Fördern und Auslesen: Deutungsmuster von Lehrpersonen zu einem beruflichen Dilemma (German Edition) 3531153463, 9783531153469

Zwischen Fördern und Auslesen besteht eine für den Lehrberuf konstitutive Spannung. Die Studie untersucht, auf welche Hi

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Fördern und Auslesen: Deutungsmuster von Lehrpersonen zu einem beruflichen Dilemma (German Edition)
 3531153463, 9783531153469

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Ursula Streckeisen · Denis Hänzi · Andrea Hungerbühler Fördern und Auslesen

Ursula Streckeisen · Denis Hänzi Andrea Hungerbühler

Fördern und Auslesen Deutungsmuster von Lehrpersonen zu einem beruflichen Dilemma

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Gedruckt mit Unterstützung der Pädagogischen Hochschule Bern (PHBern)

. . 1. Auflage September 2007 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007 Lektorat: Monika Mülhausen Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15346-9

Inhalt 1

Einleitung .......................................................................................................9

2

Fördern und Auslesen in professionalisierungstheoretischer Perspektive ...................................................................................................14 2.1

Historische Aspekte zur Entwicklung des modernen Schulwesens und des Lehrberufs.............................................................................15 2.1.1 2.1.2

2.2

Die Spannung zwischen pädagogischen Aufgaben und der Selektion.............................................................................................26 2.2.1

2.2.2

3

Zur Herausbildung des modernen Schulwesens ..................15 Zur Herausbildung des Lehrberufs als halbfreie Amtsprofession ....................................................................21

Die Diskussion in der soziologisch-pädagogischen Theorie .................................................................................26 2.2.1.1 Übersicht über die wichtigsten Positionen.............26 2.2.1.2 Wer fördert? Wer selegiert? Die Rolle der Lehrperson in den referierten Positionen...............34 Weiterführende Überlegungen mit Blick auf die vorliegende Studie................................................................37 2.2.2.1 Die Aufgaben der Lehrperson................................37 2.2.2.2 Die Antinomie zwischen pädagogischen und selektionsbezogenen Aufgaben..............................47

Fragestellung und Verfahren der Studie ..................................................53 3.1

Kulturelle Deutungen von Lehrpersonen: ein Überblick...................53 3.1.1 3.1.2 3.1.3

Berufliches Selbstverständnis von Lehrpersonen ................54 Vorstellungen über Schule, soziale Ungleichheit und die Gesellschaft..........................................................................59 Neueste mikro-orientierte Selektionsstudien und Fazit .......61

3.2

Zur Fragestellung: Deutungsmuster von Lehrpersonen zu einem beruflichen Handlungsproblem..........................................................62

3.3

Methodisches Vorgehen.....................................................................66 3.3.1 3.3.2 3.3.3

Sample und Erhebung ..........................................................66 Analyse.................................................................................69 Typenbildung .......................................................................71 5

3.3.4 4

Zum Forschungsfeld: das Berner Bildungswesen....................................74 4.1

Die Organisation des Schulwesens im Kanton Bern .........................74 4.1.1 4.1.2 4.1.3

4.2

4.2.3 4.2.4 4.2.5 4.3

Schullaufbahnentscheide......................................................90 Selektionsentscheide auf der Primarstufe ............................90 Selektionsentscheide auf der Sekundarstufe I .....................92

Die Aufgaben der Schule und der Lehrperson...................................96 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4 4.4.5

Der Unterricht ......................................................................97 Förderung .............................................................................99 Beurteilung.........................................................................101 Diagnose und Prognose......................................................105 Selektion.............................................................................106

Deutungsmuster von Lehrpersonen zum Dilemma von Fördern und Auslesen – eine Typologie .................................................................108 5.1

Typ 1: Auslese der Besten ...............................................................109 5.1.1

5.1.2 5.1.3

6

Der Kindergarten..................................................................77 Die Volksschule ...................................................................79 Exkurs: Schulmodelle auf der Sekundarstufe I ...................80 Die Sekundarstufe II ............................................................86 Die Tertiär- und die Quartärstufe.........................................88 Die Ausbildung der Volksschullehrkräfte ...........................88

Selektionsentscheide in der Volksschule ...........................................89 4.3.1 4.3.2 4.3.3

4.4

Zuständigkeiten des Kantons ...............................................74 Zuständigkeiten der Gemeinden ..........................................75 Die Schule ............................................................................75

Aufbau des Bildungssystems des Kantons Bern................................77 4.2.1 4.2.2

5

Darstellung ...........................................................................72

Fall Lisbeth Kramer ...........................................................110 5.1.1.1 Analyse der Eingangssequenz .............................110 5.1.1.2 Erweiterung der Analyse......................................116 5.1.1.3 Zusammenfassung................................................122 Kontrastierung mit weiteren Fällen ...................................123 Zusammenfassung des Deutungsmustertyps .....................136

5.2

Typ 2: Selektion als Platzanweisung ...............................................142 5.2.1

5.2.2 5.2.3 5.3

Typ 3: Disziplinierung .....................................................................178 5.3.1

5.3.2 5.3.3 5.4

5.4.2 5.4.3

5.5.2 5.5.3

6

Fall Magali Vogel ..............................................................212 5.4.1.1 Analyse der Eingangssequenz .............................213 5.4.1.2 Erweiterung der Analyse......................................217 5.4.1.3 Zusammenfassung................................................224 Kontrastierung mit weiteren Fällen ...................................225 Zusammenfassung des Deutungsmustertyps .....................238

Typ 5: Fördern jenseits der Selektion ..............................................242 5.5.1

5.6

Fall Brigitta Haller .............................................................179 5.3.1.1 Analyse der Eingangssequenz .............................179 5.3.1.2 Erweiterung der Analyse......................................185 5.3.1.3 Zusammenfassung................................................191 Kontrastierung mit weiteren Fällen ...................................194 Zusammenfassung des Deutungsmustertyps .....................207

Typ 4: Ringen um das Arbeitsbündnis.............................................212 5.4.1

5.5

Fall Rolf Wyss ...................................................................143 5.2.1.1 Analyse der Eingangssequenz .............................143 5.2.1.2 Erweiterung der Analyse......................................148 5.2.1.3 Zusammenfassung................................................157 Kontrastierung mit weiteren Fällen ...................................159 Zusammenfassung des Deutungsmustertyps .....................172

Fall Peter Schwarzenbach ..................................................242 5.5.1.1 Analyse der Eingangssequenz .............................243 5.5.1.2 Erweiterung der Analyse......................................247 5.5.1.3 Zusammenfassung................................................258 Kontrastierung mit weiteren Fällen ...................................259 Zusammenfassung des Deutungsmustertyps .....................274

Die Generation der jüngeren Lehrkräfte: zwischen Novizentum und neuen Deutungsmustern............................................................277

Integration und Ausblick..........................................................................288 6.1

Integration der empirischen Ergebnisse...........................................288

6.2

‚Fördern und Auslesen’ im Kontext der Bildungspolitik ................303

6.3

Ausblick ...........................................................................................311 7

Verzeichnisse ....................................................................................................318 Abbildungen................................................................................................318 Literatur und Dokumente............................................................................318 Literatur ...........................................................................................318 Gesetze, Verordnungen, Dekrete, Weisungen, Lehrpläne...............336 Abkürzungsverzeichnis...............................................................................337 Dank ..................................................................................................................340

8

1 Einleitung Dass sich die Schule als gesellschaftliche Institution zwischen den beiden Polen des ‚Förderns’ und ‚Auslesens’ bewegt, gehört zum tradierten Wissenskorpus von Bildungssoziologie und Schulforschung. Diese strukturfunktionalistisch inspirierte Sichtweise hat zudem längst in Alltagstheorien diffundiert und findet sich auch in Schriften für die Lehrerinnen- und Lehrerfortbildung1 wieder. Die Schule – dies die Auffassung – hat nicht allein den pädagogischen Auftrag, jede Schülerin und jeden Schüler individuell zu fördern, sie ist auch dem Prinzip der Auslese verpflichtet. So nüchtern und einfach sich diese doppelte Aufgabe umschreiben lässt, so heftig sind die Kontroversen, die das Begriffspaar ‚Fördern und Auslesen’ beziehungsweise die politischen Vorstellungen, die sich damit verbinden, in der Öffentlichkeit ausgelöst haben. Wie die Geschichte der Bildungspolitik deutlich macht, kreisen die Diskussionen über die Gestaltung des Bildungswesens, vor allem auch der Volksschule, immer wieder um die Frage, ob genug und ‚richtig’ gefördert beziehungsweise ob genug (oder allenfalls: zu viel) und ‚richtig’ selegiert wird. Die in der Aufbruchstimmung der 1960er und 1970er Jahre ausgelösten Debatten waren von der Irritation gespeist, dass die schulische Praxis dem Selbstverständnis der modernen Gesellschaft widerspreche, wonach alle Menschen dieselben Bildungschancen haben und soziale Ungleichheit durch die Schule abgebaut wird. Implizit ging man von der Hintergrundüberzeugung aus, dass die Schule eine „Dirigierstelle“ (Schelsky 1956) für den künftigen sozialen Rang des Heranwachsenden darstellt, sprach also dieser Institution erhebliche Handlungsmacht zu. Die Absicht, Ungleichheit zu verringern, steht für einen Förderanspruch, der sich im damaligen Denken mit Massnahmen der ‚kompensatorischen Erziehung’ verbunden hat: Die sozialen und kulturellen Ressourcen von minderprivilegierten Schülerinnen und Schülern sollten erweitert und damit ihre Schulerfolgschancen jenen privilegierter Kinder angeglichen werden. Es gab auch weit radikalere Positionen wie etwa jene von Illich, der die „Entschulung der Gesellschaft“ (1972[1970]) forderte und für eine Schule eintrat, die – statt zu selegieren und Ungleichheit zu reproduzieren – die Schülerinnen und Schüler auf ein nicht entfremdetes, schöpferisches Leben vorbereitet. Gleichzeitig wurde bereits damals – und nicht erst seit Veröffentlichung der PISA-Studien – die Kritik 1

In dieser Studie werden mehrheitlich geschlechtsneutrale Begriffe verwendet. Wo dies nicht möglich ist, werden beide Formen – die weibliche und die männliche – angeführt. Würde dies die Lesbarkeit markant erschweren, wird lediglich die weibliche Form verwendet, die – wenn nicht explizit auf das Gegenteil aufmerksam gemacht wird – stets für beide Geschlechter steht (dies betrifft v.a. den Begriff ‚Schülerin’).

9

formuliert, dass schulische Selektion nicht gemäss dem Leistungsprinzip erfolgt (vgl. z.B. Haefeli/Schräder-Näf/Häfeli 1979) – eine Kritik, in welcher sich das Selbstverständnis der modernen Gesellschaft als Leistungsgesellschaft manifestiert. Im Zuge solcher Debatten und vor dem Hintergrund gesellschaftskritischer Analysen des Schul- und Bildungswesens erstarkte der politische Wille, die hierarchische und hierarchisierende Struktur der Schule zu überdenken und die qua Selektion erfolgende Aufteilung der Schülerinnen und Schüler auf die verschiedenen Schultypen neu zu gestalten, um so die Chancengleichheit zu erhöhen beziehungsweise ein ‚Funktionieren’ des Leistungsprinzips zu ermöglichen. Als Ergebnis der darauf folgenden Bemühungen sind die im Falle der Schweiz in den 1980er und 1990er Jahren eingeführten Schulstrukturen zu betrachten, die auch gegenwärtig noch vorhanden sind. Diese weisen nach wie vor eine vertikale Gliederung auf und machen entsprechend eine Selektion der Schülerinnen und Schüler erforderlich. Doch verbindet die Bildungspolitik damit einen Anspruch auf ‚Durchlässigkeit’: Selektionsentscheide sollen – wo angezeigt – ‚revidiert’ werden können. Der Durchlässigkeitsanspruch und seine institutionelle Umsetzung durch die Einführung entsprechender Schulmodelle setzt voraus, dass in bildungspolitischen Milieus keine „statische Begabungsauffassung“ (Rolff 1997, 141) vorherrscht, sondern das Handeln von der Auffassung angeleitet wird, schulische Leistungsfähigkeit lasse sich qua Förderung positiv beeinflussen. Eine Schülerin, ein Schüler – dies die Vorstellung – kann im Verlauf der schulischen Laufbahn zu einer Leistungsverbesserung angehalten werden, welche die einst gefällte Selektionsentscheidung als nicht länger ‚richtig’ erscheinen lässt. Auch die Möglichkeit der Verschlechterung von Leistung – und eine entsprechende ‚Korrektur’ der ursprünglichen Selektionsentscheidung nach unten – ist im Durchlässigkeitsdiskurs enthalten. Gemäss der impliziten Logik der bildungspolitisch beanspruchten ‚Durchlässigkeit’ der Schulstrukturen ‚schmiegt’ sich die Frage nach der ‚Richtigkeit’ der Selektion, die auf interindividuellem Vergleich zu basieren hat, gleichsam jener der intraindividuellen Entwicklung einer Schülerin, eines Schülers an. Fördern und Auslesen werden damit enger ineinander verwoben. Interessanterweise entwickelt sich parallel zu eben diesen Entwicklungen der bildungspolitische Anspruch, Fördern und Auslesen mehr voneinander zu trennen. In der ersten Hälfte der 1980er Jahre legte die Schweizerische Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) Grundlagen für eine neu verstandene Beurteilung von Schülerinnenleistungen vor, welche die Absicht verfolgten, förder- und selektionsorientiertes Beurteilen zu „entflechten“: Mit dem Ziel, eine „pädagogischere“ Beurteilung in der Volksschule zu ermöglichen, wurde neu zwischen 10

der „formativen“, „lernprozessunterstützenden“ und der „summativen“, „bilanzierenden“ Beurteilung unterschieden (Vögeli-Mantovani 1999, 26ff.). Zwar wurde eine diesbezügliche Bestimmung nur vorübergehend (bis 2004) in einem Kommentar zur Verordnung des Kantons Bern festgehalten, doch ist der Diskurs über summatives und formatives Beurteilen im Schulmilieu nach wie vor verbreitet. Der Initiative der Erziehungsdirektoren liegt die implizite Überzeugung zugrunde, dass Förder- und Selektionsprozesse zu stark ineinander verwickelt sind, ja, dass das Beurteilen etwas wenig Pädagogisches sei. Die Entflechtungsidee lässt sich als bildungspolitisches Interpretationsschema verstehen, das die Spannung zwischen Fördern und Auslesen verringern will. Sosehr die Gleichzeitigkeit von Förderanspruch und Selektionszwang auf der organisatorisch-institutionellen Ebene des Schulsystems durch Widersprüchlichkeiten gekennzeichnet ist, sosehr manifestiert sich diese Gleichzeitigkeit nachgerade für jene Akteurin als äusserst spannungsvoll, für die ‚Fördern und Auslesen’ zum Berufsalltag gehört: die Lehrperson. Ihr gilt die Aufmerksamkeit der vorliegenden Studie. Durch ihre Aufgabe, Schülerinnen und Schüler sowohl zu fördern als auch zu selegieren, finden sich Lehrpersonen mit einem spezifischen beruflichen Handlungsproblem konfrontiert. Dieses ist seit der Herausbildung der obligatorischen Volksschule im 19. Jahrhundert und der Verberuflichung der Lehrertätigkeit durch eine nationalstaatlich initiierte, in der Schweiz kantonal gesteuerte ‚Professionalisierung von oben’ für den Lehrberuf konstitutiv. Mit Blick auf die Formulierung eines theoretischen Rahmens zu diesem Handlungsproblem knüpft die vorliegende Arbeit an die klassische, strukturfunktionalistisch und professionssoziologisch ausgerichtete Lehrerforschung an, welche die Selektion im Zusammenhang mit der „Konfliktstruktur der Lehrerrolle“ (Reinhardt 1978) beziehungsweise dem „Anwalt-Richter-Dilemma“ (Nave-Herz 1977) diskutierte. In Auseinandersetzung mit damaligen Positionen, aber auch unter Bezugnahme auf die neuere Debatte über „Antinomien“ im Lehrberuf (z.B. Helsper 1996) schlägt sie professionalisierungstheoretische Präzisierungen zur Analyse des Lehrberufs vor, die es erlauben, die Widersprüchlichkeit zwischen Fördern und Auslesen als objektives Handlungsproblem im Lehrberuf konzeptuell genauer als bisher zu fassen. Die Hauptthese lautet, dass die Lehrperson aufgrund ihres Selektionsauftrags nicht umhin kann, einem Teil ihrer Schülerinnen und Schülern ‚pädagogisch sinnlosen Schmerz’ zuzufügen. Zwar gibt es in Lehr-Lern-Prozessen ‚pädagogisch sinnvolle Schmerzen’, die von der Lehrperson zugefügt und von der Schülerin in Kauf zu nehmen sind, weil sie ihrer Entwicklung dienen. Zu denken ist etwa an das Fehlermachen und ‚Korrigiertwerden’ der Schülerinnen und Schüler, mit dem sich Oser/Spychiger in 11

ihrem Buch „Lernen ist schmerzhaft“ (2005) auseinandersetzen. Die Lehrperson ist in dieser Hinsicht mit einem Chirurgen vergleichbar, der einen Eingriff vornimmt, um den Patienten zu heilen. Jener Schmerz indessen, den die Lehrperson mit der Selektion – genauer: mit der Negativselektion – zufügt, hat keinen pädagogischen Sinn. Der ‚Misserfolg’, den eine negative Selektion mit sich bringt, schneidet künftige Ausbildungs- und Berufschancen ab und fügt der Schülerin eine narzisstische Kränkung zu, die einen Leistungsabfall zur Folge haben kann. Im Fall von Promotionen bzw. Nicht-Promotionen, Zulassungen bzw. NichtZulassungen und weiteren schulkarriererelevanten Entscheiden hat Selektion unmittelbar akuten Charakter. Doch geht ihre Wirkungsmacht weit darüber hinaus: Der gesamte schulische Alltag, jedes zustimmende Lächeln und jedes kritische Stirnrunzeln der Lehrperson stehen unter dem Stern der Selektion. Für die Schülerin, den Schüler stellt die Lehrperson daher immer schon eine ‚bedrohliche’ Richterin dar. Die Etablierung eines pädagogischen Arbeitsbündnisses ist unter diesen strukturell gegebenen Bedingungen verunmöglicht. Das hat zur Folge, dass die Autonomieentwicklung der Lernenden – im Vergleich zu einer Situation, in der eine Zufügung pädagogisch sinnlosen Schmerzes weder permanent droht noch effektiv erfolgt – eine Beeinträchtigung erfährt. Im empirischen Teil der vorliegenden Arbeit wird in mikrosoziologischkulturwissenschaftlicher Perspektive danach gefragt, wie Lehrkräfte deutend damit umgehen, dass sie neben den pädagogischen Verpflichtungen gleichzeitig auch Selektionsentscheide in die Wege zu leiten haben, also pädagogisch sinnlosen Schmerz zufügen müssen. Die Aufmerksamkeit gilt der Frage, auf welche impliziten und expliziten Interpretationsschemata Lehrpersonen zurückgreifen, wenn sie ihre pädagogischen und ihre selektionsbezogenen Aufgaben interpretieren und gestalten, welche Hintergrundüberzeugung sie also heranziehen, um angesichts der Spannung zwischen pädagogischen und selektionsbezogenen Aufgaben handlungsfähig zu bleiben und sich in der Zerreissprobe zu entlasten. Die interessierenden Hintergrundüberzeugungen werden als Deutungsmuster aufgefasst. Damit wird die Forschungsproblematik in Anlehnung an den Deutungsmusteransatz formuliert, der in der Soziologie und den Erziehungswissenschaften weit verbreitet ist. Deutungsmuster sind als kollektive, also überindividuelle Sinngehalte zu verstehen, die dem einzelnen Individuum als eingespielte Formen der Wahrnehmung und Interpretation der Welt dienen und damit sein Handeln anleiten. Im Vergleich zu singulären Deutungen, Einstellungen und Meinungen sind Deutungsmuster auf einer mehr oder weniger latenten, tiefenstrukturellen Ebene angesiedelt und nur begrenzt diskursiv verfügbar. Deutungsmuster kennzeichnen sich zudem durch einen funktionalen Bezug auf ein objektives Handlungsproblem, in unserem Fall die widersprüchliche Doppelaufgabe von Fördern und Selegieren bei der Lehrperson. Für die alltägliche 12

Bewältigung des Handlungsproblems stellen Deutungsmuster verbindliche Routinen zur Verfügung und machen das Leben angesichts der Probleme praktikabel und erträglich. Es ist zum Beispiel denkbar, dass Lehrpersonen – gleich wie die Politik – Entflechtungsstrategien verfolgen und auf der Ebene ihrer Deutungen entsprechende Trennungen vornehmen. Möglich ist aber auch, dass sie die Selektion in ihrem Denken ‚wegbefördern’ und als Aufgabe betrachten, die nicht zum Lehrberuf gehört, sondern beispielsweise der Schule obliegt. In der Untersuchung, die diesem Buch zugrunde liegt, wurden 37 Volksschullehrpersonen im Rahmen von nicht-standardisierten Interviews befragt. Die Interviewpartnerinnen und -partner arbeiteten während der beiden Erhebungsphasen (März 2004 bis Juni 2005; März bis Mai 2006) alle in der Stadt Bern. Ausgewertet wurden die Interviews gemäss den Regeln der Sequenzanalyse, wie sie im Rahmen der Objektiven Hermeneutik entwickelt wurden. Durch eine Kontrastierung nach maximalen und minimalen Unterschieden wurde sodann eine Typologie von Deutungsmustern erstellt, die strukturell verortet wurden. Die Deutungsmustertypen werden also daraufhin betrachtet, mit welchen objektiven Merkmalen der Lehrpersonen sie in Zusammenhang stehen (soziale Herkunft, Schultyp u.a.m.). Es kann davon ausgegangen werden, dass die Ergebnisse auf den restlichen deutschsprachigen Raum übertragbar sind, da die Strukturen des Bildungswesens und dessen historische Entstehung in Deutschland, Österreich und der Deutschschweiz grosse Ähnlichkeiten aufweisen. Im Folgenden wird zunächst die der Arbeit zugrunde gelegte theoretische Perspektive auf den Lehrberuf entwickelt (Kapitel 2). In Kapitel 3 folgen die Erörterung der Fragestellung, eine Zusammenfassung des Forschungsstands sowie die Erläuterung des methodischen Verfahrens. Kapitel 4 ist dem Berner Bildungswesen – also dem Forschungsfeld, aus dem die befragten Lehrpersonen stammen – gewidmet. Danach wird die erarbeitete Deutungsmustertypologie präsentiert (Kapitel 5). Schliesslich bietet Kapitel 6 eine Integration der Untersuchungsergebnisse sowie einen Ausblick.

13

2 Fördern und Auslesen in professionalisierungstheoretischer Perspektive In der Auseinandersetzung mit dem Lehrberuf sind immer auch schon Spannungen thematisiert worden (vgl. die Zusammenstellung von Tanner 1993, 163). So hat etwa in der professionalisierungstheoretischen Variante der Professionstheorie (Linie Freud-Parsons-Oevermann) das professionalisierte Handeln die Form einer Beziehungspraxis, die als widersprüchliche Einheit von spezifischem Rollenhandeln und einer diffusen Sozialbeziehung zu begreifen ist. Ohne diese Spannung ist professionalisiertes Handeln nicht denkbar: ihr Durchhalten erst ermöglicht professionalisiertes Handeln.2 Demgegenüber geht es in der Diskussion über die Spannung zwischen Profession und Organisation um die Frage, wie das Eingebettetsein in eine Organisation professionelles Handeln beeinflusst: Diese Spannung – so die verbreitete These – verunmöglicht professionalisiertes Handeln oder erschwert es zumindest. Fragen dieser Art stellen sich insbesondere bei sogenannten Semiprofessionen wie Sozialarbeit und Pflege oder aber im Zusammenhang mit der Deprofessionalisierung klassischer Professionen (Bollinger/Hohl 1981, Brunkhorst 1996, Gildemeister 1993, Schütze 1996). Auch für den Lehrberuf wird diese Diskussion geführt (Dewe/Radtke 1991, Hurrelmann 1975, Lortie 1969, Schütze 1996, Terhart 1990; 1996). Es ist zu erwarten, dass sich infolge der ‚Teilautonomisierung’ der Schule, die eine Verbetrieblichung derselben mit sich bringt, diese Spannung noch verschärft. Die Spannung, die in der vorliegenden Arbeit interessiert, ist jene zwischen pädagogischen und selektionsbezogenen Aufgaben. Sie ist ursprünglich ausserhalb der Professionstheorie thematisiert, von dieser aber aufgenommen worden. Im Folgenden werden zunächst historische Befunde zur Entwicklung der Schulstrukturen und des Lehrberufs in der Schweiz präsentiert, die für das Verständnis des Verhältnisses zwischen Fördern und Auslesen wichtig sind. Anschliessend folgen Erörterungen zum pädagogischen und selektionsbezogenen Aufgabenbereich der Lehrperson. Dabei wird – in Auseinandersetzung mit der Literatur – unser eigenes Verständnis der Spannung von Fördern und Auslesen entwickelt.

2

Für die pädagogische Rezeption und Diskussion des professionalisierungstheoretischen Ansatzes vgl. insbesondere Combe/Helsper (1996), Dewe/Ferchoff/Radtke (1992), auch Bastian/Helsper/Reh/ Schelle (2000).

14

2.1 Historische Aspekte zur Entwicklung des modernen Schulwesens und des Lehrberufs Unser Schulsystem steht in einer direkten Linie zur Aufklärung und zur Französischen Revolution. Im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts konstituierte sich eine bürgerliche Gesellschaft, die sich von der aristokratischen und der klerikalen Macht emanzipierte und Standesprivilegien bekämpfte. Gleichzeitig entwickelte sich – vor allem im 19. Jahrhundert – der Nationalstaat; er trat bezüglich der Gestaltung von Bildungsprozessen mit der Zeit an die Stelle der Kirche. Ein wichtiges Instrument zur Überwindung der ständischen Gesellschaft wurde damals in einem staatlich verfassten Bildungssystem gesehen, das eine allgemeine unentgeltliche, obligatorische Volksschule zur Grundlage hat, welche die Zugänge zu weiterführenden Schulen nicht über Merkmale der Geburt, sondern über Leistung steuert. In diesem Zusammenhang wurde auch ein Selektionssystem eingeführt. Eine zentrale Akteurin in diesem institutionellen Gefüge wurde die Lehrperson. Der Lehrberuf bildete sich gleichzeitig mit dem modernen Schulsystem heraus und war in seiner Entwicklung von Anfang stark durch nationalstaatliche Interessen geprägt. 2.1.1 Zur Herausbildung des modernen Schulwesens Im 18. Jahrhundert setzte sich das Schulwesen noch aus sehr unterschiedlichen Institutionen zusammen, denen auch unterschiedliche Ideen zugrunde lagen. Was man als ‚Schulen’ dieser Zeit bezeichnen kann, war in der Schweiz mehrheitlich in kirchliche Einrichtungen eingebettet, die ihrerseits eng mit dem politischen Herrschaftssystem der einzelnen Kantone verbunden waren. Zum Idealtypus einer konfessionellen Volksschule vor 1800 gehörten die kirchlichstaatliche Leitung, die Beaufsichtigung der Lehrer durch die Pfarrer, die konfessionelle Homogenität der Schulklasse (übereinstimmend mit der Konfession des Lehrers und der konfessionellen Zusammensetzung der Aufsichtsbehörden in den Schulgemeinden), die religiöse Ausrichtung der Lehrmittel und der konfessionelle Religionsunterricht. Hinzu kommen Ordnungs- und Vorsingerdienste des Lehrers in der Kirche (Osterwalder 1997, Späni 1999). Die Verweltlichung des Schulstoffs setzte in den reformierten Schulen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein. In den Auseinandersetzungen über die Schulreformen hatten jene Debatten grossen Einfluss, die im revolutionären Frankreich über die Errichtung eines neuen Schulsystems stattfanden. Schule wird nun als eine öffentliche institutionelle Einheit betrachtet; sie bekommt zur Aufgabe, den Menschen den Zugang zur Öffentlichkeit sicherzustellen und damit die demokratische Kontrolle über 15

Staat und Gesellschaft zu emöglichen (Osterwalder 1997). Die moderne Vorstellung, dass Erziehung und Bildung nicht nach ständischen und religiösen Gesichtspunkten zu verfahren habe, wurde in der Schweiz von Philipp Albert Stapfer – ursprünglich Berner Pfarrer, dann Minister für Künste und Wissenschaft der Helvetischen Republik – durchgesetzt (Jenzer 1998, Osterwalder 1989; 1997, Rhyn 1999). In seinem Erziehungsplan von 1799 entwirft Stapfer – auf der Basis seiner Beschäftigung mit den Schriften Condorcets – die Grundstrukturen der modernen Schule, wie sie bis heute besteht. Sein Plan sieht ein dreistufiges Bildungswesen vor.3 Die erste Stufe, die „Bürgerschule“ (später: „Volksschule“), sollte allen Menschen ausnahmslos zugänglich sein und ihnen Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten vermitteln, die es ihnen erlauben, sich beruflich, gesellschaftlich und dem Staat gegenüber vernunftgemäss zu verhalten (Osterwalder 1989, 270). Der zweiten Stufe wurden die Berufsausbildung, das Gymnasium als wissenschaftliche Propädeutik und die „technischen Schulen“ (Rhyn 1999, 43) zugeordnet. Die dritte Stufe sollte die Universität oder „Centralschule“ sein (Osterwalder 1997, 253): Sie sollte die Wissenschaften lehren und die gesamte Kultur vermitteln.4 Dass die unterste Stufe und nur sie – gemäss damaligem Konzept – von allen besucht werden können sollte, wurde zum Teil ganz offen formuliert. Rhyn zufolge hat etwa der Zürcher Pfarrer Johannes Schulthess 1778 gefordert, die demokratischen Freiheiten sollten „jedem“ den Weg zu allen Berufen und Ämtern öffnen, aber „diese Freyheit darf von jedem nur insoweit geltend gemacht und ausgedehnt werden, als seine natürlichen und erworbenen Fähigkeiten hinreichen“ (Rhyn 1999, 42). Zur realen Durchsetzung der Reformen kam es erst in den 1830er Jahren, als in einer Reihe von Kantonen die liberalen Erneuerer an die Macht gelangten (Osterwalder 1997). Die verschiedenen, sich neu entwickelnden Stufen des Bildungswesens kamen nationalstaatlichen Interessen entgegen. Der aufkommende Nationalstaat schuf – unter anderem – einen Beamtenapparat, der neu entstandene Funktionen zu übernehmen hatte. Da dieser Staat sich schulisch gut vorbereitete Beamte wünschte, wurde er zum Promotor eines Berechtigungswesens, das festlegt, welche Ausbildungsabschlüsse zu welchen Beschäftigungen berechtigen. Das 3

Wie Jenzer (1998) aufzeigt, hat diese Dreiteilung ihre Wurzeln im 16. Jahrhundert, als sich neben der zunächst noch mittelalterlich-zünftisch organisierten Berufslehre die – auf die Antike zurückweisenden – städtischen Gymnasien verbreiteten und gleichzeitig erstmals Schulen für das Volk aufgebaut wurden. Letztere sollten protestantisch-religiöse Bildung und elementare Kulturtechniken vermitteln (Jenzer 1998, 15ff.). 4 Osterwalder (1997, 253) spricht noch von einer vierten Stufe, die Stapfer vorsieht: ein „Centralinstitut“. Es sollte aus den besten Lehrern der Centralschule gebildet werden und Forschung betreiben, also der Entstehung von neuem Wissen dienen.

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Berechtigungswesen erlaubt es also, dass verschiedene gesellschaftliche Bereiche (Bildungswesen und Beschäftigungssystem) aufeinander bezogen werden. Meyer zeigt für den Fall Preussens auf, dass sowohl im Bildungswesen als auch im staatlichen Behördenapparat eine Dreiteilung vorlag und zwischen beiden Bereichen eine Korrespondenz hergestellt wurde: Höhere Beamte mussten über ein wissenschaftliches Studium und einen Staatsexamensabschluss verfügen, Beamte des mittleren Dienstes über eine berufsmässige Ausbildung (Meyer 1977).5 Das Beispiel Preussen führte in ganz Deutschland zur Nachahmung (Sacher 2001, Vögeli-Mantovani 1999). Meyer führt zudem aus, dass die Idee des Aufeinanderbeziehens von Bildung und Beschäftigung zunehmende gesellschaftliche Verbreitung fand: Post und Eisenbahn nahmen die staatliche Beamtenrekrutierungspolitik zum Vorbild.6 Für die Schweiz macht Osterwalder in diesem Zusammenhang geltend, dass zur Zeit der Helvetik „parallel zur staatlichen Pyramide eine Schulpyramide vorgeschlagen (wurde), die Kenntnis und Wissen in Bezug auf Staat und Gesellschaft vermittelt“ (Osterwalder 1997, 252). Aus der Centralschule zum Beispiel sollten die „künftigen Staatlenker hervorgehen“ (ebd., 253). Dass die Prüfungen beim Staat ihren Ausgang nahmen und dass sich Selektionsprobleme zunächst auf die neuralgische Nahtstelle zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem konzentrieren, zeigen auch die Studien von Titze zur Entwicklung in Deutschland auf: Während der Anspruch des absolutistischen Staates, den Zugang zu privilegierten Ämtern und die Ausübung herausgehobener Berufe an staatliche Prüfungen zu binden, sich im 18. Jahrhundert nur auf die drei traditionellen gelehrten Stände der Juristen, Theologen und Ärzte erstreckt hatte, weitet sich später das staatliche Prüfungswesen zunehmend aus, und zwar von oben nach unten auf immer mehr gesellschaftliche Bereiche und Berufe (Titze 1993; 1999; 2000). Um Ansprüche auf Privilegien des Adels abzuwehren, wurde die Zulassung zu höheren Positionen an bestimmte Qualifikationsvoraussetzungen geknüpft. Zuerst wurden die staatlichen Prüfungen, die „Staatsexamen“, eingeführt (Titze 2000, 51ff.). Ihnen folgte die Ausdehnung des Prüfungswesens auf das gesamte gesellschaftliche Leben in Gestalt von „Diplomprüfungen“. Am Beispiel der Reifeprüfung lässt sich der Prozess – Titze zufolge – besonders gut zeigen: Zunächst galt die Reifeprüfung nur für mittellose Studierende, die ein Stipendium erhalten wollten und mit ihrer Studienabsicht den Broterwerb 5

Zur dritten Kategorie sagt die Autorin leider nichts. Von Preussen weiss man, dass bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Gymnasiast das Gymnasium so lange besuchte, wie er sich einen Gewinn davon versprach, danach wechselte er allenfalls an die Universität. Und von der Universität ging man ohne formelles Examen in die Praxis, um dort ein Amt zu übernehmen (Sacher 2001; Vögeli-Mantovani 1999).

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verbanden („Brotstudenten“). 1788 wurde die Unterzeichnung der Reifeprüfung dann für alle Stipendienbezieher an preussischen Universitäten verpflichtend gemacht. Wer reich genug war, um allein zum Zweck seiner Persönlichkeitsbildung die Universität zu besuchen, brauchte sich der Reifeprüfung nicht zu unterziehen. 1834 wurde diese Prüfung schliesslich als Zugangsvoraussetzung für die preussischen Universitäten für alle Anwärter auf öffentliche Ämter im höheren Staats- und Kirchendienst und für die ärztliche Karriere verbindlich gemacht, also ungeachtet der sozialen Herkunft verallgemeinert. Innerhalb der Volksschule differenzierten sich im 19. Jahrhundert verschiedene Stufen aus, die wir auch heute noch kennen (Jenzer 1998, 30ff.). Auf die von allen zu durchlaufende Primarstufe folgt in der Schweiz eine zweite Stufe, die sich zusammensetzte aus der Primaroberschule (oder Realschule), der Bezirksschule (oder Sekundarschule) und dem Progymnasium (oder Untergymnasium). Diese zweite Stufe musste (und muss auch heute noch) sehr ungleichen Ansprüchen gerecht werden (ebd., 61ff.). Sie liegt gewissermassen im Wegkreuz von Volksbildung, Berufsausbildung und Gymnasialbildung. Daher beschäftigt diese Stufe die Bildungspolitik besonders intensiv: Auf keiner anderen Schulstufe sind so viele Schulversuche gemacht worden. Vor allem in der Bezirks- bzw. Sekundarschule treffen die verschiedenen Ansprüche hart aufeinander.7 Jenzer zeigt in seinen Ausführungen zur Entwicklung in den einzelnen Kantonen auf, wie prägend die nach 1830 entstandenen Strukturen der Volksschule gewesen sind.8 Die „Grundmauern“ des heutigen Schulsystems (ebd., 123) wurden in der Schweiz also in den 1830er Jahren geschaffen, in einigen Kantonen etwas später. Auch die Volksschule wurde ins Berechtigungswesen einbezogen (Oevermann 1996b, Sacher 2001, Saner 2003, Titze 2000, Vögeli-Mantovani 1999). Mit der Einführung des Schulobligatoriums durch den (entstehenden) Nationalstaat drang das Schulzeugnis in die unteren Bildungsstufen vor.9 Vögeli-Mantovani zufolge sollte dieses zunächst die Einhaltung der Schulpflicht kontrollieren: Es 7

Vgl. hierzu die Arbeit von Röthlisberger (1964) über die Entstehung der Deutschberner Sekundarschulen. Im Kanton Aargau, den er besonders detailliert betrachtet, gab es 1835 und gibt es auch 1995 noch neun Jahre Volksschule, die – im Anschluss an den Kindergarten – mit einer fünfjährigen Primarschule begannen (1835: „Elementarschule“). 1835 wurden die Schülerinnen und Schüler nach diesen fünf Jahren entweder in die Bezirksschule geschickt, oder sie besuchten zwei weitere Jahre lang die Elementarschule, um darauf aufbauend während zweier Jahre noch „Fortbildungsschulen“ oder „Fabrikschulen“ zu besuchen. Im Jahr 1995 wurden die Schülerinnen und Schüler nach fünf Jahren auf Realschule, Sekundarschule und Bezirksschule aufgeteilt. 9 Erste Zeugnisse auf unteren Stufen gab es an den „gelehrten Schulen“ des 17. Jahrhunderts, die unter jesuitischer Leitung standen (Vögeli-Mantovani 1999). 8

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wurden Entlassungsscheine und später Abgangszeugnisse erteilt, welche die Erfüllung der Pflicht bestätigten. Lehrkräfte wurden auch dazu angehalten, den „Rodel“ zu führen, Absenzen statistisch festzuhalten und sie den Schulbehörden zu melden (Jenzer 1998, 45). Als dann die Jahrgangsklassen eingerichtet wurden, entstand die periodische Zeugniserteilung. Ursprünglich als Schulbesuchskontrolle eingeführt, übernahm diese periodische Zeugniserteilung „nach und nach die Funktion der Leistungskontrolle“ (Vögeli-Mantovani 1999, 25).10 Die jährliche Promotion erfolgte gemäss Vögeli-Mantovani mit der Zeit aufgrund von Leistungsstandards. Dabei wurden die Massstäbe, die bei solchen Promotions- und anderen Selektionsentscheiden zur Anwendung gelangten, von Bürgertum und Oberschicht festgelegt.11 Im 20. Jahrhundert haben sich die Schulstrukturen beziehungsweise die Strukturen des Bildungswesens lange Zeit kaum verändert (Jenzer 1998). Erst in den 1970er Jahren setzte eine vergleichsweise intensive bildungspolitische Debatte ein. Die gesellschaftskritischen Analysen des Schul- und Bildungswesens verbreiteten sich12, das Postulat der Chancengleichheit erhielt viele Anhänger. Gleichzeitig verstärkte sich der politische Wille, Strukturen zu überdenken und finanziell mehr ins Bildungswesen zu investieren.13 Einmal abgesehen von der Frage, in welchem Zeitpunkt der Schulkarriere der Übergang von der Primar- in die Oberstufe stattfinden soll, wurde vor allem die Sekundarstufe I stark kritisiert. Die Diskussion schlug sich in verschiedenen, von der Politik in Auftrag gegebenen Berichten nieder. Zu ihnen gehört der Bericht „Gesamtschulmodelle für die Sekundarstufe I“, den die „Interkantonale Studiengruppe Gesamtschule“ erarbeitete und 1972 der Öffentlichkeit vorlegte. Darin werden elf neue Volksschuloberstufenmodelle mit gesamtschulartigen Merkmalen präsentiert. Auch im Bericht „Mittelschule von morgen“ werden für die Sekundarstufe I gesamtschulartige Strukturen vorgeschlagen. Ähnliches gilt für den „Rapport Gros“ (Jenzer 1998, 123ff.). Die Kritik an der Sekundarstufe I bezog sich vorwiegend auf die Struktur dieser Stufe und die Art und Weise der Zuteilung der Schülerinnen und Schüler qua Selektion. Zum einen erschien die Aufteilung der Schülerinnen und Schüler auf die verschiedenen Typen (Realschule, Sekundarschule, Gymnasium etc.) als willkürlich und zufällig. Untersuchungen zeigten, dass diese Aufteilung nicht 10

Die Selektionsbedeutung von Zeugnissen ist keine Selbstverständlichkeit. Vgl. hierzu die komparative Studie zu Deutschland und Japan von Urabe (2006). 11 Es geht unter anderem um das hohe Gewicht sprachlicher Fähigkeiten in den Selektionskriterien (Sacher 2001). 12 Vgl. z.B. Ivan Illichs Forderung nach „Entschulung der Gesellschaft“ (Illich 1972[1970]). 13 Vgl. die damalige Verbreitung der Bildungsplanungsansätze „Social demand-“ und „Manpower approach“ in der Bildungspolitik (Streckeisen 1981).

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mit den Leistungen übereinstimmte; so etwa erreichten die besten Oberschülerinnen und Oberschüler in der Studie von Haefeli/Schräder-Näf/Häfeli (1979) die gleichen Testwerte wie die schwächeren Gymnasiastinnen und Gymnasiasten. Zum anderen wurde als problematisch erachtet, dass, wer einmal einem bestimmten Schultyp zugeteilt war, diesen nicht so leicht wieder verlassen konnte. Zwar können – so die damalige Kritik – für die betroffene Schülerin, den betroffenen Schüler mangelnde Schulleistungen im Rahmen tradierter Sekundarstufe-I-Strukturen zu einer (problemlosen) Remotion führen; doch ist es Schülerinnen und Schülern nicht möglich, bei verbesserten Leistungen in einen anspruchsvolleren Schultyp überzutreten, ohne ein Jahr Zeit zu verlieren. Ferner wurde beanstandet, dem je besonderen Leistungsprofil einer Schülerin könne im Rahmen solcher Schulstrukturen nicht Rechnung getragen werden: eine Realschülerin, ein Realschüler mit ausgesprochenem Flair für Mathematik besuche auch im Fach Mathematik die Realschule (Jenzer 1998, 68ff.). Als Alternatividee wurde der traditionellen Sekundarstufe I die ‚Einheitsschule’ bzw. die ‚Gesamtschule’ gegenübergestellt. Grob gesagt ist damit gemeint, dass auf eine Aufteilung der Schülerinnen und Schüler auf die verschiedenen Schultypen verzichtet und die Leistungsheterogenität der Klassen in Kauf genommen wird. Da eine solche Schule didaktisch äusserst anspruchsvoll ist, wurde die Idee immer wieder modifiziert – zum Beispiel, indem vorgesehen wurde, dass ein Teil des Unterrichts in klassenübergreifenden homogenen Niveaugruppen erteilt wird.14 1970 wurde in Dulliken (Kanton Solothurn) der erste und letzte Gesamtschulversuch der Deutschschweiz begonnen. Es folgten Gesamtschulversuche in Genf und in Rolle (Kanton Waadt). Epochemachend war der Beschluss im Kanton Tessin von 1974, die „Scuola media“ einzuführen (Jenzer 1998, 74ff.). Das bildungspolitische Handeln war in den 1960er und 1970er Jahren primär auf die Bewältigung von zunächst rein quantitativen Problemen der Bildungsexpansion ausgerichtet. Vieles, was damals zur Diskussion stand, wurde später – in den 1980er und 1990er Jahren – wieder aufgenommen und teilweise realisiert. Der Kanton Wallis eröffnete 1986 den Gemeinden bzw. Schulkreisen die Möglichkeit, auf der Sekundarstufe I zwischen einer (traditionellen) zweigliedrigen Orientierungsschule (Sekundar- und Realabteilung) und einer Orientie14

Die Idee der Einheitsschule war ursprünglich nach 1918 zu einem wichtigen schulpolitischen Thema geworden, das hauptsächlich von Intellektuellen, politisch Radikalen und von Sozialistinnen und Sozialisten vorgebracht wurde. Ausser in Genf und Zürich fand die Idee in der damaligen Schweiz aber kaum ein Echo. Auch in anderen Ländern Europas kam die Idee der Einheitsschule damals nicht zum Durchbruch, wenngleich die Debatten dort intensiver waren als in der Schweiz. Hingegen fasste die Idee in den USA und in der Sowjetunion Fuss (Jenzer 1998, 76). Nach 1968 setzte dann eine breitere Diskussion ein. Sie handelte auch von den ‚Gesamtschulen’.

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rungsschule mit integrierten Klassen zu wählen. Der Kanton Jura führte mit Zeithorizont 1996 die neue ‚Ecole secondaire’ im ganzen Kantonsgebiet ein (integrierte Klassen, Niveaukurse in drei Fächern und Wahlfächer). Die Deutschschweiz war – und ist – wie der gesamte deutschsprachige Raum zurückhaltender. Bisher hat sich Jenzer (1998, 79) zufolge kein Kanton zur Einführung von Einheits- oder Gesamtschulen entschlossen. Erwähnenswert ist allerdings der Kanton Basel-Stadt, der ab 1994 zwischen Primarschule (vierjährig) und Gymnasium/Weiterbildungsschule eine dreijährige Orientierungsschule mit Gesamtschulcharakter (5., 6. und 7. Schuljahr) geschoben hat. Zu einzelnen Schulversuchen kam es in den 1990er Jahren auch in der Innerschweiz (Jenzer 1998, 78f.). In Anlehnung an das Konzept der Einheits- bzw. Gesamtschule hat sich seit den 1970er Jahren in verschiedenen Kantonen die ‚kooperative Struktur’ entwickelt. ‚Kooperativ’ meint, dass die alten, vertikal gegliederten Schulstrukturen weiterbestehen, zwischen den verschiedenen Abteilungen aber eine Zusammenarbeit stattfindet.15 In Murten (Kanton Fribourg) gibt es dies bereits seit 1970. Später wird die Idee von den Kantonen Zürich und Bern übernommen. In Bern stehen den Gemeinden und Schulkreisen seit 1995 vier Modelle zur Wahl, die sich zwischen der traditionellen Sekundarstufe-I-Struktur (Modell I) und einem einheitsschulnahen Modell (Modell IV, sogenanntes Twanner Modell) bewegen (Jenzer 1998, 79) (vgl. Kapitel 4). Seit einigen Jahren hat im Kanton Bern die Diskussion über den Wechsel vom einen zum anderen Modell eingesetzt. Es scheint sich ein Wandel anzubahnen, der weg von den einheitsschulnahen Konzepten hin zu wieder traditionelleren Strukturen führt. 2.1.2 Zur Herausbildung des Lehrberufs als halbfreie Amtsprofession Wie die moderne Volksschule hat auch der Beruf der Volksschullehrerin und des Volksschullehrers seine Wurzeln im 19. Jahrhundert. Noch im 18. Jahrhundert waren Lehrkräfte Autodidakten, die keine Ausbildung durchlaufen hatten und von den Pfarrern im Auftrag der Obrigkeit kontrolliert wurden. Vielfach war das Unterrichten damals eine Nebenbeschäftigung neben der Landwirtschaft oder einer anderen Tätigkeit, jedenfalls für Männer, die einige Lese- und Schreibkenntnisse vorweisen konnten (Scandola/Rogger/Gerber 1992). Als sich der Gedanke von der Notwendigkeit einer öffentlichen Volksschule zu verbreiten begann, wurde auch die formelle Ausbildung für Lehrkräfte ein Thema. Im Kanton Bern wurden in den 1830er Jahren die ersten staatlichen Lehrerinnenund Lehrerseminare gegründet. 1875 entstand das Sekundarlehramt an der Uni15

Vgl. den Berner Wortgebrauch „Schulen mit Zusammenarbeitsformen“ (siehe Kapitel 4).

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versität Bern: Von da an wurden Volksschullehrerinnen und -lehrer, die als Sekundarlehrpersonen tätig waren, in einem speziellen Studiengang an der Universität ausgebildet. In Kapitel 2.1.1 wurde geltend gemacht, dass der entstehende Nationalstaat ein neues Schulwesen schuf und gleichzeitig einen Beamtenapparat aufbaute, der neue Aufgaben zu übernehmen hatte. Eine dieser neuen Aufgaben bestand darin, als Staatsangestellter Schule zu halten innerhalb von hierarchisierten Ausbildungsstrukturen, die mit einem Berechtigungswesen verbunden sind. Dieser Staatsangestellte ist der Volksschullehrer. Wir gehen davon aus, dass Lehrpersonen im Zusammenhang mit Selektion als Repräsentanten einer nationalstaatlich verfassten Gemeinschaft von Staatsbürgern auftreten und im Rahmen der Institution Volksschule stellvertretend Zuweisungsentscheide initiieren.16 Vor allem die historische Sicht auf das Phänomen legt dies nahe: Lehrkräfte vollziehen als Staatsangestellte gleichsam den Willen eines Nationalstaats, der sich gegen Partikularinteressen von Adel und Klerus wendet, indem er ein Bildungswesen aufbaut, zu dem alle Zugang haben und im Rahmen dessen Berechtigungen auf weitere schulische und auf berufliche Positionen selektiv vergeben werden. Der Volksschullehrberuf ist ein professionsverwandter Beruf. Einerseits trägt er Züge einer Profession17, andererseits fehlen ihm die Merkmale, die den Professionen in der klassifizierenden Professionssoziologie zugeschrieben werden (Goode 1972[1957], Schwänke 1988). So etwa fehlte – ausser im Falle der Sekundarlehrerinnen und -lehrer – die wissenschaftliche Ausbildung lange Zeit. Auch bleibt unklar, was bei Lehrpersonen den zentralen Wert der Gesellschaft ausmacht, auf den sich die Berufstätigkeit bezieht.18 Ferner haben Lehrpersonen und ihre Interessenvertreter vergleichsweise wenig Kontrolle über die Lehrerausbildung, den Berufszugang und die Berufsausübung; das meiste entscheidet der Staat. Schliesslich hält sich der Einfluss des Berufsverbandes, der nach aussen hin Standesinteressen vertritt und nach innen Kontrolle ausübt, in Grenzen. Lehrerverbände müssen ihren Einfluss durch argumentative Beteiligung an bildungspolitischen Diskussionen geltend machen. Dabei betreiben sie typischerweise eine Politik, die eine Mischung aus Gewerkschafts- und Berufspoli16

Diese Überlegung ist formuliert in analogisierender Anlehnung an die professionalisierungstheoretischen Thesen zur Sozialverwaltung bei Harrach/Loer/Schmidtke (2000). Klassische Professionen, an welche bei solchen Vergleichen meist gedacht wird, sind der Arzt, der Anwalt und zum Teil der Pfarrer – Professionen, die im 19. Jahrhundert als akademische Berufe mit exklusivem Charakter entstanden sind. 18 Vgl. z.B. den Wert der Gesundheit im Falle des Arztberufs. Schwänke (1988) überlegt, ob im Falle der Lehrperson von einer ,Emanzipation’ des jungen Menschen gesprochen werden könnte. Denkbar ist auch „Mündigkeit“ (Adorno 1971[1969]) oder Selbstverantwortung. 17

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tik ist. Die Diskussion anhand solcher Klassifikationen hat unter anderem die Kategorie der Semiprofession entstehen lassen. Allerdings bringt dieser Begriff keinen systematischen Erkenntnisgewinn, eher geht es um eine Verlegenheitslösung. Als klassische Semiprofessionen gelten die Sozialarbeit, die Krankenpflege sowie auch der Lehrberuf. Dabei sind zum Teil nur die Unterstufenlehrpersonen gemeint. Berufsgruppen, die in der sozialwissenschaftlichen Diskussion als Semiprofessionen gelten oder von denen gesagt wird, sie seien nicht vollständig professionalisiert, sind gleichzeitig auch jene, die sich gegenwärtig beziehungsweise seit einiger Zeit um Professionalisierung bemühen: Sozialarbeit, Krankenpflege, Lehrerschaft exkl. Sekundarlehrpersonen.19 Im Folgenden sei auf eines der Merkmale von Professionen, die Autonomie, näher eingegangen, da diese im Zusammenhang mit unserem Verständnis des Verhältnisses von ‚Fördern und Auslesen’ Relevanz besitzt. In Anlehnung an Schwänke (1988, 136) gehen wir davon aus, dass ‚Autonomie’ zum einen meint, dass dem Berufsträger ein Freiraum garantiert ist, der einer „angemessenen Dienstleistung“ am Klienten vorausgesetzt ist: Der Berufsträger entscheidet aufgrund seiner Kompetenz, welche Schritte eine entsprechende Aufgabe erforderlich macht und wie diese angegangen wird; dabei hat diese Selbstbestimmung dort ihre Grenzen, wo die Entscheidungsbefugnis als Freibrief für ein beliebiges Vorgehen missverstanden wird.20 Zum anderen meint ‚Autonomie’ den Schutz vor unsachlicher Kritik und vor der Einflussnahme von aussen (Kritik durch Laien): Die Kontrolle soll allein durch Angehörige der Berufsgruppe erfolgen. In der Sozialgeschichte des Lehrberufs spielte der Kampf um berufliche Autonomie immer wieder eine Rolle. Zunächst wurde ein Kampf gegen die Bevormundung durch die Pfarrer geführt, das heisst: gegen die geistliche Schulaufsicht sowie dagegen, als Lehrer zum Pfarrgehilfen beim Schulehalten gemacht zu werden.21 Mit dem Kampf gegen die Pfarrer verband sich ein Kampf für 19

Im Gegensatz zu den klassischen Professionen hat sich der Lehrberuf bald von einer Männerdomäne weg entwickelt. Rasch ist es den Frauen hier gelungen, sich ein anspruchsvolles Tätigkeitsfeld zu erschliessen. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich freilich eine geschlechtstypische Binnensegregation des Arbeitsfeldes, die bis heute anhält. Frauen befinden sich jeweils auf den weniger prestigereichen und schlechter bezahlten Schulstufen. 20 So etwa darf eine Lehrpersonen – Schwänke (1988, 136) zufolge – einen Schüler vor der Klasse nicht verächtlich machen, oder schematisches Abschreiben als Übungsarbeit darf nicht verlangt werden. Das käme einem beliebigen, gegen die Schülerin, den Schüler gerichteten Vorgehen gleich. 21 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden Lehrkräfte – so Schwänke (1988, 47) – entweder durch Pfarrer oder durch bereits im Beruf stehende erfahrene Lehrkräfte („Schulmeister“) ausgebildet. Im Preussen des 19. Jahrhunderts waren Pfarrer in der Zeit zwischen dem ersten Examen und der ersten Pfarrstelle oftmals im Schulbereich tätig, sei es als Hauslehrer, sei es als Schulaufseher. Ab 1875 verloren Pfarrer – in Deutschland – die obrigkeitsstaatliche Funktion des Schulaufsehers zusehends.

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staatliche Schulaufsicht. Doch wurde daraus bald ein Hindernis für die eigenständige Berufsausübung. Die staatliche Schulaufsicht entpuppte sich als Bestandteil eines ganzen Bündels von Autonomieeinschränkungen beziehungsweise institutionellen Zwängen, die sich daraus ergeben, dass der Lehrberuf im Rahmen der „komplexen Organisation Schule“ ausgeübt wird (Schwänke 1988, 135f.).22 An den vier Faktoren, die gemäss Schwänke Autonomie „konstituieren“, lässt sich deutlich machen, dass moderne Lehrkräfte im Rahmen eines heteronomisierenden, schulbürokratischen Kontextes tätig sind (Schwänke 1988, 137ff.): -

Status der Selbständigkeit im Beschäftigungssystem: Lehrkräfte können sich nicht zu Selbständigerwerbenden machen, sondern sind in den meisten Fällen auf den Staatsdienst angewiesen. Das impliziert unter anderem, dass sich die Klientinnen und Klienten (Schülerinnen, Schüler, Eltern) die Lehrkraft nicht frei aussuchen können.

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Anerkennung der Expertenrolle: Im Vergleich zum Arzt etwa ist diese Anerkennung im Falle der Lehrkräfte deutlich bedroht. Eltern, aber auch Laienmitglieder in Schulaufsichtsgremien halten sich oftmals selber für ebenso kompetent.

-

Selbstverwaltung in Fragen des Nachwuchses, der Fortbildung, der Verwendung von Haushaltmitteln: Die Zulassung zum Lehrberuf, die Aus- und Fortbildung u.a.m. liegen nicht in der Hand von Lehrkräften.

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Weisungsunabhängigkeit: Anders als zum Beispiel ein Hochschuldozent oder eine Rechtsanwältin hat die Lehrperson zahlreichen Anweisungen der Aufsichtsbehörde und der Bildungsverwaltung Folge zu leisten (Lehrpläne, zugelassene Schulbücher, Unterrichtszeiten, Grundsätze der Leistungsbewertung unter Verwendung ganz bestimmter Formulare und Bewertungsskalen u.a.m.). Wie wir für den Fall des Kantons Bern herausgearbeitet haben (vgl. Kapitel 4), legt der Staat auch fest, welche Aufgaben Lehrkräfte im Zusammenhang mit Selektion haben. Von einer „pädagogischen Freiheit“ kann also nicht gesprochen werden.

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Ähnlich Terhart (1992): Er macht geltend, dass die Lehrkraft in die „Grossorganisation Staat“ eingebunden ist und zwischen dem „Lehrer als Erzieher“ und dem „Lehrer als Beamter“ ein „Rollenkonflikt“ existiert bzw. ein „doppeltes Mandat“ gegeben ist. In einem früheren Aufsatz spricht er von „organisierten Anarchien“, in deren Rahmen aber das Erziehen sehr wohl möglich sei (1986, 218).

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Der historisch orientierte Professionsforscher Hannes Siegrist (1988) fordert eine Revision der Professionstheorie, die für die Analyse des Lehrberufs relevant ist, auch wenn er selber kaum Lehrkräfte im Auge hat. Siegrist behauptet, dass im Konzept der Professionalisierung – verstanden als historischer Prozess der Herausbildung moderner Professionen – aus der Sicht der kontinentaleuropäischen Länder ein „Geburtsfehler“ (ebd., 16) enthalten sei, nämlich die relative Gleichgültigkeit dem Staat und dem Gesetzgeber gegenüber. Die Geschichte der akademischen, freien oder liberalen Berufe auf dem europäischen Kontinent zeige, dass Ärzte, Advokaten, Ingenieure u.a.m. oft lange Zeit das „Objekt von Professionalisierungstendenzen waren, die vom Staat oder Gesetzgeber ausgingen“ (ebd., 16). Prozesse der Verwissenschaftlichung und der Ausbau des Berechtigungswesens sind gemäss Siegrist als „Professionalisierung von oben“ (ebd., 22) zu betrachten. Der „professionelle Sektor“ (gelehrte, gebildete und wissenschaftliche Berufe) wird im 18. und 19. Jahrhundert gemäss Siegrist neu auf ein staatlich definiertes Allgemeinwohl ausgerichtet. Bis etwa 1850 regelt der Staat den Zugang zu den Berufen, er bindet die Ausübung des Berufs an ein staatlich verliehenes Amt oder eine Ausübungsberechtigung: Es entwickelte sich das Muster der „halbfreien Amtsprofession“ (ebd., 22). Erst im späteren 19. Jahrhundert differenzierten sich – Siegrist zufolge – die akademischen Berufe und Professionen weiter aus in „Beamtenberufe, Angestelltenberufe und freie Berufe“ (ebd., 25). Vor dem Hintergrund eines erstarkenden Marktprinzips setzte sich das Muster der freien Berufe immer mehr durch und wurde – mit Ausnahme des mit der Amtskirche direkt verbundenen Pfarrerberufs – die staatliche Kontrolle der Professionen zunehmend erschwert. In diesem Zusammenhang entstand zum Beispiel die Kluft zwischen dem Beamtenjuristen und dem Advokaten. Freilich bleiben in der Schweiz, anders als in Deutschland, die Beamtenstellungen den Freiberuflern grundsätzlich offen. Dasselbe gilt Siegrist zufolge auch für die USA, Frankreich und Italien. Im Zusammenhang mit der „Professionalisierung von oben“ merkt Siegrist an, dass „manche zweit- und drittrangige Quasi-Profession die Reform [...] begrüsste, die sie funktional und sozial aufwertete“ (ebd., 23). Es ist zu vermuten, dass er hier unter anderem an Volksschullehrpersonen denkt, die sich von der Bevormundung durch Kirche und Pfarrer emanzipieren wollen. Die Lehrtätigkeit an der Volksschule – dies unsere These – durchläuft historisch eine Verberuflichung und ansatzweise Professionalisierung von oben, die sich – anders als etwa im Falle des Advokatenberufs – später nicht zugunsten des Musters der freien Berufe zurückbildet; darin ist der Lehrberuf dem Pfarrerberuf verwandt. Im Rahmen einer Professionalisierung von oben wurde nicht zuletzt die Selektion zur Aufgabe der Lehrerinnen und Lehrer deklariert. Auch die Verwissenschaftlichung der Ausbildung, die in Deutschland nach 1950 und in 25

der Schweiz in den 1990er Jahren einsetzte, wurde von ‚oben’ initiiert. Man müsste die Volksschullehrperson streng genommen als halbfreie Quasi-Amtsprofession bezeichnen. 2.2 Die Spannung zwischen pädagogischen Aufgaben und der Selektion Das vorliegende Kapitel stellt zunächst die Diskussion in der Literatur zur Spannung zwischen pädagogischen und selektionsbezogenen Aufgaben vor. Anschliessend wird die theoretische Position, von der wir selber ausgehen, entwickelt. 2.2.1 Die Diskussion in der soziologisch-pädagogischen Theorie Im Anschluss an eine Übersicht über soziologische und pädagogische Positionen fragen wir danach, wo und inwieweit in der zusammengefassten Literatur die Lehrkraft als Akteurin auftritt. 2.2.1.1

Übersicht über die wichtigsten Positionen

Den Hintergrund aller Thematisierungsversuche der Spannung zwischen pädagogischen und selektionsbezogenen Aufgaben bildet die strukturfunktionalistische Sicht auf das Bildungswesen, wie sie am ausgearbeitetsten in Fends „Theorie der Schule“ (1981) vorliegt. Fend interessiert sich für das Bildungssystem in seiner Beziehung zur Gesellschaft und unterscheidet folgende drei „Funktionen“ (ebd., 13ff.) der Schule: Die Qualifikationsfunktion bezieht sich in erster Linie auf das Berufs- und Beschäftigungssystem. Aufgabe der Schule ist es, die „Fertigkeiten und Kenntnisse“ zu vermitteln, die zur Ausübung „konkreter“ Arbeit und zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben überhaupt erforderlich sind. Im Rahmen der Schule bezieht sich der Unterricht zentral auf diese Funktion. Dank ihrer Integrationsfunktion23 vermittelt die Schule Werte, Normen und Interpretationsmuster, welche die Integration des jungen Menschen in die Gesellschaft vorantreibt. Mit Bezug auf die Selektionsfunktion lässt sich nicht angeben, was die Schule den Schülerinnen und Schülern „vermittelt“. Fend zufolge trägt die Schule zur Reproduktion der Sozialstruktur der Gesellschaft bei. Er denkt insbesondere an das System von Positionen, innerhalb dessen der einzelne Akteur 23 Dabei unterstreicht Fend die Bedeutung der politischen Orientierungen und den Beitrag der schulischen Integrationsleistungen zur politischen Stabilisierung sowie zur Sicherung der gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse (er spricht darum auch von „Legitimationsfunktion“). Zudem geht er davon aus, dass das „Schulleben“ ganz allgemein betrachtet eine integrierende Funktion hat. Andere Autoren sprechen von „Sozialisationsfunktion“, z.B. Hoffmann (2000).

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qua Beruf einen Status erhält. Dabei bestimmt sich der Zugang zu den verschiedenen Berufen wesentlich durch die Zertifikate, welche die Schülerinnen und Schüler im Bildungswesen erwerben. Im Selbstverständnis der modernen Schule hat in diesem Zusammenhang die Idee zentrale Bedeutung, wonach das Selektionskriterium die schulische Leistung der Schülerinnen und Schüler sein soll.24 Alle uns bekannten Schul- und Lehrberufstheoretikerinnen und -theoretiker, die sich mit Spannungen im Lehrberuf beschäftigen, gehen – mehr oder weniger explizit – von diesen drei Funktionen aus, und zwar auffälligerweise auch dann, wenn nicht eine strukturtheoretische (z.B. strukturfunktionalistische), sondern eine akteurtheoretische Perspektive eingenommen wird. Teilweise wird – auch dies zunächst unerwartet – gleichzeitig mit der Selektion auch die Beurteilung diskutiert, ohne dass auf die Unterscheidung zwischen den beiden Dingen Gewicht gelegt würde. Auf die wichtigsten Autorinnen und Autoren sei nun eingegangen.25 Reinhardt (1972; v.a. 1978) unterscheidet mehrere Konflikte, die der Lehrerrolle immanent seien, unter anderem jenen zwischen zwei Klienten.26 Einerseits hat der Lehrer bei den Schülern Fähigkeiten zu entwickeln (Klient ‚Schüler’), andererseits ist er – als Begutachter und als Experte der Beurteilung von Schülerleistungen – eingebunden in Prozesse der Allokation, das heisst der Zuordnung von Individuen zu gesellschaftlichen Positionen, und in Prozesse der Selektion (Klient ‚Gesellschaft’). Wenn gewisse Positionen „überlaufen“ oder aber „unterbesetzt“ sind, „stellt sich die Allokation als Funktion der Selektion dar“ 24

Teichler analogisiert die Selektionsfunktion mit der Qualifikationsfunktion, indem er – bereits im Titel des Aufsatzes – von einem „Bedarf an sozialer Ungleichheit“ (1974) spricht – so wie es einen Bedarf an Ingenieuren, Krankenpflegenden oder Taxifahrenden gibt. 25 Dass das Verhältnis zwischen Pädagogik und Selektion bereits die ‚frühe’ Schulsoziologie beschäftigte, zeigt der Beitrag von Floud (1970[1959]), in welchem der Autor zwar keine vertiefte Argumentation entwickelt, aber immerhin von der Unvermeidlichkeit dessen spricht, dass Schulen selektive Funktionen ausüben, die „in mehr oder minderem Grade die pädagogischen Ziele überdecken oder deren Erreichung sogar erschweren“ (ebd., 41). 26 Der zweite Konflikt ist jener zwischen Zukunft und Gegenwart: Einerseits soll auf die Bedürfnisse der Schülerin, des Schülers hic et nunc Rücksicht genommen werden, andererseits muss der Lehrer die Schülerrolle – als eine Rolle, die auf Überwindung angelegt ist (wie jene des Kranken) – „für den Schüler interpretieren“; das heisst dass der Lehrer den aktuellen Bedürfnissen des Schülers nicht verhaftetet bleiben darf, denn der Schüler wünscht nicht unbedingt das, was er später für heute gewollt haben würde (1978, 517). Reinhardt bezeichnet dies als den Kern-Konflikt der Lehrerrolle. Der dritte Konflikt resultiert aus der Schule als Organisation, die den Lernprozess in Klassenformationen organisiert. Daraus folgt der Konflikt zwischen der Orientierung am einzelnen Schüler und der Orientierung an der Klasse. Reinhardt zufolge entscheidet über die Legitimität des Bedürfnisses eines Schülers nicht allein die Frage, ob dieses seinem Entwicklungsprozess förderlich ist, sondern ebenso die Frage, ob dies mit dem vereinbar ist, was für die Klasse als Ganzes notwendig ist. „Wer ist der Sozialisand?“, fragt Reinhardt: der einzelne Schüler oder die Klasse? (1978, 516).

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(1978, 516). Damit meint die Autorin vermutlich, dass bei Positionsknappheit („überlaufen“) nicht alle, die für eine bestimmte Position geeignet wären, eine solche auch erhalten. Dafür müssen sie in andere Positionen, in „unterbesetzte“, ausweichen, die ihren Qualifikationen weniger entsprechen. Der Lehrer ist in den Augen von Reinhardt „einem gesamtgesellschaftlichen Prozess verpflichtet, der nach der Idee der Leistungsgesellschaft im Interesse aller ablaufen soll“ (ebd.). Unmittelbar daran anschliessend fährt die Autorin fort: „Seinem Klienten ‚Schüler’ kann er damit aber massiv schaden: die Möglichkeit, durch Selektion einem Schüler eine Bildungslaufbahn abzuschneiden, ihn persönlich also in seinem weiteren Entwicklungsprozess zu behindern, steht der Aufgabe, seinem Klienten zu dienen, diametral gegenüber.“ (Ebd.) Wie genau dieses SchadenZufügen gemeint ist, geht aus Reinhardts Texten nicht hervor. Anzufügen bleibt, dass Reinhardt den Konflikt von ‚Fördern und Auslesen’ für grundsätzlich lösbar hält: Rein gedanklich könne man sich vorstellen, dass die Selektionsfunktion an andere Institutionen abgegeben wird, etwa von der Volksschule an die Hochschule, die ihrerseits Eingangsprüfungen veranstaltet. Nave-Herz (1977) unterscheidet zwischen drei „Funktionen“, die Lehrer übernehmen sollen. Neben der Sozialisations- und Vermittlungsfunktion (Kenntnisse, Fähigkeiten, Fertigkeiten) steht die Begutachtungs- und Selektionsfunktion: „Lehrer lesen aus“, zitiert die Autorin von Hentig (1965, 506f.) und betont die Macht der Lehrkräfte über den Bildungsgang und das Lebensschicksal der Schüler. Die beiden genannten Funktionen bedingen einander: Die Verteilung von Chancen (Selektion) setze „viele einzelne Begutachtungsakte voraus“ (Nave-Herz 1977, 47). Schliesslich spricht die Autorin von einer kompensatorischedukativen Funktion: Seit den 1960er Jahren soll sich der Lehrer – so die Autorin – als „Förderer gleicher sozialer Chancen verstehen, das heisst es wird ihm nunmehr neu eine kompensatorisch-edukative Funktion angetragen“ (ebd., 6). Den Hintergrund davon bilde die Kritik der „letzten Jahre“ an der Leistungsgesellschaft; sie habe deutlich gemacht, dass die Bundesrepublik Deutschland ihren Anspruch, eine Leistungsgesellschaft mit gleichen Chancen zu sein, nicht einzulösen vermöge.27 Nave-Herz sieht zwei „Antagonismen“ am Werk, zunächst den Antagonismus zwischen Begutachtung und kompensatorisch-edukativer Funktion, den sie besonders betont: Dem Lehrer, der im Auftrag des Staates begutachtet, bleibt zwar ein gewisser Spielraum, doch hat er sich an formellen Normen ohne Ansehen der Person zu orientieren. Als „Richter“ arbeitet er „gruppenbezogen“, „unparteiisch“ und „statisch-punktuell“. Gleichzeitig ist er aber – als kompensato27

Zur Debatte, auf die sich Nave-Herz bezieht, vgl. zum Beispiel den von der b:e Redaktion 1971 herausgegebenen Reader „Familienerziehung, Sozialschicht und Schulerfolg“.

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risch Erziehender – der „Anwalt“ der Kinder, arbeitet daher „personenbezogen“, „parteiisch“ und in einer „dynamischen“ Perspektive (Nave-Herz 1977, 47). Den zweiten Antagonismus sieht Nave-Herz zwischen Begutachtung und Sozialisations-/Vermittlungsfunktion: Die Begutachtungsfunktion gehört der Autorin zufolge zur verwaltungsbürokratischen Organisationsform der Schule (hierarchische Ordnung, formelle Regeln, Verfahrensvorschriften). Sie stört das Sozialklima in der Schule und hindert am „Identifikationslernen“ (ebd., 49). Nur bei gewissen Schülern kann Begutachtung eine Anreizfunktion ausüben, sagt Nave-Herz. Ist ein Schüler mit der Begutachtung nicht einverstanden, kann dies überdies zu Konflikten führen, welche die bestmögliche Erfüllung der Sozialisations- und Vermittlungsfunktion behindern. Gerade auch der Lehrer, der am gerechtesten begutachtet, wird in seiner Erziehungs- und Vermittlungsfunktion eingeschränkt, weil er sich „von vorneherein ausserhalb, ja gegen die Gruppe der Schüler stellt“ (ebd., 51). Nave-Herz stellt mit dieser – nicht weiter erläuterten – Aussage implizit die These auf, Begutachtung bedrohe die Lehrer-SchülerBeziehung – eine These, die in der Professionalisierungstheorie mit Blick auf Selektion (nicht: Begutachtung) zentrale Bedeutung hat (vgl. 2.2.2.2). Interessant ist bei Nave-Herz, dass sich der Hauptantagonismus daraus ergibt, dass das Leistungsprinzip – obwohl universalistisch – Ungleichheit zementiert. Der Grund liegt – gemäss der Autorin – darin, dass Schülerinnen und Schüler mit schichtspezifisch unterschiedlichen Voraussetzungen in eine Schule kommen, die mittel- und oberschichtgeprägte Leistungen ins Zentrum stellt. Irritierenderweise spricht Nave-Herz im Zusammenhang mit den Antagonismen nur von „Begutachtung“ und nicht von Selektion. In den neueren Lehrberufstheorien werden teilweise ebenfalls Antinomien benannt, vor allem bei Helsper (1996) und Schütze (1996). Während Reinhardt und Nave-Herz explizit von den gesellschaftlichen Funktionen der Schule ausgehen, haben Helsper und Schütze als Referenz auch die Parsons’schen Patterns vor Augen, insbesondere den Universalismus/Partikularismus. Schütze (1996) wendet seine Sozialarbeits-Professionstheorie auf den Lehrberuf an und denkt vor allem vom Gegensatz zwischen Organisation und Profession aus:28 Eine „Paradoxie des Lehrerhandelns“ bestehe darin, dass beim Beurteilungshandeln 28

Einen Gegensatz zwischen Erziehungsaufgaben und dem Eingebettetsein in einen organisatorischbürokratischen Zusammenhang sehen auch viele andere Autorinnen und Autoren, unabhängig von der Frage nach dem Verhältnis von Fördern und Auslesen. Terhart etwa stellt den „Lehrer als Erzieher“ dem „Lehrer als Beamter“ gegenüber und diagnostiziert – in Anlehnung an Sozialarbeitstheorien – ein „doppeltes Mandat“ bzw. einen „Rollenkonflikt“ (1992, 109). Schwänke diskutiert diese Frage in seinem Buch sehr intensiv und stellt auch Schulorganisationsmodelle vor (insbesondere die „professionelle“ bzw. „gemischte“ Schulbürokratie“), die – aus seiner Sicht – erzieherischem Handeln nicht entgegenstehen (1988, 151ff.).

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der Lehrer einerseits den Anforderungen der Gesellschaft betreffend Qualifikationsstandards nachkommen und damit Allokations- sowie Selektionsprozesses in Gang setzen beziehungsweise mitgestalten muss, dass er aber andererseits die „biographischen Notwendigkeiten“ für die Identitätsentwicklung hinsichtlich Stärkung des Selbstbewusstseins fokussieren sollte (ebd., 340). Im Zusammenhang mit der „Hoheitsstaatlichkeitsparadoxie“ nennt Schütze zudem die „Antinomie“ zwischen Standardisierung der Beurteilungskriterien und der Berücksichtigung individueller Kreativitätspotentiale (ebd., 361). Bei Helsper (1996) taucht an mehreren Stellen die „universalistisch orientierte Selektionsfunktion“ auf, die im Gegensatz zu etwas anderem stehe. Im Zusammenhang mit der „professionellen Antinomie“ zwischen „Nähe“ und „Distanz“ behauptet der Autor einen Gegensatz zwischen dem Nohl’schen „pädagogischen Bezug“ bzw. der „Nähe“ zum Heranwachsenden auf der einen Seite und dem Fachlehrerprinzip bzw. den grossen schulischen Einheiten auf der anderen Seite. Dabei parallelisiert er die Nähe mit dem Diffusen/Affektiven/Partikularistischen von Parsons und die Distanz mit „affektiver Neutralität“ und „universalistischer Orientierung“ (ebd., 530). Im Zusammenhang mit dem „Rationalisierungsparadoxon“ stellt Helsper – ähnlich, nun aber die Organisation miteinbeziehend – eine Spannung fest zwischen der Orientierung des Lehrers am „einzelnen Bildungsgang“ einerseits und seiner Arbeit im Rahmen von sozialen Organisationen andererseits, die zugleich nach universalistischen Kriterien die Verteilung und Zuweisung knapper sozialer Ressourcen regeln (ebd., 538). Lehrer seien „in die Ausübung von ‚symbolischer Gewalt’29 verstrickt und nehmen darin notwendigerweise Kontroll- und Sanktionierungsaufgaben mittels Verfahren der Auslese und Ausschliessung wahr“ (ebd., 538). Schliesslich spricht Helsper von einer „spannungsvollen Antinomie“ zwischen Ansprüchen des authentischen, expressiven Bezuges und freigesetzten Intensitätsansprüchen zum einen und instrumentell dominierten sozialen „Kältezonen“ zum anderen. Die Schule sei in dieses „Zivilisierungsparadoxon“ einbezogen, denn mit ihrer immer umfassenderen „Durchsetzung einer universalistisch, gleich-gültigen Selektionsfunktion“ sei sie zunehmend auf der distanzierten Kälte-Seite angesiedelt (ebd., 340). Helsper (1996) – ein Pädagoge, der stark von Oevermann beeinflusst ist – diagnostiziert noch eine Reihe weiterer Antinomien. Dabei scheint das Verhältnis zwischen Universalismus und Selektionsorientierung unklar. Die widersprüchliche, diffus-spezifische Einheit, die er aus Oevermanns Professionalisierungstheorie übernimmt und die er mit der Antinomie zwischen „Nähe und Distanz“ und mit Parsons’schen Gegensätzen parallelisiert, werden – so der Autor – umso 29

Vgl. Bourdieu/Passeron (1973).

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grösser, je mehr sich eine „universalistische Selektionsorientierung“ durchsetzt (ebd., 530). Für Oevermann dagegen ist die Selektionsfunktion jenseits der widersprüchlichen pädagogischen Arbeitsbeziehung zu lokalisieren (Oevermann 1996b, 168f.): Die wenigen Aussagen, die er zu dieser Problematik macht, zeigen deutlich, dass er die Selektion mit der Schulpflicht in Zusammenhang bringt, das heisst mit einem Phänomen, das in den Bereich sozialer Kontrolle gehört und im Gegensatz steht zur Aufgabe, den Wissensdrang von Kindern und Jugendlichen zu befriedigen. Schulische Mechanismen, die den späteren Ausleseprozess erleichtern, bezeichnet Oevermann als „sachfremd“. „Solange“ es eine (staatliche) Schulpflicht gibt, „solange erschlägt tendenziell ihre faktische Selektionsfunktion [die Selektionsfunktion der Schule; Anm. d. A.] die pädagogische bzw. sozialisatorische Funktion“ (ebd., 169). Die Selektion macht demnach das Pädagogische zunichte. Sie befindet sich ausserhalb der diffusspezifischen30 Beziehung, die Oevermann in der erfolgreichen Lehrer-SchülerBeziehung am Werke sieht (zu dieser Beziehung vgl. 2.2.2.1). Oevermann geht nur am Rande auf Selektion ein. Jedenfalls aber sieht er die „pädagogische bzw. sozialisatorische Funktion“ durch die Selektion bedroht (1996b, 169). Seine Aussagen stehen im Zusammenhang mit der Frage der Notengebung, auf die er kurz eingeht, insbesondere der Abiturnote (ebd., 168f.). Der Autor wendet sich nicht prinzipiell gegen Noten, sondern kritisiert eine „übertrieben differenzierte Notengebung“ (ebd., 168), weil sie latent eine verwaltungsgerichtliche Entscheidung anrufe. Die Abiturnote müsste durch ein aussagekräftigeres Gutachten ergänzt werden. „Alle den späteren Ausleseprozess bürokratisch erleichternden Funktionen der Abiturnote müsste eine Schule, die das pädagogische Arbeitsbündnis zum Strukturkern hat, ohnehin als sachfremde Aufgabenstellung von sich weisen. Das kann sie aber nicht, solange sie eine Instanz der gesetzlichen Schulpflicht ist [...].“ (Ebd., 169) Nicht etwa Noten an sich, nicht universalistische Bewertung an sich, sondern Notengebung durch eine Instanz, die mit (staatlicher) sozialer Kontrolle verbunden ist, wird vom Autor zurückgewiesen; dasselbe gilt für Notengebung, die dem späteren Ausleseprozess dient. Was uns Oevermann schuldig bleibt, ist eine Antwort auf die Frage, was denn Bewertungen und Noten, die ausserhalb von Zusammenhängen

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Wir gehen davon aus, dass Oevermann in das, was er ‚spezifisch’ bzw. ‚diffus’ nennt, alle jene Komponenten aufnehmen würde, die bei Parsons auf der ‚gesellschaftlichen’ bzw. der ‚gemeinschaftlichen’ Seite der Patterns angesiedelt sind. Leistungsuniversalismus wäre also bei Oevermann in der Spezifizität enthalten. Oevermann hat sich unseres Wissens nie schriftlich zu dieser Frage geäussert, gleichzeitig ist aber evident, dass er sich mit seinem Konzept der widersprüchlichen, diffus-spezifischen Einheit an die Parsons’sche Arztrolle anlehnt; im betreffenden Artikel erwähnt er im Abschnitt über Therapie Parsons auch kurz (1996b, 109).

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der sozialen Kontrolle und der Selektion stehen, Positives an sich haben. Parsons und Wernet sind in dieser Hinsicht klarer (vgl. unten). Im Gegensatz zu den bisher referierten Autorinnen und Autoren vertritt Parsons keine Antinomiethese. Mit dem Eintritt in die Schule – so dieser Autor (1968[1959]) – vollzieht das Kind einen ersten wichtigen Schritt, der über die primären Bindungen der Herkunftsfamilie hinausführt und die Emanzipation des Einzelnen aus diesen Bindungen einleitet (bei Parsons Sozialisation inkl. Qualifikation). Parsons zufolge ist die Schule ein formalisiertes Rollensystem, in dem universalistische Werte den Ausschlag geben. Das zeigt sich etwa beim Vergleich von Lehrerinnen und Müttern. In gewisser Weise sind Lehrerinnen austauschbar. Das Schuljahr ist zwar lange genug, damit die Schülerin eine wichtige Beziehung zu einer Lehrerin herstellen kann, aber nicht lange genug für die Herausbildung einer partikularistischen Bindung zwischen zwei ganzen Menschen. Mehr als im Falle der Eltern-Kind-Beziehung muss das Kind in der Schule seine Beziehung zur Rolle der Lehrerin statt zu ihrer individuellen Person verinnerlichen.31 Status- und Rollendifferenzierungen, die sich im Rahmen der Schule herausbilden, gründen – anders als in der Familie – nicht in askriptiven Merkmalen (Alter, Geschlecht), sondern in erworbenen: Differenzierung beruht gemäss Parsons nun auf der unterschiedlichen Erfüllung von Aufgaben, das heisst auf Leistungen, die beurteilt werden und innerhalb der Schulklasse zu einer Differenzierung entlang der Leistungsachse führen (im Rahmen der Peer Group kann das eine andere Achse sein).32 Die Schule ist nicht berechtigt, Leistungsunterschiede zwischen Schülern etwa deswegen zu unterdrücken, weil es einem von ihnen schwer fallen könnte, zur ‚schlechteren’ Gruppe zu gehören. Mit „Schule“ spricht Parsons in seinem Aufsatz die Schulklasse an, nicht etwa das Schulwesen als Ganzes. Das Zerbrechen der familialen Identifizierung zugunsten einer neuen, leistungsbezogenen Identifizierung gilt – so Parsons – für eine Betrachtung, die vom Individuum aus geht. Aus der Sicht der Gesellschaft indes stellt die klasseninterne Differenzierung einen „selektiven“ Mechanismus dar, der die Basis für zukünftigen gesellschaftlichen Status abgibt (ebd., 168; 181).33 Parsons zufolge 31

Für den Jugendlichen auf der Sekundarstufe I gilt dies noch mehr, zumal er nicht mehr nur eine einzige Lehrerin hat; Parsons führt die Frage aber vor allem für die Unterstufe aus (ebd., 179). 32 Dabei sieht Parsons sehr wohl, dass das Leistungsprinzip soziale Ungleichheit reproduziert. Nur stört es ihn nicht. 33 Die Differenzierung innerhalb der Klasse lässt Spannungen entstehen, da die einen Schüler Belohnungen und Privilegien erhalten und die anderen nicht. Gemildert werden diese Spannungen gemäss Parsons dadurch, dass die Schüler und ihre Herkunftsfamilien allesamt das Leistungsprinzip befürworten und davon ausgehen, dass der Lehrer angemessen beurteilt, aber auch dadurch, dass auf der Ebene der Peergroups Solidaritätsbeziehungen existieren, die quer zur Leistungsachse laufen.

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wird das Kind in seinem Erwachsenwerden also exakt dadurch unterstützt, das heisst: dadurch in Richtung Loslösung von familialen Bindungen gestossen, dass es sich im Rahmen der Schulklasse dem Prozess der universalistischen Bewertung stellen muss. Gleichzeitig dient diese Bewertung – als Differenzierungsmechanismus – der späteren Zuordnung von Personen zu gesellschaftlichen Positionen innerhalb eines Systems sozialer Ungleichheit („Selektion“). Ähnliches findet sich in Wernets Exkurs „Schulische Selektivität und die ‚Illusion der Chancengleichheit’“ (Wernet 2003, 97ff.). Unter Bezugnahme auf Parsons spricht dieser Autor von der „sozialisatorischen Bedeutung der schulisch institutionalisierten Selektivität“ (ebd., 114).34 Zudem macht Wernet geltend, dass es wichtig ist, diese Bedeutung von der „Frage der Zuteilungsbedeutsamkeit schulischen Erfolgs“ klar zu trennen. Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten: Von Parsons und Wernet einmal abgesehen, stellt in den Augen der lehrertheoretisch wichtigen, hier referierten Autorinnen und Autoren die Selektion bzw. die Begutachtung eine Bedrohung für die sozialisations- und qualifikationsbezogenen Aspekte des schulischen Lehr-Lern-Prozesses dar. Im Fall von Nave-Herz (1977), Schütze (1996), Helsper (1996) und Oevermann (1996b) wird dabei nur ungenau zwischen dem Involviertsein der Lehrperson in Selektions- bzw. Begutachtungsprozesse und der Einbettung der professionellen Tätigkeit in die Organisation ‚Schule’ unterschieden. Bei Reinhardt schadet die Selektion der Entwicklung der Fähigkeiten des Schülers („Konflikt“). Für Nave-Herz gibt es einen „Antagonismus“ zwischen der Begutachtung (Lehrer als Richter) einerseits und der kompensatorischen Erziehung der Kinder (Lehrer als Anwalt) sowie dem für das Sozialisationsgelingen erforderlichen guten schulischen Sozialklima andererseits. Schütze sieht einen Gegensatz („Paradoxie“, „Antinomie“) zwischen dem Beurteilungshandeln und der Stärkung des Selbstbewusstseins des Schülers sowie der Entwicklung seiner Kreativitätspotentiale. Bei Helsper besteht der Gegensatz („Antinomie“, „Spannung“) zwischen dem universalistisch orientierten Selektionsprinzip und der Nähe zum Schüler, der Einzelfallbetreuung, der Authentizitätsansprüche. Für Oevermann schliesslich erschlägt die Selektionsfunktion die pädagogische bzw. sozialisatorische Funktion. Die These von der Bedrohung der Qualifikations- und Sozialisationsfunktion ist bis heute weitgehend unwidersprochen geblieben und immer wieder thematisiert worden, etwa bei Bönsch (1994), Combe (1996) oder Dannhäuser (1990). Doch hat sich die vertiefte Auseinandersetzung in engen Grenzen gehalten. 34 Parsons selber nennt aber in diesem Zusammenhang wie gesagt immer nur die Beurteilung bzw. Bewertung, nicht die Selektion.

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2.2.1.2

Wer fördert? Wer selegiert? Die Rolle der Lehrperson in den referierten Positionen

Das Handlungsproblem, von dem wir ausgehen, kann nicht auf einer gesamtgesellschaftlichen Ebene formuliert werden, sondern ist auf der Ebene der Tätigkeiten und Aufgaben der Lehrperson zu verorten (vgl. Kapitel 3.2). Interessanterweise wird diese akteurbezogene Ebene von den referierten Autorinnen und Autoren nur im Falle der pädagogischen Aufgaben, kaum aber im Falle der Selektion anvisiert. Im Kontext der Diskussion pädagogischer Aspekte verlassen alle angeführten Autorinnen und Autoren (ausser Parsons) – selbst wenn sie eine strukturfunktionalistisch geprägte Terminologie verwenden – die Makroebene: Sie haben einen Klienten vor Augen, dem nicht „geschadet“ werden darf (Reinhardt 1978), dessen „Anwalt“ der Lehrer ist (Nave-Herz 1977), dessen „Selbstbewusstsein zu stärken ist“ (Schütze 1996) oder mit dem der Lehrer ein „Arbeitsbündnis“ einzugehen hat (Oevermann 1996b). Im Zusammenhang mit den pädagogischen Aufgaben ist von „fördern“, von „Fähigkeiten entwickeln“ u.a.m. die Rede. Bezüglich der Seite der Selektion dagegen bleibt die strukturfunktionalistische Sichtweise in den genannten Positionen teilweise erhalten. Typischerweise sprechen die Autorinnen und Autoren vom Eingebettetsein der Schule bzw. des Lehrers in objektiv gegebene Prozesse der Selektion, sprich: in die objektiv gegebene Selektionsfunktion.35 Selektionsbezogene Aufgaben des Lehrers werden kaum je identifiziert, allenfalls werden entsprechende Aufgaben der Schule als Institution genannt. Eine Ausnahme bildet wie gesagt Nave-Herz, die – von Hentig zitierend – festhält: „Lehrer lesen aus“ (Nave-Herz 1997, 44). Aufgaben, die im Zusammenhang mit Selektion genannt werden, sind vielmehr: Begutachten, Beurteilen, Notengeben – Aufgaben also, von denen wir mit Parsons annehmen, dass sie sich sowohl als selektionsbezogene wie auch als pädagogisch konnotierte Aufgaben betrachten lassen, die der Sozialisations- und Qualifikationsfunktion zugeordnet sind. Dasselbe Muster findet sich auch in pädagogisch-psychologischer Literatur. Besonders deutlich ist es bei Baumgart/Lange im Abschnitt, in dem sie – unter Bezug auf Reinhardt (1978) – „widersprüchliche, konfliktträchtige Erwartungen“ beschreiben, die an Lehrer herangetragen werden (Baumgart/Lange 1999, 273): „Aber die Aufgabe individueller Förderung“, so die Autoren, „steht in einem nur schwer auszubalancierenden Verhältnis zur Funktion der Schule, 35

Und in Prozesse der sozialen Kontrolle (bei Oevermann 1996b und Nave-Herz 1997).

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Schülerinnen und Schüler nach Leistungen zu beurteilen und damit in vielen Fällen Lebenschancen zu verschliessen.“ [Hervorhebungen d. A.] Der Sozialpsychologe Ulich spricht von der „Selektionsaufgabe“ und der „Selektionsfunktion“ der Schule: „Die Schule soll die Jugendlichen im Hinblick auf unterschiedliche Schulabschlüsse und auf den Zugang zu beruflichen Ausbildungswegen auslesen.“ (2001, 162) Und: „Der Zwang zu Benotung von Schülerleistungen ergibt sich aus der Selektionsfunktion der Schule.“ (Ulich 1996, 23f.) Lehrer müssten „Prognosen abgeben“ über die künftige Leistungsentwicklung von Kindern. Auch bei Neuenschwander ist der „Selektionsdruck“ etwas, das im organisatorisch-institutionellen Bereich der „Schulbehörde“ verortet wird (2003, Abbildung 8.1). Giesecke schreibt der Lehrerin und dem Lehrer ebenfalls die Aufgabe zu, die Leistungen der Schülerinnen und Schüler zu beurteilen und zu benoten. In Anlehnung an Fend (1981) spricht er von der „Selektionsfunktion“ und bezeichnet die Selektion als „Zweck der Schule als öffentlicher Institution“ (1998, 210ff.).36 Für Ingenkamp sind „Übertrittsauslesen“ ein „gesellschaftliches und pädagogisches Problem“. Anders als man erwarten könnte, spricht allerdings auch er nicht explizit von der Aufgabe des Auslesens. Schulen üben „eine Mitwirkung bei der Übertrittsauslese“ aus, während der Lehrer „urteilt“ und damit „Qualifikationen“ bestätigt (1993, 69ff.). Laut Olechowski findet die Selektion im „Schulsystem“ statt, ja sogar Noten werden von der „Schule“ erteilt (1993, 17f.). Velthaus betrachtet „die individuelle Förderung und die gesellschaftliche Eingliederung“ als zwei Aufgaben der Schule, die in einer„ständigen und unaufhebbaren Spannung“ zueinander stehen. Gemäss seiner Sichtweise liest wiederum die Schule – und nicht etwa die Lehrperson – aus und verteilt „soziale Aufstiegschancen“ (1996, 41). In Beiträgen, die sich von vorneherein für Aufgaben der Lehrperson interessieren, erscheint Selektion überhaupt nicht. Bessoth nennt als „Aufgaben des Lehrers“ das Lehren, Erziehen, Beurteilen, Beraten und Innovieren. Der „Aufgabenbereich Beurteilen“ wird umschrieben als „schwierige Erfolgsmessung, aber Aufgabe der gerechten Beurteilung; Anwendung von Methoden objektiver Leistungsmessung; Erfassung von Entwicklungs- und Entfaltungsmöglichkeiten“ (1994, 63f.). Wie Bessoth betrachtet Rudow mit einem psychologischen Blick 36

Ähnlich Strobele (2004), der aber auch Kritik übt: Er bemängelt, dass die gängigen Schultheorien zwischen der – als pädagogisch verstandenen – individuumsbezogenen „Innenseite“ („Bildung“, Sozialisation) und der gesellschaftsbezogenen „Aussenseite“ keine Synchronisierung leisteten. Dabei subsumiert er unter die Aussenseite sowohl die Qualifikation (Erzeugung gesellschaftlicher „Brauchbarkeit“) als auch die Selektion (Erzeugung sozialer Ungleichheit) und fordert, dass die beiden Seiten aufeinander bezogen werden sollten.

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das „Lehren, Erziehen, Beurteilen, Beraten, Innovieren, Beaufsichtigen und Verwalten“ als Arbeitsaufgaben, welche die Lehrtätigkeit charakterisieren. Das „Beurteilen“ zeichnet sich für ihn durch den Einsatz von „Methoden objektiver Leistungsmessung“ aus (1994, 59). Altrichter (1994), der sich auf einen Bericht der OECD stützt und vierzehn Dimensionen der Lehrerkompetenz auflistet, erwähnt keine Kompetenz, die sich auf eine Aufgabe des Selegierens beziehen könnte. Anders als die meisten Pädagogen gehen Terhart/Lankau/Lüders (1999) in ihrer Untersuchung über „Selektionsentscheidungen als Problembereich professionellen Lehrerhandelns“ davon aus, dass Selektion zum Aufgabenspektrum der Lehrperson gehört. Auch im Büchlein von Wittenbruch/Brenk/Drees (2000), das für die Weiterbildung von Lehrpersonen verfasst ist und das Bewusstsein für die Spannung zwischen Fördern und Auslesen schärfen will, ist von einer „Doppelaufgabe“ die Rede (ebd., 7). Interessant für unsere Fragestellung ist Bönsch (1994), der verschiedene „Segmente“ der „Lehrerrolle“ unterscheidet und unter anderem vom „Lehrer als Verteiler von Lebenschancen“ spricht. Er verweist in diesem Zusammenhang auf das Dilemma „Anwalt von Schülern oder Anwalt gesellschaftlicher Ansprüche“ (ebd., 81). Der Lehrer – so Bönsch – „muss sich klar darüber sein, dass er mit seinen Einschätzungen, Leistungsmessungen und -beurteilungen Lebenschancen entwickeln hilft oder blockiert“ (ebd., 81). In dieser Formulierung bringt Bönsch seine Sicht zum Ausdruck, wonach der Lehrer – ob er dies wolle oder nicht und ob ihm dies bewusst sei oder nicht – Dinge tut, die beim Schüler Möglichkeiten eröffnen oder einschränken können. Es geht sozusagen um einen nicht intendierten und nicht bewussten Aspekt des Lehrerhandelns. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Lehrperson in der Literatur im Zusammenhang mit pädagogischen Aufgaben üblicherweise als handelnde Akteurin thematisiert wird, im Zusammenhang mit Selektion dagegen nur in Ausnahmefällen. In einem Lehrbuch für Lehrpersonen zur Problematik von Fördern und Auslesen weist der Autor (Nauck 1983) verständnisvoll darauf hin, dass in der pädagogischen Diskussion die Trennung zwischen „Aufgabe“ und „Funktion“ oft beibehalten werde, weil so dem Begriff der Aufgabe eine wertpositive Bedeutung vorbehalten bleiben könne, währenddem der Funktionsbegriff wertneutral oder aber abwertend gebraucht werden könne, wie etwa bei Combe, der von „sozial ungerechte(r) Filterfunktion der Schule“ spreche (Combe 1971, 204). Nauck hält fest, es sei eine Frage, ob Pädagogen das Auslesen als Funktion der Gesellschaft konstatieren oder ob sie sich mit dem Sachverhalt „Auslesen“ identifizieren und ihn als Auftrag und Aufgabe akzeptieren (1983, 32) – womit er nichts anderes sagt, als dass sich im konzeptuellen Umgang von 36

Wissenschaftlern mit dem Phänomen Selektion die Tatsache niederschlägt, dass Selektion eine Lehreraufgabe darstellt, die bei Wissenschaftlern (wie bei Lehrpersonen selber) als unerwünscht gilt. 2.2.2 Weiterführende Überlegungen mit Blick auf die vorliegende Studie Im Rahmen unserer Fragestellung hat die Spannung zwischen pädagogischen und selektionsbezogenen Aufgaben – wie in der Einleitung gesagt – den Stellenwert eines Handlungsproblems. Die interessierenden Deutungsmuster von Lehrkräften beziehen sich auf den Umgang mit dieser Spannung. Im Gegensatz zur mehr oder weniger impliziten Tendenz vieler referierter Autorinnen und Autoren, Sozialisation und Qualifikation aus einer akteurtheoretischen und Selektion aus einer gesellschaftstheoretischen Sicht zu betrachten, gehen wir davon aus, dass alle drei Komponenten aus beiden Perspektiven in den Blick genommen werden können.37 In unserer Studie steht die akteurtheoretische Perspektive im Vordergrund. Für die Konzeptualisierung sind aber nicht einfach nur berufs- oder professionssoziologisch orientierte Ansätze heranzuziehen, die eine handlungstheoretische Perspektive verfolgen, vielmehr gilt es auch, darin einen systematischen Ort für die Selektion anzugeben. Primäres Ziel ist die theoretische Bestimmung des Verhältnisses von pädagogischen und selektionsrelevanten Aufgaben der Lehrperson. 2.2.2.1

Die Aufgaben der Lehrperson

Die pädagogischen Aufgaben In Anlehnung an Oevermanns Überlegungen zum professionalisierten Lehrerhandeln (1996b; 2002) verstehen wir unter ‚pädagogischen’ Aufgaben eine bestimmte Art des Erziehens und Unterrichtens, nämlich jene, die explizit die einzelne Schülerin und ihr Wohl ins Zentrum stellt und ihr – bei erfolgreichem Verlauf – dazu verhilft, ein autonomes Mitglied der Gesellschaft zu werden.38 37 Wir schliessen uns damit Fend an, der festhält, die „schulische Sozialisation“ könne unter „zwei Perspektiven“ untersucht werden: mit Blick auf die Reproduktion der Gesellschaft und mit Blick auf das Werden der Persönlichkeit. Allerdings stiftet der Autor Verwirrung, wenn er in diesem Zusammenhang von einer „Doppelfunktion“ schulischer Sozialisationsprozesse spricht. „Funktion“ ist – jedenfalls im soziologischen Diskurs, und auf ihn nimmt der Pädagoge Fend explizit Bezug – ein Terminus, welcher der Perspektive der Gesellschaftsreproduktion und nicht der Ontogenese zugehört (vgl. Fend 1981, 7). 38 Von dieser Autonomie ist in Aufsätzen von 1996b und 2002 wenig die Rede. Doch mündlich äusserte sich Oevermann des Öfteren in diese Richtung, unter anderem in einem Interview mit der Wochenzeitung (Oevermann 2004).

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‚Autonomie’ meint die Fähigkeit zu selbstbestimmtem (ggf. erzwungenem) Entscheiden mit dem Anspruch, im Nachhinein einer Begründungsverpflichtung nachkommen zu können. Den Gegensatz zu pädagogisch inspiriertem Erziehen und Unterrichten würde ein Erziehen und Unterrichten bilden, das sich rein an Erfordernissen des Arbeitsmarktes oder des Staates orientiert und die Autonomie des einzelnen Menschen hintanstellt. Die pädagogischen Aufgaben – das sei für die vorliegende Arbeit begriffstechnisch festgelegt – bilden die Seite des ‚Förderns’ im Lehrberuf. Wenn von institutionalisierten Sondermassnahmen des ‚Förderns’ („Förderkurse“ u.a.) die Rede ist, machen wir dies kenntlich.39 Wir gehen mit Oevermann davon aus, dass das pädagogische Handeln der Lehrperson sich in seiner inneren Notwendigkeit um die „sozialisatorisch eingeschränkte Funktion der Vermittlung von Wissen, Tradition und Technik“ (1996b, 143) kristallisiert, das heisst um jene Inhalte, deren Weitergabe von einem bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungsgrad an durch die Sozialisation in der Familie nicht mehr gewährleistet ist: Nun muss die Gesellschaft für ihre eigene Reproduktion Instanzen bereitstellen, die solche Inhalte explizit vermitteln. Kerninstanz ist die Schule, Kernakteur die Lehrkraft. Um die primäre Aufgabe40 der Wissensvermittlung gruppiert sich von Anfang eine zweite, jene der Normenvermittlung. Die Verinnerlichung von Normen und die Reflexion auf ihre Geltung ist – Oevermann zufolge – zentraler Bestandteil der Ausübung einer Tätigkeit, die auf einer bestimmten Qualifikation basiert (ebd., 144): Der erwachsene Mensch, der – dank Wissensvermittlung im Bildungswesen – berufliche Aufgaben übernimmt, kann diese ohne kritische Reflexion nicht bewältigen. Wir fügen bei, dass schulische Normenvermittlung und -reflexion heutzutage in dem Masse auch mit Blick auf ausserberufliche Prozesse zu geschehen haben, in dem die Familie diese Funktionen nicht mehr übernehmen kann. Aus der Tatsache, dass die Wissens- und Normenvermittlung zwischen Lehrperson und Schüler eine Interaktionspraxis eröffnet, die auf die spätere personale Integrität des Schülers Einfluss ausübt, ergibt sich eine dritte, prophylaktische und quasi-therapeutische Aufgabe: Weil alles, was in dieser Interaktion geschieht, Folgen für die Entwicklung der personalen Integrität des Schülers nach sich zieht, trägt sie riskante Züge. Als Noch-nicht-Erwachsener mit einer noch 39

Wie Nauck (1983, 66ff.) festhält, tritt der Begriff ‚Fördern’ in pädagogischen Lexika und Handbüchern kaum isoliert auf, sondern nur als Gegenpol innerhalb von Ausführungen zur Auslese. ‚Fördern’ in einem engeren, curriculumstechnischen Sinne gibt es als isolierten Ausdruck sehr wohl („Förderklasse“, „Förderkurse“): Es geht um Sondermassnahmen ohne Einzelfallbezug, die zeitlich begrenzt sind und einer bestimmten Schülergruppe, meist leistungsschwachen Schülerinnen und Schülern, vorbehalten bleiben. 40 Oevermann spricht stets von „Funktion“, nicht von „Aufgabe“.

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fragilen personalen Identität steht der Schüler während der Volksschulzeit in einer kontinuierlichen Krise. Es droht die Gefahr, dass seine Entwicklung Schaden nimmt (darum die „Prophylaxe“). Erst nach Abschluss der Adoleszenz verfügt er – im Falle gelingender Entwicklung – über eine gefestigte personale Identität, dank derer er widersprüchliche Rollenzumutungen der Gesellschaft übernehmen kann und zu einer autonomen Lebensweise fähig ist (besonders deutlich bei Oevermann 2004). Der ‚Leidensdruck’ der Schülerin, des Schülers – so möchten wir selber es formulieren – besteht in dieser Hinsicht im Nochnicht-Erwachsensein und impliziert ein Erwachsenwerden-Wollen. Es gibt aber auch die Möglichkeit, dass eine Schülerin – gemessen an dem, was in ihrem Alter als ‚normales’ Noch-nicht-Gefestigtsein betrachtet werden kann – an übermässig hohen Problemen wie etwa Lernhemmungen oder Kontaktproblemen leidet (darum „Quasi-Therapie“). Ihr Leidensdruck besteht im Umgang mit diesen Schwierigkeiten, und ihr ‚Durst’ bezieht sich auf deren Abbau beziehungsweise auf das ‚Gesundwerden’-Wollen im engsten Sinne des Wortes. „Professionalisiertes“, das heisst erfolgreiches pädagogisches Lehrerhandeln ist gemäss Oevermann jenes Lehrerhandeln, bei dem der Klient ‚Schüler’ seine personale Integrität bewahren und weiterentwickeln (Prophylaxe) oder – falls sie beschädigt ist – wieder aufbauen und weiterentwickeln kann (QuasiTherapie) (1996b, 146ff.). Wir gehen davon aus, dass im Kontext der Schule die ungestörte Herausbildung der personalen Integrität (dank Prophylaxe) und der Abbau von eventuellen Lern- oder Verhaltensproblemen (dank Quasi-Therapie) vor allem deswegen bedeutsam sind, weil sie jene Wissensaneignung und jenen Normenerwerb (inkl. -reflexion) erleichtern beziehungsweise unterstützen, die mit Blick auf Autonomiegewinnung stattfinden sollen.41 Dabei korrespondiert die Neugier des Schülers, der Schülerin dem Leidensdruck des kranken Patienten, der kranken Patientin: Oevermann spricht von einer „soziale(n) Rolle des Schülers als eines Unterweisungsbedürftigen analog zur sozialen Rolle des Patienten als eines Heilungsbedürftigen“ (1996b, 153; auch 2002, 43). Er parallelisiert also den Heilungswunsch des Patienten, der den Arzt konsultiert, mit dem Wissensdurst des Schülers (Wissend-werden-Wollen); eigentlich müsste auch das NormenKennen-und-Reflektieren-Wollen noch genannt sein. Lernprozesse, die den Durst des Schülers stillen, können Oevermann zufolge Krisen beinhalten, muss doch der Lernende immer wieder Vertrautes aufgeben und durch Neues ersetzen (1996b, 167; 2002, 49). Aus dieser Lage heraus kann er widerständige Lernunwilligkeit zeigen, die vor dem genannten Hintergrund als erwartbar und ‚ge41 Zum damit angesprochenen Verhältnis zwischen Prophylaxe/Therapie einerseits und Normenvermittlung bzw. Wissensaneignung andererseits äussert sich Oevermann kaum.

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sund’ zu bezeichnen ist. Oevermann spricht von „partiell schmerzlichen, fordernden, in sich krisenhaften Prozeduren“ und einem „pädagogischen GiftGegengift-Modell“ (1996b, 154): Das Gegengift tut zwar weh, doch es heilt, es hilft.42 Der Schülerin, dem Schüler wird in diesem Zusammenhang – so möchten wir selber es formulieren – pädagogisch sinnvoller Schmerz zugefügt. Oevermann (1996b) zufolge gelingen die prophylaktische und die quasitherapeutische Aufgabe am ehesten, wenn zwischen Lehrer und Schüler eine Beziehung vom Typ „Arbeitsbündnis“ existiert – ein Konzept und ein Begriff, der aus der Psychoanalyse stammt, wo teilweise auch von „Behandlungsbündnis“ gesprochen wird.43 In Zusammenarbeit mit den Eltern, die den erwachsenen Part des Klienten der Lehrperson ausmachen, deutet die erfolgreich fördernde Lehrperson das Handeln des Schülers – stellvertretend – so, dass dessen Entwicklungsmöglichkeiten und autonome Kompetenzen in Erscheinung treten und sich entfalten können. Das geschieht durch die Verbindung einer diffusen, quasi-familialen Beziehungsebene, in der die Beteiligten als ganze Menschen interagieren, mit einer spezifischen, rollenmässigen Beziehungsebene, bei der sich diese als Träger einer bestimmten Rolle einbringen. Die Lehrperson ist nahestehender Freund und Vater, nahestehende Freundin und Mutter, aber im Rahmen ihrer Rolle als Lehrperson. Der Schüler kann sich der Lehrperson in der Ungeschütztheit seines Nichtwissens, seines Nichtvertrautseins mit Normen, seiner Nicht-Integrität und seiner eventuellen Lern- und Verhaltensprobleme vollends anvertrauen. Die Lehrperson geht auf den Lernenden als ganze Person ein, verliert aber die Distanz nicht, weil sie zu einem diffus-spezifischen Balanceakt fähig ist, der im Verlaufe der beruflichen Erfahrung zu einem Bestandteil ihres Habitus geworden ist. Dabei macht sie den Schüler nicht etwa zu einem ‚ewigen Kind’, indem sie ihn infantilisiert und dadurch das Erwachsenwerden gefährdet. Vielmehr bietet sie einen Weg an, wie der junge Mensch seine Unmündigkeit mit der Zeit überwinden kann. So etwa wird ihm kontinuierlich abverlangt, gerade auch für ihn anstrengende, zum Teil unangenehme Aufgaben anzugehen: das ‚schmerzt’. Gleichzeitig wird das Kind/der Jugendliche aber auch nicht als bereits Erwachsener betrachtet, der nur noch einen Experten benötigt, welcher ihm technisches Wissen vermittelt. Das würde zu einer Überforderung führen

42 Das Gift-Gegengift-Modell entstammt der Professionalisierungstheorie für Ärzte. Von der modernen Medizin sagt Oevermann, dass sie auf dem Prinzip der „Heilung durch Verwundung“ aufbaut (1996b, 119). Am deutlichsten wird dies im Falle der Chirurgie, die den Patienten bei Operationen ‚verwundet’, um ihn zu heilen. In der Gift-Metapher steht die heilende Verwundung für das Gegengift, das gegen das Gift der Krankheit gespritzt wird. 43 Vgl. z.B. die Ausführungen über das „Arbeitsbündnis“ bei Müller-Pozzi (1991, 29ff.) oder das „Behandlungsbündnis“-Kapitel bei Sandler/Dare/Holder (1991[1973], 24ff.).

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und die Autonomieentwicklung gefährden. Der Schüler schreitet während der Volksschulzeit im Rahmen eines ‚fordernden Schonraums’ kontinuierlich voran. Dass Lernen als schmerzende Krise verstanden werden kann, wird auch in der Pädagogik bzw. der Pädagogischen Psychologie thematisiert. Oser/Spychiger entwickeln die These, Lernen finde bei der Schülerin, beim Schüler nicht zuletzt durch den Aufbau von „negativem Wissen“ statt und bringe zum Teil mühsame, intensive Suchprozesse mit sich. Die „Falschhandlung“, „Falschantwort“ oder „Falscherfahrung“ könne zum Anlass für einen Erkenntnisprozess werden, der mittels Verblüffung und versuchter Korrektur zum „Wissen über das Nicht-soSein“ oder „Nicht-so-Funktionieren“ einer Sache führen und dadurch die Suche nach dem ‚Richtigen’ vorantreiben kann (2005, 18). Im Zusammenhang mit dem Reagieren der Lernenden auf Fehler, die sie gemacht haben, unterscheiden Oser/Spychiger zwischen „positiven oder produktiven“ und „negativen Beschämern“ (ebd., 74ff.; vgl. auch Spychiger 2006). Im Falle der positiven Beschämer ärgert sich die Lernende mit einem gewissen Grad von Trauer, Scham oder Zorn über etwas, das ihr unterlaufen ist. Positive Beschämer können auch durch die Lehrperson initiiert sein – so etwa, wenn eine Lehrerin das Kind auffordert, genauer hinzuschauen, oder dieses warnt, etwas Bestimmtes in Zukunft nicht mehr zu tun. Dabei, so die beiden Autoren, sei eine „grundsätzlich akzeptierende Basisbeziehung“ zwischen Schülerin und Lehrperson wichtig, in deren Rahmen „Emotionen nicht missbraucht oder blossgestellt werden (können)“ (ebd., 74). Professionalierungstheoretisch gewendet, lässt sich dazu sagen, dass die Schülerin aus Fehlern und insbesondere auch aus Beschämungen, welche die Lehrperson zugefügt hat, lernen kann, wenn ein Arbeitsbündnis zwischen den Beteiligten existiert, das beim Durchstehen der (notwendigen) Krisen Unterstützung und Halt gewährt. Der Schmerz des positiven Beschämtwerdens hat den Charakter von ‚Gegengift’, ist also für den Lernprozess sinnvoll.44 Über das Arbeitsbündnis, das den einzelnen Schüler beim krisenhaften Vorwärtsgehen stärkt, „wölbt“ sich Oevermann zufolge ein zweites, kollektives Arbeitsbündnis, das die Lehrperson mit der Schulklasse eingeht. Damit ist nicht eine Vervielfältigung individueller Arbeitsbündnisse gemeint, sondern eine Beziehung, in welche die binnenstrukturellen Differenzierungen der Klasse aufgenommen werden, etwa in der Ausgestaltung eines tutorialen Lernklimas, in dem die jeweils Fähigeren die anderen unterstützen (1996b, 176f.). Eingebettet in dieses solidarische Netz unter Peers, vermag die Schülerin die Krisen, die das 44

Im Falle der „negativen Beschämer“ ist gemäss Oser/Spychiger ein „nichtadäquate[r] Umgang von Aussenstehenden“ mit dem Fehler des Schülers gegeben, der sich etwa in Zynismus, Blossstellen oder Zornausbrüchen zeigen kann: Das Sichtbarmachen des Verbesserungswürdigen verletzt die Integrität der lernenden Person, Lernen wird erschwert (2005, 74).

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Aufgeben von Vertrautem und Sich-Auseinandersetzen mit Neuem immer wieder erzeugen, noch einmal besser zu bewältigen. Die selektionsbezogenen Aufgaben Das Volksschulwesen kennt eine horizontale und eine vertikale Gliederung, ein ‚Nebeneinander’ und ein hierarchisches ‚Untereinander’ von Bildungseinrichtungen. Während ihrer Bildungskarriere durchquert die Schülerin dieses institutionelle Gefüge. Dabei stösst sie immer wieder auf Stationen, an denen sich mehrere weiterführende Wege auftun und ein Entscheid getroffen werden muss. Wir verstehen unter ‚Selektion’ ähnlich wie bei Diederich/Tenorth (1997) und Titze (2000) stets beides, Auswahl und Ausschluss von weiterer Ausbildung oder weiteren beruflichen Wegen. Zur Diskussion stehen positive und negative Resultate ein und derselben Entscheidung oder Massnahme (Diedrich/Tenorth 1997, 71). Die Selektion, in welche die Lehrperson involviert ist, hat einen Doppelcharakter. Auf der einen Seite ist sie situativ, nämlich dann, wenn eine akute Selektionsentscheidung getroffen werden muss, eine eigentliche ‚Selektionsaufgabe’ ansteht. Auf der anderen Seite ist sie struktureller Art: die Lehrperson handelt stets im Rahmen eines Berechtigungswesens, das Selektion impliziert. Neben die diskontinuierlich auftretenden Selektionsentscheide tritt also die Selektion als Damoklesschwert, das kontinuierlich seinen Schatten auf den Schulalltag wirft. Zur kontinuierlichen Dimension von Selektion: Der gesamte schulische Alltag steht im Schatten von Selektionsprozessen. Auch ausserhalb der Zeitpunkte und Phasen, in denen Schullaufbahnentscheide akut sind, wirkt sich die Tatsache aus, dass die Schule Teil eines Berechtigungswesens ist und hier Selektionen stattfinden. Bedenkt man, dass die Lehrperson ihren selektionsbezogenen Auftrag nicht ohne Weiteres ‚vergessen’ oder ‚ausblenden’ kann, lässt sich jeder Augenblick des schulischen Alltags auf die Frage hin betrachten, welche Implikationen er für die Schullaufbahn einer Schülerin oder eines Schülers hat. NaveHerz spricht zu Recht von „viele[n] kleine[n] Begutachtungsakte[n]“, die der Selektion vorausgesetzt seien (1977, 47): Weil Beurteilungen dereinst in eine Selektionsentscheidung einfliessen, stehen diese a priori unter dem Stern des Berechtigungswesens, in dessen Kontext die Praxis der Lehrperson stattfindet.45 Fehlte dieser Kontext, liesse sich jede Beurteilung, sofern sie keine ‚negativen 45 Eine ‚Entflechtung’, wie sie bildungspolitisch manchmal vorgeschlagen wird (vgl. hierzu VögeliMantovani 1999), ist formal zwar möglich, für die Lehrperson in ihrer realen Praxis aber nicht. Vgl. unsere diesbezüglichen Überlegungen im Schluss der vorliegenden Studie (Kapitel 6.2).

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Beschämungen’ der Schülerin (Spychiger/Oser 2005) mit sich bringt, als förderlich betrachten. In seinen Schriften über das Erziehungswesen fasst Luhmann ‚Selektion’ auf eine Art und Weise, welche die kontinuierliche Dimension von Selektion erhellen hilft.46 Luhmann geht davon aus, dass die Eingliederung in die Gesellschaft unter Bedingungen funktionaler Differenzierung die Form einer „Karriere“ annimmt. Es handelt sich um einen „Inklusionsprozess“ mit einer zeitlichen Struktur, in der positionsverändernde Ereignisse aufeinander folgen (2004[1986], 31ff.):47 Die Karriere baut sich sukzessive auf, ihr Fortgang hängt davon ab, was erreicht ist. Das Bildungswesen hat – so Luhmann – die Möglichkeit, den von ihm selbst gesetzten, karrieredeterminierenden Kriterien in der sozialen Umwelt Wirkung zu verschaffen48, es hält aber auch „ein Stück Karriere in der Hand“ (ebd., 32), bestimmt also den Lebenslauf des Individuums wesentlich mit. Die Akteure im Bildungswesen, vor allem die Lehrpersonen, produzieren diese Karrieren mit. Ausgehend vom binären Code besser/schlechter des Erziehungssystems werden von Luhmann so unterschiedliche Dinge wie die folgenden als „Selektionsentscheidungen“ bezeichnet: „Lob und Tadel (Kopfnicken/Kopfschütteln, Kommentierung einer Antwort im Unterricht), ferner Zensuren, Versetzungen/Nicht-Versetzungen, Zulassung oder Nicht-Zulassung zu Kursen oder Schulsystemen, schliesslich Abschlüsse von Kursen oder Ausbildungsgängen oder Schul-/Hochschulkarriere im ganzen“ (ebd.). Das Erziehungssystem koordiniert Luhmann zufolge eine Vielzahl von Karriereereignissen, „die vom kaum wahrnehmbaren Beurteilen bis zum dramatischen, schicksalsentscheidenden Prüfungsgeschehen reichen“ (ebd., 33). Durch bewertendes Lob und Tadel im Alltag des Schulgeschehens, durch wöchentliche Proben mit darauffolgender Bewertung, aber auch durch Entscheide, die solche Bewertungen zu einer Position verdichten, welche die Schülerin – als „Realschülerin“, als „Gymnasiumsabsolventin“ etc. – dann einnimmt: durch all diese kleinen und grossen entscheidenden Handlungen üben Lehrpersonen einen Einfluss auf die Karriere der Schülerin aus. Diese Aussage lässt sich dahingehend interpretieren, dass im Alltag der Lehrperson jede noch so sozialisatorisch 46

Der Unterscheidung zwischen Fördern und Auslesen wird in der systemtheoretischen Betrachtungsweise keine besondere Relevanz beigemessen. Luhmann/Schorr (1999[1979], 255) äussern sich vielmehr kritisch zu soziologischen Positionen, die einen Widerspruch zwischen Erziehung und Selektion behaupten. 47 Der Frage gegenüber, ob dabei die Leistung, zugeschriebene Merkmale wie Geschlecht oder Ethnie oder gar gesellschaftliche Veränderungen grossen Stils (Krieg, Technologieumstellungen, Wirtschaftskonjunktur etc.) den Ausschlag geben, ist dieser Begriff neutral (Luhmann 2004[1986], 31). 48 Hier trifft sich Luhmann mit Bourdieu und dessen These von der relativen Autonomie des Bildungswesens (Bourdieu/Boltanski 1981[1971]).

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gemeinte Handlung, sofern sie – im Rahmen eines hierarchisch strukturierten Schulsystems – mit Beurteilung zu tun hat, immer schon im Lichte von Selektionsprozessen steht. Luhmann betrachtet das Erziehungssystem gewissermassen aus der Perspektive der Selektion als Damoklesschwert, die das schulische Geschehen kontinuierlich bestimmt. Zu den aus dem Alltag herausgehobenen Momenten, in denen Selektion diskontinuierlich stattfindet, sei mit Blick auf unsere Fragestellung festgehalten, dass sie sich unterschiedlich gestalten; je nach Verzweigungsart (vgl. Kapitel 4.3) erhält der Selektionsentscheid einen anderen Charakter: -

Selektionsentscheide als Akt des Einteilens in hierarchisch unterschiedliche Stufen: Schülerinnen und Schüler werden auf verschiedene Wege aufgeteilt, wie es im Kanton Bern etwa Ende des 6. Schuljahres geschieht (Verteilen auf Sekundar- und Realniveau). Diese Wege unterscheiden sich unter anderem darin, dass sie auf unterschiedlichen Niveaus der Bildungshierarchie positioniert sind.

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Selektionsentscheide als Akt des Aufstufens: Schülerinnen und Schüler werden einem höheren als das bisherige Niveau zugewiesen. Es kann im Kanton Bern zum Beispiel um den Wechsel vom Real- ins Sekundarniveau oder die Arbeit mit sogenannt erweiterten individuellen Lernzielen (eILZ) gehen. Auch die Auswahl von Schülerinnen und Schülern, die in den gymnasialen Unterricht wechseln, gehört dazu. Jedem Akt des Aufstufens bestimmter Schülerinnen entspricht ein Akt des Nicht-Aufstufens anderer Schülerinnen.

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Selektionsentscheide als Akt des Abstufens: Eine Schülerin oder ein Schüler wird einem tieferen als dem bisherigen Niveau zugewiesen. Beispiele für den Kanton Bern sind der Niveauwechsel nach unten – vom Sekundar- ins Realniveau – in einem Niveaufach oder die Arbeit mit reduzierten individuellen Lernzielen (rILZ). Jedem Akt des Abstufens bestimmter Schülerinnen entspricht ein Akt des Nicht-Abstufens anderer Schülerinnen.

Mit der Selektion erhalten Schülerinnen und Schüler schulische ‚Titel’, etwa „Realschülerin“, „Gymnasiumsabsolventin“.49 Solche Titel sind – um mit Bourdieu zu sprechen – ein gesellschaftlich institutionalisiertes „Zeugnis“ für bestimmte Kompetenzen, die ihrem Inhaber einen „dauerhaften und rechtlich garantierten konventionellen Wert“ verleihen (1983, 190; vgl. auch Bourdieu 1979[1976] und Bourdieu/Boltanski 1981[1971]). Als institutionalisierte Form 49

Luhmann spricht in diesem Zusammenhang von der „Verdichtung dieser Bewertungen zu auswertbaren, mitnehmbaren Positionen“ (2004[1986], 33).

