Frauenmystik im europäischen Kontext: „The Book of Margery Kempe“ und die deutschsprachige Viten- und Offenbarungsliteratur des 14. und 15. Jahrhunderts [1 ed.] 9783412512415, 9783412511760, 9783412518813


124 79 13MB

German Pages [440] Year 2019

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Frauenmystik im europäischen Kontext: „The Book of Margery Kempe“ und die deutschsprachige Viten- und Offenbarungsliteratur des 14. und 15. Jahrhunderts [1 ed.]
 9783412512415, 9783412511760, 9783412518813

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Forschungen zu Kunst, Geschichte und Literatur des Mittelalters BAND 2

Herausgegeben von Klaus Gereon Beuckers, Andreas Bihrer und Timo Felber

Simone Kügeler-Race

Frauenmystik im europäischen Kontext „The Book of Margery Kempe“ und die deutschsprachige Viten- und Offenbarungsliteratur des 14. und 15. Jahrhunderts

BÖHLAU VERLAG  WIEN KÖLN WEIMAR

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung durch das St. John’s College, University of Cambridge

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: London, British Library, Add MS 37049, fol. 36v. © The British Library Board. Korrektorat: Dore Wilken, Freiburg Satz: büro mn, Bielefeld Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51241-5

Inhalt

Vorwort 

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

1 Einleitung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Wiederentdeckung der Kempe-Handschrift und lebensweltliche Ausdeutung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Positionen und Problemfelder der Kempe-Forschung vor dem Hintergrund der germanistischen Frauenmystikforschung  . . 1.3 Narration und Autorschaft: Methodische Herangehensweise  . . . . . . . 2

3

4

. . . 

9

. . . 

9

. . . 

19 34

. . . 

Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Handschrift London, British Library, Add MS 61823  . . . . . . . . . . . 2.2 Die Druckfassungen des Kempe-Textes  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Der Wynkyn-de-Worde-Druck von 1501 – Zur Präsentation der ‚Autorin‘ in der Überlieferung  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Der Kempe-treatyse im Kontext der Mitüberlieferung  . . . . . . . . 2.2.3 Die Druckfassung Henry Pepwells aus dem Jahr 1521  . . . . . . . . . 2.3 Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Die ‚Offizialität‘ der rubrizierten Randeinträge – Richard Methley, John Norton und die Konzeption des amor sensibilis  . . . . . . . . . 2.3.2 Margery Kempe, Mount Grace und mystische Kartäuserliteratur . . Narration und Autorschaft  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Erzählinstanzen des Margery-Kempe-Textes  . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Schreibergeschichten  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Schreiber, Erzähler, Autorin? Zur Profilierung von Autorschaft  . . Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen des 14. und 15. Jahrhunderts  . . . . 4.1 Autorinnenpräsenz in der Überlieferung? Einige Anmerkungen zur Überlieferungsgeschichte der Medinger „Offenbarungen“ und der Kempe-Vita  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Die Figurationen der Ich-Erzählerin und die Konzeption des Erzählens in den „Offenbarungen“  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

. .  . .  . . 

53 53 70

. . 

70 79 105

. . 

117

. . 

146 164

. .  . . 

. . 

. . . . . . . 

200 200 222 253

. . . . . . . 

269

. . . . . . . 

269

. . . . . . . 

296

. . . . . . .  . . . . . . .  . . . . . . . 

Inhalt | 5 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

4.3 Erzählerkonfigurationen und die Narration der Buchentstehungsgeschichten: Die Engelthaler Vitenliteratur  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  317 4.4 Die Rollenfigur des ‚Redaktors‘ als hagiographischer Erzähler  . . . . . . . . . .  340 5

Zusammenfassung und Ausblick  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Die sogenannten „Offenbarungen“ der Katharina Tucher: Autograph und Inszenierung eines Originals?  . . . . . . . . . .

Siglen und Abkürzungen  . . . . . . . . . . . . . . . Texte  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachschlagewerke und Zeitschriften  . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . Handschriften  . . . . . . . . Drucke  . . . . . . . . . . . . . Quellen  . . . . . . . . . . . . . Handschriftenkataloge  . . Nachschlagewerke  . . . . . Forschungsliteratur  . . . . Abbildungen  . .

. . . . . . . . . . . . 

357

. . . . . . . . . . . . 

362

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

379 379 379

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

381 381 382 383 388 388 389

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

422

Abbildungsverzeichnis . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

Personen- und Werkregister . .

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

6 | Inhalt © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

434 436

Vorwort

Die vorliegende Arbeit ist im Wintersemester 2016/2017 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln angenommen und für die Drucklegung leicht überarbeitet worden. Frau Prof. Dr. Ursula Peters hat sie betreut und Frau Prof. Dr. Monika Schausten hat das Zweitgutachten erstellt. Die Disputatio ist am 11. Januar 2017 abgelegt worden. Allen voran gilt mein herzlicher Dank Ursula Peters, die das Entstehen der Arbeit mit großem Einsatz und viel Verständnis ermöglicht und gefördert hat. Zudem ist Monika Schausten dafür zu danken, dass sie das Zweitgutachten der Dissertation übernommen hat. Susanne Bürkle hat die Studie vom ersten Entwurf an intensiv begleitet, wofür ich ihr aufrichtig danken möchte. Besonderer Dank gebührt Mark Chinca und Christopher Young für ihre Unterstützung am Department of German and Dutch an der Universität zu Cambridge. Für seine sorgfältige Lektüre der Kapitel zur Überlieferungsgeschichte und zur narratologischen Textanalyse des Kempe-­Textes habe ich Mark Chinca herzlich zu danken. Ebenso danke ich Henrike Manuwald, die während ihres Visiting Fellowship am Trinity College in Cambridge die Kapitel zu den Marginaleinträgen aufmerksam gelesen und in anregenden Gesprächen kommentiert hat. Für die Aufnahme in die Reihe danke ich den Herausgebern sowie Kirsti Doepner vom Böhlau Verlag für die umsichtige Betreuung. Dem Master Sir Christopher Dobson und Fellows des St John’s College, Cambridge, bin ich für die Gewährung eines großzügigen Druckkostenzuschusses zu großem Dank verpflichtet. Die a. r. t. e. s. Graduiertenschule der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln hat durch die Gewährung eines dreijährigen Promotionsstipendiums und den interdisziplinären Austausch optimale Arbeitsbedingungen geschaffen, die durch die Förderung der Kolleginnen und Kollegen am St John’s College Fortsetzung fanden. Zu danken habe ich auch dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD ) für ein Forschungsstipendium zur Erschließung der Handschriften in Großbritannien. Justin Clegg von der British Library hat mir freundlicherweise gestattet, Add MS 61823 und weitere Codices im Manuscript Reading Room der Bibliothek eingehend zu konsultieren. Zu Dank verpflichtet bin ich in gleicher Weise den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der University Library Cambridge und der Bodleian Library in Oxford. Schließlich danke ich von Herzen meiner Familie, meinen Eltern und insbesondere meiner ­Mutter, Hildegard Kügeler, deren Zuversicht und Hilfsbereitschaft das Schreiben ­dieses Buches möglich gemacht hat. Heartfelt thanks go to my husband Samuel Lockie Race, who supported me every step of the way. This book is dedicated to Hildegard K ­ ügeler and Samuel Lockie Race. Cambridge, im September 2018 

Simone Kügeler-­Race Vorwort | 7

© 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

© 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

1 Einleitung

1.1 Wiederentdeckung der Kempe-Handschrift und lebensweltliche Ausdeutung 1934 hat die amerikanische Mediävistin Hope Emily Allen den sensationellen Handschriftenfund des bis dahin verloren geglaubten spätmittelalterlichen „Book of Margery Kempe“ in einem Brief an die „London Times“ als „reminiscence of a medieval old lady […] crammed with highly interesting narratives of real life“ angekündigt.1 Sie attestiert der Protagonistin, die sie mit der textexternen Autorin des ‚Buches‘ gleichsetzt, ein „Talent zum Geschichtenerzählen“ und diese Einschätzung hat den Umgang der anglistischen Forschung mit dem Kempe-­Text nachhaltig beeinflusst.2 Der unikal im 15. Jahrhundert im Umkreis der Kartäuser überlieferte Kempe-­Codex (London, British Library, Add MS 61823), der um das Jahr 1440 datiert wird,3 war der Forschung bis zu seiner Entdeckung nur in zwei gedruckten Fassungen aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts bekannt,4 die, im Vergleich mit der Handschrift, ein sehr anderes (Rollen-)Bild der Protagonistin als geistiger Tochter in stiller Kontemplation präsentieren. Dagegen skizziert die Handschriftenfassung das ‚Gnadenleben‘ der im Text zumeist zur creature anonymisierten Margery Kempe mit bemerkenswertem Detailreichtum und einer lebensweltlich anmutenden Konkretheit, was ihre conversio von einer wohlhabenden Bürgersfrau mit Ehemann und 14 Kindern zu einer den Idealen von 1

2

3 4

Vgl. Hope Emily Allen: A Medieval Work. In: The Times, Issue 46946, 27. Dezember 1934, S. 15. Vgl. auch den zweiten Zeitungsartikel, der der Entdeckung der Kempe-­Handschrift eine größere literaturhistorische Bedeutung als dem Fund der Winchester-­Handschrift des berühmten spätmittelalterlichen Artusroman „Le Morte d’Arthur“ von Thomas Malory im gleichen Jahr zumisst: [o. A.]: Margery Kempe’s Own Story. The First English Autobiography. In: The Times, Issue 47493, 30. September 1936, S. 13. Der Bibliothekar Walter Oakeshott hat die Handschrift London, British Library, Add MS 59678 in der Fellows’ Library des Winchester College, Winchester entdeckt. Vgl. Hilton Kelliher: The Rediscovery of Margery Kempe. A Footnote. In: The Electronic British Library Journal (1997), S. 259. Vgl. Allen: Times, 27. Dezember 1934, S. 13: „She writes in charming English giving familiar details omitted by most medievals, and with telling echoes of direct discourse; she shows distinct story-­telling talent.“ Die Bedeutung des Kempe-­Textes für die englischsprachige Mediävistik belegen die vielen Publikationen und die dem Text gewidmeten Sammelbände wie etwa: A Companion to „The Book of Margery Kempe“. Hrsg. von John Arnold and Katherine J. Lewis. Cambridge 2004. Sandra McEntire (Hrsg.): Margery Kempe. A Book of Essays. New York 1992. Vgl. die Ausführungen zur Datierung der Handschrift in Kapitel 2.1 „Die Handschrift London, British Library, Add MS 61823.“ Vgl. Cambridge, Cambridge University Library, Wynkyn de Worde 1501, STC 14924, Sel. 5, 27. Vgl. die Druckfassung von 1521: London, British Library, Henry Pepwell 1521, STC 20972, BL. C. 37. Vgl. die ausführliche Diskussion in Kapitel 2.2 „Die Druckfassungen des Kempe-­Textes“.

Wiederentdeckung der Kempe-Handschrift und lebensweltliche Ausdeutung | 9 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Keuschheit, Armut und Demut verpflichteten mulier religiosa angeht.5 Das Buch berichtet nicht nur detailrealistisch über ihre Pilgerreisen zu den peregrinationes maiores Santiago de Compostela, Jerusalem und Rom, sondern auch über Audienzen mit berühmten Personen, wie der nordenglischen Rekluse Juliana von Norwich, dem Erzbischof von Canterbury und dem Bischof von Lincoln. Zudem finden sich in den Episoden vermehrt realistisch wirkende, alltagsweltliche Einzelheiten, die etwa die Kleidung der Protagonistin, bestimmte Speisen wie Hering und Stockfisch und Tätigkeiten wie das Bierbrauen und die Herstellung von Mehl betreffen. Diesen auf textueller Ebene produzierten „Realitätseffekten“6 konnte sich besonders die in die verschiedensten ideologischen Richtungen und Fragestellungen ausdifferenzierte englischsprachige Kempe-­Forschung zum Teil bis in die neuere Zeit nicht entziehen:7 Die Forschungsdiskussion ist größtenteils noch immer auf die Erschließung der 5

6

7

Der Kempe-­Text liegt in verschiedenen Textausgaben und Übersetzungen vor, die seine anhaltende Popularität eindrucksvoll belegen: The Book of Margery Kempe. Translated by Barry Windeatt. Harmondsworth 1985 (Penguin Classics). The Book of Margery Kempe. A New Translation, Contexts and Criticism. Hrsg. von Lynn Staley. New York [u. a.] 2001 (A Norton Critical Edition). The Book of Margery Kempe. Hrsg. von Lynn Staley. Kalamazoo, Mich. 1996. The Book of Margery Kempe: An Abridged Translation. Hrsg. von Liz Herbert McAvoy. Cambridge 2003. The Book of Margery Kempe. Hrsg. von Barry Windeatt. Cambridge 2004. Alle Zitate stammen aus der Ausgabe der Early English Text Society, im Folgenden abgekürzt als BMK: The Book of Margery Kempe. The Text from the Unique MS. Owned by Colonel W. Butler Bowdon. Volume I. Edited with Introduction and Glossary by Sanford Brown Meech. Prefatory Notes by Hope Emily Allen and Notes and Appendices by Sanford Brown Meech and Hope Emily Allen. London 1940 (Early English Text Society Original Series, No. 212). Der Begriff stammt von Roland Barthes: L’Effet de Reél. In: Communications 11 (1968), S. 84 – 89. Er bezeichnet die Beschreibung konkreter alltagsweltlicher Details, die scheinbar für den Fortgang einer Erzählung nicht von unmittelbarer Bedeutung sind, aber gerade auf diese Weise den Effekt des ‚Realen‘ evozieren. Vgl. Matias Martinez und Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 8. Auflage, München 2009 (C. H. Beck Studium), S. 50 f. Vgl. einige Beispiele aus der Fülle an Forschungsliteratur, etwa den sozialhistorischen und frömmigkeitsgeschichtlichen Ansatz von Clarissa W. Atkinson: Mystic and Pilgrim. The Book and World of Margery Kempe. Ithaca 1983. Anthony Goodman: Margery Kempe and Her World. London, New York, Toronto 2002 (The Medieval World). Anthony Goodman kontextualisiert den Kempe-­Text innerhalb der politischen und spiritualitätsgeschichtlichen Situation in Bishop’s Lynn und folgt damit den textinternen Angaben der vermeintlichen Buchentstehung, vgl. BMK, Kapitel 88, S. 216, 3 – 5: Whan þis booke was first in wrytyng, þe sayd creatur was mor at hom in hir chambre [Hervorhebung d. Verf.] wyth hir writer […]. Diese Sichtweise wird in Kapitel 2.1 „Die Handschrift London, British Library, Add MS 61823“ problematisiert werden. Vgl. auch den frömmigkeitsgeschichtlichen Verständniszugang von Denis Renevey: Margery’s Performing Body. The Translation of Late Medieval Discursive Religious Practices. In: Denis Renevey/Christiana Whitehead (Hrsg.): Writing Religious Women. Female Spirituality and Textual Practices in Late Medieval England. Cardiff 2000, S. 197 – 217. David Aers: The Making of Margery Kempe. Individual and Community. In: Ders.: Community, Gender and Identity. English Writing 1360 – 1430. London 1988, besonders S. 108 – 113. Aers versteht Margery Kempes Aufnahme einer religiösen Lebensführung als eine Art Eskapismus aus den Zwängen familiärer Verpflichtungen als Hausfrau und ­Mutter, wie sie Stand, Geschlecht und religiöse Lehren bedingten. Vgl. dagegen die genderanalytischen und an der feministischen Literarturtheorie orientierten Zugangsweisen: Mary

10 | Einleitung © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Lebensgeschichte der Margery Kempe ausgerichtet und versucht, sie als historische Person des Spätmittelalters zu verorten,8 wobei ­dieses Vorhaben auf der eher problematischen Prämisse basiert, dass der Text die ‚Erfahrungs- und Lebenswelt‘ seiner Protagonistin unmittelbar reflektiert. Dies hat vor allem in der älteren Kempe-­Forschung zu einer prinzipiellen Negierung seiner literarischen Gemachtheit geführt, die sogar in einigen Fällen so weit geht, den Text als Depravierung bzw. Trivialisierung eines theologischen „Erfahrungs“-Konzepts 9

8

9

Hardiman Farley: Her Own Creature. Religion, Feminist Criticism, and the Functional Eccentricity of Magery Kempe. In: Exemplaria 11 (1999) 1, S. 1 – 21. Vgl. David Lawton: Voice, Authority and Blasphemy in „The Book of Margery Kempe“. In: Sandra McEntire (Hrsg.): Margery Kempe. A Book of Essays. New York 1992, S. 93 – 115, besonders S. 100 f. Sarah Beckwith: Problems of Authority in Late Medieval English Mysticism. Language, Agency and Authority in „The Book of Margery Kempe“. In: Exemplaria 4 (1992), 1, S. 172 – 199. Vgl. die Ansätze einer komparatistischen Textlektüre, die zwar den Versuch unternimmt, Margery Kempe im Kontext ‚kontinental-­europäischer‘ Viten- und Offenbarungsliteratur zu verorten, allerdings zumeist auf die lateinischen revelationes der Heiligen Birgitta von Schweden beschränkt bleibt: Susan Dickman: Margery Kempe and the Continental Tradition of the Pious Woman. In: The Medieval Mystical Tradition in England. Papers Read at Dartington Hall, July 1984: Exeter Symposium III. Hrsg. von Marion Glasscoe. Cambridge 1984, S. 150 – 168. Die ‚kontinentale Literaturtradition‘ sehen Dickman wie Janette Dillon ausschließlich durch Birgitta von Schweden und die preußische Mystikerin und Rekluse Dorothea von Montau vertreten, Janette ­Dillon: Holy Women and Their Confessors or Confessors and Their Holy Women? In: Prophets Abroad. The Reception of Continental Holy Women in Late Medieval England. Hrsg. von Rosalynn Voaden. Cambridge 1996, S. 115 – 141. Ute Stargardt: The Beguines of Belgium, the Dominican Nuns of Germany, and Margery Kempe. In: Thomas J. Heffernan (Hrsg.): The Popular Literature of Medieval England. Knoxville 1985, S. 277 – 313. Annette C. Grisé: Holy Women in Print. Continental Female Mystics and the English Tradition. In: The Medieval Mystical Tradition. Exeter Symposium VII. Hrsg. von E. A. Jones. Cambridge 2004, S. 83 – 95. Dies geht etwa aus der programmatischen Äußerung hervor, die die Herausgeber dem Sammelband „A Companion to the Book of Margery Kempe“ in ihrer Einleitung vorangestellt haben, S. xviiii: „Our aim in putting the collection together has been to attempt to shift concentration away from the Book as a unique textual product and Margery as ‚author‘, towards a greater consideration of the text as a source for and of its period.“ Vgl. John H. Arnold/Katherine J. Lewis (Hrsg.): A Companion to „The Book of Margery Kempe“. Cambridge 2004. Der Sammelband vereint unter anderem sozial- und spiritualitätsgeschichtliche Ansätze, wie in den Beiträgen der Historiker Kate Parker und John Arnold, mit einer singulären Untersuchung zum funktionsgeschichtlichen Gebrauchskontext der Druckfassungen von Allyson Foster. Einen genderanalytisch orientierten Verständniszugang vertreten Kim Phillips, Isabel Davis und Sarah Salih. Unter einem theologischen „Erfahrungs“-Konzept ist vor allem die sinnlich erfahrbare Gotterkenntnis, die sogenannte cognitio dei experimentalis zu verstehen. Vgl. die pointierte Begriffsumschreibung der cognitio dei experimentalis als „erfahrungshaftes Wahrnehmen Gottes“ von Alois Haas in der Einleitung seiner Monographie zu den theologischen Grundlagen einer Sprache der Mystik, S. 12. Vgl. Alois Haas: Sermo Mysticus. Studien zu Theologie und Sprache der deutschen Mystik. Freiburg/Schweiz 1979 (Dokiminion 4), Einleitung, S. 12 und S. 19 – 37 „Mystische Erfahrung und mystische Sprache“. Ders.: Was ist Mystik? In: Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposium Kloster Engelberg 1984. Hrsg. von Kurt Ruh. Stuttgart 1986 (Germanistische Symposien und Berichtsbände 7), S. 319 – 341, besonders S. 329.

Wiederentdeckung der Kempe-Handschrift und lebensweltliche Ausdeutung | 11 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

zu betrachten.10 Im Gefolge dieser negativen Einschätzungen, die die ‚minderwertige Mystik‘ des Kempe-­Textes in direkter Relation zu den vermeintlichen Persönlichkeitsstörungen seiner Verfasserin sehen, sind Forschungsbeiträge entstanden, die Margery Kempes psychologische Befindlichkeit ergründen oder im Extremfall psychopathologische Störungen diagnostizieren.11 Dabei bildet ein stark vereinfachtes, biographistisches Textverständnis die Basis für 10 Bereits im Zeitungsartikel aus der London Times kommt eine ­solche negative Einschätzung im Vergleich mit der Druckfassung aus dem 16. Jahrhundert zum Ausdruck: Vgl. [o. A.]: Margery Kempe’s Own Story. The First English Autobiography. In: The Times, Issue 47493, 30. September 1936, S. 13: „It is remarkable that her revelations in this larger book are seldom on the spiritual level of Wynkyn de Wordes small abstract.“ Auch Hope Emily Allen, die Herausgeberin der historisch-­kritischen Textausgabe, fällt zunächst ein harsches Urteil, vgl. BMK, Prefatory Note, Hope Emily Allen, S. lxiv – lxv: „My method has been determined by the personal conditions of Margery as revealed by herself in her reminiscences: she was petty, neurotic, vain, illiterate, physically and nervously over-­strained; devout, much-­travelled, forceful and talented. […]. The verifications achieved by the editors in this volume […] will aid the professional psychologist who later will doubtless pronounce at length on Margery’s type of neuroticism.“ Herbert Thurston: Margery the Astonishing. In: The Month 2 (1936), S. 446 – 456. Thurston stellt im Rückgriff auf die neuzeitliche psychoanalytische Methode die eher fragwürdige Diagnose, dass Margery Kempe an Hysterie leide. Vgl. auch den Beitrag von David Knowles, der die ‚mindere Qualität‘ des Kempe-­Textes im Vergleich mit Texten der englischen Mystik, wie etwa den „Offenbarungen“ der Juliana von Norwich, herausstellt. Ders.: The English Mystical Tradition. London 1961, besonders S. 139 und S. 142. Vgl. Edmund Colledge: Margery Kempe. In: James Walsh (Hrsg.): Pre-­Reformation English Spirituality. London 1965, S. 222 f.: „She may indeed have looked and acted like a fool, have wearied men to death with her obsessive talk of heavenly things, have driven them to distraction with her screaming and tears, but all this she did, so far as she could control her own actions, because she truly believed that God told her this was what He wanted of her.“ Selbst die detaillierte Monographie von Rosalynn Voaden, die wichtige Erkenntnisse zum Einfluss der „discretio spirituum“-Lehre auf die textinterne Präsentation der Visionärin und ihres Schreibers liefert, lässt eine s­ olche Haltung erkennen. Vgl. Rosalynn Voaden: God’s Words, Women’s Voice. The Discernment of Spirits in the Writings of Late Medieval Women Visionaries. York 1999, S. 113: „It is obvious that at least three people are writing this book, and none of them is particularly good at it. This lack of skill raises questions about the nature of the collaboration between visionary and scribes, and doubts about the authenticity of the memories recorded in the Book.“ Vgl. Barry Windeatt: Reading and Re-­Reading, S. 3. Vgl. auch Stargardt: The Beguines of Belgium, the Dominican Nuns of Germany, and Margery Kempe, S. 277 – 313. Sie betrachtet den Kempe-­Text als eine Pervertierung kontemplativ-­spekulativer Mystikkonfigurationen. 11 Vgl. Richard Lawes: Psychological Disorder and the Autobiographical Impulse in Julian of Norwich, Margery Kempe, and Thomas Hoccleve. In: Renevey/Whitehead (Hrsg.): Writing Religious Women, S. 217 – 243. Vgl. den eher problematischen psychoanalytischen Verständniszugang von Hope P. ­Weissmann: Margery Kempe in Jerusalem. Hysteria Compassio in the Late Middle Ages. In: Mary Carruthers/Elizabeth Kirk (Hrsg.): Acts of Interpretations. The Text in its Contexts 700 – 1600. Norman 1982, S. 201 – 217. Julia Long: Mysticism and Hysteria. The Histories of Margery Kempe and Anna O. In: Ruth Evans/Leslie Johnson (Hrsg.): Feminist Readings in Middle English Literature. Routledge 1994, S. 88 – 111, die einen verfehlten Vergleich z­ wischen der berühmten psychoanalytischen Fallgeschichte der Patientin Anna O. (Bertha Pappenheim) und dem Kempe-­Text vornimmt, vgl. S. 99: „I have been concerned in this essay with the struggles of Kempe and Pappenheim over identity: sickness as an escape from prescribed roles, the search for transcendence and an alternative existence.“ Steven Harper: So euyl

12 | Einleitung © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

eine psychologische Ausdeutung des Kempe-­Textes, wie etwa die Untersuchung von Mary Hardiman Farley verdeutlicht.12 In eine ähnliche Richtung zielt der diskussionswürdige Beitrag von Richard Lawes, in dem er die Beziehung ­zwischen einem ‚Antrieb‘ zum autobiographischen Schreiben und einer psychologischen Erkrankung als vermeintlichen Impetus für die Abfassung des Kempe-­Textes deutet: Ein autobiographischer Impuls setze ein, um sich der eigenen, durch eine psychische Erkrankung bedrohten Persönlichkeit zu vergewissern und traumatische Erlebnisse zu verarbeiten.13 Diese eher fragwürdigen Ansätze, die die Terminologien neuzeitlicher Psychologie ohne Weiteres auf einen mittelalterlichen Text übertragen, reduzieren den Kempe-­Text auf eine Vorstufe von Psychographie bzw. Psychopathographie.14 Als Reaktion auf die psychologisierenden Deutungsansätze entwickelte sich verstärkt in den 1990er Jahren eine Forschungsrichtung, die im Rückgriff auf die Ergebnisse der historischen Frauen- und Genderforschung eine Art Rehabilitierung der im Sinne eines neuzeitlichen, emphatischen Autorschaftskonzeptes autonom gedachten Autorin Margery Kempe und ihrer ‚Stimme‘ anvisiert hat.15 Allerdings betrachten diese Forschungsbeiträge

12

13

14

15

to rewlen. Madness and Authority in „The Book of Margery Kempe“. In: Neuphilologische Mitteilungen 98 (1997), 3, S. 53 – 61. Richard Lawes: The Madness of Margery Kempe. In: Marion Glasscoe (Hrsg.): The Medieval Mystical Tradition in England, Wales and Ireland. Papers Read at Charney Manor July 1999: Exeter Symposium VII. Cambridge 1999, S. 147 – 167. Vgl. Mary Hardiman Farley: Her Own Creature, S. 2: „I believe it to be the earnest report of a fragile but courageous and ultimately successful personality integration – a record of a singular triumph over the fundamental dilemmas of medieval private life by a person unusually sensitive to their nuances.“ Hardimann Farley legt ihrer Untersuchung die Prämisse zu Grunde, dass der Kempe-­Text „transmit(s) the facts of a real life, dictated by the protagonist“ (S. 17). Sie diagnostiziert eine postnatale Depression (S. 9), eine psychotische Episode (S. 9), Ansätze einer Zwangsstörung mit Fixierung auf die Passion Christi (S. 12 – 13) sowie eine grundlegende Persönlichkeitsstörung (S. 14): „Margery, a historical medieval eccentric, is also a damaged person.“ Vgl. Lawes: Psychological Disorder and the Autobiographical Impulse in Julian of Norwich, ­Margery Kempe, and Thomas Hoccleve, S. 239. Lawes stellt die eher verfehlte Diagnose einer temporalen Frontallappenepilepsie, postnatalen Depression und Psychose mit einhergehenden Halluzinationen, vgl. S. 229 ff. Eine ähnliche Beobachtung hat bereits Susanne Bürkle im Hinblick auf die von Herbert Grundmann vertretene Entstehungsthese der deutschsprachigen Mystik vor dem Hintergrund der cura monialium der Dominikaner gemacht, vgl. Susanne Bürkle: Literatur im Kloster. Historische Funktion und rheto­rische Legitimation frauenmystischer Texte des 14. Jahrhunderts. Tübingen, Basel 1999 (Bibliotheca Germanica 38), S. 22 f. Vgl. auch Susanne Bürkle: Die Offenbarungen der Margareta Ebner. Rhetorik der Weiblichkeit und der autobiographische Pakt. In: Weibliche Rede – Rhetorik der Weiblichkeit. Studien zum Verhältnis von Rhetorik und Geschlechterdifferenz. Hrsg. von Doerte Bischoff und Martina Wagner-­Egelhaaf. Freiburg i. Br. 2003 (Rombach Wissenschaften-­Reihe Litterae, Band 93), S. 79 – 103, hier S. 87: „Margaretha Ebner avanciert von der typischen Mystikerin zur singulären Patientin.“ Vgl. den an der feministischen Literaturtheorie orientierten Sammelband von Sandra McEntire (Hrsg.): Margery Kempe. A Book of Essays. New York 1992. Sarah Beckwith: Problems of Authority in Late Medieval English Mysticism. Language, Agency and Authority in „The Book of Margery Kempe“. In:

Wiederentdeckung der Kempe-Handschrift und lebensweltliche Ausdeutung | 13 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

die Autorschaft der Margery Kempe nahezu ausschließlich aus einer produktionsorientierten Perspektive, die mit dem autonomen Autorsubjekt der Neuzeit argumentiert, das mit den spätmittelalterlichen Überlieferungsverhältnissen der „manuscript culture“ (Stephen G. Nichols)16 schwerlich in Einklang zu bringen ist, wie es die teils durchaus kontrovers geführten Diskussionen um eine Material Philology demonstrieren. Aufgrund des vornehmlich lebensgeschichtlich orientierten Forschungsinteresses ist es nicht erstaunlich, dass Fragen zur Überlieferungs- und Textgeschichte und zur Handschrift London, British Library, Add MS 61823 als Überlieferungsträger mit detaillierten Lesereinträgen aus dem 15. bzw. 16. Jahrhundert im Vergleich mit der Fülle an Forschungsliteratur eher wenig Beachtung gefunden haben.17 Da der Fokus der Kempe-­Forschung zunächst auf die Erschließung eines ‚authentischen Lebensberichts‘ einer religiös bewegten Frau des Exemplaria 4 (1992), 1, S. 172 – 199. Hinter Beckwiths Deutungsansatz steht „eine am Literaturbegriff des 19. Jahrhunderts orientierte autor- und subjektzentrierte Lektüre“ (Bürkle, 1999, S. 6), die eher unreflektiert eine Einheit von ‚Leben und Werk‘ annimmt, vgl. besonders S. 173 und S. 175 ff. Karma Lochrie: The Book of Margery Kempe. A Marginal Woman’s Quest for Literary Authority. In: Journal of Medieval and Renaissance Studies 16 (1986), S. 33 – 55, besonders S. 43: „Kempe’s personal battle with church authorities […] becomes a political battle as she attempts to assert her religious orthodoxy at the same time that she overturns orthodox anti-­feminism.“ Vgl. dagegen die kritische Anmerkung von Rebecca L. Schoff: Three Medieval Authors in Manuscript and Movable Print Type. Turnhout 2007 (Texts and Transitions Volume 4), S. 102: „However, it is less a deflection of orthodox anti-­feminism than a canny invocation of a woman’s sanctioned place within the status quo.“ Vgl. die Monographie von Verena E. Neuburger: Margery Kempe. A Study in Early English Feminism. Bern 1994 (European University Studies Series 14, Anglo-­Saxon Language and Literature; 278). Sie begreift Margery Kempe als eine Art prototypische Feministin, besonders S. 175 ff. Vgl. auch Nancy Bradley Warren: Feminist Approaches to Middle English Religious Writing. The Cases of Margery Kempe and Julian of Norwich. In: Literature Compass Volume 4 (2007), Issue 5, S. 1378 – 1396. 16 Stephen Nichols: Philology in a Manuscript Culture. Introduction. In: Speculum The New Philology 65 (1990), S. 7. Die Formulierung stammt aus der Einleitung des programmatischen Speculum-­Sonderhefts „The New Philology“, das eine Neuorientierung der Philologie im Hinblick auf die spezifische Materialität des Überlieferungsträgers anstrebt, der mit seinen verschiedenen Repräsentationssystemen als ‚Produkt‘ einer historischen Rezeptionssituation erscheint. Vgl. die in der Einleitung folgenden Ausführungen zum Ansatz der Material Philology. 17 Vgl. Sue Ellen Holbrook: Margery Kempe and Wynkyn de Worde. In: Marion Glasscoe (Hrsg.): The Medieval Mystical Tradition in England. Papers Read at Dartington Hall, July 1987: Exeter Symposium IV. Cambridge 1987, S. 27 – 46, zu den rubrizierten Marginaleinträgen in der Kempe-­Handschrift S. 36 f. Kelly Parsons: The Red Ink Annotator of „The Book of Margery Kempe“ and His Lay Audience. In: The Medieval Professional Reader at Work. Evidence from Manuscripts of Chaucer, Langland, Kempe and Gower. Hrsg. von Kathryn Kerby-­Fulton und Maidie Hilmo. Victoria BC. 2001, S. 143 – 217. Joel Fredell: Design and Authorship in the Book of Margery Kempe. In: Journal of the Early Book Society for the Study of Manuscripts and Print History Volume 12 (2009), S. 1 – 29. Schoff: Reformations. Three Medieval Authors in Manuscript and Movable Print Type, besonders Kapitel 2 „Editing the Books of Margery Kempe“, S. 92 – 139. Julie A. Chappell: Perilous Passages. The Book of Margery Kempe, 1534 – 1934. New York 2013 (The New Middle Ages). Diese Forschungsbeiträge werden ausführlich in Kapitel 2 „Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte“ der vorliegenden Arbeit diskutiert.

14 | Einleitung © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Spätmittelalters gerichtet ist, hat sie in der Kempe-­Handschrift eine Art ‚Tagebuch‘ gesehen und daher Fragen nach der Gebrauchsfunktion und dem Rezeptionszusammenhang des Codex weitgehend ausgeblendet. Erst Kelly Parsons hat im Rückgriff auf Sue Ellen Holbrook nicht unproblematische Überlegungen zu möglichen Gebrauchs- und Funktionszusammenhängen angestellt, die sie in einer Annotierung der Kempe-­Handschrift für weibliche Laien sieht,18 für die sich allerdings keine stichhaltigen Belege finden lassen, wie in Kapitel 2.3 „Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre“ zu zeigen sein wird. Parsons überlieferungsgeschichtliche Untersuchung basiert auf der diskussionswürdigen Prämisse, dass frauenmystische Viten- und Offenbarungstexte „für Frauen […] geschrieben worden sind“,19 wie es Kurt Ruh in seiner wirkungsmächtigen Literaturgeschichte der abendländischen Mystik formuliert hat. Im Folgenden sollen diese These und die bisherigen Überlegungen der anglistischen Kempe-­Forschung zu Gebrauchsfunktion und Rezeptionszusammenhang des Kempe-­ Codex durch eine Untersuchung der Handschrift, der Druckfassungen und der Marginaleinträge, basierend auf einem ‚materialphilologischen‘, überlieferungs- und funktionsgeschichtlichen Verständniszugang, überprüft und problematisiert werden. Dabei wird die komparatistisch angelegte Arbeit zwei bislang in der Forschung wenig verbundene Aspekte methodisch zusammensehen:20 Sie unternimmt den Versuch, die überlieferungsund textgeschicht­lichen Überlegungen mit einer Textanalyse auf der Basis der Erzählforschung zu kombinieren, um texttypenspezifische Figurationen des Erzählers im Vergleich mit der Vitenliteratur deutschsprachiger Dominikanerinnen des 14. und 15. Jahrhunderts herauszuarbeiten. Bereits in der Erstausgabe der Kempe-­Vita hat Hope Emily Allen als Mitherausgeberin mit Sanford B. Meech in ihrer Vorbemerkung,21 den Literaturhinweisen im Anhang 22 und ihren detaillierten Anmerkungen 23 zumindest ansatzweise eine komparatistisch ­orientierte Textlektüre skizziert, die das Buch der Margery Kempe innerhalb 18 Vgl. Parsons: The Red Ink Annotator, besonders S. 145 und S. 148 f. 19 Kurt Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik. Band II: Frauenmystik und franziskanische Mystik der Frühzeit. München 1993, S. 17. 20 Vgl. Racha Kirakosian: Die Vita der Christina von Hane. Untersuchung und Edition. Berlin, Boston 2017 (Hermaea Neue Folge 144), die in ihrer Studie den methodischen Zusammenschluss von materialphilologischen und narratologischen Parametern am Beispiel des mystischen Vitentextes der Prämonstratenserin Christina von Hane erprobt hat. Vgl. zum Text als Textkörper in seiner spezifischen Materialität, S. 60 – 65 und S. 23 – 26 zur Orientierung an der Erzähltheorie nach Genette. Aufgrund ihres Erscheinungsdatums konnte Kirakosians detaillierte Untersuchung leider nur noch kursorisch in der vorliegenden Arbeit berücksichtig werden. 21 Vgl. BMK, „Prefatory Note“, S. liii–lxviii. 22 Vgl. BMK „Appendix IV – Dominican Women Mystics in Germany“, S. 376 – 380. 23 Vgl. die Einleitung der vorliegenden Arbeit, Anm. 29 mit einer Auswahl von Allens Erläuterungen zur deutschsprachigen Frauenmystik, insbesondere zu Adelheid Langmann und Margareta Ebner im Anmerkungsteil der BMK-Edition, S. 255 – 352.

Wiederentdeckung der Kempe-Handschrift und lebensweltliche Ausdeutung | 15 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

einer ‚europäischen‘ Tradition frauenmystischen Schreibens verortet.24 So hat sie als erste auf Entsprechungen z­ wischen dem christuszentrierten, affektiven Frömmigkeitstypus hingewiesen, wie ihn der Kempe-­Text und die Vitentexte Christine Ebners,25 Adelheid Langmanns 26 und ­Margareta Ebners 27 aus dem 14. Jahrhundert entfalten.28 Dabei verweist sie jedoch vornehmlich auf Übereinstimmungen z­ wischen texttypenspezifischen Motivkomplexen und Topoi, wie der Eucharistieverehrung, der Askesepraxis im Rahmen der imitatio Christi, Gnadenfrucht und Liebesfeuer, Tränengabe und Gnadenrufe.29 Allerdings lassen 24 Vgl. BMK, „Prefatory Note“, S. liii: „The bulk of my notes, however, concern foreign women writers who represent a long-­continued tradition, obviously congenial to Margery. Of these women the only cited by Margery herself is St Bridget of Sweden.“ Die Anmerkungen, die mit Hope Emily Allens Initialen (H. E. A.) versehen sind, deuten auf die spezifischen Probleme hin, die mit der Publikation der historisch-­kritischen Ausgabe verbunden waren: Maria Mitchell zeichnet in ihrer Untersuchung nach, wie Hope Emily Allen während der Forschungsarbeiten zum Kempe-­Text von dem deutlich jüngeren Kollegen Sanford Brown Meech verdrängt wurde, den sie zur Mitarbeit an dem Projekt angeregt hatte und der schließlich die Rolle des Herausgebers übernahm, obwohl Allen ursprünglich mit der Edition betraut worden war. Vgl. Mitchell: The Book of Margery Kempe, besonders S. 15 – 55. 25 Susanne Bürkle und Ursula Peters (Köln) planen die Edition der Gnadenvita Christine Ebners. Mein herzlicher Dank gilt Susanne Bürkle dafür, dass sie mir freundlicherweise den Text der Gnadenvita nach der Handschrift Md 1, Mödingen/Dillingen, Klosterbibliothek Maria Medingen 2. Drittel des 15. Jhs. mit Kommentar und die „Offenbarungen“ (Nürnberg, Stadtbibliothek, Cent.V, App. 99, N1 aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts) zur Verfügung gestellt hat. Der Text der Gnadenvita wird im Folgenden mit der Sigle CE GV abgekürzt. 26 Vgl. Philipp Strauch (Hrsg.): Die Offenbarungen der Adelheid Langmann. Klosterfrau zu Engelthal. Strassburg 1878 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker, 26). Alle Zitate sind dieser Textausgabe entnommen, die im Folgenden mit AL bezeichnet wird. 27 Vgl. ders. (Hrsg.): Margaretha Ebner und Heinrich von Nördlingen. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Mystik. Freiburg i. Br. und Tübingen 1882, S. 1 – 166. Alle Zitate stammen aus dieser Edition (im Folgenden mit ME abgekürzt). 28 Vgl. BMK „Prefatory Note“, S. liii–lxviii und „Appendix IV – Dominican Women Mystics in G ­ ermany“, BMK, S. 376 – 378. 29 Vgl. in Auswahl die Anmerkungen, in denen Allen Verbindungslinien zur europäischen Frauenmystik aufzeigt: Anm. 12/29, S. 261; 17/7, 17/10, S. 263 (Askesepraxis) zu Birgitta von Schweden und Dorothea von Montau; zu Birgitta 32/6, S. 272 zur göttlichen Prophezeiung über Birgittas ­Pilgerfahrt nach Jerusalem; 39/24 zu Birgittas Offenbarungen; 47/26, S. 280 zu einer Eucharistievision, die der Margery-­Figur zuteil wird, aber der Heiligen Birgitta vorenthalten wurde; 68/12, S. 290 zur Tränengabe der Heiligen Birgitta in Jerusalem; Anm. 12/33, S. 261 zu Marie von Oignies; 13/18, S. 261; 17/4, S. 262; Anm. 61/1, S. 285 Tränengabe zu Dorothea von Montau; 16/34 – 35, S. 262 zu Angela von Foligno, Adelheid Langmann, ­Dorothea von Monau; 18/2, S. 264 zur Bildlichkeit des Stillens bei Christine Ebner; 20/10, 20/30 S. 266 zum Topos der Gnadenfrucht bei Christine Ebner und ­Adelheid Langmann; 21/12, S. 267 göttliche Prophezeiung, die die Heirat der AL betrifft; 29/32, S. 271 zur Thematik der göttlichen Auserwähltheit der AL und CE ; Anm. 145/33 zur Erscheinung der Engel bei AL ; 31/7, S. 272 zur göttlichen Allgegenwart bei Seuse, AL und ME ; Anm. 44/25, S. 280 zur Autorisierung durch Beichtväter bei Margareta Ebner und Adelheid Langmann; Anm. 50/30, S. 282 Sündenvergebung bei AL und ME ; 70/21 S. 292 zum Topos des Liebesfeuers bei Angela von

16 | Einleitung © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

sich weitere thematische sowie strukturelle Analogien feststellen, die das Autorschaftskonzept der Kempe-­Vita, die Erzählverfahren und besonders die textinternen Angaben zur Buchentstehungsgeschichte betreffen, wie es in Kapitel 4 „Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen des 14. und 15. Jahrhunderts“ zu zeigen gilt. Das Textcorpus, das sich aus den Gnadenviten Christine Ebners und Adelheid Langmanns aus dem Kloster Engelthal und den „Offenbarungen“ der Medinger Dominikanerschwester Margareta Ebner zusammensetzt und für die vorliegende Arbeit um das Gnadenleben des Engelthaler Kloster­kaplans Friedrich Sunder erweitert ist,30 bildet den Ausgangspunkt für eine komparatistisch ausgerichtete und am Begriffsinstrumentarium der neuzeitlichen Erzähltheorie orientierten Textanalyse. Denn die ausgewählten Texte bieten ein mögliches Spektrum literarisch stilisierter Buchentstehungsszenarien, die zwar in vergleichbaren, aber individuell akzentuierten Erzählerfigurationen zur Darstellung kommen: So präsentieren die „Offenbarungen“ der Margareta Ebner das Gnadengeschehen durchgängig aus der Ich-­Perspektive einer schreibenden Visionärin, die ihr Gnadenleben retrospektiv verfasst. Dagegen entfaltet die Medinger Gnadenvita Christine Ebners ein hochkomplexes, verschiedene Erzählebenen und -instanzen umfassendes Gefüge, an dem sogar drei Ich-­Instanzen beteiligt sind, die die Vorstellung verschiedener ‚Abfassungsstufen‘ einer sukzessiven Textentstehung suggerieren. Die „Offenbarungen“ der Adelheid Langmann und das Gnadenleben des Friedrich Sunder bieten ebenfalls in die Texte vereinzelt eingestreute Ich-­Reden, die zusammengesehen die ‚Anwesenheit‘ einer Redaktorfigur als Vermittler der Gnadengaben evozieren. Und im Vergleich mit der Kempe-­Vita lässt sich die Erzählweise frauenmystischer Vitentexte genauer herausarbeiten, die der überwiegende Teil der Kempe-­Forschung und auch vereinzelt neuere germanistische Untersuchungen unter textgenetischen Gesichtspunkten im Hinblick auf die faktischen Textentstehungsverhältnisse auswerten. Ein komparatistischer Ansatz hat in der bisherigen anglistischen Forschungsdiskussion eher wenig Beachtung gefunden und zu diskussionswürdigen Ergebnissen geführt, was im Folgenden ausführlicher beleuchtet werden soll.31 Zwar zeichnet sich in der Anglistik eine Foligno und Dorothea von Montau; 71/13, S. 292 Dorothea von Montau in der Rolle der Vertrauten Gottes; 81/4, S. 299 zur Rolle des Evangelisten Johannes als Schreiber bei ME ; 84/10, S. 300 zu den Gnadenrufen bei ME ; 100/23, S. 306 zur Briefsammlung Heinrichs von N ­ ördlingen und der Thematik des Abschiednehmens; Anm. 156/26 zur Verehrung ME s, die allerdings nur aus der Briefsammlung hervorgeht; 182/10 S. 332 zu AL , CE und den göttlichen Liebesbeteuerungen; Anm. 214/2, S. 340 zur Verehrung des Jesus-­Kindes bei ME . 30 Vgl. die Textausgabe von Siegfried Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur in Frauenklöstern des Mittelalters. Quellen und Studien. München 1980 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters), S. 391 – 445, im Folgenden FS. 31 Eine ansatzweise komparatistische Perspektive bietet die Untersuchung von Riehle zur eremitischen Mystik Englands „by considering mystical activity on the continent“, vgl. Wolfgang Riehle: The Secret Within. Hermits, Recluses and Spiritual Outsiders in Medieval England. Ithaca, New York 2014, hier

Wiederentdeckung der Kempe-Handschrift und lebensweltliche Ausdeutung | 17 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

zunehmende Sensibilisierung für das intrikate Problem von Autorschaft und Erzählform ab,32 aber dennoch hat die anglistische Kempe-­Forschung die Erkenntnisse der g­ ermanistischen Mediävistik im Hinblick auf die texttypologische Bestimmung frauenmystischer Texte S. xv. In Kapitel 10 „Margery Kempe. The Shocking ‚Fool in Christ‘“ kontextualisiert Riehle Margery Kempe innerhalb der europäischen Frauenmystik (S. 246), für die er unter anderem stellvertretend Marie von Oiegnies (S. 254 f., S. 280), Mechthild von Magdeburg (S. 254) und Birgitta von Schweden (S. 261, S. 266 – 268) als Vertreterinnen eines spirituellen „new ideal of womanhood“ (S. 261) anführt. Allerdings beschränken sich seine Ausführungen vornehmlich auf den eucharistischen und passionsmystisch geprägten Frömmigkeitstypus, der diese mulieres religiosae miteinander verbinde. Wiederholt überträgt er die Ebene der textinternen Buchentstehung auf die Ebene der faktischen Textproduktion, vgl. etwa S. 270 f.: „The unusual genesis of the text necessarily affected its style. […] The text is largely her [Margery Kempe’s, Anm. d. Verf.] own work, constructed with her own language skills and her own considerable theological knowledge.“ Vgl. auch Dickman: Margery Kempe and the Continental Tradition of the Pious Woman, S. 150 – 168. Bolton-­Holloway: Bride, Margery, Julian and Alice: Bridget of Sweden’s Textual Community in England, S. 203 – 222. Dickman als auch Bolton-­Holloway nehmen in ihren Untersuchungen jeweils nur auf die im Kempe-­Text genannten heiligen Frauen – vorrangig Birgitta von Schweden und Elisabeth von Thüringen – Bezug und lassen die von Allen aufgedeckten Parallelen zur deutschsprachigen Frauenmystik außer Acht. Vgl. auch den Sammelband von Voaden: Prophets Abroad, 1996. Dillon: Holy Women and Their Confessors or Confessors and Their Holy Women?, S. 115 – 141. Ute Stargardt: The Beguines of Belgium, the Dominican Nuns of Germany, and Margery Kempe, S. 277 – 313. Stargardts Beitrag bietet zwar Hinweise auf die dominikanischen Schwesternbücher, er beruht allerdings auf der problematischen Annahme, dass der Kempe-­Text die ‚psychische‘ Erfahrungs- und Lebenswirklichkeit seiner Protagonistin unmittel­bar abbilde und, wie die dominikanischen Nonnenbücher, den Einfluss grundlegender ‚Persönlichkeitsstörungen‘ und Sublimierungsstrategien erkennen lasse. 32 Besonders aufschlussreich sind in ­diesem Kontext die Arbeiten von Lynn Staley, die als erste ­zwischen der Autorin des Textes und „Margery“ als Figur des Textes differenziert hat. Dennoch stellt auch ­Staley die im Text entworfene Vorstellung einer gottinspirierten Visionärin, die ihre Gnadengaben diktiert, mit der textexternen Verfasserin gleich. Vgl. Lynn Staley: Margery Kempe’s Dissenting Fictions. Pennsylvania 1994, besonders S. 3 und S. 36 – 38. Dies.: The Trope of The Scribe and The Question of Literary Authority in the Works of Julian of Norwich and Margery Kempe. In: Speculum 66 (1991), 4, S. 820 – 838, besonders S. 836 f. Voaden: God’s Word, Women’s Voice, S. 114, die ­zwischen der Protagonistin und dem Erzähler differenziert. Robert N. Swanson: Will The Real Margery Kempe Please Stand Up? In: Women and Religion in Medieval England. Hrsg. von Diana Wood. Oxford 2003, S. 141 – 165. Sarah Salih: Versions of Virginity in Late Medieval England. Woodbridge 2001, S. 166 – 180, besonders S. 172 f. zu einem Differenzierungsversuch ­zwischen Autorin und Hauptfigur als „effect of the text“. Vgl. auch den kritischen Forschungsbeitrag von Felicity Riddy: Text and Self in „The Book of Margery Kempe“. In: Voices in Dialogue. Reading Women in the Middle Ages. Hrsg. von Linda Olson and Kathryn Kerby-­Fulton. Notre Dame, Indiana 2005, S. 435 – 454. Riddy vertritt im Gegensatz zu Nicholas Watson einen diskursanalytischen Ansatz, der die verschiedenen Sprecherpositionen des Kempe-­Textes problematisiert. Vgl. dagegen Nicholas Watson: The Making of „The Book of Margery Kempe“. In: Voices in Dialogue, S. 395 – 434, der die textinterne Buchentstehungsgeschichte als Ausgangspunkt für seine problematischen Überlegungen zur faktischen Textentstehung nimmt und die Ich-­Einschübe des Erzählers mit den Äußerungen des faktischen Schreibers auf der textexternen Ebene gleichsetzt.

18 | Einleitung © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

und die perspektivreichen Überlegungen zu den kulturhistorischen und frömmigkeitsgeschichtlichen Voraussetzungen ihrer Entstehung, ihrer institutionellen Einbindung in historische Funktionszusammenhänge sowie die Beziehung z­ wischen Textüberlieferung und Autorkonstitution bisher nicht in Betracht gezogen.33 Die wichtigen Ergebnisse der deutschsprachigen Frauenmystikforschung bilden die Grundlage einer narratologisch orientierten Texterschließung, die den Blick auf die literarischen Erzählweisen frauenmystischer Viten- und Offenbarungsliteratur lenkt. Daher sollen zunächst die für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit relevanten Positionen der Kempe-­Forschung im Rückgriff auf die Neuansätze der germanistischen Frauenmystikforschung problematisiert werden, um die Herangehensweise zu entfalten.

1.2 Positionen und Problemfelder der Kempe-Forschung vor dem Hintergrund der germanistischen Frauenmystikforschung Auch in der germanistischen Mediävistik galten die unter dem Begriff Frauenmystik subsumierten volksprachlichen Offenbarungs- und Vitentexte, die eine körperzentrierte Form von Visionserfahrungen, Askesepraxis und imitatio Christi beispielhaft an der Figur einer göttlich begnadeten Visionärin vorführen, ungeachtet der texttypologischen Zuordnung zu hagiographischen Schreibweisen,34 lange Zeit als authentischer Ausdruck 33 Vgl. Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur. Ders.: Die Rezeption mittelalterlicher Frauenmystik als wissenschaftliches Problem, dargestellt am Werk der Christine Ebner. In: Frauenmystik im Mittelalter. Hrsg. von Peter Dinzelbacher. Ostfildern 1985, S. 178 – 200. Ders.: Vitenschreibung als mystische Lehre. In: Minnichlichiu gotes erkennusse. Hrsg. von Dietrich Schmidtke. Stuttgart-­Bad Cannstatt 1990, S. 89 – 104. Ursula Peters: Religiöse Erfahrung als literarisches Faktum. Zur Vorgeschichte und Genese frauenmystischer Texte des 13. und 14. Jahrhunderts, Tübingen 1988. Susanne Köbele: Bilder der unbegriffenen Wahrheit. Zur Struktur der mystischen Rede im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache. Tübingen, Basel 1993 (Bibliotheca Germanica 30). Christiane Ruhrberg: Der literarische Körper der Heiligen: Leben und Viten der Christina von Stommeln (1214 – 1312). Tübingen, Basel 1995 (Bibliotheca Germanica 35). Bürkle: Literatur im Kloster. Johanna Thali: Beten, Schreiben, Lesen. Literarisches Leben und Marienspiritualität im Kloster Engelthal. Tübingen, Basel 2003 (Bibliotheca Germanica 42). Balázs Nemes: Von der Schrift zum Buch – vom Ich zum Autor. Zur Text- und Autorkonstitution in Überlieferung und Rezeption des „Fließenden Lichts der Gottheit“ Mechthilds von Magdeburg. Tübingen, Basel 2010 (Bibliotheca Germanica 55). Urban Federer: Mystische Erfahrung im literarischen Dialog. Die Briefe Heinrichs von Nördlingen an Margareta Ebner. Berlin, New York 2011 (Scrinium Friburgense 25). Vgl. die begründete Kritik von Balázs Nemes: Rezension zu Urban Federer: Mystische Erfahrung im literarischen Dialog. Die Briefe Heinrichs von Nördlingen an M ­ argareta Ebner. Berlin, New York 2011 (Scrinium Friburgense 25). In: ZfdPh 132 (2013), 3, S. 454 – 469. Daniela Fuhrmann: Konfigurationen der Zeit. Dominikanerinnenviten des späten Mittelalters. Würzburg 2015 (Philologie der Kultur, Band 12). 34 Vgl. die texttypologische Bestimmung von Siegfried Ringler, der sie in Abgrenzung zu der Kategorisierung der Frauenmystik als „weiblicher Erfahrungsliteratur“ (S. Bürkle) formuliert. Ders.: Viten- und

Positionen und Problemfelder der Kempe-Forschung | 19 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

weiblicher Spiritualität und Erfahrungsweisen.35 Ausgehend von dieser lebens- und erfahrungsweltlichen Prämisse hat die ältere Frauenmystik-­Forschung zunächst, in vergleichbarer Weise zur englischen Kempe-­Forschung, das in den Texten entworfene Bild einer schreibenden bzw. diktierenden Visionärin als textexterne Verfasserin identifiziert,36 die allerdings zumeist erst im Laufe der Überlieferungs- und Textgeschichte auf der Ebene der Handschriften eine Konkretisierung und Repersonalisierung 37 zu einer Autorperson erfährt.38 In den letzten Jahren haben detaillierte Einzelstudien zu der Klosterliteratur

35

36

37

38

Offenbarungsliteratur, besonders S. 8 – 14, S. 9: „‚Echtheit des Erlebens‘ ist eben wirklich nicht eine Kategorie hagiographischer Literatur.“ Ders.: Die Rezeption mittelalterlicher Frauenmystik als wissenschaftliches Problem, S. 178 – 200, hier S. 178. Vgl. besonders die Beiträge des Geschichtswissenschaftlers Peter Dinzelbacher, der von der Existenz einer frauen- bzw. männerspezifischen Form von Mystik ausgeht. Peter Dinzelbacher: Kleiner Exkurs zur feministischen Diskussion. In: Frauenmystik im Mittelalter. Wissenschaftliche Studientagung der Akademie der Diözese Rottenburg-­Stuttgart, 22. – 25. 7. 1984 in Weingarten. Hrsg. von Peter ­Dinzelbacher, Dieter R. Bauer. Ostfildern 1985, S. 391 – 393, hier S. 391. Vgl. auch Otto Langer: Zur dominikanischen Frauenmystik im spätmittelalterlichen Deutschland. In: Frauenmystik im Mittelalter, S. 341 – 346. Langer kontrastiert die auf einer ‚experimentellen Gotterfahrung‘ basierende Spiritualität dominikanischer Schwestern mit der spekulativen Theologie Meister Eckharts und reduziert die Frauenmystik zur ‚Erlebnismystik‘. Peter Dinzelbacher: Zur Interpretation erlebnismystischer Texte des Mittelalters. In: Mittelalterliche Frauenmystik. Hrsg. von Peter Dinzelbacher. Paderborn [u. a.] 1993, S. 304 – 332. Ders.: Die Gottesbeziehung als Geschlechterbeziehung. In: Helmut Brall (Hrsg.): Personenbeziehung in der mittelalterlichen Literatur. Düsseldorf 1994 (Studia humaniora, 25), S. 3 – 36. Zwar vermittelt ­Dinzelbacher in seiner Untersuchung einen guten Überblick über die Entwicklung der sogenannten Brautmystik mit ihren konkret wirkenden Vorstellungsbildern der körperlichen unio, aber es ist diskussionswürdig, wenn er sie nicht nur als „rein innerliterarische Topoi“, sondern als „tatsächlich statt gehabtes Erleben“ betrachtet. Er beruft sich dabei auf eine Psychologin, die konstatiert, dass die Visionärinnen schlicht in Jesus verliebt ­seien. Vgl. etwa die in Anm. 19 genannte Definition von Ruh: Band II: Frauenmystik, S. 17: „Frauenmystik umspannt Texte, die für Frauen geschrieben oder von Frauen durch Diktat oder Bericht, seltener auch in eigenen Niederschriften vermittelt worden sind, aber auch Lebensbilder von visionären oder im Gnadenleben stehenden Frauen.“ Der Begriff der „Personalisierung“ sei nach Hugo Kuhn dadurch geprägt, dass „nicht der historische oder biographische Autor, sondern ein aus seiner Funktion re-­personalisierter Autor die jetzt personal werdende Autorrolle trägt.“ Vgl. Hugo Kuhn: Versuch über das 15. Jahrhundert in der deutschen Literatur. In: Ders.: Entwürfe zu einer Literatursystematik des Spätmittelalters. Tübingen 1980, S. 85. Vgl. zur Entdeckung von Autorschaft in den dominikanischen Schwesternbüchern des 14. Jahrhunderts, Bürkle: Literatur im Kloster, S. 235 – 258 und zur Profilierung und Konstitution von Autorschaft in der Überlieferungsgeschichte des „Fließenden Lichts der Gottheit“, Nemes: Von der Schrift zum Buch, S. 309 – 380. Dies hat Susanne Bürkle anhand der Nachträge in der Medinger Handschrift der „Offenbarungen“ demonstriert, die der Dominikanerschwester Margareta Ebner zugeschrieben werden. Bürkle: Die Offenbarungen der Margareta Ebner, S. 79 – 103. Vgl. die ausführliche Diskussion in Kapitel 4.1 „Autorinnenpräsenz in der Überlieferung? Einige Anmerkungen zur Überlieferungsgeschichte der Medinger „Offenbarungen“ und der Kempe-­Vita“. Vgl. zur Autorkonkretisation in der Überlieferungs- und

20 | Einleitung © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

süddeutscher Dominikanerinnen des 14. Jahrhunderts 39, zum „Fließenden Licht der Gottheit“40 der mulier sancta Mechthild von Magdeburg 41 und neuerdings zur Vita der Prämonstratenserin Christina von Hane 42 (1269 – 1292) die These zur Frauenmystik als geschlechtsspezifischer ‚Erfahrungsliteratur‘ widerlegt und zu einer Neuorientierung der Forschung geführt, die die theologischen und literarischen Konstitutionsbedingungen, die spezifische Programmatik der Texte und ihren Inszenierungscharakter genau zu erfassen vermag. Vor allem Susanne Bürkle und Balázs Nemes haben die Problematik aufgezeigt, frauenmystische Texte als ‚lebensbegleitendes‘, Lebenswirklichkeit abbildendes Schreiben zu verstehen.43 Im Hinblick auf die Machart und Erzählweise hat Susanne Bürkle die prinzipielle Unvergleichbarkeit der dominikanischen Mystik und der frauenmystischen Viten- und Offenbarungsliteratur nachgewiesen, da die narrativ konkretisierenden ‚Frauenviten‘ und die theologisch-­spekulativ ausgerichtete Dominikanerliteratur ganz unterschiedlichen Texttypen und Traditionen zugehörig ­seien.44 Auf diese Weise hinterfragt sie die Abgrenzung einer essentialistischen, geschlechtsspezifischen Vorstellung von „Frauen- und Männermystik“45 und stellt stattdessen die interessengeleitete, institutionelle Einbindung frauenmystischer Literatur in einem spezifischen Entstehungs- und Funktionszusammenhang innerhalb einer Klostergemeinschaft heraus.46

39

40 41 42 43

44 45 46

Rezeptionsgeschichte des „Fließenden Lichts“, Nemes: Von der Schrift zum Buch, besonders S. 309 – 316 und S. 317 – 323. Hier sind vor allem die Arbeiten von Susanne Bürkle anzuführen: Bürkle: Literatur im Kloster. Dies.: Die ‚Gnadenvita‘ Christine Ebners: Episodenstruktur – Text-­Ich und Autorschaft. In: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte. Kolloquium Kloster Fischingen 1998. Tübingen 2000, S. 483 – 513. Dies.: Die Offenbarungen der Margareta Ebner. Thali: Beten, Schreiben, Lesen. Thalis Untersuchung konzen­ triert sich vornehmlich auf die Figuration und Bedeutung der Gottesmutter Maria in der Gnadenvita des FS. Vgl. auch dies.: vil herczliebe kúngin. Die Bedeutung Marias in der Gnadenvita des Engelthaler Klosterkaplans Friedrich Sunder. In: Mittelalterliche Literatur im Lebenszusammenhang, S. 265 – 315. Fuhrmann: Konfigurationen der Zeit. Vgl. Das fließende Licht der Gottheit. Hrsg. von Gisela Vollmann-­Profe. Frankfurt a. M. 2003 (Bibliothek des Mittelalters Band 19). Zitate sind dieser Edition entnommen, die im Folgenden mit der Sigle FL bezeichnet wird. Vgl. Nemes: Von der Schrift zum Buch. Vgl. Kirakosian: Die Vita der Christina von Hane. Vgl. zum literarischen Status und zum „Konzeptcharakter frauenmystischer Literatur“, Bürkle: Literatur im Kloster, besonders S. 138 – 145, hier zum Vergleich von FS, ME und CE. Vgl. Nemes: Von der Schrift zum Buch, S. 97. Die von Nemes propagierte rezeptionsorientierte Perspektive trägt der literarischen Gemachtheit der Buchentstehungsgeschichten Rechnung, aus denen sich die faktischen Entstehungsbedingungen nicht ohne Weiteres extrahieren lassen. Vgl. Bürkle: Die Offenbarungen der Margareta Ebner, S. 85. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 4. Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, besonders S. 162. Vgl. Bürkle: Die Offenbarungen der Margareta Ebner, S. 85. Thali: Beten, Schreiben, Lesen, S. 49, die im Rückgriff auf Susanne Bürkle darauf verweist,

Positionen und Problemfelder der Kempe-Forschung | 21 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Balázs Nemes hat herausgearbeitet, dass sich in der textphilologischen Auseinandersetzung mit dem „Fließenden Licht“ im 19. Jahrhundert die für die Mechthild-­Forschung anfänglich richtungsweisende Einschätzung abzeichnet, den Text aufgrund seiner spezifischen Gestaltungsweise und der Überlieferung in der Einsiedler Handschrift 27747 Mechthild von Magdeburg als alleiniger Autorin zuzuschreiben.48 In ­diesem Kontext führt er aus, dass die frühe Forschung sich bis in die 1950er Jahre hinein auf Mechthild als historische Autorperson konzentriert und versucht hat, ihren einzig aus dem Text erschließbaren ‚Lebensweg‘ genau zu datieren.49 Ähnlich gehen die beiden Herausgeber Hope Emily Allen und Sanford B. Meech vor, die das vermeintliche Geburtsjahr, die Datierung der Pilgerreisen und des Abfassungsprozesses anhand der sehr vereinzelt in den Text eingestreuten Zeit- und Altersangaben berechnen.50 Eine s­ olche Chronologie, wie sie auch Philipp Strauch in seiner Textedition aus dem 19. Jahrhundert für die „Offenbarungen“ Margareta Ebners auf Grundlage der in einer Londoner Handschrift des 18. Jahrhunderts tradierten Briefsammlung des Weltpriesters Heinrich von ­Nördlingen erstellt hat, haben Susanne Bürkle und Balázs Nemes problematisiert.51 Denn sie demonstrieren, dass es sich bei dem Offenbarungstext und den Sendbriefen 52 um sehr unterschiedlich ausgerichtete Texttypen mit einer spezifischen Ausdifferenzierung von Figuren- und

47 48 49 50

51

52

dass bei dem Umgang der Forschung mit deutschsprachigen frauenmystischen Texten von Beginn an ein Fokus auf die geschlechtsspezifische Differenzierung der Texte gelegt worden sei und eine mit d­ ieser Abgrenzung verbundene Abwertung der Frauen- gegenüber der Männermystik stattgefunden habe. Vgl. etwa die in Anm. 35 genannten Beiträge von Peter Dinzelbacher. Vgl. auch die Kritik am Begriff Frauenmystik von Kirakosian: Die Vita der Christina von Hane, S. 44. Einsiedeln, Benediktinerabtei, Stiftsbibliothek, Codex 277, fol. 2r–166ra. Vgl. Nemes: Von der Schrift zum Buch, S. 2 – 13. Vgl. ebd., S. 1 f. Konkrete Jahresangaben, die den Schreib- und Abfassungsprozess betreffen, finden sich einzig in den prologartigen Anfangspartien der ‚Bücher‘ I und II . Vgl. BMK , S. 5, 32: Anno domini m.cccc.xxxvj; BMK, S. 6, 21 – 24: And so he gan to wryten in þe ȝer of owr Lord a m.cccc.xxxvj on þe day next aftyr Mary Maudelyn aftyr þe informacyon of þis creatur. BMK, S. 221, 7 – 12: And þan he gan to writyn in þe ȝer of owr Lord m.cccc. xxxviij in þe fest of Seynt Vital Martyr […]. Vgl. auch die beiden eher vage gehaltenen Altersangaben BMK, S. 6, 25: Whan þis creatur was xx ȝer of age or sumdele mor. Vgl. BMK, Notes 6/25, S. 259 und BMK, liber II, Kapitel 5, S. 234, 18 – 19: a woman dys-­ewsyd of goyng & also a-­bowtyn iij scor ȝer of age, die in Verbindung mit der um das Jahr 1433 angesetzten Aachener Heiligtumsfahrt und der Pilgerfahrt nach Bad Wilsnack in der Prignitz als Basis der Chronologie dienen. Vgl. BMK , Notes, S. 345 – 348. Vgl. Bürkle: Die Offenbarungen der Margareta Ebner, S. 90, Anm. 42, die die liturgische Textstruktur der „Offenbarungen“ herausstellt, die sich einer genauen zeitlichen Bestimmung entziehe. Nemes: Rezension zu Urban Federer, S. 455. Nemes kritisiert zu Recht, dass Federer die Chronologie seiner Untersuchung der unikal in einer Londoner Handschrift aus dem 18. Jahrhundert tradierten Briefsammlung zugrunde lege, obwohl er selbst auf die Problematisierung durch Bürkle verweise. Vgl. die Untersuchung von Federer: Mystische Erfahrung, besonders S. 75 – 110, der die literarische Stili­ sierung und Gebrauchsfunktion der Briefe als ‚Sendbriefe‘ herausgearbeitet hat.

22 | Einleitung © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Themenkomplexen handelt, die nicht ohne Weiteres zur Rekonstruktion etwaiger Lebensdaten zusammengesehen werden können. Für die Kempe-­Forschung bildet die Erschließung der Lebensgeschichte dagegen immer noch ein primäres Anliegen, wie dem mit präzisen Jahreszahlen versehenen Lebensabriss zu entnehmen ist, der selbst der neuesten Textausgabe vorangestellt ist und bereits eine Art biographisch-­lebensweltliche Interpretationsfolie und ‚Lektürevorgabe‘ bietet.53 Diese Tendenz, den Kempe-­Text unter einer lebensweltlich orientierten Prämisse zu betrachten, lässt sich bis zu der Entdeckung der Handschrift zurückverfolgen. Denn bereits in den Zeitungsartikeln zum Handschriftenfund kristallisieren sich zentrale Frage- und Deutungsansätze heraus, die für die weitere Forschungsdiskussion bestimmend werden, wie aus der ‚programmatischen‘ Titelgebung der Reportage vom 30. September 1936 hervorgeht: „Margery Kempe’s Own Story. The First English Autobiography“.54 So besteht weitgehender Konsens in der Forschung darüber, dass es sich beim Kempe-­Text um die erste Autobiographie in englischer Sprache oder zumindest um die Anfänge (auto-)biographischen Schreibens handelt.55 Dabei basiert eine s­ olche gattungstypologische Zuordnung 53 Vgl. The Book of Margery Kempe. A New Translation by Anthony Bale. Oxford 2016 (Oxford World Classics), S. xlii–xliii „A Chronology of Margery Kempe“. Vgl. auch The Book of Margery Kempe. Hrsg. von Barry Windeatt. Cambridge 2000, S. vii–viii „Chronology of the Life of Margery Kempe“. 54 Vgl. The Times, Issue 47493, 30. September 1936, S. 13. Vgl. das Kapitel „A Literary Event: Reporting The Book of Margery Kempe , 1934 – 1943“ in Mitchell: The Book of Margery Kempe, S. 55 – 70, besonders S. 57 – 60. Mitchell arbeitet die Rezeption in der Presse der 1930er Jahre heraus, die den Kempe-­ Text als Autobiographie einer ‚exzentrisch-­frommen Hausfrau‘ deutet, die Einblick in ihre innere und äußere Lebenswelt gewährt. 55 Vgl. in Auswahl: Atkinson: Mystic and Pilgrim, S. 9, 14, 18 und S. 36 „Here’s the first autobiography in English.“ Alvida-­Petroff: Medieval Women’s Visionary Literature, S. 301. Dies.: Body and Soul. Essays on Medieval Women and Mysticism. Oxford 1994, S. 152: „She invented the first autobiography in English.“ Voaden: Travels with Margery, S. 178: „Her book, the first autobiography in English, details her life and spiritual aspirations in an apparently indiscriminate mixture, including her madness following the birth of her first child […].“ Vgl. die Untersuchung von Mueller: ‚Autobiography‘ of a New Creatur, S. 57 – 69, die dem „autobiographical design“ des Kempe-­Textes gewidmet ist. Sie betrachtet die Tränengabe der Margery-­Figur nicht nur als Ausdruck göttlicher Begnadung, sondern als authentische Gefühlsäußerung einer historischen Person, als Ausdruck weiblicher „self-awareness and self-­realization demonstrated in compiling an autobiography“ (S. 59). Vgl. auch Dickman: A Showing of God’s Grace, S. 176: „Paradoxically, exemplary and individual, true only to the model of her own experience, Margery Kempe virtually invented the genre we now call autobiography.“ Butcher: Reading „The Book of Margery Kempe“, S. 189: „a classic of autobiography, the earliest surviving autobiographical writing in English […] a most unusual autobiography. […] The Book of Margery Kempe is not an autobiography, but rather a devotional biography intended to be read or heard as an episodic work of contemplation.“ Beckwith: Problems of Authority in Late Medieval English Mysticism. Language, Agency and Authority in „The Book of Margery Kempe“, S. 172 – 199. Sarah Beckwith problematisiert zunächst die Zuordnung zur „mystischen Autobiographie“ (S. 178), um schließlich doch autobiographische Elemente im Kempe-­Text auszumachen, S. 197: „Critics then are absolutely right to locate an individualism in Margery Kempe, and to link that individualism to something autobiographical about

Positionen und Problemfelder der Kempe-Forschung | 23 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

nicht auf einer Auseinandersetzung mit der Autobiographieforschung und einer näheren Bestimmung des Autobiographischen, sondern einzig auf dem ‚Lektüreeindruck‘, den der Kempe-­Text evoziert.56 Analog zu älteren Beiträgen der germanistischen Mediävistik für die entsprechenden deutschsprachigen Frauenviten sieht die Kempe-­Forschung den Text als eine Art tagebuchartigen „Erlebnisbericht“ (Peter Dinzelbacher),57 der die vermeintliche ‚Erfahrungswirklichkeit‘ einer historisch verifizierbaren Person unmittelbar widerspiegelt und ein Fenster zur Lebenswelt des Spätmittelalters öffnet.58 Allerdings her book.“ Vgl. dagegen die eher skeptische Zurückhaltung von Sue Ellen Holbrook im Hinblick auf diese gattungstypologische Zuordnung, Holbrook: About Her, S. 266 und besonders S. 267. Allerdings zeigen sich auch forschungskritische Arbeiten von dieser Bestimmung beeinflusst: Lynn Staley bezeichnet den Kempe-­Text in ihrer kritischen Untersuchung der rhetorischen Funktionalisierung des Schreibers als „first autobiography in English“. Staley: The Trope of The Scribe and The Question of Literary Authority, S. 837. Vgl. Lochrie: The Book of Margery Kempe. The Marginal Woman’s Quest for Literary Authority, S. 33: „The real subject of her Book: her own life.“ 56 Eine ganz ähnliche Beobachtung hat Susanne Bürkle für die „Offenbarungen“ der süddeutschen Dominikanerin Margareta Ebner aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts gemacht. Vgl. Bürkle: Die Offenbarungen der Margareta Ebner, hier S. 86. Bereits Siegfried Ringler wendet sich gegen eine vorkritische Applikation des Autobiographiebegriffs, da er den Blick auf den „Literaturcharakter“ (S. 94) frauenmystischer Texte verstelle. Vgl. ders.: Gnadenviten aus süddeutschen Frauenklöstern des 14. Jahrhunderts – Vitenschreibung als mystische Lehre, S. 93. 57 Dinzelbacher: Zur Interpretation erlebnismystischer Texte des Mittelalters, S. 317. Peter Dinzelbacher charakterisiert frauenmystische Texte als „Erlebnisberichte“ in seiner Untersuchung, die sich explizit gegen den texttypologischen Bestimmungsversuch von Siegfried Ringler richtet (besonders S. 311 – 314). Er begreift die von ihm behandelten Texte ebenfalls als „spirituelle Biographien bzw. Autobiographie, teilweise beruhend auf geistlichen Tagebüchern“ (S. 307). Vgl. auch die Einschätzung zum „Fließenden Licht“: Hans Neumann: Zur Text- und Lebensgeschichte Mechthilds. In: Altdeutsche und Altniederländische Mystik. Hrsg. von Kurt Ruh. Darmstadt 1964 (Wege der Forschung, Band XXIII), S. 214. Neumann postuliert, dass die Kapitel des ersten Buches den Eindruck erwecken, „sichtlich im ersten Sturm poetischer Selbstbefreiung […] aufs Pergament geworfen worden“ zu sein. Vgl. dagegen Nemes: Von der Schrift zum Buch, S. 13, der in Bezugnahme auf d ­ ieses Zitat herausstellt, dass die vermeintliche Unmittelbarkeit und die Annahme einer emotionsgeladenen Niederschrift als Ausdruck der eigenen Persönlichkeit auf die emphatische Autorkonzeption der Romantik rekurrierten, aus der sich die proble­ matische These der ‚Tagebuchartigkeit‘ frauenmystischer Texte speise. 58 Vgl. die kritischen Anmerkungen von Mitchell und Windeatt, Mitchell: The Book of Margery Kempe, S. 60. Barry Windeatt: Reading and Re-­Reading „The Book of Margery Kempe“. In: John H. Arnold and Katherine J. Lewis (Hrsg.): A Companion to „The Book of Margery Kempe“. Cambridge 2004, S. 1 – 17, hier S. 2. Vgl. Kate Parker: Lynn and the Making of a Mystic. In: John H. Arnold and ­Katherine J. Lewis (Hrsg.): A Companion to „The Book of Margery Kempe“. Cambridge 2004, S. 55 – 73, besonders S. 57. Parker betrachtet textinterne Anspielungen auf Margery Kempes soziale Stellung als Tochter des Bürgermeisters (BMK, S. 9, 22; S. 111, 29 – 30) als Hinweis auf die entscheidende Voraussetzung für die Abfassung ihres Buches. Vgl. auch den sozialhistorischen Ansatz von Anthony Goodman: Margery Kempe and Her World, obwohl Goodman einschränkend bemerkt (S. 12): „what we have is a tantalisingly artificial image of the ‚real‘ Margery Kempe.“ Dennoch schließt Goodman von der textinternen Ebene auf autobiographische Echtheit und Wirklichkeitsnähe (S. 13). Denn Goodman argumentiert,

24 | Einleitung © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

ist eine eindeutige Verifizierbarkeit Margery Kempes durch das Fehlen belastbarer historischer Zeugnisse erheblich erschwert. Denn bis auf zwei urkundliche Einträge in den Rechnungsbüchern der Kaufmannsgilde der Heiligen Dreifaltigkeit in Bishop’s Lynn, die den Eintritt einer Person namens Margery Kempe für den Februar des Jahres 1438 festhalten, existieren keine weiteren Dokumente.59 Deshalb beurteilen Meech und Allen den faktischen Aussagewert der Rechnungsbücher für den Kempe-­Text eher kritisch: „She may well have been the ‚creatur‘ of the book, although there is no proof for this.“60 Zwar belegen die Registerbücher der Stadt Bishop’s Lynn, dass ein gewisser John Brunham fünfmal das Amt des Bürgermeisters innehatte, was einer textinternen Ich-­Aussage der Margery-­Figur  61 über die fünfmalige Wahl ihres Vaters zum Bürgermeister Bestätigung verleihen kann,62 allerdings fällt diese Ich-­Bemerkung erst in Kapitel 46 im Rahmen der Häresiebefragung durch den Bürger­meister von Leicester: Die Margery-­Figur weist sich über die Beziehungen zu ihrem Vater und Ehemann aus, die ihre soziale Stellung und ihr gesellschaftliches Ansehen determinieren und auf diese Weise ihre Unbescholtenheit ausweisen können. Erst im Kontext dieser bedrohlichen Anklagesituation erfährt die dass Margery Kempe und Bishop’s Lynn für ortsansässige Rezipienten wiedererkennbar gewesen sein müssten, um Glaubwürdigkeit beanspruchen zu können. Allerdings sind keine überlieferungs- und textgeschichtlichen Anhaltspunkte dafür vorhanden, dass der Kempe-­Text in Bishop’s Lynn rezipiert worden ist. Den Annotationen in der Kempe-­Handschrift London, British Library, Add MS 61823 lässt sich dagegen entnehmen, dass Kartäusermönche den Text in der von Bishop’s Lynn gut 265 km entfernten Kartause Mount Grace intensiv studiert haben. Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 2.3 „Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre“. 59 Vgl. die edierten Auszüge aus den Rechnungsbüchern (Account Roll of the Trinity Guild of Lynn Gd. 60 und Gd. 61) in BMK, Appendix III, S. 358 f. Vgl. neuerdings Sebastian Sobecki: The Writyng of this Tretys: Margery Kempe’s Son and the Authorship of Her Book. In: Studies in the Age of Chaucer, Volume 37 (2015), S. 257 – 283, zum Brief besonders S. 264 – 265. Zwar postuliert Sobecki „this letter is clearly directed at the English authorities“ (S. 263) aufgrund der lateinischen Schreibsprache, allerdings weist das Dokument selbst keine Adressaten auf (vgl. die Transkription, S. 282 – 283). Und auch der Inhalt des Briefs, der zwar auf das merkantile Milieu verweisen mag, ist in Kombination mit dem häufiger anzutreffenden Namen ‚John Kempe‘ wohl kein stichhaltiges Argument zur Identifikation des Sohnes, wie er als Figur im Kempe-­Text angelegt ist. 60 BMK , Appendix III , S. 359. Vgl. auch die vorsichtige Einschätzung von Ruth Evans: The Book of ­Margery Kempe. In: A Companion to Medieval English Literature and Culture. Hrsg. von Peter Brown. Oxford 2007, S. 507 – 521, hier S. 509 und Riddy: Text and Self in the Book of Margery Kempe, S. 441. Vgl. dagegen Parker: Lynn and the Making of a Mystik, S. 58, die den Eintritt der ‚Buchautorin‘ ­Margery Kempe in die Kaufmannsgilde als historisches Faktum ansieht. Vgl. ebenso Atkinson: Mystic and Pilgrim, S. 76. 61 Vgl. die an der Narratologie orientierten Ausführungen zur Bezeichnung „Margery-­Figur“ weiter unten. 62 Vgl. BMK, S. 111, 28 – 30: „Syr“, sche seyd, „I am of Lynne in Norfolke, a good mannys dowtyr of þe same Lynne, whech hath ben meyr fyve tymes of þat worshepful burwgh and aldyrman also many ȝerys […].“ Vgl. die Auszüge aus den Registerbüchern nach der Textedition von Holcom Ingleby (Hrsg.): The Red Register of King’s Lynn. Transcribed by R. F. Isaacon. King’s Lynn 1919 – 1922, Volume II in BMK , S. 359 – 362.

Positionen und Problemfelder der Kempe-Forschung | 25 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Margery-­Figur eine Profilierung in ihrer sozialen Rolle als Tochter, Ehefrau und ­Mutter von 14 Kindern.63 Allerdings sind Anfeindung und Gefährdung einer mulier sancta aus der hagiographischen Literatur bekannte Th ­ emen,64 die hier offenbar eine konkret wirkende, lebensweltliche Ausgestaltung erfahren.65 Und die Zuordnung frauenmystischer Viten- und Offenbarungsliteratur zur hagiographischen Literaturtradition, die eine literarisch-­typenspezifische Betrachtungsweise dieser Art von Texten in den Vordergrund des Forschungsinteresses rückt, hat die germanistische Mediävistik erbracht. Im Rückgriff auf die texttypologische Begriffsbestimmung, wie sie Susanne Bürkle anhand der für die Frauenmystikforschung ansonsten wegweisenden Untersuchung von Siegfried Ringler problematisiert und präzisiert hat, betrachtet die vorliegende Arbeit den Kempe-­Text als „Gnadenvita“.66 Zuletzt hat Racha Kirakosian in ihrer Untersuchung und Edition der unikal in einer Straßburger Handschrift überlieferten Christina-­von-­Hane-­Vita  67 herausgestellt, dass eine s­ olche texttypologische Einordnung – die sie unter dem Begriff „mystische Vita“ in Abgrenzung von Ringler fasst – die Voraussetzung für ein dynamisches Textverständnis bildet. Denn die terminologische Offenheit des Begriffs Texttyp erscheine zur literarhistorischen Erfassung multifunktioneller, durch Überblendungsphänomene gekennzeichneter Textformen geeigneter als starre 63 Vgl. BMK, Kapitel 48, S. 115, 26 – 32: „Sir“, sche seyde, „I take witnesse of my Lord Ihesu Crist […] þat I neuyr had part of mannys body in þis worlde in actual dede be wey of synne, but of myn husbondys body, whom I am bowndyn to be þe lawe of matrimony, & be whom I haue born xiiij childeryn“. Vgl. Staley: Margery Kempe’s Dissenting Fictions, S. 60. Staley verallgemeinert diese biographisch-­lebensweltliche Identitätskonstitution, indem sie postuliert, dass die Margery-­Figur sich bei ihren Reisen in England durch ihren Familienstand ausweise. Tatsächlich erfolgt ein solcher Identitätsausweis einzig in den oben genannten Textpassagen der Kapitel 46 und 48. 64 Vgl. Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur, besonders S. 310 hier im Hinblick auf das Motiv „Verlassenheit von Freunden und Feindschaften“. 65 Vgl. zur lebensweltlichen Ausgestaltung hagiographischer Motiv- und Themenkomplexe in frauenmystischen Vitentexten, Peters: Religiöse Erfahrung, besonders S. 191 f. 66 Vgl. Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur, besonders S. 4 f. zu den Begriffen „Gnadenvita“ und „Schwesternbuch“. Susanne Bürkle hat seine Begriffsbestimmung des Texttypus Gnadenvita und die strukturelle Untergliederung der Einzelviten in „Offenbarungen“ und „Gnadenvita“ kritisch diskutiert und präzisiert. Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, besonders S. 273 – 281. Sie sieht zwei zentrale Pro­ ble­me im Hinblick auf Ringlers Begriffsbestimmung einer Gnadenvita, die zum einen die strukturelle Abgrenzung von Gnadenvita und Heiligenlegende im Rückgriff auf einen „a-­historischen, normativen Gattungsbegriff“ (S. 274) der Legendenforschung betreffen und zum anderen die nicht unproblematische Thesenbildung zur Textentstehung und Textredaktion, die Ringler anhand der drei Adelheid-­ Langmann-­Handschriften der „Offenbarungen“ gewonnen habe (S. 276 – 281). Ringlers Thesenbildung wird ausführlicher in Kapitel 4.3 „Erzählerkonfigurationen und die Narration der Buchentstehungsgeschichten: Die Engelthaler Vitenliteratur“ beleuchtet. 67 Straßburg, Bibliothèque nationale et universitaire MS 324 Bl. 212r–349v aus dem ersten Viertel des 16. Jahrhunderts. Vgl. die detaillierte Handschriftenbeschreibung von Racha Kirakosian: Die Vita der Christina von Hane, S. 259 – 264.

26 | Einleitung © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Gattungskonzeptionen, von denen sich die neuere Forschung zunehmend distanziere.68 Zunächst sollen die textgenetischen Überlegungen zu einem vermeintlichen Textentstehungsprozess in ‚Redaktionsschichten‘, als deren Ergebnis Ringler eine „Gnadenvita“ betrachtet, kurz skizziert werden. Denn die Vorstellung einer ‚Originalschrift‘ in Ich-­Form als Ausgangspunkt eines Textentstehungsmodells findet sich trotz der kritischen Revision von Susanne Bürkle auch noch in neueren germanistischen Arbeiten und sie ist grundlegend für die anglistische Kempe-­Forschung, wie weiter unten ausgeführt. Ringlers Modell basiert auf den drei Handschriften, die die sogenannten „Offenbarungen“69 der Dominikanerin Adelheid Langmann aus dem Kloster Engelthal bei Nürnberg tradieren.70 Aufgrund eines unvermittelt eintretenden Wechsels der Erzählperspektive von der dritten in die erste Person in der berühmten Spes-­Karitas-­Episode (AL , 65, 6 – 66, 7), wie sie in der Handschrift B des Nürnberger Katharinenklosters aus dem 15. Jahrhundert überliefert ist, vermutet Ringler, dass es sich dabei um eine Textpassage handelt, die aus der in Ich-­Form gehaltenen, von der Visionärin selbst aufgezeichneten ‚Urfassung‘ der Gnadenberichte stammt.71 Bereits Philipp Strauch, der Herausgeber der „Offenbarungen“, betrachtet die Spes-­Karitas-­Passage als Indiz „persönliche Aufzeichnungen der Adelheid als Vorlage von B anzuerkennen“.72 Dieser Eindruck beruht offenbar darauf, dass die Handschrift B verschiedene Materialen miteinander kombiniert, wie ein Gebet (AL , 80, 20 – 91, 28), die Offenbarungen über den Abt von Kaishaim und ein verrätselt wirkender ‚Briefwechsel‘ z­ wischen der Adelheid-­Figur und d ­ iesem Abt (AL , 91, 29 – 93, 6) 68 Ebd., S. 10 – 11 und S. 43 – 44 zur Problematik einer eindeutigen Gattungszuweisung. Vgl. S. 51 – 53 zur Abgrenzung von Ringlers Differenzierungsversuch z­ wischen Legende und Gnadenleben: „In mystischen Viten des 13. – 15. Jahrhunderts wird eine ‚innerliche Heiligkeit‘ mit externalisierten Formen von Heilsgewissheit kombiniert“ (S. 53), was gegen Ringlers Differenzkriterium einer vermeintlich extravertierten Heiligkeit in der Heiligenlegende mit einer introvertierten Heiligkeitsform in mystischen Gnadenviten spreche. Die Aussage Kirakosians, „dass mystische Texte oft auch als hagiographische Texte verstanden wurden, ist keine neue Einsicht, doch wurde bisher der terminologische Gebrauch kaum hinterfragt“ (Kirakosian: Die Vita der Christina von Hane, S. 51) könnte mit Blick auf die in Anm. 66 genannte kritische Begriffsrevision durch Bürkle relativiert werden. 69 Vgl. die Textausgabe von Philipp Strauch (Hrsg.): Die Offenbarungen der Adelheid Langmann. Kloster­ frau zu Engelthal. Strassburg 1878 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker, 26). Alle Zitate sind dieser Edition entnommen, die im Folgenden mit der Sigle AL bezeichnet wird. 70 Siegfried Ringler: Langmann, Adelheid. In: 2VL, Band 2, Sp. 600. Die Gnadenvita liegt in drei Handschriften vor: Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, mgq 866, 86v–215v (B) aus dem 15. Jahrhundert; München, Staatsbibliothek, Cgm 99, 36r–173r (M) Ende des 14. Jahrhunderts und Wien, Biblio­thek des Schottenkloster, cod 308 (234), 120r–168r (W) aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Vgl. zu den Besitzeinträgen des Katharinenklosters in der Handschrift B, fol. 1r und fol. 311v Strauch: AL, Einleitung, S. x ff. 71 Vgl. Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur, S. 65. Vgl. die detaillierte Zusammenfassung von Ringlers Ansatz in Bürkle: Literatur im Kloster, S. 275 f. 72 Strauch: AL, Einleitung, S. xiv.

Positionen und Problemfelder der Kempe-Forschung | 27 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

suggerieren.73 Ringler postuliert, dass ursprüngliche ‚Eigenberichte‘ den Ausgangspunkt eines dreistufigen Textentstehungs- und Bearbeitungsprozesses bildeten, den er in der textgeschichtlichen Reihenfolge B-M-W als „je eigene Stufen einer fortlaufenden Textentwicklung […] in Art eines Legendarisierungsprozesses“ abgebildet sieht.74 Wie aus dem Einsatz von Inquitformeln wie si verjah daz, si sagt daz 75 hervorgehe, habe ein Redaktor in einem zweiten Bearbeitungsschritt die authentischen Ich-­Passagen in die dritte Person transformiert, mit Fremdberichten kombiniert, zusammengefasst, kommentiert und mit einer Einleitung versehen.76 Schließlich werden in einem dritten Redaktionsschritt „die autobiographischen Komponenten der Urschrift“77 zugunsten eines objektivierenden Berichtstils weitgehend aufgegeben, so dass Textglättungen und -überarbeitungen den typischen Charakter eines Gnadenlebens evozierten.78 Und hier setzt die scharfsichtige Kritik von Susanne Bürkle an, die aufzeigt, dass Ringlers Gnadenvita-­Begriff letztlich textgenetisch unterlegt ist, da die erzählerische Präsentationsweise in der ersten bzw. in der dritten Person als ‚Authentizitätskriterium‘ bzw. als Indikator des Abfassungsstadiums fungiert. Ringler setze die „Offenbarungsniederschrift“79 als ‚Eigenbericht‘ in Ich-­Form und die Gnadenvita als Textredaktion in der objektivierenden Erzählweise der dritten Person voraus. Durch eine genaue Textanalyse und im Vergleich mit einer ähnlich narrativierten Textpassage in den „Offenbarungen“ Christine Ebners 80 demonstriert sie dagegen, dass der Erzählerwechsel in der elaborierten Spes-­Karitas-­Entrückung innerhalb der besonders eindringlichen Darstellung der unio-­Erfahrung rhetorisch funktionalisiert ist.81 73 Vgl. Thali: Beten, Schreiben, Lesen, S. 175. Diese Textpassagen werden in Kapitel 4.4 „Die Rollenfigur des ‚Redaktors‘ als hagiographischer Erzähler“ genauer untersucht. 74 Ringler: Langmann, Adelheid. In: 2VL, Band 2, Sp. 602. 75 Vgl. die Aufführung der entsprechenden Textpassagen in Strauch: AL, Einleitung, S. xiv: AL, 30, 14; 53, 1; 73, 11. 76 Vgl. Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur, S. 79. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 275. 77 Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur, S. 80. 78 Vgl. ebd., S. 79 – 81. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 276. Susanne Bürkle stellt heraus, dass Ringler eine ganz ähnlich verlaufende Textentstehung auch für die späte Fassung von „Leben und Offenbarungen“ der Dominikanerin Elsbeth von Oye, für die Gnadenvita Christine Ebners und für das Gnadenleben des Friedrich Sunders annehme. Für das Gnadenleben des FS setze er ebenfalls ursprüngliche eigenhändige Aufzeichnungen voraus, deren vermeintliche Existenz allerdings nur der literarische Schreibbefehl durch den Dominikaner Konrad von Füssen nahelegt. Vgl. FS, S. 392, Z. 53 – 59: Nun kam ain gtter brediger, das waz brder Cnrat von Fssen, der hort sin gancze bicht vnd bat jn jnneklichen, daz er beschribe die gnad, die jm got tt. Des saczt er sich ser da wider, biß das es im von got ward kunt getan. Da mst er got gehorsam sin vnd schraib die wunder, die jm von got, von siner mtter vnd von den hailigen widervarn sind, als hernach stat. Vnd daz er sich brder nempt an mngen statten, daz tt er von demtikait, daz er sich selber nit als oft priester oder herr hat wllen nemmen. 79 Ebd., S. 355: Ringler spricht von einer „redaktionellen Überarbeitung der Offenbarungsniederschriften eines Mystikers“. 80 Vgl. Anm. 25 in der Einleitung der vorliegenden Arbeit. 81 Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 277 f.

28 | Einleitung © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Trotz der grundlegenden Erkenntnis, dass sich Redaktionsstufen eines Vitentextes nicht aus der Erzählform ableiten lassen bzw. mit der Erzählweise gleichgesetzt werden können, hält sich Ringlers Ansatz selbst in neueren Untersuchungen. Daniela Fuhrmann etwa rekurriert auf die „verschiedenen überlieferten Redaktionsstufen der Texte“82 und verfällt auf diese Weise trotz ihrer Beteuerung, sich von „der Suche nach einem Urtext“ distanzieren zu wollen, doch wieder einem textgenetisch konnotierten Vokabular, das eine stufenhaft verlaufende Textentstehung impliziert. Denn die Annahme solcher Redaktionsstufen resultiert aus einer faktischen Auswertung der textinternen Buchentstehungsgeschichten und der Erzählhaltung. Dagegen hat die Forschung herausgestellt, dass keine dieser vermeintlich existierenden ‚Urfassungen‘ erhalten geblieben ­seien und daher der Status der Viten- und Offenbarungstexte als „redaktionell überarbeiteter Text“ keine Relevanz für eine texttypologische Bestimmung beanspruchen könne.83 Für das „Fließende Licht der Gottheit“ hat Nemes gezeigt, dass die Vorstellung einer Aufzeichnung selbstgeschriebener und chronologisch geordneter Offenbarungsberichte auf „einzelnen fliegenden Blättern“84 eher den ‚Mythen‘ der Mystikforschung zuzurechnen sei, indem er im Rückgriff auf die diffizile und kontrovers geführte Forschungsdiskussion um den mittelalterlichen Autor- und Textbegriff und text- und überlieferungsgeschichtliche Überlegungen Autorschaft als Rezeptionsphänomen in der Überlieferung des „Fließenden Lichts“ herausarbeitet.85 Der von der neueren Forschung revidierte Terminus „Gnadenvita“ und die von Ringler definierten Strukturmerkmale ermöglichen eine genauere literarhistorische Erschließung des Kempe-­Textes, wie oben angedeutet. Denn er weist „eine Vielzahl selbständiger Geschehenseinheiten“ auf, wie sie Siegfried Ringler bestimmt hat, die nicht handlungslogisch-­ chronologisch, sondern nach dem „übergreifenden Zentralthema“ der Gotteserfahrung organisiert sind.86 In seiner Gesamtheit betrachtet, bietet der Kempe-­Text detailliert ausgeführte 82 Fuhrmann: Konfigurationen der Zeit, S. 241. 83 Bürkle: Literatur im Kloster, S. 294. Vgl. auch Nemes: Von der Schrift zum Buch, S. 11 – 13, der die These vermeintlich eigenhändiger Aufzeichnungen für das „Fließende Licht“ problematisiert. 84 Carl Greith: Die Deutsche Mystik im Predigerorden (von 1250 – 1350) nach ihren Grundlehren, Liedern und Lebensbildern aus handschriftlichen Quellen. Freiburg i. Br. 1861, S. 207: „Schwester Mechthild hat ihre geistlichen Minnelieder und dacrischen Betrachtungen vorerst in einzelnen fliegenden Blättern aufgezeichnet, die nachmals ihr Beichtiger in dem Buche „das fließende Licht der Gottheit“ zusammenstellte.“ Vgl. dazu Nemes: Von der Schrift zum Buch, S. 3 und S. 12. Bereits Neumann nimmt in seinem Beitrag zur Erschließung der Lebensgeschichte Mechthilds aus der Textgeschichte des „Fließenden Lichts“ Abstand von der Annahme ursprünglich loser Einzelblätter, auch wenn er von eigenhändigen, chrono­logisch geordneten Aufzeichnungen ausgeht. Er postuliert, dass Mechthild ihre Erstaufzeichnungen eigenständig in die Bücher I–V umgearbeitet habe, deren Gestaltung und Kapitelfolge den Prozess einer allmählichen Textentstehung reflektierten. Vgl. Neumann: Zur Text- und Lebensgeschichte Mechthilds, besonders S. 196 und S. 206. 85 Vgl. Nemes: Von der Schrift zum Buch, besonders die pointierte Zusammenfassung seiner Forschungsergebnisse S. 384 f. 86 Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur, S. 336.

Positionen und Problemfelder der Kempe-Forschung | 29 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

‚Berichte‘ über das Gnadenwirken Gottes, die in eine Art übergeordnetes Vitenschema eingebettet sind,87 das besonders in den vereinzelten Jahresangaben der drei prologartigen Anfangspartien der Bücher I und II, der ausschnitthaften Darstellung des kompliziert verlaufenden Schreib- und Abfassungsprozesses und den epilogartigen Schlusskapiteln, aber auch in biographisch-­lebensweltlichen Teilepisoden des ersten Kapitels wie der Verheiratung und der Geburt ihres ersten Kindes, Anspielungen auf das liebevolle Verhältnis zu ihrem Ehemann und das Ansehen ihres Vaters als Bürgermeister entfaltet wird. Dabei weist der Kempe-­Text die von Ringler als entscheidendes Strukturmerkmal hervorgehobene „Episodenhaftigkeit“ auf, d. h. eine lockere Aneinanderreihung einzelner Episoden, die teils thematisch miteinander verbunden sein können und Visionsdialoge, Christusreden, Reise­ berichte, Berichte über Audienzen bei bedeutenden Bischöfen und Klerikern, aber auch Schilderungen über Leiden, Gnadenentzug und innere und äußere Anfechtungen umfassen.88 Diese Art der Strukturierung und die typisierte Darstellung der Gottbegegnung zeichne sich durch den Einsatz bestimmter Topoi aus, wie etwa dem konstitutiven Schreibbefehl, den Unsagbarkeitsbekundungen und dem Topos der Gnadenfrucht, die „Reihungstechnik und Eigenständigkeit der Teile“ (S. Ringler), die beständige Wiederholung von ­Themen und ganzer Textpassagen.89 Eine Zuordnung zum Typus „Offenbarungen“ zur Umgehung einer „referentiellen Lektüre“, wie zuletzt von Daniela Fuhrmann als terminologische Präzisierung für die Vitentexte Margareta Ebners, Adelheid Langmanns und die „Offenbarungen“ Christine Ebners vorgeschlagen, erweist sich dagegen als nicht unproblematisch. Denn Fuhrmann subsumiert sehr anders ausgerichtete Texttypen unter den Begriff „Offenbarungen“90 und sie berücksichtigt nicht, dass „Offenbarungen“ und „Gnadenvita“ für das Christine-­Ebner-­Corpus anhand 87 Vgl. die Bestimmung dieser Strukturmerkmale in Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur, S. 336 – 340. 88 Ebd., S. 337 und Bürkle: Die ‚Gnadenvita‘ Christine Ebners, S. 485, die die episodische Reihung zum Ausgangspunkt ihrer Untersuchung der Erzählstruktur und -situation der Gnadenvita Christine Ebners nimmt. 89 Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur, S. 10 und zu den typenspezifischen Merkmalen S. 337. 90 Vgl. Fuhrmann: Konfigurationen der Zeit, S. 16. Sie präferiert die Bezeichnung „Offenbarung“, da auf diese Weise eine biographistische in eine „kommunikative Perspektivierung“ (S. 16) überführt werden könne, vermutlich im Sinne einer textpragmatischen, kommunikationstheoretischen Neubestimmung der Texttypen, die sie allerdings nicht explizit benennt. Bereits Siegfried Ringler bevorzugt die Bezeichnung Gnadenleben für den Adelheid-­Langmann-­Text, den erst sein Herausgeber Philipp Strauch im 19. Jahrhundert mit dem Titel „Offenbarungen“ versehen hat. Denn der Vitentext weist die formalen, typenspezifischen Elemente auf, wie die episodische „Reihungstechnik“ und die Kombination verschiedener Textmaterialen, die Ringler als konstitutiv für eine Gnadenvita ansetzt. Vgl. Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur, S. 65 f. Und diese Kriterien können auch für den Vitentext der Margareta Ebner aufgrund seiner formalen Gestaltungsweise Geltung beanspruchen, den Philipp Strauch in seiner Textausgabe ebenfalls als „Offenbarungen“ tituliert hat. Allerdings habe Ringler ihn vermutlich aufgrund textgenetischer Überlegungen von seinem Bestimmungsversuch ausgenommen, wie Susanne Bürkle wohl zu Recht vermutet, vgl. Bürkle: Die ‚Gnadenvita‘ Christine Ebners, S. 485.

30 | Einleitung © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

des topischen Schreibbefehls und der Figur des Schreibers voneinander differenziert werden können, wie es Susanne Bürkle in ihrer Ausdifferenzierung herausgearbeitet hat.91 Bei den sogenannten „Offenbarungen“ der Christine Ebner handele es sich im Gegensatz zur Medinger Gnadenvita um eine chronologisch organisierte Reihung von Visionsberichten,92 die die Jahre 1344 – 1351/1352 umfassten.93 Bürkle demonstriert, dass sie die Mystikerin in der Rolle einer Autorin vorführen, die ihre Offenbarungen auf göttliches Geheiß selbstständig und ohne Beteiligung eines Beichtvaters oder Schreibers verfasst,94 während die Gnadenvita den Verschriftlichungsprozess durch die Figur eines Beichtvaters autorisiert, der einzig in der prologartigen Anfangspartie namentlich benannt ist und auf diese Weise eine Art figürlich konkretisierte Projektionsfläche für die ‚Fremdberichte‘ eines hagiographischen Ichs bietet, das im Akt der Lektüre auf diese biographisch profilierte Beichtvaterfigur zurückbezogen werden kann.95 Aufgrund seiner spezifischen Gestaltungsweise und der Differenzkriterien des topischen Schreibbefehls 96 und der Figuren der Schreiber lässt sich der Kempe-­Text daher als Gnadenvita fassen. Eine s­ olche texttypologische Zuordnung kann den Blick auf die literarische Konzeptionalität des Kempe-­Textes im Sinne eines an hagiographischen Schreibweisen orientierten Literaturtyps lenken.97 Und ein solcher Ansatz eröffnet zumindest punktuell eine neue Sichtweise auf die textinterne Erzählung der ‚Buchwerdung‘. Denn bisher hat die Geschichte über die Buchabfassung primär eine textgenetische Auswertung erfahren, da sie vermeintlich exakte Informationen über die Suche nach einem geeigneten Schreiber, die Abfassung eines eigentümlichen, englisch-­deutschen und in einer unleserlichen Schrift gehaltenen Originals 98 und 91 92 93 94

Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 295 – 306. Ringler: Ebner, Christine. 2VL, Sp. 299. Vgl. Bürkle: Die ‚Gnadenvita‘ Christine Ebners, S. 485. Vgl. zur typenspezifischen Ausdifferenzierung des Themas Schreiben und der Präsentation der Autorinnenrolle in den „Offenbarungen“ und der Gnadenvita CEs, Peters: Religiöse Erfahrung, S. 174 f. Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 296, die Peters’ Überlegungen zum Ausgangspunkt ihrer texttypologischen Differenzierung nimmt. 95 Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 301 – 303. 96 Vgl. den Schreibbefehl in BMK, Prologpartie, S. 3, 26 – 28. 97 Vgl. Salih: Versions of Virginity, Kapitel 5 „Like a Virgin – The Book of M ­ argery Kempe“, besonders S. 186 – 195. Salih betrachtet den Kempe-­Text zwar als Vita, setzt aber Margery Kempe als faktische Autorin voraus. Vgl. auch Samuel Fanous: Measuring the Pilgrim’s Progress: Internal Emphases in „The Book of Margery Kempe“. In: Renevey/Whitehead (Hrsg.): Writing Religious Women, S. 157 – 176, hier S. 157: „The Book is in many ways most closely related to the hagiographic genre.“ Allerdings deutet auch er die Buchentstehungsgeschichte textgenetisch als „multiple-­redaction problem“ aus. 98 Vgl. BMK, Prologpartie, S. 4, 14 – 40: Þe booke was so euel wretyn […] for it was neiþyr good Englysch ne Dewch, ne þe lettyr was not schapyn ne formyd as oþer letters ben. […] þe boke was so euel sett & so ­vnresonably wretyn. Kapitel 81, Buchkapitel, S. 220, 18 – 24: Her endith þis tretys, for God toke hym to hys mercy þat wrot þe copy of þis boke, &, þow þat he wrot not clerly ne opynly to owr maner of spekyng, he in hys maner of wrytyng & spellyng mad trewe sentens þe whech, thorw þe help of God & of hir-­selfe þat had al þis

Positionen und Problemfelder der Kempe-Forschung | 31 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

die anschließende Abschrift bietet, an der insgesamt drei Schreiber beteiligt gewesen sind.99 Dabei operiert die anglistische Kempe-­Forschung mit der eher problematischen Prämisse, dass die faktischen Produktions- und Entstehungsverhältnisse aus der literarischen Buchentstehungsgeschichte extrapoliert werden können.100 Denn die textimmanente Figur ­dieses schreibenden Priesters hat die Forschung dazu bewegt, die Frage nach der Autorschaft des Kempe-­Textes in Verbindung mit dem tatsächlichen Anteil zu diskutieren, der dem schreibenden Priester bei der Textabfassung zukommt: So stellt bereits Sanford B. Meech der Textausgabe von 1940 programmatisch die Frage voran: „Whose language is it?“101 Im Rückgriff auf diesen Frageansatz argumentiert John C. Hirsh, dass die theologisch-­gelehrte Beschreibung einer Passionsvision während der Jerusalem-­Pilgerfahrt dem schreibenden Priester zuzuordnen sei, während die Visionärin die profanen Details des eigentlichen Reiseberichts beisteuere, die die Überfahrt auf einer bestimmten Galeere und Anfeindungen durch Mitpilger betreffen.102 Auf diese Weise schreibt Hirsh eher unreflektiert die stereotypische Geschlechtervorstellung tretys in felyng & werkyng, is trewly drawyn owt of þe copy in-­to þis lityl boke. Secundus liber, prologartige Anfangspartie, S. 221, 1 – 12, besonders 1 – 4: Afftyr þat owr Souereyn Sauyowr had take þe persone whech wrot first þe tretys aforn-­seyd to hys many-­fold mercy, and þe preiste of whom is be-­forn-­wretyn had copijd þe same tretys aftyr hys sympyl cunnyng […]. 99 Vgl. die textinterne Buchentstehungs- und Schreibergeschichte BMK, S. 4, 2 – 5, 32. Bei den drei Schreibern handelt es sich erstens um a man dwellyng in Dewchlond whech was an Englyschman in hys byrth (BMK, S. 4, 4 – 5), zweitens um einen Bekannten des ersten Schreibers (S. 4, 30 – 39 a good man […] And þis good man wrot a-­bowt a leef ) und schließlich um den schreibenden Priester (S. 5, 18 – 32). Vgl. Holbrook: „About Her“, S. 268 im Hinblick auf den faktischen Abfassungsprozess und den Anteil des dritten Schreibers: „We may have to see, as several scholars have, that the words on the leaves – not to mention arrangement, themes, details, artistry – are as much his as hers.“ S. 270: „We pursue the question of who wrote what and how.“ Roger Ellis: Margery Kempe’s Scribe and the Miraculous Books. In: Langland, the Mystics and Medieval English Religious Tradition. Hrsg. von Helen Phillips. Cambridge 1990, S. 161 – 175. Robert C. Ross: Oral Life, Written Text. The Genesis of „The Book of Margery Kempe“. In: Yearbook of English Studies 22 (1992), S. 226 – 237. Ross untersucht die Textentstehung im Rückgriff auf die geschichtswissenschaftliche Methode der „oral history“, wie sie die italienische Historikerin Luisa Passerini bei ihren Untersuchungen italienischer Arbeiterfamilien appliziert hat (vgl. S. 230 f.) und vereindeutigt den Kempe-­Text als „oral life history„ (S. 235). 100 Vgl. etwa Atkinson: Mystic and Pilgrim, S. 18. John C. Hirsh: Author and Scribe in „The Book of Margery Kempe“. In: Medium Aevum 44 (1975), S. 145 – 150. Vgl. die aus dem Text erschlossene Schichtungsanalyse von Butcher: Reading „The Book of Margery Kempe“, besonders S. 192 f. Vgl. dagegen die nuancierteren Lesarten der Buchentstehungsgeschichte von Ruth Evans und Karma Lochrie als „literary convention“ (S. 36), Lochrie: The Book of Margery Kempe. The Marginal Woman’s Quest for Literary Authority, besonders, S. 36 f. und Evans: The Book of Margery Kempe, S. 511. 101 BMK, Einleitung, S. vii. Evans weist auf die Bedeutung dieser programmatischen Eingangsfrage für die weitere Forschung hin: Evans: The Book of Margery Kempe, S. 510. 102 Hirsh: Author and Scribe, S. 145 – 150, besonders S. 149. Vgl. den detaillierten Reisebericht in BMK, S. 66, 17 – 68, 7; vgl. die Passionsvision BMK, S. 70, 10 – 17. Auf ähnliche Weise argumentiert Sebastian Sobecki: The Writyng of this Tretys, hier S. 280: „It seems to me that the experiental, local aspects of The Book are Kempe’s, reflecting the microcosm in which she was embedded, whereas the distancing

32 | Einleitung © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

einer ‚naiv-­ungelehrten‘, gottbegnadeten Frau fest, deren ‚Erfahrungswelt‘ er im Reisebericht unmittelbar abgebildet sieht und mit der theologischen Bildung und reflektierenden Abstraktionsfähigkeit des schreibenden Klerikers (the prest whech wrot þis boke)103 kontrastiert.104 Allerdings hat die neuere Frauenmystikforschung eine ­solche binär angelegte Rollenkonstellation von gelehrtem Schreiber und gottinspirierter Visionärin als typenspezifisch ausgerichtete, literarische Repräsentationen „geschlechtsspezifisch differenzierter ‚Zugangsweisen‘ zum Göttlichen“ bestimmt, die in direkter Verbindung mit der Entfaltung einer hagiographischen Konzeption von ‚weiblich‘ konnotierter Heiligkeit stünden.105 Allerdings sind diese Untersuchungsergebnisse bisher nicht von der englischsprachigen Kempe-­Forschung rezipiert worden: Stattdessen fördern Forschungsbeiträge die nicht unproblematische Vorstellung einer authentischen ‚Stimme‘, die direkt aus dem Text vernehmbar und den vermeintlichen ‚Fremdanteilen‘ des redigierenden Schreibers übergeordnet sei.106 Ausgehend von den Ergebnissen der neueren Frauenmystikforschung versucht die vorliegende Arbeit, die Erzählweise der Buchentstehungsgeschichte in der Kempe-­Vita im Vergleich mit der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen aus den Klöstern Maria Medingen und Engelthal genauer zu beleuchten. Im Folgenden sollen daher die methodische Vorgehensweise und der methodische Zusammenschluss von Material Philology 107 und narratologischen Analyseperspektiven skizziert werden. strategy has been attempted by Spryngolde [Priester der Gemeinde St Margaret in Bishop’s Lynn, Anm. d. Verf.] to open the work up to a wider regional audience.“ 103 BMK, Kapitel 24, S. 55, 6 – 7. Der schreibende Priester tritt in Kapitel 24, 25 und 62 als Textfigur in Erscheinung. Vgl. die Ausführungen unten in Kapitel 3.2 „Schreibergeschichten“. 104 Vgl. die berechtigte Kritik von Riddy: Text and Self in „The Book of Margery Kempe“, S. 138: „There is a temptation to bicurfate orality and writtenness, and then to align them with gender and estate – the laywoman talks, the priest writes.“ 105 Bürkle: Literatur im Kloster, S. 210. Vgl. zur literarischen Ausgestaltung der topischen Zusammenarbeit von Beichtvater und Visionärin im Rahmen der Buchentstehungsgeschichten, Peters: Religiöse Erfahrung als literarisches Faktum, besonders S. 101 – 176. Vgl. auch Thali im Rückgriff auf Peters und Bürkle: Beten, Schreiben, Lesen, S. 64 f. 106 Vgl. Lawton: Voice, Authority and Blasphemy in „The Book of Margery Kempe“, S. 100 f. David L ­ awton konstatiert etwa in seiner Untersuchung, dass der Kempe-­Text, der auf dem mündlichen Diktat der Protagonistin basiere, die authentische ‚Stimme‘ der Margery Kempe repräsentiere. Vgl. auch Ross: Oral Life, Written Text, S. 236. Robert C. Ross formuliert im Rückgriff auf die geschichtswissenschaftliche Methode der „oral history“ als Ergebnis seiner Textanalyse: „Margery’s text is essentially raw data that has been partially edited by a priest who interviewed Margery while reworking an original document no longer recoverable.“ Vgl. auch Holbrook: About her, S. 273: „The text represents M ­ argery Kempe as chief maker of the book: she is the writer in the essential modern sense of the word.“ 107 Der besonders mit Stephen G. Nichols’ Namen verbundene Ansatz der ‚Material Philology‘ hebt die Funktion der mittelalterlichen Handschrift als sinnerzeugenden und sinnvermittelnden Überlieferungsträger hervor. Vgl. die Einleitung „Philology in a Manuscript Culture“ In: Speculum. A Journal of Medieval Studies, 65 (1990), S. 1 – 10. Nichols konkretisiert den neuphilologischen Ansatz in der Konzeption einer Material Philology, vgl. Stephen G. Nichols: Why Material Philology? Some thoughts.

Positionen und Problemfelder der Kempe-Forschung | 33 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

1.3 Narration und Autorschaft: Methodische Herangehensweise Während die deutschsprachigen Frauenviten durch die narratologisch ausgerichteten Untersuchungen von Susanne Bürkle, Daniela Fuhrmann und Racha Kirakosian 108 zunehmend erschlossen worden sind, ist der Kempe-­Text weitgehend von einer erzähltheoretischen Diskussion ausgespart geblieben.109 Daniela Fuhrmann fokussiert in ihrer Arbeit auf den In: ZfdPh 116 (1997). Sonderheft: Philologie als Textwissenschaft. Alte und Neue Horizonte. Hrsg. von Helmut Tervooren und Horst Wenzel, S. 10 – 30. 108 Vgl. Bürkle: Die ‚Gnadenvita‘ Christine Ebners, S. 483 – 513. Fuhrmann: Konfigurationen der Zeit, besonders S. 68 – 113. Kirakosian: Die Vita der Christina von Hane, S. 17, 21 f., S. 25 f. zur methodischen Herangehensweise. In der Kempe-­Forschung finden sich vereinzelte Anmerkungen zum Erzähler und zur Erzählweise des Kempe-­Textes: Vgl. etwa Nancy L. Harvey: Margery Kempe: Writer as Creature. In: Philological Quarterly 71, (1992), 2, S. 173 – 184, hier S. 176. Harvey betrachtet Margery Kempe als Erzählerin ihres Gnadenlebens, ohne eine genauere Analyse der erzählerischen Vermittlung vorzunehmen. Ebenso Beckwith: Problems of Authority, S. 191. Vgl. Holbrook: About her, S. 267: „The effects of the third-­person narrative style and the pervasive use of the term ‚this creature‘ make Kempe’s book a text about her, not by her.“ Zwar bietet die Studie von Holbrook perspektivreiche Überlegungen zur Narrativierung der Buchentstehungsgeschichte, die sie aber letztlich doch wieder auf die Ebene der faktischen Textproduktion bezieht und als Resultat einer ‚heimlichen‘, von der Öffentlichkeit verborgenen Textabfassung begreift (S. 283). Kürzlich hat Eva von Contzen in einer knappen narratologischen Analyse im Rahmen einer Untersuchung der Ich-­Inszenierungen in der mittelalterlichen Literatur Englands und Schottlands den Kempe-­Text als „uneigentliche Ich-­Erzählung“ bestimmt, indem sie Margery Kempe als Aussagesubjekt und Autorin hinter der Erzählerstimme in der dritten Person ansetzt und die textinterne Buchentstehungsgeschichte mit der Ebene der faktischen Textentstehung gleichsetzt, vgl. Eva von Contzen: Wer bin ,Ich‘ und wenn ja, wie viele? Narrative Inszenierungen des Ichs in England und Schottland. In: Sonja Glauch/Katharina Philipowski (Hrsg.): Von sich selbst erzählen. Historische Dimensionen des Ich-Erzählens. Heidelberg 2017 (Studien zur historischen Poetik), S. 63 – 97, hier S. 80: „Margery Kempe, […] die nach einer postnatalen Depression Visionen erfährt […], schreibt ihre Erfahrungen nicht selbst nieder, sondern diktiert sie mehreren Schreibern.“ Vgl. die ausführlichere Diskussion dieser Arbeiten in Kapitel 3.1 „Erzählinstanzen des Margery-­Kempe-­Textes“. 109 Dagegen hat eine „historische Dimensionierung der Narratologie“ (Haferland/Meyer, S. 7) in der germanistischen Mediävistik besonders für den Bereich des höfischen Romans große Aufmerksamkeit erfahren und kontroverse Diskussionen angeregt: Neuerdings Gert Hübner: Historische Narratologie und mittelalterlich-­ frühneuzeitliches Erzählen. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 56 (2015), S. 11 – 54. Vgl. Wolfgang Haubrichs/Eckart Conrad Lutz/Klaus Ridder (Hrsg.): Erzähltechnik und Erzählstrategie in der deutschen Literatur des Mittelalters. Saarbrücker Kolloquium 2002 (Wolfram Studien XVIII). Der aus dem Saarbrücker Kolloquium der Wolfram von Eschenbach-­Gesellschaft hervorgegangene Sammelband bietet Neuansätze einer mediävistischen Erzähltheorie unter anderem im Hinblick auf die Relation von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, die Gattungstypologien und Erzählstrategien mittelalterlicher Texte. Harald Haferland/­ Matthias Meyer (Hrsg.): Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven. Berlin 2010 (Trends in Medieval Philology Volume 19), die Forschungskontroverse veranschaulicht das Streitgespräch z­ wischen Harald Haferland und Matthias Meyer, S. 429 – 444, in der Haferland eine „Modernitätsschwelle“ im Sinne eines prinzipiellen Alteritätsparadigmas ansetzt, das eine Übertragbarkeit narratologischer Beschreibungskategorien auf mittelalterliche Literatur verhindere, während Meyer von Kontinuitäten literarisch-­erzählerischer Vermittlung ausgeht, beispielsweise in Form der direkten Rede, Gedankenrede und Autorrede (S. 436). Vgl.

34 | Einleitung © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

„erzählerischen Umgang mit der Zeit, ihren Erscheinungsmöglichkeiten in Form erzählter Zeit(en)“110 in den „Offenbarungen“ Christine Ebners, den Vitentexten Adelheid ­Langmanns, Friedrich Sunders und Margareta Ebners, wie oben erwähnt. In Anlehnung an die Analysekategorien der strukturalistischen Erzähltheorie arbeitet sie die textinterne Konzeption der Zeit heraus, die die literarische Präsentationweise und Deutung von Zeit umfasst.111 In sorgfältigen Text- und Strukturanalysen zeigt sie auf, dass vor allem der Einsatz von Temporaladverbialen, die die Einzelepisoden zeitlich strukturieren und miteinander verknüpfen, in Verbindung mit einer seriellen ‚Erzählreihe‘ einzelner Teilepisoden zu den Merkmalen einer texttypenspezifisch ausdifferenzierten Erzählweise frauenmystischer Offenbarungsliteratur zählt.112 Allerdings argumentiert sie mit einem Erzählkonzept, dem sie zumindest implizit zum nicht unproblematischen Postulat einer „Epochenschwelle“ als „Literatur vor der Literatur“ (S. 19) Sonja Glauch: An der Schwelle zur Literatur. Elemente einer Poetik des höfischen Erzählens. Heidelberg 2009 (Studien zur historischen Poetik Band 1), die den Begriff des Erzählers als ungeeignet für die Analyse mittelalterlicher Texte ansieht, da sie keine strikte Trennung ­zwischen Erzähler und Autor aufwiesen und Ich-­Reden als „Posen eines Autors“ inszenierten, vgl. S. 77 – 91. Vgl. die kritische Rezension von Mark Chinca: Sonja Glauch. An der Schwelle zur Literatur. Elemente einer Poetik des höfischen Erzählens. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 167 (2012), S. 1 – 5. Bereits Rainer Warning hat in seinem programmatischen Aufsatz anhand des höfischen Romans von Chrétien de Troyes herausgearbeitet, dass es sich bei dem ‚Autor‘ nicht um eine historische Person, sondern vielmehr um den „Träger einer narrativen Handlungsrolle“ (S. 574) und die „Selbstentdeckung des Rollenträgers, d. h. des schreibenden Autors“ (S. 577) in einem postulierten Übergang von Mündlichkeit zur Schriftlichkeit handele, der erst durch seine namentliche Nennung eine Differenzierung von Autor und Erzähler ermögliche. Vgl. Rainer Warning: Formen narrativer Identitätskonstitution im höfischen Roman. In: Identitäten. Hrsg. von Odo Marquardt und Karlheinz Stierle. München 1979 (Poetik und Hermeneutik. Arbeitsergebnisse einer Forschergruppe VIII) S. 551 – 589. Dagegen sieht Susanne Bürkle eine s­ olche Übergangsentwicklung aufgrund mangelnder Belege eher kritisch und gibt zu bedenken, dass ein Erzähler im schriftlichen oder mündlichen Text im Sinne eines „narrativen Universalismus“ auch ohne eine direkte Autorbindung denkbar sei. Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 235, die ­Warnings Position pointiert zusammenfasst. Die historische Genese eines Erzählverfahrens, das sich im Verhältnis ­zwischen Erzählerstimme und dargestelltem Figurenbewusstsein als „Fokalisierung“ fassen lässt, führt Gert Hübner exemplarisch am Beispiel höfischer Romane des 12. und 13. Jahrhunderts vor: Gert Hübner: Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im „Eneas“, im „Iwein“ und im „Tristan“. Tübingen, Basel 2003 (Bibliotheca Germanica 44). Er formuliert das wichtige Ergebnis, dass für den höfischen Roman ein Erzählverfahren typisch sei, das sich als Verbindung einer Fokalisierung als „dreipolige Relation ­zwischen Erzählerrede, dargestelltem Figurenbewußtsein und erzählter Welt“ (S. 398) in Kombination mit einer auktorialen Erzählerstimme fassen ließe (S. 33), die sich je nach Fokalisierungsgrad analytisch-­distanzierend bzw. synthetisch ausnehme, wenn sie „im dargestellten Figurenbewußtsein aufgeht“ (S. 402). Vgl. auch die Einführung von Armin Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Studienausgabe. 2. Auflage. Hrsg. von Manuel Braun, Alexandra Dunkel, Jan-­Dirk Müller. Berlin 2015, in der er die Applikation zentraler narratologischer Kategorien wie Raum und Zeit, Erzähler und Erzählperspektive an mittelalterlichen Erzähltexten vorführt. 110 Vgl. Fuhrmann: Konfigurationen der Zeit, S. 35. 111 Vgl. ebd., S. 35 f. 112 Vgl. ebd., besonders S. 136 zur „seriellen Episodenanordnung“ als „maßgeblichem Charakteristikum der Texte“. S. 133 zum Einsatz der Temporaladverbien, deren Signifikanz sie vielleicht zu hoch ansetzt: „Da

Narration und Autorschaft | 35 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Handlungslogik als normatives Kriterium zugrunde legt, wenn sie formuliert: „Auf Grund der daher zugleich verunmöglichten geschlossenen Handlung lassen sich die Texte lediglich eingeschränkt narrativ klassifizieren.“113 Einzig im Hinblick auf die zeitliche Verortung und temporale Relationierung einzelner Episoden ­seien die Engelthaler und Medinger Texte „zu einem gewissen Grade durchaus als narrative Texte zu interpretieren“.114 Dagegen hat Susanne Bürkle für die Textstruktur der Mittelpartie in der Gnadenvita Christine Ebners herausgearbeitet, dass sequenzielles Erzählen im Sinne einer konventionellen Handlungslogik offenbar nicht anvisiert ist, sondern ganz im Gegenteil eine narrative Form, die auf „Nicht­ linearität und Diskontinuität“ gründet.115 Daher ist eine handlungslogische Textorganisation, wie Fuhrmann sie ansetzt, als Beurteilungskriterium eher weniger geeignet. Dies bedeutet allerdings nicht, dass in den Vitentexten keine chronologisch organisierten Erzählsequenzen auftreten können. Denn die Prologpartie des Medinger Gnadenlebens evoziere ein lineares Vitenschema, das sich von den ‚geheiligten‘ Umständen der Geburt bis zur Vorausdeutung auf den Tod der Protagonistin erstrecke und sich daher durchaus als biographisch dimensionierte ‚Geschichte‘ fassen ließe. Gemeinsam mit der Buchentstehungsgeschichte, die ebenfalls in den Prolog inseriert sei, fungiere diese Erzählung über die biographisch inszenierte Gotterwähltheit als übergeordnete Perspektivierung und vorstrukturierende ‚Lektürevorgabe‘ für den weiteren Text.116 In ­diesem Sinne entfalten die Vitentexte ein komplexes Erzählgefüge, das eine chronologisch-sequenzielle Narrativierung größtenteils in eine transzendierende Erzählweise überführt, die eine „personale Erfahrung der Transzendenz“117 in Form eines

113

114 115 116 117

beinahe ausnahmslos Temporaladverbiale dafür verantwortlich sind, in den Offenbarungsberichten überhaupt Lebensberichte wahrzunehmen“. Denn diese rezeptionsästhetische ‚Wahrnehmung‘ basiert wohl nicht zuletzt auf der thematischen Ausgestaltung der Viten- und Offenbarungstexte, die ein Vitenschema durch eine biographisch-­lebensweltliche Dimensionierung evozieren, insbesondere über die in den prologartigen Anfangspartien entworfene ‚Vorgeschichte‘ der Visionärinnen: So entfaltet die Anfangspassage der Gnadenvita Christine Ebners (CE, 1 – 34) ein biographisches Vitenschema, das mit der Geburt Christines einsetzt und besondere Gnadengaben ihrer Jugendzeit und im Alter von 30, 47 und 51 Jahren vermittelt. Ebenso finden sich im Vorbericht zum Gnadenleben der Adelheid Langmann Angaben über die Zeit vor dem Klostereintritt, über eine besondere Begnadung von Kindheit und Jugend an, ihre Verheiratung und Verwitwung im Alter von 13 Jahren und schließlich den Beschluss, das Leben im Kloster aufzunehmen (vgl. AL, 1 – 4). Fuhrmann: Konfigurationen der Zeit, S. 113 und Anm. 264, S. 113: „Aber selbst für ein Werk, das zwischen­zeitlich verstärkt auf thematische Kohärenz setzt, lässt sich im Ganzen nicht von der Darstellung einer motivierten Handlungsfolge sprechen, die das dargestellte Geschehen zu einer Geschichte werden lässt.“ Ebd., S. 14. Bürkle: Die ‚Gnadenvita‘ Christine Ebners, S. 499. Vgl. ebd. Walther Haug: Das Gespräch mit dem unvergleichlichen Partner. Der mystische Dialog bei ­Mechthild von Magdeburg als Paradigma für eine personale Gesprächsstruktur. In: Das Gespräch. Hrsg. von ­Karlheinz Stierle und Rainer Warning. München 1984 (Poetik und Hermeneutik), S. 251 – 279, hier S. 251.

36 | Einleitung © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

den Einzelepisoden übergeordneten, biographisch akzentuierten ‚Lebensberichts‘ konkretisiert. So hat Susanne Bürkle in ihrer Untersuchung zum Verhältnis von Textstruktur und Ich-­Instanzen in der Gnadenvita Christine Ebners demonstriert, dass sich die Gestaltungsund Erzählweise frauenmystischer Vitentexte auf den gezielten Einsatz narrativer Verfahren und literarischer Techniken zurückführen lassen.118 Auch Racha Kirakosian analysiert im Rückgriff auf erzähltheoretische Analysekategorien die „komplexe Ich-­Pluralität“ (Kirakosian, S. 23) in der Christina-­von-­Hane-­Vita sowie den Einsatz der Figurenrede, die Innenweltdarstellung und Perspektivenvielfalt, um die verschiedenen Figurationen der Ich-­Sprecher und die Funktionsmechanismen hagiographischen Erzählens genauer zu erfassen.119 Als Ergebnis ihrer narratologischen Untersuchung hält sie fest, dass „Erzählen als kollektives Projekt“ (S. 166) fungiere, da neben der Stimme der Mystikerin und der Stimme des impliziten Autors – den Kirakosian „als Rollenkonstitution des Erzählers“ (S. 117) betrachtet – ein impliziter Leser in Form eines lesenden Du ein medial inszeniertes Reaktualisierungspotential entfalte, das das „Gnadenprinzip von der Mystikerin auf den impliziten Leser“ (S. 251) erweitere. Auf diese Weise zeichne sich der Vitentext durch eine komplex angelegte Erzählstruktur aus, die besonders gegen Ende der Vita durch den Umschlag von einer Vermittlung der Gnaden durch den Erzähler bzw. die Rollenfigurationen des nahestehenden Ordensbruders, des schreibenden und kommentierenden Hagiographen zu einer Unmittelbarkeit suggerierenden dialogischen Präsentationsweise und den Ich-­Berichten der Protagonistin evident werde.120 Kürzlich hat Caroline Emmelius die Ich-­Stimmen in den „Offenbarungen“ Adelheid ­Langmanns, der Christina-­von-­Hane-­Vita und dem „Fließenden Licht der Gottheit“ Mechthilds von Magde­burg im Rückgriff auf Michel de Certau als heterologische Rede, „als Rede an und über das Andere“ (S. 368) bestimmt, die nicht primär einer Selbstthematisierung diene, sondern die Funktion des Ichs als „Medium von Vision und Audition“ (S. 387) und Vermittlungsinstanz der Transzendenzerfahrung bedinge.121 Und diese 118 Vgl. Bürkle: ‚Die Gnadenvita der Christine Ebner‘. Bürkle verweist in ihrem Forschungsbericht (S. 487 – 489) darauf, dass die Forschung die Textentstehung vornehmlich aus der Textstruktur bzw. ihrer ‚Machart‘ herleiten wolle. 119 Vgl. den methodischen Überblick zur Narratologie, Kirakosian: Die Vita der Christina von Hane, S. 21 – 26. 120 Vgl. ebd. S. 99 – 116 zu Ich-­Konstitution und Perspektivenvielfalt der Sprecherrollen des impliziten Hagiographen, des nahestehenden Ordensbruders und des wertenden Exegeten und zur Stimme der Mystikerin S. 145 – 155. 121 Vgl. Caroline Emmelius: Das visionäre Ich. Ich-­Stimmen in der Viten- und Offenbarungsliteratur ­zwischen Selbstthematisierung und Heterologie. In: Sonja Glauch/Katharina Philipowski (Hrsg.): Von sich selbst erzählen. Historische Dimensionen des Ich-­Erzählens. Heidelberg 2017 (Studien zur historischen Poetik), S. 361 – 389. Allerdings lässt sich mit Blick auf die Spur einer Ich-­Aussage der Protagonistin in der Kempe-­Vita (BMK, Kapitel 15, S. 34, 24 – 26) und insbesondere auf die in Ich-­Form gehaltenen „Offenbarungen“ der Margareta Ebner fragen, ob der Eindruck eines „individuellen Restes“ (Bürkle: Die Offenbarungen der Margareta Ebner, S. 100) und die Vorstellung einer konkreter wirkenden,

Narration und Autorschaft | 37 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Erzähltechniken erfahren in den verschiedenen Texten eine typenspezifische Ausgestaltung, die offenbar von der den Vitentexten zugrunde liegenden programmatischen Konzeption mystisch-­begnadeter Heiligkeit informiert ist, wie es im Folgenden zu zeigen gilt. In d ­ iesem Sinne ermöglicht ein Verständniszugang, der an der strukturalistischen Erzähltheorie Gérard Genettes orientiert ist, die oben erwähnte programmatische Eingangsfrage „Whose language is it?“ von S. B. Meech entscheidend zu modifizieren,122 die die Kempe-­Forschung bisher eher auf die Ebene der faktischen Textentstehungsverhältnisse bezogen hat. Denn sie kann in die vielzitierten Fragen „Wer spricht?“ (Stimme) und „Wer sieht?“ (Modus) im Hinblick auf die erzählerische Vermittlung gewendet werden.123 Dabei bezeichnet der Begriff der Stimme die Erzählinstanz in ihrer Vermittlungsfunktion,124 die „die Darstellung einer histoire in einem discours“125 betrifft. Und diese zentrale Unterscheidung ­zwischen der Ebene des Erzählten (histoire) und der Ebene des Erzählens (discours) „erlaubt einen klaren Blick auf die Art und Weise, wie ein Text gemacht ist“,126 wobei der ‚individuellen‘ Vergangenheit der Person, der die Gnadenerfahrungen zuteil werden, nicht wesentlich für die Glaubwürdigkeit und Authentizität der Ich-­Rede als Medium göttlicher Offenbarungen ist. Vgl. die Ausführungen in Kapitel 4.2 „Die Figuration der Ich-­Erzählerin und die Konzeption des Erzählens in den „Offenbarungen“. 122 Vgl. BMK: Einleitung, S. vii. 123 Gérard Genette: Die Erzählung. Dritte durchgesehene und korrigierte Auflage. Paderborn 2010 ( UTB), zur Kategorie „Stimme“ S. 119. Der Neuansatz Genettes liegt darin begründet, dass er die Fragen „Welche Figur liefert den Blickwinkel, der für die narrative Perspektive maßgebend ist?“ (Fokalisierung) und „Wer ist der Erzähler?“ (Stimme) auf der textinternen Betrachtungsebene sorgfältig voneinander unterscheidet, während der Anglist Franz Stanzel in seiner berühmten erzähltheoretischen Untersuchung des Romans s­olche Differenzierungen unberücksichtigt lässt. Vgl. Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive, S. 367, der darauf verweist, dass diese Unterscheidungen eine geeignetere Basis als der Stanzelsche Typenkreis für eine Profilierung mittelalterlichen Erzählens bilden. Vgl. Franz Stanzel: Typische Formen des Romans. 12. Auflage. Göttingen 1993 (Kleine Vandenhoeck-­Reihe 1187). Vgl. ders.: ­Theorie des Erzählens. 7. Auflage. Göttingen 2001 (UTB für Wissenschaft; Uni Taschenbücher 904), besonders „die Konstituenten der typischen Erzählsituation“, S. 70 – 82 und zum sogenannten Typenkreis, der die typischen Strukturelemente der unterschiedlichen Erzählsituationen und fließende Übergänge bzw. Zwischenformen z­ wischen den einzelnen Erzählformen veranschaulicht S. 240 – 247, zu den Funktionen des Ich-­Erzählers S. 268 – 290. 124 Die Vermittlungsfunktion betrifft vor allem die Erzählverfahren, wie Selektion, Zusammenstellung, Anordnung, Bewertung, Kommentierung und Reflexion, vgl. dazu die Übersicht in Wolfgang Schmid: Elemente der Narratologie. 2. verbesserte Auflage. Berlin, New York 2008, S. 73. 125 Hübner: Historische Narratologie und mittelalterlich-­frühneuzeitliches Erzählen, S. 11 – 54, hier S. 13. Vgl. die Definition von Rosmarie Zeller: Erzähler. In: Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturwissenschaft. Band 1. Hrsg. von Georg Braungart [u. a.]. Berlin, New York 2007, S. 502. Vgl. Schulz: Erzähltheorie, S. 367. Schulz stellt heraus, dass der Erzähler die histoire durch den discours hervorbringt. 126 Fotis Jannidis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. eBook. Berlin 2008 (Narratologia 3), S. 164 [20. 08. 2018]. Im Rückgriff auf das Begriffspaar histoire und discours, wie es der strukturalistische Erzähltheoretiker Tzvetan Todorov bestimmt hat, nimmt Genette eine kritische Revision

38 | Einleitung © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Erzähler in seinem Verhältnis zur erzählten Welt (Diegese) als extradiegetisch oder intra­ diegetisch bestimmt werden kann.127 Die vorliegende Arbeit versucht daher, die Gnadenerweise, Visions- und Leidenserfahrungen der Visionärinnen als Teil einer erzählten Welt zu betrachten, die eine textinterne Erzählinstanz oder, im Fall der Vitentexte Christine Ebners, Adelheid Langmanns und Margery Kempes, durchaus auch mehrere Erzähl- und Schreibinstanzen auf der Ebene des Erzählens generieren, wie zu zeigen sein wird. Denn die Vitentexte zeichnen sich durch komplex angelegte Darstellungsebenen mit verschiedenen, teils berichtenden und teils schreibenden Ich-­Figuren bzw. Erzählerfigurationen aus, die als eine Art Grundkonstellation das Text-­Ich der Visionärin und das „hagiographische Ich“ (Bürkle) eines Redaktors umfassen, der den Text kompiliert.128 Diese Ich-­Instanzen, die auf unterschiedlichen Erzählebenen angesiedelt sein können, beanspruchen Anteile an der textinternen Erzählung über die Buchwerdung göttlicher Offenbarungen, wie es zu zeigen gilt. Erzähltechnisch betrachtet lässt sich z­ wischen den realhistorischen Personen der Außenwelt und diegetischen Figuren 129 innerhalb der erzählten Welt differenzieren, die der Erzähler im Erzählvorgang hervorbringt.130 Deshalb können beispielsweise die Audienzen der des discours-­Begriffs vor. Vgl. Tzvetan Todorov: Les catégories du récit littéraire. In: Communications 8 (1966), S. 121 – 151. Vgl. zur Forschungsdebatte über die Terminologie des Erzählens (Darstellung) und des Erzähltens (Geschichte), Martinez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, S. 22 – 26. 127 Vgl. Genette: Die Erzählung, S. 147 – 153 zur Differenzierung der narrativen Ebenen und S. 158 und S. 161 f. zu den vier möglichen Erzählertypen: Ein extradiegetisch-­heterodiegetischer Erzähler präsentiert eine fremde Geschichte, an der er keinen Anteil als Figur hat. Eine intradiegetisch-­heterodiegetische Erzählinstanz tritt zwar als Figur der Diegese in Erscheinung, vermittelt aber eine fremde Erzählung und schließlich die intradiegetisch-­homodiegetische Erzählvariante, in der der Erzähler als Figur seine eigene Geschichte wiedergibt. 128 Der Begriff „hagiographisches Ich“ stammt von Susanne Bürkle. In der Medinger Gnadenvita ­Christine Ebners bezeichne das hagiographische Ich den Adressaten von Ich-­Berichten (GV, p. 99: sü schreib mir dise wort), die ein Schreiber von der Schwesternfigur erhalte und die ihn in der Rolle einer Art Redaktor-­ Instanz profilierten. Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 4.4 „Die Rollenfigur des ‚Redaktors‘ als hagiographischer Erzähler“. 129 Vgl. Schulz: Erzähltheorie, S. 10 – 16 zum Begriff der Figur, die nicht mit einer Person gleichzusetzen sei, da sie als typenspezifisch ausdifferenzierter Handlungsträger eine begrenzte „Reihe von Merkmalen“ biete (S. 10). Vgl. Jannidis: Figur und Person, besonders Kapitel 5 „Was ist eine Figur?“, S. 151 – 196. Jannidis problematisiert eine lebensweltliche Ausdeutung von Figuren als Personen im Rückgriff auf die englischsprachige narratologische Theoriebildung zur Figur. Er konstatiert (S. 156): „Eine Figur in literarischen Texten bestehe lediglich aus den Merkmalen, die ihr vom Text indirekt zugeschrieben werden.“ Unter einer rezeptionsorientierten Perspektive sei sie als ein Basistyp, ein „textgeneriertes, prototypisch organisiertes Konzept“ zu betrachten (S. 193), das der Leser im Rückgriff auf sein alltagsweltliches Wissen (folk psychology) ausforme und deute. Allerdings bietet Jannidis’ Beitrag keine historische Dimensionierung ­dieses Figurenkonzepts. 130 Vgl. Genette: Die Erzählung, S. 149. Vgl. Jannidis: Figur und Person, S. 165 – 172, der im Rückgriff auf die erzähltheoretischen Arbeiten des amerikanischen Literaturtheoretikers Seymor Chatman herausstellt, dass die Figur als Teil der histoire zu betrachten sei.

Narration und Autorschaft | 39 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Margery-­Figur mit bedeutenden Bischöfen wie Thomas Arundel, dem Erzbischof von Canterbury und Philip Repingdon, dem Bischof von Lincoln, als Teil der heilsgeschichtlich ausgestalteten Diegese betrachtet werden,131 die aufgrund ihres Verweischarakters auf die außerliterarische Welt eine ‚direkte‘ historische Verifizierbarkeit vorgibt.132 Auf diese Weise werden realhistorische Personen selbst zum Gegenstand des Erzählens und als Figuren der erzählten Welt zeichnet sie eine „interessante Doppelbödigkeit“133 (Susanne ­Bernhardt) aus: Sie könnten nicht als ausschließlich textimmanent betrachtet werden, da sie auf die textexterne Welt referierten, die im Fall des Kempe-­Textes durch Namensnennungen, Hinweise und Anspielungen auf reale Orte wie Bishop’s Lynn, Norwich und Lambeth Palace in London als Bezugsrahmen aufscheine.134 Auf der Ebene der textinternen histoire gelangt ­„Margery Kempe“ allerdings als ‚Margery-­Figur‘ in der Rolle einer gottbegnadeten mulier sancta zur Darstellung, die zwar biographisch-­lebensweltlich profiliert ist, aber durch ihre literarische Stilisierung einfachen Rückschlüssen auf eine tatsächliche Person eher entgegensteht. Wie zu zeigen sein wird, erscheint diese Margery-­Figur als Protagonistin und „Reflektorfigur“,135 die in Verbindung mit einer übergeordneten, auktorial anmutenden Erzähler­ stimme auftritt, wie sie Gert Hübner als historische Erzählform am Beispiel der Erzählund Fokalisierungstechniken in den höfischen Romanen „Iwein“, „Eneas“ und „Tristan“ herausgearbeitet hat.136 Die Textanalyse des Kempe-­Textes orientiert sich daher an den von Hübner formulierten Ergebnissen: Als Grundlage seiner Untersuchung dient Hübner eine historisch dimensionierte Form der Genetteschen Narratologie,137 die er mit einer 131 Vgl. die eher vorkritische, aber durchaus treffende Einschätzung von Swanson: Will The Real ­Margery Kempe Please Stand Up?, S. 142: „The Book is rather like a play in which historical figures make cameo appearances […].“ Vgl. BMK , Kapitel 16, S. 36, 18 – 37, 14 zur Audienz mit der anonymisierten Figur des Erzbischofs, die zuvor in Kapitel 15 namentlich als Erzbischof Arundel (Archbusshop of ­Cawntyrbery, Arundel) ausgewiesen wird, S. 35, 28 – 32. Vgl. die Namensnennung in Kapitel 15, S. 33, 24 – 25, þe Bysshop of Lynkoln, whech hygth Philyp. Vgl. die Einträge zu den realhistorischen Personen im Dictionary of National Biography: Jonathan Hughes: Arundel, Thomas (1353 – 1414). In: Oxford Dictionary of National Biography. Oxford 2004. Online Edition, May 2007 http://www.oxforddnb.com/ view/article/713 [25. 08. 2018]. Simon Forde: Repyndon, Philip (c. 1345 – 1424). In: Oxford ­Dictionary of National Biography. Online Edition, May 2008 http://www.oxforddnb.com/view/article/23385 [25. 08. 2018]. 132 Vgl. Susanne Bernhardt: Figur im Vollzug. Narrative Strukturen im religiösen Selbstentwurf der Vita Heinrich Seuses. Tübingen 2016 (Bibliotheca Germanica 64), besonders S. 19 – 22, die diese Überlegung im Hinblick auf die Figuren der erzählten Welt in der ‚Vita‘ Heinrich Seuses formuliert hat. 133 Bernhardt: Figur im Vollzug, S. 20. 134 Vgl. ebd., S. 20. 135 Vgl. zum Begriff Reflektorfigur Hübner: Erzählform im höfischen Roman, besonders S. 19 f., 39 f., S. 46. 136 Vgl. die detaillierten textanalytischen Kapitel in Hübner: Erzählform im höfischen Roman, S. 122 – 393. 137 Vgl. Hübner: Erzählform im höfischen Roman, S. 11. Hübner bietet eine historische Dimensionierung des Fokalisierungsbegriffs, den er im Rückgriff auf eine Auseinandersetzung mit der modernen Erzähltheorie für die mittelalterliche Literatur präzisiert, besonders S. 25 – 45 und S. 77 – 103.

40 | Einleitung © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Konzeption des Bewusstseins als „mentaler Innenwelt“ kombiniert, die Dorrit Cohn in ihrer bedeutenden Studie zur Narrativierung von innerer Erfahrungswelt in akribischen Textanalysen moderner Erzähltexte profiliert hat.138 Den Begriff der „Innenwelt“, der für frauenmystische Texte besondere Relevanz besitzt, definiert Cohn als die der Außenwelt normalerweise nicht unmittelbar zugänglichen Wahrnehmungen, Emotionen, Stimmungen und Gedanken – in Hübners Worten die in einer Erzählung dargestellte „Welterfahrung“, das „Welterleben“ – einer Figur.139 Insbesondere der Begriff der Psychonarration als Technik der Bewusstseinsdarstellung 140 ist der Untersuchung Hübners entlehnt, der den von Cohn geprägten Terminus ‚Psychonarration‘ historisch ausdifferenziert. Dorrit Cohn hat die Psychonarration in ihrer Begriffstrias 141 zur Erfassung literarischer Innenweltdarstellung in einer Erzählung in der dritten Person als „Repräsentation von Figurenbewußtsein in der Erzählerrede“ konzeptionalisiert.142 Da sich die aventiure-­Welt des höfischen Romans, der idealisierte höfische Leitbilder, Verhaltens- und Identitätsentwürfe in den ‚Bewährungsabenteuern‘ eines symbolischen Doppelwegs repräsentiert, grundlegend von der thematisch-­strukturellen Ausrichtung der mystischen Vitentexte unterscheidet, differieren die Techniken der Innenweltdarstellung, was autokommunikative Soliloquien oder den Einsatz der erlebten Rede betrifft.143 Das folgende Beispiel kann allerdings demonstrieren, dass in der Kempe-­Vita durchaus Erzählverfahren zum Einsatz kommen, die dem Geltungsbereich der Psychonarration entsprechen: Sche ymagyned in hir-­self what deth sche mygth deyn for Crystys sake. Hyr þowt sche wold a be slayn for Goddys lofe, but dred for þe poynt of deth, & þerfor sche ymagyned hyr-­self þe most soft deth, as hir thowt, for dred of inpacyens, þat was to be bowndyn hyr hed & hir fet to a stokke & hir hed to be smet of wyth a scharp ex for Goddys lofe.144 138 Vgl. Dorrit Cohn: Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction. Princeton 1978. 139 Vgl. Hübner: Erzählform im höfischen Roman, S. 46. 140 Vgl. zu den Begriffen Bewusstseinsdarstellung, Psychonarration, Soliloquium und erlebte Rede ebd., S. 46 – 57. 141 Cohn definiert drei Begriffe zur Differenzierung der Innenweltdarstellung: die Psychonarration, das Soliloquium als „quoted monologue“ (vgl. Cohn: Transparent Minds, S. 14; Hübner: Erzählform im höfischen Roman, S. 48), als autokommunikativ gesprochene oder gedachte Wiedergabe von Welterleben in Figurenrede und schließlich die erlebte Rede, die „Figurenbewußtsein repräsentiert, ohne dass man entscheiden könne, ob der Erzähler oder die Figur das Aussagesubjekt des Redeinhalts und der Formulierung ist“. Hübner: Erzählform im höfischen Roman, S. 52. 142 Hübner: Erzählform im höfischen Roman, zum Begriff S. 47, vgl. zur Psychonarration im „Iwein“ als „Überblendung von Erzählerstimme und Figurenstimme“, S. 134 – 137 und S. 146 – 160. Cohn: Transparent Minds, S. 14. 143 Vgl. die Beispiele von Hübner, ebd., S. 124 zu Laudines Soliloquium; Lavinias Soliloquium im „Eneas“, S. 203 f., zur Dido-­Episode, S. 218 – 224. 144 BMK, Kapitel 14, S. 29, 32 – 30, 1.

Narration und Autorschaft | 41 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Hier berichtet eine anonyme Erzählinstanz die inneren Gedanken und Gefühle (dred for þe poynt of deth) der Margery-­Figur, die als eine Art Wahrnehmungszentrum erscheint ­hinter dem die Erzählinstanz allerdings nicht völlig zurücktritt. Durch den Einsatz der verba sentiendi (hyr thowt/sche ymagyned ) liegt hier eine „analytische“ Form der Innenweltdarstellung vor, die Hübner im Rückgriff auf Cohn als Anwesenheit einer Erzählerstimme fasst.145 Die graduellen Abstufungen des Vorhandenseins einer Erzählinstanz lassen sich durch das Begriffspaar „analytisch“146 und „synthetisch“ näher konturieren. Im Fall der Psychonarration führe eine durchgängig synthetische Innenweltdarstellung, bei der die Erzählinstanz immer weiter in den Hintergrund des Erzählens rückt, zum Reflektormodus und zu einer Fokalisierung. Insgesamt betrachtet, kommt aber dem Dialog als Darstellungsmedium der Gotteserfahrung eine bedeutende Rolle bei der Entfaltung der inneren ‚Erfahrungswelt‘ und der (Rollen-)Identität der Protagonistin als mulier sancta zu, die in dialogischer Interaktion mit Gott Gestalt annimmt.147 Ein weiteres Beispiel für eine Introspektion, die sich erzähltheoretisch mit dem Darstellungsmodus der Psychonarration beschreiben lässt, bietet etwa Kapitel 28 im Kempe-­Text, das von der überbordenden Freude der Margery-­Figur während ihres Einzugs in Jerusalem berichtet: Þan, for joy þat sche had & þe swetnes þat sche felt in þe dalyawnce of owyr Lord, sche was in poynt to a fallyn of hir asse, for sche myth not beryn þe swetnesse & grace þat God wrowt in hir sowle.148

In d ­ iesem Textbeispiel liegt eine Form erzählter Wahrnehmung vor, bei der ein Fokalisierungseffekt entsteht, der von der Relation der Erzählerstimme zum Figurenbewusstsein abhängig ist.149 Dieser Fokalisierungseffekt kann vielleicht als Erklärung dafür herangezogen werden, dass die anglistische Kempe-­Forschung bisher nur bedingt ­zwischen Erzähler und Protagonistin unterschieden hat und der Frage, wie die narrative Vermittlung der Kempe-­Vita eigentlich erzähltechnisch funktioniert, nicht weiter nachgegangen 145 Vgl. Hübner: Erzählform im höfischen Roman, S. 53: „Die Präsenz der ‚Stimme‘ bezeichne ich als ‚analytisch‘, die Zurücknahme als ‚synthetische‘ Bewußtseinsdarstellung.“ 146 Vgl. ebd., S. 54: „Hier stellt sich ein Fokalisierungseffekt ein, bei dem die Stimme nicht ganz verschwindet.“ Dabei stünden die Begriffe „analytisch“ und „synthetisch“ jedoch nicht in Opposition zueinander, sondern ­seien eher als graduelle Abstufung zu betrachten. 147 Vgl. Almut Suerbaum: Dialogische Identitätskonzeption bei Mechthild von Magdeburg. In: Dialoge. Sprachliche Kommunikation in und ­zwischen Texten im deutschen Mittelalter. Hamburger Colloquium 1999. Hrsg. von Nikolaus Henkel [u. a.]. Tübingen 2003, S. 239 – 255, hier S. 239 f. 148 BMK, Kapitel 28, S. 67, 23 – 26. 149 So formuliert bereits Hübner in seiner Begriffsbestimmung zur Bewusstseinsdarstellung und Fokalisierung, vgl. Hübner: Erzählform im höfischen Roman, S. 53. Vgl. auch S. 55: „Fokalisierung ist nichts anderes als eine Reihe von Techniken, die Differenz z­ wischen Erzähler und Figur zum Verschwinden zu bringen.“

42 | Einleitung © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

ist.150 Dass die Kempe-­Forschung so vehement an der These festhält, Margery Kempes eigene Stimme aus dem Text vernehmen zu können, lässt sich als Resultat der narrativen Präsentation der Protagonistin fassen. Ein literarisches Innenweltkonzept bietet nach Hübner jedenfalls den entscheidenden Vorteil, dass es psychoanalytisch konnotierte Bezeichnungen wie Bewusstsein vs. Unterbewusstsein von vorneherein ausschließe, da nur das als Figurenbewusstsein analysiert werde, was der Text explizit als Bewusstsein markiere.151 Es stellt sich die Frage, ob diese am höfischen Roman gewonnenen Erkenntnisse auch für frauenmystische Texte gelten, die zwar einerseits auf einem Wahrheitsanspruch im Sinne des „kontrafaktisch Wahren der christlichen Glaubensgewißheit“152 gründen, aber sich andererseits durch ihre literarische Gemachtheit auszeichnen. Die neuere Frauenmystikforschung insistiert zu Recht auf dem dezidiert literarischen Status der Viten- und Offenbarungstexte und betont, dass sich die Texte nur schwerlich unter der Prämisse ‚Faktographie versus Literatur‘ verstehen lassen.153 So formuliert Susanne Bernhardt im Hinblick auf die Vita Heinrich Seuses, dass z­ wischen fiktiven und faktischen Sachverhalten 150 Vgl. Goodman: Margery Kempe and her World, S. 9: „A distinctive voice is one of the striking characteristics of the book.“ Nancy Lenz Harvey bezeichnet die Protagonistin mit dem Begriff „narrator“ und setzt auf diese Weise die Hauptfigur mit der Erzählinstanz gleich. Harvey: Margery Kempe: Writer as Creature, S. 176 f. Vgl. die Ausführungen in Kapitel 3.1 „Erzählinstanzen des Margery-­Kempe-­Textes“. 151 Vgl. Hübner: Erzählform im höfischen Roman, S. 46 f.: „Die terminologische Festlegung und ihre interpretatorische Durchsetzung unterscheidet die narratologische Analyse prinzipiell von jeder Art ‚psychologisierender‘ Interpretation, weil immer nur zum Gegenstand der Untersuchung gemacht wird, was der Text selbst schon als Figureninnenwelt präsentiert, während nie irgendwelche mentalen Zustände oder Prozesse aus äußeren ­­Zeichen (Gestik, Mimik, Dialoge, Handlungen) abgeleitet werden.“ 152 Hans Robert Jauß: Zur historischen Genese der Scheidung von Fiktion und Realität. In: Funktionen des Fiktiven. Hrsg. von Dieter Henrich und Wolfgang Iser (Poetik und Hermeneutik. Arbeitsergebnisse einer Forschergruppe X). München 1983. S. 423 – 431, hier S. 426. Susanne Bürkle hat als erste auf Jauß’ Konzeption eines sich in den Artusromanen des 12. Jahrhunderts entfaltenden Fiktionsbewusstseins hingewiesen, um es von den nicht-­fiktionalen frauenmystischen Texten abzugrenzen, für die „eine Nichtunterscheidbarkeit von Fiktion und Realität“ (Jauß) im Sinne christlicher Glaubenswahrheit anzusetzen sei. Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 34, Anm. 97. 153 Susanne Bürkle weist in ihren Untersuchungen wiederholt darauf hin, dass die Frauenmystik unter der falschen Prämisse „Faktographie oder Literatur“ behandelt worden sei. Vgl. dazu Susanne Bürkle: Weibliche Spiritualität und imaginierte Weiblichkeit. Deutungsmuster und Perspektiven frauenmystischer Literatur im Blick auf die Thesen Caroline Walker Bynums. In: Mystik. Hrsg. von Christoph Cormeau. Sonderheft ZfdPh 113 (1994), besonders S. 119, Anm. 16. Vgl. dazu auch Bürkle: Die Offenbarungen der Margareta Ebner, S. 86: „[…] verbunden mit der Zementierung eines Textbegriffs, der dichotomisch Wahrheit und Fiktion, Realität und Literatur im Rekurs auf die christliche Glaubenswahrheit gegeneinander ausspielt“. Vgl. Thali: Beten, Schreiben Lesen, S. 17: „Während fiktionale Texte stillschweigendes Einverständnis über den fiktiven Status des Erzählten voraussetzen, präsentieren die Viten- und Offenbarungstexte die religiösen Erfahrungen als ‚Wahrheit‘ und bemühen sich erzählstrategisch um die Glaubwürdigkeit des Berichteten, und sie wurden vermutlich meist in ­diesem Sinne rezipiert.“

Narration und Autorschaft | 43 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

aufgrund der von den Vitentexten anvisierten Vermittlung von Heilswahrheit letztlich nicht zu differenzieren sei, da „jede Äußerung, die ein solcher Text fixiert, ‚wahr‘ sein muss. Aus dieser rezeptionspragmatischen Perspektive bedeutet ‚Wahrheit‘, dass der Text Heilswissen vermittelt.“154 Die Vermittlung dieser Glaubenswahrheit erfolgt allerdings in Form eines literarisch gestalteten Textes. Für die Vitentexte der begnadeten Visionärinnen süddeutscher Dominikanerinnenkonvente hat die Altgermanistik bereits demonstriert, dass sie souverän mit den verschiedensten Erzähl- und Darstellungsstrategien operieren und eine dezidierte literarische Konstruiertheit aufweisen. Wie zu zeigen sein wird, konzipieren die deutschsprachigen frauenmystischen Vitentexte und die Kempe-­Vita unterschiedliche Grade von ‚Unmittelbarkeit‘, die hier nicht als Erfahrungsphänomene, sondern als Effekte der erzählerischen Vermittlung betrachtet werden sollen. Der Kempe-­Text soll texterschließend-­analytisch auf der Basis seiner Überlieferungs- und Textgeschichte näher erfasst werden, wie sie in Kapitel 2 „Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte“ erarbeitet wird. Das zweite Kapitel basiert methodisch auf einem Verständniszugang, den die Altgermanistik in kritischer Auseinandersetzung mit den Positionen und Erkenntnissen der ‚Material Philology‘155 für die Überlieferung mittelalterlicher Texte gewonnen hat.156 Die vorliegende Untersuchung betrachtet den Kempe-­Codex als materiellen Überlieferungsträger, der sich aus unterschiedlichen bedeutungsgenerierenden Repräsentationssystemen, wie dem Text, den Rubrizierungen, Illustrationen und Gebrauchsspuren, im Kontext einer historischen Gebrauchssituation konstituiert. Auf dieser methodischen Basis kann die Handschrift als 154 Vgl. Bernhardt: Figur im Vollzug, S. 19. 155 Unter dem Leitwort ‚Materialität‘ lässt sich eine mittelalterliche Handschrift in ihrer physischen Beschaffenheit als Bedeutungs- und Überlieferungsträger fassen, der wichtige Informationen über die Gebrauchssituation und institutionelle Eingebundenheit eines Textes liefern kann. Vgl. Jan-­Dirk Müller: Neue Altgermanistik. In: Jahrbuch der Schillergesellschaft, 39 (1995), S. 450. Wie in Anm. 16 der Einleitung erwähnt, konkretisiert Nichols den neuphilologischen Ansatz in der Konzeption einer Material Philology, vgl. Stephen G. Nichols: Why Material Philology?, S. 10 – 30. Vgl. die neueren Beiträge, ­Stephen G. Nichols: What is Manuscript Culture? The Manuscript Matrix. In: The Medieval ­Manuscript Book. Cultural Approaches. Hrsg. von Michael Johnston und Michael von Dussen. Cambridge 2015, S. 34 – 60. Stephen G. Nichols: Dynamic Reading of Medieval Manuscripts. In: Florilegium 32 (2015), S. 19 – 57. 156 Vgl. in Auswahl Karl Stackmann: Neue Philologie? In: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Hrsg. von Joachim Heinzle. Frankfurt a. M. 1994, S. 398 – 427. Rüdiger Schnell: Was ist neu an der „New Philology“? Zum Diskussionsstand in der germanistischen Mediävistik. In: Alte und neue Philologien. Hrsg. von Martin Dietrich Glessgen und Franz Lebsanft. Tübingen 1997 (Beihefte zu editio 8), S. 61 – 95. Peter Strohschneider: Situationen des Textes. Okkasionelle Bemerkungen zur New Philology. In: ZfdPh (116), 1997, Sonderheft: Philologie als Textwissenschaft. Alte und Neue Horizonte. Hrsg. von Helmut Tervooren und Horst Wenzel, S. 62 – 86. Martin Baisch: Textkritik als Problem der Kulturwissenschaft. Tristan-­Lektüren. Berlin, New York 2006 (Trends in Medieval Philology Band 9). Nemes: Von der Schrift zum Buch, besonders S. 72 – 79.

44 | Einleitung © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Überlieferungs- und Bedeutungsträger in ihrer „Situationalität“157 erfasst werden, d. h. in ihrer Eingebundenheit in Gebrauchs- und Funktionszusammenhänge. Diese Gebrauchssituation lässt sich aus den einzelnen Repräsentationssystemen erschließen, die sich aus Schreiberhänden, Ausstattung, Verzierung und Marginaleinträgen zusammensetzen und in komplexen Wechsel- und Konkurrenzbeziehungen („systemic rivalry“)158 zueinander stehen können. Ihnen attestiert der amerikanische Romanist Stephen Nichols den Status von „eigenen Systemen der Sinnproduktion“159 in der Einleitung seines programmatischen Speculum-­Sonderhefts „The New Philology“.160 Denn Autor(en), Schreiber, Redaktor, Illuminator, Rubrikator und Kommentator erzeugten im Rahmen eines arbeitsteiligen Verfahrens handschriftlicher Textproduktion einen „polyphonen Sinnzusammenhang“.161 Nichols formuliert die „interaction of text language with manuscript matrix and of both language and manuscript with the social context and networks they inscribe“ als zentrales Anliegen der New Philology, die den Fokus weg vom gedruckten Text auf den materiellen Buchkörper richten möchte.162 Eine s­olche Hinwendung zur Materialität handschriftlicher Überlieferung hat sich in der Altgermanistik allerdings im Ansatz schon lange Zeit vor dem Aufkommen der ‚Neuen Philologie‘ mit der sogenannten text- und überlieferungsgeschichtlichen Methode der Würzburger Forschergruppe um Kurt Ruh zur Erforschung spätmittelalterlicher Gebrauchsliteratur wie Predigten, religiöser Traktatsliteratur, Rechtssummen und enzyklopädischer Texte etabliert.163 Denn Ruh hat bereits die Bedeutung der Handschrift als „Größe sui generis“164 und als Träger von „Überlieferungsdaten“ in Form von Besitzeinträgen, Gebrauchsspuren und Annotationen herausgestellt, aus denen die jeweilige Gebrauchssituation und Textgeschichte erschlossen ­werden könne, wobei sich die Textgeschichte anhand dreier Ebenen konstituiere, die den Sprachraum, die Zeit und die Benutzerschichten umfassten.165 Durch 157 Strohschneider: Situationen des Textes, S. 86. 158 Nichols: Philology in a Manuscript Culture, S. 7. 159 Baisch: Textkritik als Problem der Kulturwissenschaft, S. 33. 160 Vgl. Speculum: The New Philology (65), 1990. Vgl. den Überblick über die Forschungsbeiträge ­dieses Sonderheftes in Strohschneider: Situationen des Textes, S. 63. 161 Baisch: Textkritik als Problem der Kulturwissenschaft, S. 33. 162 Nichols: Philology in a Manuscript Culture, S. 9. 163 Vgl. Nemes: Von der Schrift zum Buch, S. 74 zusammenfassend zur Vorwegnahme der Erkenntnisse der ‚Neuen Philologie‘ durch die Würzburger Forschergruppe und die altgermanistische Editionspraxis. 164 Hans Fromm: Die mittelalterliche Handschrift und die Wissenschaft vom Mittelalter. In: Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz. Mitteilungen 8 (1976), Heft 2, S. 35 – 62, hier S. 50. 165 Kurt Ruh: Überlieferungsgeschichte mittelalterlicher Texte als methodischer Ansatz zu einer erweiterten Konzeption von Literaturgeschichte. In: Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. Beiträge der Würzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung. Hrsg. von Kurt Ruh. Tübingen 1985 (Texte und Textgeschichte 19), S. 268: „Im Unterschied zum gedruckten Buch tradiert die Handschrift nicht nur Texte, sondern sie liefert gleich noch die meisten ihrer literaturkundlichen Merkmale mit: In Leserspuren

Narration und Autorschaft | 45 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Untersuchung sogenannter Gebrauchsfassungen reduziert sich die Rekonstruktion eines Autortextes zu einer Möglichkeit, die von der jeweiligen Überlieferungslage abhängig sei.166 Die vorausgesetzte Nähe einer Handschrift zum Autor fällt daher zunächst als Faktor bei der Bewertung der handschriftlichen Zeugnisse aus, die vielmehr ihrem ‚Eigenwert‘ nach im Hinblick auf ihre Eingebundenheit in eine historische Gebrauchs- und Rezeptionssituation beurteilt werden.167 Auf diese Weise hat die überlieferungs- und textgeschichtliche Methode der Würzburger Forschergruppe die materielle Beschaffenheit der Handschrift ins Zentrum ihrer Untersuchungen gerückt und einen dynamischen, sich in der Überlieferung konstituierenden Textbegriff propagiert. Auf dieser Basis hat die germanistische Mediävistik den Autor- und Textbegriff problematisiert, den die Material Philology im Rückgriff auf Kategorien der französischen postmodernen Literaturtheorie für mittelalterliche Texte angesetzt hat.168 Denn die verabsolutierende Vorstellung einer beliebigen und unreguliert verlaufenden Überlieferungsvarianz, wie sie der französische Sprachwissenschaftler Bernard Cerquiglini als récriture im Rückgriff auf das poststrukturalistische écriture-­Konzept von Roland Barthes und Jacques Derrida 169 und Lesernotationen, in Besitzvermerken, wie in den handschriftlichen Materialien und Einrichtungen. Es sind dies Daten zur Verbreitung, zur Chronologie, zum ‚Gebrauch‘ handschriftlicher Texte. 166 Vgl. Schnell: Was ist neu an der ‚New Philology‘?, S. 66 f. 167 Vgl. Nemes: Von der Schrift zum Buch, S. 70. Redaktionstexte formten die Basis der „Rechtssumme“ Bruder Bertholds, vgl. Die „Rechtssumme“ Bruder Bertholds. Eine deutsche abecedarische Bearbeitung der „Summa confessorum“ des Johannes von Freiburg. Synoptische Edition der Fassungen B, A und C. 4 Bände. Tübingen 1987 (TTG 11 – 14). Eine ­solche Vorgehensweise ergibt sich aus der spezifischen Überlieferungssituation: Georg Steer führt aus, dass trotz der reichhaltigen Überlieferung der „Rechtssumme“ Bruder Bertholds beträchtliche Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion eines Originals bestünden (S. 43), da der Text in verschiedenen „Gebrauchsversionen“ (S. 47) vorliege, die sich in „Gebrauchsfassungen“ und „Bearbeitungsfassungen“ differenzieren ließen. Vgl. Steer: Textgeschichtliche Edition, S. 37 – 53. 168 Nemes hat die altgermanistische Forschungsdiskussion und die literaturtheoretische Konzeptionalisierung von „Autorschaft“ und „Text“ ausführlich und perspektivenreich für die Text- und Autorkonstitution im „Fließenden Licht“ dargestellt, vgl. Nemes: Von der Schrift zum Buch, S. 67 – 89. Hier sollen nur noch einmal überblicksartig die für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit relevanten Positionen skizziert werden. 169 Cerquiglini bezieht sich allerdings explizit nur auf Michel Foucaults Überlegungen zur Autorfunktion, vgl. Bernard Cerquiglini: Elóge de la variante: histoire critique de la philologie. Paris 1989, S. 25: „C’est au tournant du XIXe siècle que l’idée de propriété littéraire acquiert force de loi; le droit énonce alors que tout texte est d’abord la chose de celui qui l’a conçu: origine et paternité. En d’autres termes, comme l’avait bien vu Michel Foucault, l’idée d’auteur s’installe au centre de la notion de texte, qui devient de façon constitutive »l’œuvre de«: le texte moderne est génitif.“ Vgl. zu Derridas Entwicklung einer écriture-­Konzeption im Anschluss an Roland Barthes: Le degree zero de l’ecriture. Paris 1953. Ders.: Ecrivains et ecrivants. Essais critiques. Paris 1964 (Collection Tel quel), S. 153 ff. Ders.: De la Grammatologie. Paris 1967 (Collection Critique), besonders das Kapitel „L’Écriture avant la Lettre“. Ders.: L’Écriture et la Difference. Paris 1967.

46 | Einleitung © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

in seiner Streitschrift „Elóge de la variante“ aus dem Jahr 1989 konzeptionalisiert 170 und mit dem grundsätzlichen Fehlen einer mittelalterlichen Konzeption von Autorschaft begründet hat,171 erfasst die spezifischen Bedingungen der mittelalterlichen Handschriftenkultur nur unzureichend. Wie die altgermanistische Forschung herausgearbeitet hat, basiert Cerquiglinis Deutung mittelalterlicher Texttradierung auf einer eher statischen Vorstellung vom Mittelalter, die die je nach Gattungstyp variierende Überlieferungslage und Ausformung unterschiedlicher Entwürfe und Vorstellungen von Autorschaft weitgehend unberücksichtigt lässt.172 Auf diese Weise wendet er sich prinzipiell gegen die Entfaltung eines ‚Autorbewusstseins‘ oder einer ‚Autorpräsenz‘, die sich allerdings in der mittelalterlichen Überlieferung in verschiedenen Formen und durch Zuschreibungen an bestimmte Autorennamen abzeichnen kann.173 Für die altgermanistische Forschungsdiskussion sind allerdings beide Ebenen bei der literarhistorischen Erschließung von „Autor-­Text-­Relationen“174 (Strohschneider) und der Konstitution von Autorschaft relevant: Die materielle Ebene der Handschrift und die Ebene der literarischen Präsentation der Autorentwürfe und -rollen, deren Ausformung eng an die ‚Vorgaben‘ bzw. Konventionen des jeweiligen Gattungstyps gebunden sind.175 Denn sowohl für den Bereich des höfischen Romans mit seinen Ich-­Erzähler-­Entwürfen in prolog- und epilogartigen Textpartien, die in Kombination mit Exkursen, Erzählereinschüben und -kommentaren eine selbstbewusste Autorrolle profilieren 176 als auch für den Minnesang 170 Vgl. zu „récriture incessante“ Cerquiglini: Elóge de la variante, S. 111: „Or l’écriture médiévale ne produit pas de variantes, elle est variances. La récriture incessante à laquelle est soumise la textualité médiévale, l’appropriation joyeuse dont elle est l’objet, nous invitent à faire un hypothèse forte: la variante n’est jamais ponctuelle.“ Nichols bezieht sich explizit auf Cerquiglinis Diktum. Vgl. Nichols: Philology in a Manuscript Culture, S. 1. 171 Vgl. Cerquiglini: Elóge de la variante, S. 25: „L’auteur n’est pas une idée médiévale.“ Vgl. Stackmann: Neue Philologie, S. 400. Schnell: Was ist neu an der ‚New Philology‘?, S. 88: „Da er nun als charakteristisch für das 19. und 20. Jahrhundert den einen authentischen, autorisierten, geschlossenen Text ansieht, kann er einen mittelalterlichen Text nur als das andere denken, eben als nicht-­authentischen, nicht autorisierten Text. Für einen solchen unfesten Text kann es aber nach Cerquiglini keinen Autor geben.“ Vgl. Strohschneider: Situationen des Textes, S. 65. 172 Vgl. Stackmann: Neue Philologie, S. 403 f. Vgl. Schnell: Was ist neu an der ‚New Philology‘?, besonders S. 90 – 95. 173 Vgl. Schnell: Was ist neu an der ‚New Philology‘?, S. 89 – 92. Vgl. für den Bereich der Frauenmystik: Bürkle: Die Offenbarungen der Margareta Ebner, S. 79 – 103, die das Interesse einer Zuschreibung von Autorschaft für die Offenbarungen der Margareta Ebner anhand der Nachträge und Zusätze der ältesten Handschrift M aus dem Dominikanerinnenkloster Maria Medingen nachweist. Vgl. Nemes: Von der Schrift zum Buch, besonders S. 64 – 67 und S. 309 ff. zur Autorkonstitution des FL. 174 Strohschneider: Situationen des Textes, S. 68. 175 Vgl. Ursula Peters: Hofkleriker – Stadtschreiber – Mystikerin. Zum literarischen Status dreier Autorentypen. In: Autorentypen. Hrsg. von Walter Haug u. a., Tübingen 1991 (Fortuna Vitrea), S. 29 – 49. 176 Vgl. zum Begriff der Autorrolle aus einer erzähltheoretisch orientierten Perspektive, Warning: Formen narrativer Identitätskonstitution, besonders S. 574 ff. Vgl. für den Bereich der lateinischen Literatur des Hochmittelalters, Benedikt Konrad Vollmann: Autorrollen in der lateinischen Literatur des

Narration und Autorschaft | 47 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

mit seinen prononcierten Ich-­Reden, der Inszenierung von Literaturfehden und der Zuordnung zu einem Autornamen in den drei großen Liederhandschriften lässt sich Cerquiglinis Behauptung kaum halten.177 Allerdings merkt Peter Strohschneider im Hinblick auf den Aspekt eines aus den Texten ‚sprechenden‘ Autorbewusstseins und der Ausformung einer Autorrolle 178 an, dass die genannten Beispiele nicht als Formen auktorialer Textautorisation betrachtet werden müssen, sondern vielmehr eine in verschiedene Autorentypen ausdifferenzierte, textuelle Umsetzung von Autorschaft repräsentierten.179 Auktorialen Absichten steht er eher skeptisch gegenüber: „Dass nämlich etwa Autographen überliefert sind und Urheber verändernd in Handschriften eingegriffen haben, indiziert zunächst gerade die Variabilität auf handschriftlicher Ebene, belegt aber noch keineswegs, dass ‚Autoren‘ eigenhändig die Prozesse des Abschreibens und damit der mouvance, vielleicht der Textverbesserung autoritatitv ein für alle Mal hätten abschließen wollen.“180 Wohl aber darf man mit Jürgen Wolf anhand der in vielfältiger Form überlieferten Autorbemerkungen vermuten, dass die Figur des Autors in volkssprachlichen Texten zunehmend eine Präsenz als „wirkende und vermittelnde Größe“ gewinnt.181 Denn im 13. und 14. Jahrhundert thematisieren ganz u ­ nterschiedliche 13. Jahrhunderts. In: Literarisches Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Matthias Meyer und Hans-­Jochen Schiewer. Tübingen 2002, S. 813 – 828. 177 Vgl. Stackmann: Neue Philologie, S. 403. Schnell: Was ist neu an der ‚New Philology‘? S. 71: „Für uns ist freilich festzuhalten, dass die drei großen Liederhandschriften (A, B, C) das Einteilungskriterium ‚Autor‘ gewählt haben. Die Vorstellung von einem für sein Œuvre verantwortlichen Autor darf und muß also vorausgesetzt werden. Wer die Existenz von Autorinstanzen, Autorprofilen, ­Autorintentionen für das Mittelalter generell bestreitet, ignoriert diesen Befund.“ Vgl. zur Relation von Autorname und Autorschaft, Monika Unzeitig: Autorname und Autorschaft. Bezeichnung und Konstruktion in der deutschen und französischen Erzählliteratur des 12. und 13. Jahrhunderts. Berlin, New York 2010, besonders S. 5 ff. und S. 12 ff. Unzeitig plädiert für eine „Historisierung und Ausdifferenzierung des Autorbegriffs“ (S. 6), die sich von der problematischen Sicht auf den biographischen Autor als Größe auf die Autorfunktion und dessen textintern entfaltete Präsenz in Autordiskursen konzentriere. Vgl. Klaus Grubmüller: Überlieferung – Text – Autor. In: Die Präsenz des Mittelalters in seinen Handschriften. Ergebnisse der Berliner Tagung in der Staatsbibliothek zu Berlin 6. – 8. April 2000. Hrsg. von Hans-­Jochen Schiewer und Karl Stackmann. Tübingen 2002, S. 5 – 17. Vgl. auch die Ausführungen von ­Thomas Bein: Autor – Autorisation – Authentizität. In: Autor – Autorisation – Authentizität. Berlin 2004, S. 19 zur Absage an eine biographische Verortung des Autors. Vgl. Horst Wenzel: Autorenbilder. Zur Ausdifferenzierung von Autorfunktion in mittelalterlichen Miniaturen. In: Elizabeth Andersen [u. a.] (Hrsg.): Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995. Tübingen 1998, S. 1 – 28. Ursula Peters: Ordnungsfunktion – Textillustration – Autorkonstruktion. Zu den Bildern der deutschen und romanischen Lieder­handschriften. In: ZfdA 130 (2001), S. 392 – 430. 178 Vgl. Stackmann: Neue Philologie, S. 403. 179 Vgl. Strohschneider: Situationen des Textes, S. 68. Strohschneiders Kritik zu Stackmann, S. 65 – 69. 180 Strohschneider: Situationen des Textes, S. 68, Anm. 29. 181 Jürgen Wolf: Buch und Text. Literatur- und kulturhistorische Untersuchungen zur volkssprachlichen Schriftlichkeit im 12. und 13. Jahrhundert. Tübingen 2008, S. 286.

48 | Einleitung © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Texte aus dem Bereich der weltlichen und religiösen Literatur die Problematik möglicher Eingriffe und Veränderungen durch Leser und Schreiber.182 Auch wenn diese ‚Warnungen‘ vor ‚unautorisierten‘ Eingriffen zu dem breiten Spektrum ganz unterschiedlich ausfallender literarischer Entwürfe von Autorschaft und Textautorisation 183 gezählt werden können, dokumentieren sie doch ein deutliches Bewusstsein für die verschiedenen Möglichkeiten einer literarischen Inszenierung von „Autor-­Text-­Relationen“, die eher im Gegensatz zu der 182 Vgl. etwa Chaucers berühmte Adressierung der Schreiberfigur Adam, in: „Chaucers Wordes Unto Adam, His Owne Scriveyn“. In: The Riverside Chaucer. Third Edition. Hrsg. von Larry D. Benson. Oxford 2008, S. 650: Adam scriveyn, if ever it thee bifalle / Boecce or Troylus for to wryten newe, / Under thy long lokke thou most have the scalle / But after my making thow wryte more trewe; / So ofte adaye I mot thy werk renewe / It to correcte and eke to rubbe and scrape, / And als is thorugh thy negligence and rape. Vgl. auch den Prolog zum Heinrich-­Seuse-­Exemplar, Bihlmeyer, S. 4, 1 – 8: Wan aber daz selb bchli und etlichú me siner bcher nu lange in verren und in nahen landen von mengerley unkunnenden schribern und schriberin ungantzlich abgeschriben sind, daz ieder man dar z leite und dur von nam nach sinem sinne, dar umb hat sú der diener der ewigen wisheit hie z samen gesezzet und wol gerihtet, daz man ein gereht exemplar vinde nach der wise, als sú ime dez ersten von gote in luhten. Vgl. auch die epilogartige Textpartie zum „Büchlein der ewigen Weisheit“, Bihlmeyer, S. 325, 18 – 28: Swer dis bchli, daz mit fliss geschriben und geriht ist, well ab schriben, der sol es alles sament eigenlich an worten und sinnen schriben, als es hie stat, und nút dar z noh dur von legen noh dú wort verwandlen, und sol es denne einest oder zwirunt hier ab d­ urnehtklich rihten, und sol nút sunders dar us schriben, denne die hundert betrahtung ze hindrost, die schrib dar us, ob er well. Wer im út anders tt, der sol vúrchten gottes rach, wan er berbet got des wirdigen lobes und dú menschen der bessrung und den, der sich dar z gearbeit hat, siner arbeit. Vnd dar vmb, wer es hier umb nit well lassen, das mss gerochen werden von der EWIGEN WISHEIT. In seiner Monographie „Buch und Text“ bietet Jürgen Wolf weitere Beispiele aus der volkssprachlichen Literatur: die Reimvorrede des im 13. Jahrhundert entstandenen Rechtstexts „Sachsenspiegel“ von Eike von Repgow, zitiert nach der Ausgabe Eike von Repgow: Der Sachsenspiegel. Hrsg. von Clausdieter Schott. Zürich, 1984, S. 221 – 224: Grot angest geit mek an / ek vorrchte, dat manich man / dit buk wille meren / unde beginne recht verkeren. Vgl. Wolf: Buch und Text, S. 285. Die Warnung aus der Perspektive des sprechenden Buchs in Wirnts von Grafenberg Prolog zum „Wigalois“, vgl.: Wirnt von Grafenberg: Wigalois. Text der Ausgabe von J. M. N. Kapteyn. Übersetzt, erläutert und mit einem Nachwort versehen von Sabine Seelbach und Ulrich Seelbach. Berlin, New York 2005, S. 3: Wer hât mich guoter ûf getân? / sî ez iemen der mich kan / beidiu lesen und verstên / der sol genâde an mir begên / ob iht wandels an mir sî / daz er mich doch lâze vri / valscher rede: daz êret in. / ich weiz wol daz ich niene bin / geliutert und gerihtet / noch sô wol getihtet / michn velsche lîhte ein valscher man / wan sich niemen vor in kan / behüeten wol, swie rehte er tuot. Wolf: Buch und Text, S. 291. Konrads von Heimesfurt Prolog zu dem geistlichen Versepos „Urstende“, vgl. Konrad von Heimesfurt: „Unser vrouwen hinvart“ und „Diu Urstende“. Hrsg. von Kurt Gärtner und Werner J. Hoffmann, Tübingen, 1989 (Altdeutsche Textbibliothek 99), S. 14 – 18: daz mir iemen iht dar abe / mit pumz oder mit mezzer / schabe und mir bezzer / in dem margine dâ bî / des in dem blate ­vergezzen sî. Vgl. Wolf: Buch und Text, S. 292. 183 Vgl. Wolf: Buch und Text, S. 311. So stellt Wolf heraus, dass man in der volkssprachlichen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts einer Vielzahl von teilweise in Opposition zueinander stehenden Autorenund Schreibertypen begegne, wie etwa dem „pragmatisch-­mechanischen Kopisten, dem intelligenten/ kompetenten Autor-­Schreiber und den fürsorglichen Skriptorien.“ Die Differenzen dieser Autoren- und Schreiberbilder ­seien primär dem Status der Texte geschuldet.

Narration und Autorschaft | 49 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

von den Vertretern der New Philology angesetzten Konzeption einer prinzipiellen ‚Offenheit‘ von Texten zu sehen ist.184 Für die frauenmystische Viten- und Offenbarungsliteratur, die sowohl textintern als auch oftmals auf der Ebene der Handschrift in paratextuellen Überschriften, Nachträgen und Zusätzen den Anspruch auf den Status einer göttlichen und teils sogar eigenhändig verfassten Offenbarungslehre erhebt, gelten allerdings andere Ausgangsbedingungen hinsichtlich der Textüberlieferung als für den Bereich der weltlich-­höfischen Literatur. Religiöse Erbauungstexte weisen eher eine gewisse Konstanz in der handschriftlichen Überlieferung auf,185 da Rezipienten und Schreiber ihnen Wertschätzung und Verehrung entgegenbringen, die in einer besonders sorgfältigen Anlage und Abschrift der Codices zum Ausdruck kommen kann, wie es etwa die von den englischsprachigen Kartäusern tradierten Mystikhandschriften berühmter Autoren wie Walter Hilton und Richard Rolle nahelegen, die weiter unten im Kontext der Mitüberlieferung der Kempe-­Vita diskutiert werden sollen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass religiöse Literatur von Bearbeitungs-, Ab- und Umschreibprozessen ausgenommen ist, wie es etwa die rubrizierten Marginaleinträge in der Kempe-­Handschrift und die Druckfassungen aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts belegen, die Exzerpte aus der Kempe-­Vita „retextualisieren“186 und im Vergleich mit der Buchfassung programmatisch neu ausrichten, wie zu zeigen sein wird. Die Druckfassungen binden die Textexzerpte explizit an eine namentlich benannte und lokalisierbare Autorperson zurück, die sich auf die wirkungsmächtige ‚Präsenz‘ der Autorinnenfigur in der Buchfassung zurückführen lässt. Die Genese der Autorsignatur, die Wirkung der textintern entfalteten Autorinnenfigur in der Überlieferung und Rezeption, hat zuletzt Balázs Nemes am Beispiel der Überlieferungs- und Textgeschichte des „Fließenden Lichts“ der Mechthild von Magdeburg eindrucksvoll nachgewiesen.187 Ihr liegt das Konzept einer „delegierten Autor-­auctoritas“ zugrunde, wie es Susanne Bürkle als Typus einer mystisch begnadeten Autorfiguration am Beispiel der „Offenbarungen“ der

184 Gegen eine Generalisation der ‚Offenheit‘ von Texten argumentiert Rüdiger Schnell auf der Ebene der handschriftlichen Überlieferung: „Mittelalterlichen Texten prinzipiell eine fest fixierte Gestalt abzusprechen und lediglich den Status der variance zuzugestehen, wird der Überlieferungswirklichkeit schon deshalb nicht gerecht, weil bei unikal überlieferten Werken für uns eine variance nicht erkennbar ist.“ Rüdiger Schnell: Autor und Werk im deutschen Mittelalter. Forschungskritik und Forschungsperspektiven. In: Neue Wege der Mittelalter-­Philologie. Landshuter Kolloquium 1996. Hrsg. von J­ oachim Heinzle [u. a.]. Berlin 1998 (Wolfram Studien XV), S. 12 – 73, hier S. 41. 185 Vgl. Strohschneider: Situationen des Textes, S. 68. Vgl. auch Wolf: Text und Buch, S. 285. 186 Vgl. Joachim Bumke/Ursula Peters (Hrsg.): Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur. ZfdPh Sonderheft 124 (2005). Der Begriff der Retextualisierung bezeichnet die für mittelalterliche Literatur charakteristische „kontinuierliche Umschreibpraxis“ (S. 2), wie sie in Neufassungen, Übersetzungen und Bearbeitungen von Texten und der Aufnahme von Texten in Exzerptsammlungen zum Ausdruck kommt. 187 Vgl. Nemes: Von der Schrift zum Buch, besonders S. 317 – 326.

50 | Einleitung © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Dominikanerin Margareta Ebner bestimmt hat.188 Die v­ orliegende Arbeit versucht für den Kempe-­Text zu zeigen, dass die Präsenz dieser textinternen Autorinnenfigur, die Gott zur Aufzeichnung ihrer Gnadenerfahrungen erwählt hat, von ihrer narrativen Präsentation abhängig ist. Die Untersuchung gliedert sich in vier Kapitel: In Kapitel 2 „Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte“ steht die Materialität der Kempe-­Handschrift im Zentrum, insbesondere im Hinblick auf die detaillierten Lesereinträge, die Aufschluss über ein historisches Textverständnis bieten können. Die in brauner und roter Tinte vorgenommenen Marginaleinträge, die kurz nach der Entstehung der Handschrift von der Mitte des 15. bis ins 16. Jahrhundert reichen, lassen bestimmte Lektüreinteressen und eine allmähliche Anreicherung zu ‚Annotationsclustern‘ im Rahmen einer umfassenden Liebestheologie erkennen, wie sie die beiden mystisch begabten Kartäuserautoren Richard Methley und John Norton aus dem Kloster Mount Grace in ihren Traktaten entfalten. Bisher hat die Kempe-­Forschung die Überlieferungsdaten der Handschrift nur sehr vereinzelt in den Blick genommen. Die These einer verloren geglaubten ‚Originalschrift‘, die eine der Grundannahmen der anglis­tischen Forschungsdiskussion darstellt, soll überlieferungsgeschichtlich problematisiert werden. Anhand der spezifischen Materialpräsentation der beiden Druckfassungen kann eine Konkretisierung mystischer Autorschaft im Laufe der Überlieferungs- und Textgeschichte der Kempe-­Vita aufgezeigt und ihre Einbindung in die Gebrauchs- und Funktionszusammenhänge eines bestimmten Typs religiöser Erbauungsliteratur herausgearbeitet werden, an deren Sammlung, Übersetzung und Verbreitung die englischsprachigen Kartäuser intensiv beteiligt waren. Ihre akribischen Textstudien, die sich exemplarisch anhand der Marginaleinträge in der Kempe-­Handschrift und in den beiden Londoner Sammelhandschriften London, British Library, MS Harley 2373 und London, British Library, Add MS 37790 erschließen lassen, deuten auf offizielle literarische Aktivitäten im Bereich religiös-­mystischer Literatur, in deren Kontext der Kempe-­ Text situiert werden kann. Auf der Basis dieser überlieferungs- und funktionsgeschichtlichen Bestimmung soll der Fokus in Kapitel 3 „Narration und Autorschaft“ auf die Analyse der Buchentstehungs­ geschichte und der Erzählerfigurationen gerichtet werden, um texttypenspezifische Erzählverfahren, die Funktion der Erzählinstanz und die narrative Präsentation gottinspirierter Autorschaft näher zu beleuchten. Wie es zu zeigen gilt, ist die Erzählinstanz innerhalb der Kempe-­Vita als Autorisierungsinstanz angelegt. Ein erzähltheoretisch orientierter Verständniszugang kann aufzeigen, dass die These einer vermeintlichen ‚Original- oder Urschrift‘ einzig auf textinternen Angaben der komplex narrativierten Buchentstehungsgeschichte beruht. Das Kapitel 4 „Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen“ eröffnet eine vergleichende Perspektive auf die Vitentexte 188 Vgl. Bürkle: Die Offenbarungen der Margareta Ebner, S. 101.

Narration und Autorschaft | 51 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

der Dominikanerinnenklöster Maria Medingen und Engelthal. Es zeigt sich, dass die Frauen­viten texttypenspezifische Erzähler- und Rollenfigurationen entwerfen, die jedoch in den einzelnen Texten individuell ausdifferenziert sind und auf diese Weise ein mögliches Spektrum heilsgeschichtlich-­transzendierender Erzählweisen bieten. Abschließend sollen ausblicksartig weiterführende Fragestellungen zur These von eigenhändig geschriebenen ‚Originalaufzeichnungen‘ am Beispiel der Nürnberger Laienschwester Katharina Tucher diskutiert werden.

52 | Einleitung © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

2 Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte

2.1 Die Handschrift London, British Library, Add MS 61823 Bei der Frage nach dem Sitz im Leben der Kempe-­Vita, nach den materiellen Voraussetzungen ihrer Entstehung, Rezeption und Überlieferung sowie ihrer Eingebundenheit in bestimmte Gebrauchs- und Funktionszusammenhänge ist die unikal überlieferte Handschrift London, British Library, Add MS 61823 von zentraler Bedeutung. Anhand der Schriftart und eines in die Handschrift eingebundenen lateinischen Briefes kann sie auf die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts datiert werden.1 Die Kapitelüberschrift „Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte“ und die folgenden Ausführungen zur Überlieferungs- und Textgeschichte der Kempe-­Vita orientieren sich an dem „überlieferungsgeschichtlich-­gebrauchsfunktionalen Frageansatz“2 (Georg Steer), wie ihn die Würzburger Forschergruppe für deutsche Prosa des Spätmittelalters um Kurt Ruh seit den 1980er Jahren in ihren Forschungsarbeiten programmatisch formuliert hat.3 Die Kategorien ‚Funktion‘ und ‚Gebrauch‘ ermöglichen,4 die Anfertigung der Kempe-­Handschrift und ihren möglichen Verwendungszweck genauer zu bestimmen, um ein historisches Textverständnis zu erschließen. Ausgehend von den kodikologisch-­paläographischen Untersuchungsergebnissen der älteren Kempe-­Forschung sollen Fragen nach der Provenienz 5 der Kempe-­Handschrift und nach ihrem vermuteten Produktionsort, zu dem die neuere Forschung durchaus kontroverse Überlegungen anstellt, kritisch diskutiert werden. Die Entstehungsumstände der Handschrift, ihre Tradierung in einem Kartäuserkloster und die Überlegungen der Forschung 6 zu den Überlieferungswegen 1 2 3 4 5

6

Vgl. Add MS 61823, fol. vii. r. Ich danke Justin Clegg, British Library, sehr herzlich dafür, dass er mir die Kempe-­Handschrift zu Untersuchungszwecken in der British Library zur Verfügung gestellt hat. Bei Zitaten aus der Handschrift Add MS 61823 wurden gängige Abkürzungen stillschweigend aufgelöst. Georg Steer: Gebrauchsfunktionale Text- und Überlieferungsanalyse. In: Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. Beiträge der Würzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung. Hrsg. von Kurt Ruh. Tübingen 1985 (Texte und Textgeschichte, Würzburger Forschungen 19), S. 5 – 37, hier S. 8. Vgl. Ruh: Überlieferungsgeschichte mittelalterlicher Texte als methodischer Ansatz zu einer erweiterten Konzeption von Literaturgeschichte, S. 262 – 273. Vgl. auch die Ausführungen zu einer „textorientierten Überlieferungsgeschichte“ (Georg Steer, 1985, S. 13) in der Einleitung der vorliegenden Arbeit. Vgl. Steer: Gebrauchsfunktionale Text- und Überlieferungsanalyse, S. 32 f. Der Begriff ‚Provenienz‘ meint hier die Herkunft der Handschrift im Sinne nachweisbarer Besitzverhältnisse, die Aufschluss über mögliche Leser, Zeit und Ort der Rezeption und Wirkungsgeschichte des Textes bieten können. Vgl. zu den aus der Handschrift erschließbaren Überlieferungsdaten Ruh: Überlieferungsgeschichte mittelalterlicher Texte als methodischer Ansatz zu einer erweiterten Konzeption von Literaturgeschichte, S. 267 – 268. Vgl. Kelliher: The Rediscovery of Margery Kempe, besonders S. 259. Charity Scott Stokes: Margery Kempe. Her Life and the Early History of her Book. In: Mystics Quarterly, Volume 25 (1999), No. 1/2,

Die Handschrift London, British Library, Add MS 61823 | 53 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

sollen eingehend beleuchtet werden, um damit die überlieferungsgeschichtliche Grundlage einer literaturwissenschaftlichen Einschätzung des „Book of Margery Kempe“ zu schaffen, wie es die aktuellen Diskussionen einer Material Philology vorsehen.7 In ­diesem text- und überlieferungsgeschichtlichen Kontext wird auch die wirkungsmächtige Forschungsprämisse einer verloren geglaubten ‚Originalfassung‘ problematisiert werden. Im zweiten Teil des vorliegenden Kapitels liegt der Fokus auf der drucktechnischen Überlieferung aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in der sich nicht nur ein verstärktes Interesse an einer autorzentrierten Textüberlieferung, sondern auch eine Art Retextualisierung als Erbauungsbuch abzeichnet. Im Anschluss daran wird die Mitüberlieferung der von Wynkyn de Worde im 16. Jahrhundert publizierten Erbauungsdrucke skizziert, die die Gebrauchsfunktion der Kempe-­Druckfassung näher eingrenzen können.8 Als dritter und abschließender Punkt wird die Aufnahme des gedruckten Kempe-­treatyse in die Druckanthologie Henry Pepwells aus dem Jahr 1521 diskutiert, die, wie sich zeigen lässt, programmatisch die Ausbildung einer ‚privaten‘ Andachts- und Frömmigkeitspraxis anvisiert und durch ihre spezi­ fische Materialpräsentation innerhalb der kontemplativ-­mystischen Erbauungsliteratur der englischsprachigen Kartäusermönche situiert werden kann. Zunächst muss allerdings die Handschrift als Überlieferungsträger genauer vorgestellt werden: Die paläographische Untersuchung der Schrift und die Bestimmung der Wasserzeichen bestätigen den Entstehungszeitraum der Kempe-­Handschrift um das Jahr 1440.9 Damit liegt ein Überlieferungsträger vor, der nicht sehr viel später als der im Text benannte Zeitraum von 1436 – 1438 entstanden sein kann.10 Die Tradierung und Rezeption sind an den englischsprachigen Kartäuserorden und ordensübergreifende literarische Netzwerke S. 9 – 68, besonders S. 47. Anthony Bale: Woman in White. In: The Times Literary Supplement, 19. Dezember 2014, S. 16 f. The Book of Margery Kempe. A New Translation by Anthony Bale. Oxford 2015, S. xxxiv–xxxv. 7 Vgl. die Ausführungen zum Ansatz der Material Philology in der Einleitung der vorliegenden Arbeit. 8 Der Begriff der ‚Mitüberlieferung‘ bezeichnet nach Schnell die Zusammenstellung von Texten in einer Handschrift unter bestimmten „Aufnahme- bzw. Anordnungsprinzipien“. Vgl. Bernhard Schnell: Zur Bedeutung der Bibliotheksgeschichte für eine Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte. In: Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung, S. 221 – 230, hier S. 221. Schnell weitet diesen Begriff auf die Sammel- und Gruppierungsprinzipien in Bibliotheken aus, die einem Codex einen Platz in einer bestimmten Überlieferungsgemeinschaft zuweisen und Aufschluss über seine Gebrauchsfunktion bieten können. Er erprobt diesen Ansatz an der Bibliothek des mittelfränkischen Augustinerchorherrenstifts Langenzenn. 9 Vgl. BMK, Einleitung, S. xlv: „It [the letter, SKR] shows that the manuscript could not have been bound before 1440. And, although Salthows might have written the manuscript some time before it was bound, the chances are that only a short period elapsed between the completion of his task and the binding.“ 10 Eine textimmanente Angabe im ersten Prolog nennt 1436 als Jahr der schriftlichen Abfassung, vgl. BMK, S. 5, 29 – 32. Das zweite Proömium präzisiert den Schreibbeginn, BMK, S. 6, 21 – 24: And so he gan to wryten in þe зer of owr Lord a m.cccc.xxxvj on þe day next aftyr Mary Maudelyn aftyr þe informacyon of þis creatur. Vgl. auch die Einleitung von Meech, S. vii zum Festtag der Heiligen Maria Magdalena am 23. Juli.

