan: Mythos Friedrich Barbarossa: Heiliges Reich und Weltkaiseridee, in: Altrichter, Helmut/Herbers, Klaus/Neuhaus, Helmut (Hg.): Mythen in den Geschichte, Freiburg 2004, S. 237–260, S. 260. 60 Zitiert nach Gregorovius, Ferdinand: Geschichte der Stadt Rom. Vom V. bis zum XVI. Jahrhundert, hg. von Waldemar Kampf, Bd. 2,1: Siebentes bis neuntes Buch, München 1978, S. 261. 61 Prutz, Hans: Kaiser Friedrich I., Bd. 1: 1152–1165, Danzig 1871, S. VI. Auffälligerweise spielt der erste Biograph des Staufers in den Untersuchungen zur Barbarossa-Rezeption kaum eine Rolle, vgl. Kaul: Friedrich Barbarossa (wie Anm. 1), S. 453 und 461; Fehlanzeige bei Berg: Heldenbilder (wie Anm. 1).

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habe der Staufer Volk und Fürsten „ihrer Zusammengehörigkeit“ bewusst werden lassen; soweit dem Reich im 12. Jahrhundert Einheit möglich gewesen sei, habe Barbarossa sie „vermöge der einigenden Gewalt seiner Persönlichkeit auch thatsächlich hergestellt“, womit er denn auch „ein recht eigentlich persönliches Verdienst um Deutschland sich erworben“ habe.62 Jacob Burckhardt, Professor in Basel, wertete „die ‚Persönlichkeit‘, deren Bild sich magisch weiter verbreitet“, als entscheidend für historische Größe und illustrierte diesen Gedanken auch am Beispiel Friedrich Barbarossas, „dessen Hauptlebensziel, die Unterwerfung Italiens, mißraten und dessen Regierungssystem im Reich von sehr zweifelhaftem Wert gewesen war“, dessen „Wiederkommen“ gleichwohl erwartet werde; deshalb müsse seine „Persönlichkeit“ die Resultate seiner Politik „weit überwogen haben“.63 Diese Einschätzung erlag freilich der Breitenwirkung des erst in Burckhardts eigener Gegenwart zum Nationalmythos gewordenen Staufers und übersah, dass Barbarossas Andenken vor den Befreiungskriegen „in den Geschichtsbüchern der Gelehrten“ genauso ungestört geschlummert hatte, wie es Georg Wilhelm Friedrich Hegel damals als ausdrücklich kritikwürdig erschienen war: Barbarossas Popularität wurzelte eben nicht in seinem über Jahrhunderte ungebrochenen Weiterleben „in Empfindungsweise und Phantasie des Volkes“,64 was allein eine im Sinne Burckhardts „magisch weiterverbreitete“ Erinnerung hätte gewährleisten können, sondern war eine Folge seiner viel jüngeren Karriere als Sinnbild der nationalen Einigung. Diese Zusammenhänge legte Georg Voigt, Professor in Leipzig, in der ersten wissenschaftlich ernstzunehmenden Untersuchung über die Wurzeln der Kaisersage offen: „Wir dürfen uns darüber nicht täuschen, dass das rege Leben der Kaisersage zur Zeit unserer Freiheitskriege, der nationalen Strömung, wie sie seit 1848 gewaltiger aufgefluthet, der jüngsten Ruhmestage endlich“, die Konsequenz einer literarischen Auffrischung, nicht aber lebendiger Sagentradition sei; „in der That war der Barbarossa dem deutschen Volk eine

62 Prutz, Hans: Kaiser Friedrich I., Bd. 3: 1177–1190, Danzig 1874, S. 354. 63 Burckhardt, Jakob: Weltgeschichtliche Betrachtungen, Stuttgart 1935, S. 246. 64 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Die Positivität der christlichen Religion, zitiert nach Schreiner, Klaus: Friedrich Barbarossa, Herr der Welt, Zeuge der Wahrheit, die Verkörperung nationaler Macht und Herrlichkeit, in: Die Zeit der Staufer. Geschichte, Kunst, Kultur. Katalog der Ausstellung Stuttgart 1977, Bd. 5: Supplement. Vorträge und Forschungen, Stuttgart 1979, S. 521–572, S. 536.

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ziemlich fremde Gestalt.“65 Mit dieser just 1871 publizierten Einsicht mag Voigt noch seinem Lehrer Heinrich von Sybel bei dessen Versuch sekundiert haben, das universale Kaisertum des Mittelalters als einen für die preußisch-kleindeutsch-protestantische Reichsgründung seiner Gegenwart untauglichen Bezugspunkt zu erweisen.66 Dessen ungeachtet vollzog sich Barbarossas Verklärung im Zeichen eines borussianischen Geschichtsbildes, als dessen Charakteristika in Anlehnung an Wolfgang Hardtwig drei Elemente hervorgehoben seien.67 Erstens die Hochschätzung des Protestantismus; ihr entsprach in der Analyse von Barbarossas Herrschaftspraxis die starke, gewissermaßen neoghibellinische Akzentuierung des Konflikts zwischen Kaiser und Papst vor dem Hintergrund der Kulturkampfstimmung und des Antiultramontanismus68 sowie, komplementär dazu, eine Überbetonung vermeintlicher Anzeichen bewusster Säkularisierung der Politik. Zweitens der Hang zur Personalisierung von Herrschaft und Politik; ohnehin ein Kennzeichen des Historismus, schlug sie sich in der Stilisierung Barbarossas zum Impulsgeber der politischen Entwicklung und in vorbehaltloser Bewunderung seiner Herrscherpersönlichkeit nieder. Drittens machte die Betonung des Machtgedankens – zumal vor dem Hintergrund des wilhelminischen Anspruchs 65 Voigt, Gregor: Die deutsche Kaisersage, in: Historische Zeitschrift 26 (1871), S. 131–188, S. 187 und 135. Durch seine patriotische Tendenz wieder unscharf Kampers, Franz: Die deutsche Kaiseridee in Prophetie und Sage, München 1896, S. 163: „In der epischen Form, welche das achtzehnte Jahrhundert der Barbarossasage gegeben hatte, wurde dieselbe Eigentum des gesamten deutschen Volkes. Diese Sage, die der ganzen Wehmut der Nation um die entschwundene heilige Macht der mittelalterlichen Kaiser, der ganzen Sehnsucht nach einem großen, unter einem starken Szepter geeinten Deutschland so anmutigen Ausdruck verlieh, sollte wie blutiges Morgenrot den Kämpen der Freiheitskriege und den Patrioten der deutschen Einheitsbewegung voranleuchten.“ Treffend Borst: Reden (wie Anm. 40), S. 128: „Die vermeintlich seit Jahrhunderten bohrende Sehnsucht des Volkes nach Wiederkehr des Rotbarts war bloß eine moderne Fiktion der Poeten.“ 66 Vgl. Kaul: Friedrich Barbarossa (wie Anm. 1), S. 308. 67 Hardtwig, Wolfgang: Von Preußens Aufgabe in Deutschland zu Deutschlands Aufgaben in der Welt. Liberalismus und borussianisches Geschichtsbild zwischen Revolution und Imperialismus, in: Ders.: Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990, S. 103–160, S. 146– 157. Vgl. dazu auch Kaul: Friedrich Barbarossa (wie Anm. 1), S. 451 f. 68 Dazu Gollwitzer, Heinz: Zur Auffassung der mittelalterlichen Kaiserpolitik im 19. Jahrhundert. Eine ideologie- und wissenschaftsgeschichtliche Nachlese, in: Vierhaus, Rudolf/Botzenhart, Manfred (Hg.): Dauer und Wandel in der Geschichte Aspekte europäischer Vergangenheit. Festgabe für Kurt von Raumer, Münster 1966, S. 483–512, S. 498–512; knapp auch Möller: Historische Erinnerung (wie Anm. 34), S. 667.

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auf Weltgeltung Deutschlands – den Staufer zu einem frühen Helden des deutschen Machtstaates.69 Als seine eigentliche Leistung galt, dem Reich eine Hegemonialstellung in Europa erkämpft zu haben. Diese Züge sind besonders deutlich ausgeprägt bei Wilhelm von Giesebrecht, Professor zuerst in Königsberg, dann Sybels Nachfolger in München und Autor einer weit verbreiteten, zwischen 1855 und 1895 erschienenen „Geschichte der deutschen Kaiserzeit“ in sechs Bänden. Der tschechische Gymnasialprofessor am Altstädtischen Gymnasium in Prag (Praha) und spätere Direktor der k. k. Böhmischen Lehrerbildungsanstalt Jan Lepař sah Giesebrecht als nationalpolitischen Gegner und polemisierte heftig gegen dessen Hochschätzung der Kultur- und Machtpolitik vereinenden „berüchtigten Mission des Kaisertums der deutschen Nation“.70 Der Schweizer Historiker Eduard Fueter stieß sich am „prononciert pädagogische[n] Charakter“ der Verherrlichung vermeintlich kraftvoller Herrschergestalten.71 Im Ausland wurde deutlicher wahrgenommen, was im Inland auf wenig Kritik stieß. Giesebrecht zeichnete Barbarossa im unmittelbaren zeitlichen Kontext der Reichsgründung als Machtpolitiker, „der den Muth in sich fühlte, die Freiheit des Reichs [gegen die Papstkirche] und die alte Geltung des deutschen Namens herzustellen“, und dessen Ehrgeiz „mit den Bedürfnissen des Reichs, mit den Wünschen der Nation“ übereingestimmt habe.72 Das 69 Den Zusammenhang zwischen einer veränderten Deutung der mittelalterlichen Kaiserpolitik mit wilhelminischer Weltpolitik sah schon Hostenkamp: Kaiserpolitik (wie Anm. 53), S. 27 f. Dazu Gollwitzer: Zur Auffassung (wie Anm. 68), S. 506 f. Eine Lektüre von eigenem Reiz ist die sarkastische Einordnung des Streits zwischen kleindeutschen und großdeutschen Historikern vor dem Hintergrund der deutschen Kolonialpolitik bei Jung, Julius: Julius Ficker (1826– 1902). Ein Beitrag zur deutschen Gelehrtengeschichte, Innsbruck 1907, S. VI–IX. 70 Lepař, Johann: Über die Tendenz von W. Giesebrechts Geschichte der deutschen Kaiserzeit (Abhandlungen der Kgl. Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften vom Jahre 1867. VI. Folge, I. Bd.) Prag 1868, S. 3–24, S. S. 8, zitiert nach Gollwitzer: Zur Auffassung (wie Anm. 68), S. 494. 71 Fueter, Eduard: Geschichte der Neueren Historiographie, München/Berlin 1911, S. 489. 72 Giesebrecht, Wilhelm von: Geschichte der deutschen Kaiserzeit, Bd. 4: Staufer und Welfen, Braunschweig 1872, S. 379 f. Die den sechsten Band beschließende Würdigung Barbarosas stammt indessen nicht mehr von Giesebrecht selbst, wie zuweilen irrtümlich angenommen wird (vgl. z.B. Kaul: Friedrich Barbarossa [wie Anm. 1], S. 453), sondern von Bernhard von Simson, der Giesebrechts Werk postum vollendete, vgl. Ders.: Geschichte der deutschen ­Kaiserzeit, Bd. 6: Die letzten Zeiten Kaiser Friedrichs des Rothbarts, hg. und fortgesetzt von Bernhard von Simson, Leipzig 1895, S. V und S. 283 f. – Schieblich, Walter: Die Auffassung des mittelalterlichen Kaisertums in der deutschen Geschichtsschreibung von Leibniz bis Giesebrecht (Historische Abhandlungen 1) Berlin 1932, zeichnet S. 129–147 den Wandel von

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las sich 1874 bei Hans Prutz ganz ähnlich: „Von unseren Tagen des neuen deutschen Kaiserthums abgesehen hat sich das deutsche Volk niemals so als Nation gefühlt, ist es niemals von einem so lebendigen, so wirksamen Nationalgefühle, von einem so freudigen und so durchaus berechtigten Nationalstolze erfüllt gewesen als in den Tagen Friedrichs I. ... Die Siege Kaiser Friedrichs haben das deutsche Volk sich seine Wehrhaftigkeit und Kriegstüchtigkeit wiederum bewußt werden lassen, sie haben es wieder geehrt in seiner nationalen Kraft anderen Nationen gegenüber sich zu fühlen.“73 Den ersten, 1880 beendeten Band über „Die Zeit Kaiser Friedrichs des Rothbarts“ schließt Giesebrecht mit den Worten: „Als der unerschrockene Vorkämpfer des römischen Reiches deutscher Nation hat Friedrich der Rothbart sich die Bewunderung seiner Zeitgenossen errungen, und auch die Deutschen unserer Tage, die ein römisches Reich nicht mehr kennen, wahren dankbar sein Andenken, weil er, ein deutscher Fürst durch und durch, die Ehre und Hoheit der deutschen Nation inmitten großer Weltverwickelungen rühmlich behauptete.“74 Im zweiten, 1888 publizierten Teilband fungiert Papst Alexander III. selbstverständlich als „ein Papst, der die Schwächung des deutschen Kaiserthums sich zur Lebensaufgabe gemacht hatte“, aber nach dem Sturz Heinrichs des Löwen „herrschte der Wille und das Gebot des Kaisers in allen deutschen Ländern“ und es begann „die glücklichste Zeit seiner Regierung, wo ihm die erste Stelle inmitten der Christenheit Niemand bestreiten konnte, wo das Schicksal der Welt an seinen Entschließungen hing.“75 Die vor der Reichgründung noch verbreitete Kritik, dass nationales Interesse und Ehrgeiz des Kaisers nicht zur Deckung gekommen seien, trat in den Hintergrund – vielleicht als Konsequenz der Lösung der deutschen Frage durch einen Kaiser in einem neuen (klein)deutschen Reich. Jedenfalls setzte sich um einem „aus Phantasie und Sehnsucht geborenen Ideal“ (S. 130) von Kaiser und Reich zur „eigentlich wertfreien Tatsachenforschung“ (S. 147) beim späten Giesebrecht nach, der die Geschichte des Kaisertums „als eine Geschichte der deutschen Machstellung im Abendlande“ erzähle. Zuletzt Schieffer, Rudolf: Wilhelm von Giesebrecht (1841–1889), in: Weigand, Katharina (Hg.): Münchner Historiker zwischen Politik und Wissenschaft. 150 Jahre Historisches Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität, München 2010, S. 119–136, S. 129–133. 73 Prutz: Kaiser Friedrich I., Bd. 3 (wie Anm. 62), S. 351. 74 Giesebrecht, Wilhelm von: Geschichte der deutschen Kaiserzeit, Bd. 5.1: Erste Abtheilung: Neuer Aufschwung des Kaiserthums unter Friedrich I., Leipzig 1880, S. 445. 75 Ders.: Geschichte der deutschen Kaiserzeit, Bd. 5.2: Zweite Abtheilung: Friedrichs I. Kämpfe gegen Alexander III., den Lombardenbund und Heinrich den Löwen, Leipzig 1888, S. 895, 951 und 956.

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die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein im Vergleich zu den erstaunlich vielfältigen und auch negativen Wertungen des Stauferkaisers vor 1871 recht einhellig positives Bild durch. Ausschlaggebend dafür dürfte weniger die inzwischen breiter erschlossene Quellengrundlage gewesen sein als vielmehr ­Konsensbildung auf der Grundlage eines zunehmend kanonisierten Geschichts­ bildes. Dietrich Schäfer, Professor in Berlin, formulierte in seiner 1910 erschienenen „Deutschen Geschichte“ als Quintessenz von etwa hundert Jahren historischer Barbarossa-Forschung, dass der Staufer „keine andere würdige Betätigung seines Könnens kannte als die Mehrung seiner Macht“ und der „letzte große Vertreter des deutschen Machtgedankens“ gewesen sei.76 Nicht mehr die nationale Frage, sondern der (Macht-)Staat drängte als Kategorie des historischen Urteils in den Vordergrund. Im Rückblick der frühen 30er Jahre wich die ältere Kritik an Barbarossas Italienpolitik, deren Anachronismen in der w ­ issenschaftlichen Diskussion freilich nie völlig übersehen worden waren, langsam der Annahme, der Staufer habe doch „für das deutsche Interesse“, für den deutschen Staat, „nicht für den Deutschen fremde Zwecke die gefährlichen Kämpfe auf sich genommen.“77 Auf dem Weg, auf dem Barbarossa zu einem Herrscher wurde, der stets „weit über den Handlungsnormen des Privatmannes liegende abstrakte Staatsvorstellungen verkörpert“,78 waren die wichtigsten Schritte schon längst gemacht. Mit dem Ende des Hohenzollernreichs erledigte sich das Machtparadigma keineswegs – vielmehr blieb es noch bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts ungebrochen gültig. Ursächlich dafür war sowohl die republikfeindliche Geschichtsschreibung der Historiker nach 1918 als auch die personelle Kontinuität auf den Mittelalterlehrstühlen nach 1945.79 Ohne die vorausgegangene politische Instrumentalisierung des Barbarossa-Mythos durch die Nationalbewegung wäre der historiographischen Monumentalisierung Barbarossas im Zeichen des Machtgedankens kein so zähes Überleben beschieden gewesen. Der 76 Schäfer, Dietrich: Deutsche Geschichte, Bd. 1: Mittelalter, Jena 1910, S. 298 f. Zu Dietrich Schäfer vgl. Schieffer, Rudolf: Weltgeltung und nationale Verführung. Die deutschsprachige Mediävistik vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis 1918, in: Moraw/Schieffer (Hg.): Die deutschsprachige Mediävistik (wie Anm. 57), S. 39–61, S. 55 f. 77 Hostenkamp: Kaiserpolitik (wie Anm. 53), S. 117. 78 Boockmann: Ghibellinen (wie Anm. 27), S. 141. 79 Dazu Kluge: Kontinuität oder Wandel; bezeichnende Charakteristiken Barbarossas von Johannes Haller, Walther Kienast und Karl Jordan zitiert ebd., S. 53, 80 und 100; zur unveränderten Hochschätzung der „Herrscherpersönlichkeit“ ebd., S. 111 und 118.

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Staufer war nicht nur in den Denkmälern des Hohenzollernreichs zu einem Machtpolitiker im Zeichen nationaler Größe versteinert, sondern auch in den Darstellungen der Historiker. Angesichts von Forschungstraditionen, die keineswegs auf den ersten Blick zu erkennen geben, wie tief sie im nationalen Geschichtsbild des 19. Jahrhunderts wurzeln, sprach der englische Historiker Timothy Reuter mit gutem Recht von „verbliebene(n) Reste(n) einer wilhelminischen Weltanschauung in der Berufssozialisierung deutscher Mediävisten.“80 Weil lange vor allem nach den unterschiedlichsten Ausformungen der Effektivierung von Machtausübung durch die monarchische Zentralgewalt gefragt worden war, liegen andere, durch vielfältige Quellen eigentlich gut erschließbare Themen – wie etwa Barbarossas Kreuzzug oder seine Religiosität als Facette seiner Herrschaftspraxis – noch heute am Rand des Forschungsinteresses. Gleichwohl war der Zweite Weltkrieg ein „mythenpolitischer Schnitt, wie er radikaler nicht hätte sein können. Fast alle politischen Mythen waren desavouiert.“81 Als bei der Eröffnung der Staufer-Ausstellung in Stuttgart, mit der Baden-Württemberg 1977 sein 25-jähriges Bestehen als Bindestrich-Bundesland feierte, der damalige CDU-Ministerpräsident Hans Filbinger die schwäbischen Kaiser als Garanten für Deutschlands „alte Kraft und Geltung“ in Anspruch nahm,82 war das eine der selten gewordenen Inanspruchnahmen älterer Geschichtsbilder auf offizieller politischer Ebene. Dass Karl Bosl im selben Jahr in seinem „Epilog zur Stauferausstellung“ Barbarossa noch ausdrücklich als einen „Staatspolitik“ betreibenden „Staatsmann von europäischem und deutschem Format“83 charakterisierte, mag als ein Beispiel für die „Verehrung des Staates“ stehen, die der französische Historiker Marc Bloch schon früh als eine „typische Mentalität“ der deutschen Historiker diagnostiziert hatte84 und die auch in der Einschätzung 80 Reuter, Timothy: Nur im Westen was Neues? Das Werden prämoderner Staatsformen im europäischen Hochmittelalter, in: Ehlers, Joachim (Hg.): Deutschland und der Westen Europas im Mittelalter (Vorträge und Forschungen 56) Stuttgart 2002, S. 327–351, S. 349. 81 Münkler: Die Deutschen (wie Anm. 1), S. 19. 82 Filbinger, Hans: Vom Sinn dieser Ausstellung, in: Die Zeit der Staufer. Geschichte, Kunst, Kultur. Katalog der Ausstellung Stuttgart 1977, Bd. 1: Katalog, Stuttgart 1977, S. V–X, S. VIII. 83 Bosl, Karl: Friedrich Barbarossa – Reaktionär oder Staatsmann. Ein Epilog zum Stauferjahr 1977, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 41 (1978), S. 93–116, S. 116. 84 Vgl. dazu Oexle: Was deutsche Mediävisten (wie Anm. 77), S. 115; Ders.: Vom „Staat“ zur „Kultur“ des Mittelalters. Problemgeschichten und Paradigmenwechsel in der deutschen ­Mittelalterforschung, in: Fryde, Natalie (Hg.): Die Deutung der mittelalterlichen Gesellschaft in der Moderne (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 217) Göttingen 2006, S. 15–60.

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Barbarossas lange ungebrochen wirksam war. Aber in manchen Beiträgen des Ausstellungskatalogs von 1977 zeichnete sich die im Gange befindliche Revision doch schon deutlich ab: „Wir unterstellen auch Barbarossa zu viel Systematik, vielmehr sollten wir uns damit abfinden, daß es weniger oder keine Pläne, sondern mehr Entwicklungen gab.“85 Die Tagung des Konstanzer Arbeitskreises für Mittelalterliche Geschichte, die 1990 anlässlich des 800. Todesjahres des Stauferkaisers auf der Reichenau abgehalten wurde, war für Alfred Haverkamp dann der gegebene Anlass, sein Resümee des Forschungsstandes mit einer weitreichenden, grundsätzlichen Kritik an der überkommenen historiographischen Tradition zu verbinden.86 1998 bezeichnete Hanna Vollrath die Forschungsgeschichte zu Barbarossa resümierend als gutes Beispiel dafür, wie „aus einem mittelalterlichen König ein stets kühl kalkulierender Kabinettspolitiker wird.“87

IV. Die seit Beginn des 19. Jahrhunderts popularisierte Kyffhäuser-Sage verankerte Barbarossa als personifizierte Hoffnung auf die Wiederkehr mittelalterlicher Reichsherrlichkeit im kollektiven Gedächtnis der Deutschen. Dass die kleindeutsch-preußisch-protestantische Lösung der nationalen Frage das universale Kaisertum des Mittelalters als politische Gestaltungsmöglichkeit für die eigene Gegenwart ausschloss, stand dem Mythos nicht im Wege und zerstörte ihn auch nicht; die historistische Geschichtsschreibung begriff Geschichte allgemein als eine von ‚großen Männern‘ vorangetriebene Verwirklichung überzeitlich gültiger Ideen – wie des Kaisertums oder des Reichs. Das Ergebnis solcher Aufarbeitung der Geschichte von Kaiser und Reich im Mittelalter war „nur allzu 85 Patze, Hans: Friedrich Barbarossa und die deutschen Fürsten, in: Die Zeit der Staufer, Bd. 5 (wie Anm. 64), S. 35–75, S. 56; Schreiner: Friedrich Barbarossa, Herr der Welt (wie Anm. 64). 86 Haverkamp, Alfred: Einführung, in: Ders. (Hg.): Friedrich Barbarossa. Handlungsspielräume und Wirkungsweisen des staufischen Kaisers (Vorträge und Forschungen 40) Sigmaringen 1992, S. 9–47. 87 Vollrath, Hannah: Politische Ordnungsvorstellungen und politisches Handeln im Vergleich. Philipp II. August von Frankreich und Friedrich Barbarossa im Konflikt mit ihren mächtigsten Fürsten, in: Canning, Joseph/Oexle, Otto Gerhard (Hg.): Political Thought and the Realities of Power in the Middle Ages. Politisches Denken und die Wirklichkeit der Macht im Mittelalter (Veröffentlichungen des Max–Planck–Instituts für Geschichte 147) Göttingen 1998, S. 33–51, S. 46.

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oft der nationale Mythos, als wissenschaftliche Wahrheit verkleidet“.88 Parallel zur staatlichen Mythenaneignung in Form der heroisierenden Kaiserdarstellungen im Hohenzollernreich monumentalisierte auch die Fachwissenschaft den Kaiser im Zeichen des Machtstaatsgedankens, der das mittelalterliche Reich mit dem Hohenzollernreich zu verbinden schien. Barbarossa überlebte im Nationalmythos und in der Geschichtsschreibung sozusagen als protestantischkleindeutscher, als borussifizierter Staufer. Das mit solchen Projektionen politischer Wünsche und Sehnsüchte der eigenen Gegenwart auf das Mittelalter verbundene Geschichtsbild war nach 1945 nachhaltig desavouiert. Auch wenn die alte historiographische Tradition nicht sofort abriss, so hatte aber die Nation als Resonanzboden des Barbarossa-Mythos doch ausgedient. Als die Vereinigung der Bundesrepublik mit der DDR im Jahre 1990 just mit dem 800. Todesjahr des Staufers zusammenfiel, wurde nicht mehr der im Kyffhäuser schlafende Kaiser beschworen. Das Gedenken fiel prosaischer aus: In der Staatlichen Münze Stuttgart wurde eine Zehn-D-Mark-Sondermünze geprägt. Dass sich Deutschland nurmehr im Medium seines Wirtschaftswunders offiziell des Staufers erinnerte, mag ein Beispiel für die Ablösung des alten Nationalmythos durch die politischen Mythen der Bundesrepublik sein.89 Das heißt freilich nicht, dass es keine modernen Stauferdenkmäler gibt.90 Aber während in der italienischen Stadt Lodi, die nach ihrer Zerstörung durch das nahegelegene Mailand 1158 von Barbarossa neugegründet worden war, in Erinnerung an dieses Ereignis 2008 ein martialisches Reiterdenkmal des Staufers eingeweiht wurde,91 haben solche Pathosformeln der alten Kaiserherrlichkeit in Deutschland mittlerweile aus gutem Grund ausgedient. Der politisch instrumentalisierte Nationalmythos Barbarossa ist ein Erbe, das das demokratische Nachkriegsdeutschland nur aus88 François, Etienne/Schulze, Hagen: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, 3 Bde., München 1998, Bd. 1, S. 7–12, S. 18; vgl. auch Kaul: Friedrich Barbarossa (wie Anm. 1), S. 754. 89 Vgl. Münkler: Die Deutschen (wie Anm. 1), S. 455–476. 90 Dazu knapp Görich, Knut: Erbe und Erblast – Friedrich Barbarossa, ein deutscher Nationalmythos, in: Schindler, Andrea/ Stieldorf, Andrea (Hg.): WeltkulturerbeN. Formen, Funktionen und Objekte kulturellen Erinnerns im und an das Mittelalter, Bamberg 2015, S. 9–33, S. 31–33. 91 Schmitz-Esser, Romedio: Italienische Barbarossabilder seit dem 19. Jahrhundert, in: Görich, Knut/Schmitz-Esser, Romedio (Hg.): BarbarossaBilder. Entstehungskontexte, Erwartungshorizonte, Verwendungszusammenhänge, Regensburg 2014, S. 337–347, S. 340 mit Abb. auf S. 336.

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schlagen konnte. Deshalb sind Entpolitisierung, Verzicht auf personenbezogene Heroisierung und Regionalisierung die unverkennbaren und unverzichtbaren Begleitumstände gegenwärtiger Erinnerung an die Staufer geworden. Ein anschauliches Beispiel dafür sind die von geschichtsbegeisterten „Stauferfreunden“ an bisher über 30 Orten in Deutschland, Italien, den Niederlanden, Frankreich und Tschechien errichteten „Stauferstelen“.92 Es handelt sich dabei um 2,75 Meter hohe Steinstelen, die – als Anspielung auf die mittelalterliche, heute in Wien aufbewahrte Kaiserkrone – achteckig und mit einem goldfarbenen Metallband versehen sind. Sie wurden und werden aus privater Initiative an Orten aufgestellt, an denen die Geschichte der Stauferzeit zur lokalen Identität gehört. Am 12. Juli 2013 wurde in Cheb (Eger) neben der dortigen stauferzeitlichen Kaiserpfalz die erste Stauferstele jenseits des einstigen eisernen Vorhangs enthüllt93 – am 800. Jahrestag der Ausstellung der Goldenen Bulle Friedrichs II. für Přemysl Otakar I. , die im historischen Gedächtnis Tschechiens als wichtige Wegmarke der Staatswerdung gilt. Dass sowohl der Bürgermeister der Stadt wie auch ein Vertreter des tschechischen Außenministeriums an der Einweihung teilnahmen, war ein ebenso erfreuliches Beispiel für den schwindenden Schatten nationalgeschichtlicher Vereinnahmung des Mittelalters – wie die gleichzeitige (sehr kleine) Demonstration gegen diese vermeintlich „germanische Stauferstele“ und „schleichende Germanisierung“ auf ältere Geschichtsbilder hinweist, vor allem aber als Konsequenz der negativen historischen Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Unrechtsstaat verständlich ist. Die moderne wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Stauferkaiser und seiner Zeit nimmt nach Überwindung des alten Machtparadigmas die Anregungen auf, die von der Neuen Politikgeschichte, die Politik nicht mehr nur als Entscheidungshandeln von Eliten ansieht,94 ebenso ausgehen wie von der Kulturgeschichte des Politischen, deren hauptsächliches Anliegen die Dekonstruktion eines überzeitlich-universalisierenden Verständnisses von politischen Institutionen, Wertevorstellungen und Motiven ist.95 Dass die Revision des 92 Eine Übersicht unter http://www.stauferstelen.net/ (letzter Zugriff: 06.10.2016). 93 Informationen über die Stele in Cheb unter http://www.stauferstelen.net/stele-cheb.htm (letzter Zugriff: 06.10.2016). 94 Frevert, Ute: Neue Politikgeschichte, in: Eibach, Joachim/Lottes, Günther (Hg.): Kompass der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2002, S. 152–164. 95 Landwehr, Achim: Diskurs – Macht – Wissen. Perspektiven einer Kulturgeschichte des Politischen, in: Archiv für Kulturgeschichte 85 (2003), S. 71–117; Stollberg-Rilinger, Barbara:

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traditionellen Barbarossa-Bildes bereits abgeschlossen sei, wird man allerdings noch nicht behaupten wollen.96

Was heißt Kulturgeschichte des Politischen? Einleitung, in: Dies. (Hg.): Was heißt Kulturgeschichte des Politischen?, Berlin 2005, S. 9–24; Dies.: Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte, in: Zeitschrift für Rechtgeschichte, Germanistische Abteilung 127 (2010), S. 1–32; Dies.: Der Historiker und die Werte, in: Allemeyer, Marie Luisa/Behrens, Katharina/Mersch, Katharina Ulrike (Hg.): Eule oder Nachtigall? Tendenzen und Perspektiven kulturwissenschaftlicher Werteforschung, Göttingen 2007, S. 35–48. 96 Laudage, Johannes: Friedrich Barbarossa. Eine Biographie, Regensburg 2009; Racine, Pierre: Frédéric Barberousse (1152–1190), Paris 2009; Görich, Knut: Friedrich Barbarossa. Eine Biographie, München 2011. Zuletzt Freed, John B.: Frederick Barbarossa: The Prince and the Myth, New Haven 2016.

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„Eine besondere, der deutschen Weise vollkommen entgegengesetzte Nationalität“ Friedrich Barbarossas Verhältnis zum kommunalen Italien in der Bewertung der deutschen Historiographie des 19. Jahrhunderts

Nach der Gründung des preußisch-deutschen Kaiserreichs im Jahr 1871 entstanden einige Nationaldenkmale, die die Bedeutung der mittelalterlichen Geschichte für die damalige Geschichtskultur eindrucksvoll vor Augen stellen.1 Unter anderem wurden Teile der hochmittelalterlichen Kaiserpfalz in Goslar wiederaufgebaut und aufwändig ausgestattet. Während man auf eine Rekonstruktion der Stiftskirche verzichtete, wurde das sogenannte Kaiserhaus zu einer reich ausgestalteten Gedenkstätte.2 Nähert man sich von Osten der Schauseite des Palasts, steht man zunächst vor zwei monumentalen Reiterstatuen. Sie verkörpern die ‚deutschen‘ Kaiser Friedrich  I. Barbarossa und Wilhelm  I. ‚Barbablanca‘.3 Auch die Gemälde im Inneren zeigen, dass sich das neue Kaiser1

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Grundlegend bleiben die Studien von Nipperdey, Thomas: Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 206 (1968), S. 529–585; Hardtwig, Wolfgang: Nationsbildung und politische Mentalität. Denkmal und Fest im Kaiserreich, in: Ders.: Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990, S. 264–301. Zentral darüber hinaus Kaul, Camilla G.: Friedrich Barbarossa im Kyffhäuser. Bilder eines nationalen Mythos im 19. Jahrhundert (ATLAS. Bonner Beiträge zur Kunstgeschichte 4) Köln/Weimar/ Wien 2007; Dies.: Barbarossadarstellungen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, in: Görich, Knut/Schmitz-Esser, Romedio (Hg.): Barbarossabilder. Entstehungskontexte, Erwartungshorizonte, Verwendungszusammenhänge, Regensburg 2014, S. 322–335. Grundlegend neben den Beiträgen im zuletzt genannten Band auch Görich, Knut: Friedrich Barbarossa. Eine Biographie, München 2011, S. 11–25. Arndt, Monika: Die Goslarer Kaiserpfalz als Nationaldenkmal. Eine ikonographische Untersuchung, Hildesheim 1976. Dieser Band befasst sich vor allem mit den Fresken im Inneren des Gebäudes. Zur von Felix Dahn popularisierten Parallelisierung von Friedrich I. Barbarossa und Wilhelm II.

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reich in die Tradition des mittelalterlichen Imperiums stellte und Barbarossa dabei zu einer zentralen Projektionsfigur machte. Der Gemäldezyklus, den der Düsseldorfer Historienmaler und Kunstprofessor Hermann Wislicenus zwischen 1878 und 1898 realisierte, zeigt Szenen aus der Geschichte des Mittelalters. In seinem Zentrum steht allerdings eine Darstellung, die die Reichsgründung von 1871 feiert: Die irdische Sphäre bevölkern Zeitgenossen der Ereignisse, neben den Kaisern Wilhelm I. und Friedrich III. erkennt man selbstverständlich Reichskanzler Otto von Bismarck, aber auch andere Protagonisten wie den preußischen Generalfeldmarschall Helmuth Karl Bernhard von Moltke sowie in den Seitenfeldern die deutschen Fürsten hinter König Ludwig II. von Bayern sowie die kaiserliche Familie mit weiteren preußischen Würdenträgern. Im Himmel über den Zentralfiguren schweben gleichsam als ‚gute Geister‘, die die Reichsgründung beflügelten, neben der preußischen Königin Luise unter anderem einige mittelalterliche Kaiser. Unter ihnen bekommt erneut Friedrich Barbarossa einen zentralen Platz zugewiesen, er verbindet durch seinen Handgestus die Vorgeschichte mit der ruhmreichen Gegenwart.4 Der Gemäldezyklus besteht aus mehreren Szenen der mittelalterlichen Geschichte von Karl dem Großen bis zur Reformation.5 Er ist von einer deutschnationalen Programmatik geprägt, die zugleich die Bedeutung Goslars und der Harzregion für die Geschichte ins Bild bringt. In diesem Bilderzyklus erscheint auch Friedrich Barbarossa mehrfach, allerdings in einer sehr ambivalenten Art und Weise. Denn wie schon Zeitgenossen kritisiert haben, visualisieren die Fresken das mittelalterliche Kaisertum nicht als Erfolgsgeschichte, sondern als Geschichte eines letztlich zum Niedergang führenden Kampfs der Kaiser mit Päpsten und Partikularfürsten.6 Bewusst sind sie so arrangiert, dass sie HöheBarbablanca vgl. Schreiner, Klaus: Friedrich Barbarossa, Herr der Welt, Zeuge der Wahrheit, die Verkörperung nationaler Macht und Herrlichkeit, in: Hausherr, Reiner/Väterlein, Christian (Hg.): Die Zeit der Staufer. Geschichte – Kunst – Kultur. Katalog der Ausstellung Stuttgart 1977, Bd. 5, Stuttgart 1979, S. 521–579, hier S. 536–551; Kotte, Eugen: „Barbablanca“ und die Wiederkehr des Reiches: Der Reichsmythos im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, in: Nitschke, Peter/Feuerle, Mark (Hg.): Imperium et Comitatus. Das Reich und die Region, Frankfurt am Main u.a. 2009, S. 241–274. 4 Neben Arndt: Kaiserpfalz (wie Anm. 2), auch Telesko, Werner: Art. „Werner Wislicenus, Wiederentstehung des Deutschen Reiches“, in: Kohle, Hubertus (Hg.): Vom Biedermeier zum Impressionismus (Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland 7) München/Berlin/London/New York 2008, S. 298, eine hervorragende Abbildung ebd., S. 131. 5 Erneut Arndt: Kaiserpfalz (wie Anm. 2), S. 26–66. 6 Ebd., S. 10–13.

„Eine besondere, der deutschen Weise vollkommen entgegengesetzte Nationalität“

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punkte und schwarze Stunden ‚deutscher Kaiserherrlichkeit‘ miteinander kontrastieren, und zwar in den großen Bildern, die die Apotheose deutscher Kaisermacht in der Reichsgründung von 1871 flankieren.7 So wird einerseits die Rückkehr Heinrichs III. nach Deutschland als Triumph über das korrupte Papsttum inszeniert, wenn gezeigt wird, wie der Kaiser im Jahr 1047 mit dem abgesetzten Papst Gregor VI. als Gefangenem aus Italien zurückkehrte. Als Tiefpunkt salischer Kaisermacht erscheint hingegen andererseits die Aufnahme des vor seinem eigenen Sohn fliehenden Kaisers Heinrich IV. durch die Mainzer Bürger im Jahr 1105. Dieser Kontrastierung von Höhe- und Tiefpunkten kaiserlicher Macht sind auch die beiden Hauptbilder verpflichtet, die das Wirken Friedrich Barbarossas behandeln. Parallel zum Sieg Heinrichs III. über das Papsttum setzt Wislicenus den Sieg des Kreuzheers unter Friedrich Barbarossa über den seldschukischen Sultan Kiliç Arslan II. bei Iconium (= Konya) von 1190 in Szene. Im Kontrast dazu firmiert der Kniefall des Kaisers vor dem sächsischen Herzog Heinrich dem Löwen während ihrer Begegnung in Chiavenna als Exempel für die Schwäche des Staufers in seiner Auseinandersetzung mit den ‚deutschen‘ Territorialfürsten.8 Während Friedrich Barbarossa also einerseits als strahlender Held und Verteidiger des Christentums präsentiert wird – diese Rolle steht in der Bilderzählung in einer Kontinuitätslinie, die bis zum ‚deutschen‘ Protest Luthers gegen den Aberglauben der Papstkirche ausgezogen wird –, thematisieren die Fresken auf der anderen Seite am Beispiel Barbarossas die Schwäche kaiserlicher Zentralgewalt gegenüber den widerspenstigen Territorialfürsten. Neben diesen historischen Episoden beinhaltet der Freskenzyklus auch die Legende um ‚Kaiser Rotbart‘, der im Kyffhäuser schläft und auf die Wiederauferstehung des Kaiserreichs wartet – das ins Bild gebrachte Erwachen des Kaisers signalisiert, dass in der Reichsgründung von 1871 diese im 19. Jahrhundert vielfach evozierte Sage ihre Erfüllung gefunden hat.9 Die Rollen, die innerhalb der Fresken Friedrich Barbarossa zugeschrieben werden, lassen sich nicht ohne weiteres auf einen einheitlichen Nenner bringen. Der Mythos vom im Berg schlafenden und jetzt endlich wiedererwachenden Kaiser machte ihn zu einer Identifikationsfigur für das Bestreben des 19. Jahr7 8

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Einen Überblick über die Komposition des Zyklus ebd., S. 17–23. Zur umstrittenen, seit dem 19. Jahrhundert diskutierten Historizität des Kniefalls Kaiser Friedrichs I. vor Heinrich dem Löwen vgl. zuletzt Ehlers, Joachim: Heinrich der Löwe. Eine Biographie, München 2008, S. 220–227; Görich: Friedrich (wie Anm. 1), S. 483–485. Zur Kyffhäuser-Legende vgl. Kaul: Barbarossa-Darstellungen (wie Anm. 1).

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hunderts, einen deutschen Nationalstaat zu begründen und ihn in die Kontinuität des mittelalterlichen Kaiserreichs zu stellen. Dieser Sagengestalt verdankt Barbarossa vermutlich seine herausragende Position innerhalb der mittelalterlichen Kaisergestalten, die auf dem allegorischen Fresko zur Reichsgründung den Himmel über den Reichsgründern um Wilhelm I. und Otto von Bismarck bevölkern. Daneben ist das Programm des Freskenzyklus aber verschiedenen Narrativen des 19. Jahrhunderts verpflichtet, die Barbarossas Rolle sehr kritisch sahen:10 Der preußische Historiker und Politiker Heinrich von Sybel hatte im Jahr 1859 mit einem Vortrag, der weit über die Kreise der Geschichtswissenschaft hinaus diskutiert wurde, eine scharfe Kontroverse losgetreten, die in der Bewertung Barbarossas einen zentralen Streitpunkt besaß.11 Nach Sybel stand Barbarossa in der unseligen Tradition deutscher Kaiser, die ihre eigentliche Aufgabe nicht erkannt hätten, ein mächtiges und einiges nationales Reich nördlich der Alpen zu schaffen. Stattdessen sei der Griff nach der Kaiserkrone dafür verantwortlich, dass Barbarossa wie auch andere Kaiser wegen ihrer Auseinandersetzungen mit dem Papsttum die Ressourcen des Reichs in blutigen Kämpfen in Italien verschleudert hätten. Diese für Deutschland verhängnisvolle Italienpolitik habe nicht nur zahllose Opfer gefordert, sondern zugleich auch die Macht der Könige entscheidend geschwächt, weil sie auf ihre Machtmittel nördlich der Alpen verzichtet hätten, um die Fürsten für die Unterstützung ihrer Italienzüge zu gewinnen. Gerade die Regierung Friedrich Barbarossas sei besonders verhängnisvoll gewesen, denn er habe in besonders hartnäckiger Weise in Italien Krieg geführt und darüber Deutschland vergessen. Deswegen lastet dieses Niedergangsnarrativ dem Staufer eine entscheidende Verantwortung für eine Ent10

Auf diese Rückgriffe auf die geschichtswissenschaftliche Debatte verweist Arndt: Kaiserpfalz (wie Anm. 2), S. 26–51. Dem Ansatz, wissenschaftliche und populäre Darstellungen anhand ihrer leitenden Erzählmuster zu Narrativen zusammenzufassen, folgt Kluge, Stephanie: Kontinuität oder Wandel? Zur Bewertung hochmittelalterlicher Königsherrschaft durch die bundesrepublikanische Mediävistik (1945–1980), in: Frühmittelalterliche Studien 48 (2014), S. 39–120. 11 Sybel, Heinrich von: Über neuere Darstellungen der deutschen Kaiserzeit, in: Schneider, Friedrich (Hg.): Universalstaat oder Nationalstaat. Macht und Ende des Ersten deutschen Reiches. Die Streitschriften von Heinrich v. Sybel und Julius Ficker zur deutschen Kaiserpolitik des Mittelalters, Innsbruck 2. Aufl. 1943, S. 1–18 [zuerst 1859]; siehe dazu unten bei Anm. 56–71. Eine jüngere Zusammenfassung stammt von Klein, Christian: Von der Aktualität einer überholten Fragestellung. Der Sybel-Ficker-Streit und der Diskurs über den deutschen Nationalstaat, in: Jostkleigrewe, Christina u.a. (Hg.): Geschichtsbilder. Konstruktion – Reflexion – Transformation, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 203–241.

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wicklung an, die das Kaiserreich im Spätmittelalter vermeintlich in die Bedeutungslosigkeit geführt habe. Ebenfalls in den 1850er Jahren etablierte sich mit Johann Gustav Droysens „Geschichte der preußischen Politik“ ein zweites Narrativ, das ebenfalls den angeblichen Niedergang der Kaisermacht mit den Staufern zum Ausgangspunkt machte. In ihrer Nachfolge seien die Hohenzollern zu Trägern eines kaiserzentrierten, „ghibellinischen“ Reichsgedankens geworden, der die Richtung einer erfolgreichen Staatsgründung in Deutschland unter der Führung der preußischen Monarchen vorgebe. Unter Rekurs auf prostaufische Gruppierungen in italienischen Städten des 13. Jahrhunderts wurden hierdurch die Staufer, allen voran Friedrich Barbarossa, zu geistigen Stammvätern der Hohenzollern stilisiert und zur Legitimierung ihrer nationalen Sendung herangezogen.12 Aus dieser Perspektive konnte das Wirken Barbarossas positiver dargestellt werden: Er habe zur Stärkung eines deutschen Nationalgefühls beigetragen sowie gegen die Ansprüche der Päpste die Interessen eines machtvollen deutschen Kaisertums vertreten. In den verschiedenen Rollen, die Wislicenus’ Fresken Friedrich Barbarossa zuweisen, spiegeln sich diese widersprüchlichen Bewertungen des Staufers seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, ohne dass die verschiedenen Barbarossabilder zu einem schlüssigen Gesamtkonzept zusammengebunden worden wären. Während vor der Kaiserpfalz Friedrich Barbarossa und Wilhelm I. als Idealfiguren deutschen Kaisertums auf den Sockel gestellt worden sind, enthüllen die Fresken des Kaisersaals bereits die Spannungen um eine angemessene Deutung von Barbarossas Wirken, die die geschichtswissenschaftlichen und geschichtspolitischen Debatten des 19. Jahrhunderts geprägt haben. Vor diesem Hintergrund soll im Anschluss die Darstellung und Bewertung der sogenannten ‚Italienpolitik‘ Friedrich Barbarossas, also seine Regierung im regnum Italiae und die Auseinandersetzungen mit oberitalienischen Städten, in der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts in den Blick genommen werden. Sie wird in den Hauptbildern des Goslarer Kaisersaals nur indirekt thematisiert – der Kniefall Friedrich Barbarossas vor Heinrich dem Löwen soll die 12

Droysen, Johann Gustav: Geschichte der Preußischen Politik. Erster Theil: die Gründung, Berlin 1855. Zu Droysen siehe unten bei Anm. 52–55. Grundlegend: Hardtwig, Wolfgang: Von Preußens Aufgabe in Deutschland zu Deutschlands Aufgabe in der Welt. Liberalismus und borussianisches Geschichtsbild zwischen Revolution und Imperialismus, in: Historische Zeitschrift 231 (1980), S. 265–324, hier zitiert nach dem Wiederabdruck in Ders.: Geschichtskultur (wie Anm. 1), S. 103–160.

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Bitte unterstrichen haben, dem Kaiser mit neuen Kontingenten in Oberitalien beizustehen, und die vermeintlich hochmütige Ablehnung dieser Bitte verbindet die Demütigung des Kaisers mit der Demonstration seiner faktischen Schwäche im nordalpinen Reich als Resultat der Kriege auf der Apenninenhalbinsel. Zugleich zeigt eine Grisaille der Westwand die Unterwerfung Mailands im Jahr 1162. Wegen der zentralen Bedeutung der Debatte um die sogenannte ‚Italienpolitik‘ mittelalterlicher Kaiser sowie ihrer Verknüpfung mit zentralen Themen des Zyklus wie den Konfrontationen mit den Päpsten sowie den Auseinandersetzungen zwischen monarchischer Zentralgewalt und partikularer Fürstenmacht ist das Engagement der ‚deutschen‘ Kaiser in ‚Italien‘ aber ein unübersehbarer Subtext des Freskenzyklus. Was Friedrich Barbarossa wollte, wie sein Engagement südlich der Alpen zu bewerten ist und welche Bedeutung es für die Entwicklung des mittelalterlichen Kaiserreichs besaß, gehörte zu den zentralen Themen mediävistischer Debatten des 19. Jahrhunderts. Im Blick auf die Ausstattung der Goslarer Kaiserpfalz seien eingangs einige Voraussetzungen benannt, die für die Fragestellung der nachfolgenden Ausführungen grundlegend sind: 1. Die sogenannte ‚Italienpolitik‘ Friedrich Barbarossas ist im 19. Jahrhundert in Deutschland vor allem in den Rahmen der deutschen Nationalgeschichte gestellt worden. Der staufische Herrscher hatte einen erheblichen Teil seiner Regierungszeit in Norditalien sowie im mittelitalienischen Hügelland verbracht bei dem Bemühen, die politischen Verhältnisse unter seiner Herrschaft zu ordnen.13 Entscheidender Widerpart waren neben den Päpsten zahlreiche Städte, allen voran Mailand. Ihnen war es aufgrund ihres Reichtums wie ihrer militärischen Macht möglich, dem Kaiser massiv Widerstand zu leisten. Nach dem Reichstag von Roncaglia im November 1158, der zur Proklamation sehr weitreichender kaiserlicher Gesetze diente, und der Eroberung Mailands im März 1162 mochte es so scheinen, als hätte Barbarossa die Herrschaft über das italienische Regnum auf neuer Grundlage befestigt. In der Folgezeit sollte sich jedoch erweisen, dass die Städte um Mailand in der Lage waren, sich gegen die Angriffe des Kaisers zu behaupten. Höhepunkt dieses Widerstands war der Sieg städtischer Kontingente über kaiserliche Truppen in der Schlacht 13

Vgl. die Biographie von Görich: Friedrich (wie Anm. 1); grundlegend nach wie vor daneben Keller, Hagen: Zwischen regionaler Begrenzung und universalem Horizont. Deutschland im Imperium der Salier und Staufer, 1024–1250 (Propyläen Geschichte Deutschlands 2) Berlin 1986, S. 375–433.

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von Legnano im Mai 1176. Der Frieden von Konstanz besiegelte schließlich 1183, dass Barbarossa wesentliche Bestandteile seiner Vorstellungen zurücknehmen musste und sich weitgehend die Forderungen der Städte durchgesetzt hatten. Dieses Geschehen deuteten Historiker des 19. Jahrhunderts in den meisten Fällen als nationalgeschichtliches Ereignis, als Phase einer deutschen Fremdherrschaft über Teile Italiens, wo sich mit den Worten des preußischen Historikers Heinrich von Sybel bis zum Hochmittelalter „eine besondere, der deutschen Weise vollkommen entgegengesetzte Nationalität“ entwickelt habe.14 2. Die Geschichte der deutschen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts sowie der Genese des deutschen Nationalstaats ist eine Abfolge heftiger Debatten und Konflikte.15 Wie die bestehenden Mächte, allen voran Preußen und Österreich, am Nationalstaat beteiligt werden sollten, wie das Verhältnis zwischen Zentralregierung und einzelnen Teilstaaten ausgestaltet werden sollte, wie die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen an der politischen Machtausübung beteiligt werden sollten, blieb bis zur Reichsgründung im Jahr 1871 heftig umstritten. Nicht einmal die Annahme des Kaisertitels durch Wilhelm I. fand fraglos Anerkennung. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Bewertung der mittelalterlichen Geschichte und damit auch die Bewertung Friedrich Barbarossas stark von den je aktuellen Frontstellungen und Problemlagen geprägt wurden. Dazu trug bei, dass zahlreiche Historiker in unmittelbarer Weise in die politischen Auseinandersetzungen involviert waren. Einige von ihnen waren zugleich Abgeordnete im Parlament der Frankfurter Paulskirche oder des Reichstags, auch die Texte zur mittelalterlichen Geschichte entstanden zum Teil als Vorträge, die aus heutiger Perspektive als Politikberatung bezeichnet werden könnten.16 14 15

Sybel: Darstellungen (wie Anm. 11), S. 13. Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1983; Ders.: Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 2: Machtstaat vor der Demokratie, München 1992. 16 Das gilt insbesondere für Sybel: Darstellung (wie Anm. 11) – eine Rede, die anlässlich des Geburtstags von König Maximilian II. von Bayern im Jahr 1859 während einer öffentlichen Sitzung der Münchener Akademie der Wissenschaften gehalten worden ist. Zum politischen Engagement deutscher Professoren Muhlack, Ulrich: Der „politische Professor“ im Deutschland des 19. Jahrhunderts, in: Burkholtz, Roland/Gärtner, Christel/Zehentreiter, Ferdinand (Hg.): Materialität des Geistes. Zur Sache Kultur – im Diskurs mit Ulrich Oevermann, Weilerswist 2001, S. 185–204; jüngst Lenhard-Schramm, Niklas: Konstrukteure der Nation. Geschichtsprofessoren als politische Akteure in Vormärz und Revolution 1848/49, Münster 2014.

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3. Über lange Zeit des 19. Jahrhunderts blieb die Relevanz des Mittelalters für die Gestaltung der Gegenwart unumstritten. Die Verwissenschaftlichung des Faches führte zwar zu einer schleichenden Distanzierung der Forschungsergebnisse von aktuellen öffentlichen Debatten. Dennoch war der Aufstieg der Geschichtswissenschaft zu einer gesellschaftsrelevanten Leitdisziplin getragen von einem starken Bewusstsein für die Fähigkeit, das eigene Tun nur durch das Wissen um die Geschichte verstehen und orientieren zu können. Dieser letztlich vorwissenschaftliche Geschichtsglaube prägte auch die breite Präsenz des Mittelalters in der Geschichtskultur des 19. Jahrhunderts. Dies schlug sich in Monumenten wie der eingangs präsentierten Kaiserpfalz in Goslar nieder, aber auch in der vielfältigen Festkultur. Daneben wurde das Mittelalter zum Sujet für Opern und Theaterstücke sowie zum Vorbild für eigene Kunstproduktion. Die wissenschaftlichen Deutungen wurden daher flankiert und popularisiert von einem breiten Rekurs aufs Mittelalter in der öffentlichen Geschichtskultur. Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen möchte ich im Anschluss einige Schlaglichter auf zentrale Momente der Diskussion über Friedrich Barbarossas Italienpolitik werfen. Ich fokussiere dabei die Zeit zwischen dem Vormärz, also der Zeit vor der Revolution von 1848, und dem wilhelminischen Kaiserreich von 1871. Ziel meiner Ausführungen ist es vor allem, die Widersprüche in der Bewertung Barbarossas in den Vordergrund zu stellen und sie in Bezug zu setzen zu den politischen Debatten ihrer Entstehungszeit: dem Ringen um eine konstitutionelle Monarchie im deutschen Vormärz, der Einigung von Oben zwischen Revolution und Reichsgründung sowie der politischen Entwicklung des wilhelminischen Kaiserreichs nach 1871.

I. Das Ringen um eine konstitutionelle Monarchie: Barbarossa in Geschichtsdarstellungen des Vormärz Am Anfang der historiographischen Auseinandersetzung mit Friedrich Barbarossa stand im deutschen Sprachraum die zwischen 1823 und 1825 veröffentlichte und König Friedrich Wilhelm III. gewidmete „Geschichte der Hohen­ staufen und ihrer Zeit“ aus der Feder des Berliner Professors Friedrich von

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Raumer.17 Seine Darstellung ist ganz von der Bewunderung der vermeintlichen Glanzzeit des mittelalterlichen Kaisertums getragen. Dieses stellt er aber ganz im Sinne seiner politischen Orientierung an dem Ziel einer konstitutionellen Monarchie in ihrem Spannungsverhältnis zu den politischen und rechtlichen Gegebenheiten des Hochmittelalters dar. Den Konflikt zwischen Friedrich ­Barbarossa und den italienischen Städten, die sich von ihm benachteiligt fühlten – allen voran die lombardische Metropole Mailand –, schildert Raumer als zwangsläufige Folge aus der Konfrontation zwischen zwei unvereinbaren Prinzipien: „Der unparteiische Betrachter kann sich über die Leidenschaftlichkeit, in welche die Gemüther damals allmählich geriethen, nicht verwundern, nicht einer von beiden Parteien allein Recht geben: denn es ist natürlich, daß die Könige für ihre Rechte, und die Lombarden für ihre Unabhängigkeit stritten. Beide aber mußten sich mißverstehen und das wahre Ziel verfehlen, weil sie dasselbe über alles billige Maaß hinaussteckten und nicht begriffen: es sey kein ächter Gehorsam ohne Freiheit, und keine ächte Freiheit ohne Gehorsam möglich.“18 Aus dieser irenischen Perspektive bewertet Raumer im Anschluss die verschiedenen Akteure und ihr Handeln, was ihm von Seiten Heinrich von Sybels heftigen Tadel einbrachte: „Von patriotischer Anregung oder politischkirchlicher Parteinahme ist nicht die mindeste Spur zu entdecken“.19 Von Raumer konnte hingegen die Perspektiven der verschiedenen Akteure differenzieren: die eines Königs bzw. Kaisers, der die Konflikte zwischen italienischen Städten durch eine Stärkung seiner Gerichtsbarkeit wie auch durch das Erlassen strenger, die Reichsrechte forcierender Gesetze zu befrieden trachtete, und die von Stadtbewohnern, die um ihre Freiheit fürchteten und sich ihrer gewohnten Rechte beraubt sahen. In eine ähnliche Richtung, aber mit deutlich schärferen Urteilen unterlegt, weisen auch die Ausführungen Heinrich Ludens (1778–1847) zur Italienpolitik Friedrich Barbarossas. Luden veröffentlichte in den Jahren 1825 bis 1837 eine 17

Raumer, Friedrich von: Geschichte der Hohenstaufen und ihrer Zeit, 6 Bde., Leipzig 1823– 1825. Zum Verfasser Jordan, Stefan: Art. „Raumer, Friedrich Ludwig Georg von“, in: Neue Deutsche Biographie 21, Berlin 2003, S. 201 f. 18 Raumer: Geschichte (wie Anm. 17), Bd. 2, 1823, S. 23. 19 Sybel: Darstellungen (wie Anm. 11), S. 5; auf die Kritik von Sybels verweist Hardtwig, Wolfgang: Erinnerung, Wissenschaft, Mythos. Nationale Geschichtsbilder und politische Symbole in der Reichsgründungsära und im Kaiserreich, in: Ders.: Geschichtskultur (wie Anm. 1), S. 224–263, hier S. 227 f. mit Anm. 11.

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insgesamt zwölfbändige „Geschichte des teutschen Volkes“ von den Anfängen bis zu Friedrich II. von Preußen.20 Luden gehörte zu den liberalen Intellektuellen, die nach dem Ende Napoleons auf eine konstitutionelle Monarchie als deutschem Nationalstaat setzten, wahrte aber eine größere Distanz zum politischen Establishment als Friedrich von Raumer. Seine liberalen Positionen, die er unter anderem auch in seiner akademischen Lehrtätigkeit darlegte, führten dazu, dass ihm infolge der Karlsbader Beschlüsse von 1819 der Prozess gemacht wurde. Er konnte sich zwar gegen die ihm gemachten Vorwürfe verteidigen, zog sich aber aus der unmittelbaren politischen Diskussion zurück. Ludens Darstellung von Friedrich Barbarossa, die auf die Bände 10 und 11 aus den Jahren 1835 und 1836 verteilt ist, zeichnet ein überaus kritisches Bild vom Staufer. In seiner Einleitung zu diesen Passagen schlägt Luden bereits den Grundton seiner Darstellung an: Barbarossa habe die Hoffnungen, zu denen das deutsche Volk bei seiner Wahl berechtigt gewesen sei, rasch enttäuscht. „Von seinem eigenen Könige versäumet, verkannt, mißachtet, hat es [= das deutsche Volk, Ch. D.] der Leidenschaft desselben nicht zu berechnende Opfer gebracht für die Mißhandlung und Verknechtung eines fremden Volkes“;21 hier klingt also bereits der Vorwurf an, Barbarossa habe wegen seiner Kriege in Italien seine eigentliche Aufgabe vernachlässigt, sich um ‚Deutschland‘ zu kümmern. Dadurch habe er zugleich dafür die Verantwortung, dass sich Deutschland in inneren Kämpfen zerfleischt habe – das Engagement in Italien wird also von Luden zugleich zur Ursache für die Auseinandersetzung zwischen Friedrich Barbarossa und Heinrich dem Löwen bzw. für den Thronstreit erklärt. Das verheerende Wirken des Staufers habe seinen Grund in dessen Leidenschaftlichkeit besessen – er sei in Hass gegen jeden entbrannt, der ihm Widerstand geleistet habe, und habe solche Gegner unbarmherzig verfolgt. Besonders die Grausamkeit des Staufers errege „Schauder und Angst“, denn er habe bei der Verfolgung seiner Gegner ganze Städte eingeäschert und „Schuldige und Unschuldige, ohne Unterschied des Alters und Geschlechts, bis zur Vernichtung verfolgt“.22 Vom 20 Luden, Heinrich: Geschichte des teutschen Volkes, 12 Bde., Gotha, 1825–1837; zum Verfasser vgl. Crusius, Irene: Art. „Luden, Heinrich (Hinrich)“, in: Neue Deutsche Biographie 15, Berlin 1987, S. 283–285; Ries, Klaus: Wort und Tat. Das politische Professorentum an der Universität Jena im frühen 19. Jahrhundert (Pallas Athene. Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 20) Stuttgart 2007. 21 Luden: Geschichte (wie Anm. 20), Bd. 10 (1835), S. 297. 22 Die Zitate ebd., S. 302.

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Weg, die Interessen des deutschen Volks zu befördern, sei er abgeirrt: „Sein Ehrgeiz war unermeßlich, seine Ruhmsucht ohne Grenzen. Macht war sein Wunsch, Gewalt seine Lust, Herrschaft seine Freude.“23 All diese Energien habe er in Zusammenarbeit mit den deutschen Fürsten und Adeligen nach Italien gelenkt aus „Haß […] gegen den bürgerlichen Geist, welcher sich in den Städten Teutschland’s nur noch selten gerühret hatte, welcher aber schon in den Städten Italiens, zu furchtbarer Größe emporgewachsen, verwegen und drohend da stand“.24 Barbarossas Ziel sei es letztlich gewesen, mit der Unterwerfung der italienischen Städte den aufstrebenden bürgerlichen Geist auch in Deutschland zu brechen. Verbunden mit der Schwäche des deutschen Adels, der bereits im Abstieg begriffen gewesen sei, hätte ein Sieg über beide Kräfte, über Adel und Bürger, dem Kaiser den Weg zu einer unumschränkten kaiserlichen Herrschaft geebnet. Hinter der Kritik Ludens sind unschwer seine liberalen Vorstellungen von der Ausgestaltung eines deutschen Nationalstaats zu erkennen. Die Schilderung und Bewertung der Taten Friedrich Barbarossas ordnen sich in das einleitend skizzierte Gesamtbild ein. So habe der Kaiser es zu Beginn seiner Regierungszeit versäumt, Dänemark fest ins Deutsche Reich einzugliedern. „Teutschland, im Norden bis zu seinen natürlichen Gränzen vorgerücket, hätte eine Meer-Küste von solcher Ausdehnung gewonnen, als dem großen Leibe des Reiches angemessen sein würde, und in derselben so viele Zugänge zu der Welt und zu den Erzeugnissen fremder Länder, daß dem teutschen Volke seine Ausbildung nothwendig auf vielfache Weise erleichtert worden wäre“.25 Statt aber die vermeintlich ‚natürlichen‘ deutschen Interessen im Norden zu verfolgen, sei Barbarossa bereits zu diesem Zeitpunkt ganz darauf fokussiert gewesen, Italien zu erobern, und habe deswegen die Chancen verstreichen lassen, Dänemark zugleich zu befrieden und zu unterwerfen. Somit findet sich bereits bei Luden die argumentative Verknüpfung zwischen dem Engagement im Nordosten des deutschen Reichs und den italienischen Initiativen, die Luden durchweg kritisch kommentiert. Mehrfach, so anlässlich der Eroberung und Zerstörung von Tortona, Asti, Spoleto, Crema und Mailand, kritisiert er die Brutalität des Staufers, insbesondere in der Schilderung der Belagerung von Crema.26 Die Herrschaft der kaiserlichen Statthalter in der Lombardei nach der Niederwerfung Mailands im Jahr 23 24 25 26

Ebd., S. 303. Ebd., S. 304. Ebd., S. 313. Ebd., S. 538–548.

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1162 wird als brutale Zwangsherrschaft geschildert, die nur das Ziel verfolgt habe, die Ressourcen des Landes auszuplündern und jeden Widerstand im Keim zu ersticken.27 Der Reichstag von Roncaglia vom November 1158 erscheint in der Deutung Ludens als vergeblicher Versuch, gegen die fortschrittlichen Kräfte des Stadtbürgertums eine überkommene Feudalherrschaft zu zementieren – letztlich handele es sich um eine leere Illusion, die genauso wenig Bestand haben konnte wie die Zelte und Brücken auf den ronkalischen Feldern. Barbarossa habe sich gegen die Forderungen der menschlichen Freiheit, der Natur und der zeitlichen Entwicklung zu stemmen versucht und habe deswegen zwangsläufig scheitern müssen.28 Den Kniefall Barbarossas vor Heinrich dem Löwen erklärt Luden zur Legende.29 Dennoch weist Luden dem Welfen die Rolle zu, eine historische Alternative zum Staufer gewesen zu sein. Dieser Rolle sei Heinrich aber gleichfalls nicht gerecht geworden. Denn er hätte bereits während des ersten Italienzugs bemerken können, dass die Ziele des Staufers nicht den Interessen Deutschlands entsprochen hätten. Dennoch habe er allzu lange mit dem Kaiser zusammengearbeitet, anstatt gleich mit dem Widerstand gegen ihn zu beginnen. Es hätte in der Hand des Welfen gelegen, Deutschland hinter sich zu vereinen, um die Kriege des Kaisers in Italien zu beenden und stattdessen unter seiner Führung Adel, Kirche und Städte als Nation zu vereinigen. Ludens jüngerer Zeitgenosse, Carl von Hegel (1813–1901), Sohn des Philosophen und Historiker in Rostock und Erlangen, gehörte gleichfalls zu den Anhängern einer staatlichen Einigung unter einer konstitutionellen Monarchie.30 In diesem Sinne betätigte er sich ebenfalls, wenn auch nur kurz, politisch, indem er während der Revolution von 1848/49 gegen republikanische Bestrebungen und für die Einführung einer Konstitution in Mecklenburg kämpfte. Kurz vor dem Ausbruch der Revolution publizierte er im Jahr 1847 eine zweibändige „Geschichte der Städteverfassung von Italien seit der Zeit der römischen Herrschaft 27 28 29 30

Ebd., Bd. 11 (1836), S. 140–165. Ebd., Bd. 10 (1835), S. 499–521. Hier und im Anschluss ebd., Bd. 11 (1836), S. 341–350, S. 386–408. Neuhaus, Helmut: Im Schatten des Vaters. Der Historiker Karl Hegel (1813–1901) und die Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 286 (2008), S. 63–89; Kreis, Marion: Karl Hegel. Geschichtswissenschaftliche Bedeutung und wissenschaftsgeschichtlicher Standort (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 84) Göttingen/Bristol 2012.

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bis zum Ausgang des zwölften Jahrhunderts“, in der er unter anderem auch auf die Konflikte Friedrich Barbarossas mit den italienischen Städten einging.31 Sein Werk ist dem Bemühen gewidmet, die Städteverfassung als Garanten republikanischer Freiheit zu verstehen und zu fragen, wie sich römische und germanische Traditionen im mittelalterlichen Städtewesen verbanden. Somit ist Hegel weitaus weniger als Luden einem nationalpolitischen Ziel verpflichtet. Beide Historiker teilen hingegen ihre Vorliebe für eine konstitutionelle Monarchie. Wie bewertet Hegel aus dieser Perspektive die Konflikte italienischer Städte mit Kaiser Friedrich I.? Zunächst fällt auf, dass in Hegels Darstellung die nationalistischen Untertöne beinahe vollständig fehlen. Er kann zwar die Herrschaft der kaiserlichen Repräsentanten über die Lombardei nach der Zerstörung Mailands als Gewaltherrschaft schildern, verzichtet aber auf jede Anspielung, es habe sich um eine Fremdherrschaft gehandelt.32 Nur sehr indirekt klingt das Motiv nationaler Gegensätze an, wenn Hegel den Sieg des lombardischen Städtebundes über das kaiserliche Heer bei Legnano mit dem Sieg über Napoleon in der Völkerschlacht von Leipzig vergleicht.33 Dieser kurze Satz ist zugleich die einzige Stelle, an der Hegel explizit das Hochmittelalter mit den Verhältnissen seiner Zeit in Beziehung stellt. Ansonsten liegen die Aktualitätsbezüge seiner Erörterung in der Wahl der Analysekategorien. Grundsätzlich geht Hegel ähnlich wie Luden von einer Entwicklungsgeschichte aus, die von fortschrittlichen Kräften wie dem städtischen Bürgertum getragen worden sein soll. Das Eingreifen Barbarossas in Italien charakterisiert Hegel folgerichtig als aussichtslosen Versuch, die gewandelten Verhältnisse unter eine ältere Form der Kaiserherrschaft zu zwingen. Dazu habe, so Hegel, Barbarossa vor allem mit dem Begriff der Regalien operiert. Vom reinen Rechtsstandpunkt aus habe man durchaus unter Rekurs aufs römische Recht mit diesen Regalien argumentieren können, um die Ansprüche des Kaisers zu begründen.34 Allerdings habe sich die praktische Umsetzung dieses Rechtsstandpunkts als anachronistischer Versuch erwiesen, ohne jede Rücksicht auf Billigkeit oder auf die gewandelten Umstände die neue städtische Freiheit zu unterdrücken. Barbarossa habe zwar versucht, sich gegenüber den Städten mit 31 Hegel, Carl: Geschichte der Städteverfassung von Italien seit der Zeit der römischen Herrschaft bis zum Ausgang des zwölften Jahrhunderts, 2 Bde., Leipzig 1847. 32 Ebd., Bd. 2, S. 234–236. 33 Ebd., S. 237. 34 Ebd., S. 232 f.

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Gewalt und Schrecken durchzusetzen – auch Hegel verweist auf das Schaudern, das die Berichte über Barbarossas Gewalttaten auslösten.35 Letztlich sei er aber gezwungen gewesen, den italienischen Städten im Frieden von Konstanz die Reichsfreiheit zuzugestehen und sich mit einer nur scheinbaren Oberhoheit zu begnügen.36 In die Reihe der Autoren, die aus liberaler Perspektive die Auseinandersetzungen zwischen Friedrich Barbarossa und italienischen Städten als Scheitern der Chance schildern, ein aufblühendes Stadtbürgertum unter die wohlwollende Regierung eines zukunftsfähigen Kaisertums zu stellen, ist auch noch der Rechtshistoriker Moritz August von Bethmann-Hollweg zu stellen. Als Nebenprodukt seiner Untersuchungen zur Geschichte des Zivilprozesses verfasste er in Auseinandersetzung mit den Ausführungen seines Lehrers Friedrich Carl von Savigny zur vermeintlichen Kontinuität der römischen Munizipalverfassung in den mittelalterlichen Stadtkommunen Italiens eine Studie, die eigentlich dem „Ursprung der Lombardischen Städtefreiheit“ nachging.37 Bethmann-Hollweg, der neben seiner Tätigkeit als Universitätsprofessor zugleich auch zur Umgebung Friedrich Wilhelms IV. zählte, verortet die kommunale Autonomie im Hochmittelalter und kann deswegen im Paragraphen zum „Kampf der Städte mit der Reichsgewalt und Anerkennung ihrer Freiheit“ den Schlusspunkt seiner „historische[n] Untersuchung“ setzen.38 Die Ausgangs­lage vor der Konfrontation zwischen den italienischen Städten und Friedrich Barbarossa bewertet er wie folgt: Die Städte hätten aufgrund ihres Reichtums vermocht, den Bischöfen die Reichsrechte zu entreißen, und hätten zugleich „auch den weltlichen hohen Adel, der ohnedieß mehr auf das Interesse des eigenen Geschlechts als das des Kaisers bedacht war, zurückgedrängt, ja unterjocht.“39 Unter diesen Umständen habe sich Friedrich Barbarossa zwar auf älteres Recht berufen können, um die entfremdeten Rechte des Reichs zurückzufordern – 35 Ebd., S. 233–237. 36 Ebd., S. 237–240. 37 Bethmann-Hollweg, Moritz August von: Ursprung der Lombardischen Städtefreiheit. Eine geschichtliche Untersuchung, Bonn 1846. Zu ihm Kaiser, Jochen-Christoph: Moritz August von Bethmann-Hollweg (1795–1877). Grandseigneur – Gelehrter – Christ, in: H ­ äusler, Michael/Kampmann, Jürgen (Hg.): Protestantismus in Preußen. Lebensbilder aus seiner Geschichte  3. Von der Mitte des 19.  Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, Frankfurt a. M. 2013, S. 23–50. 38 Bethmann-Hollweg: Ursprung (wie Anm. 37), S. 168–175. 39 Ebd., S. 170.

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faktisch sei es aber „unmöglich“ gewesen, „den früheren Zustand wiederher[zu] stellen, die Kronvasallen, Bischöffe und Fürsten, wieder in ihre Rechte ein[zu] setzen und, wie in Deutschland, durch sie die Reichsregierung [zu] versehen“.40 Dennoch habe Friedrich versucht, unter Missachtung der gewordenen Verhältnisse die Reichsrechte erneut für sich zu beanspruchen. Das sei zwar „vom juristischen Standpunkt“41 richtig, aber nicht durchsetzbar gewesen. Die Fehler Barbarossas hätten die folgenden Konflikte heraufbeschworen: „So entspann sich an dem Widerstande von Mailand ein neuer Kampf, der zwar mit seiner völligen Besiegung und Zerstörung endigte. Allein die Willkühr, mit der der Kaiser nun das mit den Waffen behauptete Recht übte, […] weckte erst die ganze Kraft der Lombarden und vereinigte sie zu dem großen Bund, dem der Kaiser, zugleich von dem Pabste bekämpft und von mächtigen Vasallen verlassen, endlich erlag.“42 In seinem Resümee entwirft Bethmann-Hollweg das idyllische Bild der Chancen, die der Staufer in Italien nicht ergriffen hat: Die „Freiheit“ der lombardischen Städte „beruhte auf einer Umwälzung des ganzen geselligen Zustandes, der sich in den letzten zweihundert Jahren vor Friedrich I. sehr allmählich ereignete, und hatte somit das ‚Recht des Werdenden‘ für sich. – Wohl dem jungen Heldenkaiser, wenn er über eigensüchtige Herrschlust und die feudalistische Zeitansicht sich zu erheben vermocht und einen schönern Ruhm als den siegreicher Schlachten und erstürmter Festen gesucht hätte. Als ein Glück hätte er es gepriesen, daß die Lombardei ohne Zuthun ihrer Beherrscher, wie denn Menschenhand dergleichen nicht zu schaffen vermag, aus der Verwüstung früherer Jahrhunderte zur herrlichsten Landschaft mit volkreichen Städten, blühendem Handel und Gewerbe, und freiheitliebenden Bürgerschaften umgewandelt war. Als seinen Beruf hätte er es erkannt, die mächtig aufstrebenden und unter sich streitenden Kräfte noch reicher zu entfalten und zur Einheit zu führen. Vielleicht wäre es ihm gelungen, mit Überwindung des unruhigen und partheisüchtigen Geistes der Italiäner dieß Ziel zu erreichen. […] auch für Deutschland, dem es bestimmt war, durch die Romanischen Länder für höhere Cultur angeregt zu werden, hätte dieß ein Segen werden müssen, während so das Hohenstaufische Geschlecht über dem Bestreben seine Hausmacht in Italien zu gründen, den eigenen Untergang fand, und mit der 40 Ebd., S. 170 f. 41 Ebd., S. 172. 42 Ebd., S. 173.

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Vernichtung der königlichen Macht in Deutschland das Reich seinem Zerfall entgegenführte.“43

II. Zwischen Revolution und Reichsgründung: Barbarossa und der Streit um die mittelalterliche Italienpolitik Während der Revolution von 1848/49 scheiterte das Bemühen um die Gründung eines deutschen Nationalstaats. Die Hoffnungen, der preußische König Friedrich Wilhelm IV. könnte die Kaiserkrone entgegennehmen und zum Oberhaupt einer konstitutionellen Monarchie werden, hatten sich zerschlagen. Deswegen setzte sich auch nach der Revolution die politische Debatte um die Gründung und Ausgestaltung eines neuen deutschen Staats fort. Sie erhielt vor allem dadurch eine neue Dynamik, dass der preußische Reichskanzler Otto von Bismarck eine Politik verfolgte, die auf eine Zurückdrängung liberaler Positionen sowie auf einen Ausschluss des habsburgischen Österreich hinauslief. Dieser Wandel prägte auch die Kategorien, mit denen über Friedrich Barbarossas Wirken in Italien geurteilt wurde. Dominierten im Vormärz Fragen der Beteiligung von Adel und Bürgertum an der Reichsregierung bzw. der politischen Verbindung zwischen Monarch und Stadtbürgern, traten nun nationalgeschichtliche Bewertungen in einem ganz anderen Maße in den Vordergrund. Darin spiegelte sich das Dilemma, vor das die Politik Bismarcks den deutschen Liberalismus stellte – entweder mit Bismarck eine autoritäre Reichseinigung auf Kosten liberaler Partizipationsideale zu fördern oder aber sich in der Verteidigung eigener Freiheitsideale vom Mainstream der Nationalbewegung zu distanzieren. Das Scheitern der Revolution von 1848/49 wird seinen Teil dazu beigetragen haben, die Hoffnungen auf einen stark parlamentarisch und partizipatorisch geprägten deutschen Nationalstaat zu schwächen. Die Kategorie des Nationalen, die ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ins Zentrum der Bewertung der italienischen Initiativen Friedrich Barbarossas gerückt wurde, besaß aber bereits eine Tradition aus dem Vormärz. Heinrich Luden ist schon zitiert worden, der in der Herrschaft des Staufers über das regnum Italiae die Beherrschung eines fremden Volks sah. Auch zwei zentrale Initiativen, die bis in die Gegenwart hinein fortgeführt werden und die seit der Mitte des 19. Jahr43 Ebd., S. 174 f.

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hunderts zu einem Kristallisationspunkt wissenschaftlicher Mittelalterforschung werden sollten, rekurrierten in je eigenwilliger Weise auf die Nation als zentralem Orientierungsmal ihrer Aktivitäten. Unter Initiative des Freiherrn vom Stein wurde 1819 die „Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde begründet“, deren zentrale Aufgabe die Edition der mittelalterlichen Quellen zur vaterländischen Geschichte werden sollte, der Monumenta Germaniae Historica (= MGH). Bis auf den heutigen Tag verkündet ihr Logo, dass die heilige Liebe zum Vaterland diesem Unterfangen den rechten Geist verleihe.44 In Kontakt, aber zugleich auch bewusst gewahrter Distanz zu den MGH entwickelte der Frankfurter Privatgelehrte Johann Friedrich Böhmer (1795–1863) seine Methode, die Urkunden mittelalterlicher Herrscher auf ihren vermeintlich zentralen rechtlichen Gehalt hin auszuwerten und in chronologischer Reihenfolge in der Form sogenannter Regesten zusammenzustellen. Auch bei ihm stand hinter dieser Arbeit der Wunsch, die Größe und Macht des mittelalterlichen Kaiserreichs in Erinnerung zu rufen und durch seine wissenschaftliche Erforschung den Belangen der Gegenwart zu dienen.45 Bei Böhmer verband sich diese Orientierung aber mit einer kontinuierlichen Hochachtung des Alten Reichs bis zu seiner Auflösung im Jahr 1806, die er später als Kindheitserinnerung thematisierte. Die Verantwortung für dieses epochale Ereignis schrieb er dem Ausscheiden Preußens aus der antifranzösischen Allianz zu, das 1795 zum Seperatfrieden von Basel führte. Böhmer leitete aus diesem pragmatischen Strategiewechsel Preußens im Dienste einer Vergrößerung seiner eigenen Machtpositionen auf Kosten anderer deutscher Mächte ein lebenslanges Misstrauen ab, das er auch auf die von Berlin aus organisierte Verbundforschung der MGH übertrug: „Ich mag mit den Berlinern nichts zu schaffen haben, ja ich bin ganz unfähig dazu. Es macht mir das unheimlichste Gefühl, daß man sich dort mit deutscher Geschichte beschäftigt. An wen will man sie verraten? Etwa die Kirche an den Staat, den Glauben an die Hegelianer und Juden, das Vaterland an die Russen?“46 Sein Programm war fundamental gegenwartsorientiert: Geschich44 Fuhrmann, Horst: Sind eben alles Menschen gewesen. Gelehrtenleben im 19. und 20. Jahrhundert, dargestellt am Beispiel der Monumenta Germaniae Historica und ihrer Mitarbeiter, München 1996. 45 Im Anschluss folge ich Staubach, Nikolaus: Geschichte als „persönliche Angelegenheit“. Böhmer, Schopenhauer, Droysen und die Genese einer Historik des kollektiven Selbstbewusstseins, in: Frühmittelalterliche Studien 30 (1996), S. 396–418, zu Böhmer S. 402–410. 46 Ebd., S. 407.

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te stelle die Erinnerung und damit die Identität kollektiver Subjekte sicher, allen voran der Völker, die sich in der Nationalgeschichte selbst erkennen könnten. Daraus leitete sich für Böhmer aber kein absoluter Primat des Staates ab, vielmehr sah er in Staaten das Risiko, die Freiräume für Völker oder auch für andere Korporationen durch Repression zu unterdrücken. Deswegen konnte er als Protestant zum Beispiel der Kirche des Mittelalters eine hohe Wertschätzung entgegenbringen, während er den Kampf Friedrichs II. gegen das Papsttum für die entscheidende Wende zum Schlechten der mittelalterlichen Kaisergeschichte sah.47 Auch die Fürsten des mittelalterlichen Reichs sah er extrem kritisch, wenn er ihnen im Zusammenhang mit Königswahlen „kindischen wankelmuth, […] kurzsichtige selbstsucht und rohe käuflichkeit [sowie] mangel an gemeinsinn, ia ich möchte fast sagen an ehre“ attestiert.48 Die Verwicklung des mittelalterlichen Kaisertums in die Geschicke Italiens hält Böhmer für verhängnisvoll für die deutsche Geschichte: „Entscheidend für die verhängnisse Deutschlands war das verhältniss zu Italien.“49 Der Kaisertitel habe die deutschen Herrscher zwangsläufig in Konflikte mit dem Papsttum getrieben und Kriegszüge verursacht, der zahlreiche Protagonisten zum Opfer gefallen seien. Zugleich sei es unmöglich gewesen, mehr als sporadisch über Italien zu herrschen: „Für Italien mag die deutsche herrschaft iezuweilen eine ordnende kraft gehabt haben, und wurde daher auch von patrioten oder partheien, wenn die innere verwirrung ihnen unerträglich wurde, gewünscht. Allein im ganzen genommen vermochte sie nichts zu gründen und zu bauen, denn sie war bei der räumlichen entlegenheit keine regelmässig, sondern eine nur stossweise und also gewaltsam einwirkende. […] Wenn wir lange uns daran gewöhnt haben, mit dem namen der Staufer den begriff von glanz und grösse zu verbinden, wäre es wohl nöthig auch einmal die schattenseite ihres waltens zu betrachten. Da finden wir denn neben gewaltsamem charakter der personen, fast durchgehends feindseligkeit gegen die kirche und hinstreben nach Italien in solchem masse, dass es schwer zu sagen welche von beiden richtungen dem deutschen vaterland tiefere wunden geschla-

47 Programmatisch legt Böhmer seine Bewertung der Stauferzeit in der Einleitung zu den Regesten der späten Stauferzeit dar: Böhmer, Johann Friedrich: Die Regesten des Kaiserreichs unter Philipp, Otto IV, Friedrich II, Heinrich (VII) und Conrad IV. 1198–1254, Stuttgart 1849, S. III–LXVII. 48 Ebd., S. V. 49 Ebd., S. VI.