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von kulturellem Kapital enthalten Titel ein Versprechen, das gesellschaftlich zu bestimmten Positionen und Laufbahnen berechtigt. Aufgrund von schulischen Titeln werden zunächst die Positionen vergeben, welche die weitere Ausbildungskarriere bestimmen; und auf der Basis der im Bildungswesen erworbenen Titel werden dann Positionen im Beschäftigungssystem zugewiesen. Diese unterscheiden sich im Zugang zu gesellschaftlich begehrten, knappen Gütern wie etwa Einkommen, Prestige oder Macht. Ihre Ungleichverteilung konstituiert soziale Ungleichheit. Im Unterschied zu Inhabern von kulturellem Kapital ohne schulische Beglaubigung (Autodidakten), denen man immer abverlangen kann, den Beweis für ihre Fähigkeiten anzutreten, „da sie nur sind, was sie tun“, brauchen Inhaber von Bildungstiteln „nur zu sein, was sie sind“ (1987[1979], 48f.): Die Titel, so Bourdieu, lassen das Tun ihrer Träger als Offenbarung einer Essenz erscheinen, die ihren Ausdrucksformen vorausliegt und übergeordnet ist. Mehr noch: sie versprechen – kraft einer unausgesprochenen gesellschaftlichen Klausel – sogar mehr als das, was sie gewährleisten, nämlich eine „Allgemeinbildung“, die der angezeigten fachlichen Kompetenz entspricht (ebd., 51). Der Bildungstitel von Absolventen der französischen Grandes Ecoles etwa, so Bourdieu, ermöglicht mehr als die Einnahme einer bestimmten Berufsposition, sie verleiht auch Zutritt zur „kulturellen Bourgeoisie“ (ebd.). Bourdieu denkt implizit an Titel mit einem ‚hohen’ Wert. Im Zusammenhang mit der hier thematischen Problematik von ‚Fördern und Auslesen’ ist aber an verschiedenste Werthaltigkeitsgrade zu denken, an Titel mit geringem Wert (etwa Realschulabschluss) ebenso wie an solche mit mittlerem (Sekundarabschluss) und solche mit hohem (Gymnasialabschluss) Wert.50 Titel bürgen zudem – auch dies wird bei Bourdieu deutlich – für mehr oder weniger ausgeprägte Qualifiziertheit unabhängig davon, ob zur tatsächlichen Qualifikation des Trägers eine Entsprechung besteht oder nicht. Dies sticht angesichts der ‚Zeitlosigkeit’ von Titeln besonders ins Auge: Titel werden auch dann noch getragen und vorgezeigt, wenn der Träger – ohne Zertifizierung – neue Qualifikationen erworben hat oder wenn er – etwa im Alter – gar nicht mehr über seine im Titel ‚bezeugten’ Qualifikationen verfügt (Bourdieu/Boltanski 1981[1971], 93ff.). So erklärt sich die „Feindschaft der Unternehmer“ (ebd., 94) gegenüber dem Bildungswesen und ihr „Traum von einer Schule, die mit dem Unternehmen vereint und zu einer betriebseigenen Schule geworden ist“ (ebd., 99). Die gegenwärtig zunehmende Beliebtheit von Leis50 Unter ‚Titel’ subsumieren wir auch den Status, den ‚kleine’ Schullaufbahnentscheide vermitteln, etwa der Entscheid, eine Schülerin zur „rILZ-Schülerin“ (reduzierte individuelle Lernziele) zu machen: Im Schulbericht wird nämlich – gesellschaftlich sichtbar – der Vermerk stehen, dass sie die aufgeführten Noten unter den Bedingungen reduzierter individueller Lernziele erreicht hat (vgl. Kapitel 4.3).

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tungstests, welche die Arbeitgeber im Zusammenhang mit der Vergabe von Lehrstellen selber initiieren – etwa die sogenannten ‚Multichecks’ –, erscheinen vor diesem Hintergrund nur plausibel.51 Jede Titelzuweisung, die eine Positionsveränderung im Karriereverlauf zur Folge hat – so Bourdieu –, erfolgt positiv als Auszeichnung oder negativ als „Stigmatisierung“ (1987[1979], 48). Titel von geringer gesellschaftlicher Werthaltigkeit, die es den Schülerinnen und Schülern verunmöglichen, einen nach oben führenden Weg zu beschreiten oder auf dem einmal erreichten Schulniveau zu verbleiben, entstehen durch Negativselektion. In der vorliegenden Arbeit interessiert vor allem der Umstand, dass Lehrpersonen diese Art von Selektionen vorzunehmen haben, denn sie verursachen auf Seiten der Schülerin den Schmerz, aufgrund dessen – wie unter Punkt 2.2.2.2 erläutert wird – bei der Lehrperson ein Widerspruch zum Fördern entsteht. Zu den im schulischen Feld vorkommenden Negativselektionen gehören das Einteilen von Schülerinnen und Schülern in die Realschule, das Abstufen und Nicht-Aufstufen in seinen verschiedenen Varianten (vgl. Kapitel 4.3) sowie auch die Nicht-Auswahl von Schülerinnen und Schülern fürs Gymnasium. Bei der Ausübung ihrer selektionsbezogenen Aufgaben sind Lehrkräfte – reglementarisch betrachtet – ausführende Staatsangestellte, die nach Regeln und Verfahrensvorgaben zu arbeiten haben, welche der Staat festlegt. Wo Regeln und Systematik nicht ausreichen, treten Erfahrung und Intuition an ihre Stelle: Dieser in der Professionstheorie über den Arztberuf und entsprechenden empirischen Studien eindeutige Befund dürfte auch für Lehrpersonen nachzuweisen sein (über Ärzte vgl. Stichweh (1994[1987]), Streckeisen 2001). Es könnte an dieser Stelle – analog zur Erörterung der Seite des Förderns – die Frage behandelt werden, wie die Lehrperson ihrer Selektionsaufgabe gerecht werden kann. Da die Selektion im Selbstverständnis der modernen Gesellschaft in Abhängigkeit von durch die Schülerinnen und Schülern erbrachten Leistungen erfolgen soll, wäre die sozialwissenschaftliche Debatte über leistungsgerechte Selektion heranzuziehen (vgl. z.B. Kronig 2003, Rolff 1997), ebenso die pädagogische Debatte über das der Selektion vorausgesetzte Beurteilen von Leistungen im 51

Bourdieu und Boltanski gelangten in ihren Überlegungen zum Verhältnis von Bildung und Beschäftigung zur allgemeinen Auffassung, dass das Bildungssystem gegenüber dem Beschäftigungssystem eine „relative Autonomie“ aufweist. Einmal abgesehen von der Frage nach der Entsprechung von Titel und Qualifikationen des Trägers, kennt das Bildungswesen zum Beispiel seine eigene Entwicklungsgeschwindigkeit, die dem wirtschaftlichen Wandel hinterher hinken kann (ebd., 93). Es ist aber auch möglich, dass im Bildungswesen Titel verliehen werden, für die keinerlei explizite Nachfrage im Beschäftigungssystem besteht, ja dass aufgrund dieser Titel vom Bildungswesen her mit der Zeit eine Nachfrage generiert wird, wie es der Absorptionsansatz gezeigt hat (Streckeisen 1981).

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Schulalltag (z.B. Vögeli-Mantovani 1999, Sacher 2001). Doch für die hier interessierende Problematik erübrigt sich dies, denn das Verhältnis zwischen Fördern und Auslesen, das wir im Folgenden charakterisieren, besteht unabhängig von der Frage der Leistungsgerechtigkeit der Selektion. Davon ist schon NaveHerz ausgegangen, die – wie unter 2.2.1.1 erwähnt – festhält, dass der Antagonismus zwischen Begutachtungs- und Sozialisationsfunktion gerade auch für den Fall gerechter Begutachtung gegeben ist (1977, 51). 2.2.2.2

Die Antinomie zwischen pädagogischen und selektionsbezogenen Aufgaben

Vor dem Hintergrund der Ausführungen zu den pädagogischen und selektionsbezogenen Aufgaben der Lehrkräfte lässt sich nun die Frage stellen, in welchem Verhältnis diese Aufgaben zueinander stehen. Wir gehen davon aus, dass die professionalisierte Lehrperson, die – als idealtypische Pädagogin bzw. idealtypischer Pädagoge – mit Schülerinnen und Schülern arbeitet, durch die real gegebenen selektionsbezogenen Aufgaben in der Ausübung ihrer pädagogischen Aufgaben behindert, ja davon abgehalten wird. Die Selektionsaufgabe hat den Stellenwert eines Störfaktors, der pädagogische Prozesse erschwert.52 Als notwendigen Bestandteil eines Sozialisations- und Qualifizierungsprozesses, der – dank eines Arbeitsbündnisses zwischen Lehrerin und Schülerin – zur Entwicklung des jungen Menschen zu einem autonomen Mitglied der Gesellschaft beiträgt, lassen sich selektionsbezogene Lehreraufgaben nicht betrachten. Unsere These ist, dass die Selektionsaufgabe der Lehrperson das Arbeitsbündnis mit der Schülerin, dem Schüler verunmöglicht: Im Rahmen des Arbeitsbündnisses, in dem die professionalisierte Lehrkraft die Schülerin, den Schüler als ganze Person wahrnimmt, ohne selber die Position der Deutenden zu verlassen, hat diese die Möglichkeit, die Interessen und sachbezogenen Leidenschaften der Schülerin herauszufinden und sie entsprechend zu fördern. Gegebenenfalls bringt dies für die Schülerin – wie oben erläutert – auch Unannehmlichkeiten und ‚Schmerzen’ mit sich, aber solche, die sie weiterbringen und die ihr erwachsener Part (zunächst vor allem die Eltern) in Kauf nimmt, etwa das strenge, unnachgiebige Gefordertwerden durch die Lehrperson. Etwas anderes gilt für Unannehmlichkeiten, die Schülerinnen und Schüler im Zusammenhang mit Negativselektion erleben. Wir gehen davon aus, dass die Lehrperson, die einen Schullaufbahnentscheid einleitet, der infrage stehenden 52

Nicht allein die Selektion, auch die qua Organisation ‚Schule’ ausgeübte bürokratische Kontrolle (Terhart 1992, Helsper 1996, Schütze 1996 u.a.m.), die Disziplinierung (Foucault 1981[1975] u.a.), ja sogar die Schulpflicht (Oevermann 1996b) können als solche Störfaktoren betrachtet werden.

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Schülerin Schmerz zufügt, weil sie diese in der Hierarchie des Bildungswesens nach unten weist oder zu einer Nicht-Ausgewählten macht. Eine solche Schmerzzufügung – dies die These – lässt sich mit einem Arbeitsbündnis nicht vereinbaren, entbehrt sie doch des pädagogischen Sinns, und dies aus zwei Gründen: Erstens verringern sich für die Schülerin die künftigen Ausbildungsund Berufschancen, weil die neue Schulstufe einen Titel von geringerer Werthaltigkeit verleiht (objektive Ebene). Dies gilt in der modernen Gesellschaft als unvorteilhaft, weil der Zugang zu begehrten, knappen Positionen in Bildung und Beschäftigung erschwert wird. Zweitens enthält der Schmerz eine narzisstische Kränkung – Bourdieu würde von „Stigmatisierung“ sprechen (1987[1979], 48) –, weil das Ansehen des Schultyps, in den die Schülerin eingewiesen wird, tiefer ist, als wenn der negative Selektionsentscheid nicht stattfände (subjektive Ebene). Auf die mit Stigmatisierung verbundene Schmerzzufügung, die hier interessiert, reagiert die Schülerin gegebenenfalls mit Selbstwertverminderung und Demotivierung; sie erbringt geringere Leistungen als jene, zu denen sie sonst in der Lage wäre. Wie Helmke (1992, zit. n. Kessels 2002) für den Fall der Mathematik zeigt, wirkt sich eine leichte Überschätzung der eigenen Fähigkeiten auf die kurz- oder langfristige Leistungsentwicklung besonders günstig aus, eine Unterschätzung dagegen ungünstig. Negativselektion wirkt aber der Selbstüberschätzung mit Sicherheit entgegen und alimentiert eher die Selbstunterschätzung. Der Selektionsentscheid hat also für die betroffene Schülerin, den betroffenen Schüler schwierige äussere und innere Folgen zugleich. Bestünde zwischen den zur Auswahl stehenden Möglichkeiten kein hierarchisches Gefälle, würde die Schülerin im sozialen Gefüge des Bildungswesens also nur eine horizontale und nicht auch eine vertikale, nach unten gerichtete soziale Bewegung vollziehen, müsste sie keinen pädagogisch sinnlosen Schmerz hinnehmen. Ein Schullaufbahnentscheid mit rein horizontaler Richtungsänderung hätte im Rahmen des Arbeitsbündnisses sehr wohl Platz. Nur gibt es solche Bewegungen in der Volksschule nicht.53 Vielmehr kann grundsätzlich aus der Gegensätzlichkeit von einander erschwerenden Aufgaben sogar ein eigentliches Dilemma werden, was bedeutet, dass Fördern ohne Auslesen (sinnloser Schmerz) nicht möglich ist: Eine leistungsmässig zurecht abgestufte Schülerin hat zwar den Vorteil, dass sie nicht mehr überfordert ist, doch dieser Vorteil verbindet sich mit dem (subjektiven und objektiven) Nachteil der Abstufung. Die Lehrkraft, die entsprechende Entscheide in die Wege leitet, fördert und schadet daher zugleich. Auf die Schädigung zu verzichten, würde implizieren, 53

In anderen Bildungsbereichen als der Volksschule sind rein horizontale soziale Bewegungen denkbar. So etwa dürfte ein Studienwechsel von Romanistik zu Germanistik weder einen Aufstieg noch einen Abstieg bedeuten.

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dass auch die Förderung nicht mehr möglich ist.54 Damit sei nicht ausgeschlossen, dass der Lehrperson an einer ‚guten Beziehung’ zur Schülerin etwas liegt, dass sie sich darum bemüht und – im Rahmen des objektiv Möglichen – auch erfolgreich ist. Nur: Arbeitsbündnischarakter im eben geschilderten Sinne kann diese Beziehung nicht haben. Zur Verringerung künftiger Ausbildungs- und Berufschancen (objektive Komponente) sei Folgendes bemerkt: Empirische Studien aus der Bildungssoziologie zeigen die Folgen verschiedener Ausbildungsabschlüsse besonders deutlich für den Übergang nach Beendigung der Volksschule auf: Die schulischen Titel „Realschüler/Realschülerin“ bzw. „Sekundarschüler/Sekundarschülerin“, die den Lernenden nach einigen Jahren Primarstufe verliehen werden und die sie danach nicht mehr abstreifen können, figurieren beim Übergang nach dem Schulobligatorium auch in der Schweiz als zentrale Auswahlkriterien (Buschor/ Gilomen/McCluskey 2003, Herzog/Neuenschwander/Wannack 2004, Hupka 2003, Imdorf 2005 u.a.m.). Eine Reihe von Untersuchungen belegen, dass Realschülerinnen und Realschüler in Berufslehren oft mit einem tiefen Anforderungsniveau einsteigen müssen und häufig unterfordert sind (Meyer 2003a, Meyer/Stalder/Donati 2003) oder gar nicht erst zum Bewerbungsverfahren zugelassen werden (Moser 2004). Im Bereich der ‚Zwischenlösungen’ sind sie übervertreten (Meyer 2003b).55 Die ausserschulische Selektion führt die innerschulische gleichsam fort. Zudem finden Benachteiligungen, die bereits früher aufgrund des sozioökonomischen Hintergrunds bestanden haben, eine Verstärkung (Coradi/Hollenweger/Nicolet/Wolter 2003, Coradi/Wolter 2002). Der auf der Sekundarstufe I besuchte Schultyp wirkt sich auch in späteren Phasen des Lebenslaufs aus. Formal niedrig qualifizierte Schulabgängerinnen und -abgänger absolvieren oft Ausbildungen im halbstrukturierten Lehrstellensegment, die auf Berufe vorbereiten, bei denen das Risiko für Dequalifizierung und Arbeitslosigkeit nach Ausbildungsabschluss vergleichsweise hoch ist (Haeberlin/Imdorf/Kronig 2004, Meyer 2003c).56 Zur Kränkung (subjektive Komponente): Wir gehen davon aus, dass in der westlichen Gesellschaft die Erwartung besteht, die einzelne Akteurin, der einzelne Akteur strebe nach ‚oben’ und dieses – sehr okzidentale – „universale 54 Wenn wir von „Antinomie“ sprechen, meinen wir ebenfalls diese dilemmatische Konstellation, aber aus der wissenschaftlichen Forscher- und nicht aus der Lehrerperspektive. Die Begriffe „Spannung“ und “Widerspruch“ werden in dieser Arbeit – pragmatisch – als Synonyme für „Dilemma“ verwendet. 55 Zur Strukturlogik eines spezifischen Angebots im Bereich der‚Zwischenlösungen’ und den Orientierungen zugehöriger Jugendlicher vgl. Heinimann (2006). 56 Für Deutschland vgl. zu dieser Problematik etwa Lauterbach/Sacher (2001).

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Aufstiegsbedürfnis“57 sei auch heute noch gesellschaftlich verbreitet.58 Sein Beharrungsvermögen dürfte gross sein, auch wenn vor dem Hintergrund der Arbeitsmarkt- und Berufsdebatte rund um ‚Flexibilisierungstendenzen’ eine partielle Erosion nicht ausgeschlossen werden kann. Strengt sich eine Schülerin also an und versagt dabei, dann leidet entsprechend ihr Selbstbild. Studien über narzisstische Kränkungen, die im Moment der Selektion erlebt werden, sind uns keine bekannt. In seiner ausführlichen Übersicht zu Problemen des Selbstkonzepts von Schülerinnen und Schülern erwähnt Kronig (2000) eine einzige für uns interessante Studie; diese zeigt, dass Sonderschülerinnen und -schüler unter den Stereotypien leiden, die den Sonderschulen zugeschrieben werden. Das Stigma, das sich mit dem Besuch einer Sonderklasse verbindet, wirkt sich negativ auf die Leistung aus (ebd., 142).59 Weitere Untersuchungen im Bereich der Selbstkonzeptproblematik widmen sich vor allem der Frage, ob das Selbstwertgefühl in leistungshomogenen Klassen höher ist als in leistungsheterogenen Klassen (Köller/Baumert 2001 u.a.; vgl. die Übersicht von Kronig 2000, 138ff.). Interessant für unsere Problematik sind die Überlegungen und referierten Befunde von Solga (2004). Die Autorin beschäftigt sich mit Selektionsverliererinnen und -verlierern und knüpft dabei an Goffmann’s Cooling-out-Theorem an (1962). Goffmanns Aufmerksamkeit gilt in diesem Zusammenhang Akteuren, die mit innerem Engagement versuchen, einen bestimmten Status zu erreichen, dabei aber keinen Erfolg erzielen und daran anschliessend einen Cooling-outProzess durchlaufen.60 Die Nicht-Erreichung des Status wird zum Problem, 57 Schelsky (1956), von dem dieser Ausdruck stammt, nimmt in den 1950er Jahren an, die hochmobile Gesellschaft vermittle kein dauerhaftes soziales Statusbewusstsein, das Sicherheitsbedürfnis schlage daher in ein ständiges Immer-mehr-haben-Wollen und Immer-mehr-sein-Wollen um (vgl. auch Clark 1973[1960]). 58 In der Ungleichheitsforschung wird dieses A-Priori kaum je explizit gemacht, aber so gut wie immer vorausgesetzt. 59 Die von Kronig erwähnte Studie stammt von Wocken (1983) (zit. n. Kronig 2000). 60 Goffmans Titel „On Cooling the Mark Out: Some Aspects of Adaptation to Failure“ (1962) knüpft an ein amerikanisches Betrugsszenario an, das “confidence game”, bei dem einem auserwählten Opfer, dem “Mark”, die Illusion der sicheren Chance vorgegaukelt wird, einen Gewinn zu erzielen, wenn er Geld investiert. Um die investierte Summe wird er anschliessend betrogen. Wenn das Opfer erkennt, der Betrogene zu sein, muss es zugleich feststellen, nicht so gerissen oder kompetent zu sein, wie es glaubte. Dies – so Goffmann – kommt einem Prozess der Destruktion des Selbst gleich und lässt Betreuung und Hilfe nötig werden. Im anschliessenden „Cooling out“ verwandelt sich die Krise des Opfers in etwas Erträgliches. Goffman überträgt dieses Modell auf soziale Prozesse insgesamt, in denen Personen Energie investieren, um einen bestimmten Status zu erreichen, und dann feststellen müssen, dass sie diesen nicht erreichen oder nicht bewahren können. Ein eventuell eintretender Prozess der Abkühlung verhindert, dass der ‚Verlierer’ auf eine Weise reagiert, die ihn für das gesellschaftliche Gleichgewicht zu einem Störfaktor werden lässt, etwa das Einschlagen einer Devianzkarriere. Er definiert sich neu, entwickelt dabei eine Selbstverschuldungsüberzeugung, behält aber einen gewissen Leistungswillen bei, das heisst eine gewisse Angepasstheit an gesell-

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wenn die Umstände ein schlechtes Licht auf die Person werfen: Einerseits wird sie mit einem Makel versehen, der in der Umwelt negative Reaktionen auslöst und Chancenverminderung in verschiedenster Hinsicht nach sich zieht (objektive Komponente). Andererseits leidet das Selbstbild (subjektive Komponente). Wie nun Solga (2004) unter Bezugnahme auf psychologische Debatten aufzeigt, typisieren sich ‚verlierende’ Schülerinnen und Schüler negativ und desengagieren sich in der Schule mit der Folge, dass sich ihre Leistungen verschlechtern. Der negativselegierte Schüler, der gekränkt ist und sein Selbst redefiniert, kann sich – so Solga in Anlehnung an Goffmann – im Sinne eines Kompromisses auf einen Ersatzstatus konzentrieren, sodass das Verfehlte mit der Zeit für verzichtbar gehalten wird. Es scheint empirisch-statistische Befunde zu geben, die diese These stützen. Solga schliesst allerdings – was mit Vorsicht zur Kenntnis zu nehmen ist – vom beobachtbaren Verhalten auf innerpsychische Prozesse. Sie deutet es zum Beispiel als Abkühlungsprozess, dass – gemäss einer Untersuchung von 20- bis 24-jährigen westdeutschen Jugendlichen im Jahr 1990 – 70% der Sonderschulabsolventen und 67% der Hauptschüler ohne Abschluss sich gar nicht erst um eine weiterführende Ausbildung beworben haben (Beinke 1992, zit. nach Solga 2004); viele dieser Jugendlichen sehen sich Solga zufolge chancenlos, sind schulmüde und wollen nach Abschluss der Schule primär Geld verdienen.61 Endlich legen Helsper/Kramer/Brademann/Ziems (2006) spannende, weil auf einer interpretativen Herangehensweise62 basierende erste Resultate vor, welche die Attraktivität von höher positionierten Schulstufen für Schülerinnen und Schüler und deren Reaktionen auf Negativselektion zeigen. Sie führen eine Längsschnittstudie zu Schülerkarrieren durch und präsentieren in ihrem Zwischenbericht eine maximale Kontrastierung von zwei Lernenden, die einen nach schaftlich dominante Normen. Abkühlungsprozesse erfolgen teilweise dank „Abkühlungsagenten“ wie Freunde, Ärzte, Priester, Psychotherapeuten oder auch Lehrer. Schumann/Gerken/Seus (1991) zufolge sind Bildungsinstitutionen für das, was Goffman interessiert, geradezu „idealtypisch“: Sie verleiten gemäss diesen Autorinnen und Autoren dazu, möglichst hoch gesteckte Ziele zu setzen, sie entlassen aber viele Schülerinnen und Schüler mit Zertifikaten auf einem niedrigeren als dem gewünschten Niveau (1991, 2). 61 Auch Suters (2003) – inhaltsanalytisch generierte – ‚qualitative’ Ergebnisse lassen Kränkung und darauf folgende Abkühlung bei Realschülern vermuten: Während Sekundarschülerinnen und -schüler beruflich ambitioniert und anspruchsvoll sind oder auch eine zweckrationale, an späterer Weiterentwicklung orientierte Berufswahl treffen (z.B. kaufmännische Berufslehre als bewusst gewählte Zwischenlösung), orientieren sich Realschülerinnen und -schüler eher an der Existenzsicherung (‚Hauptsache eine Lehrstelle’ als Ersatzidee). Die Goffmann’sche Kompromiss-Strategie lässt sich auch aufgrund der Befunde der qualitativen Studie von Schumann/Gerken/Seus (1991) vermuten: Einen zweiten Versuch ins Auge zu fassen, erscheint bei den untersuchten Haupt- und Sonderschulabgängerinnen (in der Schweiz Real- und Sonderschule) kaum je als Option. 62 Es handelt sich um die dokumentarische Methode nach Bohnsack (vgl. Bohnsack 1999).

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‚unten’ führenden Wechsel von der Grundschule in die vergleichsweise prestigearme Hauptschule (im Kanton Bern Realschule) vollzogen haben (ebd., 128ff.). Beim einen Fall bildet die Hauptschule in der antizipatorischen Deutung des Übergangs durch den Schüler einen völlig negativ bewerteten und als gefährlich geltenden „Bildungsraum“. Nach dem realisierten Übergang in die Hauptschule bleiben die Leistungen – in der Deutung des interviewten Schülers – schlecht, es droht sogar ein weiterer Abstieg. Demgegenüber gilt beim anderen Fall die Hauptschule als eher positiver Horizont, weil die Schülerin mit ihr über Gleichaltrige, die sie besuchen, bereits vertraut ist. Allerdings behält sie einen nach ‚oben’ führenden Wechsel zur Realschule (Sekundarschule im Kanton Bern), die sie ursprünglich im Auge gehabt hatte, als mögliche Perspektive bei (ebd., 129 und 57f.). Offenbar durchläuft diese Schülerin aber einen erfolgreichen Abkühlungsprozess: Im Anschluss an den vollzogenen Übergang jedenfalls – so die Autoren der Studie – berichtet sie von Leistungssteigerungen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Antinomie zwischen Fördern und Auslesen sich aus der Tatsache ergibt, dass Lehrkräfte nicht umhin können, mitunter negative Selektionsentscheide zu fällen. Selektionsmassnahmen aber, die Wege verschliessen und eine Kränkung der Schülerin, des Schülers nach sich ziehen, widersprechen dem Arbeitsbündnis, das pädagogischer Praxis vorausgesetzt ist; sie fügen pädagogisch sinnlosen Schmerz zu. Hierin liegt der „Schaden“, den Reinhardt (1978) zwar nennt, aber inhaltlich unbestimmt lässt. Solcher Schmerz droht – als Gefahr – in unserem Schulwesen permanent jeder Schülerin, jedem Schüler, auch jenen, die schlussendlich zu den Nach-obenGewiesenen und Ausgewählten gehören werden. Angesichts der Tatsache, dass immer wieder Selektionsentscheide zu treffen sind, steht gleichsam a priori in Frage, ob ein Arbeitsbündnis überhaupt möglich ist. Die Aufgabe der Lehrperson, mitunter negative Selektionsentscheide in die Wege zu leiten und damit einen doppelten Schmerz der Schülerin auszulösen – objektive Chancenverminderung und subjektive Kränkung –, steht in einem als antinomisch zu charakterisierenden Verhältnis zur Aufgabe des Förderns.

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3 Fragestellung und Verfahren der Studie Ausgangsfrage der vorliegenden Studie ist, wie Lehrpersonen deutend damit umgehen, gleichzeitig zu ihren pädagogischen immer auch selektionsbezogenen Verpflichtungen nachkommen zu müssen. Das Interesse gilt den Hintergrundüberzeugungen, auf welche die Lehrpersonen zurückgreifen, wenn sie die widersprüchliche Aufgabenstellung von ‚Fördern und Auslesen’ interpretieren und ihren Umgang mit dieser schildern. Diese Hintergrundüberzeugungen werden hier als Deutungsmuster aufgefasst; das Ergebnis der Untersuchung ist eine Deutungsmustertypologie. Bevor näher auf den Deutungsmusteransatz, unsere Fragestellung und das methodische Vorgehen eingegangen wird, soll ein Überblick über die bestehenden Arbeiten zu kulturellen Deutungen von Lehrpersonen gegeben werden. Ein solcher Überblick macht jene Wissenslücke augenscheinlich, zu deren Schliessung die vorliegende Studie einen Beitrag leisten will. Empirisch gesättigtes Wissen über Deutungen von Lehrpersonen zum Problem von ‚Fördern und Auslesen’ fehlt bislang fast vollständig. Und weder in Bezug auf die Handlungs- noch die Deutungsebene liegen derzeit mehr als erste, rudimentäre Kenntnisse betreffend die vielzitierte, von Ditton so genannte „Mikrostruktur von Selektion“ (Ditton 1995, vgl. auch Ditton 2004) vor. 3.1 Kulturelle Deutungen von Lehrpersonen: ein Überblick Bisherige Untersuchungen, in denen kulturelle Deutungen von Lehrpersonen thematisch sind, fragen – vereinfacht gesprochen – entweder nach deren Unterrichtstheorien, nach ihrem beruflichen Selbstverständnis oder nach ihren Vorstellungen von Schule, sozialer Ungleichheit und Gesellschaft. Deutungen von Lehrpersonen zu Fragen des Unterrichts werden vor allem im Zusammenhang mit Subjektiven Theorien, Impliziten Theorien und Alltagstheorien, wie sie in der Psychologie erforscht werden, untersucht (Dann 1989, Tanner 1993, Ulich/ Mertens 1973, Thommen 1985, Hüsser/Schellenbaum 1997 u.a.m.). Für unsere Arbeit haben sie eine geringe Bedeutung, denn das Forschungsinteresse ist meist sehr situationsbezogen. Zudem liegt die Problematik von Selektion und sozialer Ungleichheit gänzlich jenseits der Perspektive entsprechender Ansätze und Studien. Wir konzentrieren uns daher im Folgenden auf Arbeiten zum beruflichen Selbstverständnis von Lehrpersonen und zu Vorstellungen von Schule, sozialer Ungleichheit und Gesellschaft. Im letzten Kapitel (3.1.3) werden – neben dem Fazit – noch neuste Studien erwähnt, welche Selektion aus einer biographischen beziehungsweise interaktionsbezogenen Mikro-Perspektive be-

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leuchten, aber nicht eigentlich als Arbeiten betrachtet werden können, die primär so etwas wie kulturelle Deutungen anvisieren. 3.1.1 Berufliches Selbstverständnis von Lehrpersonen Ab 1950 entstand eine Fülle von quantitativen Untersuchungen zum beruflichen Selbstverständnis von Lehrpersonen, denen gemeinsam ist, einander zwei Orientierungen gegenüberzustellen: die pädagogische und die wissenschaftlichfachliche (Caselmann 1953, Linke 1957 u.a.m.). Die Unterscheidung entspricht der ursprünglich strukturfunktionalistischen, weit verbreiteten Gegenüberstellung der Funktionen ,Sozialisation/Integration’ und ‚Qualifikation’ des Bildungswesens. (Zu den Funktionen vgl. Feldmann 2000, 238, Fend 1981, Parsons 1968[1959], Rolff 1997, Peuckert 2001 u.a.). Auffällig viele Studien gelten den Gymnasiallehrerinnen und -lehrern (Kob 1958, Frank 1969, Schefer 1969; für die Schweiz: Lüscher 1965). In der Diskussion, die über diese Arbeiten geführt wird (z.B. Gerner 1976), fällt vor allem Zeiher (1973) auf, welche die Dichotomie „fach- vs. pädagogisch orientiert“ aus konzeptuellen und methodologischen Gründen zurückweist. In den 1990er Jahren knüpft Eckert (1993) mit seiner Gymnasiallehrerstudie an diese Forschungstradition an. Dabei betont er die Notwendigkeit von offenen Erhebungsformen und rekonstruktiven Auswertungsverfahren für solcherart Fragestellungen. Er kommt auf vier Orientierungstypen, ergänzt diese durch das Schulverständnis der Befragten und setzt die beiden Aspekte zueinander in Beziehung. Neben einem Deutungstyp, bei dem die vernunft- und rationalitätsorientierte Persönlichkeitsentwicklung im Rahmen einer als „Bildungsstätte“ (ebd., 72) verstandenen Schule im Zentrum steht, gibt es einen Typ, der die Persönlichkeitsbildung mehr von den individuellen Besonderheiten der Schülerin aus denkt und die Schule als „humane Schule“ (ebd., 73) konzipiert. Daneben steht – als dritter Typ – die Auffassung, allgemeine, fächerübergreifende Lerninhalte seien im Rahmen einer Schule, die auf das Leben als Erwachsener vorbereiten soll, hoch zu gewichten. Beim vierten Typ steht die Vermittlung fachlichen Wissens im Zentrum; die Schule wird als Bildungsstätte und zugleich als Lebensvorbereitung verstanden. Dass in dieser Studie die instrumentelle Ausrichtung auf das spätere Leben als eigenständiger Deutungstyp auftaucht, dürfte mit dem Bedeutungsverlust des deutschen Deutungsmusters ‚Bildung’ und der Verbreitung (betriebs-)ökonomischen Denkens zusammenhängen (vgl. Bollenbeck 1996). Zu vergleichbaren Ergebnissen kommt Randoll (1997). Neben Gymnasiallehrpersonen werden auch Berufsschullehrerinnen und -lehrer untersucht (Arnold 1983, Bromme/Strässer 1991, Füglister/Born/Flückiger/Kus54

ter 1985). Im Gegensatz zu den Gymnasiallehrerinnen und -lehrern betonen diese die fachliche Dimension ihrer Aufgabe nicht so deutlich und heben pädagogisches Wissen weniger ab. In der qualitativen Studie von Füglister/Born/Flückiger/Kuster (1985) sticht ins Auge, dass auch Alltagstheorien zum Problembereich „Kontrolle“ – wie es dort genannt wird – untersucht werden. Leider werden Sätze in Interviewpassagen, welche die Selektionsproblematik betreffen und durch ihre zunächst irritierende Formulierung auffallen, nicht näher interpretiert (z.B. der Satz, Prüfungen „müssen schon auch sein“, ebd., 265). Was die Volksschullehrerinnen und -lehrer betrifft, so zeigen die Studien zu ihrem beruflichen Selbstverständnis die relativ grosse Bedeutung des pädagogisch-kommunikativen Komplexes (Bachmair 1969, Kratzsch/Vathke/Bertlein/ Lemberg 1967, Betzen/Nipkow 1971). In diesen Bereich gehören auch Untersuchungen über Erziehungsziele und Zielhierarchien (Koch 1972, Hofer 1986; für die Schweiz: Brunner 1980). Brunner interessiert sich unter anderem für Ziele von der Art, wie sie im derzeit gültigen „Lehrplan 1995“ des Kantons Bern an prominenter Stelle genannt werden: Selbstkompetenz, Sozialkompetenz und Sachkompetenz. Am häufigsten wird bei Brunner die Selbstkompetenz genannt, vor allem von Frauen und von 1./2.-Klasslehrerinnen und -lehrern. Studien über berufliche Orientierungen fokussieren geschlechtsspezifische Aspekte teilweise auch direkt (Flaake 1989, Flaake 1993, Luca/Ginhold 1994, Schümer 1992, Terhart et al. 1994). Dabei zeigt sich, dass Frauen sich mehr über den Schülerbezug definieren, während Männer den Institutionenbezug beziehungsweise den Sach- und Berufsbezug höher gewichten.63 Von Engelhardt (1979) untersucht in seiner Lehrerbefragung unter anderem einen Aspekt, der mit der Selektionsfunktion des Bildungswesens zusammenhängt. Er stellt den Probanden die Frage, ob sie die Aufgabe der Auslese als ein Dilemma betrachten würden, weil sie zur Aufgabe der umfassenden Förderung aller Schüler im Gegensatz stehe. 49% Ja-Antworten stehen 49% NeinAntworten gegenüber (neben 2% Weiss-nicht-Antworten). Dabei findet sich das Dilemma vor allem bei Lehrpersonen, die ein antagonistisches Gesellschaftsbild vertreten und einen Interessenausgleich durch Kompromissbildung für unmöglich halten. Die grosse Mehrheit der Nein-Antwortenden begründet ihre Haltung damit, dass „kein Widerspruch“ bestehe. Bei den untersuchten Fachlehrerinnen und -lehrern zeigte sich, dass für jene unter ihnen, die Fremdsprachen und mathematisch-naturwissenschaftliche Fächer unterrichten, das Dilemma seltener gegeben ist als für ihre Kollegen, die Deutsch und Geschichte bzw. Gemein63 In einer späteren Studie wird aber auch grundsätzlich kritisiert, das Geschlecht zur zentralen Trennlinie zwischen Lehrkräften zu machen (Hänsel 1997).

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schaftskunde unterrichten. Von Engelhardt erklärt diesen Befund dadurch, dass in den zuerst genannten Fächern die Messung von Leistungen weniger mit Problemen behaftet sei, zudem würden Lehrpersonen die milieubedingten Unterschiede in den psycho-sozialen Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler hier weniger stark erfahren. Da die – statistisch sehr einfach gehaltene – Studie in ihrer Art einzigartig ist, sei hier eine Kreuztabelle abgebildet, die für unsere eigene Arbeit, in der wir Primar-, Real- und Sekundarlehrpersonen untersuchen, interessant ist: Abbildung 1:

„Verarbeitung der Selektionsfunktion und Schulart“ der befragten Lehrpersonen

Dilemma zwischen Förderung und Auslese

Grundschule

Hauptschule

Realschule

Gymnasium

Besteht

58%

52%

46%

34%

Besteht nicht, weil kein Widerspruch

36%

42%

50%

56%

Besteht nicht, weil keine Auslese

4%

4%

4%

5%

Weiss nicht

2%

0%

4%

2%

100%

100%

100%

100%

241

244

246

223

Quelle: Von Engelhardt 1979, 120. Zur Tabelle: Den Grundschullehrerinnen und -lehrern, so von Engelhardt, ist die anstehende Verteilung der Schülerinnen und Schüler auf die drei weiterführenden Schulen sehr bewusst, daher die hohe Ja-Quote in ihrer Antwort. Dass auch die Hauptschullehrerinnen und -lehrer (Reallehrer und -lehrerinnen im Kanton Bern) einen hohen Ja-Anteil aufweisen, lässt sich gemäss von Engelhardt dadurch erklären, dass sie besonders intensiv erfahren, wie wenig geeignet die praktizierten Selektionsverfahren sind, den Lernenden das Recht auf gleiche Bildungschancen zu sichern. Da diese Erfahrung bei Reallehrpersonen (Sekundarlehrpersonen im Kanton Bern) und Gymnasiallehrpersonen immer weiter zurückgehe, würde weniger oft ein 56

Dilemma gesehen. Darüber hinaus formuliert der Autor die Vermutung, dass die Bereitschaft der Lehrpersonen zur „Problematisierung der Selektionsfunktion“ in dem Masse abnimmt, wie sich schulische Auslese positiv auf die Unterrichtstätigkeit auswirkt: Schulische Auslese, so von Engelhardt, sondert immer wieder jene Schülerinnen und Schüler aus, die sich in die jeweiligen Formen und Inhalte des Unterrichts nicht integrieren lassen. In den oberen Schulbereichen bestehe das beste Verhältnis zwischen den Fähigkeiten und Verhaltensweisen der Lernenden und den schulischen Anforderungen, entsprechend gering sei die Belastung der Lehrpersonen. Das führe zu ihrer positiven Anbindung an die Selektionsfunktion der Schule. In ihrer qualitativen Explorationsstudie über „Selektionsentscheidungen als Problembereich professionellen Lehrerhandelns“ gehen auch Terhart/Langkau/ Lüders (1999) auf Fragen ein, die für uns direkt relevant sind. Allerdings wird der theoretische Ansatz äusserst offen gehalten. Auch fehlt eine aus unserer Sicht zentrale konzeptuelle Unterscheidung, jene zwischen Beurteilung und Selektion. Der für die vorliegende Untersuchung interessanteste Beitrag aus dem Projekt stammt von Lüders, der unter anderem der Frage nachgeht, welchen „Sinn und Zweck schulische Leistungsbewertung“ in den Augen von Lehrpersonen hat (Lüders 2001, 458). Eine seiner Schlussfolgerungen ist die Hypothese, dass „ein Teil der Lehrerschaft die Markierung der Leistungsunterschiede zwischen den Schülern, die Begabtenauslese und die Förderung durch Selektion zu den genuinen Aufgaben des Lehrerberufs rechnet“, während ein anderer Teil „einen reinen Förderauftrag ins Zentrum der beruflichen Ambitionen [stellt] und die Verknüpfung der notwendigen Rückmeldefunktion von Zensuren mit der Selektionsfunktion als pädagogisch abträglich [begreift]“ (ebd., 470). In der Studie von Terhart und seinen Mitarbeitern sind auch „Lehrerwahrnehmungen“ betreffend die Veränderung der allgemeinen Beurteilungsgewohnheiten Thema (Terhart/Langkau/Lüders 1999, Terhart 2001): Lehrkräfte betonen das allgemeine Absinken des Leistungsniveaus der Schülerinnen und Schüler, die zunehmende Bedeutung von Noten, die Verunsicherung der Lehrkräfte bei der Schülerbeurteilung64 und auch Entwicklungen wie etwa den Rückgang der Disziplinierung qua Zensierungspraxis, die als positiv einge64

In den Augen der untersuchten Lehrerinnen und Lehrer, so Terhart, sei das Beurteilen „früher“ noch leichter gewesen, weil niemand von aussen (Eltern, Vorgesetzte, „Abnehmer“, der Schüler) die vergebenen Noten angezweifelt habe. Die Autorität der Lehrperson als Amtsperson habe fraglos gegolten, wogegen sich „heute“ Lehrpersonen gegen Kritik und nicht zuletzt auch gegen von Eltern angestrengte gerichtliche Überprüfungen absichern müssen. Zudem seien die Schülerinnen und Schüler nicht mehr in der Lage, eine sachbezogene Beurteilung durch die Lehrperson hinzunehmen, sie nähmen die Note „persönlich“, brächten ihre persönliche Lage ins Spiel und wollten verhandeln (Terhart 2001, 97).

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schätzt werden. Was das praktische Handeln betrifft, so kommt die Untersuchung (Terhart/Langkau/Lüders 1999, Terhart 2000) zum Schluss, dass Schülerbeurteilung nicht etwa eine Form von pädagogischer Diagnostik, sondern eine erfahrungsfundierte, im Berufsalltag sich entwickelnde „gelebte Praxis“ darstellt, die kaum unter Kontrolle der Schulaufsicht steht und im Kollegenkreis nicht legitimiert zu werden braucht, da Kollegen einander vertrauen. Zum Schluss sei eine Studie erwähnt, die wie die unsrige nach Deutungsmustern von Lehrpersonen fragt und mit der Sequenzanalyse im Sinne der Objektiven Hermeneutik arbeitet. Bennewitz (2005) zeigt, wie Lehrerinnen und Lehrer den Anforderungen und Problemen begegnen, die sich mit der Einführung einer Schulreform verbinden. Am Beispiel der Einführung der Förderstufe in Sachsen-Anhalt rekonstruiert die Autorin Deutungsmuster, an denen sich zeigt, dass die Lehrpersonen einen Verlust abzuwehren versuchen. Durch die Verteidigung und Bestätigung bestehender Handlungsroutinen tragen ihre Deutungsmuster zur Bewahrung beruflicher Handlungsfähigkeit und beruflicher Autonomie bei. Insgesamt ist festzustellen, dass die klassischen Studien über das berufliche Selbstverständnis von Lehrpersonen die Selektionsproblematik nur in Ausnahmefällen beleuchten. Interessant ist die bei Eckert (1993) aufgezeigte Durchbrechung der vorher in zahlreichen Studien immer wieder beobachteten Dichotomie „Fach- vs. Erziehungsorientierung“. Ferner macht die Literaturübersicht deutlich, dass zwischen Männern und Frauen im beruflichen Selbstverständnis Unterschiede zu bestehen scheinen. Diese Frage ist auch für Deutungen von Aufgaben im Zusammenhang mit der Auslese-Funktion wichtig. Schliesslich lassen die Ergebnisse von Füglister/Born/Flückiger/Kuster (1985) vermuten, dass eine Studie, die sozialisations- bzw. qualifikationsbezogene und selektionsbezogene Aufgaben gemeinsam untersucht, zu interessanten Ergebnissen kommen kann. Die einzige klassische Studie, die explizit und klar (auch) auf Selektion eingeht (von Engelhardt 1979), stellt – statistisch – fest, dass die Vorstellung eines Gegensatzes zwischen Fördern und Auslesen unter Lehrpersonen etwa gleich verbreitet ist wie die Auffassung, es existiere „kein Widerspruch“. Lüders (2001) seinerseits macht – hypothetisch – einen Kontrast zwischen förder- und selektionsorientierten Deutungsmustern von Lehrkräften geltend. Die meisten angeführten Studien wenden quantitativ-statistische Verfahren an oder stammen aus einer Zeit, in der qualitative Verfahren noch wenig etabliert waren (z.B. Füglister/Born/Flückiger/Kuster 1985). Eckert (1993) weist darauf hin, dass hermeneutische Methoden die Komplexität der Deutungen von Lehrpersonen angemessener erfassen als statistische. Nur fehlen diese weitgehend.

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3.1.2 Vorstellungen über Schule, soziale Ungleichheit und die Gesellschaft Untersuchungen über Alltagstheorien von Lehrerinnen und Lehrern aus den 1960er Jahren machen deutlich, dass diese damals typischerweise in Naturkategorien dachten. Die ‚Begabungsreserven’, die zu jener Zeit bildungspolitisch zur Diskussion standen (vgl. Streckeisen 1981), gibt es in ihren Augen nicht. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass die schulische Auslese angemessen ist und die gesellschaftliche Ungleichheit den Fähigkeiten der Menschen entspricht (Höhn 1967, Schefer 1969). Spätere Untersuchungen zeigen, dass das Denken in Naturkategorien an Bedeutung verloren hat. So legt Ulich (1983) dar, dass Verhaltensauffälligkeiten zwar durch die Veranlagung der Schüler, aber fast immer auch durch das Erziehungsverhalten der Eltern sowie unter Verweis auf Vorsätzlichkeit und Böswilligkeit erklärt werden. Belusa/Eberwein/Michaelis (1992) beobachtet, dass Lehrpersonen an einer Schule für Lernbehinderte ihren Schülern prinzipielle Leistungsgrenzen zuschreiben, dies aber nicht als ‚angeboren’ betrachten, sondern im Wesentlichen auf Probleme im Elternhaus zurückführen und eine gescheiterte Erziehung für verantwortlich erklären. Müller (1998) schliesslich untersucht in ihrer qualitativen Untersuchung, wie Lehrer mit strukturbedingten Unterschieden umgehen (Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit und Schichtzugehörigkeit): Sie kommt auf verschiedene Typen, von denen keiner als naturalistisch bezeichnet werden kann; hingegen spielt die Indifferenz gegenüber strukturellen Ausgangsvoraussetzungen der Schüler bei zwei Typen eine Rolle. In den 1960er Jahren entstanden mehrere quantitative soziologische Studien über politische Haltungen, über das „Bewusstsein“ und über das Gesellschaftsbild von Lehrpersonen. Gemäss diesen Untersuchungen pflegen Lehrpersonen, vor allem die Gymnasiallehrerinnen und -lehrer, eine geistige Haltung, die sich gegen eine utilitaristische Gesinnung wendet und arbeitnehmerisches Denken von sich weist. Lehrpersonen zählen sich selbst zu einer geistigen Elite, der eine kulturlose Masse gegenübersteht (Kratzsch/Vathke/Bertlein/Lemberg 1967, Schefer 1969). Es wird ein Konsensmodell von Gesellschaft vertreten, in dem es für Gruppeninteressen und politische Aushandlungsprozesse kaum Raum gibt. Auch gegen Schulreformen werden defensive Haltungen eingenommen. Combe (1971) erklärt den Konservatismus der Lehrpersonen durch ihre soziale Herkunft, insbesondere dadurch, dass die Mehrheit aus der unteren Mittelschicht stammt, also einen sozialen Aufstieg realisiert hat, der sie an die bestehende Sozialordnung bindet, weil sie in ihr den eigenen Status heben und sich Privilegien verschaffen konnten. Die deutschen Studien, auf die er sich bezieht, zeigen für Gymnasial- und für Volksschullehrerinnen und -lehrer weitgehend dieselben Herkunftsbefunde. Diese Ergebnisse werden aber nicht bestätigt durch Studien, 59

die ein paar Jahre später bei Junglehrerinnen und Junglehrern sowie Lehrerstudentinnen und -studenten durchgeführt wurden (Hopf 1974 u.a.). Auch eine Untersuchung von Engelhardts (1979), die Lehrpersonen in allgemeinbildenden Schulen fokussiert, zeigt kein konservatives Gesellschaftsbild. In einer für uns wichtigen Studie über Diskurse zur Selektion legen Nath/Dartenne/Oelerich (2004) Ergebnisse einer qualitativen Inhaltsanalyse von Artikeln der Lehrerverbandspresse im Deutschen Reich bzw. der alten Bundesrepublik vor, in der die öffentlich repräsentierten Diskurse von „Volksschullehrern“ und „Philologen“ – wie sie es nennen – für die Zeitspanne von 1884 bis 1993 verglichen werden. Die Autorionnen und Autoren untersuchen unter anderem den Begabungsbegriff beziehungsweise das Verständnis der „personalen Bildungsdispositionen“ in der Lehrerverbandspresse und das Leistungsverständnis. Die Philologen-Verbandspresse hält während des Untersuchungszeitraums weitgehend an der Vorstellung fest, wonach personale Bildungsdispositionen von der „biologischen Anlage“ bestimmt seien. Zwischen 1964 und 1976 wird die Begabungsvorstellung eine Zeitlang offener. Die Presse der Volksschullehrer ihrerseits zeigt durchwegs offenere Vorstellungen als jene der Philologen (Ausnahme: 1932 bis 1945). Ähnliches gilt für den Leistungsbegriff: Während im Falle der Philologen die Leistung – während des gesamten interessierenden Zeitraums – an einem intersubjektiv überprüfbaren Wissensniveau gemessen werden soll, plädiert die Verbandspresse der Volksschullehrer vor allem in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend für ein intraindividuelles Leistungsverständnis. In jüngster Zeit zeigt sich in der Volksschullehrerpresse gemäss Nath/Dartenne/Oelerich eine Spaltung, was auf eine Verunsicherung als Folge von enttäuschten Reformhoffnungen zurückzuführen sei. Die Autorinnen und Autoren präsentieren auch Deutungsmuster zum Verhältnis von Schule und sozialer Ungleichheit. Die Vorstellung in der Lehrerverbandspresse, wonach die Schule einen Beitrag zu „sozialer Mobilität“ beziehungsweise zum Abbau von Ungleichheit leiste, wurde zu Beginn des betrachteten Zeitraums kaum vertreten, erfuhr aber – vor dem Hintergrund der realen Bildungsexpansion, wie Nath/Dartenne/Oelerich betonen – bis 1993 eine gewisse Verbreitung. Anders als bei den Philologen trat die Presse der Volksschullehrer – vor allem während der Einheitsschuldebatte vor und während des Ersten Weltkrieges sowie nach dem Zweiten Weltkrieg – für eine Öffnung des Schulsystems ein. Sie forderte – von der Zeitspanne 1933 bis 1943 einmal abgesehen – auch immer häufiger eine Öffnung der Schulstrukturen in Richtung Einheitsschule, während sich solche Überzeugungen auf Seiten der Philologen nur zögerlich entwickelten. Seit Mitte der 1980er Jahre stagnieren die Forderungen

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nach offenen Schulstrukturen in der Volksschullehrerverbandspresse auf sehr hohem Niveau, und im Falle der Philologen gehen sie zurück. Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten: Während wir wissen, dass das Denken in Naturkategorien unter Lehrkräften seit den 1980er Jahren an Bedeutung verloren hat, gibt es seit zwanzig Jahren keine Untersuchungen über das Gesellschaftsbild von Lehrpersonen mehr. Ob das Gesellschaftsbild konservativ geblieben ist, scheint eine offene Frage. In der Verbandspresse der Volksschullehrpersonen in Deutschland gibt es Hinweise darauf, dass Volksschullehrer im Zusammenhang mit der Bildungsexpansion immer mehr für eine Schule eingetreten sind, die zum Abbau von Ungleichheit beiträgt. Interessant dabei ist, dass in jüngerer Zeit bei Volksschullehrkräften eine Verunsicherung betreffend das intraindividuelle Leistungsverständnis eingetreten ist und dass Forderungen stagnieren, die von der Schule die Förderung der sozialen Aufwärtsmobilität erwarten. Doch das sind Befunde aus einer einzigen Untersuchung der deutschen Lehrerverbandspresse. Weitere Arbeiten sind uns nicht bekannt. 3.1.3 Neueste mikro-orientierte Selektionsstudien und Fazit In den letzten paar Jahren sind vereinzelt – fast zeitgleich mit der hier vorgestellten Untersuchung – Forschungsprojekte initiiert worden, die durch das Interesse an Selektionsprozessen eine gewisse Verwandtschaft mit unserer Arbeit aufweisen. Anders als die übrigen in dieser Literaturübersicht referierten Untersuchungen, lassen sie sich aber – wie eingangs erwähnt – nicht zu den Studien zählen, die kulturelle Deutungen zum Forschungsgegenstand machen. Im Juni 2005 hat ein Forschungsverbund an der Universität Halle-Wittenberg mit der Arbeit an einer Reihe von qualitativen Projekten begonnen, welche die „Mikroprozesse schulischer Selektion bei Kindern und Jugendlichen“ untersuchen (Breidenstein/Helsper/Kramer/Krüger 2004). Während das Projekt von Helsper/Kramer sich für die biographische Verarbeitung schulischer Selektionsereignisse durch die Schülerinnen und Schüler interessiert (qualitative Längsschnittstudie), zielt das Projekt von Breidenstein auf die Analyse interaktiver Praktiken und Prozesse schulischer Selektivität im unterrichtsbezogenen Alltagshandeln und im sozialen Kontext der Schulklasse (ethnographische Studie). Schliesslich geht das Projekt von Krüger der Frage nach, welchen Beitrag schulische und ausserschulische Gleichaltrigengruppen für Bildungsbiographien leisten (qualitativer Längsschnitt bei Schülerinnen und Schülern). Ergebnisse aus einem ersten Zwischenbericht des Projekts Helsper/Kramer wurden im Kapitel 2.2.2.2 bereits referiert.

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Zusätzlich ist das zwischen 2003 und 2005 durchgeführte Projekt „Schulen in der transnationalen Gesellschaft“ von Oester/Fiechter/Kappus (2005) zu erwähnen. Anhand von drei „plurikulturellen Schulen“ in Bern West untersuchen die Autorinnen den Umgang von Schulen bzw. Lehrpersonen mit sozialer und kultureller Differenz und richten dabei einen Fokus auf Beurteilungs- und Selektionsprozesse.65 Unter anderem wird aufgezeigt, dass nicht nur die Leistung, sondern auch der Habitus der Schülerinnen und Schüler selektionsrelevant ist, dabei sei der Beurteilungsmassstab an einer mittelständischen Arbeitsethik und entsprechenden Verhaltensnormen orientiert. Um abschliessend zu den Arbeiten über Deutungen von Lehrpersonen zurückzukehren, sei festgehalten: Die bisherigen Studien bleiben nicht nur vorwiegend quantitativ und meist ohne Bezug zu Formen impliziten Wissens, sie fragen – von zwei Ausnahmen abgesehen (von Engelhardt 1979, Projekt Terhart/Langkau/Lüders 1999) – auch kaum je nach Selektionsdeutungen beziehungsweise nach der übergreifenden Deutung von verschiedenen Aufgaben im Lehrberuf. Erstaunlich ist dies vor allem bei Untersuchungen, die implizit von der strukturfunktionalistischen Bestimmung des Bildungswesens ausgehen, die neben Sozialisation und Qualifikation auch die Funktion der Selektion einführt. Darüber hinaus ist die soziologische Perspektive, die – in Verbindung mit Fragen der Selektion – kulturelle Bilder über Schule, Ungleichheit und Gesellschaft mit einbezieht, in der Forschung über Auffassungen von Lehrpersonen seit zwei Jahrzehnten fast gänzlich abwesend. Die vorliegende Studie leistet einen Beitrag zur Schliessung dieser doppelten Forschungslücke. 3.2 Zur Fragestellung: Deutungsmuster von Lehrpersonen zu einem beruflichen Handlungsproblem In der vorliegenden Studie wird – in einer bisher vernachlässigten Perspektive – danach gefragt, wie Lehrpersonen deutend mit dem Handlungsproblem umgehen, gleichzeitig zu ihren pädagogischen Aufgaben auch selektionsbezogenen Verpflichtungen nachkommen zu müssen. Auf welche Hintergrundüberzeugungen rekurrieren die Lehrkräfte, um den Widerspruch von Fördern und Auslesen 65

Die Autorinnen gehen von einer „doppelten Funktion des Bildungssystems“ (ebd., 11) – der Wettbewerbsfunktion und der assimilativen Funktion – aus, denen das akademische und das soziale Lernen entsprechen. Die Studie kommt zum Ergebnis, dass unter den Schulen eine „Aufsplitterung“ dieser Funktionen stattfindet: Während die einen Schulen – besonders die an sozioökonomisch unterprivilegierten Standorten gelegenen – sich mehr dem sozialen Lernen verpflichten und stark assimilativ wirken, orientieren sich die an privilegierteren Standorten gelegenen stärker am Wettbewerb und am akademischen Lernen, womit das Prinzip der Chancengerechtigkeit in Frage gestellt werde.

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zu bewältigen? Die Interpretationsschemata, auf die sie zurückgreifen, werden hier als Deutungsmuster aufgefasst. Die Untersuchung ist in Anlehnung an den auf Oevermann (1973) zurückgehenden Deutungsmusteransatz formuliert, der sowohl in der Soziologie (Honegger 1978; 1991, Matthes-Nagel 1982, Meuser 1998 u.a.) als auch in den Erziehungswissenschaften verbreitet ist (Thomssen 1980, Arnold 1983, Dewe 1984, Dewe/Ferchhoff 1991, Bennewitz 2005 u.a.).66 Im Folgenden wird – um den gewählten theoretischen Ansatz auf die Fragestellung der Studie zu beziehen und diese damit schärfer zu umreissen – die von uns eingenommene Deutungsmusterperspektive ausgeführt. Dass Deutungsmuster stets funktional „auf eine Systematik von objektiven Handlungsproblemen bezogen“ sind (Oevermann 1973, 3), gilt als ein ‚essential’ dieses Forschungsansatzes.67 Das Handlungsproblem, das hier zugrunde gelegt wird, geht auf die im 19. Jahrhundert vom Nationalstaat forcierte Institutionalisierung der Volksschule zurück (vgl. Kapitel 2.1). In diesem Kontext entsteht der Beruf des Volksschullehrers, der als Staatsangestellter in einem hierarchisch strukturierten Bildungssystem mitunter Aufgaben wahrzunehmen hat, die mit einem Berechtigungswesen verbunden sind. Als ‚halbfreier QuasiAmtsprofessioneller’ hat der Volksschullehrer daher einen selektionsbezogenen Handlungsauftrag, der zu seinen förderbezogenen Aufgaben in einem widersprüchlichen Verhältnis steht. Der Handlungsauftrag der Lehrerin, des Lehrers – zu fördern und auszulesen – ist staatlich verordnet und stellt damit ein Kernproblem des Lehrberufs als einer eben nur halbfreien Quasi-Amtsprofession dar. Aus professionalisierungstheoretischer Sicht ist die pädagogische Handlungsfähigkeit der Lehrpersonen durch den Widerspruch von Fördern und Auslesen – seit jeher und bis heute – in Frage gestellt. Unser Erkenntnisinteresse gilt somit Deutungsmustern, auf die Lehrerinnen und Lehrer zurückgreifen, um angesichts dieser grundlegenden Infragestellung ihre pädagogische Handlungsfähigkeit zu behaupten.

66 Seit den 1990er Jahren ist der Deutungsmusteransatz Oevermann’scher Prägung zudem selbst Gegenstand theoretischer Reflexionen (Lüders 1991, Meuser/Sackmann 1992a, Lüders/Meuser 1997, Oevermann 2001a; 2001b, Honegger 2001, Plass/Schetsche 2001 u.a.). 67 Meuser/Sackmann (1992b, 19) listen als weitere solche „essentials“ auf: Deutungsmuster sind kollektive Sinngehalte und haben normative Geltungskraft, wobei der Geltungsbereich eines Deutungsmusters zwischen der Gesamtgesellschaft und einzelnen sozialen Gruppen variiert. Deutungsmuster sind intern konsistent strukturiert. Verglichen mit singulären Deutungen, Einstellungen, Meinungen sind sie auf einer latenten, tiefenstrukturellen Ebene angesiedelt (vgl. hierzu Fussnote 70 in diesem Kapitel) und also nur begrenzt reflexiv verfügbar. Deutungsmuster sind ‚relativ autonom’ und konstituieren eine eigene Dimension sozialer Realität. Sie sind daher von einer beträchtlichen Stabilität, aber prinzipiell als entwicklungsoffen zu sehen.

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Deutungsmuster, wie wir sie verstehen, beziehen sich nicht auf ein bloss situatives Handlungsproblem. Es wird vielmehr davon ausgegangen, dass das Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ die Praxis der Lehrpersonen – und damit auch ihr berufsbezogenes Denken allgemein – strukturell durchdringt. Entsprechend nehmen wir an, dass der Umgang mit dem für den modernen Lehrberuf konstitutiven Kernproblem von ‚Fördern und Auslesen’ sich über die berufliche Sozialisation der Lehrpersonen (sowie im Zuge der Berufspraxis selbst) in deren allgemeinen handlungsleitenden Routinen absedimentiert. Die zu rekonstruierenden Deutungsmuster sind als eine Form solcher Routinen zu begreifen. Dies will aber nicht heissen, dass die interessierenden Deutungsmuster nicht am eindrücklichsten gerade in Bezug auf situativ spezifische Handlungskrisen – also den konkreten Moment der berufspraktischen Bewältigung einer selektionsbezogenen Aufgabe – zum Ausdruck kommen können. Die strukturelle Durchdrungenheit des Lehrberufs mit dem Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ lässt sich am Selektionsauftrag der Lehrperson im Sinne eines Damoklesschwerts versinnbildlichen, das permanent über dem Schulalltag (das heisst insbesondere auch: über den Schülerinnen und Schülern) hängt und also die Praxis der Lehrperson (ggf. unterschwellig und wider ihre Intention) kontinuierlich beeinflusst. Die eher situative Dimension des Handlungsproblems kommt demgegenüber in jenem konkreten Moment zum Ausdruck, in welchem die Lehrperson dem Schüler, der Schülerin durch eine punktuelle Negativselektion pädagogisch sinnlosen Schmerz zufügt (siehe auch Kapitel 2.2.2.2). Die hier interessierenden Deutungsmuster sind als eine Form überindividuellen Wissens zu verstehen: Wir verorten sie auf der Ebene handlungsleitender Routinen in Bezug auf die Tätigkeiten und Aufgaben von Lehrpersonen als einer Berufsgruppe. Entsprechend sind sie nicht als von gesamtgesellschaftlicher oder gar ‚universaler’68 Reichweite zu betrachten, sondern auf der Ebene spezifischer Aufgabenlösungen von Repräsentantinnen und Repräsentanten des Lehrberufs zu lokalisieren. Es handelt sich also um Deutungsmuster, die auf ein Handlungsproblem ‚antworten’, das als solches nur für die Berufsgruppe der Lehrpersonen existiert.69 Wir nehmen darüber hinaus an, dass die beruflichen Subgruppen in der Domäne der Volksschule (v.a. Real- vs. Sekundarlehrpersonen) im 68

Laut Oevermann können Deutungsmuster auch „aus universalen kognitiven Urteilsstrukturen [...] bestehen, die in allen Kulturen und zu allen Zeiten als Bedingungen der Möglichkeit konkreter Erkenntnis der Lösung von Erfahrungskrisen [...] zugrunde lagen“ (Oevermann 2001a, 59). 69 Ähnlich angelegt ist die Deutungsmusterstudie von Nagel (1992) zur „Sozialarbeit als Krisenmanagement“. Nagel untersucht Berufskonzeptionen von in der Sozialarbeit Tätigen als „Antwortlösungen“, die „allgemeine Antworten auf das Was und Wie der Sozialarbeit in der Gesellschaft enthalten und widersprüchliche Erwartungen und konkurrierende Orientierungsmuster programmatisch-idealtypisch miteinander vereinen“ (ebd., 74).

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Zuge ihrer historischen Ausdifferenzierung und berufskulturellen Entwicklung zu je eigenen Formen überindividueller, also kollektiver Deutungsmuster geneigt haben dürften. Dass es sich bei Deutungsmustern um eine Form „impliziten Wissens“ (Oevermann 2001a, 55) handelt, ist von zentraler Bedeutung: Im Unterschied zu explizitem Wissen, das – so Oevermann – dort vorliegt, „wo es auf Befragen hin abrufbar ist und expliziert werden kann“, gilt für implizites Wissen – und damit auch für Deutungsmuster –, dass dieses als eben gerade nicht abfragbares (sondern zu rekonstruierendes) Wissen „unbewusst operierend in die Praxis strukturierend eingeht“ (ebd., 56).70 Als eine Form impliziten Wissens unterliegt das Deutungsmuster einem Bewährungs- und Routinisierungsprozess; es muss sich also gewissermassen durchsetzen beziehungsweise durchgesetzt haben. Die von uns gewählte Perspektive trägt der Frage nach dem ‚Status’ der NichtBewusstheit der zu rekonstruierenden Deutungsmuster Rechnung: Namentlich die Abgrenzung des Deutungsmusteransatzes vom Konzept des Habitus (Bourdieu 1970; 1979; 1993) stellt laut Oevermann ein „Dauerproblem“ dar, für das „weitere empirisch gestützte Klärungen benötigt“ werden (Oevermann 2001a, 47). Strukturell unterscheiden sich Deutungsmuster und Habitusformationen – als verinnerlichte „Erzeugungs- und Ordnungsgrundlagen für Praktiken und Vorstellungen“ (Bourdieu 1993, 98) – kaum voneinander. Der Unterschied ist als ein gradueller zu verstehen, und zwar „auf einem Kontinuum der Tiefe der biografisch-ontogenetischen Verankerung“, mit welcher „der Grad des Automatismus in ihrer Operationsweise variiert“ (Oevermann 2001a, 46f.). Deutungsmuster sind „im Vergleich zu Habitusformationen ‚reiner’ spezifisch kognitive Bildungen“, bei denen „eine emotive oder affektuelle Aufladung fehlt“ (ebd., 47). In der vorliegenden Untersuchung wird davon ausgegangen, dass im Zuge von am Einzelfall orientierten Deutungsmusterrekonstruktionen implizites Wissen unterschiedlicher Gestaltform zutage treten kann: Während es für ein Deutungsmuster zum Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ bezeichnend sein mag, dass mit ihm vornehmlich auf einen bestimmten epochenspezifischen Denkstil rekurriert wird, können in einem anderen Deutungsmuster primär milieu- oder geschlechterspezifische Habitualisierungen aufscheinen – oder aber dieses setzt sich in erster Linie aus berufsfeldspezifischem Instruktionswissen zusammen. 70

Den Begriff der latenten Sinnstrukturen hingegen, der wohl aufgrund seiner semantischen Nähe zu demjenigen des impliziten Wissens zu einigen Missverständnissen in der Diskussion um das Deutungsmusterkonzept geführt hat, will Oevermann als ein Konzept im Rahmen der Interpretationsmethode der Objektiven Hermeneutik verstanden wissen (vgl. Oevermann 2001a, 41) (vgl. 3.3.2).

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Die vorliegende Untersuchung zielt – ausgehend von den am Einzelfall rekonstruierten Deutungsmustern – auf die Bildung einer Typologie. Sie interessiert sich damit für verschiedene Typen von Deutungsmustern (vgl. 3.3.3). Die einmal rekonstruierten Deutungsmustertypen werden strukturell rückgebunden. Die strukturelle Rückbindung zielt etwa darauf, mögliche Unterschiede zwischen Real- und Sekundarlehrpersonen erklärbar zu machen. Real- und Sekundarschullehrkräfte sind (nebst einer je differenten Berufsausbildung) mit unterschiedlichen Selektionsproblematiken konfrontiert und dürften zur Bewältigung des Handlungsproblems von ‚Fördern und Auslesen’ auf unterschiedliche Hintergrundüberzeugungen rekurrieren. Zudem interessiert, inwieweit die Deutungsmuster von Lehrpersonen, die in verschiedenen Schulmodellen tätig sind, sich voneinander unterscheiden. Schliesslich finden auch die soziale Herkunft und die Geschlechtszugehörigkeit der Lehrerinnen und Lehrer Berücksichtigung. 3.3 Methodisches Vorgehen Zu Beginn des Projektes, aus dem diese Publikation hervorgeht, arbeitete sich das Projektteam ins Schulwesen des Kantons Bern ein. Neben der Sichtung und der Analyse von Dokumenten und statistischen Grundlagen wurden acht Informationsgespräche mit Lehrpersonen, Vertreterinnen und Vertretern der Lehrerinnen- und Lehrerbildung, einem Schulkommissionsmitglied, einer Gewerkschafterin, einer Schulinspektorin und einem Mitarbeiter der Erziehungsdirektion des Kantons Bern durchgeführt. Das dadurch erlangte Wissen sowie die Beobachtungen aus einigen Schulbesuchen dienten der Projektgruppe dazu, sich mit dem Forschungsfeld vertraut zu machen, zu kompetenten Interviewerinnen und Interviewern zu werden und – später – die Analyseergebnisse zu kontextualisieren. Die wichtigste empirische Arbeit erfolgte im Zusammenhang mit der Bildung von Deutungsmustertypen: Es wurde empirisches Material erhoben, analysiert und verarbeitet. Die nachfolgenden Ausführungen konzentrieren sich auf diese Arbeit. 3.3.1 Sample und Erhebung Im Zentrum dieser Studie steht die Analyse von 37 nicht-standardisierten Interviews mit Stadtberner Lehrpersonen, wovon 25 auf der Sekundarstufe I (7.-9. Schuljahr, Real- oder Sekundarniveau) und zwölf auf der Primarstufe (5./6.

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Schuljahr) tätig sind.71 Um in die für die Rekonstruktion von Deutungsmustern erforderliche Tiefe des Denkens von Lehrpersonen vorstossen zu können, wurde der gesellschaftliche Kontext bei deren Auswahl möglichst konstant gehalten und auf ‚Breite’ – etwa durch die Berücksichtigung des ganzen Kantons Bern oder gar der ganzen Schweiz – verzichtet: die Interviewpartnerinnen und -partner unterrichteten allesamt in der Stadt Bern, die vom Aufbau des Bildungswesens und den Schulstrukturen her eine hohe Homogenität aufweist. Die genauere Auswahl der Fälle erfolgte nach dem Prinzip des „selektiven Sampling“ (vgl. Kelle/Kluge 1999, 46ff., Schatzmann/Strauss 1973, 38ff). Es wurde darauf geachtet, dass die objektiven Merkmale Geschlecht, Alter der Lehrperson und Schulkreis, in dem sie tätig ist, sowie bei den Lehrpersonen der Sekundarstufe I die Ausbildung (Sekundar- versus Reallehrerausbildung) und die Schulmodellzugehörigkeit in etwa gleich verteilt waren. Diesem Vorgehen lag die Vermutung zugrunde, dass mit unterschiedlichen objektiven Bedingungen auch unterschiedliche Deutungsmuster der darin tätigen Lehrpersonen einhergehen. Gemäss diesem Sampling wurden 18 Frauen und 19 Männer interviewt. Das Durchschnittsalter betrug zum Zeitpunkt des Interviews rund 45 Jahre, wobei die jüngste Person 24 und die älteste 63 Jahre alt war. Von den Lehrpersonen, die auf der Sekundarstufe I tätig sind, haben elf ein Primarlehrerinnen- und Primarlehrerseminar absolviert, zwölf das Sekundarlehramt und drei haben beide Ausbildungen – zuerst ein Seminar und dann das Sekundarlehramt – abgeschlossen. 13 Personen sind im Schulmodell 3a tätig, sechs im Modell 3b und sechs im Modell 4.72 Sieben Lehrpersonen, die auf der Primarstufe tätig sind, haben eine seminaristische Ausbildung genossen, drei haben nach dem Abschluss des Seminars zusätzlich am Sekundarlehramt studiert (einer davon hat diese Ausbildung abgebrochen) und je eine Person hat sich ausschliesslich am Sekundarlehramt bzw. in der 2001 neu eingerichteten, tertiarisierten Lehrerinnen- und Lehrerbildung (LLB) ausgebildet (vgl. 4.2.5). Um empirisches Material zu generieren, das Zugang zu Deutungsmustern gewährt, wurde eine Erhebungsmethode gewählt, die den Gesprächspartnerinnen und -partnern zur Darstellung ihrer Sicht breiten Raum liess. Zugleich sollte die Forscherin über die Möglichkeit verfügen, aus ihrem, der Fragestellung verpflichteten Wissensdrang heraus Nachfragen zu stellen und mit Blick auf Vertiefung des Gesagten gezielt zu intervenieren. Erst solches, in relativ freiem Gespräch generiertes Material, das Raum für plausibilisierende Detaillierung 71 72

Lediglich eine Sekundarlehrerin ist in einer an Bern angrenzenden Agglomerationsgemeinde tätig. Zu den Schulmodellen vgl. Kapitel 4.2.2.

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und für Gestaltschliessung gibt (Schütze 1980) und authentische Interaktion zwischen Interviewee und Forscherin ermöglicht, erlaubt es, auf die latente Ebene vorzustossen. Aus diesen Gründen wurden nicht-standardisierte Interviews geführt, wobei wir uns mit dem Stellen von „Verständnisfragen“, den „Konfrontationen“ und der „Rückspiegelung“ am „problemzentrierten Interview“ (vgl. Witzel 1982, 66ff.) orientierten. Die etwa einstündigen Interviews wurden mit Hilfe eines Leitfadens durchgeführt, der allerdings den Interviewverlauf nicht steuern, sondern der interviewenden Person lediglich als Gedankenstütze dienen sollte. Dieser Leitfaden wurde anhand von vier – nicht zum Sample gehörenden – Probeinterviews getestet und aufgrund der dabei gemachten Erfahrungen modifiziert. In allen Interviews wurde die Eingangsfrage möglichst gleich gestellt, danach folgten die Gespräche dem durch den Interviewee gewählten Verlauf, wobei die Forschenden zuweilen konfrontativ intervenierten und gegebenenfalls im Leitfaden vorgesehene Fragen einbrachten. Nach der Durchführung einiger Interviews wurde die Eingangsfrage gestrafft, da sie sich als zu redundant erwiesen hatte. Bei der Analyse der Interviews haben wir es deshalb mit zwei unterschiedlichen – inhaltlich aber sehr ähnlichen – Eingangsfragen zu tun. Die Interviewerhebung fand zwischen November 2003 und Mai 2006 statt. Die ersten 25 Gespräche, das heisst die Interviews mit den Lehrpersonen der Sekundarstufe I, wurden jeweils in Anwesenheit von zwei Forschenden durchgeführt – die eine führte das Gespräch, die andere folgte aufmerksam und stellte bei Bedarf ergänzende Fragen. Die restlichen Interviews wurden jeweils durch eine Forscherin, einen Forscher alleine geführt. Im Anschluss an das Interview wurde zusammen mit der interviewten Person ein Kurzfragebogen ausgefüllt, mit dem objektive Daten ihrer Biographie und ihres sozialen Hintergrunds erhoben wurden. Die Interviews wurden auf Tonband aufgenommen und von Hilfskräften nach vom Projektteam erstellten Regeln vollständig transkribiert. Das Schweizerdeutsche wurde – wo immer möglich – Wort für Wort Hochdeutsch verschriftet. Die schweizerdeutsche Satzstellung sowie grammatikalische und sonstige Helvetismen wurden allerdings beibehalten. Es wurde darauf geachtet, dass die Verschriftung keine Bedeutungsverschiebungen nach sich zog. Durch eine solche Transkription entstehen Texte, die nicht der gesprochenen Sprache entsprechen, es aber den Forschenden erlauben, sich beim Lesen des Transkribts den ursprünglichen dialektalen Wortlaut zu vergegenwärtigen. Damit bleibt es möglich, bei der Bildung von Lesarten im Rahmen der Sequenzanalyse die Eigenheiten der Schweizer Mundartsprache zu berücksichtigen. Die analytische Arbeit mit solchen Transkripten bedingt, dass unter den interpretierenden Forsche68

rinnen und Forschern mindestens eine Person des Schweizerdeutschen mächtig ist. Damit kann im Zweifelsfall verhindert werden, dass der interviewten Person unangebrachterweise Unvernünftigkeit oder Pathologie unterstellt wird. 3.3.2 Analyse Die Rekonstruktion der Deutungsmuster anhand der Interviews erfolgte mit der Sequenzanalyse, wie sie im Rahmen der Interpretationsmethode der Objektiven Hermeneutik formuliert worden ist (vgl. Oevermann 1991; 1996a; 2000, Oevermann/Allert/Konau/Krambeck 1979, Wernet 2000). Gegenstand der objektivhermeneutisch orientierten Forschung ist die durch das menschliche Handeln hervorgebrachte, sinnstrukturierte Welt. Es wird davon ausgegangen, dass die Sinnstrukturiertheit in objektiven Strukturen gründet, die in der Sprache zum Ausdruck kommen. Der interessierende Forschungsgegenstand – in unserem Falle Deutungsmuster von Lehrpersonen – wird anhand von Ausdrucksgestalten untersucht, zum Beispiel anhand von Interviews, welche die Forscherin, der Forscher erhoben haben. Die Transkripte figurieren als Protokolle der sozialen Wirklichkeit. Die Analyse interessiert sich für die „Fallstruktur“, die dem Material innewohnt, wobei mit Fallstruktur „der je konkrete innere Zusammenhang im Leben und Handeln der bestimmten, je konkreten historischen Praxis eines Falles“ (Oevermann 2000, 69) gemeint ist. Sie zielt auf die strukturierenden Prinzipien, die dem Handeln, Sprechen und Denken zugrunde liegen. Dementsprechend wird in der Objektiven Hermeneutik die Ebene der „objektiven latenten Sinnstrukturen“ von jener der „subjektiv-intentionalen Repräsentanz“ (Oevermann/Allert/Konau/Krambeck 1979, 380) unterschieden. In der Objektiven Hermeneutik wird von der Sequenziertheit der Praxis ausgegangen: Jede Einzelhandlung knüpft an eine vorausgehende Handlung an und ermöglicht selbst wieder Anschlüsse für weitere Handlungen. Mit jeder Handlung trifft das Subjekt aus einer Vielzahl von Möglichkeiten eine Auswahl. Damit werden gewisse zuvor eröffnete Möglichkeiten nicht gewählt, eine Schliessung findet statt und neue künftige Auswahl- und Anschlussmöglichkeiten werden eröffnet. Solche Auswahlsituationen zeichnen sich durch die widersprüchliche Einheit von Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung aus. Denn für eine „echte Entscheidungssituation“ ist konstitutiv, dass das Subjekt „unter Anspruch einer Vernunft beanspruchenden Begründbarkeit“ eine Entscheidung fällen muss, „obwohl diese Begründetheit im Moment des Entscheidungszwanges gerade nicht zur Verfügung steht“ (Oevermann 1993, 179). Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung sind demnach als kom69

plementäre, einander bedingende Momente zu verstehen. Bezogen auf ein Interview als schriftliches Protokoll heisst das, dass die im Text protokollierten Äusserungs- und Handlungsverläufe als eine Abfolge „von Selektionen zu sehen [sind], die jeweils an jeder Sequenzstelle, das heisst an einer Stelle des Anschliessens weiterer Einzelakte oder -äusserungen unter nach gültigen Regeln möglichen sinnvollen Anschlüssen getroffen worden sind“ (Oevermann 1991, 270). In der Auswahl von Optionen vollzieht sich autonome, Vernunft beanspruchende Lebenspraxis, für die sich die bzw. der objektiv-hermeneutisch Forschende interessiert. Die konkrete Textinterpretation erfolgte gemäss der objektiv-hermeneutischen Sequenzanalyse. Bei der Analyse einer Sequenzstelle sind zwei Parameter von Bedeutung. Der erste Parameter bezieht sich auf alle möglichen Varianten, wie die Sequenzstelle sinnlogisch weitergehen könnte beziehungsweise in welchem Kontext die Sequenz ‚Sinn’ macht. Der zweite Parameter steht für die Gesamtheit der Dispositionen eines Falls. Er determiniert, welche Entscheidung in einer Situation konkret getroffen wird. Bei der Durchführung der Analyse werden in einem ersten Schritt „Geschichten“ (Wernet 2000, 39ff.) zum Textausschnitt erzählt, die möglichst kontrastiv sind und zur vorhergehenden Sequenzstelle passen, also Geschichten, in denen der Text als angemessene sprachliche Äusserung erscheint. Die Geschichten werden sodann im Hinblick auf deren gemeinsame Struktureigenschaften betrachtet und ‚gruppenweise’ geordnet, so dass „Lesarten“ (ebd.) unterschieden werden können. Diese werden in einem zweiten Schritt mit der nachfolgenden Sequenzstelle konfrontiert. Dabei stellt sich heraus, welche ‚Entscheidung’ der Fall getroffen hat, und welche Lesarten beibehalten oder verworfen werden können. Dieses Vorgehen wird an jeder Sequenzstelle wiederholt, bis die Besonderheit der interessierenden Fallstruktur hervortritt und – nach einigen Sequenzstellen – eine „Fallstrukturhypothese“ (ebd., 42f.) formuliert werden kann. Die Sequenzanalyse erfolgt gestützt auf fünf Prinzipien, deren Berücksichtigung die methodische Kontrolle und damit die Überprüfbarkeit der Analyse garantiert (vgl. Wernet 2000, 21ff.). Ganz grundsätzlich gilt erstens das Prinzip der Sequentialität, das besagt, dass bei der Analyse nicht von Textpassage zu Textpassage gesprungen werden darf, sondern dem Protokoll in seiner Sequentialität Wort für Wort gefolgt werden muss. Gemäss dem Prinzip der Kontextfreiheit darf – zweitens – der Kontext für das Lesartenbilden während der Sequenzanalyse keine Rolle spielen, er darf erst zu Hilfe gezogen werden, wenn zuvor eine kontextunabhängige Bedeutungsexplikation vorgenommen worden ist. Die Forscherin oder der Forscher stellt sich bei der Sequenzanalyse also künstlich naiv. Das Prinzip der Wörtlichkeit besagt drittens, dass der Text ernst genom70

men und gewissermassen ‚auf die Goldwaage’ gelegt werden soll. Dies ist eine Voraussetzung dafür, um „einen direkten interpretatorischen Zugang zur Explikation der Differenz zwischen manifesten Sinngehalten und latenten Sinnstrukturen eines Textes“ (Wernet 2000, 25) zu erhalten. Viertens sollen – so das Prinzip der Extensivität – nur geringe Textmengen analysiert werden, diese dafür maximal detailliert. Die genannten Prinzipien sollen garantieren, dass der Text sehr ausführlich, aber nur aus sich selbst heraus analysiert wird. Das fünfte Prinzip – das Prinzip der Sparsamkeit – schliesslich schreibt vor, nur solche Lesarten und Fallstrukturhypothesen zu bilden, die am Text überprüfbar sind. Zum konkreten Vorgehen bei der Analyse in der vorliegenden Studie sei Folgendes festgehalten: Am Anfang der Interpretation eines Interviews stand jeweils die Analyse der Eingangssequenz, aufgrund derer eine erste Fallstrukturhypothese bezüglich des Deutungsmusters zur Antinomie von Fördern und Auslesen formuliert wurde. Anschliessend wurde diese Fallstrukturhypothese anhand der Analyse weiterer Sequenzstellen aus dem Interview präzisiert, erweitert, allenfalls falsifiziert und modifiziert. Vor dem Hintergrund dieser Analysen wurde die definitive Fallstrukturhypothese formuliert. Die Analysen fanden teilweise im Forschungsteam statt. Zudem wurden einzelne Fälle in der Forschungswerkstatt der Pädagogischen Hochschule Bern (PHBern), in der Studiengruppe für objektiv-hermeneutische Fallanalysen (SOFA) des Instituts für Soziologie der Universität Bern sowie in Blockseminaren von Prof. Dr. Ulrich Oevermann analysiert und diskutiert. Diese Analysen dienten als Korrektiv unserer eigenen Analysen und hatten eine Validierungsfunktion. 3.3.3 Typenbildung Was die Frage der Generalisierung betrifft, so orientiert sich die vorliegende Studie an der in der qualitativen Sozialforschung gängigen Art der Verallgemeinerung durch Typenbildung (vgl. Kelle/Kluge 1999, Gerhardt 1991). Die fünf Typen, die den Charakter von Idealtypen im Sinne Webers haben, wurden ausgehend von den einzelnen sequenzanalytisch rekonstruierten Deutungsmustern gebildet. Ein solcher Idealtyp wird gewonnen „durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluss einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankengebilde“ (Weber 1988[1922], 191). Die Typen sind einer Karikatur vergleichbar, die durch wenige Striche das zum Ausdruck bringt, worauf nicht verzichtet werden kann, 71

wenn das Konstitutive deutlich werden soll. Mit der Typenbildung wird in dieser Studie von der Komplexität der einzelnen Fälle abstrahiert, wobei gleichzeitig eine Verdichtung vorgenommen wurde: Jeder Typus verallgemeinert und kondensiert die einzelnen – von fallspezifischen Bedingungen gekennzeichneten – Deutungsmuster. Er vereinigt mehrere Einzelfälle in sich, kein Fall repräsentiert ihn aber in seiner Gänze (vgl. Gerhardt 1991, 437, Giegel/Frank/Billerbeck 1987, 408f.). Die Typenbildung erfolgte in fünf Schritten (vgl. auch Gerhardt 1991, 437ff.): In einem ersten Schritt wurden die analysierten Fälle mittels minimaler und maximaler Kontrastierung zueinander in Beziehung gestellt und in „Clustern“ (Gerhardt 1991, 438) gruppiert, wobei sich diese teilweise überschnitten. Es zeigte sich, dass manche Fälle quasi im Zentrum eines Clusters stehen, weil sie ein in sich vergleichsweise kohärentes Deutungsmuster aufweisen, das fast schon exemplarisch für das entsprechende Cluster ist, während andere Fälle – sogenannte ‚Kippfälle’ – eher am Rand eines solchen anzusiedeln sind, da sie gebrochene Deutungsmuster oder gar Elemente verschiedener Deutungsmuster enthalten und damit eine Nähe zu Fällen anderer Cluster aufweisen. Zweitens wurde für jedes dieser Cluster ein Fall ermittelt, bei dem der entsprechende Deutungsmustertyp am klarsten zum Ausdruck kommt. Es handelte sich dabei um den ‚reinsten’ Fall, anhand dessen der Typus dann auch dargestellt werden kann. Drittens wurden ausgehend von diesem ‚reinsten’ Fall durch Herausarbeiten von Gemeinsamkeiten und Unterschieden innerhalb des Clusters die Charakteristiken des jeweiligen Typus herausgearbeitet und zu einem Idealtypus verdichtet. In einem vierten Schritt wurden die weniger ‚reinen’ Fälle eines Typs – im Sinne des „Einzelfallverstehens“ (ebd.) – mit dem entsprechenden Idealtyp konfrontiert, um zu verstehen und nachzuzeichnen „inwiefern hier typisches Geschehen abläuft“ (ebd.). Schliesslich wurden in einem fünften Schritt die Typen strukturell – nach Geschlecht, Alter, Ausbildung, Lehrertyp, Schulmodell – verortet. 3.3.4 Darstellung Die Darstellung der Ergebnisse erfolgt bei jedem Typ nach etwa demselben Muster: Nach einer knappen Zusammenfassung der Charakteristika des Typs wird ein vergleichsweise ‚reiner’ Fall des Typs anhand der Analyse der Eingangssequenz des Interviews und unter Beizug weiterer Textpassagen porträtiert. Dabei wird die Rekonstruktion der Eingangssequenz in stark geraffter Form dargelegt: Die Ergebnisse der Analyse stehen im Vordergrund, ihre Generierung ist für die Leserin, den Leser höchstens teilweise nachvollziehbar. Die Darlegung der extensiven Analyse würde den Rahmen dieser Publikation spren72

gen. Was die hinzugezogenen Textpassagen betrifft, wird auf die Wiedergabe der detaillierten Sequenzanalyse fast gänzlich verzichtet. Anschliessend wird das vorgestellte Deutungsmuster mit weiteren Fällen des jeweiligen Typs kontrastiert, bevor die wichtigsten Charakteristiken des Typs schliesslich zusammenfassend wiedergegeben werden. Die sequenzanalytische Arbeit wurde mit den ‚originalen’ Transkriptionen vorgenommen. Für die vorliegende Publikation wurden die zitierten Passagen (mit Ausnahme der Eingangssequenzen) der besseren Lesbarkeit halber leicht ‚bereinigt’, dabei wurden schweizerdeutsche Begriffe wann immer möglich ins Hochdeutsche übersetzt. Es wurde darauf geachtet, dass bei diesen Anpassungen weder der manifeste Sinngehalt noch die latente Sinnstruktur des Gesagten verändert wurden. Auch die Satzstellung wurde der besseren Lesbarkeit zuliebe verdeutscht, sofern dies keine inhaltliche Verschiebung nach sich zog. Da das Imperfekt im Schweizerdeutschen nicht existiert, wurde die Perfektform in der Übersetzung beibehalten. Die Quellenangabe der Interviewzitate erfolgt mit der Nennung der Interviewnummer und der Seitenzahl des Transkripts (z.B. I 06, 15).73

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Bei sinngemässem Zitieren wird der Interviewnummer ein „vgl.“ vorangestellt (z.B. vgl. I 06, 15).

73

4 Zum Forschungsfeld: das Berner Bildungswesen Im vorliegenden Kapitel wird das Bildungssystem des Kantons Bern vorgestellt. Ein besonderer Fokus wird dabei auf die Volksschule – also auf die Primarstufe und die Sekundarstufe I – gelegt, in der die Lehrpersonen tätig sind, deren Deutungsmuster in Kapitel 5 dargestellt werden. Die Ausführungen basieren auf der Durchsicht und Auswertung von gesetzlichen Grundlagen und Lehrplänen, sowie auf Expertinnen- und Expertengesprächen. In Kapitel 4.1 werden Fragen der Organisation und der politischen Zuständigkeiten im Berner Volksschulwesen geklärt. Kapitel 4.2 gewährt eine Übersicht über den Aufbau des Bildungssystems des Kantons Bern. Die Darstellung beschränkt sich auf den deutschsprachigen Kantonsteil, wobei ein Schwerpunkt auf die Stadt Bern gelegt wird. In Kapitel 4.3 werden die Selektionsentscheide in der Volksschule vorgestellt. Kapitel 4.4 beschreibt die Aufgaben der Volksschule und der Lehrpersonen, wobei neben generellen Ausführungen zum Unterricht ein besonderes Augenmerk auf die Aufgaben Fördern, Beurteilen, Diagnose/Prognose und Selegieren gelegt wird. 4.1 Die Organisation des Schulwesens im Kanton Bern Das Bildungswesen im Kanton Bern ist auf drei Ebenen – jener des Kantons, der Gemeinden und der Schulen – organisiert. 4.1.1 Zuständigkeiten des Kantons Im Kanton Bern ist die Erziehungsdirektion (ERZ) zuständig für das Bildungswesen und führt Aufsicht über die Volksschule (Art. 53 VSG74). Sie erlässt beispielsweise Bestimmungen über Lehrpläne und erlaubte Lehrmittel, die Schülerbeurteilung sowie Selektionsentscheide (Art. 23a VSV75; Art. 14a VSG). Das Amt für Kindergarten, Volksschule und Beratung (AKVB) der ERZ hat die Aufsicht über die Kindergärten, Volksschulen und den gymnasialen Unterricht im 9. Schuljahr. Ihm sind fünf regionale Schulinspektorate unterstellt, die im Volksschulbereich Aufsichts- und Beratungsfunktionen wahrnehmen (Art. 52 Abs. 1 VSG).

74 75

Volksschulgesetz vom 19. März 1992. Volksschulverordnung vom 10. April 2002 [Ingress Fassung vom 10. April 2002].

74

Lehrerinnen und Lehrer der Volksschule sind Kantonsangestellte. Ihre Anstellung und ihr Gehalt sind im Gesetz (LAG), der Verordnung (LAV), der Direktionsverordnung (LADV) und dem Dekret über die Anstellung der Lehrkräfte (LAD) geregelt. 4.1.2 Zuständigkeiten der Gemeinden Die Gemeinden gelten als Trägerinnen des Volksschulwesens (Art. 5 Abs. 3 VSG). Sie ordnen es in den Gemeindereglementen (Art. 45 VSG) und gestalten es gemäss den Vorschriften des eidgenössischen und kantonalen Rechts aus (Art. 1 Abs. 1 SWR76). Die Gemeinden haben den Auftrag, dafür zu sorgen, dass jedes Kind die Volksschule gebührenfrei besuchen kann und die individuellen Lehrmittel und Schulmaterialien unentgeltlich erhält (Art. 5 Abs. 1 und Art. 13 VSG). Die Gemeinden können die Einführung von Niveauunterricht und Förderunterricht an der Sekundarstufe I beantragen (Art. 11 VSG) und bestimmen, ob und wie stark Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I gemeinsam unterrichtet werden (Art. 46 Abs. 3 VSG), sie wählen also ein Schulmodell aus (zu den Schulmodellen vgl. Exkurs in Kapitel 4.2.2). 4.1.3 Die Schule In der Stadt Bern teilt der Gemeinderat die Stadt für die Volksschulen in Schulkreise ein (Art. 2 Abs. 1 SWR). Ein Schulkreis kann eines oder mehrere Schulhäuser umfassen. Jeder Schulkreis wird von einer Schulleitung geleitet und von einer Schulkommission beaufsichtigt. Zum Zeitpunkt, in dem die Interviews geführt wurden, gab es in der Stadt Bern 18 Schulkreise (Art. 16 SWR).77 a.

Die Schulleitung

Bis in die 1990er Jahre hatten „Schulvorsteher“ den Status eines ‚Primus inter Pares’ und erfüllten vorwiegend administrative Aufgaben an einer Schule. Mit der 1985 eingeleiteten Gesamtrevision der Bildungsgesetzgebung wurden die Schulvorsteher zu „Schulleitern“. Diese sind nun für die pädagogische, organisatorische und administrative Leitung der Schule und der Kindergärten verantwortlich (Anhang 4 Ziffer 1.1 LAV). 76

Reglement über das Schulwesen in der Stadt Bern vom 4. November 1993. Während der Projektlaufzeit wurde das Schulreglement der Stadt Bern totalrevidiert, eine neue Version wurde am 30. März 2006 erlassen. In dieser Publikation beziehen wir uns auf das Reglement von 1993, das zum Zeitpunkt, als die Interviews geführt wurden, gültig war. 77 Im Zuge der Totalrevision des Schulreglements der Stadt Bern, das am 30. März 2006 in Kraft trat, wurden die Schulkreise von 18 auf 6 reduziert.

75

Die Schulleitung wird von der Schulkommission nach Anhören der Lehrerkonferenz gewählt (Art. 51 Abs. 4 SWR). Sie hat Einsitz in die Schulkommission und kann entsprechend ihren Aufgaben und Funktionen Anträge an sie stellen (Art. 35 Abs. 4 VSG). Sowohl im Kollegium als auch gegen aussen hat die Schulleitung eine wichtige Kommunikations- und Informationsfunktion. So ist sie beispielsweise dafür verantwortlich, dass Eltern und Schülerinnen und Schüler rechtzeitig über „Beurteilung, Übertrittsverfahren, Schullaufbahnentscheide und Bildungsgänge“ (Art. 16 Abs. 1 DVBS78) informiert werden. Bei anstehenden Wahlen beantragt die Schulleitung bei der Anstellungsbehörde die Anstellung von Lehrkräften (Anhang 4 Ziffer 1.1 LAV). Ihr kommt auch eine personelle Leitungsfunktion zu. b.

Die Schulkommission

Für jede Schule ist je eine Schulkommission zuständig, die von der Gemeinde bestimmt wird (Art. 45 VSG). In der Stadt Bern werden die Schulkommissionen nach Parteienproporz durch den Stadtrat auf vier Jahre gewählt. Sie bestehen aus jeweils mindestens fünf Mitgliedern (Art. 50 Abs. 1 VSG). An den Sitzungen der Schulkommission nimmt gewöhnlich die Schulleitung und in beratender Funktion eine durch die Lehrerkonferenz gewählte Abordnung der Lehrerschaft teil (Art. 35 Abs. 1 und Abs. 4 VSG). Die Schulkommission ist die „unmittelbare Aufsichts- und Verwaltungsbehörde“ einer Schule (Art. 50 Abs. 1 VSG). Sie regelt und überwacht die Organisation des Schul- und Unterrichtsgeschehens und ist Anstellungsbehörde der Lehrkräfte und der Schulleitung (Art. 7 LAG; Art. 43 Abs. 1 VSG). Die Aufgaben und Befugnisse der Schulkommission erstrecken sich auch auf die Schülerinnen und Schüler. So beschliesst die Schulkommission auf Antrag der Lehrerinnen- und Lehrerkonferenz den Beurteilungsbericht und trifft die „Schullaufbahnentscheide“ (Art. 19 und Art. 22 DVBS). 78

Direktionsverordnung über Beurteilung und Schullaufbahnentscheide in der Volksschule (DVBS). Die DVBS vom 7. Mai 2002 trat auf den 1. August 2003 in Kraft. Während der Erhebungsphase der vorliegenden Studie wurde die Verordnung revidiert. Diese revidierte Version vom 28. Mai 2004 ist seit dem 1. August 2004 rechtsgültig. Dies bedeutet, dass zum Zeitpunkt, als die Interviews mit Real- und Sekundarlehrpersonen geführt wurden, die damals ganz neue DVBS von 2002 gültig war (DVBS), während zum Zeitpunkt der Interviews mit Primarlehrpersonen die geänderte Version (DVBS 2004) galt. Bezüge auf Inhalte, die mit der Revision nicht verändert wurden, werden unter Rückgriff auf die Version von 2002 gemacht (DVBS). Wo revisionsbedingte Änderungen wichtig sind, wird die neuere Version zitiert (DVBS 2004).

76

c.

Die Lehrerkonferenz

Alle an einer Schule unterrichtenden Lehrkräfte sind verpflichtet, an der Lehrerkonferenz teilzunehmen (Art. 10 VSV; Art. 44 VSG). Diese befasst sich mit Fragen der Erziehung, des Unterrichts, der Schulentwicklung und „mit weiteren Angelegenheiten, die sich auf die Schule als Ganzes“ oder auf einzelne Schülerinnen und Schüler beziehen (Art. 14 Abs. 1 VSV). Die Lehrerkonferenz bereitet zuhanden der Schulkommission Anträge zu verschiedenen Themen vor, so auch zu Schullaufbahnentscheiden oder „besonderen Massnahmen“ für Schülerinnen und Schülern, aber auch zur Unterrichtsorganisation, zum Budget oder zur Festsetzung der Ferien (Art. 14 Abs. 3 VSV). d.

Die Klassenlehrperson

Die Klassenlehrperson hat die Verantwortung für die Klasse. Unter anderem vertritt sie diese in der Lehrerkonferenz sowie gegenüber der Schulkommission. Sie verfasst unter Miteinbezug der anderen Lehrkräfte, die an der Klasse unterrichten, Beurteilungsberichte, Übertrittsberichte und führt Elterngespräche (Art. 17, Art. 19 Abs. 1, Art. 31 Abs. 1 VSG). 4.2 Aufbau des Bildungssystems des Kantons Bern Das Berner Bildungswesen ist unterteilt in den Kindergarten, die Primarstufe, die Sekundarstufe I, die Sekundarstufe II, die Tertiärstufe und die Quartärstufe (vgl. Abbildung 2). 4.2.1 Der Kindergarten Der offizielle Ausbildungsweg eines Kindes beginnt im Kanton Bern mit dem Kindergarten, der ein bis maximal drei Jahre lang vor der Einschulung besucht wird. Der Kindergartenbesuch ist freiwillig und für die Eltern unentgeltlich. Ziel des Kindergartens ist es aus staatlicher Sicht unter anderem, dem Kind „den Eintritt in die Primarschule zu erleichtern“ (Art. 2 Abs. 1 KGG79). In jüngster Zeit ist eine Auflockerung der bisher strikten Trennung zwischen Kindergarten und Primarschule zu beobachten. Die Lehr- und Lernformen des Kindergartens und der Primarschule haben sich angeglichen, die Zusammenarbeit zwischen Kindergarten und Schule hat zugenommen und der Kindergarten wurde vielerorts in die Schulorganisation eingebunden. So wird beispielsweise 79

Kindergartengesetz vom 23. November 1983.

77

im aktuellen Lehrplan für den Kindergarten der Bezug zum schulischen Lernen hergestellt (vgl. LP KG80). Dementsprechend ist in der aktuellen Fassung der Kindergartenverordnung (KGV) auch von „Lehrpersonen oder Lehrkräften für Abbildung 2:

Aufbau des Bildungswesens im Kanton Bern Quartärstufe Weiterbildung Tertiärstufe

Höhere Berufsbildung Berufsprüfungen mit eidg. Fachausweis

Höhere Fachprüfungen mit eidg. Diplom

Zweijährige berufliche Grundbildung mit eidg. Attest

Drei- oder vierjährige berufliche Grundbildung mit eidg. Fähigkeitszeugnis

Hochschulen

Höhere Fachschulen

Pädagogische Hochschulen

Fachhochschulen

Universitäten

Sekundarstufe II Berufsmaturitätsschulen I und II

Handelsmittelschulen

Fachmittelschulen

Gymnasien

Brückenangebote Sekundarstufe I

Sonderschulen

Besondere Klassen

Gymnasialer Unterricht (9. Schuljahr)

Realklassen Sekundarklassen und spezielle Sekundarklassen

Primarstufe Sonderschulen

Besondere Klassen

Sonderkindergarten

Primarklassen Kindergarten

Quelle: www.erz.be.ch/bi_we/ [Zugriff: 21.4.2004] 80

Lehrplan Kindergarten für den deutschsprachigen Teil des Kantons Bern vom 22. November 1999.

78

den Kindergarten“ und nicht mehr wie in der vorhergehenden Fassung von „Kindergärtnerinnen“ die Rede. Im Jahre 2002 fand in der Stadt Bern eine organisatorische Zusammenführung des Kindergartens und der Primarstufe statt, indem die Kindergärten in die Schulkreise integriert wurden. Im Schuljahr 2005/06 wurde an öffentlichen Schulen im Kanton Bern das Projekt „Basisstufe“ gestartet, in dem die organisatorische und inhaltliche Zusammenführung des Kindergartens und der ersten beiden Schuljahre erprobt wird.81 In der Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer ist die Zusammenführung des Kindergartens und der ersten beiden Schuljahre bereits verwirklicht.82 4.2.2 Die Volksschule Die Volksschule umfasst die Primarstufe und die Sekundarstufe I, also die „obligatorische Schulzeit“, die neun Jahre dauert (Art. 1 VSG). a.

Die Primarstufe

Im Kanton Bern werden die Kinder mit dem vollendeten sechsten Lebensjahr schulpflichtig und treten in der Regel in diesem Alter in die Primarschule ein (Art. 22 VSG). Die Primarstufe umfasst sechs Schuljahre. Alle Schülerinnen eines Jahrgangs werden klassenweise, ohne Differenzierungen nach Leistungskriterien, unterrichtet. Mitte des 6. Schuljahres wird entschieden, in welchem Schultyp – Real oder Sekundar – eine Schülerin oder ein Schüler auf der Sekundarstufe I den Unterricht besucht. b.

Sekundarstufe I

In der Stadt Bern folgen die Schülerinnen dem Unterricht auf der Sekundarstufe I83 (7.-9. Schuljahr) entweder im Real- oder im Sekundarniveau. In beiden Leistungsniveaus wird nach dem gleichen Lehrplan unterrichtet, wobei im Sekundarniveau im Vergleich zum Realniveau „erhöhte Anforderungen“ an die Schülerinnen gestellt werden (Art. 26 Abs. 2 VSG). In gewissen Gemeinden im Kanton Bern existieren zudem „spezielle Sekundarklassen“, in denen die Anforderungen noch höher sind als im Sekundarniveau. In ihnen werden die Schülerin81

Vgl. www.erz.be.ch/basisstufe/ [Zugriff: 10.4.2006]. Vgl. auch Wissmann 2004a; Walser 2004; Wissmann 2004b; Landbø 2004; Schmid 2005. 82 An der Pädagogischen Hochschule Bern (PHBern), Institut „Vorschulstufe und Primarstufe“ kann das Studienprofil „Vorschulstufe und untere Primarstufe ohne Fächerspezialisierung“ studiert werden, das die Lehrperson befähigt, im Kindergarten und in der 1. und 2. Klasse der Primarstufe zu unterrichten (vgl. www.phbern.ch [Zugriff: 10.4.2006]). 83 Die Sekundarstufe I wird auch „Oberstufe“ genannt.

79

nen explizit auf das Gymnasium vorbereitet.84 Schülerinnen und Schüler, die im Kanton Bern ins Gymnasium eintreten, absolvieren das 9. Schuljahr im gymnasialen Unterricht, der je nach Gemeinde entweder an einer Sekundarschule oder an einer Maturitätsschule angesiedelt ist (vgl. ERZ 2003a, 4). In der Stadt Bern findet er als „Quarta“ an einer Maturitätsschule statt. Im Kanton Bern werden auf der Sekundarstufe I fünf verschiedene „Schulmodelle“ angewandt. Die Schulmodelle unterscheiden sich danach, in welchem Ausmass Real- und Sekundarschülerinnen gemeinsam unterrichtet werden. Exkurs: Schulmodelle auf der Sekundarstufe I Bis 1992 wurden die Schülerinnen und Schüler auf der Sekundarstufe I durchwegs getrennt in Sekundar- und Realklassen unterrichtet. 1992 gab der Kanton den Gemeinden die Möglichkeit, auf der Sekundarstufe I einen teilweise oder durchwegs gemeinsamen Unterricht anzubieten (Art. 46 Abs. 3 VSG). Den Gemeinden des Deutschschweizer Kantonsteils standen fünf „Schulmodelle“ zur Auswahl, aus denen sie wählen konnten (vgl. „Weisungen Zusammenarbeitsformen“85):86

84

-

Im Modell 1 werden Sekundar- und Realschülerinnen und -schüler in getrennten Klassen und getrennten Schulhäusern unterrichtet, wie es vor der Einführung der Zusammenarbeitsformen üblich war.

-

Im Modell 2 besuchen Real- und Sekundarschülerinnen und -schüler getrennte Klassen. Allerdings kann in diesem Modell in einem oder mehreren Fächern gemeinsam unterrichtet werden (ausgenommen sind die „Niveaufächer“ Deutsch, Französisch und Mathematik).

-

Das Modell 3a oder „Manuel“ sieht eine grundsätzliche Trennung in Real- und Sekundarklassen – sogenannte Stammklassen – vor. Eine Schülerin kann maximal eines der drei Niveaufächer auf dem jeweils anderen Niveau besuchen.87

Die „speziellen Sekundarklassen“ werden in der Folge ausser Acht gelassen, da es diese in der Stadt Bern nicht gibt. 85 Weisungen über die Zusammenarbeitsformen an der Sekundarstufe I vom 1. Juli 1993. 86 Im französischsprachigen Kantonsteil wird ausschliesslich ein leicht modifiziertes Modell 3a eingesetzt (vgl. Badertscher 2001, 11). 87 Folgendes Beispiel soll dies verdeutlichen: Eine Schülerin erzielt in den Fächern Mathematik und Deutsch die für das Sekundarniveau notwendigen Leistungen, im Fach Französisch liegt sie auf Realniveau. Sie gilt somit als Sekundarschülerin und besucht in allen Fächern bis auf Französisch den Unterricht in einer Sekundarklasse. In Französisch besucht sie den parallel stattfindenden Unterricht in einer Realklasse des gleichen Schuljahres. Sollte sie jetzt in einem zweiten Niveaufach nicht

80

-

Im Modell 3b oder „Spiegel“ werden alle Schülerinnen und Schüler eines Jahrgangs in „Stammklassen“ zusammen unterrichtet. In den Niveaufächern besuchen sie den Unterricht entsprechend ihren Leistungen getrennt im Real- und Sekundarniveau.88

-

Im Modell 4 oder „Twann“ werden alle Schülerinnen und Schüler in allen Fächern gemeinsam unterrichtet. Die Lehrperson unterscheidet klassenintern, also ohne zeitliche oder räumliche Trennung, über die Anforderungen in den Niveaufächern in Leistungsniveaus.

Für die Modelle 3a, 3b und 4 gilt: Wer in mindestens zwei der Niveaufächer Deutsch, Französisch und Mathematik dem Sekundarschulniveau zugewiesen ist, gilt als Sekundarschülerin oder Sekundarschüler; wer nur in einem oder keinem Niveaufach auf Sekundarniveau unterrichtet wird, gilt als Realschülerin oder Realschüler (Art. 36 Abs. 4 DVBS; Ziffer 2.3 „Weisungen Zusammenarbeitsformen“). Hauptzielsetzung der Einführung von „Zusammenarbeitsformen“ war es, die Durchlässigkeit zwischen den Sekundar- und Realschulen zu erhöhen, das heisst den Übertrittsentscheid von der Primar- in die Sekundarstufe I zu entschärfen. In der Stadt Bern wurden die Schulmodelle durch die „Verordnung über die Zusammenarbeitsformen an der Sekundarstufe I der städtischen Volksschulen in Bern“ auf das 7. Schuljahr 1996/1997 eingeführt (Art. 3 Abs. 2 „Verordnung Zusammenarbeitsformen“). Dabei wurden den Schulen der Stadt die Modelle 3a, 3b und 4 zur Auswahl gestellt.89 Die Schulkommissionen mussten sich bis Juli 1995 für eines der Modelle entscheiden, wobei

mehr die für das Sekundarniveau notwendigen Leistungen erbringen (z.B. in Mathematik), dann muss sie in die Realklasse wechseln; besucht allerdings im dritten Niveaufach (im Beispielfall in Deutsch) weiterhin den Unterricht der Sekundarklasse. Kehrseitig gilt das Gleiche. 88 Ein Schüler ist zum Beispiel in den Fächern Deutsch und Mathematik auf Realniveau und im Fach Französisch auf Sekundarniveau eingestuft. Er besucht also in Deutsch und Mathematik die Kurse im Realniveau, gemeinsam mit allen Schülerinnen und Schülern seines Jahrgangs, die ebenfalls in diesem Fach im Realniveau eingestuft sind. In Französisch besucht er den Kurs auf Sekundarniveau, gemeinsam mit allen Schülerinnen und Schülern seines Jahrgangs, die für dieses Fach ebenfalls auf Sekundarniveau eingestuft sind. In allen übrigen Fächern besucht er den Unterricht mit allen Schülerinnen und Schülern seiner Klasse, unabhängig davon welche Kurse sie in den übrigen Niveaufächern besuchen. 89 In der französischsprachigen Schule (Ecole secondaire de Langue Française) in der Stadt Bern wird wie im französischsprachigen Kantonsteil das modifizierte Modell 3a verwendet. Diese Schule ist dem Inspektorat „Langue Française“ unterstellt und liegt somit nicht in unserem Untersuchungsraum.

81

das jeweils gewählte Modell nicht vor Ablauf von sieben Jahren geändert werden durfte (Art. 10 Abs. 1-3 „Verordnung Zusammenarbeitsformen“). c.

Der Unterricht in Nicht-Regelklassen

Schülerinnen und Schüler des Kantons Bern besuchen die Volksschule in der Regel in „Regelklassen“. Ist die schulische Ausbildung von Schülerinnen oder Schülern „durch Störungen und Behinderungen derart erschwert [...], dass sie nicht in Regelklassen der Volksschule unterrichtet werden können“, besuchen sie „Besondere Klassen“, auch „Kleinklassen“ genannt (Art. 1 „Dekret Besondere Klassen“90). Schülerinnen und Schüler, die weder in Regelklassen noch in Kleinklassen unterrichtet werden können, werden in Sonderschulen oder Heimen geschult (Art. 18 Abs. 1 VSG). Kleinklassen Im Gegensatz zum Spezialunterricht und zur besonderen Förderung, die zusätzlich zum Unterricht in einer Regelklasse erfolgen, wird die Unterrichtung in einer Kleinklassen anstelle des Unterrichts in der Regelklasse durchgeführt. Kleinklassen werden nach vier Typen unterschieden: -

Die Kleinklasse A ist für Schülerinnen und Schüler mit Lernbehinderungen und/oder komplexen Lernstörungen vorgesehen. Auf der Sekundarstufe I können Kleinklassen des Typs A als Werkklassen mit hauptsächlich praktisch-handwerklicher Schulung geführt werden.

-

In der Kleinklasse B werden Kinder, die wegen Schul- oder Verhaltensschwierigkeiten einer besonderen Betreuung bedürfen, unterrichtet.

-

Die Kleinklasse C ist für Kinder mit körperlichen Behinderungen, Sinnesschädigungen oder Sprachstörungen gedacht.

-

In der Kleinklasse D, auch „Einschulungsklasse“ genannt, werden Kinder mit partiellen Entwicklungsverzögerungen unterrichtet. Das Pensum des regulären Lehrplans für das 1. Schuljahr wird auf zwei Jahre verteilt.

Der Unterricht in der Kleinklasse A erfolgt nach einem eigenen Lehrplan, während in den übrigen Kleinklassentypen der Lehrplan der Regelklassen gilt (LP 95, AHB 2791). Lehrkräfte, die an Kleinklassen unterrichten, müssen eine heilpädagogische Zusatzausbildung besitzen (Art. 9 „Dekret Besondere Klassen“). 90 Dekret vom 21. September 1971 über die besonderen Klassen und den Spezialunterricht der Volksschule [Fassung vom 14. September 1993]. 91 Lehrplan für die Volksschule des Kantons Bern 1995 vom 8. Mai 1995.

82

Sonderschulen Als „Sonderschulen“ gelten Institutionen und Einzelpersonen, „die im Rahmen der Invalidenversicherung invalide Minderjährige unterrichten (Art. 8 Abs. 1 Bst. a IVV92) oder diese auf den Volks- oder Sonderschulunterricht vorbereiten (Art. 12 IVV)“ (Art. 1 SZV). Grundsatz der Integration Gemäss dem zum Zeitpunkt der Interviewerhebung im Kanton Bern breit diskutierten Artikel 17 des Volksschulgesetzes („Integrationsartikel“) und den Grundsätzen der Erziehungsdirektion des Kantons Bern zu dessen Umsetzung soll den „Schülerinnen und Schülern, deren schulische Ausbildung durch Störungen und Behinderungen erschwert wird, in der Regel der Besuch der ordentlichen Bildungsgänge ermöglicht werden“ (Art. 17 Abs. 1 VSG).93 Ist eine Integration in die Regelklasse nicht oder nur bedingt möglich, so muss die Lehrkraft „besondere Massnahmen“ ergreifen, das heisst dem Kind „Spezialunterricht“, „besondere Förderung“ und die „Schulung in besonderen Klassen“ zukommen lassen (Art. 17 Abs. 2 VSG). In diesen Fällen besteht die Aufgabe der Lehrperson darin, das ‚Problem’ zu erkennen, den Antrag zu stellen und im Falle des „Spezialunterrichts“ und der „besonderen Förderung“ mit den entsprechenden Lehrpersonen zusammenzuarbeiten. d.

Förderinstrumente

Neben der ‚gewöhnlichen’ Förderung im Unterricht existieren im Kanton Bern verschiedene Instrumente zur Förderung von schwachen, besonders starken oder fremdsprachigen Schülerinnen und Schülern. Förderung ‚schwächerer’ Schülerinnen und Schüler Für die Förderung leistungsschwächerer Schülerinnen und Schüler auf der Sekundarstufe I sind gemäss Lehrplan und DVBS verschiedene Instrumente vorgesehen: In der individuellen Lernförderung sollen Ziele und Inhalte der Fächer Deutsch, Fremdsprachen und Mathematik vertieft werden. Sie soll im Hinblick auf das künftige Berufsfeld oder den Besuch einer weiterführenden Schule erfolgen. Die individuelle Lernförderung kann kursartig oder als individuelles Arbeiten orga92

Verordnung vom 17. Januar 1961 über die Invalidenversicherung. Dasselbe gilt für Kinder und Jugendliche „mit Behinderungen, mit Schwierigkeiten bei der sprachlichen und kulturellen Integration sowie mit besonderen Begabungen“ (ERZ 2004a).

93

83

nisiert werden, wobei dem eigenverantwortlichen Lernen der Schülerinnen und Schüler grosse Bedeutung beigemessen wird (LP 95, AHB 9). 94 Als Spezialunterricht kann Logopädie, Psychomotorik oder Legasthenie erteilt werden (Art. 19 Abs. 3 „Verordnung Besondere Klassen“95). Er wird ergänzend zum Unterricht der Regelklasse angeboten und kann innerhalb oder ausserhalb der Klasse durchgeführt werden. Er wird von schulischen Heilpädagoginnen und Heilpädagogen, Lehrkräften für Psychomotorik, Logopädinnen und Logopäden oder Legasthenie- und Dyskalkulielehrkräften erteilt (Art. 19 Abs. 3 „Verordnung Besondere Klassen“ und Art. 5 Abs. 1; Art. 6 „Dekret Besondere Klassen“). Für Schülerinnen und Schüler, die fremdsprachig sind oder wegen Krankheit bzw. Unfall während längerer Zeit abwesend waren, kann zusätzlicher Unterricht in begründeten Fällen bewilligt werden (LP 95, AHB 11). Für leistungsschwache und besonders leistungsstarke Schülerinnen und Schülern besteht die Möglichkeit, mit individuellen Lernzielen (ILZ) zu arbeiten. Schülerinnen und Schüler, welche die grundlegenden Lernziele „fortgesetzt und in erheblichem Masse“ nicht erreichen, können mit „reduzierten individuellen Lernzielen“ arbeiten. Für jene Schülerinnen und Schüler hingegen, „die dauernd erheblich mehr leisten als die erweiterten Lernziele“, bieten sich die „erweiterten individuellen Lernziele“ an. In beiden Fällen erfolgt die Arbeit mit ILZ „auf Antrag der Lehrkraft und im Einverständnis mit den Eltern“ und wird von der Schulkommission bewilligt (Art. 12 DVBS). Die Lehrkraft legt in beiden Fällen nach eigenem Ermessen Lernziele fest, die auf die Leistungsfähigkeit der Schülerin, des Schülers zugeschnitten sind. Die Festlegung, dass mit ILZ gearbeitet wird, ist ein Schullaufbahnentscheid, sie stellt also nicht nur einen förderungsbezogenen sondern auch einen selektionsbezogenen Entscheid dar (vgl. 4.3.1).96 Der Förderunterricht soll Schülerinnen und Schülern, die eines oder mehrere Fächer auf Realniveau besuchen, den Aufstieg ins Sekundarniveau erleichtern. Er wird in den Fremdsprachen, Deutsch und Mathematik zusätzlich zum obliga94

Da die individuelle Lernförderung hauptsächlich der Qualifizierung für weiterführende Schulen bzw. Berufsausbildungen dient, lässt sich darüber streiten, ob sie im engeren Sinne als ein Instrument zur Förderung von ‚Schwächeren’ anzusehen ist. 95 Verordnung vom 28. März 1973 über die besonderen Klassen und den Spezialunterricht der Volksschule [Titel Fassung vom 4. August 1993]. 96 Arbeitet ein Kind mit reduzierten individuellen Lernzielen (rILZ), kann bei Einverständnis der Eltern auf die Vergabe von Noten im Beurteilungsbericht verzichtet werden. Wird eine Note vergeben, so bezieht sich diese auf die rILZ, das heisst eine Note 4 bedeutet, dass die grundlegenden Lernziele der rILZ erfüllt wurden. Allerdings werden beim Einsatz von rILZ die grundlegenden Lernziele im entsprechenden Fach (offiziell) als nicht erfüllt gewertet (Art. 13 und 14 DVBS).

84

torischen Unterricht im Umfang von maximal zwei Wochenlektionen angeboten (LP 95, AHB 17). Förderung fremdsprachiger Schülerinnen und Schüler Gemäss Artikel 17 des Volksschulgesetzes gilt für fremdsprachige Kinder das primäre Ziel der Integration in den Regelunterricht (Art. 17 Abs. 1 VSG). Im Kanton Bern existieren dennoch verschiedene Angebote zur Förderung von fremdsprachigen Schülerinnen und Schülern. -

In den „Klassen für Fremdsprachige“ (KfF) liegt das Schwergewicht des Unterrichts auf dem Erlernen der deutschen bzw. französischen Sprache. Der Unterricht soll darauf ausgerichtet sein, eine baldige Eingliederung in eine Regelklasse zu ermöglichen (ERZ 2003e, 1).

-

Die „Grundkurse Deutsch“ können von neuzugezogenen fremdsprachigen Kindern und Jugendlichen während der ersten zwölf Schulwochen an Stelle des Regelunterrichts besucht werden.

-

In Gemeinden, in denen die Schaffung von KfF aufgrund geringer Schülerinnen- und Schülerzahlen nicht möglich ist, erhalten fremdsprachige Schülerinnen und Schüler zusätzlichen Deutsch- oder Französischunterricht (ERZ 2003e, 1).

Neben dem Erlernen des Deutschen soll die Erstsprache der fremdsprachigen Kinder wenn möglich weiter gefördert werden – z.B. durch Unterricht, der von einigen Konsulaten oder Elternvereinigungen angeboten wird (LP 95, AHB 28). Dieser „Unterricht in heimatlicher Sprache und Kultur“ findet heute ausserhalb des Regelunterrichts statt. Er wird meist von Lehrkräften erteilt, die aus den Herkunftsländern stammen. Förderung ‚hochbegabter’ Schülerinnen und Schüler Schülerinnen und Schüler mit „ausserordentlichen Begabungen“ (Art. 17 Abs. 1 VSG) sollten gemäss den Zielvorgaben des Kantons in Regelklassen unterrichtet werden, sie haben aber ebenfalls ein Recht auf spezielle Förderung (vgl. ERZ 1999b, 1). Eine Möglichkeit besteht in der Arbeit mit erweiterten individuellen Lernzielen (vgl. oben). Auf Gesuch der Eltern oder einer kantonalen Erziehungsberatungsstelle kann die jeweilige Schulkommission das Überspringen von Schuljahren für Schülerinnen und Schüler mit „besonderen Fähigkeiten und fortgeschrittener Entwicklung“ (Art. 23 VSG) gestatten. Beide Möglichkeiten sind gleichzeitig Förder- und Selektionsmassnahmen.

85

4.2.3 Die Sekundarstufe II Die Sekundarstufe II umfasst die berufs- und allgemeinbildenden Bildungsgänge, die Jugendlichen zwischen dem 15. und 20. Altersjahr im Anschluss an die obligatorische Schulzeit der Volksschule offen stehen (vgl. Badertscher 2001, 13). Zu den Angeboten der Sekundarstufe II gehören die Berufsbildung und die allgemeinbildenden Schulen (ebd.) wie auch das „berufsvorbereitende Schuljahr“ (BVS). a.

Die Berufsbildung

Im Rahmen der Berufsbildung auf der Sekundarstufe II haben Jugendliche die Möglichkeit, eine Berufslehre oder eine Anlehre zu absolvieren, wobei sie parallel dazu die Berufsschule besuchen. Absolventinnen und Absolventen von Berufslehren und Berufsschulen können nach dem Besuch der Berufsmaturitätsschule die Berufsmaturität erlangen.97 In der Schweiz nimmt die Berufslehre auf der Sekundarstufe II einen wichtigen Stellenwert ein: In den letzten dreissig Jahren begannen mehr als die Hälfte der Berner Volksschulabsolventinnen und -absolventen nach dem Abschluss der obligatorischen Schulzeit eine Berufslehre (vgl. Abbildung 3). Abbildung 3: Fortsetzung einer schulischen Ausbildung und Abgang von der Schule nach dem Abschluss der Volksschule in der Gesamtschweiz Abgang

Berufslehre

Allg. Bildung ohne Maturitätsschule

Maturitätsschule

Total98

1978

22,6

53

7,1

18,6

100%

1985

19,1

57

6,3

16,6

100%

1993

14,6

54,6

9,5

21,4

100%

Quelle: BfS 1996, 54; Angaben in Prozent Die Anlehre und die Berufslehre erfolgen in der Schweiz nach dem dualen System, das heisst der Lehrling oder die Lehrtochter arbeitet in einem Lehrbetrieb und besucht an ein bis zwei Tagen eine Berufsschule. Eine Anlehre dauert ein 97 Weitere Angebote bilden die Schulen für Pflege- und medizinisch-technisch-therapeutische Berufe (MTT-Berufe) und Ausbildungsgänge in der Landwirtschaft. 98 Die Summe der Zeilen ergibt nicht genau 100%, vermutlich liegen hier Rundungsfehler vor.

86

bis zwei Jahre, eine Berufslehre wird nach zwei bis vier Jahren mit dem eidgenössischen Fähigkeitszeugnis (EFZ) abgeschlossen. In den Pflegeberufs- und MTT-Schulen werden u.a. Krankenpflegerinnen, Krankenpfleger und Hebammen ausgebildet. Für die Landwirtschaft stellt der Kanton Bern Ausbildungsgänge zur Verfügung, die neuerdings auch zu einer technischlandwirtschaftlichen Berufsmatura führen können (vgl. Badertscher 2001, 16). b.