54 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

gebunden, da die Handschrift aus dem Buchbesitz der im Jahr 1397 gegründeten Kartause Mount Grace in Northallerton, East Riding of Yorkshire stammt,11 wie aus dem Besitzereintrag des 15. Jahrhunderts auf fol. iv.v hervorgeht: Liber mo[n]t[i]s gr[aci]e. This boke is of mo[u]ntegrace.12 Wenn im Folgenden von diesen ordensübergreifenden literarischen Netzwerken und einer affektiven christuszentrierten Frömmigkeit 13 die Rede ist, so geschieht dies im Rückgriff auf den zur Vorsicht mahnenden Beitrag von Nigel Palmer zu „ordensübergreifenden literarischen Beziehungen“ und einer Trägerschicht,14 die nicht exklusiv einem Einzelorden zuordbar sei, wie er es im Hinblick auf das volkssprachige Schrifttum der Zisterzienser herausgearbeitet hat. Bei den anschließenden Überlegungen soll es daher nicht darum gehen, eine ausschließlich den Kartäusern eigene Spiritualität, Annotierungs- und Literaturpraxis zu postulieren, sondern das institutionelle, monastisch geprägte Entstehungs- und Rezeptionsumfeld des Kempe-­Textes zu konturieren, das eher gegen die von der anglistischen Forschung immer wieder vorgebrachte These der Textgenese 11 Vgl. zum Gründungsjahr 1397 und zur Geschichte der Klostergründung Margaret Thompson: The Carthusian Order in England. Published for the Church Historical Society. London, New York, Toronto 1930, S. 229 – 236. James Hogg: Mount Grace Charterhouse and Late Medieval English Spirituality. In: Collectanea Cartusiensia 3. Hrsg. von James Hogg. Salzburg 1980 (Analecta Cartusiana 82:3), S. 3 – 5. Glyn Coppack/Mick Aston: Christ’s Poor Men. The Carthusians in England. Stroud, Gloucestershire 2002, S. 42 f. Vgl. neuerdings Michael Sargent: Nicholas Love as Ecclesiastical Reformer. In: Church History and Religious Culture 96 (2016), S. 40 – 64, besonders S. 41 – 44. 12 Vgl. Meech BMK, Einleitung, S. xxxiii. 13 Vgl. Klaus Schreiner/Marc Müntz (Hrsg.): Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-­soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen. München 2002. Dieser Sammelband ist der Untersuchung „der sozialen, visuellen und körperlichen Dimensionen der Frömmigkeit“ (Einleitung, S. 14) gewidmet. Die Merkmale dieser Spiritualität s­ eien eine affektive, körperbezogene Passions- und Christusfrömmigkeit im Rahmen „einer Frömmigkeitspraxis, die auf das mystische Einswerden mit Gott […] in der Andacht“ (Einleitung, S. 25) ausgerichtet sei. 14 Nigel Palmer: Deutschsprachige Literatur im Zisterzienserorden. Versuch einer Darstellung am Beispiel der ostschwäbischen Zisterzienser- und Zisterzienserliteratur im Umkreis von Kloster Kaishaim im 13. und 14. Jahrhundert. In: Zisterziensisches Schreiben im Mittelalter. Das Skriptorium der Reiner Mönche. Beiträge der internationalen Tagung im Zisterzienserstift Rein 2003. Hrsg. von Anton Schob und Karin Kranich-­Hofbauer. Bern 2005 (Jahrbuch für Internationale Germanistik, R. A. Band 71), S. 231 – 266, hier S. 241. „Wenn literaturhistorische Zusammenhänge bei dieser Art von Schrifttum vorwiegend auf der Ebene der Überlieferung und ihrer Träger zu suchen sind, dann sollten wir uns davor hüten, diese Trägerschicht in einem exlusiven Sinne als franziskanisch oder zisterziensisch zu definieren. Die literarischen Beziehungen sind ordensübergreifend, nicht ordensspezifisch.“ Vgl. die Ausführungen von René Wetzel, der die Vorstellung und terminologische Festlegung einer klar voneinander abgegrenzten Franziskaner-, Dominikaner- oder Zisterzienserspiritualität im Rückgriff auf den genannten Forschungsbeitrag von Palmer problematisiert, René Wetzel: Spricht maister Eberhart. Die Unfestigkeit von Autor, Text und Textbausteinen im Cod. Bodmer 59 und in der Überlieferung weiterer mystischer Sammelhandschriften des 15. Jahrhunderts. In: Kulturtopographie des deutschsprachigen Südwestens im späteren Mittelalter. Studium und Texte. Hrsg. von Barbara Fleith und René Wetzel. Berlin 2009 (Kulturtopographie des alemannischen Raums Band 1), S. 301 – 327, hier S. 314 f. und S. 322 f.

Die Handschrift London, British Library, Add MS 61823 | 55 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

in einem weltlich-‚privaten‘ Kontext spricht.15 Eine sich zumindest punktuell abzeichnende Interessenlage muss nicht unbedingt im Gegensatz zu einer ordensübergreifenden Konzeptionalisierung der Spiritualität und Erbauungsliteratur stehen, wie sie die neuere religions- und spiritualitätsgeschichtliche Forschung herausgearbeitet hat.16 Zuletzt haben Nigel Palmer und Jeffrey Hamburger den Einfluss der Kartäuser für die Produktion des spätmittelalterlichen „Gebetbuch der Ursula Begerin“ in detailreichen kunst- und literaturgeschichtlichen Analysen im Rahmen der kritischen Erstedition nachweisen können.17 Spezifische Interessen der Kartäusermönche und ihre Einwirkung auf die Gestaltung des Gebetbuchs indizierten die nachträgliche Hinzufügung einer Illustration, die den berühmten Kartäuserbischof und Heiligen Hugh of Lincoln (ca. 1140 – 1200) auf fol. 159v zeigt und mit einem entsprechenden Gebet kombiniert ist, die Zentrierung auf Meditationen über das Leben Christi, die direkt auf die Vita Christi des Straßburger Kartäuserautors Ludolf von Sachsen 18 zurückgehe und nicht zuletzt der religiöse Austausch z­ wischen dem Reuerinnenkonvent und der Straßburger Kartause, wie er exemplarisch in der Person des 15 Vgl. etwa Rebecca Schoff, die die Textentstehung der Kempe-­Vita „in the secular world in which it was originally composed“ ansetzt, Schoff: Three Medieval Authors, S. 129. Vgl. auch die Ausführungen in der Einleitung 1.1 „Die Wiederentdeckung der Kempe-­Handschrift und lebensweltliche Ausdeutung“ und „1.2 Positionen und Problemfelder der Kempe-­Forschung vor dem Hintergrund der germanistischen Frauenmystikforschung“. 16 Vgl. die allgemein religionsgeschichtliche Untersuchung von Arnold Angenendt: Geschichte der Religiosität im Mittelalter. Darmstadt 1997, S. 14 – 17 zur „Affektivität und Leiborientierung einer neuen Spiritualität“ seit dem 12. Jahrhundert. Ders.: Grundformen der Frömmigkeit im Mittelalter. München 2004 (Enzyklopädie Deutscher Geschichte Band 68) als grundlegender Überblick über Elemente und Erscheinungsformen mittelalterlicher Religiosität und deren Erforschung. Eine kritische Reflektion des Begriffs ‚Spiritualität‘ im Kontext der Frage nach einer ordensspezifischen Spiritualität bietet Ulrich Köpf: Zur Spiritualität der frühen Kartäuser und Zisterzienser, hier S. 216 – 217. Vgl. auch René Wetzel: Spricht maister Eberhart, S. 323 der vor der rigiden Vorstellung einer Ordensspiritualität in einem exklusiven Sinne warnt, aber zugleich im Hinblick auf die Retextualisierungstechniken in der mystisch-­erbaulichen Sammelhandschrift Cologny-­Genf, Bibl. Bodmeriana, Cod. Bodmer 59 aus dem 2. und 3. Drittel des 15. Jahrhunderts bemerkt, dass die in der Handschrift vorliegende „Verbindung von praktischer und spekulativer Mystik, von Wissenschaft (cf. Quaestiones) und Betrachtung, von Erbauung und Belehrung und Versenkung etwas von einem Interesse verrät, das besonders die Kartäuser charakterisiert.“ 17 Vgl. Jeffrey F. Hamburger/Nigel F. Palmer: The Prayer Book of Ursula Begerin. Volume 1 Art-­Historical and Literary Introduction. Zürich 2015. Dabei handelt es sich um die unikal überlieferte Handschrift Bern, Burgerbibliothek, Cod. 801, die ein Gebetbuch aus dem Besitz der Straßburger Reuerin Ursula Begerin tradiert, das zunächst als autonomer Bilderzyklus zur Lehre, Lebens- und Leidensgeschichte Christi z­ wischen 1470 – 1480 vermutlich von einem Kartäuser zu einem Gebetszyklus mit Gebetstexten erweitert worden ist. Vgl. besonders S. 465 zur Datierung der Aus- bzw. Umgestaltung zu einem Gebetbuch, zum Einfluss kartäusischer Spiritualität vgl. das Unterkapitel „The Strasbourg Carthusians and the Literary Context in Late-­Medieval Carthusian Literature“, S. 479 – 487, besonders S. 480 – 483. 18 Vgl. die Textedition der Vita Christi Ludolfs von Sachsen von L. M. Rigollot (Hrsg.): Ludolphus de Saxonia. Vita Jesu Christi 4. Paris, Rome 1870.

56 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Theologen und Kartäuserpräbendarius Engelinus (oder Eg(g)eling) Becker von Braunschweig 19 greifbar werde, der zeitweilig als Beichtvater des Reuerinnenklosters fungiert habe.20 Und auch die Londoner Kempe-­Handschrift kann Aufschluss über s­ olche Anliegen, Interessen und Schwerpunktsetzungen bieten. Hope Emily Allen und Sanford B. Meech haben eine detaillierte Handschriftenbeschreibung unter paläographischen, text- und spiritualitätsgeschichtlichen Aspekten vorgenommen, wobei auch die beiden erhaltenen Druckfassungen des Kempe-­Textes in die Untersuchung mit eingeschlossen sind.21 Die Ausstattung der Handschrift ist relativ einfach,22 da sie nur vereinzelte Verzierungen wie rubrizierte Initialen aufweist, die als Kapiteleinteilung fungieren und den Beginn der Prologpartie, sowie die daran anschließende kurze Einführung, die einzelnen Kapiteleinteilungen der ‚Bücher‘ I und II und den letzten Sinnabschnitt markieren, den die Herausgeber mit Prayers of the Creature überschrieben haben. Demnach zeigt die Handschrift eine ordnungsfunktionelle Textsystematisierung, die auf einen gelehrten Kontext verweist. Die Londoner Kempe-­Handschrift besteht aus elf Lagen:23 Vor fol. 1r sind drei leere Blätter eingebunden und nach fol. 124 findet sich der oben erwähnte päpstliche Brief auf Pergament, der ebenfalls als Einzelblatt in die Handschrift integriert ist und offenbar als Nachsatzblatt dient.24 Im Rückgriff auf das Registrum Vaticanum 365, fol. 228r/v rekonstruiert Meech den Inhalt des Briefes folgendermaßen: Der päpstliche Protonotar Petrus de Monte 25 erteilt dem Vikar von Soham in der Nähe von Ely (eccle[s]ie de Sah[a]m iuxt[a] Ely Norwycen[sis] dioc[esis] ) eine Dispens, um einem Personenkreis universitäre Studien zu 19 Vgl. Ulrich Bubenheimer: Eg(g)eling Becker, 2VL, Band 1, 1978, Sp. 657 f. 20 Vgl. Jeffrey F. Hamburger/Nigel F. Palmer: The Prayer Book of Ursula Begerin, S. 463 zu Ludolfs von Sachsen Vita Christi als Quelle der Gebete; S. 464 und S. 479 zum Einfluss der Kartäuser, der in der Kombination von einem Gebet mit einer Illustration des Kartäuserheiligen Hugo von Lincoln evident werde und S. 480 – 483 zu Engelinus Becker von Braunschweig und zum besonderen Interesse an Meditationen über das Leben Christi. 21 Vgl. besonders das Kapitel „The Manuscript“ von Meech, BMK, Einleitung, S. xxxii–xlvi. 22 BMK, Einleitung, S. xxxiv. 23 Vgl. BMK, Einleitung, S. xxxii. Die Handschrift weist einen mittelalterlichen Einband mit Holzdeckeln auf, an die zwei Buchschließen angebracht waren. Die neuzeitlichen Vorsatzblätter fol. i.r–i.v tragen ein Exlibris des 18. Jahrhunderts mit dem Familienwappen Henry Bowdowns (geb. 1754). Vgl. den Eintrag im British Library Catalogue of Additions New Series, 1981 – 1985, Add MS 61823, S. 90 zur Foliierung und Lagenverteilung: fol. vii + 124 (fol. i und ii neuzeitliche Vorsätze zu einem Deckblatt aus Pergament; fol. iii, iv und vii mittelalterliche Vor- bzw. Nachsatzblätter aus Pergament; fol. v und vi Falze aus Pergament). Kollation: i12 (fol. 1 – 12), ii14 – 1 (fol. 13 – 25), iii12 – 1 (fol. 26 – 36), iv–xiii12 (fol. 37 – 96), ix12 – 2 (fol. 97 – 106), x10 (fol. 107 – 116), xi8 (fol. 117 – 124). 24 Vgl. London, British Library, Add MS 61823, fol. vii.r: Data London[ii] i[n] domib[us] n[ost]re residentie sub n[ost]ro maiori sigillo q[u]o vti[na]m i[n] talib[us] An[no] d[omi]ni Mill[es]i[m]oquadringentesimo quadragesimo decimo kal[endis]. Vgl. BMK, Appendix I, S. 352. 25 Vgl. London, British Library, Add MS 61823, fol. vii.r: Petrvs de Monte Protonotarius ap[osto]licus ­vtriusque Iuris Artiumq[ue] doctor In Regno Anglie etc Collector gen[er]alis et ap[osto]lice se[dis] […]. BMK, Appendix I, S. 351.

Die Handschrift London, British Library, Add MS 61823 | 57 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

ermöglichen.26 Der Briefadressat kann als William Begy bzw. Bogy identifiziert werden, der zunächst von ca. 1411/1412 bis 1417/1418 dem S. Benedict College in Cambridge angehört und am 8. April 1427 das Amt des Vikars in der St. Andrew’s-­Kirche in Soham angetreten hat.27 Charity Scott Stokes sieht in dem Briefadressaten den Besitzer der Kempe-­Handschrift, die während seines Universitätsstudiums den Weg in die Kartause Mount Grace gefunden habe.28 Allerdings lässt sich diese Überlegung nicht anhand eines Besitzereintrags oder historischer Dokumente verifizieren. Ob mit dem Vorhandensein des Briefes auf einen möglichen Rezipientenkreis innerhalb gelehrter Kreise geschlossen werden kann, lässt sich nicht zweifelsfrei erweisen, wohl aber, dass die Handschrift mit einer Person in Berührung gekommen sein muss, die Zugriff auf ein solches Briefdokument hatte. In d ­ iesem Sinne bietet der Brief zumindest ein Dokument der Rezeption. Jedenfalls deuten d ­ ieses lateinische Schriftstück und auch die Schreibsprache des Kempe-­ Codex auf die Region um East Anglia,29 zu der sowohl Bishop’s Lynn als auch Cambridge, Ely und Norwich an der Ostküste Englands gehören. Meech zufolge zeichneten sich Phonologie, Morphologie, Syntax, Vokabular und Schreibstil der Handschrift durch weitgehende Einheitlichkeit auf und mechanische Fehler, wie beispielsweise Buchstabenauslassungen, ­seien nur geringfügig feststellbar, was eine sorgfältige Anlage und Ausführung durch den

26 Vgl. Meech in BMK, Einleitung, S. xliii und S. xliv: „It is a letter […] quoting in full the faculty to him, whom the pope lately sent as his nuncio and collector to the above realms and island, to grant to fifteen persons there of that they may take for seven years, whilst studying at an university, the fruits etc. of any of their benefices, the daily distributions alone excepted, as if personally resident. Peter de Monte grants to the Vicar, a Bachelor of theology, the dispensation provided for in the faculty.“ Vgl. Kelliher: The Rediscovery of Margery Kempe, S. 259. Stokes: Margery Kempe: Her Life and the Early History of her Book, S. 47. 27 Vgl. zu William Begy/Bogy, BMK , Einleitung, S. xliv mit Hinweis auf den Forschungsbeitrag von Joseph R. Olorenshaw in Fenland Notes and Queries, Volume IV (1898), S. 249, der einen Auszug aus dem Testament William Begys/Bogys enthält, das auf den 23. April 1442 datiert ist. Vgl. auch Kelliher: The Rediscovery of Margery Kempe, S. 259 und S. 262 Anm. 5 mit Verweis auf Alfred B. Emden: A Biographical Register of the University of Cambridge to 1500. Cambridge 1963, S. 104 col. a. Stokes: Margery Kempe: Her Life and the Early History of her Book, S. 47 f. 28 Vgl. Stokes: Margery Kempe: Her Life and the Early History of her Book, S. 48: „If the vicar of Soham acquired the early copy of Margery Kempe’s book and took it with him when he left Soham to embark on a period of study at one of the universities, it could have found its way from Oxford or Cambridge to Mount Grace Priory, perhaps by way of the monastic foundations at Syon or Sheen.“ 29 Vgl. BMK, Einleitung, S. xi–xxxii und S. xxxv. Stokes: Margery Kempe: Her Life and the Early History of her Book, S. 47. Allerdings ist die Schreibsprache ein Provenienzhinweis, der mit Vorsicht behandelt werden sollte, da es durchaus möglich ist, dass ein Schreiber das Schreiben in einer bestimmten Region erlernt und eine gewisse dialektale Färbung beibehalten hat, vgl. Richard Beadle: Prolegomena to a Literary Geography of Later Medieval Norfolk. In: Regionalism in Late Medieval Manuscripts and Texts. Essays in Celebrating the Publication of A Linguistic Atlas of Late Mediaeval English. Cambridge 1991, S. 89 – 109, hier S. 90.

58 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Schreiber nahelege.30 Ein fünfzeiliges Rezept, das sich auf der Rückseite des letzten Blattes der Handschrift (fol. 124v) befindet und schwer entzifferbar ist, hat die Forschung als Indiz für den Einsatz der Kempe-­Handschrift im Rahmen der cura animarum außerhalb des streng klausurierten Kartäuserklosters Mount Grace gesehen: Die wenigen Zutaten wie Zimt und Zucker, die sich aufgrund der stark verblassten Kursivschrift des ausgehenden 15. Jahrhunderts ausmachen lassen,31 passten nicht recht in die durch Askese und Verzicht geprägte Umgebung einer Kartause.32 Es ist allerdings fragwürdig, ob man tatsächlich einzig aufgrund ­dieses Eintrages Rückschlüsse auf die Eingebundenheit der Kempe-­Handschrift in einen laikalen Gebrauchskontext ziehen kann, wie weiter unten diskutiert werden soll. Aufschlussreicher im Hinblick auf eine nähere funktionsgeschichtliche Bestimmung sind dagegen die nahezu über den gesamten Text verteilten Annotationen – in Form lateinischer und mittelenglischer Randeinträge, Abbreviaturen wie n. für nota und c. für capitulum, Unterstreichungen, Klammern und Marginalzeichnungen – , die aufgrund der verwendeten Buchkursiven wohl bereits um die Mitte des 15. und frühen 16. Jahrhunderts entstanden sind.33 Die Kempe-­Forschung hat verschiedentlich versucht, Schreiberhände innerhalb der Randeinträge voneinander abzugrenzen und eine genauere Datierung vorzunehmen: S­ anford Meech ist zunächst noch von vier Schreiberhänden durch divergierende Schrift und Tintenfarben ausgegangen,34 wobei er einem Schreiber mit roter Tinte die größte Anzahl der Kommentare und Hervorhebungen zuordnet. Allerdings hat Joel Fredell in seinem Forschungsbeitrag aus dem Jahr 2009 mit guten Gründen aufgezeigt, dass offenbar drei Benutzer rubrizierte Randnotizen in die Kempe-­Handschrift eingetragen haben: Er unterscheidet z­ wischen in dunkelroter Tinte gehaltenen Kapitel- oder Paragraphenzeichen,35 rubrizierten ­großbuchstabigen 30 Vgl. BMK, Einleitung, S. viii–xxxii. Zu den Fehlern werden Auslassungen von Einzelwörtern gezählt, die nachträgliche Rubrizierungen indizieren [oure] auf S. 1, 17; Add MS 61823, fol. 1r; S. 5, 22 [of]; Add MS 61823, fol. 3r; S. 20, 25 [thow]; Add MS 61823, fol. 10v; S. 59, 24 [He] als Konjektur der Herausgeber; S. 63, 35 [seyd] als Konjektur der Herausgeber; S. 66, 31 [to], Add MS 61823 fol. 32v; Einzelauslassungen von Silben oder Buchstaben wie auf S. 66, 33 [þ] (Konjektur der Herausgeber); S. 146, 28 [dis]deynyst (Konjektur); S. 111, 8 whe[r]throw; Add MS 61823, fol. 54r; Kontraktion von n oder m ohne Abkürzungszeichen über dem Vokal wie S. 7, 24 brenny[n]g (Konjektur); S. 13, 13 entry[n]g (Konjektur); S. 17, 3 graw[n]t (Konjektur). Vgl. die ausführlichen Angaben in BMK, Einleitung, S. xxxv. 31 Vgl. die kurze Beschreibung des Rezeptes von Meech in BMK, Einleitung, S. xliv. 32 Vgl. Parsons: The Red Ink Annotator of „The Book of Margery Kempe“ and His Lay Audience, S. 154 f. 33 Vgl. BMK, Einleitung, S. xxxvi. Siehe Abb. 1 und Abb. 2. Die Annotationen werden in Kapitel 2.3 „Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre“ und Kapitel 2.3.1 „Die ‚Offizialität‘ der rubrizierten Randeinträge – Richard Methley, John Norton und die Konzeption des amor sensibilis“ ausführlich diskutiert. 34 Vgl. BMK, Einleitung, S. xxxvi: „I distinguish four sets of annotations by their handwriting and inks: one very numerous set in red ink, and three scanty ones, – one in large faded brown letters, one in somewhat smaller letters in a very dark, almost black ink and one in small brown letters.“ 35 Vgl. die folgenden Beispiele aus Add MS 61823 in Fredell: Design and Authorship, S. 23 Anm. 29: 9r (BMK, 17, 13); 9r (17, 25); 11r (21, 5); 15r (29, 19); 19r (38, 12); 23v (47, 34); 24r (48, 17); 24v (49, 35); 25r

Die Handschrift London, British Library, Add MS 61823 | 59 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

nota-­Eintragungen 36 und den im Vergleich detaillierteren rubrizierten Kommentaren in hellroter Tinte,37 die er jeweils einer Schreiberhand zuweist.38 Mithilfe von rubrizierten Marginalien, die sich auf den Klostervikar Richard Methley (gestorben um 1527 – 1528)39 und den Prior John Norton (von 1509 bis 1522)40 aus Mount Grace beziehen, kann ein Teil der Annotationen auf die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts datiert werden.41 Dagegen nimmt sich die Unterscheidung dreier weiterer Benutzer weniger komplex aus: Zum einen finden sich große braune, fast verblasste Buchstaben, zum anderen eine kleingeschriebene Buchkursive mit fast

36

37

38 39

40 41

(51, 10); 25r (51, 18); 43v (89, 16); 44r (89, 36); 48r (98, 26); 57v (119, 27); 67r (138, 37); 68v (141, 6); 76r (156, 28); 76r (156, 36); 77r (158, 26); 77v (158, 26); 77v (159, 24); 82v (169, 6); 88v (182, 9); 90r (185, 30); 90v (186, 6); 91v (188, 10); 99r (204, 9); 99v (205, 10); 100r (207, 4); 100v (207, 11); 101v (209, 35); 102v (211, 24); 104v (215, 20); 105r (217, 10); 105v (218, 2). Vgl. ebd., S. 17 und S. 24 Anm. 35: 4v (BMK, 8, 25); 10v (20, 20); 15v (31, 8); 16r (32, 6); 24r (49, 4); 25r (50, 29); 26r (53, 13); 33r (67, 21); 36r (73, 3); 37r (75, 24); 47v (90, 15); 71r (146, 2); 76r (156, 8); 77r (158, 13); 78r (160, 9); 86r (176, 21); 87r (178, 30); 88r (180, 30); 99r (204, 8); 99r (204, 24); 100r (206, 19); 101v (210, 5); 104r (215, 10); 105v (216, 31); 111r (230, 10); „Out of these twenty-­six mystical encounters, only one veers from the theme of Margery’s special grace: on 26r (53, 13), Big Red N marks a passage where Christ tells Margery to counsel a vicar to accept a benefice.“ Vgl. zu den Randnotizen, die eine Art Schlagwort oder einen k­ urzen Kommentar umfassen können, Parsons: The Red Ink Annotator, S. 143 – 217. Parsons katalogisiert die rubrizierten Randeinträge auf S. 167 – 188. Diese Einträge werden in Kapitel 2.3 „Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre“ eingehend diskutiert. Dagegen kritisiert Fredell, dass Kelly Parsons in ihrer Analyse das in dunkelroter Tinte gehaltene Kapitel- oder Paragraphenzeichen ebenfalls dem „red ink annotator“ zuweise, obwohl dieser Annotator eine für ihn charakteristische Abbreviatur verwende, etwa Add MS 61823, fol. 22v und fol. 97v. Vgl. Fredell: Design and Authorship, S. 11 und S. 23 Anm. 25. Allerdings lässt sich nicht mit völliger Sicherheit ausschließen, dass der g­ leiche Benutzer verschiedene ‚Lektüredurchgänge‘ mit unterschiedlichen Abbreviaturen markiert haben könnte. Vgl. Kerby-­Fulton: The Medieval Professional Reader at Work, Introduction, S. 13 Anm. 6. Vgl. Fredell: Design and Authorship, S. 3. Fredell bezeichnet diese drei Schreiberhände mit „ruby paraph“, „big red N“ und „red-­ink Annotator“. Vgl. Add MS 61823, fol. 14v: R. Medlay v. was wont so to say; fol. 85r father M. was wont so to doo; fol. 33v: so fa RM & f Norton & of Wakenes of þe passyon; fol. 51v so dyd p[ri]or Nort[on] i[n] his excesse. Vgl. den Totenbucheintrag: Dominus Richardus Methlei, monachus professus et vicarius Montisgracie in der Handschrift Horsham/West Sussex, St Hugh’s Charterhouse, Parkminster MS . B 77 zitiert nach James Hogg: Richard Methley: To Hew Heremyte, A Pystyl of Solytary Lyfe Nowadayes. Salzburg 1977, S. 100 Anm. 24. Vgl. auch ders.: Mount Grace Charterhouse and Late Medieval English Spirituality, S. 27. David Knowles: The Religious Orders in England, Volume 2. Cambridge 1955, S. 224 – 226. Vgl. die Angaben zu Nortons Amtszeit als Prior bei Hogg: Mount Grace Charterhouse and Late Medieval English Spirituality, S. 28 und S. 40 – 43. Vgl. auch Knowles: The Religious Orders in England, Volume 2, S. 239. Vgl. zuletzt Chappell: Perilous Passages, S. 10 – 16. Vgl. die Datierung von Holbrook: Margery Kempe and Wynkyn de Worde, S. 36 im Rückgriff auf Meechs Angaben, BMK, Einleitung, S. xxxvi. Sue Ellen Holbrook bezeichnet Methley wohl versehentlich als Prior der Kartause Mount Grace, da dafür keine Anhaltspunkte vorliegen, vgl. Holbrook: Margery Kempe and Wynkyn de Worde, S. 36.

60 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

schwarz wirkender Tinte aus einer Hand und schließlich noch kleinformatige Buchstaben in bräunlicher Tinte, die teilweise in Verbindung mit einem Trifolium-­Symbol auftreten und die Joel Fredell dem Schreiber Salthows zuordnet.42 Am Rand der Handschrift hat ein Leser ebenfalls rubrizierte Marginalzeichnungen eingetragen, die mit den jeweiligen Textpartien korrespondieren und eine sorgfältige Lektüre indizieren: So lassen sich Herzen,43 Zeigehände,44 Tränen- und Flammensymbole,45 ein dreieckiges Symbol,46 eine Säule 47 (Abb. 1) und die Umrisse eines Gewandes (Abb. 2) finden.48 Die Marginaleinträge deuten in Verbindung mit der Datierung der Handschrift und dem Besitzeintrag der nordenglischen Kartause Mount Grace auf eine kartäusische Herkunft der Londoner Kempe-­Handschrift. Allerdings suggerieren der oben erwähnte lateinische Brief, die Schreibsprache und der Name des Schreibers eine Entstehung im Umkreis der Diözese Norwich. In der Invokationsformel auf fol. 123r Ihesu mercy quod Salthows 49 sieht bereits Meech eine Art Signet des Schreibers, der nach dem Dorf Salthouse an der Nordküste Norfolks benannt sei. Aufgrund der Schreibsprache und der sorgfältigen Ausführung in Anglicana hält er es für sehr wahrscheinlich, dass dieser Schreiber aus der Region Norfolk 42 Vgl. Fredell: Design and Authorship, S. 3 und S. 14 Anm. 25 mit folgenden Angaben: 9r nota; 13v nota; 24v nota; 25v nota; 33v nota de clamore with trefoil; 37v nota de vestura; 40r nota de confessione with trefoil; 40v nota mirabile quod se[quitur] (with trefoil); 43r de desponsacione eius ad deum patrem; 61r narracio with trefoil; 75v nota contra melton. Folgende Annotationen, die dieser Schreiberhand zugewiesen werden können, verzeichnet Fredell nicht: fol. 58r, 4 – 5 Trifolium-­Symbol; 55v, 9 – 13 ornamentale Linienführung in bräunlicher Tinte am linken Außenrand; 100v, 17 – 18 no[ta] bene am linken Außenrand; 100v, 19 – 21 ornamentale Linienführung in bräunlicher Tinte am linken Außenrand. Fredell begründet seine Zuordnung mit der Vergleichbarkeit des Schreibduktus und der Buchstabenmorphologie der Annotation fol. 40r, 2 nota de confessione und dem Wort confessyon im Haupttext. Er weist auf Übereinstimmungen ­zwischen dem Eintrag fol. 33v nota de clamore und dem Haupttext hin, die die Schlaufen der Oberschäfte des Buchstaben „d“, den Haarstrichbalken des „l“, der die Unterlänge des Buchstabens ausformt und den Grundstrichbalken des „o“ betreffen. Auch der Zierstrich des „r“ in „owyr“ im Haupttext und im Ausdruck clamore ­seien nahezu identisch. Zudem finde sich das Trifolium-­Symbol sowohl in den bräunlichen Randnotizen (vgl. etwa fol. 40v) als auch in der Invokationsformel des Schreibers, fol. 123r. Allerdings unterscheidet sich das Trifolium-­Symbol der Invokationsformel dahingehend, dass es hier nicht aus drei, sondern aus vier Punkten gebildet ist. 43 Vgl. Add MS 61823, fol. 2r mit Jesusmonogramm; fol. 44v; fol. 78v neben Dowtyr I haue drawe þe lofe of þin hert fro alle mennys hertys in-­to myn hert. Fol. 102v; fol. 106r neben einer Gottesrede: & þerfor dowtyr þu hast gret cawse to louyn me ryth wel & to ȝeuyn me al thyn hool hert wyth alle thyn affeccyonis […]. 44 Vgl. Add MS 61823, fol. 11v; fol. 25v neben einer Christusrede: Wyth myn owyn handys whech wer nayled to þe Crosse I xal take þi sowle fro þi bodd wyth gret myrthe & melodye, wyth swet smellys & good odowrys, & offyr it to my Fadyr in Heuyn. 45 Vgl. ebd., fol. 21v; 25r; Flammensymbol, fol. 78v. 46 Vgl. ebd., fol. 58r. 47 Vgl. ebd., fol. 15r. 48 Vgl. ebd., fol. 115r. 49 London, British Library, Add MS 61823; BMK, S. 254. Meech, BMK, Einleitung, S. xxxiii.

Die Handschrift London, British Library, Add MS 61823 | 61 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

stamme.50 Im Zusammenhang mit diesen Überlegungen zur Herkunft des Schreibers etabliert Meech seine problematische und für die weitere Forschung so wirkungsmächtige Prämisse einer redigierten ‚Originalfassung‘, die der schreibende Priester in Bishop’s Lynn als Abschrift der verrätselt wirkenden ‚Urfassung‘ des ersten Schreibers angefertigt habe.51 Er postuliert im Rückgriff auf die textintern erzählte Buchentstehungsgeschichte, dass die ‚Urschrift‘ als auch die redigierte ‚Originalfassung‘ nicht erhalten geblieben s­ eien.52 Als Beleg führt er eine textinterne Angabe an, die berichtet, dass der schreibende Priester den ersten Prolog auf einem Einzelblatt nachgetragen habe: whan he had wretyn a qwayr, he addyd a leef þerto, and þan wrot he þis proym to expressyn mor openly þan doth þe next folwyng, whech was wretyn er þan þis.53 Meech argumentiert, dass die Handschriftenseite, auf die der Prolog in der Kempe-­Handschrift Add MS 61823 eingetragen ist, Teil einer Lage sei. Deshalb könne es sich bei der vorliegenden Londoner Handschrift nicht um die ‚Originalfassung‘ des schreibenden Priesters handeln. Das Vorhandensein einer solchen ‚Originalfassung‘ hat die Kempe-­Forschung vielfach aufgegriffen und zu einer Art Faktum festgeschrieben:54 Auch die wenigen­ü ­ berlieferungsund textgeschichtlichen Untersuchungen halten an der vermeintlichen Existenz dieser 50 Vgl. BMK, Einleitung, S. viii: „The scribe Salthows […] may have been a Norfolk man.“ und S. xxxiii. Vgl. auch BMK, S. xlv im Hinblick auf den oben genannten päpstlichen Brief, der an den Vikar von Soham in der Nähe von Ely adressiert ist: „Since it is likely that the writing and binding were done in the same locality, here is additional evidence, that Salthows was propably of East Anglia or near it.“ 51 Vgl. BMK, Einleitung, S. xxxiii: „That this is not the original manuscript of the priest who was ­Margery’s second amanuensis, and that consequently Salthows is not his name, is positively established by the last sentence of the proym.“ 52 Vgl. die in der Einleitung erwähnten textinternen Angaben zu dieser ‚Urfassung‘, die in einer eigentümlichen, englisch-­deutschen Mischsprache und einer idiomatisch wirkenden, unleserlichen Schrift verfasst ist, BMK, Prologpartie, S. 4, 14 – 39; Kapitel 81, Buchkapitel, S. 220, 18 – 24: Her endith þis tretys, for God toke hym to hys mercy þat wrot þe copy of þis boke, &, þow þat he wrot not clerly ne opynly to owr maner of spekyng, he in hys maner of wrytyng & spellyng mad trewe sentens þe whech, thorw þe help of God & of hir-­selfe þat had als þis tretys in felyng & werkyng, is trewly drawyn owt of þe copy in-­to þis lityl boke. Secundus liber, prologartige Anfangspartie, S. 221, 1 – 12, besonders 1 – 4: Afftyr þat owr Souereyn Sauyowr had take þe persone whech wrot first þe tretys aforn-­seyd to hys many-­fold mercy, and þe preiste of whom is be-­forn-­wretyn had copijd þe same tretys aftyr hys sympyl cunnyng […]. 53 Vgl. BMK, S. 5, 29 – 32. 54 Vgl. aus der Fülle der Forschungsliteratur in Auswahl: Atkinson: Mystic and Pilgrim, S. 18: „This single source seems especially fragile because the original manuscript is lost.“ Lochrie: Translations of the Flesh, S. 206: „We do not know what happened to the version of the Book that she dictated to her second scribe between 1436 and 1438.“ Hirsh: Author and Scribe in The Book of Margery Kempe, besonders S. 145 – 150. Goodman: Margery Kempe and Her World, S. 1: „This is not the original manuscript, but a fair copy, probably copied directly from the original.“ Voaden: God’s Words, Womens Voice, S. 150 f. Chappell: Perilous Passages, Einleitung, S. xxiii. Butcher: Reading „The Book of Margery Kempe“, S. 189 – 212, vgl. die Textschichtungsanalyse, S. 192. Sobecki: The Writyng of this Tretys, S. 267 – 271.

62 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

verloren geglaubten ‚Originalfassung‘ fest,55 obwohl auch die drucktechnische Überlieferung dafür keine Anhaltspunkte bietet.56 Vielmehr lässt sich das Postulat einer redigierten ‚Originalhandschrift‘ forschungsgeschichtlich zu der Erstuntersuchung der Kempe-­ Handschrift durch Meech und Allen zurückverfolgen, die ihr Interesse p ­ rimär auf eine faktisch-­lebensweltliche Ausdeutung der literarisch ambitionierten Buchentstehungsgeschichte richten. Offenbar basiert ihre Prämisse auf der nicht unproblematischen Annahme, dass die faktischen Produktions- und Entstehungsbedingungen ­gewissermaßen aus der komplex-­verschachtelten Erzählung der ‚Buchentstehungs- und Schreibergeschichte‘ extrahiert werden können. Von dieser Prämisse ausgehend rekurriert der Londoner Anglist Anthony Bale auf einen signifikanten Hinweis, den Hilton Kelliher 1997 in seinem ­kurzen Beitrag zur Überlieferungsgeschichte gegeben hat:57 Aufgrund des Eintrags R[i]c[ard]us Salthowus (fol. 2r) in der Sammelhandschrift Cambridge, University Library Ii.4.1258 der Historia Regum Britanniae Geoffreys von Monmouth vermutet er, dass es sich bei dem Schreiber Salthows um einen Benediktinermönch namens Richard Salthows aus der Benediktinerpriorei der Kathedrale der Heiligen Dreifaltigkeit in Norwich handeln könnte.59 Zusammengesehen mit dem Besitzvermerk des Benediktinermönchs Roger de Blic[k]lingge mo[nachus] auf fol. 3v und der alten Bibliothekssignatur „G.lvij“ des Kathedralpriorats lässt sich die Cambridger Sammel­handschrift der Klosterbibliothek dieser Benediktinerpriorei in Norwich zweifelsfrei zuordnen.60 Tatsächlich ähnelt die Invokationsformel der Kempe-­Handschrift (fol. 123r 55 Vgl. Chappell: Perilous Passages, S. 8, die ihre These zur Textüberlieferung mit der textinternen Buchentstehungsgeschichte begründet. Vgl. auch Parsons: The Red Ink Annotator, S. 143. Vgl. Lochrie: Translations of the Flesh, S. 206. Holbrook: „About Her“, besonders S. 267. Andrew Butcher unternimmt den diskussionswürdigen Versuch, ein ‚Stemma‘ aus den textinternen Angaben zur Buchentstehung und der einzig erhaltenen Handschrift zu rekonstruieren. Er berücksichtigt nicht, dass es sich bei dem schreibenden Priester um den dritten Schreiber handelt (BMK, S. 4). Vgl. Butcher: Reading the Book of Margery Kempe, S. 192. Vgl. neuerdings Bale: Woman in White, S. 16: „However, it is clearly a copy of an original, describing in its own pages how it was ‚drawn out‘ of an earlier manuscript into the ‚little book‘ we now have.“ 56 Vgl. BMK, Einleitung, S. xlvii. Holbrook: Margery Kempe and Wynkyn de Worde, besonders S. 36 f. 57 Vgl. Kelliher: The Rediscovery of Margery Kempe, S. 262, Anm. 4. Bale: Woman in White, S. 17: „At least two manuscripts of the Book were being made shortly after this time (i. e. the lost archetype and the surviving manuscript, which dates from c. 1450)“. Vgl. auch: The Book of Margery Kempe. A New Translation by Anthony Bale. Oxford 2015. 58 Vgl. Cambridge, University Library Ii.4.12 aus dem 15. Jahrhundert. Ich danke Louise Clark, Cambridge University Library, herzlich dafür, dass sie mir die Handschrift zur Verfügung gestellt hat. 59 Vgl. Kelliher: The Rediscovery of Margery Kempe, S. 262 Anm. 4, der als erster auf den Eintrag Ricardus Salthowus in der Handschrift Cambridge, University Library Ii.4.12, fol. ii, aufmerksam gemacht hat. 60 Vgl. den Eintrag in Western Illuminated Manuscripts. A Catalogue of the Collection in Cambridge. Cambridge 2011, S. 139 zum Benediktinermönch Roger de Blicklingge. Vgl. Neil R. Ker: Medieval ­Manuscripts from Norwich Cathedral Priory. In: Transactions of the Cambridge Bibliographical Society, Volume 1 (1949), Number 1, S. 14.

Die Handschrift London, British Library, Add MS 61823 | 63 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Ihesu mercy quod Salthows) der Namens-­Signatur in Cambridge, University Library Ii.4.12, fol. 2r, die in einem für eine Initiale vorgesehenen Spatium am linken Rand col. 1, 20 – 21 eingetragen ist. In den Registerbüchern des Benediktinerpriorats ist der Klostereintritt Richard Salthows’ für das Jahr 1443 belegt, ebenso wie seine verschiedenen Klosterämter, die Gärtner, Cellerar und Infirmarius umfassen.61 Die Diözese Norwich gilt als eines der bedeutendsten Zentren mittelalterlicher Religiosität, in dessen Umfeld die Entstehung der Kempe-­Handschrift, wie der lateinische Brief, die Schreibsprache und der Schreibername nahelegen, zumindest vorstellbar ist.62 Allerdings wirft dieser Versuch, die Kempe-­Handschrift in der Norwicher Benediktinerpriorei zu verorten, weitere Fragen auf: Denn das begüterte und einflussreiche Benediktinerpriorat hat zwar über eine gut ausgestatte Bibliothek verfügt, aber Zeugnisse über die Bücherproduktion fehlen weitgehend.63 Aufgrund dieser fehlenden Dokumente ist Bale gezwungen, eine Art Ebenensprung vorzunehmen und auf textinterne Ausführungen zu Margery Kempes Aufenthalten in Norwich zurückzugreifen,64 um einen möglichen Tradierungsweg zu rekonstruieren: Nach Margery Kempes Tod im Jahr 1439 sei die ‚Originalfassung‘ des schreibenden Priesters von Lynn nach Norwich gelangt. Dort habe sie der Benediktinermönch Salthows abgeschrieben, der Margery Kempe aufgrund ihrer Besuche in Norwich persönlich bekannt gewesen sei.65 Allerdings ist das von der Forschung ermittelte Sterbejahr der Margery Kempe um 1439 genauso wenig gesichert wie Bishop’s Lynn 66 als Ort der Entstehung einer vermeintlichen ‚Ur- bzw. Originalfassung‘. Denn die 61 Vgl. Bale: Woman in White, S. 17. Joan Greatrex: Biographical Register of the English Cathedral Priories of the Provinces of Canterbury c. 1066 – 1540. Oxford 1997, S. 554. Zwischen 1484 und 1487 amtierte er als Prior des Priorats St. Leonard, eines am Rande der Stadt Norwich gelegenen Ablegers des Kathe­ dralpriorats, vgl. ebd., S. 466. 62 Vgl. Norman Tanner: The Ages of Faith. Popular Religion in Late Medieval England and Western Europe. London, New York 2009 (International Library of Historical Studies 56), besonders Kapitel 7 „Religious Practice in Norwich“, S. 59 – 79. Bolton-­Holloway: Bride, Margery, Julian and Alice. Bridget of Sweden’s Textual Community in England, S. 209 f. 63 Vgl. Tanner: Ages of Faith, S. 44 und S. 49. Ker: Medieval Manuscripts from Norwich Cathedral Priory, besonders S. 8 f. 64 Vgl. Bale: Woman in White, S. 17. Bale bezieht sich hier auf Kapitel 17, S. 38 – 40 und 18, S. 41 – 47, die von der Unterredung mit dem im Text zunächst anonymisierten Vikar der K ­ irche St Stephen in Norwich, dem Treffen mit dem namentlich ausgewiesenen Karmelitermönch William Southfield und der Audienz bei der berühmten Rekluse Juliana von Norwich berichten. Kapitel 43, S. 102 f. weist den Vikar von St Stephen als Richard Castyr aus und Kapitel 44, S. 103 – 107 ist ebenfalls in Norwich situiert. 65 Vgl. Bale: Woman in White, S. 17. 66 Vgl. zu Bishop’s Lynn, BMK, S. 9, 20 – 23: Þat sche was comyn of worthy kenred, – hym semyd neuyr for to a weddyd hir, for hir fadyr was sum-­tyme meyr of þe town N. and sythyn he was alderman of þe hey Gylde of þe Trinyte in N. BMK, S. 111, 27 – 32: „Syr“, sche seyd, „I am of Lynne in Norfolke, a good mannys dowtyr of þe same Lynne, whech hath ben meyr fyve tymes of þat worshepful burwgh and aldyrman also many ȝerys, & I haue a good man, also a burgeys of þe seyd town, Lynne, to myn husbond.“ BMK, S. 104, 27; S. 105, 30; S. 106, 16; S. 109, 29; S. 111, 27, 28, 31; S. 132, 9; S. 136, 32; S. 137, 3; S. 139, 7; S. 142, 30; S. 167, 2,

64 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Vorstellung eines ‚Originals‘ verdichtet sich erst in der Zusammensicht der in den Text vereinzelt eingestreuten ‚Spuren‘ und suggestiven Andeutungen.67 Vielleicht müsste hier genauer ­zwischen der textinternen Ebene mit ihrer literarisch konstruierten ‚Aufdeckung‘ der namentlichen Identität und Herkunft der Protagonistin und der textexternen Ebene der faktischen Textgenese und Handschriftenproduktion differenziert werden. Denn erst im Akt der Rezeption stellt sich eine Art allmähliche Dechiffrierung der zunächst anonymisierten Margery-­Figur als ‚heilige Person‘ aus Bishop’s Lynn ein. Erst die Kombination der biographischen-­lebensweltlichen Angaben, die vereinzelt in den Text integriert sind, holt die Margery-­Figur aus der hagiographischen Anonymität einer begnadeten Visionärin ‚zurück ins Leben‘. Über den konkreten Ort, an dem ihre Vita entstanden ist, schweigt der ansonsten überaus detailreiche Text. Stattdessen bietet das epilogartige ‚Buchkapitel‘ eine eher vage Angabe: Whan þis booke was first in wrytyng, þe sayd creatur was mor at hom in hir chambre [Hervorhebung d. Verf.] wyth hir writer […].68 Da es sich der textinternen Erzählung zufolge bei der vorliegenden Fassung um eine Art ‚Ausgabe letzter Hand‘ (eine dritte Textabschrift) des schreibenden Priesters handelt, lassen sich damit keine gesicherten Rückschlüsse auf die eigentliche Textgenese erzielen. Denn im Prolog stehen eher die Schriftlichkeit und die spezifische Materialität des Buches im Vordergrund. Bale wertet diese textinternen Angaben allerdings primär unter textgenetischen Gesichtspunkten aus, was nicht völlig unproblematisch ist, da das scheinbar so lebensweltlich konkrete Entstehungsszenarium der literarisch komplex angelegten Buchentstehungsgeschichte die genauen Textentstehungsumstände offenbar bewusst mystifiziert.69 Aufgrund der institutionellen Einbindung der frauenmystischen Literaturproduktion, wie sie unter anderem Balázs Nemes und Susanne Bürkle für die deutschsprachige Frauenmystik nachgewiesen haben, erscheint eine heimliche, vor der Öffentlichkeit verborgene Niederschrift at hom in hir chambre in Bishop’s Lynn nicht sehr 17, 24; S. 169, 9; S. 170, 35; S. 171, 2, 3, 5, 9, 18, 23, 27; S. 203, 34; S. 221, 18; S. 222, 12; S. 226, 27, 29; S. 227, 36; S. 228, 5, 26, 30; S. 232, 29; S. 243, 19, liber II, Kapitel 9 einzige Namensnennung mit Ortsangabe: Mar. Kempe of Lynne; S. 244, 32; S. 246, 35; S. 247, 4, 21, 23; Lenn: S. 34, 36; S. 45, 7; S. 56, 10; Lynne Bishop: S. 136, 14, 18, 24; S. 162, 29. 67 Vgl. die kritische Diskussion zur Rekonstruktion biographischer Daten durch die Kempe-­Forschung in der Einleitung der vorliegenden Arbeit. Vgl. zur Problematik, biographische Daten einzig aus den Texten eines Autors zu erschließen, Stephanie Altrock/Hans Joachim Ziegeler: Vom diener der ewigen wisheit zum Autor Heinrich Seuse. Autorschaft und Medienwandel in den illustrierten Handschriften und Drucken von Heinrich Seuses Exemplar. In: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150 – 1450. Hrsg. von Ursula Peters. Stuttgart 2001 (Germanistische Symposien-­Berichtsbände; 23. DVjs, Sonderband), S. 150 – 181, hier S. 151. 68 BMK, Kapitel 88, S. 216, 4 – 5. 69 Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 289. Susanne Bürkle hat überzeugend demonstriert, dass die Buchentstehungsgeschichte der Gnadenvita Christine Ebners „die Funktion der gezielten Verschleierung der faktischen Autorverhältnisse und der Legitimation des Geschriebenen erfüllt“.

Die Handschrift London, British Library, Add MS 61823 | 65 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

wahrscheinlich.70 Die wichtigen Forschungsergebnisse, die die germanistische Mediävistik im Hinblick auf die Genese und literarischen Konstitutionsbedingungen deutschsprachiger Offenbarungs- und Vitentexte erbracht hat, demonstrieren, wie gewinnbringend ein komparatistischer Ansatz sein kann, der den Blick über die Fachgrenzen hinweg öffnet. Jedenfalls lässt sich die Prämisse einer verloren geglaubten ‚Originalfassung‘ des schreibenden Priesters aufgrund des literarisch-­programmatischen Gestus der Buchentstehungs­geschichte 71 nicht ohne Weiteres aufrechterhalten. Entscheidender ist vielleicht, dass der Kartäuserorden ein deutliches Interesse an der Tradierung der Kempe-­Handschrift demonstriert. Und auch im 16. Jahrhundert währt ­dieses Interesse fort, wie die beiden erhaltenen Druckfassungen indizieren, die ebenfalls im weiteren Umkreis des Kartäuserordens verortet werden können, wie zu zeigen sein wird. Falls es sich bei dem Schreiber der Kempe-­Handschrift tatsächlich um den Benediktinermönch Richard Salthows handelt, spricht dies eher dafür, dass die Entstehungsbedingungen im Rahmen einer offiziellen, monastischen Literaturproduktion zu suchen sind: Ordensübergreifende literarische Beziehungen ­zwischen dem Benediktinerorden und den Kartäusern, wie sie sich anhand des Namensvermerks der Cambridger Sammelhandschrift und der Invocatio der Kempe-­Handschrift abzeichnen könnten, liegen durchaus im Bereich des Möglichen, wie die mediävistische Forschung im Hinblick auf den deutschsprachigen Raum herausgearbeitet hat.72 Und wenn Salthows die bräunlichen Randeintragungen in der Kempe-­Handschrift vorgenommen hat, wie Fredell wohl zu Recht vermutet, bedeutet dies, dass bereits der Schreiber ein sehr deutliches Interesse an den göttlichen Gnadenerweisen signalisiert hat.73 In ihrer Gesamtheit demonstrieren die Marginaleinträge, dass die verschiedenen Manifestationen der Gottesbegnadung besondere Aufmerksamkeit unter monastischen Lesern gefunden haben, zu denen vermutlich die Norwicher Benediktiner, mit 70 So hat Nemes die Dominikaner des Basler Dominikanerkonvents als Vermittler und Träger der Überlieferung des „Fließenden Lichts“ bestimmt, vgl. Nemes: Von der Schrift zum Buch, besonders S. 240 – 245. Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, besonders S. 57 – 131. 71 Vgl. die ausführliche Textanalyse der Buchentstehungsgeschichte im Kapitel 3.2 „Schreibergeschichten“. 72 So skizziert René Wetzel in seinem Exkurs zur Buch- und Bibliotheksgeschichte der Kartause Buxheim bei Memmingen (S. 316 – 325) die literarische Vernetzung mit dem Augsburger Benediktinerkloster St. Ulrich und Afra, die besonders im ausgehenden 15. Jahrhundert im Hinblick auf Johannes Mickel, den ehemaligen Benediktinerprior von St. Ulrich und Afra und Mönch der Kartause Buxheim, zu beobachten ist. Vgl. René Wetzel: Spricht maister Eberhart, S. 321. Vgl. den Beitrag zu Johannes Mickel von Herrad Spilling: Johannes Mickel – Kartäuser oder Benediktiner? In: Bücher, Bibliotheken und Schriftkultur der Kartäuser. Festgabe zum 65. Geburtstag von Edward Potkowski. Hrsg. von Sönke Lorenz. Stuttgart 2002 (Contunerbium 59), S. 39 – 64, besonders S. 47 zu der seit 1440 bestehenden Gebetsverbrüderung ­zwischen der Kartause Buxheim und St. Ulrich und Afra, S. 55 zum Bücheraustausch z­ wischen den beiden Klöstern. Vgl. Nemes: Von der Schrift zum Buch, S. 229 zum Bücheraustausch ­zwischen den Erfurter Kartäusern und den Erfurter Benediktinern von St. Peter und Paul. 73 Vgl. Fredell: Design and Authorship, S. 9.

66 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Sicherheit aber die Kartäuser aus Mount Grace gezählt haben. Jedenfalls ist die Handschrift offenbar von Anfang an für ein monastisches Lesepublikum bestimmt gewesen, da offenbar bereits Salthows ein bestimmtes Lesepublikum mit seinen lateinischen Marginaleinträgen anvisiert hat.74 Zumindest lassen sich seine Randkommentare als Teil einer monastischen Lektüre- und Annotationspraxis fassen, die in Kapitel 2.3 „Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre“ näher beleuchtet wird. Allerdings ergeben sich auch hier weiterführende Fragen, da einige Indizien eher das Kartäuserkloster Mount Grace als Produktionsort der Kempe-­Handschrift nahelegen. Denn bereits Hilton Kelliher hat auf die ungewöhnlichen, musterartigen Einstichlöcher an den Rändern der Kempe-­Handschrift aufmerksam gemacht:75 Diese Punkturen, die aus der Linierung der Doppelblätter resultieren, gleichen den Einstichlöchern in der Handschrift London, British Library Add MS 62450.76 Auch diese lateinische Sammelhandschrift (Add MS 62450) ist wohl um die Mitte des 15. Jahrhunderts entstanden 77 und sie enthält Predigten des Heiligen Gregors und ihm zugeschriebene Erbauungstexte. Anhand des Schreibervermerks kann John Awne (gestorben um 1472 – 1473), ein Kartäusermönch aus Mount Grace, als Schreiber identifiziert werden.78 Bemerkenswerte Entsprechungen ­zwischen den beiden 74 Diese Überlegung äußert Rebecca Schoff im Hinblick auf die Marginaleinträge des rubrizierenden Annotators, der die Kempe-­Handschrift für eine spezifische Leserschaft annotiert habe, vgl. Schoff: Three Medieval Authors, S. 116. Vielleicht darf man dies auch für die Randeinträge des Schreibers vermuten, wie in Kapitel 2.3 „Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre“ ausgeführt. 75 Vgl. Kelliher: The Rediscovery of Margery Kempe, S. 259. Vgl. auch den entsprechenden Eintrag im Handschriftenkatalog der British Library, der ebenfalls auf die Ähnlichkeiten z­ wischen den Punkturen in den beiden Handschriften hinweist, Catalogue of Additions New Series, 1981 – 1985, Band 1, Add MS 62450, S. 94 f.: „The unusual pattern of pricking is similar to that of Add. 61823 (Book of Margery Kempe), also associated with Mount Grace.“ Vgl. zur Identifizierung von Skriptorien anhand ihrer Gewohnheiten des Punktierens und Linierens, Karin Schneider: Paläographie/Handschriftenkunde für Germanisten. Tübingen 1999 (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte. B: Ergänzungsreihe 8), S. 126. 76 Ich danke Justin Clegg, British Library, sehr herzlich dafür, dass er mir die Handschrift zu Untersuchungszwecken in der British Library zur Verfügung gestellt hat. 77 Vgl. Kelliher: The Rediscovery of Margery Kempe, S. 259 und S. 262 Anm. 6 mit Angabe der Handschriftenbeschreibung von Andrew Prescott. 78 Vgl. den Besitzeintrag der Kartause Mount Grace in Add MS 62450, fol. vi.r und den Schreibervermerk fol. 1v: iste libri sunt facti sancte Gregori / Ezechielis fit principium quod sermo[nis] / Antica virtutum quodz conflictus vicioru[m] qvod scripsit monachus Johannes Awne cognomine dictus. Vgl. zu John Awne: Neil R. Ker: Medieval Libraries of Great Britain. A List of Surviving Books. 2nd Edition. London 1964, S. 283. Vgl. neuerdings zum Vergleich der Gregor-­Sammelhandschrift aus Mount Grace mit der Kempe-­ Handschrift, Chappell: Perilous Passages, S. 11 – 16. Julie A. C ­ happell unternimmt den Versuch, den Besitzeintrag in der Kempe-­Handschrift vom 15. Jahrhundert auf das frühe 16. Jahrhundert zu datieren, was ihrer Ansicht nach gegen eine Entstehung in Mount Grace spreche, vgl. Chappell: Perilous Passages, S. 12 – 15. Aufgrund einer vermeintlichen Übereinstimmung ­zwischen der Schreiberhand des

Die Handschrift London, British Library, Add MS 61823 | 67 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Handschriften, die Format, Layout, Ausstattung und die Randglossierungen betreffen, deuten in Verbindung mit dem kartäusischen Provenienzvermerk und der thematischen Ausrichtung der Kempe-­Handschrift vielleicht eher auf Mount Grace.79 Im Gegensatz zu der von Bale favorisierten Benediktinerpriorei in Norwich sind die regen literarischen Aktivitäten in Mount Grace durch handschriftliche und archäologische Befunde gesichert,80 wobei das annotierte St. Gregor-­Kompendium als weiterer Beleg für die intensive Lese- und Schreibtätigkeit der Kartäusermönche in Mount Grace herangezogen werden kann. Und Bale hebt die spiritualitätsgeschichtliche Bedeutung der englischsprachigen Kartäuser für die Sammlung und Tradierung mystisch-­erbaulicher Literatur hervor, wie die sogenannte kurze Textfassung „A Vision Showed to a Devout Woman“ der Rekluse Juliana von ­Norwich 81 demonstriert, die ebenfalls unikal in einer Erbauungshandschrift überliefert ist, die höchstwahrscheinlich Annotators und der Schreiberhand des Besitzeintrags in der Kempe-­Handschrift vermutet sie, dass ein Kartäusermönch diesen Besitzeintrag erst nachträglich im frühen 16. Jahrhundert zusammen mit den rubrizierten Annotationen eingetragen habe (vgl. S. 12). Allerdings unterscheidet sich die Buchstabenmorphologie der rubrizierten Annotation grace auf fol. 13r in Add MS 61823 auf nicht unerhebliche Weise von der Buchstabenmorphologie des Wortes grace im lateinisch-­englischsprachigen Besitzeintrag auf fol. iv.v. Im Vergleich mit den Annotationen weist der Besitzeintrag ein kalligraphisch höheres Niveau auf, das eher für die von Sanford Meech bestimmte Datierung kurz vor 1500 spricht. Damit wäre die Kempe-­Handschrift bereits relativ kurze Zeit nach ihrer Entstehung im Kloster Mount Grace vorhanden gewesen. Vgl. BMK, Einleitung, S. xxxii. 79 Vgl. das Format 265 × 190 mm, Textfeld 195 × 130 mm des St. Gregor-­Kompendiums Add MS 62450 und das Format der Kempe-­Handschrift Add MS 61823, 215 × 140 mm, Textfeld 140 × 85mm. Zur Ausstattung vgl. die zweizeiligen, in Blau und Goldblatt ausgeführten Initialen die Incipit, Epilog und Explicit der Homiliae auf fol. 2r und 132r markieren; drei- bis sechszeilig ausgeführte Lombarden, die teilweise mit Goldblatt verziert sind und den Beginn der einzelnen Predigten kennzeichnen; der Hoheliedkommentar (fol. 134r–162v) ist wie die Kempe-­Handschrift mit umfangreichen Annotationen versehen worden: Nahezu über die gesamte Handschrift verteilt finden sich Randnotizen in Bleistift mit wiederkehrenden Fleuronné- und Fahnensymbolen, besonders fol. 159v–161r sind am Rand mit großflächigen Schnörkeln, parallelen Strichen und wiederkehrenden Blumensymbolen in Bleistift versehen, während fol. 170r–172v nota-­Abbreviaturen und Kommentare aufweisen. Fol. 159v ist großflächig mit Bleistift annotiert, am linken äußeren Rand finden sich fleuronnéähnliche Ranken und Blumensymbole zur Hervorhebung einzelner Textpartien; fol. 160r weist ähnliche Randeinträge auf, neben fol. 161r, Z. 28 f. ist das Wort luf am äußeren rechten Rand der Handschrift platziert; die rubrizierten A- und S-Initialen fol. 163r sind vergleichbar mit den Initialen im Kempe-­Text; fol. 170r annotiert mit rankenähnlichen Linien und Hervorhebungen; fol. 172v weist wiederholt die nota-­Abbreviatur und rubrizierte A- und N-Initialen auf. 80 Vgl. den detaillierten Forschungsbeitrag der Archäologen Glynn Coppack und Mick Aston. Fundgegenstände der Mönchszellen 10 und 11 dokumentierten die intensive Schreibtätigkeit der Mönche, während sich die Arbeit von Illuminatoren für die Zellen 12 und 13 nachweisen ließe. In der Mönchszelle 10 sei zudem ein Bleisatz und eine Steinform zum Gießen von Bleilettern gefunden worden, die zum Buchdruck eingesetzt werden konnten. Vgl. Coppack/Aston: Christ’s Poor Men, besonders S. 96 f. 81 Vgl. die Textedition: The Writings of Julian of Norwich. Hrsg. von Nicholas Watson and Jacqueline Jenkins. Pennsylvania 2006 (Brepols Medieval Women Series), S. 61 – 121. Der Text wird genauer in Kapitel 2.3.2 „Margery Kempe, Mount Grace und mystische Kartäuserliteratur“ beleuchtet.

68 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

von Kartäusermönchen zusammengestellt und rezipiert worden ist.82 Deshalb muss die Frage offen bleiben, wie sich die Hinweise auf einen benediktinischen Schreiber mit einem möglichen kartäusischen Entstehungsort der Handschrift vereinbaren lassen. Jedenfalls lässt sich der genaue Tradierungsweg von einer vermuteten Entstehung in East Anglia (Bishop’s Lynn, Soham, Norwich?) zu der von Bishop’s Lynn gut 265 Kilometer entfernten Kartause Mount Grace nicht zweifelsfrei erweisen.83 Aufschluss kann möglicherweise eine Untersuchung der erhaltenen Handschriften des Norwicher Benediktinerklosters bieten.84 Es wäre denkbar, dass die Kempe-­Handschrift Add MS 61823 kurze Zeit nach ihrer Entstehung um 1440 im Kontext des Literaturaustauschs ­zwischen monastischen Institutionen verliehen worden sein könnte. Ein möglicher Anhaltspunkt für einen Bücheraustausch ist vielleicht in dem oben erwähnten Rezept zu sehen, das auf fol. 124v in einer Kursivschrift des ausgehenden 15. Jahrhunderts notiert worden ist. Wie oben erwähnt, gilt es der Forschung als unvereinbar mit der Vorstellung einer streng asketisch lebenden Kartäusergemeinschaft.85 Für die Benediktiner der Norwich Cathedral Priory ließen sich zumindest die im Rezept angegebenen Zutaten nachweisen.86 Die Handschrift Cambridge, Magdalene 82 Vgl. die Handschrift London, British Library, Add MS 37790 aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, die die Kurzfassung „A Vision Showed to a Devout Woman“ (fol. 97r–115r) unikal überliefert. Marleen Cré: Vernacular Mysticism in the Charterhouse. A Study of London, British Library, Add MS 37790. Turnhout 2006 (The Medieval Translator 9), S. 13 und S. 23 – 43 zur kartäusischen Provenienz der Handschrift, die anhand von Glossierungen des Professmönchs James Grenehalgh aus der Kartause Sheen sowie der planvollen Anlage und programmatischen Ausrichtung der Textkompilation e­ rschlossen werden kann. Aufgrund des Schreibdialekts liegt eine Entstehung in einer nordenglischen Kartause in Beauvale (Nottinghamshire), Axholm (Lincolnshire) oder Hull (Yorkshire) nahe, vgl. Cré: Vernacular Mysticism, S. 54 – 59. Vgl. die Ausführungen zu Add MS 37790 in Kapitel 2.3.2 „Margery Kempe, Mount Grace und mystische Kartäuserliteratur“. 83 Vgl. dagegen die Einschätzung von Bale: The Book of Margery Kempe, Einleitung, S. xxxiv–xxxv. 84 Vgl. Beadle: Prolegomena to a Literary Geography of Later Medieval Norfolk, S. 99. Greatrex: Biographical Register of the English Cathedral Priories of the Provinces of Canterbury c. 1066 – 1540, Einleitung zu Norwich Cathedral Priory, S. 466. Dem Benediktinerkloster unterstand die Gemeinde Bishop’s Lynn, in der sich ein Ableger des Klosters an der Margaretenkirche in Lynn befand. Die Mönche der Benediktinerpriorei Norwich rekrutierten sich vornehmlich aus der näheren Umgebung und besonders auch aus Bishop’s Lynn, vgl. dazu Tanner: Ages of Faith, S. 46 und S. 55. 85 Vgl. zur streng regulierten Ernährungsweise der Kartäuser aus Mount Grace, die anhand archäologischer Funde erschlossen werden kann, Coppack/Aston: Christ’s Poor Men, S. 106 – 109. 86 Vgl. Houses of Benedictine Monks. The Cathedral Priory of the Holy Trinity, Norwich. In: The Victoria History of the County of Norfolk. Volume 2. Hrsg. von William Page. London 1906 (Victoria History of the Counties of England), S. 317 – 328. Page bietet eine Übersicht über die erhaltenen spätmittelalterlichen Registerbücher der Norwich Cathedral Priory und er hält für die Registerbücher des Infirmarius fest (S. 324, col. 1): „The medicines are seldom specified but among the drugs and spices were liquorice, anisseed, turbit, dragon’s blood, aggarik, mace, cloves, pepper and nutmeg. Other purchases of the infirmarer were almonds, dates, figs and pomegranates and white sugar, but these were for convent feasts.“ Richard Salthows hatte das Amt des Infirmarius inne, vgl. Greatrex: Biographical

Die Handschrift London, British Library, Add MS 61823 | 69 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

College 13 (F.4.13) aus der Klosterbibliothek Syon weist auf den Vorsatzblättern ebenfalls Rezepte in englischer Sprache auf, die offenbar im Kloster entstanden sind 87 und deshalb keinen Aufschluss über einen laikalen Gebrauchskontext bieten, wie ihn die Forschung anhand des Rezepts für die Londoner Kempe-­Handschrift vermutet. Jedenfalls scheinen die oben diskutierten überlieferungsgeschichtlichen Indizien darauf hinzudeuten, dass die materiellen Voraussetzungen der Textkonstitution und Überlieferung offenbar in einem klerikal-­monastischen Umfeld und damit innerhalb einer offiziell autorisierten Literaturproduktion zu suchen sind. Anhand der beiden erhaltenen Druckfassungen der Jahre 1501 und 1521 und ihrer spezifischen Materialpräsentation soll diese Spur weiterverfolgt werden.

2.2 Die Druckfassungen des Kempe-Textes 2.2.1 Der Wynkyn-de-Worde-Druck von 1501 – Zur Präsentation der ‚Autorin‘ in der Überlieferung Dass eine Autorin namens Margery Kempe existiert hat, legen die beiden erhaltenen Druckfassungen von Wynkyn de Worde aus dem Jahr 150188 und von Henry Pepwell (1521)89 nahe. Der einfach ausgestattete, siebenseitige Druck im Quartformat von Wynkyn de Worde bietet eine Art Zusammenfassung der kontemplativen Passagen des Buches.90 Hier zeichnet sich

87 88

89 90

Register of the English Cathedral Priories of the Provinces of Canterbury c. 1066 – 1540, Einleitung zu Norwich Cathedral Priory, S. 466. Vgl. David Bell: What Nuns Read. Books and Libraries in Medieval English Nunneries. Kalamazoo, Michigan 1995, S. 180 f. im Rückgriff auf den Katalogeintrag von Montague Rhodes James: Descriptive Catalogue of the Manuscripts in the Library of Magdalene College. Cambridge 1909, S. 24 – 33. Vgl. Cambridge, Cambridge University Library, Wynkyn de Worde 1501, STC (2nd Edition) 14924, die Zitate stammen aus dieser Druckfassung. Ich danke Louise Clark, Cambridge University Library, herzlich dafür, dass sie mir den Druck in der Cambridge University Library zur Verfügung gestellt hat. Vgl. die Textausgabe in BMK, Appendix, S. 353 – 357 mit einem textkritischen Apparat, der Varianten der Pepwell-­ Fassung verzeichnet. Die Datierung wurde durch den Zustand eines Holzschnittes ermittelt, den William Caxton erstmals 1491 in dem Gebetstext „Fifteen Oes“ verwendet, der Birgitta von Schweden zugeschrieben wird. Vgl. Holbrook: Margery Kempe and Wynkyn de Worde, S. 40. Vgl. auch BMK, Einleitung, S. xlvi. Vgl. Fifteen Oes, London, British Library, STC 20195 mit dem Incipit sig. ii.r: O Jhesu endles swetnes of louying soules / O Jhesu gostly ioye passing and excedyng all gladness and desires. Eingesehen unter Early English Books Online, http://eebo.chadwyck.com [07. 8. 2018], im Folgenden abgekürzt als EEBO. Vgl. London, British Library, Henry Pepwell, 1521. STC 20972, BL. C. 37 f. 19. Vgl. die Ausgabe von Edmund Gardner: The Cell of Self-­Knowledge. Seven Early English Mystical Treatises Printed by Henry Pepwell in 1521. M. A. New York 1910. Vgl. Cambridge, Wynkyn de Worde 1501, sig. iv.v. Die Druckfassung weist eine einfache Ausstattung mit einem Holzschnitt auf, der eine Golgathadarstellung zeigt. Vgl. die Beschreibung von George ­Painter: William Caxton. A Quincentenary Biography of England’s First Printer. London 1976, S. 184. Vgl. auch George R. Keiser: The Mystics and the Early English Printers. The Economics of Devotionalism.

70 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

ein verstärktes Interesse an der Verknüpfung ­zwischen Text und ‚(Autor)-Namen‘ ab und damit an der Repersonalisierung der im Text anonymisierten Protagonistin: Denn Incipit (sig. i.r: Here begynneth a shorte treatyse of contemplacyon taught by our lorde Ihesu cryste, or taken out of the boke of Margerie kempe of lyn) und Kolophon (sig. iv.r: Here endeth a shorte treatyse called Margerie kempe de Lyn) demonstrieren, dass die Frage nach der Autorin und dem Titel auf die Person Margery Kempe hin konkretisiert wird.91 Gleichzeitig weisen diese Angaben den gedruckten Text als Exzerpt ‚ihres‘ Buches aus und auf diese Weise umgeben sie ihn mit der Aura buchgelehrter auctoritas.92 Der Zusatz im Nachdruck von Henry ­Pepwell Here endeth a shorte treatyse of a deuoute ancres called Margerye kempe of Lynne 93 vereindeutigt das ‚Besitzverhältnis‘ und stilisiert die Margery-­Figur als fromme Rekluse, wie weiter unten diskutiert werden soll. Offenbar basiert das Incipit auf einer genauen Textkenntnis der Buchfassung: Denn der erste Prolog zeichnet sich gerade durch den häufigen Einsatz der Bezeichnung boke 94 aus und profiliert die Margery-­Figur in der Rolle einer von Gott inspirierten, ihre Gnadenerfahrungen diktierenden Visionärin. Die Drucküberlieferung folgt der in der Kempe-­ Vita angelegten Autorinszenierung, indem sie die Angaben zur Verschriftlichung, die besonders in die Prologpartie und die epilogartigen Buchkapitel inseriert sind, zur Vorstellung einer namentlich ausgewiesenen (Autor)-Person konkretisiert. Auf diese Weise hat die Druckfassung auch die neuzeitliche Titelgebung der historisch-­kritischen Edition des Kempe-­Textes nachhaltig beeinflusst: Denn der Titel „The Book of Margery Kempe“, unter dem der handschriftliche Text von der Early English Text Society herausgegeben wurde, stellt eine Rekonstruktion der Überschrift der späteren Druckfassungen dar und lässt sich daher ebenfalls als Ergebnis der Textgeschichte fassen.95 In der Handschrift Add MS 61823 setzt die Kempe-­Vita dagegen ohne jede paratextuelle Markierung mit der prologartigen Anfangspartie ein, wie es den medialen Gegebenheiten mittelalterlicher Handschriften entspricht.96

91 92 93 94 95 96

In: The Medieval Mystical Tradition in England. Papers read at Dartington Hall, July 1987. Hrsg. von Marion Glasscoe. London 1988, S. 12 f. Vgl. die detaillierten Überlegungen zu einer vergleichbaren Problematik, die die Autorpräsentation in der handschriftlichen Überlieferung mit den Überschriften der ‚Vita‘ Heinrich Seuses betreffen: ­Altrock/ Ziegeler: Vom diener der ewigen wisheit zum Autor Heinrich Seuse, besonders S. 153 – 155. Vgl. Staley: Margery Kempe’s Dissenting Fictions, S. 31: „The Book begins with a proem that locates Margery in a community in which books serve as tokens of permanency and authority.“ Holbrook: About Her, S. 269. London, British Library, Henry Pepwell, 1521. STC 20972, BL. C. 37 f. 19, sig. e.iii.r. Vgl. Holbrook: About Her, S. 269. Vgl. Windeatt: The Book of Margery Kempe, S. 1 und Butcher: Reading „The Book of Margery Kempe“, S. 211. Vgl. Bürkle: Die Offenbarungen der Margareta Ebner, S. 91 und Altrock/Ziegeler: Vom diener der ewigen wisheit zum Autor Heinrich Seuse, S. 154 – 156.

Die Druckfassungen des Kempe-Texte | 71 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Für die akribische Lektürepraxis des Kompilators spricht auch, dass die Druckfassung aus 24 verschiedenen Kapiteln des Buches zusammengefügt ist.97 So besteht etwa sig. i.r aus Auszügen der Kapitel 14, 21, 35, während sig. i.v aus Exzerpten der Kapitel 36, 64 und 77 kompiliert wurde. Die Ordnung des Druckes ist innerhalb des Textes visuell markiert, da jede Passage mit einem gedruckten Absatzzeichen beginnt und mit einer Leerzeile endet.98 Die Episodenhaftigkeit der Kempe-­Handschrift wird durch eine stringenter wirkende Ordnungsstruktur ersetzt; allerdings bleibt die einer nicht linearen Handlungslogik folgende Reihung von Motivkomplexen auch noch in der Druckfassung bestehen, die sich daher nicht ohne Weiteres als ‚Ordnungsraster‘ für den Text anbieten, wie Sue Ellen Holbrook vermutet.99 Denn Holbrook subsumiert unter die von ihr bestimmte thematische Einheit der Gottesliebe auch die Texteinheiten 9 und 10, die das Thema der Reue 100 und die Zentrierung auf die Passion Christi in Form eines übergeordneten Erzählerberichts darbieten. Diese Textpartien lassen sich allerdings aufgrund ihrer thematischen Vielfalt nicht unter einem einzigen fokalen Motiv anordnen, wie Holbrook es versucht. Dagegen weist die zweite von Holbrook bestimmte Einheit (11 – 15) eine größere thematische Kohärenz im Hinblick auf die Tränengabe auf, die zeichenhaft überschrieben ist zur Versinnbildlichung der Reue und compassio.101 Die dritte Einheit (16 – 19) lässt sich unter dem Motiv der Gnadenfrucht fassen, die die geistige Tochter durch ihren vorbildlich-­frommen Lebenswandel empfangen werde. Die vierte Einheit (20 – 21) fokussiere auf die Sündenvergebung und den Empfang der Gnadenfrucht, die der geistigen Tochter bereits zuteil geworden sei. Abschließend sei die fünfte und letzte Einheit (22 – 28) auf das Erleiden von Anfechtungen zentriert, die der Text als þe ryght way to heuen präsentiere.102 97 Vgl. die Druckfassung um 1501 in BMK, S. 353 – 357 mit einer genauen Verzeichnung der Textpartien (mit Seitenangabe aus der Textedition), aus denen die Druckfassung kompiliert wurde. Vgl. auch die tabellarische Übersicht in Holbrook: Margery Kempe and Wynkyn de Worde, S. 28. Die selektierten Textpartien sind den verschiedensten Handschriftenkapiteln entnommen, wobei auch mehrere Exzerpte aus ein- und demselben Kapitel stammen können. 98 Vgl. Cambridge, Wynkyn de Worde, 1501, sig. i.r–iv.r. In der von Meech editierten Textfassung sind die im Druck vorhandenen Absatzzeichen durch Absätze ersetzt, vgl. BMK, S. 353 – 357. 99 Vgl. die Ausführungen von Holbrook: Margery Kempe and Wynkyn de Worde, S. 28 – 30. Vgl. auch Foster: A Shorte Treatyse of Contemplacyon, S. 97, die auf diesen Gliederungsversuch zurückgreift. 100 Die übergeordnete Erzählinstanz vermittelt die zentrale Frage der geistigen Tochter in indirekter Rede (how she myghte beste please hym), während die Christusrede in direkter Rede narrativiert ist: & he answered to her soule saynge „doughter haue mynde of thy wyckednes & thynke on my goodnes […].“ Cambridge, Wynkyn de Worde, 1501, sig. ii.r. 101 Vgl. Cambridge, Wynkyn de Worde, 1501, sig. ii.r (Textpartie 12): Whan sche saw the crucyfyxe, or yf she sawe a man had a wounde or a best. […] she thought she sawe our lorde beten or wounded lyke as she sawe in the man or in the beste. sig. ii.v (Textpartie 13): Than wolde she wepe for her owne synne. & for compassyon of that creature. Textpartie 15: Soo sche wepte as yf she had seen our lorde Ihesu with his woundes bledynge. 102 Vgl. Cambridge, Wynkyn de Worde, 1501, sig. iv.r (22): That day that she suffred noo trybulacyon for oure lordes sake she was not mery ne gladde as that daye whan she suffred trybulacyon. sig. iv.r (24): Doughter it

72 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Allerdings fügen sich auch die Christusreden der Partien 16, 20 und 21 nicht umstandslos in diesen Gliederungsversuch: Denn sie enthalten Anspielungen auf Priester in lynn,103 die Jerusalem-­Pilgerfahrt  104 und eine genauere zeitliche Verortung,105 die die Figur der geistigen Tochter zumindest ein Stück weit lebensweltlich konkretisieren. Zusammengesehen mit dem Incipit, das den Traktat als göttliche Offenbarungslehre aus dem Buch der Margery Kempe aus Lynn ausweist,106 dechiffrieren diese Christusreden die Identität der ‚geistigen Tochter‘, wie sie in der Buchfassung in der Rolle einer visionär begabten Autorin angelegt ist. Aus einer rezeptionsorientierten Sicht entfalten diese Anspielungen in Verbindung mit der Incipit-­Angabe eine Art referentielle ‚Sogwirkung‘, die der Druckfassung den Anstrich des Authentischen und historisch Verbürgten verleihen kann. In der englischsprachigen Kempe-­Forschung werden diese Textpartien allerdings kaum berücksichtigt,107 obwohl sie zumindest punktuell ein Interesse an einer Art Repersonalisierung der Figur der ‚geistigen Tochter‘ signalisieren. Die Namensnennung in Verbindung mit der präzisen Ortsangabe (taken out of the boke of Margerie kempe of lyn[n]) indiziert möglicherweise eine gewisse Bekanntheit Margery Kempes.108 Jedenfalls vermuten George Keiser und Sue Ellen H ­ olbrook, is more plesure to me þat thou suffre despytes, scornes, shames, & repreues, wronges, dyseases, than yf thyne hede were stryken thre tymes a day euery day in seuen yere. 103 Cambridge, Wynkyn de Worde, 1501, sig. ii.v-­iii.r (16): Doughter þu haste desyred in thy mynde to haue many preestes in the towne of lyn, that might synge & rede nyght and day for to serue me, worshyp me & prayse me […] therfore doughter I promyse the thou shalt haue mede & rewarde in heuen for the good wylles & good desyres, as yf thou haddest done them in dede. 104 Vgl. Cambridge, Wynkyn de Worde, 1501, sig. iii.v (20): Dougthers as oftentymes as þu sayest or thynkest worshypped be all the holy places in Iherusalem where cryst suffre bytter payne & passyon in thou shalt haue haue the same pardon as yf þu were wyth thy bodely presence both to thy selfe & to al tho þat thou wylt gyue to. 105 Vgl. Cambridge, Wynkyn de Worde, 1501, sig. iii.v: The same pardon þat was graunted the afore tyme. it was confermed on saynt Nycolas daye, þat is to say, playne remyssyon […]. they shall haue the same pardon þat is graunted to thy selfe, & þat is all þe pardon þat is in Ierusalem, as was graunted þe whan þu were at Rafnys. Barry Windeatt identifiziert Rafnys als Ramleh/Ramla, eine Reisestation ­zwischen Jerusalem und dem Küstengebiet, vgl. Windeatt: The Book of Margery Kempe, S. 174 Anm. 2445. Vgl. die Textpartie der Buchfassung BMK, S. 175, 29 – 176, 5: […] and þe same pardon þat was grawntyd þe befor-­tyme, it was confermyd on Seynt Nicholas Day, þat is to seyn plenowr remissyon, and it is not only grawntyd to þe but also to alle þo þat beleuyn […]. and þat is alle þe pardon þat is in Ierusalem as was grawntyd þe whan þu wer at Rafnys […]. 106 Vgl. Cambridge, Wynkyn de Worde, 1501, sig. i.r. 107 Vgl. etwa Holbrook: Margery Kempe and Wynkyn de Worde, S. 33, die diese Textpartien verzeichnet, ohne die mit ihnen verbundenen Implikationen zu thematisieren. 108 Vgl. Holbrook, Margery Kempe and Wynkyn de Worde, S. 42. Vgl. die textinterne Anspielung auf die Bekanntheit der Margery-­Figur in London, secundus liber, Kapitel 9, S. 243, 13 – 17: Whan sche was comyn in-­to London, mech pepil knew hir wel a-­now; in-­as-­mech as sche was not clad as sche wold a ben for defawte of mony, sche, desiryng to a gon vn-­knowyn in-­to þe tyme þat sche myth a made sum chefsyawns, bar a kerche be-­for hir face. Rebecca Schoff argumentiert dagegen, dass die Namensnennung nicht unbedingt auf das Renommee Margery Kempes zurückzuführen sei, da die ausgewählten Textpartien ihre

Die Druckfassungen des Kempe-Texte | 73 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

dass die Namensnennung einen gewissen ‚Wiedererkennungswert‘ unter einem von ­Wynkyn de Worde anvisierten Lesepublikum voraussetzen könnte.109 Dass der Kempe-­Text in den Druck gelangt ist, spricht für seine Bekanntheit und Wirkungsmächtigkeit innerhalb des Zeitraums von 1440 – 1521. Die Textauswahl bedingt eine andere Rezeptionshaltung und öffnet den Text für eine identifikatorische Lektüre:110 In der übersichtlichen Quarto-­Edition aus dem Jahr 1501 liegt der Schwerpunkt sehr deutlich auf der stillen Andacht und den Visionserfahrungen der Protagonistin. Die (Rollen-)Identität der geistigen Tochter wird dialogisch in den Christusreden durch die Anrede doughter konstituiert, so dass die Protagonistin nur in strikter Abhängigkeit von ihrem göttlichen Dialogpartner als minnende,111 mitfühlende Seele,112 als Fragende 113 und Fürbitterin 114 ‚Gestalt annimmt‘. Bis auf die oben erwähnten Anspielungen auf Priester aus Lynn und die Jerusalem-­Pilgerfahrt verzichtet der Kompilator allerdings auf biographische Konkretisierungen, die Umstände des weltlichen Lebens der Margery-­Figur der Buchversion und ihre für die Außenwelt oftmals gesteigert erscheinende Frömmigkeit spielen keine Rolle.115 Und diese Retextualisierung indiziert einen veränderten Gebrauchs- und Funktionszusammenhang, der anhand der Textauswahl näher bestimmt werden soll. Durch die dialogische Struktur erhält der Text den exemplarischen Charakter eines Lehrgesprächs, das die höchste Instanz, die ‚Stimme‘ Gottes, autorisiert (taught by our

109 110 111

112 113 114 115

spirituelle Autorität ausreichend profilierten, um auch Leser ohne entsprechendes Hintergrundwissen anzusprechen. Vgl. Schoff: Three Medieval Authors, S. 121 f. Vgl. Keiser: The Mystics and the Early English Printers, S. 16. Vgl. dagegen die vorsichtigere Einschätzung von Foster: A Shorte Treatyse, S. 102. Vgl. Anm. 128 unten. Vgl. Cambridge, Wynkyn de Worde, 1501, sig. i.v: Doughter, yf thou knewe how swete thy loue is to me þu woldest neuer do other thynge but loue me with all thy herte. sig. ii.r: The more she encreased in loue & in deuocyon, the more she encreased in sorowe & contrycyon, in lownesse & mekenesse, & in holy drede of our lorde Ihesu & in knowlegde of her owne freylte. Vgl. Cambridge, Wynkyn de Worde, 1501, sig. ii.r: Whan she saw the crucyfyxe, or yf she saw a man had a wounde […] she thought she saw our lorde beten or wounded lyke as she saw in the man or in the beste. Vgl. Cambridge, Wynkyn de Worde, 1501, sig. i.r: Than she asked our lorde Ihesu cryste, how she sholde best loue him. sig. ii.r: And than wyth grete wepynge she asked our lorde Ihesu how she myghte beste please hym. sig. ii.v: Our mercyfull lorde Ihesu cryste drewe this creature vnto his loue & to the mynde of his passyon. Vgl. Cambridge, Wynkyn de Worde, 1501, sig. iii.r–v. Vgl. Holbrook: Margery Kempe and Wynkyn de Worde, S. 32 f.: „Gone too are the physical phenomena of her mystical experience. Gone are the sacred and profane events retold in sequences, built of associative patterns cohering around the themes of food, sex, words and tears. Except for the specific references to Lynn and to the pardon received on St. Nicholas day at Rafnys, gone, too are the concrete details of these sacred and profane events: the names of places, holidays and people; the visits, the books, the meals; the specific controversies, accusations, persecution, rescue, advice and help from churchmen and townfolk; the verbal exchange with defenders and friends, strangers and enemies.“

74 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

lorde Ihesu cryste):116 Dies motiviert wohl auch die unterschiedliche Verteilung der Redeanteile, in denen die Christusreden klar überwiegen. Der treatyse beginnt dramatisch mit dem Wunsch des Märtyrertodes der geistigen Tochter, die auf diese Weise in die Nähe weiblicher Märtyrerinnen wie Katharina von Alexandria oder Margareta von Antiochien gerückt wird. Sie erfährt somit gleich zu Beginn eine Aufwertung ihres spirituellen Status als begnadete Visionärin. Bezeichnenderweise verweist die im gesamten Text anonym bleibende Erzählinstanz 117 bereits am Anfang darauf, dass sich das Zwiegespräch z­ wischen Christus und der geistigen Tochter auf spiritueller Ebene ereignet: Thenne sayd oure lorde Ihesu in her mynde.118 Diese Erzählerbemerkung bewirkt eine Art narrative Distanznahme und weist gleichzeitig den Dialog als Medium der Gotteserfahrung aus.119 Zusammengesehen mit den ausgewählten Christusreden geht auf diese Weise ein legitimierender Effekt auf die Kempe-­Buchfassung aus, die gewissermaßen zu einer authentischen Quelle göttlichen Offenbarungswissens stilisiert wird.120 Zunächst dominieren in der Kempe-­Forschung überwiegend negativ ausfallende Deutungsversuche, die sich wiederum auf die als richtungsweisend geltende Beurteilung des Herausgebers Sanford B. Meech zurückführen lassen:

116 Vgl. Holbrook: Margery Kempe and Wynkyn de Worde, S. 29. 117 Der Erzähler tritt im gesamten Text nicht hervor, er übernimmt die Funktion einer übergeordneten Vermittlungsinstanz: vgl. etwa die Einführung der Redeanteile durch verba dicendi: She sayd (sig. iii.v); and our lorde sayd (sig. i.r); Whan she was in grete trouble our lorde sayd […] (sig. iv.r); vgl. auch die Einleitung der Christusreden in den Textpartien 13 (sig. ii.v), 22 (sig. iv.r) und 26 (sig. iv.r); vgl. auch die Zusammenfassung der Innenwelt der geistigen Tochter She had grete wonder that our lorde wolde become man & suffre so greuous paynes for her þat was so vnkynde a creature to him (sig. ii.r), she thought she sawe our lorde beten or wounded lyke as she sawe in the man or in the beste (sig. ii.r) und den summarischen Erzählerbericht: Our mercyfull lorde Ihesu cryste drewe this creture vnto his loue & to the mynde of his passyon that myght not endure to beholde a lepre or an other seke man specyally yf he had ony woundes apperynge on hym. Soo she wepte as yf she had seen our lorde Ihesu with his woundes bledynge (sig. ii.v). Diese Beispiele demonstrieren, dass der Erzähler auf der discours-­Ebene als eine allwissende, ‚auktorial‘ anmutende Instanz konzipiert ist, die den Text durch seine einleitenden Kommentare und Berichte strukturiert. Der Erzähler gleicht einer nicht näher fassbaren narrativen ‚Stimme‘, die gleichsam aus dem Hintergrund des Erzählten zu kommen scheint. 118 Cambridge, Wynkyn de Worde, 1501, sig. i.r. 119 Die Überlegung, dass Dialoge nicht nur als Darstellungstechnik, sondern auch als (behauptetes) Medium der Gotteserfahrung dienen, hat Gerd Dicke im Hinblick auf das „Fließende Licht“ formuliert, vgl. Gerd Dicke: Aus der Seele gesprochen. Zur Semantik und Pragmatik der Gottesdialoge im „Fließenden Licht der Gottheit“ Mechthilds von Magdeburg. In: Dialoge. Sprachliche Kommunikation in und ­zwischen Texten im deutschen Mittelalter. Hamburger Colloquium 1999. Hrsg. von Nikolaus Henkel [u. a.]. Tübingen 2003, S. 274. Vgl. auch Volfing: Dialog und Brautmystik bei Mechthild von Magdeburg, besonders S. 258. Zur oben erwähnten Entfaltung einer dialogischen Identitäts- und Autorkonzeption, Suerbaum: Dialogische Identitätskonzeption bei Mechthild von Magdeburg, S. 243. 120 Vgl. Schoff: Three Medieval Authors, S. 119.

Die Druckfassungen des Kempe-Texte | 75 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

The extractor chose passages which could not shock or offend religious sensibilities, but which in their total effect give a very imperfect and one sided impression of Margery’s character and a rather flavourless one of the book.121

Und diese Kritik hat die Forschung zunächst eher unreflektiert aufgegriffen und auf die fehlende lebensweltliche Einbindung und ‚Entindividualisierung‘ der geistigen Tochter in der Druckfassung wiederholt hingewiesen, um sie als eine Art ‚Zerrbild‘ der Margery-­Figur der Buchfassung zu bestimmen.122 Diane Watt und Sue Ellen Holbrook sehen ein vermeint­ liches Unbehagen des Exzerptors gegenüber der emotional gefärbten Darstellung der Buchfassung, des exzentrisch anmutenden Charakters der Protagonistin und den somatischen Manifestationen ihrer Gnadenerfahrung als mögliche Begründung für die Transformation der Margery-­Figur in die Figur der geistigen Tochter.123 Hinter dieser Einschätzung mögen wohl die vielen psychologisierenden Deutungsansätze stehen, aus denen deutlich eine ablehnende Haltung gegenüber der somatischen Dimensionierung der Gotteserfahrung und der literarischen Präsentation der Protagonistin hervorgeht.124 Und diese der Neuzeit und ihrer Terminologie verpflichteten Bedenken gegen Margery Kempes ‚Charakter‘ werden unbesehen auf den mittelalterlichen Exzerptor übertragen. Eine genauere funktionsgeschichtliche Bestimmung der Druckeditionen haben neuere Forschungsbeiträge in den letzten Jahren zunehmend erschlossen.125 Aufgrund des hand­ lichen und in der Produktion vergleichsweise preiswerteren Quartformats und zum anderen 121 BMK, Einleitung, S. xlvi. 122 Vgl. etwa Goodman: The Piety of John Brunham’s Daughter of Lynn, 1978, S. 357 f. Holbrook: Margery Kempe and Wynkyn de Worde, S. 35: „In sum, the extractor has searched for passages that commend the patient, invisible toleration of scorn and the private, inaudible, mental practice of good will in meditation rather than public or physical acts or sensory signs of communion with God and has left behind all that is radical, enthusiastic, feminist, particular and potentially heretical and historical.“ Im weiteren Verlauf qualifiziert Holbrook ihre Überlegungen, vgl. S. 42: „Although astonishingly different from the full Book of Margery Kempe, Wynkyn de Worde’s printed version does not so much distort or marginalise Margery Kempe as it does transform or represent what she wrote.“ Vgl. Lochrie: Translations of the Flesh, S. 220: „[…] Kempe’s Handbook was transformed into an instructional handbook for devotion. In the process of this transformation, her voice was almost entirely expunged from the text.“ S. 221: „Where her voice does appear, it is humble, muted, effectively erased, except as it seems to express her meek compliance with Christ’s instruction.“ Vgl. die kritische Hinterfragung dieser Positionen durch Jennifer Summit: Lost Property. The Woman Writer and English Literary History 1380 – 1589. Chicago 2000, S. 127 f. im Hinblick auf die Druckfassung von 1521. Vgl. auch Foster: A Shorte Treatyse, S. 95 und Schoff: Three Medieval Authors, S. 116 – 119 und S. 137. 123 Vgl. Diane Watt: Secretaries of God. Women Prophets in Late Medieval and Early Modern England. Cambridge 1997, S. 156 f. 124 Vgl. die Ausführungen in der Einleitung der vorliegenden Arbeit. 125 Vgl. Foster: A Shorte Treatyse, S. 95 – 113 und Schoff: Three Medieval Authors, besonders S. 116 – 119 und S. 137.

76 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

aufgrund der Textorganisation, der einfachen Gliederung durch gedruckte Absatzzeichen und dem oben erwähnten Holzschnitt hat die Forschung eine funktionelle Zuordnung als Erbauungsbuch für ein breiteres Lesepublikum vornehmen können.126 Die spezifische Materialpräsentation der Druckfassung lässt sich offenbar funktionsgeschichtlich aus dem Texttyp Andachtsbuch herleiten.127 Daher sieht Rebecca L. Schoff die Transformation der Margery-­Figur in eine exemplarische ‚geistige Tochter‘ im Zusammenhang mit der instruktiv-­erbaulichen Funktion der Druckfassungen und ihrem möglichen Rezipientenkreis, der neben monastischen Lesern auch Laien eingeschlossen haben könnte.128 Das Vorbildhaft-­Exemplarische, das die Figur der geistigen Tochter gewissermaßen ‚verkörpert‘, kann zur Erklärung der überwiegend ‚entindividualisierten‘ Figurendarstellung herangezogen werden. Dadurch dass die Margery-­Figur zunächst als nahezu jeglicher individueller Züge ‚entkleidete‘ Rollenfigur erscheint, steht sie für ein mystagogisches Modell, das den Lesern anhand eines Lehrgesprächs zugänglich gemacht wird.129 Allerdings stellt Schoff die Hypothese auf, dass sich die Lektürepraxis ­dieses breiteren Rezipientenkreises grundlegend von 126 Vgl. zu spätmittelalterlichen Andachtsbüchern, die sowohl von Klosterangehörigen als auch Laien rezipiert wurden: Anne M. Hutchison: Devotional Reading in the Monastery and in the Late Medieval Household. In: De Cella in Seculum. Religious and Secular Life and Devotion in Late Medieval England. An Interdisciplinary Conference in Celebration of the Eight Centenary of the Consecration of St. Hugh of Avalon, Bishop of Lincoln. 20 – 22 July 1986. Hrsg. von Michael G. Sargent. Cambridge 1989, S. 215 – 229; Martha W. Driver: Pictures in Print. Late Fifteenth- and Early Sixteenth-­Century English Religious Books for Lay Readers. In: De Cella in Seculum, S. 229 – 244; Lochrie: Translations of the Flesh, S. 220. Vgl. auch Vincent Gillespie: Vernacular Books of Religion. In: Book Production and Publishing in Britain 1375 – 1475. Hrsg. von Jeremy Griffith and Derek Pearsall. Cambridge 1989 (Cambridge Studies in Publishing and Printing Histories), S. 319 – 322. In seiner Untersuchung zur Verbreitung religiöser Texte in der Volkssprache hält Vincent Gillespie fest, dass eine verstärkte Rezeption volksprachlich-­religiöser Erbauungsliteratur aufgrund der steigenden Schreib- und Lesefähigkeiten von Laien für den englischsprachigen Raum zu verzeichnen sei. 127 Zur differierenden Funktion von Handschrift und Druck und der funktionalen Einbindung von ­Drucken innerhalb eines spezifischen Gebrauchskontexts, vgl.: Rüdiger Schnell: Handschrift und Druck. Zur funktionalen Differenzierung im 15. und 16. Jahrhundert. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. 32. Band (2007), 1. Heft, S. 66 – 111; Jan-­Dirk Müller: Der Körper des Buches. Zum Medienwechsel ­zwischen Handschrift und Druck. In: Materialität der Kommunikation. Hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer. Frankfurt a. M. 1988 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 750), S. 203 – 217; Jan-­Dirk Müller: Formen literarischer Kommunikation im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. In: Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Hrsg. von Werner Röcke und Marina Münkler. München, Wien 2004 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart Band 1), S. 21 – 54. 128 Schoff: Three Medieval Authors, S. 116 – 119 und S. 137. Vgl. zur Exemplarität der Margery-­Figur bereits Holbrook: Margery Kempe and Wynkyn de Worde, S. 30. Vgl. auch Grisé: Holy Women in Print, S. 94 f. zur Transformation der Kempe-­Handschrift unter einer instruktiv-­lehrenden Perspektive, die auf die Bedürfnisse eines anvisierten Rezipientenkreises ausgerichtet sei. 129 Christel Meier gebraucht in d ­ iesem Kontext den Begriff „Identifikationsmuster“, vgl. Meier: Autorschaft im 12. Jahrhundert, S. 243.

Die Druckfassungen des Kempe-Texte | 77 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

einer monastischen lectio der Buchfassung unterscheide.130 Zwar ist es durchaus plausibel, dass die Druckfassung als ein „treatyse concerned with general guidance“131 eine Art Transformation der Kempe-­Handschrift unter einer instruktiv-­lehrenden Perspektive darstellt, aber es fragt sich, ob nicht auch Ordensleute unter dem ‚neuen‘ Lesepublikum vermutet werden dürfen.132 Denn das Fehlen einer vermeintlich konkret-­fassbaren lebensweltlichen Einbindung der Protagonistin öffnet den Text auf eine ‚neue‘ identifikatorische Lektüre hin, die sowohl für religiös gebildete Laien als auch Klosterangehörige geeignet sein könnte. Auf diese Weise wird das Text-­Ich der Margery-­Figur zu einer Art „Wiedergebrauchs-­Ich“ (S. Glauch)133 konfiguriert, das durch seine exemplarische Offenheit und multiple Besetzbarkeit auf eine „identifikatorische Rezeption“ hin erweitert ist.134 Von einer ‚Verfälschung‘ der Person der Margery Kempe und der Beraubung ihrer ‚Stimme‘, wie sie die ältere anglistische Forschung vielfach ansetzt, kann unter einer solchen funktionsgeschichtlichen Perspektive wohl kaum die Rede sein. Vielmehr handelt es sich bei dem shorte treatyse um eine bewusst gestaltete Druckedition. Und diese Möglichkeit kann eine gewisse Plausibilität beanspruchen, wenn man bedenkt, dass die Druckfassungen von 1501 und 1521 zusammengesehen mit den verschiedenen Annotationsclustern und den rubrizierten Randeinträgen in der Handschrift Add MS 61823 auf eine intensive Rezeption des Kempe-­Textes schließen lassen. Besonders die oben erwähnten Randeinträge, die auf die mystische Begnadung von John Norton, dem Prior der Kartause Mount Grace, und dem Klostervikar Richard Methley verweisen, situieren den Kempe-­Text innerhalb der literarischen Aktivitäten der Kartäusermönche. 130 Vgl. Schoff: Three Medieval Authors, S. 119 f. und S. 122 f. Sie führt aus, dass durch die Tilgung der lebensweltlichen Konkretisierung der Protagonistin ein allgemeingültiges „sourcebook of accessible principles and examples from the contemplative narrative“ (S. 120) produziert worden sei. 131 Holbrook: Margery Kempe and Wynkyn de Worde, S. 31. 132 Dass Kartäusermönche sehr wohl Interesse an solchen Druckfassungen hatten, geht etwa aus den textvergleichenden Studien hervor, die der gelehrte Professmönch James Grenehalgh aus der Kartause Sheen an der von Wynkyn de Worde gedruckten Fassung der „Scale of Perfection“ und den entsprechenden Handschriften in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts vorgenommen hat. Vgl. dazu die Ausführungen weiter unten. 133 Der Begriff stammt von Sonja Glauch: An der Schwelle zur Literatur. Elemente einer Poetik des höfischen Erzählens. Heidelberg 2009 (Studien zur historischen Poetik, Band 1), S. 47. 134 Auf die Möglichkeit einer identifikatorischen Rezeption verweist Nemes: Von der Schrift zum Buch, S. 318, 328 f. im Rückgriff auf Susanne Bürkle und Almut Suerbaum: Die Paradoxie mystischer Lehre im „St. Trudperter Hohenlied“ und im „Fließenden Licht der Gottheit“. In: Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Henrike Lähnemann und Sandra Linden. Berlin, New York 2009, S. 27 – 40, hier S. 32, die im Hinblick auf die nachträglich inserierte Überschrift des Kapitels I, 23 in Buch VII des „Fließenden Lichts der Gottheit“ die „grundsätzlich sprachliche Offenheit der in der ersten Person gesprochenen Rede“ betone, die hier durch die Überschrift als Gebetstext ausgewiesen werde. Susanne Bürkle stellt wichtige Überlegungen an im Hinblick auf den rezeptionsästhetischen Effekt eines solchen „ins Leere weisenden Ichs und dessen multiple Besetzbarkeit und Exemplarität“, vgl. Bürkle: Die Offenbarungen der Margareta Ebner, S. 93.

78 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

2.2.2 Der Kempe-treatyse im Kontext der Mitüberlieferung Eine Untersuchung der Mitüberlieferung, d. h. die Frage an welcher Art von Überlieferungsgemeinschaft die Kempe-­Druckfassung teilhat, kann wichtige Anhaltspunkte für eine nähere funktionsgeschichtliche Einordnung des Kempe-­Textes bieten.135 Bisher haben Forschungsbeiträge allerdings eher den Versuch unternommen, die Identität des Exzerptors anhand der Textauswahl zu bestimmen:136 Sue Ellen Holbrook designiert Robert Spryngold als möglichen Kompilator der Druckfassung, der den textinternen Angaben der Buchfassung zufolge als Priester der Gemeinde St Margaret in Bishop’s Lynn 137 und als Beichtvater der Margery-­Figur tätig gewesen sei.138 Es fragt sich allerdings, ob die textinterne Ebene tatsächlich Rückschlüsse auf die Identität des Exzerptors zulässt. Denn Holbrook belegt ihre Überlegungen mit einer programmatischen Christusrede, die ausführt, dass Robert Spryngold der Margery-­Figur stille Andacht und Kontemplation anempfehle: Also, dowtyr, I telle þe þat Maistyr Robert, þi gostly fadyr, plesyth me ful meche whan he byddyth þe beleuyn þat I loue þe. And I knowe wel þat þu hast gret feyth in hys wordys, & so þu maist ryth wel, for he wyl not flatyr þe. And also, dowtyr, I am hyly plesyd wyth hym, for he biddith þe þat þu xuldist sittyn stille and ȝeuyn thyn hert to meditacyon & thynkyn swech holy thowtys as God wyl puttyn in þi mende. And I haue oftyn-­tymys bodyn þe so my-­self & ȝet þu wilt not don þeraftyr but wyth meche grutchyng. […] And þerfor, dowtyr, yf þu wilt not don aftyr my cownsel, do aftyr þe cownsel of þi gostly fadyr, for he biddith þe do þe same þat I bidde þe do […].139

Diese göttliche Weisung entspreche der thematischen Ausrichtung der Druckfassung. Sie kann allerdings nicht ohne Weiteres auf die Ebene der faktischen Entstehungsbedingungen der Druckedition übertragen werden, da sie im ‚Buch der Margery Kempe‘ rhetorisch 135 Vgl. den programmatischen Beitrag von Bernhard Schnell: Zur Bedeutung der Bibliotheksgeschichte für eine Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte, S. 221 – 231. Vgl. den Forschungsbeitrag von Roth, der die konkreten Überlieferungsbedingungen der Erzählung der „Sieben weisen Meister“ analysiert, Detlef Roth: Überlieferungskontext als Zugang zu mittel­alterlichen Texten am Beispiel der „Sieben weisen Meister“. In: ZfdPh, 122 (2003), S. 359 – 383, besonders S. 361. Vgl. auch Wetzel: Spricht maister Eberhart, besonders S. 303 f. Allyson Foster bietet eine ­solche funktionsgeschichtliche Einordnung der Kempe-­Druckfassung in Ansätzen, greift aber vornehmlich auf eine eher problematische, lebensweltlich orientierte Prämisse bei ihren überlieferungs- und textgeschichtlichen Überlegungen zurück, vgl. Foster: A Shorte Treatyse, S. 100 – 103. 136 Vgl. Holbrook: Margery Kempe and Wynkyn de Worde, S. 36 f. Foster: A Shorte Treatyse, S. 100 im Rückgriff auf Holbrook und Schoff: Three Medieval Authors, S. 127 f. 137 Vgl. BMK, S. 163, Kapitel 67, S. 163, 13 – 15. 138 Vgl. Holbrook: Margery Kempe and Wynkyn de Worde, S. 38 f. mit einer Kapitelübersicht zur Figur des Robert Spryngolds: BMK, Kapitel 18, S. 44; Kapitel 88, S. 217 f.; Kapitel 26, S. 60; Kapitel 55, S. 136; Kapitel 57, S. 139; Kapitel 61, S. 150; Kapitel 63, S. 155; Kapitel 69, S. 168; Kapitel 67, S. 163; liber II, Kapitel 2, S. 226, Kapitel 10, S. 247. 139 BMK, Kapitel 88, S. 217, 33 – 218, 15.

Die Druckfassungen des Kempe-Texte | 79 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

funktionalisiert ist:140 Denn hier steht wohl eher die glorifizierende Darstellung der Beichtvaterfigur im Vordergrund, der durch den persönlich-­vertrauten Kontakt mit der Visionärin Anteil an den göttlichen Gnaden erhält, wie wir es auch aus der frauenmystischen Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen des 14. Jahrhunderts kennen:141 Dowtyr, whan þu preyist be thowt, þu vndir-­stondist þi-­selfe what þu askyst of me, […] & þu ­vndirstondist what I behote þe to þe & to þin & to alle þi gostly fadyrs. And, as for Maistyr Robert, þi confessowr, I haue grawntyd þe þat þu hast desiryd, & he xulde han halfe thy teerys & half þe good werkys þat I haue wrowt in þe. Þerfor he schal trewly be rewardyd for thy wepyng as thow he had wept hym-­selfe. & beleue wel, dowtyr, þat ȝe xal be ful mery in Heuyn to-­gedyr at þe last and xal blyssyn þe tyme þat euyr ȝowr on knew ȝowr oþer. And, dowtyr, þu xalt blissyn me wyth-­owtyn ende þat euyr I ȝaf þe so trewe a gostly fadyr, for, þow he hath be scharp to þe sum-­tyme, it hath ben gretly to thy profyte […].142

Rebecca Schoff sieht dagegen in dem gelehrten Kleriker Thomas Betson 143 den Redaktor der Druckfassung, der als Bibliothekar die Buchschätze der Mönchsbibliothek des 140 Diese legitimierende Christusrede dominiert Kapitel 88, vgl. BMK, S. 216, 12 – 218, 36. 141 Vgl. etwa die Aussagen in den „Offenbarungen“ der Dominikanerschwester Margareta Ebner zu dem friund, den die Forschung als Beichtvater identifiziert, ME , S. 147 f. Diese Partizipation des Beichtvaters an den Gottesgnaden erinnert auch an die Ausführungen in der wohl im ausgehenden 14. Jahrhundert entstandenen Legenda maior Katharinas von Siena, der Dominikanerterziarin und berühmten Ordensheiligen der Dominikaner. Susanne Bürkle hat herausgearbeitet, dass sich Raimund von Capua in seiner Rolle als Hagiograph und Beichtvater in detailreichen und breit ausgeführten Textpartien in der ersten Person in die Vita einschreibe, die damit Zeugnis über die enge Beziehung ­zwischen Beichtvater und Schwester ablege. Allerdings verbinde sich mit dieser Präsentation der Beichtvaterrolle eine ‚Rollenumkehrung‘, da Katharina die Unterweisung des hochrangigen Generalmagisters des Dominikanerordens übernehme und auf diese Weise die Komplementarität von kirchlicher und mystisch-­begnadeter Autorität veranschauliche. Vgl. dazu Bürkle: Literatur im Kloster, S. 217 – 220. Vgl. den Vitentext: Raimund von Capua: Vita S Catharinae Senesis (Legenda maior). In: AS 30. April, Band III , S. 851 – 959. Vgl. auch die deutschsprachige Fassung der Katharinenvita in Thomas Brakmann: Ein geistlicher Rosengarten. Die Vita der heiligen Katharina von Siena z­ wischen Ordensreform und Laienfrömmigkeit im 15. Jahrhundert. Untersuchungen und Edition. Frankfurt a. M. 2011, S. 355 – 529. 142 BMK, S. 216, 22 – 217, 2. 143 Vgl. zu Thomas Betson, der um 1516 gestorben ist, Anthony I. Doyle: Thomas Betson of Syon Abbey. In: The Library, 5th Series 11 (1956), S. 115 – 118. Vgl. die Einleitung der Textausgabe des Bibliothekskatalogs (Cambridge, Corpus Christi College MS 142), den Betson im 16. Jahrhundert erstellt hat und der Aufschluss über seine literarischen Aktivitäten bietet: Syon Abbey. Hrsg. von Vincent Gillespie. London 2001 (Corpus of Medieval Library Catalogues 9), S. xxxiii–xxxiv, xlvi–li. Einen faszinierenden Einblick in Betsons breitgefächerte Studien gewährt das von ihm im 15. Jahrhundert angefertigte Rapiarum, das in der Handschrift Cambridge, St John’s College, Manuscript E. 6 vorliegt. Hier erschließen sich vielfältige Interessen, die Magie, Astronomie und Geheimschriften umfassen.

80 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

prominenten Birgittinerinnenklosters Syon 144 in der Nähe von London verwaltet hat. Dieses Birgittinerinnenkloster, das als Doppelgründung mit der Kartause „The House of Jesus of Bethlehem of Sheen“ um das Jahr 1415 entstanden ist, war auf die Sammlung und Tradierung mystisch-­religiöser Erbauungsliteratur spezialisiert.145 Syon Abbey stand im Ruf eines der bedeutendsten Zentren mystischer Spiritualität und theologischer Gelehrsamkeit, was die intensive theologische Ausbildung der Klosterangehörigen 146 und die gut ausgestatteten Klosterbibliotheken nahelegen. Schoff zufolge habe der Klosterbibliothekar Betson um 1500 einen Druck A ryght profytable treatyse […] to dyspose men to be vertuously occupyed  147 für Wynkyn de Worde kompiliert, der mit dem Kempe-­treatyse vergleichbar sei, was die Art der Zusammenstellung kurzer Textexzerpte und die Formulierung des Incipit 148 betreffe. Möglicherweise sind diese Gemeinsamkeiten allerdings eher auf eine ­texttypenspezifische, „gebrauchsfunktionale Textausrichtung“ (G. Steer)149 eines 144 Vgl. Schoff: Three Medieval Authors, S. 132. Einen guten Überblick über die literarischen Aktivitäten der Birgittinerinnen und die Ausstattung ihrer Bibliothek, die liturgische Werke, theologische Abhandlungen, Bibelkommentare und in besonderem Maße spirituell-­mystische Literatur umfasste, bieten die Beiträge von Hutchinson: Devotional Reading in the Monastery and in the Late Medieval Household, S. 220 f. Bell: What Nuns Read, besonders „Books belonging to the Sisters“, S. 175 – 205 und „Books belonging to the Syon Brothers“, S. 206 – 210. Vgl. auch: Syon Abbey and its Books. Hrsg. von E. A. Jones and Alexandra Walsham. Woodbridge 2010, Einleitung, S. 9 – 14. 145 Heinrich V. gründete die beiden Klöster um das Jahr 1415, wobei sich die Kartause Sheen am gegenüberliegenden Themseufer unweit des königlichen Palasts in Surrey, Middlesex, befand. Vgl. zur Kloster­ gründung, Syon Abbey and its Books, Einleitung, S. 4 f. und S. 106. Die bedeutende Rolle dieser Klöster innerhalb des Literaturbetriebs wird weiter unten diskutiert. 146 Vgl. Victoria Bainbridge: Syon Abbey. Women and Learning c. 1415 – 1600. In: Syon Abbey and its Books, S. 92 im Rückgriff auf Mary C. Erler: Women, Reading and Piety in Late Medieval England. Cambridge 2002, S. 109 f. In ihrer Untersuchung arbeitet Virginia Bainbridge die zahlreichen Verbindungen ­zwischen Syon Abbey und der Gelehrtenwelt der Universitäten Oxford und Cambridge heraus, besonders zu dem 1379 von Bischof William of Wakenham gegründeten New College, Oxford und Pembroke Hall, Cambridge. Pembroke Hall stellte den ersten Generalkonfessor Thomas Westham (gestorben um 1488) ebenso wie die Generalkonfessoren Stephen Saunder (gestorben um 1513) und John Fewter (gestorben um 1536). Hugh Damlet (gestorben um 1476) war ein bedeutender Gönner des Klosters und Master des Pembroke College (1447 – 1450), vgl. S. 95. Thomas Gascoigne (gestorben um 1458), der Kanzler der Universität Oxford, vermachte der Klosterbibliothek seine Bücher. New College, Oxford erhielt eine wertvolle Fingerreliquie der Heiligen Birgitta, wie in dem Register Oxford, New College, MS 9654 fol. 3r verzeichnet ist (S. 101). Heinrich V. und seine Brüder traten als Stifter und Gönner in Erscheinung. 147 Vgl. Cambridge, University Library, STC 1978, A ryght profytable treatyse […] to dyspose men to be vertuously occupyed um 1500. Vgl. Schoff: Three Medieval Authors, S. 131 – 137. 148 Vgl. A ryght profytable treatyse, sig. a.ii.r zitiert nach Schoff: Three Medieval Authors, S. 134: Here ­begynneth a ryght profytable treatyse co[m]pendiously drawen out of many [and] dyvers wrytynges of holy men, to dyspose men to be vertuously occupyed in theyr myndes [and] prayers. 149 Georg Steer: Gebrauchsfunktionale Text- und Überlieferungsanalyse. In: Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung, 1985, S. 29.

Die Druckfassungen des Kempe-Texte | 81 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

­ rbauungs­buchs im Quartformat zurückzuführen, als dass sie unbedingt den ‚persönliE chen Stil‘ des Redaktors reflektieren müssen. Vielleicht sind diese Überlegungen wiederum durch eine textinterne Episode im Schlusskapitel der Kempe-­Handschrift motiviert, die eine konkrete Verbindung der Margery-­Figur zu Syon/Sheen suggeriert. Dem summarischen Erzählerbericht zufolge erfährt die Margery-­ Figur die Passion Christi in der Klosterkirche in Sheen.150 In ­diesem Kapitel liegt der thematische Fokus auf der Präsentation der Margery-­Figur als spirituell gefestigter Seelen­führerin, die einen Novizen in der religiösen Lebensführung unterweist.151 Signifikant ist dabei, dass diese Rollenfiguration in einem Kloster vorgeführt wird, das für seine besondere ‚Heiligkeit‘, Andacht und Frömmigkeit berühmt ist. Deshalb endet das letzte Buchkapitel des Kempe-­Textes wohl nicht zufällig mit einer Reise nach Schene.152 Aus der Textpartie lässt sich allerdings nicht eindeutig entnehmen, ob die Margery-­Figur zur Kartause Sheen oder zum Birgittinerinnenkloster Syon pilgert: Fro London sche went to Schene a iij days be-­forn Lammes Day for to purchasyn hir pardon þorw þe mercy of owr Lord.153 Allerdings hat ein Leser der Kempe-­Handschrift die Ortsangabe Schene mit einer rubrizierten Glosse (Add MS 61823, fol. 119r) zu Syon präzisiert, was insofern plausibel erscheint, als Pilgern der Ablass The Pardon of Syon am Lammas-­Fest in der Syon-­ Klosterkirche gewährt wurde.154 Obwohl dieser Pilgerablass und die im Text thematisierte imitatio Brigidae 155 eher auf die birgittinische Syon Abbey hindeuten, könnte hier allerdings durchaus auch das gegenüberliegende Kartäuserkloster Sheen gemeint sein: Dies ließe sich eventuell als Anspielung darauf fassen, dass die Margery-­Figur ihre Rolle als mulier religiosa in einem Kartäuserkloster endgültig realisiert hat und buchstäblich am Ziel ihrer conversio angekommen ist.156 Jedenfalls verortet der Kempe-­Text die letzte 150 Vgl. BMK, secundus liber, Kapitel 10, S. 245, 35 – 38: Sche had plentivows teerys of compunccyon & of compassyon in þe rememorawns of þe bittyr peynys & passyons whech owr merciful Lord Ihesu Crist suffyrd in hys blissyd manhod. 151 BMK, secundus liber, Kapitel 10, S. 246, 11 – 30: &, modir, þow I be ȝong, my desir is to plesyn my Lord Ihesu Christ & so to folwyn hym as I kan & may. & I purpose me be þe grace of God to takyn þe abite of þis holy religyon. […] Schewith modirly & goodly ȝowr conceit vn-­to me […]. Sche teld hym many good wordys of gostly comfort, thorw þe whech he was steryd to gret vertu […]. 152 BMK, liber secundus, Kapitel 10, S. 245, 31 – 34. 153 BMK, S. 245, 31 – 34. 154 Vgl. Windeatt: BMK, S. 418 Anm. 8269. 155 Vgl. die Forschungsbeiträge, die die Vorbildfunktion der Heiligen Birgitta akzentuieren: Bolton-­Holloway: Bride, Margery, Julian and Alice: Bridget of Sweden’s Textual Community in England, S. 203 – 222. Fanous: Measuring the Pilgrim’s Progress, S. 157 – 176. Gunnel Cleve: Margery Kempe. A Scandinavian Influence in Medieval England? In: The Medieval Mystical Tradition in England. Woodbridge, Suffolk 1992, S. 162 – 178. 156 Dass der Besuch einer gottbegnadeten Visionärin in einem Kartäuserkloster zumindest denkbar wäre, legt Kapitel 72 der frühneuhochdeutschen Übersetzung der lateinischen Katharinenvita der Katharina von Siena („Ein geistlicher Rosengarten“) nahe: Das mit dem Titel Das sy den Kartusern vor ret von got

82 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Reise der Margery-­Figur in einem der bedeutendsten spirituellen Zentren des englischsprachigen Raums und impliziert auf diese Weise zumindest gewisse Verbindungslinien ­zwischen dem textintern evozierten Bild der Mystikerin und der sich in den Klöstern Syon und Sheen manifestierenden mystischen ‚Heiligkeit‘. Die Ebene der drucktechnischen Überlieferung deutet auf eine Einbindung der Kempe-­ Druckfassung in eine offiziell anerkannte Erbauungsliteratur, die von Klöstern und dem englischen Königshof gleichermaßen gefördert wurde: Da Wynkyn de Worde gedruckte Texte dieser Art sowohl für die Birgittinerinnen als auch für den literarischen Kreis um Lady Margaret Beaufort (1444 – 1509) produziert hat und dafür Material von den Kartäusern bezog, konkretisiert sich hier eine Art elitäres literarisches Netzwerk,157 das im Hinblick auf das Umfeld der Textentstehung und den möglichen Gebrauchskontext des gedruckten Kempe-­treatyse in der Forschung bisher vielleicht noch nicht ausreichend berücksichtigt worden ist.158 Rebecca Schoff etwa thematisiert das literarische Patronat der Lady Margaret Beaufort nicht näher und sie sieht die Entstehungsbedingungen der Kempe-­Vita stattdessen fern von einer offiziellen institutionalisierten Literaturproduktion in „the secular world in which it was originally composed“.159 Zunächst stellt sich daher die Frage nach der Vorlage des Kempe-­treatyse und möglichen Auftraggebern: Wie oben ausgeführt, sind die beiden erhaltenen Druckfassungen offenbar der Londoner Handschrift Add MS 61823 entnommen 160 und sie lassen nicht auf die Existenz einer weiteren Handschrift schließen. Karma Lochrie sieht die Birgittinerinnen in Syon als Initiatoren der Druckfassung und sie vermutet im Rückgriff auf Sue Ellen Holbrook, dass die Exzerpte schon vor der Drucklegung in einer Art Rapiarium vorgelegen haben könnten.161 Nach Holbrook demonstrierten elf Texteinheiten der Druckfassung (1, 2, 3, 4, überschriebene Kapitel berichtet aus der Ich-­Perspektive Raimunds, wie Katharina von Bartolomeo Serafini, dem Prior der Kartause auf der Insel Gorgona, empfangen wird und wie sie den Mönchen vom heiligen Geist inspiriert die discretio spirituum-­Lehre vermittelt, vgl. Brackmann: Ein geistlicher Rosengarten, S. 488, 1 – 489, 29. 157 Vgl. Sargent: The Transmission by the English Carthusians of some Late Medieval Spiritual Writing, S. 237 bezeichnet d ­ ieses Netzwerk als „exclusive and tightly-­knit spiritual aristocracy“. Vgl. zu Wynkyn de Worde und den Birgittinerinnen in Syon, Schoff: Three Medieval Authors, S. 129. 158 Vgl. Holbrook: Margery Kempe and Wynkyn de Worde, S. 41. Zwar verweist Holbrook auf die Kartäuser und Birgittinerinnen als Träger der Überlieferung mystischer Literatur, allerdings erwähnt sie Lady Margaret Beaufort nur in einem Nebensatz als Gönnerin Wynkyn de Wordes, vgl. S. 41 und in den Anmerkungen 21, 22 auf S. 45. Vgl. in Ansätzen Schoff: Three Medieval Authors, S. 118 f. und S. 128 f., die allerdings eine gegensätzliche These vertritt: „The production of A shorte treatyse implies a completely different readerhip and reading practice. In A shorte treatyse, there is neither financial need for a patron nor space for an envoy to recognize one.“ 159 Schoff: Three Medieval Authors, S. 129. 160 Vgl. Meech: BMK, Einleitung, S. xlvii. 161 Vgl. Lochrie: Translations of the Flesh, S. 222, die sich auf Holbrooks Überlegungen bezieht, dass die mit nota-­Abbreviaturen und Randnotizen versehenen Textpartien zumindest teilweise mit den Exzerpten

Die Druckfassungen des Kempe-Texte | 83 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

5, 9, 10, 12, 15, 21 und 27), die in der Kempe-­Handschrift keine Randeinträge aufweisen, die unterschiedlichen Textauswahlverfahren des kartäusischen Annotators und des Exzerptors.162 übereinstimmen, aus denen die Druckfassung kompiliert wurde. 162 Vgl. Holbrook: Margery Kempe and Wynkyn de Worde, S. 36: „When we examine both the passages with contiguous annotations and those without, we find that annotations seem to apply to the lines extracted in all but twelve [sic!] cases: 1, 2, 3, 4, 5, 9, 10, 12, 15, 21 and 27. That is both excerptor and annotator seem to have been drawn to the same lines except in these twelve cases.“ Vgl. die tabellarische Übersicht S. 28. Im Folgenden sind die Annotationen verzeichnet, die die für die Druckfassung ausgewählten Textpassagen begleiten: Textpartie 6 weist am linken Bundsteg der Handschrift fol. 44r, 15 ein c-­förmiges Kapitel- oder Paragraphenzeichen auf: And I haue oftyn-­tymes dowtyr teld þe þat thynkyng wepyng & hy contemplacyon is þe best lyfe in erthe. Fol. 85r, 27 ist am rechten Seitensteg mit einem rubrizierten nota-­Symbol (Schreiber N) versehen, das nahezu immer in Verbindung mit ­diesem c-­förmigen Kapitel- oder Paragraphenzeichen auf dem linken Seitenrand auftritt. Textpartie 7, fol. 76v, 25 – 28 weist am linken Seitensteg das rubrizierte und kastenförmig eingerahmte Wort loue auf. Die Christusrede 89v, 5 – 14, die aus der Textpartie 8 der Druckfassung entnommen ist, ist am linken Seitensteg großflächig mit einer rubrizierten Klammer markiert, die die in bräunlicher Tinte gehaltene no[ta] be[ne]-Abbreviatur Salthows umschließt. Dabei ist Z. 9 – 14 dieser Christusrede am linken Seitensteg durch eine bräunliche, ornamentale Linienführung hervorgehoben, die einer Profilfratze ähnelt. Textpartie 11, fol. 100v, 17 – 18 weist am linken Rand eine nota bene-­Abbreviatur in bräunlicher Tinte auf, die rubriziert gerahmt ist: sche askyd owyr lord ihu crist how sche myght best plesyn hym & he answeryd to hyr sowle seying. (Z. 19 – 22 mit bräunlicher, ornamentaler Linienführung markiert, die ein späterer Annotator mit roter Tinte als Profilfratze interpretiert) dowtyr haue mynde of þy wykkydnes & thynk on my goodnes. Textpartie 14, fol. 40r, 29 mit der rubrizierten Annotation loue am linken Bundsteg; Textpartie 16, fol. 98v–99r ohne Eintrag; Texteinheit 17 aus fol. 98v, 14 – 18 entnommen, Z. 18 – 23 mit bräunlicher, ornamentaler Linienführung am linken Seitensteg verziert: And also dowtyr whan þu dost any seruyse to þe & to þin husbond in mete or drynke er any oþer thyng þat is nedful to ȝow to þi gostly fadirs er to any oþer þat þu receyuyst in my name þu xalt han þe same mede in Heuyn as thow þu dedist it to myn owyn persone er to my blissyd Modyr & I xal thankyn þe þerfor. Texteinheit 18, entnommen aus fol. 99r, 9 – 10, markiert mit einem c-­förmigen ­Kapitel- oder Paragraphenzeichen am linken Bundsteg Z. 11 und einem rubrizierten nota-­Symbol (Schreiber N) am rechten Seitensteg Z. 23: & dowtyr I thanke þe for þe charite þat þu hast to alle lecherows men & women for þu preyst for hem & wepist many a teer for hem […]. Texteinheit 19, fol. 89v, 18 – 24 ohne Markierung, zu Texteinheit 8, fol. 89v siehe oben. Texteinheit 22, fol. 58r, 4 – 5 rubriziertes nota-­Symbol (Schreiber N) und bräunliches Trifolium-­Symbol am rechten Seitensteg neben: […] beyng ryth glad & mery þat day þat she suffryd any disese. […] þat day whech sche suffyrd no tribulacyon sche was not mery ne glad as þat day whan sche suffyrd tribulacyon. Texteinheit 23, fol. 58v ist mit einem rubrizierten, c-­förmigen Kapitel- oder Paragraphenzeichen am linken Außenrand versehen und ist einer direkten Rede entnommen (Gn 1,22): pacyens is more worthy þan myraclys werkyng. Texteinheit 24, fol. 63r, 29 – 32 mit rubriziertem Kommentar no[ta] iij tymes of þe day und Z. 10 mit rubriziertem nota-­Symbol (Schreiber N) am rechten Außenrand neben: Hauyth mekenes pacyens & ȝe xal haue gret mede in heuyn þerfor. (nicht in der Druckfassung); Textpartie 25, fol. 66v, 25 – 26 Teil eines Textbereichs, der am linken Seitensteg mit c-­förmigem Kapitel- oder Paragraphenzeichen und zwei rubrizierten Klammern hervorgehoben ist; Texteinheit 26, fol. 76r, 13 rechter Seitensteg mit nota-­Symbol (Schreiber N). Texteinheit 27, fol. 77r, 7 rubriziertes nota-­Symbol (Schreiber N) am rechten, äußeren Rand. Texteinheit 28, fol. 77r Textexzerpt nicht eigens markiert, Z. 25 – 26 mit der kastenförmig gerahmten, rubrizierten Annotation mody[r] am rechten Seitensteg.

84 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Bisher sind diese Überlegungen keiner näheren Überprüfung unterzogen worden, die an dieser Stelle nachgeholt werden soll. Zunächst geht Holbrook von einem einzigen Leser aus,163 der die rubrizierten Randeinträge vorgenommen habe, obwohl sich innerhalb der Einträge mindestens drei Schreiberhände differenzieren lassen, wie oben erwähnt. Es fragt sich, wie die von verschiedenen Händen eingetragenen rubrizierten Randnotizen im Hinblick auf die vermeintlich unterschiedliche ‚Vorgehensweise‘ der Annotatoren und des Exzerptors einzuschätzen sind, da einige der rubrizierten Eintragungen vermutlich erst nach der Drucklegung entstanden sein dürften.164 So findet sich etwa neben Exzerpt 12 (Wynkyn de Worde, sig. ii.r) in der Kempe-­Handschrift fol. 33v, 26 – 29 der rubrizierte, kastenförmig gerahmte Marginaleintrag so fa RM & f Norton & of Wakenes of þe passyon, der das Wort weyke im Text mit einem Pfeil markiert und von der Forschung auf das frühe 16. Jahrhundert datiert wird.165 Vergleicht man die Textpartien mit rubrizierten Annotationen in der Handschrift mit den von Holbrook genannten elf Texteinheiten der Druckfassung, so zeigt sich, dass auch diese Textpartien in der Handschrift durch Randeinträge markiert worden sind.166 Aufgrund der nicht gesicherten Datierung der 163 Vgl. Holbrook: Margery Kempe and Wynkyn de Worde, S. 36 f. 164 Vgl. die Textpartie Add MS 61823, fol. 33v, 25 – 27, die sich auf die Tränengabe bezieht: Þe cryeng was so lowde & so wondyrful þat it made þe pepyl astoynd les þan þei had herd it bef-­forn […]. & sche had hem so oftyn-­tymes þat þei madyn hir ryth weyke in hir bodyly myghtys, & namely yf sche herd of owyr Lordys Passyon. 165 Erst durch die Zusammensicht dieser rubrizierten Annotation mit dem Eintrag Add MS 61823, fol. 51v zu Prior John Norton können die Randnotizen zu Methley und Norton auf die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts datiert werden, wie oben ausgeführt. Die Druckfassung fokussiert an dieser Stelle jedenfalls auf die compassio der Protagonistin: Whan sche sawe the crucyfyxe or yf she sawe a man had a wounde or a best. Or yf a man bete a childe afore […] she thought she sawe our lorde beten or wounded lyke as she sawe in the man or beste, während die Buchfassung den Beginn der Tränengabe und Gnadenrufe auf die Jerusalem-­Pilgerfahrt und die dort einsetzenden Passionsvisionen zurückführt. 166 Texteinheit 1 (Add MS 61823, fol. 15r, Wynkyn de Worde, 1501, sig. i.r) ist am linken Innenrand mit der oben erwähnten rubrizierten Zeichnung einer Säule versehen, die mit der entsprechenden Textpartie korrespondiert. Auch die Gottesrede auf fol. 15r, Z. 19 – 20, die in die erste Texteinheit der Druckfassung aufgenommen wurde, ist mit einem rubrizierten, klammerförmigen Symbol markiert. Vgl. Wynkyn de Worde, sig. i. r. Dabei stellt der erste Satz She desyred many tymes that her hede myght be smyten of with an axe vpon a blocke for the loue of our lorde Ihesu eine summarische Zusammenfassung der ausführ­ licheren Buchfassung dar, die explizit die Todesangst der Margery-­Figur herausstellt, fol. 15r, 16 ff.: Hyr þowt sche wold a be slayn for Goddys lofe but dred for þe poynt of deth & þerfor sche ymagyned hyr-­self þe most soft deth as hir thowt for dred of inpacyens þat was to be bowndyn hyr hed & hir fet to a stokke & hir hed to be smet of wyth a sharpe ex for Goddys lofe. Die Christusrede Add MS 61823 fol. 15r, Z. 28 – 30, die gekürzt in der zweiten Textpartie der Druckfassung als I assure þe in thy mynde yf it were possyble for me to suffre payne ageyne, […] me were leuer to suffer as moche payne as euer I dyde for thy soule alone […] eingegangen ist, weist ebenfalls die rubrizierte und kastenförmig eingerahmte Annotation loue am linken Innenrand auf. Am linken Außenrand der Kempe-­Handschrift steht neben dem Textabschnitt auf fol. 24v, 3 – 5, der Texteinheit 3 (Exzerpt fol. 24v, 6 – 7) in der Druckfassung vorausgeht, eine verblasste, mit bräunlich-­schwarzer Tinte eingetragene Annotation loue, die ebenfalls von einer rubrizierten,

Die Druckfassungen des Kempe-Texte | 85 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

rubrizierten Randnotizen und der verschiedenen Schreiberhände erlauben sie wohl kaum Rückschlüsse auf die Exzerpttechnik des Redaktors der Druckfassung.167 Allerdings sieht der amerikanische Mediävist Joel Fredell eine Korrelation ­zwischen dem Auftreten der mit einem rubrizierten c-­förmigen Kapitel- oder Paragraphenzeichen markierten Textpartien der Handschrift und den in der Druckfassung kompilierten Textauszügen, da das c-­för­ mige Symbol 14 der 19 Textexzerpte begleite.168 Eine Überprüfung demonstriert jedoch, kasten­förmigen Rahmung umgeben ist. Exzerpt 4 (fol. 24v, Z. 8 – 10) And our lorde sayd haue mynde of thy wyckednes and thynke on my goodnes befindet sich ebenfalls in d­ iesem durch die loue-­Annotation und den nota-­Eintrag (fol. 24v, Z. 13) markierten Textbereich der Handschrift. Texteinheit 5, entnommen aus fol. 44r, Z. 2 – 4, ist am rechten Seitensteg der Handschrift fol. 44r, Z. 7 – 9 mit einem herzförmigen, in Bleistift vorgenommenen Symbol annotiert. Texteinheit 9 Dougther I haue suffred many paynes for thy loue, therfore þu hast gret cause to loue me ryght wel for I haue bought thy loue full dere, entnommen aus fol. 92v, 30 – 33, befindet sich in einem von rubrizierten Annotationen eingerahmten Textbereich, der Z. 24 – 33 umfasst und in Z. 24 – 26 mit dem rubrizierten, kastenförmig gerahmten Kommentar racio hic poni[tur] q[ua]re sic plor[an]s clama[ui]t und der rubrizierten Bemerkung trew it is blyssyd lord Z. 33 eingegrenzt ist. Während die Buchfassung die Tränengabe der Margery-­Figur mit ihren Passionsvisionen begründet, die an jedem Palmsonntag und Karfreitag des Kirchenjahres wiederkehren, nimmt der Exzerptor nur die Liebesversicherung Christi in die Druckfassung auf. Exzerpt 10 (Wynkyn de Worde, sig. ii.r) geht in der Handschrift fol. 104v, Z. 1 – 10 eine von rubrizierten, c-­förmigen Kapitel- oder Paragraphenzeichen am linken Außenrand eingeschlossene Textpartie voraus. Der Beginn der Texteinheit 15 (Wynkyn de Worde, sig. ii.v) ist am rechten Seitensteg der Handschrift fol. 86r, Z. 4 mit einem rubrizierten nota-­Symbol (Schreiber N) und am linken Innenrand Z. 7 mit einem rubrizierten, c-­förmigen Kapitel- oder Paragraphenzeichen versehen und wiederum ist die Buchfassung, in der die Margery-­Figur ihren Beichtvater um Erlaubnis bittet, Leprose als ­­Zeichen ihrer Gottesliebe zu küssen, detailrealistischer ausgestaltet als die Druckfassung. Texteinheit 21 fol. 85v, Z. 15 – 16 ist mit dem Eintrag nota indulgencia in einer Hand aus der Mitte des 15. Jahrhunderts in verblasster, bräunlicher Tinte hervorgehoben, so dass auch diese Textpassage besondere Aufmerksamkeit erfahren hat: þe same pardon þat was grawntyd þe befor-­tyme it was confermyd on Seynt Nicholas Day, þat is to seyn plenowr remissyon, and it its not only grawntyd to þe but also to alle þo þat beleuyn […]. Texteinheit 27 (Wynkyn de Worde, sig. iv.r), eine kurze Aussage der Margery-­Figur A my derworthy Lord þis lyfe xuldist þu schewyn to religious men & to prestys, ist auf fol. 77r, 21 am rechten Außenrand mit einem rubrizierten nota-­Symbol (Schreiber N) und Z. 25 am linken Innenrand mit einem c-­förmigen Kapitel- oder Paragraphenzeichen markiert. 167 Vgl. Fredell: Design and Authorship, S. 24. Dagegen argumentiert Rebecca Schoff, dass eine differierende ‚Arbeitsweise‘ des Annotators und des Redaktors der Druckfassung kaum ersichtlich sei, vgl. Schoff: Three Medieval Authors, S. 116. Sie sieht die entscheidende Differenz darin begründet, dass die Handschrift in der Rezeptionsgemeinschaft der Kartause Mount Grace verortet sei, während die Druckfassung auf eine Leserschaft außerhalb der Klostermauern hindeute. 168 Vgl. Fredell: Design and Authorship S. 24 Anm. 34, mit folgender Angabe: „Ruby Paraph marks passages in or next to Wynkyn’s passages: 15r (BMK, 29, 32) [15r, 2 und 14 c-­Symbol am linken Bundsteg, Textexzerpt fol. 15r, 17 – 18 und 19 – 23= Wynkyn de Worde sig. i.r; fol. 15v, 13 nota-­Symbol des Schreibers N am linken Bundsteg, SKR]; 43v (BMK, 89, 16) [43v, 34 mit c-­förmigem Symbol, Textexzerpt 44r, 2 – 6= Wynkyn de Worde sig. i.r; fol. 44r, 16 linker Bundsteg c-­förmiges Symbol, 44r, 30 rechter Seitensteg nota-­Symbol des Schreibers N, SKR]; 58v (BMK, 121, 9); 66v (BMK, 137, 29) [66v, 21 c-­förmiges Symbol linker Seitensteg; Textexzerpt fol. 66v, 25 – 26= Wynkyn sig. iv.r, SKR]; 76v (BMK, 157, 24) [76v, 3 c-­förmiges Symbol linker Seitensteg; 77r, 14 nota-­Symbol des Schreibers N am rechten Seitensteg;

86 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

dass nur vier der mit einem Kapitelzeichen versehenen Textpassagen mit den Exzerpten der Druckfassung übereinstimmen.169 Deshalb lässt sich auch hier keine gesicherte Aussage über die Exzerpttechnik formulieren. Jedenfalls belegen die Kapitelzeichen und w-­förmigen nota-­Abbreviaturen in Verbindung mit den Annotationen aus der Mitte des 15. Jahrhunderts in bräunlicher Tinte eine intensive Rezeption der Kempe-­Handschrift in einem monastischen Kontext, die offenbar bereits kurze Zeit nach ihrer Entstehung einsetzt. Da die montageartig wirkende Druckkompilation auf einer sehr sorgfältigen Lektüre basiert und aus den verschiedensten Folien der Handschrift zusammengestellt ist, wäre es zumindest denkbar, dass ihr Ursprung ­ebenfalls in einem solchen monastischen Kontext zu suchen ist: Denn für die Klostergemeinschaft Mount Grace zeichnen sich verstärkte literarische Aktivitäten ab, in deren Umfeld die Kempe-­Druckfassung entstanden sein könnte. So haben die britischen Archäologen Glynn Coppack und Mick Aston anhand entsprechender Funde eine Art professionalisierten Schreibbetrieb in den Klosterzellen 8, 10, 11, 12, 13 in Mount Grace nachweisen können, in denen Schreiber (10, 11), Illuminatoren (12 und 13) und Buchbinder (8) tätig waren. Vielleicht lässt sich die Kempe-­Drucküberlieferung innerhalb des spirituell wie personell einflussreichen literarischen Netzwerks situieren, das sich aus Kartäusern, Birgittinerinnen und dem Kreis um Lady Margaret Beaufort zusammensetzt. Diese These soll anhand der um 1500 publizierten Wynkyn-­de-­Worde-­Drucke, ihrer soweit bestimmbaren handschriftlichen Provenienz und ihrem möglichen Aussagewert für die Entstehungsumstände der Kempe-­Druckfassung überprüft werden. Dabei liegt das Augenmerk nicht nur auf der thematischen Ebene der Texte, sondern auch auf der Ebene der handschriftlichen Überlieferung, die Aufschluss über die Ausbildung und Tradierung einer persönlichen, interiorisierten Frömmigkeits- und Literaturpraxis geben kann. Einen ersten Hinweis auf eine Verbindung ­zwischen Wynkyn de Worde und einer affektiven Spiritualität, wie sie die englischsprachigen Kartäuser und Birgittinerinnen vertreten 77r, 20 nota-­Symbol des Schreibers N am rechten Seitensteg; Textexzerpt 77r, 22 – 24= Wynkyn fol. iv.r, SKR]; 84r (172, 23) [84r, 21 c-­förmiges Symbol, linker Bundsteg; 85r, 25 nota-­Symbol des Schreibers N im rechten Seitensteg, SKR]; [Textexzerpt fol. 84r, 14 – 17= Wynkyn sig. ii.r-­ii.v, SKR]; 86r (176, 23); 92v (190, 2) [92v, 22 c-­förmiges Symbol am linken Seitensteg, Textexzerpt fol. 92v, 31 – 33= Wynkyn sig. i.v, SKR]; 99r (190, 26); 100v (207, 11) [fol. 100v, 2 – 3 c-­förmiges Symbol linker Seitensteg; fol. 101r, 3; 25 – 26; 34 nota-­Symbol des Schreibers N; Textexzerpt fol. 100v, 11 – 24, SKR]; 104v (215, 31).“ Ich habe Fredells Folio-­Angaben mit Zeilenangaben, dem jeweiligen Schreiber-­Symbol sowie den Angaben zu den entsprechenden Textpassagen der Druckfassung in eckigen Klammern ergänzt. 169 Vgl. Add MS 61823 fol. 58v, 3 – 4 linker Seitensteg c-­förmiges Symbol, 59r, 23 nota-­Symbol des Schreibers N, Textexzerpt fol. 58v, 3 – 4= Wynkyn sig. iv.r; 86r, 7 c-­förmiges Symbol, linker Bundsteg; 86r, 4 nota-­Symbol des Schreibers N am rechten Außenrand; Textexzerpt fol. 86r, 7 – 10= Wynkyn sig. ii.v; 99r, 11 c-­förmiges Symbol linker Bundsteg; 99r, 9; 21 nota-­Symbol des Schreibers N am rechten Seitensteg; Textexzerpt 99r, 9 – 16= Wynkyn, sig. iii.r–v; 104v, 1; 10 linker Außenrand c-­förmiges Symbol; Textexzerpt 104v, 10 – 20= Wynkyn, sig. ii. r.

Die Druckfassungen des Kempe-Texte | 87 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

haben, bietet jedenfalls der Traktat „The Chastysing of Goddes Chyldern“, den Wynkyn de Worde im Jahr 1493 veröffentlicht hat:170 Dieser Text präsentiert ein persönlich wirkendes Lehrgespräch, das auf das Thema der Versuchung und den zeitweiligen Gnadenentzug ausgerichtet ist und zur Deutung von Visionen innerhalb der discretio spirituum-­Lehre 171 anleitet.172 Der Text ist ausdrücklich an eine Religiose adressiert.173 Dabei sind Kapitel 19 und

170 Vgl. „The Chastysing of Goddes Chyldern“, London, British Library, STC 5065, 1493 zitiert nach EEBO [28. 08. 2018]. Vgl. die Textedition der Handschriften: The Chastising of God’s Children. Hrsg. von Joyce Bazire and Eric Colledge. Oxford 1957, aus der im Folgenden zitiert wird (abgekürzt als The Chastising of God’s Children, 1957). Die Handschriftenfassung ist zum Teil der lateinischen Übersetzung De Ornatu Spiritualis Desponsationis der sogenannten „Gheestelike Brulocht“ von dem flämischen Mystiker Jan van Ruusbroec entnommen und greift im ersten Kapitel Motive aus Seuses „Horologium Sapientiae“ auf. Vgl. dazu Riehle: Englische Mystik des Mittelalters, S. 405 und Windeatt: Middle English Mystics, S. 259 mit Angabe der Handschriften Oxford, Bodleian Library MS Bodley 505; Cambridge, Trinity College MS B. 14.19 (T). 171 Vgl. allgemein zur Lehre der discretio spirituum, einer zunächst auf der Exegese der Bibel (etwa I Cor 12,10 und II Cor 11,14) beruhenden Technik zur kritischen Unterscheidung religiöser Erfahrung, die sich in ein zunehmend systematisiertes Verfahren zur Etablierung der Authentizität von Visions- und Offenbarungserfahrungen entfaltet: Wendy Love Anderson: The Discernment of Spirits. Assessing Visions and Visionaries in the Late Middle Ages. Tübingen 2011 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation), S. 89 ff. zu Seuse und Eckhart, S. 124 ff. zu frauenmystischen Texten. Anderson wählt einen von den französischen postmodernen Theoretikern Michel Foucault und Michel de Certau beeinflussten Verständniszugang (S. 9), um die Konstruktion religiöser Autorität herauszuarbeiten, wie sie sich in der zunehmend ausdifferenzierten Lehre der Unterscheidung der Geister niederschlägt. Vgl. Niklaus Largier: Rhetorik des Begehrens. Die ‚Unterscheidung der Geister‘ als Paradigma mittelalterlicher Subjektivität. In: Inszenierungen von Subjektivität. Hrsg. von Martin Baisch [u. a.]. Königstein 2005, S. 249 – 270. Cornelius Roth: Discretio spirituum. Kriterien geistlicher Unterscheidung bei Johannes Gerson. Würzburg 2010, zur theologischen Fundierung der discretio spirituum besonders S. 30 – 61. Vgl. zur discretio spirituum-­Lehre im Kontext der frauenmystischen Viten- und Offenbarungsliteratur, Voaden: God’s Word, Women’s Voice, S. 2 – 4 zur Zusammenarbeit der begnadeten Frauen mit ihren Beichtvätern als Umsetzung der discretio spirituum und S. 40 ff. zur Bedeutung der discretio spirituum als Diskurs, der gleichzeitig eine Kontrolle und Autorisierung visionärer Erfahrung garantiert. 172 Vgl. The Chastysing of Goddes Chyldern zur Versuchung capitulum xiii und xiiii, zum zeitweiligen Gnadenentzug, capitulum ii und iiii; zur discretio spirituum, capitulum xviii, sig. d.iii.v: That many men [and] wymen be[n] disceyued by many Reuelacyons: vysions: and that there ben thre pryncypall kyndes of vysions. Sig. d.iiii.r: there ben thre princypall kyndes of vysions / the firste is called a corporal vision with bodely eyen / whan ony bodely thynge […] the seconde kynde of vysion is calleid a spyrytuell vysion or Imagynatif. Whan a man is in his slepe / or whan a man is rauisshed fully in spiryte in tyme of prayer or in other time. […] the thyrde pryncypal kynde of vysions is callyd an Intellectual vision / whanne noo body ne ymage not fygure is seen. Sig. d. v.r–d. v.v, capitulum ixx: How they sholde be examyned that have vysions or reuelacions to knowe whether they comen of a good angell or of a wyckid spiryte. Sig. d.vi.v, capitulum xx: Of vii specyall tokens / by the whyche a man shall knowe visyons of a good spiryte fro illusions of the deuyll. 173 Vgl. The Chastising of God’s Children, 1957, S. 95: In drede of almiȝti god, religious sister, a shorte pistle I sende to ȝou of the matier of temptacions, whiche pistle as me þenkeþ may resonabli be clepid þe chastisinge of goddis children. Of this matier ȝe han desired to knowe in comfort of ȝoure soule.

88 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

20,174 die die normative Überprüfung von Visionen thematisieren, nahezu wörtlich aus der „Epistola Solitarii ad Reges“ Alfonsos de Jaén übernommen,175 die er als ‚Lehre zur Unterscheidung der Geister‘ in seiner Funktion als Beichtvater der Heiligen Birgitta von Schweden im Kontext ihrer Kanonisation verfasst hat. Im Gegensatz zu der „Epistola Solitarii“, die die Authentizität der göttlichen Begnadung der Heiligen Birgitta zu beweisen sucht, bietet die bearbeitete „The Chastysing of Goddes Chyldern“-Fassung eine Warnung vor Visionen, die als teuflische Eingebungen zu gelten haben, bis eine sorgfältige Prüfung ihre Echtheit erweisen kann.176 Dabei bleiben Verweise auf die Heilige Birgitta und ihre lateinischen revelationes nahezu völlig ausgespart, so dass sich hier eine Art ‚Dekonkretisierung‘ wie in der Kempe-­ Druckfassung abzeichnet. Auch in d ­ iesem Fall deuten Textzeugen, die „The Chastising of God‘s Children“ überliefern, auf eine kartäusische Texttradierung: So ist die Handschrift Oxford, Bodleian Library, Rawlinson C. 57 aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts als Schenkung John Kingslowes, des ersten Reklusen in Sheen, in den Buchbesitz der Kartause Sheen gelangt.177 Die religiös-­erbauliche Sammelhandschrift Oxford, Bodleian Library, MS Bodley 505 aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstammt dem Besitz des Priors Edmund Storoure der Kartause London.178 Zudem könnten zwei weitere Sammelhandschriften aus einem 174 Vgl. The Chastysing of Goddes Chyldern, capitulum xix, sig. d. v.v: By the saieng of our holy fadyrs and doctours of holi chyrche wheder he be man / or woman that haue vysions / thus they sholde be examyned. Capitulum xx führt den Gedanken weiter aus, dass mit Visionen begabte Personen sich einer Prüfung durch ihre Beichtväter oder angesehene Kleriker unterziehen müssen. Im Kontext der sieben ­­Zeichen wahrer Gottesbegnadung findet sich ein singulärer Verweis auf die heilige Birgitta als Exempel aufrichtiger Gehorsamkeit, sig. d.vi.v: Of þis þe haue ensample of that noble lady and precyous saynt Bride. As long as she lived yonge and olde she lived euer under obedience and techinge of holy clerkes […]. 175 Vgl. die Textedition von Arne Jönsson: Alphonso of Jaén. His Life and Works: With Critical Editions of the Epistola Solitarii, the Informaciones and the Epistola Serui Christi. Lund 1989, S. 117 – 171. Vgl. auch die Edition der mittelenglischen Übersetzung der Epistola von Voaden: God’s Words, Women’s Voice, S. 159 – 183. 176 Vgl. The Chastising of God’s Children, 1957, Einleitung, S. 57 f. Vgl. capitulum xix, S. 176, 21 – 177, 10: Þus and many oþer wise, as falliþ to a mans mynde, musten þei be examyned whiche han reuelacions, for but if þer were suche examynacion bifore, þer myȝt falle grete errour and grete perel, sumtyme in þe ­affermyng of visions and sumtyme in þe repreuyng boþe of þe visions and of hym þat receyueþ hem. […] and men shuld nat obeie vnto the priuy speche of god, ne ȝeue no credence to hem, but rather take errour for triewþ, as ofte tyme haþ it falle, and falliþ al day, for defaute of discreet and triew examynacion. And alle suche liȝtil takyng of visions and reuelacions is but temptacions. 177 Vgl. The Chastising of God’s Children, 1957, Einleitung, S. 8. Die Ausführungen zu den Handschriften basieren auf der sorgfältigen Handschriftenbeschreibung und -kollation, die Eric Colledge und Joyce Bazire im Rahmen ihrer Textedition durchgeführt haben. Vgl. auch den neueren, überlieferungsgeschichtlichen Beitrag von Stephen Rozenski, der sich auf die Ergebnisse von Colledge stützt: The Chastising of God’s Children from Manuscript to Print. In: Etudes Anglaises, 66, 3 (2013), S. 369 – 378, besonders S. 377. 178 Vgl. The Chastising of God’s Children, 1957, Einleitung, S. 3: MS Bodley 505 enthält „The Chastisinge of Goddis Children” fol. 1 – 92r und die mittelenglische Übersetzung „The Myrrour of Symple Soulis“

Die Druckfassungen des Kempe-Texte | 89 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

kartäusischen Umfeld hervorgegangen sein: Cambridge, St John’s College, E.25 aus dem 15. Jahrhundert überliefert eine wortgetreue und genaue Textabschrift in einer schwer entzifferbaren Schreiberhand, die eine Anfertigung der Handschrift für persönliche Studienzwecke erschließen lässt.179 Dagegen ist die zweite Sammelhandschrift London, British Library, Add MS 33971 aus dem frühen 15. Jahrhundert besonders sorgfältig ausgeführt und mit frommen Randeinträgen versehen, die in Verbindung mit der unikalen Überlieferung der Epistel „Meditacio Pauperis“ von Walter Hilton eine kartäusische Provenienz nahelegen.180 Denn aus den erhaltenen Handschriftenzeugen lässt sich erschließen, dass die englischsprachigen Kartäusermönche eine Art autorzentrierte Form der Überlieferung von Walter Hiltons Schriften angestrebt haben,181 wie es den allgemeinen Tendenzen einer zunehmenden Etablierung persönlich-­biographischer Autorschaft in den verschiedensten Textcorpora im 14. und 15. Jahrhundert entspricht.182 Dass auch die englischsprachigen Kartäusermönche der discretio spirituum-­Lehre ein besonderes Interesse entgegenbracht haben, demonstriert der Traktat „Experimentum Veritatis“ von Richard Methley, dem visionsbegabten Klostervikar aus Mount Grace, der die ‚Technik‘ zur Unterscheidung der Geister vermittelt.183 Insofern ist eine kartäusische Präferenz für „The Chastysing of Goddes Chyldern“ genauso wenig erstaunlich wie das Interesse der Birgittinerinnen, in deren Texttradition der Traktat durch die „Epistola Solitarii“-Exzerpte eingebettet ist. So findet sich in der Sammelhandschrift Oxford, Jesus College 39 auf fol. iii.r der Besitzeintrag 184 der Syon-­Schwester Dorothy Slighe aus dem 16. Jahrhundert.185 Zwei Druckfassungen tragen weitere Besitzvermerke aus Syon: Cambridge, Sidney Sussex College, Bb. 2.14 gehörte Edith Morepath und Katherine Palmer, während Göttingen, Universitätsbibliothek 4⁰ Theol. Mor. 138/53 sich im Besitz von Awdrey Dely und Mary Nevell befand.186 Sowohl fol. 93r – 220v. Fol. 223v Besitzeintrag: Liber dom[us] saluta[cionis] matris dei ord[inis] cart[usiensis] p[rope] Londo[n] p[er] Edmu[n]du[m] Storo[ur] ei[u]sde[m] loci monach[um]. Im Rückgriff auf A. I. Doyle identifiziert Colledge Edmund Storoure als Prior der Londoner Kartause (1469 – 1477). 179 Vgl. The Chastising of God’s Children, 1957, Einleitung, S. 6 und S. 38 f. 180 Vgl. The Chastising of God’s Children, 1957, Einleitung, S. 2 f. und S. 38 f. 181 Vgl. dazu die Ausführungen unten. 182 Vgl. die Ausführungen zur Konzeption mittelalterlicher Autorschaft und der Zuordnung von Texttypen und -gattungen zu Autornamen in der Einleitung der vorliegenden Arbeit. 183 Vgl. die Textedition des „Experimentum Veritatis“, früher London, Public Record Office MS SP I/239, heute The National Archives SP1/239 f. 294 von Michael Sargent: The Self-­Verification of Visionary Phenomena. Richard Methley’s „Experimentum Veritatis“. In: Kartäusermystik und -Mystiker. Band 2. Hrsg. von James Hogg. Salzburg 1981, S. 121 – 137. Vgl. die Ausführungen zum „Experimentum Veritatis“ in Kapitel 2.3.1 „Die ‚Offizialität‘ der rubrizierten Randeinträge – Richard Methley, John Norton und die Konzeption des amor sensibilis“. 184 Vgl. The Chastising of God’s Children, 1957, Einleitung, S. 6. 185 Vgl. zu Dorothe Slighte, Bainbridge: Syon Abbey. Women and Learning c. 1415 – 1600, S. 85. 186 Vgl. Bell: What Nuns Read, S. 182 f. Nach Bell überliefert der Göttinger Druck „The Chastysing of Goddes Chyldren“ mit „The Tretyse of Loue“. Vgl. auch Catherine Innes-­Parker: The Legacy of

90 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

die handschriftliche als auch die drucktechnische Überlieferung lassen damit Rückschlüsse auf ein monastisches Lesepublikum zu, wobei sich Tradierungswege von den Kartäuserhandschriften zu den gedruckten Zeugnissen abzeichnen, die in ähnlicher Weise für den Kempe-­ Druck gelten könnten. Die Druckfassung des sogenannten „Tretyse of Loue“ aus dem Jahr 1493187 – eine Redaktion der berühmten anachoretischen Lebensregel „Ancrene Wisse“188 – bietet eine dem „The Chastysing of Goddes Chyldern“-Traktat verwandte, aber thematisch anders ausgerichtete Anleitung zu einer gottgefälligen Lebensführung, die auf eine affektive, braut- und passionsmystische Frömmigkeit und die imitatio Christi zentriert ist.189 Ausführliche lateinische Bibelzitate, die in die Volkssprache übertragen werden, lassen nicht nur an Mönchs- und Nonnenorden, sondern auch Laienbrüder und Laienschwestern als literarisches Publikum denken.190 Hier zeigt sich auf der textinternen Ebene der Einfluss einer ‚kartäusischen‘ Spiritualität, den Alexandra Barrat in ihrer Studie zur Entfaltung einer anachoretischen Theologie nachweisen konnte, indem sie signifikante und zum Teil wörtliche Übereinstimmungen ­zwischen dem „Tretyse of Loue“ und den um das Jahr 1128 verfassten „Consuetudines“ des Kartäuserpriors Guigo I. herausgearbeitet hat.191 Und ein weiterer Wynkyn-­de-­Worde-­Druck aus dem Jahr 1496 ist mit der monastisch-­kontemplativen Vorstellungswelt der Kartäuser verbunden: Der gedruckte Traktat „Mons Perfeccionis“ von John Alcock, dem Bischof von Ely (1486),192 ­bietet „Ancrenne Wisse“: Translations, Adaptations, Influences and Audiences, with Special Attention to Woman R ­ eaders. In: A Companion to „Ancrene Wisse“. Hrsg. von Yoko Wada. Cambridge 2003, S. 164. 187 Vgl. San Marino/USA, Henry E. Huntington Library and Art Gallery, STC 24234 zitiert nach EEBO [28. 08. 2018]. Vgl. die Textedition The Tretyse of Loue. Hrsg. von John Fisher. Oxford 1951 (EETS, 223). 188 Vgl. Wolfgang Riehle: Englische Mystik des Mittelalters. München 2011, S. 72 ff. Vgl. auch die überblicksartige Darstellung von Yoko Wada: What is „Ancrene Wisse“? In: A Companion to „Ancrene Wisse“. Hrsg. von Yoko Wada. Cambridge 2003, S. 1 – 29. 189 Vgl. Tretyse of Loue, STC 24234, zitiert nach EEBO, die Passionsmeditation sig. a.iv.r – ­v, c.vi.v – ­d.ii.r und die Hoheliedexegese sig. a.iii.r: In canticis ca[n]ticoru[m] sponsus ad sponsam / Pone me ut signaculum super cor tuum et ut signaculu[m] super brachium tuu[m]. Fayr loue seyth our lorde and loue jhu cryste put me as a lytyll seale on your herte […] þe may thynke on me oftyn [and] put me as a seale uppon your arme so that þe enbrace me wyth holy deuocyon.“ 190 Besitzer und Rezipienten des „Tretyse of Loue“ sind der Forschung nicht bekannt, vgl. Innes-­Parker: The Legacy of „Ancrene Wisse“, S. 154. 191 Vgl. Alexandra Barrat: Anchoritic Aspects of „Ancrene Wisse“. In: Medium Aevum, XLIX.1 (1980), S. 32 – 56, besonders S. 37 – 39 und S. 44. 192 Vgl. den Eintrag zu John Alcock von Richard J. Schoeck: Alcock, John (1430 – 1500). In: Oxford Dictionary of National Biography, Oxford 2004. Online Edition Sept 2010, http://www.oxforddnb.com/view/ article/289 [25. 08. 2018]. Als Absolvent der University of Cambridge gründete John Alcock das Jesus ­College in Cambridge und durch seine Ernennung zum persönlichen Tutor und Präsidenten der Ratsversammlung von Prince Edward im Jahr 1473 unterhielt er einflussreiche Beziehungen zum englischen Königshof. Daher darf vermutet werden, dass sich mit den Publikationen von John Alcocks Schriften das Prestige der universitären Gelehrtenwelt und des Königshofes auf den Druckbetrieb ­Wynkyn de Wordes gewissermaßen übertragen hat. Vgl. San Marino/USA, John Huntington Library and Art Gallery, „Mons

Die Druckfassungen des Kempe-Texte | 91 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Anklänge an das geistliche Gedicht „Of þe state of religion“, das auf fol. 37v–38r in der eindrucksvoll illustrierten Kartäusersammelhandschrift British Library, Add MS 37049 aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts erhalten ist.193 Dieses klösterliche Lehrgedicht propagiert die monastische Tugend der Armut und das Ideal der Weltabkehr als Weg zum göttlichen Heil (hylle of perfeccion fol. 38r, 23).194 Unterstrichen wird diese programmatische Aussage durch eine expressiv wirkende Illustration auf fol. 37v, die eine Himmelsleiter mit den fünf Stufen meknes, pouerte, obediens, chastite und charite zeigt.195 Zusammengesehen entfalten Text und Bild das Thema der monastischen Tugendlehre, wie sie auch der gedruckte Traktat „Mons Perfeccionis“ (1496) von John Alcock anvisiert.196 Dieser Druck, der den Angaben des Kolophons zufolge auf Veranlassung des Priors der Kartause St Anne in Coventry entstanden ist,197 demonstriert eine prokartusianische Ausrichtung, die anhand der Tugenden des Perfeccionis“, STC 278, eingesehen in EEBO [28. 08. 2018]. Vgl. auch den Druck der mittelenglischen Predigt John Alcocks zum Lukasevangelium, Lc 8,8 Manchester, John Rylands University Library of Manchester, STC 284 um 1497, EEBO [28. 08. 2018]. Vgl. auch Alcocks Traktat „Desponsacio Virginis Christo“ über die Ordensaufnahme weiblicher Religiosen, Cambridge, Cambridge University Library, STC 286. 193 Ich danke Justin Clegg, British Library, sehr herzlich dafür, dass er mir die Handschrift zu Untersuchungszwecken in der British Library zur Verfügung gestellt hat. Anhand des Gedichts über die Gründung des Kartäuserordens, fol. 22r–v, der charakteristischen weißen Kutten der Mönche in den Illustrationen und der mystisch-­kontemplativen Ausrichtung der Sammelhandschrift, aber auch aufgrund der Devotion des Heiligen Namens und der Herz-­Jesus-­Verehrung kann sie einem Kartäuserkloster zugeordnet werden, wobei der Schreibdialekt für eine Kartause im Norden Englands spricht (Mount Grace in Yorkshire, Beauvale in Nottinghamshire und Axholme Lincolnshire). Vgl. zu diesen Angaben Hope E. Allen: Writings Ascribed to Richard Rolle, Hermit of Hampole and Materials for His Biography. New York, Oxford 1927 (Monograph Series of the Modern Language Association of America), S. 306 f. Karl Josef Höltgen: Arbor, Scala und Fons Vitae. Vorformen devotionaler Embleme in einer mittelenglischen Handschrift (B. M. Add. MS. 37049). In: Chaucer und seine Zeit. Symposion für Walter F. Schirmer. Hrsg. von Arno Esch. Tübingen 1968 (Buchreihe der Anglia, Zeitschrift für englische Philologie, Band 14), S. 357 und S. 374 – 378 zum monastischen Lehrgedicht „Of þe state of religion“ und dem Wynkyn-­ de-­Worde-­Druck „Mons Perfeccionis“. Vgl. die ausführliche Diskussion der Sammelhandschrift Add MS 37049 weiter unten. 194 Vgl. Add MS 37049, fol. 37v: The state of religioune / Suld be þorow right intencione / Far fro þe warld as þe boke telles / Als in deserte þar no man dwelles / þat he þat þis state kepis wele / þe maners of þe warld noght fele / For whi he þat is in þat state / He is as þies clerkes wele wate / Ded as anence þe warld namely / And lifes in god almyghty. […] Right so suld þe religious man / As to þe warld be ded þan / þat he fele ­no-­þinge with-­in / þat suld falle to any syn. Vgl. zur Tugend der Armut, fol. 38r: þe tresor of a man religios / Is clene pouerte þat is precios / If it cum of a gode will / And with-­outen grotchyng lowde or stylle. / Where-­fore god says þus blissed ar þai / þat pore ar in spyrit nyght & day. […] Right so suld do þe man of religion / þat clym wil on þe hylle of perfeccion […] So he cum to þat mowntayne / þar endles ioy is soudayne. / þar sal he se ay clerly / Oure lord Jhesu crist god almyghty. / And he sal luf perfitely þare / And hafe hym þan for euer mare. Amen. Vgl. die Transkription von Höltgen: Abor, Scala und Fons Vitae, S. 375 – 376. 195 Vgl. die Bildbeschreibung von Höltgen: Arbor, Scala und Fons Vitae, S. 377. 196 Vgl. „Mons Perfeccionis“, Wynkyn de Worde, 1496, STC 278, sig. a.ii.r. 197 Vgl. das Gönnerzeugnis im Kolophon, „Mons perfeccionis“ sig. e.iv.r – e.iv.v: Enprynted at Westmestre by Wynkyn the Worth. þe yere of our lorde M.CCCC.lxxxx.vi. […] at the Instaunce of the ryght reuerende

92 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Gehorsams, der Armut und Keuschheit entfaltet wird.198 Die Existenz d ­ ieses Druckes, der von Prior Thomas in Auftrag gegeben wurde, spricht ebenfalls dafür, dass die englischsprachigen Kartäuser Verbindungen zum Druckbetrieb Wynkyns de Worde unterhielten und an der Veröffentlichung religiöser Erbauungsliteratur direkt beteiligt waren. Ein spezifisches Interesse an frauenmystischer Viten- und Offenbarungsliteratur geht aus der im ausgehenden 15. Jahrhundert veröffentlichten Anthologie hervor, in der ­Wynkyn de Worde Auszüge aus der Vita der Heiligen Katharina von Siena mit den Offenbarungen der Heiligen Elisabeth zusammenstellt: „Lyf of Saynt Katherin of senis with the reuelacions of saynt Elysabeth the kynges doughter of hungarye“.199 Auf der Ebene der Überlieferungsträger bietet die Sammelhandschrift Oxford, Bodleian Library, MS Douce 114 aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts eine ganz ähnliche Sammlung (frauen-)mystischer Texte, die aus dem Buchbesitz der Kartause Beauvale in Nottingham stammt.200 In ­diesem Kompendium, das thematisch auf die Eucharistieverehrung, visionäre Schauungen und die Askesepraxis abhebt, finden sich mittelenglische Übersetzungen der Viten der Elisabeth von Spalbeck, der Christina Mirabilis, der Marie von Oignies, Exzerpte aus der Lebensbeschreibung der Heiligen Katharina von Siena mit einer bearbeiteten Fassung von Heinrich Seuses „Horologium Sapientiae“.201 Die Textsammlung inspiriert zu einer meditativen Versenkung in die verschiedenen Aspekte einer körperzentrierten Askese- und Bußpraxis, die letztlich ebenfalls als eine Art Stufe auf dem Weg wahrer Gotteserkenntnis überwunden und transzendiert werden muss.202 Es gibt keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass die Handschrift außerhalb der Klostermauern der Kartause rezipiert worden ist, so dass auch hier ein männliches, monastisches Lesepublikum im Hinblick auf Frauenviten erneut greifbar wird.203 relygyous fader Thomas pryour of þe house of saynt Anne the ordre of the Chartrouse. Vgl. zur Kartause St Anne in Coventry Coppack/Aston: Christ’s Poor Men, S. 38 – 40. 198 Vgl. „Mons Perfeccionis“ Wynkyn de Worde, 1496, STC 278 sig. d.iii.v: Men of relygion specyally sholde reme[m]bre how […] odyous to theym sholde golde / syluer or possessyon of ony temporall goodes be. Vgl. zur Keuschheit sig. d.iv.r. Im Hinblick auf die exemplarische Lebensführung der Kartäuser, sig. e.iii.v: Thyse holy relygious men lyue in noo drede of man for yf theuys or vntrue men come to spoylle them in their celles. they shall fynde there neyther golde ne syluer. precyouse garmentes. no fayre and softe beddynge / but harde bordes. calues and shepes skynne […]. 199 London, British Library STC 24766 um 1492, EEBO [28. 08. 2018]. 200 Vgl. Oxford, Bodleian Library, MS Douce 114, fol. 150v Besitzeintrag der Kartause Beauvale. Ich danke der Bodleian Library, Oxford, die mir die Handschrift zur Einsicht zur Verfügung gestellt hat. 201 Vgl. Sarah Macmillan: Mortifying the Mind. Ascetism, Mysticism and Oxford, Bodleian Library, MS Douce 114. In: The Medieval Mystical Tradition in England. Exeter Sypmposion VIII: Papers read at Charney Manor, July 2011. Hrsg. von Edward A. Jones. Cambridge 2013, S. 109 – 123, hier S. 110. 202 Vgl. Macmillan: Mortifying the Mind, S. 123. 203 Dass Kartäusermönche als Rezipienten dieser Art frauenmystischer Literatur in Erscheinung treten, wirft ein kritisches Licht auf die bereits erwähnte Definition von Kurt Ruh, die er in der Vorbemerkung seiner wirkungsmächtigen Mystik-­Literaturgeschichte formuliert hat, Frauenmystik-­Band II, 1993,

Die Druckfassungen des Kempe-Texte | 93 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Dass diese Texte begnadeter Frauen als vorbildhaft für Kartäusermönche und -theologen gelten konnten, geht ebenfalls aus handschriftlichen Zeugnissen des deutschsprachigen Raums hervor, wie das Beispiel der Erfurter Kartause aus dem 15. Jahrhundert belegt: So notiert der bedeutende Reformtheologe Johannes Hagen aus der Erfurter Kartause in seinem Schriftenverzeichnis, dass er Exzerpte aus den Texten der Hildegard (von Bingen), Elisabeth (von Schönau), Birgitta (von Schweden), Dorothea (vo­n M ­ ontau), Katharina von Siena und einer Äbtissin namens Mechthild angefertigt und gelesen habe: Et de quibusdam aliis revelacionibus factis feminis extraxi quedam, non tamen multa, licet pro maiori parte integra legi et quedam sepius.204 Dieses Beispiel illustriert gleichzeitig, dass Kartäuser Exzerptsammlungen frauenmystischer Texte anfertigten, die durch das Verfahren der Textauswahl eine Art Retextualisierung erfahren haben. Deshalb wäre es durchaus denkbar, dass der gedruckte Kempe-­treatyse ebenfalls aus einer solchen Exzerptsammlung hervorgegangen sein könnte. Allerdings lassen sich ganz ähnliche literarische Interessen für das birgittinische Syonkloster ausmachen: Der Klosterverwalter Richard Sutton kann als Auftraggeber der Wynkyn-­de-­Worde-­Druckfassung des „Orcherd of Syon“, einer Übersetzung des „Il Dialogo“ Katharinas von Siena,205 bestimmt werden. Die Vorrede benennt die Birgittinerinnen des Klosters Syon als Rezipientinnen.206 Dabei profiliert der Text Syon als ideale Klostergemeinschaft, die von geistiger Arbeit und Gebet geprägt ist und daher den Ruf S. 17: „Frauenmystik umspannt Texte, die für Frauen geschrieben oder von Frauen durch Diktat oder Bericht, seltener auch in eigener Niederschrift vermittelt worden sind […].“ Denn hier lässt sich das Gegenteil einer vermeintlich ausschließlich genderorientierten Lektürepraxis beobachten, wie weiter unten diskutiert werden soll. 204 Zitiert nach Joseph Klapper: Der Erfurter Kartäuser Johannes Hagen. Ein Reformtheologe des 15. Jahrhunderts. Band 2. Leipzig 1961 (Erfurter Theologische Studien Band 9 – 10), S. 126. Vgl. Nemes: Von der Schrift zum Buch, S. 231, der als erster auf ­dieses Zitat im Rahmen der lateinischen Überlieferung des „Fließenden Lichts“ verweist und im Rückgriff auf Auer: Die Theologia mystica des Kartäusers Jakob von Jüterborg, S. 33 – 52 und Mertens: Jakob von Paradies (1361 – 1465). Über die mystische Theologie, S. 43 hervorhebt, dass die in der Kartause Erfurt aufbewahrten frauenmystischen Texte auch dem Kartäuser Jakob von Paradies bekannt gewesen ­seien. 205 Vgl. Il Dialogo della divina Providenzia. Ovvero Libro della divinia dotrina. Hrsg. von Giuliana ­Cavallani. Testri Cateriniani. 2. Ausgabe, Siena 1995. 206 Vgl. London, British Library, STC 4815 aus dem Jahr 1519, sig. iii.r eingesehen unter EEBO [28. 08. 2018]: Relygyous moder and deuoute sustren / called and chosen […] to labour at the house of Syon / in the blessed vyneyerde of our holy sauyoure […] the revelacyons of our lorde to his chosen mayde Katheryne of Sene / this boke of reuelacyons (as for youre ghostly comforte) to you. Vgl. sig. b.iii.r: Thys consyderynge a ­rygthe worshypfull and deuoute ge[n]tylma[n] / Mayster Rycharde Sutton esquyer / ­stewarde of the holy monastery of Syon / fyndynge this ghostely tresure these dyologes and reuelacyons of the newe seraphycall spouse of cryste Seynt Katheryne of Sene / in a corner by it selfe / wyllynge of his greate charyte it sholde come to lyghte that many relygyous and deuoute soules myght be releued and have co[m]forte therby / he hathe caused at his greate coste this booke to be prynted. Vgl. Annette C. Grisé: In the Blessed Vyneȝard of Oure Holy Saueour: Female Religious Readers and Textual Reception in „The Myroure

94 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

besonderer ‚Heiligkeit‘ verdient.207 Hier eröffnen sich ordensübergreifende literarische Interessengebiete, wie sie der Kempe-­treatyse und die gedruckte englischsprachige Erbauungsliteratur des 15. und frühen 16. Jahrhunderts reflektieren. Besonders aufschlussreich ist in d ­ iesem Zusammenhang die gedruckte „Scala Perfeccionis“208 Walter Hiltons, des berühmten Autors und Regularkanonikers der Augustinerpriorei in Thurgarton nahe Southwell in Nottinghamshire.209 Denn die „Scala Perfeccionis“, die in der Handschriften-­Fassung als mystagogische Unterweisung an eine Rekluse ausgegeben wird,210 bietet nähere Erkenntnis über die literarischen Beziehungen ­zwischen Syon und Sheen und eine autorzentrierte Form der Überlieferung, auf die sich offenbar auch die Kartäuser spezialisierten. Sie ist in mehr als 43 Handschriften überliefert, von denen etwa 18 der Kartause Sheen oder dem Birgittinerinnenkloster Syon zugeordnet werden können.211 In den Kartäuser-­Handschriften lässt sich jedenfalls ein ausgeprägtes Interesse an einer biographischen Personalisierung 212 und Profilierung der Autorschaft Walter Hiltons ablesen, die im Kontext einer zunehmenden Autorisierung mystischer Texte über die Kategorie einer persönlich-­biographisch konturierten Autorschaft gesehen werden of our ladye“ and „The Orchard of Syon“. In: The Medieval Mystical Tradition in England, Ireland and Wales, 1999, S. 193 – 213. 207 Vgl. Grisé: In the Blessed Vyneȝard of Oure Holy Saueour, S. 206 und S. 211. 208 London, British Library, STC 14042 aus dem Jahr 1494 eingesehen unter EEBO [28. 08. 2018]. 209 Vgl. die Angaben in der Textedition: Walter Hilton: The Scale of Perfection. Translated from the Middle English, with an Introduction and Notes by John P. H. Clark and Rosemary Dorward. Preface by Janel Mueller. New York, Maha 1991 (The Classics of Western Spirituality), Einleitung S. 13. Zitate sind ­dieser Textedition entnommen (im Folgenden: Scale of Perfection). 210 Vgl. Scale of Perfection, capitulum 1, S. 77: Spiritual Sister in Jesus Christ, I beseech you to be contented in the vocation through which our Lord has called you to serve him, and in it to stand firm […] And as you have forsaken the world like a dead man, your body turned to our Lord in the sight of men, so let your heart be as if dead to all earthly loves and fears, turned wholly to our Lord Jesus Christ. […] the cause of your bodily enclosure is that you may the better come to spiritual enclosure; and as your body is enclosed from bodily associations with men, just so should your heart be enclosed from the fleshly lust of all earthly things. Vgl. S. 160, capitulum 92 The reason for writing this book, and what the lady for whom it was made is to do when she reads it. Die abschließende Bemerkung in capitulum 92, S. 160 deutet auf einen größeren Leserkreis hin: The reason for writing this book, and what the lady for whom it was made is to do when she reads it […]. Also, not all these words that I write to you concern a person in active life, but they are for you or someone else who has the state of the contemplative life. Vgl. die Anweisungen, die die Kontemplation betreffen: capitulum 3, S. 78 f.; capitulum 4, S. 79 f.; 5, S. 80 f., 6, S. 81. Zum göttlichen Liebesfeuer, Scale I, capitulum 26 und 31; zur meditativen Versenkung capitulum 34, S. 105 und zur Passionsmeditation capitulum 35, S. 106. 211 Vgl. Michael Sargent: Walter Hilton’s Scale of Perfection. The London Manuscript Group Reconsidered. In: Medium Aevum 52 (1983), S. 189 – 215 mit einer detaillierten Aufführung der über 43 vorhandenen Textzeugen, S. 215 f. 212 Vgl. zum Begriff der Personalisierung, Kuhn: Entwürfe zu einer Literatursystematik des Mittelalters, S. 85 (siehe die Einleitung der vorliegenden Arbeit).

Die Druckfassungen des Kempe-Texte | 95 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

kann. Die gedruckte Scale-­Fassung basiert auf der Handschrift London, British Library, MS Harley 6579 aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, die aus dem Buchbesitz der Londoner Kartause stammt und als eine Art Arbeitsexemplar von fünf verschiedenen Schreiberhänden mit zahlreichen Korrekturen versehen und, durch Hinzufügung einer Textpassage zur Anbetung des heiligen Namens,213 auf eine christozentrische Frömmigkeit hin ausgerichtet wurde.214 Diese Handschrift dokumentiert das Bestreben, einen sorgfältig verbesserten, autoritativen Text herzustellen, der in die drucktechnische Überlieferung eingegangen ist.215 Wenige vorhandene Besitzeinträge von Syon-­Schwestern in den gedruckten Scale-­ Fassungen deuten darauf hin, dass die Druckfassung wiederum in einem monastischen Kontext rezipiert worden ist.216 Gleichzeitig manifestiert sich hier der literarische Austausch ­zwischen Syon und Sheen, der in der annotierten Rosenbach Scale-­Fassung konkretisiert erscheint: Der gelehrte Professmönch und ambitionierte Schreiber James Grenehalgh 217 213 Vgl. London, British Library, MS Harley 6579, zwei eingebundene Einzelblätter nach fol. 27 als Additament zu capitulum 44, vgl. Scale of Perfection, Einleitung, S. 55, Sargent: Walter Hilton’s Scale of Perfection, S. 195 – 198. Vgl. Scale of Perfection, capitulum 44, S. 115 f. hier gekürzt zitiert: But now you say: ‚If this is true I wonder very much at what I find written among the sayings of certain holy men. Some say, as I understand, that anyone who cannot love this blessed name Jesu […] shall be alien to that surpreme joy and spiritual sweetness in the bliss of heaven, and he shall never come to it. […] for this name Jesus in English is nothing else but healer or health. Now, everyone who lives in this wretched life is spiritually sick, for there is no one alive without sin, which is sickness of the spirit, as St. John says of himself and other perfect men: Si dixerimus quia peccatum non habemus, ipsi nos seducimus, et veritas in nobis non est. […] Now, the name of Jesus is nothing else but this healing of the spirit; […] This is the reason, in my opinion, why our Lord in taking our human nature for our salvation did not want to be called any name that signified his infite being, or his might, or his wisdom, or his righteousness, but only by the name that showed the cause of his coming: the salvation of man’s soul, a salvation most dear and necessary to man. That is the salvation meant by the name Jesus. Then by this it seems true that nobody shall be saved unless he loves this name Jesus. […] I can also put it in another way, regarding a person who does not here know how to love this blessed name Jesus with gladness in his spirit or rejoice in it with heavenly melody: In the bliss of heaven he shall never have or feel such fullness of supreme joy as shall be had and felt by someone who in this life has learned to rejoice in Jesus by abounding in perfect charity.‘ 214 Vgl. Windeat: English Mystics of the Middle Ages, S. 150. Scale of Perfection, Einleitung, S. 16 und S. 54. Vgl. Sargent: The Transmission by the English Carthusians of some Late Medieval Spiritual ­Writing, S. 235. 215 Dies passt zu der Beobachtung von Christiania Whitehead und Denis Renevey, dass die Sheen-­Kartäuser die Birgittinerinnen offenbar mit religiöser Erbauungsliteratur versorgten und dadurch in gewisser Weise Einfluss auf das Leseverhalten der Schwestern ausübten. Vgl. Renevey/Whitehead (Hrsg.): Writing Religious Women, Einleitung, S. 12. 216 Vgl. Schoff: Three Medieval Authors, S. 129 und vor allem Sargent: Walter Hilton’s Scale of Perfection, S. 206 f. 217 James Grenehalgh legte seine Profess um das Jahr 1499 in Sheen ab, vgl. Michael Sargent: James ­Grenehalgh as Textual Critic. Volume 1. Salzburg 1984 (Analecta Cartusiana 85), Einleitung, S. 10 und S. 108 f. Von ihm sind umfangreiche Zeugnisse seiner literarischen Aktivitäten erhalten, die weiter unten näher beleuchtet werden sollen.

96 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

aus Sheen hat diesen Scale-­Druck für die Syon-­Schwester Joanna Sewell im 16. Jahrhundert mit lateinischen und englischen Kommentaren präpariert.218 Auf fol. 135v befindet sich eine Illustration, die an den Grundriss einer K ­ irche oder Klosteranlage erinnert und in deren Zentrum sich der Name Joanna Sewell befindet, der links und rechts von den Namen Maria und Birgitta flankiert und von den Worten Sanctus Salvatoris und ­Sanctus Augustinus eingeschlossen ist.219 Oberhalb der Zeichnung finden sich Anweisungen zur Teufelsvertreibung: In despisyng of þe Fend our ghostly enmye Say þis himne. O tortuose serpens qui mille per meandros fraudes[que] flexuosas, agitas quieta corda. Discede. Christus hic est. hic est Christus. liquesce. signu[m]. T. quod ip[s]e nosci damnat tuam cateruam. T. Crux pellit om[n]e crimen. fugiunt. cruce[m] tenebre. tali dicata signo. mens fluctuare nescit. Discede & [cetera] As it is afor[e].220

Unterhalb der Zeichnung sind lateinische Psalmenworte (Ps 90,5 – 7) eingetragen, die einen Teil der klösterlichen Komplet bilden: A timor[e] noct[ur]no A sagitta p[er]ambulante in die. A negocio p[er]ambulante in tenebris. Ab incursu et demonio m[er]idiano. S[ed] cadent a lat[er]e tuo & [cetera]. Ad te autem J. S. non appropinquabit.221

Diesen ‚Schutzsegen‘, die erläuternden Kommentare in der Rosenbach-­Scale Fassung in Verbindung mit den ineinander verschlungenen Monogrammen JS und JG in zwei „Incendium Amoris“-Sammelhandschriften 222 hat die Forschung als Indizien für eine erotisch-­intime Beziehung z­ wischen Joana Sewell und James Grenehalgh im Rahmen seiner vermeintlichen 218 Vgl. Philadelphia, Rosenbach Foundation, Incunable H. 491. Vgl. die Abbildung der von Grenehalgh angefertigten Illustration des Namens Johanna Sewell in: Erler: Women, Reading and Piety, S. 123. Michael Sargent verzeichnet die Randeinträge und Kommentierungen in ders.: James Grenehalgh as Textual Critic. Volume 1, S. 164 – 212. Vgl. auch Sargent: Walter Hilton’s Scale of Perfection, S. 201 – 205. Dieser Druck trägt auf fol. 4v den folgenden Besitzvermerk: This boke belongyth to dame Jhone Sewell Syster in Syon P[ro]fessed The yere of oure Saluatio[n] in the thousand and fyve hundreth. In die Sancti Vitalis Martiris xxviij Ap[ri]l[is]. Zitiert nach Sargent: James Grenehalgh as Textual Critic. Volume 1, S. 173. 219 Vgl. die oben erwähnte Abbildung in Erler: Women, Reading and Piety, S. 123 und die Beschreibung S. 121 – 123. 220 Vgl. Philadelphia, Rosenbach Foundation, Incunable H. 491, fol. 135v zitiert nach Sargent: James ­Grenehalgh as Textual Critic. Volume 1, S. 201. 221 Ebd., S. 201. Vgl. auch Erler: Women, Reading and Piety, S. 122. 222 Vgl. die Textausgabe dieser biographisch stilisierten, mystagogischen Lehre, die der einflussreiche und prominente Einsiedler-­Autor Richard Rolle aus Hampole, Yorkshire, verfasst hat: The Incendium Amoris. Hrsg. von Margaret Deansley. Manchester 1915 (Publications of the University of Manchester Historica Series No. 27), S. 2, 15, besonders S. 79 – 83. Es handelt sich hier um die Handschriften Cambridge, Emanuel College MS. 35 und London, British Library, Add MS 24661.

Die Druckfassungen des Kempe-Texte | 97 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Tätigkeit als Beichtvater gewertet, obwohl keine belastbaren Dokumente existieren, die s­ olche Vermutungen belegen können.223 Vielleicht sprechen die Annotationen, die Grenehalgh in die Scale-­Fassung eingetragen hat, eher für die literarischen Interessen und Gelehrtheit der beiden Ordensleute, als das sie Auskunft über eine Art Liebesbeziehung geben ­müssen. Zumindest können sie im Kontext der literarischen Aktivitäten und ‚Expertise‘ James Grenehalghs gesehen werden.224 Darauf deuten jedenfalls die Studien hin, die Grenehalgh an verschiedenen Fassungen der „Scale of Perfection“ durchgeführt hat und die ihn als Experten ausweisen: So hat er die lateinische Scale-­Handschrift London, British Library, MS Harley 6576 mit der Rosenbach-­Druckfassung 225 verglichen, ebenso mit der Handschrift Cambridge, Trinity College, MS B.15.18 und schließlich hat er die Rosenbach-­Druckfassung prüfend mit der Londoner Kartäuserhandschrift Cambridge, University Library, MS Ee.iv.30 aus dem 15. Jahrhundert 226 und der Handschrift Chatsworth, Chatsworth House, Duke of Devonshire’s MS (Privatbesitz) abgeglichen.227 Diesen literarischen Studien lässt sich ein dezidiertes Interesse an der oben genannten Konkretisierung persönlich-­biographischer Autorschaft entnehmen: Denn James ­Grenehalgh schreibt die anonyme „Cloud of Unknowing“ Walter Hilton zu, die in der Tradition des Pseudo-­Dionysius Areopagita stehend eine zentrale Stellung innerhalb der englischsprachigen Mystik einnimmt.228 Ein sehr deutliches Interesse an einer zunehmenden L ­ egitimierung 223 Vgl. Erler: Women, Reading and Piety, S. 122. Michael Sargent vermutet, dass Grenehalgh aufgrund der ‚engen‘ Beziehung zu Sewell von der Kartause Sheen nach Coventry verlegt worden sein könnte. Vgl. Sargent: Walter Hilton’s Scale of Perfection, S. 201. Vgl. auch Sargent: James Grenehalgh as Textual Critic. Volume 1, S. 10. 224 Dazu passt auch, dass Joanna Sewell ebenfalls vergleichende Studien mit diesen beiden „Incendium Amoris“- Handschriften (Cambridge, Emanuel College MS. 35 und London, British Library, Add MS 24661) vorgenommen hat, vgl. Bell: What Nuns Read, S. 83 Anm. 28 und S. 72, vgl. S. 78 zur außerordentlichen Gelehrtheit der Joanna Sewell. 225 Philadelphia, Rosenbach Foundation, Inc. H. 491. 226 Vgl. Sargent: James Grenehalgh as Textual Critic. Volume 2, S. 298. 227 Vgl. zu den umfangreichen Kommentierungen James Grenehalghs, die Sargent zufolge nahezu 1000 Einträge in der „Scale of Perfection“ ausmachen: Sargent: Walter Hilton’s Scale of Perfection, S. 189 und S. 201 – 204. Vgl. auch ders.: James Grenehalgh as Textual Critic. Volume 2, S. 330 – 359 und S. 360 – 472 mit einer Aufführung der Korrekturen und Randeinträge. 228 Vgl. Handschrift Oxford, Bodleian Library, MS Douce 262 um 1500 aus der Kartause London mit dem Besitzvermerk fol. 1r: Liber domus salutac[i]onis matris Dei p[ro]pe londinu[m] ordinis Carthusi[ens]is zitiert nach Helen Gardner: Walter Hilton and the Authorship of the Cloud of Unknowing. In: The Review of English Studies ix (1933), S. 132. Vgl. Sargent: The Transmission by the English Carthusians of some Late Medieval Spiritual Writing, S. 237 f. Gardner: Walter Hilton and the ­Authorship of the Cloud of Unknowing, S. 132 mit den wichtigen Annotationen, die auf Walter ­Hilton verweisen: fol. 34v: O hilto[n] s[anc]tiss[im]e magna erat hu[mili]tas tua. fol. 56r: co[m]pilatoris hu[mili]tas p­ [ro]ut in scala eiusde[m] et cet[er]is tractatib[u]s; fol. 60r: a d[o]m[in]o Walt[e]ro disce hic h[u]militat[em]; fol. 80r: ve[ru]mpt[ame]n tu sat[is] dis[er]te de his persecutus es in li[br]o ad a[n]cho[r]itam. fol.115v: auctoris c[on]sil[ia] s[un]t ­ven[erabilis] hylton in scala.

98 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

und Autorisierung durch die namentlich benannte Autorperson ‚Walter Hilton‘ geht auch aus den Einträgen in Yale, Beinecke Library, MS Osborn fa 46 hervor, die Walter Hilton als leitenden Kanoniker der Augustinerpriorei Thurgarton ausweisen und ihm die Übersetzung des franziskanischen „Stimulus Amoris“229 und die Autorschaft des anonymen „Chastysing of Goddes Chyldren“-Textes zuschreiben.230 Deshalb vermutet Michael Sargent wohl zu Recht, dass die Handschrift Yale, Beinecke Library, MS Osborn fa 46 mit ihrer konkretisierenden Autorschaftsprofilierung entweder in den Kartausen in Sheen, London oder im Birgittinerinnenkloster Syon produziert worden sein dürfte.231 Denn sie kann im Kontext einer ‚Institutionalisierung‘ literarischer Autorschaft gesehen werden: Dadurch dass die englischen Kartäuser als grundlegend für die Autorschaftsprofilierung in der Scale-­Tradierung anzusehen sind, ist es nicht erstaunlich, dass sie ihrem Ruf als ‚Walter-­Hilton-­Experten‘ entsprechend Druckvorlagen für die „Scale“ bereitgestellt haben. Es liegt daher zumindest im Bereich des Möglichen, dass die Kartäusermönche in ähnlicher Weise an der Autorkonkretisation der Margery Kempe aus Lynn beteiligt gewesen sein könnten, wie sie aus Incipit und Kolophon des Kempe-­treatyse (taken out of the boke of Margerie kempe of lyn[n], sig. 1r) hervorgeht. Die Bedingungen für die Entstehung der Kempe-­Druckfassung mit ihrer Zuschreibung an eine namentlich benannte und örtlich lokalisierbare Autor-­Person könnten deshalb in dieser institutionalisierten, ordensübergreifenden Literaturproduktion zu suchen sein. Anhaltspunkte in der oben diskutierten Scale-­Druckfassung weiten ­dieses literarische Netzwerk auf den englischen Königshof und die fromme Gönnerin Lady Margaret Beaufort aus:232 Denn Incipit und Besitzeintrag der Druckausgabe in der Beinecke Library weisen 229 Vgl. Eisermann: Stimulus Amoris. 230 Vgl. Yale University, Beinecke Library, MS Osborn fa 46 aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts (zuvor Turnton, Somerset Record Office, Heneage MS 3084) in Sargent: The Transmission by the English Carthusians of some Late Medieval Spiritual Writing, S. 227. Vgl. fol. 74v: Thus endith the tretys yclepid the pricke of love the wheche was made of a hye clerke & a devout doctor of divinite yclepid B ­ oneaventure of the ordre of freris menoris […] and sithin the same tretis was translat out of latyn into englyshe by the travaile & diligence of a religious persone maister Walter Hilton chanoun & govenor of the house of Thurgarton. Incipit fol. 75r: Here bigynnyth the kalender of this book now folwing the wheche book was made of a discrete & a reverent clerke & a chanoun cleipyd maister Walter Hilton governour of the hous of Thurgarton biside Newerk in the diosise of Yoorke and he sente the same book unto a religious woman lyvyng solitarie clepying the same book chastising of goddis childrin. Zitiert nach dem Eintrag in: Catalogue of Medieval and Renaissance Manuscripts in the Beinecke Rare Book and Manuscript Library, Yale University. Hrsg. von Barbara Shailor [u. a.]. Eingesehen online: https://pre1600ms.beinecke.library.yale.edu/docs/pre1600.osborn. fa46.htm [26. 06. 2018]. 231 Vgl. Sargent: The Transmission by the English Carthusians of some Late Medieval Spiritual Writing, S. 228. 232 Vgl. zu Margaret Beaufort, Michael K. Jones und Michael G. Underwood: The King’s Mother. Lady Margaret Beaufort, Countess of Richmond and Derby. Cambridge 1993. St John’s College Cambridge. A History. Hrsg. von Peter Linehan. Woodbridge 2011, S. 5 – 11. Rebecca Krug: Reading Families. Women’s

Die Druckfassungen des Kempe-Texte | 99 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Margaret Beaufort, die ­Mutter Heinrichs VII ., als Auftraggeberin und Besitzerin aus.233 Durch den Kolophon des gedruckten birgittinischen Gebetstexts „Fifteen Oes“ aus dem Jahr 1491234 lässt sich das literarische Patronat Margaret Beauforts für den Zeitraum von 1491 bis zu ihrem Tod im Jahr 1509 nachweisen.235 Und auch die Veröffentlichung des gedruckten Kempe-­treatyse fällt in diesen Zeitabschnitt.236 Weitere Zeugnisse, die ihr literarisches Patronat suggerieren, lassen sich in Wynkyn de Wordes Druckkompilationen aus dem späten 15. und frühen 16. Jahrhundert auffinden.237 So ziert der königliche Wahlspruch Dieu et mon Literary Practice in Late Medieval England. London 2002, S. 65 – 114. Margaret Beaufort, die hochgebildet und vielseitig interessiert war, erlangte aufgrund ihres frommen Lebenswandels und ihrer universitären Stiftungen hohes Ansehen. Ihr wird zugeschrieben, den Literaturbetrieb der Zeit nachhaltig beeinflusst zu haben. Vgl. zur Gründung des Christ College und des St John’s College in Cambridge, Susan Powell: Lady Margaret Beaufort and Her Books. In: The Library. A Quarterly Journal of Bibliography. Sixth Series Volume XX (1998), No. 3, S. 238 f. Vgl. zur Einrichtung einer Theologie-­Professur an der University of Cambridge, Patrick Collinson: Lady Margaret Beaufort and Her Professors of Divinity at Cambridge: 1502 – 1649. Cambridge 2003. 233 Vgl. Yale, Beinecke Rare Book and Manuscript Library, Scala Perfectionis. Vgl. Sargent: ­Walter Hilton’s Scale of Perfection, S. 207. Vgl. auch die Widmung in der gedruckten „Scale“ zitiert nach Jones/Underwood: The King’s Mother, S. 182: This hevenly boke, more precyous than golde, / Was late dyrect, with great humylyte, / For godly plesur thereon to beholde, / unto the right noble Margaret as ye see, / the kyngis moder, of excellente bounte […]. This mythty pryncesse hath commaunded me / T’emprynte this boke, her grace for to deserve. 234 Vgl. „Fifteen Oes“ British Library, London, STC 20195, 1491, eingesehen unter EEBO [28. 08. 2018], fol. c.vi.r: Thiese prayers […] wreton ben enprinted bi the comandementes of the moste hye [and] ­vertuous pryncesse […] ladi Elizabeth by the grace of god Quene of Englonde [and] of France. [and] also of the right hye [and] most noble pryncesse Margarete Moder vnto our souerayn lorde the kyng […]. By their most ­humble subget and seruant William Caxton. Das Gebet, das in einem persönlichen Duktus gehalten ist und als Offenbarung der Heiligen Birgitta ausgegeben wird, thematisiert die letzten Worte Christi und die Verehrung der fünf Kreuzeswunden. 235 Vgl. zu den Verbindungen Lady Margarets zum Druckbetrieb von William Caxton und seinem Nachfolger Wynkyn de Worde, Powell: Lady Margaret Beaufort and Her Books, besonders S. 207 und S. 212 – 215, S. 225 f. 236 Vgl. Foster: A Shorte Treatyse, S. 102. Das königliche Patronat übertrug sich von William Caxton auf Wynkyn de Worde, seinen Nachfolger im Druckbetrieb der Fleetstreet. 237 Vgl. San Marino/USA, Henry E. Huntington Library and Art Gallery, „Parlyament of deuylles“ 1509, STC 19305, eingesehen unter EEBO [28. 08. 2018], sig. b.iv.v: Thus endeth the parlyament of deuylles. Enprynted by Wynkyn de Worde printer vnto the moost excellent pryncesse my lady the kynges moder, in the yere of our lorde god. MCCCCC.ix […]. Oxford, Bodleian Library, „Nychodemus gospell“ 1509, STC 18566, EEBO [28. 08. 2018], sig. d.vi.r: Thus endeth Nychodemus gospell. Enprynted at London: In Fletestrete at the sygne of the sonne by Wynkyn de Worde, prynter vnto the moost excellent pryncesse my lady the kynges moder, In the yere of our lorde god. MCCCCC.ix the .xxiii.daye of Marche. Allerdings merkt Susan Powell zu Recht an, dass diese Drucke erst im Todesjahr Lady Margarets erschienen sind. Vgl. Powell: Lady Margaret Beaufort and Her Books, S. 212 Anm. 91. Sie ist am 29. Juni 1509 gestorben und deshalb lässt sich fragen, inwiefern sie tatsächlich an der Publikation dieser Schriften beteiligt gewesen ist oder ob hier nicht auch vielleicht Gründe der Buchvermarktung eine Rolle gespielt haben könnten.