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gen hat.“50 Dieses Verdikt trifft namentlich Friedrich Barbarossa, dessen lange Aufenthalte in Italien zu nichts mehr geführt hätten als dazu, dass er im Frieden von Konstanz „die hoheitsrechte zwischen dem reich und den tapfern bürgern der lombardischen städte theilte.“ Der Tod während des übrigens von Barbarossa selbst mangelhaft vorbereiteten Kreuzzugs „hat sein leben auch rückwärts mit der glorie umgeben, die sein ende bestrahlt“.51 In diesem 1849 publizierten Urteil über die verfehlte Politik der Staufer finden sich bereits Kritikpunkte, die in den folgenden Jahrzehnten die öffentliche und auch wissenschaftliche Debatte beherrschen und die namentlich in ihrer Zuspitzung durch Heinrich von Sybel und Julius von Ficker große Prominenz erlangen sollten. Sie standen aber nicht alleine da. So fasste der Historiker und Politiker Johann Gustav Droysen (1808–1884) „in sinkenden Zeiten“ (Bd. 1, S. III) den Beschluss, seine „Geschichte der preußischen Politik“ zu verfassen, die von 1855 bis 1886 erschien.52 Sie beginnt mit einer Darstellung der Anfänge der Hohenzollern, die in die Kontinuität der Staufer gestellt werden, in deren Umgebung sie zuerst belegt sind. Somit konstruiert Droysen das preußische Königshaus als Träger eines ghibellinischen Gedankens, nach dem sich das Volk seit der Zeit der Staufer gesehnt habe. Preußens historische Sendung habe vor allem darin bestanden, sich für die deutsche Einheit verantwortlich zu wissen. Und darin erfüllten die Hohenzollern die Hoffnungen auf „höchste nationale Machtentfaltung, das mahnende Bild dessen, was erstrebt sein will“, die in der Erinnerung mit dem Namen der Hohenstaufen verbunden sei.53 Allerdings sei die Stauferzeit bereits eine Phase des Niedergangs des Kaisertums gewesen.54 Seine universalen Ansprüche, die sich im Reich Karls des Großen manifestiert hätten, hätten dem natürlichen Recht der verschiedenen Völker auf eine eigenständige Entwicklung weichen müssen. Die Herausforderung habe darin bestanden, auch dem Kaiserreich eine deutsche, nationale Gestalt zu verleihen. Allerdings sei Deutschland wegen des Kaisertitels zugleich auch mit der 50 Ebd., S. VI f. 51 Beide Zitate ebd., S. VIII. 52 Droysen: Geschichte (wie Anm. 12); vgl. neben Hardtwig: Aufgabe (wie Anm. 12), Nippel, Wilfried: Johann Gustav Droysen. Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik, München 2008; dazu kritisch Welskopp, Thomas: Der „echte Historiker“ als „richtiger Kerl“. Neue Veröffentlichungen (nicht nur) zum 200. Geburtstag von Johann Gustav Droysen, in: Historische Zeitschrift 288 (2009), S. 385–407. 53 Droysen: Geschichte (wie Anm. 12), S. 5. 54 Ebd., S. 5–18.

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Herrschaft über Italien befasst gewesen, obwohl gerade dort „der nationale Gegensatz am frühesten lebendig, am stärksten empfunden, in immer neuer Gestalt thätig [war]“.55 In der Darstellung Droysens erscheint es beinahe tragisch, dass die Staufer einerseits Deutschland weitgehend preisgaben und der Anarchie überließen, um ihre Macht in Italien zu behaupten. Andererseits sei diese Herrschaft auch südlich der Alpen unerlässlich gewesen, um Deutschlands Vorrang in Europa zu behaupten. Im Kontrast zum problematischen Engagement in Italien betont auch Droysen die zukunftsweisenden Potenziale der ökonomischen und politischen Erschließung des Ostseeraums durch deutsche Kaufleute, deutsche Siedler und deutsche Ritter. Zugleich erscheint die Stauferzeit als Phase, in der die alten Ideen einer kaiserlichen Zentralherrschaft in Spannung zur Macht der Fürsten sowie dem Aufstieg des Rittertums und der Stadtbürger gestanden hätte. Somit hätten die Staufer einerseits in einem prekären Gleichgewicht zwischen absterbenden und aufstrebenden Kräften gestanden, aber andererseits mit ihren Kriegen in Italien zum Zerfall der deutschen Kaisermacht maßgeblich beigetragen und die kleinräumige Zersplitterung Deutschlands befördert. Vor dem Hintergrund dieses Diskussionsstands bekommt die Kontroverse zwischen Sybel und Ficker ihr eigentliches Profil.56 Ihr unmittelbarer Anlass kann auf verschiedenen Ebenen gesucht werden. Zunächst einmal standen tagespolitische Fragen zur Debatte. Dabei ging es nicht nur allgemein um die Frage nach der Rolle Österreichs und Preußens im erhofften neuen deutschen Nationalstaat. Das Jahr 1859, in dem Sybel seine Auffassungen zum mittelalterlichen Kaisertum pointiert vortrug, sah heftige Debatten um den Krieg Österreichs gegen Frankreich und das Königshaus Savoyen, der für die Habsburger zum Verlust der Herrschaft über die Lombardei und die Toskana führte. Nicht zuletzt in Bayern, wo der Münchener Professor wirkte und seine Vorstellungen anlässlich seiner Festrede zum Geburtstag König Maximilians II. vortrug, wurde erbittert debattiert, ob der österreichische Kampf in Norditalien Unterstützung verdiente oder ob sich die Deutschen aus patriotischem Interesse heraus nicht an 55 Ebd., S. 7. 56 Vgl. neben der oben, Anm. 11, genannten Literatur auch Brechenmacher, Thomas: Wie viel Gegenwart verträgt historisches Urteilen? Die Kontroverse zwischen Heinrich von Sybel und Julius Ficker über die Bewertung der Kaiserpolitik des Mittelalters (1859–1862), in: Elvert, Jürgen/Krauss, Susanne (Hg.): Historische Debatten und Kontroversen im 19. und 20. Jahrhundert. Jubiläumstagung der Ranke-Gesellschaft in Essen, 2001 (Historische Mitteilungen. Beihefte 46) Stuttgart 2003, S. 35–54.

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diesem Krieg beteiligen sollten. Zugleich setzte Sybel sich mit der gerade im Erscheinen begriffenen „Geschichte der deutschen Kaiserzeit“ Wilhelm von Giesebrechts auseinander.57 Giesebrecht verfolgte in ihr das Programm, die Erinnerung an die Machtstellung der deutschen Kaiser des Mittelalters als leuchtendes Vorbild in Erinnerung zu rufen, um dadurch die Deutschen für das Bemühen um einen machtvollen Nationalstaat zu motivieren. In scharfem Gegensatz dazu unterstellte Sybel, das mittelalterliche Kaisertum habe von seiner Begründung unter Karl dem Großen an die nationalen Interessen der Deutschen gefährdet und bekämpft.58 Im Gegensatz dazu sieht er im deutschen Königtum Heinrichs I. das Ideal einer nationalen Politik verwirklicht. Auf dieser Grundlage hätte Otto I. die deutschen Interessen im Osten verfolgen sollen, statt sich auf den Kaisertitel und damit zugleich auch wieder auf Italien zu fokussieren – wo sich bereits Ansätze zu einem vielversprechenden Nationalkönigtum gezeigt hätten. In der Linie dieser Argumentation erscheinen die Kriege Friedrich Barbarossas in Italien als Fortsetzung einer verhängnisvollen Fehlentwicklung, während der Widerstand Heinrichs des Löwen gegen den Staufer die nationalen Interessen wieder zur Geltung gebracht hätte: „Widerwillig folgte die [deutsche] Nation den Geboten ihrer Herrscher zu den mörderischen Romfahrten – bis sie sich endlich unter den Hohenstaufen nach dem entscheidenden Vorgang Herzogs Heinrich des Löwen mit voller Energie davon losriß, um ihre Kräfte ungestört auf ihre großen Gründungen in Österreich, Böhmen, Schlesien, Brandenburg, Preußen zu wenden.“59 Erneut erscheint die politische Expansion im Osten des Reichs als zukunftsträchtige Alternative zu den Auseinandersetzungen in Italien. Gegen dieses ebenso knappe wie pointierte Urteil argumentierte Ficker in langen Ausführungen, in denen er die Größe des Kaiserreichs und seine Bedeutung für die nationale Geschichte verteidigte.60 Das Ende der Regierungszeit Barbarossas mit den Friedensschlüssen von Venedig und Konstanz sowie der Unterwerfung Heinrichs des Löwen zeigt nach Ficker das Bild eines Kaiserreichs mit klar gezogenen Grenzen und einer inneren Balance. Erst die Expan57 Zu Giesebrecht siehe unten bei Anm. 77–80 sowie den Beitrag von Jochen Johrendt in diesem Band. 58 Hier und im Anschluss Sybel: Darstellungen (wie Anm. 11). 59 Ebd., S. 15. 60 Ficker, Julius: Das Deutsche Kaiserreich in seinen universalen und nationalen Beziehungen. Vorlesungen gehalten im Ferdinandeum zu Innsbruck, in: Schneider: Universalstaat (wie Anm. 11), S. 19–158 [zuerst 1861].

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sion nach Sizilien durch Heinrich VI. habe die Kräfte des mittelalterlichen deutschen Kaiserreichs überdehnt und seinen Sturz herbeigeführt.61 Aus dieser Perspektive, die Ficker 1861 vortrug, erscheint Friedrich Barbarossa als der letzte Kaiser, der sich in heroischen Kämpfen gegen die grundsätzlichen Herausforderungen erfolgreich zur Wehr setzte, die die Größe des mittelalterlichen deutschen Kaisertums zu vernichten drohten. Zugleich kritisiert Ficker es aber auch als „Mißgriff eines einzelnen Herrschers und deutschen Anschauungen am wenigsten entsprechend, wenn Friedrich I. die städtische Entwicklung, wie sie sich aus den gegebenen Verhältnissen naturwüchsig entwickelt hatte, nicht bloß regeln und von Ausschreitungen abhalten, sondern in längstverlassene Bahnen zurückdrängen wollte […]; mit dem Frieden von Konstanz war wieder eine ersprießliche Vermittlung der Interessen erreicht“.62 Die Kontroverse zwischen dem protestantischen preußischen und dem katholischen westfälischen Historiker ist in unübersehbarer Weise tagespolitisch geprägt. Das betraf die kurzfristige Frage nach dem Eingreifen deutscher Kräfte in den Krieg, den die Habsburger auf italienischem Boden ausfochten. Das betraf erst recht die Frage nach der Rolle Preußens und Habsburgs in einem neu zu schaffenden Kaiserreich, nach der kleindeutschen oder großdeutschen Lösung der deutschen Frage. Und als solch politische Debatte ist sie auch von den Beteiligten wie den Zeitgenossen wahrgenommen worden. Sybel hat zum Beispiel seine Positionen als Historiker auch im Parlament, im Preußischen Abgeordnetenhaus, ebenso prominent wie polemisch vertreten. So hat er am 5. September 1862 auf Angriffe von Abgeordneten, die seine historischen Arbeiten betrafen, reagiert, indem er seinerseits mit einem seiner Kontrahenten abrechnete, dem gebürtigen Ostfriesen und in Diensten des Königs von Hannover stehenden Onno Klopp. Dieser hatte neben Sybels Arbeiten auch die eben referierten Thesen Droysens zur deutschen Sendung der Hohenzollern einer beißenden Kritik unterworfen: „Zum Wesen und Bestande des Staates Preußen […] gehört sein Beruf für das ganze Deutschland, dessen Theile er fort und fort sich angegliedert hat. […] In anderen Lebenssphären, wo man auf diplomatischen Euphemismus keinen Anspruch macht, pflegt man dieses ‚Angliedern‘ fremden Eigen­thumes mit anderen Namen zu bezeichnen.“ Ähnlich beißend 61 Ebd., S. 96–110, die Ausführungen zum Niedergang nicht bereits unter Friedrich I., sondern erst unter seinem Sohn Heinrich VI. aufgrund der unio regni ad imperium. 62 Ebd., S. 98 und 84 (Zitat).

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hatte Klopp auch Sybels Ausführungen zur Geschichte Preußens kritisiert, was Letzterem im Parlament vorgehalten wurde – die Reaktion Sybels auf diese Angriffe wurde als skandalös wahrgenommen.63 Im Gegensatz zur engagierten Parteinahme Sybels für Preußen und ein kleindeutsches Reich beanspruchten Klopp und auch Ficker für sich einen überkonfessionellen und überparteilichen Anspruch. Dennoch griffen sie die politische Polemik der Gegenseite auf und bemühten sich, mit gleicher Münze heimzuzahlen. So schaltet Ficker seinen monumentalen „Forschungen zur Reichs- und Rechtsgeschichte Italiens“, deren vier Bände in den Jahren 1868–1874 erschienen, ein ausführliches Vorwort vor, in dem er sich nicht nur mit wissenschaftlichen Kontroversen auseinandersetzt, sondern noch einmal die Abrechnung mit seinem „Gegner“ sucht. Hier stellt er in suggestiver Weise der aus politischen Absichten Sybels resultierenden „lockende[n] Lehre von der Verarbeitung der Geschichte nach politischen und sittlichen Prinzipien die Unbefangenheit der Forschung“ gegenüber.64 Die Schärfe der Polemik führt Ficker explizit darauf zurück, dass Sybel ihn auch persönlich der Unaufrichtigkeit geziehen und dabei jede Form vergessen habe: „Wenn es dem Gegner weiter beliebte, meine Behauptungen in einer von wegwerfender Geringschätzung und Grobheit strotzenden Form zu bekämpfen, welche nur noch übertroffen wurde durch die bekannte ‚lumpige‘ Bemerkung in der Sitzung des preussischen Abgeordnetenhauses vom 5. September 1862 […], so war mir das höchst gleichgültig; hat sich solcher Form des Angriffs jemand zu schämen, so ist es gewiss nicht der Angegriffene.“65 Vor dem Hintergrund dieser aufgeheizten Atmosphäre verwundert es nicht, wenn Ficker auch in die quellengesättigten Untersuchungen zur Rechtsgeschichte Italiens Passagen einbaut, die noch einmal seine Wertschätzung für das Wirken Friedrich Barbarossas auf der Apenninenhalbinsel unterstreichen. Ohne das explizit zu markieren, revidierte er zugleich unter der Hand sein früheres Urteil, Barbarossas Intention sei es gewesen, im italischen Reich gleichsam die Uhren zurückzudrehen. So bewertet er den Rückgriff des Staufers auf die Regalien, auf die „unver­ äusserlichen Rechte der Krone“, als adäquate Lösung für die Lage in Italien. 63 Auszüge aus dem Parlamentsprotokoll vom 5. September 1862 stehen am Anfang des Werkes von Klopp, Onno: Kleindeutsche Geschichtsbaumeister, Freiburg im Breisgau 1863, S. III f. Die zuvor zitierte Passage zu Droysen ebd., S. 61. 64 Ficker, Julius: Forschungen zur Reichs- und Rechtsgeschichte Italiens, 4 Bde., Innsbruck 1868–1874, das Zitat Bd. 1, 1868, S. XV f. 65 Ebd., S. XVI, unter Verweis auf das oben, Anm. 63, zitierte Vorwort Klopps.

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Denn vor dem Eingreifen Barbarossas hätten „unklare Verhältnisse“ geherrscht, die „notwendig geordnet werden“ mussten.66 Dabei sei es dem Kaiser nicht um eine „künstliche Restauration der früheren, durch die städtische Entwicklung thatsächlich beseitigten, auf feudaler Grundlage beruhenden staatsrechtlichen Verhältnisse“67 gegangen, sondern um die Etablierung einer neuen, tragfähigen, rechtlich fundierten Reichsordnung. An anderer Stelle schildert Ficker die Interventionen Barbarossas unter der Leitperspektive eines „Übergang[s] vom Feudalstaate zum Beamtenstaate“:68 „Als Ergebnis wird man doch festhalten dürfen, dass in Italien schon im zwölften Jahrhundert die feudale Auffassung des Staates wesentlich beseitigt ist. […] Das Kaiserthum [erstrebte] eine Verwaltung des Reichs durch vom Herrscher gesetzte Beamte. Und in einem sehr bedeutenden Theile des Reiches ist das gelungen. Es ist kaum denkbar, dass das ohne Rückwirkungen auf die deutschen Verhältnisse geblieben sein, dass nicht auch hier das Kaiserthum demselben Ziele zugestrebt haben sollte.“69 Schärfer hätte Ficker den Gegensatz zu Sybel kaum artikulieren können, dem er vorwarf, das Bild der „Jammergestalt des ersten Friedrich“ entworfen zu haben.70 Auch wenn Fickers „Forschungen zur Reichs- und Rechtsgeschichte Italiens“ meist nicht mehr in den Zusammenhang der Kontroverse ihres Verfassers mit Heinrich von Sybel gestellt werden, setzen sie in unübersehbarer Weise die Debatte über zentrale Streitpunkte fort, heben sie aber zugleich auf ein ganz neues fachliches und überlieferungsbezogenes Niveau. Damit war jede unmittelbare Wirkung auf eine eventuelle politische Öffentlichkeit verstellt, eröffnete sich aber dafür die Chance auf eine langfristige Wirksamkeit innerhalb der mediävistischen Forschung. Schon die Zeitgenossen haben neben der politischen Auseinandersetzung zugleich auch die wissenschaftstheoretische Seite des Sybel-Ficker-Streits wahrgenommen. Denn im Postulat Fickers, einen überparteilichen Standpunkt einzunehmen, spiegelt sich ein grundsätzlicher Vorbehalt gegen die unmittelbar politisch motivierte Beurteilung historischer Fragen. In dieser Hinsicht schloss sich Ficker an die abwägenden Urteile Raumers an, jedoch auf der Basis einer weitaus differenzierteren und breiteren Erschließung und Auswertung der Quel66 Ebd., S. 234. 67 Ebd. 68 Ebd., Bd. 2, 1869, S. 272. 69 Ebd., S. 284. 70 Ebd., Bd. 1 (1868), S. XV.

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len, insbesondere der Urkunden und anderer Rechtsquellen. Diese geschichtstheoretische Position war gut mit der Tradition einer dem Anspruch nach objektiven Darstellung der Geschichte vermittelbar, wie sie Leopold von Ranke vertreten hatte. Während der Ranke-Schüler Sybel sich grundsätzlich davon distanziert hatte, verwies sein Studienkollege Georg Waitz darauf, dass er trotz aller Unterschiede in der politischen Orientierung die Ideale historiographischer Neutralität teile, die Ficker vertrete: „Ich halte fest daran, […] daß unsere historische Wissenschaft von den Stimmungen und Wünschen der Gegenwart unbeirrt bleibe.“71

III. Barbarossa im Kaiserreich zwischen populärer Verklärung und Wissenschaft Die vielfältigen Wege, auf denen Friedrich Barbarossa während des wilhelminischen Kaiserreichs im populären Geschichtsbild wie in der wissenschaftlichen Forschung präsentiert wurde, lassen sich noch viel weniger auf einen Nenner bringen als für die Jahrzehnte zuvor. Barbarossa war ein zentraler Bestandteil der deutschen Geschichtskultur. Als Exponent des Herrschergeschlechts, mit dem die mittelalterliche Kaiserherrlichkeit vermeintlich ihr Ende fand, aber zugleich Herrscher während einer Phase des Aufblühens von Kunst und Literatur, wurde er in populären Geschichtswerken verherrlicht, etwa in Gustav Freytags „Bilder[n] aus der deutschen Vergangenheit“. Die erste Auflage von 1859 begann noch mit einem Kapitel zu den Hussitenkriegen, dem kurze Ausführungen zur „Germanisierung der Slawenländer im Osten“ während des Hochmittelalters vorangestellt waren.72 Die fünfte, vermehrte Auflage von 1867 beinhaltet dann bereits unter dem Eindruck der Ereignisse von 1866 einen breiten Rückblick aufs Mittelalter und Friedrich Barbarossa, wie der Verfasser im Vor71 Brechenmacher: Gegenwart (wie Anm. 56), S. 52 f., unter Verweis auf die Rezension der Streitschriften durch Georg Waitz in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen von 1862, S. 121–132, hier zitiert nach dem Wiederabdruck in Schneider: Universalstaat (wie Anm. 11), S. 261–268, hier S. 268. 72 Freytag, Gustav: Bilder aus der deutschen Vergangenheit 1, Leipzig 1859, das Zitat S. 1. Zu Freytag, dem habilitierten Historiker, der sich nach dem Scheitern seiner Bemühungen um eine Professur als Journalist und Schriftsteller eine brillante zweite Karriere erschloss, vgl. Nissen, Martin: Populäre Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert. Gustav Freytag und seine „Bilder aus der deutschen Vergangenheit“, in: Archiv für Kulturgeschichte 89 (2007), S. 395–425.

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wort erläutert: „Die Ereignisse des Jahrs haben das Buch aufgehalten. In dieser Zeit wurde uns das Glück, zu erleben, was die Beschäftigung mit deutscher Vergangenheit zu einer sehr frohen Arbeit macht. Seit dem Staufen Friedrich I. haben neunzehn Generationen unserer Ahnen den Segen eines großen und machtvollen deutschen Reiches entbehrt, im zwanzigsten Menschenalter gewinnen die Deutschen durch Preußen und die Siege der Hohenzollern zurück, was vielen so fremd geworden ist wie Völkerwanderung und Kreuzzüge: ihren Staat.“73 Diese Fassung wurde dann im Kaiserreich immer wieder neu aufgelegt, bis 1911 bereits die dreißigste Auflage erschien. In ihr wird die Zeit Barbarossas als eine Art ‚Herbst der Kaiserzeit‘ präsentiert, geprägt von der „niedersinkenden Macht des Reiches“.74 Obwohl Barbarossa von Freytag zu einem Überhelden stilisiert wird, bewegt er sich doch in seiner Schilderung im Rahmen der verderblichen „Idee der römischen Universalmonarchie.“ „Gerade durch die Hohenstaufen wurde deutlich, daß der stärkste Menschenwille das Verhängnis des Reiches nicht mehr aufzuhalten vermochte.“75 Folglich haftet in der Darstellung ­Freytags auch den Siegen Barbarossas über die Bürger lombardischer Städte, die „hinter den Stadtmauern einen zähen, heervernichtenden Widerstand“ geleistet hätten, etwas Tragisches an.76 Ähnlich populär, wenn auch weitaus ausführlicher und als explizit wissen­ schaftlich fundierte Darstellung geschrieben, wurden Wilhelm von Giesebrechts Bände zur „Geschichte der deutschen Kaiserzeit“, die ebenso wie der erste Band von Freytags „Geschichtsbildern“ mit dem Tod Friedrichs I. endeten.77 Giesebrecht schrieb über mehrere Jahrzehnte an seinem ebenso monumentalen wie weit verbreiteten Werk. Sybel hatte bereits 1859 mit seiner Invektive auf das Erscheinen der ersten beiden Bände reagiert, die mit dem Tod Heinrichs III. 1056 endeten. Es entbehrt nicht der wissenschaftshistorischen Ironie, dass nach dem Wechsel Sybels auf eine Professur an der preußischen Universität in Bonn 73 Freytag, Gustav: Bilder aus der deutschen Vergangenheit. Fünfte vermehrte Auflage 1: Aus dem Mittelalter, Leipzig 1867, im unpaginierten Vorwort. 74 Ebd., S. 513. 75 Beide Zitate ebd., S. 509. 76 Ebd., S. 512. 77 Giesebrecht, Wilhelm von: Geschichte der deutschen Kaiserzeit, 6 Bde., Braunschweig 1855–1895. Zu ihm vgl. Schieffer, Rudolf: Wilhelm von Giesebrecht (1814–1889), in: Weigand, Katharina (Hg): Münchner Historiker zwischen Politik und Wissenschaft. 150 Jahre Historisches Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität (Beiträge zur Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München 5) München 2010, S. 119–136.

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ausgerechnet der von ihm Gescholtene in München auf seine Nachfolge berufen wurde. Die sehr ausführlichen Bände 4–6, in denen Giesebrecht sich mit den Staufern befasste, erschienen erst nach der Reichsgründung ab 1877 und fanden rasch eine ähnlich weite Verbreitung wie Freytags weitaus leichter lesbares Werk. Giesebrechts Darstellung kann durchaus als indirekte Reaktion auf die Kontroversen um die mittelalterliche Kaiserpolitik gelten. Und in der Tat ist er unter anderem sichtlich darum bemüht, Friedrich Barbarossa ins rechte Licht zu rücken. Die Kriege gegen Mailand und andere Städte deutet Giesebrecht als notwendige Schritte im Rahmen einer weit ausgreifenden Strategie zur Festigung der kaiserlichen Macht. Verbunden mit einer starken Herrschaft in Deutschland sollte der Zugriff auf die Ressourcen der italienischen Städte es Barbarossa ermöglichen, den Suprematieansprüchen des Papsttums Widerstand zu leisten und ein starkes Reich im Herzen Europas zu sichern.78 Die Beschlüsse von Roncaglia deutet Giesebrecht als Maßnahmen zur Begründung einer neuen Ordnung, die die verheerenden Auseinandersetzungen zwischen den norditalienischen Städten beenden konnte. Dass diese kaiserliche Ordnung von repressivem Charakter war, stellte Giesebrecht nicht in Abrede, aber er sah darin ein Zurückschneiden allzu stark wuchernder Freiheit, die für die Italiener zum Verhängnis geworden war.79 Folgerichtig zieht er für den Moment der Unterwerfung des regnum Italiae eine durchweg positive Bilanz, der Kaiser habe seine Herrschaft wieder aufgerichtet und eine neue Ordnung nicht nur erlassen, sondern auch durchgesetzt. Im Zuge seiner positiveren Bewertung der italienischen Kriege spricht er im Gegensatz zu Sybel und anderen Heinrich dem Löwen patriotische Motive ab, dem Herrscher in Chiavenna die Unterstützung zu verweigern. Der Welfe habe aus egoistischen Motiven heraus die Hilfeleistung unterlassen, um seine Kräfte für die eigenen Ziele in Norddeutschland und Bayern einsetzen zu können.80 Nimmt man die Bewertungen Freytags und Giesebrechts zusammen als Ausdruck eines Geschichtsbewusstseins im wilhelminischen Kaiserreich, zeigen sich erneut unübersehbare Spannungen und Widersprüche. Einig sind sich allerdings beide darin, dass Friedrich Barbarossa zwar wichtig war, dass seine Regierung 78 Von Giesebrecht: Geschichte (wie Anm. 77), Bd. 5: Die Zeit Kaiser Friedrichs des Rothbarts, Erste Abtheilung: Neuer Aufschwung des Kaiserthums unter Friedrich I. (1880), zusammenfassend S. 415–421. 79 Ebd., S. 173–216. 80 Ebd., S. 779–782.

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aber bereits in eine Spätphase des mittelalterlichen Kaiserreichs fiel, in der es seinen Niedergang erlebte. In der breiten und vielfältigen, aber auch inhomogenen Fortentwicklung der Barbarossabilder nach der Reichsgründung von 1871 lassen sich drei Tendenzen ausmachen, die im Anschluss wenigstens in groben Umrissen skizziert werden sollen: 1. Barbarossa wurde zum unverzichtbaren Bestandteil eines populären Bildes von mittelalterlicher Kaiserherrlichkeit, die in historisch zunehmend diffuser Weise als bedeutungsvolle Vergangenheit inszeniert wurde. 2. Die mediävistische Fachdiskussion koppelte sich von tagespolitischen Debatten ab und war um eine zunehmend distanziertere, vor allem die Quellengrundlage penibel erschließende Arbeitsweise bemüht. 3. Die quellenpositivistische Detailarbeit geriet unter den Verdacht eines irrelevanten, für die soziale Praxis wertlosen Historismus. 1. Die Darstellungen der mittelalterlichen Geschichte von Gustav Freytag oder auch Wilhelm von Giesebrecht stellen nur zwei von zahllosen Beispielen für eine immense Popularität des Mittelalters im wilhelminischen Kaiserreich dar. Dazu trugen Gedichte oder Oratorien ebenso bei wie Bildwerke oder historische Feste.81 Felix Dahn feierte in seinem lateinisch-deutschen Gedicht „Heil dem Kaiser“ Wilhelm I. als ‚Barbablanca‘, Retter Deutschlands und Triumphator im Krieg der Jahre 1870/71 gegen Frankreich, als neuen Barbarossa.82 Fast schon skurril erscheint es, wenn auf einer Carte de visite, die Wilhelm von Bismarck seinem Vater geschickt hat, gezeigt wird, wie Friedrich Barbarossa das spärlich behaarte Haupt des deutschen Reichskanzlers mit seinem Bart bedeckt und dazu der Sinnspruch erscheint: „Ich will mit meinem langen Bart, Dir sorglich bedecken die Stirn. Deutschland wäre gar schlecht bewahrt, Erfröre Dir jetzt das Gehirn.“83 Gleiten derartige populäre Darstellungen in den Bereich der Geschichtsfolklore ab, entstanden in denselben Jahrzehnten die monumentalen Denkmäler, die Barbarossas zweifelhaften Ruhm als herausragendes Vorbild für Wilhelm I. 81 Mangold, Carl Amand: Barbarossa‘s Erwachen, dramatisches Gedicht für Soli, Chor und Orchester (uraufgeführt 1878). Ich danke Dr. Dominik Höink (Münster) für diesen Hinweis. 82 Dahn, Felix: Macte senex Imperator, in: Ders.: Gesammelte Werke 5: Gedichte und Balladen, Leipzig 1912, S. 592–599. 83 Für den Hinweis auf die Carte de visite aus den Archivbeständen der Otto-von-Bismarck-Stiftung in Friedrichsruh danke ich Herrn Dr. Ulf Morgenstern (Friedrichsruh).

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zementiert haben: die Reiterstatuen vor der Goslarer Kaiserpfalz sowie das Denkmal auf dem Kyffhäuser. In beiden Fällen wird Barbarossa in dem Sinne enthistorisiert, dass er nicht mehr mit irgendwelchen konkreten Geschehnissen in Verbindung gebracht wird. Auf dem Kyffhäuser wird vielmehr – dem Ort angemessen – die Sage vom schlafenden bzw. in Wilhelm I. wieder erwachenden Kaiser evoziert.84 Vor der Kaiserpfalz zu Goslar steht er als Gegenbild zu „Wilhelm dem Großen“ – flankiert von zwei Kopien des Braunschweiger Bronzelöwen. Es erscheint unplausibel, dass dieses Ensemble wirklich die Unterwerfung der Welfen durch den Staufer und den Hohenzollern feiert. Eher wird man damit zu rechnen haben, dass gerade unter Ausblendung konkreter historischer Ereignisse ein diffuses Bild mittelalterlicher Kaiserherrlichkeit und nationaler Größe berufen werden soll.85 Damit unterscheiden sich die Standbilder vor der Kaiserpfalz in fundamentaler Weise von den eingangs präsentierten Fresken Wislicenus’ in ihrem Inneren, deren präzise ausgearbeitetes Programm sich in eindeutiger Weise in den geschichtspolitischen Debatten des 19. Jahrhunderts verorten lässt. Ähnlich diffus wie die Botschaft der Standbilder Barbarossas fallen auch die Bezüge Wilhelms II. auf die Staufer aus. Ebenso wie sein Großvater nutzte er die Ansippung der Hohenzollern an die Staufer, um seine Regierung in die Tradition des mittelalterlichen Kaisertums zu stellen, und forcierte nicht zuletzt aus diesem Grund die Parallelisierung von Barbarossa und Barbablanca. Dieser Griff in die mittelalterliche Requisitenkiste verblieb aber im Bereich unbestimmter Legitimitätsbehauptungen und wurde von Wilhelm II. nicht zur Begründung konkreter politischer Initiativen herangezogen. Seine Äußerungen in dieser Hinsicht blieben vielmehr uneindeutig, wie Frank-Lothar Kroll vor einiger Zeit herausgearbeitet hat.86 Das überrascht angesichts des Potenzials, in einer mittelalterlichen Universalmonarchie den Vorläufer für eigene Pläne der Weltgeltung zu suchen. Schließlich hatte sich Wilhelm II. während seiner Palästinareise des Jahres 1898 bewusst in die Tradition mittelalterlicher Kreuzfahrer gestellt – was 84 Mai, Gunther (Hg.): Das Kyffhäuser-Denkmal 1896-1996. Ein nationales Monument im europäischen Kontext, Köln/Weimar/Wien 1997. Auf die Enthistorisierung geschichtskultureller Praxis im Dienste einer Heroisierung wie inhaltlich unterdeterminierten Identifikation weist hin Hardtwig: Erinnerung (wie Anm. 19). 85 Auf diese historisch vage, deswegen aber leichter affirmativ zu besetzende Identifikation zielt der Begriff des „Reichsmythos“ bei Kotte: Barbablanca (wie Anm. 3). 86 Kroll, Frank-Lothar: Herrschaftslegitimierung durch Traditionsschöpfung. Der Beitrag der Hohenzollern zur Mittelalter-Rezeption im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 274 (2002), S. 61–85.

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schon Zeitgenossen bissig kommentierten. Ein skandalumwittertes Heft des Simplicissimus vom Oktober des Jahres zeigt Gottfried von Bouillon und Friedrich Barbarossa mit einer Pickelhaube in der Hand – dem sich vor Lachen krümmenden Barbarossa liest der erste christliche Herrscher über Jerusalem die Leviten: „Lach nicht so dreckig, Barbarossa! Unsere Kreuzzüge hatten doch eigentlich auch keinen Zweck.“87 Vor dem Hintergrund der stark kolonialistischen Prägung zeitgenössischer Kreuzzugsdiskurse hätte sich daher die Stauferzeit durchaus als Projektionsfläche für die Suche nach einem deutschen „Platz an der Sonne“ angeboten.88 Diese Abstinenz von historischer Legitimation überrascht umso mehr, als der erste Barbarossa-Biograph des 19. Jahrhunderts, Hans Prutz, das Streben zu einer Universalmonarchie zu einem Leitmotiv seiner Darstellung gemacht hatte. Der erste, im Jahr der Reichsgründung 1871 erschienene Band präsentiert die Italienzüge Barbarossas als Maßnahmen, die der Erschließung eines Reichs hätten dienen sollen, das den gesamten Mittelmeerraum umfassen sollte. Dies markiere erst den „Beginn seiner eigentlichen kaiserlichen Laufbahn.“89 Kaiser wie er „wurden dorthin [= Italien, Ch. D.] getrieben, durch die Einsicht, daß eine Weltherrschaft im Sinne und in der Ausdehnung der römischen sich eben nur von Italien aus führen lasse. Daher war denn auch der Besitz Italiens nicht Zweck und Ziel der von den deutschen Herrschern des früheren Mittelalters befolgten Politik, sondern nur die erste Bedingung für dieselbe und ihr eigentlicher Ausgangspunkt. Je klarer daher in Friedrich I. die Idee eines weltherrschenden Kaiserthums lebte und je entschiedener er in ihrer Verwirklichung die eigentliche Aufgabe seines Lebens erkannte, um so entschlossener mußte er an die Eroberung Italiens gehen und alle seine Kräfte auf sie concentrieren.“90 Folgerichtig erscheinen in dieser Darstellung die Beschlüsse des Reichstags von Roncaglia vom November 1158 als Programm, die Selbständigkeit der Lombardei zu beenden, „der lombardischen Städtefreiheit den Boden unter den Füßen [wegzuziehen und] auf ihren Trümmern […] das Gebäude deutscher Herrschaft über Ita87 Simplicissimus. Illustrierte Wochenschrift, 3. Jahrgang, Heft 31 (erschienen am 29.10.1898), Titelblatt, hier zitiert nach: http://www.simplicissimus.info/uploads/tx_lombkswjournaldb/ pdf/1/03/03_31.pdf (letzter Zugriff: 25.04.2016). 88 Zu Kreuzzugsdiskursen der Moderne vgl. jetzt Skottki, Kristin: Christen, Muslime und der Erste Kreuzzug. Die Macht der Beschreibung in der mittelalterlichen und modernen Historiographie (Cultural Encounters and the Discourses of Scholarship 7) Münster 2015. 89 Prutz, Hans: Kaiser Friedrich I. 1: 1152–1165, Danzig 1871, hier S. 131. 90 Ebd., S. 132 f.

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lien“ zu errichten (S. 180). Noch einmal entwirft Prutz im Anschluss die vermeintliche Perspektive Barbarossas, von der Lombardei aus zunächst ganz Italien zu unterwerfen, um dann „zur Beherrschung des gesammten Mittelmeergebiets, des Erdkreises der Alten“, fortzuschreiten.91 Diese positive Umdeutung des von der älteren Forschung als verhängnisvoll gebrandmarkten universellen Kaisertums fand erstaunlich wenig Resonanz im Umfeld der Kolonialdiskurse des Kaiserreichs unter Wilhelm II. Die Popularität Barbarossas jenseits aller historischen Bezüge mag abschließend auch die Taufe eines Postdampfers des Norddeutschen Lloyd auf diesen Namen unterstreichen, der um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert gemeinsam mit Schwesterschiffen, die nach Friedrich dem Großen, Königin Luise, dem Großen Kurfürsten oder den Generälen Moltke und Blücher benannt waren, die Weltmeere befuhr. Damit war dieses Schiff ein maritimes Pendant zu Hotels oder Apotheken, die gleichfalls unter dem Namen des mittelalterlichen Kaisers firmierten.92 2. Wenn Barbarossa als Namensgeber für Schiffe, Hotels oder Apotheken zu einer Figur der historischen Folklore wurde, spielte seine Italienpolitik keine Rolle mehr. Im Gegensatz dazu stand sie auch nach der Reichsgründung von 1871 immer noch im Fokus mediävistischer Fachdebatten. Eine der Lehren, die die Universitätsgelehrten aus geschichtspolitischen Debatten wie der zwischen Sybel und Ficker gezogen hatten, war die größere Distanzierung von tagespolitisch motivierten Wertungen und Urteilen.93 Diese tagespolitische Abstinenz der kaiserzeitlichen Mediävistik korrespondiert mit einer politischen Grundhaltung, die sich in der deutschen Geschichtswissenschaft zunehmend bemerkbar machte. Während das Parlament in der Frankfurter Paulskirche oder auch das preußische Abgeordnetenhaus unter anderen mit zahlreichen Historikern besetzt waren, zogen sich die Professoren zunehmen aus der praktischen Politik zurück. Dieser Rückzug entsprach, wie Thomas Nipperdey aufgezeigt hat, einer dominierenden kleindeutsch-protestantischen Konzeption, Deutschland habe im 91 Ebd., S. 182. 92 Zum Postdampfer „Barbarossa“ und seinen Schwesterschiffen vgl. Kludas, Arnold: Die Geschichte der deutschen Passagierschiffahrt 2. Expansion auf allen Meeren 1890–1900 (Schriften des Deutschen Schiffahrtsmuseums 19) Hamburg 1987, S. 100–114. Zum heute noch bewirtschafteten Hotel Barbarossa in Konstanz vgl. http://www.hotelbarbarossa.de/konstanz/pages/ de/geschichte.php (letzter Zugriff: 25.04.2016). 93 Vgl. Brechenmacher: Gegenwart (wie Anm. 56).

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Kaiserreich eine angemessene staatliche Form gefunden, in der der monarchischbürokratische Staat oberhalb der Parteiungen der Gesellschaft stehe. Seine Ideale, seine Interessen und seine Perspektiven seien von einer Professorenschaft unterstützt worden, die zugleich aufgrund der Professionalisierung von Politik wie Wissenschaft nicht mehr über die Kapazitäten verfügt habe, sich tagespolitisch zu engagieren.94 Die fachliche Professionalisierung bei weitgehender tagespolitischer Abstinenz prägte die Forschungen zu Friedrich Barbarossa und Italien seit den 1870er Jahren nachhaltig. Paul Scheffer-Boichorst – katholischer Westfale und Schüler seines Landsmanns Julius von Ficker – hatte sich bereits in seiner Dissertation mit den letzten Lebensjahren Barbarossas beschäftigt, um ganz im Fahrwasser seines akademischen Lehrers den Nachweis zu führen, dass das Imperium des Staufers nach den Friedensschlüssen von Venedig und Konstanz zu einem vielversprechenden Gleichgewicht gefunden hatte.95 Nach Scheffer-Boichorst habe der Frieden von Venedig bereits 1177 die tragfähigen Grundlagen für ein gleichberechtigtes Nebeneinander von Reich und Kirche gelegt. Der Friede von Konstanz habe auch die Verhältnisse in Oberitalien zugunsten des Kaisers geordnet. Einerseits habe er die lombardischen Städte als loyale Unterstützer gewonnen, indem er ihnen die Rechte verbrieft habe, die sie sowieso schon innegehabt hätten. „Da verzichtete er zwar auf das wesentliche Ziel seiner lombardischen Politik, auf die unumschränkte Herrschaft; aber es geschah nicht zu seinem Nachtheile.“96 Denn er habe andererseits darauf setzen können, von den geistlichen und weltlichen Großen des italischen Königreichs zum Schutz gegen die Dominanz der Städte angerufen zu werden. Darüber hinaus hätten ihm die zwischenstädtischen Auseinandersetzungen ausreichend politischen Spielraum eingeräumt. Zugleich hätten die Bestimmungen des Konstanzer Friedens ihm erhebliche Geldeinnahmen garantiert. Es ist kennzeichnend für Scheffer-Boichorst, dass er im Anschluss an Ficker die letzten Lebensjahre des Kaisers als Periode machtvollen politischen Wirkens rekonstruiert, wobei die Sicherung und Sichtung der Quellen sowie die Rekonstruktion der Ereignisgeschichte im Mittelpunkt steht. Und ebenso wie Fickers „Forschungen zur Reichs- und Rechtsgeschichte Italiens“ schließen auch Scheffer-Boichorsts Ausführungen zu „Kaiser 94 Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1: Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990, S. 590–601 und 635 f. 95 Scheffer-Boichorst, Paul: Kaiser Friedrich’ I. letzter Streit mit der Kurie, Berlin 1866. 96 Ebd., S. 3.

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Friedrich’ I. letzte[m] Streit“ mit umfangreichen quellenkundlichen Beilagen.97 Scheffer-Boichorsts weitere Karriere macht ihn beinahe zu einem Symbol für die Überbrückung von Gegensätzen zwischen verschiedenen mediävistischen Schulen im Zeichen einer nachhaltigen Professionalisierung des Fachs.98 Schon während der Arbeit an seiner Dissertation hatte er mit Exponenten der kleindeutsch-preußischen Mediävistik wie Georg Waitz und Philipp Jaffé Kontakt aufgenommen. Die persönliche und fachliche Nähe zu den MGH ermöglichte es Scheffer-Boichorst, selbst in die Zentraldirektion dieser Institution aufzusteigen. Zugleich führte ihn seine akademische Laufbahn über die Kaiser-WilhelmsUniversität zu Straßburg an die Universität Berlin. Dieser Aufstieg in die zentralen Institutionen kleindeutscher Wissenschaftstradition hinderte ihn aber nicht daran, zugleich weiterhin an den ‚Regesta Imperii‘ mitzuwirken, die Ficker nach dem Tod ihres Begründers Johann Friedrich Böhmer fortführte. Dieser Brückenschlag zwischen akademischen Milieus, die sich eine Generation zuvor noch distanziert bis unversöhnlich gegenüberstanden, war nur auf der Grundlage eines gewandelten Wissenschaftsverständnisses möglich. So lobte Ernst Dümmler in seinem Nachruf im Neuen Archiv, der Zeitschrift der MGH, Scheffer-Boichorst sei „obgleich Katholik doch wie sein grosser Lehrer völlig unbefangen in seinen Arbeiten und unbekümmert um das Ziel“ gewesen.99 Auch die weitaus umfangreichere Würdigung durch seinen Schüler Karl Hampe in der Historischen Vierteljahrschrift unterstreicht Scheffer-Boichorsts Ethos eines Katholiken, der sich von seiner Kirche getrennt hatte und deswegen seine Anerkennung für die kirchenpolitischen Belange des Mittelalters mit einem „unparteiischem Wahrheitssinn“ verband.100 Zugleich sei er im Persönlichen „in einer demokratisch abschweifenden Zeit“ jeder „Phrase“ abhold gewesen.101 Dieser unpolitische, professionelle Habitus führte zu Forschungen, in denen die Erschließung und Zusammenstellung von Quellen, vor allem zur Reichsgeschichte des Hochmittelalters, sowie die Diskussion über Echtheit, Fälschung oder Überar97 Ebd., S. 164–244. 98 Zur Biographie vgl. Braubach, Max: Paul Scheffer-Boichorst und Aloys Schulte. Zwei deutsche Historiker in ihren menschlichen und wissenschaftlichen Beziehungen, in: Archiv für Kulturgeschichte 40 (1958), S. 97–121. 99 Nachruf auf Paul Scheffer-Boichorst von Ernst Dümmler in: Neues Archiv der Gesellschaft für Ältere Deutsche Geschichtskunde 27 (1902), S. 768–770, das Zitat S. 770. 100 Hampe, K[arl]: Paul Scheffer-Boichorst, in: Historische Vierteljahrschrift 5 (1902), S. 280–290, hier S. 287. 101 Ebd., S. 280.

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beitung zentraler Quellen im Zentrum standen. Mustergültig sind in dieser Hinsicht die „Urkunden und Forschungen zu den Regesten der staufischen Periode“ von 1899 bzw. 1902, die ohne jede weitere Erläuterung die einzelnen Quellenstücke präsentieren, zusammenstellen und diskutieren.102 Es bedarf einer sehr präzisen Lektüre, um in quellenkritischen Material­ sammlungen dieser Art Äußerungen ausfindig zu machen, die über die ‚reine‘ Arbeit an der Geschichte des Hochmittelalters hinausweisen. So verweist Alfred Haverkamp in seinen knappen Bemerkungen zur Forschungsgeschichte in seinen „Herrschaftsformen der Frühstaufer in Reichsitalien“ auf die liberale Tradition der Mittelalterforschung, in die sich Ferdinand Güterbock in seiner Dissertation stellte, die er 1895 unter dem Titel „Der Friede von Montebello und die Weiterentwicklung des Lombardenbundes“ veröffentlichte. Mitten in seinen Ausführungen zur Erschließung und chronologischen Einordnung des urkundlichen Materials fügt Güterbock die Bemerkung ein: „Jetzt im Dezember dieses Jahres verbanden sich die beiden Städtegruppen […] zu einem gewaltigen Bunde und wurden so durch Einigkeit stark genug, um der despotischen Kaiserpolitik Friedrich’s I. einen unüberwindlichen Wall entgegenzusetzen – ein großartiges Schauspiel: mit durchschlagendem Erfolg greift der dritte Stand in die Handlung der Weltgeschichte ein!“103 Ein ähnliches Wissenschaftsverständnis prägt auch die „Jahrbücher des deutschen Reiches unter Friedrich I.“ für die Jahre 1152–1158, die Henry Simonsfeld 1908 publizierte.104 In seiner Einleitung setzt sich Simonsfeld nicht mit geschichtspolitischen Rahmenbedingungen auseinander, sondern rechtfertigt sich und sein Werk dadurch, dass er auf gravierende Lücken in der Erschließung der Quellen zur Stauferzeit verweist. Weder gebe es die Edition der Urkunden Friedrichs  I. in der Reihe der Diplomata-Bände der MGH, noch habe SchefferBoichorst die ihm übertragenen Überarbeitungen der einschlägigen Regesten vorangetrieben. Die Qualität seiner Jahrbücher muss Simonsfeld also nicht vor 102 Scheffer-Boichorst, Paul: Urkunden und Forschungen zu Regesten der staufischen Periode, in: Neues Archiv der Gesellschaft für Ältere Deutsche Geschichte 24 (1899), S. 123–229, und 27 (1902), S. 71–124. 103 Haverkamp, Alfred: Herrschaftsformen der Frühstaufer in Reichsitalien 1 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 1,1) Stuttgart 1970, S. 56–61, hier S. 57 f., unter Verweis auf Güterbock, Ferdinand: Der Friede von Montebello und die Weiterentwicklung des Lombardenbundes, Berlin 1895, S. 47. 104 Simonsfeld, Henry: Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Friedrich I. 1: 1152 bis 1158, Leipzig 1908, im Anschluss das Vorwort S. V–IX.

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dem Hintergrund öffentlicher Debatten diskutieren, sondern nur noch vor dem Hintergrund der fachinternen Forschungslage. Als letztes Zeugnis für den Abschied vom tagespolitischen Engagement der Geschichtsschreibung zu Friedrich Barbarossas Italienpolitik sei auf die 1909 erschienene „Deutsche Kaisergeschichte in der Zeit der Salier und Staufer“ von Karl Hampe verwiesen, eines Schülers von Scheffer-Boichorst, der somit die von Ficker begründete Tradition der Stauferforschung fortführte.105 Die „Kaisergeschichte“ sollte im Rahmen einer populärwissenschaftlichen Reihe das Geschichtsbild von „Lehrenden und Lernenden“ in gut lesbarer Weise prägen und tat dies nachhaltig, wie die zahlreichen Neuauflagen bis zur 12. Auflage von 1969 belegen. In seiner Darstellung des Wirkens Barbarossas diskutiert Hampe in einer der wenigen petit gedruckten Passagen des Fließtexts die Bewertung des Reichstags von Roncaglia durch die ältere Forschung, indem er auf folgende Bewertungskriterien verweist: 1. „den Gegensatz zwischen Feudalismus und Bürgertum, Mittelalter und Neuzeit“, 2.  den „nationalen Gegensatz“ und 3.  „den wirtschaftlichen Gegensatz [zwischen der] bäuerliche[n] Naturalwirtschaft der Deutschen [und] dem höheren geldwirtschaftlichen Verkehrsleben der lombardischen Städte“.106 Die Bilanz, die Hampe zieht, bemüht sich darum, losgelöst von aktualisierenden Lesarten zu einem multiperspektivischen Urteil zu finden: „Und das bleibt nun doch der Kernpunkt der großen Gegensätze: hier eine starke monarchische Staatsgewalt, die bereits mit dem Feudalismus zu brechen begann und die kommunale Selbständigkeit dieser städtischen Gemeinwesen erst recht als eine Behinderung seiner Bewegungsfreiheit, seiner Rechte und Einnahmen betrachtete, – dort kraftvolle Bürgerschaften, in staatlosen Zuständen durch Selbsthilfe groß geworden, stolz auf die in inneren Kämpfen errungene Autonomie und die alten Rechtsforderungen der Reichsgewalt als neue, unerhörte Zumutungen empfindend. Gerade dadurch, daß das formale Recht ganz und gar auf seiten des Kaisers lag, während die Städte für ihre Sache zum mindesten ein gut Teil historischen Rechts in Anspruch nehmen konnten, wurde ein maßvoller Ausgleich der Gegensätze erschwert.“107 Unter Berücksichti105 Hampe, Karl: Deutsche Kaisergeschichte in der Zeit der Salier und Staufer (Bibliothek der Geschichtswissenschaft) Leipzig 1909. 106 Ebd., S. 132 f. 107 Ebd., S. 133. Ähnlich ausgewogen fällt auch Hampes Beurteilung der Absetzung Heinrichs des Löwen aus, in der er davor warnt, im Welfen den „nationalen Helden“ im Gegensatz zum „universalgerichteten Staufer“ zu sehen, ebd., S. 158.

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gung der nicht sonderlich ausgeprägten juristischen Kompetenzen des Staufers sieht Hampe doch in den Vorstellungen des römischen Rechts ein Angebot italienischer Juristen, das das Agieren des Herrschers und seiner Umgebung nachhaltig prägen sollte. Somit erscheinen die Interventionen Barbarossas dem „Gebot ausgleichender Gerechtigkeit“ sowie dem Ziel „feste Normen“ aufzustellen, verpflichtet.108 Es fällt auf, dass Hampe den Bahnen folgt, die bereits Ficker markiert hatte, ohne jedoch länger den Aktualitätsbezügen seines akademischen Vorläufers verpflichtet zu sein. 3. Eine Geschichtswissenschaft, deren Professionalisierung auf Kosten ihrer Anbindung an Debatten in der zeitgenössischen Öffentlichkeit erfolgte, geriet bereits ab den 1870er Jahre in die Kritik, für die Gegenwart irrelevant zu sein. Zunächst denunzierte sie Friedrich Nietzsche 1874 in der zweiten seiner „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ unter dem Titel „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“ als „antiquarische Historie“.109 Sie statte den Gebildeten mit einer unendlichen Fülle historischen Detailwissens ohne jede Relevanz für sein alltägliches Handeln aus. In den 1890er Jahren wurde dann auch in binnenwissenschaftlichen Diskursen über das Wissenschaftsdesign des Historismus kontrovers diskutiert. Die Tendenz der Geschichtswissenschaft, ihren Untersuchungsgegenstand nicht an modernen Erfordernissen auszurichten und ihn nach ihnen zu bewerten, bewertete der Philosoph Heinrich Rickert als „werterelativierende Weltanschauung“, die „Relativismus, Skeptizismus, Nihilismus“ zur Folge habe.110 Deswegen sei an die Seite der Geschichtswissenschaft die Geschichtsphilosophie als eigene Disziplin zu stellen, um den eklatanten Mangel an Gegenwartsbezug auszugleichen, der die historische Forschung präge. Innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft hat sich die „Krise des klassischen Historismus“ im späten 19. Jahrhundert vor allem in den lautstarken Auseinandersetzungen um das Œuvre Karls Lamprechts artikuliert.111 Es ist von 108 Ebd., S. 129 f. 109 Nietzsche, Friedrich: Unzeitgemässe Betrachtungen 2: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, Leipzig 1874. 110 Rickert, Heinrich: Geschichtsphilosophie, in: Windelband, W[ilhelm] (Hg.): Die Philosophie im Beginn des 20. Jahrhunderts. Festschrift für Kuno Fischer, Bd. 2, Heidelberg 1905, S. 51–135, die Zitate S. 117. Auf diese Position verweist Hardtwig: Erinnerung (wie Anm. 19), S. 254 f. Zu Rickert vgl. auch Iggers, Georg G.: Deutsche Geschichtswissenschaft. Eine Kritik der traditionellen Geschichtsauffassung von Herder bis zur Gegenwart, Köln/Weimar/ Wien 1997, S. 198–208. 111 Das Zitat bei Dems.: Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein kritischer Überblick im

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dem Anspruch geprägt, überkommene Engführungen der Forschung zu überwinden und zu einer stärker an überindividuellen Strukturen und gesetzmäßigen Abläufen interessierten Geschichtsschreibung zu finden. Im Zuge seiner „Deutsche[n] Geschichte“ schildert Lamprecht die zweite Hälfte des Mittelalters als Periode, die vor allem vom Aufkommen der Geldwirtschaft und eines sie tragenden städtischen Bürgertums geprägt gewesen sei.112 Dieser Prozess habe die politischen, religiösen, kulturellen und sozialen Verhältnisse dieser Zeit nachhaltig verändert. In diesen Deutungsrahmen ordnet Lamprecht auch die Konfrontationen Friedrich Barbarossas mit der stark urbanisierten Lombardei ein: Möglicherweise habe sich der Staufer am Vorbild anderer Monarchien wie der englischen orientiert, um für Italien eine stärkere fiskalische Nutzung der Königsrechte zu erzielen. Konkret habe er als Grundlage für seine Universalherrschaft eine Umstellung des Abgabewesens auf das Niveau einer primitiven Geldwirtschaft angestrebt, um dadurch „die Städte der Feudalverfassung eigenartig ein[zu]ordnen“.113 Der Widerstand italienischer Städte habe Barbarossa aber dazu veranlasst, seine Gegner wieder auf den Stand der Naturalwirtschaft zurückzwingen zu wollen – womit er letztlich gescheitert sei. Somit greift Lamprecht bei seiner Darstellung Barbarossas wenigstens in Teilen wieder auf Urteile nationalliberaler Historiker des Vormärz zurück, auch wenn er stärker als jene die vermeintlichen ökonomischen Motive der Akteure in den Vordergrund rückt. Hinsichtlich der Figur des Staufers kommt Lamprecht daher eher zu einer gewissen Umakzentuierung der Urteile älterer Forscher, als wirklich neue Kriterien oder Bewertungen zu präsentieren. Folgerichtig sah Rickert in seiner kritischen Durchsicht geschichtswissenschaftlicher Praxis auch keinen Anlass, Lamprechts Arbeiten von seinem Verdikt über den Historismus auszunehmen.114

internationalen Zusammenhang. Neuausgabe, Göttingen 2007, S. 32. Zu Lamprecht und den Auseinandersetzungen um ihn vgl. Schorn-Schütte, Luise: Karl Lamprecht. Kulturgeschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Politik. (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 22) Göttingen 1984; Middell, Matthias: Weltgeschichtsschreibung im Zeitalter der Verfachlichung und Professionalisierung. Das Leipziger Institut für Kultur- und Universalgeschichte 1890–1990 (Geschichtswissenschaft und Geschichtskultur im 20. Jahrhundert 6) Leipzig 2005. 112 Lamprecht, Karl: Deutsche Geschichte, Bd. 3, Berlin 1895. 113 Ebd., S. 139. 114 Rickert: Geschichtsphilosophie (wie Anm. 110), S. 66 f.

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IV. Zusammenfassung Grundsätzlich lassen sich im 19. Jahrhundert zwei sehr verschiedene Figurationen von Friedrich Barbarossa fassen, die beide Produkte des 19. Jahrhunderts sind.115 Einerseits der Märchenkaiser der Kyffhäuserlegende – eine enthistorisierte Projektionsfläche für ebenso vielfältige wie vage Identifikationsbestrebungen, deren Inhalt simplifizierend unter dem Begriff „Reichsmythos“ subsumiert worden ist.116 Vermutlich hat vor allem diese Sagengestalt eine große Breitenwirkung erzielt und hat die vielfältigen Rekurse auf den Staufer bedingt, die sich in verschiedensten Bereichen öffentlicher Geschichtskultur seit dem 19. Jahrhundert fassen lassen – vom Ozeandampfer über den Bierseidel bis zu Chormusik und dem Kyffhäuser-Denkmal.117 Noch die Verse, die Hermann Wislicenus für die Sockel der Reiterstatuten Friedrich Barbarossas und Wilhelms I. vor der Goslarer Kaiserpfalz notiert hat, zeugen von der Dominanz des Märchenkaisers.118 Anderseits der hochmittelalterliche Herrscher, dessen Person und dessen Wirken mit der Etablierung einer universitären Geschichtsschreibung zu einem zentralen Thema der Forschung und der Historiographie wurden. Dieser Friedrich Barbarossa war von Beginn an eine hoch umstrittene Figur und erhielt über Jahrzehnte hinweg vorwiegend kritische Bewertungen. Die berühmten Auseinandersetzungen zwischen Heinrich von Sybel und Julius von Ficker über die mittelalterliche Kaiserpolitik und damit auch die Rolle, die Friedrich Barbarossa in dieser Politik spielte, stellte nur den Höhepunkt einer breiten Debatte dar, die aus moderner Perspektive als extrem zeitgebunden erscheint. Allerdings dürfte der Sagenkaiser für das öffentliche Geschichtsbild weitaus wichtiger gewe-

115 Görich: Friedrich (wie Anm. 1), S. 11: „Friedrich Barbarossa ist gewissermaßen eine Entdeckung des 19. Jahrhunderts – und zum guten Teil auch dessen Erfindung.“ 116 Kotte: Barbablanca (wie Anm. 3). 117 Zu Chormusik siehe oben Anm. 81; der Bierhumpen wird derzeit angeboten unter: http://www. erzgebirge-freude.de/details-Bierkr%C3%BCge-Bierkrug-K%C3%B6nig-Barbarossa-Prachthumpen-Replikat-von-1885-Seidel-2-Liter-Bierseidel.asp?UID=39397733526&AID=6160&G ID=543&suchinput=&Sort=0&Maker=0&pagenum=5 (letzter Zugriff: 25.04.2016). 118 Arndt: Kaiserpfalz (wie Anm. 2), S. 69: „Barbarossa Wilhelm I. Der Zollern Adler sah ich steigen, Der große Kaiser ist erstanden, die alten Raben flogen auf, ein Held und Friedensfürst zugleich, es brauste in den deutschen Eichen, erlöst ist aus den schweren Banden der neue Frühling stieg herauf das traumversunkne deutsche Reich.“

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sen sein als der Barbarossa der Historiker.119 Die zunehmende Professionalisierung der Geschichtswissenschaft ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts führte zu einer Verlagerung der wissenschaftlichen Debatte weg von unmittelbar tagespolitischen Indienstnahmen hin zu innerfachlichen Diskussionen, in denen die politischen Positionen der Historiker stärker vermittelt durchschienen. Der Schwerpunkt lag jetzt zunächst auf einer stark philologisch und positivistisch ausgerichteten Erschließung der Quellen und Rekonstruktion von Ereignisabläufen. Die Leitlinien dieser Arbeit – die Editionsvorhaben der MGH oder auch die Erschließungsprinzipien der ‚Regesta Imperii‘ – entsprangen nationalpolitischen Programmen der Zeit vor der Bismarck’schen Reichseinigung. Sie hatten daher spätestens ab 1871 ihre unmittelbare gesellschaftliche Relevanz verloren. Dennoch – oder gerade weil sie keine unmittelbare tagespolitische Bedeutung mehr besaßen – wurden die Ansätze der MGH und der ‚Regesta Imperii‘ zum konzeptionellen und methodologischen Rückgrat eines rasch wachsenden Wissenschaftsbetriebs. In seiner Fokussierung auf die politische Geschichte ‚Deutschlands‘ im Mittelalter trug die Arbeit der Historiker doch politische Früchte, wenn sie die Identifikation der Bewohner des Kaiserreichs mit ihrem Staat und seiner Monarchie beförderte. Die Karikatur des Simplicissimus, die Kaiser Wilhelm II. mit den Stimmen Gottfrieds von Bouillon und Friedrich Barbarossas verspottet, belegt, dass auch Zeitgenossen diese Identifikationsbestrebungen wahrgenommen haben. In diesem Sinne wurden im 19. Jahrhundert beide Kaiser – der hochmittelalterliche Herrscher der Geschichtswissenschaft und der Schläfer im Kyffhäuser – zur Legitimation gegenwärtiger politischer Verhältnisse funktionalisiert. Die Italienpolitik Friedrich Barbarossas wurde im Rahmen dieser verschiedenen Diskurse ebenfalls sehr unterschiedlich bewertet, aber immer als ein wesentlicher Aspekt seiner Regierung wahrgenommen. Neben nationalistischen Kriterien spielten zahlreiche weitere Kategorien bei diesen Bewertungen eine wichtige Rolle, so die Frage nach dem Recht, nach bürgerlichen Bestrebungen und Refeudalisierung, nach der Entwicklung ökonomischer Verhältnisse oder auch der Organisation des Staates. Verschiedentlich taucht dabei das Motiv einer Modernisierung Europas im Hochmittelalter auf, die in aller Regel positiv konnotiert wurde. Daran, wie sich Barbarossa den modernisierenden Tendenzen gegenüber verhalten hatte, die man vor allem in Italien wirksam sah, bemaß sich die Beurteilung seiner Stellung in der Geschichte. Somit wurde die Italienpolitik 119 Brechenmacher: Gegenwart (wie Anm. 56), S. 51.

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Barbarossas zu einer Art Lackmustest für den progressiven oder reaktionären Charakter seiner Herrschaft. Fragt man nach dem Fortwirken der verschiedenen Barbarossabilder des 19. Jahrhunderts, muss man zunächst grundsätzlich zwischen populären, breitenwirksamen Verweisen auf den Staufer und innerfachlichen Diskursen unterscheiden. Das von einer vermeintlichen Kaiserherrlichkeit geprägte Bild vom ‚deutschen‘ Mittelalter hat sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts verflüchtigt. Während historiographische Basiswerke wie der mittlerweile in zehnter Auflage erschienene „Gebhardt“ noch weit über den Zweiten Weltkrieg hinaus die tradierten Narrative fortführten, verlor sich in der Öffentlichkeit weitgehend das Bewusstsein dafür, in der fernen Vergangenheit des Mittelalters Leitlinien ausmachen zu können, die für die Gegenwart bedeutsam sein könnten.120 Deswegen wurde die regionalpolitischen Zielsetzungen verpflichtete Stauferausstellung des Jahres 1977 als unerwarteter Erfolg wahrgenommen. Der Barbarossa der ZDFSerie „Die großen Deutschen“ entstieg im Jahr 2008 wie ein Untoter aus den Grüften des Nationalismus im Dienste eines breitenwirksamen Histotainements.121 Ob der nationalistische Rechtspopulismus in Zukunft auf die Mottenkiste vergangener Geschichtskulturen zurückzugreifen versuchen wird, ist noch nicht abzusehen.122 In der fachwissenschaftlichen Diskussion wirken hingegen Themen und Probleme des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart hinein fort. Dieser grundsätzliche Befund ist allerdings zu nuancieren, je nachdem, welche Deutungen Barbarossas angesprochen werden. So ist es kennzeichnend für die Überwindung nationalistischer Engführungen, wenn sich mehrere Tagungen mit deutsch-italienischer Beteiligung seit den 1980er Jahren um eine moderne Deutung des Staufers bemüht haben.123 Zur gleichen Zeit führte hingegen die Frage nach fun120 Kluge: Kontinuität (wie Anm. 10). 121 http://www.zdf.de/die-deutschen/barbarossa-und-der-loewe-5244714.html (letzter Zugriff: 18.04.2016). 122 Ein Artikel der FAS vom 16.04.2016 mit einer Art Home-Story über den nationalistischen Kleinverleger Götz Kubitschek erwähnt unter anderem, dass er sich mit einem „Bier aus einem Barbarossa-Humpen“ inszeniert: http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/zu-besuch-bei-goetz-kubitschek-14180792.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2 (letzter Zugriff: 18.04.2016). 123 Manselli, Raoul/Riedmann, Josef (Hg.): Federico Barbarossa nel dibattito storiografico in Italia e in Germania. Atti della settimana di studio, 8–13 settembre 1980 (Annali dell’Istituto storico italo-germanico. Quaderno 10) Bologna 1982; La pace di Costanza 1183. Un difficile equilibrio di poteri fra società italiana ed impero. Milano-Piacenza, 27–30 aprile 1983 (Studi

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damentalen strukturellen Unterschieden zwischen einer vermeintlich bürgerlich-städtischen Kultur in Italien und einer nordalpinen feudal-ständischen Kultur zu erbitterten Konfrontationen im Gefolge des Erscheinens von Hagen Kellers Studie „Adelsherrschaft und städtische Gesellschaft in Oberitalien“ während des Hochmittelalters.124 Als weniger konfliktträchtig erwies es sich hingegen, modernisierende Potenziale der Herrschaft Barbarossas im regnum Italiae bzw. in den Rechts- und Staatsvorstellungen herauszupräparieren, die sich in den Quellen zur staufischen Herrschaft in Nord- und Mittelitalien ausfindig lassen machen.125 Das Bild von Friedrich Barbarossa als einem Modernisierer ließe sich zum Beispiel auch in Studien zu seiner Kriegsführung nachweisen.126 In grundsätzlicherer Weise ordnet es sich ein in die Vorstellung eines grund­legenden Aufbruchs Europas während des Hochmittelalters.127 Neben den mehr oder weniger modifizierten inhaltlichen Fortschreibungen von Interpretamenten des 19. Jahrhunderts prägt die Aufarbeitung der Quellen durch die großen, koordinierten Forschungsprogramme der MGH und der ‚Regesta Imperii‘ bis heute die deutsche Geschichtswissenschaft. So erschienen die Diplomata-Bände der Urkunden Friedrich Barbarossas in den Jahren 1975–

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e testi di storia medioevale 8) Bologna 1984; Haverkamp, Alfred (Hg.): Friedrich Barbarossa. Handlungsspielräume und Wirkungsweisen des staufischen Kaisers (Vorträge und Forschungen 40) Sigmaringen 1992; grundsätzlich auch: Elze, Reinhard/Schiera, Pierangelo (Hg.): Italia e Germania. Immagini, modelli, miti fra due popoli nell’Ottocento: il Medioevo/ Das Mittelalter. Ansichten, Stereotypen und Mythen zweier Völker im neunzehnten Jahrhundert: Deutschland und Italien (Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento. Contributi 1) Bologna/Berlin 1988. Vgl. die Einleitung der italienischen Übersetzung: Keller, Hagen: Signori e vassalli nell’Italia delle città (secoli IX-XII), Turin 1995. Dilcher, Gerhard: Die staufische Renovatio im Spannungsfeld von traditionalem und neuem Denken. Rechtskonzeptionen als Handlungshorizont der Italienpolitik Friedrich Barbarossas, in: Historische Zeitschrift 276 (2003), S. 613–646; Ders./Quaglioni, Diego (Hg.): Gli inizi del diritto pubblico. Legislazione e dottrina giuridica nell’età di Federico Barbarossa/Die Anfänge des öffentlichen Rechts. Gesetzgebung und gelehrtes Recht im Zeitalter Friedrich Barbarossas (Annali dell‘Istituto storico italo germanico in Trento. Contributi 19) Bologna/Berlin 2007. Berwinkel, Holger: Verwüsten und Belagern. Friedrich Barbarossas Krieg gegen Mailand (1158–1162) (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 114) Tübingen 2007. Constable, Giles/Cracco, Giorgio/Keller, Hagen/Quaglioni, Diego (Hg.): Il XII secolo: la “renovatio” dell’Europa cristiana. Atti della XLIII settimana di studio, Trento, 11–15 settembre 2000 (Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento. Quaderni 62) Bologna 2003.

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1990, die entsprechenden Regesten zwischen 1980 und 2011. Bei allen Modernisierungen in den Details der Informationsaufbereitung und -präsentation bleiben diese synthetischen, nicht den Überlieferungskontexten verpflichteten Zusammenstellungen mittelalterlicher Quellen den Narrativen des 19. Jahrhunderts verhaftet: das Wirken der Herrscher als Rückgrat und strukturierendes Zentrum einer Reichsgeschichte. Auch ohne erkennbare politische Relevanz tragen diese Initiativen im Weiterspinnen des roten Fadens nationaler Geschichtserzählungen in unübersehbarer Weise die Spuren einer Geschichtswissenschaft, deren Interpretationen und Deutungsmuster längst überwunden zu sein scheinen. Möglicherweise lässt es sich auf die anhaltende Tätigkeit und das ungebrochene Renommee dieser Unternehmungen zurückführen, dass die Arbeiten des 19. Jahrhunderts zur Italienpolitik Friedrich Barbarossas noch in einer weiteren Weise bis in die Gegenwart hinein fortwirken. Die universitäre Lehre profitiert bis heute davon, dass Quellen zu diesem Thema nicht nur mustergültig ediert, sondern auch in vielfältigen Übersetzungen zugänglich sind. Und auch über die Lehre hinaus erfreut sich der Staufer nach wie vor einer hohen Popularität in der historischen Forschung. Bei aller Überwindung überkommener Deutungen und Bewertungen lassen sich in dieser Gewichtung des historischen Interesses die Folgen einer nationalen Aufmerksamkeits-Ökonomie ausmachen, deren Wurzeln im Ringen des 19. Jahrhunderts um angemessene Mittelalterbilder im Dienste der deutschen Nationalbewegung liegen. So historisch die Fresken Hermann Wislicenus’ in der Goslarer Kaiserpfalz auch heute erscheinen mögen, zeigen sie doch Episoden, die auch in der modernen Mittelalterforschung noch intensiv diskutiert werden.

Jochen Johrendt

Friedrich Barbarossa und Alexander III. Die Universalgewalten in der Perspektive des 19. Jahrhunderts

Der vorliegende Beitrag fügt sich nicht leicht in diesen Band ein, da er zwar auf der einen Seite die nationalgeschichtliche Betrachtung des 19. Jahrhunderts thematisiert, doch nicht die Betrachtung einer bestimmten Region, Herrschaft oder eines Instrumentariums bietet, sondern den Blick auf die beiden Universalgewalten zum Gegenstand hat. Beide – Kaiser und Papst – entziehen sich nach einem mittelalterlichen Verständnis einer nationalstaatlichen Betrachtungsweise.1 Das gilt besonders für das Papsttum und in gewisser Weise auch für das Kaisertum. Das Wesen der Universalgewalt ist es eben, dass sie nicht an Ländergrenzen Halt macht, dass sie sich als etwas Überwölbendes versteht. Es geht daher weniger um die Aneignung eines vermeintlichen Propriums der eigenen historischen Tradition, um die Ablehnung oder Vereinnahmung einer spezifischen Deutung Barbarossas für die eigene Geschichte in der wirkmächtigen Tradition des 19. Jahrhunderts,2 sondern um die Verortung eines aus der Perspek1

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Dass Kaiser und Papst immer zusammengedacht werden müssen, ist in der jüngeren deutschen Forschung, in der das Kaisertum gerne epochen-, regionen- und disziplinübergreifend verglichen wurde, etwas aus dem Fokus geraten, vgl. dazu etwa den Sammelband Leppin, Hartmut/ Schneidmüller, Bernd/Weinfurter, Stefan (Hg.): Kaisertum im ersten Jahrtausend: wissenschaftlicher Begleitband zur Landesausstellung „Otto der Große und das Römische Reich. Kaisertum von der Antike zum Mittelalter“, Regensburg 2012, mit einer weiten Perspektivierung des Themas, doch um den Preis, das Papsttum und damit den im Vergleich zu anderen Arten des Kaisertums genuinen Charakter des römisch-deutschen Kaisertums auszublenden. Vgl. dazu Görich, Knut: Friedrich Barbarossa. Eine Biographie, München 2011, S. 11–19, dort die weitere Literatur. Zur Vereinnahmung Barbarossas vor allem durch die KyffhäuserSage zur Deckung des mit der Reichsgründung schlagartig vorhandenen „große[n] Bedarf[s] an Reichssymbolik“ vgl. Kaul, Camilla G.: Friedrich Barbarossa im Kyffhäuser. Bilder eines nationalen Mythos im 19. Jahrhundert, Textband, Köln u.a. 2007, S. 450–469; zum Blick des 19. Jahrhunderts auf das Mittelalter generell Althoff, Gerd: Einleitung, in: Ders. (Hg.): Die

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tive des 19.  Jahrhunderts bisweilen fremden Gegenstandes – der beiden Universalgewalten und ihrer Bezogenheit aufeinander. Sie sind per se etwas Transpersonales, reichen über den jeweiligen Inhaber der Universalgewalt hinaus. Bei ihrer Beschreibung kann es daher nicht um den einen Kaiser oder den einen Papst als Individuum gehen, sondern um die Institution Kaisertum und Papsttum in der Person des jeweiligen Amtsinhabers. Und trotz dieses übergreifenden Aspektes ist gerade die Zeit und Person Friedrich Barbarossas und Alexanders III. besonders geeignet, das Verhältnis der beiden Universalgewalten zueinander zu thematisieren, da es sich nach gängiger Forschungsmeinung um eine entscheidende Phase der Veränderung handelt, eine Phase der Neupositionierung und argumentativ-theoretischen Neufundierung.3 Einige dieser scheinbaren Neuerungen sind jedoch fraglich. So wurde das Reich unter Barbarossa sicherlich nicht heilig, wenn in weniger als 32 von über 1200 ausgestellten Urkunden der Begriff vom sacrum imperium vorkam.4 Mein-

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Deutschen und ihr Mittelalter. Themen und Funktionen moderner Geschichtsbilder vom Mittelalter, Darmstadt 1992, S. 1–6, der es S. 3 als ein Proprium des 19. Jahrhunderts betrachtet, „mit welcher Unbefangenheit und mit welchem Eifer gerade das 19. Jahrhundert und viele seiner politischen Strömungen auf das Mittelalter zugriffen, um aus dieser Geschichte die Legitimation und Richtschnur für das eigene politische Wollen und Handeln zu gewinnen.“ Laudage, Johannes: Alexander III. und Friedrich Barbarossa (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters, Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 16) Köln u.a. 1997, S. 17–20, 23–27 und 31; Görich, Knut: Die Ehre Friedrich Barbarossas. Kommunikation, Konflikt und politisches Handeln im 12. Jahrhundert (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne) Darmstadt 2001, S. 177–185; Haverkamp, Alfred: Zwölftes Jahrhundert: 1125– 1198 (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte 5) Stuttgart 10. Aufl. 2003, S. 166 f; Boshof, Egon: Europa im 12. Jahrhundert. Auf dem Weg in die Moderne, Stuttgart 2007, S. 42 f.; Görich: Friedrich Barbarossa (wie Anm. 2), S. 316 f. Vgl. dazu Schwarz, Jörg: Herrscher- und Kaisertitel bei Kaisertum und Papsttum im 12. und 13. Jahrhundert (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters, Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 22) Köln/Weimar/Wien 2003, S. 86–96, bes. S. 94–96. Zur Übernahme des Titels „sacrum Romanum imperium“ von kaiserlichen Skriniaren der Stadt Rom unter Heinrich VI. vgl. grundlegend Petersohn, Jürgen: Rom und der Reichstitel „sacrum Romanum imperium“ (Sitzungsberichte der wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main 32/4) Stuttgart 1994; zuletzt Ders.: Kaisertum und Rom in spätsalischer und staufischer Zeit. Romidee und Rompolitik von Heinrich V. bis Friedrich II. (MGH Schriften 62) Hannover 2010, S. 254 f. Die „Heiligkeit“ des Reiches als Ausdruck der neuen Einigkeit von König und Fürsten in der Anfangsphase Friedrich Barbarossas betont hingegen Weinfurter, Stefan: Um 1157. Wie das Reich heilig wurde, in: Jussen, Bernhard (Hg.): Die Macht des Königs. Herrschaft in Europa vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit, München 2005, S. 190–204; Wiederabdruck in: Weinfurter, Stefan: Gelebte Ordnung – Gedachte Ordnung. Ausgewählte Beiträge zu König, Kirche und Reich. Aus Anlaß

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te die ältere Forschung noch sehr genau zu wissen, was sich hinter dem dominium mundi verbirgt, so scheint uns diese Gewissheit heute angesichts seiner polyvalenten Deutungsmöglichkeiten eher zwischen den Fingern zu zerrinnen.5 Zudem fällt es schwer, genau zu definieren, was das hochmittelalterliche Kaisertum war – und das steht in einem auffallenden Kontrast zur anderen Universalgewalt, dem Papsttum, das sich immer differenzierter selbst deutete – und zugleich einen immer umfassender Universalitätsanspruch artikulierte, bis hin zur Festlegung in der 1302 durch Bonifaz VIII. erlassenen Bulle Unam Sanctam, dass es zur Heilsnotwendigkeit eines jeden Christen gehöre, dem Papst untertan zu sein.6 Die Universalität wurde so weit gesteigert, dass der Papst und die Kirche gleichgesetzt wurden.7

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des 60. Geburtstags hg. von Helmuth Kluger/Hubertus Seibert/Werner Bomm, Ostfildern 2005, S. 361–383, hier S. 382 f. Vgl. dazu etwa Burkhardt, Stefan: Barbarossa, Frankreich und die Weltherrschaft, in: Ders. u.a. (Hg.): Staufisches Kaisertum im 12. Jahrhundert. Konzepte – Netzwerke – politische Praxis, Regensburg 2010, S. 133–158 mit einem Forschungsüberblick S. 134–137; sowie vor allem Hageneder, Othmar: Weltherrschaft im Mittelalter, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 93 (1985), S. 257–278, jetzt auch in einer italienischen Übersetzung Ders.: Il dominio del mondo nel medioevo, in: Ders.: Il sole e la luna. Papato, impero e regni nella teoria e nella prassi die secoli XII e XIII, a cura di Maria Pia Alberzoni (Cultura e storia 20) Milano 2000, S. 11–31. Edition in: Les Registres de Boniface VIII, ed. Georges Digard/Maurice Faucon/Antoine Thomas/Robert Fawtier, 4 Bde. (Bibliothèque des Écoles françaises d’Athènes et de Rome. Série 2) Paris 1907–1939, Nr. 5382, Bd. 3, Sp. 888–890, das Zitat Sp. 890. Zur Bulle Unam sanctam vgl. Paravicini Bagliani, Agostino: Bonifacio VIII, Torino 2003, S. 303–312; Conte, Emanuele: La bolla Unam Sanctam e i fondamenti del potere papale fra diritto e teologia, in: Mélanges de l’École française de Rome (Moyen-Âge) 113 (2001), S. 663–684; Wiederabdruck in: Bonifacio VIII, i Caetani e la storia del Lazio. Atti del Convegno di studi storici, Roma 2004, S. 43–63. So bereits Aegidius Romanus in seinem 1302 abgefassten Traktat ‚De ecclesiastica potestate‘: Aegidius Romanus, De ecclesiastica potestate, hg. von Richard Scholz, Weimar 1929, III c. 12, S. 209; beziehungsweise jetzt auch Giles of Rome’s On ecclesiastical Power. A Medieval Theory of World Government, ed. Robert W. Dyson (The Records of Western Civilization) New York 2004, S. 396, jedoch im Text identisch: ... summus pontifex, qui tenet apicem ecclesie et qui potest dici ecclesia, est timendus et sua mandata sunt observanda, quia potestas eius est spiritualis, celestis et divina, et est sine pondere, numero et mensura. Vgl. zur Sache Paravicini Bagliani, Agostino: Egidio Romano, l’arca e la tiara di Bonifacio VIII, in: Rossi, Mariaclara/ Varanini, Gian Maria (Hg.): Chiesa, vita religiosa, società nel medioevo Italiano. Studi offerti a Giuseppina De Sandre Gaspari (Italia Sacra 80) Roma 2005, S. 503–519, hier S. 518 ff. Zum Traktat des Aegidius Romanus vgl. auch Krüger, Elmar: Der Traktat „De ecclesiastica potestate“ des Aegidius Romanus. Eine spätmittelalterliche Herrschaftskonzeption des päpstlichen

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Auch dieser Beitrag wird natürlich keine genaue Definition des Kaisertums geben können. Und offenbar hatten bereits die Zeitgenossen keine eindeutige Vorstellung davon, was das Kaisertum Barbarossas genau war. Zuletzt hat Roman Deutinger eindrücklich nachgewiesen, dass auch die Historiographie der Stauferzeit nicht die eine Reichsidee oder die eine Vorstellung vom Kaisertum artikulierte, sondern dass sich zeitgleich sehr unterschiedliche Konzepte fassen lassen.8 Betrachtet man die Aussagen Barbarossas und seines Umfeldes selbst, so wird deutlich, dass er das Kaisertum als eine stets auf die römische Kirche als Universalkirche bezogene Größe verstand. In seiner wohl von Wibald von Stablo formulierten und in dessen Briefbuch auch überlieferten Wahlanzeige an Papst Eugen III. führte er aus, dass er Konrad III. auf den Thron gefolgt sei und damit habe er zugleich „sowohl die ererbte Liebe in ganz besonderer Weise gegen Eure Person als auch den unverzüglichen und ergebensten Schutz gegenüber unserer heiligen Mutter, der Römischen Kirche, empfangen.“9 Und er fährt fort: „und zwar in der Gestalt, dass wir uns beständig auszuführen bemühen, was auch immer er zur Befreiung und Ehrung des Apostolischen Stuhles wünschte und anordnete ...“. Friedrich Barbarossa zeigte Eugen III. damit an, dass er die Versprechungen Konrads III. einhalten werde, und beschreibt seine Position als zukünftiger Kaiser in Hinblick auf den Papst gipfelnd in dem Zitat aus Exodus 23,22: „Deine Feinde sind auch unsere Feinde“.10 Das Kaisertum ist nach Barbarossa eine Folge seiner Erwählung durch die Fürsten und Gott, wie er es in einem allein bei Otto von Freising überlieferten Brief an die Fürsten nach den Auseinandersetzungen mit den päpstlichen Legaten in Besançon ausdrückte: „Da wir Königtum und Kaisertum durch Wahl der Universalismus (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht 30) Köln u.a. 2007. 8 Vgl. dazu Deutinger, Roman: Imperiale Konzepte in der hofnahen Historiographie der Barbarossazeit, in: Burkhardt (Hg.): Staufisches Kaisertum (wie Anm. 5), S. 25–39, der die von Robert Holtzmann als „staufische Hofhistoriographie“ gekennzeichneten Texte einer Revision unterzieht und dann abschließend, ebd. S. 39, feststellt, dass es sich bei diesen Texten „eben nicht um höfische Geschichtsschreibung oder gar um Hofhistoriographie“ handelt. 9 Reg. Imp. IV/2/1 Nr. 72; Edition bei: Die Urkunden Friedrichs I., hg. von Heinrich Appelt (MGH Diplomata regum et imperatorum Germaniae 10, 5) Hannover 1990; sowie jetzt auch bei: Das Briefbuch Abt Wibalds von Stablo und Corvey, ed. Martina Hartmann, 3 Bde. (MGH Briefe der deutschen Kaiserzeit 9/1–3) Hannover 2012, Nr. 337 S. 703–706, hier S. 706, Z. 17–20. 10 Das Briefbuch des Abtes Wibalds von Stablo, ed. Hartmann (wie Anm. 9), S. 706, Z. 23.