Die allgemeinbildenden Schulen

Das Gymnasium wird von der 9. bis zur 12. Klasse besucht. Mit dem Abschluss, der Matura, erwerben Gymnasiastinnen und Gymnasiasten die universitäre Hochschulreife. Im Jahr 1999 lag der Kanton Bern mit 12,9% beim Anteil der Maturitätsabschlüsse im interkantonalen Vergleich auf der siebtletzten Position (vgl. Badertscher 2001, 17). Die Fachmittelschule (FMS) existiert seit dem Jahr 2004 und löste die zweijährige Diplommittelschule (DMS) ab.99 Die FMS dauert drei Jahre und wird mit einem Fachmittelschulausweis und – sofern ein Praktikum oder Zusatzmodule absolviert und eine Fachmaturitätsarbeit geschrieben werden – mit der Fachmaturität abgeschlossen. Sie richtet sich an gute Sekundarschulabsolventinnen und -absolventen aus öffentlichen Volksschulen und bereitet diese auf tertiäre Berufsbildungen (Ausbildungen an Höheren Fachschulen oder Fachhochschulen) in den Bereichen Gesundheit sowie Pädagogik und Soziale Arbeit vor (vgl. ERZ 2006a). Die Berufsmaturitätsschule kann entweder durch den Besuch eines zusätzlichen Berufsschultags, der von der Ausbildung im Betrieb abgeht, begleitend zu einer Lehre in 3-4 Jahren (BMS 1) oder nach einer abgeschlossenen Berufsausbildung in 1-2 Jahren (BMS 2) erlangt werden. Mit der Berufsmaturität wird die Fachhochschulreife erreicht (vgl. ERZ 2006b).100 c.

Das berufsvorbereitende Schuljahr (BVS)

Der Unterricht des berufsvorbereitenden Schuljahres (BVS), das auch häufig das 10. Schuljahr genannt wird, findet an Berufsvorbereitungsschulen statt.101 Das BVS „richtet sich an Schülerinnen und Schüler, die nach Abschluss der 99

Zur DMS vgl. ERZ 2002b; 2003f; 2003g. 1994 wurden in der Schweiz die ersten 241 Berufsmaturitätszeugnisse ausgestellt. Im Jahre 2000 waren es bereits 6’478 und im Jahr 2005 10’719 Zeugnisse (vgl. BfS 2004, 4, und www.bfs.admin. ch/bfs/portal/de/index/themen/15/04/00/blank/uebersicht.html [Zugriff: 11.7.2007]). 101 Im ganzen Kanton gibt es fünf Zentren, an denen das BVS absolviert werden kann. In der Stadt Bern wird der Unterricht des BVS an der Berufs-, Fach- und Fortbildungsschule (BFF) erteilt. 100

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Volksschule nicht über die notwendigen Voraussetzungen für eine ihren Fähigkeiten entsprechende Berufsausbildung oder den Eintritt in eine weiterführende Schule verfügen“ (LP BVS, Allgemeiner Teil 1). Das BVS existiert mit drei Schwerpunkten: -

Berufsvorbereitung mit Schwerpunkt in der Integration von Fremdsprachigen (BSI): Die BSI richtet sich an Schülerinnen und Schüler mit ungenügenden Deutschkenntnissen. Ziel der Ausbildung ist es, dass sie den „Einstieg in die Berufsbildung“ (LP BVS102, Allgemeiner Teil 1) schaffen.

-

Berufsvorbereitung mit Schwerpunkt in der praktischen Ausbildung (BSP): Zielgruppe dieses Schwerpunkts sind Schülerinnen und Schüler, die „grosses Interesse am praktischen Unterricht“ (LP BVS, Allgemeiner Teil 1) haben.

-

Berufsvorbereitung mit Schwerpunkt in der Allgemeinbildung (BSA): Die BSA ist für Schülerinnen und Schüler gedacht, die „ihre schulische Allgemeinbildung erweitern“ wollen, „um sich auf einen Beruf mit erhöhten Anforderungen vorzubereiten“ (LP BVS, Allgemeiner Teil 2). Es sollen dabei „schulische Defizite“ (ebd.) ausgeglichen werden.

4.2.4 Die Tertiär- und die Quartärstufe Zur tertiären Ausbildungsstufe gehören Hochschulen (Universitäten, Pädagogische Hochschulen, Fachhochschulen, Eidgenössische Technische Hochschulen), die Lehrerinnen- und Lehrerbildung sowie die höhere Berufsbildung. Für den Besuch der Universität wird die Maturität, für den Besuch einer Fachhochschule die Maturität oder die Berufsmaturität vorausgesetzt; für eine höhere Berufsbildung wird die Berufsmaturität oder eine abgeschlossene Berufslehre benötigt. Zur Ausbildung von Volksschullehrerinnen und -lehrern werden neben (Berufs)Maturandinnen und Maturanden auch Berufsleute mit drei Jahren Berufspraxis zugelassen, die eine Prüfung bestanden haben. In der Quartärstufe sind die Erwachsenenbildung und die Weiterbildung angesiedelt. 4.2.5 Die Ausbildung der Volksschullehrkräfte Volksschullehrerinnen und -lehrer wurden im Kanton Bern bis vor wenigen Jahren in zwei unterschiedlichen Institutionen ausgebildet. 102

Lehrplan Berufsvorbereitendes Schuljahr vom 3. Januar 2001.

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Die Ausbildung der Primarlehrerinnen und Primarlehrer fand seit dem Beginn der Primarlehrerinnen- und -lehrerbildung in den 1830er Jahren bis zum Jahr 2002 an Lehrerseminaren statt. Diese seminaristische Ausbildung dauerte zunächst zwei, ab 1837 drei, ab 1880 vier und ab 1978 fünf Jahre. In Zeiten des Lehrermangels wurden in unregelmässigen Abständen von Anfang der 1950er bis Anfang der 1970er Jahre zudem einjährige Sonderkurse für Maturandinnen und Maturanden sowie zweijährige Umschulungskurse für Berufsleute durchgeführt, mit denen das Patent für die Primarschule erworben werden konnte (vgl. Criblez 2002). Die Ausbildung der Sekundarlehrpersonen war im Kanton Bern immer an der Universität angesiedelt. Die Frage, ob die Sekundarlehrpersonen innerhalb oder ausserhalb der Universität ausgebildet werden sollen, sorgte im Kanton jedoch von Anfang an immer wieder für politische Diskussionen (vgl. Messerli 2002). Sekundarlehrpersonen waren ab 1863 zunächst als Hörerinnen und Hörer an der Universität zugelassen, und 1878 wurde innerhalb der Universität eine sogenannte „Lehramtsschule“ geschaffen, die 1967 ins „Sekundarlehramt“ umbenannt wurde (vgl. Wissmann 2004c). Im Oktober 2001 startete die „Neue Lehrerinnen- und Lehrerbildung“ (LLB), die fortan die Primar- und Sekundarlehrerausbildung beheimatete und das Ende der Seminare und des Sekundarlehramts bedeutete. Schliesslich öffnete die Pädagogische Hochschule Bern (PHBern) am 1. September 2005 ihre Tore. In ihr wurden die Lehrerinnen- und Lehrerausbildungen aller Stufen – vom Kindergarten bis zum Gymnasium – wie auch die Ausbildung von Heilpädagoginnen und Heilpädagogen zusammengefasst. Ziel der Neuschaffung der PH war die Tertiarisierung der gesamten Lehrerinnen- und Lehrerausbildung. 4.3 Selektionsentscheide in der Volksschule Selektionsentscheide oder „Schullaufbahnentscheide“ in der Volksschule des Kantons Bern sind – wie auch Fragen der Beurteilung – in der „Direktionsverordnung über Beurteilung und Schullaufbahnentscheide in der Volksschule“ (DVBS) geregelt. In der Folge werden zunächst alle Schullaufbahnentscheide der Volksschule aufgeführt. Danach werden die wichtigsten dieser Entscheide erläutert, mit denen die in der vorliegenden Studie interviewten Lehrpersonen der 5. und 6. Klasse der Primarstufe und der Sekundarstufe I (7.-9. Schuljahr) konfrontiert sind.

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4.3.1 Schullaufbahnentscheide Gemäss der DVBS gelten im deutschsprachigen Kantonsteil folgende ‚Ereignisse’ als Schullaufbahnentscheide: -

Der Übertritt ins nächste Schuljahr oder Semester, das Wiederholen eines Schuljahres, das Überspringen eines Schuljahres, die Arbeit mit individuellen Lernzielen, die Zuweisung zu Spezialunterricht, der Wechsel von einer Regelklasse in eine besondere Klasse oder umgekehrt, die Zuweisung zu oder das Verbleiben in einem Schultyp oder Niveaufach der Sekundarstufe I, der Wechsel in einen anderen Schultyp oder in ein anderes Niveaufach der Sekundarstufe I, der Besuch der 9. Klasse als 10. Schuljahr, der Besuch der Mittelschulvorbereitung (MSV), der Übertritt in den gymnasialen Unterricht im 9. Schuljahr sowie der Übertritt in die Handelsmittelschulen, in die Fachmittelschulen mit Fachmaturität und in die Berufsmaturitätsschulen (Art. 22 Abs. 1 DVBS).

Schullaufbahnentscheide werden von der Lehrerkonferenz beantragt und von der Schulkommission beschlossen (Art. 14 Abs. 3 VSV und Art. 22 Abs. 2 DVBS).103 Basis der Anträge der Lehrerkonferenz sind Lernzieldefinitionen und Beurteilungen der einzelnen Lehrkräfte, die faktisch der Antragsformulierung zugrundeliegen. 4.3.2 Selektionsentscheide auf der Primarstufe Neben jenen Selektionsentscheiden, die alle Lehrpersonen der Volksschule fällen müssen – der Übertritt ins nächste Semester oder Schuljahr, das Wiederholen oder Überspringen eines Schuljahres, die Arbeit mit individuellen Lernzielen, die Zuweisung zu Spezialunterricht und der Wechsel von der Regelklasse in eine besondere Klasse – stellt die Zuweisung der Primarschülerinnen und -schüler zu einem Schultyp oder Niveaufach der Sekundarstufe I den bedeutsamsten Selektionsentscheid dar.

103

Faktisch ist jeder „Schullaufbahnentscheid“ – wie Expertengespräche gezeigt haben – ein komplexer Prozess, bei dem verschiedene Akteure mitwirken: Lehrperson, Lehrerkonferenz, Schulkommission, Erziehungsberatung, Eltern und Schüler bzw. Schülerin (vgl. Kapitel 4.3.1).

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Abbildung 4: Übertrittsverfahren von der Primar- zur Sekundarstufe I Wann

Was

Wer

Information über das Übertrittsverfahren und die möglichen Bildungsgänge in der Sekundarstufe I

Lehrkräfte der abgebenden Schulen

1. Semester

Orientierungsarbeiten

Lehrkräfte der abgebenden und der aufnehmenden Schulen

Ende 1. Semester

Abgabe des Übertrittsberichts und des Übertritts- Klassenlehrkraft protokolls an die Eltern

5. Schuljahr 1. Semester 6. Schuljahr

Übertrittsgespräch

Klassenlehrkraft

vor Ende Februar

allfälliges Einigungsgespräch

Klassenlehrkraft und Schulkommission

bis Ende März

Übertrittsentscheid

Schulkommission

Quelle: Anhang 3 DVBS Das Übertrittsverfahren beginnt Anfang der 5. Klasse mit der Information der Eltern sowie der Schülerinnen und Schüler über das Verfahren und die möglichen Bildungsgänge auf der Sekundarstufe I.104 Im 1. Semester des 6. Schuljahres schliessen die standardisierten „Orientierungsarbeiten“ an, die eine klassenübergreifende Überprüfung des Beurteilungsmassstabes gewähren sollen, aber nicht in die Übertrittsentscheide einfliessen dürfen (vgl. ERZ 2003e). Am Ende des 1. Semesters des 6. Schuljahres verfasst die Klassenlehrkraft unter Einbezug der „übrigen an der Klasse unterrichtenden Lehrkräfte“ einen „Übertrittsbericht“, der „Auskunft gibt über die Sachkompetenz in den Fächern Deutsch, Französisch und Mathematik sowie über das Arbeits- und Lernverhalten im vergangenen Semester“ (Art. 31 Abs. 1; Art. 32 Abs. 2a DVBS). Aufgrund der im Übertrittsbericht festgehaltenen Beurteilung und der „Einschätzung der mutmasslichen Entwicklung“ des Kindes, schreibt die Klassenlehrkraft eine Zuweisungsempfehlung für das 7. Schuljahr, in der sie festhält, für welche Leistungsstufe (Real oder Sekundar) der „Niveaufächer“ Deutsch, Französisch und Mathematik sie das Kind empfiehlt und welchen Schultyp („Real“ oder 104

Das Verfahren für den Übertritt von der Primarstufe in die Sekundarstufe I wird in den Artikeln 25-39 der DVBS geregelt. Eine Übersicht über den Zeitplan und die Zuständigkeiten beim Übertrittsverfahren findet sich in Abbildung 4.

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„Sekundar“) das Kind ihrer Meinung nach besuchen solle (Art. 32 Abs. 1 DVBS): Wird eine Schülerin, ein Schüler in mehr als einem Fach auf Sekundarniveau eingestuft, wird sie/er für den Schultyp „Sekundar“ vorgeschlagen. Die Lehrkraft trägt ihre Zuweisungsempfehlung auf einem „Übertrittsprotokoll“ ein. Anschliessend reicht die Lehrkraft das Formular zuerst an die Schülerin, den Schüler, dann an die Erziehungsberechtigten weiter, die ihren Zuweisungswunsch ebenfalls festhalten. Danach findet zwischen der Klassenlehrkraft und eventuell weiteren Lehrkräften, der Schülerin oder dem Schüler und den Eltern ein „Übertrittsgespräch“ statt, an dem ein gemeinsamer Zuweisungsantrag formuliert wird (Art. 34 DVBS). Kommt im Übertrittsgespräch kein gemeinsamer Antrag zustande, wird ein „Einigungsgespräch“ angesetzt. Wird auch in diesem Gespräch kein Konsens erreicht, stellen die Lehrkraft und die Eltern separate Anträge, über welche die Schulkommission der abgebenden Primarschule endgültig entscheidet (Art. 35 Abs. 1-5 DVBS). Gegen diesen Entscheid der Schulkommission können die Eltern beim zuständigen Inspektorat Beschwerde einreichen. Das 1. Semester des 7. Schuljahres wird für Sekundarschülerinnen und -schüler als „Probesemester“ für das Sekundarniveau angesehen, erst danach erfolgt eine dauerhafte Zuweisung als Sekundarschülerin oder Sekundarschüler (Art. 37 Abs. 1 DVBS). In der Stadt Bern wurden im Jahr 2002 47% aller Schülerinnen und Schüler dem Real- und 53% dem Sekundarniveau zugeteilt, wobei diesbezüglich zwischen den verschiedenen Schulkreisen grosse Unterschiede bestehen. Während beispielsweise 78,1% aller Schülerinnen und Schüler des Schulkreises Kirchenfeld dem Sekundarniveau zugewiesen wurden, waren es in Bern-Bethlehem lediglich 29%. 4.3.3 Selektionsentscheide auf der Sekundarstufe I Mit Ausnahme des Entscheides zum Übertritt von der Primar- in die Sekundarstufe I haben Lehrpersonen der Sekundarstufe I dieselben Selektionsentscheide zu fällen wie Primarlehrpersonen. a.

Promotion, Wiederholung und Abstufung

Wird eine Sekundarschülerin, ein Sekundarschüler wegen zu vielen ungenügenden Noten nicht in das nächste Schuljahr versetzt, dann müssen entweder die

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vergangenen zwei Semester wiederholt werden105 oder es folgt eine Abstufung zur Realschülerin oder zum Realschüler (Art. 40 Abs. 1 DVBS). Eine Realschülerin oder ein Realschüler wird nicht versetzt, wenn sie/er in zwei aufeinander folgenden Semestern in der Hälfte der Fächer oder Teilgebiete eine Note schlechter als ‚4’ erhält. Sie/er muss dann die letzten beiden Semester wiederholen (Art. 41 DVBS).106 b.

Niveauwechsel

Ein Wechsel von einem Niveau zum anderen ist auf Beginn jedes Semesters möglich (Art. 6 „Verordnung Zusammenarbeitsformen“). Erhält eine Sekundarschülerin, ein Sekundarschüler in einem Niveaufach in zwei aufeinander folgenden Semestern im Beurteilungsbereicht eine Note schlechter als ‚4’ wird sie/er in diesem Fach abgestuft. Diese Schülerin, dieser Schüler besucht dann den Unterricht in diesem Fach auf Realniveau (Art. 43 Abs. 1 DVBS).107 Für die Aufstufung einer Realschülerin, eines Realschülers zur Sekundarschülerin, zum Sekundarschüler gibt es keine fixen Leistungskriterien. In der DVBS findet sich lediglich der Hinweis, dass die „begründete Annahme“ bestehen muss, dass die Schülerin, der Schüler den „erhöhten Anforderungen“ (Art. 42 DVBS) genügen wird. Im Hinblick auf einen möglichen Niveauwechsel vom Real- zum Sekundarschulniveau in den Niveaufächern kann zusätzlich ein „Förderunterricht“ angeboten werden. Niveau- und Schultypenwechsel: empirische Befunde aus der Stadt Bern Im Durchschnitt besuchten zwischen 1998/99 und 2004/05 je rund 39% aller Schülerinnen und Schüler in allen drei Niveaufächern das Sekundar- beziehungsweise das Realniveau. 22% waren in einem Fach dem jeweils anderen Niveau zugeteilt, besuchten also eine „Mischform“ (Stadt Bern 2000, A120; 2002, A134; 2004, 140). Die Zahlen der Schuljahre 1998/99 bis 2004/05 zu den Niveauwechseln in der Stadt Bern deuten auf eine eher geringe Durchlässigkeit hin. Durchschnittlich haben in diesem Zeitraum 3,14% aller Schülerinnen und Schüler in den Fächern 105

Eine Wiederholung des Schuljahres ist in der obligatorischen Schulzeit nur einmal möglich, das heisst man kann die Volksschule nur zehn Jahre lang besuchen. Ausgenommen davon ist der Besuch der Kleinklasse D, bei der das 1. Schuljahr auf zwei Jahre verteilt wird, die lediglich als eines gelten. 106 Gemäss der DVBS soll für die Realschule „eine grosszügige Promotionsbestimmung gelten, da es meist nicht sinnvoll ist, in diesem Schultyp gegen Ende der Schulzeit noch Wiederholungen des Schuljahres anzuordnen“ (Kommentar zu Art. 40 und 41 DVBS). 107 Im Modell 4 wird diese Schülerin, dieser Schüler nach den Leistungszielen des Realniveaus unterrichtet.

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Deutsch, Französisch oder Mathematik das Niveau gewechselt.108 Die meisten Wechsel erfolgten im 7. Schuljahr, während im 8. weniger und im 9. kaum noch Wechsel stattfanden.109 Am häufigsten wurde im Fach Mathematik gewechselt, im Fach Deutsch hingegen fanden die wenigsten Wechsel statt. Die Niveauwechsel der einzelnen Fächer erfolgten in beide Richtungen, das heisst vom Sekundar- zum Realniveau und umgekehrt. Anhand der Statistik lässt sich allerdings nicht eindeutig bestimmen, in welche Richtung mehr Wechsel erfolgten (Stadt Bern 2000, A120; 2002, A134; 2004, 139). Betrachtet man die Schultypenwechsel, die von den Schülerinnen und Schülern eines Jahrganges während der gesamten Schulzeit auf der Sekundarstufe I vollzogen wurden, so überwogen bei den Austrittsjahrgängen 1999, 2000, 2001 und 2005 die Wechsel vom Schultyp „Real“ in den Schultyp „Sekundar“, während es für die Austrittsjahrgänge 2002 und 2004 umgekehrt war. Beim Austrittsjahrgang 2003 hielten sich die beiden Wechsel die Waage (Stadt Bern 2005, 173). Ein Vergleich der Schulmodelle hinsichtlich ihrer Durchlässigkeit zeigt, dass im erhobenen Zeitraum in den Modellen 3b und 4 – mit wenigen Ausnahmen – mehr Wechsel in den Niveaufächern stattfanden als im Modell 3a. Schülerinnen und Schüler, die einem Niveau zugeteilt waren und ein Fach im jeweils anderen Niveau belegten, also eine Mischform besuchten, waren in den Schuljahren 1999/2000, 2000/01, 2001/02 und 2002/03 im Modell 4 und in den Schuljahren 1998/99, 2003/04 und 2004/05 im Modell 3b am häufigsten. Im Modell 3a waren sie generell am wenigsten häufig vertreten. Gesamtstufenwechsel kamen bei den Austrittsjahrgängen 1999, 2000 und 2001 im Modell 3a und beim Austrittsjahrgang 2002 im Modell 4 und bei den Austrittsjahrgängen 2003, 2004 und 2005 im Modell 3b am häufigsten vor (Stadt Bern 2000, A121; 2002, A135; 2003, A131; 2004, 140; 2005; 173). c.

Der Übergang von der Sekundarstufe I zu weiterführenden Schulen

Die Vorbereitung auf den Besuch einer weiterführenden Schule (Berufsmaturitätsschule, Fachmittelschule oder Maturitätsschule) kann durch die „Mittel108

Leider existieren keine schülerbezogenen Daten. Das heisst, es ist lediglich bekannt, wie viele Schülerinnen und Schüler das Niveau in jedem einzelnen Fach gewechselt haben; ob jemand in zwei Fächern gleichzeitig gewechselt hat, ist aus den Daten nicht ersichtlich. Das Schulamt der Stadt Bern publiziert in den Jahresberichten höhere Übertrittszahlen, denen jedoch unseres Erachtens unzulässige Berechnungen zugrunde liegen (vgl. Stadt Bern 2000, A121; 2002, A135; 2003, A131; 2004, 140; 2005; 173). 109 Im Schuljahr 2004/05 beispielsweise wechselten in den Fächern Deutsch, Französisch und Mathematik im Durchschnitt 5,96% aller Schülerinnen und Schüler der 7. Klasse das Niveau, während es bei den 9. Klassen nur 0,48% aller Schülerinnen und Schüler waren.

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schulvorbereitung“ (MSV) unterstützt werden. In der Stadt Bern erfolgt dies durch zusätzlichen Unterricht in den Niveaufächern und im Fach „Natur – Mensch – Mitwelt“ (NMM) im 8. und 9. Schuljahr (Art. 21 Abs. 1 SWR). Die Mittelschulvorbereitung ist vorgesehen als Erweiterung und Vertiefung des obligatorischen Unterrichts. Das Gymnasium Für den Besuch des gymnasialen Unterrichts im 9. Schuljahr stellt die Lehrerinnen- und Lehrerkonferenz im 8. Schuljahr einen Antrag an die Schulkommission der abgebenden Schule (Art. 4 MaSDV110). Grundlage für einen Antrag bildet die Beurteilung der Sachkompetenz und des Arbeits- und Lernverhaltens111 in den Fächern Deutsch, Französisch, Mathematik und NMM des obligatorischen Unterrichts (Art. 3 MaSDV). Die Schulkommission beschliesst über diesen Antrag und damit über die prüfungsfreie Zulassung zum gymnasialen Unterricht (Art. 4 und 5 Abs. 1 MaSDV). Beantragt die Lehrerschaft den Übertritt des Schülers oder der Schülerin in den gymnasialen Unterricht nicht, hat die betreffende Schülerin, der betreffende Schüler die Möglichkeit, an einer Maturitätsschule eine Prüfung zu absolvieren (Art. 5 Abs. 2 MaSDV). Das erste Semester des gymnasialen Unterrichts ist ein Probesemester (Art. 10 MaSDV). Auf Beginn des 10. Schuljahres erfolgt – bei Erfüllen der Promotionsbedingungen der prüfungsfreie Übertritt in die Maturitätsschule. Die Fachmittelschule Der Zugang zur Fachmittelschule (FMS) erfolgt nach dem abgeschlossenen 9. Sekundarschuljahr durch eine Empfehlung durch die Lehrperson und bei knappen Ausbildungsplätzen durch eine zusätzliche Prüfung (vgl. ERZ 2006a). Die Berufsmaturitätsschule Die Aufnahme in die BMS 1 (drei- bis vierjährig) erfolgt über den Besuch des gymnasialen Unterrichts im 9. Schuljahr, indem der Schüler, die Schülerin von der Sekundarlehrperson bezüglich Sachkompetenz sowie Arbeits- und Lernverhalten in den Fächern Deutsch, Französisch, Mathematik und Natur – Mensch – Mitwelt als geeignet beurteilt wird, oder durch eine Aufnahmeprüfung (vgl. ERZ 2006b). Voraussetzung ist der Abschluss eines Lehrvertrages. 110

Direktionsverordnung vom 3. Juli 1997 über den gymnasialen Unterricht im 9. Schuljahr und den Unterricht an Maturitätsschulen [Ingress Fassung vom 19. Juni 2003]. 111 Das Sozialverhalten, das in der Semesterbeurteilung auch beurteilt wird, ist für diesen Selektionsentscheid nicht relevant.

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Bedingung für die BMS 2 (ein bis zweijährig) ist eine mit einem eidgenössischen Fähigkeitszeugnis abgeschlossene Lehre und das Bestehen einer Aufnahmeprüfung oder eines Aufnahmegesprächs (vgl. ERZ 2006b). d.

Der Übergang in die Berufsausbildung und in die Erwerbsarbeit

Der Übergang zur Berufsausbildung nach der obligatorischen Schulzeit wird im Kanton Bern ab der 8. Klasse durch die „Berufswahlvorbereitung“ eingeleitet. Sie soll den Schülerinnen und Schülern „die Entscheidung über die weitere Ausbildung ermöglichen“ (LP 95, ZUS 10). „Die Berufswahlvorbereitung wird gemäss Konzept der Schule in den obligatorischen Unterricht integriert.“ (Ebd.) Mindestens teilweise findet der Unterricht unter den Themen „Zukunft“ und „Arbeitswelten“ im Fach NMM im 7.-9. Schuljahr – mit Schwerpunkt im 8. Schuljahr – statt (ebd. und LP 95, NMM 44; 53). Im 8. und 9. Schuljahr haben Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit, in der schulfreien Zeit in unterschiedlichen Betrieben und Institutionen eine „Schnupperlehre“ zu absolvieren. Im Rahmen des Faches NMM wird die Schnupperlehre vor- und nachbereitet (LP 95, ZUS 12). Die Jugendlichen werden bei ihrer Berufswahl zusätzlich durch die Berufs- und Laufbahnberatung unterstützt (LP 95, ZUS 11). Der Zugang zur Berufsschule im Anschluss an das 9. Schuljahr erfolgt ohne Prüfungen, er wird durch die Anstellung als Lehrling ermöglicht. Die Ansprüche für den Zugang zu einer Lehre sind unterschiedlich: „Für anspruchsvolle Berufslehren ist ein Sekundarschulabschluss oder ein Realschulabschluss mit einem zusätzlichen berufsvorbereitenden Schuljahr erforderlich.“ (ERZ 2003l, 3) Schülerinnen und Schüler, die sich für den Besuch des berufsvorbereitenden Schuljahres (BVS) interessieren, müssen sich bei der für die Gemeinde des Wohnortes zuständigen Berufsvorbereitungsschule mit einer Schülerselbstbeurteilung, einer aktuellen Lehrerbeurteilung und dem Zeugnis sowie dem Lernbericht des 8. Schuljahres bewerben. Die Schulleitung der aufnehmenden Schule prüft die Unterlagen und entscheidet dann „über die Aufnahme und die Zuteilung zu einem der drei Schwerpunkte“ (ERZ 2003h). 4.4 Die Aufgaben der Schule und der Lehrperson Die gesetzlichen Grundlagen zum Volksschulwesen und der Lehrplan des Kantons Bern enthalten vielfältige Aufgaben der Schule und der Lehrperson. In der Folge wird auf jene Aufgaben eingegangen, die für die Fragestellung der vorliegenden Studie besonders relevant sind. 96

4.4.1 Der Unterricht Die Ziele, Inhalte und Pensen für die einzelnen Schuljahre der Primarstufe und der Sekundarstufe I werden im Lehrplan für die Volksschule des Kantons Bern bestimmt (Art. 9; 12 VSG). Dabei wird zwischen obligatorischen Fächern, zusätzlichen Aufgaben, fächerübergreifenden Inhalten und fakultativen Fächern unterschieden (LP 95, AHB 7; Art. 2 VSV). Die ersten drei Elemente bilden zusammen den obligatorischen Unterricht (Art. 2 Abs. 3 VSV). a)

Der obligatorische Unterricht

Mit Ausnahme der Fremdsprachen werden an der Volksschule auf jeder Stufe im „obligatorischen Unterricht“ für alle Schülerinnen und Schüler die gleichen Fächer unterrichtet (LP 95, AHB 7f.).112 Der obligatorische Unterricht umfasst die Fächer NMM113, Deutsch, Französisch, Englisch, Italienisch, Mathematik, Gestalten, Musik, Sport (Art. 2 Abs. 1 VSV). Zum obligatorischen Unterricht werden ausserdem die „zusätzlichen Aufgaben“ gezählt. Sie umfassen vom 1. bis zum 9. Schuljahr Gesundheitsförderung, Sexualerziehung, interkulturelle Erziehung, Medienerziehung und Verkehrsunterricht; vom 7. bis zum 9. Schuljahr kommen die Informatik und die Berufswahlvorbereitung dazu (LP 95, ZUS 1). Der „fächerübergreifende Unterricht“ bezieht sich auf den Fächerkanon des obligatorischen Unterrichts. In ihm werden einzelne „Themen und Inhalte aus verschiedenen Perspektiven betrachtet und bearbeitet“, er zeichnet sich „durch projektartige Unterrichtsgestaltung mit vielfältigen Handlungsweisen aus“ (LP 95, AHB 7f.). b)

Der fakultative Unterricht

Durch die fakultativen Angebote, die grundsätzlich allen Schülerinnen und Schülern offen stehen (LP 95, AHB 8), soll eine Vertiefung und Erweiterung des obligatorischen Unterrichts ermöglicht werden (LP 95, AHB 7f.). Auf der Primarstufe können zusätzlich zum obligatorischem Unterricht Musik und Ges112

Englisch wird erst ab der Sekundarstufe I unterrichtet (Art. 2 Abs. 1b VSV). Im 7. Schuljahr ist es für alle Sekundarschülerinnen und -schüler obligatorisch. Ab dem 8. Schuljahr kann zwischen Italienisch und Englisch als Wahlpflichtfach gewählt werden. Die nicht gewählte Sprache kann zusätzlich als fakultative dritte Fremdsprache besucht werden. Realschülerinnen und -schüler können Englisch und Italienisch als fakultatives Fach besuchen, vorausgesetzt, es wird von der jeweiligen Schule angeboten (LP 95, FRE 3). 113 Als Inhalte, die das Fach im Wesentlichen umfasst, werden „Mensch, Gesellschaft, Religion, Ethik, Natur, Umwelt, Technik, Wirtschaft und Hauswirtschaft“ (Art. 2 Abs. 1a VSV) genannt.

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talten, auf der Sekundarstufe I individuelle Lernförderung, Mittelschulvorbereitung (nur in der Sekundarschule), Englisch, Italienisch, Latein (nur in der Sekundarschule) sowie „weitere Angebote der Schule“114 angeboten werden (Art. 3 VSV). c)

Der Lehrplan

Der seit 1995 gültige Lehrplan für die Volksschule des Kantons Bern ist dazu gedacht, das Volksschulgesetz für den Schulalltag zu konkretisieren (LP 95, Einführung 1). Er enthält neben den „Leitideen“ und den „Allgemeinen Hinweisen und Bestimmungen“ sieben „Fachlehrpläne“ (NMM, Deutsch, Fremdsprachen, Mathematik, Gestalten, Musik, Sport). Diese bilden die Grundlage für den „Unterrichtsstoff“. Zudem werden am Ende des Lehrplans „zusätzliche Aufgaben“ umschrieben, die zum obligatorischen Unterricht gehören und von den Lehrkräften realisiert werden müssen (LP 95, ZUS 1).115 Die im Lehrplan formulierten Richtziele, Grobziele und Inhalte der Realschule unterscheiden sich von denen der Sekundarschule ausschliesslich im Fach Mathematik und in den Fremdsprachen. In den übrigen Fachlehrplänen und den zusätzlichen Aufgaben findet sich keine Differenzierung. Die Ausgestaltung der Unterschiede bleibt also den Lehrkräften überlassen. Um einen einheitlichen Leistungsstand der Sekundarschülerinnen und -schüler für den Übergang in den gymnasialen Unterricht zu gewährleisten, hat die Erziehungsdirektion zusätzliche Lernziele definiert, sogenannte „Treffpunkte“ (vgl. ERZ 1996). Diese erläutern, welche Lerninhalte Schülerinnen und Schüler am Ende des 8. Schuljahres absolviert haben müssten. d)

Die Lehrmittel

Die Erziehungsdirektion des Kantons Bern veröffentlicht im „Amtlichen Schulblatt“ regelmässig ein Lehrmittelverzeichnis, in dem „die zu verwendenden und gestatteten Lehrmittel aufgeführt“ (LP 95, AHB 21f.) sind. Während die „zu verwendenden“ Lehrmittel verbindliche Grundlagen für den Unterricht bilden, können die „gestatteten“ verwendet oder den Schülerinnen und Schülern abgegeben werden (ebd.). Die Lehrkräfte haben zudem die Möglichkeit, „zur Errei114

Die ‚Angebote der Schulen’ umfassen z.B. musisch-gestalterische Angebote (Orchester, Chöre, etc.) sowie fächer- und schuljahrübergreifende Kurse und Projekte (Gartenbau, Fotografie, etc.) (LP 95, AHB 10). 115 Zu den „zusätzlichen Aufgaben“ gehören „Gesundheitsförderung“, „Sexualerziehung“, „interkulturelle Erziehung“, „Medienerziehung“, „Informatik“, „Berufswahlvorbereitung“ und „Verkehrsunterricht“.

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chung bestimmter Lehrplanziele“ (Art. 14a VSG) weitere Lehrmittel einzusetzen. 4.4.2 Förderung Eine Durchsicht der gesetzlichen Grundlagen des Kantons Bern zeigt, dass das ‚Fördern’ im VSG und in der VSV direkt kaum Erwähnung findet. In der DVBS taucht es an zwei Stellen im Zusammenhang mit der Beurteilung auf: diese soll unter anderem „förderorientiert“ sein (Art 3a DVBS). Sehr präsent ist das ‚Fördern’ hingegen im Lehrplan für die Volksschule des Kantons Bern 1995. Gemäss Volksschulgesetz soll die Schule die Familie bei der Erziehung der Kinder unterstützen. Ausgehend von der „christlich-abendländischen und demokratischen Überlieferung“ soll die Schule zur „harmonischen Entwicklung der Fähigkeiten der jungen Menschen“ beitragen. Sie soll in ihnen den „Willen zur Toleranz und zu verantwortungsbewusstem Handeln gegenüber Mitmenschen und Umwelt sowie das Verständnis für andere Sprachen und Kulturen“ wecken, deren „seelisch-geistige und körperliche“ Integrität schützen und ein Klima von „Achtung und Vertrauen“ schaffen. Den Schülerinnen und Schülern sollen Kenntnisse und Fertigkeiten vermittelt werden, „welche die Grundlage für die berufliche Ausbildung, für den Besuch weiterführender Schulen und für das lebenslange Lernen darstellen“ (Art. 2 VSG). Diese allgemeine Definition wird in den „Leitideen“ des Lehrplans der Volksschulen des Kantons Bern 1995 präzisiert. Gemäss den Leitideen besteht das primäre Ziel der Schule darin, die „Kinder und Jugendlichen auf deren Weg zur Mündigkeit“ zu unterstützen. Diese zeige sich in „Selbstkompetenz, Sozialkompetenz und Sachkompetenz“ (LP 95, Leitideen 1). a)

Selbstkompetenz

Gemäss den Leitideen zur Selbstkompetenz unterstützt die Schule „die Schülerinnen und Schüler auf dem Weg zu selbständigen Persönlichkeiten“ (LP 95, Leitideen 2). Daraus resultiert für die Lehrperson die Aufgabe, die Selbständigkeit ihrer Schülerinnen und Schüler zu fördern, wobei sich Selbständigkeit zum Beispiel in der Fähigkeit äussert, „ein eigenes Urteil zu bilden und allein oder gemeinsam mit anderen zu handeln“ (ebd.) und entscheidungsfähig zu sein. Solche Entwicklungen verlangen eine „Atmosphäre des Wohlwollens und der Geborgenheit“ (ebd.). Lehrpersonen haben zudem die Aufgabe, den Schülerinnen und Schülern den Aufbau persönlicher Werthaltungen und das Hinterfragen derselben zu ermöglichen, indem sie ihnen Werthaltungen vorleben und sie zur 99

Diskussion stellen. Schliesslich sollen Lehrerinnen und Lehrer in ihrem Unterricht zentral die (sprachliche und nicht-sprachliche) Ausdrucksfähigkeit des einzelnen Schülers, der einzelnen Schülerin fördern und deren Leistungsbereitschaft unterstützen. b)

Sozialkompetenz

In der Schule soll die Beziehungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler gefördert werden. Lehrerinnen und Lehrer haben den Auftrag, die Schule zu einem „sozialen Erfahrungsraum“ (LP 95, Leitideen 3) werden zu lassen, in dem Regeln des Zusammenlebens angewendet werden und der Umgang mit Konflikten geübt wird. „Die Schule fördert Haltungen, welche Diskriminierung – sei es aufgrund des Geschlechts, der sozialen Herkunft, der Religion oder der Rasse – ablehnen. Sie setzt sich für die Solidarität gegenüber Benachteiligten ein.“ (Ebd.) Durch das soziale Lernen im Rahmen der Schulklasse sollen unter Anleitung der Lehrkraft Friedfertigkeit, Toleranz, Rücksichtnahme, Achtung und Respekt, aber auch Geduld, Gewaltlosigkeit, Einfühlungsvermögen, Hilfsbereitschaft, Verstehensbereitschaft, Ehrlichkeit, Engagement, Mut und Solidarität eingeübt und erworben werden können. In diesem Sinne soll die Lehrerin oder der Lehrer die Fähigkeit jedes einzelnen Schülers zur Zusammenarbeit durch geeignete Unterrichts- und Arbeitsformen fördern (vgl. ebd.). Aufgabe der Lehrpersonen ist es zudem, die Schülerinnen und Schüler so weit zu bringen, dass sie fähig und bereit sind, „Aufgaben in Gemeinschaft und Gesellschaft zu übernehmen“ (ebd.). c)

Sachkompetenz

Im Unterricht der Volksschule soll den Schülerinnen und Schülern eine „grundlegende Allgemeinbildung“ (LP 95, Leitideen 4) vermittelt werden, die unter Berücksichtigung des „exemplarischen Prinzips“ eine Vertiefung und Gesamtschau anstrebt, die sowohl das Überlieferte als auch die gegenwärtig und zukünftig geforderten Kompetenzen berücksichtigt. „Allgemeinbildung umfasst elementare fachbezogene Kenntnisse sowie die Fähigkeiten, Entwicklungen und Zusammenhänge zu erkennen und Erfahrungen und Erkenntnisse auf neue Situationen zu übertragen“ (ebd.). Die Schülerinnen und Schüler sollen die Erfahrung machen, dass Lernen befriedigend und angenehm sein kann. In diesem Sinne sind Lehrerinnen und Lehrer dafür verantwortlich, dass die Schule es ermöglicht, „das Lernen zu lernen“ (ebd.) und damit auch „die lebenslange Lernbereitschaft und [...] die Offenheit Neuem gegenüber“ (ebd.) zu entwickeln. Der schulische Unterricht muss die individuellen Stärken und Begabungsrichtungen berücksichtigen. Lehrkräfte fördern ihre Schülerinnen und Schüler ge100

zielt; sie stärken durch gezielte Massnahmen sowohl diejenigen Schülerinnen und Schüler, die besondere Begabungen erkennen lassen, als auch jene, die nicht allen Anforderungen gewachsen sind. Neben den Bildungszielen wird im Lehrplan ausserdem auf die Notwendigkeit der Gleichstellung von Mädchen und Knaben und die Integration fremdsprachiger Kinder und Jugendlicher eingegangen (LP 95, AHB 24 und 28). Die Leitideen des Lehrplans lassen erahnen, wie anspruchsvoll es ist, den individuellen Klienten, also die Schülerin, den Schüler, zu fördern und dabei gleichzeitig dem kollektiven Klienten, der Schulklasse, gerecht zu werden. Die Aufgabe der „Inneren Differenzierung“ trägt dieser Spannung Rechnung und soll der Lehrperson ein Instrument bieten, um beide Aufgaben zufrieden stellend erfüllen zu können. „Durch innere Differenzierung soll vermieden werden, dass Schülerinnen und Schüler unter- oder überfordert werden. Grundlage für jede individuelle Förderung ist das Vertrauen in die Lern- und Entwicklungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler. Innere Differenzierung setzt bei den Lehrerinnen und Lehrern Sensibilität für die unterschiedlichen Leistungsmöglichkeiten und Lernwege der Schülerinnen und Schüler voraus. Die Lehrpersonen organisieren den Unterricht so, dass genügend Zeit bleibt für die individuelle Betreuung und für die Beobachtung der Lernprozesse. [...] Eine innere Differenzierung kann nach folgenden Aspekten erfolgen: Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler, Interessen der Schülerinnen und Schüler, Schwierigkeitsgrad der Arbeiten, Aufgabenmenge, methodischer Zugang und Art des Aneignens (unterschiedliche Lerntypen), Art der Hilfsmittel, Sozialform, Ausmass und Art der Beratung und Betreuung in Abhängigkeit vom Grad der Selbständigkeit, Art der Lernkontrollen, Übungsdauer und Anzahl Wiederholungen.“ (LP 95, AHB 20) Der Niveau- und Förderunterricht erleichtert die Aufgabe der inneren Differenzierung, denn die „Vorbereitung innerhalb der Sekundarstufe I auf weiterführende Schulen erfolgt in speziellen Klassen oder durch zusätzlichen Unterricht“ (Art. 46 Abs. 4 VSG). Die Lehrkraft an der Volksschule muss den Unterrichtsstoff der obligatorischen und fakultativen Fächer in vielfältiger Weise und mit Rücksicht auf alle Schülerinnen und Schüler einer Klasse als Lernmöglichkeit realisieren. 4.4.3 Beurteilung Die Schülerbeurteilung wird im Volksschulgesetz behandelt (Art. 25 Abs. 1 VSG), und auch im Lehrplan ist dazu ein kurzer Abschnitt zu lesen (LP 95, AHB 20). Mit der DVBS ist ihr eine eigene Verordnung gewidmet, in der die verschiedenen Aspekte dieser Aufgabe detailliert geregelt sind. Mit dem Inkraft101

treten der DVBS am 1. August 2003 wurde das Berner Beurteilungssystem für die Primar- und die Sekundarstufe I neu geregelt. Das neue Beurteilungssystem wurde in der öffentlichen Diskussion und von im Volksschulbereich tätigen Personen unter dem Namen „Schübe“ (Schülerbeurteilung) diskutiert. Nach einer breiten Kritik vor allem von Seiten der Lehrpersonen, wurde die neue Schülerbeurteilung – neu „Beurteilung 04“ genannt – auf den 1. August 2004 revidiert und die DVBS überarbeitet (vgl. Fussnote 78). In der Folge werden die wichtigsten Aspekte der Beurteilung vorgestellt. Diese galten, wenn nicht anders vermerkt, zu beiden Erhebungszeitpunkten. a)

Beurteilungsgrundsätze

Gemäss der DVBS erfolgt die Beurteilung -

„förderorientiert: sie berücksichtigt Fortschritte und Stärken und zeigt auf, wo Schwächen bestehen und wie diese abgebaut werden können, lernzielorientiert: sie orientiert sich an den gesetzten Lernzielen, umfassend: neben der Sachkompetenz werden auch Arbeits-, Lern- und Sozialverhalten beurteilt, transparent: durch differenzierte Rückmeldungen, auch während des Semesters, wird die Beurteilung nachvollziebar“ (Art. 3 DVBS).

Diese allgemeinen Grundsätze werden unter dem Begriff „FLUT-Prinzip“ diskutiert.116 Während im FLUT-Prinzip lediglich der förderbezogene, nicht aber der selektionsbezogene Aspekt des Beurteilens auftaucht, erscheinen im nächsten Artikel der DVBS beide Aspekte. Demnach soll die Beurteilung einerseits der Förderung des Lernens, der Information der Schülerinnen und Schüler und ihrer Eltern dienen („formative Beurteilung“) und andererseits die Grundlage für die weitere Schullaufbahn bilden („summative Beurteilung“) (Art. 4 Abs. 3).117 In dieser doppelten Bedeutung wird deutlich, dass Beurteilung sowohl förder-

116

FLUT steht für die Anfangsbuchstaben der vier Grundsätze. In der Anmerkung zu diesem Artikel steht: „Einerseits werden im Schulalltag lernprozessbegleitend Rückmeldungen gegeben, die das Lernen stützen und fördern und bei Bedarf korrigierend einwirken sollen (formative oder förderorientierte Beurteilung). Andererseits gibt es regelmässig Rückmeldungen, die den Lernstand zu einem bestimmten Zeitpunkt beschreiben im Sinne einer bilanzierenden (summativen) Beurteilung. Die Lernstandsbeschreibungen erfolgen nach Abschluss einer Lerneinheit und vor allem jeweils zu Semester- bzw. Schuljahresende (Beurteilungsbericht). Damit dient die Beurteilung als Informations- und Entscheidungsgrundlage für die weitere Schullaufbahn.“ (Kommentar zu Art. 4 DVBS)

117

102

orientiert, als auch selektionsorientiert erfolgen kann und deshalb zwischen den Aufgaben Fördern und Selektion steht.118 b)

Inhalt und Form der Beurteilung

Die Beurteilung soll die Sachkompetenz wie auch das Arbeits-, Lern- und Sozialverhalten umfassen (Art. 4 DVBS). Dabei wird die Sachkompetenz in Textform (DVBS 2002: „grundlegende Lernziele nicht erreicht“, „grundlegende Lernziele erreicht“, „erweiterte Lernziele erreicht“; DVBS 2004: „sehr gut“, „gut“, „genügend“, „ungenügend“) und ab dem 3. Schuljahr mit Noten von 1 bis 6 (DVBS 2002: „grundlegende Lernziele nie erreicht“ bis „erweiterte Lernziele mehrheitlich erreicht“; DVBS 2004: „sehr schwach“ bis „sehr gut“) beurteilt (Art. 6 DVBS). Gemäss dem FLUT-Prinzip und den allgemeinen Hinweisen und Bestimmungen des Lehrplans sollen Beurteilungen auf der Grundlage von Lernzielen erfolgen (Art. 3 DVBS; LP 95, AHB 20). c)

Die zu beurteilenden Fächer

Während auf der Primarstufe alle obligatorischen Fächer beurteilt werden, sind es auf der Sekundarstufe I des deutschsprachigen Kantonsteils folgende Fächer und Teilgebiete: Deutsch, Französisch, Mathematik, NMM – Natur, NMM – Kultur/Gesellschaft, NMM-übergreifende Themenfelder, selbständige Arbeit, bildnerisches Gestalten, technisches und/oder textiles Gestalten, Sport, Musik, jede weitere im Lehrplan ausgewiesene Fremdsprache (Art. 8 Abs. 1 und 2 DVBS). d)

Elemente der Beurteilung

Zur Beurteilung gehören im Berner Volksschulwesen der Beurteilungsbericht, Beurteilungen während des Semesters, die Selbstbeurteilung und das Elterngespräch: Der Beurteilungsbericht ist bei Entscheidungen über Promotionen, Übertritte und den Wechsel von Schultypen ausschlaggebend. In der Primarstufe wird er am Ende jedes Schuljahres, in der Sekundarstufe I am Ende jedes Semesters von der Klassenlehrkraft unter Einbezug der übrigen Lehrkräfte, die an der Klasse unterrichten, erstellt (Art. 19 Abs. 1 DVBS). Im Beurteilungsbericht wird der obligatorische und der fakultative Unterricht sowie das „Arbeits-, Lern- und 118

Der Artikel 4 findet sich identisch auch in der neuen DVBS von 2004. Allerdings wurde der Kommentar dazu gestrichen.

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Sozialverhalten“ (ALSV) beurteilt. Zu Letzterem gehören Elemente wie Lernmotivation, Konzentration, Aufmerksamkeit, Ausdauer oder Zusammenarbeit und Umgang mit anderen Schülerinnen und Schülern. Anschliessend wird ein Antrag zum Beschluss über den Beurteilungsbericht von der Lehrerinnen- und Lehrerkonferenz verfasst, über den die Schulkommission beschliesst (Art. 19 Abs. 3 DVBS). Der Beurteilungsbericht wird ergänzt durch Rückmeldungen während des Semesters, die in Notenform, in frei formulierbarer Textform oder einer Kombination von beidem erfolgen (Art. 7 DVBS). Sie sollen gemäss der revidierten DVBS prozessbegleitend gegeben werden, um den Lernerfolg zu verbessern, zum Zwecke einer Standortbestimmung bilanzierende Rückmeldungen geben und die Schülerin, den Schüler im Hinblick auf Übertrittsentscheide beurteilen (Art. 7 DVBS 2004). Die Selbstbeurteilung wurde mit der Einführung des Lehrplans 1995 gesetzlich festgeschrieben. Sie muss mindestens einmal im Semester erfolgen. Die Schülerinnen und Schüler sollen dabei ihre Sachkompetenz in den einzelnen Fächern und ihr Arbeits-, Lern- und Sozialverhalten beurteilen. Zeitpunkt und Form der Selbstbeurteilung ist von der jeweiligen Lehrkraft frei wählbar (Art. 10 DVBS). Auch das Elterngespräch erscheint in der DVBS als „Beurteilungsform“. Es findet jährlich statt und soll der Information der Eltern über die „schulische Entwicklung“ und das „Verhalten“ der Schülerin oder des Schülers dienen. Grundlage der Gespräche sind die „Beobachtung der Lehrkräfte“, die Arbeiten der Schülerin oder des Schülers, ihre/seine Selbstbeurteilungen und der Beurteilungsbericht. In der Regel findet das Gespräch unter Anwesenheit der Schülerin, des Schülers statt (Art. 17 DVBS).119 All diese Beurteilungsformen haben zusammen einen Einfluss auf Schullaufbahn- und somit auf Selektionsentscheide oder münden in solche. So werden aufgrund der Beurteilungen etwa Promotionen vorgenommen oder nicht vorgenommen, die Arbeit mit individuellen Lernzielen beschlossen, der Übertrittsent119 Die Lehrerschaft, die Eltern und die Schulkommission sind gemäss Gesetz „zur Zusammenarbeit verpflichtet“ (Art. 31 Abs. 2 VSG). Lehrerinnen und Lehrer müssen die Eltern „regelmässig und in angemessener Weise über die schulische Entwicklung und das Verhalten ihrer Kinder sowie über wichtige Geschehnisse und Vorhaben im Zusammenhang mit dem Unterricht und dem Schulbetrieb [...] informieren“ (Art. 31 Abs. 3 VSG). Eltern haben das Recht, von Lehrerinnen und Lehrern, Schulleitungen und Schulkommissionen informiert, angehört und beraten zu werden und „den Unterricht ihrer Kinder gelegentlich zu besuchen“ (Art. 31 Abs. 4 VSG). Die Informations- und Anhörungspflicht der Schule gegenüber den Eltern gilt insbesondere „während des Vorbereitungsverfahrens zu Übertritten und bei Übertrittsentscheiden innerhalb der Volksschule“ (Art. 31 Abs. 4 VSG).

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scheid von der Primar- in die Sekundarstufe I gefällt oder Niveauwechsel auf der Sekundarstufe I beantragt. 4.4.4 Diagnose und Prognose Aus den in den gesetzlichen Grundlagen und im Lehrplan formulierten Aufträgen lässt sich für Lehrerinnen und Lehrer die Aufgabe des Diagnostizierens ableiten. Lehrpersonen sollten ihre Schülerinnen und Schüler laufend beobachten und sich selbst, den Schülerinnen und Schülern, deren Eltern, allfälligen Fachpersonen sowie der Schulkommission Rückmeldungen bzw. Auskunft über den aktuellen ‚Zustand’ der Schülerin, des Schülers und deren oder dessen Lernerfolge geben können. Solche Diagnosen beziehen sich auf die drei Kompetenzbereiche Selbst-, Sozial- und Sachkompetenz. Die diagnostische Kompetenz kommt zum Zuge, wenn die Lehrkraft gegenüber der Schulkommission Anträge zur Promotion einer Schülerin oder eines Schülers, zum Übertritt von der Primar- in die Sekundarstufe I oder zu anderen Schullaufbahnentscheiden stellen muss. Die Aufgabe der Lernbegleitung, die den Lehrerinnen und Lehrern im Lehrplan zugeschrieben wird, ist für den Lehrberuf zentral und in der diagnostischen Kompetenz der Lehrperson verankert. Die Hypothese scheint plausibel, dass in diesem Bereich die Anforderungen an Lehrkräfte der Volksschule im Zunehmen begriffen sind: Lehrerinnen und Lehrer müssen heute ihre Schülerinnen und Schüler in ihrem Berufsalltag ständig beobachten und einschätzen und dabei sowohl besonders hohe Begabungen wie auch Schwächen, die einer besonderen Förderung bedürfen, identifizieren. Lehrpersonen müssen fördernde Rückmeldeformen anwenden und auf die Beobachtungen abgestützt Lernangebote und Sozialformen des Lernens an die Bedürfnisse jeder einzelnen Schülerin und jedes einzelnen Schülers anpassen. Lehrerinnen und Lehrer haben nicht nur die Aufgabe zu diagnostizieren, sie müssen auch Prognosen stellen. Diese Aufgabe kommt insbesondere bei wichtigen Schullaufbahnentscheiden (also Selektionsentscheiden) zum Tragen, so zum Beispiel -

beim Übertritt von der Primar- in die Sekundarstufe I: „Die Zuweisung der Schülerin oder des Schülers zu einem Schultyp der Sekundarstufe I erfolgt aufgrund der Einschätzung der mutmasslichen [Hervorhebung d. A.] Entwicklung der Schülerin oder des Schülers.“ (Art. 32 Abs. 1 DVBS);

-

beim Wiederholen des 7. Schuljahres im Schultyp Sekundar für Realschülerinnen und -schüler: „Realschülerinnen und Realschüler können das 7. 105

Schuljahr in der Sekundarschule wiederholen, wenn die begründete Annahme [Hervorhebung d. A.] besteht, dass sie den erhöhten Anforderungen zu genügen vermögen.“ (Art. 39 Abs. 1 DVBS); -

beim Wechsel in den nächsthöheren Schultyp: Ein solcher Wechsel ist möglich, „wenn die begründete Annahme [Hervorhebung d. A.] besteht, dass sie oder er den Anforderungen zu genügen vermag“ (Art. 42 DVBS);

-

beim Wechsel ins nächsthöhere Niveau eines Faches (Art. 43 Abs. 3 und Art. 50 Abs. 2 DVBS);

-

beim Entscheid, ob eine Schülerin, ein Schüler die Mittelschulvorbereitung besuchen darf (Art. 45 DVBS).

Interessant ist, dass der prognostischen Kompetenz – wie die Aufzählung oben zeigt – nur bei ‚positiven’ Selektionsentscheiden, also solchen nach ‚oben’, eine Bedeutung beigemessen wird. Selektionsentscheide nach unten hingegen müssen stets mit Noten abgesichert sein.120 Eine Ausnahme bildet der Übertritt von der Primar- in die Sekundarstufe I. Bei diesem Übertritt ist in jedem Fall die „Einschätzung der mutmasslichen [Hervorhebung d. A.] Entwicklung der Schülerin oder des Schülers“ (Art. 32 Abs. 1 DVBS) ausschlaggebend. 4.4.5 Selektion Selektion wird im VSG und in der VSV kaum erwähnt, dafür ist ihr mit der DVBS – betrachtet man Schullaufbahnentscheide als Selektionsentscheide – zusammen mit der Beurteilung eine ganze Verordnung gewidmet. Allerdings taucht Selektion in der DVBS nicht als Aufgabe auf, welche die Lehrperson erfüllen muss, denn Schullaufbahnentscheide werden gemäss DVBS von der Schulkommission getroffen (Art. 22 Abs. 2 DVBS). Im Lehrplan werden die Selektion oder Schullaufbahnentscheide in keinem Satz erwähnt. Die Beurteilung ist in einem Abschnitt thematisch, wobei jedoch fast ausschliesslich auf den förderbezogenen Aspekt des Beurteilens hingewiesen wird (LP 05 AHB 21). Würde man nur die gesetzlichen Regelungen betrachten, könnte man also meinen, dass Lehrpersonen der Volksschule im Kanton Bern keine Selektionsauf120

So erfolgt auf der Sekundarstufe I ein Niveauwechsel in einem Fach ins nächsthöhere Niveau, wenn „die begründete Annahme besteht, dass sie oder er [die Schülerin, der Schüler; Anm. d. A.] den Anforderungen zu genügen vermag“ (Art. 43 Abs. 3 DVBS). Ein Niveauwechsel ins nächsttiefere Niveau muss jedoch erfolgen, „wenn die Schülerin oder der Schüler in zwei aufeinander folgenden Semestern die grundlegenden Lernziele [...] mehrheitlich oder durchwegs nicht“ (Art. 43 Abs. 1 DVBS) erreicht, also eine Note unter 4 hat.

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gaben wahrnehmen. Expertinnen- und Expertengespräche sowie eine Rekonstruktion des Zustandekommens verschiedener Schullaufbahnentscheide haben jedoch gezeigt, dass Lehrpersonen sehr wohl selegieren. Einerseits hängt die Beurteilung mit der Selektion zusammen, insbesondere wenn es sich um „summative“ Beurteilung handelt. Denn Berichte oder Zeugnisse, die der Schülerbeurteilung dienen, bilden die „Grundlage für die weitere Schulung“ (Art. 25 Abs. 1 VSG) und demnach auch für Schullaufbahn- und Selektionsentscheide (Art. 4 Abs. 3 DVBS). So enthält der Beurteilungsbericht, den die Klassenlehrkraft „unter Einbezug der übrigen an der Klasse unterrichtenden Lehrkräfte“ verfasst, die Angaben, auf deren Basis Schullaufbahnentscheide gefällt werden (Art. 19 Abs. 1 und 2 DVBS). Der Beurteilungsbericht wird zwar auf Antrag der Lehrerinnen- und Lehrerkonferenz von der Schulkommission verabschiedet, die Beurteilungen selbst werden aber von den Lehrpersonen erstellt und der Bericht wird von der Lehrperson verfasst. Ähnlich verhält es sich mit Schullaufbahnentscheiden. Diese werden von der Schulkommission getroffen (Art. 22 Abs. 2 DVBS). Lehrpersonen nehmen hierbei aber eine indirekte Selektionsaufgabe wahr: Sie sind es, welche Schullaufbahnentscheide vorschlagen, bevor diese in der Lehrerinnen- und Lehrerkonferenz diskutiert und als Anträge in die Schulkommission getragen werden, wo über sie entschieden wird. Unsere Gespräche mit Lehrpersonen und Expertinnen und Experten lassen darauf schliessen, dass diese Anträge beim Fällen der Entscheide von erheblichem Gewicht sind. Die Verpflichtung, zuhanden der Schulkommission Anträge zu Schullaufbahnentscheiden zu stellen, ist demnach als Selektionsaufgabe zu verstehen. Bezüglich des Eintritts in eine Berufslehre haben Lehrkräfte der Sekundarstufe I – abgesehen vom Beurteilen und Erstellen des Beurteilungsberichts – keine selektionsrelevanten Pflichten. Die Klassenlehrkraft hat gemäss Lehrplan lediglich die Aufgabe, die Verantwortung für die schulische Berufswahlvorbereitung zu übernehmen, nicht aber Entscheide in diese Richtung zu fällen (LP 95, ZUS 10f.). Lehrpersonen haben mit der Berufsberatung zusammenzuarbeiten. Sie nehmen dabei eine beratende, keine selektierende Aufgabe wahr (Art. 15 VSG).121

121

In der DVBS – in der ja die meisten selektionsbezogenen Aufgaben erwähnt werden – wird die Berufswahl nicht erwähnt.

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5 Deutungsmuster von Lehrpersonen zum Dilemma von Fördern und Auslesen – eine Typologie Im Folgenden werden die fünf Deutungsmustertypen präsentiert. Die Darstellung der Analyseergebnisse erfolgt bei jedem Typ nach demselben Muster: Nach einer knappen Zusammenfassung der Hauptcharakteristika des Deutungsmustertyps wird ein vergleichsweise ‚reiner’ Fall desselben anhand der Analyse der Eingangssequenz des Interviews und unter Beizug weiterer Textpassagen porträtiert. Die Rekonstruktion der Eingangssequenz muss notwendigerweise in stark geraffter Form dargelegt werden, eine detaillierte Wiedergabe der extensiven Analyse würde den Rahmen der vorliegenden Publikation sprengen. Was die weiteren hinzugezogenen Interviewpassagen betrifft, wird auf die Darlegung der Feinanalyse fast gänzlich verzichtet. Das rekonstruierte Deutungsmuster wird anschliessend mit weiteren Fällen des jeweiligen Typs kontrastiert, bevor die für den Deutungsmustertyp konstitutiven Charakteristika sowie die für ihn typischen Binnenkontraste zusammenfassend wiedergegeben werden.122 Im Anschluss an den fünften Deutungsmustertyp wird auf die Spezifika der jünge-

122

Die sequenzanalytische Arbeit wurde mit den ‚originalen’ Transkriptionen vorgenommen. Für die Darstellung der Interviewpassagen in der vorliegenden Publikation wurden schweizerdeutsche Begriffe wann immer möglich ins Hochdeutsche übersetzt. Auch die Satzstellung wurde, wo sie die Lesbarkeit stark beeinträchtigte, dem Hochdeutschen angepasst. Es wurde darauf geachtet, dass bei diesen Anpassungen weder der manifeste Sinngehalt noch die latente Sinnstruktur des Gesagten verändert wurde. Diese darstellungsbedingten Anpassungen haben zur Folge, dass eine an der Frage der Reproduzierbarkeit interessierte Nachanalyse nur an den (archivierten) originalen Transkripten vorgenommen werden kann. Da das Imperfekt im Schweizerdeutschen nicht existiert, wurde die Perfektform in der Übersetzung beibehalten. Die Quellenangabe der Interviewzitate erfolgt mit der Nennung der Interviewnummer und der Seitenzahl des Transkripts (z.B. I 06, 15). Bei sinngemässem Zitieren wird der Interviewnummer ein „vgl.“ vorangestellt (z.B. vgl. I 06, 15). Erläuterung der in den Interviewzitaten verwendeten Zeichen: Einschübe in eckigen Klammern [ ] bezeichnen Einwürfe der einen Person in den Gesprächsfluss des Gegenübers. Passagen, in denen zwei Personen gleichzeitig sprechen, werden je zwischen eckige Klammern gesetzt. Punkte in runden Klammern (..) bezeichnen Pausen, wobei jeder Punkt für eine Sekunde steht. Kommas, die nicht den Kommaregeln entsprechen, stehen für kurze Absetzer. Fragezeichen in runden Klammern (???) markieren unverständliche Passagen, wobei jedes Fragezeichen für ein nicht verständliches Wort steht. (?)Wort(?) bzw. (?)Wort(Wert?) bezeichnen Wörter, bei denen aufgrund der schlechten Verständlichkeit des Tonbandes nicht vollständige Sicherheit besteht, dass wirklich dieses Wort gesagt wurde. Besonders betonte Wörter werden kursiv geschrieben. Die Kürzel I. und B. stehen für „Interviewerin“ bzw. „Interviewer“ und „Beisitzerin“ bzw. „Beisitzer“.

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ren Lehrpersonen hingewiesen, die bei den Analysen und der Typenbildung zutage traten. 5.1 Typ 1: Auslese der Besten Lehrpersonen, die dem Deutungsmustertyp 1 (‚Auslese der Besten’) zugeordnet werden können, haben vor allem die besonders starken Schülerinnen und Schüler – die ‚Elite’ – im Blick und identifizieren sich mit diesen. Die Elite und die übrigen Schülerinnen und Schüler unterscheiden sich in den Augen dieser Lehrpersonen fundamental hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit, ihres Arbeits- und Lernverhaltens sowie ihres Verhaltens generell. Die Differenz bezüglich der Leistungsfähigkeit führen die Lehrpersonen dieses Typs auf eine unterschiedliche Erziehung sowie auf unterschiedliche ‚Anlagen’ – etwa solche neurobiologischer oder genetischer Art – zurück. Selektion fungiert aus der Sicht dieser Lehrpersonen als Vorgang, bei dem die guten Schülerinnen und Schüler von den übrigen getrennt werden. Sie kommt dem Vollzug einer quasi-natürlichen Auslese gleich. Dank diesem Trennungsvorgang entstehen homogenere Schulklassen, was insbesondere den guten Schülerinnen und Schülern zugute kommt. Sind diese nämlich unter sich – so die Deutung –, werden sie von den Schwächeren nicht mehr gebremst. Selektion wird von den Lehrpersonen dieses Typs darüber hinaus als Vorgang betrachtet, der einem gesellschaftlichen Zweck dient. Erstens sorgt die Selektion in den Augen der Lehrpersonen dafür, dass verantwortungsvolle Positionen mit Personen besetzt werden, die über die erforderlichen Fähigkeiten verfügen; zweitens verhindert sie ein (weiteres) Absinken des allgemeinen Bildungsniveaus. Selektion ist in den Augen dieser Lehrpersonen also positiv konnotiert. Sie gilt auch als Aufgabe, die dank Intuition immer wieder gelingt. Vor dem Hintergrund dieser Argumente plädieren die Lehrpersonen für eine möglichst frühe und definitive Selektion. Die Negativselektion und deren Folgen für Schülerinnen und Schüler sind für Lehrpersonen des Typs ‚Auslese der Besten’ kaum thematisch. Doch auf einer latenten Ebene taucht sie sehr wohl als Schwierigkeit auf. Eine Entschärfung derselben ergibt sich für die Lehrpersonen dank der Art und Weise, in der sie das Mitteilen der Selektionsentscheide deuten und handhaben. Während die einen, moralisch argumentierend, die Wichtigkeit betonen, mit den Schülerinnen bzw. deren Eltern offen und ehrlich zu sein, bekräftigt ein anderer entdramatisierend, das Mitteilen solcher Entscheide gehöre zum Job. Eine weitere Lehrerin schafft sich einen Schonraum, indem sie das Überbringen der Botschaft möglichst lange hinauszögert. Von der Aufgabe der Negativselektion entlasten sich 109

die Lehrpersonen des Typs 1 aber auch durch die Überzeugung, wonach Selektionsentscheide nicht allein in ihrer Hand liegen: andere Akteure und Instanzen würden wesentlich mitentscheiden, so etwa das Kollegenteam oder die Berufsberatung, aber auch die Schülerinnen und Schüler selbst. 5.1.1 Fall Lisbeth Kramer Lisbeth Kramer wurde Anfang der 1950er Jahre geboren. Sie absolvierte das Studium am Sekundarlehramt. Seit dem Abschluss arbeitet sie als Sekundarlehrerin, seit einigen Jahren an einer Schule, in der nach dem Modell 4123 gearbeitet wird. 5.1.1.1

Analyse der Eingangssequenz

Das Interview mit Lisbeth Kramer beginnt mit folgender Eingangsfrage:124 Interviewerin: Ja, also, als wir angefangen haben, uns mit dem Lehrerberuf zu beschäftigen, auseinanderzusetzen, sind wir zur Auffassung gekommen oder auf die Auffassung gestossen auch, dass dieser Beruf durch eine Spannung gekennzeichnet ist. Und zwar auf der einen Seite hat die Lehrperson eben die Aufgabe, eh ihre Schülerinnen und Schüler zu fördern, und auf der anderen Seite muss sie zum Beispiel Schullaufbahnentscheide fällen, (.) ehm, (.) oder in die Wege leiten. Vielleicht nicht selber fällen, aber in die Wege leiten. Also die Lehrerinnen und Lehrer müssen zwei Aufgaben wahrnehmen, die die man miteinander in Widerspruch, die miteinander in Widerspruch stehen. Und diesen Widerspruch kann man auch als Spannung zwischen Fördern und Auslesen bezeichnen, haben Sie vielleicht auch auf dem [L.K.: Mhm] Abstract gelesen. Und mich interessiert jetzt, wie Sie mit dieser Spannung umgehen. (I 04, 1)

In der Eingangsfrage zeigt sich die Interviewerin als interessierte Forscherin, die zu einer Praktikerin spricht. Sie macht geltend, dass der Lehrberuf durch eine Spannung gekennzeichnet ist, und fragt danach, wie die Interviewee damit umgeht. Als die eine Seite der Spannung nennt die Forscherin die Aufgabe des 123

Vgl. Kapitel 4.2.2. Bei der Analyse des Interviews interessiert hauptsächlich das, was die befragte Person schildert. Dennoch verlangt das sequenzanalytische Vorgehen danach, die Eingangsfrage des Interviews mitzuanalysieren. Mit der Interpretation dieser Frage soll die Rahmung expliziert werden, vor deren Hintergrund die Antwort zu verstehen ist. Dabei interessiert insbesondere, welche Antwortmöglichkeiten der Interviewee überhaupt offen stehen (vgl. Wernet 2000, 62f.). Hier, im Kapitel zum Typ ‚Auslese der Besten’, werden die Ergebnisse der sequenzanalytischen Textinterpretation der Eingangsfrage zusammengefasst wiedergegeben (es handelt sich um die erste ungekürzte Variante der Eingangsfrage, vgl. Kapitel 3.3.1). In den Porträts, die in den Kapiteln zu den übrigen Typen zur Darstellung gelangen, wird im Zusammenhang mit der Eingangsfrage lediglich auf Abweichungen von der hier eingeführten Eingangsfrage hingewiesen. 124

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Förderns, als andere Seite die Pflicht, Schullaufbahnentscheide zu fällen oder solche in die Wege zu leiten. Dabei verwendet sie mit „Schullaufbahnentscheid“ jenen Begriff, der gemäss der „Direktionsverordnung über Beurteilung und Schullaufbahnentscheide in der Volksschule“ (DVBS) des Kantons Bern für alle ‚offiziellen’ Selektionsentscheide steht (vgl. 4.3.1). In den Schilderungen der Interviewerin werden die beiden Pole der Spannung zwischen Fördern und Auslesen ungleich dargestellt: Im Gegensatz zum Fördern wird das Selegieren durch den Gebrauch des Wortes ‚müssen’ problematisiert. Dass die Interviewerin zunächst sagt, die Annahme einer Spannung entspreche einer „Auffassung“, auf die das Forschungsteam gekommen sei, um gleich im Anschluss zu bemerken, es sei auf diese Auffassung „gestossen“, ist als Bestreben zu lesen, angesichts der eigenen Unsicherheit die selbst gewonnene These durch den Verweis auf Dritte zu untermauern, die dasselbe vertreten. Die Aussage, dieser Widerspruch könne auch als „Spannung zwischen Fördern und Auslesen“ bezeichnet werden, wie die Interviewee vielleicht im Abstract gelesen habe, wirkt belehrend. Aus dieser Frage ergeben sich für Lisbeth Kramer mehrere Antwortmöglichkeiten. Sie kann auf die behauptete Spannung eingehen und dieser These entweder widersprechen oder ihr beipflichten. Eine andere Möglichkeit besteht darin, dass sie direkt auf die Frage antwortet, wie sie mit dieser Spannung umgeht. Lisbeth Kramer wählt Ersteres: Lisbeth Kramer: Also ich schaue es nicht unbedingt als eh eine Spannung e- mit Wi- Widersprüchen an. (I 04, 1)

Die Lehrerin bezieht sich auf die unterstellte Spannung und stellt diese in Frage. Indem sie sagt, wie sie es „anschaue“, schildert sie ihre eigene Sichtweise, die derjenigen der Interviewerin widerspricht, lässt diese aber als mögliche andere Sichtweise so stehen. Mit dem „nicht unbedingt“ führt sie ihre Deutung vorsichtig ein. Ihre Aussage, sie sehe es nicht als „Spannung mit Widersprüchen“, ist erklärungsbedürftig, zumal die Interviewerin die beiden Begriffe „Spannung“ und „Widerspruch“ in der Eingangsfrage als Synonyme verwendet. Wörtlich genommen sagt die Lehrerin, sie betrachte „es“ als eine Spannung ohne Widersprüche. Sie pflichtet damit der Interviewerin bei (es ist eine Spannung), um ihr gleichzeitig zu widersprechen (ohne Widersprüche). Trifft diese Lesart zu, so ist zu erwarten, dass Frau Kramer in der Folge diese auf Anhieb nicht verständliche Aussage expliziert. Denkbar wäre aber auch – dies die zweite Lesart –, dass Lisbeth Kramer „es“ weder als Spannung noch als Widerspruch ansieht, ihre Antwort aber so formuliert, weil sie der Interviewerin widersprechen möchte, dies aber aus Höflichkeit nicht direkt tut. Die Lehrerin fährt fort:

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Lisbeth Kramer: Weil, wenn jemand wirklich in den Gymer (.) gehört, oder wirklich an die WMB125, (.) dann spüre ich das ja schon lange, kann ich schon lange dort ein bisschen vorspuren und sagen: „Du, mach das auch noch, und besuche noch die MSV-Kurse (.) unbedingt, die brauchst du.“ (I 04, 1)

Die Wenn-Dann-Konstruktion, mit der sie die Begründung ihrer Sichtweise einleitet, unterstellt eine Kausalbeziehung: wenn A, dann B, wobei die Bedingung A lautet: „wenn jemand wirklich in den Gymer (.) gehört“. Lisbeth Kramer teilt die Schülerinnen also auf in solche, die ins Gymnasium gehören, und solche, die nicht dorthin gehören. Sie erstellt eine Zweiteilung zwischen den Auserwählten, der ‚Elite’, und den Übrigen, den Nicht-Auserwählten. Wie das betonte „wirklich“ zeigt, gehören in den Augen Lisbeth Kramers lediglich die ‚sehr klaren Fälle’ ins Gymnasium. Ob jemand ins Gymnasium „gehört“ oder nicht, scheint für sie objektiv festzustehen und ist gewissermassen schicksalhaft vorbestimmt. Eine Änderung dieser ‚Vorbestimmung’ ist für die Interviewee ausgeschlossen. Die zukünftigen Gymnasiastinnen und Gymnasiasten bilden Frau Kramers Referenzkategorie. Dies zeigt sich zum einen darin, dass sie – im Unterschied zu den Nicht-Ausgewählten – positiv definiert sind. Zum anderen nennt Frau Kramer als Beispiel für einen Selektionsentscheid den Übertritt ins Gymnasium, was dafür spricht, dass dieser für sie den Selektionsentscheid schlechthin darstellt. Mit der „WMB“ weitet Lisbeth Kramer die Elitenkategorie aus.126 Wenn eine Schülerin „wirklich“ ins Gymnasium oder in die Wirtschaftsmittelschule gehört, dann „spüre“ sie das, sagt Frau Kramer. Mit ihrer Intuition nimmt die Lehrerin also das wahr, was in ihren Augen unabhängig vom Lehrerinnenhandeln gegeben ist. Sie sagt nicht etwa, „ich spüre, wohin jemand gehört“, sondern „ich spüre es, wenn jemand ins Gymnasium gehört“. Sie sieht sich als mit einer Art Sensor ausgestattet, der bei gewissen Schülerinnen und Schülern ausschlägt – nämlich bei jenen, die ins Gymnasium gehören. Ihre Fühler nehmen diese herausragenden Schülerinnen und Schüler wahr. Sie beziehen sich ausschliesslich auf die Elite. Ein Satz wie der folgende könnte nicht Frau Kramers Denken entstammen: „Ich spüre, wenn jemand in eine Bäckerlehre gehört.“ Ob jemand ins Gymnasium oder in die WMB gehört, spürt die Lehrerin zudem „ja schon lange“, bevor der Entscheid für den Übertritt ansteht. Wie das „ja“ zeigt, erachtet sie es als selbstverständlich und allgemein bekannt, dass eine

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„WMB“ steht für die ‚Wirtschaftsmittelschule Bern’. Die Wirtschaftsmittelschule Bern ist eine kantonale Handelsmittelschule (vgl. Kapitel 4.2 und 4.3.1). Gemeinsam ist dem Gymnasium und der WMB, dass es sich um Mittelschulen handelt, die zu einem Studium an einer Hochschule befähigen (Universität beziehungsweise Fachhochschule).

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Lehrperson „schon lange“ – also lange bevor der Entscheid anfällt – wahrnimmt, wessen Bestimmung es ist, zur Elite zu gehören. Wenn sie dies spürt, kann sie „schon lange dort ein bisschen vorspuren“. Die Bedeutung des „Vorspurens“ als Lehrerhandeln wird anhand des Bildes des Pistenfahrzeuges klar, das nachts durch die frisch verschneite Ebene fährt und die Langlaufloipe vorspurt: Die Lehrerin geht der Schülerin voraus, die ihrerseits weder das Ziel bestimmen noch den Weg suchen muss. Beides ist vorgegeben, sie hat lediglich der Spur zu folgen. Die Lehrerin weiss, was gut ist für die Schülerin, und sorgt dafür, dass diese das Ziel mit grosser Sicherheit erreicht, nicht von der Loipe abkommt und sich nicht verirrt. Frau Kramers Vorspuren beginnt, sobald sie spürt, dass eine Schülerin oder ein Schüler ins Gymnasium gehört, schon lange bevor der offizielle Entscheid gefällt werden muss. Ihr Beitrag muss nicht gross sein: „ein bisschen“, das heisst, ein bisschen vorspuren reicht. Zu den Schülerinnen, denen sie vorspurt, kann Frau Kramer sagen: „‚Du, mach das auch noch, und besuche noch die MSV-Kurse (.) unbedingt, die brauchst du.’“ Mit diesem Satz, in dem sie sich selbst zitiert, wendet sich Lisbeth Kramer mit einem Vertrautheit und Kollegialität suggerierenden „Du“ an die Schülerin und flüstert ihr beinahe verschwörerisch einen Geheimtipp zu. Sie scheint die Schülerin als Verbündete zu betrachten, mit der sie sich identifiziert, und empfiehlt ihr, neben dem, was sie sowieso schon tut, noch etwas Zusätzliches zu machen und einen Kurs zu besuchen. Diese Aufforderung gleicht einem ‚Anstoss-Geben’, das in einem gewissen Gegensatz zum ‚Vorspuren’ steht. Gemeinsam ist den beiden Bildern, dass Lisbeth Kramer nicht von der Schülerin, sondern vom unverrückbaren Zielort aus denkt, an den diese „gehört“ – die Mittelschule – und mit ihrem Lehrerinnenhandeln, dafür sorgt, dass das Ziel erreicht wird. Das „unbedingt“ unterstützt das Verschwörerisch-Identifikatorische des Ratschlags, während das „die brauchst du“ der Aussage wiederum den Anstrich eines taktisch-strategischen Karrieretipps verleiht. Frau Kramer beginnt ihre Argumentation mit den Gewinnerinnen der Selektion, was darauf hinweisen könnte, dass sie dem Dilemma, das bei negativer Selektion entstehen kann, ausweicht. In einem zweiten Wenn-Dann-Satz kommt sie auf die anderen zu sprechen: Lisbeth Kramer: Und wenn ich jemandem sagen kann: „Hör, ich, schaue das nicht als (.) sinnvoll an, im Moment, vielleicht in einem Jahr oder in zwei Jahren, ich sehe eher die Berufsmatur, eine Lehre“, dann ist das für mich nicht ein Widerspruch. Das muss ja zwischen uns so sein, dass wir offen sein können, dünkt mich. (I 04, 1)

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In diesem zweiten Selbstzitat wendet sie sich an Schülerinnen und Schüler jener Kategorie, bei denen sie nicht spürt, dass sie ins Gymnasium gehören, das heisst: an die Übrigbleibenden. Mit „Hör“ spricht sie die ihr zwar vertraute, jedoch hierarchisch unterlegene Schülerin an, um ihr etwas Ernstes mitzuteilen. Dieses „Hör“ hat nicht die Intensität des Geheimtipps und ist nicht verschwörerisch wie das „Du“ im Fall der Elite, eher kommt es einer Aufforderung gleich. Frau Kramer teilt der Schülerin mit, dass sie „das“ – also vermutlich das Gymnasium oder die WMB –„nicht als sinnvoll“ anschaut. Es fällt auf, dass sich Lisbeth Kramer in Bezug auf diese Schülerinnen und Schüler mithilfe einer Negation ausdrückt: Sie sagt nicht, was sie für diese als sinnvoll betrachtet, sondern was sie „nicht als sinnvoll“ anschaut. Gleichzeitig scheut sie sich aber auch davor, die schwierige Nachricht direkt zu benennen, indem sie etwa sagen würde: „Ich schaue das als sinnlos an.“ Lisbeth Kramer geht also nicht davon aus, dass es unterschiedliche Ausbildungen gibt, wovon die eine für die eine Schülerin und die andere für die andere Schülerin sinnvoll ist. Sie denkt vielmehr vom Gymnasium aus. Dieses ist für die einen Schülerinnen und Schüler sinnvoll und für die anderen nicht. So entsteht durch Ausschluss eine NichtKategorie: die undefinierten ‚Übrigen’. In Frau Kramers Aussage, sie schaue das „im Moment“ „nicht als sinnvoll an, vielleicht in einem Jahr oder in zwei Jahren“, schwingt ein relativierendes, Hoffnung weckendes Moment mit. Das bisher Rekonstruierte, wonach quasi schicksalhaft vorbestimmt ist, ob eine Schülerin zur Elite gehört oder nicht, legt die Vermutung nahe, dass dieses Der-Schülerin-Hoffnung-Machen für einen späteren Gymnasiumsbesuch, hauptsächlich dazu dient, die Mitteilung des Negativentscheids für die Schülerin weniger schmerzlich erscheinen zu lassen. Frau Kramer selbst dürfte nicht wirklich an diese Möglichkeit glauben. Sie hält diese Hoffnung denn auch nicht lange aufrecht, fährt sie doch fort: „Ich sehe eher die Berufsmatur, eine Lehre“, und lenkt damit die Schülerin sanft in die andere Bahn. Die Grenze zwischen den beiden von Frau Kramer konstruierten Schülerkategorien verläuft zwischen dem Gymnasium und der Wirtschaftsmittelschule auf der einen Seite und der Berufslehre mit einer eventuellen Berufsmatur auf der anderen Seite. Dass Lisbeth Kramer bei der Kategorie der Nicht-Elite als erstes Beispiel die Berufsmatur anführt, spricht dafür, dass sie die Matura als das anstrebenswerte Ziel schlechthin anschaut. Sie vertröstet die Schülerin, den Schüler: Wenn du eine Lehre absolvierst, kannst du eine Berufsmatur machen und kommst damit in die Nähe der Elite. Es fällt zudem auf, dass sich Lisbeth Kramer nun, wo es um die Kategorie der Nicht-Ausgelesenen geht, sehr vage ausdrückt: Während sie bei den Auserwählten meinte: „mach das“, „unbedingt“, 114

„das brauchst du“, argumentiert sie nun mit: „ich schaue es an als“, „vielleicht“ und „eher“. In Bezug auf die Auserwählten geht sie davon aus, durch ein richtungsweisendes ‚Vorspuren’ und das Geben von Handlungsanleitungen aktiv zur Erfüllung von deren ‚Vorbestimmung’ beitragen zu können, bei den NichtAusgewählten fehlt Vergleichbares. Und während sich das Verhältnis zu den Schülerinnen und Schülern der ersten Kategorie durch Nähe, Identifikation, kommunikative Klarheit und die Überzeugung, handeln zu können, auszeichnet, ist jenes zu den Schülerinnen und Schülern der zweiten Kategorie durch Distanz und vage Kommunikation ohne Lehrerhandeln gekennzeichnet. Diese Kategorie ist eine Residualkategorie, zu der die Lehrerin weniger klare Vorstellungen hat als zu jener der Ausgelesenen. Wenn sie der Schülerin, dem Schüler sagen kann, dass sie den Besuch einer Mittelschule nicht als sinnvoll anschaue, sondern eher eine Lehre und die Berufsmatur sehe, dann sei „das“ für sie „nicht ein Widerspruch“, betont Frau Kramer. Sie sieht also deswegen keinen Widerspruch, weil sie der Schülerin das Unangenehme mitteilen kann und es nicht verheimlichen muss. Sie fügt an: „Das muss ja zwischen uns so sein, dass wir offen sein können, dünkt mich.“ Die Schülerin und die Lehrperson müssen in ihren Augen zueinander offen sein können; ist dies gewährleistet, besteht kein Widerspruch. Argumentativ entschärft Lisbeth Kramer das Dilemma zwischen Fördern und Auslesen in doppelter Weise: Wie die Verwendung von „uns“ und „wir“ zeigt, macht sie den Moment, in dem sie der Schülerin sagen muss, dass diese nicht zu den Auserwählten gehört – ihr also pädagogisch sinnlosen Schmerz zufügen muss –, für sich erträglich, indem sie ihn als einen schildert, in dem zwei Vertraute auf einer diffusen Ebene interagieren. Sie bezieht sich also auf eine Art zwischenmenschlichen Umgangs, bei dem sinnloses Schmerzzufügen typischerweise nicht vorkommt. Dabei macht sie eine Situation der Asymmetrie, in der eine Person der anderen eine unangenehme Mitteilung überbringen muss, zu einer, in der die beiden Personen gleichberechtigte Interaktionspartnerinnen und -partner sind. Zweitens rekurriert sie in dieser Situation auf einen moralischen Wert. Dieser Wert – die Offenheit im Sinne eines Nicht-Verheimlichens – ist ebenfalls der Struktur einer diffusen Beziehung entlehnt.127 Lisbeth Kramer wechselt in diesem Argument von der Sachebene auf die Ebene der Kommunikation – das Problem ist keines mehr, wenn sie der Schülerin den Entscheid mitteilen kann. 127

Rollenbeziehungen zeichnen sich – in professionalisierungstheoretischer Perspektive – gerade dadurch aus, dass die Rollenträger eben nicht bedingungslos offen zueinander sein müssen, denn „Diffusität und Rollenförmigkeit schliessen sich strukturell gegenseitig aus“ (Oevermann 1996b, 110).

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Vor dem Hintergrund des Gesagten lässt sich eine vorläufige Fallstrukturhypothese formulieren: Lisbeth Kramer unterteilt die Schülerinnen und Schüler in ihrer Deutung in eine Elite und eine Nicht-Elite, wobei sie sich mit der Elite identifiziert. Sie stellt sich als Lehrperson dar, die spürt, welche Schülerin, welcher Schüler dorthin gehört, und verfolgt mit ihrem Handeln das Ziel, diese Vorbestimmung zur Erfüllung zu bringen. Während hinsichtlich der Elite eine aktive Praxis in Form des Gebens von Tipps vorkommt, ist bezüglich der NichtElite nichts dergleichen auszumachen. Mit Blick auf den Moment des Schmerzzufügens angesichts von Negativselektion deutet sie das asymmetrische Verhältnis zwischen sich und den Schülerinnen als ein kollegiales, ja partnerschaftlich-diffuses. Gleichzeitig rekurriert sie auf den moralischen Wert der kommunikativen Offenheit, die den Schmerz in ihren Augen für die Schülerin weniger schmerzlich werden lässt. 5.1.1.2

Erweiterung der Analyse

In der Folge gilt es, die vorläufige Fallstrukturhypothese anhand weiterer Passagen zu verdichten und zu präzisieren. Die Elite und die Übrigen Die gedankliche Zweiteilung der Schülerinnen und Schüler in eine Elite und eine Nicht-Elite, die sich bereits in der Eingangssequenz gezeigt hat, wiederholt sich im weiteren Verlauf des Interviews. Nicht nur nimmt Lisbeth Kramer eine kategoriale Unterscheidung vor zwischen den Schülerinnen und Schülern, die dereinst das Gymnasium besuchen werden, und jenen, die eine Berufslehre absolvieren werden – sie sieht auch eine essentielle Differenz zwischen Sekundar- und Realschülerinnen und -schülern. Es stellt sich heraus, dass die Trennlinie zwischen den sehr guten, ‚echten’ Sekundarschülerinnen und künftigen Mittelschülerinnen einerseits und allen übrigen Schülerinnen andererseits verläuft. Sekundarschülerinnen, die nicht brillieren, werden diesen Übriggebliebenen zugeschlagen. Lisbeth Kramer stellt die beiden Schülerinnen- und Schülerkategorien im Interview in typisierender Weise als sehr gegensätzlich dar: Lisbeth Kramer: Also die echten Sekschüler, die also ein Arbeitsverhalten haben, wo man eine gewisse Konsequenz (.) e- und die am Anfang gerade allem wollen auf auf den Grund gehen, nicht erst vor der Probe. Die schaffen anders als ein Realschüler, der für die Note lernt, eh, als ein Sekschüler, der sonst Realschüler ist, der für die Note lernt, stolz ist, dass er im Franz in der Sek ist, aber immer gerade vor der Probe noch die Wörtchen noch schnell muss lernen. Und das reicht halt dann meistens zeitlich nicht mehr. (I 04, 16)

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Für die „echten“ Sekundarschülerinnen und -schüler ist in ihren Augen konstitutiv, dass sie einer Sache von Anfang an intrinsisch motiviert auf den Grund gehen wollen, wohingegen Realschülerinnen und -schüler, die lediglich in einem Fach das Sekundarniveau besuchen, nur „für die Note“ lernen und also – wenn überhaupt – extrinsisch motiviert sind. Sie beginnen erst im letzten Moment vor einer Probe zu lernen, weshalb – so Frau Kramer – das Lernen meist auch nicht zum Erfolg führt. Während Lisbeth Kramer die einen Schülerinnen und Schüler im Interview in ein ausgesprochen positives Licht stellt, unterstreicht sie bei den anderen die Defizite. Letzteren mangle es an „intellektueller Neugier“ (I 04, 3), am „Grundinteresse“ (I 04, 3), an „Wissen“ (I 04, 4), an der „Basis“ (I 04, 3), an „Niveau“ (I 04, 3), „Reife“ (I 04, 34) und an „Zuverlässigkeit“ (I 04, 15). Immer wieder erzählt sie von Schülerinnen und Schülern, welche die Schule schwänzen und Krankheiten simulieren, von solchen, die Drogen konsumieren, von Eltern, die ihre Erziehungspflichten grob vernachlässigen, und von erfolglosen Interventionen bei der Erziehungsberatung und beim Jugendamt. Für eine klare und definitive Selektion Zu welcher Gruppe eine Schülerin gehört – zur Elite oder zur Nicht-Elite –, steht gemäss Frau Kramer unabhängig vom Dazutun der Lehrerin fest. Sie meint – wie bereits in der Eingangssequenz deutlich wurde –, lediglich spüren zu müssen, zu welcher Kategorie eine Schülerin oder ein Schüler gehört, wobei sie sich in diesem auf Intuition und Gefühlsgewissheit basierenden Urteil – so wird im Interview deutlich – dank ihrer Erfahrung, die sie sich über Jahre angeeignet hat, als unfehlbar einschätzt. Eine Trennung der besonders guten Schülerinnen und Schüler von den Übrigen qua Selektion erachtet Lisbeth Kramer aus zwei Gründen als notwendig. Erstens werden – so ihre Überzeugung – die künftigen Gymnasiastinnen in gemischten Klassen zu wenig „gefordert“: Lisbeth Kramer: Ich habe eine, die jetzt dann in den Gymer geht und in den Gymer gehört, wirklich auch, die muss jetzt dann. Die wird gefor- gefordert, wir probieren ihr mehr Futter hinzugeben, aber eh das ist gut, wenn die jetzt mit ihresgleichen dann zusammenkommt. (I 04, 26)

Eine optimale Förderung der besonders guten Schülerinnen und Schüler sei nur möglich, wenn diese mit „ihresgleichen“ zusammenkommen, betont Frau Kramer – eine Wortwahl, die darauf schliessen lässt, dass sie Gymnasiastinnen und Gymnasiasten nicht primär als besonders leistungsfähige Personen betrachtet, sondern als Menschen besonderer Art. Zweitens erachtet sie eine Aufteilung der 117

Schülerinnen und Schüler aus methodisch-didaktischen Gründen als sinnvoll und notwendig. Sie schildert im Interview auf eine entsprechende Frage, dass sie ganz gerne eine „reine“ (I 04, 29) Sekundarklasse unterrichten würde, und meint: Lisbeth Kramer: Das wäre natürlich auch toll, aber es wäre einfach etwas anderes. Ich würde einen anderen Anspruch an mich dann haben. [I.: Mhm] Jetzt muss ich sagen, wenn ich ja zwischen Sek und Real hin- und hergehe im Franz, dass didaktisch ist die Stunde natürlich und methodisch [I.: Mhm] nie perfekt aufgebaut. (I 04, 29)

Lisbeth Kramer geht davon aus, dass es nur in der Arbeit mit einer „reinen“, also leistungshomogenen Klasse möglich ist, Lektionen methodisch und didaktisch perfekt aufzubauen. In ihrer Situation – als Lehrerin einer gemischten Klasse – sieht sie sich quasi von vorneherein veranlasst, von diesem Ziel abzusehen. Implizit argumentiert sie damit gegen das Modell 4, in dem sie unterrichtet, denn für dieses Modell ist konstitutiv, dass die Klassen gemischt sind. An einer Stelle im Interview äussert sich Frau Kramer gar explizit gegen das Modell 4. Es zeigt sich, dass es – anders als bei anderen Lehrpersonen unseres Samples – kein aktiver Entscheid ihrerseits war, in diesem Modell zu arbeiten. Sie ist unfreiwillig dort gelandet: Lisbeth Kramer: Nein ich bin immer in diesem Schulkreis gewesen und habe in dieses Schulhaus arbeiten gehen müssen, weil zwei von uns haben müssen hinüber arbeiten gehen und nur Frauen dem ewigen Druck von der Schulkommission, wir müssten uns jetzt melden, nicht wider- ha-, nicht können widerstehen. Ich wäre grundsätzlich wäre ich eigentlich gerne wieder in einer reinen Sek. (I 04, 24f.)

Sie sagt, sie habe dem Druck seitens der Schulkommission nicht widerstehen können und würde – wie sie nun eingesteht – gerne wieder in einer „reinen“ Sekundarklasse unterrichten.128 Der Durchlässigkeit, die in der politischen Diskussion stets als Vorteil dieses Schulmodells gepriesen wird, kann Frau Kramer nichts abgewinnen. Entsprechend ihrer Vorstellung, wonach quasi schicksalhaft vorbestimmt ist, welcher Gruppe eine Schülerin angehört – der Elite oder der Nicht-Elite –, kann der Aufstieg einer Schülerin vom Real- ins Sekundarniveau auch kaum vorkommen. 128

Gemäss dem subjektiv gemeinten Sinn möchte Frau Kramer sagen, dass sie sich dem Druck nicht „widersetzen“ und ihm nicht „standhalten“ konnte. Indem sie jedoch den Begriff „widerstehen“ verwendet, verleiht sie dem Angebot der Schulkommission die Bedeutung einer Versuchung, der sie nicht „widerstehen“ konnte. Die Arbeit in dieser Schule wäre demnach für sie (auch) mit Lust verbunden gewesen. Worin die Lust für sie bestand, kann an dieser Stelle lediglich vermutet werden. Denkbar wäre, dass sie darin gründete, der Auserwähltheit durch die Schulkommission Folge zu leisten.

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Die Schülerinnen und Schüler „versuchen“ den Aufstieg zwar „immer wieder“ (I 04, 13), allerdings meist vergeblich. In den selektionsrelevanten Fächern können sie noch so gute Leistungen erbringen, sie haben – so die Überzeugung Frau Kramers – stets einen Mangel, der den Aufstieg verunmöglicht. Da in den Augen von Frau Kramer dieser Mangel – wie im nächsten Kapitel gezeigt wird – in der familiären Sozialisation begründet liegt, kann er ihr zufolge auch durch die Lehrperson und durch schulischen Unterricht nicht behoben werden. Das Erziehungsverhalten der Eltern als Determinante für Schulerfolg Ob eine Schülerin zur Elite gehört oder nicht, steht für Lisbeth Kramer – wie die Eingangssequenz gezeigt hat – unabhängig der Einflussmöglichkeiten der Schule und des Lehrerinnenhandelns fest. Danach befragt, woran es liege, dass gewisse Kinder mehr Schulerfolg haben als andere, sagt sie: Lisbeth Kramer: Nicht an den intellektuellen Fähigkeiten, sondern was da schon im kleinen Alter entstanden ist, ob sie vor dem Fernseher gesessen sind mit sechs oder ob sie gebastelt haben. Ob sie die Natur beobachtet haben, vielleicht ein Pflänzchen im Zimmer, das sie wachsen sehen (.) [I.: Mhm] das denke das ist schon, die Chancengleichheit ist sicher einfach nicht gegeben, wenn die Eltern selber Analphabeten sind, selber nichts nicht wissen, was Schule bedeutet, die haben das viel schwerer. (I 04, 4)

Ausschlaggebend sei das, was im „kleinen Alter“ entstanden sei. Zu basteln, die Natur zu beobachten und ein „Pflänzchen“ im Zimmer wachsen zu sehen, führt mit grosser Sicherheit zu Schulerfolg, „vor dem Fernseher sitzen“ verhindert diesen.129 Im Verlaufe des Interviews wird immer deutlicher, dass Lisbeth Kramer vor allem das konkrete Erziehungsverhalten der Eltern für den Schulerfolg eines Kindes verantwortlich macht. Wenn eine Schülerin in der Schule Probleme hat, so liegt es in den Augen Lisbeth Kramers daran, dass „daheim die klaren Strukturen fehlen“, eine alleinerziehende Mutter „nicht imstande“ ist, den schwänzenden Schüler dazu zu bringen, die Schule zu besuchen, die Eltern das Kind zu wenig wertschätzen oder sich schlichtweg um den Schulerfolg des Kindes „foutieren“ (I 04, 5). Hat eine Schülerin Erfolg, so liegt dies in ihren Augen ebenfalls am Engagement der Eltern: „Wenn man die Eltern kennt, ist ganz klar, da wird auch geschaut.“ (I 04, 9) 129

Dieses Zitat zeigt erneut, dass Lisbeth Kramer zur Erklärung der Situation von Schülerinnen und Schülern der Nicht-Elite und deren Eltern ein verallgemeinerndes Katastrophenszenario bemüht: Nicht nur die Schülerinnen sind Analphabeten, sondern die Eltern „selber“ auch. Diese wissen nicht, was Schule bedeutet, haben also wahrscheinlich nie eine Schule besucht.

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Dem mangelhaften Erziehungsverhalten der Eltern glaubt Frau Kramer als Lehrerin nichts entgegensetzen zu können: Mit Schülerinnen, die von den Eltern vernachlässigt oder zu wenig gefördert werden, leidet sie mit: Lisbeth Kramer: Es ist ganz gibt ganz traurige Schicksale, wo ich jeweils denke, ich würde sie am liebsten, wenn ich eine grosse Wohnung hätte, zu mir heimnehmen, (lächeln) jemand, der Strukturen setzt. (I 04, 8)

Am liebsten – sagt sie – würde sie die Kinder zu sich nach Hause nehmen. Die einzige Möglichkeit, etwas für das Kind zu tun, sieht sie also darin, die Rolle der Mutter zu übernehmen. Als Pädagogin aber glaubt sie keinen Beitrag zur Veränderung der Situation leisten zu können. Mangelndes Interesse von Seiten der Eltern ist in den Augen Lisbeth Kramers in besonders starkem Masse bei Eltern ausländischer Herkunft zu beobachten: Lisbeth Kramer: In unserem Quartier sind es extrem eben die Ausländerkinder, wo, (.) wo die Eltern eben auch nicht e-, eh, interessiert sind, an der Natur an an der Geographie. (I 04, 3)

Die Eltern ausländischer Kinder seien nicht interessiert an der Natur und an der Geographie, was sich negativ auf die Schulleistung der Kinder auswirke. Interessanterweise nennt Frau Kramer hier mit der Natur und der Geographie zwei Bereiche, die zum Fach NMM130 gehören, das kein Selektionsfach ist. Im Interview zeigt sich, dass gemäss Frau Kramer im speziellen „Ausländerkinder“ (I 04, 28) zur Kategorie der Nicht-Elite gehören. Ihnen fehlen, wie sie sagt, die „Allgemeinbildung“, um „im Gymer zu bestehen“, das „Grundinteresse“ und die „intellektuelle Neugier“, sie „können nicht verknüpfen“ (I 04, 3). Auch hier nennt sie keine spezifischen Fähigkeiten oder ein spezifisches Wissen, an dem es diesen Schülerinnen und Schülern mangle, sondern relativ diffuse, teilweise gar habituelle Eigenschaften, wie das Interesse an der Umwelt und die Neugier. Entschärfen des Problems der Negativselektion In der Eingangssequenz beginnt Lisbeth Kramer ihre Argumentation mit einem Beispiel der Positivselektion. Auch im weiteren Verlauf des Interviews redet sie, wenn sie Selektion thematisiert, in erster Linie von der Auslese der guten Schülerinnen und Schüler fürs Gymnasium. Dies spricht für die Annahme, dass sich die Negativselektion ausserhalb ihres Relevanzsystems befindet. Die Analyse der Eingangssequenz zeigte, dass Lisbeth Kramer mit der Schwierigkeit der Negativselektion einen Umgang zu finden versucht, indem sie die 130

NMM steht für ‚Natur – Mensch – Mitwelt’.

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Lehrerinnen-Schülerinnen-Beziehung als diffuse definiert und den Wert der Offenheit heranzieht. Die weitere Analyse des Interviews macht deutlich, dass sie das Selegieren zudem deutend auf verschiedene andere ‚Akteure’ verteilt, was sie entlastet: Sie schreibt Noten eine objektive Gültigkeit zu, stellt diese als Quasi-Akteure dar und entpersonalisiert damit das Selegieren. Danach gefragt, wer denn entscheide, ob eine Realschülerin beispielsweise im Französisch den Sekundarunterricht besuchen dürfe, antwortet sie: „Das ist eigentlich die Note.“ (I 04, 15) Weiter macht sie die Schülerinnen und Schüler zu Selbstselektionsakteuren: „Ja, also (.) ich denke drum das Kind merkt selber, dass es nicht mehr nachkommt.“ (I 04, 20) Schülerinnen und Schüler – suggeriert sie – ziehen es vor, das tiefere Niveau zu besuchen und dafür gute Noten zu haben, als im höheren Niveau zu sein und Niederlagen zu kassieren: „Wenn sie nur Taucher haben und ‚Ge’s’131, das tut sie nicht befriedigen, die wollen etwas oben dran.“ (I 04, 20) Sie könnten dann „ihr Potential ausschöpfen, sie müssen nicht immer sagen: ‚Jetzt habe ich wieder diese Stunde Bahnhof verstanden.’“ (I 04, 21) Es entlastet Lisbeth Kramer, wenn ein Kind selbst merkt, wo seine Grenzen liegen, und freiwillig das tiefere Niveau besucht. Eine Deutung, die darauf schliessen lässt, dass sie das Negativselegieren dann schwierig findet, wenn die Schülerin nicht einsieht, dass eine Negativselektion besser für sie ist. Zudem verweist Lisbeth Kramer auf andere Akteure und Instanzen, die den Entscheid fällen oder kommunizieren: Auf das Berufsinformationszentrum, das sagt: „Mit diesen Noten kannst du es vergessen“ (I 04, 1), und auf die Schnupperlehrmeister. Und schliesslich idealisiert Lisbeth Kramer das Scheitern: Lisbeth Kramer: Und dann ist ganz klar, dass die, das dem jetzt gut getan hat, das neunte ausserhalb [im Gymnasium; Anm. d. A.]. Es ist aber [I.: Mhm] auch ganz klar, Probesemester nicht bestanden, man macht dann danach eine andere Schule. (...) Und das ist doch auch ein schöner Werdegang, also sie haben die Prüfung bestanden, haben Selbstvertrauen getankt und wissen jetzt genau: „Nein, Gymer ist nicht für mich.“ (I 04, 11)

Der ‚schöne Werdegang’ besteht darin, nicht sofort zu scheitern – also den Eintritt ins Gymnasium nicht zu schaffen –, sondern die Prüfung zu bestehen und erst nach einem Probesemester aus dem Gymnasium zu fallen. ‚Schön’ ist er in zweifacher Hinsicht: Das Bestehen der Prüfung und die daraus resultierende Chance, ein Semester das Gymnasium besuchen zu dürfen, ermöglichen es dem Schüler, „Selbstvertrauen“ zu tanken, und das Nicht-Bestehen der Probezeit hat eine aufklärerische Wirkung: Der Schüler weiss nun – weil er es ausprobiert hat –, dass das Gymnasium nichts für ihn ist.

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„Ge“ steht für „grundlegende Lernziele erreicht“, was der Note 4 entspricht (vgl. Art. 6 DVBS).

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5.1.1.3

Zusammenfassung

Lisbeth Kramer geht von einer gedanklichen Zweiteilung ihrer Schülerinnen und Schüler aus, der ein eliteorientiertes Denken zugrunde liegt. Sie unterscheidet die „echten“ Sekundarschülerinnen, jene, die „wirklich“ ins Gymnasium gehören – also die ‚Elite’, mit der sie sich identifiziert –, von den ‚Übrigen’, die sich in ihren Augen durch grundlegende Defizite verschiedenster Art auszeichnen. Ob eine Schülerin, ein Schüler zur Elite gehört oder nicht, hängt massgeblich vom Erziehungsverhalten der Eltern ab: entscheidend sei, „was da schon im kleinen Alter entstanden ist“. Mangelnde Erziehung, die sich in einem ungenügenden Allgemeinwissen und einem beschränktem Lerninteresse äussert, ortet Frau Kramer vor allem bei Kindern, die nicht in (klein-)bürgerlichschweizerischen Familien aufwachsen. Als Beispiele führt sie das Kind einer alleinerziehenden Mutter und „Ausländerkinder“ an. Zu welcher Gruppe eine Schülerin, ein Schüler gehört – zur Elite oder zu den Übrigen –, steht schon fest, bevor die Lehrperson in Aktion tritt. Ihre Aufgabe sieht Frau Kramer darin, zu spüren, wer zur Elite gehört, was ihr – so ihre Überzeugung – dank ihrer Intuition gelingt, darüber hinaus gilt es, die Schülerin, den Schüler in die entsprechende Bahn zu lenken. Selektion erachtet Frau Kramer aus zwei Gründen als notwendig: Zum einen können die Schülerinnen und Schüler, die ins Gymnasium gehören, in ihren Augen nur optimal gefördert werden, wenn sie unter „ihresgleichen“ sind. Zum anderen sei es in heterogenen Klassen unmöglich, „perfekt aufgebaute“ Stunden zu halten, Selektion scheint ihr also auch aus methodisch-didaktischen Gründen sinnvoll zu sein. Den gemischten Klassen – und somit auch dem Modell 4, in dem sie arbeitet – steht Frau Kramer skeptisch gegenüber. Im Interview zeigt sich, dass sie nur bedingt freiwillig eine Stelle an einer Schule mit diesem Modell angenommen hat. Gemäss Frau Kramer haftet der Selektion nichts Problematisches an. Sie entschärft die Schwierigkeit der Negativselektion und somit die Antinomie erstens, indem sie die Positivselektion fokussiert; die Negativselektion befindet sich also ausserhalb ihres Relevanzsystems. Zweitens blendet sie besonders jene Schülerinnen und Schüler aus, die weder zur Elite noch zu den problematischen ‚Extremfällen’ gehören, also jene, bei denen eine Entscheidung schwierig und eine Negativselektion umso schmerzhafter sein könnte. Drittens verteilt sie die Verantwortlichkeit für negative Selektionsentscheide argumentativ auf diverse andere Akteure und Instanzen – etwa die Noten, die Schülerinnen selber, das Berufsinformationszentrum oder der Schnupperlehrmeister –, was sie zu entlasten scheint. Und viertens: wenn sie sich auf einen Negativentscheid bezieht, macht sie den Moment des sinnlosen Wehtuns für sich erträglich, indem sie ihn als 122

einen charakterisiert, in dem zwei Vertraute auf einer diffusen Ebene interagieren. Dabei rekurriert sie auf den moralischen Wert der ‚Offenheit’: „Das muss ja zwischen uns so sein, dass wir können offen sein, dünkt mich.“ 5.1.2 Kontrastierung mit weiteren Fällen In der Analyse der Interviews hat sich gezeigt, dass insgesamt acht Fälle – fünf Sekundar- und drei Primarlehrpersonen – das Deutungsmuster des Typs 1 (‚Auslese der Besten’) teilen. In der Folge werden die Ausführungen zum Fall Kramer mit anderen Fällen kontrastiert mit dem Ziel, die Konturen des Typs zu schärfen. Zweiteilung der Schülerinnen und Schüler – Identifikation mit der Elite Die Analyse des Interviews mit Lisbeth Kramer hat eine Zweiteilung der Schülerinnen und Schüler aufgedeckt, der ein elitenorientiertes Denken zugrunde liegt. Während bei Frau Kramer diese Unterscheidung vergleichsweise implizit vorhanden ist – die Gruppe der Nicht-Elite entsteht in ihrer Schilderung lediglich durch eine Negativdefinition –, benennen andere Lehrpersonen beide Schülergruppen explizit. So unterscheidet etwa die Sekundarlehrerin Frau Hartmann die „wirklich intelligenten“ und „guten“ künftigen „Gymer“-Schülerinnen von jenen, die eine Lehre absolvieren, die „nicht reichen“ und immer „noch so ein bisschen hinein hinein geschäufelet“ werden (I 08, 19). Sich sogleich wieder davon distanzierend, spricht sie von den „Gescheiten“ und den „Dummen“ (I 08, 18). Eine Primarlehrerin, Frau Largo, sieht auf der einen Seite die „brillianten“ (I 37, 5; 28) und „hochbegabten“ (I 37, 6; 20; 23) Schülerinnen und Schülern, die „Stars“ (I 37, 2), und auf der anderen Seite die „dumpferen“ (I 37, 2) und „schwerfälligen“ (I 37, 32). Wie Lisbeth Kramer neigen auch diese Lehrpersonen dazu, Sekundarschülerinnen und -schüler – ja die Situation im Sekundarniveau überhaupt – in ein ausgesprochen günstiges Licht zu stellen, jene im Realniveau hingegen in ein ungünstiges. Allerdings variieren ihre Einschätzungen hinsichtlich der Frage, in welcher Hinsicht die Realschülerinnen und -schüler abfallen. Während sich bei Frau Kramer die Nicht-Elite durch ein mangelhaftes „Arbeitsverhalten“ und ein Fehlen von „intellektueller Neugier“, „Grundinteresse“, „Niveau“, „Reife“ und „Zuverlässigkeit“ auszeichnet, geht Herr Glutz, ein Sekundarlehrer, davon aus, Realschülerinnen und -schüler wollten nichts lernen, erledigten keine Hausaufgaben, machten „Terror“ (I 19, 16) und störten den Unterricht; dagegen assoziiert er mit den Sekundarschülerinnen und -schülern Lernwille und braves, folgsames Verhalten. Anders als bei Frau Kramer unterscheiden sich die beiden 123

Gruppen in seinen Augen also nicht allein motivational, sondern vor allem auch in disziplinarischer Hinsicht. Bei der Sekundarlehrerin Frau Hartmann zeigt sich die Problematisierung der Realschülerinnen und -schüler in der Auffassung, Reallehrpersonen seien mehr „Sozialarbeiter“ als Sekundarlehrpersonen. Zur Illustration dieser Sozialarbeitsnähe greift sie auf das Beispiel einer Freundin zurück, die „Kleinklassenlehrerin“ ist, und schildert deren berufliche Lage. Damit setzt Frau Hartmann Reallehrpersonen mit Kleinklassenlehrpersonen gleich und problematisiert tendenziell sämtliche Schülerinnen und Schüler, die kein Sekundarniveau besuchen. Sie schreibt diesen aber nicht primär – wie Frau Kramer dies tut – eine mangelnde Leistungsfähigkeit zu oder diagnostiziert – wie Herr Glutz – ein Fehlen von Lernwille und Disziplin, sondern führt die auf hierarchisch tiefer liegenden Niveaus (Kleinklasse bzw. Realschule) herrschenden Probleme, die in ihren Augen mehr nach Sozialarbeit als nach Lehrerhandeln rufen, darauf zurück, dass dort Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher staatlicher Provenienz zusammenkommen: Sonja Hartmann: Und wenn halt dann in in der in der Kleinklasse so so eh, verschiedene Balkanstaaten aufeinandertreffen oder noch ein bisschen o- und afrikanische aufeinandertreffen und so, dass die g- also da ist recht auch einfach Hass und Gewalt und so solches also, dass die jetzt also die Freundin, die an der Kleinklasse ist, die investiert sehr viel einfach in in Sachen punkto eh eh eh ka-, der Serbe kann halt mit einem Kroaten (?)schon(?) zusammen reden und der Albaner auch noch oder und und so solches Zeugs. [I.: Mhm] Und mit dem muss ich mich nicht muss ich mich also das ist nicht mein, das habe ich nicht zum mich herumschlagen. (I 08, 29)

Das Gewaltpotential der Schülerinnen und Schüler, das – gemäss Frau Hartmann – im Schulalltag zutage tritt, hängt mit deren ethnischer Herkunft zusammen. In Frau Hartmanns Denken wird das Klassenzimmer zu einer politischen Krisenregion, in der Staaten „aufeinandertreffen“. Mit Schülerinnen und Schülern aus afrikanischen Staaten oder dem Balkan assoziiert sie eine „geballte Ladung“ (I 08, 29) „Gewalt“, „Hass“ sowie die Unfähigkeit, untereinander zu kommunizieren. Als Sekundarlehrerin sieht sie sich von solchen Problemen verschont und ist froh, sich nicht damit „herumschlagen“ zu müssen. Wie schon Lisbeth Kramer identifizieren sich auch die anderen Sekundarlehrpersonen des Typs 1 deutlich mit der Gruppe der Besseren, also den (guten) Sekundarschülerinnen und -schülern, jedoch mit unterschiedlicher Explizitheit. Alle von ihnen glauben, die Lebenswelt der guten Schülerinnen und Schüler zu verstehen, da sie diese mit ihnen teilen, während jene der Realschülerinnen und -schüler unbekannt und nicht zugänglich erscheint. Besonders deutlich kommt 124

dies in den Schilderungen einer Sekundarlehrerin, Frau Weber, zum Ausdruck. Auf die Frage der Interviewerin, ob die Beziehung zu Realschülerinnen und -schülern eine andere sei als jene zu Sekundarschülerinnen und -schülern, antwortet diese: Beatrice Weber: Realschule-, (..) ja, du führst einfach ein bisschen andere Gespräche zum Teil. Würde ich jetzt mal sagen. So vielleicht ein bisschen (.) weniger tiefgründig, gerade so am Anfang oder weniger, vielleicht tiefgründig ist falsch gesagt, vielleicht (..) weniger auch vielleicht das Tagesgeschehen oder so, wo andere, die Zwanzigminutenzeitung132 haben und sagen: „Haben Sie gesehen da und das ist da gestanden.“ Da wissen die anderen dafür über Popstars viel oder über über Kinos wo, wo ich keine Ahnung habe oder über schnelle Autos oder was auch immer, oder? [I.: Mhm] Wo ich sagen muss: „Ii ihr, keine Ahnung.“ Oder über das Bauern133. (klopft auf den Tisch) Wo ich sagen muss: „Ihr, das ist irrsinnig. Ich verstehe es nicht.“ [I.: hm] Also, dass man manchmal einfach in ihre Welt nicht so hineinkommt, weil man eben auch aus einer anderen kommt. (I 25, 22)

Mit den einen – ihr näheren und als ebenbürtig betrachteten – Schülerinnen und -schülern kann sie quasi auf gleicher Augenhöhe über wichtige und tiefgründige Dinge wie das Tagesgeschehen diskutieren, während sie mit den anderen über Popstars, Kinofilme, schnelle Autos oder das Bauern sprechen muss, gibt Frau Weber zu verstehen. Dass die Sekundarschülerinnen und -schüler in ihren Augen nicht über Popstars, Kinofilme und schnelle Autos sprechen, erstaunt, zumal gerade auch in der Zeitung „20 Minuten“ überaus viele Artikel dazu zu finden sind. Es deutet auf eine Idealisierung der Sekundarschülerinnen und -schüler hin. Die Welt der Bauernkinder und der an kulturindustriellen Produkten interessierten Jugendlichen ist ihr fremd, sie kann mit ihnen ‚nichts anfangen’. Wenn Frau Weber von dieser Welt sagt, „das ist irrsinnig. Ich verstehe es nicht“, schafft sie Distanz: Das ‚Irrsinnige’ ist realitätsfern, und sie „versteht“ es nicht. Durch das Erwähnen des Nicht-Verstehens gesteht sie ihr Unverständnis ein und macht sich dadurch klein, um sich aber gleichzeitig über die Schülerinnen und Schüler auch wieder zu erheben: Sie ist – so die Aussage, die dahinter steckt – zu gebildet, um deren Welt zu verstehen.

132 „20 Minuten“ ist eine Gratiszeitung, die sich durch ihre Knappheit und die Kürze der Nachrichtenzusammenfassungen und eine Vielzahl an Werbungen auszeichnet. Die Zeitung ist als „Pendlerzeitung“ konzipiert, sie soll in zwanzig Minuten im Zug, Bus oder in der Strassenbahn auf dem Weg zur Arbeit oder zur Schule gelesen werden können. Zum Zeitpunkt der Interviewerhebung galt sie als die meistgelesene Zeitung der Schweiz. 133 Es handelt sich bei dieser Lehrerin um die einzige Lehrperson unseres Samples, die in einer Berner Agglomerationsgemeinde tätig ist. Zum Einzugsgebiet dieser Schule gehören mehrere Bauerndörfer.

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Erziehung und „Anlagen“ als Determinanten für Schulerfolg Den unterschiedlichen Schulerfolg von Schülerinnen und Schülern erklären sich die Lehrpersonen des Typs 1 auf zwei Arten: bei den einen ist – wie bei Frau Kramer – die Hintergrundüberzeugung festzustellen, wonach Schulerfolg mit der familialen Herkunft der Schülerinnen und Schüler – bzw. der Erziehungsart der Eltern – zusammenhängt, die anderen Lehrpersonen kombinieren den Rekurs auf die Herkunftsfamilie mit dem Rückgriff auf angeborene ‚Anlagen’. In der Folge wird auf beides eingegangen. Frau Hartmann schildert den Zusammenhang mit dem familialen Umfeld folgendermassen: Sonja Hartmann: Manche haben einfach ein ein glückliches Umfeld, wo wo sie besser gestützt oder gefördert werden können. [I.: Ja] Also wenn wenn natürlich vielleicht daheim ein Mami ist, das den ganzen Tag da ist, das das noch sagen kann: „Hey, hör jetzt, jetzt musst du noch ein bisschen“ oder eh eh „ich bin jetzt noch für dich da“ oder oder vielleicht ist es halt so, dass jetzt der kommt mir jetzt gerade der eine es sind zwei also bei zweien beide, die ich abgestuft habe, sind gewesen der eine ist ein ein Ausländer gewesen und der andere ist es sind jetzt gerade diese zwei, die mir einfach, die ich jetzt gerade in der Siebten habe gehabt [I.: Mhm] und der andere ist eh von einem eh alleinerziehenden Mami gewesen, das, das halt nicht so viel herum ist gewesen. (I 08, 11)

Die Schwierigkeiten gewisser Schülerinnen und Schüler führt Frau Hartmann auf das Erziehungsverhalten von deren Eltern zurück. Ähnlich wie Frau Kramer, die das Beispiel einer alleinerziehenden Mutter anführt, die mit der Erziehung ihres Kindes überfordert ist, nennt Frau Hartmann zerrüttete Familienstrukturen als Hauptursache, womit ein konservatives Familienbild zutage tritt. Als Beispiele führt sie einen „Ausländer“ und das Kind einer alleinerziehenden Mutter an, deren arbeitstätige Mütter nicht den ganzen Tag zu Hause verbringen und die Kinder zu wenig zum Lernen ermahnen würden. Schulerfolg ist in den Augen der zitierten Lehrerin jenen Kindern versagt, deren Mutter arbeitstätig ist und sich nicht rund um die Uhr um sie kümmern kann. Dasselbe Argument taucht bei Herrn Glutz auf, der schulische Schwierigkeiten von Ausländerkindern darauf zurückführt, dass „Mutter und Vater gehen go schaffen und keine Zeit haben“ und die Kinder „viel alleine sind“ (Glutz PI 19, 19). Der Topos der aufgrund der schwierigen familiären Verhältnisse benachteiligten Ausländerkinder findet sich bei den Fällen des Typs 1 in gehäufter Form. Ausländereltern kümmern sich aber in den Augen dieser Lehrpersonen nicht nur zu wenig um die Förderung ihrer Kinder, sie werden auch – besonders wenn es um Selektionsentscheide geht – als schwierige Verhandlungspartner wahrgenommen. Als Hauptgrund wird angeführt, diese Eltern würden das schweizerische Schulsys126

tem nicht verstehen. Herr Glutz, der über Sekundarschülerinnen und -schüler spricht, die das Gymnasium besuchen möchten, obwohl er sie nicht dafür empfohlen hat, meint: „Das sind einfach alles ausländische Eltern und äh, die begreifen das nicht“ (I 19, 13). Der Rekurs auf das Elternhaus zur Erklärung von schulischem Misserfolg bleibt bei den Fällen des Typs 1 vergleichsweise unelaboriert. In Aussagen wie jener, dass den Kindern berufstätiger Mütter das „Mami“ fehle oder bei ihnen zu wenig „gebastelt“ werde, sind – anders als bei anderen Lehrpersonen – keinerlei quasi-sozialwissenschaftliche Argumentationen auszumachen. In Verbindung mit dem Elterneinfluss tritt nun – wie eingangs angekündigt – bei den eben erwähnten und anderen Fällen des Typs ‚Auslese der Besten’ ein weiteres Argument auf, das bei Frau Kramer fehlt: Es handelt sich um die Überzeugung, dass die Schülerinnen und Schüler mit verschieden gearteten ‚Anlagen’ ausgestattet in die Schule kommen, die letztlich für den Schulerfolg ausschlaggebend seien. Dabei greifen die Lehrpersonen auf unterschiedliche – zu je spezifischen historischen Zeitpunkten populäre – Diskurse zurück und kombinieren diese teilweise miteinander. Die einen beziehen sich auf den Begabungsdiskurs, andere auf die Neuro- oder Biowissenschaften. Herr Glutz, der an anderer Stelle davon spricht, die Eltern schwacher Schülerinnen und Schüler hätten zu wenig Zeit für ihre Kinder, meint auf die Frage, wie er sich die grossen Leistungsunterschiede unter den Schülerinnen und Schülern erkläre, auch das Folgende: Hans Glutz: Das weiss ich doch auch nicht, die sind eben so. [I.: (lacht)] Die sind so, ja das ist so! Da sagt man gä- (?) es kommt eben nicht nur auf die Intelligenz drauf an, das ist nicht ein äh, eine Frage von der Intelligenz nach meiner Meinung, sondern einfach ja vom ganzen Nervensystem und allem drum und dran. (I 19, 18f.)

Er geht davon aus, dass die Schülerinnen und Schüler einfach so sind, wie sie sind, und dass sich daran nichts ändern lässt. Läge es lediglich an der Intelligenz, wie andere Leute – so suggeriert er – meinen, so liesse sich vielleicht etwas machen, aber so einfach sei es nicht. Dass die Schülerinnen und Schüler so sind, sieht er im „ganzen Nervensystem“ (I 19, 19) begründet. Dieses ist Teil des biologischen Körpers, es existiert unabhängig vom Bewusstsein und vom Dazutun der Schülerin. Der Lehrer rekurriert damit – sehr allgemein und auch etwas unbeholfen – auf den insbesondere seit den 1990er Jahren in der Öffentlichkeit sehr präsenten – popularisierten – neurobiologischen Diskurs. Während Herr Glutz neben dem elterlichen Einfluss das „Nervensystem“ als Determinante für Schulerfolg betrachtet, kombiniert Frau Largo das ElternArgument primär mit einer Begabungs-Vorstellung. In ihren Augen gründen die 127

Leistungsunterschiede der Schülerinnen und Schüler hauptsächlich auch in den Begabungen, die ihnen schon „in die Wiege“ (I 37, 23) gelegt worden sind. In der Folge meint sie, es gebe Kinder, die seien einfach „talentiert“, das sei „fast wie eine natürliche Begabung“ (I 37, 23) und habe mit dem „neurovegetativen System“ (I 37, 25) zu tun. Sie kombiniert in ihrer Argumentation das Konzept der „Begabung“, das die Vorstellung eines von Gott bzw. der Natur geschenkten Talents beinhaltet und seit den 1970er Jahren im Lehrerdenken an Bedeutung verloren hat (Ulich 1983, Belusa/Eberwein/Michaelis 1992, Müller 1998), mit dem historisch jüngeren Diskurs der Neurobiologie: Die Begabung gründet gemäss der Aussage dieser Lehrerin im Nervensystem. Mit dieser Argumentation wird das einst sehr umstrittene Konzept der Begabung unter Rückgriff auf neue (natur-)wissenschaftliche Erkenntnisse legitimiert. Ähnlich, aber enger an die Naturwissenschaften gebunden argumentiert Frau Hartmann, die neben dem „Umfeld“ (vgl. obiges Zitat) letztlich die „Anlagen“ (I 08, 16) oder „Veranlagungen“ (I 08, 3) einer Person als ausschlaggebend für deren Schulerfolg erachtet. Sie betont dies im Interview mehrfach und macht geltend, diese Anlagen hätten ihren Ursprung im „Genetischen“ (I 08, 22). Das Miteinandereinhergehen der beiden Erklärungsansätze in den Deutungen dieser Lehrpersonen – auf der einen Seite die familiäre Herkunft bzw. das Erziehungsverhalten der Eltern, auf der anderen Seite die „Anlagen“ – erstaunt im ersten Moment. Eine genauere Betrachtung der Argumentationen zeigt, dass der vermeintliche Widerspruch keiner ist: Die sozialen Herkunftskonstellationen erscheinen genauso als gesetztes, unveränderliches Faktum wie die „Anlagen“. Zudem entfalten sie in den Augen dieser Lehrpersonen ihren Einfluss – vermittelt über Sozialisation – ähnlich wie neurobiologische oder genetische „Anlagen“. Was aufgrund der Sozialisation angelegt ist, unterscheidet sich in seiner Wirkung auf die schulischen Möglichkeiten einer Schülerin, eines Schülers nicht wesentlich von quasi angeborenen „Begabungen“ und „Anlagen“. Wurde, wie Herr Troxler es sagen würde, nichts „gesät“ – sei es von ‚Gott’, vom Schicksal, von der Natur oder von den Eltern – so kann später auch nichts geerntet werden. Der Schulerfolg bestimmt sich im Wesentlichen durch ausserschulische Faktoren. Unverzichtbare Selektion In den Schilderungen der Lehrpersonen des Typs 1 findet sich die Überzeugung, wonach Selektion in der Volksschule unverzichtbar sei. Diese Notwendigkeit wird unter Rückgriff auf unterschiedliche Argumentationen begründet, innerhalb derer es wiederum Variationen gibt.