100 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

droit und das Wappen Margaret Beauforts das Titelblatt des gedruckten Traktats „Remedy ayenst temptacyons“ aus dem Jahr 1508, der aus der in Briefform verfassten Inklusenregel „The Form of Living“ des prominenten Einsiedlermystikers Richard Rolle aus Hampole in Yorkshire kompiliert wurde.238 Ein mit „Contemplacyons of the Dread and Love of God“ betitelter Druck aus dem Jahr 1506, der kurze Exzerpte der drei Grade der Liebe aus Rolles englischsprachigen Brieftraktaten „Form of Living“ und „Ego Dormio“ bietet, weist ebenfalls das königliche Wappen auf.239 Hier erschließt sich das eingangs erwähnte literarische Netzwerk, das von den Kartäusern und Birgittinerinnen tradierte religiöse Erbauungstexte an Margaret Beaufort als Auftraggeberin, Gönnerin und Rezipientin bindet. Allerdings lassen sich die vom Hof geförderten Richard-­Rolle-­Drucke auch in Verbindung mit dem Interesse an einer Promulgation der Textautorisierung durch ein Konzept persönlich-­biographischer Autorschaft sehen: Denn aus Sheen liegen Richard-­Rolle-­ Kompendien vor, die wiederum in Verbindung mit den Studien des ‚Mystikexperten‘ James Grenehalgh auf eine ‚Entdeckung‘ namentlicher Autorschaft hindeuten.240 Bemühungen um eine Art ‚autorzentrierte‘ Überlieferung von Richard Rolles Texten gehen etwa aus Randeintragungen hervor, die James Grenehalgh in der lateinischen Richard-­Rolle-­Handschrift London, British Library, Add MS 24661 aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts aus der Klosterbibliothek der Kartause Sheen vorgenommen hat.241 Dafür sprechen auch 238 Vgl. London, British Library, Wynkyn de Worde 1508, STC 20875.5, EEBO [28. 08. 2018], sig. a. i.r. Vgl. zur Wappensymbolik, Jones/Underwood: The King’s Mother, S. 69 und „Lady Margaret’s Arms and Seal“, S. 291 f. Vgl. Holbrook: Margery Kempe and Wynkyn de Worde, S. 45 Anm. 22. 239 Vgl. London, British Library, Wynkyn de Worde 1506, STC 21259 sig. f. iv.r eingesehen unter EEBO [28. 08. 2018]. Vgl. Nicholas Watson: Richard Rolle and the Invention of Authority. Cambridge 1991, besonders S. 257 – 261, S. 331 Anm. 3. 240 Vgl. die oben erwähnte lateinische Sammelhandschrift London, British Library, Add MS 24661, die James Grenehalgh annotiert hat. London, British Library, MS Egerton 671 (die dem Kartäuserkloster Sheen durch die ­gleiche Schreiberhand fol. 1 – 47 wie in Add MS 24661 zugeordnet werden kann), Dublin, Trinity College MS 281, Douai, Bibliothèque municipale, 396 von John London in Sheen geschrieben, vgl. die Angaben in Allen: Writings Ascribed to Richard Rolle, S. 53 f. und Sargent: The Transmission by the English Carthusians of some Late Medieval Spiritual Writing, S. 231 – 234. Vgl. Michael S­ argent: Contemporary Criticism of Richard Rolle. In: Kartäusermystik und -mystiker. Band 1 Salzburg 1981, S. 169. James Grenehalgh hat die „Incendium Amoris“-Sammelhandschriften London, British L ­ ibrary, Add MS 24661, Cambridge, Emanuel College MS 35 und die berühmte Amherst-­Anthologie London, British Library, Add MS 37790 mit Randkommentaren versehen, wie oben erwähnt. Vgl. Sargent: Contemporary Criticism of Richard Rolle, S. 169 mit Verweis auf eine weitere „Incendium Amoris“-Handschrift Cambridge, Cambridge University Library, MS Mm. v. 37 aus dem Buchbesitz der Kartause Beauvale. 241 Vgl. die detaillierte Handschriftenbeschreibung von Sargent: James Grenehalgh as Textual Critic. Volume 2, S. 493 – 499. Nach Sargent enthalte Add MS 24661 auf fol. 2v–14r „Emendatio Vitae“ (vgl. Allen: Writings Ascribed to Richard Rolle, S. 230 – 245); fol. 14r–49v biete eine kürzere Fassung des „Incendium Amoris“ (vgl. Deansely: The Incendium Amoris, S. 145 – 275); fol. 49r–58v „De excellentia contemplationis“ (Allen: Writings Ascribed to Richard Rolle, S. 320 – 323); Auszüge aus Kapiteln acht

Die Druckfassungen des Kempe-Texte | 101 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

die Autorenbilder, die Richard Rolle repräsentieren und die sich in der oben erwähnten Kartäuser-­Sammelhandschrift London, British Library, Add MS 37049 auf fol. 30v, 37r und 52v befinden:242 Eine eindeutige Zuordnung als Autorportrait erlaubt allerdings erst die Illustration auf fol. 52v (Abb. 7), die eine bärtige sitzende Figur in einem gotisierenden Architekturrahmen zeigt, die vor allem durch ihr schwarzes Birett und das geöffnete Buch in ihrer linken Hand als Autor und gelehrter Geistlicher ausgewiesen wird. Die rechte Hand der Figur deutet auf das rubrizierte Jesusmonogramm auf ihrer Brust. Unterhalb der Figur sind Verse als Ich-­Rede eingetragen: I syt and synge. Of luf langy[n]g. þ[a]t i[n] my breste is bred. Ih[es]u my kynge and my ioyinge. When wer I to þe ledde.243 Darunter steht der und neun des „Incendium Amoris“ auf fol. 58v; Exzerpt aus Kapitel 15 des „Incendium Amoris“ auf fol. 60r–61r. 242 Die Forschung hat die Figur mit Richard Rolle identifiziert. Vgl. Allen: Writings Ascribed to Richard Rolle, S. 308. Höltgen: Arbor, Scala und Fons Vitae, S. 366. Brantley: Reading in the Wilderness, S. 143: „The Rolle portrait is most revealing, not as it testifies to the physical features of the 14th-­century ­hermit, but rather it testifies to the ways in which his literary influence shapes this particular miscellany.“ Fol. 30v präsentiert eine bärtige liegende Figur, die erst durch die leere Schriftrolle in ihrer rechten Hand und das sich aus der linken Hand entfaltende Spruchband als Autor kenntlich gemacht wird. Mit der erhobenen linken Hand wendet sie sich der von Nachthimmel, Sternen und einem Strahlenkranz umgebenen Gottesmutter und dem Jesuskind zu, das in seinen Händen ein Spruchband hält mit der Aufschrift: If þou my trewe lufer will be my selfe to reward I sal gyf þe. Die bildliche Darstellung kreist um die Anfangsworte der Epistel Ego dormio et cor meum vigilat, die im Rückgriff auf Ct 5,2 die drei Grade der Liebe thematisiert, vgl. Brantley: Reading in the Wilderness, S. 138. Die Illustration profiliert die Richard-­Figur in der Rolle eines visionsbegabten und von Gott zum Schreiben inspirierten Autors, dessen Status die Visionsdarstellung des Schmerzensmannes auf fol. 37r unterstreicht. Denn sie wird dem sitzenden Autor zuteil, der in typisierter Pose mit einem Buch in der linken Hand dargestellt ist und mit seiner rechten Hand auf das Jesusmonogramm auf seiner Brust deutet. Dabei ist das Wort Ego auf der linken Buchseite erkennbar, so dass hier vielleicht nicht nur der Anfang der mittelenglischen Epistel Ego dormio et cor meum vigilat anzitiert ist, wie Jessica Brantley vermutet (Brantley: Reading in the ­Wilderness, S. 143), sondern zugleich auch auf der visuellen Repräsentationsebene auf die Transformation der Ich-­Figur zum Textsubjekt des Buches angespielt sein könnte. Durch das Christusmonogramm auf der Brust des gottinspirierten Visionärs erinnert diese bildliche Darstellung an die Illustrationen der Seuse-­Handschrift Einsiedeln, Stiftsbibliothek, Codex 710 fol. 42r und 86r und des Seuse-­Exemplars, Straßburg, National- und Universitätsbibliothek, MS 2929. Auf fol. 86r des Codex 710 kniet die Figur des Dieners, die die Forschung mit Heinrich Seuse gleichsetzt, vor dem blutenden Gekreuzigten. Seine entblößte Brust ist mit dem Jesusmonogramm gezeichnet. MS 2929 bietet ein komplexes Bildprogramm, in dessen Zentrum die Figur des Dieners mit dem Jesusmonogramm steht, vgl. fol. 1v, 8v, 22r, 28v, 57r, 62r, 65v, 67r, 68v, 82r, 109v. Vgl. den Eintrag von Jeffrey Hamburger in: Kataloge der deutschsprachigen illustrierten Handschriften des Mittelalters. Begonnen von Hella Frühmorgen-­Voss, fortgeführt von Norbert H. Ott zusammen mit Ulrike Bodemann. Band 4/1, München 2008, S. 175 – 182 (Nr. 36.0.4), zu den Illuminationen S. 176 – 182. Vgl. zur Konzeption und Anlage des komplexen Bildprogramms, Altrock/Ziegeler: Vom diener der ewigen wisheit zum Autor Heinrich Seuse, besonders S. 169. 243 Brantley attestiert den Einfluss, den Rolles Schriften auf die geistliche Lyrik in MS Add 37049 ausgeübt haben, vgl. Brantley: Reading in the Wilderness, S. 137 im Rückgriff auf Allen: Writings Ascribed to Richard Rolle, S. 307.

102 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

rubrizierte Name Richard Hampole, der die Ich-­Rede in Verbindung mit der Ikonographie der Gelehrtenpose und des geöffneten Buches in eine Art Autorrede überführt.244 Auf der Bildebene der Handschrift rufen diese Illustrationen offenbar den göttlichen Inspirationsvorgang und den von Gott autorisierten Akt der Verschriftlichung auf. Das in diesen Autorillustrationen entfaltete Bildprogramm zeugt von einer Aufmerksamkeit gegenüber namentlich benannter und personaler Autorschaft, die sich im Hinblick auf fol. 30v und 37r allerdings nur dem Betrachter erschließt, der mit den Texten Richard Rolles sehr gut vertraut ist. Wie Michael Sargent herausgearbeitet hat, waren die englischsprachigen Kartäuser maßgeblich an einer europaweiten Tradierung von Richard Rolles „Incendium Amoris“ beteiligt, so dass sich auch hier ein gewisser Zusammenhang z­ wischen von den Kartäusern auf die Textqualität geprüfte und damit ‚autorisierte‘ Richard-­Rolle-­Überlieferung und den drucktechnischen Zeugnissen beobachten lässt, die offenbar unter königlichem Patronat erschienen sind.245 Hier zeigt sich vielleicht auch eine Verschränkung ­zwischen den Interessen Margaret Beauforts, ihrem herrschaftlichen Repräsentationsanspruch, der Nachfrage nach gedruckter Erbauungsliteratur und der Buchvermarktung. Es stellt sich die Frage, weshalb der Kempe-­Text keine Hinweise auf die hochadelige Gönnerin enthält und ob dies für ein anderes Lesepublikum und andersartige, funktionsgeschicht­liche Zusammenhänge spricht. Zumindest weisen der Kempe-­treatyse und der Fifteen-­Oes-­Druck den oben erwähnten Holzschnitt mit der Kreuzigungsszene auf, der sich vielleicht als Indiz für die Einbindung der Kempe-­Druckfassung in den Umkreis dieser offiziellen Literaturproduktion fassen lässt.246 Den Kartäusern kommt in den mit Margaret Beaufort in Verbindung stehenden literarischen Aktivitäten eine signifikante Rolle zu, da erhaltene Urkunden und Haushaltsbücher komplexe Kommunikations- und Interaktionsräume z­ wischen den Kartäusermönchen und dem spätmittelalterlichen Königshof suggerieren: So stand die Kartause Mount Grace, aus der die unikale Kempe-­Handschrift stammt, unter dem Patronat der Familie Beaufort.247 Susan 244 Vgl. zur Transformation der literarischen Ich-­Rede in einen Autorschaftsdiskurs im Rahmen einer zunehmenden Ausdifferenzierung von personaler Autorschaft in volkssprachigen, romanischen Handschriften Ursula Peters: Digitus Argumentalis. Autorbilder als Signatur von Lehr-­Auctoritas in der mittelalterlichen Liedüberlieferung. In: Manus Loquens. Medium der Gesten – Gesten der Medien. Hrsg. von Matthias Bickenbach, Annina Klappert, Hedwig Pompe. Köln 2003 (Mediologie Band 7), S. 31 – 65. Dies.: Das Ich im Bild. Die Figur des Autors in volksprachigen Bilderhandschriften des 13. und 16. Jahrhunderts. Köln 2008 (pictura et poësis 22), besonders S. 118 – 123. 245 Vgl. Sargent: The Transmission by the English Carthusians of some Late Medieval Spiritual Writing, S. 232 – 234 und ders.: Contemporary Criticism of Richard Rolle, S. 170 zu den Handschriften Brüssel, Bibliothéque Royale, MS 2103 aus der Kartause Edingen; Metz, Bibliothéque de la villle MS 361 aus der Kartause Rether und Trier, Stadtbibliothek, MS 685/427 aus der Kartause St. Alban in Trier. 246 Den gleichen Holzschnitt enthalten auch die gedruckte mittelenglische Predigt „In Die Innocensium“ und der oben diskutierte Traktat „Mons Perfeccionis“ von John Alcock, dem Bischof von Ely. 247 Margaret Beauforts Großonkel Thomas Beaufort (ca. 1377 – 1426), Earl of Dorset und späterer Duke of Exeter, übersah die weitere Gründung des Klosters Mount Grace. Vgl. Gerald L. Harriss: Beaufort,

Die Druckfassungen des Kempe-Texte | 103 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Powell stellt in ihrer Forschungsarbeit zum Buchbesitz Lady Margarets die Überlegung an, dass sie in ihrer Rolle als Auftraggeberin und Gönnerin religiöser Erbauungsliteratur besondere Beziehungen zur Kartause Mount Grace unterhalten haben könnte.248 Zumindest hat sie dem Kloster einen Geldbetrag von £3 6s. 8d. testamentarisch verfügt.249 Ob aus einer solchen testamentarischen Überschreibung ein ‚persönlicher‘ Kontakt abgeleitet werden kann, bleibt fraglich, da keine weiteren belastbaren Zeugnisse vorliegen, die eine ­solche Vermutung bestätigen können. Fest steht allerdings, dass Margaret Beaufort die Kartausen Sheen und London sowie das Birgittinerinnenkloster Syon in dem Zeitraum z­ wischen 1498 und 1505 dreimal aufgesucht hat.250 Zusammen mit ihrem Ehemann wurde Margaret Beaufort im Jahr 1478 von der Grande Chartreuse nahe Grenoble die Konfraternität zugesprochen.251 Aus einer auf den 20. Mai des Jahres 1504 datierten Urkunde geht hervor, dass es ihr gestattet war, Kartäuserklöster zu besuchen, mit Ordensmitgliedern zu kommunizieren und zu speisen.252 Zudem trat sie als Gönnerin des Kartäuserklosters Sheen und des Birgittinerinnenklosters Syon in Erscheinung,253 sie finanzierte den Unterhalt von Richard Moyne, einem gelehrten Kartäusermönch der Londoner Kartause, aus der sie im Jahr 1507 eine nicht näher spezifizierte Bücherschenkung erhielt.254 Und es ist nicht erstaunlich, dass sich Kontakte zu den im Ruf der besonderen ‚Heiligkeit‘ stehenden Kartäusern verstärkt gegen das Lebensende der Margaret Beaufort in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts abzeichnen. Thomas, duke of Exeter (c. 1377 – 1426), Oxford Dictionary of National Biography, Oxford University Press, 2004; online edn., Jan 2008 [http://www.oxforddnb.com/view/article/1864] [28. 08. 2018]. Vgl. ­Coppack/Aston: Christ’s Poor Men, S. 42. 248 Vgl. Powell: Lady Margaret Beaufort and Her Books, S. 220. Powell impliziert, dass Margaret Beaufort an der Druckfassung der gedruckten Speculum Vitae Christi-­Fassung von William Caxton aus den Jahren 1486 (STC 3259) und 1490 (STC 3260) beteiligt gewesen sein könnte. 249 Vgl. ebd., S. 220. 250 Vgl. ebd., S. 220 mit folgenden Angaben: „SJC D. 91.17, p. 22 (11th of July 1498): Item payde to rewarde Heven [Edward Heven, a servant, later her agent in Lincolnshire] for my ladys offerrynge at the Rode within the Charterhousse at Schene. xijd; SJC D. 91.20, p. 81 (6th of March 1503): Item paid to the watermen for a reward convayng of my ladies grace betwix Richmond & Syon. iijs iiijd.; SJC D. 91.21, p. 23 (14th of May 1505): Item the same day delyuered vnto iij monkes of the Charterhowse at my ladys beying theyre. xiijs iiijd.“ 251 Vgl. Cambridge, St John’s College Archive, SJC D. 56.185 (SJC D. 56. 208 grant of confraternity) in Jones/Underwood: The King’s Mother, S. 181. 252 Vgl. Michael G.Underwood: Politics and Piety in the Household of Lady Margaret Beaufort. In: Journal of Ecclesiastical History Volume 38 (1987), S. 48, mit der Angabe Cambridge, St John’s College Archives, SJC D. 56. 20. 253 Vgl. ebd., S. 48: „Cambridge, St John’s College Archives, SJC D. 91.17, pp. 24 – 25 (July 1498); D. 91.21, p. 19 (Mai 1505); D. 91.19, p. 18 (May 1507, reward for books).“ 254 Vgl. die Bücherschenkung aus der Kartause London in dem Haushaltsbuch des Jahres 1507, Cambridge, St John’s College Archive SJC D. 91.19, p. 18 (10 May 1507): Item paid vnto Mr. Bekynsall for a reward yeuen to a monke of the Charterhowse in London for bookes yeuen to my ladys grace.vjs.viijd. Vgl Jones/ Underwood: The King’s Mother, S. 181. Vgl. auch Powell: Lady Margaret Beaufort and Her Books, S. 220 Anm. 148.

104 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Für die gedruckte Kempe-­Fassung lässt sich zumindest in Umrissen die Einbettung in den größeren Zusammenhang einer offiziellen, von monastischen und hochadeligen Kreisen getragenen Literaturproduktion erkennen, die eher im Gegensatz zu der immer wieder behaupteten ‚Singularität‘ und Marginalisierung des Kempe-­Textes zu sehen ist.255 Anhand der Textauswahl kann die Kempe-­Druckfassung als Andachtsbuch bestimmt werden, das die konkret-­lebensweltlich wirkende Handschriftenfassung in eine exemplarische Offenbarungslehre transformiert, die das Incipit Margery Kempe als Autorin zuschreibt. Damit begründet die Druckfassung den Autorinnenstatus der Margery Kempe und garantiert damit offenbar die anhaltende Wirkungsmächtigkeit ‚ihres‘ Textes. Signifikant erscheint, dass die Kartäuser auf der Ebene der Überlieferungsträger ein sehr deutliches Interesse an der zunehmenden Etablierung einer Konzeption persönlich-­biographischer Autorschaft demonstrieren, wie aus den oben genannten Beispielen hervorgeht. Jedenfalls indiziert der Kontext der Mitüberlieferung, dass sowohl frauenmystische Texte als auch die Texte von Walter Hilton und Richard Rolle in den Druck gelangt sind, deren Überlieferung und Rezeption besonders an die Kartäuser und die Birgittinerinnen des englischsprachigen Raums gebunden ist. Und diese institutionelle und ordensübergreifende Vernetzung des Literaturbetriebs bietet einen möglichen Kontext, in dem die Entstehung der Kempe-­Druckfassung verortet werden kann.256

2.2.3 Die Druckfassung Henry Pepwells aus dem Jahr 1521 Die oben diskutierten Zusätze in Incipit (taken out of the boke of Margerie kempe ancresse of lynn 257) und Kolophon (here endeth a shorte treatyse of a deuoute ancres [Hervorhebung d. Verf.] called Margerye kempe of Lynne 258) der Druckfassung Henry Pepwells bieten eine lebensweltliche Konkretisierung der Autorin, indem sie eine spezifische, religiöse Lebensform benennen, die sich durch radikale Weltabkehr, Askese und ‚Heiligkeit‘ auszeichnet. Die Zusätze verleihen den gedruckten Textauszügen besondere Signifikanz, da sie die Buchfassung als Offenbarungslehre einer von Gott begnadeten Rekluse präsentieren und die Orthodoxie der Autorperson nachdrücklich bekräftigen. Ein weiterer Unterschied zu der Wynkyn-­de-­Worde-­Fassung besteht darin, dass Henry Pepwell mit seiner Ausgabe eine Art ‚Anthologie mystischer Literatur‘ vorlegt, indem er den Kempe-­treatyse mit Auszügen aus 255 Vgl. zuletzt Bale: The Book of Margery Kempe, Einleitung, S. xi. Vgl. auch Weissmann: Margery Kempe in Jerusalem, S. 217. Dickman: Margery Kempe and the Continental Tradition of the Pious Woman, S. 166: „In her singularity, isolation and individuality, Margery Kempe represents a medieval, English middle class version of one of the most important feminist movements in history.“ 256 Vgl. Sargent: The Transmission by the English Carthusians of some Late Medieval Spiritual Writing, S. 239 f. 257 London, British Library, Henry Pepwell, 1521. STC 20972, BL. C. 37 f. 19, sig. e. i.r. 258 London, British Library, Henry Pepwell, 1521. STC 20972, BL. C. 37 f. 19, sig. e.iii.r.

Die Druckfassungen des Kempe-Texte | 105 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Richards von St. Victor „Benjamin Minor“,259 Vitenexzerpten Katharinas von Siena,260 Walter Hiltons „Song of Angels“261 und Traktaten wie „An Epistle of Prayer“, „An Epistle of the Discretion of Stirrings“ und „An Epistle of Discerning Spirits“ zusammenstellt. Diese Traktate, die alle mit dem „Cloud of Unknowing“-Text 262 in verschiedenen Konstellationen der sogenannten Cloud-­Gruppe in diversen Handschriften zu finden sind, datiert die Forschung auf das ausgehende 15. Jahrhundert. Dabei gilt der „Cloud of Unknowing“-Traktat als einer der Haupttexte der englischsprachigen Mystik, der in der Tradition der apophatischen Theologie des Pseudo-­Dionysius Areopagita steht.263 Im Duktus einer persönlich wirkenden Unterweisungslehre 264 thematisiert der Traktat den stufenhaften Aufstiegsweg zum Erreichen der unio-­Erfahrung.265 Über eine kartäusische Autorschaft der „Cloud of Unknowing“ werden in der englischen Mystikforschung weiterhin Überlegungen angestellt, so dass auch hier Kartäuser an der Textentstehung direkt beteiligt gewesen sein könnten.266 259 Vgl. Richard de Saint-­Victor: Le douze patriaches ou Beniamin Minor. Texte critique et traduction par Jean Châtillon et Monique Duchet-­Suchaux. Introduction, notes et index par Jean Longère. Paris 1997 (Sources chrétiennes 419). Vgl. die Arbeit von Christoph Huber, die die Praxisorientierung des Traktats als mystagogisches Aufstiegsmodell und Affektlehre akzentuiert, ders.: Geistliche Psychagogie. Zur ­Theorie der Affekte im Benjamin Minor des Richard von St. Victor. In: Codierungen von Emotionen im Mittelalter. Hrsg. von C. Stephen Jaeger und Ingrid Kasten. Berlin 2003, S. 16 – 30, besonders S. 16 und S. 26. 260 Vgl. zur Vita der Katharina von Siena Anm. 155 oben. 261 Vgl. die Textedition in Windeatt: English Mystics of the Middle Ages, S. 131 – 137. 262 Vgl. The Cloud of Unknowing and the Book of Privy Counselling. Edited from the Manuscripts with Introduction, Notes and Glossary by Phyllis Hodgson. London 1944 (EETS Original Series 218), Einleitung, S. lxxxv. Im Folgenden abgekürzt als: The Cloud of Unknowing, 1944. Vgl. auch The Cloud of Unknowing and Related Treatises. Hrsg. von Phyllis Hodgson. Salzburg 1982 (Analecta Cartusiana 3). Im Folgenden abgekürzt als: The Cloud of Unknowing, 1982. 263 Vgl. Riehle: Englische Mystik des Mittelalters, S. 230. Karl-­Heinz Steinmetz: Mystische Erfahrung und mystisches Wissen in den mittelenglischen Cloud-­Texten. Berlin 2005 (Münchner Universitätsschriften Katholisch-­Theologische Fakultät. Veröffentlichungen des Grabmann-­Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie, Band 50), Einleitung, S. 12 f. Hodgson: The Cloud of Unknowing, 1982, Einleitung, S. xxi. 264 Vgl. Hodgson: The Cloud of Unknowing, 1982, Einleitung, S. l, die die „lively individuality“ und „the immediacy of a teacher’s presence, who wins confidence by his individual voice of authority“ als Textmerkmale hervorhebt. Vgl. etwa S. 48, 8 – 14; S. 50, 38 – 51, 5; S. 53, 3 – 4. Vgl. zum persönlich wirkenden Duktus, 18, 15 – 17; 13, 13 – 16; 27, 25 – 26; 48, 11 – 12 (Angaben nach Hodgson, S. li). 265 Vgl. Steinmetz: Mystische Erfahrung und mystisches Wissen in den mittelenglischen Cloud-­Texten, Einleitung, S. 16 und S. 20. 266 Vgl. Hodgson: The Cloud of Unknowing, 1982, Einleitung, S. xlv. Nike K. Kocijancic-­Pokorn: Original Audience of the Cloud of Unknowing (in support of Carthusian Authorship). In: James Hogg: The Mystical Tradition and the Carthusians. Salzburg 1995 (Analecta Cartusiana 130), S. 60 – 77. Nike Kocijancic-­Pokorn argumentiert mit guten Gründen für einen Leserkreis der „Cloud of Unknowing“, der sich zunächst wohl vornehmlich auf den Kartäuserorden und ein monastisches Lesepublikum beschränkt haben dürfte, wie es die erhaltenen Handschriften nahelegten: So überliefere die Handschrift

106 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Die Pepwell-­Ausgabe integriert den Kempe-­treatyse in diese Überlieferungsgemeinschaft mystischer Erbauungstexte, die näheren Aufschluss über die programmatische Ausrichtung der Pepwell-­Druckfassung bieten kann. Bisher hat die Kempe-­Forschung die Programmatik der Druckfassung nur in Ansätzen in ihre Überlegungen miteinbezogen.267 Der Kontemplationstraktat „Benjamin Minor“, mit dem die Textsammlung beginnt, präsentiert eine monastische Affektlehre und ein Aufstiegsmodell zur ekstatischen Gottesschau, die anhand der biblischen Genesiserzählung über Jakob, seine beiden Frauen und seine Nachkommen vorgeführt werden.268 Dieser Text, der sich als „eine Art Handbuch der Beschauung“ für Novizen fassen lässt,269 thematisiert den stufenweise verlaufenden Weg kontemplativer Gotteserkenntnis und eröffnet damit den Einstieg in die Thematik einer affektiven, persönlich wirkenden Gotteserfahrung und Frömmigkeitsform, wie sie die Pepwell-­Anthologie anvisiert. Dabei konturieren die Exzerpte aus der Katharinen-­Vita, die das Incipit als göttliche ‚Offenbarungslehre‘ präsentiert,270 die didaktische Ausrichtung der Textkompilation. Auch in d ­ iesem Traktat apostrophiert Gott die im Text anonymisierte Protagonistin als ‚geistige Tochter‘271 und spricht ihr auf diese Weise eine spezifische Rolle zu. Die Namensnennung im Incipit profiliert die Visionärin allerdings nicht als Autorin, sondern eher in der Rolle einer gottinspirierten Prophetin. Der Vitentext wird in die Offenbarungslehre einer geistigen Tochter transformiert, die ein mystagogisches Modell ‚verkörpert‘. Denn der thematische Fokus liegt hier sehr deutlich auf der Abkehr von allen weltlichen Bindungen und der gedruckte Traktat leitet die Gläubigen dazu an, ihr Leben einzig auf Gott auszurichten.272

London, British Library, MS Harley 674 aus dem frühen 15. Jahrhundert aus der Kartause London die bessere Lesart des Cloud-­Textes. Vgl. auch Annie Sutherland: The Dating and Authorship of the Cloud-­Corpus. A Reassessment of the Evidence. In: Medium Aevum Volume 71 (2002), S. 85. Cré: Vernacular Mysticism, S. 30. 267 Vgl. Foster: A Shorte Treatyse, S. 107. 268 Vgl. Huber: Geistliche Psychagogie, S. 17 und S. 17 Anm. 3 mit Anführung der entsprechenden Bibelstellen Gn 29 – 30; 34; 35, 16 – 20. 269 Deutsches Literaturlexikon. Das Mittelalter. Autoren und Werke nach Themenkreisen und Gattungen. Band 1 Das Geistliche Schrifttum von den Anfängen bis zum Beginn des 14. Jahrhunderts. Hrsg. von Wolfgang Achnitz. Berlin 2011, S. 421. 270 Vgl. Henry Pepwell, 1521, STC 20972, BL. C. 37 f. 19, sig. d. i.r: Here foloweth divers doctrines devoute and fruytfull / taken out of the lyfe of that gloryous vyrgyn / and spouse of our lorde, Saynt Katheryn of Seenes. And fyrst those whiche our lorde taught and shewed to herselfe / and syth these whiche she taught and shewed unto others. 271 Vgl. Henry Pepwell, 1521, STC 20972, sig. d. i.v; d.ii.r; d.ii.v. 272 Vgl. Henry Pepwell, 1521, STC 20972, sig. d. i.v: […] sche was wonte to saye. That a soule whiche is verely unyde to god perceyueth not / seeth not / nor loveth not herselfe / nor none other soule / nor hathe no mynde of no creature but onely on god. Vgl. auch die Lehre, die die Katharina-­Figur äußert, bevor sie stirbt, sig. d.v.r: What so euer he be that cometh to þe servyce of god, if he wyll have god truely, it is nedefull to hym that

Die Druckfassungen des Kempe-Texte | 107 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Im Anschluss folgt der Kempe-­treatyse, der ganz ähnliche literarische Gestaltungsmuster aufweist und als weiteres Beispiel einer Offenbarungslehre fungiert. Die Kombination der beiden Texte suggeriert, dass Margery Kempe hier der Status einer ‚heiligmäßig‘ gewerteten Person zugesprochen wird, da ihre ‚Offenbarungsschrift‘ neben derjenigen einer kanonisierten Heiligen erscheint. Dadurch dass der Redaktor die Traktate der beiden Mystikerinnen im Zentrum seiner insgesamt sieben Texte umfassenden Druckanthologie positioniert, unterstreicht er die Signifikanz, die einer ‚persönlich erfahrenen‘ Gotterwähltheit zukommt und die die ‚heiligen‘ Frauen programmatisch verkörpern. Dabei lässt sich die Zahl Sieben hier nicht nur als numerus perfectus et sacratus fassen, sondern vielleicht auch in Verbindung mit den sieben Gnadengaben des heiligen Geistes sehen, die in den Texten zumindest implizit anklingen.273 Damit zeichnet sich hier in Umrissen eine bestimmte programmatische Ausrichtung der Druckanthologie ab. Und diese Anleitung zu einer ‚innig-­privaten‘ Frömmigkeit entfalten die folgenden Texte: Die Erbauungsschrift „The Epystle of Prayer“,274 die in Briefform gehalten ist, führt eine Form der Kontemplation vor Augen, die als rein geistige Gottesliebe (amor castus) bernhardinischer Prägung durch das Gebet erreicht werden soll.275 Eine Baumallegorie versinnbildlicht die persönlich wirkende Gebetstheologie, die zu jener vergeistigten Gottesliebe hinführen soll.276 Der sich anschließende Traktat „Of the Songe of Aungelles“277 von Walter Hilton ist ­ebenfalls in einem vertraulichen Duktus gehalten und instruiert zum Rückzug he make hys herte naked frome all sensyble love / not onely of certayne persones but of euery creature what that ever he be / and than he sholde stretche up his soule to oure lord & maker symply with all the desyre of his herte. 273 Meyer/Suntrup: LZB, col. 480. 274 Henry Pepwell, 1521, STC 20972, sig. e.iv.r–f.iv. v. Vgl. die Textausgabe von Hodgson: The Cloud of Unknowing, 1982, S. 101 – 109. 275 Vgl. Riehle: Englische Mystik, S. 244. Vgl. auch die thematischen Schlagwörter reuerent affecioun und chaste loue, die Hodgson als zentral für die Thematik des kontemplativen Gebets identifiziert hat, vgl. Hodgson: The Cloud of Unknowing, 1982, S. 182. 276 Vgl. Steinmetz: Mystische Erfahrung und mystisches Wissen in den mittelenglischen Cloud-­Texten, Einführung, S. 16. Seine Untersuchung fokussiert auf das Zentralthema der mystischen Einheitserfahrung und der Darbietung mystischen Wissens in den Cloud-­Texten, deren „systematische Kompatibilität“ (S. 16) und „intertextuelle Zusammengehörigkeit“ (S. 23) er im Rahmen seiner Studie herausarbeitet. 277 Vgl. Henry Pepwell, 1521, STC 20972, sig. f. v.r–h. i.r. Vgl. besonders sig. f. v.v: Dere brother in Cryste, I haue vnderstandynge by thyne owne speche / and also be tellynge of another man þat thou / yernest and desyrest gretely to haue more knowledge and vnderstandynge then thou hast of aungelles songe and hevenly sowne […] and howe a man may be syker that it is trewe and not fayned and howe it is made by the presence of the good aungell and not by the in puttynge of þe euyll aungell. […] and when the reason is clered from all worldly and flesshly beholdynges […] and when þe wyll and the affeccyon is puryfyed and clensed from all flesshely / kindely / and worldely loue and is enflambed with brennynge loue of the holy ghoost. Dabei steht der himmlische Gesang exemplarisch für die Vielfalt möglicher Gnadengaben, sig. g. v.v: for wete thou ryght well that euery thought that styreth the to god / whyther it come from within by thyne aungell ­messagere / or from without from ony man messagere / it is but an instrument of grace gyuen / sente and chosen of god hymselfe for to worke within thy soule.

108 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

aus der Welt, um wahre Gotterkenntnis von weltlichen Versuchungen unterscheiden zu können. In einer Art Weiterführung dieser allgemeinen Leitlinien bietet „The Epystle of Dyscrecyon in Styrynges of the Soule“ eine konkreter wirkende Unterweisung zur Kontemplation innerhalb eines privat anmutenden Briefwechsels.278 Die theologische Schrift „Treatyse of Dyscernynge of Spyrytes“279 beschließt die Textsammlung mit einer Betrachtung der ‚Unterscheidung der Geister‘, der kritischen Differenzierung z­ wischen wahren Gnadengaben und teuflischen Anfechtungen anhand des ‚Topos der drei Feinde‘, der den Teufel, den Geist der Welt und den Geist des Fleisches umfasst.280 Dabei basiert der Traktat auf einer Bearbeitung zweier Predigten aus den Sermones de diversis von Bernhard von Clairvaux,281 die in den Traktat auszugsweise eingearbeitet sind, um die Gefährdung durch Anfechtungen aufzuzeigen und das Sakrament der Beichte als wirksames Instrument gegen die „Sündenneigung“ des Menschen zu präsentieren.282 An der spezifischen Materialpräsentation lässt sich ein gewisses thematisches Interesse an Schriften aus dem Bereich der Erbauungslehre ablesen, die zu einer privaten Form der Andacht anleiten. Das Programm der Druckfassung aus dem Jahr 1521 lässt sich daher als eine Art Anleitung zu einer persönlichen Frömmigkeitspraxis fassen, wobei die Exzerpte aus den beiden frauen­mystischen Vitentexten eine affektiv-­experimentelle Zugangsweise zu Gott auf der Basis persönlicher Gnadenerfahrung bieten und als von Gott selbst autorisierter Offenbarungslehre inszeniert sind. Innerhalb der Textsammlung kommt ihnen auf diese Weise besondere Signifikanz zu, da die beiden im Incipit namentlich benannten Visionärinnen bereits die innere Kontemplation verwirklicht haben, wie ihre im Dialog mit dem göttlichen Partner entfalteten Lehren bezeugen. Die Ausrichtung auf eine persönlich-­interiorisierte Frömmigkeit für Gläubige ohne spezielle Begnadung geht bereits aus der eher allgemein gehaltenen Adressierung in der „Epystle of Dyscrecyon in Styrynges of the Soule“, die generelle Probleme einer gottgefälligen Lebensführung, wie Schweigen, Fasten und Rückzug aus der Welt, des anonymen, ratsuchenden Adressaten anspricht.283 In diese Richtung weist auch der „Treatyse of 278 Vgl. Henry Pepwell, 1521, STC 20972, sig. h. i.v–i.iii.v. Vgl. etwa die Formulierungen as I haue ­perceyued by thy letters; that thou spekest of in thy letter (sig. h.ii.v), suche onely dwellynge as thou spekest of (sig. i.ii.r), die einen solchen ‚privaten Briefwechsel‘ suggerieren. 279 Vgl. Henry Pepwell, 1521, STC 20972, fol. i.iv.r. 280 Vgl. Steinmetz: Mystische Erfahrung und mystisches Wissen in den mittelenglischen Cloud-­Texten, Einführung, S. 16 und S. 130. Vgl. zum Topos der drei Feinde (caro, mundus, daemon) in frauenmystischen Vitentexten: Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur, S. 232 f. und S. 373. 281 Vgl. den Kommentar von Phyllis Hodgson mit einer Auflistung der genauen Textpartien der Predigten in Hodgson: The Cloud of Unknowing, 1982, S. 200 f. 282 Der Begriff „Sündenneigung“ stammt von Steinmetz: Mystische Erfahrung und mystisches Wissen in den mittelenglischen Cloud-­Texten, S. 131. 283 Vgl. „The Epystle of Dyscrecyon in Styrynges of the Soule“ in Henry Pepwell, 1521, STC 20972, sig. h.ii.r: Ghostly frende in god / that same grace and joy that I wyll to myselfe / wyll I to þe at goddes wyl. Thou

Die Druckfassungen des Kempe-Texte | 109 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Dyscernynge of Spyrytes“, in dem Gedanken und Gefühlsregungen normativ im Hinblick auf fleischliche, weltliche und teuflische ‚Versuchungen‘ geprüft werden.284 Die Belehrungen richten sich an ein unbestimmt bleibendes Gegenüber, wobei die Problematik der Weltlichkeit einen besonderen Stellenwert 285 einnimmt, was ebenfalls auf die Ausbildung einer privaten Frömmigkeit hindeuten kann. Auch die in den Druck inserierten Holzschnitte lassen sich im Kontext einer solchen ‚privaten‘ Andachts- und Frömmigkeitspraxis sehen: Sie zeigen Christus als Schmerzensmann an der Geißelsäule umgeben von den arma Christi.286 Unterhalb der bildlichen Darstellung findet sich ein Spruchband mit der querela divina: O man vnkynde / Bere in thy mynde / My paynes smerte / And þu shalt fynde / Me true and kynde / Lo here my herte,287 während das Bild selbst von einer beschrifteten Rahmenleiste umgegeben ist: The pardon for .v.pater [noster] .v.aves / & a crede w[ith] pyteous beholdynge / of these armes is .xxxii. M. &.iv.yeres.288 Jennifer Summit betont in ihrer Untersuchung, dass dieser Holzschnitt Einblattdrucken ­gleiche, die als Ablässe in Pilger- und Wallfahrtsstätten, wie dem Birgittinerinnenkloster Syon, verkauft und vielfach in Gebet- oder Stundenbücher askest me counsayle of scylence and of spekynge / of commune dyetynge / and of synguler fastyng, of dwellynge in company and dwellynge alone by thyselfe. And thou sayst thou arte in grete doubte what thou shalte do / for as thou sayest on þat one partye thou arte somtyme gretely taryed with spekynge / with comune eatynge / with comune ­dwellynge in co[m]pany. And on the other partye þu dredest to be straytly styl in kepynge of scylence. 284 Vgl. die prologartige Textpartie des „Treatyse of Dyscernynge of Spyrytes“ in Henry Pepwell, 1521, sig. j.iv.v: For because that there be dyuers kyndes of spyrytes / therefore it is nedefull to vs dyscrete knowynge of them / syth it is so þat we be tought of þe apostle saynt Johan not to byleue to all spyryts / for it myght seme to some þat ben but lytel in connynynge / and namely of ghostly thynges / þat eche thought that sowneth in mannes herte sholde be the speche of none other spyryte but of a mannes owne spyryte / and that is not so / bothe by byleue and wytnesse of holy scrypture / for I shall here (saythe the prophete Dauyd) / not what I speke myselfe / but what my Lorde God speketh in me / & another prophete saythe / that an aungell spake in hym and also we be taught in the psalme that the wycked spyrytes sendeth euyl thoughtes in to me[n] and over this that there is a spyryte of the flesshe not good. The apostle Poule sheweth appertely / where he saythe / that some men are full blowne or ynflate with the spyryte of theyr flesshe. 285 „Treatyse of Dyscernynge of Spyrytes“ in Henry Pepwell, 1521, sig. k. i.r: Wherefore as often tymes as ony thought smyteth to our hertes of mete / of drynke / and of slepe / of softe clothynge / of lechery and of al other suche thynges […] be we full syker it is the spyryte of the flesshe that speketh it. […] as often as ony thought smyteth on our hartes of vayne Joye of this worlde / kyndelynge a desyre in vs to be holden fayre / & to be ­fauoured / to be holden of grete kynne and of grete connynge / to be holden wyse & worthy or elles to haue grete degree / and hyghe offyce in this lyfe […]. no doubte but this is the spyryte of the worlde farre more enemy and more peryllous than is the spyryte of þe flesshe […]. 286 Dieser Schmerzensmann-­Holzschnitt tritt dreimal im Druck auf, vgl. Henry Pepwell, 1521, sig. a. i.r (dem Benjamin Minor-­Traktat als Titelblatt vorangestellt), sig. a.iii.v (als Markierung des ersten Kapitels Howe the vertue of drede ryseth in þe affeccyon) und sig. d. i.v. (als Abschluss der Katharinen-­Exzerpte und vor dem Kempe-­treatyse). 287 Vgl. Henry Pepwell, 1521, sig. a. i.r. 288 Vgl. ebd.

110 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

eingelegt, -geklebt oder -gebunden wurden.289 Und sie vermutet in dem Holzschnitt einen entscheidenden Hinweis auf ein mögliches Textverständnis: Der gedruckte Kempe-­treatyse verbinde die stille Gebetsandacht mit einem konkreten Ablassversprechen, das bereits in einer Textpartie angelegt sei: Dougther he sayd / as oftentymes as þu sayest or thynkest worshypped be all the holy places in Iherusalem / where cryst suffred bytter payne and passyon in thou shalte haue the same pardon as if thou were there with thy bodely presence / both to thyselfe and to all those þat thou wylte gyue to. The same pardon þat was graunted the afore tyme / it was confermed on saynt Nycolas daye / that is to saye playne remyssyon / & it is not onely graunted to the / but also to al tho that beleue & to all tho that shall beleue […] / that god loueth the […]. But be sorye & heuy for that they haue done & wyll do due penaunce therfore / they shall haue the same pardon that is graunted to thyselfe / and that is all the pardon þat is in Iherusalem, as was graunted þe whan thou were at Rafnys.290

Durch das spezifische Zusammenwirken von Text und Bild unter dem zentralen Aspekt des pyteous beholdynge 291 erfährt der Kempe-­treatyse eine Art Retextualisierung als ‚Bußtext‘. Der Holzschnitt mit dem Ablassversprechen kann gewissermaßen die Funktion einer Art Lektürevorgabe übernehmen, die die Programmatik des gedruckten Kempe-­Textes im Hinblick auf das Thema der Sündenvergebung akzentuiert.292 Gleichzeitig lässt sich der triadische Einsatz des Schmerzensmann-­Holzschnitts innerhalb der Druckfassung christologisch mit der Dreizahl als „Kennziffer des Erlösers“ fassen,293 die die Anthologie in ihrer Materialität mit einer rituell-­erlösenden Kraft und der Aura des göttlichen Heilsversprechens ausstattet.294 Summit verweist allerdings nicht nur auf die Erlösungskraft des kontemplativen Gebets, sondern sie situiert die Publikation des Jahres 1521 im sozial- und spiritualitätsgeschichtlichen 289 Vgl. Summit: Lost Property, S. 129 im Rückgriff auf Flora Lewis: Rewarding Devotion. Indulgences and the Promotion of Images. In: The Church and the Arts. Special Issue of Studies in Church History 28 (1992), S. 179 – 194. Vgl. zur Zirkulation von Einblattdrucken dieser Art: Duffy: The Stripping of the Altars, S. 17. Esther Meier: Die Gregorsmesse. Funktionen eines spätmittelalterlichen Bildtyps. Köln 2006, S. 118. 290 Henry Pepwell, 1521, sig. e.iii.r. 291 Henry Pepwell, 1521, sig. d. i.v (Text der Rahmenleiste). Die Praxis des pyteous beholdynge lässt sich mit der Aussage von Thomas Lentes zu Kontemplation und Bildbetrachtung zusammensehen: „Der Mensch wird so zu jenem Bild, das er betrachtet.“ Thomas Lentes: Inneres Auge, äußerer Blick und heilige Schau. Ein Diskussionsbeitrag zur visuellen Praxis in Frömmigkeit und Moraldidaxe des Späten Mittelalters. In: Frömmigkeit im Mittelalter, S. 179 – 220, hier S. 179. 292 Vgl. Summit: Lost Property, S. 132. 293 LZB, S. 214. 294 Vgl. die Überlegungen von Peter Strohschneider: Text-­Reliquie. Über Schriftgebrauch und Textpraxis im Hochmittelalter. In: Performativität und Medialität. Hrsg. von Sybille Krämer. München 2004, S. 254 im Hinblick auf die Konstituierung von Heilswirklichkeit im Medium der Schrift in der Alexius-­ Legende Konrads von Würzburg.

Die Druckfassungen des Kempe-Texte | 111 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Kontext der Kontroversen um Ablasshandel, religiöse Druckliteratur und die programmatischen Schriften des deutschsprachigen Reformators Martin Luther, dessen Bücher im Mai des Jahres 1521 während einer Predigt von John Fisher, dem berühmten Theologen und Kanzler der Universität Cambridge, in London öffentlich verbrannt wurden.295 Martin Luthers „95 Thesen: nebst dem Sermon vom Ablass und Gnade“296 und seine 1520 erschienene Sakramentslehre „Von der babylonischen Gefangenschaft der K ­ irche“297 haben den 298 Ablasshandel scharfen Angriffen ausgesetzt. Vielleicht lässt sich die Repersonalisierung der Margery-­Figur als ancresse als eine Art Ausweis ihrer Rechtgläubigkeit und ihr Text als eine Art Gegenschrift gegen die Reformbewegung sehen, wie Summit vermutet.299 Vielleicht ist in der Zusammenstellung von Erbauungstexten und Schmerzensmann-­ Darstellung allerdings nicht nur eine Art ‚Gegenentwurf‘ zu den Reformbestrebungen zu sehen, sondern sie könnte auch text- und überlieferungsgeschichtlich begründet sein. Denn die Bildunterschrift mit der oben erwähnten querela divina eröffnet eine Verbindung zu einer affektiven Spiritualität, wie sie auch in englischsprachigen Kartäuserklöstern Ausdruck findet. Geistliche Lyrik in Form der sogenannten Querela divina / Responsio humana,300 persönlich wirkende Gebete, Meditationen, Marienpreis und ­Passionsklagen sowie großflächige und eindrucksvolle Illustrationen des Schmerzensmannes und der fünf Wunden finden sich in der oben erwähnten Sammelhandschrift London, British Library, Add MS 37049.301 Insbesondere die Illustration der Wunden Christi in Herzform auf fol. 20r entfaltet programmatisch in Text und Bild die Konzeption des 295 Vgl. Richard Rex: Fisher, John (c. 1469 – 1535). In: Oxford Dictionary of National Biography. Oxford 2004 [http://www.oxforddnb.com/view/article/9498] [28. 08. 2018]. Summit: Lost Property, S. 134 im Rückgriff auf die Untersuchung von David M. Loades: Politics, Censorship and the English Reformation. London 1991, zur Bücherverbrennung S. 129 f. 296 Vgl. den lateinischen Text in der Weimarer Gesamtausgabe: D. Martin Luthers Werke. Weimar 1883 – 2009, Band 1, S. 233 – 238. 297 Vgl. D. Martin Luthers Werke. Band 6, S. 497 – 573. 298 Vgl. Summit: Lost Property, S. 134. 299 Vgl. Summit: Lost Property, S. 134 f.: „Pepwell’s interest in presenting Margery Kempe as a prayerful anchoress, this context suggests, was less to remove her from the political than to wield her as an agent of inoculation against Lutheran heresy. […]. Where other printers worked under the suspicion of ­heresy, Pepwell secured his own safety and established what would be a successful career as an enforcer of orthodoxy – which he did in part through his publication of Margery Kempe, who allowed him to assert a native book culture of indulgenced prayer in support of textual orthodoxy.“ 300 Vgl. Add MS. 37049, fol. 20r und fol. 24r. Höltgen vermutet, dass die längere Fassung fol. 20r eine Erweiterung der Kurzfassung auf fol. 24r darstellen könnte, die eine ganz ähnliche Illumination aufweist. Vgl. Höltgen: Arbor, Scala und Fons Vitae, S. 380. 301 Vgl. London, British Library, Add MS 37049, fol. 20r mit der großflächigen Illustration, die den Schmerzensmann mit den fünf Wunden zeigt. Zusammengesehen bilden Text und Bild das Andachtsmotiv der sogenannten mensura vulneris, vgl. Höltgen: Arbor, Scala und Fons Vitae, S. 382. Ein Spruchband, das Christi zugeordnet werden kann, ist über dem Herzen zentriert: þeis woundes smert. bere [in] þ[i] hert [and] luf god aye. / If þow do þis. þu sal hafe blys with-­owten delay.

112 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

pyteous beholdynge. Die herzförmig gerahmte Seitenwunde ist von einem Spruchband umgeben: þis is þe mesure of þe wounde þat our / Jhesu crist sufferd for oure rede[m]pc[i] on. Dabei ist der Ursprung der Verse, die das Ablassbild im Pepwell-­Druck begleiten, wohl im spirituellen Umfeld dieser Kartäusersammelhandschrift zu vermuten. Denn die Bildunterschrift im Pepwell Druck (O man vnkynde / Bere in thy mynde / My paynes smerte / And þu shalt fynde / Me true and kynde / Lo here my herte) zitiert nahezu wörtlich die Querela Divina in Add MS 37049 fol. 24r an,302 die wiederum in Verbindung mit einer Abbildung des Schmerzensmannes auftritt, der mit Kreuznimbus, Dornenkrone und blutenden Wunden gekennzeichnet ist und sich einem betenden Kartäusermönch mit einer signifikanten Zeige­geste zuwendet. Durch die Adressierung O man vnkynde und die Positionierung der arma Christi, die den Schmerzensmann an der Geißelsäule in der Pepwell-­Fassung vollständig umgeben, verschiebt sich der Akzent auf die dem Menschen inhärente Sündhaftigkeit, die das Leiden Christi verursacht hat. Allerdings bietet auch das Kartäuser-­Kompendium Add MS 37049 effektvolle Variationen d ­ ieses 303 Bildmotivs, etwa in der Lebensbaumdarstellung auf fol. 36v (Abb. 8). Hier kniet in der linken unteren Bildhälfte ein betender und mit einer weißen Kutte bekleideter Kartäuser, der sich einem zentral positionierten, rubrizierten Herzen zuwendet, durch dessen Mitte sich ein Spruchband mit der Aufschrift est amor meus zieht. Aus dem Herzen erwächst eine grüne Rankenpflanze, die sieben rubrizierte Blüten trägt, die jeweils mit dem Wort luf versehen sind. Im linken äußeren Blütenkelch des Rankengewächses steht die Gottes­mutter, während ihr gegenüber, im rechten äußeren Blütenkelch der Lieblingsjünger des Herrn zu sehen ist. Zwischen Maria und Johannes befindet sich das Kreuz, das aus Schriftrollen gebildet ist, die das grüne Rankenwerk umgeben. Die Lanze und die Schwammstange bilden die Querbalken, an denen die Schriftrollen befestigt sind. 302 Vgl. Add MS 37049, fol. 24r: O man kynde / hafe in þi mynde / my passion smerte / And þu sal fynde / me ful kynde / lo here my herte. Die Passionsklage der Pepwell-­Fassung bietet signifikante Anklänge an die detaillierte Fassung der Querela Divina in Add MS 37049, fol. 20r: O man unkynde / Hafe in mynde / My paynes smert / Beholde and see / þat is for þe / Percyd my hert / And ȝitt I wolde / Or þan þu schuld / þi saule forsake / On cros with payne / Scharp deth agayne / For þi luf take / For whilk I aske / None oþer taske / Bot luf agayne / Me þan to luf / Al thyng a-bofe / Þow aght be fayne. Responsio humana: O lord right dere / Þi wordes I here / With hert ful sore / þerfore fro synne / I hope to blynne / And grefe no more / Bot in þis case / Now helpe þi grace / my frelnes / þat I may euer / Do þi pleser / With lastyngnes / þis grace to gytt / þi moder meke / Euer be prone / þat we may alle / In-­to [þat durchgestrichen, SKR] þi halle / With ioy cu[m] sone. / Amen. 303 Vgl. auch die Darstellung des Gekreuzigten mit den arma Christi Add Ms 37049, fol. 23r. Vgl. die Bildbeschreibung Höltgens zum abgewandelten Motiv des ‚Lebensbaums‘ auf fol. 36v. Höltgen: Arbor, Scala und Fons Vitae, S. 363 – 366. Eine weitere Variation ­dieses Bildmotivs findet sich auf fol. 37r in Verbindung mit dem oben diskutierten Richard-­Rolle-­Autorenportrait. Vgl. die Ausführungen in Kapitel 2.2.2 „Der Kempe-­treatyse im Kontext der Mitüberlieferung“. Eine weitere Abwandlung des Motivs bietet fol. 45r mit einer Kreuzigungsgruppe: Maria, Jesus und Johannes wenden sich einem betenden Kartäusermönch zu. Vgl. Allen: Writings Ascribed to Richard Rolle, S. 308.

Die Druckfassungen des Kempe-Texte | 113 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Vielleicht rufen die Schriftrollen, die vom Blut Christi wie mit rubrizierten Schriftzeichen bedeckt sind,304 die berühmten Worte des Johannesevangeliums von der Logosgeburt auf (Io 1,14). Jedenfalls formen die gerollten Schriftbänder die Buchstaben IHC des Jesusmonogramms, das auf diese Weise die Formulierung est amor meus auf dem unteren Spruchband komplettiert. Nägel, Lanze und Schwammstange repräsentieren die arma Christi in dieser emphatischen Bildkomposition, die in ihrer Komplexität den Akt des pyteous beholding im buchstäblichen Sinne als Herzensangelegenheit repräsentiert, indem sie Logosgeburt, Kreuzestod und Gottesliebe in der menschlichen Seele ­zwischen einer literalen und einer zeichenhaft überschriebenen Bedeutungsebene oszillierend in Szene setzt. Denn der Name Jesu wächst aus dem Herzen, das nicht nur für das Herz des Beters, sondern auch für die unermessliche Gottesliebe stehen kann. Eine weitere, eindringliche Variation des Bildmotivs vom Lebensbaum findet sich auf fol. 67v: Sie zeigt den von blutenden Wunden übersäten, dornenbekrönten Christus am Kreuzesbaum, der in seiner Krone die rubrizierte Aufschrift þe tre of lyfe trägt und dessen Seitenäste mit luf und charyte überschrieben sind. Christus ist flankiert von vier Händen, die jeweils Geißeln, die Schwammstange und die Lanze tragen, die auf die Seitenwunde gerichtet ist. Hände und Füße sind von Nägeln durchbohrt. In der linken unteren Bildhälfte befindet sich ein im Maßstab erheblich verkleinerter Kartäusermönch, dessen Gesicht von Sorge und compassio gezeichnet ist. In Verbindung mit der Akzentuierung der arma Christi und der rubrizierten Anweisung take gode hede wele of þis medytacion führt der expressive Gesichtsausdruck die Praxis des pyteous beholdynge gewissermaßen unmittelbar vor Augen. Und eine Reminiszenz an die Responsio humana findet sich auch in einer Gottesrede im Kempe-­Text: And þan þu crydist to me wyth al þin hert: Lord, for þi wowndys smerte drawe alle my lofe in-­to þyn hert.305 Ein Annotator hat diese Zeilen mit Rubrizierungen hervorgehoben.306 Auch auf der textinternen Ebene des Kempe-­Textes findet sich ein Hinweis auf eine Art materielle Sichtbarmachung des Ihesus est amor meus-­Mottos: Denn die Margery-­Figur trägt einen Ring mit der Gravur Ihesus est amor meus,307 der eine signifikante Rolle in den verschiedenen Bilddarstellungen des Kartäuser-­Kompendiums Add MS 37049 zukommt.308 In der Handschrift Cambridge, Trinity College, MS O.5.26, fol. 22r, die die autobiographisch stilisierten Mystiktraktate des oben erwähnten Kartäuservikars Richard Methley aus

304 Die Beobachtung, dass die Blutstropfen wie Schriftzeichen wirken, stammt von Höltgen. Höltgen: Arbor, Scala und Fons Vitae, S. 364. 305 BMK, S. 217, 6 – 7. 306 Vgl. London, British Library, Add MS 61823, fol. 105r, 18 – 19. 307 Vgl. BMK, S. 78, 14 – 15. Der Annotator vermerkt dazu in roter Tinte am linken Seitensteg der Kempe-­ Handschrift fol. 38v, 7 – 8: Ihc est amor t[u]us. 308 Vgl. Add MS 37049 fol. 24r, 36v und 67r.

114 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Mount Grace tradiert, zieren zwei ineinander verschlungene Herzen die Gravur.309 Dies deutet zumindest punktuell auf einen text- und überlieferungsgeschichtlich begründeten Zusammenhang hin, der den Kempe-­Text innerhalb der kontemplativ-­mystischen Erbauungsliteratur situieren kann, an deren Rezeption und Überlieferung die englischsprachigen Kartäuser entscheidend mitbeteiligt waren. Dass dem Redaktor der Pepwell-­Fassung dieser überlieferungsgeschichtliche Kontext bekannt gewesen sein dürfte, geht auch aus den anderen Erbauungstraktaten und geistlichen ‚Sendbriefen‘ hervor, mit denen er den Kempe-­Text kombiniert. Denn diese Traktate finden sich in einer vergleichbaren Kompilation in der Sammelhandschrift London, ­British Library, MS Harley 2373, die auf das 15. Jahrhundert datiert wird und vermutlich aus dem Umfeld der Kartause Mount Grace stammt.310 Die weiter oben diskutierten Traktate dieser Handschrift wie „The Epystle of Prayer“, „The Epystle of Dyscrecyon in Styrynges of the Soule“, „Benjamin Minor“ und „Treatyse of Dyscernynge of Spyrytes“, die alle in Verbindung mit der ‚Cloud-­Gruppe‘ und dem Kerntext der „Cloud of Unknowing“ überliefert sind, werden in der Druckfassung mit den Exzerpten aus dem Buch der Margery Kempe kombiniert. Die ganzseitige Illustration der arbor viciorum mit ilexartigen Blättern auf fol. 22v erinnert an die Darstellung der Tugend- und Lasterbäume,311 die fol. 25r–66r der Sammelhandschrift Add MS 37049 durchgängig begleiten.312 Dabei sind 309 Vgl. Brantley: Reading in the Wilderness, S. 373 Anm. 84. 310 Ich danke Justin Clegg, British Library, sehr herzlich dafür, dass er mir die Handschrift zu Untersuchungszwecken in der British Library zur Verfügung gestellt hat. Ein Kommentar James Grenehalghs in der Sammelhandschrift London, British Library, MS Harley 2373 auf fol. 70v, 16 – 18 verortet den Codex in der Umgebung der Klosterbibliothek Mount Grace: In vet[er]i lib[r]o hui[us] dom[us] ­vi[delicet] D[omus] Montis gr[aci]e, De quattuor gradib[us] humilitat[is] nulla fit mentio. Grenehalgh trägt seine Bemerkung neben die Textpartie ein, die die Signifikanz von Demut und Selbstaufgabe thematisiert. Grenehalgh annotiert fol. 9v; 11r; 69v; 70v; 73r; 73v; 74r; 74v; 75r; 76r. Vgl. Sargent: James Grenehalgh as Textual Critic. Volume 2, S. 511. Vgl. Thompson: The Carthusian Order in England, S. 331. 311 Vgl. Brantley: Reading in the Wilderness, S. 96, die die Arbor Viciorum-­Darstellung in Harley 2373 in einem Nebensatz erwähnt. Vgl. zur ikonographischen Tradition und Bedeutung der Arbor-­Bilder, die einen didaktisch-­devotionalen Betrachtungsmodus eröffnen: Lottlisa Behling: Ecclesia als arbor bona. Zum Sinngehalt einiger Pflanzendarstellungen des 12. und frühen 13. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Kunstwissenschaft. Band 13 (1959), S. 139 – 154. Jennifer O’Reilly: Studies in the Iconography of the Virtues and the Vices in the Middle Ages, New York 1988, besonders S. 325 f. zu arbor virtutum und arbor vitiorum. 312 Vgl. die ganzseitigen Arbor Viciorum-­Illustrationen Add MS 37049 fol. 48r; fol. 50r; fol. 52r; fol. 57r; fol. 59r; fol. 61r; fol. 65r: þis is þe tre of confusion þat saules sale hafe i[n] hell þat ill has done. Vgl. die Darstellung der Tugendbäume fol. 25r arbor amoris; fol. 38r baumartige Illustration þe fruyte of relygyon; fol. 47r; fol. 49r; fol. 53r; fol. 54r; fol. 55r þe rotes of þis gostly tre is m[er]cy pyte & charite; fol. 56r þe rotes of þis tre here growunde is þe grownde of þe lacke to vnderstynde. Auf den Blättern der Bäume finden sich Anweisungen, die an den zehn Geboten der Bibel orientiert sind, wie etwa fol. 56r: hafe no god but one; þi fader et moder worschep þu ay; syn þu noght with no woman; couet not þi neghboª wyfe; fol. 60r: þe rote

Die Druckfassungen des Kempe-Texte | 115 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

die ­Tugendbaumdarstellungen den Versen von „The Desert of Religion“ (Add MS 37049, fol. 46r–66r) entlehnt,313 die hier auf der visuellen Repräsentationsebene der Handschrift umgesetzt und für das Bildprogramm fol. 25r–66r bestimmend werden.314 Jedenfalls lässt sich das in Add MS 37049 entfaltete Bildprogramm der Tugenddarstellung, das eine auf den monastischen Bereich angelegte Tugendlehre veranschaulicht und das „Wachsen im Glauben“ (I Cor, 3,1 – 6; Mt 7,17) bildlich konkretisiert, mit der Arbor Viciorum-­Darstellung in der kartäusischen „Cloud of Unknowing“-Handschrift MS Harley 2373 vergleichen. Der Kartäuserorden war an der Verbreitung der „Cloud of Unknowing“ beteiligt, wie vier der erhaltenen Handschriften und die ersten Druckzeugnisse belegen.315 Phyllis Hodgson zufolge ließen die Randeinträge, Korrekturen und Glossen in diesen Handschriften auf eine Zirkulation innerhalb des Kartäuserordens schließen, die vielleicht wiederum in Verbindung mit der Entfaltung eines religiös-­literarischen ‚Expertentums‘ der Kartäuser gesehen werden kann. Für den Redaktor der Druckfassung aus dem Jahr 1521 erschien es offenbar sinnvoll, diese mystischen Texte mit den Exzerpten aus dem Kempe-­Text, dem Leben der Heiligen Katharina und Hiltons „Song of Angels“ in einer gemeinsamen Druckedition zu veröffentlichen. Dies zeigt, dass sich der Kempe-­Text zumindest in der Ansicht zeitgenössischer Rezipienten bestens in ein solches Corpus mystischer, persönlich wirkender ‚Offenbarungs- und Erbauungslehren‘ fügt, welches überlieferungsgeschichtlich an den Kartäuserorden gebunden ist. Deshalb ist die Überlegung von Karma Lochrie „It is ironic that the ‚compendious‘ Kempe inhabits such illustrious company, half of which is critical of the of þis tre þ[at] is here seene. spry[n]ges i[n] hert honest & cleene; fol. 62r: þe rote of þis tre þat here sprynges in gostly batel þe baner brynges, die Krone, von der sich jeweils ein Ast auf der linken und auf der rechten Seite ausbildet, ist mit Batell of penance überschrieben. So sind etwa Batell of dedly syn und batel of the flesche, Batell of wikkyd men und Batel of þe fende einander gegenübergestellt. Fol. 63r Tugendbaum; fol. 64r Baum mit Lebensregeln wie etwa to fle fornicacion; fol. 66r: þe rote of þis ryal tre growes wher ioy lasty[n]g sal be. 313 Vgl. Brantley: Reading in the Wilderness, S. 79 – 82. Hope Emily Allen identifiziert den anonymen Traktat Speculum Vitae, eine mittelenglische Übersetzung des einflussreichen altfranzösischen Somme le roi-­Kompendiums, als Quelle des Gedichts. Vgl. Hope E. Allen: The Desert of Religion: Addendum. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und der Literatur 127, (1911), S. 388 – 390. Vgl. die Textausgabe Ralph Hanna (Hrsg.): Speculum Vitae. A Reading Edition. 2 Volumes. Oxford 2008 (Early English Text Society). 314 Vgl. Add MS 37049, fol. 52v, 1 – 4: In þis wyldernes here growes / A tre þat has fourtene w[o]ghes / Seuen on þe right syde for to rede / Þat ar þe seuen poyntes of þe godhede. 315 Vgl. die oben erwähnte Handschrift London, British Library, MS Harley 2373 und die lateinische „Cloud“-Übersetzung Richard Methleys in der Handschrift Cambridge, University Library, Pembroke College, MS 221 sowie die beiden Handschriften Oxford, Bodleian Library Douce 262 und Horsham, Parkminster, St Hugh’s Charterhouse MS. D 176 aus der Kartause London.Vgl. die detaillierte Verzeichnung der bisher bekannten 31 Textzeugen in Hodgson: The Cloud of Unknowing, 1982, S. xiv–xix. Vgl. Steinmetz: Mystische Erfahrung und mystisches Wissen, Einleitung, S. 15.

116 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

kind of mysticism that she describes in her book“ diskussionswürdig, da sie diesen überlieferungs- und textgeschichtlichen Kontext außer Acht lässt.316 Zudem ist es wohl nicht zufällig, dass die Kempe-­Handschrift in der Kartause Mount Grace tradiert worden ist, für die sich verstärkte literarische Aktivitäten in Form der erhaltenen Handschriften nachweisen lassen. Im Hinblick auf die rubrizierten Annotationscluster in der Kempe-­Handschrift soll diese Spiritualität, wie sie sich in Mount Grace als literarischem Zentrum manifestiert, näher beleuchtet werden.

2.3 Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre Da das anglistische Forschungsinteresse zunächst darauf ausgerichtet war, die Lebensgeschichte Margery Kempes aus textinternen Angaben zu rekonstruieren,317 haben auch die detaillierten Marginaleinträge in der Londoner Kempe-­Handschrift im Vergleich mit der Fülle von Forschungsliteratur eher weniger Beachtung gefunden. Dabei zeichnen sich in den vorhandenen Forschungsbeiträgen durchaus kontroverse Positionen ab, was eine mögliche Rezeption der Kempe-­Handschrift angeht: Sie reichen von Überlegungen zu einer mög­ lichen Gebrauchsfunktion des Kempe-­Codex im Rahmen der monastischen lectio,318 einer durch Randeinträge markierten Retextualisierung 319 zu der eher problematischen Hypothese einer Textannotierung für Leserinnen außerhalb der Klostermauern.320 Es kristallisieren sich zwei zentrale Fragestellungen heraus, die zum einen die Frage nach der Chronologie der Marginalien und einer allmählichen Anreicherung zu ‚Annotationsclustern‘ betreffen und zum anderen die damit verbundene Frage nach den sich abzeichnenden Interessenschwerpunkten der Benutzer im Rahmen einer monastischen Lektüre- und Annotationspraxis, wie zu zeigen sein wird. Bereits Meech sieht in den rubrizierten Randnotizen die Aufzeichnungen eines religiös bewegten Kartäusermönchs,321 der wenig aussagekräftige „pious ejaculations in red“,322 wie etwa das rubrizierte Christusmonogramm, über die gesamte Handschrift verteilt platziert 316 Vgl. Lochrie: Translations of the Flesh, S. 223. Allerdings arbeitet Lochrie die funktionsgeschichtliche Einbindung des Kempe-­Textes in die monastische lectio anhand der Methley/Norton-­Annotationen im Hinblick auf die amor sensibilis-­Konzeption heraus, was in Kapitel 2.3.1 „Die Offizialität der rubrizierten Randeinträge – Richard Methley, John Norton und die Konzeption des amor sensibilis“ diskutiert wird. 317 Vgl. die Aussage Meechs in BMK, Einleitung, S. xIii: „The annotations in red are not of service, either, in establishing facts of Margery’s life and relations with others.“ 318 Vgl. Lochrie: Translations of the Flesh, besonders S. 209 – 219 und die oben diskutierte Arbeit von ­Fredell: Design and Authorship, S. 9 – 19. 319 Schoff: Three Medieval Authors, besonders S. 116 f. 320 Vgl. Parsons: The Red Ink Annotator, besonders S. 145 und S. 148 – 150. 321 Vgl. BMK, Einleitung, S. xliii. 322 Ebd., S. xlii.

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 117 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

habe. Nach Meech deuten die Randeinträge vor allem auf lesenswerte Textpartien hin und sie gelten ihm als individueller Ausdruck einer Textlektüre, deren Ursprung eher in religiöser ‚Schwärmerei‘ als einer theologisch fundierten Lektürepraxis zu suchen sei.323 Aus ­diesem Grund spielt eine nähere funktionsgeschichtliche Bestimmung der Marginalnotizen keine Rolle in seiner Untersuchung. Eine Neubewertung der rubrizierten Annotationen hat erst Karma Lochrie im Jahr 1991 mit ihrer auf der Frauen- und Genderforschung basierenden Monographie zur Relation von weiblicher Körperlichkeit und mystischer Offenbarungsrede ansatzweise vorgezeichnet, indem sie in einem ­kurzen Teilkapitel die rubrizierten Marginalien mithilfe der Mystikschriften des Kartäuservikars Richard Methley frömmigkeits­ geschichtlich kontextualisiert.324 Anhand des Besitzeintrags aus Mount Grace in Verbindung mit dem jeweiligen Eintragungsgegenstand der Marginalien bestimmt sie ein monastisches Lesepublikum. Sie stellt die Überlegung an, dass die Kartäusermönche aus Mount Grace möglicherweise sogar als Auftraggeber für die Kempe-­Handschrift in Frage kommen.325 Dagegen sieht Kelly Parsons in den rubrizierten Marginaleinträgen eine Annotierung der Handschrift für weibliche Laien, für die sich allerdings keine stichhaltigen Anhaltspunkte im Kempe-­Codex finden lassen, wie zu zeigen sein wird.326 Rebecca Schoff stellt die These auf, dass der rubrizierende Annotator die Kempe-­ Handschrift mit roter Tinte „for an anticipated readership that was actually well known to the editor“ präpariert habe.327 Sie ist der Ansicht, dass die rubrizierten Randbemerkungen eine Art ‚Textredaktion‘ bieten, die auf die christuszentrierte Frömmigkeit der Margery-­ Figur und die Visionsdialoge fokussiert sei. In ­diesem Kontext einer monastischen Lektürepraxis sollen die Texte Methleys und die in ihnen entfaltete amor sensibilis-­Konzeption, wie sie Karma Lochrie bereits in Ansätzen herausgearbeitet hat,328 näher beleuchtet werden, um einen möglichen funktions- und frömmigkeitsgeschichtlichen Kontext der rubrizierten Marginaleinträge zu erschließen. Einen solchen Ansatz hat die mit den unterschiedlichen Themenbereichen befasste, aber im Vergleich zu anderen mediävistischen Forschungs­gebieten eher schmale Marginalienforschung bereits erfolgreich erprobt.329 Sie 323 Vgl. ebd., S. xxxviii und die Aussagen Meechs, S. xlii, der das Auftreten des Christusmonogramms als „independent expression of the piety of the annotator“ sieht. 324 Vgl. Lochrie: Translations of the Flesh, S. 206 – 220. Lochrie beurteilt die ältere Kempe-­Forschung kritisch, da sie den Blick auf eine mögliche Situierung des Kempe-­Codex innerhalb einer mystischen ‚Kartäuserspiritualität‘ durch die neuzeitliche Vorstellung einer vermeintlich konservativen und gegen religiösen ‚Überschwang‘ gerichteten Ordensmentalität verstelle, vgl. ebd., S. 210 f. 325 Vgl. ebd., S. 206. 326 Vgl. Parsons: The Red Ink Annotator, besonders S. 145 und S. 148 f. 327 Schoff: Three Medieval Authors, S. 116. 328 Vgl. Lochrie: Translations of the Flesh, besonders S. 214 – 218. 329 Vgl. die überblicksartige Darstellung zu Lesekultur und Lesepraktiken im Mittelalter im Handbuch zur Buchwissenschaft, das ein Teilkapitel zur Marginalienforschung enthält: Sonja Glauch/Jonathan Green: Lesen im Mittelalter. Forschungsergebnisse und Forschungsdesiderate. In: Buchwissenschaft in

118 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

kann in Relation zum Begriff der ‚Material Philology‘ und der mit ihr propagierten Rückkehr zu der Materialität der Handschriften mit ihren visuellen Repräsentationssystemen gesehen werden.330 In dem Aufsatzband zu Marginalnotizen und ihrer Bedeutung für die Funktions- und Rezeptionsgeschichte einer Handschrift bzw. eines Drucktextes formuliert ­Wolfgang Milde programmatisch einen methodischen Ansatz, der auf die Auswertung von Besitzereintragungen und Gebrauchsspuren in Relation zu ihrem jeweiligen kulturhistorischen Gebrauchskontext zielt.331 Zunächst gilt es näher auf die Chronologie der Randeinträge einzugehen, um etwaige Glossierungsschichten und eine mögliche Gebrauchsfunktion des Kempe-­Codex zu erschließen.332 Was die zeitliche Abfolge der Annotationen betrifft, hat bereits Meech die Deutschland. Ein Handbuch. Hrsg. von Ursula Rautenburg. Band 1. Berlin 2010, S. 361 – 410. Glauch und Green stellen heraus, dass in der Forschungsliteratur zu Marginaleinträgen, Gebrauchs- und Lesespuren meist Studien zu spätmittelalterlichen Handschriften und zur gedruckten Literatur der frühen Neuzeit dominieren (S. 389). In Anlehnung an die Auflistung bei Glauch und Green ­seien hier die Forschungsbeiträge erwähnt, die für die vorliegende Arbeit relevant sind: Vgl. den Sammelband De captu lectoris. Hrsg. von Wolfgang Milde und Werner Schude. Berlin 1988, der sich vornehmlich Druckerzeugnissen widmet. Vgl. die zusammenfassende Darstellung von Wolfgang Milde: De captu lectoris. Von der Wirkung des Buches, S. 1 – 28. Für die Handschriften des berühmten altfranzösischen Rosenromans hat Sylvia Huot die Bedeutung und Programmatik der Illustrationen und Randeinträge, die sich in ihrem spezifischen Layout auf der Handschriftenseite ausdrückt, in akribischen Detailanalysen umfassend herausgearbeitet, vgl. Sylvia Huot: The Romance of the Rose and its Medieval Readers. Interpretation, Reception, Manuscript Transmission. Cambridge 1993 (Cambridge Studies in Medieval Literature 16), besonders S. 319 – 323. Huots Monographie wird weiter unten ausführlicher im Kontext der rubrizierten Zungeninitialen in der Medinger Handschrift aus dem Jahr 1353 diskutiert, die die „Offenbarungen“ der süddeutschen Dominikanerin Margareta Ebner überliefert. Vgl. die allgemeineren Ausführungen zu Marginalien und ihrer mnemotechnischen Funktion in Mary Carruthers: The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval Culture. 2. Ausgabe. Cambridge 2008, besonders S. 309 – 324. Vgl. die Arbeit von Michael Camille: Glossing the Flesh. Scopophilia and the Margins of the Medieval Book. In: The Margins of the Text. Hrsg. von C. Greetham. Ann Arbor 1997, S. 245 – 269. Eamon Duffy widmet seine Monographie, die aus den Riddel Lectures an der University of Newcastle hervorgegangen ist, der Erforschung von Marginaleinträgen in Stundenbüchern, die vornehmlich von Laien vorgenommen worden sind und Einsicht in die allmähliche Ausbildung einer ‚privaten‘ Andachts- und Frömmigkeitspraxis ermöglichen. Eamon Duffy: Marking the Hours. English People and Their Prayers 1240 – 1570. New Haven, London 2006, besonders S. 66 – 68. 330 Vgl. die Ausführungen zur Material Philology in der Einleitung der vorliegenden Arbeit und die Studie von Stephen G. Nichols: On the Sociology of Medieval Manuscript Annotation. In: Annotation and Its Text. Hrsg. von Stephen A. Barney. Oxford 1991 (Publications of the University of California Humanities Research Institute), S. 43 – 74. 331 Vgl. Milde: De captu lectoris, S. 24 f. Vgl. dazu auch Nichols: On the Sociology of Medieval Manuscript Annotation, besonders S. 47: „By raising the question of annotation, we place the study of medieval literature in its medieval context as cultural artifact.“ 332 Eine ähnliche Vorgehensweise unter anderen methodologischen Voraussetzungen verfolgt Markus Schiegg im Rückgriff auf den textlinguistischen Ansatz der Sprechakttheorie in seiner Untersuchung der Formen, Funktionen und Kontexte frühmittelalterlicher Glossen: Markus Schiegg: Frühmittelalterliche

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 119 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

­braungehaltenen Marginalglossen des Schreibers Salthows als älteste und die rubrizierten Randeinträge als jüngste Schreiberhand ausgewiesen.333 Während Sue Ellen Holbrook noch die rubrizierten Annotationen anhand der Methley/Norton-­Eintragungen ins 16. Jahrhundert datiert, ohne mögliche Glossierungsschichten in Erwägung zu ziehen,334 haben zuletzt Julie Chappell und Joel Fredell den Versuch unternommen, Schreiberhände innerhalb der rubri­zierten Marginalien zeitlich voneinander abzugrenzen.335 Im Rückgriff auf die wichtigen Ergebnisse, die Fredell in seiner Untersuchung erzielt hat, soll im Folgenden versucht werden, anhand der in brauner und roter Tinte gehaltenen Randeinträge „einen mehrschichtigen Glossierungsprozess mit verschiedenen Interessenschwerpunkten“ zu skizzieren, der um die Mitte des 15. Jahrhunderts mit den braunen Marginalien einsetzt.336 Offenbar hat der Schreiber Salthows diese Randeinträge bereits unmittelbar nach der Entstehung der Kempe-­Handschrift um 1440 in einer kleinformatigen Kursivschrift 337 vorgenommen. Eine s­ olche Datierung legen handschriftliche Befunde nahe, wenn etwa die Marginalglosse narracio in bräunlicher Tinte auf fol. 61r, 4 im Seitensteg von einer Glossen. Ein Beitrag zur Funktionalität und Kontextualität mittelalterlicher Schriftlichkeit. Heidelberg 2015 (Germanistische Bibliothek Band 52). 333 BMK, Einleitung, S. xxxvii. Diesen Befund hat Joel Fredell in seiner paläographischen Untersuchung bestätigt, vgl. Fredell: Design and Authorship, S. 16. Er unternimmt den Versuch einer chronologischen Abgrenzung der Glossierungsschichten: „So I propose a speculative chronology that begins with Little Brown (and scribe Salthows), goes on to Ruby Paraph and Big Red N, and ends with the Red-­ Ink Annotator.“ 334 Vgl. Holbrook: Margery Kempe and Wynkyn de Worde, S. 36. Holbrook setzt eine Datierung nach dem Tod Methleys im Jahr 1527 an, wie die Verwendung des Präteritums und der Hinweis auf das Priorat von John Norton indizierten: so dyd p[ri]or Nort[on] i[n] his excesse (Add MS 61823, fol. 51v). Allerdings muss der Einsatz des Präteritums nicht unbedingt bedeuten, dass die beiden bekannten Klosterautoren bereits verstorben waren. Die von Holbrook vorgenommene Datierung der rubrizierten Annotationen nach 1527 ist nicht unproblematisch, wenn man bedenkt, dass Richard Methley bereits ­zwischen 1485 – 1487 drei autobiographisch stilisierte Traktate – „Scola Amoris Languidi“, „Dormitorium Dilecti Dilecti“ und „Refectorium Salutis“ – verfasst hat, die mystische ‚Offenbarungserfahrungen‘ thematisieren. Zwar ist John Nortons Amtszeit als Prior erst für die Jahre 1509 – 1522 belegt, aber dennoch könnten einige der rubrizierten Annotationen durchaus vor 1500 und damit vor der Druckfassung um 1501 entstanden sein. 335 Vgl. die Ausführungen in Kapitel 2.1 „Die Handschrift, London, British Library, Add MS 61823“ der vorliegenden Arbeit. 336 Andreas Nievergelt: Die Glossierung der Handschrift Clm 18547b. Ein Beitrag zur Funktionalität mittel­ alterlicher Griffelglossierung. Heidelberg 2007 (Germanistische Bibliothek 28). Andreas ­Nievergelt formuliert ­dieses Forschungsanliegen in seiner Monographie, die sich der funktionsgeschichtlichen Erschließung volkssprachiger Griffelglossen in einer Viten- und Legendensammlung aus dem ­Skriptorium des Benediktinerklosters Tegernsee widmet. 337 Fredell geht davon aus, dass die nota-­Abbreviaturen auf fol. 89v–123r ebenfalls von Salthows stammen könnten. Vgl. Fredell: Design and Authorship, S. 22 Anm. 14. Im Folgenden wird die Schreiberhand der bräunlichen Randeinträge mit dem aus der Invokationsformel in Add MS 61823, fol. 123r genannten Schreibernamen Salthows bezeichnet.

120 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

rubrizierten, kastenförmigen Rahmung umgeben und mit dem Zusatz of þe preyst and þe pertre (fol. 61r, 6 – 7) versehen ist (Abb. 6).338 Ein weiteres Beispiel bietet der rechte Seitensteg fol. 9r, 1: Der rubrizierende Annotator hat die braune Marginaleintragung nachträglich mit einem rubrizierten Kapitelzeichen umgeben und den Beginn einer Christusrede markiert: Dowtyr, why wepyst þow so sore? Und schließlich zeigt ein genauerer Blick auf fol. 43r, 4 – 5, dass der lateinische Kommentar de despo[n]sa[cio]ne ei[us] ad d[eu]m p[a]tre[m] in brauner Tinte mit einem vorangestellten Dreiblattsymbol kombiniert ist, das von der rubrizierten Rahmung überschrieben worden ist.339 In ihrer Gesamtheit betrachtet, bieten die bräunlichen Marginaleinträge eine Zusammenstellung von nota-­Zeichen 340 und ­kurzen lateinischen Kommentaren, die sich unmittelbar auf den Textinhalt beziehen und im Folgenden genauer im Hinblick auf ihren Eintragungsgegenstand und ihre mögliche Gebrauchs­funktion beleuchtet werden sollen. Zunächst ist bei der Durchsicht der braunen Marginaleinträge auffällig, dass die späteren Benutzer der Kempe-­Handschrift die ‚Lektürevorgabe‘ des Schreibers Salthows wiederholt durch nachträgliche Rubrizierungen aufgreifen, aus denen sich eine gewisse Wertschätzung erschließen lässt. Salthows hat ein nota-­Zeichen auf fol. 13r, 21 neben der Ortsangabe a place of monkys platziert.341 Die entsprechende Textpartie berichtet, wie die Margery-­Figur durch göttliches Einwirken dazu befähigt wird, einem abtrünnigen Mönch seine Verfehlungen zu offenbaren. Auf fol. 13v, 1 hat ein späterer Benutzer das bräunliche nota-­Zeichen am linken Seitensteg mit zwei rubrizierten Punkten versehen.342 Ein Leser hat Salthows’ nota-­Zeichen auf fol. 24v, 13 durch eine rubrizierte Linienführung erweitert, die auf das Wort man in einer Christusrede weist (fol. 24v, 12 – 14): I take no hede what a man hath ben but I take hede what he whyl ben. Auf fol. 25v, 26 ist sein braunes nota-­Zeichen, das die Textpartie seynt margarete, seynt barbara and seynt powle einer Christusrede kennzeichnet, ebenfalls durch eine rubrizierte Rahmung erweitert worden.343 Die mit einem Dreiblattsymbol versehene Randnotiz Salthows’ auf fol. 33v, 18 no[ta] de clamor[e]344 (Abb. 3) weist eine ganz ähnliche Ergänzung in roter Tinte auf, ebenso wie sein Eintrag no[ta] de

338 Vgl. ebd., S. 21 Anm. 14. Fredell führt die Eintragungen in brauner Tinte auf, allerdings lässt er einige Annotationen unberücksichtigt, die weiter unten vermerkt sind. 339 Fredell verzeichnet diese Kombination und die Überschreibung nicht. 340 Vgl. zu nota-­Zeichen in ihrer Funktion als Kennzeichnung schwieriger oder besonders lesenswerter Textpartien in mittelalterlichen Handschriften Carruthers: The Book of Memory, S. 136. 341 Fredell: Design and Authorship, S. 21 Anm. 14 listet diesen Eintrag nicht auf. 342 Vgl. fol. 13r–v: The creatur seyd to þe monke, „Goth to ȝowr Messe, & ȝyf I may wepe for ȝow I hope to han grace for ȝow.“ 343 Die nota-­Abbreviatur ist neben der göttlichen Liebesversicherung platziert: fol. 25v, 26: Dowtyr I be-­hote þe þe same grace þat I be-­hyte Seynt Kateryne, Seynt Margarete, Seynt Barbara & Seynt Powle […]. 344 Hier hebt Salthows die überwältigende Kraft der Gnadenrufe hervor, fol. 33v, 18 linker Seitensteg: […] þat sche might not kepe hirself fro krying & roryng.

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 121 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

vestura auf fol 37v, 2.345 Sein Marginaleintrag mit Dreiblattsymbol auf fol. 40r, 2 – 3 no[ta] de co[n]fessione auf dem rechten Seitensteg ist ebenfalls mit einem rubrizierten Kapitelsymbol versehen worden. Auf gleicher Höhe findet sich im linken Bundsteg ein rubri­ ziertes Kapitel- oder Paragraphenzeichen und darunter die Buchstaben I[hon] E[vangelist] in einer in dunkelroter Tinte gehaltenen Kursivschrift. Gegenüber im rechten Seitensteg, Z. 3 – 4 ist die Abbreviatur Ioh mit Kürzungsstrich über dem h in stark verblasstem Rötelstift eingetragen. Offenbar schenken spätere Leser der wundersamen Beichte vor dem als ‚Beichtvater‘ fungierenden Evangelisten Johannes ebenfalls besondere Bedeutung. Ja, hier deutet sich die oben erwähnte, nachträgliche Anreicherung von Marginalien an, die eine Art dialogische Interaktion entfalten, wie weitere rubrizierte Nachträge indizieren: Denn im rechten Seitensteg auf fol. 40r, 18 – 19 hat Annotator N sein nota-­Symbol über dem no[ta] b[e]n[e] des rubrizierenden Annotators neben einer göttlichen Liebesversicherung platziert. Und die rubrizierte Eintragung loue in Z. 29 im linken Bundsteg hebt eine weitere Liebesbeteuerung hervor: In no-­thyng þat þu dost dowtyr ne seyest þu mayst no bettyr plesyn God þan beleuyn þat he louyth þe […]. Hier zeichnet sich bereits punktuell ab, dass die rubrizierten Nachträge das Beichtwunder mit der Gottesliebe verbinden, die es erst ermöglicht. Auf diese Weise reichern sie die von Salthows notierten wundersamen ­­Zeichen der ‚Heiligkeit‘ und göttlichen Auserwähltheit zu einer umfassenderen Liebestheologie an. Auf der Rückseite fol. 40v, 12 – 13 hat Salthows den Kommentar no[ta] mirab[i]le q[u]od se[quitur] am linken Seitensteg mit einem Trifolium-­Symbol notiert. Er bezieht sich auf eine Textpartie, die berichtet, wie Gott die Margery-­Figur dazu befähigt, mit einem deutschsprachigen Priester zu kommunizieren, der der englischen Sprache nicht mächtig ist. Fol. 43r, 4 – 5 weist ebenfalls die bereits zuvor erwähnte lateinische Annotation S­ althows’ mit Dreiblattsymbol auf, die mit einer im Nachhinein hinzugefügten rubrizierten Rahmung versehen ist: de despo[n]sa[cio]ne ei[us] ad d[eum] p[a]tre[m]. Hier bezeichnet sie eine Gottesrede innerhalb der unio-­Hochzeitsepisode: I take þe, Margery, for my weddyd wyfe, for fayrar, for fowelar, for richar, for powerar, so þat þu be buxom & bonyr to do what I byd þe do. Ein Trifolium-­Symbol in brauner Tinte findet sich auf fol. 58r, 4 – 5 neben einer Beschreibung der tribulationes, die Teil der imitatio Christi der Margery-­Figur bilden: sche receyued it goodly whan owr Lorde wolde send it & thankyd hym hily þerof, beyng ryth glad & mery þat day þat sche suffryd any disese.346 Auf fol. 61r, 3 – 4 platziert Salthows ein Dreiblattsymbol mit dem oben erwähnten Leserkommentar narracio, der sich auf die Birnbaumallegorie bezieht, die die Margery-­Figur dem Erzbischof von York während ihrer Befragung im Kontext des Häresieverdachts vorträgt. Schließlich ist auf fol. 75v, 23 – 24 no[ta] c[ontra] Melton neben der Replik der Margery-­Figur eingetragen: My blisful Lord Crist Ihesu wil not latyn me dyspeyryn for noon holy name þat þe 345 Die Abbreviatur referiert auf die göttliche Aufforderung, weiße Kleidung als Ausführung des göttlichen Willens zu tragen, vgl. fol. 37v, 2 – 3. 346 Vgl. Fredell: Design and Authorship, S. 21 Anm. 14. Fredell führt diesen Eintrag nicht auf.

122 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

good frer hath for my Lord tellyth me þat he is wroth wyth hym […].347 Fol. 85v, 15 – 16 weist auf dem linken Seitensteg den in brauner Tinte gehaltenen Kommentar no[ta] indulgencia auf, der eine Gottesrede annotiert, die die Sündenvergebung thematisiert: & þe same pardon þat was grawntyd þe befor-­tyme, it was confermyd on Seynt Nicholas Day, þat is to seyn plenowr remissyon and it is not only grawntyd to þe but also to alle þo þat beleuyn […].348 Joel Fredell stellt die Hypothese auf, dass die Randnotizen in bräunlicher Tinte ein exemplarisches Vitenschema entfalten, das „controversial and messy elements of Margery’s identity“ umgehe und stattdessen eine aus der Hagiographie bekannte Heiligkeitsvorstellung für die Laienfrömmigkeit des 15. Jahrhunderts adaptiere.349 Er postuliert: „In short, we have primary evidence that scribe Salthows was consciously trying to shape his narrative material.“350 Bereits Kelly Parsons argumentiert, dass der rubrizierende Annotator ein dezidiert lebensweltlich-­biographisches Interesse an der Kempe-­Handschrift demonstriere, die er für eine Lektüre im Kontext einer vermeintlichen ‚Frauenfrömmigkeit‘ annotiert habe.351 Sie belegt ihre nicht unproblematische Schlussfolgerung mit folgenden Marginaleinträgen: Dem dreimaligen Auftreten der Glosse husband,352 der Einfügung or 347 Barry Windeatt vermutet, dass die Annotation entweder einen Franziskaner namens William Melton betreffe, der in Kapitel 61 (BMK , S. 148, 27 – 152, 7) als anonymer adversarius der Margery-­Figur auftritt: Er verweist die Margery-­Figur aus der Jakobskapelle in Bishop’s Lynn, da ihre lauten Gnadenrufe seine Predigt stören. Ein Franziskaner namens William Melton habe an der Universität in Oxford studiert und im Jahr 1426 den Doktorgrad erlangt, vgl. Windeatt: BMK , S. 286 im Rückgriff auf Alfred B. Emden: A Biographical Register of the University of Oxford to AD 1500. Volume 2. Oxford 1957 – 1959, ii.1258. Die zweite Möglichkeit wäre, dass die Eintragung sich auf William Melton bezieht (Chancellor of York, verstorben im Jahr 1528), der die Prologe zu den Mystiktraktaten John Nortons in der oben erwähnten Handschrift Lincoln, Lincoln Cathedral Library, MS 57 (A.6.8) verfasst habe, vgl. Hogg: Mount Grace Charterhouse and Late Medieval English Spirituality, S. 41. 348 Vgl. Fredell: Design and Authorship, S. 21 Anm. 14. Fredell listet diesen Eintrag nicht auf. 349 Vgl. ebd., S. 10 „He [the Annotator, SKR] carefully compiles incidents and elements that would constitute an examplary brief vita.“ 350 Ebd., S. 10. 351 Vgl. Parsons: The Red Ink Annotator, besonders S. 148. 352 Vgl. die eher problematische Deutung zu den husband-­Eintragungen von Parsons: The Red Ink Annotator, S. 148. Vgl. Add MS 61823, fol. 51r, 12 – 14, rechter Seitensteg, vgl. BMK , Kapitel 44, S. 104, 26: And sone aftyr hir husbond cam fro Lynne vn-­to Norwych to se how sche ferd & how sche had sped, & so went þei hom to-­gedyr to Lynne. Fol. 66r, 1, vgl. BMK , Kapitel 55, S. 136, 14: Hier wird ausgeführt, wie die Margery-­Figur nach ihrer Verhaftung als Lollardin nach ihrem Ehemann senden lässt, damit er sie nach London begleiten kann, um eine Dispens des Erzbischofs von Canterbury zu erhalten. Fol. 87r, 21 – 13 rechter Seitensteg, vgl. Kapitel 76, S. 179, 6: Die Margery-­Figur pflegt ihren betagten Ehemann, nachdem er einen Sturz erlitten hat. Zudem führt Parsons den rubrizierten Vermerk xiiij child auf fol. 56r, 6 – 8 am rechten Seitensteg an, vgl. BMK , Kapitel 48, S. 115, 28 – 33: „[…] þat I neuyr had part of mannys body in þis worlde in actual dede be wey of synne, but of myn husbondys body, whom I am bowndyn to be þe lawe of matrimony, & be whom I haue born xiiij childeryn.“ Den Nachtrag auf fol. 3v, 27 of Lyn am Bundsteg neben sche was maryed to a worschepful burgeys (BMK , Kapitel

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 123 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

woma[n],353 zwei hervorgehobenen Textpassagen, die sich zum einen auf den Status der Margery-­Figur als Ehefrau 354 und zum anderen auf eine anonyme, von Anfechtungen geplagte verheiratete Frau beziehen 355 und einer Marginalzeichnung, die auf das im Text genannte Gewand der Gottesmutter referiere (Abb. 2). Parsons sieht hier ein weiteres Indiz für ein weibliches Laienpublikum: „The dress […] is very high necked and conservative, an example of appropriately modest dress for a pious woman, surely of little or no interest to an audience of male monastics, unless we have here a male cleric wanting to encourage mode­ iesem Fall eine direkte Text-­Bild-­Relation gegeben, sty in female dress.“356 Allerdings ist in d da das Gewand als Reliquie der Aachener Heiligtumsfahrt im Kirchenraum des Aachener Doms ausgestellt und von der Margery-­Figur im Rahmen ihrer Pilgerfahrt verehrt wird.357 Dabei zeigt eine rubrizierte Klammer an, dass die Zeichung mit der folgenden Textpartie korrespondiert: for to seen owr ladys smokke & oþer holy reliqis.358 Dafür spricht auch, dass bereits Salthows das Wort akun (Aachen) mit einem Dreiblattsymbol auf fol. 115r, 13 aus dem Text erneut aufgegriffen hat. Und wenn man bedenkt, dass die Gottesmutter Maria nicht nur Ordenspatronin des Kartäuserordens, sondern auch Gründungspatronin des Klosters 1, S. 6, 26) und den Kommentar fol. 54r, 23 – 24 am rechten Seitensteg v.tymes mare, der den Vater der Margery-­Figur als Bürgermeister der Stadt Lynn dechiffriert, sieht sie ebenfalls als Hinweise auf ein biographisch-­lebensweltliches Leserinteresse. Vgl. BMK , Kapitel 46, S. 111: „Syr,“ sche seyd, „I am of Lynne in Norfolke, a good mannys dowtyr of þe same Lynne, whech hath ben meyr fyve tymes of þat worshepful burwgh and aldyrman also many ȝerys, & I haue a good man, also a burgeys of þe seyd town Lynne, to myn husbond.“ 353 Vgl. Add MS 61823, fol. 69r, 1. 354 Vgl. Add MS 61823, fol. 24r, 30 rechter Außenrand. Parson stellt die Überlegung an, dass sich die Annotation auf eine Textpartie innerhalb einer Gottesrede beziehe, die besonderen Trost für verheiratete Frauen biete. Sie zitiert fol. 24r, 27 – 31: ȝa dowtyr trow þow rygth wel þat I lofe wyfes also. And specyal þo wyfys whech woldyn levyn chast, ȝyf þei mygtyn haue her wyl & don her besynes to plesyn me as þow dost. For þow þe state of maydenhode be mor parfyte & mor holy þan þe state of wedewhode […]. Allerdings ist die nota-­Abbreviatur fol. 24r, 30 direkt neben dem Wort maydenhode platziert, so dass hier auch die Virginität als höchstes Lebensideal gemeint sein könnte, was wiederum der monastischen Tugendlehre entspräche. 355 Vgl. Add MS 61823, fol. 86v, 1 – 8 linker Außenrand. 356 Parsons: The Red Ink Annotator, S. 153. 357 Vgl. Add MS 61823, fol. 115r, 14 – 18 rechter Außenrand. 358 Vgl. Add MS 61823, fol. 115r, 16 – 18. Vgl. die Deutung von Rebecca Schoff, die auf die rubrizierte Klammer aufmerksam macht, Schoff: Three Medieval Authors, S. 113. Sie sieht eine Verbindung ­zwischen der unausgefüllt gebliebenen rubrizierten Federzeichnung, die den Eindruck eines weißen Kleides hervorruft und den mehrfachen Textverweisen auf ein weißes Gewand, das die Margery-­Figur als äußerlich sichtbares ­­Zeichen ihrer inneren Reinheit anlegt. Vgl. etwa die Episode, in der die Margery-­Figur in ihrer Rolle als Magd die Gottesmutter Maria in weiß kleidet BMK, Kapitel 6, S. 18, 20; vgl. den göttlichen Auftrag, ein weißes Gewand zu tragen Kapitel 15, S. 32, 16 – 18: „And, dowtyr, I sey to þe I wyl þat þu were clothys of whyte & non oþer colowr, for þu xal ben arayd afytr my wyl.“ Vgl. BMK, Kapitel 33, S. 84, 27 zum weißen Kleid als ­­Zeichen besonderer ‚Heiligkeit‘ und Kapitel 44, S. 104, 24.

124 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Mount Grace ist,359 ergibt sich hier vielleicht doch eine gewisse Signifikanz der Marginalzeichnung für klausuriert lebende Kartäusermönche. Zwar nimmt auch Parsons Bezug auf die Methley/Norton-­Annotationen, die sie als eine Art Autorisierung der somatisierten Gnadenerfahrungen der Margery-­Figur begreift,360 aber sie lässt außer Acht, dass diese Referenzen wohl eher für ein monastisches Lesepublikum als für Laien bedeutsam gewesen sein könnten. Denn aus den erhaltenen Handschriftenzeugen von Methleys Texten geht hervor, dass ihre Verbreitung offenbar ausschließlich auf den monastischen Bereich beschränkt geblieben ist, wie weiter unten ausgeführt werden soll. Deshalb lässt sich fragen, ob sich die rubrizierten Marginaleinträge ohne Weiteres mit weiblicher Spiritualität gleichsetzen lassen. Denn weitere biographische Angaben und bedeutsame ‚Lebensstationen‘ lässt der rubrizierende Annotator vollkommen unberücksichtigt: Die Namensnennung der Protagonistin, ihre Heirat mit der anschließenden Geburt des ersten Kindes,361 ihre Verhandlungen über eine keusche Ehe 362 und die Episode des zweiten Buchs, die thematisch auf die conversio ihres Sohnes zentriert ist, weisen keine Marginaleinträge auf.363 Dieser Befund spricht eher gegen eine rein biographisch-­lebensweltlich orientierte Lektüre der Kempe-­Vita.364 Falls der Kempe-­Text tatsächlich für Leserinnen mit 359 Vgl. Thompson: The Carthusian Order in England, S. 229. Vgl. zur Bedeutung der Heiligen Maria als Gründungspatronin der Kartause Mount Grace, Coppack/Aston: Christ’s Poor Men, S. 42. 360 Vgl. Parsons: The Red Ink Annotator, S. 146. 361 Vgl. Add MS 61823, fol. 3v–4r. 362 Vgl. ebd., fol. 12r–12v. 363 Vgl. ebd., fol. 107r–108r. 364 Neben den Namensnennungen finden sich keine Markierungen: Vgl. die Namensnennung fol. 117v (BMK Buch 2, Kapitel 9, S. 243, 17 – 20) und die Adressierung fol. 12v (BMK, Kapitel 11, S. 23, 13); fol. 13v (BMK, S. 26, 30: Margery telle me my synnes); fol. 17v ohne Eintragungen (Kapitel 15, S. 35, 8 Philip Repingdon, der Bischof von Lincoln, adressiert die Margery-­Figur mit ihrem Vornamen); fol. 42v ohne Eintragungen (BMK, Kapitel 35, S. 87, 5: Christus nennt ihren Vornamen); fol. 43r Gottvater spricht das Ehegelübde: „I take þe Margery, for my weddyd wyfe […].“ (BMK, S. 87, 18); fol. 45r: „Margerya in pouerte?“ ohne Vermerk (BMK, Kapitel 38, S. 93, 26); fol. 50v Maistyr Richard Castyr spricht Margery mit ihrem Vornamen an (BMK, S. 102, 33) keine Eintragungen; fol. 53r: Than þe Bischop seyde, „­ Margery I haue not somownd þe for I knowe wel j-­now þu art Iohn of Burnamys dowtyr of Lynne.“ Rubrizierte Eintragung dalyd am äußeren, linken Rand neben so þei dalyid of God (BMK, Kapitel 45, S. 109, 7); fol. 59v […] a doctowr of dyuinyte whech louyd hir wel wyth many oþer also come to hir & seyd „Margery, how haue ȝe don þis day?“ (vgl. BMK, Kapitel 52, S. 123, 23); fol. 63r The seyd creatur lying in hir bed þe next nyth folwyng herd wyth hir bodily erys a lowde voys clepyng: „Margery.“ ohne Anmerkung (vgl. BMK, Kapitel 54, S. 131, 11); fol. 63r, Kapitel 53 Aussage der Margery-­Figur mit nota-­Zeichen versehen: Hauyth mekenes & p­ acyens & ȝe xal haue gret mede in heuyn. Fol. 72r: Margery now xal ȝe han prechyng a-­now, for þer is comyn on of þe most famows frerys in Inglond to þis towne, for to be her in con[u]ent. (BMK, Kapitel 61, S. 148, 32); fol. 75v Margery, what xal ȝe now do? (BMK, Kapitel 63, S. 155, 12) keine Eintragung bis auf die oben diskutierte Randnotiz nota contra Melton; fol. 79v (vgl. BMK, Kapitel 67, S. 163, 32) keine Hervorhebung des Eigennamens; fol. 80v keine Markierung (BMK, Kapitel 68, S. 165, 38) M ­ aystir ­Custawns, ein gelehrter Dominikaner, nennt Margery bei ihrem Vornamen; fol. 81r ein anonymer Gelehrter versichert: „Margery,

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 125 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

­ ommentaren p­ räpariert worden ist, wie Parsons vermutet, würde man erwarten, dass etwa K der Vorwurf fol. 12v ȝe arn no good wyfe oder die Aussage fol. 60r Nay, ser I am no mayden; I am a wife Hervorhebungen aufwiesen. In Kapitel 35 wird der Name der Margery-­Figur zweifach genannt. Allerdings ist der rubrizierende Annotator hier offenbar nicht an der nament­lichen Dechiffrierung der Protagonistin interessiert, da er nur den Eintrag gostly (fol. 43r) in eine Textpartie inseriert: And þan the Fadyr toke hir be þe hand [gostly] in hir sowle be-­fore þe Sone & the Holy Gost […], und er umrandet den oben genannten Randkommentar de despo[n]sa[cio]ne ei[us] ad d[eu]m p[a]tre[m] von Salthows. Daraus lässt sich erschließen, dass es dem Leser hier eher auf die theologische Konzeption der unio mystica ankommt, die der Text als persönliche Erfahrung der Protagonistin in einer Art Innenperspektive mit literarischen Mitteln narrativiert. Auch die Eintragung auf fol. 81r deuout doctor indiziert, dass der Annotator der Versicherung eines anonymen Gelehrten (Margery, I wold not a spokyn a-­geyn ȝow þow ȝe had cryid tyl euyn)365 offenbar größere Bedeutung als der eigentlichen Namensnennung zuschreibt. Und es ist genauso fraglich, ob Salthows tatsächlich eine exemplarische Vitenstruktur anvisiert oder ob er mit seinen Marginalglossen in lateinischer Sprache nicht eher Zeichen ­­ der ‚Heiligkeit‘ der Margery-­Figur kennzeichnet. Denn die ausgewählten Textpartien entbehren eine „lebensgeschichtliche Dimension“,366 wie sie für frauenmystische Viten- und Offenbarungsliteratur charakteristisch ist, wie beispielsweise die Gnadenvita der prominenten und hochverehrten Engelthaler Dominikanerin Christine Ebner 367 und das berühmte „Fließende Licht der Gottheit“ der mulier sancta Mechthild von Magdeburg I wold not a spokyn a-­geyn ȝow þow ȝe had cryid tyl euyn.“ (BMK, Kapitel 68, S. 166, 32); fol. 83v Than þe worschepful doctowr seyd to hir: „Margery, ȝe ar wolcome to me, for I haue long be kept fro ȝow, & now hath owr Lord sent ȝow hedyr þat I may spekyn wyth ȝow, blissed mote he be.“ (BMK, Kapitel 70, S. 170, 18, hier bezieht sich die Adressierung worschepful doctowr auf den namentlich benannten Karmelitermönch Maystyr Aleyn, S. 169, 1 – 2). Vgl. die Ausführungen zu Maystyr Aleyn in Kapitel 3.1 „Erzählinstanzen des Margery-­Kempe-­Textes“. 365 BMK, Kapitel 68, S. 166, 31 – 33. 366 Dieser Begriff stammt von Susanne Bürkle: Die ‚Gnadenvita‘ Christine Ebners, S. 491. 367 So überliefert das Christine-­Ebner-­Kompendium Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, cod. theol. et phil. 2 ͦ 282 (Handschrift S) aus dem 18. Jahrhundert die Gnadenvita (fol. 76r–154v) und das Fragment eines chronologisch strukturierten Lebensberichts (fol. 156v–158v), das eine Zeitspanne ausgehend von der Vorgeschichte und Geburt Christines hin zu den Gnadenerfahrungen der 15-jährigen Visionärin umfasst. Der Prolog der Gnadenvita bietet mit der von Zeichen ­­ der Heiligkeit begleiteten Geburt Christines und der Vorausdeutung auf ihren Tod eine lebensweltlich-­biographische Konkretisierung, die die namentliche Nennung des Beichtvaters Konrad von Füssen und genaue Zeit- und Ortsangaben noch verstärken. Vgl. Ursula Peters: Das Leben der Christine Ebner: Textanalyse und kulturhistorischer Kommentar. In: Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposion Kloster Engelberg. Hrsg. von Kurt Ruh. Stuttgart 1986 (Germanistische Symposien, Berichtsbände 7), S. 402 – 422, besonders S. 402. Vgl. Siegfried Ringler: Ebner, Christine. In: 2VL, Band 2, Sp. 297 – 302, besonders Sp. 299 – 300. Vgl. Bürkle: Die ‚Gnadenvita‘ Christine Ebners, besonders S. 485 f.

126 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

demonstrieren.368 Die markierten Textpartien im Kempe-­Text beziehen sich jedenfalls auf Christusreden, die als göttliche ‚Offenbarungsworte‘ an die Margery Figur gerichtet sind (fol. 9r, fol. 24v, fol. 25v, fol. 37r, fol. 43r, fol. 85v). Damit ist nahezu die Hälfte der Marginalglossen in brauner Tinte auf Gottesreden bezogen, die den Status des Kempe-­ Textes als einzelpersönlicher Offenbarungsschrift untermauern. Dazu passt, dass sich ab fol. 89v–119v weitere nota-­Abbreviaturen finden, die Gottesworte hervorheben.369 Zusammengesehen bieten diese nota bene-­Abbreviaturen eine Art ‚Textredaktion‘, die thematisch auf die Offenbarungsworte des Herrn zentriert ist. Und möglicherweise sind sie auf diese Weise von Salthows verstanden worden, der hier offenbar nicht ein Laienpublikum, sondern vielmehr eine monastische Leserschaft vor Augen hatte, wie sich seinen Eintragungen in lateinischer Sprache entnehmen lässt, die die für den monastischen Bereich typischen Abkürzungen aufweisen.370 Darauf deutet jedenfalls eine persönlich wirkende Warnung hin, die sich womöglich direkt auf die Kartäusermönche beziehen könnte, für die die visio 368 Im Hinblick auf „Das fließende Licht“ sind hier besonders der lateinisch-­deutsche Prolog und das ‚biographische‘ Kapitel IV, 2 anzuführen. Vgl. Peters: Religiöse Erfahrung als literarisches Faktum, besonders S. 55 f. Vgl. Nemes: Von der Schrift zum Buch, S. 134 – 142 zu den in Kapitel IV.2 entfalteten, idealtypischen Lebensstationen, die an den Vorgaben hagiographischer Literatur orientiert sind und S. 321 f. zur Anreicherung des lateinischen Prologs mit biographisch-­lebensweltlichen Details. 369 Vgl. die Auflistung der braunen nota-­Einträge in Fredell: Design and Authorship, S. 23 Anm. 23. Vgl. Add MS 61823, fol. 89v, 9 – 10 no[ta] b[e]n[e] neben: And dowtyr, ȝyf þu wilt ben hey in Heuyn wyth me, kepe me al-­wey in þi mende […]. Dieser Eintrag ist durch eine rubrizierte Klammer erweitert worden, die sowohl die nota-­Abbreviatur als auch eine in bräunlicher Tinte gezeichnete Profilfratze einschließt. Fol. 98v, 17 – 18 no[ta] b[e]n[e] umgeben von einem nachträglichen, rubrizierten Kapitelzeichen und kombiniert mit einer Art braunen Profilfratze neben: And also dowtyr whan þu dost any seruyse to þe & to þin husbond in mete or drynke er any oþer thyng þat is nedful to ȝow, to þi gostly fadirs, er to any oþer þat þu receyuyst in my name, þu xalt han þe same mede in Heuyn as thow þu dedist it to myn owyn persone […]. Fol. 99v, 1 – 2 linker Außenrand, no[ta] b[e]n[e] umgeben von einem nachträglichen, rubrizierten Kapitelzeichen: euery good desyr þat þu hast in þi sowle is þe speche of god […]. Fol. 100r, 16 rechter Außenrand no[ta] b[e]n[e] neben einer Christusrede: […] þei þat ben in þe world xal not dispeyrin, be þei neuyr so synful, for þei may han mercy & grace ȝyf þei wil hem-­self. Fol. 100v, 17 – 18 weist am linken Außenrand eine nota bene-­Abbreviatur in bräunlicher Tinte auf, die rubriziert gerahmt ist: sche askyd owyr lord ihu crist how sche myght best plesyn hym & he answeryd to hyr sowle seying. Die Zeilen auf fol. 100v, 19 – 22 dowtyr haue mynde of þy wykkydnes & thynk on my goodnes sind mit einer bräunlichen, ornamentalen Linienführung markiert, die ein späterer Annotator mit roter Tinte zu einer Profilfratze erweitert hat. Fol. 104r, 12 – 13 no[ta] b[e]n[e] ist nachträglich mit einer rubrizierten Rahmung umgeben worden: Þan it was wyth-­drawyn sum-­tyme, for it will be had but in gret qwyet of sowle thorw long exersyse. Auf fol. 119v no[ta] b[e]n[e] q[uod] ap[u]d Deu[m] no[n] e[st] t[ra]nsmutacio ist am rechten Außenrand nachträglich eine rubrizierte Klammer platziert worden: for þei þat louyd hir for God er sche went owte þei wolde louyn hir for God whan sche come hom. 370 Vgl. zu der Überlegung, dass lateinische Randnotizen mit Abbreviaturen eher auf eine monastische Leserschaft schließen lassen Carruthers: The Book of Memory, S. 307. Vgl. auch Stackmann: Neue Philologie, S. 408. Vgl. etwa den oben erwähnten Marginaleintrag in Add MS 61823 fol. 43r, 4 – 5 de despo[n]sa[cio]ne ei[us] ad d[eum] p[a]tre[m] und die oben diskutierten Beispiele.

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 127 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

besonders bedeutsam erscheint, wie zu zeigen sein wird.371 Auch die Anmerkung no[ta] de vestura 372 auf fol. 37v, 2 könnte im Kontext der weißen Mönchskutte der Kartäuser relevant sein. Und wenn man, wie Rebecca Schoff, davon ausgeht, dass der rubrizierende Annotator den Kempe-­Text für ein Lesepublikum ‚redigiert‘ hat, das ihm vertraut gewesen ist, lässt sich dies vielleicht auch für Salthows vermuten. Denn die meisten der braunen Randglossen sind nachträglich mit einer Rubrizierung versehen worden, die indiziert, dass die Kartäusermönche die gleichen Textpartien herausgegriffen haben und den ‚Lektürevorgaben‘ Salthows’ weitgehend gefolgt sind. Sie zeugen jedenfalls von einer gewissen Achtung und Anerkennung, die spätere Leser den braunen Randnotizen entgegengebracht haben. Hier dokumentiert sich eine Art Dialog ­zwischen den Vorgaben des Schreibers und den Kartäusermönchen, die den Kempe-­Text nicht nur aufmerksam studieren, sondern einander auch auf lesenswerte Textpartien hinweisen und ihre Lesefrüchte miteinander teilen. Dies geht zumindest aus den rubrizierten Marginaleinträgen hervor, die ebenfalls den Gebrauchskontext einer monastischen Lektürepraxis indizieren. Innerhalb des rubrizierten Annotationscorpus ordnet Joel Fredell die drei Schreiberhände „ruby paraph“ (hier als Annotator mit dunkelroter Tinte bezeichnet), „big red N“ (Annotator N) und „red-­ink Annotator“ (der rubrizierende Annotator) chronologisch,373 indem er Nachträge und Überschreibungen in der Kempe-­Handschrift analysiert: Salthows’ Eintragungen sieht er als die frühesten gefolgt von dem Annotator mit dunkelroter Tinte (ruby paraph), Annotator N und schließlich dem rubrizierenden Annotator.374 Signifikant ist dabei, dass die von Fredell als großbuchstabige nota-­Abbreviaturen („Big N“) gedeuteten ­­Zeichen durch ihre markant geschwungenen Zierstriche eher dem Buchstaben „w“ ähneln 375 und nahezu ausschließlich am rechten Rand der recto-­Seiten der Handschrift in Verbindung mit einem rubrizierten Kapitel- oder Paragraphenzeichen am linken Rand auftreten.376 Diese eigentümlich wirkenden nota-­Abbreviaturen, die sich ebenfalls in Lesereinträgen des ‚Kartäuserkompendiums‘ London, British Library, Add MS 37790 aus der Mitte des 15. Jahrhunderts finden,377 fungieren offenbar wie das nota-­Zeichen als eine Art inhaltsbezogener 371 Vgl. fol. 106v, 4 – 5 linker Außenrand no[ta] b[e]n[e] & cave tibi als eine Art Warnung neben der Textpartie: & sumtyme þo þat men wenyn wer reuelacyonis it arn deceytys & illusyons […]. 372 Vgl. die göttliche Aufforderung fol. 37v, 2 – 3 ȝyf thow wilt be clad in white clothys. 373 Vgl. Fredell: Design and Authorship, S. 3. 374 Vgl. ebd., S. 16 f. 375 Vgl. zur Morphologie des Buchstaben „w“ Alfred Derolez: The Palaeography of Gothic Manuscript Books. From the Twelth to the Early Sixteenth Century. Cambridge 2003, S. 94 und S. 139. 376 Vgl. etwa MS Add 61823, fol. 58v, 3 linker Außenrand Kapitelabbreviatur, fol. 59r, 22 rechter Außenrand w-­Symbol; fol. 63r, 10 rubriziertes w-­Symbol am rechten Außenrand, 63r, 15 Kapitelabbreviatur am linken Innenrand; 76r, 13 rechter Außenrand mit w-­Symbol; 77r, 7 rubriziertes w-­Symbol; fol. 85r, 27 w-­Symbol; 99r, 11 Kapitelzeichen am linken Innenrand, 99r, 23 w-­Symbol am rechten Außenrand. 377 London, British Library, Add MS 37790, fol. 49r, 25; fol. 65r, 19; fol. 114r, 16; fol. 171r, 23 – 24. Ich danke Justin Clegg, British Library, sehr herzlich dafür, dass er mir die Handschrift zu Untersuchungszwecken

128 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Hinweis. Denn in der Kempe-­Handschrift markieren sie bestimmte Textpartien, die den Eindruck erwecken, dass sie als ‚Rohmaterial‘ für Textkompilationen gedient haben könnten, da sie zumindest vereinzelt mit den von Wynkyn de Worde gedruckten Exzerpten aus dem Jahr 1501 korrespondieren, wie oben ausgeführt. Jedenfalls kennzeichnet das w-­förmige nota-­Zeichen überwiegend instruierende Christusreden, die die Margery-­Figur in Visionen erfährt und die in der Druckfassung kompiliert vorliegen.378 Dagegen demonstrieren die in hellroter Tinte vorgenommenen Kommentare nur ein punktuelles Interesse an sehr spezifischen lebensweltlichen Details 379 und sind eher auf ‚mystisches Allgemeingut‘ in Form persönlicher Gotteserfahrung ausgerichtet.380 Allerdings ist eine eindeutige Differenzierbarkeit für die rubrizierten Randeinträge aufgrund divergierender Tintenfarben, wie sie Fredell als Differenzkriterium ansetzt, nicht immer gegeben. Für eine genauere zeitliche Abgrenzung z­ wischen den Marginalnotizen des rubrizierenden Annotators und der von Fredell bestimmten jüngeren Schreiberhand N, die vornehmlich die w-­förmigen nota-­Eintragungen vornimmt, sind folgende Handschriftenseiten besonders aufschlussreich: Auf fol. 59r, 23 ist das nota-­Zeichen des Annotators N neben dem Beginn der folgenden Textpartie (Kapitel 51) platziert (Abb. 4): Than þe seculer pepil answeryd for hir and seyde sche xulde not comyn in preson. In ­diesem Kapitel steht die Androhung einer Gefängnisstrafe im Vordergrund, die ein anonymer Kleriker gegen die Margery-­Figur verhängen möchte.381 Der rubrizierende Annotator notiert hier mit seiner Randnotiz Z. 23 seculer. p. offenbar den Zuspruch, den die Margery-­Figur von der Außenwelt erfährt. Auffällig ist, dass die hellrote Tintenfarbe der Rahmung im Vergleich mit den Buchstaben eher verblasst ist, die wie nachgezogen wirken und sich nicht erheblich von der Tintenfarbe der nota-­Abbreviatur abheben.382 Ja, es macht sogar den Anschein, dass die nota-­Abbreviatur auf fol. 59r, 23 des Annotators N über einen zur hellroten Rahmung zugehörigen Zierpunkt eingetragen ist, so dass Annotator N seinen Eintrag an dieser Stelle erst nach dem kommentierenden Rubrikator vorgenommen haben könnte.383 Ein ­weiteres zur Verfügung gestellt hat. Vgl. Cré: Vernacular Mysticism, S. 294, die als erste auf die nota-­Zeichen im Kontext ihrer Bestimmung von Leserprofilen aufmerksam gemacht hat. 378 Vgl. Fredell: Design and Authorship, S. 11 und S. 23 Anm. 29 mit einer Auflistung der entsprechenden Handschriftenseiten. 379 Vgl. die oben diskutierten ‚biographischen‘ Annotationen, etwa zur Ortsangabe fol. 3v, 28 of lyn; einzelnen Zeitangaben, wie auf 17r no[ta]. xiij, fol. 20r, 29 – 30 no[ta] vij ȝere und fol. 53v vij.da.fro Brusto; zu Personen, die die Margery-­Figur unterstützen fol. 20v, 3 – 4 goyd whyte frere; fol. 21r, 8 dame Ielia[n]; fol. 52v goyd mercha[n]d und ihren Familienmitgliedern fol. 54r v. tymes. mare; fol. 66r, 1 husband. 380 Vgl. dazu die Ausführungen unten im Rahmen des vorliegenden Kapitels. 381 Vgl. BMK, S. 122, 13 – 15: Þan seyd he a-­ȝen, „Hast þu an husbond?“ Sche seyd „Ȝa.“ „Hast þu any lettyr of recorde?“ 382 Für diese wichtigen Hinweise danke ich sehr herzlich Henrike Manuwald, Universität Göttingen. 383 Vgl. Fredell: Design and Authorship, S. 13. Fredell zieht diesen Zierpunkt nicht in Betracht und sieht die seculer. p.-Glosse auf fol. 59r, 23 als Nachtrag des rubrizierenden Annotators.

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 129 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Beispiel dieser Art bietet fol. 104r, 25 mit der Eintragung o[u]r lade in der Hand des rubri­ zierenden Annotators, der den Zierstrich des kursiven nota-­Zeichens von Annotator N mit dem Abkürzungsstrich des Buchstaben „o“ überschrieben hat.384 Jedoch wirken der Buchstabenkörper des „n“ und die einzelnen Buchstaben der Wörter o[u]r lade wie nachgezogen und sie evozieren den Eindruck einer nachträglichen Überschreibung, wie etwa die Schleife der „l“-Oberlänge und der Buchstabenkörper des „a“ sowie die nahezu identische rote Tintenfarbe nahelegen. Deshalb lässt sich nur schwer entscheiden, ob der rubrizierende Annotator die Handschrift tatsächlich als letzter Benutzer annotiert hat, wie Fredell im Rückgriff auf Meech postuliert. Denn Fredell lässt in seiner Untersuchung ein rubriziertes Klammersymbol auf fol. 51v, 21 – 28 (Abb. 5) mit drei strahlenförmig auslaufenden Linien unberücksichtigt, das demonstrieren kann, dass die hellroten Randnotizen des rubrizierenden Annotators offenbar älter als die rubrizierten Einträge von Annotator N sind, da die hellrote Klammer des rubrizierenden Annotators mit der für Annotator N typischeren dunkelroten Tintenfarbe erweitert und überschrieben worden ist. Dabei markiert der erste dunkelrot gehaltene Klammerabschnitt die folgende Textpassage: And sodeynly cam a good man & ȝaf hir fowrty pens & wyth sum þerof sche bowt hir a pylche.385 Der zweite Klammerabschnitt, der durch drei Punkte markiert ist, weist dagegen auf die folgende Gottesrede: Dowtyr stody þow for no good for I xal ordeyn for þe, but euyr stody þow to loue me & kepe þi mende on me for I schal go wyth þe wher þow gost as I haue hite þe be-­forn.

Jedenfalls lassen die rubrizierten Marginaleintragungen auf fol. 51v und fol. 59r keine ganz eindeutige Identifikation ihrer zeitlichen Abfolge zu, sie zeigen jedoch, dass mindestens zwei Benutzer den Kempe-­Text aufmerksam studiert haben. Denn dies geht auch aus den Randkommentaren auf dem Bundsteg fol. 15v, 12 – 13 hervor: Der rubrizierende Annotator trägt hevy.[n] über dem kursiven nota-­Zeichen von Annotator N ein und setzt sein eigenes no[ta]-Symbol darunter.386 Fredell argumentiert, dass der rubrizierende Annotator die Unterlänge des Buchstaben „y“ nachträglich über den Zierstrich der nota-­Abbreviatur von Annotator N verlängert habe. Auffällig ist allerdings wiederum, dass die h-­Schlaufe, die rubrizierte Rahmung und der Kürzungsstrich über dem Buchstaben „y“ im Vergleich mit den anderen Buchstaben deutlich verblasst sind. Auf fol. 40v ist ebenfalls klar ersichtlich, dass die Benutzer unterschiedliche Symbole zur Textannotierung verwenden:387 Hier befindet sich das nota-­Zeichen des rubrizierenden Annotators am linken Außenrand 384 Vgl. ebd., S. 14. 385 Add MS 61823, fol. 51v, 21 – 22. 386 Vgl. Fredell: Design and Authorship, S. 13. 387 Vgl. ebd., S. 15.

130 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Z. 29 unter dem Paragraphenzeichen des Annotators in dunkelroter Tinte. Die Tintenfarben unterscheiden sich jedoch hier kaum voneinander.388 Ein weiteres Beispiel für diese Annotationspraxis bietet fol. 80v, 6 – 8 mit der Eintragung no[ta] materia[m] istam des rubrizierenden Annotators.389 Über dem no[ta]-Zeichen des rubri­zierenden Annotators platziert Annotator N sein kursives nota-­Symbol. Hier zeichnet sich eine Art Dialogizität der Lesereinträge ab, die für die Lektürepraxis der englischsprachigen Kartäuser bestimmend zu sein scheint. Fredell hat erweisen können, dass der rubrizierende Annotator sein eigenes Kapitelzeichen verwendet, etwa auf fol. 22v, 3 am linken Außenrand.390 Hier indiziert das rubrizierte Kapitelzeichen offenbar den Beginn einer neuen Episode innerhalb des 18. Kapitels.391 Denn die folgende Textpartie ist thematisch auf den Disput mit einer anonymen Witwe zentriert, die die Margery-­Figur harsch zurückweist.392 Die Überlegung, dass das Kapitelzeichen den eigentlichen Kapitelbeginn markiert, erscheint insofern plausibel, da Kapitel 19 die Ausein­andersetzung mit der Witwe schildert, die den göttlich eingegebenen Offenbarungsworten der Margery-­Figur über den Zustand der Seele ihres verstorbenen Ehemannes keinen Glauben schenkt. Offenbar hat allerdings bereits Salthows den Kapitelbeginn mit einem interlinear angebrachten bräunlichen Kapitelsymbol auf fol. 22v, 4 vermerkt,393 so dass der rubrizierende Annotator auch hier den Lektürevorgaben Salthows’ folgt. Zudem stellt sich die Frage, ob das Kapitelzeichen tatsächlich einen vermeintlichen Kapitelbeginn markiert: Zwar ist auf fol. 22v mit dem einsetzenden Witwenthema ein inhaltlicher Bezug gegeben, aber weitere braune nota-­Zeichen dieser Art müssen nicht unbedingt den Neubeginn eines Kapitels kennzeichnen, sondern können auch in der

388 Dagegen sind für Fredell die vermeintlich unterschiedlichen Tintenfarben von hell- und dunkelrot (­ruby-­red) ein entscheidendes Differenzkriterium bei der Abgrenzung der Schreiberhände des rubrizierenden Annotators und des Annotators in dunkelroter Tinte. 389 Fredell verzeichnet diesen Eintrag wohl versehentlich als fol. 34v, vgl. Fredell: Design and Authorship, S. 13. 390 Vgl. Fredell: Design and Authorship, S. 11. Vgl. auch fol. 98v, 19 – 20. 391 Diese Überlegung äußert bereits Meech, vgl. BMK, S. 45 Anm. 1. 392 Vgl. BMK, S. 45, 2 – 34. 393 Dass es sich hier tatsächlich um ein Kapitelzeichen handelt, geht aus dem bräunlichen Kapitelzeichen fol. 9r, 1 über der bräunlichen nota-­Abbreviatur am rechten Außenrand hervor, da sich beide Kapitelzeichen nahezu exakt gleichen. Fredell sieht im linken Außenrand fol. 25v, 26 ein weiteres Beispiel für diese Praxis: Hier befindet sich über dem braunen nota-­Zeichen Salthows’ ein braunes Kapitelzeichen. Der rubrizierende Annotator hat diesen Eintrag nachträglich gerahmt. Vgl. auch fol. 9r, 1 rechter Außenrand braunes Kapitelzeichen über braunem nota-­Zeichen, das von einem rubrizierten Kapitelzeichen umgeben ist; vgl. auch fol. 13v, 1 linker Außenrand mit einer Kombination von nota- und Kapitelzeichen, eingeschlossen von zwei rubrizierten Punkten; fol. 24v, 13 linker Außenrand: Kombination von nota- und Kapitelzeichen, die nachträglich rubriziert gerahmt ist; fol. 25v, 25 linker Außenrand mit rubriziert gerahmtem braunen nota- und Kapitelzeichen.

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 131 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Mitte eines Kapitels auftreten.394 Daher ist fraglich, ob diese Kombinationen von nota- und Kapitelzeichen als erzähllogische Verknüpfung einzelner Kapitel im Sinne einer kohärenten Ereignisfolge fungieren, oder ob sie nicht vielmehr geeignete Textpartien markieren, aus denen Textkompilationen wie die Kempe-­Druckfassung aus dem Jahr 1501 erstellt werden können. Dies muss nicht unbedingt bedeuten, dass die Kartäuser die Kempe-­Handschrift ausschließlich für ‚Textredaktionen‘ kompiliert haben, die für den Druck bestimmt waren, sondern es wäre ebenso denkbar, dass sie Textsammlungen für private Studienzwecke zusammenstellten, wie es das oben diskutierte Beispiel der frauenmystischen Exzerptsammlung von dem Erfurter Kartäuser und Reformtheologen Johannes Hagen aus dem 15. Jahrhundert belegt. Marc-­Aeilko Aris formuliert pointiert im Hinblick auf die Handschriften der Mainzer Kartause: „Die im Kartäuserorden seit dessen Gründung gepflegte Gewohnheit, sich das Verständnis eines Textes durch die Anfertigung von Exzerpten zu er-­schreiben, schlägt sich in der Bestandserweiterung der klösterlichen Bibliothek nieder.“395 Im Kempe-­Codex zeichnet sich eine dialogische Form der monastischen lectio ab, die sich offenbar besonders auf die Sammlung erbaulicher ‚Lesefrüchte‘ aus Gottesreden konzentriert. Und die spezifische Art und Weise der Textannotierung durch Klammersymbole, Christusmonogramm und Dreiblattsymbol deutet auf eine kartäusische Annotationspraxis: Deshalb lässt sich fragen, ob der Benutzer die oben diskutierte dreieckige Klammer auf fol. 51v tatsächlich als ‚Tränensymbol‘ verwendet, wie Parsons vermutet, oder ob an dieser Stelle nicht auch eine christozentrisch-­trinitarische Ausdeutung in Erwägung gezogen werden könnte.396 Dafür spricht nicht nur die dreieckige Form der Klammer mit ihren drei Zierpunkten, sondern auch das Jesusmonogramm, das der rubrizierende Annotator mittig im Kopfsteg der Handschriftenseite platziert hat.397 Und in diese Richtung weist 394 Fredell identifiziert ein solches braunes nota-­Zeichen mit einem cc-­förmigen Abkürzungszeichen auf fol. 25v, 26 im linken Seitensteg, vgl. Fredell: Design and Authorship, S. 15. Weitere Beispiele finden sich: fol. 9r, 1 rechter Seitensteg mit cc-­förmigem Abkürzungszeichen über dem braunen nota-­Zeichen, das von einem rubrizierten Kapitelzeichen umgeben und mit einem Dreiblattsymbol kombiniert ist; fol. 13v, 1 linker Seitensteg cc-­förmiges Abkürzungszeichen über dem braunen nota-­Zeichen, das von zwei rubrizierten Punkten eingeschlossen ist; fol. 24v, 12 cc-­förmiges Abkürzungszeichen über dem braunen nota-­Zeichen, das mit einem rubrizierten Kasten gerahmt ist; fol 25v, 26 mit nachträglicher rubrizierter Rahmung; fol. 33v, 18 no[ta] de clamor[e] mit braunem Dreiblatt. 395 Marc-­Aeilko Aris: Lesen und Erneuern – Kulturelle Implikationen der spätmittelalterlichen Klosterreform. In: Die benediktinische Klosterreform im 15. Jahrhundert. Hrsg. von Franz Xaver Bischof. Berlin 2013, S. 298. 396 Parsons verzeichnet diesen Randeintrag in ihrer Aufführung mit „weeping or tears symbol“, vgl. ­Parsons: The Red Ink Annotator, S. 175. 397 Vgl. den Eintrag im LCI, Band 1, Allgemeine Ikonographie A-Ezechiel, Sp. 525 zur Kombination von Dreieck und Jesusmonogramm als Symbol der Dreifaltigkeit. Vgl. auch die dort angegebene Untersuchung von Dagobert Frey: Ikonographische Bemerkungen zur Passionsmystik des späten Mittelalters. In: Neue Beiträge zur Archäologie und Kunstgeschichte Schwabens. Hrsg. von der Gesellschaft zur Förderung des Württembergischen Landesmuseums. Stuttgart 1952, S. 107 – 123.

132 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

ebenfalls das rubrizierte Flammensymbol 398 auf fol. 78v, 1, das im Kopfsteg über dem Wort Dowtyr einer Gottesrede eingetragen ist: Dowtyr þu mayst boldly seyn to me ‚Ihesu est amor meus‘ […]. Dieses oben diskutierte lateinische Motto ist im Textfeld rubriziert gerahmt und in Z. 2 am linken Seitensteg mit der rubrizierten Abbreviatur no[ta] semp[er] versehen. Auf fol. 38v, 7 befindet sich neben dieser Textpartie die rubrizierte Randglosse Ihc e[st] amor. t[u]us. Hier lässt sich eine auf Christus zentrierte, affektive Frömmigkeit erschließen, wie sie besonders die oben beschriebenen Bilddarstellungen des Kartäuser-­Kompendiums Add MS 37049 und das bereits erwähnte Beispiel der Handschrift Cambridge, Trinity College, MS O.5.26 mit der Scola Amoris Richard Methleys entfalten.399 Und ein weiteres Indiz für diese christuszentrierte Frömmigkeit und die Praxis der Anbetung des heiligen Namens lässt sich in weiteren rubrizierten Christusmonogrammannotationen sehen, die sich über die gesamte Kempe-­Handschrift verteilt finden.400 Ein rubriziertes Christusmonogramm, das auf fol. 1r programmatisch im Kopfsteg platziert ist, ordnet das eigentliche Textfeld unter den Aspekt der Namensverehrung.401 Eine ganz ähnliche Konstellation bietet das oben diskutierte lateinische St. Gregor-­Kompendium aus der Kartause Mount Grace, das ebenfalls um die Mitte des 15. Jahrhunderts entstanden ist. Auf fol. vi.r ist ein Christusmonogramm in schwarzer Tinte über dem Besitzeintrag der Klosterbibliothek Mount Grace im Kopfsteg eingetragen, ebenso wie über dem eigentlichen Beginn der dem heiligen Gregor zugeschriebenen Predigten auf fol. 1v. Daraus lässt sich erschließen, dass die programmatisch wirkende Platzierung des Jesusmonogramms in der lateinischen Gregor-­Sammelhandschrift aus Mount Grace und dem Kempe-­Codex offenbar auf eine meditative, christozentrische Lektürepraxis hindeutet.402 Und dies ist nicht erstaunlich, wenn man bedenkt, dass die Kartäuser in England maßgeblich an der Verbreitung der Namen-­Jesu-­Verehrung in den von ihnen tradierten Handschriften beteiligt waren.403 398 Vgl. zu Flammen als ­­Zeichen der Trinität ebd., Sp. 531. 399 Vgl. den oben erwähnten lateinischen Nachtrag in Cambridge, Trinity College, MS O.5.26, fol. 22r, 28 – 31: Si quis amet quod amare iuuat feliciter ardet / Iesus est amor meus / Ex quo conueniunt duo pectora pectus in vnum / Fas est vt maneant pectora pectus idem. 400 Vgl. die Aussagen Meechs in BMK, Einleitung, S. xlii, der das Auftreten des Christusmonogramms als „independent expression of the piety of the annotator“ sieht. Vgl. dagegen Hope Emily Allen, die in der Devotion des heiligen Namens einen Hinweis auf das Skriptorium vermutet, in dem die Kempe-­ Handschrift entstanden sein könnte (BMK, S. 255 Anm. 1/n.2). 401 Weitere Beispiele dieser Art finden sich: fol. 2r, 1; fol. 51v, 1; fol. 126v, 1. Vgl. allgemein zur Platzierung von Marginalglossen, die nicht nur Auskunft über ihre Bedeutung, sondern auch über die Glossierungsgewohnheiten eines Annotators geben kann, Schiegg: Frühmittelalterliche Glossen, S. 68 und S. 72. 402 Vgl. Brantley: Reading in the Wilderness, S. 179 im Hinblick auf die Funktion des Jesusmonogramms als Invokation, Gebet und Meditationshilfe in der oben diskutierten kartäusischen Sammelhandschrift Add MS 37049 mit ihrem reich illustrierten Bildprogramm. 403 Vgl. Denis Renevey: The Name Poured Out. Margins, Illuminations and Miniatures as Evidence for the Practice of Devotions to the Name of Jesus in Late Medieval England. In: The Mystical Tradition and the Carthusians. Volume 5. Hrsg. von James Hogg. Salzburg 1996 (Analecta Cartusiana 130), S. 137.

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 133 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Denn das gleichsam z­ wischen Text und Bild stehende Christusmonogramm kann das Wesen Christi als menschgewordenes Gotteswort bildhaft veranschaulichen.404 Es fungiert als Namenschiffre und invocatio: Dafür sprechen jedenfalls weitere Belege in der Kempe-­ Handschrift: Auf fol. 2r, 2 – 3 positioniert der rubrizierende Annotator ein Christusmonogramm in einem Herzen neben einer Textpassage, die die Unwissenheit der Außenwelt mit der im Inneren verborgenen Begnadung der Protagonistin kontrastiert: for þei wysten ful lytyl how homly ower Lord was in hyr sowle. Gottes Einwohnung im Herzen ist hier offenbar visuell durch Jesusmonogramm und Herzsymbol umgesetzt,405 das nicht nur für den seelischen Innenraum der Protagonistin, sondern vielleicht auch für denjenigen des Lesers bzw. des Betrachters stehen kann. Auf fol. 4v, 13 notiert der rubrizierende Annotator das Christusmonogramm und verbindet es mit einer Linienführung, die auf das Wort hir im Text deutet: […] and hir kepars wer fro hir, owyr mercyful Lord Crist Ihesu […] aperyd to hys creatur. Hier ist für den rubrizierenden Annotator offenbar von besonderem Interesse, dass Christus die Margery-­Figur aus den Fängen dämonischer Kräfte nach der Geburt ihres ersten Kindes befreit. Ein weiteres Christusmonogramm in dunkelroter Tinte befindet sich im Kopfsteg auf fol. 51v, 1 über dem weiter unten diskutierten Annotationscluster, der sich aus der no[ta] de colore-­Eintragung, der Annotation zu Prior Norton und der dreieckigen Klammer zusammensetzt, die nachträglich erweitert bzw. modifiziert worden ist. Hier wird eine auf das Heilswirken Christi zentrierte Lektüre zumindest ansatzweise greifbar, die nicht nur die Körperzeichen – die Hautverfärbung, die Gnadentränen und das Winden des Körpers –, sondern auch die göttliche Liebesversicherung und die göttlich bewirkte Unterstützung durch anonyme Personen betreffen.

Vgl. Brantley: Reading in the Wilderness, S. 180. Vgl. Duffy: The Stripping of the Altars, S. 113 – 116 zur Herausbildung einer Verehrung des heiligen Namens in Form von Votivmessen im Kontext der Laienfrömmigkeit. 404 Vgl. zu den theologischen Hintergründen des Christusmonogramms, das im Kontext der Namen Jesus Verehrung zu sehen ist, Renevey: The Name Poured Out, S. 128 mit Verweis auf die „Meditacio ad concitandum timorem“ Anselms (S. Anselmi Cantuariensis Archiepiscopi Opera Omnia. Band 3. Hrsg. von Franciscus Salesius Schmitt. Edinburgh 1946 – 1961, S. 79), dem zisterziensischen Hymnus „Dulcis Iesu memoria“ (Edmond Bonin: Dulcis Iesu memoria. The Restored Text. In: Cistercian Studies Quarterly (2014), S. 206 – 211) und der einflussreichen 15. Predigt Bernhards von Clairvaux über die Hoheliedverse Oleum effusum nomen tuum (Ct 1,2). Bernhard expliziert die Heilswirkung des Namen Christi in Bezugnahme auf das ausgegossene Salböl in Ct 1,2 (Sermons sur le Cantique. Band 1 [Nachdruck]. Texte latin de J. Leclercq et al. Paris 2006 (Sources Chretiennes). Vgl. zur Anrufung Christi Add MS 61823 fol. 11r, 18 – 19 linker Bundsteg, die die Formulierung aus dem Text wiederholt. 405 Vgl. zur bildlichen Umsetzung der Einwohnung Gottes im Herzen und sogenannter Herzklosterallegorien innerhalb einer sich in verschiedenen Bildwerken ausdrückenden ‚Nonnenfrömmigkeit‘: Jeffrey Hamburger: Nuns as Artists. The Visual Culture of the Medieval Convent. Berkeley 1997, besonders S. 151 – 158.

134 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Gleichzeitig lässt sich aus den divergierenden Tintenfarben und der Schrift eine Art sukzessive Anreicherung mit Glossierungsschichten erschließen, die nach und nach die im Text verborgene Heilsbotschaft und die Zeichen ­­ der ‚Heiligkeit‘ aufdecken, die die Protagonistin buchstäblich verkörpert. Fol. 106v bietet einen sehr ähnlich strukturierten ‚Annotationscluster‘, der wiederum mit einem im Kopfsteg platzierten Christusmonogramm überschrieben ist. Auch hier wirkt das in dunkelroter Tinte notierte Christusmonogramm wie nachgezogen.406 Darunter befindet sich in Z. 4 im linken Außenrand die oben erwähnte, in brauner Tinte gehaltene Warnung no[ta] b[e]n[e] & cave tibi neben einer Textpartie, die zur Vorsicht im Hinblick auf vermeintliche Visionen warnt: & sumtyme þo þat men wenyn wer reuelacyonis it arn deceytys & illusyons […]. Z. 9 – 10 sind durch ein Klammersymbol in der gleichen dunkelroten Tintenfarbe markiert: sche was in gret heuynes for hir felyngys, whan sche knew not how þei schulde ben vndirstondyn […]. Neben Z. 15 – 17 notiert der Annotator in dunkelroter Tinte das Wort drede: þe drede þat sche had of hir felyngys was þe grettest scorge þat sche had in erde […]. Und schließlich markiert er Z. 28 mit der Randglosse copy: þat had al þis tretys in felyng & werkyng, is trewly drawyn owt of þe copy in-­to þis lityl boke. Wenn man die mit diesen Randglossen markierten Textpassagen zusammensieht, ergibt sich eine Art kohärente ‚Textfolge‘, die von einer allgemein gehaltenen, zur Vorsicht mahnenden Sentenz zum konkreten Beispiel der Protagonistin und ihrer Besorgnis über die rechte Deutung ihrer Offenbarungen hinführt. Den im Text formulierten Wahrheitsanspruch bestätigt schließlich die wahrheitsgetreue Abschrift (copy) einer textintern suggerierten ‚Originalvorlage‘. Die materielle Präsenz der Kempe-­Handschrift, die die evokativ wirkende Formulierung þis lityl boke auf textueller Ebene suggeriert, kann schließlich als ultimativer Wahrheitsausweis gelten. Und dies kann vielleicht als Erklärung dafür herangezogen werden, dass auch der rubrizierende Annotator fol. 2v mit einem programmatischen Christusmonogramm versehen hat. Denn hier wird die so unwegsam und verrätselt wirkende Schreiber- und Buchentstehungsgeschichte geschildert. Hier stehen offenbar nicht die von der Kempe-­Forschung so intensiv diskutierten Details der Buchentstehung im Vordergrund des Interesses, sondern vielleicht eher die Textpartie in ihrer Gesamtheit, die sich als exemplarischer Ausweis göttlichen Gnadenwirkens fassen lässt. Zumindest indizieren die Christusmonogramme eine sehr genaue und sorgfältige Lektüre: Verschiedene Leser – besonders der rubrizierende Annotator und der Annotator in dunkelroter Tinte – setzen sich intensiv mit dem Text auseinander und reichern die Lesarten ihrer jeweiligen Vorgänger zu ‚Annotationsclustern‘ an, wie die hier diskutierten und teils sogar erneut nachgezogenen Lesereinträge nahelegen. Rebecca Schoff hat in ihrer Untersuchung vier weitere ‚Annotationscluster‘ auf einander gegenüberliegenden Handschriftenseiten bestimmt, die eine besondere Dichte von 406 Ein weiteres Beispiel für ein solches Christusmonogramm, das nachgezogen wirkt, bietet fol. 110r, 4 – 5 (rechter Seitensteg) neben einer direkten Gottesrede, in der Gott der Margery-­Figur Hilfe und Unterstützung bei der Pilgerreise mit ihrer Schwiegertochter zusagt.

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 135 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

acht bis neun Randeinträgen aufweisen und jeweils Textpassagen mit Gottesreden markieren.407 Dabei handelt es sich um fol. 25v–26r; fol. 77v–78r; fol. 78v–79r und fol. 88v–89r. Zunächst platziert ein Glossator auf fol. 25v, Z. 14 – 16 eine rubrizierte manicula am rechten Bundsteg neben der Aussage Christi: dowtyr, for wyth myn owyn handys, whech wer nayled to þe Crosse, I xal take þi sowle fro þi bodd wyth gret myrthe & melodye, wyth swet smellys & good odowrys & offyr it to my Fadyr in Heuyn, þer þu xalt se hym face to face, wonyng wyth hym wyth-­owtyn ende.408

Die Zeigehand referiert hier nicht nur auf die Formulierung wyth myn owyn handys, sondern auch auf die Vorausdeutung auf den Tod der Margery-­Figur, der mit aus der Hagiographie bekannten Attributen der Heiligkeit, wie dem süßen Duft und den himmlischen Melodien, zur Darstellung kommt. Dass es dem Benutzer hier offenbar um die in der Christusrede posthum in Aussicht gestellte ‚Heiligkeit‘ der Protagonistin geht, demonstriert auch der oben diskutierte no[ta]-Eintrag Salthows’ (fol. 25v, 26) neben Seynt Margarete, Seynt Barbara, & Seynt Powle, den er nachträglich mit einer rubrizierten Rahmung versehen hat. Denn Christus verspricht der Margery-­Figur nicht nur die gleichen Gnadenerweisungen, die diesen Heiligen zuteil geworden sind, sondern knüpft auch ein allgemeines Erlösungsversprechen für Menschen an, die der Margery-­Figur Glauben schenken. De facto spricht er hier der Margery-­Figur den Status einer Heiligen zu. Vielleicht ist aufgrund dieser grundlegenden Rollenidentität der mulier sancta bereits der Kapitelbeginn auf fol. 25r mit dem Marginaleintrag no[ta] tot[aliter] in der Hand des rubrizierenden Annotators versehen. In diese Richtung deutet jedenfalls auch eine Formulierung aus dem Text,409 die die Margery-­Figur als minnende Seele betrifft und die der rubrizierende Annotator mit den Worten si[n]gularis. C[risti] amatrix ins Lateinische überträgt (fol. 26r, 5 – 6, rechter Seitensteg). Das Kapitelende markiert er mit der liturgischen Lobpreisformel deo gra[cia]s i[n] et[er] nu[m] (fol. 26r). Zudem findet sich sein no[ta]-Symbol (fol. 26r, 14) neben der Thematisierung der besonderen Gnadenerwähltheit: whech non eye may se, ne eer heryn, ne tunge telle, ne non hert thynkyn, þat I haue ordeynd for þe.410 Auch Annotator N hat sein nota-­Zeichen über demjenigen des rubrizierenden Annotators platziert. Er annotiert außerdem fol. 26r, 2 þu hast be despysed for my lofe & þerfor þu xalt be worshepyd for my lofe und den Textabschnitt 407 Vgl. Schoff: Three Medieval Authors, S. 114. Mithilfe einer Computergrafik ermittelt sie die Handschriftenseiten, die die maximale Anzahl von 8 – 9 Gebrauchseintragungen aufweisen und damit eine besondere Signifikanz dieser Textpassagen andeuten. 408 BMK, Kapitel 22, S. 51, 30 – 52, 2. Vgl. auch die Zeigehand fol. 11v am unteren Rand, die auf die Christusrede I am in þe and þow in me deutet (BMK, Kapitel 10, S. 23, 3). 409 BMK, Kapitel 22, S. 52, 24 – 25: I haue teld þe be-­for-­tyme þat þu art a synguler louer & þerfor þu xalt haue a synguler loue in Heuyn […]. 410 BMK, Kapitel 22, S. 53, 4 – 5.

136 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Z. 23 – 29411 einer Gottesrede des folgenden Kapitels 23 mit seinem nota-­Zeichen und einer rubrizierten Linienführung. In ihrer Gesamtheit betrachtet, demonstrieren die Annotationen auf fol. 25v–26r ein sehr deutliches Interesse an der in der wörtlichen Rede entfalteten ‚Heiligkeit‘ und der (Rollen-)Figur einer Gott in Liebe ergebenen geistigen Tochter, wie sie die oben diskutierte Druckfassung aus dem Jahr 1501 präsentiert.412 Auf fol. 77v–78r und fol. 78v–79r (Kapitel 65 und 66) befinden sich zwei weitere, sehr ähnlich formierte ‚Annotationscluster‘, die wohl nicht zufällig auf göttliche Liebesversicherungen in direkter Rede (Kapitel 65) bzw. göttliche Gebote, die den Fleischverzicht der Protagonistin betreffen (Kapitel 66), zentriert sind. Auf fol. 77v, 15 hat ein Benutzer eine doppelte Linienführung im linken Seitensteg eingetragen, die von dem Wort man 413 im Textfeld in zwei relativ großflächige Tintenflecke ausläuft. Den Kapitelbeginn auf fol. 77v, 23 – 24 versieht der Annotator in dunkelroter Tinte mit einem Kapitelsymbol im linken Seitensteg: & þu xalt holdyn þe wel plesyd wyth alle my werkys. Auf fol. 78r positioniert Annotator N zwei nota-­Zeichen neben Z. 5 wherfor þu art meche bowndyn to thankyn me und Z. 31 þerfor, my derworthy dowtyr, be not yrke of me in erde to syttyn a-­lone be þi-­self & thynkyn of my lofe. Und er trägt ein drittes nota-­Zeichen ein, das im Vergleich mit den beiden anderen verkleinert und gedrängter wirkt, da der charakteristische Zierstrich des „n“ weniger stark ausgeprägt ist. Es könnte darauf hindeuten, dass Annotator N es erst nachträglich über dem no[ta] bene-­Symbol des rubrizierenden Annotators neben einer sentenzenartig wirkenden Textpartie platziert hat: but alle wyl not besyn hem to loue me as þei do to geten hem temperal goodys. Über die Chronologie der Marginaleinträge lässt sich allerdings auch an dieser Stelle keine gesicherte Aussage treffen, da sich keine Überschreibungen finden. Vielmehr scheinen sich die Interessengebiete verschiedener Leser zu einer umfassenderen Textkommentierung zu formieren. Denn die Glossierungsschichten bezeugen eine Art erweiterte Textlektüre, die besonders auf ­­Zeichen der ‚Heiligkeit‘ und Offenbarungslehren zu den verschiedensten Glaubens- und Frömmigkeitsaspekten wie göttlichen Visionen, der Askesepraxis und Kontemplation konzentriert ist: Annotator N hebt den Aspekt der Dankbarkeit und der kontemplativen Gottesliebe hervor. Dagegen markiert der rubrizierende Annotator die Textpassage, die von der göttlichen Sendung des Heiligen Paulus berichtet, der der Protagonistin spirituellen Beistand leistet.414 Er notiert auch den Eintrag sic i[n] libro te[rcio] im rechten Außenrand Z. 29 – 30 neben dem Textausschnitt einer legitimierenden Gottesrede myn awngelys arn redy to offyrn thyn holy thowtys & þi preyerys to me & þe terys of thyne eyne also, for þi terys arn awngelys drynk. Insgesamt fokussiert der rubrizierende 411 Vgl. BMK, Kapitel 23, S. 53, 12 – 20. Diese Textpartie betrifft die Offenbarungsworte, die an einen anonymen Vikar gerichtet sind, der die Margery-­Figur um Rat ersucht. 412 Vgl. Schoff: Three Medieval Authors, S. 115. 413 Vgl. BMK, S. 159, 14 – 15: for þu seyst þu wilt not þe deth of a synful man. 414 Vgl. Add MS 61823, fol. 78r, 22, rechter Seitensteg S. poule.

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 137 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Annotator seine Aufmerksamkeit wiederum auf ­­Zeichen der Heilserwähltheit, die sich in der Vision des Heiligen Paulus und den Gnadentränen ausdrücken, die hier noch mit zusätzlicher redemptiver Bedeutung aufgeladen sind. Signifikant ist, dass der dritte Annotationscluster fol. 78v–79r verstärkt den Einsatz von visuellen Symbolen – einem Herzen in Z. 9 – 10 am linken Außenrand und einem Flammensymbol im Kopfsteg über dem Wort dowtyr – demonstriert, die sich in Verbindung mit einer Art mystischen Liebestheologie sehen lassen, wie sie der Kartäuserautor Richard Methley in seinen autobiographisch stilisierten Erbauungsschriften entfaltet.415 Die in den Rändern der Handschrift sich abzeichnende Relation von Text und Bild lässt an eine mit allen Sinnen erfolgende Texterschließung denken, die vielleicht im Kontext klösterlicher ruminatio als ein meditatives Sich-­Versenken in den Text gesehen werden kann.416 Die Kombination von Text und Bildsymbolen in den Marginaleinträgen indiziert jedenfalls, dass die Benutzer den Text offenbar nicht nur für die eigene Klosterspiritualität adaptiert, sondern auch als reiche Fundstätte für allgemeine Glaubenslehre und die im Text enthaltene Heilsbotschaft genutzt haben. Dies indiziert beispielsweise die Annotierung fleysse (fol. 78v, 21 am linken Außenrand), die ein Gottesgebot kennzeichnet, das sich auf die Askesepraxis der Protagonistin bezieht: Now dowtyr, I wyl þat þu ete flesch […]. Am rechten Außenrand auf fol. 79r, 8 befindet sich der rubrizierte Eintrag gostly labour, der unmittelbar auf den Text referiert: þat sche xulde ben mythy to beryn hir gostly labowrys. Wie zuvor auf fol. 26r markiert ein rubrizierter Lobpreis deo gr[aci]as in Z. 18 das Kapitelende und unterstreicht die Aufforderung der Gottesmutter, das Fasten aufzugeben.417 Wiederum versieht Annotator N drei Textpartien mit den für ihn charakteristischen nota-­ Zeichen: Zunächst Z. 12 neben and hir grace was not discresyd but raþar encresyd, dann zweifach in Z. 24 neben also al þe town ne had grace ne myracle ne ben. Þe seyd creatur beyng þer present […]. Offenbar sieht Annotator N hier die Gottbegnadung mit dem in Kapitel 67, Z. 24 geschilderten Gnadenwunder zusammen, das die Margaretenkirche in Bishop’s Lynn vor einem verheerenden Feuer rettet. In ihrer Gesamtheit betrachtet, legen auch die 415 Die Herz- und loue-­Eintragungen werden unten (2.3.1 ‚Die Offizialität‘ der rubrizierten Randeinträge – Richard Methley, John Norton und die Konzeption des amor sensibilis) im Rahmen dieser Liebestheologie genauer beleuchtet. 416 Vgl. das Kapitel zu Guigo II. in Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik. Band 1, S. 220 – 229. So betont Guigo II., Prokurator und Prior der Grande Chartreuse, in seiner Schrift „Scala claustralium“ aus der Mitte des 12. Jahrhunderts die Bedeutsamkeit einer aufmerksamen Lektüre der Heiligen Schrift, die in der meditatio zur Erschließung verborgener Textinhalte führt. Zitiert nach Guiges II le ­Chartreux. Lettre sur la vie contemplative (L’echelle des moines). Douze méditations. Introduction et texte critique par Edmund Colledge O. S. A./James Walsh S. J. Traductions par un Chartreux. 2. Auflage. Paris 1980, (Sources chrétiennes, 163) S. 84: Est autem lectio sedula scripturarum cum animi intentione inspectio. Meditacio est studiosa mentis actio, occultae veritatis notitiam ductu propriae rationis investigans. 417 Vgl. fol. 79r, 17 – 18: I kan þe mor thank to etyn þi mete for my lofe þan to fastyn, þat þu mayst enduryn thy perfeccyon of wepyng.

138 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Randeinträge auf fol. 78v–79r eine allmähliche Formierung von Glossierungsschichten nahe, die den Gottesreden besondere Aufmerksamkeit sichern. Dies geht auch aus dem vierten Annotationscluster fol. 88v–89r hervor, der wiederum primär um Christusreden gruppiert ist: Zunächst findet sich der rubrizierte Marginaleintrag wyl auf fol. 88v, 3 im linken Außenrand neben einer resignierenden Aussage der Margery-­Figur (Lord þe worlde may not suffyr me to do thy wil). Sie ersucht Gott darum, ihr die Tränengabe teilwerden zu lassen, wenn sie allein und ungestört ist.418 Daraufhin notiert der rubrizierende Annotator den lateinischen Ausdruck responcio im linken Außenrand auf fol. 88v, 13 im Hinblick auf die Erwiderung des Herrn.419 Mit dem rubrizierten Eintrag planetes (fol. 88v, 20 am linken Außenrand) greift er eine Formulierung aus der Ich-­Rede des Herrn auf: Dowtyr þu seist how the planetys ar buxom to my wil […].420 Den lateinischen Kommentar Potestas di[uin]a (fol. 88v, 25 – 27) platziert er neben der Deklaration göttlicher Allmacht: I fare wyth þe myth of my Godheed. Die mit dem lateinischen Kommentar nota[n]d[um] versehene Textpartie fol. 88v, 29 – 30 setzt diese Thematik fort, die die Allmacht des göttlichen Willens mit der unvermittelt hereinbrechenden Gnadenerweisung des Liebesfeuers zusammensieht: so sodeynly come I in-­to thy sowle & illumyn it wyth þe lyght of grace & of vndyr-­standyng & sett it al on fyr wyth lofe, and make þe fyr of lofe to brenn þerin & purgyn it ful clene fro alle erdly filth.

Die rubrizierten Eintragungen beleuchten schlaglichtartig die Textpassagen, die das Problem der Willensunterwerfung (wyl ) im Hinblick auf den göttlichen Gnadeneinbruch im Leben des einzelnen Menschen thematisieren. Dass ­zwischen diesen Eintragungen ein thematischer Zusammenhang besteht, indizieren möglicherweise die rubrizierten kastenförmigen Rahmungen der lateinischen Randkommentare: Denn sie sind jeweils auf der Oberseite mit einer nach oben weisenden Pfeilspitze und an ihrer Unterseite mit einer nach unten deutenden Pfeilspitze versehen.421 418 Vgl. fol. 88v, 4 – 6: Take þes cryingys fro me in þe tyme of sermownys þat I cry not at þin holy prechyng & late me hauyn hem be my-­self alone so þat I be not putt fro heryng of þin holy prechyng & of þin holy wordys […]. 419 Vgl. BMK, Kapitel 77, S. 182, 4 – 9: Owr merciful Lord Crist Ihesu answeryng to hir mende seyd, „Dowtyr prey not þerfor; þu xalt not han thy desyr in þis […] for I xal make þe buxom to my wil þat þu xalt criyn whan I wil & wher I wil.“ 420 Add MS 61823 fol. 88v, 19 – 20. 421 Dass diese grob ausgeführten Rahmungen teilweise erst nachträglich von einem Benutzer hinzugefügt worden sein können, belegt der Eintrag shal ben in schwarzer Tinte am linken Außenrand auf fol. 25v, 30; 33r, 17 – 18 mit Pfeilspitze, die nach unten auf einen von Annotator N mit nota-­Zeichen markierten Textbereich deutet; fol. 49r, 4 – 6, linker Außenrand; ein weiteres Beispiel dieser Art von Rahmung bietet fol. 52v, 25 – 26 mit dem Marginaleintrag goyd mercha[n]d, wobei sich hier nicht entscheiden lässt, ob die Rahmung nicht bereits zum Randkommentar gehört hat. Die Randglosse dalyd fol. 53r, 9 – 12 weist ebenfalls eine Rahmung mit Pfeilspitze auf.

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 139 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Auf fol. 89r setzt sich die Annotierung göttlicher Ich-­Rede fort: Der Marginaleintrag p[er]f[e]c[t]a caritas foras mittit ti[morem] mit rubrizierter Rahmung auf fol. 89r, 4 – 5 am rechten Seitensteg reflektiert die Ich-­Aussage for þe parfyte charite þat I ȝyf þe puttyth a-­way al drede fro þe. Im rechten Außenrand in Z. 12 platziert der rubrizierende Annotator den Kommentar ter[e]s, der sich auf den Textausschnitt einer Gottesrede und die Tränen als gottgegebenen Liebesbeweis bezieht. Er ist ebenfalls von einer Rahmung mit einer jeweils nach oben und einer nach unten deutenden Pfeilspitze umgeben. Vielleicht deuten sie d ­ arauf hin, dass die Tränen gleichzeitig Ausdruck der caritas und der compassio sein können, wie der folgende, gerahmte Randeintrag ma[n]heyd of cryst auf fol. 89r, 28 – 29 zeigt. Denn er markiert eine göttliche Offenbarungsrede: for þu hast so gret compassyon of my flesche I must nede haue compassyon of þi flesch. Eine gewisse Systematik, was bereits die Ausstattung der Handschrift betrifft, indizieren jedenfalls auch die mit einem Christusmonogramm versehenen Initialen, die vermutlich der rubrizierende Annotator vorgenommen hat.422 Ob es sich hierbei um nachträgliche Verzierungen oder eine bereits im Rahmen der Handschriftenproduktion intendierte Ausschmückung handelt, ist nicht zu entscheiden. Aus dem Bildprogramm des oben diskutierten, reich illustrierten Kartäuser-­Kompendiums Add MS 37049 geht die Signifikanz des Jesusmonogramms und der Verehrung des heiligen Namens jedoch klar hervor, die zur Strukturierung der Handschrift beitragen.423 Deshalb handelt es sich hier wohl eher nicht um die individuelle Frömmigkeit eines Annotators, wie es Meech vermutet hat,424 sondern um eine Form der Klosterspiritualität. Eine ­solche auf die humanitas Christi zentrierte Klosterspiritualität können archäologische Funde aus Mount Grace bestätigen: So finden sich etwa eine spiegelverkehrte Bleiinschrift Iesus Nazarenus,425 ein aus Walrosselfenbein gefertigtes und dornenbekröntes Haupt Christi, das aus einem Haupt-­Christi-­Rosenkranz aus der Zelle des Priors stammt 426 sowie ein sogenanntes Kalkstein-­Pardon Panel mit der Ablassinschrift the p[ar]don for v p[ater] n[oste]r[s] & v ave[s] ys xxvjM yeres & xxvj daes aus der Mönchszelle 10,427 das den Schmerzensmann zeigt. 422 Dreizeilige O-Initialen fol. 6r, 20 – 22; fol. 14r, 1 – 3; fol. 23r, 13 – 15; fol. 44v, 25 – 27 (D-Initiale); fol. 52v, 1 – 3; fol. 55v, 9 – 11; fol. 69r, 12 – 14; fol. 77v, 20 – 23; 83r, 26 – 28 (nachgezogen, besonders an der Oberund Unterlänge des Buchstaben „h“ ersichtlich); fol. 85r, 7 – 9 (wirkt ebenfalls wie mit dunkelroter Tinte nachgezogen). 423 Brantley: Reading in the Wilderness, S. 181 und S. 189: „The holy monogram, more even than the name of Jesus itself, embodies the double nature of Christ: both logos (readable word) and corpus (bodily incarnation).“ 424 Vgl. Anm. 324 oben. 425 Vgl. Coppack/Aston: Christ’s Poor Men, S. 94. Die Funktion dieser Bleiinschriften ist nicht geklärt. Glyn Coppack vermutet, dass sie entweder zum Druck oder zur Herstellung von Pilgerzeichen Verwendung fanden. 426 Vgl. ebd., S. 93 mit Abb. 53. 427 Vgl. ebd., Abb. 12 und S. 93 f.

140 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Auch das am Rand der Handschrift mehrfach wiederkehrende Trifolium-­Symbol, das zur Kennzeichnung lesenswerter Textpartien in mittelalterlichen Handschriften dienen kann, deutet in diese Richtung.428 Denn das Dreiblatt kann im Kempe-­Codex als eine Art „sacred symbol“ (Fredell) für Trinität und Gottesliebe stehen, da es bevorzugt in Verbindung mit dem Christusmonogramm und liturgischen Lobpreisformeln auftritt.429 Bereits Salthows 428 Vgl. den Eintrag zu Trefoil in Peter Beal: A Dictionary of English Manuscript Terminology 1450 – 2000. Oxford 2008. 429 Sehr ähnliche zwei- bzw. dreiblättrige Symbole finden sich über die Kempe-­Handschrift verteilt, die Joel Fredell dem rubrizierenden Annotator zuordnet, vgl. Fredell: Design and Authorship, S. 23 Anm. 23. Fol. 3r, 35 hinter der Textpassage anno d[o]m[ini] m.cccc.xxxvj befindet sich ein braunes und ein rubriziertes Trifolium-­Symbol; fol. 9r, 24 rechter Seitensteg, Hervorhebung einer Gottesrede durch Trifolium-­Symbol: I swer to þe be my mageste þat I schal neuyr forsakyn þe in wel ne in wo. Fol. 26r, 4 – 6 rechter Seitensteg mit dem rubrizierten Eintrag singularis Christi amatrix neben einer Gottesrede: I haue telde þe befor-­tyme þat þu art a synguler louer. Fol. 31r, 18 rechter Seitensteg mit Trifolium-­Symbol und w-­förmigem nota neben der Aussage wherfor sche leuyd in gret drede, die sich auf die Angst der Margery-­Figur vor Täuschung und Illusionen bezieht; auf fol. 44v, 25 weisen drei rubrizierte Linien von dem Kapitelzeichen im linken Seitensteg auf den Kapitelbeginn mit der rubrizierten D-Initiale, in deren Binnenfeld das Jesusmonogramm eingetragen ist. Das Ende des 37. Kapitels indiziert ein rubriziertes Trifolium-­Symbol auf fol. 45r, 29. Fol. 53v, 23 – 26 linker Seitensteg rubrizierter, gerahmter Eintrag vij. day fro Brusto mit Trifolium-­Symbol neben so þat þei comyn to Seynt Iamys on þe seuenyth day. Fol. 71r, 29 – 30 rubrizierter Nachtrag mit Trifolium-­Symbol: Loq[ue]re, Do[mi]ne, q[uia] audit s[er]u[us] tu[us]. Audia[m] quid loquat[ur] in me, D[omi]n[u]s De[us]. Karma Lochrie sieht in ­diesem lateinischen Nachtrag ein Zitat aus I Sm 3,9 – 10, vgl. Lochrie: Translations of the Flesh, S. 122. Fol. 75v, 4 – 5 Trifolium-­Symbol neben And sche seyd sche xulde abydyn þer as long as god wolde. for her sche seyd in þis towne haue I synned […]. Fol. 76r, 32 rechter Seitensteg mit Trifolium neben al þe werld xal wondryn and meruelyn of my goodnes. Fol. 9r, 19 deo gratias mit Trifolium; fol. 80v, 7 – 8 linker Außenrand no[ta] materia[m] istam neben for þow þe mater be wretyn be-­forn þis neuyr-­þe-­lesse it fel aftyr þis als Hinweis auf die idiosynkratische Struktur des Textes, die textinternen Angaben zufolge auf die Reihenfolge der Erinnerungen der Protagonistin zurückzuführen ist (vgl. BMK , S. 5, 12 – 16). Fol. 82r, 22 Trifolium-­Symbol (bei Fredell als 82v verzeichnet); fol. 92v, 33 trew it is blyssyd lord mit Trifolium-­Symbol als Abschlussformel einer Gottesrede: Dowtyr þes sorwys & many mo suffyrd I for þi lofe, & diuers peynys, mo þan any man can tellyn in erth. Þerfor dowtyr þu hast gret cawse to louyn me ryght wel. Fol. 105v, 32 – 33 linker Seitensteg mit Trifolium-­Symbol neben einer Gotte­srede þu art as sekyr of my lofe as god is god. Fol. 110v, 32 Gebetsformel Amen mit Trifolium-­ Symbol neben oþer whech knewe mor of þe creaturys leuyng supposyd & trustyd þat it was þe wille & þe werkyng of al-­mythy God to þe magnifying of hys owyn name. Eine Variation dreiteiliger Symbole findet sich: fol. 47, 1v Kopfsteg mit dreiteiligem Symbol, das die Worte holy dalyawns markiert; fol. 58r, 1 Kopfsteg mit einem dreieckigen Symbol mit drei Punkten über der formelhaften Wendung mekenes & pacyens; fol. 65r, 1, Kopfsteg dreiteiliges Symbol über the ercheb[yshop]; fol. 66r, 1 rechter Seitensteg mit dreiteiligem Symbol, dessen mittlere Linie auf die Annotation husband deutet; fol. 74v, 1 Kopfsteg dreiteiliges Symbol über: of þe whech þe same preyste was on þat aftirward wrot þis boke; fol. 77r, 33 Fußsteg unter neuyer-­þe-­lesse als Hervorhebung einer Gottesrede: […] & wil not þe pepyl beleuyn þe goodnes þat I werke in þe for hem. Fol. 78v, 1 Kopfsteg flammenförmiges Symbol über einer Gottes­rede: Dowtyr þu mayst boldly seyn to me ‚Ihesu est amor meus‘ […]. Dabei ist die lateinische Formulierung im Textfeld von einer rubrizierten Rahmung umgeben und am linken Seitensteg, Z. 2

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 141 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

setzt das Dreiblattsymbol nicht nur systematisch als Schlusszeichen ein,430 sondern nutzt es auch zur Kennzeichnung lesenswerter Textpartien.431 Mit Ausnahme der mit einem Dreiblatt markierten Textpassage auf fol. 58r, 4 – 5, die die Anfeindungen der Außenwelt als Teil der imitatio Christi präsentiert, sind die fünf weiteren Dreiblattpartien thematisch auf wundersame Gnadenerweisungen zentriert: Sie reichen von den markanten Gnadenrufen (fol. 33v, 18), der Beichte der Margery-­Figur vor dem Evangelisten Johannes (fol. 40r, 2 – 3), dem Gnadenwunder der Verständigung mit einem deutschsprachigen Priester in Rom (fol. 40v, 12 – 13) zu der unio-­Hochzeit (fol. 43r, 4 – 5) und dem Exempel vom Birnbaum (fol. 61r, 3 – 4), das die Margery-­Figur dem Erzbischof von York im Rahmen der Prüfung ihrer Rechtgläubigkeit vorträgt. Wie oben erwähnt, wählt Salthows offenbar diejenigen Textpassagen aus, die ‚sichtbare‘ ­­Zeichen der ‚Heiligkeit‘ bieten. Und diese auf der textuellen Ebene entfalteten Insignien der Gottesbegnadung lassen sich wiederum im Kontext einer ‚Kartäuserspiritualität‘ sehen, die sich verstärkt mystischen Gotteslehren in verschiedensten Textsorten und Bildwerken in ihren Handschriften zugewandt hat.432 Dazu passt, dass sich das Trifolium-­Symbol als Abbreviatur fassen lässt, die gelehrte Kleriker und insbesondere die englischsprachigen Kartäuser zur Textannotierung in Erbauungshandschriften eingesetzt haben.433 Jedenfalls demonstriert dies das oben erwähnte Beispiel des Kartäusergelehrten und ‚Literaturexperten‘ James Grenehalgh aus der Kartause Sheen.434 mit der rubri­zierten Abbreviatur no[ta] semp[er] versehen, darunter Z. 9 – 10 Herzsymbol neben der Gottesrede Dowtyr I haue drawe þe lofe of þin hert fro alle mennys hertys in-­to myn hert. Z. 21 fleysse neben and bydde thy gostly fadyrs þat þei latyn þe don aftyr my wyl. & þu xalt haue neuyr þe lesse grace but so meche þe mor for þu xalt han þe same mede in Heuyn as þow þu fastydyst stille aftyr þin owyn wyl. Dowtyr I badde þe fyrst þat þu xuldist leeuyn flesch mete & non etyn […]. 430 Vgl. in Auswahl: fol. 3r, 36 braunes Dreiblattsymbol mit einem rubrizierten Dreiblattsymbol; fol. 3, 26; fol. 5r, 11; fol. 6r, 18; 7v, 5; 8v, 29; 9r, 13; 10r, 24; 10v, 19; 11r, 9; 11v, 19; 12r, 5; 13r, 19; 13v, 33; 15r, 8; 16r, 5; 18r, 3; 19r, 8; 22v, 30; 23v, 11; 24r, 17; 25r, 7; 26r, 16; 27r, 13; 28v, 25; 29v, 18; 32v, 20; 35r, 10; 36r, 28; 38v, 3; 39v, 15; 40v, 3; 41r, 16; 42r, 30. 431 Fol. 33v, 18 nota de clamore mit braunem Dreiblattsymbol; fol. 40r, 2 – 3 nota de confessione mit Dreiblatt; fol. 40v, 12 – 13 nota mirabile quod sequitur mit Dreiblatt; fol. 43, 4 – 5 Dreiblattsymbol; fol. 58r, 4 – 5 mit Dreiblattsymbol; fol. 61r, 3 – 4 narracio mit Dreiblatt. 432 Vgl. zum Interesse der englischsprachigen Kartäuser an mystischen Offenbarungslehren Vincent ­Gillespie: Dial M for Mystic. Mystical Texts in the Library of Syon Abbey and the Spirituality of the Syon Brethren. In: The Medieval Mystical Tradition: England, Ireland and Wales. Hrsg. von Marion Glasscoe. Cambridge 1999 (Exeter Symposium VI), S. 244 – 247, besonders S. 246 im Hinblick auf den Kempe-­Text: „We know, of course, that the Carthusians used texts of this kind in their own processes of self-­assessment and spiritual calibration.“ 433 Fredell: Design and Authorship, S. 7. 434 Bereits Michael Sargent deutet das Dreiblattsymbol als eine Art Signum, das für die Annotationspraxis Grenehalghs typisch ist, vgl. Sargent: James Grenehalgh as Textual Critic. Volume 1, S. 89 mit Beispielen aus der oben diskutierten Rosenbach Scale-­Druckfassung: Philadelphia, Rosenbach Foundation, Incunable H. 491, fol. 122v, 24 – 27 neben der Textpartie: The more I sle / þe fro outwards thinges the more waker I am in knowyng / of Jesu & of Inwarde thynges. I may not wake to Jesu but if / I slepe to the worlde.

142 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Das Dreiblattsymbol kann eine konkrete Leseranweisung begleiten, wie aus Grenehalghs Marginaleintragung zu Kapitel 52 des ersten Buchs im Index rerum der oben diskutierten Scale-­Inkunabel hervorgeht.435 Der Einsatz des Dreiblattsymbols in der Kempe-­Handschrift bietet zumindest ein weiteres Indiz dafür, dass der Kempe-­Codex in ein für die englischsprachigen Kartäuser typisches wissenschaftlich-­literarisches Textstudium eingebunden ist, wie es auch die oben diskutierten Studien der Kartäusermönche an den Erbauungshandschriften und den von ihnen geförderten Drucken zeigen. Dass es sich hier allerdings nicht unbedingt um eine ausschließlich den Kartäusern eigene Annotationspraxis handeln muss, wie die Darstellung Fredells impliziert,436 belegt das Beispiel eines Privatgebetbuchs (München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 424) aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts aus Südwestdeutschland.437 Diese Handschrift, die aus zwei Teilen besteht, tradiert Einträge in lateinischer und deutscher Sprache: ein Evangelistar (Bl. 1 – 167v) und ein Privatgebetbuch (Bl. 183r–245ra), das Auszüge aus dem weit verbreiteten Eucharistietraktat des wirkungsmächtigen Franziskanerautors Marquard von Lindau 438 und „Hundert Betrachtungen zum Leiden Christi“ aus dem Fol. 123r, 3 – 5 neben der Textpassage: Through this slepe the soul is broughte in / to reste fro noyse of flesshly luste. And thrugh waking it is reysed vp in to the syghte of Jesus & ghostly thynges. Ein weiteres Beispiel bietet die Dreiblattannotierung Grenehalghs im sogenannten Amherst-­Kartäuserkompendium London Add MS 37790 aus der Mitte des 15. Jahrhunderts auf fol. 87r, 7 des oben erwähnten Incendium Amoris von Richard Rolle. Hier markiert das Dreiblatt eine Textpartie, die der geistigen Freundschaft gewidmet ist: Ther is also a kyndely lufe of man to woman that no man wantis, nor ȝit þe holy, be kynde of god fyrst ordande, be whilke to gydyr beande and acordande be kyndely stirryngis felaly thay ar glad. This lufe also has his likynge as in speche and honest touchynge and goydly dwellynge sam be the whilke man gettys no meyde bot if it be mellyd with charite nor unthankys he gettys bot if it be fylyd with synne. Vgl. Cré: Vernacular Mysticism, S. 292 und S. 339, die als erste auf diese Dreiblattannotation aufmerksam gemacht hat. 435 Vgl. Sargent: James Grenehalgh as Textual Critic. Volume 1, S. 89, Randnotiz: See well from this to the end of the first book, and begin at such sign (trefoil). 436 Vgl. Fredell: Design and Authorship, S. 7. 437 Peter Ochsenbein fasst unter die Bezeichnung „deutsches Privatgebetbuch“ eine Orationaliensammlung, die für die private Andacht gedacht ist und sich von Gebeten der offiziellen Liturgie abhebt. Vgl. Peter Ochsenbein: Deutschsprachige Privatgebetbücher vor 1400. In: Deutsche Handschriften 1100 – 1400. Oxforder Kolloquium 1985. Hrsg. von Volker Honemann und Nigel F. Palmer. Tübingen 1988, S. 380 und die Kurzbeschreibung der Münchener Gebetshandschrift, S. 386. Vgl. Schneider: Paläographie/ Handschriftenkunde, S. 63 mit einer Abbildung des Codex und S. 91. Vgl. die Handschriftenbeschreibung von Karin Schneider in dies.: Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Cgm 351 – 500. Wiesbaden 1973, S. 224 – 230. Vgl. auch dies.: Die datierten Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Teil 1: Die deutschen Handschriften bis 1450. Stuttgart 1994 (Datierte Handschriften in Bibliotheken der Bundesrepublik Deutschland IV, 1). 438 Vgl. die Textedition von Annelies Hofmann: Der Eucharistie-­Traktat Marquards von Lindau. Tübingen 1960 (Hermae Germanistische Forschungen Band 7), S. 254 – 317. Vgl. neuerdings die übergreifende Studie zu den Frömmigkeitsvorstellungen Marquards, die er in seinem reichen theologischen Schrifttum entfaltet, Stephen Mossmann: Marquard von Lindau and the Challenges of Religious Life in Late

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 143 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

„Büchlein der ewigen Weisheit“439 des berühmten Dominikanermystikers Heinrich Seuse, Kommuniongebete, fromme Betrachtungen, einen lateinischen Gebetstext, Psalm 50 auf Latein und eine Vaterunserauslegung in sich vereinigt.440 Hier findet sich das Dreiblattsymbol auf fol. 232va als Schlusszeichen hinter der Amen-­Abschlussformel, auf die die lateinische Schreiberinvocatio folgt.441 In der Kempe-­Handschrift findet sich eine ganz ähnliche Kombination von einer den Text beschließenden Amenformel und dem Dreiblattsymbol als Schlusszeichen auf fol. 123r, 26 mit abgesetzter Invocatio, die ebenfalls mit einem Dreiblatt markiert ist. Dies spricht für die Verbreitung dieser Praxis im Bereich der Erbauungshandschriften. Bemerkenswert ist allerdings, dass die Forschung die Herkunft der Münchener Gebetshandschrift in einem bayerischen Frauenkloster einzig aufgrund der beiden nachgetragenen „Frauengebete“ (Karin Schneider) vermutet,442 obwohl sie einen Besitzeintrag der Augustinerchorherren in Indersdorf aus dem 17. Jahrhundert aufweist.443 Dabei handelt es sich um „Die fünf Schmerzen der Maria Magdalena“ (fol. 179v–180r) und „Gebete zu den Schmerzen Mariae“ (fol. 236r–245r).444 Allerdings können der Kempe-­Codex, das sogenannte Amherst-­Kartäuserkompendium mit dem Short Text der geachteten Inkluse Juliana von Norwich 445 und die oben diskutierte Kartäusersammelhandschrift London, British Library, MS Add 37049 demonstrieren,446 dass ­solche ‚Frauentexte‘ durchaus auch von Mönchen tradiert und mit großer Andacht rezipiert worden sind. Daher muss eine ­solche ausschließlich genderorientierte Gleichsetzung im Sinne eines ‚über Frauen für Frauen geschrieben‘ nicht unbedingt für diese Art der Erbauungsliteratur gelten. Aufschlussreicher für das Anliegen der vorliegenden Arbeit ist allerdings, dass zwei Gebetstexte (fol. 179v–180r „Die fünf Schmerzen der Maria Magdalena“ und fol. 180v–182v Medieval Germany. The Passion, the Eucharist and the Virgin Mary. Oxford 2010 (Oxford Modern Languages and Literature Monographs). Vgl. zur Eucharistie und dem Eucharistietraktat, S. 144 ff. 439 Vgl. die Textedition des „Büchleins der ewigen Weisheit“ in Karl Bihlmeyer: Heinrich Seuse. Deutsche Mystische Schriften. Stuttgart 1907, S. 196 – 325. 440 Vgl. Ochsenbein: Deutschsprachige Privatgebetbücher, S. 387. 441 Vgl. Cgm 424, fol. 232vb: Anno d[omi]ni 1398 f[er]ia quinta post dom[inicam] Invocavit c[om]pletu[m] est istud liber p[er] manu[m] Alberh[art? nach Schneider] Oglin de Bracken[heim] sac[er]dot[is]. Orate p[ro] eo orantes in eo. Die Handschrift wurde eingesehen in der Münchener Digitalen Bibliothek des Münchener Digitalisierungszentrums, http://daten.digitale-­sammlungen.de/~db/0006/bsb00064467/ images/. [28. 08. 2018]. 442 Vgl. Schneider: Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München, S. 224 – 230. Vgl. Ochsenbein: Deutschsprachige Privatgebetbücher, S. 387. 443 Vgl. Cgm 424, fol. 1r: Monasterii B. V. M. in Undenstorff 1647. 444 Vgl. Schneider: Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München, S. 226 und S. 229. 445 Vgl. London, British Library, Add MS 37790. 446 Vgl. etwa den Prosatext in London, British Library, MS Add 37049 fol. 21r–v Of þe fayrnes of saynt Mary god’s moder our lady; die Mariendichtung fol. 21v; fol. 26r mit der Marienverehrung; fol. 29v–30r Mariengebet; fol. 68r Fifteen joys of the Virgin; fol. 95v Marienerzählung.

144 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

„22 Miserere“) in der Münchener Orationaliensammlung suggerieren, dass sie als göttliche Offenbarungsworte an eine anonymisierte Person ergangen sind.447 Das Gebet „Die fünf Schmerzen der Maria Magdalena“ (fol. 179v–180r) beginnt mit folgenden Worten: Unser herr sprach z ainem gten menschen: du solt sant Maria Magdalena funf ser ermanen die sie het in meinem leiden. Die erst ser was die sie het da sich sach daz mir miͤnw gotlichẃ oren erplichen waren.

Das sogenannte „22 Miserere-­Gebet“ gibt ebenfalls vor, aus einer göttlichen Mitteilung an eine anonyme Frau hervorgegangen zu sein: Dis gebet lert unser herre selber ain frowen und sprach: wer diß manunge und die miserere betet mit ganczem ernst über ain sele und slte sie bis in den jungsten tag von minem gtlichen antlit gesundert sein.

Die Anfangspartien beider Gebete rufen die Aura göttlicher Offenbarungsworte auf und erhöhen dadurch die Autorität und Wirksamkeit, die von diesen Andachtstexten ausgehen kann. Auch der Kempe-­Codex könnte als Vorlage solcher Gebets- und Andachtstexte im Rahmen einer persönlichen Anteilnahme gedient haben. Denn das Beispiel der oben diskutierten Kempe-­Druckfassung mit ihren ‚Gebetsanweisungen‘ aus dem 16. Jahrhundert zeigt, dass ­solche anonymisierten und re-­textualisierten Andachtstexte durchaus frauenmystischen Vitentexten entnommen sein können. Es darf vermutet werden, dass vielleicht auch einige der rubrizierten Marginaleinträge und Dreiblattsymbole in der Kempe-­Handschrift – besonders diejenigen, die sich auf göttliche Mitteilungen konzentrieren – Material für Textkompilationen zu Studien- und Andachtszwecken indizieren. Ausgehend von der eingangs gestellten Frage nach der Chronologie der rubrizierten Randeinträge lässt sich festhalten, dass die genaue zeitliche Abfolge der roten Marginaleinträge nicht zweifelsfrei ermittelt werden kann: Denn gegen Fredells Überlegung, dass es sich bei dem rubrizierenden Annotator um den letzten Benutzer der Kempe-­Handschrift handelt, sprechen die oben diskutierte Überschreibung einer Marginaleintragung des rubrizierenden Annotators auf fol. 59v durch Annotator N, der Randeintrag auf fol. 104r, der wie nachträglich mit dunkelroter Tinte nachgezogen wirkt und schließlich das Klammersymbol in der hellroten Tinte des rubrizierenden Annotators, das nachträglich mit dunkelroter Tinte erweitert und modifiziert worden ist. Aus der sukzessiven Formierung von ‚Annotationsclustern‘ lässt sich allerdings eine kartäusische Lektüre- und Annotationspraxis erschließen. Denn die frühesten Marginaleinträge in brauner Tinte und die Dreiblattsymbole, die spätere Benutzer wiederholt durch rubrizierte nota-­Zeichen und Hervorhebungen aufgreifen, situieren den Kempe-­Text bereits kurze Zeit nach seiner Entstehung im Kontext der monastischen lectio. 447 Vgl. Ochsenbein: Deutschsprachige Privatgebetbücher, S. 396. Ochsenbein formuliert diese Überlegung allgemein im Hinblick auf die Textsorte der Gebetsanweisung.

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 145 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Dabei indizieren die nachträglichen Rubrizierungen der braunen Marginalien, dass die Leser den ‚Lektürevorgaben‘ Salthows’ weitgehend folgen. Salthows’ Randnotizen und die rubrizierten Randeinträge demonstrieren jedoch weniger ein Interesse an einem biographisch-­ lebensweltlichen Vitenschema, wie Fredell und Parsons vermuten, sondern legen eher besonderes Augenmerk auf ­­Zeichen der ‚Heiligkeit‘. Dies geht zumindest aus den oben diskutierten rubrizierten Marginalien hervor, die auf göttliche Liebesversicherungen, Offenbarungsworte in direkter Rede und die im Dialog entfaltete Rollenidentität der Protagonistin zentriert sind. Jedenfalls formieren sich die Interessengebiete verschiedener Benutzer zu einer umfassenden theologischen Textkommentierung.448 Die sich abzeichnende Frömmigkeit ist maßgeblich auf den Dialog mit Gott und eine persönliche Gotteserfahrung ausgerichtet, die ein Leben in strikter Abgeschiedenheit von der Welt und, in gewissem Sinne, von der klösterlichen Gemeinschaft voraussetzt, wie noch zu zeigen sein wird. Die Figur der Visionärin im Kempe-­Text ‚verkörpert‘ eine ­solche persönliche Gotteserfahrung auf exemplarische Weise und vielleicht ist dies der Grund für das besondere Interesse, das die Kartäuser aus Mount Grace dem Vitentext entgegengebracht haben. Jedenfalls setzt bereits unmittelbar nach seiner Abfassung um die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts ein monastisches Textstudium ein, das bis ins 16. Jahrhundert andauert. Und dieser Umstand lässt zumindest punktuelle Aussagen über die Wertschätzung und Relevanz des Kempe-­Codex zu.

2.3.1 Die ‚Offizialität‘ der rubrizierten Randeinträge – Richard Methley, John Norton und die Konzeption des amor sensibilis Zunächst lag das Hauptaugenmerk der Forschung auf den vier Marginalglossen zu den beiden Kartäuserautoren Richard Methley und John Norton aus Mount Grace.449 Hope Emily Allen deutet diese Einträge allerdings als eine Art ‚Ausnahmeerscheinung‘: „The ecstatic marginalia apparently emanating from the Charterhouse of Mount Grace c. 1500 may not represent the point of view of all English Carthusians, since ealier there was clearly a division of opinion in the order.“450 Signifikant ist dabei, dass die drei von John Norton verfassten Erbauungsschriften – „Musica Monachorum“, „Thesaurus Cordium vere Amancium“ und

448 Diese sich abzeichnende theologische Textkommentierung wird in Kapitel 2.3.1 „Die ‚Offizialität‘ der rubrizierten Randeinträge – Richard Methley, John Norton und die Konzeption des amor sensibilis“ näher beleuchtet. 449 Vgl. den oben diskutierten Datierungsversuch von Holbrook: Margery Kempe und Wynkyn de Worde, S. 36. Vgl. Lochrie: Translations of the Flesh, S. 212 – 220. Karma Lochrie untersucht diese Marginaleinträge im Kontext der von Richard Methley verfassten Mystiktraktate, die weiter unten diskutiert werden. Vgl. auch Fredell: Design and Authorship, S. 16 – 19. 450 BMK, S. 330 Anm. 174/n. 5.

146 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

„Deuota Lamentacio deuoti Iohannis Norton Prioris“451 – und die drei ‚autobiographischen‘ Mystiktraktate Richard Methleys 452 als Ausdruck einer naiven Frömmigkeit 453 gesehen werden, wie sie die Kempe-­Forschung in ganz ähnlicher Weise für den Kempe-­Text vorausgesetzt hat. Problematisch ist daran, dass einem gelehrten Kartäuserautor wie Richard Methley die Rolle eines „extreme exponent of ‚sensory devotion‘“454 ohne Weiteres zugeschrieben wird. Denn erhalten sind nicht nur die drei eingangs erwähnten Mystiktraktate, sondern theologische Schriften und lateinische Übersetzungen: So ist der zweite Teil (Kapitel 14 – 27) des oben erwähnten „Experimentum Veritatis“455 gemeinsam mit der Epistel „To Hew Heremyte a Pystyl of Solytary Lyfe Nowadayes“456 in London, The National Archives, SP 1/239, überliefert. Methley hat außerdem den oben diskutierten „Cloud of Unknowing“-Text und den wirkungsmächtigen mystischen Lehrdialog „Le Miroir des simples âmes“ der als rückfälligen 451 Diese drei Texte sind in der einfacheren Gebrauchshandschrift Lincoln, Cathedral Library, MS 57 (A 6.8) aus dem 16. Jahrhundert unikal überliefert: „Musica Monachorum“ (fol. 1r–27r), „Thesaurus Cordium vere Amancium“ (fol. 28r–76v), „Deuota Lamentacio deuoti Iohannis Norton Prioris“ (77r–95v). Vgl. den Eintrag in: Catalogue of the Manuscripts of Lincoln Cathedral Chapter Library. Hrsg. von Rodney M. Thomson. Cambridge 1989, S. 54 f. Die Texte liegen nicht in einer Edition vor. 452 Die bereits erwähnte Sammelhandschrift Cambridge, Trinity College, MS O.2.56 aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts tradiert diese drei ‚autobiographisch‘-mystischen Texte: „Scola Amoris Languidi“ (fol. 1r–24v), „Dormitorium Dilecti Dilecti“ (fol. 25r–48r) und „Refectorium Salutis“ (fol. 49r–70v). Vgl. die Handschriftenedition von James Hogg: Mount Grace Charterhouse and Late Medieval English Spirituality. Volume 2. The Trinity College Cambridge, MS O.2. 56. Salzburg 1978 (Analecta Cartusiana 64). Vgl. Lochrie: Translations of the Flesh, S. 213. 453 In einer früheren Untersuchung äußert James Hogg zunächst noch seine Enttäuschung über die auf Methley verweisenden Annotationen in der Londoner Kempe-­Handschrift, vgl. James Hogg: Richard Methley: To Hew Heremyte, A Pystyl of Solytary Lyfe Nowadayes. Salzburg 1977, S. 91 f.: „But my first enthusiasm for him [Richard Methley, SKR] […] was somewhat damped by the isolated references I came across in The Book of Margery Kempe, indicating a rather exaggerated emotionalism and a tendency to ‚excesses‘.“ Vgl. auch Hogg: Mount Grace Charterhouse and Late Medieval English Spirituality, S. 31: „Though his earlier works reveal an excessively sensory devotion […] and the comments in The Book of Margery Kempe ­referring to Methley might suspect a certain lack of balance […]“. Vgl. auch Knowles: The Religious Orders in England. Volume 2, S. 224: „This and other passages have a naiveté which suggests that Methley, at least at this period of his life, had not yet attained to the wisdom of the saints, but it would be wholly unjust to dismiss him as merely an emotional and excitable dreamer.“ Vgl. auch ebd., S. 225. 454 Allen, BMK, S. 330 Anm. 174/n. 5. Vgl. auch die Einschätzung von James Hogg: „With Richard Methley we meet a spiritual author who for long has been dismissed as a spiritual exhibitionist or a psychiatrist’s case.“ In: Hogg: Mount Grace Charterhouse and Late Medieval English Spirituality, S. 25. 455 Vgl. die bereits erwähnte Textedition des „Experimentum Veritatis“ von Sargent: The Self-Verification of Visionary Phenomena, S. 121 – 137. Das „Experimentum Veritatis“ wird weiter unten ausführlicher vorgestellt. 456 Vgl. die oben genannte Textedition von Hogg: Richard Methley: To Hew Heremyte a Pystyl of Solytary Lyfe Nowadayes, S. 91 – 119.