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Fürsten allein von Gott empfangen haben ...“.11 Die Begriffe regnum und ­imperium sind hier nicht getrennt worden, es gibt keine klare Ausdifferenzierung des auf das Reich bezogenen Königtums und der Universalgewalt des Kaisertums. Das eine fließt nach Barbarossa aus dem anderen – so wie es die Wähler Philipps von Schwaben später Innozenz III. gegenüber formulierten12 – und beides erfolgt durch die Wahl der Fürsten. Doch was genau war dieses Kaisertum? Es war von den anderen Monarchen Europas offenbar so geachtet, dass es im ausgehenden 12. Jahrhundert in Frankreich durch die Rechtsberater des französischen Königs zur Formulierung des Grundsatzes kam: rex est imperator in regno suo.13 Es ist dieselbe Zeit, um 1160/70, in der die ‚Summa Parisiensis‘ formulierte, dass der Papst der wahre Kaiser sei (ipse est verus imperator).14 Und von hier war es auch nicht mehr weit, dass Innozenz III. in seiner berühmten Dekretale Venerabilem vom Mai 1202, die auch Eingang in den ‚Liber Extra‘ fand, das Approbationsrecht des Papstes für den

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Überliefert bei Ottonis et Rahewini Gesta Frederici imperatoris, lib. III c. 11, ed. Georg Waitz/ Bernhard v. Simson (MGH SS rer. Germ. 46) Hannover/Leipzig 1912, S. 179, Z. 7–11: Cumque per electionem principum a solo Deo regnum et imperium nostrum sit, qui in passione Christi filii sui duobus gladiis necessariis regendum orbem subiecit, cumque Petrus apostolus hac doctrina mundum informaverit: Deum timete, regem honorificate. Übersetzung bei: Die Taten Friedrichs oder richtiger Cronica, lib. III c. 13, übers. von Adolf Schmidt, ed. Franz-Josef Schmale (Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters – Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 17) Darmstadt 1965, S. 421, Z. 10–14. Zur Sache vgl. Görich: Friedrich Barbarossa (wie Anm. 2), S. 276–278. 12 Die Wahlanzeige findet sich bei Regestum Innocentii III papae super negotio Romani imperii, ed. Friedrich Kempf (Miscellanea historiae pontificiae 12) Rom 1947, Nr. 14 S. 33–38. Zur Sache vgl. Csendes, Peter: Aspekte der Biographie Philipps von Schwaben, in: Rzihacek, Andreas/Spreitzer, Renate (Hg.): Philipp von Schwaben. Beiträge der internationalen Tagung anlässlich seines 800. Todestages, Wien, 29. bis 30. Mai 2008 (Denkschriften der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl. 399 = Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 19) Wien 2010, S. 73–84, hier S. 82 f. Zur Kontinuitätslinie der Wahlanzeige Friedrich Barbarossas an Eugen III. bis zur Wahlanzeige der Wähler Philipps von Schwaben an Innozenz III. sowie den Haller Protest gegen die Anerkennung Ottos IV. durch die Wähler Philipps im Januar 1202 vgl. auch Schütte, Bernd: Das Königtum Philipps von Schwaben im Spiegel zeitgenössischer Quellen, in: ebd., S. 113–128, hier S. 125–127. 13 Vgl. dazu Werner, Karl Ferdinand: Das hochmittelalterliche Imperium im politischen Bewußtsein Frankreichs (10.–12. Jahrhundert), in: Historische Zeitschrift 200 (1965), S. 1–60, hier S. 18–21. 14 Vgl. Fuhrmann, Horst: „Der wahre Kaiser ist der Papst“. Von der irdischen Gewalt im Mittelalter, in: Bungert, Hans (Hg.): Das antike Rom in Europa, Regensburg 1986, S. 99–121.

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Kaiser ausformulieren konnte.15 Barbarossa kam hier insofern mit ins Spiel, als Innozenz III. ausführte, dass Philipp von Schwaben aus einer gens persecutorum stammte. Und in welchem Verhältnis weltliche und geistliche Gewalt generell standen, führte dieser Papst in seinem berühmten Sonne-Mond-Gleichnis der Dekretale Sicut universitatis conditor aus.16 So wie der Mond sein Licht von der Sonne erhalte, so erhalte die weltliche Gewalt, die potestas regalis, ihr Licht allein von der auctoritas apostolica, vom Papst als Sonne. Diese römische Sonne strickte kontinuierlich an einer Perspektivierung ihrer selbst und erhob sich – nicht zuletzt mit Hilfe des Ablasses, der in unbegrenztem Maße eben nur vom Papst erteilt werden konnte – in immer weitere Höhen.17 Damit ist in sehr groben Strichen der Betrachtungshorizont für das 19. Jahrhundert skizziert.18 Wie wurden die Universalgewalten in dieser Epoche wahrgenommen und verortet? Dass beide aufeinander bezogen waren, war nicht erst 15

Mai 1202, Edition bei MGH Const. 2, S. 505 bzw. bei Regestum Innocentii III, ed. Kempf (wie Anm. 12), Nr. 62 S. 166–175, hier S. 168 f.: Sed et principes recognoscere debent et utique recognoscunt, quod ius et auctoritas examinandi personam electam in regem et promovendam ad imperium ad nos spectat, qui eam inungimus, consecramus et coronamus. In den ‚Liber Extra‘ fand das Schreiben Aufnahme unter X 1.6.34. Zum Examinations- und damit in Folge auch Approbationsrecht des Papstes in der Vorstellung Innozenz’ III. vgl. Kempf, Friedrich: Papsttum und Kaisertum bei Innocenz III. Die geistigen und rechtlichen Grundlagen seiner Thronstreitpolitik (Miscellanea historiae pontificiae 19) Rom 1954, S. 105–134. Zur Frage des regimen seculi beziehungsweise der commissio mundi bei Innozenz III., die nicht als Anspruch des Papstes auf Weltherrschaft missverstanden werden sollten, vgl. Hageneder, Othmar: Papst, Kirche und Christenheit bei Innocenz III. Ein Beitrag zum Problem der päpstlichen „Weltherrschaft“, in: Signum in Bonum. Festschrift für Wilhelm Imkamp zum 60. Geburtstag, Regensburg 2011, S. 341–345. 16 Reg. Inn. III. 1, 401; vgl. dazu Hageneder, Ottmar: Das Sonne-Mond-Gleichnis bei Innocenz III. Versuch einer teilweisen Neuinterpretation, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 65 (1967), S. 340–368; in italienischer Version bei Ders.: Il sole e la luna (wie Anm. 5), S. 33–68. 17 Vgl. dazu demnächst Doublier, Étienne: Papsttum, Ablass und Bettelorden im 13. Jahrhundert (Papsttum und mittelalterliches Europa 6) Köln u.a. 2017 (im Druck). 18 Zur kritischen Perspektive des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts bis zu Heinrich Luden und seiner Geschichte des teutschen Volkes, die 1825–1837 in zwölf Bänden erschien, in der das universale Moment des mittelalterlichen Kaisertums meist kritisch gesehen und gegen die „deutschen Interessen“ abgegrenzt wurde und in der im Gegensatz zum 19. Jahrhundert vor allem die Salierzeit als der Höhepunkt der Kaiserherrlichkeit angesehen wurde, vgl. die Arbeit von Schieblich, Walter: Die Auffassung des mittelalterlichen Kaisertums in der deutschen Geschichtsschreibung von Leibniz bis Giesebrecht (Historische Abhandlungen 1) Berlin 1932, S. 60–78. Das Verhältnis der beiden Universalgewalten zueinander wird hier jedoch nur am Rand thematisiert. Eine übergreifende und vergleichbare Arbeit zur Wertung des hochmittelalterlichen Papsttums im 18. und 19. Jahrhundert fehlt nach meinem Wissen.

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denjenigen bewusst, die das römisch-deutsche Kaisertum in einer Traditions­ linie mit dem von ihnen ersehnten und ab 1871 realen nationalen Kaisertum sahen.19 Das galt auch für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts, wenn auch schwächer ausgeprägt als im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts. Am Beginn der wissenschaftlichen und auch breit rezipierten Darstellungen steht zunächst Friedrich von Raumers Geschichte der Hohenstaufen und ihrer Zeit.20 Wie sehr auch seine Darstellung der beiden Universalgewalten an den politischen Erwartungen der Zeitgenossen orientiert war, wird im Vorwort zur zweiten Auflage aus dem Jahr 1840 deutlich. Dort führt er in Reaktion auf die Rezeption seiner Darstel19

Zum Barbarossa- beziehungsweise Stauferbezug während der Reichsgründung 1871 insgesamt vgl. Borst, Arno: Reden über die Staufer, Frankfurt a. M. u.a. 1978, S. 91–177; zur Erinnerungskultur im 19. und 20. Jahrhundert sowie der Rolle Friedrich Barbarossas in dieser zuletzt Schreiner, Klaus: Friedrich Barbarossa – Herrscher, Held und Hoffnungsträger. Formen und Funktionen staufischer Erinnerungskultur im 19. und 20. Jahrhundert, in: Von Palermo zum Kyffhäuser. Staufische Erinnerungsorte und Staufermythos (Schriften zur Staufischen Geschichte und Kunst 31) Göppingen 2012, S. 97–128, dort S. 128 weitere Literatur; aus der Perspektive der Neueren Geschichte und auf das gesamte 19. Jahrhundert bezogen vgl. Kroll, FrankLothar: Herrschaftslegitimierung durch Traditionsschöpfung. Der Beitrag der Hohenzollern zur Mittelalter-Rezeption im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 274 (2002), S. 61–85, zu Friedrich Barbarossa und vermeintlichen Anknüpfungen an den staufischen Kaisergedanken ebd. S. 79–81. Zur Deutung der Auseinandersetzung zwischen Barbarossa und Alexander III. gipfelnd im Frieden von Venedig vgl. Zimmermann, Harald: Canossa 1077 und Venedig 1177, und Jahrhunderte danach, in: Studi Matildici. Atti e memorie del III convegno di Studi Matildici, Reggio Emilia, 7–9 ottobre 1977 (Deputazione di Storia Patria per le Antiche Provincie Modenesi. Biblioteca NS 44) Modena 1978, S. 183–208; Wiederabdruck in: Ders.: Im Bann des Mittelalters. Ausgewählte Beiträge zur Kirchen- und Rechtsgeschichte. Festgabe zu seinem 60. Geburtstag, hg. von Immo Eberl/Hans-Henning Kortüm, Sigmaringen 1986, S. 107–132; Schreiner, Klaus: Vom geschichtlichen Ereignis zum historischen Exempel. Eine denkwürdige Begegnung zwischen Kaiser Friedrich Barbarossa und Papst Alexander III. in Venedig 1177 und ihre Folgen in Geschichtsschreibung, Literatur und Kunst, in: Wapnewski, Peter (Hg.): Mittelalter-Rezeption. Ein Symposion (Germanistische Symposien, Berichtsbände 6) Stuttgart 1986, S. 145–176, hier S. 150–172; sowie Görich: Friedrich Barbarossa (wie Anm. 2), S. 450–454; zum schwierigen Verständnis des imperium als Universalie, die nur mit dem Papst, der anderen Universalgewalt, zusammen verstanden werden kann, vgl. die nicht immer leicht zugängliche Arbeit von Kölmel, Wilhelm: Regimen Christianum. Weg und Ergebnisse des Gewaltenverhältnisses und des Gewaltenverständnisses (8. bis 14. Jahrhundert) Berlin 1970, bes. S. 51–60. 20 Raumer, Friedrich: Geschichte der Hohenstaufen und ihre Zeit, Bd. 2, 2. vermehrte und verbesserte Auflage Leipzig 1841. Zu Raumers Barbarossabild vgl. auch Berg, Stefanie B.: Heldenbilder und Gegensätze. Friedrich Barbarossa und Heinrich der Löwe im Urteil des 19. und 20. Jahrhunderts, Münster/Hamburg 1994, S. 51–59, mit dem Schwerpunkt auf dem vermeintlichen staufisch-welfischen Gegensatz.

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lung aus: Er könne neueren Forderungen nicht beipflichten, wie etwa auch derjenigen, die Kaiser hätten sich nicht „den Päpsten unterordnen“ sollen, da diese Forderungen „das völlig unhistorische und das ganz Unmögliche“ bezweckten.21 Stattdessen betont von Raumer im Verhältnis Friedrichs I. zu Hadrian IV. vor allem die Rolle des Kaisers als „Schutzherr der Kirche“, wie sie im gemeinsamen Vorgehen von Friedrich Barbarossa und Hadrian IV. gegen Arnold von Brescia zum Ausdruck gekommen sei.22 Damit wird das Ideal der zusammenarbeitenden Universalgewalten entworfen, das ihm als Ausgangslage dient – und das erst Stück für Stück von einer Konfrontation überlagert wird. Dementsprechend führt von Raumer schon zum ersten Konflikt mit Hadrian IV. aus, Barbarossa hätte hier bereits lernen können, „daß man dem Papste gehorchen, oder mit allen Kräften gegen ihn kämpfen müsse“.23 Raumer bietet – wohl in dem Verlangen, stets die Quellen „für sich“ sprechen zu lassen – zu weiten Teilen schlicht eine Übersetzung der Quellen ohne einen größeren interpretatorischen Anteil.24 Doch da, wo er die Quellenaussagen kommentiert, betont er immer wieder das Ideal des Zusammenwirkens der beiden Universalgewalten. Dementsprechend sieht er in den Wirren um den Stratordienst in Sutri auch eher ein Missverständnis zwischen Kaiser und Papst um die korrekte Ausführung und keinen Versuch einer Über- beziehungsweise Unterordnung der einen über die andere Universalgewalt, was auch der aktuellen Deutung des Vorgangs entspricht.25 Das positive Zusammenwirken von Kaiser und Papst wird von Raumer immer wieder

21 Raumer, Friedrich: Geschichte der Hohenstaufen und ihre Zeit, Bd. 1, 2. vermehrte und verbesserte Auflage, Leipzig 1840, S. XIII f. Wenig differenziert sind die Ausführungen bei Schieblich: Auffassung (wie Anm. 18), S. 113–117, für den das Kaisertum in der Darstellung Raumers „weniger reale Macht als Symbol“ sei und daher für Raumer in seiner Darstellung „ohne Belang“, ebd., S. 117. 22 Raumer: Geschichte (wie Anm. 20), Bd. 2, S. 38. 23 Ebd., S. 39. 24 Er folgt dabei nicht allein Rahewin, sondern orientiert sich bei der Darstellung der beiden Universalgewalten und ihrer Kontakte zueinander auch immer wieder an der Vita Alexanders III. durch Boso, vgl. Berg: Heldenbilder (wie Anm. 20), S. 52 f. 25 Raumer: Geschichte (wie Anm. 20), S. 41 f.; zur aktuellen Deutung vgl. maßgeblich Deutinger, Roman: Sutri 1155. Mißverständnisse um ein Mißverständnis, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 60 (2004), S. 97–133; die These von einem lehnsrechtlichen Konnex des Stratordienstes und damit einer Unterordnung des Kaisertums unter das Papsttum durch den Stratordienst wurde 1927 von Robert Holtzmann formuliert und hatte bis ins ausgehende 20. Jahrhundert immer wieder Anerkennung gefunden, vgl. den Forschungsüberblick ebd., S. 98 f.

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thematisiert,26 ohne dass er deswegen auch Auseinandersetzungen unter den Tisch fallen lässt.27 Doch auch der Konflikt am Ende des Pontifikates Hadrians IV. wird wie Sutri als ein „Mißverständnis zwischen beiden“ (i. e. Barbarossa und Hadrian IV.) gedeutet beziehungsweise er habe sich nach von Raumer aus einem Missverständnis entwickelt.28 Das Handeln Barbarossas nach dem Ausbruch des Alexandrinischen Schismas deutet er nicht im Sinne des kaiserlichen Wollens, sondern beschreibt allein dessen Wirkung namentlich auf Alexander III. und seine Partei – die Intention Barbarossas thematisiert er nicht explizit und damit auch nicht die Vorstellung von kaiserlichen Kompetenzen nach dem Ausbruch des Schismas etwa auf der Synode in Pavia.29 In der Folge spricht von Raumer jedoch oft vom „kaiserlichen Papst“, wenn er Viktor IV. behandelt, oder mit Bezug auf Barbarossa von „seinem Papst“.30 Am Fortgang des Schismas schreibt von Raumer beiden Parteien eine Schuld zu und erkennt in diesem keinen grundsätzlichen Konflikt der Universalgewalten.31 Erst mit der Wahl Paschalis III. verändert sich die Darstellung. Zwar sei dessen Erhebung ohne das Wissen Barbarossas geschehen, doch der Staufer habe sich dann für Paschalis III. entschieden, da die Anerkennung Alexanders III. für ihn nicht möglich gewesen sei, „ohne 26 So habe Barbarossa von sich aus nach der römischen Gesandtschaft an ihn im Vorfeld seiner Kaiserkrönung mit Hadrian  IV. gemeinsam das weitere Vorgehen besprochen, Raumer: Geschichte (wie Anm. 20), Bd. 2, S. 45; auch die Aussöhnung nach Besançon zwischen Friedrich I. und Hadrian IV. wird als „dem Kaiser gewiß nicht minder willkommen als dem Papst“ gekennzeichnet, ebd., S. 82. 27 So etwa das Konkordat von Benevent (1156) zwischen Hadrian IV. und Wilhelm I. von Sizilien, ebd., S. 74 f., oder die Auseinandersetzungen auf dem Hoftag in Besançon und die Folgen, ebd., S. 75–82. 28 Ebd., S. 109. 29 Ebd., S. 129–135; zur Sache vgl. Johrendt, Jochen: The Empire and the Schism, in: Clarke, Peter D./Duggan, Anne J. (Hg.): Pope Alexander III (1159–81). The Art of Survival (Church, Faith and Culture in the Medieval West) Farnham 2012, S. 99–126, hier S. 107–112. 30 Raumer: Geschichte (wie Anm. 20), Bd. 2, S. 146 und öfter. 31 Diplomatisch unentschlossen formuliert Raumer, ebd., S. 156, dann auch zum Fortgang des Schismas nach dem gescheiterten Einigungsversuch des Jahres 1162: „Nunmehr war also die Hoffnung den Kirchenfrieden herzustellen, nicht ohne Schuld aller Theile ganz verschwunden, und man mußte bei der Sinnesart Friedrichs und Alexanders einem langen und hartnäckigen Kampf entgegenstehen! In diesem Kampfe hatte der Papst den großen Vortheil, daß ihn die Stimmung des Jahrhunderts begünstigte und er alle Thätigkeit auf einen Punkt richten konnte; während den Kaiser Sorgen und Arbeiten mannichfacher Art beschäftigten und seine Kräfte zerstreuten und schwächten. Jener stand da als ein Kämpfer für den Himmel, und ihm Bunde mit der Freiheit auf Erden: dieser hingegen schien die irdische Ordnung zu überschätzen und den Himmel bestürmen zu wollen.“

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damit sein früheres Benehmen selbst zu verdammen und sich seinem Gegner und der Kirche gleichsam zu unterwerfen.“32 Barbarossas Plan sei es nun gewesen, mit Hilfe seines Papstes „zugleich weltlicher und geistlicher Herrscher seyn zu können.“33 Zugleich spricht von Raumer von einem „Kampf gegen die kirchlichen und die Freiheitsansichten eines Jahrhunderts“,34 womit jedoch – anders als dann bei Wilhelm Zimmermann35 – nicht die „republikanische Freiheit“, sondern vielmehr eine Freiheit allgemeiner Natur gemeint ist, die auch die ­libertas ecclesiae inkludiert. Den Würzburger Eiden habe Barbarossa zwar zugestimmt und diese dann auch „mit unermüdlicher Thätigkeit“ durchzusetzen versucht, doch die treibende Kraft dahinter sei Rainald von Dassel gewesen.36 Der ­Erhebung Calixts (III.) habe Friedrich I. nachträglich zugestimmt, da er sie für ­„folgerichtig“ erachtet und die Zustimmung des englischen Königs erwartet habe – die handelnde Partei seien jedoch die „Gegner Alexanders“ gewesen, zu denen Barbarossa nicht hinzugezählt wird.37 Immer wieder betont von Raumer jedoch die Perspektive der Universalgewalten, zusammenarbeiten zu wollen/sollen, weswegen etwa Alexander III. das Ersuchen des byzantinischen Kaisers Manuel I. Komnenos um die römische Kaiserwürde beziehungsweise die Anerkennung als einziger Kaiser negativ beschieden habe, da „der kluge Alexander ... die Aussöhnung mit Friedrich nicht ganz unmöglich machen“ wollte.38 Und auch Friedrich Barbarossa habe „seinen eifrigsten Wunsch einer Aussöhnung“ zu erkennen gegeben – gleichwohl erst nach seiner Niederlage gegen die Lega Lombarda direkt vor der dann entscheidenden Niederlage in Legnano, ohne dass von Raumer dies in einem Kausalzusammenhang darstellt.39 In die Leitlinie der Zusammenarbeit der Universalgewalten fügen sich auch die Ausführungen zum Vorfrieden von Anagni ein: „so aufrichtig wünschten jetzt beide Theile den Frieden, dass man sich bereits nach vier32 33 34 35 36 37 38

Ebd., S. 190. Ebd., S. 190. Ebd., S. 191. Siehe unten bei Anm. 48. Raumer: Geschichte (wie Anm. 20), Bd. 2, S. 199–202, das Zitat S. 202. Ebd., S. 230. Ebd., S. 231. Zur Sache vgl. Harris, Jonathan/Tolstoy, Dimitri: Alexander III and Byzantium, in: Clarke/ Duggan (Hg.): Pope Alexander III (wie Anm. 29), S. 301–313, hier S. 311 f.; sowie Lamma, Paolo: Comneni e Staufer. Ricerche sui rapporti fra Bizanzio e l’accidente nel secolo XII, 2 Bde. (Studi Storici 14–18, 22–25) Roma 1957, hier Bd. 2, S. 123–143. 39 Raumer: Geschichte (wie Anm. 20), Bd. 2, S. 247.

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zehntägiger ernster Berathung am 12ten November über alle Hauptpunkte geeinigt hatte, welche das Reich und die Kirche betrafen“.40 Auch den Frieden von Venedig sieht von Raumer weder als eine eindeutige Niederlage Barbarossas, noch als ein Ende des Ringens der Universalgewalten als vielmehr der beiden „ersten Männer ihrer Zeit“.41 So skizziert er auch den konkreten Vertragsschluss wie folgt: „Nachdem Alexander seine Freude über die Herstellung des Kirchenfriedens ausgesprochen, und Friedrich die Gründe seines bisherigen wohlgemeinten Widerstandes entwickelt hatte, wurde die Friedensurkunde vorgelesen, beschworen und jeder etwanige Uebertreter des Vertrags gebannt.“42 Erst in der Wertung kommt von Raumer auf eine allgemeine Ebene, wenn er ausführt: „Nachdem der Kaiser sich hatte überzeugen müssen, eine Unterordnung der Kirche unter den Staat, sey in seinem Jahrhundert ein ganz unausführbarer Gedanke ...“.43 Die Folgen beziehen sich jedoch nicht auf das Verhältnis der beiden Universalgewalten – abgesehen davon, dass Barbarossa nun Calixt (III.) („ein ganz unbedeutendes Werkzeug“44) seine Unterstützung unterzog –, sondern auf die Kirche in Deutschland, namentlich auf die Besetzung der Bischofsstühle. Das von Raumer gezeichnete Bild bleibt daher ambivalent, da er auf der einen Seite bisweilen das Ringen um generelle Kompetenzen durchschimmern lässt, auf der anderen Seite jedoch vor allem betont, dass es sich um die Auseinandersetzung zweier Männer handle, wobei seine Sympathie ohne Zweifel Friedrich Barbarossa gehörte.45 Strukturelle Erörterungen spielen faktisch keine Rolle, die Kompetenzen der Universalgewalten in ihrem Verhältnis zueinander werden nicht thematisiert, abgesehen von der Bezeichnung des Kaisers als Schutzherr der Kirche. Das gilt sowohl für die kaiserliche als auch für die päpstliche Seite. Ein Spezifikum von Raumers ist dabei aus der Perspektive der heutigen Forschung, dass er zwar den Konflikt zwischen den beiden Männern Alexander III. und Friedrich Barbarossa thematisiert, auch denjenigen zwischen weltlichem Zugriff und kirchlichem Freiheitsstreben. Doch Kirche und Papst sind für ihn nicht identisch, der Papst keineswegs das Fundament der Kirche. Die vor allem von päpstlicher Seite formulierte Engführung von Papsttum und Kirche, die 40 41 42 43 44 45

Ebd., S. 256. Ebd., S. 262; vgl. dazu auch Berg: Heldenbilder (wie Anm. 20), S. 54 f. Raumer: Geschichte (wie Anm. 20), S. 263. Ebd., S. 265. Ebd., S. 265. An anderer Stelle, ebd., S. 284, wird Calixt (III.) sogar als „Afterpapst“ bezeichnet. So auch Berg: Heldenbilder (wie Anm. 20), S. 51.

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Gleichsetzung von libertas ecclesiae und libertas Romana scheint in von Raumers Darstellung nicht auf.46 So heißt es im Rahmen der abschließenden Würdigung Alexanders III. beim Bericht zu dessen Tod: „Er war ohne Zweifel einer der größten Päpste. ... seine Demuth ließ ihn nie die Würde eines Hauptes der Christenheit vergessen sein Stolz auf diese Würde ward im Glücke nicht zum Uebermuthe, seine Feindschaft gegen den Kaiser erschien nie als gemeiner persönlicher Haß, sondern als eine Pflicht, die ihm sein erhabener Beruf auferlegte.“47 Wilhelm Zimmermann – dem eine deutlich geringere Resonanz beschieden war als Friedrich von Raumer – charakterisierte die Epoche der Staufer im Vorwort seiner 1838 erstmals unter dem Titel „Die Hohenstaufen oder der Kampf der Monarchie gegen Papst und republikanische Freiheit. Ein historisches Denkmal“ und 1865 in überarbeiteter Fassung unter dem Titel „Geschichte der Hohenstaufen“ neu aufgelegten Abhandlung hingegen als eine Epoche des Ringens der Universalgewalten.48 Doch das hochmittelalterliche Ideal der Zusammenarbeit der Universalgewalten tritt deutlich hinter die zeitgenössischen Schablonen Zimmermanns zurück, auch wenn er beispielsweise zum Konstanzer Vertrag in Vorbereitung der Kaiserkrönung ausführt: „So freundlich verbrüdert war in diesem Augenblick Königthum und Priesterherrschaft“.49 Die Ereignisse in Sutri werden nicht berichtet, während die Auseinandersetzungen in Besançon als die Bemü46 Vgl. zur kirchlichen Entwicklung etwa Schieffer, Rudolf: Freiheit der Kirche: Vom 9. zum 11. Jahrhundert, in: Fried, Johannes (Hg.): Die Abendländische Freiheit vom 10. zum 14. Jahrhundert: Der Wirkzusammenhang von Idee und Wirklichkeit im europäischen Vergleich (Vorträge und Forschungen 39) Sigmaringen 1991, S. 49–66, hier S. 65 f. Für die Epoche ab der papstgeschichtlichen Wende bis zu Innozenz III. vgl. Johrendt, Jochen/Müller, Harald (Hg.): Römisches Zentrum und kirchliche Peripherie. Das universale Papsttum als Bezugspunkt der Kirchen von den Reformpäpsten bis zu Innozenz III. (Neue Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 2) Berlin/New York 2008; Johrendt, Jochen/Müller, Harald (Hg.): Rom und die Regionen. Studien zur Homogenisierung der lateinischen Kirche im Hochmittelalter (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Neue Folge, phil.-hist. Kl. 19) Berlin/Boston 2012. 47 Raumer: Geschichte (wie Anm. 20), Bd. 2, S. 285; zumindest in Hinblick auf Alexander III. trifft es somit nicht zu, dass von Raumer alle Gegner Barbarossas „in dunklen Farben“ darstellen würde, wie Berg: Heldenbilder (wie Anm. 20), S. 53, ausführt. 48 Zimmermann, Wilhelm: Geschichte der Hohenstaufen, Bd. 2., umgearbeitete Auflage, Stuttgart 1865, S. 5: Die Zeit der Hohenstaufen „war ein Kampf alleinherrlichen Königthums um Universalherrschaft gegen Papstthum und republikanische Freiheit.“ Der Titel der ersten Auflage seines Werkes lautete auch: Die Hohenstaufen oder der Kampf der Monarchie gegen Papst und republikanische Freiheit. Ein historisches Denkmal, 2 Bde., Stuttgart/Leipzig 1838–1839. 49 Zimmermann: Geschichte der Hohenstaufen (wie Anm. 48), S. 114.

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hungen gedeutet werden, das Kaisertum als ein Lehen des Papstes erscheinen zu lassen.50 Abstrus wirken seine Ausführungen zu einem „deutschen Papst“ und einer deutschen „Nationalkirche“, die Rainald von Dassel angeblich Friedrich Barbarossa zu gründen vorgeschlagen habe.51 Generell ist Zimmermanns Darstellung des Kaisertums nicht von einer größeren Sachkenntnis geprägt, so dass die kaiserliche Rolle als defensor ecclesiae so gut wie nicht thematisiert wird, auch bei der Schilderung der Synode von Pavia nicht. 52 Da Zimmermanns Hauptinteresse in der Entwicklung der „bürgerlichen Freiheit“ liegt, wertet er die Aussöhnung der Universalgewalten im Frieden von Venedig kaum, sondern geht vor allem auf die Folgen für die Lombarden ein.53 Neben von Raumer und Zimmermann, zwei Vertretern der Profangeschichte von unterschiedlicher Qualität, soll – zumindest an einem Beispiel und dort auch nur in wenigen Ausschnitten – auch ein kurzer Blick auf die Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts geworfen werden, zumal mit dem dreibändigen, 1860 bis 1864 in zweiter Auflage erschienenem Werk des evangelischen und in Göttingen lehrenden Kirchenhistorikers Hermann Reuters zu Alexander III. eine umfangreiche Analyse vorliegt.54 Er verstand sein Werk dezidiert als ein historisches, das angelehnt an die historisch-kritischen Methoden der Geschichtswissenschaft, den kirchenhistorischen Gegenstand aus der Perspektive der Theologie traktierte, um „die Betrachtung der großartigen welthistorischen Bewegung der Kirche“ nicht der „Genossenschaft der politischen Historiker überlassen“ zu 50 Ebd., S. 161 und 165 f. Völlig verquast sind die Ideen von einem „demokratischen Geist“, der sich in der Epoche Barbarossas „auf dem religiösen Gebiet“ fassen lasse, ebd., S. 162. 51 Ebd., S. 175: „Er [i.e. Rainald von Dassel] warf den Gedanken in Friedrichs Seele, ein selbständiges deutsches Kirchenthum mit einem Primas an der Spitze, eine Nationalkirche mit einem deutschen Papst unter des Kaiser Oberhoheit zu gründen.“ Noch abstruser werden dann die Ausführungen zu einer geplanten Absetzung Hadrians IV. auf kaiserliches Geheiß hin, ebd., S. 176: „Reinald wollte also erstens die Person, die als Hadrian IV. auf dem päpstlichen Stuhle saß, durch kaiserliche Absetzung beseitigen; ...“. 52 Ebd., S. 241 f. 53 Ebd., S. 341: „... die Kaisermacht war erlegen gegen den Bund der Bürgerfreiheit und des Priesterthums, aber der lange Kampf hatte viele Ideen erzeugt und verbreitet unter den Völkern, welche der Herrschaft der Kirche über die Geister Abbruch thaten. Das Streben des Geistes der Zeit zu bürgerlicher Freiheit ...“. 54 Reuter, Hermann: Geschichte Alexanders III. und der Kirche seiner Zeit, 3 Bde., Leipzig 1860–1864; der erste Band erschien bereits 1845 und in überarbeiteter Form im Rahmen des Gesamtwerkes in einer zweiten Auflage 1860. Zu Reuter vgl. Mirbt, Carl: Art. „Reuter, Hermann“, in: Allgemeine Deutsche Biographie 53 (1907), S. 310–319, der auch dezidiert auf Reuters Alexander III. eingeht.

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müssen.55 Dabei ging es ihm vor allem um die Geschichte des Papsttums. In der neuen Kaiseridee Friedrich Barbarossas sieht Reuter in Zusammenhang mit den Verhandlungen zur Kaiserkrönung des Staufers etwas, das „gegen nichts anders als gegen alles das gerichtet [war], was vielmehr vom hierarchischen Standpunkt als ein Legitimes, dem Gregorianischen Kirchenthum Unveräußerliches beurtheilt ward.“56 Das neue Kaisertum, das nach Reuter auch Rom wieder zu einer kaiserlichen Stadt machen wollte, war in seiner Darstellung folglich von seiner Idee her nicht auf eine Zusammenarbeit der beiden Universalgewalten ausgerichtet, als vielmehr auf einen Frontalangriff auf das seit der papstgeschichtlichen Wende sich ausbildende Papsttum als immer aktiver agierende Leitungsinstanz der gesamten Kirche. Für Reuter musste die Herrschaft Barbarossas gleichsam zum Konflikt mit dem Papsttum führen, zu einem sehr grundlegenden Konflikt.57 Die Quellenzeugnisse, die den staufischen Willen der Zusammenarbeit der beiden Universalgewalten bezeugen, etwa in Hinblick auf die Verfolgung Arnolds von Brescia, werden in dieser Perspektive als eine Verstellung Barbarossas gewertet.58 Auch die Ereignisse von Sutri werden ohne rechte Quellenkenntnis, dafür bisweilen etwas phantasievoll dargeboten.59 Generell ist seiner Darstellung ein starker Hang zu Superlativen auf Kosten der historisch angemessenen Differenzierung zu eigen. Wie sehr Reuter in seiner Darstellung für Alexander III. Partei ergreift, wird an der Darstellung der Doppelwahl sowie der sich anschließenden Immantation deutlich, bei der er alexandrinische Quel-

55 Reuter: Alexander III. (wie Anm. 54), Bd. 1, S. VII. 56 Ebd., S. 6. 57 So ist es auch zu interpretieren, wenn er ebd., S. 7, nach der Wahlanzeige Friedrich Barbarossas und angesichts des Romzugs Barbarossas zur Positionierung Hadrians IV. ausführt: „Gedanken der Sorge nahmen seine Seele ein. Allerdings er konnte den deutschen König nicht als Feind angreifen, aber auch nicht ungerüstet erwarten.“ Umgekehrt wird die Intention Friedrich Barbarossas als das Gegenteil einer Bemühung um Zusammenarbeit der Universalgewalten dargestellt, wenn Reuter etwa ausführt: „Je mehr sich Hadrian IV. seinem Ende näherte, um so energischer waren die Veranstaltungen [i.e. von Seiten Friedrich Barbarossas] geworden, mit ihm das Pontificat der freien Hierarchie für immer einzusargen.“ 58 Ebd., S. 8: „Indessen, wie dem sei, dieser [i.e. Friedrich Barbarossa] that zunächst alles, jeglichen Verdacht, als verfolge er feindliche Absichten, niederzuschlagen. Seine Erklärungen strömten über in Bekenntnissen der Loyalität und Ergebenheit.“ 59 Ebd., S. 9. Die Problematik des Stratordienstes wird zwar erfasst, doch die Umstände werden falsch dargestellt. Eine vertiefte und vor allem quellenbasierte Interpretation der Ereignisse fehlt.

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len nachschreibt, ohne deren Aussage und Intention zu hinterfragen.60 Die Rolle des Kaisers als defensor ecclesiae wird nicht im Zusammenwirken Hadrians IV. und Friedrichs I. thematisiert, sondern erstmals im Zusammenhang mit der Synode von Pavia.61 Dort wird auch der Grundsatz der Nichtjudizierbarkeit erläutert: „Es ist nicht Auflehnung eines grundlosen Eigensinns oder absichtliche Fälschung, wenn er, wie demnächst zu erzählen sein wird, jenem Rechte des Kaisers das Privilegium des heiligen Petrus gegenüberstellt, um es zu verneinen.“62 So könne sich der päpstliche Stuhl über alle stellen, „durch Ausübung des Richteramtes über alle Völker, während es [i. e. das Papsttum] selbst von Niemand gerichtet werden kann.“ Daran wird der Kern der Darstellung Reuters klar: Die Epoche Alexanders III. sei durch einen Dualismus zwischen Kirche und Welt, zwischen Kaiser und Papst gekennzeichnet, der kein Miteinander ermögliche, sondern aufgrund des jeweiligen Anspruchs beider Parteien eine Hierarchie erzeuge, der die andere Seite nach dem jeweiligen Selbstverständnis untergeordnet werden müsse.63 Aufgrund dieses – nicht in den Quellen zu fassenden – Leitgedankens seiner Darstellung ist es Reuter unmöglich, die beiden Universalgewalten in Harmonie darzustellen, oder auch nur das Ideal der Zusammenarbeit beider. Die Bemühungen darum werden von ihm in der Regel als berechnetes Mittel zum Zweck charakterisiert.64 Seiner Analyse in hierarchischen Kriterien gemäß ist nach Reuter der Frieden von Venedig und vor allem die Rekonziliation des Kaisers vor der Markuskirche folglich auch nicht die Wiederaufnahme Friedrich Barbarossas in die Kirche, sondern „die Huldigung welche nach dem Glauben der Zeit die das Reich Gottes bisher befehdende Weltmacht ... darbrachte“.65 Beim Stratordienst beschreibt er den Kaiser als „den sich also Demüthigenden“.66 Es ist der Konflikt, der bei Reuter im Zentrum steht, der Konflikt, der Hierarchisierungen bewirken soll – und damit auch für die Universalgewalten die Über60 Ebd., S. 65–68. 61 Ebd., S. 80: „Da der Streit ein kirchlicher, die Frage, um die es sich handelte, eine die ganze Christenheit bewegende war, so schien dasselbe nur eine allgemeine Kirchenversammlung halten, Friedrich als der von beiden Theilen angerufene Schutzherr sie anberaumen zu können.“ 62 Ebd., S. 84. 63 Vgl. ebd., S. 84 f. 64 So etwa die Verlautbarung der kaiserlichen Partei bei den Verhandlungen in Anagni, vgl. ebd., Bd. 3, S. 242 f. 65 Ebd., S. 304. 66 Ebd., S. 307.

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beziehungsweise Unterordnung. Auch wenn er den Frieden von Venedig nicht im Sinne dieses Leitmotivs explizit wertet, so wird deutlich, dass er einen klaren Sieg Alexanders III. über Friedrich Barbarossa darstellt. Eine Nebenrolle spielt das Verhältnis der beiden Universalgewalten zueinander auch in der von den Zeitgenossen deutlich wahrgenommenen und für die weitere Geschichtswissenschaft äußerst wirkmächtigen Kontroverse zwischen Heinrich von Sybel und Julius von Ficker um den Charakter des mittelalterlichen Kaisertums aus dem Jahr 1862. Sie bildet gewissermaßen auch die Grundlage für die späteren Ausführungen während des Kulturkampfes und bezog sich formal auf die ersten beiden Bände der Geschichte der deutschen Kaiserzeit aus der Feder Wilhelms von Giesebrecht. Daher sei sie hier kurz dargestellt.67 Auch der einflussreiche und politisch im Sinne Preußens tätige Heinrich von Sybel hatte die enge Verbindung von Kaisertum und Papsttum betont, den geistlichen Charakter des Kaisertums.68 Der Kaiser sei als „Schutzherr der Kirche

67 Zur Sybel-Ficker-Kontroverse vgl. Brechenmacher, Thomas: Wieviel Gegenwart verträgt historisches Urteilen? Die Kontroverse zwischen Heinrich von Sybel und Julius Ficker über die Bewertung der Kaiserpolitik im Mittelalter (1859–1862), in: Elvert, Jürgen/Krauss, Su­sanne (Hg.): Historische Debatten und Kontroversen im 19. und 20. Jahrhundert. Jubiläumstagung der Ranke-Gesellschaft in Essen 2001 (Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft 46) Stuttgart 2003, S. 34–54, zur kritischen Distanz der Fachwissenschaft zu den Darlegungen Sybels ebd., S. 46 f., zu den weiteren Auswirkungen im Fach ebd., S. 52 f.; für die Zeit bis 1945 kaum darüber hinausgehend auch Klein, Christian: Von der Aktualität einer überholten Fragestellung: Der Sybel-Ficker-Streit und der Diskurs über den deutschen Nationalstaat, in: Jostkleigrewe, Christina u.a. (Hg.): Geschichtsbilder. Konstruktion – Reflexion – Transformation (Europäische Geschichtsdarstellungen 7) Köln u.a. 2005, S. 203–241, bes. S. 208–223. Zur Wirkung Heinrich von Sybels in der Geschichtswissenschaft vor seinem Ruf nach Bonn, mithin in seiner Zeit als Sekretär der Historischen Kommission und Lehrstuhlinhaber in München, vgl. Dotterweich, Volker: Heinrich von Sybel. Geschichtswissenschaft in politischer Absicht (1817–1861) (Schriften der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 16) Göttingen 1978; fast ausschließlich dessen Ergebnisse referierend Körner, Hans-Michael: Heinrich von Sybel, in: Weigand, Katharina (Hg.): Münchner Historiker zwischen Politik und Wissenschaft. 150 Jahre Historisches Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität (Beiträge zur Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München 5) München 2010, S. 79–94. 68 So führte Sybel zum Charakter des Kaisertums Karls des Großen aus: „Die Kaiserkrönung brachte der fränkischen, und weiterhin der deutschen Monarchie eine doppelte, verhängnisvolle Mitgift zu: das Trachten nach unbeschränkter Weltherrschaft und die Vorstellung einer religiösen, der päpstlichen analogen Weihe“, Sybel, Heinrich von: Die Deutsche Nation und das Kaiserreich. Eine historisch-politische Abhandlung, Düsseldorf 1862, S. 12.

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constituiert“.69 Sybel charakterisiert das Kaisertum in seinem Ursprung unter Karl dem Großen folglich „als priesterliche Weltherrschaft“.70 Kaisertum und Papsttum sind nach ihm eng zusammengebunden, um das gemeinsame Ziel eines christlichen Universalreiches umzusetzen. Doch in dem Moment, in dem das weltliche und geistliche Moment auseinandertraten, wurde dieser gemeinsame Boden der beiden Universalmächte nach Sybel verlassen. Folglich sieht er den Investiturstreit als die Epoche des Niedergangs der kaiserlichen Gewalt, namentlich die Entwicklung nach dem Tod Heinrichs III.71 Friedrich Barbarossa nahm in seiner Darstellung allein aufgrund seiner Auseinandersetzungen mit den Lombarden und seines Engagements in Italien breiteren Raum ein, das Alexandrinische Schisma – und damit die in der Perspektive der modernen Forschung für die Beurteilung des Kaisertums Friedrich Barbarossas wichtige Phase des offenen Konfliktes zwischen den beiden Universalgewalten – spielt so gut wie keine Rolle.72 Sybel zeichnet damit vor allem ein sich von den Herrschern seiner eigenen Gegenwart abhebendes Bild des mittelalterlichen Kaisertums, streicht die Unterschiede kräftig heraus und vernachlässigt die verbindenden Momente. Dazu treibt ihn vor allem die Ablehnung einer Gleichsetzung von mittelalterlichem Kaisertum und der „Vertretung nationaler Interessen“.73 Auch der von Heinrich von Sybel attackierte Julius Ficker, der in seiner noch im selben Jahr – 1862 – erschienen Antwort an „den Gegner“ ebenso polemisch vorgeht, betont den Charakter des Kaisertums als „Schirmvogte der römischen Kirche“.74 Gleichwohl spricht Ficker im Gegensatz zu Sybel immer wieder vom „deutschen Kaisertum“. Wie Sybel sieht auch Ficker den Investiturstreit als eine entscheidende Wende, doch noch nicht als das Ende kaiserlicher Herrschaft.75 Vor allem die Darstellung Friedrich Barbarossas als kraftlosen Herrscher kritisiert Ficker heftig. Und als Argument des kraftvollen Kaisertums wird nun eben genau die bei Sybel nicht thematisierte Auseinandersetzung zwischen Barbarossa und Alexander III. ins Feld geführt: Der Staufer habe als letzter Kaiser noch69 70 71 72 73 74

Ebd., S. 15. Ebd., S. 57. Ebd., S. 57–63. Ebd., S. 65–68. Ebd., S. V. Ficker, Julius: Deutsches Königthum und Kaiserthum. Zur Entgegnung auf die Abhandlung Heinrichs von Sybel: Die Deutsche Nation und das Kaiserreich, Innsbruck 1862, S 46. 75 Ebd., S. 62–66.

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mals versucht, „eine kaiserliche Allgewalt“ herzustellen.76 Und das Mittel dazu habe Friedrich Barbarossa „in der Verfügung über den Stuhl von Rom“ gesehen, „nicht als Mittelpunkt der ganzen Christenheit, aber als ersten Stuhl des Reichs“.77 Dies habe sich zerschlagen, womit die Idee eines theokratischen Kaisertums endgültig ad acta gelegt worden sei. Doch danach habe sich mit dem Frieden von Venedig ein Gleichgewicht zwischen den beiden Universalgewalten eingestellt.78 Beide, Ficker wie Sybel, sehen in der Epoche Friedrich Barbarossas folglich eine entscheidende Phase der Auseinandersetzungen zwischen Kirche und Staat in Fortsetzung des so genannten Investiturstreits. Kern ist bei beiden das Ringen um eine Über- beziehungsweise Unterordnung der einen Universalgewalt unter die andere. Zwar werten sie das Ergebnis des Friedens von Venedig unterschiedlich, doch die Grundkonstellation des Ringens der Universalgewalten ist dieselbe. Das mittelalterliche Ideal des Zusammenwirkens tritt demgemäß in den Hintergrund. Zwar betont Ficker das universale Moment des Kaisertums, doch sieht er dieses als ein eigenständiges und vom Papsttum getrenntes, ja mit dessen Universalanspruch ringendes. Die so skizzierte Ficker-Sybel-Kontroverse wirkte noch lange auf die deutschsprachige Geschichtsforschung ein. Und sie bildet auch eine der Grundlagen für das sicherlich wirkmächtigste Werk der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der „Geschichte der deutschen Kaiserzeit“ von Wilhelm von Giesebrecht.79 Der 1875 erschienene vierte Band mit dem Titel „Staufer und Welfen“ ist wie der 1880 76 Ebd., S. 69. 77 Ebd., S. 69. 78 Ebd., S. 77, zum Frieden von Venedig: „... so liegt darin meiner Ansicht nach ein so vollständiges Zeugnis des damaligen Gleichgewichtes beider Gewalten, wie es geschichtliche Thatsachen nur irgend zu geben vermögen.“ 79 Seine Geschichte der deutschen Kaiserzeit hatte Giesebrecht jedoch schon vor seinem Ruf nach München und der damit verbundenen Nachfolge auf dem Lehrstuhl Sybels begonnen. Den ersten Band (erschienen 1855) hatte er in Berlin geschrieben, den zweiten (1858) in Königsberg abgeschlossen. Zu Giesebrecht und seinem Wirken als Historiker vgl. die sehr zeitgebundene Skizze von Heimpel, Hermann: Art. „Giesebrecht, Friedrich Wilhelm Benjamin von“, in: Neue Deutsche Biographie 6 (1964), S. 379–382; sowie zuletzt Schieffer, Rudolf: Wilhelm von Giesebrecht (1814–1889), in: Weigand (Hg.): Münchner Historiker (wie Anm. 67), S. 119–136; zu seiner Person und seinem Wirken vgl. auch die Skizze durch seinen Schüler Riezler, Sigmund: Gedächtnisrede auf Wilhelm von Giesebrecht, gehalten in der öffentlichen Sitzung der k. b. Akademie der Wissenschaften zu München zur Vorfeier ihres 132. Stiftungstages am 21. März 1891, München 1891; zur Kaisergeschichte ebd., S. 28–32.

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erschienene fünfte Band zu Friedrich Barbarossa in der Epoche des Kulturkampfes entstanden.80 Hier ist der Zusammenhang von politischen Ereignissen der Zeit Giesebrechts und seiner Darstellung zu fassen, wenn Giesebrecht im Vorwort des vierten Bands ausführt, dass die Gründung des Reiches und seine Arbeiten in direktem Zusammenhang standen, wobei er die deutlichen Unterschiede zwischen dem alten und dem „neuen deutschen Reich“ betont, auch wenn er von einer Erbschaft für das neue Kaiserreich spricht.81 Und bereits im zweiten Satz seines Vorwortes benennt er das Papsttum als die andere, im gregorianischen Zeitalter erfolgreich mit dem Kaisertum ringende Universalie, die einen Niedergang des Kaisertums zu verantworten gehabt hätte. Neben den Parteiungen im Reich und der mangelnden Einheit, sei es vor allem das Papsttum gewesen, das in dieser Epoche das Kaisertum herabgedrückt habe.82 Diese Leitlinie der inneren Zerstrittenheit und des Niedergangs durch den Einfluss des Papsttums dient Giesebrecht am Ende des vierten Bandes als Hintergrund für einen grundlegenden Wandel, für die neue Epoche eines kraftvollen Kaisertums in der Gestalt Friedrich Barbarossas: „Mit Friedrichs Wahl beginnt eine neue Zeit. Sobald sich in Deutschland das Kaiserthum wieder thatkräftig erhob, mußte der ganze Gang der abendländischen Geschichte eine andere Richtung nehmen.“83 Diese allgemeinen Ausführungen konkretisiert er ganz am Ende seines vierten Bandes mit dessen letzten Satz: „Die erste Hälfte des zwölften Jahrhunderts zeigte das deutsche Kaiserthum von der Uebermacht der Kirche gebeugt, die zweite Hälfte sah es wieder in stolzer Erhebung und abermals in einem langen Kampfe mit dem Papstthum – einem Kampfe von

80 Vgl. zu seiner Geschichte der deutschen Kaiserzeit auch Schieffer: Giesebrecht (wie Anm. 79), S. 129–135. Wenig weiterführend, da recht oberflächlich und fast ausschließlich auf die ersten drei Bände der Geschichte der deutschen Kaiserzeit ausgerichtet, Schieblich: Auffassung (wie Anm. 18), S. 129–149. 81 Vgl. Giesebrecht, Wilhelm von: Geschichte der deutschen Kaiserzeit. Vierter Band: Staufer und Welfen, Braunschweig 1875, S. V: „Als das neue deutsche Reich in die Welt trat, ist der durchgreifende Unterschied desselben von dem alten vielfach scharf betont worden, und auch der Verfasser hat dies nicht versäumt. Aber jeder Tag zeigt mehr, daß das neue Reich doch die Erbschaft des alten anzutreten genöthigt war.“ Vgl. Schieffer: Giesebrecht (wie Anm. 79), S 131. 82 Giesebrecht: Kaiserzeit (wie Anm. 81), Bd. 4, S. V: „Ein neues deutsches Reich und ein neues deutsches Kaiserthum erhob sich, während der Verfasser sich eine Periode darzustellen bemühte, in welcher das alte Kaiserthum unter dem Druck des gregorianischen Papstthums und innerer Parteiungen von seiner Höhe sank.“ 83 Ebd., S. 382.

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welthistorischer Bedeutung.“84 Damit parallelisierte Giesebrecht die Auseinandersetzungen des Investiturstreits und seiner Nachwirkungen mit der Zeit Friedrich Barbarossas. Kennzeichnete den Investiturstreit nach seiner Darstellung ein Niedergang des Kaisertums, so sah die Barbarossazeit dessen Wiederaufstieg. Beachtenswert an dieser Einschätzung ist weniger die allgemeine Aussage in Hinblick auf die Durchsetzungsfähigkeit des römisch-deutschen Königs, die sich so in etlichen modernen Darstellungen bis heute noch findet, sondern die Zuspitzung auf das Verhältnis von Kaiser und Papst als Indikator für eine gelungene oder misslungene Herrschaft. In dieser Perspektive wird es zu dem Paradigma kaiserlichen Erfolges schlechthin erhoben, unabhängig von seinem realen Einfluss auf die kaiserliche Herrschaft Friedrich Barbarossas in den unterschiedlichen Handlungsfeldern des Staufers. Doch anders als durch die letzten Sätze des vierten Bandes zu erwarten, charakterisiert Giesebrecht in seinem fünften Band, der allein Friedrich Barbarossa gewidmet ist, das Verhältnis zwischen Kaisertum und Papsttum keineswegs allein nach der Leitfrage von Über- und Unterordnung. Giesebrecht war klar, dass er mit Friedrich Barbarossa keinen einfachen Stoff behandelte, obwohl er am Ende seines vierten Bandes das scheinbar so einfach zu erfüllende Meisternarrativ bereits vorgegeben hatte. In den Vorbemerkungen zu seinem 1880 erschienenen Band zum ersten Stauferkaiser bezeichnete er die Behandlung Friedrich Barbarossas als die „schwerste Aufgabe ... in dieser Kaisergeschichte“.85 Der knapp 1000 Seiten umfassende Band stellt im Wesentlichen die Ereignisse zusammen und schöpft dabei immer wieder sehr deutlich aus den Quellen – auch wenn diese nicht immer als direktes Zitat deutlich gemacht sind. So schimmert an etlichen Stellen Otto von Freising durch oder aber auch Boso, der zwar als der „äußerst parteiische Biograph Alexanders“86 charakterisiert wird – was Giesebrecht jedoch nicht davon abhielt, ihn an etlichen Stellen nachzuschreiben. In der Darstellungsart erweist sich Giesebrecht daher oftmals als ein Schüler 84 Ebd., S. 383. 85 Vgl. Giesebrecht, Wilhelm von: Geschichte der deutschen Kaiserzeit. Fünfter Band: Die Zeit Kaiser Friedrichs des Rothbarts, Braunschweig 1880, S. VI; als Begründung führt er aus, ebd., S. V: „Nur dieser Vernachlässigung kann es zugeschrieben werden, daß der Gang der Ereignisse vielfach im Dunkeln liegt und auch die Würdigung Friedrichs eine so verschiedenartige ist.“ 86 Ebd., S. 240.

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Rankes, da er versucht, die Quellen für sich sprechen zu lassen und nur gelegentlich eine Einordnung der Quellenaussagen bietet.87 Ein Kapitel hebt sich von diesem ansonsten eher sehr nüchternen und um Objektivität bemühten Stil deutlich ab, das zwölfte Kapitel, das mit „Friedrich I. inmitten der Weltverhältnisse“ betitelt ist. An dessen Beginn bietet Giesebrecht nicht nur eine Definition des Kaisertums, sondern setzt die beiden Universalgewalten dezidiert in Beziehung zueinander und zeichnet Entwicklungslinien von der Ottonen- bis in die späte Stauferzeit. Zum Wesen des Kaisertums führt er aus: „So lange es ein römisches Kaiserthum deutscher Nation gab, waren die Aufgaben desselben immer die gleichen gewesen. Die viel gespaltene abendländische Christenheit gegen ihre Feinde zu schützen, inmitten derselben Recht und Gesetz gegenüber der Gewaltthat und Willkür aufrecht zu halten, die Kirche in der Durchführung christlicher Lebensordnungen und in ihrer Missionsarbeit auf alle Weise zu fördern: darin vor Allem sah man den Beruf des Kaiserthums. Glanzvoll strahlte die Kaiserkrone, aber sie legte dem, der sie trug, Pflichten von unermeßlicher Schwere auf; selbst Herrscher vom frischesten Muth und den größten Hülfsmitteln erlagen unter solcher Last. Das Ideal schien unerreichbar, aber doch wurde es immer von Neuem verfolgt, da es nach den Vorstellungen des Mittelalters mit dem innersten Wesen der imperatorischen Gewalt verbunden war, die man von Gott selbst eingesetzt glaubte und an deren Bestand man das Heil der Welt knüpfte.“88 Diese – erst auf Seite 415 des fünften Bandes folgenden – Ausführungen bilden letztlich eine Art Packungsbeilage zum restlichen Band in Hinblick auf das Kaisertum, explizieren die Darstellungsabsicht und verorten den Autor. Bei der Einordnung des Konfliktes zwischen Kaisertum und Papsttum lässt Giesebrecht nun auch alle Zurückhaltung fallen: „Nichts hatte das Kaiserthum mehr in der Entwicklung seiner Macht und damit an der Erfüllung seiner Aufgaben gehindert, als daß das Papstthum den günstigen Zeitpunkt benutzte, um die ihm drückend gewordene Abhängigkeit vom Reiche abzuschütteln und selbst 87 In der Regel werden die dargestellten Entwicklungen nur indirekt gedeutet, etwa dadurch, dass er bestimmten Quellen folgt und andere nicht erwähnt – oder diese als unglaubwürdig aussondert. Zugleich wertet er Handlungen nicht in Bausch und Bogen ab, sondern spricht ihnen häufig auch eine in der Perspektive einer bestimmten Haltung nachvollziehbare Logik zu – ebd., S. 239, zur Weigerung Alexanders III., sich dem Urteil der Versammlung in Pavia zu unterwerfen. 88 Ebd., S. 415.

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die oberste Leitung der abendländischen Christenheit in die Hand zu nehmen ... ein heißer und langer Kampf ohne Gleichen.“89 Und nun zeichnet er eine Linie von den Ottonen zum Investiturstreit und der Zweischwerterlehre. Lothar III. und Konrad III. hätten mit ihre „Nachgiebigkeit“ letztlich nichts erreicht.90 Doch auch das Papsttum sei durch innere Konflikte und die Römer immer wieder bedroht gewesen. „In so schwere Bedrängnis gerieth der Papst, daß er, um seine Existenz zu sichern, einen Hülfsruf nach dem anderen über die Alpen ergehen lassen musste ... In dieser Weltlage war Friedrich auf den Thron Ottos des Großen durch die Wahl der deutschen Fürsten erhoben worden.“91 Friedrich habe nichts Neues gewollt, doch sei die Lage nun erheblich schwieriger geworden. Und dann fährt Giesebrecht mit nationalem Pathos fort: „Aber die Hoffnung, daß ihm die erschöpfte Wehrkraft des deutschen Volkes zu Gebote stehen, daß ihm die Dienste der deutschen Fürsten, namentlich der geistlichen, nicht fehlen würden, gab ihm den Muth, das große Werk anzugreifen“.92 Und Friedrich habe alle wissen lassen, dass es sein Ziel gewesen wäre, dass er „die beherrschende Stellung des deutschen Volkes herstellen wolle“. Doch trotz dieses deutschtümelnden Getöses führt Giesebrecht dann noch aus, dass Friedrich Barbarossa sich sehr genau der Aufgaben und Pflichten des Kaisers gegenüber der Kirche, insbesondere der römischen, bewusst gewesen sei. Dieses Deutungskapitel, wie ich es nennen möchte, steht in einem scharfen Kontrast zu den sonstigen Ausführungen des Bandes. In der allgemeinen Zusammenfassung und Deutung tritt uns die bis ins ausgehende 20. Jahrhundert und bisweilen noch darüber hinaus verbreitete Meistererzählung über die beiden Universalgewalten im Konflikt entgegen. Nach den beiden lauen Kaisergestalten Lothar III. und dem nicht mal zum Kaiser erhobenen Konrad III. sei nun endlich ein kraftvoller Herrscher auf den Thron gekommen, der darum bemüht gewesen sei, den römischen Ansprüchen Einhalt zu gebieten. Friedrich I. habe sich von Anfang an darum bemüht, das Kaisertum – das bei Giesebrecht nur an sehr wenigen Stellen als das „römisch-deutsche Kaisertum“ erscheint und in der Regel allein als das „deutsche Kaisertum“ – zu neuen Höhen zu führen, ihm neuen Glanz zu verleihen, wobei das, was dieses neue Kaisertum sein sollte, oft genug nebulös bleibt. Diese Linie reicht bis heute: So findet sich in einer 2009 erschie89 Ebd. 90 Ebd., S. 416. 91 Ebd., S. 417. 92 Ebd., S. 418, dort auch das nächste Zitat.

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nenen Monographie zu Papsttum und Kaisertum im Mittelalter der Satz: „Der Staufer Friedrich I. hatte im Kaisertum und basierend auf einer geradezu übersteigerten Kaiseridee nach der Weltherrschaft gestrebt; nicht im Sinne einer Herrschaft über die Staaten der Welt, sondern im Sinne einer Beherrschung der Christenheit.“93 So weit wäre nicht einmal John of Salisbury gegangen, der Barbarossa wegen seiner aus der Perspektive des Bischofs angemaßten Richterrolle im Alexandrinischen Schisma heftig attackiert hatte.94 Von derartigen Deutungen und Übersteigerungen sind die Ausführungen jenseits des zwölften Kapitels bei Wilhelm von Giesebrecht praktisch frei. Mit anderen Worten, die Herunterbrechung der großen Deutungslinie auf die konkreten Handlungen des Kaisers erfolgt nicht. Würde das Kapitel zwölf fehlen, ergäbe sich ein grundlegend anderes Bild vom Kaisertum Friedrich Barbarossas. Denn das Meisternarrativ des Stauferkaisers, der dem deutschen Kaisertum gegen die Machenschaften des Papsttums zu neuem Glanz verhilft, findet sich dort nicht mehr. Überhaupt ist die Detaildarstellung nicht vom Ostinato des ewigen Ringens zwischen Kaisertum und Papsttum geprägt, sondern beschreibt v­ ielmehr das Zusammenwirken beider Kräfte, was ich im Folgenden darlegen möchte. So werden die Ereignisse von Sutri, bei denen es offenbar ein Missverständnis zwischen Kaiser und Papst bezüglich des Stratordienstes gegeben hatte, sehr quellennah und ohne weitere Deutung referiert. Zu Beginn führt Giesebrecht aus, dass sich „die beiden Häupter der abendländischen Christenheit“95 be­gegnet seien – und nach Ausräumung des Missverständnisses führt er weiter aus: „Vereint und in bestem Einverständnis setzten beide den Zug gegen Rom fort.“96 Von einer Deutung des Konfliktes als Ringen von Kaisertum und Papsttum um die jeweilige Über- oder Unterordnung liest man nichts. Zur Krönung selbst stellt Giesebrecht den Verlauf dar, zitiert jedoch auch den Eid des zukünftigen Kaisers bei S. Maria in Turri: „Ich verspreche und gelobe vor Gotte und dem heiligen Petrus, daß ich ein Schutzherr und Vertheidiger der römischen Kirche in allen ihren Angelegenheiten nach allem meinem Wissen

93 Goez, Elke: Papsttum und Kaisertum im Mittelalter, Darmstadt 2009, S. 76. 94 Vgl. dazu The letters of John of Salisbury, Bd. 1: The early letters (1153–1161), ed. William James Millor/H. E. Butler/Christopher Nugent Lawrence Brooke, London 1955, Brief Nr. 124 S. 206; zur Sache vgl. Görich: Friedrich Barbarossa (wie Anm. 2), S. 400–403. 95 Giesebrecht: Kaiserzeit (wie Anm. 85), Bd. 5, S. 60. 96 Ebd., S. 60; zur aktuellen Deutung siehe die Literatur in Anm. 25.

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und Vermögen unter Gottes Beistand sein werde.“97 Eine weitere Charakterisierung des kaiserlichen Amtes jenseits der Zitierung dieses Eides erfolgt nicht, so dass vor allem die Funktion des Kaisers als advocatus Romanae ecclesiae hervortritt, als die des defensor ecclesiae. Eine der immer wieder traktierten Stellen zur Frage des Verhältnisses der Universalgewalten ist ohne Frage der Hoftag von Besançon. Giesebrecht deutet die Vorgänge ganz im Sinne eines päpstlichen Anspruchs, das Kaisertum verleihen zu können, und spricht bei der Übersetzung des Wortes beneficium mit Lehen durch Rainald von Dassel von einer „nur zu getreuen Übersetzung, welche der Kanzler Rainald von dem päpstlichen Schreiben gab“.98 Den drohenden Konflikt bezeichnet Giesebrecht als „den offenen Bruch zwischen Kirche und Reich“. Zur Charakterisierung des Kaisertums zitiert er den eingangs erwähnten und allein bei Otto von Freising überlieferten Brief Friedrich Barbarossas, der nach dem Hoftag von Besançon im Reich verschickt wurde.99 Erneut wird Barbarossa – trotz des drohenden Konfliktes – als der defensor ecclesiae dargestellt. Ein Schlüsselereignis für die Darstellung der beiden Universalgewalten und ihr Verhältnis zueinander sind ohne Frage der Ausbruch des Alexandrinischen Schismas und die Versuche, dieses wieder beizulegen. Giesebrecht stellt dabei detailliert das Verhalten des kaiserlichen Gesandten Otto von Wittelsbach bei der Doppelwahl vom 9. September 1159 dar. Dieser hätte sich klar für Viktor IV. eingesetzt und eine Alexander III. gegenüber feindliche Haltung eingenommen. Doch dann resümiert Giesebrecht: „Aber dies Alles berechtigt nicht zu der Annahme, daß der Kaiser das Schisma veranlaßt und Victors Erhebung von vornherein mit allen Mitteln unterstützt habe.“100 97 Giesebrecht: Kaiserzeit (wie Anm. 85), Bd. 5, S. 62. Dass der Kaiser den Eid vor S. Maria in Turri leisten muss, ist im Rahmen der Krönungsordines erstmals im Ordo des Cencius II zu fassen, vgl. Die Ordines für die Weihe und Krönung des Kaisers und der Kaiserin. Ordines coronationis imperialis, ed. Reinhard Elze (MGH Fontes iuris 9) Hannover 1960, Nr. XIV S. 36 f. 98 Giesebrecht: Kaiserzeit (wie Anm. 85), Bd. 5, S. 123. 99 Er zitiert ihn nicht ganz, doch die Eingangspassage: „Da die göttliche Macht, von der alle Gewalt im Himmel und auf Erden ist, uns, ihrem Geweihten, Königtum und Kaisertum zur Regierung übertragen und die Erhaltung des kirchlichen Friedens durch kaiserliche Waffen übertragen hat, ...“. Ebd., S. 124; zum Schreiben siehe oben S. 177. 100 Giesebrecht: Kaiserzeit (wie Anm. 85), Bd. 5, S. 233. Diese Aussage begründet er nicht nur mit dem Fehlen von Quellenaussagen, die eine anderweitige Deutung zuließen, sondern stützt sie auch mit dem Argument: „das eigene Interesse mußte den Kaiser abhalten, in einer so bedenklichen Sache die Macht des Reiches für eine einzelne Persönlichkeit, wie nahe sie ihm immer stehen mochte, in Einsatz zu bringen.“

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Die Position Barbarossas wird sogar als die eines parteilosen Schiedsrichters gezeichnet, denn nach Giesebrecht „blieb er dem Vorsatz getreu, die allgemeine Kirche über ihren Streit entscheiden zu lassen“.101 Dazu habe er sich beraten lassen, mit dem folgenden Ergebnis: „Die versammelten Bischöfe und Aebte erklärten, daß nach den Decreten der Päpste und den kirchlichen Bestimmungen bei einem in der römischen Kirche durch Doppelwahl ausgebrochenen Schisma der Kaiser die beiden Gewählten vorladen und nach dem Richterspruch rechtgläubiger Männer den Streit beilegen müsse. Auf welche kanonische Satzungen man sich dabei auch bezogen haben mag, klar ist, daß zahlreiche Vorgänge aus alter und neuer Zeit für die Meinung der Versammlung sprachen, und mit der eigenen Ansicht des Kaiser stand sie in vollstem Einklang.“102 So sehr sich Giesebrecht ansonsten auch an die Quellen hält und sich als ein umsichtiger Kenner erweist, so sonderbar mutet seine Wertung hier doch an. Denn er macht auf der einen Seite deutlich, dass er die kanonischen Grundsätze für ein derartiges Vorgehen nicht benennen kann. Das verwundert auch nicht, da es diese ja nicht gibt. Sonderbar ist hingegen, dass er den Grundsatz prima sedes a nemine iudicatur hier nicht anführt. Dieser allgemein anerkannte und seit dem Frühmittelalter im Grunde auch eingehaltene Grundsatz wird von ihm vielmehr so beschrieben, dass Alexander III. „einer Lehre huldigte, welche der103 Papst über jeden Richterspruch und jede weltliche Macht erhob“ – der allgemein anerkannte pseudosymmachianische Grundsatz wird somit zu einem Sondervotum gemacht.104 Diese Aussage wirkt angesichts des 1869/70 stattgefunden habenden Ersten Vatikanischen Konzils und den Auseinandersetzungen zwischen Rom und Giesebrechts Münchener Kollegen Ignatz von Döllinger gelinde gesagt erstaunlich.105 Man kann sie als einen kritischen Kommentar des Protes101 102 103 104

Ebd., S. 235. Ebd., dort auch das folgende Zitat. Richtig wohl „den“. Zur pseudosymmachianischen Nichtjudizierbarkeit des Papstes vgl. Vacca, Salvatore: Prima sedes a nemine iudicatur. Genesi e sviluppo storico dell’assioma fino al decreto di Graziano (Miscellanea Historiae Pontificiae 61) Roma 1993; Ders.: Il principio „prima sedes a nemine iudicatur“. Genesi e sviluppo fino a papa Simmaco (498–514), in: Mele, Gianpaolo (Hg.): Il papato di San Simmaco (498–514). Atti del Convegno Internazionale di studi, Oristano 19–21 novembre 1998 (Studi e ricerche di cultura religiosa NS 2) Cagliari 2000, S. 153–190; sowie zum Schisma, das den symmachianischen Fälschungen zugrunde lag, Wirbelauer, Eckhard: Zwei Päpste in Rom. Der Konflikt zwischen Laurentius und Symmachus (498–514). Studien und Texte (Quellen und Forschungen zur antiken Welt 16) München 1993. 105 Zu Döllinger vgl. Fuhrmann, Horst: Ignaz von Döllinger. Ein exkommunizierter Theologe

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tanten Giesebrecht zur damaligen Entwicklung der katholischen Kirche lesen. Doch die Volte ermöglicht es ihm auch, Barbarossa nicht dem Verdacht auszusetzen, er habe Kirchenrecht gebrochen. Dieser wird von Giesebrecht als ein die kirchlichen Grundsätze befolgender und zum Wohle der Gesamtkirche umsetzender Kaiser dargestellt, als ein getreuer Sachwalter der römischen Kirche, der in seiner Funktion als ihr advocatus ecclesiae dann sine ira et studio seinen Verpflichtungen nachkommt. Dass ­Barbarossa unparteiisch vorgehen wollte, betont Giesebrecht immer wieder – auch wenn er das Ladungsschreiben an Alexander III. bespricht und dann ausführt: „Das Schreiben an Octavian ist nicht erhalten, wird aber im Wesentlichen gleichen Inhaltes gewesen sein.“106 Die bei Boso überlieferte Nachricht, dass Friedrich Barbarossa Viktor IV. im Ladungsschreiben als Papst, Alexander III. hingegen als Roland angesprochen habe, weist Giesebrecht zurück.107 Der unparteiische, für die Sache kämpfende Kaiser wird von Giesebrecht auch dann in Szene gesetzt, wenn er über die Verhandlungen in Pavia schreibt: „An den Verhandlungen der Synode selbst über die Wahl hat dann der Kaiser so wenig, wie Octavian, unmittelbaren Antheil genommen.“108 Auch bei der Umsetzung der Beschlüsse von Pavia, die ja bekanntlich die Anerkennung Viktors IV. durch die Teilnehmer erbracht hatten, stellt Giesebrecht als Akademiepräsident und Historiker, in: Ders.: Menschen und Meriten. Eine persönliche Portraitgalerie, München 2001, S. 149–173, bes. S. 160–164; mit den bibliographischen Hinweisen bei Ders.: Ignaz von Döllinger. Ein exkommunizierter Theologe als Akademiepräsident und Historiker (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, phil.-hist. Kl. 137/1) Stuttgart/Leipzig 1999, S. 12–17, die Literaturangaben S. 28–30 und 32 f.; zur Exkommunikation in Folge des Vatikanischen Konzils vor allem Bischof, Franz Xaver: Theologie und Geschichte. Ignaz von Döllinger (1799–1890) in der zweiten Hälfte seines Lebens (Münchener Kirchenhistorische Studien 9) Stuttgart u.a. 1997, S. 233–305. 106 Giesebrecht: Kaiserzeit (wie Anm. 85), Bd. 5, S. 236. 107 So Boso in seiner Vita Alexanders, Le Liber pontificalis. Texte, introduction et commentaire par l’abbé Louis Duchesne/Cyrille Vogel, 3 Bde. (Bibliothèque des Ecoles françaises d’Athènes et de Rome, 2e sér.) Paris 1886–1957, hier Bd. 2, S. 401: ... imperator et Octavianum in suis litteris Romanum pontificem et Alexandrum papam cancellarium nominabat. In diesem Sinne äußert sich auch John von Salisbury, Letters of John of Salisbury, ed. Millor/Butler/Brooke (wie Anm. 94), Nr. 124 S. 204–215; zur Sache vgl. Reg. Imp. IV/2/2 Nr. 765. 108 Giesebrecht: Kaiserzeit (wie Anm. 85), Bd. 5, S. 243; die Bitte des Kaisers an die Versammelten, zu einer Entscheidung zu kommen, obwohl allen bewusst war, dass man angesichts der mangelnden Repräsentativität der Versammelten kein ökumenisches Konzil darstellte, wird von ihm damit erklärt, dass Barbarossa „vor allem die Beseitigung des Schisma am Herzen lag“, ebd., S. 245.

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den Kaiser als Herrscher dar, der die Regelungen der Kirche respektiert. Denn zur Verfolgung Alexanders III. und seiner Unterstützer durch die Exkommunikation heißt es: „Indem der Kaiser so Alexander mit kirchlichen Maßregeln bekämpfen ließ, faßte er aber zugleich den Krieg gegen die weltlichen Bundesgenossen desselben, die zugleich die Feinde des Reiches waren, in das Auge.“109 Friedrich Barbarossa hält sich in dieser Darstellung genauestens an seinen Eid gegenüber der Römischen Kirche, dass die Feinde der römischen Kirche seine Feinde seien – eben diese Formulierung aus der Wahlanzeige Friedrich Barbarossas an Eugen III. nimmt Giesebrecht auf, um das Verhalten gegenüber Alexander III. zu erklären. Doch springen wir zum faktischen Ende des Alexandrinischen Schismas durch den Frieden von Venedig, der in der Forschung teilweise bis ins 21. Jahrhundert als eine Niederlage des Kaisers gedeutet wurde, als ein Kleinbeigeben des Kaisertums vor dem Papsttum, das nicht zuletzt in den für den Kaiser angeblich demütigenden Ritualen bei der Begegnung von Kaiser und Papst vor der Markuskirche zum Ausdruck gekommen sei. Die Darstellung bei Giesebrecht ist hier auffallend knapp – und sie lässt nichts von einer Unterordnung des Kaisers erkennen: „Als der Kaiser sich dem Throne des Papstes näherte, legte er seinen Purpurmantel ab, beugte sich vor dem Papste zur Erde und küßte ihm die Füße. Unter Thränen erhob ihn der Papst und bot ihm den Friedenskuß. Diese Ceremonie zeigte augenfällig, wie der lange Kampf zwischen Kirche und Reich beendigt, der ersehnte Friede zwischen ihnen hergestellt war, und bewegte mächtig die Gemüther.“110 Giesebrecht widerspricht auch allen späteren Hinzudichtungen der Venezianer über den Verlauf des Treffens und schreibt zu Alexander III.: „Ein hochmüthiger Triumph war nicht in der Seele des Papstes, als er die schwierigen Friedensarbeiten endlich mit Erfolg gekrönt sah; er war, wie aus seinen Briefen hervorgeht, über das Erreichte und die demüthige Haltung des Kaisers sehr erfreut, und fern lag ihm die Absicht, durch ein hoffärtiges Auftreten den Zorn des Kaisers zu reizen.“111 Von einer scheinbaren Unterordnung des Kaisertums weiß Giesebrecht nichts – anders als eine 2010 erschienene Monographie zu Kaiser und Papst im Mittelalter, in der es heißt: „Am Ende der jahrzehntelangen Kämpfe um Norditalien knieten nicht mehr die Völker vor dem Kaiser, 109 Ebd., S. 253. 110 Ebd., S. 837. 111 Ebd., S. 838.