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Zunächst ist die Auslese der besonders guten Schülerinnen und Schüler in den Augen all dieser Lehrpersonen die logische Konsequenz der unterschiedlichen Leistungsfähigkeit und der Verschiedenartigkeit der Schülerinnen und Schüler: Wenn die Lehrperson selegiert, vollzieht sie lediglich die Selektion, die sich aufgrund der Verschiedenartigkeit der Schülerinnen und Schüler wie von selbst ergibt. Besonders bildhaft schildert der Primarlehrer Troxler diesen quasiautomatischen Selektionsprozess: Urs Troxler: Alle steigen bei mir in die Erst-Klass-Luxus ein und haben alle Sechser134 und dann fängt der Zug an zu fahren. Und so nach ein paar Wochen hat es schon ein paar, die sind in der zweiten Klasse oder. Dann auf den Holzbänken, und dann im Postwagen, im Viehwagen und am Schluss ist die Türe offen und dann werden sie hinausgekickt. [I.: Ja.] Und die rennen dann einfach immer diesem Zug hintennach [I.: Ja.], oder. (I 34, 28)

Die Schulklasse wird in dieser Metapher mit einer Zugkombination verglichen, deren Plätze unterschiedlicher Qualität (vorne befinden sich die besten, hinten die schlechtesten) im Laufe der Fahrt – also im Verlaufe der Schulzeit – besetzt werden. Die Verteilung der Mitfahrenden auf die verschiedenen Wagen geschieht nach einem selbstläufigen Mechanismus: Während der Zug fährt, entscheidet sich von selbst – ohne ein Dazutun des Lehrers –, wer vorne im Luxuswagen sitzen bleibt und wer nicht mithalten kann und dafür Wagen für Wagen nach hinten fällt. Im Unterschied zu Frau Kramer werden in diesem Bild nicht die besten Schülerinnen und Schüler aus der grossen Masse ausgelesen, sondern die Elite bildet sich von alleine: die anderen fallen sukzessive zurück. Anders als Frau Kramer, die darum bemüht war, die Situation der Selektionsverliererinnen und -verlierer nicht als hoffnungslos erscheinen zu lassen, schildert Herr Troxler die Selektion als harten, nicht rückgängig zu machenden Prozess: Die einen Schülerinnen und Schüler werden mit privilegierten, in der Luxusklasse sitzenden und bis zum Ende der Reise dort bleibenden Oberschichtreisenden verglichen, die anderen mit Passagieren, die im Viehwagen landen und zum Teil gar aus dem Zug herausfallen. Auch andere Lehrpersonen des Typs 1 formulieren die Aufgabe des Negativselegierens – stets im Sinne des Vollziehens von etwas Selbstläufigem – als ‚harte’ Angelegenheit. Dabei halten sie das Primat der Leistung ostentativ hoch: Frau Hartmann bezeichnet sich explizit als „Hardliner“ (I 08, 35), was bedeute, dass sie „voll auf Leistung aus“ sei und bei ihr „nur die Leistung zählt und der Rest nicht“ (I 08, 37). Die Sekundarlehrerin Frau Weber betont, dass sie „leistungsorientiert“ sei und halt auch mal ein Kind „auf der Strecke“ (I 25, 1) lasse, und ein Primarlehrer distanziert sich vom Mit134

Die Sechs ist im Berner Schulsystem die beste Note, die Eins ist die schlechteste.

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einander-lieb-Sein, indem er betont, er halte nichts vom „Geschichtli, dass wir alle nett und human im-, liebe Leutchen sind“ (I 34, 20). Ein zweites Argument der Lehrpersonen des Typs ‚Auslese der Besten’ bezieht sich – wie auch bei Frau Kramer – auf die Überzeugung, Selektion sei ein notwendiges Instrument zur Förderung der besonders guten Schülerinnen und Schüler. Während Frau Kramer die Vorteile von homogeneren Gruppen für die positiv Selegierten betont, streichen andere Lehrpersonen die Nachteile von gemischten Klassen für die „Besseren“ bzw. die besten Schülerinnen und Schüler hervor. Diese kommen, wenn sie gemeinsam mit den anderen Schülerinnen und Schülern unterrichtet werden, „zu kurz“ (I 27, 1), werden „zurückgestaucht“ (I 08, 19) oder „künstlich zurückgehalten“ (I 19, 3). Herr Troxler ist der Überzeugung, dass in gemischten Klassen „relativ wenig Konkurrenz untereinander“ herrscht, und dass es für die guten Schülerinnen und Schüler „nicht das Dümmste wäre“ (I 34, 6), wenn es etwas mehr davon gäbe. Als drittes Argument zugunsten der Selektion taucht der gesellschaftliche Nutzen auf. Während Frau Kramer bei ihrer selektionslegitimierenden Argumentation ausschliesslich die (Mikro-)Perspektive der guten Schülerinnen und Schüler einnimmt und diesen am liebsten „methodisch perfekte“ Stunden erteilen würde, argumentieren andere Lehrpersonen zusätzlich aus der Perspektive der Gesellschaft. Frau Hartmann meint, eine möglichst frühe Selektion „dient wahrscheinlich der Gesellschaft mehr“ als eine spätere (I 08, 24), ohne dies weiter zu explizieren. Herr Glutz erachtet Selektion als wichtig, um verantwortungsvolle gesellschaftliche Positionen mit befähigten Leuten zu besetzen: Hans Glutz: Ich will auch nicht zu einem Arzt, der seine Prüfung nur so häbchläb135 hat äh, oder ich will auch nicht zu einem Chirurgen gehen, ich hoffe eben, dass da gut selektioniert worden ist und dass dieser Chirurg etwas kann. [B.: Mhm] (.) Ja. [I.: Mhm] Das ist (?für mich? bei mir?) ganz klar, Selektion braucht es, [B.: Mhm] ohne das geht es nicht in der heutigen Gesellschaft. (I 19, 27)

Von einem Arzt, der „seine Prüfung nur so häb-chläb“ bestanden hat, möchte er sich nicht behandeln lassen, er hofft, dass der Chirurg, von dem er sich operieren lässt, „etwas kann“. Herr Glutz spricht aus seiner Sicht als Patient und macht – stellvertretend für jedes Mitglied der Gesellschaft – die gesellschaftliche Notwendigkeit von Selektion geltend: nur sie garantiert qualitativ hoch stehende Arbeit. Ein letztes Selektion legitimierendes Argument besagt – in der MikroPerspektive von Frau Kramer findet es keinen Platz –, dass während der letzten 135

„häb chläb“ steht sinngemäss für ‚mit Ach und Krach’.

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Jahre das Bildungsniveau in den verschiedenen Schulen (Sekundarschule, Gymnasium) gesunken sei; das ziehe für die Gesellschaft Probleme nach sich. Selektion ist gemäss dieser Perspektive notwendig, um ein weiteres Sinken des Niveaus zu verhindern beziehungsweise dieses wieder anzuheben. Frau Hartmann meint in kulturpessimistischer Manier, das Niveau sei „gesunken [...] und zwar massiv“ (I 08, 20), sie fände dies „absolut traurig“ und „für die Schweiz ganz schlimm“ (I 08, 37). Heute – so die Sekundarlehrerin – komme „mehr oder weniger (...) jeder in die Sek, der einigermassen ein bisschen (.) ein bisschen reicht“ (I 08, 19). Während früher wirklich noch „die ‚Crème de la Crème’ einfach wirklich die Guten“ (I 08, 25) ins Gymnasium gekommen seien, werden die Schülerinnen und Schüler heute gar ins Gymnasium „gschüfelet“ (I 08, 16). Lehrpersonen, die so argumentieren, führen den vermehrten Besuch von Sekundarschulen und Gymnasium auf eine – im Vergleich zu früher – weniger strenge Selektion zurück. Frau Hartmann zum Beispiel meint, sie könne es sich „irgendwie schlichtweg nicht vorstellen“, dass „alle gescheiter werden“ (I 08, 20). Während das ‚Sinken des Niveaus’ von den eben genannten Lehrpersonen mit einer resignativen und bisweilen kulturpessimistischen Haltung geschildert wird, versuchen andere, diesem Prozess Einhalt zu gebieten, so etwa Herr Troxler, der betont, dass er Schülerinnen und Schüler, die seiner Meinung nach die Kriterien nicht erfüllen, nicht ins Sekundarniveau „hinaufschiebe“. Er sei der Meinung, „es ist kein Ausverkauf hier, es ist kein Wunschkonzert“ (I 34, 2), es dürfe nicht sein, dass „schlussendlich jeder von diesen jungen Leuten an die Uni geht“ (I 34, 12). Herr Troxler hält höhere Bildung für etwas Teures, das nicht ausverkauft werden darf. Der Wunsch nach höherer Bildung wird gleichsam als ‚billiger’ Wunsch dargestellt, den die Leute – wie im Wunschkonzert – erfüllt zu bekommen glauben, ohne etwas dafür zu tun. Ja sie werden von Lehrkräften sogar unberechtigterweise hinaufgeschoben. Leicht abschätzig spricht er von allen „diesen jungen Leuten“, die den Besuch der Universität ins Auge fassen könnten. Offenbar erscheint ihm höhere Bildung weniger wertvoll, wenn sie mehr Personen zugänglich ist. Und diesen Wertverlust, der nicht sein dürfe, versucht er durch seine Art zu selegieren aufzuhalten: er schiebt seine Schülerinnen und Schüler nicht hinauf. Frühe und endgültige Selektion Bei allen Lehrpersonen des Typs ‚Auslese der Besten’ ist die Überzeugung auszumachen, dass homogenere Klassen den heterogenen vorzuziehen seien sowie dass Selektion notwendig ist, möglichst früh erfolgen und definitiv sein sollte.

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Ihre Aussagen unterscheiden sich aber darin, auf welcher Stufe sie die Homogenität verwirklicht haben möchten: Die Sekundarlehrpersonen beziehen sich auf die Sekundarstufe I und plädieren – wie Frau Kramer – für eine klare Trennung der Sekundar- und Realschülerinnen oder sprechen sich für die Wiedereinführung des Untergymnasiums – der Vorstufe des Gymnasiums – aus. Als Beispiel sei hierfür Herr Glutz genannt, der es einen „Horror“ findet, dass der „Untergymer“ (I 19, 17) abgeschafft wurde. Anders die Primarlehrerinnen Frau Largo und Frau Adam, welche die Schülerinnen und Schüler bereits auf der Primarstufe in Leistungsgruppen unterteilt haben möchten. Frau Largo beklagt das Faktum, dass in Bern erst am Ende der 6. Klasse selegiert wird und sie alle Schülerinnen und Schüler – also „vom schwächsten Primarschüler bis zum öh begabtesten, hochbegabtesten effektiv, sogenannten Gymeler“ (I 37, 1) – gemeinsam unterrichten muss. Sie umgeht dieses Problem, indem sie selber in der 5. Klasse eine inoffizielle vorgezogene Selektion vornimmt. Sie teilt die Gruppen für den „abteilungsweisen Unterricht“ gemäss Leistungskriterien ein, indem sie der einen Gruppe die stärkeren und der anderen die schwächeren Schülerinnen und Schüler zuordnet. Dass dies gemäss Lehrplan eigentlich nicht erlaubt wäre, beklagt sie:136 „Dort, wo wir die Möglichkeit hätten, wirklich den einen wie den anderen stofflich, zeitlich gerecht zu werden, dürfen eigentlich vom Schulsystem auch wieder nicht.“ (I 37, 3) Eine mehr oder weniger frühe Selektion wird von den Lehrpersonen des Typs 1 unter anderem deshalb als möglich und unproblematisch erachtet, weil sie schon sehr bald sagen zu können glauben, welche Schülerinnen und Schüler zu den Ausgelesenen gehören werden und welche nicht. Allerdings variiert der Zeitpunkt, in dem sie es zu spüren meinen. Während Frau Kramer sagt, sie spüre „das ja schon lange“ – also lange bevor der Entscheid für den Gymnasiumsübertritt ansteht –, ist sich Frau Largo quasi vom ersten Tag an in der 5. Klasse ihres Urteils sicher: „Das merkst du von Anfang an.“ (I 37, 1) Herr Troxler ist gar der Überzeugung, dass bereits die Erstklasslehrerin mit einer mindestes neunzigprozentigen „Treffsicherheit“ die Schüler ‚richtig’ selegieren kann, wobei seine eigene Treffsicherheit bereits anfangs der 5. Klasse bei „praktisch hundert Prozent“ (I 34, 7) liege. Das Bild, wonach jede Schülerin, jeder Schüler mit bestimmten Anlagen ausgestattet ist, auf welche die Lehrperson keinen Einfluss hat, sowie der Glaube an 136

Gemäss Lehrplan dient der abteilungsweise Unterricht „in erster Linie der individuellen Förderung und der Beratung der Schülerinnen und Schüler und soll die Beurteilung im Hinblick auf den Übertritt in die Sekundarstufe I erleichtern. Damit der Zuweisungsentscheid in die Sekundarstufe I nicht vorweggenommen wird, darf der abteilungsweise Unterricht nicht zur Bildung von Leistungsgruppen verwendet werden, die über längere Zeit bestehen bleiben“ (LP 95, AHB 16).

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die Möglichkeit, eine Schülerin, einen Schüler schon sehr früh in das ‚richtige’ Niveau einteilen zu können, gehen bei den Lehrpersonen dieses Typs mit einer kritischen Haltung gegenüber Niveauwechseln auf der Sekundarstufe I einher. Besonders deutlich wird dies bei Herrn Troxler, der die Zug-Metapher verwendet. Er sieht für jene Schülerinnen und Schüler, die im Zug in den hinteren Wagen gelandet oder gar aus dem Viehwagen herausgefallen sind, kaum noch Chancen, dass sie im Verlaufe der Schulzeit noch einmal in die vorderen Wagen vorstossen beziehungsweise den Zug nochmals erwischen, also etwa den Aufstieg vom Real- ins Sekundarniveau schaffen könnten: Urs Troxler: Weil einfach so die geistige Explosion, plötzlich „Ping!“, an an diese glaube ich eigentlich nicht so. Das gibt es, und [I.: Eine geistige Explosion. (beginnt zu lachen)] Ja, es ist so. Es ist doch nicht möglich, wenn, wenn wir da Kinder haben, die seit sie in die Schule gehen, eh, eher immer im hinteren Teil von der Klasse angesiedelt sind, dass die dann irgendeinmal eh vom Dezember bis im Januar, wenn es dann darum geht zu sagen: „Wo ist mein geistiges Potential?“, dass es dann chlepft137. (I 34 7f.)

Er fände es zwar gut, dass „die Türe nicht einfach zu ist“ (I 34 27), es sei aber eine Illusion zu glauben, dass ein Aufstieg bis am Ende der Sekundarstufe möglich ist. „Liftchen fahren“ im Sinne von auf- und wieder absteigen – „ein bisschen hinauf und ein bisschen hinab“ – gebe es nicht, das sei „Kabis“138, denn „irgendeinmal ist dann wirklich Dead Line“ (I 34, 28). Im Interview wird deutlich, dass er nicht nur eine „geistige Explosion“ und einen Aufstieg in der zweiten Hälfte der Sekundarstufe als illusorisch betrachtet, sondern tendenziell Aufstiege generell. Beschränkte Fördermöglichkeiten Gemeinsam ist den Lehrpersonen des Typs 1, dass sie dem Fördern der schwächeren Schülerinnen und Schüler einen nur marginalen Stellenwert und auch beschränkte Erfolgschancen beimessen. Dabei lassen sich drei unterschiedliche Varianten ausmachen. Gemäss einer ersten Variante ist die Förderung von schwächeren Schülerinnen und Schüler gar nicht erst möglich. Bei Frau Kramer konnte rekonstruiert werden, dass sich ihr Förderkonzept vor allem auf die Elite bezieht und ein solches für die schwächeren Schülerinnen und Schüler weitgehend abwesend ist. Was bei ihr als implizite Überzeugung vorhanden war, nennt der Sekundarlehrer Glutz direkt beim Namen: 137 138

„Chlepft“ steht für ‚knallt’. „Kabis“ heisst übersetzt ‚Kohl’, was in diesem Zusammenhang ‚Schwachsinn’ bedeutet.

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Hans Glutz: Diese (.) Schüler kann man im Grunde genommen dann (.) gleich(wohl) nicht ändern, oder, es gibt einfach Schüler, die, sich besser können konzentrieren als andere, ja, aus irgendwelchen Gründen, oder. (I 19, 21)

Ein Schüler kann sich gut oder eben weniger gut konzentrieren. Herr Glutz glaubt darauf keinen Einfluss nehmen zu können. Eine andere Lehrerin, Frau Zesiger, die ebenfalls von der Nicht-Förderbarkeit der Schwächeren ausgeht, argumentiert aus der Warte der Berufspraxis: Sabine Zesiger: Irgendwo ist es natürlich dann schon so, dass, dass es äh irgendwo eine Gruppierung gibt, oder, und dass natürlich dann in dieser Gruppierung schon mal man sagt, dass man halt die mehr tut fördern und bei jenen schaut man mehr noch so ein wenig, dass sie durchkommen. (I 14, 1f.)

Nach ihr liegt es in der Natur der Sache, dass vor allem die eine „Gruppierung“ – nämlich die Besseren – gefördert werden, während die Lehrperson bei den anderen – im Sinne einer Schadensbegrenzung – noch dafür sorgt, dass sie „durchkommen“, das heisst wenigstens keinen schulischen Abstieg in Kauf nehmen müssen. Andere Lehrpersonen – dies die zweite Variante – halten das Fördern schwächerer Schülerinnen und Schüler für bedingt möglich. Gemäss Frau Hartmann zielt es in eine andere Richtung als das Fördern von Schülerinnen und Schülern, die sie für das Gymnasium prädestiniert sieht: Sie als Lehrerin fördere dort, wo es „die Anlagung gibt, also es kann ja etwas Handwerkliches sein, muss nicht der Gymer sein“ (I 08, 3). Wo ein Kind keine „Anlagung“ hat, da ist es – in den Augen Frau Hartmanns – auch nicht förderbar. Ob die Lehrerin fördern kann oder nicht, hängt also davon ab, ob beim Kind entsprechende Voraussetzungen gegeben sind oder nicht. Eine dritte Variante findet sich bei Frau Weber, die eine (fachliche) Förderung aller Schülerinnen und Schüler grundsätzlich für möglich, aber nicht unbedingt für nötig hält. Sie geht davon aus, dass nicht alle Schülerinnen und Schüler gleich viel Förderung brauchen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Sie integriert das Fördern in ihr Selektionskonzept und denkt damit die beiden Aufgaben in einer konsistenten Argumentation zusammen: Beatrice Weber: Also ich kann zum Beispiel ein, äh, ein Kind fördern, und ihm vielleicht behilflich sein bei etwas, wo ich das Gefühl habe, dass es einfach ein bisschen mehr braucht, ein bisschen länger Zeit braucht, und nachher aber dementsprechend auch beurteilen und kann nachher aus dieser Beurteilung sicher auch eine Selektion vornehmen. (I 25, 1)

Fördern heisst für diese Lehrerin, einer Schülerin „behilflich“ zu sein. Sie bietet ihr so viel Hilfe an, wie diese benötigt, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. 134

Dabei nimmt sie an, dass eine gute Schülerin ihre Hilfe nicht braucht. Das Ausmass an Hilfe, das eine Schülerin benötigt, fliesst bei Frau Weber „nachher aber“ in die Bewertung und letztlich in Selektionsentscheide ein: Je weniger Hilfe – also Förderung – nötig war, um eine Schülerin zu einem bestimmten Ziel zu bringen, desto eher gehört die Schülerin ‚nach oben’, das heisst ins Gymnasium, wie im Interview deutlich wird. Wirklich erfolgreiche Schulkarrieren indes hält Frau Weber nur bei Schülerinnen und Schülern für möglich, die ohne Hilfe und Unterstützung exzellente Leistungen erbringen. Das Problem ‚Negativselektion’: Kommunikation und Verantwortungsdiffusion Wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, ist Selektion für Lehrpersonen des Typs ‚Auslese der Besten’ hauptsächlich positiv konnotiert: Sie ermöglicht die in ihren Augen notwendige und sinnvolle Auslese der besonders guten Schülerinnen und Schüler. Es erstaunt deshalb nicht, dass die Lehrpersonen dieses Typs – jedenfalls auf einer expliziten Ebene – sehr dezidiert die Meinung vertreten, dass sie Fördern und Auslesen nicht als Aufgaben begreifen, die zueinander im Widerspruch stehen. Den Interviewees bereitet das Selegieren – wie sie sagen – keine Mühe. Frau Largo etwa meint: „Da gehe ich sehr cool eigentlich damit um.“ Sie sei da „sehr gelassen“ und es sei für sie „überhaupt kein Problem“ (I 37, 20). Die Rekonstruktionen der Interviews förderten jedoch zutage, dass für die Lehrpersonen des Typs 1 das Negativselegieren – implizit – sehr wohl ein Problem ist. Explizit formuliert dies Herr Glutz, der feststellt, es sei „ein Stück weit brutal, was man da machen muss als Lehrer“, nämlich einem Schüler sagen: „Deine Fähigkeiten reichen nicht für den Gymer.“ (I 19, 15) Es fragt sich, wie es den Lehrpersonen dieses Typs gelingt, mit der Negativselektion – deren Problematik sie zumindest unbewusst wahrnehmen – umzugehen. Die Ausführungen zu Frau Kramer haben gezeigt, dass sie die Problematik des Negativ-Selegieren-Müssens für sich entschärft, indem sie – im Zusammenhang mit der Kommunikation zwischen ihr und der Schülerin – auf den moralischen Wert der „Offenheit“ rekurriert. Gerade mit dem Mitteilen negativer Selektionsentscheide gehen die Lehrpersonen dieses Typs nun aber unterschiedlich um: Anders als Frau Kramer – aber auch legitimatorisch – rekurriert Frau Weber auf den Wert der Ehrlichkeit: „Das tut schon weh, aber es dünkt mich, es ist ehrlicher“ (I 25, 10), macht sie geltend. Demgegenüber bringt Herr Troxler die Notwendigkeit des Mitteilens des Entscheids weit nüchterner vor; er hat allerdings nicht die Schülerin, sondern deren Eltern vor Augen. Er stellt fest, das Mitteilen sei – im Vergleich zum Verschweigen – der „unangenehmere Weg“ (I 34, 23), doch es gehöre zum „Job“:

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Ulrich Troxler: Ja, die die gehört zum Job und wer wer das nicht kann, wer nicht Eltern hier am Tisch sagen kann: „Schauen Sie, so und so, ich habe ihnen das aufgezeigt, wir haben das seit dann und dann und dann und so haben wir das angeschaut und haben schon über das geredet, das reicht jetzt nicht, so ist es.“ Der ist in der falschen Stufe tätig. [I.: Mhm] Und wenn Sie dann nicht schlafen können, den Rucksack haben dann, dann müssen Sie eine andere Stufe suchen [I.: Mhm], oder, das, das das gehört einfach dazu. (I 34, 24)

Wer mit dem Mitteilen von Negativentscheiden Probleme hat und deswegen beispielsweise nicht mehr schlafen kann, müsse den Job wechseln, gibt Troxler zu verstehen. Während Frau Kramer, Frau Hartmann und Herr Glutz den Schmerz des Mitteilens negativer Entscheide unter Rückgriff auf moralische Werte oder auf die Überzeugung, wonach dies als Pflicht zum „Job“ gehört, legitimieren, verfolgt Frau Largo eine Ausweichstrategie. Sie sagt, sie vermeide die Kommunikation solcher Entscheide möglichst lange. Obwohl sie für sich selber jeweils längst weiss, ob sie eine Schülerin positiv oder negativ selegieren wird und von der Richtigkeit ihres Urteils überzeugt ist, spricht sie – so ihre Schilderung – „nie nie nie über den Übertritt, bis er fällig ist“ (I 37, 10). Sie zögert also das Schmerzzufügen möglichst lange hinaus und schafft für sich selbst damit einen gewissen ‚Schonraum’. Die Lehrpersonen des Typs 1 entlasten sich vom Schmerzzufügen aber auch durch die Vorstellung, dass sie die Entscheide nicht alleine fällen. Frau Kramer verweist – wie bereits gezeigt – auf die „Note“, auf die Schülerinnen und Schüler selbst, auf das „Berufsinformationszentrum“ und den „Schnupperlehrmeister“: sie alle entscheiden in ihren Augen mit. Auch Frau Hartmann führt die Schülerinnen und Schüler an. Schon während der Eingangsfrage im Interview unterbricht sie den Interviewer und korrigiert: nicht sie selber treffe die Schullaufbahnentscheide, sondern die Schülerinnen und Schüler (vgl. I 08, 1). Darüber hinaus bezieht sie auch das Lehrerkollegium mit ein: Sie würde ja nicht alleine entscheiden, betont sie, man entscheide „im Team“ (I 08, 16). Indem sie die Aufgabe an die Schülerinnen und Schüler delegiert und mit Kolleginnen und Kollegen teilt, schmälert sie – deutend – die eigene Verantwortung. 5.1.3 Zusammenfassung des Deutungsmustertyps Bei Lehrpersonen des Deutungsmustertyps ‚Auslese der Besten’ ist eine Zweiteilung der Schülerinnen und Schüler festzustellen, der ein eliteorientiertes Denken zugrunde liegt. In den Deutungen werden die beiden Schülertypen als Extreme dargestellt: Auf der einen Seite stehen jene Schülerinnen und Schüler, 136

die ins Gymnasium „gehören“, die „wirklich Intelligenten“ „Brillianten“, „Hochbegabten“ und „Stars“, die sich durch Lernwille und angepasstes Verhalten auszeichnen; auf der anderen Seite gibt es diejenigen, die eine Lehre machen werden, die „nicht reichen“. Dazu gehören die „Dumpferen“ und „Schwerfälligen“, denen es typischerweise an Motivation mangelt, die zudem den Unterricht stören und ein „Gewaltpotential“ mitbringen. In einem quasi-distinktiven Duktus zeichnen einige Lehrpersonen die Realschülerinnen und Realschüler als solche, die Chaos, Gewalt und „Terror“ in die Schule bringen. Zur Erklärung der Tatsache, dass eine Schülerin zur Elite oder zu den Übrigen gehört, greifen die Lehrpersonen entweder auf die familiäre Herkunft zurück oder sie kombinieren dieses Argument mit dem Rekurs auf das Vorhandensein unterschiedlicher „Anlagen“. Mit der familiären Herkunft ist meist das Erziehungsverhalten der Eltern angesprochen. Dieses wird im Falle der unterprivilegierten Schülerinnen und Schüler als problematisch und unzureichend eingestuft. Dabei tritt bei einigen dieser Lehrpersonen ein konservatives Weltbild zutage. Die traditionelle Kleinfamilie, in der die Mutter vollumfänglich für die Betreuung der Kinder da ist, wird als Voraussetzung für die optimale Entwicklung eines Kindes betrachtet. Im Zusammenhang mit schwächeren Schülerinnen und Schülern sowie negativen Selektionsentscheiden ist auch auffallend oft die nationale Herkunft der Familie thematisch. ‚Ausländische’ Schülerinnen und Schüler werden gerne als Beispiele für Problemfälle herangezogen. Die Zuschreibung von Charakter- und Verhaltenseigenschaften aufgrund der nationalen oder ethnischen Herkunft, die dabei teilweise aufscheint, erinnert an spezifische Formen der „Konstruktion des Fremden“ (Mannitz/Schiffauer 2002, 67).139 Der Verweis auf das mangelhafte Erziehungsverhalten der Eltern und die ethnische Herkunft der Schülerinnen entspricht einem Befund von Oester/Fiechter/ Kappus, die in der Untersuchung einer Schule in Bern West (Schule Waldeck) auf die Überzeugung der dort arbeitenden Lehrpersonen gestossen sind, wonach manche Schülerinnen und Schüler aus „sozial verwahrlosten“ Familien stammen, die Eltern nicht am Schulerfolg der eigenen Kinder interessiert seien und ihre Kinder auch nur marginal unterstützen würden (2005, 33). An der besagten Schule ist die Deutung weit verbreitet, wonach für den Schulerfolg im Sekundarniveau ein bestimmter „Habitus“ ebenso wichtig sei wie die Leistung der Schülerinnen und Schüler (ebd., 34). Die Autorinnen beschreiben, dass in dieser Schule eine gute Benotung und eine erfolgreiche Schulkarriere eine Anpassung an die dominante ‚öffentliche Kultur’ erfordert, wobei diese „wie der häufige Hinweis auf die ‚Schweizer Werte’ zeigt – selbst ‚ethnisch’ gefärbt“ (ebd.) sei. 139 Zur Herstellung ethnischer Differenz in der Schule vgl. auch Gomolla/Radtke (2002), Pilgrim (2000) und Gutiérrez Rodriguéz (2003).

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Solche „Werte“ lassen sich auch bei Lehrpersonen des Typs 1 identifizieren, insbesondere im Zusammenhang mit den von Frau Kramer genannten Idealen des Zu-Hause-Bastelns und des Pflänzchen-Beobachtens. Lehrpersonen, die neben der familiären Herkunft von der Vorstellung unterschiedlicher „Anlagen“ der Schülerinnen und Schüler ausgehen, die deren Lernmöglichkeiten determinieren, rekurrieren auf das Begabungskonzept oder aber auf neuro- und biowissenschaftliche Diskurse. Die beiden Elemente – Erziehungsverhalten der Eltern und Anlagen – haben argumentationslogisch denselben Stellenwert: In den Augen dieser Lehrpersonen entfaltet eine bestimmte Herkunftskonstellation – vermittelt über die Sozialisation – ihren Einfluss auf ähnliche Art wie etwa die durch „Gene“ oder das „Nervensystem“ bedingten „Anlagen“: Was durch die Natur oder die frühkindliche Sozialisation nicht angelegt oder „gesät“ ist – so die Überzeugung der Lehrpersonen –, kann später auch nicht „geerntet“ werden. Der Befund, dass neurologische oder genetische „Anlagen“ im Denken von Lehrpersonen von Bedeutung sind, entspricht den Ergebnissen einer Studie von Lenz (2005) über die Diskussion der AnlageUmwelt-Debatte in der bundesdeutschen Erziehungswissenschaft. Nachdem in den 1980er Jahren festgestellt wurde, dass das Denken in Naturkategorien, das in den 1960ern unter Lehrpersonen noch weit verbreitet gewesen war (vgl. Höhn 1967, Schefer 1969), an Bedeutung verloren hat (vgl. Ulich 1983, Belusa/Eberwein/Michaelis 1992), kommt Lenz zum Schluss, dass in den Erziehungswissenschaften in den 1990er Jahren erneut eine Hochphase solchen Denkens einsetzte, aber mit anderen Referenzen: im Vordergrund standen evolutions- und neurobiologische sowie humangenetische und bioethische Aspekte (Lenz 2005, 350). Dies scheint in das Denken der von uns interviewten Lehrpersonen diffundiert zu haben.140 Lehrpersonen des Typs 1 halten Selektion typischerweise für eine Notwendigkeit. Dabei rekurrieren sie auf unterschiedliche Argumente. Erstens trägt Selektion der quasi-natürlichen Auslese Rechnung. Während zu Beginn seines Unterrichts – so die Metapher, die ein Primarlehrer verwendet – alle Schülerinnen und Schüler in den „Erst-Klass-Luxus“-Wagen einsteigen, fallen einige, sobald der Zug zu fahren beginnt, in den Zweit-Klass-Wagen zurück, dann auf die Holzbänke, in den Post- und den Viehwagen – ja einige fallen sogar ganz aus dem Zug heraus. Der Selektionsentscheid der Lehrperson hat diesen natürlichen Ausleseprozess lediglich zu vollziehen. Zweitens dient Selektion der Förderung der leistungsstarken Schülerinnen und Schüler, die in gemischten Klassen ge140 Biologisches Wissen (Evolution, Genetik, Neurobiologie, Verhaltensbiologie und Bioethik) ist Lenz (2005) zufolge in den Erziehungswissenschaften bereits seit den 1950er Jahren zunehmend rezipiert worden.

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bremst und „künstlich zurückgehalten“ würden. Die Lehrpersonen des Typs ‚Auslese der Besten’ plädieren denn auch für möglichst homogene Schulklassen. Die eine oder andere von ihnen erreicht dieses Ziel in ihrer eigenen Klasse über die Schaffung inoffizieller Leistungsgruppen. Das Argument, Selektion diene der Förderung starker Schülerinnen und Schüler, ist dem in den letzten Jahren in der Schweiz aufgekommenen Diskurs verwandt, wonach der Förderung von ‚hochbegabten’ Schülerinnen und Schülern mehr Aufmerksamkeit zu schenken ist.141 Drittens findet sich bei den Lehrpersonen des Typs ‚Auslese der Besten’ die Idee, Selektion erfolge zu Gunsten der Gesellschaft. Erst durch sie sei gewährleistet, dass gesellschaftlich wichtige Positionen von dazu fähigen Personen – und nicht von ‚Scharlatanen’ – besetzt werden. So meint ein Lehrer beispielsweise, dass es ohne Selektion in der „heutigen Gesellschaft“ nicht gehe: Er wolle nicht von einem Arzt behandelt werden, der „seine Prüfung nur so häbchläb“ bestanden habe. Viertens schliesslich diagnostizieren die Lehrpersonen des Typs ‚Auslese der Besten’ – in klagendem Duktus – ein allgemeines Absinken des Bildungsniveaus in der Schweiz: In einer unnachgiebigen Selektion wird von einigen von ihnen ein Mittel gegen das noch weitere Absinken erblickt. Weiter ist für Lehrpersonen des Typs 1 bezeichnend, dass sie glauben, Schülerinnen und Schüler sehr früh schon ‚richtig’ einschätzen zu können. Eine Primarlehrerin meint, sie merke „von Anfang an“, ob eine Schülerin dereinst das Sekundar- oder das Realniveau besuchen werde. Ein anderer Primarlehrer ist davon überzeugt, dass bereits die Erstklasslehrerin mit neunzigprozentiger „Treffsicherheit“ die Schülerinnen und Schüler ‚richtig’ einteilen könne; seine eigene Treffsicherheit betrage anfangs der 5. Klasse „praktisch hundert Prozent“. Bei diesen Einschätzungen stützen sich die Lehrpersonen auf ihre Intuition. Stichweh hat die Bedeutung der Intuition für das berufliche Handeln in Professionen beschrieben. Nach ihm greifen Professionsinhaber bei der Behandlung ihrer Klienten typischerweise auf akademisches Wissen zurück, das „in entscheidender Hinsicht insuffizient ist: der Tendenz nach gibt es eine Überkom141 Die Diskussion über ‚Hochbegabte’ ist in den Schweizer Medien seit Ende der 1990er Jahre sehr präsent. Dabei ist die Deutung weit verbreitet, hochbegabte Schülerinnen und Schüler würden in ‚gewöhnlichen’ Klassen zu kurz kommen. Die Popularität des Themas Hochbegabung geht mit institutionellen Veränderungen einher: So werden an Volksschulen zunehmend Spezialangebote für als hochbegabt geltende Schülerinnen und Schüler eingerichtet, in einigen Kantonen der Schweiz wurden spezielle Klassen bzw. Schulen für Hochbegabte geschaffen (zum Kanton Bern vgl. Kapitel 4.2.2d), im Jahr 2000 wurde die „Stiftung für hochbegabte Kinder“ gegründet (www.hochbegabt.ch [Zugriff: 11.7.2007]), die Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung führte von 2000 bis 2003 das Pilotprojekt „Netzwerk Begabungsförderung“ durch u.a.m. Auch ist in den letzten Jahren eine Vielzahl an (populär)wissenschaftlichen Publikationen zu diesem Thema erschienen (vgl. Brackmann 2005; Mönks/Ypenburg 2000; Thomas 1997; Winner 2004; u.a.).

139

plexität der Situation im Verhältnis zum verfügbaren Wissen“ (Stichweh 1994[1987], 296f.). Dies bedeutet, dass der Professionelle in dieser „Problemsituation“ kein Wissen zur Verfügung hat, auf das er zurückgreifen kann, um es in der jeweiligen Situation mit Blick auf einen sicheren Ausgang anzuwenden. Er ist mit einem Moment der „Ungewissheit“ konfrontiert, in der subjektive „Komponenten wie Intuition, Urteilsfähigkeit, Risikofreudigkeit und Verantwortungsübernahme hervortreten“ (ebd.). Beim Lehrberuf handelt es sich zwar nicht um eine klassische Profession (vgl. Kapitel 2.1), die von Stichweh beschriebene Struktureigenschaft trifft aber auch auf diesen zu. Da die Lehrpersonen dieses Typs das Leistungsvermögen der Schülerinnen und Schüler als unveränderbar und ihre eigene Fähigkeit, ‚richtige’ Selektionsentscheide zu fällen, als sehr hoch einschätzen, kann nicht erstaunen, dass sie es als unwahrscheinlich erachten, dass eine einmal getroffene Einteilung später revidiert werden sollte. Sie sind sogenannt ‚durchlässigen’ Schulmodellen gegenüber denn auch skeptisch eingestellt. Wie die Ausführungen bestimmter Lehrpersonen vermuten lassen, könnten die in dieser Deutung thematisierten Erwartungshaltungen problematische „Erwartungseffekte“ zur Folge haben. Dies würde bedeuten, dass Schülerinnen und Schüler sich den Erwartungen der Lehrpersonen anpassen beziehungsweise diesen immer mehr entsprechen und gegebenenfalls Schulkarrieren einschlagen, in denen sich ihr Potential nicht entfalten kann. Die Aussage einer Primarlehrerin, Frau Largo, deutet dies an: Sie äussert sich erstaunt darüber, dass es am Ende der 6. Klasse jene Schülerinnen und Schüler ins Sekundarniveau schaffen, die sie bereits früher im Rahmen einer inoffiziellen Selektion der besseren Leistungsgruppe zugeteilt hat. Ihre Äusserung lässt vermuten, dass den Leistungen, aufgrund derer der beschriebene Übertrittsentscheid zustande kam, ein Erwartungseffekt zugrunde liegt, der ihr nicht bewusst ist.142

142

Das Phänomen der Erwartungseffekte wurde erstmals von Rosenthal und Jacobsen in „Pygmalion in the Classroom“ (1968) eingeführt und in der Folge breit diskutiert. Verschiedene empirische Studien weisen auf einen positiven Zusammenhang hin zwischen der Erwartungshaltung von Lehrpersonen und der sozialen und nationalstaatlichen Herkunft der Schülerinnen und Schüler (vgl. Baron/Tom/Cooper 1985; Jungbluth 1994; Kronig 2000; 2007, 184ff.). Kronig stellt fest, „dass Lehrpersonen bei der Hypothesenbildung über die Gründe der Lernschwierigkeiten leicht bei den ethnischen Merkmalsunterschieden ‚hängen bleiben’ können“ (2000, 32). Er zeigt für die Schweiz auf, dass „Immigrantenkinder in ihrer Leistungsfähigkeit [von Lehrpersonen] tiefer eingeschätzt [werden] als Schweizer Kinder mit vergleichbarem Leistungs- und Begabungspotential“ (ebd., 147). Und er kommt zum Schluss, dass sich eine solch „fehlende Zuversicht“ auf die Lernentwicklung eines Schülers, einer Schülerin hemmend auswirken kann (ebd.). Ebenfalls weist er darauf hin, dass Kinder und Jugendliche von Zuwanderern unverhältnismässig häufig in Sonderklassen eingewiesen werden, wobei diese Tendenz zunimmt (vgl. Kronig 2003).

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Die Lehrpersonen des Typs ‚Auslese der Besten’ haben vor allem die guten Schülerinnen und Schüler, die Elite, im Blick und identifizieren sich mit diesen. Ihr Förderkonzept bezieht sich denn auch hauptsächlich auf die besonders guten Schülerinnen und Schüler. Bezüglich der Schwächeren sehen sie keine (kompensatorischen) Fördermöglichkeiten, oder sie halten diese für nur bedingt möglich; zum Beispiel, indem sie gemäss den unterschiedlichen „Anlagen“ erfolgt. In einer dritten Deutung werden die beiden Aufgaben des Förderns und Selegierens in einer konsistenten Argumentation verbunden. Die entsprechende Lehrerin betrachtet das Selegieren als ihre Hauptaufgabe und das Fördern – im Sinne eines ‚Massstabs’ – als Instrument, das ihr dabei hilft: Je mehr eine Schülerin gefördert werden muss, desto weniger wird sie positiv ‚ausgelesen’ beziehungsweise desto eher wird sie negativ selegiert. Dem Schülerbild wie auch dem Selektions- und Förderverständnis dieser Lehrpersonen entspricht es, dass sie Fördern und Auslesen – auf der manifesten Ebene – nicht als zueinander im Widerspruch stehende Aufgaben betrachten. Doch auf der impliziten Ebene erscheint die Negativselektion sehr wohl als Schwierigkeit. Was die – für Schülerinnen akut schmerzhafte – Mitteilung von negativen Selektionsentscheiden betrifft, so wird sie denn auch als legitimationsbedürftig wahrgenommen und zu legitimieren versucht. Dies geschieht vor allem durch den Rekurs auf den moralischen Wert der ‚Offenheit’ und der ‚Ehrlichkeit’. Eine weitere Strategie besteht darin, die Aufgabe als schlichtweg zum Job gehörige Sache zu entdramatisieren oder aber das Mitteilen zeitlich hinauszuschieben. Es fällt auf, dass die Frauen das Problem, negativ selegieren zu müssen, auf dem Weg einer möglichst ‚guten’ (das heisst ehrlichen und offenen) Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern zu entproblematisieren versuchen, während die Männer sich eher auf die Überzeugung berufen, dass dies einfach zum Beruf gehört. Verschiedentlich finden sich bei diesem Typ auch Argumente, die auf eine Verantwortungsdiffusion schliessen lassen. Die Lehrpersonen entlasten sich von der Aufgabe der Negativselektion, indem sie auf andere Akteure und Instanzen verweisen, die den Entscheid (mit-)fällen würden. So wird zum Beispiel geltend gemacht, „die Note“, die Schülerin selbst, das „Team“ oder die Berufsberatung entscheide. Weiter fällt auf, dass Lehrpersonen des Typs 1 systemimmanent denken und argumentieren. Dem Schulsystem, das von ihnen verlangt, einerseits zu fördern, andererseits zu selegieren fühlen sie sich zugehörig. Zu neueren bildungspolitischen Bestrebungen wie die Schulmodelle mit „Zusammenarbeitsformen“, die auf eine Entschärfung der Selektion und die Erhöhung der Chancengleichheit abzielen, nehmen sie eine kritische Distanz ein.

141

Interessanterweise gehören dem Typ ‚Auslese der Besten’ keine Reallehrpersonen an. Von den drei Primarlehrpersonen hat eine die Ausbildung als Sekundarlehrerin gemacht und wurde zu Beginn ihrer Laufbahn als Lehrerin dazu „verdammt, verdonnert“ (I 37, 15), eine „Primarschulklasse“ – was damals eine Realklasse war – zu übernehmen. So kam sie zur Primarstufe. Ein anderer Primarlehrer hat das Primarlehrerseminar gemacht und danach mit dem Sekundarlehramt begonnen, das er aber nicht abgeschlossen hat. Die dritte Primarlehrerin hat ihre Ausbildung an der Neuen Lehrerinnen- und Lehrerbildung (LLB) genossen. Bei allen drei Primarlehrpersonen ist demnach – was ihre Ausbildung betrifft – eine Nähe zur universitären Sekundarlehrerausbildung festzustellen. Diese Lehrpersonen sind also dafür ausgebildet, bei ‚Gewinnerinnen’ und ‚Gewinnern’ von Selektionsentscheiden zu unterrichten. Die Sekundarlehrpersonen haben es in ihrem Berufsalltag auch mit den ‚Gewinnerinnen’ und ‚Gewinnern’ des Übertritts von der Primar- in die Sekundarstufe I zu tun, was eine Entsprechung in ihrer Identifikation mit diesen findet. Die Sekundarlehrerinnen und -lehrer, die in einem Schulmodell „mit Zusammenarbeitsformen“143 angestellt sind, würden es vorziehen, mit einer ‚reinen’ Sekundarklasse zu arbeiten. Bestünde die Möglichkeit, würden sie die in der Stadt Bern abgeschafften speziellen Sekundarklassen wieder einführen, in denen ausschliesslich Schülerinnen und Schüler unterrichtet werden, die beabsichtigen, danach das Gymnasium zu besuchen. 5.2 Typ 2: Selektion als Platzanweisung Die Lehrpersonen des Deutungsmustertyps ‚Selektion als Platzanweisung’ verstehen die Selektion als im Dienste der bestmöglichen Förderung aller Schülerinnen und Schüler stehend. In der Selektion der Schülerinnen und Schüler an den für sie je ‚richtigen’ Platz im Schulsystem erblicken die Lehrkräfte eine Voraussetzung dafür, dass diese gemäss ihren jeweiligen Fähigkeiten gefördert werden. Auch in Bezug auf die Negativselektion gilt diese Überzeugtheit vom allgemein förderlichen – und unschädlichen – Charakter schulischer Auslese: Die Nicht-Auswahl für den Sekundarschultyp (bzw. die Einteilung in den Realschultyp) entproblematisieren die Lehrpersonen im Wesentlichen durch die Feststellung, dass mit ihr dem Leistungswillen der betreffenden Schülerinnen und Schüler kein Abbruch getan werde. Die Lehrkräfte denken weitgehend in den organisatorisch-institutionellen Kategorien des herrschenden selektiven Schulsystems und ‚glauben’ an die Legitimität, Verlässlichkeit und ‚Richtigkeit’ schulischer Selektion: Das Monopol der Lehrerinnen und Lehrer in Fragen 143

Vgl. Kapitel 4.2.2.

142

schulischer Auslese wird – im Sinne eines berufsständischen Anspruchs – teils mit Verve verteidigt. Wie zu zeigen sein wird, ist bei diesem Deutungsmustertyp ein Binnenkontrast auszumachen: Auf der einen Seite stehen Lehrpersonen, deren Selektionsverständnis ausdrücklich dasjenige einer möglichst förderlichen binnenschulischen Platzanweisung ist. Sie sind der Überzeugung, das Problem von Fördern und Auslesen wäre noch unproblematischer, würde man das gegebene System ‚technisch’ vervollkommnen. Auf der anderen Seite finden sich Lehrpersonen, die sich in ihrer Selektionspraxis an einer quasi vorweggenommenen Allokation ihrer Klientel zu Positionen im Erwerbssystem orientieren: Bei diesen Lehrkräften, die sich tendenziell als ‚Gatekeeper’ an der Schaltstelle von Schul- und Erwerbssystem sehen, fehlen die berufsständischen Unabhängigkeits- bzw. Autonomiebehauptungen der anderen. 5.2.1 Fall Rolf Wyss Mitte der 1940er Jahre geboren, absolvierte Rolf Wyss nach Abschluss von Primar- und Sekundarschule die vierjährige Ausbildung am Lehrerseminar. Als 21-Jähriger stieg er in den Beruf ein, arbeitete zunächst einige Jahre als Primarlehrer. Hierauf absolvierte er das Sekundarlehramt, wo er primär naturwissenschaftliche Fächer belegte. Herr Wyss arbeitete sodann mehr als 25 Jahre im Vollpensum als Sekundarlehrer. Seit Mitte der 1990er Jahre ist er als Primarlehrer144 in Bern tätig. 5.2.1.1

Analyse der Eingangssequenz

Bei der Eingangsfrage im Interview mit Rolf Wyss handelt es sich um die im Zuge der Erhebung – der Vereinfachung halber – geraffte Version (vgl. 3.3.1). Zum Intervieweinstieg wird kurz und bündig das Handlungsproblem expliziert, von dem die Forschenden ausgehen, um hierauf den Interviewee nach seinem individuellen Umgang mit eben diesem zu befragen: Zuerst stellt die Interviewerin fest, die „Lehrer“ hätten einerseits „die Aufgabe, ihre Schülerinnen und Schüler zu fördern“, und andererseits, Selektionsaufgaben wahrzunehmen. Letzteres führt sie noch mit „Schullaufbahnentscheide zu fällen oder in die Wege zu leiten“ aus. Hierauf wiederholt sie die Problematik in einer abstrakteren Form, wobei sie das Gegenüber direkt mit „Sie müssen also zwei Aufgaben wahrnehmen, die zueinander in Widerspruch stehen: Fördern und Selegieren“ anspricht, 144

Im Zuge der Umstrukturierungen des Schulsystems Mitte der 1990er Jahre wird der Selektionszeitpunkt von Ende der 4. Klasse nach oben auf Ende der 6. Klasse verschoben. Die Primarstufe wird damit verlängert, frühere Lehrpersonen der Sekundarstufe I (5. und 6. Klasse) werden neu zu ‚Primarlehrpersonen’.

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um schliesslich ihr Interesse am individuellen Umgang des Interviewees mit dem Problem zu formulieren: „Und, mich interessiert, (.) wie Sie mit dieser Spannung umgehen.“ (I 26, 1) Die Anschlussmöglichkeiten sind somit gleich wie im Fall Kramer des Typs ‚Auslese der Besten’ (vgl. Kapitel 5.1): Herr Wyss kann sich – sei es zustimmend, sei es widersprechend – auf die These der Spannung zwischen seinen Aufgaben des Förderns und des Auslesens beziehen. Oder aber er kann direkt auf das Interesse der Interviewerin an seinem persönlichen Umgang mit der Problematik eingehen. Herr Wyss tut das Erstere, bezieht sich also im Sinne einer (als praxisgesättigt dargestellten) ‚Theorie’ auf die behauptete Widersprüchlichkeit zwischen den Aufgaben Fördern und Auslesen: Rolf Wyss: Ja das ist nur zum Teil ein Widerspruch, also (.) das tut sich ja gegenseitig nicht, nicht unbedingt ausschliessen. (.) Es ist so, dass die guten Schüler, die sind natürlich (.) ganz auf einem, eher auf dem Selektionstrip, die wollen schauen (.) äh „Wie, was kann ich?“ (.) und „Was können die anderen nicht?“, zum Beispiel, und die schwächeren Schüler die äh (..) denen muss man natürlich mehr, eben Förder- und Stützunterricht geben, da muss man auch mehr erklären, mehr helfen. (..) Aber (einen(den?)?) Zusammenhang sehe ich so, dass wenn (.) die Bereitschaft und die Zeit da ist eben auch zu lernen, dass sie unter Umständen gewaltige Fortschritte können machen, (..) äh die dann (.) (das?)ein(?) Kind auch, auch weiterbringen, (.) und gerade dadurch, dass die Ziele, die man erreichen muss, um zum Beispiel das Sek-Niveau zu erreichen, ist (.) äh das ist für sie ein Ansporn eben mehr zu machen, als sie sonst machen würden wenn man ihnen sagen würde „Ja du musst jetzt einfach schauen, dass du durchkommst“ oder so. (I 26, 1)

Mit einem knappen „Ja“ signalisierend, dass die Frage verstanden ist, argumentiert Herr Wyss im ersten Satz in Richtung einer Verneinung der unterstellten Spannung: Indem er feststellt, es handle sich beim thematischen Problem nur „zum Teil“ um einen Widerspruch, führt er implizit einen anderen ‚Teil’ ein, bei dem das Problem kein Widerspruch ist. Seine Argumentation zielt, wie sich im Anschluss zeigt, auf eine Entproblematisierung: „das“ – also Fördern und Auslesen – tue sich nämlich „gegenseitig nicht, nicht unbedingt ausschliessen“, ergänzt er. Wie seine Feststellung, wonach es sich beim unterstellten Problem von Fördern und Auslesen nur teilweise um einen Widerspruch handle, wischt Herr Wyss die Fraglichkeit auch hier nicht vollkommen vom Tisch, indem er etwa sagen würde, es schliesse sich überhaupt nicht aus. Mit den ersten beiden Sätzen lässt er die These vom Widerspruch also ein Stück weit gelten. Hierauf folgt ein konkreter Versuch, das aus seiner Sicht Unproblematische am Verhältnis von Fördern und Auslesen herauszustreichen. Der Versuch besteht darin, dass er zwei Schülergruppen unterscheidet: Zuerst führt er „die guten Schüler“ ins Feld, später kommt er dann auf „die schwächeren Schüler“ zu sprechen. Während er für die Gruppe der „guten“ Schülerinnen und Schüler feststellt, 144

diese seien „natürlich“ auf dem „Selektionstrip“ und würden „schauen“ wollen, „Was kann ich?“ und „Was können die anderen nicht?“, gibt er in Bezug auf die „schwächeren Schüler“ zu verstehen, „denen“ müsse „man natürlich mehr, eben Förder- und Stützunterricht geben“ und – so schliesst er das Argument – „auch mehr erklären, mehr helfen“. Die Sequenzanalyse dieser letzten Passage lässt folgende Eigenheiten im auf das Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ bezogenen Denken von Rolf Wyss erkennen: Zunächst ist festzuhalten, dass er eine Gegenüberstellung zweier Schülergruppen vornimmt, wobei als Referenz – wie die Abfolge der Argumentation zeigt – die Gruppe der ‚guten’ Schülerinnen und Schüler gilt, die auf dem „Selektionstrip“ seien. Es ist also – von Herrn Wyss mit einem tendenziell pejorativen Begriff ins Gespräch gebracht – der Komplex der Auslese thematisch. Herr Wyss charakterisiert die ‚guten’ Schülerinnen und Schüler als einer möglichst baldigen Selektion entgegenstrebend. Der skeptische Unterton, den er dabei anklingen lässt, verweist allerdings auf eine gewisse – wenn auch wohlwollend konnotierte – innere Distanzierung von Rolf Wyss gegenüber der ‚Rauschartigkeit’ dieses Vorwärtsstrebens. Den rauschartigen Selektionswillen seitens der ‚Guten’ bezeichnet er als „natürlich“ – er begreift ihn als quasi dem ‚Naturell’ dieser Schülerinnen und Schüler entsprechend. Ohne weiteres Zutun wollen diese sich der eigenen Fähigkeiten, des eigenen Könnens im Vergleich mit den anderen vergewissern: „Was kann ich?“ und „Was können die anderen nicht?“. In Bezug auf die ‚guten’ Schülerinnen und Schüler besteht aus der Sicht von Rolf Wyss also keinerlei Problem mit der Selektion: Sie entspricht dem Wunsch und dem Getriebensein der Schülerinnen und Schüler. Hierauf geht er in der Argumentation zu den „schwächeren Schülern“ über und schwenkt thematisch zu jenem Komplex um, den die Interviewerin als in Konflikt zum Auslesen stehenden charakterisiert hat: „denen muss man natürlich mehr, eben Förder- und Stützunterricht geben“. An dieser Gegenüberstellung fällt auf, dass die nun bezeichnete, zweite Schülergruppe der ‚Schwächeren’ nicht mehr als eine aus aktiven Subjekten bestehende dargestellt wird, sondern als eine, mit der etwas zu machen, zu tun ist – also als eine Gruppe untätiger ‚Objekte’. Und auch in diesem Fall kommt die Charakterisierung der betreffenden Schülerinnen und Schüler einer Naturalisierung gleich, bedürfen doch diese – aus der Sicht von Herrn Wyss – ganz „natürlich“ eines zusätzlichen Förderund Stützunterrichts. Im Anschluss führt Wyss – ein Vokabular heranziehend, das eher das Bild einer direkten Lehrer-Schüler-Interaktion evoziert, dabei aber in generalisierendem Duktus der Argumentationsperspektive eines unpersönlichen „man“ folgend – aus, bei diesen Schülerinnen und Schülern müsse „man auch mehr erklären, mehr helfen“. Gedankenexperimentell betrachtet, hätte er 145

dieses Argument des Helfens bereits am Anfang bringen können, als er in Bezug auf diese Schülergruppe einleitete: „denen muss man natürlich mehr...“. Bezeichnenderweise kommt es aber just an dieser Stelle zu einem Bruch im Redefluss, auf den sodann die Nennung von „Förder- und Stützunterricht“ folgt: Dass er, wo es um vergleichsweise leistungsschwache Schülerinnen und Schüler geht, sich dieses ‚Terminus technicus’ bedient, lässt aufscheinen, dass im Denken von Rolf Wyss das Fördern leistungsschwächerer Schülerinnen und Schüler nicht so sehr in einer am Fall orientierten, individuellen Zuwendung durch die Lehrperson besteht als vielmehr in der Anwendung eines auf alle ‚solchen’ Schülerinnen und Schüler applizierbaren Spezialinstruments. Die Indikation von „Förderund Stützunterricht“ kommt dem Rekurs auf eine allgemeine Rezeptur, auf ein auf alle ‚schwächeren’ Schülerinnen und Schüler gleichermassen anwendbares ‚technisches Instrument’ gleich. Zusammenfassend kann bis hier gesagt werden, dass im Denken von Rolf Wyss ein Widerspruch von Fördern und Auslesen solange nicht besteht, als die beiden Dinge quasi nebeneinander existieren und sich auf je eine von zwei Schülergruppen beziehen: hier die strebsamen ‚guten’ Schüler, die im Wetteifer aller gegen alle von selbst der Selektion (deren Vollzieher Herr Wyss nicht nennt) zustreben, dort die ‚Schwächeren’, die mit einem Extra-Unterricht speziell gefördert beziehungsweise – ähnlich gehbehinderten Personen – ‚gestützt’ werden müssen. Zur Entproblematisierung der unterstellten Spannung aufgrund der Gleichzeitigkeit von Fördern und Auslesen (als widersprüchlicher Handlungsauftrag der Lehrperson) bringt Rolf Wyss die beiden Seiten des ‚Widerspruchs’ in eine parallele Anordnung, der wiederum die Gegenüberstellung zweier Gruppen – fast könnte man sagen: zweier Typen – von Schülerinnen und Schülern entspricht. Dabei lässt die Argumentationsweise von Herrn Wyss den Eindruck einer weitgehend persönlichen Unbeteiligtheit seiner selbst – sowohl in Bezug auf die Selektion wie auch auf das Fördern – entstehen. Bezogen auf die „guten“ Schülerinnen und Schüler drückt sich diese Unbeteiligtheit in Form einer (verständnisvollen) Distanzierung gegenüber deren „Selektionstrip“ und im Nicht-Nennen des Selektionsagenten aus, mit Blick auf die ‚Schwächeren’ findet sie ihren Ausdruck darin, dass er für diese „Förder- und Stützunterricht“ vorsieht, also eine Form pädagogischer Praxis, die ausserhalb des regulären Unterrichts steht und mitunter von anderen Lehrpersonen übernommen wird.145 145

Gemäss dem Berner Volksschulgesetz (VSG) vom 19. März 1992, Art. 11 zum „Niveau- und Förderunterricht“, kann auf Antrag der Gemeinde an der Sekundarstufe I als eine Unterrichtsform in einzelnen Fächern der „Förderunterricht“ eingeführt werden „für Schülerinnen und Schüler, die fähig sind, in einen höhern Leistungskurs oder von der Realschule in die Sekundarschule bzw. von einer Realklasse in eine Sekundarklasse überzutreten“ (ebd., Ziffer b). Der von Wyss verwendete

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In der Fortsetzung seiner Antwort auf die Eingangsfrage folgt nun ein Argument, das die bisherige Interpretation zu falsifizieren scheint: Herr Wyss stellt – nach wie vor in Bezug auf die ‚schwächeren’ Schüler – fest, dass „wenn die Bereitschaft und die Zeit“ da sei, „eben auch zu lernen“, diese Schüler dann „unter Umständen gewaltige Fortschritte machen können“. Die auf den ersten Blick naheliegende Vermutung, Herr Wyss lege damit den Teppich aus, um im nächsten Moment als ‚Förderer der Schwachen’ aufzutreten, muss indes verworfen werden. Das Argument untermauert – so die Analyse der Textstelle – vielmehr die Undenkbarkeit, dass die als ‚schwächer’ bezeichneten Schüler effektiv am „Selektionstrip“ der Leistungsstarken teilnehmen könnten: Sie werden – hintergründig – als prinzipiell nicht zum Lernen bereit und also ohne inneren Antrieb charakterisiert, und nicht nur an der „Bereitschaft“ fehlt es, sondern es herrscht obendrein, so führt Herr Wyss flankierend ins Feld, ein allgemeiner Zeitmangel. Wären diese Bedingungen – der Wille sowie genügend Zeit zum Lernen – erfüllt, könnten die schwächeren Schülerinnen und Schüler in den Augen von Rolf Wyss (jedenfalls „unter Umständen“, wie er nochmals einschränkend anfügt) „gewaltige Fortschritte“ machen. Auffallend ist, wie dramatisch in dieser Formulierung die zu erfüllenden Bedingungen und die möglichen Folgen daraus – gewaltige Fortschritte machen zu können – auseinander klaffen. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass Rolf Wyss noch hinzufügt, diese Fortschritte würden ein solches Kind dann „auch weiterbringen“. Damit charakterisiert er eben diese Schülerinnen und Schüler als solche, die gerade keine Aussicht auf ein Weiterkommen im Sinne einer positiven Selektion haben, sondern sich mit einer kategorial anderen Form des Weiterkommens zu begnügen haben. Im Sinne einer vorläufigen Fallstrukturhypothese zum Deutungsmuster von Rolf Wyss ist festzuhalten, dass dieser auf die Eingangsfrage nicht mit der Schilderung seines persönlichen Umgangs mit dem Widerspruch von Fördern und AusBegriff „Stützunterricht“ ist in der kantonalen Gesetzessammlung nicht zu finden, taucht aber in der gegenwärtigen Diskussion um die sogenannt ‚integrative Schule’ häufig auf. Dort wird er im Zusammenhang mit der Forderung nach Entlastung der Regellehrkräfte angeführt. So etwa im Statement von Myriam Duc (Grünes Bündnis) im Rahmen der Berner Stadtratssitzung vom 2. November 2006: „Aus pädagogischer Sicht ist eine Schule ohne Ausgrenzung Vorbild. Der heutige Schulalltag belastet die Lehrkräfte jedoch bereits heute sehr stark. In den integrativen Schulen wird es nicht einfacher. Die Ängste und Bedenken der Lehrerinnen und Lehrer sind berechtigt. Aus diesem Grund sind wir klar der Meinung, dass eine integrative Schule nur dann möglich ist, wenn ausreichend Ressourcen zur Verfügung stehen. Namentlich Ressourcen zur Entlastung der Lehrkräfte. Es braucht Ressourcen wie eine angepasste Aus- und Weiterbildung, Team-Teaching, Zusatz- und Stützunterricht sowie den Einbezug der Heilpädagoginnen und -pädagogen in den Unterricht.“ (Protokoll Nr. 29 der Stadtratssitzung vom 2. November 2006, S. 1540; vgl. www.bern.ch/stadtrat/sitzungen1/ termine/ 2006/2006-10-20.8860355460/file [Zugriff: 11.7.2007]).

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lesen antwortet, sondern vielmehr auf einer ‚theoretischen’ Ebene argumentiert. Er tut dies in Richtung einer Verneinung der Existenz des unterstellten Problems, ohne dieses aber logisch auflösen zu können. Wie oben gezeigt, wird sein Denken von einer weitestgehenden Überzeugtheit vom ‚förderlichen’ Charakter von Selektion angeleitet. Während er diese in Bezug auf die (von ihm so gesehenen) guten Schülerinnen und Schüler als selbstverständlich unproblematisch darstellt, da diese sowieso ihrem quasi natürlicherweise gegebenen Selektionswillen folgen, fällt ihm dies mit Blick auf die ‚schwächeren’ Schülerinnen und Schüler schwerer. Doch auch in Bezug auf diese stellt Rolf Wyss die Selektion – im Sinne eines leistungssteigernden Ansporns – als förderlich dar. Die einander gegenübergestellten Schülergruppen werden dabei von Herrn Wyss in naturalisierender Weise typisiert. Argumentativ verbleibt Rolf Wyss, wie gesagt, auf der Ebene von Allgemeinaussagen: Sein eigener Umgang mit dem unterstellten Handlungsproblem ist nicht thematisch – und selbst dort, wo es um eine konkrete Lehreraufgabe (das Fördern) geht, bedient er sich erzähllogisch des unpersönlichen Allgemeinsubjekts ‚man’. Dieser Verzicht auf die Selbstdarstellung als handelndes Lehrersubjekt geht einher mit einem starken Glauben an die Allgemeingültigkeit der ‚Theorie’, mittels welcher er das Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ im Interview entschärfen zu können meint. Davon zeugt der definitorische Modus, in dem er seine Antwort auf die Eingangsfrage einleitet. Ein unterschwelliges Problembewusstsein gibt es bei Herrn Wyss in Bezug darauf, dass die Gruppe der ‚schwächeren’ Schülerinnen und Schüler sich sozusagen jenseits der Aussicht auf eine positive Auswahl befindet. Er ist sich latent bewusst, dass letztlich die als leistungsschwach geltenden Schülerinnen und Schüler mit der Bredouille fertig werden müssen, in der sie als negativ Selegierte stecken. Indes: auch dieses Problem verschwindet hinter dem ‚technisch’ anmutenden Rückgriff auf die Vorstellung eines prinzipiell für alle förderlichen Prinzips ‚Selektion’. 5.2.1.2

Erweiterung der Analyse

Im Folgenden wird das im Fall Wyss rekonstruierte Deutungsmuster zum Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ in seinen einzelnen, sich zu einem konsistenten Ganzen zusammenfügenden Elementen weiter expliziert. Die Förderung der Schülerinnen und Schüler ‚nach ihrer Art’ Im Fall von Herrn Wyss ist die Hintergrundüberzeugung auszumachen, dass den Schülerinnen und Schülern das „Recht“ zustehe, bestmöglich – das heisst in 148

seinem Verständnis: „nach ihrer Art“ – gefördert zu werden. In generalisierender Art problematisiert er im unmittelbaren Vorfeld des unten stehenden Zitats den Umstand, dass „man“ als Lehrperson „ja schauen“ müsse, dass „alle auf ihre Rechnung kommen“ – womit er im Sinne dreier Schülerkategorien „die ganz Guten“ meint, dann „noch so das Mittelfeld“ (I 26, 4) und schliesslich auch „die ganz Schwachen“:146 Rolf Wyss: Die haben das Recht, gefördert zu werden nach, [I.: Mhm] nach ihrer Art (.) eben das ist (..) „ein Ding der Unmöglichkeit“ (hochdeutsch) und man, man tut sich natürlich grad mit dem Selektionsdruck tut man sich eher den oberen Segmenten zuwenden, (.) dort die vor allem fördern und die unteren (.) denen gibt man halt mal ein paar Spezialaufgaben und dann machen die etwas (von?)an(?) dem. (.) (I 26, 4)

Dass „man“ sich als Lehrperson – und dies umso mehr, da ein „Selektionsdruck“ herrsche – den „oberen Segmenten“ (also den besseren Schülerinnen und Schülern) zuwende, hat im Denken von Herrn Wyss gleichsam automatisch eine Vernachlässigung der „unteren“ (also der schwächeren) zur Folge. Es bleibe einem, so unterstellt Rolf Wyss, gar nichts anderes übrig, als diese mit „ein paar Spezialaufgaben“ abzuspeisen. Die bestmögliche Förderung aller Schülerinnen und Schüler (und damit sind primär die drei bezeichneten Gruppen gemeint) ist im Denken von Rolf Wyss so lange „ein Ding der Unmöglichkeit“, als alle zusammen in einer Klasse sind. Entsprechend versteht Herr Wyss Selektion (im Sinne der Platzanweisung unterschiedlicher Schülerinnen und Schüler an ‚Orte’ mit verschiedenen schulischen Niveaus) als eine Voraussetzung dafür, dass dieser Anspruch der Schülerinnen und Schülern überhaupt erst erfüllt werden kann. Dies wird deutlich im unten stehenden, an die obige Stelle anschliessenden Zitat: Rolf Wyss: Ich muss ja die anderen auch (.) auch fördern, ich kann ja nicht, ich kann höchstens einen Drittel der Zeit dieser (.) kleinen schwachen Gruppe widmen. (...) Und dann ist dann erst noch nicht äh gewährt, dass es (?)eben dann(?) einen Fortschritt eigentlich bringt. (I 26, 4-5)

Rolf Wyss vermittelt die Idee der Pflicht der Lehrperson, die Schülerinnen und Schüler zu fördern, mit jener vom Recht der Schülerinnen und Schüler auf eben diese Förderung. Das Argument von Wyss, er könne ja „höchstens einen Drittel der Zeit“ der Gruppe der schwachen Schülerinnen und Schüler widmen, lässt aufscheinen, dass er als Klientel nicht so sehr einzelne Individuen, sondern vielmehr ‚Arten’ von Schülerinnen und Schülern vor sich sieht. Den Kollektiv146

Im Unterschied zur Einganssequenz, in der Herr Wyss noch primär zwei Gruppen unterschieden hatte (die „guten“ und die „schwächeren“ Schülerinnen und Schüler), erweitert er hier um eine Kategorie („das Mittelfeld“).

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klient ‚Schulklasse’ zergliedert er in seinem Denken in Schülergruppen, denen ein je bestimmtes schulisches ‚Niveau’ entspricht. Und solange nicht selegiert wurde, dies die implizite Überzeugung des Primarlehrers, droht eine verstärkte Förderbemühung in Bezug auf die schwächeren Schülerinnen und Schüler, das Recht auf Förderung seitens der allgemeinen Mehrheit der „anderen“ zu verletzen. An der abschliessenden Bemerkung wiederum, mit der Rolf Wyss in Zweifel zieht, ob seine Förderbemühung im Fall der „kleinen schwachen Gruppe“ überhaupt einen eigentlichen Fortschritt bringt, kommt zum Ausdruck, dass er diese nicht zu seiner eigentlichen Klientel zählt – zieht er doch die Effektivität seines Lehrerhandelns in Bezug auf deren „Fortschritt“ grundsätzlich in Frage. Im Interview kommt Herr Wyss auf die „Realschule“ als jenem Platz innerhalb des Schulsystems zu sprechen, an dem die leistungsschwächeren Schülerinnen und Schüler bestmöglich gefördert werden – sofern es dort „gute Lehrer“ habe: Rolf Wyss: Also wenn wenn es gute Lehrer in der Realschule sind, dann können diese Kinder durchaus, haben die nachher eine Möglichkeit, [I.: Mhm] hat sie ihre Berechtigung, dann muss, es muss sie geben, für diese Kinder muss jemand da sein. (I 26, 38)

Im Denken von Herrn Wyss hängen die Zukunftsaussichten von Realschulabgängerinnen und -abgängern von der Qualität der Reallehrpersonen ab: Sind in diesem Schultyp keine ‚guten’ Lehrer, dies die Implikation, so haben Realschülerinnen und -schüler auch keine „Möglichkeit“. Die Existenz und Legitimität des Realschultyps begründet Herr Wyss dadurch, dass für die leistungsschwächeren Schülerinnen und Schüler „jemand da sein“ müsse. Dass es keine ‚Realschüler’ geben könnte, wenn es diesen Schultyp nicht gäbe, zählt nicht zu den Denkmöglichkeiten von Rolf Wyss. Vielmehr sieht er jene Schülerinnen und Schüler, die er nicht ins Sekundarniveau selegiert, in der Realschule sehr gut aufgehoben. Meistens, so meint er an anderer Stelle im Interview, hätten „die ihren Weg auch gemacht, einfach äh auf eine andere Art“ (I 26, 14). Er wisse zwar nicht, stellt er im Sinne eines ‚Bekenntnisses’ fest, „was jetzt Einzelne so gemacht haben“, aber – und das scheint ihm eben ungleich wichtiger – jedenfalls hätten diese Schülerinnen und Schüler dann in der Realschule „auch einen (.) guten Lehrer gehabt, der sich so, ja, der ein bisschen einfühlsam ist“. Die Rede von der Einfühlsamkeit der Reallehrpersonen macht deutlich, dass Herr Wyss die schwächeren Schülerinnen und Schüler hintergründig als ‚Krisenfälle’ charakterisiert, die eines empathischen ‚Therapeuten’ bedürfen.147

147

Vgl. den Deutungsmustertyp ‚Fördern jenseits der Selektion’ (Kapitel 5.5), zu dem Herr Wyss hier eine Brücke schlägt.

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Seinem Faible für dem Niveau entsprechende, als förderlich verstandene Platzanweisungen innerhalb des Schulsystems verleiht Rolf Wyss im Interview eine fast schon ästhetische Dimension, indem er – sich an einen Französischaufenthalt in Paris in seiner Zeit als Junglehrer erinnernd – ein „sehr schönes Beispiel“ (I 26, 9) anführt: Rolf Wyss: An der Alliance Française, [I.: Mhm] da hat man zuerst Eintrittstests machen müssen, [I.: Mhm] und dann ist man einfach in ein Niveau eingeteilt worden, fertig. [I.: Mhm] (.) Im Grunde genommen sollte man das bei uns an der Schule auch machen (.) und dann hat es dann nicht nur einfach zwei oder drei Niveaus gehabt, es hat ungefähr zehn oder fünfzehn Niveaus gegeben, wo man hat, dann ist man dort gewesen und dort hat man (.) das nachher entsprechend, ist man gefördert worden. [I.: Mhm] Und das hat dann überhaupt keine Wertigkeit gehabt, oder? (I 26, 9)

Eine möglichst differenzierte – und, in seiner Vorstellung, dadurch nur umso ‚richtigere’ – Niveaueinteilung von Schülerinnen und Schülern anhand von „Eintrittstests“ ist es, die Herr Wyss hier ästhetisiert. Es handelte sich bei einer solchen Differenzierung von Niveaus denn auch, wie der Vergleich der „zehn oder fünfzehn Niveaus“ an der Alliance Française mit den „zwei oder drei“ im hiesigen Schulsystem zeigt, um eine Art Systemoptimierung. Je mehr unterschiedliche Niveaus, so die Rechnung, umso ‚stimmiger’ die Förderbedingungen für die unterschiedlichen Schülerinnen und Schüler. Sein das Beispiel formal und inhaltlich abschliessendes Argument, wonach „das“ – also die Zuordnung der Schülerin, des Schülers zum genau passenden von rund einem Dutzend Niveaus – zudem „überhaupt keine Wertigkeit gehabt“ habe, bringt wiederum zum Ausdruck, dass Rolf Wyss der Idee nachhängt, das Problem des normativhierarchisierenden Charakters des selektiven Schulsystems liesse sich durch eine quasi ‚technische’ Perfektionierung des Bestehenden aufheben. Die Lehrerschaft als verlässliche, kompetente Selektionsinstanz Wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, ist im Fall Rolf Wyss die Hintergrundüberzeugung auszumachen, wonach schulische Selektion im Dienste der bestmöglichen Förderung der unterschiedlich leistungsstarken Schülerinnen und Schüler – nach ihrer jeweiligen ‚Art’ – stehe. Diese Überzeugung bedingt nun, wie oben angetönt, einen starken Glauben an die ‚Richtigkeit’ des eigenen selektionsbezogenen Handelns. So behauptet Herr Wyss im Interview wiederholt die Kompetenz und Verlässlichkeit der Lehrerschaft – ja seines ‚Berufsstands’ – in dieser Frage. Er legt etwa einen gewissen Stolz bezüglich des Umstands an den Tag, dass die Gilde der Primarlehrpersonen ihre Schülerinnen und Schüler in aller Regel ein für allemal ‚richtig’ selegiere, und verficht – nachge151

rade gegenüber möglichen Einflusswünschen seitens der Elternschaft – die Autorität seines Berufsstands in Fragen der Selektion. Diese beiden Aspekte verschränken sich im Denken von Rolf Wyss. Im Folgenden soll dieser Deutungszusammenhang anhand zweier Beispiele nachgezeichnet werden. Das erste Beispiel steht im Kontext der Frage nach der ‚Durchlässigkeit’ des gegenwärtigen Schulsystems. Die Interviewerin konfrontiert Herrn Wyss an der betreffenden Stelle im Interview mit dem Argument der – entgegen bildungspolitischen Vorstellungen und Absichten – faktisch nicht (oder nur sehr bedingt) gewährleisteten Durchlässigkeit im gegenwärtigen Schulsystem (vgl. 4.3.3). Sie thematisiert dabei den Umstand, dass man theoretisch als Schülerin, als Schüler „in den Niveaufächern und auch insgesamt das Niveau wechseln könnte“ (I 26, 11f.), solche Umstufungen aber realiter sehr selten seien. „Was müsste denn anders sein, dass das gewährleistet wäre?“, will sie von Herrn Wyss wissen, spielt also auf die Diskrepanz zwischen bildungspolitischem Anspruch und empirischer Realität an. Hierauf meint Herr Wyss: Rolf Wyss: Ja, äh das spricht ja natürlich auch für uns Primarlehrer, dass wir sie richtig einstufen, oder. Es ist äh, selten ein Kind, das wir äh, falsch eingeschätzt haben, vielleicht ein, zwei Prozent. (I 26, 12)

In dieser Betonung der Verlässlichkeit und Richtigkeit der eigenen – bzw. kollektiven – Selektionspraxis drückt sich ein gewisser Berufsstolz von Rolf Wyss aus. Sein ‚Berufsstand’ – die Primarlehrpersonen – erscheint als kompetente Autorität in Sachen schulischer Selektion. Fehleinstufungen seien erfahrungsgemäss sehr „selten“ und würden höchstens „ein, zwei Prozent“ der Fälle betreffen. Wenig später doppelt er nach: Rolf Wyss: Wir haben äh, einfach wirklich diese Selektionen, die wir gemacht haben, das ist meistens richtig gewesen also da, [I.: Mhm] die sind dann auch in diesen Niveaus geblieben. (I 26, 13)

Gleichsam stellvertretend für alle an solchen Entscheiden beteiligten Primarlehrkräfte betont Herr Wyss also die ‚Verlässlichkeit’ von deren selektionsbezogenem Handeln: Einmal „richtig“ selegiert, verbleiben die betreffenden Schülerinnen und Schüler zu Recht im jeweiligen Niveau – Durchlässigkeitsideal seitens der Bildungspolitik hin oder her. Andernorts appelliert Herr Wyss – dies das zweite Beispiel für seine Autoritätsund Verlässlichkeitsbehauptung in Sachen schulischer Selektion – mit einiger Verve an Eltern, die aus seiner Sicht in der Frage, „was für ihr Kind richtig ist“, schlicht „nicht kompetent“ seien: „Tut uns den Entscheid uns überlassen!“ (I 26, 40). Mit diesem Statement verweist Herr Wyss die Eltern vielmehr auf ihren ‚angestammten Platz’ als Eltern, während er für den Bereich der schulischen 152

Fragen – und hier konkret jene der Selektionsentscheidung – gleichsam auf das Monopol der Lehrerschaft pocht. Erstaunen über den Leistungswillen der ‚schwachen’ Schülerinnen und Schüler Im Zusammenhang mit der Nicht-Auswahl eines Teils seiner Schülerinnen und Schüler für den Sekundarschultyp zeigt sich der Primarlehrer Wyss im Interview überzeugt, dass diese – bezüglich ihres Willens zur schulischen Anstrengung – daran keinen Schaden genommen haben. Zwar seien diese Schülerinnen und Schüler im Vorfeld der Selektion jeweils „enttäuscht gewesen“, wenn es ihnen bei „Tests“ und „Orientierungsarbeiten“ nicht „gereicht“ habe, hält Wyss im Sinne eines Eingeständnisses fest, doch hätten sich diese dadurch letztlich „nicht entmutigen lassen“, sondern sich vielmehr noch „mehr angestrengt“. Damit wiederholt sich das bereits an der Eingangssequenz rekonstruierte Denkmuster von Rolf Wyss: Aus einer distanzierenden Warte stellt er fest, dass die Selektion dem Schüler letztlich keinen Schaden zufügt. Aus seinem Argument, wonach die betreffenden Schülerinnen und Schüler nach einer Enttäuschung nicht etwa lahm werden, sondern sich umgekehrt noch mehr anstrengen, folgt nun aber nicht, dass diese dadurch substanziell mehr lernen oder eine lehrreiche Erfahrung daraus mitnehmen würden, sondern bloss, dass die Motivation, der innere Antrieb zur Leistung weiterhin intakt seien. Diese Argumentationsstruktur zeichnet sich im Interview immer wieder ab, etwa wo sich Herr Wyss auf den Umstand bezieht, dass in seiner aktuellen Klasse kürzlich die Selektion – in Form des punktuellen Entscheids von Mitte des 6. Schuljahres – stattgefunden habe (und also manche Schülerinnen und Schüler dem Sekundarniveau, andere hingegen dem Realniveau zugeteilt wurden). Es würden sich nämlich nach wie vor „alle sehr Mühe“ geben, meint Wyss, und fügt hinzu: „auch nach dem Selektionsentscheid“ (I 26, 1). Dass Herr Wyss prinzipiell – in Bezug auf den Schmerz in seiner subjektiven Dimension – an der bereits in der Eingangspassage sich manifestierenden Überzeugung festhält, zeigt sich in seiner Antwort auf die Frage der Interviewerin, ob aus seiner Sicht die Selektion für die Selektionsverlierer nicht eine Verletzung des Selbstwertgefühls und eine Demotiviertheit mit sich bringe. Darauf meint er nochmals mit einiger Vehemenz: Rolf Wyss: Nein, also jetzt eben ich habe Ihnen ich habe ja schon am Anfang gesagt, dass ich, sogar die ganz Schwachen, die die mü-, viele Misserfolge einstecken müssen, die, die probieren immer wieder. [I.: Mhm] Also abgelöscht sind sie auf keinen Fall, aber sie bringen einfach (?)Ihnen(?) die Leistung nicht, (?)zu erbringen(?) aber sie wollen, [I.: Mhm] sie probieren es immer wieder, das ist eigentlich (?)noch(?) erstaunlich. (I 26, 30)

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Herr Wyss supprimiert die Problematik der Negativselektion, indem er – einem sich künstlich naiv stellenden Laboranten, der in einer Versuchsanlage die physische Kondition von Hamstern im Hamsterrad testet, nicht unähnlich – mit Erstaunen ein ‚bemerkenswertes’ Verhalten seitens der Schüler feststellt: „sie probieren immer wieder“. Die Schüler lassen sich – so Rolf Wyss – durch wiederholte Rückschläge nicht entmutigen und nehmen gleichsam in einer Endlosschlaufe immer wieder Anlauf, bestimmte Leistungen zu erbringen, um bestimmte schulische Ziele zu erreichen. Wie schon die Rekonstruktion der Eingangssequenz gezeigt hat, entproblematisiert Herr Wyss die Negativselektion unter Rekurs auf das Argument, wonach die guten Schülerinnen und Schüler stets auf dem Trip seien und auch die Schwächeren – und folglich negativ Selegierten – nach wie vor Leistungswille zeigten, ja (allem pädagogisch sinnlosen Schmerz zum Trotz) geradezu „erpicht“ seien auf eine ihre Anstrengung objektivierende positive Sanktionierung. Im Anschluss hieran meint Herr Wyss: Rolf Wyss: Von dem her muss ich also bei dieser Klasse sagen (.) ja, es haben sich alle, oder geben sich alle sehr Mühe, (.) auch nach dem Selektionsentscheid, oder also, [I.: Mhm] ja, es ist nicht so, dass jetzt die einen sagen „Ja jetzt sind wir ja in der Sek, jetzt müssen wir nichts mehr machen“ und die anderen (.) „Ja es hat sowieso keinen Wert“, sondern es sind eigentlich alle (.) sind nach wie vor erpicht auf gute Noten und und genügende Leistungen. (I 26, 1-2)

Dass Rolf Wyss in dieser Passage die ‚guten’ und die ‚schwächeren’ Schülerinnen und Schüler im letzten Teilsatz mit einem Erpichtsein auf „gute Noten“ (einerseits) und „genügende Leistungen“ (andererseits) parallelisiert, lässt die implizite Überzeugung von Herrn Wyss aufscheinen, wonach die leistungsschwächeren, negativ selegierten Schülerinnen und Schüler im Grunde genommen gar nie angestrebt haben, wirklich ‚gut’ zu sein – zeichnet er diese doch unterschwellig als eine nur nach genügenden Leistungen dürstende ‚Art’ von Schülerinnen und Schülern. Diese Argumentationslogik lässt erkennen, dass Rolf Wyss unterschwellig davon ausgeht, seine als leistungsschwächer verstandene Klientel stelle – im Vergleich mit den ‚Guten’ – immer schon tiefere Ansprüche an sich selbst. Schulischer Zuständigkeitsbereich als primäres Relevanzsystem In Bezug auf die objektive Chancenminderung, die für den betreffenden Schüler, die betreffende Schülerin mit einer Negativselektion in den hierarchisch tiefer liegenden Schultyp einhergeht, durchkreuzt ein gewisses Problembewusstsein die prinzipiell entproblematisierende Argumentation von Rolf Wyss. Während er im Allgemeinen darauf besteht, dass auch negativ selegierte Schüle154

rinnen und Schüler weiterhin willens und motiviert sind, sich in der Schule anzustrengen, stellt er unter diesen doch eine gewisse Resignation bezüglich ihrer Chancen auf künftige Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten fest: Rolf Wyss: Klar, wenn man jetzt nicht in der Sek ist und wir haben ja, ich habe ungefähr sechs die, von diesen zehn, die nicht in der Sek sind, (..) die äh, ja die haben so ein bisschen (...) ja die haben ja auf eine Art auch ein bisschen re-, resigniert. (.) Aber in dem Sinn äh strengen sie sich schon noch an, aber es, es ist auch (.) einfach so, dass sie dann die Möglichkeit für den Gymer ganz sicher mal verbaut und alle diese Hochschulberufe und, [I.: Mhm] wenn man sieht, dass diese Berufspalette, die angeboten wird, wie viel (.) äh wie viele Möglichkeiten (.) Realschüler heute haben, das ist klar. (I 26, 10)

Auffallend ist, wie zögerlich Wyss das Wort „resigniert“ verwendet. Nachdem er feststellt, die negativ selegierten Schülerinnen und Schüler hätten „auf eine Art“ resigniert, macht er sich daran, diese Resignation näher zu bestimmen: Sie beziehe sich eben nicht auf den Willen zur Anstrengung, sondern vielmehr auf die objektiven weiteren Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten. Dass Rolf Wyss dieser ‚Form’ der Resignation eine vergleichsweise marginale Bedeutung beimisst, rührt daher, dass er als Lehrperson sich für die Frage der künftigen beruflichen Positionierung seiner Schülerinnen und Schüler als nicht zuständig versteht. Von seinem Problembewusstsein in Bezug auf die objektive Chancenminderung entlastet der Primarlehrer sich, wie im Folgenden gezeigt wird, durch eine ‚Sphärentrennung’: Als Lehrperson versteht sich Herr Wyss ausschliesslich der richtigen Platzanweisung seiner Schülerinnen und Schüler innerhalb des Schulsystems verpflichtet. In Bezug auf Fragen der nachschulischen Positionierung derselben im Erwerbssystem erachtet er sich – ja die Lehrerinnen und Lehrer insgesamt – als nicht zuständig. Auf die konkrete Frage etwa, wie er mit dem Wissen umgehe, dass eine Negativselektion für den betreffenden Schüler objektiv gesehen immer gewisse Berufschancen tilge, nimmt Rolf Wyss – in quasi-definitorischer Absicht – eine Beschreibung der eigenen Selektionsaufgabe vor. Diese erscheint, wie gehabt, als im Zeichen der Förderung stehend: So gehe es bei der jeweiligen „Entscheidung“ darum, dass der betreffende Schüler „in den richtigen Schultyp reinkommt“ (I 26, 37). Als seinen genuinen Zuständigkeitsbereich (bzw. denjenigen der Lehrerinnen und Lehrer, denn er spricht genau genommen davon, dass es sich um „unsere“ Entscheidung handle) definiert er also die Aufgabe der binnenschulischen Platzierung des Schülers. Dass er die Lehrerschaft als für die Frage der nachschulischen Positionierung des Schülers nicht zuständig erachtet, wird am folgenden Zitat deutlich, in dem er eine ‚gängige’ Denkweise seiner selbst und der übrigen Lehrerinnen und Lehrer schildert: 155

Rolf Wyss: Und dann sagen wir uns ja auch einfach es hat nachher verschiedene na- (.) spätere Möglichkeiten (.) das doch noch zu erreichen, also, es muss ja nicht eine Tellerwäscherkarriere sein [I.: Mhm] aber es kann ja etwas sein was, was nachher ein anderer Weg, wo er äh (.) ähm das noch machen kann. (I 26, 37)

Rolf Wyss weiss, dass es sich bei den künftigen „Möglichkeiten“ eines negativ selegierten Schülers nur um beschränkte Möglichkeiten handelt. Das zeigt sich daran, dass er die ‚Tellerwäscherkarriere’ gerade nicht als Beispiel für dessen mögliche nachschulische Karriere verstanden haben will. Darin kommt zum Ausdruck, dass sich Wyss der biografischen Tragweite der Negativselektion sehr bewusst ist: Das herangezogene Bild des Tellerwäschers impliziert in quasi idealtypischer Art und Weise, dass der betreffende Schüler von ganz unten wird ins Erwerbsleben starten müssen. Rolf Wyss ‚lebt’ und handelt sozusagen im Wissen um die biografisch nachteiligen Folgen von Negativselektion. Im Sinne einer deutenden Bewältigungsstrategie macht er aber, wie gezeigt, dieses Problembewusstsein für sich erträglich, indem er sich – ja die Lehrerschaft ‚in corpore’ – als für die dereinstige berufliche Positionierung der Schülerinnen und Schüler nicht zuständig versteht. Zum Ende des Interviews hin stellt er fest, er könne damit „eigentlich gut umgehen“ (I 36, 37), dass er manche Schüler nicht ins höhere Niveau – sprich den Sekundarschultyp – selegiert, denn, so begründet Herr Wyss, „nur weil jetzt einer Fernsehtechniker werden will“, tue er diesen „jetzt nicht, äh auch äh im Math in die Sek“. Herr Wyss zeigt sich vom Berufswunsch des Schülers betont unbeeindruckt. Nur weil einer etwas Bestimmtes werden will, so der Denkzusammenhang, ändere ich als Lehrer bestimmt nicht meine Selektionspraxis. Die oben rekonstruierte Separation von schul- und berufslaufbahnbezogenem Zuständigkeitsbereich – und seiner deutlichen Abgrenzung gegenüber letzterem – wiederholt sich in diesem Statement von Rolf Wyss. Er hält daran fest, dass es in der Schule um etwas anderes gehe, als Berufswünsche zu ermöglichen beziehungsweise Schüler in für bestimmte Berufswünsche erforderliche Schultypen einzuteilen. Was im Verständnis von Rolf Wyss demgegenüber wirklich zählt, zeigt sich in der unmittelbar an das oben genannte Argument anschliessenden Begründung, wonach der betreffende Schüler im selektionsrelevanten Schulfach „ja nur eine Vier“ habe. Allein die als objektiv messbar verstandene schulische Leistung des Schülers, der Schülerin ist es aus der Sicht von Herrn Wyss, die über dessen Niveaueinteilung entscheidet. Als den für ihn relevanten institutionellen Bereich versteht der Primarlehrer den Bereich der Schule. Interessanterweise ist es denn auch ein ‚offizielles’ Instrument innerhalb der Volksschule, der sogenannte „Selbstbeurteilungsbogen“, auf den Rolf Wyss – angesprochen auf den pädagogisch sinnlosen Schmerz in seiner objektiven Di156

mension (Chancenminderung), den negativ selegierte Schülerinnen und Schüler hinzunehmen haben – zu seiner eigenen Entlastung hinweist.148 Die Frage, ob seine ‚leistungsschwächere’ Klientel am Nachteil der Negativselektion leide (oder nicht), sei aus seiner Sicht letztlich „auch eine Frage der Selbsteinschätzung“ (I 26, 36). Auf „diese Selbstbeurteilungsbogen“ verweisend, welche die Lehrpersonen „die Kinder ausfüllen lassen“, imitiert Herr Wyss einen Schüler, dem eine Negativselektion bevorsteht: „Wie tue ich mich selber beurteilen?“, zitiert er diesen – und kommt aus dessen Perspektive zur ‚Einsicht’: „Ja, Hochschule ist nicht unbedingt ein Ziel für mich, sondern vielleicht eben ein praktischer Beruf (..) äh wo es mir gefällt“. Geht es also um den pädagogisch sinnlosen Schmerz, den ein Schüler, eine Schülerin aufgrund der mit der Negativselektion einhergehenden Tilgung künftiger Ausbildungs- und Berufschancen hinnehmen muss, kommt Herr Wyss auf das Motiv der Selbsteinschätzung zu sprechen, so als lautete das Patentrezept zur Entschärfung des Handlungsproblems von ‚Fördern und Auslesen’ seitens der Lehrkraft: Gib den ‚Schwachen’ einen Selbstbeurteilungsbogen und hoffe darauf, dass sie sich als schwach einschätzen. Denn ist der Schüler selbst davon überzeugt, nach unten zu gehören, so tut es ihm auch nicht weh, wenn er wirklich nach unten selegiert wird beziehungsweise unten bleiben muss – und schickt sich drein. 5.2.1.3

Zusammenfassung

Von zentraler Bedeutung im Denken von Herrn Wyss ist dessen Hintergrundüberzeugung, wonach den Schülerinnen und Schülern das „Recht“ zustehe, gemäss ihren „Leistungen“ – ja gemäss ihrer jeweiligen „Art“ – gefördert zu werden. Gleichsam komplementär dazu versteht er es als die Pflicht der Lehrperson, die Schülerinnen und Schüler auf dem ihnen je entsprechenden Leistungsniveau voranzubringen. Das Förderkonzept von Rolf Wyss ist an der Vorstellung von ‚Niveaugruppen’ orientiert. Wird eine Schülerin nicht im ihr entsprechenden Leistungsniveau unterrichtet, so ist in Wyss’ Augen auch die Effektivität der Lehrpraxis fraglich. Er bezweifelt, ob ein Fortschritt ihrerseits dann überhaupt möglich sei. Selektion nun ist im Denken von Rolf Wyss eine 148

Art. 10 Abs. 1 der DVBS legt fest: „Die Schülerinnen und Schüler beurteilen ihre Sachkompetenz und ihr Arbeits-, Lern- und Sozialverhalten regelmässig selber.“ Laut Abs. 2 hat die Klassenlehrkraft dafür zu sorgen, „dass die Selbstbeurteilungen mit der Schülerin oder dem Schüler besprochen werden“. Diese Selbstbeurteilung durch die Schülerinnen und Schüler soll – so der Gesetzgeber – auch im Hinblick auf deren Zuteilung zu einem Schultyp der Sekundarstufe I berücksichtigt werden. Dies ergibt sich aus Art. 32 DVBS, wonach die Zuweisung der Schülerin oder des Schülers „auf Grund der Einschätzung der mutmasslichen Entwicklung der Schülerin oder des Schülers“ zu erfolgen habe (Abs. 1), wobei die „Einschätzung der mutmasslichen Entwicklung“ mitunter auf der „Selbsteinschätzung der Schülerin oder des Schülers“ basiere (Abs. 2c).

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Voraussetzung dafür, dass Schülerinnen und Schüler in beziehungsweise auf ihrem Niveau vorangebracht werden können. An den richtigen Ort innerhalb des Schulsystems selegiert, kann ihrem Anspruch auf bestmögliche Förderung entsprochen werden. Die Selektion als ‚Platzanweisung’ steht gemäss dieser Deutung im Dienst des Förderns. Sein auf die Selektionsproblematik bezogenes Denken ist an jener Schule orientiert, wie man sie historisch vor dem systematischen Einbezug der Eltern in dieser Frage kannte. Auf der Ebene der beruflichen Identität konnte im Fall Rolf Wyss ein Selbstverständnis rekonstruiert werden, das ihn als Angehörigen eines ‚stolzen Berufsstandes’ zeigt, zu dessen Kerngeschäft die Selektion zählt: Die Primarlehrer würden, so Wyss, ihre Schülerinnen und Schüler in der Regel ein für allemal ‚richtig’ einstufen. Dieser Stolz äussert sich im Interview nicht zuletzt in Form eines imitierten Appells an die Eltern, wonach diese sich aus Angelegenheiten schulischer Selektion herauszuhalten hätten. Rolf Wyss verteidigt explizit die Entscheidkompetenz und Autorität – ja das Monopol – der Lehrerschaft in Selektionsfragen. Herr Wyss zeichnet sich durch einen starken (und gerade daher: weitestgehend stillschweigenden) Glauben an die Legitimität und Richtigkeit der gegenwärtig selektiven Organisationsform des Schulsystems aus, behauptet nachdrücklich die Vertrauenswürdigkeit und Verlässlichkeit der Lehrerschaft (als ‚Berufsstand’) und verteidigt den Hegemonieanspruch der Schule in Fragen der Selektion. Wie gezeigt werden konnte, gilt die Vorstellung einer im Dienste der Förderung stehenden Selektion im Denken von Rolf Wyss nachgerade für den Fall der Negativselektion. Diese erachtet er als angezeigt und legitim, weil nur die richtige Platzanweisung eine ‚niveaugerechte’ Förderung des betreffenden Schülers, der betreffenden Schülerin ermögliche. Im Folgenden werden jene weiteren Hintergrundüberzeugungen und Eigenheiten im Denken von Rolf Wyss rekapituliert, die seine Behauptung vom allgemein förderlichen Charakter der Selektion (als Kern seines Deutungsmusters zum Problem von Fördern und Auslesen) stützen – ja überhaupt erst konsistent erscheinen lassen. Rolf Wyss ist der Überzeugung, dass negativ selegierte Schülerinnen und Schüler in Bezug auf ihren Willen zur schulischen Anstrengung keinen Schaden nehmen. Eine Haltung künstlicher Naivität einnehmend, stellt er im Interview sein Erstaunen darüber fest, dass die betreffenden Schülerinnen und Schüler die Negativselektion unbeschadet überstehen – und es weiterhin probieren, Erfolge zu erzielen. In Bezug auf den mit Negativselektion verbundenen Schmerz in seiner objektiven Dimension (Chancenminderung) wiederum ist bei Rolf Wyss eine Haltung der Nicht-Zuständigkeit auszumachen: Er deutet es als ein gesellschaftliches Problem, dass mit schulischer Selektion (aufgrund ihrer Relevanz 158

für die künftige Positionierung der betreffenden Schülerinnen und Schüler im Erwerbssystem, ja in der Gesellschaft generell) eine Wertung verbunden ist. Zudem macht sein Verweis auf die Wichtigkeit der richtigen ‚Selbstbeurteilung’ der Schülerinnen und Schüler deutlich, dass Rolf Wyss in der Praxis auf deren Einsichtigkeit bezüglich ihrer geminderten Berufschancen hofft. Des Weiteren – und mit den bisher genannten Aspekten eng verbunden – wurde im Fall Wyss deutlich, dass dieser sich als ausschliesslich der Sphäre der ‚Schule’ verpflichtet versteht und dadurch den Umgang mit der Negativselektion für sich deutend erleichtert. Wyss identifiziert sich mit dem schulischen Zuständigkeitsbereich und bringt seine Schülerinnen und Schüler durch eine Beurteilung nach vorgegebenen Kriterien ‚weiter’, auf die eine Platzanweisung im Schulsystem folgt, die es seinen Schülerinnen und Schüler ermöglicht, auf ihrem jeweiligen schulischen Niveau lernend voranzuschreiten. Damit einhergeht seine Abgrenzung gegenüber Fragen der künftigen Positionierung seiner Schülerinnen und Schüler im Erwerbssystem. Dass Rolf Wyss generell ein – vergleichsweise ‚technisches’ – Denken innerhalb der gegebenen selektiven Schulstrukturen eigen ist, manifestiert sich nicht zuletzt in seiner Hintergrundüberzeugung, wonach sich das aus seiner Sicht wichtigste Ziel in Bezug auf ‚Fördern und Auslesen’ – nämlich eine möglichst ‚richtige’ und damit optimal ‚förderliche’ Platzanweisung eines Schülers, einer Schülerin – durch eine weitere Ausdifferenzierung und ‚Perfektionierung’ des bestehenden Systems beheben liesse: gäbe es statt der gegenwärtigen zwei bis drei ‚Schultypen’ (seinem Referenzrahmen zufolge denkt er dabei an Kleinklasse, Real- sowie Sekundarschultyp) rund ein Dutzend, so könnten die Schülerinnen und Schüler noch ‚passender’ gemäss ihren jeweiligen Leistungen, gemäss ihrer jeweiligen Art gefördert werden. 5.2.2 Kontrastierung mit weiteren Fällen Beim Deutungsmustertyp ‚Selektion als Platzanweisung’ – kurz: Typ 2 – waren neun Lehrerinnen und Lehrer zu verorten: vier Primarlehrkräfte und fünf Sekundarlehrpersonen. Im Folgenden wird, um die verschiedenen Dimensionen des Typs auszuloten, der Fall Rolf Wyss mit den Hintergrundüberzeugungen weiterer Lehrerinnen und Lehrer kontrastiert. Für alle Lehrpersonen dieses Typs gilt: Selektion – im Sinne einer Platzanweisung – dient dem Fördern bzw. ist förderlich für die Schülerin, den Schüler. In ihren Deutungen variieren die Lehrpersonen indes hinsichtlich der Frage, ob es – wie im Fall von Herrn Wyss – bei der Selektion um eine Platzanweisung innerhalb des Schulsystems geht, oder ob damit eine Vorwegnahme der Allokation der Schülerinnen und Schüler 159

im nachschulischen Ausbildungs-, Berufsbildungs- oder Erwerbssystem anvisiert wird. Damit einhergehend besteht eine erste Kontrastlinie darin, ob und zu welchem Grad eine Lehrperson sich in ihrem Deuten und Handeln einzig bzw. primär als der Institution ‚Schule’ oder aber auch (oder gar: vielmehr) dem Erwerbssystem verpflichtet versteht. Zwischen binnenschulischer Platzanweisung und vorweggenommener Allokation zu Erwerbspositionen Im Deutungsmuster von Rolf Wyss erscheint Selektion primär als eine Platzanweisung innerhalb der Strukturen des Schulsystems. Herr Wyss zeigte sich explizit unbeeindruckt von Fragen der künftigen beruflichen und gesellschaftlichen Positionierung seiner Schülerinnen und Schüler. Für ihn steht die Einweisung seiner Klientel an jenen Ort des Schulsystems im Vordergrund, der das ‚richtige’ Leistungsniveau aufweist, auf dass die Schülerinnen und Schüler dort gemäss ihrer Leistungsstärke – Herr Wyss spricht diesbezüglich auch von ihrer jeweiligen „Art“ – bestmöglich gefördert werden können. Andere Lehrpersonen dieses Typs stellen die Frage der ‚richtigen’ Selektion demgegenüber direkt in Zusammenhang mit jener der künftigen beruflichen Positionierung ihrer Schülerinnen und Schüler. Sehr deutlich kommt dies im Fall einer Primarlehrerin, Frau Schmuck, zum Ausdruck, die sich im Interview „überzeugt“ zeigt, dass „irgendwann“ sowieso eine Selektion „passieren“ müsse (I 36, 4). Auf die Rückfrage der Interviewerin, wieso dies so sei, meint sie: Gisela Schmuck: Weil einfach nicht alle Leute für dieselben Aufgaben gleich qualifiziert sind [I.: Ja. Ja]. Und es haben nicht alle am gleichen Ort die gleichen Begabungen [I.: Mhm], in Gottes Namen nicht. (I 36, 4)

Die Analyse dieser Passage liess eine Denkweise von Frau Schmuck erkennen, die an einer dereinst möglichst ‚passenden’ Allokation ihrer Klientel zu Positionen im Erwerbssystem orientiert ist: Die Schülerinnen und Schüler werden einmal – wie dies im Denken von Schmuck für alle „Leute“ gilt – solche „Aufgaben“ zu übernehmen haben, für die sie „qualifiziert“ sind. Die Frage der ‚richtigen’ schulischen Selektion bringt sie in direkten Zusammenhang mit jener der Lage der Schülerin, des Schülers nach Abschluss der obligatorischen Schulzeit. Für Frau Schmuck „lohnt“ es sich „auf lange Sicht hinaus“ nicht, so meint sie an anderer Stelle, Schülerinnen und Schüler zu „verheizen“, indem man diese in einem für sie zu anspruchsvollen schulischen Leistungsniveau belässt. Bei der Begründung dieser Haltung greift sie auf die nachschulische Zeit vor: „Spätestens dann“ nämlich, wenn schulisch zu ‚hoch’ eingestufte Schülerinnen und Schüler „eine Lehrstelle haben“, würden diese „irgendwann“ einfach nicht mehr „mögen“, ja gar „kollabieren“ – und schmissen dann „den Bettel hin“ (I 36, 9). 160

Und damit, so folgert Gisela Schmuck, „haben wir eigentlich gar nicht das erreicht, was wir gewollt haben“. Ureigenes Ziel schulischer Selektion ist es für Frau Schmuck, innerhalb des Schulwesens Schülerinnen und Schüler so zu platzieren, dass sie dereinst in der Berufswelt ‚bestehen’ – das heisst die dort übernommenen „Aufgaben“ auch wirklich erfüllen können. Herr Luini, ein Sekundarlehrer dieses Typs, der ebenfalls den Übergang in die Arbeitswelt fokussiert, betont im Interview – wie bereits Herr Wyss – die Wichtigkeit der ‚richtigen’ Selbstbeurteilung seitens der Schülerinnen und Schüler. Da müsse man darauf „hinarbeiten, dass sie sich besser einstufen können oder äh reflektieren eine Art“ (I 01, 15). Ihm geht es darum, dass es möglichst früh „schon in die richtige Richtung geht“.149 Als problematisch erscheint es Herrn Luini, wenn ein Schüler, eine Schülerin beispielsweise „zuerst eben Richtung Informatik“ geht und man als Lehrperson dann „mit dem Hammer“ kommen und sagen müsse: „Es reicht nicht.“ Während Rolf Wyss, der sich dezidiert als ein dem schulischen Zuständigkeitsbereich verpflichteter Akteur versteht, auf das Motiv der Selbstbeurteilung durch die Schülerinnen und Schüler in Bezug auf deren künftige berufliche Möglichkeiten nur subsidiär zurückgreift, setzt Martin Luini dieses ungleich zielgerichteter ein: In seinem Fall hat die im Hinblick auf die dereinst durch die Schülerinnen und Schüler einzunehmenden Positionen im Erwerbssystem möglichst richtige ‚Selbsteinstufung’ bzw. ‚Selbstreflexion’ gleichsam programmatischen Charakter. Sehr explizit und noch prononcierter als Frau Schmuck versteht er sich als ein Akteur an der Schaltstelle, ja als Gatekeeper zwischen dem Schul- und dem Erwerbssystem, wobei er das Schulsystem dem Erwerbssystem klar unterordnet. Vor dem Hintergrund einer allgemeinen Krisendiagnose betreffend den Lehrstellenmangel sowie die – aus seiner Sicht – für viele Schülerinnen und Schüler zu hohen Anforderungen im ‚Lehrstellenmarkt’ formuliert er im Interview einen „Antrag an die Wirtschaft“: Von dieser wünschte er sich, dass sie den Lehrkräften „genauer sagt“, in welche „Richtung“ die Schülerinnen und Schüler sich schon in der Schule „ein wenig spezialisieren“ sollen (I 01, 16). Einerseits setzt er also darauf, dass die Schülerinnen und Schüler sich – qua einer ‚besseren’ Selbsteinschätzung – ‚richtig’ (und das heisst primär: nicht zu hoch) einstufen, anderer149

Eine vergleichbare Deutung findet sich – im Zusammenhang mit der Frage der Selektion ins Gymnasium (oder eben nicht) – bei einem weiteren Sekundarlehrer, Wolfgang Mäder. Für diesen gilt: „Lieber einmal vorher eine Weiche stellen“ (I 17, 14), als dass Schülerinnen und Schüler einfach so das Gymnasium besuchen, ohne über eine klare Berufsvorstellung zu verfügen. Mehr als Frau Schmuck und Herr Luini versteht sich der Sekundarlehrer als ein ‚Berater’ in Sachen Laufbahnentscheide: Er erachtet es als „sehr wichtig für ein Kind“, diesbezüglich eine „Fachmeinung einzuholen bei einer Lehrkraft“. Herr Mäder charakterisiert die Lehrerschaft also insgesamt als ‚Fachmenschen’ in Fragen vor-beruflicher Weichenstellung.

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seits erweist er sich selbst als etwas ratlos in der Frage, was denn zu tun sei, damit seine Schülerinnen und Schüler in der ‚Wirtschaft’ – qua frühzeitiger Spezialisierung – auch wirklich ihren Platz finden.150 ‚Richtigkeit’ und Legitimität von Selektion Eine zweite Kontrastlinie betrifft die Art und Weise, in der die verschiedenen Fälle dieses Typs die ‚Richtigkeit’ schulischer Selektion behaupten. Dabei verbindet sich dies mit der Verteidigung der Legitimität und Verlässlichkeit von Selektion. Wie die Deutungsmusterrekonstruktion im Fall von Rolf Wyss gezeigt hat, verteidigt dieser das Monopol der Lehrerinnen- und Lehrerschaft (und das heisst in seinem Fall: die Kompetenz und Vertrauenswürdigkeit des ‚Berufsstandes’) in Fragen schulischer Auslese mit einiger Vehemenz. Auch bei den übrigen Fällen dieses Typs ist – bis auf eine Ausnahme – die Hintergrundüberzeugung auszumachen, wonach die gefällten Selektionsentscheide berechtigt und auch ‚richtig’ seien. Die Deutungen der einzelnen Lehrpersonen unterscheiden sich aber insofern, als manche – einem tendenziell mechanistischen Denkstil folgend – eher auf die ‚Regelkonformität’ der Selektion hinweisen (und dabei in institutionell-organisatorischen Kategorien denken), während andere primär ihre Erfahrung und ihr Gespür als Selektionsagentinnen monieren (und damit primär ihre individuelle Kompetenz in Selektionsfragen ins Feld führen). Ein Sekundarlehrer, Herr Matter, definiert die Selektion gleich zu Beginn des Interviews im Sinne einer allgemeinen Gesetzmässigkeit, die nicht etwa nur für Fragen der schulischen Selektion, sondern – in Bezug auf jedwede Art von Arbeit – gleichsam universell gültig sei: Pius Matter: Das ist ja im Grunde genommen bei jeder Arbeit so, oder also eh sie möchten ein Ziel erreichen (.) und dann irgendeinmal kommt halt mal die Quintessenz „Ziel erreicht oder nicht erreicht“, oder? [I.: Mhm] Und das ist ja im Grunde genommen (.) dann die Evaluation, kommt er jetzt weiter oder kommt er nicht weiter oder wäre es für ihn sinnvoll wieder zurückzugehen, oder? (I 13, 2)

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Von allen Fällen dieses Typs zeigt sich Herr Luini am explizitesten als Lehrperson, die über den Rand des Schulsystems hinausblickt und nach einem externen Orientierungswissen ruft, an dem sich seine pädagogische Praxis ausrichten liesse. Interessanterweise erweist gerade er sich als verunsichert in der Frage der eigenen diagnostischen Kompetenz. In Bezug auf eine möglichst ‚richtige’ Förderung seiner Schülerinnen und Schüler (im Hinblick auf deren Übergang ins Erwerbssystem) gibt er im Interview zu bedenken, dass man als Lehrperson gegebenenfalls einen Schüler, eine Schülerin „vielleicht in die falsche Richtung“ fördere. Dies könne aus seiner Sicht sein, weil Lehrpersonen „gewisse Sachen gar nicht erkennen, Fähigkeiten von Kindern noch nicht erkennen oder überhaupt nicht erkennen, zu wenig erkennen“ (I 01, 14).

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Selektionsentscheide sind in seiner Vorstellung das summarisch feststellbare Resultat des Bestrebens einer Schülerin, eines Schülers, ein bestimmtes Ziel – im gegebenen Zusammenhang: die für eine Positivselektion erforderliche Leistung – zu erreichen. Im Begriff der „Quintessenz“ kommt dieses Verständnis einer Selektion, die einem gleichsam logisch-rational eruierbaren Endergebnis entspricht, deutlich zum Ausdruck. Dass diese Quintessenz „halt mal“ komme, erscheint als unausweichliche, selbstverständliche Tatsache – fast könnte man sagen: sie muss im Denken des Sekundarlehrers irgendwann sein. Wie schon Herr Wyss bringt auch Herr Matter sich hier nicht als individuell handelnder Akteur ins Gespräch. Seine Schilderung des Selektionsvorgangs entbehrt einer Selbstthematisierung als Selektionsagent – die Selektion, so macht es den Anschein, fällt vielmehr zu einem bestimmten Zeitpunkt vom Himmel. Im Interview hält Herr Matter denn auch fest, er schaue das Problem von Fördern und Auslesen „nicht als Widerspruch“ an. Die Selektion betrachtet er als „Schlussstrich“, der in seinem Denken „einfach mal“ sein muss – eine Form der Selektionsentscheidung, in die seine eigenen Erwägungen und Einschätzungen einfliessen würden, ist in dieser Darstellung nicht thematisch. In diesem ‚mechanistisch’ anmutenden Selektionsverständnis kommt der temporalen Dimension ein wichtiger Stellenwert zu. Den „Schlussstrich“ (also die Selektionsentscheidung) deutet er als jenen Moment, in dem man dem Schüler, der Schülerin sagen müsse: „Okay, also bis hier hast du Zeit gehabt, das hast du erreicht und das hast du nicht erreicht.“ Ein Ziel, eine klare Zeitvorgabe, eine eindeutige Quintessenz: so lautet aus der Sicht dieses Sekundarlehrers das Rezept für eine unproblematische Selektion. Wenig später im Interview nimmt er – wobei es um die Frage des Entscheids pro oder kontra Selektion ins Gymnasium geht – gegenüber den Schülerinnen und Schülern, die vorher ‚evaluiert’ worden sind, das Schulsystem in Schutz, so als würden sie dieses anklagen. An dieser Stelle hat die Verteidigung der ‚Richtigkeit’ des Selektionsprozedere legitimatorischen Charakter. Die Schülerinnen und Schüler – so Herr Matter – hätten nämlich nach dem Übertrittsentscheid „noch ein Jahr Zeit gehabt“, es nach der 9. Klasse nochmals zu probieren. Der Selektionszeitpunkt Ende der 8. Klasse sei also „nicht eine absolute Deadline“, beschwichtigt er und stellt – weiter entproblematisierend – fest: „Also so brutal ist dann unser Schulsystem dann doch nicht, oder?“ (I 13, 3) Indem der Sekundarlehrer dies sagt, gesteht er implizit ein, dass das Schulsystem einer gewissen ‚Brutalität’ nicht entbehrt. Herr Matter geht hier also davon aus, dass Selektion für Schülerinnen und Schüler ein Problem darstellen kann, und entschärft dieses unter Rückgriff auf ein zeitlich-strukturelles Organisationskriterium des Selektionsvorgangs: Da die Schülerinnen und Schüler ausreichend Zeit haben, auf den 163

Selektionszeitpunkt hinzuarbeiten, ist deren Auswahl bzw. Nicht-Auswahl für den höheren Schultyp letztendlich legitim. In einem ähnlichen Duktus, aber direkter auf das Verhältnis von Fördern und Auslesen bezogen, argumentiert der Sekundarlehrer Wolfgang Mäder für ein „gutes selektives und förderorientiertes Schulsystem“ (I 17, 13). Analog zu Rolf Wyss steht aus dessen Sicht die Selektion – über ihre ‚richtige’ Platzierung in den Strukturen des Schulsystems – im Dienste der bestmöglichen Förderung der Schülerinnen und Schüler, wobei er sich im Interview dafür ausspricht, „ganz gezielt“ (I 17, 4) zu selegieren. Ihm schwebt die – wie schon bei Herrn Wyss ‚technisch’ anmutende – Idee vor, dass durch eine möglichst differenzierte Selektion sich das Problem von Fördern und Auslesen auflöse. Es gehe nämlich darum, „die richtigen Methoden“ der Förderung zu finden und – durch die Selektion – die für den betreffenden Schüler, die betreffende Schülerin „richtige Unterstützung“ anbieten zu können. Es wird deutlich, dass eine Perfektionierung des bestehenden, selektiven Schulsystems, für die Herr Mäder plädiert, in dessen Augen das Problem von Fördern und Auslesen entschärfen würde. In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass der Sekundarlehrer Mäder sich zum Ende des Interviews hin für die Einführung von ‚HarmoS’ ausspricht.151 Er finde es „absolut dringendst nötig“, dass die Kantone zu einem „möglichst einheitlichen Verhalten“ (I 17, 37) finden. Daran zeigt sich, wie sehr Herr Mäder an eine technische Lösung der widersprüchlichen Handlungsanforderungen im Lehrberuf glaubt, die institutionell abgesichert ist – und auch, wie vordringlich er die Problematik auf der Ebene der Organisation des Schulsystems (und nicht bezogen auf sich als Lehrperson) deutet.

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Die „Harmonisierung der obligatorischen Schule (HarmoS)“ ist ein Projekt der schweizerischen Konferenz der Erziehungsdirektorinnen und -direktoren (EDK). Im Juni 2002 hat die EDK das auf die Jahre 2003–2006 angelegte Projekt abgesegnet. Laut einer Projektinformation umfasst ‚HarmoS’ „die Entwicklung von verbindlichen Kompetenzvorgaben in zentralen Bildungsbereichen: Sprachen (Erstsprache und Fremdsprachen), Mathematik und Naturwissenschaften“ (EDK 2003). Auf nationaler Ebene sei, so heisst es weiter, „vorerst eine Beschränkung auf diese vier Bereiche definiert worden“. Indessen seien „ähnliche Entwicklungen“ auch „in anderen Fachbereichen (Geschichte und Politik, Musik, Sport, ...)“ vorgesehen. Das Projekt ‚HarmoS’ hat, wie auch gesagt wird, einen „wichtigen Bezug zum EDK-Arbeitsschwerpunkt ‚Aufbau eines nationalen Bildungsmonitorings’“. Als Teilprojekt soll „in diesem Rahmen auch die regelmässige Überprüfung der Kompetenzniveaus vorgenommen werden“. Dass sich Herr Mäder für die Umsetzung von ‚HarmoS’ ausspricht, ist unter Rückgriff auf Stichweh (1994[1987]) als Ausdruck davon zu deuten, dass dieser, der als Lehrkraft dem ‚allgemeinen Stand’ der quasi Amtsprofessionellen angehört, dem „Bündnis [...] mit dem Staat“ bejahend gegenübersteht: Seinem Eintreten für eine nationale Standardisierung von verbindlichen schulischen Kompetenzvorgaben ist jenes „Moment des Überlokalen“ inhärent, das – so Stichweh – „für den Staat konstitutiv“ ist (ebd., 382).

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Als innerhalb dieses Typs – in Bezug auf die Frage der Richtigkeit und der Legitimität schulischer Selektion – maximal kontrastiv zu den bislang erwähnten Lehrpersonen kann die Primarlehrerin Gisela Schmuck betrachtet werden. Bei ihr ist in Bezug auf die Frage, in welcher Weise eine ‚richtige’ Erfüllung der selektionsbezogenen Aufgabe – bei gleichzeitigem Förderauftrag – erfolgen muss, eine Tendenz festzustellen, die Richtigkeit der Selektion von der Qualität der eigenen Praxis abhängig zu sehen: „Wenn man es wirklich seriös macht“, findet sie, und „auf jedes Kind einzeln schaut“, dann sei „es schon zu vereinbaren.“ (I 36, 2) Anstelle eines technischen, an institutionell-organisatorischen Regeln und Bedingungen orientierten Selektionsverständnisses, das bei fast allen Lehrpersonen dieses Typs rekonstruiert werden konnte, tritt im Fall von Frau Schmuck ein gewisser Anspruch hervor, Selektion individuell – als kompetente Lehrkraft – und ausgehend von der Einzigartigkeit des einzelnen Schülers, der einzelnen Schülerin vorzunehmen. „Ich sage jeweils, jedes System ist so gut, wie die Leute, die drin arbeiten, oder?“ (I 36, 3), meint sie im Interview. Zwar definiert sie damit die Qualität der Selektion als ‚Systemqualität’, doch macht sie diese auch wiederum abhängig von den konkreten Akteuren, denkt also nicht eigentlich in Systembegriffen.152 Von den Fällen dieses Typs stellt sich Frau Schmuck am ehesten als eine in Selektionsfragen individuell kompetente Akteurin dar – und neigt insofern zum Typ ‚Ringen um das Arbeitsbündnis’ (vgl. Kapitel 5.4). Nichtsdestoweniger greift Frau Schmuck dann, wenn es im Interview um das Problem geht, dass sie immer einen Teil der Schülerinnen und Schüler negativ selegieren muss, auf eine sie als individuelle Akteurin auch entlastende Argumentationsweise zurück. Aus der Interviewanalyse geht hervor, dass in ihrem Fall das Wahrnehmen selektionsbezogener Aufgaben – und dabei nachgerade jene der Negativselektion – den Charakter einer ‚gefühlslosen’ Routine hat. Diese Haltung geht typischerweise einher mit jener Trennung der Sphären Schule und Gesellschaft bzw. Lehrerverantwortung und Gesellschaft, wie sie bereits im Fall Wyss rekonstruiert wurde. 152

Ähnlich – da dem Anspruch nach tendenziell am Einzelfall orientiert – argumentiert auch eine Sekundarlehrerin, Karin Liechti. Ihr zufolge sind Selektionsentscheide dadurch ‚richtig’, dass eine „wirklich“ gute Besprechung im Lehrerkollektiv stattfinde, wobei „alle“ selektionsrelevanten Fächer in die Entscheidfindung einbezogen würden (vgl. I 02, 13). Zudem werde auch das „Arbeits-, Lernund Sozialverhalten“ der jeweiligen Schülerinnen und Schüler berücksichtigt. Kurzum: der Selektionsentscheid basiert auf einem Verfahren, in das alle zuständigen Lehrpersonen involviert sind. Dieses garantiert in der Vorstellung von Frau Liechti, dass letztendlich – dies der Kontext ihrer Äusserungen – wirklich (nur) jene Schülerinnen und Schüler positiv selegiert werden, die effektiv ins Gymnasium „hineingehören“ – und es im höheren Schultyp auch tatsächlich „prästieren“ werden. Implizit sagt Frau Liechti damit auch, dank diesem Verfahren werde verhindert, dass ein Schüler oder eine Schülerin ‚unberechtigterweise’ für den höheren Schultyp ausgelesen wird. Dies zeigt sich deutlich in ihrem abschliessenden Satz, das „Ziel“ einer Selektion bestehe ja darin, „dass möglichst niemand mehr zurückkommt“ (ebd.).