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 147 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Ketzerin verurteilten Marguerite Porete ins Lateinische übertragen.457 Dabei beruht seine lateinische Bearbeitung des Miroir auf einer mittelenglischen Fassung des ursprünglich altfranzösischen Textes.458 Somit liegen verschiedene Überlieferungszeugnisse vor, die die Gelehrtheit und literarischen Aktivitäten Richard Methleys im Bereich der mystischen Theologie eindrucksvoll belegen. Die ältere englischsprachige Mystikforschung hat Margery Kempe und Richard Methley allerdings zumeist nach den Maßstäben neuzeitlicher Psychologie und im Rückgriff auf ein eher problematisches, emphatisches Autorkonzept beurteilt, die unbesehen auf die mittelalterlichen Texte übertragen werden.459 Dagegen sieht Karma Lochrie die rubrizierten Kommentare zu Recht als Hinweis darauf, dass die monastischen Leser der Kempe-­Handschrift mit den körperlichen Manifestationen der Gnadenerfahrung bereits durch die Erbauungsschriften Methleys vetraut gewesen s­ eien. Im Hinblick auf die Mystiktraktate Methleys konzentriert sich Lochrie auf grundlegende Konzepte, wie languor und amor sensibilis, die der Hoheliedexegese entlehnt s­ eien und den Lesern der Kempe-­Handschrift einen thematischen Bezugspunkt geboten hätten.460 Bereits die lateinischen Marginalglossen des rubrizierenden Annotators zeugen von einer konsequenten theologischen Ausdeutung und Benutzung des Kempe-­Textes: Liturgische Lobpreisformeln, lateinische Übertragungen und Kommentare heben zentrale Textpartien hervor, die das Wirken Gottes und seine unermessliche Gnade betreffen.461 Darüber 457 Diese beiden lateinischen Übersetzungen sind in der Handschrift Cambridge, Pembroke College, MS 221 aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts erhalten: Die „Cloud of Unknowing“ unter dem Titel „Divina Caligo Ignorancie“ (fol. 1r–39v) und Marguerite Poretes „Miroir des simples âmes“ als „Speculum Animarum Simplicium“ (fol. 41r–95v). Ich danke herzlich Louise Clark, University Library Cambridge, die mir die Handschrift zur Einsicht bereitgestellt hat. Vgl. zur Datierung und Foliierung Hogg: Mount Grace Charterhouse and Late Medieval English Spirituality, S. 29 f. Vgl. die französisch-­lateinische Textausgabe Margaretae Porete: Specvlvm simplicivm animarvm. cvra et stvdio Paul Verdeyen. Turnhout 1986 (Corpus Christianorum. Continuatio mediaevalis 69). Vgl. auch English Mystics of the Middle Ages. Hrsg. von Barry Windeatt. Cambridge 2006, S. 165. James Hogg: Richard Methley’s Latin Translations of the Cloud of Unknowing and Margarete Pourete’s The Mirrour of Simple Souls. In: Stand up to Godwards. Essays in Mystical and Monastic Theology in Honour of the Reverend John Clark on his sixty fifth birthday. Hrsg. von James Hogg. Salzburg 2002 (Analecta Cartusiana 204), besonders S. 82. 458 Zur Textgeschichte des „Miroir“ vgl. Ruh: Überlieferungsgeschichte mittelalterlicher Texte als methodischer Ansatz zu einer erweiterten Konzeption von Literaturgeschichte, S. 269. Vgl. auch ders.: Kapitel XXII. Marguerite Porete. In: Frauenmystik und frühe Franziskanermystik. Band 2, 1993, S. 345 f. 459 Vgl. Lochrie: Translations of the Flesh, S. 213. 460 Vgl. ebd., S. 211. 461 Vgl. den Eintrag visio fol. 9v, der auf die Replik des Einsiedlers folgt, der als Beichtvater der Margery-­ Figur fungiert und sie in der Lehre der Unterscheidung der Geister instruiert: I charge ȝow receyueth swech thowtys whan God wyl ȝeue hem as mekely & as deuowtly as ȝe kan & comyth to me and tellyth me what þei be & I schal wyth þe leue of ower Lord Ihesu Cryst telle ȝow wheþyr þei ben of þe Holy Gost or ellys of ȝowr enmy þe Deuyl. fol. 26r deo gr[aci]as i[n] et[er]nu[m]; fol. 38v Ihs e[st] amor t[u]us; fol. 40r no[ta] de co[n]fessione; fol. 40v Randbemerkung in brauner Tinte von einem roten Federstrich umrandet: no[ta] mirab[i]le qu[o]d se[quitur]; fol. 43r rot umrandete Annotation in brauner Tinte: de ­despo[n]

148 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

­hinaus indizieren die Marginaleinträge zu Richard Methley und John Norton sogar eine Art offizielle Förderung mystischer Gnadenliteratur, da den beiden Mönchen als Prior und Vikar die Leitung der Kartause Mount Grace oblag. Sieht man die bräunlichen Marginaleinträge Salthows’ mit den Randnotizen des kommentierenden Rubrikators zusammen, erhärtet sich die Vermutung, dass die Kempe-­Handschrift für den monastischen Bereich produziert und bestimmt gewesen ist. Wie bereits erwähnt, finden sich folgende Eintragungen zu den Leitern des Ordenshauses Mount Grace: R. Medlay. v. was wo[n]t so to say;462 so fa RM & f Norton of Wakenes of þe passyon 463 und father M. was wont so to doo;464 zu Norton: so dyd p[ri]or Nort[on] i[n] his excesse.465 Die sa[cione] ei[us] ad d[eu]m p[a]tre[m]; fol. 43v ig[n]is di[vin]i amor[is]; fol. 48v ebrietas s[an]c[t]a, vgl. dazu I Sm 1,12 – 17; 51v no[ta] de colore; 52v amor i[m]pacie[n]s; fol. 26r s[in]gularis. C[risti] amatrix; fol. 55v examinac[i]o dura; fol. 58r questio; 60r O ceci clerici als Kommentar zu den Klerikern, die die Begnadung der Margery-­Figur während der Befragung durch den Erzbischof von York nicht (an-) erkennen (BMK , Kapitel 52, S. 125, 12 – 15): The clerkys seyden: „We knowyn wel þat sche can þe Articles of þe Feith, but we wil not suffyr hir to dwellyn a-­mong vs, for þe pepil hath gret feyth in hir dalyawnce, and perauentur sche myth peruertyn summe of hem.“ Fol. 61r narracio in brauner Tinte und Rubrizierung of the preyst and the pertre neben der Birnbaumallegorie (BMK , Kapitel 52, S. 126, 24); 68r langor amor[is]; fol. 68v no[ta] charit[atem] ei[us]; fol. 70r no[ta] de rev[e]lac[i]o[n]ib[us]; fol. 70r no[ta] ei[us] dubitac[i]o[n]em; fol. 70r o res mirabile / O mutacio dext[ri] excelc[i]; fol. 70v Angelus bonus [Übertragung aus dem Text good awngel, BMK , S. 145, 34, SKR ]; fol. 71r payne.laudes deo; fol. 71r loq[ue]re Do[mi]ne q[uia] audit s[er]u[us] tu[us] / Audia[m] quid loquat[ur] in me D[omi]n[u]s De[us] vgl. I Sm 3,9 – 10 nach Windeatt: BMK , S. 284 Anm. 4918 – 4919; fol. 72v amor i[m]pacie[n]s; fol. 73r No[n] e[st] in ho[min]is potestate p[ro]hibere sp[iritu]m s[anctum]; fol. 74v Marie de oegines / liber; fol. 75v dispect[us]; fol. 78r no[ta] bene; fol. 78r sic i[n] libro te[rcio]; fol. 78v no[ta] semp[er]; fol. 79r deo gr[aci]as; fol. 80v no[ta] materia[m] istam; fol. 83r laudes deo in et[ernu]m; fol. 84r no[ta] b[e]n[e]. / ei[us] p[er] fecc[i]o[nem]; fol. 87r deo gr[aci]as; fol. 88r caritas di[uin]a; fol. 88v responcio; fol. 88v potestas di[uin] a; fol. 89r p[er]f[e]c[t]a caritas foras mittit ti[morem] als Reflektion der göttlichen Rede for þe parfyte charite þat I ȝyf þe puttyth a-­way al drede fro þe. Fol. 90v i[n] exe[m]plu[m] lateinische ‚Übertragung‘ einer Gottesrede, BMK , Kapitel 78, S. 186, 13 – 15: […] I haue ordeynd þe to be a merowr a-­mongys hem for to han gret sorwe that þei xulde takyn exampil by þe for to haue sum litil sorwe in her hertys for her synnes þat þei myth þerthorw be sauyd […]. fol. 90v not[a] bona[m] volu[n]t[atem] Übertragung good wil (BMK , S. 186, 20); fol. 92v racio hic / poni[tur] q[ua]re sic plor[an]s clama[ui]t als Verweis auf die Begründung der Gnadenrufe (BMK , Kapitel 79, S. 190, 28 – 29: as ȝyf it had ben don in dede in hir bodily syght.); fol. 100r deo gracias; fol. 106v rot unterstrichener Eintrag in brauner Tinte no[ta] bene & cave tibi als ‚Warnung‘ vor falschen Eingebungen (BMK , Kapitel 89, S. 219, 34 – 220, 1): Sumtyme þo þat men wenyn wer reuelacyonis it arn deceytys & illusyons, & þerfor it is not expedient to ȝeuyn redily credens to euery steryng but sadly abydyn & preuyn yf þei be sent of God; fol. 110r si de[u]s pr[o] nobis q[u]is. Fol. 119v no[ta] b[e]n[e] q[uod] ap[u]d Deu[m] no[n] e[st] t[ra]nsmutacio als Kommentierung der Textpassage (BMK , secundus liber, Kapitel 10, S. 247, 17 – 18): for þei þat louyd hir for God er sche went owte þei wolde louyn hir for God whan sche come hom. Fol. 121v oracio. 462 Add MS 61823, fol. 14v, Fußsteg; BMK, S. 29, n. 3. 463 Add MS 61823, fol. 33v, 26 – 29 Seitensteg; ebd., S. 68, n. 7. 464 Add MS 61823, fol. 85r, 12 – 16 rechter Seitensteg; ebd., S. 174, n. 5. 465 Add MS 61823, fol. 51v, 5 – 7 linker Seitensteg; ebd., S. 105, n. 4.

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 149 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

letztgenannte Anmerkung zu Nortons Priorat 466 bietet einen ersten Hinweis auf die offiziellen Hintergründe der literarischen Aktivitäten in Mount Grace, die offenbar von der dortigen Klosterleitung ausgehen und die Kempe-­Vita einschließen. Denn die Norton/Methley-­Eintragungen lassen eine gewisse thematische Schwerpunktsetzung erkennen, die im Rückgriff auf die Tradition der Hoheliedexegese und die in Methleys Mystiktraktaten entfaltete amor sensibilis-­ Konzeption formuliert ist.467 Dabei legen diese rubrizierten Annotationen einen besonderen Fokus auf die somatischen Manifestationen der göttlichen Liebeserfahrung: Sie verbinden die mystischen Erfahrungen Nortons und Methleys mit jenen Textpartien im Kempe-­Text, die die körperliche Dimensionierung der Gnadenerfahrung thematisieren. So markiert der rubrizierte Randkommentar zu Methley und Norton so fa RM & f Norton & of Wakenes of þe passion eine Textpassage, die berichtet, wie eine Vision der Kreuzigung Christi auf dem Berg Golgatha in Jerusalem erstmalig die Gnadenrufe induziert.468 Wie oben erwähnt, hat bereits Salthows auf diese Textpartie mit dem Eintrag no[ta] de clamor[e] in brauner Tinte hingewiesen. Der rubrizierende Annotator greift diesen nota-­Eintrag auf, indem er ihn mit roter Tinte umrandet und darunter den Hinweis auf Norton und Methley platziert. Sein Marginaleintrag steht neben der Textpartie fol. 33v, 26 – 29 (Abb. 3): & namely yf sche herd of owyr Lordys Passyon. & sumtyme whan she saw þe Crucyfyx er yf sche sey a man had a wownde er a best […]. Auf diese Weise indiziert er, dass er den Kempe-­Text offenbar der eigenen klösterlichen Spiritualität angepasst hat, da er die Begnadung Methleys und Nortons im Kontext einer passionsmystischen Frömmigkeit sieht, die durch compassio, languor und dem Überwältigtsein durch die überreichen Gnadengaben 466 Vgl. die Angabe zu Nortons Priorat in „Musica Monachorum“ in Lincoln, Cathedral Library, MS 57 (A.6.8) fol. 27r zitiert nach Hogg: Mount Grace Charterhouse and Late Medieval English Spirituality, S. 40: Explicit spiritualis Musica Monachorum edita per venerabilem ac pium priorem Montisgracie vium dum procurator esset eiusdem domus feliciter. Nach Hogg ­seien aufgrund der schwierigen Quellenlage nur wenige Kenntnisse über John Nortons Lebensweg vorhanden. Biographische Informationen werden vornehmlich aus den drei Traktaten extrahiert, die in der nicht edierten Handschrift Lincoln, Cathedral Library, MS 57 (A.6.8) vorliegen. 467 Vgl. Ct 5,8 quia amore langueo. Vgl. zur Bedeutung der Hoheliedexegese für die lateinische geistliche Traktatsliteratur und die Herausbildung einer geistlichen ars amatoria, Kurt Ruh: Geistliche Liebeslehren des XII. Jahrhunderts. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur. Hrsg. von Hans Fromm, Peter Ganz und Marga Reis. 111. Band. Tübingen 1989, S. 157 – 178. Vgl. auch Ann W. Astell: The Song of Songs in the Middle Ages. Ithaca, London 1990. Auch Karma Lochrie verweist auf den Zusammenhang z­ wischen den Mystikschriften Methleys und der aus dem Hohelied stammenden Konzeption des languor, die weiter unten näher diskutiert werden soll. Vgl. Lochrie: Translations of the Flesh, S. 214. 468 Add MS 61823 fol. 33v, 18 – 25, vgl. BMK, Kapitel 28, S. 68, 24 – 27: And þis was þe fyrst cry [Hervorhebung d. Verf.] þat euyr sche cryed in any contemplacyon. And þis maner of crying enduryd many ȝerys aftyr þis tyme for owt þat any man myt do & þerfor sufferyd sche mych despyte & mech reprefe. Þe cryeng was so lowde & so wondyrful þat it made þe pepyl astoynd les þan þei had herd it be-­forn & er elly[s] þat þei knew the cawse of þe crying. & sche had hem so often-­tymes þat þei madyn hir ryth weyke [Hervorhebung d. Verf.] in hir bodyly myghtys & namely yf sche herd of owyr Lordys Passyon.

150 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

gekennzeichnet ist. Denn sein Marginaleintrag ist mit einer rubrizierten Rahmung versehen, deren pfeilartige Verlängerung auf das Wort weyke weist. Erweiterungen dieser Art sind typisch für die Vorgehensweise des rubrizierenden Annotators. Auch der rubrizierte Kommentar so dyd prior Norton in his excesse findet sich am linken Seitensteg fol. 51v, 5 – 7 (Abb. 5) neben einer Textpassage, die die Somatisierung der Gottesbegnadung detailrealistisch beschreibt: sche wyth þe crying wrestyd hir body turnyng fro the o syde in-­to þe oþer & wex al blew & al blo as it had ben colowr of leed.469 Fol. 51v, 3 weist bereits die lateinische Randnotiz no[ta] de colore in hellroter Tinte auf, die sich auf die Hautverfärbung der Protagonistin während des mystischen ‚raptus‘ bezieht (wex al blew & al blo as it had ben colowr of leed).470 Zudem befindet sich auf fol. 51v die oben diskutierte Klammer, die in hellroter Tinte die Zeilen 21 – 27 kennzeichnet.471 Auch hier zeichnet sich nicht nur ein Dialog mit dem Textmaterial ab, sondern auch eine Art ‚Gespräch‘ z­ wischen den Lesern, die Markierungen ihrer Vorgänger erweitern und für ihre ‚persönliche‘ Textlektüre modifizieren. Eine weitere Marginaleintragung zu Methley findet sich am Rand des Kapitels 73, das schildert, wie Margery während einer Gründonnerstagsprozession eine Kreuzigungsvision in hir sowle erfährt, die den Abschied Jesu von seiner ­Mutter, den zwölf Aposteln und Maria Magdalena thematisiert. Die Annotation father M. was wont so to doo 472 bezieht sich auf eine Formulierung aus Kapitel 73: Whan sche beheld þis sygth in hir sowle, sche fel down in þe feld a-­mong þe pepil.473 Und auch diese Textpartie greift die Thematik der Gnadenrufe erneut auf, wie bereits zuvor die annotierten Kapitel 28 und 44: Sche cryid, 469 BMK, S. 105. Vgl. dazu BMK, Kapitel 28, S. 69, 19 – 32, in der die anonyme Erzählinstanz die Gründe für die Verfärbung ihrer Haut anführt: &, as sone as sche parceyvyd þat sche xulde crye, sche wolde kepyn it in as mech as sche myth þat þe pepyl xulde not an herd it for noyn of hem. […] And þerfor, whan sche knew þat sche xulde cryen, sche kept it in as long as sche mygth & dede al þat sche cowde to withstond it er ellys to put it a-­wey til sche wex as blo as any leed, & euyr it xuld labowryn in hir mende mor and mor in-­to þe tyme þat it broke owt. Dass d ­ ieses ‚Überwältigtsein‘ und das Ausbrechen der unkontrollierbaren Gnadenrufe zum topischen Arsenal frauenmystischer Vitentexte gezählt werden können, belegt eine Textpartie aus der Vita der Marie von Oignies, die in der Handschrift Oxford, Bodleian Library, MS Douce 114 aus der Kartause Beauvale überliefert ist (zitiert nach Horstmann, Prosalegenden, S. 137, 39 – 43): But where as she enforced hir to restreyne hir wepynge, þere encresed meruelously teerys moor and moor. For whan she toke hede how grete he was þat suffred for vs so mykel dispite, hir sorowe was efte renewyd, and hir souwle wiþ neue teerys was refresshed by swete compunction. 470 Add MS 61823, fol. 51v; BMK, S. 105, 22 – 23. 471 Add MS 61823, fol. 51v, 21 – 27 linker Seitensteg: And sodeynly cam a good man & ȝaf hir fowrty pens & wyth sum þerof sche bowt hir a pylche. & euyr owr Lord seyd to hir „Dowtyr, stody þow for no good for I xal ordeyn for þe, but euyr stody þow to loue me & kepe þi mende on me for I schal go wyth þe wher þow gost as I haue hite þe be-­forn.“ And aftyrwarde þer cam a woman a good frend to þis creatur & ȝaf hyr vij marke for sche xulde prey for hir whan þat sche come to Seynt Iamys. & þan sche toke hir leue at hir frendys in lynne, purposyng hir forward in al þe hast þat sche myth. 472 Add MS 61823, fol. 85r; BMK, S. 174, n. 5. 473 BMK, S. 174, 19 – 21.

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 151 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

sche roryd, sche wept as þow sche xulde a brostyn þer-­with. Sche myth not mesuryn hir-­self ne rewlyn hir-­selfe, but cryid & roryd þat many man on hir wonderyd.474 Diese Textstellen führen den Körper der Begnadeten augenscheinlich als Instrument göttlicher Inspiration vor, das ­zwischen physischer Präsenz und transzendierter Zeichenhaftigkeit oszillierend entscheidend für die Gottesbegegnung wird. Dies geht auch aus der vierten und letzten, in roter Tinte gehaltenen Anmerkung R. Medlay v. was wont so to say hervor, die eine Textpartie im 13. Kapitel auf fol. 14v herausgreift: Than aftyr þis sche was in gret rest of sowle a gret whyle & had hy contemplacyon day be day & many holy spech & dalyawns of owyr Lord Ihesu Cryst boþe a-for-noon & aftyr-­noon wyth many swet terys of hy deuocyon so plentyvowsly & contynualy þat it was meruayle þat hir eyne enduryd er how hir hert mygth lestyn þat it was not consumyd wyth ardowr of lofe whych was kyndelyd wyth þe holy dalyawns of owyr Lord […].

Die kastenförmige Rahmung des rubrizierten Marginaleintrags zu Methley verweist mit einer spitz zulaufenden Linienführung auf die am rechten Bundsteg eingetragene Randglosse loue (fol. 14v). Dass hier offenbar die unermessliche Gottesliebe gemeint ist, belegt die in roter Tinte ausgeführte Marginalzeichnung einer Säule auf fol. 15r (Abb. 1), die unmittelbar auf eine göttliche Rede referiert: Derworthy dowtyr lofe þow me wyth al þin hert for I loue þe wyth al myn hert & wyth al þe mygth of my Godhed for þow wer a chosyn sowle wyth-­owt begynny[n]g in my syghte and a peler of Holy Cherch.475

Die Zeichnung hat offenbar nicht nur als eine Art visueller Orientierungshinweis zum Auffinden dieser Textpartie gedient, sondern sie versinnbildlicht zugleich die besondere Relevanz dieser Textpassage, die die Margery-­Figur als ‚Säule der heiligen ­Kirche‘ imaginiert. Zudem wiederholt der rubrizierende Annotator das Wort loue am Bundsteg (fol. 15r) neben der göttlichen Versicherung: I xal louyn þe wyth-­owtyn ende. Aus der spezifischen Kombinierung von Randeintragungen und Marginalzeichnung geht hervor, dass der Annotator die Tränen und Gnadenrufe der Protagonistin als ­­Zeichen der göttlichen Liebe deutet, im Sinne einer somatischen Konkretisierung des amor sensibilis. Der Kempe-­Text expliziert dies in einer Gottesrede: I ȝyf þe sum-­tyme smale wepyngys & soft teerys for a tokyn þat I lofe þe, & sum-­tyme I ȝeue þe gret cryis and roryngys for to makyn þe pepil a-­ferd wyth þe grace þat I putte in þe […].476

474 BMK, S. 174, 21 – 24. 475 BMK, S. 29, 19 – 23. 476 BMK, S. 183, 8 – 12; Add MS 61823 fol. 89r, Z. 12.

152 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Am Rand dieser Textpassage steht der rubrizierte Eintrag teres, der erneut die Bedeutung der Tränen als Zeichen ­­ der göttlichen Gnade hervorhebt. In ihrer Gesamtheit betrachtet, legen die Methley/Norton-­Marginaleinträge nahe, dass der rubrizierende Annotator offenbar bestens mit den spirituellen Gewohnheiten und der körperzentrierten Frömmigkeitspraxis der beiden Kartäuserautoren vertraut gewesen ist. Und das ‚Überschreiben‘ des physischen Körpers mit spiritueller Bedeutung lässt sich direkt in Beziehung zu der oben erwähnten amor sensibilis-­Konzeption sehen, die der Kartäuserautor und -vikar Richard Methley in seinen autobiographisch stilisierten Mystiktraktaten entfaltet. Es handelt sich dabei um die drei Erbauungstraktate, die Methley textinternen Angaben zufolge um das Jahr 1484 innerhalb von drei Jahren verfasst hat: „Scola Amoris Languidi“,477 „Dormitorium Dilecti Dilecti“ und „Refectorium Salutis“ um 1487. Michael Sargent hat in seiner Untersuchung der discretio spirituum-­Lehre Richard Methleys („Experimentum Veritatis“) zeigen können, dass die Frage nach der Bewahrheitung mystischer Erfahrung in der englischsprachigen Tradition in direkter Verbindung mit der amor sensiblis-­Konzeption als „devotion to the percetible love of God“ zu sehen ist.478 Zunächst bietet die „Scola Amoris“ eine Art mystisch-­theologische Liebeslehre, die, im Rückgriff auf die Hoheliedexegese, thematisch auf die Erfahrung des languor zentriert ist.479 Die spirituelle Programmatik findet sich bereits in der prologartigen Anfangspartie der „Scola Amoris“ zusammengefasst:480 Omnium creaturarum, summum studium est amare et amari […] hinc est enim quod, quia deum diligo actuali deuocione gracias illi ago in secula seculorum, omnes ad amandum deum prouocare studeo. Et quia amor est causa tocius vniuersitatis, nichil melius quam amorem ponere potest propter remedium, vt ad amorem sensibilem tandem attingere valeat omnis / qui diligere cupit.481 477 Vgl. die Handschriftenreproduktion der Handschrift Cambridge, Trinity College, MS. O .2 .56 von Hogg: Mount Grace Charterhouse and Late Medieval English Spirituality. Volume 2, im Folgenden bezeichnet als Scola Amoris. Hogg hat die „Scola Amoris“ nach der Trinity-­College-­Handschrift transkribiert und erneut ediert in: Kartäusermystik und -Mystiker. Band 2. Hrsg. von James Hogg. Salzburg 1981 (Analecta Cartusiana 55), S. 138 – 165. Im Folgenden abgekürzt als Transkription Hogg. 478 Sargent: The Self-­Verification of Visionary Phenomena: Richard Methley’s Experimentum Veritatis, S. 121. 479 Vgl. die Prologpartie, die sich auf Ct 2,5 bezieht, fol. 2r, Transkription Hogg, S. 139: Igitur pre cunctis mortalibus immo et immortalibus dicere potest, Amore langueo. Vgl. die Kontrastierung von amor und langueo und die Erläuterung der Bedeutung des languor im ersten Kapitel der Scola Amoris, fol. 2r, Transkription Hogg, 1981, S. 139: Amore langueo. Experiencia docet, quid sit quod dicitur amore langueo; contrarium quippe videtur vt amor habeat languorem cum in amore sit delectacio. In languore vero econtrario sit exacerbacio. Sed sine dubio sciencia amoris nunquam perfecte adquiritur nisi per experienciam. Amor est res delectabilisima quia omnes in celo facit eternaliter gaudere, languor est res odiosissima huius mundi amatoribus quia rapit ab eis delectaccionem suam et aliquando eciam vitam. […] Languor autem remedium est quo ad verum amorem proueniat omnis omnino creatura racionalis. Vgl. auch fol. 7r, Transkription Hogg, S. 145: Languor amoris inenarrabilis est. 480 Vgl. die Überlegung von Lochrie: Translations of the Flesh, S. 213, die die programmatische Bedeutung der amor-­sensibilis-­Konzeption herausgearbeitet hat. 481 Scola Amoris, fol. 1r–1v (Hogg-­Transkription, S. 138).

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 153 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Die Liebe zu Gott ist der Weg und das eigentliche Ziel des Lebens, ja Liebe wird hier als entscheidendes Movens konzipiert. Allerdings sind Liebe und Leiden untrennbar miteinander verbunden und sie bedingen einander, wie im ersten Kapitel der „Scola Amoris“ formuliert: amor et languor inseperabilis comites sunt, quia amor est causa languoris et languor causa amoris.482 Dabei stellt der Autor die überwältigende Kraft des languor heraus, den er als Ursache der Gnadentränen, des himmlischen Gesangs und der Glut des sinnlich erfahrbaren Liebesfeuers betrachtet.483 Daher ist es nicht erstaunlich, dass der rubrizierende Annotator genau jene Textpartien auf fol. 14v und fol. 85r aus dem Kempe-­Text mit Hinweisen auf Richard Methley versieht: Denn fol. 14v fokussiert auf den ardowr of lofe. Dagegen berichtet die Textpassage fol. 85r, wie die Margery-­Figur durch die Überfülle der Gnadengaben zu Boden stürzt, wie es offenbar dem Gebaren Methleys entspricht. Auch die Annotierungen zum göttlichen Liebesfeuer weisen in diese Richtung: 484 Den lateinischen Randeintrag ig[n]is di[vin]i amor[is] versieht der rubrizierende Annotator mit einer flammenähnlichen Illustration.485 Wie im oben genannten Beispiel der Säulenzeichnung evoziert der Text eine visuelle ‚Leserreaktion‘, die für eine Art dialogische Interaktion mit dem Textinhalt und eine akribische Lektüre stehen kann. Sie ist neben einer Textpassage platziert, die das brennende Liebesverlangen als Zeichen ­­ göttlicher Auserwähltheit thematisiert: Also owr Lord ȝaf hir an-­oþer tokne, þe whech enduryd a-­bowtyn xvj ȝer […] & it encresyd euyr mor & mor, & þat was a flawme of fyer wondir hoot & delectabyl & ryth comfortabyl, nowt wastyng but euyr incresyng, of lowe […], sche felt þe hete brennyng in hir brest & at hir hert, as verily as a man schuld felyn þe material fyer ȝyf he put hys hand or hys fynger þerin.486 482 Scola Amoris, fol. 2r (Hogg-­Transkription, S. 139). 483 Vgl. Scola Amoris, fol. 2v (Hogg-­Transkription, S. 140): Languor enim amoris non sinit languentem lugere, sed cogit amantem canere languor amoris fletum facit feruescere et ubi est feruor factoris, ibi interdum est sensibilis ignis amoris. Vgl. die Textanalyse dieser Textpartien in Lochrie: Translations of the Flesh, S. 214. 484 Vgl. die Kempe-­Textpartien, die das Liebesfeuer thematisieren, Kapitel 89, S. 219, 1 – 4: Also, whil þe forseyd creatur was ocupijd abowte þe writyng of þis tretys, sche had many holy teerys and wepingys, and oftyn-­tymys þer cam a flawme of fyer a-­bowte hir brest ful hoot & delectabyl […]. Am rechten äußeren Rand der Handschrift Add MS 61823, fol. 106r trägt der Annotator a token of grace neben fyer ein. Vgl. auch BMK, S. 111, 10 – 11: Þan þe fyer of lofe kyndelyd so ȝern in hir hert þat sche myth not kepyn it preuy, for, whedyr sche wolde er not, it cawsyd hir to brekyn owte wyth a lowde voys & cryen merueylowslyche & wepyn & sobbyn ful hedowslyche þat many a man and woman wondryd on hir þerfor. Add MS 61823, fol. 54r mit der korrespondierenden Randeintragung fire of loue. 485 Vgl. Add MS 61823, fol. 43v. 486 BMK, S. 88, 26 – 33. Vgl. das Textzitat aus dem Incendium Amoris in Anm. 488 unten. Im Anschluss an diese Textpartie folgt eine legitimierende Gottesrede, die die Echtheit des Feuers als göttliches Gnadenzeichen bestätigt und eine Liebesversicherung mit einschließt, S. 89, 10 – 11: For, dowtyr, þu art as sekyr of þe lofe of God as God is God. Thy sowle is mor sekyr of þe lofe of God þan of þin owyn body […].

154 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Und es ist nicht verwunderlich, dass der rubrizierende Annotator an dieser Stelle mit einem Marginaleintrag (so s. R. hampall)487 auf den wirkungsmächtigen Einsiedlermystiker Richard Rolle verweist, der die körperlich wahrnehmbare Wärme aus der Ich-­Perspektive im Prolog des „Incendium Amoris“ detailrealistisch darlegt.488 Und hier eröffnet sich eine weitere intertextuelle Parallele zu Methleys „Refectorium Salutis“. Denn er grenzt seine eigenen mystischen Erfahrungen ab vom mystischen raptus des Richard Rolle: vita mea consistit in amore languore dulcore feruore, canore, rarius tamen in sensibili feruore quia dilectus michi promisit quod frequencius in languore sicut et ille almus Ricardus dictus de hampol frequencius in calore de quo non legi quod tam frequens fuerit in languore.489

Allerdings fungiert diese Abgrenzung gerade im Sinne einer Art Anknüpfung an die von Rolle begründete Mystiktradition. Denn der Autor demonstriert, dass er mit dieser Art mystischer Erbauungsliteratur, die er lesend studiert hat, bestens vertraut ist. Die amor-­sensibilis Konzeption Methleys lässt sich in der durch Richard Rolle vorgeprägten Tradition situieren, die die göttliche Liebeserfahrung als calor, canor und dulcor imaginiert. Wie oben ausgeführt, waren die englischsprachigen Kartäuser nicht nur entscheidend an der Tradierung der Texte Richard Rolles mitbeteiligt, sondern sie haben auch eine sorgfältig verbesserte Textredaktion des „Incendium Amoris“ promulgiert. Der rubrizierende Annotator sieht Richard Methley, Richard Rolle und John Norton in einem die affektive Frömmigkeit betreffenden Zusammenhang. Dies deutet an, dass der Kempe-­Text in die offiziellen literarischen Aktivitäten des englischen Kartäuserordens eingebunden war, die offenbar von der Ordensleitung in Mount Grace ausdrücklich gefördert worden sind. Jedenfalls stellt der rubrizierende Annotator klare Gemeinsamkeiten heraus, die die passionsmystische Frömmigkeitspraxis der beiden begnadeten Personen Margery Kempe und Richard Methley betreffen. Dazu passt, dass dem oben erwähnten religiösen Leitgedanken Jesus est amor meus besonderes Augenmerk gilt: Er ist ebenfalls in die epilogartige Textpartie der „Scola Amoris“ inte­ griert, die die Liebesvereinigung zweier Herzen literarisch ins Bild setzt.490 Das Schlusskapitel 487 Add MS 61823, fol. 43v. 488 Vgl. Deansley: Incendium Amoris, prologus, S. 145 f.: Admirabar magis quam enuncio quando siquidem sentiui cor meum primitis incalescere, et uere non imaginarie, quasi sensibile igne estuare. Eram equidem attonitus quemadmodum eruperat ardor in animo, et de insolito solacio propter inexperienciam huius abundancie […] sicut si digitus in igne poneretur feruorem indueret sensibilem, sic animus amare quemadmodum predixi succensus, ardorem sentit ueracissimum […]. 489 Refectorium Salutis, fol. 56r. Vgl. die Handschriftentranskription von Hogg: The Refectorium Salutis. In: Kartäusermystik und -Mystiker. Band 2, S. 214 – 238, hier S. 221. Lochries Ausführungen zufolge thematisiert das „Incendium Amoris“ ebenfalls den languor. Allerdings stehe für die Ich-­Figur des Einsiedlers die Liebesglut und der himmlische Gesang im Vordergrund seiner Offenbarungserlebnisse, vgl. Lochrie: Translations of the Flesh, S. 216. 490 Vgl. Scola Amoris, fol. 22r (Hogg-­Transkription, S. 164).

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 155 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

ist der Anbetung des heiligen Namens und der Verehrung der fünf Kreuzeswunden gewidmet.491 In ihrer Gesamtheit betrachtet, kann die in der „Scola Amoris“ entfaltete, christuszentrierte Liebeslehre Aufschluss über das Rezeptionsverständnis der monastisch-­gelehrten Leserschaft bieten, die den Kempe-­Text sorgfältig studiert hat, wie die vielfältigen Marginaleinträge belegen. Und sie lässt auch zumindest punktuelle Rückschlüsse auf den Status des Kempe-­Textes als ‚Offenbarungsschrift‘ zu. Denn die Liebestheologie Methleys ist mit einer besonderen Form von auctoritas umgeben, da sie durch die mystischen Offenbarungserlebnisse ihres Autors verbürgt ist. Aufschlussreich ist in ­diesem Zusammenhang eine Textpassage, die als Ich-­Rede der Figur des Visionärs narrativ umgesetzt ist und auf diese Weise die Authentizität des Gnadengeschehens ‚garantiert‘.492 Ja, die Gottinspiration begründet den eigentlichen Schreibvorgang: In nomine iesu linguis loquor nouis, vt dicunt aliqui de me, qui audierunt aut libros quos per graciam scripsi, legerunt. Nouis (inquam) quia de noua vita in christo iesu.493 Und wie sich den beiden anderen ‚autobiographischen‘ Erbauungslehren „Dormitorium Dilecti Dilecti“ und „Refectorium Salutis“ entnehmen lässt, kehren diese mystischen Gotteserfahrungen im Leben des Kartäusermönchs wieder.494 Während der Messfeier oder in stiller Kontemplation versunken, erfährt das Text-­Ich nicht nur die Vollkommenheit göttlicher Freude, sondern auch die Unmöglichkeit, dieser Gnadenerfahrung Ausdruck zu verleihen, ja insbesondere eine Form der Sprachlosigkeit, die sich in der wiederholten Anrufung des heiligen Namens äußert.495 Außerdem beschreibt der Ich-­Erzähler d ­ etailrealistisch eine 491 Vgl. Scola Amoris, fol. 21v (Hogg-­Transkription, S. 163) mit der Überschrift des Schlusskapitels Oracio deuota de nomine iesu et de quinque vulneribus, und die Einbettung des Leitgedankens in die folgende Textpartie, fol. 22r (S. 164): Si quis amet quod amare iuuat feliciter ardet / Iesus est amor meus / Ex quo conueniunt duo pectora pectus in vnum / Fas est vt maneant pectora pectus idem. 492 Vgl. das folgende Zitat aus der Scola Amoris, fol. 8v–9r, vgl. Transkription Hogg, S. 146: In festo sancti petri ad vincula in monte gracie corporaliter fui in ecclesia. Et dum peracta quam celebraui missa deo ­gracias reddere curarem, per meditacionis modum et oracionem nimis valde visitauit me deus. Nam in tantum amore langui quod fere expiraui. Quomodo autem hoc fieri potuit, sicut possum per graciam dei dicam vobis fratres mei. Amor et desiderium dilecti susceperunt me spiritualiter in celum, ut preter mortem nil michi deesset (inquantum sapio) de gloria dei, qui sedet in trono et hoc pro parte mea; denique omnem penam et timorem et omnem meditacionem alicuius rei vel [et] creatoris secundum deliberatam consideracionem, oblitus eram. […] ignis inuasit domum meam, venite et audiuuate me; […] Sed inualescente languore amoris vix cogitare potui formans in spiritu hec verba Amor, Amor, Amor. Et tandem deficiens ab hac forma exspectaui quoniam totaliter spiritum exspirare possem, A, A, A, tantummodo aut consimili modo canens pocius quam clamans in spiritu pre gaudio. Vgl. die Übersetzung von Knowles: The Religious Orders in England. Volume 2. The End of the Middle Ages, S. 225. 493 Scola Amoris, fol. 13v (Hogg-­Transkription, S. 154). 494 Vgl. Knowles: The Religious Orders in England, S. 225. 495 Dormitorium Dilecti Dilecti, fol. 34v–35r, Refectorium Salutis fol. 61v–62r zitiert nach James Hogg: Mount Grace Charterhouse and Late Medieval English Spirituality. Volume 2. The Trinity College Cambridge MS. O. 2. 56.

156 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Kreuzigungsvision, die sein Herz durch das bildhaft veranschaulichte Leiden berührt und physische Sinneseindrücke auslöst.496 Eine weitere Textpartie des „Dormitorium Dilecti Dilecti“ kontrastiert den Sinneseindruck ‚himmlischer Melodien‘ mit irdischen Klängen.497 Der Kartäusermönch kleidet die allumfassende sinnlich erfahrbare Gottesliebe in Worte.498 Für seine mystischen Erfahrungen ist bezeichnend, dass er die göttliche Liebe als eine nahezu überwältigende Kraft wahrnimmt, die plötzlich über ihn hereinbricht und ihn ganz in Besitz nimmt: Et ecce subito languor rapuit me in sensibilem dulcedinem deuocionis.499 Auch hier löst der Gefühlszustand des languor zeitweilig Tränen aus, derer sich die Figur des Kartäusermönchs während eines solchen ‚Gnadeneinbruchs‘ nicht immer bewusst ist.500 Sieht man die mystische Liebestheologie Methleys, die durch languor gekennzeichnet ist, mit dem rubrizierten Textmaterial der Kempe-­Vita zusammen, so scheint es nicht erstaunlich, dass der rubrizierende Annotator genau diese Textpassagen ausgewählt hat. So findet sich etwa zweifach der rubrizierte und mit einer Rahmung versehene Marginaleintrag amor i[m]pacie[n]s.501 Offenbar versteht der rubrizierende Annotator das auf die 496 Dormitorium Dilecti Dilecti, fol. 45r–45v. Vgl. die Textpassage BMK, S. 70, 5 – 20, die ebenfalls eine bewegende Kreuzesvision aus der Innensicht der Protagonistin schildert: Sche had so very high contemplacyon in þe sygth of hir s[owle] as yf Crist had hangyn bevor hir bodily eye in hys manhode. & whan thorw dispensacyon of þe hy mercy of owyr Souereyn Savyowr Crist Ihesu it was grawntyd þis creatur to beholdyn so verily hys precyows tendyr body, alto-­rent & toryn wyth scorgys, mor ful wowndys þan euyr was duffehows of holys, hangyng vp-­on þe cross wyth þe corown of thorn up-­on hys heuyd, hys blysful handys, hys tendyr fete nayled to þe hard tre, þe reuerys of blood flowyng owt plentevowsly of euery membre, þe gresly & grevows wownde in hys precyows syde schedyng owt blood & watyr for hir lofe […] þan sche fel down & cryed wyth lowde voys, wondyrfully turnyng & wrestyng hir body on euery syde, spredyng hir armys a-­brode as ȝyf sche xulde a deyd, & not cowde kepyn fro crying. 497 Dormitorium Dilecti Dilecti, fol. 33v. Vgl. dazu die Textpartie im Kempe-­Text, Kapitel 3, S. 11, 12 – 21: On a nygth, as þis creatur lay in hir bedde wyth hir husbond, sche herd a sownd of melodye so swet & delectable, hir þowt, as sche had ben in Paradyse. […] Thys melody was so swete þat it passyed alle þe melodye þat euyr mygth be herd in þis world wyth-­owtyn ony comparison & caused þis creatur whan sche herd ony myrth or melodye aftyrward for to haue ful plentyuows & habundawnt teerys of hy deuocyon […]. Der rubrizierende Annotator verziert die dreizeilige, rubrizierte O-Initiale d ­ ieses Kapitelbeginns mit einem Christusmonogramm im Binnenfeld, vgl. fol. 6r, 20 – 22. 498 Dormitorium Dilecti Dilecti, fol. 33r–33v, fol. 38v. 499 Refectorium Salutis, fol. 59r. Vgl. BMK, Kapitel 60, S. 147, 16 – 24: Whan sche cam in þe chirch-­ȝerd of Seynt Stefyn, sche cryed, sche roryd, sche wept, sche fel down to þe grownd, so feruently þe fyer of lofe brent in her hert. Sithyn sche […] went forth wepyng in-­to þe chirche to þe hy awter, & þer sche fel down with boistows sobbyngs, wepyngs, & lowde cryes […] al rauyschys wyth gostly comfort […]. Der Annotator wiederholt am rechten Rand der Handschrift die Formulierung fyre of loue, vgl. Add MS 61823, fol. 71v, 17 – 18. 500 Refectorium Salutis, fol. 59r–59v und 63v–64r. 501 Add MS 61823 fol. 52v, 10 – 11 neben dem Ausruf der Margery-­Figur: I dey, I dey, & roryd also wonderfully þat þe pepil wonderyd up-­on hir, hauyng gret merueyl what hir eyled. Add MS 61823 fol. 72v, 30 neben dem wütenden Ausspruch eines anonymen Franziskanerpredigers, dessen Predigt die Margery-­Figur durch ihre tränenreichen Gnadenrufe stört: I wolde þis woman wer owte of þe chirche; sche noyith þe pepil.

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 157 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Außenwelt so befremdlich wirkende Verhalten der Margery-­Figur als legitimen Ausdruck göttlicher Begnadung, wie der folgende Randkommentar auf fol. 73r indiziert: No[n] e[st] ho[min]is potestate p[ro]hibere spi[ritu]m s[anctum]. Eine Linie markiert die Textpassage: Summe þat weryn hir frendys answeryd a-­ȝen: „Sir, haue hir excusyd. Sche may not withstand it.“502 Die körperliche Konkretisierung der Gottesgnade, die die ältere Kempe-­Forschung vornehmlich als Ausdruck von Hysterie und unterdrückter weiblicher Sexualität deuten will, ist Teil dieser ‚amor sensibilis‘-Konzeption. Jedenfalls werden sie von zeitgenössischen Rezipienten unter dieser Kategorie subsumiert, wie die rubrizierten Randglossen zeigen. So verzeichnet der rubrizierende Annotator neben der Frage der Margery Kempe: Alasse, Lord, how long xal I thus wepyn & mornyn for thy lofe & for desyr of thy presens?503 den Eintrag no[ta] la[n]gyng loue, der die sehnende Liebe betont.504 Langor amoris steht in roter Tinte geschrieben neben dem Satz: And þis maner of crying enduryd þe terme of x ȝer, as it is wretyn be-­forn.505 Hier macht es den Anschein, dass der rubrizierende Annotator die Gnadenrufe als Ausdruck des languor deutet, wie es auch aus den Mystikschriften Methleys hervorgeht.506 Ebenso kommentiert er die Überfülle der Gnadengaben mit dem Eintrag abundance of loue.507 Wie entscheidend die Liebesthematik für die monastische Lektürepraxis ist, die sich in den Marginaleinträgen abzeichnet, verdeutlichen besonders die rubrizierten Herzen und loue-­Notizen: Der Eintrag loue ist auf fol. 76v neben einer göttlichen Liebesversicherung platziert: Dowtyr, ȝyf þu knew how swet þy loue is vn-­to me, þu schuldist neuyr do oþer thyng but lovyn me wyth al thyn hert.508 Zudem findet sich das rubrizierte Wort loue am rechten Bundsteg (fol. 15r) neben einer göttlichen Liebesversicherung: I xal louyn þe wyth-­owtyn ende. Fol. 44v weist eine herzförmige Illustration neben einer Christusrede auf: I aske no mor of þe but þin hert for to louyn [me, Superskript in rot] þat louyth þe for my loue is euyr redy to þe. Auf fol. 78v markiert der Annotator die Christusrede mit einem rubrizierten Herzen: Dowtyr I haue drawe þe lofe of þin hert fro alle mennys hertys in-­to myn hert.509 Über dem Wort dowtyr (fol. 78v) der vorangehenden Zeilen (Dowtyr þu mayst boldly seyn to me ­‚Jhesus est amor meus‘) positioniert er die oben erwähnte flammenähnliche Zeichnung, die 502 BMK, Kapitel 61, S. 149, 34 – 35. 503 BMK, S. 176, 9 – 10; Handschrift Add MS 61823, fol. 85v. 504 Vgl. die Deutung von Lochrie: Translations of the Flesh, S. 217, die die Sehnsucht nach dem Geliebten als Auslöser der Tränen ansieht. 505 BMK, S. 140, 24, Add MS 61823, fol. 68r, Z. 19. 506 Vgl. etwa Refectorium Salutis, fol. 59r zur Plötzlichkeit mit der die Gottesgnade in das Leben hereinbricht. Vgl. auch fol. 60r–v zu Gnadenrufen und Gnadengesang. 507 BMK, S. 138, 31: So þat tweyn men heldyn hir in her armys tyl her cryng was cesyd, for sche myth not beryn the habundawns of lofe þat sche felt […]. Add MS 61823, fol. 67r, 27 – 28. 508 BMK, S. 157, 25; Add MS 61823, fol. 76v, 26 – 27 nota loue. 509 BMK, Kapitel 65, S. 161, 13 – 14.

158 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

möglicherweise für das göttliche Liebesfeuer stehen kann, dass in der Brust der Protagonistin entflammt ist. Und auf fol. 102v findet sich ebenfalls ein Herz neben einer göttlichen Rede: þu hast gret cawse to louyn me ryth wel & to ȝeuyn me al holy þin hert.510 Offenbar schenkt der Annotator diesen göttlichen Liebesversicherungen besondere Aufmerksamkeit. Denn der Annotator versieht genau jene im Text relativ weit auseinanderliegenden Christusreden mit einem Herz und er demonstriert damit zumindest punktuell ein Bewusstsein für die Relevanz dieser ‚identitätsstiftenden‘ Gottesworte, die die Begnadung der Protagonistin durch die Form der narrativen Vermittlung ‚unmittelbar‘ bezeugen. Die monastischen Leser der Kempe-­Handschrift sehen in den Liebesversicherungen und den ‚sichtbaren‘ Zeichen ­­ der im Seeleninneren verborgenen Gottesbegnadung offenbar eine Art Ausweis ihrer Authentizität. Denn Richard Methley entfaltet in dem oben erwähnten „Experimentum Veritatis“,511 das als Textfragment (Kapitel 14 – 27, fol. 262r–265v) erhalten ist, eine systematische Evaluation religiöser Erfahrung. Das „Experimentum Veritatis“ thematisiert die ‚Unterscheidung der Geister‘ im Sinne einer sachkundigen Beurteilung von Visionen,512 Prophezeiungen und Engelserscheinungen,513 um ihren göttlichen Ursprung nachzuweisen. 510 BMK, Kapitel 86, S. 211, 27 – 29. Vgl. auch die nahezu wörtliche Wiederholung fol. 106r mit einer herzförmigen Illustration neben: Þu hast gret cawse to louyn me ryth wel & to ȝeuyn me al thin hool hert wyth alle thyn affeccyonis […]. (BMK, Kapitel 88, S. 218, 30 – 32). 511 Zitiert nach der bereits erwähnten Ausgabe von Sargent: The Self-­Verification of Visionary Phenomena. Richard Methley’s „Experimentum Veritatis“, S. 121 – 137, im Folgenden als Experimentum Veri­ tatis bezeichnet. 512 Kapitel 16 thematisiert die Gefühlsregungen, Gedanken und Arten des raptus und der Ekstase, die durch göttliche oder teuflische Eingebungen ausgelöst werden können. Vgl. Experimentum Veritatis, S. 126, 90 f.: Similiter malus angelus suam h[ab]et extasim siue quendam raptu[m], sed dissimilem. Et in hoc cognoscunt[ur] q[uod] s[cilicet] bonus lucide, malus demonstrat obscure: Non quidem o[mn]ino obscure, sed in comp[ar]ac[i]o[n]e boni. […] Bonus de bonis semp[er] aut de penis dat mat[er]iam pie plorandi et gaudendi. Et hec sensac[i]o siue ip[s]e loquat[ur] siue no[n] loquat[ur] tam suauis est sapore in a[n]i[m]o sicut supradixi q[uod] immutat ho[min]is statu[m], i[d] [est] a[n]i[m]i & o[mn]ino beneuolu[m] facit. Et hec regula non fallit. Eteni[m] est & quedam familiaris locuc[i]o inter e[os], vbi non est tanta semp[er] suavitas, sed semp[er] aliqualis deuocio. Malus aut ap[er]te in carnalib[us] suadet delectac[i]o[n]em, aut sub boni colore, malu[m] sentire de sp[irit]ualib[us] s[cilicet] me[n]tis delicijs. Simpl[icite]r dico q[uod] suis sciunt[ur] raptib[us] & dulcedine saporis illam & malus offert olfactui, gustui, audituiq[ue] suas fictas dulcedines aut melodias, feruore[m]q[ue] frequenter p[e]ctorib[us] dare nitit[ur], s[ed] no[n] p[er]mittit[ur] final[iter] illudere simplici, humili, prudenti. 513 So beschreibt etwa Kapitel 15 die spezifischen Erscheinungs- und Redeweisen von Engeln und Dämonen und bietet entsprechende Unterscheidungskriterien. Vgl. Experimentum Veritatis, S. 125, 34 – 39: Et p[r]imu[m] de bono dicam angelo hoc sed modo loque[n]te vel app[ar]ente. […] s[ed] quomodo appareat, si quis querat, dico q[uod] aliq[ua]n[do] non videt[ur] p[er]sonaliter, sed eius vox audit[ur]. Aliq[ua] n[do] eciam sp[irit]ual[ite]r apparet. Dagegen bemächtigten sich Dämonen einer Vielzahl von Gestalten, S. 125, 47 – 52: Angelus eciam malus eisdem apparet vel loquit[ur] modis, i[d] [est]: Aliq[ua]n[do] inuisibil[ite]r, aliq[ua]n[do] visibiliter & sic de cet[er]is vt sup[ra], sed & aliq[ua]n[do] corporalib[us] a me videt[ur] oculis, et hoc valde multis modis. O[mn]ium fere statuu[m], graduu[m] ho[m]in[u]m &

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 159 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Jedenfalls illustriert das „Experimentum Veritatis“ die Notwendigkeit, den Wahrheitsgehalt einer ‚persönlichen‘ Gotteserfahrung zu eruieren. Innerhalb d­ ieses Expertendiskurses erscheint Kapitel 17 des „Experimentum Veritatis“ besonders relevant, da es an Beichtväter und spirituelle Berater adressiert ist 514 und fünf konkrete Kriterien nennt, um die Echtheit göttlicher Gnadenerweise zu überprüfen: Primu[m] qualitas p[er]sone, deinde visionis, tercio reuelantis, quarto modi, qui[n]to qualitas t[ra]nsformandi seu t[ra]nsferendi aut rapiendi.515 Die sinnlich erfahrbare Gottesliebe wird zum wichtigsten Differenzkriterium bei der ‚Unterscheidung der Geister‘ erhoben.516 Vielleicht ist hier der Grund darin zu sehen, weshalb die Leser des Kempe-­ Codex verstärkt nach diesen ‚Zeichen der sinnlich erfahrbaren Gottesliebe‘ Ausschau halten. Im Kempe-­Text wird die discretio spirituum-­Lehre jedenfalls in konkreten Begegnungen der Margery-­Figur mit diversen Beichtvätern und spirituellen Beratern vorgeführt: Sie schließen nicht nur den dominikanischen Einsiedler ein, einen ausgewiesenen Experten der discretio spirituum,517 sondern auch einen deutschsprachigen Beichtvater namens Wenslaw,518 die prominente Inkluse Juliana von Norwich, Bischof Philip Repingdon und den Erzbischof von Canterbury. Und dieser Kontext wirft ein interessantes Licht auf ein mögliches Textverständnis: Denn die in immer neuen Variationen aufgegriffene Thematisierung der Tränengabe,519

mulier[um], bestioru[m], pecor[um] aut pecudu[m], paup[er]umq[ue] ho[m]i[nu]m & diuitu[m] formas p[re]tendit, vt illudat vel decipiat. 514 Vgl. Experimentum Veritatis, S. 127, 113 – 116. 515 Experimentum Veritatis, S. 127, 116 – 118. 516 Vgl. Experimentum Veritatis, S. 131, 279 – 282; 286 – 288. 517 Vgl. die Episoden, die thematisch auf den dominikanischen Einsiedler und die discretio spirituum zen­ triert sind: BMK, S. 43 f.: Neuyr-­þe-­lesse þe ankyr of þe Frer Prechowrys in Lenn, whech was principal gostly fadyr to þis creatur as is wretyn be-­forn, toke it on charge of hys sowle þat hir felyngys wer good & sekyr & þat þer was no disseyt in hem […] & so it be-­fel as þe ankyr had prophecyed in euery poynt, and as I trust, xal be wretyn more pleynly aftyrward. Vgl. BMK, S. 50: […] saf only to þe ankyr whech was hir principal confessowr, for he cowde most skyl in swech thyngys. & he chargyd þis [creatur] be vertu of obedyens to tellyn hym þat euyr sche felt, & so sche dede. 518 Vgl. BMK, S. 91, 35; S. 85, 33 – 36; S. 97, 10–S. 98, 9. 519 Vgl. in Auswahl, BMK , Kapitel 3, S. 13, 22 – 26, hier mit explizitem Hinweis auf Mitmenschen, die Zweifel an der Echtheit der Begnadung anmelden: Hir wepyng was so plentyuows and so contwnyng þat mech pepul wend þat sche mygth wepyn & leuyn whan sche wold, and þerfor many men seyd sche was a fals ypocryte & wept for þe world for socowr & for wordly good. Kapitel 28, S. 68, 7 – 10: & þe forseyd creatur wept & sobbyd so plentyvowsly as þow sche had seyn owyr Lord wyth hir bodyly ey sufferyng hys Passyon at þat tyme. Kapitel 29, S. 71, 19 – 21: & sythen sche ros vp a-­geyn wyth gret wepyng & sobbyng as þow sche had seyn owyr Lord berijd euen bevor hir. S. 71, 27 – 28: Þer cryed sche & wept wyth-­owtyn mesur þat sche myth not restreyn hir-­self. S. 71, 31 – 34; Kapitel 40, S. 98, 9 – 10: & ȝet sche myth not wepyn but whan God ȝaf it hir. & oftyn-­tymes he ȝaf it so plentyuowsly þat sche cowde not wythstonde it. […] Sche xulde sobbyn & cryen ful lowde al a-­geyn hir wyl þat many man & woman also wondryd on hir þerfore. Kapitel 60, S. 147, 19 – 27: Sithyn sche ros vp a-­ȝen & went forth wepyng in-­to þe chirche to þe hy awter, & þer sche fel down with boistows sobbyngys, wepyngys, & lowde cryes be-­syden þe grave of þe good Vicary, al rauyschyd with

160 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

der Auditionen, Visionen 520 und Liebesbeteuerungen 521 lassen sich als ­­Zeichen der sinnlich erfahrbaren Gottesliebe 522 fassen. Sie können als ‚Ausweis‘ der Echtheit göttlicher Begnadung dienen und entsprechen Methleys Kriterien zur Überprüfung einer persönlichen Gotteserfahrung auf der Basis des amor sensibilis.523 Richard Methley entfaltet in seinem Text jedenfalls einen offiziellen theologischen Diskurs. Durch den Einsatz der Ich-­Form und die direkte Anrede der visionär begabten Person stilisiert er sich gewissermaßen zu einer Art Experten 524 der discretio spirituum, der über das Wissen verfügt, andere in der Lehre der Unterscheidung der Geister zu unterweisen. Dabei sieht die englischsprachige Mystikforschung Methleys ‚Unterscheidung der Geister‘ in Opposition zu einer vermeintlichen ‚Naivität‘ seiner autobiographischen Erbauungsschriften. So postuliert James Hogg eine Art spirituelle Progression Methleys, die von dem schwärmerischen ‚Enthusiasten‘ der „Scola Amoris“ hin zu der gefestigt wirkenden Lehre des „Experimentum Veritatis“ reiche und von zunehmender geistiger Reife zeuge.525 Hinter gostly comfort […]. Kapitel 72, S. 172, 20 ff.: Þan xulde sche cryen, wepyn, & sobbyn for hir owyn synne and for þe compassyon of þe creatur […]. 520 Vgl. die Christusvision in Kapitel 5, S. 16, 30–S. 17; S. 34; vgl. die Vision der Geburt der Gottesmutter und Johannes des Täufers, Kapitel 6, S. 18, 9–S. 19, 23; monologische Christusrede Kapitel 14, S. 30, 6–S. 31, 35; Kapitel 20, S. 47, 15 – 18; Kapitel 28, S. 67, 16 – 21; Passionsvisionen Kapitel 28, S. 68, 10 – 23 und Kapitel 29, S. 70, 5 – 20; monologische Christusrede, Kapitel 29, S. 72, 31–S. 73, 6; die Margery-­ Figur sieht Johannes den Evangelisten in einer Offenbarung, vgl. Kapitel 32, S. 81, 3 – 8; unio mystica-­ Erfahrung, Kapitel 35, S. 86, 9–S. 87, 31. 521 Vgl. BMK, Kapitel 5, S. 17, 4 – 6: Clepe me Ihesus, þi loue, for I am þi loue & schal be þi loue wyth-­owtyn ende. Kapitel 22, S. 52, 24 – 31: I haue telde þe be-­for-­tyme þat þu art a synguler louer, & þerfor þu xalt haue a synguler loue in Heuyn, a synguler reward, & a synguler worshep. […] & so xalt þu dawnsyn in Hevyn wyth oþer holy maydens & virgynes, for I may clepyn þe dere a-­bowte & myn owyn derworthy derlyng. Kapitel 32, S. 81, 33–S. 82, 3. 522 Vgl. Kapitel 35, S. 87, 31: Sum-­tyme she felt swet smellys wyth hir nose; it wer swettar, hir thowt, þan euyr was ony swet erdly thyng þat sche smellyd be-­forn, ne sche myth neuyr tellyn how swet it wern, for hir thowt sche myth a leuyd þerby ȝyf they wolde a lestyd. Sum-­tyme sche herd wyth hir bodily erys sweche sowndys & melodiis þat sche myth not wel heryn what a man seyd to hir in þat tyme les he spoke lowder. Þes sowndys & melodijs had sche herd ny-­hand euery day þe terme of xxv ȝere whan þis boke was wretyn & specialy whan sche was in deuowt prayer, also many tymes whil she was at Rome & in Inglond boþe. Sche sey wyth hir bodily eyne many white thyngys flying al a-­bowte hir on euery syde as thykke in a maner as motys in the sunne; […]. Sche sey hem many dyuers tymes & in many dyuers placys, boþe in chirche & in hir chawmbre, at hir mete & in hir praerys, in felde & in towne, bothyn goyng & syttyng. And many tymes sche was a-­ferde what þei myth be, for sche sey hem as wel on nytys in dyrkenes as on day-­lygth. Than, whan sche was a-­ferde of hem, owir Lord seyd on-­to hir: „Be þis tokyn, dowtyr, beleue it is God þat spekyth in þe […].” 523 Vgl. Experimentum Veritatis, S. 131, 281–S. 132, 282. 524 Der humilitas-­Topos […] sed hoc ego nu[m]q[ua]m exp[er]tus sum, Experimentum Veritatis, S. 125, 45 – 46 beteuert zwar, der rhetorischen Tradition entsprechend, die Bescheidenheit des Verfassers, aber er steht letztlich nicht der Entfaltung des Expertentums entgegen. 525 Vgl. Hogg: Mount Grace Charterhouse and Late Medieval English Spirituality, S. 31: „[…] and the marked serenity of his ‚Experimentum Veritatis‘, dealing with the discernment of spirits and especially

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 161 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

dieser Einschätzung scheinen allerdings eher die aus der mystischen Literatur bekannten literarischen Entwürfe und Strukturmuster des ‚Anfangs‘ eines geistlichen Lebens und des Fortschreitens zu einer gereiften Spiritualität zu stehen, wie wir sie etwa aus Heinrich S­ euses „Vita“ kennen, die ein geistiges Aufstiegsmodell anvisiert.526 Denn eine genaue Datierung des „Experimentum Veritatis“ ist aufgrund der wenigen erhaltenen Kapitel (14 bis 27) erschwert, so dass sich eine s­ olche Progression überlieferungsgeschichtlich nicht in eindeutiger Weise belegen lässt.527 Deshalb wäre es zumindest denkbar, dass die mystischen Traktate und die Lehre der Wahrheitsergründung des „Experimentum Veritatis“ nicht unabhängig voneinander entstanden sein könnten. Dass eine Unterweisung in der Unterscheidung der Geister in direkter Relation zu einem Offenbarungstext stehen kann, belegt etwa die oben erwähnte „Epistola Solitarii ad Reges“ Alfonsos de Jaén, deren Textgenese um 1375/1376 im Umfeld der Redaktion der birgittinischen Revelationes und des Kanonisationsverfahrens zu verorten ist und eine Art ‚Leitfaden‘ bietet, um die ‚Wahrheit‘ der göttlichen Visionen zu verifizieren.528 Auch in ­diesem Fall liefert der Autor eine Art Kriterienkatalog für die Beurteilung und Überprüfung von Gnadenerweisungen. Wie oben diskutiert, hinterließ Methley ferner zwei lateinische Übertragungen mystischer Texte, eine lateinische Version der „Cloud of Unknowing“ und eine Übersetzung des mystischen Traktats „Le Miroir des simples âmes“ der Marguerite Porete. Die erhaltenen Handschriften konturieren ein sehr deutliches Interesse an den verschiedenen Texttypen und Darstellungsweisen einer mystischen Frömmigkeit – sowohl in Form autobiographisch stilisierter Ich-­Berichte, lateinischer Übertragungen und der Überprüfung mystischer Erfahrungen (Experimentum Veritatis) auf der Basis der discretio spirituum-­Lehre. Auf diese Weise erscheint Richard Methley als gelehrter Autor, der die verschiedenen ‚Register‘ mystischer Theologie souverän beherrscht.

with the visits of angels and visions – subjects which earlier would have aroused his enthusiasm – , the difficulty of how to arrive at the truth when doctors disagree, and the problem of modern prophets and evangelists, might suggest that he outgrew his early naiveté. This work also contains a significant apology for the contemplative life (f. 265).“ 526 Vgl. Bihlmeyer: Heinrich Seuse. Deutsche Mystische Schriften. Alle Zitate sind dieser Edition entnommen. Bruno Quast: Heinrich Seuses Vita als Dekonstruktion einer Aufstiegsbiographie. In: Anfang und Ende. Hrsg. von Udo Friedrich et al., Berlin 2013, S. 157 – 173. Quast argumentiert allerdings, dass Seuses Vita durch die wiederholte Präsentation von ‚Anfängen‘ das konventionelle Aufstiegsschema entscheidend modifiziert und in gewisser Weise dekonstruiert habe, vgl. S. 169: „Die Vita übersetzt im Modus narrativer Entfaltung den Anfang als Bild in pluriforme Bilder des Anfangs. Diese ­Dekonstruktion, man könnte auch im Sinne Seuses von einer Entbildlichung sprechen, indem etwa in den Modi der Pluralisierung und Wiederholung der Konstruktionscharakter, die Bildhaftigkeit der Bilder von Anfang und Ende textuell vor Augen geführt wird, diese Dekonstruktion steht im Dienst mystischer Vervollkommnung.“ 527 Vgl. zur Überlieferungssituation Sargent: The Self-­Verification of Visionary Phenomena, S. 121. 528 Vgl. Voaden: God’s Words, Women’s Voice, S. 42 zur Datierung und den Entstehungsumständen und S. 79 und S. 94 zum Verhältnis von „Epistola“ und der Redaktion der Offenbarungen nach Birgittas Tod.

162 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Und dass seine literarischen Aktivitäten ebenfalls innerhalb der offiziell geförderten Literaturproduktion situiert werden können, legen die oben erwähnten Mystiktraktate von John Norton nahe: „Musica Monachorum“ (fol. 1r–27r), „Thesaurus Cordium vere Amancium“ (fol. 28r–76v), „Deuota Lamentacio deuoti Iohannis Norton Prioris“ (fol. 77r – 95v). Diese mystisch-­religiösen Traktate zeichnen sich durch ihre dialogische Qualität aus: Denn die Figur des Kartäusermönchs empfängt betend im Gespäch mit dem göttlichen Partner Einsichten über die monastische Tugend des Gehorsams,529 die imitatio Christi im Kontext einer auf die Passion zentrierten Frömmigkeit und Anweisungen zur religiösen Lebensführung.530 Die „Musica Monachorum“ bietet eine ­solche Unterweisung in der religiösen Lebensführung durch eine Reihe biblischer Exempla, die vornehmlich aus der Ich-­Perspektive der Figur des Kartäusermönchs vermittelt werden.531 In seinen 529 Vgl. besonders die sieben Kapitel der „Musica Monachorum“, die nach Hogg auf die zentrale Tugend der oboedientia ausgerichtet ­seien, zitiert nach Hogg: Mount Grace Charterhouse, S. 41: De tristicia habita pre multitudine verborum et de consolacione divina ad eandem; De oracione; De correpcione fraterna; Qualiter homo potest orare pure; De Magna cura circa cordis puritatem; De obediencia vera et de murmuracione; Item de obediencia; Et divitur in vii partes. Vgl. Lincoln, Cathedral Library, MS 57 (A 6.8), fol. 8v zitiert nach Hogg: Mount Grace Charterhouse, S. 41: Quia in pura obediencia omnes virtutes adquiruntur et nutriuntur, sine qua non est virtus perfecta […]; fol. 11r: Ideo beatissimi vocantur veri Carthusienses inter omnes propter suam obedienciam purissimam, quia angeli mirantur de obediencia illis ordinis […]. Fol. 17r–v stellt den Zusammenhang z­ wischen Gehorsam und der Unterscheidung der Geister heraus, die durch die Anrufung des heiligen Namens verwirklicht werden könne: Et de eorum pura obediencia et excellentissima paupertate et oracionum frequentacione continua et devota gaudet ordo dominacionum, quia veri Carthusiensis per puram obedienciam ceteris precellunt et per excellentissimam paupertam mirabilissime pre ceteris in visu Dei potenciores facti sunt, quia nemo potencior in conspectu Dei et omnium sanctorum quam qui nichil preter Deum habent vel desiderant, et per devotissimam et cotinuam frequentacionem oracionum super ceteros mirabiliter transcendunt, et sic potestas Dei in eis manet. […] Et de eorum pura obedenica et perfecta humilitate in Dei exspectatione gaudent potestates sancte, quia per humilitatem veram et Dei exspectationem in pura obedencia habent puri Carthusienses potestatem discerndi temptaciones demonum ut eius immediate resistant per devotam invocacionem nominis Ihesu […]. 530 Vgl. Musica Monachorum, fol. 6r zitiert nach Hogg: Mount Grace Charterhouse, S. 42, in der Christus die Figur des Kartäusermönchs unterweist: O fili dulcis, si vis pure orare sine cogitacione maligna, frequenter exercere sacram leccionem et ipsa te defendet et adiuvabit in tempore orandi a cogitacionibus multifariis malignantibus menti, ut mentis memoria mirabiliter ignita summos celos ad me melius ascendat. 531 Musica Monachorum, fol. 3r zitiert nach Hogg: Mount Grace Chaterhouse, S. 42: Nota cordialiter quod quadam die michi sedenti, more solito, in cella mea et legenti leccionem sacri evangelii Mathei xii, valdeque tristato pre multitudine verborum ociosorum per verba Domini ubi dicit sic: Dico autem vobis quoniam omne verbum ociosum quod locuti fuerint homines reddent racionem de eo in die iudicii. (Mat. 12,16) Item: Ex verbis enim tuis iustificaberis et ex verbis tuis condempnaberis (Mat. 12,37). Subita tristicia et ineffabilis michi inerat et sic pre ista tristicia mira subito cor meum circumeunte in excessu mentis positus in spiritu dixi: O Domino mi Ihesu, vere Deus et homo, qui scis que michi expediunt, quomodo satisfacere possim tibi pro verbis meis ociosis, qui innumerabilia sunt, quia plerumque in vanis locucionibus occupatus fui dum voluntatem tuam implere potui in operibus bonis et oracionibus. Ideo ve michi. Tamen, omnibus his non

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 163 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Schriften, die sich der offiziellen Literaturproduktion zuordnen lassen, entfaltet John Norton jedenfalls eine Art normativen Diskurs über das kartusianische ‚Ordensideal‘ und die ‚Heiligkeit‘ seines Ordens.532 Und deshalb ist es wohl nicht zufällig, dass der Rubrikator die Gemeinsamkeiten ­zwischen John Norton und Margery Kempe im Hinblick auf die somatische Dimension der Gnaden­erfahrung – hier die Hautverfärbung während des mystischen raptus – mit so dyd prior ­Norton in his excesse 533 kommentiert. Vielleicht ­ argery Kempe dazu, die Legitimität der sichtbaren dient das Exempel der mulier sancta M ­­Zeichen der Gottesbegnadung im Leben des Kartäusermönchs zu unterstreichen. Oder ist es Anliegen der Leser, die ‚Echtheit‘ der Gotterwähltheit der Margery Kempe zu erweisen? Dann wären allerdings Hervorhebungen der biographisch-­lebensweltlichen Stationen der Protagonistin zu erwarten, die in der Kempe-­Handschrift gerade nicht aufzufinden sind, wie oben diskutiert. Es scheint vielmehr, dass die monastische Leserschaft durch ihre Marginaleinträge in eine Art Dialog mit der Kempe-­Vita tritt und die bestehenden Lektüreanweisungen Salthows’ in verschiedenen Glossierungsschichten mit einer christuszentrierten Spiritualität ‚anreichert‘ und erweitert. Es sind offenbar die Christusreden und die in immer neuen Variationen auftretenden göttlichen Liebesversicherungen, die die Leser als ­­Zeichen der ‚Heiligkeit‘ in ihren Bann ziehen und zu einer Auseinandersetzung mit dem Kempe-­Text anregen.

2.3.2 Margery Kempe, Mount Grace und mystische Kartäuserliteratur Nachdem das vorausgehende Kapitel die sich in den Marginaleinträgen abzeichnende Annotations- und Lektürepraxis näher beleuchtet hat, die auf Gottesdialoge und ‚Zeichen‘ der göttlichen Begnadung zentriert und in einen ‚offiziellen‘ Frömmigkeitsdiskurs des amor sensibilis eingebunden ist, gilt es jetzt den Blick auf eine sogenannte Überlieferungsgemeinschaft der Kempe-­Vita zu lenken. Es stellt sich die Frage, wie sich die Kempe-­Handschrift in das Corpus mystischer Erbauungsliteratur fügt, das die Mönche des nordenglischen Kartäuserkonvents Mount Grace abgeschrieben, gesammelt, übersetzt und kompiliert haben. Wie die obigen Ausführungen zu der Annotationspraxis im Kontext der Mystiktraktate der beiden Kartäuserautoren Richard Methley und John Norton aus Mount Grace zeigen konnten, zeichnen sich hier Spuren einer gewissen Interessenlage ab, die offenbar auf einzelpersönliche mystische Erfahrungen, Offenbarungserlebnisse und ‚Körperzeichen‘ fokussiert ist. obstantibus, in misericordia tua firmiter spero quia scio quod vere misericors es et graciosus et misericordie tue non est numerus. 532 Vgl. „Thesaurus Cordium vere Amancium“, Lincoln Cathedral Library, MS. 57 (A. 6.8), fol. 59r–59v (zitiert nach Hogg: Mount Grace Charterhouse, S. 42). 533 Add MS 61823, fol. 51v.

164 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Die Kartause Mount Grace zählt zu den wenigen Klostergründungen der englischsprachigen Kartäuser.534 Wie bereits erwähnt, ist sie im Jahr 1397 von Thomas de Holand, einem Neffen Richard II., Earl of Kent und Herzog von Surrey, auf einer abgelegenen Anhöhe in North Allerton im East Riding of Yorkshire gegründet worden. Die Kartause hat eine wechselvolle Geschichte erlebt: Ihr Stifter Thomas de Holand hat die Unruhen, die mit der Entthronung Richards II. im Jahr 1399 einhergingen, nur knapp überlebt und er wurde schließlich 1400 in Cirencester hingerichtet, als er sich dem Aufstand gegen Heinrich IV. anschloss, den das Parlament am 30. September 1399 zum Nachfolger Richards II. ernannt hatte.535 Allerdings hat Heinrich IV. das Kloster Mount Grace finanziell unterstützt und ihm Erträge aus Ländereien gesichert.536 Trotz der relativ geringen Anzahl seiner Mönche stieg Mount Grace im Spätmittelalter zu einem bedeutenden Zentrum der Buch- und Literaturproduktion auf.537 Dabei galt die Kartause Mount Grace nicht nur als literarisches Zentrum, sondern stand auch im Ruf besonderer Gnadenerwähltheit, wie aus den oben diskutierten theologischen Mystiktraktaten von Richard Methley und John Norton hervorgeht. Der sogenannte Act of Succession des Jahres 1534, den Heinrich VIII. erlassen hat, um seine Heirat mit Katharina von Aragon zu annullieren und seine neue Ehe mit Ann Boleyn zu legitimieren, leitete die englische Reformation und in ihrem Gefolge den 534 Vgl. die Angaben in Thompsons Monographie, die durch ihre akribischen Untersuchungen immer noch als Standardwerk der Erforschung der englischsprachigen Kartäuser gilt. Margaret Thompson: The Carthusian Order in England. Published for the Church Historical Society. London [u. a.] 1930. Vgl. Knowles: The Religious Orders in England. Volume 2, S. 134. Coppack/Aston: Christ’s Poor Men, S. 27 – 46 verzeichnen mit Mount Grace insgesamt neun Klostergründungen: Witham in Somerset im Jahr 1178; Locus Dei Hinton in Somerset 1222 – 1232; die Kartause Beauvale (Pulchra Vallis), ­Nottinghamshire im Jahr 1343; House of the Salutation of the Mother of God, London 1371; St Anne’s Charterhouse, Coventry 1381; The House of St Michael the Archangel, Hull, Yorkshire 1398; House of the Visitation of the Blessed Virgin Mary, Axholme, Lincolnshire 1397 – 1398; die oben erwähnte Klostergründung The House of Jesus of Bethlehem of Sheen, Sheen, Surrey im Jahr 1414 durch Heinrich V. in unmittelbarer Nähe des königlichen Palasts in Sheen. 535 Vgl. den Sammelband zu den Hintergründen der Deposition Richards II. und der Thronbesteigung Heinrichs IV. in: Henry IV. The Establishment of the Reign 1399 – 1406. Hrsg. von Gwilyn Dodd und Douglas Biggs. University of York 2003. 536 Vgl. die detaillierten Angaben in Thompson: The Carthusian Order in England, S. 232. Hogg: Mount Grace Charterhouse and late Medieval English Spirituality, S. 5 f. 537 Vgl. Coppack/Aston: Christ’s Poor Men, S. 77, die 16 erhaltene Mönchszellen und sechs weitere Kloster­zellen für Laienbrüder nennen, die allerdings wahrscheinlich erst um das Jahr 1470 entstanden sein dürften. Vgl. auch S. 130: „At Mount Grace we know that many of the monks were working as copyists, their cells containing pens, ink pots, paint palletes and other debris of writing; we also know from the remains of the library what they were reading and writing. Mount Grace had two exceptional scholars in the early sixteenth century, Richard Methley and Prior John Norton, and from their books we know that Mount Grace was at the forefront of modern European devotion and spirituality.“ Vgl. auch Knowles: The Religious Orders in England. Volume 3: The Tudor Age. Cambridge 1959, S. 239. Hogg: Mount Grace Charterhouse and late Medieval English Spirituality, S. 2.

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 165 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Niedergang des englischsprachigen Kartäuserordens ein.538 Schließlich besiegelte der Act of Supremacy das Schicksal der Kartäuser, mit dem Heinrich VIII. sich zum Oberhaupt der anglikanischen ­Kirche ernannt hat. Im Jahr 1539 erfolgte die Dissolution der Klöster, das rege monastische Leben in Mount Grace erlosch am 18. Dezember 1539.539 Die im Zuge der Reformationsbestrebungen systematisch betriebene Auflösung der Klostergemeinschaften hat fatale Folgen für die Bibliotheken und Bücherbestände der englischen Kartäuser nach sich gezogen. Kein Bibliothekskatalog hat die Wirren der Reformationszeit überdauert. Aus ­diesem Grund hat die mediävistische Forschung einzig Zugriff auf eine zum Teil sehr dürftige Quellenlage,540 da nur relativ wenige Handschriftenzeugen erhalten sind, die sich einer bestimmten Kartause zweifelsfrei zuordnen lassen.541 Die vorhandenen Handschriften lassen allerdings für den Zeitraum der Entstehung der Kempe-­Handschrift im 15. Jahrhundert ein deutliches Interesse an mystischen Erbauungslehren bzw. Unterweisungen in der Gebetspraxis und dem Herbeiführen der Einigung mit Gott erkennen. Dass Bibliothekskataloge in den englischen Kartäuserbibliotheken vorhanden gewesen sein dürften, legt ein Beschluss des Generalkapitels aus dem Jahr 1478 nahe, der besagt, dass Inventare über den Bestand der einzelnen Bibliotheken zu führen und dem Generalkapitel einmal jährlich vorzulegen ­seien.542 Die in geringer Anzahl vorhandenen Bücherverzeichnisse, die für die Ausleihe und den Büchertransport ­zwischen einzelnen Kartäuserklöstern angelegt worden sind, ermöglichen nur partielle und wenig belastbare Rückschlüsse auf den Buchbestand eines spezifischen Klosters.543 538 Vgl. Hogg: Mount Grace Charterhouse and late Medieval English Spirituality, S. 8 – 13. Coppack/Aston: Christ’s Poor Men, S. 131 – 135. 539 Vgl. ebd., S. 135. 540 Vgl. Thompson: The Carthusian Order in England, S. 312 f. und S. 316. 541 Vgl. einige Beispiele der oben diskutierten Handschriften in Kapitel 2.2 „Die Druckfassungen des Kempe-­ Textes“ und 2.3 „Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre“: So lässt sich etwa die (frauen-)mystische Sammelhandschrift Oxford, Bodleian Library, MS Douce 114 aufgrund des Besitzereintrags der Kartause Beauvale zuordnen, ebenso wie die „Incendium Amoris“-Handschrift Cambridge, Cambridge University Library, MS Mm. v. 37. Ein Richard-­Rolle-­Kompendium London, British Library, Add MS 24661 aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts trägt den Besitzeintrag der Klosterbibliothek Sheen. Aus der Kartause Sheen ist ebenfalls der Erbauungstraktat „The Chastysing of Goddes Children“ in der Handschrift Oxford, Bodleian Library, Rawlinson C. 57 aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts erhalten. Dieser Erbauungstraktat findet sich ebenfalls in einer weiteren Sammelhandschrift Oxford, Bodleian Library, MS Bodley 505 aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts aus dem Besitz des Priors der Londoner Kartause namens Edmund Storoure (1469 – 1477). Das Exemplar der „Scale of Perfection“ von Walter Hilton (London, British Library, MS Harley 6579), das auf die Mitte des 15. Jahrhunderts datiert werden kann, stammt ebenfalls aus der Londoner Kartause. Vgl. auch die Londoner Kartäuserhandschrift Cambridge, University Library, MS Ee.iv.30 der „Scale of Perfection“ aus dem 15. Jahrhundert. 542 Vgl. Thompson: The Carthusian Order in England, S. 314 ff. 543 In ihrer detaillierten Untersuchung hat Margaret Thompson die erhaltenen Buchlisten ediert. Thompson: The Carthusian Order in England, S. 313 – 334. Vgl. auch das Kapitel „Monastic Libraries“ in Knowles:

166 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Daher lässt sich die Frage nach einer „codexübergreifenden Mitüberlieferung“, wie sie Bernhard Schnell in seinem programmatischen Forschungsbeitrag als Frage nach dem „Stellenwert einer Handschrift in einer spezifischen Bibliothek“ unter der Perspektive des Bibliothekszusammenhangs formuliert hat,544 für den Kempe-­Codex nicht ohne Weiteres beantworten.545 Denn die notwendigen Vorbedingungen, die den Buchbestand und den Bibliothekskatalog einer Klosterbibliothek betreffen, sind in ­diesem Fall nur unzureichend erfüllt.546 Zwar lassen sich aus d ­ iesem Grund nur vorsichtige Überlegungen zu einer „codexübergreifenden Mitüberlieferung“ der Kempe-­Handschrift formulieren, aber zumindest ermöglichen die wenigen erhaltenen Handschriften, die Klostergemeinschaft Mount Grace als „Verwendungs- und Gebrauchsraum“547 (Bernhard Schnell) der Kempe-­Handschrift im Rahmen einer begrenzten Überlieferungsgemeinschaft zu konturieren. Denn auf diese Weise lässt sich die institutionelle Einbindung der Kempe-­Vita in die Schrift- und Buchkultur eines Kartäuserklosters erschließen, das offenbar verstärktes Augenmerk auf mystische Erbauungsliteratur gelegt hat. Lediglich sieben Handschriften können der Klosterbibliothek Mount Grace aufgrund von Besitzvermerken, thematischen Aspekten und ihrer Gestaltungsweise zugeordnet werden:548 The Religious Orders in England. Volume 2. Michael Sargent formuliert im Rückgriff auf Thompson: „In the case of England these lists, if ever kept, are no longer extant; thus the most important single source of evidence for the circulation of books among the English Carthusians is the collection of giftand loan-­lists published by E. Margaret Thompson in ‘The Carthusian Order in England’.“ Sargent: The Transmission by the English Carthusians of some Late Medieval Spiritual Writing, S. 227. Drei Bücherverzeichnisse aus der Kartause Witham in Somerset s­eien auf dem Vorsatzblatt auf fol. 6r am unteren Rand und auf fol. 7v in der Handschrift Oxford, Bodleian Library, Laud MS. 154 erhalten. Sie verzeichnen die Bücher, die der Kartäusergelehrte John Blacman dem Kloster bei seinem Eintritt um die Hälfte des 15. Jahrhunderts geschenkt habe (Thompson: The Carthusian Order in England, S. 316 – 321). Signifikant ist, dass sich in dem dritten Verzeichnis auf fol. 7v Einträge zu mystischer Viten- und Offenbarungsliteratur finden, wie etwa Revelaciones Sancte Elisabethe Sconaug, sancte Matildis vocat. gracia celestis, Sancte Katerine de Senis, Hampol de incendio amoris und S. brigitt. (S. 320 f.). Aus der Kartause Hinton existiert ein Bücherverzeichnis aus dem 14. Jahrhundert, das in die Handschrift London, Lambeth Palace, MS 410 integriert sei und vornehmlich Kirchenväterliteratur von Augustinus, Bernhard und Ambrosius (S. 322) katalogisiere. 544 Vgl. Schnell: Zur Bedeutung der Bibliotheksgeschichte für eine Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte, S. 222. 545 Ebd., S. 228. 546 Vgl. ebd., S. 222. 547 Schnell: Zur Bedeutung der Bibliotheksgeschichte für eine Überlieferungs- und Wirkungsgeschichte, S. 228. Schnell argumentiert, dass die Überlieferungsgemeinschaft einer Klosterbibliothek, die aus spezifischen Sammelinteressen und Anordnungsregeln hervorgegangen ist, Aufschluss über den „Verwendungs- und Gebrauchsraum“ einer Handschrift bieten kann. 548 Vgl. die Aufstellung der aus Mount Grace bekannten Handschriften von Ker: Medieval Libraries of Great Britain, S. 132. Vgl. zu den Beständen der Klosterbibliothek Mount Grace, Hogg: Mount Grace Charterhouse and late Medieval English Spirituality, S. 14 f.

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 167 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Dazu gehören neben der Kempe-­Handschrift die beiden oben erwähnten t­heologischen Sammelhandschriften: Zum einen die Handschrift Cambridge, Trinity College, MS O.2.56 aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, die die oben diskutierten Mystiktraktate des visionsbegabten Klostervikars Richard Methley tradiert 549 und zum anderen das im Kontext der Überlieferungs- und Textgeschichte genannte St. Gregor-­Kompendium, das einen Schreiber- und Besitzvermerk aus Mount Grace aufweist.550 Die oben genannte „Cloud of Unknowing“-Sammelhandschrift London, British Library, MS Harley 2373551 aus dem 15. Jahrhundert kann allerdings nur aufgrund des eher zweideutigen Marginaleintrags von James Grenehalgh dem Umfeld der Klosterbibliothek Mount Grace zugewiesen werden.552 Wie oben ausgeführt, überliefert d ­ ieses Kompendium die sogenannte ‚Cloud-­Gruppe‘ mit dem Kerntext der „Cloud of Unknowing“ und den Satellitentexten, die sich in Anlehnung an die via negativa als Unterweisung in wahrer Gotterkenntnis und Anleitung zur ‚Unterscheidung der Geister‘ fassen lassen. Der Cloud-­Text beruft sich einzig auf Pseudo-Dionysius Areopagita als Quellentext,553 greift allerdings auf die großen monastischen Theologen wie Johannes Cassian, Benedikt, Gregor den Großen, Bernhard von Clairvaux und den Kartäuserautor Guigo II. zurück und kompiliert Auszüge ihrer Werke mit „der scholastisch orientierten Theologie“ (Steinmetz) Anselms von Canterbury, Thomas’ von Aquin und Bonaventuras 554 zu einer praktischen Erbauungslehre, die auf die explizite Nennung von Autoritäten weitgehend verzichtet.555 549 Über den Schreiber der Handschrift lassen sich keine gesicherten Aussagen treffen. 550 Vgl. die obigen Ausführungen zu den Provenienzhinweisen und der Ausstattung der St. Gregor-­ Handschrift, London, British Library, Add MS 62450 (um die Mitte des 15. Jahrhunderts) in Kapitel 2.1 „Die Handschrift London, British Library, Add MS 61823“. 551 Vgl. Hodgson: The Cloud of Unknowing, 1982, S. xvii f. 552 Vgl. die Ausführungen in Kapitel 2.2.3 „Die Druckfassung Henry Pepwells aus dem Jahr 1521“. Die englische Mystikforschung sieht den Marginaleintrag jedoch als entscheidenden Hinweis auf die Provenienz der Handschrift, vgl. Sargent: James Grenehalgh as Textual Critic. Volume 2, S. 511. 553 Vgl. Cloud of Unknowing, 1982, S. 70, 7 – 9: whoso wil loke Deinis bookes, he schal fynde þat his wordes wilen cleerly aferme al þat I haue seyde or schal sey, fro þe biginnyng of þis tretis to þe ende. Vgl. auch den Verweis auf Pseudo-Dionysius Areopagita in „The Book of Privy Counselling“, 1982, S. 87, 44 – 88, 3: Þis is þe cloude of vnknowyng; þis is þat priue loue put in purete of spirit; þis is þe Arke of þe Testament. Þis is Denis deuinite, his wisdom, his drewry, his liȝty derknes & his vnknowyn kunnynges. 554 Diese Beobachtung stammt von Steinmetz: Mystische Erfahrung und mystisches Wissen in den mittel­ englischen Cloud-­Texten, S. 263. Die einzelnen theologischen Quellentexte hat, soweit sie sich nachweisen lassen, Phyllis Hodgson umfassend bestimmt. Vgl. Hodgson: The Cloud of Unknowing, 1944, Einleitung „Sources“, S. lvii–lxxvii. Vgl. das Kapitel „The Heritage from Tradition, Sources and ­Presentation“ in Hodgson: The Cloud of Unknowing, 1982, S. xxix–xli. 555 Vgl. die Textpartien, die ‚Intellektuellenschelte‘ und humilitas-­Rhetorik gleichermaßen verpflichtet sind, Cloud of Unknowing, 1982, S. 70, 9: On none oþerwise þen þus list me not alegge him, ne none oþer doctour for me at þis tyme. For somtyme men þouȝt it meeknes to sey nouȝt of þeire owne hedes, bot ȝif þei afermid it by Scripture & doctours wordes; & now it is turnid into corioustee & schewyng of kunnyng. Vgl. auch S. 2, 1 – 5: Fleschely ianglers, opyn preisers & blamers of hemself […] alle maner of pinchers: kept

168 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Die Handschrift York, York Minster Library, MS xvi. I.9 aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts tradiert das sogenannte „Speculum Spiritualium“, das als populäres Erbauungskompendium in lateinischer Sprache die theologischen Grundlagen einer religiösen Lebensführung und Askesepraxis vermittelt.556 Wie die Forschung vermutet, geht dieser Erbauungstext auf einen anonymen Kartäuserautor zurück, der aus Exzerpten der Kirchenväter Augustinus, ­Gregor und Bernhard von Clairvaux und Auszügen erbaulich-­mystischer Literatur verschiedener Autoren, wie Birgitta von Schweden, Heinrich Seuse, Mechthild von Hackeborn, Elisabeth von Schönau und Walter Hilton und Richard Rolle, eine umfassende Unterweisung für das kontemplative Leben kompiliert hat.557 Damit bietet dieser Erbauungstext ein weiteres Beispiel für eine Retextualisierung frauenmystischer Viten- und Offenbarungstexte, wie wir sie aus dem oben genannten Beispiel des Erfurter Kartäusertheologen Johannes Hagen kennen. Die Handschrift Leeds, Brotherton Library, Ripon Cathedral Library, MS 6 aus dem 15. Jahrhundert 558 enthält die beliebten und breit überlieferten „Meditationes Vitae Christi“,559 die im Mittelalter dem bedeutenden Franziskanertheologen Bonaventura zugeschrieben wurden. Dieser Text bietet eine Evangelienharmonie, in der das Leben und Leiden Christi innerhalb einer heptadischen Textstrukturierung detailreich-­konkretisierend zur Darstellung gelangt.560 Und in dieser Handschrift hat die ältere Forschung zunächst noch die Vorlage für die englischsprachige Bearbeitung der Meditationes – den sogenannten „Mirror of the Blessed Life of I neuer þat þei sawe þis book. For myn entent was neuer to write soche þing unto hem. & þerfore I wolde þat þei medel not þerwiþ, neiþer þei ne any of þees corious lettred or lewed men. Vgl. auch S. 16, 31 – 17, 4: Bot þen is þe vse iuel, when it is swollen wiþ pride & wiþ coriouste of moche clergie & letterly conning as in clerkes, & makeþ hem prees for to be holden meek scolers & maysters of deuinite or of deuocion, bot proude scolers of þe deuel & maysters of vanite & of falsheed. & in oþer men or wommen, whatso þei be, religious or seculers, þe vse & þe worching of þis ­kyndely witte is þan iuel, whan it is swollen wiþ proude & corious skyles of wordely þinges & fleschly c­ onceites, in couetyng of wordly worschipes & hauyng of richesses & veyne plesaunce & flateringes of oþer. 556 Vgl. die detaillierte Beschreibung der Handschrift in Neil R. Ker/Alan J. Piper: Medieval Manuscripts in British Libraries. Volume 4, Pasley-­York, Oxford 1992, S. 717 f. 557 Vgl. zu den einzelnen Quellentexten, aus denen das „Speculum Spiritualium“ kompiliert worden ist, Edward A. Jones: A Chapter of Richard Rolle in Two Fifteenth-­Century Compilations. In: Leeds Studies in English, 27 (1996), S. 139 – 162, hier S. 140 f. Vgl. auch die Kurzbeschreibung der Handschrift York, York Minster Library, MS xvi. I.9 auf S. 143. 558 Vgl. Hogg: Mount Grace Charterhouse and Late Medieval English Spirituality, S. 15, der die Handschrift unter ihrer ehemaligen Bibliothekssignatur als Ripon, Ripon Cathedral Library, MS. xvii B. 29 verzeichnet. Vgl. ebenfalls Ker: Medieval Libraries of Great Britain, S. 132. Eine ausführliche Beschreibung der Handschrift bietet ders.: Medieval Manuscripts in British Libraries. Volume 4. Oxford 1992, S. 211. Vgl. neuerdings die Untersuchung von David J. Fall: Nicholas Love’s Mirror and Late Medieval Devotio-­Literary Culture. Theological Politics and Devotional Practice in Fifteenth-Century England. New York, London 2016, besonders S. 19 f. und S. 28. 559 Vgl. die Textedition Iohannis de Caulibus. Meditationes Vitae Christi, olim S. Bonaventuro attributae. Cura et studio M. Stallings-­Taney. Turnhout 1997 (Corpus Christianorum. Continuatio mediaevalis, 153). 560 Vgl. die überblicksartige Darstellung in Riehle: Englische Mystik des Mittelalters, S. 409 ff.

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 169 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Jesus Christ“561 – vermutet, die der hochangesehene Kartäuserprior und -theologe N ­ icholas Love 562 aus Mount Grace wohl um das Jahr 1410 im Auftrag von Erzbischof Th ­ omas ­Arundel verfasst hat.563 Die Handschrift Cambridge, Cambridge University Library Add MS, 6578 aus Mount Grace tradiert den „Mirror“ in einer Anglicana-­Schreiberhand aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts 564 zusammen mit dem berühmten Memorandum, das ein zweiter Schreiber dem Text nachträglich vorangestellt hat. Dieses Memorandum weist den Text als von Erzbischof ­Thomas Arundel (1353 – 1414)565 persönlich autorisierte ‚Gegenschrift‘ gegen 561 Vgl. die Textedition: Nicholas Love: Mirror of the Blessed Life of Jesus Christ. A Critical Edition Based on Cambridge University Library Additional MSS 6578 and 6686. Edited with Introduction, Notes and Glossary by Michael G. Sargent. New York, London 1992 (Garland Medieval Texts, Number 18). In einem Brief aus dem Jahr 1882 äußert Henry Wilson die Überlegung, dass es sich bei der Ripon Cathedral-­Handschrift um die Vorlage des „Mirror“ handeln könnte. Dieser Brief wird gemeinsam mit der Handschrift in der Leeds Brotherton Library aufbewahrt, vgl. den Eintrag im Handschriftenkatalog der Leeds Brotherton Library, eingesehen online unter https://library.leeds.ac.uk/special-­collections-­ explore/372720 [21. 08. 2018]. Vgl. zu Wilsons These, die sich überlieferungsgeschichtlich nicht belegen lässt, Falls: Nicholas Love’s Mirror and Late Medieval Devotio-­Literary Culture, besonders S. 19 f. 562 Nicholas Love war vermutlich im Zeitraum von 1410 bis 1423 Prior in Mount Grace. Vgl. Hogg: Mount Grace Charterhouse and Late Medieval English Spirituality, S. 18 f. Vgl. Sargent: James Grenehalgh as Textual Critic. Volume 1, S. 28. 563 Vgl. zum vermuteten Entstehungsdatum des „Mirror“, das einzig aus dem lateinischen Memorandum hervorgeht, das dem Text in der Handschrift Cambridge, Cambridge University Library Add MS 6578 auf fol. 2v als Nachtrag einer zweiten Schreiberhand vorausgeht: Memorandum quod circa annum domini Millesimum quadrigentesimum decimum, originalis copia huius libri, scilicet Speculi vite Christi in Anglicis. presentabatur Londoniis per compilatorem eiusdem .N. Reuerendissimo in Christo patri & domino, Domino Thome Arundell, Cantuarie Archiepiscopo, ad inspiciendum & debite examinandum antequam fuerat libere communicata. Qui post inspeccionem eiusdem per dies aliquot’. retradens ipsum librum memorato eiusdem auctori’. proprie vocis oraculo ipsum in singulis commendauit & approbauit, necnon & auctoritate sua metropolitica, vt pote catholicum, publice communicandum fore decreuit & mandauit, ad fidelium edificacionem, & hereticorum siue lollardorum confutacionem. Amen. Vgl. Nicholas Love: The Mirror of the Blessed Life of Jesus Christ. A Reading Text, Einleitung S. xiii, S. 7 und S. 242. 564 Die Handschrift trägt einen Besitzeintrag auf fol. 2v: Iste liber est de domo Assumpcionis beate Marie in monte Gracie. Vgl. Sargent: The Transmission by the English Carthusians of some Late Medieval Spiritual Writing, S. 230. Elizabeth Salter: The Manuscripts of Nicholas Love’s Myrrour of the Blessed Lyf of Jesus Christ and Related Texts. In: Middle English Prose. Essays on the Bibliographical Problems. Hrsg. von A. S. G. Edwards and Derek Pearsall. New York 1981, S. 115 – 127. 565 Vgl. den Eintrag im Dictionary of National Biography von Jonathan Hughes: Arundel, Thomas (1353 – 1414). In: Oxford Dictionary of National Biography. Oxford 2004. Online Edition, May 2007 http://www.oxforddnb.com/view/article/713 [25. 08. 2018]. Thomas Arundel erließ im März des Jahres 1401 im Kontext der Lollardenbekämpfung das Statut De heretico comburendo, das die Vebrennung auf dem Scheiterhaufen als Bestrafung nicht autorisierter Predigttätigkeit und Verbreitung theologischer Schriften in der Volkssprache festsetzte. Zwischen 1407 und 1409 hat Arundel d­ ieses Statut um die sogenannten dreizehn Constitutions erweitert, die auf die K ­ irche im allgemeinen und insbesondere den Lehrbetrieb der Oxforder Universität konzentriert waren und eine monatliche Prüfung der Theologen und Studenten einschloss, um die Verbreitung von Wyclifs Glaubenslehre zu unterbinden. Vgl. dazu

170 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

die Häresie der sogenannten Lollardenbewegung 566 aus, die zwar in ihren Glaubensvorstellungen und Praktiken durchaus heterogen ausgefallen ist, wie die erhaltenen Prozessakten gegen Lollardenanhänger belegen, sich aber in ihren ‚Grundsätzen‘ auf die englischsprachige Bibelübersetzung und kontrovers diskutierten Glaubenslehren des Oxforder Theologen John Wyclif berufen hat.567 Im Unterschied zur Kempe-­Vita zeichnet sich im „Mirror“ durch das Memorandum und entsprechende Retextualisierungsprozesse in Form von Textzusätzen und Bearbeitungen der lateinischen Vorlage eine spezifische Gebrauchsfunktion im Kontext der Häresiebekämpfung ab,568 so dass die „Mirror“-Handschrift aus der Klosterbibliothek Mount Watson: Censorship and Cultural Change, besonders S. 827 f. Die neuere Forschung geht allerdings von einer verminderten Signifikanz dieser regionalen Statuten für die Kultur- und Spiritualitätsgeschichte des spätmittelalterlichen Englands aus und weitet stattdessen den Blick auf europaweite Kirchenreformen, wie sie im Konzil von Pisa und dem Konstanzer Konzil 1414 Ausdruck fanden. Vgl. E. A. Jones (Hrsg.): The Medieval Mystical Tradition in England. Papers read at Charney Manor, July 2011. Suffolk 2013 (Exeter Symposium 8), Einleitung, S. 3 f. 566 Michael Sargent merkt an, dass die Begriffe „Wycliffite“ und Lollarde im England des 14. und 15. Jahrhunderts nahezu bedeutungsgleich als Bezeichnung für die Anhänger des Oxforder Theologen John Wyclif (gestorben um 1384) eingesetzt worden ­seien. Vgl. Michael Sargent: Nicholas Love as Ecclesiastical Reformer. In: Church History and Religious Culture 96 (2016), S. 45 Anm. 12. 567 Auf der Grundlage seiner Bibelübersetzung hat Wyclif nicht nur eine eigenständige Bibellektüre ohne die Auslegung durch einen Priester propagiert, sondern auch das Beichtsakrament und die Transsubstan­ tiationslehre in Frage gestellt. Vgl. den detaillierten Eintrag im Oxford Dictionary of National Biography von Anne Hudson/Anthony Kenny: Wyclif, John (d. 1384). In: Oxford Dictionary of National Biography. Oxford 2004. Online Edition, September 2010 http://www.oxforddnb.com/view/article/30122 [25. 08. 2018]. Vgl. zu Eucharistiefeier und Transubstantionslehre, Patrick J. Hornbeck: What is a Lollard? Dissent and Belief in Late Medieval England. Oxford 2010, besonders S. 69 – 84 und S. 142 ff. zur Ablehnung des Beichtsakraments. Vgl. die grundlegenden Arbeiten von Margaret Aston und Anne Hudson: Margaret Aston: Lollards and Reformers. Images and Literacy in Late Medieval Religion. London 1984 (History Series 22), besonders S. 198 – 219. Aston diskutiert das Verhältnis von „Lollards and Literacy“ anhand der Prozessakten und arbeitet die vom Lollardismus forcierte Vorstellung einer direkten Relation ­zwischen Lesekompetenz und Glaubenspraxis heraus. Vgl. den Sammelband von Anne Hudson: Lollards and their Books. London and Ronceverte 1985 (History Series 45), mit dem programmatischen Beitrag „Contribution to a History of Wycliffite Writings“, S. 1 – 12. Vgl. die Monographie von Anne Hudson: The Premature Reformation. Wycliffite Texts and Lollard History. Oxford 1988, in der sie den sozial- und spiritualitätsgeschichtlichen Hintergrund der Lollardenbewegung anhand detaillierter Erforschung der Quellenlage rekonstruiert. 568 Vgl. Watson: Censorship and Cultural Change in Late Medieval England, S. 824 ff. Diese Gebrauchsfunktion lässt sich nicht nur aus dem oben genannten Memorandum erschließen, das 17 der insgesamt 49 erhaltenen Handschriften beigefügt ist, sondern auch aus der Textredaktion. Michael Sargent führt aus, dass Love in den Textkapiteln zum Donnerstag die meisten Änderungen und Zusätze im Vergleich mit seiner lateinischen Vorlage der „Meditationes Vitae Christi“ vornehme (Mirror, 1992, Einleitung, S. xlix–liii). Hier ließe sich die antihäretische Textausrichtung an der Bearbeitung des Maria-­Magdalena-­ Kapitels erkennen, das eine von Love konzipierte Verteidigung der Beichte enthalte (Mirror, 1992, S. 92, 42 – 93, 3): Bot here perantere sume men þenken aftur þe fals opinyon of lollardes þat shrift of mouþe is not nedeful, bot þat it sufficeþ onely in herte to be shriuen to god, as þe forseide woman was, for þe gospel telleþ

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 171 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Grace nur bedingt Aufschluss über eine gebrauchsfunktionale Einbindung des Kempe-­Codex bieten kann. Die Kempe-­Vita berichtet, wie die Margery-­Figur aufgrund des Häresieverdachts nur knapp einer Verbrennung auf dem Scheiterhaufen entrinnt 569 und wie sie in verschiedenen Glaubensprüfungsepisoden in den Kapiteln 46, 47, 51, 52, 53 und 54570 ihre Rechtgläubigkeit vor anonymen Klerikern unter dem Vorsitz des Erzbischofs von York erweisen muss. Allerdings scheinen diese Episoden eher rhetorisch als Nachweis ihrer Orthodoxie funktionalisiert zu sein. Denn sie gleichen den aus der hagiographischen Vitenliteratur bekannten not þat she spake any worde by mouþe, & ȝit was hir sinne fully forȝiuen as it is seide, & as it semeþ þis is a gret euidence for þat opinion. Vgl. Mirror, Einleitung, S. xlviii–xlix. In das Kapitel zur Auferweckung des Lazarus inseriere Love einen Abschnitt zur Buße, der auf dem Augustinus-­Traktat In Johannis Evangelium Tractatus CXXIV (Mirror, 1992, Einleitung, S. xlix) basiere. Die signifikantesten Textzusätze beträfen allerdings die Apologie der Eucharistielehre, die Love in das Kapitel zum letzten Abendmahl integriere. Vgl. S. 153, 34 – 154, 3 zur Transsubstantionslehre; S. 154, 16 – 24 zu Hostienmirakel und Visionserfahrungen während der Eucharistiefeier. Sargent merkt an, dass diese letztgenannte Textpassage (S. 154, 16 – 24) an die Formulierung ad fidelium edificacionem, & hereticorum siue lollardum confutacionem aus dem Memorandum erinnert: Bot here in confusion of alle fals lollardes, & in confort of alle trewe loueres & wirchiperes of þis holi sacrament & principaly to þe louyng & honour of þe hye auctour & makere þerof oure lord Jesus. Vgl. auch S. 223, 1 – 9 mit der formelhaften Wendung to confusion of alle fals lollardes & ­heritykes Amen im Kontext der Transsubstantionslehre. Vgl. auch die neuere Untersuchung von Sargent: Nicholas Love as Ecclesiastical Reformer, S. 40 – 64, besonders S. 48 – 56. Sargent beleuchtet Nicholas Loves Rolle als kartäusischer Reformtheologe, der den „Mirror“ möglicherweise nicht nur auf Anordnung Arundels verfasst habe, wie es dem gängigen Forschungskonsensus entspricht, sondern vielmehr in seiner Funktion als Initiator kirchlicher Erneuerungsbewegungen, wie sie aus einem Chronikbericht der benediktinischen Crowland Abbey in Lincolnshire über das außerordentliche Generalkapitel der Benediktiner hervorgeht, das im Mai des Jahres 1421 durch Fürsprache Loves vor König Heinrich V. einberufen worden sei (abgedruckt in Sargent, 2016, S. 63 f. nach: The Continuation of the Annals of Crowland Abbey. Rerum Anglicarum Scriptores Veteres. 3 Volumes. Hrsg. von William Fulmann and Thomas Gale. Oxford 1648 – 1691, Volume 1, S. 513 – 515). 569 Vgl. BMK, Kapitel 16, S. 36, 14 – 16, die Beschimpfung einer anonymen Frau vor der Audienz beim Erzbischof: I wold þu wer in Smythfeld, & I wold beryn a fagot to bren þe wyth; it is pety þat þow leuyst. 570 Vgl. BMK, Kapitel 13, S. 28, 40 – S. 29, 8. Zwei junge Männer retten die Protagonistin durch göttliches Einwirken vor dem Scheiterhaufen: […] tweyn fayr ȝong men & seyd to hir, „Damsel, art þow non eretyke ne non loller?“ And sche seyd, „No, serys, I am neyþyr eretyke ne loller.“ Vgl. Kapitel 46, S. 112, 1 – 2, der Bürgermeister von Leicester beschuldigt sie der Häresie. Vgl. Kapitel 47, S. 113, 5 – 32, der Vogt von Leicester prüft die Rechtgläubigkeit der Margery-­Figur und verängstigt sie durch sein anzügliches Verhalten (schewyng vn-­clene tokenys & vngoodly cuntenawns). Vgl. Kapitel 51, S. 122, 10 – 29 Befragung zu den Articles of þe Feyth durch einen anonymen Kleriker. Kapitel 52, S. 123, 35 – 128, 31 Befragung zu den Articles of owr Feyth (S. 125, 8) durch den Erzbischof von York. Kapitel 53, S. 129, 22 – 131, 9: Der Graf von Bedford lässt sie aufgrund des Häresieverdachts gefangen nehmen. Kapitel 54, S. 131, 24 – 135, 13: Die Margery-­Figur wird dem Erzbischof von York erneut zu einer Prüfung in Glaubensfragen in Beverley, Yorkshire, vorgeführt. Sie bittet den Erzbischof um ein Schriftdokument, das ihre Orthodoxie ausweist BMK, S. 134, 20 – 24: Sche seyde, „My Lord, I pray ȝow late me haue ȝowr lettyr & ȝowr seyl in-­to recorde þat I haue excusyd me a-­geyn myn enmys & no-­thyng is attyd ageyns me, neiþyr herrowr ne heresy þat may ben preuyd vp-­on me […].“

172 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Motiven der Verkennung durch die Welt und „Verlassenheit von Freunden und Feindschaften“ (­ Siegfried Ringler), die Teil der Leidensnachfolge Christi bilden und zum topischen Inventar von Vitentexten gezählt werden können.571 Und in ­diesem Sinne sollte auch die Episode, die von einer Audienz bei Thomas Arundel berichtet, eher mit Vorsicht behandelt werden, da sie zunächst einmal auf der Ebene des Erzählten die Beglaubigung der Margery-­Figur durch die Person des Erzbischofs detailrealistisch vorführt.572 Jedenfalls wirken die Lollarden-­Episoden in der Kempe-­Vita eher wie ein glaubwürdiger Orthodoxienachweis. Daher lassen sie sich nicht unbedingt als Hinweis auf die Textfunktion der Kempe-­Vita fassen. Zumindest haben die lesenden Kartäusermönche die entsprechenden Kapitel zu den Glaubensbefragungen in der Kempe-­Handschrift nicht mit Randeinträgen hervorgehoben.573 Deshalb ermöglicht die Cambridger „Mirror“-Handschrift Add MS 6578 wohl eher allgemeine Rückschlüsse auf eine von höchsten Kirchenkreisen forcierte Buch- und Schriftkultur des Kartäuserklosters Mount Grace zu Beginn des 15. Jahrhunderts, in deren Kontext der gut 30 Jahre später entstandene Kempe-­Codex situiert werden kann.574

571 Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur in Frauenklöstern des Mittelalters, S. 310 zum Topos der „Verlassenheit von Freunden und Feindschaften“ als Teil der imitatio Christi. Vgl. auch S. 172 und S. 293 zum Topos der Verkennung durch die Welt. 572 Vgl. BMK, Kapitel 16, S. 36, 4 – 37, 14. Vgl. die Namensnennung, S. 35, 29 Archbusshop of Cawntyrbery Arundel. Dagegen wertet der Historiker John Arnold die Kempe-­Vita eher als Geschichtsquelle, indem er wiederholt auf die Ebene der ‚Erfahrungen‘ der Margery Kempe referiert, auch wenn er die topische Überformung der Anklageszenarien durch die Verspottung Christi am Kreuz modelliert sieht (S. 88). John H. Arnold: Margery’s Trials. Heresy, Lollardy and Dissent. In: A Companion to „The Book of Margery Kempe“. Cambridge 2004, S. 75 – 93, besonders S. 78 f. 573 Vgl. Add MS 61823 Kapitel 46, fol. 54r, 28 rechter Außenrand w-­förmiges nota-­Zeichen neben der Androhung der Gefängnisstrafe, die der Vogt ausspricht: for I xal haue þe in p[ri]son. Die eigentliche Befragung ist nicht hervorgehoben. Kapitel 47, fol. 54v, 27 – 55r, 14 nicht markiert; Kapitel 51, fol. 59r, 2 – 23 Befragung nicht markiert; Kapitel 52, fol. 59v, 22 – 35 nicht markiert; Kapitel 53, fol. 62v, 28 – 29 Duke of B in roter Tinte neben dem Textabschnitt zur Verhaftung der Margery-­Figur. Kapitel 54, fol. 63v, 5 – 65r, 35; fol. 63v, 22 linker Außenrand frere in roter Tinte neben der Textpassage, die einen anonymen Mönch in der Rolle des adversarius innerhalb der Befragungsepisode präsentiert. Diese Randeinträge sprechen eher dafür, dass die jeweiligen Gegenspieler die Aufmerksamkeit der Leser gefunden haben. Dagegen weist die Handschrift Cambridge, Cambridge University Library Add MS 6578 mehrfach Contra lollardos-­Marginaleinträge auf, vgl. etwa nota contra lollardos Mirror, 1992, S. 140, 1 – 5; nota contra lollardos, S. 144, 19 – 21; contra lollardos, S. 153, 21 – 22; nota bene prior lufe neben einer Textpartie zum Sakra­ment der Eucharistie, S. 154, 16 – 19: Bot here in confusion of alle fals lollardes, & in confort of alle trewe loueres & wirchiperes of þis holi sacrament & principaly to þe louyng & honour of þe hye auctour & makere þerof oure lord Jesus. Vgl. die Diskussion dieser Randeinträge als Indiz der antihäretischen Textfunktion, Mirror, 1992, Einleitung, S. xliv–lviii. 574 Dies legt zumindest auch die Tatsache nahe, dass die Kartäusermönche aus Mount Grace Erzbischof Thomas Arundel im Jahr 1410 die Konfraternität zugesprochen haben. Damit wird er dem Klosterstifter gleichgestellt und in alle Messfeiern und klösterlichen Gebetshandlungen eingeschlossen. Vgl. Sargent: Nicholas Love as Ecclesiastical Reformer, S. 44 im Rückgriff auf Thompson: The Carthusian

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 173 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Denn signifikant ist, dass Nicholas Love in seiner Bearbeitung zweifach auf private Gnadenerfahrungen gottinspirierter Personen anspielt: Zunächst in einer Textpassage zur Eucharistie im oben erwähnten Donnerstags-­Kapitel 575 und erneut gegen Ende des Kapitels zum Kreuzestod.576 Er führt das Beispiel einer ihm bekannten Person (þere is one person þat I knowe now lyuyng) an, die das göttliche Liebesfeuer im Sakrament der Eucharistie empfange. Er beschließt die drei Kapitel zur Kreuzigung 577 mit einer Erwähnung begnadeter Menschen (sume creatours), die nach intensiver Kontemplationsübung (longe exercise of sorouful compassion) Gottes lebendige Nähe körperlich erfahren. Dieses Exempel wirkt wie eine Anregung dazu, sich die Einzelheiten des Kreuzigungsgeschehens vor Augen zu rufen, die zuvor detailliert von der Nagelung ans Kreuz, der Beschreibung der blutenden Wunden und der unermesslichen Trauer der Gottesmutter entfaltet worden sind. Die Kombination der Kreuzigungsdetails mit einem ‚persönlichem Beispiel‘ stellt dem Rezipienten gewissermaßen eine s­ olche Gotteserfahrung in Aussicht. Gleichzeitig präsentiert Love auf diese Weise Order in England, S. 339. Sargent bietet einen Abdruck des Schriftdokuments auf S. 62, document 1 „The Letter of Confraternity: London, Lambeth Palace Library, Arundel Register, vol. 2, fol. 121“. 575 Michael Sargent hat als erster auf diese Textpartien aufmerksam gemacht, vgl. Mirror of the Blessed Life of Jesus Christ, 1992, Einleitung S. xli. Vgl. Mirror of the Blessed Life of Jesus Christ, S. 154, 25 – 155, 2: þere is one person þat I knowe now lyuyng & perauenture þere bene many þat I knowe not, in þe self degre or hiere, þe which persone, oft siþes whan oure lorde Jesus vouchsafe, to touch him of his grace in tretyng of þat blessede sacrament, with þe inwarde siht of his soule, & deuout meditacion of his precious passione, sodeynly feleþ also shedde in to þe self bodye, a ioy & likyng þat passeþ without comparison þe hiest likyng þat any creature may haue or fele as by wey of kynde in þis life, þorh þe which ioy & likyng. alle þe membres of þe body bene enflaumede of so deletable & ioyful a hete þat him þenkeþ sensibly alle þe body as it were meltyng for ioy as waxe doþ anentes þe hote fire, so farforþ þat þe body miht not bere þat excellent likyng, bot þat it shold vtturly faile, nere þe gracious kepyng & sustenyng of þe touchere oure lord Jesu aboue kynde. A lorde Jesu in what delectable paradise is he for þat tyme þat þus feleþ þat blessede bodily presence of þe, in þat precious sacrament, þorh þe which he feleþ him sensibly with vnspekable ioy as he were ioynede body to body? Soþely I trowe þat þere may no manne telle it or speke it, and I am sikere þat þer may non man fully & soþefastly know it, bot onely he þat in experience feliþ it [Hervorhebung d. Verf.]. Sargent sieht in diesen Textpartien Anklänge an eine affektive Frömmigkeit, wie sie Richard Methley und John Norton im ausgehenden 15. bzw. 16. Jahrhundert in Mount Grace vertreten oder möglicherweise sogar einen Hinweis auf Loves eigene Mystikerfahrungen. 576 Vgl. ebd., S. 181, 12 – 22: þis is a pitevouse siht & a ioyful siht. A pitevous siht in him. for þat harde passion þat he suffrede for oure sauacion, bot it is a likyng siht to vs, for þe matire & þe effecte þat we haue þerbye of oure redempcion. Soþely þis siht of oure lord Jesu hangyng so on þe crosse by deuoute ymaginacion of þe soule, is so likyng to sume creatours. þat after longe exercise of sorouful compassion. þei felen sumtyme, so grete likyng not onely in soule bot also in þe body þat þei kunne not telle, & þat noman may knowe, bot onely he þat by experience feleþ it [Hervorhebung d. Verf.]. And þan may he wele sey with the apostle, Betyde me neuer to be ioyful bot in þe crosse of my lord Jesu criste. 577 Vgl. Mirror of the Blessed Life of Jesus Christ, S. 172, 17 – 18 How oure lorde Jesus was dampnet to þe deth of þe crosse about tierce of þe day. Capitulum xlijm. S. 179, 1 – 2 How oure lorde Jesus ȝelde vp þe spirite at none. Capitulum xliiijm. S. 181, 23 – 24: Of þo þinges þat befelle aftere þe deþ of oure lord Jesu & aftere none. Capitulum xlvm.

174 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

die Erfahrung als wichtigstes Differenzkriterium zur Eruierung der Echtheit von Visionserfahrungen, wie der zweifach auftretende ‚Leitgedanke‘ nahelegt,578 der diese beiden Textpassagen miteinander verbindet und den Richard Methley gegen Ende des 15. Jahrhunderts seiner oben diskutierten discretio spirituum-­Lehre des „Experimentum Veritatis“ zugrunde legt. Und hier liegt vielleicht der Schlüssel für das Interesse der Kartäusermönche an der Kempe-­Vita: Denn die Figur der Margery Kempe repräsentiert gewissermaßen eine begnadete Person, die das göttliche Gnadenwirken ‚mit eigenen Augen gesehen‘ hat und deshalb exemplarisch für eine persönliche Gotterfahrung stehen kann. Im Folgenden soll der für die spätmittelalterliche Frömmigkeitspraxis so zentrale Aspekt einer persönlichen Gottesbegegnung anhand der „Cloud of Unknowing“-Sammelhandschrift (MS Harley 2373) und den beiden bereits erwähnten Kartäuserkompendien Add MS 37790 und Add MS 37049 näher beleuchtet werden, um die Kempe-­Vita in einer Art Überlieferungsgemeinschaft erbaulich-­mystischer Literatur aus dem Umkreis der Klosterbibliothek Mount Grace zu situieren.579 Wie zu zeigen sein wird, zeugen die Handschriften nicht nur von akribischen Textstudien, sondern auch von einer tiefen persönlichen Gebets- und Frömmigkeitspraxis. Die Pergamenthandschrift London, British Library, MS Harley 2373 hat eine Schreiberhand des 15. Jahrhunderts gewissenhaft in Anglicana ausgeführt, wie aus dem regelmäßigen Schriftbild hervorgeht.580 Ihre Ausstattung ist relativ einfach bis auf die in blau und rot gehaltenen Initialen, die rubrizierte und teils intrikate fleuronnéähnliche Besatzmotive aufweisen. Größe, Format,581 Erscheinungsbild und Verzierungen der Initialen erinnern an die Kempe-­Handschrift und das oben diskutierte St. Gregor-­Kompendium (Add MS 62450), das der Professmönch John Awne aus Mount Grace geschrieben hat. Jedenfalls hat 578 Vgl. Mirror of the Blessed Life of Jesus Christ, S. 154, 43 – 155, 2: Soþely I trowe þat þere may no manne telle it or speke it, and I am sikere þat þer may non man fully & soþefastly know it, bot onely he þat in experience feliþ it [Hervorhebung d. Verf.]. S. 181, 18 – 21: þei felen sumtyme, so grete likyng not onely in soule bot also in þe body þat þei kunne not telle, & þat noman may knowe, bot onely he þat by experience feleþ it [Hervorhebung d. Verf.]. 579 Bisher hat die anglistische Mediävistik sich eher vereinzelt auf Mount Grace als literarisches Zentrum konzentriert: Vgl. Thompson: The Carthusian Order in England, S. 313 – 334. Hogg: Mount Grace Charterhouse and Late Medieval English Spirituality, zur Klosterbibliothek S. 14 – 17. 580 Ich danke Justin Clegg, British Library, sehr herzlich dafür, dass er mir die Handschrift zu Untersuchungszwecken zur Verfügung gestellt hat. Vgl. die Handschriftenbeschreibung in: A Catalogue of the Harleian Manuscripts in the British Museum. 4 Volumes. London 1808 – 1812. Volume 2, 1808, Number 2373. Hodgson: The Cloud of Unknowing, 1944, Einleitung, S. x. MS Harley 2373 enthält folgende Texte: fol. 1r A Pistylle of Discrecioun in Stirringes; fol. 5r A Pystylle of Discrecioun in Knowenge of Spirites; fol. 8v A Pistylle of Prayer; fol. 12v How mans soule is made to þe ymage and þe lyknes of þe Holy Trinite; fol. 13v A Tretyse of þe Studye of Wysdome þat men clepen Beniamin; fol. 23r Þe Cloude of Vnknowyng; fol. 63r A Tretyse of Priue Counseile. 581 Die Maße betragen 230 mm (Höhe) x 155 mm (Breite). Das Textfeld beträgt 185 mm x 110 mm mit einer regelmäßigen Linierung von 34 Zeilen pro Seite. Vgl. die Angaben in Sargent: James Grenehalgh as Textual Critic, Volume 2, S. 510.

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 175 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

MS Harley 2373 als Gebrauchshandschrift zu monastischen Studienzwecken gedient, wie

die schlicht gehaltene Ausstattung, die signifikanten Gebrauchsspuren in Form von Lesereinträgen und der oben erwähnte Marginaleintrag des Kartäusergelehrten und Literatur­ experten James Grenehalgh zum sogenannten „Tretyse of Priue Counseile“ (fol. 63r–fol. 80v) indiziert (Abb. 12): In vet[er]i lib[r]o hui[us] dom[us] vi[delicet] D[omus] Montis gr[aci]e, De quattuor gradib[us] humilitat[is] nulla fit mentio.582 Ob sein Eintrag allerdings tatsächlich die „Cloud of Unknowing“-Handschrift als Besitz der Klosterbibliothek Mount Grace ausweist, wie die anglistische Mystikforschung vermutet, oder ob er eher auf das Alter und die ehrwürdige Aura des Kartäuserkonvents Mount Grace anspielt, lässt sich nicht entscheiden. Zumindest deutet Grenehalghs Randkommentar darauf hin, dass der Klosterbibliothek eine gewisse Signifikanz im Rahmen seiner akribischen, literarisch-­wissenschaftlichen Textstudien zukommt. Neben ­diesem ­kurzen Randkommentar, mit dem Grenehalgh auf seine literarischen Aktivitäten in Mount Grace hinweist, platziert er ein Dreiblattsymbol auf fol. 70v, 16 und ein weiteres auf fol. 72v, 34.583 Zudem hat er auf fol. 73r–76r Korrekturen und Ergänzungen zur „Tretyse of Priue Counseile“-Fassung vorgenommen, die vornehmlich die Textqualität betreffen und seine gründliche Vorgehensweise bei der Textverbesserung demonstrieren.584 582 Vgl. MS Harley 2373, fol. 70v, 16 – 18. Grenehalgh trägt seine Bemerkung neben die Textpartie ein, die die Signifikanz von Demut und Selbstaufgabe thematisiert. 583 Diese Dreiblattsymbole hat die Forschung Grenehalgh zugeschrieben, vgl. Thompson: The Carthusian Order in England, S. 146. Vgl. Sargent: James Grenehalgh as Textual Critic. Volume 2, S. 511. Fol. 70v, 16 weist im rechten Bundsteg ein Dreiblattsymbol auf, das den Beginn der von Grenehalgh annotierten Textpassage kennzeichnet: And þ[er]fore firste I wytt say to þe a lytyll more of meknes. and þan aft[er] answere and make a seithe vnto þi curiouse question. for who to euer is wele groundede in mekenes. he is able to all oþ[er] vertewes and wyrchynge of þe g[ra]ce of God. And þ[er]rfore I wyll say a lytill þ[er]of as god wyll ȝife me grace. and firste of meknenes of spirit. of þe whyche as of a jote alle oþ[er] moste come. Ein sehr ähnliches Dreiblattsymbol findet sich auch auf fol. 72v, 34 im Fußsteg. 584 Vgl. das Verzeichnis dieser Korrekturen in Sargent: James Grenehalgh as Textual Critic. Volume 1, S. 286 f.: fol. 73r, 6: co[m]menynge zu [com]me[n]dynge; fol. 73v, 12: Auslassung ergänzt durch gospell; fol. 74r, 8 – 9: and the world kommentiert mit and þe world Vet[us] lib[er] no[n]. fol. 75r, 10 Auslassung ergänzt durch hadde; fol. 76r, 9: periouste zu perylousest; fol. 76r, 10: fernesse zu feersnesse. Den eigentlichen Kerntext der „Cloud of Unknowing“-Gruppe annotiert er nicht in MS Harley 2373. Allerdings hat er die „Cloud“-Textabschrift in der Handschrift Oxford, Bodleian Library, MS Douce 262, die der Professmönch William Tregooze aus der Londoner Kartause im 15. Jahrhundert angefertigt hat, akribisch mit insgesamt 298 Randeinträgen versehen, wie oben ausgeführt. Vgl. den Besitzeintrag in MS Douce 262 auf fol. 1r: Liber domus Saluta[cion]is matris dei p[r]ope londinu[m] ordinis Carthusie[nsis]. Vgl. den Nachtrag zum Explicit der „Cloud of Unknowing“ (fol. 2r–118v) auf fol. 118v: Scriptor ­hui[us] li[bri] erat d[ominus] Will[iel]m[us] Tregooz p[r]ofessus istius dom[us] vi[delicet] lo[n]do[n]iar[um] Cart[usiensium]. Angaben zitiert nach Hodgson: Cloud of Unknowing, 1944, Einleitung, S. xv. Eine detaillierte Aufführung dieser Marginalien findet sich in Sargent: James Grenehalgh as Textual Critic. Volume 1, S. 259 – 287. Grenehalghs Marginalglossen zeugen von einer sorgsamen Überprüfung und Korrektur des „Cloud“-Traktats. Vgl. einige der

176 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

In der Cloud-­Sammelhandschrift MS Harley 2373 notiert Grenehalgh jedenfalls zwei Marginaleinträge in der sogenannten pistyll of prayer (fol. 8v–12v) und zwei weitere in „A Tretyse of Priue Counseile“ (fol. 63r–80v).585 Er trägt den Eintrag deuotio in brauner Tinte im linken Seitensteg auf fol. 9v, 13 – 14, neben der Textpartie: bott drede and lufe medled same w[i]t[h] a state of certain hope. me þinke þat þe profe of þis wyrching is deuocion. For deuocion is nought elles as sanct Thomas þe doctor say bot a redynes of mans wylle to do þoo þinges þat longeth to þe fruite of God. Fol. 11r, 9 – 10 versieht er im rechten Außenrand mit dem lateinischen Randkommentar de Casto amor aput in Caliginis Nota b[e] n[e],586 der bei der Neubindung des Codex stark beschnitten worden ist. Im „Tretyse of Priue Counseile“ markiert Grenehalgh den linken Seitensteg auf fol. 69v, 24 – 25 mit dem Eintrag n[ota] cavete in bräunlicher Tinte: loke þarfore þat ȝe be not lyke to þee wrechide women in body þat kyllen þaire owne children when þai bene newe borne. Und es ist wohl kaum zufällig, dass G ­ renehalgh diese Textpassage mit einer Art Warnung versieht, die unmittelbar auf ein Textzitat aus dem oben diskutierten Kontemplationstraktat „Benjamin minor“ des Richard von St Viktor folgt,587 das sich gemeinsam mit dem Kempe-­ Text in der Druckanthologie Henry Pepwells findet. Jedenfalls illustriert Grenehalghs Textannotation die Genauigkeit und Sorgfalt, die Kartäusermönche im Rahmen ihrer Textstudien aufgewendet haben. Und auch in der Handschrift MS Harley 2373 zeichnet sich zumindest umrisshaft eine allmähliche Anreicherung von Glossierungsschichten im Kontext einer monastischen Lektürepraxis ab, wie sie auch in der Kempe-­Vita zu Marginalien in Auswahl, zitiert nach Sargent: James Grenehalgh as Textual Critic. Volume 1, 1984, S. 259 – 287. Die Marginalglossen Grenehalghs ‚modernisieren‘ bzw. korrigieren Wortformen und bieten Übertragungen ins Lateinische, vgl. etwa fol. 2v, 20: stondeþ zu standyth; fol. 3r, 4 þee zu the; fol. 6v, 6 wytyng zu wetyng; fol. 9r, 2 abowthe zu about; fol. 9v, 7 ­neuer-­more red or spoken, ne herde red or spoken emendiert er zu nev[er]mor[e] red, ne herd red ne spoken ne herd spoke; fol. 12r, 1: faileþ zu lackiþ; fol. 12v, 18: seintes & aungelles zu all angels & saints; fol. 20r, 20: befalleþ zu may befalle; fol. 26v, 1 bot þe felyng mowe men haue þorow grace whan God voucheþ saaf. zu voucheth saaf: dignabit deus; fol. 26v, 4: proue fonde annotiert mit conar[e]; fol. 46r, 17: God sendeþ þe kow, bot not by þe horne annotiert mit dat de[us] om[n]e bo[nu]m s[ed] no[n] per cornua taurum; sein Namensmonogramm „JG “ findet sich auf fol. 82r, 13. 585 Vgl. Sargent: James Grenehalgh as Textual Critic. Volume 2, S. 511. Sargent führt die Randeinträge Grenehalghs auf fol. 9v, fol. 11r, fol. 69v nicht einzeln auf. Vgl. Thompson: The Carthusian Order in England, S. 331, die ebenfalls nur die Folioangaben zu den Marginaleinträgen bietet. 586 Den Randkommentar platziert Grenehalgh neben die folgende Textpartie: Noneþelesse ȝit it plesiþ hym nougt perfytely. and þat is for þi lufe is nought ȝit chaste. Chaste lufe is þat wen þu askest of God nonys ­relefynge of payne. 587 Vgl. fol. 69v, 20 – 23: By þe whiche Beniamyn ben vnderstondyn alle þoo þat in excesse of loue ben ­rauischyd abouen mynde þe prophete seeing þus: Ibi Beniamyn adol[es]centul[us] in mentis excessu. Þat is to sey: Þere is Beniamyn, a ȝong childe in excesse of mynde. Hope Phyllis Hodgson hat die Textpartie als Auszug aus dem „Benjamin Minor“-Traktat und Ps 67,28 bestimmt, vgl. „The Cloud of Unknowing“, 1944, S. 211. Vgl. die obigen Ausführungen zur monastischen Affekt- und Aufstiegslehre, die der „Benjamin Minor“-Traktat entfaltet.

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 177 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

beobachten ist.588 Denn auf fol. 9v, 19 – 21 hat ein weiterer Benutzer der Handschrift ein Christusmonogramm mit einer Rahmenleiste in Bleistift neben der Textpassage for hope and lufe lyche cryste in his mercy platziert. Auf fol. 9v, 8 – 9 findet sich ebenfalls im linken Seitensteg ein in Bleistift eingetragenes n[ota] b[e]n[e] neben þe gostelyche experience or þe profe of þis wyrchynge it stondeþ alle in a reuerente affeccioun þat a man haþ to God in þe time of þis prayer. Und auf fol. 73r, 19 – 20 findet sich der lateinische Marginaleintrag p[er]fectio a[n]i[m]e in schwarzer Tinte:589 Der Benutzer hat einen älteren, in Bleistift gehaltenen Lesereintrag mit schwarzer Tinte nachgezogen und mit einer kastenförmigen Rahmung mit den charakteristischen Pfeilspitzen versehen, wie wir sie auch aus den Annotierungen der Kempe-­Handschrift kennen. Im Hinblick auf eine kartäusische Lektüre- und Annotationspraxis, in der die Kempe-­ Handschrift eingebunden gewesen ist, ist die oben erwähnte, großangelegte Kartäuser-­ Anthologie Add MS 37790 aus der Mitte des 15. Jahrhunderts besonders relevant. 590 Die Pergamenthandschrift ist ebenfalls sorgfältig von einer Schreiberhand in Anglicana Formata in schwarzer Tinte ausgeführt 591 und zeichnet sich wie die „Cloud of ­Unknowing“-Handschrift und das oben erwähnte St. Gregor-­Kompendium aus Mount Grace durch eine schlichte Ausstattung mit blau und rot gehaltenen Initialen aus, die teils intrikate fleuronnéähnliche Verzierungen aufweisen. 592 Aufschlussreich für die Frage nach einer Überlieferungsgemeinschaft religiös-­mystischer ‚Kartäuserliteratur‘ ist, dass diese Textanthologie unter anderem unikal die sogenannte Kurzfassung „A Vision 588 Vgl. die Ausführungen in Kapitel 2.3 „Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre“. 589 Der nachgezogene Randeintrag befindet sich neben der folgenden Textpassage auf fol. 73r, 19 – 20: Att þe firste I aske of þe what is p[er]feccion of mans soule. & whyche bene þe p[ro]perties þat fallyn to þis perfeccion. 590 Wie oben erwähnt, vermutet Marleen Cré mit guten Gründen eine kartäusische Herkunft der Sammelhandschrift Add MS 37790, vgl. Cré: Vernacular Mysticism in the Charterhouse, S. 23 f. 591 Vgl. die Handschriftenbeschreibung in Sargent: James Grenehalgh as Textual Critic. Volume 2, S. 499 – 501. Vgl. die Beschreibung in Cré: Vernacular Mysticism in the Charterhouse, S. 19 – 23. 592 Ich danke Dr. Justin Clegg, British Library, sehr herzlich dafür, dass er mir die Handschrift Add MS 37790 zu Untersuchungszwecken in der British Library zur Verfügung gestellt hat. Vgl. etwa fol. 1r, 1 – 3 dreizeilige, blau gehaltene T-Initiale mit rubriziertem, fleuronnéähnlichen Besatzmotiv, die den Beginn des rubrizierten Kurzregisters markiert, das dem Textbeginn vorangestellt ist und die Einteilung des „Mending of Life“-Traktats von Richard Rolle in 12 Kapitel verzeichnet. Den eigentlichen Textbeginn hebt eine dreizeilige T-Initiale (fol. 1r, 11 – 13) hervor. Vgl. auch fol. 49r, 13 – 15 mit einer dreizeiligen, blauen C-Filigran-­Initiale mit rubriziertem Besatzmotiv und Ausläufern. Fol. 97r, 1 – 3 dreizeilige, fleuronnéähnliche H-Initiale, die die Textpartie mit der Autorschaftszuschreibung der „Vision Showed to a Devout Woman“ an eine Rekluse namens Juliana kennzeichnet. Die Autorschaftszuschreibung ist nicht vom Haupttext abgesetzt. Fol. 115r, 8 sechszeilige, blau ausgeführte I-Initiale mit flechtbandartig wirkender Verzierung, fol. 115r, 13 – 14 zweizeilige H-Initiale und Z. 16 – 18 dreizeilige W-Initiale mit fleuronnéähnlichen Besatzmotiven. Fol. 137r, 3 – 5 mit einer dreizeiligen, rubrizierten T-Filigran-­Initiale, die den Textbeginn des „Mirror of Simple Souls“ hervorhebt.

178 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Showed to a Devout Woman“ der verehrten Rekluse Juliana von Norwich tradiert.593 Aus der spezifischen Materialpräsentation der Amherst-­Textanthologie lässt sich erschließen, dass der anonyme Amherst-­Schreiber dem frauenmystischen Offenbarungstext offenbar eine gewisse Wertschätzung entgegengebracht hat, da er ihn mit einer mittelenglischen Übersetzung des oben diskutierten, wirkungsmächtigen „Incendium Amoris“-Traktats von dem Einsiedlermystiker Richard Rolle und der mittelenglischen Übertragung „Mirror of Simple Souls“594 in einer Sammelhandschrift vereint.595 Im Vergleich mit 593 Vgl. die neuere Textedition: Nicholas Watson/Jacqueline Jenkins (Hrsg.): The Writings of Julian of Norwich. A Vision Showed To A Devout Woman and A Revelation of Love. Pennsylvania 2006 ­(Brepols Medieval Women Series), S. 61 – 121 im Folgenden abgekürzt als: A Vision. Vgl. Add MS 37790, fol. 97r–115r. Der Visionstext liegt unikal in der sogenannten Kurzfassung in dieser Kartäuserhandschrift vor, während die längere Bearbeitung „A Revelation of Love“ vollständig in drei Textzeugen überliefert ist (London, British Library, MS Sloane 2499 um 1650; Paris, Bibliothèque Nationale, MS Fonds Anglais 40 aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts; London, British Library, MS Sloane 3705 gegen Ende des 16./Anfang des 17. Jahrhunderts). Vgl. die detaillierte Analyse der Lesarten der Handschriften von Marion Glasscoe: Visions and Revisions: A Further Look at the Manuscripts of Julian of Norwich. In: Studies in Bibliography, Volume 42 (1989), S. 103 – 120. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass MS Sloane 3705 teils bessere Lesarten im Hinblick auf die Gnadentheologie im Vergleich mit der Pariser Handschrift bietet und offenbar auf einer älteren Vorlage basiert, vgl. S. 118 f. Damit wendet sie sich von der Leithandschrift P ab, die Walsh und Colledge ihrer Textedition zugrundegelegt haben. Die ausführliche Fassung ist benannt nach dem Incipit der um das Jahr 1580 im Umkreis der Benediktinerinnen angefertigten Handschrift Paris, Bibliothèque Nationale, MS Fonds Anglais 40, fol. 1r. Vgl. Nicholas Watson: The Composition of Julian of Norwich’s Revelation of Love. In: Speculum Volume 68, 3 (1993), S. 637 – 683, besonders S. 638 – 639. Watson sieht in der Kurzfassung den Basis- oder Ausgangstext für die ausführlichere Fassung, was er vornehmlich mit textinternen Zeitangaben, Rückverweisen und einer der langen Fassung entnehmbaren Verehrung für die Kurzfassung zu belegen sucht, vgl. S. 679. 594 Vgl. Anm. 459 in Kapitel „2.3.1 Die ‚Offizialität‘ der rubrizierten Randeinträge – Richard Methley, John Norton und die Konzeption des amor sensibilis“ der vorliegenden Arbeit mit den entsprechenden Literaturhinweisen zum „Miroir des simples âmes“ und seiner komplexen Überlieferungs- und Textgeschichte. Vgl. die Textedition von Marilyn Doiron (Hrsg.), die auf der oben genannten Handschrift Cambridge, St John’s College, MS 71 basiert: The Mirror of Simple Souls. A Middle English Translation. In: Archivio Italiano per la storia della Pietà 5, 1968. Im Folgenden bezeichnet als Mirror of Simple Souls, 1968. 595 Vgl. die detaillierte Untersuchung der Handschrift von Cré: Vernacular Mysticism in the Charterhouse, S. 17 f. zum Inhalt und zu den Anordnungsprinzipien dieser mystisch-­theologischen Sammelhandschrift. Marleen Cré argumentiert anhand der relativ regelmäßigen Lagenzusammensetzung der Handschrift überzeugend, dass die Handschrift einen dreiteiligen Aufbau aufweise, der durch die Anordnung der Rolle-­Übersetzungen (fol. 1r–18r „Mending of Life“; fol. 18v–95r „Fire of Love“), der „Vision“ der Juliana von Norwich (fol. 97r–115r) und dem „Mirrour“ (fol. 137r–225r) bedingt sei (S. 21). Die kürzeren religiösen Texte und Textkompilationen, wie etwa die „Golden Epistel“ auf fol. 95v–96v oder die Textfassung aus Richard Rolles „Form of Living“ und „Ego dormio“ auf fol. 130v–135v bestimmt Cré als Lagenfüllsel („quire-­fillers“, S. 21), die der Schreiber einem primär thematischen Organisationsprinzip folgend angeordnet habe (S. 23): „Every single text contained in the manuscript deals

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 179 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

dem „Incendium Amoris“ bietet der „Mirror of Simple Souls“, der nur knapp mit dem Titel eingeführt wird, eine ausführlichere Apologie des anonymen Übersetzers, die der humilitas-­Topik verpflichtet ist.596 Mit dem mittelenglischen „Mirror“ liegt jedenfalls ein mystischer Lehrdialog vor, dessen Verbreitung und Tradierung an die englischsprachigen Kartäuser gebunden ist,597 wobei die oben erwähnte lateinische Übersetzung von Richard Methley in der Sammelhandschrift Cambridge, Pembroke College, MS 221 aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts auch eine Art Bücheraustausch ­zwischen den Kartäuserklöstern Mount Grace und Sheen nahelegt. Auf der Ebene der Anlage und Produktion der Handschrift lässt sich ein Interesse daran beobachten, die Erbauungstexte in Incipit und Explicit einer namentlich benannten Autorperson zuzuweisen.598 Und dies with contemplation, teaches it or describes its author’s experience of it.“ Eine genauere Untersuchung der Anordnungsprinzipien der Handschrift bleibt allerdings ein wichtiges Forschungsdesiderat, da es fraglich ist, ob die k­ urzen Erbauungstexte tatsächlich einzig als ‚Lagenfüllsel‘ eingesetzt worden sind, oder ob sie nicht vielleicht doch eher auf eine übergeordnete, programmatische Ausrichtung der Textsammlung hinweisen. Vgl. Cré: Vernacular Mysticism in the Charterhouse, S. 199 – 245 zu den Kurztexten und Kompilationen. 596 Vgl. die prologartige Anfangspartie, die der Apologie des anonymen Übersetzers gewidmet ist, fol. 137r, 1 – 137v, vgl. Mirror of Simple Souls, 1968, S. 247 – 248: This boke þe which is called þe ­myrroure of ­symple souls I moste vnworþy creature and out caste of alle oþ[er]e many ȝeeris goone wrote it oute of ffrenche into englisch after my levyd kun[n]ynge in hope that by þe grace of god it scholde p[r]of[i]te þo deuout saules þat schalle red it. Þis was forsoþe myn entente. But now I am stired to laboure it aȝen newe for bicause I am enfourmed þat some wordis þerof haue be mystake. Þerfor if God wole, I schal declare þo wordis more openli. […]. But boþe þe firste tyme and now I haue greet drede to do it, for þe boke is of hiȝe diuine maters and of hiȝe goostli felynges, kernyngly and ful mysteli it is spoken. And I am a creature ryȝt ­wrycched and vnable to do any sych werke. Poore and nakid of gostely fruytes, derked wiþ synnes and defautes, ­envirowned and wrapped þ[er]inne often tymes […]. Therfore at suche places þere me semeth moost nede I wole write mo wordis þerto in maner of glose, aftir my symple kunynge as me semeþ is best. And in þese fewe places þat I putte yn more þan I fynde writen, I wole bigynne wiþ þe firste lettre of my name M and ende wiþ þis lettre N þe firste of my surname. Vgl. auch die epilogartige Textpartie, Add MS 37790, fol. 225r, 15 – 225v, 3: Who þat þis booke wille vndirstande / Take þat lorde to his spouse l­ouande / Þat is god in Trinite. […] O glorious trinite in whom is alle goodnes, yhaloued be ȝoure holi name in heuen and in erþe, and fulfillid be ȝoure wille. I þanke ȝou blisfulle lorde god with al my pore herte for alle þe ȝiftes of grace þat ȝe haue gyffen me and don to me that am ȝoure poore vnworþy creature […] þe moste wrecche and vncouenable schulde translate þis boke. […] Lord, vnwitty I am, vnmyȝti and vnable to haue don it, but oonly be ȝoure help and grace. 597 Die drei erhaltenen Handschriftenzeugen stammen aus Kartäuserklöstern bzw. können im Fall von Add MS 37790 einem kartäusischen Umfeld zugeordnet werden. Die oben erwähnte Handschrift Oxford, Bodleian Library, MS Bodley 505 aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts tradiert den „Mirrour“ auf fol. 93r–220v und trägt einen Besitzvermerk der Londoner Kartause. Die Handschrift Cambridge, St John’s College, MS 71 aus dem 15. Jahrhundert, die ebenfalls einen Besitzeintrag der Londoner Kartause aufweist, tradiert unikal den „Mirrour“. Vgl. Doiron: Mirror of Simple Souls, Einleitung, S. 4. 598 So weist die mittelenglische Übersetzung des „Incendium Amoris“ ein detailliertes Explicit auf, das Autor, Übersetzer und Jahr der Anfertigung der Übersetzung benennt. Vgl. Add MS 37790 fol. 95r: Explicit

180 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

entspricht der Tendenz, die sich bereits in den oben diskutierten Kartäuserhandschriften zu Richard Rolles „Incendium Amoris“ und Walter Hiltons „Scale of Perfection“ in Verbindung mit Textstudien des Kartäusergelehrten James Grenehalgh abgezeichnet hat. James Grenehalgh hat einige Marginalnotizen in der Amherst-­Anthologie vorgenommen und auch „A Vision Showed to a Devout Woman“ der Juliana von Norwich annotiert,599 was eine interessante Vergleichsbasis für die Textannotierung der Kempe-­Vita bietet. Im Unterschied zur Kempe-­Vita ist der Visionstext allerdings durchgängig in Ich-­Rede narra­ tiviert, die Incipit und Explicit der Handschrift Add MS 37790 einer Rekluse namens Juliana aus Norwich als Autorin zuschreiben.600 Wohl aus ­diesem Grund sieht die ­anglistische liber de Incendio Amoris Ricardi hampole heremite translatus in Anglicum instanciis domine M ­ argarete Heslyngton recluse per fratrem Ricardum misyn sacre theologie bachalarium, tunc priorem lyncolniensem, ordinis carmelitarum, Anno domini m.cccc.xxxv in festo translacionis sancti Martini Episcopi quod est iiij Nonas Julij per dictum fratrem Ricardum Misyn scriptum et correctum. Zwar nennt das Explicit den Autor (Ricardi hampole heremite), aber der Übersetzer nimmt hier offenbar eine fast gleichgewichtige Rolle ein, wie aus den zusätzlichen Informationen zu seinem Ordensstand und dem genauen Abfassungsdatum hervorgeht. Vgl. allgemein zur Autorschaftszuschreibung, Allen: Writings Ascribed to Richard Rolle, S. 223. Vgl. die Angaben in Cré: Vernacular Mysticism in the Charterhouse, S. 21. Den Angaben des Explicit zufolge hat der hochangesehene und gelehrte Karmeliterprior Richard Misyn (verstorben um 1462) aus Lincoln das „Incendium Amoris“ aus dem Lateinischen für eine Rekluse in der St Margaret-­Kirche in York namens Margaret Heslyngton übersetzt. Vgl. den Eintrag im Dictionary of National Biography. Richard Copsey: Misyn, Richard. Oxford 2004. Online Edition http:// www.oxforddnb.com/view/article/18823 [31. 08. 2018]. Vgl. auch den knappen biographischen Abriss in Cré: Vernacular Mysticism in the Charterhouse, S. 63. Vgl. die Angaben zu Margaret Heslyngton in der Textedition von Ralph Harvey: The Fire of Love and the Mending of Life. London 1896 (Early English Text Society Original Series 106), S. 104. Vgl. Cré: Vernacular Mysticism in the Charterhouse, S. 63 f., die ausführt, dass sich die Klause der Margaret Heslyngton in unmittelbarer Nähe des Karme­ literkonvents in York befunden hat. 599 Vgl. Cré: Vernacular Mysticism in the Charterhouse, S. 338 f., die die Randeinträge Grenehalghs aufführt: A Vision Showed to a Devout Woman, fol. 110v, 27 JG -Monogramm neben: Also in this reson sudanly þou schalle be taken. I sawe how god rewardys man of the pacience that he has in abydynge of goddes wille in his tyme. Fol. 112v, 18 – 20 JG -Monogramm: God wille that we take hede of his worde and that we be euer myghtty in sekernesse in wele and in waa. Mirror of Simple Souls: Grenehalgh nimmt vier Textkorrekturen vor auf fol. 139r, 17; fol. 143, 1; fol. 166v, 27 – 28; fol. 210v, 19 – 20; er annotiert fol. 141v, 5 mit dem Randeintrag ix poyntes, der auf die neun Merkmale der anima annihilata, der ‚vernichteten Seele‘ referiert. Auf fol. 178v, 6 platziert er den rubriziert unterstrichenen, lateinischen Eintrag de morte [tres] neben þre dethis; fol. 178v, 9: j mors neben The first is dethe of synne. Fol. 180v, 25 secunda mors rubriziert unterstrichen: And in this I reste me sais þis saule ffor ryȝt so be thay driuen ouȝte of þe courte of ȝoure secres: þere þat is oþere bene callid þat neuer forȝeten the workis of ȝoure swete curtesy. Fol. 181r, 7 tertia mors rubriziert unterstrichen: Of this lyfe tastis none but ȝif he be dede of the dethe of spirite. Fol. 194r, 9 Fünfblatt neben: þay þat bene gouernede bi reson: the rudenesse ne the combrynges of þam none man may saie at her techynges it schewis an asse dede and no werke. 600 Vgl. Add MS 37790, fol. 97r, 1 – 5 (Abb. 9): Here es a vision shewed be the goodenes of god to a devoute woman. And hir name es Julyan that is recluse atte Norwyche and ȝit ys on[n] lyfe. Anno d[o]m[ini]

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 181 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Mystikforschung – analog zur älteren Germanistikforschung zu Adelheid Langmann und Christine Ebner – in den Ich-­Reden des Offenbarungstextes eine Art ‚Original- oder Urfassung‘, wobei die spezifische Erzählform bzw. literarische „Vertextung“ (S. Bürkle) der göttlichen Schauungen unberücksichtigt bleibt und einzig eine faktische Ausdeutung im Sinne eines Authentizitätsnachweises erhält.601 Die in der Amherst-­Anthologie tradierte Kurzfassung ist allerdings überaus zurückhaltend, was die Buchentstehungsgeschichte, Angaben zum Schreibprozess 602 und eine biographisch-­lebensweltliche Konkretisierung der Figur der Visionärin angeht: Im Alter von etwa 30 Jahren wird sie von einer zunächst drei Tage und drei Nächte andauernden Krankheit heimgesucht, die ihr nahezu das Leben nimmt und die sie als göttliches Gnadengeschenk deutet.603 Nachdem sie das Sterbesakra­ment 604 empfangen hat, positioniert ein anonymer Priester (the person my curette) ein Kreuz am Fußende ihres Krankenlagers. Die Betrachtung des Kreuzes induziert eine Heilung der Seele bei gleichzeitigem körperlichen Verfall, der mit einer präzise geschilderten Symptomatik einhergeht und schließlich zu den sechszehn Schauungen führt.605 Auf diese Weise wird der Aufstieg der Seele zu Gott aus den Zwängen des Menschenkörpers anschaulich vor Augen geführt. Die Schauungen erfolgen meist in Form von Passionsvisionen.606 Der thematische Fokus liegt hier sehr deutlich auf der imitatio Christi im Rahmen einer

mill[es]imo ccccxiij. In the whilke visyon er fulle many comfortabylle wordes and gretly styrrande to alle thaye that desyres to be crystes looverse. Vgl. A Vision, S. 63. Vgl. das kurze Explicit auf fol. 115r in Form eines rubri­zierten Zusatzes, der mit Perlung umgeben ist: Explicit Juliane de Norwich. Vgl. A Vision, S. 119, 35. 601 Vgl. Riehle: Englische Mystik, S. 290. Vgl. zur problematischen Vorgehensweise, biographische Fakten aus den „Offenbarungen“ der Juliana zu extrahieren, S. 336: „Bei den zahlreichen Versuchen, Licht in Julianas Lebensumstände zu bringen, wird der Spekulation oft zu viel Raum gewährt, weil uns die entscheidenden Fakten fehlen. Dabei wird weniger auf den Text selbst geachtet, der doch unser einziges Kriterium bleibt; aus ihm kann aber doch wohl mehr, als bisher angenommen, ‚herausgelesen‘ werden.“ Nach diesen einschränkenden Bemerkungen stellt Riehle Überlegungen an, dass Juliana „bereits in der Jugend Rekluse war und aus einem spirituell ambitionierten Elternhaus stamme“, obwohl die beiden Textfassungen darüber keinerlei Anhaltspunkte bieten. 602 Es finden sich weder textinterne Hinweise auf die Buchentstehung noch auf den eigentlichen Abfassungs- und Schreibprozess. Vgl. Watson: The Composition of Julian of Norwich’s Revelation of Love, S. 639 und S. 652. 603 Vgl. A Vision, S. 65, 1 – 6. 604 Vgl. ebd., S. 65, 3: I toke alle my rightinges of haly kyrke. 605 Vgl. A Vision, S. 67, 24 – 25: Methought than that I was welle, for myn eyen ware sette upwarde into hevene, whether I trustede for to come. Vgl. die detailrealistische Beschreibung der körperlichen Symptome, wie wir sie auch aus der Anfangspartie der „Offenbarungen“ der Margareta Ebner kennen, S. 67, 29 – 42: Sie umfassen Blindheit, Kopfschmerzen und Atemlosigkeit und gleichen einer Todesumnachtung: After this the overe partye of my bodye begane to die, as to my felinge […] Than wende I sothelye to hafe bene atte the pointe of dede. 606 Vgl. A Vision, S. 65, 1 – 8.

182 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

affektiven Passionsmystik,607 die in die Entfaltung einer umfassenden Liebestheologie eingebunden ist.608 Einzig die paratextuellen Angaben in der Amherst-­Anthologie nehmen eine konkretisierende Autorschaftzuschreibung vor und bieten eine Art übergeordnete Lektürevorgabe des anonymen Offenbarungstextes, den sie zu einer von Gott inspirierten Offenbarungslehre stilisieren (In the whilke visyon er fulle many comfortabylle wordes and gretly styrrande to alle thaye that desyres to be crystes looverse).609 Und in d ­ iesem Sinne ist der Visionstext wohl auch von monastischen Lesern rezipiert worden, wie aus den Randnotizen vier verschiedener Benutzer 610 und den Marginaleinträge des Kartäusergelehrten James Grenehalgh hervorgeht, die ausschließlich auf den Textbereich fol. 109v–112r konzentriert sind. Diese Benutzereinträge legen nahe, dass der Offenbarungstext wie die Kempe-­Vita für bestimmte,

607 Vgl. A Vision, S. 67, 1 – 14: And sodeynlye come unto my minde that I shulde desire the seconde wounde of oure lordes gifte and of his grace: that he walde fulfille my bodye with minde and felinge of his ­blessede passion, as I hadde before prayede. For I wolde that his paines ware my paines, with compassion and afterwarde langinge to God. […] And in this, sodaynlye I sawe the rede blode trekille downe fro under the garlande alle hate, freshlye, plentefully and livelye, right as methought that it was in that time that the garlonde of thornes was thyrstede on his blessede hede. Right so, both God and man, the same sufferde for me. I conseyvede treuly and mightelye that it was himselfe that shewed it me […]. Vgl. S. 71, 48 – 49: I saw the bodilye sight lastande of the plentyouse bledinge of the hede. Vgl. S. 77, 1 – 5: I sawe with bodely sight the face of the crucifixe that hange before me, in whilke I behelde continuely a party of his passion: despite, spittinge, sowlinge of his bodye, and buffetinge in his blisfulle face, and manye langoures and paines, ma than I can telle, and ofte changinge of coloure, and alle his blissede face a time closede in dry blode. S. 77, 20 – 21: And after this I sawe, behaldande, the bodye plenteouslye bledande, hate and freshlye and lifelye, right as I sawe before in the hede. S. 83, 1 – 4: After this, Criste shewed me a partye of his passione nere his dyinge. I sawe that swete face as it ware drye and bludyelesse with pale dyinge; sithen mare dede pale langourande; and than turnede more dede to the blewe; and sithene mare blewe, as fleshe turnede mare deepe dede. […] And also the nese claungede and dried to my sight. This lange pininge semede to me as he hadde bene a sevennight dede, allewaye sufferande paine. And methought the dryinge of Cristes fleshe was the maste paine of his passion and the laste. […] This shewinge of Criste paines filled me fulle of paines. For I wate wele he suffrede nought botte anes, botte as he walde shewe it me and fille me with minde, as I hadde desirede before. Vgl. auch S. 85, 1 – 7. 608 Vgl. A Vision, S. 87, 13 – 16: Botte the love that made him to suffere alle this, it passes als fare alle his pains as heven es aboven erthe. For the paines was a dede done in a time be the wyrkinge of love. Botte luffe was withouten beginninge, and es, and evere shalle be withouten any ende. Vgl. auch S. 89, 1 – 15; Section 15, S. 95, 12: For this is the gastely thirste: the luff-­langinge that lastes and ever shalle to we see that sight atte domesdaye. S. 97, 11. 609 Add MS 37790 fol. 97r; A Vision, S. 63. 610 Cré bezeichnet die Benutzer als Annotator 1 (S. 321, eine kursive Anglicana des 16. Jahrhunderts in brauner Tinte), Amherst-­Scribe (S. 337, rubriziertes nota-­Zeichen), Annotator 7a (S. 339, nota-­Zeichen mit cc-­Symbol in braun-­schwarzer Tinte) und Annotator 7b (S. 339 kleine, sorgfältig ausgeführte nota-­ Zeichen in schwarzer Tinte), vgl. Cré: Vernacular Mysticism in the Charterhouse, mit Aufführung einzelner Randeinträge S. 321 – 342 und Deutungsversuch mit Leserprofilen, S. 281 – 299.

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 183 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

monastische Studienzwecke eingesetzt worden ist.611 Allerdings zeichnet sich hier ein allgemein katechetischer Gebrauchskontext ab, der sich von den oben diskutierten Textstudien in der Kempe-­Vita unterscheidet. Grenehalgh notiert den Eintrag pacyence in brauner Tinte im linken Seitensteg auf fol. 110v, 19 (Abb. 11) neben der entsprechenden Textpassage: than god sayde to me for pacience and for sufferance thus sudanly: thowe schalle be takene fra alle thy payne fra alle thy dissese and fra alle thy waa.612 Auf fol. 112v, 18 – 20 unterstreicht er 611 Annotator 1 nimmt die folgenden Einträge in einer in brauner Tinte gehaltenen Kursivschrift des 16. Jahrhunderts vor: fol. 101v, 7 – 8 Seitensteg domesday is when a man dyeth neben der Textpartie: for that daye that man or woman dyes ys he demyd as he schalle be with owtyn ende. Die Annotierung referiert offenbar auf die Ich-­Rede der Figur der Visionärin: Than saide I to the folke that were with me: It es todaye domesdaye with me. Fol. 108v, 25 linker Außenrand contrityon zur Thematik der Sündenvergebung: Botte when contrition [im Textfeld unterstrichen, SKR] takes him be the touchinge of the haly gaste, than turnes the bitternesse into hope of Goddys mercye. Fol. 108v, 29 confessyon neben der Textpartie: The haly gaste leddes him to confession, wilfully to shewe his sinnes […]. Fol. 108v, 33 linker Außenrand pennaunce neben: Than he takes penannce for ilke a sine, enjeuned be his domesman that is grounded in haly kyrke be the techinge of haly gaste. Der Marginaleintrag your gostly father im linken Außenrand auf fol. 108v, 34 referiert auf das im Text unterstrichene Wort domesman. Fol. 109r, 13 rechter Außenrand mit Randkommentar hell neben der Textpassage alle the payne that is in helle [unterstrichen im Text, SKR ] and in purgatorye. Fol. 109r, 14 – 15 rechter Außenrand purgatory; fol. 109v, 34 linker Seitensteg prayer neben einer in brauner Tinte unterstrichenen Textpartie: for prayer pleses god. Fol. 110r, 2 rechter Seitensteg prayer neben der Textpassage: Praier anes the saule to god. Schließlich findet sich auf fol. 110r, 8 ein notta bene neben der unterstrichenen Textpassage: for alle thynge that es done schulde be done þowȝ we neuer prayed it. Botte the luff of god es so mykill that he haldys vs parcyners of his goode deede. Fol. 110r, 28 buxomy mit der entsprechenden Textpassage, die in brauner Tinte unterstrichen ist: For when a saule es tempted trubled and lefte to itselfe be unreste than es it tyme to pray and to make hymselfe symple and boxsom to God. Fol. 110v, 1 – 2, linker Außenrand nota neben: And than wenes he that God ware wrathe with him for his sinne. And than is he stirred to contrition and be confession and other goode dedys to slake the wrathe of God unto the time he finde a reste in saule and softnesse in conscience. Dem Schreiber der Amherst-­Anthologie ordnet Cré das rubrizierte nota-­Zeichen auf fol. 108v, 4 neben der Textpassage And in ilke saule that schalle be sayfe is a goodely wille that neuer assentyd to synne zu, obwohl es sich von den w-­förmigen nota-­Symbolen des Amherst-­Schreibers auf fol. 112v, 17 und 21 abhebt und deshalb vielleicht auch einer anderen Schreiberhand zugeordnet werden könnte. Vgl. Cré: Vernacular Mysticism in the Charterhouse, S. 337. Annotator 7a fol. 114r, 16 rechter Seitensteg mit nota-­Zeichen; Annotator 7b, kleinformatige Kursivschrift in schwarzer Tinte auf fol. 99v, 25 am linken Seitensteg nota neben: of this nedes ilke man and woman to hafe knawynge that desyres to lyue contemplatyfelye that hym lyke to nouȝt alle thynge that es made for to hafe the love of god that es vnmade. Fol. 102r, 6, rechter Seitensteg: nota bene neben: Botte ȝit lykes hym bettyr that we take fullye his blessede blode to wasche vs with of synne. Fol. 102v, 4, linker Außenrand nota-­Zeichen: I thanke the of thy servyce and of thy trauayle and namly in þi ȝough. Fol. 108v, 20 – 21 nota-­Zeichen in schwarzer Tinte im linken Außenrand neben der rubriziert unterstrichenen Formulierung chosen saule (syn is the scharpyste scourge that any chosen saule maye be bette with). Fol. 111r, 11 nota bene in einer kleinformatigen Kursivschrift in brauner Tinte mit einer rubriziert unterstrichenen Textpassage: In this blyssed revelacion I was trewly taught that whate man or woman wilfully cheses god in his life he may be sekere that he is chosene. 612 Cré ordnet diese Randnotiz zwar Grenehalgh zu, bezeichnet sie allerdings nur mit den Initialen J. G., die sich an dieser Stelle nicht in der Handschrift finden, was nicht ganz unproblematisch ist. Denn sein

184 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

außerdem eine Textpartie in brauner Tinte.613 Allerdings fragt sich, ob Grenehalgh nicht auch die Gottesreden auf fol. 109v, 19614 und fol. 109v, 27615 mit brauner Tinte hervorgehoben hat. Dies legt nicht nur die nahezu identische Tintenfarbe nahe, sondern auch die Annotationspraxis in der Kempe-­Vita, die den Fokus der Aufmerksamkeit auf s­ olche Christusreden richtet. Und möglicherweise hat er ebenfalls den Textbereich auf fol. 110v, 1 – 5 im linken Seitensteg mit seinem nota-­Zeichen und einer in brauner Tinte gehaltenen Klammer markiert.616 Auf fol. 110v, 6 – 8 findet sich außerdem im linken Seitensteg ein in brauner Tinte gehaltener Randkommentar n[o]ta prayer of the good warkes als Hervorhebung einer göttlichen Liebesversicherung in direkter Rede: I am gladde that þu erte comen to reste. for I hafe ev[er] loved þe and nowe loves þe & þu me. And thus with prayers as I have before sayde & with other goode werkys þat e[ve]r custumabelye be the techynge of haly kyrke is.617

Der von Grenehalgh markierte Textbereich (fol. 109v–112r) setzt mit einer manicula in schwarzer Tinte ein, die auf die Formulierung waykenesse in prayers im Textfeld deutet (Abb. 10).618 Auch die Randnotizen vier weiterer Leser (Annotator 1, Amherst-­Schreiber, Annotator 7a und Annotator 7b) in Form prägnanter Formulierungen aus dem Offenbarungstext, unterschiedlicher nota-­Zeichen, Unterstreichungen und rubrizierter Hervorhebungen indizieren eine systematische Lektüre. Im Unterschied zu der auf ­­Zeichen der ‚Heiligkeit‘ und Gottbegnadung zentrierten Textlektüre, die sich in den rubrizierten Annotationen im Kempe-­ Codex abzeichnet, markiert Annotator 1 in „A Vision“ eher Grundaspekte einer religiösen Lebensführung, wie Buße und Gebet. Hier könnte es sich um Textexzerpte handeln, die der Benutzer als ‚Lesefrüchte‘ für private Studienzwecke oder Textkompilationen ausgewählt haben könnte. Signifikant ist, dass sich in seinen vereinzelten Marginaleinträgen ein Namensmonogramm (J. G.) findet sich etwa im rechten Seitensteg auf fol. 33r, 7, vgl. die Abb. in Cré: Vernacular Mysticism in the Charterhouse, plate 12. 613 Vgl. Add MS 37790, fol. 112v, 18 – 20: God wille that we take hede of his worde and that we be euer myghtty in sekernesse in wele and in waa. 614 Vgl. Add MS 37790, fol. 109v, 19: I am grounde of thy besekynge. 615 Vgl. Add MS 37790, fol. 109v, 27: he sais howe schulde it thanne be þat þu schulde noght hafe thy besekynge. 616 Fol. 110v, 3 – 5: to slake the wrathe of god unto the tyme he fynde a reste in saule and softnesse in conscience and than hym thynke that god hase forgyffyn hys synnes and it es soth. 617 Cré führt diese Unterstreichungen und Randkommentare nicht auf, vgl. Cré: Vernacular Mysticism in the Charterhouse, S. 338. 618 Vgl. die Textpassage in Add MS 37790, fol. 109v, 11 – 20, die mangelndes Vertrauen in die Kraft des Gebets thematisiert: Botte ȝitt in alle this ofttymes oure triste is nowht fulle for we ere nouȝt sekayr that God almyghtty hyeres vs as vs thynke. for oure unworthynesse and for we fele ryght nought for we ere als barayne and als drye oftymes eftyr oure prayers as we ware before and thus in oure felynge oure foly es cause of oure waykenesse for thus hafe I felede in myselfe.

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 185 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

eher katechetischer Interessenschwerpunkt andeutet, der sich von der oben diskutierten exemplarischen Lektüre der Kempe-­Vita abhebt. Eine eher allgemein-­katechetische Gebrauchsfunktion des Visionstextes lässt sich bereits den wenigen rubrizierten Randnotizen des Schreibers entnehmen. Wenn man Crés Zuordnung der einzelnen Schreiberhände folgt, trägt der Schreiber der Amherst-­Textsammlung ein vereinzeltes rubriziertes nota-­Zeichen auf fol. 108v, 4 neben einer Textpassage ein, die die Willensfreiheit des Einzelnen als Mittel gegen die menschliche Sündenneigung propagiert.619 Möglicherweise hat der Schreiber der Amherst-­Anthologie allerdings drei weitere rubrizierte Hervorhebungen vorgenommen, da sie zu dieser Thematik passen: So finden sich zwei rubriziert unterstrichene Formulierungen auf fol. 108v, 20 – 21 (chosen saule) und fol. 108v, 31 (the fayre ymage of God) und ein rubriziertes S-Symbol auf fol. 113r, 15 neben der rot markierten Textformulierung a wyched synne. Den wenigen Rubrizierungen lässt sich zumindest ansatzweise eine Verknüpfung von Imago dei-­Gedanke, Gotterwähltheit und den „Gegenwirkungen der Gnade“620 (Friedrich Ohly) in Form menschlicher Sünde entnehmen. Annotator 7a platziert ein nota-­Zeichen auf fol. 114r, 16 im rechten Seitensteg neben einer Textpassage, die die menschliche Unwissenheit im Hinblick auf Gottes unermessliche Liebe präsentiert.621 Und offenbar konzentrieren sich auch die Lesereinträge von Annotator 7b auf den thematisch-­theologischen Gegensatz von Gnadenerwähltheit 622 und menschlicher Sündhaftigkeit. Denn er greift nicht nur den Aspekt der Erlösung von Schuld durch den Kreuzestod mit einem nota bene-­Zeichen auf,623 sondern auch die Christusrede, die Gottergebenheit und Leiden (trauayle) von Jugend an hervorhebt.624 Jedenfalls lassen die Randeinträge in 619 Vgl. Add MS 37790, fol. 108v, 4 neben: And in ilke saule that schalle be sayfe is a goodely wille that neuer assentyd to synne. 620 Vgl. die Monographie von Friedrich Ohly, die Bildlichkeit und Bildfeldern der Sünde in der monastischen und scholastischen Literaturtradition des Mittelalters gewidmet ist: Metaphern für die Sündenstufen und die Gegenwirkungen der Gnade. Opladen 1990 (Rheinisch-­Westfälische Akademie der Wissenschaften. Geisteswissenschaften. Vorträge G. 302). 621 Vgl. Add MS 37790, fol. 114r, 15 – 16: Botte that he is all love and will do alle thar thay stynte. And this vnknawynge it is that most lettis goddes luffers. Die vorhergehende Textpartie benennt den Grund für die tribulationes, die der Mensch im Laufe seines Leben zu erleiden hat: And cause why we ere travailed with tham is for unknawenge of luffe. 622 Vgl. Add MS 37790, fol. 108v, 20 – 21 nota-­Zeichen neben der rubriziert unterstrichenen Formulierung chosen saule (syn is the scharpyste scourge that any chosen saule maye be bette with […]). Fol. 111r, 11 rechter Seitensteg nota bene neben einer rubriziert unterstrichenen Textpassage: In this blyssed revelacion I was trewly taught that whate man or woman wilfully cheses god in his life he may be sekere that he is chosene. 623 Vgl. Add MS 37790, fol. 102r, 6 rechter Seitensteg nota bene neben: Botte ȝit lykes hym bettyr that we take fullye his blessede blode to wasche vs with of synne. 624 Vgl. Add MS 37790, fol. 102v, 4 linker Seitensteg: I thanke the of thy servyce and of thy trauayle and namly in þi ȝough. Im Kontext des Visionstextes nimmt der Ausdruck trauayle eher die Bedeutung von Leiden an, vgl. die vorausgehende Textpartie, A Vision, S. 79, 48 – 52: And after this, I felle into a saddehete, and

186 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

der Kempe-­Handschrift und dem Visionstext der Juliana verschiedene Interessenschwerpunkte erschließen: Denn die Marginaleinträge in den Schauungen indizieren eher eine allgemein-­katechetische Unterweisung, die das komplexe Verhältnis von menschlicher Sündenneigung, Gnadenerwähltheit und Gottebenbildlichkeit zu beleuchten sucht. In ­diesem Sinne zeichnet sich für den Visionstext der Juliana von Norwich offenbar eine Gebrauchsfunktion als eine Art ‚praxisorientierte Lehre‘ zur religiösen Lebensführung ab. Dagegen geht aus der Textannotierung des Kempe-­Codex ein Interesse an der Begnadung einer Einzelseele hervor. Bemerkenswerterweise sehen zeitgenössische Rezipienten in der Kempe-­Vita – ganz im Gegensatz zu den neuzeitlichen Forschungsmeinungen, die den Visionstext der Juliana höher als den Kempe-­Text einstufen – offenbar einen Text, der Antwortmöglichkeiten auf komplexe theologische Fragestellungen bieten kann, die visio, contemplatio und die discretio spirituum-­Lehre betreffen. Es stellt sich die Frage, ob die von James Grenehalgh annotierte „A Vision“-Kurzfassung mit ihren paratextuellen Autorschaftsangaben 625 auch Anhaltspunkte für eine entstehungs- und funktionsgeschichtliche Verortung des Kempe-­Codex bieten kann. Trotz saide: I see thre thinges: game, scorne and arneste […]: And I see arneste, that he es overcomen be the passion of oure lorde Jhesu Criste, and be his dede that was done ful erneste and with sadde travaile. In einem allgemeineren Zusammenhang kann trauayle auch geistliche Arbeit bezeichnen, vgl. den Eintrag travail, n. im Middle English Dictionary, University of Michigan eingesehen unter http://quod.lib.umich.edu/ cgi/m/mec/med-­idx?type=id&id=MED46851 [16. 05. 2018]. 625 Vgl. die Entstehungsumstände des Visionstextes, die die folgenden Forschungsbeiträge untersuchen: Watson: The Composition of Julian of Norwich’s Revelation of Love, S. 637 – 683. Er sieht die Kurzfassung „far from being a spontaneous and early response to her experience“ (S. 657) und setzt daher ihre Datierung etwa 10 bis 15 Jahre später an, als den von der Forschung allgemein akzeptierten Datierungsversuch von Colledge und Walsh um 1370, der auf einer textinternen Jahresangabe in der ausführlichen Fassung „A Revelation of Love“ beruht, vgl. A Revelation of Love, S. 125, 1 – 2: This revelation was s­ hewed to a simple creature unletterde, living in deadly flesh, the yer of our lord 1373, the thirteenth day of May. Vgl. A Book of Showings to the Anchoress Julian of Norwich. Hrsg. von Edmund Colledge and James Walsh. Part One. Toronto 1978 (Studies and Texts 35), Einleitung, S. 1 – 25 zur These eines zweistufigen Entstehungsprozesses, in dessen Verlauf Juliana die ‚Unmittelbarkeit‘ der Kurzfassung etwa zwanzig Jahre nach ihrer Entstehung in die gereifte Spiritualität und theologische Reflexion der langen Fassung umgearbeitet habe. In d ­ iesem Sinne argumentiert auch Denise Baker-­Nowakowski: Julian of Norwich’s Showings. From Vision to Book. Princeton, New Jersey 1994, besonders S. 137: „Just as she matured as a moral and mystical theologian during the twenty years seperating her two texts, so she also d ­ eveloped as a writer.“ Baker vermischt auf diese Weise die literarische Ebene eines mystischen Aufstiegswegs mit der Ebene der faktischen Textgenese, indem sie Juliana „theological and literary maturation“ attestiert. Vgl. Felicity Riddy: Julian of Norwich and Self-­Textualization. In: Editing Women. Hrsg. von Ann M. Hutchinson. Cardiff 1998, S. 101 – 121. Obwohl Riddy eine Art Autorenkollektiv auf der Ebene der faktischen Textproduktion ansetzt, dessen Zusammensetzung sie allerdings nicht näher diskutiert („Juliana and her scribe“; „the anchorshold is part of the parish and the town“, S. 119), greift sie auf die lose Strukturierung des Visionstextes in sechszehn Schauungen zurück, deren Länge sie durch den schriftlichen Entwurf auf Wachstafeln bedingt sieht. Auf diese Weise perpetuiert sie die nicht unproble­ matische Vorstellung von eigenhändig verfassten oder diktierten ‚Originalaufzeichnungen‘, die weiter

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 187 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

der Vorstellung einer historischen Verifizierbarkeit der Autorperson, die die paratextuellen Zusätze mit der expliziten Namensnennung in Incipit und Explicit evozieren, lässt sich die Existenz einer Person namens Juliana von Norwich nicht ohne Weiteres anhand historischer Dokumente belegen.626 Ein möglicher Grund mag darin zu sehen sein, dass die Inkluse, die wohl ­zwischen 1394 und 1416 die Klause neben der dem Benediktinerinnenkloster Carrow zugehörigen ­Kirche St Julian in Conesford, Norwich, bewohnt hat,627 ihren weltlichen Namen ablegt und den Namen des Schutzheiligen dieser ­Kirche angenommen hat, wie es dem Ritus zur Einschließung entsprach.628 Deshalb vermutet Nicholas Watson wohl zu Recht, dass die anonyme Rekluse, die erst in der Überlieferungs- und Textgeschichte zur namentlich benannten Autorin Juliana von Norwich konkretisiert wird, dem Benediktinerinnenpriorat Carrow vor ihrer Einschließung angehört haben könnte.629 Denn d ­ ieses unten im Kontext der Kempe-­Vita und der deutschsprachigen Viten- und Offenbarungsliteratur des 14. und 15. Jahrhunderts ausführlicher problematisiert werden sollen. 626 Weder der Name Juliana von Norwich noch Angaben über Familie und Verwandte lassen sich in historischen Dokumenten finden. Vgl. Watson/Jenkins: The Writings of Julian of Norwich, Einleitung, S. 4. Vgl. Riehle: Englische Mystik, S. 289. Watson: The Composition of Julian of Norwich’s Revelation of Love, besonders S. 639. Roger Reed, der Rektor der Michaelskirche in Coslany, Norwich, überschreibt in seinem Testament um 1393/1394 zwei Schillinge an Julian ankorite. Dies belegt zumindest, dass eine Person das Inklusorium in der St Julian-­Kirche bewohnt hat. Vgl. Watson: The Writings of Julian of Norwich, S. 431 und A Book of Showings to the Anchoress Julian of Norwich. Hrsg. von Edmund Colledge and James Walsh. Part One, S. 33 f. zu den Testamenten. Es existieren drei weitere Testamente aus den Jahren 1406 (Thomas Edmund, Rektor der Michaelskirche in Aylesham, Norfolk), 1415 (John Plumpton) und 1416 (Isabel Ufford, Countess of Suffolk), die Watson und Jenkins in ihrer Textedition in englischer Übersetzung abgedruckt haben, vgl. The Writings of Julian of Norwich, S. 431 – 435. Allerdings stellt Watson die plausible Überlegung an, dass die testamentarischen Überschreibungen von 1415 und 1416 ebenso gut an eine Nachfolgerin von der mit Juliana von Norwich identifizierten Person ergangen sein könnten. 627 Vgl. Marilyn Olivia: The Convent and the Community on Late Medieval England. Female Monasteries in the Diocese of Norwich, 1350 – 1450. Woodbridge 1998 (Studies in the History of Medieval Religion), S. 155. 628 Vgl. Watson/Jenkins: The Writings of Julian of Norwich, Einleitung, S. 6 mit Hinweis auf Anne K. Warren: Anchorites and their Patrons in Medieval England. Berkeley 1985, besonders S. 92 – 127. Vgl. den neueren Forschungsbeitrag von E. A. Jones, der den Inklusionsritus mit seinen Anleihen aus der Totenliturgie anhand von Pontifikalien des englischsprachigen Raums untersucht: The English O ­ rdines for Enclosing of Anchorites, S. XII–S. XVI. In: Traditio Volume 67 (2012), S. 145 – 234, besonders S. 159 f. und S. 167 zu den liturgischen Aspekten des Ritus. 629 Vgl. Watson/Jenkins: The Writings of Julian of Norwich, Einleitung, S. 4. Allerdings betrachtet Watson die oben diskutierte Textpassage als Indiz für die monastische Lebensführung der Visionärin, vgl. A Vision, S. 79, 53 – 55: After this, oure lorde saide: I thanke the of thy service and of thy travaile and namly in thy youth. Dagegen hat er – im Rückgriff auf die Überlegungen von Benedicta Ward – in seinem früheren Beitrag zum Kompositions- und Schreibprozess des Offenbarungstextes noch den Standpunkt vertreten, dass Juliana von Norwich keiner Ordensgemeinschaft angehört habe, wie insbesondere Formulierungen der Krankenbettszene nahelegten. Vgl. A Vision, S. 65, 19 – 20: And thay that were with me sente for the person my curette to be atte mine endinge. Vgl. auch S. 83, 26 mit Anspielung auf weitere Personen,

188 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Benediktinerinnenkloster hat das Inklusorium unterhalten, das offenbar dem Ruf besonderer Gnadenerwähltheit und ‚Heiligkeit‘ der Klostergemeinschaft förderlich gewesen ist.630 Hier eröffnet sich zumindest eine vage Spur auf ein mögliches benediktinisches Entstehungsumfeld des Visionstextes bzw. auf eine monastische Institution, die literarische Aktivitäten dieser Art offiziell gefördert haben könnten. Jedenfalls lassen sich Verbindungen ­zwischen einem benediktinischen Schreiber und einer Überlieferung in der Kartäuserbibliothek für den Kempe-­Codex ausmachen, so dass sich auf diese Weise zumindest punktuelle Hinweise auf die Norwicher Benediktiner als Träger, Förderer und Vermittler frauenmystischer Offenbarungsliteratur verdichten.631 Diese teils konkreteren, teils eher verhaltenen Spuren weisen auf ein monastisches Milieu, in dem die Kempe-­Vita und der Visionstext der Juliana entstanden sein dürften. Die Anschaulichkeit, die die Texte eindringlich und detailrealistisch mit literarischen Mitteln zur Darstellung bringen, finden ihre Entsprechung in den Bildprogrammen einer passionsmystischen Klosterfrömmigkeit, wie sie auch für die in der Einsamkeit des Gebets lebenden Kartäusermönche charakteristisch zu sein scheint. Jedenfalls richten die Kartäuser ihr Klosterleben in besonderer Weise auf die Kontemplation in strikter Weltabgeschiedenheit und die persönliche Gottessuche im Gebet des Einzelnen aus, wie sie in der Architektur der Klosteranlagen 632 und der Ordensregel zum Ausdruck kommt. So beteten die Kartäusermönche Prim, Terz, Sext und Non des Stundengebets in ihrer Klosterzelle, während sie die Matutin, Vesper und Messfeier an Sonnund Feiertagen gemeinschaftlich in der Klosterkirche zelebrierten.633 Die zweigeschossigen ‚Mönchszellen‘ der Kartause Mount Grace gleichen eher autarken Einsiedlerklausen mit die am Krankenbett wachen: My modere, that stode emanges othere and behelde me, lifted uppe hir hande before me face to lokke min eyen. For she wened I had bene dede or els I hadde diede. Vgl. Benedicta Ward: Julian the Solitary. In: Julian Reconsidered. Hrsg. von Kenneth Leech und Sister Benedicta. Oxford 1988, S. 11 – 31. Wie oben angemerkt, bietet der Offenbarungstext allerdings weder genaue Zeitangaben noch biographische Anhaltspunkte, so dass es sich hier wohl eher um eine bewusste Mystifizierung bzw. Entpersonalisierung der Figur der Visionärin handeln könnte. 630 Diese Überlegung formuliert Marilyn Olivia, die ausführt, dass ein Rekluse namens Roger im 15. Jahrhundert auf dem Klostergelände in Carrow gelebt habe. Vgl. Olivia: The Convent and the Community in Late Medieval England, S. 155. Allerdings ist Rogers Existenz einzig durch ein auf 1404 datiertes Testament von Thomas Edmund, einem Geistlichen aus Aylesham, Norfolk belegt. Vgl. Watson/Jenkins: The Writings of Julian of Norwich, S. 432. 631 Eine genauere Untersuchung dieser überlieferungs- und funktionsgeschichtlichen Zusammenhänge anhand der erhaltenen Handschriften aus dem Norwicher Kathedralpriorats bleibt ein wichtiges Forschungsdesiderat, wie oben erwähnt. 632 Vgl. zur charakteristischen Bauweise der Kartausen, die jedoch von Kloster zu Kloster gewisse Variationen aufgrund der jeweiligen örtlichen Bedingungen aufweisen kann, Brantley: Reading in the Wilderness, S. 37 – 40. Vgl. auch Coppack/Aston: Christ’s Poor Men, Kapitel 2 „The Planning of Carthusian Monasteries“, S. 25 – 46 und zu den typischen Mönchszellen, die „miniature monasteries“ (Coppack, S. 73) oder Einsiedeleien ähnelten, S. 73 – 100, zur Klosteranlage Mount Grace, S. 77 – 84. 633 Vgl. Coppack/Aston: Christ’s Poor Men, S. 14 und S. 57. Brantley: Reading in the Wilderness, S. 197.

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 189 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Schlafstätte, Skriptorium, Oratorium und eigener Gartenanlage. Auf diese Weise realisieren sie ein coenobitisch-­eremitisches Lebensideal,634 das die Abgeschiedenheit mit dem Leben in einer Klostergemeinschaft in Einklang bringt. Die sogenannten Consuetudines Cartusiae, die Guigo I. als fünfter Prior der Grande Chartreuse (1109 – 1136) als Ordensregel schriftlich niedergelegt hat, bilden die theologische Grundlage für die Gestaltung der Kartäuserklöster: Denn er kodifiziert das Schweigen, das einsame Gebet in der Zelle, die Kontemplation und Buchproduktion als Lebensform der Einsiedlermönche.635 Und im Kontext abgeschiedener Kontemplation ist es nicht erstaunlich, dass Buchproduktion, Bücherliebe und Gelehrsamkeit einen bedeutenden Stellenwert einnehmen. Denn die Kartäusermönche verkünden das Wort Gottes, indem sie sich dem Schreiben und der Bücherpflege widmen.636 Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass Visionstexte eine prominente Rolle in der Frömmigkeits- und Vorstellungswelt der Kartäuser einnehmen, wenn man die Anfänge des Kartäuserordens bedenkt, wie sie das kurze Gedicht zur Ordensgründung (fol. 22r–22v) in der Kartäusersammelhandschrift Add MS 37049 aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts präsentiert. Sie ist im Jahr 1084 in der Nähe von Grenoble durch den Heiligen Bruno (1030 – 1101) aus Köln, den Theologen und ehemaligen Kanzler am Dom von Reims, erfolgt:637 At þe begynyng of þe chartirhows god dyd schewe / To þe byschop of gracionapolitane, saynt hewe / Seuen sternes goyng in wildernes to þat place / Wher now þe ordir of þe chartirhows abydyng has. / And when þes sternes at þat place had bene / At þe bischop’s fete, þai felle al bedene / And aftyr þis visione þe sothe for to saye, þe doctor Bruno and sex felows, withouten delay / Come to þis holy bischop, cownsel to take / To lyf solytary in wildernes, and þis warld to forsake.638 634 Vgl. Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik, Band 1, S. 208. 635 Vgl. die Beispiele aus den Consuetudines, die Jessica Brantley in ihrer Untersuchung anführt, B ­ rantley: Reading in the Wilderness, S. 35 f. zitiert nach der Textedition: Guigo I. Coutumes de Chartreuse. Sources chrétiennes 313. Paris 1984. Zu Schweigen und Einsamkeit, vgl. Consuetudines 14.5 (Brantley: Reading in the Wilderness, S. 340 Anm. 27): Raro quippe hic missa cantitur, quoniam precipue studium et propositum nostrum est, silentio et solitudini celle vacare. Consuetudines 31.1 (Brantley: Reading in the Wilderness, S. 339 Anm. 22): Cuius habitorem diligenter ac sollicite decet invigilare, ne quas occasiones egrendiendi foras vel machinetur vel recipiat, exceptis his quae generaliter institutae sunt, sed potius sicut aquas piscibus, et caulos ovibus, ita suae saluti et vitae cellam deputet necessariam. In qua quanto diutius, tanto libentius habitabit, et quam si frequenter et levibus de causis exire insueverit, cito habebit exosam. Et ideo statutis ad hoc horis petenda iubeter petere, et accepta tota dilientia custodire. 636 Vgl. das berühmte Zitat zur Buchproduktion und Bücherpflege aus den Consuetudines, 28.3 – 4 (Brantley: Reading in the Wilderness, S. 344 Anm. 73): Adhuc etiam, libros ad legendum de armario accipit duos. Quibus omnem diligentiam curamque prebere iubetur, ne fumo, ne pulvere, vel alia qualibet sorde maculentur. Libros quippe tamquam sempiternum animarum nostrarum cibum cautissime custodiri et studiosissime volumus fieri, ut quia ore non possumus, dei verbum manibus predicemus. 637 Vgl. die kurze Übersicht zur Ordensgründung in: Sönke Lorenz: Ausbreitung und Studium der Kartäuser in Mitteleuropa. In: Bücher, Bibliotheken und Schriftkultur der Kartäuser: Festgabe zum 65. Geburtstag von Edward Potkowski. Hrsg. von Sönke Lorenz. Stuttgart 2002 (Contunerbium 59), S. 1. 638 Add MS 37049, fol. 22r, 1 – 10. Vgl. die Transkription von Brantley: Reading in the Wilderness, S. 29.

190 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Die Ordensgründung selbst wird auf eine göttliche Vision zurückgeführt. Eine strikte Weltabkehr schafft die Voraussetzung für eine persönliche Gottbegegnung: Solytary lyfe is þe scole of doctryne þat ledys vnto heuen. / And wildernes is þe paradyse of ­deliciousnes to neuen. […] þe celle is þe grafe fro þis trobyld lyfe vexacioun, / And of heuenly lyfe þe entre and ­consolacioun. […] þerfore who so contemplatyfe wil veryly be / Alle erthly myrthe and melody must flee / And set his hert and mynde deuoutely / opon þe luf of Ihesu Crist, god almighty.639

In dieser Strophe artikuliert sich eine Art Selbstverständnis, das nicht nur ein Leben in strikter Einsamkeit und Abgeschiedenheit voraussetzt (solytary life is þe scole of doctrine þat ledys vnto heuen), sondern die Mönchszelle buchstäblich als eine Art letzte Ruhestätte imaginiert, die den Weg zum Heil eröffnet (þe celle is þe grafe fro þis trobyld lyfe vexacioun / And of heuenly lyfe þe entre and consolacioun).640 In diese Richtung weist jedenfalls auch das monastische Lehrgedicht „Of þe state of religion“ (fol. 37v–38r),641 das bereits in Kapitel 2.2.2 „Der Kempe-­treatyse im Kontext der Mitüberlieferung“ diskutiert worden ist: Es propagiert den Rückzug aus der Welt,642 639 Add MS 37049, fol. 22v, 11 – 42. Vgl. die Transkription von Brantley: Reading in the Wilderness, S. 31. 640 Diesen Aspekt unterstreicht die folgende Textpassage, die auf Kirchenväterliteratur als theologische Basis dieser asketischen Lebensform anspielt, vgl. Add MS 37049, fol. 22r, 33 – 50: Solitary lyfe gretly holy ­doctours commend it in bokes / As men in writtyngs may fynde þat þer after lokes. […] To go forth of monasteris into solitary place / þat þai myght tent to contemplacioun by gods grace. Vgl. Brantley: Reading in the Wilderness, S. 33. Brantley verweist auf einen Brief des Heiligen Bruno an Raoul le Verd (Ad Radulphum, cognomento Viridem, Remensem praepositum), den Provost der Kathedrale in Reims mit einem Lobpreis des Lebens in der Einsamkeit (zitiert nach Lettres des premiers chartreux. Introduction, texte critique, traduction et notes par un chartreux. Paris 1962, Volume 1, S. Bruno, Guiges, S. Anthelme (Sources chrétiennes 88), S. 70): Quid vero solitudo heremique silentium amatoribus suis utilitatis jucunditatisque divinae conferat, norunt hi soli qui experti sunt. Hic namque viris strenuis tam redire in se licet quam libet et habitare secum, virtutumque germina instanter excolere atque de paradisi feliciter fructibus vesci. Hic oculus ille conquiritur, cujus sereno intuitu vulneratur sponsus amore, quo mundo et puro conspicitur Deus. Hic otium celebratur negotiosum et in quieta pausatur actione. Hic pro certaminis laborare repensat Deus athletis suis mercedem optatem, pacem vidilicet quam mundus ignorat, et gaudium in Spiritu Sancto. 641 Das Gedicht findet sich abgedruckt in Höltgen: Arbor, Scala und Fons Vitae, S. 374 – 376. Vgl. auch die knappe Kommentierung in Gray: London, British Library Additional MS 37049 – A Spiritual Encyclopedia, S. 111. Vgl. die obigen Ausführungen in Kapitel 2.2.2 „Der Kempe-­treatyse im Kontext der Mitüberlieferung“ zu der thematischen Relation z­ wischen der monastischen Tugenddichtung auf fol. 37v–38r und dem von Wynykn de Worde gedruckten Traktat „Mons Perfeccionis“ von John Alcock. Die Druckfassung, die dem Kolophon zufolge auf Veranlassung des Priors der Kartause St Anne in Coventry entstanden ist, bietet eine Lobeserhebung der exemplarischen Tugendhaftigkeit des Kartäuserordens. 642 Vgl. Add MS 37049, fol. 37v, 3 – 4: Far fro þe warld as þe boke telles / Als in deserte þar no man dwelles. Vgl. Höltgen: Arbor, Scala und Fons Vitae, S. 374, 3 – 4. Vgl. Brantley: Reading in the Wilderness, S. 115 – 117, die den Preis des eremitischen Lebens als Hauptthema der Dichtung bestimmt.

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 191 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

die klösterliche Askese, die dem ‚Tod‘ des Mönches für die Welt gleichkommt 643 und die monastische Tugend der paupertas 644 als Heilsweg. Dabei bietet diese Lehrdichtung Auszüge aus einer längeren Fassung der sogenannten „Desert of Religion“ (fol. 46r–66r), die die Mitte der insgesamt 96 Blätter umfassenden Sammelhandschrift einnimmt und auf diese Weise zentral für die Anlage und Programmatik der Sammelhandschrift Add MS 37049 erscheint.645 Dem Kulminationspunkt des spirituellen Strebens verleiht das Sprachbild des hylle of perfeccion (fol. 38r, 23) Ausdruck: Right so suld do þe man of religion, / þat clym wil on þe hylle of perfeccion […] So he cum to þat ­mowntayne, / þar endles ioy is soudayne / þar sal he se ay clerly / Oure lord Jhesu crist god almyghty / And he sal luf perfitely þare / And hafe hym þan for euer mare. Amen.646

Eine monastische Leserschaft lässt sich aus der den Text begleitenden Bildillustration auf fol. 50v erschließen, die den Stolz als Lasterbaum imaginiert, aus dessen Wurzel die mit der superbia assoziierten Laster und Verfehlungen sprießen.647 Die Verse auf fol. 49v,648 die die superbia als Hauptthema einführen, sind durch eine Himmelsleiter mit den Stufen humiliacione, conu[er]sacione, meditacione, contric[i]one, confession, satisfaccion, orison, 643 Vgl. Add MS 37049, fol. 37v, 12 – 20: For als a man þat is dede / Bodyly þorow deds dynt / Has al bodely wittes tynt / þat is to say sight & smellyng / Heryng, speche, & felynge / Right so suld þe religious man / As to þe warld be ded þan, / þat he fele no-­þinge with-­in, / þat suld falle to any syn. Vgl. Höltgen: Arbor, Scala und Fons Vitae, S. 374, 12 – 20. 644 Vgl. Add MS 37049, fol. 38r, 9 – 16: þe tresor of a man religios / Is clene pouerte þat is precios / If it cum of a gode will / And with-­outen grotchyng lowde or stylle. / Wher-­fore god says þus blissed ar þai, / þat pore ar in spyrit nygth & day / For þaires is as falles þorow right / þe kyngdom of heuen bryght. Vgl. Höltgen: Arbor, Scala und Fons Vitae, S. 375, 53 – 60. 645 Vgl. Höltgen: Arbor, Scala und Fons Vitae, S. 376 Anm. 25 zu den jeweiligen Auszügen: „Of þe state of religion“ Add. MS 37049, fol. 37v, Z. 1 – 6; 35 – 37, 39 – 40 entsprechen „The Desert of Religion“ fol. 50v. Vgl. Brantley: Reading in the Wilderness, S. 79 zur Platzierung der „Desert of Religion“ in der Mitte der Handschrift. Brantley führt im Rückgriff auf Hogg aus, dass es sich bei ­diesem Lehrgedicht um einen ursprünglich eigenständigen Faszikel gehandelt habe, der erst nachträglich in der Mitte eingebunden worden sei, vgl. dies., S. 354 Anm. 1. Dies indiziert eine gewisse Programmatik, die sich im Anordnungsprinzip des Kartäuserkompendiums Add MS 37049 ausdrückt. In diese Richtung deutet auch das „The Desert of Religion“ begleitende Bildprogramm der oben diskutierten Tugend- und Laster­bäume, die sich auf der jeweiligen recto-­Seite neben dem Text befinden und die Ebene der bildlichen Vorstellungskraft aktivieren. 646 Add MS 37049, fol. 38r, 23 – 46. Vgl. Höltgen: Arbor, Scala und Fons Vitae, S. 376, 67 – 90. 647 Vgl. fol. 50r: Durch den Stamm des Baumes zieht sich ein Spruchband mit der Aufschrift: oute of þe rote of p[ri]de growes þir degres set i[n] þe boghes. In den Blättern der Krone finden sich einander gegenüberliegend curiosite und lightnes of þoght. Weitere Blätter beinhalten die folgenden Verfehlungen: vnmesurd gladnes; syngularite; feyned co[n]fessio[n]; a fredom of synynge; custom of sy[n]ne. 648 Vgl. fol. 49v, 1 – 12: ȝitt groves in þis wylldernes / A tre of grett wykkednes / þat beres froytte bitter als gall’/ þat itt tastes itt poysounis all / þo man þat thoght hy[m] for to schryfe / brannches & boghes a way suld ryfe.