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dessen Krone mit dem Kreuz geschmückt war, sondern er selbst wurde zum fußfallenden Bittsteller“. Der Frieden von Venedig wird dort als „Unterwerfungsakt“ gedeutet. 112 Das letzte Moment, in dem das Kaisertum als Universalgewalt noch zum Ausdruck kommen sollte, war bei Giesebrecht der Kreuzzug. Die auf der vorletzten Seite stehenden Ausführungen können wie eine Gesamtwürdigung des Kaisertums Friedrich Barbarossas gelesen werden: „Man hat das deutsche Kaisertum, als es durch Friedrich einen neuen Aufschwung nahm, viel geschmäht, ihm Hinderniß über Hinderniß bereitet, vor Allem die römische Curie war ihm feindlich entgegengetreten, und nur in schweren Kämpfen hatte es sich erhalten. Jetzt stand die Nothwendigkeit desselben der Welt vor Augen; selbst das Papstthum mußte erfahren, daß es ohne eine kraftvolle kaiserliche Gewalt in seinem ganzen Besitz gefährdet war.“113 Resümiert man die Darstellung bei Giesebrecht, so erstaunt der Blick auf die Universalgewalten, gelten nach allgemeiner Einschätzung der modernen Forschung der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts die Partikularinteressen der Fürsten und eben das Papsttum als der eigentliche Hemmschuh kaiserlicher Entfaltung.114 Doch das von Giesebrecht gebotene Bild ist deutlich differenzierter. In Hinblick auf den Kaiser gibt es eine durchgehende Linie, die vor allem dann, wenn er sich in seiner Darstellung nah an die Quellen hält, immer wieder hervortritt: Der Kaiser als defensor ecclesiae und als advocatus Romanae ecclesiae. Das ist ein aus den Quellen geschöpftes Bild, das der Auffassung der Zeitgenossen sicherlich recht nahe kam. Auffallend ist zudem, dass Giesebrecht immer wieder den Willen der beiden Universalgewalten – und vor allem Friedrich Barbarossas – betont zusammenzuarbeiten. Das ist ein Ansatz, dem sich auch die neuere Forschung verpflichtet weiß und den sie weiterverfolgt, wenn sie über den Charakter des Kaisertums spricht. Doch ebenso wie diese hat auch Giesebrecht seine Schwierigkeiten damit, das Kaisertum genau zu definieren. Er begreift es zwar als Universalie, doch bisweilen wird es auch mit dem Reich gleichgesetzt, Kaiserherrschaft mit königlicher Herrschaft, kaiserliche Aufgaben und Grundlagen mit königlichen.115 Auch bei 112 113 114 115

Mirau, Heike Johanna: Kaiser und Papst im Mittelalter, Köln u.a. 2010, S. 85. Giesebrecht: Kaiserzeit (wie Anm. 85), Bd. 5, S. 955. So beispielsweise dezidiert für Giesebrecht Schieffer: Giesebrecht (wie Anm. 79), S. 131. So führt er zu den Verhandlungen nach dem Ausbruch des Alexandrinischen Schismas mit England und Frankreich aus: „Er gedenke jetzt eine so enge Verbindung zwischen den beiden

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ihm fließen Vorstellungen imperialer Ordnungen aus dem 19. Jahrhundert in die Darstellungen des mittelalterlichen Kaisertums ein.116 Gleichwohl bleibt das Hauptaugenmerk auf dem Kaiser als Verteidiger der Kirche. Insgesamt sind es nur wenige Stellen, die diesem Bild widersprechen. Das sind zum einen das besagte Kapitel zwölf, zum anderen die Ausführungen zum Tod Viktors IV. Dort hält Giesebrecht inne und bietet eine rückblickende Würdigung dieses Papstes: „Mehrere Synoden sprachen sich zu seinen Gunsten aus, doch nicht so sehr diese Synoden, als das politische Interesse des Kaisers hielt ihn aufrecht.“117 Das will nicht recht in das Bild des sonst selbstlosen Kaisers passen, der nur um das Wohl der Kirche besorgt ist. Doch es ist eben nur ein Einzelfall in Giesebrechts Darstellung, zumal er dem Kaiser im Schisma immer wieder auch eine konziliante Haltung zuschreibt, etwa wenn er über Personen, die zunächst bei Alexander III. und danach bei Friedrich Barbarossa am Hofe waren, ausführt: „Offenbar wollte der Kaiser Männer, welche er hochschätzte, nicht wegen kirchlicher Bedenken sich entfremden.“118 Gerade vor dem Hintergrund des Ersten Vatikanischen Konzils und des dort erlassenen UnfehlbarReichen und dem Kaiserthum zu schließen, wie sie noch nie bestanden habe.“ Giesebrecht: Kaiserzeit (wie Anm. 85), Bd. 5, S. 234. Das Tertium comparationis ist hier das Land, das Königreich – und als solches wird bei ihm auch das Kaisertum behandelt. 116 Zum Kaisertum als Universalgewalt gestaltet Giesebrecht ein eigenes Kapitel mit der Überschrift „Friedrichs universelle Stellung und sein Zerwürfnis mit Hadrian IV.“, ebd., S. 119–133. Doch was versteht Giesebrecht unter der universellen Stellung? Bereits der erste Abschnitt dieses Kapitels macht deutlich, was das Universelle nach der Meinung des Münchener Historikers Giesebrecht ausmachte: „Gleich nach dem Polenkrieg hielt der Kaiser am 28. September 1157 einen Hoftag zu Würzburg. Hier erschienen vor ihm Gesandte Constantinopels, Englands, Ungarns, Italiens und Burgunds; sie alle überbrachten Geschenke und Bittgesuche. Nicht wenig war man erstaunt, so verschiedene Nationen sich am deutschen Hofe begegnen zu sehen; man fühlte, daß die Weltgeschicke wieder am Kaiserthrone entschieden wurden“ (ebd., S. 119). Nicht allein die europazentrierte Charakterisierung der vom Hof aus scheinbar gelenkten Ereignisse als „Weltgeschicke“ lässt aufhorchen. Auch die Grundlage des Universellen wird sofort erkenntlich: Es handelt sich nicht um eine ideelle Größe, sondern um eine realpolitische, die Ausfluss konkreter Herrschaft und Macht war. Der Kaiser wird als der machtpolitische Mittelpunkt Europas – und in der Perspektive Giesebrechts damit der Welt – gezeichnet, um dessen Gunst die anderen Herrscher buhlen. Nachdem er darstellt, wie sehr Heinrich II. von England in seinen Auseinandersetzungen mit dem französischen König darauf bedacht war, Friedrich Barbarossa für sich zu gewinnen, führt er zum ungarischen König aus: „Nicht minder bedurfte der kaiserlichen Gnade König Geisa II. von Ungarn“, ebd. 117 Ebd., S. 395. 118 Ebd., S. 328. Doch er fährt (zu 1162) auch fort: „aber der Gedanke als reuiger Sünder in die Arme Alexanders zurückzukehren lag ihm damals ferner als je.“

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keitsdogmas ist es hochinteressant, dass nach Giesebrechts Einschätzung vor allem das Bestehen Alexanders III. auf der Nichtjudizierbarkeit des Papstes eine Einigung unmöglich machte. Diese Anschauungen „mußten ihn in immer schärferen Gegensatz gegen den Kaiser drängen, so daß kein Spruch des Concils mehr eine Ausgleichung herbeiführen konnte.“119 Und dabei sah er Alexander III. als Papst, der sich „ganz in den Ideen Gregors VII.“ bewegte.120 Das Ergebnis ist vor allem auch vor dem Hintergrund der vorangegangenen Darstellungen des 19. Jahrhunderts erstaunlich: Im Grunde bietet Giesebrecht – abgesehen von Kapitel zwölf – eine differenziertere Sicht auf den Konflikt der Universalgewalten als so manche Arbeiten auch des ausgehenden 20. Jahrhunderts, in denen das römisch-deutsche Kaisertum gerne mit allen möglichen anderen imperialen Ordnungen verglichen wird, seine Bezogenheit auf das Papsttum als andere Universalie jedoch häufig genug unter den Tisch gefallen ist, so dass dann Sätze entstehen konnten wie: „Die Päpste hatten in der Zeit Friedrichs I. in harten Auseinandersetzungen ihre politische Kraft im bipolaren imperium gegen ein antikisierendes Heilskaisertum verteidigt.“121 Diese Darstellungsweise des starken und stetigen Konfliktes der Universalgewalten entspricht stark der von Hermann Reuter gezeichneten Linie, in der es weniger um ein Miteinander als vielmehr um die Frage einer Über- oder Unterordnung ging. Es ist dieselbe Linie, auf der sich schon die Argumentation Sybels bewegte hatte, dem es jedoch vor allem um den Bezug zu seiner eigenen Gegenwart ging, zu deren Gunsten die historische Differenzierung auf der Strecke blieb. Beide – Reuter und Sybel – haben mit ihrer Darstellung der Universalgewalten wie gesehen bis heute Wirkung entfaltet. Die von Raumer und Giesebrecht gebotene Zusammenarbeit der Universalgewalten hebt sich davon ab. Das gilt in doppeltem Maße für das Werk Giesebrechts, das in seinen Bänden vier und fünf erst nach der lange prägenden Sybel-Ficker-Kontroverse erschien – und vor allem im Kontrast zu Sybel wohltuend differenziert ist. In gewisser Weise kann die 119 Ebd., S. 241. 120 Das führt er zu Rolando Bandinelli und Hadrian IV. aus: „... ihre Anschauungen standen doch in voller Harmonie. Beider Geist bewegte sich ganz in den Ideen Gregors VII.; in dem Regiment der letzten Päpste erschien ihnen Vieles als schwächliche Nachgiebigkeit, und die Noth der römischen Kirche mochten sie zum großen Theil auf Selbstverschuldung jener Päpste zurückführen. Sie glauben an den Sieg der Kirche, waren aber überzeugt, daß er nur durch unbeirrtes Festhalten an den Principien Gregors VII. gewonnen werden könne“, Ebd., S. 56. 121 Mierau: Kaiser und Papst (wie Anm. 112), S. 86.

Friedrich Barbarossa und Alexander III.

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Herangehensweise von Giesebrecht unter neuen Vorzeichen auch einen Anstoß für die zukünftige Forschung zu den Universalgewalten geben, die sich nicht mehr allein auf die Auseinandersetzungen und Rangkonflikte konzentrieren, sondern vielmehr verstärkt die Gemeinsamkeiten und das Ideal des gemeinsamen Handelns in den Fokus stellen sollte, um so dem Charakter des hochmittelalterlichen Kaisertums näher zu kommen. Einen Anstoß dazu könnte sicherlich auch die eben erschienene Arbeit von Claudius Sieber-Lehmann mit dem Titel „Papst und Kaiser als Zwillinge?“ geben.122 Der Untertitel verrät die Stoßrichtung: „Ein anderer Blick auf die Universalgewalten im Investiturstreit.“

122 Sieber-Lehmann, Claudius: Papst und Kaiser als Zwillinge? Ein anderer Blick auf die Universalgewalten im Investiturstreit (Papsttum im mittelalterlichen Europa 4) Köln 2015.

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Von Strukturverweigerern zu Strukturbezwingern Friedrich Barbarossa, die Fürsten und das Reich in der historiographischen Rezeption des 19. Jahrhunderts

Der alte Barbarossa ist zunächst entzückt, als ein junger Mann, die Schreibfeder geflissentlich hinter das Ohr gesteckt, auf ihn zutritt und ihm respektvollen Gruß entbietet. Gerade erst aus dem tiefen Schlummer erwacht, versetzt die 1866 uraufgeführte „politische Posse“ des Berliner Bühnenautors Karl Biltz den S­ taufer in ein Gartenlokal der pulsierenden Großstadt Berlin. Der noch schlaftrunken wirkende Kaiser ist daher kaum präpariert, dem als „Kritikus“ titulierten „Historiker der jüngsten Schule“ entgegenzutreten.1 Dieser nämlich ist gekommen, um die neuesten Erkenntnisse seiner Zunft in einem frühen Ansatz von oral history aus dem berufenen Mund des Monarchen bestätigt zu bekommen: „Majestät werden zugestehen, daß Sie im Grunde bei Lebzeiten niemals wußten, was sie eigentlich wollten.“ Diese mediävistisch erstaunlich aktuelle These vom reaktiven Monarchen ohne staufische Reichsidee und Staatsauffassung findet die ungeteilte Zustimmung des Rotbarts. Amüsiert pflichtet er gar noch der Ansicht bei, dass seine „ganze Existenz streng genommen eine verfehlte war“. Mit zornigem Unverständnis reagiert er indes auf den Tadel, er habe sich stets um Angelegenheiten „bekümmert, die Sie durchaus nichts angingen“.2 Ja er habe dabei die ureigensten Interessen der Heimat aus den Augen verloren, deren Kräfte stattdessen in fremden Gefilden vergeudet und insgesamt keine freiheitliche 1

Biltz, Karl: Der alte Barbarossa. Politische Posse mit Gesang und Tanz in drei Akten und einem Vorspiel, Berlin 1866, S. 26 f. Siehe dazu jeweils knapp Kaul, Camilla G.: Friedrich Barbarossa im Kyffhäuser. Bilder eines nationalen Mythos im 19. Jahrhundert (ATLAS. Bonner Beiträge zur Kunstgeschichte 4) Köln/Weimar/Wien 2007, Bd. 1, S. 330; Borst, Arno: Reden über die Staufer, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1978, S. 121. 2 Zitate Biltz: Barbarossa (wie Anm. 1), S. 27 f.

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Verfassung verkündet. „Kaiser will er sein, und weiß nicht einmal, was die Ehre der Nation fordert“, so sagt ihm ein hinzutretender Anhänger der liberalen Fortschrittspartei unter lebhaftem Beifall des Kritikus ins Gesicht.3 So originell die Szenerie des Stückes wirken mag, so wenig sind es die darin verarbeiteten Argumente. Sie spiegeln den damaligen Diskussionsstand zur innenpolitischen Mission des Kyffhäuserkaisers.4 Nicht als mythische Lichtgestalt, sondern als Versager in nahezu allen Belangen erschien der Staufer dem nüchternen Geist des „Historiker[s] der jüngsten Schule“. Gefangen zwischen „der Parteien Gunst und Hass“5 wäre es dem Staufer indes wohl auch kaum gelungen, ein in akademischen Zirkeln allgemein akzeptiertes Regierungsprogramm zu formulieren. Als welcher der vielen Friedriche der Geschichtsforschung hätte er auch wiederkehren sollen, was beginnen, um – wie der Dichter Ludwig Bauer es erhoffte – „mit junger Faust (...) an des Reiches Wetterseite“ Ordnung zu schaffen?6 Auch ein Blick in ein gängiges Konversationslexikon hätte dem alten Kaiser in dieser Frage kaum weitergeholfen: Wer etwa ab 1813 den „Brockhaus“ konsultierte, dem trat „Friedrich I., der Rothbart“, als echter Bürgerkaiser entgegen. Zu seinen größten Erfolgen rechnete man die Erhebung Lübecks und Regensburgs zu freien Reichsstädten: Auf diese Weise habe er „den Grund zu einem 3 4

5 6

Ebd., S. 32. Siehe die Überblicke bei Koch, Gottfried: Die mittelalterliche Kaiserpolitik im Spiegel der bürgerlichen Historiographie des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 10 (1962), S. 1837–1870; Gollwitzer, Heinz: Zur Auffassung der mittelalterlichen Kaiserpolitik im 19. Jahrhundert. Eine ideologie- und wissenschaftsgeschichtliche Nachlese, in: Vierhaus, Rudolf/Botzenhart, Manfred (Hg.): Dauer und Wandel der Geschichte. Aspekte europäischer Vergangenheit. Festgabe für Kurt von Raumer zum 15. Dezember 1965 (Neue Münstersche Beiträge zur Geschichtsforschung 9) Münster 1966, S. 485–512; Schreiner, Klaus: Friedrich Barbarossa: Herr der Welt, Zeuge der Wahrheit, die Verkörperung nationaler Macht und Herrlichkeit, in: Haussherr, Reiner (Hg.): Die Zeit der Staufer. Geschichte, Kunst, Kultur. Katalog der Ausstellung Stuttgart 1977, Bd. 5: Supplement. Vorträge und Forschungen, Stuttgart 1979, S. 521–579, sowie die ausschnitthafte Betrachtung bei Schmidt, Walter: Barbarossa im Vormärz, in: Engl, Evamaria/Töpfer, Bernhard (Hg.): Kaiser Friedrich Barbarossa. Landesausbau – Aspekte seiner Politik – Wirkung, Weimar 1994, S. 171–204; Seeber, Gustav: Von Barbarossa zu Barbablanca. Zu den Wandlungen des Bildes von der mittelalterlichen Kaiserpolitik im Deutschen Reich, in: ebd., S. 205–220. Schiller, Friedrich: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 4: Wallenstein, Frankfurt a. M. 2000, S. 16, Prolog v. 102 f. Bauer, Amadeus Ludwig: Kaiser Barbarossa. Dichtergabe zum Kölner Dombau, Stuttgart 1842, S. 56.

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Mittelstande zwischen dem Kaiser und den deutschen Fürsten gelegt wodurch die kaiserl. Macht vergrößert und der Bürgerstand gehoben werden konnte“.7 Der Brockhaus behielt die Formulierung bis zur 9. Auflage von 1844 bei, die den staufischen Städtefreund stattdessen für „die Entstehung der späteren Hansa“ verantwortlich machte.8 Zudem wurde ihm nunmehr das lobenswerte Bestreben konzediert, „das römische Kaiserthum als eine rein weltliche Macht (...) nach der Weise Karl des Großen“ zu etablieren.9 Dazu habe sich das Reichsregiment der finanziellen Ressourcen Italiens bedienen wollen, „was in Deutschland unter den obwaltenden Verhältnissen bereits eine Unmöglichkeit erschien“. Allemal habe eine militärische Okkupation Italiens näher gelegen als die Eingliederung der „trotzigen Vasallenwelt“ nördlich der Alpen.10 Wurde dem Kaiser damit ein schlüssiges Gesamtkonzept zur Restauration der deutschen Zentralgewalt unterstellt, so ging drei Jahre später der große Konkurrent auf dem Buchmarkt, Meyers „Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände“, sehr viel härter mit dem Staufer ins Gericht. Mitten im vermeintlich so barbarossaliebenden deutschen Vormärz wurde unter Berufung auf „die unparteiische Geschichte“ festgehalten, wie sehr er „Deutschlands Kraft“ durch seine fruchtlose Italienpolitik „in ihrer naturgemäßen Entwickelung gestört“ und eine Nationsbildung dadurch verhindert habe.11 Unter dem Eindruck der Reichsgründung 1871 steckten beide Lexika erkennbar zurück: Im Brockhaus galt die „Welfenmacht“ im Norden Deutschlands fortan nicht mehr als „gefährlich“12, als 7

Art. „Friedrich I., der Rothbart“, in: Conversations-Lexicon oder encyclopädisches HandWörterbuch für gebildete Stände, Bd. 3, Leipzig 1813, S. 190 f. Diese Formulierung lässt sich kurz darauf auch im Neuen Zeitungs- und Conversations-Lexikon oder Handwörterbuch für die in der gesellschaftlichen Unterhaltung vorkommenden Gegenstände, Supplement Bd. 2, Wien 1814, S. 350, finden. Sie entstammt wohl ursprünglich dem von Johann Georg Koch verlegten Gymnasiallehrbuch: Auszug der allgemeinen Weltgeschichte, 2. Hauptband, Amberg 1776, S. 127, hielt im Folgejahr Einzug in Johann Matthias Schröckhs Württembergisches Lehrbuch und ließ sich in zahlreichen weiteren Schriften, u.a. in Art. „Friedrich Rotbart“, in: Baur, Samuel: Neues historisch-biographisch-literarisches Handwörterbuch, Ulm 1808, Sp. 289, auffinden. 8 Art. „Friedrich I oder Rothbart (Barbarossa)“, in: Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände, Band 5, Leipzig 9. Originalaufl. 1844, S. 600–603, hier S. 601 f. 9 Ebd., S. 601. Der Autor greift hier vermutlich eine Formulierung von Luden, Heinrich: Geschichte des teutschen Volkes, Bd. 4, Gotha 1828, S. 423 auf. 10 Art. „Friedrich I oder Rothbart (Barbarossa)“ (wie Anm. 8), S. 601. 11 Art. „Friedrich I. Barbarossa“, in: Meyer, Joseph (Hg.): Das große Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände, Bd. 11, Hildburghausen 1847, S. 283–287, S. 286. 12 Art. „Friedrich I oder Rothbart (Barbarossa)“ (wie Anm. 8), S. 602, sowie in den folgenden

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Antagonist der Reichsgewalt blieb allein das Papsttum präsent. Nach dem Ende des Kulturkampfes entfiel auch dieser Hinweis, der Artikel huldigte fortan dem Prinzip politisch-weltanschaulicher Wertungsfreiheit. Der Meyer hatte diese Wende zur reinen Datensammlung zunächst mitvollzogen,13 verwies dann aber in seiner vierten Auflage von 1887 erneut auf „die Schwierigkeiten, die einer starken Monarchie vonseiten des Papsttums und der mächtigen Reichsvasallen entgegenstanden“ und kolportierte nunmehr in völliger Revision seiner bisherigen Position eine planvolle Italienpolitik zur Überwindung nordalpiner Missstände.14 Vor dem sattsam untersuchten Panorama der literarisch-künstlerischen ­Produktion lässt sich die deutschsprachige Barbarossarezeption des 19. Jahr­ hunderts bislang in drei große Abschnitte unterteilen:15 (1.) Eine Phase roman­ tisch-schwärmerischer Kaisersehnsucht mit zunehmender Politisierung in Restauration, Vormärz und Revolutionsjahren, (2.) eine borussisch geprägte Periode der Stauferskepsis und schließlich (3.) nach 1871 als Reaktion auf die Reichseinheit eine neuerliche Hochkonjunktur unter Hervorhebung der Kontinuitäten von erstem und zweitem Kaiserreich. Fast monolitisch, in jedem Fall meisterhaft erzählt, scheinen diese Entwicklungsstufen einen Großteil der Text­ erzeugnisse sicher zu verorten. Bereits der Blick auf die maßgeblichen Enzyklopädien der Epoche belegt jedoch, wie volatil der Bestand scheinbar gesicherten Wissens über das Jahrhundert hinweg blieb. Vielstimmiger noch präsentiert sich der Chor akademischer Vergangenheitsauslegung. Der Pendelschlag wissenschaftlicher Thesenbildung blieb sicherlich nicht unberührt von der literarischen Produktion und gewiss auch nicht vom tagespolitischen Gegenwartsgeschehen. Im Gegenteil: Wo selbst die entschlossensten Wegbereiter einer historisch-kritischen Wahrheitsfindung – wie der spätere MGH-Präsident Georg Waitz – es als vornehmste Aufgabe des Faches ansahen, „Deutschlands Vergangenheit zu feiern seine Gegenwart zu berathen“16,

13 14 15 16

Ausgaben geändert: Art. „Friedrich I. oder der Rothbart“, in: Conversations-Lexikon. Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie, Bd. 6, Leipzig 12. Aufl. 1877, S. 883 f. Meyers Konversations-Lexikon. Eine Encyklopädie des allgemeinen Wissens, Bd. 7, Leipzig 2. Aufl. 1877, S. 201–203. Art. „Friedrich I., Barbarossa, ‚der Rothbart‘“, in: Meyers Konversations-Lexikon. Eine Encyklopädie des allgemeinen Wissens, Bd. 6, Leipzig 4. Aufl. 1887, S. 692–694, hier S. 693. Kaul: Friedrich Barbarossa (wie Anm. 1), nimmt eine Vierteilung in Restauration, Vormärz, „Weg zur Reichseinigung“ und Kaiserreich vor. Waitz, Georg: Deutsche Historiker der Gegenwart, in: Allgemeine Zeitschrift für Geschich-

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musste der fachinterne Diskurs immer zugleich auch ein politischer sein. Dennoch mochte Julius Ficker Recht behalten, wenn er mit Seitenblick auf seinen Kontrahenten Sybel festhielt, dass die „Stellung zu den Parteien der Gegenwart (...) nicht das einzige, oft vielleicht nicht einmal das wichtigste“ Moment historischer Erkenntnis sei.17 Ihr Oszillieren zwischen verschiedenen Polen der Vergangenheitsdeutung folgte gleichermaßen den Eigengesetzlichkeiten der Zunft, ihren Moden, Schulbildungen und persönlichen Animositäten. Da allerdings Diskurse im wechselseitig-sinnhaften Austausch der Argumente durchaus als „inhaltlich und formal strukturierte Ensembles von sinnstiftenden Einheiten“18 zu verstehen sind, lassen sich durchaus drei historische Hauptstränge voneinander abgrenzen und beschreiben. Eine solche rezeptionshistorische Schematisierung mag umso leichter gelingen, als die nachfolgenden Ausführungen sich mit Blick auf die Gesamtanlage dieses Bandes ganz den deutschsprachigen Deutungsversuchen der ‚innenpolitischen‘ Verhältnisse des Barbarossareiches, speziell des Beziehungsgefüges von Kaiserhof und Fürsten, widmen können.

I. „Napoleons des Mittelalters“. Die Staufer als Strukturverweigerer und gescheiterte Despoten „Sie flüchteten sich vor Napoleon zu Friedrich Rothbart und erholten sich bei Walther von der Vogelweide vom Widerwillen gegen Voltaire“, so lautete im Jahr 1892 Max Nordaus Retroperspektive auf die Grundstimmung der Romantik.19 Mit Blick auf die wissenschaftliche Barbarossarezeption muss dieser Diagnose te 5 (1846), S. 521–535, S. 535. Siehe dazu Althoff, Gerd: Die Rezeption des Reiches seit dem Ende des Mittelalters, in: Puhle, Matthias/Hasse, Claus-Peter (Hg.): Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation 962 bis 1806, Bd. 2, Dresden 2006, S. 476–485, hier S. 484; LenhardSchramm, Niklas: Konstrukteure der Nation. Geschichtsprofessoren als politische Akteure in Vormärz und Revolution 1848/49, Münster/New York 2014, S. 72 f. 17 Ficker, Julius: Deutsches Königthum und Kaiserthum. Zur Entgegnung auf die Abhandlung Heinrichs von Sybel: Die deutsche Nation und das Kaiserreich, Innsbruck 1862, S. 108. 18 Diese häufig wiedergegebene Definition aus einem unveröffentlichten Manuskript „Diskursbegriff und interpretatives Paradigma“ von Reiner Keller (1999) hier zitiert nach Jung, ­Matthias: Diskurshistorische Analyse – eine linguistische Perspektive, in: Keller, Rainer/ Hirseland, Andreas/Schneider, Werner/Viehöver, Willy (Hg.): Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Bd. 1: Theorien und Methoden, Opladen 2001, S. 31–54, S. 46. 19 Nordau, Max: Entartung, hg. von Karin Tebben, Berlin 2013, S. 82.

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indes widersprochen werden. Gerade dort, wo die Ära Napoleons zum Fluchtpunkt historischer Reflexion wurde, konnte die Resonanz auf das Wirken des Rotbartes keine ungeteilt positive bleiben. Schon in den Schulbüchern der 1820er und 30er Jahre vermerkte man kritisch, Friedrich habe „für Deutschland nicht viel wirken“20 können, zumal er auf italienischem Boden „seine schönsten Kräfte, die dem deutschen Vaterlande hätten zu Gute kommen sollen“, unnütz vergeudet hätte.21 Mit dem staufischen Regiment habe sich daher trotz aller vielversprechenden Anlagen der Dynastie „die Unordnung des Faustrechts immer höher“ emporgeschwungen.22 Der liberale Universalgelehrte Johann Friedrich Benzenberg unterstellte dem Staufer im Jahr 1820 gar eine „fehlerhafte Politik“, die das Bürgertum von der Reichsgewalt entfremdet und „in die Arme des Papstes“ getrieben habe. Wenn nur der Kaiser das Potential der aufblühenden Städte erkannt hätte, so wäre die deutsche „Verfassung geworden wie die in England“.23 Im Jahr zuvor war der schlesische Gymnasialprofessor Karl Adolph Menzel mit dem Ratschlag hervorgetreten, der Staufer hätte im Bündnis mit Städten und Volk das „eigne Recht der Reichfürsten“ brechen sollen. Doch habe Barbarossa diese Notwendigkeit „niemals begriffen“.24 Zwar hätte es ihm nicht an Tatkraft, wohl aber an Einsicht gemangelt. Statt den Leichnam Karls des Großen auszugraben, so Menzel, hätte er sich lieber an die Verwaltungsreformen des klugen Frankenkaisers halten sollen.25 Seinem Namensvetter, dem Nationalliberalen Wolfgang Menzel, galt im selben Sinne in seiner 1825 gedruckten „Geschichte des Deutschen Volkes“ die Stauferzeit als ein „vergeblicher Kampf gegen die Zeit“, denn vor der „Blüthe der einzelnen Nationen und Stände“ habe die altüberkommene Kaiseridee schwerlich bestehen können.26 20 Nösselt, Friedrich: Lehrbuch der Weltgeschichte für Bürgerschulen, Bd. 2, Leipzig 1827, S. 46. 21 Ders.: Lehrbuch der Geschichte der Deutschen, für höhere Töchterschulen, Leipzig 1828, S. 286. 22 Kohlrausch, Heinrich: Kurze Darstellung der deutschen Geschichte, Eberfeld 4. Aufl. 1837, S. 80. 23 Benzenberg, Johann Friedrich: Ueber Preussens Geldhaushalt und neues Steuersystem, Leipzig 1820, S. 410. 24 Menzel, Karl Adolf: Die Geschichten der Deutschen, Bd. 4: Von Kaiser Heinrich IV. bis zum Tode Richards, Breslau 1819, S. 357. Siehe zu dieser Passage Koh, Young-Suck: Zur Staufer-Rezeption in Historiographie und Dichtung der Restaurationszeit (1815–1848), Konstanz 1979, S. 34. 25 Menzel: Geschichten (wie Anm. 24), S. 357. 26 Menzel, Wolfgang: Die Geschichte der Deutschen, Bd. 2: Das Mittelalter, Zürich 1825, S. 234.

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Immerhin hätten die Staufer es vermocht, so fügt der Autor in der zweiten Auflage seines Werkes beschwichtigend hinzu, für ihre unzeitgemäßen Ideale ritterlich zu streiten und schließlich „mit Würde zu fallen“.27 Solch versöhnlicher Ausklang war die Sache des Patrioten und „Prototyp des ‚politischen Professors‘“28, Heinrich Luden aus Jena, nicht29. Ein „heiliger Zorn“30 schien seine Feder zu führen, wo immer es die deutsche Einigkeit und Freiheit gegen auswärtige Mächte und innere Verwirrung zu verteidigen galt. Doch trotz eines ausgeprägten Reflexes gegen das Regiment Napoleons und einen aufgeklärten Kosmopolitismus kann Luden kaum als ein typischer Repräsentant der Romantik gelten. Denn auch in einem Rückfall in die Politik des Mittelalters erblickte er von Anfang an „etwas ganz Verkehrtes und Tadelwerthes“.31 Zwar hatte er die Staufer in seinen 1810 veröffentlichten ersten Vorlesungen zur deutschen Geschichte noch allesamt als Helden tituliert, „durch viele herrliche große liebenswürdige Eigenschaften ewig schön in der Geschichte“.32 Doch bereits damals legte er den Grundstein zu einem Gedankengebäude, in dem die schwäbische Kaiserdynastie allenfalls als volksfremder Störfaktor ihren Platz finden sollte. Von Tacitus entlehnt und wohl unter dem dramatischen Eindruck der Niederlage bei Jena und Auerstedt erklärte er den inneren Freiheitsdrang zum Wesenskern deutscher Geschichte.33 Aus ihm heraus mussten die Anstrengun27 Menzel, Wolfgang: Geschichte der Deutschen bis auf die neuesten Tage, Stuttgart/Tübingen 1834, S. 337. Allerdings leitet Menzel anschließend zu einem verfassungsgeschichtlichen Abschnitt über, der die Verbindung des deutschen Königtums mit dem Kaisertum, wenn auch verderblich, als unverrückbare Grundlage staufischer Politik markiert. Siehe auch Koh: Staufer-Rezeption (wie Anm. 24), S. 39. 28 Berding, Helmut/Hahn, Hans-Werner: Reformen, Restauration und Revolution 1806 bis 1848/49 (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte 14) Stuttgart 2010, S. 125. Siehe zur Person Reissig, Elisabeth: Heinrich Luden als Publizist und Politiker, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte NF 23 (1918), S. 205–346, und NF 24 (1920), S. 54–88 und S. 227–306; Crusius, Irene: Art. „Luden, Heinrich (Hinrich)“, in: Neue Deutsche Biographie 15, Berlin 1987, S. 283–285; Ries, Klaus: Wort und Tat: Das politische Professorentum an der Universität Jena im frühen 19. Jahrhundert (Pallas Athene 20) Stuttgart 2007, S. 168–181. 29 Berding/Hahn: Reformen (wie Anm. 28), S. 125. 30 Reissig: Heinrich Luden (wie Anm. 28), S. 57. 31 Luden, Heinrich: Einige Worte über das Studium der vaterländischen Geschichte. Vier öffentliche Vorträge, welche Professor Luden, in Jena seinem ersten Vorträge der Deutschen Geschichte 1808 vorausgeschickt hat, Jena 1810, S. 46; abermals in Luden: Geschichte des teutschen Volkes (wie Anm. 4), S. 38. 32 Luden: Einige Worte (wie Anm. 31), S. 74. 33 Bes. ebd., S. 57–63.

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gen der kaiserlichen Zentralgewalt als Vorzeichen eines heraufziehenden Despotismus gewertet werden. Gegen das letztlich unheilvolle partikulare Unabhängigkeitsstreben hätte das Staufergeschlecht vergebens „die Fülle ihrer Kraft die ganze Größe ihres Geistes erschöpfen“ müssen, während die Franzosen „biegsamer“ und „an Gehorsam gewöhnt“ sehr viel leichter zur nationalen Einheit geführt werden konnten.34 Hatte Heinrich Luden es damals mit Blick auf die Schwäche des Rheinbundes als Satellitensystem von Napoleons Gnaden35 noch als historisch fatalen Irrtum der Deutschen erachtet, „daß Einheit der Macht unverträglich sey mit der Freiheit im Einzelnen“36, so scheint sich diese Sichtweise nach dem Ende der napoleonischen Kriege gewandelt zu haben. Vermutlich sehr zum Gefallen seines Dienstherrn, des Herzogs von Sachsen-Weimar-Eisenach, adaptierte er einen Kerngedanken fürstlicher Restaurationspolitik und lehnte eine nationale Einheit um den Preis der Selbstaufgabe regionaler Eigenstaatlichkeit nunmehr entschieden ab.37 Im zweiten Band seiner 1822 erschienenen „Allgemeinen Geschichte der Völker und Staaten“ entwirft Luden erstmals ein großes strukturgeschichtliches Panorama der Stauferzeit. Mit Blick auf die Kämpfe des sogenannten Investiturstreits vermerkt er einen stetigen Macht- und Autoritätsverlust der Reichsgewalt, so dass es die Nachfolger der salischen Kaiser angesichts des fürstlichen Selbstbewusstseins kaum mehr vermocht hätten, „der Krone Macht und dem Reich Einheit wieder zu verschaffen“.38 Unter Friedrich Barbarossa wurden die Weichen endgültig gestellt: „Das Reich war ein feudalistischer Staatenbund“, so resümiert Heinrich Luden jene Entwicklung, die man im 20. Jahrhundert als Prozess der Territorialisierung nach der Absetzung Heinrichs des Löwen bezeichnet hat.39 Die von nationalliberalen Kräften der Res34 35 36 37

Ebd., S. 74 und 70. Siehe dazu Reissig: Heinrich Luden (1920) (wie Anm. 28), S. 230–240. Luden: Einige Worte (wie Anm. 31), S. 64. Siehe auch Reissig: Heinrich Luden (1920) (wie Anm. 28), S. 244 ff. Luden war vom Ausgang des Wiener Kongresses sichtlich enttäuscht und polemisierte in der Folge offen gegen die ‚Rheinbundmentalität‘ der deutschen Fürsten. Gleichwohl stand er zentralistischen Tendenzen ebenso reserviert gegenüber. 38 Luden, Heinrich: Geschichte der Völker und Staaten des Mittel-Alters, Bd. 2, Jena 1822, S. 6. 39 Ebd., S. 44. Kritisch bemerkte er in seiner Schrift Ueber den Teutschen Bund, in: Nemesis 5 (1815), S. 124–126, 190–224, 386–415, hier S. 195, dass der gegenwärtige Zustand „ein Fürstenbund, keineswegs ein Volksbund“ sei und mahnte eine Vereinigung auf Basis einer landständischen Verfassung an.

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taurationszeit angestrebte „teutsche, einmüthige Volksfreiheit“40 schien unter diesen Bedingungen durch eine universale Zentralgewalt kaum realisierbar. Zwar wird dem Stauferkaiser ein lobenswertes Einigungsbestreben konzediert, indes – so heißt es weiter – „auch sein Arm war nicht stark genug für eine so große aufgestürmte Welt“.41 Im großen Gestus eines historischen Politikberaters befleißigte Luden sich anschließend, die möglichen Bündnispartner zu benennen, die es dem Reichsoberhaupt gestattet hätten, das Blatt in letzter Minute zu seinen Gunsten zu wenden: „Feinde seiner Feinde“42 hätten sich vornehmlich unter den ritterlichen Vasallen des niederen Adels und dem bürgerlichen Stand der Städte gefunden. Doch statt diese Trümpfe gezielt auszuspielen, hätten die Staufer sich erneut in Kämpfe mit dem Papsttum verstrickt und als „Dränger und Unterdrücker“43 das freiheitsliebende Italien mit ungerechtem Krieg überzogen. Wenn die mittelalterlichen Herrscher indes das deutsche Volkstum und die Städte missachtet, das römische Recht „zum Verderben vaterländischer Art und Sitten“ verwendet hätten – so ruft Luden leidenschaftlich aus –, „alsdann, wahrhaftig, war die Auflösung Teutschlands in eine Menge kleiner Staaten unvermeidlich, und an eine kräftige Einheit war ebensowenig zu denken als an eine volksthümliche Freiheit“.44 Ja in der zweiten Auflage ergänzte er das „unvermeidlich“ noch um ein „wünschenswerth“ und erhob die partikularen Staaten damit vollends zum überzeitlichen Hort freiheitlicher Werte.45 40 Ebd. Zu Recht hebt Kraus, Hans-Christof: Nationalgeschichte in politischer Absicht – Heinrich Ludens „Geschichte des teutschen Volkes“, in: Gerber, Stefan/Greiling, Werner/Kaiser, Tobias/Ries, Klaus (Hg.): Zwischen Stadt, Staat und Nation. Bürgertum in Deutschland. Hans Werner Hahn zum 65. Geburtstag, Bd. 1, Göttingen 2014, S. 319–335, hier S. 334, den persönlichen politischen Standort des Verfassers in seiner Orientierung auf das Volk als eigentlichen, den Fürsten und Ländern vorausgehenden Kristallisationskern nationaler Hoffnungen hervor: „Ludens volksgeschichtlicher Ansatz widersprach der restaurativen Staatslehre also in einem ihrer wesentlichen Leitsätze diametral“. 41 Luden: Geschichte der Völker (wie Anm. 38), S. 36. 42 Ebd., S. 13. 43 Ebd., S. 16. 44 Ebd. 45 Luden: Geschichte der Völker (wie Anm. 38), Bd. 1, S. 484: „dann wahrhaftig war die Bildung einer Menge kleiner Staaten in Teutschland so unvermeidlich als wünschenswerth. An ein einheitliches Reich war nicht mehr zu denken! Eine volksthümliche, aber vielleicht eine höhere, Freiheit mochte nur Statt finden in den kleinen Staaten.“ Luden verschiebt damit den Akzent weiter in Richtung einer Legitimation der Bundesstaaten seiner Gegenwart.

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Noch hütete sich Luden, mit dem alten Rotbart zu brechen, dem er „die erhabensten Eigenschaften des Geistes und Charakters“46 konzedierte. Dreizehn Jahre später, im zehnten Band der „Geschichte des teutschen Volkes“, ist von diesem personenbezogenen Lobpreis wenig geblieben. Gewiss, anlässlich seiner Wahl 1152 habe „ganz Teutschland“ in Friedrich in „schöner Hoffnung“ einen Friedensfürsten gesehen, der die „Gebrechen“ des innerlich zerrütteten Reiches zu heilen vermöge. Allein, vom eigenen Herrscher „versäumet, verkannt, missachtet“ habe es schließlich „ermüdet und verzaget auf sein altes menschliches Streben nach der lebensvollen Vereinigung aller teutschen Völker zu einem einigen mächtigen Reich unter einem starken Könige wie für alle Zukunft Verzicht geleistet“.47 Als Persönlichkeit möge der Staufer ja Bewunderung erregen, seine Prärogativen als Politiker aber verdienten tiefste Verachtung: „Sein Ehrgeiz war unermeßlich, seine Ruhmsucht ohne Gränzen, Macht war sein Wunsch, Gewalt seine Lust, Herrschaft seine Freude“.48 Der Jenaer Historiker beschwor im Fahrwasser der nationalen Einigungsbewegung nunmehr abermals die Notwendigkeit einer gemeinsamen Führungsspitze des Reiches. Doch riet er seinen Lesern, diese Position nicht zwingend den altüberkommenen politischen Institutionen in Wien oder Berlin zu überlassen. Als politischen Hoffnungsträger des 12. Jahrhunderts präsentierte Luden vielmehr im 1842 publizierten elften Band seines Hauptwerks eine andere Herrscherfigur. Während „Friedrich’s ungebändigte Leidenschaft“49 unweigerlich in die Katastrophe von Legnano mündete, habe es Heinrich der Löwe als letzte Instanz deutscher Gesinnung „in seiner Hand gehalten (...) dem gesammten teutschen Reich eine andere, eine edelere Gestalt zu geben“.50 Wäre es dem Welfen nicht ein Leichtes gewesen, den fatalen Kurs des Kaisers durch einen entschlossenen 46 Ebd., S. 35 f. 47 Luden, Heinrich: Geschichte des teutschen Volkes, Gotha 1835, Bd. 10, S. 297 f. Siehe dazu Kraus: Nationalgeschichte (wie Anm. 40), S. 332. 48 Ebd., S. 303. 49 Luden: Geschichte (wie Anm. 47), Bd. 11, Gotha 1836, S. 388. 50 Ebd. Kommentiert bei Koh: Staufer-Rezeption (wie Anm. 24), S. 42 f.; Berg, Stefanie Barbara: Heldenbilder und Gegensätze: Friedrich Barbarossa und Heinrich der Löwe im Urteil des 19. und 20. Jahrhunderts, Münster 1994, S. 93 ff.; Boockmann, Hartmut: Heinrich der Löwe in der Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Luckhardt, Jochen/Niehoff, Franz (Hg.): Heinrich der Löwe und seine Zeit. Herrschaft und Repräsentation der Welfen 1125–1235. Katalog der Ausstellung Braunschweig 1995, Bd. 3: Nachleben, München 1995, S. 48–56, hier S. 48 f.

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Aufstand zu korrigieren; durch einen offenen Appell „an das Heiligste im Leben, an das Vaterland, an die Freiheit, an die Ehre des teutschen Volkes und an die künftigen Geschlechter“51 die Deutschen einig unter seinen Fahnen zu versammeln? Doch der Löwe zauderte und der Staufer konnte von seinem Sturz politisch kaum mehr profitieren. „Einsam und ungestöret“ lässt Luden den Rotbart zu Pfingsten 1184 durch die Ruinen des vom Sturm zerschmetterten Mainzer Hoflagers wandeln und wehmütig über seine kaiserliche Karriere reflektieren: „Es ist unmöglich, daß er mit heiterer Seele auf die Bahn zurück geschauet habe, welche er durchlaufen war“.52 Deutschlands Verfassung, so habe er einsehen müssen, sei unter seinem Regiment in völlige Auflösung gebracht worden: „Was war er denn noch in einem solchen Reich anders als der Diener der Fürsten, die seine Diener gewesen waren und sein sollten“.53 War Ludens Staatsideal ein in allen Ständen verankerter, konstitutionell verfasster Volksbund mit gemeinsamer Spitze,54 ließ ihn das aggressiv über die deutschen Reichsgrenzen hinaus wirkende Regiment des Rotbartes in den Abgrund der jüngeren Vergangenheit schauen. „Die Staufer waren die Napoleons des Mittelalters“ – diese Aussage stammt nicht vom „Viel- und Schnellschreiber“55 Luden, sie wurde ihm erst 1979 vom koreanischen Germanisten Young-Suck Koh in den Mund gelegt.56 Gleichwohl ist sie im Kern zeitgenössisch, liest man doch in der 1838 erschienenen zweibändigen Stauferdarstellung aus der Feder des schwäbischen Theologen Wilhelm Zimmermann wenig Freundliches über die „gewaltthätigen Cäsar-Napoleons des Mittelalters“.57 Wie Luden betrachtete auch Zim51 Luden: Geschichte (wie Anm. 49), Bd. 11, S. 389. 52 Ebd., S. 467 f. 53 Ebd., S. 468. Dabei beschrieb er S. 445 erneut die Partikulargewalten als Hort deutschen Wesens, das „noch rege genug kräftig und schön in den Gliedern Leibes“ wohnte, verlieh indes zugleich seiner Auffassung Ausdruck, dass diese Glieder erst unter einem gemeinsamen Haupt zu einem Ganzen zusammenzuführen wären. 54 Ähnlich zusammengefasst bei Reissig: Heinrich Luden (1920) (wie Anm. 28), S. 251: „Ein möglichst rein nationaler Bundesstaat, nach außen hin durch ein gemeinsames Heer und Beamtentum gesichert, im Innern von einem Reichsrat vertreten, mit einem Reichsoberhaupt, das er nicht selten als Kaiser bezeichnet, an der Spitze, das war also, wenn wir das Ergebnis seiner Überlegungen zusammenfassen wollen, Ludens Ideal.“ 55 Ries: Wort und Tat (wie Anm. 28), S. 234. 56 Koh: Staufer-Rezeption (wie Anm. 24), S. 44. 57 Zimmermann, Wilhelm: Die Hohenstaufen oder der Kampf der Monarchie gegen Pabst und republikanische Freiheit. Ein historisches Denkmal, 2 Bde., Stuttgart/Leipzig 1838–1839, hier Bd. 2, S. V. Siehe zur Person Schilfert, Gerhard: Wilhelm Zimmermann, in: Streisand,

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mermann das Ausgreifen über die Alpen als Hauptübel der Stauferherrschaft, segensreich habe das Regiment Friedrich Barbarossas allein in seiner Heimat Schwaben gewirkt.58 Daraus mochte man lernen, denn – so Zimmermanns Mantra – „ohne geschichtliche Einsicht ist kein staatlicher Neubau“.59 War es hier ein Appell für regionale Eigenständigkeit innerhalb einer föderal verfassten Bundesrepublik, so schlug der entschiedene Demokrat Johann Georg August Wirth schrillere Töne an: „Ohne Beseitigung der deutschen Fürstenthrone gibt es kein Heil für das Vaterland“, so hatte er unter frenetischem Beifall 1832 auf dem Hambacher Fest erklärt.60 Geprägt durch Kerkerhaft und Vertreibung hielt er in seiner 1842 erschienenen „Geschichte der Deutschen“ an diesem Grundsatz fest. „Das Emporstreben der Fürsten nach Unabhängigkeit vom Reiche oder zur Souveränität, also der allmälige Übergang zur Auflösung der Nationaleinheit“, so schrieb er etwa über die Erhebung Österreichs zum Herzogtum, habe entscheidend zur „Vorbereitung des spätern Nationalunglücks Deutschlands“ beigetragen.61 Im Staufer sah er in erster Linie einen pathologisch ehrgeizigen Gewaltherrscher, der zugleich als geborener Adeling die historische Kraft der aufstrebenden Städte verkannt habe. Doch sei die „Verläugnung des nationalen Prinzips“62 ganz allgemein eine Schwäche der mittelalterlichen Reichsgewalt gewesen: Wie sein nationalliberaler Konterpart Luden sah auch Wirth ein gerecht austariertes „Gleichgewicht der Reichsgewalt, der Fürsten, der Ritterschaft und der Städte“ als Grundpfeiler des deutschen Wohlstandes an.63 Nicht in der Monarchie lag für ihn die Zukunft, sondern im Interessenausgleich aller nationalen Kräfte. Joachim (Hg.): Die deutsche Geschichtswissenschaft vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Reichseinigung von oben (Studien über die deutsche Geschichtswissenschaft 1) Berlin 1966, S. 170–184; Conrads, Norbert: Wilhelm Zimmermann (1807–1878), ein Stuttgarter Historiker (Veröffentlichungen des Universitätsarchivs Stuttgart 1) Stuttgart 1998. 58 Zimmermann: Die Hohenstaufen (wie Anm. 57), Bd. 1, S. 240 f. 59 Zimmermann, Wilhelm: Geschichte der Jahre 1840 bis 1860, Stuttgart 1861, S. II, siehe Schilfert: Wilhelm Zimmermann (wie Anm. 57), S. 172. 60 Wirth, Johann Georg August: Die Rechte des deutschen Volkes. Eine Vertheidigungsrede vor den Assisen zu Landau, Paris 1837, S. 134. Siehe zur Einordnung Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1800–1866: Bürgerwelt und starker Staat, Bd. 1, München 1983, S. 370. 61 Wirth, Johann Georg August: Die Geschichte der Deutschen, Bd. 1, Emmishofen 1842, S. 203. Zur Person siehe mit bedauerlich geringer Berücksichtigung der Mittelalterrezeption Hüls, Elisabeth: Johann Georg August Wirth (1798–1848), ein politisches Leben im Vormärz, Düsseldorf 2004. 62 Ebd., S. 128. 63 Ebd.

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II. „Führer einer möglichst starken Fürstenpartei“: Barbarossa als Strukturversager Nicht allein innerhalb des liberalen und republikanischen Lagers der deutschen Einzelstaaten blieb das historiographische Bild Friedrich Barbarossas in Zeiten des Vormärzes weithin negativ geprägt. Unter dem Einfluss einer katholisch geprägten Romantik weigerte sich etwa Johann Friedrich Böhmer 1849 kategorisch, mit „dem namen der Staufer den begriff von glanz und grösse“ zu verbinden.64 Es war jedoch wohl vor allem das Referenzwerk Heinrich Ludens, das im Jahr 1854 Leopold von Ranke in apodiktischer Schärfe urteilen ließ: „Ich kann überhaupt Friedrich I. für keinen großen Politiker ansehen“.65 So nimmt es auch kaum Wunder, dass der Ranke-Schüler Heinrich von Sybel sich diese Position bald schon zu Eigen machte. An Sybels 1859 erstmals öffentlich vorgetragenen Thesen wirkt rückblickend wenig neu.66 Die Ablehnung eines aggressiv nach außen strebenden Kaisertums stand ganz in der Traditionslinie älterer Geschichtsschreibung. Auch Sybel sah die Staufer als unzeitgemäße Strukturverlierer: Nichts nämlich sei gewisser, als „daß die deutsche Monarchie schon zu ihrer Zeit ein wesenloser Schemen, ihr kaiserliches Streben von Deutschland hinweggewandt, und jeder große Fortschritt unserer Nation in jener Zeit von ihrer Kaiserpolitik völlig unabhängig war“.67 Allerdings setzte der preußische Historiker aus der aktuellen politischen Situation seiner Zeit heraus deutlich neue Akzente. Ein auf bürgerlichen Kräften oder einem föderalen Fürstenbund basierendes Reichsregiment stellte aus seiner Sicht kein zukunftsfähiges Konzept mehr dar. Diese Option sei schon zu des Rotbarts Zeiten längst vertan gewesen, Friedrich habe sich daher „wie kaum

64 Böhmer, Johann Friedrich: Die Regesten des Kaiserreichs unter Philipp, Otto IV, Friedrich II, Heinrich (VII) und Conrad IV. 1198–1254, Stuttgart 1849, S. VII. 65 Ranke, Leopold von: Geschichte und Politik, Friedrich der Grosse, Politisches Gespräch und andere Meisterschriften, Leipzig 1868, S. 224, vgl. Althoff: Rezeption (wie Anm. 16), S. 485. 66 Zum Kontext vgl. Brechenmacher, Thomas: Wieviel Gegenwart verträgt historisches Urteilen? Die Kontroverse zwischen Heinrich von Sybel und Julius Ficker über die Bewertung der Kaiserpolitik des Mittelalters (1859–1862), in: Muhlack, Ulrich (Hg.): Historisierung und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland im 19. Jahrhundert, Berlin 2003, S. 87–112, bes. S. 89–92. 67 Sybel, Heinrich von: Die deutsche Nation und das Kaiserreich. Eine historisch-politische Abhandlung, Düsseldorf 1861, S. 64.

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einer seiner Vorgänger mit der losen Dürftigkeit der Lehensmonarchie“ begnügt.68 Innerhalb des eigenen Reiches habe er daher Kompetenzen aus der Hand gegeben und sei so am Ende „nichts weiter als der Führer einer möglichst starken Fürstenpartei“69 gewesen. Es fällt nicht schwer, hinter dieser Formulierung einen polemischen Reflex auf die damals aktuelle Debatte um die seitens Preußen erfolgreich torpedierte Reform des deutschen Bundes zu erkennen. War nicht aus den „morschen Trümmern“ des Hohenstaufenreiches nach 1815 „eine Hydra mit 38 Köpfen“ entstanden, wie eine Berliner Denkschrift wenige Monate vor Sybels Münchner Rede spottete?70 Sie zu überwinden glaubte der borussische Historiker die Axt an der historischen Wurzel ansetzen zu müssen – selbst wenn er dabei auch die „Abgötter aller altliberalen Dichter und Geschichtsmacher, die alten Staufer“ traf, wie ein katholischer Kritiker spöttisch bemerkte.71 Wie ein gestrenger Schulmeister, so heißt es dort weiter, habe Sybel die römisch-deutschen Herrscher der Reihe nach auf ihr nationalpolitisches Regierungsprogramm hin examiniert: „Wer im Examen nicht besteht, muß auf dem Esel reiten und siehe da, sie reiten alle“.72 Es entbehrte in der Tat nicht einer gewissen Komik, dass die Sybel’sche Synthese sich nicht nur bedenkenlos ehemals republikanischer und katholisch-konservativer Argumente bediente, sondern es in Umkehr altbewährter preußischprotestantischer Allianzen dem Rotbart sogar zum Vorwurf machte, nicht mit dem Papsttum ein Bündnis gegen den Adel eingegangen zu sein73. Angesichts der österreichischen Dominanz des deutschen Bundes und der süddeutschen Trias-Idee schien der eigentliche Feind nationaler Einheit in diesem historischen Augenblick klarer denn je definiert, der „Aufmarschplan zum historiographischen Königgrätz“74 geradezu alternativlos vorgegeben. „Soll unser König von Fürsten geliehene Krone tragen? Beim Geist des gro68 Ebd., S. 66. 69 Ebd.; siehe Koch: Kaiserpolitik (wie Anm. 4), S. 1855 ff. 70 Der Deutsche Bund, die Verfassungskämpfe 1848 und 49 und die Einigungsbestrebungen von 1859, Berlin 1859, S. 7. Siehe auch Müller, Jürgen (Hg.): Der Deutsche Bund in der nationalen Herausforderung 1859–1862 (Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes. Abt. III, 3) München 2012, S. 5. 71 Der deutsche Streit auf dem Gebiete der Geschichtsforschung, in: Historisch-Politische Blätter für das Katholische Deutschland 49 (1862), S. 987–1036, hier S. 1008. 72 Ebd., S. 1000. 73 Sybel: Die deutsche Nation (wie Anm. 67), S. 65 f. 74 Seeber: Barbarossa (wie Anm. 4), S. 207.

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ßen Friedrich, das will uns nicht behagen.“ – so reimte der Publizist Gustav Freytag ganz im Sinne des nach 1866 gesteigerten preußischen Selbstbewusstseins.75 Das alte Kaisergespenst im „Kiffhäuser“ schien ihm unrettbar in Spinnweben gefangen76, der „alte Caesarenname“ als verderblicher Nebelhauch aus einem „graulich Gewölke von staubigem Trödelkrame“ aufzusteigen.77 In seinen mehrere hunderttausendmal verkauften „Bildern aus der deutschen Vergangenheit“ sorgte Freytag für eine Popularisierung des Strukturversagers Barbarossa, der nur ein „dunkleres Gegenbild“ Karls des Großen gewesen sei – gescheitert an der Aufgabe, die Traumgespinste großer Weltmonarchie und die zentrifu­ galen Kräfte seines Reiches wirkungsvoll zu integrieren.78 Allein, diese Anschauung, die Freytag noch 1871 in einem emphatischen Appell an den preußischen Kronprinzen vertrat,79 sollte bald schon einer neuen Staatsdoktrin weichen: Einem Kaisertum, das nach offizieller, von Bismarck diktierter Proklamation „im Namen des gesamten deutschen Vaterlandes auf Grund der Einigung seiner Fürsten“80 ins Leben trat, war schwerlich an anhaltenden Attacken gegen die mittelalterlichen Reichsfürsten gelegen. Zwar reflektierte die öffentliche Rhetorik Wilhelms I. durchaus Sybels Position, wenn er erklärte, die neue Würde „nicht im Sinne der Machtansprüche“ bekleiden zu wollen, „für deren Verwirklichung in den ruhmvollsten Zeiten unserer Geschichte die Macht Deutschlands zum Schaden seiner inneren Entwickelung eingesetzt wurde“.81 Gleich anschließend beeilte der Hohenzollernkaiser sich aber zu betonen, dass Deutschland alleine „durch die Einheit seiner Fürsten und Stämme“ zu neuem Glanz emporgewachsen sei.82 75 Freytag, Gustav: Kleine Kriegsbilder, in: Im neuen Reich: Wochenschrift für das Leben des deutschen Volkes in Staat, Wissenschaft und Kunst 1 (1871), S. 6–9, hier S. 7. Siehe Seeber: Barbarossa (wie Anm. 4), S. 206; Kaul: Friedrich Barbarossa (wie Anm. 1), S. 297 ff. 76 Freytag: Kleine Kriegsbilder (wie Anm. 75), S. 6. 77 Ebd., S. 8. 78 Freytag, Gustav: Bilder aus der deutschen Vergangenheit, Bd. 1: Aus dem Mittelalter, Leipzig 5. Aufl. 1867, S. 512. Siehe Borst: Reden (wie Anm. 1), S. 123 f.; Kaul: Friedrich Barbarossa (wie Anm. 1), S. 296 f. 79 Siehe Gollwitzer: Kaiserpolitik (wie Anm. 4), S. 498 ff.; Borst: Reden (wie Anm. 1), S. 124 ff.; Seeber: Barbarossa (wie Anm. 4), S. 206. 80 König Ludwig II. von Bayern an die Fürsten und Freien Städte Deutschlands, zitiert nach: Kreps, Gilbert/Poloni, Bernard (Hg.): Volk, Reich und Nation. Texte zur Einheit Deutschlands in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft 1806–1918, Paris 1994, S. 168. 81 Das Staatsarchiv: Sammlung der offiziellen Aktenstücke zur Geschichte der Gegenwart 20 (1871), No. 4122, S. 95 f., siehe Borst: Reden (wie Anm. 1), S. 133. 82 Zu den literarischen, politischen und historiographischen Deutungskämpfen des Jahres 1871 siehe ausführlich Borst: Reden (wie Anm. 1), S. 91–177.

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III. „Der Pflicht bewußt“: Friedrich Barbarossa als Strukturbezwinger Die Fürsten waren somit als Hauptgegner mittelalterlicher Reichseinheit aus dem offiziösen Geschichtsbild der geeinten Nation eliminiert und auch die Kritik am Kaisertum als verbindende universale Ordnungsmacht musste verblassen: Bereits 1855 hatte Johann Gustav Droysen in seiner Preußischen Geschichte geschrieben: „Nur die Kaiserkrone rechtfertigte das deutsche Königthum und nur mit der festen Kraft des Königthums war die Kaiserkrone zu halten“.83 Der damals in Jena wirkende Historiker hatte die „Hohenstaufenzeit den Gipfel ­unsrer Geschichte“ genannt, zugleich aber wohlwollend auf die kulturell fruchtbare „Mannigfaltigkeit“ der Städte und Regionen geblickt.84 Friedrich Barbarossa steht für Droysen im Zentrum dieses dynamischen Aufschwungs, doch der alte Kaiser „bezwang die Bewegung der Geister“, die er selbst gerufen und befördert hatte, nicht mehr.85 Trotz dieser auf den ersten Blick negativen Herrschaftsbilanz hatte der Preuße Droysen kaum im Sinn, die Großdeutung eines pflichtvergessenen Strukturversagers unverändert fortzuschreiben. Für ihn repräsentierte das Kaisertum Friedrichs I. kein loses Ende der Nationalgeschichte, sondern im Gegenteil einen vielversprechenden Anknüpfungspunkt für ein machtvoll wiedererstarktes Deutschland. Als Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung hatte er dieses Konzept bereits im April des Jahres 1848 ausführlich dargelegt: Deutschlands Einheit sei nicht durch einen revolutionären Umsturz zu gewährleisten, vielmehr gelte es die „Idee des Reiches deutscher Nation“86 als gemeinschaftsbil83 Droysen, Johann Gustav: Geschichte der preußischen Politik, Bd. 1: Die Gründung, Berlin 1855, S. 9. Diesen Satz sollte zur Stärkung seiner Position Ficker, Julius von: Das deutsche Kaiserreich in seinen universalen und nationalen Beziehungen, Innsbruck 1862, S. 56 aufgreifen. 84 Droysen: Geschichte (wie Anm. 83), betont S. 14 explizit den Gewinn einer Entfaltung partikularer Kräfte: „In dem Maaße, als immer tiefer hinab in immer engerem Bereich locale Gewalten aufkeimten und Wurzel trieben, ward das innere Leben der Nation bewegter, unmittelbarer, individualisirter; in üppiger Mannigfaltigkeit wuchernd erwuchs das Sonderleben kleinster Kreise, Regsamkeit und Eigenartigkeit an jedem Punkt.“ Es folgt auf diese Vielfalt aufruhend S. 15 die Erkenntnis: „Wir nannten die Hohenstaufenzeit den Gipfel unsrer Geschichte. In Mitten der neu werdenden Welt steht noch die Kaisermacht hoch aufrecht.“ 85 Ebd., S. 15. 86 Droysen, Johann Gustav: Denkschrift, die deutschen Angelegenheiten betreffend, 29. April 1848, in: Ders.: Beiträge zur neuesten deutschen Geschichte, Braunschweig 1849, S. 41–56, hier S. 55.

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dende Kraft wiederzubeleben. Kristallisationskern dieses neuen Staatsgebildes müsse das militärisch und administrativ überlegene Königreich der Hohen­zollern sein. Niemand solle darin den Rückfall in eine „Napoleonische Centralität“87 erblicken, könne doch die provinzialständische Verfasstheit Preußens das Vorbild eines festgefügten Bundes lebensfähiger Glieder bieten. Ein Kaisertum nach mittelalterlichem Vorbild könne als Klammer dienen, um Einheit aus der Vielfalt deutscher Fürstenstaaten zu erzeugen: Den Hohenzollern aber, so lautete die Devise Droysens, „gebührt die Stelle, die seit den Hohenstaufen leer geblieben“.88 Zur Durchsetzung gelangte dieser 1848 noch als „kühne“ Utopie etikettierte Entwurf eines deutschen Bundesstaates unter preußischer Führung tatsächlich mit der Kaiserproklamation des Jahres 1871. Als borussisch-selbstbewusster Gestus nationaler Gemeinschaftsbildung sind die Worte des Danziger Historikers Hans Prutz zu lesen, die dieser just im Reichsgründungsjahr seiner zweibändigen Staufergeschichte voranstellte. Zunächst rühmte er den historischen Reichtum des deutschen Südens, stets umgeben von einem „romantischen Schimmer“. Die Stärke der Nation aber sei derzeit in der „sich in fester Geschlossenheit zusammenfügende[n] Masse des nördlichen Deutschlands“ zu suchen. In dieser Situation müsse der „deutscheste Herrscher aus dem staufischem Haus“, Friedrich Barbarossa, gleichsam als Bindeglied – oder sollte man sagen: Eckstein – das alte und neue Machtzentrum des Kaiserreiches einigen.89 Das Schlüsselereignis der Reichsgründung trug erheblich dazu bei, das historiographische Bild Friedrich Barbarossas ins Positive zu wenden. Der Staufer diente dabei als willkommene Stellvertreterfigur, die eine kritische Reflexion über die Richtlinien künftiger Kaiserpolitik gestattete. An der unmittelbaren Schwelle der Erfüllung nationaler Hoffnungen, im November des Kriegsjahres 1870, hatte etwa der Würzburger Mediävist Franz Xaver von Wegele in einem öffentlichen Vortrag die alte Lesart des Kaisers als Strukturverlierer vertreten. 87 Ebd. 88 Ebd., S. 56. Aufgegriffen bei Schmidt, Walter: Der Barbarossamythos in der Revolution von 1848/49, in: Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät 11.3 (1996), S. 63–106, hier S. 75. Nicht zutreffend erscheint indes die S. 76 vorgetragene Deutung, Droysen habe der „ghibellinischen Idee einen neuen Träger geben“ wollen. Vielmehr suchte er den aus seiner Sicht gegebenen Kaiserkandidaten aus dem Weg der historischen Idealisierung integrations- und im Wortsinne anschlussfähig zu machen. Siehe zum Ghibellinentum Droysens auch Kaul: Friedrich Barbarossa (wie Anm. 1), S. 301 f. 89 Prutz, Hans: Kaiser Friedrich I., Bd. 1, Danzig 1871, Zitate S. 2, 1 und 3.

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Mit spürbarem Bezug auf Heinrich Luden sah er die Staufermacht im Kampf mit der päpstlichen Universalgewalt und der wachsenden Selbstsucht der deutschen Fürsten hoffnungslos aufgerieben und zerschmettert. „Jedoch genug; in jenem Ringen riesiger Kräfte hat der Kaiser zuletzt das Spiel verloren“, so rief er dem Publikum auf dem Höhepunkt seiner Ausführung zu.90 Dieses offene Eingeständnis des Versagens freilich bildete den rhetorischen Auftakt einer erstaunlichen Volte, die den Kaiser sozusagen als geläutert aus den Stürmen der italienischen Streitfälle hervorgehen ließ. Er habe mit staatsmännischem Scharfsinn erkannt, wie wenig das bislang „mit unbeugsamer Standhaftigkeit vertretene System“ eines „theokratischen Weltkaiserthums“91 den Bedürfnissen seiner Zeit entsprach und daher seine Ziele im nationalen Rahmen deutlich zurückgesteckt. Diese Kurskorrektur habe ihm nördlich der Alpen Sympathie und Bewunderung beschert und es ihm ermöglicht, die fürstlichen Eigenmächtigkeiten innerhalb des Lehenssystems im Zaum zu halten, „der kläglichsten Staatsform, die sich erfinden ließ“.92 Als erfolgreicher Integrator nationaler Kräfte habe er daher sein Nachleben im Gedächtnis der Deutschen antreten können. Die hier formulierte Wertschätzung des vermeintlich unaggressiven Staufers als Vermittler der inneren Reichseinheit konnte gleichfalls auf eine lange Traditionslinie zurückblicken. Auch ihre Vordenker wählten das Regiment Napoleons I. als Fluchtpunkt einer historischen Beurteilung Friedrich Barbarossas, schöpften ihre Argumente aber gerade aus dem Kontrast zwischen einem mittelalterlich-integrativen und einem aufgeklärt-autoritären Kaisertum. „Der harte Druck, welchen ein fremdes Volk mehre Jahre über Deutschland ausübte, hat unter vielen bösen Folgen auch manche gute gehabt“, so bemerkte ein zeitgenössischer Rezensent der ersten monographischen Barbarossabiographie des 19. Jahrhunderts.93 Zu den positiven Effekten der napoleonischen Kriege zählte er generell die Rückbesinnung auf Wesen und Eigenart der Nation, das „wahrhaft charakteristisch Deutsche“94, die er im 1818 erschienenen Werk des Gymnasiallehrers Friedrich Kortüm formvollendet verwirklicht sah. Als Exilant und Frei90 Wegele, Franz Xaver von: Kaiser Friedrich I., Barbarossa. Ein Vortrag, Nördlingen 1871, S. 14. 91 Ebd., S. 15 f. 92 Ebd., S. 21. 93 Rezension zu Kortüm, Friedrich: Kaiser Friedrich der Erste und Nicolovius, Geschichte des Lombardenbundes, in: Jahrbücher der Literatur 6 (1819), S. 115–123, hier S. 115. 94 Ebd., S. 116.

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korpskämpfer „von tiefem Haß gegen die Napoleonische Herrschaft erfüllt“95, war Kortüms „politisches Glaubensbekenntnis“ gleichwohl ein den Grundsätzen der Aufklärung verpflichtetes „republikanische[s]“.96 Seinen Friedrich Barbarossa gestaltete er folgerichtig in erster Linie als Überwinder von Gegensätzen, als den nach allen Seiten ausgleichend wirkenden „großen Gemeindevorsteher“. Das deutsche Staatsgefüge habe er einerseits mit paternalistischer Güte gelenkt, andererseits als „frei erwähltes Oberhaupt“ in der Manier eines konstitutionell gebundenen Monarchen das Konsensrecht der Großen und die Grenzen seiner Amtsgewalt getreulich beachtet.97 Im allzu „losen Zusammenhang der einzelnen Landschaften“, repräsentiert in dem „gesteigerten erblichen Fürstentum“, erblickte Kortüm zwar eine Hauptgefahr für die Einheit des deutschen Volkskörpers.98 Kaiser Friedrich I. aber gestand er das Talent zu, die „Selbstsucht“ der zentrifugalen Kräfte durch Aktivierung der „Teutschen Ehre“ im Zaum zu halten. Rastlos wirkend, durch ritterliche Tugenden ausgezeichnet, habe er ein tief verwurzeltes deutsches „Volksgefühl“ angesprochen, das als einigende Kraft ständische und politische Schranken zu überwinden vermochte.99 Als „durch und durch originelle Natur“100 glückte Kortüm somit die Konstruktion eines mittelalterlichen Kaisers, der die nationale und liberale Agenda der Restaurationszeit in vollendeter Weise verkörperte.101 Gleich seinen Zeitgenossen Kortüm und Luden präsentiert sich auch der Berliner Ordinarius Friedrich von Raumer als entschiedener Gegner französischer Großmachtpolitik. Im Einklang mit dem Erstgenannten stilisierte auch er ‚seinen‘ Friedrich Barbarossa zum radikalen Gegenpol Napoleons: Die von Luden so hoch gepriesene deutsche Freiheit sei durch „einen übermächtigen König, eine centralisierte Verwaltung und eine Alles überflügelnde Hauptstadt“ gerade nicht zu realisieren, so bemerkte er in der zweiten Auflage seiner „Geschichte 95 Thorbecke, August: Art. „Kortüm, Johann Friedrich Christoph“, in: Allgemeine Deutsche Biographie 16, Leipzig 1882, S. 730–732, hier S. 730. 96 Reichlin-Meldegg, Carl A. von: Friedrich Kortüm. Nach feinem Leben und Wirken in Amristen dargestellt, Leipzig 1858, S. 14. 97 Zitate Friedrich Körtüm, Kaiser Friedrich der Erste mit seinen Freunden und Feinden, Aarau 1818, S. 193. 98 Ebd., S. 67 und 172. 99 Ebd., S. V und 172. 100 Reichlin-Meldegg, Friedrich Körtüm (wie Anm. 96) S. 13. 101 Allerdings wurde in der österreichischen Zeitschrift Janus vom 26. Dez. 1918, S. 123 die Befürchtung geäußert, dass „vielleicht einige Ausdrücke des Verfassers katholische Leser verletzen“.

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der Hohenstaufen“ als Reflex auf ungenannte Kritiker. Die kalte Rationalität eines modernen Staatsgebildes wäre ohnehin niemals „der allein richtige und würdige Maaßstab“, an dem sich historische Größe messen lasse.102 Die Vorstellung, „alles müsse innerhalb eines Staates schlechthin gleichförmig sein“, galt Raumer bereits 1824 als destruktiver Aberglaube: Das mittelalterliche Kaisertum als Integrationsfigur habe gerade durch die Akzeptanz der Vielfalt die heterogenen Elemente des Gemeinwesens ohne ein Abgleiten in den Despotismus zusammengebunden.103 Friedrich I. habe in diesem Geiste zu Recht „nach der verständigen ja großartigen Ansicht“ regiert, „daß nicht Alles in der Hand des ersten Herrschers zu seyn brauche“.104 Wenn dieses Konzept einer – modern gesprochen – Konsensherrschaft unter seinen Nachfolgern letztlich gescheitert sei, so wäre dies „gutentheils von Päpsten, Prälaten und Fürsten“ verschuldet.105 Raumer scheint nur insofern ein Romantiker, als sein Werk dem verfassungspolitischen Rationalismus der Aufklärung mit größter Distanz begegnet.106 Im Gegensatz zu Kortüm, dessen rhetorischem Elan zeitgenössische Kritiker ein „Streben nach Bedeutsamkeit und Wirkung“107 nachsagten, übte sich der Berliner Historiker bereits stilistisch in auffälliger Zurückhaltung. Gegen den allfälligen Vorwurf einer anachronistischen Verzerrung der Vergangenheit verstand er sich durch den weitgehenden Verzicht auf politische Gegenwartsbezüge zu immunisieren. Die im Kern historistisch anmutende Darstellung der ersten vier Stauferbände ließ scheinbar die Quellen für sich selbst sprechen – freilich in absichtsvoller Auswahl und unter Akzentuierung eines auf stabiler Ständehierarchie und -harmonie aufruhenden Staatswesens. Während ihm seine republikanischen Gegner deshalb vorhielten, die Stauferkaiser durch die Tilgung aller negativen Züge „in Spreewasser getaucht“ und darin reingewaschen zu haben108, 102 103 104 105 106

Raumer, Friedrich von: Geschichte der Hohenstaufen, Bd. 5, Leipzig 2. Aufl. 1842, S. 83. Ebd., Bd. 5, Leipzig 1825, S. 64. Ebd., S. 66. Siehe hierzu auch Koh: Staufer-Rezeption (wie Anm. 24), S. 19 f. Ebd., S. 67. Das oftmals negativ qualifizierende Attribut ‚romantisch‘ erfasst schwerlich die Gesamtleistung der Raumerschen Geschichtsdeutung, siehe Koh: Staufer-Rezeption (wie Anm. 24), S. 19; Borst: Reden (wie Anm. 1), S. 114 f.; Berg: Heldenbilder (wie Anm. 50), S. 104; Kaul: Friedrich Barbarossa (wie Anm. 1), S. 79. Wenn Koh: Staufer-Rezeption (wie Anm. 24), S. 25 pointiert formuliert, Raumers „Botschaft passt trefflich in die Restaurationszeit“, so geht dies erkennbar an der Utopie eines integrativ auf die fürstlichen Partikularkräfte wirkenden Kaisertums vorbei. 107 Jahrbücher der Literatur 6 (1819), S. 115–123, hier S. 118. 108 Zimmermann: Hohenstaufen (wie Anm. 57), Bd. 2, S. V. Zur zeitgenössischen Kritik siehe auch die bei Koh: Staufer-Rezeption (wie Anm. 24), S. 15 ff.

Von Strukturverweigerern zu Strukturbezwingern

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beharrte Raumer auf dem Prinzip, die staufischen „Herrscher und ihre Ansichten nicht ausschließend nach später aufgefundenen Standpunkten beurteilen“ zu wollen.109 Damit war ein Grundsatz wissenschaftlicher Wertungsfreiheit formuliert, der im fachinternen Diskurs gegenüber einer tagespolitischen Geschichtsauslegung auf breite Anerkennung stoßen musste. Indem Raumer diese Doktrin auch und gerade für die synthetisch angelegten abschließenden Bände seines Hauptwerks beanspruchte, öffnete er den Weg zu einer strukturgeschichtlichen Gesamtschau der stauferzeitlichen ‚Verfassungsgeschichte‘. Das Postulat einer entpolitisierten, gegenwartsentrückten und scheinbar wertungsneutralen Geschichtssystematik sollte unter dem Vorzeichen des Historismus an Konjunktur gewinnen. In einer 1847 veröffentlichten Mahnschrift wandte sich etwa der Ranke-Schüler Georg Waitz vehement gegen die einfältige Annahme einiger rezenter Autoren, in der Manier moderner Kabinettspolitiker den zentrifugalen Kräften der fürstlichen Partikulargewalten die Schuld am nationalen Verfall zuzuschreiben. Die „patriotische deutsche Gesinnung“ ihrer Verfasser, die mit Blick auf die Gegenwart die staatliche Einheit zum höchsten Ziel der Geschichte erhöben, sei politisch zweifellos löblich, aus methodischer Perspektive freilich verfehlt, parteiisch und mehr „für das große Publicum als für die Wissenschaft“ geeignet.110 Eine übermäßige Akzentuierung der Zentralgewalt, die man zu Unrecht als „ghibellinisch“ bezeichnet habe, bezeuge aus Sicht kritischer Forschung eine „völlige Unkunde deutschen Staatsrechts“.111 Vielmehr nämlich habe gerade in staufischer Zeit breiter Konsens darüber geherrscht, „dass das Reich aus der Vereinigung von Kaiser und Fürsten bestehe“.112 Ja es sei der Dynastie geradezu anzurechnen, niemals „die Fürsten als ihre Unterthanen im eigentlichen Sinne des Wortes“113 behandelt und das Aufblühen der jeweiligen Landschaften und Städte ermöglicht zu haben. Während Julius Ficker in seiner Entgegnung auf die Thesen Sybels unerschütterlich an der Machtfülle des frühstaufischen Kaisertums festhielt und die Existenz von „thatsächlich beinahe souveränen Fürsten“114 als pures Zerrbild qualifizierte, beschritt Waitz in seiner Verfassungsgeschichte einen letztlich erfolgversprechenderen Weg. Bereits seit 109 Raumer: Hohenstaufen (wie Anm. 103), S. 62. 110 Waitz: Deutsche Historiker (wie Anm. 16), S. 526 und 528. 111 Ebd., S. 527. 112 Ebd. 113 Ebd. 114 Ficker: Deutsches Königthum (wie Anm. 17), S. 99.

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dem Investiturstreit sei es nicht mehr zu leugnen, dass die Fürsten „nur in geringem Masse Organe des königlichen Willens, mehr selbständige Glieder des Reiches waren“115. In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts sei „das Fürstenthum“ der Zentralgewalt ohnehin „in fast allem“ weit voraus gewesen116. Friedrich Barbarossa erscheint damit erneut als Strukturverlierer, nicht mehr aber als Versager: Denn er habe seine machtvolle Position gerade dadurch errungen, dass er „anerkannte, was geworden, nicht die Entwicklung zurückdrängen“117 wollte. Barbarossas Weisheit sah Waitz also darin begründet, dass dieser sein Reich nicht vom grünen Tisch aus regiert habe. 1878 gedruckt, mag man in diesen Worten eine Prise Bismarck’schen Pragmatismus erkennen. War der greise Schläfer Barbarossa im Kyffhäuser ein Überwinder verkrusteter Strukturen, der Stauferkaiser Sybels hingegen am Strukturfortschritt gescheitert, so öffnete die verfassungsgeschichtliche Perspektive den Blick auf einen Friedrich I., der die spezifischen Strukturbedingungen analytisch scheinbar klar zu erfassen und wirkungsvoll zu kanalisieren in der Lage war. Auf dieser Basis fand Wilhelm von Giesebrecht im 1880 spät erschienenen fünften Band der „Geschichte der deutschen Kaiserzeit“ zum euphorischen Lobpreis der Kaiserpolitik zurück:118 Zwar hebt er den „überwältigenden Einfluß des Feudalismus“119 als prägende Kraft des 12. Jahrhunderts hervor. Das Abendland wäre seiner Ansicht nach durch dieses in allen Ständen wirksame Selbständigkeitsstreben in „Zersplitterung und Ohnmacht“ verfallen, „wenn sich nicht der deutsche König der Pflichten bewußt blieb, die in seiner imperatorischen Stellung lagen“.120 Friedrich Barbarossa aber habe „zum Glück“ dieser erhabenen Verpflichtung stets genügt – aus dem Strukturverlierer war endgültig der glänzende Gewinner der Weltläufe geworden. 115 Waitz, Georg: Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 6: Die deutsche Reichsverfassung von der Mitte des neunten bis zur Mitte des zwölften Jahrhunderts, Bd. 2, Kiel 1875, S. 360. 116 Waitz, Georg: Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 8: Die deutsche Reichsverfassung von der Mitte des 9. bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts, Bd. 4, Kiel 1875, S. 478. 117 Ebd., S. 479 f. 118 Nach der Annahme des Rufes nach München war Giesebrecht von der einseitigen Hervorhebung des Kaisertums abgerückt und akzentuierte stärker als zuvor die ordnende Kraft partikularer Gewalten, „die kräftigere Lebenskeime in sich schlossen als ihm selbst beiwohnten“, siehe Giesebrecht, Wilhelm von: Geschichte der deutschen Kaiserzeit, Bd. 3: Das Kaiser­ thum im Kampfe mit dem Papste, Braunschweig 1868, hier S. 5. 119 Giesebrecht, Wilhelm von: Geschichte der deutschen Kaiserzeit, Bd. 5: Die Zeit Kaiser Friedrichs des Rothbarts, Braunschweig 1880, S. 954. 120 Ebd.

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Das neue ‚zweite‘ Kaiserreich ließ schließlich das Problem des deutschen Partikularismus zunehmend zurücktreten: „Eine echte deutsche Gelehrtenschrulle (...)“ wäre es gewesen, so urteilte Hans Delbrück aus der Rückschau des Jahres 1889, „daß es ein einiges Deutschland geben könne ohne einen deutschen Kaiser“.121 Im Gleichschritt mit dieser Erkenntnis erwuchsen die staufischen Herrscher nicht nur zu Identifikationsfiguren einer ruhmreichen gemeinsamen Vergangenheit, sondern zugleich zu wirkmächtigen Impulsgebern einer imperialen Zukunft: „Noch heute ziehen wir mit Friedrich Barbarossa in die roncalischen Gefilde und ins heilige Land“, so Delbrück weiter. Damit jedoch war das Programm friedlicher Reichseinigung unter dem „Grundsatz nationalstaatlicher Selbstgenügsamkeit“, der die Rhetorik des Jahres 1871 bestimmt hatte, zugunsten einer aggressiven Variante nationaler Ausdehnungspolitik aufgegeben.122 Statt nur als einigende Kraft nach innen zu wirken, verknüpfte die Historiographie des ausgehenden 19. Jahrhunderts den Mythos Barbarossas mit der Sehnsucht nach einem „wahren und echten deutschen Kaiser, der das Heil der Welt werden sollte“.123 Von einem solchen Gedankengut getragen, mochte die Welt am Wesen der deutschen Kultur genesen, der bei Droysen und Giesebrecht verankerte „Ghibellinismus“ über die kleindeutschen Reichsgrenzen hinaus Wirkung entfalten.124 Insofern wundert es wenig, wenn der Berliner Historiker Dietrich Schäfer im Jahr 1910 daran erinnerte, wie sehr der „letzte große Vertreter des deutschen Machtgedankens“ den lombardischen Städten mehrheitlich nicht als ein barbarischer Besatzer, sondern als der „befreiende Schutzherr“ einer höheren deutschen Ordnungsgewalt gegenübergetreten sei.125 121 Delbrück, Hans: Gustav Freytag über Kaiser Friedrich, in: Preußische Jahrbücher 64 (1889), S. 589, zitiert nach: Seeber: Barbarossa (wie Anm. 4), S. 216. 122 Schreiner, Klaus: Politischer Systemwandel und historische Begriffsbildung, in: Fuhrmann, Horst (Hg.): Die Kaulbach-Villa als Haus des historischen Kollegs, München 1989, S. 153–173, hier S. 162. Siehe ähnlich Gollwitzer: Kaiserpolitik (wie Anm. 4), S. 506. 123 Stacke, Ludwig: Deutsche Geschichte, Bd. 1: Von der ältesten Zeit bis zu Maximilian I., Bielefeld/Leipzig 1880, S. 465. Das Zitat erwies sich unter Zuhilfenahme einer gängigen Suchmaschine überraschend als ungekennzeichnete Entlehnung von Menzel: Geschichte (wie Anm. 26), S. 255. Während dieser 1825 allerdings eine ferne Hoffnung referiert, sieht Stacke diese Sehnsucht „in unseren Tagen in Erfüllung gegangen“ und überführt dadurch das bei Menzel gelesene Bild eines aggressiven Eroberers positiv in seine Gegenwart. 124 Zur ghibellinischen Geschichtsauffassung siehe Gollwitzer: Kaiserpolitik (wie Anm. 4), S. 498–512. 125 Schäfer, Dietrich: Deutsche Geschichte, Bd. 1: Mittelalter, Jena 1910, S. 298 f.; siehe dazu Schreiner: Friedrich Barbarossa (wie Anm. 4), S. 550.

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IV. Epilog Rezeptionsgeschichte lässt sich stets als komplementäre Abfolge von Prozessen der Selektion, Abstraktion und Aktualisierung verstehen. Aus dem, wie Max Weber es ausdrückt, „ungeheuren Meere der empirischen Tatsachen“ werden einzelne Aspekte ausgewählt und modellhaft zu einem geschlossenen Gedankenbild zusammengefügt.126 Doch folgt dieser Vorgang selten dem Grundprinzip des Idealtypus, letztlich „weltfremde“ Konstrukte als Erkenntnismittel rekursiv auf das empirisch Gegebene anzuwenden. Vielmehr ist in der Regel die Gegenwart der Bezugspunkt der Analyse, die Aktualisierung bezieht sich also auf rezente politische Phänomene. Während Max Weber mit Blick auf das 19. Jahrhundert explizit vor einer Metaphysik vermeintlich wahrer Geschichtskräfte warnt, hatte diese Sichtweise im Untersuchungszeitraum weithin Methode. Doch täuschen wir uns nicht: Die Relektüre der ‚idealtypischen‘ Konstrukte der Vergangenheit gemahnt uns an die Standortgebundenheit unseres eigenen Schaffens. Die struktur- und kulturgeschichtlichen, mehrfach ‚geturnten‘ Konjunkturen unseres Faches haben Friedrich Barbarossa in schöner Regelmäßigkeit als Jäger und Gejagten, rational oder reaktiv herrschenden Monarchen präsentiert. Einige vermeintlich innovative Thesen sind mir während des Schreibprozesses überraschend wiederbegegnet. So wage ich es nicht, dem alten Friedrich Rotbart als borniert-besserwisserischer Historiker der „jüngsten Schule“ gegenüberzutreten. Diesen nämlich hebt der Kaiser im Stück von Karl Biltz in die Höhe: „Läuft mit ihm hinaus nachdem er ihn ein paar Mal im Kreise herumgetragen und geschüttelt hat“127, so heißt es in den Regieanweisungen. Zu Recht, denn jede spätere Deutung des Gewesenen befindet sich gegenüber der Vergangenheit systematisch im Unrecht.