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So meint Frau Schmuck etwa nüchtern, sie müsse „allen Recht geben“, die sagen, Realschüler und Realschülerinnen hätten „weniger Chancen“ (I 36, 42). Noch expliziter als Herr Wyss grenzt sie sich im Anschluss von einer etwaigen Mitverantwortlichkeit betreffend die Reproduktion sozialer Ungleichheit ab. „In unserer Gesellschaft ist es so, ja“, meint die Primarlehrerin und fügt hinzu: „Also als Lehrerin ist es nicht meine Aufgabe, dort etwas zu ändern.“ An anderer Stelle im Interview betont sie – in diesem Sinne –, sie „habe auch nicht das Gefühl“, sie müsse „so viel Prozent in die Sek bringen“ (I 36, 16). Sie erachtet es nicht als ihren Auftrag, möglichst viele Schülerinnen und Schüler positiv zu selegieren.153 Auf die Rückfrage der Interviewerin: „Das haben Sie nicht?“, meint Frau Schmuck dezidiert: „Nein“, dieses Gefühl habe sie nicht, und verweist auf einen ‚kantonal’ verbürgten Ausleseschlüssel, eine staatlich vorgegebene Selektionsquote: „Man sagt im Kanton Bern fünfzig Prozent.“ Auf die erneute Rückfrage der Interviewerin, ob es sich bei der Aufteilung von Fünfzig/Fünfzig (Real- bzw. Sekundarschülerinnen und -schüler) auch um das handle, was „Lehrer so als Vorstellung haben?“, meint Gisela Schmuck zunächst nochmals: „Das, was der Kanton sich vorstellt“, um sogleich festzustellen, „erfahrungsgemäss“ müsse sie auch sagen, „pendelt es sich so um die fünfzig Prozent ein“. Mit anderen Worten stellt Frau Schmuck eine Deckungsgleichheit kantonal ‚vorgestellter’ Selektionsquoten mit ihrer eigenen Erfahrung als Lehrperson und Selektionsagentin fest. Deshalb hat sie das Gefühl, sie liege richtig, sie müsse nicht möglichst viele Schülerinnen und Schüler in die Sek bringen. Der Schluss liegt nahe, dass im Zuge ihrer beruflichen Sozialisation und langjährigen Praxis für Frau Schmuck die Negativselektion von rund der Hälfte ihrer Schülerinnen und Schüler zu einem quasi ‚verwaltungsmässigen’ Usus geworden ist. In diesem Sinne könnte man sagen, Frau Schmuck sei eine im Hinblick auf das Zufügen pädagogisch sinnlosen Schmerzes längst ‚abgekühlte’ Lehrperson: Was ehemals als Drama erschienen sein mag, beschäftigt sie nicht weiter. Die Selbstdarstellung als individuell kompetente Lehrerin nimmt gleichsam verwalteten (und verwaltenden) Charakter an. Als Quasi-Amtsprofessionelle kann Frau Schmuck zu den durch den Kanton – das heisst durch den Staat – in Selektionsfragen „zur Ausübung der Herrschaft Berufenen“ (Weber 1972[1922], 124) gezählt werden.154 153

Indem sie aber davon ausgeht, dass man entsprechende Erwartungen an Lehrpersonen prinzipiell formulieren könnte, lässt Frau Schmuck unterschwellig ihr Bewusstsein um die Problematik der Negativselektion durchblicken – sonst würde sie sich nicht dagegen verwehren. 154 Die kantonal vorgegebenen Selektionsquoten erscheinen ihr als aus Erfahrung ‚richtig’. Darin drückt sich ein impliziter (und wohl gerade deshalb umso stärkerer) Glaube von Frau Schmuck „an die Legalität gesatzter Ordnungen“ aus (Weber 1972[1922], 124). Die „Legitimitätsgeltung“ der von ihr selbst reproduzierten Selektionsquoten ist in diesem Sinne „rationalen Charakters“ (ebd.), weist

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Als letzte Variante sei an dieser Stelle noch ein weiterer Sekundarlehrer – Franz Hutter – erwähnt, der zwar auch dem Deutungsmustertyp ‚Selektion als Allokation’ zugeordnet werden konnte, sich aber insoweit radikal von allen übrigen Lehrpersonen unterscheidet, als er sich in Bezug auf die Frage der ‚Verlässlichkeit’ und ‚Richtigkeit’ der zu fällenden Selektionsentscheide sehr verunsichert zeigt. Im Zusammenhang mit seiner Aufgabe, Schülerinnen und Schüler für einen Niveauwechsel auszuwählen – oder eben nicht auszuwählen –, stellt er im Interview fest: diesbezüglich sei „alles ein bisschen gummig und unklar, wie das eigentlich genau gehandhabt werden soll“ (I 03, 2). Die Analyse hat gezeigt, dass dieser Lehrer – um eine ‚richtige’ Auslese vorzunehmen – sich eigentlich gerne an institutionelle Vorgaben und klare Selektionskriterien halten würde, dies in der Praxis indes nicht recht zu bewerkstelligen weiss. Er wünscht sich also das, was Herr Wyss, Herr Matter und andere – sozusagen naiv aus seiner Sicht – verwirklichen zu können meinen, glaubt aber nicht an diese Möglichkeit und legt beinahe ein delegitimierendes Geständnis ab: „Für mich ist es nicht so klar, wie das geht, ehrlich gesagt“, gibt er zu verstehen. Sich auf die selektionsbezogenen institutionellen Vorgaben beziehend, stellt er fest: „Wir haben drei Kategorien bei diesen Beurteilungen“, und kommt exemplarisch auf eine dieser drei zu sprechen: „‚Grundanforderungen’ (hochdeutsch), die sollten definiert sein“. Gleichsam bemängelnd, dass dies realiter jedoch nicht der Fall sei, schliesst er an: „Schon das ist ja gummig, oder? Das macht ja eigentlich jeder selber.“ (I 03, 5) Herr Hutter problematisiert damit eine gewisse ‚Willkürlichkeit’ in Selektionsfragen, die aus seiner Sicht aus dem Umstand hervorgeht, dass es keine allgemeinverbindlich definierten Kriterien gibt, denen man als Selektionsagent – im Sinne eines standardisierten Vorgehens – folgen könnte. Vielmehr sieht er die Definition derselben dem Gutdünken jeder einzelnen Lehrperson überlassen. Der Kontrast zum Fall Matter, der die selektionsrelevante „Evaluation“ seiner Schülerinnen und Schüler als gänzlich unproblematischen Vorgang beschreibt, wird auch andernorts nochmals sehr deutlich: Für den in der Frage der ‚Richtigkeit’ seiner Selektionsentscheide verunsicherten Herrn Hutter besteht „ein heikler Punkt“ darin, dass man „schlussendlich“ als Lehrperson „einen Haufen Resultate beieinander“ habe und „das irgendwie evaluieren“ sollte und „schauen, ist jetzt das wirklich so“ (I 03, 3). Der im Fall Matter rekonstruierte Charakter der ‚Selbstverständlichkeit’ und fraglosen Gültigkeit von Selektionsentscheiden im Sinne einer (quasi mechanisch vollziehbaren) summarischen Quintessenz fehlt bei Franz Hutter gänzlich. An ihre Stelle tritt in seinem Fall ein quasi permanenter Zweifel an der ‚Wirklichkeit’ eines zu vollzieaber auch einen ‚traditionalen’ Zug auf dadurch, dass Frau Schmuck qua Rekurs auf ihre langjährige Erfahrung als Selektionsagentin unterschwellig eine „von jeher“ (ebd.) als ‚richtig’ geltende Praxis legitimiert.

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henden Selektionsentscheids. Herr Hutter argumentiert vor dem Hintergrund erlebter Schwierigkeiten und Belastungen im Lehrberuf – im Interview erwähnt er eine wenige Jahre zurückliegende Krise –, währenddem die Verfechter einer eindeutig vorhandenen ‚Richtigkeit’ der Selektionsentscheide – Frau Schmuck, die der Einzigartigkeit der Schülerin hohes Gewicht beimisst, inbegriffen – sich als selbstüberzeugte und wenig belastete Lehrpersonen darstellen. Entproblematisierung der Negativselektion Eine weitere Kontrastlinie besteht in der unterschiedlichen Art und Weise, in der die Fälle dieses Deutungsmustertyps den Umstand entproblematisieren, dass sie stets bestimmte Schülerinnen und Schüler negativ selegieren müssen – und diesen damit einen pädagogisch sinnlosen Schmerz zufügen. Wie das Porträt zu Rolf Wyss gezeigt hat, erachtet dieser die Negativselektion eines Teils seiner Schülerinnen und Schüler deswegen als unproblematisch, weil er bei ihnen keinen Zusammenbruch des Willens zur Leistungserbringung feststellen könne, und er – ganz allgemein – die Nicht-Auswahl für den Sekundarschultyp bzw. die Selektion in den Realschultyp als im Dienste der Förderung stehend versteht: die betreffenden Schülerinnen und Schüler können dort nach ihrer jeweiligen ‚Art’ schulisch weitergebracht werden. Wie im Folgenden gezeigt wird, sind bei den Lehrpersonen dieses Typs zwei weitere, je etwas anders gelagerte Formen der Entproblematisierung auszumachen: eine entdramatisierende und eine therapeutisierende. Eine Deutung, mit der die Primarlehrerin Gisela Schmuck das Problem des mit einer Negativselektion verbundenen pädagogisch sinnlosen Schmerzes entschärft, besteht darin, letzteren als einen bloss vorübergehenden – und also für den betreffenden Schüler, die betreffende Schülerin wenig ‚einschneidenden’ – zu charakterisieren. Dass sie eigentlich um die Existenz des nicht-sinnvollen Schmerzes weiss, zeigt sich im Interview: „Klar ist eine gewisse Enttäuschung da“, meint sie in Bezug auf negativ selegierte Schülerinnen und Schüler, „weil jedes Kind hätte gerne, dass es reicht für das höhere Niveau.“ (I 36, 11) Sie beschwichtigt aber umgehend, habe sie doch „die Erfahrung gemacht, dass jene Kinder, die nicht stark gepuscht werden“, gut mit der Negativselektion „umgehen“ können. Diese nämlich – so Frau Schmuck – „rappeln sich auf und ziehen wieder an“. Während Herr Wyss in Abrede stellt, dass Schülerinnen und Schüler aufgrund einer Negativselektion überhaupt einen Schmerz (mit der Folge einer Demotiviertheit) erleiden, entproblematisiert Frau Schmuck den Schmerz dadurch, dass sie ihn als von vorübergehender Dauer versteht. Diesen wiederum erachtet sie als für die betreffende Schülerin, den betreffenden Schüler umso leichter zu überwinden, je weniger diese bzw. dieser zuvor dazu angetrieben 168

worden ist, die fragliche Selektionshürde zu schaffen. Am Rekurs von Frau Schmuck auf die eigene „Erfahrung“ in dieser Angelegenheit wird abermals deutlich, dass für sie das Zufügen pädagogisch sinnlosen Schmerzes gleichsam routinemässigen Charakter hat und also auch für sie als Lehrperson nichts ‚Dramatisches’ darstellt. Andere Lehrpersonen dieses Typs wiederum deuten – womit die zweite entproblematisierende Deutungsweise bezeichnet ist – die Negativselektion eo ipso als für die betreffenden Schülerinnen und Schüler im engeren Sinne ‚förderlich’; sei es, dass die Negativselektion als therapeutisch motiviert verstanden, sei es, dass sie als der Persönlichkeit des betreffenden Schülers, der betreffenden Schülerin entsprechend gesehen wird: Aus der Sicht von Herrn Mäder etwa bringt die Abstufung eines Schülers in die Kleinklasse den Vorteil, dass dieser dort „einen Chnüppu155 lösen“ könne. Die Negativselektion versteht er als quasitherapeutische Intervention, denn „wenn man diesen Chnüppu nicht löst“, so komme dieser „halt später im Erwachsenenleben nachher hervor“. Auch Herr Matter stellt die Negativselektion – in seinem Fall geht es um jene der NichtAuslese eines Teils der Schülerinnen und Schüler fürs Gymnasium – als ‚förderlich’ dar: „Es müssen doch nicht alle in den Gymer, oder?“, sagt er im Interview und fügt hinzu, er finde, „eine Förderung“ könne in seinen Augen „auch da drin bestehen“, dass er sage: Pius Matter: Eben nicht Gymer. [I.: Mhm] Du hast andere Fähigkeiten [I.: Mhm] bauen wir die aus, das ist für dich besser es passt zu deiner Persönlichkeit, so wie ich sie jetzt kenne, besser. (I 13, 32)

Im Denken dieses Sekundarlehrers geht es bei Selektionsentscheidungen wesentlich darum, dass der zu besuchende Schultyp zu den Fähigkeiten und auch zur Persönlichkeit der jeweiligen Schülerin, des jeweiligen Schülers ‚passen’ muss. Herr Matter zeigt sich im Interview denn auch grundsätzlich skeptisch gegenüber der – von ihm offenbar als verbreitet betrachteten – Idee, es gelte in der Schule möglichst alle Schülerinnen und Schüler nach ‚oben’ zu bringen: Pius Matter: Ich finde das Wohl vom Kind ist ja nicht so, dass es möglichst weit oben hinaus kommt, oder? Sondern es muss mit seinen Leistungen und mit dem, was es bringt, zufrieden sein können, oder? Und kann (?)noch(?) gut, das ist auch ein Lernprozess akzeptieren: „Ich kann jetzt halt das nicht“, oder? (I 13, 31)

Dass er es als „Lernprozess“ versteht, wenn eine Schülerin, ein Schüler zur ‚Zufriedenheit’ mit den eigenen Leistungen findet, deutet nachgerade auf eine Vorstellung bei Pius Matter hin, der entsprechend jene, die eben nicht „weit 155

Berndeutsch für ‚Knoten’.

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oben hinaus“ kommen, sich nolens volens damit werden abfinden müssen. Herr Matter erwartet also – ähnlich wie Herr Wyss im Zusammenhang mit den ‚Selbstbeurteilungsbogen’ – von seiner als leistungsschwächer verstandenen Klientel eine gewisse Einsichtigkeit in Bezug auf die eigenen ‚Unfähigkeiten’ bzw. ein Abkühlen derselben in Bezug darauf, „möglichst weit oben hinaus“ kommen zu wollen.156 In ihren Deutungen des mit einer negativen Selektionsentscheidung für den betreffenden Schüler, die betreffende Schülerin einhergehenden Schmerzes in seiner subjektiven Dimension (Kränkung und Demotivierung) variieren die Lehrpersonen dieses Typs also insofern, als sie diesen entweder als überhaupt nicht existent beziehungsweise als einen vorübergehenden betrachten (Entdramatisierung) – oder aber die Negativselektion als in einem gewissen Sinne ‚heilsam’ für die betreffende Schülerin, den betreffenden Schüler verstanden haben wollen (Therapeutisierung). Zwischen institutioneller Lösung und persönlicher ‚Selbstzerfleischung’ Wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, immunisieren sich die Lehrpersonen dieses Deutungsmustertyps erfolgreich gegenüber dem Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ – beziehungsweise scheinen sie aufgrund des Denk- und Handlungsradius, innerhalb dessen sie sich bewegen, von vornherein immer schon gegen dieses immun zu sein. In ihren Argumentationen rekurrieren sie auf tief eingeschliffene, berufspraktisch bewährte Hintergrundüberzeugungen – ja auf die Vorstellung der Legitimität und ‚Richtigkeit’ ihres Handelns innerhalb des gegebenen Schulsystems generell. So sei etwa an Herrn Wyss erinnert, der die Frage der Selektion nachgerade als ein berechtigtes Monopol des Lehrkörpers verstanden haben will, oder auch an Herrn Mäder, der sich – von einer tiefen inneren Überzeugung geleitet – für ein „gutes selektives und förderorientiertes Schulsystem“ (I 17, 13) ausspricht. Nichtsdestotrotz sind bei einigen Lehrern dieses Typs auch Denkfiguren auszumachen, die als Ausdruck eines ‚latenten Leidens’ am Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ zu lesen sind. Im Folgenden wird exemplarisch auf einen Fall eingegangen, der dieses zwar einerseits unter Rückgriff auf institutionell-organisatorische Kategorien entschärft, andererseits aber in seiner unterschwelligen Virulenz auch bestätigt, sobald er sich als individuelle Lehrkraft befragt sieht. In diesem Beispiel geht es um Pius Matter, der – vor dem Hintergrund der Problematik, dass schwächere Schülerinnen und Schüler einer besonderen Förderung 156

Auf das Theorem der ‚Abkühlung’ wird in der Zusammenfassung dieses Typs (vgl. 5.2.3) näher eingegangen.

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bedürften, um nicht negativ selegiert zu werden – moniert, dass das „Zeitreservoir“ für „diese Arbeit“ nicht ausreiche. Der Sekundarlehrer rechnet aus: Pius Matter: Wenn Sie eine Klasse haben von fünfundzwanzig Leuten oder, und dann haben Sie fünfundvierzig Minuten Unterricht, ja (..) das ist für den Einzelnen ist dann da wahnsinnig wenig Zeit übrig, oder? (I 13, 14)

Herr Matter stellt also fest, dass er dem „Einzelnen“ nicht wirklich gerecht werden kann. An seinem Argument, wonach für den einzelnen Schüler nur sehr wenig Zeit „übrig“ bleibe, wird deutlich, dass der Sekundarlehrer als seinen primären Klienten latent den Einzelnen sieht, sich aber legitimatorisch – qua kalkulatorischer Vorführung ihrer zeitlich-strukturellen Unmöglichkeit – von der Aufgabe einer am Einzelfall orientierten pädagogischen Praxis ‚freispricht’. Dahingehend befragt, ob er als Lehrer nicht den Anspruch habe, besonders leistungsschwachen Schülerinnen und Schülern zu helfen und diese speziell zu unterstützen, weist Herr Matter – weiter in institutionell-organisatorischen Kategorien denkend – auf den an seiner Schule existierenden „Vorteil“ hin, „dass wir hier Sozialarbeiter haben“ (I 13, 9). Den Umstand des ungenügenden ‚Zeitreservoirs’ für eine am (insbesondere leistungsschwächeren) Einzelfall orientierte Förderpraxis entproblematisiert er demnach unter Rekurs auf die Existenz von Sozialarbeitern, die ihm „diese Arbeit“ – die er implizit als eine anstrengend-unangenehme konnotiert – abnehmen: Das organisatorische Problem wird also – durch Funktionsdifferenzierung – organisatorisch gelöst. Tendenziell gibt Pius Matter damit die Aufgabe, leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler individuell zu fördern, an andere ab. Ein ‚heikler’ Punkt in diesem Deutungsmuster scheint nun aber genau darin zu liegen: Im Denken des Sekundarlehrers Matter, der aus einer nüchterndistanzierenden Perspektive die Selektion im Allgemeinen als insofern ‚richtig’ und legitim verstanden haben will, als es sich dabei um eine gleichsam universell gültige Gesetzmässigkeit handle, taucht just dort ein Problem auf, wo er selbst – als Pädagoge – ins Spiel kommt. Wie weiter oben gezeigt, deutet er die Selektionsentscheidung als „Schlussstrich“ (I 13, 2), den er als Lehrperson – in durchwegs mechanisch anmutender Art und Weise – zu einem bestimmten Zeitpunkt zu ziehen hat, um die auf ein bestimmtes Selektionsziel hin erbrachten Leistungen seiner Schülerinnen und Schüler bilanzieren zu können: „Okay also bis hier hast du Zeit gehabt, das hast du erreicht und das hast du nicht erreicht“, so spielt er im Interview eine entsprechende Lehrer-Schüler-Interaktion nach. Im unmittelbaren Anschluss an diese Stelle zeigt sich nun aber jenes Problembewusstsein von Pius Matter, das mit seinem Auftrag als Lehrperson selbst zu tun hat, indem er meint: „und das haben wir zusammen erreicht und das haben wir zusammen nicht erreicht und jetzt müssen wir (?)halt(da?) daraus Konse171

quenzen ziehen, oder?“ (Ebd.) Das Ziehen von „Konsequenzen“ – also der eigentliche Selektionsentscheid – ist insofern implizit problembehaftet, als der Sekundarlehrer aufscheinen lässt, dass er seine eigene pädagogische Praxis als eine die Frage der effektiven Zielerreichung des Schülers, der Schülerin mitbestimmende versteht. Gegebenenfalls nämlich haben er und die Schülerin, der Schüler gewisse „Ziele“ – quasi auf dem gemeinsamen Weg dahin – zusammen nicht erreicht. Später wird er von der Interviewerin nochmals auf die Schwierigkeit der Negativselektion angesprochen: Ob er es nicht als inneren Konflikt wahrnehme, Schülerinnen und Schüler zu fördern, um ihnen dann doch einen negativen Selektionsentscheid mitteilen zu müssen, will diese von ihm wissen. „Da würde ich natürlich anfangen zu grübeln“ (I 13, 22), meint Pius Matter hierauf, und gibt zu verstehen, dass man sich als Lehrperson in so einem Fall schon die Frage stelle, ob man denn „diese Förderung falsch aufgebaut“ habe. Mit anderen Worten, so fügt Herr Matter an: „Also hat er [der Schüler; Anm. d. A.] es nicht erreicht, weil ich Pfusch gemacht habe, oder, (..) oder hat er nicht das Optimale herausgeholt?“ (I 13, 22) Diese auf die eigene Förderpraxis bezogene ‚Grübelei’ könne bis zur „Selbst- fast Zerfleischung“ gehen, meint er im Anschluss, und bringt das Problem in einen übergeordneten Zusammenhang: Dass nämlich „ein gewisser Prozentsatz von den Lehrern“ aus dem Lehrberuf „frühzeitig austritt“, das komme „wohl auch nicht von ungefähr, oder?“. Vor dem Hintergrund dieses latent immer schwelenden Problembewusstseins der potenziellen Unzulänglichkeit der eigenen pädagogischen Praxis erstaunt es wiederum nicht, dass Pius Matter gerade das Fördern leistungsschwächerer Schülerinnen und Schüler, für welche das Ziehen des ‚Schlussstrichs’ auch am ehesten einen negativen Selektionsentscheid bedeutet, gerne an dafür spezialisierte ‚Sonderpädagogen’ bzw. Sozialarbeiter delegiert. 5.2.3 Zusammenfassung des Deutungsmustertyps Die Lehrpersonen des Deutungsmustertyps ‚Selektion als Platzanweisung’ stellen in ihrem Denken die Selektion in den Dienst der bestmöglichen Förderung aller Schülerinnen und Schüler. Die allen Fällen dieses Typs gemeinsame Hintergrundüberzeugung, wonach die ‚richtige’ Platzanweisung ihrer Klientel in den Strukturen des Schulsystems (und teils auch im Hinblick auf deren dereinstige Allokation im Erwerbssystem) unabdingbar ist, damit ein jeder, eine jede auf dem ihm bzw. ihr entsprechenden Niveau – oder, wie Herr Wyss sagt, nach seiner bzw. ihrer ‚Art’ – gefördert werden können, geht einher mit einem starken Glauben an die Legitimität und Verlässlichkeit schulischer Selektion. Die Lehrpersonen sind als gegenüber dem Problem von Fördern und Auslesen weit172

gehend immun zu verstehen. Im Folgenden werden die den Fällen dieses Deutungsmustertyps eigenen Hintergrundüberzeugungen und Denkfiguren rekapituliert, mit denen sie das unterstellte Handlungsproblem deutend tilgen. In Bezug auf die Frage nach ihrem selektionsbezogenen Auftrag bewegen sich die Lehrkräfte dieses Typs (und dies in unterschiedlich ‚reiner’ Form) zwischen dem Anspruch der ‚richtigen’ binnenschulischen Platzanweisung (am deutlichsten: Rolf Wyss), einerseits und der Orientierung an einer gleichsam vorweggenommenen Allokation zu Erwerbspositionen (am deutlichsten: Martin Luini), andererseits. Verallgemeinernd kann gesagt werden, dass Lehrkräfte, denen ein eher schulimmanentes Denken eigen ist (und die sich also von ausserschulischen Fragen wie jener der künftigen Positionierung ihrer Klientel im hierarchischen Erwerbssystem abgrenzen), für eine technische Optimierung des selektiven Schulsystems plädieren, die sie in einer feineren Abstufung unterschiedlicher Leistungsniveaus oder in der Einführung landesweit geltender Kompetenzvorgaben im Sinne national standardisierter Selektionskriterien erblicken. Demgegenüber zeigen sich Lehrkräfte, die über den Rand des Schulsystems hinausblicken und ihre selektionsbezogenen Aufgaben in direktem Zusammenhang mit der Frage des Übergangs ihrer Schülerinnen und Schüler ins Erwerbssystem sehen, an einem zusätzlichen Orientierungswissen aus der ‚Wirtschaft’ interessiert, um vor diesem Hintergrund ihre Klientel möglichst in die entsprechende Richtung fördern – und das heisst immer auch, diese ‚richtig’ auslesen – zu können. Die Differenz in der jeweiligen Ausprägung des Deutungsmustertyps ‚Fördern als Platzanweisung’ ist – professionalisierungstheoretisch gesehen – insofern von Bedeutung, als im einen Fall, dem Denken innerhalb des Relevanzsystems ‚schulischer Zuständigkeitsbereich’, sich die Lehrperson ganz auf die Legitimität der Organisationsrationalität des herrschenden Schulsystems abstützen kann, um das Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ zu entschärfen (man könnte von einer ‚endemischen’ Immunisierung sprechen), während im anderen Fall, einem gleichsam erweiterten, auf die Frage der nachschulischen Positionierung der Schülerinnen und Schülern bezogenen Denken, die Lehrperson sich – aufgrund der Überkomplexität des so verstandenen Selektionsauftrags – im eigenen Handeln verunsichert zeigt. Die eingangs angesprochene Überzeugtheit vom förderlichen Charakter der Selektion überhaupt gilt aus Sicht der hier thematischen Lehrpersonen nachgerade für den Fall der Negativselektion. Rolf Wyss entschärft für sich das Problem, einen Teil seiner Schülerinnen und Schüler negativ selegieren zu müssen, vordringlich durch die Deutung, dass ihre Motiviertheit zur Leistungserbringung damit nicht reduziert werde. Die Aufrechterhaltung des Leistungswillens seitens seiner negativ selegierten Klientel, wie sie Herr Wyss konstatiert, wird in dem 173

auf Goffman zurückgehenden Theorem des ‚Cooling out’ (siehe auch 2.2.2.2 und Fussnote 60) als zentrales Moment beschrieben: Die Krise, mit der sich die Selektionsopfer konfrontiert sehen, verwandelt sich in etwas Erträgliches. Eine vergleichbare Deutung war auch im Fall von Gisela Schmuck auszumachen, die den für die betreffenden Schülerinnen und Schüler mit der Negativselektion verbundenen pädagogisch sinnlosen Schmerz als einen vorübergehenden charakterisiert: Sie geht davon aus, dass der Schmerz der Schülerin, des Schülers abklingt, beschreibt also einen ‚Abkühlungsprozess’ bei ihrer negativ selegierten Klientel. Welche Rolle mögen die Lehrpersonen selber im Rahmen dieser – von ihnen so beschriebenen – Abkühlungsprozesse spielen? Dass etwa Herr Wyss gerade im Zusammenhang mit bevorstehenden Negativselektionen auf die Wichtigkeit der ‚richtigen’ Selbstbeurteilung seitens der Schülerinnen und Schüler hinweist, lässt erkennen, dass er in praxi – er lässt sie „diese Selbstbeurteilungsbogen“ ausfüllen – auf deren Einsichtigkeit bezüglich ihrer minderen Fähigkeiten und Chancen hofft. Im Fall von Herrn Luini kommt dem Instrument des Selbstbeurteilungsbogens gar eine durchwegs ‚aktive’ Rolle zu, meint dieser doch, man müsse geradezu darauf „hinarbeiten“ (I 01, 15), dass die Schülerinnen und Schüler sich „besser“ einstufen können – das heisst im gegebenen Kontext (paradoxerweise): als ebenso schwach, wie er selber diese sieht. Schliesslich bezeichnet ein weiterer Lehrer, Herr Matter, es gar als einen „Lernprozess“ (I 13, 31), wenn eine Schülerin, ein Schüler zur ‚Zufriedenheit’ mit den eigenen, für eine Positivselektion nicht ausreichenden Leistungen finde. Diese ‚Einsicht’ in die eigenen Fähigkeiten bzw. Unfähigkeiten erhält – vermittels des Abkühlungsprozesses – den Charakter einer versöhnlichen ‚Genügsamkeit’. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die Lehrpersonen des Typs ‚Selektion als Platzanweisung’ als „Abkühlungsagenten“ (Schumann/Gerken/Seus 1991, 39) fungieren. Unter Rückgriff auf Goffmann (1962), aber auch auf neuere Arbeiten wie Schumann/Gerken/Seus (1991), Mariak/Kluge (1998) sowie Mariak/Seus (1993) sprechen Haeberlin/Imdorf/Kronig (2004) von einer „Abkühlungsstrategie“ im schulischen Bereich, die darin besteht, dass „Abkühlungsagenten“ die negativ betroffenen Schülerinnen und Schüler einen „Ersatzstatus“ (ebd., 130) finden lassen, der den angestrebten, jedoch verfehlten Bildungsstatus allmählich verzichtbar mache. Eine zentrale Abkühlungsstrategie bestehe darin, so schreiben die Autoren weiter, dass die Nicht-Ausgewählten „von der Richtigkeit [...] der für sie negativen Beurteilung157 überzeugt werden“ (ebd., 131): 157

Haeberlin/Imdorf/Kronig unterscheiden nicht hinreichend zwischen dem Moment der Beurteilung und jenem der Selektion. Theoretisch ist eine schulische Leistungsbeurteilung jenseits der Selektionsfrage denkbar (vgl. 2.2.2.1).

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Die Nicht-Auswahl muss ihnen als ‚selbstverschuldet’ erscheinen beziehungsweise von ihnen als Entscheid gewertet werden, der ihren Fähigkeiten und Unfähigkeiten entspricht. Die negativ Selegierten sollen „auf einem niedrigeren Qualifikationsniveau weiterhin motiviert bleiben, Leistung zu erbringen“ (ebd.). Hält man sich vor Augen, dass Herr Wyss (zur eigenen Entlastung in Sachen Negativselektion) auf die ‚Einsichtigkeit’ seiner leistungsschwächeren Klientel hofft, Herr Matter mit Zufriedenheit entsprechende „Lernprozesse“ zu beobachten scheint und Herr Luini – in seiner Selbstbeschreibung – aktiv darauf hinarbeitet, dass Schülerinnen und Schüler lernen, sich (angesichts des allgemeinen Lehrstellenmangels) selbst ‚besser’ – und das meint eben: entsprechend ‚schwach’ – einzustufen, so ist festzuhalten, dass sich die Lehrpersonen des Deutungsmustertyps ‚Selektion als Platzanweisung’ durchaus als (mehr oder minder aktive) Abkühlungsagenten darstellen. Neben diesen entdramatisierenden ‚Lösungen’ des Zwangs zur Negativselektion finden sich bei diesem Typ auch solche, denen zufolge die Nicht-Auswahl eines Teils der Klientel für den höheren Schultyp (bzw. die Selektion in einen hierarchisch tiefer liegenden Schultyp hinein) eo ipso förderlich ist im Sinne eines quasi-therapeutischen Aktes: So meint etwa Herr Mäder, die Platzierung eines Schülers in die Kleinklasse helfe diesem, einen ‚Knoten’ zu lösen, der ihm sonst im späteren Leben zum Verhängnis werden könne. Er denkt dabei an einen schonraum-ähnlichen Schutz vor Überforderung, wie er in Therapien von fundamentaler Bedeutung ist, nicht aber an den minderwertigen schulischen Titel und die künftigen Chancen, die dem Schüler mit diesem verbaut sind. Das Kernelement der im Dienste des Förderns stehenden Platzanweisung im hier behandelten Deutungsmustertyp verbindet sich mit einem zweiten wichtigen Element, nämlich dass sich die Lehrpersonen dieses Typs gegenüber dem Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ unter Verweis auf die ‚Richtigkeit’ und Legitimität von Selektion immunisieren. Im Fall von Rolf Wyss wurde deutlich, dass dieser das Monopol der Lehrerinnen und Lehrer in Fragen schulischer Auslese vehement verteidigt. Die ‚Richtigkeit’ der Selektion versteht er als durch die Kompetenz der Primarlehrpersonen – im Sinne eines Berufsstands – hinreichend verbürgt. Typischerweise bringt Herr Wyss sich kaum je als individuellen Selegierer ins Gespräch – die schulische Auslese versteht er also vielmehr als eine weitgehend ‚anonym’, für Aussenstehende unsichtbar stattfindende Angelegenheit. Die übrigen Lehrpersonen rufen teilweise (in mechanischer Art) die allgemeine ‚Regelkonformität’ der Selektionsprozedur an – sie denken also wie Rolf Wyss entlang institutionell-organisatorischer Kategorien. Teilweise führen sie aber auch ihre individuelle Kompetenz als Selektionsagen-

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tinnen ins Feld, behaupten also die ‚Richtigkeit’ der schulischen Auslese qua eigene Erfahrung in dieser Sache. Ein interessanter Kontrast zwischen den Lehrpersonen dieses Deutungsmustertyps besteht in diesem Zusammenhang bezüglich der Frage, wie weit sie beim Treffen des ‚richtigen’ Selektionsentscheids das Mitwirken anderer Akteure begrüssen. In der Denkweise von Rolf Wyss zeigt sich eine Ablehnung solcher Mitwirkung: Er versperrt sich sehr prononciert gegen die im Bildungswesen historisch vergleichsweise neue Tendenz, die Meinung der Eltern bei Selektionsentscheidungen mitzuberücksichtigen. Professionstheoretisch lässt sich dies als Kampf gegen eine Autonomieverringerung beim Lehrerstand interpretieren. Stichweh spricht in diesem Zusammenhang von der „Furcht vor beruflichen Abhängigkeiten“ (Stichweh 1994[1987], 382) im Zusammenhang mit dem Mitspracherecht von „Laien“ (ebd.). Im Fall Rolf Wyss liess sich eine allgemeine Haltung rekonstruieren, der zufolge dieser geneigt ist, an der „Asymmetrie im Professionellen/Klienten-Verhältnis“ (ebd., 371) festzuhalten. Wyss, der die vom Lehrkörper vollzogenen Selektionsentscheide als gleichsam unanfechtbare „funktionale Expertise“ verstanden haben will, sperrt sich nachdrücklich gegen eine „Inklusion des Laien“ (im konkreten Beispiel das Mitspracherecht der Eltern) in dieser Sache. „Professionalisierung scheint [...] eine spezifische Interaktionsabhängigkeit der von ihr betroffenen Funktionssysteme zu erzeugen oder diese vorauszusetzen“, schreibt Stichweh (ebd.). Die Rekonstruktion des Deutungsmusters, auf das Herr Wyss vor dem Hintergrund des Handlungsproblems von ‚Fördern und Auslesen’ rekurriert, zeigt demgegenüber, dass dieser sich – im Zusammenhang mit Angelegenheiten der schulischen Selektion – nachgerade für eine Unabhängigkeit der Lehrperson ausspricht. Demgegenüber zeigt sich Martin Luini – der (wie weiter oben erwähnt) im Sinne der ‚Richtigkeit’ schulischer Selektion nach Orientierungswissen aus der Wirtschaft ruft – einer Inklusion von ‚Expertisen’ schulexterner Provenienz gegenüber offen. Während Rolf Wyss sich einem ‚binnenschulischen’ Denken verpflichtet sieht, folgt Herr Luini einer Denkweise, wie sie im sogenannten ‚Manpower approach’ zu finden ist. Dieser makroökonomisch inspirierte bildungsplanerische Ansatz, der insbesondere in den 1970er und 1980er Jahren verbreitet war, aber bis heute das bildungspolitische Denken mitprägt, geht davon aus, dass es notwendig (und auch möglich) ist, das Bildungswesen – vor allem auch das postobligatorische – so auszugestalten, dass es jene Arbeitskräfte ‚produziert’, die das Beschäftigungssystem benötigt, und zwar sowohl in qualifikatorisch-inhaltlicher Hinsicht als auch zahlenmässig (Streckeisen 1981). Wie gezeigt werden konnte, glauben die Lehrpersonen dieses Deutungsmustertyps – verallgemeinernd gesagt – an eine ‚organisatorisch-institutionelle’ Lö176

sung des Problems von ‚Fördern und Auslesen’. Es wurde deutlich, dass verschiedentlich gerade in Bezug auf pädagogisch besonders herausfordernde Aufgabenstellungen (Förderung der leistungsschwächeren Klientel) die Lehrkräfte dieses Typs auf institutionalisierte Patentlösungen, auf vorstrukturierte ‚Rezepturen’ verweisen (Förder- und Stützunterricht; Existenz von Sozialarbeitern u.a.m.). Die rekonstruierten Deutungsmuster – im Sinne problemlösender Routinen – legen Handlungsdispositionen nahe, die auf eine Praxis der „formalistischen Unpersönlichkeit“ (Weber 1972[1922], 129) schliessen lassen. Abgesehen von Martin Luini und Wolfgang Hutter, bei denen eine vergleichsweise starke Verunsicherung in Bezug auf das eigene berufliche Handeln rekonstruiert werden konnte, erscheinen die Lehrpersonen dieses Typs als eingesessene Amtsprofessionelle im Sinne von Lehrkräften mit Beamtenmentalität. „Sine ira et studio“ (ohne Hass und Leidenschaft), charakterisiert Weber jene Form der Herrschaft, unter welcher der „ideale Beamte“ seines Amtes waltet, und: „ohne Ansehen der Person“ (ebd.). Eine solche Haltung war bei fast allen Repräsentanten dieses Typs auszumachen: Sie sehen sich weitestgehend als Pflichterfüllende eines allgemeinen Standes, der „an die Legalität gesatzter Ordnungen“ (ebd., 124) im Schulsystem glaubt. Etwas anders gelagert ist in dieser Hinsicht Gisela Schmuck, bei der sich zum Selbstverständnis als Pflichterfüllende jenes einer individuell fähigen Selektionsagentin gesellt, sich also eine Gleichzeitigkeit von formalistischer Unpersönlichkeit und persönlicher Kompetenzbehauptung nachzeichnen liess. Bezeichnend für die Lehrpersonen dieses Typs ist, dass sie – in Bezug auf die Problematik von Fördern und Auslesen – sozusagen in einem „Zustand des unreflektierten Zuhauseseins“ (Berger/Berger/Kellner 1987[1973], 71) im herrschenden Schulsystem leben und sich qua Verweis auf allgemeingültige ‚Regeln’ (z.B. im Sinne der Hintergrundüberzeugung, wonach klare Selektionskriterien, ein bestimmter zur Erreichung derselben vorgesehener Zeitrahmen sowie das Ziehen eines Schlussstrichs zum Zeitpunkt X die Selektion entproblematisieren) gegenüber dem Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ immunisieren. Ihre je eigene Praxis als Selektionsagentinnen und -agenten ist kaum je thematisch: Die Praxis scheint vielmehr in der Vorstellung der Legitimität und ‚Richtigkeit’ der allgemeingültigen Selektionsprozedur aufgehoben. In diesem Sinne bewegen sich die Lehrpersonen – als Quasi-Amtsprofessionelle – „in einer integrierten und intakten Welt“ (ebd.), was ihnen erlaubt, in Bezug auf die Erfüllung des widersprüchlichen Handlungsauftrags von Fördern und Auslesen „mit einem Minimum an Reflexionen aus[zu]kommen“ (ebd.). Dass dieser ‚endemische Immunschutz’ partiell oder gänzlich wegfallen kann, zeigen die Beispiele Martin Luini bzw. Franz Hutter. Im ersten Fall ist es das vergleichsweise explizite Selbstverständnis des Lehrers als Gatekeeper zwischen dem Bildungs- und dem Erwerbssystem, das diesem ein die eigene Praxis ent177

lastendes, einseitiges Abstützen auf die binnenschulische Organisationsrationalität verunmöglicht, im anderen Fall rührt die Krisenanfälligkeit von einem generellen Malaise in Bezug auf die im Schulsystem geltenden Selektionskriterien und ihre berufspraktische Handhabung her. Schliesslich konnte gezeigt werden, dass auch Lehrpersonen, denen es weitgehend ‚gelingt’, sich qua Rekurs auf die Legitimität von Selektion als einer allgemeingültigen ‚Gesetzmässigkeit’ zu immunisieren, vor einer akuten Selbsthinterfragung den widersprüchlichen Auftrag von ‚Fördern und Auslesen’ betreffend nicht immer ganz gefeit sind: Am deutlichsten kommt dies im Fall von Pius Matter zum Ausdruck, der sich fragt, ob er wohl „Pfusch“ (I 13, 22) gemacht habe, wenn ein Schüler, eine Schülerin trotz seiner Förderbemühung die Selektion letztlich nicht schafft. Aus seiner Sicht, so gibt er im Interview zu verstehen, könne diese Selbsthinterfragung fast bis zur ‚Selbstzerfleischung’ gehen. Das Handlungsproblem wird also – gerade für Lehrpersonen, die sich diesbezüglich als eingefleischte Amtsprofessionelle in einem sicheren Hafen wähnen – just dann virulent, wenn sie sich als individuelle Lehrpersonen (mit individuellen Klientinnen und Klienten) befragt sehen. 5.3 Typ 3: Disziplinierung Die Lehrpersonen des Typs ‚Disziplinierung’ begegnen dem Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ mit einer Deutung, in welcher Selektion – als bedrohliches Damoklesschwert verstanden – die Form eines Disziplinierungsinstruments annimmt. Es lassen sich zwei Varianten auseinanderhalten, die in Bezug auf die Frage divergieren, wo die Lehrpersonen ein Problem lokalisieren und auf welche Weise der Selektionsdruck als Hilfsmittel eingesetzt werden kann. Lehrpersonen, die der ersten Deutungsmuster-Variante, der ‚kontrollorientierten Disziplinierung’, zugeordnet werden können, sehen die Gefahr, dass in der Schule jene Bedingungen der Ordnung fehlen, die einem ‚normalen’ Schulehalten vorausgesetzt sind. Ihre Diagnose lautet, den Schülerinnen und Schülern mangle es an „Halt“ und Orientierung. Diese Lehrpersonen sind selber habituell vergleichsweise wenig gefestigt, vermissen also – zum Teil implizit, zum Teil explizit – auch bei sich selber eine innere ‚Ordnung’. Allein eine Schule, die – gleich einer totalen Institution – klare Verhaltensvorgaben macht, kann für sie die Gefahr mangelnder Ordnung bannen. Der Druck, der zu diesem Zweck ausgeübt werden muss, hat in ihren Augen den Charakter von institutionell-organisatorisch auferlegter Verhaltensreglementierung. Sie selber profitieren als Lehrpersonen ebenfalls davon, schützt sie der Druck doch vor Unsicherheit. Ganz anderes gilt für die zweite Variante, die ‚leistungsorientierte Diszip178

linierung’. Die Lehrpersonen dieser Variante sind habituell gefestigt, ihr Denken ist dem epochalen Deutungsmuster ‚Leistung’ verpflichtet. Sie diagnostizieren bei den Schülerinnen und Schülern mangelnde Leistungsmotivation sowie eine fehlende Bereitschaft zu Triebverzicht und halten den Selektionsdruck für notwendig, damit die Schülerinnen und Schüler zu Leistung angehalten werden. 5.3.1 Fall Brigitta Haller Brigitta Haller, 1959 geboren, wuchs in Bern auf, bildete sich nach einigen Jahren Gymnasium daselbst zur Primarlehrerin aus und absolvierte im Anschluss die Ausbildung zur Sekundarlehrerin. Anfang der 1990er Jahre stieg sie ins Lehramt auf der Oberstufe ein. Zum Zeitpunkt des Interviews arbeitet Brigitta Haller – nun etwa 45-jährig und seit gut zehn Jahren im Lehrberuf – an einer Schule, die das Modell 4 praktiziert. 5.3.1.1

Analyse der Eingangssequenz

Die Eingangsfrage unterscheidet sich in ihrer Sinnstruktur nicht von jener bei anderen porträtierten Fällen, in welchen die bereinigte Version vorliegt: Die Spannung zwischen Fördern und Auslesen wird als eine Selbstverständlichkeit vorausgesetzt, welche die Forscherin anlässlich des Interviews nur noch einmal in Erinnerung ruft. Interviewerin: Ja, dann fangen wir doch gerade an. (lächelt) Also als als Lehrerin hast ja du auf der einen Seite die Aufgabe, deine Schülerinnen und Schüler zu fördern, und auf der anderen Seite musst du Schullaufbahnentscheide in die Wege leiten. (..) Ehm, also das heisst, du musst auch selektionsrelevante Entscheidungen treffen. Und du musst also zwei Aufgaben wahrnehmen, die miteinander im Widerspruch stehen. [B.H.: Mhm] Und mich interessiert es jetzt als Erstes, wie du mit diesem mit dieser Spannung umgehst. (I 15, 1)

In ihrer Eröffnung „Ja, dann fangen wir doch gerade an“ schliesst die Interviewerin das Vorhergegangene ab und fordert dazu auf, unverzüglich ins gemeinsame Vorhaben des Interviews einzusteigen. Dass das Vorhaben ein gemeinsames ist, wird durch ein vergemeinschaftendes „Wir“ betont, das im gegenseitigen Duzen seine Fortführung findet. Auf sehr klare, aber auch vergleichsweise abstrakte Weise stellt die Forscherin dann das Problem dar, um das es im Interview gehen soll: Fördern und Auslesen. Frau Haller hat die Möglichkeit, in ihrer Antwort auf den behaupteten Widerspruch zwischen Fördern und Selektion einzugehen und die These dabei zu bejahen oder aber in Frage zu stellen. Sie kann aber auch auf die Frage nach dem Umgang mit „dieser Spannung“ antwor-

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ten. Mit der Antwort, die sie faktisch gibt, stellt die Interviewee ihre eigene Deutung des Verhältnisses von Fördern und Auslesen dar: Brigitta Haller: Also ich denke während dem Unterrichtsprozess ist es sicher förderorientiert. (I 15, 1)

Ohne zu zögern, steigt die Interviewee ins Gespräch ein und bringt – darin der Aufforderung der Forscherin folgend – sogleich sich selbst und ihre subjektive Sichtweise ins Spiel („ich denke“). Ihre Antwort bezieht sich zunächst auf den „Unterrichtsprozess“: Frau Haller versteht den Unterricht als etwas Anhaltendes, das einen bestimmten Verlauf hat, als Prozess eben. Das Subjekt im zitierten Satz bleibt auffällig unbestimmt, steht doch lediglich ein entpersonifiziertes, abstraktes „Es“ in Frage. Der Versuch, dieses „Es“ auf die Eingangspassage zu beziehen, schlägt fehl: Nichts lässt sich dort ausmachen, das als Referenz in Frage kommen könnte. Im Kontext dieser Vagheit muss das betonte „Sicher“, das dann folgt, als Strategie des Vermeidens gelesen werden: Der Ausdruck hat die Funktion, die Zuhöherin von einem Zweifel, den Frau Haller empfindet, abzulenken. Die Förderorientierung, die sie mit dem schulischen Unterricht verbindet, erläutert Brigitta Haller dann folgendermassen: Brigitta Haller: Oder, dort passieren auch viel eh Rückmeldungen, oder ich mache mir auch Notizen zum Teil ehm, was was passiert während dem Unterricht, und es gibt Aufgabenkontrollen. (I 15, 1)

Zum förderorientierten „Es“ gehören Frau Haller zufolge die „Rückmeldungen“, das „Notizenmachen“ und die „Aufgabenkontrollen“. Suchende Einschübe („eh“), Nachdenken erlaubende Äusserungen („ehm“) und Anzeichen von inhaltlichen Schwankungen („zum Teil“), die sie in ihre Rede immer wieder einfliessen lässt, verweisen auf eine Unsicherheit, mit der Frau Haller ihre Deutungen darlegt. Das Lehrerhandeln, das sie erläutert, erfolgt im Wesentlichen wiederum ohne handelndes Subjekt: die Dinge passieren ganz einfach. Nur beim Notizenmachen gibt es eine Ausnahme: Hier stellt sich die Interviewee als aktives Subjekt dar. Sie scheint sich mit dieser beobachtenden, Distanz erfordernden Tätigkeit zu identifizieren. Durch ihr drittes Element, das sie im Zusammenhang mit dem förderorientierten „Es“ nennt – die „Aufgabenkontrolle“ –, setzt Brigitta Haller Lehrpersonen mit Akteuren in machtgeladenen Positionen gleich, die überwachen und zurechtweisen. Einem Zugzwang der Detaillierung folgend, versucht sie zu erläutern, was sie damit meint: Brigitta Haller: Ehm, was machen sie für Aufgaben ehm (.) eh. Haben sie sie gemacht? Wie fehlerhaft? Eh. Können sie es verbessern? Können sie es selber verbessern? Brauchen sie Hilfe? (I 15, 1)

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Nach einem wiederum nachdenkenden „Ehm“ und unter mehrfacher Einfügung von suchend-unsicheren „Eh’s“ führt die Interviewee nun – erneut mit unpersönlichen Formulierungen – verschiedene Fragen an, die sich eine Lehrperson stellt, wenn sie sich mit Aufgabenkontrolle beschäftigt. Dabei stellt sie sich selber Fragen über die Schülerinnen und Schüler („sie“), erhält also das Bild der distanzierten Notizenmacherin aufrecht. Die erste Frage – „Was machen sie für Aufgaben?“ – suggeriert eine Lehrerin, die nicht weiss, was ihre Schülerinnen und Schüler für Aufgaben machen. Als Beobachterin bringt sie in Erfahrung, mit welchen Aufgaben ihre Schülerinnen und Schüler sich beschäftigen. Mit der zweiten Frage, ob die Schülerinnen und Schüler die Aufgaben „gemacht haben“, fokussiert Frau Haller die Lehrperson als Überwacherin, die schaut, ob die Lernenden ihre Pflicht erfüllt haben. Dass die Aufgaben gemacht worden sind, ist also keine Selbstverständlichkeit. Die daran anschliessend genannte Frage „Wie fehlerhaft?“, welche die Beurteilung der Qualität der Schülerleistung fokussiert, impliziert, dass die Schülerinnen und Schüler auf jeden Fall Fehler gemacht haben, und fragt nach deren Ausmass. Lernende, die fehlerlose Leistungen erbringen, existieren in der Vorstellung von Frau Haller – jedenfalls gemäss dieser Schilderung – nicht. Die verbleibenden Fragen kreisen um das Verbessern der Fehler durch die Schülerinnen und Schüler. An der Frage „Können sie es verbessern?“ wird deutlich, dass die Interviewee Schülerinnen und Schüler vor Augen hat, welche die Fehler gegebenenfalls nicht zu verbessern vermögen. Nicht nur ist also offen, ob die Lernenden ihre Aufgabenpflichten erfüllen, sie machen auch auf jeden Fall Fehler, und es bleibt unsicher, ob sie zu deren Verbesserung in der Lage sind. Im Zusammenhang mit ihrer Frage „Können sie es selber verbessern? Brauchen sie Hilfe?“ thematisiert Brigitta Haller die Lehrperson schlussendlich als unterstützende Akteurin. Sie versteht diese als jemand, der dann helfend eingreift, wenn die Schülerin, der Schüler es alleine nicht schaffen. Unter „Aufgabenkontrolle“ subsumiert Frau Haller nicht nur – wie eben gezeigt – verschiedenste Aspekte des Lehrerhandelns, es fällt auch auf, dass sich die meisten der Fragen, die sie in dieser Passage aneinanderreiht, mit ja oder nein beantworten lassen: Etwas Checkliste-Artiges haftet ihnen an. Frau Haller schliesst ihren ersten Gedankengang wie folgt ab: Brigitta Haller: Ich denke, das ist mal sicher förderorientiert. (I 15, 1)

Es gibt für Frau Haller Dinge, die nicht so eindeutig förderorientiert erfolgen, wie sie durch das „mal sicher“ vergewissernd noch einmal zu verstehen gibt. Fast scheint es, als möchte sie das Sprechen über diese anderen Dinge vorbereiten. Doch vorher fällt ihr noch eine Coda ein:

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Brigitta Haller: Oder dann auch, wenn sie gewisse Arbeiten während den Stunden machen können, Gruppenarbeiten, dort kommt natürlich dann auch dieses Förderorientierte rein. (I 15, 1)

Neben den Aufgaben, die zuhause gemacht und in der Schule kontrolliert werden, bringt Frau Haller, als ginge es um eine beliebige Aufzählung ohne Systematik („oder dann auch“), nun noch jene Arbeiten ins Spiel, die während des Unterrichts in Gruppen angegangen werden können: Damit komme „natürlich dann auch dieses Förderorientierte rein“. Offenbar sind die bisher genannten Aspekte des Lehrerhandelns für Frau Haller nicht immer schon förderorientiert. Sie tritt das Fördern tendenziell an „Gruppenarbeiten“ ab, an denen sie selber gar nicht beteiligt ist. Fördern geniesst bei Frau Haller einen eher tiefen Status; so spricht sie auch davon, dass „dieses Förderorientierte“ reinkomme, womit sie diesem gegenüber eine distanzierend-abschätzige Haltung einnimmt. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Brigitta Haller ihre Antwort auf die Eingangsfrage mit der unsicher und suchend vorgetragenen Erläuterung eines nicht genannten Elements („Es“) im Lehrerhandeln beginnt, das förderorientiert erfolgt, sofern es im Zusammenhang mit dem Unterrichtsprozess steht. Dabei schildert sie ein hauptsächlich subjektloses Geschehen und legt eine assoziative Aneinanderreihung von relativ abstrakten Elementen zu diesem förderorientierten „Es“ vor: Rückmeldungen geben, Notizenmachen, „Aufgabenkontrolle“ als breites Spektrum von Aufgaben und In-Gruppen-arbeiten-Lassen. Es fällt auf, dass Frau Haller dem Beobachten und Kontrollieren vergleichsweise breiten Raum gibt und die von ihr imaginierten Schülerinnen und Schüler leistungs- und verhaltensmässig eher schwierig sind. Im Gegensatz zu den unsicher dargelegten verschiedenen Gedanken ist Frau Haller in ihrer formalen Gesamt-Klassifikatorik im Interview sehr klar: Mit einem dezidierten „Und dann“ geht sie im Anschluss an das bisher Gesagte zur ‚anderen Seite’ über: Brigitta Haller: Und dann gibt es Lernkontrollen oder Arbeiten, die sind ganz klar selektiv. (I 15, 1)

Brigitta Haller führt nun „Lernkontrollen oder Arbeiten“ ein, die „ganz klar selektiv sind“. Damit suggeriert sie, dass sie vorher von Dingen gesprochen hat, die dies nicht sind. Die bisher erläuterten Aspekte des Lehrerhandelns erscheinen unterschwellig als ‚ein bisschen selektiv’ codiert. Im Unterschied zur Unsicherheit, welche die Erläuterungen des nicht-ganz-klar-selektiven „Es“ begleitete, fällt in obiger Passage eine Sicherheit auf, welche die Form einer fast übertriebenen Dezidiertheit annimmt („ganz klar selektiv“). Inhaltlich steht auf dieser ‚anderen’ Seite der Selektion eine Kontrolle zuvorderst: diesmal nicht jene, 182

ob Aufgaben gemacht worden sind oder nicht, sondern die Kontrolle, ob die Schülerinnen und Schüler den Lernstoff beherrschen. In Analogie zur Erläuterung der nicht-ganz-klar selektiven Aufgaben bringt Frau Haller nun eine Detaillierung zu den ‚klar selektiven’ Lernkontrollen: Brigitta Haller: Also ehm Lernkontrollen, die man eben dann wirklich über eine Bandbreite drüber macht, sei es jetzt eben für Real, sei es jetzt für Sek, wo sie einfach einen gewissen Stand, gewisse Lernziele haben müssen und gezeigt haben, und wenn sie die nicht erfüllt haben, dann ist es ungenügend. (I 15,1)

Die Interviewee spezifiziert, dass sie jetzt an Lernkontrollen denkt, die man „über eine Bandbreite drüber“ mache. Thematisch sind hier Kontrollen, die darauf abheben, selektionsrelevante Unterschiede in der Leistungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler über ein breites Wissensspektrum hinweg festzustellen: „sei es jetzt eben für Real, sei es jetzt für Sek“. Dabei müssen die Schülerinnen und Schüler die entsprechenden Lernziele nicht nur „erfüllt haben“, sondern dies auch „gezeigt haben“. Mit dieser Aussage gibt Frau Haller ihrer Überzeugung Ausdruck, dass es eine Konstellation gibt, in der eine Schülerin die Lernziele zwar erfüllt hat, dies aber nicht zu zeigen vermag. Nur wer „zeigen“ kann, besteht aber die Prüfung. In den Augen der Interviewee hat die Schülerin einen performativen Akt zu vollbringen, aufgrund dessen sie dann als wissende oder unwissende definiert wird – ein Akt, der vor den Augen anderer stattfindet, also beobachtetet wird. Durch dieses Auch-noch-Zeigenmüssen erhält die Lernkontrolle einen bedrohlichen Charakter, sie mutiert gleichsam von der Wissensprobe zur Bewährungsprobe der Lernenden. Anders als andere Lehrpersonen – vor allem jene des Typs 5 –, welche die Bedrohlichkeit von Geschehnissen für Schülerinnen und Schüler zu verringern versuchen, gibt Frau Haller mit dem „Und wenn sie diese nicht erfüllt haben, dann ist es ungenügend“ unmissverständlich zu verstehen, dass Schülerinnen und Schüler vor Lernkontrollen zu Recht Angst haben. Es geht um den ausseralltäglichen Ernstfall, der die Möglichkeit des ‚Absturzes’ mit sich bringt. Wenn sie es jetzt und genau jetzt vor den Augen anderer nicht zeigen können, haben die Lernenden versagt: dies die Vorstellung. Die Möglichkeit des Erfolgs bleibt von Frau Haller – gleich wie die fehlerlosen Arbeiten bei den nicht-ganz-klar-selektiven Aufgaben – unerwähnt. Dafür nennt sie im darauf folgenden Satz die Gefahr des ‚schlechten’ Ausgangs gerade noch einmal: „Also dann haben sie eigentlich die Anforderungen nicht erfüllt“ (I 15, 1) – um dann mit einem bilanzierenden Satz gleich zu resümieren: Brigitta Haller: Das sind so zwei halt verschiedene Bewertungssysteme. (I 15,1)

Die Interviewee bezeichnet nun beide Seiten als „Bewertungssysteme“. Mit dem undefinierten „Es“, das bereits im ersten Satz vorkommt, ist also das Bewerten angesprochen. Frau Hallers „Halt“ macht einmal mehr sichtbar, dass sie – dies183

mal mit expliziter innerer Unbeteiligtheit – von einer Idee der Subjektlosigkeit des Schulgeschehens ausgeht; hier klingt gar die Idee einer Schicksalshaftigkeit an, womit sie einer höheren Macht Subjektcharakter zuspricht. Der Spannung zwischen Fördern und Auslesen, die in der Eingangsfrage der Forscherin thematisch ist, setzt Frau Haller – von der Bewertung aus denkend – also ein Nebeneinander von zwei verschiedenen Bewertungssystemen entgegen, die voneinander getrennt sind. Dieser Ordnung schaffenden Trennung entspricht, dass Frau Haller sich im Zusammenhang mit den Aufgabenkontrollen Fragen stellt, die mit einem einfachen Ja oder Nein zu beantworten sind, zwei Reaktionsmöglichkeiten mithin, die klar voneinander getrennt sind. Die Gesamtantwort auf die Eingangsfrage, die Frau Haller gibt, endet denn auch mit einem Statement, das die von der Interviewerin unterstellte Schwierigkeit, mit einer Spannung im Lehrberuf umzugehen, in Abrede stellt: Brigitta Haller: […] aber ich denke, die Schüler oder auch wir Lehrkräfte können eigentlich sehr gut damit umgehen. (.) Das dünkt mich nicht ein Problem. (I 15, 1f.)

Mit ihrem „Aber ich denke“ kündigt Frau Haller – unsicher – einen Einwand an. Er richtet sich gegen die Annahme einer Schwierigkeit, mit zwei Bewertungssystemen umzugehen. Mit einer gewissen Überlegenheit sogar („eigentlich sehr gut“) teilt sie dies den Forschenden mit. Doch bevor Frau Haller auf diesen Umgang zu sprechen kommt, greift sie unvermittelt ein neues Thema auf: das Problem der Schülerinnen und Schüler, mit den beiden Bewertungssystemen umzugehen. Offenbar sind beim Nachdenken und Sprechen über die beiden Bewertungssysteme in Brigitta Hallers Phantasie zuerst die Schülerinnen und Schüler betroffen, im sprachlichen Fluss jedenfalls („aber ich denke die Schüler...“) steuert sie ganz unbeirrt auf diese zu. Auf einer impliziten Ebene lokalisiert Brigitta Haller die Spannung zwischen Fördern und Auslesen demnach primär bei den Schülerinnen und Schülern. Dabei postuliert sie die Koexistenz zweier Akteurgruppen – Lehrkräfte und Lernende –, die gleichsam parallel ein und dasselbe Problem zu bewältigen haben. Wieder setzt sie eine Trennung, ein Nebeneinander. Durch das Heranziehen der Schülerinnen und Schüler bewegt sich Frau Haller von der Eingangsfrage weg, doch findet sie über das „Oder auch wir Lehrkräfte“ rasch zu dieser zurück, gewinnt die Kontrolle über den Argumentationsverlauf also sofort wieder. Allerdings übernimmt sie nun nicht die Perspektive von sich selbst als Lehrerin, sondern führt den Lehrerstand als Subjekt ein, ein Kollektivsubjekt also („wir Lehrkräfte“). Der Rekurs auf den Kollektivakteur hat, so ist zu vermuten, die Funktion, sich nicht als Einzelakteurin einbringen zu müssen. Als vorläufige Fallstrukturhypothese lässt sich festhalten, dass die deutende Bewältigungsstrategie von Frau Haller darin besteht, von zwei nebeneinander 184

existierenden Bewertungssystemen auszugehen, die einfach gegeben sind und – mit Ausnahme der notizenmachenden Lehrerin – kein handelndes Subjekt kennen. Es handelt sich um ein förderorientiertes, unterschwellig aber auch als nicht-ganz-klar-selektiv qualifiziertes System, und ein als „ganz klar selektiv“ charakterisiertes Bewertungssystem, das Schülerinnen und Schüler miteinander vergleicht und von ihnen den sichtbaren Beweis des Über-Wissen-Verfügens erwartet. Ähnliches gilt für das Verhältnis der (bewertenden) Lehrpersonen zu den (bewerteten) Schülerinnen und Schülern: Auch hier geht Frau Haller von einem Nebeneinander von zwei Akteurgruppen aus, die – jede für sich – mit den beiden Bewertungssystemen umzugehen haben. Der kognitive Vorgang der formalen Trennung scheint also den Umgang mit Spannungen zu erlauben. Latent geht die Interviewee zudem von einer Permanenz selektionsrelevanter Praxen aus, die den Misserfolg in der Schulkarriere nach sich ziehen können und primär für Schülerinnen und Schüler, kaum aber für Lehrpersonen Schwierigkeiten mit sich bringen. Neben den inhaltlichen Elementen fällt auch ein habituelles auf. Brigitta Haller zeigt in ihrer Erwiderung auf die Eingangsfrage einen perfekten formalen Aufbau: Sie eröffnet Themen, schliesst sie ab und formuliert Gesamtbilanzierungen. Nie verliert sie die Kontrolle, immer weiss sie, wo im Argumentationsablauf sie sich befindet. Gleichzeitig ist sie sich in beinah allen Aussagen inhaltlich nicht wirklich sicher. Die inhaltliche Unentschiedenheit scheint durch die formale Kontrolle gleichsam kompensiert zu werden. Dass – inhaltlich gesehen – Kontrolle für Frau Haller ein zentrales Element im Lehrerhandeln darstellt, kann daher nicht erstaunen (Aufgabenkontrollen im Falle des implizit als nicht-ganzklar-selektiv codierten Bewertens, Lernkontrollen im Falle des ganz-klarselektiven Bewertens). Dazu passt auch das vorherrschende Bild von wenig pflichtbewussten und leistungsmässig eher schwachen Schülerinnen und Schülern. 5.3.1.2

Erweiterung der Analyse

Im weiteren Verlauf des Interviews mit Brigitta Haller stehen die Bewertungsund die Selektionsproblematik prominent im Vordergrund. Es zeigt sich, dass Frau Haller in der Selektion eine unverzichtbare Kontrollmöglichkeit im Schulalltag sieht. Das Schülerdilemma: Die schwache Schülerin zwischen Lob und ungenügender Leistung Darauf angesprochen, ob es nicht „schwierig“ sei, nach wochenlangem Fördern am Ende des Semesters „mit dem Hammer“ einen Selektionsentscheid mitteilen 185

zu müssen, antwortet Frau Haller, Selektion finde „wöchentlich“ (I 15, 2) statt und die Schülerinnen und Schüler seien daran „gewöhnt“ (I 15, 2). Sie wechselt zu den Schülerinnen und Schülern, obgleich ihre eigenen Probleme angesprochen waren. Die Veralltäglichung der Selektion – so die Überzeugung von Frau Haller – nimmt ihr den einschneidenden Charakter. Gleichzeitig sagt sie damit aber auch, dass alltägliche Lernkontrollen im Lichte der Selektion stehen und bestätigt unsere – in der vorläufigen Fallstrukturhypothese formulierte – Vermutung, dass sie von einer Permanenz selektionsrelevanter Praxen im Schulalltag ausgeht. Als die Interviewerin weiterbohrt und nochmals nach Konflikten fragt, gibt ihr Frau Haller mit Blick auf ganz bestimmte Schülerinnen und Schüler aber Recht: Frau Haller: Auf der Realstufe gibt es diese Kinder, die ganz schwach sind (.) oder eigentlich fast Kleinklassenschüler sind, rein von den Leistungen her, aber sozial emotional gut in das Klassengefüge passen, darum nimmt man sie dort mit. Aber leistungsmässig müsste man sie vielleicht in die in die eh in die Kleinklasse tun. (.) Jetzt bei diesen Kindern ist es schon so, oder, die haben die die schaffen und die ermuntert man und sagt: „Ou das hast du jetzt gut gemacht, das hast du jetzt begriffen“, und dann kommt die Lernkontrolle und dann sädern158 sie ab. Und dort ist natürlich für sie ein Frust. (I 15, 3)

Brigitta Haller geht nun auf jene Schülerinnen und Schüler des Realschultyps ein, die leistungsmässig so schwach sind, dass sie in ihren Augen „fast“ Kleinklassenschülerinnen sind und „vielleicht“ auch effektiv in die Kleinklasse gehörten. In anderer Hinsicht aber seien diese Schülerinnen und Schüler in der Regelklasse eindeutig am richtigen Ort, da sie „sozial emotional gut in das Klassengefüge passen“, also die Klasse in ihrer inneren Struktur bestätigen. Die Forscherin bestätigend („ist schon so“), sieht Frau Haller bei diesen Schülerinnen und Schülern eine Schwierigkeit. Sie arbeiten viel und ernten Lob dafür. Die Art und Weise dieses Lobens – dies das Analyseergebnis – lässt sichtbar werden, dass Frau Haller von diesen Kindern im Grund wenig erwartet. Sie fügt denn auch kurz und bündig an, was zu erwarten ist: „und dann kommt die Lernkontrolle und dann sädern sie ab.“ Für die Schülerinnen und Schüler – meint Frau Haller – ist das „natürlich ein Frust“. Die Enttäuschung, die Schülerinnen und Schüler erleben, lässt sich gemäss Frau Haller problemlos auffangen. Die eine Möglichkeit besteht in ihren Augen darin, eine von den Schülerinnen gewünschte Nachprobe machen zu lassen, in der sie besser abschneiden, nachdem die Schwierigkeiten vorher besprochen worden sind. Die andere beinhaltet, den Lernenden einfachere Aufgaben, reduzierte individuelle Lernziele, zu erteilen. Diese zweite Strategie, die Folgen der Ent158

„Absädern“ meint auf Hochdeutsch ‚absaufen’, ‚abschiffen’ o.ä.

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täuschung bei einer Schülerin klein zu halten, besteht – um in ihrem eigenen Denken zu bleiben – also darin, vom bilanzierenden und vergleichenden zum individuumsbezogenen Beurteilen zurückzukehren. Dabei werden die reduzierten individuellen Lernziele, die formaliter einer – individuumsspezifischen – Negativselektion gleichkommen, von der Lehrkraft nicht als solche betrachtet. Selektion existiert – zusammenfassend gesprochen – für Frau Haller nur als veralltäglichte Selektion; sie manifestiert sich in wiederkehrenden Lernkontrollen, welche für die meisten Schülerinnen und Schüler undramatischen Charakter haben. Das Dilemma zwischen Fördern und Auslesen, soweit Frau Haller es als solches konzipiert, haben in ihren Augen nur bestimmte schwache Schülerinnen und Schüler, die unter dem Zugleich von Ermuntertwerden und Enttäuschtwerden leiden. Das Problem der Lehrerin: das drohende Schwimmfest und das Heilmittel der Selektion Eine Kerndimension des Deutungsmusters zum Umgang mit der Spannung zwischen Fördern und Auslesen tritt zutage, als Frau Haller gefragt wird, ob sie sich eine Schule „ohne Selektion“ (I 15, 4) vorstellen könne. Ihre Antwort: Brigitta Haller: Ehm doch, das kann ich mir sehr gut vorstellen mit gewissen Kindern. Aber diese Kinder müssten wirklich Rahmenbedingungen haben (.) ehm, die vorgegeben sind. Zum Beispiel keinen Fernseher, praktisch keine Unterhaltung eh, was rundherum läuft, von mir aus gesehen. Das ist jetzt ganz persönlich ehm (.) eh, wie soll ich sagen d- eh ein Rhythmus ein ein ganz ein klarer Tagesrhythmus, es müsste dann eigentlich fast wie ein Internat laufen, dann könnte ich mir so etwas vorstellen. Das ist für mich ein Ideal. (I 15, 4)

In dieser Passage gibt Frau Haller zu verstehen, Selektion gehöre nicht notwendigerweise zur Institution Schule, eine Schule „ohne Selektion“ könne sie sich „sehr gut“ vorstellen. Allerdings ist dies nur mit „gewissen Kindern“ denkbar – mit Kindern nämlich, denen Rahmenbedingungen „vorgegeben“ sind, welche Unterhaltung ausschliessen. Inbegriff der Unterhaltung ist für Frau Haller das Fernsehen. Kurzweilige, vergnügliche, fesselnde Erlebnisse, die keine Anstrengung erfordern, sollen im Alltagsleben der Schülerinnen und Schüler, die eine selektionsfreie Schule besuchen, also marginal bleiben oder gar verboten werden. In einem Internat sind – wie die Interviewee zu verstehen gibt – die Bedingungen für Selektionsfreiheit in optimaler Weise gegeben, in einer totalen Institution also, in deren Rahmen sich zeitweise das ‚ganze’ Leben der Schülerinnen und Schüler abspielt. Zentrales Merkmal des Binnenlebens dieser Einrichtung ist gemäss Frau Haller der „klare Tagesrhythmus“, das heisst ein geregelter Ablauf in der Zeit, der transparent und immer gleich ist; das ist für Frau Haller 187

„ein Ideal“: Unvorhersehbares, das Arhythmien und Unklarheiten mit sich bringen würde, findet in dieser Schule keinen Platz. Während ihrer Ausführungen zur kontrollorientierten Schule ohne Selektion assoziiert Frau Haller die Schule von Maria Montessori, die eine positive Referenz für sie darstellt. Gleichzeitig führt sie diverse Argumente ins Feld, um zu verdeutlichen, dass eine solche Schule unter den gegenwärtigen Bedingungen und im konkreten schulischen Umfeld, in dem sich Frau Haller befindet, nicht denkbar sei. Nicht nur habe Maria Montessori – so Frau Haller – „nie“ etwas „ausgedacht für die Oberstufe“ (I 15, 6), auch der Kontext der „Staatsschule“ (I 15, 6) sei ein anderer als jener bei Montessori, und der „Anspruch an Erholung“ (I 15, 6), den heutige Eltern für sich selber formulieren, habe zur Folge, dass man eine selektionsfreie Schule „nicht machen“ kann (I 15, 6). Zudem seien die Kinder, mit denen Maria Montessori gearbeitet hat, „absolut dumpf“ (I 15, 5) gewesen, hätten „nichts zum Spielen“ (I 15, 5) gehabt, ja überhaupt „nichts gehabt“ (I 15, 5), waren also in den Augen von Frau Haller von keiner Ablenkung bedroht, wenn nicht sogar unterstimuliert („dumpf“). In dieser Situation – so Frau Haller – brachte Maria Montessori ihre Farben und Würfel und konnte sehen, wie die Kinder „angefangen haben, Türme zu bauen und Sachen zu machen“ (I 15, 5), wie sie von ihrem Unterfangen absorbiert waren und sich konzentrieren konnten. Frau Hallers Vergleich dieser Bedingungen mit jenen an ‚gewöhnlichen’ Schulen in der hiesigen Welt führt sie zum Schluss, dass hier Selektion unverzichtbar sei: Brigitta Haller: Also ich denke noch hier mit dieser Reizüberflutung und sagen „nicht selektieren“, [I.: Mhm] da hat man das Schwimmfest. Also das kann ich mir schlichtweg nicht vorstellen. (I 15,5 )

Brigitta Haller diagnostiziert für die Alltagswelt heutiger Schülerinnen und Schüler – ohne jedes Zögern – eine gewaltige Reizüberflutung, geht also davon aus, dass junge Menschen zu viele Stimuli erhalten und diese nicht verarbeiten können: Sie drohen in Einwirkungen von aussen zu ‚ertrinken’. Die selegierende Schule nun ermöglicht es, dass trotz Reizüberflutung Ordnung herrscht und Schülerinnen und Schüler nicht zu Schwimmerinnen und Schwimmern werden. Interessanterweise geht es in Frau Hallers Phantasie nicht um Schwimmende, die Angst haben und in der Flut untergehen. Die Schwimmenden feiern vielmehr ein Fest, ein freudiges, ausseralltägliches Ereignis. Zu retten versucht sich vor allem die Lehrerin, die durch das Fest offenbar bedroht ist: Eine Schule, die Schwimmfeste ermöglicht, kann sich Brigitta Haller „schlichtweg nicht vorstellen“. Schülerinnen und Schüler, die am Chaos auch noch Spass haben, bedeuten ihr eine Gefahr. Ohne die Gegenmassnahme ‚Selektion’ käme Frau Haller auch selber ins ‚Schwimmen’ und würde die Kontrolle verlieren. 188

Die Frage nach dem Verhältnis von Kontrolle und Selektion in Frau Hallers Denken kann nun genauer gefasst werden. Von der Argumentation her liegt auf der Hand, dass die Selektion in Frau Hallers Schule von heute dieselbe Funktion hat wie die verschiedenen Kontrollaspekte im Internat, das sie beschreibt: Die Selektion ermöglicht der Lehrperson das Schulehalten. Einen im engeren Sinne pädagogischen Zweck der Selektion gibt die Interviewee nicht an. Eine Schule, die keine Ordnung erzeugende Selektion kennt, kann ‚irgendwie’ nicht funktionieren, ist nicht vorstellbar, so lautet Frau Hallers Hintergrundüberzeugung. Vor diesem Hintergrund wird plausibel, weshalb die Selektion, von der Frau Haller in der Eingangssequenz spricht, für sie selber kaum ein Problem darstellt, aber – in ihren Augen – für Schülerinnen und Schüler einen bedrohlichen Charakter hat, auch wenn sie damit nur wöchentlich stattfindende Lernkontrollen anspricht. Offenbar geht die Interviewee davon aus, dass sich die Schülerinnen und Schüler aufgrund ihres Wissens um die selektionsrelevante Seite der Lernkontrollen zu Disziplin und ‚ordentlichem’ Verhalten anleiten lassen. Das imaginierte Damoklesschwert ist im Schulgeschehen gleichsam omnipräsent und übt auf die Schülerinnen und Schüler einen stabilisierenden Druck aus. Gesellschaftlicher ‚Bedarf’ an sozialer Ungleichheit Brigitta Haller zufolge wünschen sich Schülerinnen und Schüler „Selektion“: Dass Noten wieder eingeführt werden, fänden sie „super“. Sie wollen auch, dass man eine „Latte“ setzt und sagt: „Jetzt ist man drüber“, oder: „Jetzt ist man nicht drüber“ (I 15, 4). Die Rede ist von der Leistungsbeurteilung in Form der Notengebung. Die Lernenden, von denen sie spricht, wollen sowohl das Oberhalb- als auch das Unterhalb-der-Latte-Sein verkündet haben. Wie das nachfolgende Zitat deutlich macht, beschränkt sich Frau Hallers Blick auf Sieg und Niederlage nicht auf die alltäglichen „selektiven“ Lernkontrollen. Darauf angesprochen, ob es zwischen den verschiedenen Ausbildungswegen, die eine Schülerin beschreiten kann, nicht eine „Hierarchie“ (I 15, 17) – gewissermassen OberhalbUnterhalb-Verhältnisse – gebe, antwortet sie: Brigitta Haller: Es ist eine Hierarchie da, [B.: Mhm] aber schaut, ich habe meinen Kindern auch ge- oder, wir haben über den Marx geredet und und und über den Engels, einfach ganz rudimentär, aber dann habe ich auch sagen müssen: „Jetzt schaut mal die Klasse an. Wie viele von der Klasse melden sich und wollen etwas und handeln oder sagen: ‚Jetzt machen wir etwas.’“ (.) [I.: Mhm] Und dann haben sie sagen müssen: „Das sind zwei oder drei.“ [I.: Mhm], und die anderen wollen nicht handeln, die wollen nicht etwas organisieren, die wollen hintendrin sitzen. [I.: Mhm] Die wollen schauen, wie es die anderen machen und irgendwie auch auch das machen, was man ihnen sagt. Es ist leider so. [I.: Mhm] Aber es ist so. [I.:

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Mhm] Und das muss man einfach von der Gesellschaft akzeptieren. Es will nicht jeder [I.: Mhm] ein Direktor sein, es will nicht jeder Chef sein. (I 15, 17)

Frau Haller erklärt sich damit einverstanden, dass zwischen verschiedenen möglichen Ausbildungswegen ein hierarchisches Verhältnis besteht. Doch führt sie durch ein „Aber“ den Gedanken ein, dass Schülerinnen und Schüler diese Hierarchie auch wünschen und kein Problem damit haben, wie es die Interviewerin vielleicht erwarten würde. Nachdem Frau Haller mit den Schülerinnen und Schülern über die gesellschaftsrevolutionären Ideen von Marx und Engels diskutiert hatte, machte sie – so ihr Bericht – sozusagen einen empirischen Test betreffend die These, wonach die Menschen gesellschaftliche Hierarchien überwinden wollen. Sie rief ihre Klasse dazu auf, sich selber zu beobachten mit Blick auf die Frage, wie viele sich zu Wort melden, etwas anstreben und handeln wollen. Die Schülerinnen und Schüler mussten zugeben – so Frau Haller beinah triumphierend –, dass nur eine Minderheit („zwei oder drei“) in dieser Weise aktiv ist. Vor dem Hintergrund ihrer beruflichen Erfahrungen geht Brigitta Haller also davon aus, dass es neben den leistungswilligen Schülerinnen und Schülern, die dereinst gesellschaftlich privilegierte Positionen innehaben werden, vor allem auch solche gibt, die sich wünschen, „hintendrin (zu) sitzen“, die anderen nachzuahmen und Anweisungen entgegenzunehmen. Mehr noch: Es will auch nicht jeder Direktor oder Chef sein, betont die Interviewee und untermauert damit ihre Überzeugung, dass knappe, macht- und prestigegeladene Positionen auch ausserhalb der Schule nicht von allen Menschen begehrt werden. Erfahrungsgesättigt erläutert sie ihre Überzeugung und bedauert das, was sie ganz klar weiss: „Es ist leider so. Aber es ist so.“ Von den Wünschen ihrer Schülerinnen und Schüler geht Frau Haller zu den ‚Wünschen’ der Gesellschaft über. Das, was die Gesellschaft ‚braucht’, passt reibungslos zu den Wünschen der einzelnen Akteure: Brigitta Haller: Es braucht solche, die Verantwortung übernehmen wollen, die neue Wege gehen wollen und das initiieren, und es braucht auch jene, die dann gute Büezer159 sind, die gute Büez machen, [B.: Mhm] eigentlich am gleichen Faden ziehen, am gleichen Strick reissen, aber nicht unbedingt [I.: Mhm] innovativ sein wollen. (I 15, 19)

Die Gesellschaft braucht nicht nur verantwortungswillige, Neues initiierende Personen in hohen Positionen, sondern auch „gute Büezer“, das heisst Personen, die in unteren Hierarchiebereichen tätig sind. Es gibt für Frau Haller also einen ‚Bedarf an sozialer Ungleichheit’, wie die gesellschaftskritische Bildungs- und Beschäftigungssoziologie der 1970er Jahre es nannte (Teichler 1974). Interes159

„Büezer“ meint ‚Arbeiter’ (im Slang).

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santerweise spricht Frau Haller nicht einfach von Arbeitern, sondern von „guten“ Arbeitern. Damit sagt sie nicht allein, dass die Gesellschaft auf qualitativ hochstehende Arbeit auch von Arbeitern angewiesen ist, sie lässt auch eine Anerkennung der Arbeiter anklingen. Von sich selbst als Lehrerin denkt Frau Haller Ähnliches: Im Vergleich zu einem „Super Crack“, der als Mediziner auch noch in der Forschung tätig sei und geniale Hirnforschung betreibe, komme sie sich „wie ein Vollidiot oder wie ein Tubel“ vor, meint Frau Haller. Sie müsse aber dennoch sagen, fährt sie fort: „In meinem Gebiet fühle ich mich wohl, da kann ich mein Zeug leisten, und das gibt mir Befriedigung.“ (I 15, 11) Gleich wie die „guten Büezer“ erbringt sie – in der gesellschaftlichen Hierarchie ebenfalls nicht zuoberst – eine gesellschaftlich unverzichtbare gute Leistung. Im Gesellschaftsbild von Frau Haller „ziehen alle am gleichen Strick“, wenn auch nicht alle innovativ tätig sein wollen. Jeder trägt an seinem Platz zum Funktionieren des sozialen Ganzen bei. 5.3.1.3

Zusammenfassung

Einen reibungslosen Umgang mit der widersprüchlichen Aufgabe ermöglicht sich Frau Haller durch die Deutung, man könne von zwei nebeneinander existierenden Bewertungssystemen ausgehen, die einfach gegeben sind und kein handelndes Subjekt kennen: Auf der einen Seite steht ein von Frau Haller als förderorientiert und unterschwellig als nicht-ganz-klar-selektiv qualifiziertes System, im Rahmen dessen dem Beobachten und Kontrollieren der Schülerinnen und Schüler grosses Gewicht zukommt (reine, mit Bewertung nicht verbundene Förderorientierung stellt für Frau Haller ein vergleichsweise belangloses Unterfangen dar; das zeigt sich exemplarisch darin, dass sie etwa „Gruppenarbeiten“ (I 15, 1) als etwas Förderorientiertes qualifiziert). Auf der anderen Seite gibt es ein als „ganz klar selektiv“ (I 15, 1) charakterisiertes Bewertungssystem, das Schülerinnen und Schüler miteinander vergleicht und von ihnen verlangt, in ausseralltäglichen bedrohlichen Situationen das Über-Wissen-Verfügen sichtbar zu machen. Latent geht die Interviewee von einer Permanenz selektionsrelevanter Praxen aus, die Misserfolg in der Schulkarriere nach sich ziehen können. Mit dem Nebeneinander von zwei Bewertungsmodi rekurriert Frau Haller auf ein historisch neues Verständnis von Beurteilung, das in der gesamtschweizerischen Bildungspolitik nach 1980 erarbeitet wurde und sich in kantonalen Vorgaben für die Volksschule niederschlug (Vögeli-Mantovani 1999, 196ff.). Es geht um die Absicht, zwei verschiedene Beurteilungsformen zu „entflechten“, womit eine schon lange andauernde pädagogische Diskussion in die Politik Eingang findet (Ziegenspeck 1973). Schülerbeurteilung kann – dies die Annahme – verschiedene Funktionen haben, vor allem auch die ‚formative’ (förderorientierte) und die ‚summative’ (selektionsorientierte) Funktion. In der Direktionsverordnung des 191

Kantons Bern von 2002, auf die sich Frau Haller unter anderem beziehen dürfte, wird im Kommentar zum Artikel 4 zwischen zwei entsprechenden „Elementen“ der Beurteilung unterschieden (Kommentar zu Art. 4 DVBS) (vgl. 4.4.3).160 Brigitta Hallers Entsubjektivierungs- und Trennungsstrategie lässt sich mit dem psychoanalytisch verstandenen Vorgang des Isolierens vergleichen (Freud 1982[1926], 263ff.). Während der Kämpfe zwischen Es und Über-Ich kann es Freud zufolge dazu kommen, dass das Ich symptombildende Tätigkeiten, unter anderem die des Isolierens, entwickelt. Ein unliebsames Ereignis wird von seinem affektiven Gehalt entblösst, und seine assoziativen Beziehungen zu anderen Ereignissen oder zur übrigen Existenz des Subjekts sind unterdrückt oder unterbrochen; es steht nun isoliert da. Das affektgeladene Ereignis kann auch im Verlaufe der Denktätigkeit nicht reproduziert werden. Ganz allgemein geht es beim Isolieren um Massnahmen, die es ermöglichen, im zeitlichen Ablauf der Gedanken oder Handlungen einen Hiatus zu errichten, sodass Zusammengehörendes auseinander gehalten wird und dadurch Spannungen kleiner werden (Laplanche/Pontalis 1992[1967], 238f.). Man kann annehmen, dass Frau Haller den Umgang mit der Spannung zwischen Fördern und Auslesen, soweit dieser für sie ein Problem darstellt, zum einen dadurch erleichtert, dass sie Subjekte (und damit auch Objekte) des Bewertungsvorgangs dethematisiert, das heisst, den Zusammenhang zwischen Bewertung und schulischen Akteuren unterbricht. Eine Belastung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses wird in Frau Hallers Denken denn auch dadurch abgebaut, dass Lehrpersonen und Lernende als voneinander Getrennte betrachtet werden. Zum andern erleichtert sich der Umgang mit der Spannung dank einem konzeptuellen Trennen zwischen den beiden Seiten, des Förderns und des Auslesens, dies sowohl für Lehrkräfte wie auch für Lernende. Neben der Entsubjektivierungs- und Trennungsstrategie gibt es in Frau Hallers Denken eine mehrfache Legitimation der Selektion. Zunächst geht es – und dies ist der Kern des Haller’schen Deutungsmusters – um die Notwendigkeit von Selektion als Disziplinierungsinstrument. Frau Haller diagnostiziert für die Alltagswelt heutiger Schülerinnen und Schüler eine immense „Reizüberflutung“ (I 15, 5) im Unterhaltungsbereich (v.a. Fernsehen), welche die Gefahr nach sich zieht, dass in der Schule ein „Schwimmfest“ entsteht. Dank der Selektion, die als Damoklesschwert im Schulalltag omnipräsent ist und sich in wöchentlichen Lernkontrollen konkret manifestiert, können Schülerinnen und Schüler zu Dis160 Im Rahmen des Projektes „Überprüfung der Situation der Primarschule“ (SIPRI), das die Schweizerische Erziehungsdirektorenkonferenz 1980 bis 1986 durchführte, wurden Grundlagen für eine neu verstandene Beurteilung gelegt, die eine Entflechtung zwischen sogenannt formativer, lernprozessunterstützender Beurteilung und sogenannt summativer, auf vorgegebene Termine beschränkte Beurteilung vorsah. Im Kapitel 6.2 wird genauer darauf eingegangen.

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ziplin und ‚ordentlichem’ Verhalten angehalten werden. Selektionsfreiheit ist für Frau Haller zwar nicht grundsätzlich undenkbar, in Frage käme sie aber nur im Falle einer Schule, die Internatscharakter hat und den Lernenden klare Ordnungsvorschriften macht. Frau Haller entpuppt sich mit ihrer Gegenwartsdiagnose tendenziell als Kulturpessimistin, die überforderte Menschen vor sich sieht, die im Inneren über ungenügende Ressourcen verfügen, um äussere Einwirkungen zu verarbeiten oder sich vor diesen zu schützen. Ordnungsvorkehren, Kontrolle und Druck bringen Entlastung und machen wieder handlungsfähig. Gehlen (1986[1956]) würde von „Institutionen“ sprechen. Der Anthropologe sah im Menschen ein Mängelwesen, das wegen seiner Instinktentbundenheit von den Institutionen abhängig ist. Je unbefragter die Institutionen in ihrer Geltung akzeptiert werden, desto sicherer – so Gehlen – kann der Mensch sein Leben fristen. Die zweite Legitimation der Selektion liefert Frau Hallers Überzeugung, dass schulische Selektion von den kleinen Lernkontrollen über die Schullaufbahnentscheide bis hin zu den Folgen für die nachschulischen Ausbildung- und Berufswege den Wünschen der Schülerinnen und Schüler entspricht. Dabei betont sie ganz besonders den Wunsch von schlechtgestellten Akteuren: So gibt es Frau Haller zufolge Schülerinnen und Schüler, die gerne „hinten drinsitzen“ (I 15, 17); sie machen sogar die Mehrzahl aus. Ebenso gibt es viele Menschen, die nicht Direktor werden wollen. Die Wünsche der Akteure, wie Frau Haller sie konzipiert, passen reibungslos zu dem, was die Gesellschaft ‚braucht’ – womit zugleich die dritte Legitimation der Selektion angesprochen ist. Im Gesellschaftsbild von Frau Haller gibt es einen Bedarf an unterschiedlich qualifizierten und hierarchisch unterschiedlich positionierten Akteuren. Horizontale Ungleichheit ist mit vertikaler Ungleichheit direkt verknüpft. Das hat aber keine Unzufriedenheiten zur Folge, wie es – gemäss Frau Haller – Marx annimmt, vielmehr ziehen alle „am gleichen Strick“ (I 15, 17) und erhalten so das soziale Ganze. Als Ganzes wird der Fall Haller durch die Angst vor Kontrollverlust und zugehörige Gegenstrategien zusammengehalten. Inhaltlich-argumentativ stellt Kontrolle für Frau Haller ein zentrales Element im Schulgeschehen und Lehrerhandeln dar. Im Rahmen des ersten der beiden erläuterten Bewertungssysteme werden – Frau Haller zufolge – Schülerinnen beziehungsweise deren Aufgaben und Leistungen immer wieder ‚kontrolliert’ (Aufgabenkontrollen im Falle des nichtganz-klar-selektiven Bewertens, Lernkontrollen im Falles des ganz-klarselektiven Bewertens). Im Rahmen des zweiten Bewertungssystems taucht Selektion als Mittel auf, um das „Schwimmfest“ (I 15, 5) zu verhindern: Selektion als Instrument der Disziplinierung. Doch die Angst vor der Unordnung existiert 193

bei Frau Haller auch unabhängig von der Angst, ein Chaos im Schulzimmer verhindere das Lehren und Lernen. Kontrolle und Sicherheit haben für die Interviewee auch jenseits von solchen, für sie ‚äusseren’ Gefahren den Stellenwert des Unverzichtbaren: Die Problematik ist habituell tief verankert. Das zeigt sich im Verhalten von Frau Haller während des Interviews: Inhaltlich ist die Interviewee immer wieder relativ unsicher, formal aber folgt sie einer ausgeprägten Klassifikatorik und Systematik. Sogar sehr widersprüchliche oder unklare und suchende Passagen beendet sie mit einer ‚sauberen’ Gestaltschliessung, so als würden keinerlei Fragen offen bleiben. Die ‚ordnende’ Systematik dürfte die kompensatorische Funktion haben, der Sprecherin Schutz und Sicherheit zu gewähren. Dass die Unsicherheit in den Äusserungen von Frau Haller dort schwindet und einem dezidierten Vortragen von Argumenten weicht, wo sie Selektion legitimiert, spricht für die Annahme, dass die Selektion und die Ordnung, die sie für Frau Haller symbolisiert, für ihre Handlungsfähigkeit unverzichtbar sind. Wie gesagt: die Selektion, dank derer sich die Lehrerin gegen das „Schwimmfest“ (I 15, 5) wehren kann, ist in ihren Augen mehrfach legitimiert. Der Kampf Frau Hallers gegen ihre inneren Nöte harmoniert – in ihrer Vorstellung – perfekt mit dem gesellschaftlichen Ganzen. 5.3.2 Kontrastierung mit weiteren Fällen Dem Typ ‚Disziplinierung’ lassen sich drei Sekundarlehrpersonen und zwei Reallehrpersonen zuordnen. Im Folgenden werden Kernelemente des Deutungsmusters dargelegt, dabei fliesst verschiedentlich auch die Skizzierung habitueller Dispositionen der Lehrpersonen mit ein. Anders als in den übrigen Typen lassen sich hier zwei relativ klar kontrastierende Varianten ausmachen. Zwischen kontrollorientierter und leistungsorientierter Disziplinierung Alle Fälle dieses Typs erblicken in der Selektion ein Instrument, das ein bestimmtes Problem in Lehr-Lern-Prozessen zu lösen erlaubt. Selektion steht dabei als ‚Damoklesschwert’ oder ‚Selektionsdruck’ im Vordergrund, das heisst als für Schülerinnen und Schüler bedrohliche Gefahr, die den schulischen Alltag überschattet. Ganz grundsätzlich lassen sich – wie angetönt – zwei Varianten unterscheiden. Die habituell wenig gefestigten Lehrpersonen erblicken – ausgehend vom doppelten Problem der eigenen Unsicherheit und der ‚reizüberfluteten’ bzw. ‚haltlosen’ Schülerinnen und Schüler – im Selektionsdruck eine Möglichkeit, institutionell festgelegte disziplinierende Verhaltensregeln durchzusetzen, die das Schulehalten erlauben (Fälle Haller und Roos). Die gefestigten 194

diagnostizieren auf Seiten der Schülerinnen und Schüler mangelnden Triebverzicht und fehlende Leistungsbereitschaft; sie deuten den Selektionsdruck als Mittel, die Lernenden zu fachlicher Leistung anzuhalten (Fälle Dörner, Haller und z.T. König). In der Darstellung des Porträts von Frau Haller wurde deutlich, dass diese Lehrperson das, was sie „Selektion“ nennt, als Hilfsmittel im Kampf gegen ein von ihr befürchtetes Chaos im Schulalltag betrachtet, das angesichts der „Reizüberflutung“ (I 15, 16) in der heutigen Gesellschaft permanent drohe. Als psychostrukturell unsichere Person, die stets nach der Kontrolle der Situation, der Argumentation oder der Interaktion sucht, wehrt sich Frau Haller gegen ein „Schwimmfest“ (I 15, 5) ihrer tendenziell wenig pflichtbewussten und leistungsmässig schwachen Schülerinnen und Schüler. Die Interviewee neigt zur Ansicht, dass Lehr- und Lernprozesse am ehesten in Schulen gelingen, die den Charakter einer totalen Institution haben. Dominic Roos, ein 23-jähriger Reallehrer mit knapp drei Jahren Berufserfahrung, hat mit Frau Haller einiges gemeinsam, allem voran eine tief sitzende Unsicherheit; diese liegt allerdings vor allem in seinem berufsbiographischen Novizentum begründet. Anders als bei Frau Haller manifestiert sich die Unsicherheit in seinem Fall in einer basalen Ambivalenz: Konstitutiv für seine Deutungen ist ein Bruch, der alle Themen durchzieht. Gleichzeitig erhebt sich Dominic Roos immer wieder selbstreflexiv über das Gesagte und betrachtet es aus einer relativierenden Position. Der Interviewee bezeichnet sich als jungen Lehrer, der „noch ein bisschen am Herausfinden“ (I 12, 25) sei. Dominic Roos denkt vom Erziehen aus und neigt dazu, verschiedenste, kategorial auseinanderweisende Elemente des Schulalltags unter die Perspektive des – erziehenden – „Grenzen“-Setzens (I 12, 28) oder Regeln-Vorgebens zu subsumieren. Über weite Strecken des Interviews hinweg macht er kaum eine Unterscheidung zwischen Druck, Selektion, Noten, Lernzielen, Strafen, „klaren Sachen“ (I 12, 9), die von den Schülerinnen und Schülern verlangt werden: All dies wird tendenziell zu den „Eckpunkten“ (I 12, 9) gezählt, die für Herrn Roos so wichtig sind. In seinem Nachdenken über Selektion behandelt er diese argumentativ daher wie eine disziplinierende Regel, die im Kontext des Erziehens steht. Herr Roos schwankt hin und her zwischen reformpädagogisch inspirierter, feuriger Opposition gegen Ordnung schaffenden Vorgaben einerseits und einer – von ihm selbst ironisierten, aber immer wieder auftauchenden – beinah unterwürfigen Haltung des vorauseilenden Gehorsams andererseits. Gleichzeitig versucht er sich immer wieder in einer nüchternen Haltung, die Vorgaben ein Stück weit bejaht. Diese Bejahung – sei sie vorauseilend oder nüchtern – macht Dominic Roos zu Typ 3 gehörig. In den nachfolgenden Erörterungen steht diese bejahende Seite von 195

Herrn Roos denn auch im Vordergrund. Seine oppositionelle Seite und seine Gesamtambivalenz werden zwar ebenfalls thematisiert, doch das Kapitel 5.6 gibt ihnen im Zusammenhang mit der Diskussion generationsspezifischer Aspekte gebührenden Raum. Auf den Druck im Zusammenhang mit dem Damoklesschwert ‚Selektion’ angesprochen, bezeichnet Herr Roos diesen als „absoluten Seich“161(I 12, 27), spricht also eine beinah hasserfüllte Verurteilung aus. Dann aber findet Herr Roos auf der Suche nach einem „Mittelweg“ (I 12, 27), wie er es nennt, den Selektionsdruck auch erforderlich und hält das „Schwert“ (I 12, 27) – er übernimmt den Ausdruck von der Forscherin – durchaus für sinnvoll. Fliessend geht er mit einem „Aber“ von der radikal ablehnenden zur moderat befürwortenden Position über: „Das ist das Blödste, was man machen kann, dass das immer hängt“ (I 12, 27), sagt er vom Damoklesschwert, „aber es darf auch nicht fehlen manchmal.“ Auch der Übergang von der ‚Mittelwegsuche’ zur anderen Extremposition, dem Akzeptieren von Vorgaben im Sinne des vorauseilenden Gehorsams, erfolgt im Rahmen eines ununterbrochenen Gedankengangs. Herr Roos ist davon überzeugt, dass „ein paar ganz klare Sachen“ „enorm Halt“ geben (I 12, 28). Das sei höllengäbig162, das heisst auf sehr bequeme Art dienlich, weil man dann „etwas abgeben“ könne und „weniger belastet“ sei (I 12, 28). Er diagnostiziert also bei den jungen Menschen einen Mangel an Standfestigkeit, der durch entlastende Stützen kompensiert werden müsse. In unmittelbarem Anschluss daran fährt der Reallehrer fort: Dominic Roos: Und das Gäbigste ist ja Soldat, man muss einfach folgen. [I.: Mhm] Man muss einfach machen, was einem gesagt wird. [I.: Mhm] Und wenn man es falsch macht, ist der Oberst schuld. [I.: Ja] (.) Also ich habe mit dem sehr Mühe (schmunzelt) [I.: Ja-a], aber ehm, [I.: Mhm] ja, und darum finde ich, sind ein paar Sachen, das erleichtert dann den Kindern eben sehr, dann eben auch auch das Lernen [I.: Ja], aber zu viel eben auch nicht, drum bin ich dafür, dass ein paar ganz klare Sachen da [I.: Mhm] sein müssen. (I 12, 28)

Dominic Roos geht also assoziativ vom Schüler zum Soldaten über, er analogisiert Schule und Militär und meint, „das Gäbigste“ sei es, Soldat zu sein. Der Soldat müsse einfach nur Gehorsam zeigen, sei an nichts schuld und trage keine Verantwortung. Den gehorsamen Soldaten stellt der Entlastungstheoretiker Roos als Akteur dar, der von seiner Unterwerfung profitiert, er geht also davon aus, dass der Soldat freiwillig handelt, und klammert dessen Ohnmachtserfahrung aus. Dieses Bild enthält sozusagen eine Einladung zu Unmündigkeit, wird 161

Das Verb „Seichen“ meint in einem salopp bis grob gehaltenen Berndeutsch ‚urinieren’, das substantivierte „Seich“ bedeutet ‚doffe Verkehrtheit’, ‚Dummheit’, ‚Blödsinn’. 162 „Gäbig“ meint ‚bequem’, ‚auf praktische Art dienlich’, „höllengäbig“: ‚sehr bequem’.

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doch eine ‚gäbige’ Position nur ungern verlassen. Kaum hat Herr Roos diese zweite Radikalposition skizziert, geht er auch schon dazu über, sie wieder zu relativieren. Mit solcher Unterwerfung habe er Mühe, meint der Interviewee und begibt sich auf die Metaebene: Auf der Suche nach einem Weg zwischen „Schwarz und Weiss“ (I 12, 27) – wie er an anderer Stelle sagt – kommt er in obiger Passage mit Blick auf die Schülerinnen und Schüler in vagem Duktus auf die „paar Sachen“ (I 12, 28) zurück, aber zu viel dürfe es nicht sein. Am Ende hängt der Lehrer noch einen Satz an, wonach durch die paar Sachen zusätzlich auch noch das Lernen erleichtert werde, womit er zu verstehen gibt, dass das Lernen nicht sein primäres Anliegen ist. Anders als Frau Haller sieht Herr Roos, wie obiges Zitat zeigt, nicht ein Kind vor sich, das – in der gegenwertigen Gesellschaft – reizüberflutet ist, sondern eines, das keinen Halt hat, zu stark „belastet“ (I 12, 28) ist und deshalb auferlegte Regeln braucht. Auch wenn sich Herr Roos vom extremen Bild des Soldaten distanziert, der aus seiner Entmündigung einen Gewinn zieht, ist in seinem Schülerbild doch etwas davon übrig geblieben, nämlich das ‚Gäbige’ an der Entlastung und am Abgeben von Verantwortung.163 Herr Roos’ Haltung verbindet ihn mit dem Kulturpessimismus von Frau Haller: Seine haltlose Schülerin benötigt – wie die reizüberflutete Schülerin von Frau Haller – in erster Linie von aussen auferlegte Ordnungsvorkehren im Rahmen einer entsprechend gestalteten Institution. Im Falle von Frau Haller geht es um ein Internat bzw. eine Selektionsdruck ausübende Schule, im Falle von Herrn Roos um eine Schule mit klaren Vorgaben, ähnlich wie im Militär. Beide Lehrpersonen versprechen sich davon auch eine Erleichterung ihrer eigenen Tätigkeit. Bei Frau Haller steht dies, wie wir gesehen haben, an erster Stelle überhaupt. Herr Roos vergleicht sich in diesem Zusammenhang direkt mit den Schülerinnen und Schülern: Auch er selber brauche „solche Eckpunkte“, erklärt er im Interview, und spricht zum Beispiel von Lernzielen als „Eckpunkten“, die für ihn als Lehrer „Entlastung“ bringen und „gäbig“ seien (I 12, 32). Die Vorgaben erlauben es auch, sich als Lehrer von den Schülerinnen und Schülern abzugrenzen und etwa zu markieren, dass er nicht ihr „Vati“ (I 12, 32) sei, also nicht die volle Verantwortung für ihr 163

In seiner Untersuchung über Krankenbetreuung hat Hildenbrand (1991) in professionalisierungstheoretischer Sicht auf die Möglichkeit hingewiesen, dass Betreuung, welche die Autonomie des Patienten nicht anerkennt, blosse Hilfe, aber keine Hilfe zur Selbsthilfe gewährt, und daher deautonomisierende Struktur hat. Auf Lehrpersonen übertragen, lässt sich vermuten, dass Hilfe zur Selbsthilfe darin bestehen würde, die Schülerin, den Schüler in einem Halt gebenden und entlastenden schulischen Schonraum auch dabei zu unterstützen, den Schonraum zu verlassen und zu einem Subjekt zu werden, das sich sozusagen selber Halt gibt. Es scheint, dass Herr Roos bei seinen Schülerinnen und Schülern das, was Hildenbrand ‚Hilfe’ nennen würde, höher gewichtet als die ‚Hilfe zur Selbsthilfe’, das Mündigwerden.

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Leben trage. Dass Menschen Entlastung und Bequemlichkeit suchen, scheint für Herrn Roos eine anthropologische Konstante zu sein. Die Sekundarlehrerin Silvia Dörner deutet ‚Selektion’ anders. Sie bildet einen maximalen Kontrast zu Frau Haller und Herrn Roos. Frau Dörner stellt sich als dezidierte, genau denkende, gute Amtsprofessionelle dar, welche die staatliche Selektionsaufgabe als persönliche Überzeugung verinnerlicht hat. Sie legt aber auch Wert darauf, als Lehrperson mit eigener Meinung wahrgenommen zu werden, und ist nicht bereit, die Definitionsmacht des Staates in jedem Fall unkritisch zu akzeptieren. Silvia Dörner analogisiert Selektion nicht mit Regeln oder Ordnungsvorgaben, sie fokussiert allein die Selektion im Sinne von Entscheiden über die weitere Schullaufbahn und stellt sie in den Dienst der Leistungssteigerung. Dabei fokussiert sie primär Sekundarschülerinnen und -schüler, die vor einem eventuellen Übertritt ins Gymnasium stehen. Angesprochen auf das 9/0System164, das heisst auf eine Schule ohne Selektion, gibt sie zu bedenken: Silvia Dörner: Ich weiss einfach nicht, wie es funktionieren würde, oder? (lächelt) [I.: Mhm] Ich ich sehe es in der Praxis nicht, und und (.) das ist etwas, was man nicht gern hört, was ja in der ganzen schulpsychologischen Forschung eh gar nicht gut tönt, aber es ist so, dass Kinder (.) auf dieser Stufe jedenfalls, später wahrscheinlich auch noch, einfach auch auf Grund von einem (.) gewissen Druck mehr leisten. (.) Es ist [I.: Mhm] so, also man hört das nicht gern, oder man sagt es nicht gern, aber es ist so. Und ich denke mir, es gibt Kinder, die auch ohne Druck und ohne Selektion schaffen, die gibt es, (.) es gibt diejenigen, die mit Selektion und mit Druck nichts schaffen so oder so nichts, und dann gibt es einfach so eine relativ breite Gruppe von Kindern, die diesen Druck einfach braucht. [I.: Mhm] Das ist so. (I 10, 13)

Frau Dörner äussert Skepsis, kann sich eine Schule ohne Selektion in praxi nicht vorstellen. Dabei unterstreicht sie, ihr sei bewusst, dass eine solch kritische Haltung unbeliebt sei und auch in der wissenschaftlichen Diskussion einen schlechten Stand habe. Aber „es ist so“, dass Kinder bei einem „gewissen Druck mehr leisten“ (I 12, 13), sagt die habituell sichere Frau Dörner mit Nachdruck. Sie rekurriert hier auf ein epochales Deutungsmuster – Leistung –, das sich ausgehend von der Reformation mit der Entstehung der kapitalistischen Gesellschaft entwickelt und verbreitet hat und sich vor allem auf berufliche Arbeit bezieht. Leistung meint – in dieser Tradition verstanden – die Hervorbringung eines gesellschaftlich wünschbaren Resultats auf eine Art und Weise, die An164 9/0 bedeutet, dass die Schülerinnen und Schüler während der ganzen neun Jahre der Volksschulstufe nicht selegiert werden. 6/3 meint, dass die Selektion nach sechs Jahren stattfindet, dass die Schülerinnen und Schüler also – wie im Kanton Bern der Fall – sechs Jahre auf der Primarstufe und dann drei Jahre auf der Sekundarstufe I in einem Niveau unterrichtet werden.

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strengung und Bemühung erforderlich macht und entsprechenden Triebverzicht verlangt (Neckel/Dröge/Somm 2004). Die Idee eines ständigen, selektionsvermittelten Drucks im Schulalltag ist für Frau Dörner eine Selbstverständlichkeit. Sie schildert eine tiefe Überzeugung, die weder negative Alltagsreaktionen noch wissenschaftliche Debatten oder bildungspolitische Diskurse umwerfen können. Jedenfalls auf dieser Schulstufe, so Frau Dörner in der oben zitierten Passage, leisten Kinder mehr, wenn ein gewisser „Druck“ da ist, der in der selektionsfreien Schule fehle. Dabei stellt sie ihre Behauptung nicht pauschalisierend für sämtliche Kinder auf, sondern für eine „relativ breite Gruppe“, sozusagen für die ‚normalen’ Schülerinnen und Schüler unter ihnen: Diese Gruppe „braucht“ (I 12, 13) den Druck, sie ist also, um Leistungen zu erbringen, auf diesen angewiesen. Freilich hat dieser Druck nichts mit aufoktroyierter militärischer Disziplin zu tun, eher geht es um sanften Zwang zu Leistungserbringung. Zur Legitimation ihrer These berichtet Frau Dörner von Schülerinnen und Schülern, die nicht ins Gymnasium empfohlen worden sind, dies auch akzeptieren, dann aber plötzlich merken, dass sie diese Schule trotzdem besuchen möchten, aber zu wenig gearbeitet haben: Und „sie haben wirklich angefangen schaffen schaffen schaffen“ mit der Folge, dass sie ihr Ziel erreichten. Frau Dörner spricht von einer „Arbeitshaltung“ (I 10,18): Die beschriebenen Schülerinnen und Schüler üben dank des Selektionsdrucks gewissermassen Selbstdisziplin: Sie wollen Erfolg haben und strengen sich an. Auch Antonio Hirsch, ein weiterer Sekundarlehrer des Typs 3, ist dem Deutungsmuster ‚Leistung’ verpflichtet. Die Schülerin nimmt – so Herr Hirsch – im Zusammenhang mit Selektion jeweils eine Hürde beziehungsweise „kommt an einen Ort hin“ und musste dafür „etwas tun“ (I 20, 40). Herr Hirsch orientiert sich an starken Schülerinnen und Schülern, die man – vor allem auch mit Blick auf Selektion – „fordern“ kann. An heutigen Erziehungsstilen kritisiert er, dass dem Kind zu schnell der „Druck“ (I 20, 11) weggenommen und die Leistungsbereitschaft nicht gefördert werde, alles müsse lustbetont sein, und eine „Durststrecke“ (I 20, 11) gelte als etwas Schlechtes. Genau wie Frau Dörner gibt Antonio Hirsch – via Kritik – ein Plädoyer für Leistung ab, betont aber den Triebverzicht besonders stark. Durch Selektionsdruck auf die Lernenden kann die Lehrkraft heute, so Herr Hirsch, in diese Richtung wirken. Auch der Reallehrer Sebastian König gewinnt dem Druck, der von der Selektion ausgeht, Positives ab. Er formuliert dies aber nicht so sehr als allgemeines Prinzip, sondern mit Blick auf den Umgang mit dem einzelnen Schüler. Gleich wie für Frau Dörner und Herrn Hirsch kann „Druck“ in den Augen von Herrn König jemanden „manchmal dazu bringen zu schaffen“ (I 16, 14), doch noch wichtiger ist ihm die Idee, dass Schülerinnen und Schüler, statt geschützt und geschont zu 199

werden, auf selektionsverwandte Drucksituationen im späteren schulischen und im nachschulischen Leben vorbereitet werden sollten, etwa auf die Selektionssituation bei der Lehrstellensuche oder den Übertritt ins Gymnasium. Der Reallehrer ist überzeugt, dass Schülerinnen und Schüler nur durch das erfolgreiche Bewältigen einer „Herausforderung“ (I 16, 17) das Selbstvertrauen gewinnen, das sie im Erwachsenenleben brauchen. Er versucht nicht zuletzt, Schülerinnen und Schüler bei der Lehrstellensuche von ‚Abkühlungsprozessen’ abzuhalten, und animiert sie dazu, Wünsche weiterzuverfolgen, nicht aufzugeben und zu probieren. Als förderorientierter und den Einzelfall fokussierender Lehrer diskutiert Herr König – unter Rückgriff auf eigene Erfahrung – aber auch die Notwendigkeit, bei schwachen Schülerinnen und Schülern den Druck eine Zeit lang wegzunehmen, zum Beispiel auf Noten zu verzichten oder Proben auf Wunsch wiederholen zu lassen; das bewirke meist einen „Quantensprung“ (I 16, 3). Herr König stellt sich letztlich als Virtuose im Umgang mit Druck dar. „Ich denke, man muss das sehr fein abschätzen, wo ist jetzt was gefragt“ (I 16, 5), gibt er zu verstehen. Von einer Schule, die nie Druck ausübt und Schülerinnen und Schüler schonend von „Negativitäten“ (I 16, 16) abschirmt, distanziert er sich – darin Herrn Hirsch verwandt – aber deutlich. Negativselektion: ein Problem? eine Problemlösung? Bei allen Lehrpersonen des hier behandelten Typs zeigt sich, dass sie in der Negativselektion ein gewisses Problem erblicken, diese aber gleichzeitig auch in positivem Licht erscheint. Für Frau Haller und Herrn Roos, deren Deutungen von Aspekten der Schülerkontrolle dominiert sind und bei denen Selektionsdruck als entsprechendes Problemlösungsinstrument erscheint, ist Negativselektion teilweise explizit erwünscht, weil sie ihnen hilft. Demgegenüber gehen die Lehrpersonen, die Selektion mit Leistungssteigerung verbinden, klar davon aus, dass Negativselektion unerwünscht ist, weil sie der Schülerin schadet. Aber sie wollen dies in Kauf nehmen. Sie tolerieren, was Frau Haller und Herr Roos legitimieren. Wie das Porträt von Frau Haller gezeigt hat, sieht diese eine Schwierigkeit in der Enttäuschung jener Schülerinnen und Schüler, die in Lernkontrollen versagen, obgleich sie von der Lehrerin zuvor ermuntert worden sind und sich angestrengt haben. Doch verortet sie die Schwierigkeit mehr bei den Schülerinnen als bei sich selbst, was nicht erstaunen kann, wenn man weiss, wie wichtig und hilfreich ihr die Selektion als Instrument im Kampf gegen Unordnung in der Schule und eigene Unsicherheit ist. Allerdings halten sich auch die Schwierigkeiten der Schülerinnen und Schüler in Grenzen: Frau Haller zufolge gibt es Lernende, die gerne „hinten drinsitzen“ (I 15, 17); sie machen sogar die Mehr200

zahl aus. Ebenso gibt es viele Menschen, die nicht Direktor werden wollen, ja die Wünsche der Individuen entsprechen sogar dem ‚Bedarf’ der Gesellschaft an hierarchisch unterschiedlich gelagerten Positionen. Das Selektionsproblem erscheint dadurch getilgt. Der schwankende Dominic Roos bekundet einerseits gravierende Probleme bei der Nicht-Aufnahme von Schülerinnen und Schülern ins letzte Schuljahr, die – weil sie einst ein Jahr wiederholt und die obligatorische Anzahl Schuljahre bereits absolviert haben – für ein zusätzliches Jahr nur dann aufgenommen werden, wenn sie gewisse Verhaltenserwartungen erfüllen. In seinen Augen sollte die Schule gerade die Lernenden mit Verhaltensproblemen – statt sie auf die „Strasse“ (I 12, 1; 2) zu schicken – ‚erziehend’ unterstützen. Auf der anderen Seite sieht Herr Roos aber die Gefahr, dass ein nicht selegierender Lehrer als jemand bekannt wird, bei dem du „machen kannst, was du willst“ und „gleichwohl bleiben kannst“ (I 12, 2). Die imaginierten Kinder bringen dem Lehrer keinen Respekt entgegen, weil ungebührliches Verhalten ohne Folgen bleibt. Darum spricht sich Herr Roos in diesem Zusammenhang – ähnlich wie Frau Haller – zugunsten einer Negativselektion aus, die Ordnung und Respekt garantiert. Bei Herrn Hirsch und Frau Dörner liegen die Dinge anders. „Es tut einem schon weh“ (I 10, 12), meint die Sekundarlehrerin Frau Dörner zur Negativselektion; sie erwähnt im Interview auch die Gefahr, dass ein Kind nach einer Abstufung „ganz zurückfällt“ (I 10, 9), und weiss von „Härtefällen“ (I 10, 28) zu berichten. Die Sicht von Frau Dörner, Herrn Hirsch und auch von Herrn König kommt besonders deutlich zum Ausdruck in der Art und Weise, wie sie die (Negativ-) Selektion mit dem Fördern in Zusammenhang stellen. Frau Dörner führt dabei den Begriff des Forderns ein. Silvia Dörner: Also ich würde sagen, wenn man einfach sagt Fördern, Selektionieren, dann dünkt es mich, passt das, kann man das gut als als Einheit anschauen und muss das nicht als Spannung anschauen. Weil mich dünkt, es man muss selektionieren in unserem Su- Schulsystem (.) und man muss, fordern in unserem Schulse- eh Schulsystem, um selektionieren zu können, aber auch, um die Kinder zu fördern. Das gehört zusammen. (I 10, 1)

Frau Dörner zufolge „passen“ Fördern und Selektionieren unter bestimmten, durch Definitionen geschaffenen Bedingungen gut zueinander. Im obigen Zitat schlägt sie mit der Formulierung „wenn man einfach sagt“ selber eine Art unverfälschter Definition von Fördern und Selektion vor. Fördern und Selektion – so Frau Dörner – sind komplementäre Dinge (es „passt“) und bilden eine Einheit. Man „muss“ keine Spannung sehen, sagt die Lehrerin und holt zu einer Begründung ihrer Ansicht aus, in der sie Selegieren, Fordern und Fördern mit201

einander verbindet. Frau Dörner „dünkt es“ zunächst, dass man in unserem Schulsystem selegieren „muss“, was sie offenbar nicht für selbstverständlich hält. Um selegieren zu können, führt Frau Dörner fort, muss man fordern können, sie betrachtet also das hartnäckige Abverlangen von Leistungen als – ebenfalls nicht selbstverständliche – Voraussetzung für Selektion. Danach wendet sich Frau Dörner innerlich ihrer Klientel zu und fährt fort, das Fordern sei auch eine Voraussetzung, um die Kinder zu fördern. Allerdings wird das Fördern in den drei angeführten Begriffen klar hintangestellt, es erscheint gewissermassen als Nebeneffekt dessen, was mit Blick auf die Selektion unverzichtbar ist: das Fordern. Dass Frau Dörner diese Verbindung zum Fördern noch herstellt, dürfte durch die Eingangsfrage des Interviews – die Rahmung des Gesprächs – zu erklären sein, welche „Fördern“ und „Auslesen“ direkt thematisiert: Die Interviewee dürfte sich genötigt fühlen, in ihr Konzept auch noch das Fördern zu integrieren. Über das Fordern also, so Frau Dörner, bildet das Fördern mit dem Selegieren eine „Einheit“. Die Verbindung, die sie macht, hat gleichsam Scharniercharakter. Für Herrn Hirsch verknüpfen sich Selektion und Fördern auf andere Weise. „Ich möchte nicht, dass Du hinunter musst“ (I 20, 20), imaginiert er sich selber im Gespräch mit einer Sekundarschülerin, die von Abstufung bedroht ist. Die Interviewerin entgegnet mit der Frage, was denn sei, wenn die Abstufung für das Kind vielleicht doch „besser wäre“ (I 20, 20), worauf Herr Hirsch lacht, und dann zögerlich sagt „Es ist noch schwierig, es ist“ – dann nimmt er einen ‚Anlauf’ und setzt frisch an: „Hören Sie, es ist ein Spagat dort.“ (I 20, 20) Im Bild des Spagats gehören die beiden Seiten enger zusammen als in der Beschreibung von Frau Dörner. Ein Spagat ist eine Bewegung, die von einer einzigen Person gemacht wird und sich mit einer körperlichen Spannung verbindet, die schmerzhaft sein kann. Nur wenige Menschen sind dazu in der Lage. Herr Hirsch stellt sich als in dieser Sache trainierte Lehrperson dar, bei der die Akrobatik des Spagats keine Muskelzerrung verursacht. Dass der Sekundarlehrer die Beziehung zwischen Fördern und Auslesen als „schwierig“ und spannungsreich bezeichnet, macht ihn mit den Fällen der Typen 4 und 5 verwandt. Doch ist er weit davon entfernt, deswegen auf das Selegieren verzichten zu wollen. Das wird besonders klar an einer Stelle, wo er bestätigt, dass Realschülerinnen und -schüler objektiv schlechtere Chancen haben als Sekundarschülerinnen und -schüler. Herr Hirsch: „Ja, das ist so. Trotzdem muss Selektion wahrscheinlich sein. In der Sek wäre dem Schüler nicht wohl.“ (I 20, 38) Ob dies für das Kind „das Beste“ (I 20, 19) ist, kann Herr Hirsch aber nicht sagen. Auf dieses „Beste“ direkt angesprochen, antwortet er an anderer Stelle: „Im Grund genommen wollen wahrscheinlich alle hinauf. Nehme ich an. Und man muss dann irgend diesen Modus finden und ja, muss minimale Standards setzen.“ (I 20, 19) Die 202

Aufwärtsorientierung hat zur Folge, dass die abgestufte Schülerin auch dann Schmerz empfindet, wenn es ihr wohl ist, scheint Herr Hirsch anzunehmen. Er sieht das Dilemma, versucht aber gar nicht erst, es aufzulösen, sondern verweist abstrakt auf Dinge, die „man dann“ tun „muss“. Eine spagatähnliche Sicht auf Selektion und Fördern findet sich bei Sebastian König. Es gibt für ihn Schülerinnen und Schüler, die trotz grosser Anstrengungen immer „an der Grenze laufen“ (I 16, 5): Wenn er eine solche Schülerin, einen solchen Schüler abstufe, tue er diesem nicht nur etwas zuleid, sondern er tue ihm auch „einen Gefallen“ (I 16, 6). Er verhindere damit nämlich, so Herr König abschliessend, dass die Schülerin, der Schüler „im Leben permanent überfordert“ (I 16, 6) sei. Herr König schildert damit ein Dilemma, ähnlich wie es im professionalisierungstheoretischen Teil dieser Arbeit konzipiert ist (vgl. Kapitel 2.2). Nur: im Falle einer solchen Laufbahnentscheidung schläft Herr König gut, wie er sagt. Das Leid, das er zufügt, scheint also weniger Gewicht zu haben als der Gefallen, den er tut. Schwierigkeiten sieht Herr König nur dann, wenn er „faule“ Schülerinnen und Schüler abstufen muss im Wissen, dass sie mehr Möglichkeiten hätten und dass deren Realisierung durch die Abstufung erschwert ist. Vor diesen Entscheiden „drückt sich“ Herr König „ein bisschen“ (I 16, 6). Historische und aktualitätsbezogene Sensibilität Den Fällen des Typs ‚Disziplinierung’ ist des Weiteren gemeinsam, dass sie ihre Überzeugungen mit politischen, wissenschaftlichen oder anderen Diskursen in Verbindung bringen und Entwicklungen in Vergangenheit und Gegenwart kommentieren. Frau Haller und Herr Roos legitimieren ihre wenig gefestigten Positionen auf verschiedene Art unter – zum Teil implizitem und fragmentarischem – Rekurs auf die Reformpädagogik. Anders die Lehrpersonen, die in klaren Denkhaltungen verankert sind, vor allem Frau Dörner und Herr Hirsch: Beide verurteilen vor dem Hintergrund einer souveränen, kritischen Auseinandersetzung und auf der Grundlage einer eigens formulierten Position gegenwärtige Entwicklungen und staatliche Reglementierungen, Frau Dörner die Schülerbeurteilungsvorgaben, Herr Hirsch das „Verwässern“ (I 20, 33) vieler Sachen, die langjährigen, von der Bildungspolitik so eingeführten ‚Selektionsphasen’, aber auch die elterlichen Erziehungsstile. Wie das Porträt zu Brigitta Haller gezeigt hat, rekurriert diese Sekundarlehrerin mit ihrer These der zwei nebeneinanderstehenden Bewertungssysteme auf ein Verständnis von Beurteilung, das in der gesamtschweizerischen Bildungspolitik nach 1980 erarbeitet und mit dem Ziel verbreitet wurde, dass in der Praxis eine Entflechtung zwischen ‚formativer’ und ‚summativer’ Bewertung stattfinde 203

(vgl. 4.4.3). Frau Haller lehnt sich vergleichsweise eng an dieses Konzept an, ohne es zu erwähnen. Sie nennt aber auch – diesmal ganz explizit – Maria Montessori und Karl Marx, geht dabei allerdings über knapp gehaltene Bemerkungen nicht hinaus. Zu Montessori äussert sie sich so, dass ihre eigene Position legitimiert wird: Frau Montessori habe in ihrer selektionsfreien Schule mit „absolut dumpfen“ Kindern gearbeitet, die „nichts zum Spielen“ gehabt hätten, auch sei die „Reizüberflutung“ (I 15, 5) in jener Zeit kein Problem gewesen, zudem habe Maria Montessori für die Oberstufe – die Stufe, auf der Frau Haller unterrichtet – nie ein Modell entworfen. Frau Haller führt also lauter Argumente an, die ihre selektionsbejahende Haltung legitimieren: Nicht nur befinde sie sich als Lehrerin in einer ganz anderen gesellschaftlichen und schulischen Situation als Maria Montessori, es liege auch kein Montessori-Konzept vor, auf das sie zurückgreifen könne. Da sie – wie im Porträt aufgezeigt worden ist – ganz grundsätzlich eine Schule ohne Selektion durchaus für vorstellbar hält, für ihr Überleben als Lehrerin die Ausübung von Selektionsdruck jedoch als schlichtweg unverzichtbar einschätzt, sind diese Legitimationsanstrengungen für sie vital. Von Karl Marx distanziert sich Frau Haller ebenfalls. Obgleich sie zu jung ist, um selber direkt zur 1968er-Generation zu gehören, muss sie in ihrer Biographie mit entsprechenden Milieus in Kontakt gestanden haben, sonst würde sie Marx wohl kaum als Referenz heranziehen. Aufgrund dessen, was sie bei ihren Schülerinnen und Schülern an Wünschen beobachtet – so Frau Hallers latente Überzeugung –, kann Marx mit seiner Annahme nicht recht haben, wonach Menschen die Hierarchie in der Gesellschaft überwinden wollen. Frau Haller zufolge gibt es – wie bereits erwähnt – nämlich Schülerinnen und Schüler, die gerne „hintendrin sitzen“ (I 15, 17), denn nicht alle wollen Direktor werden. Mit dieser erfahrungsgesättigten Aussage legitimiert sie ihre Befürwortung der Selektion von neuem. Herr Roos bettet seine (ebenfalls von Unsicherheit geprägte) Haltung anders ein. Er bringt eine seiner beiden Extrempositionen – die selektionskritische – mit „den Reformpädagogen“ in Verbindung, die er während seiner Ausbildung kennen gelernt hat. „Die sind super“, sagt er mit jugendlicher Bewunderung und macht geltend, das Kind lerne nicht unter Druck, sondern dann, „wenn es lernen will“ (I 12, 27). Gleichzeitig begibt sich der Interviewee einmal mehr auf eine Metaebene und kommentiert sich selber: Wenn er eine reformpädagogisch inspirierte ‚extreme’ Position vertritt, dann aus taktischen Gründen oder weil er so sozialisiert ist, in keinem Fall aber entspricht diese Position einer Haltung, die er sich aktiv erarbeitet hat und von der er innerlich überzeugt ist: dies gibt der Reallehrer zu verstehen. Hierin zeigt sich erneut sein Novizenstatus als junge Lehrkraft mit einer noch ungefestigten Haltung. Im Kapitel 5.6 wird ausführlicher darauf eingegangen. 204

Anders als die bisher geschilderten beiden Fälle sind Frau Dörner und Herr Hirsch klar in einer leistungsorientierten und selektionsbefürwortenden Grundhaltung verankert. Frau Dörner, die kritische Amtsprofessionelle, steht mit ihrem Denken in einer Tradition, welche die Leistung hochhält. Menschliche Betätigung, die Anstrengung erforderlich macht, gilt ihr als zentraler Wert. Ähnliches gilt für Herrn Hirsch. Er ist kurz nach 1945 geboren, hat Selektion „eine Zeit lang“ (I 20, 40) verurteilt und sich von „antiautoritätem“ (I 20, 41) Denken anregen lassen, spricht sich aber im Zeitpunkt des Interviews für Selektion aus, wenn auch weniger dezidiert und mit weniger Selbstverständlichkeit als Frau Dörner. Wichtig sind ihm die Aufrechterhaltung und die Verbesserung des öffentlichen Schulsystems. Als historisch reflektierender Sekundarlehrer blickt er auf den Ablauf der Elterngenerationen zurück und beklagt sich über die „1968er-Eltern“ (I 20, 11), welche die Leistung verpönen und von der Schule erwartet haben: „Bitte keine Leistung, aber macht dann, dass mein Kind in die Mittelschule kommt“ (I 20, 11), eine Rechnung, die in seinen Augen nicht aufgehe. Die nächste Elterngeneration, so führt er aus, sei leistungsbereiter gewesen, wogegen die heutige wiederum eine leistungsablehnende Haltung einnehme und ihre Kinder in „Watte“ (I 20, 11) bette. Ausgehend von ihrer Grundüberzeugung, dass Schülerinnen und Schüler zu Leistung angehalten werden sollen, nehmen Frau Dörner und Herr Hirsch zu aktuellen Entwicklungen Stellung: Frau Dörners165 Interviewaussagen sind vor allem durchdrungen von der Kritik an der kantonalbernischen Reform des Beurteilungsverfahren „Schübe“ (Schülerbeurteilung166) (I 10, 2). Sie kritisiert mit Vehemenz, das Selegieren und auch das Fördern der Lernenden werde durch „Schübe“ verunmöglicht, da Schülerinnen und Schüler beispielsweise die Tests so oft wiederholen dürfen, bis sie genügende Leistungen erbringen und nicht mehr abgestuft werden können. Das habe zur Folge, dass schwache Schülerinnen und Schüler „mitgeschleppt“167 (I 10, 2) würden. Auch Herr Hirsch plädiert für bessere Selektionsmöglichkeiten. In seinen Augen sind im „alten System“ (I 20, 5)168 dank Lehrplan klare Ziele vorgegeben gewesen, die es erlaubten, die Leistungen der Schülerinnen und 165 Bei Frau Dörner fällt besonders auf, dass sie sich nicht beirren lässt, wenn ihre eigene Position mit Trends, etwa der schulpsychologischen Forschung, nicht übereinstimmt. Ähnlich Herr König – auf den hier nicht näher eingegangen werden soll –, der betont, er sage jetzt etwas „Unpädagogisches“, als er seine Haltung schildert, Druckausübung auf Schülerinnen und Schüler sei etwas mitunter „Konstruktives“ (I 16, 14). Der Reallehrer bezieht sich also kritisch auf den alltagspädagogischen Diskurs. 166 Seit dem Zeitpunkt des Interviews 2004 wurde die entsprechende Regelung von der kantonalbernischen Bildungsverwaltung erneut geändert: „Schübe“ wurde durch „Beurteilung 04“ ersetzt. 167 Im Transkript: „mitschleifen“ (Dialekt). 168 Herr Hirsch bezieht sich auf die Zeit vor der Einführung des Lehrplans 1995, der „Leitideen“ voranstellt und den Schulen einen grösseren Interpretationsspielraum als vorher gewährt.