192 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

deuocion, contemplacion illustriert. Auf fol. 50v werden sogenannte tuelfe abusyouns als ein für die Klosterwelt spezifischer Lasterbaum dargestellt,649 der nur in Ordensgemeinschaften seine verderbnisbringenden Früchte treibt.650 In seiner Gesamtheit betrachtet, leitet das Gedicht zu einer privaten Gottessuche an, die Weltflucht und Weltabschottung voraussetzt, um zu Gott zu finden.651 Denn der Rückzug aus der Welt, der mit der Überwindung des physischen Körpers einhergeht, ermöglicht die Besinnung auf das Leben und Leiden Christi, das zur visio führen kann. Jedenfalls kann die kartäusische Textlektüre, die aus den oben diskutierten Marginaleinträgen in der Kempe-­Vita hervorgeht, innerhalb einer persönlichen und auf die Passion Christi zentrierten Gebets- und Frömmigkeitspraxis situiert werden, wie sie die Handschrift Add MS 37049 in Text und Bild programmatisch entfaltet.652 Denn die Kempe-­Vita zeichnet sich wie Add MS 37049 durch eine besonders anschauliche Bildhaftigkeit aus, die insbesondere in der literarischen Präsentationsweise der Passionsvisionen in den Kapiteln 28, 29 und 30 zum Ausdruck kommt.653 Signifikant ist dabei, dass die Margery-­Figur das Lebensziel der inneren Kontemplation (sche saw hym veryly be contemplacyon, S. 68, 10 – 11) 649 Vgl. fol. 51r: Der Baum ist mit der Aufschrift þis are þe twelfe abusyouns þat growes emange religiounes versehen. Zu ihnen zählen newe tydynges i[n] cloyster; mete dayntyvos; ane ald man obstinate; a p[re]late negligent; a discipyl i[n]obedient. 650 Vgl. Add MS 37049, fol. 50v, 1 – 40: In þis deserte is a-­nother tre / Sprynges and spredes as men may se / þat nother groves in cite ne in toune / Bott in place of religioune […] þir are þe tuelfe abusyouns / þat ­groves in relygiouns. / þis tre suld þai nyght and day / Be a-­boute to hew a-­way / With his boghes and with his ­braunches / þat in relygioune makes dystaunces / Whar þe saule suld duell in wildernes / þat has for-­saken þe werkes of þe flesch./ þis tre has poysound and broght doune / Many a man of relygioune. Vgl. die Transkription von Brantley: Reading in the Wilderness, S. 111, die die Textpartie als Hinweis auf ein monastisches Lesepublikum sieht: „Lay audiences aspiring to replicate a life of contemplaction might expect to see the virtues of religious life extolled, rather than its vices censured. The realities of monastic life form a reference point for the poem, and most likely a more than metaphorical one.“ 651 Vgl. die Anfangsverse der „Desert of Religion“, die Denis Renevey zufolge eine Art Apologie der eremitischen Lebensweise bieten. Vgl. die Transkription von Renevey: The Name Poured Out, S. 141. Das Lehrgedicht beginnt auf fol. 46r, 1 mit Psalm 54,8 Elongavi fugiens et mansi in solitudine: Davyd, þat prophet was ay / in þe sawter boke þus we here say / Fle and I fled fra mare and les / And dwelled in herd wyldernes / Þis wyldernes be-­takens wele / Herd penaunce, at men suld fele / þat fleys fra þe werld þat es þe flesch / And groves in gastely wyldernes / Als men of religioune dose / þat fleys þe flesch in þe saule fylose./ For qwen man thurgh deuocioune / Enters in-­to religioune / He es als man þat suld wende / In-­to þe felde to fyght with þe fende / Whare-­for god-­blyssed mot he be / Qwhen he of þe fende faund wald be. / He went in-­to deserte to dwell / Als itt is wryten in þe gospell / Ductus est Jesus in desertum a spiritu ut temptaretur. 652 Höltgen: Arbor, Scala und Fons Vitae, S. 357. Vgl. auch den älteren Beitrag von Ross: Five Fifteenth Century „Emblem“ Verses, S. 274 – 282. Vgl. auch zur programmatischen Bedeutung des Christusmonogramms in der Handschrift, Renevey: The Name Poured Out, S. 127 – 146, besonders S. 138 – 145. Vgl. Gray: London, British Library Additional MS 37049 – A Spiritual Encyclopedia, S. 99 – 116. 653 Insgesamt betrachtet, strukturieren die Passionsvisionen die Kempe-­Vita, da sie sich im Mittelteil und verstärkt gegen Ende des ersten Buches in den Kapiteln 78, 79, 80 und 81 befinden. Diese Anordnung deutet auf eine gewisse spirituelle Progression der Margery-­Figur: Denn sie ‚erlebt‘ nun nicht mehr die

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 193 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

bereits verwirklicht hat, wie sie etwa die bereits erwähnte Illustration der Himmelsleiter auf fol. 49v in Add MS 37049 als höchste Stufe auf dem Weg zu Gott präsentiert. Die narrative Umsetzung der Visionserfahrung in konkret wahrnehmbare ‚Körperzeichen‘ entfaltet eine Vergegenwärtigung des Gnadengeschehens, die das besondere Interesse der lesenden Kartäusermönche gefunden hat, wie die oben diskutierten Randeinträge indizieren.654 Und die Marginaleinträge in der Kempe-­Handschrift zu den beiden Kartäuserautoren, die hohe Klosterämter in Mount Grace bekleidet haben, deuten auf eine ‚offizielle‘ Autorisierung bzw. eine von der Klosterleitung ausgehende Forcierung dieser passionsmystischen Frömmigkeit. Jedenfalls findet die Bildhaftigkeit der Kempe-­Vita eine Art Entsprechung in der Narrativik der Bilder, wie sie das ‚Andachtsbuch‘ Add MS 37049 zu kontemplativen ­Zwecken vor Augen führt.655 Die oben ausführlicher diskutierten passionsmystischen Text-­Bild-­Kombinationen der „Querela divina“ auf fol. 20r und fol. 24r und die eindringlichen Bildvariationen der Lebensbaumdarstellung auf fol. 36v und fol. 67v leiten zur Praxis des pyteous beholdyng an, die als Ausgangspunkt der Begegnung mit Gott visuell dargestellt ist. Gleichzeitig zeigen diese Bilddarstellungen allerdings, wie dem betenden Kartäusermönch (bzw. einer Gruppe von Betenden auf fol. 76v) Christusvisionen zuteilwerden. Die Bildillustrationen veranschau­ lichen gewissermaßen die erfolgreiche Umsetzung dieser Praxis.656 Dem Herzen als „Symbol der Gotteinkehr und der Innerlichkeit“657 kommt in diesen Bildkompositionen besondere Bedeutsamkeit zu, da es den komplexen Zusammenhang von Gottesliebe, Erlösung und Gotteinkehr im eigenen Herzen versinnbildlichen kann. Dies demonstriert etwa das oben erwähnte Spruchband mit der Aufschrift est amor meus, das sich durch das Herz auf fol. 36v zieht, ebenso wie das Spruchband, das der Figur des Schmerzensmannes auf fol. 20r zugeordnet Nativität (Kapitel 6 und 7) in ihrer Kontemplation, sondern ihre Gnadenerfahrungen konzentrieren sich auf den Höhepunkt der Heilsgeschichte – den Kreuzestod und die Auferstehung. 654 Vgl. BMK, S. 68, 10 – 23: Befor hir in hyr sowle sche saw hym veryly be contemplacyon, & þat cawsyd hir to haue compassyon. &, whan þei cam vp on-­to þe Mownt Caluarye, sche fel down þat sche mygth not stondyn ne knelyn but walwyd & wrestyd wyth hir body, spredyng hir armys a-­brode, & cryed wyth a lowde voys as þow hir hert xulde a brostyn a-­sundyr, for in þe cite of hir sowle, sche saw veryly & freschly how owyr Lord was crucifyed. […]. & sche had so gret compassyon & so gret peyn to se owyr Lordys peyn þat sche myt not kepe hir-­selfe fro krying & roryng þow sche xuld a be ded þerfor. 655 Die Formulierung „die Narrativik der Bilder und die Bildhaftigkeit der Literatur“ stammt von Horst Wenzel, der sie einsetzt, um die Zusammengehörigkeit beider Medien in der mittelalterlichen Kultur des Erinnerns auszudrücken, die durch Mündlichkeit und Schriftlichkeit gleichermaßen geprägt sei. Vgl. ders.: Hören und Sehen. Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995, S. 11. 656 Vgl. zu den in die verschiedensten Bereiche ausdifferenzierten Visualisierungsstrategien der mittelalterlichen ‚Schaufrömmigkeit‘, die auf eine sinnliche Wahrnehmbarkeit und Vergegenwärtigung des unsichtbaren Gottes zielt, Wenzel: Hören und Sehen, Kapitel 3 „Die Manifestation Gottes für das Auge“, S. 99 – 105. 657 LCI, Band 2, Sp. 248.

194 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

ist: þeis woundes smert. bere [in] hert [and] luf god aye. / If þow do þis. þu sal hafe blys with-­owten delay. In Kombination mit der dialogischen Qualität des oben diskutierten Textes ermöglicht die spezifische Text-­Bild-­Komposition, dass sich der Betrachter meditativ in das visualisierte Andachtsgeschehen hineinversetzen und seine eigene Gottessuche realisieren kann. Dass eine s­olche auf die unio-­Erfahrung ausgerichtete Gottessuche nicht in einem exklusiven Sinne als ‚kartäusisch‘ zu verstehen ist, hat Jeffrey Hamburger an den aus dem 15. Jahrhundert erhaltenen zwölf Miniaturen auf Einzelblättern aus der Benediktinerinnenabtei St. Walburg nahe Eichstätt demonstriert.658 Er eröffnet einen Vergleich ­zwischen der Bildgestaltung und Darstellungsweise der Andachtsbilder aus St. Walburg, deren „visual rhetoric“ (Hamburger) thematisch auf die Einigung mit Gott zentriert sei, und den oben diskutierten Illustrationen des Kartäuserkompendiums Add MS 37049, insbesondere im Hinblick auf das Motiv der Stufenleiter auf fol. 37v und fol. 49 und die Herz-­Jesu-­Verehrung, wie sie sich in den Bildkompositionen auf fol. 20r und fol. 36v entfalte. Zugleich macht er auf signifkante Differenzen aufmerksam, die etwa in der Darstellung des gekreuzigten Christus und der mystischen Einwohnung im Herzen aus St. Walburg („The Heart on the Cross“ Plate 10) und der Kartäuser-­Handschrift Add MS 37049 ersichtlich werden: Denn die Bilder des Kartäuserkompendiums zeigten die betenden Mönche zumeist am unteren Rand der Stufenleiter oder des Herzens mit andächtig erhobenem Blick, während die Nonne in „The Heart on the Cross“ (Plate 10) die Vereinigung mit dem Göttlichen durch ihren in der Leiter symbolisierten Aufstiegsweg bereits realisiert habe und auf diese Weise „the possiblity of perfection“ bildhaft umgesetzt sei.659 Die Andachtsbilder aus der Kartäuserhandschrift und der Benediktinerinnenabtei illustrieren in gewisser Weise Stufen des mystischen Aufstiegswegs vom pyteous beholdynge der Kartäusermönche zur eigentlichen Liebesvereinigung in „The Heart on the Cross“ (Plate 10). Dazu passt, dass in dem Kartäuserkompendium einige Gebete als von Gott selbst offenbart ausgegeben werden: So weist die von einer herzförmigen Rahmung umgebene Seitenwunde auf fol. 24r eine konkretisierende Beschriftung mit einer detaillierten Zahlenangabe zu den Kreuzeswunden auf: þe nowmer of Jhesu cristes wowndes are fyve þowsande foure hondreth sexty & fyftene þe whilk in his body war felte and sene. Die Herzillustration selbst trägt die Aufschrift mt.cccc.lx.xv woundes mt.ccccc.mt.xlvij. c. v. drops.660 Signifikant ist, dass es sich bei diesen detaillierten Zahlenangaben ebenfalls um ‚Offenbarungswissen‘ handelt: Denn der bedeutende Straßburger Kartäuserautor Ludolf von Sachsen berichtet in der Prologpartie zur Passion im Rahmen seiner Vita Christi, die zu den populärsten und 658 Jeffrey Hamburger: Nuns as Artists. The Visual Culture of a Medieval Convent. Berkely, Los Angeles, London 1997. Zum Vergleich der Illustrationen aus Sankt Walburg und Add MS 37049, vgl. besonders S. 111 – 113. 659 Hamburger: Nuns as Artists, S. 113 f. 660 Vgl. die kurze Bildbeschreibung in Ross: Five Fifteenth-Century „Emblem“ Verses, S. 275.

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 195 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

reich überlieferten Evangelienharmonien des Spätmittelalters zählt, wie einer Rekluse die genaue Anzahl der Wunden mit einer Gebetsaufforderung von Gott eröffnet werden.661 Zwar findet sich in den Zahlengebeten der vorliegenden englischsprachigen Kartäuserhandschrift nicht die aus Ludolphs Vita Christi hergeleitete Zahl von 5490 Wunden, wohl aber darf eine gewisse Nähe zu ­diesem Gebetstypus vermutet werden. Unter den Andachtstexten befinden sich zwei weitere Texte, die Visionserfahrungen präsentieren.662 Die kurze Versdichtung auf fol. 25r bietet eine Beschreibung Christi,663 die sein attraktives Äußeres, besonders sein langes braunes Haar, seinen gepflegten Bart und sein von Güte und Strenge geprägtes Antlitz thematisiert. Auch der Kempe-­Text beschreibt das attraktive Erscheinungsbild Christi: aperyd to hys creatur […] in lyknesse of a man, most semly, most bewtyuows & most amyable þat euyr mygth be seen wyth mannys eye, clad in a mantyl of purpyl sylke […] lokyng vp-­on hir wyth so blyssyd a chere […].664

Die Gottesvisionen, die die Kempe-­Vita mit detailrealistischer Anschaulichkeit vermittelt, scheinen zentral für eine affektive Christusspiritualität zu sein.665 Und deshalb ist es 661 Vgl. Arnold Angenendt [u. a.]: Gezählte Frömmigkeit. In: Frühmittelalterliche Studien 29 (1995), S. 1 – 71, hier S. 45 mit folgender Quellenangabe: Ludolph von Sachsen, Vita Jesu Christi pars II c. 58.4. Hrsg. von L. M. Rigollot. Ludolphus de Saxonia. Vita Jesu Christi 4. Paris, Rome, 1870, S. 458: Cuidam etiam seni matronae reclusae multitudinem et numerum omnium vulnerum Christi scire cupienti, et pro hac re flebiliter Deum oranti, vox coelica missa dixit: Quinque millia quadrigenta nonaginta vulnera mei corporis exstiterunt; quae si venerari volueris, orationem Dominicam cum salutatione Angelica quindecies quotidie in memoria Passionis meae replicabis, sicque anno revoluto unumquodque vulnus venerabiliter salutabis. 662 Vgl. fol. 23v-24r „Three Miracles of Name Salvation“ und fol. 80v Versdichtung zur Vision des himmlischen Jerusalems. 663 Vgl. Add MS 37039, fol. 25r: As walnot barke his hare is ȝalowe / In Summer ceson when it is grene / Playne downe to þe eres þai can folow / And wele þai sene all be-­dene. Die zweite, vierte und fünfte Strophe führen die detailreiche Beschreibung weiter aus: Abowte þe cowmpes of þe hede / þe hare is blayk forth fro þe eres / And sumewhat lokyrd wele on berede / And also schynyng fro þe scholders. […] A playne front also he has / And face ful clere with-­owten spotte / Modyrd ful wele & ful of grace / And freschely vttrand / wel I wote. No reprefe was fun þare / In nose nor mowthe, cheke nor chyn / His berd was multiplyed wele with hare / Lyke downe both fayre & clene. Die siebte Strophe bietet eine Veranschaulichung der Gesichtszüge, die Güte und Strenge widerspiegeln: With cowntenance swete & schynyng eene / With dyuers fayrnes in þaim beyng / In his correctioun is oft-­tymes seene / Ferdful & dredful, as wele is semyng. Vgl. die Transkription in Ross: Five Fifteenth-Century „Emblem“ Verses, S. 277 f. Quelle dieser Versdichtung ist vermutlich das um 1300 entstandene religiöse Gedicht Cursor Mundi, vgl. Ross: Five Fifteenth-Century „Emblem“ Verses, S. 277 f. mit Nachweis der Parallelstellen. Vgl. auch Gray: London, British Library Additional MS 37049 – A Spiritual Encyclopedia, S. 107. 664 Vgl. BMK, S. 8, 14 – 17. 665 Vgl. die detaillierten Visionsberichte in BMK, S. 8, 13 – 17 mit der oben genannten Christusvision; Nativitätsvisionen in Kapitel 6, S. 18, 9 – 19, 23 und Kapitel 7, S. 19, 24 – 35; Kapitel 8, S. 20, 18 – 21,7 Vision der

196 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

wohl nicht zufällig, dass die Kartäusermönche ein besonderes Interesse an der Kempe-­Vita gezeigt haben, in der Visionen und Christusdialoge deutlich überwiegen. Dass die visionäre Schauung ein zentrales Element dieser Frömmigkeitspraxis darstellt, geht jedenfalls auch aus dem ­kurzen Andachtstext auf fol. 23v–24r hervor, der als Vision eines Mönches ausgegeben wird.666 Die Seele, die dem Mönch in einer Schauung erscheint, empfiehlt ihm, den heiligen Namen anzurufen.667 Wie in dem oben diskutierten Beispiel der beiden ‚Frauengebete‘ aus der Münchener Orationaliensammlung ruft die Anfangspartie die Aura göttlicher Offenbarungsworte auf, die dem Erbauungstext besondere Authentizität und Glaubwürdigkeit verleihen kann. Zumindest zeichnet sich in der Sammelhandschrift Add MS 37049 eine Art ‚Kultivierung‘ von Visionen ab. Und dass die Kempe-­Handschrift innerhalb dieser Frömmigkeitspraxis situiert werden kann, legen nicht nur die oben diskutierten Marginaleinträge zu den mystisch begabten Kartäuserautoren Richard Methley und John Norton nahe, sondern auch die Annotierung mit Christusmonogrammen, die häufig programmatisch im Kopfsteg einer Handschriftenseite platziert sind.668 Diese christozentrische Lektürepraxis basiert auf der Andachtspraxis zur Namensverehrung, wie sie das ‚Andachtsbuch‘ Add MS 37049 in seinen Bildillustrationen entfaltet.669 Dies zeigt auch die rubrizierte T-Initiale auf fol. 31r, 7 – 8 in der Kempe-­Handschrift, die zu einem Schild mit den fünf Kreuzeswunden Gottesmutter; Passionsvisionen in Kapitel 28, S. 68, 10 – 23; Kapitel 29, S. 71, 21 – 72, 3; Kapitel 78, S. 184, 32 – 185, 3; Kapitel 79, S. 187, 25 – 191, 3; Kapitel 80, S. 191, 4 – 194, 24; Kapitel 81, S. 194, 25 – 197, 37. 666 Vgl. Add MS 37049, fol. 23v, 9 – 23: It is written þat þer was i[n] gret paynes a saule þe whilk a monke saw i[n] vision and askyd þe same saule how men myght be delyverd fro sodan ded and schyw paynes þe saule answered & sayd. O if I had knawen whe[n] I was i[n] þe warld. 667 Vgl. Add MS 37049, fol. 23v, 17 – 20. 668 Vgl. die Ausführungen zu der programmatisch wirkenden Platzierung der Christusmonogramme in Kapitel 2. 3 „Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre“. 669 Vgl. die Folioangaben von Renevey: The Name Poured Out, S. 140 Anm. 46. fol. 23v mit der großflächigen Aufschrift Jesus Nazarenus in Kombination mit einer ­kurzen Versdichtung zum heiligen Namen; die oben diskutierte Darstellung Christi und die Dichtung zur Wundenverehrung auf fol. 24r; fol. 26r zur Namensverehrung der Heiligen Maria; die oben diskutierte Darstellung des Lebensbaums als Kreuz auf fol. 36v; das oben beleuchtete ‚Autorportrait‘ Richard Rolles mit Jesusmonogramm auf seiner Brust fol. 37r; fol. 46r mit dem Christusmonogramm als Schutzschild in der Anfangspartie der „Desert of Religion“; fol. 52v mit dem zweiten ‚Autorportrait‘, das Richard Rolle zeigt; fol. 67r mit einer großflächigen Christusmonogrammillustration, die mit einem Text umgeben ist, der aus dem „Incendium Amoris“ Richard Rolles und einem Auszug aus dem Philipperbrief Phil 2,10 kompiliert worden ist, wie Hope Emily Allen nachgewiesen hat (vgl. Allen: Writings Ascribed to Richard Rolle Hermit of Hampole, S. 310): In nomine Ihesu omne genu flectatur. Omnium optimum esse ihesum in corde figere et aliud nequaquam desiderare. bonum mihi diligere ihesum, nil ultra querere. Vgl. die entsprechende Textpartie im „Incendium Amoris“ (The Incendium Amoris. Hrsg. von Margaret Deanesly. Manchester: Manchester University Press, 1915, S. 276, 2 – 4). Fol. 81r mit der Darstellung einer Prozession von mit Nimbussen umgebenen Heiligen, die ein Prozessionsbanner mit Christusmonogramm vor sich hertragen.

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 197 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

konkretisiert ist.670 Daher ist es vielleicht nicht zufällig, dass diese Schildinitiale eine Textpassage markiert, in der ein päpstlicher Gesandter der Margery-­Figur Hilfe und Beistand aufgrund ihrer Visionsbegnadung zukommen lässt. Abschließend lässt sich festhalten, dass die Kartäusermönche aus Mount Grace die in der Kempe-­Vita präsentierten ‚Körperzeichen‘ mystischer Begnadung, die Visionsdialoge und Christusreden intensiv studiert haben, wie die obige Analyse der Marginaleinträge und Annotierungsschichten gezeigt hat. Dabei zeichnet sich für das Kartäuserkonvent Mount Grace ein wohl durchaus intendiertes Programm ab, das auf die Sammlung, Tradierung und Übersetzung mystischer Erbauungsliteratur zentriert und von der dortigen Klosterleitung getragen ist, wie die umfassenden literarischen Aktivitäten des Kartäuser­ vikars Richard Methley und der beiden Prioren John Norton und Nicholas Love nahelegen. Jedenfalls lässt sich die Kempe-­Vita innerhalb der Bemühungen um eine persönliche, auf den Einzelnen fokussierte Gebets- und Frömmigkeitspraxis situieren, wobei ihre Anschaulichkeit und vermeintliche Unmittelbarkeit nicht nur den Lektüreinteressen englischer Kartäusermönche entgegenkommt, sondern offenbar genau den Zeitgeist trifft, wie die oben diskutierten Überlieferungszeugnisse aus der Klosterbibliothek bzw. aus dem Umfeld der Kartause Mount Grace indizieren. Dies erklärt vielleicht, weshalb die diskutierten Marginaleinträge in der Kempe-­Handschrift eine exemplarische Textlektüre erschließen lassen und eher gegen eine rein (auto-)biographische Lesart sprechen. Denn die wiederholte Namensnennung der Protagonistin, die einzelnen Details der Buchentstehungsgeschichte und biographisch-­lebensweltliche Angaben wie Heirat, die Geburt ihrer Kinder und die im zweiten Buch geschilderte conversio ihres Sohnes weisen keine Lesereinträge auf. Offenbar sind die Benutzer primär an Gnadenerfahrungen im Sinne eines ‚persönlichen‘ Erfahrungsberichts interessiert und weniger an der eigentlichen Person, der diese Begnadungserlebnisse zuteilwerden. Margery Kempe kann hier exemplarisch für eine Einzelseele (þis creatur) stehen, die göttliche Gnadenerweise mit ‚eigenen Augen‘ erfahren hat, sie buchstäblich 670 Brantley macht auf diese T-Initiale in der Kempe-­Handschrift in ihren Anmerkungen aufmerksam, allerdings ohne eine Folioangabe, vgl. Brantley: Reading in the Wilderness, S. 358 Anm. 48. Die Initiale markiert den Kapitelbeginn des 27. Kapitels, das schildert, wie die Margery-­Figur auf ihrer Reise nach Jerusalem Unterstützung von einem anonymen päpstlichen Legaten erhält, der sie gegen die Anschuldigungen ihrer Mitreisenden verteidigt. In der Beichte offenbart die Margery-­Figur dem Legaten ihre Gottesbegnadung, die er für authentisch erklärt, vgl. S. 63, 3 – 21: Þan sche went to þat worshepful man & schewyd hym hire lyfe fro þe be-­g ynnyng vn-­to þat owyr as ny as sche mygth in confessyon, be-­cause he was þe Popys legate & a worshepful clerk. & aftyr sche teld hym what disese sche had wyth hir felawshep. Sche teld hym also what grace God ȝaf hir of contricyon & compunccyon, of swetnes & deuocyon, & of many d­ yuers reuelacyons whech owyr Lord had reuelyd vn-­to hir, & þe dred þat sche had of illusyons & deceytys of hir gostly enmys […] &, whan sche had seyd, þe worshepful clerke ȝaf hir wordys of gret comfort & seyd it was þe werke of þe Holy Gost, comawndyng & chargyng hir to obey hem & receyue hem whan God wold ȝeue hem & now dowt han, for þe Deuyl hath no powyr to werkyn swech grace in a sowle. & also he seyd he wold supportyn hir a-­ȝen þe euyl wyl of hir felawschep.

198 | Überlieferungsgeschichte als Funktionsgeschichte © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

in ihrer Person verkörpert und mit ihrem Buch bezeugt. Eine Art Interessenverschiebung von der mystischen Erfahrung hin zu mystisch-­biographischer Autorschaft zeichnet sich erst im weiteren Verlauf der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte zu Beginn des 16. Jahrhunderts ab mit dem Erscheinen der Druckfassung von Wynkyn de Worde und ihrer konkretisierenden Autorschaftszuschreibung in Incipit und Kolophon. Die Promulgation biographisch-­persönlicher Autorschaft kann im Umfeld der literarischen Aktivitäten der englischen Kartäuser vermutet werden, da die Druckredaktion sehr wahrscheinlich auf der unikal überlieferten Kempe-­Handschrift basiert und aus einer kartäusischen Textkompilation hervorgegangen sein könnte, wie oben diskutiert. Einige Indizien deuten in diese Richtung: Denn die englischen Kartäuser haben Handschriftenmaterial für gedruckte Texte von Wynkyn de Worde bereitgestellt. Sie sind als Auftraggeber für religiöse Drucktexte in Erscheinung getreten und ihre Nachträge in den entsprechenden Handschriften dokumentieren ein dezidiertes Interesse an der Etablierung bedeutender Autorpersönlichkeiten wie Richard Rolle und Walter Hilton. Im Hinblick auf die Kempe-­Vita stehen jedenfalls zum Zeitpunkt ihrer Entstehung um die Mitte des 15. Jahrhunderts bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts die göttlichen Gnadenerweise im Vordergrund der Leserinteressen, die sich in den verschiedenen Annotierungsschichten ausdrücken.

Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre | 199 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

3 Narration und Autorschaft

3.1 Erzählinstanzen des Margery-Kempe-Textes Die Untersuchung der Überlieferungs- und Textgeschichte des Kempe-­Codex im zweiten Kapitel hatte versucht, die Tradierung der Kempe-­Vita innerhalb der literarischen Aktivitäten der englischsprachigen Kartäusermönche und ihrer Bemühungen um eine persönliche, auf den Einzelnen fokussierten Gebets- und Frömmigkeitspraxis zu situieren. Im Folgenden gilt es jetzt unter Berücksichtigung der überlieferungsgeschichtlichen Ergebnisse erzähltechnisch näher zu beleuchten, auf ­welche Weise der Kempe-­Text seine eigene Entstehung erzählt und eine unmittelbar wirkende Gottesbegnadung narrativ in Szene setzt. Wie bereits erwähnt, sind dem Kempe-­Text zwei prologartige Anfangspartien vorangestellt,1 die die komplizierte Buchentstehungsgeschichte unter Beteiligung dreier Schreiber und der Anspielung auf eine ‚Originalfassung‘ des ersten Schreibers im objektivierenden Berichtsstil in der dritten Person schildern. Eine textinterne Bemerkung zur Abfassung der ersten detaillierten Prologpartie suggeriert, dass der dritte Schreiber sie dem ‚ursprünglich‘ älteren Prolog nachträglich voran­gestellt hat.2 Dabei entsteht zunächst der Eindruck, dass eine anonyme, übergeordnete Erzählinstanz den Kempe-­Text aus der Retrospektive narrativiert. Erst eine unvermittelt eintretende Ich-­Aussage im Kontext der Suche nach einem geeigneten Schreiber konturiert die anonyme Erzählinstanz zur ‚Stimme‘ eines ‚leibhaftig‘ anwesenden Erzählers,3 der offenbar hinter den Ausführungen steht und sich „als Subjekt des Aussagevorgangs in der ersten Person“4 präsentiert. Die Funktion dieser vereinzelt in den Text inserierten Ich-­Einschübe  5 soll im Hinblick auf die narrative Umsetzung diskutiert werden. Die ­englischsprachige Kempe-­Forschung dechiffriert diesen übergeordneten Erzähler zumeist 1 Vgl. BMK, prologartige Anfangspartie 1, S. 1, 1 – 6, 24, prologartige Anfangspartie 2, S. 5, 33 – 6, 24. 2 Vgl. BMK, S. 5, 30 – 32: and þan wrot he þis proym to expressyn mor openly þan doth þe next folwyng, whech was wretyn er þan þis. 3 Vgl. BMK, S. 4, 8: meued I trost thorw þe Holy Gost, cam in-­to Yngland […] & dwellyd wyth þe forseyd creatur tyl he had wretyn as mech as sche wold tellyn hym […]. 4 Genette: Die Erzählung, S. 158. Der Erzähler könne in seiner Erzählung als Subjekt in seiner Aussage nur in der ersten Person vorkommen, unabhängig von der Erzählsituation in der ersten oder in der dritten Person. 5 Vgl. die Ich-­Einmischungen in BMK, Kapitel 4, S. 14, 7 – 8; Kapitel 18, BMK, S. 44, 16 – 18; Kapitel 87, S. 214, 23 – 25; liber II, Kapitel 3, S. 230, 20 – 23. Vgl. die Anmerkung von Holbrook zu den Ich-­ Aussagen, Holbrook: About her, S. 281 Anm. 6. Sie betrachtet die Narrativierung in der dritten Person als Redaktion des schreibenden Priesters. Vgl. auch Riddy: Text and Self, S. 241, die die Ich-­Reden als symptomatisch „of a text for which authorship is not claimed“ betrachtet. Dagegen zeigt sich in der Überlieferungs- und Textgeschichte allerdings die Anbindung des Textes an eine historisch konkretisierte

200 | Narration und Autorschaft © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

als dritten Schreiber,6 der den textinternen Angaben zufolge die endgültige Abfassung der Kempe-­Vita zu verantworten hat.7 Nancy Lenz Harvey begreift dagegen Margery Kempe als Erzählerin ihrer Visionen und referiert mit dem Terminus „narrator“ auf die Protagonistin, wobei sie nicht näher auf die spezifische Erzählweise eingeht.8 Insofern beinhaltet Harveys Textanalyse eine eher problematische Aussage: „The events of the narrative thus reveal the events of the spiritual life of the narrator.“9 Denn die von Harvey zitierte Textpassage aus dem dritten Kapitel ist gerade aus der Perspektive der bis dahin überwiegend anonym bleibenden übergeordneten Erzählerstimme narrativiert.10 Die Wahrnehmung der Margery-­Figur wird von einer scheinbar manifest-‚leiblichen‘, aber dennoch nur schwer konkretisierbaren Erzählerstimme narrativisch präsentiert, die durch den Einsatz der verba sentiendi wie hir þowt,11 for sche wyst wel 12 in der Innenweltdarstellung der Margery-­Figur Autorperson, die auf die Vorstellung der im Text angelegten Autorinnenrolle zurückgeführt werden kann, wie oben ausgeführt. 6 Vgl. BMK, S. 5, 18 – 5, 32; S. 6, 17: And so at þe last a preste was sor mevyd for to wrytin þis tretys & he cowd not wel redyng it of a iiij ȝere to-­gedyr […] he asayd a-­gayn for to rede it, & it was mech mor esy þan it was a-­for-­tyme. And so he gan to wryten in þe ȝer of owr Lord a m.cccc.xxxvj on þe day next aftyr Mary Maudelyn aftyr þe informacyon of þis creatur. 7 Vgl. etwa Staley: The Trope of The Scribe and The Question of Literary Authority, S. 820 – 838. Dies.: Margery Kempe’s Dissenting Fictions, besonders S. 35 ff. Dillon: Holy Women and Their Confessors or Confessors and Their Holy Women?, S. 138. In einer Anmerkung zu ihrer Untersuchung des komplexen Spannungsverhältnisses z­ wischen der Heimlichkeit göttlicher Offenbarungen und ihres Öffentlichmachen postuliert auch Caroline Emmelius für den gesamten Kempe-­Text die homogene Durchführung einer Erzählperspektive in der dritten Person, die sie textgenetisch als Ausweis der „redaktionellen Tätigkeit des Schreibers“ deutet, ohne auf die textinternen Ich-­Einschübe und das mit ihnen verbundene Changieren der narrativen Vermittlung hinzuweisen. Caroline Emmelius: Verborgene Wahrheiten offenbaren. Verschriftlichungsprozesse in frauenmystischen Texten z­ wischen Subversion und Autorisierung. In: Offen und Verborgen. Vorstellungen und Praktiken des Öffentlichen und Privaten in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Caroline Emmelius [u. a.]. Göttingen 2004, S. 47 – 65, hier S. 59, Anm. 44. Zudem konstatiert sie für den Kempe-­Text das Ausbleiben einer kirchlichen Anerkennung, die sie auf die Schwierigkeit zurückführe, „zu Beginn des 15. Jahrhunderts eine stark weltlich verwurzelte, gänzlich ungebildete Frau als Offenbarungsempfängerin zu etablieren“ (S. 65). Dabei konnte die obige Analyse der Marginaleinträge in der Kempe-­Handschrift zeigen, dass der Text bei Kartäusermönchen in großem Ansehen stand. 8 Vgl. Harvey: Margery Kempe: Writer as Creature, S. 176. So bezeichnet Harvey Margery Kempe als „narrator“: „As Christ and the Virgin ‚come‘ into the vision, the narrator ‚hears‘ the harmonies of ­heaven (p. 11).“ Auf S. 177 nimmt Harvey eine s­ olche Gleichsetzung auch für BMK, Kapitel 28 an: „Her ­companions drive away her maid, steal the narrator’s money […].“ Vgl. neuerdings Contzen: Wer bin ,Ich‘ und wenn ja, wie viele? Narrative Inszenierungen des Ichs in England und Schottland, S. 63 – 97, die den Kempe-­Text auf nicht unproblematische Weise als „uneigentliche Ich-­Erzählung“ (S. 81) klassifiziert, in der ein autobiographischer Anspruch klar erkennbar sei (S. 94). 9 Harvey: Margery Kempe: Writer as Creature. In: Philological Quarterly 71, 2 (1992), S. 78. 10 BMK, Kapitel 3, S. 11, 12 – 14: On a nygth, as þis creatur lay in hir bedde wyth hir husbond, sche herd a sownd of melodye so swet & delectabyl, hir þowt, as sche had ben in Paradyse. 11 BMK, S. 11, 14; S. 12, 1. 12 BMK, S. 12, 10; S. 13, 5.

Erzählinstanzen des Margery-Kempe-Texte | 201 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

analytisch hervortritt, oder durch verba dicendi in der Einleitung der direkten Rede 13 ihre Anwesenheit signalisiert. Dadurch ensteht der Eindruck, dass die Margery-­Figur als eine Art Reflektorfigur fungiert.14 Wie Harvey postuliert auch Sarah Beckwith in ihrer an der feministischen Literaturtheorie ausgerichteten Untersuchung zur Etablierung von Autorität im Kempe-­Text eine Übereinstimmung von „narrator“ und Protagonistin, ohne die Erzählform näher zu bestimmen.15 Die einzige Textpassage, die eine derartige Übereinstimmung von Protagonistin und Erzählerin belegen könnte, lassen sowohl Harvey als auch Beckwith bei ihren Ausführungen unberücksichtigt. Denn in Kapitel 15 berichtet die anonyme Erzählstimme davon, dass die Margery-­Figur und ihr Ehemann vor Philip Repingdon, dem Bischof von Lincoln, ein Keuschheitsgelübde ablegen. Diese Begebenheit wird zunächst in der dritten Person erzählt, bis sich unvermittelt ein Text-­Ich durch den Wechsel der Pronomina ankündigt und damit auch eine veränderte Erzählsituation anzeigt.16 Doch ‚wer‘ verbirgt sich hinter ­diesem ­konturlosen ‚Ich‘, das allein durch den Einsatz der Personalpronomina der ersten Person Plural evoziert wird?17 Wäre es möglich, dass hier erneut der dritte Schreiber in seiner 13 Vgl. BMK, S. 11, 27 – 34; S. 12, 3 – 6. 14 Der auf Stanzel zurückgehende Terminus Reflektor/Reflektorfigur wird in der vorliegenden Arbeit im Sinne Hübners als figurales Wahrnehmungszentrum einer Fokalisierung, als Figur auf die die Erzählung fokalisiert, gebraucht. Vgl. Hübner: Erzählform im höfischen Roman, S. 34 – 37: „Reflektormodus ist dasselbe wie figurale Innenperspektive und entspricht Genettes interner Fokalisierung; nicht-­figurale Innenperspektive entspricht Genettes externer Fokalisierung.“ Vgl. die Begriffsbestimmung von Stanzel: ­Theorie des Erzählens, S. 16: „In einer personalen ES schließlich tritt an die Stelle des vermittelnden Erzählers ein Reflektor. Eine Romanfigur, die denkt, fühlt, wahrnimmt, aber nicht wie ein Erzähler zum Leser spricht. Hier blickt der Leser mit den Augen dieser Reflektorfigur auf die anderen Charaktere der Erzählung.“ Für Stanzel ersetzt die Reflektorfigur den Erzähler, vgl. dazu Hübners Kritik (S. 38 f.) an der von Stanzel postulierten Opposition von Reflektor vs. Erzähler, die zu kurz greife, da in einer Erzählung letztlich alles auf die „Stimme“ bzw. deren Informationspolitik zurückzuführen sei. 15 Vgl. Beckwith: Problems of Authority, S. 191: „Secondly Kempe and/or her scribe write about her persistently in the third person. This produces a splitting effect since it then appears that she is speaking about herself (this simple creatur, etc.) as if she were someone else […].“ 16 BMK, S. 34: & þe Bysshop dede no mor to us [Hervorhebung d. Verf.] at þat day, saue he mad us [Hervorhebung d. Verf.] rygth good cher and seyd we [Hervorhebung d. Verf.] wer rygth wolcome. Vgl. dazu die Deutung von Staley, die die veränderte Erzählsituation als literarisches Verfahren betrachtet: Margery Kempe’s Dissenting Fictions, S. 79: „But her momentary slip into the first person points up the effect she achieves by using third-­person pronouns and the phrase ‚this creatur‘ to refer to her protagonist. Where a reader is subtly urged to identify with a narrator who recounts his or her own experience in the first person, a writer achieves a more distant, and inevitably more judgemental, effect by using a narrator who recounts the experience of another.“ Vgl. dagegen Watson, der den Wechsel der Erzählperspektive textgenetisch auswertet: „But while this might be thought evidence that Kempe dictated her account in the first person […] the consistency of the narrative makes it more likely she described herself as ‚she‘ from the start, slipping into the first person only at this dramatic moment when she and her husband declare a new kind of union […].“ 17 Zur Bestimmung des Text-­Ichs vgl. Genette: Die Erzählung, S. 136.

202 | Narration und Autorschaft © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Rolle als Erzähler spricht, wie es in der oben erwähnten Ich-­Rede der Prologpartie der Fall war?18 Diese Annahme ist zumindest auf der histoire-­Ebene eher unwahrscheinlich, da im Text nicht berichtet wird, dass er die Margery-­Figur und ihren Ehemann auf der Reise nach Lincoln begleitet. Aus dem Kontext lässt sich jedoch kombinieren, dass es sich bei dieser so plötzlich hervortretenden „Ich“-Erzählinstanz um die Margery-­Figur oder ihren Mann John handeln könnte, da beide gemeinsam den Bischof um eine Audienz ersuchen. John scheidet allerdings als möglicher Kandidat aus, da er im Kontext der Buchentstehungsgeschichte keine Erwähnung findet.19 Daher suggeriert der Text, dass die Margery-­Figur hier selbst für einen ­kurzen Moment als autodiegetische Erzählerin das Wort ergreift und von ihren authentischen ‚Erfahrungen‘ berichtet, die hier allerdings nur über die kollektive ‚Wir‘-Perspektive punktuell und skizzenhaft entworfen werden. Dieses ‚Wir‘ transportiert den höchstmöglichen Grad erzählerisch vermittelter Unmittelbarkeit und suggeriert den Eindruck einer tatsächlich so vorgefallenen Begebenheit. Die den Wechsel der Erzählperspektive anzeigenden Personalpronomina lassen sich demnach als eine Art Authentisierungsstrategie fassen.20 Indessen ist aber auch eine ­solche Zuordnung nicht ganz unproblematisch, da bereits im nächsten Satz wieder aus der dritten Person heraus erzählt wird: Anoþer day þis creatur cam to mete at þe request of þe Bysshop.21 Als nicht unerheblich erweist sich an dieser Stelle, dass das so konturlos erscheinende ‚Ich‘ in einer Passage auftritt, die als eine Art Beglaubigungsepisode angelegt ist: Der als Verfolger der Lollardenbewegung berühmte Bischof von Lincoln verifiziert in dieser Erzähleinheit nicht nur die Echtheit der göttlichen Offenbarungen der Margery-­Figur, sondern rät 18 Vgl. BMK, S. 4, 8. 19 Vielmehr präsentiert der bestens informierte Erzähler John als treuen, jedoch auch zeitweilig durch das Gerede der Stadtbewohner leicht manipulierbaren Ehemann. Vgl. BMK , Kapitel 15, S. 32, 25 – 33, 25: And so sche went forth wyth her husbond in-­to þe cuntre, for he was euyr a good man & an esy man to hir. Þow þat he sumtyme for veyn dred lete hir a-­lone for a tyme, ȝet he resortyd euyr-­mor a-­geyn to hir & had compassyon of hir, & spak for hir as he durst for dred of þe pepyl. [...] And euyr hir husbond was redy whan alle oþer fayled & went wyth hir wher owyr Lord wold sende hir, al-­wey trostyng þat al was for þe best & xuld comyn to good ende whan God wold. & at þis tyme he led hir to spekyn wyth þe Bysshop of Lynkoln, whech hygth Philyp […]. Vgl. die Namensnennung „John“, die allerdings in einer direkten Rede des Bischofs erfolgt und auf diese Weise eher indirekt ausfällt, vgl. BMK , S. 34, 20 – 21. Vgl. die weiteren Episoden, in denen die Figur des Ehemanns auftritt oder Erwähnung findet: S. 7, 33; S. 8, 34; S. 9, 18 und 29; S. 10, 6; S. 11, 13 und 35; S. 12, 9, 15, 33; S. 14, 25; S. 15, 18; S. 20, 26; S. 21, 12 – 13; S. 22, 29; S. 23, 7, 11 und 13; S. 24, 10 und 36; S. 25, 12 und 15; S. 27, 22; S. 29, 8; S. 32, 25; S. 33, 20; S. 34, 16 und 19; S. 35, 8; S. 36, 4 und 17; S. 37, 14 und 20; S. 60, 26; S. 61, 22; S. 104, 27; S. 11, 21 und 31; S. 112, 16; S. 115, 30; S. 136, 14 und 34; S. 179, 6; S. 180, 37; S. 223, 30 und S. 225, 18. 20 Diese Überlegungen gehen auf Susanne Bürkles erzähltheoretische Analyse der Christine-­Ebner-­ Gnadenvita zurück, an der sich ganz ähnliche Probleme hinsichtlich der Verortung des Text-­Ichs zeigen. Vgl. Bürkle: Die ‚Gnadenvita‘ Christine Ebners, S. 483 – 513. 21 BMK, S. 34, 26 – 28.

Erzählinstanzen des Margery-Kempe-Texte | 203 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

ihr auch zur Verschriftlichung ihrer Gnadengaben.22 Die Margery-­Figur insistiert allerdings auf einer göttlich ergangenen Weisung, mit der Abfassung zu warten: & sche sayd þat it was not Goddys wyl þat þei schuld be wretyn so soon, ne þei wer wretyn xx ȝer aftyr & mor.23 Und es scheint, dass sich die abschließende Bemerkung zum Schreiben mit der eher vage gehaltenen Zeitangabe (xx ȝer aftyr & mor) wiederum dem Erzähler zuschreiben lässt, wenn man sie mit den Angaben der Prologpartie über die Verzögerung der Verschriftlichung und dem eigentlichen Schreibbefehl zusammensieht.24 Dieser Eindruck basiert allerdings hauptsächlich auf der k­ urzen Ich-­Bemerkung in der Prologpassage, die suggeriert, dass die Informationen über die Verschriftlichung bzw. die Suche nach einem geeigneten Schreiber letztlich von d ­ iesem ‚erzählenden Ich‘ ausgehen, das hinter dem objektiven Bericht in der dritten Person steht. Bereits dieser kurze Einstieg in die Erzählanalyse zeigt, wie komplex die Erzählung der Buchentstehung angelegt ist und wie diffizil sich insbesondere die Verortung des Text-­Ichs gestaltet. In ­diesem Kontext kommt dem schreibenden Priester (dem dritten Schreiber)25 besondere Bedeutung zu, der den Angaben des detaillierten ersten Proömiums zufolge das Gnadenleben der Margery Kempe nach ihren eigenen Vorgaben verschriftlicht. Innerhalb der Prologpartie profiliert ihn die Erzählinstanz in seiner Rolle als Augenzeuge der Begnadung, dem von Anfang an bewusst ist, dass sich die unleserliche ‚Originalschrift‘ nur durch göttliches Einwirken entziffern lässt.26 Und schließlich wird dem schreibenden Priester ein solches Gnadenwunder zuteil, das ihn in die Lage versetzt, die Originalfassung zu lesen und zu kopieren.27 Zuvor werden allerdings „topische Schreibhindernisse“28 ­thematisiert, die die Unleserlichkeit des ‚Originals‘ und die Zweifel des schreibenden Priesters an der Integrität der Margery-­Figur 29 betreffen und beträchtliche Verzögerungen bei der Abschrift der Originalfassung bewirken. Bemerkenswert ist, dass diese Textpassagen zur Thematisierung der Schreibhindernisse in einem übergeordneten Erzählerbericht erfolgen. Erst 22 Vgl. BMK, S. 33, 35 – 34, 9. 23 BMK, S. 34, 7 – 9. 24 Vgl. BMK, S. 3, 25 – 30: Sum proferyd hir to wrytyn hyr felyngys wyth her owen handys, & sche wold not consentyn in no wey, for sche was comawndyd in hir sowle þat sche schuld not wrytyn so soone. & so it was xx ȝer & mor fro þat tym þis creatur had fyrst felyngys & reuelacyons er þan sche dede any wryten. Vgl. den Schreibbefehl, S. 3, 30 – 4, 1. 25 Im Folgenden wird dieser schreibende Priester auch als dritter Schreiber bezeichnet. Vgl. etwa Voaden: God’s Word, Women’s Voices, S. 114, die die Literarizität des Kempe-­Textes herausstellt und ­zwischen der Protagonistin und dem Erzähler differenziert: „The Book of Margery Kempe is a deliberate creation, a literary construction – however flawed – which should not be taken for historical truth. […] The text features a protagonist – who is here the source of autobiographical material – that is, Margery, and a narrator, that is the scribe. Both of these ‚personae‘ are constructed within the framework of the text, and to serve ist purposes.“ 26 Vgl. BMK, S. 4, 17 – 18: Þerfor þe prest leued fully þer schuld neuyr man redyn it, but it wer special grace. 27 Vgl. BMK, S. 5, 19 – 27. 28 Bürkle: Literatur im Kloster, S. 260. 29 Vgl. BMK, S. 5, 21 – 24.

204 | Narration und Autorschaft © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

im Kontext des Gnadenwunders wird eine Sicht auf die Innenwelt des Priesters eröffnet: Whan he cam a-­geyn to hys booke, he myth se as wel, hym thowt, as euyr he dede be-­for be day-­lyth & be candelygth boþe.30 Die Erkenntnis, das Buch durch göttliches Gnadenwirken entziffern zu können, ist als eine Art analytische Psychonarration umgesetzt. Mit dieser nur vorübergehend eingenommenen Innensicht verbindet sich eine Zuschreibung der Originalfassung als hys booke, so dass die Figur des schreibenden Priesters hier durch das Gnadenwunder nicht nur Anteil an den göttlichen Gnaden erhält, sondern gleichzeitig in die Rolle eines ‚Mitautors‘ rückt.31 Wir kennen eine ­solche glorifizierende Darstellung der Figur des Schreibers bzw. des Beichtvaters, der durch die Zusammenarbeit mit der Visionärin bei der Textabfassung zunehmend Anteil an den göttlichen Gnaden erhält, auch aus der frauenmystischen Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen des 14. Jahrhunderts.32 Hier beansprucht der schreibende Priester diese Teilhabe allerdings gleich zu Beginn seiner Schreibtätigkeit. In Kapitel 24 und 25 ist er in der Rolle als ‚Prüfer‘ des Gnadengeschehens angelegt,33 in Kapitel 62 erscheint er als bekehrter Zweifler 34 und in Kapitel 7535 als Augenzeuge einer durch Margerys göttliche Fürsprache initiierten Heilung einer von Dämonen besessenen Frau. Der Text selbst verhindert allerdings zunächst durch die objektivierende Erzählweise in der dritten Person eine eindeutige Identifikation der Erzählinstanz: Besonders die literarische Gestaltung des Proömiums mit seiner didaktisierenden Leserapostrophe und der Aufzählung der wichtigsten Handlungsstationen der conversio der Margery Kempe-­Figur erweckt den Anschein, dass eine anonyme Erzählerstimme den Text narrativiert. Nach Genette lässt sich der Erzähler der Prologpartie innerhalb der aus der Rückschau gestalteten Erzählung – wechselnde Schreiber verschriftlichen das Gnadenleben der Margery-­Figur aus der Retrospektive – zunächst als ein heterodiegetischer Erzähler beschreiben. Erst als in 30 BMK, S. 5, 27 – 29. 31 Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 101, die die Rolle Konrads von Füssen als „Ko-­Autor“ in der Gnadenvita Christine Ebners herausgearbeitet hat. 32 Vgl. Kapitel 2.2.2 „Der Kempe-­treatyse im Kontext der Mitüberlieferung“ und Kapitel 4 „Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen des 14. und 15. Jahrhunderts“ der vorliegenden Arbeit. 33 Vgl. BMK, Kapitel 24, S. 55, 20: & þus he preuyd hem for very trewth. S. 58, 21 – 24: but þe man wold neuyr comyn at þe preste aftyr, & þan þe preste knew wel þat þe forseyd creaturys felyng was trewe. Kapitel 25, S. 59, 32 – 35: Than þe preste whech aftyrward wrot þis boke went to þe creatur of whom þis tretys makyth mencyon, as he had don be-­forn in þe tyme of ple, & askyd hir how sche felt in hir sowle in þis mater. 34 Vgl. BMK, S. 152 – 154. 35 Vgl. BMK, S. 177 – 179, besonders S. 178: It was, as hem thowt þat knewyn it, a ryth gret myrakyl, for he þat wrot þis boke had neuyr be-­for þat tyme sey man ne woman, as hym thowt, so fer owt of hir-­self as þis woman […] sithyn he sey hir sad & sobyr a-­now […]. Hier stilisiert der auktorial anmutende Erzähler den Schreiber zum Augenzeugen des Gnadengeschehens innerhalb der religiös motivierten Wahrheitsbekundung des Textes. Dazu passt auch, dass der Schreiber in dieser Textpartie als eine Art Reflektor­figur beschrieben werden kann, deren Bewusstsein durch analytische Psychonarration repräsentiert wird.

Erzählinstanzen des Margery-Kempe-Texte | 205 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

der Vorwortpassage der bereits erwähnte Wechsel in die erste Person vorgenommen wird, tritt die Erzählinstanz als eine Art peripherer Ich-­Erzähler 36 zumindest für einen flüchtigen Augenblick in den Vordergrund des Berichteten. Denn hier heißt es in Bezug auf den in deutschen Landen lebenden englischen Schreiber: meued I trost thorw þe Holy Gost cam into Yngland.37 Zunächst ermöglicht dieser kurze Ich-­Einschub keine Rückschlüsse auf das Verhältnis ­zwischen Ich-­Erzähler und Geschichte. Allerdings evoziert die Verwendung der ersten Person den Eindruck eines ‚Ichs‘, das im Präteritum die in der Vergangenheit liegende Geschichte der Margery erzählt. Der Gebrauch des Präteritums fungiert dabei als eine Art „Tempusmarker“38, der den in der Vergangenheit liegenden Beginn der Erzählung festlegt, die sich somit als spätere Narration fassen lässt.39 Dabei ist nach Genette von Bedeutung, dass gerade die Verwendung des Präteritums „eine Vorgängigkeit der Geschichte gegenüber der Narration“ impliziere.40 Und dies ist signifikant im Hinblick auf den textintern entfalteten Wahrheits- und Autorisierungsdiskurs, da die Gnadenerzählung retrospektiv auf das verschriftlichte ‚Buch‘ als Endresultat bezogen ist, das durch die Materialität der Schrift und seine physische Präsenz die Echtheit der göttlichen Gnadengaben bezeugt. Die textintern evozierte Vorstellung des materiellen Buches findet auf der Ebene der Handschrift durch das tatsächliche Vorhandensein des Kempe-Codex Bestätigung und beweist sozusagen, dass sich die textinternen Angaben über die unwegsam verlaufende Verschriftlichung des Buches retrospektiv als wahr erwiesen haben. Dass sich diese Buchentstehungsgeschichte in der weiter zurückliegenden Vergangenheit zugetragen hat und sozusagen durch den Narrationsakt aktualisiert wird, zeigt sich indessen erst an der den Schreibbefehl thematisierenden Passage: for sche was comawndyd in hir sowle þat sche schuld not wrytyn so soone. & so it was xx ȝer & mor fro þat tym þis creatur had fyrst felyngys & reuelacyons er þan sche dede any wryten. Aftyrward, whan it plesyd ower Lord, he comawnded hyr […] þat sche xuld don wryten hyr felyngys & reuelacyons & þe forme of her leuyng þat hys goodnesse myth be knowyn to alle þe world.41

Die zitierte Textpassage weist klar den göttlichen Ursprung des Kempe-­Textes durch den hagiographischen Topos des göttlichen Schreibbefehls aus und hebt zudem seine Funktion 36 Vgl. Bürkle: Die ‚Gnadenvita‘ Christine Ebners, S. 505. Bürkle hat das hagiographische ‚Ich‘ im ­Medinger Gnadenleben der Engelthaler Dominikanerin Christine Ebner als peripheren Ich-­Erzähler bestimmt, „der an der Peripherie des erzählten Geschehens eine Rolle als Beobachter, Zeuge und Chronist übernimmt“. 37 BMK, S. 4, 8. 38 Frank Wittchow: Exemplarisches Erzählen bei Ammianus Marcellinus. Episode, Exemplum, Anekdote. München, Leipzig 2001 (Beiträge zur Altertumskunde, Band 144), S. 101. 39 Genette: Die Erzählung, besonders S. 140 – 142. 40 Genette: Die Erzählung, S. 137. 41 BMK, S. 3, 27 – 4, 2.

206 | Narration und Autorschaft © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

als Offenbarungsschrift zur Verkündigung der göttlichen Heilstaten hervor. Und es ist nicht erstaunlich, dass dabei die Erzählinstanz ganz hinter den Bericht zurücktritt, da hier der Fokus der erzählerischen Vermittlung vollkommen auf die göttliche Autorisation und die Veröffentlichung der Gnaden gelegt ist. Doch wie verhält es sich mit der Erzählinstanz in den Kapiteln, in denen der schreibende Priester als Figur auftritt? Setzt man den dritten Schreiber mit dem Erzähler gleich, so müsste er in diesen Kapiteln eher als ein homodiegetischer Erzähler zu beschreiben sein.42 Bereits diese Passagen des Vorwortes zeigen deutlich die Schwierigkeiten einer differenzierten narratologischen Einordnung des vorliegenden Erzählers, da das Genettesche Modell ein Oszillieren ­zwischen hetero- und homodiegetischem Erzähler in Verbindung mit dem Einsatz der Protagonistin bzw. des Schreibers als Reflektorfigur gerade nicht vorsieht. Gert Hübner hat aber am höfischen Roman gezeigt, dass eine Kombination von auktorialer Erzählerstimme und einer Fokalisierung sehr wohl in der mittelalterlichen Literatur vorkommen kann, wie in der Einleitung ausgeführt. Der Erzähler des Kempe-­Textes lässt sich vielleicht eher nach Käthe Hamburger als eine „fluktuierende Erzählfunktion“ beschreiben, die „zwischen dem deutlichen Hervortreten(lassen) eines profilierten ‚Erzählers‘ und seinem Zurücktreten, ja Verschwinden(lassen) fluktuieren kann“.43 Auch Stanzel verzeichnet unter dem Phänomen der „Dynamisierung“ den möglichen Wechsel der narrativen Vermittlung im Verlauf einer Erzählung, die gerade einen gewissen Rhythmus der Erzählung bedinge und mit den wechselnden Sequenzen verschiedener Erzählsituationen einen „belebenden“ Eindruck auf den Leser ausübten.44 Eine s­ olche Wandelbarkeit der erzählerischen Vermittlung zeigt sich am Kempe-­Text, etwa wenn sich Szenen mit überwiegend dialogischen Partien ­zwischen Visionärin und Gott, die die Unmittelbarkeit der Gotteserfahrung evozieren, Wahrnehmungsdarstellungen der als Reflektorfigur fungierenden Protagonistin mit kommentierenden Erzählerberichten aus der Perspektive des auktorial anmutenden Erzählers abwechseln und damit den Text ‚lebendig‘ und im wahrsten Sinne abwechslungsreich gestalten. Dies bedeutet, dass 42 Vgl. Genette: Die Erzählung, S. 147 f. Zur Terminologie vgl. Scheffel/Martinez, S. 80 f.; Nine Miedema hält in ihrer Untersuchung zur historischen Dialoganalyse allerdings fest, dass in vormodernen Erzählungen in der Mehrzahl ein als extradiegetischer-­heterodiegetischer zu kategorisierender Erzähler in Erscheinung trete. Nine Miedema: Zur historischen Narratologie am Beispiel der Dialoganalyse. Histo­ rische Narratologie. Mediävistische Perspektiven. Hrsg. von Harald Haferland und Matthias Meyer. Berlin 2010 (Trends in Medieval Philology Volume 19), S. 37. 43 Jochen Vogt: Aspekte erzählender Prosa. Opladen 1990 (WV-Studium Band 145), S. 48. 44 Stanzel: ­Theorie des Erzählens, S. 89 – 108. Stanzel definiert in Rückgriff auf R. Petsch bestimmte Grundformen des Erzählens, wie Bericht, Beschreibung, Bild, Szene und Gespräch, die gerade das Charakteristikum des Erzählens, die Mittelbarkeit, bedingen. Er klassifiziert Bericht, Beschreibung, K ­ ommentar und auktorialen Essay als narrative Formen und stellt sie den nicht-­narrativen oder dramatischen Formen der „Szenen“ gegenüber, die Gespräch und Dialoge umfassen können (vgl. S. 93, S. 98). Die Abfolge bzw. den Wechsel dieser Elemente bezeichnet er als Dynamisierung.

Erzählinstanzen des Margery-Kempe-Texte | 207 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

der Kempe-­Text eher eine für frauenmystische Texte typenspezifische Erzählform aufweist, die nicht einer chronologisch organisierten und logischen Handlungsfolge, sondern einer heilsgeschichtlichen Organisation folgt.45 Diese auch der Kempe-­Vita zugrunde liegende heilsgeschichtliche Strukturierung ermöglicht es, den Erzähler einerseits als eine den Text organisierende und schwer fassbare Instanz, andererseits aber auch als konkrete Figur am Geschehen teilhaben zu lassen, da im Vordergrund der Erzählung die Repräsentation der Gnadenerfahrung steht. Hier zeigen sich bereits die Besonderheiten dieser historischen Erzählform, in der gerade eine Kombination verschiedener ‚Erzählperspektiven‘46 – etwa einer allwissenden Erzählerstimme und dem Einsatz einer Reflektorfigur – möglich ist. Im Folgenden sollen die beiden Prologpartien näher beleuchtet werden, um die Erzählweise herauszuarbeiten, die die sinnlich erfahrbare Welt der Protagonistin transzendiert und heilsgeschichtlich überhöht. Das erste Proömium lässt sich in etwa drei thematische Einheiten 47 untergliedern, die eine Leserapostrophe, die conversio der Protagonistin und die Buchentstehungsgeschichte umfassen. Der erste Sinnabschnitt (S. 1, 1 – 1, 26) präsentiert die der Exordialtopik verpflichtete Leserapostrophe:48 Here begynneth a schort tretys and a comfortabyl for synful wrecchys, wher-­in þei may haue gret solas and comfort to hem and vndyrstondyn þe hy and vnspecabyl mercy of ower souereyn Sauyowr Cryst Ihesu […] þat now in ower days to vs vnworthy deyneth to exercysen hys nobeley & hys goodnesse. Alle þe werkys of ower Saviowr ben for ower exampyl & instruccyon, and what grace þat he werkyth in any creatur is ower profyth […]. […] þis lytyl tretys schal tretyn sumdeel in parcel of hys wonderful werkys, how mercyfully, how benyngly, & how charytefully he meued & stered a synful caytyf vn-­to hys love, whech synful caytyf many ȝerys was in wyl and in purpose thorw steryng of þe Holy Gost to folwyn oure Savyowr, makyng gret behestys of fastyngys wyth many oþer dedys of penawns. And euyr sche was turned a-­ȝen a–bak in tym of temptacyon, lech vn-­to þe reed-­spyr whech boweth wyth euery wynd & neuyr is stable les þan no wynd b­ loweth, 45 Wie in der Einleitung diskutiert, hat Ringler in seiner texttypologischen Untersuchung für die Frauenmystik gerade die episodische, nur lose über Handlungsmotive verknüpfte Reihung als Charakteristikum am Beispiel des Gnadenlebens des Engelthaler Klosterkaplans Friedrich Sunder herausgestellt, vgl. Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur, S. 336 – 340. 46 ‚Erzählperspektive‘ lässt sich hier in einem allgemeineren Sinne nach Wolf Schmid als „Prisma“ fassen, „durch das das Geschehen wahrgenommen wird“, vgl. Wolf Schmid: Erzähltextanalyse. In: Handbuch der Literaturwissenschaft. Gegenstände – Konzepte – Institutionen. Band 2 Methoden und Theorien. Hrsg. von Thomas Anz. Stuttgart, Weimar 2007, S. 98 – 120, hier S. 113 – 117 zur Erzählperspektive. Vgl. die umfassende Problematisierung der Bedeutungsvielfalt des Begriffs Erzählperspektive bei Hübner: Erzählform im höfischen Roman, besonders S. 10 – 34. 47 Diese als Ordnungskategorien dienenden thematischen Einheiten werden aufgrund der besseren Übersichtlichkeit hier angegeben und dienen lediglich als eine Art Hilfskonstrukt. Der Prolog steht in der Kempe-­ Handschrift Add MS 61823, fol. 1r–3r als durchgängiger Text, in dem sich keine Absätze finden lassen. 48 Vgl. Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter. 11. Auflage. Tübingen, Basel 1993, S. 95. Die Textpassage lässt sich auch als eine Abwandlung des „Topos der Widmung“ beschreiben, in dem der Text dem Proömium zufolge zu Ehren Gottes und der Preisung seiner göttlichen Allmacht verfasst worden sei.

208 | Narration und Autorschaft © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

vn-­to þe tyme þat ower mercyfulle Lord Cryst Ihesu hauyng pety & compassyon of hys handwerke & hys creatur turnyd helth in-­to sekenesse, prosperyte in-­to aduersyte, worshep in-­to repref, love in-­to hatered.49

Wie Hope Emily Allen betont, gleicht dieser Beginn zwar einem in der hagiographischen Literatur weit verbreiteten Topos, weist aber außerdem entscheidende Ähnlichkeit zum Prolog der volkssprachlichen Dorotheen-­Vita auf, in der ebenfalls auf das Gnadenlob des Herrn, die außerordentliche Gotteserfahrung der Protagonistin und die in der Vita exem­ plarisch dargelegte Unterweisung eingegangen wird.50 Auch wenn die Anfänge miteinander vergleichbar sind, so operieren die Texte doch mit unterschiedlichen Strategien, da durch die prononcierte Namensnennung in der Dorotheen-­Vita Dorothea sofort als Protagonistin ausgewiesen wird, wohingegen der Prolog des Kempe-­Textes die allgemeinen Bezeichnungen caitif, creatur und handwerke zur Veranschaulichung der Exemplarität und Stellvertreterposition der Margery-­Figur einsetzt und sich somit doch signifikante Unterschiede ergeben.51 49 BMK, S. 1, 1 – 26. 50 Vgl. Des Leben der Zeligen Frawen Dorothee Clewsenerynne in der Thumkyrchen czu Marienwerdir des Landes zu Prewszen. In: Sciptores Rerum Prussicarum. Die Geschichtsquellen der preußischen Vorzeit bis zum Untergang der Ordensherrschaft. Hrsg. von Theodor Hirsch, Max Töppen und Ernst Strehlke. 2. Band. Leipzig 1863, S. 197 – 350. Vgl. BMK , Notes 1/7, S. 255. Der Beginn des Prologs der deutschsprachigen Dorotheen-­Vita lautet: Hy hebit sich an die vorrede des buchis von dem leben der seligen ­vrouwen Dorothee. Alleyne alle werk unsers herren sint groz, lobelich und hoch zcu wegen, so sint doch etliche syne werk grozlicher zcu herzen zcu nemen […] und zcu prysen, di her sunderlich uz gesucht hot, reichlicher begobit hat und wundirbarlicher gemachet hat an synen erwelten seligen menschen, undir den an eyme iclichin di wirkunge unsers hern also grozlich und merklich und sundirlich geworcht hot, daz man von irme iclichen list und singit also […]. Also ist das werg unsers hern an der seligen wirdigen vrouwen Dorothee und ir vil werken sundirlich uz gesucht, gnodenrichlich begobit, und gar wundirbarlich gemacht […]. Siet mans recht an, so vindet man nicht zcu mol der glich in alle der werlt. […] Ir liden ist ouch nicht alleyne von ir selben ­steticlich gemacht, sundir sie hot ouch zcu pflege vil und manchirley liden und martir gedudiclich e­ nphangen von der werlt, von dem bosen geiste, von irre eygen synnekeit und sundirlich unsirm herren, der sie vil gemartirt hot, und ir groz liden in lybe gemachyt hot in manchirley vorwundunge geistlich und lyplich mit grozer s­werer ynwendiger erbeit, mit groser vorlangungen, senunge und sochunge noch ym […] Hyruz mag eyn iclicher gutiger hoerer adir leser, und der nicht ist eynes guten dynges arkwender, irkennen, das dere seligen Dorothee liden und trost, lybe, vreude und irkentnis grosir ist gewest, wen is ist beschriben. 51 Möglicherweise ermöglicht Dorotheas Status als Rekluse diese Namensnennung, da sie im Gegensatz zur Margery-­Kempe-­Figur nicht der eher prekären Lebensweise einer in der Welt lebenden mulier religiosa verpflichtet ist, sondern sich ihre Begnadung in den vorgegebenen gesellschaftlich autorisierten Bahnen vollzieht. Vgl. in d ­ iesem Zusammenhang den Ausruf eines Mönches in Bezug auf die Margery-­ Figur, BMK, Kapitel 13, S. 27, 31 – 33: I wold þow wer closyd in an hows of ston þat þer schuld no man speke wyth þe. Vgl. dazu Liz H. McAvoy: Closyd in an hows of ston: Anchoritic Discourse and „The Book of Margery Kempe“. In: Liz H. McAvoy/Mari Hughes-­Edwards (Hrsg.): Anchorites, Wombs and Tombs. Intersections of Gender and Enclosure. Cardiff 2004, S. 182 – 194. Gemeinsam ist beiden Prologen, dass in ihnen die Betonung des Leidens ihrer Protagonistinnen im Rahmen der imitatio Christi als das zentrale Thema ausgewiesen wird.

Erzählinstanzen des Margery-Kempe-Texte | 209 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Diese als eine Art texttypologisches Merkmal fungierende Leseransprache betont, dass der Text zur Erbauung und Unterweisung von synful wrecchys verfasst wurde. Zunächst identifiziert sich der Erzähler und seine narrativen Adressaten 52 allerdings nicht mit diesen sündigen Menschen, da hier die Pronomina der dritten Person Plural þei may haue gret solas and comfort to hem zum Einsatz kommen. Im selben Satz erwähnt der Erzähler jedoch bereits ower souereyn Sauyowr Cryst Ihesu 53 und wählt damit eine grammatikalische Form, die die narrativen Adressaten in den heilsgeschichtlichen Zusammenhang inkludiert, was auch die Formulierung in ower days to vs vnworthy […]54 unterstreicht. Der Erzähler und die Adressaten werden in d ­ iesem „uns“ aufgehoben. Der folgende Satz vollzieht nun den völligen Perspektivwechsel zu ­diesem „uns“ als der Gemeinschaft der gläubigen Christenheit, da „alle erbaulichen Werke“ nach Angabe der Prologpartie zu „unserer Unterweisung“ und „unserem Nutzen“ geschrieben ­seien. Die Protagonistin wird zweifach als synful caitif,55 sche und creatur bezeichnet und so wird hier einerseits implizit auf den Schöpfungsmythos der biblischen Genesis verwiesen, andererseits aber auch klar das ‚Geschlecht‘ (im Sinne der sozial-­kulturell determinierten und konstruierten Geschlechtsidentität) der Protagonistin bestimmt. Sie wird mit dem schwankenden Schilfrohr 56 verglichen und ihre Instabilität, ihr Zaudern und ihre Versuchungen (tym of temtacyon) werden hier bereits angedeutet, die alle nach den besonders durch Theologie und naturwissenschaftlichen Studien geprägten vormodernen Vorstellungen 57 in ihrem biologischen Geschlecht ihren Ausdruck finden. Der erste allgemein in die Thematik einführende Abschnitt endet damit, dass der Erzähler in einem Satz das grundlegende Prinzip der folgenden Geschichte darlegt:

52 Vgl. Martinez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, besonders S. 84 – 88, 149 – 151. Erzähltheoretisch betrachtet, lässt sich ­dieses im Text durch die konkrete Anrede und inkludierende Formulierungen entworfene ‚Gegenüber‘ als Handlungsrolle des narrativen Adressaten fassen, der jedoch dem Text implizit ist und daher nicht mit den extradiegetischen Rezipienten gleichgesetzt werden kann. Vgl. neuerdings zum impliziten Leser und „lesenden Du“ in der Christina-­von-­Hane-­Vita, Kirakosian: Die Vita der Christina von Hane, besonders S. 116 – 127. 53 BMK, S. 1, 4. 54 BMK, S. 1, 6. 55 Vgl. zur Bedeutung von caitif in MED: A miserable or unfortunate person, a wretch; a poor man, one of low birth; (b) a wicked man, scoundrel, one who is cowardly or covetous. 56 Vgl. zur Bedeutung der Schilfrohrmetapher, Hans-­Jörg Spitz: Schilfrohr und Binse als Sinnträger in der lateinischen Bibelexegese. In: Frühmittelalterliche Studien, Band 12 (1978), S. 230 – 257. 57 Vgl. dazu etwa Joan Cadden: Meanings of Sex Difference in the Middle Age. Medicine, Science and Culture. Cambridge 1993 (Cambridge History of Medicine). Caroline Walker Bynum: Fragmentation and Redemption. Essays on Gender and the Human Body in Medieval Religion. New York 1992, hier besonders V „… And Woman His Humanity“, S. 151 ff. und VI „The Female Body and Religious P ­ ractice in the Later Middle Ages“, S. 181.

210 | Narration und Autorschaft © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

ower mercyfulle Lord Cryst Ihesu hauyng pety & compassyon of hys handwerke & his creatur turnyd helth in-­to sekenesse, prosperyte in-­to aduersyte, worshep in-­to repref, & love in-­to hatered.58

Im zweiten thematischen Sinnabschnitt erscheint die inversio als Basis der Umkehr zu einem gottgefälligen und heiligmäßigen Leben, mit der nahezu alle Bereiche des menschlichen Lebens erfasst werden: Gesundheit wird zu Krankheit, Wohlstand zu Ungemach, Anerkennung zu Tadel, Liebe zu Hass. Diese Umkehrung ermöglicht überhaupt erst die Leidensnachfolge, die imitatio Christi, von der die Geschichte der Margery Kempe exemplarisch erzählt. Der Ausdruck handwerke zur Bezeichnung der Margery-­Figur indiziert, dass sie hier in einer heilsgeschichtlichen Dimensionierung als von Gott geschaffener und ausgewählter Person beispielhaft vorgeführt wird. Präsentiert wird diese Aufzählung von einem übergeordneten, situationsüberlegenen und distanziert erscheinenden Erzähler im narrativen Präteritum, der, obwohl er wiederum eine den Leser apostrophierende Formulierung ower mercyfulle Lord Cryst wählt, hinter der Zusammenfassung der erzählten Ereignisse völlig zurücktritt. Die zweite thematische Einheit des Proömiums (S. 1, 26 – 3, 20) nimmt erneut Bezug auf die inversio, die als Ausgangspunkt der Bekehrung und Nachfolge im Leiden Christi dient: Thus alle þis thyngys turnyng vp-so-down, þis creatur whych many ȝerys had gon wyl & euyr ben vnstable was parfythly drawen & steryd to entren þe wey of hy perfeccyon, whech parfyth wey Cryst ower Savyowr in hys propyr persoone examplyd.59

Erneut konturiert diese aus der dritten Person erzählte Textpassage die Instabilität des Geschöpfs (creatur), das sich durch die dem weiblichen Geschlecht zugeschriebene inhärente Schwäche und der daraus resultierenden Nachfolge Christi auszeichnet. Die Wortwahl examplyd hebt den beispielhaften Charakter der Erzählung hervor und verweist auf die rhetorische Exempla-­Tradition insbesondere der homiletischen Literatur.60 Elizabeth 58 BMK, S. 1, 22 – 24. 59 BMK, S. 1, 26 – 2, 4. 60 Zuletzt hat Susanne Bernhardt den Typus des exemplarischen Erzählens am Beispiel der ‚Seuse‘-Vita umfassend herausgearbeitet, vgl. Bernhardt: Figur im Vollzug, S. 15 – 18. Dabei betrachtet sie den Vitentext Heinrich Seuses nicht als Exemplum im Sinne „eines einsinnig übertragbaren Regelwerks“ (S. 18), sondern als ‚Grenzüberschreitung‘ der Regeln: „Der Text weist über sich selbst hinaus, indem er die Rezipientinnen und Rezipienten über Strategien der Lektürelenkung involviert und so auffordert, den Text im eigenen Leben fortzuschreiben.“ Unter den Begriff des exemplarischen Erzählens fasst sie „den Erzählmodus und Erzählprozess als literarisches Verfahren“. Einen guten Überblick über die Exempelforschung bietet die Bibliographie von Christoph Daxelmüller: Zum Beispiel. Eine exemplarische Bibliographie. 3-teilig. In: Jahrbuch für Volkskunde 13 (1990), S. 219 – 244; Jahrbuch für Volkskunde 14 (1991) S. 215 – 240; Jahrbuch für Volkskunde 16 (1993), S. 223 – 244. Zur Funktion des Exempels vgl. Detlef Roth: Das Exemplum ­zwischen ‚illustratio‘ und ‚argumentatio‘. In: Mittellateinisches Jahrbuch

Erzählinstanzen des Margery-Kempe-Texte | 211 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Allen präsentiert in ihrer Untersuchung exemplarischer Texte das für sie charakteristische, auf andere Situationen übertragbare Konzept: When a text claims exemplary status, it makes a twofold assertion as a particular instance, the narrative bears relation to a concept; and by signaling a concept, the narrative is ‚applicable‘ to other instances, principally the lived experience of readers.61

Im Fall des Kempe-­Textes lässt sich ­dieses auf das Leben der Rezipienten transferierbare Konzept im weitesten Sinne als eine Art Aufruf zu einem gottgefälligen Leben beschreiben, wobei die Narrativierung der Nachfolge Christi als Anleitung bei der Suche nach einer persönlichen Gotteserfahrung dienen kann. Der aus der Rhetorik stammende und in Liturgie und Hagiographie seit dem 13. Jahrhundert verbreitete Exempelgebrauch 62 steht besonders in der biblischen Erzähltradition, in der sich Jesus als zur Nachfolge anregendes Exempel präsentiert.63 In ­diesem Sinne erscheint Christus im Kempe-­Text als das absolute Exempel der sich in der Erlösungstat Christi manifestierenden unermesslichen Gottesliebe.64 Nach Peter von Moos stellt „das exemplum imitationis imperativisch die Vollkommenheitsforderung“, die in der Formulierung þe wey of hy perfeccyon, whech parfyth wey Cryst ower Savyor

61 62

63

64

29 (1994) 2, S. 19 – 29. Das Exemplum und seine Funktionalisierung. In: Exempla. Studien zur Bedeutung und Funktion des exemplarischen Erzählens. Hrsg. von Bernd Engler und Kurt Müller. Berlin 1995 (Schriften zur Literaturwissenschaft 10), S. 9 – 20. Vgl. aus der englischsprachigen Exempelforschung: Elizabeth Allen: False Fables and Exemplary Truth in later Middle English Literature. New York 2005. Allen: False Fables and Exemplary Truth in later Middle English Literature, S. 3. Shao-­Ji Yao: Der Exempelgebrauch in der Sangspruchdichtung. Vom späten 12. Jahrhundert bis zum Anfang des 14. Jahrhunderts. Würzburg 2006 (Würzburger Beiträge zur Philologie). Shao-­Ji Yao widmet sich in seiner Untersuchung der Verwendung von Exempla in der Sangspruchdichtung und bietet zu Beginn der Untersuchung, S. 17 f., einen allgemeinen literarhistorischen Überblick, zunächst über die verschiedenen und teils kontrovers diskutierten literaturwissenschaftlichen Definitionen des Exempels, um dann den Exempelgebrauch in der mittelalterlichen Literatur zu beleuchten. Vgl. Peter von Moos: Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im „Policratus“ Johanns von Salisbury. Hildesheim 1988 (Ordo, Band 2), S. 91, Anm. 228 mit einer Auswahl folgender Bibelstellen: Io 13,15, 18,23; Mt 5,48, 10,38; Phil 2,5; I Pt 2,21. Vgl. auch die Angaben zu Allegorese und Bibelwissenschaft bei Yao: Der Exempelgebrauch in der Sangspruchdichtung, S. 26 f. Vgl. Peter von Moos, der Christus durch die Inkarnation als „vollendetstes und gegenwärtigstes Exemplum“ begreift, Moos: Geschichte als Topik, S. 89. Eine ähnliche Deutung der alles übersteigenden Gottesliebe findet sich auch in einer Textpassage in Julianas von Norwich „A Revelation of Love“, vgl. Jenkins/Watsons (Hrsg.): A Revelation of Love, S. 379: Thus was I lerned that loue is oure lordes mening. And I sawe fulle sekerly in this and in alle that oure God made us he loved us, which love was never sleked ne never shalle. And in this love he hath done alle his werkes, and in this love made alle thinges profitable to us. And in this love oure life is everlasting. In oure making we had beginning, but the loue wherin he made us was in him fro without beginning.

212 | Narration und Autorschaft © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

in hys propyr persoone examplyd anklingt.65 Dieser Anspruch auf Vollkommenheit übersteige jedoch gerade die menschlichen Möglichkeiten und sei nur in der Nachahmung der humanitas Christi einlösbar. Es ist deshalb vornehmlich die Zentrierung auf die humanitas Christi, die den Kempe-­Text als eine Art exemplarischer Nachfolgeliteratur prägt. Mit dieser Zentrierung auf den inkarnierten Gottessohn setzt die Kempe-­Vita gewissermaßen die augustinische Formel per Christum hominem ad Christum deum in der Erzählung eines Gnadenlebens um.66 Auf der Ebene der Kempe-­Handschrift legt das programmatisch wirkende Christusmonogramm, mit dem der rubrizierende Annotator jeweils den Beginn des ­ersten Prologs mit der Leserapostrophe auf fol. 1r und die Textpassage der Buchentstehungs­ geschichte auf fol. 2v überschrieben hat, eine exemplarische Lektüre der Prologpartie in ihrer Gesamtheit nahe, wie oben ausgeführt.67 Das Vorhandensein des Christusmonogramms, das das Wesen Christi als menschgewordenen Gottessohn symbolisiert, signalisiert an dieser Stelle vielleicht ein Interesse an dem Diskurs des exemplarisch veranschaulichten und zur Unterweisung gedachten Gnadenwirkens, den die Prologpassage textintern entfaltet: Alle þe ­werkys of ower Saviowr ben for ower exampyl & instruccyon […].68 Schließlich folgen in einer Art katalogartigen Übersicht die besonders relevanten Stationen ihres ‚Lebens‘ aus der Perspektive eines ‚auktorialen‘, wenn auch scheinbar hinter den Schilderungen völlig zurücktretenden Erzählers: Vom Verlust ihres Verstandes, ihres weltlichen Ansehens und ihrer Reichtümer, dem Ablegen ihrer Eitelkeit und ihres Stolzes. Der Erzähler berichtet, wie die Margery-­Figur sich in diesen Zeiten des Wandels der als gostly modyr beschriebenen ­Kirche und ihrem Beichtvater anvertraut und wie nach kurzer Zeit die göttlichen Gnadenzeichen in Form der heiligen Tränen einsetzen. Simultan mit diesen Gnadenzeichen beginnen auch die tribulationes, die wiederum von der Protagonistin als Leidenszeit aktiv begrüßt werden. Demnach fungiert die inversio als eine Art kompositorisches Grundprinzip, die das Gute in sein genaues Gegenteil verkehrt, um schließlich durch das Eingreifen der göttlichen Allmacht ins Positive gewendet zu werden. Die Anlage ­dieses thematischen Kataloges und die Aussage as it schal mor openly be schewed aftyrward   69 demonstrieren die auktorial anmutende ‚Allwissenheit‘ des Erzählers, 65 Moos: Geschichte als Topik, S. 92. 66 Vgl. zu der von Augustinus geprägten Per Christum hominem ad Christum deum-­Formel im Hinblick auf Johannes Tauler, der Jesus als das einzig wahre Vorbild ansehe und dabei nicht „einen fleischlichen gegen einen geistigen Christus ausspiele“ Haas: Sermo Mysticus, S. 460. Vgl. Eoin Cassidy: Per Christum hominem ad Christum Deum. Augustine’s Homilies on John’s Gospel. In: Studies in Patristic Christology. Proceedings of the Third Maynooth Conference October 1996. Hrsg. von Thomas Finan und Vincent Twomey. Dublin 1998, S. 122 – 143, zur Mittlerfunktion Christi S. 125 – 136 und zur Nachfolge Christi S. 136 – 143. 67 Vgl. Kapitel 2.3 „Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre“. 68 BMK, S. 1, 7 – 8. 69 BMK, S. 2, 9 – 10.

Erzählinstanzen des Margery-Kempe-Texte | 213 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

der bestens über den Fortgang der Erzählung bzw. über deren Strukturierung informiert ist.70 Allerdings spricht der Erzähler nicht von „erzählen“, sondern im Text wird das Verb „zeigen“ verwendet, das wiederum auf die als Bild für das göttliche Gnadengeschehen fungierende Gnadenvita verweist und die Exemplatradition abruft.71 Die Figur der ­Margery Kempe ist gewissermaßen das personifizierte Exempel, sie gleicht einem Sinnoder Schaubild, dessen Anblick in der rechten Lebensweise unterrichtet, wie etwa Peter von Moos gezeigt hat. Denn ein Exempel kann „sowohl exemplarisches Ereignis als auch dessen Erzählung, sowohl moralisches Vorbild […] als auch ein Beleg und Beweis für einen Gedanken, sowohl ein vorbildlicher Mensch als auch eine mustergültige Tat […]“72 sein. Wie Theodor Wolpers in seiner Untersuchung der englischen Heiligenlegende betont, sei ein Sinnbild gerade die bildhafte Verdeutlichung des transzendenten Sinnes zum Zweck der Betrachtung und Verherrlichung zu verstehen, d. h. eine besonders direkte, feierliche, auf jedes bloße Abbilden von Realität verzichtende Verbildlichung von Spirituellem […].73

Und gerade in ­diesem Sinne beschreibt der Prolog die Figur der Margery Kempe, die im Text in ihrer kreatürlichen Konkretheit als Versinnbildlichung des Spirituellen angelegt ist. In d ­ iesem Sinne lässt sich die Margery-­Figur als menschliche Verkörperung einer göttlichen Offenbarungsbotschaft begreifen. In ihrer Vita fungiert sie in der durch die biblische Tradition vorgezeichneten Rolle als zur Nachfolge anregendes, beispielhaftes Vorbild, wobei die narrative Gestaltungsweise des Textes auch wiederum in Verbindung mit der Exempeltradition zu sehen ist, für die die Narrativität größtenteils konstitutiv ist.74 Möglicherweise verweist das Verb „zeigen“ zudem auch auf die erzählerische Gestaltung des Textes: Das Leben der Margery Kempe wird nämlich aus der Perspektive ihrer Hauptfigur ‚gezeigt‘, die erlebende Protagonistin wird häufig zum Raum-, Zeit- und Informationsfilter, durch den die zu erzählende Geschichte präsentiert wird.75 Gert Hübner stellt heraus, dass besonders die Er-­Erzählung mit einem konstanten Bewusstseinszentrum die szenische Darstellungsweise 70 Vgl. Staley: The Trope of The Scribe and The Question of Literary Authority, S. 837 kategorisiert den Erzähler ebenfalls als „omniscient third person narrator“. 71 Siegfried Ringler betrachtet die „Umsetzung des Geistlichen ins Bild“ als Charakteristikum einer Gnaden­ vita, vgl. Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur, S. 354. Zu den Einflüssen der antiken Rhetorik auf den Exempelgebrauch des Mittelalters, etwa durch Aristoteles, die „Rhetorica ad Herennium“, Cicero und Quintilian vgl. Yao: Der Exempelgebrauch in der Sangspruchdichtung, S. 20 f. 72 Moos: Geschichte als Topik, S. 26. 73 Theodor Wolpers: Die englische Heiligenlegende des Mittelalters: Eine Formgeschichte des Legendenerzählens von der spätantiken lateinischen Tradition bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts. Tübingen 1964 (Anglia Band 10), S. 29. 74 Vgl. Yao: Der Exempelgebrauch, S. 33. 75 Dies ist besonders in den Visionsberichten der Fall, die weiter unten genauer beleuchtet werden.

214 | Narration und Autorschaft © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

ermögliche, bei der die Rezipienten unmittelbar am Geschehen teilhaben würden: „Die Technik ‚zeigt‘ die Geschichte eher, als sie zu erzählen; und der Rezipient ‚sieht‘ die dargestellte Welt mit den Augen der Figur.“76 Dem Rezipienten wird ein Blick in die heilsgeschichtlich dimensionierte Welt der ­Margery Kempe eröffnet, ihm wird die Geschichte der christlichen Erlösungstat am Beispiel der Margery-­Figur ‚gezeigt‘. Der Erzähler präsentiert die Innensicht der Protagonistin. So weiß die Erzählinstanz in Hinblick auf die tribulationes zu berichten, wie die Margery-­ Figur ihr Leiden freudig annimmt: Sche was so vsyd to be slawndred & repreued, to be cheden & rebuked of þe world for grace & vertu wyth whech sche was indued thorw þe strength of þe Holy Gost þat it was to her in a maner of solas & comfort whan sche sufferyd any dysese for þe lofe of God & for þe grace þat God wrowht in hyr.77

Erzähltheoretisch lässt sich diese Passage als eine synthetische Innenweltdarstellung beschreiben. Dadurch dass der Erzähler über eine detaillierte Innensicht der Protagonistin verfügt, erweist er sich als allwissender Erzähler, der an dieser Stelle nicht ohne Weiteres mit dem priesterlichen Schreiber gleichgesetzt werden kann, da sein Wissen weit über das einer textinternen Figur hinausgeht.78 Die Frage ‚Wer spricht?‘ lässt sich also zunächst mit einer anonymisierten, gleichsam hinter der Handlung zurücktretenden Erzählinstanz beantworten.79 Diese Erzählweise mit den dargestellten Einsichten in die Gefühlswelt der Protagonistin lässt zugleich im Akt der Rezeption einen Effekt der Unmittelbarkeit entstehen. Es scheint, als ob der Leser durch die narrative Bewusstseinsdarstellung einen direkten Einblick in ­Margery Kempes Seelenleben gewinnt, wenn es heißt: Sche knew and ­vndyrstod many secret & preuy thyngys whech schuld beffallen aftyrward be inspiracyon of þe Holy Gost.80 ­Gleichzeitig 76 Hübner: Erzählform im höfischen Roman, S. 13. Auch wenn Hübner diese Bemerkung auf die von Henry James verfassten Prefaces seiner Romane bezieht, so lässt sich diese Beobachtung gerade auch am Buch der Margery Kempe machen, da die Margery-­Figur ebenfalls als Wahrnehmungszentrum fungiert. 77 BMK, S. 2, 24 – 29. 78 Wie bereits erwähnt, nimmt Lynn Staley eine ­solche Gleichsetzung ­zwischen dem Priester (writer) und dem Erzähler vor: „After an opening that summarizes Kempe’s holiness and spiritual insight, the writer thus describes how the book came to be written.“ In: Staley: The Trope of The Scribe and The Question of Literary Authority, S. 834. Da der Erzähler im Text zunächst allerdings konsequent anonymisiert ist und erst durch die Verwendung der ersten Person Singular ein Perspektivwechsel hin zu einem „Ich“ erscheint, ist eine ­solche Zuordnung zunächst nicht ohne Weiteres möglich. 79 Die Frage „Wer spricht im Kempe-­Text?“ wird gelegentlich in der englischsprachigen Forschung gestreift, etwa in Dillon: Holy Women and Their Confessors or Confessors and Their Holy Women?, S. 138, allerdings ohne Rückgriff auf die Narratologie. 80 BMK, S. 2, 36 – 38. Vgl. dazu auch BMK, Kapitel 89, S. 220, 9 – 12: For sumtyme þat sche vndirstod bodily it was ben vndirstondyn gostly […]. Der Text zeigt ein differenziertes Verständnis von der Gotteserfahrung,

Erzählinstanzen des Margery-Kempe-Texte | 215 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

wird aber von der Erzählinstanz auf die Begrenztheit der ­menschlichen Erkenntnisfähigkeit gegenüber dem Göttlichen verwiesen, wiederum am Beispiel des ‚Menschen‘: Ne hyr-­self cowd neuyr telle þe grace þat sche felt, it was so heuenly, so hy a-­bouen hyr reson & hyr bodyly wyttys, and hyr body so febyl in tym of þe presens of grace þat sche myth neuyr expressyn it wyth her word lych as sche felt it in hyr sowle.81

Es werden demnach zwei signifikante literarische Strategien appliziert, erstens die als Legitimationsstrategie fungierenden expliziten Hinweise auf den göttlichen Ursprung der Begnadung, und zweitens, dies ist entscheidend, die Thematisierung der topischen Unfähigkeit, die Gotteserkenntnis in Worte zu fassen, das Versagen der ratio bei dem Versuch, das Gotteserlebnis adäquat ausdrücken zu können.82 Bereits hier wird deutlich, dass der Text trotz seiner thematischen Zentrierung auf den Körper ein theologisch-­gelehrtes Verständnis der letztlich alle menschlichen Worte übersteigenden Gotteserkenntnis voraussetzt. Der Legitimierungsdiskurs setzt sich fort: Than had þis creatur mech drede for illusyons & deceytys of hyr gostly enmys.83 Im Folgenden wird ausgeführt, wie die Protagonistin (sche), durch den Heiligen Geist bewegt, Geistliche hohen Ranges, wie Erzbischöfe und Bischöfe und doctowrs of dyuynyte & bachelers also 84 aufsucht. Hier bezieht sich der Text erneut nicht nur auf die Geistlichen der Amtskirche, sondern auch ausdrücklich auf die universitären Gelehrtenkreise als Stellvertreter des autoritativen Wissens, um damit eine Erhöhung und Autorisierung des Textes vorzunehmen. Denn alle aufgerufenen Autoritäten, zu denen auch Einsiedler zählen,85 bestätigen den göttlichen Ursprung der Begnadung und ermuntern die Margery-­Figur trustly belevyn it weren of þe Holy Gost & noon euyl spyryt 86 ihren göttlichen Eingebungen zu folgen.

81 82

83 84 85

86

die die menschlichen Fähigkeiten vollkommen übersteigt. Vgl. auch Ringlers Feststellung der „Aussagen der Unsäglichkeit des Geschehens“ als abgrenzendes Strukturmerkmal einer Gnadenvita in: Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur, S. 337. BMK, S. 3, 3 – 7. Vgl. Walter Haugs Ausführungen zum Problem, das Gotteserlebnis in Sprache zu fassen in Walter Haug: Innerlichkeit, Körperlichkeit und Sprache in der spätmittelalterlichen Frauenmystik. In: Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hrsg. von Walter Haug. Tübingen 2003, S. 481 ff. BMK, S. 3, 8 – 9. BMK, S. 3, 11 – 12. BMK, S. 3, 12 – 16: Sche spak also wyth many ankrys and schewed hem hyr maner of leuyng & swech grace as þe Holy Gost of hys goodnesse wrowt in hyr mende and in hyr sowle as her wytt wold seruen hyr to expressyn it. Hier wird wiederum auf den Unsagbarkeitstopos und die Begrenztheit der menschlichen Erkenntnis angespielt. BMK, S. 3, 19 – 20.

216 | Narration und Autorschaft © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

An diese Passage schließt sich der dritte thematische Sinnabschnitt an (S. 3, 20 – 5, 32), der eine verrätselte Entstehungsgeschichte 87 des Buches bietet und zugleich eine Art vorstrukturierende Lektüreanweisung gibt. Durch den reichen Einsatz flektierter Verbformen von ‚schreiben‘ und der Bezeichnung booke wird hier wiederum dezidiert ein autoritativer Schriftendiskurs aufgerufen.88 Lynn Staley bemerkt dazu zu Recht: „The Book, in fact begins, by locating Kempe in a community in which books serve as tokens of permanency and authority.“89 Für den Leser werden nun die Wechselfälle im Konzeptions- und Abfassungsverlauf aufgedeckt: Der Erzählerbericht fasst die einzelnen Stationen – von dem Angebot einiger von Margery konsultierten Kleriker, das Buch eigenhändig zu verfassen bis zum schicksalhaften Treffen mit dem als erstem Schreiber fungierenden in Dewchlond lebenden Engländer – zusammen. Lynn Staley zeigt auf, dass die Margery-­Figur hier ­zwischen den gelehrten, sich als Schreiber anbietenden Geistlichen und Gottes Anspruch, mit der Abfassung des Buches vorerst zu warten,90 positioniert wird.91 Auf diese Weise erscheint der göttliche Wille als das dominierende Handlungsparadigma, welches das Denken und Tun der Protagonistin bestimmt. Dies zeigt sich im Einsatz der Psychonarration, mit der der Erzähler über die Innenwelt der Margery-­Figur unterrichtet, die die göttliche Legitimation des Schreibprozesses erneut offenbart. Der Beginn des Schreibens ist durch die oben erwähnte ungefähre Jahresangabe bestimmt: & so it was xx ȝer & mor fro þat tym þis creatur had fyrst felyngys & reuelacyons er þan sche dede any wryten.92 Zuletzt hat Daniela Fuhrmann herausgearbeitet, dass eine ­solche zeitliche Einordnung für die Erzählung einer Gnadenvita entscheidender sei als eine genaue räumliche Verortung.93 Genau d ­ ieser 87 Vgl. dazu die Einschätzung von Ross: Oral Life, Written Text, S. 227: „The circumstances of the creation of the text in either its original form or as it was revised by the second priest seem virtually unrecoverable.“ 88 Vgl. BMK, S. 3, 24 – 25: þat sche schuld don hem wryten & makyn a booke of hyr felyngys & hir ­reuelacyons. S. 3, 25 – 26: Sum proferyd hir to wrytyn hyr felyngys with her owen handys, & sche wold not consentyn in no wey […]. S. 3, 27: sche schuld not wrytyn so soone. S. 3, 30: er þan sche dede any wryten. S. 3, 32: he comawnded hyr & chargyd hir þat sche xuld don wryten hyr felyngys & reuelacyons. S. 4, 14: Þe booke. S. 4, 31 – 32. S. 5, 5: þe book. S. 4, 35; S. 5, 1; S. 5, 9; S. 5, 12: þis boke; S. 5, 15: for it was so long er it was w ­ retyn. S. 5, 17: And þerfor sche dede no þing wryten but þat sche knew rygth wel for very trewth. S. 5, 17 – 18: Whan þe prest began fyrst to wryten on þis booke […]. S. 5, 27: Whan he cam a-­geyn to hys booke […]. S. 5, 29: whan he had wretyn a qwayr […] and þan wrot he þis proym to expressyn mor openly þan doth þe next ­folwyng, whech was wretyn er þan þis. Anno domini m.cccc.xxxvj. 89 Staley: The Trope of The Scribe and The Question of Literary Authority, S. 833 f. 90 Vgl. BMK, S. 3, 26 – 28. 91 Staley: The Trope of The Scribe and The Question of Literary Authority, S. 834. 92 BMK, S. 3, 28 – 30. 93 Vgl. Fuhrmann: Konfigurationen der Zeit, S. 56 im Hinblick auf die detaillierte Jahresangabe mit der die „Offenbarungen“ der Margareta Ebner beginnen (ME, S. 1, 8 – 11). Unter den Begriff der Verzeitung (S. 56) fasst sie Zeit- und Jahresangaben, die für die „spatio-­temporalen Rahmenbedingungen des Erzählten“ grundlegender als eine genaue räumliche Verortung seien. Dass die zeitliche Perspektivierung konstitutiv für die Entfaltung einer Erzählung ist, hat Genette gezeigt. Vgl. Genette: Die Erzählung, S. 139.

Erzählinstanzen des Margery-Kempe-Texte | 217 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Umstand lässt sich am Kempe-­Text beobachten. Allerdings entsteht durch die Jahresangabe 1436 und die eher vage zeitliche Einordnung des Proömiums gleichzeitig auch ein gewisser Eindruck der ‚Überzeitlichkeit‘, der für das Exemplarische des Geschehens stehen mag, welches in der Gegenwart des Rezipienten seine Wirkung entfaltet. Dieser Eindruck verstärkt sich durch den letzten Satz des Proömiums, in dem die Abfassung auf umständliche Weise thematisiert ist: & for þis cause, whan he had wretyn a qwayr, he addyd a leef þerto, and þan wrot he þis proym to expressyn mor openly þan doth þe next folwyng, whech was wretyn er þan þis [Hervorhebung d. Verf.]. Anno domini m.cccc.xxxvj.94

Diese Aussage bezieht sich auf den schreibenden Priester, der damit als Verfasser des ersten ausführlichen Vorwortes ausgewiesen wird. Die zweite nun folgende Prologpartie wird durch den Vergleich mit dem ersten Vorwort als weniger detailliert charakterisiert (BMK , S. 5, 29 – 32: to expressyn mor openly þan doth þe next folwyng). Es bleibt im Unklaren, von wem ­dieses zweite, durch die Formulierung which was wretyn er þan þis als älter ausgewiesene Proömium stammt, da der Text dazu keine Angabe macht. Da in d ­ iesem Proömium allerdings auch schon Bezug auf die verrätselte Textentstehung und das Begnadungswunder des dritten Schreibers genommen wird, müsste es eigentlich auch ­diesem letzten Schreiber zugeschrieben werden,95 da dem ersten Schreiber (dem in Deutschland lebenden Engländer) diese Vorgeschichte nicht bekannt sein dürfte. Denn, wie der Text berichtet, übernimmt der dritte Schreiber das vom ersten Schreiber unleserlich verfasste und seltsam anmutende Manuskript und fertigt eine Abschrift. Dieses zweite Proömium bietet in zusammengefasster Form eine Art Überblick über die für das Buch zentralen Elemente: Der kurze Traktat erzähle die conversio eines nach weltlichem Besitz und Ansehen strebenden Geschöpfes, welches durch das Wirken G ­ ottes Armut, Krankheit und Anfeindungen, aber auch unermessliche Gnade in many diuers contres & places 96 erfahren habe. Wie auch im ersten Proömium ruft der Erzähler hier die Exempeltradition auf: of whech tribulacyons sum schal ben schewed [Hervorhebung d. Verf.] aftyr, not in ordyr as it fellyn but as þe creatur cowd han mend of hem whan it wer wretyn, for it was xx ȝer & mor fro tym þis ­creatur had forsake þe world and besyly clef on-­to ower Lord […].97

94 BMK, S. 5, 29 – 32. 95 Vgl. BMK, S. 6, 12 – 16. 96 BMK, S. 6, 2. 97 BMK, S. 6, 2 – 4.

218 | Narration und Autorschaft © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Damit ist eine Art Lektüreanweisung für das Buch gegeben, die die Erwartungen des Lesers lenkt: Denn das Buch folgt nicht etwa einer chronologischen Strukturierung, sondern einer durch die Erinnerungen der Margery Kempe-­Figur vorgegebenen ‚anderen‘ Ordnung. Gerade die frühe englischsprachige Margery Kempe-­Forschung hat jedoch diesen Hinweis eher ignoriert und die Strukturlosigkeit und unzusammenhängende Ordnung des Buches kritisiert.98 Der Text selbst richtet jedoch bereits zu Beginn die Aufmerksamkeit der Rezipienten auf diese spezielle Anlage des Textes und auf Margery Kempe als Autorin.99 Denn gerade das Proömium spricht der Margery-­Figur Autorität zu und entfaltet ihre Bedeutung als Autorin des Textes.100 Und die detaillierten Annotationen der Kartäusermönche zeigen, dass der Text in großem Ansehen stand. Das zweite Vorwort thematisiert ebenfalls den anonymisierten Rat der Gelehrten,101 ihre Visionen zu verschriftlichen. Dezidiert nennt der Erzähler hier einen Whyte Frer, einen Karmeliter, den Hope Emily Allen in Rückgriff auf die Angaben von Meech als Alan of Lynn identifiziert.102 Die Anführung ­dieses gelehrten, selbst als auctor tätigen Karmelitertheologen im Text lässt sich als weitere Beglaubigungsstrategie fassen. Dieser Master Alan tritt allerdings erst in Kapitel 9 in einer Episode auf, die berichtet, wie Margery von einem 98 Vgl. dagegen Sue Ellen Holbrook: Order and Coherence in „The Book of Margery Kempe“. In: The Worlds of Medieval Women. Hrsg. von Constance H. Berman, Charles W. Connell und Judith Rice-­ Rothschild. West Virginia 1985, S. 97 – 110, besonders S. 105. Holbrook arbeitet eine zyklische Textstruktur heraus, die liturgisch organisiert und durch „thematic clusters of sex, words, food and tears“ bestimmt sei. Vgl. Timea K. Szell: From Woe to Weal and Weal to Woe. Notes on the Structure of „The Book of Margery Kempe“. In: Margery Kempe. A Book of Essays. Hrsg. von Sandra McEntire. New York 1992 (Garland Medieval Casebooks 4), S. 73 – 91, die allerdings eine lebensweltliche Prämisse ansetzt und psychologisierend argumentiert, indem sie die Textstruktur als Resultat der „problematics of self-­validation“ (S. 74; „deep need for validation“, S. 84) betrachtet. Einen guten Überblick über die Positionen der älteren und neueren Kempe-­Forschung zur Textstruktur bietet Kukita Naoë Yoshikawa: Margery Kempe’s Meditations. The Context of Medieval and Devotional Literature, Liturgy and Iconography. Cardiff 2007 (Religion and Culture in the Middle Ages), Einleitung S. 2 – 4. Yoshikawa hat die liturgisch-­heilsgeschichtliche Textorganisation präzisiert, die sich insbesondere an den wichtigsten Stationen der Heilsgeschichte, der Nativität (vgl. dazu S. 26 – 32) und Passion (S. 74 – 92), ausrichte. 99 Vgl. Lochrie: The Book of Margery Kempe. The Marginal Woman’s Quest for Literary Authority, S. 37: „Kempe’s authority as an author is ultimately confirmed in the priest’s proem, which follows her prologue and attests not only to the truth of her account, but to a way of reading her book.“ 100 Vgl. Lochrie: The Book of Margery Kempe. The Marginal Woman’s Quest for Literary Authority, S. 36 f. 101 Proömium II, S. 6, 7: greet cownsel; worthy and worschepful clerkys. 102 Vgl. BMK, S. 259, Notes 6/9 und S. 268 Notes 22/11 – 12. Meech charakterisiert diesen im Text namentlich benannten Karmelitermönch als „most illustrious of Margery’s friends at Lynn […] and a Doctor of Divinity of Cambridge, according to John Bale, Anglorum Heliades, Harleian MS. 3838, ff. 92a and b (80a and b), and Scriptorum Illustrium Maioris Brytannie, Basle, 1557 – 59, I, 552 – 553“ (S. 268). Vgl. den Eintrag im Dictionary of National Biography von Richard Copsey: Alan of Lynn (1347/8 – 1432). In: Dictionary of National Biography. Oxford 2004. Online Edition. http://www.oxforddnb.com/view/ article/268 [16. 08. 2018].

Erzählinstanzen des Margery-Kempe-Texte | 219 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

herabfallenden Stein in der St Margaret-­Kirche getroffen wird und den Unfall auf wundersame Weise überlebt. Master Alan befragt Margery zu den genauen Umständen des Ereignisses, wiegt den Stein und kommt zu dem Schluss, dass es sich um ein Wunder handelt. Und in ­diesem Kontext wird genauer von Alan of Lynn berichtet: A worschepful doctowr of dyuynite whych hygth Maystyr Aleyn, a White Frer […].103 Der Erzähler nennt zuerst Alans universitäre Ausbildung, dann seinen Namen und schließlich seine Ordenszugehörigkeit, um ihn als Autoritätsperson im Rahmen der evidentia auszuweisen. Alan fungiert hier als Augenzeuge und qualifizierter Begutachter des Gotteswunders. Im Proömium legt der Text jedoch eine ­solche Identifizierung nicht nahe, sondern anonymisiert bewusst die Identität des Karmeliters, so dass wiederum ein eher exemplarischer Eindruck entsteht. Doch auch hier findet sich die Warnung: And sche was warnyd in hyr spyrit þat sche xuld not wryte so sone.104 Es folgt ein knapper Überblick über die verrätselte Entstehungsgeschichte: Zunächst von einem ersten Schreiber (Schreiber 1) weder in gutem Englisch noch Deutsch verfertigt, bedarf es eines Wunders, um die Handschrift zu entziffern: And so at þe last a preste was sor mevyd for to wrytin þis tretys & he cowd not wel redyn it of a iiij ȝere to-­gedyr.105 Der Erzähler nennt hier im Unterschied zum ersten Proömium explizit die vier Jahre, in denen es dem Priester (Schreiber 3) nicht möglich war, das Manuskript zu lesen. Während der Erzähler im ersten Vorwort noch von einem zweiten, mit dem in deutschen Landen lebenden Engländer (Schreiber 1) gut bekannten Mann berichtet, der als zweiter Schreiber in etwa nur ein Blatt zustande gebracht habe, endet das zweite Vorwort mit der ­kurzen Zusammenfassung der Bemühungen um die Textabfassung des Priesters (Schreiber 3): & sythen be þe request of þis creatur & compellyng of hys owyn consciens he asayd a-­gayn for to rede it, & it was mech mor esy þan it was a-­for-­tyme. And so he gan to wryten in þe ȝer of owr Lord a m.cccc. xxxvj on þe day next aftyr Mary Maudelyn aftyr þe informacyon of þis creatur.106

Der Beginn der Abfassung wird hier, im Unterschied zur ersten Prologpartie, die nur die Jahreszahl angibt, explizit mit einem Datum verbunden, dem 23. Juli, einen Tag nach Mary Maudelyn.107 Mit dieser konkreten zeitlichen Verortung entfaltet der Erzähler eine Verbindung zu Maria Magdalena in ihrer durch die patristische Tradition bestimmten Rolle als Prototyp der bekehrten Sünderin und Zeugin der Auferstehung, in deren Nachfolge er die Kempe-­Figur stellt.108 Auffällig ist auch an dieser Zeitangabe, dass sie die zeitliche 103 BMK, S. 22, 11 – 12. 104 BMK, S. 6, 10 – 11. 105 BMK, S. 6, 18 – 19. 106 BMK, S. 6, 19 – 23. 107 Vgl. die Angaben von Hope Emily Allen BMK, S. 259. 108 Vgl. zu Maria Magdalena, Ulrike Liebl: Maria Magdalena. In: LexMA, Band 6, Sp. 282 – 284. Werner Röcke: Maria Magdalena und Judas Ischarioth. Das Alsfelder Passionsspiel und die Erlauer Spiele als

220 | Narration und Autorschaft © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Entstehung genau festlegt, die im ersten nur mit der Jahreszahl endenden Proömium nicht gegeben ist, obwohl der Erzähler doch gerade im ersten Vorwort den Anspruch erhebt, ausführlicher zu berichten.109 Die auktoriale ‚Erzählerstimme‘ narrativiert zudem das zweite Proömium durchgängig und diese ‚Stimme‘ wird als eine anonyme, hinter den berichteten Ereignissen zurücktretende, scheinbar nicht mehr vorhandene Instanz im Text entfaltet. Beide Proömien erzählen also die Buchentstehungsgeschichte des Textes und setzen dabei unterschiedliche Akzente. Dabei bietet das erste Proömium im Unterschied zum zweiten eine ausführlichere katalogartige Übersicht über die zentralen ­Themen des Buches, deren übergeordnetes ‚Leitmotiv‘ die conversio der Protagonistin darstellt, während im zweiten eine kurze Zusammenfassung der zentralen Handlungsstationen dieser conversio dominiert. In Bezug auf die Textentstehung bietet das erste Proömium ebenfalls eine detaillierte, wenn auch komplexe Darstellung der wechselnden Schreiberkonstellationen, die im zweiten Proömium gerade nicht ausgeführt wird: And þan ȝet it was wretyn fyrst be a man whech cowd neiþyr wel wryten Englysch ne Duch, so it was vn-­able for to be red […]. And so at þe last a preste was sor mevyd for to wrytin þis tretys, he cowd not wel redyn it of a iiij ȝere to-­gedyr.110

Der im ersten Proömium erwähnte zweite Schreiber 111 (der Bekannte des in Deutschland lebenden Engländers) spielt im zweiten Proömium keine Rolle, so dass die Buchentstehung hier weniger kompliziert dargestellt wird. Die Autorschaft der ‚Margery Kempe‘, die als ein an den Schreiber gerichtetes mündliches Diktat in Szene gesetzt wird, schildert der auktorial anmutende Erzähler des zweiten Proömiums ebenfalls weniger umfangreich als im ersten Vorwort.112 Somit erfüllt das erste Vorwort die Intention des dritten Schreibers to expressyn Experimentierfelder des Bösen und des soziokulturellen Standards im Mittelalter. In: Transformationen des Religiösen. Transformativität und Textualität im geistlichen Spiel. Hrsg. von Ingrid Kasten und Erika Fischer-­Lichte. Berlin 2007 (Trends in Medieval Philology), S. 80 – 99. 109 Vgl. BMK, S. 5, 30 – 32. 110 BMK, S. 6, 12 – 18. 111 Vgl. BMK, S. 4, 29 – 40: Þan he cownseld hir to gon to a good man whech had ben mech conuersawnt wyth hym þat wrot fyrst þe booke, supposyng þat he schuld cun best rede þe booke, for he had sum-­tym red letters of þe oþer mannys wrytyng sent fro be-­ȝonden þe see whyl he was in Dewchland. And so sche went to þat man, preying hym to wrytyn þis booke & neuyr to be-­wreyn it as long as sche leued, grawntyng hym a grett summe of good for hys labowr. And þis good man wrot a-­bowt a leef, & ȝet it was lytyl to þe purpose, for he cowd not wel fare þerwyth, þe boke was so euel sett & so vnresonably wretyn. 112 Vgl. BMK, Proömium 1, S. 5, 12 – 18: Thys boke is not wretyn in ordyr, euery thyng aftyr oþer as it wer don, but lych as þe mater cam to þe creatur in mend whan it schuld be wretyn, for it was so long er it was w ­ retyn þat sche had for-­getyn þe tyme & þe ordyr whan thyngys befellyn. And þerfor sche dede no þing wryten but þat sche knew rygth wel for very trewth. Vgl. BMK , Proömium 2, S. 6, 3 – 24: Not in ordyr as it fellyn but as þe creatur cowd han mend of hem whan it wer wretyn […]. And so he gan to wryten […] aftyr þe ­informacyon of þis creatur [Hervorhebung d. Verf.].

Erzählinstanzen des Margery-Kempe-Texte | 221 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

mor openly þan doth þe next folwyng.113 Die Anlage der beiden Proömien zeigt damit deutlich, dass der Text mit einem komplizierten und verschachtelten Verweissystem operiert, das eine genaue zeitliche und personelle Verortung der Textentstehung geradezu verhindert. Einzig die auf ein ursprünglich mündliches Diktat 114 zurückgehende Buchentstehung, die als Zusammenarbeit der Margery-­Figur und dem dritten Schreiber präsentiert wird, scheint aus den Proömien gesichert hervorzugehen.

3.2 Schreibergeschichten Dass die erzählerische Beschreibung der Zusammenarbeit z­ wischen der Margery-­Figur und ihren Schreibern sowohl im ersten als auch im zweiten Proömium eine prominente Stellung einnimmt, ist insofern nicht verwunderlich, als diese „Beichtvater-­Thematik“ ein geradezu programmatisches und konstitutives Element eines Gnadenlebens darstellt.115 Deshalb soll an dieser Stelle die narrative Inszenierung dieser mit der Beichtvater-­Thematik eng verbundenen Buchentstehungsgeschichte in den Prologpartien genauer beleuchtet werden. Das erste Proömium wird dem amanuensis durch die Tätigkeit des Schreibens (whan he had wretyn a qwayr)116 zugeschrieben. Aber um w ­ elchen Schreiber handelt es sich dabei? Und weshalb wird ­dieses Proömium erst angefügt, nachdem der Schreiber bereits eine Lage (qwayr)117 angefertigt hat? Insbesondere die im ersten Proömium breit angelegte Suche nach einem geeigneten Schreiber und die Entstehungsgeschichte des Buches hat die englischsprachige Margery-­Kempe-­Forschung intensiv verhandelt.118 Bereits Hope Emily Allen vermutet, dass 113 BMK, S. 5, 31. 114 Dieses Dikat findet z­ wischen der zur Autorin stilisierten Margery-­Figur und dem ersten Schreiber statt, BMK, S. 4, 4 – 11: a man dwellyng in Dewchlond whech was an Englyschman in hys byrth […] he had w ­ retyn as mech as sche wold tellyn hym for þe tyme þat þei wer to-­g ydder. 115 Vgl. Peters: Religiöse Erfahrung, besonders S. 161 – 176 zur typenspezifischen Ausgestaltung der Beichtvaterthematik in der Gnadenvita und den „Offenbarungen“ Christine Ebners. Bürkle: Literatur im Kloster, besonders S. 301 – 306 zur Figur des Beichtvaters Konrad von Füssen in der Gnadenvita ­Christine Ebners. 116 BMK, S. 5, 30. 117 Der Ausdruck quire/qwayr lässt sich mit „Lage“ übersetzen, vgl. Michelle P. Brown: Understanding Illuminated Manuscripts. A Guide to Technical Terms. London 1994. 118 Vgl. eine Auswahl der relevanten Forschungsliteratur: Atkinson: Mystic and Pilgrim, besonders S. 29 f., die einer Identifizierung des ersten Schreibers mit dem Sohn der Margery-­Figur eher skeptisch gegenübersteht. David Hirsh: The Revelation of Margery Kempe. Paramystical Practices in Late Medieval England. Leiden [u. a.] 1988 (Medieval and Renaissance Authors 10), besonders S. 42 f. zum ersten und zweiten Schreiber, die Hirsh auf der Ebene der faktischen Textentstehung als Verfasser betrachtet, vgl. S. 43: „The second scribe […] had an essentially authorial role in the creation of the work.“ Vgl. dagegen die differenzierte Sichtweise von Staley: The Trope of the Scribe and the Question of Literary Authority, S. 820 – 838. Butcher: Reading „The Book of Margery Kempe“, besonders S. 192 – 194 zu der

222 | Narration und Autorschaft © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

der Sohn der Margery-­Figur der erste Schreiber gewesen sein könnte. Denn der erste Schreiber und der Sohn hätten beide in ‚deutschen Landen‘ eine Familie gegründet und wüssten von Margerys Wunsch, das Buch zu verfassen.119 Allen bemerkt aber zugleich, dass eine ­solche Identifikation allenfalls ein „sentimental interest“120 habe, aber keineswegs die literarhistorische Deutung des Textes beeinflusse. Im Rückgriff auf Allens vorsichtig geäußerte Überlegung postuliert neuerdings Sebastian Sobecki mit Nachdruck, dass ein neuentdeckter Brief im Danziger Nationalarchiv (Gdańsk, Nationalarchiv APG 300, 27/3, fol. 12r) Margery Kempes Sohn als ersten Schreiber identifizieren könne:121 Ein von der Stadt Danzig im Jahr 1431 für einen ‚John Kempe‘ (Johannis Kempen, S. 282) ausgestelltes Schreiben, das ihm die Rückforderung der von ihm als Sicherheit für Robert Prinart ausgelegten Gelder ermögliche, betrachtet Sobecki als gesicherten Beleg für die Übereinstimmung z­ wischen dem textinternen ersten Schreiber und der Figur des Sohnes, wie sie der Kempe-­Text präsentiert. Aufgrund der lateinischen Schreibsprache konstatiert Sobecki „this letter is clearly directed at the English authorities“ (S. 263), allerdings weist das Dokument selbst keine Adressaten auf (vgl. die Transkription, S. 282 – 283). Und auch der Inhalt des Briefs, der zwar auf merkantile Aktivitäten zurückgehen mag, ist in Kombination mit dem häufiger anzutreffenden Namen ‚John Kempe‘122 wohl eher kein belastbares Argument, um die Identität des Sohnes zweifelsfrei zu eher problematischen Rekonstruktion von Textschichtungen und S. 203 f. zu den genauen Anteilen des Schreibers an der Komposition des Textes. Wie hartnäckig sich s­ olche Überlegungen in der Forschungsdiskussion halten, belegt auch der neuere Beitrag von Riehle: Die englische Mystik des Mittelalters, S. 345: „Sehr viel bedeutet ihr auch ihr Gemeindepfarrer und Beichtvater Robert Spryngolde, in dem man sogar den entscheidenden Schreiber ihres Book of Margery Kempe vermuten darf.“ Auf S. 341 nennt Riehle allerdings auch Margery Kempes Sohn als möglichen Schreiber. Vgl. zuletzt Sobeckie: The Writyng of this Tretys, S. 271 – 278, besonders S. 274 mit einer Argumentation zu Robert Spryngold als Schreiber, die ebenfalls auf Vermutungen basiert, die Sobecki im Rückgriff auf das Dokument The National ­Archives, Common Pleas Roll, CP40/677, Norwich 1430 formuliert. Denn d­ ieses Dokument weise Robert Spryngold als Testamentsvollstrecker des Robert Brunham aus, in dem Sobecki den Bruder Margery Kempes sieht und dadurch auf besondere Beziehungen zu der Familie Brunham zurückschließt, besonders S. 274 – 275: „At the time at which both Margery Kempe’s son and her husband died, Spryngold was busy enforcing debts owed to the estate of the man who was in all likelihood her older brother.“ 119 Der Erzähler berichtet im zweiten Buch, dass der Sohn in Pruce in Dewchelonde geheiratet habe (BMK, S. 223, 11) und zu einem späteren Zeitpunkt zu seiner M ­ utter zurückkehre (BMK, S. 225, 1 – 3).Vgl. in Bezug auf diese Vermutung, Hirsh: Author and Scribe in The Book of Margery Kempe, S. 146 f. Riehle: Die englische Mystik des Mittelalters, S. 341. Riehle führt aus, dass der erste Schreiber, der das in Sprache und Schrift verrätselt wirkende ‚Original‘ verfasst habe, Margery Kempes Sohn gewesen sein könnte und er beruft sich dabei auf die Untersuchung von Nicholas Watson: The Making of The Book of Margery Kempe. In: Voices in Dialogue. Reading Women in the Middle Ages. Hrsg. von Linda Olson und Kathryn Kerby-­Fulton. Notre Dame, Indiana 2005, S. 395 – 434, hier S. 398, 428 f. 120 BMK, Note 4/4, S. 257 f. 121 Vgl. Sobecki: The Writyng of this Tretys, S. 260. 122 Vgl. BMK, Appendix III. Extracts from Documents, S. 362 zu Einträgen in den Registerbüchern der Stadt Bishop’s Lynn, fol. 116d und fol. 170d, die sich auf den Ehemann John Kempe (John Kempe junior)

Schreibergeschichten | 223 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

erweisen. Denn das vermeintliche Todesjahr des Sohnes, das Sobecki mit dem Abfassungsdatum des Briefdokuments (12. Juni 1431) korreliert, um die historisch korrekte Wiedergabe der ‚Fakten‘ im zweiten Buch des Kempe-­Textes zu belegen,123 beruht auf nachträglichen Berechnungen der sehr vereinzelt in den Kempe-­Text inserierten Zeit- und Altersangaben, wie in der Einleitung der vorliegenden Arbeit ausgeführt. Das Sterbejahr des Sohnes ist nicht gesichert und seine Existenz ist außerhalb des Kempe-­Textes nicht belegt.124 Insofern ist eine Gleichsetzung des ‚John Kempe‘ aus dem Danziger Briefdokument mit dem Sohn der Margery Kempe zusätzlich erschwert. Historisch betrachtet, haben sich bereits gegen Ende des 14. Jahrhunderts englische Händler vermehrt in Danzig angesiedelt, was zu einer Intensivierung der bestehenden Beziehungen ­zwischen der bedeutenden Handels- und Hafenstadt Bishop’s Lynn und Preußen im deutschen Herrschaftsgebiet führte.125 Textintern mag sich die faktisch nachweisbare wirtschaftliche Vernetzung z­ wischen dem englischen und dem deutschen Sprachraum in der Episode um die Verheiratung von Margerys Sohn abzeichnen. Diese lebenswelt­lichen Konkretisierungen evozieren ‚Realitätseffekte‘ und umgeben die Margery-­Figur mit einem authentisch wirkenden ‚Lokalkolorit‘, der sich förderlich für ihren Ruf als ‚heilige Person‘ aus Bishop’s Lynn auswirken könnte. Darauf spielt möglicherweise die rubrizierte Annotation Lyn[n] an, die der rubrizierende Annotator neben sche was maryed to a worschepful burgeys auf fol. 3v in Add MS 61823 einträgt und auf diese Weise zumindest ein punktuelles Interesse an ihrem Heimatort signalisiert, wie weiter oben ausgeführt wurde. und seinen Vater John Kempe (John Kempe senior) beziehen, wobei Meech auch hier mit Vorsicht äußert: „In the Red Register, f. 116d (ed. Ingelby, II. 5), the entry of a John Kempe, probably Margery Kempe’s husband, and of his brother, Simon, is recorded […]. In the Red Register, f. 170d (ed. Ingelby, II. 171), there is recorded the entry of John Kempe, skinner, probably the father of John and Simon.“ 123 Vgl. Sobecki: The Writyng of this Tretys, S. 258 – 271 zu Margery Kempe’s Sohn in Danzig, besonders S. 265 ff. 124 Vgl. Sobecki: The Writyng of this Tretys, S. 260 mit Verweis auf Windeatt: BMK, S. 5: „The son’s death is believed to have taken place in 1431.“ Vgl. BMK, Einleitung, S. vii:.: „It would appear that he [her first amanuensis, Anm. d. Verf.] died in or before 1432, inasmuch as the priest who began to copy and revise his work on 23 July, 1436 (5/29 – 32, 6/21 – 24), delayed doing so for at least four years after his death (4/24 – 27, 6/17 – 21). […] The son was taken sick on the day after his homecoming and died about a month afterwards (225/8 – 14), probably in 1431 (note 225/13 – 14).“ 125 Vgl. Dillon: Holy Women and Their Confessors or Confessors and Their Holy Women?, S. 116 f. ­Bishop’s Lynn galt als drittwichtigster Hafen in England und war Mitglied der Hanse: William Richards: The History of Lynn. Volume 1. Lynn: Printed by W. G. Whittingham and sold by R. Baldwin. London 1812, besonders S. 20 f. In seiner Untersuchung zu den komplexen Handelsbeziehungen z­ wischen England und der deutschen Hanse stellt Terrence H. Lloyd besonders das enge Verhältnis ­zwischen Preußen und England heraus. Seit etwa 1346 ist der Handel mit Preußen insbesondere durch den Import von englischen Tuchwaren und Stoffen belegt, vgl. Terrence H. Lloyd: England and the German Hanse, 1157 – 1611. A Study of Their Trade and Commercial Diplomacy. Cambridge 1991, S. 46 und S. 73. Vgl. auch die Ausführungen zum internationalen Handel in Bishop’s Lynn in Parker: Lynn and the Making of a Mystic, besonders S. 58 f.

224 | Narration und Autorschaft © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Allerdings müssen wohl auch die textinternen Anspielungen auf familiäre Verbindungen nach Preußen durch die Heirat des Sohnes, die Reise nach Danzig mit der Schwiegertochter und Kontakte zu deutschsprachigen Personen wie dem Priester Wenslaw vielleicht eher zurückhaltend im Hinblick auf ihren faktischen Aussagewert beurteilt werden. Denn die Kempe-­Vita erzählt vorrangig die unwegsam verlaufende ‚Buchwerdung‘ einer Offenbarungsschrift, deren göttlichen Ursprung die suggerierte Existenz einer weder in Englisch noch in Deutsch verfassten ‚Ur-­Fassung‘ absichert. Historisch anmutende ‚Fakten‘ werden im Kempe-­Text offenbar nicht um ihrer selbst willen erzählt, sondern sie sind funktional in den Text und seine Programmatik eingebunden, für die die Schreibersuche eine besondere Rolle spielt. Meech und Allen zufolge lassen sich vier ‚Individuen‘ differenzieren, die Form und Inhalt des Textes maßgeblich geprägt haben, zum einen Margery Kempe als Autorinstanz, ihr erster Schreiber, der in deutschen Landen lebende Engländer, der zweite Schreiber (der Bekannte des ersten Schreibers), der Priester (der dritte Schreiber), und schließlich Salthows, der wahrscheinlich dem Benediktinerpriorat der Kathedrale der Heiligen Dreifaltigkeit in Norwich angehörende Schreiber der Kempe-­Handschrift. Das Vorhandensein der Autorin-­Schreiber-­Konstellation und die komplexe Anlage der beiden Prologe legen nahe, dass die Frage nach der Identität des Schreibers nicht eindeutig beantwortet werden kann. Zwar berichtet der übergeordnete, auktorial anmutende Erzähler von der Ankunft des Sohnes in England, doch nur wenige Sätze später schildert er den Tod des Sohnes, der am ersten Tag nach der Ankunft von Krankheit befallen, nur etwa einen Monat später verstirbt: Þei come hom on þe Satyrday in good heele, & on þe next day þat was þe Sonday, whil þei wer at mete at noon with oþer good frendys, he fel in gret sekenes […] & infirmite ocupijd hym a-­bowte a monyth [Hervorhebung d. Verf.], & þan in good life & ryth beleue he passyd to þe mercy of owr Lord.126

Hope Emily Allen bekundet die auf S. 342 vertretene Ansicht, dass der Sohn möglicherweise in d ­ iesem Monat das Buch geschrieben haben könne, allerdings lässt sich diese Vermutung, wie sie selbst eingesteht, am Text nicht belegen.127 Die Textpassage bietet jedoch ein gutes Beispiel für die Erzählweise des Kempe-­Textes: Denn der kurze Erzählerkommentar kombiniert eine im ungefähren belassene Zeitangabe mit einer relativen Komprimiertheit des Erzählens signifikanter Ereignisse. Genauso verhält es sich mit der Schilderung des Todes von John, dem Ehemann der Margery-­Figur, der kurz darauf sein Leben beschließt: 126 BMK, S. 225, 8 – 14. 127 Vgl. Atkinson: Mystik und Pilgrim, S. 29 f., die dagegen argumentiert, dass der Sohn das Buch nicht innerhalb von vier Wochen verfasst haben könne.

Schreibergeschichten | 225 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

In schort tyme aftyr, þe fadyr of þe sayd persone folwyd þe sone þe wey whech euery man must gon. Than leuyd stille þe modyr of þe sayd persone, of whom þis tretys specyaly makyth mencyon […].128

Die Narrativierung legt nahe, dass das Dahinscheiden der männlichen Familienmitglieder Margerys für den Fortgang des Textes nur von eher begrenzter Bedeutung ist, da nun der Fokus auf der Reise der Margery-­Figur mit ihrer Schwiegertochter in einer neuen spirituell inspirierten und ‚freiwillig‘ gewählten Familienkonstellation nach Preußen liegt. Wie der Text zeigt, war die Margery-­Figur bereits zuvor aus ihren familialen Strukturen herausgelöst und als geistige M ­ utter präsentiert worden, die ihre ‚Schüler‘ gleichsam als geistige Kinder annimmt und unterweist.129 Mehrheitlich wurde aber in der neueren englischsprachigen Kempe-­Forschung die Identifizierung von Schreiber und Sohn eher umstandslos aufgegriffen, obwohl sich im Text keine weiteren Hinweise auf eine Übereinstimmung von Sohn und Schreiber finden ­lassen. Ja es gehört vielmehr zur ‚verrätselten‘ Anlage ­dieses Textes, der ­solche Spekulationen durch seine spezifische Ausgestaltung geradezu provoziert, da vieles – wie die Identität des schreibenden Priesters (Schreiber 3) – geradezu vorsätzlich unklar gehalten wird. Für den Text scheint allein die Funktion des Schreibers und sein Vorhandensein von Bedeutung, wie Lynn Staley in ihrer problematisierenden Lesart herausgearbeitet hat: Sie begreift den Schreiber als essentielle Komponente einer literarischen Beglaubigungsstrategie des Buches.130 Staley argumentiert, dass die Frage, ob Margery Kempe tatsächlich einen Schreiber zur Abfassung ihres Buches benötigte, weniger wichtig sei, als die Frage, ­welche Funktion der Schreiber innerhalb des Textes einnehme.131 Und auf dieser Ausgangsbasis zeigt Staley in differenzierten Textanalysen, dass der Schreiber als Augenzeuge der göttlichen Begnadung innerhalb des Buches fungiert und damit dem Text Autorität zuschreibt und schließlich Margery in die Position versetzt, Kritik an Geistlichen der Amtskirche und deren Verfehlungen üben zu können.132 Dass gerade die Entstehungsgeschichte des Textes durch den Schreiber äußerst komplex angelegt ist, zeigt bereits die Anlage des Proömiums: Denn wie der Erzähler berichtet, gestaltet sich bereits das Aufspüren eines passenden Schreibers als überaus schwierig: Than 128 BMK, S. 225, 17 – 19. 129 Vgl. dazu TRE , Band 23, S. 156: „Das geistliche Vater- bzw. Muttersein ist die besonders jüdisch-­ christliche Weise des Lehrerseins, jenes Lehrers, der seine Schüler mit der Milch der Lehre und seines vorbildlichen Wandels aufzieht wie die ­Mutter ihren Säugling.“ 130 Vgl. Staley: The Trope of The Scribe and The Question of Literary Authority, S. 820 – 838. 131 Vgl. ebd., S. 835. 132 Der Aspekt der Kirchenkritik, die Margery äußert, wird vor allem in der englischsprachigen Forschung oftmals als subversiver und gleichsam die Protagonistin aus den gesellschaftlichen Zwängen befreiender Akt gedeutet, vgl. etwa auch Lynn Staley: Margery Kempe as Social Critic. In: Journal of Medieval and Renaissance Studies 22 (1992), S. 159 – 184.

226 | Narration und Autorschaft © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

had þe creatur no wryter þat wold fulfyllyn hyr desyr ne ȝeue credens to hir felingys […].133 Zu Recht weist Lynn Staley darauf hin, dass bereits an dieser Stelle die Funktion des Schreibers als Augenzeuge und Beglaubigungsinstanz anklingt.134 Schließlich taucht der in „deutschen Landen“135 lebende Engländer auf, beendet das Dilemma der Schreibersuche und verfasst so viel, wie die Margery-­Figur ihm während seines Aufenthaltes diktiert.136 An dieser Stelle findet der oben erwähnte Wechsel der Erzählperspektive statt, wenn es heißt: þat a man dwellyng in Dewchland whech was an Englyschman in hys byrth & sythen weddyd in ­ ewchland & had þer boþe a wyf & a chyld, hauyng good knowlach of þis creatur & of hir desyr, meued D I trost thorw þe holy Gost, cam in-­to Yngland wyth hys wyfe & hys goodys & dwellyd with þe forseyd creatur tyl he had wretyn as mech as sche wold tellyn hym for þe tym þat þei wer to-­g ydder.137

Unvermittelt tritt der Erzähler als ein ‚Ich‘ im Text hervor und erweckt den Eindruck, gewisser­maßen „hinter“ der Erzählung in der dritten Person zu stehen und hier die Er-­ Erzählung gleichsam für einen ­kurzen Moment als von einem ‚Ich‘ ausgehend zu präsentieren.138 Hier käme zum ersten Mal der Schreiber als kommentierender Erzähler in Betracht, obwohl sich ­dieses ‚Ich‘ aus der unmittelbaren Textumgebung nicht stringent kontextualisieren lässt und somit eine direkte Zuordnung gerade nicht umstandslos gegeben ist. Auch Lynn Staley versteht den Schreiber als Erzähler, der den Erzählvorgang steuert und die Aufmerksamkeit der Rezipienten lenkt, allerdings ohne zu diskutieren, warum gerade der Schreiber mit dem Erzähler gleichgesetzt werden kann.139 Eine mögliche Erklärung für eine derartige Gleichsetzung wäre die von Staley angenommene Funktion des Schreibers als Legitimationsinstanz, da auf diese Weise eine männliche (Erzähler-)‚Stimme‘ den Text durch den eigentlichen Erzählakt autorisiert. Der Kempe-­Text selbst allerdings belässt den

133 BMK, S. 4. 134 Vgl. Staley: The Trope of The Scribe and The Question of Literary Authority, S. 833. 135 Vgl. BMK , Notes 4/4, S. 257: Wie Hope Emily Allen festhält, könnte sich diese geographische Angabe auf eine Reihe Länder beziehen, wie etwa Bereiche des heutigen Deutschlands, der Niederlande und Belgiens. 136 BMK, S. 4, 3 – 4. 137 BMK, S. 4, 3 – 10. 138 Vgl. dazu Bürkle: Die ‚Gnadenvita‘ Christine Ebners, S. 502 f. Bürkle macht bei der Bestimmung des Text-­Ichs der Gnadenvita der Christine Ebner, die sich wie der Kempe-­Text unter anderem besonders durch den Wechsel der Erzählperspektive auszeichnet, eine ganz ähnliche Erzählkonfiguration aus: „Und es würde andererseits bedeuten, dass eine Ich-­Erzählerin vorläge, die auch hinter den Passagen in der dritten Person zu stehen hätte, über sich also, neben der Ich-­Rede, ‚zusätzlich‘ in der dritten Person spräche, und dass hier im Ansatz und wiederum allein in struktureller Hinsicht, ein autobiographischer Erzählakt in der dritten Person zu konstatieren wäre – mit Genette eine der Form nach quasi heterodiegetische Autobiographie – , in der gleichzeitig so getan würde, als spräche ein anderer.“ 139 Staley: The Trope of The Scribe and The Question of Literary Authority, S. 838: „From the very beginning, the scribe mediates, guiding our responses to this extraordinary text.“

Schreibergeschichten | 227 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Status ­dieses Text-­Ichs seltsam ambig, bis zu dem zweiten erzählperspektivischen Wechsel in Kapitel 4, der von Neuem die direkte Anwesenheit eines Erzählers suggeriert: Ower mercyful Lord Crist Ihesu, seyng þis creaturys presumpcyon, sent hir, as is wrete bevor, iij ȝer of greet temptacyon, of þe whech on of þe hardest I purpos to wrytyn for exampyl of hem þat com aftyr [Hervorhebung d. Verf.] þat þei schuld not trostyn on her owyn self ne haue no joy in hem-­self as þis creatur had, for no drede owyr gostly enmy slepyth not, but he ful besyly sergyth owr complexions & owyr dysposycionys, & wher þat he fyndyth us most freel þer be owyr Lordys sufferawns he leyth hys snar, whech may no man skape be hys owyn power.140

Wenn man die oben diskutierte Ich-­Aussage im Kontext der Schreibersuche 141 mit dieser Textpartie zusammensieht, ermöglicht sie eine, wenn auch nicht ganz unproblematische Dechiffrierung des Schreibers als Erzähler. David Lawton nimmt an, dass d ­ ieses Text-­Ich nicht aus dem Kontext erschlossen werden kann.142 Im Gegensatz zu Lawtons Einschätzung lässt der Text aber eine Art ‚Rekonstruktion‘ d ­ ieses Erzähler-­Ichs aus dem Kontext zu, da der Ich-­Erzähler explizit das Schreiben und seine Auswahl benennt, die er für den Text getroffen habe. Nimmt man die Aussagen des Textes hinsichtlich des ersten unleserlichen und aufgrund seiner Sprache und Formgebung seltsam anmutenden, vom ersten Schreiber verfassten Manuskriptes ernst, so kann es sich hier nur um den vom dritten Schreiber 143 sorgfältig abgeschriebenen Text handeln, aus dem sich die ‚Erzählstimme‘ ­dieses dritten Schreibers unvermittelt an den Leser wendet.144 Durch seine Einmischung kommentiert er einerseits die Auswahl, andererseits autorisiert er durch den expliziten Verweis auf die Verschriftlichung erneut den Text als göttliches Offenbarungswissen in Buchform. Erst an dieser Stelle kann also die von Staley angenommene Gleichsetzung von Schreiber und Erzähler tatsächlich durch den Text verifiziert werden. 140 Der Erzähler berichtet von Margerys dreijähriger Phase der Versuchung, in der sie einem Treuetest unterzogen wird, BMK, S. 14, 4 – 14. 141 Vgl. BMK, S. 4, 3 – 10. 142 David Lawton kommentiert den Einsatz ­dieses scheinbar unverortbaren Erzähler-­Ichs, Lawton: Voice, Authority and Blasphemy, S. 101: „[…] the use of the editorial personal pronoun in the text could hardly be more tentative. […] Who is ‚I‘ here? Is the judgment that of the scribe, and if so the first or the second, or merely a translation of Kempe’s words for writing in the place of words for speech? No reconstruction is possible: for practical purposes ‚I purpose‘ is as unmarked as ‚as is wrete befor‘. The personal pronoun is hardly the imprint of a firm editor.“ 143 Den Angaben des Textes zufolge verfasst ein zweiter Schreiber etwa ein Blatt der Handschrift, wie weiter oben in Anm. 110 (BMK, S. 4, 29 – 40) erwähnt. 144 Vgl. dazu etwa die Aussage in BMK, S. 221, 1 – 12: Aftyr þat owr Souereyn Sauyowr had take þe persone whech wrot first þe tretys aforn-­seyd to hys many fold mercy, and þe preiste of whom is be-­forn wretyn had copijd þe same tretys aftyr hys sympyl cunnyng, he held it expedient to honowr of þe blisful Trinite þat hys holy werkys xulde be notifyid & declaryd to þe pepil […] to þe worschip of hys holy name. And þan he gan writyn in þe ȝer of owr Lord m.cccc.xxxviij in the fest of Seynt Vital Martyr sweche grace as owr Lord wrowt in hys sympyl creatur ȝerys þat sche leuyd aftyr, not alle but summe of hem, aftyr hyr owyn tunge.

228 | Narration und Autorschaft © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Wie zu Beginn des ersten Proömiums findet sich auch hier eine die Rezipienten inkludierende Leserapostrophe, die zur Wachsamkeit gegenüber den allgegenwärtigen Versuchungen des gostly-­enmy aufruft. Das Erzähler-­Ich tritt demnach in zwei Textpassagen auf, die sich auf das Schreiben bzw. den Schreibprozess beziehen, und erzeugt auf diese Weise die Illusion einer persönlichen Anwesenheit des Erzählers ‚hinter‘ den berichteten Ereignissen. Susanne Bürkle deutet die Funktion dieser k­ urzen Ich-­Erzähler-­Einschübe in der Gnadenvita der Christine Ebner funktional, als durch die Unmittelbarkeit ­dieses ‚Ichs‘ hervorgerufene Authentisierungsstrategien.145 Eine s­olche Deutung erweist sich auch für den Kempe-­Text als sinnvoll, da durch das Hervortreten des Text-­Ichs an zwei signifikanten, jeweils im weiteren Sinne die Verschriftlichung des Textes thematisierenden Passagen gleichsam ein erzählerischer Bogen zur Ausgangssituation der Textgenese – die Margery-­ Figur diktiert ihrem Schreiber – geschlagen wird. Denn das Vorhandensein d ­ ieses Text-­Ichs kann auf die Entstehungssituation zurückbezogen werden und auf diese Weise einen Effekt von Unmittelbarkeit evozieren. Diese Unmittelbarkeit geht aber gerade auf die spezifische Art der erzählerischen Vermittlung zurück. Der Ich-­Erzähler berichtet, dass er das „härteste Jahr der Versuchungen“146 als Exempel zur Verschriftlichung ausgewählt habe, um seine Zuhörerschaft vor der menschlichen ­Hybris zu warnen. Denn selbst eine gotterwählte Person wie die Margery-­Figur bestehe nicht die ihr auferlegten Prüfungen, wie ihr fehlgeschlagener Treuetest exemplarisch beweise, da sie dem Ehebruch mit einem Bekannten zustimme und nur durch dessen Ablehnung gerettet werde. Elisabeth Allen zufolge zeigt sich hier auch gerade das für das Exempel charakteristische Umschwingen von der Schilderung einer spezifischen Situation zu einer allgemein gehaltenen moralisierenden Lehre.147 Der Ausdruck exampyl ruft erneut den Exempelgebrauch in dem zur Unterweisung und Belehrung angelegten Kempe-­Text auf, wobei das ausgewählte Exempel zur Illustration der menschlichen Sündhaftigkeit und Schwäche dient, die hier als sinnliche Begierde dargestellt ist. Damit unterstreicht der Erzähler besonders wirksam seine Argumentation, wachsam gegen derartige diabolische Verführungen zu sein. Ein dritter Einschub in Ich-­Rede findet sich auch in Kapitel 18, wiederum im Kontext der Abfassung des Buches: & so it be-­fel as þe ankyr had prophecyed in euery poynt, and, as I trust, xal be wretyn more pleynly aftyrward.148 Dass auch diese Aussage dem Schreiber in seiner Rolle als Erzähler zugeschrieben werden kann, geht aus Kapitel 3 des zweiten Buches hervor, da eine vierte, formelhaft wirkende Ich-­Aussage die Schreibtätigkeit nun explizit benennt: Wyth swech maner of thowtys & many mo þan I cowde euyr writyn sche worschepyd & magnifyed owr 145 Bürkle: Die ‚Gnadenvita‘ Christine Ebners, S. 503. 146 Vgl. BMK, S. 14. 147 Vgl. Allen: False Fables and Exemplary Truth in later Middle English Literature, S. 1. 148 BMK, S. 44, 16 – 18.

Schreibergeschichten | 229 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Lord Ihesu Crist for hys holy visitacyon & hys comfort.149 Und schließlich findet sich noch eine weitere Variation dieser Schreiberformel, die an den Unsagbarkeitstopos 150 erinnert: Wyth swech maner of dalyawns & meche mor hy & holy þan euyr I cowde writyn owr Lord comfortyd hys creatur, blissyd mote he ben.151 Diese vereinzelt in den Text eingestreuten Einlassungen des Schreiber-­Ichs verstärken den Eindruck, dass hinter den in der dritten Person narrativierten Gnaden- und Visionsberichten der Kempe-­Vita eine leibhaftig anwesende Erzählerfigur steht. Zumindest stellenweise profilieren sie die anonyme, übergeordnete Erzählerstimme zum Schreiber in der Rolle des Erzählers, der durch seine Zusammenarbeit mit der mulier religiosa und die durch das Gnadenwunder ermöglichte Abschrift des verrätselten ‚Originals‘ die Wahrheit des Geschriebenen mit seiner ‚Person‘ garantiert. Zuletzt hat Racha Kirakosian in der Christina-­von-­Hane-­Vita die Funktion einer solchen beglaubigenden Erzählerstimme nachgewiesen, die in den wechselnden Sprecherrollen des nahestehenden Ordensbruders, des schreibenden Berichterstatters und des Exegeten ein multiperspektivisches Erzählen entfalte, das die Augenzeugenschaft der Gnadengaben der Christina-­Figur aus verschiedenen Blickwinkeln inszeniere.152 Im Kempe-­Text hat der Schreiber als diegetische Figur nicht nur Anteil an der Buchentstehungsgeschichte, sondern erscheint auch in den als Beglaubigungsepisoden angelegten Kapiteln 24, 25, 62 und 75 und „avanciert über diese Profilierung zu der zentralen Nebenfigur des Textes“,153 wie weiter unten diskutiert werden soll. Sarah Salih bemerkt in Bezug auf die erzählerische Vermittlung des Kempe-­Textes mit dem plötzlichen für frauenmystische Texte so charakteristischen Perspektivwechsel: „As an autohagiography, or collaborative hagiography, her Book combines the first person perspective of women’s mystical writings and the third person perspective of male authored hagiography.“154 Salih setzt also, ähnlich wie die oben diskutierte Textschichtungsanalyse von Siegfried Ringler, die Ich-­Perspektive mit der Markierung einer authentischen, der 149 BMK, S. 214, 23 – 25. 150 Vgl. zum Unsagbarkeitstopos, Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur, S. 194. 151 BMK, S. 230, 20 – 23. 152 Vgl. Kirakosian: Die Vita der Christina von Hane, besonders S. 99 – 116. 153 Bürkle: Die ‚Gnadenvita‘ Christine Ebners, S. 504 f. 154 Sarah Salih: Margery’s Bodies. Piety, Work and Penance. In: A Companion to ‚The Book of Margery Kempe‘. Hrsg. von John H. Arnold und Katherine J. Lewis. Cambridge 2004, S. 167. Vgl. dagegen die frühere Untersuchung von Salih zur Virginität als religiösem Lebensentwurf, der in den Diskursen der mittelalterlichen Hagiographie und Theologie konstruiert werde. Unter einer genderanalytischen Perspektive und im Rückgriff auf die richtungsweisenden Forschungsbeiträge von Caroline Walker Bynum akzentuiert Salih Virginität als Lebensideal weiblicher Frömmigkeit und Spiritualität. Hier versucht sie noch genauer z­ wischen einer Autorinstanz ‚Kempe‘ und ‚Margery‘ als Textfigur zu differenzieren, S. 172: „Kempe as well as Margery is an effect of the text.“ Allerdings beschließt sie ihre perspektivreichen Überlegungen damit, dass sie wiederum in einem nicht markierten Ebenensprung Margery Kempe als Textproduzentin in Bishop’s Lynn auf der textexternen Ebene betrachtet. Vgl. Salih: Versions of Virginity, S. 172 – 174.

230 | Narration und Autorschaft © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Erzählung aus der dritten Person gewissermaßen vorausgehenden weiblichen ‚Erfahrung‘ gleich, während sie die Er-­Erzählung mit dem männlichen Hagiographen identifiziert. Im Kempe-­Text tritt allerdings gerade in den Ich-­Partien, wie die Textanalyse zeigen konnte, der dritte Schreiber als Erzählinstanz hervor und nicht die Protagonistin. Damit wird die von Salih angenommene Differenz z­ wischen einer vermeintlich authentisch-­weiblichen Ich-­Aussage und einer hagiographischen Er-­Erzählung in Bezug auf den Kempe-­Text entscheidend verkompliziert: Erst wenn man wie Lynn Staley annimmt, dass der Schreiber möglicherweise eine literarische Erfindung der Autorin ist, lässt sich die als männlich maskierte Ich-­Aussage einer Autorinneninstanz als einer Art Ich-­Rede zuschreiben. Das Maskenspiel mit der männlich gedachten Erzählerstimme lässt sich allerdings durch die geschickte literarische Inszenierung letztlich nicht auflösen. Zwar übt der erzählende Schreiber textintern eine gewisse Autorität über den Text aus, wie etwa die oben diskutierte Textpassage zur Auswahl des Exempels demonstriert. Allerdings ist sie jener im Text installierten, auf göttlicher Inspiration beruhenden Autorschaft der Margery-­Figur untergeordnet, die die eigentümliche narrative Strukturierung des Textes begründet: Thys boke is not wretyn in ordyr, euery thyng aftyr oþer as it wer don, but lych as þe mater cam to þe creatur in mend whan it schuld be wretyn, for it was so long er it was wretyn þat sche had for-­getyn þe tyme & þe ordyr whan thyngys befellyn.155

Der mit der Vergabe von göttlicher Autorisierung gleichzusetzende göttliche Schreibauftrag erscheint bereits implizit in der Formulierung whan it schuld be wretyn,156 die suggeriert, dass es einen von Gott festgelegten Zeitpunkt der Abfassung gibt. Daher lehnt die Margery-­ Figur auch zunächst die Angebote der von ihr aufgesuchten Kleriker ab, das Buch für sie zu schreiben.157 Es vergehen mehr als 20 Jahre, bis Gott den topischen Schreibbefehl erteilt: Aftyrward, whan it plesyd ower Lord, he comawnded hyr & chargyd hir þat sche xuld don wryten hyr felyngys & reuelacyons & þe forme of her leuyng þat hys goodnesse myth be knowyn to alle þe world.158

Gott übt dieser Aussage zufolge die alleinige Autorität über die Textentstehung aus und einzig der bis dahin in deutschen Landen lebende Engländer führt schließlich diesen Schreibauftrag aus und beginnt mit der Abfassung des Buches. Doch die Zusammenarbeit 155 BMK, S. 5, 12 – 18. 156 Ebd. 157 BMK, S. 3, 25 – 28: Sum proferyd hir to wrytyn hyr felyngys wyth her owen handys & sche wold not consentyn in no wey, for sche was comawndyd in hir sowle þat sche schuld not wretyn so soone. 158 Ebd., S. 3, 30 – 4, 2.

Schreibergeschichten | 231 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

­zwischen der Margery-­Figur und ­diesem Engländer währt nicht lange, da der übergeordnete Erzähler, der sich in den oben genannten Textpassagen als ‚Ich‘ des dritten Schreibers zu erkennen gibt, konstatiert: And sythen he deyd.159 Es bleibt zunächst unklar, wie viel der erste Schreiber tatsächlich von dem Text abgefasst hat. Denn im Text heißt es: tyl he had wretyn as mech as she wold tellyn hym for þe tyme þat þei wer to-­g ydder.160 Erst zum Abschluss des ersten Buches in Kapitel 89 löst der Erzähler ­dieses Rätsel in einem als Epilog angelegten Erzählerkommentar auf: Her endith þis tretys, for God toke hym to hys mercy þat wrot þe copy of þis boke, &, þow þat he wrot not clerly ne opynly to owr maner of spekyng [Hervorhebung d. Verf.], he in hys maner of wrytyng & spellyng mad trewe sentens þe whech, thorw þe help of God & of hir-­selfe þat had al þis tretys in felyng & werkyng, is trewly drawyn owt of þe copy in-­to þis lityl boke.161

Wie im Proömium wählt der Erzähler hier eine den narrativen Adressaten inkludierende Formulierung (owr maner of spekyng) und distanziert sich und die Leserschaft damit von der seltsamen Beschaffenheit des Buches. Trotz der Absonderlichkeiten des Buches bescheinigt er dem ersten Schreiber aber gleichzeitig, die Wahrheit in seiner ihm eigentümlichen Weise (hys maner of wrytyng & spellyng mad trewe sentens) aufgeschrieben zu haben. Äußerst relevant erweist sich an dieser Stelle, dass der Erzählerkommentar als Beleg der Authentizität und Legitimation im Rahmen der religiösen Wahrheitsbekundung des Buches fungiert. Der Erzähler bestätigt somit erneut die Authentizität des Textes als Offenbarungsschrift und präsentiert hier den ersten Schreiber als die den göttlichen Auftrag ausführende Instanz. Lynn Staley begreift daher die Schreiber als Autorisierungsinstanzen innerhalb des Textes, die den heiligen Ursprung und die Begnadung seiner Protagonistin wiederholt bestätigen.162 Die durch den ersten Schreiber bedingte eigentümliche Beschaffenheit des Buches spielt eine prominente Rolle in dem ersten Proömium: Nach dem Tod ihres so sonderbar schreibenden amanuensis wendet sich Margery an einen ihr vertrauten Priester (Schreiber 3), um ihm das Buch zur Fertigstellung zu übergeben. Da die übergeordnete Erzählinstanz den dritten Schreiber durchgängig als Priester bezeichnet, verweist sie damit gleichzeitig auf die geistliche Autorität ­dieses neuen Schreibers und entwirft durch die im weiteren Verlauf geschilderte Zusammenarbeit von Priester und mulier religiosa eine weitere Legitimationsstrategie. Besonderen Wert wird auf die Beschreibung der ‚Eigentümlichkeit‘ des Buches gelegt, das der Priester zunächst aufgrund seiner speziellen Beschaffenheit nicht lesen kann: 159 BMK, S. 4, 10 – 12. 160 Ebd. 161 BMK, S. 220, 18 – 24. 162 Vgl. Staley: The Trope of The Scribe and The Question of Literary Authority, S. 836 f.

232 | Narration und Autorschaft © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Þe booke was so euel wretyn þat he cowd lytyl skyll þeron, for it was neiþyr good Englysch ne Dewch, ne þe lettyr was not schapyn ne formyd as oþer letters ben.163

Das Buch präsentiert sich demnach als ein überaus seltsames Konglomerat, weder in gutem Deutsch noch Englisch und mit unbekannten, unleserlichen Buchstaben geschrieben. Aus seiner spezifischen Gestalt schließt der Priester, dass das Buch nur durch ein Wunder entziffert werden kann. Damit wird die Genese des Textes als Begnadungswunder inszeniert, indem der dritte Schreiber Anteil am Gnadenwerk der mulier religiosa durch die Abschrift des Buches erhält: he behyte hir þat if he cowd redyn it he wolde copyn it owt & wrytyn it betyr wyth good wylle.164 Nachdem der Priester jedoch von den üblen Gerüchten über ­Margery erfährt, zieht er sich zurück und spricht nur selten mit ihr, so dass die Abfassung des Buches eine weitere Verzögerung erfährt: & so he voyded & deferryd þe wrytyng of þis boke wel o­ n-­to a iiij ȝer or ellys mor […].165 Der Priester begründet seine Weigerung, als Schreiber des Buches zu fungieren, damit, dass er es nicht lesen könne, und rät Margery einen weiteren Mann aufzusuchen, der mit dem ersten ‚deutschen‘ Schreiber gut bekannt sei und sogar dessen Briefe aus Deutschland gelesen habe: Þan he cownseld hir to gon to a good man whech had ben mech conuersawnt wyth hym þat wrot fyrst þe booke, supposyng þat he schuld cun best rede þe booke, for he had sum-­tym red letters of þe oþer mannys wrytyng sent fro be-­ȝonden þe see whyl he was in Dewchland.166

An dieser Stelle beschreibt die Erzählinstanz den ersten Schreiber mit der eher umständlich klingenden Formulierung hym þat wrot fyrst þe booke, den nun neu eingeführten Schreiber 2 als good man und den schreibenden Priester mit dem Personalpronomen he. Doch auch dieser zweite von Margery für seine Dienste reich entlohnte Schreiber verfasst in etwa ein Blatt (a-­bowt a leef  ) und gibt dann seine Tätigkeit auf ( þe boke was so euel sett & so vnresonably ­ ieses zweiten Schreiwretyn)167. Auffällig ist, dass der Erzähler die Abfassungsaktivitäten d bers wie auch die des ersten Schreibers nur ungenau thematisiert, so dass der Eindruck einer überaus verrätselten Textgenese entsteht. Zudem führt der Erzähler diese äußerst komplexe, mit wechselnden Schreiberkonstellationen einhergehende Buchgenese relativ weit aus,168 so dass die Mystifizierung der Entstehungsumstände des Textes als programmatisches und 163 BMK, S. 4, 14 – 17. 164 BMK , S. 4, 19 – 20. Vgl. Dillon: Holy Women and Their Confessors or Confessors and Their Holy Women?, hier S. 120 f. 165 BMK, S. 4, 24 – 25. 166 BMK, S. 4, 29 – 34. 167 Vgl. BMK, S. 4, 39 – 40. 168 Janet Dillon bezieht sich auf Sarah Beckwiths Bemerkung, dass das Buch seine schwierige Genese ungewöhnlicherweise thematisiere, allerdings gehen beide nicht näher darauf ein, weshalb die Textentstehung

Schreibergeschichten | 233 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

intentionales Gestaltungselement erscheint. Verantwortlich dafür sind vermutlich weniger die von Sarah Beckwith angenommenen tatsächlichen Probleme weiblicher Autorschaft im Mittelalter.169 Es geht wohl eher um die literarische Stilisierung des Proömiums als Legitimationsdiskurs: Das den dritten Schreiber betreffende Begnadungswunder verweist auf den besonderen Status d ­ ieses Schreibers, der im Rahmen der Verschriftlichung selbst göttliche Gnaden empfängt. Wie oben erwähnt, deklariert die Formulierung whan he cam a-­geyn to hys booke, he myth se as wel 170 ihn als eine Art Mitautor und Augenzeugen. Da sich der Erzähler durch die oben diskutierten Ich-­Einschübe auf der Ebene des Erzählens als Schreiber zu erkennen gibt und auf diese Weise quasi über sich selbst in der dritten Person spricht, entsteht ein komplexes Erzählgefüge, das von einer persönlich konturierten, auktorial anmutenden Erzählerfigur ausgeht. Innerhalb der kollaborativen Bemühung dreier textinterner Schreiber beansprucht der als Figur profilierte dritte Schreiber durch das Gnadenwunder den größten Anteil an der Textentstehung. Dagegen erscheinen die beiden anderen Schreiber weniger als individuell akzentuierte Figuren, sondern in einer durch die hagiographische Tradition vorgegebenen Schreiberrolle,171 die eine bestimmte rhetorische Funktion im Text erfüllt. Besonders aufschlussreich in Bezug auf den dritten Schreiber sind die oben erwähnten Kapitel 24, 25, 62 und 75, die zu Schreibergeschichten stilisiert sind. In diesen Kapiteln tritt das in den Ich-­Aussagen punktuell entworfene Schreiber-­Ich in seiner Rolle als Erzähler jedoch wiederum ganz hinter die anonymisierte übergeordnete Erzählerstimme zurück. In ­diesem Kontext ist besonders Kapitel 24 relevant, in dem der schreibende Priester die Margery-­Figur einer Wahrheitsbefragung im Sinne der discretio spirituum-­Lehre  172 unterzieht.173 Zu Beginn des Kapitels vermittelt die Erzählerstimme in einem zusammenfassenden Erzählerbericht die vielen Fragen, die der Priester der Margery-­Figur stellt, um ihre prophetische Gabe einer Prüfung zu unterziehen.174 In dieser Erzählerkonfiguration lässt sich der Priester allerdings als eine Art Reflektorfigur bestimmen, da die kritische Befragung aus seiner Perspektive narrativiert ist: auf diese Weise im Buch gestaltet wird. Vgl. Dillon: Holy Women and Their Confessors or Confessors and Their Holy Women?, S. 115. 169 Vgl. Beckwith: A Very Material Mysticism. The Medieval Mysticism of Margery Kempe, S. 37. Beckwith sieht den Prolog als Ausdruck der prekären weiblichen Autorschaft innerhalb der spätmittelalterlichen Gesellschaft und insbesondere im Kontext der Laienfrömmigkeit. 170 BMK, S. 5, 27. 171 Vgl. dazu die Anmerkungen von Susanne Bürkle zum hagiographischen ‚Ich‘ in Bürkle: Die ‚Gnadenvita‘ Christine Ebners, S. 483 – 513. Vgl. Peters: Religiöse Erfahrung, S. 174 – 181 zur „Rollenfigur des geistigen Freundes“ im Gnadenleben der Adelheid Langmann. 172 Vgl. zur discretio spirituum Anm. 171 in Kapitel 2.2.2 „Der Kempe-­treatyse im Kontext der Mitüber­ lieferung“. 173 Vgl. BMK, S. 55, 6 – 15. 174 Vgl. BMK, S. 55, 7 – 14.

234 | Narration und Autorschaft © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

The prest whech wrot þis boke for to preuyn þis creaturys felyngys many tymes & dyuers tymes he askyd hir qwestyons & demawndys of thyngys þat wer for to komyn […].175

Denn die Erzählinstanz schildert die inneren Beweggründe des Priesters: and trewly ­wyth-­owtyn any feynyng tellyn hym how sche felt, & ellys wold he not gladlych a wretyn þe boke [Hervorhebung d. Verf.].176 Auch die Gefühle der Margery-­Figur werden erzählt, denn sie lässt die Befragung durch den Priester schließlich zu, da sie sonst das Ende ihres Buchprojektes fürchtet: And so þis creatur, sumdel for drede þat he wold ellys not a folwyd hir entent for to wryten þis boke, compellyd […].177 Die Erzählinstanz verfügt über die Innenschau der auftretenden Figuren und damit entsteht eine besonders anschauliche Präsentation des Geschehens und zugleich eine Art authentische Beglaubigung. Schließlich bestätigt die Prüfung des Priesters die Wahrheit der göttlichen Offenbarungen, womit der explizite Teil des Legitimationsdiskurses in Kapitel 24 abschließt: & þus he preuyd hem for very trewth. & ȝet he wold not alwey ȝeuyn credens to hir wordys, & þat hyndryd hym in þis maner þat folwyth.178 Obwohl der Priester hier zu einer Art ‚Experten‘ der kritischen Evaluation göttlicher Gnadenerfahrungen stilisiert wird, erscheint er gleichzeitig als menschlich-­fehlbare Gestalt, die der Margery-­Figur nicht immer unvoreingenommen Glauben schenkt, wie zwei Episoden beispielhaft verdeutlichen: Einerseits die kurze Geschichte, in der der Priester einem gutaussehenden jungen Priesteranwärter,179 der sich in einer prekären Lage befindet, gegen ausdrückliche Warnung Geld verleiht und daraufhin verliert, andererseits die Episode mit einem alten betrügerischen Buchverkäufer, bei der sich die göttliche Vorsehung der Margery-­Figur ebenfalls als wahr erweist. Alt und Jung werden hier exemplarisch in Opposition zueinander gestellt, um zu verdeutlichen, dass die begnadete Visionärin jeden Täuschungsversuch durchschaut. Die anonymisierte Erzählerstimme berichtet, dass der schreibende Priester dem jungen Mann aufgrund seines guten Aussehens und Auftretens Glauben schenkt und deshalb ein Bürgerpaar um Almosen bittet. Sein Plan wird allerdings von þe creatur of whom þis boke

175 BMK, S. 55, 6 – 7. 176 BMK, S. 55, 14 – 15. 177 BMK, S. 55, 16 – 17. 178 BMK, S. 55, 20 – 22. 179 BMK, S. 55, 23 – 56, 3: þer cam a ȝong man to þis prest […] compleynyng to þe preste of pouerte & disese whech he was fallyn in be infortunyte, expleyntyng þe cawse of infortunyte, seying also he [had] takyn holy orderys for to be a preste. For a lytil hastynes, hym-­self defendyng as he mygth not chesyn les þan he wold a be ded thorw pursute of hys enmys, he smet a man or ellys tweyn, wher-­thorw, as he seyde, wer ded or ellys leche to be ded. & so he was fallyn in-­to irregularite & mygth not executyn hys orderys with-­owtyn dispencacyon of þe Cowrt of Rome, & for þis cawse he fled fro hys frendys […]. Diese in erzählter Rede wiedergegebene Passage beschreibt das Vergehen des jungen Mannes aus dessen Perspektive und präsentiert so einen authentisch wirkenden Bericht.

Schreibergeschichten | 235 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

is wretyn 180 durchkreuzt, die dem Ehepaar aufgrund ihrer göttlich geschärften Intuition dringend davon abrät, Geld für den attraktiven Priesterkandidaten zu spenden. Als die Margery-­Figur bei dem Ehepaar interveniert, reagiert der Priester erbost: At þat tyme þe preste was euyl plesyd wyth þys creatur, & whan he mett wyth hir a-­lone, he rehersyd how sche had lettyd hym þat he mygth non almes getyn for þe ȝong man whech was wel dysposyd as him thowt & commendyd mech hys gouernawns.181

Es ist von narratologischem Interesse, dass die aufgebrachten Gefühle des Priesters hier ebenfalls als erzählte Rede wiedergegeben werden, gleich darauf allerdings Margerys warnende Replik in direkter Rede erscheint.182 Die Verteilung der Redeanteile bedingt, dass die Margery-­Figur durch die ihr zugeschriebene direkte Rede als Protagonistin erscheint, die das Wort führt, während der Priester auch in der zweiten exemplarischen Episode wiederum zunächst nur in erzählter Rede zu Wort kommt: Þe preste went to þe forseyd creatur, preyng hir to preye for hym & wetyn whedyr God wolde he xulde by þe boke er not […].183 Margery antwortet erneut mit einer durch ein verbum dicendi eingeleiteten direkten Rede: „Syr“, sche seyth, „byith no boke of hym, for he is not to trustyn vp-­on, & þat xal ȝe wel knowyn ȝyf ȝe medyl wyth hym.“184 Obwohl die Erzählinstanz die Margery-­Figur in den oben zitierten Textpassagen als þys creatur bzw. þe creatur of whom þis boke is wretyn apostrophiert, entsteht durch den Einsatz der direkten Rede das Gefühl, die Stimme der Margery-­Figur direkt und unvermittelt im Text vernehmen zu können. Die Inquitformel markiert allerdings zugleich die Vermittlung dieser Rede durch die den Text organisierende, scheinbar ‚unsichtbare‘ Erzählinstanz. Auf diese Weise entsteht der Eindruck einer erzählerisch vermittelten Unmittelbarkeit, die erzähltechnisch betrachtet von der den Text organisierenden Erzählinstanz ausgeht. Erst zum Abschluss der k­ urzen Geschichte erhält auch der Priester das Wort, indem er sich direkt an den älteren Buchverkäufer wendet: „Fadyr“, seyde þe preste be-­cawse of reuerens, „why profyr ȝe me þis boke raþar þan oþer men or oþer prestys […] richare prestys in þis cherch þan I am, & I wel wot ȝe had neuyr no knowlach of me ­be-­fore þis tyme?“185

An dieser Stelle macht sich wieder die anonyme Erzählerstimme durch das verbum dicendi und die Kommentierung der Anrede bemerkbar, die die Erzählerstimme von der Figur 180 BMK, S. 56, 15. 181 BMK, S. 56, 27 – 32. 182 Vgl. BMK, S. 56, 32 – 38. 183 BMK, S. 57, 25 – 27. 184 BMK, S. 57, 29 – 32. 185 BMK, S. 57, 37 – 58, 3.

236 | Narration und Autorschaft © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

des Priesters differenziert. Der schreibende Priester kann hier jedenfalls nicht ohne Weiteres als Erzähler bestimmt werden.186 Der betrügerische Händler antwortet ebenfalls in direkter Rede und es entspinnt sich ein kurzer Dialog z­ wischen den beiden Figuren. Erst in ­diesem Dialog gewinnt die Figur des Priesters persönliche Konturen, da hier explizit die erste Person Singular in der direkten Rede eingesetzt wird, insbesondere in Bezug auf ­Penteney Abbey,187 die der Schwindler nennt und die der Priester nach eigener Aussage selbst besucht hat: „Þer haue I ben,“ seyd þe preste, „& I haue not sey ȝow.“188 Die Nennung der augustinischen Priorei Penteney Abbey evoziert eine Art Realeffekt, der eine tatsächliche Verortbarkeit des Geschehens und damit wieder einen Effekt der Authentizität suggeriert. Nach dieser Äußerung dominiert im Folgenden wiederum die erzählte Rede, der Priester bittet den Verkäufer, ihm doch das unbenannt bleibende Buch (a good lytyl boke, þe boke)189 einmal zu zeigen. Schließlich verspricht der betrügerische Händler, ihm tatsächlich das Buch bei seinem nächsten Besuch vorzulegen; er wird jedoch niemals zurückkehren. Der letzte Satz nimmt erneut Bezug auf den Legitimationsdiskurs: þan þe preste knew wel þat þe forseyd creaturys felyng was trewe.190 Dadurch dass der Priester in dieser Episode als eine vollkommen auf Margerys göttliche Sendung vertrauende Person präsentiert wird, seine kritischen Fragen als auch sein Ärger in Bezug auf ihre Empfehlungen in aller Ausführlichkeit erzählt werden, erhält nicht nur die Protagonistin, sondern auch ihr Text in gewisser Weise seine Bestätigung. Denn die in Kapitel 24 dargestellte Episode lässt sich als eine Art Wahrheitsbefragung fassen, der die Verfasserin und ihr Buch standhalten. Kapitel 25 präsentiert nun beispielhaft Margerys Konsultierung durch den Priester in einer schwierigen Sachlage, die ebenfalls durch die Anonymisierung des Orts und der beteiligten Personen ins Exemplarische gewendet ist: Einige reiche Bürger möchten zwei Kapellen der Gemeindekirche gleichstellen, um auch dort das Sakrament der Taufe empfangen zu können. Im Verlauf d ­ ieses Prozesses bilden sich jedoch zwei oppositionelle Lager, mit den die neue Ausstattung der Kapellen befürwortenden reichen Kaufleuten auf der einen und dem benediktinischen Prior, dem die ­Kirche untersteht, auf der anderen Seite, der 186 Vgl. Staley: The Trope of The Scribe and The Question of Literary Authority, S. 820 – 838. Staley unternimmt bei ihrer Bestimmung des Schreibers als Erzähler gerade nicht eine ­solche Differenzierung ­zwischen den Passagen, in denen Erzähler und Schreiber übereinstimmen und den Textanteilen, in denen eine anonyme von der Figurenperspektive des schreibenden Priesters unterscheidbare Erzählerstimme dominiert. Dabei überwiegen diese Passagen deutlich, wie die weitere Textanalyse zeigen wird. 187 Hope Emily Allen identifiziert Penteney Abbey als augustinische Priorei in Norfolk, allerdings ohne eine Quelle anzugeben. Vgl. BMK, S. 283. Vgl. David Knowles/R. Neville Hadcock: Medieval R ­ eligious Houses. London 1971, S. 170. 188 BMK, S. 58, 12 – 13. 189 BMK, S. 57, 24. 190 BMK, S. 58, 23 – 24.

Schreibergeschichten | 237 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

die Stellung der alten Pfarrkirche verteidigend sich strikt gegen die neuen Pläne stellt.191 In dieser Situation wendet sich der Priester an die Margery-­Figur und bittet sie um Rat: Than þe preste whech aftyrward wrot þis boke [Hervorhebung d. Verf.] went to þe creatur of whom þis tretys makyth mencyon, as he had don be-­forn in þe tyme of ple, & askyd hir how sche felt in hir sowle in þis mater wheþyr þei xuld haue a funte in þe chapel or nowt.192

Auch hier lässt sich ein ganz ähnliches Erzählverfahren beobachten, was die Verteilung der Redeanteile betrifft: Wie im vorangegangen Kapitel 24 sind die Worte des Priesters als erzählte Rede wiedergegeben, während die Replik der Protagonistin in direkter Rede erscheint. Auf diese Weise suggeriert der Text dem Leser, Margerys ‚eigene‘ Worte unmittelbar zu vernehmen.193 Die markierte Textpassage zeigt die eher umständliche, bereits in Kapitel 24 gebrauchte Formulierung þe prest whech wrot þis boke, die den Priester immer in den als Beglaubigungsgeschichten angelegten Episoden als Buchschreiber ausweist, damit explizit auf die Tätigkeit seines Schreibens referiert und ihm Autorität – zum einen als Priester,194 zum anderen als Sekretär der mulier religiosa – zuschreibt. Besonders im Hinblick auf die Erzählhaltung zeigt sich allerdings eine signifikante Differenz zu Kapitel 24, denn in Kapitel 25 kann der Schreiber als Erzählerstimme aus dem Erzählkontext dechiffriert werden: Der plötzliche Gebrauch des Personalpronomens in dem auf den Konflikt z­ wischen Gemeinde und Pfarrer referierenden Satz verweist bereits auf einen bis dahin anonym bleibenden Ich-­Erzähler: Þan was þe mater put in my Lord of Norwych Alnewyk 195 [Hervorhebung d. Verf.] to say if he mygth be trety bryng it to an ende.196 191 BMK, S. 58 f. 192 BMK, S. 59, 31 – 32. 193 Vgl. BMK, S. 59, 36 – 38: „Syr“, seyd þe creatur, „drede ȝe not, for I vndyrstond in my sowle, þow þei woldyn ȝeve a buschel of nobelys, þei xuld not haue it.“ Auch hier ist die direkte Rede durch ein verbum dicendi eingeleitet, welches das Vorhandensein der Erzählinstanz indiziert. 194 Zu der auf einem konsekrierten Priester ruhenden Autorität als Stellvertreter Gottes auf Erden und der damit einhergehenden Kontrolle über die Vergabe der Eucharistie vgl. Caroline Walker Bynum: Jesus as Mother. Studies in the Spirituality of the High Middle Ages. Berkeley, London, Los Angeles 1982, S. 9 – 21. 195 Meech hält fest, dass William Alnwick in einer päpstlichen Bulle zum Bischof von Norwich ernannt und am 18. August 1426 zum Bischof konsekriert wurde und zu einem späteren Zeitpunkt, im Jahre 1436, den Bischofssitz von Lincoln übernahm, vgl. BMK , S. 284, Notes 59/23. Bischof Alnwick bekleidete nicht nur das Amt des Beichtvaters Heinrich VI ., sondern führte ­zwischen September 1428 und März 1431 den Vorsitz der Lollardenprozesse in der Diözese Norwich. Vgl. den Eintrag im Oxford Dictionary of National Biography von Rosemary Hayes: William Alnwick (d. 1449). In: Oxford Dictionary of National Biography. Online-­Edition 2008. http://www.oxforddnb.com/view/article/421 [18. 08. 2018]. 196 BMK, S. 59, 22 – 23.

238 | Narration und Autorschaft © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Dass sich ­dieses ‚Ich‘ auf den Schreiber bezieht, kann erst aus der folgenden wörtlichen Rede geschlossen werden: „A modyr,“ seyd þe preste, „my Lord of Norwych hath proferyd it hem wyth certeyn condycyons, & þei haue a tyme of avysement for to sey nay or ȝa wheþyr þei wyl, and þerfor I am a-­ferd þei wyl not deny it but be ryt glad to haue it.“197

Die Bezeichnung my Lord of Norwych setzt zwar den Schreiber-­Priester in direkte Beziehung mit dem Bischof, allerdings lässt sich die Art der Verbindung durch die Anrede nicht näher bestimmen. Dies passt zu der gesamten Gestaltung des Kapitels, in der sowohl der Schreiber, die Margery-­Figur, aber auch die Stadt, in der sich die Episode zuträgt, anonym bleiben. Die Erzählerinstanz legt an dieser Stelle keinen Wert auf eine Identifikation, die jedoch in anderen Textpassagen – man denke etwa an Kapitel 45, Kapitel 46 oder liber II , Kapitel 9 – gerade dezidiert eingesetzt wird: In den die Lollarden­anklage thematisierenden Kapiteln als auch in liber II , Kapitel 9 lässt sich die Identifikation als eine Art Authentisierungsstrategie und als Orthodoxieausweis der Protagonistin beschreiben, während in den Schreiber-­Kapiteln Anonymität vorherrscht und damit den exem­ plarischen Charakter des Gnadengeschehens bzw. der Textentstehung herausstellt. Somit ergibt sich ein bedeutsames Wechselspiel ­zwischen Offenlegung und Mystifizierung des erzählten Geschehens und seiner personalen Konkretisationen, eine Art Balance­ akt z­ wischen Exemplarität und persönlicher Konkretisierung der Margery-­Figur, die das Gnadengeschehen Gottes durch ihr literarisches Leben versinnbildlicht und gleichzeitig als exemplarische mulier sancta im Rahmen einer bestimmten programmatischen Heiligkeitsvorstellung fungiert. Der Abschluss des 25. Kapitels installiert die Margery-­Figur jedenfalls erneut als eine Art exemplarische ‚Heilige‘, denn durch ihre göttliche Fürsprache verhindert sie die Umsetzung der Kapellenerweiterung: And so, blyssyd mot God ben, þe parysch cherch stod stylle in her worshep & hyr degre as sche had don ij hundryd ȝer befor & mor, and þe inspiracyon of owyr Lord was be experiens preuyd for very sothfast & sekyr in þe forseyd creatur.198

Im Kampf des armen Benediktinermönches gegen die reiche, auf das Recht und die weltliche Macht vertrauende Bürgerschaft erweist sich die Margery-­Figur als eine Instanz, die das Recht der alten K ­ irche bewahrt und für Rechtgläubigkeit wie Tradition einsteht. Dieses Schlusswort verweist wieder auf den exemplarischen Grundton des Textes und 197 BMK, S. 59 f. 198 BMK, S. 60, 13 – 17.

Schreibergeschichten | 239 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

die Legitimationsstrategie, die mit dem Auftreten des Schreibers in den Kapiteln verbunden ist. Doch was erfahren die Rezipienten über den Schreiber? Kapitel 62 schildert eine weitere den Schreiber involvierende Beglaubigungsepisode, die thematisch auf das die Margery-­Figur autorisierende Buchwissen des Schreibers ausgerichtet ist: Nachdem der schreibende Priester am Saint James Day in der Saint James Chapel in Lynn eine Predigt gehört hat, die sich explizit gegen Margery richtet, wendet er sich wie die anderen Zuhörer von ihr ab: And þan many of hem þat pretendyd hir frenschep turnyd a-­bakke for a lytyl veyn drede þat þei haddyn of hys wordys & durst not wel spekyn wyth hir, of þe whech þe same preyste was on þat aftirward wrot þis boke & was in purpose neuyr to a leuyd hir felyngys aftyr.199

Explizit nennt die Erzählinstanz hier Zeit und Ort und erweist damit die historische Faktizität des sich scheinbar tatsächlich so zugetragenen ‚Falles‘ der hier anonymisierten Margery-­ Figur.200 Erst die Lektüre der Vita der berühmten brabantischen Mystikerin Marie von Oignies 201 bestärkt den Schreiber darin, der Margery-­Figur erneut Glauben zu schenken. In einer Art summarischen Zusammenfassung präsentiert der übergeordnete, auktorial anmutende Erzähler den für die Beglaubigung des Kempe-­Textes relevanten Inhalt der Vita der Marie von Oignies: for aftyrward he red of a woman clepyd Maria de Oegnies & of hir maner of leuyng, of þe wondirful swetnesse þat sche had in þe word of God heryng, of þe wondirful compassyon þat sche had in hys P ­ assyon thynkyng, & of þe plentyuows teerys þat sche wept, þe whech made hir so febyl & so weyke þat sche myth not endur to beheldyn þe Crosse, ne heryn owr Lordys Passyon rehersyd, so sche was resoluyd in-­to terys of pyte & compassyon.202

199 BMK, Kapitel 62, S. 152, 29 – 34. 200 Vgl. BMK, S. 152, 17 – 19: Neuyr-­þe-­lesse as þis day he prechyd meche a-­geyn þe seyd creatur, not expressyn hir name, but so he expleytyd hys conseytys þat men vndirstod wel þat he ment hir. 201 Vgl. die neuere Übersetzung: Das Leben der Maria von Oignies. Hrsg. von Iris Geyer. Brepols 2014. Ursula Peters hat die Thematik eines Rollentauschs religiöser Autorität im Hinblick auf das Figurenpaar Jakob von Vitry und Marie von Oignies, wie es in der lateinischen Vita zur Darstellung gelangt, herausgearbeitet: Der gelehrte Theologe verschreibe sein Leben zunehmend der ungelehrten, aber von Gott begnadeten mulier sancta. Die Vita präsentiere die Figur der gottinspirierten Visionärin als eine Art Prototyp einer neuen, mit Weiblichkeit konnotierten Heiligkeit, für deren Entfaltung die Thematik der Zusammenarbeit mit ihrem Beichtvater konstitutiv erscheine. Vgl. Peters: Religiöse Erfahrung, S. 111 – 114. Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 26. 202 BMK, S. 152, 37 – 153, 8.

240 | Narration und Autorschaft © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Selbst ein längeres Zitat und die Kapitelangaben zu den entsprechenden Textpartien der Vita, die über die heiligen Tränen der Marie berichten, verzeichnet der Erzähler:203 Of þe plentyuows grace of hir teerys he tretyth specyaly in þe boke beforn wretyn þe xviij capitulo þat begynnyth, „Bonus es, domine, sperantibus in te,“ and also in þe xix capitulo wher he tellyth how sche, at þe request of a preyste þat he xulde not be turbelyd ne distrawt in hys Messe wyth hir wepyng & hir sobbyng, went owt at þe chirche-­dor, wyth a lowde voys crying þat sche myth not ­restreyn hir þerfro.204

Der Erzählerdiskurs eröffnet hier die Ebene des ‚Expertenwissens‘, die es dem schreibenden Priester ermöglicht, wieder Vertrauen in die Echtheit der Begnadung der Margery-­Figur zu fassen. Denn eine Episode des Vitenberichts der Marie von Oignies schildert, wie die mulier sancta die Messfeier des Priesters durch ihre göttlich induzierten Gnadenrufe unterbricht und wie dieser Priester schließlich am eigenen Leib die machtvolle Gnadengabe der göttlichen Tränen erfährt, während er in der Messe das Evangelium lesen soll: Þan knew he wel þat God ȝaf hys grace to whom he wolde.205 Zusammenfassend konstatiert der Erzähler, dass der Priester jener Frau (þe good woman)206 trotz seiner vorherigen Ablehnung nun sehr zugetan und von ihrer Begnadung überzeugt sei. Dadurch dass der Erzähler in d ­ iesem ­kurzen Einschub die unbestimmten Bezeichnungen preyste und þe good woman für Marie und ihren Beichtvater verwendet, entsteht der Eindruck, dass es sich in der erzählten Episode der Beglaubigungsproblematik gewissermaßen auch um die Margery-­Figur und ihren Priester handeln könnte.207 Denn tatsächlich beglaubigt der Marie von Oignies-­Text sowohl das Verhalten der Margery-­Figur als auch ihre Geschichte bis in konkrete Details. In der Marien-­Vita wird die obengenannte Episode der Osterzeit von einem auktorialen Erzähler berichtet, der stellenweise als hagiographisches Ich stilisiert ist.208 Der Vergleich zeigt, dass 203 Vgl. Genette: Die Erzählung, S. 148 f. zum Begriff „metadiegetisch“, der die erzählte Welt einer Erzählung „zweiter Stufe“ bezeichnet, d. h. die erzählte Welt einer Erzählung in der Erzählung. 204 BMK, S. 153, 8 – 16. 205 BMK, S. 153, 12 – 27. 206 BMK, S. 153, 23. 207 Vgl. BMK, S. 153, 22 – 26: Þan he leuyd wel þat þe good woman, whech he had be-­forn lityl affeccyon to, myth not restreyn hir wepyng, hir sobbyng, ne hir cryyng, whech felt meche mor plente of grace þan euyr dede he wyth-­owtyn any comparison. 208 Vgl. AS, Band IV 23. Juni, S. 640 f., [Col. 0640E–Col. 0641A]: Quadam autem die ante Parasceven, cum jam imminente Christi passione majori lacrymarum imbre, cum suspiriis & singultibus, [admonita a S­ acerdote ut eas cohiberet], se cum Domino mactare inchoasset; quidam de Sacerdotibus ecclesiæ eam ut oraret cum silentio, & lacrymas cohiberet, quasi blande increpando hortabatur. Illa vero sicut verecunda semper erat, & omnibus columbina simplicitate obedire satagebat; impossibilitas suæ conscia, egressa clam ab ecclesia, in loco secreto & ab omnibus remoto se abscondit, impetravitque a Domino cum lacrymis, ut prædicto Sacerdoti ostenderet, quia non est in homine lacrymarum impetum retinere, quando flante spiritu vehementi fluunt aquæ. Cum igitur Sacerdos

Schreibergeschichten | 241 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

der Kempe-­Text hier ganz dem inhaltlichen und erzählerischen Schema folgt, das durch die Vita der Marie von Oignies vorgegeben ist und bis in Einzelheiten reflektiert wird.209 Auch diese Beglaubigungsepisode wird von der Erzählinstanz durch Einschübe zu einer Art Schreibergeschichte stilisiert: Than þe preste whech wrot þis tretys thorw steryng of a worshepful clerk, a bacheler of diuinite, had seyn & red þe mater beforn-­wretyn meche mor seryowslech & expressiowslech þan it is wretyn in þis tretys (for her is but a lityl of þe effect þerof, for he had not ryth cler mende of þe sayd mater whan he wrot þis tretys, & þerfor he wrot þe lesse þerof ) þan he drow a-­geyn & inclined mor sadly to þe sayd creatur, whom he had fled & enchewyd thorw þe frerys prechyng, as is be-­forn-­wretyn.210

Die Erzählstimme verdeutlicht, dass der Priester während der Verschriftlichung des Kempe-­ Textes kein klares Verständnis der ‚Sache‘ gehabt und deshalb nur einen kleinen Teil davon aufgezeichnet habe. Nur aus dem Kontext lässt sich, wenn auch nicht ganz eindeutig, schließen, dass es sich bei dieser Sache (mater) offenbar um die Tränengabe handelt, von der das Kapitel vorrangig berichtet. In einem für das Buch so typischen Erzählverfahren hebt die Erzähl­instanz den Schriftcharakter des Buches durch Verweise wie þe mater ­beforn-­wretyn und as is be-­forn-­wretyn hervor, die jedoch in ihrer Aussage ambig sind und keine eindeutige Referenz auf explizit Vorangegangenes beanspruchen können. Wichtig erscheint hier die Hervorhebung der Tätigkeit des Schreibens, der Buchentstehung, nicht jedoch eine eindeutige Verortbarkeit in Bezug zum Vorangegangenen, so dass diese Episode eher als in sich geschlossen erscheint. ille die eodem Missam celebraret, aperuit Dominus, & non fuit clauderet; emisit aquas, & ­subverterunt terram. Tanto enim lacrymarum diluvio submersus est spiritus ejus, [easdem ipsi quoque impetrat.] quod fere suffocatus est: quantoque reprimere impetum conabatur, tanto magis lacrymarum imbre, non solum ipse, sed & liber & altaris linteamina rigabantur. Quid ageret ille improvidus? ille ancillæ Christi increpator? per experientiam cum rubore didicit, quod prius per humilitatem & compassionem cognoscere non voluit. Post singultus multos, multa inordinate & cum interruptione pronuntians, a naufragio tandem vix evasit; & qui vidit & cognovit, testimonium perhibuit. Tunc vero longo tempore post Missæ completionem, ancilla Christi revertens, miro modo acsi præsens adfuisset, quæcumque acciderunt Sacerdoti improperando retulit: Nunc, inquit, per experientiam didicisti, quod non est in homine impetum spiritus Austro flante retinere. 209 Dies zeigt sich etwa auch in der Thematik der Keuschheit, bzw. der keuschen Ehe, die in der Marien-­ Vita ausführlich thematisiert wird und gewissermaßen als eine Art Ausgangspunkt für die conversio des Ehemannes mit Namen Johannes fungiert, der sein Leben dem Beispiel der Marie folgend ebenfalls nach den christlichen Werten der Armut und caritas ausrichtet. Vgl. dazu AS, 23. Juni, S. 640, Col. 0640A – Col. 640C. Vgl. die Verhandlung der Keuschheitsthematik im Kempe-­Text, Kapitel 11, S. 23 f. Dass sich die Margery-­Figur den Leprosen als eine Form der imitatio Christi zuwendet, offenbart eine weitere Parallele zum Marie-­von-­Oignies-­Text. Vgl. dazu BMK, Kapitel 74, S. 176 f. Für Marie von Oignies vgl. AS, 23. Juni, S. 640, Col. 640 C: Domino penitus abjicientes, leprosis quibusdam juxta Nivellam, in loco qui dicitur Williambroc, pro Domino aliquanto tempore servierunt. 210 BMK, S. 153, 28 – 37.

242 | Narration und Autorschaft © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Die Kombination von anonymer Erzählerstimme und intradiegetischer Priesterfigur evoziert eine Autorisierung des Textes im Sinne einer göttlichen Offenbarungsschrift und betont explizit die göttliche Sendung der Margery-­Figur. Die sich durch die Formulierung aftyr-­wardin kenntlich machende Erzählerstimme führt diese hier angelegte doppelte Legitimationsstrategie in einem Erzählerbericht fort, der weitere autoritative Erbauungstexte anführt und mit Zitaten durchsetzt ist: Also þe same preyste red aftyr-­ward in a tretys whech is clepyd Þe Prykke of Lofe, þe ij chapitulo þat Bone-­auentur wrot of hym-­selfe þes wordys folwyng, „A, Lord, what xal I mor noysen er cryen? Þu ­lettyst & þu comyst not, & I, wery and ouyrcome thorw desyr, begynne for to maddyn, for lofe g­ ouernyth me & not reson. […] I bowe, Lord, þei þat se me irkyn and rewyn, not knowyng me drunkyn wyth þi lofe. Lord, þei seyn ‚Lo, ȝen wood man cryeth in þe stretys‘, but how meche is þe desyr of myn hert þei parceyue not.“211

Hier wird die reich überlieferte und für ihre Passionsbetrachtungen bekannte Erbauungslehre „Prykke of Lofe“212 zur Bestätigung der Rechtgläubigkeit der Margery-­Figur exemplarisch herangezogen. Denn ein Ich-­Erzähler thematisiert, wie seine Tränen und sein Verhalten von der Außenwelt missverstanden werden. Zum anderen enthüllt er sein ungestilltes Liebesverlangen als Grund seines Verhaltens, das wiederum mit der oben diskutierten languor-­Konzeption des Kartäuserautors Richard Methley aus Mount Grace korrespondiert, den die rubrizierten Marginaleinträge in der Kempe-­Handschrift als mystisch begnadeten Mönch ausweisen. Wie Eisermann ausführt, werde ­dieses Zitat durch die Formulierung þat Bone-­auentur wrot of hym-­selfe als autobiographisch stilisierter Traktat ausgewiesen und erhalte einen „quasi-­dokumentarischen, im Kontext geradezu juristischen 211 BMK, S. 153, 37 – 154, 9. 212 Es handelt sich hierbei um die mittelenglische Bezeichnung für den pseudo-­bonaventurischen „Stimulus Amoris“-Text. Vgl. die Textausgabe: The Prickynge of Love. Hrsg. von Harold Kane. Salzburg 1983 (Salzburg Studies in English Literature 92, 10), hier S. 20: But were-­to shal I crie more thus? Thou taries & comes nought, and I as man wery in yernynge bygynne for to fonne. For loue sterith me & no reson, and I renne with gret birre wyder-­so my loue heldeth. And thei that seen me scornen me, for thei knowen not that I am made as I were dronken for longynge in loue. Thei sayn thus: Wy crieth this wode man thus in the ­stretis? But thei taken non hede how that desire of Jhesu brenneth in my herte. Vgl. Falk Eisermann: Stimulus Amoris. Inhalt, lateinische Überlieferung, deutsche Übersetzung, Rezeption. Tübingen 2001 (Münchener Texte und Untersuchung zur deutschen Literatur des Mittelalters Band 118), S. 524 zum obigen Zitat im Vergleich mit dem Kempe-­Text. Eisermann hat die lateinische Überlieferung, die Handschriftenbestände und die Übertragungen in die Volkssprache umfassend untersucht. Vgl. S. 270 – 287 zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Fassungen St.a maior I und St. a. minor innerhalb des Kartäuserordens. Die Kartäuser ließen sich als Hauptrezipienten bestimmen, die ein besonderes Interesse an dem „dreistufigen Aufstiegsschema“ (S. 282) von lectio, meditatio, contemplatio als Kontemplationslehre demonstrierten. Die im Kempe-­Text präsentierte „Gebrauchssituation“ der Lektüre des Stimulus Amoris (vgl. BMK, S. 39, 16 – 26) betrachtet Eisermann als „mystologischen Lektüre- und Verwendungszusammenhang“ (S. 522 – 523), der auf die „Gottbegegnung vorbereiten“ solle.

Schreibergeschichten | 243 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Aussagewert“.213 Diese Passage verifiziert also nicht nur die Begnadung der Margery Kempe, sondern bindet den Text gleichzeitig konzeptionell in den überlieferungs- und funktionsgeschichtlichen Zusammenhang der von den Kartäusern gesammelten und produzierten mystischen Erbauungsliteratur ein. Ein weiteres Argument für diese Sichtweise bietet die Angabe, dass der Priester auch das oben diskutierte „Incendium Amoris“ des berühmten Autors Richard Rolle konsultiert habe.214 Denn die oben diskutierten kartäusischen Richard-­Rolle-­Handschriften und die Autorbilder in der Sammelhandschrift Add MS 37049 legen Bemühungen um eine autorzentrierte Überlieferung nahe. Aus dem Prolog des „Incendium Amoris“ geht hervor, dass es sich an ‚Ungelehrte‘ richtet, die sich durch ihr Liebesverlangen besonders auszeichnen.215 Die Margery-­Figur personifiziert gewissermaßen diese in der Liebe zu Gott entbrannten und sich den Erniedrigungen freudig annehmenden rudibus et indoctis und exemplifiziert durch ihr ‚Leben‘ auch die Lehre des „Incendium Amoris“, wie der Erzähler durch seine Kommentierung dieser Episode zeigt: Thus was sche slanderyd, etyn, & knawyn of þe pepil for þe grace þat God wrowt in hir of contricyon, of deuocyon, & of compassyon, thorw þe ȝyft of whech gracys sche wept, sobbyd, & cryid ful sor a-­geyn hir wyl […].216

Abschließend zieht der Erzähler einen Lebensbericht über die Heilige Elisabeth von Thüringen 217 heran, die exemplarisch die Tränengabe verifizieren kann: Also, Eliȝabeth of Hungry cryed wyth lowde voys, as is wretyn in hir tretys.218 Die in der Elisabeth-­Vita und 213 Eisermann: Stimulus Amoris, S. 525. 214 Vgl. BMK, S. 154, 11 – 13: He red also Richard Hampol, hermyte, in Incendio leche mater þat meuyd hym to ȝeuyn credens to þe said creatur. 215 Vgl. Incendium Amoris, S. 147: Istum ergo librum offero intuendum, non philosophis, non mundi sapientibus, non magnis theologicis infinitis quescionibus implicatis, sed rudibus et indoctis, magis Deum diligere quam multa scire conantibus. Non enim disputando sed agendo scietur, et amando. Arbitror autem ea que hic continentur ab istis questionariis et in omni sciencia summis, sed in amore Christi inferioribus, non posse intellegi. Unde nec eis scribere decreui, nisi postpositis et oblitis cunctis que ad mundum pertinent, solis Conditoris desideriis inardescant mancipari […]. Quo enim scienciores sunt, eo de iure apciores sint ad amandum, si se uere spernerent et ab aliis sperni gauderent. Proinde quia hic uniuersos excito ad amorem, amorisque superferuidum ac supernaturalem affectum utrumque ostendere conabor, iscius libri titulus Incendium Amoris sorciatur. 216 BMK, S. 154. 217 Vgl. zu Elisabeth von Thüringen: Quellenstudien zur Geschichte der Heiligen Elisabeth Landgräfin von Thüringen. Von Albert Huykens. Marburg 1908. Elisabeth von Thüringen. Herausgegeben und eingeleitet von Walter Nigg. Düsseldorf 1963. Für die mittelenglische Fassung vgl. The Two Middle English Translations of the Revelations of St. Elizabeth of Hungary. Hrsg. von Sarah McNamer. Heidel­ berg 1996 (Middle English Texts 28). Sarah McNamer legt in ihrer Edition dar, dass der Text auch in Drucken durch Wynkyn de Worde Verbreitung fand. 218 BMK, S. 154, 13 – 14.

244 | Narration und Autorschaft © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

­ egendenliteratur entfaltete Rollenfiguration einer verheirateten, hochangesehenen KönigsL tochter, die sich von weltlichem Ansehen abkehrt und ihr Leben der christlichen caritas verpflichtet, kann die conversio der Margery-­Figur von einer wohlhabenden Kaufmannsfrau zu einer von Gott auserwählten mulier religiosa bestätigen. Wenn man die Ebene der handschriftlichen Überlieferung betrachtet, liegen mit der Vita der Marie von Oignies und den Erbauungstraktaten „Incendium Amoris“ und „Pricke of Love“ Texte vor, die zwar auch für ein gebildetes Laienpublikum und ordensübergreifend große Popularität beanspruchen konnten, aber auch besonders von den englischsprachigen Kartäusern rezipiert worden sind, wie erhaltene Handschriften belegen.219 Daher ist es vielleicht nicht zufällig, dass der Annotator die im Text genannten Bücher durch kastenförmig gerahmte Marginaleinträge in dunkelroter Tinte hervorhebt: So platziert er auf fol. 74v, 5 – 8 im linken Außenrand Maria de oegines /liber/, auf fol. 75r, 5 – 7 pryk of loue im rechten Außenrand und unterstreicht Richard h­ ampol hermyte in Incendio Amoris im Textfeld auf fol. 75r, 16 – 17. Diese Randeinträge lassen vermuten, dass ihm die benannten Texte bekannt gewesen sein dürften, zumindest aber indizieren sie, dass sie für ihn im Rahmen der Lektüre der Kempe-­ Vita eine Bedeutung besessen haben. Dass der textintern präsentierte Legitimations- und Autorisierungsdiskurs, der über die Thematik des Buch- und Expertenwissens vermittelt wird, auf der Ebene der Rezeption seine Wirkung entfaltet hat, belegen zumindest die oben diskutierten Randnotizen zu den beiden prominenten mystischen Kartäuserautoren Richard Methley und John Norton aus Mount Grace:220 Denn die Einträge eröffnen eine Analogie ­zwischen der körperzentrierten Frömmigkeitspraxis der beiden Kartäusertheologen und den somatischen Gnadenerfahrungen der Margery-­Figur, der sie auf diese Weise den Status einer gottbegnadeten Person attestieren. Die Wirkungsmächtigkeit der textinternen Autorisierung ist wohl zu einem nicht unerheblichen Teil auf die Perspektive des schreibenden Priesters als Augenzeuge der Begnadung zurückzuführen. In Kapitel 75 tritt der Schreiber erneut als Augenzeuge auf, als die 219 Vgl. die Ausführungen zur Überlieferung des „Incendium Amoris“ in Kapitel 2.2.2 „Der Kempe-­ treatyse im Kontext der Mitüberlieferung“. Vgl. zum Pricke of Love-­Text Eisermann: Stimulus Amoris, S. 270 – 287. Vgl. zur Marie von Oignies-­Vita, Roger Ellis: Margery Kempe’s Scribe and the Miraculous Books. In: Langland, the Mystics and Medieval English Religious Tradition. Essays in Honour of S. S. Hussey. Hrsg. von Helen Phillips. Cambridge 1990, S. 161 – 175, hier S. 168, der auf zwei Handschriften kartäusischer Provenienz verweist: Zum einen die oben diskutierte Sammelhandschrift Oxford, Bodleian Library, MS Douce 114 aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, die den Vitentext auf fol. 26v–76r tradiert und zum anderen die lateinische Sammelhandschrift Oxford, St John’s College Library, MS 182 aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, die der berühmte und einflussreiche Theologe John Blacman der Kartause Witham in Somerset nach seinem Klostereintritt vermacht hat. Vgl. dazu Roger Lovatt: The Library of John Blacman and Contemporary Carthusian Spirituality. In: Journal of Ecclesiastical History 43 (1992), S. 195 – 230, hier S. 206. 220 Vgl. Kapitel 2.3.1 „Die ‚Offizialität‘ der rubrizierten Randeinträge – Richard Methley, John Norton und die Konzeption des amor sensibilis“.