126 Weber, Max: Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Winckelmann, Johannes (Hg.): Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 5. Aufl. 1982, S. 146–214, hier S. 206. 127 Biltz: Barbarossa (wie Anm. 1), S. 26.

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Der König von Böhmen als Vasall des Reiches? Narrative der deutschsprachigen Forschung des 19. und 20. Jahr­ hunderts im Licht der Diskussion um das Lehnswesen

I. Der Herzog von Böhmen als Vasall Friedrich Barbarossas? – Die Königserhebung Vladislavs II. im Jahr 1158 Otto von St. Blasien fügte in seine Chronik zum Jahr 1186, nachdem er die Vermählung König Heinrichs VI. mit Konstanze in Mailand geschildert hatte, folgende Passage ein: „Folglich waren dem Kaiser Friedrich, wie man es auch vom Gotenkönig Theoderich liest, alle Könige im Umkreis durch Verwandtschaft (affinitas), durch Vertrag (fedus) oder durch Unterwerfung (subiectio) verbunden, und der Zustand des Kaiserreiches (imperii status) wurde, als er Kaiser war, auf vielfältige Weise erhöht. Denn mit dem König von Frankreich war er verbündet und die Tochter des Königs von Sizilien war mit seinem Sohn vereint; der König von Ungarn war ihm stets in Gehorsam aufs höchste ergeben, des Königs von Spanien Tochter war seinem anderen Sohn Konrad verlobt, auch wenn dies ohne Wirkung bleiben sollte. Außerdem hatte er zuvor auf dem Hoftag zu Dole bei Besançon dem König der Dänen durch das Aufsetzen einer Krone das Königtum mit begleitender Mannschaftsleistung gewährt (sub hominio), und den Herzog von Böhmen erhob er in den Rang eines Königs und gewährte ihm ebenfalls das Recht und den königlichen Namen durch das Aufsetzen einer Krone.“1 1

Ottonis de S. Blasio Chronica, ed. Adolf Hofmeister (MGH SS rer. Germ. 47) Hannover 1912, c. 28, S. 40: Igitur, sicut de Theoderico Gottorum rege legitur, universis per circuitum regibus affinitate seu federe seu subiectione Friderico imperatori consociatis, imperii status multis modis eo imperante exaltatur. Nam regi Francorum confederatus regisque Sicilie filia filio suo coniuncta regem Ungarorum prono obsequio devotissimum semper habuit regisque Hyspaniarum

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Auf diese Weise resümierte der nach 1209/10 schreibende Chronist aus dem Schwarzwaldkloster die imperiale Stellung des Stauferkaisers.2 Etwa fünfzig Jahre nachdem Friedrich Barbarossa den böhmischen Fürsten Vladislav II. im Jahr 1158 zum König erhoben hatte, reihte Otto von St. Blasien den vormaligen Herzog von Böhmen in den Kreis der Könige, deren Unter- und Zuordnung den Kaiser ausmachte, ein. Sicher, der König von Böhmen steht am Ende einer Liste, die mit Frankreich und Sizilien einsetzt, aber aus dem Rückblick des beginnenden 13. Jahrhunderts fand er auf dieser zumindest seinen Platz. König sei der Herzog von Böhmen dadurch geworden, dass ihn der Kaiser in dignitatem regiam extollens, ius nomenque regium corona imposita ei contulit – „ihn zur königlichen Würde erhob und ihm Recht und Namen der Könige durch das Aufsetzen der Krone gab“. Diese späte Quelle zu einem vieldiskutierten Schlüsselereignis für das Verhältnis Böhmens zum Reich ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Nicht nur setzt Otto von St. Blasien den böhmischen König unter andere Könige Europas, er beschreibt auch fein differenzierend die Mittel, mit denen der Kaiser sich die Könige verband: durch Verwandtschaft (affinitas), durch Verträge (foedera) oder durch Unterwerfung (subiectio). Der Dänenkönig aber habe, nachdem ihm die Krone aufgesetzt worden war, sub hominio, also nach Leistung eines „Handgangs“ sein Königreich erhalten. Während diese Formulierung einen lehnrechtlichen Zusammenhang andeuten könnte, fehlen ähnlich geartete Hinweise für den König von Böhmen. Zumindest der Chronist aus St. Blasien kannte also keine vasallitische Unterordnung des böhmischen Königs, obwohl er an zahlreichen anderen Stellen im Gegensatz zu Autoren des 12. Jahrhunderts nicht zögerte, Friedrich Barbarossa Herzogtümer und Reiche iure beneficii, zu Lehnrecht, vergeben zu lassen.3

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filiam alteri filio suo Conrado licet inefficax remanserit, desponsavit. Preterea ante hec omnia in curia Tholensi iuxta Bisuntium regi Danorum, corona imposita regnum sub hominio concessit ac ducem Boemie in dignitatem regiam extollens ius nomenque regium corona imposita ei contulit. Zur Übersetzung vgl. Die Chronik Ottos von St. Blasien und die Marbacher Annalen, hg. und übers. von Franz-Josef Schmale (Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters – Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 15) Darmstadt 1998, S. 81 f. Zu Otto von St. Blasien zuletzt Krieg, Heinz: Die Zähringer in der Darstellung Ottos von St. Blasien, in: Krieg, Heinz/Zettler, Alfons (Hg.): in frumento et vino opima. Festschrift für Thomas Zotz zu seinem 60. Geburtstag, Ostfildern 2004, S. 39–58; Ertl, Thomas: Otto von St. Blasien rekonstruiert den triumphalen Einzug Heinrichs VI. in Palermo (1194), in: Römische Historische Mitteilungen 43 (2001), S. 227–256, zur Darstellung von 1186, S. 250. Dies wird besonders deutlich, wenn Otto von St. Blasien im Gegensatz zu seiner Vorlage, den Gesta Friderici Ottos und Rahewins, Ereignisse einhellig lehnrechtlich deutet. Etwa in der Dar-

Der König von Böhmen als Vasall des Reiches?

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Diese Beobachtung überrascht vor dem Hintergrund einer intensiven Forschung zu den Beziehungen Böhmens zum Reich im Hochmittelalter, welche die Fürsten bzw. Herzöge vom 11. bis ins 13. Jahrhundert als Vasallen der Könige und Kaiser des Reiches ansah, die von diesen Böhmen als Lehen erhielten.4 Alle diese Studien gehen davon aus, dass das Lehnswesen die Bindung des böhmischen Herzogs an das Reich erklärt. Jene, die sich detaillierter mit den drei Königserhebungen von 1085, 1158 und 1212 auseinandersetzen, messen ihnen eine besondere Bedeutung für die zunehmende lehnrechtliche Bindung Böh-

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stellung des Streits um das Herzogtum Bayern zwischen Heinrich dem Löwen und Heinrich Jasomirgott: Ottonis de S. Blasio Chronica, ed. Hofmeister (wie Anm. 1), c. 6, S. 6, Heinrich der Löwe stritt mit dem Babenberger Heinrich Jasomirgott um das Herzogtum Bayern (Noricum), das dieser von König Konrad zu Lehen erhalten habe (… ducatum Noricum sui iuris hereditate paterna affectans cum Heinrico, filio Leopaldi, patruo Friderici regis, qui eundem ducatum beneficii loci a rege Conrado acceperat, totu nisu contendit …). Im Zuge des Ausgleichs der beiden Heinriche sei dem Bamberger die Ostmark, die zuvor dem Herzogtum Bayern nach Lehnrecht unterworfen war (que prius ducatui Norico iure beneficii subiucavit), zum Herzogtum erhoben worden. In der Vorlage Ottos von St. Blasien, den Gesta Friderici, fehlen diese lehnrechtlich eindeutigeren Termini noch. Auch die Diskussion auf dem Hoftag von Besançon 1157, ob der Kaiser vom Papst das Imperium als beneficium oder als feudum erhalten habe, ist bei Otto von St. Blasien zu eindeutig erklärt, quod quasi iure beneficii sub cesarem imperium a se suscepisse papa gloriaretur… (ebd., c. 8, S. 9). Mehr als ein Jahrzehnt später habe nach Otto von St. Blasien Welf VI. nach dem Tod seines einzigen Sohnes Welfs VII. Kaiser Friedrich seine Lehen, nämlich das Herzogtum Spoleto, die Markgrafschaft Tuszien und den Prinzipat von Sardinien, resigniert: … primo beneficiis scilicet ducatu Spoleti, markia Tuscie, principatu Sardinie ipsi resignatis … (ebd., c. 21, S. 29). Die Herzöge von Zähringen hätten das Königreich Burgund schon lange als Lehen vom Reich innegehabt: regnum Burgundie cum archisolio Arelatensi, quod duces de Zaringin quamvis sine fructu tantum honore nominis iure beneficii ab imperii iam diu tenuerant… (ebd., c. 21, S. 30). Weitere Beispiele wären hinzufügen. Die auffällige lehnrechtliche Sprache Ottos von St. Blasien würde eine eigene Studie verdienen. Zu den älteren Beiträgen zu dieser Diskussion bis 1945 vgl. die Ausführungen unten, an übergreifenden Darstellungen sind zu nennen Scheiding-Wulkopf, Ilse: Lehnsherrliche Beziehungen der fränkisch-deutschen Könige zu anderen Staaten vom 9. bis zum Ende des 12. Jahrhunderts (Marburger Studien zur älteren deutschen Geschichte II,9) Marburg 1948; Wegener, Wilhelm: Böhmen-Mähren und das Reich im Hochmittelalter. Untersuchungen zur staatsrechtlichen Stellung Böhmens und Mährens im Deutschen Reich des Mittelalters 919–1253, Köln/Graz/Göttingen 1959; Prinz, Friedrich: Die Stellung Böhmens im mittelalterlichen Deutschen Reich, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 28 (1965), S. 99–111; Hoffmann, Hartmut: Böhmen und das Deutsche Reich im hohen Mittelalter, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 18 (1969), S. 1–62; Begert, Alexander: Böhmen, die böhmische Kur und das Reich vom Hochmittelalter bis zum Ende des alten Reiches. Studien zur Kurwürde und zur staatsrechtlichen Stellung Böhmens (Historische Studien 475) Husum 2003.

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mens ans Reich zu.5 Dies gilt auch für die Ereignisse des Jahres 1158. Nach Percy Ernst Schramm wurde die Erhebung zum König „mit der Belehnung gekoppelt“, wodurch ein „Lehnskönigtum“ entstanden sei.6 Wenn Barbarossa dem Herzog von Böhmen mit einer Urkunde das Recht verlieh, an bestimmten Festtagen einen Kronreif, circulus, zu tragen, dann war dies nach Heinrich Appelt „eine Auszeichnung“, „die dem getreuen Vasallen zum Lohn für überragende Verdienste durch die Gnade der kaiserlichen Majestät (beneficio imperialis excellentie) … zuerkannt wird.“7 Die „lehnrechtliche Stellung Böhmens“ habe sich dadurch ebenso wenig verändert, wie damit eine „Abschwächung der Vasallenpflichten verbunden“ gewesen sei.8 Ähnlich wie Appelt in seinem zuerst 1972 erschienenen Aufsatz diskutierten Forscher nach ihm intensiv bis in die 1980er Jahre und in Ausläufern noch darüber hinaus über die Königserhebung Vladislavs II. und deren Bedeutung für die lehnrechtliche und d.h. „staatsrechtliche“ Stellung Böhmens zum Reich.9 Bei der umfangreichen Literatur, die wie selbst5

Schramm, Percy Ernst: Böhmen und das Regnum. Die Verleihungen der Königswürde an die Herzöge von Böhmen (1085/86, 1158, 1198/1203), in: Fleckenstein, Josef (Hg.): Adel und Kirche. Gerd Tellenbach zum 65. Geburtstag dargebracht von Freunden und Schülern, Freiburg 1968, S. 346–364; Fritz, Wolfgang H.: Corona regni Bohemiae. Die Entstehung des böhmischen Königtums im 12. Jahrhundert im Widerspiel von Kaiser, Fürst und Adel, in: Ders.: Frühzeit zwischen Ostsee und Donau. Ausgewählte Beiträge zum geschichtlichen Werden im östlichen Mitteleuropa vom 6. bis zum 13. Jahrhundert, hg. von Ludolf Kuchenbuch/Winfried Schich (Berliner historische Studien 6, Germania Slavica 3) Berlin 1982, S. 209–296; nun maßgeblich Wihoda, Martin: Die Sizilischen Goldenen Bullen von 1212. Kaiser Friedrichs II. Privilegien für die Przemysliden im Erinnerungsdiskurs (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 33) Wien u.a. 2012. 6 Schramm: Böhmen (wie Anm. 5), S. 361. 7 Appelt, Heinrich: Böhmische Königswürde und staufisches Kaisertum, in: Ders.: Kaisertum, Königtum, Landesherrschaft, hg. von Othmar Hageneder/Herwig Weigl (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Ergänzungsband 28) Wien u.a. 1988, S. 40–60, hier S. 43. 8 Appelt: Königswürde (wie Anm. 7), S. 52 f. 9 Neben Fritze: Corona regni Bohemiae (wie Anm. 5), vgl. Kejř, Jiří: Böhmen und das Reich unter Friedrich I., in: Haverkamp, Alfred (Hg.): Friedrich Barbarossa. Handlungsspielräume und Wirkungsweisen des staufischen Kaisers (Vorträge und Forschungen 40) Sigmaringen 1992, S. 241–289; Krzenck, Thomas: Die politischen Beziehungen Böhmens zum Reich der Stauferzeit (1158–1253), in: Jahrbuch für die Geschichte des Feudalismus 14 (1990), S. 159–179; Begert: Böhmen (wie Anm. 4), S. 83–89 „Exkurs I: Die Erhebung des böhmischen Herzogs Vladislav zum König (1158)“; zuletzt mit Bezugnahmen auf die ältere Diskussion: Žemlička, Josef: Dux „Boemorum“ und rex Boemie im mitteleuropäischen Wettstreit (nicht nur aus tschechischer Sicht gesehen), in: Hlaváček, Ivan/Patschovsky, Alexander (Hg.): Böhmen und seine Nachbarn in der Přemyslidenzeit (Vorträge und Forschungen 74) Ostfildern 2011, S. 91–136, hier S. 100–110.

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verständlich von diesem lehnrechtlichen Zusammenhang ausgeht, überrascht es doch, dass zwei Jahre vor Appelt Zdeněk Fiala die Ereignisse von 1158 ganz anders bewerten konnte: Vladislav II. habe Barbarossa weder ein „persönliches Vasallitätsgelöbnis“ geleistet noch von ihm die „Herrschaft über Böhmen zu Lehen“ genommen, die Belehnung böhmischer Herzöge sei im 11. und 12. Jahrhundert zwar eine Gewohnheit, aber nicht immer nachweisbar und wenn, dann ein „völlig formales Element“.10 Wie sind solche gegensätzlichen Urteile bei einem so vieldiskutierten Thema möglich? Sollte nicht ein Blick auf die zu diesem Ereignis reichlich fließenden zeitgenössischen Quellen den Sachverhalt erhellen? Betrachteten zumindest Autoren, die dem Ereignis näher standen als Otto von St. Blasien, den Herzog von Böhmen als Vasall des Kaisers?11 Auch diese Hoffnung wird enttäuscht. Weder bei Rahewin, dem Fortsetzer der ‚Gesta Friderici‘ Ottos von Freising, noch bei Vinzenz von Prag, die beide nicht lange nach 1158 schrieben, findet sich ein Hinweis auf eine lehnrechtliche Deutung des Geschehens. Rahewin berichtet, dass der Kaiser Herzog Vladislav wegen seiner Verdienste vom Herzog zum König machte (ex duce rex creatur) und ihm ein Privileg über den Gebrauch des Diadems und anderer königlicher Insignien verlieh.12 Mit ähnlichen Worten 10

Fiala, Zdeněk: Die Urkunde Kaiser Friedrichs I. für den böhmischen Fürsten Vladislav II. vom 18. 1. 1158 und das „Privilegium minus“ für Österreich, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 78 (1970), S. 167–192, hier S. 173 und 175; in der Bewertung folgt Fiala Kejř: Böhmen und das Reich (wie Anm. 9), S. 248: „Wladislaw als Herzog, aber auch später als König, hat Friedrich nie ein Vasallitätsgelöbnis geleistet und nie von ihm Böhmen als Lehen angenommen.“ Zur tschechischsprachigen Literatur, die mir leider nur aus Zusammenfassungen und dem Blick der deutschsprachigen Literatur zugänglich war, vgl. die Ausführungen von Hlaváček, Ivan: Die böhmische Kurwürde in der Přemyslidenzeit, in: Wolf, Armin (Hg.): Königliche Tochterstämme, Königswähler und Kurfürsten (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 152) Frankfurt 2002, S. 79–106, hier vor allem S. 82 f., Anm. 8; Žemlička: Dux „Boemorum“ (wie Anm. 9). 11 Die Quellen zu den Ereignissen erschließen Böhmer, Johann Friedrich: Regesta Imperii IV. Lothar III. und ältere Staufer 1125–1197. 2. Abt.: Die Regesten des Kaiserreichs unter Friedrich I. 1152 (1122)–1190. 1. Lfg.: 1152 (1122)–1158, bearb. von Ferdinand Opll/Hubert Mayr, Wien 1980, Nr. 517 und 518, S. 163 f. 12 Rahewini Gesta Friderici I Imperatoris, ed. Georg Waitz (MGH SS rer. Germ. 46) Hannover 1912, III, c. 14, S. 183: In eadem curia dux Boemorum N., vir ingenio validus, viribus prepollens, consilio, manu, audatiaque magnus, cuius antehac industriae, obsequii multa precesserant experimenta, maximeque nuper in expeditione Polunica maxima virtus claruerat, adeo ut ob merita sua omnibus carus esset, ab imperatore ac imperii primis ex duce rex creatur, anno ab incarnatione Domini MCLVIII. Suscepto itaque privilegio de usu diadematis aliisque regnis insignibus,

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verbindet auch Vinzenz von Prag die Auszeichnung Vladislavs mit dem königlichen Kronreif (regio diademate) und die Rangerhöhung.13 Das oben erwähnte Diplom Friedrichs I. vom 18. Januar 1158 hält das ihm vom Kaiser verliehene Vorrecht, die Krone an Ostern, Pfingsten, Weihnachten und an den Festtagen der Heiligen Wenzel und Adalbert zu tragen, fest.14 Ebenso wenig wie die Berichte Rahewins und Vinzenz’ erlauben Formulierungen der Urkunde, die Königserhebung Vladislavs in lehnrechtlichen Zusammenhängen zu sehen. Und obwohl nicht wenige Quellen in und außerhalb Böhmens bis zum Ende des 12. Jahrhunderts von diesem Ereignis berichten, wird in keiner nur andeutungsweise ein Vasall, ein Lehen oder ein einschlägiges Ritual wie die Mannschaftsleistung erwähnt.15 Diese Diskrepanz zwischen der Einordnung des Geschehens in der Forschung und der Darstellung in zeitgenössischen Quellen ist bemerkenswert. Auch wenn die Forschung lange Zeit darüber diskutierte, welche Auswirkungen die Königserhebung für die Stellung Böhmens zum Reich hatte, ist nicht zu verkennen, dass Studien, die sich ausschließlich auf die Königserhebung konzentrierten, beschränktere, sich aus der Quellenlage ergebende Fragen erörtern, wie die nach dem Zeitpunkt der Königserhebung und der auffälligen Titulierung Vladislavs durch die königliche Kanzlei als dux noch nach der Königserhebung im Januar 1158,16 nach der Bedeutung des Kronreifs (circulus) im Verhältnis zur kaiserlichen Krone17 oder nach der Dauerhaftigkeit der Rangerhöhung.18 Die lehnrechtliche Deutung scheint dagegen immer dann auf, wenn das Geschehen grundsätzlicher eingeordnet wird.

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laetus revertitur et ad Italicam expeditionem rex pariter cum imperatore fastu regali profecturus accingitur. Vincentii et Gerlaci Annales, ed. Wilhelm Wattenbach, MGH SS 17, Hannover 1861, S. 658– 683, hier S. 667 f.: Eodem anno Wladizlaus dux Boemie Radisbonam ad curiam imperatoris, marchionibus et aliis principibus indictam, cum suis venit principibus, ubi quo clanculo agebatur, in publicum producitur; nam domnus imperator predictum ducem ob fidele servicium coram omnibus suis principibus 3. Idus Ianuarii regio ornat diademate, et de duce regem faciens, tanto exornat decore. D F I 201, S. 335–337. Zu den einschlägigen Quellen Böhmer: Regesta Imperii IV, 2, 1 (wie Anm. 11), Nr. 517, S. 163; Schramm: Böhmen (wie Anm. 5), S. 356 f.; Wihoda: Sizilischen Goldenen Bullen (wie Anm. 5), S. 113 f. Fiala: Urkunde Kaiser Friedrichs I. (wie Anm. 10); Appelt: Königswürde (wie Anm. 7); Fritze: Corona regni Bohemiae (wie Anm. 5); Kejř: Böhmen und das Reich (wie Anm. 9). Schramm: Böhmen (wie Anm. 5), S. 356–362. Fritze: Corona regni Bohemiae (wie Anm. 5).

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Dieser Befund ist charakteristisch für das Phänomen, das ich in meinem Beitrag behandeln will. Seit etwa einem Jahrzehnt wird im deutschsprachigen Raum, einen Impuls von Susan Reynolds aufgreifend, mit besonderer Intensität über die Bedeutung des Lehnswesens diskutiert.19 Dabei trat auf zahlreichen Feldern ein bemerkenswertes Missverhältnis zwischen dem umfassenden Deutungsrahmen, den das Lehnswesen für soziale, wirtschaftliche und politische Fragen darstellen soll, und den nur spärlichen Nachweisen vorgeblicher lehnrechtlicher Termini in den Quellen zu Tage. Vor 1150 lässt sich im Reich nördlich der Alpen keine zwingende Verbindung von Lehen und Vasallität erkennen, so war das wesentliche Ergebnis einer Münchner Tagung im Jahr 2008.20 Auch später, bis ins 13. Jahrhundert, hatte das Lehnswesen noch nicht die ordnungsstiftende Macht, die ihm die ältere verfassungsgeschichtliche Forschung auf vielen Feldern zuschrieb, wie Beiträge und Diskussionen einer Tagung des Konstanzer Arbeitskreises im Jahr 2010 festhielten.21 Es ist sehr wahrscheinlich, so will ich an dieser Stelle als begründete Vermutung formulieren, dass ein ähnlicher Befund auch für das lange vorherrschende lehnrechtliche Deutungsparadigma des Verhältnisses Böhmens zum Reich gilt. Eine Flut älterer Literatur, die sich seit dem 19. Jahrhundert mit der „staatsrechtlichen Stellung“ Böhmens zum Reich beschäftigte, kreiste jedoch genau um diesen Punkt, das Lehnsverhältnis zum Reich, und versuchte mit diesem entweder die schon lange bestehende bzw. zunehmende Einbindung oder die anhaltende Eigenständigkeit Böhmens zu belegen. Eine Frage, die „seit nahezu zwei Jahrhunderten in der deutschen wie in der tschechischen Forschung mit starker 19

Reynolds, Susan: Fiefs and vassals. The medieval evidence reinterpreted, Oxford 1994; gute, aber durch die immer noch im Fluss befindliche Forschung vorläufige Zusammenfassungen bei Patzold, Steffen: Das Lehnswesen (Beck’sche Reihe 2745) München 2012; Auge, Oliver: Art. „Lehnrecht, Lehnswesen“, in: Cordes, Albrecht u.a. (Hg.): Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, 19. Lieferung, 2., völlig überarb. und erweiterte Auflage, Berlin 2014, Sp. 717–736; aus vergleichender deutsch-italienischer Perspektive Albertoni, Giuseppe/Dendorfer, Jürgen: Das Lehnswesen im Alpenraum – zur Einleitung/Vasalli e feudi nelle Alpe – Introduzione, in: Dies. (Hg.): Das Lehnswesen im Alpenraum/Vassalli e feudi nelle Alpe (Geschichte und Region/Storia e regone 22, 2013) Innsbruck 2014, S. 5–24. 20 Dendorfer, Jürgen/Deutinger, Roman (Hg.): Das Lehnswesen im Hochmittelalter. Forschungskonstrukte – Quellenbefunde – Deutungsrelevanz (Mittelalter-Forschungen 34) Ostfildern 2010; zum Ergebnis: Deutinger, Roman: Das hochmittelalterliche Lehnswesen: Ergebnisse und Perspektiven, in: ebd., S. 463–473. 21 Spiess, Karl-Heinz (Hg.): Ausbildung und Verbreitung des Lehnswesens im Reich und in Italien im 12. und 13. Jahrhundert (Vorträge und Forschungen 76) Ostfildern 2013.

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innerer Anteilnahme erörtert“ wurde, wie Heinrich Appelt 1972 zurückhaltend formulierte.22 Die Organisatoren einer Tagung des Konstanzer Arbeitskreises zum Thema „Böhmen und seine Nachbarn in der Přemyslidenzeit“ verzichteten 2007 gar auf einen Beitrag zu der „heftig diskutierten“ und „staatsrechtlich schwer lösbaren Frage der Zugehörigkeit des böhmischen ‚Staates‘ zum regnum oder zum imperium …, da sie eher ein Politikum der Zeitgeschichte gewesen ist als ein Problem der mittelalterlichen Verfassungsgeschichte.“ Die Diskussion führe in eine „Sackgasse“, die „Tiefe der Problematik“ sei nicht in einem Referat ­auszuloten, sondern werfe „epistemische Probleme von einem solchen Umfang“ auf, „dass deren Erklärung oder doch zumindest Erörterung, einer eigenen Tagung bedurft hätte.“23 Angesichts dieser Dimensionen des Themas ist das Ziel meines Beitrags bescheiden. Die lehnrechtliche Bindung Böhmens an das Reich im hohen Mittelalter soll dezidiert als historiographisches Konstrukt in seiner narrativen Eigenlogik erfasst werden. Dieser Konstruktionscharakter tritt erst vor dem Hintergrund der jüngeren Diskussion um das Lehnswesen klarer hervor. In einem ersten Schritt wird deshalb der Blick auf die einschlägigen Quellen zur lehnrechtlichen Anbindung Böhmens und deren Deutung noch einmal vertieft, um davon ausgehend die Narrative der deutschsprachigen Historiographie zum Thema im 19. und 20. Jahrhundert nachzuvollziehen.

22 Appelt: Königswürde (wie Anm. 7), S. 41. 23 Hlaváček, Ivan/Patschovsky, Alexander: Einleitendes zum Thema, in: Böhmen und seine Nachbarn (wie Anm. 9), S. 9–15, hier S. 13 f. Ähnliche Äußerungen kehren schon in der früheren Literatur immer wieder. Kejř: Böhmen und das Reich (wie Anm. 9), S. 241: „Viele Forscher werden es als zu gewagt betrachten, wenn ich nach so vielen früheren Versuchen das heikle Thema „Böhmen und das Reich“ von neuem zu erörtern beabsichtige.“ (1992); Hlaváček, Ivan: Der schriftliche Verkehr der römischen Könige und Kaiser mit dem Herzogtum und Königtum Böhmen bis zum Ausgang des 12. Jahrhunderts, in: Erkens, Franz-Reiner/Wolff, Hartmut (Hg.): Von Sacerdotium und Regnum. Geistliche und weltliche Gewalt im frühen und hohen Mittelalter. Festschrift für Egon Boshof zum 65. Geburtstag (Passauer Historische Forschungen 12) Köln/Weimar/Wien 2002, S. 705–720, hier S. 705 f.

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II. Schlüsselstellen zur lehnrechtlichen Bindung Böhmens im Licht der neueren Forschung (1002 – 1041 – 1126) Nur wenige Quellenpassagen, die seit dem 19. Jahrhundert als Schlüsselstellen für das Verhältnis Böhmens zum Reich diskutiert wurden, halten einem kritischen Blick im Sinne der jüngsten Debatte zum Lehnswesen stand. Entweder finden sich in Urkunden und in der Historiographie gar keine Anhaltspunkte dafür, dass die Zeitgenossen in Kategorien des Lehnswesens dachten, wie es im Fall der Königserhebung Vladislavs II. im Jahr 1158 zu beobachten war, oder es werden unspezifische Ausdrücke für die Vergabe von Ämtern sozusagen ­„ lehnrechtlich“ umgedeutet, etwa wenn alle Einsetzungen und Bestätigungen böhmischer Fürsten durch die Könige des Reiches verengend und somit falsch als „Belehnung“ interpretiert und übersetzt werden.24 Ebenfalls unstrittig ist im Licht der Forschungen zur Ambivalenz symbolischer Handlungen, dass die Investitur mit einer Fahnenlanze nicht per se auf lehnrechtliche Zusammenhänge verweist, wie das für 1099 angenommen wurde.25 Nicht weit trägt auch der immer wieder in diesem Sinne gedeutete Beleg, dass Fürst Vladislav 1114 beim Hochzeitsfest Kaiser Heinrichs V. mit Mathilde als summus pincerna, als oberster Mundschenk, wirkte.26 Die Interpretation dieser Stelle als Hinweis auf ein böhmisches ­Erzschenkenamt überschätzt die Institutionalisierung der Hofämter im 12. Jahrhundert bei weitem. Diskussionswürdiger sind jedoch Fälle, in denen 24 Vgl. stellvertretend für viele andere Žemlička, Josef: Dux „Boemorum“ (wie Anm. 9), S. 99, 101, 108 f., 110, 113 f., der jede Einsetzung und Bestätigung eines böhmischen Fürsten als „Belehnung“ ansieht, ganz in Analogie zur Einsetzung von Herzögen und anderen Fürsten im Reich (S. 104), die wie „Fahnlehen“ gewesen seien. Diese durchaus in Übereinstimmung mit der älteren verfassungsgeschichtlichen Forschung stehende Bewertung erscheint heute sowohl im Allgemeinen als auch im Besonderen nicht mehr haltbar; vgl. Deutinger, Roman: Vom Amt zum Lehen. Das Beispiel der deutschen Herzogtümer im Hochmittelalter, in: Spiess: Ausbildung und Verbreitung (wie Anm. 21), S. 133–157. 25 Dazu Hoffmann: Böhmen (wie Anm. 4), S. 34 f. 26 Anonymi chronica Imperatorum Heinrico V dedicata/Anonyme Kaiserchronik für Heinrich V., in: Frutolfs und Ekkehards Chroniken und die Anonyme Kaiserchronik, hg. und übers. von Franz-Josef Schmale/Irene Schmale-Ott (Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters – Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 15) Darmstadt 1972, S. 211–265, hier S. 262: In ipsis enim nuptiis convenerant archiepiscopi V, episcopi XXX, duces V, de quibus dux Boemię summus pincerna fuit… Zu Recht schon kritisch zu einem frühen böhmischen „Erzschenkenamt“ Hoffmann: Böhmen (wie Anm. 4), S. 35–37; mit der tschechischen Literatur Hlavaček: Kurwürde (wie Anm. 10), S. 86–90.

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sich in den Quellen durchaus Termini finden, die bislang im Zusammenhang mit dem Lehnswesen gesehen wurden.27 In gewisser Weise mit Recht hat die ältere Diskussion deshalb die Quellenberichte zu 1002, 1041 und 1126 hervorgehoben, die den Anschein erwecken, als ob Böhmen als beneficium (1002) bezeichnet wird oder der böhmische Herzog als miles – „Lehnsmann“ – des deutschen Königs (1041), der gegen die Leistung von Handgang und Treueid das Herzogtum als Lehen erhält (1126). Lassen sich diese Stellen mit der neuen Sicht auf das Lehnswesen in Deckung bringen, oder gab es dieses doch im Verhältnis Böhmens zum Reich? Im Jahr 1002 erkannte Fürst Vladivoj König Heinrich II. durch Unterwerfung und einen Treueid als König an und erhielt dafür das, „was er von ihm forderte, als ,Lehen‘“ – que postulavit ab eo, in beneficium acquisivit.28 1041 ordnete sich Fürst Břetislav I. nach langen Auseinandersetzungen König Heinrich III. unter, schwor ihm einen Eid und wollte ihm so treu sein, wie ein miles es seinem senior sein sollte.29 Die Signalwörter beneficium für Lehen und miles für Vasall ließen die beiden Quellenberichte in der älteren Forschung zu zentralen Zeugnissen für die lehnrechtliche Bindung Böhmens ans Reich werden. In der jüngeren Diskussion nach Reynolds ist man allerdings vorsichtig geworden, hinter vereinzelten, isolierten Begriffen ein etabliertes, klassisches Lehnswesen im Sinne der Synthesen von Heinrich Mitteis und François Louis Ganshof zu vermuten.30 27

Verlässlicher Ausgangspunkt für eine Sichtung der einschlägigen Stellen ist der quellenahe und kritische Aufsatz von Hoffmann: Böhmen (wie Anm. 4). 28 Hoffmann: Böhmen (wie Anm. 4), S. 30; Thietmar von Merseburg, Chronik, hg. von Robert Holtzmann (MGH SS rer. Germ. N.S. 9) Berlin 1935, V, c. 23, S. 249: Iste (sc. Wlodoweius) autem pociori usus consilio ad regem Ratispone adhuc commorantem proficiscens, cum humili subiectione et fideli promissione hunc in domnum elegit et, que postulavit ab eo, in beneficium acquisivit et, habitus in omnibus caritative, revertitur cum bona pace. 29 Hoffmann: Böhmen (wie Anm. 4), S. 32; Annales Altahenses maiores, ed. Edmund von Oefele (MGH SS Rer. Germ. 4), 1890/91, ad 1041, S. 27: Dehinc … venit dux die condicto cum plerisque suis principibus et regiis, ut dignum erat, muneribus, et caesare sedente in palatio cum caetu seniorum, procidit ille ante consessum illorum discalciatus, ut poscebat honor regius, iam plus humiliatus, quam antea supra se fuerit exaltatus. Primates ergo nostri, eius miseriae compassi, suum illi praebuere auxilium, regi decenter dant consilium, ut supplicem clementer susciperet et priorem dominatum illi redderet. Quem ubi recepit, iusiurandum regi fecit, ut tam fidelis illi maneret, quam miles seniori esse deberet, omnibus amicis eius fore se amicum, inimicis inimicorum, et nihil plus Bolaniae vel ullius regalis provinciae sibimet submittere, nisi duas regiones, quas ibi meruit suscipere. 30 Mitteis, Heinrich: Lehnrecht und Staatsgewalt. Untersuchungen zur mittelalterlichen Verfassungsgeschichte, Weimar 1933, Nachdruck Darmstadt 1974; Ganshof, François Louis: Was ist das Lehnswesen? Darmstadt 6. Aufl. 1983.

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Beide Stellen lassen vielfältigere Deutungen zu. Zum einen wird in beiden nicht explizit die Vergabe Böhmens als Lehen mit der Vasallität verbunden. Zwar könnte 1002 Böhmen als beneficium verstanden werden, und 1041 schwor der böhmische Fürst sich zu verhalten, wie ein miles sich gegenüber einem senior zu verhalten hatte. Hinweise auf eine Lehensbeziehung sind die beiden Stellen allerdings nur dann, wenn man davon ausgeht, dass es das Lehnswesen schon vor 1000 gab und dass gleichsam einzelne Indikatoren ausreichen, um dieses zu erkennen. An der Existenz eines Lehnswesens in der Karolinger- und Ottonenzeit hat die jüngere Forschung aber erhebliche Zweifel.31 Zum anderen sind beide Stellen in einen vielschichtigeren Kontext eingebettet, der zu stark ausgeblendet wird, wenn sie einseitig lehnrechtlich gedeutet werden. 1002 konnte sich Vladivoj gegen Konkurrenten durchsetzen, indem er zu König Heinrich II. (1002– 1124) reiste, sich ihm unterwarf und Treueide schwor. Was genau er vom König als beneficium erhielt, nennt Thietmar ebenso wenig wie eine Übersetzung von beneficium als Lehen zwingend ist. Es wäre zumindest denkbar, die offenere Bedeutung von beneficium im früheren Mittelalter anzunehmen, das heißt „er erhielt von ihm das, was er forderte, als Wohltat“, im Sinne eines freiwilligen Zugeständnisses.32 Im Jahr 1041 warf sich Břetislav von Böhmen, nach langen Kämpfen und Abmachungen der böhmischen Großen über seinen Kopf hinweg zuvorkommend, dem Kaiser und den Fürsten in der Pfalz zu Regensburg zu Füßen. Darauf erhob ihn der Kaiser und gab ihm auf den Rat der Fürsten hin seine Herrschaft zurück.33 Als Gegenleistung schwor Břetislav, dass er dem König „sowohl so treu sein wolle, wie ein miles es seinem senior sein müsse, dass er der Freund all seiner Freunde und der Feind all seiner Feinde sein werde und dass er sich Polen oder irgendeine andere königliche Provinz nicht unterwerfe, über die zwei Regionen hinaus, die er zu erhalten verdiente.“34 Festzuhalten ist daran, dass es offenbar die Vorstellung von einer besonderen Treue eines „Vasallen“ gegenüber 31 Patzold: Lehnswesen (wie Anm. 19), S. 14–43. 32 Die Quelle wie Anm. 28. 33 Annales Altahenses, ed. Oefele (wie Anm. 29) ad 1041, S. 26–28; zur historischen Einordnung Wihoda, Martin: Macht und Struktur der Herrschaft im Herzogtum Böhmen, in: Kersken, Norbert/Vercamer, Grischa (Hg.): Macht und Spiegel der Macht. Herrschaft in Europa im 12. und 13. Jahrhundert vor dem Hintergrund der Chronistik (Deutsches Historisches Institut Warschau, Quellen und Studien 27) Wiesbaden 2013, S. 341–358, hier S. 345. 34 Annales Altahenses, ed. Oefele (wie Anm. 29), ad 1041, S. 27, Quellenzitat oben in Anm. 29.

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seinem Herrn gab, wenn man miles als „Vasall“ übersetzen will, und dass Břetislav diese Treue gelobte. Genau betrachtet wird allerdings nicht gesagt, dass er zum miles Heinrichs wurde, sondern dass er ihm treu wie ein miles sein sollte, was einen Unterschied macht. Zusätzlich versprach er dem König mit einer klassischen Formel „Freundschaft“ und die Beschränkung weiterer expansiver Ambitionen.35 Weder wird also die Übertragung Böhmens als eine Lehnsvergabe verstanden, noch Břetislav explizit als „Vasall“ bezeichnet, und die Treue, die er Heinrich wie ein miles schwor, ist ein Teil weiterer Versprechungen, wie der Freundschaft und Mäßigung im Hinblick auf künftige Eroberungen. Beide Beispiele sind also durchaus plausibel im Licht der aktuellen Diskussion zum Lehnswesen zu lesen. Danach verbanden sich frühestens in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts im Reich nördlich der Alpen Lehen, Vasallität und die dazu gehörigen Rituale zu einer Einheit, die es erlauben könnte, für die Zeit um 1200 von der „Formierung des Lehnswesens“ zu sprechen. Allerdings dürfte auch das Ergebnis dieses Formierungsprozesses nicht identisch sein mit den klassischen Vorstellungen vom Lehnswesen, wenn sich im fluiden Forschungsstand abzeichnende Ergebnisse bestätigen. Belastbar aber ist, dass es nicht ausreicht, vom Aufkommen einzelner Schlüsselbegriffe auf das vollständig etablierte Lehnswesen zu schließen. Für den Fall Böhmen heißt dies, dass fast alle bisher diskutierten Belege zwar auf eine Investitur, auf eine Unterordnung oder Huldigung durch Handgang oder vielleicht auch eine „Vasallität“, eine hierarchisch untergeordnete personale Bindung deuten, kaum eines aber auf die Vorstellung, dass die Vasallität und die Vergabe Böhmens als Lehen zwingend miteinander verbunden gewesen seien. Nur in einer bemerkenswerten Quellenstelle werden alle diese Elemente gemeinsam genannt. Im Jahr 1126 zog der wenige Monate zuvor gewählte König Lothar III. vom Norden aus über das Erzgebirge nach Böhmen.36 In einem der häufigen přemyslidischen Nachfolgekonflikte des 12. Jahrhunderts unterstützte der König 35 Zur „Freundschaft“ als Bindungsform vgl. vor allem für das 13. Jahrhundert Garnier, Claudia: Amicus amicis, inimicus inimicis. Politische Freundschaft und fürstliche Netzwerke im 13. Jahrhundert (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 46) Stuttgart 2000, mit weiterer Literatur. 36 Quellen zu den Ereignissen erschließt Böhmer, Johann Friedrich: Regesta Imperii  IV. Lothar III. und ältere Staufer 1125–1197. 1. Abt.: Die Regesten des Kaiserreiches unter Lothar III. und Konrad III., Tl. 1.: Lothar III. 1125 (1075)–1137, bearb. von Wolfgang Petke, Köln 1994, Nr. 118, S. 77 f.

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nach dem Tod Herzog Vladislav I. Otto von Mähren gegen Herzog Soběslav, den die böhmischen Großen gewählt hatten.37 Das Unternehmen scheiterte vollständig. Am 18. Februar erlitt das Heer des Königs bei Kulm (Chlumec) eine vernichtende Niederlage. Nach dem Annalista Saxo, einer gut informierten Quelle, starben sowohl der Thronprätendent Otto von Mähren als auch 270 Große terrae meliores aus Sachsen. Der König selbst wurde mit Resten seines Gefolges auf einer Anhöhe eingeschlossen und behauptete sich zwar standhaft, aber doch absehbar erfolglos. In dieser kritischen Lage vermittelte der sächsische Adelige Heinrich von Groitzsch zwischen dem König und dem Herzog von Böhmen38 und in dieser Ausnahmesituation soll etwas geschehen sein, was angeblich nach dem Tenor der älteren Forschung der Normalfall war.39 Folgen wir weiter dem 37 Zu den Hintergründen und der Deutung des Geschehens Richter, Karl: Die böhmischen Länder im Früh- und Hochmittelalter, in: Bosl, Karl (Hg.): Handbuch der Geschichte der Böhmischen Länder, Bd. I: Die Böhmischen Länder von der archaischen Zeit bis zum Ausgang der Hussitischen Revolution, Stuttgart 1967, S. 165–347, hier S. 231; ferner Schäfer, Dietrich: Lothars III. Heereszug nach Böhmen 1126, in: Historische Aufsätze. Karl Zeumer zum 60. Geburtstag als Festgabe dargebracht von Freunden und Schülern, Weimar 1910, S. 61–80; Fritze: Corona regni Bohemiae (wie Anm. 5), S. 262–276; Kejř: Böhmen und das Reich (wie Anm. 9), S. 242–245; Bláhová, Marie: Die Beziehung Böhmens zum Reich in der Zeit der Salier und frühen Staufer im Spiegel der zeitgenössischen böhmischen Geschichtsschreibung, in: Archiv für Kulturgeschichte 74 (1992), S. 23–48, hier S. 34 f., 42; Laudage, Johannes: Symbole der Politik. Politik der Symbole. Lothar III. als Herrscherpersönlichkeit, in: Luckhardt, Jochen/Niehoff, Franz (Hg.): Heinrich der Löwe und seine Zeit. Herrschaft und Repräsentation der Welfen 1125-1135. Bd. 2: Essays, München 1995, S. 91–104, hier S. 99 f.; Bláhová, Marie: Böhmens Spannungsverhältnis zum Reich im Spiegel der böhmischen Historiographie der Přemyslidenzeit, in: Böhmen und seine Nachbarn (wie Anm. 9), S. 341–384, hier S. 351– 353. 38 Die Vermittlertätigkeit Heinrichs von Groitzsch berichtet Otto von Freising in den Gesta Friderici, ed. Waitz (wie Anm. 12), I, c. 21, S. 35. 39 Der Bericht des Annalista Saxo stammt wohl aus den verlorenen Paderborner Annalen, die bis 1144 reichten, die Reichschronik des Annalista Saxo selbst entstand zwischen 1148 und 1152, vgl. dazu Nass, Klaus: Die Reichschronik des Annalista Saxo und die sächsische Geschichtsschreibung im 12. Jahrhundert (MGH Schriften 41) Hannover 1996, S. 209–226; der Text in: Die Reichschronik des Annalista Saxo, hg. von Klaus Nass (MGH SS 37) Hannover 2006, ad 1126, S. 586: Rex Liuderus rapta acie admodum parva in Boemiam pro restituendo Ottone, qui iniuste ducatu privatum se querebatur, tendit, incaute quidem, tria enim milia non plus secum assumpsit, hostium vero XX milia aut amplius erant. Ducenti vero expeditiores regem precedebant ad precidendas indagines silve, que Boemiam a Saxonia disterminat, dispositi. Cumque hi per invia et abrupta silve quasi repentes laborarent, tam nivium magnitudine quam indaginum incisione fatigati hostium insidiis ex inproviso circumveniuntur. Obtrucantur ibi plerique terre meliores, viri fortes et nobiles, domini miliciaque clari, numero CCLXX …

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Annalista Saxo: „Herzog Soběslav aber war, als er von der Standhaftigkeit des Königs in Widrigkeiten hörte, nicht wenig erschüttert, er erstarrte vor Furcht, sandte unterwürfige Boten an den König und wurde endlich, kaum dass er die Gnade des Königs erlangt hatte, zu dessen Vasallen (homo regis efficitur); er warf sich dem König zu Füßen und bekräftigte eidlich, dass er ihm treu sein werde, versprach die Gefangenen zurückzugeben, erhielt das Herzogtum (provincia) als Lehen (in beneficium accepit) und mäßigte den Schmerz des Königs, der durch die Niederlage des Heeres eingetreten war, durch eine Unterwerfung von großer Bescheidenheit.“40 Nichts spricht dafür, dass wir mit dieser Szene den üblichen Vorgang der Einsetzung eines Herzogs von Böhmen vor uns haben. Die Notlage König Lothars III. nach der verheerenden militärischen Niederlage lassen den beim Annalista Saxo ausführlich beschriebenen Vorgang der Unterwerfung des Böhmenherzogs geradezu paradox erscheinen: Auf den ersten Blick ist der Umschwung kaum nachvollziehbar motiviert. Als er von der Standhaftigkeit des Königs erfuhr, bewegte das Soběslav einzulenken? Erfand der Annalista Saxo diese Unterwerfung Soběslavs gleichsam um die sächsische Niederlage zu bewältigen? Akzentuierte er ein tatsächliches Ereignis bis zur Unkenntlichkeit um? Oder lässt sich die narrative Folgerichtigkeit der Szene doch erschließen? Der Schlüssel für eine Deutung dürfte die erwähnte, vorausgehende Vermittlung Heinrichs von Groitzsch sein. Das, was hier geschah, wurde vorab vereinbart. Doch was geschah? Trotz öffentlich gezeigter Unterordnung bestätigte König Lothar Soběslav als Herzog. Der böhmische Fürst, dessen angefochtene Einsetzung den Konflikt auslöste, hatte sich durchgesetzt. Durch die königliche Bestätigung konnte er seine Herzogsherrschaft im Inneren Böhmen nun sogar auf erweiterter Grundlage legitimieren.41 Doch dieser Sieg wurde wegen der beträchtlichen Verluste für Lothar III. und seine Großen erst dadurch akzeptabel, dass der böhmische Herzog sich mit 40 Ebd.: … Dux autem Sobezlaus audita regis constantia de adversis casibus nil tremefacti expavit supplices que ad regem legatos destinavit. Tandem adductus coram rege prosternitus veniamque deprecatur. Denique regis gratia vix inpetrata homo regis efficitur, ammodo se regi subditum et fidelem fore iuramento confirmat, captivos reddere repromittit, provinciam in beneficium accipit, et dolorem regis, qui pro clade exercitus acciderat, magne humilitatis subiectione temperavit. 41 Vgl. Blahová: Böhmens Spannungsverhältnis (wie Anm. 37), S. 352: „Trotz seines Sieges und der bedrängten Lage Lothars nutzte Soběslav seinen Erfolg nur insoweit, als er sich das böhmische Fürstentum vom König verleihen ließ – in diesem Fall gewiß kostenlos –, womit er sich die ungestörte Herrschaft und allgemeine Anerkennung sicherte.“

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öffentlichen Bescheidenheitsgesten und in Demut unterordnete. Der König und sein Hof konnten trotz der Niederlage ihr Gesicht wahren. Dieses Nebeneinander von tatsächlichem Erfolg Soběslavs gegenüber dem König und seinem Widersacher Otto von Mähren und der inszenierten Unterordnung bot die Möglichkeit, die Situation zu bewältigen. Die Inszenierung hatte die Kraft, das Verhältnis zwischen dem Herzog und König Lothar auf Dauer zu befrieden. Nachdem der Herzog im nächsten Jahr noch einmal an den Hof Lothars gekommen war und diejenigen, die Verwandte verloren hatten, mit Geschenken versöhnt hatte, so eine andere Quelle, 42 trug er das Königtum Lothars mit und stellte Kontingente für dessen Kämpfe mit den staufischen Brüdern.43 Was lässt sich nun vor diesem Hintergrund über den Aspekt sagen, auf den ich die Aufmerksamkeit lenken will: die Tatsache, dass Soběslav nach dem Annalista Saxo zum homo, zum Mann bzw. Vasall König Lothars wurde, dass er ihm einen Treueid schwor und sein Herzogtum von ihm zu Lehen bekam. Wenn ich diese drei Elemente so isoliere, folge ich bereits einer Fokussierung auf das „Lehnswesen“, als Verbindung zwischen einer persönlichen Unterordnung, der Vasallität, und einem verliehenen dinglichen Element, dem Herzogtum, die durch ein Belehnungsritual, hier verdeutlicht durch den Treueid, den Soběslav schwur, entstand. Wichtig ist zum einen, dass unsere Quelle einen exklusiven Zusammenhang der drei Handlungen – Lehnsmann werden, Lehen übertragen bekommen, Treueid schwören – nicht kennt, sondern dieses zeichenhafte Handeln gleichgewichtet neben anderes stellt: das Niederwerfen zu Füßen des Königs und das Versprechen, die Gefangenen freizulassen. Zum anderen handelt es sich aber auch um eine nach Verhandlungen in seiner Sondersituation gefundene Lösung, welche die besondere Unterordnung des böhmischen Herzogs verdeutlichen sollte. Uns dürfte hier alles andere als der Regelfall entgegentreten, denn sonst wäre die Unterwerfung, die der Annalista Saxo so hervorkehrt, nicht verständlich. 42 Anselmi Gemblacensis Continuatio, ed. Ludwig Konrad Bethmann, MGH SS 6, Hannover 1844, S. 375–385, hier ad 1127, S. 381: Rex Lotharius Babenberg pentecosten celebrat. Ibi dux Bohemiae cum multis milibus equitum adveniens, domno regi de superiore traditione satisfecit; et omnes, quorum parentes vel amicos occiderat, multa insignium donorum exhibitione reconciliavit sibi. 43 Vgl. Böhmer: Regesta Imperii IV, 2 (wie Anm. 11), Nr. 157, S. 100 f. Zur breiten Wahrnehmung Soběslavs in Quellen des Reiches vgl. Kersken, Norbert: Das přemyslidische Böhmen in der zeitgenössischen Historiographie des Reiches, in: Böhmen und seine Nachbarn (wie Anm. 9), S. 385–436, hier S. 409–411.

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Andere, böhmische und nichtböhmische Quellen kennen diese Belehnungsund Unterwerfungsgeschichte dann auch nicht, was besonders beim zeitgenössischen Fortsetzer des Cosmas von Prag, dem Kanonikus von Vyšherad, bemerkenswert ist.44 Bei ihm behält der militärisch triumphierende Herzog Soběslav die Fäden in der Hand: 500 Sachsen, aber nur drei Slawen seien niedergestreckt worden. Den König der Sachsen, d.h. Lothar, aber schonte Soběslav und entließ ihn in Frieden.45 Diese Deutung des Geschehens leuchtet bei weitem mehr ein als die Erzählung des Annalista Saxo. Etwa ein halbes Jahrhundert nach dem Geschehen findet sich eine weitere Version des Geschehens. Ein in den 70er Jahren des 12. Jahrhunderts im Kloster Sázava schreibender Bearbeiter und Fortsetzer der Chronik des Cosmas von Prag46 nimmt die Darstellung der Ereignisse des Jahres 1126 zum Anlass, um zu Ereignissen seiner eigenen Zeit, dem Thronverzicht König Vladislavs II. und seiner missglückten Nachfolgeregelung, Stellung zu nehmen.47 In Reden lässt er auf der einen Seite König Lothar III. den kaiserlichen Anspruch auf die Würde eines böhmischen Herzogs begründen und auf der anderen Seite Herzog Soběslav das Wahlrecht der böhmischen Gro-

44 Canonici Wissegradensis Continuatio Cosmae, ed. Rudolf Köpke, MGH SS 9, Hannover 1851, S. 132–148, hier S. 132; Kanowník Wyšehradský, ed. Josef Emler (Fontes Rerum Bohemicarum 2,1) Praha 1874, S. 203–237, hier S. 203; vgl. dazu mit älterer Literatur Blahová: Böhmens Spannungsverhältnis (wie Anm. 37), S. 352. 45 Canonici Wissegradensis Continuatio, ed. Köpke (wie Anm. 44), S. 132: Hic Luterus rex Saxonum, seductus ab Ottone duce Moraviae, inflatus magna superbia et avaritia pecuniae atque malitia et iniquitate, cum suo exercitu venit contra Bohemos iuxta oppidum Chlumec, ubi Sobezlaus dux cum Dei adiutorio et suo comitatu 12. Kalendas Martii prostravit quingentos primates illorum, exceptis scutiferis, inter quos ruit Otto dux memoratus. Et in tanto bello tres tantum Sclavi perierunt; regi autem Saxonum cum ceteris pepercit dimisitque eum in pace. 46 Zu dieser Chronik, mit älterer Literatur: Bláhová, Marie: Sazaver Geschichtsschreibung, in: Sommer, Petr (Hg.): Der Heilige Prokop, Böhmen und Mitteleuropa. Internationales Symposium Benešov – Sázava 24.–26. September 2003, Praha 2005, S. 185–204. 47 Zum Bericht des Mönches von Sázava zum Jahr 1126 gibt es eine fruchtbare ältere Diskussion: Bachmann, Adolf: Beiträge zu Böhmens Geschichte und Geschichtsquellen, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 21 (1900), S. 209–234, hier S. 229–234; Novotný, Václav: Studien zur Quellenkunde Böhmens, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 24 (1903), hier S. 552–615, hier „II. Der Mönch von Sazawa“, S. 552–579; Bachmann, Adolf: Das Geschichtswerk des Klosters Sazawa, in: Zeitschrift des deutschen Vereins für die Geschichte Mährens und Schlesiens 13 (1909), S. 25–59; Novotný, Vaclav: Zur böhmischen Quellenkunde II. Der Mönch von Sazawa (Sitzungsberichte der Königl.-Böhm. Gesellschaft der Wissenschaften in Prag 1910,5) Prag 1911, hier S. 53–93; Schäfer: Lothars III. Heerzug nach Böhmen 1126 (wie Anm. 37).

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ßen.48 Obwohl der Sázaver Chronist Herzog Soběslav und König Lothar ausführliche Ansprachen in den Mund legt, findet sich auch in dieser Quelle – von der Forschung weitgehend unbeachtet – keinerlei Anklang an eine lehnrechtliche Terminologie. In Soběslavs Ansprachen wird die Niederlage des Königs als Gottesurteil gegen den von den Böhmen als nova lex bezeichneten Anspruch des Königs, den böhmischen Herzog einzusetzen, bezeichnet. Ihm komme nur die Bestätigung (confirmatio) zu. Sie aber sei durch die Übergabe der Fahnenlanze an Herzog Soběslav und den Austausch des Friedenskusses zwischen Herzog und König zu Stande gekommen.49 Auch an dieser Szene stellt sich damit die grundsätzlichere Frage, die schon im Hinblick auf 1002 und 1041 anklang. Dürfen wir diese Belehnung Soběslavs im Jahr 1126 als einen Beleg dafür nehmen, dass es im 11. und 12. Jahrhundert eine übliche Praxis der Einsetzung des böhmischen Herzogs durch den deutschen König mittels Belehnung gab? Eine Praxis, die so selbstverständlich war, dass sie in der Regel in der Historiographie gar nicht mehr erwähnt und beschrieben wurde? Oder ist die Szene, die uns der Annalista Saxo überliefert, sozusagen eine narrativ übermotivierte Unterwerfungsszene, die schon so oder so ähnlich stattgefunden haben kann, aber selbst dann nur aus dem Kontext des Februars 1126 zu verstehen ist? Die Frage lässt sich wieder nur durch einen Blick auf die Ergebnisse der Diskussion, die sich um das „Lehnswesen“ und seine Bedeutung entfacht hat, beantworten. Sie hat den Blick dafür geschärft, dass solche Belehnungsszenen, wie wir sie 1126 vor uns haben, vor der Mitte des 12. Jahrhunderts im Reich nördlich der Alpen sehr selten sind; mehr noch, dass die verschiedenen rituellen Elemente der Unterwerfung und der Verdeutlichung von Abhängigkeit, wie sie im Handgang (im miles effici), im Niederwerfen, im Eid etc. belegt sind, Elemente einer rituellen Symbolsprache sind. Sie sind einzeln zwar immer wieder nachzuweisen, aber nur selten zwingend in den Zusammenhang zu bringen, wie ihn eine ältere rechts- und verfassungsgeschichtliche Forschung im Grunde schon seit der 48 Monachi Sazavensis Continuatio Cosmae, ed. Rudolf Köpke, MGH SS 9, Hannover 1851, S. 148–163, hier S. 155–157; Mnich Sázawaský, ed. Josef Emler (Fontes Rerum Bohemicarum 2, 1) Praha 1874, S. 238–269, hier S. 254. 49 Monachi Sazavensis Continuatio Cosmae, ed. Köpke (wie Anm. 48), ad 1126, S. 156: Et haec dicens transdidit ei per manum insigne ducatus vexillum, et ita datis invicem osculis, dux Sobezlaus cum maxima gloria et honore suorumque ingenti tripudio ad dulcem suam rediens metropolim annis 16 optato potitus est solio.

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Karolingerzeit annahm. Aus einer solchen Perspektive wird der Beleg für die Belehnung des böhmischen Herzog Soběslav im Jahr 1126 zum erklärungsbedürftigen Sonderfall. Mehr noch, erst vor einem solchen Hintergrund erschließt sich der Aussagegehalt, den der Annalista Saxo mit der rituellen Symbolsprache, mit der er diese Szene schilderte, vermitteln wollte. Erstaunlich ist nun, dass diese Erkenntnis in der Diskussion der Beziehungen Böhmens zum Reich seit dem 19. Jahrhundert schon vorbereitet zu sein scheint.

III. Narrative deutschsprachiger Geschichtsschreibung: František Palacký und die Folgen Die Stellung Böhmens zum Reich beschäftigte bereits die staatsrechtliche Literatur der Frühen Neuzeit. Sie erörterte eingehend die Frage, wann zuerst und auf welche Weise die böhmischen Könige und damit Böhmen lehnrechtlich an das Reich gebunden waren.50 Dem Lehnrecht, der Feudistik, kam im Verfassungsrecht des Reiches vor 1806 eine besondere Bedeutung zu, um die Zuordnung der Glieder des Reiches zum kaiserlichen Haupt zu erfassen.51 Wenn Geschichtsschreiber des 19. Jahrhunderts das Verhältnis Böhmens zum Reich darstellten, geschah dies also nicht voraussetzungslos. Die Traditionen des Schreibens über dieses Problem forderten zur Bestätigung oder zur Distanzierung von 50 Vgl. dazu den Überblick von Begert: Böhmen (wie Anm. 4), S. 564–573, Exkurs VI.: “Die staatsrechtliche Stellung Böhmens in der Beurteilung der Historiographie und Staatsrechtliteratur der Frühen Neuzeit.“; ebenfalls mit Hinweisen auf die frühneuzeitliche Literatur zum Thema Brückner, Thomas: Herrschaftsverbindende Funktionen des Lehnrechts, in: Willoweit, Dietmar/Lemberg, Hans (Hg.): Reiche und Territorien in Ostmitteleuropa. Historische Beziehungen und politische Herrschaftslegitimation (Völker, Staaten und Kulturen in Ostmitteleuropa 2) München 2006, S. 247–273, hier S. 266–273, bezeichnend die Aussage S. 270: „Die Rolle des Lehnrechts bei den zuletzt genannten Auseinandersetzungen … macht wiederum deutlich, daß die Interpretation lehnrechtlicher Bindungen von den Interessen der Parteien abhing. Je nach Interessenslage wird aus der Lehnbeziehung eine Zugehörigkeit zum Reich geschlossen oder abgelehnt.“ 51 Vgl. etwa Willoweit, Dietmar: Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt. Landesobrigkeit, Herrschaftsrechte und Territorium in der Rechtswissenschaft der Neuzeit (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 11) Köln/Wien 1975, S. 9 f., 47–63, und in Bezug zur Territorialherrschaft: S. 98–108, 248–273. Als Fallstudie zur Lehnauftragung, die ebenfalls die frühneuzeitliche rechtswissenschaftliche Literatur miteinbezieht, verdient Erwähnung Brückner, Thomas: Lehnsauftragung (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 258) Frankfurt a. M. 2011, S. 187–321.

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älteren Annahmen auf. Auf dieser Grundlage wird verständlich, warum in der in Böhmen entstehenden Historiographie jeder Beleg für oder gegen ein dauerhaftes Lehnsverhältnis zum Reich mehrfach beleuchtet und kritisch eingeordnet wurde. Im Spiegel dieser historischen Frage wurde die eigene Gegenwart verhandelt: die Stellung Böhmens in der Donaumonarchie, das Verhältnis von Tschechen und Deutschen im Nationalitätenkampf um 1900, das Verhältnis des neuen tschechoslowakischen Staates zu Deutschland und zur deutschen Minderheit oder nach 1945 das Trauma der Sudetendeutschen, die in Publikationen ihre „deutsche“ Geschichte Tschechiens und Böhmens wachhielten. Leider war es mir nur möglich, die deutschsprachige Literatur wahrzunehmen, dennoch hoffe ich, die Eckpunkte der Diskussion und auch die tschechischen Argumente – bedauerlicherweise nur im Gegenspiegel – ausreichend genug sichtbar zu machen. Ziel ist dabei aber nicht, die Frage der Zugehörigkeit Böhmens zum Reich aufs Neue zu erörtern, sondern die Einbettung der lehnrechtlichen Argumente in die Narrative der Darstellungen des 19. und 20.  Jahrhunderts herauszuarbeiten. Die Konjunkturen der Beschäftigung mit dem Thema erklären sich einerseits durch die zeitpolitischen Kontexte, in denen deutsche und tschechische Historiker des 19. und 20. Jahrhunderts wirkten,52 anderseits aus einer wissenschafts­ 52 Zur deutschsprachigen Historiographie Böhmens im 19. und 20. Jahrhundert neben der Literatur in den nachfolgenden Fußnoten die Sammelbände: Die böhmischen Länder in der deutschen Geschichtsschreibung seit dem Jahre 1848. Vorträge des 2./3. Aussiger Kolloquiums, 2 Bde. (Acta Universitatis Purkynianae. Slavogermanica/Univerzita Jana Evangelisty Purkyně v Ústí nad Labem) Ústí nad Labem 1995–1996; Seibt, Ferdinand: Deutsche, Tschechen, Sudetendeutsche. Analysen und Stellungnahmen zu Geschichte und Gegenwart aus fünf Jahrzehnten. Festschrift zu seinem 75. Geburtstag, hg. von Robert Luft u.a. (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 100) München 2002, hier das Kapitel IV. „Deutsche und tschechische Geschichtsforschung von den „Grossvätern“ bis heute.“ (S. 337–568); Soukup, Pavel/Šmahel, František: Nemecká medievistika v ceských zemích do roku 1945 [Deutsche Mediävistik in Böhmen und in der Tschechoslowakei bis 1945] Praha 2004; Brenner, Christiane u.a. (Hg.): Geschichtsschreibung zu den böhmischen Ländern im 20. Jahrhundert. Wissenschaftstraditionen, Institutionen, Diskurse. Vorträge der Tagungen des Collegium Carolinum in Bad Wiessee vom 21. bis 23. November 2003 und vom 12. bis 14. November 2004 (Bad Wiesseer Tagungen des Collegium Carolinum 28) München 2006; Albrecht, Stefan/Malíř, Jiří/Melville, Ralph (Hg.): Die „sudentendeutsche Geschichtsschreibung“ 1918–1960. Zur Vorgeschichte und Gründung der Historischen Kommission der Sudetenländer (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 114) München 2008; zum Kontext grundlegend Haslinger, Peter: Nation und Territorium im tschechischen politischen Diskurs 1880–1912 (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 117) München 2010.

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immanenten Perspektive, durch die Entwicklung der Geschichtswissenschaft und ihre sich wandelnden Ansätze. Bei der lehnrechtlichen Einbindung bzw. der staatsrechtlichen Stellung Böhmens zum Reich wurde dabei nicht erörtert, ob, sondern ab wann sich eine kontinuierliche lehnrechtliche Bindung des böhmischen Fürsten/Herzogs an den König des ostfränkisch-ottonischen bzw. staufisch-deutschen Reiches abzeichne. Abhängig von den sich verändernden Bewertungen des Lehnswesens in der verfassungsgeschichtlichen Forschung wurde zudem diskutiert, welche Wirkung diese Bindung Böhmens an das Reich hatte. In den ersten prägenden Darstellungen der Geschichte Böhmens im 19. Jahrhundert, mit denen die nationale Meistererzählung entstand, war diese Frage noch der selbstverständliche Ausgangspunkt, um die Beziehungen Böhmens zum Reich zu diskutieren. Seit der zweiten Hälfte des Jahrhunderts entstand dann eine Reihe von rechts- und verfassungsgeschichtlichen Studien, die dieses Problem in systematischem Zugriff erörterten, sie waren eingebettet in die staatsrechtliche Diskussion dieser Zeit. Diese Ansätze, in denen dem Lehnrecht besondere Geltung zukam, wurden im 20. Jahrhundert abgelöst: in der Zwischenkriegszeit durch die Volksgeschichte und später durch eine marxistische Geschichtssicht bzw. im Westen durch das sudetendeutsche Geschichtsbild. Die lehnrechtliche Bindung Böhmens ans Reich wurde zwar nur noch am Rande thematisiert, blieb aber immer ein Sujet der Verfassungsgeschichte. Im 19. Jahrhundert stand diese Frage aber im Zentrum der Debatte. Auszugehen ist von František Palacký, dem Vater der böhmischen Nationalgeschichtsschreibung.53 Palacký lehnte in seiner im Auftrag der böhmischen Stände verfassten „Geschichte von Böhmen“54 jede „enge staatsrechtliche“, d.h. sich im 53 Plaschka, Richard Georg: Von Palacký bis Pekař. Geschichtswissenschaft und Nationalbewußtsein bei den Tschechen (Wiener Archiv für Geschichte des Slawentums und Osteuropas 1) Graz/Köln 1955; Prinz, Friedrich: František Palacký als Historiograph der böhmischen Stände, in: Ders.: Nation und Heimat. Beiträge zur böhmischen und sudetendeutschen Geschichte (Quellen und Studien zur Geschichte und Kultur der Sudetendeutschen 1) München 2003, S. 116–127, zuerst in: Probleme der böhmischen Geschichte (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 16) München 1964, S. 84–94; Kořalka, Jiří: František Palacký (1798–1876). Der Historiker der Tschechen im österreichischen Vielvölkerstaat (Studien zur Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie 30) Wien 2007, zum ersten Band der „Böhmischen Geschichte“ S. 169–178. 54 Palacký, František: Geschichte von Böhmen. Größentheils nach Urkunden und Handschriften, Bd. 1: Die Urgeschichte und die Zeit der Herzoge in Böhmen bis zum Jahre 1197, Prag 1844 (Der ersten Auflage zweiter Abdruck); Ders.: Geschichte von Böhmen, Bd. 2: Böhmen als erbliches Königreich unter den Přemysliden. Vom Jahre 1197 bis 1306, Prag 1847.

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Lehnrecht abzeichnende „Bindung Böhmens an das Reich ab“, so beobachtete schon Friedrich Prinz.55 Erkennbare Beziehungen ergaben sich für ihn eher aus verwandtschaftlichen, durch Heiratsverbindungen zustande gekommenen Banden. Kontakte zwischen dem deutschen König und dem böhmischen Herzog erklärte er situativ, aus den jeweiligen politischen Konstellationen heraus, und nicht durch eine langfristig bestehende Lehnsbeziehung. Dennoch sind bereits Palacký lehnrechtliche Deutungen einzelner Momente im Verhältnis Böhmens zum Reich bekannt, überraschenderweise sind es vielfach dieselben, welche die Forschung noch bis in die 70er Jahre hinein diskutierte, etwa zu den Jahren 950, 1002 oder 1041.56 Ein Blick in die Anmerkungen seines Werks verrät, dass er an diesen Stellen auf Gelasius Dobner († 1790) und dessen kritisch kommentierende Neuausgabe der böhmischen Chronik des Václav Hájek von Libočany († 1553) Bezug nahm.57 Dobner korrigierte mit seiner Ausgabe die vorkritischen Ausführungen Hájeks. Im Hinblick auf die Beziehungen Böhmens zum Reich diskutierte er deren lehnrechtliche Qualität. Der gelehrte Piarist schrieb darüber hinaus auch verfassungsgeschichtliche Abhandlungen, die noch im 19. Jahrhundert als besondere Autorität zitiert wurden.58 Palacký verweist immer dann auf Dob55 Prinz: Stellung Böhmens (wie Anm. 4), S. 99 f.; Ders.: Mediävistische Probleme im deutschtschechischen Dialog. Aspekte und Forschungsfortschritte der letzten 30 Jahre. Zum 100. Todestag von František Palacký (26. Mai 1976), in: Ders. (Hg.): Nation und Heimat. Beiträge zur böhmischen und sudetendeutschen Geschichte (Quellen und Studien zur böhmischen und sudetendeutschen Geschichte 1) München 2003, S. 128–153, hier S. 134–137. 56 Palacký: Geschichte von Böhmen (wie Anm. 54), Bd. 1, S. 214 f., 252–254, 285–287. Zur Diskussion dieser Stellen in der modernen Forschung kritisch und in der Quellensichtung maßgeblich für die deutschsprachige Literatur Hoffmann: Böhmen (wie Anm. 4), S. 21 f., 30–32. 57 Wenceslai Hagek a Liboczan Annales Bohemorum e Bohemica editione Latine redditi et notis illustrati a P. Victorino a S. Cruce e scholis piis nun plurimis animadversionibus historicochronologico-criticis, nec non diplomatibus … a P. Gelasio a S. Catharina …, 6 Bde., Pragae 1761–1782. Vgl. zur Abhängigkeit Palackýs von Dobner auch die Einschätzung von Bretholz, Bertold: Geschichte Böhmens und Mährens, 1. Bd.: Das Vorwalten des Deutschtums bis 1419, Rechenberg 1924, S. 9–12. 58 In diesem Zusammenhang einschlägig Dobner, Gelasius: Kritische Untersuchung wann das Land Mähren ein Markgrafthum geworden, und wer dessen erster Markgraf gewesen sey?, in: Abhandlungen einer Privatgesellschaft in Böhmen zur Aufnahme der Mathematik, der vaterländischen Geschichte, und der Naturgeschichte, Bd. 2, Prag 1776, S. 183–229, mit der Erörterung der Frage, wann Mähren durch Auftragung und Belehnung an die Könige Friedrich I. (1182) oder Heinrich VI. (1191) zum Markgrafentum wurde; oder Ders.: Historischer Beweis, dass Wladislaw der zweyte Herzog in Böhmen zu Anfang des 1158sten Jahrs zu Regensburg gekrönt worden, und daß der goldene Reif (Circulus) so ihme und seinen Thronfolgern Kaiser Friedrich der erste ertheilet hat, eine wahre königliche Krone gewesen sei, in: ebd., Bd. 5, Prag 1782, S. 1–54.

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ner, wenn er seine eigene „lehnrechtliche“ Bewertung eines Ereignisses bekräftigen will. Welches Bild der Bindung Böhmens ans Reich zeichnet er? Grundsätzlich war er bemüht, die Belehnung böhmischer Herzöge durch deutsche Könige als Sonderfall darzustellen, der vergleichsweise spät, nur in Zeiten selbstverschuldeter Schwäche der böhmischen Herzöge auftrat. Solche Phasen ergaben sich dann, wenn die Nachfolge der Herzöge nicht geklärt war, was vor allem am Beginn und am Ende des 12. Jahrhunderts der Fall gewesen sei. Lange Zeit aber konnten sich die Böhmen einer engeren Bindung durch Belehnung entziehen. Während die Mährer sich schon 803 Karl dem Großen unterwarfen und „fortan als Vasallen des karolingischen Reiches angesehen“ wurden,59 behaupteten sich die Böhmen in Unabhängigkeit, obwohl sie später durchaus Tribut an Karl den Großen und seine Nachfolger entrichteten. Auch wenn Palacký dem dritten Buch seiner böhmischen Geschichte den Titel „Böhmen als Herzogthum unter dem Einflusse Deutschlands. Vom Jahre 895 bis 1197“ gab, war für ihn in diesem Zeitraum die Belehnung durch den deutschen König gleichsam nur der beklagenswerte Sündenfall, Folge der Uneinigkeit böhmischer Fürsten im Inneren. Dazu kam es allerdings erst um 1000, in einer Zeit, in der der „rasche und unbedauerte Verfall der böhmischen Macht und Größe“ festzustellen sei.60 Gegen Boleslaw III. erhoben böhmische Große Vladivoj, den Sohn Bolesławs Chrobry aus Polen, zum Fürsten, der sich „der Beistimmung K. Heinrichs II. um jeden Preis zu versichern“ suchte: „Er begab sich zu Anfange des Novembermonats selbst zu ihm nach Regensburg, suchte seine Gunst durch Unterwerfung zu gewinnen, stand nicht an, sich auf des Königs Verlangen sogar als Vasall des deutschen Reiches zu bekennen, und nahm somit das ihm von den Böhmen anvertraute Land von jenem zu Lehen an: ein Vorgang, der später von allen jenen Herzögen nachgeahmt wurde, die, aus welchem Grunde immer, sich nicht fest genug auf dem böhmischen Throne fühlten.“61 In der Anmerkung zu dieser Passage führt Palacký Dobners Bewertung an, in der deutlicher die juristische Terminologie des 18. Jahrhunderts durchschimmert. Für Dobner war das von Vladivoj in Regensburg geleistete homagium und die subjectio nicht nur ein fatales Vorbild für alle späteren Herzöge, die seitdem – dann, wenn sie in Böhmen zu 59 Palacký: Geschichte von Böhmen (wie Anm. 54), Bd. 1, S. 107. 60 Ebd., S. 251. 61 Ebd., S. 253 f.

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schwach waren – Rückhalt beim König im Reich suchten. Beklagenswerter war, dass dies für die deutschen Könige und Kaiser zur Grundlage von Rechten und Ansprüchen (iurem et praetensionem) wurde, um immer wieder homagium et subjectionem zu fordern.62 Auch Dobner sah in den Vorgängen des Jahres 1002 die erste lehnrechtliche Unterwerfung eines böhmischen Herzogs. Dagegen sei die Tatsache, dass Boleslav I. sich 950 verpflichtete, Otto dem Großen Tribut zu zahlen, nicht als Ausdruck einer Belehnung zu verstehen – eine Bewertung, die Palacký ebenfalls aufgriff. Im Ergebnis kam es nur in dieser Ausnahmesituation, dem Versuch eines fremden, polnischen Fürsten, sich in Böhmen gegen přemyslidische Konkurrenten durchsetzen, zur Unterordnung durch Belehnung gegenüber dem deutschen König. Bemerkenswert ist nun, wie Palacký, wieder auf Dobner gestützt, die im Sinne einer klassischen Sicht für das Jahr 1041 ebenfalls anzunehmende Belehnung Herzog Břetislavs durch Heinrich  III. mit Böhmen wegdiskutiert. Die Zeit Břetislavs I. (1035–1055) malt er als „eine der glänzenderen Perioden der ältesten böhmischen Geschichte“ aus, „welche eben auch unter ihm erst sich von fremden Quellen zu emancipiren und etwas selbständiger zu werden anfängt“, er verleiht diesem Fürsten sogar den Titel „Wiederhersteller Böhmens“.63 In ­dieses Bild mag sich die eindeutige Unterwerfung Břetislavs unter Heinrich III. nicht einfügen, deshalb hatte für Palacký der Herzog „außer der angelobten Treue und dem Tribut, keine andere Verpflichtung gegen Heinrich III. übernommen.“64 In der Anmerkung verweist er dann zwar darauf, dass „die deutschen Chronisten bei dieser Gelegenheit mit den Worten subjectio, servitium u. dgl. nicht sparsam sind“, sie würden aber durch Lampert von Hersfeld aufgewogen, der zu 1041 nur von einer Tributzahlung spricht.65 Palacký wählt also aus den vorhandenen Quellen zum Ereignis die unverfänglichste aus. Das ist auch dann bemerkenswert, wenn er die deutlichsten Ausführungen, der erst später rekonstruierten bzw. in einer Abschrift Aventins wieder aufgefundenen Niederaltaicher Annalen noch nicht kennen konnte.66 Die auch in anderen Quellen fassbare Unterwerfung fügt 62 63 64 65 66

Dazu ebd., S. 254, Anm. 61, mit Hinweis auf Dobner: Annales Hayec. IV, pg. 484 und 505. Ebd., S. 277. Ebd., S. 277. Ebd., S. 287, Anm. 96. Sie werden in Dobners ‚Annales Bohemorum‘ als Quellengrundlage auch noch nicht genannt, allerdings wird Aventin im Rang einer Quelle angeführt. Vgl. Wenceslai Hagek a Liboczan Annales Bohemorum (wie Anm. 57), Bd. 5, S. 262–269.

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sich nicht in Palackýs Bild des unter Herzog Břetislav erstarkenden Böhmens, deshalb blendet er entgegenstehende Quellen aus. Eine Technik, die er bei der Diskussion der Frage der lehnrechtlichen Bindung Böhmens ans Reich häufiger anwendet. Unterwarf sich Herzog Břetislav in Palackýs Lesart König Heinrich III. nur dadurch, dass er ihm einen Treueid leistete und Tribute zahlte, und damit eben, wie Palacký schon für die Mitte des 10. Jahrhunderts ausführte, nicht lehnsabhängig war, so konnte König Vratislav I. sogar erreichen, dass dieser Tribut nicht mehr gezahlt werden musste, sondern die Böhmen sich an seiner Stelle verpflichteten, „300 Bewaffnete zu jedem Römerzuge der deutschen Kaiser“ zu stellen. Dadurch entstanden „staatsrechtliche Vortheile für das böhmische Reich“, denn es ergab sich die „einzige reelle Last und Pflicht“, durch „welche Böhmen an die Hoheit des deutschen Reiches fortwährend gebunden blieb.“67 Sein Sohn Břetislav II. beging aber, so die Darstellung Palackýs, den Fehler, für seine Nachfolge das „Senioratsgesetz“, das die Nachfolge des ältesten Přemysliden forderte, außer Kraft zu setzen, weshalb es nach seinem Tod zu langwierigen Auseinandersetzungen kam, in denen sich einzelne Thronprätendenten immer wieder dadurch einen Vorteil zu verschaffen suchten, dass sie sich von den letzten Saliern, König Heinrich IV. und seinem Sohn Heinrich V., belehnen ließen. Wieder ist es nur die Uneinigkeit der böhmischen Fürsten, die eine Krisenzeit heraufbeschwört, in der es zu Lehnsnahmen kommt.68 Noch zu seinen Lebzeiten im Jahr 1099 ließ Břetislav danach durch Heinrich IV. seinen Bruder Bořivoj „mit der herzoglichen Fahne Böhmens schon im voraus belehnen“, damit ihn die Böhmen nach seinem Tod zum Herzog wählten.69 Diesen „Frevel“ „gegen das Grundgesetz der Monarchie“ sollte er nicht lange überleben, er war der Auslöser jahrzehntelanger Thronwirren nach seinem Tod Ende 1100. Obwohl Bořivoj bereits von Heinrich IV. belehnt war, ging auch sein Bruder Ulrich zu Kaiser Heinrich IV. und ließ sich gegen eine Geldzahlung ebenfalls „belehnen“,70 konnte sich aber in Böhmen militärisch nicht durchsetzen.

67 Palacký: Geschichte von Böhmen (wie Anm. 54),Bd. 1, S. 319 f. 68 Ebd., S. 335–392, Kapitel: „Thronstreitigkeiten unter König Wratislaws Söhnen und Neffen“. Břetislav II. ließ danach schon zu Lebzeiten seinen Bruder Bořivoj „mit der herzoglichen Fahne im voraus belehnen“. 69 Ebd., S. 344 f. 70 Ebd., S. 384.