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Schüler zu beurteilen und – gerade auch im Falle der Selektion – klar anzugeben, ob sie diesseits oder jenseits der „Latte“ (I 20, 7) angesiedelt waren. Heute seien im Lehrplan grossartige „Leitideen“ (I 20, 34) vorangestellt, die nicht nur „schwer umsetzbar“ (I 20, 5) seien, sondern auch die Möglichkeit offenlassen, dass jede Schule wieder andere Lernziele formuliert. Dieser ‚Verwässerung’ hält Herr Hirsch – an die bildungspolitische und pädagogische Debatte über „Standards“ (I 20, 34) anknüpfend – entgegen, Selektion verbinde sich mit der Festlegung von klaren Standards. Dabei begründet er seine Forderung nicht in erster Linie mit der – politisch vielfach beteuerten – Notwendigkeit der interkantonalen Anpassung. Viele Universitätsstudierende in den Naturwissenschaften, der Medizin und anderen Bereichen bleiben Herrn Hirsch zufolge auf der Strecke, wenn die Selektion dann „brutal kommt“ (I 20, 34), weil in der Sekundarschule und im Gymnasium zu wenig klare Leistungsanforderungen an sie gestellt worden seien und sie „mit irgendeiner Matur einfach hinaufgerutscht sind“ (I 20, 34). So werden „Leute verheizt“, denn man belasse sie in der „Illusion, alles ist erreichbar“ (I 20, 34). Herr Hirsch stellt also die Behauptung auf, die bildungspolitischen Bemühungen um mehr ‚Durchlässigkeit’ führten dazu, dass junge Menschen durch schulische Regelungen von der realistischen Einschätzung ihrer Möglichkeiten abgehalten werden und mit illusionären Absichten in Schullaufbahnen hineinschlittern, in denen sie dann scheitern. Herr Hirsch kritisiert darüber hinaus die ihm als „brutal“ erscheinende Aufeinanderfolge mehrerer Selektionsentscheide, die in der 5. Klasse beginnt und – für Erfolgreiche – mehrere Jahre lang anhält, bis endlich die definitive Aufnahme ins Gymnasium erfolgt ist. Antonio Hirsch: Ich habe mir manchmal gedacht, ist es vielleicht nicht ehrlicher nehrlicher, nicht aber angenehmer für ein Kind gewesen, wenn man es so gemacht hätte wie früher, irgend mit einer einer Prüfungssituation, nachher kann man das sein lassen [I. : Ja] und ist fertig. [I.: Ja] Und hat auch mal Zeit für etwas anderes au-, muss nicht immer an diesen Druck [I.: Mhm] denken [I.: Mhm]. Ich habe zum Beispiel als als Lehrer (..) we- ef- habe ich den letzten, das letzte Jahr mich gar nicht mehr gewagt, irgendwie etwas zu machen nebendurch, neben der Schule. Irgendein Kulturprojekt, [I.: Mhm] ein Theater oder (?)irgend(?) so [I.: Mhm], wage ich mir nicht nicht mehr in dieser Selektionsphase drin, oder? [I.: Mhm, ja] Weil das ist eigentlich schade, da geht ein Haufen Haufen von einer Schule, das eigentlich ja, die Schule [I.: Ja] ausmacht [I.: Ja] oder? (I 12, 28)

Herr Hirsch würde – wie früher – eine einzige grosse Selektion vorziehen. Er kritisiert den ständigen „Druck“, der durch die rasche Aufeinanderfolge von Selektionsentscheiden entsteht und über Jahre andauert: Er wage es angesichts der lang andauernden „Selektionsphase“ schon gar nicht mehr, ausserhalb des 206

Unterrichts („nebendurch, neben der Schule“) wie früher ein Theater- oder sonstiges Kulturprojekt an die Hand zu nehmen, das „eigentlich ja die Schule ausmacht“. Im Verlauf des Interviews wird klar, dass Antonio Hirsch den Zusammenhalt der Schülerinnen und Schüler als Gemeinschaft anspricht, der durch geteilte Erlebnisse geformt und gestärkt werden kann, dass er aber auch das Schaffen von Raum für horizonterweiternde Erfahrungen meint: Er möchte den Lernenden im Rahmen des Schulgeschehens ein „Fenster auftun in irgendeine andere Richtung“ (I 20, 29). Fachliche Leistungen und leistungsbezogene Selektion, denen Herr Hirsch – genau wie Frau Dörner – zentrale Bedeutung zumisst, möchte dieser Lehrer also auch wieder an ihren Ort verweisen. Darin unterscheidet er sich von Frau Dörner und zeigt Gemeinsamkeiten mit Herrn Roos, der die musischen Fächer wertschätzt. Herr Hirsch weiss „Schönes“ (I 20, 24) jenseits von „messbarer Intelligenz“ (I 20, 24) zu schätzen. Er möchte also die Selektion, die zwischen dem Ende der Primarzeit und dem Beginn des Gymnasiums für Schülerinnen und Schüler im Sinne einer lang andauernden ‚Selektionsphase’ so alltagsbestimmend geworden ist, in ihrer Einflusskraft einschränken und den kulturellen Perspektiven, die jenseits von fachlicher Leistung und zugehöriger Selektion angesiedelt sind, ihren angestammten Platz im Schulgeschehen zurückgeben. Dass es Selektion gibt und geben muss, steht für ihn aber ausser Zweifel. Gleich wie Frau Dörner weiss er um die Schmerzen, die Schülerinnen und Schüler dabei erleiden: es gibt sie und muss sie geben. 5.3.3 Zusammenfassung des Deutungsmustertyps Den Fällen des Typs ‚Disziplinierung’ ist die Hintergrundüberzeugung gemeinsam, dass sich das Damoklesschwert ‚Selektion’ als Instrument einsetzen lässt, um ein bestimmtes Problem in Lehr-Lern-Prozessen zu lösen. Mit ‚Damoklesschwert’ ist der Selektionsdruck im Sinn einer Misserfolgsgefahr gemeint, die den schulischen Alltag überschattet und die Schülerinnen und Schüler an die bevorstehende Hürde erinnert. Frau Haller und Herr Roos, zwei habituell wenig gefestigte Lehrpersonen, orten ein Problem bei den haltlosen Schülerinnen und Schülern, befinden sich aber auch selber – von der biographischen bzw. psychostrukturellen Situation her – in einer unsicheren Lage. Die Lehrpersonen, die habituell gefestigt sind – vor allem Frau Dörner und Herr Hirsch –, diagnostizieren bei den Schülerinnen und Schülern mangelnde Leistungsmotivation und zu wenig Bereitschaft zu Triebverzicht. In allen Fällen leistet die Selektion als Disziplinierungsinstrument wie gesagt Hilfe. Bei der ersten Variante geht es um ‚kontrollorientierte Disziplinierung’ (Fälle Haller und Roos), bei der zweiten um ‚leistungsorientierte Disziplinierung’ (übrige Fälle).

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In den Augen von Frau Haller verhindert die Selektion angesichts einer „Reizüberflutung“ der Schülerinnen und Schüler, dass ein „Schwimmfest“ entsteht, das für sie als – ohnehin schon wenig stabile – Lehrerin bedrohlich ist, während die Schülerinnen und Schüler sich dabei vergnügen würden. Nur dank der Selektion wird Schulehalten unter Bedingungen der Ordnung möglich. Selektion, so Frau Haller, übernimmt in einer ‚gewöhnlichen’ Schule jene Funktion, die der Tagesrhythmus und andere Regeln im Internat haben. Aus der Sicht des ihr verwandten Lehrers Dominic Roos, der ganz vom Erziehungsauftrag des Lehrers aus denkt, gibt der Selektionsdruck – gleich wie erzieherisch gedachte Verhaltensregeln – den Schülerinnen entlastenden Halt und setzt „Eckpunkte“, die ihrerseits das Sich-Abgrenzen der Lehrperson erleichtern. In seinem Schülerbild finden sich Spuren eines Soldaten, der sich freiwillig unterwirft, weil er vom vorauseilenden Gehorsam profitiert, der ihn von Verantwortung entlastet.169 Der Druck, der in den Augen von Frau Haller und Herrn Roos auf die Schülerinnen ausgeübt werden muss und – gemäss ihren Aussagen – auch tatsächlich ausgeübt wird, hat den Charakter von institutionell-organisatorisch auferlegter Verhaltensreglementierung. Die Deutungen von Frau Haller und Herrn Roos erinnern an eine Schule, wie sie Foucault im Kontext seiner Studien über die Formierung der Disziplinarmacht bei der Herausbildung der modernen Gesellschaft sieht (Foucault 1981[1975], 220ff.). Disziplinen sind Techniken, welche die Vielfältigkeit der Menschen und die „Vervielfachung der Produktionsapparate“ in Übereinstimmung bringen, indem sie direkt auf den Menschen und sein Inneres einwirken (ebd., 281). Zu den ‚Produktionsapparaten’ zählt Foucault unter anderem auch die Armee sowie die Schule, die Wissen und Fähigkeiten produziert. Durch Disziplin werden angehäufte Menschen nutzbar gemacht, wird „Bewegung zum Stillstand“ (ebd., 281) gebracht, werden Gegenmacht, Aufstände oder Unruhen unterbunden. In der Schule erfolgt die Disziplinierung über Strafen, Belohnen, Befehlssysteme, Schulhausbauten, zeitliche Abläufe (Stundenplan), Unterscheiden von Niveaus des Lesenlernens und nicht zuletzt auch über die „Prüfung“ (ebd., 237ff.). Foucault spricht von der Schule als „einem pausenlos funktionierenden Prüfungsapparat, der den gesamten Unterricht begleitet“ (ebd., 240). Die Prüfung sortiert die Lernenden und unterwirft sie gleichzeitig, und zwar in dreifacher Art. Zunächst zwingt die Disziplinarmacht die Unterworfenen in die Sichtbarkeit: Über einen Objektivierungsmechanismus fängt sie im Examen ihre Untertanen ein, denn im Scheinwerferlicht sind diese dem Zugriff der Macht gesichert. Zweitens 169 Wie es zu lesen ist, dass der 23-jährige Reallehrer Dominic Roos in seiner grundlegenden Ambivalenz dies alles auch wieder negiert und auf einer Metaebene relativierend reflektiert, wird im Kapitel 5.6 näher erörtert.

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wird der Schüler Untersuchungsobjekt: Die Prüfung bestätigt nicht allein, dass Wissen vom Lehrer auf den Schüler übergegangen ist, sie erhebt auch Wissen über den Schüler. Drittens wird das Individuum in den Augen Foucaults durch das Vergleichen und Messen zum „Fall“ (ebd., 246), den man korrigieren und dressieren kann. Ähnlich wie von Foucault beschrieben, werden in Frau Hallers und Herrn Roos’ Denken Ordnung schaffende Vorgaben und die Prüfung (auf Selektion lässt sich Foucault nicht ein) aus ein und derselben Perspektive der Disziplinierung betrachtet. Eine Prüfung vergleicht und bewertet nicht nur, sie unterwirft auch. Wenn Frau Haller betont, dass Schülerinnen und Schüler anlässlich der Lernkontrolle auch „zeigen“ müssen, ob sie die Lernziele erreicht haben, erinnert dies an Foucaults Unterwerfung qua Sichtbarmachung. Frau Hallers Notizenmachen über Schülerinnen und Schüler, bei dem sie sich ausnahmsweise als handelndes Subjekt darstellt, findet in Foucaults ‚Objektivierung’ ein Pendant. Das „Schwimmfest“ seinerseits, vor dem sich Frau Haller mittels Selektion schützt, gleicht einem Aufruhr der Gegenmacht, währenddem das Damoklesschwert, das ständig droht, der Pausenlosigkeit der Prüfungen bei Foucault entspricht. Dass schliesslich Disziplin auf das Innere des Akteurs einwirkt, findet sich als Element besonders deutlich im Bild von Herrn Roos wieder, der den Schüler mit dem gehorsamen Soldaten vergleicht, der seine Lage als bequem einschätzt, weil er jeder Verantwortung entbunden ist. Kurzum: Das Konzept von Selektion, das bei Frau Haller und Herrn Roos als Hintergrundüberzeugung fungiert, lässt sich als Disziplinierung im Sinne Foucaults begreifen. In den Augen der übrigen drei Lehrpersonen dieses Typs erhält ‚Selektionsdruck’ eine andere Bedeutung. Sie sind dem epochalen Deutungsmuster ‚Leistung’ verpflichtet. Frau Dörner geht – ähnlich wie Herr König – von der Notwendigkeit eines Drucks von aussen aus, weil Schülerinnen und Schüler andere als lernbezogene Interessen verfolgen. Auf diesem Weg glaubt sie Leistungsbereitschaft gleichsam erzeugen beziehungsweise deren Erhöhung bewirken zu können. Herr Hirsch teilt dieses Anliegen, betont dabei aber mehr als die anderen den Aspekt der mangelndem Bereitschaft zu Triebverzicht. Aus einer historisch-generationenvergleichenden Perspektive kritisiert er gegenwärtige Erziehungsstile, welche Kinder nicht mehr fordern und zur Entwicklung von deren Leistungsbereitschaft nichts beitragen: Alles müsse lustbetont sein, „Durststrecken“ seien verpönt. Was die Lehrpersonen der Variante ‚leistungsorientierte Disziplinierung’ vermissen, sind Schülerinnen und Schüler, die im Elias’schen Sinne „zivilisiert“ sind (Elias 1976[1936]). Elias geht in Anlehnung an die psychoanalytische Sublimierungstheorie von einer – mit der Herausbildung der modernen Gesellschaft – zunehmend als „Selbstzwang“ (und nicht wie vorher 209

als Fremdzwang) fungierenden Affektbändigung aus, die Triebenergien qua Triebveredelung in gesellschaftlich sinnvolle und fruchtbare Tätigkeiten umleitet, handle es sich um Arbeit und Leistung oder um ‚Kultur’ in einem weiteren Sinne. Leidenschaften werden nicht augenblicklich ausgelebt, sondern bilden sich zugunsten von Aufgaben zurück, die in einer „Langsicht“ angelegt sind. Die „Selbstzwangsapparatur“, von der Elias spricht, hat aber nicht mit Unterwerfung, sondern mit Subjektwerdung im Sinne dessen zu tun, dass das Bewusstsein immer weniger triebdurchlässig und das Ich stark ist. Es lässt sich behaupten, dass Frau Dörner und Herr Hirsch, teilweise auch Herr König, das Ausüben eines „Fremdzwangs“ auf die Schülerinnen und Schüler für notwendig halten, weil deren Selbstzwang nicht funktioniert. Der von aussen ausgeübte Selektionsdruck soll zu Leistung oder Leistungssteigerung bewegen. Nachdem die Deutungsmustervariante ‚kontrollorientierte Disziplinierung’ der Variante ,leistungsorientierte Disziplinierung’ gegenübergestellt worden ist, sollen mit den beiden Varianten weitere Kernelemente verbunden werden. Bei allen Lehrpersonen zeigt sich, dass sie in der Negativselektion ein gewisses Problem erblicken, diese aber gleichzeitig in positivem Licht erscheinen lassen. Bei Frau Haller und Herrn Roos kann aufgrund der Analyse von einem vergleichsweise kleinen Problem mit dem Zufügen von Schmerz bei Negativselektion ausgegangen werden, erfüllt für sie die Selektionsdrohung doch vor allem auch die Funktion, Unordnung in der Schule zu bekämpfen und eigene Unsicherheitsprobleme zu verringern. Frau Dörner und Herr Hirsch indessen sind der Überzeugung, dass Selektion eine für sie nicht unproblematische Schülerschädigung mit sich bringt, die aber ‚der Leistung zuliebe’ in Kauf zu nehmen sei. Während Frau Dörner zwischen dem Fördern und dem Selegieren über den Begriff des Forderns eine – etwas erzwungen anmutende – Verbindung mit ‚Scharniercharakter’ herstellt, zieht Herr Hirsch zur Beschreibung des Verhältnisses von Fördern und Auslesen die Metapher des Spagats heran; er sieht eine potentiell schmerzliche Spannung, versucht diese indes gar nicht erst aufzulösen. Er selber erscheint als Lehrperson, die in der Akrobatik des Spagats trainiert ist. Auch Herr König hat eine spagatähnliche Deutung. Anders als Herr Hirsch vertritt er aber die Ansicht, dass eine Schülerschädigung nur dann in Kauf zu nehmen sei, wenn jener Gewinn zu erwarten ist, der sich beim Abstufen von wenig befähigten Schülerinnen und Schülern einstelle: diese fühlen sich am neuen Ort wohl. Die Befunde zeigen, dass die kontrollorientierten Lehrpersonen als ‚ganze Person’ vor Schwierigkeiten stehen, die berufliche Probleme der Schmerzzufügung gleichsam in den Schatten stellen. Die leistungsorientierten Lehrpersonen dagegen sind offen für die Wahrnehmung der beruflichen Problematik der Negativselektion und der Spannung zwischen Fördern und Auslesen. In ihrer Bemühung um mehr Leistungsbereitschaft bei Schülerinnen und 210

Schülern nehmen sie das, was sie als ‚Preis’ für Leistungssteigerung betrachten, aber in Kauf: Schmerzzufügung qua Selektion. Die beiden Varianten ‚kontrollorientierte Disziplinierung’ und ‚leistungsorientierte Disziplinierung’ bilden auch eine Polarität in Bezug auf die Diskurse und Debatten, auf welche die Lehrpersonen in ihrem Denken rekurrieren, und in Bezug auf ihre Stellungnahmen zu Entwicklungen der Vergangenheit und Gegenwart. Frau Haller und Herr Roos legitimieren ihre – wenig gefestigten – Positionen unter ambivalentem Rekurs auf die Reformpädagogik, ein ebenfalls epochales Deutungsmuster. Frau Haller grenzt sich in dem Sinne negativ von dieser ab, als die historischen und weitere Voraussetzungen für eine selektionsfreie Schule in ihren Augen nicht vorliegen. Sie bezieht zudem kritisch Stellung zu Karl Marx (bzw. einer These, die sie ihm zuschreibt), während Herr Roos seine Aussagen selbstreflexiv-relativierend kommentiert und sich einer eindeutigen Zuordnung zur Reformpädagogik entzieht. Anderes gilt für Frau Dörner und Herrn Hirsch, die in klaren Deutungstraditionen verankert sind, im Rahmen derer das Leistungsethos und der Triebverzicht zentrale Bedeutung haben. Während Frau Dörner als kritische, die Definitionsmacht des Staates anzweifelnde, aber doch loyale Amtsprofessionelle in Erscheinung tritt, zeigt sich Herr Hirsch vor allem als historisch reflektierender Lehrer, der früher – anders als heute – einer antiautoritären Haltung verpflichtet gewesen sei. Beide befürworten Selektion, verurteilen aber derzeit herrschende Selektionsreglementierungen und gängige Erziehungsstile. Frau Dörner kritisiert eine im Zeitpunkt des Interviews gültige Vorgabe, die das „Mitschleppen“ schwacher Schülerinnen und Schüler nach sich ziehe. Herr Hirsch plädiert für klare Leistungsanforderungen auch im Zusammenhang mit Selektion. Er will verhindern, dass junge Menschen durch „verwässerte“ Selektionsverfahren „verheizt“ werden, indem man Illusionen nährt und sie in Schullaufbahnen hineinrutschen lässt, in denen sie dann scheitern. Darüber hinaus möchte er die Selektion, die zwischen dem Ende der Primarzeit und dem Beginn des Gymnasiums für Schülerinnen und Schüler als ‚Selektionsphase’ so alltagsbestimmend geworden ist, in ihrer Einflusskraft auch wieder einschränken und den Ausbildungs- und Bildungsperspektiven, die jenseits von fachlicher Leistung und zugehöriger Selektion angesiedelt sind, ihren angestammten Platz im Schulgeschehen zurückgeben. Die kontrollorientierten Lehrpersonen dieses Typs sehen sich also weniger tief als die anderen in Deutungstraditionen ‚aufgehoben’ und legitimieren ihre Vorstellungen entsprechend mehr. Die leistungsorientierten, gut ‚aufgehobenen’ üben – auf der Basis einer klaren eigenen Position – vor allem Kritik an aktuellen Entwicklungen.

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5.4 Typ 4: Ringen um das Arbeitsbündnis Im Gegensatz zu den Lehrpersonen der bisher vorgestellten Typen tritt bei jenen des Typs 4 (‚Ringen um das Arbeitsbündnis’) ganz explizit die Überzeugung zutage, wonach Selektion problematisch und das Verhältnis zwischen Fördern und Auslesen ein widersprüchliches ist. Dabei gehen die Lehrpersonen – ihre Deutungen sind den theoretischen Annahmen dieses Projekts verwandt – vom schülerschädigenden Potential der Negativselektion im Sinne der objektiven Chancenverminderung und der subjektiven Schülerkränkung aus. Um das Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ für sich lebbar zu machen, greifen diese Lehrkräfte aber nicht sosehr auf berufsgruppenspezifischkollektiv verbürgte, handlungsentlastende Hintergrundüberzeugungen zurück; vielmehr zeigen sie sich individuell bemüht, es in der konkreten Interaktion mit ihren Schülerinnen und Schülern zu ‚lösen’: Im Wissen darum, dass sie aufgrund ihres Selektionsauftrags nicht umhin können, einem Teil ihrer Klientel pädagogisch sinnlosen Schmerz zuzufügen, bemühen sie sich – im Rahmen einer vom Anspruch her ‚fallbezogenen’ Praxis – um eine möglichst ‚verträgliche’ Ausgestaltung des Zustandekommens der Selektionsentscheide. Eine Lehrerin etwa sucht das Handlungsproblem für sich dadurch zu entschärfen, dass sie, der antizipierten Verletzung seitens ihrer Schülerinnen und Schüler gleichsam prophylaktisch vorgreifend, deren Vertrauen gewinnen will. Professionalisierungstheoretisch betrachtet hat eine solche ‚Lösungsstrategie’ – unter den Bedingungen des Handelns in einem selektiven Schulsystem – quasi unabwendbar ‚perfiden’ Charakter: Das Vertrauen nämlich, welches die Lehrperson bei ihren Schülerinnen und Schülern aufzubauen bestrebt ist, muss sich – sofern sie sich ihrem Selektionsauftrag nicht entzieht – spätestens dann als ein unhaltbares erweisen, wenn sie effektiv pädagogisch sinnlosen Schmerz zufügt. Die Lehrerinnen und Lehrer dieses Typs ‚ringen’ – wie sich zeigen wird: in charismatisch aufgeladener, pädagogisch motivierter Art und Weise – gleichsam unter strukturellen Bedingungen um ein ‚Arbeitsbündnis’ mit ihrer Klientel, die das Zustandekommen eines solchen objektiv gar nicht erst zulassen. 5.4.1 Fall Magali Vogel Magali Vogel wurde anfangs der 1960er Jahre geboren. Nach der Maturität studierte sie am Sekundarlehramt der Universität Bern. Seit rund 15 Jahren unterrichtet sie als Sekundarlehrerin an einer Schule, in der nach dem Modell 3b gearbeitet wird.

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5.4.1.1

Analyse der Eingangssequenz

Das Interview mit Magali Vogel beginnt mit einer längeren Eingangsfrage: Interviewerin: Also, es ist ein wenig so gegangen, wenn wi- als wir uns beschäftigt haben mit eh Lehrerberuf, sind wir darauf gekommen, dass (?) Spannungen gekennzeichnet sind (?)von diesem(für diesen?) Beruf. Zum Beispiel musst du auf der einen Seite deine Schülerinnen und Schüler fördern, oder. [M.V.: Mhm] Und auf der anderen Seite Schulle- eh Schulbahnentscheide einleiten, also auch tragen helfen, und und man könnte sagen, dass diese zwei Sachen gleichzeitig zu machen, oder, weil diese gleichzeitig in deinem Handeln drin sind, dass das eine Spannung geben kann, die wir auch bezeichnen als Spannung zwischen Fördern und Auslesen. [M.V.: Mhm] Und jetzt würde es mich wundernehmen, wie du damit umgehst. (.) Das ist so- (I 06, 1)

Anders als in der Eingangsfrage des Interviews mit Frau Kramer (Typ 1 ‚Auslese der Besten’), in der bezüglich des Förderns von einer Aufgabe und bezüglich des Selegierens von einer Pflicht („müssen“) gesprochen wird, die beiden Pole der Spannung demnach als ungleiche dargestellt werden, verwendet die Interviewerin im vorliegenden Fall für beide Aufgaben das Wort „müssen“. Zudem ist nicht vom „Schullaufbahnentscheide Fällen“ die Rede, sondern von „einleiten“ und „tragen helfen“. Die Selektionsaufgabe wird also weniger prominent eingeführt und weniger deutlich problematisiert. Zudem wird die Spannung zwischen den beiden Aufgaben – anders als in anderen Interviews – nicht als objektiv gegeben dargestellt. Mit „man könnte sagen“ führt sie ihre Sicht vielmehr vorsichtig als eine von mehreren möglichen Betrachtungsweisen ein. Die Interviewerin formuliert zum Schluss, dass es sie „wundernehmen“ würde, wie die Lehrerin „damit“ umgeht. Die sich aus diesem Einstiegsstimulus ergebenden Antwortmöglichkeiten decken sich weitgehend mit den bei Frau Kramer des Typs 1 genannten Optionen: Frau Vogel kann sich auf der Ebene der Theorie bestätigend zu den beiden Aufgaben und ihrem als spannungsreich behaupteten Verhältnis äussern, oder aber sie kann zu einer Gegendarstellung ausholen. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, direkt auf die Frage zu antworten, wie sie – deutend oder handelnd – mit der Spannung umgeht. Nach einer kurzen Pause fügt die Interviewerin den angefangenen Satz „Das ist so-“ an, den sie aber nicht zu Ende führt. Frau Vogel springt mit einem „Mhm“ in die Lücke, macht deutlich, dass sie die Frage verstanden hat, und holt zu einer Antwort aus:

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Magali Vogel: Mhm. [I.: (schmunzelt)] Ja also, das ist das ist afe170 mal etwas, was (.) was man eigentlich fast nicht miteinander vereinbaren kann. (I 06, 1)

Zunächst bestätigt Magali Vogel die von der Interviewerin unterstellte These des antinomischen Verhältnisses der beiden Aufgaben: Man könne die beiden Aufgaben fast nicht „miteinander vereinbaren“. Indem sie von „man“ spricht, erklärt sie die Unvereinbarkeitsthese für überindividuell gültig. Durch die Verwendung von „eigentlich“ und „fast“ zeigt Frau Vogel implizit an, dass sie es zwar für sehr schwierig, aber nicht für gänzlich unmöglich hält, die beiden Aufgaben zu vereinbaren. Die Lehrerin fährt fort: Magali Vogel: Das geht, das ist schon so, ehm, weniger meine eigene Spannung, weil so das Auslesen auch mit dem Fördern zu tun hat. Also ich probiere beim Auslesen das auszulesen, was das Kind am meisten fördert. Also man kann das schon dort hineinnehmen. (I 06, 1)

„Das geht, das ist schon so“ weckt die Vermutung, dass Frau Vogel die unterstellte Antinomiethese aufgreift und sich auf die Vereinbarkeit der beiden Aufgaben bezieht. Insbesondere das „schon“ deutet darauf hin, dass sie der Interviewerin zustimmt. Der Satz könnte etwa lauten: „Es ist schon so, wie Sie sagen“. Nach dem „ehm“ und einer kurzen Pause modifiziert sie jedoch die von der Interviewerin aufgestellte These: Es sei „weniger“ ihre „eigene“ Spannung, weil „das Auslesen auch mit dem Fördern zu tun“ habe. Frau Vogel beginnt ihre Argumentation also mit dem Auslesen, womit sie diese Aufgabe implizit problematisiert. Das Auslesen steht aber – so suggeriert sie – nicht nur im Gegensatz zum Fördern, wie es die Interviewerin unterstellt hat, sondern es hat „auch“ mit dem Fördern zu tun: „Ich probiere beim Auslesen das auszulesen, was das Kind am meisten fördert“, gibt sie zu verstehen. Frau Vogel stellt sich als Lehrerin dar, die von der einzelnen Schülerin und nicht etwa von der abnehmenden Schule aus denkt. Sie wählt – wie sie festhält – für jede Schülerin jene Schule aus, die ihr für diese am förderlichsten erscheint, und rekrutiert nicht umgekehrt herausragende Schülerinnen und Schüler für eine bestimmte Schule. Frau Vogel stellt das Gelingen dieses Versuchs allerdings in Frage – sie „probiere“ es. Den Gedanken optimistisch abschliessend, folgert sie, dass „man“ „das“ – also das Selegieren – schon „dort hinneinnehmen“ könne. Nachdem sie erklärt hat, dass sich Fördern und Selektion für sie als Lehrerin zusammendenken und auch praktisch miteinander vereinbaren lassen, kommt sie auf die Schülerinnen und Schüler zu sprechen: Magali Vogel: Einfach den Schülerinnen und Schülern gegenüber ist die Frage, können sie überhaupt Vertrauen haben, wirklich ganz offen zu sein und mit ihren 170

„Afe“ kommt von ‚anfangen’ und bedeutet etwa ‚schon mal’.

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Problemen zu kommen, wenn sie wissen, das ist die gleiche Person, die nachher entscheidet. (I 06, 1)

Die Tatsache, dass sie gleichzeitig Förder- und Selektionsinstanz ist, bringe den Schülerinnen und Schülern „gegenüber“, also in der Interaktion mit ihnen, Schwierigkeiten. Frau Vogel ortet damit das Problem zwischen sich und den Schülerinnen. Angesichts des Wissens um das spätere Entscheiden der Lehrperson sei es fraglich, ob die Schülerinnen und Schüler „überhaupt Vertrauen“ zu ihr haben können. Dieses bräuchten sie gemäss Frau Vogel, um „ganz offen“ zu sein und „mit ihren Problemen“ kommen zu können.171 Frau Vogel scheint das Vertrauen der Schülerin oder des Schülers in die Lehrperson als grundlegende Voraussetzung für pädagogisches Handeln zu betrachten. Gleichzeitig sieht sie dieses – wie die Verwendung von „überhaupt“ verdeutlicht – radikal in Frage gestellt. In ihrer Schilderung tritt das Ideal einer Lehrerinnen-Schülerinnen-Beziehung zutage, das an ein pädagogisches Arbeitsbündnis (vgl. 2.2.1.1) erinnert, in dem die Schülerin, der Schüler – ähnlich der Patientin gegenüber der Therapeutin – uneingeschränkt offen ist. Gemäss Oevermann, für den die Arzt-Patient-Beziehung das „Kern-Modell professionalisierten Handelns“ darstellt, ist diese Offenheit – wie schon bei Freud – konstitutiv für das Arbeitsbündnis in der psychoanalytischen Therapie. Sie beinhaltet, dass der Patient alles thematisiert, „was ihm durch den Kopf geht und ihm einfällt, vor allem eben auch das, was er für ganz unwichtig hält und was ihm eher peinlich ist“. Diese „Grundregel“ kann professionalisierungstheoretisch „als Repräsentanz der Komponente der ‚diffusen Sozialbeziehung’“ (Oevermann 1996b, 116) gefasst werden. Die Möglichkeit, dieses Vertrauen zu entwickeln und somit auch offen sein zu können, wird in den Augen Frau Vogels nun dadurch korrumpiert, dass die Schülerin weiss, dass genau jene Person „entscheidet“ – also Selektionsentscheide fällt –, an die sie sich zuvor mit ihren Problemen gewandt hat. Magali Vogel bringt an dieser Stelle das in den theoretischen Vorüberlegungen dieser Studie formulierte Dilemma leicht verändert auf den Punkt. Die Schülerin weiss, dass sie von derselben Person gefördert und selegiert wird, und antizipiert den Schmerz, den ihr die Lehrperson zufügen könnte. Für Frau Vogel – die an einem Arbeitsbündnis interessierte Pädagogin – stellt der Umstand, dass aufgrund ihres Selektionsauftrags das Vertrauen der Schülerinnen und Schüler in sie als Lehrperson immer ungewiss ist, ein Problem dar: 171 Die „Offenheit“ war bereits beim Typ 1 ‚Auslese der Besten’ thematisch. Während aber etwa Frau Kramer die Offenheit der Lehrerin legitimatorisch als Notwendigkeit anführt, um der Schülerin negative Entscheide mitteilen zu können, spricht Frau Vogel hier von der Offenheit der Schülerin, des Schülers gegenüber der Lehrperson.

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Magali Vogel: Das das ist für mich manchmal schwierig: Tun sie jetzt ehm in einem Gespräch etwas mir sagen, um mir zu gefallen, also um möglichst einen guten Eindruck hi- zu hinterlassen, [I.: Mhm] oder meinen sie es wirklich so und kommen sie wirklich mit dem, wo sie echt ein Problem haben. (I 06, 1f.)

Es sei „manchmal schwierig“ für sie, nicht zu wissen, ob die Schülerinnen und Schüler ihr „in einem Gespräch“ etwas nur sagen, um ihr „zu gefallen“ und einen „möglichst guten Eindruck zu hinterlassen“, oder ob sie es wirklich so „meinen“, und zweitens sei fraglich, ob sie wirklich mit den Anliegen zu ihr kommen, „wo sie echt ein Problem haben“. Beim ersten Aspekt handelt es sich um ein Komplimente-Machen, wie es etwa bei Personen in Abhängigkeitsverhältnissen vorkommt, die sich beim Gegenüber beliebt machen möchten; beim zweiten um ein Verbergen echter Probleme. Magali Vogel fürchtet zwei Arten des nicht-authentischen Schülerverhaltens – Vorgaukeln und Verbergen –, beide können sich in ihren Augen daraus ergeben, dass es den Schülerinnen und Schülern nicht ohne Weiteres möglich ist, ihr als Lehrperson, die für sie immer auch als potentiell bedrohliche Richterin erscheinen kann, im Vertrauen zu begegnen. Vor allem in Bezug auf das „Gespräch“ mit ihren Schülerinnen und Schülern, das für sie im beruflichen Handeln einen zentralen Stellenwert zu haben scheint, fürchtet sie ein solches unauthentisches Verhalten. In dieser Art von Besorgnis manifestiert sich erneut ihr berufliches Selbstverständnis als eine den Schülerinnen nahestehende Fördererin. Im weiteren Interviewverlauf schildert Magali Vogel, wie sie mit dem Problem des grundlegend in Frage stehenden Vertrauensverhältnisses umzugehen versucht: Magali Vogel: Dort eh, (.) dort probiere ich einfach ehm, (.) e- wenn wir, am Anfang, wenn ich neue Schülerinnen und Schüler habe, ist ist ganz ganz ein grosser Teil von meiner Arbeit, ihr Vertrauen zu gewinnen. (I 06, 2)

„Am Anfang“, also bevor Selektion ein Thema ist, versucht Frau Vogel, das Vertrauen der Schülerinnen und Schüler zu gewinnen, sagt sie. Von Beginn weg verfolgt sie – wie sie zu verstehen gibt – also das Ziel, dass die Schülerinnen und Schüler ihr Vertrauen entgegenbringen. Auf eine strukturelle Schwierigkeit reagiert sie also mit einer individuellen Lösung, was sich nicht zuletzt im Wechsel vom „wir“ bzw. „man“ zum „ich“ manifestiert. In der Betonung, wie gross der Teil ihrer Arbeit sei, der sich auf die Gewinnung des Vertrauens ihrer Schülerinnen und Schüler richtet, wird deutlich, wie ungewiss dieses in ihren Augen ist. Zwar sieht sie es nicht als vollständig gesichert an, dass ihr das Vorhaben gelingt – sie sagt, sie „probiere“ es –, aber sie scheint diesbezüglich doch eher optimistisch zu sein.

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Darin, dass sie den Aspekt des Gewinnens von Vertrauen so stark hervorstreicht und dass sie zur Bewältigung der strukturellen Schwierigkeit auf eine individuelle Lösung rekurriert, kommt eine Selbstcharismatisierung zum Ausdruck.172 In den Schilderungen wird deutlich, wie Frau Vogel versucht, der strukturell begründeten Antinomie – um die sie weiss – entgegenzuwirken, und wie sie aktiv und selbstüberzeugt um eine Lösung des Dilemmas bemüht ist. In einer vorläufigen Fallstrukturhypothese lässt sich festhalten, dass Frau Vogel Fördern und Selektion deutend miteinander zu vereinbaren versucht, indem sie Selektion in den Dienst des Förderns stellt und – wie sie sagt – jene Schule auswählt, in der die Schülerin am besten gefördert werden kann. Problematisch ist die doppelte Aufgabe der Lehrperson in ihren Augen für die Beziehung zur Schülerin, zum Schüler: Dass es die gleiche Person ist, welche die Schülerin fördert und zu einem späteren Zeitpunkt einen Selektionsentscheid fällt, gefährdet Frau Vogel zufolge das Entstehen von Vertrauen auf der Seite der Schülerin. Diese kann zur Lehrerin nicht authentisch und offen sein, das Arbeitsbündnis zwischen Schülerin und Lehrerin ist quasi a priori korrumpiert. Um diesem Problem entgegenzuwirken, versucht Frau Vogel von Beginn weg – gewissermassen kontrafaktisch – das grundlegend in Frage stehende Vertrauen in der Praxis trotzdem aufzubauen, in der Hoffnung, dass ein Arbeitsbündnis doch noch möglich werde. In der Überzeugung, dass sie als Individuum dieses Vertrauen erzeugen kann, zeigt sich eine Tendenz zur Selbstcharismatisierung. 5.4.1.2

Erweiterung der Analyse

Bevor die Analyse zu Magali Vogel mit weiteren Ergebnissen zu Lehrpersonen des Typs 4 kontrastiert wird, sei unter Beizug weiterer Interviewpassagen die Fallstrukturhypothese erweitert und verdichtet. ‚Ganzheitliche Selektion’ zugunsten des stimmigen Wegs In der Eingangssequenz hat sich gezeigt, dass Frau Vogel zunächst das Argument anführt, Selektion lasse sich mit dem Fördern vereinbaren, sofern sie als Mittel zur optimalen Förderung der einzelnen Schülerin eingesetzt werde. Im 172

Unter ‚Selbstcharismatisierung’ verstehen wir – in Anlehnung an Weber (1972[1922], 654ff.) und die an diesen anschliessenden charismatheoretischen Überlegungen bei Seyfarth (1979; 1989) – eine spezifisch charismatisch fundierte Form der (beruflichen) Selbstbehauptung, die im Sinne eines individuell differenzierten Handelns (vgl. Weber 1972[1922], 681ff.) im „Kampf mit der bürokratischen Disziplin des Alltags“ (Seyfarth 1989, 167) steht. Diese Selbstbehauptung wird von der Überzeugung der infragstehenden Akteurin genährt, mit einer besonderen Begabung oder Befähigung ausgestattet zu sein, die sie gleichsam ‚empfangen’ hat (vgl. Kapitel 6.1).

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Verlaufe des Interviews wird Frau Vogel von der Interviewerin aufgefordert, diese Idee zu explizieren. Auf die Frage, wie man ihrer Ansicht nach das Auslesen ins Fördern „hineinnehmen“ könne, meint die Lehrerin: Magali Vogel: Ja. Also (.) einfach bei diesen Schullaufbahnentscheiden zum Beispiel, ob jetzt, ob jemand jetzt aufsteigt in das Sekniveau oder ob jemand eh ehm mit einem Gymnasium weiterfährt [I.: Mhm] oder nicht, d- das eh (räuspert sich) probiere ich, möglichst ja das ist so ein blödes Schlagwort ganzheitlich (schmunzelt), also aber ich probiere wirklich zu schauen, ehm, stimmt das für dieses Kind, stimmt das für diesen Jugendlichen. Ist das, ehm, (.) ja, äuä173 schon ist das auf seinem Weg förderlich. (I 06, 3f.)

Als Beispiele für einen Selektionsentscheid führt Frau Vogel zwei Schullaufbahnentscheide an – den ‚Aufstieg’ vom Real- ins Sekundarniveau und den Übertritt ins Gymnasium –, die sie für eine Schülerin in die Wege leiten kann oder nicht. Im Zusammenhang mit diesen Entscheiden versucht sie, die Schülerin möglichst „ganzheitlich“ zu betrachten. Indirekt wird hier die Ganzheitlichkeit als Bindeglied zwischen dem Fördern und der Selektion eingeführt: Wenn Selektion „ganzheitlich“ erfolgt – so sagt Frau Vogel implizit –, läuft sie dem Fördern nicht (oder wenig) entgegen. Die Lehrerin rekurriert damit auf einen Begriff, auf den im pädagogischen Alltagsdiskurs häufig und gerne zurückgegriffen wird. Gemäss Stier wird der Begriff „Ganzheitlichkeit“ vor allem von Anhängerinnen und Anhängern „reformerischer Positionen“ verwendet, „die beanspruchen, Lernen sowohl umfassend zu humanisieren als auch umfassend zu effektivieren, bislang konträre Ansätze174 zu vereinen und aktuelle Problemlagen zu lösen“ (Stier 2002, 1). Ganzheitlichkeit werde – so Stier – „in pädagogischen Kontexten als eine an sich wünschenswerte Beschaffenheit bzw. Entwicklung betrachtet“ (ebd.). Allerdings wird in der Literatur bemängelt, dass der Begriff zwar „auf Anhieb Kopfnicken und Zustimmung auslöst – wer wollte schon gegen ‚Ganzheitlichkeit’ sein?“ (Kipp 1992, 52) –, in Tat und Wahrheit aber „ein Begriff ist, mit dem oft nichts begriffen ist“ (Atmanspacher 1996, 291). Zudem würden mit ihm „Ungenauigkeiten zugekleistert“ (Fauser 1990, 3) und „Verwirrung“ (Reinisch 1996, 95) gestiftet.175 Frau Vogel scheint sich der Problematik des Begriffs bewusst zu sein, daher ihr Schmunzeln und ihre entschuldigende Bemerkung, es handle sich um ein „blödes Schlagwort“. Dennoch aber verwendet sie den Ausdruck. Hierin zeigt sich dasselbe Muster wie bei ihrem Umgang mit dem Dilemma: Sie weiss um die Problematik und handelt dennoch so, als wüsste sie es nicht. 173

„Äuä“ (Abkürzung von ‚allwäg’) steht hier sinngemäss für ‚wahrscheinlich’, ‚vermutlich’. Welche Ansätze Stier hier meint, bleibt an dieser Stelle unklar. 175 Zu Verwendungsweisen des Begriffs „Ganzheitlichkeit“ in der Pädagogik vgl. Stier (2002). 174

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Während im pädagogischen Kontext häufig von einer „ganzheitlichen Förderung“ die Rede ist, spricht Frau Vogel im obigen Zitat – denkt man ihren Satz weiter – von einer ganzheitlichen Selektion. Die Ganzheitlichkeit bezieht sich hier auf die Frage, ob ein Entscheid für das Kind, den Jugendlichen als ‚ganzer Mensch’ „stimmt“, ob „das auf seinem Weg förderlich ist“. Frau Vogel vereint das Fördern und das Auslesen in diesem Argument auf eine ähnliche Art und Weise, wie sie es in der Eingangssequenz bereits getan hat: die Selektion wird in den Dienst der Förderung gestellt. Dabei wird deutlich, dass es Frau Vogel in ihrem pädagogischen Handeln nicht nur um die Vermittlung von Wissen geht, sondern vor allem um die Entwicklung der Schülerin als ‚ganze Person’. Frau Vogel glaubt offensichtlich zu wissen und einschätzen zu können, welcher Weg für eine Schülerin der richtige ist, was auf diesem Weg förderlich ist und was für ein Kind oder einen Jugendlichen „stimmt“. Indem sie stellvertretend für die Schülerin deren Weg definiert und sie im Hinblick auf das Gehen dieses Weges fördert, greift sie auf deren Biographie vor. Sie kommt im Interview auf eine Problematik zu sprechen, die dieses Handeln in sich berge: Magali Vogel: Was ich, was ich immer so ein wenig mich frage und manchmal mich ein wenig unruhig macht, ein schlechtes Gewissen habe, ist dann, ist die umgekehrte Wirkung, hat der Entscheid, den ich treffe, einen Einfluss auf wie sie nachher sind (schmunzelt). [I.: Mhm] Also das kann ich nie ganz ausschliessen. Sie haben ein gewisses Vertrauen zu mir, (.) ehm, [I.: Ja.] entwickeln sie sich dann so, wie ich vorausgesagt habe, weil ich es vorausgesagt habe, oder ist es umgekehrt. Aber ich denke, das kann man nie schlüssig sagen, wenn auch, eben diesen Anteil hat es sicher auch. (I 06, 21)

An dieser Stelle reflektiert die Lehrerin kritisch ihren – auf Selektion basierenden – Einfluss auf den „Weg“ einer Schülerin bzw. auf ihr Werden als ganze Person („wie sie nachher sind“). Sie zieht die Möglichkeit in Erwägung, dass der Weg der Schülerin, und die Richtung, in die sie sich entwickelt hat, Resultat ihres Lehrerinnenhandelns sind. Die Gefahr sieht sie darin, dass sie eine Schülerin zu unrecht auf einen „Weg“ gebracht hat, aus dem für diese eine nachteilige Situation resultiert. Problematische Selektion Mit der Verwendung der Weg-Metapher und dem Konzept des ganzheitlichen, fördernden Selegierens verbindet sich ein weitgehendes Ausblenden der hierarchischen Dimension des Bildungswesens. Frau Vogel macht geltend, es sei ihr „eigentlich egal in welche Richtung“ (I 06, 15) der Weg einer Schülerin geht, Hauptsache er stimme für diese. An einer anderen Stelle meint sie, sie „probiere nicht, so viele wie möglich in den Gymer zu bringen“, sondern sie möchte, dass 219

die Schülerinnen und Schüler später „im Leben bestehen“ und dass sie „wirklich ihre Schritte machen“ können. Sie sollen später „zufrieden“ sein mit dem, was sie haben, und es soll ihnen entsprechen (vgl. I 06, 16). An einer anderen Stelle im Interview versucht Frau Vogel, die unterschiedlichen Chancen von Real- und Sekundarschulabgängerinnen zu negieren: Magali Vogel: Das ist auch nicht so, dass es [das Realschulkind; Anm. d. A.] die besseren Chancen hat, wenn es im Sekniveau ist und dann eine Vier oder ein Drei hat im Math, oder (?), das ist überhaupt nicht so. [I.: Ja.] Ich habe jetzt auch gerade gemerkt, dass Realschülerinnen und Realschüler auch Stellen finden, das hat, das hat noch mit ganz vielen anderen Sachen zu tun. (I 06, 13)

Sie argumentiert gegen eine von ihr imaginierte Einschätzung, wonach das Sekundarniveau bessere Chancen eröffne: Das sei überhaupt nicht so. Die Analyse dieser Textstelle zeigt, dass sie entgegen ihrem subjektiv gemeinten Sinn sehr wohl um die ungleichen Chancen weiss. Dies zeigt sich daran, dass sie lediglich die guten Realschülerinnen mit den schwachen Sekundarschülerinnen vergleicht und die schwächeren Realschülerinnen unerwähnt lässt. Zudem sagt sie nicht etwa, Realschülerinnen würden genau gleiche Stellen wie Sekundarschülerinnen finden, sondern sie betont, „dass Realschülerinnen und Realschüler auch Stellen finden“, dass sie also – überzeichnet gesagt – nach der obligatorischen Schulzeit nicht allesamt auf der Strasse stehen würden, wie sie vor kurzem noch gedacht habe. Dass Frau Vogel implizit um die Problematik der objektiven Chancenverminderung weiss, zeigt sich auch an anderer Stelle: Magali Vogel: Das möchte ich eben gerade nicht, irgendwie sagen: „Du bist hier eingespurt und du wirst hier enden“, oder so (schmunzelt). (I 06, 22)

Wenn sie sagt, dass sie dem Schüler nicht vermitteln möchte, dass er nun „eingespurt“ sei und hier „enden“ werde (ihm also vielmehr Hoffnung machen möchte), dann hat sie dabei einen Schüler vor Augen, der sich auf einem Weg befindet, der ins Abseits führt, dies selber auch weiss und angesichts dessen den Mut und den Willen zu verlieren droht. In dieser Aussage steckt sowohl eine Sensibilität für die objektiv schlechteren Chancen dieses Schülers als auch ein Bewusstsein für dessen mögliche Resignation aufgrund der narzisstischen Kränkung, welche die Negativselektion mit sich bringen kann. In der hypothetischen Aussage, von der sie sich abgrenzt, wird deutlich, dass Frau Vogel vor allem die narzisstische Kränkung als problematisch erachtet. Das Wissen um die Problematik der subjektiven Schülerschädigung führt Frau Vogel gar dazu, sich an einer Interviewstelle, an der sie nach ihrer Einschätzung der Notwendigkeit von Selektion gefragt wird, explizit für weniger Selektion auszusprechen: Sie findet, „es wird zu viel selektioniert dort in dieser in diesen drei Jahren“ (I 06, 10), und begründet diese Meinung damit, dass die Lehrpersonen der Sekundarstufe I, die 220

quasi von Beginn weg selegieren müssen, von den Schülerinnen und Schülern als „die Bösen“ (I 06, 10) betrachtet werden.176 Wiederum ortet sie das durch die Selektion entstehende Problem auf der Beziehungsebene zwischen sich und der Schülerin. Diese Beziehung bzw. das Arbeitsbündnis wird durch die drohende Selektion verunmöglicht: Die Lehrerin fürchtet die Gefahr, von den Schülerinnen und Schülern eher als Feindin denn als Bündnispartnerin angesehen zu werden, was in ihren Augen – so lässt sich ihr Argument weiterdenken – pädagogisches Handeln tendenziell verunmöglicht. Zwischen Bemühung um ein Arbeitsbündnis und Perfidität Um das grundlegend in Frage stehende Arbeitsbündnis möglichst doch zu etablieren, zeigt sich die Lehrerin – wie schon in der Eingangssequenz deutlich wird – darum bemüht, das Vertrauen der Schülerinnen und Schüler zu gewinnen. Wenig weiter im Interview expliziert sie, wie sie dabei vorgeht: Magali Vogel: Und möglichst Gespräche führen auch und schriftliche Rückmeldungen, bevor irgendein Entscheid ansteht und so, und dass wir schon so eine Gesprächskultur haben, dass sie das wissen, (.) wenn das, ja das gelingt nicht bei allen gleich, es tun nicht alle gleich gerne reden und (?) nicht alle gleich viel sagen. [I.: Mhm] Aber das ist, das ist für mich eigentlich das Wichtigste, dass ich ich eine Beziehung habe zu ihnen als Personen, die unabhängig ist von ihren Leistungen. (I 06, 2)

Mit dem Aufbau von Vertrauen beabsichtigt sie, mit den Schülerinnen und Schülern eine „Gesprächskultur“ zu etablieren, damit sie – schon bevor der erste Selektionsentscheid „ansteht“ – zu ihnen „eine Beziehung“ hat, die jenseits der Frage nach schulischer Leistung besteht. In der Schilderung der Wichtigkeit dieser Art von Beziehung klingen zwei Aspekte an. Einerseits ist denkbar, dass sie der Beziehung zur Schülerin als ‚ganze Person’, also einem funktionierenden Arbeitsbündnis, deshalb so viel Bedeutung zumisst, weil sie es als Grundbedingung dafür erachtet, die Schülerinnen und Schüler fördern zu können. Diese Lesart stimmt mit der in der Eingangssequenz rekonstruierten überein. Andererseits klingt in der Schilderung Frau Vogels und insbesondere im Verweis auf die schriftlichen Rückmeldungen an, dass die Beziehung die Funktion erfüllt, eine mögliche narzisstische Kränkung im Moment der Mitteilung eines Negativent176 Frau Vogel denkt hier an eine Lehrerin, die von den Schülerinnen als böse angeschaut wird, da sie – wie wir es vor dem Hintergrund unseres theoretischen Rahmens formulieren würden – pädagogisch sinnlosen Schmerz zufügt und die Schülerinnen intuitiv darum wissen. In einer anderen Interviewpassage, in der sie schildert, wie sie aus pädagogischen Überlegungen dem Schüler Schmerz zufügen muss, meint sie: „Da [...] sind sie auch ein wenig böse auf einen, das ist schon, das muss man aushalten.“ (I 06, 23) Hier geht es um das Zufügen von pädagogisch sinnvollem Schmerz (vgl. 2.2.2.1).

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scheids abzuschwächen. Festzuhalten ist, dass die Bemühungen Frau Vogels auf der Ebene der Kommunikation und der Interaktion zwischen ihr als Lehrerin und den Schülerinnen und Schülern angesiedelt sind. Magali Vogel schliesst ihre Ausführung mit folgenden Worten ab: Magali Vogel: Und dass sie das, dass sie das auch merken mit ehm, (.) ja, es ist irgendwie banal, aber sie haben es, (.) sie brauchen es, dass man sie gerne hat. [I.: Ja.] Unabhängig von dem, was sie leisten, das müssen sie merken vorher. [I.: Mhm] [B.: Mhm] Dann wird es, dann kann man nachher auch schwierige Entscheide treffen. (I 06, 2)

Die Schülerinnen und Schüler sollen „vorher“ – also bevor Selektion überhaupt ansteht – merken, dass die Lehrerin sie „gerne hat“, sie bräuchten das. Als Begründung dafür, dass es die Schülerinnen und Schüler „brauchen“, dass man sie „gerne hat“ und dies auch „merken“ müssen, führt Frau Vogel an, dass „man nachher auch schwierige Entscheide treffen“ könne. Wenn die Vertrauensbeziehung gegeben ist, so macht sie – mehr implizit als explizit – geltend, fällt es ihr als Lehrerin ungleich einfacher, „auch schwierige“ – also auch kränkende – Selektionsentscheide zu fällen. Der Lösungsstrategie, mit der Frau Vogel das strukturelle Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ faktisch für sich entschärft, ist ein ‚perfides’ Moment inhärent: Dank ihrem pädagogisch motivierten Bemühen um eine vertrauensvolle, von Wohlwollen geprägte Lehrerinnen-Schülerinnen-Beziehung (die unter den Handlungsbedingungen in einem nicht-selektiven Schulsystem Arbeitsbündnischarakter haben könnte) wird das Fällen schmerzender Selektionsentscheide für sie erträglicher. Die für eine Lehrperson, welche sich – als Amtsprofessionelle – ihren selektionsbezogenen Aufgaben nicht entziehen kann, objektiv nie gänzlich tilgbare Antinomie von Fördern und Auslesen findet ihren Ausdruck in der ‚Perfidität’, die ihrem Versuch, das Handlungsproblem aufzulösen, anhaftet: Der kontrafaktische Vertrauensaufbau hat den Charakter einer Überlebensstrategie der Lehrerin, ein Vertrauensaufbau, der indessen am Unstand, dass gewissen Schülerinnen und Schülern pädagogisch sinnloser Schmerz zugefügt wird, objektiv nichts ändert. Selbstverständnis als begabte und engagierte Pädagogin Frau Vogel gibt sich als Lehrerin, die begabt und engagiert ist. In ihren Schilderungen zur Frage, wie es ihr gelingt, das Vertrauen der Schülerinnen und Schüler zu gewinnen, sie zu „spüren“ und eine Beziehung zu ihnen aufzubauen, stellt sie sich als von Natur aus talentierte Pädagogin dar: Magali Vogel: Also ich denke, dass, mein grösstes Talent im im Schulegeben jemand, einen Menschen zu spüren, dass eh also, wenn man mich würde fragen, meine Stärke, dann liegt es äuä dort. [Das wäre ich glaube] [I.: (?)] ich habe nicht mal

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so viel dazu beigetragen (schmunzelt) (?)muss nicht mal(?) bluffen, dass ich, das habe ich immer schon können. (I 06, 20)

Neben einer Menge anderer Begabungen, die sie hat, liegen ihr „grösstes Talent“ und ihre „Stärke“ im Spüren von Menschen, etwas, was sie sich nicht habe erwerben müssen, da sie es gewissermassen in die Wiege gelegt bekommen habe. Abgesehen davon, dass hier nochmals deutlich wird, dass sie im ‚Zwischenmenschlichen’ – nämlich dem „Spüren“ von Menschen und dem Aufbau von Vertrauen – die zentrale Aufgabe der Lehrperson sieht, kommt an dieser Stelle erneut ihre Selbstcharismatisierung zum Ausdruck. Im Interview wird aber auch die Selbstdarstellung als engagierte Lehrerin deutlich: Auf die Antinomie zwischen Fördern und Auslesen, die ihrer Meinung nach strukturell begründet ist und ihre Wirkung überindividuell entfaltet, antwortet Frau Vogel mit einer individuellen Strategie. Sie versucht – so ihre Beschreibung –, die beiden Aufgaben miteinander zu vereinbaren und ringt um die Etablierung eines Arbeitsbündnisses mit den Schülerinnen und Schülern. Dieses Ringen und der Versuch, sich der Widersprüchlichkeit der Aufgaben zu stellen, machen sie – wie Frau Vogel sagt – bisweilen betroffen: „Das zerreisst mich innerlich manchmal fast“ (I 06, 27), hält sie etwa im Nachdenken über Schülerinnen und Schüler fest, welche die Schule fast nicht „ertragen“ (I 06, 27). Sie könne ihnen nicht in der Weise gerecht werden, wie sie es sich wünscht, sondern müsse ihnen aufgrund der institutionellen Vorgaben auch Zwang antun. An anderer Stelle expliziert Frau Vogel, wie sie es schafft, angesichts dieser Zerrissenheit beruflich zu überleben: Magali Vogel: Ja, also (räuspert sich), nicht nur in diesem Fall, eigentlich in diesem Beruf sowieso, also i- i- ich tue sehr eh viel an mir persönlich arbeiten, also ich habe eine Reihe von Sachen, private Sachen eh Kurse, Übungen, die die ich, sonst würde ich diesen Beruf gar nicht aushalten, das ist, das ist so, also jetzt Privatleben und die eigene Persönlichkeit, wo du stehst, an dem muss man eigentlich ständig (.) arbeiten. Also das ist, in der Oberstufe (.) laugt einen das sonst einfach zu fest aus. (I 06, 27)

Um den Beruf „aushalten“ zu können und von ihm nicht zu sehr ausgelaugt zu werden, praktiziert sie im Privaten „Übungen“, besucht „Kurse“ und arbeitet an ihrer „Persönlichkeit“. Wie die Angaben über Freizeitbeschäftigungen im Kurzfragebogen vermuten lassen, geht es dabei um eine Art der „Körperarbeit“, die sie betreibt.

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5.4.1.3

Zusammenfassung

Frau Vogel versteht sich als Lehrerin, die an der Entwicklung der einzelnen Schülerin, des einzelnen Schülers als ganze Person orientiert ist. Selektion lässt sich – wie Frau Vogel sagt – insofern mit ihrem Förderanspruch „vereinbaren“, als sie es – sofern sie „ganzheitlich“ erfolgt – ermöglicht, das „auszulesen“, was auf dem „Weg“ des Kindes „förderlich“ ist. Sie „probiere wirklich zu schauen“, dass der Entscheid für das Kind oder den Jugendlichen als ganzen Menschen „stimmt“, gibt Frau Vogel zu verstehen. Ihre Vorstellung von pädagogischem Handeln erinnert an Oevermanns Definition, wonach dieses – jenseits der Selektion – „unter dem Aspekt seiner objektiv gegebenen therapeutischen Dimension ein prophylaktisches Handeln im Hinblick auf sein Potential der Weichenstellung der Biographie von Schülern in Richtung auf psychosoziale Normalität oder Pathologie“ ist (1996b, 149). Professionalisiertes pädagogisches Handeln unterstützt also Oevermann zufolge die Entwicklung psychosozialer Normalität. Frau Vogel hat nun den Anspruch, die Schülerin auch selegierend in diesem Sinn zu fördern. Die starke Orientierung an der einzelnen Schülerin geht bei Magali Vogel damit einher, dass sie sich eingehend mit der Gefahr der selektionsbedingten subjektiven Schülerschädigung beschäftigt. Dabei zeigt sich, dass sie das Problem, das sich aus ihrem doppelten Auftrag – Fördern und Selegieren – ergibt, auf der Ebene der Lehrerinnen-Schüler-Beziehung lokalisiert. Die Tatsache, dass die Lehrperson gleichzeitig Fördererin und Selegiererin ist, verunmöglicht – so Frau Vogels Überzeugung – das Vertrauensverhältnis zwischen der Lehrperson und der Schülerin, dem Schüler. Sie erachtet es als fraglich, ob Schülerinnen und Schüler „überhaupt Vertrauen haben“, „ganz offen“ sein und „mit ihren Problemen“ kommen können, „wenn sie wissen, das ist die gleiche Person, die nachher entscheidet“. Die Selektionsaufgabe der Lehrperson droht in Frau Vogels Augen pädagogisches Handeln zu verunmöglichen, sie läuft also dem Arbeitsbündnis zuwider. Entsprechend ihrem pädagogischen Selbstverständnis, wonach diese Beziehung von fundamentaler Bedeutung ist, setzt auch ihre Strategie zur Bewältigung des Dilemmas auf der Ebene der Interaktion zwischen Lehrerin und Schülerin an. Sie sei, wie sie sagt, von Beginn weg bestrebt, das Vertrauen der Schülerinnen zu gewinnen. Dabei greift sie, wie sie sagt, in der Praxis auf ihre Intuition und Menschenkenntnis zurück. Sie schildert sich als quasi von Natur aus talentierte Pädagogin, der es leicht fällt, „Menschen zu spüren“, und der es gelingt, der Selektionsdrohung zum Trotz ein Arbeitsbündnis aufzubauen; dies, obgleich sie geltend macht, dass Schülerinnen und Schüler eigentlich kein Vertrauen haben können. Damit tritt bei Frau Vogel eine deutliche Selbstcharismatisierung zuta224

ge. Ohne sie wäre es wohl nicht möglich, dass diese Lehrerin mit ihrem kontrafaktischen Vertrauensaufbau immer wieder die Ermöglichung des in ihren Augen eigentlich Unmöglichen versucht. Der pädagogisch motivierte Vertrauensaufbau muss – professionalisierungstheoretisch betrachtet – als Unterfangen gewertet werden, das kaum Aussicht auf Erfolg hat: Von Beginn weg steht fest, dass das Vertrauen beim nächsten Selektionsentscheid womöglich unterlaufen wird. Wenn sich Frau Vogel mit Blick auf dereinst zu vollziehende Selektionsentscheide darum bemüht zeigt, das Vertrauen der Schülerinnen und Schüler zu gewinnen, um negative Selektionsentscheide besser fällen zu können, nimmt der Vertrauensaufbau – strukturell gesehen – perfiden Charakter an: Die Schülerinnen und Schüler müssten merken, dass man sie gerne hat – sagt sie –, dann könne man „nachher auch schwierige Entscheide treffen“.) Die Herausforderung, dem Widerspruch, mit dem sie in ihrem Beruf konfrontiert ist, in die Augen zu blicken und einen möglichst ‚guten’ individuellen Umgang damit zu finden, beschäftigt Frau Vogel – wie sich im Interview zeigt – weit über den Schulalltag hinaus. Um daran nicht zu zerbrechen, verarbeitet sie das Erlebte etwa durch „Körperarbeit“. 5.4.2 Kontrastierung mit weiteren Fällen Dem Typ 4 (‚Ringen um das Arbeitsbündnis’) lassen sich zwei Primarlehrerinnen, zwei Reallehrpersonen und zwei Sekundarlehrerinnen zuordnen. Im Folgenden wird auf einen Fall, Sandro Gianetta, der in maximalem Kontrast zu Frau Vogel steht, vergleichsweise ausführlich eingegangen. Ziel dabei ist, das Spektrum dieses Typs und dadurch auch dessen zentrale Charakteristiken aufzeigen zu können. Selektionskritik Bei den Fällen des Typs ‚Ringen um das Arbeitsbündnis’ ist durchgängig eine selektionskritische Haltung festzustellen, wobei die Argumente zur Frage, worin das Problematische der Selektion besteht, wie auch der Grad der Explizitheit dieser Kritik variieren. Während Frau Vogel insbesondere das Problem der Schülerschädigung auf der subjektiven Ebene fokussiert, steht der Reallehrer Sandro Gianetta der Selektion auch noch aus anderen Gründen kritisch gegenüber. Selektion – insbesondere der Übertritt von der Primar- in die Sekundarstufe I – könne, so meint Herr Gianetta, bei den negativ selegierten Schülerinnen zu einer 225

Schädigung der ganzen Person führen: Sie habe zur Folge, dass jene Schülerinnen und Schüler, welche die Selektionshürde nicht bestehen und dem Realniveau zugeteilt werden, „kaputt gekarrt“ oder gar als „Leichen“ (I 05, 21f.) aus der Selektionsphase hervorgehen. Der Reallehrer beschreibt aber nicht nur die subjektive Komponente des pädagogisch sinnlosen Schmerzes, er sieht auch in der Problematik der Verringerung künftiger Ausbildungs- und Berufschancen eine Folge der Negativselektion. Bei prognostischen Einschätzungen, so Gianetta, bestehe etwa „die Gefahr“, einen Schüler falsch zu „beurteilen“ und ihn damit zu „verurteilen“ und „gewisse Sachen“ zu „vermasseln“ (I 05, 10), die Zukunftsoffenheit für die Schülerin, den Schüler also einzuschränken. Sandro Gianetta wirft einen kritischen und desillusionierten Blick auf die Selektion hinsichtlich ihres Beitrags zur Reproduktion von sozialer Ungleichheit und der Nicht-Erfülltheit des Leistungsprinzips.177 Das Leistungsprinzip besagt, dass einzig und allein die Leistung einer Schülerin (und nicht etwa deren soziale Herkunft) Grundlage für einen Selektionsentscheid bilden soll. Sandro Gianetta: Ich sage auch, man könnte bei uns, äh, die Schülereinteilung (.) quasi auch nach dem Beruf der Eltern machen, [I.: Mhm] es gibt in der Real und in der Kleinklasse gibt es keine Ärzte keine Juristen keine, weiss nicht was, und keine Leute, die acht oder sieben oder sechseinhalb Tausend Franken verdienen. Es gibt dafür, in der Sek gibt es auch solche, die wenig verdienen, das dann schon, aber, und das kann ja nicht stimmen, das kann ja nicht, das kann ja nicht sein, dass Realschüler, nur äh, also die Intelligenz über das soziale Einkommen, über das Einkommen definiert ist, aber es ist so, das ist einfach so. (I 05, 23)

Der Lehrer stellt fest, dass Kinder je nach ihrem Herkunftsmilieu in der Schule unterschiedliche Erfolgschancen haben und es insbesondere im Realniveau kaum Kinder von Akademikerinnen, Akademikern oder gut verdienenden Eltern gibt. Es könne ja nicht sein, dass „die Intelligenz über das soziale Einkommen“ definiert sei. Dass es offensichtlich die soziale Herkunft ist, die für den Schulerfolg einer Schülerin ausschlaggebend ist, liegt – wie er meint – erstens daran, dass gut ausgebildete Eltern ihre Kinder ausserhalb der Schule intensiv fördern und ‚pushen’. Zudem erwirkten diese Eltern – falls ihr Kind aus der Sicht der Lehrperson nicht ins Sekundarniveau eingeteilt oder ins Gymnasium empfohlen werden sollte – mittels Druckausübung auf die Lehrperson eine Positivselektion. Wenn dieser Druck nicht zum gewünschten Resultat führt – so Herr Gianetta –, schicken die Eltern ihr Kind in eine Privatschule (vgl. I 05, 24). Ebenfalls zu 177 Zum Leistungsprinzip und dessen Nicht-Erfülltheit im Bildungssystem vgl. Kronig (2007, 9ff.). Für kritische Analysen, die das Leistungsprinzip unter der Perspektive diskutieren, inwieweit es bestehende soziale Ungleichheit legitimiert, vgl. Titze (1996); Graf/Lamprecht (1991); Burkhart (1984) und Bourdieu/Passeron (1971[1964]).

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einer leistungsunangemessenen Selektion führten institutionelle Zwänge: Privatschulen nähmen aus finanziellen Gründen Schülerinnen unabhängig von deren Leistungen auf. Zudem würden – so der Reallehrer – in den Volksschulen und den staatlichen Gymnasien in erster Linie die Klassen gefüllt (vgl. I 05, 32), was zur Folge habe, dass in gewissen Quartieren auch Schülerinnen positiv selegiert werden, deren schulische Leistungen dies eigentlich nicht nahe legen würden. Insgesamt wirft Sandro Gianetta einen kritischeren Blick auf die Selektion als Frau Vogel. Während sie die Schülerschädigung auf der subjektiven Ebene ins Zentrum stellt und den Aspekt der objektiven Chancenverminderung – zumindest explizit – negiert, übt er von verschiedenen Seiten her eine Fundamentalkritik: Selektion mache Schülerinnen und Schüler kaputt, verbaue ihnen Chancen und erfolge zudem nicht gemäss dem Primat des Leistungsprinzips. Anders als bei Frau Vogel klingt bei dieser Kritik nicht mit, worin für ihn selbst als Lehrperson das Problem besteht, er stellt die geschilderte Diagnose distanziert und unbeteiligt. Nicht alle Lehrpersonen des Typs 4 reflektieren die Problematik der Selektion so bewusst und bringen ihre Überlegungen so explizit vor wie Sandro Gianetta, implizit aber steckt in allen Interviews eine Selektionskritik. Sie bezieht sich meist entweder mehr auf die subjektive Komponente, indem auf eine aus der Negativselektion möglicherweise folgende narzisstische Kränkung der Schülerinnen und Schüler aufmerksam gemacht wird, oder aber auf die objektive Komponente, indem beispielsweise die schlechteren Chancen der Realschülerinnen und -schüler auf dem Lehrstellenmarkt herausgestrichen werden. Entschärfung der Antinomie in der Interaktion In den Interviews der Fälle dieses Typs fällt auf, dass die Lehrpersonen explizit oder implizit auf aus ihrer Sicht problematische Seiten der Selektion hinweisen und dem antinomischen Verhältnis von Fördern und Selektion auf die eine oder andere Weise ins Auge blicken. Dennoch beteuern sie, dass für sie als Lehrpersonen die Widersprüchlichkeit der beiden Aufgaben kein Problem sei. Es ist ihnen das Bestreben gemein, mit dem Widerspruch der beiden Aufgaben einen Umgang zu finden und ihn mit unterschiedlichen Strategien aktiv zu entschärfen. Magali Vogel setzt beim kontrafaktischen Aufbau des Vertrauens der Schülerinnen und Schüler an, womit sie versucht, trotz der grundsätzlich immer drohenden Selektion ein Arbeitsbündnis zu etablieren. Ganz anders der Reallehrer Sandro Gianetta, der eine Lösung in einer – in seinen Augen – möglichst guten Handhabung der Selektion sucht. Auf die Eingangsfrage der Interviewerin, wie 227

er mit dem Dilemma zwischen Fördern und Selektion umgehe, fragt Herr Gianetta zunächst: „Grund-, ganz grundsätzlich?“. Die Interviewerin bestätigt mit einem „Ja“ (I 05, 1), worauf der Reallehrer antwortet: Sandro Gianetta: Also ähm, das ist richtig, also auf der einen Seite Fördern, auf der anderen Seite Selektionieren, und ich habe versucht, ähm, jetzt für meine Klasse, also ich habe Oberstufe, also wie es bei den anderen Stufen ist, dann müsst ihr dann anders schauen, äh dort habe ich versucht, möglichst äh objektive klare Kriterien aufzustellen für die Selektion. (I 05, 1)

Sandro Gianetta bemerkt zunächst, dass es „richtig“ sei, was die Interviewerin gesagt habe, und wiederholt deren Worte aus der Eingangsfrage: „auf der einen Seite Fördern, auf der anderen Seite Selektionieren“. Er bestätigt damit die Existenz dieser beiden Aufgaben und unterstützt – durch die Übernahme der Formulierung „auf der einen Seite/auf der anderen Seite“ – implizit auch die Ansicht, dass diese einander entgegengesetzt sind. Seine Argumentation beginnt bei der Selektion, womit er diese Aufgabe tendenziell zur erklärungsbedürftigen, problembehafteten macht. Indem er sagt, er habe „versucht“, für die Selektion „möglichst objektive“ und „klare“ Kriterien aufzustellen, führt er die „Kriterien“ als Instrument ein, das die Selektion entproblematisiert und ihr den schwierigen Charakter nimmt, wobei er mit dem Wort „versucht“ und dem Wort „möglichst“ das Gelingen der Entproblematisierung allerdings auch in Frage stellt. Dank den aufgestellten Kriterien könne er, wie er an einer anderen Stelle sagt, Selektion „nüchtern“ (I 05, 9) vornehmen. Damit geht er implizit davon aus, dass die Selektionsaufgabe etwas Dramatisches an sich hat und nicht selbstverständlich auf nüchterne Art erfüllt werden kann. Das mechanisch anmutende kriterienbasierte Verfahren ermöglicht Herrn Gianetta anscheinend eine Entdramatisierung. Ende des Schuljahres – so Herr Gianetta – werde dann bilanziert: Sandro Gianetta: Und das schaue ich nachher am Schluss vom Jahr mit den Schülern an und mit den Schülerinnen und sage: „Schau, das ist erfüllt, das ist nicht erfüllt, das gibt ein ‚Empfohlen’ oder ein ‚Nicht-Empfohlen’.“ (I 05, 2)

Am Schluss des Jahres schaue er mit den Schülerinnen an, ob die Kriterien erfüllt seien oder nicht, und sage ihnen, ob dies ein „Empfohlen“ oder ein „Nicht-Empfohlen“ nach sich ziehe. Er zeichnet in dieser Schilderung ein Bild, wonach er als Lehrer sich mit den Schülerinnen und Schülern am Ende des Schuljahres an den Tisch setzt und gemeinsam „Bilanz“ gezogen wird. In der Schilderung wird auf zweifache Weise deutlich, wie Sandro Gianetta mit dem Problem, negativ selegieren zu müssen, umgeht. Einerseits unterstellt er eine – von ihm offensichtlich gewünschte – Gemeinschaft, die aus ihm und den Schülerinnen und Schülern besteht, dies wird in der Aussage deutlich, er schaue es „mit den Schülern an“. Er suggeriert dabei zunächst, dass die Schülerinnen und 228

Schüler mit ihm in dieser Sache gemeinsam vorgehen, kann diesen Eindruck allerdings nicht lange aufrechterhalten, denn – wie er bemerkt – ist er selbst es, der ihnen dann „sage“, ob sie empfohlen seien oder nicht: er hadert. Andererseits zieht sich Sandro Gianetta mit der Formulierung „das gibt ein ‚Empfohlen’“ als Selektionsakteur aus dem Geschehen zurück, er unterstellt, dass er den Schülerinnen und Schülern lediglich das mitteilt, was von einer dritten Instanz – etwa einem Raster, in dem festgelegt ist, welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit es ein „Empfohlen“ gibt – entschieden wurde. Im Verlaufe des Interviews wird deutlich, dass der Einsatz dieser Kriterien in seinen Augen nicht ganz so unproblematisch ist, wie er zunächst glauben macht. Der Reallehrer gesteht ein, den Kriterien hafte etwas ‚Subjektives’ an; so stellt er fest, dass man nicht immer nur „Facts“ beurteile, es seien „auch Elemente drin, die mit dem Gespür, mit dem Gefühl zu tun haben, wo ich mich täuschen kann“ (I 05, 9). Schliesslich erklärt er es gar für gänzlich unmöglich, Beurteilung objektiv vornehmen zu können: Sandro Gianetta: Ich möchte auch nicht so verstanden werden, dass man Bewertung objektiv machen kann, und für alle die gleichen Kriterien kann (?). Ich sage einfach, ich bin tendenziell mehr in diese Ecke hineingerutscht. (I 05, 14)

Herr Gianetta stellt also die objektive Bewertung mit Hilfe von Kriterien, die für alle Schülerinnen gleich sind, direkt in Frage. In der Aussage, er sei „tendenziell mehr in diese Ecke hineingerutscht“, wird seine Hintergrundüberzeugung deutlich, wonach es mehrere „Ecken“ gibt, in denen sich die einzelne Lehrperson, die als Akteurin in diesem System tätig ist, positionieren kann. Seine eigene „Ecke“ wird zu einer unter mehreren. Er gibt mit dem Begriff „hineingerutscht“ aber auch zu verstehen, dass er die Selektionsarbeit mithilfe der Kriterien nicht bewusst als Strategie entwickelt oder übernommen hat. Es scheint, als ob Herr Gianetta seinen Rückgriff auf die Kriterien zu legitimieren versucht. Dies drängt sich in seiner Argumentation auch auf, hat er doch die zuvor geschilderte, scheinbar einfache Strategie des Anwendens klarer Kriterien als Verfahren entlarvt, das sich nicht immer durchführen lässt. Wie sich im Interview zeigt, zweifelt der Reallehrer nicht nur die Objektivität seiner Kriterien an, sondern er scheint in der Praxis sein zunächst so klar scheinendes mechanisches Vorgehen – Kriterien vorgeben, diese messen und Konsequenzen daraus ableiten – auch nicht streng durchzuziehen. Denn mit diesem Vorgehen stösst er, wie er schildert, insbesondere bei schwächeren Schülerinnen und Schüler schnell an Grenzen. Auf schwache Schülerinnen und Schüler müsse man „individuell“ eingehen, unterstreicht Herr Gianetta, bei ihnen brauche es einen „anderen Bericht“ (I 05, 16) und nicht einen ‚gewöhnlichen’ wie bei den 229

stärkeren Schülerinnen und Schülern. Den „anderen Bericht“ – also eine Form der Beurteilung – führt er als Instrument ein, das die Selektionsproblematik bezüglich der „schwächeren“ Schülerinnen und Schüler zu entschärfen vermag. Durch die Erstellung eines „anderen“ Berichts versucht Herr Gianetta, im Zusammenhang mit der Selektion auf die einzelne Schülerin einzugehen, das heisst gewissermassen ‚fallorientiert’ zu selegieren. Dass er im Falle schwächerer Schülerinnen nun auf die Notwendigkeit des ‚fallorientierten Selegierens’ hinweist, steht im Widerspruch zur zunächst proklamierten quasi-mechanischen Anwendung der klaren Kriterien. Er relativiert im Bedarfsfall – also im Falle schwieriger Negativselektion – seine zunächst als sehr klar dargestellten Prinzipien. Zusammenfassend kann für Sandro Gianetta festgehalten werden, dass er darum bemüht ist, durch eine möglichst ‚faire’ Selektionspraxis einen Umgang mit der Antinomie zu finden. Ähnlich wie Frau Vogel, die dem strukturell begründeten Problem – im Sinne einer individuellen Problembewältigungsstrategie – den Vertrauensaufbau entgegensetzt, schafft Herr Gianetta mit seinen selbst geschaffenen Kriterien ebenfalls etwas Eigenes. Gemeinsam ist den beiden Personen auch, dass ihre Versuche auf der Ebene der Interaktion mit den Schülerinnen und Schülern angesiedelt sind und um Vertrauen bzw. Gemeinschaft und dazu gehörende Fallorientierung gleichsam ringen, um zwei zentrale Aspekte einer Beziehung also, die wir als ‚Arbeitsbündnis’ bezeichnet haben. Verschiedentlich wird deutlich, dass Sandro Gianetta mit der Schwierigkeit dieses Unterfangens hadert. Dieses Hadern zeigt sich daran, dass er im Zusammenhang mit Selektionsentscheiden die Gemeinschaft mit den Schülerinnen und Schülern geltend macht, aber zugeben muss, dass er selber es ist, der „empfohlen“ oder „nichtempfohlen“ sagt. Es tritt auch im Widerspruch zutage, dass er einerseits „klare Kriterien“ anführt, von denen er sich im entscheidenden Moment – wenn es um die Selektion besonders schwacher Schülerinnen und Schüler geht – distanziert (dort brauche es einen „anderen Bericht“), und es wird auch in seiner legitimierenden Haltung deutlich, die er einnimmt, wenn er sagt, er sei in diese „Ecke“ „hineingerutscht“. Dass Herr Gianetta – wie Frau Vogel – um das Arbeitsbündnis mit der Schülerin, dem Schüler ringt, zeichnet sich im (strukturell letztlich unmöglichen) Versuch der Vergemeinschaftung mit den Schülerinnen und Schülern gegen die Selektion ab. Noch deutlicher wird dieses Ringen ums Arbeitsbündnis an einer anderen Stelle im Interview, in der er seine Bemühung schildert, die Beziehung zum Schüler möglichst wieder aufzubauen, nachdem er ihm mit einem Negativentscheid Schmerz zugefügt hat (vgl. Abschnitt „Strukturell bedingte Perfidität“).

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Wie Sandro Gianetta versuchen auch andere Lehrpersonen dieses Typs das Dilemma für sich mit einem möglichst guten Umgang mit der Selektionsaufgabe zu bewältigen. Sie fassen dabei allerdings nicht wie Herr Gianetta das Zustandekommen von Selektion ins Auge, sondern sind vielmehr darum bemüht, Selektionsentscheide den Schülerinnen, Schülern und deren Eltern möglichst schonend mitzuteilen. Die Reallehrerin Olivia Amrein erzählt im Interview stolz von einem „System“, das sie „entwickelt“ (I 22, 6) habe und das sie mit fast schon missionarischem Eifer über Praktikantinnen zu verbreiten versucht. Der Begriff „System“ weist auf einen Versuch zur Standardisierung und Regulierung hin, ein Aspekt, der bereits bei Sandro Gianetta auftaucht. Bei Frau Amrein handelt sich um ein Rückmeldesystem, bei dem sie in ständigem Austausch mit der Schülerin, dem Schüler und deren Eltern steht und diese über die Erfüllung von Aufträgen und Hausaufgaben, über Unpünktlichkeit sowie besondere Leistungen – wie etwa freiwilliges Tafelputzen – informiert. Das ständige Informieren über das Arbeitsverhalten und das Betragen des Schülers, der Schülerin scheint diese Lehrerin beim Selegieren zu entlasten. Bestehe der Kontakt zu den Schülerinnen, Schülern und deren Eltern, komme für diese ein Negativentscheid nicht so plötzlich und sei deshalb weniger „schockierend“ (I 22, 6), berichtet sie. Bei ihr zeigt sich ein kommunikativer Aktivismus: Sie ringt um eine in ihren Augen bessere Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern, die – ohne deswegen Arbeitsbündnischarakter zu haben – keine Zufügung von Verletzungen kennt. Dieser kommunikative Aktivismus ist – wie die Bestrebungen Frau Vogels und Herrn Gianettas – auf der Ebene der Interaktion mit den Schülerinnen und Schülern bzw. deren Eltern angesiedelt. Bei ihrem „System“ handelt es sich – wie es für die Fälle dieses Typs typisch ist – um etwas Eigenes, selbst Geschaffenes, auf das sie vertraut. Die Primarlehrerin Bianca Conti berichtet von einer ähnlichen Strategie: Bianca Conti: Aber jetzt so (..) extrem in Stress komme ich jetzt eigentlich nicht. [I.: Mhm] Wirklich nicht, aber wahrscheinlich einfach dadurch, dass ich mit ihnen rede und das wirklich fortlaufend, immer wieder. (I 28, 3)

Verschiedentlich wird im Interview mit Frau Conti das „Gespräch“178 und das „Reden“179 mit den Schülerinnen und Schülern und deren Eltern als Instrument angeführt, dank dem das Gegenüber gut über den ‚Stand der Dinge’ informiert ist. Genau dies mache für sie als Lehrerin das Selegieren erträglich. Ob sie nun das Dilemma auf der Seite des Förderns zu entschärfen versuchen, indem sie wie etwa Frau Vogel das durch die Selektion immer schon bedrohte 178 179

Vgl. I 28, Seiten 2; 3; 5; 11; 15; 17; 22; 26 Vgl. I 28, Seiten 2; 3; 15; 22; 31

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Arbeitsbündnis kontrafaktisch aufzubauen bemüht sind, oder ob sie sich der Seite der Selektion zuwenden und sich auf das Zustandekommen von Selektionsentscheiden oder aber auf deren Mitteilung an Eltern, Schülerinnen und Schüler konzentrieren, gemeinsam ist den Fällen des Typs 4, dass sie zu ihrer Entlastung auf eigene, selbst geschaffene Lösungen zurückgreifen, von deren Funktionieren sie überzeugt sind. Diese Lösungen sind alle auf der Ebene des Handelns angesiedelt und zielen auf die direkte Interaktion mit den Schülerinnen und Schülern bzw. deren Eltern. Gemeinsam ist diesen Lösungen zudem, dass in ihnen die als ‚gut’ betrachtete Beziehung der Lehrperson zu den Schülerinnen und Schülern von zentraler Bedeutung ist und sie das Unvermeidbare zu vermeiden versuchen, nämlich diese Beziehung zu gefährden. So ringen Frau Vogel und Herr Gianetta um das Arbeitsbündnis und Frau Amrein sowie Frau Conti sind bestrebt, in einem ‚kommunikativen Aktivismus’ durch permanente Rückmeldungen und ständige Gespräche die durch Selektionsentscheide bedrohte Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern von Verletzungszufügungen frei zu halten. Selbstcharismatisierung Für Lehrpersonen des Typs ‚Ringen um das Arbeitsbündnis’ ist eine starke Selbstcharismatisierung charakteristisch. Diese kommt zunächst darin zum Ausdruck, dass sie alle der Überzeugung sind, eine eigene funktionierende Lösung für das strukturell bedingte Problem entwickelt und gefunden zu haben. Bei Frau Vogel zeigt sich die Selbstcharismatisierung zudem in der Selbstbeschreibung als quasi von Natur aus talentierte Pädagogin und als engagierte, ihre innere Zerrissenheit bewältigende Lehrerin. Bei anderen Lehrpersonen äussert sich die Selbstcharismatisierung habituell, indem sie sich im Interview beispielsweise sehr selbstüberzeugt gebären. So etwa bei Herrn Gianetta, der sich in der Eingangssequenz als Experte gibt und die Darstellung der Interviewerin in der Eingangsfrage als „richtig“ beurteilt, was impliziert, dass diese auch hätte falsch sein können und dass er derjenige ist, der dies beurteilen kann. Ein selbstcharismatisierender Zug findet sich auch darin, dass Herr Gianetta – nicht ohne Stolz – seine „lange Erfahrung“ (I 05, 18) im richtigen Einschätzen der Schülerinnen und Schüler ins Feld führt. An einer anderen Stelle distanziert er sich von den „vielen“ anderen „Lehrern“, die das „Problem“ haben, „den Schülern beweisen zu müssen: ‚Es langt dir ja du bist ja ein Guter Lieber’ und so weiter und dabei gehen sie nachher kaputt, oder“ (I 05, 15). Er mache dies anders, also richtig, und gehe deshalb nicht kaputt. Ähnlich beruft sich die Primarlehrerin Bianca Conti – auf die möglicherweise schwierige Legitimation von Selektionsentscheiden angesprochen – auf ihr „Expertenurteil“ (I 28, 12; 37). 232

Diese Äusserung ist insbesondere deshalb interessant, weil es sich um eine sehr junge, vergleichsweise unerfahrene Lehrerin handelt, die sich hier als Expertin darstellt: sie ist zum Zeitpunkt des Interviews 26 Jahre alt und unterrichtet seit knapp fünf Jahren. Auch bei der Reallehrerin Olivia Amrein ist eine Selbstcharismatisierung festzustellen, wenn sie implizit davon ausgeht, dass sich das von ihr entwickelte Rückmeldesystem über ihre Praktikantinnen und Praktikanten bis in die Lehrerinnen- und Lehrerbildungsstätten hinein zu den Forscherinnen und Forschern diffundiert haben müsste: Sie versteht sich gewissermassen als Vorreiterin, die qua Ausstrahlung auf den ganzen Kanton die ‚Lehrmeinung’ bestimmt (vgl. I 22, 6). Dieser Fall erinnert an den von Schallberger gebildeten Jungunternehmer-Typ „Die charismatische Motivlage“, bei dem der Autor einen „Messianismus“ feststellt. Bei diesem Gründer-Typ soll „dem bereits Existierenden [...] nicht bloss eine zusätzliche Variation hinzugefügt werden. Vielmehr soll der Raum dessen, was zu einem bestimmten Zeitpunkt möglich ist, mittels Innovation erweitert werden“ (2004, 18). Allerdings ist ihrer Selbstcharismatisierung insofern ein Widerspruch inhärent, als sie mit dem formalisierten Schulsystem, in dem sie selegieren muss, einen Umgang zu finden versucht, indem sie ein eigenes Rückmeldesystem mit formalisiertem Charakter zur Anwendung kommen lässt. Schliesslich findet sich die Selbstcharismatisierung auf jeweils ähnliche Weise auch in der sprachlichen Ausdrucksweise dieser Lehrpersonen. Stellvertretend sei wieder auf Frau Vogel und Herr Gianetta verwiesen: Beide führen ihre Bewältigungsstrategien mit den Begriffen „möglichst“180, „probiert“181, „versucht“182 relativierend ein, beispielsweise Herr Gianetta, der in der Eingangssequenz sagt: „Dort habe ich versucht, möglichst äh objektive klare Kriterien aufzustellen für die Selektion.“ (I 05, 1) Dieser Ausdrucksweise haftet ein Selbstverständnis der Lehrpersonen an, Schöpferinnen und Schöpfer von etwas Neuem, noch nie Dagewesenem zu sein, wobei das Gelingen ihrer Versuche einzig und allein von ihrem individuellen Können abhängt. Strukturell bedingte Perfidität Die Ausführungen zu Magali Vogel haben gezeigt, dass ihr Bemühen, den beiden sich widersprechenden Aufgaben gerecht zu werden, von einer strukturell bedingten ‚Perfidität’ geprägt ist. Um ihrem pädagogischen Auftrag gerecht 180

Vgl. (I 05, 1; 29; 31; I 06, 2; 3; 7) Vgl. (I 06, 1; 2; 3; 4; 5; 7; 15; 17; 18; 22; 25; 27) 182 Vgl. (I 05, 1) 181

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werden zu können versucht sie kontrafaktisch das Vertrauen der Schülerinnen und Schüler aufzubauen, im Wissen darum, dass sie dieses womöglich später ‚zweckentfremden’ kann und wird. Es zeigt sich, dass sie das Vertrauen aufbaut, um danach besser selegieren zu können, was einem strukturell nahegelegten, perfiden Vorgehen gleichkommt. Diese beiden Aspekte sind konstitutiv für den Typ 4. Versuche, ein Arbeitsbündnis zwischen Lehrperson und Schülerinnen und Schülern zu etablieren und mit der Widersprüchlichkeit der beiden Aufgaben auf diese Weise einen Umgang zu finden, können unter Selektionsbedingungen nie ganz gelingen – so sehr die Lehrperson auch darum ringen –, und diese Versuche kommen einem perfiden Handlungsmodus gleich, wenn sie – ob beabsichtigt oder nicht – zum Zwecke des besser Selegieren-Könnens eingesetzt werden. Im Interview mit dem Reallehrer Sandro Gianetta zeigt sich, dass er darum bemüht ist, die als problematisch wahrgenommenen Konsequenzen der konkret erfolgten Selektion aufzufangen, indem er die Beziehung zu kitten versucht. Im Interview schildert er, dass es ihm nicht möglich sei, „allen Kindern gerecht zu werden“ und sie „dementsprechend zu fördern und ihre Zukunft Weichen für Ku- Zukunft richtig zu stellen“ (I 05, 31).183 Es tue ihm zwar „weh“ und mache ihn „nachdenklich“, wenn er Fehler mache, dies lasse sich aber nicht vermeiden, da er „die Gesellschaft nicht ändern“ (I 05, 32) könne: Sandro Gianetta: Ich sage vielleicht als Bild so, es ist, wie wenn man über eine Wiese läuft, man vertschalpt184 auch Blümchen. Und das sage ich auch den Schülern: „Ihr dürft nicht erwarten von mir, dass ich gerecht bin, sonst bin ich eine Maschine.“ Und ich bin ungerecht, und ich bin äh daneben. Und ich sage nur, ich hoffe immer, man könne es wenigstens, am Tag nachher noch anschauen oder wenn man einander die Hand gibt und auseinander geht, noch einfach gerade stellen, und dort, bin ich daran und das, gebe mir auch Mühe, das zu machen. (I 05, 32)

Sandro Gianetta versucht auf ganz andere Art als Frau Vogel, sich als guten Lehrer darzustellen: Während diese schildert, wie sie sich auf den Vertrauensaufbau konzentriert und eine Schülerschädigung möglichst zu vermeiden versucht, tritt er die Flucht nach Vorn an und erklärt es zu seinem „Selbstverständnis“ (I 05, 31), „Blümchen“ zu zertreten, also Schülerinnen und Schülern weh 183

In der Aussage wird deutlich, dass Sandro Gianetta letztlich eine ähnliche Hintergrundüberzeugung haben muss, wie sie bei Magali Vogel anhand der Weg-Metapher rekonstruiert werden konnte. Es gehört zu seinem beruflichen Selbstverständnis, dass er die Weichen für die Zukunft der Schülerinnen und Schüler stellt. Problematisch ist dies in seinen Augen nur dann, wenn er diese falsch stellt. Im Glauben an die eigene Fehlbarkeit, ja in der Stilisierung derselben, unterscheidet er sich allerdings von Frau Vogel, die der Überzeugung ist, dass sie dazu imstande ist, den jeweils richtigen Weg zu erkennen und die Schülerin, den Schüler auch darauf zu bringen. 184 „Vertschalpen“ heisst sinngemäss „achtlos zertreten“.

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zu tun, da er das Fehler-Machen als menschlich erachte. Seine Qualität als Lehrer sieht er in seinem Erkennen, dass er als menschliches Wesen – aufgrund der gesellschaftlichen Begebenheiten – nicht anders als ungerecht sein kann, was er den Schülerinnen und Schülern auch so mitteilt.185 Vor allem aber sieht er die Qualität darin, dass er sich nach dem Schmerzzufügen um eine Versöhnung bemüht. Er hofft, dass er gemeinsam mit der betroffenen Schülerin, dem betroffenen Schüler – dem „vertschalpten Blüemli“ – das Fehlverhalten des Lehrers am nächsten Tag ‚anschauen’ kann, dass das Vorgefallene am Abend beim Handschlag gerade gerückt, das heisst gemeinsam wiedergutgemacht werden kann. Mit dem rituellen „Handgeben“ greift der Lehrer auf einen Topos zurück, der im Sport verbreitet ist: In einem Tennismatch bekämpfen sich zwei Gegnerinnen oder Gegner auf dem Platz mit allen erlaubten Mitteln. Nach Abschluss des Spiels verlangen die inoffiziellen Spielregeln von ihnen, dass sie zum Netz gehen und sich die Hand reichen. Das Ritual des Handschlags bildet den Übergang zwischen dem Kampf, in dem sich die beiden Menschen in ihrer Rolle als Tennisspielerinnen oder Tennisspieler sportlich bekämpfen, und dem ‚Leben’ danach, in dem sie sich als ‚ganze Personen’ begegnen und vielleicht nach dem Match gar gemeinsam ein Bier trinken. Ein Verweigern des Händedrucks gilt als unsportlich und unsouverän, damit lässt die Spielerin oder der Spieler den sportlichen Konflikt ernst werden. Dass Sandro Gianetta das Ritual des Handschlags als einen die Selektionsproblematik entlastenden Handlungsablauf einführt, deutet darauf hin, dass er versucht, das Selegieren und Schmerzzufügen einer Sphäre zuzuordnen, in der er und die Schülerin, der Schüler sich in einer ausseralltäglichen Arena bei einem Quasi-Spiel mit Siegern und Verlierern begegnen. Der Handschlag soll dieses Spiel abschliessen, danach stehen sich die beiden wieder als Alltagsmenschen gegenüber, die nicht Sieger und Besiegte, sondern Gleiche sind. Sein Schmerzzufügen durch Negativselektion möchte er von dieser Beziehung fernhalten, es soll sie nicht tangieren. Denn für ihn scheint es so lange erträglich zu sein, wie er es in besonderen, ausseralltäglichen Situationen stattfinden lassen kann. In Anlehnung an Goffmans Konzept des positiven Rituals (Goffman 1982, 97) lässt sich der Handschlag als Geste betrachten, die – in den Augen Gianettas – die Beziehung zwischen Gleichen bekräftigt. Dass er diese Geste auf eine Situation folgen lässt, in der das vermeintliche ‚Arbeitsbündnis’ unterlaufen wird, lässt sein Ringen darum sichtbar werden: Er möchte etwas bekräftigen, das in seinen Augen eben gerade zerstört worden ist. 185

Das fast schon übertriebene Schuldbekenntnis im Sinne eines „Mea culpa“ kommt einer Selbststilisierung als Fehlbarer gleich, welche die Fehlbarkeit gleichzeitig entproblematisiert.

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Sandro Gianetta versucht, der betroffenen Schülerin, dem betroffenen Schüler die Restauration der freundschaftlichen Beziehung qua Autorität abzupressen, und möchte das Arbeitsbündnis gewissermassen erzwingen. Der Händedruck hat für ihn eine Entlastungsfunktion: Wenn die Beziehung wiederhergestellt ist, kann er quasi vergessen, dass er dem Schüler zuvor wehgetan hat. Der Schülerin gegenüber hat der Händedruck jedoch – von Herrn Gianetta nicht beabsichtigt – im doppelten Sinne perfiden Charakter. Zum einen kann er den Schmerz, den sie erfahren hat, nicht eliminieren, dennoch wird die Geste von ihr erwartet. Zum anderen wird – das zeigt erst eine weitere Interviewstelle – eine Verweigerung des Handschlags zu ihren Lasten ausgelegt. Sandro Gianetta schildert eine Situation, in der es hierzu kam: Drei Schüler hatten – so berichtet er – nach einem Konflikt das „Hand-Geben“ verweigert und stattdessen die „Faust im Sack“ gemacht. Der Lehrer deutet diese Verweigerung als mangelnde Konfliktfähigkeit der Schüler und erklärt, dass er diese in seine Selektionsentscheide einfliessen lasse. Der Schüler wird also quasi genötigt, für das gute Gewissen des Lehrers zu sorgen. Tut er es nicht, wird er zusätzlich dafür bestraft, dass er die erste ‚Schädigung’ nicht mit einem sportlichen Handschlag ‚quittiert’ und die ‚Niederlage’ weggesteckt hat. In der Händedruck-Sequenz bestätigen sich zwei weiter vorne rekonstruierte Aspekte, die typisch sind für den Typ ‚Ringen um das Arbeitsbündnis’. Erstens zeigt sich erneut, dass Sandro Gianetta das letztlich in der Antinomie gründende Problem auf der Ebene der Interaktion mit der Schülerin zu bewältigen versucht. Zweitens wird in seiner Aussage, er „hoffe“, dass er und die Schülerinnen und Schüler am Tag nach einem das Arbeitsbündnis unterlaufenden Ereignis einander die Hand geben könne, und er sei „daran“ und gebe sich „Mühe“, dass es gelingt, deutlich, dass er um das Arbeitsbündnis ringt. Die strukturell bedingte Perfidität kommt auch in den anderen Fällen des Typs 4 zum Ausdruck. Die Primarlehrerin Bianca Conti sagt im Interview, man müsse den künftigen Realschülerinnen und -schülern gegenüber – im Wissen darum, dass diese auf dem Lehrstellenmarkt schlechtere Chancen als Sekundarschülerinnen und -schüler haben werden – die Realschule „verherrlichen“ und „sagen: ,nein, Real ist auch super’“, weil es für diese Schülerinnen und Schüler „vom (.) Rhythmus her, von von der Zeitgebung her“ (I 28, 6) ja stimme. Sie versucht, den an sich unauflösbaren Konflikt, den eine Negativselektion in sich birgt, zu entschärfen, indem sie den Schülerinnen und Schülern gegenüber bewusst unehrlich ist und die negativen Aspekte absichtlich leugnet. Sie stellt fest, die Schülerinnen und Schüler hätten beim Übertrittsentscheid ein „Mitspracherecht“, gleichzeitig müssten sie aber in dieser „Selbstbeurteilung“ auch „realistisch“ (I 28, 5) sein. Der schwache Schüler hat also die Möglichkeit, seinem 236

Wunsch hinsichtlich eines Selektionsentscheides mit einem Kreuzchen Ausdruck zu verleihen, muss sich aber in der Selbstbeurteilung selbst negativ einstufen, möchte er diese ‚gut’, das heisst im Sinne des Lehrerurteils realistisch machen (was einem Lernziel entspricht). Schülerkompetenz zeigt sich in den Augen dieser Lehrerin darin, dass der Schüler erkennt, dass er fürs höhere Niveau zu schwach ist und sich also quasi selbst negativ selegiert bzw. pädagogisch sinnlosen Schmerz zufügt. Frau Conti greift mit der Selbstbeurteilung auf ein offizielles, gesetzlich verankertes Instrument (vgl. DVBS Art. 10) zurück, das die rekonstruierte Perfidität des Lehrerhandelns bereits von seiner Anlage her in sich trägt. Bei Frau Conti und Frau Nussbaum wird – wie schon bei Frau Vogel – deutlich, dass der Aufbau einer Beziehung zur Schülerin und deren Eltern in den Augen der Lehrerinnen nicht ausschliesslich einer möglichst guten Förderung der Schülerin dient, sondern dass sie die Beziehung auch instrumentalisieren, um besser selegieren zu können. Frau Conti legt dar, dass sie, gerade weil sie eine Beziehung – oder einen „Bezug“ (I 28, 6) – zur Schülerin aufgebaut hat, dazu in der Lage ist, den Übertrittsentscheid zu fällen. In ähnlicher Form tritt diese Haltung bei Frau Nussbaum auf, die dem Aufbau eines Vertrauensverhältnisses mit den Eltern sehr viel Bedeutung beimisst, wobei ihr dieses nicht zuletzt erlaube, als Lehrerin Negativentscheide fällen zu können, ohne dabei mit dem Protest der Eltern rechnen zu müssen (vgl. I 29). Allen Fällen des Typs 4 ist gemein, dass sie sich am Wohle der Schülerin orientieren, in deren Interesse zu handeln bemüht sind und mit den Schülerinnen und Schülern und deren Eltern ein Arbeitsbündnis oder mindestens eine als ‚gut’ betrachtete Beziehung aufbauen möchten. Doch den Versuchen, die Selektionsproblematik unter Rückgriff auf einen intendierten Arbeitsbündnisaufbau oder eine Gemeinschaft zwischen der Lehrperson und ihrer Klientel zu entschärfen, haftet der Charakter des Perfiden an. Diese Perfidität liegt strukturell in der antinomischen Ausgangslage begründet, gemäss derer Förderbemühungen nie losgelöst von der Selektionsaufgabe erfolgen können. Problembewältigung ausserhalb der Schule Die Problematik des antinomischen Verhältnisses von Fördern und Auslesen ist den Lehrpersonen des Typs ‚Ringen um das Arbeitsbündnis’ mehr oder weniger bewusst. Obwohl sie alle zu Beginn des Interviews zunächst explizit sagen, für sie selbst sei das Wahrnehmen dieser beiden Aufgaben kein Problem, wird in den Gesprächen deutlich, dass dem keinesfalls so ist.

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Sandro Gianetta sagt, es sei „knüppelhart“ (I 05, 6), einem Schüler keine Empfehlung zu geben, es gelinge ihm nicht, „allen Kindern gerecht zu werden“ und sie „dementsprechend zu fördern“, er könne das nicht „bewältigen“ und es gebe manchmal Elemente „von schlechtem Gewissen, also von von Zweifeln“ (I 05, 31f.). Als Lehrpersonen, die ihren Beruf mit Haut und Haar ausüben und einen Fallbezug zu den Schülern herzustellen versuchen, bereitet ihnen das Schmerzzufügen – wenn auch nur latent – Mühe. Es erstaunt nicht, dass sie alle auf die eine oder andere Weise die in der Antinomie gründende Belastung aus dem Klassenzimmer hinaustragen und in der (Selbst-)Reflexion zu verarbeiten versuchen: Frau Vogel betreibt, wie sie erzählt hat, Körperarbeit, um zu vermeiden, dass sie die Schule zu stark auslauge (vgl. I 06, 27). Herr Gianetta fügt an, dass seine Frau „zum Glück“ auch Lehrerin sei und wisse, wovon er spreche. Mit ihr könne er die Probleme „am Tisch diskutieren“ (I 05, 31f.). Bei der Primarlehrerin Frau Nussbaum gewährt der „Kollege“, mit dem sie die Stelle teilt, in schwierigen Situationen Unterstützung oder gar Entlastung, indem er jene Elterngespräche übernimmt, die ihr Mühe bereiten (vgl. I 29, 38). Frau Conti führt ihr Kind an: es habe sie gewissermassen dazu gezwungen, sich mehr „abzugrenzen“, „Stopp“ (I 28, 18) zu sagen und nicht ausserhalb der Schulstunden, über Mittag und am Feierabend „extrem viel Zeit“ (I 28, 18) in die Schule zu investieren (vgl. I 28, 2). Das Ringen um das Arbeitsbündnis, das Entschärfen der Selektionsproblematik und damit die Bewältigung der Antinomie vereinnahmen diese Lehrerinnen und Lehrer als ‚ganze Menschen’. Teil ihrer Bewältigung ist die reflexive Auseinandersetzung mit der Problematik, die typischerweise ausserhalb der Schule stattfindet, von der Idee her aber auf die Fortsetzung der bestmöglichen pädagogischen Praxis als Lehrperson zielt. 5.4.3 Zusammenfassung des Deutungsmustertyps Die Lehrpersonen des Typs 4 (‚Ringen um das Arbeitsbündnis’) erblicken – ähnlich wie in den theoretischen Vorüberlegungen formuliert – im Zufügen pädagogisch sinnlosen Schmerzes durch Negativselektion eine objektive Chancenverminderung und eine subjektive Schädigung der Schülerin, des Schülers. Ein Reallehrer, Sandro Gianetta, stellt beispielsweise die Gefahr fest, einer Schülerin durch einen Selektionsentscheid etwas zu „vermasseln“, also die Zukunftsoffenheit einzuschränken, womit er die objektive Chancenverminderung anspricht. Er geht davon aus, dass Selektion der Reproduktion von sozialer Ungleichheit dient, und moniert die Nicht-Erfülltheit des Leistungsprinzips in unserem Schulsystem: In seinem Schulhaus – so meint er – könne man „die Schülereinteilung quasi nach dem Beruf der Eltern machen“. Darüber hinaus 238

beschreibt er auch die Problematik der subjektiven Schülerschädigung, so etwa, wenn er davon spricht, dass er als Reallehrer nach dem Primar-SekundarÜbertritt „kaputt gekarrte“ Schülerinnen und Schüler oder gar „Leichen“ bekomme. Eine Sekundarlehrerin, Magali Vogel, bringt das strukturell bedingte Problem, das in den beiden Aufgaben der Lehrperson begründet liegt, auf den Punkt, wenn sie sagt, es sei fraglich, ob Schülerinnen und Schüler „Vertrauen haben“, „ganz offen“ sein und „mit ihren Problemen“ zu ihr kommen können, „wenn sie wissen, das ist die gleiche Person, die nachher entscheidet“. Sie äussert die Befürchtung, dass die Selektionsaufgabe das Vertrauen der Schülerinnen und Schüler untergräbt und pädagogisches Handeln verunmöglicht. Trotz des Bewusstseins für die Problematik der Negativselektion und das antinomische Verhältnis von Fördern und Auslesen und obwohl sie innerlich zwischen den beiden Aufgaben hin- und hergerissen sind, zeigen sich die Lehrpersonen des Typs 4 überzeugt, Lösungen gefunden zu haben, welche die Antinomie für sie lebbar machen. Gemeinsam ist ihren Bestrebungen, dass sie sich auf die Interaktion zwischen Lehrerin und Schülerin beziehen. Während die eine Lehrerin das aufgrund ihrer Selektionsaufgabe fundamental in Frage gestellte Vertrauen der Schülerinnen und Schüler kontrafaktisch aufzubauen versucht, konzentrieren sich andere Lehrpersonen darauf, Selektionsentscheide so zu gestalten und mitzuteilen, dass sie auf der Seite der Schülerinnen und Schüler sowie deren Eltern möglichst wenig Schaden anrichten. Ein Reallehrer vertraut auf die Anwendung möglichst objektiver und klarer Selektionskriterien, eine Reallehrerin erzählt überzeugt von einem Rückmelde-„System“, das sie „entwickelt“ hat und das sie mit fast schon missionarischem Eifer zu verbreiten versucht. Die Überzeugung, dem Problem in der Praxis etwas Wirksames entgegenhalten zu können, geht bei den Lehrpersonen dieses Typs mit einer – teilweise – ausgeprägten Selbstcharismatisierung einher, wobei hier Charisma – im Sinne des aus dem Zusammenhang der Herrschaftssoziologie herausgelösten Konzepts von Weber (1972[1922], 140ff.; 654ff.) – „die pragmatische Handlungsstruktur [bezeichnet], in der mit Bezug auf eine Krise, die entweder anschaulich überzeugend vorliegt oder erfolgreich eingeredet wird, ein Versprechen auf Krisenlösung überzeugend vermittelt wird und sich praktisch bewährt“ (Oevermann 1991, 331). Je grösser bei einer Lehrperson das Bewusstsein für die Selektionsproblematik ist und je kritischer ihre Haltung, desto stärker fällt die Selbstcharismatisierung aus. Diese tritt darin zum Vorschein, dass alle Lehrpersonen des Typs 4 davon überzeugt sind, Schöpferinnen und Schöpfer von etwas Eigenem, noch nie Dagewesenem zu sein, das ihnen einen Umgang mit den widersprüchlichen Aufgaben erlaubt. Bei einer Lehrerin kommt die Selbstcharismatisierung 239

im Selbstverständnis als besonders talentierte oder engagierte, Zerrissenheit bewältigende Pädagogin zum Ausdruck und bei einer anderen jungen, vergleichsweise unerfahrenen Lehrerin tritt sie darin zutage, dass sie sich auf ihr „Expertenurteil“ beruft. Schliesslich ist die Selbstcharismatisierung auch im missionarischen Eifer zu erkennen, mit der eine Lehrerin ihr Rückmeldesystem zu verbreiten versucht. Die Antwort auf die Frage, ob sich die Krisenlösung bei den Lehrpersonen dieses Typs „praktisch bewährt“ (ebd.) muss ambivalent ausfallen. Ganz gelingen kann diese Krisenlösung – angesichts des strukturell bedingten unauflösbaren Dilemmas – letztlich nie. Sie gelingt jedoch insofern, als die Lehrpersonen sich dank ihrer Strategien von der Antinomie nicht in die Knie zwingen oder fundamental verunsichern lassen, als sie trotz argumentativer Saltos und Lücken von ihrer Aussergewöhnlichkeit und ihrem Expertenstatus überzeugt sind, und dies in habituell tief verankerter Weise. Einzig bei der noch jungen und relativ unerfahrenen Primarlehrerin wird sich noch weisen müssen, ob sie die Selbstdarstellung als Expertin wird aufrechterhalten können. Im kritischen Blick der Lehrpersonen des Typs 4 auf die Selektion und in ihren individuellen Bemühungen, der Antinomie standzuhalten, wird eine Distanz zur Organisation Schule und zum Bildungssystem als Ganzes deutlich. Der systemimmanenten Problematik stehen sie als Lehrpersonen gegenüber, die auf ihre je spezifische Art eine Lösung für das Problem gefunden zu haben glauben. In ihrer Art, nach Lösungen aus dem Dilemma zu suchen – sei es durch Vertrauensaufbau oder durch eine möglichst regelmässige Kommunikation mit Schülerinnen, Schülern und deren Eltern –, wird deutlich, wie Lehrpersonen des Typs 4 um ein Arbeitsbündnis bzw. eine ‚gute’ Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern ringen, die pädagogisches Arbeiten ermöglicht. Im Rahmen eines professionalisierungsbedürftigen, aber – unter anderem wegen der Selektionsaufgabe – nicht professionalisierbaren Berufes muss dies ein aussichtsloses Unterfangen bleiben. Es kann daher nicht erstaunen, dass diese Bemühungen die Züge eines – dank Selbstcharismatisierung erfolgreich gegen Verzweiflung gerichteten – Ringens annehmen, das als anstrengend und belastend wahrgenommen wird. Diese Lehrpersonen sehen sich denn auch veranlasst, ihre Probleme ausserhalb der Schule zu reflektieren. Sie tun dies, indem sie Körperarbeit betreiben, sich im Austausch mit aussenstehenden Personen mit den Problemen auseinandersetzen oder sich zu gegebener Zeit bewusst von der Schule abgrenzen. Gerade weil sie pädagogisch hochmotiviert sind, haftet den Lösungen der Lehrpersonen des Typs 4 der Charakter des ‚Perfiden’ an, der in der nicht hintergehbaren Antinomie objektiv-strukturell begründet liegt. Dies rührt daher, dass ein Arbeitsbündnis nicht wirklich etablierbar ist, die Lehrpersonen aber den Willen 240

haben, ein solches aufzubauen. Versuche, aktiv ein solches Bündnis aufzubauen, um pädagogisch sinnvoll handeln zu können, führen dann zur Perfidität, wenn damit – bewusst oder unbewusst – gleichzeitig auch eine Entschärfung der Selektionsproblematik intendiert ist. Die Perfidität besteht etwa darin, dass eine Lehrerin, Frau Vogel, präventiv das Vertrauen der Schülerinnen und Schüler aufzubauen versucht, um – wie sie sagt – dann auch „schwierige Entscheide“ fällen zu können. Ein anderes Beispiel für die strukturell bedingte Perfidität findet sich bei Sandro Gianetta, der von einer Schülerin, der er zuvor ‚weh’getan hat – er spricht von einem „vertschalpten Blüemli“ –, verlangt, dass sie ihm danach ‚sportlich’ die Hand gibt, damit die gute Beziehung, die kurz zuvor unterlaufen wurde, bekräftigt werde; zudem lässt er die Verweigerung dieser Geste in Selekionsentscheide einfliessen. Es fällt auf, dass sich unter den Lehrpersonen, die dem Typ 4 zugeordnet werden konnten, lediglich eine Sekundarlehrerin, Frau Vogel, befindet, wobei diese an einer Schule mit Modell 3b arbeitet, in ihrer Klasse also Real- und Sekundarschülerinnen und -schüler gemeinsam unterrichtet. Bei den Lehrpersonen dieses Typs geht es um solche, die sich im Alltag auch tatsächlich mit den Folgen der (bevorstehenden oder bereits vollzogenen) ersten ‚grossen’ Negativselektion am Ende der Primarstufe auseinanderzusetzen haben. Sekundarlehrpersonen, die lediglich Sekundarschülerinnen und -schüler unterrichten, also mit den Gewinnerinnen und Gewinnern der ersten grossen Selektion beschäftigt sind, lassen sich diesem Typ nicht zuordnen. Dass der Umgang mit dem beruflichen Handlungsproblem bei diesem Typ in der Interaktion mit den Schülerinnen und Schülern gründet, bedeutet, dass die in der vorliegenden Studie interessierende Problemlösung hier auf einer anderen Ebene angesiedelt ist als bei den übrigen Typen. Es handelt sich beim Rekonstruierten nicht im engen Sinne um ein Deutungsmuster, sondern um die Kombination eines Deutungsmusters mit Handlungsstrategien. Letztere werden von jeder einzelnen Lehrperson selbst generiert und perpetuiert. Als mit Engagement entwickelte, pädagogisch motivierte, zur Entschärfung des Dilemmas angelegte Strategien bilden diese gewissermassen Ansätze für Professionalisierung, aber paradoxerweise auch Einfallstore für Perfidität, weil Versuche, das Arbeitsbündnis aufzubauen, immer schon im Kontext des selektiven Berechtigungswesens stehen und aktiv in den Dienst der Erleichterung der pädagogisch sinnlosen Schmerzzufügung gestellt werden können.

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5.5 Typ 5: Fördern jenseits der Selektion Für die Lehrpersonen dieses Typs ist Selektion – ganz grob gesagt – ein Übel des Schulsystems, das dem Fördern zuwiderläuft. Typischerweise plädieren sie für eine möglichst späte Selektion oder gar für ein Schulmodell, das gänzlich ohne Selektion auskommt. Die Lehrpersonen dieses Typs – es sind fast ausschliesslich Reallehrkräfte – identifizieren sich mit den ‚Selektionsopfern’ und haben den Anspruch, diese jenseits der Selektion – also in einem selektionsfreien Schonraum – möglichst individuell zu fördern. Ein wesentliches Problem besteht den Lehrpersonen dieses Typs zufolge darin, dass unter der Prämisse des systembedingten Selektionszwangs unweigerlich ein Zusammenhang zwischen der Leistungsbeurteilung und der Frage schulischer ‚Karrieremöglichkeiten’ entsteht: Angesichts dieses Zusammenhangs sei es ihnen nicht möglich, leistungsschwächeren Schülern ‚motivierende’ Noten zu geben, ohne dass hieraus Aufstiegsbegehren erwachsen, die – so die gängige Vorstellung der Lehrkräfte dieses Typs – dann in aller Regel doch enttäuscht werden müssen. Gleichzeitig deuten sie das Zufügen pädagogisch sinnlosen Schmerzes, das mit einem negativen Selektionsentscheid objektiv einhergeht, als Hindernis für die Entwicklung der entsprechenden Schülerinnen und Schüler. Bei den einzelnen Lehrpersonen finden sich diesbezüglich zwar mehr oder weniger optimistische Sichtweisen, grundsätzlich indes wird der Umstand der Kränkung und objektiven Chancenminderung im Zusammenhang mit Negativselektion von diesen Lehrpersonen als Problem betrachtet. Um handlungsfähig zu bleiben, entschärfen die Fälle des Typs ‚Fördern jenseits der Selektion’ das Dilemma durch folgende Deutungen: Erstens wähnen sie sich in einem Sonderbereich innerhalb des Schulsystems, in dem Fragen der Selektion einen vergleichsweise marginalen Status haben. Zweitens grenzen sich diese Lehrpersonen innerlich vom Schulsystem und seinen Zwängen ab. Das Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ objektivieren sie in quasi-sozialwissenschaftlicher Art und Weise; sie betrachten dieses aus einer distanzierenden Warte. Drittens verstehen sie sich primär als ‚Anwälte’ insbesondere der leistungsschwächeren, sozial benachteiligten Schülerinnen und Schüler – was mit einer vergleichsweise starken Selbststilisierung als gleichsam ‚heldenhafte’ Lehrpersonen einhergeht, die stets das Bestmögliche für ihre Klientel tun. 5.5.1 Fall Peter Schwarzenbach Peter Schwarzenbach, um 1940 geboren, absolvierte nach Ende der obligatorischen Schulzeit eine technische Berufslehre. 20jährig schloss er diese erfolgreich ab, stieg aber nicht in den Beruf ein, sondern besuchte anschliessend das 242

Lehrerseminar. Seit Mitte der 1960er Jahre ist Herr Schwarzenbach Primarbzw. Reallehrer in Bern, von Mitte der 1980er bis Mitte der 1990er Jahre übernahm er die Leitung einer städtischen Schule. Zum Zeitpunkt des Interviews arbeitet Herr Schwarzenbach Vollzeit als Real-Klassenlehrer im Modell 3a. Er steht kurz vor der Pensionierung. 5.5.1.1

Analyse der Eingangssequenz

Die Sinnstruktur der Eingangsfrage im Interview mit Peter Schwarzenbach folgt weitgehend derselben Logik wie jene in den zuvor porträtierten Fällen. Anders als in anderen Eröffnungen problematisiert der Forscher hier das Fördern tendenziell genauso wie die selektionsbezogenen Aufgaben: durch die Nennung von „Massnahmen“ (I 07, 1) wie etwa die „Erziehung“ und „Sozialisation“, welche der Interviewer zum Aufgabenbereich der Lehrkraft zählt, wird das Fördern als krisenbezogene Intervention umschrieben, während selektionsbezogenes Handeln vergleichsweise unproblematisch erscheint, da die Lehrperson entsprechende Entscheide – so der Wortlaut im Interview – nur „in die Wege zu leiten“, nicht aber zu treffen oder zu fällen habe. Die Eingangsfrage abschliessend, wird auch in diesem Interview das Interesse am individuell-persönlichen Umgang des Interviewees mit der unterstellten Spannung fokussiert. Von den verschiedenen, sich mit dieser Intervieweröffnung bietenden Anschlussmöglichkeiten (vgl. 5.1.1), wählt Peter Schwarzenbach jene, bei welcher die Fragestellung des Projekts auf der Metaebene thematisiert wird. Er kommt nicht unmittelbar auf seinen konkreten Umgang mit der unterstellten Spannung zu sprechen, sondern antwortet im objektivierenden Duktus eines quasi-wissenschaftlichen Gutachters: Peter Schwarzenbach: Also das heisst, es ist sehr eine offene Fragestellung, die ihr da habt, und dann sollte ich mal so ein bisschen probieren also mein Verständnis als Lehrer (.) in diesen Bereichen so ein bisschen versuchen darzulegen. Ist das einigermassen das? (I 07, 1)

Herr Schwarzenbach bezieht sich zunächst auf die Qualität der vom Interviewer geäusserten Fragestellung. Er fügt sich nicht umgehend in die Rolle des Interviewees, sondern erhebt sich tendenziell über die Forschenden. An seine leicht abschätzige Kritik der allzu offenen Fragestellung – „die ihr da habt“ – knüpft Schwarzenbach seine eigene Vorstellung dessen, was nun eigentlich zu tun sei. Er nimmt in dieser Passage kurzum das Heft in die Hand. Das vom Forscher geäusserte Interesse an seinem individuellen Umgang mit der Spannung von Fördern und Auslesen formuliert er inhaltlich in die Frage nach seinem „Verständnis als Lehrer (.) in diesen Bereichen“ um. Die Sequenzanaly243

se dieser Passage hat gezeigt, dass es sich bei seiner abschliessenden Äusserung – „Ist das einigermassen das?“ – nicht so sehr um eine inhaltlich gefüllte Rückfrage als vielmehr um einen rhetorischen Kniff handelt: Wer so fragt, muss davon ausgehen und innerlich überzeugt sein, einen Sachverhalt in seinen groben Zügen korrekt erfasst zu haben. Als Gesprächspartner eine solche ‚Rückfrage’ zu verneinen, hiesse wiederum, dem Gegenüber zu sagen, dass er die fragliche Sache vollkommen falsch verstanden hat. Um nicht ein Scheitern des Gesprächsbündnisses186 zu riskieren, muss der Interviewer hier also bejahen – und müsste es selbst dann, wenn er mit der inhaltlichen Bedeutungsverschiebung nicht einverstanden wäre: Es käme einem Affront gleich, dem Interviewee nicht zuzugestehen, doch wenigstens einigermassen gültig erfasst zu haben, worum es im Interview gehen soll. Bereitwillig bezeugt der Interviewer denn auch sein Einverständnis mit dem Vorschlag Schwarzenbachs, was er selbst im Interview nun eigentlich zu tun habe: Interviewer: Gern, ja. (I 07, 1)

Im Sinne einer doppelten Affirmation bezieht sich die Bestätigungsemphase des Interviewers sowohl auf Schwarzenbachs Intention, nun sein Verständnis als Lehrer darzulegen („Gern,“), wie auch auf seine rhetorische Frage, ob dies „einigermassen das“ sei, worauf das Interview abziele („ja.“). Peter Schwarzenbach nimmt also zum Einstieg ins Interview eine als Rückfrage gekleidete, thematische Richtungsänderung vor: Es soll nicht um seinen Umgang mit dem unterstellten Problem, sondern um sein „Verständnis“ in den Bereichen Fördern und Auslesen gehen. Peter Schwarzenbach nimmt – tendenziell etwas ‚überheblich’ – die Haltung eines Gutachters ein, zeigt sich aber gleichzeitig auch – im Sinne einer Auseinandersetzung auf ‚gleicher Augenhöhe’ – darum bemüht, sich beim Interviewer der Angemessenheit des eigenen Handelns zu vergewissern. Ob dieses Bemühen Schwarzenbachs um eine Klärung der Ausgangsbedingungen des Interviews nun primär empathiegeleitet 186

Für sozialwissenschaftliche Forschungsinterviews ist ein spezifisches Abhängigkeitsverhältnis charakteristisch: Der Interviewer ist an den Sichtweisen und Vorstellungen – sprich: am Denken – seines Gegenübers interessiert und fordert diesen zu Erzählungen und Meinungsäusserungen auf, ohne seinerseits eine ‚Gegenleistung’ zu erbringen. In Anlehnung an das professionalisierungstheoretisch gefasste ‚Arbeitsbündnis’ lässt sich von einem ‚Gesprächsbündnis’ dann sprechen, wenn zwischen Forscherin oder Forscher und Interviewee ein Bündnis zwischen zwei Gleichen zustande kommt, im Rahmen dessen die Asymmetrie der ‚Rollen’ fruchtbar werden kann und nicht behindernd wirkt: Die beiden Akteure treffen miteinander (implizit oder explizit) gleichsam als autonome Erwachsene die Abmachung, das Gespräch in der vereinbarten Form durchzuführen. Vor dem Hintergrund dieser Abmachung ist der Interviewee, der sich öffnet, geschützt (z.B. Anonymitätswahrung), aber auch der Forscher in seiner Angewiesenheit auf die Beteiligung des Interviewee braucht nichts (keine Verweigerung etc.) zu befürchten.