Schreibergeschichten | 245 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Margery-­Figur eine nach der Geburt ihres Kindes besessene Frau durch ihr Gebet erlöst und er anscheinend anwesend ist: It was, as hem thowt þat knewyn it, a ryth gret myrakyl, for he þat wrot þis boke had neuyr be-­for þat tyme sey [Hervorhebung d. Verf.] man ne woman, as hym thowt, so fer owt of hir-­self as þis woman was ne so euyl to rewlyn ne to gouernyn, & sithyn he sey hir sad & sobyr a-­now, worschip & preysyng be to owr Lord wyth-­owtyn ende for hys hy mercy & hys goodnes þat euyr helpith at nede.221

Diese Textpassage inkludiert den Priester in den Kreis der Zeugen (It was, as hem thowt þat knewyn it [Hervorhebung d. Verf.], a ryth gret myrakyl), da er nie zuvor eine Person in einem solchen Zustand gesehen habe. Auch der rubrizierende Annotator der Kempe-­ Handschrift unterstreicht den die Geschichte abschließenden Lobpreis mit der liturgischen deo gratias-­Formel, die er hinter dem als Abschlusszeichen fungierenden Trifolium-­Symbol des Kapitels einträgt. Denn auch die vorangegangene Episode stellt die Gnadenwerke ­Gottes exemplarisch an einem Einzelfall dar. Zudem ist diese Episode insofern von großer Bedeutung, als sie eine exakte Spiegelung des zweiten Kapitels darstellt, in dem die Margery-­Figur nach der Geburt ihres ersten Kindes durch Jesus Christus von ihrer dämonischen Besessenheit erlöst wird. Beiden Frauengestalten wird die ­gleiche Symptomatik zugeschrieben: Sie schreien, beißen, fluchen, erkennen ihre Verwandten und Freunde nicht und müssen durch ihr völliges ‚Außersich-­ Sein‘ an ihr Bett gefesselt werden.222 In Kapitel 75 hat nun die Margery-­Figur die Rolle der ­Erlöserin übernommen und vollzieht hier eine nahezu vollkommene imitatio Christi, indem ihr Gebet und ihre Fürsprache letztlich die Heilung der anonymen Frau bewirken. Der Schreiber fungiert hier als Augenzeuge, der die Erlösungstat bestätigt und verifiziert. Der Gebrauch der flektierten Verbform ‚sehen‘ suggeriert diese Augenzeugenschaft.223 Diese die tatsächliche Anwesenheit des Schreibers implizierende Form bedeutet, dass der Schreiber die Frau mit eigenen Augen gesehen hat. 221 BMK, S. 178, 36 – 179, 5. 222 BMK, S. 178, 1 – 2: Sche roryth & cryith so þat sche makith folk euyl a-­feerd. Sche wyl boþe smytyn & bityn, & þerfor is sche manykyld on hir wristys. Vgl. dazu die Schilderung in Kapitel 1, die berichtet, wie die Margery-­Figur sich aufgrund ihrer Besessenheit in die Hand beißt, ihre Verwandten verflucht und an ihr Bett gefesselt werden muss. Vgl. BMK, S. 7, 19 – 8, 4. Vgl. die Episode in der Vita der Marie von Oignies zu ­diesem Motiv der Dämonenaustreibung einer jungen Frau, AS, 23. Juni besonders S. 643, Col. 644B–644C: Adeo vero inimicus mentem ejus depresserat, quod nec Orationem Dominicam, nec Credo in Deum dicere poterat: peccata vero sua confiteri nolebat. Quodsi aliquando blanditiis vel minis aliqua quasi coacta confiteretur, nullo modo ad hoc induci poterat, ut indulgentiam a Domino postularet. Sacramentis ecclesiæ interesse non poterat; Corpus Christi recipere non volebat: seipsam ex perturbatione frequenter interficere tentabat; verbum Dei, & monita salutis spernebat; omne bonum ei in odium veniebat; multa verba blasphemiæ per os ejus diabolus evomebat. 223 Vgl. die hervorgehobene Textpassage im obigen Zitat Anm. 215: for he þat wrot þis boke had neuyr be-­for þat tyme sey (BMK, S. 178, 37 – 179, 2).

246 | Narration und Autorschaft © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Lässt sich folglich daraus schließen, dass der Schreiber Margery ständig begleitet oder, dass er nur bei einer bestimmten Gelegenheit diese spezifische Frau gesehen hat? Der Text bietet auf diese Frage keine Antwort und somit erscheint der auf der Ebene des Erzählens situierte Schreiber-­Erzähler bzw. die intradiegetische Schreiberfigur der histoire eher als eine Art ‚allgegenwärtiger‘ Augenzeuge im Sinne der Beglaubigung des Geschehens angelegt zu sein. Dieser Eindruck wird durch den Wechsel der Erzählperspektive evoziert, in dem sich Schreiber und Erzähler durch textlogische Schlüsse als ein- und dieselbe ‚Person‘ offenbaren. Somit ergibt sich auch eine „Dissoziation in ein schreibendes und ein beschriebenes Ich“,224 die jeweils auf divergenten erzähltheoretischen Ebenen des Textes angesiedelt sind. Dabei ist der Schreiber-­Erzähler als auktorialer Erzähler angelegt, denn die scheinbar omnipräsente und gleichzeitig allwissende Erzählinstanz ist nicht nur bestens über die inneren Gedankengänge, Gemütszustände und Empfindungen der Figuren, sondern auch über die äußeren Geschehnisse informiert. Kapitel 87, 88, 89 präsentieren sich ebenfalls als eine mit ‚Schreibergeschichten‘ durchsetzte thematische Einheit. Insbesondere in Kapitel 87 tritt die oben erwähnte Ich-­Einlassung des Schreibers in Verbindung mit der Verschriftlichung auf.225 Mit dem Einsatz dieser auf das Schreiben bezogenen brevitas-­Formel  226 betont der Ich-­Erzähler seine Unfähigkeit, dem an Margery exemplifizierten Heilsgeschehen mit seiner Schreibertätigkeit gerecht werden zu können. Direkt im Anschluss an diese der humilitas-­Rhetorik verpflichteten Textpassage folgt ein Erzählerbericht in der dritten Person, der den Bescheidenheitstopos weiterführt. Durch den vorhergehenden Satz kann nun der Schreiber als Subjekt der Äußerung vermutet werden: 224 Vgl. Bürkle: Die Offenbarungen der Margareta Ebner, S. 89. 225 Vgl. BMK , S. 214, 23 – 25. Eine ganz ähnliche topische Beteuerung macht die Ich-­Erzählerin der „Offenbarungen“ Margareta Ebners in Bezug auf die im wahrsten Sinne unbeschreibliche Gotteserfahrung, ME , S. 93: Mir wart auch vil von der güet gotes zuo gesprochen, des ich nit allez gescriben kan. ME , S. 112: in der mir geben wirt ain so süezzer lust mit creftigem trost götlicher genade, daz ich ez nit gescriben noch gereden kan, wan ez nieman gewissen mag denn got allain oder der ez enphunden hat, as ich ez vor vil gescriben han. S. 114: und mit so vil richen sinnen und worten, daz ich ainz kum vor dem andern gescriben moht. Die letzte auf das Schreiben verweisende Formel referiert weniger auf eine bestimmte Passage als auf den Gesamttext als schriftlich fixiertes Gnadenwerk. Eine ganz ähnlich unbestimmte Formel (as is w ­ retyn be-­forn) findet sich im Kempe-­Text. Vgl. auch die formelhafte Beteuerung des Schreibers der Vita der Marie von Oignies, der ebenfalls die Fülle der Gnadengaben und Wundertaten ihres Lebens nicht wiedergeben kann, Prologus, S. 638 (Col. 638F): Non enim omnia vitæ ejus mirabilia colligere valemus, cum per multos annos, quibus devote Domino & fideliter servivit, vix aliqua dies vel nox præterierit, quin aliquam a Deo aut ejus Angelis, vel Sanctis cælestibus, cum quibus tota fere ejus erat conversatio, habuerit visitationem. Diese brevitas-­Formel, die oftmals mit dem Verweis auf die Verschriftlichung einhergeht, gehört offenbar zum Inventar des frauenmystischen Wahrheits- und Legitimationsdiskurses und beteuert, dass das Gnadengeschehen weit über die menschlichen (Schreiber-) Fähigkeiten hinausgeht. 226 Vgl. zur brevitas-­Formel, Wolpers: Die englische Heiligenlegende des Mittelalters, S. 33.

Schreibergeschichten | 247 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

And in swech maner visitacyons & holy contemplacyonis as arn beforn-­wretyn, mech mor sotyl & mor hy with-­owtyn comparison þan be wretyn, þe sayd creatur had continuyd hir lyfe þorw þe preseruyng of owr Sauyowr Crist Ihesu mor þan xxv ȝer whan þis tretys was wretyn […].227

Der Schreiber als Erzähler gibt wiederum nur eine vage zeitliche Einordnung, die auf eine eher unbestimmte Vergangenheit verweist und eine genaue Einordung bzw. Chronologie der Ereignisse gerade nicht ermöglicht. Noch einmal nennt der Erzähler explizit die Unmöglichkeit, das Gnadengeschehen adäquat zu verschriftlichen. In Kapitel 87 bietet die als auktorialer Erzählerbericht und in der dritten Person narrativierte Episode eine Art Zusammenfassung über das spirituelle Leben der Margery-­Figur. Kapitel 88 beginnt ebenfalls mit einem distanzierten, die Verschriftlichung des Buches thematisierenden Erzählerbericht in der dritten Person: Whan þis booke was first [Hervorhebung d. Verf.] in wrytyng, þe sayd creatur was mor at hom in hir chambre wyth hir writer & seyd fewer bedys for sped of wrytyng þan sche had don ȝerys be-­forn.228 Die Bezeichnung first lässt sich, aufgrund der Angaben der Buchentstehungsgeschichte des Proömiums und des die Originalabschrift des ersten Sekretärs betreffenden Berichtes, eher dem ersten Schreiber zuordnen. Die direkte Textumgebung lässt eine ­solche Zuordnung jedoch nicht ohne Weiteres zu, so dass sich auch hier das Problem der Referentialisierbarkeit 229 zeigt, das nahezu den gesamten Text bestimmt. Doch sogleich werden die Margery-­Figur und ihr Schreiber durch eine als direkte Rede wiedergegebene göttliche Audition autorisiert.230 Diese ­göttliche Rede heiligt zum einen die Abfassung des Buches und ihre Urheber, die Margery-­ Figur sowie ihren Sekretär, der so wiederum Anteil an der göttlichen Gnade durch seine Zusammenarbeit mit der mulier sancta erhält. Zum anderen legitimiert die Rede erneut den ­Status des Buches als göttliche Offenbarungsschrift: for dowtyr, be þis boke many a man xal be turnyd to me & beleuyn þerin.231 Unmittelbarer als durch diese direkte Gottesrede kann

227 BMK, S. 214, 23 – 25. 228 BMK, Kapitel 88, S. 216, 4 – 7. Vgl. dazu Dillon: Holy Women and Their Confessors or Confessors and Their Holy Women?, S. 137. Dillon deutet diese Textpassage als Teil des Schreibbefehls, der für frauenmystische Vitentexte konstitutiv ist. 229 Für die Gnadenvita Christine Ebners hat Susanne Bürkle „die Problematik des Text-­Ichs und seiner Referentialisierbarkeit“ am Beispiel des materien-­Katalogs der Prologpartie herausgearbeitet, die mit einer Ich-­Bemerkung über die Selektion der ­Themen in der Gnadenvita abschließt, vgl. Bürkle: Die ‚Gnadenvita‘ Christine Ebners, S. 503. 230 Vgl. BMK, S. 216, 12 – 16: Drede þe not, dowtyr, for as many bedys as þu woldist seyin I accepte hem as þow þu seydist hem, & þi stody þat þu stodiist for to do writyn […] plesyth me ryght meche & he þat writith boþe. Vgl. dazu Diana R. Uhlmann: The Comfort of the Voice, the Solace of the Script. Orality and Literacy in The Book of Margery Kempe. In: Studies in Philology 91 (1994) S. 50 – 69, hier S. 63, die ausführt, dass Gott selbst dem Buchprojekt seinen Segen erteile und es damit autorisiere. 231 BMK, S. 216, 19 – 20.

248 | Narration und Autorschaft © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

eine Legitimation nicht ausfallen. Die erzähltechnisch als ‚Strategie‘ bestimmbare Form der Redeverteilung entfaltet genau diesen Legitimationseffekt. Ganz ähnlich ist auch Kapitel 89 strukturiert, zunächst durch einen situationsüberlegenen Erzählerbericht in der dritten Person, der beschreibt, wie die Margery-­Figur als auch ihr Schreiber bei der Verschriftlichung Gnadenzeichen erfahren, die sie in Form von flammenden Hitzegefühlen und Tränen wahrnehmen.232 Dass diese Körperzeichen auf der Ebene der Rezeption der Kempe-­Handschrift als konkrete Gnadenzeichen gedeutet worden sind, geht aus dem rubrizierten Marginaleintrag A tokyn of grace hervor, mit dem der Annotator diese Textpassage auf fol. 106v, 11 – 12 markiert hat. Gleichzeitig spricht dieser Eintrag auch für die Wirkung des textinternen Beglaubigungs- und Wahrheitsdiskurses, da die Kartäusermönche den körperlich wahrnehmbaren ­­Zeichen der inneren Gottesbegnadung mit ihren Randkommentaren Authentizität zuschreiben, wie die Untersuchung der Kapitel 2.3 „Die rubrizierten Annotationen als Zeugnis einer kartäusischen Textlektüre“ und Kapitel 2.3.1 „Die Offizialität der rubrizierten Randeinträge“ zeigen konnte. In Kapitel 89 dominiert jedenfalls wiederum die wirkungsmächtige Beglaubigungsthematik, die erneut durch einen distanzierten Erzählerbericht in der dritten Person narrativiert wird. Die Erzählinstanz berichtet besonders von den inneren Gefühlsregungen und Zweifeln der Margery-­Figur und ihrer Angst vor Täuschungen und bietet auf diese Weise einen ‚unmittelbaren‘ Einblick in die Innenwelt der Protagonistin: for drede þat sche had of deceytys & illusyons, þat hir thowt sche wolde þat hir hed had be smet fro þe body tyl God of hys goodnesse declaryd hem to hir mende.233 Es folgt ein die Beglaubigungsthematik fortsetzender Erzählerkommentar, der sich zugleich als eine Art Lektüreanweisung für das Buch beschreiben lässt, da die visionären Körpererfahrungen der Margery-­Figur auf geistige Weise zu verstehen ­seien:

232 Vgl. BMK, S. 219, 1 – 5: Also, whil þe forseyd creatur was ocupijd a-­bowte þe writyng of þis tretys, sche had many holy teerys & wepingys, & oftyn-­tymys þer cam a flawme of fyer a-­bowte hir brest ful hoot & delectabyl, and also he þat was hir writer cowde not sumtyme [Hervorhebung d. Verf.] kepyn hym-­self fro wepyng. Bezeichnenderweise macht der Erzähler hier durch den Verweis sumtyme deutlich, dass der Schreiber in geringerem Maße als die Margery-­Figur die Begnadung erfährt. Auf diese Weise betont er ihren höheren Status als mulier sancta, der mit dem Ideal der mittelalterlichen weiblichen Frömmigkeits- und Heiligkeitsvorstellung korrespondiert. Vgl. dazu Bürkle: Weibliche Spiritualität und imaginierte Weiblichkeit, S. 116 – 143. Diese spezifische Gnadenerfahrung entspricht der oben erwähnten calor-­Erfahrung der Ich-­Figur des „Incendium Amoris“. Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 2.3.1 „Die ‚Offizialität‘ der rubrizierten Randeinträge – Richard Methley, John Norton und die Konzeption des amor sensibilis“. Wie weiter oben diskutiert, referiert der Erzähler in Kapitel 62 explizit auf das „Incendium Amoris“ als Text, der das Vertrauen des Schreibers in die Margery-­Figur bestärkt hat. Vgl. auch die oben diskutierte Textpassage (BMK, S. 88, 26 – 33), die ebenfalls von der calor-­Erfahrung berichtet und Anklänge an das „Incendium Amoris“ aufruft. 233 BMK, S. 220, 6 – 9.

Schreibergeschichten | 249 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

For sumtyme þat sche vndirstod bodily it was to ben vndirstondyn gostly, & þe drede þat sche had of hir felyngys was þe grettest scorge þat sche had in erde & specialy whan sche had hir fyrst felyngys, & þat drede made hir ful meke for sche had no joye in þe felyng tyl sche knew be experiens wheþyr it was trewe er not.234

Die Margery-­Figur wird hier als vorbildliche mulier sancta gezeigt, die sich zunächst selbst von der Echtheit ihrer revelationes überzeugen muss und unter ihren Zweifeln leidet. Mit dieser Thematisierung der inneren Zweifel ruft der Kempe-­Text dezidierte Anklänge an die oben diskutierte „Cloud of Unknowing“ und ihre Satellitentexte auf, die sich als Unterweisung in wahrer Gotterkenntnis und Anleitung zur kritischen Überprüfung von Visionserfahrungen fassen lassen.235 Auf diese Weise schreibt sich der Text gewissermaßen in die Tradition der Erbauungstexte ein, die auf die Gotterfahrung des Einzelnen und deren Evaluierung ausgerichtet sind. Schließlich endet Kapitel 89 mit dem bereits erwähnten epilogartigen Erzählerbericht, der vom Tod des ersten Schreibers berichtet: Her endith þis tretys, for God toke hym to hys mercy þat wrot þe copy of þis boke […].236 Die Prologpartie suggeriert, dass der erste Schreiber eine Art ‚Original‘ verfasst, das der zweite und dritte Schreiber erneut abschreiben. Auf ­dieses ‚Original‘, diese im Kontext der Überlieferungsgeschichte als verloren geglaubte Fassung, verweist die Aussage in Kapitel 89, die den Tod des ersten Schreibers epilogartig verkündet.237 Da der Erzähler den Ausdruck copy verwendet, ist zunächst nicht klar, um ­welchen Schreiber und ­welche Fassung des Textes es sich hier genau handelt.238 Erst die weiteren Hinweise auf das verrätselt anmutende Buch und seine seltsame Schreibweise dechiffrieren den ersten Schreiber.239 Der Text selbst legt in der ersten Prologpartie eine so eindeutige Festlegung jedoch nicht ohne Weiteres nahe, wenn es heißt, dass der erste deutsch-­englische Schreiber dwellyd wyth þe forseyd creatur tyl he had wretyn as mech as

234 BMK, S. 220, 9 – 15. Vgl. die Kommentierung von Lawton: Voice, Authority and Blasphemy, S. 103: „In fact, the emphasis on actual bodily contact, on direct access to Jesus through the five senses is strong but guarded. The Book of Margery Kempe goes to some pains to remind its readers that the conversations with Jesus take place in Kempe’s soul.“ 235 Vgl. die Ausführungen in Kapitel 2.3.2 „Margery Kempe, Mount Grace und mystische Kartäuserliteratur“. 236 BMK, S. 220, 18 – 19. 237 Vgl. BMK, S. 220, 23: is trewly drawyn owt of þe copy [Hervorhebung d. Verf.] in-­to þis lityl boke. 238 Vgl. dazu Lawton: Voice, Authority and Blasphemy, S. 101: „But there is simply no account of textual mediation as complex and as circumstantial, almost wantonly obscure, as that provided in The Book of Margery Kempe.“ 239 BMK, S. 220, 18 – 24: Her endith þis tretys, for God toke hym to hys mercy þat wrot þe copy of þis boke, & þow þat he wrot not clerly ne opynly to owr maner of spekyng [Hervorhebung d. Verf.], he in hys maner of wrytyng & spellyng mad trewe sentens þe whech, thorw þe help of God & of hir-­selfe þat had al þis tretys in felyng & werkyng, is trewly drawyn owt of þe copy in-­to þis lityl boke.

250 | Narration und Autorschaft © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

sche wold tellyn hym for þe tym þat þei wer to-­g yddyr [Hervorhebung d. Verf.].240 Über die tatsächliche Dauer der Zusammenarbeit und den Stand der Abfassung des Buches wird hier keine konkrete Aussage gemacht und erst in Kapitel 89 wird der Sachverhalt, wie oben erwähnt, aufgelöst. Auch in Bezug auf den Priester, (den dritten Schreiber), heißt es: he behyte hir þat if he cowd redyn it he wolde copyn it owt & wrytyn it betyr [Hervorhebung d. Verf.] wyth good wylle.241 Hier ist die Rede von kopieren und verbessern, indes bleibt der Status der Abfassung zunächst im Unklaren. Nur die Textpassagen, in denen der Text als Buch bezeichnet wird (& browt hym þe booke to redyn) und die negativen Bewertungen des ‚Buches‘ hinsichtlich der Buchstabengestalt, der Form und Sprache erwecken den Eindruck, dass es sich um ein fertiggestelltes Buch handeln könnte. Allerdings sind diese Aussagen wohl eher nicht faktisch als Ursprung der Textgenese anzusehen, sondern als Initiationspunkt für das Begnadungswunder und die schließliche Abfassung des gottgewollten Offenbarungstextes. Die Gegenüberstellung von copy und boke verdeutlicht jedenfalls die Schwierigkeiten, ein mögliches ‚Handschriftenoriginal‘ des Textes abgrenzen zu wollen, da der Text gerade durch den Einsatz multipler Schreiberpersönlichkeiten und ihrer Abfassungstätigkeit die Herkunft eines ‚Originals‘ geradezu verschleiert. Folgt man den textinternen Angaben zur Entstehung, so kann es sich bei der Londoner Kempe-­ Handschrift nicht um das im Text benannte ‚Original‘ handeln, da der auktoriale Erzähler ausführt, dass der dritte Schreiber das erste Proömium als Einzelblatt einer Lage angefügt habe, wie oben erwähnt.242 Wie im Kapitel zur Überlieferungsgeschichte ausgeführt, platziert der Annotator in dunkelroter Tinte den Marginaleintrag copy im linken Seitensteg auf fol. 106v genau an der Stelle, die von der Abschrift der ‚Originalfassung‘ im Text berichtet.243 Auf diese Weise hebt er hervor, dass es sich allem Anschein nach bei dem vorliegenden Text um eine Abschrift handelt. Der handschriftliche Befund sowie die erhaltenen Drucke legen allerdings keine Existenz eines solchen Originals nahe, einzig der Text selbst behauptet das Vorhandensein einer ‚Urschrift‘. Innerhalb des Textes ist die Existenz eines solchen eigentümlich-­seltsamen Originals allerdings für den Legitimationsdiskurs, der im Zusammenhang mit dem Begnadungswunder des dritten Schreibers steht, eine überaus wichtige literarische Komponente. Denn die wahrheitsgetreue Abschrift (copy) der textintern suggerierten ‚Originalvorlage‘ bezeugt gewissermaßen die Wahrheit des Geschriebenen, wie oben diskutiert. Daher können die vermeintlichen Abfassungsund Redaktionsschichten der faktischen Textgenese aus diesen literarisch stilisierten Angaben zum Schreibprozess nicht ohne Weiteres erschlossen werden, wie es Andrew Butcher in seiner 240 BMK, S. 4, 9. 241 BMK, S. 4, 19 – 20. 242 Vgl. die Ausführungen in Kapitel 2.1 „Die Handschrift London, British Library, Add MS 61823“ und die Angaben in BMK, Introduction „The Manuscript“, S. xxxiii. 243 Vgl. die bereits erwähnte Textpassage BMK, S. 220, 18 – 24.

Schreibergeschichten | 251 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

textarchäologischen Untersuchung versucht.244 Denn der mit der autorisierenden Wirkung von Schriftlichkeit verbundene Beglaubigungsdiskurs kann nicht einfach als ein Verweis auf frühere, tatsächlich existierende Textschichten gelesen werden. Erst der mit secundus liber überschriebene zweite Teil des Kempe-­Textes macht explizit, dass es sich nun um das Werk des schreibenden Priesters handelt.245 Die im Text, bis auf wenige Ausnahmen solcher konkreter Zeitangaben, eher unbestimmt erscheinende Vergangenheit wird hier von dem Erzähler in einem klaren zeitlichen Rahmen situiert. Zwischen der Verschriftlichung des ersten und des zweiten Buches liegen nun zwei Jahre.246 Bezeichnenderweise bleibt auch hier die Erzählerstimme anonym und ‚gibt sich nicht zu erkennen‘, möglicherweise um den auf Belehrung und Unterweisung angelegten exemplarischen Charakter des Textes durch die Anonymität zu unterstreichen. Jedenfalls fungiert die Vorstellung unterschiedlicher Textfassungen, die die Prologpartie des zweiten Teils erneut evoziert, offenbar als Ausweis der Echtheit der Gnadenerfahrung. In ­diesem Sinne lassen sich die Schreiber als Augenzeugen der Begnadung der Margery-­Figur fassen, wie Lynn Staley ausführt: „but I can say that in terms of shape and function of the Book, its author needed a scribe, even a succession of scribes as witnesses and mediators who could authorize the text“.247 Diese Funktion mag zugleich erklären, weshalb der Erzähler bereits in der ersten Prologpartie (S. 4 f.) die Aufmerksamkeit der Rezipienten auf die Schreiber und das die Entzifferung der Handschrift betreffende Begnadungswunder lenkt: um die Autorisierung des Textes durch göttlich inspirierte Augenzeugen zu gewährleisten. In d ­ iesem spezifischen Legitimationskontext spielt die Identität der Schreiber allerdings gerade keine Rolle, da sie – abgesehen vom dritten Schreiber – weniger als konkrete Handlungsfiguren denn als Legitimationsinstanzen fungieren. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass sich eine generalisierende Gleichsetzung von Schreiber und Erzähler, wie sie im überwiegenden Teil der englischsprachigen Kempe-­ Forschung vorgenommen wird, als eher problematisch erweist. Denn, wie die narratologische Textanalyse zeigen konnte, kann der Schreiber nur in Textpartien in der Ich-­Perspektive und selbst dann nur aus dem Kontext heraus, als Erzähler dechiffriert werden. Die komplizierte Anlage der Textentstehungsgeschichte und die auch in den Einzelkapiteln thematisierten 244 Vgl. Butcher: Reading the BMK, S. 192: „Within the manuscript tradition, considered schematically, the Salthows manuscript (Text F) is probably a simple copy of the version produced by the priest/ scribe 2 with the assistant of Margery Kempe (Text E), though we do not know how the form of the little book of Text E might have differed from the form of the manuscript of Text F. Text E is a version of the treatise compiled by the writer/Scribe 1 working with Margery Kempe (D). This first written text is itself a version of Margery Kempe’s account to scribe 1 (Text C), which is a particular version of Margery Kempe’s orally self-­constructed experience (Text B) and this in turn derives from her initially perceived experience (Text A).“ 245 Vgl. BMK. S. 221, 1 – 12. 246 Vgl. die zeitliche Situierung im zweiten Proömium BMK, S. 6, 21 – 24: And so he gan to wryten in þe ȝer of owr Lord a m.cccc.xxxvj on þe day next aftyr Mary Maudelyn aftyr þe informacyon of þis creatur. 247 Staley: The Trope of The Scribe and The Question of Literary Authority, S. 837.

252 | Narration und Autorschaft © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

wechselnden Schreiberkonstellationen offenbaren gerade den dezidiert literarischen Charakter des Kempe-­Textes. Die Textgenese entfaltet sich als komplexes literarisches Arrangement, da die Schreiberpartien über den gesamten Text verstreut sind. Eine Suche nach der Schreiberidentität erscheint somit als wenig sinnvoll: Denn diese gleichsam eingestreut wirkenden ‚Schreibergeschichten‘ sind denn auch weniger als Narrativierung historischer Persönlichkeiten zu deuten, sondern beschreiben eher typenspezifische Figurenkonstellationen einer Gnadenvita und bieten eine literarische Version der Textfixierung, wie wir sie aus zahlreichen frauen­mystischen Texten kennen. Einzig durch das Zusammenwirken mit der als mulier sancta gestalteten Margery-­Figur 248 erhält der Sekretär einen direkten Anteil am Gnadengeschehen, die Verschriftlichung wird durch Mirakelberichte und wundersame Erscheinungen zum Gnadenakt erhöht. Der Schreiber ist in seiner Funktion als Augenzeuge und Beglaubigungsinstanz im Text angelegt, wobei die zu Schreibergeschichten stilisierten Kapitel ihn als leibhaftig vorstellbare Figur profilieren und seiner Stimme auf diese Weise Gewicht verleihen. Denn er tritt als kritischer Beobachter auf, der selbst von den Tränen und den Visionen der Margery Kempe-­Figur zunächst gerade nicht überzeugt ist, Zweifel formuliert und sie dann differenziert befragt. Im folgenden Kapitel 3.3. „Schreiber, Erzähler, Autorin? Zur Profilierung von Autorschaft“ soll die erzählerische Vermittlung von göttlich inspirierter Autorschaft genauer beleuchtet werden, die mit den Schreiberfiguren und -geschichten untrennbar verbunden ist.

3.3 Schreiber, Erzähler, Autorin? Zur Profilierung von Autorschaft Wie das vorausgehende Kapitel zu der Erzählerfiguration zu zeigen versucht hat, wird die textinterne Präsentation von Autorschaft in der Kempe-­Vita primär im Hinblick auf die Thematik der Zusammenarbeit von Schreiber und visionsbegabter ‚Autorin‘ entfaltet. Im vorliegenden Kapitel soll näher diskutiert werden, wie eine bestimmte Vorstellung von göttlich inspirierter Autorschaft auf der Ebene des Erzählens und auf der Ebene des Erzählten generiert und narrativ umgesetzt wird. Dabei geht es hier nicht um Autorschaft in einem produktionstechnischen Sinn der faktischen Textentstehung, da die Kempe-­Vita durch ihre starken Stilisierungstendenzen kaum Zugriff auf diese extratextuelle Ebene bietet. Die englischsprachige Kempe-­Forschung hat die textintern evozierte Vorstellung einer von Gott zum Schreiben ihrer Gnadenerfahrungen beauftragten Autorin allerdings bisher eher auf die Ebene der faktischen Textentstehungsverhältnisse bezogen und vereindeutigt, ohne die 248 Vgl. Peters: Religiöse Erfahrung, S. 188. Wie die Textanalyse zu zeigen versucht hat, finden sich im Kempe-­Text alle Elemente „die in der Hagiographie zur Aura des Heiligen gehören: der Schreibbefehl, Gottes Wunsch nach der Verbreitung seiner Wundertaten, das Aufzeichnen der spirituellen Erfahrungen in der Abgeschiedenheit, die heimliche Niederschrift durch einen Außenstehenden […] und die Begnadung beim Schreiben“.

Schreiber, Erzähler, Autorin? | 253 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

narrative Umsetzung von Autorschaft genauer zu untersuchen.249 Die englischsprachige Forschungsdiskussion betrachtet die im Text präsentierte ‚Illiterarität‘ der Protagonistin als Argument gegen die Autorschaft der Margery Kempe und für den Schreiber als eigentlichen Verfasser.250 Daher lässt sich zunächst fragen, ob der Kempe-­Text die Margery-­Figur tatsächlich als ungelehrte Frau imaginiert oder ob sich nicht etwa eine vielschichtigere Konzeption dieser Figur durch die erzählerische Vermittlung ergibt. So berichtet der Erzähler in Kapitel 18, dass ein Magister der Theologie für die Margery-­Figur einen Brief an eine Witwe schreibt,251 und in Kapitel 46, wie sie Thomas Marchale 252 bittet, eine Nachricht an ihren Ehemann zu senden, damit dieser sie nach Hause bringt.253 Dieser Brief fällt in die Episode, die von der Festnahme der Margery-­Figur als Lollardin durch den Bischof von Leicester berichtet. Die Angabe, dass die Margery-­Figur nicht in der Lage ist, Latein zu verstehen, fällt ebenfalls in den Kontext der Häresiebeschuldigung: Þe styward a-­non, as he sey hir, spak Latyn vn-­to hir […]. Sche seyd to þe Stywarde: „Spekyth Englysch, yf ȝow lyketh, for I vndyrstonde not what ȝe sey.“ 254 Die Erzähleranwesenheit zeigt sich an dieser Stelle wiederum in der Inquitformel, die die direkte Rede einleitet, und der erzählerischen 249 Vgl. die Ausführungen in der Einleitung der vorliegenden Arbeit. 250 Vgl. Hirsh: Author and Scribe, S. 51, Anm. 5. Auch Margaret Aston betrachtet Margery Kempe als ‚Sonderfall‘ einer illiteraten Autorin, vgl. Aston: Lollards and Reformers, S. 195. Vgl. Lochrie: The Marginal Woman’s Quest for Literary Authority, S. 34, 39, 40 und S. 54: „Kempe’s triumph as an author and mystic, however must have been mixed with a sense of sadness, for she could not read her own treatise. […] If Kempe cannot read her own name at the foot of the Trinity inscribed in the Book of Life, she must have wondered about the one grace it seems Christ withheld from her.“ Windeatt: The Book of Margery Kempe, Einleitung, S. 9: „Yet Kempe’s illiteracy as attested by the text, needs to be taken in contexts, and with qualifications, that may affect assessment of her authorship of the work.“ Auch an der feministischen Literaturtheorie orientierte Arbeiten vereindeutigen das textinterne Szenarium der Buchentstehung auf die Ebene der faktischen Textproduktion, vgl. etwa Wendy Harding: Body into Text. The Book of Margery Kempe. In: Feminist Approaches to the Body in Medieval Literature. Hrsg. von Linda Loperis and Sarah Stanbury. Philadelphia 1993 (New Cultural Studies), S. 168 – 187, hier S. 169. 251 BMK, Kapitel S. 45, 16 – 17: Than owyr Lord bad þis creatur don wryten a lettyr & send it hir. A maystyr of dyuynite wrot a lettyr at þe request of þis creatur & sent to þe wedow wyth þese clawsys þat folwyn. Diese Witwe weigert sich, den göttlich inspirierten Rat der Margery-­Figur zu befolgen. Wiederum präsentiert diese Episode die Margery-­Figur als Ausführende des göttlichen Auftrages, die sich trotz ihrer Schwierigkeiten mit der Witwe nicht von ihrer Mission abbringen lässt, diese über ihren Beichtvater zu belehren. Der Erzähler schreibt der Margery-­Figur damit Autorität als eine den Willen Gottes ausführende Person zu, die seiner Weisung bedingungslos folgt, BMK, S. 45, 31 – 33: Þan þis creatur suffryd mech tribulacyon & gret heuynesse for sche seyd þese wordys as owyr Lord bad hir sey. & euyr sche encresyd in þe lofe of God & was mor bold þan sche was be-­forn. 252 Den Angaben von Meech zufolge konnte die Existenz eines Thomas Marchales historisch nicht nachgewiesen werden, vgl. BMK, S. 309, notes 108/3 – 4. 253 BMK, Kapitel 46, S. 111, 20 – 21: Whan þei had etyn, sche preyd Thomas Marchale to writyn a lettyr & ­sendyn to hir husbond þat he might fettyn hir hom. 254 BMK, Kapitel 47, S. 112, 34 – 113, 4.

254 | Narration und Autorschaft © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Darstellung der Margery-­Figur in der topisch wirkenden Rollenkonfiguration einer einfachen und ungebildeten Frau.255 Zu dieser Darstellungsweise passt, dass dieser Ungelehrtheitsdiskurs in einem Erzählerbericht am Ende des Kapitels 52 weiter ausgeführt wird, das die Anklage als Lollardin thematisiert: Than sche, goyng a-­ȝen to Ȝorke, was receyued of mech pepil & of ful worthy clerkys, whech enioyed in owr Lord þat had ȝouyn hir not lettryd witte & wisdom to answeryn so many lernyd men wyth-­owtyn velani or blame, thankyn be to God.256

An dieser Stelle macht der Erzähler deutlich, dass die Überprüfung und der letztlich erfolgte Ausweis ihrer Rechtgläubigkeit eng mit dem Topos der Ungelehrtheit und dem Typus der illiteraten Autorin verbunden sind.257 Denn erst die göttliche Begnadung ermöglicht es der ‚illiteraten‘ Mystikerin, den gelehrten Klerikern gegenüberzutreten und dabei ist die dem weiblichen Geschlecht zugeschriebene Inferiorität und Ungelehrtheit gleichsam Voraussetzung für die mystische Begnadung im Sinne des Konzeptes der sancta simplicitas.258 Und die Unwissenheit und Ungelehrtheit der Margery-­Figur zeugt schließlich auch besonders von ihrer Unschuld und befreit sie von dem Häresievorwurf, da der Erzähler ihr Wissen als allein göttlichen Ursprungs rechtfertigt und nicht etwa als Resultat eigenständiger, von den Lollarden inspirierter Studien präsentiert.

255 Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, besonders S. 211 zur topischen Ungelehrtheit als Basiskomponente des „geschlechtsspezifisch ausdifferenzierten hagiographischen Konzepts einer gottinspirierten Mystikerin“. Vgl. auch Claudia Spanily: Autorschaft und Geschlechterrolle. Möglichkeiten weiblichen Literatentums im Mittelalter. Frankfurt a. M. 2002 (Tradition – Reform – Innovation Band 5), besonders S. 30 – 33 und S. 50 – 52. In ihrer Untersuchung konzentriert sich Spanily auf den Autorinnentypus der schreibenden Mystikerin, um die Konzeption weiblich konnotierter Schreibweisen herauszuarbeiten, die sich durch den verstärkten Einsatz von humilitas-­Gesten und der Beteuerung der eigenen Ungelehrtheit, Schwäche und Sündhaftigkeit auszeichne. 256 BMK, Kapitel 52, S. 128, 26 – 30. Bezeichnenderweise ‚spricht‘ die Margery-­Figur diese Charakterisierung nicht selber aus, wie etwa Windeatt anführt (The Book of Margery Kempe. Einleitung, S. 9: „[…] describes herself as ‚not letteryd‘“.), sondern der Erzähler nimmt sie vor. 257 Vgl. die Ausführungen in Kapitel 2.3.2 „Margery Kempe, Mount Grace und mystische Kartäuserliteratur“ zu den Lollarden, die die Lesefähigkeit von Laien im Rahmen des selbstständigen Bibelstudiums aktiv gefördert haben. Vgl. etwa Rita Copeland im Hinblick auf die sogenannten „Glossed Gospels“: „Such a text brings scholarly exegetical practices to a non-­academic lay audience, teaching readers how to recognize and use these academic textual procedures (glosses and citations of authorities keyed to short passage). […] we know that some Lollards acquired their literacy through the Bible readings conducted in these illegal reading groups.“ Rita Copeland: Lollard Writings. In: The Cambridge Companion to Medieval English Literature 1100 – 1500. Hrsg. von Larry Scanlon. Cambridge 2009, S. 111 – 122, hier S. 116. 258 Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, besonders S. 221 f. Spanily: Autorschaft und Geschlechterrolle, besonders S. 32.

Schreiber, Erzähler, Autorin? | 255 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Dass diese literarische Inszenierung der ‚Ungelehrtheit‘ als rhetorische Legitimationsstrategie gedeutet werden kann, lassen auch die Anspielungen auf eine gewisse Gelehrtheit der Margery-­Figur vermuten: Denn der Kempe-­Text deutet verschiedentlich an, dass sie über ein gewisses Maß an Lateinkenntnissen verfügt, so etwa in York, als ein Priester den Bibelvers Gn 1,22: Crescite et multiplicamini zitiert und die Margery-­Figur daraufhin diese Bibelstelle korrekt und in orthodoxer Weise auslegt.259 Und es ist bemerkenswert, dass sie an dieser Stelle die Differenzierung ­zwischen der Leibesfrucht und der Gnadenfrucht anbringt,260 die in besonderer Weise aus der Engelthaler Viten- und Offenbarungsliteratur bekannt ist, wie weiter unten in Kapitel 4.3 „Erzählerkonfigurationen und die Narration der Buchentstehungsgeschichten: Die Engelthaler Vitenliteratur“ ausgeführt: Ser, þes wordys ben not vndirstondyn only of begetyng of chyldren bodily, but also be purchasyng of vertu, whech is frute gostly, as be heryng of þe wordys of God, be good exampyl ȝeuyng, be mekenes & paciens, charite & chastite, & swech oþer, for pacyens is more worthy þan myraclys werkyng.261

Diese direkte Rede der Protagonistin deutet bereits wichtige Verbindungslinien zu den deutschsprachigen Frauenviten an, für die der Topos der Gnadenfrucht und die Rolle der Visionärin als Heils- und Erlösungsvermittlerin von zentraler Bedeutung für die Entfaltung einer Gnadentheologie ist. Im liber secundus in Kapitel 6 berichtet der Erzähler ebenfalls, wie die Margery-­Figur aufgrund ihrer nicht enden wollenden Tränen in der Nähe von Aachen als „Ypocrite“ beschimpft wird und zu ihrer Verteidigung einen lateinischen Psalm heranzieht: Sche for to excusyn h­ ir-­selfe leyd Scriptur a-­geyn hem, versys of þe Sawter, ‚Qui seminant in l­acrimis‘ & cetera, ‚euntes ibant et flebant‘, & cetera, & swech oþer.262 Aber auch hier könnten m ­ ögliche Analogien zu anderen mystischen Erbauungstexten mitbedacht werden. Denn Barry ­Windeatt hat gezeigt, dass sich die lateinische Begrüßungsformel Salve, sancta parens,263 die C ­ hristus an seine ­Mutter richtet, ebenfalls im oben diskutierten „Mirror of the Blessed Life of Jesus

259 Vgl. BMK, Kapitel 51, S. 121, 2 – 3. Vgl. die Zusammenstellung der Textpartien, die auf Lateinkenntnisse anspielen, in Windeatt: The Book of Margery Kempe, S. 231, note 3725. 260 Vgl. zur Differenzierung der topischen Gnadenfrucht Lochrie: The Marginal Woman’s Quest for Literary Authority, S. 49 f. 261 BMK, S. 121, 3 – 9. 262 BMK, S. 235, 35 – 38. Vgl. Windeatt: Book of Margery Kempe, Introduction, S. 9 mit der Auflistung der entsprechenden Textpassagen, die Lateinkenntnisse indizieren: Liber I, Kapitel 35, S. 88 erzählt, wie die Margery-­Figur Mt 21,9: Benedictus qui venit in nomine Domini zitiert und auch in den Visionen finden sich zwei Passagen, in denen Christus Lateinisch spricht: Zum einen in Kapitel 79, BMK, S. 189, 34 im Kontext der Verhaftung vor der Kreuzigung: Ego sum, und zum anderen in der oben genannten Adressierung seiner ­Mutter: Salve, sancta parens (BMK, S. 196, 23). 263 BMK, S. 196, 23.

256 | Narration und Autorschaft © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Christ“ findet.264 Insofern lässt sich dieser intertextuelle Verweis zu Loves „Mirror“, der im Kloster Mount Grace entstanden ist, möglicherweise eher als eine Einbindung des Kempe-­ Textes in affektive Erbauungsliteratur betrachten, die durch eine detailrealistische Konkretisierung des dargestellten Heilsgeschehens charakterisiert ist. Wie der Erzähler in Kapitel 9 berichtet, besitzt die Margery-­Figur ein Buch, das sie mit sich in die K ­ irche trägt: Sche knelyd up-­on hir kneys, heldyng down hir hed and hir boke in hir hand, prayng owyr Lord Crist Ihesu for grace and for mercy.265 Vermutlich handelt es sich hierbei um ein Stundenbuch,266 das nicht unbedingt als konkretes ­­Zeichen der Lesefähigkeit der Protagonistin gedeutet werden muss, da ­solche Horarien oftmals reich illustrierte Bildprogramme aufweisen.267 Allerdings kann das Stundenbuch durchaus für die auctoritas 268 der Bibel, der schriftlich fixierten Liturgie und der Frömmigkeit der Margery-­Figur stehen. Zumindest inszeniert ein Dialog mit einem Engel das Buch als Symbol von auctoritas.269 Allerdings dient dieser Dialog wohl eher der Darstellung der göttlichen Autorisierung, als dass er konkrete Auskunft über die Bildung der Margery-­ Figur bietet. Demgegenüber suggeriert eine göttliche Liebesversicherung in Kapitel 88 in direkter Weise die Lesefähigkeit der Margery-­Figur: I haue oftyn seyd on-­to þe þat wheþyr þu preyist wyth þi mowth er thynkist wyth thyn hert, whethyr þu redist er herist redyng, I wil be plesyd wyth þe.270 Diese Textpassagen, die auf die Tätigkeit des Lesens und Lateinkenntnisse anspielen, indizieren, dass es hier vielleicht weniger darum geht, die ‚tatsächliche‘ Schreib- und Lesefähigkeit der Margery-­Figur zu thematisieren. Vielmehr stilisieren sie die Margery-­ Figur in einer durch die frauenmystische Tradition bestimmten Rolle als ‚illiterate Autorin‘,271 wobei die fehlende Bildung ihre Inferiorität versinnbildlichen kann, vor deren Hintergrund die auf ihr ruhende Gottesgnade umso deutlicher hervortritt. 272 Dabei zeigt 264 Vgl. Windeatt: Book of Margery Kempe, S. 354. Vgl. die Textpassage in „The Mirror of the Blessed Life of Jesus Christ“, 1992, S. 196 f. 265 BMK, Kapitel 9, S. 21, 22 – 24. 266 Vgl. Windeatt: The Book of Margery Kempe, S. 83, Anm. 659. 267 Vgl. Duffy: Marking the Hours, besonders S. 5 – 7 und S. 11 – 14 zur Rolle der Illustrationen. 268 Vgl. dazu Curtius: Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter, S. 306 ff. 269 Vgl. BMK, S. 206, 33 – 207, 3: Þan seyd þe creatur to þe childe, er ellys to þe awngel, „A,“ sche seyd „þis is þe Boke of Lyfe.“ And sche saw in þe boke þe Trinite & al in gold. Þan seyd sche to þe childe, „wher is my name?“ Þe childe answeryd & seyd: „Her is þi name at þe Trinyte foot wretyn.“ […] And a-­non aftyr owr Lord Ihesu Crist spak vn-­to hir & seyde: „Dowtyr, loke þat þu be now trewe & stedfast & haue a good feith, for þi name is wretyn in Heuyn in þe Boke of Lyfe, and þis was an awngel þat ȝaf þe comfort.“ 270 BMK, S. 218. 271 Vgl. dazu Lochrie: Translations of the Flesh, S. 127, die etwa Christina Mirabilis als typenspezifisches Beispiel einer solchen Rollenkonfiguration der ‚ungelehrten Frau‘ nennt, deren Text durchaus Lateinund Bibelkenntnisse nahelege. 272 Vgl. Spanily: Autorschaft und Geschlechterrolle, S. 32 – 33.

Schreiber, Erzähler, Autorin? | 257 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

sich auch in der Kontrastierung der vorgeblich illiteraten Mystikerin zu dem gelehrten Geistlichen eine spezifisch „weibliche Form der Heilsvermittlung“273 durch persönlich erfahrene Offenbarungen, Visionen und Gebete, die in eine binär strukturierte und geschlechtsspezifisch ausdifferenzierte Hierarchisierung des Verständnisses eingebunden ist. Die Figur der Visionärin verkörpere gewissermaßen die in der Einleitung erwähnte cognitio dei experimentalis, während der geschulte Kleriker die rationale, den Frauen durch ihre fehlende universitäre Bildung gerade nicht zugängliche „intellektuelle Gottes­ erkenntnis, aber auch die Gnaden vermittelnde Vollmacht des Priesters und Predigers“ repräsentiere und sich damit zwei komplementierende Aspekte der Heilsvermittlung gegenüberstünden.274 Dazu passt, dass Gott selbst die Margery-­Figur autorisiert: And þerfor, dowtyr, I come to þe & make þe sekyr of my lofe & telle þe wyth myn owyn mowth þat þu art as sekyr of my lofe as God is God […].275 Möglicherweise fungiert die vorgebliche Illiterarität eher als ­­Zeichen der Authentizität des gesprochenen Wortes wie auch der göttlichen Begnadung. Sie kann auf das als Bekenntnis an den schreibenden Priester imaginierte Entstehungsszenario bezogen werden. Die im Text entworfene Autorin lässt sich daher vielmehr als „Chiffre für ‚Verfasserin‘“276 betrachten, die es „im Plural“277 geben mag. Textintern wird sie als ‚Autorin und ihr Schreiber‘ imaginiert und mit literarischen Gestaltungsmitteln entworfen. Einen solchen Verständniszugang, der die literarischen Autorschaftsentwürfe in frauenmystischen Vitenund Offenbarungstexten genau zu erfassen vermag, hat die neuere Frauenmystikforschung umfassend herausgearbeitet: Insbesondere für die dominikanischen Schwesternbücher aus Töss und Engelthal aus dem 14. Jahrhundert und das Christine-­Ebner-­Corpus hat Susanne Bürkle die „Entdeckung der Autorschaft“278 untersucht, die mit der Ausgestaltung einer in die Texte „funktional eingebundenen Autorinnenrolle“279 einhergeht, die aber gerade nicht 273 Bürkle: Literatur im Kloster, S. 211. 274 Ebd. 275 BMK, S. 218, 21 – 24. 276 Nemes: Von der Schrift zum Buch, S. 358. 277 Ebd., S. 358 im Rückgriff auf Jan-­Dirk Müller: Aufführung – Autor – Werk. Zu einigen blinden Stellen gegenwärtiger Diskussion. In: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Ergebnisse der Berliner Tagung, 9. – 11. Oktober 1997. Hrsg. von Nigel Palmer und Hans-­ Jochen Schiewer. Tübingen 1999, S. 149 – 166, hier S. 158: „Es gibt den Autor im Mittelalter häufig nur im Plural.“ Nemes fasst unter den Begriff „Autor im Plural“ eine arbeitsteilige Literaturproduktion, die insbesondere für mystische Texte als grundlegend anzusetzen sei. Vgl. zu der These einer kollektiven Textentstehung frauenmystischer Texte, Bürkle: Weibliche Spiritualität, S. 138 im Hinblick auf das „Fließende Licht“ als „Gemeinschaftsprojekt […] eines Autorenkollektivs“. Vgl. auch zur kollektiven Autorschaft des Tösser Nonnenbuchs und dem Elsbeth-­Stagel-­Komplex in Schwesternbuch und Seuse-­ Vita, Bürkle: Literatur im Kloster, S. 237 – 246. 278 Bürkle: Literatur im Kloster, S. 233. 279 Ebd., S. 254, hier im Hinblick auf eine Textpassage in den „Offenbarungen“ (fol. 71r), die auf die Autorschaft des Engelthaler Schwesternbuchs anspielt.

258 | Narration und Autorschaft © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

als mit der Namensnennung verbundenen „Selbstentdeckung einer Autorin“ zu deuten sei, sondern vielmehr erst mit einer zumeist zeitlich versetzten Personalisierung und Dechiffrierung von Autorschaft in Verbindung stehe.280 Im Christine-­Ebner-­Corpus analysiert sie die voneinander differierenden (Rollen-)Entwürfe der schreibenden Autorin 281 und der textinternen Entstehungsszenarien, die in den Offenbarungen mit einer ‚eigenständig agierenden‘ Autorin 282 und in der Gnadenvita in der über den göttlichen Schreibbefehl autorisierten Zusammenarbeit von Schwester und Beichtvater texttypenspezifisch akzentuiert ­seien.283 Die Figur der schreibenden Visionärin erweise sich daher, wie Gott und ihr Beichtvater, als konstitutiv für die Erzählung einer Buchentstehungsgeschichte und die Programmatik der Texte.284 Im Rückgriff auf diese Ergebnisse hat zuletzt Balázs Nemes die Text- und Autorkonstitution des „Fließenden Lichtes“ unter einer überlieferungs- und textgeschichtlichen Perspektive anhand der deutschen und lateinischen Überlieferungszeugen untersucht, um in einem zweiten Schritt die Autorinnenpräsenz in der Überlieferung im Sinne von Autorschaft als Rezeptionsphänomen herauszuarbeiten. In akribischen Detailanalysen demonstriert er, wie das im Text auftretende Ich „im Laufe der Überlieferung identifiziert und infolge einer subjektzentrierten Lektüre als Person immer stärker konturiert“285 und schließlich an die namentlich benannte Autorperson Mechthild von Magdeburg angebunden wird. Die zunächst anonyme Textfigur werde auf diese Weise zur Autorfigur Mechthild personalisiert und fungiere als Referenzfigur für die Verfasserschaft des Textes.286 Er legt offen, dass 280 Bürkle: Literatur im Kloster, S. 235. 281 Vgl. zu texttypenspezifischen Autorentwürfen, die sich als Autorentypen betrachten lassen, Peters: Hofkleriker – Stadtschreiber – Mystikerin, S. 29 – 49, zum Typus der Mystikerin besonders S. 42 f. und S. 47: „Die in der Heimlichkeit ihrer vita religiosa schreibende, illiterate mulier religiosa ist eine in den Texten angelegte Autorinnenrolle, die zwar einen guten Eindruck von dem vornehmlich an Frauen demonstrierten Programm mystischer Gottesliebe zu vermitteln mag, uns jedoch keine hinreichenden Informationen über die faktische Entstehung frauenmystischer Texte, über das gesellschaftliche und spirituelle Umfeld ihrer Verfasserinnen liefert.“ Vgl. auch Bürkle: Weibliche Spiritualität, S. 139 f. Vgl. auch die Diskussion dieser Positionen bei Nemes: Von der Schrift zum Buch, S. 17 f. 282 Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 253. Doch auch hier werde die Autorschaft durch die handschriftliche Überlieferung nachträglich auf Christine Ebner hin konkretisiert, da zunächst im gesamten Text der Autorname fehle und erst durch die Nachträge zu N1 mit der Nennung der Christine Ebner, ihrem Geburtsjahr, Todestag und Todesjahr, ihrer Grabstätte und der Fürbitte für das Geschlecht der Ebner die Autorin bestimmt werden könne. 283 Vgl. ebd., S. 294 f. und S. 301 – 306. Diese unterschiedlich ausgestaltete Autorinnenrolle und den Schreibbefehl konzeptionalisiert sie als texttypologisches Abgrenzungskriterium von Offenbarungs- und Vitentext, wie oben diskutiert. 284 Vgl. Nemes: Von der Schrift zum Buch, S. 21, der Peters’ und Bürkles Ansatz der literarischen Konzeptionalität der Autorinnenrolle und ihrer rhetorischen Funktionalisierung in den Viten- und Offenbarungstexten zusammenfasst (S. 21 – 25). 285 Nemes: Von der Schrift zum Buch, besonders S. 358 f. 286 Vgl. ebd., hier S. 310 f.

Schreiber, Erzähler, Autorin? | 259 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

die Präsenz dieser durch Zuschreibungsprozesse erweiterten und persönlich konturierten Autorin einen Effekt in der Lektüre evoziert, der sich auf die Beurteilung der Einsiedler-­ Handschrift als vermeintlich authentischen, von der Autorin gestalteten und verantworteten ‚Autor-­Text‘ ausgewirkt hat.287 Für die Kempe-­Vita stellt sich nun vor dem Hintergrund der literarischen Autorinnenrolle und der textinternen Autorschaftsentwürfe, wie sie die germanistische Frauenmystikforschung problematisiert und konzeptionalisiert hat, die Frage, wie von göttlich inspirierter Autorschaft erzählt wird. Signifikant ist, dass die Margery-­Figur zunächst innerhalb des ersten Proömiums von der übergeordneten Erzählinstanz gerade nicht in ihrer Rolle als Autorin, sondern anonymisiert und ‚entindividualisiert‘ als creatur und handwerke eingeführt wird. Und es sind die bereits erwähnten Visionsberichte – vor allem die Nativitäts- und Passionsvisionen – die Liebesdialoge mit dem göttlichen Partner, die instruierenden Christusreden, die Tränengabe und die Gnadenrufe, die die eigentliche Basis des Schreibens bilden und den Akt der Verschriftlichung autorisieren. Von daher ist es nicht erstaunlich, dass sie den überwiegenden Anteil des Textes ausmachen.288 Die Visionen und Offenbarungslehren entfalten sich auf der Ebene des Erzählten, sie werden in den einzelnen Episoden als konkrete Wahrnehmungen und innere Empfindungen der Margery-­Figur vorgeführt, die sich als eine Art Reflektorfigur bestimmen lässt, wie oben ausgeführt. Erst der Dialog mit Gott konstituiert sie in ihrer Rolle als mulier sancta, die

287 Vgl. ebd., besonders S. 11 – 13 zu Neumanns textgeschichtlicher Auswertung der Einsiedler Handschrift und S. 47 zur „Rückkoppelung editorischer Entscheidungen an eine Autorpersönlichkeit“. Vgl. auch Kirakosian: Die Vita der Christina von Hane, S. 15 f., die in ihre Analyse den Fokus auf textinterne Autorisierungsstrategien des hagiographischen Erzählens und Fragen nach der Textautorisierung mystischer Vitenliteratur legt, die sie nicht unbedingt durch das Geschlecht der Verfasser bedingt sieht, sondern vielmehr durch den „Legitimationsbedarf“ der Versprachlichung göttlicher Offenbarungen. 288 Vgl. die Auflistung entsprechender Textpassagen zu den Visionsberichten in Anm. 521 und zu den göttlichen Liebesbeteuerungen in Anm. 522 in Kapitel 2.3.1 „Die ‚Offizialität‘ der rubrizierten Randeinträge – Richard Methley, John Norton und die Konzeption des amor sensibilis“. Vgl. in Auswahl: Kapitel 14, S. 30, 7 – 31, 35 belehrende Christusrede; Kapitel 15, S. 32, 9 – 23 Dialog, der die Pilgerreisen betrifft; den autorisierenden Dialog im Kontext der Eucharistievision, Kapitel 20, S. 47, 24 – 48, 24; Kapitel 21, S. 48, 26 – 49, 34 Gottesdialog und Marienerscheinung; monologische Christusrede zur Sündenvergebung und Gnadenfrucht, S. 50, 17 – 53, 7; Kapitel 29, S. 73, 35 – 37 göttliche Liebesversicherung in direkter Rede; Kapitel 32, S. 81, 16 – 82, 9 Dialog im Gebet; Kapitel 35, S. 87, 5 – 23 unio-­Dialog; Kapitel 36 instruierende Christusrede zur Askese, Gebets- und Kontemplationspraxis, Kapitel 36, S. 89, 26 – 90, 31; Kapitel 37, S. 91, 14 – 33 autorisierende Christusrede; Kapitel 41, S. 98, 24 – 27 instruierende Christusrede; Kapitel 56, S. 138, 35 – 139,2 autorisierende Christusrede; Kapitel 57, S. 141, 5–S. 142, 13 Dialog mit Gott; Christusrede zum zeitweiligen Entzug der Tränengabe, S. 155, 28 – 31. Kapitel 64, S. 157, 21 – 159, 20 Dialog mit Gott. Kapitel 65, S. 159, 21 – 161, 23 monologische Christusrede; Kapitel 66, S. 161, 24 – 162, 5 instruierende Gottesrede zur Aufhebung des Fleischverzichts.

260 | Narration und Autorschaft © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

sich dem Willen Gottes völlig unterwirft, wie etwa die göttlich angeordnete Askesepraxis,289 die Kleidervorschrift 290 und die Pilgerreisen 291 demonstrieren. Wenn man den Kempe-­Text in seiner Gesamtheit betrachtet, erscheint die Margery-­Figur zunächst nicht explizit in der Rolle einer eigenständig schreibenden Autorin,292 wie wir sie etwa aus den Vitentexten Margareta und Christine Ebners kennen, die weiter unten ausführlicher beleuchtet werden. Vielmehr wird ihr diese Rolle erst in der prologartigen Anfangspartie bzw. den epilogartigen ‚Buchkapiteln‘ in Form eines Erzählerberichts zugesprochen. Bevor die Margery-­Figur in ihrer Rolle als schreibende Autorin profiliert wird, eröffnet die übergeordnete Erzählinstanz den oben erwähnten Wahrheits- und Autorisierungsdiskurs, dessen zentrale Stationen die topische Unsagbarkeitsbekundung,293 das Aufsuchen geistlicher Autoritäten – worshepful clerkys, archebysshopys & bysshopys, doctowrs of dyuynyte & bachelers 294 – und schließlich die Legitimierung im Rahmen der discretio spirituum umfassen. Dabei wird die discretio spirituum-­Lehre in einzelnen Kapiteln auf der Ebene des Erzählten in konkreten Begegnungen der Margery-­Figur mit diversen Beichtvätern und spirituellen Beratern vorgeführt, zu denen der dominikanische Einsiedler, der deutschsprachige Priester Wenslaw, die Rekluse Juliana von Norwich, der Karmelitermönch William Southfield,295 Bischof Philip Repingdon und Thomas ­Arundel, 289 Vgl. Kapitel 66, S. 161, 24 – 162, 5 die instruierende Gottesrede, die den Fleischverzicht aufhebt. 290 Vgl. BMK, S. 32, 16: And, dowtyr, I sey to þe I wyl þat þu were clothys of whyte & non oþer colowr, for þu xal ben arayd aftyr my wyl. 291 Vgl. BMK, S. 32, 5 – 7: Owyr Lord bad hir in hir mend ij ȝer er þan sche went þat sche schuld gon to Rome, to Iherusalem, & to Seynt Iamys. 292 Diese Beobachtung macht Schoff: Three Medieval Authors, S. 98. 293 BMK, S. 3, 3 – 8: Ne hyr-­self cowd neuyr telle þe grace þat sche felt, it was so heuenly, so hy a-­bouen hyr reson & hyr bodyly wyttys, and hyr body so febyl in tym of þe presens of grace þat sche myth neuyr expressyn it wyth her word lych as sche felt it in hyr sowle. Than had þis creatur mech drede for illusyons & deceytys of hyr gostly enmys. 294 BMK, S. 3, 10 – 12. 295 Vgl. BMK , Kapitel 18, S. 41, 1 – 42, 5. Vgl. zur historischen Verifizierbarkeit des William Southfield BMK , notes 41/2 – 3 und 41/2, S. 278 und Appendix III . VIII , S. 374 f.: John Bale’s account of Wyllyam Sowthfeld: Anglorum Heliades, Capitulum 42, B. M. Harl., MS 3838, ff. 43b (32b)–35a (33a): Claruit hoc tempore in Nordouicensi cenobio vir Deo dignus & sanctus Guilhelmus Sothfelde, in quodam Nordouolgie pago oriundus. […] Homo simplex erat, sed incredibile deuotione preditus. […] Vnde totus ieiunijs intentus, orationi deditus, actione solicitus, & virtute probatus, visiones mirabiles habuit. Porro Christi genetrix Maria multotiens ei venit in colloquium, & ita familiarem ei se exhibuit, vt sepius cum eadem Horas Canonicas dicere per cellule sue rimas & auditus & visus sit […] Nordouici tandem in superos migrauit Vir Sanctus VII Kalendas Septembris Anno domini M. CCCCXIIII [26. Aug., 1414]. John Bale präsentiert William Southfield als vir sanctus, der selbst wundersame Visionen und Marienerscheinungen ‚erlebt‘ habe und daher im Rahmen der Narrativierung der Kempe-­Vita besonders ‚geeignet‘ für eine Beglaubigung der Margery-­Figur erscheint. Vgl. auch Diane Watt, die William Southfield als von Gott begnadeten Karmelitermönch aus Norwich ausweist (S. 71) Dies.: Saint Julian of the Acopalypse. In: A Companion to Julian of Norwich. Hrsg. von Liz Herbert McAvoy.

Schreiber, Erzähler, Autorin? | 261 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

der Erzbischof von Canterbury, gehören.296 Die Visionen und deren Autorisierung werden auf diese Weise auf der Ebene des Erzählten in Einzelepisoden dargestellt, die durch die ‚Lektürevorgaben‘ der Prologpartie in gewisser Weise vorstrukturiert und auf die Beglaubigungsthematik hin fokussiert werden. Der objektivierende Erzählerbericht in der ersten Prologpartie lässt die ‚Wahrheit‘ des Berichteten für sich sprechen, während die einzelnen Kapitel die Bekenntnis- und Glaubensprüfungssituationen als konkretes Figurengeschehen vor Augen führen. Erst danach setzt die eigentliche Profilierung der Autorinnenrolle mit dem oben diskutierten Schreibbefehl ein, der den Text als Offenbarungsschrift und Ausführung des göttlichen Verschriftlichungswunsches legitimiert. Wohl aus ­diesem Grund thematisiert der auktorial anmutende Erzähler im Proömium so ausführlich die Verzögerung des eigentlichen Schreibbeginns, der erst nach der Erteilung des göttlichen Schreibbefehls erfolgt.297 Den eigentlichen Schreibbefehl, der als Begründung des Schreibens fungiert, handelt der Erzähler in einem einzigen Satz ab.298 Offenbar ist der Verweis auf diesen als ­Legitimationsstrategie Cambridge 2008, S. 64 – 75. Vgl. auch Eddie A. Jones: Anchoritic Aspects of Julian of Norwich. In: A Companion to Julian of Norwich. Hrsg. von Liz Herbert McAvoy. Cambridge 2008, S. 75 – 88, hier S. 80. 296 Vgl. die göttliche Aufforderung, dem dominikanischen Einsiedler die Gnadengeheimnisse zu eröffnen, Kapitel 5, S. 17, 34: Than þis creatur went forth to þe ankyr, as sche was comawndyd, & schewyd hym þe reuelacyons swech as wer schewyd to hir. Þan þe ankyr wyth gret reuerens & wepyng, thankyd God seyd, „Dowtyr, ȝe sowkyn euyn on Crystys brest […]“. Das Bekenntnis bei der Audienz mit Bischof Philip Repingdon, Kapitel 15, S. 33, 32 – 34, 2: And so sche prayd hym þat sche mygth speke wyth hym in cownsel & schewyn hym þe secretys of hir sowle […]. Whan þe tyme cam, sche schewyd hym hyr medytacyons, & hy contemplacyons & oþer secret thyngys boþe of qwyk & of ded as owyr Lord schewyd to hir sowle. He was rygth glad to heryn hem […] seyyng þei wer hy maters & ful deuowt maters & enspyred of þe Holy Gost […]. Vgl. die Audienz bei Erzbischof Arundel, Kapitel 16, S. 36, 29 – 37, 4, die ebenfalls das Bekenntnis der Begnadung und die Autorisierung durch den Erzbischof thematisiert: & so sche schewyd þis woshepful lord hir maner of leuyng & swech grace as God wrowt in hyr mende & in hir sowle to wetyn what he wold sey þerto, ȝyf he fond any defawte eyþyr in hyre contemplacyon er in hir wepyng. […] And he fond no defawt þerin but a-­prevyd hir maner of leuyng & was rygth glad þat owyr mercyful Lord Cryst Ihesu schewyd swech grace in owyr days, blyssed mot he be. Vgl. das Bekenntnis, das die Margery-­Figur vor dem Vikar der St Stephen-­Kirche in Norwich ablegt, BMK , Kapitel 17, 39, 16 – 40, 18. Vgl. die göttlich angeordnete Audienz mit Juliana von Norwich, Kapitel 18, S. 42, 7 – 24: & þan sche was bodyn be owyr Lord for to gon to an ankres in þe same cyte whych hyte Dame Ielyan. & so sche dede & schewyd hir þe grace þat God put in hir sowle of compunccyon, contricyon, swetnessse & deuocyon, compassyon wyth holy meditacyon & hy contemplacyon, & ful many holy spechys & dalyawns þat owyr Lord spak to hir sowle, and many ­wondirful reuelacyons whech sche schewyd to þe ankres to wetyn yf þer wer any deceyte in hem, for þe ankres was expert in swech thyngys & good cownsel cowd ȝeuyn. Þe ankres, heryng þe meruelyows goodnes of owyr Lord, hyly thankyd God wyth al hir hert for hys visitacyon, cownselyng þis creatur to be obedyent to þe wyl of owyr Lord God […]. 297 Vgl. BMK, S. 3, 28 – 30: & so it was xx ȝer and mor fro þat tym þis creatur had fyrst felyngys & reuelacyons er þan sche dede any wryten. 298 Vgl. BMK, S. 6, 11 – 12: And many ȝerys aftyr sche was bodyn in hyr spyrit for to wrytyn.

262 | Narration und Autorschaft © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

inszenierten Schreibbefehl ausreichend, um das Schreiben des Textes zu begründen. Die literarische Umsetzung des Schreibaktes und die mit ihm verbundenen unterschied­lichen Legitimationsstrategien korrelieren mit dem Konzept geistlicher Autorschaft.299 Wie ­Christel Meier ausführt, bedarf geistliche Autorschaft seit dem 12. Jahrhundert durch einen höheren Authentizitätsanspruch – der im Kempe-­Text durch die ‚persönliche‘ Gotterfahrung bedingt ist – eines dringenderen Autorisierungsbedarfs.300 Und es scheint, dass dieser Autorisierungsbedarf in der Erzählweise des Kempe-­Textes mit dem schreibenden Priester in der Rolle des übergeordneten Erzählers narrativ umgesetzt ist. Denn die Erzählerfigur des Schreibers kann durch seine kontinuierliche Präsenz, die die in den Text vereinzelt eingestreuten Ich-­Einmischungen suggerieren, die Echtheit der Gnadenerfahrung und damit die Basis der Konzeption geistlicher Autorschaft ‚persönlich‘ garantieren. Einzig im zweiten Buch wird die Suggestion einer persönlichen Anwesenheit des Schreibers durch eine Erzählerbemerkung gebrochen: Yf þe namys of þe placys be not ryth wretyn, late no man merueylyn, for sche stodyid mor a-­bowte contemplacyon þan þe namys of þe placys, & he þat wrot hem had neuyr seyn hem & þerfor haue hym excusyd.301

Dagegen profiliert ihn das oben diskutierte Kapitel 75 ausdrücklich als Augenzeugen einer Heilung, die die göttliche Fürsprache der Margery-­Figur initiiert hat.302 Wie bereits im Hinblick auf die Originalfassung deutlich wurde, bewirkt die Erzählweise eine bewusste Verschleierung bzw. Mystifizierung der genauen Einzelheiten des Zusammenwirkens von Schreiber und Margery-­Figur, das sich nicht stimmig entschlüsseln lässt, aber dennoch den gesamten Text prägt. Entscheidend ist offenbar allein, dass die Zusammenarbeit als Gnadenakt und Ausführung des göttlichen Willens konturiert wird, wie etwa aus der oben erwähnten Gottesrede des epilogartigen ‚Buch‘-Kapitels 88 und dem Erzählerbericht in Kapitel 89 hervorgeht.303 Auf diese Weise konstituieren Erzähler- und Gottesrede die Autorinnenrolle, die sie der Protagonistin zuschreiben. In beiden Fällen ist die Entfaltung der Autorin an eine Form der ‚Rede‘ gebunden, der direkten Gottesrede, die gleichzeitig 299 Vgl. Bürkle: Die Offenbarungen der Margareta Ebner, S. 101: „Diesen implizit formulierten hohen Anspruch, der aber nichts anderem als der Legitimation der Wahrheit dient, entspricht das Konzept geistlicher Autorschaft, das dem emphatischen der Neuzeit – der Autor als Schöpfer von Sinn und das Werk als sein Ausdruck, der Leser als Aneigner von Bedeutung – diametral entgegensteht.“ 300 Vgl. Meier: Autorschaft im 12. Jahrhundert, S. 210. 301 BMK, liber secundus, Kapitel 4, S. 233, 8 – 12. 302 Vgl. die Ausführungen in Kapitel 3.1. „Erzählinstanzen des Margery Kempe-­Textes“. 303 Vgl. BMK , S. 216, 1 – 20. Vgl. auch den bereits erwähnten Erzählerbericht in Kapitel 89, S. 219, 1 – 10 zu den Gnadenerweisungen, die dem Schreiber und der Margery-­Figur während des Schreibpro­ zesses zuteilwerden.

Schreiber, Erzähler, Autorin? | 263 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

auf der Ebene des Erzählten den Status des eigentlichen Mediums der Gotteserfahrung beanspruchen kann, und der Erzählerrede.304 Und diese Erzählerrede, die stellenweise mit der Perspektive des schreibenden Klerikers konvergiert, vermittelt den Autorschafts- und Autorisierungsdiskurs. Dies zeigt sich wiederum in der Konkretisierung der Verschriftlichung in der bereits erwähnten Episode in Kapitel 15, in dem der Erzähler berichtet, wie Bischof Philip Repingdon der Margery-­Figur zur Abfassung ihrer Visionen rät und sie einzig den göttlichen Schreibbefehl gelten lässt: cownselyng hir sadly þat hir felyngys schuld be wretyn. & sche sayd þat it was not Goddys wyl þat þei schuld be wretyn so soon, ne þei wer wretyn xx ȝer aftyr & mor.305 Eine ähnliche Zeitangabe tritt in Kapitel 87 in Verbindung mit einer Erzählerbemerkung zur Verschriftlichung auf: þe sayd creatur had continuyd hir lyfe þorw þe preseruyng of owr Sauyowr Crist Ihesu mor þan xxv ȝer whan þis tretys was wretyn […].306 Auch die zeitliche Dauer der Gnadenerfahrungen benennt der Erzähler mit der gleichen ungefähren Zeitangabe im Zusammenhang mit dem Abfassungsprozess: And sche had ben vsed to swech tokenys a-­bowt xxv ȝer at þe writyng of þis boke.307 Durch das Aufgreifen dieser Jahresangaben xx ȝer or mor 308 bzw. xxv ȝer 309 in den Kapiteln 36, 87 und den beiden Prologpartien zeigt der Erzähler die, wenn auch nur vage vorhandene, zeitliche Strukturiertheit der Gnadenerzählung. Und die Wiederholung dieser Angaben verleiht dem Text Glaubwürdigkeit im Sinne eines vorgeblich authentischen und dabei durchdacht erscheinenden Gnadenlebens. Gleichzeitig suggerieren diese Angaben, dass es sich bei den Proömien um erst nachträglich hinzugefügte Textpassagen handeln könnte. Diesen Eindruck erweckt zumindest die Textpassage in Kapitel 18, die das Zusammentreffen mit dem visionsbegabten Karmelitermönch William Southfield aus Norwich schildert. Denn das erste Proömium ruft einzelne Formulierungen des 18. Kapitels auf, wie etwa die direkte Rede William Southfields demonstriert: „Syster“, he seyd, „dredyth ȝe not ȝowr maner of leuyng, for it is þe Holy Gost werkyng plentyuowsly hys grace in ȝowr sowle. […] for we alle be bowndyn to þankyn hym for ȝow, þat now in owyr days wel inspir hys grace in ȝow to þe help & comfort of us alle whech arn supportyd be ȝowr preyers & be swech oþer as ȝe ben. And we arn preservyd fro many myschevys & dysesys whech we schuld sufferyn & w ­ orthily for owyr trespas ne wer swech good creaturys a-­mong vs.“  310

304 Vgl. Emmelius: Das visionäre Ich, besonders S. 369 f. und S. 387 f., die den Status der visionären Ich-­ Rede als Medium göttlicher Offenbarungen herausgearbeitet hat. 305 BMK, S. 34, 6 – 7. 306 BMK, S. 214, 29 – 30. 307 BMK, S. 91, 6 – 8. 308 BMK, 3, S. 29. Vgl. die zweite Prologpartie, S. 6, 5: for it was xx ȝer & mor fro tym þis creatur had forsake þe world and besyly clef on-­to ower Lord or þis boke was wretyn. 309 BMK, Kapitel 36, S. 91, 6 – 8. 310 BMK, S. 41, 12 – 21. Vgl. BMK, Prolog, S. 1, 1 – 7: Here begynnyth a schort tretys and a comfortabyl for ­synful wrecchys, where-­in þei may have gret solas and comfort to hem and vndyrstondyn þe hy and vnspekable

264 | Narration und Autorschaft © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Deutlicher wird ­dieses Verfahren im Hinblick auf die inversio, die William Southfield thematisiert: for he may ȝevyn hys ȝyftys wher he wyl & of vnworthy he makyth worthy, of synful he makyth rygtful [Hervorhebung d. Verf.].311 Eine sehr ähnliche Formulierung findet sich auch in Kapitel 21, diesmal in einer Gottesrede: Haue mend, dowtyr, what Mary Mawdelyn was, Mary Eypcyan,312 Seynt Powyl, & many oþer seyntys þat arn now in Hevyn, for of vnworthy I make worthy, & of synful I make rytful [Hervorhebung d. Verf.].313

Hier zeigt sich, dass die erste Prologpartie innerhalb des objektivierenden Erzählerberichts zumindest punktuell die autorisierende Figurenrede aus den Kapiteln 18 und 21 anzitiert. Die Entsprechungen erweisen die ‚Wahrheit‘ des Erzählerberichts: Denn er wirkt, als ob er aus den einzelnen Kapiteln kompiliert worden ist, die der Erzähler in seiner ‚auktorialen Allwissenheit‘ souverän überschaut. Die oben diskutierten Ich-­Einschübe, die den dritten Schreiber zumindest stellenweise als kommentierenden Erzähler dechiffrieren, umgeben die Prologpartie mit der Aura einer persönlich verbürgerten Autorität: Der objektivierende Berichtstil, der die Wahrheit des Berichteten quasi für sich selbst sprechen lässt, kann durch die Ich-­Einmischungen an die Erzählerfigur des schreibenden Priesters als ‚Aussagesubjekt‘ zurückgebunden werden. Wenn man davon ausgeht, dass der schreibende Priester den übergeordneten Erzählerbericht zu verantworten hat, wie es auch die oben diskutierte textinterne Angabe zur Abfassung der ersten Prologpartie nahelegt,314 dann ist er auf der Ebene des Erzählens derjenige, der die Margery-­Figur in ihrer Rolle als Autorin profiliert: Der göttliche Schreibbefehl, die Schreibersuche und das Begnadungswunder, das den schreibenden Priester in die Lage versetzt, die ‚Originalfassung‘ des ersten Schreibers zu redigieren, lassen sich als Teil der in der Einleitung erwähnten Konzeption einer „delegierten auctor-­autoritas“ (S. Bürkle) fassen, in der die endgültige Autorität über den Text und seine Entstehung allein dem göttlichen Partner vorbehalten bleibt. Diese Autorschaftskonzeption entfaltet sich vornehmlich auf der discours-­Ebene. Denn der Erzähler vermittelt in seinem Bericht die Vorstellung einer von Gott auf die Visionärin übertragenen Autorität und bezeugt sie in

mercy of ower souereyn Sauyowr Cryst Ihesu […] þat now in ower days to vs vnworthy deyneth to exercysen hys nobeley & hys goodnesse. 311 BMK, S. 41, 26 – 27. Vgl. dazu die oben diskutierte Prologpartie zur inversio, BMK, S. 1, 22 – 26. 312 Vgl. zu Maria von Ägypten als Heilige, die für ihren Lebenswandel büßt und sich in die Einsamkeit der Wüste zurückzieht: LexMA, Volume 6, Col. 275. 313 BMK, S. 49, 24 – 26. 314 Vgl. BMK, S. 5, 29 – 32: whan he had wretyn a quayr, he addyd a leef þerto, and þan wrot he þis proym to expressyn more openly þan doth þe next folwyng, whech was wretyn er þan þis.

Schreiber, Erzähler, Autorin? | 265 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

seiner Rolle als privilegierter Augenzeuge.315 Die Margery-­Figur als eine den Rückzug aus der Welt zelebrierenden mulier religiosa bedarf aufgrund ihrer fehlenden Ordenszugehörigkeit gerade der Erzählerstimme eines priesterlichen Schreibers zur Autorisierung ihres Textes, während die im Kloster Maria Medingen lebende Dominikanerin Margareta Ebner dezidiert als Verfasserin auftreten und in dem ihr zugeschriebenen Text selbst ‚das Wort ergreifen kann‘, wie weiter unten diskutiert.316 Den Angaben des ersten Proömiums zufolge steuert die Margery-­Figur den Abfassungsund Redaktionsprozess des Textes, indem der Sekretär ihr die ‚Originalfassung‘ des ersten Schreibers Wort für Wort vorliest und sie den genauen Wortlaut des Textes erinnern kann.317 Dabei spielt der Erzähler auch auf etwaige Erinnerungslücken an, da sich die Gnadenerfahrung als äußerst flüchtig erweist und deshalb sogleich den Beichtvätern mitgeteilt werden sollte.318 Er schreibt der Margery-­Figur die Rolle der göttlich inspirierten Autor- und Beglaubigungsinstanz zu: sche dede no þing wryten but þat sche knew rygth wel for very trewth.319 Der Erzähler stilisiert die lose narrative Anordnung des Textes zum Ausweis seiner Authentizität, obwohl sich sehr wohl innerhalb des Textes eine gewisse thematische Strukturierung der episodischen und thematischen Reihung feststellen lässt. Gleichzeitig zeigt sich hier eine Verschränkung des mit dem Autorschaftskonzept verbundenen Authentizitätsanspruchs und der Autorität des Textes, die aus eben d ­ iesem ‚authentischen Gotteserlebnis‘ resultiert.320 315 Vgl. dazu die Überlegungen von Meier: Autorschaft im 12. Jahrhundert, S. 210 f. Vgl. Kirakosian: Die Vita der Christina von Hane, besonders S. 100 f., S. 115 f. zur Wirkungsmächtigkeit einer solchen auf der Erzählebene entworfenen Augenzeugenschaft: „Das Urteil und die Wertung eines Augenzeugen sind daher nicht nur auf einer hagiographischen Autorisierungsebene von Bedeutung. Die Stimme eines exegetisch versierten Hagiographen führt über die Erzählebene hinaus und richtet sich dabei nicht wie so oft im Beichtvater-­Topos angenommen realhistorisch an die Mystikerin, sondern mit textpragamatischem Anspruch an den impliziten Leser.“ 316 Vgl. dazu die Ausführungen unten in Kapitel 4.2 „Die Figurationen der Ich-­Erzählerin und die Konzeption des Erzählens in den ‚Offenbarungen‘“. 317 Vgl. BMK, S. 5, 8 – 12: Þe preste, trustyng in hire prayers, be-­gan to redyn þis booke, & it was mych mor esy as hym thowt, þan it was be-­forn-­tym. & so he red it ouyr be-­forn þis creatur euery word sche sum-­tym ­helpyng where ony difficulte was. 318 Vgl. BMK, S. 201, 39 – 202, 5: Ȝyf on of hir confessowrys come to hir whan sche ros up newely fro hir contemplacyon er ellys fro hir meditacyon, sche cowde a telde hym meche thyng of þe dalyawnce þat owr Lord dalyid to hir sowle, & in a schort tyme aftyr sche had forȝetyn þe most party þerof & ny euerydeel. Vgl. zur Erinnerungs- und Aufbewahrungsfunktion von Schrift und der mittelalterlichen Vorstellung, dass nur das geschriebene Wort nicht vergessen werden kann: Klaus Grubmüller: Überlieferung – Text – Autor. In: Die Präsenz des Mittelalters in seinen Handschriften. Ergebnisse der Berliner Tagung in der Staatsbibliothek zu Berlin 6. – 8. April 2000. Hrsg. von Hans-Jochen Schiewer und Karl Stackmann. Tübingen 2002, S. 5 – 17, hier S. 14 f. 319 BMK, S. 5, 17 – 18. Vgl. auch BMK, S. 220, 14: for sche had no joye in þe felyng tyl sche knew be experiens wheþyr it was trewe er not. 320 Vgl. dazu die Überlegungen bei Sara S. Poor: Gender und Autorität in der Konstruktion einer schriftlichen Tradition. In: Autorität der/in Sprache, Literatur, Neue Medien. Vorträge des Bonner

266 | Narration und Autorschaft © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Dagegen präzisiert das zweite Proömium die Aussage über die Schreibtätigkeit, obwohl das erste Proömium den Anspruch auf Genauigkeit erhebt.321 Erst das zweite Buch erweist sich als Diktat der Visionärin, wie die kurze prologartige Anfangspartie indiziert.322 In dieser Autorin-­ Schreiber-­Konstellation lässt sich der Schreiber als „actor“ (J.-D. Müller), als Ausführender des Schreibvorgangs fassen,323 während die Autorin in ihrer Rolle als Botin der göttlichen Offenbarungsbotschaft die Kontrolle über die schriftliche Aufzeichnung übernimmt.324 Dies indiziert die Formulierung aftyr hyr own tunge, die gleichzeitig auf die als ‚Kommunikation‘ ­zwischen Priester und der Margery-­Figur imaginierte Textgenese verweist. Denn das Diktat der Visionärin an ihren klerikalen Schreiber verleiht dem Kempe-­Text eine Art „bekenntnishaften Gestus“325 (S. Bürkle) und evoziert eine Art „bekenntnishaften Charakter des Erzählten“,326 der in einzelnen Kapiteln in konkreten Bekenntnissituationen vorgeführt wird, wie bereits erwähnt. Diese Bekenntnis- und Beglaubigungsszenarien der histoire konkretisieren den Ursprung der Kempe-­Vita als Offenbarungsgeheimnis, das erst durch die Verschriftlichung des Buches seine Wirkung in der Öffentlichkeit entfalten kann: hyr felyngys & reuelacyons & þe forme of her leuyng þat hys goodnesse myth be knowyn to alle þe world.327 Auf diese Weise ruft der Kempe-­Text hier das Spannungsverhältnis z­ wischen „Veröffentlichungsanspruch und Verbergenswunsch“328 auf, das aus der inneren und von der Außenwelt verborgenen Begnadung der Margery-­Figur und der Bekanntmachung und ‚Veröffentlichung‘ dieser Gnadengeheimnisse resultiert und sich als grundlegende Komponente, „als konstitutives Versatzstück der Rhetorik der Verschriftlichung des hagiographischen mystischen Diskurses“329 fassen lässt. Germanistentages 1997, Band 2. Hrsg. von Jürgen Fohrmann, Ingrid Kasten und Eva Neuland. ­Bielefeld 1999, S. 539 f. Vgl. Jan-­Dirk Müller: Auctor – Actor – Author. Einige Anmerkungen zum Verständnis von Autor in lateinischen Schriften des frühen und hohen Mittelalters. In: Felix ­Philipp Ingold/Werner Wender (Hrsg.): Der Autor im Dialog. Beiträge zu Autorität und Autorschaft. St. Gallen 1995, S. 17 – 31. 321 Vgl. BMK, S. 6, 23: And so he gan to wryten in þe ȝer of owr Lord a m.cccc.xxxvj on þe day aftyr Mary Maudelyn aftyr þe informacyon of þis creatur. 322 Vgl. BMK, S. 221, 1 – 12: Afftyr þat owr Souereyn Sauyowr had take þe persone whech wrot first þe tretys ­aforn-­seyd to hys many-­fold mercy, and þe preiste of whom is be-­forn wretyn had copijd þe same tretys aftyr hys sympyl cunnyng, he held it expedient to honowr of þe blisful Trinite þat hys holy werkys xulde be notifyid & ­declaryd to þe pepil […] to þe worschip of hys holy name. And þan he gan to writyn in þe ȝer of owr Lord m.cccc.xxxviij in the fest of Seynt Vital Martyr sweche grace as owr Lord wrowt in hys sympyl creatur ȝerys þat sche leuyd aftyr, not alle but summe of hem, aftyr hyr owyn tunge. 323 Müller: Auctor – Actor – Author, S. 18. 324 Vgl. BMK, S. 4, 10 – 11: as mech as sche wold tellyn hym for þe tym þat þei wer to-­g yddyr. 325 Bürkle: Literatur im Kloster, S. 304. Susanne Bürkle arbeitet den „bekenntnishaften Gestus“ der Gnadenvita der Christine Ebner heraus, der „in der Konstellation ‚hagiographische Ich-­Figur‘ und ‚Christine-­ Textsubjekt‘ narrativ realisiert“ ist. 326 Ebd., S. 304. 327 BMK, erste Prologpartie, S. 3, 32 – 4, 2. 328 Emmelius: Begnadung und Zweifel, S. 314. 329 Bürkle: Literatur im Kloster, S. 261.

Schreiber, Erzähler, Autorin? | 267 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Erzähltechnisch betrachtet, autorisiert die Erzählerfigur des schreibenden Klerikers die Wahrheit des Berichteten. Insofern depotenziert das Vorhandensein dieser Schreiber/ Erzähler-­Figur nicht den Autorinnenstatus der Margery-­Figur, sondern konstituiert ihn vielmehr erst.330 Von daher lässt die textinterne Präsentation von Autorschaft, die hier als heilsgeschichtlich dimensionierte ‚Geschichte‘ einer göttlich inspirierten Visionärin und ihrer Schreiber konkretisiert erscheint, wohl kaum Rückschlüsse auf vermeintliche Anteile dieser Schreiber zu. Dabei begründet das komplexe Zusammenspiel der unterschiedlichen Erzählebenen bzw. die partiell nachweisbare Kongruenz von Schreiber- und Erzählerfigur die Vorstellung gottinspirierter, weiblich konnotierter Autorschaft. Der Erzähler vermittelt den Autorschafts- und Autorisierungsdiskurs, der den Einzelepisoden übergeordnet ist, auf der Basis der persönlichen Auserwähltheit und Begnadung, wie sie die Gottesreden entfalten. Die Wirkungsmächtigkeit dieser Autorschaftspräsentation zeigt sich auf der überlieferungs- und textgeschichtlichen Ebene in den Druckfassungen des 16. Jahrhunderts, die die gedruckten Auszüge einer namentlich ausgewiesenen und örtlich genau lokalisierbaren Autorin zuschreiben und auf diese Weise der in der Kempe-­Vita angelegten Autorinszenierung folgen. Denn sie kombinieren die Angaben zur Verschriftlichung, die besonders in die Prologpartie und die epilogartigen Kapitel inseriert sind, zur Vorstellung einer namentlich ausgewiesenen (Autor-)Person.

330 Vgl. dagegen Schoff: Three Medieval Authors, S. 98, die die Einflussnahme des ersten Schreibers auf die Verschriftlichung des Kempe-­Textes konstatiert, allerdings ohne entsprechende Textbelege anzuführen: „Interference by the first scribe, which is at all points possible and at some points even explicit in the text’s composition, has also compromised the status of this dictated narrative as a text authored by Kempe.“ Sie referiert auf den oben diskutierten Beitrag von John C. Hirsh: Author and Scribe, S. 149. Wie bereits erwähnt, sieht Hirsh in dem dritten Schreiber den eigentlichen Autor des Textes, der die ‚diffusen‘ Gedanken- und Erinnerungsberichte geordnet und mit theologisch gelehrten Kommentaren versehen habe. Im Gegensatz dazu geht Holbrook von Margery Kempe als neuzeitlicher Autorin aus, wie in der Einleitung diskutiert. Vgl. Holbrook: „About her“, S. 273: „In these several ways – deciding when to have the book made, selecting the material, overseeing the revision, and organizing the production through a variety of resources and contractual arrangements – the text represents Margery Kempe as the chief maker of the book: she is the writer in the essential modern sense of the word.“

268 | Narration und Autorschaft © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

4 Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen des 14. und 15. Jahrhunderts

4.1 Autorinnenpräsenz in der Überlieferung? Einige Anmerkungen zur Überlieferungsgeschichte der Medinger „Offenbarungen“ und der Kempe-Vita Ein vergleichender Blick auf die deutschsprachige Margareta Ebner-­Forschung zeigt, dass die wohl um das Jahr 1350 im Kloster Maria Medingen in Mödingen (Landkreis Dillingen) entstandenen „Offenbarungen“1 zunächst auf ähnliche Weise wie der Kempe-­Text als ‚tagebuchartige Aufzeichnungen‘ gedeutet worden sind.2 Die völlig unterschiedliche erzählerische Vermittlung – eine konstante Ich-­Rede in den „Offenbarungen“ und eine Narrativierung in der dritten Person mit gelegentlichen Ich-­Einschüben in der Kempe-­Vita – spielt bei diesen Einschätzungen offenbar keine Rolle. Denn die Ansätze der anglistischen Kempe-­ Forschung und die älteren, germanistischen Beiträge zu Margareta Ebner gleichen sich auf frappierende Weise. So sieht Manfred Weitlauff in den „Offenbarungen“ „ganz persönliche (also nicht von einem Beichtvater oder Seelenführer redigierte oder gefilterte bzw. ‚klosterpädagogisch‘ zurechtgerückte) Aufzeichnungen“ in Form eines „geistlichen Tagebuchs“,

1

2

Die Schreibsprache der ältesten Handschrift M, Maria Medingen (Mödingen/Dillingen), Klosterbibliothek (Vita Beatae Margarithae Ebner) lässt sich Elisabeth Wunderles detaillierter Handschriftenbeschreibung zufolge dem schwäbischen Sprachraum zuordnen und könnte damit im Kloster Maria Medingen selbst entstanden sein, vgl. Handschriftenbeschreibung Margareta Ebner unter www. bayerische-­landesbibliothek-­online.de/images/pdf/medingenwunderle.pdf, [28. 08. 2018] S. 2 im Folgenden zitiert als Wunderle, Handschriftenbeschreibung. Der Besitzeintrag aus dem späteren 15. Jahrhundert auf fol. 101v weise die Handschrift M klar als Eigentum des Klosters aus: Diß búch gehört in das closter cz Medingen predier ordens. Vgl. den Schreiberkolophon der Handschrift M fol. 95v: Virgo mater dei tu miserere mei. Anno Domini McccLiii in die Urbani completus est iste liber. Got lauz mich aller guoter werk genissen. Got lauz vnz nimer ersterben daz wir e vor sin huld erwerben Minn gotes vor allen dingen so mag dir etc. Zitiert nach dem Digitalisat der Handschrift M eingesehen unter www. bayerische-­landesbibliothek-­online.de/ebner-­maria-­medingen. [10.  08.  2018]. Vgl. die Angaben bei Strauch, ME , S. xv zur Handschrift M: Bl. 1 – 95 Offenbarungen; Bl. 98v–101v Paternoster Bl. 96v–98r leer. Vgl. auch die Angabe bei Bürkle: Die Offenbarungen der Margareta Ebner, S. 91. Vgl. zur Datierung der Handschrift Nemes: Von der Schrift zum Buch, S. 373 und Janota: Gnadenviten, S. 127. Vgl. den detaillierten Forschungsbericht zu Margareta Ebner in Bürkle: Die Offenbarungen der Margareta Ebner, S. 84 – 86. Vgl. die Ausführungen zum Kempe-­Text als ‚Autobiographie‘ in der Einleitung der vorliegenden Arbeit. Vgl. die genaue Übersicht über die ältere Ebner-­Forschung in Bürkle: Die Offenbarungen der ­Margareta Ebner, S. 86.

Autorinnenpräsenz in der Überlieferung? | 269 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

das präzise Informationen über die Biographie der Protagonistin bietet.3 Dabei steht die neuzeitliche Vorstellung eines individuellen, tagebuchartigen Schreibens in Opposition zu unserem Wissen um die spezifischen Entstehungsbedingungen der klösterlichen Literatur im Rahmen einer institutionellen Einbindung in die Literatur- und Lebenswelt des Klosters.4 Eine neue Richtung für das Textverständnis hat Susanne Bürkle in ihrer Untersuchung des autobiographischen Status des Margareta-­Ebner-­Textes aufgezeigt. Ausgehend von Philippe Lejeunes literaturtheoretischen Überlegungen zum „autobiographischen Pakt“ als rezeptionsästhetischer Kategorie hat sie die literarische Konstruiertheit der „Offenbarungen“ nachgewiesen, die im Gestus einer Offenbarungsschrift mit charakteristischen autobiographischen und hagiographischen Elementen konzipiert s­eien.5 Diesen Ansatz greift Barbara Koch in ihrem Beitrag zu Margareta Ebner in dem Sammelband zu ‚heiligen‘ Frauen des Mittelalters auf.6 Allerdings überwiegt auch in den neueren Untersuchungen von Johannes Janota, Bruno Quast und Freimut Löser eher die Ansicht, dass es sich bei den Medinger „Offenbarungen“ um verschriftlichte ‚Erfahrungen‘ handelt,7 auch wenn Janota in seinem K ­ apitel zur 3

4 5

6

7

Manfred Weitlauff: „dein got redender munt machet mich redenlosz “ Margareta Ebner und Heinrich von Nördlingen. In: Religiöse Frauenbewegung und mystische Frömmigkeit im Mittelalter. Hrsg. von Peter Dinzelbacher und Dieter R. Bauer. Köln, Wien 1988, S. 303 – 353, besonders S. 303. Weitlauff begreift die „Offenbarungen“ als „Aufzeichnungen einer schlichten […] Persönlichkeit“ (S. 346) und das Produkt einer „schlichten Nonne“ (S. 348). Auf diese Weise argumentiert er mit einem Klischeebild, dass dem literarischen Anspruch der „Offenbarungen“ kaum gerecht wird. Weitlauffs Äußerungen lassen sich der älteren Ebner-­Forschung zuordnen, die den Text primär als „Autobiographie“ (Karl Bihlmeyer: Die Selbstbiographie in der deutschen Mystik des Mittelalters. In: Theologische Quartalschrift 114 (1933), S. 504 – 544, hier S. 522) oder „mystische Memoiren“ (Ludwig Zoepf: Die Mystikerin Margaretha Ebner (c. 1291 – 1351). Leipzig 1914 (Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance 16), S. 42) begreifen und die Schilderungen von Krankheit, Leiden und ‚übersteigerter Frömmigkeit‘ als Resultat einer an Hysterie und der Strenge des Klosterlebens leidenden, kindlich frommen ‚Frauenseele‘ ansehen. Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, besonders S. 57 – 72 und S. 159 f. Vgl. Bürkle: Die Offenbarungen der Margareta Ebner, besonders S. 101. Der „autobiographische Pakt“ bezeichnet nach Lejeune eine Art „Lektürevertrag“, der auf der Erzählung des eigenen ‚Lebens‘ aus der Retrospektive basiert und die Übereinstimmung der Identität ­zwischen Autor, Ich-­Erzähler und dem Protagonisten voraussetzt, vgl. Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Horning. Frankfurt 1994 (edition suhrkamp 1896), S. 14 – 16. Vgl. Barbara Koch: Margaret Ebner. In: Medieval Holy Women in the Christian Tradition c. 1100–c.1500. Hrsg. von Alaistir Minnis and Rosalynn Voaden. Turnhout 2010 (Brepols Essays in European Culture), S. 393 – 410. Dieser Sammelband bietet einen guten Überblick über ‚heilige‘ Frauengestalten des Mittelalters und die weibliche Frömmigkeitspraxis der christlichen Tradition in der Zeit von 1100 – 1500. Vgl. Janota: Gnadenviten, S. 106 – 129. Ders.: Freundschaft auf Erden und im Himmel. Die Mysti­ kerin Margareta Ebner und der Gottesfreund Heinrich von Nördlingen. In: Impulse und Resonanzen: Tübinger mediävistische Beiträge zum 80. Geburtstag von Walter Haug. Hrsg. von Gisela Vollmann-­Profe [u. a.] Tübingen 2007, S. 276. Bruno Quast: drücken und schriben. Passionsmystische Frömmigkeit in den „Offenbarungen“ der Margarethe Ebner. In: Gewalt im Mittelalter: Realitäten, Imaginationen. Hrsg. von Manuel Braun und Cornelia Herberichs. München 2005, S. 293 – 307.

270 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

­ iteraturgeschichte des Mittelalters aus dem Jahr 20048 und Löser in seiner 2012 erschieneL nen Studie zunächst die schriftliche Verfasstheit und literarische Gestaltung der frauenmystischen Viten- und Offenbarungstexte bzw. der textintern präsentierten ‚Schreibentwürfe‘9 betonen. Allerdings rekurrieren sowohl Janota als auch Löser auf die empirische Beziehung ­zwischen Margareta Ebner und Heinrich von Nördlingen, die aus den Briefen in der Londoner Handschrift British Library, Add MS 11430 aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts rekonstruierbar und als integral für die Entstehung des Offenbarungstextes anzusehen sei. Janota behandelt die Medinger „Offenbarungen“ und die Briefsammlung Heinrichs von Nördlingen in seiner Untersuchung zur „Seelenfreundschaft“ (2007) wie ‚tagebuchartige‘ Quellen, die offenbar direkte Auskünfte über die ‚private‘ Lebens- und Gefühlswelt der Protagonisten geben können, die er mit einem Liebespaar vergleicht.10 Seine Rückschlüsse gewinnt er, indem er die textinterne Figurendarstellung – die in den „Offenbarungen“ und den Briefen erheblich voneinander abweichen kann 11 – ohne Weiteres auf die faktische Ebene der historischen Personen überträgt 12 und dabei die texttypenspezifischen Ausdifferenzierungen der Figuren- und Themenkomplexe unberücksichtigt lässt.13 Denn die

8 9

10

11

12 13

Freimut Löser: Schriftmystik. Schreibprozesse in der deutschen Mystik. In: Finden – Gestalten – Vermitteln. Schreibprozesse und ihre Brechung in der mittelalterlichen Überlieferung. Freiburger Kolloquium 2010. Hrsg. von Eckart Conrad Lutz in Verb. mit Susanne Köbele und Klaus Ridder. Wolfram Studien XXII (2012), S. 155 – 201. Vgl. Janota: Freundschaft auf Erden und im Himmel, S. 276. Vgl. Löser: Schriftmystik, S. 160. Löser stellt zu Beginn seines Beitrags heraus, dass er den Schwerpunkt nicht auf die faktischen Schreibvorgänge richte, sondern auf die textintern präsentierten Entwürfe des Schreibens „die Konzepte der Schreiber vom Schreiben […] die Vorstellung der Überlieferer vom Überlieferten“, die Einsicht in eine „mittelalterliche ­Theorie von Schreibprozessen“ biete. Vgl. Janota: Freundschaft, S. 287: „Tatsächlich bekunden alle weiteren Zeugnisse in den ‚­Offenbarungen‘ wie in Heinrichs Briefen, dass bei d ­ iesem Zusammentreffen z­ wischen Margareta und Heinrich eine Freundschaft gestiftet wurde, die in ihrer innigen und intimen Zuneigung den Vergleich mit einem liebenden Paar nicht zu scheuen brauchte.“ Im Gegensatz zu der im Offenbarungstext evozierten Heimlichkeit der Niederschrift konkretisieren die Briefe eine öffentliche Entstehung mit Unterstützung der Priorin Elsbeth Schepach im Kloster Maria Medingen. Vgl. XL, 61 f, S. 238: die wil wir so gar ain geträwe helferin und schriberin haben an unserm ­lieben kind. Vgl. Peters: Religiöse Erfahrung, S. 152. Die ‚offizielle‘ Förderung des Schreibens und die von Janota konstatierten „extensiven Verflechtungen (Margaretas) mit der Außenwelt“ (282) werden jedenfalls nur in den Briefen greifbar. Vgl. zur topischen Einsamkeit und Verlassenheit im Kloster, ME, S. 2, 21 – 23; S. 5, 9 – 13: […] und zoch mich do von allen liuten in dem closter und usserhalb ze reden und ze gaun und was gen allen menschen ungeminnet. ich gieng auch nit zuo den friunden unsers herren, wan mich duht, daz mir niemant gehelfen möht dann got allain. Vgl. auch S. 16, 21 – 25: dar zuo was ich ellend und het nieman, wan der mir durch got it tet. Vgl. Janota: Freundschaft, besonders S. 282 und S. 299. Janota wendet sich gegen die von Ursula Peters heraus­gearbeitete typenspezifische Darstellung der Figuren (Religiöse Erfahrung, S. 153) und die Vorsicht bei der Bewertung einer ‚tatsächlichen‘ Kooperation ­zwischen Heinrich und Margareta. Ein solches Vorgehen hat Nemes in Federers Arbeit zu den Sendbriefen der Londoner Briefsammlung kritisiert. Vgl. Nemes: Rezension zu Federer, S. 464 zur Kritik an dem von Federer vollzogenen

Autorinnenpräsenz in der Überlieferung? | 271 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

­„Offenbarungen“ setzen das Text-­Ich in seiner Isolation und Verlassenheit in Szene, während die Briefe eine Verehrung der Schwesternfigur durch einen Kreis von ‚Gottesfreunden‘ bieten, der ein großes Interesse an der Entstehung ihrer Offenbarungsschrift demonstriert.14 Die Diskussion von Heinrichs „Rolle bei der Textproduktion“ unter „dem Begriff einer ‚gemeinsamen Autorschaft‘“,15 die Freimut Löser im Rückgriff auf Janota und Peters konturiert, deuten darauf hin, dass es den Autoren um die Ebene der empirischen Realität, der tatsächlichen Textproduktion, geht. Dies legt auch Lösers Bestimmung des Schreibprozesses als „Wechselspiel mit mindestens einem Schreibpartner (so könnte man die Rolle Heinrichs und der vertrauten Schwester wohl recht gut definieren)“16 nahe, die die im Offenbarungstext nur skizzenhaft entworfene Vorstellung einer literarischen ‚Zusammenarbeit‘ auf die historischen Personen hin vereindeutigt.17 Bruno Quast betrachtet die in den „Offenbarungen“ massiert auftretenden und aus der Hagiographie bekannten Unsagbarkeitsformulierungen

14

15 16

17

Ebenensprung von der Untersuchung der textinternen Präsentation der Figuren auf die faktisch-­ lebensweltliche Ebene der historischen Personen. Die Margareta-­Figur wird in den Briefen zur verehrten Autorin einer hailig geschrift stilisiert, vgl. XLII , S. 242, 39; XI , S. 186, 61 – 62: an deinen minenbrieff han ich ietz etwan lang geschriben ­begirlich […]; die sint nun schir berait. XII , S. 187, 10: deiner heiligen schrift; XIII , S. 189, 29: Ich danck dir als gutz und s­underlich deiner brief. die sint mir also genem und lieb, das ich mit in wider kum, in welcher lei unmut ich bin. XVI , S. 194, 12: do ich dinen brief las. XXVII , S. 211, 7: got danck dir des geträwen minigklichen schribens. XXXIII , S. 219, 13: ich antworten dinen übergoszenen briefen mit der smackhaften genad des hailligen gaistz, der dar ausz den toden worten so wunderlich lebend kraft mit götlicher siessigkeit in andechtig sel tragen ist. S. 219, 23: dinem briefe; XLVII , S. 253, 5: din haillig brief. Vgl. besonders XLI , S. 240, 10 – 15: und dar umb bitt ich dich in gott, als ich vor geton hab, was dir got ze sprechen geb, das du vileicht vor vergeszen habest oder on das noch nit geschriben habest, das du es mit fleisz schreibest und zesamen samnest bisz an das end, und halt es alles haimlich als du an gefangen hast, wann das will ich auch mit dir thain. ich getar auch weder dar zu oder dar von gelegen weder in latein noch in tüchtz bis das ich es mit dir überlesz und es ausz dinem mund und ausz dinem herzten in newer warhait verstand. Löser: Schriftmystik, S. 174. Löser: Schriftmystik, S. 175. Löser zitiert ausführlich Ursula Peters’ Beitrag zur Beichtvaterthematik, allerdings lässt er die von Peters vertretene kritische Einschätzung des Aussagewerts der Briefsammlung für die Entstehung der „Offenbarungen“ außer Acht: Peters argumentiert überlieferungs­geschichtlich, dass die Briefe nicht einfach als biographische ‚Ergänzung‘ der „Offenbarungen“ verstanden werden dürfen, da sie in einer späten Handschrift vorliegen. (Peters datiert die Londoner Handschrift noch auf das 16. Jahrhundert, Federer konnte neuerdings die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts als Entstehungszeitraum nachweisen, siehe unten). Außerdem verweist sie auf die Ebene der literarischen Figurendarstellung und der typenspezifischen Stilisierung von Offenbarungstext und Briefcorpus, die erheblich voneinander abweichen, so dass „das Paar Heinrich von Nördlingen und Margareta Ebner die ihm zugewiesene Bedeutung als Paradebeispiel für die emotionale Intensität der Beziehung einer begnadeten Schwester zu ihrem Seelsorger verliert“. Peters: Religiöse Erfahrung, S. 154. Vgl. Löser: Schriftmystik, S. 174 f. und besonders im englischsprachigen Abstract: „With references to the texts of Margarethe Ebner […], it becomes evident that past experience come alive in the act of writing, even to the point where writing is felt as an act of grace.“

272 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

als „naives Unbehagen an der schriftlichen Repräsentation“.18 Dieses Unbehagen unterstellt er der Autorin als eine Art Leitprinzip: „Margareta Ebner […] spricht ausschließlich vom Eindrücken des Namens, sie vermeidet die Schriftmetapher geradezu, wenn sie ihre Gnadenerfahrung in Worte kleiden soll.“19 Hinter diesen Überlegungen steht als eine Art Gegenbild die berühmte Passage in Seuses Vita, in der sich ‚der Diener‘, vom heiligen Geist erfüllt, das Christusmonogramm mit dem Schreibgriffel in die Brust einritzt.20 Ohne auf die komplexen Autorschaftsverhältnisse der Seuse-­Vita einzugehen, attestiert Quast Seuse ein sich im Akt der Verschriftlichung manifestierendes „Verstetigungsansinnen“,21 das mit der Vorstellung eines gelehrten und schriftkundigen Dominikaners korrespondiert. M ­ argareta Ebner erscheint dagegen als der Inbegriff der ‚weiblichen‘ Seele, die die Permanenz der Schrift ablehnt.22 Der kontrastierende Vergleich, den Quast ­zwischen der Seuse-­Vita und einem vermeintlichen Unbehagen gegenüber der Schriftmetapher in den „Offenbarungen“ vornimmt, ist insofern diskussionswürdig, da der Körper auch in Seuses ‚Lebensbericht‘ zunächst dezidiert eine bedeutende Rolle als Leidens- und Erfahrungsinstrument spielt.23 Denn der ‚Diener‘ berichtet von einer geradezu extremen Askesepraxis des Aufdrückens des Kreuzes, die im Vergleich zu den Ich-­Berichten der Offenbarungen 24 noch gesteigert erscheint.25 So schildert die heterodiegetische Erzählinstanz, wie sich der ‚Diener‘ selbst während der Nacht ein scharfes Nagelkreuz auf den Rücken bindet, auf das er einschlägt 18 Vgl. Quast: drücken und schriben, S. 296 f. Quast formuliert diese Aussage in Bezug auf die religiöse Praxis des Eindrückens, vgl. ME, S. 130, 4 – 8: do wart aber der nam Jhesus Cristus crefteklichen in min herze gedruket mit niwer genade und mit ainem übersüezzen enphinden siner gegenwertket diu sich offenbart in disem namen, der ich dar nach lang enphant. 19 Quast: drücken und schriben, S. 297. 20 Bihlmeyer: Heinrich Seuse, S. 16. 21 Vgl. Quast: drücken und schriben, S. 296: „Wenn sich Seuse das Monogramm einschreibt, ist er von einem Verstetigungsansinnen geleitet, das man in den Offenbarungen der Margarethe Ebner nicht findet.“ Vgl. den wichtigen, aber in der Forschung vielleicht nicht ausreichend beachteten Beitrag von Altrock und Ziegeler, die kritisch hinterfragen, ob die literarische Figur des ‚Dieners der ewigen Weisheit‘ ohne Weiteres mit dem historischen Autor Heinrich Seuse gleichgesetzt werden kann. Altrock/Ziegeler: Vom Diener der ewigen Weisheit zum Autor Heinrich Seuse, besonders S. 157 – 160 und S. 170. Vgl. zum Problem der Autorschaft und zum Elsbeth Stagel-­Komplex, Bürkle: Literatur im Kloster, S. 237 – 246. 22 Man könnte dagegen argumentieren, dass die Ich-­Erzählerin gerade die Schrift als zentrales Medium zur Erfüllung ihres göttlichen Auftrages begreift, um ihre imitatio Christi für die Nachwelt festzuhalten. Vgl. ME, S. 84, 12 – 14: daz ich volbreht den liebsten willen gotes und sin ere und auch dem dar inn gehorsam sin, der mich es bat ze der ere gotez. 23 Vgl. dazu etwa Bihlmeyer: Heinrich Seuse, S. 10 f; S. 39: Er schte mengen list und gross bssen, wie er den lip macheti undertenig dem geiste. 24 Vgl. ME, S. 19; S. 20: und druket ez [das Kreuz, S. K.-R.] an min hertz, als vil ich von creften maht. S. 85: S. 128. 25 Vgl. Bihlmeyer: Heinrich Seuse, besonders Kapitel XIV–Kapitel XX, S. 39 – 55, in denen der Erzähler von einem Nagelkreuz berichtet, dass der ‚Diener‘ 8 Jahre lang als Symbol der Kreuzigungsmale auf seinem Rücken trägt. S. 41: Vor allen andren uͤ bungen hat er einen begirlichen inval, etwaz zeichens an sinem libe

Autorinnenpräsenz in der Überlieferung? | 273 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

und das ihm schmerzhafte Wunden zufügt (S. 45). Der zu zähmende Körper (S. 39: lip macheti undertenig dem geiste) figuriert hier als Instrument der imitatio der Marter Christi und zugleich als Erfahrungsmedium der menschlichen Schwäche, die auf dem Weg zu Gott überwunden werden muss. Dieses aus der Vitenliteratur bekannte Thema der Angleichung an Christi im Leiden und der Abtötung des Körpers findet sich also sowohl in der Vita des ‚Dieners‘ als auch in Margareta Ebners „Offenbarungen“ mit einer jeweils individuellen Akzentuierung. Und auch die mannigfachen Verweise auf den Akt des Schreibens und die Verschriftlichung in ME, die im Folgenden diskutiert werden, deuten auf eine Diskursivierung verschiedener Praktiken des ‚Einschreibens‘. Mehrheitlich schreibt die Foschung den unikal in der Londoner Handschrift Add MS 61823 überlieferten Kempe-­Text und die Medinger „Offenbarungen“ den textintern entworfenen Autorinnenfiguren als textproduzierenden Instanzen zu. Diese sekundäre Zuschreibung erfolgt ungeachtet der Tatsache, dass die Pergamenthandschrift M aus dem Kloster Maria Medingen aus dem Jahr 1353 ursprünglich wohl ohne Autorsignatur oder Überschrift auskam und, wie die Kempe-­Vita, erst im Nachhinein vom Herausgeber der Textausgabe aus dem Jahr 1882 mit einem Titel versehen wurde.26 Mit den „Offenbarungen“, dem „Paternoster“ und der oben erwähnten Briefsammlung Heinrichs von Nördlingen 27 sind sogar drei Texte erhalten, die durch die Text- und Überlieferungsgeschichte mit dem Namen ­Margareta Ebner verbunden sind. Die Briefe, die in einer sehr späten Überlieferung vorliegen, bezeugen eine Art literarischen Austausch z­ wischen den Briefpartnern, die gemeinhin mit Margareta Ebner und dem Weltgeistlichen Heinrich von Nördlingen identifiziert werden.28 Unser Wissen über Heinrich von Nördlingen speist sich nahezu ausschließlich ze tragene eines enpfintlichen mitlidens dez pinlichen lidens sines gekrúzgeten herren […] in sunderlicher mainunge aller siner wunden und siner funf minnezeichen. 26 Sanford B. Meech versieht die Kempe-­Vita mit dem Titel „The Book of Margery Kempe“, der eine Rekonstruktion aus den Zusätzen der Druckfassungen des 16. Jahrhunderts darstellt, wie oben diskutiert wurde. Vgl. zu ME Bürkle: Die Offenbarungen der Margareta Ebner, S. 86. 27 Vgl. die Briefedition von Philipp Strauch: ME, S. 169 – 284. Vgl. die bereits erwähnte neuere Studie zum Briefwechsel z­ wischen Margareta Ebner und Heinrich von Nördlingen von Federer: Mystische Erfahrung, der nachweisen konnte, dass die Handschrift erst nach 1744 produziert wurde (S. 411). Vgl. die ausführliche und kritische Rezension von Balázs Nemes zu Federer in: ZfdPh, Band 132 (2013) 3, S. 454 – 469. 28 Vgl. im Hinblick auf die Briefsammlung, die mit den Namen Margareta Ebner und Heinrich von Nördlingen verbunden wird, Federer: Mystische Erfahrung, S. 364: Die Adressatin werde einige Male mit ihrem Vornamen apostrophiert: ME Brief V, S. 176, 4; VIII, S. 181, 17; XXII, S. 205, 3; XXXIII, S. 220, 50; S. XXXV, 227, 23; XLIII, S. 245, 101; L, S. 259, 1; LIII, S. 267, 3; Vgl. die gemeinsame Nennung von Margareta und Elsbeth XXII S. 206, 2 und 17; LIV S. 268, 1. Der Autor nennt sich Hainrich, XXIII S. 206, 2 und ich euer Heinrich, LIV, S. 268, 2; Textpartien, die auf Nördlingen referieren: gib das meiner mutter ze Nordlingen XX, S. 203, 3; ich han gered umb mich mit den besten ze Nördlingen; XXVI, S. 210, 19. Vgl. die berechtigte und zur Vorsicht mahnende Kritik von Nemes: Rezension zu Federer, S. 463, die weiter unten näher diskutiert wird.

274 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

aus dieser Briefsammlung: Heinrich unterhielt nicht nur Kontakte zur berühmten Engelthaler Dominikanerin Christine Ebner,29 sondern war offenbar auch Seelsorger für die ­beiden Zisterzienserinnenklöster in Ober- und Niederschönfeld und Zimmern.30 Den biographischen Angaben zufolge, die in die Briefe inseriert sind, führt er ein eher unbeständiges Leben als Wanderprediger, unternimmt Reisen nach Avignon, Köln und Bamberg und ist durch das 1324 erlassene Interdikt gezwungen, nach Basel ins Exil zu ziehen.31 Er agiert als eine Art Vermittler z­ wischen Margareta Ebner und dem Kreis der sogenannten Gottesfreunde,32 die der Medinger Nonne große Verehrung und Wertschätzung entgegenbringen. Wie typenspezifisch sich die Darstellung der Figur des Freundes in den „Offenbarungen“ ausnimmt, hat die Forschung im Vergleich mit der Präsentation des Beichtvaters in der Briefsammlung der Handschrift, London, British Library, Add MS 11430 herausgearbeitet.33 Denn die sich in den Briefen äußernde Verehrung für die Medinger Schwester und ihre hailig geschrift  34 sind in dem anonymisierten Offenbarungstext kaum greifbar, in dem die Protagonistin in der stereotypen Rollenfiguration einer von Gott begnadeten, aber von der 29 Vgl. Strauch: ME, Brief XXVI, S. 210, 21 – 26: Cristin von Engeltal hat mir geantwürt. ich hab ir geschriben nach irem willen, wann es hat der richter von Nurenberg und der rat ir geboten, das si kainen prediger haimen süllen wan der offentlich sing und lesz mit den die zu Nurenberg sint. und sprach mer, wer si fri und ungefangen als ich, sie wolt ee tütschü land rumen ee das sie das tät. Christine Ebner wird außerdem noch in LII, 62 genannt: von der senden wir dir und Kristina von Engeltal und Irmelin von Hochenart einen guldin. Die erste Nennung Christine Ebners in XXVI fällt in den Kontext der bedrohlichen Situation, der sich Heinrich durch das von Ludwig dem Bayern am 6. August 1338 erlassene Gesetz Fidem Catholicam ausgesetzt sieht, das die Aufhebung des Interdikts forderte und die Kleriker zur Wiederaufnahme der Messfeier aufrief, vgl. Strauch: ME, S. 352. 30 Die Forschung sieht Heinrich von Nördlingen in der Rolle eines Förderers mystischer Begnadung und geistlichen Betreuers, der an Verbreitung und Übersetzung des „Fließenden Lichts“ beteiligt gewesen ist, vgl. die entsprechenden Briefstellen, die unten diskutiert werden und kritisch dazu Nemes: Von der Schrift zum Buch, S. 31 und S. 239 – 245. In den „Offenbarungen“ Christine Ebners wird er mit dem werltlich(er) prister, […] der hiez Heinrich und waz ein freünt vnsers herren identifiziert, dessen Anwesenheit im Kloster Engelthal eine besonders gnadenreiche Zeit inspiriert, vgl. „Offenbarungen“, fol. 144r–155r zitiert nach der unveröffentlichten Textausgabe, die Susanne Bürkle vorbereitet. Vgl. zum Aufenthalt in Engelthal, Peters: Religiöse Erfahrung, S. 169 – 172. Vgl. zum Amt als Seelsorger, Koch: Margaret Ebner, S. 395. Federer: Mystische Erfahrung, S. 298. Vgl. Palmer: Deutschsprachige Literatur, S. 242. Nigel Palmer führt aus, dass Kaishaim die Paternität über die Zisterzienserinnenklöster Zimmern östlich von Nördlingen im Jahr 1245, Niederschönfeld östlich von Donauwörth um 1240/1241 und Oberschönfeld südwestlich von Augsburg ca. 1247/1248 übernahm. Die Urkunden der Klöster ließen auf eine relativ enge Verbindung ­zwischen den Zisterzienserinnenklöstern und Kaishaim schließen. 31 Vgl. Peters: Religiöse Erfahrung, S. 151 – 153. 32 Vgl. ebd., S. 151. Vgl. dazu neuerdings Christiane Krusenbaum-­Verheugen: Figuren der Referenz. Untersuchungen zu Überlieferung und Komposition der ‚Gottesfreundeliteratur‘ in der Straßburger Johanniterkomturei zum ‚Grünen Wört‘. Tübingen 2013 (Bibliotheca Germanica 58). 33 Vgl. Peters: Religiöse Erfahrung, S. 151 – 155. Nemes: ZfdPh 132 (2013), 3, S. 454 – 468. 34 Vgl. ME Brief XLII, S. 242, 39; XI, S. 186, 61 minenbrieff; XII, S. 187, 10; XLVII, S. 253, 5 haillig brief; XIII, S. 189, 29 brief; XVI, S. 194, 12 brief; XXVII, S. 211, 7 des geträwen minigklichen schribens.

Autorinnenpräsenz in der Überlieferung? | 275 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Welt verlassenen Visionärin erscheint.35 Hier figuriert der mit Heinrich von Nördlingen identifizierte Beichtvater in einer anderen Konturierung als enger Vertrauter, der direkten Anteil an der Entstehung einer Gnadenschrift hat, wie weiter unten ausgeführt werden soll. Im Kloster Maria Medingen sind noch weitere Abschriften der Handschrift M der Jahre 1676, 1687, 1728 und 1735 (jeweils ohne Signatur) vorhanden.36 Diese Abschriften und die Begräbnisstätte Margareta Ebners in dem später zur Kapelle umgebauten Kapitelsaal des Klosters signalisieren,37 wie wirkungsmächtig das im Offenbarungstext entfaltete (Autorinnen-)Bild einer von Gott begnadeten heiligen Schwester und ihrer in der Überlieferung konkretisierten namentlichen Identität sind. Denn letztlich lässt sich diese Verehrung wohl auf den Text der ältesten Handschrift M des Klosters Maria Medingen und die sich in der Handschrift befindlichen paratextuellen Zusätze zurückführen, die als Ausweis eines 35 Ulrike Wiethaus lässt die für die Konzeption der Heiligkeit grundlegende Thematik der Vereinsamung in ihren Überlegungen zu den Offenbarungen außer Acht. Wiethaus: Thieves and Carnival, S. 222 f.: „Ebner’s strongest attachments, whether positive or negative, clearly were the nuns of her community. […] Ebner’s authority is derived from communal observation and interpretation of her string of illness. Ebner and her community eventually interpreted her sickness as divine action. […] Eventually, Margarete and her community define Ebner’s illness as reenactment of Christ’s suffering.“ Vgl. ME, S. 7, 19 – 22: ich was in der welt noch ungeminner dann in dem closter, daz es min muoter und miniu g­ eswistertig an mich zurnetent, und sach niemant gern noch ret mit niemant gern. Vgl. zur topischen Verlassenheit, S. 2, 22 – 23: so ich sach, daz die von mir giengen, den vor wol mit mir was. Zwar treffen Wiethaus’ Beobachtungen auf der Ebene der Überlieferungs- und Textgeschichte zu, da die Handschrift M des Klosters Maria ­Medingen mit den dort aufbewahrten Abschriften, die Londoner Briefsammlung und die Begräbnisstätte der Margareta Ebner im Kapitelsaal des Klosters den Status der Offenbarungen als göttlicher Offenbarungsschrift und die daraus resultierende Verehrung durch die Schwesterngemeinschaft belegen. Allerdings spielt die Thematik der Vereinsamung und der Verlassenheit auf einer textinternen Ebene eine wichtige Rolle im Rahmen der imitatio Christi: Denn die Schwesternfigur erleidet wie Christus die Abkehr der Menschen. Vgl. zum Motiv der Verlassenheit Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur, S. 310 Anm. zu 1672. 36 Vgl. Federer: Mystische Erfahrung, S. 418. Federer merkt an, dass allein die Handschrift ME 2 aus dem Jahr 1676 sorgfältig ausgeführt sei, während ME 3 (1687) und die von Baltasar Meidinger übergebene Handschrift ME 4 (1728) sowie die von Schwester Maria Johanna von Mihlen geschriebene Handschrift ME 5 aus dem Jahr 1735 im Vergleich mit der Londoner Sammelhandschrift von minderer Qualität ­seien. Schwester Maria Johanna von Mihlen habe außerdem im gleichen Jahr die Handschrift Augsburg, Universitätsbibliothek, cod III, 3,40,43 verfasst. Im Rückgriff auf Weitlauff gibt Ringler an, dass die Handschrift Augsburg, Universitätsbibliothek, cod III, 3,40,43 aus dem Jahr 1735 möglicherweise der Originalhandschrift nahestehe, vgl. Weitlauff: Ebner, Margareta. In 2VL, Band 2, Sp. 304. ME 6 und ME 7 ­seien nicht datiert und ebenfalls schnell geschrieben. Dagegen ließe sich die letzte Abschrift ME 8 Pfarrer Dominicus Karg zuordnen, der die Abschrift allerdings nicht abgeschlossen habe. Vgl. auch Weitlauff: Ebner, Margareta. In: 2VL, Band 2, Sp. 304. Vgl. Strauch: ME, S. xvi, der die Londoner Sammelhandschrift als „wortgetreue Kopie“ bezeichnet. Eine weitere Abschrift der Handschrift M bietet Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, mgq 179, Off fol. 184r–279r; Paternoster fol. 282r–285r, die weiter unten genauer diskutiert wird. Der Codex München, Bayerische Staatsbibliothek, cgm 480, 165v–173r aus der Mitte des 15. Jahrhunderts überliefert nur das Paternoster. 37 Vgl. Koch: Margareta Ebner, S. 393.

276 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

vermeintlichen Autororiginals gedeutet werden können. Erst die Überschrift einer jüngeren Schreiberhand des 16. oder 17. Jahrhunderts (Handschrift M, fol. 1r: Das leben der Seligen margareta Ebnerin die hat mit Irer handt geschrift dises búch selber geschriben) und ein rubrizierter Nachtrag einer älteren, möglicherweise noch auf das 14. Jahrhundert zu datierenden Schreiberhand (Handschrift M, fol. 98v: Hie hebet sich an der Ebnerin paternoster) deklarieren Margareta Ebner zur Autorin.38 Zunächst ist allerdings unklar, ob sich die Überschrift allgemein auf Margareta Ebner als Autorin des Textes bezieht oder die vorliegende Medinger Handschrift als von der Autorin selbst geschriebenes Original ausweisen soll. Jedenfalls kennen wir eine ganz ähnliche Strategie, mystische Offenbarungen als von der Autorin eigenhändig geschrieben auszugeben, aus dem epilogartigen Kapitel 43 des sechsten Buches im „Fließenden Licht der Gottheit“, das mit der Überschrift Disú schrift ist us got gevlossen beginnt: Dise schrift, die in disem bche stat, die ist gevlossen us von der lebenden gotheit in swester Mehtilden herze und ist also getrúwelich hie gesetzet, alse si us von irme herzen gegeben ist von gotte und geschriben mit iren henden.39 Von der Warte einer anonymisierten Erzählerinstanz aus behauptet der ­epilogartig 38 Vgl. Bürkle: Die Offenbarungen Margareta Ebners, S. 91 f., zu einer möglichen Datierung des zweiten Nachtrags in das 14. Jahrhundert, S. 91 Anm. 52. Vgl. Nemes: Von der Schrift zum Buch, S. 374. Vgl. München, Cgm 480, fol. 165v mit dem Vorsatz Der Ebnerin Paternoster zitiert nach Schneider: Die deutschen Handschriften der bayerischen Staatsbibliothek, S. 414. 39 FL, VI, Kapitel 43, S. 516, 11 – 15. Dass das „Fließende Licht“ im Kloster Medingen bekannt gewesen sein dürfte, belegt ein Brief Heinrichs von Nördlingen ME, XLIII, S. 246, 117 – 121, der die Mitarbeit an der Übersetzung ­dieses bedeutenden Textes behauptet: Ich send euch ain buch das haisst Das liecht der gothait. dar zu zwinget mich das lebend liecht der hitzigen mine Christi, wan es mir das lustigistz tütsch ist und das innerlichst rürend minenschosz, das ich in tützscher sprach ie gelas. […] und wolchiü wort ir nit verstandint, die zeichend und schribentz mir, so betützsch ichs euch, wan es ward uns gar in fremdem tützsch gelichen, das wir wol zwai jar flisz und arbeit hetint, ee wirs ain wenig in unser tützsch brachtint. Vgl. auch die Aufforderung Heinrichs, das Lux Divinitatis zu übersenden, Brief XLIV, S. 248, 52 – 54: send mir auch Lucem divinitatis das buch, sei es euch worden von Keiszheim und habent irs genugt. Vgl. Federer: Mystische Erfahrung zu Brief XLVIII, S. 120 – 144. Urban Federer konnte durch seine detaillierte Textanalyse demonstrieren, dass Brief XLVIII inhaltlich fast zur Hälfte dem „Fließenden Licht“ entlehnt sei und insgesamt eine trinitarische Ausrichtung erkennen lasse, die unmittelbar auf die Vorlage des FLs zurückgehe und beispielhaft für den montageartigen Charakter der Briefe gesehen werden könne, die aus den verschiedensten Quellen kompiliert ­seien. Zudem werde das „Fließende Licht“ verschiedentlich in zwei Briefen anzitiert, vgl. Brief XLVI, S. 251, 38 – 252, 68, in besonderer Ausführlichkeit in Brief XLVIII : Bereits die Einleitung, S. 256, 1 – 3 Deim lieblichen anlütz, das […] von liecht der gnad wider lichten ist in das gebrech der hailigen driveltigkeit […] referiere auf FL, VI, 39, S. 248, 1. Auszüge aus FL, V, Kapitel 6 in Brief XLVIII, S. 256, 9 – 18: here, himelscher vatter, wan ich aller menschen unwirdigister usz deinem hertzen geflossen bin geistlich und ich, du mein hertzlieb Jhesus, geborn bin usz deiner sitten fleischlich und ich, here got und mensch, mit ewer baider geist gereiniget bin meinigklich: dar umb mit der gunst deiner meinender barmherzigkeit sprich ich, das du, himelscher vatter, bist mein hertz und du, mein here Jhesu Christe, bist mein leib und du, here hailiger geist, bist mein leben gebender attem und du, hailigü ­triveltigkeit bist mein einige zuflucht und mein ewige trü. (Dann folge FL, V, 7, das vollständig wiedergegeben sei)‚ du bist ein gruntvestigung meins gotlichen fluszes, du bist ain er meigdlicher bestandung, du

Autorinnenpräsenz in der Überlieferung? | 277 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

wirkende Kommentar, dass Schwester Mechthild den Text eigenhändig aufgezeichnet hat. Auf diese Weise setzt dieser Erzählerkommentar im „Fließenden Licht“ das Moment der ‚Autohagiographie‘ narrativ in Szene.40 Verweise und Zitate aus dem „Fließenden Licht“ in zwei Briefen der Londoner Handschrift (XLVI und XLVIII )41 und das abschließende Gebet 42 (fol. 71r–v) suggerieren, dass Mechthilds Text als eine Art Prätext fungiert haben könnte und die Forschung hat die Funktionalisierung dieser Textexzerpte im Rahmen einer thematischen Ausrichtung auf die Trinität aufgezeigt, die sich unmittelbar auf das FL als Vorlage zurückführen lasse.43 ­Allerdings sind die FL-Zitate in den Briefen anonymisiert und ins Exemplarisch-­Vorbildhafte gewendet, so dass sie sich nur einem Leser erschließen, der mit dem FL bestens vertraut ist.44 Über das FL als möglichen Prätext ergeben sich jedenfalls bedeutsame Analogisierungen, was die narrative Inszenierung eines selbstgeschriebenen Offenbarungstextes und einer texttypenspezifischen Form weiblicher, von Gott inspirierter Autorschaft betrifft. Die nachträglich inserierte Überschrift der Handschrift M auf der paratextuellen Ebene könnte auf eine ganz ähnliche Autorisierungsstrategie wie der epilogartige ‚Nachtrag‘ bist ain blum der hochen wünne, du bist ain vegtinne der tüfel, du bist ain spiegel der inwendigen anschawung.‘ diz wart geben einer hoch gezogner sel in got. XLVIII, S. 257, 49 – 52 sei wiederum an FL, IV, 12 angelehnt: günne mir, mein träwes lieb, das ich die hitze meiner gothait, die begerung meiner menschait und den lust des ­hailigen geistes in dir und mit dir hab. 40 Vgl. zum Begriff Autohagiographie weiter unten. 41 Vgl. ME Brief XLVI, S. 251, 38 – 252, 60 zitiert FL I, 22 (S. 38, 23–S. 40, 19) und XLVIII, S. 256, 9 – 18 (FL V, 6 und 7 S. 334, 7 – 16) S. 256, 20 – 257, 23 (FL V, 7, S. 334, 18 – 22) und S. 257, 49 – 54 (Paraphrase und Zitat aus FL IV, 12, S. 262, 34 – 38). Vgl. Nemes: Von der Schrift zum Buch, S. 328 f. 42 Vgl. Federer: Mystische Erfahrung, S. 120 Anm. 45 und besonders, S. 390 f. Vgl. Fl V, 35, 410. Ich bitte dich, heliger got, umb erbarmherzige angesihte mines unnútzen lebennes und umb stete einunge, herre, din selbes in miner sele und umb die getrúwen wegespise dines heligen lichamen, das der msse sin an minem ende min jungestú spise an sele und an libe. 43 Für die Bekanntheit des „Fließenden Lichts“ und dessen Bedeutung im Kreis der Gottesfreunde spricht auf der überlieferungsgeschichtlichen Ebene, dass die Einsiedler Handschrift der deo devota Margareta zum Goldenen Ring gehörte, die dem Dominikanerorden eng verbunden war. Vgl. zu Margareta vom Goldenen Ring als Vorbesitzerin des Einsiedler-­Codex, Nemes: Von der Schrift zum Buch, S. 241 und S. 243 f. Vgl. Einsiedeln, Benediktinerabtei, Stiftsbibliothek, Codex 277, Besitzvermerk fol. 1v: Den swesteren in der vorderen Ouwe. Ir sönt wissen dz das buoch dz üch wart von der zem Guldin Ringe dz do heist das liecht der Gotheit des sönt ir wol warnemen […] wand si sunderlich trüwe zuo üch hatte. Zitiert nach dem Digitalisat der Einsiedeln-­Handschrift, eingesehen online http://www.e-­codices.unifr.ch/de/ sbe/0277/5r/0/Sequence-999 [28. 08. 2018]. Vgl. Federer: Mystische Erfahrung, S. 131. 44 Strauch: ME XLIII, S. 246, 129. Dies hat Nemes umfassend herausgearbeitet, vgl. Nemes: Von der Schrift, S. 328 f., besonders S. 329: „Es kommt dabei weniger auf die Person des Gottesfreundes an als auf das Exemplarische, das von ihm präsentierte mystagogische Modell, wie man dem Wirken Gottes in der eigenen Person Raum verschafft.“ Vgl. etwa die einleitende Formulierung des Mechthild-­Zitats in Brief XLVI, S. 251, 36: nu merck furbas, also sagent und schribent uns die früindt gotz und der abschließende Kommentar: hier innen und des glich tunt vor uns usz die groszen gotzfrund des innern menschen geistlich himelfart.

278 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

in Kapitel  VI , 43 des FL hindeuten: Denn sie konkretisiert die im Text anonymisierte Schwesternfigur zu einer namentlich benannten Autorin (fol. 1r die hat mit Irer handt geschrift dises búch selber geschriben), die das vorliegende Buch eigenhändig aufgeschrieben hat. Ein vergleichender Blick auf die Berliner Handschrift aus dem Straßburger Dominikanerinnenkloster St. Nikolaus in undis 45 aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts demonstriert die programmatische Ausrichtung dieser paratextuellen Überschriften: Denn diese Abschrift der Handschrift M beginnt mit einem rubrizierten Vorsatz (fol. 184r Vo[n] einer gute[n] heilige[n] Swest[er] brediger ordens mit der Jahreszahl m ccc. liij. in schwarzer Tinte), der die Ordenszugehörigkeit und die Exemplarität der anonymen Schwesternfigur hervorhebt.46 Erst ein wohl nachträglich inserierter Eintrag im Register der Berliner Handschrift enthüllt die namentliche Identität dieser vorbildlichen Dominikanerin.47 Offenbar sind mit den beiden Überschriften in den Handschriften M und Berlin mgq 179 jeweils programmatische Lesarten verbunden, wie weiter unten diskutiert werden sollen. Jedenfalls hat die Forschung früh erkannt, dass die Qualifizierung der Handschrift M als Autograph problematisch ist, da Margareta Ebner bereits im Jahr 1351 verstarb, wie ein Eintrag in der Londoner Handschrift, British Library, MS Add 11430 vermerkt.48 Zwar ließen Schrift, Layout und sprachliche Merkmale dieser Londoner Handschrift auch eine erheblich frühere Datierung auf das 14. Jahrhundert zu, allerdings konnte Urban Federer in seiner Untersuchung nachweisen, dass es sich um einen neuzeitlichen Überlieferungsträger handelt, der aufgrund des als Wasserzeichen verwendeten Familienwappens der 45 Handschrift Berlin, Staatsbibliothek, Preußischer Kulturbesitz mgq 179, eingesehen unter http://­resolver. staatsbibliothek-­berlin.de/SBB 0001578400000000 [21. 08. 2018]. Vgl. Bürkle: Die Offenbarungen ­Margareta Ebners, S. 93. 46 Für die programmatische Exemplarität der Schwesternfigur spricht auch, dass das Paternoster in der Berliner Handschrift mgq 179, fol. 282r mit einer rubrizierten Initiale beginnt, die zwar der Form nach der rubrizierten Lombarde der Medinger Handschrift M, fol. 98v ähnelt, aber auf die eindrucksvolle Zeigefigur und den Vorsatz hie hebet sich an der Ebnerin pater noster verzichtet. 47 Vgl. Berlin mgq 179, Register, Bl. vr: Z hinderst stot vo[n] eine[n] andehtige[n] Swester brediger ordens gena[n]t Margareta ist gewesen jn de[m] closter zu Medelingen. Vgl. Hans Hornung: Daniel Sundermann als Handschriftensammler. Ein Beitrag zur Straßburger Bibliotheksgeschichte. Diss. (masch.) Tübingen 1956, hier S. 133. Eingesehen online http://www.manuscripta-­mediaevalia.de/hs/kataloge/HSK0590.htm [22. 08. 2018]. 48 Bereits Strauch nimmt von der Einschätzung als Autograph Abstand, vgl. Strauch: ME , S. XV und S.  XXVII . Vgl. auch Strauch: ME , S. XIX : Beata Margareta Ebnerin Obiit Anno Domini MCCCLI ­Proxima Die Post Festum Sanctorum Gervasii et Protasii. London, British Library, Add MS 11430, fol. 2r zeigt eine in schwarzer Tusche ausgeführte Zeichnung der Kapelle und des Sarkophags der Margareta Ebner, an dessen Rand sich die obige Angabe findet. Strauch datiert die Londoner Handschrift noch auf das 16. Jahrhundert, vgl. Strauch: ME , S. XVII . Ich danke Dr. Justin Clegg, British Library, London sehr herzlich dafür, dass er mir die Handschrift in der British Library zur Verfügung gestellt hat.

Autorinnenpräsenz in der Überlieferung? | 279 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Ebner-­Eschenbachs erst nach 1744 entstanden sein dürfte.49 Aufgrund der einheitlichen Konzeption dieser Sammelhandschrift könne sie als ein Margareta-­Ebner-­Kompendium beschrieben werden, wie aus der gleichmäßigen Lagenverteilung, der Nachahmung der mittelalterlichen Textualis der Vorlage M und der chronologischen Anordnung verschiedener, mit dem Namen Margareta Ebner verbundener Texte hervorgehe, etwa den Lebensbeschreibungen von Sebastian Schlettstetter und Eustachius Eysenhuet.50 Zwei in die Handschrift aufgenommene neuzeitliche Textexzerpte fol. 127r–v legen genealogische Bezüge zur Familie Ebner-­Eschenbach nahe: Denn diese beiden literarischen ‚Lebensbeschreibungen‘ von Samuel Faber über Herrn Jobst Wilhelm von Eschenbach (1690) und Herrn Johann Paul Ebner von Eschenbach enthalten dezidierte Verweise auf Margaretas Schönheit, die zur Chiffre ihrer inneren Vollkommenheit wird.51 Die Textsammlung lasse sich als eine Art Genealogie fassen, die dem Andenken des ehrwürdigen Geschlechts der Familie Ebner gewidmet sei.52 Textkompilation und Gestaltung der 49 Vgl. Federer: Mystische Erfahrung, S. 411. Vgl. auch Nemes: Von der Schrift zum Buch, S. 374, Anm. 258 zur Datierung des Londoner Margareta-­Ebner-­Kompendiums ins 18. Jahrhundert. 50 Vgl. Federer: Mystische Erfahrung, S. 411 f. Die Sammlung beinhaltet nach Federer die „Offenbarungen“, fol. 3r–46v; Paternoster 47r–48v; Briefe an Margareta Ebner u.a, 49r–71v; 72r–92v Lebensbeschreibungen von Sebastian Schlettstetter (um 1662); fol. 93r–126r Lebensbeschreibungen von Eustachius Eysenhuet (um 1688); fol. 127r–v Excerpta Ebneriana (1690). 51 Vgl. Federer: Mystische Erfahrung, S. 417. Vgl. die Textpassage in London, British Library, Add MS 11430, fol. 127r–v: Hirten Gespräch beÿ Herrn Jobst Wilhelm Ebner von Eschenbach mit freÿle Maria M ­ agdalena Paumgartnerin von Hohlenstein d. 5 Maij 1690. […] Margaretha Ebnerin läst in den Gemütern derer die von ihren Wundern und heilig geführten Wandel hören, eine Verwunderung der seltenen Gaben; in dem Hertzen aber derer, die sich in ihrem Bildnus sehen verliebte Gedanken zu ruck. Ich gestehe dass ich, da ich ihr Gemählde etwas scharff betrachtet mich beredet, lebenslang kein zarter Gesicht keine mehr zaubernde Lieblichkeit gesehen zu haben. diese ist in Schwaben, wo sich ihr hochadeliges Geschlecht, nicht minder als in Franken ausgebreitet zu Medingen im Jahr 1352. entschlaffen. Herrn Johann Paul Ebner von Eschenbach Lebens’ Beschreibung Samuel Fabers Anno 1691. Margaretha Ebnerin, ist so wenig als vorhergehende wegen ihres wunderthätig und heiligen Wandels, den sie zu Medingen in Schwaben, (allwo sich der Stamm der Herren Ebnere nicht minder herrlich ausgebreitet), geführet und 1352. beschlossen […]. Wer ihr Bildnis, welches man noch hat, sihet, der wird dem Beÿfall geben, was man von ihrer unvergleichlichen Gestalt rühmet, nemlich ihre Gestalt hätte allein thun können, wozu man sonsten so viel gebrauchet, da die Griechen der Abbildung einer vollkommenen Schönheit zu sehen wünschten und haben wolten, dass Euphranor das Haar an Farb und Krause, wie seine Juno gehabt; Polgÿnotus die Augenbrauen und Wangen wie er der Cassandra zu Delphis zugeeignet; Appeles den übrigen Leib, nach dem Muster seiner Pacata; Aetion die Lippen womit seine Roxane pranget, mahlen sollte. Ich hab dero wegen nicht zu viel gethan, wann ich zu ihrem Bild schreiben lassen: Die Gaben die mit Gott, an Geist und Leib gegeben sind mehr als menschlich gros. Mein rein geführtes Leben, hat auch den Engeln gar das Lieben eingepregt, und durch mein kaltes Bild wird noch viel Brand erregt. Samuel Faber übernimmt den Schönheitspreis aus dem ersten Lebensbericht von 1690 und schmückt ihn im zweiten Lebensabriss mit weiteren Details aus, die der antiken Schönheitslehre und Rhetorik verpflichtet sind (vgl. Federer: Mystische Erfahrung, S. 415). Vgl. zu den von Samuel Faber angefertigten Lebensbeschreibungen, ebd., S. 413 – 420. 52 Vgl. ebd., S. 417.

280 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Handschrift verwiesen auf den gelehrten Nürnberger Ratsherren und Mäzen Hieronymus Wilhelm Ebner von Eschenbach (1673 – 1752) als Auftraggeber und die Stadt Nürnberg als Entstehungsort der Londoner Handschrift.53 Federer konnte durch akribische Recherche zeigen, dass die Sammelhandschrift tatsächlich zum Bestand der Ebnerschen Familienbibliothek gehörte, wie ein Eintrag des Auktionskatalogs von Gottfried Christoph Ranner aus dem Jahr 1820 demonstriere.54 Jedenfalls ist d ­ ieses „Margareta-­Ebner-­Kompendium“ (Federer) wohl nicht einzig aufgrund der ‚Heiligkeit‘ der Medinger Schwester angelegt worden, sondern auch zu repräsentativen Zwecken der besonderen Gnaden, die durch die berühmte ‚Ahnherrin‘ auf dem Geschlecht der Familie Ebner ruhen und zur Mehrung ihres Ansehens dienen konnten.55 Die detailgenaue Vorlagentreue der Londoner Handschrift zur Medinger Pergamenthandschrift M lässt sich aus dem Inhalt des Ebner-­Textes und seines Status als ‚authentischer Offenbarungsschrift‘ in Verbindung mit der Vorlage erklären, die der Schreiberin Margaretha Bitterlein und den Kopisten der Medinger Exemplare durch den oben erwähnten Zusatz als Autograph gelten konnte.56 Die sich in der Exaktheit der Ausführung ausdrückende 53 Vgl. ebd., S. 418. 54 Vgl. ebd., S. 419. 55 Vgl. ebd., S. 420. Einen solchen funktionsgeschichtlichen Zusammenhang legt jedenfalls die Existenz der Stuttgarter Christine-­Ebner-­Handschrift, Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, cod. theol. et phil. 2○ 282 aus dem 18. Jahrhundert nahe, die ebenfalls eine sorgfältige Abschrift älterer Vorlagen der „Offenbarungen“ Christine Ebners und eines chronologisch geordneten Vitenfragments bietet. Vgl. zur Stuttgarter Christine-­Ebner-­Handschrift, Ringler: Ebner, Christine, 2VL, Band 2 Sp. 299 f. Peters: Das Leben der Christine Ebner, S. 402 – 405 und Anm. 7 und 9, S. 419. Aufgrund der in der Stuttgarter Handschrift verwendeten Wasserzeichen der Ronsberger Mühle, des Kronwappens und des Bischofspapiers konnte Urban Federer sie als eine Art Zwillingshandschrift zur Londoner Sammelhandschrift identifizieren. Auch der Codex Md2 aus dem Kloster Maria Medingen (um 1774) bietet eine Art freie Bearbeitung der Handschrift Md1 der Gnadenvita Christine Ebners aus dem 15. Jahrhundert. Jedenfalls geht aus der Handschrift Md2 hervor, dass die Texte Christine Ebners besonders im 18. Jahrhundert im Kloster Medingen rezipiert wurden, was sich vielleicht durch die fälschlicherweise angenommene Verwandtschaft der beiden Dominikanerinnen erklären lässt. Denn im 18. Jahrhundert galt Margareta Ebner als ältere Schwester Christine Ebners. Vgl. Federer: Mystische Erfahrung, S. 417 und S. 426. Federer resümiert (S. 427): „Die ähnliche Anlage der Londoner und der Stuttgarter Sammelhandschrift, die vergleichbare Rezeptionszeugnisse zu den Ebner-­Nonnen und Texten von ihnen vereinen, heben die Bedeutung der beiden für die Nürnberger Patrizierfamilie hervor, die sich deren Bekanntheit zunutze machen wusste. Dies spiegelt sich auch in der Tatsache wider, dass deren Portraits heute noch im Schloss zu Eschenbach hängen.“ 56 Vgl. hierzu die Überlegungen von Nemes: Von der Schrift zum Buch, S. 374: Nemes beschreibt die besonders sorgfältig angefertigte Londoner Handschrift Add MS 11430 als „quasi fotomechanische Reproduktion in handschriftlicher Form“. Der Name der Schreiberin ist durch den Kolophon belegt, Add MS 11430, fol. 71v: Disz ist ausz geschribe[n] An Sant lucas aubent des hailigen Ewangeliste[n] jn dem lxxxxviii jar bitten got fur die schriberin mit einem Aue Maria Schwester Margaretha Bitterlein. Federer plädiert in seiner Untersuchung dafür, diese Jahresangabe als 1398 zu entschlüsseln, da er davon ausgeht, dass eine lokale Verehrung Margaretas bereits im 14. Jahrhundert durchaus vorstellbar sei. Außerdem betont er, dass die Briefsammlung ebenfalls wie der Offenbarungstext und das Paternoster in einer

Autorinnenpräsenz in der Überlieferung? | 281 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Reverenz für die Vorlage indiziert, dass die Überschrift in M fol. 1r in der Rezeption auf ein Autororiginal hin ausgelegt wurde. Offenbar entfalten Schrift, Alter und Herkunftsort der Medinger Handschrift in Verbindung mit der Ich-­Form die Vorstellung eines ‚Originals‘. Die nachträgliche Überschrift fungiert als eine Art testimonium veritatis. Im Gegensatz zu dieser Suggestion einer autographen ‚Originalhandschrift‘, die der Textinhalt und die Ebene der paratextuellen Zusätze entfaltet, verweist die Anlage der Handschrift M allerdings eher auf kollektive Entstehungsumstände, da sich zumindest drei verschiedene Schreiberhände klar voneinander abgrenzen lassen: Die „Offenbarungen“ auf fol. 1r–95v, die möglichweise auch von verschiedenen Händen niedergeschrieben wurden,57 eine zweite, jüngere Schreiberhand, die fol. 96r ein Reimofficium zur visitatio Mariae in einer Buchschrift auf einfachem Niveau einträgt, und schließlich eine dritte Hand fol. 98v–101v, die das Paternoster sorgfältig in Textualis aufgezeichnet hat.58 Textintern deutet eine ‚Spur‘ auf eine kollektive Textentstehung:59 Die Visionärin erscheint im Traum einer ungenannt bleibenden Schwester,60 die ihr bei der Niederschrift ihrer

Textualis geschrieben sei, die im Schriftbild als exakte Kopie einer (in ­diesem Fall) verloren geglaubten Vorlage aus dem Kloster Medingen gelten könne, vgl. dazu Federer: Mystische Erfahrung, zur Echtheit der Briefe, S. 364 – 367; zur Datierung der Briefe ins 14. Jahrhundert, S. 395 – 405. Vgl. zusammenfassend Nemes: Rezension zu Federer, S. 456 f. Allerdings basieren diese Überlegungen wiederum auf der angenommenen Existenz einer im Kloster Medingen befindlichen ‚Originalhandschrift‘ der Briefe, nach der die historisch nicht nachweisbare Schreiberin Margaretha Bitterlein die in der Londoner Handschrift vorliegende Abschrift vorgenommen habe. Ein Hinweis auf eine ­solche Vorlage bietet einzig die Vorrede zu den Briefen, MS Add 11430, fol. 49r: [H]ÿe volgent nach ain abgeschrifft Etlicher andechtiger säntt brieff, die der selligen ­mütter swest[er] Margaretta Ebnerin gesant sind worden. Die gelebt hat in grosser volkumenhait in gaistliche[n] und selligen[n] stand in dem kloster z medinge[n] under der pfleg prediger ordens. Anno d[omi]ni Mcccxij jar hat got mit ir angefangen z wircken sine mynnewerck. Mangvältige vnd wunderbarliche genad vnd sie ist abgeschiden von disem jamertal hin z got anno d[omi]ni MCCCLI. Die brieff hat ir gesant ir gaistlicher geträwer vatter Meister Hainrich von nerlingen gehaissen ain andechtiger selliger man vnd besunderer fründ gottes der ir vnd andern gottes kindern von got ward geben v. zugesand vnd dem sie in götlicher lieb vnd ausz dem einspreche[n] gottes ir leben vnd wesen vnd das got mit ir wircket geoffenbart hatt vnd von ÿm ratt vnd hilff entpfangen etc. Die konzeptionelle Anlage und Zusammenstellung der Briefe lasse sich bis zu dieser Vorlage aus dem Jahr 1398 zurückverfolgen. Federer hebt jedoch hervor, dass es sich bei dieser thematischen Strukturierung der Briefe nicht um „eine bis in alle Details durchdachte Komposition“ (S. 369) handele, sondern eher um eine lose Aneinanderreihung einzelner Stichwörter und Themenkomplexe, die auf die cura animarum zentriert ­seien. Diese lockere thematische Strukturierung lässt an das von Ringler bestimmte typenspezifische Merkmal der dominikanischen Gnadenviten denken. Es hat den Anschein, dass hier ganz ähnliche Strukturprinzipien zur Anwendung gekommen sein könnten. 57 Vgl. Wunderle: Handschriftenbeschreibung, S. 1. Wunderle differenziert H1 a: 1r–17r, Zeile 18 Textualis mit Elementen einer älteren gotischen Kursive und H1 b: 17r, Zeile 19 bis 95v reine Textualis. 58 Vgl. Strauch: ME, S. 161 Anm. 2 mit Transkription. Vgl. Wunderle: Handschriftenbeschreibung, S. 1. 59 Vgl. Peters: Religiöse Erfahrung, S. 152 – 156. 60 Vgl. ME, S. 90, 11: diu mir haimlich ist und mir daz gescriben hat.

282 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

­ nadenerfahrungen behilflich ist.61 Seit der Ausgabe von Philipp Strauch hat die Ebner-­ G Forschung diese Schwester aufgrund eines Briefeintrags mit Elsbeth Scheppach identifiziert,62 die zunächst als Schaffnerin und dann seit 1345 als Priorin im Kloster Medingen wirkte. Die Briefe suggerieren auf diese Weise eine ‚offiziell‘ geförderte Verschriftlichung des Vitenberichts im Auftrag der Ordensleitung,63 die in der Person Elsbeth Scheppach biographisch personalisiert erscheint. Und auch im Hinblick auf das Paternoster legen textinterne sowie handschriftliche Befunde eine nachträgliche Vereindeutigung auf die Person Margaretas nahe: Denn anhand der Lagenverteilung kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Paternoster (fol. 98v–101v) ursprünglich als Einzeltext existiert hat.64 Es stellt sich auch hier die Frage, ob sich die bereits erwähnte zweite Überschrift (Hie hebet sich an der Ebnerin paternoster, fol. 98v) lediglich auf das Paternoster als ein von Margareta Ebner gesprochenes Gebet bezieht oder ob sie tatsächlich Margareta Ebner als Verfasserin des Textes betrifft.65 Textintern ruft die Ich-­Erzählerin das Paternoster jedenfalls im Rahmen der göttlichen Gnadenerweisungen wiederholt auf: In den jaren, von den ich gescriben han, do merten sich min paternoster und alle min begirde von tag ze tag und diu genade unsers herren und auch diu gegenwertikait gotes, diu nimet creftiklichen dar inn zuo an mir.66 61 Vgl. ebd., S. 90, 18 – 21: und gewan da ainen geturst mit fräden und gedaht, ich wölt sie es lauzzen wissen und an scriben die selben sache, diu as crefteklichen mir enmitten lag. Vgl. Nemes: Von der Schrift zum Buch, S. 359 f. 62 Vgl. Strauch: ME Anm. zu 90,11, S. 306 und S. 321 zu den Briefen. Vgl. ebd. Brief XL S. 237, 57 – 238, 63 Heinrich bittet Margareta inständig um eine schriftliche Abfassung ihrer wandlung und verweist auf Elsbeth Scheppach: ich beger auch, als ich dich gebeten han, das du mir in dem willen gotz die wandlung, die got mit dir gethan hat, ordenlichen schribest, und wolt uns got ichtz mer durch dich geben, des beraub uns nit, die wil wir so gar ain geträwe helferin und schriberin haben an userm lieben kind in got Elszbet Schepach. 63 Vgl. Peters: Religiöse Erfahrung, S. 150 – 153, die in ihrer Monographie den scharfen Kontrast z­ wischen einer den Briefen entnehmbaren, offiziellen Förderung und der im Offenbarungstext thematisierten Einsamkeit und Verlassenheit der Schwesternfigur herausarbeitet. Vgl. den topischen Schreibbefehl in ME, S. 84, 3 – 5. 64 Vgl. Wunderle: Handschriftenbeschreibung, S. 1. 65 Vgl. Koch: Margaret Ebner, S. 394, die sich auf Susanne Bürkles Aussagen zum ambigen Status dieser Überschrift und den „referenziellen Sog des Eigennamens“ (Bürkle, S. 93) bezieht, der aus der Überschrift und der Verbindung von Offenbarung und Paternoster resultiere. Vgl. Bürkle: Die O ­ ffenbarungen der Margareta Ebner, S. 92 f. 66 ME , S. 73, 17 – 20. Philipp Strauch verweist bereits auf die Textpartie in den „Offenbarungen“, die den Beginn des Paternoster nahezu wörtlich wiedergibt, vgl. Strauch: ME , Anmerkungen, S. 305. Vgl. ME , S. 83, 5 und die entsprechende Textpassage des Paternoster, S. 161, 8 – 15. Vgl. auch S. 83, 23 – 26: ez waizze daz min herre wol, daz mir kain dink begirlicher und lustlicher wer ze scriben denn diu manunge und die begirde miner paternoster von der grossen genade, der ich dar uz enphangen und enphunden han. Vgl. zum zeitweiligen ‚Verlust‘ der Worte des Paternoster an einem Ostertag und der Gabe des Paternosters am Pfingsttag, S. 69, 1 – 2; ME , S. 67, 19 – 68, 10: nu het ich daz gröst lait umb daz paternoster,

Autorinnenpräsenz in der Überlieferung? | 283 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Dadurch dass der Paternostertext in den „Offenbarungen“ anzitiert und in den Prozess der Gnadenerweise eingebunden wird, ergibt sich ein signifikanter thematischer Nexus ­zwischen beiden Texten. Dass ­zwischen dem Paternoster und den „Offenbarungen“ eine direkte Verbindung besteht, legen auch drei (vielleicht im Fall von fol. 90r und fol. 94v erst nachträglich vorgenommene?) Verzierungen in der Handschrift M nahe, die fol. 90r mit einer figurierten I-Initiale einsetzen, die auf der rechten Seite als menschliches, von einem Schleier bedecktes Gesicht mit ausgestreckter Zunge in schwarz-­grauer Tinte ausgeführt ist.67 Und d ­ ieses Motiv wird erneut in der I-Initiale auf fol. 94v aufgegriffen, hier allerdings als eine Art janusköpfiges Motiv mit rubrizierten Zungen, die sich flammenartig in die Höhe winden. Diese figurierten I-Initialen markieren offenbar jene Textpartien, in denen die Visionärin als Fürbitterin agiert und vermeintlich konkrete ‚Prophezeiungen‘ über Ludwig den Bayern (c. 1282 – 1347) empfängt,68 die sich allerdings durch ihren verrätselt wirkenden Charakter, ihre „präzise Unschärfe“69 für die Nachwelt nicht stimmig entschlüsseln lassen. Sie lassen sich als Erzählstrategien fassen, die keine Vereindeutigung, sondern Ambiguität erzeugen. daz ich daz verlorn het, daz mir der tot vil lieber gewesen wer, wan ich west nit, wie ich min zit vertriben solt tag und naht. […] do ich nu sahe, daz ich min paternoster nit gesprechen moht, do riht ich mich in ander gebet und sprach nach metin fünfzig paternoster allen sinen hailigen liden und drucket und schlosse mich in und sprach denne aber fünfzig paternoster sinem warhaften hailigen leben und enphalh dar ine alle min unkunde weg. Vgl. auch, S. 71, 23 – 26 zur Unfähigkeit min paternoster zu sprechen. Vielleicht kann auch die Textpartie ME , S. 81, 1 – 9, die die Fürbittethematik entfaltet, als Anspielung auf das Paternoster gedeutet werden. Vgl. auch ME , S. 85, 2 – 4 mit Rückverweis auf das zuvor Geschriebene: und do an der kindelin tag vor der vesper het ich die aller süezzensten genade und sprach enmitten die paternoster, von den ich vor gescriben han, dem warhaften leben Jesu Cristi. Vgl. auch die Textpassage ME , S. 88, 6 – 18, in der das Beten des Paternosters besondere Gnadengaben induziert und als Teil des göttlichen Liebeswerks erscheint. 67 Diese Illustrationen wurden von der Forschung bisher nicht in überlieferungs- und textgeschichtliche Überlegungen miteinbezogen. Elisabeth Wunderle verzeichnet in ihrer Handschriftenbeschreibung zwar fol. 94v als „Zierstrich zu Gesicht ausgearbeitet“, allerdings nicht fol. 90r, vgl. Wunderle, Handschriften­ beschreibung, S. 1. 68 Vgl. M, fol. 90r, ME, S. 150, 24 – 151, 4: ich wart gebetten von ainem gaistlichen warhaften fruind unsers herren, daz ich begirde het um den kaiser, wan im het ain warhafter friunt gocz geset, er sölt lenger gelept han. nu wart mir geantwurt dar über: ‚daz ist war und ist geschehen von dem sunden der menschen.‘ Die nachfolgende Textpartie auf fol. 94r–94v, deren Abschluss mit der janusköpfigen I-Initiale mit rubrizierten Zungen hervorgehoben ist, enthält diese Prophezeiung. Vgl. ME, S. 158, 16 – 159, 1: Item ich het begirde aber aines tagez über die sel kaiser Ludwiges von Bairen. do wart mir geantwurt, er wer in grosser wisse, aber er sol des ewigen lebens nit as lange mangeln nach der grössin der wisse. Item ich het auch begirde über zwo sele. do wart mit geantwurt: ‚as lützel as Lucifer uzze der helle immer kumt as lützel koment si dar zu‘, wan ich maht auch vor für si nit gebitten. Item mir war an aller selen tag in dem schlauffe, daz ich kom an ain unkunde stat. da fand ich menger lai liute, die ich kant, die tot warn, und die baten mich mit grosser begirde, daz ich got für si bet. Vgl. zu Ludwig dem Bayern Anm. 117 unten. 69 Müller: Spielregeln für den Untergang, S. 145. Müller bezeichnet mit dieser Formulierung die spezifischen Erzählstrategien im Nibelungenlied, die auf die Erzeugung von Ambiguität zielen.

284 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Auf der Ebene der Bildausstattung der Handschrift M erinnern die rubrizierten Zungen dieser Gesichtsinitialen an die Feuerzungen des Pfingstfestes und die Gaben der von Gott inspirierten Rede, die textintern in Formulierungen wie nu wart mir geantwurt bzw. do wart mir geantwurt zumindest punktuell anklingt.70 Die Initialen mit den ausgestreckten Zungen referieren offenbar auf die dritte und dreizeilig ausgeführte rubrizierte H-Lombarde mit Fleuronné, die den Beginn des Paternosters (fol. 98v) markiert. Diese Initiale enthält am Ablauf unterhalb des Buchstabenstamms an der linken Seite den in schwarz und rot ausgeführten Oberkörper einer ausdrucksvollen Zeigefigur mit digitus-­argumentalis-­Geste, weit geöffnetem Mund und rubrizierter ausgestreckter Zunge.71 Dabei weist die expressive Zeigegeste der rechten Hand weg vom Paternostertext und suggeriert eine Art visuelle Verbindung zu den vorhergehenden „Offenbarungen“. Im Paternoster erscheint das Text-­Ich nahezu durchgängig in der Rolle der Bittenden, die in der formelhaften Alternation des Bittrufes Ich bitt dich, min herre bzw. Gib uns min herr entfaltet wird.72 Die Redegeste göttlicher Inspiration, der spirituell aufgeladene Sprechakt prophetischer Rede,73 wie ihn der Offenbarungstext in zwei konkreten Episoden (fol. 90r, fol. 94v) vorführt, scheint in der rubrizierten ‚Vermittlerfigur‘ (fol. 98v) konkretisiert, die, wie die Ich-­Protagonistin in ihrer Rolle als ‚Gnadenvermittlerin‘ auf der Ebene des Offenbarungstextes dem Numinosen eine physische Präsenz verleiht.74 70 Vgl. Act 2,3 – 11. 71 Vgl. Wunderle: Handschriftenbeschreibung, S. 1. Vgl. die Überlegungen zur Demonstrationsgeste des ausgestreckten Zeigefingers im Kontext der bildlichen Autorpräsentation und Entfaltung von Lehrautorität in den romanischen und deutschen Liederhandschriften, Ursula Peters: Digitus ­Argumentalis. Autorbilder als Signatur von Lehr-­Auctoritas in der mittelalterlichen Liedüberlieferung. In: Manus Loquens. Medium der Gesten – Gesten der Medien. Hrsg. von Matthias Bickenbach, Annina Klappert und Hedwig Pompe. Köln 2003 (Mediologie, Band 7), S. 31 – 65, besonders S. 36 – 38. Vgl. auch zum digitus argumentalis, Horst Wenzel: Wahrnehmung und Deixis. Zur Poetik der Sichtbarkeit in der höfischen Literatur. In: Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Bildern und Texten. Hrsg. von Horst Wenzel und C. Stephen Jaeger in Zusammenarbeit mit Wolfgang Harms, Peter Strohschneider und Christof L. Diedrichs. Berlin 2006 (Philologische Studien und Quellen Heft 195), S. 17 – 44, besonders S. 28 und S. 37. 72 Vgl. ME, in Auswahl S. 162, 3; S. 162, 27; S. 163, 16; S. 163, 30; Gib uns, min herr, S. 162, 18; S. 163, 22; S. 165, 9. 73 Vgl. zur bildlichen Repräsentation des Sprechaktes, der Thematisierung von Rede und den ‚Zeichen der Stimme‘ und ihrer überragenden Bedeutsamkeit in der symbiotischen, von körperlich wahrnehmbarer Mündlichkeit und auctoritas verleihender Schriftlichkeit geprägten Kultur des Hörens und Sehens: Horst Wenzel: Hören und Sehen. Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995, besonders S. 15 – 47. Vgl. auch die Überlegungen zur Visualisierung des Sprechaktes durch Zeigefiguren und Zeigehände in Autorenbildern und Initialen, Wenzel: Wahrnehmung und Deixis, S. 28 – 41. Vgl. zur bildlichen Repräsentation des Sprechakts in den Autordarstellungen volkssprachiger Handschriften, Ursula Peters: Das Ich im Bild. Die Figur des Autors in volksprachigen Bilderhandschriften des 13. und 16. Jahrhunderts. Köln 2008 (pictura et poësis 22), besonders S. 78 und S. 206 f. 74 Vgl. zu den in die verschiedensten Bereiche ausdifferenzierten Visualisierungsstrategien der mittelalterlichen ‚Schaufrömmigkeit‘, die auf eine sinnliche Wahrnehmbarkeit und Vergegenwärtigung des

Autorinnenpräsenz in der Überlieferung? | 285 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Möglicherweise könnten die expressiv wirkende Zeigefigur, die Perlung und das ­Fleuronné erst nachträglich hinzugefügt worden sein. Mit Blick auf die einfach gestaltete, rubrizierte H-Lombarde der oben genannten Berliner Handschrift mgq 179, fol. 282r, die eine Abschrift von M darstellt und um das Jahr 1470 datiert werden kann,75 ließen sich diese Verzierungen, falls es sich tatsächlich um Ergänzungen handeln sollte, auf die Zeit nach der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts datieren. Auffällig ist, dass die H-Lombarde in der Handschrift M, fol. 98v Spuren von Fingerabdrücken aufweist, die das Rot verwischt haben und möglicherweise auf die mittelalterliche Kultur des Berührens im Rahmen einer verehrenden Andachtspraxis hinweisen könnten.76 Oder vielleicht gehen diese Spuren auf den Rubrikator zurück, der die Überschrift Hie hebet sich an der Ebnerin pater noster auf fol. 98v in einer kursiv wirkenden späteren Schrift nachgetragen hat und auch die Ausschmückungen der Initiale vorgenommen haben könnte. Auf einen Nachtrag der Zeigefigur könnten eventuell die roten Tintenflecken auf fol. 98r hindeuten, die sich von der verzierten Initiale fol. 98v auf die leer gebliebene Vorderseite des Blattes fol. 98r durchgedrückt haben. Jedenfalls ist der Beginn des Paternosters auch in der Londoner Handschrift, fol. 47r mit einer im Maßstab verkleinerten und vereinfachten Form jener auffallenden ‚Vermittlerfigur‘ mit rubrizierter Zunge verziert, der damit offenbar eine gewisse Bedeutung zukommt. Falls die Gesichter mit ihren rubrizierten Zungen tatsächlich erst nachträglich vorgenommen wurden, könnten sie die im Paternostertext so eindringlich entfaltete Fürbitterinnenrolle und das spezifische Thema der göttlich inspirierten Rede visuell hervorheben.77 Dass ähnlich gestaltete Marginalzeichnungen durchaus als „Kommentarillustrationen“ (K. Weitzmann)78 fungieren können, geht aus dem literarisch ganz unterschiedlich ausgerichteten Bereich der weltlichen Redendichtung hervor und zwar aus zwei Handschriften des berühmten altfranzösischen Rosenromans:79 In der Handschrift Paris, Bibliothèque ­Nationale

75 76

77 78

79

unsichtbaren Gottes zielt, Wenzel: Hören und Sehen, Kapitel  III: Die Manifestation Gottes für das Auge, S. 99 – 105. Vgl. Hornung: Daniel Sundermann als Handschriftensammler, S. 133. Vgl. zur Bedeutung der Bilder im Hinblick auf den Tastsinn und die Kultur des Berührens, Wenzel: Hören und Sehen, S. 99, im Hinblick auf die Reliquienverehrung S. 169 f. Silke Tannen: Rot sehen – Blut berühren. In: Die Farben imaginärer Welten: Zur Kulturgeschichte ihrer Codierung. Hrsg. von Monika Schausten. Berlin 2012, S. 303 – 323, besonders S. 315 f. Federer macht auf diese Figuration der Schwesternfigur als Gnadenmittlerin im Briefcorpus aufmerksam, vgl. Federer: Mystische Erfahrung, besonders S. 84 f. und S. 126. Den Begriff der Kommentarillustration verwendet Weitzmann im Hinblick auf ein Illustrationsprinzip, bei dem Bilder den Text sowohl räumlich als auch inhaltlich ersetzen und kommentieren, vgl. Kurt Weitzmann: Illustration in Roll and Codex. A Study of the Origin and Method of Text Illustration. Princeton 1947 (Studies in Manuscript Illumination 2), S. 144. Vgl. Der Rosenroman. Guillaume des Lorris und Jean de Meun. Übersetzt und eingeleitet von Karl August Ott. Band 1 – 3. München 1976 – 1979. Ich danke Sylvia Huot, Pembroke College, University of Cambridge, sehr herzlich dafür, dass sie mich auf die rubrizierten Zungen in den Randillustrationen der französischen Rosenroman-­Handschriften aufmerksam gemacht hat.

286 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

de France, fr. 12592 aus dem 14. Jahrhundert findet sich auf fol. 14r, 35 – 40 am linken Innenrand eine fünfzeilige Gesichtsillustration mit geöffnetem Mund und rubrizierter Zunge, die den Disput z­ wischen Amant und Raison markiert und die Frage des Liebenden nach der rechten Art der Liebe visuell kommentiert.80 Nach Sylvia Huot kann die rubrizierte Zunge hier für den Sprechakt und die irrationale Rede des Liebenden stehen, dem es schwerfällt, sich dem Rat der Raison zu beugen.81 In die Bordüre des oberen Seitenrandes der zweiten Handschrift Paris, Bibliothèque Nationale de France, fr. 25526, fol. 162r 82 sind ebenfalls zwei männliche Figuren eingearbeitet, die sich mit ausgestreckten Zungen anblicken und die Textpartie hervorheben, die den Gewinn der Rose schildert. Sie könnten in d ­ iesem Kontext des Erlangens der Rose, der aus der Ich-­Perspektive des Liebenden präsentiert wird, wiederum den Sprechakt thematisieren.83 In den beiden Handschriften des Rosenromans lassen sich die rubrizierten Zungen offenbar als ‚Zeichen der Stimme‘ fassen. Im Gegensatz zu ­diesem weltlichen Diskurs des Liebesverlangens, wie ihn der Rosenroman entfaltet, könnten die Verzierungen in der Margareta-­Ebner-­Handschrift M die Gabe der gottinspirierten Rede kommentieren, die als mit der Aura göttlicher auctoritas aufgeladener Sprechakt erscheint.84 Auch wenn sich die genaue Funktion der Gesichtsillustrationen in der Medinger Handschrift nicht abschließend klären lässt, so stellen sie zumindest auf der Ebene des visuellen 80 Vgl. das Digitalisat der Handschrift www.romandelarose.org/#browse;Francais12592 [28. 08. 2018]. Vgl. Rosenroman Band 1, S. 300, 4664 – 4672. 81 Vgl. Sylvia Huot: The Romance of the Rose and its Medieval Readers. Interpretation, Reception, ­Manuscript Transmission. Cambridge 1993 (Cambridge Studies in Medieval Literature 16), S. 280: „This face, with its red cheeks, prominent teeth and protruding tongue, expresses the overwrought passions of the Lover as he struggles against Reason’s advice.“ 82 Vgl. das Digitalisat der Handschrift http://romandelarose.org/#browse;Francais25526 [28. 08. 2018]. Vgl. Rosenroman Band 3, S. 1146, V. 21591 ff., mit dem fol. 162r beginnt: M’agenoillai senz demourer; / Car mout oi grant fain d’aourer / Le bel saintuaire enourable / De cueur devot e piteable; / Car touz iert ja tombez par terre; / Qu’au feu ne peut riens tenir guerre / Que tout par terre mis n’eüst, / Senz ce que de riens i neüst. Vgl. zur Aufteilung der Ich-­Rede in Amant- und Autorrede durch rubrizierte Zwischenüberschriften und Redeanweisungen in den Rosenroman-­Handschriften, Peters: Das Ich im Bild, besonders S. 121. 83 Für diesen Hinweis danke ich sehr herzlich Sylvia Huot, Pembroke College, University of Cambridge. 84 In dem für seine Bildausstattung berühmten Psalter der Christina von Markyate, (dem sogenannten Albani-­Psalter), aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts (Hildesheim, St. Godehard, Nr. 1) finden sich ebenfalls figurierte Initialen mit dem Motiv der ausgestreckten Zunge, wie aus den Einträgen des Handschriftenkatalogs hervorgeht: „p. 147 (Ps 38) D. Christus hat sich aus der Himmelssphäre zum Psalmisten gebeugt. Dieser blickt zu ihm, die eine Hand auf seine ausgestreckte Zunge gerichtet, die andere auf die Worte von V. 2 Dixi: custodiam [vias meas: ut non delinquam in lingua mea]. […] p. 160 (Ps 44) E. David mit Krone. In der einen Hand hält er die Feder, während er mit der anderen auf seine ausgestreckte Zunge zeigt. (V. 2 lingua mea calamus scribae). […] p. 355: (Ps 139) E. David zeigt auf die herausgestreckte Zunge einer hinter ihm stehenden Person (V. 4: Acuerunt linguas suas).“ Vgl. Handschriften der Dombibliothek zu Hildesheim. Zweiter Teil. Hs 700 – 1050; St. God. Nr. 1 – 51; Ps 1 – 6; J 23 – 95. Beschrieben von Renate Giermann und Helmar Härtel unter Mitarbeit von Marina Arnold. Wiesbaden 1993, zur Datierung des Albani-­Psalters Einleitung, S. viii und zu den figurierten Initialen, S. 122 und S. 129.

Autorinnenpräsenz in der Überlieferung? | 287 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Repräsentationssystems gegen Ende des Offenbarungsberichts (1r–95v) eine Art Anschlussmöglichkeit zum Paternoster her, die bereits in den „Offenbarungen“ durch das wörtliche Zitat und mehrfache Anspielungen auf das Paternoster aufgerufen wird. Stärker noch als diese ins Bild gesetzte Verknüpfung behauptet die nachgetragene Überschrift Das leben der Seligen margareta Ebnerin die hat mit Irer handt geschrift dises búch selber geschriben auf fol. 1r eine einheitliche Konzeption der Handschrift M als autographes ‚Autororiginal‘. Auf diese Weise stili­ siert die Überschrift die Handschrift M gewissermaßen zu einem ‚Autororiginal‘ und negiert die Spuren verschiedener Schreiberhände und das mögliche Zusammenbinden von Paternoster und Offenbarungstext. Die Überschrift indiziert, dass ‚schreiben‘ hier die Bedeutung von ‚verfassen‘ angenommen hat, im Sinne einer für den Text verantwortlichen Urheberschaft, die im Rahmen des Prozesses einer allmählichen Herausbildung persönlicher Autorschaft gesehen werden kann. Die Überschrift legt eine autorbezogene Lesart der Handschrift M als einheitlich konzipiertes ‚Autororiginal‘ nahe.85 Dagegen deutet sich in der oben diskutierten Berliner Handschrift mgq 179 eine ganz anders ausgerichtete programmatische Lesart an: Denn hier ist nicht nur die Überschrift Von einer guten heiligen swester brediger ordens (fol. 184r) ins Exem­ plarische gewendet,86 auch die rubrizierte H-Initiale (fol. 282r), die den Beginn des Paternosters markiert, ist der Form der Lombarde in der Handschrift M nachgebildet, allerdings stark vereinfacht, ohne jegliche ‚Ausschmückung‘. Erst der Nachtrag im Register der Handschrift mgq 179 (Bl. vr) bezeugt ein Interesse an der Enthüllung namentlicher Autorschaft. Diese Überlegungen verdeutlichen, dass man sehr genau ­zwischen der Ebene des überlieferungsgeschichtlichen Befundes und der Ebene der rezeptionsgeschichtlichen Wirkung des Textes unterscheiden muss: Denn in der Text- und Überlieferungsgeschichte konkretisiert sich nicht nur das Bild einer im Nachhinein namentlich benannten Textproduzentin, sondern auch die Vorstellung eines von ihr ‚eigenhändig geschriebenen Originals‘, wie etwa der Dominikanerbruder Eustachius Eysenhuet in der Vorrede seiner Druckfassung der „Offenbarungen“ aus dem Jahr 1688 ausführt: hab ich maistens genommen aus Margarethae selbst aignen beschribnen Lebens-­Lauff / welcher […] dergestalten von Margaretha verzeichnet in einem uralten und schier unleßlichen Buch / auch dessen uralten Abschrift zu lesen ist.87 85 Vgl. die Überlegungen zur historischen Semantik des Wortfeldes schrîben, Wenzel: Hören und Sehen, „Kapitel VI schrift und gemeld: Zur Bildhaftigkeit der Literatur und Narrativik der Bilder“, S. 292 – 337, besonders S. 321. Vgl. zur Modellierung persönlicher Autorschaft und einer textintern entworfenen ‚Autoridentität‘, die seit dem 12. Jahrhundert in geistlichen Texten zunehmend Verbreitung findet, Meier: Autorschaft im 12. Jahrhundert, S. 214 f. und S. 263. Vgl. zum „Prozeß der Etablierung von Autorschaft als für den Text verantwortlicher Urheberschaft“, Peters: Das Ich im Bild, S. 1 und S. 246. 86 Vgl. Bürkle: Die Offenbarungen der Margareta Ebner, S. 93. 87 Vgl. Eustachius Eysenhuet: Kurtzer Begriff Deß Wunderlichen Lebens / Heroischen Tugenden / himmlischer Gnaden / vnd Einflüsse / auch vil-­werthen Todts der Seeligen Jungfrauen Margarethae Ebnerin […]. Augsburg 1688.

288 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Diese Aussage suggeriert zunächst, dass Eysenhuet eine von Margareta Ebner eigenhändig niedergeschriebene ‚Originalfassung‘ als Vorlage für seine Kompilation genutzt habe. Allerdings benennt er nicht nur diese in Buchform vorliegende, uralte und unleserliche ‚Vorlage‘, sondern er spielt auch auf eine (zweite?) sehr alte Abschrift an, so dass sich diese eher verrätselt wirkende Bemerkung zur Entstehung der Druckfassung nicht ohne Weiteres entschlüsseln lässt. Jedoch überträgt sich die suggerierte Aura des Authentischen, die der hochbetagten und schwer zu entziffernden ‚Urschrift‘ anhaftet, auf Eysenhuets Kompilation und verleiht ihr den Anstrich des historisch Verbürgten. Eysenhuets ‚Authentizitätsbekundung‘ ist auch in die Überlegungen zur Überlieferungs- und Textgeschichte eingegangen. So formuliert Philipp Strauch, der Herausgeber des Offenbarungstextes: Dass M [die Handschrift der Klosterbibliothek Maria Medingen, 1353, Anm. S. K.-R.] nicht von Margarethas Hand geschrieben sein kann, wie dies eine Notiz in der Handschrift behauptet, steht fest. M geht vielmehr mit m 88 auf dieselbe Vorlage zurück. War nun die letztere wirklich M ­ argarethas resp. Elsbeth Schepachs ‚selbsteigene, unleserliche Handschrift‘, wie Eysenhuet und die Schreiberin von m angeben, so ist das Original bereits ein redigiertes gewesen.89

Bereits Strauch konzediert, dass Eysenhuet vermutlich ein verloren geglaubtes Original von m bei der Kompilation der Druckfassung zur Verfügung gestanden habe.90 Und auch Elisabeth Wunderle vermutet im Rückgriff auf den Artikel im Verfasserlexikon, dass die Handschrift m Augsburg, Universitätsbibliothek, Cod. III Deutsch 3.4º.43 eine Abschrift des ‚Originals‘ darstellen könnte.91 Den Eindruck einer redigierten ‚Originalschrift‘ legen bereits die textintern wiederholt auftretenden Rückverweise auf das Schreiben und der Hinweis auf eine Kürzung nahe,92 die allerdings aufgrund ihrer rhetorischen Funktionalisierung nicht ohne Weiteres unter textgenetischen Gesichtspunkten betrachtet werden können. Denn die von der Forschung angenommene Existenz eines solchen ‚Originals‘ beruht wiederum auf der Zusammensicht von 88 Handschrift m bei Strauch noch als Papierhandschrift der fürstlich Wallersteinischen Bibliothek zu Mayhingen (III Deutsch 3.4º.43) ausgewiesen, jetzt Augsburg, Universitätsbibliothek, Cod. III Deutsch 3.4º.43 vgl. Wunderle: Handschriftenbeschreibung, S. 2. 89 Strauch: ME, S. XXIV. 90 Vgl. Strauch: ME, S. XXIV. 91 Vgl. Wunderle: Handschriftenbeschreibung, S. 2. Wunderle vermerkt im Hinblick auf M: „Bei der Handschrift, die zwei Jahre nach dem Tode Margareta Ebners geschrieben worden ist, handelt es sich zwar nicht um die Originalhandschrift, aber um die älteste und dem Original nahestehende Überlieferung ihrer ‚Offenbarungen‘.“ Vgl. auch den Verfasserlexikonartikel zu Margareta Ebner von Weitlauff: Ebner, Margareta, 2VL, Band 2, Sp. 304. 92 Vgl. ME, S. 127, 22 f.: as ich ez vor gescriben han und betiutet; dar umb kürcz ich ez nu.

Autorinnenpräsenz in der Überlieferung? | 289 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

den Angaben zum Schreibprozess, den Anspielungen auf ein selbstgeschriebenes ‚Büchlein‘ in den „Offenbarungen“93 sowie den Informationen in der Londoner Briefsammlung. Jedenfalls lassen sich auch hier die faktischen Entstehungsumstände der „Offenbarungen“ nicht ohne Weiteres aus den textinternen Angaben in den Sendbriefen und im Offenbarungstext rekonstruieren, wie es neuerdings Urban Federer in seiner Untersuchung unternommen hat.94 Er geht davon aus, dass Margareta Ebner erst nach dem Erhalt eines bestimmten Briefes (XL) mit dem Schreiben begonnen und die „Offenbarungen“ Heinrich von Nördlingen wohl im Jahr 1344 – 1345 in einzelnen Textpartien zugesandt habe, für die aber weder der Offenbarungstext noch die Ebene der handschriftlichen Überlieferung stichhaltige Anhaltspunkte liefert.95 Damit nivelliert er die typenspezifisch ausgerichtete Darstellung des ­Schreibvorgangs in den unterschiedlichen Texttypen ‚Sendschreiben‘ und Offenbarungstext. Zudem reproduziert er die von der neueren Frauenmystikforschung widerlegte Vorstellung, dass die Autorin ihrem Beichtvater Einzelabschnitte bzw. eine lose Blättersammlung zur ‚Überarbeitung‘ übersandt habe.96 93 Vgl. zur Bezeichnung büechelin, ME, S. 86, 15 – 17: do ich daz büechelin enmitten scraib, do viel mir der aller gröst lust in die kinthait unsers herren mit der aller süezzesten genade. In nahezu wörtlicher Wiederholung ME, S. 87, 22 – 26: Aber sider ich an fieng ze scriben daz büechlin, han ich grossen lust zuo der ­kinthet unsers herren, sunderlichen as ich gescriben han, und siner aller süezzesten besnidunge, daz ich dar uz niezzen sölt sin aller creftigostes minnenwallendez hailigez bluot. ME, 91, 13 – 15: Min luteriu warhet ­Jhesus Cristus hat mir war gelaun allez, daz er mir gelopt, do ich daz büechelin an fieng ze scriben. ME S. 73, 17–S. 91, 12, besonders S. 83, 27–S. 84, 24 Schreibbefehl: Item ich wart gebeten von dem warhaften friund gotez, den er mir ze grossen trost geben hatt allem minem leben, daz ich ime scribe, waz mir got gebe. Vgl. ME, S. 147, 14 – 15: und der rede vil, der ich dir aller nit gescriben kann. Vgl. Peters: Religiöse Erfahrung, S. 147. Vgl. zur ungenannten Schreiberin, die die Gnadenerfahrung der Schwester sofort im Anschluss niederschreibt, ME, S. 90, 10 – 20. 94 Vgl. Federer: Mystische Erfahrung, besonders zur Textentstehung der Offenbarungen S. 240, S. 261 – 265 und S. 288 zur vermuteten Redaktion des Offenbarungstextes. Vgl. Nemes’ Kritik an der Vorgehensweise, literarische Rollen- und Figurenkonstellationen auf die textexternen Verhältnisse zu übertragen: Nemes, ZfdPh 132 (2013), V. 3, S. 454 – 468. 95 Vgl. Federer: Mystische Erfahrung, S. 241 f. und S. 288. Federer formuliert hier wohl im Rückgriff auf Philipp Strauch, der anstelle des neutralen Ausdrucks ‚Teilabschnitt‘ noch dezidiert das lebensbegleitende Schreiben als Prämisse für die Textentstehung ansetzt, vgl. Strauch: ME, S. XXXIV: „Von ihrer Leidensgeschichte und ihrem geistigen Verkehr mit Heinrich v. Nördlingen gibt uns Margaretha in ihren Offenbarungen einen treuen Bericht nach regelmäßig geführten Tagebüchern, die sie später auf Heinrichs Bitten zu größerer Einheit verband.“ Vgl. Federer, S. 241 Anm. 61, mit dem Briefzitat XL, S. 238, 61 – 63: die wil wir so gar ain geträwe helferin und schriberin haben an unserm lieben kind in got Elszbet Schepach, das Elsbeth Scheppach in der Rolle der Förderin der Offenbarungsschrift präsentiert. Federer bezieht diesen Brief auf den Schreibbefehl im Offenbarungstext, ME, S. 83, 27–S. 84, 24. Dabei verweise die Zeile ich beger auch, als ich dich gebeten han in Brief XL S. 238, 58 auf Brief XXXIX, S. 235, 25 – 27: schrib mir sunderlich von der lieblichen und pinlicher schidung, die ich nu von dir tett, und auch von der wandlung, als ich dich bat. 96 Dieser Vorstellung begegnet man auch in der frühen Mechthild-­Forschung, etwa bei Carl Greith. Vgl. Carl Greith: Die deutsche Mystik im Predigerorden (von 1250 – 1350) nach ihren Grundlehren, Liedern

290 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Federers Darstellung impliziert, dass die Initiative und Förderung des Schreibens ausschließlich von Heinrich von Nördlingen ausgehe. Den mehrdeutigen Begriff wandlung in Heinrichs Briefen setzt er mit dem Gnadenleben gleich 97 und den Erhalt der „Offenbarungen“ in Einzelabschnitten erschließt er aus der Formulierung din brief und ander din geschrift in Brief XLI, S. 240, 2 – 4: ich hab enpfangen mit fröd mines hertzen din brief und ander din geschrift, die uns got durch dich geoffenbaret hat zu Straszburg. Zudem bitte Heinrich die Schwester inständig, ihre von Gott eingegebenen ‚Reden‘ aufzuzeichnen, Vergessenes aus ihrer Erinnerung niederzuschreiben und zu sammeln, XLI, S. 240, 10 – 15: und dar umb bitt ich dich in gott, als ich vor geton hab, was dir got ze sprechen geb, das du vileicht vor vergeszen habest oder on das noch nit geschriben habest, das du es mit fleisz schreibest und zesamen samnest bisz an das end, und halt es alles haimlich als du an gefangen hast, wann das will ich auch mit dir thain. ich getar auch weder dar zu oder dar von gelegen weder in latein noch in tüchtz bis das ich es mit dir überlesz und es ausz dinem mund und ausz dinem herzten in newer warhait verstand.98

Hier zitiert der Briefautor aber genau jenen literarischen Themenkomplex einer begnadeten ‚Zusammenarbeit‘ von Beichtvater und Visionärin an, die wir aus dem Kempe-­Text mit einer ganz ähnlichen Akzentuierung des Vergegenwärtigens vergessener Gnadenerfahrung im Schreibvorgang kennen.99

und Lebensbildern aus handschriftlichen Quellen. Freiburg i. Br. 1861, S. 207: „Schwester Mechthild hat ihre geistlichen Minnelieder und dacrischen Betrachtungen vorerst in einzelnen fliegenden Blättern aufgezeichnet, die nachmals ihr Beichtiger in dem Buche ‚das fließende Licht der Gottheit‘ zusammenstellte.“ Bereits Hans Neumann widerspricht dieser Vorstellung entschieden, vgl. Hans Neumann: Zur Text- und Lebensgeschichte Mechthilds. In: Altdeutsche und Altniederländische Mystik. Hrsg. von Kurt Ruh. Darmstadt 1964, S. 175 – 240. Balázs Nemes hat diese Vorstellung kritisch hinterfragt, vgl. dazu Nemes: Von der Schrift zum Buch, S. 3 und S. 12. 97 Vgl. Federer: Mystische Erfahrung, S. 241 Anm. 62: „Unter Wandlung versteht Heinrich in den Briefen XXIX und XL Margarethas Gnadenleben.“ Als weitere Belege für seine These führt Federer Brief XLIII, S. 243, 35 – 37 an: Ich danck dir in got und durch dich umb die geschrift, die du mir gesant hast und noch furbas senden solt, als lang und als vil dirs got gibt. Brief LI, S. 264, 97: Umb das püchlein, als du waist bit ich dich, wan es geschriben si. 98 Vgl. auch LII, S. 266, 55 – 58: ich beger zu wissen wie es nun umb dich stand, und ob du mer geschriben habest zu dem vordern ausz dem willen und ausz dem mund gottes, das send mir. Auf den Aspekt des Vergessens spielen bereits die „Offenbarungen“ in Form einer Brevitas-­Formel an, S. 147, 24 – 25: und der wort vil, der ich vergisse und der ich nit aller gedenken kan. 99 BMK, Prolog, S. 5, 10 – 16: & so he red it ouyr be-­forn þis creatur euery word, she sum-­tym helpyng where ony difficulte was. Thys boke is not wretyn in ordyr, euery thyng aftyr oþer as it wer don, but lych as þe mater cam to þe creatur in mend whan it schuld be wretyn, for it was so long er it was wretyn þat sche had for-­getyn þe tyme & þe ordyr whan thyngys befellyn. BMK, S. 221, 7 – 12: And þan he gan to writyn […] sweche grace as owr Lord wrowt in hys sympyl creatur ȝerys þat sche leuyd aftyr […] aftyr hyr owyn tunge.

Autorinnenpräsenz in der Überlieferung? | 291 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Der vergleichende Blick auf die Kempe-­Vita demonstriert, dass sich auch in ­diesem Vitentext eine Art (literarischer) Anspruch auf Teilhabe des schreibenden Priesters entfaltet. Der Weltpriester Heinrich beansprucht ebenfalls, an der Entstehung des büechelins (ME, S. 86, 15) beteiligt gewesen zu sein. Die Briefpassage (XLI, S. 240, 10 – 15), die auf die Redaktortätigkeit Heinrichs anspielt, ist grundlegend für Federers Argumentation: Denn er geht davon aus, dass allein Heinrich die wenigen „unzureichend integrierten, lateinischen Sätze“ (ab S. 123, 16 f.)100 in den „Offenbarungen“ vorgenommen haben könnte, da 100 Vgl. Federer: Mystische Erfahrung, S. 288 f.: „Während sie [die lateinischen Sätze, SKR ] in einigen Fällen organisch in den übrigen Text integriert wirken, fallen sie an anderen Stellen durch eine mehr oder weniger mangelhafte Eingliederung auf. Bei diesen nicht oder schlecht integrierten lateinischen Einschüben, die nur im dritten Teil der „Offenbarungen“ auftreten, handelt es sich meist um Bibelzitate oder um s­ olche aus dem Offizium.“ Aus den Ausführungen Federers geht nicht klar hervor, ­welchen Seitenbereich er unter den dritten Teil subsumiert, vermutlich im Rückgriff auf Ludwigs Zoepfs Einteilung S. 91 – 161, vgl. Federer, S. 240. Vgl. die Auflistung der Seitenangaben bei Federer, S. 289. Vgl. die Textpassagen mit lateinischen Bibelzitaten S. 6, 14 – 16: do wart mir in ainem traume zuo gesprochen in ainem licht der vers ‚Adorabunt eum omnes reges, omnes gentes servient ei.‘ Ps 71,11; S. 31, 4: und wart mir auch daz wort so kreftiklichen ine gegeben, daz unser herre sprach zuo sinen ­jungern: Tristicia vestra vertetur etc. Io 16,20; S. 87, 15: So wirt mir geantwurt mit den warhaften worten des ­engeles Gabrieles ‚Spiritus Sanctus supervenit in te.‘ Lc 1,35; S. 99, 25: do sprach ez [das Jesuskind, SKR ]: ‚Spiritus sanctus superveniet etc.‘ Lc 1,35; S. 121, 6: so meht ich von mir selber denne ain ainiges wort nit gesprechen – (Paulus) ‚An experimentum quaeritis eius, qui loquitur in me Cristus?‘ – und nach der red sig ich nider, und werdent mir die ougen und der munt beschlossen, daz ich swigen muosse as vor, daz ich nit gesprechen mag ‚Jhesus Cristus.‘ S. 122, 26 – 123, 1 im Hinblick auf den süßen Geschmack im Kontext der Gnadenrufe: und wart mir do dar nach in der rede gemert diu selbe süesseket: hic nota: ‚De ore prudentis procedit mel‘ etc. et iterum ‚Favus distillans‘ etc. Ct 4,11; S. 124, 2: hic nota: ‚Heli heli lamah‘ etc. ‚Laboravi clamans, rauce facte‘ etc. experientiam horum in Cristo pro modulo suo experta est sicut aliquis hominum nunc viventium et tunc petivit gemens et flens hec verba ex profunda humilitate scribi. Übersetzung Federer: Mystische Erfahrung, S. 290 Anm. 328: „Hier merke: Eli, Eli lamah etc. Ich habe mich abgemüht mit Rufen (Worten) einer, die heiser geworden ist. etc. Sie hat die Erfahrung jener (Menschen), (die sie) in Christus (gemacht haben), nach ihrer eigenen Art erfahren, wie irgendeiner der jetzt lebenden Menschen, und hat dann unter Stöhnen und Weinen gewünscht, dass diese Worte aus tiefster Demut geschrieben werden.“ Mt 27,46 und Ps 68,4. Allerdings weist auch diese Textpartie eine direkte thematische Verbindung zu der nachfolgenden Beschreibung der Gnadenrufe auf, die in ihrer überwältigenden, Heiserkeit verursachenden Intensität gleichzeitig als Ausweis der Echtheit der Gottesbegnadung fungieren, vgl. S. 124, 11–S. 128,4, vgl. besonders S. 125, 5 – 6: und in allen disen ­rüeffen kom mir diu haiserin in ainer pinlicher wise, as ich vor gescriben han. S. 125, 20: und uz diser tiefin schrai ich an zuo dem herren und begert in sin barmherziket, die er mir for so minneklich erzaiget het, ob ers wer und siniu werk, daz er mir daz erzaigti in warr ziugsal. S. 126, 6 – 8: und wart mir sin liden as enphindenliche gegenwertig, as ob ez des tagez vor minen augen geschehen wer. und do muost ich uz ­brechen von dem gewalt gotez, der in mir wörht, in gar cleglicher wise und jemerlicher stime mit vil zehern mit disen worten: owe! min herre Jhesus Cristu, owe! min herre Jhesus Cristus. Vgl. zur Heiserkeit auch S. 127, 12; S. 127, 17 – 23; S. 133, 16 – 17: und für allez daz mich zitlichen erfröwen moht, daz was da diu grozze begirde des todez: ‚michi vivere Cristus est et mori lucrum.‘ Phil 1,23 und Phil 1,21. S. 134, 15 – 17: und mir ist kain stunde as verdrossen as ob dem essen. Augustinus ad alimentum sicut ad tormentum ivit

292 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

er den Medinger Schwestern mangelnde Lateinkenntnisse unterstellt.101 Diese lateinischen Formulierungen ­seien in der Londoner Handschrift Add MS 11430 unterstrichen.102 Allerdings weist bereits die Medinger Handschrift M aus dem Jahr 1353 rubrizierte Unterstreichungen dieser lateinischen Formulierungen auf und dies ist wohl nicht erstaunlich, wenn man bedenkt, dass die Londoner Handschrift eine bis in Einzelheiten der Schriftart, der Verzierungen und des Layouts vorlagengetreue Abschrift des vermeintlichen Autographen M darstellt. Einzig die Textpartie in M, fol. 75r (ME, S. 124, 2)103 lässt sich als eine Art erläuternder Zusatz in lateinischer Sprache fassen, den bereits Philipp Strauch Heinrich von Nördlingen zuschreibt. Es liegt nahe, diese Textpassage als Kommentierung der Gnadenrufe aufzufassen, die thematisch an den „Schrei der Gottverlassenheit Christi“104 des Passionsgeschehens anknüpft. Allerdings wirkt auch diese Textpartie eher verrätselt, da sie sich nicht ohne Weiteres entschlüsseln lässt und deshalb wohl auch nicht unbedingt dem ‚Redaktor‘ Heinrich von Nördlingen zugeschrieben werden muss. Bei der Durchsicht der Handschrift M aus der Medinger Klosterbibliothek ist auffällig, dass die lateinischen Formulierungen fol. 3v (S. 6, 14 – 16) und fol. 17r (31, 4) vollkommen et Bernardus similiter. S. 137, 11 – 16: daz got noch vil mit mir würken welle, e daz ich sterbe: Heu mihi! quia incolatus meus prolongatus’ etc. und sunderlichen wirt mir grossiu fröde geben in dem abnemen aller miner menschlicher craft und in dem zuonemen götlicher craft, und denne stat in mir ain lebendiu craft uf diz wort: ‚ich lebe, nit leb ich, Jhesus Cristus lept in mir.‘ (Gal 2,20) Etsi is, qui foris est, noster vetus homo corrumpitur. 2 Cor 4,16. 101 Vgl. Federer: Mystische Erfahrung, S. 290: „Gewiss war nur der Kleriker Heinrich zu diesen Sätzen fähig.“ und S. 290 f. Anm. 330: „Es ist auch für die Schwestern in Medingen zumindest nicht davon auszugehen, dass sie das Latein als Kommunikationsmittel verwendet haben.“ Vgl. Nemes: ZfdPh, 2013, S. 460, der zu Recht beanstandet, dass Federer eine mögliche Rezeption lateinischer Mystiktexte, wie Seuses „Horologium Sapientiae“ und der „Lux Divinitatis“-Übersetzung des „Fließenden Lichts“, im Kloster Medingen aufgrund fehlender Lateinkenntnisse in Abrede stellt, vgl. S. 329 und S. 329 Anm. 202 im Hinblick auf die Nennung des „Horologium Sapientiae“ in Brief XXXV, S. 228 f.: Ein puch han ich gesant dem prior ze Kaiszhaim, das ist das buch das man nent Orologium Sapientiae ze latin, und das ist unszers lieben vatters Taulers, der noch nit kommen ist von Cölen; das haiss dir lihen, so ers erst ab geschribt – das han ich im geschriben – , und schribent es den ab dem convent, das es allzeit bei euch belib. ich getrawe got, das er da von gelobt werd. Federer argumentiert, dass Heinrich sich mit der Angabe auch auf den deutschen Text des „Büchleins der ewigen Weisheit“ hätte beziehen können, für das er auf Deutsch keinen Titel gekannt habe. Dieses Buch sei für die Medinger Nonnen aufgrund ihrer begrenzten lateinischen Bildung ungeeignet gewesen. Federer stellt hier die in den Briefen konturierte ‚Gelehrtheit‘ Heinrichs als Vermittler literarischer mystischer Schriften den vermeintlich weniger gebildeten Medinger Schwestern gegenüber und schreibt auf diese Weise die stereotypisch anmutenden Genderentwürfe eines gebildeten Klerikers und der ihm anvertrauten ‚schlichten‘ Nonnen fest. 102 Vgl. Federer: Mystische Erfahrung, S. 289. 103 Vgl. ME S. 124, 2 – 5. Vgl. die Übersetzung Anm. 77 oben. 104 Johann Reikerstorfer: Thesen einer anamnetischen Christologie. In: Dem Leiden ein Gedächtnis geben: Thesen zu einer anamnetischen Christologie. Hrsg. von Kurt Appel et al. Göttingen 2012, S. 15 – 29, hier S. 21.