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Eine zielgerichtete Auswahl der Quellen für die Argumentationslinie, einer nur seltenen, späten und dann als Sonderfall zu bewertenden Belehnung nimmt Palacký auch bei der Darstellung der Niederlage Lothars III. bei Kulm (Chlumec) und der Belehnung Soběslavs I. im Jahr 1126 vor.71 Während er die im Annalista Saxo, einer zeitnahen Quelle, geschilderte Unterwerfung des böhmischen Herzogs, welche die wesentlichen Züge des Lehnsrituals zeigt, nicht erwähnt, schreibt er die Darstellung des Mönchs von Sázava aus und gewichtet dadurch: Soběslavs Kampf gegen Lothar wird auf der Grundlage der Quellenkomposition, aus der Palacký seine Darstellung strickt, gleichsam zum Verfassungskampf, um die Unabhängigkeit der böhmischen Herzogserhebung vor Einflüssen des deutschen Königs zu bewahren. Palacký kennt allerdings auch die anderen zeitgenössischen Quellen und qualifiziert sie in der Anmerkung auf bezeichnende Weise: „Über den Krieg selbst sprechen alle gleichzeitigen deutschen Chronisten, am ausführlichsten und treuesten Otto von Freising, am lügenhaftesten der sächsische Chronist“.72 „Lügenhaft“ war für ihn am Annalista Saxo sicher die Tatsache, dass dieser derart eindeutig, sogar mehrfach motiviert als Zeugnis für eine Unterordnung und Belehnung, ja sogar vasallitische Abhängigkeit Herzog Soběslavs zu lesen war. Doch auch Otto von Freising, den Palacký positiv bewertet, sprach davon, dass sich Soběslav dem König zu Füßen warf, ihm Handgang (hominium) und Treueid (sacramentum fidelitatis) leistete und dafür von ihm das Herzogtum erhielt.73 In Palackýs Darstellung findet sich davon keine Spur, vielmehr beschreibt er die Übergabe des Herzogtums an Soběslav allein mit den Worten der Sázaver Chronik und lässt sie damit als Bestätigung der Herzogswürde durch den König ohne vorhergehende Unterwerfung, fast von gleich zu gleich, erscheinen.74 Von einer Belehnung und damit einer staatsrechtlichen Abhängig71

Ebd., S. 394–399, hier S. 398, die Darstellung bei Palacký endet mit der Rede Herzog Soběslavs, der Übergabe der Fahnenlanze durch Lothar III. und dem Friedenskuss zwischen König und Herzog, vgl. die Quellenzitate wie oben Anm. 36. 72 Ebd., S. 398 f., Anm. 186. 73 Otto von Freising: Gesta Friderici (wie Anm. 12), I, c. 21, S. 35: Tandem Heinrico Saxoniae marchione, quid de sorore ducis natus cum rege advenerat, mediante ad pedes imperatoris satisfactionem offerens humiliter dux venit hominiumque sibi cum sacramento fidelitatis exhibens ducatum ab eo suscipit, captivos reddidit; sicque princeps, portatis secum eorum qui nobiliores erant funeribus, cum multo merore rediit. 74 Dagegen führt Dobner in Wenceslai Hagek a Liboczan Annales Bohemorum (wie Anm. 57), Bd. 6, S. 186 f. Otto von Freising ausführlich, inklusive des Handgangs und Treueids, als Quelle für die Szene von 1126 an, auch wenn er in der Bewertung dann dem Kanonikus von Vyshegrad folgt, Soběslav hätte Lothar geschont und in Frieden entlassen und dafür „ohne Zögern“

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keit Böhmens vom Reich kann also 1126 keine Rede sein, ebenso wenig bietet die Königserhebung Vladislavs II. 1158 für Palacký Hinweise darauf. Erst später in der Regierungszeit Friedrich Barbarossas zeige sich „Böhmens neuer Verfall durch den Streit der Přemysliden“.75 Als es König Vladislav II. nicht gelang, zugunsten seines Sohnes auf den Thron zu verzichten, was wieder einen Bruch mit dem „Senioratsgesetz“ darstellte, kam es zum schweren Fall. Schon 1173 konnte Friedrich Barbarossa Herzog Friedrich, den Sohn Vladislavs, absetzen und dafür Soběslav II. einsetzen. 1182 zeigte sich die „neue Politik“ Barbarossas gegenüber Böhmen dann „ungeschminkt“, er habe Mähren „aus eigener Machtvollkommenheit als eine neue Markgrafschaft und ein neues Lehen des römischen Reiches an Konrad Otto“ vergeben, „wodurch es für unabhängig von Böhmen und dem Reiche unmittelbar unterworfen erklärt wurde.“76 – eine Wertung Palackýs, die sich deutlich auf Dobners Abhandlung zum Thema stützt.77 Vollends aber glitten die Přemysliden unter Heinrich VI. in die Vasallität ab. Schon 1192 sandte der König ihnen gegen Geldzahlung die Fahnenlanzen zu und belehnte sie damit. Ein Jahr später gab er sogar dem Bischof von Prag Heinrich Břetislav, einem Přemysliden, „mit den herzoglichen Fahnen“ Böhmen als Lehen „und sandte ihn im August 1193, als neuen Herzog des Landes mit sehr glänzendem Gefolge nach Böhmen“: „So weit hatten es nun die Böhmen, durch die lange Umgehung ihres Grundgesetzes, so wie durch ihren Mangel an Treue und Patriotismus gebracht, daß ihr Land, ohne überwunden oder erobert worden zu sein, die Provinz eines fremden Reiches, und ihre Fürsten die Vasallen eines Herrn wurden, den man bis dahin für ihren gefährlichsten Feind gehalten hatte.“78 Am Ende des 12. Jahrhunderts drohte Böhmen deshalb zu einem Teil des Reiches herabzusinken, doch konnte Přemysl Otakar dieses drohende Geschick wenden. Ihm gelang es nach dem Tod König Heinrichs VI. und im Thronstreit, die Unabhängigkeit Böhmens nach außen zu erringen und im Inneren dadurch zu festigen, dass er seine Nachfolge regelte und das „Senioratsgesetz“ abschaff-

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– praeter moram – die Bestätigung als Herzog bekommen, wie sie der Mönch von Sázava schilderte. Von einer Belehnung ist hier keine Rede. So der Titel des Kapitels, das die Zeit von 1173 bis 1197 umfasst, bei Palacký: Geschichte von Böhmen (wie Anm. 54), Bd. 1, S. 461. Ebd., S. 476. Vgl. dazu oben wie Anm. 58. Palacký: Geschichte von Böhmen (wie Anm. 54), Bd. 1, S. 487 f.

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te. Böhmen hatte, so resümiert Palacký seine Wertung am Ende des 12. Jahrhunderts, „nie und zu keiner Zeit aufgehört, einen eigenen souveränen Staat zu bilden“.79 Auch wenn die Kaiser seit 1002 Böhmen als „ein Reichslehen und dessen Fürsten als Vasallen ansprachen – ließen sie dennoch der Letzteren Landeshoheit zu allen Zeiten ungekränkt“.80 Die „böhmischen Fürsten und Stände“ konnten die ganze Zeit über „ihre Gesetze auf den Landtagen beschließen“, Kriege führen und Verträge mit den benachbarten Mächten schließen sowie „Ländereien und Gebiete“ aufteilen, ohne der Zustimmung des Kaisers zu bedürfen. Dem Kaiser gegenüber hatten sie nach der Ablösung der Tributpflicht nur die Pflicht, ihre Würde von ihm bestätigen zu lassen, Hoftage („Kaisertage“) in der Nähe Böhmens zu besuchen und für jede Romfahrt 300 Bewaffnete zu stellen. Im Gegenzug dafür wirkten sie aber auch in inneren Angelegenheiten des Reiches mit, vor allem bei den Königswahlen.81 Palackýs „Geschichte von Böhmen“ war der maßgebliche Ausgangspunkt der nachfolgenden Diskussion. Für die erwachende tschechische Nation war die Frage der Unabhängigkeit ein archimedischer Punkt, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts von frappierender Aktualität war, als sich 1848 die Frage der Zugehörigkeit Böhmens zum Deutschen Bund stellte. Palacký, der selbst als Politiker wirkte, lehnte in einem berühmten Brief die Einladung zur Teilnahme am Parlament der Frankfurter Paulskirche ab.82 Mit dem Bekenntnis „Ich bin ein Böhme slawischen Stammes“83 leitet er einen historisch staatsrechtlichen Exkurs ein, 79 80 81 82

Palacký: Geschichte von Böhmen (wie Anm. 54), Bd. 2, 1, S. 9. Ebd., S. 9. Ebd., S. 9–11. Zu diesem Brief Seibt, Ferdinand: Tschechen und Deutsche. Der lange Weg in die Katastrophe (1980), in: Ders.: Deutsche (wie Anm. 52), S. 355–373, hier S. 361 f.; Kořalka, Jiří: Palacký und Österreich als Vielvölkerstaat, in: Ders.: Tschechen im Habsburgerreich und in Europa. Sozialgeschichtliche Zusammenhänge der neuzeitlichen Nationsbildung und der Nationalitätenfragen in den böhmischen Ländern (Schriftenreihe des österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts 18) Wien 1991, S. 175–179; Ders.: Tschechische Nationsbildung und Nationale Identität, in: Hirschhausen, Ulrike von/Leonhard, Jörn (Hg.): Nationalismen in Europa. West- und Osteuropa im Vergleich, Göttingen 2001, S. 306–321, hier S. 320; Ders.: František Palacký (wie Anm. 53), S. 269–275. 83 Der Brief: Palacký, František: Gedenkblätter. Auswahl von Denkschriften, Aufsätzen und Briefen aus den letzten fünfzig Jahren als Beitrag zur Zeitgeschichte, Prag 1874, S. 148–155, hier S. 150 im Zusammenhang: “Ich bin ein Böhme slawischen Stammes und habe mit all dem Wenigen, was ich besitze und was ich kann, mich dem Dienste meines Volkes ganz und für immer gewidmet.“

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mit dem er begründet, warum er nicht am Frankfurter Parlament teilnehmen könne. Wie in einem Brennspiegel lässt sich in den wenigen Zeilen des Briefes die politische Tendenz seiner Geschichtsauffassung greifen, die Palacký zuvor, gleichsam als Vorbereitung, in einem Artikel noch einmal auf den Punkt gebracht hatte:84 „Die ganze Verbindung Böhmens zuerst mit dem heil. römischen Reiche, dann mit dem deutschen Bunde war von jeher ein reines Regale, von welchem das böhmische Volk, die böhmischen Stände kaum jemals Kenntnis zu nehmen pflegten.“ Eine Erkenntnis, die „allen deutschen Geschichtsforschern wohl eben so gut, wie mir selbst“ bekannt sei. „Selbst bei der vollen Annahme, dass die böhmische Krone jemals im Lehensverbande zu Deutschland gestanden (was übrigens von böhmischen Publicisten von jeher bestritten wird), kann es keinem Geschichtskundigen einfallen, die ehemalige Souverainetät und Autonomie Böhmens nach Innen in Zweifel zu ziehen.“85 Dieser Brief und die vorausgehende Abhandlung in einem Artikel zeigen deutlich, welcher publizistische Stellenwert historischen Argumenten und dabei insbesondere der Frage der lehnrechtlichen Abhängigkeit Böhmens vom Reich zukam. Nach 1848 wurde die Stellung Böhmens in der Habsburgermonarchie dann von der Debatte um das böhmische „Staatsrecht“ bestimmt, das Recht, in den drei Kronländern Böhmen, Mähren und Schlesien die Angelegenheiten eigenständig, wenn auch unter dem Kaiser als König von Böhmen zu regeln.86 Diese politischen Fragen seiner Zeit bestimmten Palackýs Bewertung des Verhältnisses Böhmens zum Reich. Die Quellenbelege für oder wider eine lehnrechtliche Bindung der böhmischen Herzöge an das Reich ließen dabei offenbar genügend Spielraum für eigene Deutungen, den Palacký bis hin zur Auswahl der zugrundeliegenden Quellen nutzte.

84 Kořalka, Jiří: Palacký a Frankfurt 1840–1860: Husitské bádání a politická praxe, in: Husitský Tábor 6-7 (1983/84), S. 239–360, hier S. 297–300, mit dem Titel „Böhmens Verbindung mit Deutschland.“ 85 Palacký: Gedenkblätter (wie Anm. 83), S. 150. 86 Dazu im Überblick Velek, Luboš: Böhmisches Staatsrecht auf “Weichem Papier”: Tatsache, Mythos und ihre symbolische Bedeutung in der tschechischen politischen Kultur, in: Bohemia 47 (2006/07), S. 103–118.

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IV. Die deutschböhmische Reaktion: Ludwig Schlesinger, Adolf Bachmann und Bertold Bretholz Die dezidiert tschechisch-nationale Sichtweise Palackýs war unmittelbar auf politische Debatten seiner Zeit bezogen. Sie sollte deshalb auch nicht unwidersprochen bleiben. Im Jahr 1869, unmittelbar nachdem er sein Geschichtswerk bis an den Beginn des 16. Jahrhunderts herauf geführt und damit abgeschlossen hatte, publizierte Ludwig Schlesinger eine „Geschichte Böhmens.“87 Erklärtes Ziel Schlesingers, eines der Gründer des „Vereins für die Geschichte der D ­ eutschen in Böhmen“, war es, gegen die tschechische Geschichtsschreibung und den Einfluss Palackýs das national-liberale Geschichtsbild der Deutschböhmen zur Geltung zu bringen.88 Im Auftrag des Vereins verfasste Schlesinger seine „populäre Geschichte Böhmens“, in der die Rolle der Deutschböhmen gegen die „Rührigkeit der slawischen Geschichtsschreibung und der officiellen tschechischen Landeshistoriographie“ herausgearbeitet werden sollte.89 Neben einem dezidiert kulturgeschichtlichen Ansatz ging es Schlesinger auch darum, „Aufschlüsse über die Verhältnisse zu gewinnen, in welchem Böhmen zu Deutschland und nachher zur österreichischen Monarchie stand“, ein Punkt, an dem er ankündigte, „nicht zu denselben Resultaten“ zu gelangen wie „tschechische Historiker“.90 Schon der Titel und der Zeitansatz seines Kapitels für das Früh- und Hochmittelalter verraten eine dezidiert andere Stoßrichtung wie bei Palacký: „Das Herzogthum Böhmen in strenger Abhängigkeit vom deutschen Reiche (768–1197).“91 Spätestens seit der Zeit Karls des Großen bilde Böhmen „einen Bestandtheil Deutschlands“. Der 806 eingeleitete Zusammenhang sei in den folgenden Jahrhunderten „immer fester geknüpft“ worden, „wie sehr sich auch entgegengesetzte Bestrebungen geltend zu machen versuchten.“92 Grundgesetz der Entwicklung zum Reich sei vom Beginn des 9. bis ins 13. Jahrhundert, dass die „böhmischen Herzöge“ entweder versuchten, „durch blutige Kämpfe das Abhängigkeitsverhältnis 87 Schlesinger, Ludwig: Geschichte Böhmens, Prag/Leipzig 1869. 88 Neumüller, Michael: Der Verein für Geschichte der Deutschen in Böhmen: ein deutschliberaler Verein (von der Gründung bis zur Jahrtausendwende), in: Seibt, Ferdinand (Hg.): Vereinswesen und Geschichtspflege in den böhmischen Ländern, München 1986, S. 179–208. 89 Schlesinger: Geschichte Böhmens (wie Anm. 87), S. IV. 90 Ebd., S. V. 91 Ebd., S. 22–99. 92 Ebd., S. 24.

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von Deutschland zu lockern oder aber durch innigen Anschluss an die deutschen Kaiser die eigene Existenz gegen innere und äußere Feinde zu schützen. Im Allgemeinen macht sich dabei das Gesetz geltend, dass bei einem kräftigen, deutschen Kaiserthume Böhmen in strenger Abhängigkeit erhalten wird, und dass erst mit dem Verfalle der deutschen Kaisermacht Böhmen sich zu einer gewissen Selbständigkeit emporarbeiten kann.“93 In diesem Sinne blickt Schlesinger auch auf die lehnrechtliche Abhängigkeit Böhmens vom Reich, die er schon im 10. Jahrhundert als so selbstverständlich annimmt, dass er sie nie eingehender erörtern muss: 929 ordnete sich Herzog Wenzel König Heinrich I. „vasallenartig“ unter;94 977 drang König Otto II. in Böhmen ein und zwang Herzog Boleslaw zum Frieden, worauf jener „gelobte, sich fortan wieder als treuer Lehnsmann dem Kaiser zu fügen“95; 1041 unterwarf sich dann Břetislav dem deutschen König, der ihm „treue Lehnsfolge“ versprach und „als treuer Vasall von nun an alle ihm zukommenden Pflichten“ verrichtete.96 Selbst König Vratislav II. stand Heinrich IV. als „treuer Vasall und Bundesgenosse mit seinen gefürchteten Mannen bei.“97 Auslöser des Konflikts von 1126 sei gewesen, dass König Lothar Otto wie Soběslav vor „das Reichsgericht lud, damit er, der Oberlehnsherr, über das erledigte Lehen entscheide“.98 Trotz dieser allgemeinen Lehnsbindung der böhmischen Herzöge an das Reich sieht auch Schlesinger noch einmal einen Höhepunkt in der Regierungszeit Friedrich Barbarossas, der 1173 Soběslav zum „rechtmäßigen Herzoge“ erhob und ihn mit „fünf Fahnen“ belehnte und 1182 „Mähren“ als „eine von Böhmen unabhängige, reichsunmittelbare Markgrafschaft“ erklärte, mit der er Konrad „belehnte“.99 Heinrich VI. zog dann durch die Belehnungen von 1191 und 1192 „die Fessel der Abhängigkeit Böhmens noch straffer zusammen“.100 Böhmens Geschichte sei bis ans Ende des 12. Jahrhunderts nicht zu verstehen ohne „sein Verhältnis zum deutschen Reiche“, die „vielfältigen Einwirkungen dieses ersten Staates des Mittelalters auf das kleine Nachbarland bestimmten dessen politische Geschicke und socialen Zustände in maßgebender 93 94 95 96 97 98 99 100

Ebd., S. 24. Ebd., S. 31. Ebd., S. 36. Ebd., S. 48 f. Ebd., S. 50. Ebd., S. 59. Ebd., S. 66. Ebd., S. 67.

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Weise“.101 Die „staatsrechtlichen Verhältnisse“ könnten aber nur mit dem Namen „Vasallität“ bezeichnet werden: „Die deutschen Kaiser betrachteten Böhmen als Reichslehen, über das sie bei seiner Erledigung rechtlich verfügten. Allerdings war der böhmische Herzog ein unruhiger Vasall, und mancher suchte dem Kaiser das unbedingte Ein- und Absetzungsrecht streitig zu machen.“102 Keiner der böhmischen Herzöge aber konnte das Bestätigungsrecht „läugnen“, die vielfältigen Zeugnisse für Belehnungen und Gegenleistungen würden dieses staatsrechtliche Verhältnis offenkundig zeigen. Die in den Belehnungen zum Ausdruck kommenden anhaltenden Beziehungen Böhmens zum Reich sind dann für Schlesinger auch wichtig, um die Verbreitung des „Deutschtums“ in Böhmen zu erklären.103 Schlesingers populärer gefasste, aber durchaus mit wissenschaftlichem Anspruch verfasste „Geschichte Böhmens“ entwirft den Kontrapunkt zu Palacký. In dem Teil seiner deutschen Geschichte, die sich dem Hochmittelalter widmet, sind die staats- und damit lehnrechtlichen Beziehungen zum Reich der entscheidende Punkt, an dem er gegen Palacký anschreibt. Im Blick auf das 13. Jahrhundert wird er zu einer negativeren Einschätzung des Wirkens Přemysl Otakars kommen als dieser, und später auch den Hussitismus, einen der Ecksteine des tschechischen Nationalbewusstseins, in anderen Farben malen. Palacký und Schlesinger stehen am Beginn einer politisch aufgeladenen Auseinandersetzung um die Geschichte Böhmens im Mittelalter, die für das Hochmittelalter um den Punkt geführt wird, der in diesem Aufsatz näher beleuchtet werden soll. Dabei ist festzuhalten, dass ihre Positionen weder als falsch noch als richtig zu bezeichnen sind, sondern beide Deutungen der Quellenlage möglich erscheinen. Allerdings bemüht sich Palacký in seinen umfangreicheren und wissenschaftlicher angelegten Bänden darum, seine Position Ereignis für Ereignis mit differenzierten Argumenten zu begründen und ist vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Dominanz des Lehnswesens als Erklärung für staatsrechtliche Bindungen gerade dazu gezwungen, umsichtig und im Rückgriff auf die Quellen zu argumentieren. Dagegen kann Schlesinger, ebenfalls im Sinne der Geschichtsforschung seiner Zeit, das Lehnswesen als übliche Form staatlicher Bindung annehmen und deshalb jede Bestätigung 101 Ebd., S. 72. 102 Ebd., S. 73. 103 Ebd., S. 88 f.

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eines böhmischen Herzogs und jede Unterwerfung als „Belehnung“ und den Nachweis eines „Vasallenstatus“ bewerten, ohne das nachweisen zu müssen. Die Lehnsbindung Böhmens an das Reich ist für ihn schon seit der Karolingerzeit selbstverständlich, wichtiger als diese zu belegen, ist für ihn der Nachweis einer schon früh einsetzenden „deutschen Geschichte“ in Böhmen, die sich durch die engen Beziehungen zum Reich im Hochmittelalter verstärkte, um dann in die Siedlungstätigkeit der Deutschen im 13. Jahrhundert zu münden. Im Hinblick auf den Umgang mit lehnrechtlichen Argumenten hatte die kritisch distanzierte Sicht Palackýs das größere Potential. Die politische Aufladung der Frage der lehnrechtlichen Beziehungen Böhmens zum Reich zwang Palacký, jeden Beleg auf seine Belastbarkeit zu überprüfen. Palacký wie Schlesinger waren nicht nur Historiker, sondern auch Publizisten und Politiker. In dieser Hinsicht stehen sie beide für eine erste, frühe Phase der Geschichtsschreibung vor ihrer Professionalisierung, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzte. In Deutschland entstanden in diesem Zeitraum mit Wilhelm von Giesebrechts „Geschichte der deutschen Kaiserzeit“ und Georg Waitz’ „Deutscher Verfassungsgeschichte“ die großen Synthesen, die das Bild des hohen Mittelalters bis weit ins 20. Jahrhundert hinein prägen sollten.104 In beiden Werken wurde das Lehnswesen als bedeutende, auf den König zulaufende Klammer des Reiches gesehen. Vor allem Waitz’ Verfassungsgeschichte wurde auch in der böhmischen Geschichtsschreibung rezipiert. Obwohl die Diskussion in Böhmen auch noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert von durch den „Nationalitätenkampf “ geprägten Kriterien bestimmt war, zeichneten sich die nachfolgenden Werke durch einen nüchterneren Zug aus. Während es nach der magistralen Geschichte Palackýs auf tschechischer Seite bis kurz vor dem Ersten Weltkrieg keine neuen Gesamtdarstellungen mehr gab, entstanden zwei gewichtige deutschböhmische Geschichtswerke: Adolf Bachmanns „Geschichte Böhmens“ von 1899105 und Bertold Bretholz’ „Geschichte Böhmens und Mährens bis zum Aussterben der

104 Giesebrecht, Wilhelm von: Geschichte der deutschen Kaiserzeit, 6 Bde., Braunschweig 1855–1890, zitiert nach: Ders.: Geschichte der deutschen Kaiserzeit, hg. von Wilhlem Schild, 6 Bde., 1929–1930; Waitz, Georg: Deutsche Verfassungsgeschichte, 8 Bde., Kiel 1844–1878, zitiert nach der 2./3. Auflage 1880–1896, bearb. von Gerhard Seeliger. 105 Bachmann, Adolf: Geschichte Böhmens, Bd. 1: bis 1400 (Geschichte der europäischen Staaten 31) Gotha 1899.

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Přemysliden.“106 In beiden Werken ist wiederum ein defensiver, gegen Palackýs Geschichtssicht gerichteter Ton zu beobachten.107 Adolf Bachmann war seit 1885 Lehrstuhlinhaber für Österreichische Geschichte an der deutschen Universität in Prag (Praha). Schon einleitend nimmt er in seiner „Geschichte Böhmens“ auf Palacký Bezug und betont, das er „von vornherein auf einem anderen Standpunkte“ als dieser stehe; sein Werk solle eine „Geschichte der staatlich-politischen und kulturellen Entwickelung Böhmens mit gleichmäßiger Rücksichtsnahme auf beide das Land bewohnende Völkerstämme“ sein.108 Politisch stand für ihn Böhmen seit seinen historischen Anfängen unter dem Einfluss des Reiches, am bedeutendsten seien die kulturgeschichtlichen Einflüsse aus dem Westen, die schon seit der von Bayern ausgehenden Missionierung des 9. und 10. Jahrhunderts zu erkennen seien. Für Bachmann war die „äußere politische Abhängigkeit“ Voraussetzung und Bestandteil dieser Nähe zum deutschen Kulturraum. Diese „Abhängigkeit“ sieht er schon im 9. Jahrhundert gegeben, entwirft dann aber doch das Bild einer zunehmend engeren staatsrechtlichen Verbindung vom Beginn des 10. bis an das Ende des 12. Jahrhunderts. Der Entwicklungsbogen seiner Erzählung hat gewisse Entsprechung zu dem Palackýs, der ebenfalls, bedingt durch die Schwäche der přemyslidischen Fürsten, eine zunehmend engere lehnrechtliche Bindung Böhmens ans Reich bis 1198 sah, und dann unter Přemysl Otakar die Wende hin zur größeren Unabhängigkeit. Diese enger werdenden Beziehungen zum Reich sieht auch Bachmann und er erklärt sie durchaus auf ähnliche Weise wie Palacký, auch für ihn führen die Nachfolgekonflikte der Přemysliden in Folge des Senioratsgesetzes Břetislaws dazu, dass „Böhmen zu Anfang des 12. Jahrhunderts seine privilegierte Stellung, hinsichtlich der Erhebung seiner Fürsten verloren“ hatte; „ja öfter, gewaltsamer als anderswo, allein nach Maßgabe seines eigenen Vorteils ward vom Reiche über Böhmen verfügt.“109 Für die Bewertung der anhaltenden 106 Bretholz, Bertold: Geschichte Böhmens und Mährens bis zum Aussterben der Přemysliden (1306), München/Leipzig 1912; populärer und für eine breiteres Publikum ist dagegen die spätere Geschichte Böhmens und Mährens (wie Anm. 57). 107 Zur deutschsprachigen, „sudetendeutschen“ Historiographie und der „Nationalitätenfrage“ Seibt, Ferdinand: Der Nationalitätenkampf im Spiegel der sudetendeutschen Geschichtsschreibung 1848–1938, in: Stifter-Jahrbuch 6 (1959), S. 18–38; Neumüller, Michael: Zur deutschliberalen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts in Böhmen, in: Zeitschrift für Ostforschung 20 (1971), S. 441–465. 108 Bachmann: Geschichte Böhmens (wie Anm. 105), Bd 1, S. V. 109 Ebd., S. 237.

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Verbindungen Böhmens zum Reich ist für Bachmann allerdings nicht das Lehnswesen entscheidend, sie bestehen schon länger und werden dann durch das im 12. Jahrhundert aus dem Reich eindringende „Lehnswesen“ umgestaltet. Im 9. und 10. Jahrhundert war für ihn Böhmen ein „tributäres Gebiet“ des Reiches; unter Wenzel und vor allem 950 unter Boleslav I. gebe es Hinweise darauf, dass „die Belassung des Herzogtums“ durch Otto I. „vielleicht“ schon jetzt in der Form der Belehnung erfolgt war“.110 Im ersten Drittel des 11. Jahrhunderts allerdings, nach den Auseinandersetzungen mit Bolesław Chrobry, wurde Böhmen „zu einem Reichsfürstentume“, es stieg auf, „von einem Zugehör Deutschlands zu einem Gliede ersten Ranges mit all dessen wichtigen Rechten und Verpflichtungen.“111 Der Grad der Zugehörigkeit Böhmens zum Reich erreichte also in der durchaus eigenständigen Bewertung Bachmanns schon in der frühen Salierzeit einen Höhepunkt, Břetislavs I. Auseinandersetzungen mit Heinrich III. waren für ihn darauf aus, das „lockere tributäre Verhältnis, das vor 950 bestand“, wieder herzustellen, dagegen zielte der König auf die Integration Böhmens, wie sie unter Konrad II. bestand, auf eine „völlige Unterwerfung und Aufrechterhaltung der staatsrechtlichen Beziehungen Böhmens zu Deutschland“.112 Die Unterwerfung Břetislavs, wie sie in den Altaicher Annalen geschildert werde, spreche in dieser Hinsicht eine deutliche Sprache.113 Seit dem Ende des 11. Jahrhunderts tritt dann die Entwicklung ein, dass von den Säulen, auf denen die Nachfolge im Herzogtum beruhte, dem „Erbrecht der přemyslidischen Familie“, dem „Wahlrecht des Czechenstammes“ und der „Belehnung und Anerkennung der Herzöge seitens der deutschen Könige“, letztere wichtiger wird.114 „Landesrecht“ tritt hinter „Reichsrecht“ zurück, die Bindung Böhmens wird enger noch als die Bindung anderswo, das Jahr 1126 war so „nur ein letzter Schritt auf weitem Wege“,115 „wenn 1125/1126 Lothar III., der Sachse, auch schon prinzipiell die Prioriät der kaiserlichen Ernennung und Belehnung vor der Anerkennung im Lande in Anspruch nahm. Und was Lothar III. nicht erreichte, haben Friedrich Barbaros-

110 Ebd., S. 136, mit Anm. 2, wo auf die „nationale Geschichtsschreibung“ hingewiesen wird, die sich gegen eine Deutung als „Belehnung“ sträubte. 111 Ebd., S. 194. 112 Ebd., S. 224. 113 Ebd., S. 228. 114 Ebd., S. 236. 115 Ebd., S. 237.

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sa und Heinrich VI. durchgesetzt und thatsächlich geübt.“116 Für Bachmann steht seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts die lehnrechtliche Verbindung Böhmens zum Reich nicht mehr in Frage. Dabei diskutiert er nur selten einzelne Ereignisse im Hinblick auf die lehnrechtliche Bindung Böhmens ans Reich. Die Bestätigung eines böhmischen Herzogs bedeutet für ihn, in Analogie zu anderen Reichsfürstentümern, grundsätzlich eine „Belehnung“. Als Vratislav 1086 zum König erhoben wird, verändert sich an der „staatsrechtlichen Stellung Böhmens mit dem deutschen Reiche dadurch nichts.“ „Belehnung und Gerichtsstand, Heer- und Hoffahrt der Fürsten Böhmens blieben unbeirrt, nur der Tribut scheint hinfort nicht mehr entrichtet worden zu sein.“117 Bemerkenswert ist nun, wie Bachmann diese Wertung begründet. Er verweist auf Urkunden und „Verträge“ des 13. Jahrhunderts, von 1212 und 1277, die auch für diese Zeit noch diese Faktoren im Verhältnis Böhmens zum Reich kennen. Das Reich habe aber seit der Mitte des 11. Jahrhunderts in all seinen Territorien Minderung erfahren, wenn diese Rechte noch im 13. Jahrhundert belegt seien, dann musste es sie auch noch nach 1086 geben. Diese Argumentationsweise geht von einer erheblichen Statik der Reichsverfassung aus und ist deutlich geprägt von verfassungsgeschichtlichen Ansätzen der Zeit, worauf zurückzukommen ist. Bachmann geht von der Existenz einer solchen „Verfassung“, in der das Lehnrecht entscheidende Bedeutung hatte, aus, und er muss und will deshalb in Einzelfällen nicht begründen, ob hier eine lehnrechtliche Bindung vorlag. Besonders deutliche Belege für eine solche Bindung betont er aber selbstverständlich, so etwa am Ende des 12. Jahrhunderts die Unterordnung Böhmens und Mährens unter Barbarossa, vor allem aber unter Heinrich VI., unter dem die „Abhängigkeit Böhmens vom deutschen Reich“, „durchaus nicht mehr jenen alten Vorrechten“ entsprach, „die ihm auf Grund seiner Sonderentwicklung wiederholt zugestanden worden waren, ja es kam nicht einmal mehr dem gleich, was bei den meisten anderen Reichsfürstentümern galt.“118 Zu dieser Zeit seien dann auch die „Pflichten des böhmischen Herzogs gegen das Reich starker betont“ worden, „Heerfolge und Heerpflicht wurden zu jeder Zeit unbedingt gefordert und auch in persönlichen Sachen war das Fürstengericht häufiger als je der Gerichtsstand für den böhmischen Herzog und sein Haus.“119 Das alles aber änderte sich nach dem 116 Ebd. 117 Ebd., S. 269. 118 Ebd., S. 381. 119 Ebd., S. 382.

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Tod Heinrichs VI. unter Přemysl Otakar, unter dem die alte Form der Fürstenerhebung wieder eingeführt wurde: vorherige Wahl durch die Fürsten und dann „kaiserliche Belehnung“.120 Bachmanns Sicht auf die verfassungsrechtliche Zuordnung Böhmens zum Reich unterscheidet sich somit deutlich von der seiner Vorgänger. Anders als Schlesinger entwirft er ein differenzierteres verfassungsgeschichtliches Modell einer zunehmenden lehnrechtlichen Einbindung Böhmens ans Reich. Sie ist aber nur ein Faktor unter vielen, durch die sich der Einfluss des Reiches in Böhmen zeige. Grundsätzlich geht er von einer sich im 11. Jahrhundert einspielenden statischen Verfassung des Reiches aus, die sich noch aus Urkunden des 13. Jahrhunderts rekonstruieren lasse. Seine schematische Sicht ist beeinflusst durch die großen verfassungsgeschichtlichen Synthesen seiner Zeit, die grundsätzlich von der Gültigkeit des Lehnrechts und der Ausbildung einer Verfassung ausgehen, auf ihrer Grundlage muss er die Geltung des Lehnswesens im Einzelnen nicht belegen. Die Wirkungen der Waitz’schen Verfassungsgeschichte und der Adaptionen ihrer Sicht in einigen unten zu behandelnden Spezialstudien zeigen sich hier deutlich. Trotz der eigenen Akzente, die Bachmann in seine Deutung des Verhältnisses Böhmens zum Reich einfließen lässt, etwa indem er verschiedene Komponenten wie die Stellung als Reichsfürstentum und die zunehmende lehnrechtliche Bindung einfügt, bleibt seine Darstellung selbst in der Negation derjenigen Palackýs und in den Grundzügen auch jener Schlesingers verbunden. Auch für den deutsch-mährischen Archivar Bertold Bretholz,121 der im Auftrag des „Vereins für die Geschichte der Deutschen in Böhmen“ zu dessen fünfzigjährigen Jubiläum 1912 eine umfassende „Geschichte Böhmens und Mährens“ bis 1306 verfasste,122 ist Palacký der Gegenpol für die eigene Darstellung. Schon im Vorwort führt er Palacký, den „Schöpfer der böhmischen Geschichtsauffassung von heute“, als Vertreter eines parteiischen „tschechischen Gesichtspunkts“ ein; für diesen bildete, so Bretholz, die „historiographische Arbeit“ „nur einen

120 Ebd., S. 387. 121 Zur Vita des Brünner Archivars vgl. Stokláková, Zdenka: Bertold Bretholz und seine AntiKolonisationstheorie, in: Die böhmischen Länder (wie Anm. 52), S. 29–39; Dies.: „Stets ein guter und zuverlässiger Deutschmährer“. Zur Laufbahn von Bertold Bretholz (1862–1936), in: Albrecht/Malíř/Melville: Die „sudetendeutsche Geschichtsschreibung“ (wie Anm. 52), S. 25–41. 122 Bretholz: Geschichte Böhmens (wie Anm. 106).

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Teil, ein Glied in der Kette seiner vaterländischen Tätigkeit überhaupt.“123 Bretholz schreibt nun eine andere böhmische Geschichte, die stärker noch als bei Bachmann auch in der Darstellung selbst gegen Palacký Stellung bezieht. Sein Anliegen ist es, den deutschen Einfluss in Böhmen möglichst früh nachzuweisen, vor allem glaubt er keinen Hinweis zu finden, dass deutsche Kolonisten erst im 13. Jahrhundert in größerer Anzahl nach Böhmen gekommen seien. Der deutsche Anteil am kulturellen Leben Böhmens ist deshalb von den Anfängen an gegeben, die Verbindungen zum Reich wertet Bretholz häufig gegen Palacký nicht als Ausdruck eines feindlichen, durch Unterwerfung gekennzeichneten Verhältnisses, sondern hebt die „freundschaftlichen Beziehungen“ oder die „Freiwilligkeit“ böhmischer Mitwirkung an den Reichsangelegenheiten hervor. Die lehnrechtliche Bindung Böhmens ans Reich hat dabei für seinen Argumentationsgang durchaus eine Bedeutung. Sie ist für ihn seit dem Beginn des 10. Jahrhunderts nicht mehr strittig, deshalb geht es in den Konflikten zwischen den deutschen Königen und Kaisern und den böhmischen Herzögen nicht mehr um böhmische Freiheit oder Eigenständigkeit, sondern um die geschuldeten Pflichten der böhmischen Herzöge als Vasallen gegenüber ihrem Lehnsmann, dem König. Eine solche Perspektive nimmt den Auseinandersetzungen im Vergleich zu den Wertungen Palackýs und auch Schlesingers und Bachmanns ihre Schärfe. Möglich wird für Bretholz eine solche Einordnung dadurch, dass er, die verfassungsgeschichtliche Literatur des 19. Jahrhunderts zum Lehnswesen rezipierend, an der Spitze Waitz, aber auch andere rechtshistorische Arbeiten, die Existenz einer lehnrechtlichen Bindung möglichst früh ansetzt. Böhmen war danach schon seit 805, „seit den Zeiten Karls des Großen dem Frankenreiche ‚tributär‘“ und auch zur Heerfolge verpflichtet.124 Entscheidend für die böhmische Geschichte sei aber das Jahr 895 geworden, „einer der bedeutendesten Augenblicke in der Geschichte des böhmischen Volkes. Aus freiem Entschluß unterwarfen sich die zahlreichen Herzöge des Landes … freiwillig dem deutschen Könige“.125 „Nun sei jenes persönliche Dienst- und Treueverhältnis, das „Vasallität“ heißt, begründet worden“.126 Die Deutung des Verhältnisses in diesem Sinne rekurriert auf Waitz und dessen Deutung der in den Fuldaer Annalen angegebenen Unterwer123 Ebd., S. V. 124 Ebd., S. 46. 125 Ebd., S. 99. 126 Ebd.

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fung der böhmischen Herzöge per manus, eine Huldigungsgeste, die allein noch nicht für eine Vasallität stehen kann.127 Im Lichte der verfassungsgeschichtlichen Erörterung zum Lehnswesen konnte dies aber so gesehen werden. Der Handschlag wie auch andere Komponenten der Unterordnung waren deshalb für Bretholz Ausdruck des „Schutzverhältnis der fränkischen Kommendation, bei der der Schutzbedürftige seine Hände zusammengefaltet in die des Schutzherrn legte.“128 Auch in der Folge lässt sich eine offensichtlich immer weiter ausgreifende, generalisierende Interpretation vereinzelter Belege als Hinweis auf eine lehnrechtliche Bindung in der Darstellung Bretholz konstatieren. Schon 895 habe nach Bretholz der „deutsche König“ für „sich und seine Nachfolger Schutz und Hilfe“ gewährt, die „böhmischen Herzöge versprachen Gehorsam, Treue und Dienst.“ Davon steht in der einschlägigen Quelle, dem Jahresbericht der Fuldaer Annalen, nichts, vielmehr ist es Ergänzung aus den üblichen Annahmen der rechts- und verfassungsgeschichtlichen Forschung aus der Zeit um 1900. Für Bretholz ist dann, wie er später immer wieder betonen wird, die lehnrechtliche Unterordnung Böhmens schon 895 begründet worden: „seit dem Regensburger Tage vom Juli 895, auf dem die Beziehungen Böhmens zum deutschen Königtum … neu geordnet waren, war Böhmen ein Reichslehensland, in dem sich ein Stammesherzogtum, das der Přemysliden auszubilden begann.“ Schon im 11. Jahrhundert zeigen sich „ganz bestimmte Verpflichtungen“ des Lehnsmanns, wie „Tributleistung, Heeresfolge, Besuch angesagter Hof- und Reichstage“ und eine beschränkte „Freiheit nach außen hin“.129 Aus diesem, nach den Vorgaben der verfassungsgeschichtlichen Forschung angenommenen Lehnsverhältnis erklären sich die weiteren Beziehungen Böhmens zum Reich. Die vieldiskutierten Begegnungen Herzog Wenzels mit König Heinrich I. 929 und Bolesławs I. mit König Otto I. 950 spielen in Bretholz’ Geschichte Böhmens keine tragende Rolle, da er das Lehnsverhältnis schon früher beginnen lässt. Wichtigster Indikator für das weitere Bestehen der Lehns127 Annales Fuldenses, ed. Fridericus Kurze (MGH SS Rer. Germ. 7) Hannover 1891, ad 895, S. 126: Mediante mense Iulio habitum est urbe Radasbona generale conventum; ibi de Sclavania omnes duces Boemanorum, quos Zwentibaldus dux a consortio et potestate Baioariae gentis per vim dudum divellendo detraxerat, quorum primores erant Spitignewo, Witizla, ad regem venientes et honorifice ab eo recepti per manus, prout mos est, regiae potestati reconciliatos se subdiderunt. 128 Bretholz: Geschichte Böhmens (wie Anm. 106), S. 99. 129 Beide Zitate aus ebd., S. 136.

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bindung ist für ihn, dass Bolesław nach 950 König Otto auf dem Lechfeld 955 Heeresfolge leistete, ebenso wie er sich an den Kämpfen gegen die slawischen Stämme zwischen der „unteren Elbe und der Ostsee“ beteiligte.130 Die „Anerkennung“ Vladivojs durch Heinrich II. ist deshalb von keiner besonderen Bedeutung, wie noch bei Palacký, vielmehr führte der letzte Ottone den Přemysliden Jaromir nach Böhmen zurück, wodurch diese „ihre bereits verlorene Herrschaft“ wieder gewannen. Sein Ziel sei es gewesen, den Status Böhmens als „tributäres Lehensland“ dadurch zu sichern, dass ein willfähriger Diener eingesetzt wurde. Auch das Verhältnis Břetislavs I. zu Heinrich III. wird aus dieser Sicht eingeordnet. Als Lehnsmann habe der König seinen Anteil vom Herzog „an der Beute“, d.h. an der Eroberung Polens verlangt; als Břetislav sich weigerte, musste er sich unterwerfen, wodurch das alte Lehnsverhältnis in Regensburg wieder erneuert wurde. Gerade seine Erhebung sei nicht als Ausdruck böhmischer „Freiheitsund Unabhängigkeitsbestrebungen“ zu werten, die sich gegen die deutschen Könige wandten, sondern als Bestrafung eines ungehörigen Lehnsmanns, der ohne Zustimmung seines Herrn Kriege gegen Polen führte. Mit der Unterwerfung Břetislavs und der Zahlung des schuldigen Tributs wurde dieser Zwiespalt aufgelöst: „Er kehrte 1041 in die Stellung eines Herzogs von Böhmen zurück und war als solcher zeitlebens einer der treuesten Lehensmannen Heinrichs III.“131 Anders als seine Vorgänger Dobner, Palacký und Bachmann sieht Bretholz auch keine Hinweise auf ein „přemyslidisches Erbfolgegesetz im Sinne des Seniorats“, dessen Nichtbefolgung durch die inneren Wirren zu verstärkten Einflussmöglichkeiten der deutschen Könige auf die Bestätigung böhmischer Herzöge geführt hätte. Denn die Bestätigung der durch Erbrecht der Přemysliden und die Wahl der Großen bestimmten böhmischen Herzöge durch den deutschen König sei ein altes Recht, welches auf das am Ende des 9. Jahrhunderts begründete Vasallitätsverhältnis zurückgehe, „das seither nie unterbrochen war“,132 und nicht auf die Folgen eines Erbgesetzes Břetislavs. Die Königskrönung Vratislavs 1086 habe dann auch keinerlei Auswirkungen auf die staatsrechtliche Stellung Böhmens gehabt, da es sich nur um eine „persönliche Gunst“ für Vratislav handelte, die mit seinem „Tode erlosch.“133 Hier wie an anderer Stelle argumentiert Břetislav gegen die „neuere Geschichtsschreibung seit Palacký“, die mit diesem 130 131 132 133

Ebd., S. 106. Ebd., S. 137. Ebd., S. 144. Ebd., S. 182.

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Ereignis eine Veränderung für das Verhältnis Böhmens zum Reich verbunden habe. Da dieses Vasallitätverhältnis seit dem Ende des 9. Jahrhunderts schon vorgegeben war und sich kaum veränderte, misst Bretholz auch den weiteren, bei seinen Vorgängern hoch veranschlagten Ereignissen des 12. Jahrhunderts keine Bedeutung zu: nicht der Belehnung Soběslavs durch Lothar III. 1126,134 nicht der Königserhebung Vladislavs II. 1158,135 und auch die engere Anbindung am Ende des 12. Jahrhunderts durch das Eingreifen Barbarossas in die gescheiterte Nachfolgeregelung Vladislavs und durch seinen Sohn Heinrich VI. überrascht aus dieser Sicht nicht mehr.136 In einem breit angelegten Überblick über das „Deutschtum in Böhmen und Mähren unter den přemyslidischen Königen“137 bettet Bretholz dieses für ihn nie strittige, im Lehnrecht ausgedrückte staatsrechtliche Näheverhältnis Böhmens zum Reich in vielfältigere kulturelle Beziehungen Böhmens zum Reich ein. Im Hinblick auf das Lehnrecht weist Bretholz eine auf dem Stand der verfassungsgeschichtlichen Debatte seiner Zeit entwickelte Lehre auf, die schon seit der Karolingerzeit von einem voll entwickelten Lehnswesen ausgeht und der es deshalb möglich ist, einzelne Belege vor diesem Hintergrund als Hinweis auf ein existentes Gesamtbild zu deuten. Palacký ist in dieser Hinsicht, auch aus politischen Motiven, gestützt auf Dobner noch weitaus zurückhaltender, während Schlesinger einfach Belehnungen in jeder Einsetzungsszene annahm, und Bachmann versuchte, ein differenziertes Bild auch anderer Möglichkeiten der Anbindung an das Reich in Form eines „Reichsfürstentums“ zu entwerfen, das dann aber auch am Ende des 11. und am Beginn des 12. Jahrhunderts in eine Lehnsbindung mündete. Bereits Bachmann, offenkundiger aber noch Bretholz griffen auf verfassungsgeschichlichte Studien zurück, die in der Folge der Verfassungsgeschichte von Waitz entstanden, sie hatten neben diesem wissenschaftsimmanenten Kontext aber auch einen politischen Anlass, die Diskussion um das „böhmische Staatsrecht“ in der Habsburgermonarchie, in der es auch um die Frage der Bestätigung der Rechte der böhmischen Länder ging. 134 Dazu ebd., S. 204–208, mit der abschließenden Wertung S. 208: „Allein eine Wendung in den Beziehungen und in dem Verhältnis zwischen Böhmen und dem Reich hat auch diese Periode nicht verursacht.“ 135 Ebd., S. 257 f. 136 Vgl. ebd., S. 215–302. 137 Ebd., S. 303–507.

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V. Staats- und verfassungsrechtliche Abhandlungen Dieses besondere Interesse am Thema könnte erklären, warum allein zu Böhmens und Mährens staatsrechtlicher Stellung sechs einschlägige deutschsprachige monographische Abhandlungen entstanden, davon allein vier bis 1914. Ihr Argumentationsgang lässt sich nur in Grundzügen andeuten. Im Kern werden in diesen Arbeiten – nie ohne abwehrenden Rekurs auf Palackýs Deutung – immer wieder die einschlägigen, bei ihm und letztlich bereits bei Dobner angeführten Quellenstellen traktiert. Überaus deutlich zeigt sich die Fundierung in den frühneuzeitlichen verfassungsrechtlichen Diskussionen über die Zugehörigkeit Böhmens zum Reich bei den 1872 erschienenen rechtshistorischen Beiträgen Herbert Pernices zu den „Verfassungsrechten“ der „im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder der österreichisch-ungarischen Monarchie.“138 Nachdem Pernice einleitend einen grundsätzlichen Mangel an Arbeiten zum Staatsrecht Österreich-Ungarns konstatiert, stellt er fest, dass nur „in Böhmen und Mähren die Beschäftigung mit der staatsrechtlichen Vergangenheit“ „einen bemerkenswerthen Aufschwung genommen, leider aber von vornherein so sehr unter dem Einfluss politischer Tendenzen, dass eine wissenschaftliche Belehrung kaum daraus geschöpft werden kann.“139 Das erste und zweite Heft seiner Beiträge widmet er dann auch dem „Königreich Böhmen“ und seiner Stellung zum Reich. Pernice greift weiter als alle bisherigen Autoren auf die staatsrechtliche Literatur der Frühen Neuzeit zurück, um die Problemgeschichte des Themas aufzuzeigen; sie ist für ihn die Voraussetzung seiner Erörterung. Entschieden wendet er sich dabei gegen die Aussagen der böhmischen Staatsrechtslehrer, die eine Unabhängigkeit Böhmens annehmen und für die das Lehnsverhältnis zum Reich nur einen Sonderfall darstelle. Das „Lehnsverhältnis“ Böhmens zum Reich sei durchaus mit anderen Lehensbeziehungen zu vergleichen. Da dieses im Fall Böhmens nicht in der Karolingerzeit mit seinen zentralistischen Tendenzen zustande kam, sondern in der Zeit der Ottonen, „wo bereits wieder die particularistischen Tendenzen der emporstrebenden Landesherren überwogen“, bedurfte es keiner „exorbitanten Bevorzugung“ für die böhmischen Herzöge, um ihnen eine gewisse Eigenständigkeit 138 Pernice, Herbert: Die Verfassungsrechte der im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder der österreichisch-ungarischen Monarchie. Rechtshistorische Beiträge, Halle 1872. 139 Ebd., S. VII f.

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in der lehnrechtlichen Unterordnung zu belassen. Diese Konstruktion sei durchaus vergleichbar mit anderen Reichsfürsten, etwa den von Heinrich I. unterworfenen süddeutschen Herzogtümern.140 Die böhmischen Herzöge bzw. Könige hätten seit alters die „Pflicht, sich vom deutschen König oder Kaiser für das deutsche Reich belehnen zu lassen, wofern sie ihres Besitzes nicht Felonie halber verlustig gehen wollten.“141 Als Rechte und Pflichten ergaben sich deshalb die Teilnahme an der deutschen Königswahl, das Versehen des Erzschenkenamtes, die Teilnahme als Vasallen auf „gebotenen Reichstagen“, resultierend aus dem „Recht und der Pflicht,“ ihre Herren zu beraten und – nicht zuletzt – die „Beteiligung am Römerzuge und Verpflichtung zur Heerfolge.“142 In die böhmischen Landesangelegenheiten aber griff das Reich nicht ein, im Hochmittelalter wurden auf diese Weise die Grundlagen des Verhältnisses bis ins 15. Jahrhundert gelegt.143 In zwei großen Paragraphen führt Pernice dann zum einen die urkundlichen Belege für die „Lehnsverbindung Böhmens mit dem deutschen Reich“ (§ 3) aus, zum anderen behandelt er Böhmen als „Glied des deutschen Reiches“ aufgrund der historiographischen Quellen (§ 4). Im ersten Teil ist es ihm wichtig, gegen die böhmische Lehre zu betonen, dass sich tributäre Unterordnung und Vasallität nicht ausschließen mussten, sondern zur Tribut- auch eine Vasallenpflicht treten konnte.144 Spätestens ab 1212 sei der Zusammenhang auch in Urkunden belegt, wie überhaupt die Königsurkunden seit der Zeit Philipps von Schwaben und Přemysl Otakars den Kern seiner Erörterung bilden, die er anhand von Urkunden und Verträgen bis ins 18. Jahrhundet herauf führt.145 Diese weiten, bis an die Schwelle zur eigenen Gegenwart reichende historische Perspektive kennzeichnet auch seine Erörterung der Bindung Böhmens ans Reich aufgrund der historiographischen Überlieferung. Seit dem 10. Jahrhundert, seit dem Eingreifen Heinrichs I. und Ottos des Großen, zeige das spezifische Lehnsverhältnis, in dem 140 141 142 143 144

Ebd., S. 17–21, die Zitate S. 21. Ebd., S. 21. Ebd., S. 20. Ebd., S. 21–23. Ebd., S. 30: „… vollkommen unbegreiflich aber ist, wie die neueren Geschichts- und Staatsrechtsschreiber sich darauf versteifen können, Jahrhunderte hindurch zur Ehre und zum vermeintlichen Beweis der Unabhängigkeit ihres Vaterlandes lieber ein tributäres als ein vasallitisches Verhältnis desselben zu Deutschland anzunehmen, wobei theils dahin argumentiert wird, dass Tributzahlung und Lehnsnexus einander ausschlössen, theils dahin, dass in der ersten keine Unterwerfung begründet sei.“ 145 Ebd., S. 29–67.

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Böhmen zum Reich stand, keine „vollständige Unterordnung.“ Der Herzog bleibe Herzog kraft eigenen Rechts, auch wenn Böhmen wie andere Teile des Reiches in dieses integriert war. Die „Rechte und Pflichten“, die sich aus dieser Unterstellung Böhmens unter die Herzöge ergaben, bestanden in der „Pflicht des Herzogs bzw. Königs zur Heerfolge“,146 in seiner „Pflicht … zum Besuch der gebotenen Hof- und Reichstage“147 und der Mitwirkung bei den „kaiserlichen Fürsten­ gerichten“ sowie der Unterwerfung „unter die kaiserliche Gerichtsbarkeit.“148 Für all diese Bereiche führt Pernice bis zum Tod Heinrichs VI. 1198 Belege für „überlieferte Thatsachen“ an. Bemerkenswert ist, dass er dieses ausführliche Kapitel von 929 bis 1198 mit einem über eine Seite gehenden Zitat aus Wilhelm von Giesebrechts „Geschichte der deutschen Kaiserzeit“ einleitet. Giesebrecht sieht den Herrschaftsantritt Ottos des Großen ganz im Licht der lehnrechtlichen Huldigung aller Vasallen des Reiches gegenüber dem neuen König: „Als Lehen wurden deshalb alle Herzogtümer und Grafschafen, die Bisthümer und Reichsabteien vom König verliehen“, so zitiert Pernice von Giesebrecht und er weist darauf hin, dass diese Deutung des Reiches als Lehnsverband im 10. Jahrhundert auch den „vollkommenen Schlüssel zum Verständniss der Stellung dieses Herzogthums [d.h. Böhmens] im und zum Reiche“ bietet.149 Herbert Pernices Studie offenbart die unterschiedlichen Einflüsse, die verfassungsrechtliche Arbeiten aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts prägen. Ihnen liegt der aus der eigenen Zeit und ihrem Streben zur Klärung staatsrechtlicher Verhältnisse gewonnene Impetus zugrunde, rechtshistorisch deren Voraussetzungen zu klären. Die Erörterung ruht dabei zum einen auf dem langen Arm der frühneuzeitlichen Rechtswissenschaft auf, welche die Kategorien des Lehnrechts vorgab und im Wesentlichen schon alle einschlägigen Quellenstellen anführte und erstmals interpretierte. Zum anderen reagiert diese schematische, weite Zeiten überspannende Erörterung – bei Pernice von der Karolingerzeit bis ans Ende des 18. Jahrhunderts – auch auf die zeitgenössische Geschichtswissenschaft. Für Pernice ist das Wilhelm von Giesebrecht und die Bedeutung des Lehnswesens in seiner Darstellung, in der sich auch Nachwirkungen der Waitz’schen Verfassungsgeschichte finden.

146 147 148 149

Ebd., S. 79–83. Ebd., S. 83–86. Ebd., S. 86–107. Ebd., S. 79. Die Stelle bei Giesebrecht: Geschichte der Kaiserzeit (wie Anm. 104), Bd. 1, S. 249 f.

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Dieses Konglomerat an Voraussetzungen und Einflüssen führte auch in den nachfolgenden Studien, immer entlang der nun hinlänglich bekannten Quellenstellen des 10. bis 12. Jahrhunderts, zu nur mäßig variierenden Deutungen des Verhältnisses Böhmens zum Reich. 1886 wurde etwa die Jenaer Dissertation Arthur Schäfers zu den „staatsrechtlichen Beziehungen Böhmens zum Reiche von der Zeit Karls des Grossen bis zum Jahre 1212“ gedruckt.150 Auf dem Boden der Waitz’schen Verfassungsgeschichte stehend, erörtert der Verfasser das Thema in gewohnten Bahnen. Tribut­ pflicht und Vasallität schließen sich auch für ihn nicht aus, seit dem Eingreifen Ottos des Großen und der in ihrem Gefolge nachweisbaren Heerfolge der Böhmen sieht er eine neue Qualität in deren Verhältnis zum Reich. Das im 10. Jahrhundert vorbereitete Verhältnis wurde dann am Beginn des 11. Jahrhunderts unter Heinrich  II. zur „definitiven Lehnsherrlichkeit Deutschlands über Böhmen.“151 Als Vladivoj 1002 zu Heinrich II. eilte und sich vor ihm als „Vasallen bekannte“, „war das Vasallenverhältnis Böhmens zum Reiche … zur beiderseitigen Anerkannung gelangt“.152 Bemerkenswert ist nun aber, dass Schäfer, trotz einer über die Zeiten und Räume hinweg erkennbaren Kumulation von Belegen für Pflichten und Rechte, die sich aus dem Lehnsverhältnis ergäben, doch einen erheblichen Spielraum in deren konkreter Ausgestaltung sieht, die sich vor allem in den eingehend erörterten Belegen der Bestätigung bzw. Belehnung der böhmischen Fürsten zeige. Zeiten, in denen Böhmen einen „ziemlichen Grad von Selbständigkeit erreicht hat“, wechseln sich mit anderen ab, „wo das Vasallitätsband straffer angezogen erscheint.“153 Ein ziemlich „straffer Zugriff “ der spätottonisch-frühsalischen Könige wurde abgelöst durch die Phase größerer Möglichkeiten unter Heinrich IV. und sogar Heinrich V., während am Ende des 12.  Jahrhunderts Friedrich Barbarossa die Zügel wieder anzog, was seinen Ursprung in dem „Lehnsbruch“ hatte, dessen sich „Wladislaw durch die Verleihung des Herzogthums an seinen Sohn, ohne die Bewilligung des Kaisers einzuholen, schuldig gemacht hatte. Dem pflichtvergessenen Vasallen gegenüber glaubte sich der Kaiser auch an sein Wort nicht gebunden.“154 Es sind diese 150 Schaefer, Arthur: Staatsrechtliche Beziehungen Böhmens zum Reiche von der Zeit Karls des Grossen bis zum Jahre 1212, Diss. Jena 1886. 151 Ebd., S. 12–36. 152 Ebd., S. 12. 153 Ebd., S. 16. 154 Ebd., S. 31.

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bekannten Surrogate von Wertungen, die sich nicht in den Quellen finden, die aber von Waitz, den Schäfer ausführlich zitiert, und von Giesebrecht angeboten wurden. Am Ende des 12. und am Beginn des 13. Jahrhunderts erreicht Böhmen dann als „Staatsganzes“ eine solche Festigkeit, dass ein Einfluss des Reiches auf seine „inneren Angelegenheiten … nicht mehr möglich ist.“ „Die Verknüpfung des Landes mit dem Reiche hat nur noch einen formellen Charakter.“155 Auf Schäfer folgten 1906 Alfred Fischels „Studien zur österreichischen Reichsgeschichte“, die sich dem „staatsrechtlichen Verhältnis“ Mährens zum „Deutschen Reiche und zu Böhmen im Mittelalter“ zuwandten.156 Fischel kommt dabei auch auf das Verhältnis Böhmens zum Reich zu sprechen. Schon im Vorwort gibt er sein Anliegen zu erkennen, gegen die „nationalistischen Behauptungen der tschechischen Schriftsteller“ im Rückgriff auf die Quellen vorzugehen.157 In den kurzen Abschnitten, in denen er explizit auf das Verhältnis Böhmens zum Reich eingeht, ruhen seine Ausführungen ganz auf der vorausgehenden Forschung, vor allem auf Pernice und Bachmann. Das Jahr 1041, in dem seiner Meinung nach Herzog Břetislav von Kaiser Heinrich III. Böhmen wie Mähren als Lehen übertragen bekam, ist für ihn der Anlass, auf das Rechtsverhältnis Böhmens zum Reich einzugehen, da dasselbe nun auch auf Mähren übertragen worden sei: „Seit diesem denkwürdigen Tage war Böhmen und Mähren endgiltig dem Deutschen Reiche angegliedert und für immer in den Storm der deutschen Entwicklung gestellt.“ Břetislav habe Mähren in „der Form der Übergabe einer Lehensfahne“ erhalten, „Böhmen und Mähren … bildeten nun zusammen ein Herzogtum.“158 Böhmen, das dem Reich tributpflichtig war, sei „in Bezug auf seine äußeren Rechtsverhältnisse den anderen mit der herzoglichen Amtsgewalt ausgestatteten Reichsgebieten gleichgestellt“ gewesen.159 Formen der Vasallität 155 Ebd., S. 33. 156 Fischel, Alfred: Mährens staatsrechtliches Verhältnis zum Deutschen Reiche und zu Böhmen im Mittelalter, in: Ders.: Studien zur österreichischen Reichsgeschichte, Wien 1906, S. 1–135. 157 Ebd., S. III: „Das Verhältnis Mährens zum Deutschen Reiche im allgemeinen und zu Böhmen insbesondere im Mittelalter war bis nun nicht selbständig und ausführlicher behandelt worden. Stets wurden aber die nationalistischen Behauptungen der tschechischen Schriftsteller auf Treu und Glauben hingenommen. Es war daher unerläßlich auf die Quellen zurückzugehen, und die auf diesem Gebiete herrschenden Irrtümer richtigzustellen und insbesondere die Stellung Mährens als eines unmittelbaren Reichsfürstentums im deutschen Reichsverbande und sein wahres Rechtsverhältnis gegenüber Böhmen klarzustellen.“ 158 Ebd., S. 6. 159 Ebd., S. 6 f.

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seien schon 1002 und 1004 ausgeprägt, dieses Verhältnis selbst habe seit der Unterwerfung Bolesławs I. unter Otto den Großen im Jahr 950 bestanden. Pernice und Bachmann folgend, bietet dann Fischel das bekannte Bild der Rechte und Pflichten der böhmischen Herzöge gegenüber dem Reich und von ihren eigenständigen Möglichkeiten im Inneren, die durch die späte, erst im 10. Jahrhundert erfolgte Eingliederung in den Lehnsverband zustande gekommen seien. Eine Dynamik des lehnrechtlichen Verhältnisses beschreibt er nicht, da für ihn spätestens seit dem 10. Jahrhundert die Bindung Böhmens ans Reich gegeben war. Für Böhmen untersuchte wenige Jahre nach Fischel, 1912 auf breiterer Grundlage und weitaus differenzierter, Arnold Köster „Die staatlichen Beziehungen der böhmischen Herzöge und Könige zu den deutschen Kaisern von Otto dem Grossen bis Ottakar II.“160 Köster kennt die gelehrten Autoren vor ihm und wertet sie minutiös für seine Darstellung aus, die neben Ausführungen zur Belehnung von 950 bis 1278, mit einem breiten Exkurs zur Szene von 1126, auch die Frage des Tributs und der von den Vasallen geforderten Gegenleistungen beschreibt, den Besuch der „Hof- und Reichstage“ und die „Kriegsdienste“. Köster ist umsichtiger als seine Vorgänger, bereits im ersten Absatz seiner Studie betont er, dass es keine „Rechtsquelle“ gebe, in der das Lehnsverhältnis „erschöpfend zum Ausdruck kommt.“ Erst aus den Ereignissen lasse sich „bestimmen, welchen Kreis von Pflichten und Rechten das Lehenrecht für beide Gewalten umschliesst, und in welchen Handlungen es tatsächlich zur Anwendung kommt.“161 Dennoch, das Lehensverhältnis nimmt auch er seit 950 mit den meisten der von ihm zitierten deutschsprachigen Autoritäten an. Auch wenn er beobachtet, dass der Begriff „Lehen“ zum ersten Mal 1002 erwähnt wird, finden auch bei ihm „Belehnungen“ statt, wenn allein die Einsetzung eines böhmischen Prätendenten durch den König bzw. Kaiser bezeugt ist. In seiner Gesamtschau ergibt sich, trotz aller Differenzierungen, das bekannte Bild einer anhaltenden ­lehnrechtlichen Beziehung Böhmens zum Reich schon seit 950, das über alle Merkmale einer Lehnsbeziehung verfügte, die durch den König vorgenommene Belehnung und die belegbaren Gegenleistungen der Herzöge: „Kriegshilfe“, Hoftagsbesuch und Huldigung. Dieses Verhältnis ist mal deutlicher, mal weniger 160 Köster, Arnold: Die staatlichen Beziehungen der böhmischen Herzöge und Könige zu den deutschen Kaisern von Otto dem Großen bis Ottokar II. (Untersuchungen zur deutschen Staatsund Rechtsgeschichte AF 114) Breslau 1912. 161 Ebd., S. 1.

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deutlich belegt, aber seit der Mitte des 10. Jahrhunderts vorhanden. Große Veränderungen kann Köster auch aufgrund der schematischen Anlage seiner Arbeit allerdings nicht erkennen. Die Abhandlung von Köster steht am Ende einer ersten Phase der verfassungsgeschichtlichen Erörterung des Themas und subsumiert gleichsam die nun hinlänglich ausgebreiteten Argumente, die in der Auseinandersetzung mit Palacký in der deutschsprachigen Forschung sowohl in der Historiographie als auch in den staatsrechtlich orientierten Abhandlungen entwickelt worden waren. Die tschechische Sicht ist im Gegenlicht leider nicht klar zu erkennen. Neben der anhaltenden Bedeutung, die Palackýs Ausführungen bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten, bilden staatsrechtliche Erörterungen von Josef Kalousek162 einen auch von deutschen Autoren wahrgenommenen Bezugspunkt. Kalousek behandelt vor allem die Zeit ab dem 14. Jahrhundert. Die Lehnsbeziehungen der zur böhmischen Krone gehörenden Länder zum Reich spielen bei ihm allenfalls am Rande und wenn, dann aus spätmittelalterlicher Sicht eine Rolle. Er bestreitet deshalb auch eine staatsrechtliche Bindung Böhmens ans Reich.163 Ebenfalls noch vor dem Ersten Weltkrieg erschienen die ersten beiden Bände der umfassenden Geschichte Böhmens von Václav Novotný,164 der ebenfalls die einschlägigen Quellenstellen anführt und deutet, worauf zurückzukommen sein wird. Zum Abschluss der deutschsprachigen Diskussion seien zwei Arbeiten aus einer mehr und mehr exklusiv rechtsgeschichtlich orientierten Forschung genannt, deren Verbindungen zu Ansätzen der allgemeinen historischen Forschung locker werden. Sie entstanden in deutlichem zeitlichem Abstand zur Diskussion vor dem Ersten Weltkrieg, ihre Argumentationen schließen aber doch unmittelbar an diese an. Hervorzuheben ist die 1939 entstandene und 1948 publizierte Giessener ­Dissertation von Ilse Scheiding-Wulkopf, die sich nicht nur Böhmen, sondern den „lehnsherrlichen“ Außenbeziehungen des Reiches vom 9. bis 12. Jahrhun-

162 Kalousek, Josef: České státní právo. Historicky vickládá, Praha 1871, 2. Aufl. 1892. Die Grundzüge der Erörterung spiegeln sich wohl auch in einer deutschen Kurzfassung: Kalousek, Josef: Einige Grundlagen des böhmischen Staatsrechtes, Prag 2. Aufl 1871, die erst mit dem Aussterben der Přemysliden, am Beginn des 14. Jahrhunderts, einsetzt. 163 Vgl. zur Einordnung Prinz: Stellung Böhmens (wie Anm. 4), S. 100. 164 Novotný, Václav: České dějiny, 4 Bde., Praha 1912–1937, Bd. 1 (1912) und Bd. 2 (1913).

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dert widmet.165 Die Autorin steht im Bann des 1933 erschienen Buchs von ­Heinrich Mitteis, „Lehnrecht und Staatsgewalt“166, dessen Thesenbildung sie als gegeben voraussetzt und um den von ihm ausgeklammerten Bereich der „auswärtigen Lehnsbeziehungen“ ergänzen will. Anders als im Inneren des Reiches, so ihr Ergebnis, hätten „für das Staatsleben des Mittelalters … die auswärtigen ­Lehnsbeziehungen nicht die Bedeutung gehabt, die man von vornherein bei ihnen erwarten möchte.“ Die „Schwierigkeit ihrer rechtlichen Natur“ führte dazu, dass diese „keine festumrissene Größe mit abgegrenzten Pflichten für Lehnsherr und Lehnsträger“ waren. „Der Inhalt der Verpflichtungen wechselt von Fall zu Fall.“ Das ursprünglich fränkische „Rechtsinstitut“ ließ sich nur „auf Kosten der Klarheit und Eindeutigkeit“ auf „andere Gebiete“ übertragen.167 Diese Unterscheidung in der Wirksamkeit zwischen inneren und äußeren Lehnsbeziehungen und eine dynamische Betrachtung, die sich im böhmischen Fall vor allem mit der Sicht Adolf Bachmanns auseinandersetzt, führt ScheidingWulkopf zu neuen Bewertungen. Im 9. und 10. Jahrhundert stand Böhmen danach in einem „tributären Verhältnis“ zum Reich. Die Unterwerfung Bolesławs I. unter Otto den Großen 950 führte zwar nicht zu einer „Lehnsabhängigkeit“, fand aber „in bemerkenswerten Formen“ statt. Aus ihr ergaben sich die „Heeresfolge“, aber nicht der Besuch von Hoftagen.168 Wie im vergleichbaren Fall Polens stehen sich in Böhmen die „tributäre und lehnsmäßige Bindung“ nicht in „einem ausschließenden Gegensatz gegenüber.“169 Vielmehr kommt es zu Übergangsformen. Das Jahr 1002, als Vladivoj in Regensburg mit Böhmen belehnt wurde, war dann ein Einschnitt; seitdem stand das „Vasallitätsverhältnis“ zum Reich fest. „Jeder neue Herrscher beeilte sich, die Anerkennung des deutschen Königs nachzusuchen.“170 Obwohl unter den ersten Saliern die königlichen Zugriffe auf Böhmen stärker wurden, habe sich bis zum Ende des 11. Jahrhunderts dieses Verhältnis nicht grundsätzlich verändert. Wieder argumentiert Scheiding-Wulkopf mit den in den Quellen aufscheinenden Formen der Belehnung, wenn sie die 1099 zum ersten Mal belegten Fahnen als Investitursymbol so deutet, dass Böhmen nun als „Reichsfürstentum“ 165 166 167 168 169 170

Scheiding-Wulkopf: Lehnsherrliche Beziehungen (wie Anm. 4). Mitteis: Lehnrecht und Staatsgewalt (wie Anm. 30). Alle Zitate bei Scheiding-Wulkopf: Lehnsherrliche Beziehungen (wie Anm. 4), S. 96. Ebd., S. 53. Ebd., S. 55. Ebd., S. 56.

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ans Reich gebunden war. Dieses Verhältnis wurde dann bestätigt durch die Kulmer Szene von 1126, der auch in dieser Studie eine Schlüsselrolle zukommt. Lothar III. behaupte zwar in den Worten, die ihm der Mönch von Sázava in den Mund legte, fälschlicherweise, dass Böhmen „von Anfang an ein Lehen des deutschen Reiches gewesen“ sei, das entspreche aber der Ansicht, die „jetzt mehr und mehr durchdrang, daß Böhmen als Reichsland zu gelten habe.“171 Die Belehnung Herzog Soběslavs von 1126 ist für sie somit der Endpunkt der lehnrechtlichen Integration Böhmens ins Reich. Nun sei der Herzog von Böhmen als Reichsfürst zu betrachten. In Bezug auf Böhmen schließt Scheiding-Wulkopf deshalb mit den Worten: „Von jetzt an hat die Betrachtung der Geschichte Böhmens in einer Geschichte der auswärtigen Lehnsbeziehungen keinen Platz mehr“, weshalb sie diese in ihrer bis ans Ende des 12. Jahrhunderts reichenden Arbeit auch nicht weiter behandelt. Nur im Falle Böhmens bereitet die Belehnung eine stärkere Anbindung ans Reich vor. Sie stellt somit, wie Scheiding-Wulkopf resümiert, einen Sonderfall dar. Auch in diesem aber ist das bis zum 10. Jahrhundert bestehende tributäre Verhältnis nicht schwächer als eine Lehnsbindung, denn „die tributären Abhängigkeiten erwiesen sich als die politisch wirksameren.“172 Mit dieser Wertung und dem relativierenden Blick auf die Wirksamkeit der Lehnsbindung ­unterscheidet sich die Studie von Scheiding-Wulkopf deutlich von ihren Vorgängern. Das Lehnswesen war letztlich nicht entscheidend für die Eingliederung Böhmens ins Reich. Schon 1939, als diese Marburger Dissertation entstand, waren die Diskussionen um das Lehnrecht nur mehr ein Teil der Ansätze, in denen die Mittelalterforschung über die Verfassung des frühen und hohen Mittelalters sprach. Andere Zugriffe wie die der Volksgeschichte oder der Neuen deutschen Verfassungsgeschichte erlebten in diesem Zeitraum ihren Aufschwung. Sie ­wirkten sich auch auf die Darstellung des Verhältnisses Böhmens zum Reich aus. Das „Lehnrecht“ galt zu dieser Zeit zwar als gesicherter Traditionsbestand rechts- und verfassungsgeschichtlicher Forschungen zum früh- und hochmittelalterlichen Reich, wurde aber nach und nach zu einem vor allem von Rechtshistorikern bearbeiteten Feld.

171 Ebd., S. 81 f. 172 Ebd., S. 96.

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Noch weit mehr gilt das für die 1959 erschienene Habilitationsschrift von Wilhelm Wegener „Böhmen/Mähren und das Reich im Hochmittelalter“.173 Der Rechtshistoriker bringt in der Anlage und im Argumentationsgang seiner Arbeit wenig Neues. Er differenziert und ergänzt die Argumente Kösters, der gleichsam die Hintergrundfolie bildet, vor der er schreibt. In den zeitlichen Einschnitten folgt er diesem nur geringfügig modifizierend. Seit 895 ergibt sich für ihn ein „Nebeneinander des echten Lehnsverhältnis Böhmens zum deutschen König und eine praevasallische Tributpflicht.“174 Auch er hebt hervor, dass 1002 zum ersten Mal das Wort „beneficium“ genannt wird und damit das Lehnsverhältnis eine andere Qualität erreicht. Wichtig ist ihm allerdings, dass die Tributpflicht nicht nur bis 1085 reicht, sondern in Folge dann durch eine der Belehnung vorausgehende Abgabe weiter besteht. Wiederum führte die Unterwerfung Břetislavs unter Heinrich III. „zu voller Anerkennung der deutschen Lehnshoheit“. Seit ihrer „gewaltsamen“ Wiederherstellung im Jahr 1041 blieb sie unangefochten. Ab nun verwendet Wegener Kategorien, wie sie sich aus einem zum Handbuchwissen geronnenen Lehnswesen ableiten lassen. Jeder Herrn- und Mannfall führe zur Pflicht der neuen Huldigung und Belehnung, die Pflichten des böhmischen Herzogs als Vasall sind, auch wenn sie nicht belegt sind, zumindest anzunehmen. Wichtig ist ihm, gegen tschechische Autoren, von denen auch 1959 noch im Schlusswort Palacký als wichtigste Stimme genannt wird, die Integration Böhmens ins Reich als Regnum und nicht nur Imperium nachzuweisen, was er anhand einiger gewagter Interpretationen, insbesondere auch des Berichts des Mönchs von Sázava zum Jahr 1126, zu belegen glaubt.175 Wegener wendet in seiner Studie an vielen Stellen sehr schematische Kategorien des Lehnswesens an, wie sie auf der Grundlage des durch Heinrich Mitteis und François Louis Ganshof etablierten Handbuchwissens in den Jahrzehnten nach 1945 als gesichert galten. Ihre Übertragung auf das Verhältnis Böhmens zum Reich hatte dennoch schon zu dieser Zeit Züge eines gewissen Anachronismus verfassungsgeschichtlicher Betrachtung, die nach ihm nur noch in der Nische öffentlichrechtlicher Dissertationen weiter gepflegt wurde.176 Die Wirkungen der 173 Wegener, Wilhelm: Böhmen/Mähren und das Reich im Hochmittelalter. Untersuchungen zur staatsrechtlichen Stellung Böhmens und Mährens im Deutschen Reich des Mittelalters 919–1253, Köln/Graz/Göttingen 1959. 174 Ebd., S. 53. 175 Ebd., S. 7–78. 176 Vgl. etwa Jäger, Hans: Rechtliche Abhängigkeitsverhältnisse der östlichen Staaten vom Frän-

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Arbeit blieben deshalb in der deutschsprachigen Geschichtsforschung auch gering.177

VI. Die tschechische Kritik – auf dem Weg zu einer Neubewertung Bei tschechischen Historikern riefen die Ausführungen Wegeners jedoch deutliche Reaktionen hervor, die auf älteren Vorstudien aufbauen konnten.178 Schon Václav Novotný hatte im ersten Band seiner böhmischen Geschichte („České dějiny“) umsichtig abwägend, aber doch kritisch die Belege der deutschsprachigen Literatur zum Thema zerpflückt. Für den Tiefpunkt der tschechisch-deutschen Beziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg steht dann die 1945 entstandene Arbeit von Václav Vaněček,179 der nicht nur jede staatsrechtliche Bindung Böhmens ans Reich leugnete, sondern nachweisen wollte, dass „die Beziehungen des Reiches zu Böhmen lediglich auf brutaler Unterdrückung beruhten“180, und der allenfalls „eine persönliche Bindung des böhmischen Herrschers an den deutschen König als Inhaber eines Erzamtes anerkennt.“181 Auf Vaněček reagier-

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kisch-Deutschen Reich (Ende des 8. bis Ende des 11. Jahrhunderts), Diss. phil. Frankfurt 1960; Grawert-May, Gernot: Das staatsrechtliche Verhältnis Schlesiens zu Polen, Böhmen und dem Reich während des Mittelalters (Anfang des 10. Jahrhunderts bis 1526) (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte NF 15) Diss. phil. Freiburg, Aalen 1971, hier etwa S. 77–91, Wegener folgend. Vgl. dazu die ablehnenden Stellungnahmen von Prinz: Stellung Böhmens (wie Anm. 4), S. 101– 107, und Seibt, Ferdinand: Bohemica. Probleme und Literatur seit 1945 (Historische Zeitschrift, Sonderheft 4) München 1970, S. 55–57. Es ist mir wichtig, den vorläufigen bzw. impressionistischen Charakter der nachfolgenden Ausführungen festzuhalten, sie beruhen im Wesentlichen auf den jeweils in den Fußnoten angebenen Zusammenfassungen und Bewertungen in der deutschsprachigen Literatur. Trotz dieser schwierigen Voraussetzungen halte ich es dennoch für vertretbar, die tschechischen Kritikpunkte zur Abrundung auf diese Weise zumindest anzudeuten. Im Sinne des Rahmenthemas erscheint es mir sogar notwendig, da hier wesentliche Ergebnisse vorbereitet sind. Vaněček, Václáv: Stát Přemyslovků a středověká říše, Praha 1945. Zur einige Jahre zuvor erschienenen Habilitationsschrift des Autors vgl. Seibt, Ferdinand: Land und Herrschaft in Böhmen, in: Historische Zeitschrift 200 (1965), S. 284–315; mit Kritik an Vaněčeks (und Palackýs) Sicht, „die ganze Abhängigkeit des Böhmenfürsten vom Reich sei eine rein persönliche Angelegenheit des Fürsten gewesen“ auch Graus, František: Die Entstehung des mittelalterlichen Staates in Mitteleuropa, in: Historica X (1965), S. 5–65, hier S. 28 f., Anm. 103. Prinz: Stellung Böhmens (wie Anm. 4), S. 100. Seibt: Bohemica (wie Anm. 177), S. 56.

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te Zdenek Fiala, der auch Wegeners Buch einer grundsätzlichen Kritik unterzog,182 nachdem er zuvor selbst einen umfangreichen Aufsatz zu den Beziehungen ­B öhmens zum Reich verfasst hatte.183 Fiala stellte vor allem das Kontinuum der „staatsrechtlichen Abhängigkeit“ Böhmens vom Reich in Frage, die Zahlung des Tributs sei nicht durchgängig erfolgt und nicht dauerhaft belegt.184 Damit legt Fiala zu Recht die Axt an die Voraussetzungen der immer längere Zeiträume übergreifenden verfassungsgeschichtlichen Erörterung im Stil des 19. Jahrhunderts, die die Debatte um Böhmens Zugehörigkeit zum Reich bis zu Wegener prägte. Zum Lehnsmann wurde nach Fiala der böhmische Herzog nur „zu Beginn des 11. Jahrhunderts und dann dauernd seit 1100“.185 Die Lehnsnahmen des 11. Jahrhunderts, 1002 und 1041, erklärt er zum einen aus der „innerböhmischen Lage“, zum anderen durch die militärische Niederlage Břetislavs als Ausnahmesituation. Die regelmäßigen Lehnsbeziehungen setzen aber erst seit dem 12. Jahrhundert ein.186 Fiala erklärt die „Belehnungen“ also situativ und nimmt keine dauerhafte lehnrechtliche Bindung Böhmens zum Reich an; wichtig sind ihm die „realen Machtverhälnisse“, die sich in den Beziehungen niederschlagen. Auch wenn er im Kern damit einer adaptierten Sichtweise zu folgen scheint, wie sie schon Palacký entwickelt hatte, verweist seine Argumentation doch auf deutliche Schwachstellen der rechts- und verfassungsgeschichtlich geprägten deutschen Literatur zum Thema. Im Bezug auf die Kulmer Unterwerfungsszene des Jahres 1126 hat auch Jiří Kejř die Sondersituation herausgestrichen und betont, dass zuvor keine regel­ mäßigen Belehnungen nachzuweisen seien.187 „Einige böhmische Herrscher“ hätten „nie um die Belehnung angesucht“ und doch ihre Herrschaft behalten. „Es ist daher sehr fraglich, zu behaupten, daß auch dann, wenn wir keine Nachricht darüber haben, das Lehen erteilt wurde.“188 Erst Zug um Zug durch das Handeln Konrads III. und Friedrich Barbarossas habe sich ein engeres Verhältnis zwischen 182 Fiala, Zdenek: Rez. zu Wegener, in: Českolovenský časopis historický 8 (1960), S. 176–185. Zu den Positionen Fialas vgl. Prinz: Stellung Böhmens (wie Anm. 4), S. 102–107; Hoffmann: Böhmen (wie Anm. 4), passim; Seibt: Bohemica (wie Anm. 177), S. 55–57. 183 Fiala, Zdenek: Vztah českého státu k německé říši do počatku 13. Století, in: Sborník historický 6 (1959), S. 23–95. 184 Hoffmann: Böhmen (wie Anm. 4), S. 1 f.; Prinz: Stellung Böhmens (wie Anm. 4), S. 104. 185 Hoffmann: Böhmen (wie Anm. 4), S. 2. 186 Nach Prinz: Stellung Böhmens (wie Anm. 4), S. 106 f. 187 Kejř: Böhmen und das Reich (wie Anm. 9), S. 242–248. 188 Ebd., S. 244.