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oder nicht vielmehr Teil einer im Kern autoritativen Handlungsstrategie ist, kann an dieser Stelle nicht gesagt werden. Schwarzenbach versteht es jedenfalls, sich und seine Person so einzubringen – und das heisst auch, in einer Art und Weise zu ‚imponieren’ –, dass das Gegenüber bereitwillig klein beigibt. Die Interaktion Schwarzenbachs mit dem Forschenden beim Einstieg in das Interview lässt zunächst primär auf dessen habituelle Disposition – und nicht so sehr auf sein Deutungsmuster zum Problem von ‚Fördern und Auslesen’ – schliessen. Es ist bei ihm ein gewisses ‚Imponiergehabe’ auszumachen, das nicht zuletzt in seiner selbstüberzeugten Adaption einer quasi-wissenschaftlichen Gutachterrolle zum Ausdruck kommt. Gleichzeitig erweist sich Peter Schwarzenbach insoweit als ‚hingebungsvoll’, als er – in einem wohlwollenden Duktus – der Interviewsituation als solche den Anstrich einer ‚ernsten’ Angelegenheit verleiht und um das Agreement des Interviewers anhält. Diesem wiederum bleibt angesichts der vereinnahmenden Handlungsstrategie Schwarzenbachs nichts anderes übrig, als dessen Absichten zu begrüssen.187 Im Ansatz lässt sich – vor dem Hintergrund dieser Eigenheiten auf der habituellen Ebene – aus der Rekonstruktion der bisher betrachteten Passage auch die Logik des Deutungsmusters von Peter Schwarzenbach zum Problem von Fördern und Auslesen erschliessen. Hierfür sei nun Schwarzenbachs Antizipation, worum es im Interview eigentlich gehen soll, noch etwas näher betrachtet. Auf seine Bemerkung hin, die Forschenden hätten da „sehr eine offene Fragestellung“, folgert Peter Schwarzenbach: „und dann sollte ich mal so ein bisschen probieren also mein Verständnis als Lehrer (.) in diesen Bereichen so ein bisschen versuchen darzulegen“ (I 07, 1). In Bezug auf die Eingangsfrage nach seinen Umgang mit dem Dilemma von Fördern und Auslesen, ist festzustellen, dass Schwarzenbach diese beiden ‚Bereiche’ voneinander trennt. Er gibt vor, „in diesen Bereichen“ – sozusagen je separat – ein „Verständnis als Lehrer“ zu haben. Die Analyse dieser Passage hat ergeben, dass diese Äusserung in sich nicht stimmig ist, dass aber just diese Unstimmigkeit in Bezug auf das Deutungsmuster im Fall Peter Schwarzenbach 187

Strukturlogisch entspricht die vom Reallehrer eingenommene Haltung jenem Verhaltensmodus, wie ihn Georg Simmel (1919) bei der ‚Koketten’ vorfindet: Wie eine solche stellt Schwarzenbach hier „ein Benehmen zwischen sich und den Mann“ (also den Interviewer), welches diesen „entwurzelt und unsicher macht“ (ebd., 105). Die ‚Kokette’ verfährt laut Simmel so, „als interessierte sie sich nur für ihr jeweiliges Gegenüber, als sollte ihr Tun an dem vollen Maße einer, wie auch immer qualifizierten Hingebung münden“. Dabei jedoch sei der „sozusagen logische Zwecksinn“ ihres Handelns nicht wirklich ihre Absicht, sondern „sie lässt dieses Tun konsequenzlos in der Luft vorschweben, indem sie ihm ein ganz anders gewendetes Ziel gibt: zu gefallen, zu fesseln, begehrt zu werden“ – und zwar „ohne sich irgendwie daraufhin beim Wort nehmen zu lassen“ (ebd., 108).

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aufschlussreich ist. Zu dieser Aussage existieren zwei konkurrierende Deutungen, deren Oszillation nachgerade das Deutungsmuster von Peter Schwarzenbach ausmacht. Die eine Lesart der Äusserung ist, dass Herr Schwarzenbach – als Lehrer – ein Verständnis von etwas (z.B. von Gerechtigkeit) hat, und dies in den Bereichen Fördern und Auslesen.188 Für diese eine Lesart ist jedenfalls charakteristisch, dass sie einer distanzierend-abstrahierenden Bewegung gleichkommt. Wer behauptet, in einem bestimmten Zusammenhang ein Verständnis von etwas – oder gar von sich selbst – zu haben, muss die fragliche Angelegenheit, auf die sich dieses Verständnis bezieht, reflexiv durchdrungen, das heisst in einer inneren Distanznahme zu einer bestimmten Sichtweise dieser Angelegenheit gefunden haben. So gelesen würde Herr Schwarzenbach unterstellen, in Bezug auf das Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ über eine abstrakte Sichtweise (ggf. seiner selbst als Berufsperson) zu verfügen; das Dilemma wäre quasi objektiviert und die Spannung eine, der sich Herr Schwarzenbach qua reflexiver Distanznahme entziehen kann. Indes: es existiert, wie gesagt, noch eine konkurrierende Lesart. Satzlogisch betrachtet ist – genau umgekehrt zur ersten Lesart – ebenso denkbar, dass jemand (als Lehrer) Verständnis für etwas oder für jemanden hat – und zwar wiederum in den Bereichen Fördern und Selektion. Dies käme nun gerade nicht einer distanzierend-abstrahierenden Bewegung, sondern einer empathiegeleiteten, tendenziell mitfühlenden Haltung gleich: So kann man beispielsweise Verständnis haben für die Anliegen einer Minorität. Ein so interpretiertes „Verständnis“ hätte demnach den Charakter einer Solidaritätsbekundung. Wie sich weiter unten zeigen wird, gilt die Sympathie Schwarzenbachs – oder eben: seine ‚verständnisvolle’ Haltung – ganz vordringlich den schwächeren, ja den schwächsten Schülerinnen und Schülern, die er als geschädigte Selektionsverliererinnen und -verlierer sieht. Für den Habitus wie auch den deutenden Umgang von Peter Schwarzenbach mit dem Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ sind diese beiden Elemente – in ihrer gegenseitigen Verschränktheit und Oszillation – konstitutiv: er objektiviert das Dilemma zunächst abstrakt-distanzierend (und ‚entzieht’ sich hierdurch sozusagen dem konkreten Problem), neigt aber gleichzeitig zu einer verständnisvollen, empathischen Haltung. Die Äusserung Schwarzenbachs, sein „Verständnis“ darlegen zu wollen, ist der latenten Sinnstruktur nach gerade deswegen uneindeutig ausgefallen, weil erst diese beiden Aspekte zusammen – 188

Eine mögliche – ja die naheliegendste – Variante dieser Lesart ist, dass Schwarzenbach von sich – als Lehrer – ein Verständnis hat, und zwar wiederum in den beiden Bereichen Fördern und Auslesen. Dann hätte er allerdings, um eindeutig zu sein, von seinem Selbstverständnis sprechen müssen. Das im Rahmen objektiv-hermeneutischer Sequenzanalysen geltende Wörtlichkeitsprinzip (vgl. 3.3.2) gebietet, genau solchen Missstimmigkeiten einen hohen Erklärungswert beizumessen, statt sie vorschnell als zufällige Verunglückungen abzutun.

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die Objektivierung des Problems und eine empathische Haltung gegenüber den (aus seiner Sicht) von ihm betroffenen Schülerinnen und Schülern – sein Deutungsmuster ausmachen. Auf der habituellen Ebene drückt sich dies darin aus, dass er sich in der Intervieweröffnung einerseits als quasi-wissenschaftlich objektivierender Gutachter zeigt, wobei er gleichzeitig – in einem empathisch vereinnahmenden (latent aber autoritativen) Handlungsmodus – sich um das Einverständnis des Forschenden bemüht zeigt. Auf unsere konkrete Fragestellung – und damit das Deutungsmuster zum Widerspruch von Fördern und Auslesen – bezogen, heisst dies im Sinne einer vorläufigen Fallstrukturhypothese: Peter Schwarzenbach ist einerseits eine abstrakte Sichtweise und distanzierte Haltung gegenüber der unterstellten Problematik, also der Antinomie von Fördern und Auslesen, eigen: Er zeigt sich als Lehrperson, die das Dilemma längst reflektiert – und damit objektiviert – hat. Gleichzeitig zeichnet sich ab, dass er angesichts dieses Problems – gegenüber seinen Klientinnen und Klienten – zu einem vereinnahmenden, empathischen (latent auch autoritativen) Interaktionsmodus neigt. Aus der Rückfrage Schwarzenbachs kann geschlossen werden, dass er sich von der unterstellten Problematik zu distanzieren weiss, um ihr gleichzeitig sich selbst als ‚verständnisvollen’ Lehrer entgegenzustellen. 5.5.1.2

Erweiterung der Analyse

Problem Negativselektion Zur Erweiterung der Fallstrukturhypothese wird hier zunächst – bevor weitere Interviewpassagen hinzugezogen werden – die Fortsetzung der Antwort von Peter Schwarzenbach auf die Eingangsfrage näher betrachtet. Auf die doppelte Bestätigung seitens des Interviewers, Schwarzenbach möge seine Ausführungen – „Gern, ja“ (I 07, 1) – so machen, wie er es selber vorschlägt, meint dieser: Peter Schwarzenbach: Also ich muss vielleicht vorausschicken, dass ich an einer Realschule bin, und dass dort natürlich diese eh Leistungsunterschiede unter diesen Schülerinnen und Schülern, die sind riesig. Also die kommen mit verschiedensten Rucksäcken in verschiedenster Hinsicht in die Schule, also die einen haben sehr bildungsarme Milieus, andere haben daheim eigentlich einen ganz einen guten Rückhalt, dann gibt es wieder solche, die vom Sozialen her ganz klar benachteiligt sind, dann ist ein weiterer Punkt, der ganz sicher in den letzten Jahren nach dieser Umstrukturierung auf sechs-drei stattgefunden hat, dass wir zunehmend Schüler haben, die in die siebente Klasse eintreten und einfach wissen: Ich kann nichts. Die haben in diesen zwei Jahren Selektion, ich sage das bewusst zwei Jahre, weil sie zum Teil wirklich zwei Jahre dauert, einfach erlebt noch und noch: Ich kann nichts, ich bin nichts wert. (I 07, 1f.)

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Indem Herr Schwarzenbach vorausschickt, dass er an einer Realschule – und nicht etwa an einer Sekundarschule – sei, leitet er eine Charakterisierung seines beruflichen Handlungsfelds ein. Mit dieser Bemerkung hält er an einer Unterscheidung der beiden Schultypen fest, wie sie – zumindest institutionell – in der Stadt Bern seit Mitte der 1990er Jahre nicht mehr existiert189, misst ihr also im Zusammenhang mit unserer Frage nach seinem Umgang mit der Spannung von Fördern und Auslesen eine entscheidende Bedeutung bei. Ohne diesen Hinweis – so unterstellt Peter Schwarzenbach – wäre seine ganze Argumentation womöglich nicht verständlich. Im Anschluss an diese berufliche Selbstverortung macht sich Herr Schwarzenbach an eine objektivierende Beschreibung der ‚dortigen’ – also seiner eigenen – Schülerinnen und Schüler: Realschüler und -schülerinnen weisen untereinander riesige Leistungsunterschiede auf. Diese Feststellung plausibilisiert Peter Schwarzenbach unter Rückriff auf quasi-sozialwissenschaftliche Erklärungskategorien: die Leistungsfähigkeit eines Schülers, einer Schülerin hängt zusammen mit der – wie er sagt – Bildungsarmut im jeweiligen Herkunftsmilieu, mit dem Rückhalt, den die Schülerin, der Schüler daheim erfährt, sowie dem Grad der allgemeinen sozialen Benachteiligung. Peter Schwarzenbach führt also ausschliesslich ausserschulische Faktoren an, dabei ergibt sich ein insgesamt sehr düsteres Bild: einzig der gute Rückhalt in der Familie, über den zumindest ein Teil der Realschüler „eigentlich“ verfüge, kann als leistungsförderlich betrachtet werden. Die beiden anderen Faktoren – bildungsarme Milieus sowie soziale Benachteiligung müssen als Gründe für Defizite in der schulischen Leistungsfähigkeit verstanden werden. Herr Schwarzenbach betont also vor allem die Vielfalt von – grösseren und kleineren – sozialen Benachteiligungen und, damit einhergehend, die Varietät der – mehr oder minder – defizitären Ausgangslagen seiner Schülerinnen und Schüler. Im Anschluss spricht er die Umstrukturierung im Berner Schulwesen von Mitte der 1990er Jahre an, nach welcher der Zeitpunkt der ‚grossen’ Selektion, das heisst der Aufteilung der Schülerinnen und Schüler auf das Real- oder Sekundarschulniveau, um zwei Jahre – von Ende des 4. auf Ende des 6. Schuljahres – hinausgeschoben wurde. Diese Umstrukturierung hatte laut Peter Schwarzenbach zur Folge, dass es zunehmend Realschülerinnen und -schüler gibt, die bei Eintritt in die 7. Klasse wüssten, dass sie nichts können. In seiner Sicht ‚erleben’ diese Schülerinnen und Schüler in dieser Zeit an Leib und Seele, dass sie unfähig und – damit einhergehend – nichts wert sind. Dieses Wissen um die eigene Unfähigkeit – „Ich kann nichts, ich bin nichts wert“ – ergibt sich aus dem immer 189

Vgl. Kapitel 4.2.2 zum Schulsystem im Kanton Bern.

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wiederkehrenden Erleben der eigenen Schwächen während der beiden Schuljahre, die der Einteilung ins Real- bzw. Sekundarniveau vorausgehen. Immer mehr Schülerinnen und Schüler erleiden also – bevor sie in der 7. Klasse zu ihm kommen – eine (um das etwas pointiert zu sagen) zwei Jahre andauernde Selektionstortur, bei der jedes positive Selbstwertgefühl zerstört wird. In seinen Schülerinnen und Schülern sieht Peter Schwarzenbach eine defizitäre, gekränkte Klientel. Zugespitzt gesagt ist Selektion aus seiner Sicht ein Übel des Schulsystems, das den Realschülern und Realschülerinnen Schaden zufügt – oder vielmehr: die Selektion hat ihnen längst Schaden zugefügt, noch bevor sie zu ihm in die 7. Klasse kommen. Im 5. und 6. Schuljahr erleben sie eine Selektionstortur, aus der sie mit zerstörtem Selbstwertgefühl hervorgehen. Peter Schwarzenbach: Es ist nach wie vor so, dass eh Realschüler sich zum Teil ganz klar einfach vernachlässigt vorkommen, benachteiligt vorkommen, und dass die Wertigkeit halt schon ganz, ganz stark davon abhängt: Schaffe ich diesen SekÜbertritt – oder schaffe ich ihn nicht. (I 07, 14)

Die Frage, ob ein Schüler, eine Schülerin die Hürde ins Sekundarniveau schafft, ist in den Augen von Peter Schwarzenbach von eminenter Bedeutung für deren subjektives Befinden. Wie sich an anderer Stelle im Interview zeigt, versteht Herr Schwarzenbach unter der ‚Wertigkeit’ der Realschülerinnen und Realschüler einerseits deren Selbstwertgefühl, gleichzeitig aber auch ihre ‚objektiv’ nachteilige Lage. Dass die Negativselektion sie, die den „Sekübertritt“ eben nicht geschafft haben, schädigt, hat in seinen Augen „mit [...] der Gesellschaft zu tun, das hat ganz klar mit Stellenbewerbungen zu tun, das hat dann mit den Eltern zu tun“ (I 07, 14) und, so hält er fest: „die Schule tut das ihre dazu beisteuern“. An der Produktion und Reproduktion der – subjektiven wie objektiven – Minderwertigkeit seiner Klientel sieht Herr Schwarzenbach die Eltern ebenso beteiligt wie die Arbeitswelt und ‚die Schule’ – als Institution verstanden – selbst. Er schlägt damit, einem Sozialwissenschaftler nicht unähnlich, sinnlogisch einen Bogen zwischen der subjektiven Wahrnehmung bestimmter Akteure – nämlich der Realschülerinnen und -schüler – und den objektiven Strukturbedingungen, mit denen sich diese konfrontiert sehen, hier geht es um die Gesellschaft insgesamt mit ihren Bereichen Arbeitswelt, Familie und Bildungssystem. Peter Schwarzenbach diagnostiziert also einen Konflikt zwischen dem Wohl des einzelnen Schülers, der einzelnen Schülerin auf der einen Seite und den Anforderungen der Gesellschaft, der Arbeitswelt und der Schule auf der anderen Sei-

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te. Zusammenfassend bemerkt er andernorts: „Dieses System, das verhett190 nicht, das verhett wirklich nicht.“ (I 07, 13) Mit der Deutung, wonach seine Realschülerinnen und Realschüler aus der Selektionsphase im 5. und 6. Schuljahr als gekränkte Subjekte hervorgehen, ist eine gewisse Selbstheroisierung von Peter Schwarzenbach verbunden. Dies wird in der Fortsetzung seiner Antwort auf die Eingangsfrage deutlich, in der er sozusagen den seiner pädagogischen Praxis zugrunde liegenden Gedanken ausführt: Peter Schwarzenbach: Das ist für mich schon ein Anliegen, immer wieder vom Menschenbild auszugehen, dass jeder Mensch irgendeinmal ein sehr hoffnungsvolles, als hoffnungsvolles Wesen auf die Welt gekommen ist, von den Eltern gern gehabt worden ist, ‚gehegt und gepflegt’ (hochdeutsch) und sehr viele Hoffnungen drin hineinversetzt worden sind, und dass das nachher im Verlauf, bis sie eben dann zum Beispiel jetzt bei mir sind, ganz einen Haufen Veränderungen gibt, sowohl im Positiven, aber eben relativ häufig auch im Negativen, vor allem dieser Bereich von der Selektion ist sicher ein Thema, das für die Eltern einerseits, aber für die Schüler natürlich ganz stark im Vordergrund stehen und dann halt entsprechend einfach auch wirklich auch Frustrationen auslösen. (I 07, 2)

Es ist eine im Interview immer wieder durchscheinende Hintergrundüberzeugung Peter Schwarzenbachs, den genannten Frustrationen, welche die Schülerinnen und Schüler erleiden, bis sie dann eben – wie er sagt – „zum Beispiel jetzt bei mir sind“ (I 07, 2), etwas entgegenhalten zu können, ja seine Klientinnen und Klienten davon zu ‚erlösen’ bzw. von nun an zu bewahren. Gleichzeitig nennt er sich selbst nur als ein „Beispiel“ und nimmt damit eine Generalisierung vor: implizit setzt sich Schwarzenbach hier mit allen anderen Reallehrpersonen der Sekundarstufe I gleich und schreibt diesen eine Funktion zu wie sich selbst. Handeln wider formelle Vorgaben In Anbetracht des bisher Gesagten erstaunt es nicht, dass Peter Schwarzenbach im Interview ein Schulmodell bzw. -system befürwortet, bei dem Selektion – in einem hierarchiestiftenden Sinne – gar nicht erst vorkommt: „Mein Rezept ist Neun-Null“ (I 07, 13), hält er kurz und bündig fest. In der anschliessenden Explikation seiner Überzeugung, nämlich dass in einem selektionsfreien System „jedes Kind irgend an einem Ort zu seinem Wert käme und seiner Anerkennung käme“ (I 07, 15), wird deutlich, worin er das Hauptproblem der Selektion sieht: manche Schülerinnen und Schüler bleiben im selektiven Schulsystem – als Wert- und Anerkennungslose – auf der Strecke. Im System 9/0 hingegen sieht er 190

Das berndeutsche Verb ‚verhaa’ steht für ‚wasserdicht sein’ oder ‚logisch aufgehen’. Wenn etwas nicht „verhett“, dann geht es nicht auf, birgt Fehler und ‚funktioniert’ entprechend nicht richtig.

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den Vorteil, dass „diese Selektion“ dann „nicht in einer Entwicklungsphase drin“ ist und also „keinen Bruch“ mit sich bringt. Nicht nur gilt Peter Schwarzenbachs Kritik an der Selektion also ihrem das Anerkennungs- und Selbstverwertgefühl der Schülerinnen und Schüler zerstörenden Charakter allgemein, sondern insbesondere dem Umstand, dass sie diese im Zuge ihrer ‚Entwicklung’ jäh trifft und gleichsam einen ‚ontogenetischen Bruch’ verursacht. Als Lösung postuliert Peter Schwarzenbach entsprechend ein Schulmodell, bei dem die Heranwachsenden die obligatorische Schulzeit ‚bruchlos’ durchlaufen, sich also in einem ausgedehnten Schonraum bewegen und keine ‚Entwertung’ qua Selektion zu erleiden haben. Die Analyse des Interviews hat gezeigt, dass Peter Schwarzenbach auch im herrschenden selektiven System bemüht ist, seinen Schülerinnen und Schülern einen solchen Raum zu bieten, indem er sich bewusst der institutionellen Erwartung entzieht, als Lehrer offizielle Selektionsentscheide in die Wege zu leiten. Exemplarisch zeigt sich dies in seiner Antwort auf die Frage, ob er für gewisse Schüler oder Schülerinnen auch die Arbeit mit reduzierten individuellen Lernzielen vorsehe:191 Peter Schwarzenbach: Jetzt das mit den reduzierten individuellen Lernzielen, das werde ich nicht machen. Das heisst, ich mache das für mich. (I 07, 7)

Er legt explizit eine Verweigerungshaltung an den Tag, die darauf abzielt, die Formalität des Schullaufbahnentscheids zu umgehen. Informell – nämlich für sich – mache er das mit den reduzierten individuellen Lernzielen sehr wohl, womit er verhindert, dass sein Klient, seine Klientin von Amtes wegen etikettiert wird. „Im Prinzip“, so fährt er fort, müsste er das nämlich „von der Kommission genehmigen lassen“ (I 07, 7). Er tue das aber für sich „lösen“ und im Übrigen sei das etwas, was „wir“ – womit er sich erneut mit dem Kollektiv der arrivierten Reallehrpersonen identifiziert – „seit Jahr und Tag machen“. Die nur informelle Festlegung und Handhabung von reduzierten individuellen Lernzielen – über die er die Schülerinnen und Schüler vor pädagogisch sinnlosem Schmerz bewahrt – legitimiert Schwarzenbach also letztlich unter Verweis auf eine kollektiv verbürgte Tradition des Reallehrerhandelns. Die Verweigerungshaltung Peter Schwarzenbachs geht mit einem gesteigerten Anspruch auf Autonomie bei der Ausübung der Berufspraxis einher – insbeson191

In professionalisierungstheoretischer Perspektive handelt es sich dabei um einen ‚kleinen’ formellen negativen Schullaufbahnentscheid, der dem Schüler, der Schülerin pädagogisch sinnlosen Schmerz zufügt, weil er – im Rahmen des an schulisch-offiziösen Bewertungen orientierten Berechtigungswesens – eine nachteilige Etikette verleiht (objektive Komponente) und eine narzisstische Kränkung verursacht (subjektive Komponente).

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dere wenn Selektionsfragen anstehen. In einer Interviewpassage, in der es um die Frage geht, wie Peter Schwarzenbach allfällige Aufstufungen handhabe – und ob er auch schon ‚geschummelt’ habe in der Absicht, einen Schüler, eine Schülerin aufzustufen –, meint er etwa, diesbezüglich sei er „niemandem Rechenschaft schuldig“ (I 07, 10), und betont seine individuelle Entscheidungsmacht, die er jenseits formeller Kontrollmechanismen sieht: „den Seklehrern, der Schulleitung, der Schulkommission gegenüber“ müsse er nämlich „nicht irgendwelche Notenskalen abliefern“ um zu „beweisen“, dass ein aufzustufender Schüler tatsächlich „diese Leistungen erbringen könnte“ (ebd.). Förderkonzept: Verbesserung der Befindlichkeit, Stärken von Sekundärtugenden An sein Bild der insbesondere die sozial benachteiligten Schülerinnen und Schüler schädigenden Selektion dockt unmittelbar Peter Schwarzenbachs Förderkonzept an. Wie sich bei der Analyse des Interview gezeigt hat, versteht er sich nicht nur als Förderer ‚jenseits der Selektion’, sondern gewissermassen auch ‚jenseits des Schulstoffs’. Wie oben gezeigt, hebt sein Handeln primär darauf ab, den Realschülerinnen und Realschülern einen Schonraum bereitzustellen. Primäres pädagogisches Ziel von Peter Schwarzenbach ist es, dem Schüler „eine Wertigkeit zu vermitteln“ (I 07, 22). Im Interview sagt er, seine Aufgabe sehe er vorrangig darin, die Schülerinnen und Schüler „im Glauben an sich“ sowie „im Glauben daran, dass ich irgendeinmal etwas werden kann“ (I 07, 23), zu fördern. Herr Schwarzenbach trennt seine Vorstellung von Schule, in der im Hier und Jetzt das Selbstvertrauen und der Selbstwert seiner Klientel gestärkt werden sollen, klar von der Frage einer schulisch-stofflichen bzw. wissensbezogenen Qualifikation im Hinblick auf das spätere Erwerbsleben seiner Schülerinnen und Schüler ab. Die fachliche Qualifikation ist – aus seiner Sicht gleichsam notwendigerweise – marginalen Charakters: „Klar, also wir probieren zu schaffen192, wir probieren die zu fordern, oder, das kommt alles dazu, aber eben mit all diesen Unzulänglichkeiten mit all diesen u- Unvermögen.“ (I 07, 22) Ein Fördern auf der Wissensebene erachtet Herr Schwarzenbach, was seine Schülerinnen und Schüler angeht, als quasi nicht machbar: Das sei, wie er im Interview festhält, nur „bei Einzelnen“ (I 07, 6) möglich. Der als hochgradig defizitär verstandenen Situation seiner Schülerinnen und Schüler versucht Peter Schwarzenbach zu begegnen, indem er sie in Bereichen „probiert abzuholen, dort probiert zu stärken [...], die nichts eigentlich mit dem Schulstoff zu tun haben oder nur indirekt mit dem Schulstoff zu tun haben“ (I 07, 3). Konkret nennt er: „Sorgfalt, Zuverlässigkeit, bis zu einem gewissen Grad 192

Berndeutsch für ‚arbeiten’.

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Sauberkeit wo das möglich ist, Pünktlichkeit“ (I 07, 3). Das Schwergewicht legt Peter Schwarzenbach also auf die Kompetenzerweiterung im Bereich der Sekundärtugenden. Auch die weiter oben thematisierte Arbeit mit weniger anspruchsvollen Lernzielen, die er für gewisse Schülerinnen und Schüler vorsieht, ist aus Schwarzenbachs Sicht pädagogisch nur insofern sinnvoll, als „dass sie trotzdem hie und da ein Erfolgserlebnis haben können“ (I 07, 7). Dass er für gewisse Klientinnen oder Klienten auf informelle Art reduzierte Lernziele bestimmt, wird also – so die Hintergrundüberzeugung – an ihrer schulischleistungsmässig defizitären Situation nichts Grundsätzliches ändern. In seiner Selbstsicht ermöglicht Peter Schwarzenbach damit einfach jenen Schülerinnen und Schülern ein sporadisches Erleben von Erfolg, welchen ein solches sonst gänzlich versagt wäre: Dem Anspruch nach will er diesen „individuell eine Chance“ geben, „überhaupt etwas zu erreichen“ (I 07, 4) – es geht ihm darum, ihnen „Mut zu machen“. Diese Äusserungen verdeutlichen, dass Peter Schwarzenbach über ein Bild von prinzipiell chancen-, mut-, hoffnungs- und erfolglosen Realschülerinnen und Realschülern verfügt, deren subjektive Befindlichkeit es zu verbessern gilt. Ein Eingeständnis – und eine ‚Glaubensfrage’ Bezüglich der objektiven Berufschancen seiner Schülerinnen und Schüler zeigt sich Peter Schwarzenbach im Interview ‚nüchtern-realistisch’, indem er feststellt, es gebe „einen ganzen Haufen Berufe, die für diese Kinder von vornherein nicht in Frage kommen“ (I 07, 21). Im Folgenden wird deutlich, wie Peter Schwarzenbach angesichts dieser ‚harten’ Realität seine Rolle als Lehrer sieht: Peter Schwarzenbach: Also, ich denke ihnen die Klarheit zu geben, oder, dass sie (.) nicht auslesen können, was sie lernen193 können. Das ist das Eine und das ist ganz wichtig und dort bin ich wirklich (.) knallhart, das heisst, ich schicke sie, wenn sie mit dem Informatiker kommen, wenn sie mit der KV-Lehre kommen, wenn sie mit irgendwelchen Berufen kommen, schicke ich sie sofort auf die Berufsberatung. Und sage den Berufs-: „Tut ihnen bitte mit aller Deutlichkeit sagen: Das nicht.“ Ich will nicht immer derjenige sein, oder, der aufbaut, oder, [I.: Mhm] und im nächsten Augenblick sagt: „Das geht nicht.“ (I 07, 22)

Peter Schwarzenbach diagnostiziert eine tatsächliche, gleichsam ‚objektive’ Unzulänglichkeit seiner Schülerinnen und Schüler in Bezug auf viele Berufsziele oder -wünsche. Nimmt man ihn in der oben stehenden Passage beim Wort, so ist festzustellen, dass er letztlich davon ausgeht, dass seine Schülerinnen und Schüler überhaupt keinen Beruf erlernen werden: Tendenziell wird jeglicher Anspruch eines Schülers, einer Schülerin auf eine Berufslehre als zu ‚hoch’ 193

Berndeutsch steht „etwas lernen“ für ‚eine bestimmte Berufslehre absolvieren’.

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gedeutet. Welchen Berufswunsch auch immer die Schülerinnen und Schüler Peter Schwarzenbach gegenüber äussern: umgehend schicke er diese „auf die Berufsberatung“, auf dass man ihnen dort eben diesen Wunsch – auf sein Geheiss hin – aus dem Kopf schlage. Gleichzeitig tritt im Fall Peter Schwarzenbach ein gesteigertes Bewusstsein der eigenen dilemmatischen Situation in Erscheinung: Er „will“ nicht gleichzeitig seine Schülerinnen und Schüler anwaltschaftlich, ja therapeutisch ‚aufbauen’, um ihnen im nächsten Moment als ungnädiger Richter zu erscheinen. Dass für seine Klientel am Ende der obligatorischen Schulzeit der „Hammer“ (I 07, 22) kommt, nämlich, dass es vielen nicht gelingt, eine Lehrstelle zu finden, kann Peter Schwarzenbach aus eigener Sicht nicht verhindern. Auf die suggestive Bemerkung des Interviewers, es müsse für die Schülerinnen und Schüler doch „schrecklich sein“, wenn man „eben diesen Hammer irgendwie dann gleichwohl quasi zu erwarten hat“ (I 07, 30), meint er: Peter Schwarzenbach: Ja. Eben und dann also die Frage ist einfach (...), wie lande ich, oder? Wenn ich einigermassen, einigermassen ein Selbstbewusstsein habe, lande ich sehr wahrscheinlich gleichwohl ein bisschen weicher. Also wenn ich einfach nichts anderes erfahre (.) als: „Du bist nichts, du kannst nichts“. [I.: Mhm, mhm] Das wäre dann wiederum auch ein Glauben, den ich habe, und das ist ein Glauben, das ist immer ein bisschen heikel, wenn es um Glaubenssachen geht. (I 07, 30)

Die Frage, welches „Selbstbewusstsein“ seine Schülerinnen und Schüler nach Ende der obligatorischen Schulzeit haben, ist Peter Schwarzenbach zufolge letztlich zentraler als jene nach der schulisch-fachlichen Qualifikation. Wie schon gezeigt werden konnte, steht die Stärkung des individuellen Selbstvertrauens und Selbstwertgefühls seiner Klientinnen und Klienten im Vordergrund seiner pädagogischen Bemühungen. Dass er in obiger Erläuterung aus der Schüler-Perspektive spricht, macht darüber hinaus deutlich, dass diese Überzeugung Peter Schwarzenbachs mit einer weitgehenden Identifikation mit seinen Schülerinnen und Schülern einhergeht. Dass er in der Argumentation schliesslich zum Punkt gelangt, wonach alles eine ‚Glaubensfrage’ sei, zeigt, dass ihn die Frage nach der Richtigkeit seines pädagogischen Ansatzes letztlich nicht zu beantworten ist, sondern von der eigenen Überzeugung abhängt. Peter Schwarzenbach legt dabei – im Sinne eines Eingeständnisses – offen, dass die Fundierung seiner pädagogischen Überzeugung in einem Glauben „heikel“ sei. Verschiedene Passagen im Interview zeigen, dass Peter Schwarzenbach letztlich an die ‚Gültigkeit’ seines pädagogischen Konzepts glaubt, ja dieses immer wieder gegen mögliche (Selbst-)Zweifel verteidigt. Dies soll im Folgenden exemplarisch nachgezeichnet werden: Aus der Sicht von Peter Schwarzenbach wird ein Teil seiner Schülerinnen und Schüler im Laufe der letzten drei Jahre der obligatorischen Schulzeit die eigene 254

defizitäre Lage nicht überwinden. Er unterscheidet grob zwei Gruppen: Die einen – „sagen wir mal die Hälfte“ (I 07, 6) –, so Schwarzenbach, werden „sicher einfach ihren Weg machen als Realschüler“ (I 07, 6). Die anderen hingegen – implizit bezeichnet er damit die andere Hälfte der Schülerinnen und Schüler – werden nach Ende der obligatorischen Schulzeit „praktisch einfach nichts können“, sie werden also „neun Schuljahre hinter sich haben und einfach sehr, sehr, sehr wenig können“ (I 07, 6). Für einen nicht unwesentlichen Teil der Realschülerinnen und -schüler sieht Herr Schwarzenbach in Bezug auf deren schulischfachliche Qualifikationen also durchwegs schwarz, und bemerkt im Anschluss: „Das ist ein Eingeständnis, das ich machen muss. Es ist nicht gerade ein schönes, aber es ist so“ (I 07, 7). Bedenkt man die seinem Förderkonzept zugrunde liegende Idee, nämlich seinen Schülerinnen und Schülern ‚Erfolgserlebnisse’ zu ermöglichen, die eben nicht primär in der gelingenden Aneignung von Sachkompetenzen fussen, sondern vor allen Dingen auf die (eher verhaltensbezogene) Beherrschung von Sekundärtugenden zurückgehen, so wird dieses ‚Eingeständnis’ Peter Schwarzenbachs verständlich: er gesteht ein, dass er damit zur fachlichen Qualifikation seiner Klientel kaum etwas beiträgt – ein vor dem Hintergrund der aus seiner Sicht durchwegs defizitären Situation der entsprechenden Schülerinnen und Schüler für ihn aber gleichsam unumgehbares Eingeständnis. Mit welcher Überzeugtheit er sein Förderkonzept verteidigt, zeigt sich an folgender Passage, in der er nochmals das Bild seiner selbst als eines Lehrers zeichnet, der seine Schülerinnen und Schüler „von der Menschlichkeit her“ (I 07, 13) – und nicht in fachlicher Hinsicht – zu motivieren trachtet, um schliesslich klipp und klar festzuhalten, dass eben diese Form der ‚Motivation’ für seine Klientinnen und Klienten die einzig richtige sei: Peter Schwarzenbach: Ich bin nicht derjenige, der vor der Klasse ist und irgendetwas eine Show abzieht und mit mit Stoff probiere zu motivieren, sondern ich probiere sie mehr eigentlich von ihrer Wertigkeit her zu motivieren. Also von von der Menschlichkeit her. (..) Das wäre so ein bisschen zur zum Thema [I.: Mhm] Motivation und dass diese Schüler das nötig haben, das ist so. (I 07, 13)

Peter Schwarzenbach zeigt sich ausgesprochen überzeugt, zu wissen, was seine Schülerinnen und Schüler nötig haben – und was nicht. Der Nachdruck, mit dem er die Notwendigkeit einer so verstandenen Motivation feststellt, lässt sich dahingehend deuten, dass Peter Schwarzenbach damit implizit auf einen antizipierten ‚Generalvorwurf’ antwortet, wonach Pädagogen wie er zur Dramatisierung tendieren und ihre Schülerinnen und Schüler allzu sehr ‚verzärteln’. Die Verve, die er beim Argumentieren an den Tag legt, mag Ausdruck sein dafür, dass er sich tatsächlich wiederholt mit solcherart Vorwürfen konfrontiert sieht.

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‚Unmöglichkeit’ der Leistungsbeurteilung Aus dem Interviewmaterial geht hervor, dass Peter Schwarzenbach (eben gerade angesichts aller „Unzulänglichkeiten“ und „all diesem Unvermögen“ seitens der Realschülerinnen und Realschüler) es vermeidet, mit seinen Schülerinnen und Schülern auf der – im professionalisierungstheoretischen Sinn so verstandenen – spezifischen Ebene zu interagieren, was nicht zuletzt auch fordernde Elemente – und damit das Zufügen pädagogisch sinnvollen Schmerzes – implizieren würde. Er tendiert vielmehr zu einer diffusen, an der Nähe zum einzelnen Schüler, zur einzelnen Schülerin orientierten Beziehungsform, die von Geduld geprägt ist: Dann beispielsweise, wenn er einem Schüler klarmachen muss, dass diesem etwas nicht gelungen sei, steht Schwarzenbach ihm abermals bei: „Okay, das ist jetzt nicht gut gekommen. Nochmals, wir fangen nochmals von vorne an, wir probieren nochmals“ (I 07, 12). Mit dieser nachsichtigen, an der je individuellen Bewährung seiner Schülerinnen und Schüler orientierten Haltung Peter Schwarzenbachs geht einher, dass er diesen eine leistungsbezogene Beurteilung nach universalistischen Kriterien gleichsam ‚ersparen’ will. Er, der seine Schülerinnen und Schüler in „ihrem ganzen Menschsein“ (I 07, 6) zu stärken versucht – und diese selbst dann nicht verletzen will, wenn es sich um pädagogisch sinnvollen Schmerz handelte –, sieht in seiner Berufspraxis mitunter von vornherein davon ab, das Geleistete zu ‚messen’: „Im Deutsch tue ich sehr viele Texte schreiben, die ich schlicht und einfach nicht bewerten kann“ (I 07, 11), stellt er fest. Sein ‚Unvermögen’, als Lehrer die Aufsätze seiner SchülerInnen zu bewerten, begründet er mit dem Argument, dass diese Texte eben „immer sehr stark auf [...] persönliche Sachen bezogen“ seien und er sich daher „weigere, das zu bewerten“ (I 07, 11). Für Peter Schwarzenbach ist es sozusagen unmöglich, die Schülerinnen und Schüler qua universalistischer Massstäbe zu beurteilen: In dem, was diese leisten, steckt aus seiner Sicht gleichsam die ‚ganze Person’ in ihrer unvergleichbaren Individualität. Seine Verweigerung universalistischer Beurteilung zieht sich durchs ganze Interview: Wie eingangs dargestellt, verortet Herr Schwarzenbach die Antinomie von Fördern und Auslesen nicht bei sich (im Sinne eines widersprüchlichen Handlungsauftrags), sondern zwischen sich als einem therapeutischen Förderer – ja quasi Erlöser – von defizitären Klientinnen und Klienten einerseits und der Gesellschaft bzw. dem selektiven Schulsystem andererseits. Sein Blick auf das Dilemma ist, wie schon eingangs festgestellt, vergleichsweise distanziert und objektivierend. Damit geht ein tendenziell heroisches Selbstbild als vaterähnlicher Beschützer einher, der seine Schülerinnen und Schüler vor universalistischen Leistungsanforderungen und bewertungen zu schonen – und stattdessen in ihrem ‚ganzen Menschsein’ zu för-

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dern hat.194 Bezeichnend ist etwa folgende Passage, in der Peter Schwarzenbach von einem Mädchen spricht, das – wie viele andere seiner Schülerinnen und Schüler – einen „denkbar schlechten Lebensstart“ (I 07, 27) gehabt habe: Peter Schwarzenbach: Wenn die einen Text schreibt, der irgendetwas mit (?)ihr(?) als Mensch zu tun hat, dann ist das eigentlich jedes Mal so, dass dort unwahrscheinlich viel an (.) Menschlichkeit hervorkommt, unwahrscheinlich viel an (.) Verlassenheit, an Trauer und Alleinsein, und wenn ich eben dann jetzt mir diesen jungen Menschen, wenn ich den vor mir habe und einerseits diese Geschichte kenne, andererseits ihr ganzes Wesen sehe, dann ist das für mich eigentlich etwas, das mich auffordert, das eigentlich schreit danach, dass ich dort für die hinstehe, dass ich für die da bin, dass ich die stütze, dass ich das Gute, das in diesem Modi195 innen ist, was nun eigentlich augenfällig ist, aber immer wieder zugedeckt wird und immer wieder vergraben wird und immer wieder zungerobsi gekehrt196 wird, dass ich das probiere hervorzuholen, dass ich an das glaube (.) und mit ih- und ihr diesen Glauben vermittle. (I 07, 27)

Die Stelle lässt erneut Herrn Schwarzenbachs Förderkonzept erkennen, das an der Schülerin als ‚ganzer Mensch’ orientiert ist. Peter Schwarzenbach ist nicht an den schulischen Einzelleistungen seiner Klientin interessiert – vielmehr will er (im Sinne einer Anamnese) ihre „Geschichte“ und ihr „ganzes Wesen“ sehen. Dass er seine pädagogische Praxis als eine therapeutische versteht, zeigt sich in Peter Schwarzenbachs Anspruch, das immer wieder unterdrückte „Gute“ im Mädchen „hervorzuholen“. Im wahrsten Sinne des Wortes fühlt er sich dazu berufen: Es „schreit danach“, so Peter Schwarzenbach, dass er hinsteht und stützt. Zum Schluss der Argumentation nimmt Peter Schwarzenbach schliesslich quasi-pastorale Allüren an, geht es doch letztlich darum, an das „Gute“ zu glauben und der Schülerin diesen Glauben zu vermitteln. Vor diesem Hintergrund wird Peter Schwarzenbachs weitgehende Zurückhaltung in Sachen fachlicher Leistungsbeurteilung, ja im Zusammenhang mit dem Abverlangen schulischer Leistung überhaupt verständlich: jede ‚Forderung’ seinerseits birgt aus seiner Sicht die Gefahr, dass die betreffende Schülerin, der betreffende Schüler scheitern und somit – noch zusätzlich zu allem Leid – Schaden nehmen könnte. 194

Sein Selbstverständnis als vaterähnlicher Pädagoge kommt im Interview ganz explizit zum Ausdruck. Peter Schwarzenbach gibt zu verstehen, er „möchte eigentlich versuchen“ im Fall jener Schülerinnen und Schüler, bei denen er „das Gefühl habe“, dass „dieser Mensch nicht mehr irgend in einer Form von von seinen Nächsten gestützt wird“, als Lehrer – zumindest „in einem gewissen Bereich“, wie er sagt – eben „diese Funktion“ behelfsmässig zu „übernehmen“ (I 07, 28). Auf diese Ausführungen hin fragt der Interviewer an besagter Stelle, woran Peter Schwarzenbach denn merke, ob die Übernahme der vaterähnlichen Funktion tatsächlich gelinge. Hierauf stellt Schwarzenbach fest: „Also ich merke das ganz eindeutig dadurch, dass ich dann anerkannt werde als einfach auch als Autorität.“ (I 07, 28) 195 Berndeutsch für ‚Mädchen’. 196 Berndeutsch für ‚auf den Kopf gestellt’.

257

5.5.1.3

Zusammenfassung

Auf der manifesten Ebene sieht Peter Schwarzenbach durchaus eine Spannung, die sich aus dem Widerspruch von Fördern und Auslesen ergibt. Anders als wir lokalisiert er diese indes nicht bei sich als Akteur, sondern gleichsam zwischen sich als Pädagoge und dem herrschenden, selektiven Schulsystem: Er selbst versteht sich gar nicht erst als Selegierer. Selektion findet in seinen Augen vielmehr qua Schulsystem – primär auf der Mittelstufe – statt, und zwar so, dass gerade seine Klientinnen und Klienten, die sozial benachteiligten Realschülerinnen und Realschüler, daran Schaden nehmen. Seine Aufgabe wiederum besteht aus seiner Sicht darin, den angerichteten Schaden zu beheben, indem er den Schülerinnen und Schülern einen universalismus- und selektionsfreien Schonraum bereithält, in welchem ihr subjektives Befinden verbessert, ihr zerstörtes Selbstwertgefühl wieder aufgebaut werden kann. Im Sinne eines ‚Lösungsvorschlags’ spricht sich der Reallehrer für ein gänzlich selektionsfreies Schulsystem aus: sein „Rezept“ sei „Neun-Null“. Das pädagogische Handeln Schwarzenbachs ist an der Einzigartigkeit seiner Klientinnen und Klienten orientiert, wobei er mit diesen kaum je im Sinne einer spezifischen, sondern überwiegend in einer diffus-partikularistischen Beziehung zu interagieren scheint. Damit einher geht seine prinzipielle Ablehnung selektionsbezogener Lehreraufgaben, welche ‚die Schule’ – als ein System, das er an der Reproduktion des ganzen Dilemmas mitverantwortlich wähnt – eigentlich von ihm verlangen würde. Diese Ablehnung manifestiert sich u.a. in seiner expliziten Verweigerungshaltung in Bezug auf die bestehende Möglichkeit, auf formell-bürokratischem Wege einen negativen Schullaufbahnentscheid einzuleiten. Gleichsam um das Individuum vor der Stigmatisierung zu schützen, behält er sich etwa vor, reduzierte individuelle Lernziele jenseits des amtlich vorgesehenen Verfahrens auf informelle und damit ‚unschädliche’ Weise zu handhaben – wie es die Reallehrerinnen und Reallehrer in seinen Augen immer schon getan haben. Dieses auf einer selektionskritischen Grundhaltung beruhende Deutungsmuster zum Dilemma von Fördern und Auslesen geht bei Peter Schwarzenbach einher mit einer gewissen Selbstheroisierung als vaterähnlicher ‚Fels in der Brandung’. Die pädagogischen Anstrengungen Schwarzenbachs zielen fast durchwegs auf den ‚ganzen Menschen’ und dessen psychische Integrität. Demgegenüber ist die fachlich-schulische Kompetenzerweiterung bei ihm von nachrangiger Bedeutung. Als ‚Achillesverse’ im Deutungsmuster von Peter Schwarzenbach konnte sein Bewusstsein der Grenzen des eigenen Lehrerhandelns rekonstruiert werden. Mit seinem Förderkonzept trägt er, wie ihm auch ‚bewusst’ ist, wenig zur Verbesserung objektiver Chancen bei – und dennoch hält er an diesem fest: Es geht 258

ihm primär darum, die Schülerinnen und Schüler in ihrem gesunden Glauben an sich selbst (und im Glauben an eine dereinst bessere Zukunft) zu stärken. Und obgleich „Glaubenssachen“ in seinen Augen „immer ein bisschen heikel“ seien, kann Herr Schwarzenbach letztlich nicht umhin, wohl oder übel auf die Richtigkeit seines Handelns zu vertrauen – ohne sich dieser hundertprozentig sicher sein zu können. Die ‚Selbstheroisierung’ Schwarzenbachs geht also einher mit einem (kritischen) Bewusstsein der Grenzen seiner pädagogischen Möglichkeiten – wobei Erstere wohl gerade angesichts des letzteren unabdingbar ist, will er als Lehrkraft sich nicht selbst aufgeben. 5.5.2 Kontrastierung mit weiteren Fällen Die Lehrpersonen dieses Typs sehen – wie Peter Schwarzenbach – allesamt einen Konflikt zwischen ihrem pädagogischen Auftrag des Förderns und der Selektion im Sinne einer systembedingten Intervenierenden, einem Zwang, von dem sie sich innerlich distanzieren. Im Folgenden werden einzelne, sich bei verschiedenen Fällen zeigende Aspekte dieses Deutungsmustertyps in ihren Gemeinsamkeiten und Differenzen herausgearbeitet. Zunächst werden die Kontraste zum Deutungsmuster von Peter Schwarzenbach anhand der Förderkonzepte weiterer Fälle veranschaulicht. Zweitens wird aufgezeigt, wie andere Fälle dieses Typs – obwohl im Kern demselben Muster folgend wie Peter Schwarzenbach – das Verhältnis von Fördern und Auslesen in Bezug auf die Frage der Schülerbeurteilung deuten. Drittens wird, ausgehend vom Umstand, dass das Deutungsmuster von Peter Schwarzenbach sich mitunter durch die Formulierung einer Alternative zur gegenwärtigen Organisationsform der Volksschule auszeichnet, auf die ‚Gegenentwürfe’ anderer Fälle eingegangen. Viertens schliesslich wird nachgezeichnet, inwieweit die Lehrpersonen dieses Typs deutend eine ‚Besonderheit der Realschule’ (und damit der sogenannten Realschülerinnen und Realschüler) herstellen. Primat des Förderns Wie im Porträt von Peter Schwarzenbach gezeigt, stellt dieser den Aufbau des Selbstwertgefühls und das Fördern von Sekundärtugenden seitens seiner Schülerinnen und Schüler in den Vordergrund seiner pädagogischen Praxis. Dieses Fördern zeichnet sich durch einen starken Fallbezug und eine vornehmlich diffuse Schüler-Lehrer-Beziehung aus, in deren Rahmen ein schulstoffbezogenes, auf fachliche Kompetenzerweiterung zielendes ‚Fordern’ – im Sinne des Zufügens pädagogisch sinnvollen Schmerzes – kaum Platz zu haben scheint. In diesem Punkt unterscheiden sich die anderen Fälle dieses Typs – in unterschiedlicher Ausprägung – von ihm: 259

Vergleichbar dem Konzept von Peter Schwarzenbach, bedeutet Fördern für einen anderen Reallehrer derselben Generation, Hermann Gasde, „ein ganzheitliches Menschenbild ehm probieren herauszuholen aus den Schülern heraus, also die Talente, die in ihnen drin schlummern, die, die vorhanden sein könnten, zu erkennen, zu entdecken und die hervorzuholen“ (I 23, 1). Auch für ihn gilt es primär, die Schülerinnen und Schüler zu ermutigen: „Bring deine Stärken hervor“. Im Unterschied zu Peter Schwarzenbach scheut Hermann Gasde sich aber nicht, seine Klientinnen und Klienten auch auf Defizite hinzuweisen: „Und ehm du hast da und da hast du Schwächen.“ Während Ersterer dem Lernen im schulisch-fachlichen Bereich eine marginale Bedeutung beimisst, um stattdessen primär das Selbstvertrauen der Schülerinnen und Schüler zu fördern bzw. aufzubauen, appelliert Letzterer explizit an den Wert, ja den Sinn des Lernens: „Komm, wir schaffen doch“, meint Herr Gasde, „Es lohnt sich“ (ebd.), und mimt im Interview eine für ihn typische Lehrer-Schüler-Interaktion: „Für was lohnt sich das?“ – „Für dein Leben!“ (ebd.). Das Förderkonzept dieses Reallehrers ist dabei, wie jenes von Peter Schwarzenbach, an der Idee eines schulischen Schonraums orientiert. Seine Schülerinnen und Schüler zu fördern, heisst für ihn, diesen „den Raum [zu] schaffen, dass sie Fehler machen dürfen“ (I 23, 2). Das Fehler-machen-Dürfen ist aus seiner Sicht pädagogisch angezeigt, da die Schülerinnen und Schüler „mit der Zeit“ ganz von alleine „merken“ würden: „Dumm bin ich nicht, dumm bin ich eigentlich nur, wenn ich immer wieder die gleichen Fehler mache. Wenn ich wirklich nichts lerne.“ (Ebd.) Eine Reallehrerin dieses Typs wiederum, Theres Lehner, will ihren Schülerinnen und Schülern „zeigen“, dass „wenn du mehr ins Detail gehst und nicht einfach nur denkst ‚Jaja, drei Seiten sind genug für eine selbständige Arbeit’ oder so, dann äh packt es dich auch mehr“ (I 09, 8) – und wendet sich damit gegen Müssiggang und Minimalismus. Das Lernen hat in ihren Augen einen Selbstwert, ganz unabhängig davon, ob dieses letztlich zu einer Positivselektion führt oder nicht: „Es ist immer gut, was du lernst, es spielt gar keine Rolle, ob jetzt du aufsteigen kannst und irgendwie Sekschülerin wirst oder nicht.“ (I 09, 5) Hierin kommt zum Ausdruck, dass diese Lehrperson dem Deutungsmuster ‚Fördern jenseits der Selektion’ folgt: Ob das Lernen zu einem Selektionserfolg führt, betrachtet sie als von nachrangiger Bedeutung. Die beiden Komplexe – das Fördern und die schulische Auslese – sind in ihrem Denken losgelöst voneinander zu sehen. Diese kategorische Trennung ist auch beim eben erwähnten Herrn Gasde auszumachen. Ihm zufolge solle es den Realschülerinnen und Realschülern beim Lernen – nachdem die ‚grosse Auslese’ Ende des 6. Schuljahres stattgefunden hat – eben gerade nicht mehr um die Frage der Selektion gehen: 260

Hermann Gasde: Die Realschule verstehe ich ganz stark als eh, ein, ein ganzheitliches [I.: Mhm] Bild, also ein ganzheitliches Lernen und nicht einfach eben nicht mehr für eine Note. [I.: Mhm] Denen endlich nach dreiviertel Jahren mal abgewöhnen, dass sie nur für eine Selektionsnote schaffen und ehm, dass, dass die Frage da ist: „Reicht es mir jetzt für in die Sek oder nicht?“ (I 23, 5)

Laut Herrn Gasde sollte die Phase, in welcher Schülerinnen und Schüler zweckmässig auf eine bestimmte „Selektionsnote“ hin lernen, auf seiner Stufe – oder wie er sagt: in der „Realschule“ – eigentlich vorbei sein. Hier hat in seinen Augen nicht mehr die Frage nach der Selektion, sondern „ein ganzheitliches Lernen“ im Vordergrund zu stehen. Den Schülerinnen und Schülern muss man – so unterstellt er – die ‚falsche’ Haltung, wonach man in der Schule bloss für die Selektion lerne, geradezu abgewöhnen. Herrn Gasde schwebt quasi ein Bild ‚verblendeter’ Schülerinnen und Schülern vor: An einer anderen Stelle fragt ihn die Interviewerin, ob es seiner Meinung nach – aus der Schülerperspektive gesehen – überhaupt eine Selektion brauche. Er glaube, „die wollen schon selektioniert werden“, antwortet der Reallehrer, schliesst aber umgehend relativierend an: „Also vielleicht sind sie einfach so konditioniert hingekommen.“ (I 23, 20) Jedenfalls höre er „einfach immer wieder: ‚Was habe ich für eine Note?’“ – das stehe „schon im Zentrum“ (ebd.). Unterschwellig ist Herr Gasde demnach der Überzeugung, dass Schülerinnen und Schüler im Grunde genommen nicht selegiert werden wollen müssten, und dass dem Selegiert-werden-Wollen eine gewisse ‚Konditionierung’ vorausgehen muss. Diese wiederum gelte es, so seine Deutung, den Schülerinnen und Schülern in der Realschule nachgerade abzugewöhnen. Auch im Denken von Rahel Schneeberger, einer Sekundarlehrperson, die wir diesem Deutungsmustertyp zuordnen konnten, ist das ‚Primat des Förderns’ auszumachen. Wie die Reallehrpersonen bestätigt auch sie, dass sich die Aufgabe des Förderns mit derjenigen der Selektion beisst. In ihrem Fall ist die Formel ‚Fördern jenseits der Selektion’ indes etwas anders zu verstehen: Ihr Handlungsproblem als Pädagogin ergibt sich – ihrer eigenen Deutung zufolge – dadurch, dass in „einer richtig starken Selektionsphase“ (I 18, 1) das Fördern der Schülerinnen und Schüler zu kurz komme. Erst wenn die Selektionsentscheide betreffend Gymnasiumsübertritte im 8. Schuljahr gefällt sind, könne sie ihr „Gewicht“ auf das Fördern verlagern, das heisst „individuellere Fähigkeiten“ fördern und „Lücken“ schliessen (I 18, 1). Ihre selektionsbezogenen Aufgaben sieht sie im Konflikt mit ihrem pädagogischen Auftrag der individuellen Förderung: Gerade „schwächere Schüler“, die „wirklich Lücken hätten“ (I 18, 2), kommen in ihren Augen zu kurz. Das Problem sieht sie darin begründet, dass man in der Selektionsphase eben wisse, „welche Anforderungen“ im Hinblick auf die Übertritte „gestellt werden“ – und entsprechend einfach „im Stoff“ 261

(ebd.) vorangehen müsse. Im gegenwärtigen Schulsystem bleibt Frau Schneeberger nichts anderes übrig, als die leistungsschwächeren Schülerinnen und Schüler ‚jenseits der Selektion’ – will heissen, sobald diese einmal gemacht ist – separat zu fördern. Auch die Sekundarlehrperson nimmt also – implizit – eine Unterscheidung vor zwischen einem Fördern, das im Zusammenhang mit Selektion steht (und mit dem Vorwärtskommen „im Stoff“ zu tun hat), einerseits, und einem Fördern, das als fallbezogen ‚kompensatorisch’ gedacht ist (und in der Logik ihres Arguments sich also nicht gleichermassen auf den „Stoff“ bezieht), andererseits. In dieser Hinsicht lässt sich eine Korrespondenz mit Peter Schwarzenbach ausmachen: Wie für diesen steht auch für Frau Schneeberger, die Sekundarlehrerin, das Fördern der ‚schwachen’ Schülerinnen und Schüler irgendwo jenseits des Anspruchs ihrer Qualifizierung in fachlich-stofflicher Hinsicht. Das Problem der Beurteilung Wie im Fall Peter Schwarzenbach dargelegt, zeigt sich dieser als ein Lehrer, der im Rahmen seiner von Nachsicht und Schonung geprägten pädagogischen Praxis darum bemüht ist, seiner Klientel eine leistungsbezogene Beurteilung nach universalistischen Kriterien zu ersparen. Er verwehrt sich gewissermassen dagegen, seine je einzigartigen Schülerinnen und Schüler über einen Leisten zu schlagen. Bei Herrn Gasde ist eine so weitgehende ‚Verweigerungshaltung’ nicht auszumachen. Selbst eine förderorientierte (und eben nicht auf Selektion zielende) Beurteilungspraxis, wie sie weiter oben für seinen Fall nachgezeichnet wurde, birgt aus der Sicht von Herrn Gasde ihre Tücken: Im Interview hält der Reallehrer fest, es komme dann trotzdem immer wieder „der Hammer“, nämlich „diese leistungsorientierten Noten, die man setzen muss“ (I 23, 2). Für ihn wird das Problem dann virulent, wenn Schülerinnen und Schüler seiner Klasse – „im zweiten Anlauf“ – in das Sekundarniveau aufsteigen wollen, und aufgrund seiner ‚förderorientierten’ Beurteilung das Gefühl hätten: „Ich bin ja gut, ich habe einen Fünfer197 und vorher habe ich immer nur Dreieinhalber und Vierer gehabt.“ (I 23, 3) Die gut gemeinten, als förderlich gedachten „Mutmacher-Noten“ (I 23, 2) des Lehrers schlagen gemäss dessen Deutung um in ein aus seiner Sicht illegitimes Aufstiegsbegehren der betreffenden Schülerinnen und Schüler. Bei diesen „erwacht“ damit nämlich, so Gasde, allmählich die Vorstellung „Jetzt bin ich gut, jetzt komme ich doch in die Sek“ (I 23, 3). Dann aber müsse man ihnen als Lehrer „beibringen“, dass die – gute – Note 5 in ihrem Fall „einfach ein Real-Fünfi“ sei: „Das ist nicht mehr im Vergleich mit den Guten, die in der Sek sind“ (ebd.) – so die ernüchternde Botschaft. Der Lehrer sieht sich also veran197

Zu den Schulnoten in der Schweiz: Auf einer Skala von 1 bis 6 bezeichnet die Note 5 in der Schweiz eine ‚gute’ Leistung. Sie entspricht der Schulnote 2 in Deutschland.

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lasst, seine Schülerinnen und Schüler mit der harten ‚Realität’ zu konfrontieren. An einen Aufstieg ins höhere Niveau ist – gute Noten hin oder her – nicht zu denken. Und darunter leide er als Lehrer: Hermann Gasde: Das tut weh. Also zu sehen, wie sie ehm, wie motiviert sie jetzt sind, und dass man sie so weit gebracht hat: „He! Es lohnt sich, zu schaffen“ und jetzt plötzlich sagen: „Es reicht gleichwohl nicht.“ (I 23, 4)

Interessanterweise bezieht Herr Gasde den Schmerz auf sich selbst – und nicht auf seine Schülerinnen und Schüler: Als aussenstehender Beobachter ‚sieht’ er, dass die Schülerinnen und Schüler motiviert sind, und sieht auch, dass er diese gefördert hat, wobei er gleichzeitig sich die Negativselektion verkünden hört. Der Reallehrer verkehrt den pädagogisch sinnlosen Schmerz, den er mit der Negativselektion objektiv beim Schüler, bei der Schülerin verursacht, identifikatorisch in ein subjektives Gefühl des Selbstmitleids. Dies kommt verdichtet in einer Interviewpassage zum Ausdruck, in welcher er sein ‚physisches’ Leiden, ja sein Hassgefühl angesichts des Umstands schildert, dass die Beurteilung seiner Schülerinnen und Schüler (in seinen Augen gezwungenermassen) immer wieder unter dem Stern der allgemeinen Selektionsfrage – und nicht jenem des individuellen Förderns – zu stehen hat: So machten ihm „diese Leistungsnoten“ immer „furchtbar Bauchweh“, gibt er zu verstehen, ja er „hasse das sogar [...] solche Selektionsnoten machen zu müssen“ (I 23, 4). Herr Gasde ‚leidet’ also förmlich daran, selektionsrelevante Beurteilungen vornehmen zu müssen, welche seinen Schülerinnen und Schülern einen Aufstieg ins höhere schulische Niveau verunmöglichen. Dass aus seinen diesbezüglichen Äusserungen nie eindeutig hervorgeht, ob er nun primär sein eigenes Leiden oder aber eher den Schmerz, den die betroffenen Schülerinnen und Schüler hinzunehmen haben, meint, weist auf seine weitgehende Identifikation mit Letzteren hin: „Das ist schmerzhaft, das tut weh, das ist unbefriedigend“ (I 23, 5), meint er in Bezug darauf, für gewisse Schülerinnen und Schüler negative Selektionsentscheide fällen zu müssen, und stellt fest: „Es gibt auch schlaflose Nächte.“ (Ebd.) Der Tendenz nach überwiegt im Fall Gasde indes der Hang, sich selbst als ‚Opfer’ zu stilisieren. Er fühle sich sehr oft „alleine gelassen“, meint er im Anschluss – und das heisse für ihn: „Ich muss selber die Verantwortung für meine Entscheidungen tragen.“ (Ebd.) Herr Gasde sieht sich als ein dem Zwang zur (Negativ-)Selektion unterliegender Pädagoge auf sich selbst zurückgeworfen. In dieser Selbstdeutung ist er Peter Schwarzenbach einerseits sehr ähnlich, indem auch dieser im Interview betont, es bleibe ihm im Rahmen seiner pädagogischen Praxis letzten Endes allein der ‚Glaube’ an die Richtigkeit des eigenen Handelns; andererseits kommt darin auch ein grundlegender Unterschied zwischen den beiden Altersgenossen zum 263

Ausdruck: Während Herr Schwarzenbach sich gar nicht erst als Selegierer begreift (dass er etwa kaum je einen Schüler, eine Schülerin ins höhere Niveau aufstuft, erscheint angesichts seiner Charakterisierung der eigenen Klientel als hochgradig defizitär auch in sich ‚stimmig’), ist bei Herrn Gasde (dessen Schülerbild ungleich optimistischer anmutet als jenes seines Altersgenossen) auch eher ein Selbstverständnis als Selektionsagent auszumachen: Er ist sich des pädagogisch sinnlosen Schmerzes bewusst, den er einem Schüler zufügt, wenn er über diesen – trotz der Einsicht, dass sich das Lernen lohne – einen abschlägigen Selektionsentscheid (die Nicht-Aufstufung in den höheren Schultyp) verfügen muss. Auch Frau Lehner, die Reallehrerin dieses Typs, erachtet es als problematisch, im Rahmen der schonenden Atmosphäre des Realniveaus letztendlich doch die ‚Härte’ der universalistisch-selektionsbezogenen Beurteilung walten lassen zu müssen. Die identifikatorische, selbstbemitleidende Deutung, mit welcher der Reallehrer Gasde auf das Dilemma antwortet, ist bei ihr allerdings nicht auszumachen. Im Interview spricht sie sich für eine auf den individuellen Schüler, die individuelle Schülerin bezogene Form der Beurteilung aus, die darin besteht, „dem Kind sagen [zu] können: ‚Du hast einen Fortschritt gemacht.’ Und das Kind selber kann sich auch sagen: ‚Ich habe einen Fortschritt gemacht.’“ (I 09, 14). Für die Reallehrerin besteht ein wesentliches Problem darin, in dieser aus ihrer Sicht förderlichen „Atmosphäre von, äh probier’s noch einmal und ich erkläre es dir noch einmal“ (I 09, 10f.) letztlich doch eine selektionsrelevante Beurteilung nach universalistischem Massstab vornehmen zu müssen: „Diese Quittung, die ich geben muss, [...] dem kann ich nicht ausweichen“ (I 09, 11f.), sagt sie im Interview. Auch wenn eine Schülerin, ein Schüler – entgegen der von ihr tendenziell allen Realschülerinnen und -schülern unterstellten Haltung von Minimalismus und Müssiggang – sich motiviert an die Arbeit macht, um möglichst einen Aufstieg ins Sekundarniveau zu erreichen, bleibt ihr aus eigener Sicht letzten Endes doch nichts anderes als abzuwinken. Zwar „passier[t] es“, wie sie distanziert feststellt, „manchmal noch, dass jemand findet: ‚Jetzt will ich schaffen’, oder, und: ‚Ich will aufsteigen’“ (I 09, 5). Indessen: Theres Lehner: Dort muss man einfach sagen: „Du hast jetzt zwar geschafft und du hast du bist, man sieht irgendwo einen Unterschied zu den anderen“ in dieser in dieser m- in diesem Niveau, also sagen wir jetzt Franz oder so. Und äh, nachher muss man sagen: „Es reicht gleichwohl nicht.“ (I 09, 5)

Ein Aufstieg ins höhere Niveau ist für Realschülerinnen und -schüler, so die latente Überzeugung der Lehrerin, praktisch ein Ding der Unmöglichkeit. Zwar sei sie – eher theoretisch gesprochen – „immer froh, wenn jemand es schafft“ (I 09, 6), und tatsächlich könne man als Lehrperson die Schülerin, den Schüler 264

ermuntern: „Ja, das äh, probier du das.“ (Ebd.) Gleichzeitig sieht sie sich aber – in praxi – veranlasst, die jeweilige Realschülerin, den jeweiligen Realschüler zu warnen: Der Aufstieg sei „ganz schwierig“, richtet sie sich exemplarisch an eine Schülerin, und meint zu dieser: „Du kannst es schon probieren, aber ich muss dir einfach sagen, es ist wirklich schwierig.“ So bleibe ihr „manchmal fast nichts anderes übrig“, als der Schülerin, die ein Aufstiegsbegehren hat, „zu sagen: ‚Es ist alles gut, was du lernst; ich kann dir nicht einfach garantieren, du kommst dann nachher in das obere Niveau’“ (ebd.). Wie bereits gezeigt, hat das Lernen im Verständnis von Frau Lehner ganz unabhängig von der Frage nach der Selektion ins höhere Niveau einen Selbstwert – und dieser Wert ist es hier, mit dem sie die Schülerinnen und Schüler, denen sie keine ‚Erfolgsgarantie’ geben kann, quasi im vornherein tröstet. Selektionskritik und Gegenentwürfe Wie im Porträt von Peter Schwarzenbach gezeigt, spricht sich dieser – im Sinne eines Lösungsvorschlags zum Problem von Fördern und Auslesen – für ein alternatives Schulsystem aus, das keine Selektion vorsieht: Sein „Rezept“ sei „Neun-Null“. Die Formulierung von Gegenentwürfen zur aktuellen Organisationsform der Volksschule ist typisch für Fälle des Deutungsmusters ‚Fördern jenseits der Selektion’ – und stellt einen konstitutiven Aspekt desselben dar: Da sich diese Lehrpersonen innerlich vom gegenwärtigen Schulsystem abgrenzen, um ihre Handlungsfähigkeit zu behaupten, ‚müssen’ sie – im Sinne einer konsistenten Sichtweise – gewissermassen einen Alternativentwurf im Kopf haben. Dies zeigt sich exemplarisch im Fall des Primarlehrers Steinmetz, der im Interview unvermittelt darauf zu sprechen kommt, dass es „sicher andere Modelle“ gäbe, bei denen „diese Selektion einfach nicht so im Vordergrund steht, oder nicht so (.) äh, ja halt einfach eine wahnsinnige Auswirkung hat“ (I 32, 6). Die „wahnsinnige Auswirkung“ der Selektion, und damit die aus seiner Sicht „einschneidende“ Frage, „ob Real oder Sek“ bringt er in direkten Zusammenhang „mit den Ausbildungschancen“ (ebd.) der unterschiedlich selegierten Schülerinnen und Schüler. Zur Untermauerung seines Arguments führt er das Beispiel der „Ausländerkinder“ (I 32, 7) an, welche seines Erachtens im gegenwärtigen Schulsystem zu ungerechtfertigt hohem Anteil in den hierarchisch tieferen Schultyp selegiert werden: Rudolf Steinmetz: Sie sind (.) nur dort, weil sie die Sprache weniger gut können. Es hat dort ganz viele, die leistungsfähig wären, aber einfach wegen der Sprache (.) [I.: Mhm] diese Chancen auch nicht haben. [I.: Mhm] Und dann vielleicht darum auch später eigentlich benachteiligt sind. (...) Ja, also, ein offeneres System, das, das individueller auf das Kind reagieren könnte, [I.: Mhm, mhm] würde dem Kind mehr gerecht. (I 32, 7)

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Wie sich Herr Steinmetz ein „offeneres System“ konkret vorstellt, bleibt allerdings unklar. Im Kern scheint es ihm darum zu gehen, dass dem einzelnen Schüler, der einzelnen Schülerin – und dabei nachgerade jenen, welche die Schule unter ‚ungünstigen’ Ausgangsbedingungen zu besuchen haben – individuell mehr Aufmerksamkeit zuteil kommen müsste. Auch Rahel Schneeberger, die Sekundarlehrerin dieses Typs, ist – so wurde weiter oben deutlich – der Überzeugung, dass die schulische Selektion dem Fördern zuwiderläuft. In ihrem Denken ist Selektion eine Notwendigkeit des gegenwärtigen Schulsystems: „Wenn wir in dem System sind, so wie wir es jetzt haben, dann gehört eine Selektion halt dazu.“ (I 18, 22) Dem Status quo hält sie aber ihre eigene Vorstellung entgegen: „Ich denke, es wäre, eine spätere Selektion wäre besser.“ (I 18, 20) Auf die Frage, wer denn in erster Linie von einer späten Selektion profitieren würde, meint sie: Rahel Schneeberger: Also ich würde jetzt mal sagen alle. [I.: Alle.] Ja, mhm. [I.: Mhm, mhm] Mhm. Weil auch jene, die nachher in den Gymer gehen, also die, die haben dafür ehm sind auch irgendwo unter einem Druck, auch wenn sie, auch wenn sie wissen „Ja ich bin ja gut und wahrscheinlich komme ich dort schon rein“, aber der Druck ist trotzdem da, [I.: Mhm] der Stress, also das, auch bei den guten Schülern. (I 18, 20)

Dass eine „spätere Selektion“ für die schwächeren Schülerinnen und Schüler von Vorteil wäre, erscheint in dieser Passage stillschweigend als eine Selbstverständlichkeit – und wird daher nicht expliziert. Nicht nur diese aber würden von einer länger selektionsfreien Schulzeit profitieren, sondern eben auch die „guten“ Schüler. Unabhängig von der jeweiligen Leistungsstärke der Schülerinnen und Schüler erachtet die Sekundarlehrerin den mit der Selektion verbundenen „Druck“ als nicht förderlich. Entsprechend plädiert sie für eine späte Selektion: Ihre Vorstellung eines solchen Systems begründet sie damit, dass die Schülerinnen und Schüler – und auch sie als Lehrperson – in diesem „mehr Zeit für solche Sachen“ hätten, „eben Arbeitsverhalten zu üben“ oder etwa auch „Lerntechniken“ (I 18, 20). Was Frau Schneeberger zufolge im gegenwärtigen Schulsystem zu kurz kommt, ist ein von der Frage nach der Selektion entlastetes, also von möglichen Konsequenzen auf die Auslese befreites Üben. Gemäss ihrer Hintergrundüberzeugung wird ein solches durch den Selektionsdruck verunmöglicht: Allzu früh gilt es ernst. In diesem Zusammenhang bezieht sich die selektionskritische Sekundarlehrerin auf die Ergebnisse der PISA-Studien: „Finnland und die nordischen Staaten seien eben, die seien führend, die haben sehr eine späte Selektion, oder?“ (I 18, 35), gibt sie zu bedenken. „Und wir machen hier gerade genau das Gegenteil“, kritisiert sie anschliessend die gegenwärtigen Entwicklungen im schweizerischen Bildungswesen: „Jetzt führen 266

wir ehm all diese möglichen HarmoS-Tests198 und so ein, und das ist genau das, was sie in diesen Staaten nicht haben.“ (Ebd.) Da spreche also „einiges für eine späte Selektion“ (ebd.), folgert sie. Ihr schwebt ein sich vom gegenwärtigen Schulsystem abhebender Gegenentwurf vor, demgemäss insbesondere dem Fördern der leistungsschwächeren Schülerinnen und Schüler mehr Gewicht zukommen würde. Im weiteren Interviewverlauf artikuliert sie einige Forderungen, von denen sie sich eine Realisierung dieses Entwurfs verspricht: Es müssten vor allem entsprechende „Mittel zur Verfügung stehen“ (I 18, 22). Konkret nennt sie „mehr gratis Aufgabenhilfe“ und „mehr gratis Stützkurse Förderkurse“ (I 18, 25) – und hält abschliessend fest: „Das sind so Möglichkeiten, die wir hätten, an der Staatsschule.“ (Ebd.) Dass die Sekundarlehrerin gerade im Zusammenhang mit ‚kompensatorischem’ Fördern explizit die Staatsschule erwähnt, lässt auf ihre Hintergrundüberzeugung schliessen, wonach gerade diese eigentlich das Prinzip der Chancengleichheit zu gewährleisten hätte. Die Reallehrerin, Frau Lehner, bezieht sich in ihren Ausführungen ebenfalls auf die Resultate der PISA-Studien. Unter Rückgriff auf diese untermauert sie ihre Kritik, dass eine Rückkehr zu herkömmlichen, stärker hierarchisierten Schulmodellen das Problem der Reproduktion sozialer Ungleichheit durch die Schule verschärfe. Im Interview sagt sie: „Das hat ja, also jetzt die PISA-Studie, oder, hat es ja gezeigt, wir mit unserem, eh unserem Schulsystem tun das eigentlich, das noch fördern“. (I 09, 31) In Bezug auf den unterschiedlichen Schulerfolg von Schülerinnen und Schülern hat Frau Lehner einen Bourdieu’schen Blick. Sie stellt fest, dass das herkunftsabhängige kulturelle Kapital eines Schülers, einer Schülerin einen Einfluss darauf hat, ob dieser bzw. diese mit den Anforderungen der ‚Schule’ zusammenpasst:199 Theres Lehner: Irgendwo hat es, mit, äh (.) auch mit dem mit dem Hintergrund zu tun, oder? Das ist ja immer noch so bildungsfern bildungsnah (.) also irgendwo ein bisschen: die Werte, die daheim gelten, wenn die näher sind bei dem, was in der Schule, äh (.) gfo- gefragt ist [I.: Mhm], dann ist es für sie auf alle Fälle alles viel einfacher. (I 09, 27)

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Vgl. hierzu die Fussnote 151 in 5.2.1. Vgl. Bourdieu (2001[1966], 26): „Meistens wird der Einfluss des kulturellen Privilegs nur in seinen augefälligsten Formen wahrgenommen: Empfehlungen oder Beziehungen, Unterstützung bei den Schularbeiten, Nachhilfeunterricht, Informiertheit über das Bildungswesen und die Berufsmöglichkeiten. In Wirklichkeit jedoch vermittelt jede Familie ihren Kindern auf eher indirekten als direkten Wegen ein bestimmtes kulturelles Kapital und ein bestimmtes Ethos, ein System impliziter und tief verinnerlichter Werte, das u.a. auch die Einstellungen zum kulturellen Kapital und zur schulischen Institution entscheidend beeinflusst. Das kulturelle Erbe [...] ist für die ursprüngliche Ungleichheit der Kinder in Bezug auf die schulische Bewährungsprobe und damit die unterschiedlichen Erfolgsquoten verantwortlich.“

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Angesichts dieses Missstands schwebt Frau Lehner das Ideal einer ‚Realschule’ im Sinne einer Gesamtschule vor.200 Ihre Argumentation ist paradox: Einerseits kritisiert sie, dass die ‚Realschule’ im gegenwärtigen Schulsystem „abgedrängt“ werde (aus ihrer Sicht ist sie allein schon dadurch marginalisiert, dass primär Eltern aus bildungsnahen Milieus in den Schulräten sitzen – und folglich quasi im Interesse der eigenen Kinder den Wechsel vom Modell 3b zum Modell 3a bestimmen), andererseits plädiert sie aber, wie gesagt, für eine vom restlichen Schulsystem getrennte ‚Realschule’ mit einer altersheterogenen Schülerschaft: Hierin erblickt sie – wobei sie allerdings ähnlich vage bleibt wie der oben zitierte Herr Gasde, dem ein ‚offeneres System’ vorschwebt – eine „grössere Möglichkeit für die Kinder“ (I 09, 29). In welcher Hinsicht sie dieses Modell einer altersheterogenen, separaten ‚Realschule’ konkret als eine „grössere Möglichkeit“ für die betreffenden Schülerinnen und Schüler betrachtet, geht aus dem Interview nicht hervor. Festzuhalten ist, dass Frau Lehner gleichsam hin- und hergerissen ist zwischen dem Bewusstsein der Problematik einer marginalisierten (tendenziell stigmatisierten) Realschule, einerseits, und der (eher emanzipatorisch gewendeten) Vorstellung einer altersheterogenen, für die Schülerinnen und Schüler förderlichen Realschule mit Gesamtschulcharakter, andererseits. Besonderheit der ‚Realschule’ und Abgrenzung vom System Wie bereits an einigen Stellen deutlich wurde, ist den Ausführungen der Reallehrkräfte eine spezifische Deutung von ‚Realschule’ eigen. Im Folgenden wird nachgezeichnet, in welcher Art und Weise ihr jeweiliges Bild dieses Schultyps mit der Frage des Widerspruchs von Fördern und Auslesen zusammengedacht wird. Frau Lehner etwa stellt gleich am Anfang des Interviews fest, der „Druck“, der auf ihr als Reallehrerin „lastet“, sei im Vergleich zu demjenigen, welchem Sekundarlehrpersonen ausgesetzt sind, „weniger gross“ (I 09, 1). Hierfür bringt sie 200 Wie Peter Schwarzenbach, spricht sich auch die Reallehrerin dieses Typs, Frau Lehner, für ein Schulsystem aus, das keine Selektion kennt. Ihr „Ideal“ sei „schon neun-null“ (I 09, 17), sagt sie im Interview, schliesst indes mit einer Einschränkung an: Zwar würde das System 9/0 die Selektion „schon wegnehmen“, Die Schülerinnen und Schüler müsste man in einem selektionsfreien System aber „gleichwohl im Auge haben“ (I 09, 18). Ein solches Schulsystem hiesse in ihrem Verständnis nämlich nicht, dass man dann einfach sagen könnte, jetzt habe man es einfach „nur schön mit den Kindern“ (I 09, 18). Im Denken der Reallehrerin birgt eine Schule ohne Selektion also eine gewisse Gefahr, dass man sich treiben lässt und sich des blossen Zusammenseins erfreut. „Das Fördern“, so schliesst sie an, habe sich nämlich stets „auf eine Art ein Ziel hin“ zu richten, auch wenn dieses ‚nur’ darin bestehe, zu sagen: „Es ist die bestmögliche äh Ausbildung für dich jetzt.“ (I 09, 18) Die Reallehrerin streicht damit die Notwendigkeit einer gewissen Zielorientiertheit fallbezogener Förderung hervor. Eine solche, so impliziert ihre Argumentation, droht in einer selektionsfreien Schule verloren zu gehen.

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folgende Argumente: Erstens ist sie der Überzeugung, dass man ihr als Reallehrperson nicht gleichermassen die Verantwortung für die spätere Biografie der Schülerinnen und Schüler zuschreibe, wie dies bei ihren Sekundarlehrkolleginnen und -kollegen der Fall sei. Damit relativiert sie die Tragweite ihres selektionsbezogenen Lehrerhandelns. Zweitens sei „die Art von den Eltern“, mit denen sie als Reallehrerin konfrontiert ist, „anders“ – und zwar „rein durch das bildungsferne Milieu“ (I 09, 2). Da diese – im Unterschied zu den Eltern aus „bildungsnahem Milieu“, mit denen sich Sekundarlehrpersonen herumschlagen müssen, wenn es um die Selektion ins Gymnasium geht – kaum je „reklamieren“ würden, sieht sich die Reallehrerin selbst als „in einem Schonraum“ (ebd.). Der „Konflikt“ sei daher für sie „auch nicht gleich gross“. Sie könne sich „stark auf das Fördern, äh konzentrieren“ und müsse „eigentlich nicht wirklich auslesen“ (ebd.). Die Deutung von ‚Realschule’ als ein ‚besonderer’ Ort im Schulsystem, an dem die Frage der Selektion – im Vergleich zur Sekundarschule – von nachrangiger Bedeutung und damit das Dilemma von Fördern und Auslesen auch ein ‚kleineres’ sei, geht in den Ausführungen der Lehrpersonen dieses Typs auch mit einem spezifischen Bild der Realschülerinnen und Realschüler einher. Während Peter Schwarzenbach – in quasi-sozialwissenschaftlicher Manier – wiederholt auf die sozial nachteilige Lage seiner Klientel hinweist und das selektive Schulsystem als an der (Re-)Produktion von deren subjektiven wie objektiven ‚Minderwertigkeit’ mitverantwortlich wähnt, um schliesslich ein Bild seiner selbst als ‚heroischen’ Anwalt und verständnisvollen Therapeuten der Geschundenen darzustellen, ist den Aussagen von Frau Lehner ein gewisses Ressentiment gegenüber ihren Schülerinnen und Schülern abzulesen. Sie fragt sich, ob „diese Gofen“201 denn „überhaupt noch kompatibel mit Schule“ seien, und stellt im Anschluss in Frage, zu welchem Zweck diese eigentlich in die ‚Schule’ kommen: „Tun wir die hüten?“ (I 09, 24), fragt sie sich stellvertretend für alle Reallehrkräfte. Wie weiter oben gezeigt, misst die Reallehrerin dem schulischfachlichen Lernen einen wichtigen Stellenwert zu. In ihren Schülerinnen und Schülern sieht sie allerdings alles andere als lernwillige Individuen: Theres Lehner: Ich sage manchmal ganz böse: „Jetzt habe ich wieder Schule gehabt im Affenkasten.“ [I.: (lacht)] Es es hat gar nichts mehr mit Schule zu tun, ich tu einfach mal, also es ist wie Sonderschule so, oder. Es ist mehr so ein wenig, so ein wenig äh bu- burschikos, wenn ich das so sage, [I.: Ja] ich meine nicht es seien alles Äffchen und blöd oder so, ich meine es überhaupt nicht [I.: (lacht)], sondern es ist einfach, das, was wir jetzt da machen, das ist eine Art eine Sonderschule. [I.: Mhm] (.) Eine Sonderpädagogik. Also ich tu mich nur noch mit Verhaltensschwierigkeiten 201

Berndeutsch für ‚Kinder’ oder ‚Bälge’.

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auseinandersetzen, und von meinen Lernzielen, mehr noch, bringt es jemand noch fertig, ja, überhaupt an die Arbeit zu sitzen, oder? (I 09, 24)

Dieser Charakterisierung von ‚Realschule’ als „eine Art eine Sonderschule“, deren Klientinnen und Klienten sich offenbar – obwohl sie es im Zitat zweifellos humorvoll meint und auch wieder zurücknimmt – wie kleine Primaten aufführen, statt sich mit der Schule ‚kompatibel’ zu zeigen, haftet ein Moment des Überdrusses an. Auf die Frage, ob sie es als ihre Aufgabe betrachte, die Schülerinnen und Schüler zum Lernen zu motivieren, winkt die Reallehrerin ab: Nein, das sei nicht ihre Aufgabe, sagt sie im Interview, und hält fest: „das ist fast nicht möglich“ (I 09, 8). Ihre Funktion sieht sie vielmehr darin, den Schülerinnen und Schülern den Impuls zu geben, sich selbst in Frage zu stellen: „Rückmeldung geben, so dass sie über sich anfangen nachzudenken und dass äh sie, Anstoss geben, dass sie reflektieren wie sie lernen, oder?“ (Ebd.) Die Reallehrerin ist der Überzeugung, dass der ‚Lernwille’ vom Schüler, von der Schülerin selbst kommen muss. Da dies bei ihren Klientinnen und Klienten nicht der Fall sei, bleibe ihr nichts anderes übrig, als diesen ihren Unmut darüber vor Augen zu führen: „Dass es mich manchmal wie, wie eben wütend macht. Ähm, dass sie, dass sie, dass sie, einfach alles verschwenden: Zeit verschwenden und, und ihre, ihre Möglichkeiten verschwenden, da hocken oder blöd tun.“ (Ebd.) Dies kommuniziere sie den Schülerinnen und Schülern also manchmal: „Das macht mich wütend.“ (Ebd.)202 Während die Reallehrerin ihr Bild von den Realschülerinnen und Realschülern ausgehend von einem Missstand darlegt, nämlich, dass es sich bei der Realschule nicht um eine ‚normale’, sondern „eine Art eine Sonderschule“ handle, zeichnet Herr Gasde ein solches in einem ‚positiven’ Sinne. Für ihn gilt: „Es gibt ein ein Anforderungsprofil für für eh eben auch Realschüler.“ (I 23, 14f.) Wer ein echter Realschüler, eine echte Realschülerin sein will, hat also gewissermassen über ein spezifisches Repertoire an Fähigkeiten und Eigenschaften zu verfügen. Indem dieser Lehrer von einem ‚Anforderungsprofil’ spricht, wertet er das Realschülerinnen- bzw. Realschüler-Sein prinzipiell positiv. Seine gleich im Anschluss vorgenommene Aufzählung dieser Erfordernisse enthält zum Teil sehr unerwartete Elemente:

202

Es kann hier nicht erörtert werden, ob und inwiefern diese Kommunikation ihrer eigenen Wut seitens der Lehrerin an die Schülerinnen und Schüler pädagogisch sinnvoll ist. Oevermann zufolge wäre für ein professionalisiertes Lehrerhandeln indes konstitutiv, „Gegenübertragungsgefühle ähnlich wie ein Therapeut einerseits innerlich zuzulassen und nicht von vornherein abzuwehren, andererseits aber nicht auszuagieren. Genau hier passieren vor allem in der pädagogischen Praxis die Strukturfehler aufgrund fehlender Professionalisiertheit“ (1996b, 159).

270

Hermann Gasde: Eben, ehm (.) vielleicht ein bisschen langsamer an die Arbeit herangehen. Eh, vielleicht ein bisschen begriffsstutziger sein, ehm, nochmals eine Erklärung brauchen, wissen, wo man diese Information holen kann, wenn einem etwas fehlt. Ehm, und nicht aufgeben. Einen Durchhaltewillen entwickeln. Ehm (.) ein Interesse an den an den Lebensvorgängen [I.: Mhm] ehm (.) weniger ein, ein ehm leistungsorientiert eben wieder im Sinn von einer Note aber, aber eh leistungsorientiert von einer eine stü-: „Ich möchte eine angefangene Arbeit fertig machen. Ich will mehr wissen, ich will mich da drin vertiefen, aber hilf du mir dazu, eh ich weiss es noch nicht.“ (I 23, 15)

Das ‚Unerwartete’ an dieser Passage ist, dass als zum Anforderungsprofil gehörend zunächst eine Reihe von Defiziten aneinandergereiht werden: Ein echter Realschüler, eine echte Realschülerin gehe „langsamer an die Arbeit“ heran und habe gar ein bisschen „begriffsstutziger“ zu sein als eine Sekundarschülerin oder ein Sekundarschüler. Hierauf nennt der Reallehrer einige ‚Fähigkeiten’, die schon eher als allgemein positiv konnotiert gelten: Das Wissen, wo man bestimmte Informationen herkriegt, und die Entwicklung eines Durchhaltewillens können als für die Autonomieentwicklung und individuelle Bewährung einer Schülerin, eines Schülers durchaus sinnvoll betrachtet werden. Der Begriff des Durchhaltewillens enthält ein Moment des Leidens, die Vorstellung der Notwendigkeit anhaltender Anstrengung zur Erreichung eines Ziels. Bei Herrn Gasde, dem Altersgenossen von Peter Schwarzenbach, existiert also – im Unterschied zu eben diesem – eine Denkfigur, wonach das Aushalten pädagogisch sinnvollen Schmerzes der schulischen Entwicklung der Schülerinnen und Schüler förderlich ist – während jener seine Schülerinnen und Schüler vor jeglicher Form von Schmerzzufügung (also auch einer pädagogisch sinnvollen) zu verschonen sucht. Der nächste Punkt im ‚Anforderungsprofil’ des Reallehrers an seine Schülerinnen und Schüler, also das „Interesse an den Lebensvorgängen“, ist dann vergleichsweise diffus, wird aber im Kontext anderer Äusserungen verständlich: Dem Reallehrer schwebt eine ‚Realschule’ vor, in welcher das Leben an sich von eminenter Bedeutung ist. Erinnert sei beispielsweise an die Stelle, in welcher er einen fiktiven Schüler ermahnt, man lerne schliesslich für das Leben. Andernorts argumentiert er, sein Hauptinteresse als Lehrer gelte der Bereitschaft der Schülerin, des Schülers, „das Leben zu packen, sein eigenes aber auch (.) im Zusammenspiel mit den anderen“ (I 23, 13). Zum ‚Anforderungsprofil’ der Realschülerinnen und Realschüler zählt also, im Verständnis des Reallehrers, ein umfassendes Interesse am Leben selbst, insbesondere auch am gemeinschaftlichen. Im Anschluss hieran nimmt er eine für sein Deutungsmuster bezeichnende Unterscheidung vor: Die Realschülerin, der Realschüler verfüge nicht so sehr über eine Leistungsorientiertheit, die auf das Erzielen einer bestimmten Schulnote abhebt, sein Ausgangsmotiv sei vielmehr 271

die Vollendung einer Arbeit. Herr Gasde stellt dem (in seinen Augen inhaltsleeren) ‚Einer-Note-Nachjagen’ seitens der Sekundarschülerinnen und -schüler ein authentisches Interesse der Realschülerinnen und -schüler an der Arbeit gegenüber. Diese Deutung wird ergänzt um die Idee eines authentischen Interesses am Wissen: Zum Anforderungsprofil der Realschülerin, des Realschülers gehört in den Augen des Reallehrers auch jenes Moment, das wir theoretisch als ‚Leidensdruck’ des noch nicht Erwachsenen gefasst haben.203 Da der Schüler ein noch Unwissender ist, strebt er ein Arbeitsbündnis mit dem Pädagogen an: „Hilf du mir dazu, eh ich weiss es noch nicht.“ (I 23, 13) Abgrenzung vom Schulsystem Die Idealvorstellung von authentisch am ‚Leben’ und am ‚Wissen’ interessierten Realschülerinnen und Realschülern geht bei Herrn Gasde – ganz ähnlich wie bei Peter Schwarzenbach – mit einem familialistisch gefärbten Verständnis des Bezugs zwischen dem Lehrer und seiner Klientel einher. Von seinem „pädagogischen Verständnis“ her, so Hermann Gasde, sei er „ein typischer Gesamtschullehrer“, sei lange Zeit „in den Bergen gewesen“, wo er 1. bis 9. Klasse zusammen unterrichtet hat: „Das ist so eine Art eine Familie gewesen“ (I 23, 7), stellt er im Interview retrospektiv fest, und schliesst an: Hermann Gasde: Ich könnte jetzt nicht in der Sekundarschule oder im Gymnasium unterrichten, nur um eben herauszufinden wer gehört in diese und diese Stufe, in das Niveau. Das wollte ich nicht. [I.: Mhm] Das ist für mich ein Gräuel [I.: Mhm] sogar. (I 23, 7)

Damit kommt Herr Gasde unvermittelt auf das Problem der Selektion zu sprechen: Sekundarschule und Gymnasium sieht er als Orte, an denen es vordringlich um die Frage geht, wer in welches Niveau gehört. Mit seinem Selbstverständnis als ‚typischer Gesamtschullehrer’ geht eine innere Abgrenzung gegenüber den hierarchisch höheren Schultypen des Schulsystems einher – ja eigentlich gegenüber der hierarchischen Organisationsform des Schulwesens überhaupt. Es wäre ihm ein „Gräuel“, dort zu unterrichten. Er grenzt sich ab: „Ich rede immer nur von Realschülern“, stellt er im Interview fest, und meint nicht ohne Berufsstolz: „das ist mein Metier“ (I 23, 13). Dass es hingegen in der Sekundarschule – aus seiner Sicht – nur darum geht, dass „Sekschüler gefördert werden und in den Gymer gebracht werden müssen“, das sollen in seinen Augen jene Lehrer „verantworten“ welche „auf dieser Stufe arbeiten“ (ebd.). Eine Lehrerpraxis, deren Förderbemühungen primär auf eine möglichst positive Selektion der Schülerinnen und Schüler in ein hierarchisch höheres Niveau zielen, ist 203

Vgl. 2.2.2.1.

272

gemäss der Überzeugung des Reallehrers eine Angelegenheit, die es zu „verantworten“ gilt – als handelte es sich dabei um etwas Gefährliches oder Schlechtes. Als sein eigenes „Metier“ versteht er demgegenüber ‚die Realschüler’. Diese sieht er – im Unterschied zu den Sekundarschülerinnen und -schülern – als integre Individuen, deren „soziale Kompetenzen“ in vielen Fällen „höher sind als bei manchem Sekschüler“ (I 23, 12). Die Abgrenzung von Herrn Gasde gegenüber jenen Bereichen des Schulwesens, die jenseits der ‚Realschule’ stehen, hat quasi moralisierenden Charakter. Der Reallehrer beschreibt etwa die Sekundarschülerinnen und -schüler insgesamt als moralisch verwerflich handelnde Individuen – und bringt vor diesem Hintergrund nochmals zum Ausdruck, was er von einem Schulsystem hält, welches qua Selektion einem solchen Verhalten noch Auftrieb verleiht: Gerade weil der ‚Sekschüler’ aus seiner Sicht sich in der Schule oftmals einzig dadurch zu bewähren wisse, dass er sich „durchbescheissen“ kann, und es versteht, andere zum eigenen Vorteil „hinein[zu]leimen“ und „die Schwächen vom anderen aus[zu]nützen“, zeigt sich der Reallehrer mit Nachdruck „empört“ darüber, „dass man selektionieren muss“ (I 23, 13). Mit dieser prononcierten Unterscheidung von der ‚Sekundarschule’ als einem Bereich, in welchem der individuelle Eigennutz dominiert, und der ‚Realschule’ als einem Refugium der Gemeinschaftlichkeit, geht beim Reallehrer – ganz ähnlich wie bei Peter Schwarzenbach – tendenziell ein Selbstbild als Vaterfigur einher: Er sei „quasi der Elternvertreter hier“ (I 23, 17), meint er etwa, und übt – in dieser Rolle als ‚väterlicher’ Lehrer – Kritik am selektiven, hierarchiestiftenden Schulsystem, wobei er einer gewissen Bescheidenheit Ausdruck verleiht: Früher nämlich, das heisst „vor- fünfundzwanzig Jahren“, hätte er „noch Schulreformer werden wollen“ (I 23, 21). Als ein solcher wäre es ihm also, wie anzunehmen ist, um die Transformation des Schulsystems als Ganzes gegangen: „Herrgott, hört doch auf meine schlauen Ideen und i-, komm wir machen es, wir machen, wir setzen das alles um“, mimt er sich, wie er zu jener Zeit in etwa gedacht und gesprochen haben will, und stellt fest: „Ich hätte kämpfen müssen, ich hätte Politiker werden müssen“ (ebd.). Das hat er aber nicht getan. Dieses „Engagement“ habe er nämlich nicht, meint er im Interview nüchtern und schliesst an: Seine „Energie“ fliesse vielmehr „in die Schule in diese Schulstube hinein“ (ebd.). Sein reformerischer ‚Aktionsradius’ erstreckt sich also nicht auf das bildungspolitische Parkett, sondern beschränkt sich auf die „Schulstube“. Mit seiner klaren Abgrenzung vom herrschenden Schulsystem, das er einst reformpolitisch hätte bekämpfen wollen, geht die Vorstellung einer ‚Berufenheit’ des Reallehrers zu einem gewissermassen auf Veränderung ‚von unten’ zielenden Handeln einher: „Wirken“, so meint er etwas später im Interview, tue es „eigentlich letztlich in der kleinsten Einheit, und das ist wohl hier in unserem 273

System die Schulklasse“ (I 23, 23). Nicht ohne einen resignierten Unterton anzuschlagen, distanziert sich der Reallehrer nicht nur vom Schulsystem selbst, sondern auch von jenen unfruchtbaren Verbesserungsbemühungen, denen er sich einst, in jüngeren Jahren, selbst hatte verschreiben wollen, um schliesslich zu einer quasi-subversiven (im Interview leider nicht weiter ausgeführten) Strategie überzugehen: er fokussiert sein Handeln darauf, „in der kleinsten Einheit“ des Schulsystems, der einzelnen Schulklasse, etwas zu bewirken. Auch Frau Lehner distanziert sich, konfrontiert mit der Frage, wie sie die Spannung von Fördern und Auslesen letztlich aushalte, vom Schulsystem in seiner gegenwärtigen Organisationsform. Sie schaffe dies, da sie „auf eine Art wie sagen kann, dieses System habe ich nicht eingesetzt“ (I 09, 13). Zwar habe sie sich „bereit erklärt“, in „dieser Schule“ zu arbeiten (und kenne also „die Bedingungen“), doch sei dies, so hält sie im Anschluss fest, letztlich „nicht befriedigend“ (ebd.). Die Passage macht deutlich, dass sich auch die Reallehrerin vom herrschenden System – wie Peter Schwarzenbach und sein Altersgenosse – innerlich distanziert: „Ich kann die Verantwortung ablehnen für das System, weil ich es nicht eingesetzt habe, weil ich sagen kann, es ist, irgendwo ist es ein bisschen schizophren das Ganze, oder?“ (ebd.). Dem Schulsystem schreibt sie explizit pathologische Züge zu. Damit lokalisiert sie die Widersprüchlichkeit von Fördern und Auslesen nicht primär als ein Problem bei sich als Lehrperson, sondern versteht diese als eine ‚Krankheit’ auf der konzeptionellen Ebene des Schulsystems: Dieses hält sie für „nicht gut durchgedacht“. Schliesslich stellt sie fest, man müsse womöglich „in jedem System irgendeinmal sagen“, dass es letztlich „mehr auf die Wertung“ (ebd.) ankomme. Der in ihren Augen ‚schizophrenen’ Organisationsform des Schulsystems hält die Reallehrerin in ihrem Deutungsmuster also die Frage der subjektiven Wertung, der persönlichen Gewichtung der Dinge entgegen, wie dies auch Peter Schwarzenbach und Hermann Gasde – der eine mit seinem pädagogischen ‚Glauben’, der andere mit seiner ‚Energie’ – tun. 5.5.3 Zusammenfassung des Deutungsmustertyps Die Lehrpersonen des fünften Deutungsmustertyps – ‚Fördern jenseits der Selektion’ – verstehen sich als der individuellen Förderung ihrer Schülerinnen und Schüler verpflichtet. Ihr pädagogisches Handeln zielt – so das berufliche Selbstverständnis dieser Lehrkräfte – auf die Unterstützung, ja Therapierung jener Lernenden, die als Verliererinnen bzw. Verlierer der schulischen Auslese zu sehen sind: die Realschülerinnen und Realschüler. Selektion stellt in ihrem Denken ein Übel des Schulsystems dar, welches dem Fördern zuwiderläuft: Die Lehrpersonen dieses Typs deuten Selektion als eine in Bezug auf ihren pädago274

gischen Auftrag sachfremde Intervenierende. Entsprechend plädieren diese Lehrerinnen und Lehrer für eine möglichst späte Selektion – oder gar für ein Schulwesen, das überhaupt keine Selektion kennen würde: Sein „Rezept“ sei „Neun-Null“, meint etwa Herr Schwarzenbach. Im gegenwärtigen, selektiven Schulsystem bleibt ihnen gleichsam nichts anderes übrig, als die ‚Selektionsopfer’, mit denen sie es zu tun haben, in einem selektionsfreien Schonraum jenseits der Selektion zu fördern. Den Lehrpersonen des Typs 5 ist ein quasisozialwissenschaftliches Denken eigen. So sind sie sich denn auch des Problems der schulischen Reproduktion sozialer Ungleichheit bewusst und erkennen die Existenz des – qua Selektion drohenden oder aber bereits erlittenen – pädagogisch sinnlosen Schmerzes der Lernenden, sowohl in seiner subjektiven wie in der objektiven Dimension. Wie gezeigt werden konnte, kontrastieren die Fälle dieses Typs entlang verschiedener Linien. Im Folgenden werden die Unterschiede in den Deutungen der Lehrpersonen rekapituliert, die alle von der allgemeinen Überzeugung des schädlichen, die pädagogische Praxis erschwerenden Charakters von Selektion ausgehen. Die Analysen machten deutlich, dass die Selbstbilder der einzelnen Fälle als ‚Förderer’ bzw. ‚Förderinnen’ Nuancen aufweisen: Während bei Peter Schwarzenbach ein Selbstverständnis als Therapeut und Verbesserer des individuellen Selbstwertgefühls seiner Schülerinnen und Schüler dominiert, mit dem eine maximale Zurückhaltung im Abverlangen schulischer Leistungen einhergeht, und bei Herrn Gasde die Idee des Förderns der Gemeinschaftlichkeit und eines allgemeinen Interesses am ‚Leben’ im Vordergrund steht, geht es Frau Lehner, der Reallehrerin, sowie Frau Schneeberger, der einzigen Sekundarlehrerin dieses Typs, primär um ein Lernen in schulstoffbezogener, fachlicher Hinsicht. Bei den beiden Reallehrern Gasde und Schwarzenbach wurde zudem eine starke Betonung des diffusen Anteils im Rahmen der Lehrer-Schüler-Beziehung rekonstruiert, die sich in beiden Fällen mit einem Selbstverständnis als vaterähnliche (tendenziell heroische) Figuren verbindet. Dieses Selbstbild wiederum geht einher mit einer der Tendenz nach familialistischen Vorstellung von Schule und einem an reformpädagogischen Ideen orientierten Schülerbild. In Bezug auf das ‚Förderverständnis’ der erwähnten Lehrpersonen existiert also ein geschlechtsspezifischer Kontrast. Bei allen Fällen dieses Typs ist – wie gesagt – eine selektionskritische Grundhaltung auszumachen; ihre jeweiligen Deutungen von ‚Selektion’ liessen aber gewisse Unterschiede erkennen: Peter Schwarzenbach sieht die schulische Auslese (im engeren Sinne: die Negativselektion) als ein Übel des Schulsystems, das seinen Klientinnen und Klienten – den ohnehin schon sozial benachteiligten 275

Realschülerinnen und -schülern – noch zusätzlichen Schaden zufügt. Herr Gasde geht in dem Sinne noch einen Schritt weiter, dass er die ‚Selektion’ quasi als Sinnbild einer moralisch verwerflichen Gesellschaft begreift, bei der es primär ums Aufsteigen in einem System geht, das von Unehrlichkeit und Eigensinn – statt Gemeinsinn – geprägt ist. Entsprechend bereitet es ihm Mühe und mitunter körperliches Leiden, dass der schulsystembedingte Selektionszwang – als eine für den Lehrer resultierende Pflicht, selektionsrelevante Beurteilungen vorzunehmen – wie eine ‚fremde Hand’ in seine Domäne (das heisst das Unterrichten von Realschülerinnen und Realschülern) eindringt. Er sieht sich vor das Problem gestellt, keine allzu guten Noten geben zu können, ohne dass hieraus bei seinen Klientinnen und Klienten ein in seinen Augen illegitimes, ja von Verblendung zeugendes Aufstiegsbegehren geweckt wird. Der Selektionszwang erschwert es für ihn gewissermassen, seine Realschülerinnen und Realschüler in einem schulischen Lebensraum ‚jenseits der Selektion’ zu fördern – und also einfach ‚gute Realschüler’ zu ‚erzeugen’. Die Deutung der Reallehrerin Frau Lehner weist in dieselbe Richtung: Der Selektionszwang – als etwas, worum sie nicht herum kommt – beisst sich mit ihrem Ideal der an der einzelnen Schülerin und ihren individuellen Fortschritten orientierten Schülerbeurteilung. Immer wieder sieht sie sich gezwungen, ‚Quittungen’ auszuteilen, mit denen ein negativer Selektionsentscheid – der Nicht-Aufstieg in den hierarchisch höheren Schultyp – verbunden ist. Im Unterschied zu Herrn Gasde bringen ihre Deutungen von Selektion ein vollumfängliches Bewusstsein des damit einhergehenden pädagogisch sinnlosen Schmerzes (in seiner subjektiven wie objektiven Dimension) für die entsprechenden Schülerinnen und Schüler zum Vorschein: Während dieser – identifikatorisch – in Selbstmitleid versinkt, grenzt sich jene nüchtern vom System und seiner ‚Krankheit’ ab, um als Pädagogin (mit ihrer eigenen ‚Wertung’ der Dinge) gesund zu bleiben. Auch die von allen Fällen dieses Typs geteilte Überzeugung, dass die leistungsschwächeren Schülerinnen und Schüler, welche im hierarchiestiftenden Schulwesen nachgerade zu ‚Selektionsopfern’ werden, eines Schonraums bedürfen, kommt in unterschiedlicher Ausprägung vor: Peter Schwarzenbach spricht sich deutlich für eine gänzlich selektionsfreie Schule aus, ‚verschont’ seine Schülerinnen und Schüler – aus quasi-therapeutischen Motiven – selbst dann vor universalistischer Leistungsbeurteilung, wenn eine solche gar nicht mit der Frage der schulischen Auslese verbunden ist und also keinen pädagogisch sinnlosen Schmerz bedeutete. Demgegenüber äussert sich Frau Lehner zwar ebenfalls zugunsten eines solchen Schonraums, hält aber gleichzeitig fest, dass dies keinen Verzicht auf ein zielorientiertes, mitunter auch fordernde Elemente beinhaltendes Lernen bedeute. Das Lernen – und damit ‚die Schule’ – hat in ihrer Deutung einen Eigenwert. Frau Schneeberger wiederum, die Sekundarlehrerin, ist 276

der Überzeugung, dass eine möglichst späte Selektion im Sinne aller Schülerinnen und Schüler – also auch für die leistungsstärkeren – förderlich wäre. Sie gibt allerdings zu bedenken, dass für eine solche Schule mehr Mittel zur Verfügung stehen müssten. Diese Forderung verbindet sich im Fall Schneeberger mit der Idee einer ‚Staatsschule’, die für die Chancengleichheit der Heranwachsenden zu sorgen habe. Wie die anderen Fälle dieses Typs nimmt auch die Sekundarlehrperson eine distanzierende Haltung zum gegenwärtigen Schulsystem ein und thematisiert primär dessen ‚organisatorisch-strukturelle’ Unzulänglichkeiten. Mit der Kritik der Lehrkräfte dieses Deutungsmustertyps am Schulsystem in seiner gegenwärtigen, hierarchiestiftenden Organisationsform geht einher, dass sie das Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ nicht so sehr als ihr ‚eigenes’ begreifen, sondern sich innerlich davon distanzieren, indem sie es auf der institutionellen Ebene des selektiv angelegten Bildungswesens ansiedeln. Allen ist gemeinsam, dass sie die Spannung, den Widerspruch von Fördern und Auslesen objektivieren – wobei diese Distanzierung vom Problem typischerweise mit der Betonung subjektiver ‚Andersartigkeit’ einhergeht. Bei den Reallehrpersonen ist dieses Selbstbild als besondere Pädagoginnen (bzw. gar ‚Sonderpädagoginnen’) wiederum geknüpft an die Vorstellung von ‚Realschule’ als eines Sonderbereichs innerhalb des Schulsystems überhaupt. Neben der Forderung nach einem Schulsystem ohne Selektion besteht also gleichzeitig die Idee, dass die Bereiche ‚Realschule’ und ‚Sekundarschule’ (und damit auch die Realschülerinnen bzw. -schüler und die Sekundarschülerinnen bzw. -schüler) gleichsam kategorial verschieden seien. 5.6 Die Generation der jüngeren Lehrkräfte: zwischen Novizentum und neuen Deutungsmustern Bei den Ausführungen zum Reallehrer Dominic Roos des Typs ‚Disziplinierung’ wurde auf die für seine Deutungen konstitutive, sämtliche Themen durchziehende Ambivalenz hingewiesen. Es zeigte sich, dass er in seinen Schilderungen inhaltlich zwischen verschiedenen – bisweilen geradezu entgegengesetzten – Positionen hin und her schwankt. So bezeichnet er beispielsweise den qua Selektion ausgeübten Druck als „absoluten Seich“ und sagt, „das ist das Blödste, was man machen kann“, um im nächsten Moment festzustellen, von Zeit zu Zeit dürfe dieser Druck aber „auch nicht fehlen“ (I 12, 27). Er stellt fest, dass Schülerinnen und Schüler „Halt“ brauchen und „klare Sachen“, an denen sie sich orientieren können; das „Gäbigste“ (I 12, 28) sei der Soldat, der darin Entlastung finde, dass er lediglich Gehorsam zu leisten und keine Verantwortung zu 277

tragen habe. Nachdem er den Schüler als einen gezeichnet hat, für den es dienlich ist, sich – wie ein gehorsamer Soldat – in eine freiwillige Unmündigkeit zu begeben, relativiert er das Gesagte im Anschluss jedoch wieder. Er merkt an, dass er mit solcher Unterwerfung aber auch Mühe habe, und hält fest, dass es nicht zu viele dieser „Sachen“ (I 12, 28) sein dürfen. Roos’ Schwanken zeigt sich auch in seiner Haltung der Negativselektion gegenüber: Auf der einen Seite äussert er Bedenken gegenüber der Regel, Schülerinnen und Schülern, die – aufgrund der Wiederholung eines Jahres – bereits neun Schuljahre absolviert haben und disziplinarische Probleme bereiten, nicht in die 9. Klasse aufzunehmen. Gerade Schülerinnen und Schüler mit Verhaltensproblemen sollten – anstatt auf die „Strasse“ (I 12, 1; 2) geschickt – ‚erziehend’ unterstützt werden, argumentiert er. Auf der anderen Seite spricht er sich für Negativselektion als für Ordnung und Respekt sorgendes Disziplinierungsinstrument aus. Ohne die drohende Konsequenz einer Negativselektion, so seine Überzeugung, würden die Schülerinnen und Schüler sich sagen: „Da kannst du ja machen, was du willst.“ (I 12, 2) Hätten sie nicht die über Selektionsdruck vermittelte Misserfolgsgefahr im Nacken, würden die imaginierten Schülerinnen und Schüler dem Lehrer keinen Respekt entgegenbringen, ist er überzeugt. In diesen Beispielen zeigt sich, wie Dominic Roos sich argumentativ von einer Position zur anderen hangelt. In der inhaltlichen Ambivalenz und dem argumentativen Lavieren manifestiert sich eine habituelle Unsicherheit von Herrn Roos. Diese sowie die im Interview aufschimmernden Spuren einer adoleszenten Haltung, die in gewissen Formulierungen („Seich“) oder in seiner jugendlichen Begeisterung („die sind super“) zum Ausdruck kommen, könnten darauf hindeuten, dass sein inhaltliches Schwanken auf sein noch junges berufliches Alter zurückzuführen ist. Indem sich Herr Roos immer wieder auf konkurrierende entgegengesetzte Positionen beruft, die er als gleichermassen gültig darstellt, obwohl sie theoretisch nicht miteinander zu vereinbaren sind, begibt er sich in eine argumentative Notlage, die er selbst wahrzunehmen scheint und aus der er einen Ausweg sucht, indem er sich – wie im Interview immer wieder deutlich wird – auf die Metaebene begibt und sich selbst kommentiert. Dies zeigt sich etwa in einer Äusserung, die er auf seine Ausführungen folgen lässt, wonach es Schülerinnen und Schüler gebe, die in den Promotionsfächern „nicht viel leisten“, jedoch im Turnen und im Werken ein „wahnsinniges Geschick“ (I 12, 10) an den Tag legen. Daraufhin meint er: „Es ist schon wichtig, das Deutsch, ich rede natürlich auch ein bisschen extrem, damit man die musischen Fächer auch nicht vergisst.“ (I 12, 11) Sich selbst beobachtend stellt er sich als Taktiker dar, der gleichsam aus strategischen Gründen – musische Fächer sollen nicht vergessen werden – „extrem“ argumentiere. Im unmittelbaren Anschluss an sein Plädoyer für die musischen Fächer verweist er sodann auf seine „Vergangenheit“ in zwei seminaristi278

schen Ausbildungsinstitutionen und gibt zu bedenken, dass er dort „schon ein wenig so erzogen“ (I 12, 11) worden sei. Nachdem er sich als Taktiker charakterisiert hat, verfällt er also auch hier – auf der Ebene des Sich-selberKommentierens – sogleich ins Gegenteil: Nicht Interessenverfolgung, sondern ‚blindes’ Übernehmen als Zögling in der Ausbildung erkläre, warum er dem Musischen so viel Bedeutung beimisst. Wenn er eine reformpädagogisch inspirierte Position vertrete – so gibt er zu verstehen –, dann aus strategischen Gründen oder weil er so sozialisiert sei, in keinem Fall aber entspreche diese Position einer Haltung, die er sich aktiv erarbeitet hat und von der er innerlich überzeugt ist. Ein Blick auf alle Fälle unseres Samples zeigt, dass sich die bei Dominic Roos rekonstruierten Charakteristika bei auffallend vielen anderen Fällen jüngeren bis mittleren Alters (zwischen 24 und 36) wiederfinden. Diese Fälle sind zwar den verschiedenen Deutungsmustertypen zugeteilt, doch fiel ihre eindeutige Zuordnung schwer: gemäss den Interviewanalysen gehörten sie jeweils an den ‚Rand’ eines Typs bzw. in den Überlagerungsbereich mehrerer Typen (vgl. 3.3.3), unterschieden sich also vergleichsweise stark von der idealtypischen Ausprägung des jeweiligen Typs. Die zentralen Charakteristika der Deutungsmuster, auf welche diese jungen Lehrpersonen zurückgreifen, liegen gewissermassen quer zur gesamten Typologie. Ausgehend vom Fall Dominic Roos werden sie im Folgenden aufgezeigt. Anders als Dominic Roos, der eine einmal geäusserte Überzeugung oftmals sogleich wieder zurücknimmt, um hierauf eine geradezu konträre Haltung einzunehmen, der also in seinen Schilderungen zwischen antagonistischen Positionen hin und her schwankt, ist beim Reallehrer Patrick Feuz, der am Rande des Typs 5 zu verorten war, festzustellen, dass er in seiner Argumentation – je nach Situation, auf die er sich bezieht – auf unterschiedliche Deutungsmuster rekurriert. Ähnlich wie gewisse Fälle der Typen 4 und 5 bestätigt er beispielsweise an einer Stelle, dass es „diese Spannung“ gebe und dass „dieses Anwalt-RichterDilemma“ (I 24, 1) existiere. Allerdings – und hierin unterscheidet er sich von den genannten Typen – ist das Vorhandensein der Spannung in seinem Denken eine temporäre Angelegenheit. Es gebe nämlich nachher auch „Phasen“, in denen „ein Widerspruch sehr klein wird, weil er eigentlich gar keiner ist, weil diese Schullaufbahnentscheide dann im günstigsten Fall dazu führen, dass man eben in einer Gruppe schaffen kann, wo man ehm, wo es einem wohl ist, die die eh der Leistungsstärke, die jemand hat, entspricht“ (I 24, 1). Herr Feuz unterscheidet verschiedene Phasen: In der Phase, in welcher die Lehrperson selegieren muss, also gleichzeitig Anwältin und Richterin zu sein hat, bestehe der Widerspruch. In der nächsten Phase, nachdem die Selektion vollzogen worden ist, 279

habe sich der Widerspruch gleichsam aufgelöst, da die Schülerinnen und Schüler aufgrund der Selektion von nun an im ‚richtigen’ Niveau unterrichtet werden, womit Herr Feuz einer Überzeugung des Deutungsmustertyps 2 anhängt. Auf die Bitte der Interviewerin, Patrick Feuz möge seine Aussage, wonach Selektion manchmal „auch ein bisschen weh“ (I 24, 2) tue, noch weiter explizieren, führt dieser zusätzlich ein Argument ins Feld, das dem Deutungsmuster der Variante ‚leistungsorientierte Disziplinierung’ des Typs 3 entspricht: Er vertritt die Überzeugung, dass man den „Kindern“ keinen „Gefallen“ tue, „wenn man ihnen das ganz abnimmt, dass sie ab und zu gemessen werden“. Aus einer Metaperspektive argumentierend meint er im Anschluss, das sei „ein komisches so pädagogisches leistungsfeindliches eh Ding“ (I 24, 6f.), dass man den Wettbewerb aus der Schule fernhalten wolle. Während Herr Roos zwischen Extrempositionen hin und her schwankt, kombiniert Herr Feuz auf eigenständige Weise verschiedene Deutungen und integriert sie in einem einzigen, etwas brüchigen Muster, das zwischen verschiedenen konkreten Konstellationen im Schulzusammenhang differenziert. Je nach Schülerin bzw. Schüler und je nach Situation oder Phase, in der diese bzw. dieser steckt, deutet er das Verhältnis von Fördern und Auslesen anders. An einer Interviewstelle zeigt sich, dass er diese Phasen unter anderem als davon abhängig versteht, ob sich die Leistungsfähigkeit eines Schülers im Verhältnis zur Gesamtgruppe aller Schülerinnen und Schüler so weit ändert, dass eine Umstufung erforderlich wird. Das Verhältnis von Fördern und Auslesen wird für Herrn Feuz dann virulent, wenn sich „etwas verschiebt“ (I 24, 1). Möglicherweise kommt darin zum Ausdruck, dass er das Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ in seiner Komplexität zu sehen versucht, was ‚einfache’ Antworten – im Sinne von eindeutigen und konsistenten Deutungen – tendenziell verunmöglicht.204 Ein drittes Beispiel für eine junge Lehrerin, deren Deutungen inhaltliche Brüche aufweisen, findet sich in der Primarlehrerin Adam. Anders als bei Herrn Roos, der von einem Extrem ins andere fällt, und auch anders als bei Herrn Feuz, der eine Phasenabhängigkeit der Ausgeprägtheit des Handlungsproblems behauptet, ist bei Frau Adam eine bestimmte Deutung zwar dominant, sie wird aber durch 204

In der zitierten Aussage, in der Herr Feuz feststellt, dass Schullaufbahnentscheide „im günstigsten Fall dazu führen, dass man eben in einer Gruppe schaffen kann, in der man ehm, in der es einem wohl ist“ (I 24, 1), findet eine Verwischung der Lehrer- und der Schülerperspektive statt. Gemäss dem subjektiv gemeinten Sinn spricht er im genannten Zitat als Lehrer über die Schülerinnen und Schüler. Mit der Verwendung des Begriffs „man“ nimmt er jedoch einen Perspektivenwechsel vor, nimmt die Sichtweise des Schülers ein und macht sich damit selbst zu einem solchen. Diese – unbeabsichtigte – Verwischung der Lehrer- und der Schülerperspektive kann als Ausdruck dafür gelesen werden, dass das Schüler-Sein für ihn noch sehr präsent ist und er sich – als Novize – noch nicht vollständig mit seiner Lehrerrolle identifiziert.