Autorinnenpräsenz in der Überlieferung? | 293 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

in den Text integriert sind, während die Verkündigung Mariae aus Lc 1,35, fol. 53r durch eine rubrizierte Unterstreichung hervorgehoben 105 und fol. 61r, 6 nicht weiter markiert ist.106 Nahezu alle lateinischen Textpartien weisen einen direkten thematischen Bezug zum Offenbarungstext auf und erscheinen damit in das Textganze integriert, so dass Federers Annahme einer „mehr oder weniger mangelhaften Eingliederung“ der lateinischen Formulierungen als nicht unproblematisch einzustufen ist. Auch die visuelle Repräsentationsebene der Handschrift M stützt seine Aussage einer unzureichenden Integration in das Textbild nicht. Offenbar basieren Federers Überlegungen zu Heinrichs Redaktortätigkeit primär auf den oben diskutierten Angaben des Briefes XLI 107 und dem rubrizierten Vorsatz in der Londoner Sammelhandschrift, der eine enge Beziehung ­zwischen der hier ausdrücklich namentlich benannten Margareta Ebner und Heinrich von Nördlingen suggeriert.108 Allerdings lässt sich auch diese einleitende Passage als eine Art ‚Lektürevorgabe‘ fassen: Denn hier wird der programmatische Anspruch formuliert, dass die Briefe als Sendschreiben zu lesen sind, die an die selige und unter der spirituellen Aufsicht der Dominikaner stehenden Schwester aus dem Kloster Medingen adressiert sind. Auf diese Weise erscheint die kurze Vorrede als eine Art „programmatisches Eingangsstück“109 konzipiert worden zu sein. Sie profiliert Heinrich in der Rolle des frommen und von Gott besonders auserwählten Beichtvaters, der Margareta beratend und unterstützend zur Seite gestanden habe. Insbesondere die letzten Zeilen vnd dem sie in götlicher lieb vnd ausz dem einspreche[n] gottes ir leben vnd wesen vnd das got mit ir wircket geoffenbart hatt vnd von ÿm ratt vnd hilff entpfangen etc. suggerieren erst in Verbindung mit den Angaben zur Figur des Freundes aus dem Offenbarungstext,110 105 Folgende Zitate sind wiederum rubriziert unterstrichen: Die lateinischen Paulus-­Worte auf fol. 73r, 19, das Hoheliedzitat fol. 74v, 17 – 18, die längere Glosse fol. 75r, 19 – 23 und das Zitat aus dem Philipperbrief fol. 80v, 16 – 17, der Veweis auf Bernhard und Augustinus, fol. 81r, Z. 14, das Psalmenzitat (Z. 8) und die Passage aus dem Korintherbrief (Z. 12 – 13) fol. 82v. 106 Vgl. Handschrift M, fol. 3b: Folgende Worte sind ebenfalls mit einem rubrizierten Anfangsbuchstaben versehen worden: Sund[er]lich[e]n; got, mir; ich; ich; conventz. fol. 53r: Sp[iri]t[us] S[anc]tus sup[er]venit in te. 107 Vgl. Strauch: ME, S. 240, 10 – 15. 108 Vgl. London, Add MS 11430, fol. 49r. 109 Die Formulierung stammt von Grubmüller: Sprechen und Schreiben, S. 336. 110 Hier ist vor allem der kurze Schreibbefehl ME, S. 83, 27 – 84, 1 anzuführen. Vgl. zum friund Strauch: ME, S. 290 Anm. 163, mit einer Auflistung der entsprechenden Textpartien ME, S. 16, 3 – 18; S. 16, 13 f. der aller wol beraitest diener; 22, 21; 33, 8 der freund gotes; 29, 5 der gottesfriund; 25, 8 der aller getriuwest friund unsers herren; 26, 19 ain warhafter friund gottes; 29, 27; 83, 27: der warhaft friund unsers herren gotes; 42, 18; 90, 9; 103, 16; 141, 11; 142, 2: der friunt unsers herren (gotes). 45, 14: lieber friunt (gotes); 60, 2: lieber friund, der der warhait ain getriwer (und frommer m) diener ist; 60, 24: der getriu fruint gotes; 72, 16: (gotes) geminter fruint; 76, 6: der getriwe warhafte lerer unsers herren; 138, 23: (gotes) wirdiger fruint; 139, 2 der friunt gotez und der min; 148, 13 der friund unsers herren und der min; 143, 3: der friunt, den mir got geben hat. Bereits Ursula Peters hat gezeigt, dass die Figur des Freundes, die in den Offenbarungen

294 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

dass Heinrich einen erheblichen Anteil an der Textentstehung gehabt haben könnte. Die Vorrede skizziert programmatisch die Figurenkonstellation eines gelehrten, aber in seinem weltlichen Dasein gefangenen Beichtvaters und der ungelehrten begnadeten Visionärin. Eine ­solche kontrastive Figurenpaarung ist allerdings als strukturelles Moment auch aus dem Supplementum Jakobs von Vitry zur Vita Maries von Oignies bekannt, das Jakob in der Rolle des Hagiographen und Klerikers präsentiert, der zunächst in weltlichen Dingen befangen ist und sein Leben zunehmend der ungelehrten, aber gottinspirierten mulier sancta verschreibt.111 Deshalb handelt es sich hier wohl eher um typenspezifisch konkretisierende ‚Ausschmückungen und Erweiterungen‘ der im Offenbarungstext anonymisierten (Rollen-) Figur des Freundes, die mit einer gewissen Vorsicht behandelt werden sollten, da sie erst in einer sehr späten Überlieferung aus dem 18. Jahrhundert vorliegen. Insgesamt betrachtet, ist die Londoner Margareta-­Ebner-­Sammelhandschrift wohl dezidiert auf biographische Konkretisierungen hin angelegt worden und dieser Umstand lässt sich funktionsgeschichtlich erklären; dies legt jedenfalls das Nürnberger Entstehungsumfeld im Umkreis der Familie Ebner-­Eschenbach nahe.112 Damit zeichnen sich in der Londoner Handschrift und in der älteren Medinger Handschrift ganz unterschiedliche Interessen ab: Denn die Handschrift M kann als Zeugnis der Begnadung einer einzelnen Schwester des Klosters Maria Medingen gelten. Wie aus dem nachträglichen Eintrag auf fol. 1r hervorgeht, sah die spätere Klostertradition in ihr eine Art selbstgeschriebene ‚Originalhandschrift‘, die die Gotterwähltheit des Klosters bezeugen und sein heiliges Ansehen mehren konnte. Im Londoner Margareta-­Ebner-­Kompendium zeigt sich dagegen eine funktionsgeschichtliche Einbindung in das Familienandenken der Familie Ebner-­Eschenbach, die sich auf Margareta Ebner als eine dem Adelsgeschlecht der Ebner-­Eschenbach angehörige ‚Vorfahrin‘ berufen konnte. Von daher ist bei der Anlage der Londoner Handschrift und der Textauswahl von einem bestimmten Darstellungsinteresse bei der Präsentation der Person Margareta Ebners auszugehen. Und es ist nicht erstaunlich, dass ein solches familiengeschichtlich motiviertes Memorialzeugnis auf biographische Vereindeutigung hin angelegt ist.113 In der Überlieferungs- und Textgeschichte der Medinger „Offenbarungen“ rückt daher eine Autorinnenfigur in den Blick, die zunächst anonym im Text erscheint und erst in der Überlieferung auf die Person Margareta Ebner hin re-­personalisiert wird.114 In ­diesem Fall

111 112 113 114

als entindividualisierter „Funktionsträger“ in der Rolle des Lehrers, Vertrauten und Initiators der Aufzeichnungen erscheint, erst in Zusammensicht mit der Briefsammlung mit Heinrich von Nördlingen identifiziert werden kann. Vgl. Peters: Religiöse Erfahrung, S. 147 – 151. Vgl. Peters: Religiöse Erfahrung, S. 154 und Nemes: Rezension zu Federer, S. 457 f. Vgl. Federer: Mystische Erfahrung, S. 419 – 421. Vgl. Federer: Mystische Erfahrung, S. 419. Die beiden Druckfassungen des Kempe-­Textes bieten ebenfalls eine Personalisierung der zunächst im Text namenlos bleibenden Protagonistin zur Autorfigur: Vgl. die Fassung von 1501, die bereits durch

Autorinnenpräsenz in der Überlieferung? | 295 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

ist die in der Überlieferungs- und Textgeschichte zu beobachtende Autorschaftszuschreibung wohl primär durch die Narrativierung mit ihrer stringenten Setzung des Text-­Ichs und die vielfachen Verweise auf das Schreiben 115 bedingt, die für die Suggestion eines ‚­selbstgeschriebenen‘ Lebensberichts unabdingbar sind.116 Jedenfalls indizieren bereits die Nachträge und Zusätze in der Handschrift M und die spät überlieferte Briefsammlung ein sehr deutliches Interesse an einer Namenszuschreibung. Im Folgenden soll deshalb die Figuration der Ich-­Erzählerin näher beleuchtet werden, die durch ihre ‚authentische Perspektive‘ die Handschriftenzusätze und die daraus abgeleitete ‚Dechiffrierung‘ einer namentlich benannten Autorschaft zu fundamentieren scheint.

4.2 Die Figurationen der Ich-Erzählerin und die Konzeption des Erzählens in den „Offenbarungen“ Im Unterschied zum Kempe-­Text bieten die „Offenbarungen“ nur äußerst wenige Informationen über Zeitgeschichtliches und historische Personen 117 und sind ganz auf die innere ‚Heiligkeit‘ der namenlos bleibenden Protagonistin fokussiert, die ihre Rolle als die Titelgebung (the boke of Margery Kempe) Margery Kempe als Autorin installiert: A shorte treatyse of contemplacyon taught by our lorde Ihesu cryste, or taken out of the boke of Margery kempe of Lyn […]. Here endeth a shorte treatyse called Margerie kempe de lyn. Enprynted in fletestrete by Wynkyn de Worde, um 1501. STC 14924, Cambridge University Library, Sel. 5, 27. Vgl. auch die Angaben der Fassung von 1521, die die Autorinnenfigur zur Rekluse stilisiert: A shorte treatyse of contemplacyon taught by our lorde Ihesu cryste, or taken out of the boke of Margery kempe, ancresse of Lynn […]. Here endeth a shorte treatyse of a deuoute ancres called Margerye kempe of Lynne. STC 20972. 115 Vgl. dazu die Auflistung der entsprechenden Textpartien in Peters: Religiöse Erfahrung, S. 145 Anm. 79: Der Verschriftlichungsprozess sei durchgängig durch unzählige Rückverweise, einige Vorverweise, und auf das Schreiben referierende Unsagbarkeitsformulierungen im Text präsent. Rückverweise: 36, 20; 47, 15; 48, 20; 50, 16 f.; 51, 16 f.; 52, 4; 55, 7; 58, 7; 61, 2; 63, 18; 66, 10; 67, 5; 68, 19 f.; 69, 12; 71, 7; 73, 17; 78, 11 f.; 85, 3 f., 12; 93, 5 f.; 95, 3 f.; 97, 1; 98, 20, 23; 99, 10 f.; 105, 9; 107, 19 f.; 108, 13; 110, 18 f.; 112, 11; 113, 22; 116, 4; 117, 23; 118, 24; 120, 23; 121, 19 f.; 127, 13 f., 22 f., 24 f.; 129, 15; 130, 1; 12; 131, 8 f.; 132, 7; 134, 21 f.; 138, 6 f., 15; 139, 21 f.; 145, 13 f.; 151, 9 f.; 152, 9 f., 26; 153, 25 f.; 154, 5, 9; 155, 2; 156, 9; 157, 9, 25; Vorverweise: S. 28, 15 f.: die gaub und ander vil gaub, die mir da geben wurden, der ich iecz niht g­ eschriben kan, die ich her nach schribent wirt, wan sie an mir zuo nement sint. und daz geschach alles an dem ­aftermentag, do mir der minnegrif in daz hertz geschach, als ich an dem anvang solt gesprochen haun. In Bezug auf die lauten Rufe, ME, S. 109, 1 f.: und in waz minn er mirs geben hat, daz wirde ich noch scriben. Den Schreibakt thematisierende Unsagbarkeitsformulierungen: S. 1, 14; S. 15, 2; 27, 22; 42, 21; 51, 6 f.; 61, 24; 62, 17; 66, 15 f.; 69, 7; 74, 8; 82, 19 f.; 86, 14 f.; 93, 24; 102, 13 – 15; 111, 12 f.; 112, 9 f.; 147, 14 f.; 148, 25 f.; 149, 13 f.; 156, 9; 160, 6, 21, 24. 116 Vgl. Bürkle: Die Offenbarungen der Margareta Ebner, S. 91 f. 117 Es finden sich jedoch vermehrt Hinweise auf Ludwig den Bayern, den Papst Johannes XXII im Jahr 1324 exkommunizierte: Vgl. die Textpartie ME, S. 150, 24 – 151, 4 und S. 158, 16 – 159, 1, die weiter oben im Kontext der rubrizierten Zungen diskutiert worden sind und ME, S. 6, 13, die sich Philipp Strauch

296 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Autorin innerhalb eines liturgischen Organisationsprinzips entfaltet.118 Denn die aus der Gottesbegnadung resultierende ‚Heiligkeit‘ bildet die eigentliche Basis für das Schreiben der Offenbarungen. Deshalb ist es wohl nicht zufällig, dass gerade der erste Teil (S. 1 – 73) die am Ablauf des Kirchenjahres orientierte Abfolge von lähmendem Schweigen und göttlich inspirierter Rede,119 von Heiserkeit und alles durchdringenden Rufen 120, von Starrheit und der sich durch einen süezzen smac manifestierenden Gnadenfülle 121 als konkrete Erfahrungen des beschriebenen Text-­Ichs vorführt. Bereits zu Beginn präsentiert sich das schreibende Text-­Ich als Autorin des Textes, die retrospektiv eine Gnadenvita abfasst und die Zeit vor der Begnadung nicht erinnern kann.122 In den „Offenbarungen“ kommt es auf diese Weise zu einer Doppelung des Ichs; ein schreibendes Ich, das durch massierte Verweise auf die Schreibtätigkeit konturiert wird und ein zeitlich früheres, beschriebenes Ich, dessen ‚Gnadenerlebnisse‘ und innere Regungen das schreibende Ich wiedergibt.123 (S. 288) zufolge auf Ludwig den Bayern beziehe, obwohl er in dieser Passage als „mensch“ und mit dem Personalpronomen „er“ apostrophiert wird: Die Ich-­Erzählerin erfährt in einem Traum, dass Gott dem ‚Menschen‘ schützend beistehen werde. Dass diese Passage auf Ludwig den Bayern referiert, kann aus einer wiederholenden Formulierung geschlossen werden, die eine längere Vision erneut aufgreift, diesmal jedoch erzähltechnisch als direkte Rede des Herrn mit einer expliziten Namensnennung umgesetzt ist: und den selben menschen sach ich in ainem traume, daz im unser herr under sinen armen gieng und gen im sprach, er wölt in nimmer verlaun hie noch dort [Hervorhebung d. Verf.]. (ME, S. 6, 7 – 10). Vgl. dazu ME, S. 148, 1 – 12: Item mir wart mit grozzer begirde geben aines tagez, daz ich Jhesum min kint frageti von kaiser Ludwige von Baiern [Hervorhebung d. Verf.] umb die arbeit, diu ime uf fiel von dem künige. do wart mir geantwurt: ‚ich wil in nimer verlazzen weder hie noch dort [Hervorhebung d. Verf.], wan er hat die minne zuo mir, die nieman waiz denne ich und er, und daz enbuit ime von mir.‘ […] dar nach wart mir mit grozzem lust und fröde geben, daz er sin vinde überwinden sölt. in dem selben zit wart mir geset, daz er tod wer. do enphieng ich ez do mit grozzer fröde, daz ez die fiend siner sel weren, die er überwunden het. Vgl. zu Ludwig dem Bayern, Strauch: ME, S. xxxviii und S. 288. Vgl. auch Koch: Margaret Ebner, S. 394. Koch vermutet im Rückgriff auf Canisia Jedelhauser (Die Geschichte des Klosters, 1936, S. 18 – 29), dass sich diese positive Präsentation Ludwigs möglicherweise aus den regionalen politischen Gegebenheiten erklären ließe, da Ludwig im Jahr 1330 die Privilegien des Klosters erneuerte und außerdem der Priorin die Rechtsprechung über den Konvent gewährte. 118 Vgl. Bürkle: Die Offenbarungen der Margareta Ebner, S. 89 f. 119 Vgl. etwa die Abfolge von Schweigen und Rufen ME, S. 94 – 95. swige ME, S. 96, 20 ff.; rede S. 105, 9 – 11, 16 – 18. 120 Vgl. ME, S. 54 f.; S. 64, 10: daz mir got von siner güet geben hat ze ainem waren minnenzaichen sins lidens, daz sint die luten schraie und rüeffe, die ich han. ME, S. 93, 8 – 11: do kom mir so creftiklichen diu hailigen minnewerk unsers herren in min herze, daz ich wande, ich welt zuo den luten rüeffen sin komen. Die Rufe fungieren Federer zufolge als minnenzaichen der Christuserfahrung, vgl. Federer: Mystische Erfahrung, S. 252. 121 Vgl. ME, S. 29, 14: diu aller süezzest gnaud. 122 Vgl. ME, S. 1, 13 – 15: wie aber ich vor lebte wol zwainczig jar, daz kan ich niht geschriben, wan ich min selbs niht war nam, wan daz ich wol waisse, daz mich got in siner vätterlichen triuwe und huot het alle zit. 123 Susanne Bürkle hat diese „Dissoziation in ein schreibendes und beschriebenes Ich“ bestimmt, vgl. Bürkle: Die Offenbarungen der Margareta Ebner, S. 89. Vgl. die über die Verschriftlichung detailliert Auskunft

Die Figurationen der Ich-Erzählerin und die Konzeption des Erzählens | 297 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Durch diese Doppelung evoziert der Text den Eindruck eines ‚selbstgeschriebenen Lebensberichts‘, den die Überschrift der Handschrift M offenbar reflektiert. Erzähltechnisch lassen sich die „Offenbarungen“ allerdings nur insofern als Autobiographie bestimmen, als der autobiographische Pakt erst im Nachhinein durch die oben diskutierte Überschrift und die Zusätze in der Handschrift M etabliert wird, wie es Susanne Bürkle herausgearbeitet hat.124 Aus einer erzähltheoretischen Perspektive lässt sich die Ich-­Erzählerin als autodiegetische 125 Erzählerfiguration fassen, die zu einer Art autohagiographischen Ich-­Erzählerin präzisiert werden kann.126 In seiner akribischen Textanalyse der Alexius-­Legende Konrads von Würzburg 127 bezeichnet Peter Strohschneider mit dem Begriff Autohagiographie die „ontische Identität, einen substanziellen Zusammenhang z­ wischen dem sakralen Körper und der Schrift des Heiligen“.128 Indem der im Sterben liegende Alexius seine eigene Lebensgeschichte aufzeichne, die nach seinem Tod zunächst fest in seiner Hand eingeschlossen gebende Mittelpartie ME, S. 73, 17–S. 91, 12, die weiter unten ausführlicher beleuchtet werden soll. Vgl. auch in Bezug auf das Schreiben, ME, S. 114, 1 – 5; S. 147, 7. 124 Vgl. Bürkle: Die Offenbarungen der Margareta Ebner, S. 93 ff. Freilich verfügt der auf diese Weise etablierte autobiographische Pakt über eine gewisse Stabilität, wie etwa auch die Einschätzung des Dominikaners Eustachius Eysenhuet in seiner oben erwähnten Druckfassung der „Offenbarungen“ belegt: aus Margarethae selbst aignen beschribnen Lebenslauff […] von Margaretha verzeichnet in einem uralten und schier unleßlichen Buch auch dessen uralten Abschrift zu lesen ist. Vgl. Eustachius Eysenhuet: ­Kurtzer Begriff Deß Wunderlichen Lebens / Heroischen Tugenden / himmlischer Gnaden / vnd Einflüsse / auch ­vil-­werthen Todts der Seeligen Jungfrauen Margarethae Ebnerin. Augsburg 1688, Vorrede. 125 Vgl. zum Begriff autodiegetischer Erzähler, Genette: Die Erzählung, S. 158 – 164. Schmid: Elemente der Narratologie, S. 95. Wolf Schmid bestimmt diesen Erzählertypus in seiner theoretischen Abhandlung „Elemente der Narratologie“ und er diskutiert die Möglichkeit der mit der Erzählerfunktion verbundenen unterschiedlichen Teilhabe an der erzählten Welt. Er kategorisiert im Rückgriff auf Susan Lanser ein 5-Stufen-­Modell der Partizipation an der Diegese, das die Ausfaltung verschiedener Erzählertypen bedinge. In den „Offenbarungen“ der Margareta Ebner begegnen wir einer Ich-­Erzählerin, die sich nach ­diesem Schema als Hauptfigur in der Rolle der diegetischen Erzählerin fassen lässt. 126 Vgl. zum Begriff der Autohagiographie: Alfred Schindler: Hagiographie und Hagiologie in Augustinus Werk, vor allem in den Confessiones. In: Autobiographie und Hagiographie in der christlichen Antike. Hrsg. von J. van Oort und D. Wyrwa. Leuven 2009, S. 89 – 129, besonders S. 97. Schindler untersucht in seinem Beitrag das wechselseitige Verhältnis z­ wischen Autobiographie und Hagiographie, wie es Augustinus Confessiones entfalten, S. 97: „Die Confessiones enthalten hagiographische Elemente, sind aber nicht ein hagiographisches Werk.“ Vgl. besonders für den Bereich der mittelhochdeutschen Alexius-­Legende, Peter Strohschneider: Unlesbarkeit von Schrift. Literarhistorische Anmerkungen zu Schriftpraxen in der religiösen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts. In: Regeln der Bedeutung. Zur ­Theorie der Bedeutung literarischer Texte. Hrsg. von Fotis Jannidis et al. Berlin 2003, S. 601. Die Untersuchung mit dem Titel „Textreliquie“ stellt eine gekürzte und überarbeitete Version d ­ ieses Beitrags dar. Vgl. ders.: Text-­Reliquie. Über Schriftgebrauch und Textpraxis im Hochmittelalter. In: Performativität und Medialität. Hrsg. von Sybille Krämer. München 2004, S. 249 – 269. 127 Vgl. Konrad von Würzburg: Die Legenden II (Alexius). Hrsg. von Paul Gereke. Halle/Saale 1926 (Altdeutsche Textbibliothek 20), Angabe nach Strohschneider: Textreliquie, S. 266. 128 Strohschneider: Unlesbarkeit von Schrift, S. 604.

298 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

sei, verbinde sich der reliquienhafte Körper des Heiligen mit der schriftlichen Darstellung seines Lebensberichts und umgehe auf diese Weise das prinzipielle Problem der Nichtrepräsentierbarkeit des Heiligen.129 Für den Medinger Offenbarungstext ergibt sich eine ähnliche Auratisierung der „Offenbarungen“, die ebenfalls durch das Moment des eigenhändigen Schreibens inszeniert ist. Denn die Verweise auf den Schreibvorgang setzen die Autographie narrativ in Szene, wobei die autographe Schrift die Authentizität der schriftlichen Überlieferung ‚persön­licher‘ Gnaden­erfahrungen garantiert. Aus der oben diskutierten Doppelung des Text-­Ichs resultiert eine Art der zweifachen Autorisierung: die Körpererfahrungen des beschriebenen Ichs repräsentieren die Echtheit und Nachvollziehbarkeit der Gnadenerfahrung im Sinne einer ‚Verkörperung‘, während das schreibende Text-­Ich der Autorin diesen ‚persönlichen‘ Erfahrungen durch die Übertragung in das Medium der Schrift Gewicht verleiht.130 Denn sie verfügt über eine aus der zeitlichen Überschau resultierende Gewissheit über die Gnadenereignisse und deren Abfolge, wie Vorverweise und Rückverweise demonstrieren.131 Besonders die Bemerkung as ich ez vor gescriben han und betiutet; dar umb kürcz ich es nu (ME, S. 127, 22 – 23) lässt in Verbindung mit dem Vorverweis 132 die Schwesternfigur als diejenige Instanz erscheinen, die für die Textgestaltung verantwortlich ist, auch wenn diese Position durch den Schreibbefehl und die Hinweise auf ihre Schreiberin relativiert wird.133 Diese Ich-­Aussagen zum Schreiben 134 profilieren die Ich-­Erzählerin in ihrer Rolle als Autorin und lassen gleichzeitig die „Offenbarungen“ als eine Art Selbstreflexion im Gestus eines selbstgeschriebenen Lebens, als autohagiographische Offenbarungsschrift erscheinen. Dazu 129 Vgl. Strohschneider: Unlesbarkeit von Schrift, S. 603 f. 130 Vgl. dazu die Überlegungen von Grübmüller: Sprechen und Schreiben, S. 338: „In der religiösen Kultur des Christentums muß das, was verbindlich sein will, schriftlich werden […] und was Gott offenbart, muß verbindlich werden. Anstößig, d. h. begründungsbedürftig, ist dabei der nicht durch klerikale Standards kontrollierte Anspruch des ungelehrten Laien auf Überführung seiner (zugestandenen) authentischen Gotteserfahrung in die Verbindlichkeit der Schrift, weil damit zugleich eine andere Grenze überschritten wird: es wird Anspruch auf Teilhabe an der Autorität des klerikalen Mediums Schrift erhoben.“ 131 Vgl. ME, S. 28, 14 – 17: die gaub und ander vil gaub, die mir da geben wurden, der ich iecz niht geschriben kan, die ich her nach schribent wirt, wan sie an mir zuo nement sint. und daz geschach alles an dem aftermentag, do mir der minnegrif in daz hertz geschach, als ich an dem anvang solt gesprochen haun; S. 109, 1 f. in Bezug auf die lauten Rufe, die sie bei der Kontemplation des Kreuzestods empfindet: und in waz minn er mirs geben hat, daz wirde ich noch scriben. 132 Vgl. ME, S. 28, 14 – 17. Diese Aussage kann auch wiederum im Kontext der discretio spirituum-­Lehre gesehen werden, da die Schwesternfigur die Gnadenerlebnisse erst aufschreiben wird, wenn sie sich ihrer ‚Richtigkeit‘ vergewissert hat. 133 Vgl. Bürkle: Die Offenbarungen der Margareta Ebner, S. 101, besonders Anm. 77 mit den Angaben zur mit Elsbeth Schepach identifizierten Schreiberin: ME, S. 90, 11 und ME, S. 90, 19. 134 Vgl. ME, S. 127, 22 – 23. ME, S. 129, 13 – 15: in dem mir vil niwer gaub geben werdent, uzze den ich vil kunde verstan, reden und scriben, daz ich vor nit kunde, as ich do da von vor gescriben han. Vgl. auch den Kommentar, S. 130, 9 – 10: wan von kainem traum scribe ich nit wan des ich dar nach lang enphinde in grosser genade.

Die Figurationen der Ich-Erzählerin und die Konzeption des Erzählens | 299 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

passt, dass die Tätigkeit des Schreibens mit einer Art heilsgeschichtlichen Bedeutung aufgeladen ist, da sie eine Vergegenwärtigung vergangener Gnadengaben auslöst, die in ihrer Intensität den Schreibakt erschweren.135 Die Verschriftlichung wird hier mit einer Progression der Gnadenerlebnisse gleichgesetzt und Schreiben bedeutet „die Ankunft Gottes im eigenen Leben“.136 Denn der Schreibakt selbst erscheint als Medium der Begnadung und definiert dadurch gleichermaßen die auf der Schwester ruhende Autorität als allein in Gott begründet.137 Denn Gott bleibt die alleinige Autorschaft in der hierarchischen Konstellation von begnadeter Schwester und göttlichem Partner vorbehalten. Hinter dieser Konstellation steht das bereits erwähnte Konzept geistlicher Autorschaft, das auf einer „delegierten Autor-­auctoritas“ basiert.138 Auf der Ebene des Erzählens ruft jedenfalls die ausführliche Verhandlung der Thematik des Schreibens und der ‚Prüfung‘ der Gnadenerfahrung einen autorisierenden Diskurs auf und bietet eine Anbindung an die Vorstellung einer göttlich inspirierten Autorschaft. Mit ihrer Person garantiert sie die Wahrheit des Geschriebenen, die sie als ‚beschriebenes Ich‘ gleichsam mit eigenen Augen gesehen und eigenen Ohren gehört hat. Diese authentisch wirkende ‚Erfahrungsebene‘, die an den Körper der Mystikerin gebunden ist, ruft der Text durch die Thematik einer seltsamen Krankheit auf, die fortschreitend den gesamten Körper – insbesondere Herz, Augen und Hände – der Ich-­Erzählerin erfasst.139 Mit zum Teil ungewöhnlicher Präzision schildert die ­Schwesternfigur die verschiedenen Symptome und die Dauer ihres körperlichen Leidens: So berichtet sie etwa von zwanzig Wochen andauernden Schweißausbrüchen, von einer dreijährigen Krankheit,140 die sie mehr als ein halbes Jahr ans Bett fesselt 141 und von Beschwernissen, die sie und die ihr vertraute Mitschwester 135 Vgl. etwa ME, S. 114, 1 – 5: Item allez daz ich gescriben han, daz wart mir as gegenwertig, so man ez von mir und zu mir scriben wolt, mit sölcher inner genade als ze der zit, do ez mir geben wart und mit so vil richen sinnen und worten, daz ich ainz kum vor dem andern gescriben moht. 136 Federer: Mystische Erfahrung, S. 261. Vgl. ME, S.78, 11 – 12: ich han vil genaden gescriben und guotez daz mir got getan hat. 137 Vgl. Koch: Margaret Ebner, S. 405, die besonders betont, dass diese Stilisierung des Schreibvorganges in Verbindung mit dem Schreibbefehl die Ich-­Erzählerin vom Vorwurf der superbia entbinde. 138 Bürkle: Die Offenbarungen der Margareta Ebner, S. 101. Vgl. zur literarischen Inszenierung einer göttlich installierten Autorschaft, Dorothea Klein: Zwischen Abhängigkeit und Autonomie: Inszenierung inspirierter Autorschaft in der Literatur der Vormoderne. In: Inspiration und Adaption. Tarnkappen mittelalterlicher Autorschaft. Hrsg. von Renate Schlesier und Beatrice Trȋnca. Hildesheim 2008 (Spolia Berolinensia Bd. 29), S. 38 f. 139 Vgl. ME, S. 1, 18 – 2, 9. Die Ich-­Erzählerin spricht von grozzen siechtage und unkunden (ME, S. 8, 4), die sie erleidet. Sie thematisiert Krankheit und Einsamkeit als zentrale Erfahrungen, S. 16, 21 – 25: do kom mich der aller gröst wetag an in dem haupt und in den zenen […] dar zuo waz ich ellend und het nieman, wan der mir durch got it tet. ME, S. 30, 27 – 31, 1: daz kom dar nach an dem fritag, daz ich aber in grosses liden kom von grossem wetagen. 140 Vgl. ME, S. 2, 6 – 3, 23. 141 Vgl. ME, S. 3, 24 – 4, 2.

300 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

gemeinsam erleiden.142 Allerdings ist dieser ‚Erfahrungsbericht‘ bereits mit heilsgeschichtlicher Bedeutung aufgeladen, so dass eine entsprechende literarische Stilisierung nachgewiesen werden kann: So können die Schweißausbrüche auf das Schwitzen Christi am Ölberg bezogen werden 143 und die drei Jahre der Krankheit lassen sich als Anspielung auf die dreitägige Grabesruhe Christi fassen.144 Diese ‚Leidensgeschichte‘, die bereits zu Beginn die imitatio Christi aufruft, transzendiert gewissermaßen den physischen Körper der Visionärin zu einer Art exemplarischen ‚Schaubild‘, an dem das Gnadenwirken Gottes sichtbar wird.145 Allerdings evozieren die detailreichen K ­ rankheitsschilderungen in Verbindung mit Zeitangaben wie von unser frawen asumpcio biz in daz ander jar an sant Mathias tag (S. 11) den Eindruck eines „individuellen Restes“146 der „Offenbarungen“ und verlegen das Geschehen aus der exemplarischen ‚Zeitlosigkeit‘ der heilsgeschichtlichen Strukturierung in eine konkreter wirkende, ‚individuelle‘ Vergangenheit der Ich-­Figur, die durch die Setzung der programmatischen Jahreszahl am 6. Februar 1312147 im persönlichen ‚Lebensweg‘ der Schwesternfigur zeitlich verankert wird. So könnte Emmelius’ Hypothese zu der Ich-­Rede in Viten- und Offenbarungstexten als heterologische Rede, die „als Medium des göttlichen Anderen“ das Text-­Ich „nicht mit einer Geschichte“, sondern „mit einer eigenen Stimme“ versehe,148 vielleicht mit Blick auf diese biographische Dimensionierung in den „Offenbarungen“ erweitert werden: Denn eine bestimmte Art von ‚Selbsthematisierung‘ im Sinne der Rollenfiguration einer begnadeten Mystikerin ist offenbar eng mit ihrer Vermittlerfunktion der Gottesgnade verwoben. In der Person der Schwesternfigur konkretisiert sich das Heilsgeschehen, das in einer (behaupteten) eigenhändig verfassten Gnadenschrift vorliegt. 142 Vgl. die Formulierung, die wiederholend und mit einer präzisierenden Zeitangabe in derselben Textpassage aufgegriffen wird: ME, S. 11, 5 – 6: do warn wir bede krank und ellend und heten vil ellendes. S. 11, 10 – 12: also was ich und siu krank, siech und ellend von unser frawen asumpcio biz in daz ander jar an sant Mathias tag. Vgl. auch ME, S. 16, 19: Dar nach an unser frawen tag ze liehtmesse, […] do kom mich der aller gröst wetag an in dem haupt und in den zenen. und waz daz als grozz, daz ich min haupt in sehs wochen niht kund genaigen […]. 143 Vgl. ME, S. 3, 18 – 21. Wie detailliert die Ausführungen ausfallen, demonstriert etwa die Beschreibung der Hautausdünstungen: und der was als grozz, daz ez ungelaublichen ist: man schapft in uz mir mit gohsennen grozziu beckin vol. Vgl. zum Verweis auf das Schwitzen Christi am Ölberg Lc 22,44 und Mt 26,65, Federer: Mystische Erfahrung, S. 245. 144 Vgl. ME, S. 2, 7. Federer: Mystische Erfahrung, S. 245. Eine ähnliche Anspielung auf die Grabesruhe Christi in der Osterzeit findet sich in ME, S. 55, 2 – 3 ich lig ouch gewonlichen dar nach dri tage oder me. 145 Vgl. Federer: Mystische Erfahrung, S. 245. Diese Entfaltung der Krankheit in der Fastenzeit ­demonstrieren auch Aussagen wie ME, S. 2, 10 – 12: Aber in dem ersten jar do suoht ich mensclich ertzni und ward ie s­ iecher und siecher und sunderlichen alle vasten und die jungsten wochen so was min wetag aller gröst. 146 Vgl. Bürkle: Die Offenbarungen der Margareta Ebner, S. 100. 147 ME, S. 1, 8 – 11: Do man zalt von Cristus geburt driuzehen hundert jar und in dem zwelften jar, do erzaiget mir got sin grozz vätterlich triu an dem tag Vedasti et Amandi vor vaznaht und gab mir grozzen siechtagen und unkunden. 148 Emmelius: Das visionäre Ich, S. 388.

Die Figurationen der Ich-Erzählerin und die Konzeption des Erzählens | 301 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Deshalb ist die oben diskutierte Vorstellung eines ‚selbstgeschriebenen Originals‘ so bedeutsam für den Text: Durch die narrative Entfaltung einer Autohagiographie wird der Offenbarungsbericht mit einer auratischen Qualität aufgeladen, so dass der im Text beschriebene materielle Schriftkörper des ‚Originals‘ selbst seinen ‚heiligen‘ Ursprung und die Begnadung der Schwesternfigur verbürgt. Und die Dignität dieser mit literarischen Mitteln entworfenen Imagination einer ‚Originalschrift‘ schlägt sich gewissermaßen auf der Ebene der Handschriften nieder, wie oben ausgeführt wurde: Denn insbesondere der oben diskutierte Nachtrag in der Handschrift M, fol. 1r: Das leben der Seligen Margareta Ebnerin die hat mit Irer handt geschrift dises búch selber geschriben verweist auf eine ­solche Lesart. Und auch die Londoner Handschrift, die die Textualis der Medinger Vorlage M bis ins Detail imitiert, kann als Beispiel für den Effekt einer solchen Auratisierung heran­gezogen werden, der von der visuellen Repräsentationsebene des Schriftkörpers in der Handschrift M in Verbindung mit dem Textinhalt auszugehen scheint. Allerdings ist die Materialisierung der Schrift und die Textautorisierung auf der Ebene des Erzählens nahezu ausschließlich an das Text-­Ich der Schwesternfigur gebunden, das als Autor- und Autorisierungsinstanz fungiert, wie aus der relativ deutlichen Markierung der Schreibgegenwart 149 und der retro­ spektiven Schreibhaltung hervorgeht. Diese Dominanz der Schwesternfigur als Autorin besteht selbst dann, wenn im Text verschiedene mit der Textproduktion befasste Instanzen in einer Art Entstehungsszenarium präsentiert werden, das sich erst durch die Zusammensicht der vor allem in die Mittelpartie inserierten Angaben zu einer ‚Buchentstehungsgeschichte‘ verdichtet: Denn innerhalb des Textes werden die Inspiration für die Niederschrift, der Schreibauftrag, der Schreibvorgang und das Sujet selbst verschiedenen Instanzen zugeschrieben:150 Die Inspiration ist göttlicher Natur, den Auftrag zum Schreiben erteilt der anonyme Freund und eine im Text namenlose Schreiberin unterstützt die Schwesternfigur bei der Abfassung. Im Rahmen der Textautorisierung rückt zwar zunehmend eine zweite Instanz in den Blickpunkt, aber auch dieser Umstand beeinflusst kaum die vorherrschende Präsenz 149 Vgl. ME, S. 1, 13 – 15. Vgl. auch die Textpassage ME, S. 73, 17 – 20, in der die Ich-­Erzählerin die in der Vergangenheit liegende, sich stetig steigernde Gnadenerfahrung betont: In den jaren, von den ich g­ escriben han, do merten sich min paternoster und alle min begirde von tag ze tag und diu genade unsers herren und auch diu gegenwertikait gotes, diu nimet creftiklichen dar inn zuo an mir. 150 Diese Beobachtung macht Susanne Bürkle: Die Offenbarungen der Margareta Ebner, S. 101: ME , S. 90, 11 verweise auf eine Schwester, die als Schreiberin fungiere (diu mir heimlich ist und mir daz gescriben hat). Vgl. auch Federer: Mystische Erfahrung, S. 26. Wie oben diskutiert, schreibt diese Schwester die Erfahrungen der Margareta-­Figur direkt im Anschluss nieder (ME, S. 90, 19). Sie wird allgemein durch die Angaben in den Sendbriefen mit Elsbeth Scheppach identifiziert (vgl. weiter oben, Strauch, ME , S. 320 f.). Der Schreibauftrag wird von dem anonymen Beichtvater erteilt, ME , S. 83, 27 – 84, 1, während die Eingebung zum Schreiben göttlicher Natur ist (daz ich ime scribe, waz mir got gebe). An dieser Stelle erscheint allerdings auch die Ich-­Erzählerin als eigenhändige Verfasserin ihrer Offenbarungen.

302 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

der Ich-­Erzählerin: Neben die Ich-­Erzählerin rückt die Figur des Beichtvaters und vertrauten Freundes, der den Auftrag zur Niederschrift erteilt und im gesamten Text präsent bleibt.151 Allerdings nimmt diese Figur des Freundes nahezu ausschließlich in der Ich-­Rede der schreibenden Schwester ‚Gestalt‘ an. Auf diese Weise wird sie ebenso wie die Figur der vertrauten Schreiberin aus der den Offenbarungstext beherrschenden, schreibend-­erinnernden Ich-­Perspektive reflektiert. Durch den k­ urzen Schreibbefehl und die unvermittelte Bemerkung am Ende einer Dialogszene, die Ursula Peters als ‚Spur‘ einer ‚ursprünglich‘ an den Freund adressierten Niederschrift der ‚Offenbarungserlebnisse‘ bestimmt hat, nimmt der Text den Gestus eines Bekenntnisses an.152 Dieser Gestus lässt sich nach Wolfgang Haubrichs als konstitutiver Teil einer conversio fassen, hinter der seit dem 12. Jahrhundert die confessio als zentrales Schema zu sehen sei.153 Allerdings ist das ‚Bekenntnis‘ an den Freund in Margareta Ebners Offenbarungstext bereits als (verschriftlichtes) Zeugnis einer erfolgreichen conversio angelegt, die zwar auf eine Art der Autorisierung durch den Beichtvater, nicht aber auf die Progression von confessio, Buße und conversio angewiesen zu sein scheint. Das ‚Bekenntnishafte‘ ist eher anzitiert und zurückgenommen im Vergleich zur Profilierung der Autorinnenrolle. Dazu passt, dass der Freund zwar selbst auch als Gegenstand göttlicher Verheißungen erscheint,154 die seine begnadete Stellung als Verkünder der göttlichen Lehre hervorheben,155 aber insgesamt eher zurückgenommen als „Rollenfigur des vertrauten Seelsorgers“ in der Ich-­Rede der Protagonistin/Erzählerin Gestalt annimmt.156 151 Vgl. den Schreibbefehl ME, S. 83, 27 – 84, 24. 152 Vgl. dazu Bürkle: Literatur im Kloster, S. 306. ME S. 73, 17 – 91, 12, besonders S. 83, 27 – 84, 24 mit dem bereits erwähnten Schreibbefehl. Vgl. auch ME, S. 147, 14 – 15: und der rede vil, der ich dir aller nit gescriben kan. Vgl. Peters: Religiöse Erfahrung, S. 147. Vielleicht deutet auch ein Rückverweis auf ­diesen Freund als ‚Gegenüber‘ und vertrauten Gesprächspartner, vgl. ME, S. 55, 7 – 8: as ich vor gesprochen han. Vgl. die allgemein semantischen Überlegungen zum „Gesamtkomplex der conversio“ (S. 138), der sich aus der confessio, Reue und Buße zusammensetze, Wolfgang Haubrichs: Bekennen und Bekehren. Confessio und Conversio. Probleme einer historischen Begriffs- und Verhaltenssemantik im 12. Jahrhundert. In: Wolfram Studien XVI: Aspekte des 12. Jahrhunderts. Freisinger Kolloquium 1998. Hrsg. von Wolfgang Haubrichs, Gisela Vollmann-­Profe et al. Berlin 2000, S. 121 – 157. Für diesen Hinweis danke ich sehr herzlich Susanne Bürkle, Köln. 153 Vgl. Haubrichs: Bekennen und Bekehren, S. 136. 154 Vgl. ME, S. 103, 16 f.: Item ich het begirde über den fruint unsers herren, der mir von got geben ist. der was in liplicher kranchet. do sprach daz begirlich kint Jhesu Cristus: „ich wil in und han in gesunt gemachet an sel und an libe und han noch vil mit im derdacht, daz er volbringen sol durch min ere, wan ich in mir han usserwelt, daz ich minen lust an im volbringe.“ Vgl. auch S. 26, 19 und S. 76, 6 – 25. 155 ME, S. 25, 12; S. 143, 4 – 10; S. 148, 13 – 20. Vgl. zur Figur des vertrauten Freundes, der sich in Avignon aufhält: ME, S. 42, 17 – 19; ME, S. 143, 1 – 4: do kom ich an die stat, da ich gewonlichen bet in dem cor, und het vil begirde und sunderlich über den fruint, den mir got geben het von siner güet, umb etlich sach, diu uf im lag. 156 Peters: Religiöse Erfahrung, S. 149.

Die Figurationen der Ich-Erzählerin und die Konzeption des Erzählens | 303 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Wie lässt sich die augenscheinliche Privilegierung der Ich-­Erzählerin erklären? Sie liegt wohl vor allem in der breit angelegten Mittelpartie begründet, in der die Ich-­Erzählerin die genaueren Umstände der mit besonderen Gnadenerweisungen verbundenen Verschrift­ lichung in der Zeit des Advents thematisiert.157 Mit dieser zeitlichen Situierung entfaltet sich bereits die Perspektive der Autorisierung: Denn die Ich-­Erzählerin setzt ihre Schreibtätigkeit ausdrücklich in Beziehung zu einem heilsgeschichtlich besonders bedeutsamen Ereignis. Die ‚geheimen‘ Offenbarungen nehmen also genau in der Adventszeit und damit in der Zeit der bevorstehenden Gottesgeburt Gestalt an. Daher lässt sich diese zeitliche Situierung auf den Prolog des Johannesevangeliums (Io 1,1 – 18) beziehen und sie wirkt konstituierend für die Narrativierung des Schreibakts, da hier Menschwerdung Gottes und ‚Buchwerdung‘ der „Offenbarungen“ thematisch konvergieren. Und diese Situierung innerhalb der heilsgeschichtlichen Inkarnation des Wortes (Io 1,14) ist nicht erstaunlich, da die Inkarnation als Zeitpunkt der Menschwerdung Gottes und die symbolische Repräsentanz des Weiblichen für das Leiblich-­Materielle bzw. für die humanitas Christi von zentraler Bedeutung sind.158 Dabei ist die symbolische Repräsentanz und Exemplarität der Schwesternfigur dezidiert dem Modell des Apostels Johannes als Empfänger besonderer Liebes- und Gnadenbeweise und Gnadenvermittler nachempfunden.159 In seiner zweifachen Rolle als Lieblingsjünger und Evangelist hat Johannes das Geheimnis der Menschwerdung nicht nur als Augenzeuge

157 Vgl. ME, S. 84, 9 – 11: ich fieng ez an in der zit des advencz vor der zuokunft unsers lieben herren Jhesu Cristi, wan mir diu genade unsers herren süezzeklich verlihen wirt me denn durch daz gancz jar. 158 Vgl. zur zentralen Bedeutung der Inkarnation, Kasten: Körperlichkeit und Performanz, S. 164 f. 159 Vgl. Bürkle: Die Offenbarungen Margareta Ebners, S. 100, die als erste die Verbindung z­ wischen dem Johannesevangelium (Io 13,23 – 25; 21, 20) und den „Offenbarungen“ und der in ihnen entfalteten Rolle des Johannes als Offenbarungsvermittler hervorgehoben hat. Vgl. ME, S. 22, 8 – 16: Ze der selben ostern do wart mir min sant Johannes inderlichen me liep dann vor. an dem tag, do man daz ewangeli las Maria stabat ad monumentum, do sah ich da vor in der naht minen minrichen herren Jhesum Cristum und sinen geminten junger sant Johansen. und der wolt den segen enphahen von unserm herren zuo dem ewangeli und gieng er do her ab […] und stuond für mich. Nun was ez mir als grozz an dem herczn, daz ich nihtz torst gesprechen. ME, S. 33, 17 – 21: und ich mit sinen liden versert würde as kreftiklichen, as ez kain sin friunde ie enphant, und daz ich ruowen solt mit minem lieben herren sant Johansen uf dem geminten herczen Jhesu Christi und dar uz trinken sölti. ME, S. 74, 15 – 17: sunderlichen ist mir ain as süezziu gaub geben von got in der minn sines aller liebsten jungers, mins herren santi Johannes. wenne ich kum ze der manunge, as min herre s. Johannes rouwet uf dem süezzen herzen mins herren Jhesu Cristi, so berüeret mich ain as süezziu genade, daz ich daz wort nit wol gesprechen mag. und so ich kum ze der manunge des süezzen tranches, daz er trank und sok us den süezzen brüsten Jhesu Cristi, so moht ich aber daz wort nit wol gesprechen und sas aber ain wil und bin denne in dem lust und in der begirde, daz ich von minnen gern da stürb. und wenne ich denne begert, daz ez mir mit im geben wurde, as ers enphangen hat, so berüeret ez mich aber […] daz wart mir vert in dem advent geben. nu hat ez sich huir gemert. Vgl. auch ME, 102, 4 – 7; 104 ,5 – 6: ­Cristus: „Johannes baptista und min geminter Johannes sint in gelicher gernde vor mir.“ S. 107, 20; S. 156, 13: er gelopt mir auch, daz er selb bi minem ende wölt sin und sin muoter und min herre sanctus Johannes.

304 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

erlebt, sondern auch in seinem Evangelium als schriftliches Zeugnis übermittelt.160 Johannes erscheint hier zunächst in der Rolle des Lieblingsjüngers, wie sie im Johannesevangelium (Io 13,23 – 25; 21,20) formuliert und in der augustinischen Tradition weitergeführt wird:161 Er ruht an der Brust des Herrn und nimmt den Strom göttlicher Gnaden aus dem Herzen Christi gleichsam trinkend in sich auf. Wohl nicht zufällig erfährt die Johannesthematik in der Mittelpartie des Medinger Gnadenberichts eine besondere Akzentuierung: Denn erst mit der Anrufung des Evangelisten Johannes kann die Schwesternfigur ihren Schreibauftrag 162 meistern, der anfänglich von großen Bedenken begleitet ist, wie es einer topischen Demutsbezeugung entspricht. Auf diese Weise erhebe der Text Anspruch auf den Status einer göttlichen Offenbarungsschrift, die letztlich innerhalb der Konzeption geistlicher Autorschaft und der Wahrheitsbezeugung funktionalisiert sei.163 Die Bezeichnung geminter scriber mins herren (ME, S. 84), die sich in dieser topisch stilisierten Demutsformel findet, bezieht sich auf die mittelalterliche Vorstellung, Johannes auch als Autor der Apokalypse anzusehen: Denn Klaus Grubmüller konnte in seiner Studie zum Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit in Mechthilds „Fließendem Licht“ zeigen, dass der textinterne Verschriftlichungsprozess in der deutschsprachigen frauenmystischen Viten- und Offenbarungsliteratur d ­ iesem vorbildhaften 160 Der Theologe Udo Schnelle erläutert in: Antidoketische Christologie im Johannesevangelium. Eine Untersuchung zur Stellung des vierten Evangeliums in der johanneischen Schule. Göttingen 1987, S. 26 f., dass „aus dem Lieblingsjünger als Garant der johannischen Tradition der Verfasser (Io 21,24) des gesamten Evangeliums“ werde. Durch seine privilegierte Position und seine unmittelbare Nähe zu Christus verbürge er die Wahrheit des johannischen Christuszeugnisses (vgl. besonders Io 19,34 – 35 ­ferner Io 13,21 – 30; 18,15 – 18; 19,25 – 27, „aber die ihm zugeschriebene Abfassung ist eine Steigerung d ­ ieses Motivs. Zum anderen werden durch V. 24 der ‚Lieblingsjünger‘ und der Evangelist gleichgesetzt, wofür es in Kap. 1 – 20 keinerlei Anzeichen gibt“ (S. 26). Zudem fungiere der Lieblingsjünger in Io 19,26 als Augenzeuge der Kreuzigung und die Worte die Jesu an ihn richte, autorisierten ihn als „einzig legitimen Deuter und Vermittler der Botschaft Jesu“ (S. 27). 161 Vgl. zur Bedeutung des Evangelisten Johannes Bürkle: Die Offenbarungen Margareta Ebners, S. 100 f. Annette Volfing: John the Evangelist and Medieval German Writing, S. 45: „Augustine makes extensive reference to John ‚drinking‘ wisdom from Christ: „Iohannes […] qui discumbebat super pectus Domini, et de pectore Domini bibebat quod propinaret nobis (In Iohannis Evangelium 1.7, CCSL, 36:4).“ Vgl. auch das Augustinus-­Zitat bei Annette Volfing aus der Predigt 120, PL 38: 676, S. 46: transcendens universam creaturam, montes, aera, caelos, sidera, sedes, Dominaciones, omnes Archangelos, transcendens omnia, in principio Verbum vidit, et bibit. Super omnem creaturam vidit, de pectore Domini bibit. 162 Vgl. ME, S. 84, 5 – 7: do ruoft ich an die barmherzigen helfe gocz und sines geminten scribers mins herren sant Johans, daz er mir hülfe scriben uzze der warhet, die er trank uz dem süezzen herzen Jhesu Cristi. Vgl. auch ME, S. 84, 12 – 13: nu was min wille und min begirde, daz ich volbreht den liebsten willen gotes und sin ere und auch dem dar inn gehorsam sin, der mich es bat ze der ere gotez. Vgl. in d ­ iesem Zusammenhang auch die Unsagbarkeitsformulierung, die die menschliche Begrenztheit explizit aufgreift, ME , S. 82, 18 – 22: daz ich ez von der unkundin und der grössin der genade nit kan ze worten bringen werder mit scriben noch mit reden, wan ez über minen menschlichen sin ist [Hervorhebung d. Verf.]. 163 Vgl. Bürkle: Die Offenbarungen Margareta Ebners, S. 101.

Die Figurationen der Ich-Erzählerin und die Konzeption des Erzählens | 305 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Typus biblischer Offenbarungen nachgebildet sei.164 Die Apokalypse präsentiere Johannes als „Empfänger der Offenbarungen, das Gegenüber Gottes, das ‚Ich‘ des Berichts, das aufschreibt, was Gott […] in direkter Rede diktiert“.165 Die unterschiedlichen Rollenentwürfe der Johannes-­Nachfolge konvergieren offenbar in der Schwesternfigur des Offenbarungstextes: Sie reichen von der Übermittlerin von Gnadenbotschaften zu einer von Gott zur Liebe Erkorenen 166 und gehen weit über die allgemeinere Funktion des Lieblingsjüngers als „Modell der Selbstinterpretation für jungfräuliche Religiosen“ hinaus, wie es aus der Frömmigkeitspraxis der Dominikaner in Form erbaulicher Johannes-­Texte und den Christus-­Johannes-­Bildgruppen bekannt ist.167 Durch die Anrufung des Johannes, die zunächst durch die Betonung menschlicher Unzulänglichkeit wie eine topische Demutsgeste wirkt,168 begründet die Ich-­Erzählerin ihren Status als 164 Vgl. Schiewer: Die beiden Sankt Johannsen, S. 35. 165 Grubmüller: Sprechen und Schreiben, S. 342. 166 Monologische Gottesreden setzen d­ ieses besondere Auserwähltsein narrativ um. Vgl. ME , S. 69, 16 – 27: du bist der warhait ain begrifferin, miner süessen genad ain enphinderin, mines göttlichen lustes ain versuecherin und miner minne ain minnerin. ich bin ain gemahel diner sel, daz ist mir ain lust ze miner ere. ich han ain mineklichez werck in dir, daz ist mir ain süesses spil. des zwinget mich din minne, daz ich mich lauz finden, daz ez der sel as genuoch ist, daz es der lip nit liden wil. din süezzer lust mich findet, din inderiu begirde mich zwinget, din brinnendiu minn mich bindet, din luteriu warhet mich behaltet, din ungestüemiu lieb mich bewart. ich wil dich frölich enphahen und minneklich umvahen in daz ainige aine, daz ich bin. Vgl. auch die formelhafte Wendung ich bin ain gemahel diner sel, die wiederholt auftritt, S. 69, 16 – 70, 3 und S. 113, 19 – 21 mit einem expliziten Verweis auf das zuvor Geschriebene. Die Offenbarungen enthalten eine ausdrückliche Autorisierung der Schriften des Heiligen Bernhards, die grundlegend für die Entfaltung einer „Liebesmystik“ (Kurt Ruh) im Rahmen der Hoheliedexegese und der Passionsfrömmigkeit sind ME , S. 104, 10 – 14; Vgl. ME , 21, 26 – 22, 2; 134, 17. Vgl. Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik, Band 1, S. 229 – 275. 167 Vgl. Schiewer: Die beiden Sankt Johannsen, S. 48. Schiewer untersucht die dominikanische Sammelhandschrift Pommersfelden, Gräfliche Schönbornsche Bibliothek, MS 120 (olim 2868), die auf das 15. Jahrhundert datiert wird und dominikanische Autoren des 13. Jahrhunderts enthält. Sie beginnt mit einer Apokalypse des Johannes und umfasst außerdem die ­­Zeichen des Johannes, eine Legende Johannes Evangelista und vier Predigten auf den Evangelisten Johannes (S. 27). Schiewer vermutet, dass diese Handschrift für die cura animarum der Dominikaner bestimmt gewesen sei, wie er im Hinblick auf die thematische Schwerpunktsetzung der Jungfräulichkeit ausführt, S. 37: „Allein schon dieser analoge Lobpreis der Jungfräulichkeit gibt Anlaß zu der Vermutung, dass die Beziehung Christus – Johannes tatsächlich als Modell für die Selbstinterpretation der jungfräulichen Religiosen in den frühen Dominikanerinnenklöstern und geistlichen Gemeinschaften im Bodenseeraum fungierte.“ Die Handschrift bietet jedenfalls ein Beispiel für eine von den Dominikanern zusammengestellte Textsammlung, die offenbar auch zur Seelsorge in Frauenklöstern eingesetzt worden ist. Schiewer geht ebenfalls auf die Christus-­Johannes-­Bildgruppen ein, die vornehmlich aus Dominikanerinnenklöstern des 13. und 14. Jahrhunderts erhalten sind, S. 48: „Die Visualisierung der Beziehung Christus – Johannes – hier interpretiert als Modell der Selbstinterpretation der jungfräulichen Religiosen – korrespondiert mit den vorangestellten Texten, hatte entscheidenden Einfluß auf die Frömmigkeitspraxis und regte visionäre Gottesbegegnungen der Schwestern an.“ 168 Vgl. zur menschlichen Schwäche und Unwissenheit auch Formulierungen wie etwa S. 28, 19 – 21: do nun diu gnaud unsers herren mir als crefteclich was und minen menschlichen blöden sinnen […].

306 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Vermittlerin von Offenbarungswissen, das ihr in der Adventszeit zuteilwird.169 Und dies konkretisiert wirkungsvoll ihre letztlich einzig durch Gott installierte Autorität und mindert ihre Signifikanz als ‚Person‘.170 Denn sie ‚verkörpert‘ gewissermaßen ein bestimmtes Konzept von gottinspirierter ‚Heiligkeit‘, das sich in körperlicher Krankheit und Leiden, der Abfolge von Rufen und Schweigen und den Visionserfahrungen manifestiert. Deshalb sind die detaillierten Berichte dieser Visionserfahrungen von so entscheidender Bedeutung: Denn sie fungieren als eine Art ‚Augenzeugenbericht‘, als Wiedergabe der ‚Erfahrungen‘ des beschriebenen Ichs, die, entsprechend der zeitlichen Situierung in der Adventszeit, thematisch auf die humanitas Christi ausgerichtet sind.171 Mit einem Verweis auf die Beschneidung Christi wird bereits zu Beginn der Textabfassung eine Verbindung ­zwischen der Kindheit und der Passion und damit ­zwischen den beiden wichtigsten Stationen der Heilsgeschichte hergestellt,172 z­ wischen denen die Ich-­Erzählerin ihre ­Schreibtätigkeit, ja ihren aus ihren Visionen und der Verschriftlichung resultierenden Autorinnenstatus gewissermaßen verankert. Und genau ­dieses Vorgehen, das Schreiben in der Heilsgeschichte zu situieren, kennen wir aus dem Kempe-­Text:173 In den Kapiteln 6 und 7 169 Vgl. ME, S. 84, 9 – 11: ich fieng ez an in der zit des advencz vor der zuokunft unsers lieben herren Jhesu Cristi, wan mir diu genade unsers herren süezzeklich verlihen wirt me denn durch daz gancz jar. 170 Vgl. ME , S. 82, 14 – 22: aber, allez min leben, min vermügen und elliu min craft, diu ist mir geben uz den minneklichen begirden und lustlichen minnenwerken mins herren Jhesu Cristi […] daz ich ez von der unkundin und der grössin der genade nit kan ze worten bringen werder mit scriben noch mit reden, wan ez über minen menschlichen sin ist […]. 171 ME, S. 84, 14 – 23. 172 Vgl. ME, S. 86, 15 – 17: do ich daz büechelin enmitten scraib, do viel mir der aller gröst lust in in die k­ inthait unsers herren mit der aller süezzesten genade. Vgl. die wiederholenden Anklänge, S. 87, 22 – 26: Aber sider ich an fieng ze scriben daz büechlin, han ich grossen lust zuo der kinthet unsers herren, sunderlichen as ich gescriben han, und siner aller süezzesten besnidunge, daz ich dar uz niezzen sölt sin aller creftigostes ­minnewallendez hailigez bluot. Vgl. zum Vergießen des Beschneidungsblutes als Vorausdeutung auf die Passion, Walker Bynum: Fragmentation, S. 72 und S. 118 f. ME, S. 88, 13 – 18: so wirt mir denne der lust und diu genade verwandelot von der kinthet in daz hailig liden mins geminten herren und wirt mir da geben, mit ainem so creftigon minnenden lust meht ich mich in ainem ieglichen kunden got da geben han, also daz ich min leben ze der zit bi im gelauzzen han. Vgl. auch ME, S. 97, 5 – 7: do gab ich mich in die triwe unsers herren und in sin hailiges liden und auch in sin genem kinthet. Vgl. etwa die Kreuzigungsvisionen ME, S. 21, 16 – 22; S. 52, 9 – 24; S. 93 f.; S. 132 f. Eine ganz ähnliche Verbindung findet sich im Kempe-­Text, hier allerdings in Form eines Erzählerberichts, BMK, S. 19: Aftyrward sche swathyd hym wyth ­byttyr teerys of compassyon, hauyng mend of þe scharp deth þat he schuld suffyr for þe lofe of synful men, seyng to hym, ‚Lord, I schal fare fayr wyth ȝow; I schal not byndyn ȝow soor.‘ Die in den Offenbarungen durch die Setzung des Text-­Ichs evozierte ‚Unmittelbarkeit‘ evoziert im Kempe-­Text der Einsatz der direkten Rede, die die ‚eigenen‘ Worte der Margery-­Figur ‚direkt‘ wiederzugeben scheint. 173 Die Jerusalem-­Kapitel 28, 29 sind thematisch auf die Passion Christi ausgerichtet, die in den Kapiteln 78, 79, 80, 81 (BMK , S. 184 – 194) erneut innerhalb eines eucharistischen Kontexts in detailreichen Visionsberichten vorgeführt wird, vgl. BMK, Kapitel 78, S. 184, 26 – 31: Many ȝerys on Palme Sonday, as þis creatur was at þe processyon wyth oþer good pepyl in þe chirch-­ȝerd & beheld how þe preystys dedyn her obseruawnce, how þei knelyd to þe Sacramente & þe pepyl also, it semyd to hir gostly sygth as þei sche had

Die Figurationen der Ich-Erzählerin und die Konzeption des Erzählens | 307 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

‚erlebt‘ die Margery-­Figur zunächst in der Rolle einer Magd (owyr Ladys hand-­mayden)174 die Geburt und Kindheit Marias in einer Vision und sie figuriert in der Rolle des Engels Gabriel.175 Nach der Geburt des Herrn übernimmt die Margery-­Figur praktische Tätigkeiten, sie beschafft weiße Tücher, Bekleidung, Bettzeug für Maria und das Jesuskind, das sie in Windeln wickelt.176 Im Unterschied zu den „Offenbarungen“ dominiert in diesen Textpartien ein eher objektivierender Berichtsstil, der allerdings mit dem verstärkten Einsatz der direkten Rede eine szenisch-­dramatische Qualität erhält, wie oben diskutiert.177 Im Kempe-­Text wird auf diese Weise eine Art vermittelte ‚Unmittelbarkeit‘ entworfen, während die „Offenbarungen“ durch die ‚subjektive‘ Perspektivierung der autodiegetischen Erzählweise gekennzeichnet sind. Der Offenbarungstext und die Kempe-­Vita konzipieren unterschiedliche Grade von ‚Unmittelbarkeit‘, die allerdings, wie die obige Diskussion der Forschungsbeiträge zeigen konnte, im Akt der Rezeption auf eine rein autobiographische Lesart hin vereindeutigt werden. Offenbar provozieren die Erzählstrategien der Texte eine ­solche Lektüre, die die Differenzen der narrativen Vermittlung nivelliert. Eine erzähltheoretische Perspektive kann allerdings die Funktionalisierung der Erzählweise verdeutlichen: In den „Offenbarungen“ suggeriert das Text-­Ich die unmittelbare Authentizität der Visionen, während der sich stellenweise ‚hinter der Erzählinstanz verbergende‘ schreibende Priester die Wahrheit der Kempe-­Vita ‚absegnet‘. Die Medinger Revelationes führen eine ­solche ‚Absegnung‘ auf der Ebene des schreibenden/erzählenden Text-­Ichs vor, indem die Erfüllung eines göttlichen Versprechens, vor allem aber die erneute Aktualisierung und gesteigerte Empfindung vergangener Gnaden die Echtheit der Begnadung bezeugen.178 ben þat tyme in Ierusalem & seen owr Lord in hys manhod receyuyd of þe pepil as he was whil he went her in erth. Vgl. zum literarischen ‚Einschreiben‘ in die Heilsgeschichte und zur meditativen Tradition, die Nicholas Loves „Myrror of the Blessed Lyf of Jesu Christ“ vorzeichnet, Renevey: Margery’s Performing Body, S. 198 und S. 202 – 204. 174 BMK, S. 19, 27. 175 Vgl. BMK, S. 18, 21 – 22: Lady, ȝe schal be þe Modyr of God. Vgl. zur Rolle der Dienerin Marias, die hier in einer dialogischen Textpartie konkretisiert wird: „I am not worthy, Lady, to do ȝow seruyse.“ „Ȝys, dowtyr“, sche seyde, „folwe þow me, þi seruyse lykyth me wel.“ 176 Vgl. BMK, S. 19, 13 – 19. 177 Allerdings findet sich auch in den „Offenbarungen“ ein ähnlich dramatisch gestalteter Dialog, in dem das Jesuskind die Ich-­Erzählerin über die genaueren, wunderbaren Umstände der unbefleckten Empfängnis und Geburt unterrichtet. Vgl. ME, 99, 15 – 100, 10. 178 Vgl. ME , 91, 13 – 15: Min luteriu warhet Jhesus Cristus hat mir war gelaun allez, daz er mir gelopt, do ich daz büechelin an fieng ze scriben. Diese mit der Verschriftlichung verbundene, besondere Erweisung von Gnadengaben illustrieren auch die bereits erwähnten Aussagen zum Beginn der Textabfassung und dem Einsetzen der Nativitäts-­Offenbarungen, ME , S. 86, 15 – 17; ME , 97, 5 – 7; ME , S. 99, 13 – 15. Vgl. auch die Formulierung S. 73, 17: In den jaren, von den ich gescriben han, do merten sich min paternoster und alle min begirde von tag ze tag und diu genade unsers herren und auch diu gegenwertikait gotes, diu nimet creftiklichen dar inn zuo an mir. ME , S. 114, 1 – 5: Item allez daz ich gescriben han, daz wart mir as gegenwertig, so man ez von mir und uz mir scriben wolt, mit sölcher inner genade als ze der

308 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Denn die Visionen der Geburt und Passion sind so inszeniert, dass die Gegenwart ­Gottes als persönliche Erfahrung der Schwesternfigur narrativ umgesetzt ist.179 Dies verdeutlicht etwa eine Episode in der Mittelpartie, die von dem Erhalt einer Christkindwiege berichtet.180 In einer Vision verwandelt sich dieser konkrete Andachtsgegenstand in die lebendige Anwesenheit des Jesuskindes, das die Schwester vom Schlafen abhält, da es von ihr geherzt werden möchte. Die Unmittelbarkeit dieser Gotteserfahrung wird durch die dialogische Präsentation 181 der Unterhaltung z­ wischen Schwester und Christuskind noch unterstrichen, sie ist allerdings durch die Inquitformeln und den abschließenden Erzählerkommentar mit einer Anspielung auf die Beschneidung (ME, 91, 9 – 12: dennocht het ich ain begirde von im der hailigen besnidunge, daz wart mir nit von ime. von der gesiht enphieng ich grozze genade und süesseket) wiederum an das Ich der Schwesternfigur in ihrer Rolle als schreibende Gnaden­vermittlerin gebunden. Ganz ähnlich verhält es sich mit einem zweiten Bericht über die lebendig gewordene Jesusfigur (S. 90, 22 – 91, 12), dem ein Hinweis auf die Heimlichkeit der Textentstehung und eine Anspielung auf eine weitere Schreibinstanz vorgeschaltet sind: Die oben erwähnte Schwester, die als Schreiberin fungiert, berichtet von ihrem Traumgesicht, in dem die Visionärin das lebendige Christkind stillt.182 Im Rahmen ­dieses ­kurzen Erzähleinschubs in direkter Rede figuriert das Text-­Ich als Protagonistin des Traums, der sich als eine Art metadiegetische Visualisierung, als Schauung der Gnadenerweisung auf einer zweiten erzählerischen Ebene fassen lässt.183 Die Traumsituation wird innerhalb der erzählten Welt veranschaulicht zit, so ez mir geben wart, und mit so vil richen sinnen und worten, daz ich ainz kum vor dem andern ­gescriben moht. 179 So die Formulierung von Federer: Mystische Erfahrung, S. 254. Vgl. ME, S. 74, 5 – 9. 180 Vgl. ME, S. 90, 22 – 91, 12. Vgl. auch ME, S. 87, 3 – 21 mit einem ganz ähnlichen Bericht über eine Christkindwiege und die Figur des Jesuskindes, das sich die Schwester im Rahmen einer imitatio Mariae an die Brust legt und dadurch himmlische Gnaden empfängt. 181 Walter Haug bezeichnet den Dialog „als Ort stärkster Präsenz“ innerhalb der Darstellung mystischer Erfahrung. Vgl. Haug: Das Gespräch, S. 266. 182 Vgl. ME, S. 90, 12 – 21 die Ich-­Erzählerin vermittelt die direkte Rede der Schreiberin: diu sprach zuo mir: „ich bot dir hint in diser naht in einem traum din kint, und daz was ain lebentz kint, und daz nem du von mir mit grosser begirde und letost ez an din herze und woltost ez saugen, und des wundert mich, as bliuge diu bist, daz du dich nit schemtest.“ Eine ähnlich konstruierte Textpartie, die die ‚Augenzeugenschaft‘ einer weiteren Schwester thematisiert, die zur Osterzeit die wundersame Heilung der Protagonistin (mit-) erlebt, ME, S. 56, 19 – 57, 5, vgl. S. 56, 25 – 27: diu sprach: „ich han dich in as grossen wetagen zwo wochen gesehen, daz ich es nit gelauben mag, ich sehe ez denne mit den augen.“ 183 Vgl. Kirsten Christensen: Unsichtbare Visionen sichtbarer Frauen. Visualisierungsstrategien in den Texten mittelalterlicher Mystikerinnen nach 1200. In: Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Bildern und Texten. Hrsg. von Horst Wenzel und C. Stephen Jaeger. Berlin 2006 (Philologische Studien und Quellen, Heft 195), S. 221. In ihrer Studie situiert Kirsten Christensen die literarische Ausgestaltung frauen­ mystischer Visionen in der mittelalterlichen dynamischen Kultur des Schauens und sie untersucht die vielfältigen Visualisierungsstrategien am Beispiel verschiedener Visionärinnen des 12. bis 15. Jahrhunderts, unter anderem Hildegard von Bingen, Elisabeth von Schönau, Mechthild von Magdeburg, Margareta

Die Figurationen der Ich-Erzählerin und die Konzeption des Erzählens | 309 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

und gewissermaßen bildlich umgesetzt. Allerdings behält die Ich-­Erzählerin auch an dieser Stelle die Kontrolle über die erzählerische Vermittlung, wie die Inquitformel diu sprach zuo mir (ME, S. 90, 12) und die Auslegung des Traums indiziert. Denn die Ich-­Erzählerin ist hocherfreut über diesen Traum ihrer Mitschwester, den sie als göttliches ­­Zeichen versteht: und den trom enphieng ich mit rehten fräden von ir und gedaht, daz er mir von willen gotz geben wer, und gewan da ainen geturst mit fräden und gedaht, ich wölt si ez lauzzen wissen und an scriben die selben sache, diu as crefteklichen mir enmitten an lag.184

Diese Episode ist wiederum in die Präsentation der topischen humilitas und der Autoritätszuschreibung eingebunden, da die Ich-­Erzählerin hier nur aufgrund einer göttlichen Offenbarung – in Form des Traumes – den Mut fasst, der Schwester ihr Gnadengeheimnis (die selben sache) zu eröffnen, ohne der superbia schuldig zu werden.185 Sie betont, dass sowohl der friund unsers herren als auch der Traum von Gott gegeben sind 186 und sie vertraut nur Ebner und Magdalena Beutlin. Dabei differenziert Christensen ­zwischen Visualisierungsstrategien, die entweder eine genaue Wiedergabe der Vision durch eine detaillierte Beschreibung liefern oder mehr auf die Wahrheitsbezeugung der Vision durch die Verortung in der klösterlichen Andachtspraxis und der Frömmigkeit der Visionärin fokussiert sind und auf diese Weise die Visionärin als „Schau Gottes“ (S. 222) präsentieren. 184 ME, S. 90, 16 – 21. Vgl. Peters: Religiöse Erfahrung, S. 146. 185 Vgl. Koch: Margaret Ebner, S. 405, die hervorhebt, dass der Schreibbefehl und die göttliche Autoritätszuschreibung dem Vorwurf der superbia entgegenwirke, der einem ‚eigenhändig‘ unternommenen Buch anlasten würde. Vgl. die gesamte Passage ME, S. 90, 1 – 21. Vgl. auch die lange, autorisierende Gottesrede, S. 140, 15 – 141, 10; S. 147, 5 – 15; Solche direkte Reden, die eine autorisierende Funktion übernehmen, treten im Kempe-­Text massiert auf. Vgl. dazu etwa besonders den breit ausgeführten göttlichen Monolog in direkter Rede, der nahezu ausschließlich auf die Beglaubigung der Margery-­Figur und ihres Buches ausgerichtet ist, BMK, Kapitel 88, S. 216, 12 – 218, 36. Vgl. auch die erste Christusvision mit direkter Rede, S. 8, 20 – 21; vgl. auch die direkte Rede mit der Gott der Margery-­Figur jegliche Sünden vergibt, Kapitel 5, S. 16, 32 – 17, 35; Kapitel 8, S. 20, 21 – 21, 7: Gott verspricht der Margery-­Figur die Erlösung ihres Beichtvater, Vaters und Ehemannes; Kapitel 14, S. 30, 7 – 31, 35, monologische Partie, in der Gott wiederum die absolute Sündenvergebung und die besondere Auserwähltheit der Margery-­Figur betont, vgl. besonders S. 30, 12 – 31, 35: for I may not for-ȝetyn þe how þow art wretyn in myn handys & my fete; it lykyn me wel þe peynes þat I haue sufferyd for þe. I xal neuyr ben wroth wyth þe, but I xal louyn þe wyth-­ owtyn ende […] rygth so xal I wasch þe in in my precyows blod fro alle þi synne. […] Dowtyr, þer was neuyr chyld so buxom to þe fadyr as I wyl be to þe to help þe and kepe þe. […] þan art þu a very spowse & a wyfe, for it longyth to þe wyfe to be wyth hir husbond & no very joy to han tyl sche com to hys presens. Kapitel 15, S. 32, 9 – 23 Dialog über die bevorstehenden Pilgerfahrten mit göttlicher Autorisierung; Kapitel 21, S. 49, 1 – 50, 11; S. 49, 1 – 10: „Ȝa, dowtyr, trow þow rygth wel þat I lofe wyfes also, and specyal þo wyfys whech woldyn levyn chast, ȝyf þei mygtyn haue her wyl […] for lofe, dowtyr, qwenchith al synne.“ Vgl. auch Kapitel 29, S. 72, 31 – 73, 6 mit einer direkten Rede, die auf die Sündenvergebung anspielt und die Pilgerfahrten legitimiert. Kapitel 36, S. 89, 26 – 31; Kapitel 37, S. 91, 14 – 33. 186 ME, S. 90, 9 – 10: dem friunde unsers herren, der mir von got geben ist. ME, S. 90, 17 – 18: daz er mir von willen gotz geben wer.

310 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

­ iesem sehr begrenzten Personenkreis. Auch aus dieser Episode geht hervor, dass das Motiv d des Schreibens rhetorisch zur Autoritätsbegründung der Schwesternfigur eingesetzt wird. Diese Funktion der Autoritätsbegründung durch den Schreibakt kann als Erklärung für die erzählerische Fokussierung auf das erinnerte ‚Lebendigwerden‘ der Christkindfigur aus der Reflexionsebene der ‚Gegenwart‘ des Schreibvorgangs gelten.187 Denn die vergangenen Gnadenerweisungen werden über die ‚Gegenwart‘ des Schreibvorgangs vermittelt. Indem sich die Ich-­Erzählerin das Schreiben wiederholt ins Gedächtnis ruft, erscheint das Niederschreiben der „Offenbarungen“ allerdings auch als Ereignis der Vergangenheit und untermauert auf diese Weise ihren Autorinnenstatus, der sich im Rahmen eines erinnernden Erzählens aus der Warte des schreibenden Ichs entfaltet.188 Denn das schreibende Ich präsentiert retrospektiv die im Text aufgerufene Erfahrungsebene des beschriebenen Ichs als konkrete Wahrnehmung: Die Schwesternfigur sieht und fühlt, wie sich konkrete Gegenstände, etwa in Form der Figur des Jesuskindes, in die lebendige Nähe Gottes ‚verwandeln‘, die sie buchstäblich am eigenen Leib erfährt. Ebenso verhält es sich mit einem großen Kreuz (ME , S. 88, 19), das die Schwesternfigur an ihr Herz drückt und das totmal (S. 88, 25 – 26) auf ihrem Herzen und an ihrem Körper hinterlässt.189 Urban Federer hat gezeigt, dass diese Frömmigkeitspraxis, die konkrete Andachtsgegenstände einschließt, als Umsetzung der Kreuzesandacht gedeutet werden kann, die Johannes Tauler in einer Predigt einfordert: Ein mensche sol in allem sinem tnde sich erbilden von minnen in das wirdige krútz und in den ­gekrúzigotten Christum. Solt du sloffen, so leg dich uf das krúze und gedenke und begere das der minnenriche schos din bette si und das ssse herze das das din orkússin si und das die minneklichen arme das die din teckin sin.190

Die Andachtsgegenstände sind Teil der narrativen Inszenierung eines „multisensorischen, performativ erfahrenen Erlebens“, das eine (Augen-)Zeugenschaft aufruft.191 Dabei kann die Formulierung daz mir totmal werdent an minem herzen und an minem libe (S. 88, 25) als 187 Vgl. die bereits erwähnte Textpassage zur Schreibgegenwart, ME, S. 86, 15 – 17. Die Gegenwart des Schreibens indizieren der programmatische Texteinstieg, S. 1, 13 – 17 und die Vorverweise, S. 28, 15 f. Im Hinblick auf die lauten Rufe, ME, S. 109, 1 f.: und in waz minn er mirs geben hat, daz wirde ich noch scriben. 188 Vgl. etwa ME, S. 114, 1 – 5: Item allez daz ich gescriben han, daz wart mir as gegenwertig, so man ez von mir und uz mir scriben wolt, mit sölcher inner genade als ze der zit, so ez mir geben wart, und mit so vil richen sinnen und worten, daz ich ainz kum vor dem anderen gescriben moht. 189 Vgl. auch zu den totmal an den Händen, ME, S. 73, 9 – 16. 190 Predigt 47 in: Die Predigten Taulers. Aus der Engelberger und der Freiburger Handschrift sowie aus Schmidts Abschriften der ehemaligen Strassburger Handschriften. Hrsg. von Ferdinand Vetter. Berlin, 1910 (Deutsche Texte des Mittelalters IX), S. 211, 11 – 15 zitiert nach Federer: Mystische Erfahrung, S. 256. Vgl. zum Aufdrücken des Kreuzes ME, S. 20, 18 – 25 und ME, S. 21, 3 – 21; S. 88, 21 – 26. 191 Christensen: Unsichtbare Visionen sichtbarer Frauen, S. 221.

Die Figurationen der Ich-Erzählerin und die Konzeption des Erzählens | 311 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

eine Art Transzendierung der literalen Ebene des körperlichen Erlebens gedeutet werden, da das Herz bereits auf den inneren geistigen Menschen hindeutet.192 Jedenfalls fungiert die Ich-­Rede hier als Vergegenwärtigung der Passion Christi und entwirft den leidenden Körper der Visionärin als Versinnbildlichung der Passionserfahrung,193 die das Leiden als Liebestat vor Augen führt.194 Dies demonstriert besonders die realistisch inszenierte ‚Schwangerschaftsepisode‘,195 an der Susanne Bürkle die thematische Verschränkung z­ wischen der mit Weiblichkeit gleichgesetzten ‚Geburtserfahrung‘ und der Passion Christi aufgezeigt hat.196 Die symbolische Ineinssetzung des gebärenden Frauenkörpers mit dem gemarterten Leib des Schmerzensmannes oszilliere z­ wischen einer literalen und zeichenhaften Bedeutung des weiblichen Körpers, wobei „der literale Körper der Textfigur keineswegs komplett ‚spiritualiter‘ überschrieben sei“.197 Der weibliche Körper und die mit ihm assoziierten typischen Vorgänge der Geburt und des Wehklagens sind hier in die Repräsentation der imitatio Christi und in besonderer Weise in die performativ wirkende Inszenierung 198 einer christuszentrierten Frömmigkeit eingebunden, wie wir sie etwa auch aus den mystisch-­erbaulichen Texten der 192 Dazu passt auch die folgende Formulierung im Hinblick auf den Empfang der Eucharistie, ME, S. 89, 8 – 10: und ich waiz, daz ich die lebenden craft gocz in mir han, sin hailigez bluot und flesche. 193 Vgl. ME, S. 132, 27 – 133, 15: do enphant ich ains innern smerzen in minan henden, as sie mir erdent werent und zerzerret und durchbrochen wern, und want, daz si mir immer mer unnütze werent. und enphant in dem haupt ains wunderlichen serez, as ez mir durchstochen und durchbrochen wer, und duht mich daz so pinlichen, daz ez vast und geswinde ziterte und wagut […] und des selben smerzlichen brechens enphinde ich in allen minen lidern und sunderlichen in siten und in rugen, in den armen und in den bainen, daz ich zer stunde nihtz anders brüeve, wan daz ich in den jungsten todesnöten wer […]. 194 Vgl. ME, S. 135, 19 – 21: und daz ich daz liden sol in siner minn, daz ist min grosser lust, und wolt ez gern liden biz an minen tode, wölt ers von mir. 195 Vgl. ME, S. 119, 24 – 121, 10. 196 Vgl. ME, S. 92, 12. Vgl. die Ausführungen von Bürkle: Die Offenbarungen der Margareta Ebner, S. 98, die als erste in Bezugnahme auf eine kurze Reimpaardichtung des Strickers (da mit hat christ gelichet sich dem wibe, diu also gebirt, daz ir ane mazzen we wird, zitiert nach Bürkle, S. 98) auf die „Analogisierung von Geburtsakt und Passion“ hingewiesen hat. 197 Bürkle: Die Offenbarungen der Margareta Ebner, S. 98. 198 Nach Ingrid Kasten lässt sich der Begriff der Performanz in d ­ iesem Kontext als „Zusammenhang ­zwischen der Inszenierung der mystischen Erfahrung im Text und religiösen, körperbezogenen Praktiken im Rahmen des Kults“ fassen, vgl. Kasten: Körperlichkeit und Performanz, S. 164. Vgl. zur performativen Qualität der Passionsvisionen im Kempe-­Text, Renevey: Margery’s Performing Body, S. 204 – 210. Obwohl er in seinen Anmerkungen auf den Einfluss der „continental women“ verweist (S. 212 Anm. 10), geht er nicht näher auf die europäische Frauenmystik ein und konstatiert stattdessen, dass es sich bei dem Kempe-­Text um „an idiosyncratic translation which incorporates her own body as an important performative element in sacred history“ (S. 205) handele. Vgl. auch S. 208: „Although they [her unusual performances of the Passion, SKR ] are a far cry from the measured responses of the anchoresses for whom the Wooing Group was written, they nevertheless stand as an extension of this tradition, affectively inflated by a woman with a creative imagination and an uncontrollable body.“

312 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

französischen Kartäuserpriorin Marguerite von Oingt,199 dem Kempe-­Text, dem Liber ­Caelestis Birgittas von Schweden,200 der „Showings“ Julianas von Norwich 201 und der Prologpartie der Gnadenvita Christine Ebners kennen, die die von Schmerzen begleitete Geburt Christines am Karfreitag als widergelt an siner marter präsentiert.202 David Lawton konnte für den Kempe-­Text zeigen, dass die Gnadenrufe assoziativ mit den Schmerzensrufen verbunden sind, die die weiblichen Geburtswehen begleiten und als „gendered codes“ (Liz Herbert Mc Avoy)203 zur Authentisierung der Passionsvisionen 199 Vgl. etwa den ­kurzen Textauszug aus der pagina meditationum der französischen Kartäuserpriorin ­Marguerite von Oingt, zitiert nach Bynum, Jesus as Mother, S. 153: „Ah my sweet and lovely Lord, with what love laboured for me and bore me through your whole life. But when the time approached for you to be delivered, your labour pains were so great that your holy sweat was like great drops of blood that came out from your body and fell on earth […]. Ah! Sweet Lord Jesus Christ, who ever saw a mother suffer such a birth! For when the hour of your delivery came, you were placed on the hard bed of the cross […] and your nerves and all your veins were broken. And truly it is no surprise that your veins burst when in one day you gave birth to the whole world.“ Vgl. auch ME, S. 75, 20 – 24: azo gant mir an min hertze die aller süssosten stösse mit der aller creftigosten genade und die aller süesseste berüerde, daz mich dunket, von siner ungestüemen minne sich meht min hercze zerspalten und von siner süezzen genade min hertze zerfliessen: so tuot er as ain kluoger wol wissender minner und underzuht mir die ­ungestüemikait, daz ez diu gebiursch menschait baz geliden mag. mir geschiht daz etwenn von der unkundin, daz ich miner menschlichen sinne furht. 200 Vgl. The Revelations of St Birgitta of Sweden. Volume III. Liber Caelestis, Books VI–VII. Hrsg. von Denis Searby und Bridget Morris. Oxford 2012, Book 6, chapter 88, S. 155 hier ist die Schwangerschaftsbildlichkeit allerdings positiv konnotiert als Bewegungen eines lebendigen Kindes, das die Visionärin am Weihnachtsabend an ihrem Herzen spürt. 201 Die Zitate sind der Textedition von Nicholas Watson/Jacqueline Jenkins entnommen: A Revelation of Love (Long Text), Kapitel 60, S. 313, 15 – 23: We wit that alle oure moders bere us to paine and to dying. A, what is that? But oure very moder Jhesu, he alone bereth us to joye and to endlesse leving […]. Thus he sustaineth us within him in love, and traveyled into the full time that he wolde suffer the sharpest throwes and the grevousest paines that ever were or ever shalle be, and died at the last. And whan he had done, and so borne us to blisse, yet might not all this make aseeth to his mervelous love. 202 Vgl. CE, p. 1 – 2: Do man zalt von gottes geburt tusent iar drithalb hundert iar vnd in dem xxvii iar, da warde ein kind geborn an dem karfritag. […] Sie [die ­Mutter Christines, SKR] was in so grosser andacht, das sie emzeclichen die marter vnsers herrn in irem hertzen truk. Vnd bat in mit grosser andacht, das er die frucht von irem libe nem zü einem widergelt an siner marter vnd das ir als we must geschehen, als ir ye geschehen wer zü keinem kind, das sie ye geborn hett. Vgl. Bürkle: Die Offenbarungen der Margareta Ebner, S. 98, die auf die Prologpartie der Gnadenvita Christine Ebners im Rahmen der symbolischen Gleichsetzung von Geburt und Kreuzestod aufmerksam macht. 203 Liz Herbert Mc Avoy: Wonderfully turning & wrestyng hir body. Agonies, Ecstasies and Gendered Performances in „The Book of Margery Kempe“. In: The Book of Margery Kempe. An Abridged Translation. Cambridge 2003 (The Library of Medieval Women), S. 105 – 127, hier S. 121. Herbert Mc Avoy sieht in der Rekontexualisierung der Geburtsschmerzen und -rufe „her unique comprehension of the passion“ (S. 121). Allerdings verdeutlicht eine komparatistische Lektüre, dass eine s­ olche Rekontextualisierungsstrategie keineswegs ‚einzigartig‘, sondern eher typisch für frauenmystisches Schreiben klausierter Nonnen und in der Welt lebender mulieres religiosae zu sein scheint.

Die Figurationen der Ich-Erzählerin und die Konzeption des Erzählens | 313 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

­fungieren können.204 Im Rückgriff auf die Arbeiten von Caroline Walker Bynum definiert er den weiblichen Körper in d ­ iesem Kontext als Instrument der Gotteserfahrung und ‚Weiblichkeit‘, als Symbol des fleischgewordenen Gottessohnes, wie er in den heilsgeschichtlichen Stationen von der Geburt in der Krippe bis zum Kreuzestod in seiner Menschlichkeit ‚begreifbar‘ wird,205 wie eine an den ‚Diener‘ apostrophierte Christusrede in Seuses „Büchlein der ewigen Weisheit“ pointiert verdeutlicht: Dar umb, wilt du mich schowen in miner ungewordenen gotheit, so solt du mich hie lernen erkennen und minnen in miner gelitnen menscheit, wan daz ist der schnellest weg ze ewiger selikeit.206

Geburtsakt und Passion werden thematisch aufeinander bezogen, wenn die Gnadenrufe die Margery-­Figur zum ersten Mal während einer Vision des Gekreuzigten am Kalvarienberg in Jerusalem ereilen.207 In diesen Textpassagen wird der Körper der Margery-­Figur zu 204 Vgl. Lawton: Voice, Authority and Blasphemy, S. 113: „The crying and the roaring are the sounds of labor.“ Lawton untersucht die verschiedenen literarischen Strategien, die im Kempe-­Text Autorität konstruieren. Vgl. auch Holbrook, „About her“, S. 282 Anm. 14. Weissmann: Margery Kempe in Jerusalem: Hysteria Compassio in the Late Middle Ages, S. 210 – 215, besonders S. 215: „At Jerusalem Margery is reenacting her own harsh labor of childbirth, the labor unto madness, and almost unto death, with which her vita begins. By reexperiencing the pains of labor at the scene of Christ’s passion, Margery confesses to and atones for the great sin against her Lord, the sin of female sexuality, which labor in childbirth punishes.“ Obwohl Weissmann zu recht die Dimensionierung der Rufe als ‚Geburtsschreie‘ herausarbeitet und als mit Weiblichkeit konnotierte Äußerungsform identifiziert, reduziert sie die Textpartie auf eine Art Wiedererleben und Wiedererinnern der ‚traumatischen Geburtssituation‘, die der zeichenhaften Überhöhung dieser Episode eher nicht gerecht wird. Vgl. auch Gibson: Theatre of Devotion, S. 47 – 65. Bolton-­Holloway: Textual Community, S. 212 – 215. 205 Vgl. Lawton: Voice, Authority and Blasphemy, S. 113. Vgl. Caroline Walker Bynum/Stevan Harrell/Paula Richman (Hrsg.): Gender and Religion: On the Complexity of Symbols. Boston 1986, besonders Introduction, S. 1 – 20. Dies.: Holy Feast, Holy Fast, S. 276 und S. 287: „For woman was, in fact as well as symbolically, human.“ S. 288: „There is much evidence that religious men in the thirteenth, fourteenth and fifteenth centuries were fascinated by women – both by the female visionaries who became, through their lowliness, the mouthpiece of God on high and by the ordinary mothers, housewives, laundresses and maidservants who were signs of the depths to which Jesus stooped in redeeming humankind.“ 206 Bihlmeyer: Heinrich Seuse. Deutsche Schriften, S. 203, 7 – 10. 207 Vgl. BMK , Kapitel 28, S. 68, 12 – 22: & whan þei cam vp on to þe Mownt of Caluarye, sche fel down þat sche mygth not stondyn ne knelyn, but walwyd and wrestyd wyth hir body, spredyng hir armys a-­brode, & cryed wyth a lowde voys as þow hir hert xulde a brostyn a-­sundyr, for in þe cite of hir sowle sche saw veryly & freschly how owyr Lord was crucifyed. […] sche had so gret compassyon & so gret peyn to se owyr Lordys peyn þat sche myt not kepe hir-­self fro krying & roryng þow sche xuld a be ded þerfor. And þis was þe first cry þat euyr sche cryed in any contemplacyon. Vgl. die folgende Textpartie BMK , S. 105, 6 – 10, die auf das erstmalige Auftreten der Gnadenrufe in Jerusalem referiert: And for þe compassyon þat sche had of owr Lordys Passyon sche cryed so wondyr lowde, & þei had neuyr herd hir cryen before-­tyme, & it was þe more merueyl on-­to hem. For sche had hir fyrst cry at Ierusalem, as is wretyn be-­forn. Vgl. auch implizite Andeutungen auf den Akt des Gebärens, BMK , S. 174, 21 – 24: Sche cryid, sche roryd, sche wept as þow

314 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

einer Art ‚Zeichenträger‘ überschrieben, der die Passionsfrömmigkeit in konkreten Körpergesten performativ umsetzt und auf diese Weise die Gottesbegegnung in der Seele repräsentiert.208 David Lawton artikuliert auf eher problematische Weise, dass Margery Kempe als vierzehnfache ­Mutter diese ‚Körperzeichen‘ des Gebärens durch ihrer eigene Erfahrung beglaubigen könne.209 Eine vergleichende Lektüre des Medinger Offenbarungstextes und der Kempe-­Vita verdeutlicht allerdings, dass die Präsenz des weiblichen Körpers und die Evokation einer konkret körperlichen Erfahrungsebene, die in den Texten mit den literarischen Mitteln eines eindringlichen Erzähler- bzw. Augenzeugenberichts und einer detaillierten Beschreibung der Vorgänge evoziert wird, nicht auf eine ‚tatsächliche‘ Geburtserfahrung zurückgehen muss, wie der Offenbarungstext der Dominikanerschwester Margareta Ebner und die Schriften der Kartäusernonne Marguerite von Oingt belegen. Vielmehr überkreuzen sich hier die verschiedenen Diskursivierungen des Weiblichen, die mit dem Akt der Geburt und einer essentialistischen Vorstellung von Weiblichkeit verbunden sind und ein breites thematisches Spektrum von der Nachfolge Evas (Gn 3,16) bis zur imitatio Mariae einschließen können.210 Jedenfalls demonstrieren die genannten Beispiele, dass es hier nicht um die faktische Wiedergabe von weiblicher ‚Lebensrealität‘ geht, sondern eher um eine theologische Ausdeutung des weiblichen Körpers, der für die Leiblichkeit des Menschen in seiner Inferiorität und Vulnerabilität stehen kann. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Medinger „Offenbarungen“ und die Kempe-­Vita das Theologumenon von der ‚Gottesgeburt in der Seele‘ gleichsam bildhaft und konkret im Leben einer begnadeten Person narrativ umsetzen. Im Offenbarungstext geschieht dies vornehmlich durch die oben diskutierte Auratisierung der ‚selbstgeschriebenen‘ Offenbarungsschrift, die von der Ich-­Rede der körperlichen Leiden als imitatio Christi, der detailreichen Beschreibung visionärer Schauungen, der thematischen Zentrierung auf die Menschwerdung und Kreuzigung und der dem Hohelied sche xulde a brostyn þer-­with. Sche myth not mesuryn hir-­self ne rewlyn hir-­selfe, but cryid & roryd þat many man on hir wonderyd. Vgl. auch zu den Gnadenrufen nach einer bildhaft beschriebenen Christusvision, S. 70, 17 – 20: þan sche fel down & cryed wyth lowde voys, wondyrfully turnyng & wrestyng hir body on euery syde, spredyng hir armys a-­brode as ȝyf sche xulde a deyd […]. Vgl. zur Darstellung des körperlichen ‚Überwältigtseins‘, S. 69, 19 – 23: &, as sone as sche parceyvyd þat sche xulde crye, sche wolde kepyn it in as mech as sche myth þat þe pepyl xulde not an herd it for noyng of hem. […] And þerfor, whan sche knew þat sche xulde cryen, sche kept it in as long as sche mygth & dede al þat sche cowde to withstond it er ellys to put it a-­wey til sche wex as blo as any leed, & euyr it xuld labowryn in hir mende mor and mor in-­to þe tyme þat it broke owte. 208 Vgl. zum Inszenierungscharakter der unio mystica-­Erfahrung, Kasten: Körperlichkeit und Performanz in der Frauenmystik, S. 165 und S. 169 – 171. 209 Vgl. Lawton: Voice, Authority and Blasphemy, S. 113: „And when it comes to labor, Kempe is the expert, not Father Metheley, Prior Norton, and the Carthusians of Mount Grace. Her having borne fourteen children acts as the guarantor of her spiritual authority.“ 210 Vgl. Walker Bynum: Holy Feast, S. 268 f.

Die Figurationen der Ich-Erzählerin und die Konzeption des Erzählens | 315 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

nachempfundenen Liebesgemeinschaft mit Gott ausgeht. Diese im Text entworfene persönliche ‚Erfahrungsebene‘ bildet die Basis für die Profilierung der Ich-­Figur als schreibende Autorin. Die erzählerische Vermittlung der „Offenbarungen“ führt die Gottesbegnadung im Modus einer Autohagiographie als eine Art ‚Selbstreflexion‘ vor. Der Vergleich mit der Kempe-­Vita demonstriert, dass die Erzählweise von Text zu Text divergieren kann. Dabei ist der Einsatz der jeweiligen Erzählhaltung rhetorisch funktionalisiert: Die Erzählhaltungen evozieren graduelle Abstufungen von Unmittelbarkeit und (Augen-)Zeugenschaft. So entfaltet die ‚objektive‘ Erzählform des Kempe-­Textes eine Art Beglaubigungsgestus durch die (zumindest zeitweilige) Anwesenheit des schreibenden Priesters in der Rolle des Erzählers. Dadurch fällt die textinterne Präsentation der Autorinnenrolle im Kempe-­Text zunächst eher zurückhaltender aus, was durch die Beteiligung der drei verschiedenen Schreiberinstanzen und die Suggestion der verrätselt wirkenden ‚Originalschrift‘ noch verstärkt wird. Der bekenntnishafte Charakter der Kempe-­Vita im Sinne eines ‚persönlichen‘ Bekenntnisses an den Schreiber ist im Unterschied zu den „Offenbarungen“ viel stärker ausgeprägt, die nur noch vereinzelte ‚Spuren‘ des Bekenntnishaften enthalten und mithilfe der Ich-­Perspektive eine Art ‚Selbstbekenntnis‘ vorführen. Letztlich weisen allerdings sowohl der Kempe-­Text und Margareta Ebners ‚Lebensbericht‘ ähnliche typenspezifische Muster und hagiographische Versatzstücke auf, die in ihrer spezifischen Kombination und erzählerischen Darbietung variieren können, aber letztlich verdeutlichen, dass die literarische ‚Vorstellung‘ eines gottinspirierten frauenmystischen Schreibens über die nationalsprachliche Seite hinausgeht. Vielmehr kann sie im Kontext eines europäischen ‚Typus‘ weiblicher ‚Heiligkeit‘ gesehen werden, die programmatisch ‚Weiblichkeit‘ mit sanctitas konnotiert.211 Diese programmatische Konzeption mystischer Heiligkeit informiert die erzählerische Darbietung der Texte. Und die komplexen Textstrukturen, die sich durch die Verschachtelung der Ebene des Erzählens (der ‚Schreibgegenwart‘) und der Ebene des Erzählten (der Visionsberichte) und die Episodenhaftigkeit der ‚Erzähleinheiten‘ auszeichnen, bedingen, dass sich erst im Akt der Rezeption das ‚Bild‘ einer Originalschrift einstellt, das aus den verrätselten und literarisch ambitionierten Buchentstehungsgeschichten hervorgeht. Jedenfalls verdeutlichen die Überlegungen zu einer sich in der handschriftlichen Überlieferung konkretisierenden ‚Autorinnenpräsenz‘ eindrucksvoll die Wirkungsmächtigkeit dieser literarischen Entwürfe und Erzählweisen.

211 Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 5, S. 132 und S. 261.

316 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

4.3 Erzählerkonfigurationen und die Narration der Buchentstehungsgeschichten: Die Engelthaler Vitenliteratur Die umfangreiche Literaturproduktion des Dominikanerinnenklosters Engelthal bei Nürnberg gewährt einen guten Überblick über das breite Spektrum und die verschiedenen typenspezifischen Ausformungen der Viten- und Offenbarungsliteratur: Der Typus des Schwesternbuchs, den Ringler von den einzelpersönlichen und detailliert ausgeführten Gnadenviten in seiner Texttypologie abgegrenzt hat, ist in Engelthal mit dem Schwesternbuch „Von der genaden uberlast“212 vertreten.213 Dieses wohl um die Mitte des 14. Jahrhunderts entstandene Nonnenbuch, als dessen Verfasserin Christine Ebner gelten kann,214 beinhaltet Kurzviten der Engelthaler Schwestern. Es berichtet die Geschichte des Klosters Engelthal als einer von Gott auserwählten Heilsgemeinschaft, die in den göttlichen

212 Vgl. die Textausgabe: Der Nonne von Engelthal: Büchlein von der Genaden Uberlast. Hrsg. von Karl Schröder. Stuttgart 1871 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 113). Im Folgenden als GU bezeichnet. 213 Vgl. Ringler (Anm. 66, Einleitung), S. 4 f. zur terminologischen Abgrenzung von Gnadenvita und Schwesternbuch, S. 4 zum Begriff „Schwesternbuch“: „Er meint eine scheinbar chronikartige Zusammenstellung einer Vielzahl von Kurzviten verstorbener Schwestern eines bestimmten Klosters, herausgegeben von Angehörigen der nachfolgenden Schwesterngeneration.“ Nonnenbücher liegen als chronikartige Sammlung kurzer Vitentexte einzelner Schwestern aus bestimmten Dominikanerinnenklöstern vor, wie die lateinischen Vitae Sororum aus Unterlinden bei Colmar und die deutschsprachigen Schwesternbücher aus Adelhausen bei Freiburg im Breisgau, Töss bei Winterthur, Oetenbach in Zürich, Kirchberg, Weiler und St. Katharinenthal bei Dießenhofen im Thurgau. Die Nonnenviten bieten eine Art kollektive Perspektive auf den jeweiligen Konvent als ‚Heilsgemeinschaft‘ im Rahmen der klösterlichen memoria, die in Form von Berichten über Askesepraxis, Visionserfahrungen, Gnadenerweisungen und wundersame Begebenheiten im ‚Leben‘ einer Schwester tradiert wird. 214 Vgl. zur Datierung des Engelthaler Schwesternbuchs und der Autorschaft Christine Ebners, Ringler: Ebner, Christine. In: 2VL Band 2, Sp. 302. Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 127, die Ringlers Angaben zum Entstehungszeitraum kritisch diskutiert und die Entstehungszeit auf der Basis der ältesten Handschrift N2, Nürnberg, Germanisches Nationalmuseum, Cod. 1338 um die Mitte des 14. Jahrhunderts ansetzt. Vgl. auch Thali: Beten, Schreiben, Lesen, S. 207 und besonders S. 212 f. Vgl. zur Autorschaft Christine Ebners, die sich aus dem Nachtrag in N2 (p. 130) mit der Überschrift Daz leben der seligen Kristein Ebnerin und dem Zitat aus den „Offenbarungen“ erschließen lasse (p. 71r: Si het ein büchlein gemacht von den gotlichen gnaden di vnser herr den swestern in irem closter getan het.) Bürkle: Literatur im Kloster, S. 246 – 253. Die Zusätze cristina bzw. ich cristin ebnerin in der Handschrift Wien, Bibliothek des Schottenstiftes, Codex 308, die die Forschung als Beleg für die Autorschaft Christine Ebners betrachtet hat, problematisiert Susanne Bürkle als „Re-­Personalisierung der Autorrolle des Engelthaler Schwesternbuchs“, die „kaum, wie Ringler annimmt, mit einer noch auf den Produktionsort zurückgehenden Selbstentdeckung der Autorin“ gleichzusetzen, sondern vielmehr als ein „aus der Rezeption der Engelthaler Literatur resultierender sekundärer Nachtrag außerhalb des Klosters“ (S. 258) aufzufassen sei. Vgl. dagegen Thali: Beten, Schreiben, Lesen S. 212, die für die Autorschaft Christine Ebners plädiert und „eine einzige Autorin“ als Verfasserin ansetzt.

Erzählerkonfigurationen und die Narration der Buchentstehungsgeschichten | 317 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Gnadengaben im Leben einzelner Dominikanerschwestern exemplarisch aufscheint.215 Die Kurzviten schildern die Gnadenerfahrungen der Nonnen in Form von Christus- und Marien-­Visionen, himmlischen Entrückungen, Erscheinungen bereits verstorbener Schwestern und Heiliger, wie Dominikus’, Johannes des Täufers und der Heiligen Agnes. Wie in der Einleitung erwähnt, sind die großangelegten Gnadenviten mit dem unikal in der Handschrift W überlieferten Gnadenleben des Engelthaler Klosterkaplans Friedrich Sunder, den „Offenbarungen“ Adelheid Langmanns, und vor allem dem bislang noch unedierten Christine-­Ebner-­Corpus mit der Medinger Gnadenvita vertreten.216 Das textinternen Angaben zufolge wohl um das Jahr 1317217 im Kloster Engelthal entstandene Gnadenleben der Christine Ebner 218 bietet einen offenbar aus den verschiedensten Materialien – Visionsberichten, Liedern, Briefen – zusammengestellten ‚Lebensbericht‘, der eine ausführliche Vorgeschichte umfasst und das Leben im Dominikanerinnenkonvent besonders im Hinblick auf die Messfeier, Buß- und Askesepraxis, mystische Schauungen und dialogische Reden mit dem göttlichen Partner thematisiert.219 Dabei lässt der Vitentext eine Strukturierung in drei relativ große Sinnabschnitte erkennen:220 Zu Beginn findet sich eine breit ausgeführte Anfangspassage (p. 1 – 34), die unter anderem von der Zusammenarbeit der Schwester mit ihrem Beichtvater Konrad von Füssen bei der Abfassung des ‚Büchleins‘ berichtet. In größeren Zeitsprüngen bietet diese Anfangspartie einen gewissen Überblick über die 215 Vgl. GU, Nachwort, S. 47. Thali: Beten, Schreiben, Lesen, zu Aufbau und Inhalt besonders S. 213 – 218. 216 Vgl. die Einleitung der vorliegenden Arbeit mit Angaben der verwendeten Textausgaben (Anm. 25, 26 und 30). Die einzelnen Fassungen von Christine Ebners „Offenbarungen“ und Gnadenleben lassen sich als unterschiedliche Texttypen beschreiben, die im Fall der Offenbarungen Visionserfahrungen mit dem Jahr 1344 einsetzend in einer relativen chronologischen Reihenfolge und mit vielfältigen Referenzen auf historische Personen und Ereignisse (etwa ­Kaiser Karl IV., den Burggrafen von Nürnberg, Pest und Kirchenbann) präsentieren. 217 Vgl. zur Problematik der genauen Datierung der Gnadenvita, Peters: Religiöse Erfahrung, S. 164. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 302 f. 218 Der Vitentext der Christine Ebner ist vollständig in zwei Handschriften überliefert: Der Handschrift Mödingen/Dillingen, Klosterbibliothek Maria Medingen, Md1, p. 1 – 746 aus dem zweiten Drittel des 15. Jahrhunderts und der Stuttgarter Christine-­Ebner-­Sammelhandschrift der Württembergischen Landes­ bibliothek aus dem 18. Jahrhundert (Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, S, Cod. theol. et phil. 2 ͦ 282, fol. 76v–154v). Vgl. Ursula Peters: Das Leben der Christine Ebner: Textanalyse und kulturhistorischer Kommentar. In: Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposion Kloster Engelberg. Hrsg. von Kurt Ruh. Stuttgart 1986 (Germanistische Symposien, Berichtsbände 7), S. 402 – 422, hier S. 419 Anm. 9. Vgl. auch zur Datierung der beiden Überlieferungszeugen, Ringler: Ebner, Christine. In: 2VL Band 2, Sp. 297 f. Vgl. die Übersicht in Bürkle: Literatur im Kloster, S. 333 mit Verweis auf die Handschrift Mödingen/Dillingen, Klosterbibliothek Maria Medingen, Md2, eine freie Bearbeitung von Md1 aus dem Jahr 1774 und der Streuüberlieferung in der Münchener Sammelhandschrift München, Bayerische Staatsbibliothek Cgm 5292, fol. 211v–215v aus dem Jahr 1448. 219 Vgl. Ringler: Ebner, Christine. In: 2VL Band 2, Sp. 299 – 300. Vgl. die Zusammenfassung bei Peters: Religiöse Erfahrung, S. 167 – 168. 220 Vgl. zu dieser Strukturierung in drei Textabschnitte: Bürkle: Die Gnadenvita Christine Ebners, S. 490 – 493.

318 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Geburt der Protagonistin, eine in ihrer Jugend erfahrene Christusvision und besondere Gnadengaben im Alter von 30, 47 und 51 Jahren 221 und sie enthält darüber hinaus einen Brief Christines, der an einen namentlich benannten herrn bruder Conrat adressiert ist.222 Im Anfangsteil kommen bereits verschiedene Erzählerfigurationen zum Einsatz, da in der sogenannten Lesemeister-­Messe (p. 12 – 15) erstmalig unvermittelt das Text-­Ich der Schwesternfigur hervortritt, während im „materien-­Katalog“223 (p. 31 – 34), indiziert durch eine einführende Ich-­Bemerkung, offenbar das hagiographische Ich eine Auswahl der zentralen ­Themen der Gnadenvita präsentiert. Daran schließt sich eine Mittelpartie (p. 34 – 422) an, die okkasionell die Textentstehung und die Verschriftlichung der Visionen beleuchtet, und schließlich folgt der ausladende Schlussteil, der als Dialog z­ wischen der anonymen Schwesternfigur und Gott gestaltet ist. Dabei tritt vor allem in der Anfangs- und Mittelpartie die Verschriftlichungsthematik vermehrt in den Vordergrund des Berichteten. Sie entfaltet sich in einem stetigen Wechsel von Ich-­Partien und ‚Fremdberichten‘ in der dritten Person, in die immer wieder Erzählerkommentare und Bemerkungen eingeschoben sind, die zugleich eine allmähliche Textentstehung suggerieren. Die verschiedenen Ich- und Erzählinstanzen bewirken den Eindruck eines aus den verschiedensten szenischen Episoden, dialogischen Partien und Berichten scheinbar nur lose 221 In dieser Anfangspasse finden sich vermehrt Altersangaben: Zunächst wendet sich die vierzigjährige Schwester vertrauensvoll an Konrad von Füssen, vgl. p. 4. Sie erfährt ebenfalls im Alter von 40 Jahren eine Vision über den bevorstehenden Tod eines Bruders, vgl. p. 5 – 6. Dann berichtet die Erzählinstanz in Form einer Analepse von den wundersamen Erfahrungen der dreißigjährigen Schwester (p. 8 – 9) um kurz darauf in einem erneuten, 17 Jahre umfassenden Zeitsprung vom Weggang des Beichtvaters im Jahr 1324 zu berichten, (p. 10). Das Alter der Schwesternfigur beträgt zu d ­ iesem Zeitpunkt 47 Jahre und sie erhält im Traum eine Vision des zwölfjährigen Jesu, p. 10. Die nächste konkrete Zeit- und Altersangabe ist bereits mit dem Wechsel der Erzählperspektive verbunden, p. 19: Do man zalt von gottes geburt tusent iare vnd dreẅ hundert vnd im xxviii iar vnd do ich waz im li iar, da ward ich verzukt in dem aduent an dem donrstag in der fronfasten nach complet. 222 Vgl. CE , GV , p. 28: Meinen lieben herrn bruder Conrat grusz ich Cristina dü Ebnerin in vnserm herrn Ihesum Christum, der vns zü geliebt ist von minnen. Georg W. Lochner sieht Christine Ebners leiblichen Bruder namens Konrad als Adressaten ­dieses Briefes an. Vgl. Georg W. Lochner: Leben und Gesichte der ­Christina Ebnerin, Nürnberg 1872, S. 4 und S. 16. Die Verständnisschwierigkeiten der eigentlichen Aussage des Briefes ließen sich Lochner zufolge „als Schuld der Abschreiber“ deuten, die den Inhalt nur unzureichend wiedergegeben hätten. Die prononcierte Namensnennung des Beichtvaters Kunrat von Fuszen/Conrat de Fuszen (p. 4 und p. 6) suggeriert, dass Konrad von Füssen als Empfänger des Briefes gemeint sein könnte. Möglicherweise könnte man den verrätselt erscheinenden Brief, der als Replik konzipiert ist (p. 28 Lieber herr, ir habt mir enboten, ob mich icht lust vmb vch ze bitten) und eine Empfehlung der Christine-­Figur zu einem gottgefälligen Leben (p. 28 Ir solt die kunst icht fur got minnen. Du kunst hat kurtz zyt, aber dü frucht der mynn blibet ewiclich) bietet, im Sinne eines Authentizitätszeugnisses auffassen, von dem eine beglaubigende Wirkung ausgeht. Denn die Christine-­Figur figuriert hier in der Rolle einer ratgebenden Autorität, die einem Herrn Konrad offenbar in einer ‚konkreten‘ Situation Rat erteilt. 223 Bürkle: Die Gnadenvita Christine Ebners, S. 483.

Erzählerkonfigurationen und die Narration der Buchentstehungsgeschichten | 319 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

zusammengefügten Textes.224 Und dieser die Textgenese betreffende Lektüreeindruck hat in der Forschung – vor allem im Hinblick auf die in Ich-­Form konturierte Figur des hagiographischen Schreibers – zu einer Rekonstruktion der Textentstehung aus den vereinzelt in den Text inserierten ‚Schreibereinlassungen‘ und damit zu einer eher problematischen Gleichsetzung der literarischen Buchentstehungsgeschichte mit den faktischen Textentstehungsverhältnissen geführt.225 Vereinzelt leiten Forschungsbeiträge noch immer textgenetische Überlegungen aus der textinternen Buchentstehungsgeschichte ab, wie zuletzt Freimut Löser, der die sich in einem hagiographischen Ich konkretisierende Redaktorfigur als eigentlichen Verfasser der Gnadenvita Christine Ebners ansieht.226 Allerdings kehrt er auf diese Weise zu der von Susanne Bürkle eingehend problematisierten Position Ringlers zurück, der das Diktat der Visionärin und damit eine originäre Mündlichkeit als ‚Ursprung‘ des Gnadenlebens betrachtet.227 Offenbar provozieren die textinternen Erzählungen über die ‚Buch- und Autorwerdung‘, für die der Aspekt eines mündlichen Bekenntnisses bzw. eines Diktats an den Schreiber eine wichtige literarische Komponente darstellt, eine ­solche Lektüre, für die die unterschied­ liche narrative Ausgestaltung der Kempe-­Vita und des Christine-­Ebner-­Vitentextes keine Rolle spielt. Dabei lassen auch andere Viten- und Offenbarungstexte eine ähnlich funktional eingesetzte Alternation der Erzählerfigurationen erkennen: So verweist Nemes auf ähnliche Wechsel der Erzählhaltung im „Fließenden Licht“ Mechthilds von Magdeburg, etwa in den Büchern I. 44228 und II . 4,229 die sich bei genauerer Betrachtung als bewusst

224 Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 293 zum „montageartigen Charakter“, der auf den ersten Blick so heterogen wirkenden Textstruktur. 225 Vgl. Bürkle: Das Gnadenleben der Christine Ebner. In ihrem Forschungsbericht (S. 487 – 489) zeigt sie auf, dass die Forschung die Textentstehung vornehmlich aus der Textstruktur bzw. ihrer ‚Machart‘ herleiten wolle. In der Ich-­Rede sieht sie zu Recht eine literarische Authentisierungsstrategie, die die Evokation des Unmittelbaren bedinge und damit letztlich als Mittel zur Textlegitimation fungiere. In ihrer Monographie hat sie ein weiteres gewichtiges Argument gegen eine vereindeutigende Lektüre vorgebracht: Denn die im Inzigkofener Codex (München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 5292 um 1448) erhaltene Streuüberlieferung zeige kein Interesse an der Bewahrung vermeintlich ursprünglicher Ich-­Partien. Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 284 f. Nemes referiert Bürkles Ergebnisse in: Von der Schrift zum Buch, S. 354. 226 Vgl. Löser: Schriftmystik, besonders S. 176, der die Buchentstehungsgeschichte der Medinger Gnadenvita folgendermaßen kommentiert: „Denn hier ist es nun der ‚Schreiber‘, der fast zum Autor wird. […] Dieser ‚Schreibpartner‘ ist sowohl Aufzeichner als auch Auslöser des Vertextungsprozesses. Er ist Anlass der Textgenese ebenso wie Ausführender und Rezipient.“ Vgl. auch Thali: Beten, Schreiben, Lesen, S. 174 und Emmelius: Begnadung und Zweifel, S. 315 ff., die beide für die „Offenbarungen“ der ­Adelheid Langmann ursprünglich selbstgeschriebene oder diktierte ‚Eigenberichte‘ der Visionärin als Basis für die faktische Textentstehung ansetzen. 227 Für die Entstehung der „Offenbarungen“ Christine Ebners setzt Ringler die Entstehung „zur H ­ auptsache wahrscheinlich aufgrund von Diktaten“ an, Vgl. Ringler: Ebner, Christine. In: 2VL Band 2, Sp. 299. 228 Vgl. FL, S. 58,1 – 65, 37. 229 Vgl. FL, S. 84,1 – 93,6.

320 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

gewählte Erzählstrategien erweisen.230 So deutet er das Auftreten des Text-­Ichs in FL I. 44 als Betonung der innigen Liebesvereinigung und in FL II . 4 als Evokation einer Augenzeugenschaft im Hinblick auf die visionäre Schau der Johannes-­Messe durch die Textfigur der armen dirne. Allerdings geht Nemes – gegen den herrschenden Forschungskonsens – nicht von der Gleichsetzung dieser armen dirne mit dem Text-­Ich der Autorin Mechthild aus, sondern begreift es als funktionalisiertes Text-­Ich, das wiederum als Augenzeuge der Konsekration der Hostie fungiert. Und er diskutiert auf überzeugende Weise die Folgen für die Textgeschichte, die mit ­diesem Textverständnis verbunden sind: Text-­Ich und Autorin werden ohne Weiteres gleichgesetzt. Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, den Einsatz verschiedener Erzählverfahren in den Vitentexten Christine Ebners, Friedrich Sunders und Adelheid Langmanns im Vergleich mit dem Kempe-­Text als Teil einer texttypenspezifisch ausgestalteten Erzählweise frauenmystischer Texte näher zu konturieren. Gemeinsam ist diesen Vitentexten, dass sie den Entstehungs- und Verschriftlichungsprozess sowohl auf der Ebene der histoire als erzähltes Geschehen als auch auf der discours-­Ebene durch den Einsatz von Ich-­Erzählinstanzen in ganz unterschiedlicher Komplexität zur Darstellung bringen. Daher bilden die Engelthaler Gnadenviten mit ihren textinternen Entstehungsszenarien, die wie in der Kempe-­Vita in die Darstellung einer persönlichen Gotteserfahrung eingebunden sind, eine interessante Materialbasis für eine vergleichende Untersuchung der Narrativierung einer Buchentstehungsgeschichte. Im Vergleich mit dem Erzählgefüge der Kempe-­Vita figurieren in der Gnadenvita Christine Ebners sogar drei verschiedene Ich-­Erzähler bzw. Schreiberinstanzen – eine Ich-­Erzählerin, ein „hagiographisches Ich“231 und das nur punktuell angedeutete „Text-­Ich“ eines ersten Schreibers –,232 die die Variationsbreite und möglichen Konstanten einer erzählerisch vermittelten ‚Unmittelbarkeit‘ veranschaulichen können. Ein signifikanter Unterschied z­ wischen der Gnadenvita Christine Ebners und dem Kempe-­Text zeigt sich zunächst in der erzählerischen Ausgestaltung der jeweiligen Anfangspartien. Wie oben diskutiert, führt ein übergeordneter Erzählerbericht die anonymisierte Margery-­Figur anfangs in ihrer exemplarischen Stellvertreterposition als creatur und handwerke ein, um sie erst im weiteren Verlauf über die Schreibersuche und das die Verschriftlichung betreffende Gnadenwunder in ihrer Rolle als Autorin zu profilieren. Dabei fällt die biographische Konkretisierung eher zurückhaltend aus, da nur schlaglichtartig die 230 Vgl. Nemes: Von der Schrift zum Buch, S. 354. 231 Bürkle: Die Gnadenvita Christine Ebners, S. 503. 232 Vgl. Bürkle, Literatur im Kloster, S. 283 – 294 und dies.: Die Gnadenvita der Christine Ebner, besonders S. 509. Susanne Bürkle hat in ihrer umfangreichen Untersuchung zur frauenmystischen Literatur des Klosters Engelthal die Ich-­Erzählinstanzen genau bestimmt, die in unterschiedlichen Rollen – als Figur der Mystikerin, schreibender Bruder und als Hagiograph – figurierten. Die folgende Diskussion versucht im Rückgriff auf ihre Ergebnisse, die Narrativierung der Buchentstehungsgeschichten und die Funktionalisierung der Schreibinstanzen genauer zu beleuchten.

Erzählerkonfigurationen und die Narration der Buchentstehungsgeschichten | 321 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Krankheit, der Verlust von Freunden, Ansehen und irdischen Reichtümern, die einsetzende Tränengabe und Anfechtungen der Außenwelt thematisiert werden.233 Dagegen bietet die breit ausgeführte Prologpartie der Medinger Gnadenvita (p. 1 – 34) mit der Buchentstehungsgeschichte (p. 4 – 5) und dem materien-­Katalog (p. 31 – 33) nicht nur eine biographische Dimensionierung der namentlich benannten Protagonistin (p. 3: Cristina) im Sinne eines Vitenschemas, sondern auch eine offenbar genaue zeitliche Verortung, die die Jahre 1277 von der Geburt bis ins 67. Lebensjahr der Schwesternfigur im Jahr 1344 umfasst. Im Unterschied zur Kempe-­Vita gewinnt die Protagonistin des Medinger Vitentextes von Beginn an konkret wirkende biographisch-­lebensweltliche Konturen: Eine heterodiegetische, allwissende Erzählinstanz fasst die wichtigsten Lebensstationen der Christine-­Figur zusammen: Von ihrer wundersamen und von großer Andacht begleiteten Geburt im Jahr 1277 (p. 1 – 3), die bereits ganz unter dem Vorzeichen der imitatio Christi steht, über die Zusammenarbeit der 40-jährigen Schwester mit ihrem Beichtvater Konrad von Füssen (p. 4 – 7), aus der das büchlin hervorgeht, einzelnen Visions- und Gnadenerfahrungen, unter denen die Lesmeyster-­Messe besonders hervorsticht (p. 12), bis zu einer Todesprophezeiung, die an die 67-jährige Schwester ergeht (p. 33).234 Dabei zeichnet sich diese Textpartie durch vermeintlich genaue Jahres- und Altersangaben 235 aus, die besonders 233 Vgl. BMK, S. 2, 7 – 3, 3. 234 Vgl. die überblicksartige Zusammenfassung der Prologpartie bei Bürkle: Literatur im Kloster, S. 291. CE GV, p. 1 – 18. Vgl. zur Bezeichnung „Prologpartie“, die von Susanne Bürkle stammt, mit Hinweis auf den montageartigen Charakter und die Vorlagen der Engelthaler Literatur, ebd., besonders S. 288 – 291. 235 Vgl. CE , GV p. 1: Do man zalt von gottes geburt tusent iar drithalb hundert iar; p. 4: Do man von gottes geburt zalt drwzehen hundert iar vnd sybenzehen iar. p. 10: Anno domini Mccc ac xxiiii; p. 10: Do sie waz in dem xlvii iar. p. 4: da sie waz in dem viertzigesten iar. p. 5: Do sie was in dem vierzigsten iar. p. 7: xxx iar; p. 19: Do man zalt von gottes geburt tusent iare vnd dreẅ hundert vnd im xxviii iar vnd do ich waz im li iar. p. 33: Dar nach da si waz in dem siben vnd sechzigsten iar ires alters. P. 8 – 9 bietet eine Prolepse zu den wundersamen Erfahrungen der dreißigjährigen Schwester, um im Anschluss (p. 10) in einem erneuten, 17 Jahre umfassenden Zeitsprung vom Weggang des Beichtvaters im Jahr 1324 zu berichten. Das Alter der Schwesternfigur beträgt zu d ­ iesem Zeitpunkt 47 Jahre und sie erhält im Traum eine Vision des zwölfjährigen Jesu (p. 10). Die nächste konkrete Zeit- und Altersangabe ist bereits mit dem Wechsel der Erzählperspektive verbunden, p. 19: Do man zalt von gottes geburt tusent iare vnd dreẅ hundert vnd im xxviii iar vnd do ich waz im li iar, da ward ich verzukt in dem aduent an dem donrstag in der fronfasten nach complet. p. 33 – 34: Vorausdeutung auf den Tod: Dar nach da si waz in dem siben vnd sechzigsten iar ires alters, do tett ir vnser herr kund vnd sprach […]. Eine genauere Betrachtung des Prologs offenbart allerdings – wie Susanne Bürkle in einer äußerst diffizilen Textanalyse demonstriert hat – beträchtliche Unstimmigkeiten im Hinblick auf diese vorgebliche ‚historische‘ Verortung. Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 288 – 291 und dies.: Die Gnadenvita Christine Ebners, S. 500. So hat sie zeigen können, dass die in der Prologpartie angeführten Jahres- und Altersangaben deutlich über die zeitliche Perspektive der vierzigjährigen Schwesternfigur hinausreichen, indem etwa gleich im Anschluss an die Buchentstehungsgeschichte Episoden situiert s­ eien, die auf die einundfünzigjährige (p. 19) und sogar die siebenundsechzigjährige Schwester verweisen. Außerdem lasse sich die erzählte Zeit bis in das Jahr 1344/1346 erschließen. Deshalb reflektiere die Buchentstehungsgeschichte wohl kaum die faktischen

322 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

in Verbindung mit dem biblisch anmutenden Geburtsbericht, der konkreten Namensnennung (p. 3 und p. 4: Kunrat von Fuszen) und der Vorausdeutung auf den Tod eine lebensweltliche Strukturierung im Sinne eines Heiligenlebens hervorrufen. Während die Margery-­Figur im Proömium anonymisiert und entindividualisiert als creatur erscheint, profiliert der in einem biblischen Duktus vorgetragene Erzählerbericht Christina als gottbegnadete ‚Person‘. Die konkreten Alters- und Jahresangaben der Prologpartie scheinen sich genau wie die Aussagen über den Schreibprozess 236 zu einer den Text bestimmenden Perspektive zu verdichten, die auch die sogenannten Ich-­Berichte der Schwesternfigur in der Mittelpartie (p. 99 – 134) erfasst.237 Susanne Bürkle konnte nachweisen, dass diese Prologpassage mit ihrer Repersonalisierung von Schreiber und Visionärin den gesamten Text als eine Art Interpretationsfolie vorstrukturiert und einen übergeordneten Referenzrahmen für die Lektüre des weiteren Textes bildet.238 Denn die suggestive Anlage der Prologpartie legt nahe, den einzig namentlich benannten Dominikanerbruder Konrad von Füssen als Gegenüber und Ansprechpartner der Schwesternfigur aufzufassen, da sie ihm allein ihre Gnadengaben eröffnet.239 Darüber hinaus ist er sogar in der Rolle eines Auftraggebers und „Mitautors“ inszeniert.240 Auf diese Weise fungiert eine Figur, die einzig aus der Engelthaler Literatur bekannt ist 241 und dort in den verschiedensten graduellen Abstufungen als Förderer von Gnadenviten erscheint,242 als vertrauter Gesprächspartner Textentstehungsverhältnisse, sondern sei vielmehr zur „gezielten Verschleierung der faktischen Autorverhältnisse und der Legitimation des Geschriebenen“ funktionalisiert. 236 Vgl. CE GV , p. 4: Aber her nach tett sy es kund irem bychtiger bruder Kunrat von Fuszen, einem prediger, das vnd ander ding, als an disem buchlin geschriben ist, da sie waz in dem viertzigesten iar. Des ward sie von got bezwungen. Do man von gottes geburt zalt drwzehen hundert iar vnd sybenzehen iar, in einem aduent hüb sie an dem bychtiger ze sagen von den wundern, die ir got het getan, vnd schriben disz büchlin siben iar. 237 Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 287 f. Vgl. Peters: Religiöse Erfahrung als literarisches Faktum, S. 164 mit der Angabe folgender Textpartien, die Zeitangaben enthalten, die alle auf das 40. Lebensjahr der Schwesternfigur anspielen: p. 56; p. 65; p. 123; p. 127. Auch der auktoriale Erzähler evoziert die Schreibgegenwart in einem Kommentar, der auf die 40-jährige Christine-­Figur verweist, p. 65: Vnd es hatt begert der marter von drizehen iaren vntz her an die zyt, das es vierzig iar alt was an den karfritag, da ditz gesriben warde. 238 Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 288 – 291. 239 Das Verschweigen der Gnadenerfahrung gegenüber der Mitschwester geht besonders aus p. 4 hervor: Sie wolt in nit sagen, was ir geschen waz. Aber her nach tett sy es kund irem bychtiger […]. Diese Passage lässt sich nach Ringler als „Topos des Ruhms in der Verborgenheit“ (Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur, S. 173) fassen, wie der Einsatz der adversativen Konjunktion „aber“ verdeutlicht: „Die Geheimhaltung der Gnadenerfahrung wird zugunsten der von Gott befohlenen Veröffentlichung zum Ruhme seines Namens aufgegeben.“ 240 Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 101. 241 Historische Dokumente über seine Existenz fehlen. Vgl. dazu Bürkle: Literatur im Kloster, S. 101. 242 Diese zunehmende Profilierung hat Ursula Peters detailliert in ihrer Analyse der Beichtvaterthematik bestimmt: Peters: Religiöse Erfahrung, S. 161 – 164. Im Engelthaler Schwesternbuch tritt er

Erzählerkonfigurationen und die Narration der Buchentstehungsgeschichten | 323 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

der Schwesternfigur. Die namentliche Benennung verleiht dem Text den Anstrich des historisch Verbürgten, obwohl Konrad von Füssen außerhalb der Engelthaler Literatur nicht belegbar ist.243 Die anonymisierte Schreibergeschichte des Kempe-­Textes, die sich erst aus der Zusammensicht der Prologpartien der Bücher I und II mit dem epilogartigen Kapitel 89 ergibt, bietet zwar ebenfalls eine Art ‚Lektürevorgabe‘ für den Gesamttext,244 wobei hier allerdings nicht nur die Person der Visionärin, sondern die ‚Buchwerdung‘ der ersten Fassung (drawyn owt of þe copy in-­to þis lityl boke)245 zu einem dominierenden Thema wird.246 In der Kempe-­Vita und der Gnadenvita Christine Ebners ist der objektivierende Erzählerbericht unterschiedlich funktionalisiert: Denn im Kempe-­Text präsentiert der summarische Bericht das göttliche Heilswirken beispielhaft an der anonymisierten Margery-­Figur, als einer der vielen Beichtväter auf und leistet unter anderem der im Sterben liegenden Schwester ­Elsbeth K ­ lingenberg geistlichen Beistand, vgl. GU , S. 37 – 38. Bereits im Gnadenleben des Engelthaler Klosterkaplans ­Friedrich Sunder nimmt er eine besonders prominente Stellung ein: Denn aus der Prologpartie des FS geht hervor, dass Konrad von Füssen die Abfassung ­dieses Vitentextes initiiert hat. Vgl. FS , Z. 53 – 59: Nun kam ain gtter brediger, das waz brder Cnrat von Fssen, der hort sin gancze bicht vnd bat jn jnneklichen, daz er beschribe die gnad, die jm got tt. Des saczt er sich ser da wider, biß das es jm von got ward kunt getan. Da mßt er got gehorsam sin vnd schraib die wunder, die jm von got, von siner mtter vnd von den hailigen widervarn sind, als hernach stat. Vnd daz er sich brder nempt an mngen statten, daz tt er von demtikait, daz er sich selber nit als oft priester oder herr hat wllen nemmen. Und FS dürfte wohl aufgrund der in den Texten verwendeten Jahresangaben 1317 bzw. 1318 in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu Christine Ebners Gnadenvita entstanden sein. Siegfried Ringler sieht deshalb in Konrad von Füssen den „Anreger der literarischen Tätigkeit, die dann auch nach seinem Weggang (A. D. 1324) bis über die Jahrhunderte hinaus fortblühte“. Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur, S. 174. 243 Vgl. Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur, S. 175. Vgl. ebd., S. 303. Susanne Bürkle verweist darauf, dass Konrad von Füssen mit einem in einer Engelthaler Urkunde von 1310 erwähnten ersam geistlich man Bruder Chvnrat der prior von Nvrnberch prediger ordens (RN 224) identisch sein könnte, was sich allerdings nicht völlig zweifelsfrei nachweisen lasse, vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 101 – 102. 244 Vgl. Löser: Schriftmystik, S. 198, der zu der eher fraglichen Schlussfolgerung gelangt: „Textgeschichte wird zum Text selbst, der sich erst in seiner Textgeschichte ereignet.“ Die Buchentstehungsgeschichte dominiert zwar den Prolog und die epilogartigen Partien, die Löser in seiner k­ urzen Betrachtung außer Acht lässt. Sie ist allerdings eher als Rahmen der eigentlichen Hauptthematik des Kempe-­Textes – der Visionen, Pilgerfahrten, Anfeindungen durch die Mitmenschen und Häresieverdächtigungen, Eingebungen, unio-­Erfahrungen und Kontakten zu den verschiedenen Beichtvätern und spirituellen Beratern – konzipiert. 245 BMK, S. 220, 23 – 24. 246 Vgl. Holbrook: About her, S. 270. Vgl. BMK , Kapitel 89, S. 220. Vgl. zur Ausbildung von Prologen und Epilogen in ihrer Funktion als „paratextähnliche Schriftreferenzen“ im höfischen Roman: Glauch: Ich-­Erzähler ohne Stimme, S. 180 und dies.: An der Schwelle zur Literatur, S. 51 f. zu paratextartigen Einbettungen und der Autornennung in der dritten Person, die aus der Schriftlichkeit des Mediums resultiere. Glauch sieht die zunehmende paratextartige Einbettung mittelalterlicher Texte allerdings gerade nicht im Zusammenhang mit der Konstitution eines Erzählers.

324 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

während die auktorial anmutende Erzählinstanz in der Gnadenvita Christine Ebners von Anfang an auf die Christina-­Figur als ‚Person‘ fokussiert ist. Der Erzählerbericht in Kombination mit unvermittelt wirkenden Ich-­Einlassungen lässt sich als Erzählverfahren bestimmen, das in den Vitentexten auf verschiedene Weise zum Einsatz kommt und offenbar mit der anvisierten Exemplarisierung bzw. Repersonalisierung konvergiert. Denn in der Gnadenvita Christine Ebners findet sich die Ich-­Rede der mulier religiosa erstmalig im Kontext der Lesemeister-­Messe, p. 13: By der messe nam ich vnsern herrn. Da gabe er mir tusent sele, tusent sunder, daz sie bekert solten ­werden, vnd tusent guter lut, das sie bestettiget solten werden zü den ewigen froüden.

Im Unterschied zur ersten Ich-­Bemerkung der Kempe-­Vita, die erst nachträglich in Zusammensicht mit den Ich-­Aussagen zum Schreiben als Aussage des Priesters dechiffriert werden kann, steht hier wiederum die ‚persönliche‘ Perspektive der begnadeten Christine-­Figur als Schwester der Engelthaler Klostergemeinschaft im Vordergrund. Denn die Lesemeister-­ Messe (p. 11 – 18) ist als Moosburger-­Messe in verschiedenen Fassungen in der Engelthaler Literatur überliefert 247 und daher ist es wohl nicht zufällig, dass die Protagonistin 247 Die Moosburger-­Messe ist nach dem berühmten Dominikanerpriester Berthold von Moosburg benannt, der die Liturgie zelebriert, vgl. die ausführliche Textanalyse von Susanne Bürkle: Literatur im Kloster, S. 119 – 127: In Adelheid Langmanns „Offenbarungen“ erscheine die Moosburger-­Messe in einer zeitlich nicht näher bestimmten Episode (AL , S. 73 eins mols), die den prominenten Dominikanerprediger und Lesemeister Berthold von Moosburg explizit benenne. Diese Passage, die in Form eines Bewusstseinsbericht konstruiert sei, berichte wie die Schwesternfigur die Präsenz Christi in der Person des am Altar stehenden Lesemeisters mit ihren eigenen Augen (S. 73, 15) wahrnehme. Damit figuriere der Lesemeister Berthold – wie Susanne Bürkle in ihrer Monographie demonstriert hat – als Verkörperung des kirchlichen Dogmas in persona Christi. Dass diese Vision eine äußerst signifikante Erscheinung darstelle, ließe sich einem unmittelbar vorhergehenden Erzählerkommentar entnehmen: ditz widerfuer ir geistlich und nit leiplich, wann si verjah, daz si leiplich wenig ie kein ding geseh. Im Hinblick auf die Moosburger-­Messe werde deshalb gerade dezidiert die Augenzeugenschaft der Adelheid-­Figur betont. In GU dagegen sei des Mosburgers messe (GU , 28, 17) Teil der Vita der Siechmeisterin Anna von Weitersdorf. Vgl. GU , S. 26, 35 – 28, 29. Die Anna-­von-­Weitersdorf-­Figur berichte der Schwester Agnes von Breitenstein (27, 14) kurz vor ihrem Ableben von ihrer Vision des 30-jährigen Christus (28,18), die ihr während der Messfeier des inspirierenden Lesemeisters zuteil werde. Im Unterschied zu Adelheid Langmanns Version der Moosburger-­Messe ließen sich hier allerdings zwei signifkante Differenzen feststellen: Erstens sei diese Passage als Bekenntnis strukturiert, das für die Nonnenviten eine besonders typische Vermittlungsform darstelle (Bürkle: Literatur im Kloster, S. 120). Zweitens finde sich der konkrete Hinweis auf das Lebensalter Christi, das traditionell mit dem Beginn seines öffentlichen Wirkens assoziiert werde. Und es sei nicht erstaunlich, dass gerade ­dieses Lebensalter des 30-jährigen Christus in der Engelthaler Literatur und vor allem in der Medinger Gnadenvita besondere Relevanz erlange (Bürkle: Literatur im Kloster, S. 121). Denn die Verschriftlichung des „Büchleins“ impliziere die öffentliche Verbreitung der Gnadenerfahrungen und damit auch das öffentliche Wirken der Christine-­Figur.

Erzählerkonfigurationen und die Narration der Buchentstehungsgeschichten | 325 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

hier e­ rstmalig, wenn auch nicht ganz unproblematisch,248 ‚selbst‘ das Wort ergreift.249 Zunächst präsentiert die übergeordnete Erzählinstanz die Vision des 30-jährigen Christus der explizit namentlich benannten Anna uon Witnastorf (p. 12), die als siechmaisterin aus dem Engelthaler Schwesternbuch bekannt ist und stellvertretend für die Gemeinschaft der begnadeten Engelthaler Nonnen stehen mag.250 Dabei suggeriert die kurze Einleitungsformel sie veriach (p. 12), dass der Visionsbericht der Anna von Weitersdorf ‚ursprünglich‘ in mündlicher Form tradiert worden ist. Auf diese Weise wird hier, wenn auch nur punktuell, der Gestus eines mündlichen Bekenntnisses der Visionserfahrung aufgerufen. Im Unterschied zu den Fassungen der Moosburger-­Messe in GU und AL  251 ist die am dinstag nach ­epyphania (p. 11) gehaltene Trinitätsmesse (p. 13) in CE GV als ein über das Kloster hinaus bedeutsames Ereignis von außerordentlicher Wirkung inszeniert, das viele Gläubige anzieht und bei den Anwesenden eine besonders innige Besinnung auslöst.252 Die Messfeier konstituiert den Ruf des Klosters Engelthal als Zentrum einer besonderen ‚Heiligkeit‘, die auf die Gemeinschaft der Gläubigen ausstrahlt. Diese bedeutsame Messe des gelehrten und charismatischen Lesemeisters bietet eine gleichermaßen gnadenvolle und vorgeblich historische ‚Kulisse‘ für das erstmalige Auftreten der Ich-­Erzählerin, die sich nun unvermittelt in den Erzählerbericht einschaltet und mit der zuvor eingeführten, im Prolog namentlich benannten Protagonistin (p. 3 Cristina) identifiziert werden kann. Der erläuternde Kommentar 253 und der folgende zusammenfassende Erzählerbericht (p. 14 – 15), der die Messfeier detailliert beschreibt, unterscheidet sich bis auf den Einsatz der Personalpronomen (ich, mir, wir) kaum von den vorherigen Ausführungen der auktorial anmutenden Erzählinstanz. Allerdings erfolgt die minutiöse Beschreibung der religiös aufgeladenen Atmosphäre der Lesemeister-­Messe mit dem Aufrufen des für die Engelthaler Literatur typischen Topos der Gnadenfrucht nun aus einer ‚authentischen‘ und ‚re-­ personalisierten‘ Perspektive.254 Die Christine-­Figur übernimmt die Rolle der privilegierten 248 Hier fehlt eine einleitende Inquitformel, die das Aussagesubjekt zweifelsfrei indizieren könnte. Vgl. dazu Bürkle: Die Gnadenvita Christine Ebners, S. 501, die die verschiedenen Besetzungsmöglichkeiten ­dieses Text-­Ichs exemplarisch durchspielt. 249 Susanne Bürkle hat sowohl die tiefgreifenden, intertextuellen Parallelen als auch die Divergenzen ­zwischen AL, GU und GV detailliert herausgearbeitet. Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 123 – 124. 250 Vgl. GU, 26, 35 – 28, 29. Anna von Weitersdorf erfährt diese Christus-­Vision während der Messfeier des dominikanischen Lesemeisters Berthold von Moosburg. Die Erzählinstanz berichtet in GV, p. 12: Sie veriach an irem tod, das sie uon wihennachten vntz vor iren tod on lutzel tag alle tag die engel hort singen vnd sunderlich vor prime on ander gut, das ir got tett in diser zyt. 251 Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 119 – 127. 252 Vgl. CE GV, p. 14. 253 Vgl. CE GV, p. 14: Alle die, die messe hortten, hetten so grosse andacht, das sie weinten, recht als ob ein todt vor in lege, den sie clagten. 254 CE GV, p. 13 – 14: By der messe nam ich vnsern herrn. da gabe er mit tusent sele, tusent sunder, daz sie bekert solten werden, vnd tusent guter lut, das sie bestettiget solten werden zü den ewigen froüden. Vgl. zum Topos

326 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Berichterstatterin und Augenzeugin: So fasst sie die Predigt, die die besondere Auserwähltheit des Engelthaler Konvents und seiner Schwestern thematisiert, in erzählter Rede mit dem wiederholten Einsatz des Personalpronomens „uns“ und „wir“ zusammen 255 und sie bestätigt, dass Gott direkt aus dem Lesemeister spricht.256 Damit repräsentiert sie dezidiert die kollektive Perspektive des Konvents, die wir auch aus den „Offenbarungen“ der AL kennen.257 Die Schwesternfigur als Repräsentantin der besonders gesegneten Klosterfrauen und der Konvent als Ort einer besonderen Heilsgemeinschaft autorisieren sich quasi gegenseitig und ermöglichen damit das ‚Sprechen‘ in Ich-­Form. Denn die Schwesternfigur fungiert hier aufgrund der Anspielung auf ein vertrauliches Gespräch mit dem Lesemeister (p. 16: veriah er mir) und dem Verweis auf ihre Wahrnehmung (p. 17: do hort ich, das der vatter vom himel zü im sprach) als Augenzeugin, die ihrerseits als eine Art Beglaubigungsinstanz für die göttlichen Gaben der Lesemeister-­Figur eingespannt ist.258 Das Text-­Ich der Protagonistin wird auf diese Weise in der von Gnaden gesegneten Atmosphäre der Klostergemeinschaft Engelthal situiert, für die die Lesemeister-­Messe exemplarisch stehen kann. Die Fassung in CE GV , die sich durch die detailrealistische Ausgestaltung und die Anonymisierung der Lesemeister-­Figur auszeichnet, demonstriert die spirituelle Autorität der Protagonistin in der GV . In der Lektüre ruft der Einsatz der Ich-­Form, die sich hier als strategisch eingesetztes Erzählverfahren fassen lässt, den Eindruck einer Erfahrungshaftigkeit und Anschaulichkeit hervor.259 Die „Dekonkretisierung“ (Bürkle) der Figur des Lesemeisters in CE GV 260 entfaltet hier wiede­rum eine Allusion zur Buchentstehungsgeschichte: Denn die Lesemeister-­Episode lässt sich aufgrund der fehlenden namentlichen Konkretisierung als Messe lesen, die K ­ onrad von Füssen als einzig namentlich benannter Dominikanerbruder (p. 4) zum Abschied zelebriere.261 Und eine s­olche konkretisierende Lektüre, die die anonyme Figur des Lesemeisters mit Konrad von Füssen ‚besetzt‘, könnte aufgrund der Erzählstrategien des Textes, vor allem

der Gnadenfrucht innerhalb der Engelthaler Schriften: Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur, besonders S. 73, 81 und S. 195 – 198. 255 Vgl. CE GV, p. 15. 256 Vgl. CE GV, p. 15: Das was auch war, das sich sin stim verwandelt hett. Und sie hört, wie Gott dem Lesemeister seinen väterlichen Segen, Anteil an der ewigen Freude und Süßigkeit verspricht. Vgl. CE GV, p. 17 – 18. 257 Vgl. AL, S. 71, 6 ff. im Kontext einer klösterlichen Prozession. 258 Vgl. CE GV, p. 18. 259 Susanne Bürkle hat diesen Effekt der Anschaulichkeit, der von dem Einsatz der Ich-­Form ausgeht, im Hinblick auf die Spes-­Karitas-­Entrückung in AL mit dem plötzlichen Umschlag der Erzählpositionen bestimmt, vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 277. Vgl. auch Thali: Beten, Schreiben, Lesen S. 54, die Anschaulichkeit als zentrales Merkmal frauenmystischer Texte ansetzt. 260 Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 127. 261 Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 128.

Erzählerkonfigurationen und die Narration der Buchentstehungsgeschichten | 327 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

der gezielten Verschleierung des Namens, anvisiert sein.262 Hier würde das Text-­Ich der zentralen Schwesternfigur sozusagen Hintergrundinformationen zu der von Gott besonders gesegneten Zusammenarbeit bieten. Damit wäre die Lesemeister-­Episode auch im Rahmen der Textautorisierung funktionalisiert, da sie sowohl die Schwesternfigur in ihrer Rolle als Repräsentantin der Engelthaler Schwesternschaft als auch den Lesemeister als von Gott inspi­ rierten Prediger einführt. In ­diesem Sinne verleiht auch der oben erwähnte Brief Christines (p. 27 – 31) an einen herrn bruder Conrat, der in die Gnadenvita eingefügt ist und der zumindest in einer konkretisierenden Lektüre auf Konrad von Füssen bezogen werden kann, einen zusätzlichen Anstrich historischer Wahrheit.263 Denn der Brief suggeriert eine Art Teilhabe an dem ‚direkten‘ Austausch z­ wischen Beichtvater und Visionärin und er steht als schriftliches Dokument für die Echtheit der Gnadenvita. Eine ­solche autorisierende Funktion kennen wir auch aus der oben diskutierten Briefsammlung Heinrichs von Nördlingen, die im Anschluss an Margareta Ebners „Offenbarungen“ folgt:264 Die als Sendschreiben konzipierten Briefe thematisieren nicht nur die Entstehung der „Offenbarungen“, sondern präsentieren ­Margareta in der Rolle einer ,heiligen‘ Person und verifizieren auf diese Weise die Authentizität und Autorität ihrer Offenbarungsschrift.265 Der Brief des Priors vom Zisterzienserkloster Kaishaim in Adelheid Langmanns „Offenbarungen“ übernimmt eine ähnliche Funktion als Authentizitätsnachweis, indem eine Autorität außerhalb des Klosters Engelthal Adelheids Begnadung verifiziert.266 Insgesamt betrachtet entfalten diese ‚authentischen‘ Briefdokumente eine beglaubigende und autorisierende Wirkung, die auf den jeweiligen Vitentext ausstrahlt. Im Medinger Gnadenleben setzt sich dieser Autorisierungseffekt in gewisser Weise in der Darbietung des materien-­Katalogs fort (p. 31 – 34), der in der Ich-­Perspektive gehalten ist und im Anschluss an den Brief folgt: Disz buch hat materien vil, der ich zehen uzs welen wil […].267 Diese selbstbewusste Ich-­Aussage, die eine vorgeblich ‚eigenständig‘ getroffene Auswahl thematisiert, erinnert an die oben diskutierte Schreibereinlassung zur Selektion der Versuchungsepisode in der Kempe-­Vita.268 In der CE GV lässt sie sich ebenfalls aus dem 262 Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 128: „Denn durch die exponierte Nennung Konrads von Füssen, der neben dem alt caplan Friedrich Sunder der einzig im Text historisch identifizierbare frater des Klosters ist, wirkt jedenfalls dieser Textteil der GV konsequent auf diesen Dominikaner hin zugeschnitten; und dies könnte geradezu intendiert sein.“ 263 Vgl. Anm. 263 oben. 264 Vgl. Strauch: ME, S. 169 – 283. Vgl. Federer: Mystische Erfahrung und dazu kritisch Nemes: Rezension zu Urban Federer. In ZfdPh 132 (2013), 3, S. 454 – 469. 265 Vgl. Federer: Mystische Erfahrung, besonders S. 220 ff. und S. 394. 266 Vgl. AL, 91, 29 – 96, 3. Vgl. dazu Thali: Beten, Schreiben, Lesen, S. 174. 267 CE GV, p. 31. 268 BMK, S. 14, 4 – 14.

328 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

unmittelbaren Kontext zunächst nicht personal zuordnen.269 Erst wenn man die Ich-­Aussage mit den Inquitformeln 270 und den durch das hagiographische Ich eingeleiteten Ich-­Berichten der Schwesternfigur (p. 99 – 134)271 zusammensieht, entsteht der Eindruck, dass sich hier, wie in der Kempe-­Vita, ein hagiographisches Ich zu Wort meldet. Diese Differenzierung basiert aber einzig auf einer diffizilen Konstruktions- bzw. Zuschreibungsleistung, die in der Lektüre erfolgt und das Text-­Ich der Protagonistin in der Lesemeister-­Messe von ­diesem hagiographischen Text-­Ich abzugrenzen sucht. Hier zeigt sich die Wirkungsmächtigkeit des literarischen Inszenierungscharakters der Ich-­Reden, die suggerieren, dass das Text-­Ich der Christine-­Figur d ­ iesem ‚sekundär‘ erscheinenden ‚Herausgeber‘-Ich quasi untergeordnet werden kann.272 Ein solches Redaktor-­Ich evoziert den Eindruck, dass mit der Gnadenvita nicht die ‚ursprüngliche Originalfassung‘, sondern eine redigierte und damit von einer externen Instanz quasi überprüfte Fassung vorliegt, die zu einem bestimmten Zweck, nämlich zur pessrung (p. 689) der Menschen, angefertigt wurde. Während in der Kempe-­Vita die Ich-­Bemerkungen auf der Ebene des Erzählens punktuell die ‚Anwesenheit‘ des schreibenden Priesters als Erzähler nahelegen, der in den oben diskutierten Kapiteln als Figur in der Rolle eines ‚Prüfers‘ und Augenzeugen der Gottbegnadung hervortritt, gewinnen in der GV die Tätigkeiten des Sammelns und Kompilierens verschiedener und vor allem umfangreicher Materialien durch das hagiographische Ich zunehmend an Kontur. Der hagiographische Erzähler scheint bestens aus den verschiedenen Quellen über Christines Gnadenleben unterrichtet: Denn er demonstriert 269 Ursula Peters ordnet dem ‚Redaktor‘ den materien-­Katalog zu, vgl. Peters: Das Leben der Christine Ebner, S. 412 und dies.: Religiöse Erfahrung, S. 158. Vgl. Bürkle: Die Gnadenvita der Christine Ebner, S. 503. Dagegen spielt Susanne Bürkle die Möglichkeit durch, ob eventuell die Christine-­Ebner-­Figur als übergeordnete Ich-­Erzählerin dieser Passage in Frage käme. Sie kommt allerdings zu dem Ergebnis, dass das Text-­Ich seltsam leer bleibe und sich nicht unmittelbar personal zuordnen ließe. 270 Vgl. CE GV etwa die Inquitformeln, die mündliche Berichte der Schwesternfigur suggerieren, p. 282: Dirr mensch sprach, daz sin muter sprech, daz sy nie als andachtig wer, als do si sie trug […]. Vgl. weitere Erzählerkommentare: p. 82: Sie vergicht, do sie gefurt ward zü yeder schar der heiligen, das sie da aẅch bekant ir besundern lon vnd bekent es noch. p. 105: Sie vergicht, sit den ziten daz sie vnsern herrn in dem gutten aduent sah in drierley wis siner marter, als hie geschriben ist, wonn sie sit in ein betrachtung kom siner marter, daz sie in den ye an sach, als si in vor gesehen hett, vnd ir d angesicht ye dernẅert ward in dem geist. p. 157: Si hat gesprochen, het sie wol ir selber ze welend ein leben, so wolt sie in keins komen dann in ein bezwungen leben vnder gehorsam, dar vmb daz sie in einer emsiger pin ist von dem ioch der gehorsam. Vnd wo sie gezogen wurt ze ampten oder zü vsserm leben, daz sie daz in der gehorsam tütt vnd nicht von eignem mütwillen vnd daz sie besorgt wurt vsser ding vnd sie vmb sich selber nicht sorgen tarff. p. 200: Si spricht och, daz si sit dem iar, vnd si gehorsam tett, vntz an disen tag ie an etlich amt gewesen ist vnd ir doch nie keins nie kein tag gern hett […]. p. 228: Sw vergicht och des, daz sie nicht waisz, ob ir ye kein kestung so pinlich wurd, so sy hat von dem cleyt. p. 245: Hye meint sy geticht lug. Sie spricht och, wenn sy geforcht hat eins schaden oder eins grossen vnfrides oder einer pösrung, das sie dann gegehen oder gelogen hat mit etlicher vmbred oder mit etlicher glosz. 271 Vgl. etwa CE GV, p. 99: Sü schreib mir disu wort. p. 110: Dar vmb schreib mir der mensch also. 272 Vgl. die kritische Textanalyse Bürkle: Literatur im Kloster, S. 284 – 294.

Erzählerkonfigurationen und die Narration der Buchentstehungsgeschichten | 329 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

ein Interesse daran, genaue Informationen zusammenzutragen, die er ebenso wie Schilderungen über Ereignisse aus ihrer Kindheit und während ihres Klostereintritts in schriftlicher Form (p. 108: da schreib er mir diss her nach; p. 110: dar vmb schreib mir der mensch also) erhält. Ebenso ist er in der Lage, Auskunft über das enge Verhältnis ­zwischen der Christine-­Figur und ihrer Familie zu geben.273 Er agiert als Berichterstatter und informiert sich anscheinend selbst bei Christines M ­ utter über Christines ungewöhnliche Vor274 geschichte und ihre Geburt. Besonders dezidiert tritt das hagiographische Ich in der Rolle einer „appellativen und fragenden Instanz“ hervor, indem es um die Aufzeichnung einer Heilig-­Geist-­Vision bittet (p. 108).275 Im Unterschied zur Kempe-­Vita, in der die ‚Schreibergeschichte‘ die Visions- , Pilger- und Gnadenberichte und die Dialogszenen mit dem göttlichen Partner rahmt und eher punktuell in den Ich-­Einlassungen aufscheint, erscheint das hagiographische Ich der GV in einer erweiterten Rollenfiguration als Gesprächspartner, Berichterstatter und Kompilator. Dabei sind die Profilierung des hagiographischen Ichs und die Darbietung der Ich-­Perspektive der Christine-­Figur auf intrikate Weise miteinander verbunden, so dass der Eindruck einer „existentiellen Verwobenheit“276 (S. Bürkle) von Ich-­Erzähler und autodiegetischer Ich-­Erzählerin auf der Ebene des Erzählens entsteht. In der GV verdeutlicht die erste Erzählerbemerkung (p. 67 Sie hat mir gesprochen, das sie zwur sy kummen in den uszgang des gemütes vnder scharpfer disciplin) die Funktion des hagiographischen Ichs als Gesprächspartner der Visionärin und deutet gleichzeitig auf seine Rolle als erzählerischer Vermittler. Denn ­dieses Text-­Ich autorisiert und fundiert das berichtete Geschehen, das es aus einer Gesprächssituation direkt zu kennen scheint. Auch aus den vereinzelt in den Text eingestreuten Erzählerbemerkungen in der Medinger Gnadenvita geht hervor, dass der hagiographische Erzähler, der vor allem in den oben genannten Inquitformeln der Ich-­Berichte (p. 99 – 134) fassbar wird, mit der Schwesternfigur kommuniziert und dass diese ‚Kommunikation‘ einen Teil des Buches bildet.277 Zumindest legen dies die größtenteils präsentisch gehaltenen Formeln 273 VGl. CE GV, p. 264 – 265: Ditz kindes vatter hett vil guter gewonheit an im. [….] wann es sim vater vnd och der muter besunder zart vnd lieb waz vnd noch mer dem vater [….]. 274 Vgl. CE GV, p. 282: Dirr mensch sprach, daz sin muter sprech, das sy nie als andachtig wer, als do si sie trug, vnd begert von got zu eim minnezeychen, ob er wolt nemen zü eim widergelt siner marter, das sie es denn gebar an dem karfritag vnd das ir wirsch geschäch zü ir denn zü ye keim kind. Vnd gedacht och, ob es gescheh, so wolt sie es heyssen nach vnserm herrn Cristo. Vnd daz ergieng als von der gnad gotes. Mir set och selb ir muter, daz sie das zehent kind waz. 275 Bürkle: Literatur im Kloster, S. 304. 276 Bürkle: Die Gnadenvita Christine Ebners, S. 505. 277 Vgl. CE GV p. 262 – 263: Ich frogt sie, von welcher fursichtikeit sie das wort reti: „Do bin ich selig, wenn ich arm bin.“ Vgl. auch die bereits erwähnten Erzählerkommentare p. 282; p. 82; p. 105; p. 157; p. 200; p. 228; p. 245. Die folgenden Erzählerbemerkungen sind nach dem Auftreten des ersten Schreibers (p. 319) nicht mehr eindeutig zuordenbar p. 353: Dar nach ward er ir enzuckt, daz sie in nimer sach noch hort. Sie hat gesprochen, vnser herr der bekenn wol, daz menschlich sinn als krank vnd als v­ n ­ behaltenlich

330 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

des Typs sie vergicht bzw. sie spricht nahe. Auf einen Großteil der einleitenden Wendungen, die im Präsens oder Präteritum formuliert sind, folgt zwar die indirekte Rede und das hagiographische Text-­Ich erscheint nicht explizit als Adressat.278 Allerdings setzen die präteritalen Einleitungsformeln wie sie sprach und sie verjah ein Gegenüber als Zuhörer und ‚Empfänger‘ voraus, das nicht konstant als erzählende Ich-­Instanz ‚anwesend‘ sein muss. Die verstärkte Verwendung der indirekten Rede weist jedenfalls nicht nur auf das Vorhandensein des hagiographischen Erzählers hin, sondern sie nimmt diesen Berichten gleichzeitig die „Buchstäblichkeit“ (Genette), die etwa von den Ich-­Partien der Christine-­ Figur (p. 99 – 134) ausgeht.279 Außerdem suggeriert die indirekte Rede, dass der hagiographische Erzähler die mündlichen Aussagen der Schwesternfigur in seinen eigenen Worten wiedergibt und sie damit auf eine gewisse Art und Weise interpretiert.280 Deshalb muten selbst noch die objektivierten Berichte in der dritten Person wie eine „bloße ‚Wieder­ gabe‘ von einstmals ‚Gehörtem‘“ an.281 Diese nur skizzenhaft entworfene Gesprächssituation referiert scheinbar direkt auf die Angaben im Prolog (p. 4 mit den Verben kund tuon und sagen)282 als eine Art verschriftlichtes Bekenntnis.283 Auf diese Weise lassen sich beträchtliche Anteile der Mittelpartie als confessiones fassen, da das hagiographische Ich als interner Adressat der Berichte der Schwesternfigur über ihre Gotteserfahrungen und Askesepraxis angelegt ist.284 Die komplexe Interdependenz von Schwesternfigur und hagiographischem Ich erweist sich besonders in den Ich-­Berichten (p. 99 – 134), die eine Passionsvision, die bereits im Kindesalter begonnene Askesepraxis, bestimmte Offenbarungen, eine wundersame Vision der Schwester Elsbeth über den Klostereintritt Christines und eine Engelsvision der 20-jährigen Schwester thematisieren. Sie sind jedenfalls überwiegend als Schrifttexte der Schwesternfigur inszeniert, die an das hagiographische Ich adressiert sind, wie Formulierungen wie etwa p. 99: sü schreib mir dise wort, p. 110: dar vmb schreib mir der mensch also oder aus der Perspektive der Schwesternfigur p. 122: da ich e von geschriben han da sint. P. 384: Si spricht, das ir forcht gegen got ie lenger ie mer zu nimt vnd nit ab nympt vnd grosser ist, dann si ye wurd. 278 Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 287. Vgl. CE GV, etwa p. 163 – 164; p. 262. 279 Vgl. Genette: Die Erzählung, S. 110: „[…] d. h. der Leser weiß nie, wie die wirklich gesprochenen Worte aussahen: Die Anwesenheit des Erzählers ist bereits auf der Ebene der Syntax des Satzes so stark, dass die Rede nie die dokumentarische Autonomie eines Zitats erlangt.“ 280 Vgl. ebd., S. 110 zur Wirkung der indirekten Rede. 281 Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 305. 282 Vgl. CE GV, p. 4: Aber her nach tett sy es kund irem bychtiger bruder kunrat von Fuszen, einem prediger, das vnd ander ding, als an disem buchlin geschriben ist, da sie waz in dem viertzigsten iar. Des ward sie von got bezwungen. Do man von gottes geburt zalt drwzehen hundert iar vnd sybenzehen iar, in einem aduent hüb sie an dem bychtiger ze sagen von den wundern die ir got het getan, vnd schreiben disz büchlin siben iar. 283 Vgl. Haubrichs: Bekennen und Bekehren, S. 136. 284 Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 305.

Erzählerkonfigurationen und die Narration der Buchentstehungsgeschichten | 331 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

vor verdeutlichen.285 Die einleitenden Inquitformeln schreiben die Ich-­Partien durch den Einsatz des Personalpronomens si bzw. der Bezeichnung mensch der Christine-­Figur zu und sie sind damit funktionalisiert. Dabei konstituieren die Ich-­Berichte den Status der Schwesternfigur als Visionärin und Autorin 286 in Kombination mit den Informationen zur Buchentstehungsgeschichte im Prolog.287 Das Text-­Ich der Schwesternfigur wird einzig aufgrund ihrer persönlichen und direkten Gotteserfahrung zum Schreiben ermächtigt. Und deshalb ist die Fokussierung auf die sinnliche ‚Erfahrungshaftigkeit‘, die in der ersten detailrealistischen Passionsvision (p. 99 – 104) durch literarische Mittel inszeniert ist, wohl nicht zufällig. Denn hier wird das bedeutendste Ereignis der Heilsgeschichte als konkrete Wahrnehmung der Schwesternfigur narrativiert. So lässt sich die dreiteilige anaphorische Strukturierung, die durch die formelhafte Wendung (p. 99) ich sich meinen herrn an, p. 100 nun sih ich minen herrn an und p. 101 ich sich meinen herrn zem dritten mal und die abschließende Bemerkung 288 als Umsetzung einer „Visualisierungsstrategie“ (Christensen) fassen, die eine bildliche Beschreibung des ‚Gesehenen‘ bietet.289 Damit erscheint die gesamte Textpartie mit der detaillierten Evokation der Fragilität des Christuskörpers als eine durchkomponierte und auf Anschaulichkeit angelegte literarische Darstellung, die den Autorinnenstatus der Protagonistin fundamentiert: Einerseits im Hinblick auf die Legitimation des Schreibens, die auf der Wahrnehmung des Passionsgeschehens beruht und zum anderen auch durch die literarische Kompositionstechnik, die als ‚Ausweis‘ ihrer literarischen Kompetenz gelesen werden kann. Die einleitende Formel (sü schreib mir dise wort), die die Wiedergabe durch den hagiographischen Erzähler indiziert, bestätigt gewissermaßen nicht nur die Echtheit des ‚Erfahrungsberichts‘, sondern auch die schreibende Autorin. Insgesamt betrachtet, erwecken die Bemerkungen zum Schreiben aus der Perspektive der Schwesternfigur und des hagiographischen Ichs den Eindruck, dass hier die Textentstehung quasi in allen Einzelheiten vorgeführt wird. Dies demonstrieren auch direkte Anfragen, die indizieren, dass die Protagonistin bereitwillig über ihre Gnadenwunder

285 Vgl. CE GV aus der Ich-­Perspektive der Protagonistin: p. 116: Nü han ich ouch da uor gesriben, wie wol mir got tett, wie gros sussikeit ich hett. p. 122: da ich eẅ von geschriben han da vor. p. 126: als ir wol wissent; p. 129: Waz sol ich ew von köstigung schriben? Wes ir nicht wissen, des mant mich; daz tün ich ew kunt. p. 132: Ein wunder han ich eẅ ze schriben. 286 Dies verdeutlichen auch zwei Rückverweise auf zuvor Geschriebenes, die das Schreiben explizit thematisieren: Vgl. CE GV, p. 99; p. 100; Vgl. die Textpartien, die die Christine-­Figur zur Autorin stilisieren, p. 104; p. 105; p. 116; p. 122; p. 128; p. 129; p. 132. 287 CE GV, p. 4 f. 288 Vgl. CE GV, p. 103: Da nach vnd ich minen herrn schoẅ vnd sin war nim an allem sinen libe, siner not, sins smertzen, aller siner wunden, so stet mir doch dü grost gird zẅ der wunden, dẅ da gat in die seiten. Da han ich aller maist wollustes vnd vberflussiger grosser sussikeit von. 289 Christensen: Visualisierungsstrategien, S. 224.

332 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Auskunft erteilt.290 Dabei suggeriert dieser Austausch mit dem hagiographischen Ich, dass die Schwestern­figur unter seiner kontinuierlichen ‚Betreuung‘ steht und damit die Vorgaben der discretio ­spirituum erfüllt.291 Auch die abschließende Ich-­Partie ist direkt an das hagiographische Ich adressiert (p. 132: Ein wunder han ich eẅ ze schriben): Zunächst berichtet die Engelthaler Nonne über ein göttliches Wunder, das sich vor ihrem Klostereintritt ereignet hat (p. 133), um dann im Anschluss näher auf eine göttliche Offenbarung einzugehen, die ihren Zustand als minnekranke Seele vor Augen führt (p. 133 – 134). Das hagiographische Ich als „Adressat und Initiator“292 fungiert, ähnlich wie im Kempe-­Text, als eine Instanz, die das Schreiben der Protagonistin und die Buchentstehung ausdrücklich legitimiert. Seine Stimme ‚beglaubigt‘ jedenfalls den Bericht über den Verlust ihrer Nachtruhe (p. 104), der wiederum Signale der Schriftlichkeit in Form eines Hinweises auf eine temporäre ‚Schreibblockade‘ (p. 104), eine Anspielung auf bereits zuvor Geschriebenes (p. 104) und eine Adressierung des Gegenübers (p. 105: als ich ew da vor geschriben han etwi vil) enthält. Im folgenden Ich-­Bericht über ihre Tränenbegnadung schaltet sich der hagiographische Erzähler wiederholt durch Inquitformeln des Typs sie vergicht (p. 105) ein. Somit bedingen sich die Profilierung des hagiographischen Ichs und die zunehmende Profilierung der Schwesternfigur zur Autorin gegenseitig, die allerdings vornehmlich auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung in Form von Erzählereinschüben erfolgt. Auf diese Weise entfaltet die discours-­Ebene einen Autorisierungsdiskurs. Da die Christine-­ Figur diese Ich-­Berichte den textinternen Angaben zufolge eigenständig niederschreibt, ist die Aussage von Freimut Löser im Hinblick auf die Bedeutung des hagiographischen Ichs (des „Schreibpartners“) diskussionswürdig: „Dieser ‚Schreibpartner‘ ist sowohl Aufzeichner als auch Auslöser des Vertextungsprozesses. Er ist Anlass der Textgenese ebenso wie Ausführender und Rezipient.“293 Die Ich-­Berichte, die eine gewisse ‚Ursprünglichkeit‘ suggerieren, legen vielmehr nahe, dass die Visionserfahrung der Schwesternfigur und ‚selbstgeschriebene‘ Aufzeichnungen als ‚Auslöser‘ gelten können. Sie sind programmatisch als Ausgangspunkt der Textentstehung in Szene gesetzt. Gleichzeitig inaugurieren die Ich-­Berichte, die hauptsächlich durch das hagiographische Ich vermittelt werden, die Schwesternfigur als Autorin ihrer göttlichen Offenbarungen. Damit steht die Figur der schreibenden Visionärin nicht nur im Zentrum der Buchentstehungsgeschichte, sondern 290 Vgl. etwa CE GV, p. 129: Waz sol ich ew von köstigung schrieben? Wes ir nicht wissen, des mant mich, daz tün ich ew kunt. 291 Vgl. Voaden: God’s Word, Women’s Voice, S. 2 – 4 zur Zusammenarbeit der mulieres religiosae mit ihren Beichtvätern als Umsetzung der discretio spirituum und S. 40 f. zur Bedeutung der discretio spirituum als Diskurs, der sowohl eine adäquate Kontrolle der visionären Erfahrung als auch deren Autorisierung garantiert. 292 Bürkle: Literatur im Kloster, S. 283. 293 Löser: Schriftmystik, S. 177.

Erzählerkonfigurationen und die Narration der Buchentstehungsgeschichten | 333 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

sie ist zugleich auch die zentrale Figur, die das Sprechen in verschiedenen Rollen und in den unterschiedlichsten Episoden in einer Subjektposition zusammenführt.294 Allerdings wird die textinterne Zuschreibungsproblematik im Medinger Vitentext mit dem Auftreten der Figur eines ‚ersten‘ Schreibers entscheidend verkompliziert. Denn dieser erste Schreiber lässt sich, wenn auch nicht mit letzter Sicherheit, allein durch die wiederholte Bezeichnung bruder der disẅ ding von erst schreib 295 von dem hagiographischen Text-­Ich abgrenzen.296 Zumindest an einer einzigen Stelle wird das Text-­Ich des ersten Schreibers durch den Einsatz des Personalpronomens „mir“ fassbar (p. 401): do viel si do ir lang veni vnd pat vnsern herrn, das er si der schamlikeit vberhüb, das si mirs ich dvrft sagen, der ditz von erst schreib.297 Der ausführliche Bericht über die Bußübungen (p. 393 – 407), die ein Beichtvater der Schwesternfigur anordnet, enthält diese einzige Ich-­Bemerkung des ersten Schreibers. Er würde dann über sich selbst in der Rolle als pichter (p. 392) in der dritten Person sprechen und sich damit in einer für die Medinger Gnadenvita nicht untypischen, komplizierten Konstruktion als Beichtvater zu ‚erkennen‘ geben.298 Im Anschluss erfolgt der bereits erwähnte plötzliche Umschlag von der dritten in die erste Person. Und aus der dialogischen Replik des Herrn 299 lässt sich das Text-­Ich des ersten Schreibers mit dem 294 Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 266: „Genauso wie sich die punktuell eingestreuten Bemerkungen zum Akt des Schreibens aufs Ganze der Texte gesehen zu Entstehungsgeschichten des jeweiligen Buchs oder Büchleins verdichten, bindet die Figur der schreibenden Mystikerin offenbar die heterogene Vielfalt der Episoden und das in verschiedene Rollenfigurationen und Sprecherrollen aufgefächerte Textsubjekt zusammen, wie in Mechthilds von Magdeburg „Fließendem Licht“ oder in Christine Ebners Gnadenvita mit ihrem Wechsel von Sie-, Ich- und mensch-­Rolle.“ 295 Vgl. CE GV, p. 321. Dieser erste Schreiber erscheint besonders in den Passagen p. 319 – 321, p. 337, p. 339 und p. 401. 296 Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 302. Susanne Bürkle macht auf die Schwierigkeiten einer genauen Differenzierung der beiden ‚Schreiberinstanzen‘ aufmerksam. Vgl. auch Peters: Das Leben der Christine Ebner, S. 414. Sie verweist auf die komplexe Zuschreibungsthematik: „Da dies die einzigen Textstellen sind, an denen möglicherweise ein anderer, ein ‚erster‘ Schreiber angesprochen wird, bleiben viele ­Fragen offen. So lässt sich z. B. nicht entscheiden, ob mit dem pruder der disz geschriben hatt (p. 337) bzw. der dis schreib (p. 339) auch dieser ‚erste‘ Aufzeichner von Christines Gnadenerlebnissen gemeint ist, der hier einmal wegen seiner Schreibertätigkeit als besonderer Widersacher des Teufels, zum anderen als kenntnisreicher Interpret von Christines Offenbarungen präsentiert wird.“ 297 Vgl. Peters: Das Leben der Christine Ebner, S. 414. Vgl. zu dieser Ich-­Aussage Bürkle: Literatur im Kloster, S. 301, Anm. 150. Bürkle: Die ‚Gnadenvita‘ Christina Ebners, S. 504, Anm. 68: „Hier zeigt sich ein drittes, der Schwester Christine gegenüber auftretendes Ich, das jedoch deutlich vom Ich des Hagiographen verschieden ist.“ 298 Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 301. Peters: Religiöse Erfahrung, S. 159, die diese Textpartie p. 392 dem ‚Autor‘ (der in der vorliegenden Arbeit als hagiographischer Erzähler bezeichnet wird) zuschreibt, der als Beichtvater der Christine-­Figur agiere. 299 Vgl. CE GV, p. 401 f.: „Dv must die schamlicheit vor im liden; dü hast in geergert, d must in och pessern mit dirr puss. Vnd sprich din schuld vor im als vor mir durch cristenlicher gwanheit willen. Vnd waz er dir geb ze puss nach siner gwissen, das tu an all widerred,“ als her nach geschach.

334 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

besagten Beichtvater der Christine-­Figur identifizieren. Denn Gott fordert ihren Gehorsam gegenüber d ­ iesem Beichtvater und geht dezidiert auf die schamlikeit 300 ein, die sich nur auf den vorgehenden Satz und damit auf das Text-­Ich des ersten Schreibers beziehen kann, der auf diese Weise als Beichtvater dechiffriert wird. Damit ist hier die Ebene der Figurenrede in den komplizierten Identifikationsprozess eingebunden. Außerdem enthält diese Bußübungsepisode eine Inquitformel (p. 407): Si spricht och, das sie sich vnder dem Miserere an vnsers herrn marter mer vbt, dann sie vor ie getan hott in einer so kurtzen wil, die hier wohl das Text-­Ich des ersten Schreibers in der Rolle eines Zuhörers und Sekretärs vorauszusetzen scheint.301 Damit wäre die ‚Erzählinstanz‘ des ersten Schreibers ganz analog zum hagiographischen Ich narrativ inszeniert, wenn auch in etwas ‚reduzierter Form‘ und vielleicht weniger prägnant als durch die vielfältigen Inquit- und Einleitungsformeln des hagiographischen Ichs im Mittelteil. Dies würde bedeuten, dass hier die Illusion der Anwesenheit eines ersten Ich-­Erzählers erzeugt wird, dessen Vorhandensein auf eine Art primäre ‚Originalaufzeichnung‘ referiert. Auf diese Weise würden die beiden Erzählinstanzen – das hagiographische Ich und der erste Schreiber – quasi unterschied­liche Stadien der Buchentstehung repräsentieren. Dafür spricht vielleicht auch die Verbform schreib im Präsenz, die die Schreibgegenwart des ersten Schreibers signalisieren könnte. Diese Behauptung einer primären Aufzeichnung wird allerdings auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung generiert und lässt daher wohl kaum Rückschlüsse auf die faktischen Textentstehungsprozesse zu. Denn das unvermittelte Auftreten eines weiteren Text-­Ichs verdeutlicht die komplexe Struktur der Buchentstehungsgeschichten, die in der Medinger Gnadenvita im Vergleich mit dem Kempe-­Text mit seiner Abfolge von drei Schreibern entscheidend verkompliziert erscheint. Während in der Kempe-­Vita der erste und zweite Schreiber einzig im Erzählerbericht des dritten Schreibers Gestalt annehmen, sind die Schreiberfiguren im Medinger Gnadenleben durch ihre Ich-­Einlassungen auf discours-­Ebene zu Erzählerfiguren erweitert, die eine Art multiperspektivisches Erzählen 302 über die Buchentstehung bieten. Aufgrund ihres vereinzelten Auftretens und der sie begleitenden Zuschreibungsproblematik werfen die Ich-­Reden einzig Licht auf isoliert erscheinende Aspekte des Schreib- und 300 Vgl. CE GV, p. 401. 301 Vgl. auch die Textpartie, die den ersten Schreiber als Ansprechpartner autorisiert, CE GV, p. 324: Ir ward och geoffenbart von got, si solt nicht lassen, sie solt dem, der disz von erst schrib, disü ding sagen. 302 Vgl. zur Entfaltung des multiperspektivischen Erzählens in den Werbungsmären „Sperber“ und ­„Häslein“: Friedrich Michael Dimpel: Das Häslein ist kein Sperber. Multiperspektivisches Erzählen im Märe. In: ZfdPh 132,1 (2013), S. 29 – 47, besonders die Zusammenfassung S. 46 – 47. Dimpel zeigt auf, dass die wechselnden Figurenperspektiven eine Veränderung der „Wertstruktur“ der Erzählungen bedingten (S. 47): „Das Erzählen im ersten Teil wird zwar nicht widerrufen, aber doch derart von einem anderen Blickpunkt aus ausgeleuchtet, dass im Nachhinein die Wertungsstruktur der ersten Hälfte inklusive des positiven Erzählerkommentars als fragwürdig erscheint.“ In der GV eröffnen die alternierenden Erzählperspektiven dagegen verschiedene Sichtweisen auf die komplexe Entstehung einer göttlichen Offenbarungsschrift.

Erzählerkonfigurationen und die Narration der Buchentstehungsgeschichten | 335 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Entstehungsprozesses, der sich daher nur mit Mühe auf ein Aussagesubjekt hin vereindeutigen lässt. Allerdings veranschaulichen die alternierenden Erzählerfigurationen den komplexen Vorgang der Entstehung einer göttlichen Offenbarungsschrift, die sie nicht nur aus der Perspektive der schreibenden Visionärin, sondern auch aus der Perspektive der Schreiber, Sammler, Gesprächspartner und Berichterstatter reflektieren und in Szene setzen. Möglicherweise ist auch das Text-­Ich des ersten Schreibers im Rahmen der Beglaubigung des Geschriebenen funktionalisiert, denn dann wäre – zumindest punktuell – eine ‚weitere‘ Erzählerstimme im Text vorhanden, die in der Rolle des Beichtvaters die Wahrheit des ‚buchlins‘ (p. 4) verbürgen könnte. Dafür spricht, dass die Figur des Schreibers nahezu ausschließlich in der von Gott besonders gesegneten Zusammenarbeit mit der Schwesternfigur profiliert wird.303 Jedenfalls trägt dieser erste Schreiber zu einer Aktualisierung vergangener Gnaden bei,304 löst ein intensives Wohlgefühl wie bei einem unio-­Erlebnis  305 aus und steht der begnadeten Nonne anscheinend jederzeit zur Verfügung: Vnd das hat sy offt mer getan, daz sie got pat, das er sie liess zü im, wenn si in vberflussigen gnaden waz got ze einem lob, das disẅ grossẅ ding nicht verdilget wurden, sunder das sie geoffent wurden got ze eim lob.306 Dieser erläuternde Erzählerkommentar konturiert die enge Vertrautheit ­zwischen der Engelthaler Nonne und dem Bruder und spielt dabei gleichzeitig auf die von Gott besonders gesegnete Veröffentlichung der Gnadenerfahrung an. Zugleich geht aus der Formulierung vnd das hat sy offt mer getan (p. 320) die Allwissenheit des Erzählers hervor, der über die Gewohnheiten der Schwesternfigur offenbar bestens informiert ist. Er stilisiert das Schreiben als Erfüllung des göttlichen Gnadenwerks, da die Schwesternfigur dem Schreiber nicht nur ihre Erlebnisse auf göttliches Geheiß hin mitteilt,307 sondern beide auch während des gnadenvollen Zusammenwirkens gleichermaßen in Glaube und Zuversicht bestärkt werden.308 Nach der besonderen Akzentuierung dieser von Gott gesegneten Zusammenarbeit lässt sich der Status der folgenden Ich-­Aussage nicht mehr ohne Weiteres bestimmen, könnte sie doch sowohl das hagiographische Ich als auch das Text-­Ich des ersten Schreibers voraussetzen: Sie lag ze einen zeyten vil schwerlich siech, daz ich vorcht, si wurd sterben. Vnd in dem siechpet 303 Vgl. Peters: Religiöse Erfahrung, S. 160 f. 304 Vgl. CE GV, p. 321: Wenn sie etwen eins dinges nicht gedacht vnd so der mensch zü ir kom, der disẅ ding von erst schreib, das sie dann sin gedacht vnd dar nach aber wieder vergass, daz sie sin nimer me gedacht. Vgl. auch die Ich-­Bemerkung der Christine-­Figur, p. 116 – 117: Ich hett gar vil vergessen, daz mir got guttes hett getan in miner kintheit, vnd waz mir also vnkunt, als ob es nie geschehen wer. 305 Vgl. Peters: Religiöse Erfahrung, S. 160. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 302. 306 CE GV, p. 320 f. 307 Vgl. Peters: Religiöse Erfahrung, S. 158 – 160 zur Zusammenarbeit als Gnadenwerk. Vgl. p. 324: Ir ward och geoffenbart von got, sie solt nicht lassen, sie solt dem, der disz von erst schrib, disü ding sagen. 308 Vgl. CE GV p. 324: Nun ist sie ein geuallen von der warheit, daz vnser herr ditz ding geoffnet hat, daz ir zuversicht vnd des glab, der es schreyb, gesterket werden.

336 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

sprach sie vor mir disv wort, dü her nach geschriben sint, als ich von ir schreib.309 Mit Sicherheit steht einzig fest, dass ein Text-­Ich, das in der Rolle eines Sekretärs figuriert, exklusiven Zugang zur Schwesternfigur hat: sprach sie vor mir disv wort, dü her nach geschriben sint, als ich von ir schreib.310 Dies suggeriert auch ein Visionsbericht (p. 377), der schildert, wie die Christine-­Figur eine imitatio Magdalenae vollzieht und Christus die Füße küsst.311 Auch hier ist die Schreibgegenwart inszeniert: Dar nach do si uss der gesicht kom, do enpfand sie dennoch des selben wollusts, do man conplet het geleut, do ich ditz schreib. Die Aufzeichnung der Gnadenerfahrung in unmittelbarer zeitlicher Nähe zum eigentlichen Gnadenerlebnis ‚garantiert‘ die Authentizität der verschriftlichten Offenbarung. Der Text entfaltet an dieser Stelle mit den Anspielungen auf die Tätigkeit des Diktierens und die Verschriftlichung erneut einen Autorisierungsdiskurs, der die Offizialität und Autorität der klerikalen Schriftkultur aufruft. In einer weiteren Episode, die ebenfalls zu einer Art Schreibergeschichte stilisiert ist, bemerkt ein schreibendes Text-­ Ich, dass es ausdrücklich von Gott gesandt wurde.312 Die Aufzeichnung einer Taufvision, die explizit die körperliche Attraktivität Jesu betont, verdeutlicht, dass die Verschriftlichung erst im Nachhinein, in d ­ iesem Fall fünf Jahre später, erfolgt, nachdem die Schwesternfigur die ­gleiche Vision erneut ‚erlebt‘ hat und von ihrer Richtigkeit überzeugt ist.313 Auch diese Episode scheint im Rahmen der Wahrheitsbeglaubigung 309 CE GV, p. 326. Susanne Bürkle ordnet ­dieses behauptete ‚Diktat‘ (p. 327) dem hagiographischen Erzähler zu, den sie damit in seiner Funktion als Schreiber bestimmt, vgl. Bürkle: Die Gnadenvita Christine Ebners, S. 504. 310 Vgl. CE GV, p. 326. 311 CE GV, p. 377. Susanne Bürkle erörtert, dass es sich an dieser Stelle wohl um eine Anspielung auf Mc 16,1 f. handelt, hier allerdings in Verbindung mit der Episode, in der die Sünderin, die mit Maria ­Magdalena identifiziert wird, Jesu Füße mit ihren Tränen wäscht, mit ihren Haaren trocknet und küsst Lc 7,36 f. Im Kempe-­Text fungiert die Madgalenerin in noch größerem Ausmaß als Rollenvorbild für die Margery-­Figur. Bereits die Textentstehung on þe day next aftyr Mary Maudelyn (BMK, S. 6) verweist auf die herausgehobene Funktion von his trewe louer Mary Mawdelyn (BMK, S. 174). Allerdings fokussiert der Kempe-­Text auf das aus dem Johannesevangelium Io 20,17 und der christlichen Ikonographie bekannte Motiv des noli me tangere. Vgl. BMK, Kapitel 81, S. 197. 312 Vgl. CE GV, p. 356: Sie hat da fur, es wer an dem osterabent, in dem ersten iar, do mich got zü ir fugt. Auch an dieser Stelle ist nicht unmittelbar zu entscheiden, ob hier das hagiographische Ich oder der erste Schreiber angesprochen ist. Möglicherweise könnte man den Hinweis in dem ersten iar auf den ersten Schreiber beziehen. Susanne Bürkle dechiffriert das Text-­Ich dagegen als hagiographisches Erzähler-­ Ich, das durch die Ich-­Bemerkungen zunehmend profiliert werde. Die Textpartie p. 356 spiele darauf an, dass das hagiographische Ich einige Zeit im Kloster verbracht habe. Vgl. Bürkle: Die ‚Gnadenvita‘ Christine Ebners, S. 503. 313 Vgl. CE GV, p. 357: Do ward er sich ir herr nach in dem funften iar also emzeclich ein bilden in der selben form, als sie in do gesehen hett, das sie ir gewissen des nicht erliess, sie hiesz es schriben. Vgl. auch die folgende Ich-­Aussage, die wiederum die Überzeugung von der Richtigkeit der Erfahrungen und der Aufzeichnungen hervorhebt, CE GV, p. 372: Si wil dir ding aller also sicher sein, die got mit ir begangen hat vnd dẅ ich geschriben han.

Erzählerkonfigurationen und die Narration der Buchentstehungsgeschichten | 337 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

­strate­gisch eingesetzt zu sein, da sie an einem konkreten Beispiel, der Taufvision, aufzeigt, dass nur das aufgeschrieben wird, was sich durch genauere Prüfung oder in d ­ iesem Fall durch erneute Wahrnehmung als tatsächlich ‚wahr‘ erwiesen hat. Jedenfalls findet sich eine weitere Ich-­Bemerkung im Hinblick auf einen von Gott erteilten Schreibbefehl (p. 380): Ditz wolt si mir nit geset haben vnd het nicht geacht dar uff. Do sprach vnser herr an der selben wil: Ich wil, das dü in es heissest schriben, es kumpt her nach bessrung dar von. Der Schreibbefehl ist hier geradezu in der Unmittelbarkeit des dramatischen Modus realisiert und wirkt damit besonders eindringlich.314 Durch den ersten Schreiber, der sozusagen für die von Gott abgesegnete Abfassung und Veröffentlichung der Gnaden steht,315 erscheint der Schreibvorgang selbst in dieser ‚Figur‘ personalisiert zu sein. Denn insgesamt betrachtet, wirkt der Schreiber eher wie eine personalisierte ‚Repräsentation‘ des Schreibvorganges, von dem die von der Forschung konstatierte Bedeutungsaufladung ausgeht und der damit letztlich in die Autorisierung des Textes eingebunden ist.316 Auf diese Weise ist die Figur des Schreibers der Protagonist jener in die Texte ‚eingestreuten‘ und nicht stringent angelegten ‚Schreibergeschichten‘, die einen konstitutiven Bestandteil einer Gnadenvita bilden. Wie die Ich-­Instanzen in der Medinger Gnadenvita und die diffizile Abfolge dreier Schreiber im Kempe-­Text verdeutlichen, scheint die Pluralität bzw. Multiperspektivität der Ich- bzw. Schreiberinstanzen ein Merkmal dieser ‚Schreibergeschichten‘ darzustellen. Diese Pluralität demonstriert die Figur eines weiteren schreibenden Bruders (p. 337: pruder, der disz geschriben hatt),317 der in den Episoden der teuflischen Anfechtungen figuriert: In einem Traum möchte ein grausiger Dominikanerprior der Schwestern­figur den Kontakt mit dem pruder, der diss schreib (p. 338) verbieten. Jedoch erkennt die Schwesternfigur sein wahres Wesen als Abgesandter des Teufels und vertreibt ihn mit Erfolg.318 Die Beschreibung der teuflischen Erscheinung endet mit einem Dialog, in dem die Schwesternfigur unmittelbar zu Wort kommt: „Ich geput dir bey got, das du mir sagest, ob es also an der warheit lig, als dü da retst.“ Do antwurt er ir: „Ich mag der warheit nicht

314 Hier liegt ein Erzählarrangement vor, das sich analog zu der Funktionalisierung der autorisierenden Figurenrede und der auf discours-­Ebene entfalteten Ich-­Instanz im Gnadenleben des Friedrich Sunder beschreiben lässt, die weiter unten näher beleuchtet werden soll. 315 Vgl. den in der dritten Person vorgetragenen Bericht, der einen Dominikaner im Zusammenhang mit dem Öffentlichtmachen der Gnaden erwähnt, CE GV p. 334: Ez wolt ein prediger, dem disv ding kund waren, in ein land gan hintz etlichen steten; daz was disem menschen schwer. Do offenbart ir got, er solt dar. Er wolt, das dü ding von ir geoffenbart wurden da in dem land vnd aller maist in eim stetlin, vnd nant das, wann do wer ein wildes land vnd werin globig leut do, vnd das in dẅ wunder gots parmhertzikeit vil nahen giengen vnd sie uil sussiclich kunden gespruchen. Do gab sie erst iren willen dar zw. 316 Vgl. Peters: Religiöse Erfahrung, S. 160. 317 Vgl. CE GV p. 338: pruder, der diss schreib; p. 339: pruder, der diss schreib. 318 Vgl. CE GV p. 338.

338 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

gereden.“ Do sprach sie: „So pist dus, der tufel.“ 319 Auf der Ebene der Figurenrede ist die Handlungsfähigkeit der Protagonistin hier deutlich hervorgehoben, da sie die teuflischen Machenschaften selbst aufdecken und die Lehre der discretio spirituum umsetzen kann. Daher lässt sich auch diese Episode als Teil der Wahrheitsbeglaubigung fassen, da die Schwester hier als Figur vorgeführt wird, die eigenständig dämonische Trugbilder entlarvt. Eine weitere, zunächst in indirekter Rede wiedergegebene dialogische Partie (p. 339 – 340), die mit einer direkten Rede des schreibenden Bruders endet (p. 340), demonstriert, dass der schreibende Bruder in der Lage ist, die Traumgesichte der Schwesternfigur richtig zu deuten. Somit sind sowohl der schreibende Bruder als auch der erste Schreiber, der sich als Priester identifizieren lässt, innerhalb ­dieses Autorisierungsdiskurses zu geistlichen Autoritäten stilisiert.320 Man könnte daher konzedieren, dass die Schreiberfiguren gewissermaßen die offizielle Seite ­dieses Autorisierungsdiskurses repräsentieren, während die Schwesternfigur für die göttliche Begnadung steht. Zusammen bilden die Schwesternfigur und die Schreiber jedenfalls eine personelle ‚Einheit‘, die nicht nur die Wahrheit der Offenbarungen im Sinne von Augenzeugen verbürgt, sondern durch den Akt der Verschriftlichung auch öffentlich bezeugt. Die vielfachen Verweise auf das Schreiben aus der Perspektive der Schwesternfigur, der Ich-­Person des ersten Schreibers und des hagiographischen Erzählers erheben jedenfalls den Akt der Verschriftlichung im Rahmen d ­ ieses Autorisierungsdiskurses zu einem 321 konstitutiven Thema der Gnadenvita. Die schreibenden Kleriker garantieren sozusagen als Stellvertreter der Amtskirche die Offizialität an der Teilhabe der Schriftkultur.322 Die Schreiberfiguren lassen sich als Teil der Programmatik der literarisch inszenierten Textentstehung fassen, die auf dem Zusammenwirken mit der Schwesternfigur beruht.323 Allerdings entbinden der Schreibtopos und die Präsenz der Schreiber die Schwesternfigur, zumindest partiell, aus ihrer ‚alleinigen‘ Verantwortung für den Text. Sie erscheint damit nicht als autonome Schöpferin eines eigenständigen Werks im neuzeitlichen Sinne, sondern verkörpert das Konzept einer von Gott inspirierten auctoritas, die ihre Berechtigung zum Schreiben einzig aus der göttlichen Begnadung erhält. Hinter einer solchen Autorschaftskonzeption steht „der inspirationstheologische Begründungszusammenhang, das Schreiben als gottgewolltes Unterfangen zu legitimieren und das Geschriebene mit der Aura

319 CE GV, p. 338. 320 Vgl. CE GV, p. 335 – 336. 321 So bereits Peters: Das Gnadenleben der CE, zur Verschriftlichung und zur Figur des ersten Schreibers S. 415. Vgl. auch Peters: Religiöse Erfahrung, besonders S. 160 zur Inszenierung der Verschriftlichung als göttliches Gnadenwerk und S. 161, die Thematik des Schreibens und die Erzählung der Buchentstehung gehöre „zum programmatischen Konzept der Lebensdarstellung“. 322 Vgl. Grubmüller: Sprechen und Schreiben, S. 338. 323 Vgl. Peters: Religiöse Erfahrung, besonders S. 175.