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den böhmischen Herzögen, vor allem König Vladislav II. und den Staufern, eingestellt, das sich, andere Konstellationen vorausgesetzt, dann auch wieder ändern konnte. Die in seinem Aufsatz aus dem Jahr 1992 geäußerte Kritik an den bisherigen Aufsätzen zum Thema trifft die ältere Literatur zum Thema ins Mark. Es seien vor allem „methodologische Aspekte“, die seine Sicht von der vorhergehenden unterschieden: „Viele, manchmal nur scheinbar begründete Folgerungen beruhen auf der rein juristischen Auslegung der Quellen, was dadurch begünstigt wird, daß man verschiedene Rechtsbeziehungen als allgemeingültig voraussetzt. Sehr oft wurden äußere Formen der Lehenssymbolik als reales Bild staatsrechtlicher Regelung präsentiert.“ Dadurch aber sei die „historische Wahrheit in ihrer Dynamik und Veränderung“ nicht zu erfassen.189 „Dynamik“ und „Wandel“ aber rückten schon die Historiker der sogenannten „Neuen Deutschen Verfassungsgeschichte“ ins Zentrum, die seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts andere Wege wies. Für diesen bislang vor allem aufgrund der Verstrickungen seiner Protagonisten, Otto Brunner und Theodor Mayer, diskutierten Ansatz,190 der die Vorstellungen von „Staatlichkeit“ im frühen und hohen Mittelalter bis in die Gegenwart prägt,191 steht eine ideologiekritische Einordnung in weiten Teilen noch aus.192 Seinem Vorzug, historischen Wandel in seiner Dynamik erfassen zu können, entspricht als Ergebnis der Betonung personeller Faktoren gerade im Hinblick auf die äußeren Verhältnisse des Reiches eine Überbetonung des Machtfaktors und der im Volk, seinem Kulturraum und seiner Sprache angelegten Vor189 Ebd., S. 286. 190 Heinzel, Reto: Theodor Mayer. Ein Mittelalterhistoriker im Banne des „Volkstums“ 1920–1960, Luzern 2016; Kortüm, Hans-Henning: Otto Brunner über Otto den Großen. Aus den letzten Tagen der reichsdeutschen Mediävistik, in: Historische Zeitschrift 299 (2014), S. 297–333; Ders.: Mittelalterliche Verfassungsgeschichte im Bann der Rechtsgeschichte zwischen den Kriegen – Heinrich Mitteis und Otto Brunner, in: Dendorfer/Deutinger (Hg.): Lehnswesen im Hochmittelalter (wie Anm. 20), S. 57–77. 191 Pohl, Walter: Staat und Herrschaft im Frühmittelalter. Überlegungen zum Forschungsstand, in: Airlie, Stuart/Pohl, Walter/Reimitz, Helmut (Hg.): Staat im frühen Mittelalter, Wien 2006, S. 9–38. 192 Vgl. allerdings die Aufsätze von Graus, František: Ausgewählte Aufsätze (1959–1989), hg. von Hans-Jörg Gilomen (Vorträge und Forschungen 55) Stuttgart 2002, hier u.a. Verfassungsgeschichte des Mittelalters, S. 213–258; die Studien von Hans-Henning Kortüm (wie Anm. 190) und Ders.: „Wissenschaft im Doppelpaß“?: Carl Schmitt, Otto Brunner und die Konstruktion der Fehde, in: Historische Zeitschrift 282 (2006), S. 585–617, daneben Pohl: Staat und Herrschaft (wie Anm. 191) sowie Schneidmüller, Bernd: Von der deutschen Verfassungsgeschichte zur Geschichte politischer Ordnungen und Identitäten im europäischen Mittelalter, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 53 (2005), S. 485–500.

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aussetzungen zur Begründung politischer Herrschaft. Auch für Böhmen wurde dieser Ansatz in der deutschsprachigen Forschung versucht, etwa in Studien von Hans Zatschek193 und Theodor Mayer.194 Er zeitigte allerdings kein sichtlich neues Bild der Zugehörigkeit Böhmens zum Reich. Die Diskussion blieb in den hier interessierenden Aspekten weiterhin in den Bahnen lehnrechtlicher Erörterungen, die sich somit in ihren Eckpunkten in erstaunlicher Kontinuität fast über 200 Jahre, von Gelasius Dobners Kommentaren zu Hájeks Annalen aus dem Jahr 1763 bis zu Wilhelm Wegener 1959, verfolgen ließen. Dabei wird offensichtlich, dass die tschechischen Historiker in ihren Beiträgen, mit denen sie gegen eine lehnrechtliche Bindung Böhmens ans Reich anschrieben, Erklärungen entwarfen, die Deutungen der gegenwärtigen Mittelalterforschung entgegen kommen. Weitgehend unveränderliche „staatsrechtliche“ Beziehungen, die im Rahmen einer mehr gemeinsam geglaubten als tatsächlich belegten Verfassungsgeschichte, so Bernd Schneidmüller, zu interpretieren seien, erkennen wir heute nicht mehr.195 Ohne sie ist es aber schwierig, das Lehnswesen als Surrogat für quasistaatliche Beziehungen im Inneren des Reiches wie im Äußeren anzunehmen. Diesen letzten Schritt aber ging auch der deutsch-tschechische Historikerstreit, soweit ich sehe, nie. Denn die Negation des lehnrechtlichen Verhältnisses sollte ja belegen, dass Böhmen kein engeres Verhältnis zum Reich hatte; diese Aussage war nur aufrechtzuerhalten, wenn es das „Lehnswesen“, respektive das „Lehnrecht“, als die die Ordnung des Reiches bestimmende Größe gab. 193 Zatschek, Heinz: Geschichte und Stellung Böhmens in der Staatenwelt des Mittelalters, in: Pirchan, Gustav/Weizsäcker, Wilhelm/Zatschek, Heinz (Hg.): Das Sudetendeutschtum. Sein Wesen und Werden im Wandel der Jahrhunderte, Brünn 2. Aufl 1939, S. 43–92, hier S. 51–57. Zatschek bleibt bei der Deutung der Beziehungen zum Reich trotz markiger Worte vom „deutschen Volksboden“ im Osten und den Königen und Kaisern seit Karl dem Großen unterstellten großräumigen geopolitischen Zielsetungen erstaunlich konventionell: 950 konnte Bolesław I. zur „Anerkennung der deutschen Lehnshoheit“ gezwungen werden (S. 49); König Heinrich II. habe aus der „Oberhoheit über Böhmen Nutzen gezogen“ (S. 52); 1041 wurde Břetislav „bedingungslos“ unterworfen, dessen Ziel es möglicherweise war, die „Lehnshoheit des Reichs“ abzuschütteln, später erwies er sich aber als „zuverlässiger Gefolgsmann“ (S. 53); seit sich die Přemysliden „zur Unterstützung des deutschen Königtums entschlossen hatten, nahmen sie eine geachtete Stellung unter den deutschen Reichsfürsten“ ein. 194 Mayer, Theodor: Böhmen und Europa, in: Bohemia. Jahrbuch des Collegium Carolinum 1 (1960), S. 9–21, ist, obwohl der von ihm etablierten Sichtweise verpflichtet, erwartbar im Sinne der älteren Forschung, was die Darstellung der Lehnsbeziehungen zum Reich angeht. 195 Schneidmüller: Verfassungsgeschichte (wie Anm. 192), S. 487 in Bezug auf die konzeptionellen Grundlagen des frühen Konstanzer Arbeitskreises.

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Im Licht dieser jüngeren Diskussion zum Lehnswesen ist die hier vorgelegte, zwar weit ausgreifende, aber doch nicht annäherend alle Wortmeldungen berücksichtigende Lektüre der einschlägigen Studien durchaus von eigenem Wert. Erstaunlich war erstens, dass schon bei Gelasius Dobner und somit um die Mitte des 18. Jahrhunderts alle wesentlichen Quellen bekannt waren. Abgesehen von der Stelle der ‚Annales Altahenses‘ zur Unterordnung Břetislavs I. im Jahr 1041, die erst später entdeckt wurde, und der Diskussion um die Datierung des Berichts zu 1126 in der Chronik von Sázava gab es keine Veränderung der Quellengrundlage. Mehr noch, seit Palacký, der sich in diesen Teilen wesentlich auf Dobner stützte, lag gleichsam eine kanonische Auswahl an einschlägigen Stellen für das Verhältnis Böhmens zum Reich fest. Sie wurde in den nachfolgenden Jahrhunderten nur noch geringfügig ergänzt. Zweitens entstand um die Deutung dieser wenigen Stellen eine so intensive Diskussion, weil damit bezogen auf die jeweiligen Zeitumstände grundsätzliche verfassungs- und staatsrechtliche Stellungnahmen verbunden waren oder bei Äußerungen zum Thema zumindest im Raum standen. Ein sehr bemerkenswerter Befund war schon, dass das „Lehnswesen“ als Deutungselement für zwischenstaatliche Beziehungen keine Erfindung der kritischen Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts darstellt. An der böhmischen Debatte ließ sich zeigen, wie eindeutig Palackýs Betonung dieses Themas auf Dobners Vorarbeiten im 18. Jahrhundert zurückgeht. Dobner wiederum wurzelte in der Feudistik der Frühen Neuzeit, welche die Verfassung des Reiches und die Stellung Böhmens in diesem Rahmen verhandelte. Das Lehnswesen als Deutungsrahmen war also gleichsam immer schon da und stand deshalb nie grundsätzlich in Frage. Drittens ließen sich dennoch für ein- und dieselbe Quellenstelle ganz unterschiedliche Bewertungen finden. Neben den zum Teil bemerkenswert interessensgeleiteten Gedankenführungen spiegelten sich darin auch die sich wandelnden Konzepte vom „Lehnswesen“: Von den anfangs eher vagen, aus der Rechtswissenschaft der Frühen Neuzeit gespeisten Kategorien über die Wirkungen der Waitz’schen Verfassungsgeschichte und von Giesebrechts Einbettung des „Lehnswesens“ in seine Erzählung der Reichsgeschichte bis zu der etwas sterileren, auf Rechtsformen und -institute und deren Entwicklungen blickenden Sicht von Heinrich Mitteis. Alle diese Positionen ließen sich in der Debatte um die Bindung Böhmens ans Reich nachvollziehen und führten zu unterschiedlichen Ergebnissen. Obwohl alle Autoren über „das“ Lehnswesen sprachen, wurde deutlich, dass zu den jeweiligen Modellen des „Lehnswesens“ vom 18. bis

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zum 20. Jahrhundert und ihren Veränderungen Vorarbeiten fehlen. Sie hätten auch dem Blick auf die böhmische Diskussion noch deutlichere Konturen geben können. Viertens wirft die Debatte ein grundsätzlicheres Problem auf, das beim derzeitigen Diskussionsstand zur „Verfasstheit“ des früh- und hochmittelalterlichen Reiches kaum zu lösen ist. Wie lässt sich über Einzelbelege hinaus ein normativer Zusammenhang, eine Ordnung erkennen, die es auch im Verhältnis Böhmens zum Reich gab? Die Faszination des „Lehnswesens“ lag lange darin, dass es eine solche Ordnung anbot, die sich allerdings allein durch ihre Annahme eine eigene Wirklichkeit schuf und Alternativen ausblendete. Otto von St. Blasien zumindest, um an die eingangs zitierte Stelle zu erinnern, wusste, dass es nicht so einfach war, das staufische Imperium zusammenzuhalten. Barbarossa gelang das durch Verwandtschaft, durch Bündnisse, durch Rangerhöhungen, mitunter auch durch Unterwerfung (also Gewalt), die lehnrechtlich Anmutendes enthalten konnte. Die Erklärung für die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Böhmen und dem Reich müsste mindestens so vielschichtig sein wie die Ottos von St. Blasien. Das „Lehnrecht“ kann darin sicher ein Element sein, aber vielleicht nur eines am Rande.

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Friedrich Barbarossa und die böhmische Staatlichkeit1

Gerade weil in der Auslegung der älteren böhmischen Geschichte nie mit erfindungsreichen Verurteilungen all jener gegeizt wurde, die versucht haben, die „von alters her ererbten und heiligen Freiheiten des tschechischen Volkes und Staates“ zu beschneiden, vermochte kaum jemand unter den tschechischen Historikern Friedrich Barbarossa positiv zu beurteilen. Diesem wurde über Generationen hinweg angelastet, er habe sich auf arrogante Weise bemüht, aus dem „tschechischen Staat“ ein einfaches Reichslehen zu machen und ihn darüber hinaus noch in mehrere Teile zu zerschlagen.2 Dieser Tat überführen sollte ihn die mit groben Drohungen erzwungene Abdankung König Vladislavs im Jahr 1173, nach welcher er den Prager Thron im Widerspruch zum Recht und den Landestraditionen mit Herzog Soběslav II. besetzt haben soll, um dann auf dem Hoftag zu Regensburg im Jahr 1182 Mähren zu einem Reichslehen zu erheben, wodurch er die bisher zusammenhängenden přemyslidischen Besitzungen gewaltsam in zwei Teile zerteilte. Das Werk des Verderbens habe er dann fünf Jahre später vollendet, als er den Prager Bischof Heinrich Břetislav zum Reichsfürsten und dessen Güter zu einem unabhängigen, direkt dem Schutz des Kaisers unterstellten Reichsfürstentum machte. Nur konsequent schien es, dass sich ein Ministeriale aus dem Umkreis der Egerer Pfalz, mit seinem Wissen oder gar auf seinen Befehl hin, der dem böhmischen Herzog unterstehenden Provinz Sedlec (Zettlitz) bemächtigte.3 1

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Die vorliegende Studie wurde im Rahmen des Projektes Center of excellence GACR 14-36521G (Centrum pro transdisciplinární výzkum kulturních fenoménů ve středoevropských dějinách: obraz, komunikace, jednání/ Zentrum für transdisziplinäre Forschung kultureller Phänomene in der mitteleuropäischen Geschichte: Bild, Kommunikation, Handeln) und mit der Unterstützung der Philosophischen Fakultät der Masaryk-Universität ausgearbeitet. Fiala, Zdeněk: Vztah českého státu k německé říši do počátku 13. století, in: Sborník historický 6 (1959), S. 23–89, hier S. 70–73. Die historischen Zusammenhänge wurden zusammengefasst von Kejř, Jiří: Böhmen und das Reich unter Friedrich I., in: Haverkamp, Alfred (Hg.): Friedrich Barbarossa. Handlungsspiel-

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Erstaunlicherweise hat es kaum jemanden stutzig werden lassen, dass die böhmischen zeitgenössischen Beobachter für Friedrich Barbarossa oftmals nur Worte des Lobes und Verständnis übrig hatten und dass der von den Ereignissen zeitlich nicht allzu entfernte Abt Gerlach von Mühlhausen den Staufer als einen klugen Kaiser bezeichnete, der die Streitigkeiten zwischen den přemyslidischen Herzögen auf besonnene Art und Weise geschlichtet habe (sic sapiens imperator coniurationem sapienter repressit).4 Eventuelle Einwände und Zweifel wurden im Voraus jedoch mit der Bemerkung weggewischt, dass der Mühlhausener Abt zu den hartnäckigen Bekennern der Kirchenfreiheit zähle, der die „heiligen Werte des tschechischen Staates und Volkes“ als Fremdling auch nicht genügend zu würdigen gewusst habe. Erstaunlicherweise hatte niemand an einem anderen Nachtrag Gerlachs Anstoß genommen, laut welchem sich Přemysl Otakar I. im Jahr 1197 mit seinem Bruder Vladislav Heinrich ausgesöhnt habe, sodass sie ab diesem Zeitpunkt einen gemeinsamen Willen und ein Herzogtum gehabt hätten (sicut unus spiritus, ita et unus principatus),5 weswegen dieser Nachtrag von der tschechischen historischen Fachliteratur mit voller Ernsthaftigkeit zitiert und weiterentwickelt wurde.6 Eine sensiblere Analyse der Mühlhausener Chronik hat belegt, dass Gerlach den Kampf um die libertas ecclesie zwar aus der ersten Reihe mitverfolgte, ihn dabei aber vor allem die Zukunft der Prämonstratenser-Gemeinschaften in den Ländern Böhmens interessierte.7 Kein verblendeter Fanatiker also, sondern ein aufmerksamer und, was die böhmischen Verhältnisse anbelangt, kundiger Beo­ bachter, was uns zur Frage bringt, wann und wie sich der von Gerlach gepriesene Kaiser Friedrich Barbarossa zu einem hinterhältigen Intriganten wandelte, der „Volk und Staat der Böhmen“ schädigte.

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räume und Wirkungsweisen des staufischen Kaisers (Vorträge und Forschungen 40) Sigmaringen 1992, S. 241–289. Annales Gerlaci, ed. Josef Emler (Fontes rerum Bohemicarum 2) Praha 1875, S. 481. Ebd., S. 514 f. Neuerlich siehe Vaníček, Vratislav: Velké dějiny zemí Koruny české. Svazek II. 1197–1250, Praha/Litomyšl 2000, S. 75–82. Kernbach, Anna: Vincenciova a Jarlochova kronika v kontextu svého vzniku. K dějepisectví přemyslovského období (Knižnice Matice moravské 28) Brno 2010, hier S. 156–211.

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I. Auf der Reise gegen den Strom der Zeit kommt man nicht umhin zu bemerken, dass sich der Wortschatz, nicht jedoch der Inhalt der Gedanken veränderte, deren Anfänge bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts und bis zu František Palacký (1798– 1876) zurückreichen, denn gerade der „Vater der tschechischen Nation“, wie er noch zu seinen Lebzeiten genannt wurde,8 erschuf einen stolzen Kaiser, der die Tschechen mit seinem Egoismus bis an die Schwelle des Verderbens geführt habe. So habe er nicht nur seinen treuen Verbündeten Vladislav II. dazu gebracht, eine Reihe erniedrigender Zugeständnisse zu machen,9 sondern im Jahr 1182 in Regensburg durch schamlose Erpressung auch die direkte politische Abhängigkeit Mährens erzwungen,10 wodurch er die Böhmen und Mährer gegeneinander aufgebracht habe, sodass sie sich dann im Jahr 1185 bei Loděnice (Lodenitz) eine grausame Schlacht lieferten, die er mit einem warnenden, an die zeitgenössischen Leser gewandten Zusatz kommentierte, dass fremde Interessen durch blutige Opfer im eigenen Land teuer erkauft werden müssen.11 Den Erhalt von Einheit und Macht des „tschechischen Reiches“ soll Friedrich Barbarossa auch im Jahr 1187 gefährdet haben, als er aus dem Prager Bischof einen seiner Vasallen gemacht hatte, damit in den Ländern Böhmens drei Herzöge unabhängig voneinander herrschen sollten und die „gefürchtete Tapferkeit“ der Tschechen dem deutschen Reich somit nimmermehr gefährlich werden konnte.12 Das mit dunklen Farben gezeichnete Porträt Barbarossas hat Palackýs Überlegungen über die Geschichte Böhmens nur abgerundet, deren Sinn durch die Bedeutungsverschiebungen und Unterschiede zwischen der deutschen und tschechischen Version seiner Synthese exzellent verdeutlicht wird. Während die in den Jahren 1836–1867 erschienene „Geschichte von Böhmen“ die einfache zeitliche Abfolge beibehielt und – abgesehen von einer leicht apologetischen Stimmung – Werturteile vermied, hat sich die zwölf Jahre später in tschechischer Sprache verfasste und in den Jahren 1848–1876 veröffentlichte „Geschichte der tschechischen Nation in Böhmen und Mähren“ („Dějiny národu českého 8 9

Kořalka, Jiří: František Palacký (1798–1876). Životopis, Praha 1998, hier S. 479–539. Palacký, František: Dějiny národu českého v Čechách a v Moravě. Dle původních pramenův. Díl I. Od prvověkosti až do roku 1253, Praha 4. Aufl. 1894, S. 253 f. 10 Ebd., S. 265. 11 Ebd., S. 266. 12 Ebd., S. 267.

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v Čechách a v Moravě“) ab den ersten Zeilen, eigentlich bereits im Titel selbst, zu einem nationalen Programm bekannt, das František Palacký als Bestandteil eines uralten Kampfes der altslawischen Demokratie mit dem germanischen Feudalismus empfunden hatte.13 In dem Bestreben, ein breites Publikum anzusprechen, siedelte er seine Ausführungen in der Nachbarschaft zur Belletristik an, wobei er die Vergangenheit mit einer Fülle typisierter, mit schwungvoller Feder geschilderter Figuren bevölkerte. Dadurch stand er irgendwo zwischen einem romantischen Fresko und einer wissenschaftlichen Arbeit, was es ihm ermöglichte, makellos ausgearbeitete Porträts von mehr oder weniger berühmten Einzelfiguren in die große Historie des tschechischen Volkes hineinzukomponieren.14 Palacký hat an Gegensätzen Gefallen gefunden, die es ihm erlaubten, den dominanten narrativen Stil zu verlassen und ihn wieder aufzugreifen, ohne die Hauptachse der Handlung zu zerstören. Lässt man das Hussitentum einmal außer Acht, dem er die bei weitem größte und eine für das moderne tschechische Volk buchstäblich normgebende Bedeutung beimaß, kann man Palackýs historisches Denken gut am Schicksal der böhmischen Könige Karl IV. und Přemysl Otakar II. beobachten. Karl IV. wurde in seiner „Geschichte von Böhmen“ zur Verkörperung aller denkbaren Tugenden, in dessen Person das Blut der Luxemburger und der Přemysliden einen Zwist ausgetragen hätten. Als Přemyslide Wenzel getauft und als Luxemburger Karl gefirmt, wurde er seiner Mutter Elisabeth im zarten Kindesalter weggenommen und nach Frankreich gebracht, wo ihm eine völlig neue Erziehung zuteil geworden sei. Palacký bot den tschechischen Lesern somit einen Archetypus an, der sich gezwungen sah, sich zwischen unterdrücktem und ins Lächerliche gezogenem Tschechentum und der funkelnden Welt der westeuropäischen Königshöfe zu entscheiden, um seine Schritte letztendlich bewusst und unfehlbar zurück in sein einzig wahres Heimatland zu lenken. In dem verwüsteten Land soll sich der junge Königssohn seiner Muttersprache besonnen und am Wohl des Volkes zu arbeiten begonnen haben, was beweisen sollte, dass es, um wirkliche Größe zu erlangen, nicht möglich sei, unter Fremden aufzuwachsen, sondern allein inmitten seiner eigenen, wenngleich auch kleinen Nation. Am meisten schätzte Palacký allerdings, dass Karl die innere Gespaltenheit des 13 14

Válka, Josef: Německá a česká verse Palackého dějin, in: Sborník prací filosofické fakulty brněnské university C15 (1968), S. 79–90. Štaif, Jiří: František Palacký. Život, dílo, mýtus, Praha 2009.

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tschechischen Volkes überwand, die von den deutschen Nachbarn zur Stärkung des eigenen Einflusses missbraucht worden sei, womit er geschickt darauf hinwies, dass, falls die tschechische Nationalgemeinschaft keine Eintracht aufrechterhalte, sie sich damit Fremden gegenüber öffne, die dann weiteren Streit und weiteres Unglück in sie hineinbringen können.15 Der Einklang von Nationalgeist, Heimatland und Muttersprache habe den Königssohn Karl zu den höchsten weltlichen Würden geführt, was seine Vorgänger, besonders Přemysl Otakar II., vergebens angestrebt hätten. Dieser sei seinem Vater Wenzel I. nach ein Přemyslide gewesen, von der Mutter Kunigunde von Schwaben habe er jedoch die deutschen Eroberungsgelüste geerbt. Auch habe er sich von Anbeginn seiner Regierungszeit eher wie ein Deutscher als wie ein Slawe verhalten. Während er als Staufer Macht, Ruhm, neue Länder und die Reichskrone begehrte, habe er als Přemyslide freilich dafür gesorgt, dass die Erbbesitztümer erblühten. Přemysls tragischer Zwiespalt habe sich laut Palacký auch nach außen hin gezeigt, da sich unter seiner Herrschaft in Böhmen und Mähren der entscheidende Teil des Kampfes zwischen den älteren slawischen Ordnungen und dem deutschen Feudalrecht abgespielt habe. Die altslawische Gleichheit und Demokratie hätten damals dem römischen und deutschen Element vorübergehend Platz gemacht, wodurch aus Přemysls Ambivalenz auch eine ambivalente tschechische Geschichte geworden sei, da sich Böhmen und Mähren zu einer Heimat zweier Völker gewandelt und der tschechisch-deutsche Streit in der Folge zu einer schicksalhaften Konstante der tschechischen Nationalgeschichte entwickelt habe.16 Mit aufrichtigem Interesse schilderte František Palacký den Fall des Přemysliden, dem er Züge einer antiken Tragödie verlieh. Der große König soll vom treulosen heimischen Adel verraten worden sein, der sich mit Rudolf von Habsburg nicht nur gegen seinen Herrn, sondern auch gegen Volk und Vaterland verbündet habe. In einer zeitlosen Botschaft hat Palacký die Tschechen somit wissen lassen, was passieren kann, wenn sie sich dem deutschen Element fügen, und ohne sich mit wörtlichen Verweisen behelfen zu müssen, hat der Triumph der Habsburger auf dem Marchfeld 1278 an sich schon die Gedanken des Lesers auf die Schlacht am Weißen Berg gelenkt, wo ein anderer Habsburger im Jahr 1620 15

Palacký, František: Dějiny národu českého v Čechách a v Moravě. Dle původních pramenův. Díl II. Od roku 1253 až do roku 1403, Praha 4. Aufl. 1894, S. 199–362. 16 Ebd., S. 3–101.

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die Hoffnungen der böhmischen Stände vernichtet und die tschechische Nation in die tiefste Erniedrigung und Finsternis gestürzt habe.17 Přemysls schmachvoller Tod auf dem Marchfeld enthielt eine klare Botschaft. Wer mit dem Schwert nach Macht und Ruhm trachtet, wird durch das Schwert umkommen. Ein auf slawischem Fundament gebautes Werk des Geistes könne der Nation deshalb einen tatsächlichen Vorteil bringen, wovon František Palacký den böhmischen Adel aber ausschloss, weil dieser sich vom Volk entfremdet habe, als er unter dem Einfluss der feudalen Ritterkultur die deutsche Sprache als die eigene annahm. So hatte er auf deutliche Art und Weise die tschechische Welt umgrenzt, die durch breitere Landes- und engere Sprachgrenzen definiert gewesen war. Engere deshalb, weil die Deutschen zwar als Gäste nach Böhmen gekommen seien, bald aber damit begonnen hätten, immer weitere Rechte zu verlangen, bis sie aus den böhmischen Ländern eine Heimat zweier Völker gemacht hätten. Von hier rührt auch Palackýs einzigartige Betonung des Kampfes zwischen reinem Tschechentum und herrschsüchtigem Deutschtum, aus dem er ableitete, dass für die böhmische Geschichte eine Gespaltenheit charakteristisch sei, die zu einem Nährboden des Verrats werde. Dieser Verrat würde die Nation wiederum für bittere Niederlagen bzw. zumindest für schmerzhafte Prüfungen prädestinieren. Im Laufe der Zeit hätten die mächtigen Nachbarn, vor allem die Deutschen, aber auch bestimmte positiv konnotierte Facetten aus der tschechischen Historie durchaus anerkannt – so, wie auch Martin Luther oder Johannes Calvin Jan Hus zum nachahmenswerten Beispiel erhoben.18 Wir können uns sicherlich fragen, wie es möglich war, dass Palackýs aufrührerische Ideen und Vorstellungen dem Auge der Wiener Zensur entgehen konnten. Es scheint jedoch so, als habe in Wien die Überlegung vorgeherrscht, dass, falls František Palacký deutsche Einmischungen in tschechische Angelegenheiten und damit auch die großdeutschen Ideale ablehne, er damit dem supraethnischen Österreichertum in die Hände spiele. Die ansonsten geistreiche Annahme hatte dabei jedoch irgendwie übersehen, dass Österreichertum und Deutschtum für das tschechische Publikum leicht verwechselbare Größen darstellten und dass die auf der Negierung alles Deutschen basierende Auslegung der Geschichte die normbildende gesellschaftliche Funktion eines von Genera17 18

Ebd., S. 61–76. Činátl, Kamil: Dějiny a vyprávění. Palackého dějiny jako zdroj historické obraznosti národa (Edice Historické myšlení 55) Praha 2011, S. 83–111.

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tion zu Generation weitergegebenen nationalen Gründungsmythos zu erfüllen begann, was sich schließlich im Jahr 1918 und letztendlich auch 1945 in vollem Maße bestätigt hat.

II. Palackýs Auffassung von der tschechischen Vergangenheit ist im Grunde genommen die eines Verteidigers, denn Eingriffe von außen haben sich seinem Dafürhalten nach immer gegen die Interessen und Bedürfnisse der kleinen tschechischen Nation gewandt. Dafür hat er eine Unzahl Beispiele zusammengetragen, und obwohl er das herzogliche Böhmen nicht besonders beachtet hat, fand er in Friedrich Barbarossa ein dankbares Objekt; dieser habe seine wahren Absichten lange verheimlicht und sich erst 1182 in Regensburg zu einer offenen und noch schamloseren Einmischung in die tschechischen Verfassungsordnungen entschlossen, als er Konrad Otto die neue, von ihm selbst rechtswidrig erhobene Markgrafschaft Mähren als Reichslehen verlieh.19 Lehrreich dabei ist ein Blick in den Anmerkungsapparat, der sich einerseits auf das Zeugnis des Mühlhausener Abtes Gerlach beruft, in dem František Palacký einen kaisertreuen, d.h. äußerst voreingenommenen Parteigänger sah, und andererseits auf die Analyse von Gelasius Dobner.20 Gelasius Dobner (1719–1790), der wegen seiner Bildung berühmte Rektor des Piaristenkollegs bei St. Katharina in Prag, war eher zufällig an Friedrich Barbarossa und an die Erhebung Mährens zum angeblichen Reichslehen und zur Markgrafschaft geraten. Als anerkannter Quellenkenner und Quellenkritiker hatte man ihn darum gebeten, den Kommentar zur lateinischen Übersetzung der von Václav Hájek von Libotschan (Wenzeslaus Hagacius) verfassten Chronik („Kronika Česká“) zu ergänzen. Hájeks Chronik war zwar bereits 1541 im Druck erschienen, wurde jedoch noch Mitte des 18. Jahrhunderts als unerreichtes Vorbild angesehen. Gelasius Dobner machte von dem Angebot Gebrauch, begann aber, nachdem er festgestellt hatte, dass die Übersetzung unverständliche Stellen und schwerwiegende Fehler enthielt, mit Erlaubnis des Provinzials 19 Palacký: Dějiny národu českého I (wie Anm. 9), S. 264 f. 20 Palacký, František: Dějiny národu českého v Čechách a v Moravě. Dle původních pramenův. Díl VI. Poznámky k dílu I–V., Praha 4. Aufl. 1896, S. 76, Anm. 69 und 70.

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damit, an einem kritischen Kommentar zu arbeiten. Im Jahr 1761 veröffentlichte er seine Hauptthesen und sah sich in den darauffolgenden Jahren mit den Vorwürfen der konservativ gesinnten Gelehrten konfrontiert, die es störte, dass er damit zugleich auch die althergebrachten Rechte Böhmens anzweifelte. Der Streit um Hájeks Glaubwürdigkeit wurde auch im Ausland ausgetragen, wo Fürst Josef Alexander Jabłonowski (1711–1777) gegen Dobner Stellung bezog. Der in Leipzig lebende Mäzen und polnische Patriot empörte sich darüber, dass Gelasius Dobner den polnischen Urvater Lech in Zweifel zog, und während der Angegriffene sich mit einem Verweis auf die Freiheit der wissenschaftlichen Erkenntnis verteidigte und weitere Beweise zusammenzutragen begann, fand Jabłonowski Verbündete in Böhmen, wo er den Ordenshistoriographen der böhmischen Jesuitenprovinz Franz Pubička (1722–1807) für seine Sache gewann.21 Das war die Geburt des ersten wissenschaftlichen Streits in der tschechischen kritischen Geschichtsschreibung, bei dem es nicht nur um die Polemik zweier Persönlichkeiten ging, sondern um ein Aufeinanderprallen verschiedener Welten. Gelasius Dobner verteidigte die Grundsätze einer unvoreingenommenen Kritik, vor der die Tradition in den Hintergrund treten müsse, da es allein so möglich sei, die Geschichte des Vaterlandes wahrheitsgetreu darzulegen und damit nachhaltig seinen Ruhm zu mehren. Deshalb setzte er die begonnene Kritik fort, und jeder seiner weiteren, zwischen 1765 und 1786 erschienenen Bände zur Glaubwürdigkeit von Hájeks Chronik wurde Gegenstand leidenschaftlicher Debatten. Die zunächst fachlich geführte Kontroverse wuchs sich mit der Zeit zu einer widerwärtigen Schlammschlacht aus, und vor allem Dobners deutsche Herkunft gab manch einem Anlass zu boshaften Zweifelsbekundungen, ob er nicht einen Natio­ nalverrat beging. Gleichzeitig bekannte sich ein breiter Freundeskreis zu Dobner, dessen zweiter Band seiner sich mit dem Mojmiriden-Reich beschäftigenden Kritik sogleich eine starke Wirkung auf das mährische Publikum ausübte.22

21 Kudělka, Milan: Spor Gelasia Dobnera o Hájkovu kroniku (Rozpravy ČSAV, řada společenských věd 74.11) Praha 1964. 22 Wenceslai Hagek a Liboczan: Annales Bohemorum e Bohemica editione latine redditi, et quibusdam notis illustrati a P. Victorino a S. Cruce e scholis piis nunc plurimis animadversionibus historico-chronologico-criticis, nec non diplomatibus, re genealogica, numaria, variique generis antiquis aeri incisis, monumentis aucti a P. Gelasio a S. Catharina ejusdem instituti sacerdote pars III. quae Bohemiae historiam ab anno DCCCLII usque ad annum DCCCCXXXVI. complectitur, Pragae 1765.

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Zu Dobners Freunden zählte sich der Braunauer Bibliothekar, Archivar und schließlich Raigerner Propst Josef Bonaventura Piter (1708–1764), der selbst eine Edition der Chroniken und ein Verzeichnis der Urkunden mährischer Klöster vorbereitete. Aufmerksame Zuhörer fand Gelasius Dobner in den jüngeren Kremsierer Piaristen Adolf Pilař (1742–1795) und Franz Moravec (1734–1814), aus deren Zusammenarbeit eine materialmäßig umfangreiche Abhandlung über die mährische Politik- und Kirchengeschichte hervorging.23 Gerade diese Gelehrten machten keinen Hehl aus ihrer Bewunderung für Dobners kritische Methode und ordneten die Landesvergangenheit übersichtlich entlang der Zeitachse in Perioden, wobei sie das von Dobner vorgeschlagene Jahr 1182 und die Umwandlung Mährens zur unmittelbaren Markgrafschaft und zum Reichslehen als zentrale historische Zäsur befürworteten. Als nicht ganz glücklich erwies sich die parallel dazu geführte Auslegung der politischen, kirchlichen und kulturellen Verhältnisse. Auch die Sprache der Schrift richtete sich im Grunde genommen ausschließlich an ein gebildeteres Publikum. In Latein verfasst, war sie ursprünglich für die Schüler der Piaristengymnasien bestimmt.24 Der schwache öffentliche Einfluss der mährischen Aufklärer war durch die gesellschaftlichen und kulturellen Voraussetzungen gegeben. Mähren fehlte im Gegensatz zu Böhmen ein kulturelles und politisches Zentrum, und im Jahr 1777 wandelte sich auch Olmütz nach der Investitur des Olmützer Erzbischofs Anton Theodor Colloredo-Waldsee zu einer Bastion konservativen Gedankenguts.25 Kritische Forschung kultivierte man deshalb hinter den Klostermauern, teilweise auch im Universitätsseminar, dessen Ruf jedoch eher abnahm und das zwischen 1778 und 1782 noch dazu nach Brünn umzog. Der mährischen Aufklärung ermangelte es gleichzeitig eines klaren Programms, denn alles in allem wusste niemand, welche Geschichte man nun schreiben solle. Ob die Geschichte des Landes, des Vaterlandes also, oder die der Nation, und falls die der Nation, ob man die Einheit der Böhmen und Mährer in Erinnerung bringen solle.26 23 Moraviae historia politica et ecclesiatica cum notis et animadversionibus criticis probatorum auctorum, quam compendio retulerunt Adoplphus Pilarz a S. Floro, et Franciscus Moravetz a S. Antonio, clerici regulares e scholis piis Cremsirii Moravorum. Pars prima, Brunnae MDCCLXXXV. 24 Wihoda, Martin: Morava v době knížecí 906–1197 (Edice Česká historie 21) Praha 2010, hier S. 23 f. 25 Kroupa, Jiří: Alchymie štěstí. Pozdní osvícenství a moravská společnost 1770–1810, Brno 2. Aufl. 2006, S. 34 f. 26 Mezník, Jaroslav: Dějiny národu českého v Moravě. Nárys vývoje národního vědomí na

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So entstanden die entscheidenden Arbeiten außerhalb Mährens, besonders in Prag. Die mährische Bildungsschicht blickte zu Prag empor, ihre Gefühle schwankten dabei aber zwischen Bewunderung, wohlgesonnener Nachsicht und Unverständnis. Vor allem wussten sich die Angehörigen der mährischen Bildungsschicht keinen Rat in Bezug auf den böhmischen Patriotismus, den sie in ihrer privaten Korrespondenz als überzogen erklärten; auch verdächtigten sie ihre böhmischen Mitstreiter, den guten Namen Mährens systematisch geringzuschätzen. Der Raigerner Prior Alex Habrich († 1794) erkannte Dobners Verdienste an, machte aber den Olmützer Professor Josef Vratislav Monse am 22. November 1779 darauf aufmerksam, dass er alle von Dobner herausgegebenen Urkunden aus der Raigerner Sammlung und obendrein noch fünf- bis sechsmal so viele andere und wichtigere kenne. Im Mai des darauffolgenden Jahres beschwerte sich Habrich über Pelzels Biographie Karls IV. mit den Worten, jeder Fuchs lobe seinen Schwanz, am meisten jedoch der böhmische.27 Josef Vratislav Monse stimmte vorsichtig zu, erklärte indes beide – Karl IV. und Franz Martin Pelzel – mit dem vielsagenden Nachsatz Bohemus descripsit vitam Bohemi, uterque laudandus, sed uterque Bohemus28 zu aufrechten Patrioten. Wesentlich dreister äußerte sich Josef Valentin Zlobický (1743–1810), der als Professor an der Wiener Universität Tschechisch unterrichtete.29 Er stellte die mährische Direktheit und Abscheu vor Schmeicheleien über die „bekannte böhmische Falschheit“ und bat den „hochgeschätzten und hochgebildeten“ Patrioten Habrich am 22. Januar 1781 im Geiste der mährischen Freundschaft darum, seine Bedenken beiseite zu schieben und seine weitere Korrespondenz schön nach mährischer Gepflogenheit ohne kuriale Marotten und Komplimente zu führen.30 Eine Reihe von Landespatrioten wurde sich der Schwäche der mährischen kritischen Geschichtsschreibung bewusst, die im Streit mit den ungarischen Aufklärern voll und ganz zum Ausdruck kam. Dabei ging es um nichts weniger Moravě do poloviny 19. století, in: Český časopis historický 88 (1990), S. 34–61, hier S. 51–55. 27 Moravský zemský archiv Brno (MZA), Fonds G 11, Inv. Nr. 921, Sign. 804. 28 MZA, Fonds E 6, Inv. Nr. 1464, Sign. Ce 8. 29 Vintr, Josef/Pleskalová, Jana (Hg.): Vídeňský podíl na počátcích českého národního obrození. J. V. Zlobický (1743–1810) a současníci: život, korespondence, dílo/Wiener Anteil an den Anfängen der tschechischen nationalen Erneuerung. J. V. Zlobický (1743–1810) und Zeitgenossen: Leben, Werk und Korrespondenz, Praha 2002. 30 MZA, Fonds E 6, Inv. Nr. 1465, Sign. Ce 9/3.

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als um das kirchliche und politische Erbe des Mojmiriden-Reiches, das Stephan Salagius (Szalagy) zum souveränen Bestandteil der ungarischen Vergangenheit erklärte. Darauf veröffentlichte Gelasius Dobner eine überzeugende Antwort, was er seinen eigenen Worten nach auf Aufforderung aus Mähren tat.31 Er wies nach, dass sich die Markgrafschaft mit Altmähren decke und dass der Ruhm der mährischen Kirche nicht den Ungarn, sondern den Mährern gebühre, um abschließend hervorzuheben, dass die mährischen Großfürsten die benachbarten Slawen, einschließlich der Böhmen, beschützt hätten.32 Ein außerordentlich festes Verhältnis verband Dobner mit dem Professor für Staatsrecht an der Olmützer Universität Josef Vratislav Monse (1733–1793), der 1780 in den Adelsstand erhoben wurde33 und in Olmütz Dobners ergänzte und präzisierte Abhandlung über die Anfänge der Markgrafschaft Mähren drucken ließ, in welcher erstmals offen zu lesen war, dass die Markgrafschaft von Friedrich Barbarossa errichtet worden sei, und zwar 1182 in Regensburg.34 Dieser tragende Gedanke basierte auf der Mühlhausener Chronik, laut welcher Friedrich Barbarossa klug einen Krieg und Umsturz verhinderte, als er auf dem Hoftag in Regensburg Böhmen an Herzog Friedrich zurückgab, während er Konrad Otto hieß, sich mit Mähren zufriedenzugeben (Sic sapiens imperator sapienter repressit et isti quidem Boemiam reddedit, illum vero Morauia contentum esse precepit).35 So sei das Land zur Markgrafschaft und zum unmittelbaren Reichslehen geworden,36 was die zitierte Chronik freilich weder ausdrücklich besagt noch andeutet; Konrad Otto wird aber an anderer Stelle in derselben Chronik der Titel eines Markgrafen zuerkannt; außerdem heißt es, Herzog Friedrich sei im Jahr 1185 über Konrad Otto erbost gewesen, zum einen wegen der alten Kränkung, dass dieser drei Jahre zuvor versucht hatte, ihn vom Prager Thron zu 31 MZA, Fonds G 11, Inv. Nr. 921, Sign. 804. 32 Dobner, Gelasius: Kritische Abhandlung von den Gränzen Altmährens, oder des grossen mährischen Reichs im neunten Jahrhundert. Gegen einige dem Ruhm des heutigen Markgraf­ thums Mähren nachtheilige Sätze des Herren Stephans Salagius, eines neuen ungarischen Schriftstellers, Prag 2. Aufl. 1793. 33 Fiala, Jiří/Nováková, Martina: Moravský osvícenec J. V. Monse (1733–1793), Olomouc 2003, hier S. 7–35. 34 Dobner, Gelasius: Kritische Untersuchung, wann das Land Mähren ein Markgrafthum geworden, und wer dessen erster Markgraf gewesen sey?, Olmütz 2. Aufl. 1781, S. 29–34 und 53–56. 35 Chronographus Siloensis, ed. Gelasius Dobner (Monumenta Historica Boemiae I) Pragae 1764, S. 98 f. 36 Dobner: Kritische Untersuchung (wie Anm. 34), S. 52.

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verjagen, zum anderen wegen der Entäußerung Mährens, das er aus der Hand des Kaisers zu erhalten sich gewünscht hatte (pro antiqua iniuria, qua eum ante tres annos regno pellere tentaverat, tum etiam pro alienatione Moraviae, quam non ab eo, sed de manu imperatoris tenere gestiebat).37 Aufgrund dieser Quellenaussagen kam Gelasius Dobner zu dem natürlichen Schluss, dass jene Entäußerung Mährens (pro alienatione Moraviae) von 1185 einzig als Erhebung Mährens zur Reichsmarkgrafschaft im Jahre 1182 Sinn ergebe.38 Beide vorbildlich analysierten Erwähnungen verliehen Dobners Abhandlung den Stempel der Glaubwürdigkeit. Freilich wurde die scheinbar logische Kette sich einander stützender Beweise ohne die Kenntnis der Zeugenliste einer Urkunde Barbarossas vom 1. Juli 1179 zusammengefügt, in welcher ein gewisser Přemysl mit dem Titel eines mährischen Markgrafen aufgeführt wird (Primezla margravius de Morauia).39 An dieser Stelle sei erwähnt, dass der Inhalt des Privilegs erst lange nach Dobners Tod bekannt wurde. Das Schriftstück hatte eigentlich erst Julius Ficker im Jahre 1861 eingehender beschäftigt, der einräumte, es könne sich dabei um einen untergebenen Beamten gehandelt haben, der möglicherweise entweder zum böhmischen Herzog oder zum Kaiser in irgendeiner Beziehung stand.40 Die wertvolle Beobachtung wurde von dem Professor der Wiener Theresianischen Akademie Wenzel Johann Koutný weiter ausgeführt, der eine Beziehung des Markgrafen zum Prager Hof erkannte, Přemysls Zugehörigkeit zur Herrscherdynastie indes ausschloss.41 Přemysls herzogliche Herkunft wurde von dem mährischen Landeshistoriographen Beda Dudík (1819–1890) hingegen nicht angezweifelt, der im Einklang mit Dobners Schlussfolgerung und Palackýs Geschichte die Auffassung vertrat, dass Přemysl den Rang von Kaiser Friedrich Barbarossa verliehen bekam, der dadurch den ersten Schritt zur Spaltung des

37 Chronographus Siloensis (wie Anm. 35), S. 119. 38 Dobner: Kritische Untersuchung (wie Anm. 34), S. 45 f. 39 Die Urkunden Friedrichs I., hg. von Heinrich Appelt (MGH Diplomata regum et imperatorum Germaniae 10, 3) Hannover 1985, S. 341–343, Nr. 782. 40 Ficker, Julius: Vom Reichsfürstenstande. Forschungen zur Geschichte der Reichsverfassung zunächst im XII. und XIII. Jahrhundert I, Innsbruck 1932 (Nachdruck der ersten Auflage 1861), S. 107. 41 Koutný, Wenzel, Johann: Der Přemysliden Thronkämpfe und Genesis der Markgrafschaft Mähren. Eine wissenschaftliche Abhandlung als Beitrag zur Erforschung vaterländischer Geschichte (Jahres-Bericht über das Gymnasium der k. k. Theresianischen Akademie in Wien für das Schuljahr 1876/77) Wien 1877, S. 70.

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Přemyslidenstaates unternommen habe.42 Entgegen allen Unklarheiten musste für alle Beteiligten vom ersten Augenblick an offensichtlich gewesen sein, dass die kaiserliche Urkunde von 1179 zumindest Zweifel aufkommen lässt, dass die Markgrafschaft Mähren von Friedrich Barbarossa errichtet worden war. Vor allem aber hat sich dies alles noch zu František Palackýs Lebzeiten zugetragen, der somit direkter Zeuge der Bemühungen wurde, den mährischen Markgrafen von 1179 mit der Vorstellung in Einklang zu bringen, dass Mähren im Jahr 1182 zum direkten Reichslehen erhoben worden sei. Trotzdem hat er nichts unternommen, und so wurde die Entstehung der Markgrafschaft zu einem fast obligatorischen Bestandteil aller staatsrechtlichen Schriften und Polemiken43, die sich dann jedoch nicht mehr gegenüber der Aussage der Quellen, sondern gegenüber Palackýs Geschichte abgrenzten. Dies war freilich nicht immer der Fall. So haben die Historiker etwa noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehr oder weniger einhellig Fickers Auslegung akzeptiert, der es als selbstverständlich ansah, dass die Länder Böhmens ein vollberechtigter Bestandteil des mittelalterlichen römisch-deutschen Reiches waren. Ohne größere Vorbehalte wurden Fickers Standpunkte von dem einflussreichen österreichischen Rechtshistoriker Herbert Pernice (1832–1875) vertreten,44 dem Josef Malota eine Generation später von tschechischer Seite her Schützenhilfe leistete, indem er die enge Beziehung zwischen Böhmen und Mähren besonders hervorhob.45 Die zunehmende Unruhe und die zwischen Tschechen und Deutschen herrschenden Nationalstreitigkeiten hatten nach 1900 jedoch die Anwendung bisher nie dagewesener Mittel zur Folge. Auf traurige Weise machte sich der Österreicher Alfred Fischel (1853–1926) mit groben Ausfällen einen Namen, als er am Vorabend des Ersten Weltkriegs die Argumente vorbrachte, dass die deutschen Herrscher, römische Könige und Kaiser, während des ganzen Mittelalters auf der direkten Unterordnung der böhmischen Herzöge bestanden hätten und dass die Markgrafschaft Mähren nicht ohne deren Wis42 Dudík, Beda: Mährens allgemeine Geschichte IV. Band. Vom Jahre 1173 bis zum Jahre 1197, Brünn 1865, S. 43. 43 Erstmals enthalten in Brandl, Vincenc: Poměry markrabství moravského ku koruně české, in: Právník 9 (1870), S. 289–311, S. 326–343. 44 Pernice, Herbert: Die Verfassungsrechte der im Reichsrathe vertretenen Königreiche und Länder der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Rechtshistorische Beiträge I, Halle 1872, S. 29–77. 45 Malota, Josef: Vývoj státoprávního poměru Moravy k Čechám, Brno 1910, S. 69–107.

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sen oder gegen deren Willen hätte entstehen können.46 Die rabiaten Aktualisierungen und die offenkundige Verachtung alles Tschechischen riefen eine solche Empörung hervor, dass sich die tschechischen Rechtshistoriker Antonín Polák47 und Jan Kapras48 zu einer Antwort genötigt fühlten. Kurz hintereinander haben sich dann die deutschen Rechtshistoriker Arnold Köster49 und Otto Peterka50 der tschechischen Kritik angeschlossen. Eine langandauernde Zurückhaltung hat die tschechische Rechtslehre walten lassen, die sich zu Václav Vladivoj Tomeks (1818–1905)51 gemäßigtem Patriotismus bekannte. Ein nationales Emanzipationsprogramm wurde erst von Josef Kalousek (1838–1915) angesprochen, der mithilfe der polemischen, nach der Schlacht am Weißen Berg 1620 entstandenen Schrift von Pavel Stránský „Respublica Bohemiae“52 die vom Reich in die inneren tschechischen Verhältnisse getätigten Eingriffe kritisierte und die Argumente vorbrachte, dass der tschechische Staat spätestens zu Beginn des 13. Jahrhunderts im deutschen Reich eine „fast vollständige“ Selbständigkeit erlangt habe und der böhmische König nur deshalb ein Reichsvasall geblieben sei, um die Stimme eines Kurfürsten und die Güter hinter den Landesgrenzen zu behalten.53 Dabei hatte er völlig übersehen, dass Pavel Stránský im holländischen Exil versuchte, die Interessen der protestantischen böhmischen Stände zu verteidigen (von daher auch der Name seines Werks), die von der von den Habsburgern gelenkten katholischen Partei besiegt 46 Fischel, Alfred: Mährens staatsrechtliches Verhältnis zum Deutschen Reiche und zu Böhmen im Mittelalter. Studien zur Österreichischen Reichsgeschichte, Wien 1906, S. 1–135, hier S. 42–56. 47 Polák, Antonín: Jaký byl státoprávní poměr Moravy k říši Německé a ke království Českému?, in: Časopis Matice moravské 31 (1907), S. 298–313. 48 Kapras, Jan: Státoprávní poměr Moravy k říši Německé a ke koruně České ve středověku, in: Časopis Českého musea 81 (1907), S. 400–423. 49 Köster, Arnold: Die staatlichen Beziehungen der böhmischen Herzöge und Könige zu den deutschen Kaisern von Otto dem Grossen bis Ottokar II. (Untersuchungen zur Deutschen Staats- und Rechtsgeschichte 114) Breslau 1912, S. 33–48. 50 Peterka, Otto: Rechtsgeschichte der böhmischen Länder in ihren Grundzügen dargestellt. I. Geschichte des öffentlichen Rechtes und die Rechtsquellen in vorhussitischer Zeit, Reichenberg 1923, S. 24–28, 100–102 und 124. 51 Tomek, Václav Vladivoj: O právním poměru Čech k někdejší říši německé. I. Od Karla Velikého až do bitvy u Chlumce r. 1126, in: Časopis Českého Musea 31 (1857), S. 350–374; Ders.: O právním poměru Čech k někdejší říši německé. II. Od bitvy u Chlumce až do zlaté bully císaře Karla IV., in: Časopis Českého Musea 31 (1857), S. 484–516. 52 Respublica Bohemiae a M. Paulo Stranski descripta, Lugduni Batavorum 1634. 53 Kalousek, Josef: České státní právo, Praha 2. Aufl. 1892, S. 3–22.

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worden waren, und da der siegreiche Ferdinand II. gleichzeitig auch Kaiser war, musste Stránský das Verhältnis der böhmischen Ständegemeinde zum römischdeutschen Reich anzweifeln. Eine versöhnliche Haltung zur Reichsdimension der Geschichte Böhmens hatte František Vavřínek (1877–1944) eingenommen, der an den eher immer mehr nachlassenden Einfluss des Reiches am Geschehen im eigenen Land erinnerte.54 Eine damit einhergehende Vorstellung verteidigte in der Zwischenkriegszeit Rudolf Wierer, der die Auffassung vertrat, dass die böhmischen Herrscher bestrebt gewesen seien, die innere Einheit der böhmischen Länder mit dem Ziel zu gewährleisten, ihre Stellung im Rahmen des Reiches zu festigen.55 Eine Lehnsbindung des Prager Hofes zum Reich wurde auch von Jan Kapras (1880–1947) nicht bestritten, dessen Auslegung in vielem die staatsrechtlichen Schlussfolgerungen Otto Peterkas (1876–1945) zitierte und von dem unter anderem die These entwickelt wurde, dass die böhmischen Herzöge die aus dem Lehnseid hervorgehenden Verpflichtungen anerkannt hätten, ohne die eigenen Interessen und Rechte auf heimischem Boden und in dichter Nachbarschaft zum Reich aufgegeben zu haben.56 Die kultivierte Stimme öffentlich anerkannter Persönlichkeiten verhinderte jedoch leider nicht, dass das Meinungsfeld entlang des nationalen Gegensatzes entzwei brach. In den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts folgte dann der tragische Zerfall der alten Welt, allerdings nicht der Untergang der eigentümlich geprägten Gemeinschaft der Sudetendeutschen, die nicht aufhörten, sich zu ausgewählten Kapiteln der eigenen Vergangenheit zu bekennen und unabhängig von oder aufgrund einer nur oberflächlichen Kenntnis der tschechischen Fachliteratur ihre eigene Interpretation der böhmischen Geschichte vorzulegen.57 Eine systematischere Untersuchung wurde jedoch lediglich von Wilhelm Wegener (1911–2004) durchgeführt, der die Länder Böhmens als untrennbaren Bestandteil des römisch-deutschen Reiches verstand, wobei er Mähren als besonderes Besitztum der Přemysliden bezeichnete, das Kaiser Fried54 Vavřínek, František: O státoprávním poměru zemí českých ku staré říši německé, in: Sborník věd právních a státních 4 (1904), S. 87–106. 55 Wierer, Rudolf: Poměr Moravy k říši římsko-německé (Publikace ze seminářů Právnické fakulty Masarykovy univerzity v Brně 1) Brno 1928, S. 15–25. 56 Kapras, Jan: Přehled právních dějin zemí české koruny. Díl první a druhý. Právní prameny a dějiny státního zřízení do roku 1848, Praha 4. Aufl. 1930, S. 39–47. 57 Seibt, Ferdinand: Der Nationalitätenkampf im Spiegel der sudetendeutschen Geschichtsschreibung, in: Stifter Jahrbuch 6 (1959), S. 18–38.

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rich Barbarossa im Jahre 1182 zur Markgrafschaft erhoben und den Markgrafen zum Reichsfürsten gemacht habe.58 Das Gewicht seiner dargelegten Schlussfolgerungen minderte er jedoch selbst mit der Bemerkung, dass er die tschechische Sprache nicht beherrsche und sich die erforderliche Literatur habe übersetzen lassen müssen,59 was von Zdeněk Fiala (1922–1975)60 unmittelbar darauf entsprechend genüsslich kritisiert wurde. Die völlige Abhängigkeit der böhmischen Herzöge, Könige und mährischen Markgrafen vom mittelalterlichen Reich wurde nicht einmal von Theodor Mayer (1883–1972)61 angezweifelt, und im Grunde genommen nicht anders hat Friedrich Prinz (1928–2003) die tschechischdeutsche Gemeinschaft beurteilt. Er bestritt zwar nicht den Aufstieg der böhmischen Länder, bedauerte aber, dass dies zu Lasten des Reiches erfolgt sei,62 obgleich er den Lehnseid des mährischen Markgrafen Konrad Otto auch lobend erwähnte.63 Umsichtiger äußerte sich Prinz’ Nachfolger Karl Richter, als er die Idee einer gewissen inneren Unabhängigkeit der přemyslidischen Besitztümer entwickelte.64 Gut ausgetretene Pfade der traditionellen Ansichten wurden auch von Jörg Hoensch (1935–2001)65 beschritten, und so hat wohl nur Ferdinand Seibt (1927–2003) mehr Verständnis für die tschechischen Argumente aufgebracht.66 In der deutschen Mediävistik liegt das přemyslidische Mittelalter heute am Rande des Interesses, und es ist keine Ausnahme, dass bohemikale Arbeiten die 58 Wegener, Wilhelm: Böhmen/Mähren und das Reich im Hochmittelalter. Untersuchungen zur staatsrechtlichen Stellung Böhmens und Mährens im Deutschen Reich des Mittelalters 919–1253, Köln/Graz 1959, S. 183–199. 59 Ebd., S. VIII–IX. 60 Fiala, Zdeněk: Revanšistická kniha o poměru českého státu k středověké říši, in: Československý časopis historický 8 (1960), S. 176–185. 61 Mayer, Theodor: Böhmen und Europa, in: Bohemia 1 (1960), S. 9–21. 62 Prinz, Friedrich: Die Stellung Böhmens im mittelalterlichen deutschen Reich, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 28 (1965), S. 99–113. 63 Prinz, Friedrich: Böhmen im mittelalterlichen Europa. Frühzeit, Hochmittelalter, Kolonisationsepoche, München 1984, S. 113–124. 64 Richter, Karl: Die böhmischen Länder im Früh- und Hochmittelalter, in: Handbuch der Geschichte der böhmischen Länder, hg. im Auftrag des Collegium Carolinum von Karl Bosl, I. Die böhmischen Länder von der archaischen Zeit bis zum Ausgang der hussitischen Revolution, Stuttgart 1967, S. 207–305. 65 Hoensch, Jörg K.: Geschichte Böhmens. Von der slavischen Landnahme bis ins 20. Jahrhundert, München 1987. 66 Seibt, Ferdinand: Deutschland und die Tschechen. Geschichte einer Nachbarschaft in der Mitte Europas, München/Zürich 1993, S. 89–103.

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herrschenden Paradigmen der tschechischen Geschichtsschreibung anstandslos übernehmen oder sich unsystematisch auf Übersetzungen verlassen. Eine Meinungsarmut verzeichnet auch die heimische Produktion, da die meisten tschechischen Beiträge auf tschechischem Boden und in tschechischer Sprache veröffentlicht wurden. So hat sich der durch die Sprache verschlossene Raum zu einem uninteressanten Winkel gewandelt, in dem der böhmische/tschechische Staat wiederholt eine völlige oder fast vollständige Unabhängigkeit vom deutschen Reich erworben hat. Nicht etwa, dass ähnliche Auswüchse nicht schon im 19. Jahrhundert vorgekommen wären, jedoch ist vor 1938 kaum vorstellbar, dass ein ordentlicher Universitätsprofessor fachlich herabgekommene Spekulationen über den Größenwahn der deutschen Könige und ihr Bestreben, den Přemysliden falsche Verpflichtungen abzunötigen, so durcheinander bringen würde, wie dies nach dem Krieg der Ordinarius der Juristischen Fakultät der Brünner Masaryk-Universität František Kop (1906–1979) getan hat.67 Damit war er übrigens bei weitem nicht allein, und zumindest in puncto Bissigkeit kam ihm Václav Vaněček (1905–1985) nahe, als er die angebliche Abhängigkeit des tschechischen Staates vom deutschen Reich leugnete und die Ereignisse des Jahres 1182 zu einem Akt bloßer Gewalt erklärte.68 In einem anständigeren Ton, nichtsdestoweniger in gleichem Geiste, hat sich Jaroslav Dřímal (1905–1975)69 geäußert; auch von dem hervorragenden Rechtshistoriker František Čáda (1895– 1975)70 wurde Kaiser Barbarossas Eingriff nicht angezweifelt, und Ende der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts hat Zdeněk Fiala71 noch in einem groben Wortschatz Zuflucht gesucht, dessen Schlussfolgerungen von Hartmut Hoffmann in einer Art Verteidigung der Reichsdimension der Geschichte Böhmens überzeugend zurückgewiesen wurden.72 Da hatte sich die Debatte über das Verhältnis Böhmens und Mährens zum römisch-deutschen Reich jedoch bereits in ruhigere Gewässer zu verlagern begonnen, obgleich das Jahr 1182 und der 67 Kop, František: Odvěký doklad naší státní svrchovanosti. K začátkům českého práva korunovacího, Praha 1947, S. 13–19. 68 Vaněček, Václav: Stát Přemyslovců a středověká říše, Praha 1945. 69 Dřímal, Jaroslav: Morava ve vnitřní politice českého státu, in: Morava v českém státě, Brno 1948, S. 41–57, hier S. 45. 70 Čáda, František: Právní postavení Moravy v českém státě, in: Morava v českém státě, Brno 1948, S. 83–94, hier S. 85. 71 Fiala: Vztah českého státu k německé říši (wie Anm. 2), S. 23–89. 72 Hoffmann, Hartmut: Böhmen und das Deutsche Reich im hohen Mittelalter, in: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 18 (1969), S. 1–62.

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Reichsstatus der Markgrafschaft Mähren im historischen Denken eine Konstante geblieben waren.73 Traditionelle Überlegungen über ein gewaltsames Entreißen Mährens aus dem böhmischen Staatenbund wurden trefflich auch von Eva Barborová (1942–2010) angestellt.74 Nichtsdestoweniger hat der sachliche Ton ihres Beitrags auf die Unhaltbarkeit der bestehenden Vorstellungen hingewiesen und unauffällig den Weg dazu geebnet, die Aussage der schriftlichen Quellen unvoreingenommen zu betrachten. Auf Angemessenheit hat besonders Jiří Kejř (1921–2015) gesetzt, der anhand einer sorgfältigen Analyse der um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert herrschenden mährischen Verhältnisse nachgewiesen hat, dass jegliche Spekulationen über eine unmittelbare Unterordnung Mährens unter das Reich auf falschen Voraussetzungen basieren und dass der Ursprung der Markgrafenwürde und der Markgrafschaft Mähren auf heimischem Boden zu suchen ist, höchstwahrscheinlich im Umkreis des Prager Hofes.75 Seine nüchtern stilisierten Beobachtungen wurden auch nicht durch die Eingangswidmung beeinflusst, in welcher er Václav Vaněčeks Vermächtnis Respekt zollte, obgleich ihm dem Inhalt der einschlägigen Bemerkungen nach bewusst gewesen sein musste, dass der von ihm gepriesene Historiker die Debatte über das Verhältnis der böhmischen Länder zum Reich mit nicht gerade zurückhaltenden Angriffen und einem ostentativ erklärten Hass auf alles Deutsche wie mit Unkraut übersäte.76

III. Jiří Kejř hat zwar in Einzelanalysen und auch in zusammenfasssenden Schlussfolgerungen widerlegt, dass Barbarossa Mähren zum Reichslehen und zur Markgrafschaft erhob. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass die ansonsten verdienstvolle Korrektur des einen Irrtums, der Ende des 18.  Jahrhunderts Gelasius

73 Havlík, Lubomír E.: O Moravě v českém státě, in: Vlastivědný věstník moravský 20 (1968), S. 187–208, hier S. 190. 74 Barborová, Eva: Postavení Moravy v českém státě v době předhusitské (1182–1411), in: Sborník archivních prací 20 (1970), S. 309–362. 75 Kejř, Jiří: O tzv. bezprostřední podřízenosti Moravy říši, in: Sborník archivních prací 28 (1978), S. 233–285. 76 Ebd., S. 233.

Friedrich Barbarossa und die böhmische Staatlichkeit

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Dobner gutgläubig unterlaufen war,77 noch nicht bedeutete, dass sich die Betrachtungsweise der tschechischen Historiker bezüglich des Kaisers selbst in er­wähnenswerter Weise geändert hätte. Friedrich Barbarossa blieb und bleibt für den tschechischen Leser auch weiterhin ein gefährlicher Ränkeschmied, der sich der „objektiven Stärke des Přemyslidenstaates“, an die kein anderer Gebietskomplex in Deutschland heranreichen konnte, angeblich bewusst gewesen sei und deshalb Vorwände gesucht habe, die Gebietseinheit und Machtüberlegenheit des herzoglichen Böhmen zu zerstören.78 Dem nahekommende, wenn nicht gar die gleichen Vorstellungen tauchen jedoch bereits bei František Palacký auf, was bestätigt, dass die tschechische Mediävistik auch weiterhin von dem um das Jahr 1850 aufgekommenen Narrativ Gebrauch macht. Man muss hinzufügen, dass dies eher unwillkürlich als bewusst geschieht, da Palackýs „Geschichte der tschechischen Nation in Böhmen und Mähren“ in den Literaturverzeichnissen in der Regel nicht aufgeführt wird. Bis wohin die unbewusste Rezeption der nationalen Wiedergeburtsideen reicht, wird mit unbeabsichtigtem Zauber durch Jiří Kejřs im Übrigen ungewöhnlich verdienstvollen Studien belegt. Gerade die starken, von Generation zu Generation weitergegebenen, gedanklichen Stereotypen brachten ihn höchstwahrscheinlich dazu, nachweisen zu wollen, dass Friedrich Barbarossa den böhmischen Fürsten Vladislav II. mit einem erblichen Königstitel und einer vollwertigen Krone beschenkte,79 obgleich das kaiserliche Privileg vom 18. Januar 1185 eindeutig und strikt zwischen dem verliehenen Stirnreif (circulus) und einer regulären Krone (diadema) unterschied.80 Anschauungsmäßig aus der gleichen Ecke ging wohl die Beweiskette hervor, welche belegen sollte, dass Friedrich Barbarossa den Prager Bischof im Jahr 1187 zum Reichsfürsten erhob, um so ein weiteres Instrument für Eingriffe in Böhmen zu bekommen, da Jiří Kejř in seinen Überlegungen die einfache Tatsache umging, dass der böhmische Fürst den Bischof als seinen persönlichen Kaplan betrachtete und über dessen Besitztümer und Untergebene so verfügte, als ob sie zur fürstlichen Kammer gehören würden.81 Einzig und allein aus diesem Grund erbat sich Bischof 77 Wihoda, Martin: Vznik moravského markrabství, in: Český časopis historický 97 (1999), S. 453–473. 78 Žemlička, Josef: Čechy v době knížecí (1034–1198), Praha 2. Aufl. 2007, S. 313–328. 79 Kejř, Jiří: Korunovace krále Vladislava II., in: Český časopis historický 88 (1990), S. 641–659. 80 Wihoda, Martin: První česká království (Edice Česká historie 32) Praha 2015, S. 173–196. 81 Kejř, Jiří: O říšském knížectví pražského biskupa, in: Český časopis historický 89 (1991), S. 481–491.

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Heinrich Břetislav den Schutz durch Barbarossas Privileg, das ihn mit den direkten Lehnsnehmern des Kaisers in eine Reihe stellte, wodurch er sich für tschechische Historiker zu einem Dämon wandelte, der aus persönlicher Eitelkeit die allerheiligsten Interessen seines Vaterlandes in Gefahr brachte.82 Die abschließende Bilanz ist nicht weit von einer Enttäuschung entfernt. Auch nach zwei Jahrzehnten eines freien, durch nichts und niemanden eingeschränkten Meinungsaustauschs haben es die tschechischen Historiker bis auf vereinzelte und eher vorsichtige Versuche nicht vermocht, aus dem langen Schatten von Palackýs Nationalgeschichte herauszutreten und damit zu beginnen, über die Vergangenheit der böhmischen Länder andere Überlegungen anzustellen als in der Dimension „wir“ und „sie“.83 Was hat es schon für eine Bedeutung, dass es in den letzten Jahren gelungen ist, den Verlauf der Ereignisse zu präzisieren und wichtige Zusammenhänge zu erkennen, wenn die meisten Beiträge von Anfang an auf den traditionellen und vorgegebenen Schluss abzielen, dass der böhmische Staat vom römisch-deutschen Reich mehr oder weniger unabhängig gewesen sei? Die unbewusst und keineswegs mehr programmatisch übernommene national-defensive Dimension der Geschichte Böhmens brachte im öffentlichen Raum jedoch die Unsicherheit mit sich, wie man bei der Übertragung entsprechender Passagen in die terminologisch präzisere deutsche Sprache verfahren soll, ob man also das in Fülle vorkommende Adjektiv „český“ nun mit dem Begriff „tschechisch“ oder etwa doch in der Bedeutung „böhmisch“ übersetzen soll. Und so kann man sich rückblickend des Seufzers nicht erwehren, dass es im tschechischen historischen Denken im Grunde genommen zu keinem Wandel gekommen ist, denn auch zu Beginn des dritten Jahrtausends schlägt sich die tschechische Historiographie genauso mit František Palackýs Vermächtnis herum, wie sie es bereits im Jahr 1876 getan hat.

82 Novotný, Václav: České dějiny I/2. Od Břetislava I. do Přemysla I., Praha 1913, S. 1125. 83 Kejř, Jiří: Böhmen zur Zeit Friedrich Barbarossas, in: Engel, Evamaria/Töpfer, Bernhard (Hg.): Kaiser Friedrich Barbarossa. Landesausbau – Aspekte seiner Politik – Wirkung, Weimar 1994, S. 101–113.

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Kaiser und Polen Polnisch-deutsche Beziehungen in der polnischen Geschichts­ schreibung des 19. Jahrhunderts

Man kann wohl die Behauptung riskieren, dass die Person Friedrich Barbarossas in der polnischen Historiographie vor allem mit den Ereignissen in Krzyszkowo verbunden ist, während seines Kriegszugs nach Polen im Jahre 1157. Obwohl man nur schwer behaupten kann, dass diese Ereignisse Teil des Geschichtsbewusstseins der Polen geworden sind, so haben sie dennoch das Interesse polnischer Historiker geweckt. Zunächst wollen wir die wichtigsten Tatsachen des polnischen Feldzugs Barbarossas in Erinnerung bringen. Der Grund des Feldzuges war die Ablehnung von Barbarossas Forderung durch die polnischen Fürsten, ihren ältesten Bruder Władysław II., den sie im Jahre 1146 aus Polen vertrieben hatten, wieder auf den Thron zu setzen; zudem weigerten sie sich, ihm den Treueid zu leisten und den geforderten Tribut zu zahlen. Die kaiserlichen Truppen marschierten in Schlesien ein und überschritten schnell die Oder. Die polnischen Fürsten entschieden sich, Friedrich nicht in einer offenen Schlacht die Stirn zu bieten. Sie verbrannten die an der Oder liegenden Burgen Glogau (Głogów) und Beuthen (Bytom) und zogen sich ins Landesinnere zurück. Die kaiserliche Armee, die die sich zurückziehenden polnischen Streitkräfte verfolgte und das Land verwüstete, erreichte die Nähe von Posen (Poznań). In dieser Situation zweifelte Fürst Bolesław IV. Kraushaar, dass weiterer Widerstand möglich wäre und eröffnete Friedensverhandlungen mit dem Kaiser durch Vermittlung des böhmischen Herzogs Vladislav II. und der deutschen Fürsten. Nachdem Bolesław ihm garantiert hatte, dass er Friedrichs Oberhoheit anerkennen würde, stimmte der Kaiser zu, den polnischen Herrscher wieder in seine Gunst aufzunehmen. Die gefundene Vereinbarung wurde zeremoniell bestätigt durch die öffentliche Selbstde-

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mütigung Bolesławs vor dem Kaiser: Der Fürst musste barfuß und mit einem hochgehaltenen bloßen Schwert in das kaiserliche Lager in Krzyszkowo bei Posen (Poznań) kommen, auf die Knie fallen und die kaiserliche Majestät um Gnade bitten.1 Man sollte jedoch nicht vergessen, dass dieses Bild der Ereignisse, das in den zeitgenössischen deutschen und böhmischen Quellen wiedergegeben wird, dem Brief Friedrichs an Abt Wibald von Stablo, den ‚Gesta Frederici‘ Rahewins und der Chronik Vinzenz’ von Prag, sich nur sehr langsam in das polnische Geschichtsbewusstsein eingeprägt hat. Bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert herrschte in der polnischen historiographischen Tradition ein anderes Bild vom Kriegszug Barbarossas vor, das in der zu Beginn des 13. Jahrhunderts geschriebenen Chronik des Magisters Vincentius (Kadłubek) festgehalten ist und im 15. Jahrhundert von Jan Długosz modifiziert wurde. In der Vorstellung von Kadłubek soll der Kriegszug gegen Polen mit einer vollständigen Niederlage des Kaisers geendet haben. Friedrich, der sich mit der ganzen Macht seines Kaisertums nach Polen aufgemacht hatte, versuchte erfolglos, Bolesław IV. Kraushaar zu zwingen, die Schlacht aufzunehmen. Nachdem der polnische Fürst die Lebensmittelversorgung abgeschnitten hatte, mussten die kaiserlichen Truppen, die vom Hunger geplagt waren und von Seuchen dezimiert wurden, sich zurückziehen.2 1

2

Die Urkunden Friedrichs I., hg. von Heinrich Appelt (MGH Diplomata regum et imperatorum Germaniae 10, 1) Hannover 1975, S. 304 f., Nr. 181; Die Taten Friedrichs oder richtiger Cronica, übers. von Adolf Schmidt, ed. Franz-Joseph Schmale (Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters – Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 17) Darmstadt 1965, S. 398–404; Annales Bohemorum Vincentii Pragensis, ed. Josef Emler (Fontes rerum Bohemicarum 2) Praha 1874, S. 424 f. Des Weiteren siehe Holtzmann, Robert: Über den Polenfeldzug Friedrich Barbarossas vom Jahr 1157 und die Begründung der schlesischen Herzogtümer, in: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 56 (1922), S. 42–55; GravertMay, Gernot von: Das staatsrechtliche Verhältnis Schlesiens zu Polen, Böhmen und dem Reich während des Mittelalters (Anfang des 10. Jahrhunderts bis 1526), Aalen 1971, S. 72 f.; Labuda, Gerard: O stosunkach prawnopublicznych między Polską a Niemcami w połowie XII wieku (Merseburg – 1135, Kaina – 1146, Krzyszkowo – 1157), in: Czasopismo PrawnoHistoryczne 25 (1973), S. 25–60; Hauziński Jerzy: Polska a Królestwo Niemieckie w II połowie XII wieku, in: Strzelczyk, Jerzy (Hg.): Niemcy – Polska w średniowieczu. Materiały konferencji naukowej zorganizowanej przez Instytut Historii UAM w dniach 14-16 XI 1983 roku, Poznań 1986, S. 137–155; Dalewski, Zbigniew: Między Krzyszkowem a Mediolanem, in: Kościół, Kultura, Społeczeństwo. Studia z dziejów średniowiecza i czasów nowożytnych, Warszawa 2000, S. 131–141. Magistri Vincentii dicti Kadłubek Chronica Polonorum 3, 30, ed. Marian Plezia (Monumenta Poloniae Historica nova series 11) Kraków 1994, S. 124.

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Dieses Bild der siegreichen Konfrontation von Bolesław IV. Kraushaar mit Barbarossa, das in der Chronik von Kadłubek überliefert wurde, hat Długosz im Großen und Ganzen übernommen. Allerdings ergänzte er es noch um ­Informationen aus deutschen Quellen zu den Ereignissen in Krzyszkowo. Nichts­ destoweniger änderten die von Długosz in die Erzählung von Kadłubek eingebrachten Informationen zur Einigung von Krzyszkowo nichts an seiner Grundaussage. Auch nach Długoszs Meinung soll der Kriegszug Barbarossas mit dessen Niederlage geendet haben, wenn auch nicht so spektakulär, wie Kadłubek behauptete. Długosz verwies zwar darauf, dass kraft der in Krzyszkowo geschlossenen Vereinbarung, die den Krieg beendete, Bolesław Folgendes beschworen haben soll: Als er seinen älteren Bruder Władysław II. vertrieb, habe er den Kaiser nicht beleidigen wollen; außerdem habe er sich verpflichtet, den Kaiser beim Kriegszug nach Italien zu unterstützen und auf dem Hoftag in Magdeburg zu erscheinen, um den Streit mit seinem Bruder beizulegen. Gleichzeitig betonte Długosz jedoch sehr stark, dass es auf Initiative Barbarossas zum Friedensschluss gekommen sei. Es soll der Kaiser gewesen sein, der, als er sah, dass seine Truppen Hunger litten und sich Krankheiten unter ihnen ausbreiteten, sich um einen Frieden bemühte, der es ermöglichte, den verlorenen Feldzug zu beenden und sich zurückzuziehen und dabei gleichzeitig das Gesicht zu wahren. Mehr noch: Um die polnischen Fürsten stärker an sich zu binden und ihre Zustimmung zu gewinnen, soll der Kaiser einem von ihnen, Mieszko III dem Älteren, die Hand einer seiner Verwandten, Adelheid, versprochen haben.3 Die Autoren von Arbeiten zur Geschichte Polens, die im 16. Jahrhundert entstanden, z.B. Maciej von Miechów oder Marcin Bielski, knüpften bei der Beschreibung von Barbarossas Feldzug mehr oder weniger direkt an den Text von Długosz an, wobei sie das Bild des mächtigen Kaisers verstärkten, der erfolglos versuchte, seinen Thronanwärter auf den polnischen Thron zu bringen und angesichts der erlittenen Misserfolge gezwungen war, einen ungünstigen Frieden mit Bolesław IV. Kraushaar zu schließen.4 Zwar führte Marcin Kromer in seinem erstmals 1555 herausgegebenen Werk, das der Geschichte Polens gewidmet war, neben Długoszs Bericht auch den Rahewins an, der über die Erniedrigung Bolesławs berichtete. Das änderte jedoch nicht die Tendenz der Darstellung. 3 4

Joannis Dlugossii Annales seu Cronicae Incliti Regni Poloniae 3, 5, Warszawa 1973, S. 62–64. Miechów, Maciej von: Chronica Polonorum, Cracoviae 1521, S. 91 f.; Kronika polska Marcina Bielskiego nowo przez Joachima Bielskiego jego syna wydana, Kraków 1597, S. 121 f.

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Kromer gibt Długoszs Version den Vorzug und zeigt deutlich, dass es in der Folge des Feldzugs nicht zur Unterordnung Polens unter die kaiserliche Oberhoheit kam.5 Ebenso beriefen sich die in den nächsten Jahrhunderten entstandenen Kompendien der polnischen Geschichte bei der Darstellung von Barbarossas Feldzug auf Długoszs Bericht. Aber sie verkürzten und vereinfachten seine ausführliche Darstellung stark. Jedoch verbreiteten die Kompendien Długoszs zentrale Thesen und zeigten, dass der Kaiser den polnischen Herrscher nicht unterwerfen konnte.6 Die von Kromer bemerkten Unterschiede zwischen der Darstellung Długoszs und derjenigen Rahewins wurden am Ende des 18. Jahrhunderts durch Adam Naruszewicz wieder aufgegriffen. Das auf Anregung König Stanisław August Poniatowskis entstandene Werk Naruszewiczs, das in den Jahren 1780–1786 unter dem Titel „Geschichte der polnischen Nation“ veröffentlicht wurde, war die erste völlig wissenschaftliche, im Geiste der Aufklärung geschriebene Monographie zur Geschichte Polens in der polnischen Geschichtsschreibung. Naruszewiczs Werk hatte eine gute Quellengrundlage. Sie umfasste alle damals veröffentlichten Quellen, die über die Geschichte Polens berichteten.7 Wenn Naruszewicz über Barbarossas Feldzug schrieb, zog er außer dem Bericht Rahewins auch den Brief des Kaisers an Abt Wibald und den Bericht des Vinzenz von Prag heran, der über die Unterwerfung Bolesławs IV. Kraushaar geschrieben hatte, dieser habe barfuß und sein Schwert über dem Kopf haltend dem Kaiser zu Füßen fallen und ihn um Gnade bitten müssen. Das bedeutete allerdings nicht, dass die bisherige polnische Tradition der Geschichtsschreibung, die in die Zeiten von Kadłubek und Długosz zurückreichte, völlig verworfen worden wäre. Naruszewicz schrieb nach dem Vorbild seiner Vorgänger weiterhin von unablässigen Hinterhalten, die die polnischen Truppen den kaiserlichen legten, und von der Hunger leidenden kaiserlichen Armee. Er verwies auch darauf, dass viele der Deutschen, die es gewohnt gewesen seien, Bier und andere Getränke zu trinken, infolge des Genusses von polnischem Wasser eine Magenverstimmung erlitten hätten und gestorben seien. Trotzdem gab Naruszewicz im Ergebnis zu, 5 6

7

Martini Cromeri De origine et rebus gestis Polonorum libri XXX, Basileae 1555, S. 101–103. Siehe z.B. Neugebauer, Salomon: Historia rerum Polonicarum libri quinque, Francofurti 1611, S. 104–106; Pastorius, Joachim: Florus Polonicus, seu Poloniae historiae epitoma nova, Gedani et Francofurti 1679, S. 67; Kołudzki, Augustyn: Tron ojczysty albo pałac wieczności w krótkim zebraniu monarchów, królów i książąt polskich, Poznań 1707, S. 45. Grabski, Andrzej Feliks: Zarys historii historiografii polskiej, Poznań 2000, S. 73–77.