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das gleichzeitige Rekurrieren auf andere Deutungen ‚aufgeweicht’. Céline Adam identifiziert sich – wie die Analysen zeigen – mit den besonders guten Schülerinnen und Schülern. Dem Deutungsmuster des Typs 1 entsprechend, dem sie auch zugeordnet ist, vertritt sie die These, dass die starken Schülerinnen und Schüler in gemischten Klassen zu wenig gefördert werden, und bildet deshalb – ähnlich wie Frau Largo desselben Typs – in ihrer Klasse inoffizielle Leistungsgruppen, um mit den leistungsstarken Schülerinnen und Schülern ungestört arbeiten zu können. Dies habe sich, wie sie schildert, bewährt: Mit den „Besseren“ habe man wirklich […] einfach schneller schaffen können“ und sei in dieser Gruppe „mehr zum Reden gekommen“ und diese Schülerinnen und Schüler „sind nicht unruhig geworden, weil sie einfach haben können zuhören“ (I 27, 11). Die eliteorientierte Haltung kommt bei Frau Adam allerdings äusserst gebrochen daher: Ohne sich zu einer grundsätzlichen Selektionskritik hinreissen zu lassen, nennt sie die Gefahr der ‚Abstempelung’ der negativ selegierten Schülerinnen und Schüler sowie deren mögliche Demotivierung durch die Negativselektion. Gleichsam legitimatorisch greift sie zusätzlich – ähnlich wie schon Herr Feuz – auf ein Konzept zurück, das sich beim Deutungsmustertyp 2 als Schlüsselkonzept erwiesen hat. Sie sagt: „Wenn ich das Gefühl habe, ja, wenn das für sie [die Schülerin; Anm. d. A.] am besten ist, dann soll sie jedenfalls nicht in die, in die Sek eingestuft werden, weil sonst wäre sie ja überfordert. [I.: Mhm] (..) Und dass sie mehr davon profitieren kann, wenn sie in der Real ist, denke ich.“ (I 27, 3) Gemäss dieser Deutung wird eine Negativselektion deshalb nicht als Problem betrachtet, weil sie der optimalen Förderung der Schülerin dient. Im Unterschied zu den Lehrpersonen des Typs 2, die vom allgemein förderlichen Charakter der Negativselektion tief überzeugt und damit dem Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ gegenüber weitestgehend immun sind, kommt in der Argumentation von Frau Adam diesbezüglich eine gewisse Unsicherheit zum Ausdruck: Sie denkt, dass die Schülerin mehr „profitieren“ kann, „wenn sie in der Real ist“ – überzeugt ist sie davon nicht wirklich. Die jungen Lehrpersonen schlagen sich also ungern auf eine (einzige) Seite, wenn es um die Deutung des Verhältnisses von Fördern und Selektion geht. Bei ihnen sind keine konsistenten Hintergrundüberzeugungen auszumachen, wie dies bei den Typen 1, 2, 3 und 5 der Fall ist. In den Interviews finden sich aber auch kaum Hinweise darauf, dass diese Lehrpersonen – wie in unserem vierten Typ – um einen ‚eigenen’ Umgang mit der Antinomie von Fördern und Auslesen bemüht wären. Sie setzen dem Problem – das sie teils ganz deutlich ‚sehen’ – nichts Eigenes entgegen. Es stellt sich die Frage, wie diese Lehrpersonen angesichts der fehlenden konsistenten Deutungsmuster zum uns interessierenden Handlungsproblem mit dem dadurch entstehenden Vakuum umgehen. 281

In einer ersten Variante scheint der inhaltlichen Unsicherheit und der fehlenden inhaltlichen Selbstpositionierung eine starke habituelle Unsicherheit205 zugrunde zu liegen. Beides verbindet sich mit einer beträchtlichen Selbstüberzeugtheit. Besonders deutlich wird diese Gleichzeitigkeit von Unsicherheit und starker Selbstüberzeugtheit bei der Sekundarlehrerin Sabine Zesiger. Auf die Eingangsfrage der Interviewerin bezüglich ihres Umgangs mit der Spannung zwischen Fördern und Auslesen meint sie, sie habe sich zu dieser Frage „nicht so viele Gedanken“ gemacht, und anerkennt damit, dass man dies eigentlich durchaus tun könnte – ja vielleicht müsste. Zwei Lesarten dieser Aussage standen bei der Analyse in Konkurrenz: Gemäss der ersten ist Sabine Zesiger – indem sie sich gleich beim Einstieg als ‚Novizin’ zu erkennen gibt – bestrebt, sich von vornherein gegen mögliche Einwände auf ihre Antwort ‚abzusichern’. Ihre Äusserung hätte in diesem Fall den Charakter einer vorausgeschickten Entschuldigung für eine möglicherweise ‚unreife’ Sichtweise, sie gäbe also implizit zu verstehen, dass von ihr keine gefestigte Überzeugung zu erwarten ist. Berücksichtigt man nun den Umstand, dass Sabine Zesiger nicht sagt, sie habe sich noch nicht so viele Gedanken dazu gemacht (was für diese erste Lesart sprechen würde), sondern eben nur, sie habe sich nicht so viele Gedanken dazu gemacht, ergibt sich folgende zweite Lesart: Sabine Zesiger schickt sich als eine Person ins Interview, die sich gar nicht ‚viele Gedanken’ zu etwas zu machen braucht, um dennoch eine gültige Antwort bereit zu haben. In dieser zweiten Lesart bestünde die Rahmung, welche sie ihrer Argumentation hier gibt, in der Charakterisierung ihrer selbst als grundsätzlich kompetente Person, die auch ohne vorgängige gedankliche Vorbereitung eine gültige Antwort parat hat und gleichsam im Rahmen einer Ad-hoc-Argumentation ihre Überzeugung darzulegen imstande ist. Es zeigte sich in der weiteren Analyse, dass die beiden Lesarten insofern je ihre Berechtigung haben, als bei Sabine Zesiger stets beides, Unsicherheit und Selbstüberzeugtheit, parallel existieren. Beides – Unsicherheit und Selbstüberzeugtheit – hängt bei ihr, so kann vermutet werden, insofern zusammen, als die – gerade auch nach aussen getragene – Selbstüberzeugtheit über die Unsicherheit hinweg hilft. In der psychoanalytischen Diskussion über Adoleszenz wird in dieser Gleichzeitigkeit von Ohnmachts- und Allmachtsgefühlen eine narzisstisch geprägte psychische Konstellation erblickt, die den jungen Menschen ein Stück weit stabilisiert.

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Die habituelle Unsicherheit äussert sich beispielsweise in der sprachlichen Ausdrucksweise dieser Lehrpersonen. So sind diese Interviews gespickt mit Floskeln wie „Sag ich jetzt mal“ (I 11, 1) „vielleicht“ (I 27, 2ff.), „irgendwie“ (I 31, 1ff.), „es ist schwierig zu sagen“ (I 14, 7) oder „ich weiss es nicht“ (I 31, 37).

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Einer zweiten Variante des Umgangs der jüngeren Lehrpersonen mit dem Vakuum waren eskapistische Züge abzulesen.206 Auf die Schwierigkeit angesprochen, dass er im Wissen um die späteren schlechteren Berufschancen einen Teil der Schülerinnen und Schüler negativ selegieren müsse, meint der Reallehrer Phillip Graf: „Ja (..) ja es es gibt es halt äuä207 einfach, also es, es lässt sich äuä einfach nicht än- ändern.“ (I 11, 8) Dass es „halt äuä einfach“ so sei und sich nicht ändern lasse, stellt er mit einem unbeteiligten, leicht resignativen Unterton fest. Er nimmt das Problem zur Kenntnis, ohne sich darüber zu enervieren oder gar den Anspruch an sich zu haben, ihm etwas entgegenzusetzen. Auch in den Schilderungen von Frau Zesiger findet sich dieses eskapistische Moment in Form einer konkreten Fluchtbewegung angesichts berufspraktischer Belastungen: „Natürlich“ sei man manchmal „einfach der Löu208 halt, als Lehrer“ (I 14, 15), stellt sie fest. Aber in solchen Momenten, so fügt sie – halb im Witz, halbwegs ernst – hinzu, gehe sie einfach eine rauchen. Dieser eskapistische Zug von Sabine Zesiger geht mit einer gewissen Des-Identifikation mit dem Lehrberuf einher. Im Interview gibt die junge Lehrerin zu verstehen, dass es für sie fraglich ist, ob sie dem Lehrberuf langfristig treu bleiben wird.209 Eine dritte Variante ist in jener schon bei Herrn Ross beobachteten Tendenz zu sehen, sich wiederholt auf der Metaebene selbst zu kommentieren. Gemeinsam ist den jungen Lehrpersonen, um die es hier geht, dass sie ihre inhaltliche Unentschlossenheit, in den Interviews selbst zum Thema machen. Einige von ihnen nehmen eine explizit relativierende Haltung ein, so etwa Phillip Graf, der – auf seine Meinung zum System Neun-Null angesprochen – meint, „also ich denke, so gibt es in jedem System seine Vor- und Nachteile“ (I 11, 31). Noch einen Schritt stärker als Herr Graf, der sich hinsichtlich der Vor- und Nachteile des Systems in relativierender Art und Weise äussert, begibt sich Patrick Feuz auf die Metaebene, indem er auf sich selbst als relativierender Mensch einen beobachtenden Blick wirft. Am Ende des Interviews stellt er fest, er habe sich auf der Herfahrt zum Interviewtermin noch überlegt: „Selektion und Fördern – also 206 Unter ‚Eskapismus’ verstehen wir die Tendenz, vor der Realität und ihren Anforderungen zu fliehen. 207 „Äuä“ steht hier für ‚wahrscheinlich’. 208 „Löu“ steht im Berndeutschen für ‚Trottel’, ‚Dummkopf’ oder ‚Einfaltspinsel’. 209 Die Frage, wie Lehrpersonen mit unterschiedlichen Belastungen umgehen, ist Gegenstand einer Studie von Herzog (2007). Als eine von 13 empirisch vorkommenden Bewältigungsformen konnte der Autor die „evasive Bewältigung“ ausmachen. Nach der „Hilfesuche und Stiftung bzw. Pflege sozialer Kontakte“ wurde diese am zweithäufigsten genannt (ebd., 258). Die „evasive Bewältigung“ bezieht sich – in Form von „Fluchtgedanken“ – sowohl auf das „symbolische“ wie auch auf das „faktische ‚Aus-dem-Felde-Gehen’“ (ebd., 251). Herzog stellt fest, dass „negative Reaktionen“ auf Beanspruchungen – zu denen auch „Fluchtgedanken“ gehören – bei jüngeren Lehrpersonen vergleichsweise häufiger vorkommen als bei älteren (ebd., 274).

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habe ich da überhaupt eine Meinung, so im Sinn von: Kann ich irgendwie sagen: ‚Ja, so finde ich es?’ Eh, eigentlich nicht, oder?“ (I 24, 34) An einer anderen Stelle im Interview meint er auf die sein vorangehendes Statement zusammenfassende Bemerkung des Interviewers, dass er also der Meinung sei, Selektion brauche es: „Also vielleicht komme ich hier in einem späteren Verlauf vom Gespräch nochmals zum gegenteiligen Schluss“, denn er sei sich „nicht so sicher“, dass er da „einen Kreuzzug für das eine oder für das andere eh machen würde“ (I 24, 21). Das Einnehmen der Metaperspektive, mit dem sich Phillip Graf und Patrick Feuz bis zu einem gewissen Grad aus dem Geschehen herausnehmen, sich über die Problematik stellen und sich dadurch dieser gegenüber immunisieren, scheint ihnen – im Rahmen ihres ‚Ringens um eine eigene Position’ – Stabilität zu verleihen. Eine andere Art des Sich-auf-die-Metaebene-Begebens findet sich bei anderen dieser jungen Lehrpersonen, die sich als Nicht-Wissende darstellen, wobei sie häufig auf ihren Novizenstatus verweisen. Als sie danach gefragt wird, wie es für sie sei, eine Schülerin zuerst zu fördern und sie dann negativ zu selegieren, meint Céline Adam, sie habe „das noch nie erlebt, mit diesem Übertritt“ (I 27, 3). Auch diese Fälle nehmen inhaltliche Relativierungen vor, so meint zum Beispiel Sabine Zesiger, konfrontiert mit der Idee einer Volksschule ohne Selektion: „Es gibt immer Vor- und Nachteile.“ (I 14, 32) Anders als etwa bei Phillipp Graf und Patrick Feuz, deren Relativierungen von ihrer Überzeugung genährt sind, angesichts der Komplexität der Welt liessen sich keine klaren Aussagen machen, sind die Relativierungen von Frau Zesiger und der anderen dieser Lehrpersonen gewissermassen ‚inhaltsleer’. Diese Fälle legitimieren die Tatsache, dass sie keine klaren Positionen einnehmen sodann auch unter Verweis auf den eigenen Novizenstatus. Sie stellen sich als Unwissende, weil noch Unerfahrene, dar. Frau Zesiger beispielsweise merkt an, dass sie sich das „glaub irgendwie noch länger überlegen“ müsste, um eine Antwort geben zu können, denn sie habe „wirklich zu wenig Erfahrung“ (I 14, 32), um dazu Stellung nehmen zu können. Den jungen Lehrkräften – dies sei zusammenfassend festgehalten – scheinen also keine konsistenten, ‚monolithischen’ Deutungsmuster zur Verfügung zu stehen, auf welche sie angesichts des Handlungsproblems von ‚Fördern und Auslesen’ rekurrieren könnten. Ihr deutender Umgang mit dem dadurch entstehenden Vakuum war in drei Varianten auszumachen: erstens im Verweis auf die eigene Unerfahrenheit, die mit einem Schwanken zwischen Unsicherheit und Selbstüberzeugtheit einhergeht; zweitens durch eskapistische Tendenzen; drittens schliesslich in einem ‚Ringen um die eigene Position’, das sich durch die Einnahme einer Metaperspektive – gerade auch angesichts der eigenen Ambiva284

lenzen – auszeichnet. Es fragt sich nun, wie die geschilderten Befunde zu interpretieren sind. Worin mag die Abwesenheit klarer, konsistenter Deutungsmuster begründet liegen? Und in welche Richtung könnte sich der Umgang dieser Lehrpersonen mit dem Deutungsvakuum entwickeln? Eine abschliessende Antwort lässt sich kaum geben, die Analyse der Interviews legte jedoch zwei auseinanderweisende Vermutungen nahe. Möglich ist erstens, dass das Hin- und Herschwanken beziehungsweise die ‚wilde’ Bezugnahme auf diverse, teils gegensätzliche Positionen auf das – teilweise – biographisch junge Alter dieser Lehrpersonen und deren Novizenstatus als junge Lehrkräfte mit wenig Berufserfahrung zurückzuführen sind. Dafür sprechen – neben den objektiven biographischen Daten – die bei einigen Fällen vorhandene habituelle Unsicherheit sowie die in ihren Erzählungen durchdrückenden Rudimente von Adoleszenz. Man kann sich fragen, in welche Richtung sich diese Lehrpersonen mit ihrem ‚Reifer-Werden’ entwickeln könnten. Es ist denkbar, dass diese Lehrpersonen mit zunehmender Berufs- und Lebenserfahrung eine Affinität für den Rekurs auf ein Deutungsmuster entwickeln und die inhaltlichen Ambivalenzen hinter sich lassen werden. Es könnte aber auch sein, dass sich die Lehrpersonen, bei denen eine Nicht-Identifikation mit dem Lehrberuf und ein ‚Eskapismus’ festgestellt werden konnte, früher oder später ganz aus dem Lehrberuf verabschieden werden, eine Möglichkeit, die Sabine Zesiger im Interview antönt.210 Zweitens ist zu vermuten – und diese Vermutung scheint uns weit plausibler zu sein als jene des Novizentums als allein ausschlaggebendes Faktum –, dass sich am Beispiel der jungen Lehrkräfte, die sich wiederholt auf die Metaebene begeben und sich selbst kommentieren, die Selbstreflexivität und der Relativismus einer neuen Generation von Lehrerinnen und Lehrern abzeichnen, die nicht an biographische Übergangsprozesse gekoppelt sind, sondern in einer historischspezifischen „Generationslagerung“ (Mannheim 1970[1928]) begründet lie210

Dasselbe gilt für die Primarlehrerin Céline Adam, deren habituelle Unsicherheit so stark ist, dass sie das ganze Interview durchdringt und das Zustandekommen des Gesprächsbündnisses zwischen Interviewer und Interviewee beinahe unmöglich werden lässt. Angesichts der Stärke dieser habituellen Unsicherheit und dem Fehlen von Anzeichen einer Selbstüberzeugtheit oder einer Tendenz zum Eskapismus, mit welchen sie der Unsicherheit – zumindest oberflächlich – Gegensteuer geben könnte, würde ein baldiger Ausstieg aus dem Lehrberuf nicht erstaunen. Herzog/Herzog/Brunner/ Müller (2007, 243f.) stellen in ihrer Studie zu Berufskarrieren von (ehemaligen) Primarlehrpersonen im Kanton Bern fest, dass achtzig Prozent der Ausstiege aus dem Beruf in den ersten zehn Jahren nach Abschluss der Ausbildung stattgefunden haben. Die Ergebnisse einer mündlichen Befragung zeigen, dass 43 Prozent der Befragten angeben, ihre Erfahrungen in „Beanspruchungssituationen“ (ebd., 247) hätten einen grossen Einfluss auf den Ausstieg aus dem Beruf gehabt. Es kann lediglich vermutet werden, dass das Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ einen Teil dieser „Beanspruchung“ ausmachte.

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gen.211 Es fragt sich, ob die deutenden Umgangsweisen dieser Lehrpersonen mit dem Problem von Fördern und Auslesen – dies die eine Möglichkeit – als ‚postmoderne’ zu lesen sind, ob für diese also eine – mehr oder minder zufällige – Amalgamierung bisher vorhandener Ideen typisch ist und die Identität dieser Lehrpersonen auch insgesamt als fragmentiert und instabil bezeichnet werden kann. Dies liesse sich damit erklären, dass diese jungen Lehrerinnen und Lehrer in einer Zeit der sogenannten ‚Individualisierung’ aufgewachsen sind, in der kulturelle Selbstverständlichkeiten und klare Normen tendenziell erodieren, was sie zu „Existenzbastlern“ werden lässt (vgl. Hitzler 1999). Es ist aber auch möglich, dass sich in den Charakteristika der Deutungen dieser jungen Lehrpersonen die Entstehung eines neuen Modus des Denkens (und also eines neuen Umgangs mit dem Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’) abzeichnet, der mit zunehmender beruflicher Erfahrung und Bewährung später zur vollen Entfaltung und Verfestigung gelangen könnte. Dies wäre beispielsweise dann der Fall, wenn zur – im Moment noch weitgehend unbewussten und teilweise unreflektierten – Einnahme der Metaperspektive gewisser Fälle die Fähigkeit zu einer wissenschaftlich fundierten Selbstreflexion hinzukäme. Am ehesten ist solches bei Patrick Feuz vorstellbar, der sich nicht nur wiederholt auf die Metaebene begibt, sondern bei dessen Ausführungen zur Antinomie sich abzeichnete, dass er kein ‚monolithisches’ Deutungsmuster teilt, sondern eine dynamisch-sensible Sichtweise hat, die von unterschiedlichen „Phasen“ ausgeht, und zum Versuch tendiert, das Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ in seiner Komplexität zu sehen. Die in jüngster Zeit vermehrte Verbreitung der ‚Fallarbeit’ in der tertiarisierten Lehrerausbildung zielt auf die Entwicklung in Richtung einer derart weiterreichenden Aufgeklärtheit der Lehrpersonen (zur Fallarbeit vgl. Beck/Helsper/Heuer/Stelmaszyk/Ullrich 2000, Ohlhaver/Wernet 1999, Wienke/Scheid/Ummel 2004). Ein solch ‚neuer’ Handlungs- und Deutungstyp wäre wohl in der Nähe unseres Typs 4 angesiedelt, dürfte er sich doch wie dieser durch ein gesteigertes Bewusstsein für das Handlungsproblem auszeichnen. Es wäre zu erwarten, dass diese Lehrpersonen ihre Handlungsmöglichkeiten noch mehr – und selbstreflektierter – ausloten als die Lehrpersonen des Typs 4. Zu bedenken bleibt allerdings, dass es auch bei einem solch reflek211

Mit Mannheim verstehen wir unter „Generation“ Menschen mit ähnlichen Geburtsjahrgängen, die im gleichen „historisch-sozialen Raume – in derselben historischen Lebensgemeinschaft – zur selben Zeit geboren“ wurden. Die Verbundenheit eines Generationszusammenhangs entsteht durch die „Partizipation an den gemeinsamen Schicksalen dieser historisch-sozialen Einheit“ (Mannheim, (1970[1928]), 542). Für die dieser Gruppe der ‚jungen’ Lehrpersonen angehörigen Personen trifft dies – trotz der grossen Altersspannweite – insofern zu, als sie alle in den 1980er und 1990er Jahren ihre Jugend erlebten, in einer Zeit, die sich durch sozial bzw. politisch (1980er Bewegung in Bern; Fall der Berliner Mauer) bedingte Um- und Aufbruchstimmungen auszeichnet.

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tierteren Umgang mit dem Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ letztlich unmöglich bleibt, dieses in der Berufspraxis aufzulösen. Diese Lehrpersonen müssten zwangsläufig die Grenzen der Professionalisiertheit ihres Lehrerhandelns erkennen, die erst eine Aufhebung des schulischen Selektionszwangs beseitigen könnten. Inwieweit neben dem Novizenstatus tatsächlich die Generationenlagerung der Lehrpersonen zu den rekonstruierten Deutungen geführt hat, liesse sich nur in einem weiteren Forschungsprojekt klären, das – in einer Längsschnittstudie – die Veränderungen und Verfestigungen der Deutungsmuster einer Lehrerinnen- und Lehrergeneration nach dem Studienabschluss erforscht.

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6 Integration und Ausblick In der vorliegenden Studie wurde danach gefragt, wie Lehrpersonen deutend mit dem Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ umgehen – einem Handlungsproblem, das mit der Institutionalisierung der Volksschule im 19. Jahrhundert entstanden ist, im Zuge derer für die Lehrkraft der Auftrag erwuchs, im Rahmen des schulischen Berechtigungswesens gleichzeitig zu ihren pädagogischen Aufgaben auch selektionsbezogenen Pflichten nachzukommen (vgl. 2.1.1). Aus professionalisierungstheoretischer Sicht steht die selektionsbezogene Aufgabe der Volksschullehrperson in einem widersprüchlichen Verhältnis zu ihren förderbezogenen Aufgaben (vgl. 2.2.2.2). Davon ausgehend, dass das objektive Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ die Berufspraxis der Lehrkräfte strukturell durchdringt, legten wir der Studie die Annahme zugrunde, dass sich bei den Lehrpersonen handlungsleitende Routinen nachzeichnen lassen, vermittels welcher eben dieses für sie ‚lebbar’ wird. Die rekonstruierten Deutungsmuster, denen das Interesse dieser Studie galt, sind als solch entlastende Routinen zu begreifen; als eine Form überindividuellen impliziten Wissens, das für die Repräsentantinnen und Repräsentanten des Lehrberufs handlungsleitenden Charakter hat. Ausgehend von den einzelnen, sequenzanalytisch rekonstruierten Deutungsmustern konnten die fünf im Kapitel 5 präsentierten Deutungsmustertypen gewonnen werden. Nach einer zusammenfassenden Darstellung und integralen Diskussion der empirischen Ergebnisse werden im Folgenden drei aktuelle bildungspolitische Bestrebungen bzw. Konzepte reflektiert, die das Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ tangieren. In einem abschliessenden Ausblick werden die Ergebnisse vor dem Hintergrund des theoretischen Diskussions- und empirischen Forschungsstandes, von dem die Studie ausgegangen ist, beleuchtet und werden weiterführende Forschungsfragen formuliert. 6.1 Integration der empirischen Ergebnisse Nach einer Rekapitulation der Eigenheiten der fünf Deutungsmustertypen werden einige kontrastive und typenübergreifende Befunde dargelegt. Hierauf wird eine strukturelle Verortung der rekonstruierten Deutungsmustertypen vorgenommen.

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Zusammenfassende Typencharakterisierung Lehrpersonen des Typs ‚Auslese der Besten’ (Typ 1) verstehen sich – implizit – als ‚Vollstrecker’ einer quasi natürlich verlaufenden schulischen Auslese: Ideell stellen sie sich anwaltschaftlich in den Dienst der Elite und fokussieren deren Positivselektion. Da die hierarchisch ‚oberen’ schulischen Niveaus (Sekundarschule bzw. Gymnasium) den naturwüchsig ‚besten’ Schülerinnen und Schülern vorbehalten bleiben sollen, hat Selektion hier den Charakter einer gleichsam selbstläufigen Flurbereinigung. Für Flurschäden – die Kränkung und objektive Chancenminderung seitens der negativ Selegierten – haben diese Lehrpersonen kein Sensorium. Sie gehen davon aus, frühzeitig und intuitiv richtig einschätzen zu können, welche Schülerinnen und Schüler zu den ‚wirklich Guten’ gehören und (dereinst) entsprechend positiv zu selegieren sind. In ihren Argumentationen finden sich Plädoyers für homogene Schulklassen, in denen die ‚Besten’ unter ihresgleichen bleiben. Gegenüber ‚durchlässigen’ Schulmodellen (bzw. solchen mit ‚Zusammenarbeitsformen’) äussern sich die Lehrpersonen des Typs ‚Auslese der Besten’ skeptisch bis ablehnend: Sie erachten diese Modelle als für die – in ihren Augen – begabten, intelligenten und leistungsstarken Schülerinnen und Schüler nicht förderlich. Auch die Lehrkräfte des zweiten Deutungsmustertyps – ‚Selektion als Platzanweisung’ – konnotieren die Selektion positiv. Sie begreifen diese als im Dienste der bestmöglichen Förderung aller Schülerinnen und Schüler (nachgerade der leistungsschwächeren) stehend. Dabei stellen sie sich als kompetente Vertreterinnen und Vertreter eines Berufsstands dar, der – nicht zuletzt auch in Fragen schulischer Selektion – seine eigenen als legitim verstandenen Verfahrensregeln kennt. Als eine Art ‚endemischer Immunschutz’ gegenüber dem Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ liess sich bei diesen Lehrkräften ein starker Glaube an die Legitimität und Verlässlichkeit schulischer Selektion rekonstruieren, der mit der Überzeugtheit von der allgemeinen Rechtmässigkeit des selektiv organisierten Schulsystems einhergeht. Die Negativselektion, welche diese Lehrpersonen als Voraussetzung dafür deuten, dass die betreffenden Schülerinnen und Schüler nach ihrer ‚Art’ gefördert werden können, erscheint als unproblematisch, da sie der Motivation der Schülerinnen und Schüler zur Leistungserbringung keinen Abbruch tue bzw. die ‚Kränkung’ bloss von vorübergehender Dauer sei. Dass die Lehrpersonen dieses Typs seitens der negativ Selegierten eine Aufrechterhaltung des Leistungswillens bzw. die Verwandlung der schmerzvollen Erfahrung in etwas Erträgliches konstatieren wollen, lässt darauf schliessen, dass sie ‚Abkühlungsprozesse’ beobachten und diese begrüssen. Teils liessen die rekonstruierten Deutungsmuster auch Handlungsdispositionen

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vermuten, welche die Lehrkräfte dieses Typs als mehr oder minder aktive ‚Abkühlungsagentinnen’ erscheinen lassen. Die Lehrerinnen und Lehrer des Typs ‚Disziplinierung’ (Typ 3) wiederum begegnen dem Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ mit einer Deutung, in der Selektion – verstanden als Misserfolgsgefahr, die den Schülerinnen und Schülern permanent droht – die Form eines Disziplinierungsinstruments annimmt; sei es Disziplinierung im Dienste der Ordnung, sei es Disziplinierung im Dienste der Leistungserbringung der Schülerinnen und Schüler. Von einer positiven Konnotierung von Selektion ausgehend, verstehen diese Lehrkräfte die Antinomie von ‚Fördern und Auslesen’ implizit als eine Intervenierende, die ihre Berufsausübung auf erwünschte Art mitbestimmt: sie entlastet mehr, als dass sie belasten würde. Es konnte gezeigt werden, dass habituell wenig gefestigte Lehrpersonen auf das Deutungsmuster ‚kontrollorientierte Disziplinierung’ rekurrieren, während habituell sichere Lehrkräfte auf jenes der ‚leistungsorientierten Disziplinierung’ zurückgreifen. In der ersten Variante nimmt die Schule ideell die Gestalt eines ‚Produktionsapparates’ (Foucault) an, die Gestalt also einer pausenlos funktionierenden Prüfungsmaschinerie, welche die ihr unterworfenen, von den Lehrpersonen als ‚haltlos’ beschriebenen Schülerinnen und Schüler in die Sichtbarkeit zwingt und sie dadurch zu kontrollierbaren Objekten macht. In der zweiten Variante wird das Ausüben eines ‚Fremdzwangs’ (Elias) auf die Schülerinnen und Schüler für notwendig gehalten, weil der ‚Selbstzwang’ heutiger Heranwachsender nicht funktioniere. Während die Lehrpersonen der ersten Variante sich in ihren Ausführungen in hoch ambivalenter Weise auf reformpädagogische Ideen beziehen, sind jene der zweiten Variante – ungleich eindeutiger – dem epochalen Deutungsmuster ‚Leistung’ verpflichtet. Die Lehrpersonen des Typs 4 – ‚Ringen um das Arbeitsbündnis’ – sehen dem Handlungsproblem gewissermassen mit aufgeklärtem Blick ins Auge. Ihre Denkweisen zeigen eine Nähe zu den theoretischen Überlegungen der vorliegenden Studie: Ihnen ist bewusst, dass sie den Schülerinnen und Schülern durch das Treffen von negativen Selektionsentscheiden pädagogisch sinnlosen Schmerz (in seiner subjektiven wie objektiven Dimension) zufügen; ebenso zeigen sie gegenüber der permanenten Gestörtheit ihrer pädagogischen Praxis aufgrund ihres auch selektionsbezogenen Handlungsauftrags eine hohe Sensibilität. Diese Lehrpersonen nehmen die Widersprüchlichkeit von Fördern und Auslesen also sowohl in ihrer situativen wie strukturellen Dimension wahr. Auch verstehen diese Lehrkräfte das selektive Schulsystem als mitverantwortlich für die Reproduktion sozialer Ungleichheit und monieren die Unerfülltheit des Leistungsprinzips. Im Unterschied zu den bereits genannten Typen ist die Selektion im Denken dieser Lehrerinnen und Lehrer negativ konnotiert. Den 290

Widerspruch von Fördern und Auslesen deuten sie – den eigenen Umgang mit diesem ins Zentrum ihrer Erläuterungen stellend – typischerweise als eine die Lehrer-Schüler-Beziehung störende Intervenierende. Und sosehr diese ‚selektionskritischen’ Lehrerinnen und Lehrer den Widerspruch von förder- und selektionsbezogenem Auftrag als Störfaktor in Bezug auf eine pädagogisch gelingende Berufsausübung identifizieren, sosehr zeigen sie sich bemüht, eben diesem in praxi – auf der Ebene der Interaktion mit ihren Schülerinnen und Schülern (und teils auch mit den Eltern) – beizukommen: im Wissen darum, dass dies einem praktisch aussichtslosen Unterfangen gleichkommt, ‚ringen’ sie – in charismatisch aufgeladener Weise – um das Arbeitsbündnis mit ihrer Klientel. Ihre Bemühungen nehmen – unter den Bedingungen des Handelns in einem selektiven Schulsystem – quasi unabwendbar perfiden Charakter an. Die Lehrpersonen des fünften Deutungsmustertyps – ‚Fördern jenseits der Selektion’ – schliesslich begreifen das Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ nur in einem indirekten Sinne als eines, das ihre Praxis tangiert: Als quasi-sozialwissenschaftlich denkende Personen siedeln sie den Widerspruch von Fördern und Auslesen nicht so sehr bei sich als Akteurinnen an, sondern vielmehr auf der Ebene der Organisationsform des Bildungswesens. Selektion deuten sie als ein insbesondere die leistungsschwächeren, sozial benachteiligten Schülerinnen und Schüler schädigendes Übel des Schulsystems, von welchem sie sich abgrenzen. Die Lehrkräfte, die diesem Deutungsmustertyp angehören, plädieren für eine möglichst späte Selektion oder gar für eine gänzlich selektionslose Schule. Im gegenwärtigen Schulsystem sehen sie sich veranlasst, ihren Schülerinnen und Schülern einen Schonraum bereitzustellen, in welchem sie sich als Lehrpersonen auf das Fördern der Schwächsten konzentrieren können: deren Selbstwertgefühl nämlich gilt es aus Sicht dieser Lehrkräfte zu stärken. Die Interviewanalysen haben gezeigt, dass die Männer des Typs ‚Fördern jenseits der Selektion’ zu einem beruflichen Selbstverständnis als vaterähnliche (heroische) Figuren – mit einer familialistischen Auffassung von Schule – neigen, während die Frauen dem ‚zielgerichteten’ schulisch-stofflichen Lernen mehr Gewicht beimessen. Die Männer identifizieren sich tendenziell mit den ‚Selektionsopfern’ und nehmen eine (mit-)leidende Haltung ein, die Frauen distanzieren sich – ungleich nüchterner – vom Schulsystem und seinen institutionell-organisatorischen ‚Fehlern’. Inklusion und Exklusion Nimmt man die gesamte Typologie in den Blick, so konnte bei den Lehrpersonen an ihren beiden Polen – also bei den Deutungsmustertypen 1 (‚Auslese der Besten’) und 5 (‚Fördern jenseits der Selektion’) eine weitestgehend ‚reibungs291

lose’ Handhabung des Problems von Fördern und Auslesen rekonstruiert werden. Diese Reibungslosigkeit erklärt sich im einen Fall dadurch, dass die Lehrpersonen gegenüber dem Handlungsproblem quasi ‚blind’ bleiben: Die Lehrerinnen und Lehrer des Typs 1 fokussieren einseitig die Auslese der in ihren Augen besten Schülerinnen und Schüler und sprechen sich mit Vehemenz für die selektive Organisationsform des Schulsystems aus. Im anderen Fall, beim Typ 5, nehmen die Lehrkräfte zum Schulsystem eine fundamental kritische Haltung ein, durchschauen das Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ und distanzieren sich innerlich von der Selektion, ja vom hierarchiestiftenden Schulwesen überhaupt. Es ist bei den Lehrpersonen dieser ‚peripheren’ Deutungsmustertypen eine je distinktive Grundhaltung auszumachen: einmal (beim Typ 1) gegenüber den ‚unteren Gefilden’ des Schulsystems, im anderen Fall (beim Typ 5) gegenüber allem, was in den ‚oberen Bereichen’ gefuhrwerkt wird. Diese Distinktion gegenüber jenen Subfeldern im Schulsystem, in welchen sie selber nicht tätig sind, geht typischerweise mit einer starken Identifikation mit der eigenen Klientel einher: beim Typ 1 mit den Sekundarschülerinnen (bzw. den dereinstigen Gymnasiastinnen), also den ‚Selektionsgewinnerinnen’, beim Typ 5 hingegen mit den Realschülern, d.h. den ‚Selektionsverlierern’.212 Diese distinktiven Grundhaltungen gegenüber den jeweils anderen schulischen Subfeldern und auch den dortigen Schülerinnen und Schülern sind unterschiedlich gefärbt. Die Lehrpersonen des Typs 1 erhalten sich ihre Handlungsfähigkeit angesichts des Widerspruchs von Fördern und Auslesen mithilfe von Deutungen, in denen die unteren Schultypen und deren Schülerinnen und Schüler in essentialisierender – mitunter ethnisierender – Art und Weise beschrieben werden. So haben sie etwa ‚Realschüler’ vor Augen, deren geringe „Frustrationstoleranz“ und – damit verbundene – Affinität zu „Terror“ sie auf ihre „ganze geistig-seelische Verfassung“ zurückführen; oder sie beschreiben die ‚Kleinklasse’ als einen Ort, an dem „Balkanstaaten“ aufeinandertreffen, was aus ihrer Sicht unumgänglich zu Gewalt führen muss. Schülerinnen und Schüler dieser Schultypen seien einfach so und liessen sich auch nicht ändern, wird geltend gemacht. Demgegenüber entlasten sich die Lehrkräfte des fünften Deutungsmustertyps mitunter durch vergleichsweise pauschale Beschreibungen der höheren Schultypen und der dortigen Schülerinnen und Schüler als moralisch zweifelhaften Charakters: Die dort herrschende allgemeine Orientierung nach ‚oben’ gehe mit einem eigennützigen Verhalten der Schülerinnen und Schüler einher, die ‚verblendet’ und weder genuin an der Sache noch an der Gemeinschaftlichkeit interessiert seien. Bei den Lehrpersonen der peripheren Deutungsmustertypen 1 und 212

Vgl. auch den Beitrag von Streckeisen/Hänzi/Hungerbühler (2006), in dem zwei exemplarische Fälle dieser beiden Deutungsmustertypen miteinander kontrastiert werden.

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5 liessen sich Schülerbilder nachzeichnen, die eine ‚schliessende’ Gegenüberstellung enthalten. Die distinktiven Zuschreibungen lassen sich als gleichzeitig inkludierende und exkludierende Deutungspraktiken betrachten. Damit ist eine schliessungstheoretische Perspektive angesprochen, die hier herangezogen werden kann. Sie ist im Anschluss an Webers Konzept der „offenen“ und „geschlossenen“ sozialen Beziehungen entstanden (1972[1922], 23; vgl. auch 201) und stellt soziale Auseinandersetzungen um die politische, ökonomische, soziale und kulturelle Partizipation ins Zentrum. Mit sozialer Schliessung sind, wie Steinert (2004) es nennt, „Manöver“ gemeint, die darauf abheben, „Personen draussen zu halten“ (ebd., 193). Zu diesem „Ausschliessen“ oder „Exkludieren“ gehört als Komplement das „Hereinholen“ oder Inkludieren (ebd.). Generell dominiert im schliessungstheoretischen Ansatz eine konflikttheoretische Perspektive, in welcher Inklusion und Exklusion als Ergebnis der Auseinandersetzungen von handelnden Kollektivakteuren begriffen wird, die – in unterschiedlichsten sozialen Feldern, auch im Bildungswesen – um begehrte Güter kämpfen. Ein schliessungstheoretisch konnotierter Erklärungszusammenhang findet sich auch bei Bourdieu: In „Die feinen Unterschiede“ legt er dar, dass soziale Klassen, die nebst anderem über unterschiedlich viel Kulturkapital (inkl. institutionalisiertes Kulturkapital in Form von Bildungstiteln) verfügen, unterschiedliche Lebensstile pflegen, die – jedenfalls was die oberen Klassen und die ‚Volksklasse’ betrifft – von einem gegenseitigen Sich-Abgrenzen begleitet sind (vgl. 1987[1979], 405ff.). Die Oberklasse huldigt ihrem luxuriösen oder avantgardistischen Geschmack und zeigt einen ausgeprägten Sinn für Distinktion. Man kann – in Anlehnung an Elias/Scotson (1990[1965]) – annehmen, dass sich Exklusionsprozesse der oberen Klassen auf der konkreten Interaktionsebene durch ein – von Angst vor ‚Beschmutzung’ gespeistes – Meidungsverhalten manifestieren, das von Stigmatisierungsprozessen gegenüber den Ausgeschlossenen alimentiert wird. Bei der Bourdieu’schen Volksklasse lassen sich ebenfalls Tendenzen einer Abgrenzung feststellen: so etwa lehnt sie die Stilisierungen der oberen Klassen ab und stellt diesen – nicht unterwürfig, sondern stolz – den eigenen Sinn für das Praktische entgegen (Bourdieu 1987[1979], 616). Freilich geht die Abgrenzung nicht so weit, dass eine Gegenkultur bestünde, die wider die herrschende Kultur opponiert und eine autonome Existenz reklamiert (ebd., 617). Vielmehr geht es um eine – wenn auch durchaus als Befreiung empfundene – Reaffirmation kultureller Würde und eine Rehabilitierung des Selbstwertgefühls, die eine Unterwerfung unter herrschende Werte und „bestimmte Prinzipien einschliesst – wie etwa die Anerkennung der Hierarchien, die sich auf Bildungstitel gründen, oder von Fähigkeiten, deren Besitz die Schule angeblich gewährleistet“ (ebd., 617f.).

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Vor diesem Hintergrund lässt sich in Bezug auf die Lehrpersonen des Deutungsmustertyps ‚Auslese der Besten’ festhalten, dass diese die Welt der strukturell ausgeschlossenen Nicht-Elite deutend exkludieren. Der Deutungsakt zeigt ein Meidungsverhalten. Diese Lehrpersonen bezeichnen jene Schülerinnen und Schüler, mit denen sie sich – diese ‚hereinholend’ – identifizieren, als eindeutig begabt, leistungsfähig, ja brillant und blenden all jene, welche diese Zuschreibung aus ihrer Sicht nicht verdienen, als undefinierte, ausgeschlossene ‚Restgruppe’ aus. Demgegenüber zeigt sich in den Deutungen der Lehrkräfte des Typs ‚Fördern jenseits der Selektion’, für welche die Welt der Ausgeschlossenen quasi auch ihre eigene darstellt, gleichermassen eine klar gegen ‚oben’ gerichtete exkludierende Tendenz mit entsprechendem Meidungsverhalten. Doch vermischt sich diese mit Werten und Massstäben der Elite. Zwar verfügen diese Lehrkräfte über eine klar umrissene, gleichsam ‚gegenkulturelle’ Vorstellung ihrer Klientel; sie charakterisieren diese etwa als ‚praktisch’ fähige und sozial sehr integere Heranwachsende; und sie holen diese Klientel in die ‚Realschule’ – diesen strukturell wie ideell gesonderten Schonraum – herein, um sie dort in ihrer ‚Menschlichkeit’ zu fördern. Aber sie kommen nicht umhin, sie gleichzeitig als „langsamer“ und „begriffsstutziger“ zu bezeichnen, stellen also einen impliziten Vergleich mit der gesellschaftlich positiv definierten Elite her und übernehmen deren Beurteilungs- und Wertmassstab. Darin sind sie der Bourdieu’schen Volksklasse vergleichbar. Die Deutungsmusterrekonstruktionen bei den Lehrkräften der beiden polaren Typen legen eine Affinität für pauschale, simplifizierende Zuschreibungen nahe, die angesichts des Handlungsproblems von ‚Fördern und Auslesen’ entlastenden Charakter hat. Die stark inkludierenden wie exkludierenden Grundzüge im auf die Schülerinnen und Schüler bezogenen Denken dieser Lehrpersonen lassen – jedenfalls bei jenen des Typs ‚Auslese der Besten’ – Handlungsdispositionen vermuten, die eine gesteigerte ‚Anfälligkeit’ für Etikettierungsprozesse213 und Prophezeiungen, die sich später selbst erfüllen, mit sich bringen dürften:214 Rosenthal und Jacobsen haben mit ihrer Studie „Pygmalion in the Classroom“ (1968) auf den Effekt der Erwartungshaltung der Lehrperson auf den Schuler213

Zur Etikettierungstheorie („Labeling Approach“) vgl. Tannenbaum (1938); Becker (1973); Brusten/Hurrelmann (1973). 214 Exemplarisch sei in diesem Zusammenhang an Frau Largo des Typs 1 (vgl. 5.1.2) erinnert. Im Interview stellt sie fest, dass in ihrer letzten Klasse genau jene Schülerinnen und Schüler am Ende der 6. Klasse den Übertritt ins Sekundarniveau geschafft haben, welche sie anfangs der 5. Klasse – in einer von ihr inoffiziell praktizierten, gleichsam vorgezogenen Selektion – der besseren Halbklasse zugewiesen hatte. Dieses Ergebnis deutet Frau Largo als eine Bestätigung dafür, dass sich schon früh sagen lässt, wer dereinst die Positivselektion schaffen wird; zudem sieht sie ihre individuelle Kompetenz in dieser Frage bekräftigt. Von aussen betrachtet ist anzunehmen, dass im Geschilderten ein Erwartungseffekt, eine sich selbst erfüllende Prophezeiung mitgespielt haben muss.

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folg der Schülerinnen und Schüler hingewiesen. Verschiedene soziologische und erziehungswissenschaftliche Studien haben dieses Phänomen in Bezug auf Schülerinnen und Schüler unterschiedlicher sozialer und nationalstaatlicher Herkunft untersucht (vgl. Baron/Tom/Cooper 1985, Jungbluth 1994, Kronig 2000; 2007). Kronig zeigt für die Schweiz auf, dass „Immigrantenkinder in ihrer Leistungsfähigkeit [von Lehrpersonen] tiefer eingeschätzt [werden] als Schweizer Kinder mit vergleichbarem Leistungs- und Begabungspotential“ (2000, 147). Er kommt zum Schluss, dass sich eine solch „fehlende Zuversicht“ (ebd.) auf die Lernentwicklung eines Schülers, einer Schülerin hemmend auswirken kann.215 Nachgerade bei den Lehrpersonen des ersten Deutungsmustertyps waren solche Zuschreibungen von Charakter- und Verhaltenseigenschaften aufgrund der nationalen bzw. ethnischen Herkunft von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund auszumachen, welche auf eine spezifische Form der „Konstruktion des Fremden“ (Mannitz/Schiffauer 2002, 67) hindeuten.216 Dieser Umstand entbehrt in Bezug auf die Fragestellung der vorliegenden Studie nicht einer gewissen Brisanz, da die Zuschreibungen vor dem Hintergrund des Problems von Fördern und Auslesen vorgenommen werden: Die Frage der Leistungsunterschiede zwischen Schülerinnen und Schülern – und damit verbunden: jene nach der ‚richtigen’ Selektion – wird von diesen Lehrkräften gerne unter Rückgriff auf ethnisierend-stereotypisierende Erklärungsmuster beantwortet.217 Die These von Kronig (2000), wonach „Lehrpersonen bei der Hypothesenbildung über die Gründe der Lernschwierigkeiten leicht bei den ethnischen Merkmalsunterschieden ‚hängen bleiben’ können“ (ebd., 32), findet also in Bezug auf die Lehrpersonen des in der vorliegenden Studie rekonstruierten Deutungsmustertyps ‚Auslese der Besten’ eine Bestätigung. Auf Dauer gestellte Krise In der ‚Mittellage’ der erarbeiteten Deutungsmustertypologie – bei den Lehrpersonen insbesondere des Typs 4 – fehlen jene distinktiven bzw. einseitig ex- und inkludierenden Grundhaltungen mit entsprechend ‚monolithischen’ Deutungsaffinitäten, die bei den Typen 1 und 5 auszumachen sind, und wie sich gezeigt hat, erscheint gerade bei den Lehrerinnen und Lehrern des Typs 4 – ‚Ringen um das Arbeitsbündnis’ – das Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ in seiner vollen Virulenz. Bei ihnen verbindet sich eine fundamentale Selektionskritik mit 215

Vgl. auch Kronig/Haeberlin/Eckhart (2000). Zur Herstellung ethnischer Differenz in der Schule vgl. auch Pilgrim (2000), Gomolla/Radtke (2002) und Gutiérrez Rodríguez (2003). 217 Es ist anzumerken, dass eine Affinität für solcherlei Zuschreibungen nicht ausschliesslich bei den Lehrkräften des ersten Deutungsmustertyps auszumachen war, bei diesen aber am ausgeprägtesten vorkommt. 216

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einem Selbstverständnis als individuell verantwortliche Selektionsakteurin. Während die Lehrpersonen der peripheren Typen 1 und 5 tendenziell von einer berufspraktischen ‚Nicht-Betroffenheit’ durch das Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ ausgehen, sehen sich diese Lehrkräfte dazu veranlasst, das Problem bestmöglich handelnd zu lösen. Es war bei ihnen denn auch eine vergleichsweise ausgeprägte Orientierung am einzelnen Schüler, an der einzelnen Schülerin und seiner bzw. ihrer gelingenden schulischen wie personalen Entwicklung festzustellen. Die Interviewanalysen haben deutlich gemacht, dass eben diese vergleichsweise ausgeprägte ‚Fallbezogenheit’ der Lehrpersonen des Typs 4 mit ihrem gleichzeitigen Wissen um die für ihre Schülerinnen und Schüler potentiell schmerzhaften Konsequenzen des eigenen Selektionsauftrags ‚unverträglich’ ist. Angesichts der Antinomie von Fördern und Auslesen greifen sie aber nicht auf kollektiv verbürgte, handlungsentlastende Hintergrundüberzeugungen mit ‚Patentcharakter’ zurück, sondern stellen sich dem Handlungsproblem quasi immer wieder von neuem – und zwar in der konkreten Interaktion mit ihren Schülerinnen und Schülern. Das Bemühen um eine möglichst ‚verträgliche’ Ausgestaltung des Zustandekommens und Treffens von Selektionsentscheiden besteht im porträtierten Fall Vogel etwa darin, gleichsam prophylaktisch bei ihren Schülerinnen und Schülern eine Vertrauensbasis zu schaffen, die es ihr als Lehrperson erleichtert, dann „auch schwierige Entscheide“ treffen zu können. Wie gezeigt werden konnte, ringen die Lehrpersonen dieses Deutungsmustertyps in charismatisch aufgeladener Art und Weise um das (objektiv verunmöglichte) ‚Arbeitsbündnis’ mit ihren Schülerinnen und Schülern. Angesichts der strukturellen Unmöglichkeit, das Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ im Rahmen des selektiven Schulsystems in der Interaktion mit der Klientel zu tilgen, kommt dieses Ringen indes einem ‚Kampf ohne Ende’ gleich: der Versuch, die Widersprüchlichkeit von förder- und selektionsbezogenem Auftrag zu vereinbaren, nimmt für diese Lehrpersonen den Charakter einer auf Dauer gestellten Krise an: die Spannung von Fördern und Auslesen muss „im praktischen beruflichen Handeln laufend und immer erneut bewältigt werden“ (Seyfarth 1989, 394), wie Seyfarth es in seinen – an Weber (1972[1922]) anschliessenden – charismatheoretischen Überlegungen zum professionellen beruflichen Handeln formuliert. Im Sinne Webers beschreibt Seyfarth „Charisma“ als eine Form der „ausseralltägliche[n] Hingabe“ an eine Sache aufgrund einer „als dringlich empfundenen Problemlage und einer intuitiven Lösungsidee“ (Seyfarth 1989, 378). Wie in unseren Analysen gezeigt werden konnte, empfinden von den untersuchten Lehrpersonen einzig jene des vierten Deutungsmustertyps das Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ als „dringlich“ in Bezug auf die eigene Berufspraxis – und begegnen diesem mit einer eigenen „Lösungs296

idee“. Dem Deutungsmustertyp ‚Ringen um das Arbeitsbündnis’ sind also deutlich jene „Elemente des Charisma“ inhärent, welche laut Seyfarth „in allen veralltäglichten Berufs- und Erziehungssystemen“ enthalten bleiben, „wie stark auch immer sie mit Elementen des ‚Fachmenschentums’ durchsetzt sein mögen“ (ebd., 379). Strukturelle Verortung Die Rekapitulation der einzelnen Deutungsmustertypen sowie deren übergreifende Kontrastierung zieht die Frage der „Seinsverbundenheit des Wissens“ (Mannheim 1959[1931]) nach sich, also jene nach den objektiven Merkmalen der Lehrkräfte sowie nach den Rahmenbedingungen, unter welchen sie arbeiten, etwa den Schulmodellen. Bei den Lehrpersonen des ersten Deutungsmustertyps (‚Auslese der Besten’) handelt es sich um fünf Sekundarlehrkräfte sowie drei Primarlehrpersonen, deren Ausbildung eine Nähe zur Sekundarlehrerausbildung aufweist. Die Sekundarlehrkräfte arbeiten vorwiegend im Modell 3a (auch „Manuel“ genannt), welches eine grundsätzliche Trennung in Real- und Sekundarklassen – sogenannte Stammklassen – vorsieht. Eine Schülerin, ein Schüler kann maximal eines der drei Niveaufächer auf dem jeweils anderen Niveau besuchen. Mit Ausnahme von Frau Kramer, der in Kapitel 5.1 porträtierten Sekundarlehrerin, die – wie sie im Interview zu verstehen gibt: nur bedingt freiwillig – im Modell 4 arbeitet und also eine ‚heterogene’, aus Real- und Sekundarschülerinnen ‚gemischte’ Klasse unterrichtet, haben es die Sekundarlehrkräfte des Typs ‚Auslese der Besten’ demnach mit den Gewinnerinnen und Gewinnern der Selektion beim Übergang von der Primar- zur Sekundarstufe I zu tun. Das Schulmodell, in dem sie arbeiten, passt förmlich zum rekonstruierten Deutungsmuster ‚Auslese der Besten’: Die Sekundarschülerinnen und Sekundarschüler, bei denen sie unterrichten, sind zugleich ihre Wunschklientel. Und wie gezeigt werden konnte, beklagt beispielsweise Frau Kramer am Modell 4 just den Aspekt, dass aufgrund der heterogenen Zusammensetzung der Klasse die ‚wirklich Guten’ gebremst würden und methodisch „perfekte“ Stunden in solchen Klassen unmöglich seien. Sie wünscht sich eine homogene, leistungsstarke Schülerschaft. Das Deutungsmuster ‚Auslese der Besten’ setzt sich aus zwei ineinandergreifenden Momenten zusammen: einmal steht die positive Auslese bzw. Beförderung der ‚Crème de la Crème’ nach oben im Vordergrund, einmal das Motiv der – die ‚Auslese der Besten’ garantierenden – Nicht-Auswahl jener Schülerinnen und Schüler, die für eine Positivselektion nicht in Frage kommen. Lehrkräfte, deren Denken vorrangig vom ersten der beiden Momente angeleitet wird, arbeiten typischerweise in einem als unproblematisch geltenden schulischen Umfeld, in 297

Mittelschicht-Quartieren, während jene, in deren Deutungen das zweite Moment dominiert, sich mit als ‚schwierig’ geltenden Bedingungen konfrontiert sehen; es handelt sich um Stadtteile mit hohem Anteil an Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund. An den betreffenden Schulen lagen die Quoten der Schülerinnen und Schüler, die beim Abschluss der Primarstufe in den Sekundarschultyp selegiert wurden, im Durchschnitt der Jahre 2002 bis 2005 deutlich unter dem stadtbernischen Wert von 54 Prozent218: Sie betragen zwischen rund 31 und 34 Prozent. Schliesslich zeigte sich, dass die Lehrpersonen des Typs ‚Auslese der Besten’ aus sozial eher gut gestellten Milieus stammen, wobei sowohl die Berufe der Väter wie jene der Mütter eine vergleichsweise hohe Bildungsaspiration vermuten lassen. Mit ihrer universitären Sekundarlehrerinnenausbildung reproduzieren die Lehrpersonen dieses Typs – es handelt sich dabei mehrheitlich um Frauen – den sozialen Status ihrer Eltern. Soweit es sich bei ihnen um Lehrerinnen handelt, die aus einer mittleren Schichtlage stammen, drückt sich ihre eliteorientierte Haltung auch in kleinbürgerlichen Attitüden wie etwa jener der „Bildungsbeflissenheit“ (vgl. Bourdieu 1987[1979], 500ff.) aus. Dem zweiten Deutungsmustertyp – ‚Selektion als Platzanweisung’ – waren neun Lehrkräfte zuzuordnen: vier Primar- und fünf Sekundarlehrpersonen. Diese sind mehrheitlich männlichen Geschlechts, zwischen 40 und 60 Jahre alt und verfügen typischerweise über eine naturwissenschaftliche Sekundarlehrerausbildung (Phil II). Der technisch – mitunter auch ‚mechanistisch’ – anmutende Charakter dieses Deutungsmustertyps lässt sich also zum einen durch den Ausbildungstyp der Lehrkräfte erklären, die gleichsam als ‚Fachmenschen’ zur technischen Intelligenz gehören. Zum anderen mag auch die soziale Herkunft eine Affinität zu diesem Deutungsmustertyp nahelegen: Die Väter (teils auch schon die Grossväter) dieser Lehrer sind primär in technischen oder kaufmännischen Berufen tätig. Der Umstand, dass bei diesem Typ fast ausschliesslich Männer zu verorten sind, ist insoweit interessant, als verschiedene Studien zu geschlechtsspezifischen Aspekten der beruflichen Orientierung von Lehrpersonen bei den männlichen Vertretern einen – im Vergleich mit den weiblichen Lehrkräften – vergleichsweise starken Institutions- bzw. Berufsbezug erkennen lassen:219 Wie gezeigt werden konnte, tendieren gerade die männlichen Lehrpersonen des Deutungsmustertyps ‚Selektion als Platzanweisung’ dazu, sich gegenüber dem Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ qua Rekurs auf organisatorisch-institutionelle – ja quasi ‚berufsständische’ – Argumentations218

Die Zahlen entstammen den vom Berner Schulamt durchgeführten statistischen Erhebungen der Übertritte in die Sekundarstufe I. Die Durchschnittswerte für die Jahre 2002 bis 2005 basieren auf eigenen Berechnungen. 219 Vgl. hierzu Flaake (1989; 1993); Luca/Ginhold (1994); Schümer (1992); Terhart/Czerwenka/ Ehrich/Jordan/Schmidt (1994).

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muster zu immunisieren. Das schulische Umfeld wiederum, in welchem die Lehrpersonen dieses Typs arbeiten, ist ein mittelständisches, wobei insbesondere die Primarlehrer in Schulhäusern tätig sind, deren Einzugsgebiete eine sozial bessergestellte Klientel umfassen und an welchen die Selektionsquoten ins Sekundarniveau deutlich über dem Durchschnitt der Stadt Bern (54 Prozent) liegen: An ihren Schulen belaufen sich die Sekundarschultyp-Übertrittsquoten auf zwischen rund 62 und rund 73 Prozent. Da die Anzahl der negativ selegierten (bzw. negativ zu selegierenden) Schülerinnen und Schüler an diesen Schulen also vergleichsweise tief ist, kommen sie weniger häufig in die Situation, die Negativselektion von Schülerinnen und Schülern legitimieren zu müssen.220 Dem dritten Deutungsmustertyp – ‚Disziplinierung’ – liessen sich drei Sekundarlehrpersonen und zwei Reallehrpersonen zuordnen. Interessanterweise war bei beiden Varianten dieses Typs – also bei der ‚leistungsorientierten’ und bei der ‚kontrollorientierten Disziplinierung’ – eine Entsprechung des Interpretationsschemas mit dem Schulmodell auszumachen, in welchem die jeweiligen Lehrpersonen arbeiten. Während die Sekundarlehrpersonen, die auf das epochale Deutungsmuster ‚Leistung’ zurückgreifen, im Modell 3a arbeiten und es also mit jenen Schülerinnen und Schülern zu tun haben, von denen ‚Leistungsstärke’ zu erwarten ist, sind die kontrollorientierten Lehrkräfte im Modell 4 tätig und also mit einer als heterogen verstandenen Schülerinnenschaft konfrontiert. Ähnlich der Zusammenhang mit dem schulischen Umfeld: Die leistungsorientierten Lehrpersonen arbeiten in Stadtteilen, in denen das Mittel- und Oberschichtmilieu dominiert, während die kontrollorientierten vor allem mit Kindern und Jugendlichen aus dem Unterschichtmilieu (inkl. Unterschichten mit Migrationshintergrund) beschäftigt sind. Schliesslich fällt auf, dass der Ausbildungsweg, der zum Unterrichten auf der Oberstufe geführt hat, bei diesen Lehrpersonen Unterschiede aufweist: Auf der einen Seite stehen die leistungsorientierten Lehrpersonen, die über die Matura und das Sekundarlehramt, zum Teil über ein angefangenes und dann zugunsten des Sekundarlehramts wieder aufgegebenes reguläres Universitätsstudium zur Oberstufenlehrperson geworden sind: die relative Fachbezogenheit der absolvierten Ausbildung paart sich hier mit der Leistungsorientierung. Auf der anderen Seite befinden sich die kontrollorientierten Lehrpersonen, die über das Seminar und z.T. eine daran anschliessende 220

Theoretisch wäre allerdings auch denkbar, dass gerade an Schulen, an denen ein vergleichsweise geringer Anteil der Schülerschaft die Sekundarstufe I auf dem hierarchisch tiefer liegenden Realschulniveau zu absolvieren hat, die Problematik der Negativselektion zusätzlich verschärft wird durch den Umstand, dass es sich bei diesem Teil nur umso offensichtlicher um eine marginalisierte Gruppe handelt: Wer es dort nicht ins Sekundarniveau schafft, ist nur noch stärker gebrandmarkt. Diese Deutung war bei den Lehrpersonen des Typs ‚Selektion als Platzanweisung’ aber nicht auszumachen.

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Ausbildung am Sekundarlehramt in die Oberstufe gelangt sind. Nur ein Reallehrer, der aus einem Milieu prestigereicher freier Berufe stammt, durchkreuzt dieses ansonsten klare Muster. Beim Deutungsmustertyp ‚Ringen um das Arbeitsbündnis’ – kurz: Typ 4 – waren zwei Primarlehrerinnen, zwei Reallehrpersonen und eine Sekundarlehrerin zu verorten. Bis auf eine Ausnahme ist den Fällen dieses Typs gemein, dass sie in einem katholisch geprägten221 und – was die Berufe der Eltern betrifft – vergleichsweise ‚einfachen’ Milieu aufgewachsen sind. Die Lehrkräfte des Typs 4 sind als soziale Aufsteigerinnen zu sehen. Bei diesem Typ stellte sich keine ‚Passung’ des Deutungsmusters mit einem bestimmten Schulmodell heraus: alle drei Modelle kommen vor. In Bezug auf die Schulkreise, in denen diese Lehrpersonen arbeiten, fällt auf, dass an den betreffenden Schulen (in sozial vergleichsweise privilegierten Stadtteilen) – ähnlich wie an jenen der Lehrpersonen des Typs 2 – ein vergleichsweise hoher Anteil der Schülerinnen und Schüler – zwischen 55 und rund 69 Prozent – ins Sekundarniveau selegiert wird. Auch hier ist also die Quote der negativ selegierten (bzw. negativ zu selegierenden) Schülerinnen und Schüler vergleichsweise tief. Mit Vorsicht kann man sagen, dies möchte ein Hinweis dafür sein, dass eine Affinität zum Deutungsmustertyp ‚Ringen um das Arbeitsbündnis’ nicht durch spezifische handlungskontextuelle Rahmenbedingungen strukturell erklärt werden kann. Auch eine kulturelle Eingebettetheit in berufsgruppenspezifische Deutungstraditionen lässt sich bei diesen Lehrpersonen nicht ausmachen. Es handelt sich um einen ‚Typ’ des Umgangs mit dem Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’, der auf tiefer eingravierte Dispositionen im Sinne habitueller Eigenheiten verweist. Ein ‚abstrakt’ deutender Umgang taucht in den Interviews daher kaum auf, sehr wohl aber die Darlegung der konkret praktischen Bemühungen um eine ‚gute Lösung’ des unauflösbaren Handlungsproblems. Es fehlt also eine qua Deutungsmuster entlastende Routine. Nur das Handeln-in-der-Krise (im Sinne eines Ringens um das ‚Gute’) können die Lehrpersonen beschreiben. Implizit gehen sie damit von der Annahme aus, dass keine andere als eine pragmatische Lösung des Hand221

Inwieweit der Umstand, dass diese Lehrpersonen aus katholischen Herkunftsmilieus stammen, ihre Affinität für das Deutungsmuster ‚Ringen um das Arbeitsbündnis’ erklären könnte, kann hier nicht gesagt werden. Zu vermuten ist, dass den Deutungen dieser Lehrkräfte konfessionell geprägte Handlungsmaximen zugrunde liegen, welche auf der christlichen Soziallehre beruhen dürften. Die Frage, in welcher konkreten Art und Weise religiös inspirierte Leitbilder für die Arbeit im Lehrberuf – als halbfreie Quasi-Amtsprofession (vgl. 2.1.2) – handlungsrelevant sind, muss hier unbeantwortet bleiben. Im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms „Religionsgemeinschaften, Staat und Gesellschaft“ (NFP 58) des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) geht Schallberger dieser Frage in Bezug auf den ebenfalls als ‚Semi-Profession’ zu begreifenden Beruf der Sozialen Arbeit nach (vgl. Schallberger 2007).

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lungsproblems möglich ist. Dies bedeutet indes nicht, dass jegliche Orientierung an übergreifenden, etwa sozialmoralischen Deutungshorizonten fehlen würde. Dem fünften und letzten Deutungsmustertyp schliesslich – ‚Fördern jenseits der Selektion’ – waren neun Lehrpersonen zuzuordnen. Vier Reallehrer und eine Reallehrerin, eine Sekundarlehrerin und drei Primarlehrer. In Bezug auf die soziale Herkunft der Fälle dieses Typs lässt sich kein ‚typisches’ Milieu ausmachen.222 Jene Lehrpersonen, die diesen Typ am ‚reinsten’ verkörpern – nämlich die (männlichen) Reallehrer einer älteren Generation –, arbeiten im Modell 3a und haben es damit durchwegs mit jener Klientel zu tun, die aus der Selektion beim Übertritt von der Primar- in die Sekundarstufe I als Verliererinnen und Verlierer hervorgingen: die Realschülerinnen und Realschüler. Die Lehrer des fünften Deutungsmustertyps haben ihre Ausbildung an Lehrerseminaren genossen – auch die Primarlehrpersonen dieses Typs, die zu einem späteren Zeitpunkt noch am Sekundarlehramt eine zweite Ausbildung absolviert haben. Ihr förderbezogenes Denken lässt – in unterschiedlicher Ausgeprägtheit – eine reformpädagogisch inspirierte Grundhaltung aufscheinen. Weiter bemerkenswert ist, dass die Lehrpersonen dieses Typs verschiedentlich Mitglied in der sozialdemokratischen Partei der Schweiz oder gewerkschaftlich orientierten Verbänden sind. Dies korrespondiert – grob ausgedrückt – mit der ‚solidarischen’ Haltung, die sie den Verliererinnen und Verlierern, den ‚Selektionsopfern’ des hierarchisch strukturierten Schulsystems, entgegenbringen. Interessant ist der Umstand, dass die beiden jüngeren Reallehrer sowie einer der beiden jüngeren Primarlehrer dieses Typs nach der seminaristischen Ausbildung ein Universitätsstudium beginnen, nach wenigen Semestern aber abbrechen.223 Der Gang an die Universität lässt auf ein allgemeines Bildungsinteresse seitens dieser Lehrer schliessen, das – wie zu vermuten ist – teils auch vom Wunsch alimentiert gewesen sein mag, den Lehrberuf hinter sich zu lassen. Dass es bei den dreien zu einem Studienabbruch kommt, mag einerseits auf einen mangelnden Durchhaltewillen angesichts des Umstands zurückzuführen sein, dass die im Lehrberuf bereits gemachten Erfahrungen es tendenziell erschweren, eine Bewährungsprobe jenseits der Praxis als solche anzunehmen. Ob der Abbruch eher mit einer starken Identifikation mit dem bereits bekannten Lehrberuf oder aber mit einem latenten 222

Während die beiden Reallehrer der älteren Generation in einem Handwerksumfeld aufwuchsen und also als klassische Aufsteiger zu sehen sind, ist bei den Lehrkräften der jüngeren Generation, die am Rande dieses Typs zu verorten waren, über die Mütter eine Nähe zum Lehrberuf zu finden; diese sind selbst als Lehrerinnen – oder zumindest im schulischen Umfeld – tätig. Bei einigen Fällen gehen die Väter auch einer klassischen Profession nach. 223 Der zweite Primarlehrer der jüngeren Generation wiederum besucht – bevor er dann das Lehrerseminar absolviert – das ‚Freie Gymnasium’ in der Absicht, später ein Studium anzutreten, bricht dieses Unterfangen aber vorzeitig ab, ohne die Maturität zu erlangen.

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antiintellektualistischen Impuls zu erklären ist, kann an dieser Stelle nicht gesagt werden. Denkbar ist auch eine Kombination davon. Zusammenfassend – und damit notwendigerweise vereinfachend – kann gesagt werden, dass jene Lehrpersonen zu einer weitgehenden ‚Immunität’ gegenüber dem Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ tendieren, die über eine Sekundarlehrer- bzw. Sekundarlehrerinnenausbildung verfügen, einer – neurowissenschaftlich gewendeten – statischen Begabungsvorstellung anhängen und sich entweder (wie beim Typ 1 der Fall) mit ihrer Wunschklientel, den als ‚wirklich’ leistungsfähig verstandenen Schülerinnen und Schülern, oder aber (wie die Lehrkräfte des Typs 2) mit den im selektiven Schulsystem herrschenden ‚Regeln’ identifizieren. Demgegenüber stellt der Widerspruch von Fördern und Auslesen für jene Lehrpersonen ein – mitunter unmittelbar handlungspraktisch relevantes – Problem dar, die (wie beim Typ 5) über eine seminaristische Ausbildung in den Lehrberuf eingestiegen sind und deren tendenziell quasisozialwissenschaftliches Denken – unterschiedlich deutlich – auf reformpädagogischen Hintergrundüberzeugungen sowie Werthaltungen der politischen Linken fusst oder die (so bei Typ 4 der Fall) zwar über eine Sekundarlehrerausbildung verfügen, sich aber aufgrund einer habituell tiefsitzenden – allenthalben auf Handlungsmaximen der christlichen Soziallehre zurückgehenden – Neigung, Probleme zwischenmenschlich – hier konkret: im Rahmen einer ‚guten’ LehrerSchüler-Beziehung – zu lösen, nicht umhin können, der Antinomie von Fördern und Auslesen (im halb bewussten Wissen darum, dass es sich dabei um eine eigentlich unauflösbare Krise handelt) in charismatisch aufgeladener Art und Weise mit eigenen Lösungsideen zu begegnen. Die Untersuchung hat gezeigt, dass das strukturelle Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ nicht von allen Lehrpersonen gleichermassen gesehen wird bzw. nicht für alle Lehrpersonen dieselbe Virulenz hat. Während die Lehrerinnen und Lehrer im ‚oberen’ Bereich der Typologie (Typen 1, 2 und 3) das Problem nicht erkennen wollen beziehungsweise sich diesem gegenüber – mehr oder weniger erfolgreich – zu immunisieren wissen, zeigen sich die Lehrkräfte der ‚unteren’ Typen (4 und 5) diesem gegenüber ungleich sensibler. Auch wurde deutlich, dass die jeweiligen aufs Handlungsproblem bezogenen Deutungen – bis zu einem gewissen Grad – von den konkreten Handlungsbedingungen abhängen, mit denen sich die Lehrperson in ihrer Praxis konfrontiert sieht: So variiert die je spezifische Gestalt, die ein Deutungsmuster – als eine prinzipiell überindividuelle Form impliziten Wissens – im Einzelfall annimmt, etwa mit dem Schulmodell, in dem die betreffende Lehrperson arbeitet, oder auch mit den sozialräumlichen bzw. -demographischen Eigenheiten des Quartiers, in dem sich die betreffende Schule befindet. 302

6.2 ‚Fördern und Auslesen’ im Kontext der Bildungspolitik Im Zuge der Debatten in den 1960er und 1970er Jahren um die Chancen(un)gleichheit und die Nicht-Erfülltheit das Leistungsprinzips wurden in der Schweiz – und so auch im Kanton Bern – bildungspolitische Reformprojekte in Angriff genommen und bis Mitte der 1990er Jahre umgesetzt, mit dem Ziel, diesen Unzulänglichkeiten des Bildungswesens entgegenzuwirken. Vor dem Hintergrund unserer Studie sollen in der Folge drei Instrumente bzw. Konzepte dieser Reformen beleuchtet werden. Es handelt sich dabei um die in den 1990er Jahren im Kanton Bern eingeführten ‚Schulmodelle’, um die Idee der ‚Entflechtung der Beurteilung’ und um das Instrument der ‚Selbstbeurteilung’. Grenzen der ‚Durchlässigkeit’ Der in Anlehnung an das Konzept der Gesamtschule erfolgten Einführung der verschiedenen Schulmodelle im Kanton Bern (vgl. 4.2.2) lag das Ziel zugrunde, die ‚Durchlässigkeit’ zwischen dem Real- und dem Sekundarniveau zu erhöhen und damit den Übertrittsentscheid von der Primar- in die Sekundarstufe I zu entschärfen, aber auch andere Entscheide weniger ‚definitiv’ bzw. folgenreich zu machen (vgl. Jenzer 1998, 68ff.). Die Idee der Durchlässigkeit soll es ermöglichen, dynamischer auf die Entwicklung einer Schülerin oder eines Schülers reagieren zu können und damit diesem Selektionsentscheid den Charakter einer ein für allemal gültigen Einweisung in eine bestimmte Schullaufbahn zu nehmen. Sie trägt der Vorstellung Rechnung, dass die Leistungsfähigkeit einer Schülerin oder eines Schülers nicht ein für alle Mal fest, sondern sich im Laufe der Schulzeit in beide ‚Richtungen’ verändern kann, was eine ‚Berichtigung’ der Selektion erfordern kann: Schülerinnen und Schüler, deren Leistungen sich im Laufe der Sekundarschulzeit steigern, werden zu Kandidatinnen und Kandidaten für eine ‚Selektionskorrektur’ nach oben, also eine Umstufung vom hierarchisch tieferen ins hierarchisch höhere schulische Niveau. Umgekehrt kann ein Leistungseinbruch seitens der Schülerin bzw. des Schülers eine ‚Selektionskorrektur’ nach unten zur Folge haben. Auf den Handlungsauftrag der Lehrperson bezogen bedeutet dies eine engere Verknüpfung von Fördern und Auslesen. Durch die hohe Kadenz an Selektionsentscheiden ist die Lehrkraft ständig gezwungen, die Schülerleistungen, die immer auch als Resultat ihres Förderverhaltens betrachtet werden können, mit Selektionsentscheiden zu quittieren. Ist es ihr gelungen, die Schülerin zu einer Leistungssteigerung anzuhalten, kann sie diese aufstufen. Umgekehrt kann sie nie ausschliessen, dass ein Leistungsabfall einer Schülerin, eines Schülers – der eine Abstufung notwendig macht –, auf eine mangelnde Förderung ihrerseits zurückzuführen ist. 303

Vor dem Hintergrund des Handlungsproblems von ‚Fördern und Auslesen’ gilt es zunächst festzuhalten, dass die Schülerinnen und Schüler in all den in den 1990er Jahren eingeführten Schulmodellen nach wie vor selegiert werden. Jedes Kind wird nach der Primarstufe dem Real- oder Sekundarniveau zugewiesen. Mit der Einführung der – vom Anspruch her – ‚durchlässigen’ Schulmodelle wurde die Anzahl der möglichen Selektionsentscheide auf der Sekundarstufe I markant erhöht: Eine Sekundarschülerin, die in zwei aufeinander folgenden Semestern in einem ‚Niveaufach’ eine ungenügende Leistung erbringt, wird in diesem Fach ins Realniveau abgestuft. Sind ihre Leistungen in zwei der drei selektionsrelevanten Fächern ungenügend, so wechselt ihr Status insgesamt: sie wird von der Sekundar- zur Realschülerin. Prinzipiell ist der Wechsel von einem Niveau ins andere auf Beginn jedes Semesters möglich. Dies gilt auch für Aufstufungen vom Real- ins Sekundarniveau, wobei für diesen Fall in den gesetzlichen Grundlagen keine konkreten Leistungskriterien vorgegeben sind.224 Für die Lehrperson der Sekundarstufe I bringt die Einführung dieser Schulmodelle mit sich, dass ihre selektionsbezogenen Aufgaben gleichsam ‚perennierenden’ Charakter annehmen: Theoretisch hat sie für jede Schülerin aufs neue Semester hin zu entscheiden, ob diese im aktuellen Niveau verbleiben oder aber ab- bzw. aufsteigen soll. Die bildungspolitisch angestrebte Entschärfung der Selektion – im Sinne der Möglichkeit zu ihrer Korrektur – verbindet sich also mit einer Verschärfung der Selektion. Auf der Ebene des Handlungsauftrags der Lehrperson wird die Berufspraxis unweigerlich zu einer permanent an der Frage der ‚richtigen’ Selektion jeder Schülerin und jedes Schülers ausgerichteten Angelegenheit. Für die Schülerinnen und Schüler herrscht eine gleichsam pausenlose, existentielle Misserfolgsgefahr aufgrund des Umstands, dass über ihren Köpfen stets das Damoklesschwert der Selektion schwebt. Wie die Zahlen der letzten Jahre deutlich machen, ist die tatsächliche Durchlässigkeit an den öffentlichen Schulen der Stadt Bern relativ gering: Gemäss unseren Berechnungen wurden von 1998/99 bis 2004/05 in der Stadt Bern jährlich im Durchschnitt 3.14% aller möglichen Niveauwechsel in den Fächern Deutsch, Französisch oder Mathematik vollzogen.225 Die meisten Wechsel erfolgten im 7. 224

Der entsprechende Artikel in der DVBS hält allgemein fest, es müsse die „begründete Annahme“ bestehen, dass die Schülerin, der Schüler den „erhöhten Anforderungen“ wird entsprechen können (vgl. Art. 42 DVBS). 225 Leider existieren keine schülerbezogenen Daten. Mit anderen Worten: es ist lediglich bekannt, wie viele Schülerinnen und Schüler das Niveau in jedem einzelnen Fach gewechselt haben; ob jemand in zwei Fächern gleichzeitig gewechselt und damit einen neuen Status als Real- oder Sekundarschülerin bzw. -schüler erlangt hat, geht aus den Daten nicht hervor. Das Schulamt publiziert in den Jahresberichten höhere Zahlen, die allerdings unserer Meinung nach auf unzulässigen Berechnungen basieren (vgl. 4.2.2).

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Schuljahr, während im 8. weniger und im 9. kaum noch Wechsel stattfanden. Es stellt sich also die Frage, wie diese – realempirisch betrachtet – geringe Durchlässigkeit zu verstehen ist. Im Rahmen unserer Interviewanalysen wurde Folgendes deutlich: Typenübergreifend herrscht – mit Ausnahme der Lehrpersonen des Deutungsmustertyps ‚Ringen um das Arbeitsbündnis’ – die Überzeugung vor, wonach Aufstiege vom Real- ins Sekundarniveau (wenn überhaupt) am ehesten noch im 7. Schuljahr vorkommen können, zu einem späteren Zeitpunkt indes quasi unmöglich sind. Mit anderen Worten besteht eine Übereinstimmung zwischen den statistischen Befunden, die eine nur geringe ‚Nutzung’ der Umstufungsmöglichkeit erkennen lassen, und den allgemeinen, auf die Durchlässigkeitsfrage bezogenen Geisteshaltungen jener Akteurinnen und Akteure, die von dieser Möglichkeit Gebrauch machen könnten: Die Hintergrundüberzeugungen der untersuchten Lehrerinnen und Lehrer lassen eine generelle ‚Ungläubigkeit’ in Bezug auf die Möglichkeit erkennen, dass eine Schülerin, ein Schüler den Schultyp (sei es in einem Fach, sei es insgesamt) auf der Sekundarstufe I noch wird nach oben hin wechseln können. Die grosse Mehrheit der Lehrkräfte auf dieser Stufe geht also davon aus, dass von einem bestimmten Zeitpunkt an definitiv und unveränderbar feststeht, welche Schülerin, welcher Schüler in welches Niveau gehört. Diese Haltung widerspricht der bildungspolitischen Leitidee, die den Durchlässigkeitsmodellen zugrunde liegt. Auch in Bezug auf die Möglichkeit des Abstufens von Schülerinnen und Schülern fanden sich in den analysierten Interviews – je nach Typ in unterschiedlich ausgeprägter Form – Hinweise für eine gewisse Zurückhaltung seitens der befragten Lehrkräfte. Wiewohl Negativselektionen etwa für die Lehrerinnen und Lehrer der Deutungsmustertypen 1 und 2 kein ‚Problem’ darstellen bzw. von diesen gar als ‚förderlich’ verstanden werden, erscheint auch in deren Denken ein Niveauwechsel nach unten nur in Ausnahmefällen als angezeigt: Die beim Übertritt von der Primar- zur Sekundarstufe I gefällten Selektionsentscheide werden in der Regel als ‚richtig’ und daher nicht weiter korrekturbedürftig gesehen.226 Aus professionalisierungstheoretischer Sicht erstaunt diese ‚selektionspraktische Zurückhaltung’ nicht: Vor dem Hintergrund des Handlungsproblems von ‚Fördern und Auslesen’ ist sie insofern verständlich, als die Lehrpersonen sich damit jene Aufgabe vom Leibe halten, die ihre pädagogische Handlungsfähigkeit beeinträchtigt: selegieren zu müssen und damit ihren Schülerinnen und Schülern als bedrohliche Richterinnen – statt als Pädagoginnen – zu 226

Lehrpersonen des Typs 1 betonen etwa, dass es einer ‚schwachen’ Sekundarschülerin nicht zugemutet werden könne, den Unterricht mit den noch viel schwächeren und sozial problematischen Realschülerinnen und Realschülern zu besuchen.

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erscheinen. Für die Lehrperson nimmt das strukturelle Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ in einem (nach wie vor selektiv angelegten) Schulmodell mit Durchlässigkeitsanspruch eine gleichsam verstetigte Virulenz an, der nicht selten dadurch begegnet wird, dass dem Anspruch nicht Folge geleistet werden will. Die Idee der ‚Entflechtung’ Gleichzeitig mit der Einführung der durchlässigen Schulmodelle auf der Sekundarstufe I, mit der die widersprüchlichen Lehreraufgaben des Förderns und Selegierens – wie oben beschrieben – noch enger miteinander verwoben wurden, sind seit den 1990er Jahren bildungspolitische Bemühungen auszumachen, deren Intention es ist, die beiden Aufgaben zu ‚entflechten’. Im Rahmen des Projekts „Überprüfung der Situation der Primarschule“ (SIPRI), das die Schweizerische Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) zwischen 1980 und 1986 durchführte, wurden Grundlagen für eine neu verstandene Beurteilung gelegt, die eine entsprechende Entflechtung vorsah. Praktisch meint diese Idee der Entflechtung, dass während des Schuljahres die formative, lernprozessunterstützende Beurteilung zum Zuge kommen soll, die von den Lehrkräften erwartet, dass sie den Schülerinnen und Schülern die Lernziele klar mitteilen und ihnen – mit Blick auf diese zu erreichenden Lernziele – laufend ‚förderorientierte’ Rückmeldungen über individuelle Lernfortschritte geben. Demgegenüber soll eine summative Beurteilung auf vorgegebene Termine beschränkt bleiben (Vögeli-Mantovani 1999). Die Direktionsverordnung des Kantons Bern von 2002 (DVBS) formuliert vor diesem Hintergrund im Kommentar zum Artikel 4: Den „formative[n] Rückmeldungen“ im Schulalltag, die „das Lernen stützen und fördern und bei Bedarf korrigierend einwirken sollen“, stehen die „summativen“ gegenüber, womit Rückmeldungen angesprochen sind, „die den Lernstand zu einem bestimmten Zeitpunkt beschreiben im Sinne einer bilanzierenden Beurteilung. Die Lernstandbeschreibungen erfolgen nach Abschluss einer Lerneinheit und vor allem jeweils zu Semester- bzw. Schuljahresende.“ Den alltäglichen, als förderorientiert verstandenen Rückmeldungen werden – im intendierten Sinne der ‚Entflechtung’ – zeitlich punktuelle ‚Bilanzierungen’ gegenübergestellt, die als selektionsbezogene Form der Beurteilung zu verstehen sind. Im unmittelbar auf diese Unterscheidung folgenden Schlusssatz des Kommentars wird die Trennung von förderbezogenem und selektionsbezogenem Beurteilen interessanterweise nicht durchgehalten, sondern tendenziell wieder aufgehoben: „Damit dient die Beurteilung als Informations- und Entscheidungsgrundlage für die weitere Schullaufbahn“, heisst es da. Es bleibt unklar, ob mit „damit“ nur die zweitgenannte „summative“ Beurteilungsform bezeichnet sein soll oder ob diese Konklusion beide genannten Formen gleichermassen betrifft und also auch die 306

„formative“ Beurteilung als „Entscheidungsgrundlage für die weitere Schullaufbahn“ der Schülerin, des Schülers zu verstehen ist.227 Unsere Studie zeigt, dass – aus professionalisierungstheoretischer Sicht – die beabsichtigte Entflechtung nie bis in letzter Konsequenz gelingen kann. Auch wenn eine Lehrperson ihre Schülerinnen und Schüler förderorientiert (oder eben: formativ) beurteilt, schwebt über ihnen – aufgrund des strukturell gegebenen Selektionszwangs – ständig das Damoklesschwert der bevorstehenden Selektion. Die Lehrperson handelt immer im Rahmen eines Berechtigungswesens, das Selektion impliziert, kein Augenblick des Schulalltags steht ausserhalb. Wie wir aufgezeigt haben (vgl. 2.2.2.1), macht vor allem die systemtheoretische Perspektive auf das Bildungswesen dies deutlich. So unterstreichen Luhmann/ Schorr (1999[1979]), dass die „alltägliche Orientierung des Lehrerverhaltens selektive und einflussnehmende [mit anderen Worten: pädagogische; Anm. d. A.] Komponenten nicht trennen“ könne (ebd., 254). Jede Beurteilung – vom kaum wahrnehmbaren Kommentieren einer Schülerantwort im Unterricht bis zu Versetzungen bzw. Nichtversetzungen – steht im Lichte der Selektion. Die Idee der Entflechtung von Fördern und Auslesen, wie sie von der EDK vorgeschlagen und von gewissen Kantonen – so auch vom Kanton Bern – umgesetzt wurde, taucht auch in den Deutungen mancher unserer Lehrpersonen auf, so zum Beispiel bei Brigitta Haller (Typ 3), die im Interview – beim Versuch, den Widerspruch von Fördern und Auslesen zu entproblematisieren – von zwei unterschiedlichen „Bewertungssystemen“ spricht. Sie schildert zunächst eine Reihe von Aufgaben, die sie dem „förderorientierten“ Beurteilen zuordnet, als da sind: Rückmeldungen geben, Notizen machen, Aufgaben kontrollieren u.a.m.. Im Anschluss meint sie: „Und dann gibt es Lernkontrollen oder Arbeiten, die ganz klar selektiv sind.“ Interessanterweise gelingt es Frau Haller argumentativ aber nicht wirklich, die Entflechtung vorzunehmen, obgleich sie der Überzeugung ist, dies zu tun und den Widerspruch von Fördern und Auslesen damit aufzulösen. In ihrer Aussage charakterisiert sie die zweite Beurteilungsart – jene, die in den Gesetzestexten als „formativ“ bezeichnet wird – als nichtganz-klar-selektiv, anders gesagt: als ein bisschen – oder nur ‚verschwommen’ – selektiv. Wirklich selektionsirrelevante Beurteilungen existieren in ihrer Vor227 Mit der Revision der Verordnung im Jahre 2004 wurde der entsprechende Kommentar zu Art. 4 gestrichen. Der Artikel selbst blieb aber unverändert bestehen. In ihm ist in einem verallgemeinernden Sinne davon die Rede, dass Beurteilung „förderorientiert“ zu erfolgen habe. Sie diene „der Förderung des Lernens“ und bilde „die Grundlage für die weitere Schullaufbahn“ (Art. 4 Abs. 3 DVBS 2004). Die in der DVBS 2002 noch explizit gemachte Unterscheidung von förder- und selektionsbezogenen Formen der Beurteilung, fällt in der überarbeiteten Version dahin. Die ideelle Entflechtung wurde also ‚zurückgenommen’ und die beiden Beurteilungsformen fortan wieder ‚zusammengedacht’.

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stellung also nicht. Indem sie mit Nachdruck von einer ganz klar selektiven Form der Beurteilung spricht, wenn sie die summativen, bilanzierenden Beurteilungen im Kopf hat, charakterisiert sie implizit die (unmittelbar davor genannte) formative Form der Beurteilung als eine, die zwar nicht so klar, insgesamt aber doch auch irgendwie selektiv ist. Unterschwellig geht Frau Haller demnach von einer Permanenz der Selektion bzw. von einem letztlich ubiquitär selektiven Charakter der Beurteilung aus. Zwar mag die Deutung der Entflochtenheit sie als Lehrperson entlasten, doch bleibt der selektionsbezogene Kontext, in den alles Lehrerhandeln eingebettet ist, weiter bestehen. Diese ‚misslungene’ Entflechtung, wie sie exemplarisch am Fall Brigitta Haller nachgezeichnet werden konnte, findet sich auch in den Formulierungen (und also im ‚Denken’) der bildungspolitischen Akteurinnen und Akteure. Im Dokument der EDK etwa, das bei Vögeli-Mantovani zitiert wird (1999, 197), heisst es, die neu gelegten Grundlagen sollten eine „pädagogischere“ Beurteilung in der Volksschule ermöglichen. Die Komparativform macht deutlich, dass seitens der Autorenschaft des Dokuments implizit davon ausgegangen wird, das Beurteilen stelle bis anhin eine primär selektive Aufgabe dar, die fürderhin aber pädagogischer zu gestalten sei. Von der Idee einer restlos pädagogischen Form der Beurteilung wird damit – unterschwellig – a priori abgesehen. In beiden Fällen, der Formulierung des Konzepts einer ‚pädagogischeren’ Form der Beurteilung seitens der EDK ebenso wie in Frau Hallers Verweis auf die Existenz zweier ‚Bewertungssysteme’, mag mit der Idee der Entflechtung (bzw. Entflochtenheit) eine Entschärfung des Problems von Fördern und Auslesen beabsichtigt bzw. – im Sinne einer handlungsentlastenden Deutungsstrategie – erreicht werden; die beiden Beispiele zeigen aber, dass sowohl für die Bildungspolitik wie für die konkrete Lehrperson eine gänzlich selektionsirrelevante Form der Schülerinnenund Schülerbeurteilung nicht zum Denkmöglichen zählt. Selbstbeurteilung Ein weiteres in Bezug auf das Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ interessantes bildungspolitisches Konzept fand ebenfalls in den 1990er Jahren Eingang in die gesetzlichen Grundlagen: jenes der Selbstbeurteilung durch die Schülerinnen und Schüler. Es wurde 1995 in den neuen ‚Lehrplan Volksschule’, der den Lehrplan von 1983 ablöste, aufgenommen. Bei den Ausführungen zu den „Leitideen zur Selbstkompetenz“ wird die Idee formuliert, dass die Schule die „Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler, sich selber zu beurteilen“, fördert, da diese so lernten, „Verantwortung für das eigene Lernen und die eigene Schullaufbahn zu übernehmen“ (LP 95, Leitideen 2). Im Kapitel zur Beurteilung wird gar gefordert, dass „die Fremdbeurteilung […] in zunehmendem Masse durch 308

die Selbstbeurteilung ergänzt und in gewissen Phasen auch ersetzt werden“ kann (ebd., AHB 20). Die Pflicht der Lehrperson, die Schülerinnen und Schüler „ihre Sachkompetenz und ihr Arbeits-, Lern- und Sozialverhalten regelmässig selber“ beurteilen zu lassen, ist auch in der Direktionsverordnung über Beurteilung und Schullaufbahnentscheide festgehalten (Art. 10 DVBS). Der Gesetzgeber verspricht sich vom „Austausch über Fremd- und Selbstwahrnehmung“ (Kommentar zu Art. 10 DVBS) einen fördernden Effekt – womit dem Konzept der Selbstbeurteilung ein ‚formativer’ Charakter attribuiert wird. Gleichzeitig findet sich in der Direktionsverordnung aber auch ein Artikel, in dem die Selbstbeurteilung als ein selektionsrelevantes Moment definiert ist. Explizit soll sie – so der Gesetzgeber – auch mit Blick auf die Zuteilung zu einem Schultyp der Sekundarstufe I Berücksichtigung finden: die Zuweisung der Schülerin oder des Schülers habe „auf Grund der Einschätzung der mutmasslichen Entwicklung der Schülerin oder des Schülers“ zu erfolgen (Art. 32 Abs. 1 DVBS), wobei die „Einschätzung der mutmasslichen Entwicklung“ mitunter auf der „Selbsteinschätzung der Schülerin oder des Schülers“ basiere (ebd., Abs. 2c). Die dem Konzept der Entflechtung – wie oben beschrieben – inhärente Ambivalenz, förder- und selektionsbezogene Formen der Beurteilung einerseits explizit voneinander scheiden zu wollen, um andererseits – implizit – von der Möglichkeit einer restlos förderorientierten (bzw. gänzlich unselektiven) Beurteilungsform abzusehen, kommt also auch in den seitens der Bildungspolitik formulierten und gesetzlich umgesetzten „Leitideen zur Selbstkompetenz“ zum Ausdruck. Dem Umstand, dass im Rahmen einer selektiv angelegten, hierarchisch strukturierten Volksschule rein formative Beurteilung – wie oben aufgezeigt – nicht vorkommen kann, trägt der Gesetzgeber im letzteren Fall indessen gleich selber Rechnung, indem er der Selbstbeurteilung explizit Selektionsrelevanz zuschreibt.228 Erklärungsbedürftig ist, woher die in diesem Falle vergleichsweise unzimperliche, explizite Verflechtung von förder- und selektionsbezogener Funktion rühren mag. Es bietet sich an, die Einführung der Selbstbeurteilung vor dem Hintergrund neuerer konstruktivistischer Didaktik-Konzeptionen zu reflektieren, in denen die Schülerin als Akteurin figuriert, die ihre Lernprozesse selber aktiv steuert (vgl. Terhart 2005). Vor dem theoretischen Hintergrund der vorliegenden Studie kann gesagt werden, dass – in einer solchen Didaktik-Konzeption – die Selbstbeurteilung als ein Instrument erscheint, qua welches der als schwach eingeschätzten Schülerin, dem als schwach eingeschätzten Schüler aufgezwungen wird, sich selber pädagogisch sinnlosen Schmerz zuzufügen. Angesichts dessen, dass in 228

Anzumerken ist auch, dass die Selbstbeurteilung obligatorischen Charakter hat: Gemäss dem Kommentar zu Artikel 10 DVBS steht es den Lehrkräften „im Prinzip“ zwar frei, „wie oft sie Selbstbeurteilungen durchführen“. Es wird aber auch festgehalten, „einmal pro Schuljahr“ sei jedoch „das Minimum“.

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einem selektiv angelegten Schulsystem jede noch so formativ gedachte und pädagogisch motivierte Beurteilung immer auch unter dem Stern der Selektion geschieht, vermischt sich im Falle der als schwach geltenden Schülerin die ‚Kompetenz’, ihre Schwächen und Stärken zu erkennen, mit der ‚Kompetenz’, sich selber als jemanden zu erkennen, die abgestuft werden muss. Wie die Deutungen der Lehrpersonen (besonders explizit bei den Fällen Rolf Wyss und Pius Matter des Typs ‚Selektion als Platzanweisung’) gezeigt haben, wird das Instrument der Selbstbeurteilung von diesen nachgerade zur eigenen Entlastung eingesetzt. Denn – so ihre Deutung – wenn die schwache Schülerin sich selbst als schwach einschätzt und zur Überzeugung gelangt, dass sie nach ‚unten’ gehört, so tut es ihr auch weniger weh, wenn sie tatsächlich nach unten selegiert wird, was wiederum die Lehrperson entlastet. Die Lehrpersonen hoffen auf die Einsicht der Schülerinnen und Schüler bezüglich ihrer eigenen Schwächen und der Konsequenzen, die diese mit Blick auf anstehende Selektionsentscheide haben. Sie hoffen darauf, dass die Schülerinnen und Schüler sich erfolgreich ‚abkühlen’ – bzw. bereits ‚abgekühlt’ haben (vgl. Goffman 1962, Schumann/Gerken/Seus 1991). Sie selbst finden darin eine Entlastung von der Bürde des Schmerzzufügens. Der Anspruch, den der Gesetzgeber mit der Einführung des Konzeptes verband, und die Funktion, die das Konzept in der Realität der Deutungen der Lehrpersonen einnimmt, stehen in eklatantem Gegensatz zueinander. Das Instrument der Selbstbeurteilung kann – so ist zu vermuten – in der Praxis gar zu einer regelrechten ‚Komplizin’ der Negativselektion werden. Dies ist dann der Fall, wenn es unreflektiert angewandt und die konkrete Selbstbeurteilung der Schülerin oder des Schülers von der Lehrperson als objektive Tatsache betrachtet wird, die sie in den tatsächlichen Selektionsentscheid einfliessen lässt. In diesem Fall könnte die Selbstbeurteilung ein Teilchen in einem komplexen Prozess werden, in dem sie zu Effekten der selbsterfüllenden Prophezeiung auf Seiten der Lehrperson beitragen und die ‚Amor fati’ einer Schülerin unterstützen und verstärken würde.229 Darauf, dass dem so ist, deutet die Feststellung hin, dass die Selbstbeurteilung von den von uns interviewten Lehrpersonen lediglich im Zusammenhang mit dem Einsehen des eigenen ‚Ungenügens’ der Schülerin thematisiert, aber nie als Instrument erwähnt wird, das es der Lehrperson erlauben würde, etwaige Selbstunterschätzungen von Schülerin-

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Die „amor fati“ (Bourdieu 1987[1979], 290; 1993[1980], 117) oder die „Liebe zum Schicksal“ (Schwingel 1998: 62) liegt gemäss Bourdieu im Habitus des Trägers begründet. Mit ihr versucht die Person „die a priori oder ex ante Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses (…) und die a posteriori oder ex post Wahrscheinlichkeit, die aufgrund früherer Erfahrung ermittelt werden kann, unmittelbar miteinander zur Deckung zu bringen“ (Bourdieu 1993[1980], 118).

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nen und Schülern ‚aufzudecken’, um diese sodann auf ihre Potentiale hinzuweisen. 6.3 Ausblick In der Forschung über den Lehrberuf gibt es bis anhin kaum empirisch gesättigtes Wissen über Deutungen von Lehrpersonen zum Problem von ‚Fördern und Auslesen’. Im Folgenden werden der Stand der theoretischen Diskussion zum Verhältnis von Fördern und Auslesen und jener der empirischen Forschung über diesbezügliche kulturelle Deutungen von Lehrpersonen kurz rekapituliert. Vor diesem Hintergrund wird deutlich gemacht, inwiefern mit der vorliegenden Studie Neuland betreten wurde und welche weiterführenden Forschungsfragen sich daraus ergeben. Das Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’, mit dem Lehrpersonen umzugehen haben, wird in der Literatur nur selten behandelt. In den wenigen schul- und lehrertheoretischen Beiträgen, die das Verhältnis von Fördern und Auslesen beleuchten, wird die Selektion bzw. die Beurteilung durchwegs als Bedrohung für pädagogische Lehr-Lern-Prozesse betrachtet (Helsper 1996, Oevermann 1996, Nave-Herz 1977, Reinhardt 1978, Schütze 1996 u.a.). Dabei fällt auf, dass das Verhältnis zwischen Selektion und Beurteilung tendenziell ungeklärt bleibt. Zudem ist das Fördern (bzw. die pädagogischen Angelegenheiten) als Aufgabe der Lehrpersonen thematisch, währenddem die Selektion bzw. die Beurteilung eher als allgemeine Funktion erscheint (Ausnahme: Nave-Herz 1977 und Terhart/Lankau/Lüders 1999). Typischerweise sprechen die Autorinnen und Autoren vom Eingebettetsein der Lehrperson in Prozesse der Selektion, oder es wird gar die „Funktion der Schule“ bemüht, wenn die Selektion thematisch ist. Auch in der pädagogisch-psychologischen Literatur lässt sich dies beobachten (z.B. Baumgart/Lange 1999). In einer solchen Sichtweise schlägt sich die soziologisch-strukturfunktionalistische Perspektive nieder, welche die Selektion immer schon ganz selbstverständlich zum Gegenstand macht, sie als funktionale Notwendigkeit betrachtet und in ihr keine Bedrohung für die Schülerinnen und Schüler erblickt, sondern sie – aus einer konsens- und nicht etwa konflikttheoretischen Perspektive argumentierend – als Mechanismus sieht, der für die Integration des Einzelnen in die Gesellschaft unverzichtbar ist (Parsons 1968[1959], Luhmann 2004[1986], diesem Ansatz teilweise folgend: Wernet 2003, Breidenstein/Helsper/Kramer/Krüger 2004). Während in der Literatur über Fördern und Auslesen im Lehrberuf das Auslesen – im Gegensatz zum Fördern – aufgrund einer zur Analyse herangezogenen strukturfunktionalistischen Perspektive also nicht als Aufgabe der Lehrperson gefasst wird, erscheint 311

in pädagogisch-psychologischen Beiträgen, welche die Aufmerksamkeit direkt auf die Aufgaben der Lehrkraft legen und nach dem Aufgabenspektrum in diesem Beruf fragen, Selektion so gut wie überhaupt nicht (Bessoth 1994, Rudow 1994, Altrichter 1994 u.a.). Der vorliegenden Studie liegt demgegenüber eine professionalisierungstheoretische Perspektive zugrunde, in welcher die Selektion als Aufgabe der Lehrperson zentralen Stellenwert hat. Die Konzeptualisierung der Förderseite im Lehrberuf (pädagogische Aufgaben), wie sie in der Professionalisierungstheorie vorliegt, wurde um den Aspekt der Selektion ergänzt und um theoretische Überlegungen erweitert, welche es erlauben, das Verhältnis von pädagogischen und selektionsbezogenen Aufgaben als Handlungsproblem im Lehrberuf genauer zu fassen. Absicht dabei war, über die wenig präzisen Diagnosen hinauszugehen, die von einem „Konflikt“ zwischen Fördern und Auslesen sprechen (Reinhardt 1978), von einem „Antagonismus“ (Nave-Herz 1977), von „Paradoxien“ und „Antinomien“ (Schütze 1996) oder von „Antinomien“ und „Spannung“ (Helsper 1996), ohne dass das Verhältnis der beiden entgegengesetzten Elemente zueinander inhaltlich geklärt und der Bezug zum Lehrberuf deutlich gemacht wäre. Unser Vorschlag lautet, dass für den Lehrberuf ein Handlungsproblem konstitutiv ist, welches sich daraus ergibt, dass die Lehrperson nicht allein pädagogisch tätig ist, sondern gleichzeitig als Richterin figuriert, von der eine permanente Bedrohung auf die Schülerin, den Schüler ausgeht: immer wieder nämlich trifft sie als Selektionsakteurin Entscheide, welche die Möglichkeit der Negativselektion, d.h. der Abstufung oder Nichtaufstufung einer Schülerin in sich tragen. Mit einer konkret erfolgenden Negativselektion weist sie die Schülerin in der Hierarchie des Bildungswesens nach unten oder macht sie zu einer Nichtausgewählten. Eine solche Schmerzzufügung – dies die These – lässt sich mit einem Arbeitsbündnis, das gelingenden Lehr-Lern-Prozessen vorausgesetzt ist, nicht vereinbaren, entbehrt sie doch des pädagogischen Sinns: Erstens verringern sich für die Schülerin die künftigen Ausbildungs- und Berufschancen, weil die neue Schulstufe einen schulischen „Titel“ (Bourdieu 1987[1979]) von geringerer Werthaltigkeit verleiht (objektive Dimension); zweitens enthält der Schmerz eine narzisstische Kränkung, die gegebenenfalls zu einer Leistungsverminderung führt (subjektive Dimension). Selektion ist in einem doppelten Sinn zu sehen: Zum einen tritt sie – situativ – in diskontinuierlicher Form als Selektionsentscheid auf, der von der Lehrperson in – Zusammenarbeit mit Kolleginnen und Kollegen sowie Behörden – in bestimmten Zeitpunkten getroffen wird. Zum anderen hat sie kontinuierlichen Charakter: Der gesamte Schulalltag steht im Zeichen der Selektion, sodass jeder einzelnen Beurteilung, und sei sie noch so unscheinbar, immer schon eine gewisse Selektionsrelevanz innewohnt (vgl. Luhmann 2004[1986]). Beurteilung muss indes von Selektion insofern analy312

tisch unterschieden werden, als sie in einem selektionsfreien Schulsystem zwar von Bedeutung wäre, in einem solchen aber den bedrohlichen Charakter nicht hätte, der ihr solange anhaftet, als sie im Rahmen einer selektiv angelegten Schule stattfinden muss. Beurteilung kann – theoretisch – auch rein förderorientiert erfolgen. Die Spannung zwischen Fördern und Auslesen, welche das in dieser Studie interessierende Handlungsproblem der Lehrperson konstituiert, ergibt sich also daraus, dass die Lehrperson als Selektionsakteurin ihren Schülerinnen und Schülern qua Negativselektion immer wieder pädagogisch sinnlosen Schmerz bereiten muss, was dem Fördern, d.h. ihrem pädagogischen Handeln zuwiderläuft. Für die Schmerzzufügung im Fall des ‚Forderns’ der Schülerin oder des Kommentierens von Fehlern (Oser/Spychiger 2005) trifft dies nicht zu: sie ist pädagogisch sinnvoll. Vor dem Hintergrund des Handlungsproblems, wie es skizziert ist, gilt das empirische Forschungsinteresse der Frage, welche Deutungen den Lehrpersonen den Umgang mit diesem Problem erlauben. Bisherige Untersuchungen zu kulturellen Deutungen von Lehrpersonen, welche im Zusammenhang mit dieser Fragestellung von Interesse sind, handeln vom beruflichen Selbstverständnis der Lehrpersonen. Insgesamt ist festzustellen, dass diese Arbeiten fast ausschliesslich die pädagogische und kaum die selektionsbezogene Seite beleuchten. Von Engelhardts Studie (1979), die unter anderem danach fragt, ob Lehrpersonen zwischen Fördern und Auslesen ein Dilemma sehen oder nicht, bildet eine Ausnahme: In seiner standardisierten Befragung von Lehrkräften in Deutschland zeigt sich, dass knapp die Mehrheit der Befragten (inkl. Gymnasiallehrpersonen) der Meinung ist, dass das Dilemma „besteht“. Dabei äussern sich Reallehrpersonen (in Deutschland: Hauptschullehrpersonen) häufiger in diese Richtung als Sekundarlehrpersonen (in Deutschland: Reallehrpersonen). Dieses Ergebnis wurde in der hier präsentierten Untersuchung bestätigt. Unter von Engelhardts Lehrpersonen, die ein Dilemma zwischen Fördern und Auslesen sehen, befinden sich vor allem solche, die ein antagonistisches Gesellschaftsbild vertreten. Auch dieser Zusammenhang lässt sich in der vorliegenden Studie wiedererkennen: Beim Typ 5 (,Fördern jenseits der Selektion’) finden sich Lehrpersonen, die Gewerkschaftsmitglied sind oder der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz angehören und ein Gesellschaftsbild vertreten, das zwar nicht im althergebrachten Sinn antagonistisch ist, aber doch gesellschaftliche Hierarchien anprangert. Am deutlichstens wird dies bei männlichen Reallehrern der älteren Generation, welche die Seminarkultur in sich tragen und sich selbst tendenziell als Vaterfigur verstehen. Eine These aus der Literatur, die ebenfalls sowohl Fördern als auch Auslesen berücksichtigt, stammt von Lüders (2001). Der Autor postuliert einen Kontrast zwischen förder- und selektionsorientierten Deutungsmustern bei Lehrkräften, der sich in der vorliegenden Studie 313

bestätigt hat. Die Vermutung des Autors, am einen Pol würde die Lehrerschaft die „Begabtenauslese“ und die „Förderung durch Selektion“ zu den genuinen Aufgaben des Lehrerberufs zählen, weist in die Richtung des Typs 1 bzw. 2. Auch dass am anderen Pol die Verknüpfung der „notwendigen Rückmeldefunktion von Zensuren“ mit der Selektionsfunktion als pädagogisch abträglich eingestuft wird, wie Lüders vermutet, lässt sich als Befund in unseren Resultaten wiederfinden: Lehrpersonen des Typs 5 beklagen, dass ihnen eine förderorientierte, vom Individumm ausgehende Beurteilung im Rahmen des gegebenen, selektiv angelegten Schulsystems nicht möglich ist. Der Vergleich der hier vorgelegten Ergebnisse mit der spärlichen Literatur macht deutlich, dass diese Studie mit ihrer Typologie von Deutungsmustern Neuland betritt. Dies gilt auch für die peripheren Typen 1 und 5, die vereinzelte empirische Befunde oder Thesen aus der Literatur bestätigen. Am meisten fallen die auf den Typ 4 bezogenen Resultate auf, aber auch jene, welche die jungen Lehrpersonen des Samples betreffen. Lehrpersonen des Typs 4 handeln in einer auf Dauer gestellten Krise, sie rekurrieren auf keine überindividuellen Deutungsmuster, sondern entwickeln – in habitueller Gefestigtheit – eine je eigene Umgangsweise mit dem Dilemma von Fördern und Auslesen. Dabei ringen sie um eine Beziehung zur Schülerin, zum Schüler, die Züge jener Beziehung trägt, die professionalisierungstheoretisch als Arbeitsbündnis bezeichnet wird. Gerade dadurch aber verstricken sie sich auch in perfides Handeln. Unter den Bedingungen eines selektives Schulwesens, bei denen die Lehrkraft stets auch als potentiell sinnlosen Schmerz zufügende Akteurin fungiert, droht prinzipiell immer die Erschütterung der Vertrauensbeziehung: ein Arbeitsbündnis kann nicht wirklich aufgebaut werden. Die jungen Lehrerinnen und Lehrer dagegen schwanken in habitueller Unsicherheit zwischen verschiedenen Deutungen hin und her. Manchen von ihnen gelingt es, die Handlungsfähigkeit dadurch zu behaupten, dass sie immer wieder eine Position reflexiver Distanz einnehmen. Deutungen zum Verhältnis von Fördern und Auslesen sind eingebettet in Vorstellungen über Schule, soziale Ungleichheit und die Gesellschaft. Wie Ulich (1983) aufgezeigt hat, bildet sich das Denken von Lehrpersonen in Naturkategorien seit den 1980er Jahren zurück; Leistungsunterschiede von Schülerinnen und Schülern werden seither von Lehrpersonen typischerweise durch eine Kombination von ‚naturbezogenen’ und veralltäglichten sozialwissenschaftlichen Sozialisationstheorien erklärt (Müller 1998). Auch bei Lehrpersonen des Typs 1 und 2 der hier präsentierten Untersuchung zeigen sich solche Denkweisen. Dabei fällt aber auf, dass der Rückgriff auf ‚Natur’ unter Rekurs auf popularisierte Versatzstücke aus den Neurowissenschaften erfolgt. Es fragt sich, ob solche Vorstellungen einhergehen mit der von Nath/Dartenne/Oelerich (2004) festge314

stellten Tendenz, wonach – jedenfalls in der von ihnen untersuchten Lehrerverbandspresse – von der Schule zunehmend seltener erwartet wird, dass sie soziale Aufwärtsmobilität fördert. Während diese Presse in Deutschland in der Zeit der Bildungsexpansion noch für eine Schule eintrat, die zum Abbau von sozialer Ungleichheit beiträgt, haben sich bei ihr solche emanzipativen Ansprüche – so die Autoren – seither zurückgebildet. Bei den von uns untersuchten Lehrpersonen dagegen lässt sich der Anspruch, Schule solle soziale Ungleichheit abbauen, durchaus noch finden. Dies gilt vor allem für weibliche Lehrpersonen des Typs 5. Die Spannung zwischen den Ansprüchen kompensatorischer Erziehung und der Selektion, wie sie Nave-Herz 1977 formulierte, wird bei ihnen als Deutung klar sichtbar, wenn auch in tendenziell resignativem Duktus. Die professionalisierungstheoretische Konzeptualisierung des Handlungsproblems von ‚Fördern und Auslesen’ und die empirisch erarbeitete Deutungsmustertypologie zum Umgang mit diesem Problem werfen Fragen auf, die weitere Forschung nahelegen. Die Weiterarbeit am theoretischen Rahmen zu diesem Handlungsproblem könnte sich auf die Frage konzentrieren, welche Position die Eltern, die – in professionalisierungstheoretischer Sicht – Teil des Klienten der Lehrperson sind, im pädagogisch notwendigen Arbeitsbündnis einnehmen und welche Implikationen die Selektion für die Beziehung zwischen Lehrperson und Eltern hat. Darüberhinaus ist der Frage nachzugehen, wie sich die Beziehung zwischen Lehrperson und Eltern, aber auch die Beziehung zwischen Eltern und Kind modifiziert, wenn – schulhistorisch gesehen – die Eltern zunehmend in schulische Prozesse inkl. Selektionsprozesse einbezogen werden. Von den empirischen Resultaten, die hier vorgelegt worden sind, kann auf Handlungsdispositionen, nicht aber auf das eigentliche Handeln von Lehrpersonen geschlossen werden. Um Wissen darüber zu gewinnen, wie Lehrpersonen konkret handelnd mit dem Dilemma von Fördern und Auslesen umgehen, müssten ethnographische Studien durchgeführt werden, die – anschliessend an Gomolla/Radtke (2002) und Oester/Fiechter/Kappus (2005) – gezielt den schulbezogenen Alltag in den Blick nehmen. Bezüglich des Zustandekommens von Selektionsentscheiden wären – im Anschluss an obige Überlegungen – insbesondere Studien interessant, die sich – an Wälti (2002) anschliessend – mit Einigungsgesprächen unter Lehrpersonen im Kollegium, aber auch mit solchen zwischen Lehrpersonen und Eltern befassen. Darüberhinaus stellt sich angesichts der alltagsbestimmenden Bedeutung von Selektion in der Schule die Frage, wie und inwieweit angehende Lehrpersonen in ihrer Ausbildung auf solche Gespräche, ja auf die Selektionsaufgabe überhaupt, vorbereitet werden. Vor dem Hintergrund der referierten pädagogischen und pädagogischpsychologischen Literatur zum Lehrberuf, die – so ist anzunehmen – in Ausbil315

dungskonzepte einfliessen dürfte, muss man vermuten, dass Selektion als Aufgabe von Lehrkräften in bisherigen und aktuellen Studiengängen einen nur marginalen Stellenwert hat. In den Dokumenten, die im Zusammenhang mit der Erkundung des Berner Bildungswesens gesichtet wurden, fanden sich Spuren von Deutungsmustern wieder, welche das kollektive Handeln der Bildungspolitik anleiten. Einzelne Lehrpersonen nehmen darauf Bezug, so etwa eine dem Typ 3 zugeordnete Lehrerin, welche auf die seit den 1990er Jahren verbreitete bildungspolitische Idee rekurriert, Fördern und Auslesen zu entflechten. Nur in Ansätzen konnte im Rahmen der vorliegenden Studie auf Deutungsmuster eingegangen werden, die im bildungspolitischen Feld wirksam sind. Da Inhaberinnen und Inhaber einer halbfreien Amtsprofession staatlichen Vorgaben unterstehen, die unter dem Einfluss solcher Deutungsmuster zustande kommen, wäre es interessant, diese zu erforschen. Auf eine Deutungsstrategie wie jene von der Art unseres Typs ‚Fördern jenseits der Selektion’, die sich letztlich gegen Selektion stellt, kann die Bildungspolitik kaum zurückgreifen – es sei denn, sie fasse die Abschaffung der Selektion ins Auge. Andere Deutungsmuster dürften wichtiger sein. Besonders interessant wären solche, die sich mit dem bildungspolitischen Trend verbinden, die Kompetenzanforderungen, denen Schülerinnen und Schüler zu entsprechen haben, in immer höherem Ausmass zu standardisieren mit dem Ziel, die universalistische Messbarkeit von Schülerleistungen zu erhöhen und auf nationaler Ebene zunehmend Vergleiche anzustellen. Vor dem Hintergrund unserer Befunde zum Deutungsmustertyp 2, im Rahmen dessen dem Beurteilen und Messen eine zentrale Bedeutung zukommt und die Selektionsproblematik darob ‚vergessen’ geht, lässt sich die Forschungsfrage formulieren, inwieweit das staatliche Handeln, das zunehmend die standardisierte Messung und Bewertung von Schülerleistungen in den Blick nimmt, von Deutungsmustern angeleitet ist, die für die Problematik von Fördern und Auslesen blind sind. In bildungspolitische Entscheide über die Ausgestaltung von Schule und Lehrberuf gehen auch Initiativen des Berufsverbandes von Lehrpersonen ein. Im Falle des Kantons Bern handelt es sich um den Berufsverband der Lehrerinnen und Lehrer des Kantons Bern (LEBE). Es fragt sich, auf welche Deutungsmuster die Verbandspolitik rekurriert und in welchem Verhältnis diese Deutungsmuster zu jenen stehen, die der Bildungspolitik und den ihnen zuarbeitenden Behörden zugrunde liegen. Die im Rahmen der vorliegenden Studie gesichteten Dokumente haben gezeigt, dass der berufsständisch und zugleich gewerkschaftlich ausgerichtete Interessenverband der Berner Lehrpersonen die Selektion ideell weitestgehend aus den Lehreraufgaben auskoppelt.

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Nicht zuletzt müsste die empirische Weiterarbeit an den Deutungsmustern von jungen Lehrpersonen an die Hand genommen werden. Durch Longitudinalstudien wäre der Frage nachzugehen, wie die Art und Weise, in der sich die jüngeren Lehrpersonen unseres Samples ohne Rekurs auf stabilisierende, überindividuelle Deutungsmuster ihre berufliche Handlungsfähigkeit zu erhalten versuchen, interpretiert werden kann. Wieweit manifestiert sich darin das Novizentum der Lehrpersonen? Wieweit kündet sich die Heraufkunft einer Generation an, die über historisch neue Formen des Umgangs mit dem Handlungsproblem von ‚Fördern und Auslesen’ verfügt? Denkbar ist, dass die berufliche Identität von Lehrpersonen – wie dies in anderen Berufen auch der Fall ist (vgl. Bühler 2005) – schwächer wird, dass Lehrpersonen immer weniger an das ‚glauben’, was historisch als ‚Lehrerdenken’ gewachsen ist und die Herausbildung einer Kollektividentität begleitet hat, wie sie etwa bei den Lehrpersonen der Typen 2 und 5 festzustellen war. Vielleicht sind im Falle der Lehrpersonen individualistischere Konzepte im Vormarsch, die der einzelnen Lehrerin, dem einzelnen Lehrer mehr individuellen Denk- und Handlungsspielraum gewähren. Die gesellschaftliche Verbreitung von ‚geleiteten’, d.h. als Betrieb ausgestalteten Schulen, welche die Lehrpersonen zu ‚gewöhnlichen’ Angestellten werden lässt, die sich nicht mehr auf kollektive Interessen und berufsgruppenspezifische Deutungsmuster abstützen, dürfte diese Entwicklung beschleunigen. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie haben deutlich gemacht, welch hohe Bedeutung einer kollektiv verbürgten beruflichen Selbstdeutung als Eliterekrutiererin, als Platzanweiser, als Garantin von Disziplin oder Leistung und als Förderer jenseits von Selektion zukommt, um angesichts der Spannung von Fördern und Auslesen handlungsfähig zu bleiben. Der Rückgang der Möglichkeit, sich auf solch eingeschliffene kollektive Deutungsangebote zu beziehen, würde einer Entwicklung Vorschub leisten, die evasive Tendenzen in Form von Fluchtgedanken oder Verlassen des Lehrberufs nach sich zieht, wie sie Herzog (2007) in seiner Studie insbesondere bei jüngeren Lehrkräfte ausmachen konnte. Lehrpersonen dürften aber auch für Konzepte wie jenes des ‚Lehrers als Coach’ empfänglich werden, die eine Orientierung versprechen, bei der noch offen steht, ob sie angesichts der Spannung von Fördern und Auslesen vor Zerreissproben schützt.

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Verzeichnisse Abbildungen Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4:

„Verarbeitung der Selektionsfunktion und Schulart“ der befragten Lehrpersonen ............................................................56 Aufbau des Bildungswesens im Kanton Bern ..........................78 Fortsetzung einer schulischen Ausbildung und Abgang von der Schule nach dem Abschluss der Volksschule in der Gesamtschweiz..........................................................................86 Übertrittsverfahren von der Primar- zur Sekundarstufe I .........91

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Abkürzungsverzeichnis Abs. AHB AKVB ALSV Art. B. BFF BfS BMS BSA BSI BSP

Absatz Allgemeine Hinweise und Bestimmungen (Seitenzahlbenennung im Lehrplan für die Volksschule) Amt für Kindergarten, Volksschule und Beratung der Erziehungsdirektion des Kantons Bern Arbeits-, Lern- und Sozialverhalten Artikel Beisitzerin/Beisitzer (im Interview) Berufs-, Fach- und Fortbildungsschule Bern Bundesamt für Statistik, Neuchâtel Berufsmaturitätsschule Berufsvorbereitendes Schuljahr mit Schwerpunkt in der Allgemeinbildung Berufsvorbereitendes Schuljahr mit Schwerpunkt in der Integration von Fremdsprachigen Berufsvorbereitendes Schuljahr mit Schwerpunkt in der praktischen Ausbildung 337

BVS BZ bzw. d. A. DMS DVBS ebd. EDK EFZ eILZ ERZ FLUT FMS HarmoS I I. ILZ IVV KfF KGG KGV LAD LADV LAG LAV LEBE LLB LP 95 LP BVS LP KG MaSDV MSV MTT NFP NMM PHBern 338

Berufsvorbereitendes Schuljahr Berner Zeitung beziehungsweise der Autorin/des Autors Diplommittelschule Direktionsverordnung über Beurteilung und Schullaufbahnentscheide in der Volksschule ebenda Schweizerische Erziehungsdirektorenkonferenz Eidgenössisches Fähigkeitszeugnis erweiterte individuelle Lernziele Erziehungsdirektion des Kantons Bern Förderorientierte, lernzielorientierte, umfassende und transparente Beurteilung Fachmittelschule Harmonisierung der obligatorischen Schule (Projekt der EDK) Interview Interviewerin/Interviewer (im Interview) Individuelle Lernziele Verordnung über die Invalidenversicherung Klasse für fremdsprachige Kinder Kindergartengesetz Kindergartenverordnung Dekret über die Anstellung der Lehrkräfte Direktionsverordnung über die Anstellung der Lehrkräfte Gesetz über die Anstellung der Lehrkräfte Verordnung über die Anstellung der Lehrkräfte Lehrerinnen und Lehrer Bern (Berufsverband) Lehrerinnen- und Lehrerbildung Lehrplan für die Volksschule des Kantons Bern 1995 Lehrplan Berufsvorbereitendes Schuljahr Lehrplan Kindergarten für den deutschsprachigen Teil des Kantons Bern Direktionsverordnung über den gymnasialen Unterricht im 9. Schuljahr und den Unterricht an Maturitätsschulen Mittelschulvorbereitung Medizinisch-technisch-therapeutische Berufe Nationales Forschungsprogramm Natur – Mensch – Mitwelt Pädagogische Hochschule Bern

rILZ SIPRI SOFA SWR SZV VSG VSV ZUS

reduzierte individuelle Lernziele Überprüfung der Situation der Primarschule (Projekt der EDK) Studiengruppe für objektiv-hermeneutische Fallanalysen am Institut für Soziologie, Universität Bern Reglement über das Schulwesen in der Stadt Bern Verordnung über die Zulassung von Sonderschulen in der Invalidenversicherung Volksschulgesetz Volksschulverordnung Seitenzahlbenennung im Lehrplan für die Volksschule für den Bereich „Zusätzliche Aufgaben“

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Dank Die vorliegende Publikation geht aus den beiden Forschungsprojekten „Antinomien im Lehrberuf. Deutungsmuster von Lehrpersonen zum Verhältnis von Fördern und Auslesen“ und „Fördern und Auslesen. Deutungsmuster von Primarlehrpersonen zu einem beruflichen Dilemma“ hervor, die von der Pädagogischen Hochschule Bern (PHBern) gefördert und am Institut Sekundarstufe I zwischen 2003 und 2007 durchgeführt wurden. Die Geburtsstunde der PHBern fiel in die Projektlaufzeit – bis zum 31. August 2005 war das Projekt an der Lehrerinnen- und Lehrerbildung (LLB) der Universität Bern angesiedelt. Unser Dank gebührt zuallererst den Lehrpersonen, die sich bereit erklärt haben, in den Interviews mit uns über sich und ihren Beruf zu sprechen, sowie den Expertinnen und Experten, deren Informationen uns den Einstieg ins Berner Schulwesen ganz wesentlich erleichterten. Auch danken wir jenen Personen, ohne deren Engagement das Forschungsvorhaben nicht hätte realisiert werden können: Hans Peter Müller, der als MitGesuchsteller für das Projekt „Antinomien im Lehrberuf“ gewonnen werden konnte, sowie Sibylle Tritten und Ingo Wienke, die bei der Antragstellung beziehungsweise in der Anfangsphase des Projekts mitgewirkt und dieses nachhaltig geprägt haben. Für die Transkription der Interviews danken wir Sonia Coiro, Andrea Ihlenfeld, Alberto Coiro, Eva Schwegler und Stefan Ruch. Liliane Studer hat das Buchmanuskript sorgfältig korrekturgelesen – auch ihr danken wir herzlich für die geleistete Arbeit. Viele Interviews wurden ausschnittweise in der Studiengruppe für objektivhermeneutische Fallanalysen (SOFA) des Instituts für Soziologie der Universität Bern, in der Forschungswerkstatt der PHBern sowie in Blockseminaren von Ulrich Oevermann analysiert. Bei den daran beteiligten Forschenden und Studierenden bedanken wir uns für die erbaulichen Sitzungen. Bern, im Juli 2007 Ursula Streckeisen, Denis Hänzi, Andrea Hungerbühler

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