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dass es Bolesław war, der Friedensverhandlungen vorgeschlagen hatte, und verheimlichte nicht, dass die Bedingungen für den Abschluss des Friedens, die der polnische Fürst angenommen hatte, für diesen belastend waren.8 Die von Naruszewicz zitierten Quellen bildeten auch für spätere Historiker, die über die mittelalterliche Geschichte Polens schrieben, den Ausgangspunkt, von dem aus sie den Verlauf des Kriegszugs Friedrichs I. Barbarossa darstellten. Allerdings fehlte es weiterhin nicht an einzelnen Versuchen, diese Quellen zu diskreditieren. Noch im Jahr 1845 versuchte Stanisław Kaczkowski in einem umfassenden Beitrag über die angebliche Tributabhängigkeit Polens von Deutschland die Überlegenheit von Kadłubeks Darstellung zu beweisen und verwies darauf, dass er und nicht die zeitgenössischen deutschen Quellen die Grundlage für die Betrachtung von Barbarossas Feldzug bilden sollte.9 Es fehlte auch nicht an Stimmen, die, indem sie Kadłubeks Version für glaubwürdig hielten, die Überlieferung von Vinzenz von Prag zur Demütigung Bolesławs IV. Kraushaar herabzuwürdigen versuchten, da diese den Nationalstolz kränke. Seine Zweifel in dieser Hinsicht versteckte noch in den 1920er Jahren der herausragende polnische Mediävist Roman Grodecki nicht, Mitverfasser eines der wichtigsten Handbücher zur mittelalterlichen Geschichte Polens.10 Nichtsdestoweniger überwog in der polnischen historiographischen Tradition seit Beginn des 19. Jahrhunderts entschieden die Überzeugung, dass der Kriegszug Friedrich Barbarossas gegen Polen mit einer spektakulären Demütigung Bolesławs IV. Kraushaar durch den siegreichen Kaiser geendet hatte. Für polnische Historiker, die sich mit der Problematik der mittelalterlichen Geschichte Polens beschäftigten, blieb es jedoch weiterhin eine zu diskutierende Frage, welche Bedeutung dieser Akt hatte und mit welchen Kategorien die Beschlüsse zu bewerten waren, die während der in Krzyszkowo geführten Verhandlungen getroffen worden waren. Strittig waren sowohl die Form von Bolesławs Demütigung als auch der Charakter der Verpflichtungen gegenüber dem Kaiser, die er auf sich genommen hatte. Bereits Naruszewicz, der als erster in der polnischen Historiographie den Bericht des Vinzenz von Prag über den Auftritt Bolesławs IV. Kraushaar vor dem 8 9 10

Naruszewicz, Adam: Historia narodu polskiego, Bd. 6, Lipsk 1836, S. 34–40. Kaczkowski, Stanisław: O mniemanym trybucie i hołdownictwie Polski cesarstwu Niemieckiemu, in: Biblioteka Warszawska 1 (1845), S. 125–156, 307–337 und 601–633. Grodecki Roman/Zachorowski Stanisław/Dąbrowski Jan (Hg.): Dzieje Polski średniowiecznej, Bd. 1, Kraków 1926, S. 173.

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Kaiser – barfuß mit hochgehalten Schwert – aufgriff, zeigte, dass man diese Zeremonie nicht als eine Erniedrigung des polnischen Fürsten interpretieren kann, weil sie eine damals übliche Form der Streitbeilegung war. Überdies argumentierte er, dass Bolesław, obwohl er in der Tat die schweren kaiserlichen Friedensbedingungen akzeptieren musste, diese letztlich nicht erfüllte. Schließlich konnte auch Barbarossa Polen nicht zur Anerkennung seiner Oberhoheit zwingen.11 In gleicher Weise schrieb der Verfasser der im Jahre 1810 veröffentlichten und dann mehrfach wiederaufgelegten Geschichte Polens, Jerzy Samuel Bandtkie. Die Ereignisse in Krzyszkowo verglich er mit den Ereignissen, die in Canossa stattgefunden hatten. In dieser Weise zeigte er seinen mit der Vergangenheit nicht vertrauten Lesern, dass, so wie die Erniedrigung Heinrichs IV. keine Schande über das deutsche Volk brachte, man auch die Erniedrigung Bolesławs nicht als Entehrung des polnischen Fürsten betrachten könne.12 Den ersten Versuch in der polnischen historischen Literatur, die Ereignisse von Krzyszkowo zu betrachten und in einen breiteren Kontext der polnischdeutschen Beziehungen zu stellen, brachten jedoch die Arbeiten von Joachim Lelewel, dem zweifellos herausragendsten polnischen Historiker in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Bereits im Jahr 1810 veröffentlichte er einen Beitrag, der dieser Frage gewidmet war und der dreißig Jahre später in einer erweiterten und ausgebauten Form in den zweiten Band seines umfangreichen Werks aufgenommen wurde, das der mittelalterlichen Geschichte Polens gewidmet war.13 Nach Auffassung Lelewels wurde die Geschichte Polens im frühen Mittelalter in wesentlichem Maße durch die Beziehung zu den Deutschen bestimmt, den, wie er sie nannte, „ewigen Feinden der Slawen“.14 Polen war als einziger Nachbar der Deutschen in der Lage, seine Unabhängigkeit zu verteidigen und nicht in ihre Abhängigkeit zu geraten. Während Böhmen in das Deutsche Reich eingegliedert wurde und Ungarn und Dänemark ein ums andere Mal zustimmten, den Deutschen Tribut zu zahlen, und ihre Könige bereit waren, den deutschen Herrschern zu huldigen, wies Polen hartnäckig die von den Deutschen gefor11 12

Naruszewicz: Historia (wie Anm. 8), S. 38. Bandtkie, Jerzy Samuel: Historia Królestwa Polskiego, Bd. 1, Wrocław 1820, S. 306–308; Ders.: Dzieje narodu polskiego, Bd. 1, Wrocław 1835, S. 234–237. 13 Lelewel Joachim: O związkach z Niemcami królów polskich i ich tytule królewskim do czasu podziału synów Krzywoustego, in: Ders.: Polska wieków średnich, Bd. 2, Poznań 1856, S. 1–121. 14 Ebd., S. 7.

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derten Tributforderungen zurück, und die Piasten-Herrscher stimmten einer Huldigung und Anerkennung der deutschen Lehnshoheit nicht zu.15 Mit der Annahme des Christentums durch Mieszko I. wurde Polen in die Strukturen der hierarchisierten christlichen Welt aufgenommen, in der dem Kaiser als Führer der christlichen Gemeinschaft eine herausragende Position zufiel. Im Endeffekt gelang es Polen dadurch, das Schicksal anderer slawischer Völker zu vermeiden, von den Deutschen unterworfen zu werden.16 Angesichts der Übermacht des deutschen Reichs habe es Mieszko allerdings zulassen müssen, dass sein Staat in die Strukturen des Kaiserreichs aufgenommen wurde, wobei er in ihm eine solche Position erlangt habe, wie sie die deutschen Fürsten und Markgrafen einnahmen.17 Diese Sachlage habe sich jedoch nicht lange gehalten, da es Bolesław I. dem Tapferen gelungen sei, von Otto III. die Bestätigung der Königswürde zu erlangen und vollständige Unabhängigkeit vom Reich zu erlangen. In den schweren Kämpfen, die er in den folgenden Jahren gegen Heinrich II. führte, habe der polnische Herrscher sein Land gegen die Versuche verteidigt, ihn erneut einer deutschen Hoheit zu unterwerfen, und vom Kaiser die Anerkennung seiner Unabhängigkeit erlangt.18 Der Verzicht des Kaiserreichs auf die Oberhoheit über Polen bedeutete allerdings nicht das vollständige Ende der Streitigkeiten, die die PiastenMonarchie und das deutsche Reich trennten. Während die Kaiser zustimmten, dass ihnen keine Rechte mehr zustanden, aus Polen irgendwelche Tribute zu erheben, forderten sie dennoch weiterhin von den Piasten-Herrschern, dass diese ihre besondere Position als Führer der gesamten christlichen Gemeinschaft anerkannten.19 Nach dem Verständnis von Lelewel zielten diese Forderungen nicht direkt gegen die Unabhängigkeit Polens. Sie hätten nämlich in die Rahmenbedingungen der hierarchischen Ordnung gepasst, die der Epoche des Mittelalters entsprach. Allerdings hätten sie gewisse Beschränkungen mit sich gebracht, weshalb sich auch die polnischen Herrscher, die nach vollständiger Unabhängigkeit strebten, um die Vermeidung von Verpflichtungen bemühten, die gewöhnlich die Form von Abgaben hatten, die an den Kaiser zu zahlen waren. Im Endergebnis hätten sich in den Beziehungen zwischen Polen und Deutsch15 16 17 18 19

Ebd., S. 90 und S. 115 f. Ebd., S. 9–13. Ebd., S. 15–22. Ebd., S. 22–45. Ebd., S. 110–117.

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land Zeiten des Friedens, der Zusammenarbeit und der Freundschaft, die auf der gegenseitigen Respektierung der beiden Parteien zustehenden Rechte basierten, mit Konflikten und militärischen Kämpfen abgewechselt, in denen die deutschen Herrscher die Polen zu zwingen versuchten, die kaiserliche Vorrangstellung anzuerkennen. In eine Reihe mit solchen Kriegszügen gehört nach Auffassung Lelewels auch der Kriegszug Friedrich Barbarossas. Ähnlich habe es im Fall seiner Vorgänger ausgesehen, von Konrad II. über Heinrich V. bis zu Konrad III. Auch Barbarossa habe mit seiner Intervention keine weiterreichenden Pläne verbunden, Polen zu unterwerfen, seine Herrscher zu zwingen, Tribut zu zahlen, oder sie zu verpflichten, Militärdienste für das Kaiserreich zu leisten. Die vom Kaiser formulierten Forderungen hätten vor allem die Anerkennung der kaiserlichen Autorität durch die polnischen Fürsten betroffen. In den Geldforderungen Friedrichs an Bolesław IV. Kraushaar sah Lelewel keinen Tribut, sondern eine Strafe dafür, dass der Fürst zuvor der Majestät des Kaisers keinen Respekt erwiesen und die dem Kaiser gewöhnlich zustehenden Abgaben nicht geleistet hatte. Offenbar verband er das vom Piasten-Fürsten geleistete Versprechen, am Kriegszug gegen Italien teilzunehmen, nicht mit der Pflicht zum Militärdienst an der Seite des Seniors, die auf dem Vasallen ruhte; stattdessen habe es sich um einen einmaligen Gefallen gegenüber dem Kaiser gehandelt, die Lelewel mit der Unterstützung verglich, die Bolesław  I. der Tapfere von Heinrich  II. während seiner Kriegszüge gegen Kiew erhielt. In ähnlicher Weise interpretierte Lelewel auch den Sinn der Zeremonie in Krzyszkowo. Sie sollte nicht der Demütigung des bezwungenen Fürsten durch den siegreichen Kaiser dienen, sie war auch keine Huldigung, die seine Bereitschaft bewies, die kaiserliche Lehenshoheit anzuerkennen, sondern eine ritualisierte Form, Genugtuung für früher nicht erwiesenen Respekt gegenüber der Majestät des Kaisers zu leisten.20 Mit seinen Ansichten zum Charakter der polnisch-deutschen Beziehungen im Mittelalter stand Lelewel nicht allein da. In dieser Hinsicht ähnliche Ansichten überwiegen in der polnischen historischen Literatur in der ersten Hälfte und zu Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutlich. In den in dieser Zeit entstehenden Synthesen zur Geschichte Polens, zum Beispiel den Arbeiten von Jędrzej Moraczewski oder Julian Bartoszewicz, war gewöhnlich kein Platz für 20 Ebd., S. 117–121.

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detaillierte Erwägungen und Diskussionen, die die von Lelewel vorgeschlagenen subtilen Unterscheidungen zwischen Abhängigkeit, Unabhängigkeit und Anerkennung der dominierenden Rolle des Kaisertums berücksichtigt hätten. In ihren Auslegungen polnischer Geschichte wurde die Sache der polnischdeutschen Beziehungen gewöhnlich klar dargestellt, indem darauf verwiesen wurde, dass Polen mindestens seit den Zeiten Bolesławs I. des Tapferen die völlige Unabhängigkeit von Deutschland bewahrt und sich erfolgreich gegen die Versuche deutscher Herrscher gewehrt hatte, es deren Hoheit zu unterwerfen. Der letzte der von Zeit zu Zeit unternommenen Versuche, Polen die deutsche Oberhoheit aufzuzwingen, soll der Feldzug Barbarossas gewesen sein. Und ähnlich wie die vorhergehenden Versuche endete auch dieser erfolglos. Bolesław IV. Kraushaar gelang es zwar nicht, Barbarossa im Kampf zu bezwingen, so wie Bolesław III. Schiefmund Heinrich V. besiegt hatte. Außerdem musste er sich der erniedrigenden Zeremonie der Demütigung vor dem Kaiser unterwerfen und die ihm auferlegten harten Friedensbedingungen annehmen. Aber letztendlich erwies sich Bolesław und nicht Friedrich I. als Sieger. Der polnische Fürst kam nämlich den Verpflichtungen nicht nach, die er in Krzyszkowo auf sich genommen hatte, er erschien nicht am kaiserlichen Hof, unterwarf sich nicht dem kaiserlichen Gericht und unterstützte den Kaiser nicht bei seinem Kriegszug nach Italien. Polen behielt seine Unabhängigkeit, und der Kriegszug Barbarossas änderte nichts am Verhältnis der Piasten-Monarchie zu Deutschland, indem er lediglich eine Episode in der an Kriegshandlungen reichen Geschichte der polnisch-deutschen Beziehungen blieb.21 Diese, man könnte sagen, heroische Vision der polnisch-deutschen Beziehungen in den ersten Jahrhunderten der Piasten-Monarchie passte gut in die breitere Konzeption einer Nationalgeschichte, die in der polnischen Historiographie dieser Zeit dominierte, die Vergangenheit des Vaterlands affirmierte und die Größe der Errungenschaften sowie den außerordentlichen Charakter des Staates hervorhob, der als Ergebnis der Teilungen am Ende des 18. Jahrhunderts verloren gegangen war. Schrittweise kamen jedoch immer mehr Stimmen zu Wort, die die Richtigkeit einer solchen Herangehensweise in Frage stellten. Die schmerzhafte Erfahrung der Teilung, weitere Niederlagen, die während der im 21 Moraczewski, Jędrzej: Dzieje Rzeczypospolitej Polskiej, Bd. 1, Poznań 1862, S. 121 f.; Bartoszewicz, Julian: Historia pierwotna Polski, Bd. 4, in: Ders.: Dzieła, Bd. 6, Poznań 1879, S. 170–181.

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19. Jahrhundert unternommenen Aufstände erlitten wurden, und der wachsende Zweifel an einer schnellen Wiedererlangung der Unabhängigkeit wurden zum Impulsgeber für eine kritische Reflexion der Geschichte der Nation und eine Suche nach Antworten auf Fragen nach den Gründen zeitgenössischer Misserfolge in der Vergangenheit. Natürlich konzentrierten sich die Forschungen, die in diesem Geiste aufgenommen wurden, vor allem auf die Zeiten der Rzeczpospolita und auf Fragen nach den Ursachen für ihren Niedergang; auf diesem Forschungsfeld wurde begonnen, die Schwächung der königlichen Macht, die wachsende Rolle der Magnaten und die fortschreitende Anarchie im öffentlichen Leben in den Vordergrund zu stellen.22 Ins Beobachtungsfeld rückten jedoch langsam auch ältere Epochen, darunter die Zeiten der Piasten, auf die man die gleichen Begriffskategorien anzuwenden begann. Im Endergebnis blieb diese neue Sichtweise auf die Geschichte Polens nicht ohne Einfluss auf die Bewertung der Beziehungen, die die Piasten-Monarchie mit dem Kaiserreich verband, sowie die Rolle, die Friedrich I. Barbarossa in dieser Hinsicht gespielt haben soll. Die Ereignisse von Krzyszkowo, die, was wir betonen müssen, bisher als eine Episode in den polnisch-deutschen Beziehungen betrachtet wurde, die zwar den Nationalstolz kränkte, aber keine ernsthafteren Folgen mit sich brachte, erlangten den Rang eines Symbols für den Niedergang der Piasten-Monarchie. Dieser Niedergang sei durch die Aufteilung des Staates hervorgerufen worden, die Bolesław III. Schiefmund zwischen seinen Söhnen vornahm, und durch die daraus resultierenden Streitigkeiten zwischen den Piasten-Fürsten, die zur Schwächung der Fürstenmacht und zur Stärkung der Position der Magnaten führten. In diesem Sinne schrieb auch Stanisław Smolka über die Ereignisse in Krzyszkowo. Smolka war der Verfasser einer im Jahr 1881 veröffentlichten Biographie Fürst Mieszkos III. des Älteren, des jüngeren Bruders und Nachfolgers Bolesławs IV. Kraushaar, in der er ein Bild der Geschichte des von Streitigkeiten zwischen den Söhnen Bolesławs III. Schiefmund zerrissenen Polen zeigte.23 Smolka hatte nicht den geringsten Zweifel, dass man den Feldzug Barbarossas gegen Polen nicht als Erfolg Bolesławs ansehen oder in der geschlossenen Vereinbarung Spuren eines Kompromisses suchen sollte. Seiner Meinung nach endete der Feldzug mit einer totalen Niederlage des polnischen Fürsten, der gezwungen wurde, die durch den 22 Grabski: Zarys (wie Anm. 7), S. 122–142. 23 Smolka, Stanisław: Mieszko Stary i jego wiek, Warszawa 1881.

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Kaiser geforderten Bedingungen zu akzeptieren, „so demütigenden Bedingungen, dass sich die polnische Geschichte nicht an ähnliche erinnert hatte“. In dieser Weise habe Bolesław IV. Kraushaar alle „väterliche Traditionen verleugnet“ und „das vor kurzem mächtige Reich des Schiefmunds gedemütigt“. Während Bolesław Schiefmund mit Erfolg den Angriff Heinrichs V. abgewehrt und den Kaiser zu einem schändlichen Rückzug gezwungen habe, habe sein Sohn Barbarossa nicht einmal die Stirn bieten können und eigentlich ohne Kampf kapituliert. Mehr noch, als Schiefmund im Jahr 1135 zustimmte, die Lehnshoheit Lothars über Pommern anzuerkennen, sei er ehrenvoll in Magdeburg vom Kaiser empfangen worden, während sein Sohn in Krzyszkowo sich vor dem Kaiser habe erniedrigen und um Gnade bitten müssen. In Smolkas Bewertung hatte es keine Bedeutung, dass Barbarossa am Ende den von ihm unterstützten Kandidaten nicht auf den Thron setzen konnte, d.h. Władysław II. Den Kaiser habe nicht interessiert, wer auf dem polnischen Thron saß. Er habe den polnischen Herrscher nur seiner Macht unterwerfen wollen, unabhängig davon, wer es war. Und dieses Ziel habe er völlig erreicht.24 Der Sieg Barbarossas über Bolesław IV. Kraushaar sei nicht nur auf seine Macht zurückgegangen. Mindestens ebenso, vielleicht noch mehr habe die durch inneren Streit verursachte Schwäche der Piasten-Monarchie über den Misserfolg des polnischen Fürsten entschieden, aufgrund der die Macht des Fürsten gewackelt habe und die Stellung der Aristokratie gestärkt worden sei. Im Unterschied zu seinen Vorgängern habe Bolesław nicht auf ihre völlige Treue rechnen und sich auf ihre Loyalität verlassen können.25 Hatte sich Bolesław I. der Tapfere noch mit Erfolg Heinrich II. entgegengestellt und Schiefmund erfolgreich gegen Heinrich V. gekämpft, so war Bolesław Kraushaar nicht mehr in der Lage, den Kampf gegen Friedrich I. Barbarossa zu führen, und musste sich unterwerfen und die kaiserliche Oberhoheit anerkennen. Die Anerkennung von Barbarossas Oberhoheit durch Bolesław IV. Kraushaar in Krzyszkowo führte nicht zur dauernden Unterordnung der Piasten-Monarchie. Das geteilte Polen von Schiefmunds Söhnen erlitt nicht das Schicksal der späteren Rzeczpospolita. Mit dem Tod des Kaisers und nach dem Tod Heinrichs VI. geriet das Kaisertum in innere Streitigkeiten und konnte die expansive Politik gegen die Piasten nicht fortsetzen und sie zur Anerkennung der Abhängigkeit zwin24 Ebd., S. 271–274. 25 Ebd., S. 280 f.

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gen. Dennoch war die Politik Barbarossas gegen die Piasten von großer Bedeutung für das spätere Schicksal Polens. Bereits Adam Naruszewicz beurteilte am Ende des 18. Jahrhunderts das im Jahr 1163 durch Barbarossa erzwungene Einverständnis über die Übergabe Schlesiens an die aus Deutschland zurückkehrenden Söhne Władysławs II. als Abtrennung dieses Landes von Polen.26 Im 19. Jahrhundert wurde dieser Gedanke erneut aufgegriffen, und viele Forscher zeigten, dass mit der Rückkehr der in Deutschland erzogenen Söhne des Władysławs deutsche Ritter und Siedler nach Schlesien zu kommen begannen, was zur Lockerung der Verbindung zwischen dieser Provinz und dem Rest der polnischen Gebiete führte. Schließlich fand sich das germanisierte Schlesien außerhalb des am Beginn des 14. Jahrhunderts wiedervereinigten polnischen Königreichs.27 Genauso negative Konsequenzen für Polen habe die Intervention Barbarossas in Pommern gehabt, die zum endgültigen Verlust der piastischen Herrschaft über diese von Bolesław III. Schiefmund eroberte Provinz führte. Es wurde darauf hingewiesen, dass schon früher die Piasten Schwierigkeiten mit der Stabilisierung ihrer Herrschaft über Pommern hatten, die ebenso Heinrich der Löwe und der dänische König für sich beanspruchten. Dennoch hätten die Beziehungen zwischen Polen und Pommern erst abzubrechen begonnen, als die pommerschen Fürsten im Jahr 1181 die kaiserliche Lehnshoheit anerkannten. Das habe zum Anschluss Pommerns an das Reich geführt. In dieser Weise wurden die Maßnahmen Barbarossas in Polen, die man bisher als eine der kaiserlichen Interventionen interpretierte, zu einem für Polens Geschichte zentralen Ereignis.28 Die in der polnischen Historiographie des 19. Jahrhunderts auftretenden Unterschiede in der Bewertung der Ereignisse, die in Krzyszkowo stattgefunden hatten, oder, generell gesagt, der Politik Barbarossas gegenüber Polen sollten nicht die grundsätzliche Ähnlichkeit verdecken, die es in der Herangehensweise bei der Bewertung der Beziehungen zwischen Polen und dem Reich im Mittelalter durch die verschiedenen historiographischen Tendenzen gab. Sowohl für die romantische Geschichtsschreibung wie auch für die Forschung, die sich nach den Aufständen im 19. Jahrhundert entwickelt hatte, waren die Nation und der durch sie geschaffene Staat der Ausgangspunkt der Überlegungen über die Ver26 Naruszewicz: Historia (wie Anm. 8), S. 45 f. 27 Siehe den Beitrag von Marcin Pauk in diesem Band. 28 Smolka: Mieszko Stary (wie Anm. 13), S. 339–343.

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gangenheit, einschließlich der Beziehungen zum Reich. Die Begriffe der Unabhängigkeit und Souveränität gehörten zu den Kategorien, die die Forscher im 19. Jahrhundert entwickelt hatten. In dieser Betrachtungsweise konnten die von Zeit zu Zeit erneuerten kaiserlichen Ansprüche auf Oberhoheit über die PiastenMonarchie nicht anders wahrgenommen werden als eine Bedrohung der polnischen Unabhängigkeit und Souveränität. Daher wurde die Geschichte der polnisch-deutschen Beziehungen in der Darstellung der polnischen Historiker zu einer Geschichte des Kampfes der polnischen Herrscher um die Unabhängigkeit Polens. In diesem Sinne gab es keine Unterschiede zwischen polnischen Historikern in der Beurteilung von Barbarossas Politik: Seine Maßnahmen sah man als deutsche Bestrebungen, Polen dem Reich unterzuordnen. Die Abweichungen zwischen ihnen lagen in der Beurteilung, inwieweit es Barbarossa und seinen Vorgängern gelungen sei, diese Bestrebungen zu verwirklichen. Diese Abweichungen resultierten aber nicht aus einem anderen Blick auf die Geschichte der polnisch-deutschen Beziehungen, sondern aus einem anderen Blick auf die Geschichte Polens.

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Auf dem Weg zur Scheidung? Schlesien und die Staufer in der polnischen Historiographie des 19. und 20. Jahrhunderts

In der über anderthalb Jahrhunderte langen Geschichte der Historiographie zum polnischen Mittelalter nimmt die Geschichte der polnisch-deutschen Beziehungen einen besonderen Platz ein. Kaum ein Thema ist zu finden, das mehr mit laufenden politischen und kulturellen Bedingtheiten belastet wäre. Dies bezieht sich besonders auf die Epoche der Anfänge der großen Ansiedlungs- und Migrationsbewegung, die im Laufe des 13. Jahrhunderts das ethnische und soziale Bild nicht nur von Schlesien geändert und in gewissem Grad zum Verlust der politischen Verbundenheit dieser Provinz mit dem im darauffolgenden Jahrhundert wiederaufgebauten Königtum Polen beigetragen hat. Die Ursachen sowie die sozialen, ethnischen und politischen Folgen der Wandlungen des „langen“ 13. Jahrhunderts waren bis in das letzte Viertel des 20. Jahrhunderts eines der Hauptthemen zweier historiographischer Erzählweisen, die gegensätzlich und in sprachlich, politisch und kulturell streng voneinander abgesonderten Kreisen entstanden sind. Die angesprochene Epoche fällt zwar größtenteils mit dem staufischen Jahrhundert zusammen, jedoch sind weder die ganze Dynastie noch deren hervorragendste Vertreter mit Friedrich I. Barbarossa an der Spitze in Polen je Gegenstand einer separaten und vertieften historiographischen Reflexion geworden. Die Staufer sind nicht in das Bild der Epoche der Anfänge der Zersplitterung Polens in Teilfürstentümer eingebettet. Man kann von dem Haupthelden des vorliegenden Bandes also nicht – im Sinne des Konzepts ‚Erinnerungsort‘ – als einer für die polnische Geschichtsschreibung besonders wichtigen Persönlichkeit sprechen.1 Es ist sicherlich sinnvoll, bereits am Anfang mei1

Bemerkenswert ist, dass die einzige auf Polnisch zugängliche Biografie des Herrschers eine

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nes Beitrages die Frage nach den Ursachen für die geringe Rolle Barbarossas zu stellen. Das im Titel formulierte Problem, inwiefern die staufische Epoche für die Lockerung der Bindungen Schlesiens zu Polen von Bedeutung war, wurde bereits, was für uns wichtig ist, am Anfang der kritischen polnischen Geschichtsschreibung in der Aufklärungszeit erörtert. Im 18. Jahrhundert zweifelte der Verfasser der monumentalen Synthese der Geschichte Polens und Vorläufer der kritischen historiographischen Reflexion, Adam Naruszewicz (1733–1796), nicht daran, dass die Vertreibung Władysławs II. im Jahr 1146 eine Abneigung des Vertriebenen, seiner Söhne und ihrer Nachkommen gegen die übrigen Linien der Dynastie zur Folge hatte, was sie für deutsche und böhmische Einflüsse geöffnet habe. Die suggestive und ausführliche, auf den Kenntnissen und der Kompilation mehrerer Quellen beruhende, mit Intention des Verfassers beschönigte Auslegung der politischen Geschichte in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts einschließlich des für die Beziehung zum staufischen Kaisertum besonders wichtigen Kriegszuges Friedrich Barbarossas von 1157 hat einen Kanon des Wissens von der Epoche gebildet, der bis in die Anfänge der positivistischen Historiographie gültig war.2 Noch länger hat er jedoch die Überzeugung gefestigt, dass für die Schwächung und schließlich das Zerbrechen der politischen Bindungen Schlesiens zu Polen vor allem die schlesischen Piasten selbst verantwortlich gewesen seien. Ein solches Bild der schlesischen Piasten als sprachlich und kulturell germanisiert und die in Schlesien ankommenden Siedler und Ritter sowie die von ihnen mitgebrachten Rechte und Sitten unterstützend hat um 1780 Naruszewicz selbst suggestiv gezeichnet, also sehr lange vor der nationalistischen deutschen Geschichtsschreibung. Dieser Prozess verlief ihm zufolge irgendwie eigenständig, unter dem Einfluss politischer Implikationen der Ereignisse von 1146 – Ablehnung durch andere Linien der Piastendynastie, zahlreiche verwandtschaftliche Bindungen zu deutschen Adelsfamilien und zum Kaiserhaus selbst sowie langer Aufenthalt im Reich. Władysław II. und seine Söhne sollen, indem sie die

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populäre Bearbeitung von Ernst Wies (Fryderyk Barbarossa: mit i rzeczywistość, Warszawa 1996) ist, während wir zu seinem Enkel Friedrich II. nicht nur über die Übersetzung der klassischen Biografie von Ernst H. Kantorowicz (Fryderyk II 1194–1250, Warszawa 2015), sondern auch über die populärwissenschaftliche Bearbeitung von Jerzy Hauziński verfügen, die jedoch vorwiegend aus dem orientalistischen Interesse des Autors geschrieben ist. Naruszewicz, Adam: Historya narodu polskiego, Bd. 2, Kraków 1859, S. 272–310, hier besonders S. 281 und 307 f.

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Intervention provozierten und die Protektion Friedrichs I. Barbarossa bereitwillig nutzten, die Idee der Souveränität des Staates selbst verraten haben. Diese Betrachtungsweise war sehr lange gültig. Die nationalistische Geschichtsschreibung des kaiserlichen Deutschlands mit ihrer Heroisierung und Mythologisierung Friedrich Barbarossas als eines Wegbereiters des Deutschtums im Osten konnte also auf die polnischen Historiker in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und zu Anfang des 20. Jahrhunderts keinen besonderen Eindruck machen. Man kann nämlich kaum erwarten, dass sie heftig auf etwas reagiert hätten, was sie seit Langem als eine unanfechtbare Tatsache betrachteten, und die Rolle Friedrich Barbarossas schien dabei ganz sekundär zu sein, wenn die schlesischen Herrscher das Deutschtum selbst angestrebt hatten. Die Sichtweise von Naruszewicz finden wir nicht nur in späteren populären Synthesen,3 sondern auch in den Werken mit größeren wissenschaftlichen Ambitionen wieder. Sie ist auch in unveränderter Form in die positivistische Geschichtsschreibung eingegangen. Eine identische Meinung mit direkter Bezugnahme auf die Ansichten Naruszewiczs hat 1862 der einflussreiche Vertreter der GalizienKonservativen aus der sog. Krakauer Schule, Józef Szujski, in seinem populären Werk „Dzieje Polski“ („Geschichte Polens“) geäußert. In seiner Beurteilung hat der agile und von Natur aus kämpferische Kaiser „starą cesarzy niemieckich kierujący się dumą“ („sich nach dem alten Stolz der deutschen Kaiser richtend“) nur die Gelegenheit genutzt, um zugunsten des mit ihm verschwägerten Władysław II. zu handeln. Die Rückkehr der Söhne Władysławs nach Schlesien bedeutete den Anfang des Germanisierungsprozesses und den Verlust der Bindungen zu Polen. „Od tego familijnego zajścia, jak słusznie uważa Naruszewicz, datuje się rozpadanie Szląska z Polską, ciążenie jego ku Niemcom i nieprzyjazne stanowisko do Polski. Polska straciła na rzecz germanizmu kraj piękny wielkiej wojennej ważności. Szlask coraz bardziej tracił właściwość słowiańską“ („Von dem Zeitpunkt dieses Familienereignisses, wie Naruszewicz mit Recht meinte, datiert man den Abfall Schlesiens von Polen, dessen Neigung zu den Deutschen und die Polen gegenüber unfreundliche Haltung. Polen hat zugunsten des Germanismus das schöne und im Krieg sehr wichtige Land verloren“), schlussfolgerte Szujski.4 3 4

Siehe z.B. Miklaszewski, Józef: Rys historyi polskiey od wzniesienia się monarchii aż do ostatniego upadku i rozbioru kraju, Warszawa 1829, S. 40. Szujski, Józef: Dzieje Polski podług ostatnich badań spisane, Bd. 1, Lwów 1862, S. 116.

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Ebenfalls in diesem Stil wurde die immer tiefer gehende Loslösung Schlesiens von einem anderen Krakauer Konservativen, Michał Bobrzyński, in der einige Jahre später erschienenen, viel benutzten Synthese der Geschichte Polens lakonisch zusammengefasst. Indem er bereits vom 12.  Jahrhundert an die ­Übernahme der Sitten und Sprache der westlichen Nachbarn durch die schlesischen Fürsten festgestellt hat, schrieb er die späteren Misserfolge der Nachkommen Władysławs II. des Vertriebenen bei der Wiedervereinigung der Piastenmonarchie ihrer für den Rest des Landes unmöglichen Neigung zum Deutschtum zu. Er pointierte sarkastisch im Geist der Krakauer Konservativen, dass schlesische Herzöge, zwar „zapatrzeni we wszystkim na rozbójniczych rycerzów niemieckich“5 („in allem von den räuberischen deutschen Rittern eingenommen“) seien, jedoch untereinander richtig auf Polnisch zu streiten vermochten. Für das weitere Schicksal des geteilten Schlesien zeigte er jedoch kaum Interesse. Diese Betonung der heimischen und nicht der äußeren Gründe für die späteren geschichtlichen Niederlagen der polnischen Republik war typisch für die sogenannte Krakauer Schule und bedingte, wie man sieht, sogar die Betrachtungsweise noch weit entlegenerer Ereignisse als der Teilung. Die Ansicht von den etwas germanisierten Söhnen Władysławs II. des Vertriebenen, die mithilfe deutscher Ritter nach Schlesien geführt worden seien, wurde noch von Roman Grodecki in einem populären und lange nicht ersetzbaren akademischen Handbuch zur Geschichte Polens im Mittelalter von 1926 wiederholt.6 Auch hier wurde die Bedeutung Kaiser Friedrichs I. auf gelegentliche Interventionen begrenzt, durch die er den inneren Konflikt in der Piastendynastie sowie politische Fehler des Seniors der Dynastie, Bolesławs IV. Kraushaar, erfolgreich zum Erzwingen der Tributabhängigkeit der polnischen Herzöge genutzt habe. Der Frieden von Krzyszkowo 1157 soll nach Meinung des Verfassers vor allem Konsequenzen in Form von Misserfolgen der polnischen Politik im Polabenland gehabt haben und weniger für den künftigen rechtlich-politischen Status Schlesiens. Der Autor der Textpartien zur Periode der Zersplitterung Polens in Teilfürstentümer, Stanisław Zachorowski, betonte jedoch den ethnisch-polnischen Charakter Schlesiens im 12. und 13. Jahrhundert sowie die immer noch starken politischen Bindungen der Herrscher von 5 6

Bobrzyński, Michał: Dzieje Polski w zarysie, Warszawa/Kraków 1879, S. 115 f. Grodecki, Roman/Zachorowski, Stanisław/Dąbrowski, Jan: Dzieje Polski średniowiecznej, Bd. 1, Kraków 1926, S. 174–176.

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Breslau und Liegnitz zum Rest der Dynastie und zu anderen Teilfürstentümern Polens.7 Die Summe der Ansichten der Historiker zur mittelalterlichen Geschichte Schlesiens wurde einige Jahre später von Stanisław Kutrzeba in einer monumentalen mehrbändigen und in vielen Aspekten bis heute aktuellen Synthese herausgegeben; entstanden ist sie im Umfeld der „Polnischen Akademie der Gelehrsamkeit“ („Polska Akademia Umiejętności“) in Krakau, und zwar erkennbar auf politische Bestellung hin. Die Auftraggeber und Sponsoren des Werkes waren nämlich im Jahr 1928 der schlesische Landtag (Sejm Śląski) und der Kattowitzer Wojewode Michał Grażyński, und der für dieses Werk angegebene Grund war, die veraltete Synthese von Colmar Grünhagen (1884–1886) zu ersetzen. In einer sehr umfangreichen Besprechung der politischen Geschichte der Provinz vom 12. bis zum 14. Jahrhundert betonte Roman Grodecki nicht mehr so stark wie früher die kulturelle Germanisierung der Ahnherren der schlesischen Piasten; sie wurde jetzt ersetzt durch „Sympathie und Dankbarkeit“ dem natürlichen Protektor gegenüber, dem deutschen Kaiser, und durch die Überzeugung von der Entfremdung von der eigenen Familie wegen der erzwungenen Emigration. Grodecki betonte zum ersten Mal die Anfänge der rechtlich-politischen Andersartigkeit Schlesiens im Vergleich zum Reich, indem er die Folgen der Huldigung Władysławs II. des Vertriebenen gegenüber dem römisch-deutschen König Konrad III. 1146 im sächsischen Kaina und die wahrscheinliche Verpflichtung von Władysławs Söhnen zum Tribut an Friedrich I. Barbarossa von 1163 oder 1172 anerkannte.8 Einen etwas anderen Standpunkt vertrat Zygmunt Wojciechowski, Autor einer Skizze zum politischen System der Provinz im selben Band der „Historia Śląska“ („Geschichte Schlesiens“). Er stellte fest, dass die Epoche Barbarossas keine Wende im staatsrechtlichen Verhältnis Schlesiens zum Kaisertum war, weil der Vertrag von Krzyszkowo im Jahre 1157 mit keinen spezifischen Folgen für Schlesiens Zugehörigkeit verbunden gewesen sei und es den deutschen Herrschern im 13. Jahrhundert noch einfacher gemacht habe, den Anspruch auf die Oberhoheit über ganz Polen statt nur über einzelne Provinzen zu erheben. Die sehr wahrscheinlichen Huldigungen der schlesischen Herzöge gegenüber dem Kaiser hat Wojciechowski ganz verschwiegen.9 7 Ebd. 8 Grodecki, Roman: Dzieje polityczne Śląska do 1290 roku, in: Kutrzeba, Stanisław (Hg.): Historia Śląska od czasów najdawniejszych do roku 1400, Bd. 1, Kraków 1933, S. 174 f. 9 Wojciechowski, Zygmunt: Ustrój polityczny Śląska w okresie do 1327/29 roku, in: Kutrzeba: Historia Śląska (wie Anm. 8), S. 568–569.

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Obwohl die in der polnischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts gezeichneten Bilder des deutschen Herrschers oberflächlich sind und lediglich einige stereotype Beurteilungen enthalten, waren sich die polnischen Historiker mindestens seit der klassischen Monographie Stanisław Smolkas über Mieszko III. den Alten und seine Epoche (1881) der Bedeutung von Friedrich Barbarossa für die politische Geschichte der ganzen Region Mitteleuropas in der z­ weiten Hälfte des 12. Jahrhunderts bewusst. Eine solche Beurteilung hat sich auch in der späten Literatur nicht geändert. Benedykt Zientara konstatierte 1975: „druga połowa XII wieku to okres bodaj najpełniejszego podporządkowania Polski Cesarstwu; tylko brak zainteresowania cesarza polityką wschodnią i zaabsorbowanie jego sił na południu sprawiły, że Niemcy nie wykorzystały możliwości wynikających z sytuacji w Polsce“ („Die zweite Hälfte des 12. Jh. ist wahrscheinlich die Periode der intensivsten Unterstellung Polens unter das Kaisertum; nur das mangelnde Interesse des Kaisers für die Ostpolitik und der Einsatz seiner Kräfte im Süden waren der Grund dafür, dass die Deutschen die Situation in Polen nicht genutzt haben“).10 Die Epoche Friedrichs I. Barbarossa ist also aus ziemlich offensichtlichen Gründen kein guter Nährboden für die einheimische historiographische Tradition geworden. Die mehr oder weniger spektakulären Akte der Unterordnung der polnischen Herzöge im Jahr 1157 waren kaum dazu geeignet, das Gefühl des nationalen Stolzes auf die Vergangenheit zu wecken. Dies konnte man viel besser durch die mythologisierte Vorstellung von der Regierung Boleslaus’ III. Schiefmund, des „Bezwingers“ Heinrichs V. in der von Magister Vincentius Kadłubek imaginierten Schlacht auf dem Hundsfeld bei Breslau erreichen. Allerdings hat die kritische Geschichtsschreibung die von Kadłubek manipulierte Überlieferung betreffs der Ereignisse von 1157 jedoch völlig abgelehnt, der zufolge Barbarossas Kriegszug mit einer Niederlage und hohen Opfern im kaiserlichen Heer geendet habe. Stanisław Smolka, der in Göttingen ausgebildet wurde und seine Abhandlung seinem Lehrer Georg Waitz widmete, kannte die deutsche Geschichte sehr gut und definierte die Ziele der kaiserlichen Politik gegenüber Polen in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts treffend als Aufrechterhalten der 1157 erneuerten Tributabhängigkeit, ohne dabei weitere Mittel des Kaisertums hinter der Ostgrenze zu binden. Deshalb erschien ihm die mangelnde Entschlossenheit Fried10

Zientara, Benedykt: Henryk Brodaty i jego czasy, Warszawa 1975, S. 95 (deutsche Übersetzung: Heinrich der Bärtige und seine Zeit, München 2002).

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richs I. in Bezug auf die Rückkehr Władysławs II. des Vertriebenen auf den Thron von Anfang an verständlich: Den starken Prätendenten im Exil im Reich zu behalten sei schon früher, besonders im Fall der böhmischen Přemysliden, ein erfolgreiches Druckmittel auf den tatsächlichen Herrscher des abhängigen Landes gewesen. Smolka hat jedoch mit Recht gemeint, dass sich Barbarossa in der Politik vor allem nach der Idee der Verstärkung und Verteidigung der Ehre des Imperiums richtete und sich, wie im Fall des Friedens in Krzyszkowo, geschickt ritueller Handlungen bediente, um politische Inhalte zu visualisieren, auch wenn die tatsächlichen rechtlich-politischen Folgen dieser Akte nicht besonders befriedigend für das Reich waren.11 Im Lichte des heutigen Wissens um die Bedeutung dieser Elemente in der politischen Kultur des 12. Jahrhunderts sollte man Smolkas Interpretation als innovativ betrachten. Smolka war auch weit entfernt von der für die deutsche Literatur seiner Zeit typischen Beschreibung der sozialen und strukturellen Verhältnisse des 12. Jahrhunderts gemäß anachronistischer Kategorien und Begriffe, die für den Nationalismus im 19. Jahrhundert charakteristisch waren. Deshalb ist es ihm auch gelungen, im Aufsatz über Heinrich dem Bärtigen wirtschaftliche und demografische Vorteile der deutschen Ansiedlung in Schlesien objektiv aufzuzeigen.12 Am deutlichsten reagierte die polnische Geschichtsschreibung nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Thesen der deutschen Forscher. Diese etwas verspätete Reaktion war also nicht so sehr eine Antwort auf die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts formulierten nationalen Konzepte, die den damals aktuellen politischen Interessen Preußens und dann des kaiserlichen Deutschlands dienten (K. Lamprecht, C. Grünhagen), als vielmehr auf deren verschärfte und extrem ideologisierte Form, die in der deutschen Geschichtsschreibung der Nazizeit gültig war (F. Schilling, E. Randt). Der Schwerpunkt dieser Polemiken lag übrigens nicht auf der Epoche Friedrichs I. Barbarossa und der Interpretation der in ihrer Bedeutung ziemlich eindeutigen politischen Ereignisse, sondern in der Beurteilung der Skala und der Chronologie der Ansiedlungsprozesse, der Rezeption des deutschen Rechts, der ritterlichen Migration und des ethnischen und kulturellen Wandels in Schlesien im Laufe des 13. Jahrhunderts. Eine solche Perspektive ist besonders gegenwärtig in der neuen Synthese zur Geschich11 12

Smolka, Stanisław: Mieszko Stary i jego wiek, Warszawa 1959 (Nachdruck von 1881), S. 267–273. Smolka, Stanisław: Henryk Brodaty. Ustęp z dziejów epoki piastowskiej, Lwów 1872.

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te Schlesiens, herausgegeben von Karol Maleczyński, deren erster Band 1960 erschienen ist.13 Den vorgetragenen Annahmen des historischen Materialismus gemäß rückte dort die politische Geschichte zugunsten der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in den Hintergrund und wurde auf die Suche nach den Anzeichen des „Klassenkampfes“ reduziert. Bei der Beurteilung der Ereignisse in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts wurde jedoch eine scharfe Polemik gegen die Ansicht von der frühen Germanisierung Schlesiens durch germanisierte Nachkommen Władysławs II. des Vertriebenen sichtbar. Karol Maleczyński ­stellte die Überzeugung, dass es bereits in dieser Zeit eine große Menge von Ankömmlingen aus dem Reich, Rittern und Geistlichen aus der Umgebung Boleslaus’ des Langen und seiner Brüder gegeben hätte, sowie die These vom frühen Zufluss einer großen Masse deutscher Ansiedler deutlich in Frage. Er schlussfolgerte: „mimo długotrwałego wygnania najstarsza linia Piastów nie zatraciła zupełnie poczucia przynależności do narodowości polskiej i wspólnoty interesów dynastycznych z resztą Piastów polskich“ („Trotz der langen Vertreibung hat die älteste Piastenlinie das Gefühl der Zugehörigkeit zur polnischen Nationalität und zur Interessengemeinschaft der Dynastie mit dem Rest der polnischen Piasten nicht ganz verloren“).14 Den größten Einfluss auf die Betrachtung der uns hier interessierenden Epoche und damit der damaligen Beziehungen zum Stauferreich hatte in der zeitgenössischen Geschichtsschreibung in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts zweifellos das Schaffen von Benedykt Zientara, Autor der meisterhaften synthetisierenden und einem weiteren Leserkreis zugänglichen Monographie „Henryk Brodaty i jego czasy“ („Heinrich der Bärtige und seine Zeit“) sowie einer Skizze zu Heinrichs Vater, Boleslaus dem Langen.15 Diese ausgewogenen, von historiographischen Klischees und nationalen Vorurteilen freien Arbeiten sind Anzeichen der fortschreitenden Befreiung der Forschung über die Beziehungen zum Reich und über die deutsche Ansiedlung vom Korsett der aktuellen politischen Rahmenbedingungen. Zientara hat bei der Polemik gegen Ansichten der älteren 13 Maleczyński, Karol (Hg.): Historia Śląska, Bd. 1, 1: do roku 1763, Wrocław 1960. 14 Historia Śląska 1, 1, S. 324 f. Zu einer rein marxistischen Sicht auf die Monarchie der ersten schlesischen Piasten auch Baszkiewicz, Jan: Powstanie zjednoczonego państwa polskiego (na przełomie XIII i XIV wieku), Warszawa 1954. 15 Zientara: Henryk Brodaty (wie Anm. 10); Ders.: Bolesław Wysoki – tułacz, repatriant, malkontent. Przyczynek do dziejów politycznych Polski w XII wieku, in: Przegląd Historyczny 62 (1971), S. 367–394.

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Literatur einige Fragen aufgenommen, die bereits in Maleczyńskis Synthese enthalten waren, aber er betonte besonders die Ahistorizität der Erwägungen zu einer nationalen Identität der Personen im 12. Jahrhundert. Er wies die Sinnlosigkeit jener Ansichten nach, die aus der Tatsache, dass die schlesischen Piasten deutsche Frauen und Mütter hatten, auf ihre Germanisierung schließen wollten. Eine wichtige Rolle bei der Beurteilung des Einflusses der Staufer auf die schlesischen Herzöge im 12. und am Anfang des 13. Jahrhunderts sollen der älteren polnischen und deutschen Geschichtsschreibung gemäß die verwandtschaftlichen Beziehungen der Piasten zum Kaiserhaus gespielt haben. Ihre nahe Verwandtschaft zu König Konrad III. durch die Mutter, Agnes von Babenberg, bedingte das historiographische Bild der Ahnherrin der schlesischen Herzöge, der zwar bereits Magister Vincentius Kadłubek unbegrenzte Ambitionen und einen schlechten Einfluss auf ihren Mann zugeschrieben hat; er erklärte dies jedoch topisch mit ihrer bösen „Frauennatur“ und nicht mit ihrer Parentel oder ethnischen Herkunft. Sechshundert Jahre nach Kadłubek ist der Widerwille gegen Agnes deutlich ethnisch geworden. Die Einflüsse der deutschen Mütter und Frauen sollen auch deutschen Historikern zufolge eine bedeutende Rolle bei der Stärkung der Bindungen zum Reich gespielt und sogar eine neue, zwangsläufig deutsche Identität der Piastenherrscher von Schlesien geschaffen haben, besonders Heinrichs des Bärtigen, der als Vorläufer der Germanisierung gesehen wird. Zientara hat die Absurdität solcher Schlussfolgerungen aufgewiesen, indem er zeigte, dass auch andere Piasten dieser Periode deutscher Abstammung mütterlicherseits waren und Eheverbindungen mit Adelsfamilien im Reich eingingen, jedoch nie für germanisiert gehalten wurden. Anders als die deutsche Literatur hat er auch in den Quellen keine bedeutende Anwesenheit deutscher Ritter und Geistlicher in der Umgebung der schlesischen Herzöge um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert beobachtet, obwohl er in dem Aufsatz über Boleslaus dem Langen zugestanden hat, dass dieser Herrscher wegen seiner häufigen Anwesenheit am kaiserlichen Hofe und der Teilnahme an politischen Unternehmen Barbarossas das zweifellos am besten mit der westlichen Kultur vertraute Mitglied der polnischen Dynastie war. Andere Studien polnischer Historiker haben die Auffassung von Benedykt Zientara bestätigt und präzisiert. Dank der Forschungsergebnisse Kazimierz Jasińskis scheinen die verwandtschaftlichen Bindungen der schlesischen Piastenlinie zu den Staufern nicht mehr so offensichtlich und bedeutend. Der Forscher stellte die Existenz der zweiten Frau Boleslaus’ des Langen, Adelheids von Sulzbach, einer angeb-

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Marcin R. Pauk

lichen Cousine des Kaisers, grundsätzlich in Frage, indem er zeigte, dass nur eine späte und in Einzelheiten wenig glaubwürge Quelle von ihr berichtet. In Wirklichkeit habe der Herzog seine zweite Ehe mit der nicht näher bekannten Cristine geschlossen, die aus einer weniger mächtigen aristokratischen Familie aus Thüringen oder Sachsen stammte. Diese sei auch sicherlich die Mutter Heinrichs des Bärtigen gewesen.16 Die umfangreichen Untersuchungen von Tomasz Jurek zur ritterlichen Migration nach Schlesien und zur Hofumgebung der dortigen Piasten ließen die tatsächliche Skala und die Chronologie dieses äußerst wichtigen gesellschaftlichen Phänomens besser erkennen, das erst ein halbes Jahrhundert nach dem Tode Friedrich Barbarossas seinen Höhepunkt erreicht hat.17 Die Arbeit von Zientara war ein wichtiger Wendepunkt in der polnischen Geschichtsschreibung, in der bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts in dem uns interessierenden Themenkreis die Perspektive der traditionellen politischen Geschichte vorherrschte, welche die Einwirkung des staufischen Reiches auf die Piastenherrschaft lediglich auf eine Reihe politischer Spiele reduzierte: auf diplomatische und militärische Interventionen des Kaisers in innere dynastische Konflikte, die mit Huldigungsakten der polnischen Herzöge endeten.18 Das neue Paradigma in der Forschung zum sozialen und wirtschaftlichen System Polens in der Piastenperiode, in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts von Sławomir Gawlas eingeführt, setzt einen bedeutenden Einfluss der rechtlich-strukturellen Muster aus dem Reich voraus. Deren Aufnahme und verspätete Anpassung sollen die wirtschaftlichen Beziehungen in ganz Mitteleuropa am intensivsten in der Transformationsperiode des 12. und 13. Jahrhunderts gestaltet haben. Gawlas’ Entwurf nimmt einen großen Einfluss der Phänomene und Institutionen aus dem Reich der letzten Salier und der ersten Staufer in Polen an, d.h. die Umgestaltung der Territorialverwaltung in Form von Burg16 17

Jasiński, Kazimierz: Rodowód Piastów śląskich, Bd. 1, Wrocław 1973, S. 46 f. Jurek, Tomasz: Obce rycerstwo na Śląsku do połowy XIV wieku, Poznań 1997; Ders.: Rotacja elity dworskiej na Śląsku w XII–XIV w., in: Radzimiński, Andrzej/Wroniszewski, Jan (Hg.): Genealogia – władza i społeczeństwo w Polsce średniowiecznej, Toruń 1999, S. 7–27; die Prämisse dazu auch von Zientara, Benedykt: Die deutschen Einwanderer in Polen vom 12. bis zum 14. Jahrhundert, in: Schlesinger, Walter (Hg.): Die deutsche Ostsiedlung des Mittelalters als Problem der europäischen Geschichte (Vorträge und Forschungen 18) Sigmaringen 1975, S. 333–348. 18 Vgl. die in ihrem Stil immer noch traditionellen Erwägungen zur politischen Geschichte der zweiten Hälte des 12. Jahrhunderts: Smoliński, Marek: Caesar et duces Poloniae. Szkice z dziejów stosunków polsko-niemieckich w drugiej połowie XII wieku (1146–1191), Gdańsk 2006.

Auf dem Weg zur Scheidung?

329

grafschaften und dann Landvogteien, die Organisation der königlichen Domäne und der Ausbau der Regalienrechte, die Monetarisierung und Kommerzialisierung der wirtschaftlichen Beziehungen mit den häufigen Münzverrufungen (renovatio monetae), der Aufbau der weltlichen und geistlichen Landesherrschaften unter Einsatz unfreier Dienstleute zwecks Mediatisierung des Hochadels und Ausbau des Lehnswesens.19 Diese Wandlungen kann man am frühesten, nämlich bereits um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert, eben in Schlesien beobachten. Die Modernisierungsimpulse aus dem Umfeld der Staufer, auch mit dem Wandel der Herrschaftsauffassung verbunden, werden heutzutage ebenfalls von Archäologen und Architekturhistorikern dank der fortschreitenden Forschungen zu schlesischen Burgen und Residenzen immer deutlicher bemerkt. Die frühen herzoglichen Steinburgen in Lähn und Liegnitz wurden offensichtlich dem Raummodell der kaiserlichen Pfalzen nachgebildet.20 Gleichzeitig hat man bemerkt, dass sich die schlesischen Piasten im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts hinsichtlich der Machtideologie, der religiösen Selbstdarstellung und der Strategien der Machtlegitimierung nicht mehr am kaiserlichen Hof, sondern an den neuen lokalen Dynastien der Landesherren orientierten, nämlich an den Meißener Wettinern oder den Brandenburgischen Askaniern. Der beste, weil augenfälligste Beweis für diese deutsche Akkulturation der schlesischen Heimkehrer war die Initiative zur Gründung des eigenen Hausklosters in Leubus21, das der Wettiner Stiftung Altzelle nachgeahmt war. 19

Gawlas, Sławomir: O kształt zjednoczonego Królestwa. Niemieckie władztwo terytorialne a geneza społecznoustrojowej odrębności Polski, Warszawa 1996; zusammenfassend Ders.: Die Territorialisierung des Deutschen Reiches und die teilfürstliche Zersplitterung Polens zur Zeit des hohen Mittelalters, in: Quastiones medii aevi novae 1 (1996), S. 25–42; Ders.: Komercjalizacja jako mechanizm europeizacji peryferii na przykładzie Polski, in: Gawlas, Sławomir (Hg.): Ziemie polskie wobec Zachodu. Studia nad rozwojem średniowiecznej Europy, Warszawa 2006, S. 25–116. 20 Niegoda, Jerzy/Piekalski, Jerzy: Zamek we Wleniu, in: Wachowski, Krzysztof (Hg.): Kultura średniowiecznego Śląska i Czech. Zamek, Wrocław 1996, S. 93–99; Chorowska, Małgorzata: Rezydencje średniowieczne na Śląsku. Zamki, pałace, wieże mieszkalne, Wrocław 2003, S. 45–59. 21 Ferner Pauk, Marcin R.: „Program fundacyjny” Piastów śląskich w XII  wieku i jego środkowoeuropejskie konteksty, in: Barciak, Antoni (Hg.): Piastowie śląscy w kulturze i europejskich dziejach, Katowice 2007, S. 73–100; erweiterte deutsche Fassung: Ders.: Das „Stiftungsprogramm” der schlesischen Piasten im 12. und 13. Jahrhundert und seine mitteleuropäischen Kontexte, in: Mühle, Eduard (Hg.): Monarchische und adelige Sakralstiftungen im mittelalterlichen Polen (Stiftungsgeschichten 9) Berlin 2013, S. 417–454.

330

Marcin R. Pauk

Zusammenfassend könnte man betonen, dass die polnische Geschichtsschreibung nicht dazu neigte, die Genese der politischen Unabhängigkeit Schlesiens in einer Epoche zu suchen, die ein Jahrhundert vor dem tatsächlichen Anfang des Abkopplungsprozesses vom Reich durch die letzten Piasten lag; noch weniger brachte die Forschung dieses Phänomen mit der Tätigkeit der staufischen Herrscher in Verbindung. Die den schlesischen Herzögen zugeschriebene Rolle von Germanisierern hat die in der deutschen Literatur betonte Bedeutung der Staufer weit in den Hintergrund geschoben. Die Epoche Friederich Barbarossas, zu Recht als die Periode der deutlichsten Unterordnung Polens unter das Kaisertum betrachtet, ist deshalb bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts kein Gegenstand einer originellen Reflexion und eines besonderen Interesses der polnischen Historiker geworden.

Beiträgerverzeichnis

Christoph Cornelißen, Professor für Neueste Geschichte, Historisches Seminar der Goethe-Universität Frankfurt a. M.; Forschungsschwerpunkte: Geschichte Westeuropas im 19. und 20. Jahrhundert, Historiographiegeschichte, Geschichte der Erinnerungskulturen. Zbigniew Dalewski arbeitet im Institut für Geschichte der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau. Seine Forschung konzentriert sich auf Fragen der politischen Kultur, der symbolischen Kommunikation, der Herrschaftsauffassung und der Formen von Herrschaftssystemen in Mitteleuropa im Früh- und Hochmittelalter. Christoph Dartmann, Professor für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Hamburg. Interessenschwerpunkte: Geschichte Italiens und des Mediterraneum im Hoch- und Spätmittelalter, Kulturgeschichte des Politischen, Geschichte mittelalterlicher Religiosität. Jürgen Dendorfer, Professor für Mittelalterliche Geschichte und Direktor der Abteilung Landesgeschichte am Historischen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Breisgau. Forschungsschwerpunkte: Politische Geschichte des Früh- und Hochmittelalters, Landesgeschichte Süddeutschlands. Knut Görich, Professor für Geschichte des Früh- und Hochmittelalters an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Ordentliches Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Präsident der Gesellschaft für Staufische Geschichte (Göppingen). Forschungsschwerpunkte: Geschichte Deutschlands und Italiens im Hochmittelalter, Historiographie, Kulturgeschichte des Politischen.

332

Marcin R. Pauk

Jochen Johrendt lehrt und forscht an der Bergischen Universität Wuppertal. Er hat dort den Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte inne. Sein Interesse gilt vor allem dem Papsttum, Rom und Italien im Mittelalter, dem hochmittelalterlichen Königtum, den Hilfswissenschaften sowie der Editionswissenschaft. Jan Keupp, Professor für Geschichte des Hoch- und Spätmittelalters und Historische Hilfswissenschaften an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Die Geschichte der Stauferzeit, die Zeichensysteme ihrer politischen und sozialen Ordnung und ihre epochenübergreifende Rezeptionsgeschichte bilden Schwerpunkte seiner Forschung. Eduard Mühle, Professor für Geschichte Ostmittel- und Osteuropas an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster; 1995–2005 war er Direktor des Leibniz-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg, 2000–2001 Senior Visiting Fellow am St Antony’s College in Oxford, 2007 am Wolfson College in Cambridge; 2008–2013 leitete er das Deutsche Historische Institut in Warschau und erhielt 2014 den Alexander von Humboldt-Forschungspreis der Stiftung für die Polnische Wissenschaft; seit 2016 ist er Ausländisches Mitglied der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Krakau. Jiří Němec lehrt Geschichte der europäischen Moderne an der Masaryk Universität in Brno (Tschechien). Forschungsschwerpunkt: Wandlungen Mitteleuropas in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sein Augenmerk liegt dabei auf den identitätsstiftenden Prozessen vor und nach dem Zusammenbruch des Habsburger Reiches, dem Wandel der Geschichtskultur und Geschichtspolitik in der Zwischenkriegszeit und der Wissenschaftsgeschichte der böhmischen Länder. Marcin R. Pauk lehrt mittelalterliche Geschichte an der Warschauer Universität. Schwerpunkte seiner Forschungsinteressen sind die vergleichende Sozialund Verfassungsgeschichte Mittelosteuropas und des römisch-deutschen ­Reiches im Früh- und Hochmittelalter, Kirchengeschichte und Christianisierungsprozesse. Andrzej Pleszczyński lehrt mittelalterliche Geschichte an der Maria CurieSkłodowska Universität in Lublin (Polen). Seine wissenschaftliche Forschung konzentriert sich auf Probleme narrativer Strukturen und Stereotypen, die die

Beiträgerverzeichnis

333

gegenseitige Wahrnehmung der Völker im Mittelalter beeinflußten. Er analysiert nicht nur Texte, sondern auch Ikonographie. Martin Wihoda lehrt mittelalterliche Geschichte an der Masaryk Universität in Brno (Tschechien). Er widmet sich in seiner wissenschaftlichen Forschung und Hochschullehre den Wandlungen Mittelosteuropas im Früh- und Hochmittelalter. Sein Augenmerk liegt dabei in der Europäisierung der am östlichen Rand des römisch-deutschen Reiches angesiedelten mittelalterlichen gentes.

Register

Personenregister

Bidlo, Jaroslav 72, 79, 88, 93, 101 Bielski, Marcin 307

A

Biltz, Karl 205, 228

Adalbert, Hl. 234

Bismarck, Otto v. 23, 132, 134, 146, 219

Adelheid von Sulzbach, Tochter Gebhard

Bismarck, Wilhelm v. 158

III., Gf. v. Sulzbach 327 Agnes von Babenberg, Tochter Leopold III., Mgf v. Österreich 327 Alexander III., Papst 11, 94, 124, 174, 181–189, 196–199, 201 f. Alexander von Roes, Kanoniker 109 Altrichter, Anton 85, 92 Appelt, Heinrich 232 f., 236 Arnold v. Brescia, Prediger 180, 186 Assmann, Aleida 27 Aubin, Hermann 45 f. Augustinus, Kirchenvater 106 Augustus, K. 69

Bloch, Marc 126 Blücher, Gebhard Leberecht v. 161 Bobrzyński, Michał 322 Boguchwal 41 Böhmer, Johann Friedrich 147 f., 163, 217 Boleslav I., Hg. v. Böhmen 251, 262, 266 f., 274, 276 Boleslav II. der Fromme, Hg. v. Böhmen 258 Boleslav III. der Rote, Hg. v. Böhmen 250 Bolesław I. der Tapfere, Kg. v. Polen 250, 262, 311–313, 315

B

Bolesław II. der Kühne, Kg. v. Polen 58

Bachmann, Adolf 260,–265, 267 f., 273 f.,

Bolesław III. Schiefmund, Hg. v. Polen

276 Bandtkie, Jerzy Samuel 310 Barborová, Eva 302 Bartoszewicz, Julian 312 Bauer, Ludwig 206

37 f., 59, 313–316, 324 Bolesław IV. Kraushaar, Hg. v. Polen 39–43, 57, 61, 305–310, 312–315, 322 Bolesław der Lange, Hg. v. Schlesien 326 f.

Below, Georg v. 119

Bonifaz VIII., Papst 175

Benedikt, Hl. 81

Bořivoj II., Hg. v. Böhmen 252

Benzenberg, Johann Friedrich 210

Bosl, Karl 126

Berger, Stefan 15

Boso, Kard. u. Chronist 192, 198

Bethmann-Hollweg, Moritz August v.

Brackmann, Albert 46

144 f. Beumann, Helmut 41

Brdlík, František 86, 90 Bretholz, Bertold 260, 264–268

Register

336

Břetislav I., Hg. v. Böhmen 238–240,

E

251 f., 258, 262, 267, 273, 278, 280,

Eistert, Karl 45

283

Erben, Josef 71, 98

Břetislav II., Hg. v. Böhmen 252, 261

Eugen III., Papst 176, 199

Brunner, Otto 281 Burckhardt, Jacob 78, 121

F

Buzek, Józef 56

Ferdinand II., K. 299 Fiala, Zdeněk 233, 280, 300 f.

C

Ficker, Julius v. 118, 149–154, 161–163,

Čáda, František 301

165, 168, 188–190, 209, 225, 296 f.

Calixt III., Papst 182 f.

Filbinger, Hans 126

Calvin, Johannes, Reformator 290

Fischel, Alfred 273 f., 297

Čech, myth. Urvater der tsch. Nation 65

Fischer, Fritz 25

Colloredo-Waldsee, Anton Theodor 293

Fra Dolcino 109

Constans, K. 107

Franz II., K. 112

Cosmas v. Prag, Chronist 244

Franz I., K. 66

Cristine, mutm. Gemahlin Bolesław des

Freiherr vom Stein, Heinrich Friedrich

Langen 328 Cyrill, Hl. 64, 82

Karl 147 Freytag, Gustav 155–158, 219 Friedrich II., K. 99, 106–110, 148

D

Friedrich III., K. 110, 132

Dahn, Felix 115, 158

Friedrich der Große, Kg. v. Preußen 140,

Dehio, Ludwig 23, 25

161

Delbrück, Hans 227

Friedrich Wilhelm III., Kg. v. Preußen 138

Deutinger, Roman 176

Friedrich Wilhelm IV., Kg. v. Preußen

Długosz, Jan 41, 306–308

144, 146

Dmowski, Roman 58

Friedrich von Aragon, Kg. v. Sizilien 109

Dobner, Gelasius 249–251, 254, 267–269,

Friedrich, Hg. v. Böhmen 254, 295

282 f., 291–296, 303

Friedrich der Freidige, Mgf. v. Meißen u.

Döllinger, Ignatz v. 197 Dřímal, Jaroslav 301

Lgf. v. Thüringen 109 f. Fueter, Eduard 123

Droysen, Johann Gustav 135, 149 f., 152, 220 f., 227

G

Dudík, Beda 296

Ganshof, François Louis 238, 278

Dümmler, Ernst 163

Gawlas, Sławomir 328

Dzierswa 41

Gebhardt, Bruno 35 f.

Register

337

Georg v. Poděbrady, Kg. v. Böhmen 82

Heinrich IV., K. 133, 252, 258, 272, 310

Gerlach, Abt v. Mühlhausen 286, 291

Heinrich V., K. 37 f., 237, 252, 272, 312 f.,

Giesebrecht, Wilhelm v. 14, 123 f., 151, 156–158, 188, 190– 203, 226 f., 260,

315, 324 Heinrich VI., K. 152, 254, 258, 263 f.,

271, 273 Gindely, Anton 68, 71, 74, 76, 81–84, 86, 91, 93 f., 96, 98 f.

268, 271, 315 Heinrich I., Kg. 151, 258, 266, 270 Heinrich der Löwe, Hg. v. Bayern u.

Gottfried, Hg. v. Bouillon 160, 169

Sachsen 40, 43, 94 f., 117 f., 124, 133,

Graus, František 106

135, 140, 142, 151, 157, 212, 214 f.

Grażyński, Michał 323

Heinrich, Hg. v. Sandomir 59, 60 f.

Gregorovius, Ferdinand 120

Heinrich der Bärtige, Hg. v. Schlesien

Gregor VI., Papst 133

325 f., 328

Gregor VII., Papst 202

Heinrich, Gf. v. Groitzsch 241 f.

Grodecki, Roman 309, 322 f.

Heydebrandt, Fedor v. 44

Grundmann, Herbert 36

Hirsch, Ferdinand 36

Grünhagen, Colmar 44, 323, 325

Hockerts, Hans Günther 17

Güterbock, Ferdinand 164

Hoensch, Jörg 300

Gutschmid, Alfred v. 41

Höfler, Constantin v. 69 f. Holtzmann, Robert 36

H

Hübinger, Paul Egon 24

Habrich, Alex 294

Hus, Jan, Reformator 82, 290

Hadrian IV., Papst 180 f., 187

Hýbl, František 72 f., 79, 88, 93, 101

Haller, Johannes 23 Hampe, Karl 163, 165, 166

I

Hardtwig, Wolfgang 122

Innozenz III., Papst 177 f.

Hartog, François 19 f.

Iwaszkiewicz, Jarosław 59–61

Haverkamp, Alfred 37, 127, 164

J

Hegel, Carl v. 142 f.

Jabłonowski, Josef Alexander 292

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 121

Jaffé, Philipp 163

Heimpel, Hermann 22, 24

Jaromir, Hg. v. Böhmen 267

Heinrich Břetislav, B. v. Prag u. Hg. v.

Jaroslav v. Sternberg 65

Böhmen 285, 304 Heinrich II., K. 238 f., 250, 267, 272, 311 f., 315 Heinrich III., K. 133, 156, 189, 238, 240, 251 f., 262, 267, 273, 278

Jasiński, Kazimierz 327 Jaworski, Rudolf 66 Joachim von Fiore, Abt v. Corazzo 107 f. Johannes v. Salisbury, B. v. Chartres 195 Johann Nepomuk, Hl. 64

Register

338

Johann v. Winterthur, Chronist 110

Kovářová, Jana 68

Jurek, Tomasz 328

Kroll, Frank-Lothar 159

Justinian, K. 81 f.

Kromer, Marcin 307 f.

K

Kunigunde v. Schwaben, Tochter Kg.

Krüger, Gerhard 41 Kaczkowski, Stanisław 309 Kalousek, Josef 275, 298

Philipps v. Schwaben 289 Kutrzeba, Stanisław 323

Kapras, Jan 298 f. Karl der Große, K. 49, 65, 81 f., 85 f., 107,

L

132, 149, 151, 189, 207, 210, 219, 250,

Lampert v. Hersfeld, Chronist 251

257, 265

Lamprecht, Karl 166 f., 325

Karl IV., K. 82, 90–93, 96, 288 f., 294

Leggewie, Claus 27

Karl von Anjou, Kg. v. Sizilien 109

Lelewel, Joachim 310–313

Kasimir der Große, Kg. v. Polen 58

Lepař, Jan 74–78, 86 f., 90, 100, 123

Kasprowicz, Jan 58

Libussa, myth. Fürstin v. Böhmen 65

Kaul, Camilla G. 112

Lothar III., K. 37 f., 194, 240, 242–244,

Kejř, Jiří 280, 302 f.

253, 258, 262, 268, 277, 315

Keller, Hagen 171

Ludat, Herbert 46

Kiliç Arslan II., Sultan v. Rum 133

Luden, Heinrich 117, 139–143, 146,

Klopp, Onno 152 f.

211–217, 222 f.

Koh, Young-Suck 215

Ludwig II., Kg. v. Bayern 132

Konrad II., K. 262, 312

Luise, Kg.in v. Preußen 161

Konrad III., Kg. 37–39, 59 f., 176, 194,

Luther, Martin, Reformator 133, 290

280, 312, 323, 327 Konrad Otto, Hg. v. Böhmen u. Mgf. v. Mähren 95, 291, 295, 300 Konrad III. Otto, Hg. v. Böhmen 254, 258

M Maciej v. Miechów, Chronist 307 Maleczyński, Karol 326 f. Malota, Josef 297

Konstantin, K. 69

Mann, Golo 24

Konstanze, Gemahlin K. Heinrich VI.

Manuel I. Komnenos, K. v. Byzanz 182

229 Kop, František 301

Margarethe, Tochter K. Friedrichs II. 109

Kortüm, Friedrich 222–224

Maschke, Erich 42

Kossmann, Oskar Eugen 46

Mathilde, Gemahlin K. Heinrich V. 237

Köster, Arnold 274 f., 278, 298

Maucaulay, Thomas Babington 15, 20

Koutný, Wenzel Johann 296

Maximilian II., Kg. v. Bayern 150

Register

339

Mayer, Franz Martin 97

Otto III., K. 311

Mayer, Theodor 281 f., 300

Otto I. v. Wittelsbach, Hg. v. Bayern 196

Meinecke, Friedrich 23, 25

Otto II., Hg. v. Brünn u. Olmütz 241,

Meister, Aloys 35

243, 258

Menzel, Karl Adolph 210

Otto v. Bamberg, B. 37

Menzel, Wolfgang 210

Otto, B. v. Freising u. Chronist 176, 192,

Method, Hl. 64, 82 Methodios v. Olympos, B. 107

196, 233, 253 Otto v. St. Blasien, Chronist 229 f., 233,

Mieszko I., Hg. v. Polen 311

284

Mieszko III. der Ältere, Hg. v. Polen 307, 314, 324 Milota v. Dědice, mähr. Herr 99 Mitteis, Heinrich 238, 276, 278 Moltke, Helmuth Karl Bernhard v. 132, 161

P Palacký, František 100, 248–257, 259–261, 264 f., 267–269, 275, 278, 280, 283, 287–291, 296 f., 303 f. Paschalis III., Papst 181

Monse, Josef Vratislav 294 f.

Patze, Hans 43

Moraczewski, Jędrzej 312

Pelzel, Franz Martin 294

Moravec, Franz 293

Pelzer, Hermann 42

Münkler, Herfried 112

Pennerstorfer, Ignaz 79, 81 f., 97

Myslbek, Josef Václav 65

Pernice, Herbert 269–271, 273 f., 297 Peterka, Otto 298 f.

N

Philipp v. Schwaben, Kg. 177 f., 270

Napoleon I., K. v. Frkr. 111, 112, 116,

Pilař, Adolf 293

143, 209, 210–212, 215, 222 f. Naruszewicz, Adam 57, 308 f., 320 f.

Piotr Włostowic (Petrus Vlostides, Peter Wlast) 44 f.

Nietzsche, Friedrich 166

Piter, Josef Bonaventura 293

Nipperdey, Thomas 25, 161

Polák, Antonín 298

Nora, Pierre 8, 13, 20, 26, 30, 63

Poniatowski, Stanisław II. August, Kg. v.

Nordau, Max 209 Novák, František 72 Novotný, Václav 275, 279

Polen 308 Přemysl, myth. Fürst v. Böhmen 65, 82, 296 Přemysl Otakar I., Kg. v. Böhmen 95,

O

129, 254, 259, 261, 264, 270

Otto I. der Große, K. 107, 151, 194, 251, 262, 266 f., 270–272, 274, 276 Otto II., K. 258

Přemysl Otakar II., Kg. v. Böhmen 81 f., 92, 96–100, 288–290 Prinz, Friedrich 249, 300

Register

340

Prus, Bolesław 58

Schieder, Theodor 40

Prutz, Hans 120, 124, 160 f., 221

Schiller, Friedrich 98

Przerwa-Tetmajer, Kazimierz 58

Schilling, Friedrich 325

Pubička, Franz 292

Schlesinger, Ludwig 257–260, 264 f., 268 Schmitz, Bruno 48

R

Schneidmüller, Bernd 282

Rahewin, Chronist 41, 233 f., 307 f.

Schramm, Percy Ernst 232

Rainald v. Dassel, Eb. v. Köln 182, 185,

Schwechten, Franz 49

196

Seibt, Ferdinand 41, 300

Randt, Erich 325

Šembera, František 72, 78 f., 81 f., 86, 90

Ranke, Leopold v. 24, 155, 193, 217

Sienkiewicz, Henryk 58

Rassow, Peter 20, 24

Sigismund, K. 82

Raumer, Friedrich v. 117, 139 f., 154,

Simonsfeld, Henry 164

179–185, 202, 223–225

Smolka, Stanisław 314 f., 324 f.

Reiche, Friedrich 45

Sobański, Antoni 61

Reuter, Hermann 185–187, 202

Sobek, František 86, 96

Reuter, Timothy 126

Soběslav I., Hg. v. Böhmen 241–246, 253,

Reynolds, Susan 235, 238

258, 268, 277

Richter, Karl 300

Soběslav II., Hg. v. Böhmen 254, 258, 285

Richtsteig, Eberhard 45

Spitz, Alexander v. 52

Rickert, Heinrich 166 f.

Stefan, Kg. v. Ungarn u. Hl. 81

Ritter, Gerhard 23–25

Stránský, Pavel 298 f.

Rothe, Johannes 110

Stübben, Joseph 49

Rückert, Friedrich 111, 113

Sušová, Veronika 80

Rudolf v. Habsburg, Kg. 81 f., 84, 96–101,

Šusta, Josef 72, 79, 88, 93, 101

289

Sybel, Heinrich v. 15, 118, 122 f., 134, 137, 139, 149, 150–157, 161, 168,

S

188–190, 202, 209, 217–219, 225 f.

Salagius (Szalagy), Stephan 295

Sznaider, Natan 29

Salimbene de Adam, Chronist 108 f.

Szujski, Józef 321

Sámo, slaw. Herrscher 65 Savigny, Friedrich Carl v. 144

T

Schäfer, Arthur 272 f.

Tacitus 211

Schäfer, Dietrich 125, 227

Thiers, Adolphe 15

Scheffer-Boichorst, Paul 162–165

Thietmar, B. v. Merseburg u. Chronist

Scheiding-Wulkopf, Ilse 275–277

239

Register

341

Till, Alois 72

Walther von der Vogelweide 209

Tomek, Václav Vladivoj 298

Weber, Max 228

Treitschke, Heinrich v. 15

Wegele, Franz Xaver v. 221

U

Wenzel I., Kg. v. Böhmen 97, 289

Uhtenwoldt, Hermann 45

Wenzel II., Kg. v. Böhmen 99

Ulrich v. Brünn, mähr. Fürst 252

Wenzel, Hg. v. Böhmen u. Hl. 64, 82, 234,

V

Westphal, Alfred 52

Wegener, Wilhelm 278–280, 282, 299

258, 262, 266 Václav Hájek v. Libotschan (Wenzeslaus

Wibald, Abt v. Stablo u. Corvey 41, 176,

Hagacius), Chronist 249, 282, 291 f.

306, 308

Vaněček, Václav 279, 301 f.

Wierer, Rudolf 299

Vávra, Josef 81, 99

Wilhelm I., K. 48, 52–55, 115 f., 131 f.,

Vavřínek, František 299 Viktor IV., Papst 181, 196, 198, 201

134 f., 137, 158 f., 168, 219 Wilhelm II., K. 48, 52, 54–56, 116, 159,

Vincentius Kadłubek, B. v. Krakau u. Chronist 41, 57, 306–309, 324, 327 Vinzenz v. Prag, Chronist 233 f., 306,

161, 169 Wirth, Johann Georg August 216 Wislicenus, Hermann 48, 132 f., 135, 159,

308 f.

168, 172

Vladislav I., Hg. v. Böhmen 237, 241

Wittram, Reinhard 23

Vladislav II., Hg. u. Kg. v. Böhmen 94,

Władysław II. der Vertriebene, Hg. v.

230, 232–234, 237, 244, 254, 268, 272,

Polen 37–40, 42, 57 f., 60, 305, 307,

281, 285, 287, 303, 305

315 f., 320–323, 325 f.

Vladislav Heinrich, Hg. v. Böhmen u. Mgf. v. Mähren 286

Wojciechowski, Zygmunt 323 Woynar, Karl 91 f., 95

Vladivoj, Hg. v. Böhmen 238 f., 250, 267, 272, 276

Z

Voigt, Georg 121 f.

Zachorowski, Stanisław 322

Vollrath, Hanna 127

Zatschek, Hans 282

Voltaire (François-Marie Arouet) 209

Zeissberg, Heinrich 41

Vratislav II., Hg. u. Kg. v. Böhmen 252,

Zientara, Benedykt 324, 326–328

258, 263, 267

Zimmermann, Wilhelm 182, 184 f., 215 f.

W

Zlobický, Josef Valentin 294

Waitz, Georg 163, 208, 225 f., 260, 264 f., 268, 271–324

342

Ortsregister

Register

Konstanz 137, 149, 151 f., 162 Krain 99

Anagni 182

Krakau (Kraków) 50, 321–323

Asti 141

Krzyszkowo 305, 306 f., 309 f., 312–316,

Auerstedt 112, 211

322 f., 325

Bamberg 59, 60

Kulm (Chlumec) 241, 253

Basel 121, 147

Kyffhäuser 48, 52, 55 f., 106, 110, 113,

Berchtesgaden 111

116, 120, 127 f., 133, 159, 169, 226

Berlin 116 f., 125, 163, 205, 214

Lähn (Wleń) 329

Besançon 176, 184, 196

Legnano 137, 143, 182, 214

Beuthen (Bytom) 305

Leipzig 121, 143

Bonn 157

Lemberg (Lwiw) 50, 56

Breslau (Wrocław) 39, 44, 323 f.

Leubus (Lubiąż) 329

Brünn (Brno) 9 f., 293

Liegnitz (Legnica) 323, 329

Byzanz 107

Lodenitz (Loděnice) 287

Chiavenna 133, 157

Lodi 128

Crema 141

Lübeck 206

Danzig (Gdańsk) 120, 221

Mailand 94, 117, 128, 136, 139, 141, 143,

Eger (Cheb) 129, 285

145, 157, 229

Erlangen 142

Mecklenburg 142

Essen 22

München 118, 123, 157

Glogau (Głogów) 305

Olmütz (Olomouc) 65, 293, 295

Goslar 115, 131 f., 138, 159, 168, 172

Österreich 65, 67, 70, 82, 84, 94, 97, 100

Göttingen 185

Palermo 49

Grünberg (Zelená Hora) 65

Pavia 181, 185, 187, 198

Iconium (Konya) 133

Posen (Poznań) 39, 305 f.

Innsbruck 118

Prag (Praha) 90, 92, 123, 261, 285, 287,

Jena 112, 117, 211, 220 Jerusalem 59, 107, 160 Kaina 323

291, 294 Regensburg 206, 250, 267, 276, 285, 287, 291, 295

Kaiserslautern 111

Rom 186

Kärnten 99

Roncaglia 136, 142, 157, 160, 165

Königgrätz (Hradec Králové) 218

Rostock 142

Königinhof (Dvůr Králové) 65

Salzburg 111

Königsberg (Kaliningrad) 123

Spoleto 141

Konstantinopel 69

St. Petersburg 54 f.

Register

343

Straßburg 163

Warschau (Warszawa) 50 f.Wien 71, 214

Stuttgart 126, 128

Wilna (Vilnius) 51

Sutri 180 f., 184, 186, 195

Wreschen (Września) 48

Tannenberg (Grunwald) 8

Zettlitz (Sedlec) 285

Tortona 141 Untersberg 111 Venedig 151, 162, 183, 185, 187, 190, 199, 200

MATTHIAS BECHER, HARALD WOLTER-VON DEM KNESEBECK (HG.)

DIE KÖNIGSERHEBUNG FRIEDRICHS DES SCHÖNEN IM JAHR 1314 KRÖNUNG, KRIEG UND KOMPROMISS

Die Krönung des Habsburgers Friedrich des Schönen im Bonner Münster am 25. November 1314 prägte das römisch-deutsche Königtum nachhaltig, da am gleichen Tag sein Vetter Ludwig der Bayer in Aachen zum König erhoben wurde. In der Folgezeit bekriegten sich beide Herrscher, gelangten aber nach mehr als zehn Jahren zu einem bemerkenswerten Kompromiss und übten die Herrschaft im Rahmen eines Doppelkönigtums gemeinsam aus. Der Band nimmt einen Perspektivenwechsel vor: weg von dem erfolgreicheren und daher intensiver erforschten Ludwig dem Bayern hin zu Friedrich dem Schönen; thematisiert werden neue Aspekte seiner Reichs- und Hausmachtpolitik sowie von Recht, Kultur und Kunst seiner Zeit, die auf einer interdisziplinären Tagung in Bonn anlässlich seines Krönungsjubiläums diskutiert wurden. 2017. 356 S. 15 S/W- UND 37 FARB. ABB. GB. 155 X 230 MM. ISBN 978-3-412-50546-2

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