Erzählerkonfigurationen und die Narration der Buchentstehungsgeschichten | 339 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

des Authentischen zu versehen“.324 Diese Vorstellungen von Autorschaft und Schreibvorgang scheinen letztlich auch die erzählerische Präsentation der Gnadenviten zu informieren und auf discours-­Ebene durch den punktuellen Einsatz der Ich-­Erzählerfigurationen umgesetzt zu sein, die ‚Einblicke‘ in den Entstehungsprozess suggerieren. Auch die Figurenrede demonstriert zeitweilig eine ähnliche Funktionalisierung, wenn in monologischen Gottesreden Befehle des Schreibens und Bestätigungen der besonderen Auserwähltheit wiederholt erteilt werden. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass besonders die prologartige Textpassage in der Medinger Gnadenvita eine gewisse ‚nachträgliche‘ personelle Konkretisierung der geistlichen (Rollen-)Figuren suggeriert, deren Identifikation allerdings im Hinblick auf den gesamten Text durch die Anonymisierungen nicht stimmig und eindeutig verifiziert werden kann. Vielmehr trägt die narrative Gestaltung zu einer gewissen Mystifizierung der genauen Entstehungsumstände und des beteiligten Personals bei: Einzig die Figur der Visonärin, deren ‚Heiligkeit‘ bewiesen wird, tritt in dem Vitentext deutlich hervor, während die Schreiber-­ Figuren bzw. Erzähler weniger klar konturiert erscheinen. Durch die unvermittelt einsetzenden Perspektivwechsel ruft die Medinger Gnadenvita allerdings den Eindruck hervor, dass die ‚hagiographischen‘ Berichte letztlich von ‚Personen‘ ausgehen, die sozusagen mit ‚eigenen‘ Augen die Wahrheit der Texte bezeugen können. In d ­ iesem Kontext soll die Figur des ‚Redaktors‘, die sich in den Gnadenviten auf der Ebene des Erzählens zu konkretisieren scheint, ausgehend von der Kempe-­Vita am Beispiel des Gnadenlebens des Friedrich Sunder und der „Offenbarungen“ Adelheid Langmanns diskutiert werden.

4.4 Die Rollenfigur des ‚Redaktors‘ als hagiographischer Erzähler Eine s­olche narrative Inszenierung, in der ein anonymes Text-­Ich im vierten Kapitel als eine Art ‚Redaktor oder Herausgeber‘ fungiert, kennen wir aus dem Kempe-­Text. Denn das Text-­Ich trifft eine Auswahl aus der Fülle des vorhandenen Materials aufgrund didaktischer Erwägungen.325 Zumindest entsteht dieser Eindruck, wenn sich ­dieses Text-­Ich als Erzähler/ schreibender Priester dechiffrieren lässt: Eine ­solche Zuordnung beruht allerdings auf der Zusammensicht der Informationen zur komplizierten Genese des Kempe-­Textes in Form eines zunächst unleserlichen, weder in englischer noch in deutscher Sprache geschriebenen Büchleins unter Beteiligung dreier Schreiber mit den Ich-­Aussagen im Text.326 Demgegenüber scheint eine Ich-­Figur, die unvermittelt im sogenannten Gnadenleben des Engelthaler Klosterkaplans Friedrich Sunder hervortritt, sehr viel deutlicher als eine 324 Nemes: Von der Schrift zum Buch, S. 155. 325 Vgl. BMK, Kapitel 4, S. 14, 4 – 10. 326 Vgl. die Textanalyse in Kapitel 3.1 „Erzählerinstanzen des Margery-­Kempe-­Textes“.

340 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Instanz konzipiert zu sein, die sozusagen ‚hinter‘ dem Text steht und ihn kompiliert.327 Diese Ich-­Figur macht sich vor allem in ­kurzen Erzählerkommentaren und -einlassungen bemerkbar und deshalb konstatiert Johanna Thali, im Rückgriff auf Ringler, „eine Bearbeitung des Materials in kompositorischer Hinsicht“, die auf die für frauenmystische Literatur typischen Überarbeitungsprozesse schließen lasse.328 Allerdings lässt sich dieser ‚Redaktor‘ in seiner Funktion als Erzählinstanz beschreiben und auf der Ebene der textinternen erzählerischen Vermittlung näher bestimmen. Die Gotteserfahrungen des Engelthaler Klosterkaplans werden, ähnlich wie in der Gnadenvita Christine Ebners, in der Prologpartie mit dem anvang (FS 60 ff.) lebensweltlich-­biographisch strukturiert.329 Die epilogartige Partie mit Tod und Aufnahme in den Himmel (FS 1814 – 1904) unterscheidet sich allerdings von dem nur vorausgedeuteten Tod (CE GV p. 34) im Christine-­Ebner-­Text, da hier das Schema einer Heiligenvita mit Rückblick auf den seligen Tod bereits erfüllt ist. Innerhalb ­dieses biographischen Schemas entfaltet der FS-Text eine überwiegend in szenischen Lehrdialogen mit Christus, der Gottesmutter, den verschiedenen Heiligen gestaltete personale Gotteserfahrung, die in Form von Auditionen als auch brautmystisch gefärbten unio-­Erlebnissen präsentiert wird. Bereits im Prolog (FS 1 – 59) wendet sich ein Ich-­Erzähler mit einer rhetorischen Frage an die Adressaten des Textes: FS 36: Waz sol ich me von jm sagen? und auch in FS 63: daz hat got wol erzaigt an ainem súndigen priester, den ich wol erkant, der manigualtig súnd ht getan von kúntlichen tagen vor ee daz er priester ward vnd och dar nach. Während Ringler die erste Stelle (FS 36) nicht in seinen Kommentar aufnimmt, bestimmt er FS 63 als „Topos der indirekten Redeweise“.330 Er begreift demnach diese Ich-­Aussage als Ich-­Äußerung des Friedrich Sunder in der Rolle des Autors, der über sich selbst als von einem anderen 327 Der Text ist unikal in der oben erwähnten Handschrift W (Codex 308) der Bibliothek des Schottenstiftes in Wien überliefert. Vgl. Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur, besonders S. 146 f. mit Einzelkommentar zum Gnadenleben des FS und Textedition, S. 391 – 445. Nigel Palmer: Rezension zu Ringler, Siegfried: Viten- und Offenbarungsliteratur in Frauenklöstern des Mittelalters. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 3 (1985), S. 467 – 473. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 131 – 157. Thali: Beten, Schreiben, Lesen, S. 116 – 157, die die Funktion des FS als „Visualisierung zen­ traler Glaubensinhalte“ (S. 157) und „Visualisierung des kirchlichen Heilsgeschehens“ (S. 161) bestimmt. Thalis Textanalyse konzentriert sich vornehmlich auf die Figuration und Bedeutung der Gottesmutter Maria in der Gnadenvita des FS. Vgl. auch dies.: vil herzcliebe kúngin, S. 265 – 315. 328 Vgl. Thali: Beten, Schreiben, Lesen, S. 121. Vgl. Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur, besonders S. 303 – 305 und S. 371. Vgl. die Bemerkungen dieser Ich-­Instanz, die Kürzungen betreffen FS 516 – 517: Vnd noch mer vil liplicher wort sprchen sie z samen, daz ich vnder wegen laz. FS 1603 – 1606: ANno domini M ccc xxvi an sant Augustinus tag tet jm got grosse gnad durch daz gebett vnd verdiene sant Augustinus, vnd och an etlich andern tagen, daz ich vnder wegen laß dar vmb daz dez gelichen vil jn diser geschrift stat. 329 Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 137. 330 Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur, S. 183: „Vgl. 2 Kor 12,2: Scio hominem in Christo: das Sprechen vom eigenen Ich als von einem anderen hat die doppelte Funktion der Demutsbezeugung und der Bekräftigung des Sachgehalts (Vgl. 2 Kor 12,1).“

Die Rollenfigur des ‚Redaktors‘ als hagiographischer Erzähler | 341 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

und vornehmlich in der dritten Person spricht.331 Eine ­solche Lesart basiert wohl auf der Annahme von eigenhändigen chronologischen Aufzeichnungen in Ich-­Form und damit auf den textinternen Angaben des Prologs, die eine selbstständige Niederschrift behaupten:332 Da mst er got gehorsam sin vnd schraib die wunder, die jm von got, von siner mtter vnd von den hailigen widervarn sind, als hernach stat.333 Dieser nicht unproblematische Rückschluss auf „eigenhändige Erstaufzeichnungen“334, die eine Art Urschrift bilden, geht vornehmlich auf den Einsatz der Ich-­Perspektive und die literarischen Angaben des Prologs zurück,335 der allerdings mit der Topik des Schreibbefehls und der Stilisierung des Schreibaktes als Ausführung des göttlichen Willens kaum auf die faktische Textentstehung zu übertragen ist.336 Es stellt sich daher die Frage, ob d ­ ieses Text-­Ich, dessen Status zumindest durch das Textumfeld nicht näher bestimmt werden kann, überhaupt die ausdrückliche Anwesenheit eines Ich-­Erzählers markiert, der mit der Autorrolle Friedrich Sunders zu verrechnen wäre. Susanne Bürkle definiert ein solches Erzählverfahren nach Genette als „quasi heterodiegetische Autobiographie“, die die Illusion erzeuge, als spräche ein anderer im Text.337 In FS scheint es sich allerdings hier eher um eine hagiographische Ich-­Instanz zu handeln, die wie das hagiographische Text-­Ich des materien-­Katalogs (CE GV, p. 31) in der Medinger Gnadenvita den Eindruck der Präsenz eines ‚Redaktors‘ vermittelt. 331 Vgl. Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur, S. 370: „Zumindest zum Teil dürften sie (die Aufzeichnungen) in der objektivierenden Sprechweise der dritten Person abgefasst gewesen sein. Mit FS, dem ‚Gnaden-­Leben‘ also, sind sie nicht gleichzusetzen.“ 332 Vgl. Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur, S. 370 – 372 und S. 376 und Tahli: Beten, Schreiben, Lesen, S. 120. 333 FS 56 – 57. 334 Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur, S. 304. Thali: Beten, Schreiben, Lesen, S. 121. 335 Vgl. FS 53 – 59: Nun kam ain gtter brediger, daz waz brder Cnrat von Fssen, der hort sin gancze bicht vnd bat jn jnneklichen, daz er beschribe die gnad, die jm got tt. Des saczt er sich ser da wider, biß das es im von got ward kunt getan. Da mst er got gehorsam sin vnd schraib die wunder, die jm von got, von siner mtter vnd von den hailigen widervarn sind, als hernach stat. Vnd daz er sich brder nempt an mngen statten, daz tt er von demtikait, daz er sich selber nit als oft priester oder herr hat wllen nemmen. 336 Zwar verortet Ringler die Buchentstehungsgeschichte des FS -Prologs innerhalb der literarischen, hagiographischen Tradition, aber er geht trotzdem davon aus, dass der Einsatz und die Variation der literarischen Topoi Aufschluss über die faktischen Textentstehungsverhältnisse zuließen, vgl. Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur, S. 175. Wie oben erwähnt, hat Susanne Bürkle demgegenüber für den Christine-­Ebner-­Text überzeugend demonstriert, dass die Annahme einer Priorität der Ich-­Form bzw. das Vorliegen von ‚ursprünglichen‘ Aufzeichnungen in Ich-­Form keine Gültigkeit beanspruchen kann, da die historische Sequenz der GV-Handschriften von Cgm über Md1 bis hin zu E1 eine Ausweitung der Ich-­Berichte aufweise, „die man als Setzung des Ichs im Sinne einer Authentisierungsstrategie deuten könnte“. Außerdem ­seien ­solche ursprünglichen Selbstaufzeichnungen in keiner Handschrift der Textüberlieferung der Viten- und Offenbarungsliteratur erhalten, vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 285. 337 Vgl. Bürkle: Die ‚Gnadenvita‘ Christine Ebners, S. 502 f.

342 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Die Tätigkeit dieser Redaktorinstanz lässt sich einzig durch die zweimal wiederholte Ich-­Bemerkung daz ich vnder wegen laz/laß (FS 517; 1605) näher eingrenzen: Nur dieser Hinweis deutet an, dass umfangreicheres ‚Material‘ vorliegt, das gekürzt wiedergegeben wird. ­Siegfried Ringler erschließt allerdings aus diesen Ich-­Bemerkungen, die die Reduzierung eines ‚ursprünglichen‘ Textumfangs suggerieren, die „Kompositionstechniken“ eines Redaktors, der „in den Text der Erstaufzeichnung eingegriffen habe“.338 Und dieser redigierenden Ich-­Instanz schreibt er dann sogar vier voneinander zu differenzierende Methoden einer ‚einheitlichen‘ Kompositionstechnik zu, die vornehmlich auf den textinternen Kommentaren zur Textstraffung und Wiederholung von Motiven oder ganzen Textpassagen basiert.339 Allerdings sind diese Einlassungen in Ich-­Form auf der discours-­Ebene der Erzählerbemerkungen angesiedelt und lassen sich daher auch im Rahmen der erzählerischen Präsentation des Textes als literarisches Erzählverfahren fassen, das nicht unbedingt Aufschluss über den faktischen ‚Redaktionsprozess‘ bieten muss. Damit sollen nicht die 338 Vgl. Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur, S. 304. Auch Nigel Palmer geht von der Bearbeitung ursprünglich eigenhändiger Aufzeichnungen durch einen späteren Redaktor aus, vgl. Palmer: Rezension zu Ringler, Siegfried, S. 467. 339 Vgl. Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur, S. 304: Als erste Methode bestimmt Ringler die Umwandlung ausführlicher Schilderungen zu ­kurzen, zusammenfassenden Berichten, vgl. etwa die kurze Textpartie, die er mit der detaillierten Darstellung 1109 – 1156 kontrastiert. Vgl. 399 – 408: DI em brder ward geoffenwart me denn z ainem mál, wenn er sich zehochziten nach siner metti nider lait vnd den slief, daz denn vnser herr sin engel vnd etlich ander sant nach siner sel, vnd daz denn iegliche person jn der gothait, ide besunder, der sel liplich zartenten vnd trutenten mit loplichen lieplichen worten der er vergaß. […] Da er do erwachet, so wurden jm die gnad kunt getan aintweder vor der meß oder dar nach. Die zweite Methode bestehe darin, Geschehenskomplexe in einer einzigen Formel verkürzt darzubieten; diese Vorgehensweise signalisierten insbesondere Wendungen wie oft, dick, gewonhait. Vgl. etwa FS 1174: Item der bruder erpfand oft daz jm vnser herr sin sel spiset, da von er als vil trostes enpfand, als ob er jn liplich het enpfangen von dez priesters handen. Als dritte Methode zeichne sich die Herauslösung einzelner Motive aus ihrem ‚ursprünglichen‘ Zusammenhang ab. Diese Motive würden dann inhaltlich neu kombiniert: Vgl. etwa 387 – 391: Also ist mir lieber din r vnd din wainen an dinem herten herczen, denn es etwen waz von dinen waichen ogen. Er wainet etwen ber vnsers herren marter, etwen vber sin súnd. Ains mals sprach vnser herr zu jm: Din zher die sind ain salbe miner wunden vnd sind ain ssses tranck diner sel vnd ain abwschung aller diner súnde. Vgl. auch 1170 – 73: Er waint ains mals vmb vnsers herren marter, als er allwegen tt, wenn er trachtet vnser herren marter oder sin súnd. Da sprach vnser herr: Din zher sint ain salb miner wunden vnd sint ain ssses tranck diner sel vnd ain abwschung aller diner súnden. Schließlich sei die vierte Methode in der „Wiederholung stereotyper Wendungen“ zu sehen, die möglicherweise auch schon die Erstaufzeichnung geprägt hätten (S. 304) oder die als „redaktionelle Setzungen, die wesentliche Formulierungen immer aufs neue ins Gedächtnis rufen“ aufzufassen s­ eien und in wörtlichen Wiederholung eines gesamten Abschnitts kulminierten: FS 990 – 1000=1814 – 24. Allerdings ist die Wiederholung der Textpartie in FS 1814 mit einer konkreten Jahresangabe eingeleitet und damit aus der Allgemeinheit der Episode FS 990 hervorgehoben: AN no domini M ccc xxviij jn der vasten da der brder ains tags was an siner andacht: vnder anderm sinem gebet bat er vnsern herren flißklichen, daz er jm all sin sind vergb vnd jm sin sel wlt lassen enpfolhen sin, als sie vß sinem munde schiede.

Die Rollenfigur des ‚Redaktors‘ als hagiographischer Erzähler | 343 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

von Ringler in seiner akribischen Textanalyse zu Tage geförderten Spuren einer sekundären Bearbeitung abgewiesen werden, die etwa die Textwiederholungen, den prologartigen Anfang mit wörtlichen Anklängen an die Gnadenvita Christine Ebners,340 die Übernahmen ganzer Passagen aus dem Engelthaler Schwesternbuch,341 die weitreichenden intertextuellen Relationen zur Engelthaler Literatur 342 und den Epilog mit der Schilderung der Aufnahme des Bruders in den Himmel 343 betreffen. Vielleicht evoziert aber auch bereits der fragmentarische Charakter des FS-Textes, den Palmer prägnant als „bruchstückhaftes Gebilde“ bezeichnet, den Eindruck, dass ein ‚Redaktor‘ die Vita aus dem ihm vorliegenden Material kompiliert habe.344 Jedenfalls rufen die Ich-­Bemerkungen  345 in Verbindung mit den erläuternden Erzählerkommentaren in der dritten Person,346 die bereits zu Beginn eine allwissende Überschau auf den bevorstehenden 340 Vgl. Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur, S. 175. Christine Ebner figuriert als eine Art ‚Augenzeugin‘ der außergewöhnlichen Begnadung des Bruders Z. 1851 – 1856: O du grosser wundrer! Daz du die menge diner sssikait gist dienen, die dich fúrchten! Was gist du denn dienen, die dich mynnen? Dienen kumst du als ain feldgúsße die núcz beliben lat: was sie begriffet, daz fiert sie hin. Das sprich ich von disem tag, als er sin frúnden lonen will der herr der herren, da sich an hebt ir wunne jar als an disem man geschach. Die Platzierung dieser direkten Rede lässt sie als eine Art ‚Nachruf‘ erscheinen, von dem aus dem Mund der wohl berühmtesten Engelthaler Nonne und Autorin eine autorisierende Wirkung ausgeht. Vgl. Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur, S. 320 – 322, der diese Partie allein unter textgenetischen Gesichtspunkten im Hinblick auf den Redaktor auslegt, der möglicherweise mit Christine Ebner oder einem Mitglied des Konvents zu identifizieren sei. Als Engelthaler Klosterangehöriger verfüge er nicht nur über umfangreiche Kenntnisse der Engelthaler Literatur, sondern habe CE auch Einblicke in FS gewährt. Die CE-Partie leitet die aus GU übernommenen Passagen FS 1875 f. ein, vgl. GU 41, 10 – 23, Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur, S. 322. 341 Vgl. FS 1859 – 1870, die aus GU 41, 10 – 23 übernommen ist. Vgl. Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur, S. 322 f. Während Ringler noch davon ausgeht, dass die beiden Gnadenviten FS und CE vor dem Schwesternbuch entstanden sind, konnte Susanne Bürkle hingegen in ihrer Textanalyse demonstrieren, dass wohl GU als Vorlage für die Lesemeister-­Messe der prologartigen Anfangspartie von CE vorgelegen haben muss. Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 125 – 130. 342 Vgl. besonders die oben genannte Christina-­Passage, FS 1851 – 1856. Die intertextuelle Verbindung demonstriert auch die Medinger Gnadenvita, in der die Friedrich-­Sunder-­Figur gleich zu Beginn in der Prologpartie, p. 22 – 26 erscheint, die als Ich-­Bericht den schnellen Tod und den Eingang des alt caplans in den Himmel schildert. 343 Vgl. FS 1872 – 1904. 344 Palmer: Rezension zu Siegfried Ringler, S. 473. 345 Vgl. FS 36; 63; 517; 1603. 346 Vgl. FS 34 – 36: Vnd waz doch ain alter man by lxxiij jarn, da er starb. Waz sol ich me von jm sagen?; FS 69 zur Berufung in das Kloster Engelthal mit der konkreten Altersanagabe xxx jarn, da half jm got z ainem frowen closter: da ward er caplan vnd was wol xxxx iar da. Erläuterung aus der retrospektiven Überschau, FS 329 – 330: Daz geschah etwen jn der kúlchen, etwen jn siner kamer, vnd nit allein geschach daz jn der aderlssin, sunder oft z andren ziten och. Erzählerkommentar der allwissenden Erzählinstanz, FS 1794: Vnd daz ist die gnad vnd ander gnaden vil, die dem closter nach dez brders tod widerfert, als jm vnser herr kunt tt.

344 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Tod des Bruders im Alter von 73 Jahren eröffnen und damit die retrospektive Haltung und die Allwissenheit der Erzählinstanz suggerieren, das Vorhandensein einer ‚Redaktor‘-Figur auf. Und in der Forschung konkretisiert sich dies zu der Vorstellung eines sozusagen hinter den Ausführungen in der dritten Person stehenden ‚Redaktors‘, der den Text aus den verschiedenen Quellen kompiliert und kommentiert:347 So bietet der ‚Redaktor‘ die theologische Auslegung einer in der Adventszeit situierten Vision, in der die weiblich gedachte Seele des Bruders das Stillen des Christuskindes übernimmt: Was daz sugen der zwayer brústlin betútet, daz mß man vnsern sinnen mit liplichen dingen zaigen: wann wir nit kunnen begriffen, wie daz zschen got vnd der sel ist ergangen jn ainem vnvssprchen vßwal vnd jnwal der gtlichen sßikait, dar jnnen er sich der sel erbotten hat, vnd also ir begird, lib vnd all ir krft jn sich gezogen hat.348

Bereits Ringler schreibt diese Passage wohl deshalb dem ‚Redaktor‘ zu, da sie sich aufgrund ihres Status als „sprachtheoretischer Äußerung“ (S. 257) und theologischer Reflexion grundlegend von dem Eindruck der sonstigen persönlichen und ‚unvermittelten‘ Gotteserfahrungen des Bruders im dramatischen Modus der Dialogwiedergabe unterscheidet.349 Und zugleich ist diese ausdrückliche theologische Auslegung auch ein Textmerkmal, das FS „von der Darstellung des leibhaftigen Erlebens und der körperlichen Symptomatik auf der literalen Ebene in ME und CE“ unterscheidet.350 Während etwa die Gartenszene in Christine Ebners Gnadenvita (GV, p. 139 ff.) das conubium spirituale als direkte ‚Erfahrung‘ 347 Vgl. die Deutung von Thali: Beten, Schreiben, Lesen, S. 140, die auf einer solchen konkretisierenden Lesart beruht. Nach Thali sehe hier der Verfasser oder Bearbeiter der Vita die Notwendigkeit, ­dieses ungewöhnliche Bild zu erläutern. Allerdings hat Caroline Walker Bynum in ihrer Studie „Jesus as Mother“ gezeigt, dass sich die Bildlichkeit des Stillens bereits im 12. Jahrhundert bei Bernhard von Clairvaux findet und im Zusammenhang der Entwicklung einer affektiven Spiritualität und Feminisierung der religiösen Sprache und Metaphorik zu sehen ist. Vgl. Bynum: Jesus as Mother, besonders S. 110 f., S. 115 zur Symbolik der weiblichen Brust und des Stillens bei Bernhard. Von daher erscheint die Metaphorik des Stillens vielleicht weniger ungewöhnlich, da sie Teil einer affektiven Frömmigkeit repräsentiert. 348 FS 866 – 870. 349 Insbesondere die vielen Dialoge und Lehrgespräche und die überwiegend szenische Darstellungsweise führen zu dem Eindruck einer unmittelbaren Wiedergabe der Gnadenerfahrung, die die mündlichen Gottesreden verbal beglaubigen: Vgl. etwa aus der Fülle dieser dialogischen Szenen, FS 365 – 381; mit dem Heiligen Dominicus, Maria und dem Herrn 413 – 439; Dialog mit dem Herrn, 492 – 503; 519 – 555; Augustinus 564 – 594; 624 – 647; 651 – 663; dialogische Gerichtsszene 681 – 753; Dialog ­zwischen Seele und dem kindlin, 790 – 821; Jesulin und der bruders sel, 859 – 864; Dialog mit Maria 902 – 917. Eine ähnliche Textpartie, die die Bedeutung der Tränenbegnadung theologisch reflektiert und aus der auf die Protagonistin fokalisierten Darstellungsweise herauszufallen scheint, kennen wir auch aus dem Kempe-­Text, vgl. BMK, Kapitel 28, S. 70, 22 – 71, 15. 350 Bürkle: Literatur im Kloster, S. 138.

Die Rollenfigur des ‚Redaktors‘ als hagiographischer Erzähler | 345 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

des menschen durch eine konsequente Fokalisierung auf die mensch-­Figur gestaltet und hier die weibliche Protagonistin die Rolle der Braut übernimmt,351 ‚erlebe‘ in FS 121 ff. die personifizierte frou sel in der Figuration der arme gotz dirne die unio mystica, die in ihrer allegorischen Ausdeutung eine „Ebenenverschiebung“ erfahre.352 Denn in FS ist die Partie (866) von Anfang an in die Eucharistiefeier eingebunden und damit nicht auf der literalen Ebene der Körpererfahrung, sondern „auf eine geistliche Ebene, diejenige der sel, transponiert und in einer Allegorese theologisch reflektiert“.353 Mit der gelehrten Auslegung dieser Textpartie in FS konturiert sie die Erzähler-­Figur des ‚Redaktors‘ als einen Vertreter der Schultheologie, der gewissermaßen den theologischen Gehalt der Gnadenvita verifiziert und dadurch möglicherweise eine offizielle Absegnung der Verschriftlichung repräsentiert.354 In CE dagegen ist sowohl das conubium spirituale (CE GV, p. 139) als auch das Stillen des Christuskindes (p. 216) auf der konkreten, persönlichen Erfahrungsebene situiert, die für sich steht und offenbar nicht einer expliziten theologischen Auslegung bedarf. Hier garantiert sozusagen das ‚Erleben‘ der weiblichen Schwesternfigur den theologischen Sinngehalt. Jedenfalls evoziert eine ­solche mit literarischen Mitteln inszenierte Redaktorfigur eine beglaubigende Wirkung für den Lebensbericht des Klosterkaplans. Auf histoire-­Ebene wird zwar immer wieder die zentrale Bedeutung des direkten Zugangs zu Gott betont,355 dennoch entfaltet zugleich die discours-­Ebene in der Konturierung eines ‚Redaktors‘ die Absegnung durch einen Außenstehenden. Damit ist diese Figur Teil der erzählerischen Gestaltung des FS-Textes und kann nicht einfach mit einem textexternen faktischen Bearbeiter verrechnet werden. Demgegenüber lässt sich die im FS-Text singulär auftretende ‚redaktionelle‘ Bemerkung (FS 797) Da gehrt her z: Item da der mensch, die wir auch in ähnlicher Weise als Lektüreanweisung 351 Vgl. die Darstellung der Innenwelt mit Fokussierung auf das Schamgefühl, CE, p. 140 und der plötz­ lichen Erkenntnis p. 140: Vnd von dem wort, daz vnser herr geprochen hett: Wes vberhebst dü dich? Wurden im inwendig uff getan die inren sinn, daz er all sin gepresten kant. 352 Bürkle: Literatur im Kloster, S. 138. 353 Bürkle: Literatur im Kloster, S. 138. Vgl. auch die Anmerkungen von Palmer: Rezension zu Siegfried Ringler, S. 469, der den Einsatz der feminisierten Seele als Resonanzraum der Gotteserfahrung aus dem Geschlecht des männlichen Verfassers erklärt, der sein personales Gottesverhältnis mit typischen Bildern der Frauenmystik beschreibe. Vgl. ebd., S. 470: „Dadurch, dass der Mann zum Weib werden muß, um die Schranken männlich/weiblich zu überwinden, erhält das herkömmliche Modell der Brautmystik eine zusätzliche Dynamisierung.“ 354 Vgl. zur Teilhabe an dem offiziellen klerikalen Schriftdiskurs, der mit der Verschriftlichung einhergeht, Grubmüller: Sprechen und Schreiben, S. 338. Vgl. die weiteren Erzählerkommentare in der dritten Person, die eine kommentierende Funktion erfüllen und aufgrund der Erzähllogik des Textes dieser ‚Redaktor‘-Figur zugeschrieben werden können FS 329 f.; FS 399 – 408; FS 1156. 355 So thematisiert die Textpartie FS 933 – 958 ausdrücklich, dass eine Absegnung durch einen gelehrten Dominikanerprediger obsolet sei, da Gott selbst die Wahrheit der Begnadung im Sinne der discretio spirituum verifiziert. Vgl. zum Aspekt der Verifizierung der Gnadenerfahrung bei FS Bürkle: Literatur im Kloster, S. 152.

346 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

aus dem Kempe-­Text kennen,356 tatsächlich als eine ‚Spur‘ der Redaktortätigkeit deuten. Dies gilt auch für die Neueinführung der Friedrich-­Sunder-­Figur in FS 962: was ein gtter brder und 1183: ain mensch, die suggerieren, dass hier verschiedene ‚Textfragmente‘ zusammengefügt worden sind.357 Zudem wird in FS 1183 – 1280 die ansonsten im Text übliche Bezeichnung bruoder durch mensch ersetzt.358 Vielleicht lässt sich diese Anrede allerdings auch auf das ‚Sprechen in verschiedenen Rollen‘ zurückführen, wie es etwa im Prolog zu Heinrich Seuses „Büchlein der ewigen Weisheit“ mit den vier Rollenfigurationen expliziert wird: Er nimt an sich, als ein lerer tn sol, aller menschen person. nu redet er in eins súndigen menschen p­ erson, denne in eins volkomen menschen person, etwenne in der minnenden sele bilde, dar nah als dú materie ist, in einer gelichnúze eins dieners, mit dem dú Ewig Wisheit redet.359

Auch das Kapitel des Ablassversprechens (FS 1769 – 81), in dem Ringler unter textgenetischen Gesichtspunkten eine Zusammensetzung aus den verschiedensten vorhergegangenen Textpartien sieht,360 erscheint aus der Erzähllogik des Textes erklärbar, da hier Gott in 356 Vgl. BMK, Kapitel 16, S. 38: Rede fyrst þe xxi chapetre & þan þis chapetre aftyr þat. Vgl. British Library, Add MS 61823, fol. 19r. Durch die aus dem 16. Jahrhundert stammende Schreiberhand in rot, die von der jüngeren Hand des Haupttextes aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts unterschieden werden kann, lässt sich diese singuläre Einlassung tatsächlich als ein ‚redaktioneller‘ Eingriff in Form einer Art Lektüreanleitung fassen. Im FS-Text ist die Bemerkung dagegen in den Haupttext integriert und ihr Vorhandensein suggeriert, dass sich hier ein Redaktor um die Zusammenstellung der Christuskind-­Visionen bemüht habe. 357 Vgl. Thali: Beten, Schreiben, Lesen, S. 123, die auf Palmer: Rezension zu Ringler, S. 473 verweist. Vgl. FS 962 f., die nach Thali „auf eine Nahtstelle z­ wischen ursprünglich selbständigen Materialien hindeuten könnte“: ANno Domini M ccc xxiij in der vasten ains tags was ein gtter brder an siner andacht […]. Die Neueinführungen FS 1064 – 1116 und 1183 – 1244 rufen die charakteristische Episodenhaftigkeit hervor, da hier scheinbar in sich abgeschlossene Episoden miteinander kombiniert worden sind. Vgl. die mit Item (1033 – 1108) eingeleiteten Textpassagen und die Kreuzesbetrachtung, die durch die Nummerierung am Rand der Handschrift W mit römischen Ziffern als in sich geschlossene Gebetsanleitung erscheint. Vgl. dazu Thali: Beten, Schreiben, Lesen, S. 148. Palmer: Rezension zu Ringler, S. 473. Nach Palmer handelt es sich insbesondere bei dieser meditativen Kreuzesbetrachtung, die eine formale Komposition aufweist, um einen ursprünglich selbstständigen Text. 358 Vgl. Palmer: Rezension zu Ringler, S. 473. Bereits in FS, Z. 797 wird der brder erstmalig mit mensch apostrophiert. Vgl. zu Rollen-­Ich und mensch-­Rolle, Ringler: Die Rezeption mittelalterlicher Frauenmystik, S. 188: „Das sprechende Ich ist, gerade auch in den ‚persönlich‘ gehaltenen Einzelviten und Offenbarungen, grundsätzlich ein Rollen-­Ich, z. T. selbstdistanzierend betrachtet als ‚ein mensche‘. Seine Rolle ist, bei aller möglichen Variationsbreite, immer die ­gleiche: die des außerordentlich begnadeten Menschen. Das worüber gesprochen wird (das ‚Bezeichnete‘), sind die persönlichen Gnadenerfahrungen; je nachdem, ob die Intention der (‚expressiven‘) ‚Selbstdarstellung‘ oder der (‚informativen‘) Schilderung von Sachverhalten und Situationen überwiegen, wird der Akzent mehr auf ‚persönlich‘ (im Sinne des Rollen-­Ichs) oder auf ‚Gnadenerfahrung‘ liegen.“ 359 Bihlmeyer: Das Büchlein der ewigen Weisheit, S. 198. 360 Vgl. Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur, S. 305.

Die Rollenfigur des ‚Redaktors‘ als hagiographischer Erzähler | 347 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

mündlicher Rede die Figur des Bruders in einer Stunde des Zweifels bestärkt und ihr ein Ablassversprechen gewährt. Deshalb lässt sich diese monologische Partie als direkte göttliche Autorisierung der Figur des Bruders auffassen, die sich notwendigerweise auf die zuvor ‚erlebten‘ Gnadenerfahrungen stützen muss und umso überzeugender wirkt, da sie ja bereits auf zuvor eingeführtes Textmaterial referiert. Für eine ­solche Deutung spricht, dass das Kapitel des Ablassversprechens mit der Thematik der Verschriftlichung beginnt und damit den thematischen Zusammenhang ­zwischen dem Schreiben und der Veröffentlichung der Gnaden eröffnet.361 Das Schreiben wird hier zu einem aus der Vitenproduktion bekannten, topischen Akt des Gehorsams stilisiert, den der ‚Bruder‘ zur Verherrlichung Gottes und zur Unterweisung der Menschen unternimmt (FS 1761 daz jm loblich wer vnd den luten gt wer). Damit ist an dieser Stelle genau die Funktion der Gnadenvita wieder aufgegriffen, wie sie im Prolog (FS 3 f. got zuo lob […] vnd den andechtigen lesern z ­bessrung) formuliert wird und für die Legitimation des Geschriebenen ausschlaggebend ist.362 Insgesamt scheinen die punktuell in den FS-Text eingestreuten Angaben zur Verschriftlichung innerhalb dieser Legitimierung des Geschriebenen funktionalisiert zu sein,363 in der auch der göttliche Schreibauftrag selbst bzw. dessen Vernachlässigung literarisch überhöht als Klage des Heiligen Geistes innerhalb eines mystischen Geschehens konkretisiert wird.364 Dabei ist ein Großteil dieser Textpassagen, die das Schreiben autorisieren, als direkte 361 Vgl. FS 1758: ANno domini M ccc xxvij da waz der brder Lxxiij jar alt. Vnd jn dem selben jar an sant Niklas abent vnder anderm andchtigen gebet, daz er z got het getan, bat er jn, daz er jm kunt tt von siner barmherczikait, waz er slt schriben daz jm loblich wer vnd den lúten gt wer, oder ob er fúrbas nit mer slt schreiben. Er antwúrt jm: „Du solt me schriben, wann ich will dir fúrbas als schne vnd núcze gnad kunt tn als ich ie tet.“ 362 Vgl. Thali: Beten, Schreiben, Lesen, S. 138. Thali führt aus, dass die formelhaft wirkende Aussage über die Funktion der Gnadenvita den Gesamttext thematisch vorpräge. 363 Vgl. die Textbelege zum Schreiben und zum Schreibbefehl bei Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur, S. 175. Vgl. FS 440 – 447 mit Variation des topischen Schreibbefehls, der hier aus der Perspektive des Ordensgründers der Dominikaner vorgetragen wird: Da die ding geschehen waren, da weßt der brder núcz vmb, vncz nach der mesß tt jm daz sant Dominicus alles kunt, was jm des tags genaden widervaren was, vnd lert jn, wie er got dancken slt, vnd hieß jn, daz er es beschriben solt, vnd sprach: Du woltest, wenn du hettist núcz mer z schriben, vnd wolltest núcz mer geschriben han. Du solt mer schriben. Wan vnser herr wil dir noch als groß gnad geben als er dir ie gab, daz din tusent vnd aber tusent wer, so gb er dir vncz an dinen tod gng z schriben, die wil er es tn welt. Die Textpartie weist Anklänge an die später folgende Passage FS 1758 auf. 364 Vgl. FS 722 – 732: Dar nach kam der hailig gaist vnd klagt vnser frowen ber den brder, daz er jm groß gnad vnd vil gtter ding het gegeben von siner grossen barmherczikait: „[…] Vnd an vil grossen gnaden, die ich jm an jm selber gab, daz ließ er oft vnachtsamlich hin gan, daz er mir nit danckt, als er billichen slt gedanckt haben vnd vil hin ließ gan, daz er es vergaß vnd nit anschraib von jm selb vnd och von der swester Gerdruden vnd daz och nieman kunt tt, weder sinen frunden noch andern guotten lútten, die got mit jm gedanckt heten vnd gelobt.“ Vgl. auch die Beschwerde des Herrn 1301 – 1309: „da du niet kunt tstest, da von mir min lob vnd min ere gebraitet wer: denn nun núlich, daz dich din bichtiger kum berkam, daz du es etlichen lúten ain tail kunt tt vnd es och an schribt.“ Der Einsatz der Verben kund tuon und schriben erinnert an jene Verbindung

348 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Rede narrativiert und damit auf der Ebene der Figurenrede angesiedelt.365 Der womöglich intendierte Einsatz einer auf discours-­Ebene situierten Ich-­Instanz als Redaktor entfaltet in Kombination mit diesen autorisierenden Figurenreden einen Effekt der Beglaubigung des Schreibens. Wie flexibel der Einsatz der Figurenrede innerhalb des FS-Textes gehandhabt werden kann, demonstrieren nicht nur die in Figurenrede vorgebrachten ‚Schreibbefehle‘,366 sondern auch eine mündliche Rede der Gottesmutter, die sich direkt an narrative Adressaten wendet und eine Auslegung der Gerichtsvision bietet.367 Diese variable Gestaltung der Figurenrede lässt auf ein „Bewußtsein von der Dialogwiedergabe als narrativem Prinzip“ schließen, wie es Nine Miedema für den höfischen Roman, vor allem an Wolframs von Eschenbach „Parzival“, demonstriert hat.368 Auf diese Weise lassen sich der Einsatz der Figurenrede und die Redaktorfigur als Komponenten eines literarischen Erzählarrangements fassen, das eine autorisierende und beglaubigende Wirkung entfaltet. Eine Variation d­ ieses Erzählarrangements, das die Gnadenerfahrung in der Grundkonstel­ lation von Schreiber- bzw. Redaktorfigur und Visionärin multiperspektivisch narrativiert, bietet auch die Gnadenvita der Adelheid Langmann. Denn dieser Vitentext legt ebenfalls nahe, dass ein hagiographischer Ich-­Erzähler zur literarischen Erzählweise frauenmystischer Vitentexte gehört. Denn bereits im ersten Satz eröffnet hier ein Ich-­Erzähler, der sich aus dem unmittelbaren Kontext zunächst nicht genauer bestimmen lässt, die rede (AL, 1, 2) von den wundersamen Gnadenerfahrungen der Engelthaler Nonne mit einer Segensformel, die seine Autorität unterstreicht.369 Vielleicht suggeriert aber auch bereits die Episodenhaftigkeit der Textstruktur die ‚Präsenz‘ einer Instanz, die den Text kompiliert und redigiert. von kund tuon, sagen und schriben in der Prologpartie der Gnadenvita Christine Ebners (p. 4 f.), die in der Aufforderung zu einem Bekenntnis und zur Veröffentlichung der Gnadengaben enthalten sind. Auf diese Weise entfaltet auch das Gnadenleben des FS einen typenspezifischen, bekenntnishaften Gestus. 365 Vgl. die Textpartie FS 1573, in der die Gottesmutter Maria einen erneuten Schreibbefehl erteilt: „Du solt die gnad an schriben, die dir núlichen ist widervarn von dem hailigen vatter von himel.“ 366 Vgl. FS 442 – 447 Sankt Dominicus; vgl. die oben genannte Textpassage FS 1573 zum Schreibbefehl Mariae; 1762 – 1763, der Herr spricht zu dem Bruder: Er antwurt im: Du solt me schriben, wann ich will dir fúrbas als schne vnd núcze gnad kunt tn als ich ie tet. 367 Vgl. FS 746: Vnd die hailig junckfrou sprach: „Daz gericht, daz da geschehen ist, daz ist nit allain durch dez brders willen geschhen, es ist och durch ander lut geschhen, die sich da by besren súllen, die es hrend lesen oder selber lesend, wie not dem menschen ist, daz er sin leben wol bekenn vnd gedenck, wie er gelebt hab: da der brder nit brig mocht gesin, jm wúrden vf gehaben da er wenig sorg vf het, da er wol sibenczig jar alt waz vnd wol xxxvi jar jn gaistlichem leben waz gesin vnd nach all tag sin bicht tt.“ Die Passage schließt mit einem Erzählerkommentar in der dritten Person: Die ding geschahen anno domini M ccc xxiij, am Samstag nach sant nyclaus tag. Dieser abschließende Kommentar indiziert den Wechsel auf die durch die konkrete Jahresangabe faktisch wirkende discours-­Ebene, die hier durch die Verwendung des Präteritums die retrospektive Vermittlung anzeigt. 368 Vgl. Miedema: Dialoganalyse, besonders S. 56 – 64. 369 Vgl. AL, 1,1 – 4. Vgl. die Ausführungen in der Einleitung der vorliegenden Arbeit zu den erhaltenen Textzeugen der Adelheid-­Langmann-­Vita und der textgenetischen Schichtungsanalyse von Siegfried Ringler.

Die Rollenfigur des ‚Redaktors‘ als hagiographischer Erzähler | 349 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Denn der Vitentext wirkt, als ob er aus den verschiedensten Materialien zusammengefügt worden sei:370 So lassen etwa Episoden, die durch konkrete Jahresangaben datiert und in sich abgeschlossen sind, den Eindruck entstehen, dass hier eine Kombination verschiedener Quellen vorliegt.371 In einer primär liturgisch organisierten Sequenz (AL, 33, 5 – 61, 11), die dem Kirchenjahr folgt, finden sich Berichte, die die Mittlertätigkeit der Schwesternfigur hervorheben und die eine lebensweltliche Konkretisierung ihres Wirkens bieten: Zunächst die ‚Erzählungen‘ über Herman (AL, 44, 7 – 45, 7), dessen Selbstmord durch die Fürbitte der Schwester verhindert wird, und Marquart den Tokler (AL, 45, 8 – 46, 9), der durch ­Adelheids Einwirken zum gueten maister der heiligen schrift wird, und schließlich die eingeschobene „Binnenvita“ (Thali) des Richters Eberhart (AL, 53, 23 – 61, 11), den die Adelheid-­Figur zum Mönchsstand führt.372 Auch die Karitas-­Spes-­Entrückung (AL , 61, 12 – 66, 7) und die abschließende Abt-­von-­Kaishaim-­Partie (AL , 91, 29 – 96, 3) erwecken den Eindruck einer gewissen Eigenständigkeit und Abgeschlossenheit. Der Ich-­Erzähler der Vorgeschichte (AL, 1) lässt sich als extradiegetisch-­heterodiegetische Erzählinstanz fassen. Denn ihr Vorhandensein suggeriert, dass die nachfolgenden Berichte, die überwiegend aus der distanzierten Sichtweise in der dritten Person vermittelt sind, von einer Ich-­Person ausgehen.373 Allerdings konvergiert die Ich-­Perspektive des Hagiographen 370 Vgl. zur Struktur der Gnadenvita, Thali: Beten, Schreiben, Lesen, S. 177 – 179. Thali stellt fest, dass die Gnadenvita keinen „eigentlichen Prolog“ aufweise. Allerdings könnte man die lebensweltlich-­biographisch konkretisierte Textpartie (1, 4 – 4, 26) durchaus als „Vorgeschichte“ (Peters: Religiöse Erfahrung, S. 176) auffassen, die eine Einführung der Protagonistin und ihrer Lebensumstände vor dem Klostereintritt bietet, besonders im Hinblick auf den frühzeitigen Tod ihres Bräutigams und den göttlichen Auftrag, in das Kloster einzutreten. 371 Vgl. etwa S. 14, 16: Anno domini MCCCXXX an dem pfingstage; S. 19, 17: Anno Domini MCCCXXXI; S. 53, 23: Anno domini MCCCXXXVI (Eberhart-­Vita); S. 71, 6: Wir-­Perspektive des Konvents: Do man zalt von Cristi gebürt tausent jor dreu hundert jor und indem XLIIII jor an dem freitag noch unser frauwen tag assumpcio do ging der kor […]. Vgl. die Aufführung dieser Textpassagen in Strauch: AL, Einleitung, S. IX. 372 Vgl. Thali: Beten, Schreiben, Lesen, S. 178. 373 Ursula Peters sieht in d ­ iesem „Ich“ den selbstbewussten Ich-­Gestus des Hagiographen, vgl. Peters: Religiöse Erfahrung, S. 176. Caroline Emmelius hingegen versteht die Sprecherinstanz aufgrund der Verwendung des Perfekts in den Objektsätzen als Zeitgenossen der Schwesternfigur. Denn diese Sätze indizierten eine Gegenwartsnähe der Gnadenerfahrung, die durch das ‚offene Ende‘ noch nicht abgeschlossen und damit prinzipiell fortsetzbar sei. Vgl. Emmelius: Begnadung und Zweifel, S. 317. Ihre Argumentation ist allerdings nicht ganz unproblematisch, da ja im weiteren Verlauf eine retrospektive Erzählhaltung dominiert, die die in der Vergangenheit liegende Gnadenerfahrungen vermittelt, wie etwa die einzelnen Jahresangaben und kommentierende Erzählereinmischungen (AL , S. 48, 17 – 18 und 23 – 25) verdeutlichen. Der fehlende ‚Schluss‘ ist sowohl für die Gnadenvita Christine Ebners, die „Offenbarungen“ Margareta Ebners, Adelheid Langmanns und die Kempe-­Vita charakteristisch. Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 268 mit Angabe der Textbelege in Anm. 25, die die „prinzipielle Unabgeschlossenheit“ als Textmerkmal bestimmt, das zumindest die Möglichkeit einer Weiterführung der Gnaden anzeigt. Allein redaktionelle Ergänzungen in Form von Nachträgen deuteten das Ende der

350 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

in einigen Textpartien mit der Wir-­Perspektive der Engelthaler Schwesterngemeinschaft.374 Diese Wir-­Perspektive muss nicht zwangsläufig auf eine Engelthaler Schwester als Bearbeiterin des Textes hinweisen,375 sondern setzt vielmehr die Perspektive des von Gnaden gesegneten Konvents, zu dem die Visionärin gehört, literarisch um. Erzählstrategisch lässt sie sich als eine Art Authentisierungsstrategie fassen,376 die die kollektive Sichtweise des Klosters und der gemeinschaftlichen ‚Erfahrungen‘ vermittelt. Wie allerdings das Verhältnis der hagiographischen Ich-­Figur zur Buchentstehungsgeschichte zu bewerten ist, muss aufgrund der ­kurzen Angaben zur Textentstehung offen bleiben: In den selben zeiten kom ein hoher lesmeister predier ordens. do hiez si unser herre, daz si dem selben lesmeister all ir sache für leget. daz tet si. er überdaht und übertraht all ir sache und vant daz, daz ez allez gereht was und sterket si dor an. do hiez si der selb lesmeister daz si ez an schribe.377

Aus dieser sehr komprimierten Buchentstehungsgeschichte lässt sich das hagiographische Ich jedenfalls nicht näher bestimmen. Die Figur des Lesemeisters wird hier hingegen in ihrer Rollenfiguration als offizieller Prüfer der Gnaden konturiert. Denn der Schreibbefehl (AL, 26, 1 – 6) und eine Beglaubigung des Lesemeisters (AL, 27, 20 – 26) rahmen einen Liebes­dialog mit Christus, der von Anspielungen auf das Hohelied durchzogen ist 378 und Gnadenviten an (S. 268). Vgl. die liturgische Schlussformel Amen BMK, S. 254, die den Abschluss des Gebets markiert und den Nachtrag des Schreibers BMK, S. 254: Ihesu mercy quod Salthows. Vgl. ME, S. 161, 6 mit dem ‚nachträglichen‘ Zusatz: Deo gratias. Virgo mater dei tu miserere mei. Anno domini MCCCLIII in die Urbani completus est iste liber […]. CE GV , die nachträgliche Bitte des Schreibers p. 746: Bitten für mich armen, die Susanne Bürkle zufolge wohl von einem Redaktor gestrichen und mit biographischen Zusätzen versehen wurde, die in dieser Form auch in der Stuttgarter Handschrift S, fol. 154v–155r vorliegen. Md1 p. 746: vnd gab ir got was er ir verhaisen het das aug nie gesach or nie gehort noch in des menschen hertzen nie ist kumen das got berait hat denen die in lieb habent Zu dem selben lon helf vnsz got auch durch sein barmhertzikayt Amen. Vgl. den Visionsbericht AL, S. 80, 5, mit dem der Text in der Münchener Handschrift M, Cgm 99 3 zunächst abrupt endet. Erst nach einer weiteren Schauung findet sich ein biographischer Nachtrag: do man zalt von cristvs gepvrt CCC jor vnd dor nach in dem LXXIIIII jar starb disev fraw olhait Langenmennin an dem tag cecilia virginis et martiris. Vgl. Strauch: AL, Einleitung, S. XIII. Neueinsatz in AL, S. 80, 20 – 96, 3 mit Von irem gebete daz sie gwonlichen tet. 374 Vgl. AL, 60, 10 – 13; 71, 16 – 19 und 73, 1 – 3 mit einer Apostrophe der textinternen Adressaten: ir sült auch wizzen, all di di daz hörent oder lesent, daz hie mit gemeint sint alle di, di mit den kreutzen gingen, sie sint geistlich oder werltlich. Vgl. Peters: Religiöse Erfahrung, S. 177. 375 Vgl. Thali: Beten, Schreiben, Lesen, S. 175. 376 Wie oben erwähnt, bestimmt Susanne Bürkle die Augenzeugenschaft, die das Text-­Ich der Christina-­ Figur in CE GV, p. 12 evoziert, als eine Strategie der Authentisierung, vgl. Bürkle: Die ‚Gnadenvita‘ der Christine Ebner, S. 503 f. 377 AL , 26, 1 – 6. Emmelius leitet aus dieser Buchentstehung die Prüfung der mündlich vorgetragenen Gnaden­erfahrung ab, vgl. Emmelius: Begnadung und Zweifel, S. 319. 378 Vgl. Strauch: AL, S. 101, der Ct 5 und 1,2 als Textreferenzen identifiziert. Vgl. Peters: Religiöse Erfahrung, S. 179, die die Lesemeister-­Partien ausführlich im Hinblick auf die Beichtvaterthematik diskutiert.

Die Rollenfigur des ‚Redaktors‘ als hagiographischer Erzähler | 351 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

die Schwesternfigur 379 in der Rolle der Geliebten inszeniert. Die Rahmung d ­ ieses Dialogs durch die Lesemeister-­Episoden evoziert auf der übergeordneten Erzählerebene eine offizielle Approbation durch den Lesemeister. Am darauffolgenden Tag werden der Schwesternfigur wiederum außerordentliche Gnadenerfahrungen zuteil (AL, 28, 21), die im Text in Dialogform erscheinen. Und aus der Dialogform, die erzählstrategisch den dramatischen Modus repräsentiert, resultiert die vorgebliche ‚Unmittelbarkeit‘ der Erfahrung, die ihren vorläufigen Höhepunkt in einer imitatio Johannis findet.380 Allein aus der abschließenden Bemerkung 381 geht hervor, dass sich diese Vision während der Messe des Lesemeisters ereignet, der damit zunehmend in den Gnadenprozess integriert wird. Während einer Messfeier demonstriert der Empfang der Gnadenfrucht diese Einbeziehung des Lesemeisters.382 Damit ist die offizielle Prüfung durch den Lesemeister bereits selbst Teil des göttlichen Gnadenwunders. Von der relativ k­ urzen Lesemeister-­Partie (AL, 26 – 29, 20) geht eine autorisierende Wirkung aus, die sich über den weiteren gesamten Textverlauf erstreckt. Denn hier beglaubigt das Erscheinen des Lesemeisters bereits zu Beginn die „Gottesbegegnung der Seele mit Gott“,383 die in Gesprächen mit Christus, der Gottesmutter und den Heiligen in den verschiedensten Variationen dargeboten wird und mit der zunehmenden Stilisierung der Schwesternfigur als exemplarischer Fürbitterin einhergeht.384 Die Fokussierung auf die dialogische Gesprächsform, die sich von der Darbietung des Medinger Lebensberichtes Christine Ebners mit seinen ausführlichen Askese- und Krankheitsschilderungen, den verschiedenen Gesichten und Offenbarungen unterscheidet, bedingt die spezifische Ausgestaltung der Lesemeister-­ Figur.385 Denn diese ‚unpersönliche‘ Figur des Lesemeisters wirkt wie eine Verkörperung der offiziellen Autorisierung der Lehrgespräche, die allerdings in gewisser Weise bereits durch die Liebes- und Auserwähltheitsbeteuerungen in Figurenrede vorweggenommen wird.386 Dafür 379 Der Erzähler bezeichnet sie explizit als Schwester, vgl. AL, 27, 20 – 21: dor noch do dise swester zu ir selber kom, do sprach unser herre zu ir […]. 380 Vgl. AL , 28, 21 – 29,16. Vgl. zur Figuration des Johannes als geminter scriber mins herren, ME , S. 84. Vgl. die in Kapitel 4.2 „Die Figurationen der Ich-­Erzählerin und die Konzeption des Erzählens in den ‚Offenbarungen‘“ diskutierten Forschungsbeiträge zur Bedeutung des Apostels Johannes und der ­imitatio Johannis Volfing: John the Evangelist and Medieval German Writing, besonders S. 45 – 47. ­Schiewer: Die beiden Sankt Johannsen, S. 21 – 54. Zur Bedeutung der Johannes-­Apokalypse als Modell der Verschriftlichung frauenmystischer Texte, Grubmüller: Sprechen und Schreiben, S. 342. 381 Vgl. AL, 28, 26 – 27: unser herr gepot dem lesmaister daz er ir unsern herren geb. er fuer sein wek. 382 Vgl. AL, 29, 8 – 9: Dor noch über vierzehen tag do kom der lesmeister her wider und gab ir unsern herren, ir selb fünft frauwen. AL, 29, 18 – 20: Unser herre gab ir des selben mols und dem lesmaister hundert tausent sele uz dem fegfeuer und als vil guter leut bestetigt und als vil sünder bekert. 383 Thali: Beten, Schreiben, Lesen, S. 177. 384 Vgl. Peters: Religiöse Erfahrung, S. 180. 385 Vgl. ebd., S. 181. 386 Vor dem Klostereintritt stellt Christus unmissverständlich klar, dass allein seine Autorität gelte und sich die Schwesternfigur seinem Willen unterordnen müsse, vgl. AL, 3, 3 – 6: do antwurt ir unser herre

352 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

spricht, dass die Forschung die Offizialität des Schreibens und „den offiziellen Auftrag“ in der Darstellung des Schreibbefehls herausgearbeitet hat,387 der „nachdrücklich den Status des Textes als dominikanische Auftragsliteratur unterstreicht“.388 Gleichzeitig konstituiert ausschließlich der Schreibbefehl des dominikanischen Lektors den Status der Schwesternfigur als Autorin, die ihre Gnaden in Form von dialogischen Lehr- und Liebesgesprächen mit Christus vorgeblich selbst aufzeichnet.389 Diese schreibende Schwesternfigur ergreift erstmalig das Wort in der oben erwähnten Spes-­Karitas-­Vision, die den Höhepunkt der brautmystischen Vereinigung mit Gott bildet und in der der Umschlag der Erzählhaltung ähnlich unvermittelt wie in der Lesemeister-­ Messe (CE GV p. 12) der Medinger Gnadenvita eintritt. In dieser Textpartie hatte bereits Philipp Strauch und nach ihm Siegfried Ringler die „ursprünglichen Aufzeichnungen“ Adelheid Langmanns in Ich-­Form sehen wollen, die ein späterer Redaktor einem „Prozeß der Legendarisierung“ (Ringler) unterziehe, indem er konsequent die dritte Person verwende und nachträglich Anfangs- und Schlussteile hinzufüge.390 Wie in der Einleitung diskutiert, hat Susanne Bürkle demonstriert, dass diese literarisch durchkomponierte Spes-­ Karitas-­Entrückung, die aufgrund der personifizierten Darstellung der Spes und Karitas als Jungfrauen auf Tochter-­Syon-­Dichtungen basiert, wohl kaum so ‚buchstäblich‘ als authentisches Sprechen der Adelheid Langmann zu verstehen sei.391 Vielmehr bewirke der Ich-­Gestus eine intensivierte Darstellung der alle Sinne überwältigenden Liebesvereinigung und sei damit Teil einer literarischen Inszenierung, in der die Augenzeugenschaft der Protagonistin erzählstrategisch eingesetzt werde.392 Denn durch den Einsatz der Ich-­Form und die Fokussierung auf die Innenwelt der Schwesternfigur 393 wirkt die Darstellung der letztlich unbeschreiblichen unio mystica wie ein ‚persönlicher‘ Bericht. Allerdings ist dieser irn gedanken und sprach: „weder pfaffe noch alle die in dirre kirchen sint, die mugent die des niht gehelfen, daz du mich immer enpfahst, du globest mirz denne.“ Liebeserklärung, 5, 22: „du pist mein kint, du pist mein swester, du pist mein gemahel. ich bin dein vater, ich han dich geschaffen. ich bin dein brueder, wane ich bin mensche worden. ich bin gemahel, wan ich han dich auz erwelt.“ 15, 15 – 16: „du bist mir als lip als indert ein mensche uf ertrich.“ Wiederholung S. 25: „du pist mir liber denn indert ein mensch uf ertrich on ein mensche. und von heut untz uber ein jor, so pist mir denn der libst mensch den ich uf ertrich hon.“ 387 Vgl. Peters: Religiöse Erfahrung, S. 178 – 181. Vgl. auch Thali: Beten, Schreiben, Lesen, S. 174. 388 Peters: Religiöse Erfahrung, S. 181. 389 Vgl. die dialogischen Gespräche, die immer wieder die Liebe Gottes und die besondere Auserwähltheit der Adelheid-­Figur betonen, vgl. etwa: 2; 5 – 7; 11; 15 – 16; 21 – 22; 25 – 26; 42; 46; 47 und die monologisch strukturierte Gottesrede 69, 27 – 71. 390 Vgl. die Ausführungen in der Einleitung der vorliegenden Arbeit mit Angaben der entsprechenden Forschungsliteratur. 391 Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 277. 392 Vgl. ebd. 393 Vgl. AL, 65, 9 – 10: sein schön durchlauht mein hertze und durchging elle mein gliet;“ AL, 65, 24 – 25: ich sah auf und sah ihn ane. do was er als schöne daz ich sein nit erleiden moht, wann mich dauht, mein sele zerflüesse von rehter minne.

Die Rollenfigur des ‚Redaktors‘ als hagiographischer Erzähler | 353 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

‚persönliche Erfahrungsbericht‘ von Anfang an Teil der transzendierten Ebene der gött­ lichen Schauung (AL, 61, 15), in der die Schwesternfigur als „Frau“ (AL, 61, 19; 62, 3; 64, 1) in der Rolle der ‚Frau Seele‘ und Braut der Brautmystik figuriert. Das Sprechen aus dieser Rollenfiguration heraus scheint jedoch durch die abschließenden Bemerkungen (AL, 66, 3: und do ich wider zu mir selber kom) gebrochen, da die Ich-­Erzählerin die Unsagbarkeit des Geschehens thematisiert und dabei gleichzeitig eine zeitliche Verortung der Visionserfahrung bietet, die suggeriert, dass nun wieder die Ebene des sinnlichen Erlebens der Schwesternfigur eingenommen ist: daz ich nimmer gesagen kan von disem gesiht, denn daz ich daz wol weizz, daz ez sich erhueb do man complet gesungen het und wert biz an den andern tag daz man messe het gesungen. […] daz ­wünneclich, schön antlütz, daz ich gesehen het, lauht mir mer denn vir wochen inwendig in meiner sel.394

Der Einsatz der Verbform „sagen“ behauptet hier einen mündlichen Bericht und suggeriert die unmittelbare Authentizität der Äußerung. Damit konkretisiert die Ich-­Rede die in der Karitas-­Spes-­Entrückung dargebotene theologische Reflexion der christlichen Heils- und Erlösungsgeschichte als ‚persönlich erlebte Erfahrung‘: Dabei wird diese ‚personalisierte‘ Heilsgeschichte überblicksartig in der monologischen Partie der Karitas (AL, 62, 2 – 63, 17) zusammengefasst und findet in der unio mystica-­Erfahrung ihren Höhepunkt. Dieser Einsatz der Ich-­Rede lässt sich auch in anderen Textpartien beobachten: Denn das Text-­Ich der Protagonistin taucht wohl erneut mit der knappen Bemerkung ich verstunt des nit wol (AL, 95, 18)395 in dem mysteriös anmutenden ‚Briefwechsel‘ ­zwischen der Adelheid-­ Figur und der Figur des Priors von Kaishaim auf.396 Eine s­ olche Zuordnung ist allerdings wiederum nicht unproblematisch, da sie sich allein aus der vorhergehenden Abschlussformel des Briefes des Priors von Kaishaim und einer göttlichen Rede erschließen lässt. Diese Ich-­Bemerkung folgt auf die Abschlussformel got hab ere, die hier das Ende seines Briefes mit der Aufforderung markiert, dass die Adelheid-­Figur ihre besondere Gnadengabe (kraft, AL, 94, 21 ff.) zum Heil der Menschen einsetzen solle. Im Anschluss an die Ich-­Bemerkung setzt nun die göttliche Auslegung ­dieses Briefes ein.397 Nur wenn man diese Informationen der vorausgegangenen Briefpartie und der folgenden ‚Exegese‘ zusammensieht, lässt 394 AL, 65, 30 – 66, 7. 395 Vgl. Peters: Religiöse Erfahrung, S. 177 hält zu dieser Ich-­Einmischung fest, dass sie die Erzählhaltung des kommentierenden Berichterstatters unterbreche. Sie ordnet sie allerdings keinem Aussagesubjekt zu. 396 Vgl. AL, 93, 9 – 93, 36. Diese Briefpassage wird allein durch die Bemerkung si was in eim grozzen leiden und enpot dem selben menschen, daz er ir etwaz schrib. do schreib er ir ditz. Die Offenbarung des Abtes von Kaishaim 91, 29 f., die den Briefen vorausgeht, und die eigentlichen Briefe sind teilweise nur schwer verständlich. So macht bereits Strauch: AL, Kommentar, S. 115 auf die Verständnisschwierigkeiten der Partie 94, 1 – 94, 19 aufmerksam, die einen Brief der Adelheid-­Figur betreffen. 397 Vgl. AL, 95, 18 – 19: do kom under herre und legt ez also auz.

354 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

sich das Text-­Ich als Ich der Protagonistin dechiffrieren. Vielleicht liegt der Schlüssel zum Verständnis dieser verrätselt angelegten Partie aber auch in der göttlichen ‚Schriftauslegung‘ des Briefes: Denn möglicherweise exemplifiziert die Briefpassage die ‚transzendierte‘ Kommunikation z­ wischen der Figur des Abtes von Kaishaim und der begnadeten Adelheid-­Figur, die gerade nicht ohne göttliche Hilfe bzw. göttliches Einwirken verständlich ist und somit die prinzipielle Unverständlichkeit der Gottesgnade symbolisieren kann. Im Text legen nur einige wenige Inquitformeln nahe, dass etwa ein ausführlicher Bericht über ihre Askesepraxis oder Visionsberichte von einer ‚Person‘ aufgezeichnet werden, die mit dem hagiographischen Ich identifiziert werden kann.398 Die selbstbewusste Ich-­Rede des Texteingangs (AL, 1, 2), der kollektive Wir-­Gestus und die Inquitformeln generieren die Präsenz eines solchen hagiographischen Ichs. Diese wenigen Ich-­Einmischungen lassen in Verbindung mit den Inquitformeln, die zwar ebenso vereinzelt in den Text eingestreut sind, den Eindruck entstehen, dass es sich hier um authentische Berichte der Schwesternfigur handelt, die von der ‚Redaktor‘-Figur zusammengetragen werden. In den behandelten Vitentexten – dem Buch der Margery Kempe und den dominikanischen Gnadenleben Christine Ebners, Friedrich Sunders und Adelheid Langmanns – treffen wir auf die Präsenz eines hagiographischen Ichs, das sich zumindest zeitweilig in der Rolle eines ‚Redaktors‘ fassen lässt und von dem Text-­Ich der Protagonisten differenziert werden kann. Dieses hagiographische Ich, das vorgeblich unterschiedliche Materialien auswählt und einen Text ‚kompiliert‘, lässt den Eindruck entstehen, dass eine ‚offizielle, klerikale‘ Instanz den Wahrheitsgehalt der Texte gewissermaßen absichert und verifiziert. Denn die hagiographischen Erzählerinstanzen in BMK, FS, AL und CE lassen sich in den distanzierten Erzählerberichten, Kommentaren und Einlassungen in der dritten Person als extradiegetisch-­heterodiegetisch beschreiben und bieten daher eine Art ‚Außenperspektive‘ auf die erzählte Welt der Gnadenerfahrung. Die Ich-­Einlassungen profilieren sie dagegen in den verschiedenen Vitentexten als homodiegetische Erzähler, die durch ihre ‚Mitarbeit‘ an der vorliegenden Textredaktion Anteil als (Augen-)Zeugen und Gnadenvermittler beanspruchen und die Wahrheit des Geschriebenen ‚persönlich‘ garantieren können. Die Kombination von Ich-­Reden der Protagonisten mit Ich-­Äußerungen der hagiographischen Ich-­Erzähler bietet hochkomplizierte Verschachtelungen der verschiedenen narrativen Ebenen und Sprecherinstanzen, die in der Gnadenvita des Christine-­Ebner-­Textes besonders ausgeprägt sind. Dabei ist der Wechsel von ‚Selbstbericht‘ und ‚Fremdbericht‘ möglicherweise auch dazu angelegt, das Gnadenwirken Gottes multiperspektivisch zu dimensionieren: einer 398 Vgl. AL, 30, 14: Dor noch sagt si eins mols, daz nie kein mensch in daz closter köm, ez wurd ir vor kunt getan von got. 53, 1: Eines tages verjah si als Einleitungsformel eines ausführlichen Berichts ihrer Bußübungen mit Disteln, einem härenen Hemd, Eisenketten und einem Brett, das sie unter ihr Bettlaken legt. AL, 73, 10 – 12: ditz widerfuer ir geistlich und nit leiplich, wann si verjah, daz sie leiplich wenig ie kein ding geseh.

Die Rollenfigur des ‚Redaktors‘ als hagiographischer Erzähler | 355 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

„authentischen“ und Unmittelbarkeit versprechenden Ich-­Form und einer objektivierenden hagiographischen Erzählweise. Denn das Sprechen in verschiedenen Rollen kennen wir nicht nur aus den hier diskutierten frauenmystischen Texten, sondern auch aus der bereits erwähnten Formulierung aus Heinrich Seuses „Büchlein der ewigen Weisheit“: Er nimt an sich, als ein lerer tn sol, aller menschen person. nu redet er in eins súndigen menschen p­ erson, denne in eins volkomen menschen person, etwenne in der minnenden sele bilde, dar nah als dú materie ist, in einer gelichnúze eins dieners, mit dem dú Ewig Wisheit redet.399

Die Alternation der Erzählperspektive könnte demnach auch mit den intendierten Adressaten zusammenhängen. Die Texte scheinen jedenfalls das Entstehungsszenarium des mündlichen Bekenntnisses und der persönlichen Reminiszenz geradezu ‚heraufzubeschwören‘ und besonders beziehungsreich einzusetzen, indem sich die im Text verstreuten Hinweise und Anspielungen aus dem Prolog und den Ich-­Einmischungen der Schreiber/Redaktoren zu einer Buchentstehungsgeschichte verdichten.

399 Bihlmeyer: Das Büchlein der ewigen Weisheit, S. 198.

356 | Margery Kempe im Kontext der Vitenliteratur süddeutscher Dominikanerinnen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

5 Zusammenfassung und Ausblick

Die vorliegende Arbeit hat versucht, die Erzählerfigurationen und die Erzählweise der Buchentstehungsgeschichte in der Kempe-­Vita im Vergleich mit den Vitentexten aus den Dominikanerinnenklöstern Maria Medingen und Engelthal näher zu beleuchten. Denn die anglistische Forschungsdiskussion ist eher auf eine lebensgeschichtliche Erschließung des Kempe-­Textes fokussiert, die auf der oben diskutierten Prämisse basiert, dass die Kempe-­ Vita nicht nur die Erfahrungs- und Lebenswelt seiner Protagonistin, sondern auch die Umstände ihrer Entstehung akkurat wiedergibt. Zum Zweck einer genaueren Bestimmung der erzählerischen Vermittlung in der Kempe-­Vita und ihrer Einordnung in die frauenmystische Vitenliteratur wurden zwei unterschiedliche methodische Ansätze miteinander verbunden: eine überlieferungs- und textgeschichtliche Untersuchung der Kempe-­Vita und der erhaltenen Druckfassungen auf der Basis der Material Philology in Kombination mit einem an der Erzähltheorie orientierten Verständniszugang. Ausgangspunkt waren Überlegungen zur Überlieferungsgeschichte der unikal überlieferten Kempe-­Handschrift in Anlehnung an den „überlieferungsgeschichtlich und gebrauchsfunktionalen Frageansatz“ (Steer) der Würzburger Forschergruppe für deutsche Prosa des Spätmittelalters um Kurt Ruh und die Material Philology, die die Handschrift als materiellen Überlieferungsträger mit bedeutungsgenerierenden Repräsentationssystemen konzeptionalisiert hat. Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass die Entstehungsbedingungen des Kempe-­ Textes wohl eher im Rahmen einer offiziellen monastischen Literaturproduktion vermutet werden dürfen, die im Umkreis des benediktinischen Kathedralpriorats in Norwich und der nordenglischen Kartause Mount Grace anzusiedeln ist. Die Ebene der handschriftlichen Überlieferung spricht gegen das weltlich-­private Entstehungsumfeld, wie es die textintern erzählte Buchentstehungsgeschichte suggeriert und von der Kempe-­Forschung zu einer Art Faktum festgeschrieben worden ist. Darauf deutet jedenfalls auch der Short Text der Juliana von N ­ orwich hin, der in der oben diskutierten Kartäuseranthologie Add MS 37790 aus der Mitte des 15. Jahrhunderts vorliegt und ebenfalls Verbindungen zu den Norwicher Benediktinern als Träger, Förderer und Vermittler frauenmystischer Viten- und Offenbarungstexte erkennen lässt. Näheren Aufschluss könnten möglicherweise die erhaltenen Handschriften des Norwicher Benediktinerklosters bieten, deren Untersuchung ein wichtiges Forschungsdesiderat bleibt.1 Ordensübergreifende literarische Netzwerke, aus denen der Kempe-­Text hervorgegangen sein könnte, zeichnen sich zumindest auch in der Mitüberlieferung der erhaltenen Kempe-­Druckfassungen des 16. Jahrhunderts ab, wie die vorliegende Untersuchung zeigen konnte. So basiert die Wynkyn-­de-­Worde-­Druckkompilation um 1501 sehr wahrscheinlich 1

Vgl. Beadle: Prolegomena to a Literary Geography of Later Medieval Norfolk, S. 99.

Zusammenfassung und Ausblick | 357 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

auf der unikal überlieferten Kempe-­Handschrift. Denn die englischsprachigen Kartäuser haben Handschriftenmaterial für gedruckte Texte von Wynkyn de Worde bereitgestellt und sind als Auftraggeber für gedruckte Erbauungsliteratur in Erscheinung getreten. Ihre sorgfältigen Textstudien im Bereich der mystischen Erbauungsliteratur demonstrieren nicht nur eine akribische Prüfung der Textqualität, sondern auch ein Interesse an einer autorzentrierten Form der Überlieferung, wie besonders die oben diskutierten Richard-­Rolle- und Walter-­ Hilton-­Textzeugen nahelegen. Es liegt daher zumindest im Bereich des Möglichen, dass die Kartäusermönche an der Autorkonkretisation der Margery Kempe aus Lynn beteiligt gewesen sein könnten, wie sie aus Incipit und Kolophon des Kempe-­treatyse hervorgeht. Die von Wynkyn de Worde im ausgehenden 15. bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts produzierten Druckfassungen, die ebenfalls die bedeutenden Erbauungstexte von Rolle und Hilton umfassen, weiten das literarische Netzwerk auf die Birgittinerinnen und Lady Margaret Beaufort aus, deren Rolle als Auftraggeberin, Besitzerin und Rezipientin religiöser Erbauungsliteratur dokumentiert ist. Die Druckanthologie von Henry Pepwell aus dem Jahr 1521, die den Kempe-­treatyse in eine Überlieferungsgemeinschaft mystischer Traktate integriert, zeugt von einer programmatischen Ausrichtung im Rahmen der Ausbildung einer ‚privaten‘ Andachts- und Frömmigkeitspraxis. Die beiden Druckfassungen belegen nicht nur Retextualisierungen des Kempe-­Textes im Kontext spezifischer Gebrauchssitua­ tionen, sondern auch seine anhaltende Wirkungsmächtigkeit und Popularität. Wie die Untersuchung der Überlieferungs- und Textgeschichte zeigen konnte, zeichnen sich für die Kempe-­Handschrift und die Druckfassungen die Einbettung in den größeren Zusammenhang einer offiziellen, von monastischen und hochadeligen Kreisen getragenen Literaturproduktion ab, die eher im Gegensatz zu der immer wieder behaupteten ‚Singularität‘ und Marginalisierung des Kempe-­Textes steht.2 Der von Kelly Parsons vermutete laikale Gebrauchskontext der Kempe-­Vita lässt sich auf der Ebene der Handschrift nicht bestätigen. Denn bereits die lateinischen Marginaleinträge des Schreibers Salthows indizieren ein monastisches Lesepublikum. Die Untersuchung der rubrizierten Marginaleinträge hat eine kartäusische Textlektüre nachzeichnen können, die den ‚Lektürevorgaben‘ des Schreibers Salthows folgend die sinnlich erfahrbaren ­­Zeichen der ‚Heiligkeit‘ und Gottbegnadung im Kempe-­Text allmählich zu einer umfassenden mystischen Liebestheologie anreichert. Die mit Trifolium-­Symbol, Christusmonogramm und lateinischen Liturgieformeln markierten Textpassagen lassen eine Art ‚Textadaption‘ für die Klosterspiritualität erkennen, die in den Randeinträgen zu den beiden Kartäuserautoren Richard Methley und John Norton deutlich hervortritt. Gleichzeitig deuten diese 2

Vgl. zuletzt Bale: The Book of Margery Kempe, Einleitung, S. xi. Vgl. auch Weissmann: Margery Kempe in Jerusalem, S. 217. Dickman: Margery Kempe and the Continental Tradition of the Pious Woman, S. 166: „In her singularity, isolation and individuality, Margery Kempe represents a medieval, English middle class version of one of the most important feminist movements in history.“

358 | Zusammenfassung und Ausblick © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Marginalglossen darauf hin, dass die Klosterleitung in Mount Grace die Produktion und Tradierung mystischer Literatur offiziell gefördert hat, in deren Kontext die Kempe-­Vita situiert werden kann. Entgegen den Einschätzungen der älteren englischsprachigen Mystik­ forschung profilieren die Mystiktraktate, die discretio-­spirituum-­Lehre und die lateinischen Bearbeitungen Richard Methley als gelehrten Autor, der die verschiedenen ‚Register‘ mystischer Theologie souverän beherrscht. Die ihm zugeschriebenen Texte entfalten eine Art literarisch-­theologischen Expertendiskurs, der in den oben diskutierten Studien des Kartäusergelehrten James Grenehalgh und auch auf der Ebene der Mitüberlieferung aus der Klosterbibliothek Mount Grace zum Ausdruck kommt. Für die Kartause Mount Grace zeichnet sich daher ein wohl durchaus intendiertes Programm ab, das auf die Sammlung, Tradierung und Übersetzung mystischer Erbauungsliteratur zentriert und von der dortigen Klosterleitung getragen ist. Auf der Basis ­dieses überlieferungsgeschichtlichen Befundes, der den Kempe-­Text als Teil einer offiziellen und institutionalisierten ‚Kartäuserliteratur‘ ausweisen kann, hat die Textanalyse die Entfaltung des komplexen Erzählarrangements innerhalb der textinternen Buchentstehungsgeschichte herausgearbeitet: Die Informationen über den Schreib- und Abfassungsprozess aus dem Prolog und den epilogartigen Buchkapiteln verdichten sich mit den vereinzelt in den gesamten Text eingestreuten Ich-­Bemerkungen zu einer ‚Schreiber­ geschichte‘, in deren Zentrum der schreibende Priester und das von ihm redigierte, verrätselt wirkende ‚Original‘ des ersten Schreibers stehen. Durch die Ich-­Einlassungen auf der Ebene des Erzählens und dem Auftreten des schreibenden Priesters als Figur in den Kapiteln 24, 25, 62 und 75 wandelt sich die zunächst extradiegetisch-­heterodiegetische Perspektive eines schreibenden Hagiographen zu der ‚persönlich‘ verbürgten Erzählung einer Ich-­ Figur, die über die Rolle eines anonymen Berichterstatters hinausgeht, indem sie direkten Anteil an der Verschriftlichung beansprucht und selbst in das göttliche Begnadungswunder eingebunden ist. Ein Vergleich mit den „Offenbarungen“ der Medinger Dominikanerin Margareta Ebner eröffnet den Blick auf die mögliche Vielgestaltigkeit texttypenspezifischer Erzählerfigurationen: Denn hier ist die Geschichte der Buchentstehung an die Perspektive der schreibenden Ich-­Erzählerin gebunden, die sich als autodiegetische bzw. autohagiographische Ich-­Erzählerin bestimmen lässt. Die Ich-­Aussagen über das Schreiben profilieren die Ich-­Erzählerin vor allem in der Mittelpartie in ihrer Rolle als Autorin, die die Wahrheit ihrer Offenbarungsschrift mit ihren eigenhändigen Aufzeichnungen verbürgt. Gleichzeitig figuriert sie auf der Ebene der histoire als ‚beschriebenes Ich‘ und Augenzeugin der göttlichen Gnadenwunder, die ihr zuteilwerden. Im Unterschied zur Kempe-­Vita führen die Medinger „Offenbarungen“ die Autorisierung der Gnadenerfahrung durch die Überführung in das Medium der Schrift auf der Ebene des schreibenden/erzählenden Ichs vor, dessen Autorität aus der ‚persönlichen Erfahrungsebene‘ des beschriebenen Ichs mit den Berichten über die körperlichen Leiden, Gnadenrufe, Kindheits- und Kreuzigungsvisionen und den zeitweiligen Entzug der Gnadengaben resultiert. Zusammenfassung und Ausblick | 359 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Auf der Ebene der Handschriften zeigen sich unterschiedliche Konkretisierungen, die mit der textintern evozierten Autorinnenpräsenz verbunden sind: Wie die Frauenmystikforschung herausgearbeitet hat, stilisieren die Nachträge die älteste Handschrift M zu einem autographen Autororiginal, das als Zeugnis der Begnadung einer einzelnen Schwester des Klosters Maria Medingen gelten kann. Die vorliegende Arbeit hat anhand der Berliner Handschrift mgq 179 aus dem Dominikanerinnenkloster St. Nikolaus in undis aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts zeigen können, dass hier nicht nur die Überschrift Vo[n] einer gute[n] heilige[n] Swest[er] brediger ordens auf fol. 184r ins Exemplarische gewendet ist: Auch die rubrizierte H-Initiale (fol. 282r), die den Beginn des Paternosters markiert, ist zwar der Form der Lombarde in der Handschrift M nachgebildet, aber stark vereinfacht, ohne jegliche ‚Ausschmückung‘. Erst der Nachtrag im Register der Handschrift mgq 179 (Bl. v.r) bezeugt ein Interesse an der Enthüllung namentlicher Autorschaft. Auf diese Weise legen die Margareta-­Ebner-­Handschriften programmatische Lesarten – im Sinne eines selbstgeschriebenen Autororiginals für M und einer exemplarischen Ausdeutung als vorbildlicher Dominikanerschwester in mgq 179 – nahe, die auf der visuellen Repräsentationsebene und der Ebene der paratextuellen Nachträge umgesetzt sind. Im Londoner Margareta-­Ebner-­Kompendium aus dem 18. Jahrhundert zeichnet sich dagegen eine funktionsgeschichtliche Einbindung in das Familienandenken der Familie Ebner-­Eschenbach ab, die sich auf Margareta Ebner als eine dem Adelsgeschlecht der Ebner-­Eschenbach angehörige Vorfahrin berufen konnte.3 Im Vergleich mit der Ich-­Rede der „Offenbarungen“, die die Bemerkungen zum Schreibprozess zur Autorrede profilieren, bietet die Gnadenvita der Engelthaler Dominikanerin Christine Ebner eine hochkomplexe Verschachtelung der verschiedenen narrativen Ebenen und Sprecherinstanzen. Das Text-­Ich der Schwesternfigur ist hier auf existentielle Weise mit dem Auftreten des hagiographischen Ichs verbunden, das sich besonders in den als Schrifttexten markierten Ich-­Berichten in Inquitformeln, punktuellen Ich-­Einmischungen und k­ urzen Erzählerkommentaren manifestiert.4 Während das Text-­Ich der Schwesternfigur ­zwischen der retrospektiven Vermittlungsebene des Schreibens und der erinnerten/ beschriebenen ‚Erfahrungsebene‘ der erzählten Welt oszilliert, wird das hagiographische Ich vornehmlich auf einer übergeordneten Erzählerebene entfaltet. Auf diese Weise konkretisieren die diversen Sprecherebenen die Vorstellung verschiedener ‚Abfassungsstadien‘ und Schreib- bzw. Kompilationstätigkeiten. Jedenfalls scheint hier die mit literarischen Mitteln evozierte Suggestion eines ‚Originals‘ programmatischer Teil einer Buchentstehungsgeschichte im Sinne einer Erzählung von der Buchwerdung zu sein. Auch in der Vita des Engelthaler Klosterkaplans Friedrich Sunder, die überwiegend in szenischen Lehrdialogen narrativ umgesetzt ist, konturieren eine Reihe von Ich-­Bemerkungen 5 in Verbindung mit 3 Vgl. Federer: Mystische Erfahrung, besonders S. 413 – 420. 4 Vgl. Bürkle: Die ‚Gnadenvita‘ Christine Ebners, S. 503 f. 5 Vgl. FS 36; 63; 517; 1603.

360 | Zusammenfassung und Ausblick © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

erläuternden Erzählerkommentaren in der dritten Person 6 eine Redaktorinstanz. Während die dialogisch entfaltete ‚Erfahrungsebene‘ die unmittelbare Gotteserfahrung der brder-­ Figur in immer neuen Variationen präsentiert und auf diese Weise das Schreiben legitimiert, bietet die Ebene des Erzählens mit der zunehmenden Konturierung einer Redaktorinstanz eine Art Absegnung durch einen Außenstehenden. Die „Offenbarungen“ der Engelthaler Nonne Adelheid Langmann eröffnen die rede von den Gnadenerlebnissen mit einer autoritativen Segensformel und sie bieten damit wiederum eine andere Akzentuierung der Erzählform. Auch hier spielt die äußerst kompakt dargelegte Buchentstehungsgeschichte 7 auf die Existenz von selbstgeschriebenen Aufzeichnungen an, die offenbar von der vorliegenden redigierten Fassung zu unterscheiden sind. Dieser Eindruck resultiert jedoch, wie in der Gnadenvita Christine Ebners, aus der literarischen Ausgestaltung der verschiedenen Sprecherebenen, die nicht zwangsläufig den faktischen Bearbeitungs- und Textentstehungsprozess wiedergeben müssen. Mit den einzelnen Sprecherebenen – der selbstbewussten Ich-­Rede des Texteingangs, dem kollektiven Wir-­Gestus der Schwesterngemeinschaft,8 den Inquitformeln des hagiographischen Ichs und den wenigen Ich-­Berichten der Schwesternfigur – verbinden sich jedenfalls bestimmte Vorstellungen über die verschiedenen Stadien des Textentstehungsprozesses. Und sie sind Teil jener Geschichten, die die ‚Buchwerdung‘ einer Inspirationserfahrung erzählen, die als persönliches Erlebnis inszeniert ist. Zusammenfassend lässt sich als Ergebnis dieser vergleichenden Betrachtung der Kempe-­ Vita mit der Medinger und Engelthaler Vitenliteratur formulieren, dass sich die hagiographischen Erzähler vornehmlich in den Erzählerberichten und -kommentaren und Ich-­Einlassungen auf discours-­Ebene entfalten, während sie auf histoire-­Ebene als Prüfer, Augenzeugen, Berichterstatter und Schreiber auftreten können, die oftmals direkt in das Gnadenwunder einbezogen werden. Die Ebene des Erzählens erscheint im Rahmen der Wahrheits- und Authentizitätsbegründung funktionalisiert. Die unterschiedlichen textbezogenen Akzentuierungen der hier diskutierten Viten- und Offenbarungstexte verdeutlichen das mögliche Spektrum literarisch stilisierter Buchentstehungsszenarien und einer heilsgeschichtlich-­transzendierenden Erzählweise, die verschiedene Grade und Abstufungen einer erzählerisch vermittelten ‚Unmittelbarkeit‘ evoziert. Gemeinsam ist diesen F ­ rauenviten, dass die Komplexität der Ebene des Erzählens offenbar mit der Komplexität der darzustellenden Gotterfahrung korrespondiert, die sich zwar im Leben einer Person manifestiert, aber letztlich die Ausdrucksmöglichkeiten der menschlichen Sprache übersteigt.9 Zum einen scheint die Erzählweise durch den Gegenstand des Erzählten determiniert und zum 6 Vgl. FS 34 – 36; 69; 329 – 330; 1794. 7 Vgl. AL, 26,1 – 6. 8 Vgl. AL, 60, 10 – 13; 71, 16 – 19; 73, 1 – 3. 9 Vgl. Haug: Das Gespräch mit dem göttlichen Partner, S. 259.

Zusammenfassung und Ausblick | 361 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

anderen vielleicht auch durch das Interesse bzw. die „Erwartungshaltung“10 (Ringler) der jeweiligen Klöster, in denen die Vitentexte entstanden bzw. rezipiert worden sind. Von daher ist es wohl nicht zufällig, dass etwa der Medinger Offenbarungstext Margareta Ebners und die Gnadenvita Christine Ebners die Gnadenerfahrung textintern als Ich-­Rede begnadeter Autorinnen repräsentieren, die das Ansehen ihrer jeweiligen Konvente mehren konnten, während die Margery-­Figur als vorbildhafte Verkörperung einer persönlichen Gotteserfahrung das Interesse der englischen Kartäusermönche gefunden hat. Dies legen zumindest die rubrizierten Marginaleinträge in der Handschrift als auch die Druckfassungen mit ihrem Fokus auf die Gottesdialoge nahe, die eine gewisse Adaption der Erzählweise je nach Gebrauchskontext indizieren können. Auf diese Weise könnte die literarische Ausformung der Erzählhaltung nicht nur texttypenspezifisch, sondern auch rezeptions- und funktionsgeschichtlich von dem jeweiligen Rezeptionsraum her bestimmt sein.

5.1 Die sogenannten „Offenbarungen“ der Katharina Tucher: Autograph und Inszenierung eines Originals? Bisher ist allerdings die Frage nach der Existenz frauenmystischer ‚Originalaufzeichnungen‘ offen geblieben, von den „Offenbarungen“ der Dominikanerin Elsbeth von Oye 11 in der Handschrift Zürich, Zentralbibliothek, Ms. Rh. 159 aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts 12 abgesehen, deren Status als Autograph in der neueren Forschung nicht unumstritten ist.13 Thematisch sind die „Offenbarungen“ gänzlich auf die Entfaltung einer Leidensmystik 10 Ringler: Die Rezeption der mittelalterlichen Frauenmystik, S. 193. Er formuliert eine s­ olche Überlegung im Hinblick auf die Entfaltung des Rollen-­Ichs in frauenmystischen Vitentexten: „Das Rollen-­Ich entwickelt sich in seiner literarischen Gestalt in engstem Bezug zur Erwartungshaltung der klösterlichen Gemeinschaft, dem wichtigsten Empfänger der Nonnenliteratur.“ 11 Wolfram Schneider-­Lastin, Zürich plant die Textausgabe der Handschrift Z. Zuletzt hat er „Leben und Offenbarungen“ des Ötenbacher Schwesternbuchs in der 1994 entdeckten Handschrift Breslau, Universitätsbibliothek, MS IVF 1942 ediert. Vgl. Wolfram Schneider-­Lastin: Leben und Offenbarungen der Elsbeth von Oye. Textkritische Edition der Vita aus dem „Ötenbacher Schwesternbuch“. In: Kultur­ anthropologie des deutschsprachigen Südwestens im späteren Mittelalter. Studien und Texte. Hrsg. von Barbara Fleith und Rene Wetzel. Tübingen 2009, S. 395 – 567. 12 Vgl. das Digitalisat der Handschrift Z http://www.e-­manuscripta.ch/zuz/content/titleinfo/1380075 [28. 08. 2018]. 13 Während Peter Ochsenbein in seinem Beitrag zur Leidensmystik der Elsbeth von Oye noch zurückhaltend formuliert, geht Wolfram Schneider-­Lastin fest von dem autographen Status der Züricher Handschrift aus. Vgl. Peter Ochsenbein: Die Offenbarungen der Elsbeth von Oye als Dokument leidensfixierter Mystik. In: Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposium Kloster Engelberg 1984. Hrsg. von Kurt Ruh. Stuttgart 1986, S. 423 – 437, hier S. 423. Wolfram Schneider-­Lastin: Das Handexemplar einer mittelalterlichen Autorin. Zur Edition der Offenbarungen der Elsbeth von Oye. In: Editio 8 (1994), S. 53 – 70, hier S. 53 „eigenhändige Aufzeichnungen“ und S. 55 „die von der Autorin

362 | Zusammenfassung und Ausblick © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

ausgerichtet, die insbesondere in der strengen Askesepraxis mit einem Kreuz ihren Ausdruck findet, dessen scharfe Nägel sich tief in die Haut der Protagonistin eingraben und ihre Seele durch das körperliche Leiden für die als Mark- und Blutaustausch imaginierte Minneerfahrung mit Christus und der Heiligen Dreifaltigkeit öffnen.14 Ihre vorgeblich eigenhändigen Aufzeichnungen in der Züricher Handschrift Z wertet die Forschung als „private, tagebuchartige Dokumente“, die ihrem inneren Erleben Ausdruck verleihen.15 Wolfram Schneider-­Lastin setzt in seiner überlieferungs- und textgeschichtlichen Untersuchung den Einsatz der Ich-­Perspektive als Authentizitätskriterium an.16 Er betrachtet die „Offenbarungen“ aufgrund der sorglos anmutenden Abfassung als Autograph, da insbesondere im zweiten Teil der Handschrift (S. 125 – 160) zahlreiche Streichungen, Nachträge,17 Erweiterungen in Form von eingebundenen zedilli und Rasuren 18 eine „wohl unmittelbare Niederschrift der Auditionen“19 bzw. die Edition der Handschrift „als persönliches Handexemplar der Autorin“20 suggerieren. In der nachlässig wirkenden Schrift, dem wechselnden Schriftduktus, der alternierenden Tintenfarbe, den vereinzelten Rubrizierungen, den freigebliebenen Seiten und den Abkürzungen sieht er den „persönlichen Code“ der Autorin in einer „Urschrift“ abgebildet.21 Als signifikant erweist sich, dass das Erscheinungsbild des Züricher Codex Merkmale aufweist, die der textinternen Beschreibung einer ‚Originalschrift‘ entsprechen, wie sie der Kempe-­Text entwirft: Þe booke was so euel wretyn […] ne þe lettyr was not schapyn ne formyd as oþer letters ben […] þe boke was so euel sett & so vnresonably wretyn.22 Die sogenannten „Offenbarungen“ (um 1421) der Nürnberger Laienschwester

14 15

16 17 18 19 20 21 22

verfassten Selbstzeugnisse“. Ders.: Die Fortsetzung des Oetenbacher Schwesternbuchs und andere vermisste Texte in Breslau. In: ZfdA 124 (1995), S. 201 – 210, hier S. 209. Vgl. neuerdings Nemes: Von der Schrift zum Buch, S. 204 – 206: Nemes argumentiert überzeugend, dass die „Inkonsequenz der Bearbeitung (Rasuren, Streichungen, Einfügungen und erneute Beschriftungen der Tilgungen)“ (S. 206) nicht auf die Autorin zurückgehen müssen, sondern auch Aufzeichnungen eines Amanuensis darstellen könnten. Vgl. den thematischen Überblick in Ochsenbein: Die Offenbarungen der Elsbeth von Oye, S. 430 – 437. Ebd., S. 136. Vgl. auch Monika Gsell: Das fließende Blut der Offenbarungen der Elsbeth von Oye. In: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Hrsg. von Walter Haug und Wolfram Schneider-­ Lastin. Tübingen 2000, S. 455 – 482, hier S. 461. Gsell argumentiert allerdings psychologisierend, indem sie auf die Psychoanalyse Freuds und das „struktural-­semiotische Sprachkonzept“ (S. 481) des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan rekurriert (besonders S. 471 – 475). Vgl. Schneider-­Lastin: Die Fortsetzung des Oetenbacher Schwesternbuchs und andere vermisste Texte in Breslau, S. 209. Vgl. in Auswahl die Streichungen in Z auf S. 150; 151; 152; 159 und 160. Vgl. in Auswahl S. 125; 132; 133; 141; 147; 149; 155. Ochsenbein: Die Offenbarungen der Elsbeth von Oye, S. 425. Vgl. auch Gsell: Das fließende Blut, S. 461, die auf die These von Wolfram Schneider-­Lastin rekurriert. Schneider-­Lastin: Das Handexemplar einer mittelalterlichen Autorin, S. 57. Ebd., S. 56 f. BMK, S. 4, 14 – 40.

Die sogenannten „Offenbarungen“ der Katharina Tucher | 363 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

­ atharina Tucher aus dem Dominikanerinnenkloster St. Katharina haben eine ähnliche K Forschungsdiskussion über die Umstände ihrer faktischen Entstehung und die Authentizität der Handschrift (Nürnberg, Stadtbibliothek, Cent VI, 57, fol. 263r–292v) hervorgebracht, deren ‚sorglos ausgeführtes‘ Erscheinungsbild als Ausweis ihrer Echtheit angesehen wird.23 Karin Schneider geht wohl aufgrund einer textinternen Jahresangabe (Nr. 82, S. 65, 22: An der mantag zv naht vor iors abent, da man zalt xiiij hvndert und daz xxj iar ein ging nach Krist gepvrt) davon aus, dass die Handschrift um das Jahr 1421 vor Katharinas Klostereintritt zu datieren sei.24 Aufgrund des literarischen und verrätselt wirkenden Charakters der „Offenbarungen“ ist es allerdings fraglich, ob sich die historische Faktenlage aus dem Text auf diese Weise erschließen lässt. Insofern stellt sich auch im Hinblick auf „die Offenbarungen“ die von der bisherigen Forschung vielleicht zu schnell beantwortete Frage nach der faktischen Textentstehung. Es erscheint nämlich durchaus diskussionswürdig, ob der Tucher-­Text tatsächlich vor dem Klostereintritt entstanden sein muss. Denn diese Annahme beruht allein auf textinternen Anspielungen und Kommentaren, aus denen kombiniert werden kann, dass der Ehemann der Sprecherin verstorben ist.25 Dies muss allerdings nicht notwendigerweise bedeuten, dass der Offenbarungstext von einer in der Welt lebenden Witwe geschrieben wurde. Denn wir 23 Karin Schneider und Werner Williams-­Krapp identifizieren Katharina Tucher mit der wohlhabenden Witwe des Otto Tucher aus Neumarkt in der Oberpfalz. Vgl. Karin Schneider: Tucher, Katharina. In: 2 VL 9, Sp. 1132. Vgl. die Textausgabe von Werner Williams-­Krapp/Ulla Williams (Hrsg.): Die Offenbarungen der Katharina Tucher. Tübingen 1998 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 98) mit einer detaillierten Einleitung. Alle Zitate sind dieser Edition entnommen, die im Folgenden mit der Sigle KT bezeichnet wird. Vgl. auch Antje Willing: Literatur und Ordensreform im 15. Jahrhundert. Deutsche Abendmahlsschriften im Nürnberger Katharinenkloster. Münster 2004, S. 42. Vgl. zum Klostereintritt, der wohl um das Jahr 1433 anhand der jüngsten datierbaren Handschrift (Nürnberg, Stadtbibliothek, Cent V, 28 vom 13. März 1433) aus Katharina Tuchers Bücherbesitz angesetzt wird, Schneider: Tucher, Katharina. In: 2VL, Band 9, Sp. 1132 und Williams-­Krapp: KT, Einleitung, S. 3, Anm. 16 und 17. Allerdings basieren die Datierungsversuche vornehmlich auf textinternen Angaben des Offenbarungstextes (Williams-­Krapp zieht Nr. 29 im Hinblick auf ihre Witwenschaft im Jahr 1419 heran, Nr. 47 und 57 als Ausweis für die frühe Geburt ihrer Kinder, Nr. 64 als Beleg für das Gebet für ihren verstorbenen Ehemann, S. 2 f.) und auf vorsichtigen Schätzungen, die sich aufgrund der Quellenlage nicht eindeutig belegen lassen. 24 Vgl. Schneider: Tucher, Katharina. In: 2VL Band 9, Sp. 1133. 25 Vgl. KT, Nr. 29, S. 45, 34 – 46, 1: Dialog ­zwischen Christus und der Katharina-­Figur: „Pring mir dein man.“ „Her, ich hab kein man.“ Aus d ­ iesem Eintrag erschließt Williams-­Krapp, dass Katharina bereits vor 1419 verwitwet gewesen sein muss. Vgl. die Fürbitte in KT für die Eltern und den Ehemann, hier allerdings als Aufforderung an die Sprecherin durch Christus, Nr. 64, S. 59, 9 – 12: Pit fvr dein mvter itzzvnt avf die zeit, die wirt derlost, wildv, wan si ist niht in grossem leiden. Avh will ich dir mer genoden dvn, daz dv ez gern scholt leiden, daz dein fater vnd dein man, den schol avch geholffen werden fan dir. Nr. 78, S. 64, 14 – 15: Anspielung auf den Ehemann, der im Fegefeuer leidet. Nr. 83, die Sprecherin äußert Sorge um das Seelenheil ihres Mannes. Nr. 91, S. 69, 17 – 21, die Katharina-­Figur erfährt eine Offenbarung über den seelischen Zustand ihres verstorbenen Mannes.

364 | Zusammenfassung und Ausblick © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

kennen die Thematisierung des Witwenstandes als topisches Element verschiedener Gnadenviten, in denen sich die Protagonistinnen durch den Tod ihres Ehemannes – von allen weltlichen Verpflichtungen befreit – ganz ihrem göttlichen Auftrag zuwenden können.26 Es wäre zumindest denkbar, dass die Offenbarungen im Nürnberger Katharinenkloster entstanden sein könnten.27 Denn der Tucher-­Text liegt als Autograph in der Sammelhandschrift Nürnberg, Stadtbibliothek, Cent VI, 57, fol. 263r–292v aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts vor, die aus der Bibliothek des Nürnberger Dominikanerinnenklosters St. Katharina stammt.28 Diesem vor allem als Zentrum der dominikanischen Ordensreform des ausgehenden 14. Jahrhunderts berühmte Kloster 29 hat Katharina Tucher ihre 26 Vgl. die Angaben der sogenannten Prozessvita der Birgitta von Schweden (Tjader-­Harris: Bridget of Sweden, S. 77): „However, after his long illness, her husband was convalescing; and they both returned to their fatherland. Between them, they maintained a mutual continence and decided to enter a monastery […] her husband – […] died in the year of our Lord 1344.“ Im Anschluss wird die erste Visionserfahrung geschildert, die direkt in Verbindung mit dem Ableben ihres Ehemannes steht, 26, S. 77: „How she was sent a teacher and how, after her husband’s death, she was visited by the Spirit: After some days, when the bride of Christ was worried about the change on her status and its bearing on her service of God, and while she was praying about this in her chapel, then she was caught up in spirit; […] she saw a bright cloud; and from the cloud, she heard a voice saying to her: ‚Woman, hear me.‘ And thoroughly terrified, fearing that it was an illusion she fled to her chambers.“ Vgl. ­Dorothea von Montau, Cap. XXIIII, S. 221: Di heilikeit der e […] enbrach yn ouch nicht, wen keyn mensche, ­sundir got enloste das band der ee zcwischin yn mit dem tode. Während einer Pilgerfahrt nach Rom stirbt der Ehemann, S. 268: Bynnen derselbin czeyt starb ir man in der vasten. Die topische Ausgestaltung des Motivs der Witwenschaft demonstriert die folgende Textpartie, S. 269: Synte Pauel larte seynen junger Thymotheum, wy eyne wore witwe sulde leben und sprach: Dy eyne wore witwe ist ane trost, dy setcze ire huffenunge in got, und sey an irem heyligin gebete tag und nacht, wen dy witwe, dy in wollustin lebit, dy ist tot. Diser lere hat wol nochgevolgit mit grozem fleis dy zelige Dorothea. Do sy nun was wordin witwe, sy ubte sich gröslich in der gerechtikeit und suchte eine stat, in der sy dem hern volkomlich möchte dinen ane hindirnis irer frunde und der werldt, und dorumb das sy volbracht iren vorsacz, und suchte underweysunge und rot bey dem manne, czu dem ir wart gerotin ken Marienwerder. Vgl. BMK, liber secundus, Kapitel 2, S. 225: In schort tyme aftyr, þe fadyr of þe sayd persone folwyd þe sone þe wey whech euery man must gon. 27 Vgl. Bürkle: Literatur im Kloster, besonders S. 53. Dies entspräche dem Wissen um die Produktion frauenmystischer und religiöser Literatur, die an bestimmte klösterliche Institutionen und Interessen gebunden und im Kontext der „klösterlichen Schrift- und Buchkultur“ zu sehen sei. 28 Vgl. Schneider: Tucher, Katharina. In: 2VL Band 9, Sp. 1133. Vgl. Williams-­Krapp: KT , Einleitung, S. 23 f., der ausführt, dass der Offenbarungstext vor dem Einbinden in die Sammelhandschrift als unabhängiger Faszikel vorgelegen habe. 29 Vgl. Schneider: Die Bibliothek des Katharinenklosters in Nürnberg und die städtische Gesellschaft, S. 71. Vgl. allgemein zu Anstieg und Verbreitung volksprachlicher Erbauungsliteratur im Rahmen der Observanzbewegung Williams-­Krapp: Frauenmystik und Ordensreform, S. 302 ff. Barbara Steineke: Paradiesgarten oder Gefängnis? Das Nürnberger Katharinenkloster z­ wischen Klosterreform und Reformation. Tübingen 2006 (Spätmittelalter der Reformation 30), S. 29, die in ihrer Studie die Gründe und den Verlauf der Klosterreform und deren inhaltliche Zielsetzung (vgl. Einleitung, S. 2) und in ­diesem Zusammenhang „die weibliche Klosterfrömmigkeit ­zwischen der Blüte der Frauenmystik und der lutherischen Reformation“ (Einleitung, S. 3) untersucht. Willing: Literatur und Ordensreform im

Die sogenannten „Offenbarungen“ der Katharina Tucher | 365 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

­ mfangreiche Büchersammlung von bisher 26 bekannten Handschriften vermacht, von u der heute noch mindestens 16 Handschriften erhalten sind.30 Diese Konstellation von Reformkonvent, ‚privater‘ Buchsammlung und Offenbarungstext bietet eine Fundgrube für zukünftige Forschungsfragen, zu denen hier einige kurze Überlegungen angedeutet werden sollen. Erstens wären hier überlieferungs- und textgeschichtliche Fragen zu nennen, die die von Werner Williams-­Krapp angedeuteten Verbindungen z­ wischen den in der Buchsammlung enthaltenen Texten und den „Offenbarungen“ näher herausarbeiten könnten.31 Eine ­solche überlieferungs- und textgeschichtliche Untersuchung in Kombination mit einer detaillierten Textanalyse könnte zu einer genaueren spiritualitäts- und literarhistorischen Einordnung der „Offenbarungen“ beitragen, die bisher zu den frauenmystischen Texten gezählt werden.32 Denn hier scheint es sich um einen eigenen Texttypus zu handeln, wie es sich vor allem an der Textstrukturierung und dem verrätselt wirkenden Inhalt zeigt: In überwiegend direkter Rede bieten die „Offenbarungen“ brautmystisch inspirierte Liebesdialoge und Lehrgespräche, Passionsvisionen sowie verschiedene Visionsberichte, in denen die Seele sowohl positiv konnotiert als Taube, bei der Hochzeit und als Braut des Königs in einer Jagdszene figuriert, als auch in negativ besetzten Rollen als Angeklagte und Sünderin (KT, 1, 31, 2: schlepsack) auftritt. Jedenfalls fehlen die für den Typus Gnadenvita kennzeichnende lebensweltlich-­biographische Strukturierung mit den typenspezifisch ausgestalteten Stationen eines ‚Gnadenlebens‘, der topisch inszenierte Schreibbefehl, die Thematik des Schreibens und der Buchentstehung sowie die „Handlungsrolle der schreibenden/ diktierenden Autorin“33 nahezu vollständig.34 Obwohl die „Offenbarungen“ der Katharina

30

31 32

33 34

15. Jahrhundert, S. 2 besonders der erste Teil der Studie „Zusammenhang von Ordensreform und Literaturproduktion“, S. 11 – 58. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 16 und S. 47. Vgl. Williams-­Krapp: KT, S. 14 mit Beschreibung der 26 Handschriften, S. 15 – 20. Basierend auf Karin Schneiders Untersuchung des Bücherbesitzes der Tucherin beziffert Williams-­Krapp 26 Handschriften bzw. Faszikel als ehemaliges Eigentum der Katharina Tucher, während Karin Schneider in ihrer Studie 24 Handschriften verzeichnet. Vgl. Schneider: Die Bibliothek des Katharinenklosters in Nürnberg und die städtische Gesellschaft, S. 73 – 75. Vgl. dazu auch Schneider: Tucher, Katharina. In: 2VL Band 9, Sp. 1132. Williams-­Krapp verweist auf die Problematik der Fehlzuweisungen im mittelalterlichen Bücherkatalog der Buchmeisterin Kunigund Niklasin, die offenbar einzelne Bücher falsch zugeordnet habe. Vgl. Williams-­Krapp: KT, Einleitung, S. 14. Vgl. dazu bereits Bürkle: Literatur im Kloster, S. 50, Anm. 151: „Um ‚selbsterlebte religiöse Visionen‘ vergleichbar mit den Christine-­Ebner-­Texten, wie Karin Schneider […] meint, handelt es sich jedenfalls nicht.“ Vgl. Williams-­Krapp: KT, Einleitung, S. 13. Auch Williams-­Krapp argumentiert, dass sich der Tucher-­Text zwar besonders im Hinblick auf die affektiv-­brautmystisch gefärbte Spiritualität in die Tradition frauenmystischen Schreibens einfüge, aber aufs Ganze gesehen einen eigenständigen Texttypus darstelle, für den keine direkten Vorbilder existierten. Bürkle: Literatur im Kloster, S. 235. Auch im Tucher-­Text finden sich Anspielungen auf die Figur des Beichtvaters, der die Katharina-­ Figur zu Gehorsam auffordert, sie an ihre Verfehlungen erinnert und in der Rolle eines Fürsprechers agiert. Allerdings bleibt der Aspekt der Zusammenarbeit ­zwischen Beichtvater und Schwester, der

366 | Zusammenfassung und Ausblick © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Tucher als Autograph der Autorin erhalten sind 35 und im Kontext der Büchersammlung wertvolle Informationen über literarische Aktivitäten und den regionalen Literaturtransfer in Nürnberger Laien- und Klosterkreisen bieten können,36 hat der hochinteressante Text in der Forschung bisher eher wenig Beachtung gefunden. So sind auch die „Offenbarungen“ – wie lange Zeit in der germanistischen Frauenmystikforschung – als „Möglichkeit einer kreativen Lebensbewältigung für Frauen“37 oder sogar als unmittelbarer Ausdruck einer Persönlichkeitsstörung, Alkoholsucht und sexueller Probleme gedeutet worden.38 Dabei basieren diese Überlegungen, in die immer wieder problematische, neuzeitliche Vorstellungen von Privatheit und tagebuchartigem Schreiben hineinspielen,39 sowohl auf dem Textinhalt der Offenbarungen als auch auf dem physischen Erscheinungsbild des Faszikels: Denn die ‚sorglos‘ erscheinende Ausführung der Handschrift scheint, wie im Fall der Elsbeth von Oye, die spontane Niederschrift eines mystischen ‚Tagebuchs‘ zu belegen.40 Auf diese Weise gelten das von Eintrag zu Eintrag in Tintenfarbe und Schreibduktus variierende Schriftbild, die Ausführung in einer „unbeholfen wirkenden Bastarda“,41 die freihändig angebrachten

35 36 37 38

39

40

41

für die Buchentstehungsgeschichten frauenmystischer Gnadenviten konstitutiv ist, völlig ausgespart. Vgl. etwa Nr. 50, S. 53, 15, mit der bis dahin einzigen Namensnennung Katrei und der Aufforderung, sich dem Willen des Beichtvaters unterzuordnen. Nr. 62, S. 58, 16, Maria erwähnt den Beichtvater in einer dialogischen Rede. Nr. 87 S. 68, 5 – 6, direkte Rede der Beichtvaterfigur: Wies, daz ich hab fvr dich ­gepeten vnd hais zeher fvr dich gewaint. Nr. 92, S. 69, 23 – 24, Liebew mait, dv armer slepsack, wie hat dein peihtfater hevt also gar pekvmmert gewezsen fan dein wegen vnd manchen haissen zaher gewaint. Ach, wie pekvmerstv im sein hertz. Vgl. Schneider: Tucher, Katharina. In: 2VL Band 9, Sp. 1133. Williams-­Krapp: KT, Einleitung, S. 5. Vgl. Williams-­Krapp: KT, Einleitung, S. 21. Ebd., Einleitung, S. 13. Vgl. Ralf Frenken: Kindheit und Mystik im Mittelalter. Frankfurt a. M, 2002 (Beihefte zur ­Mediaevistik), zum Alkoholismus S. 265 und S. 268 zu „sexuellen ­Themen als Hauptgegenstand der Offenbarungen“. Frenkens psychoanalytische Zugangsweise steht in der Tradition solcher Beiträge wie etwa Oskar Pfister: Hysterie und Mystik bei Margareta Ebner. In: Zentralblatt für Psychoanalyse 1 (1911), S. 468 – 485, in denen die Figur der Mystikerin umstandslos zur Patientin und ihre Offenbarungen zur psychopathologischen Krankheitsgeschichte erklärt werden, wie Susanne Bürkle: Die Offenbarungen der Margareta Ebner, S. 87 demonstriert hat. Vgl. Williams-­Krapp: KT, Einleitung, S. 25 attestiert eine „Sorglosigkeit bei der Gestaltung der Aufzeichnung“. Vgl. zu „tagebuchartig aneinandergereihten Abschnitten“ Schneider: Tucher, Katharina. In: 2VL Band 9, Sp. 1133. Schneider beschreibt den Text als „tagebuchartige Aufzeichnungen“ (1133), denen „jede glättende oder ordnende Revision fehlt“. Sie charakterisiert den Sprachgebrauch als „einfache Alltagssprache“ (1133). So charakterisiert Werner Williams-­Krapp: KT, Einleitung, S. 5 die „Offenbarungen“ als „tagebuchartige Einträge sehr privater Art, […] ­welche nur für Katharina oder allenfalls ihr unmittelbares Lebensumfeld verständlich sein können“. Vgl. zur Formgebung, ebd., S. 9: „Die Privatheit der Offenbarungen zeigt sich auch in der charakteristischen Gestaltung der Einträge.“ Williams-­Krapp: KT, Einleitung, S. 25 mit einer detaillierten Beschreibung der Handschrift Nürnberg, Stadtbibliothek, Cent VI, 57 (fol. 263r–292v), S. 25 – 26.

Die sogenannten „Offenbarungen“ der Katharina Tucher | 367 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Schriftspiegelbegrenzungen und das Fehlen jeglicher Initialen oder Gliederungszeichen als Ausweis einer „individuell-­privaten, erfahrungsbezogenen Selbstäußerung“.42 Allerdings wäre zunächst zu fragen, inwiefern die Begriffe ‚Privatbesitz‘ und ‚Privatheit‘ überhaupt adäquate Betrachtungskategorien für die Einordnung literarischer Texte aus dem observanten Dominikanerinnenkloster St. Katharina bieten. Im Rahmen der Ordensreform verpflichtete die strenge Ordensregel die Dominikanerinnen nicht nur zu Klausur und Chorgebet, sondern auch zur Aufgabe von jeglichem Privateigentum als Teil einer umfassenden Erneuerung der vita communis.43 Zwar geht Karin Schneider davon aus, dass der Bücherbesitz vermutlich nicht unter diese Regelung fiel, es lässt sich allerdings fragen, ob die „Offenbarungen“ den Mitschwestern vollkommen unbekannt waren und ob sie tatsächlich von Katharina Tucher in ihrer Zelle als eine Art ‚privates Tagebuch‘ aufbewahrt worden sind.44 Denn dagegen spricht, dass der Text in eine Sammelhandschrift eingebunden worden ist und damit offenbar als bewahrungswürdig und lesenswert erachtet wurde.45 Allerdings ist die Handschrift Nürnberg, Stadtbibliothek, Cent VI , 57 (mittelalterliche Signatur M IX) nicht gesondert als ehemaliges Eigentum der Katharina Tucher im wohl z­ wischen 1455 – 1457 angelegten Bibliothekskatalog der Buchmeisterin Kunigund Niklasin ausgewiesen.46 Jedenfalls lässt sich aus der Überlieferungssituation nicht ohne Weiteres erschließen, dass zeitgenössische Leserinnen die „Offenbarungen“ als ‚persönliches‘ Schriftstück verstanden haben, wie Williams-­Krapp vermerkt.47 Der Tucher-­Text scheint 42 Bürkle: Literatur im Kloster, S. 53 im Hinblick auf die Einschätzung der dominikanischen Klosterliteratur durch die Forschung. Vgl. Schneider: Tucher, Katharina. In: 2VL 9, Sp. 1133, die Katharina eine fehlende Intention bei der Abfassung ihres Textes unterstellt. 43 Vgl. Schneider: Die Bibliothek des Katharinenklosters in Nürnberg und die städtische Gesellschaft, S. 71. Vgl. Steineke: Paradiesgarten oder Gefängnis?, S. 29. 44 Diese Auffassung vertritt etwa Willing: Literatur und Ordensreform im 15. Jahrhundert, S. 82. Vgl. die Rezension von Karin Schneider in: ZfdA, 136, 2 (2007), S. 253. 45 Werner Williams-­Krapp und Antje Willing beurteilen allerdings das Vorhandensein des Textes am Ende einer Sammelhandschrift ohne Überschrift oder Erwähnung im Bibliothekskatalog eher skeptisch, vgl. Williams-­Krapp: KT, Einleitung, S. 12 – 13 und Willing: Literatur und Ordensreform im 15. Jahrhundert, S. 83, die die Tradierung der Offenbarungen allein auf das archivierende Interesse der Buchmeisterin zurückführt. 46 Vgl. Williams-­Krapp: KT, Einleitung, S. 14. Im Hinblick auf den mittelalterlichen Bibliothekskatalog des Katharinenklosters finden sich in der Forschung widersprüchliche Angaben: Williams-­Krapp geht davon aus, dass Kunigund Niklasin für die Anfertigung des Bibliothekskatalog und die ­Katharina Tucher betreffenden Einträge verantwortlich gewesen sei, vgl. Williams-­Krapp: KT, Einleitung, S. 13 – 14, während Antje Willing konstatiert, dass der Eintrag zur Handschrift M IX im Bibliothekskatalog nicht mehr von Kunigund Niklasin, sondern von einer späteren Hand vorgenommen sei, vgl. Willing: Literatur und Ordensreform im 15. Jahrhundert, S. 82 Anm. 32. 47 Vgl. Williams-­Krapp: KT, Einleitung, S. 12 – 13: „[…] indessen dürften die Offenbarungen in der uns überlieferten Form auch bei einem mittelalterlichen Publikum Ratlosigkeit hervorgerufen haben. […] Man verstand die Offenbarungen vermutlich – mit Briefen vergleichbar – als sehr private Aufzeichnungen, die zwar sorgfältig zu archivieren waren, aber nicht als geeignete Lektüre galten.“

368 | Zusammenfassung und Ausblick © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

hingegen auf das äußerst breitgefächerte Interesse der Schwesterngemeinschaft an religiöser Erbauungsliteratur 48 hinzudeuten als auf eine Vorliebe für ‚private‘ Tagebücher, die der Vorstellungswelt des Spätmittelalters eher fremd war.49 Zudem kennen wir die Überlieferung von scheinbar sehr privaten Dokumenten im Kontext der dominikanischen Gnadenviten wie auch des Kempe-­Textes: Persönlich wirkende Briefdokumente wie der Brief an den bruoder Konrad in der Gnadenvita Christine Ebners, das in die Handschrift der Kempe-­ Vita eingebundene Schreiben des päpstlichen Nuntius, der verrätselt anmutende Briefwechsel mit dem Abt von Kaishaim in Adelheid Langmanns „Offenbarungen“ und Heinrichs von Nördlingen Briefwechsel mit Margareta Ebner50 können als Authentizitätsnachweise fungieren, selbst wenn die Handschrift, wie im Fall des Margareta-­Ebner-­Kompendiums (London, British Library, Add MS 11430), erst im 18. Jahrhundert entstanden ist.51 Diese Ego-­Dokumente persönlicher Äußerungen sind nicht unbedingt als Schriftstücke ‚privater‘ Natur zu verstehen, sondern sie dienen vielleicht eher als Zeugnisse, die als ‚Sendbriefe‘ eine erbauliche Funktion haben und zugleich den Wahrheits- und Authentizitätsanspruch der Texte sichern.52 48 Vgl. Williams-­Krapps allgemeine Ausführungen über die intensive Rezeption von Tauler, Seuse und Eckhard im Kontext der Observanzbewegung, die frauenmystischen Texten wohl eher kritisch gegenüberstand. Vgl. Williams-­Krapp: Frauenmystik und Ordensreform, besonders S. 302 f. Der berühmte Dominikaner Johannes Meyer nutze in seiner Edition des „St. Katharinenthaler Schwesternbuchs“ zwar die exemplarische und erbauliche Aussagekraft der Nonnenviten, er warne aber gleichzeitig vor einer unkritischen Lektüre: Aber doch, meinen lieben swestern, getrawe ich euch, ir künent blümlein von dem grasz prechen vnd mit dem pinlein das gut von dem plümlein saugen, wann daz ist nit mindern, dann das vil gütter exempel an diszem püchlein beschriben sind, die ir zu ewrem geistlichen nucz wol keren mügen. (zitiert nach Williams-­Krapp: Frauenmystik und Ordensreform, S. 304). Vgl. Willing: Literatur und Ordensreform im 15. Jahrhundert, S. 64 f. Vgl. Schneider: Die Bibliothek des Katharinenklosters, S. 70 f. 49 Persönliche ‚Studienbücher‘ in Form von devoten Rapiarien, die ein Schreiber für den persönlichen Gebrauch anfertigte, sind zwar im ausgehenden 14. Jahrhundert im Rahmen der Devotio moderna bekannt. Allerdings handelt es sich hier um einen aus der Schul- und Studienpraxis übernommenen Gattungstyp, eine Sammlung von Lesefrüchten, Exzerpten, Gebeten und kontemplativen Texten, mit denen der dialogisch organisierte Tucher-­Text kaum vergleichbar ist. Vgl. Nikolaus Staubach: Diversa raptim undique collecta: Das Rapiarium im geistlichen Reformprogramm der Devotio moderna. In: Literarische Formen des Mittelalters: Florilegien, Kompilationen, Kollektionen. Hrsg. von Kaspar Elm. Wiesbaden 2000, S. 115 – 147, besonders S. 128 f. Für den Hinweis auf die Rapiarien danke ich Dr. Mark Chinca, Trinity College, University of Cambridge, sehr herzlich. 50 Vgl. CE GV, p. 28. Vgl. die Briefsammlung des Heinrich von Nördlingen in ME, S. 169 – 283. Vgl. den kryptisch wirkenden Briefwechsel ­zwischen Adelheid und dem Abt von Kaishaim, AL 93, 9 – 96, 3 und BMK, S. 351. 51 Vgl. Federer: Mystische Erfahrung, S. 411. 52 Vgl. dazu auch die Erläuterung von Joachim Bumke zu Gramoflanz’ Liebesbrief an Itonje in: Wolfram von Eschenbach. 8. Auflage. Weimar 2004, S. 114: „Ein geschriebener Brief war im Mittelalter eine Urkunde, die einen Tatbestand bezeugt, dessen Wahrheit nicht dadurch in Frage gestellt wird, dass er in die Form eines rhetorischen Konstrukts gefasst wird.“

Die sogenannten „Offenbarungen“ der Katharina Tucher | 369 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Darüber hinaus lässt sich auch Katharina Tuchers gehobener Bildungsstand, der genauer aus ihrem umfangreichen Bücherbesitz erschlossen werden kann, nur schwerlich mit einem Textverständnis vereinbaren, das die „Offenbarungen“ als Ausdruck ‚privater‘ Erlebnisse ansieht. Karin Schneider vermutet, dass Katharina Tuchers Büchersammlung allein unter Auswahlkriterien für den bevorstehenden Klostereintritt aus einer umfangreichen Patrizierbibliothek zusammengestellt worden sei, so dass sich hier keine persönliche Initiative beim Aufbau des Buchbestandes abzeichne.53 Im Gegensatz dazu betont Antje Willing im Rückgriff auf Williams-­Krapp, dass Katharinas Privatbibliothek nicht nur ihr ausgeprägtes mystisches Interesse zeige, sondern auch beträchtliche Bemühungen, sich in biblische Texte und komplexe theologische Zusammenhänge einzuarbeiten.54 Ein persönliches Bildungsinteresse indizieren etwa verschiedene Exemplare biblischer Texte, unter denen sich ein deutscher Psalter,55 eine Nacherzählung des Alten Testaments in Form einer Historienbibel,56 das Neue Testament in Form einer Evangelienharmonie 57 und ein deutsches Lektionar befinden.58 Jedenfalls deuten sowohl die vorhandenen Bibelausgaben aus Katharina Tuchers Bibliothek als auch die inhaltliche Ebene des Offenbarungstextes auf profunde Bibelkenntnisse: Denn die verschiedenen Visionsberichte und Dialogkonstellationen rufen kontinuierlich die Bibel auf, nicht zuletzt durch das Auftreten der zentralen biblischen Figuren wie Maria, Johannes und Maria Magdalena,59 die dem Tucher-­Text eine gewisse Dignität verleihen und ihn im 53 Vgl. Schneider: Die Bibliothek des Katharinenklosters in Nürnberg und die städtische Gesellschaft, S. 78. Gänzlich anders bewertet Karin Schneider die Büchersammlung der Kunigunde Schreiberin, die als reiche Patrizierwitwe in das Katharinenkloster eintrat und in den „Nürnberger Denkwürdigkeiten“ ihres Neffen Konrad Herdegen (S. 43 f.; S. 56 und S. 63 f. Schneider, Anm. 28, S. 76) Erwähnung finde und aufgrund ihres Engagements bei der Einführung der Reform in St. Katharina auch in Johannes Meyer „Buch der Reformacio Predigerordens“ auftrete. Denn diese Büchersammlung wirke wie auf die „persönliche Frömmigkeit der Besitzerin zugeschnitten, […] die an den aktuellen kirchlichen Geschehnissen und an der neuen religiösen Literatur lebhaften Anteil genommen zu haben scheint,“ (S. 77). Während Schneider Kunigunde Schreiberin ein „persönliches Interesse“ und „eigene Initiative“ bei der Anschaffung der Bücher im Hinblick auf ihr angestrebtes Ordensleben attestiert und ihre „Beteiligung an der Buchproduktion“ des Katharinenklosters betont, sieht sie Katharina Tuchers ungleich größere Privatbibliothek (Kunigundes Sammlung umfasst 19 Handschriften, Schneider, S. 76) als ‚konventionelle Lektüre‘ frommer Frauen. 54 Vgl. Willing: Literatur und Ordensreform, S. 45. Vgl. Williams-­Krapp: KT, Einleitung, S. 22: „Sicherlich ist Katharinas Bücherbesitz nicht unbedingt ‚typisch‘ für eine Frau ihres Standes.“ 55 Vgl. Schneider: Die Bibliothek des Katharinenklosters in Nürnberg und die städtische Gesellschaft, S. 75, der nicht erhalten sei (alte Signatur C VII). 56 Vgl. ebd., S. 75 mit Angabe Nürnberg, Cent V, 2. 57 Vgl. ebd., S. 75 mit Angabe Nürnberg, Cent VI, 51. 58 Vgl. ebd., S. 75 mit Angabe Nürnberg, Cent VI, 70 fol. 15r–239r. Karin Schneider betont in ihrer Rezension, dass deutschsprachige Laienbibeln seit dem 14. Jahrhundert besonders im Nürnberger Raum verbreitet gewesen ­seien. Vgl. Schneider: Rezension zu Antje Willing. In: ZfdA, 136, 2 (2007), S. 255. 59 Vgl. etwa KT, Nr. 5, S. 32, 12 – 13; Nr. 6, S. 32, 28 – 33, 18 mit biblischen Zitaten durchsetzt; Nr. 19, S. 39, 10 – 11; Passionsgeschehen Nr. 21, S. 40, 10 – 41, 31; Nr. 27, S. 45, 6 – 7; Nr. 29, S. 45, 24 – 25. Nr. 67, S. 60,

370 | Zusammenfassung und Ausblick © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Rahmen der christlichen Buch- und Schriftkultur autorisieren.60 Von theologischen Studien zeugt zudem eine der ältesten Handschriften (Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, cod. Donaueschingen 421 um 1300, mittelalterliche Signatur L XVII) der Büchersammlung:61 Denn sie enthält eine frühe mittelhochdeutsche Prosaübersetzung des sogenannten Kartäuserbriefs, der „Epistola ad fratres de Monte Dei“ Wilhelms von St. Thierry,62 die für die Kartäusermönche von Mont Dieu in den Ardennen konzipiert wurde.63 Dieser Traktat, der nach Ruh mit seinem zentralen Thema der unitas spiritus, der „Einwohnung Gottes in der menschlichen Seele“,64 eines der bedeutendsten und weit verbreitetsten mystischen Lehrwerke des Mittelalters darstellt, kann einen wichtigen Hinweis auf Katharina Tuchers theologische Bildung liefern.65 In diese Richtung weist auch die Handschrift Nürnberg, Stadtbibliothek, Cent VI, 81,66 die sowohl ­Heinrich Seuses „Büchlein der ewigen Weisheit“ als auch andere erbauliche Texte enthält, die Katharina Tucher offenbar eigenhändig kopiert hat. Und sowohl der Schwabenspiegel als Rechtstext als auch der deutschsprachige „Lucida­ rius“, ein berühmtes, in Dialogform konzipiertes naturwissenschaftliches Lehrbuch,67 lassen auf Katharinas breites Interesse an verschiedenen enzyklopädischen Sach- und Wissensgebieten schließen.68 Zwar mag aufgrund der mit den Handschriften verbundenen Datierungsproblematik die Rekonstruktion des „literarischen Horizonts“ (Williams-­Krapp) der Katharina Tucher vor der Abfassung der Offenbarungen erschwert sein,69 dennoch k­ önnen 10. Nr. 94, 21 – 23. 60 Vgl. Schreiner: Göttliche Schreibkunst, S. 95. 61 Vgl. Williams-­Krapp: KT Einleitung, S. 15. 62 Vgl. Palmer: Deutschsprachige Literatur im Zisterzienserorden, S. 237 f. Vgl. die Textedition von Volker Honemann (Hrsg.): Die Epistola ad fratres de Monte Dei des Wilhelm von St. Thierry. Lateinische Überlieferung und mittelalterliche Übersetzungen. München 1978 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters, 61). 63 Vgl. Williams-­Krapp: KT, Einleitung, 1998, S. 21. Vgl. Kurt Ruh: Wilhelm von St-­Thierry. In: 2VL, 10, Sp. 1138 – 1142. 64 Ruh: Wilhelm von St-­Thierry. In: 2VL, 10, Sp. 1138. 65 Vgl. Williams-­Krapp: KT, Einleitung, S. 21. 66 Vgl. die genaue Beschreibung der Handschrift Cent VI, 81 (mittelalterliche Signatur J V) aus dem ersten Viertel des 15. Jahrhunderts in Schneider: Die deutschen mittelalterlichen Handschriften, S. 221: Fol. 1r–248r Heinrich Seuse „Büchlein der ewigen Weisheit“; fol. 249r–277r von Katharina selbst geschrieben: Traktat von Geduld, fol. 249r–274r; Sechs Artikel zu einem christlichen Leben, fol. 274r–276r; Herzklosterallegorie 276r–277r. Vgl. auch Schneider: Die Bibliothek des Katharinenklosters in Nürnberg und die städtische Gesellschaft, S. 74. Williams-­Krapp: KT, Einleitung, S. 17. 67 Vgl. zum „Lucidarius“ Peter L. Johnson: Die höfische Literatur der Blütezeit. In: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Band 2: Vom hohen zum späten Mittel­ alter Teil 1. Hrsg. von Joachim Heinzle. Königstein 1999, S. 447 – 450. 68 Vgl. Williams-­Krapp: KT, Einleitung, S. 22. 69 Vgl. ebd., S. 22. Williams-­Krapp gibt zu bedenken: „Auch die früher als 1418 – 1421 datierten Handschriften, von denen zwei sogar vor Katharinas Geburt entstanden sind (Nr. 2, 9) müssen nicht unbedingt in ihrem Besitz gewesen sein, während sie an den Offenbarungen arbeitete.“

Die sogenannten „Offenbarungen“ der Katharina Tucher | 371 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

die vorhandenen Handschriften Aufschluss über den Bildungsstand einer literarisch tätigen und belesenen Laienschwester des 15. Jahrhunderts bieten. Auch Katharina Tuchers Tätigkeit als Schreiberin indiziert ein religiöses Bildungsinteresse:70 Denn die von ihr kopierten Texte in der wohl im Katharinenkloster in Nürnberg entstandenen Sammelhandschrift Nürnberg, Stadtbibliothek, Cent VI, 5971 umfassen nach der Handschriftenbeschreibung von Karin Schneider so unterschiedliche Texttypen wie etwa: eine Auslegung des Buches Esther auf Christus und die minnende Seele (fol. 9r–41v), Sprüche von Bonaventura, Bernhard von Clairvaux und Augustinus zum Leiden Christi (fol. 84r–84v), einen geistlichen Brief an eine Schwester (fol. 86r–94r), die Traktate „Nutzen der Betrachtung des Leidens Christi“ (fol. 94r–95v) und „Vom Namen Jesu“ (fol. 113r–115r), eine Bußpredigt über Mt 3,2 (fol. 115r–127r), Quaestiones zum Fasten nach Thomas von Aquin (fol. 131r–137r) und „Von den neun Chören der Engel“ (fol. 137v–140r).72 Williams-­ Krapp vermutet, dass sie Io 1,1 – 14 in deutscher Sprache in die Sammelhandschrift Cent VI , 53, fol. 202v–203r als Schutzsegen einträgt.73 In der Handschrift Nürnberg, Stadt­ bibliothek, Cent VI, 100, die um die Mitte des 15. Jahrhunderts aus verschiedenen Partien zusammengebunden wurde, kopiert Katharina Tucher einen Auszug des Passionstraktates Heinrichs von St. Gallen (fol. 208r–211r)74 in Zusammenarbeit mit Margarete Kartäuserin, die im Rahmen des Reformprogramms aus dem Kloster Schönensteinbach bei Colmar ins Katharinenkloster kam und dort zunehmende Bedeutung und Autorität als Schreiberin 70 Vgl. Schneider: Tucher, Katharina: In: 2VL Band 9, Sp. 1133 mit Angabe der drei Handschriften Nürnberg, Stadtbibliothek, Cent VI, 53; Nürnberg, Stadtbibliothek, Cent VI, 59 und Nürnberg, Stadt­bibliothek, Cent VI, 100. 71 Vgl. zur Herkunft der Handschrift Schneider: Die deutschen mittelalterlichen Handschriften, S. 198: „Die Handschrift ist aus verschiedenen Teilen um die Mitte des 15. Jahrhunderts zusammengebunden (katalogisiert ­zwischen 1448 – 1457 von Kunigund Niklasin, vgl. MBK III, 3, S. 625: […] das erst teil ist uns worden von der junckfrawen Barbara Kressin seligen, das ander teil ist vor der reformyrung (=1428) ­hynnen gewest ). […] im Katharinenkloster geschrieben; vermutlich der oben erwähnte schon vor der Reform 1428 im Kloster befindliche Teil.“ Williams-­Krapp identifiziert die Schreiberhand Katharina Tuchers für die folgenden Texte und Textpartien, vgl. ders.: KT, Einleitung, Nr. 11, S. 17: „Besonderheiten: Faszikel I (Bl. 1 – 141) aus dem Besitz Katharinas; fol. 9r–71r, 84r–95v und 110r–140r von ihr selbst geschrieben. Die Angaben im mittelalterlichen Katalog sind deshalb sicherlich falsch.“ 72 Vgl. die ausführliche Beschreibung von Karin Schneider: Die deutschen mittelalterlichen Handschriften, S. 199 – 207. 73 Vgl. die detaillierte Beschreibung der Handschrift Cent VI , 53 in Schneider: Die deutschen mittelalterlichen Handschriften, S. 169 – 173, die die Schreiberhand allerdings Kunigunde Schreiberin zuordnet. Vgl. dagegen Williams-­Krapp: KT , Einleitung, S. 21, der die Handschrift wohl versehentlich als Cent VII , 53 bezeichnet, mit Verweis auf den entsprechenden Artikel im Verfasserlexikon zu Io 1,1 – 14 als Segensformel für Bücher. Vgl. Kurt Ruh: ‚Johannes-­Evangelium 1,1 – 14‘. In: 2VL Band 4, besonders Sp. 831. 74 Vgl. Williams-­Krapp: KT, Einleitung, S. 21, der fol. 208r–211v als Hand der Katharina Tucher identifiziert. Die obigen Angaben stammen aus der Beschreibung in Schneider: Die deutschen mittelalterlichen Handschriften, S. 258 – 265: fol. 206r–207v Hand der Margareta Kartäuserin (hier S. 259).

372 | Zusammenfassung und Ausblick © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

erlangte.75 Offenbar arbeitete Katharina Tucher also auch mit ‚professionellen‘ Schreiberinnen zusammen und war an der Buchproduktion des Klosters beteiligt, was ein anderes Licht auf die von der Forschung vorgenommene Kategorisierung als ‚ungelehrte‘ Frau wirft. Die Handschrift Nürnberg, Stadtbibliothek, Cent VI, 82 deutet ebenfalls darauf hin, dass eine kritische Revision dieser Forschungsposition vorgenommen werden müsste: Schließlich konnte Werner Williams-­Krapp in seiner Tucher-­Edition eine der Forschung bis dahin unbekannte Straßburger Handschrift (Straßburg, Bibliothèque Nationale et Universitaire, cod. 2195) präsentieren, in der Katharina Tucher religiöse Erbauungstexte geschrieben hat.76 Wie Williams-­Krapp ausführt, befinden sich die gleichen Texte in der Handschrift Nürnberg, Stadtbibliothek, Cent VI, 82, die sie als Vorlage benutzt haben könnte.77 Diese „wohl für private Andachtszwecke angelegte Handschrift (der erste Faszikel von Nürnberg, Stadtbibliothek, Cent VI, 82)“78 mit ihrer Fokussierung auf eucharistische Frömmigkeit aus dem Besitz der Klara Nützlin (gest. 1455) weist auf die literarischen Aktivitäten und den Bücheraustausch innerhalb des Klosters. Falls Cent VI, 82 tatsächlich als Vorlage für die Straßburger Handschrift gedient haben sollte, bietet sie in der Tat ein Indiz für Katharina Tuchers literarische Aktivitäten und die Literaturbeschaffung innerhalb des Dominikanerinnenkonvents. Sie hätte sich die kurze Sammelhandschrift (Faszikel 1, Cent VI, 82) von ihrer Mitschwester Klara Nützlin besorgt und die Texte nach bestimmten, durch textgeschichtliche Untersuchungen vielleicht erfassbaren Kriterien ausgewählt. Allerdings bedürften auch die von Katharina Tucher geschriebenen Texte einer genaueren überlieferungsgeschichtlichen Bestimmung, da Katharina Tuchers Schreibertätigkeit vorerst nur für die fünf Handschriften Straßburg cod. 2195, Cent VI, 53, Cent VI, 59, Cent VI, 81 und Cent VI, 100 nachweisbar ist und sich in der bisherigen Forschungsliteratur teils widersprüchliche Angaben zur

75 Vgl. zu Margareta Kartäuserin als bedeutender Schreiberin des Katharinenklosters, Cynthia Cyrus: The Scribes for Women’s Convents in Late Medieval Germany. Toronto, 2009, S. 77 – 79. 76 Vgl. Williams-­Krapp: KT, Einleitung, S. 18: „Besonderheiten: 104v, 138v–161r von Katharina Tucher geschrieben […] Inhalt: 1v–104r, Traktat über das Gewissen; 104v Col. 3, 1 – 4 dt.; 105r–138v, Das Büchlein vom Herzen Jesu; 138v, Dictum; 139r–142r, Zwölf geistliche Lehren; 142v–144r, Sir. 24,11 – 20 dt.; 144r, Bernhard Dictum; 144v–145v, Lc 1,46 – 55 dt. (Magnificat); 146r–147r, Sir 24,23 – 31 dt.; 147r–148v, die Antiphon ‚Veni sancte spiritus‘ dt. Prosa (2VL 10, Sp. 226 f.); 148v, Bernhard-­Dictum; 149r–161r, 11 ­­Zeichen der rechten Demut; 161r, 2 Augustinus-­Dicta; 161v–163r, Der geistliche Mai; 163r, Spruch O wie gvt ist der got von israhel […]; 163r, Iob 6,16 dt.; 163v, gereimter Spruch iiii dink sint fast klegleich […]; 163v, Regina coeli laetare, dt. Prosa (2VL 7, Sp. 1111 f.); 164r, Veni creator spiritus, dt. Prosa (2VL 10, Sp. 219, Nr. 2).“ Williams-­Krapp vermerkt, dass bei der überwiegenden Zahl der Texte in der Handschrift weder Angaben in der Forschungsliteratur noch in anderen Quellen aufgefunden werden konnten. 77 Vgl. ebd., S. 18. Vgl. Schneider: Die deutschen mittelalterlichen Handschriften, S. 222 – 227. 78 Vgl. Judith Theben: Die mystische Lyrik des 14. und 15. Jahrhunderts: Untersuchungen, Texte, Repertorien. Berlin 2010 (Kulturtopographie des alemannischen Raums 2), S. 83. Vgl. zur Herkunft des ersten Faszikels aus dem Besitz der Klara Nützlin, Schneider: Die deutschen mittelalterlichen Handschriften, S. 222.

Die sogenannten „Offenbarungen“ der Katharina Tucher | 373 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Identifizierung ihrer Schreiberhand finden.79 Eine paläographische Analyse der „unbeholfen wirkenden Bastarda“80 der „Offenbarungen“ im Vergleich mit den in Straßburg cod. 2195, Cent VI, 53, Cent VI, 59, Cent VI, 81 und Cent VI, 100 verwendeten Buchkursiven müsste erst erweisen, ob und inwiefern sich die verwendeten Schriftarten voneinander unterscheiden. Wie oben bereits angedeutet, stellen sich wichtige Fragen nach den Beziehungen und Verbindungslinien z­ wischen den „Offenbarungen“, der Büchersammlung und der Schreibtätigkeit und danach, ob die „Offenbarungen“ nicht ebenfalls im Katharinenkloster entstanden sein könnten. Ihre Schreibertätigkeit und ihre Belesenheit deuten jedenfalls auf eine Autorin hin, die schwerlich mit der von der Forschung vertretenen Vorstellung eines naiven ‚Tagebuchs‘ in Einklang zu bringen ist. Tatsächlich ist es aufgrund der handschriftlichen Überlieferungslage und den Indizien, die auf eine Verbreitung frauenmystischer Viten- und Offenbarungsliteratur in Laienkreisen des Nürnberger Raums weisen, durchaus denkbar, dass Katharina Tucher auch frauenmystische Literatur rezipiert haben könnte.81 So deutet auf der Ebene des literarischen Offenbarungstextes ein textinterner Verweis auf Kenntnis von Texten Birgittas von Schweden,82 während die beiden bereits erwähnten Handschriften (Codex Cent VI, 59 und Codex Cent VI , 100), in denen Katharina Tucher einzelne Texte eingetragen hat, Texte der Heiligen ­Birgitta enthalten: Cent VI, 59, fol. 237r–238v „Ermahnung für Schwestern, unter Benützung der Offenbarungen der Heiligen Birgitta Buch IV, Kap. 90“ (Schneider) und Cent VI, 100, fol. 176r–v: Gebet der Heiligen Birgitta.83 Eine deutschsprachige Vita und Exzerpte der „Revelationes“ sind jedenfalls im Bibliothekskatalog des Nürnberger Katharinenklosters verzeichnet und auch als Besitz von Nürnberger Laien und Ordensleuten belegt.84 Insofern 79 Vgl. Anm. 73 oben. 80 Williams-­Krapp: KT, Einleitung, S. 25. 81 Vgl. Schneider: Die Bibliothek des Katharinenklosters in Nürnberg, S. 82, die ausführt, dass erbauliche und mystische ‚Klosterliteratur‘ des 15. Jahrhunderts besonders im Nürnberger Raum unter Laien verbreitet gewesen sei, wie aus den ins Katharinenkloster eingebrachten Privatbibliotheken wohlhabender Patrizierinnen hervorgehe. 82 Vgl. KT, Nr. 5, S. 32, 16 – 18: Daz selb det got offenwar der lieb sant Prigita: Wen sie ain mensch an sach, daz sie ver nimer het gesehen, so sah sie wol, ob ez ain kint dez ewigen lebens wahs aber nit. Vgl. BMK, S. 47 im Hinblick auf eine Vision der Margery-­Figur, die die Erfahrungen Birgittas noch übersteige: My dowtyr Bride, say me neuyr in þis wyse. Zum Textcorpus zählen Liber Caelestis I–VII der Revelationes, Buch VIII „Liber Caelestis Imperatoris ad Reges“, die Ordensregel der Birgittinerinnen „Regula Salvatoris“, „Sermo Angelicus“, „Quattuor Orationes“ und die „Revelationes Extravagantes“. Vgl. die neuere Übersetzung: The Revelations of St. Birgitta of Sweden. Liber caelestis. Hrsg. von Bridget ­Morris und Denis Searby. Oxford 2006. Vgl. auch Pavlína Rychterová: Die Offenbarungen der Heiligen Birgitta von Schweden. Eine Untersuchung zur alttschechischen Übersetzung des Thomas von Štítné. Köln u. a. 2004, S. 72. 83 Vgl. Schneider: Die deutschen mittelalterlichen Handschriften, S. 206 und S. 262. 84 Vgl. Willing: Die Bibliothek des Klosters St. Katharina zu Nürnberg, S. XXV–S. XXVI. Die Nürnberger Kaufmannswitwe Anna Imhoff (geb. Schürstab), die 1440, anscheinend ohne dem Orden anzugehören,

374 | Zusammenfassung und Ausblick © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

wäre es zumindest vorstellbar, dass auch die literarisch interessierte Katharina Tucher mit dem birgittinischen Textcorpus in Berührung gekommen ist. Zwei weitere handschrift­liche Zeugnisse legen nahe, dass insbesondere die Engelthaler Viten- und Offenbarungsliteratur im Nürnberger Raum auch außerhalb der Klostermauern gelesen wurde: zum einen die aus dem Privatbesitz der Konventualin Klara Nützlin stammende Handschrift B der Adelheid-­Langmann-­Vita,85 die sie offenbar aus persönlichem Inte­resse angeschafft hat,86 zum anderen deutet ein Eintrag in einer Sammelhandschrift des 15. Jahrhunderts (Karlsruhe, Badische Landesbibliothek, Cod. Donaueschingen 293) mit Tauler-­Predigten auf die Bekanntheit Christine Ebners und ihrer Texte hin, fol. 1v: Onder den selbigen [den Nonnen von Engelthal, Anm. d Verf.] was eyne die hiesz Cristina Ebnerin, deren legend vnd lesen man ym kloster vnd z Nrenberg hait.87 Allerdings bleiben einige Fragen offen. Zwar lassen sich gewisse Analogien ­zwischen der Adelheid-­Langmann-­Vita und dem Tucher-­Text feststellen, was die zentrale Themenstellung der brautmystischen Beziehung ­zwischen Seele und göttlichem Partner, der dialogischen Präsentationsform, der Fokussierung auf die humanitas Christi und der Rollenfiguration der ‚Schwester‘ als Fürbitterin betrifft. Allerdings lässt sich der Tucher-­Text nicht ohne Weiteres den Texttypen ‚Gnadenvita‘ oder ‚Offenbarungen‘ zuordnen. Auch die Thematisierung der Körperlichkeit der Gnadenerfahrung scheint zurückgenommen. Und schließlich: Es fehlen im Tucher-­Text völlig jene rahmenden Textpartien, wie Prologpassagen, die besonders in der Medinger Gnadenvita Christine Ebners mit ihren konkreten Alters- und Zeitangaben eine den Haupttext bestimmende Zeitperspektive entfalten, im Katharinenkloster beigesetzt worden sei, habe eine deutsche Vita der Birgitta von Schweden besessen (L XXVIII). Zu Anna Imhoff vgl. Schneider: Die Bibliothek des Katharinenklosters in Nürnberg, S. 79 – 81. Auch in der Handschrift (J XXV) Nürnberg, Stadtbibliothek, Codex Cent VI, 43f einem puch, die legent und offenwarung sant Birgitta (S. 540) befinden sich auf fol. 237r–384v Auszüge aus Birgittas Ouevre. Der Prior des Nürnberger Dominikanerklosters Georg Falder-­Pistoris (verstorben um 1452) habe der Bibliothek Auszüge aus den „Offenbarungen“ der Heiligen Birgitta (M.V Nürnberg, Stadtbibliothek, Cent VI, 46) geschenkt. 85 Berlin, Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, mgq 866, 86v–215v (B); Vgl. Strauch: AL, Einleitung, S. x mit ausführlicher Beschreibung der Sammelhandschrift, die wohl bereits im 15. Jahrhundert angelegt wurde. Vgl. zur Handschrift Ringler: Langmann, Adelheid, 2VL Band 5, Sp. 600. 86 Vgl. Thali: Beten, Schreiben, Lesen, S. 303. 87 Zitiert nach Thali: Beten, Schreiben, Lesen, S. 303. Wie Thali ausführt, fungiere dieser Eintrag als eine Art Autoritätszuweisung, da eine Offenbarung der Christine Ebner Tauler Autorität zuschreibe. Dies ließe auch auf das große Ansehen Christine Ebners schließen (Karl August Barack: Die Handschriften der Fürstlich-­Fürstenbergischen Hofbibliothek zu Donaueschingen, Tübingen, 1865, S. 236): der ward von gott […] geoffenbaret von disem daler, der dise sermonen hait geprediget, das er gott der liebsten menschen eyns was, als er yn vff ertrich hett, vnd das hört man auch woil an disen sermonen, das er sz eym ltren grnd vnd herczen hait geprediget. Vgl. auch Ringler: Viten- und Offenbarungsliteratur, S. 57. Vgl. auch Bürkle: Literatur im Kloster, S. 54, die die Überlieferung der Christine-­Ebner-­Texte primär auf die Bemühungen des Klosters Engelthal und der Nürnberger Patrizierfamilie Ebner zurückführt.

Die sogenannten „Offenbarungen“ der Katharina Tucher | 375 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

und epilogartige Partien, wie das Buchkapitel 89 in der Kempe-­Vita, das die Buchentstehung thematisiert. Gewisse Übereinstimmungen lassen sich vielleicht noch mit der dialogischen Schlusspartie der Gnadenvita Christine Ebners (minneclichen spruch, CE , GV , p. 423 ff.) ermitteln:88 Denn diese Passage der Medinger Gnadenvita bietet ‚persönlich‘ wirkende Liebeserklärungen und -beteuerungen, die der Brautmystik entlehnt sind, wie etwa die Adressierung der Schwesternfigur als gmahel (p. 657, p. 663) demonstriert:89 Versicherungen der besonderen Gnadenerwähltheit der Schwesternfigur 90 werden mit Anspielungen auf den frund   91 und Hinweise auf Anfeindungen der Außenwelt kombiniert, die die Schwesternfigur erleiden muss. Die Schwesternfigur der minneclichen spruch agiert ebenso wie die Sprecherin der Tucherschen „Offenbarungen“ in der Rolle einer Fürbitterin für ihre Verwandten.92 Im Tucher-­Text findet sich eine ganz ähnliche, dialogisch konzipierte Entfaltung dieser verschiedenen Themenkomplexe. Die Mittelbarkeit des Erzählens, die der Einsatz von Inquitformeln, summarischen Erzählerberichten oder punktuellen Erzählereinmischungen in der Medinger Gnadenvita erzeugt, ist im Tucher-­ Text allerdings nahezu vollständig zugunsten einer dramatischen Darstellungsweise aufgegeben. Dadurch ist die Distanz zum erzählten Gnadengeschehen fast gänzlich aufgehoben, was zu dem verrätselt wirkenden Eindruck beitragen mag, den der Tucher-­Text in der Forschung evoziert hat.93 Die Dialoge ‚simulieren‘ die göttliche Gegenwart durch die direkte Redewiedergabe, die gleichzeitig als ‚Erfahrungs-­medium‘ der Gotteserfahrung in Szene gesetzt ist.94 Denn der Offenbarungstext suggeriert, dass das Text-­Ich die Gotteserfahrung in Form von Auditionen und Gesprächen empfangen hat. Jedenfalls lässt die 88 Vgl. CE GV, p. 422 – 743. 89 Vgl. zu den Liebesdialogen in Auswahl, CE GV, p. 436, p. 439, p. 460, p. 471, p. 475, p. 494. 90 Vgl. etwa CE GV, p. 426, p. 447, p. 450, p. 456. 91 Vgl. CE GV, p. 482 zum frund, p. 484 und p. 524; zum Beichtvater, p. 515, zu dem Priester, der ihr eine harte Buße auferlegt und p. 673 zum priester, der ir heimlich waz. Vgl. auch die Partie p. 506, in der sich das Personalpronomen „er“ offenbar auf eine bestimmte Person (den frund?) bezieht. Wie Susanne Bürkle ausführt, begegnet die „frund“-Thematik sowohl im Gnadenleben als auch in den Offenbarungen, in denen sie auf die historischen Personen des Priesters Heinrich (vgl. Off 193, 23 ff.) und des Dominikaners Johannes Tauler (vgl. Off 209, 6) konkretisiert wird. Dabei bleibe offen, ob die Anspielungen auf den frund bereits auf Heinrich und Johannes Tauler hin angelegt s­eien, vgl. den bisher unveröffentlichten Christine-­Ebner-­Kommentar, S. 22, Anm. 83, 14, den Susanne Bürkle mir dankenswerterweise zur Verfügung gestellt hat. 92 Vgl. CE, GV p. 510. Vgl. die Fürbitte in KT für die Eltern und den Ehemann, hier allerdings als Aufforderung an die Sprecherin durch Christus, Nr. 64, S. 59, 9 – 12: „Pit fvr dein mvter itzzvnt avf die zeit, die wirt derlost, wildv, wan si ist niht in grossem leiden. Avch wil ich dir mer genoden dvn, daz dv ez gern scholt leiden, daz dein fater vnd dein man, den schol avch geholffen werden fan dir.“ 93 Vgl. Williams-­Krapp: KT, Einleitung, S. 12 f. Vgl. Schneider: Tucher, Katharina. In: 2VL Band 9, Sp. 1133: „handschriftlich vorliegenden Aufzeichnungen […], denen jede glättende oder ordnende Revision fehlt“. 94 Vgl. die bereits erwähnte Untersuchung von Dicke: Aus der Seele gesprochen, S. 274, in der er diese Überlegung für das „Fließende Licht“ präsentiert.

376 | Zusammenfassung und Ausblick © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

dialogische Wiedergabe ein Bewusstsein für den Einsatz narrativer Gestaltungstechniken erkennbar werden,95 insbesondere für die literarische Technik der Präsenzerzeugung, die Walter Haug am Beispiel des „Fließenden Lichts“ Mechthilds von Magdeburg als besondere Qualität ­dieses Einzeltextes bestimmt hat.96 Ähnliches müsste für den Tucher-­Text gelten; die Unmittelbarkeit, die die spezifische Strukturierung des Tucher-­Textes entfaltet, könnte in ihrer Wirkung kalkuliert sein. Denn die mit literarischen Mitteln erzeugte ‚Direktheit‘ der Gnadenerfahrung stellt sich ja vor allem durch die dialogische Umsetzung und die fehlenden Inquitformeln ein. Offenbar gehört gerade jener Effekt zur ‚Konzeption‘ authentisch wirkender Gottesbotschaften im Sinne eines mystischen ‚Originals‘, wie es möglicherweise im Tucher-­Text in Szene gesetzt wird. Allerdings müsste eine systematische, corpusbezogene und textgeschichtlich angelegte Analyse den möglichen ‚Inszenierungscharakter‘ des Tucher-­Textes erst erweisen und auf eine gesicherte Basis stellen. Im Hinblick auf die bisherige Bewertung des literarischen Status des Tucher-­Textes in der Forschung und die überlieferungs- und textgeschichtliche Einordnung der Büchersammlung bietet sich jedenfalls ein hochinteressantes Betätigungsfeld für zukünftige Forschungsarbeiten. Denn die Akzentuierung eines ganz eigenen frauenmystischen Texttypus mit seinem prägnanten „diskursiven Duktus der Präsentation“97 deutet in Verbindung mit der Schreibtätigkeit im Dominikanerinnenkloster St. Katharina auf eine Autorin hin, die offenbar nicht nur mit der literarischen Technik der Präsenzerzeugung vertraut gewesen sein dürfte, sondern sich – wie aus ihrer Privatbibliothek hervorgeht – auch in theologisch komplexe Wissensgebiete einarbeitet und ein erhebliches Interesse an der Sammlung und Tradierung erbaulicher Literatur demonstriert. Die mit literarischen Mitteln entworfene Vorstellung eines selbstverfassten oder diktierten ‚Originals‘ und eines gottinspirierten Schreibens kann jedenfalls mit Blick auf die Kempe-­Vita und die hier analysierten Viten- und Offenbarungstexte im Kontext eines europäischen ‚Typus‘ hagiographischen Erzählens gesehen werden, das sich als Versuch, „Transzendenz in der Immanenz herzustellen“98 fassen lässt und auf diese 95 Vgl. Miedema: Dialoganalyse, S. 56 – 64. Vgl. auch Volfing: Dialog und Brautmystik bei Mechthild von Magdeburg, besonders S. 258. Volfing untersucht die Entfaltung der sponsa-­Rolle und die mit ihr verbundenen ekklesiologischen, mariologischen und brautmystischen Hohelied-­Auslegungen, die in den Dialogen im „Fließendem Licht“ zu einem allegorischen Synkretismus zusammengeführt werden. 96 Vgl. Haug: Das Gespräch mit dem unvergleichlichen Partner, besonders S. 216, S. 262 f. und S. 266 zum Dialog „als Ort der stärksten Präsenz der Unio“. Vgl. auch Nemes: Von der Schrift zum Buch, S. 14 f. Ruh: Geschichte der abendländischen Mystik, Band 2, S. 256. Ruh führt aus, dass die dialogische Gestaltung, die den „Gesprächscharakter der Liebesbeziehung zu Gott“ in Mechthilds „Fließendem Licht“ entfaltet, die eigentliche Besonderheit ­dieses Textes darstelle. 97 Janota: Gnadenviten, Offenbarungsschriften, Schwesternbücher, S. 121 im Hinblick auf die Gnadenvita Christine Ebners. 98 Bernhardt: Figur im Vollzug, S. 34. Vgl. auch Kirakosian: Die Vita der Christina von Hane, S. 221 zum paradoxen Problem der Versprachlichung mystischer Erfahrung.

Die sogenannten „Offenbarungen“ der Katharina Tucher | 377 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Weise durch das Paradoxon gekennzeichnet ist, die menschliche Fähigkeiten übersteigende Gotteserfahrung in Worte zu kleiden. Auf diese Weise zeigt sich die vermeintlich erste Autobiographie in englischer Sprache tief eingebunden in eine europäische Traditionslinie des Erzählens über die Gnadenerwähltheit einer Person und die Überführung göttlicher Offenbarungsworte in Diskurse der Buch- und Autorwerdung, die über nationalsprachliche Grenzen hinausweisen.

378 | Zusammenfassung und Ausblick © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Siglen und Abkürzungen

Texte AL AS

Die Offenbarungen der Adelheid Langmann (Engelthal) Acta Sanctorum (1643 ff.), Hrsg. Socii Bollandiani, 70 Bände (Nachdruck der Originalausgabe Band 1 – 60 Paris 1965 – 1971) BMK The Book of Margery Kempe CE GV Die Gnadenvita Christine Ebners (Engelthal) [nicht ediert: Hs. Md1 zur Verfügung gestellt von Susanne Bürkle] EEBO Early English Books Online FL Das fließende Licht der Gottheit, Mechthild von Magdeburg (Helfta) FS Das Gnadenleben des Friedrich Sunder (Engelthal) GU Der Nonne von Engelthal Büchlein von der genaden uberlast (Engelthal) HS Die Vita Heinrich Seuses ME Die Offenbarungen der Margareta Ebner (Medingen) KT Die Offenbarungen der Katharina Tucher (St. Katharina)

Nachschlagewerke und Zeitschriften DV js EETS LCI

Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte The Early English Text Society Lexikon der christlichen Ikonographie. Hrsg. von Engelbert Kirschbaum in Zusammenarbeit mit Günter Bandmann [u. a.]. 8 Bände. Freiburg i. Br. 1968 – 1976 LexMA Lexikon des Mittelalters. 10 Bände. München [u. a.] 1980 – 2002 LZB Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen. Hrsg. von Heinz Meyer und Rudolf Suntrup. München 1987 (Münstersche Mittelalter-­Schriften, 56) MED Middle English Dictionary. Hrsg. von Robert E. Lewis [u. a.]. 20 Bände. Ann Arbor 1952 – 2001 2 STC A Short Title Catalogue of Books Printed in England, Scotland and Ireland and of English Books Printed Abroad 1475 – 1640. Hrsg. von Alfred W. Pollard und Gilbert R. Redgrave. 2. korrigierte und durchgesehene Auflage. 3 Bände. London 1976 – 1990 TRE Theologische Realenzyklopädie. Hrsg. von Gerhard Krause und Gerhard Müller. 36 Bände. Berlin [u. a.] 1976 – 2004 TTG Texte und Textgeschichte

Siglen und Abkürzungen | 379 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Begründet von ­Wolfgang Stammler, fortgeführt von Karl Langosch. 2. völlig neu bearbeitete Auflage. Hrsg. von Kurt Ruh [u. a.]. 11 Bände. Berlin [u. a.] 1978 – 2010 ZfdA Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur ZfdPh Zeitschrift für deutsche Philologie 2

VL

380 | Siglen und Abkürzungen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Literaturverzeichnis

Handschriften Berlin, Staatsbibliothek, Preußischer Kulturbesitz mgq 179 aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts: „Offenbarungen“ Margareta Ebners. Digitalisat der Handschrift unter http://resolver.staatsbibliothek-­berlin.de/SBB0001578400000000 [21. 08. 2018]. Cambridge, University Library, Ii.4.12 Sammelhandschrift des 15. Jahrhunderts: „Historia Regum Britanniae“ Geoffreys von Monmouth. Cambridge, University Library, Pembroke College, MS 221 aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts: „Divina Caligo Ignorancie“ (fol. 1r–39v) und „Speculum Animarum Simplicium“ (fol. 40v–95v). Cambridge, University Library, Add MS 6578 aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts: Nicholas Love „The Mirror of the Blessed Life of Jesus Christ“. Einsiedeln, Benediktinerabtei, Stiftsbibliothek, Codex 277 aus dem dritten Viertel des 14. Jahrhunderts: fol. 2r-166r „Das fließende Licht der Gottheit“ Mechthilds von Magde­ burg. Digitalisat der Handschrift http://www.e-­codices.unifr.ch/de/sbe/0277/5r/0/ Sequence-999 [28. 08. 2018]. Einsiedeln, Benediktinerabtei, Stiftsbibliothek, Codex 710 geistliche Sammelhandschrift aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts: fol. 22v–184va Heinrich Seuse ‚Exemplar‘. Darstellung der Dienerfigur mit Christusmonogramm fol. 42r und 86r. Digitalisat der Handschrift http://www.e-­codices.unifr.ch/de/description/sbe/0710/ [28. 08. 2018]. London, British Library, Add MS 11430 aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts: fol. 3r–46v Margareta Ebners „Offenbarungen“; fol. 47r–48v Paternoster; fol. 49r – 71v Briefe an Margareta Ebner u. a.; fol. 72r–92r Lebensbeschreibungen von S­ ebastian Schlettstetter (um 1662); fol. 93r–126r Lebensbeschreibungen von Eustachius E ­ ysenhuet (um 1688); fol. 127r-­v Excerpta Ebneriana (1690). London, British Library, Add MS 37049 aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts: reich illustriertes Kartäuser-­Kompendium mit Gebeten, Meditationen, Marienpreis, Passions­klagen und Auszügen aus Richard-­Rolle-­Texten. London, British Library, Add MS 37790 aus der Mitte des 15. Jahrhunderts: Amherst-­ Kompendium mit der Kurzfassung „A Vision Showed to a Devout Woman“ der Juliana von Norwich (fol. 97r-115r). London, British Library, Add MS 61823 um die Mitte des 15. Jahrhunderts: „The Book of Margery Kempe“. London, British Library, Add MS 62450 um die Mitte des 15. Jahrhunderts: St. Gregor-­ Kompendium. Handschriften | 381 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

London, British Library, MS Harley 2373 aus dem 15. Jahrhundert: fol. 23r–62v „The Cloud of Unknowing“ und Satellitentexte. Mödingen/Dillingen, Klosterbibliothek Maria Medingen, Handschrift M (Vita Beatae Margarithae Ebner) aus dem Jahr 1353. „Offenbarungen“ Margareta Ebners. Digitalisat der Handschrift www.bayerische-­landesbibliothek-­online.de/ebner-­maria-­medingen [10. 06. 2018]. München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 424: Evangelistar (Bl. 1–167v) aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts und Privatgebetbuch (Bl. 183r–245ra) von 1398. ­Digitalisat der Handschrift http://daten.digitale-­sammlungen.de/~db/0006/bsb00064467/images/ [28. 08. 2018]. Oxford, Bodleian Library, MS Douce 114 aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts: Sammlung frauenmystischer Texte aus der Kartause Beauvale in Nottingham: Übersetzungen der Viten der Elisabeth von Spalbeck (fol. 1r–12r), Christina Mirabilis (12r–26v), Marie von Oiegnies (26v–76r), Exzerpte der Lebensbeschreibung der Heiligen Katharina von Siena (fol. 76r–89v), Seven Points of True Love and Everlasting Wisdom (fol. 89v–148r) und eine Bearbeitung von Heinrich Seuses „Horologium Sapientiae“ (fol. 89v–148r). Paris, Bibliothèque Nationale de France, fr. 12592 aus dem 14. Jahrhundert: Rosenroman, fol. 14r Gesichtsillustration mit rubrizierter Zunge. Digitalisat der Handschrift www. romandelarose.org/#browse;Francais12592 [28. 08. 2018]. Paris, Bibliothèque Nationale de France, fr. 25526 aus dem 14. Jahrhundert: Rosenroman, fol. 162r Illustration mit rubrizierter Zunge. Digitalisat der Handschrift http:// romandelarose.org/#browse;Francais25526 [28. 08. 2018]. Straßburg, National- und Universitätsbibliothek, MS 2929 um 1370: Heinrich Seuse Exemplar. Darstellung der Dienerfigur mit Christusmonogramm fol. 1v, 8v, 22r, 28v, 57r, 62r, 65v, 67r, 68v, 82r, 109v. Digitalisat der Handschrift http://www.bnu.fr/­collections/ la-­bibliotheque-­numerique/la-­mystique-­rhenane [28.  08.  2018]. Zürich, Zentralbibliothek, Ms Rh 159 aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts: Die „Offenbarungen“ der Dominikanerin Elsbeth von Oye. Digitalisat der Handschrift http://www.e-­manuscripta.ch/zuz/content/titleinfo/1380075 [28. 08. 2018].

Drucke Eustachius Eysenhuet: Kurtzer Begriff Deß Wunderlichen Lebens / Heroischen Tugenden / himmlischer Gnaden / vnd Einflüsse / auch vil-­werthen Todts der Seeligen Jungfrauen Margarethae Ebnerin / Dess berühmbten Jungfrauen-­Closters Maria-­Medingen Prediger-­Ordens Profeßin / Auß deme von Ihro selbst beschribnen Leben heraußgezogen / allen andächtigen Christen zum Trost / Aufferbauung vnd Nachfolg in Truck gegeben. Augsburg, 1688.

382 | Literaturverzeichnis © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Cambridge, University Library, Wynkyn de Worde um 1501, STC 20195 Druckfassung des Kempe-treatyse. London, British Library, Henry Pepwell, 1521. STC 20972 Druckanthologie mit ­Exzerpten aus der Kempe-­Vita. London, British Library, William Caxton 1491 „Fifteen Oes“ STC 20195. Digitalisat http:// eebo.chadwyck.com [28. 08. 2018]. London, British Library, Wynkyn de Worde um 1492 „Lyf of Saynt Katherin of senis with the reuelacions of saynt Elysabeth the kynges doughter of hungarye“ STC 24766. Digitalisat http://eebo.chadwyck.com [28. 08. 2018]. London, British Library, Wynkyn de Worde, 1493 „The Chastysing of Goddes Chyldern“ STC 5065. Digitalisat http://eebo.chadwyck.com [28. 08. 2018]. London, British Library, Wynkyn de Worde 1494 „Scala Perfeccionis“ STC 14042. Digitalisat http://eebo.chadwyck.com [28. 08. 2018]. London, British Library, Wynkyn de Worde 1506 „Contemplacyons of the Dread and Love of God“ STC 21259. Digitalisat http://eebo.chadwyck.com [28. 08. 2018]. London, British Library, Wynkyn de Worde 1508 „Remedy ayenst Temptacyons“ STC 20875.5. Digitalisat http://eebo.chadwyck.com [28. 08. 2018]. London, British Library, Wynkyn de Worde 1519 „Orcherd of Syon“ STC 4815. Digitalisat http://eebo.chadwyck.com [28. 08. 2018]. Manchester, John Rylands University Library of Manchester, Wynkyn de Worde um 1497 Predigtsammlung John Alcocks STC 284. Digitalisat http://eebo.chadwyck. com [28. 08. 2018]. Oxford, Bodleian Library, Wynkyn de Worde 1509 „Nychodemus Gospell“ STC 18566. Digitalisat http://eebo.chadwyck.com [28. 08. 2018]. San Marino/USA, Henry E. Huntington Library and Art Gallery, Wynkyn de Worde, 1493 „Tretyse of Loue“ STC 24234. Digitalisat http://eebo.chadwyck.com [28. 08. 2018]. San Marino/USA, Henry E. Huntington Library and Art Gallery, Wynkyn de Worde, 1496, „Mons Perfeccionis“ STC 278. Digitalisat http://eebo.chadwyck.com [28. 08. 2018]. San Marino/USA, Henry E. Huntington Library and Art Gallery, Wynkyn de Worde, 1509, „Parlyament of Deuylles“ STC 19305. Digitalisat http://eebo.chadwyck.com [28. 08. 2018]

Quellen Acta Sanctorum, Die Vigesima Tertia Iunii. De B. Maria Oigniacensi in Namurcensi Belgii Diocesi. Vita per Jacobum de Vitriaco tunc Canon. Regul. postea Acconen. Episcopum, ac denique Card. Tusculanum. Ex variis Codicibus Mss. Col. 636 – 666.

Quellen | 383 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Die Akten des Kanonisationsprozesses Dorotheas von Montau von 1394 bis 1521. Köln [u. a.] 1978 (Forschungen und Quellen zur ­Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands Band 15). Allen, Hope Emily/Meech, Sanford B. (Hrsg.): The Book of Margery Kempe. The Text from the Unique MS. Owned by Colonel W. Butler Bowdon, Volume I. Edited with Introduction and Glossary by Sanford Brown Meech. Prefatory Notes by Hope Emily Allen and Notes and Appendices by Sanford Brown Meech and Hope Emily Allen. London 1940 (Early English Text Society Original Series No. 212). Ancelet-­Hustache, Jean (Hrsg.): Les Vitae Sororum d’Unterlinden. Edition critique du manuscrit 508 de la bibliotheque de Colmar. In: Archives d’histoire doctrinale et ­litteraire du Moyen Age 5 (1930), S. 317 – 513. Bale, Anthony (Hrsg.): The Book of Margery Kempe. A New Translation by Anthony Bale. Oxford 2015 (Oxford World’s Classics). Bazire, Joyce/Colledge, Eric (Hrsg.): The Chastising of God’s Children. Edited from the Manuscript by Joyce Bazire and Eric Colledge. Oxford 1957. Benson, Larry D.: The Riverside Chaucer. Third Edition. Oxford 2008. Bihlmeyer, Karl (Hrsg.): Heinrich Seuse. Deutsche Mystische Schriften. Stuttgart 1907. Ders. (Hrsg.): Mystisches Leben in dem Dominikanerinnenkloster Weiler bei Eßlingen im 13. und 14. Jahrhundert. In: Württembergische Vierteljahrshefte für Landesgeschichte N. F. 25 (1916), S. 61 – 93. Birlinger, Anton: Klostermärlein. In: Alemannia 10 (1882), S. 121 – 128. Ders.: Leben heiliger alemannischer Frauen des XIV–XV Jahrhunderts. Band IV: Die Nonnen von Kirchberg bei Haigerloch. In: Alemannia 11 (1883), S. 1 – 20. Bonin, Edmond: Dulcis Iesu memoria. The Restored Text. In: Cistercian Studies Quarterly 49 (2014), S. 206 – 211. Cavallini, Guiliana (Hrsg.): Il Dialogo Della Divina Provvidenzia. Ovvero Libro Della Divinia Dotrina. Roma 1968 (Testi Cateriniani). Colledge, Edmund/Walsh, James (Hrsg.): A Book of Showings to the Anchoress Julian of Norwich. Part One and Two. Toronto 1978 (Studies and Texts 35). Colledge, Edmund/Walsh, James (Hrsg.): Guiges II le Chartreux. Lettre sur la vie contemplative (L’echelle des moines). Douze méditations. Introduction et texte critique par Edmund O. S. A./James S. J. Traductions par un Chartreux. 2. Auflage. Paris 1980 (Sources chrétiennes 163). Clark, John P. H./Dorward, Rosemary (Hrsg.): Walter Hilton. The Scale of Perfection. New York, Maha 1991 (The Classics of Western Spirituality). Deanesly, Margaret (Hrsg.): The Incendium Amoris. Manchester 1915 (Publications of the University of Manchester Historica Series No. 27). Doiron, Marilyn (Hrsg.): The Mirror of Simple Souls. A Middle English Translation. In: Archivio Italiano per la storia della Pietà 5 (1968). 384 | Literaturverzeichnis © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Fisher, John (Hrsg.): The Tretyse of Loue. Oxford 1951 (Early English Text Society, 223). Gardener, Edmund G.: The Cell of Self-­Knowledge. Seven Early English Mystical Treatises. Printed by Henry Pepwell in 1521. New York 1910. Gärtner, Kurt/Hoffmann, Werner J. (Hrsg.): Konrad von Heimesfurt: „Unser vrouwen hinvart“ und „Diu Urstende“. Tübingen 1989 (Altdeutsche Textbibliothek 99). Geyer, Iris (Hrsg.): Das Leben der Maria von Oignies. Brepols 2014. Guigo I. Coutumes de Chartreuse. Paris 1984 (Sources chrétiennes 313). Hanna, Ralph (Hrsg.): Speculum Vitae. A Reading Edition. 2 Volumes. Oxford 2008 (Early English Text Society 331 – 332). Harvey, Ralph (Hrsg.): The Fire of Love and the Mending of Life. London 1896 (Early English Text Society Original Series 106). Heinrich von Nördlingen e Margaretha Ebner: Le Lettere (1332 – 1350), a cura di Lucia ­Corsini e con una „Premessa“ di Donatella Bremer Buono. Pisa 2001 (Medioevo ­Tedesco. Studi e Testi 9). Heinrich Seuse: Stundenbuch der Weisheit. Das Horologium Sapientiae übersetzt von Sandra Fenten. Würzburg 2007. Herbert McAvoy, Liz (Hrsg.): The Book of Margery Kempe. An Abridged Translation. Cambridge 2003. Hindsley, Leonard P. (Hrsg.): Margaret Ebner. Major Works. New York 1993 (The ­Classics of Western Spirituality). Hirsch, Theodor/Töppen, Max/Strehlke, Ernst (Hrsg.): Des Leben der Zeligen Frawen Dorothee Clewsenerynne in der Thumkyrchen czu Marienwerdir des Landes czu Prewszen. In: Scriptores Rerum Prussicarum. Die Geschichtsquellen der preußischen Vorzeit bis zum Untergang der Ordensherrschaft. 2. Band. Leipzig 1863, S. 197 – 350. Hodgson, Phyllis (Hrsg.): The Cloud of Unknowing and The Book of Privy Counselling. London 1944 (Early English Text Society Original Series 218). Hodgson, Phyllis (Hrsg.): The Cloud of Unknowing and Related Treatises. Salzburg 1982 (Analecta Cartusiana 3). Hofmann, Annelies: Der Eucharistie-­Traktat Marquards von Lindau. Tübingen 1960 (Hermae Germanistische Forschungen Band 7). Holmestedt, Gustaf (Hrsg.): Speculum Christiani. A Middle English Religious Treatise of the 14th Century. London 1933 (Early English Text Society Original Series 182). Honemann, Volker (Hrsg.): Die Epistola ad fratres de monte dei des Wilhelm von St. Thierry. Lateinische Überlieferung und mittelalterliche Übersetzungen. München 1978 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 61). Ingelby, Holcome (Hrsg.): The Red Register of King’s Lynn. Volume II. Transcribed by R. F. Isaacon. King’s Lynn 1919 – 1922.

Quellen | 385 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Jönsson, Arne: Alphonso of Jaén. His Life and Works: With Critical Editions of the Epistola Solitarii, the Informaciones and the Epistola Serui Christi. Lund 1989 (Studia Graeca et Latina Lundensia I), S. 117 – 171. Kane, Harold (Hrsg.): The Prickynge of Love. Salzburg 1983 (Salzburg Studies in English Literature 92,10). Margaretae Porete: Specvlvm simplicivm animarvm. cvra et stvdio Paul Verdeyen. Turnhout 1986 (Corpus Christianorum. Continuatio mediaevalis 69). McNamer, Sarah (Hrsg.): The Two Middle English Translations of the Revelations of St. Elizabeth of Hungary. Heidelberg 1996 (Middle English Texts 28). Mechthild von Magdeburg: Das fließende Licht der Gottheit. Hrsg. von Gisela Vollmann-­ Profe. Frankfurt a. M. 2003 (Bibliothek des Mittelalters 19). Methley, Richard: To Hew Heremyte a Pystyl of Solitary Life Nowadayes. Hrsg. von James Hogg. Salzburg 1977 (Analecta Cartusiana 31), S. 91 – 120. Meyer, Ruth (Hrsg.): Das „St. Katharinenthaler Schwesternbuch“. Untersuchung, Edition, Kommentar. Tübingen 1995 (Münchener Texte und Untersuchungen 104). Mulder-­Bakker, Anneke: Mary of Oignies. Mother of Salvation. Turnhout 2008 ­(Medieval Women. Texts and Contexts 7). Nigg, Walter (Hrsg.): Elisabeth von Thüringen. Düsseldorf 1963. Pseudo-­Dionysius Areopagita. Die Namen Gottes. Eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Beate Regina Suchla. Stuttgart 1988 (Bibliothek der Griechischen Literatur Band 26). The Revelations of St Birgitta of Sweden. Volume I. Liber Caelestis, Books I–III. Translated by Denis Searby with Introductions and Notes by Bridget Morris. Oxford 2006. Renner, Monika (Hrsg.): Vita Sanctae Elisabeth. Die Vita der Heiligen Elisabeth des Dietrich von Apolda. Marburg 1993 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 53). Richard de Saint-­Victor: Le douze patriaches ou Beniamin Minor. Texte critique et traduction par Jean Châtillon et Monique Duchet-­Suchaux. Introduction, notes et index par Jean Longère. Paris 1997 (Sources chrétiennes 419). Der Rosenroman. Guillaume des Lorris und Jean de Meun. Übersetzt und eingeleitet von Karl August Ott. Band 1 – 3. München 1976 – 1979 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben). Sargent, Michael (Hrsg.): Nicholas Love: Mirror of the Blessed Life of Jesus Christ. A Critical Edition based on Cambridge University Library Additional MSS 6578 and 6686. New York, London 1992 (Garland Medieval Texts Number 18). Ders. (Hrsg.): Nicholas Love: The Mirror of the Blessed Life of Jesus Christ. A Reading Text. A Revised Critical Edition, based on Cambridge University Library Additional MSS 6578 and 6686 with Introduction, Notes and Glossary. Exeter 2004 (Exeter Medieval Texts and Studies). 386 | Literaturverzeichnis © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Schott, Clausdieter (Hrsg.): Eike von Repgow: Der Sachsenspiegel. Zürich 1984. Schröder, Karl (Hrsg.): Der Nonne von Engelthal: Büchlein von der Genaden uberlast. Stuttgart 1871 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart 113). Seelbach, Ulrich/Seelbach, Sabine (Hrsg.): Wirnt von Grafenberg: Wigalois. Text der Ausgabe von J. M. N. Kapteyn. Übersetzt, erläutert und mit einem Nachwort versehen von Sabine und Ulrich Seelbach. Berlin, New York 2005. Sermons sur le Cantique. Band 1 (Nachdruck). Texte latin de J. Leclercq et al. Paris 2006 (Sources chrétiennes). Staley, Lynn (Hrsg.): The Book of Margery Kempe. Translated and Edited by Lynn S­ taley. Kalamazoo, Mich. 1996. Dies. (Hrsg.): The Book of Margery Kempe. A New Translation, Contexts and Criticism. New York [u. a.] 2001 (A Norton Critical Edition). Strauch, Philipp (Hrsg.): Die Offenbarungen der Adelheid Langmann. Klosterfrau zu Engelthal. Strassburg 1878 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker 26). Ders. (Hrsg.): Margaretha Ebner und Heinrich von Nördlingen. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Mystik. Freiburg i. Br., Tübingen 1882. Tanner, Norman P.: Heresy Trials in the Diocese of Norwich. 1428 – 31. London 1977 (Camden Society 4th Series xx). Tjader-­Harris, Margaret (Hrsg.): Birgitta of Sweden. Life and Selected Revelations. New York 1990 (Classics of Western Spirituality). Vetter, Ferdinand: Das Leben der Schwestern zu Töss, beschrieben von Elsbeth Stagel samt der Vorrede von Johannes Meier und dem Leben der Prinzessin Elisabeth von Ungarn. Berlin 1906 (Deutsche Texte des Mittelalters 6). Watson, Nicholas/Jenkins, Jacqueline (Hrsg.): The Writings of Julian of Norwich. A Vision Showed to a Devout Woman and A Revelation of Love. Pennsylvania 2006 (Brepols Medieval Women Series). Williams, Ulla/Williams-­Krapp, Werner (Hrsg.): Die Offenbarungen der Katharina Tucher. Tübingen 1998 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte, Band 98). Windeatt, Barry (Hrsg.): The Book of Margery Kempe. Translated by Barry Windeatt. Harmondsworth 1985 (Penguin Classics). Ders. (Hrsg.): English Mystics of the Middle Ages. Cambridge 1994. Ders. (Hrsg.): The Book of Margery Kempe. Cambridge 2004. Zeller-­Werdmüller, Heinrich (Hrsg.): Die Stiftung des Klosters Oetenbach und das Leben der seligen Schwestern daselbst. Aus der Nürnberger Handschrift. Zürich 1889 (Züricher Taschenbuch N. F. 12), S. 213 – 276.

Quellen | 387 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Handschriftenkataloge Catalogue of the Manuscripts of Lincoln Cathedral Chapter Library. Hrsg. von Rodney M. Thomson. Cambridge 1989. Catalogue of Medieval and Renaissance Manuscripts in the Beinecke Rare Book and Manuscript Library, Yale University 3 Volumes. Hrsg. von Barbara Shailor [u. a.] Binghamton, N. Y. 1984: https://pre1600ms.beinecke.library.yale.edu/docs/pre1600. osborn.fa46.htm [26. 06. 2018]. A Catalogue of the Harleian Manuscripts in the British Museum. 4 Volumes. London, 1808 – 1812. The British Library Catalogue of Additions to the Manuscripts. New Series, 1981 – 1985, 2 Volumes. London 1985. The British Museum Catalogue of Additions to the Manuscripts in the British Museum, 1900 – 1905. London 1907. Die Handschriften der Dombibliothek zu Hildesheim. Zweiter Teil. HS 700 – 1500. St. God. Nr. 1 – 51; Ps 1 – 6. Beschrieben von Renate Giermann und Helmar Härtel unter Mitarbeit von Marina Arnold. Wiesbaden 1993. Kataloge der deutschsprachigen illustrierten Handschriften des Mittelalters. Begonnen von Hella Frühmorgen-­Voss, fortgeführt von Norbert H. Ott zusammen mit Ulrike Bodemann. Band 4/1, München 2008. Leeds University Library Special Collections Catalogue. https://library.leeds.ac.uk/special-­ collections-­explore/372720 [21. 08. 2018]. Western Illuminated Manuscripts. A Catalogue of the Collection in Cambridge University Library. Hrsg. von Paul Binski und Patrick Zubri in Zusammenarbeit mit Stella Panayotova. Cambridge 2011. Syon Abbey. Hrsg. von Vincent Gillespie. London 2001 (Corpus of Medieval Library Catalogues 9). Schneider, Karin: Die deutschen mittelalterlichen Handschriften. Wiesbaden 1965 (Die Handschriften der Stadtbibliothek Nürnberg). Dies.: Die deutschen Handschriften der Bayerischen Staatsbibliothek München. Cgm 351 – 500. Wiesbaden 1973.

Nachschlagewerke Anz, Thomas (Hrsg.): Handbuch der Literaturwissenschaft. Gegenstände – Konzepte – Institutionen. Band 2 Methoden und Theorien. Stuttgart, Weimar 2007. Beal, Peter: A Dictionary of English Manuscript Terminology 1450 – 2000. Oxford 2008. Brown, Michelle P.: Understanding Illuminated Manuscripts. A Guide to Technical Terms. London 1994. 388 | Literaturverzeichnis © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Middle English Dictionary. Hrsg. von Robert E. Lewis. Michigan Online Edition. http:// quod.lib.umich.edu/cgi/m/mec/med-­idx?type=id&id=MED46851 [16. 05. 2018]. Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. Band IV: Vom späten Mittelalter zum Barock. Von Helmut de Boor, Richard Newald, Hans ­Rupprich. München 1967. The Heads of Religious Houses England and Wales. Volume III 1377 – 1540. Hrsg. von David M. Smith. Cambridge 2008. Lexikon der christlichen Ikonographie. Hrsg. von Engelbert Kirschbaum in Zusammenarbeit mit Günter Bandmann et al. Band 1: Allgemeine Ikonographie A–Ezechiel. Freiburg i. Br. 1968. Lexikon der christlichen Ikonographie. Hrsg. von Engelbert Kirschbaum in Zusammenarbeit mit Günter Bandmann et al. Band 2: Allgemeine Ikonographie Fabelwesen-­ Kynokephalen. Freiburg i. Br. 1970. Deutsches Literaturlexikon. Das Mittelalter. Autoren und Werke nach Themenkreisen und Gattungen. Band 1: Das Geistliche Schrifttum von den Anfängen bis zum Beginn des 14. Jahrhunderts. Hrsg. von Wolfgang Achnitz. Berlin 2011. Lexikon der mittelalterlichen Zahlenbedeutung. Hrsg. von Heinz Meyer und Rudolf Suntrop. München 1987 (Münstersche Mittelalter-­Schriften, Band 56). Theologische Realenzyklopädie. Berlin, New York 2004.

Forschungsliteratur Aers, David (Hrsg.): Community, Gender and Individual Identity. English Writing 1360 – 1430. London 1988. Aers, David/Staley, Lynn (Hrsg.): Medieval Literature. Criticism, Ideology and History. Brighton 1986. Dies. (Hrsg.): The Powers of the Holy. Religion, Politics and Gender in Late Medieval English Culture. Cambridge 1996. Allen, Elizabeth: False Fables and Exemplary Truth in Later Middle English Literature. New York 2005. Allen, Hope Emily: Writings Ascribed to Richard Rolle Hermit of Hampole and Materials for His Biography. Published by the Modern Language Association of America. New York, London 1927 (Monograph Series of the Modern Language Association of America). Dies.: A Medieval Work. Margery Kempe of Lynn. In: The Times, Issue 46946, 27. Dezember 1934, S. 15. Altrock, Stephanie/Ziegeler, Hans Joachim: Vom diener der ewigen wisheit zum Autor Heinrich Seuse. Autorschaft und Medienwandel in den illustrierten Handschriften und Drucken von Heinrich Seuses Exemplar. In: Text und Kultur. Mittelalterliche Forschungsliteratur | 389 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Literatur 1150 – 1450. Hrsg. von Ursula Peters. Stuttgart 2001 (Germanistische Symposien Berichtsbände XXIII), S. 150 – 181. Anderson, Wendy Love: The Discernment of Spirits. Assessing Visions and Visionaries in the Late Middle Ages. Tübingen 2011 (Spätmittelalter, Humanismus, Reformation). Angenendt, Arnold [u. a.]: Gezählte Frömmigkeit. In: Frühmittelalterliche Studien 29 (1995), S. 1 – 71. Ders.: Geschichte der Religiosität im Mittelalter. Darmstadt, 1997. Ders.: Grundformen der Frömmigkeit im Mittelalter. München 2004 (Enzyklopädie Deutscher Geschichte Band 68). Aris, Marc-­Aeilko: Lesen und Erneuern – Kulturelle Implikationen der spätmittelalter­ lichen Klosterreform. In: Die benediktinische Klosterreform im 15. Jahrhundert. Hrsg. von Franz Xaver Bischof. Berlin 2013. Armstrong, Elisabeth P.: Understanding by Feeling in Margery Kempe’s Book. In: ­Margery Kempe. A Book of Essays. Hrsg. von Sandra McEntire. New York 1992, S. 17 – 35. Arnold, John H./Lewis, Katherine J. (Hrsg.): A Companion to „The Book of Margery Kempe“. Cambridge 2004. Arnold, John H.: Margery’s Trials. Heresy, Lollardy and Dissent. In: A Companion to „The Book of Margery Kempe“. Cambridge 2004, S. 75 – 93. Askese und Identität in Spätantike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Werner Röcke und Julia Weitbrecht. Berlin, New York 2010 (Transformationen der Antike Band 14). Astell, Ann W.: The Song of Songs in the Middle Ages. Ithaca, London 1990. Aston, Margaret: Lollards and Reformers. Images and Literacy in Late Medieval Religion. London 1984 (History Series 22). Atkinson, Clarissa W.: Mystic and Pilgrim. The Book and World of Margery Kempe. Ithaca 1983. Auer, Johann: Die Theologia mystica des Kartäusers Jakob von Jüterborg. In: Die Kartäuser in Österreich. Band 2. Hrsg. von James Hogg. Salzburg 1981 (Analecta Cartusiana 83/2), S. 19 – 52. Bainbridge, Victoria: Syon Abbey. Women and Learning c. 1415 – 1600. In: Syon Abbey and its Books. Reading, Writing and Religion c. 1400 – 1700. Hrsg. von Edward A. Jones und Alexandra Walsham. Woodbridge 2010 (Studies in Modern British ­Religious History Volume 24), S. 82 – 104. Baisch, Martin: Textkritik als Problem der Kulturwissenschaft. Tristan-­Lektüren. Berlin, New York 2006 (Trends in Medieval Philology). Baker-­Nowakowski, Denise: Julian of Norwich’s Showings. From Vision to Book. Princeton, New Jersey 1994.

390 | Literaturverzeichnis © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Bale, Anthony: The Woman in White. Why Margery Kempe divides modern readers as much as she did her medieval audience. In: The Times Literary Supplement, 19. Dezember 2014, S. 16 – 17. Barrat, Alexandra: Anchoritic Aspects of „Ancrene Wisse“. In: Medium Aevum XLIX.1 (1980), S. 32 – 56. Dies.: Margery Kempe and the King’s Daughter of Hungary. In: Margery Kempe. A Book of Essays. Hrsg. von Sandra McEntire. New York, London 1992, S. 189 – 201. Barthes, Roland: L’Effet de Reél. In: Communications 11 (1968), S. 84 – 89. Bäurle, Margret: Ich muß mich selber künden. Über Mechthild von Magdeburg und ihr Buch „Das fließende Licht der Gottheit“. In: Geschriebenes Leben. Autobiographik von Frauen. Hrsg. von Michaela Holdenried. Berlin 1995. Beadle, Richard: Prolegomena to a Literary Geography of Later Medieval Norfolk. In: Regionalism in Late Medieval Manuscripts and Texts. Essays in Celebrating the Publication of „A Linguistic Atlas of Late Mediaeval English“. Cambridge 1991 (York Manuscripts Conferences: Proceedings Series), S. 89 – 109. Beckman Zimmerman, Patricia: The Power of Books and the Practice of Mysticism in the Fourteenth Century. Heinrich von Nördlingen and Margaret Ebner on M ­ echthild’s Flowing Light of the Godhead. In: Church History: Studies in Christianity and Culture 76:1 (2007), S. 61 – 83. Beckwith, Sarah: Problems of Authority in Late Medieval English Mysticism. Language, Agency and Authority in „The Book of Margery Kempe“. In: Exemplaria 4,1 (1992), S. 172 – 199. Dies.: Christ’s Body. Identity, Culture and Society in Late Medieval Writings. London 1993. Dies.: A Very Material Mysticism. The Medieval Mysticism of Margery Kempe. In: Community, Gender and Identity. English Writing 1360 – 1430. Hrsg. von David Aers. London 1998, S. 34 – 57. Beer, Frances: Woman and the Mystical Experience in the Middle Ages. Cambridge 1992. Behling, Lottlisa: Ecclesia als arbor bona. Zum Sinngehalt einiger Pflanzendarstellungen des 12. und frühen 13. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Kunstwissenschaft 13 (1959), S. 139 – 154. Bein, Thomas: Autor – Autorisation – Authentizität. In: Autor – Autorisation – Authentizität. Beiträge der Internationalen Fachtagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition. Hrsg. von Thomas Bein, Rüdiger Nutt-­Kofoth und Bodo Plachta. Berlin 2004, S. 17 – 24. Bell, David: What Nuns Read. Books and Libraries in Medieval English Nunneris. Kalamazoo 1995 (Cistercian Studies Series 158). Bennewitz, Ingrid/Kasten, Ingrid (Hrsg): Genderdiskurse im Mittelalter. Eine Bilanzierung nach Butler und Laqueur. Münster 2002 (Bamberger Studien zum Mittelalter 1).

Forschungsliteratur | 391 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Bennewitz, Ingrid: Frauenliteratur im Mittelalter oder feministische Mediävistik. Überlegungen zur Entwicklung der geschlechtergeschichtlichen Forschung in der germanistischen Forschung der deutschsprachigen Länder. In: ZfdPh 112 (1993), S. 383 – 393. Bernhardt, Susanne: Figur im Vollzug. Narrative Strukturen im religiösen Selbstentwurf der Vita Heinrich Seuses. Tübingen 2016 (Bibliotheca Germanica 64). Bernau, Anke: Virgins. A Cultural History. London 2007. Beyer-­Fröhlich, Marianne: Die Entwicklung der deutschen Selbstzeugnisse. Leipzig 1930 (Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen. Reihe: Deutsche Selbstzeugnisse, Band 1). Bihlmeyer, Karl: Die Selbstbiographie in der deutschen Mystik des Mittelalters. In: Theologische Quartalschrift 114 (1933), S. 504 – 544. Blumenfeld-­Kosinski, Renate und Timea Szell (Hrsg.): Images of Sainthood in Medieval Europe. Ithaca, London 1991. Blumenfeld-­Kosinski, Renate/Robertson, Duncan/Bradley, Nancy (Hrsg.): The Vernacular Spirit. Essays on Medieval Religious Literature. New York 2002. Booth, Wayne C.: The Rhetoric of Fiction. Chicago 1964. Ders.: Types of Narration. In: Narratology. Hrsg. von Susana Onega und José Ángel ­García Landa. London, New York 1996 (Longman Critical Reader), S. 145 – 160. Bolton-­Holloway, Julia: Bride, Margery, Julian and Alice. Bridget of Sweden’s Textual Community in England. In: Margery Kempe. A Book of Essays. Hrsg. von Sandra McEntire. New York 1992, S. 203 – 222. Bowers, Terence N.: Margery Kempe as Traveler. In: Studies in Philology 97,1 (2000), S. 1 – 28. Brakmann, Thomas: Ein geistlicher Rosengarten. Die Vita der Heiligen Katharina von Siena z­ wischen Ordensreform und Laienfrömmigkeit im 15. Jahrhundert. Untersuchungen und Edition. Frankfurt a. M. 2011. Brantley, Jessica: Reading in the Wilderness. Private Devotion and Public Performance in Late Medieval England. Chicago, London 2007. Brinker-­Gabler, Gisela: Deutsche Literatur von Frauen. 2 Bände. München 1988. Brown, Jennifer N.: Gender, Confession and Authority. Oxford, Bodleian Library, MS Douce 114 in the Fifteenth Century. In: After Arundel. Religious Writing in Fifteenth-­ Century England. Hrsg. von Vincent Gillespie und Kantik Ghosh. Turnhout 2011, S. 415 – 428. Bubenheimer, Ulrich: Eg(g)eling Becker. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Begründet von Wolfgang Stammler; fortgeführt von Karl Langosch, Band 1, 1978, Sp. 657 – 658. Bumke, Joachim/Peters, Ursula (Hrsg.): Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur. Sonderheft zur Zeitschrift für deutsche Philologie 124 (2005). Butcher, Andrew: Reading „The Book of Margery Kempe“. In: Imitating Art. Essays in Biography. Hrsg. von David Ellis. Boulder, Colorado 1993, S. 189 – 212. 392 | Literaturverzeichnis © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter (dt. Übersetzung, Nachdruck). Frankfurt a. M. 2007 (Edition Suhrkamp 722 Gender Studies). Bürkle, Susanne: Weibliche Spiritualität und imaginierte Weiblichkeit. Deutungsmuster und Perspektiven frauenmystischer Literatur im Blick auf die Thesen Caroline ­Walker Bynums. In: Mystik. Hrsg. von Christoph Cormeau. Sonderheft Zeitschrift für deutsche Philologie 113 (1994), S. 116 – 143. Dies.: Literatur im Kloster. Historische Funktion und rhetorische Legitimation frauenmystischer Texte des 14. Jahrhunderts. Tübingen, Basel 1999 (Bibliotheca Germanica 38). Dies.: Die ‚Gnadenvita‘ Christine Ebners: Episodenstruktur – Text-­Ich und Autorschaft. In: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte. Kolloquium Kloster Fischingen 1998. Hrsg. von Walter Haug [u. a.]. Tübingen 2000, S. 483 – 513. Dies.: Die Offenbarungen der Margareta Ebner. Rhetorik der Weiblichkeit und der autobiographische Pakt. In: Weibliche Rede – Rhetorik der Weiblichkeit. Studien zum Verhältnis von Rhetorik und Geschlechterdifferenz. Hrsg. von Doerte Bischoff und Martina Wagner-­Egelhaaf. Freiburg i. Br. 2003 (Rombach Wissenschaften Reihe Litterae Band 93), S. 79 – 103. Cadden, Joan: Meanings of Sex Difference in the Middle Age. Medicine, Science and Culture. Cambridge 1993 (Cambridge History of Medicine). The Cambridge Companion to Medieval English Literature 1100 – 1500. Hrsg. von Larry Scanlon. Cambridge 2009. Camille, Michael: Glossing the Flesh. Scopophilia and the Margins of the Medieval Book. In: The Margins of the Text. Hrsg. von David C. Greetham. Ann Arbor, Michigan 1997, S. 245 – 269. Chappell, Julie A.: Perilous Passages. The Book of Margery Kempe, 1534 – 1934. New York 2013 (The New Middle Ages). Carruthers, Mary/Kirk, Elizabeth (Hrsg.): Acts of Interpretations. The Text in Its Contexts 700 – 1600. Essays on Medieval and Renaissance Literature in Honor of E. Talbot Donaldson. Norman, Oklahoma 1982. Carruthers, Mary: The Book of Memory. A Study of Memory in Medieval Culture. Second Edition. Cambridge 2008. Cassidy, Eoin: Per Christum hominem ad Christum Deum. Augustine’s Homilies on John’s Gospel. In: Studies in Patristic Christology. Proceedings of the Third Maynooth Conference October 1996. Hrsg. von Thomas Finan und Vincent Twomey. Dublin 1998, S. 122 – 143. Cerquiglini, Bernard: Elóge de la variante. histoire critique de la phiolologie. Paris 1989. Chewning, Susannah M.: Intersections of Sexuality and the Divine in Medieval Culture. The Word Made Flesh. London 2004.

Forschungsliteratur | 393 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Christensen, Kirsten: Unsichtbare Visionen sichtbarer Frauen. Visualisierungsstrategien in den Texten mittelalterlicher Mystikerinnen nach 1200. In: Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Bildern und Texten. Hrsg. von Horst Wenzel und C. Stephen Jaeger in Zusammenarbeit mit Wolfgang Harms, Peter Strohschneider und Christof L. Diedrichs. Berlin 2006 (Philologische Studien und Quellen, Heft 195), S. 213 – 225. Cleve, Gunnel: Margery Kempe. A Scandinavian Influence in Medieval England? In: The Medieval Mystical Tradition in England. Volume 4. Hrsg. von Marian Glasscoe. Woodbridge, Suffolk 1992, S. 162 – 178. Coakley, John: Women, Men and Spiritual Power. Female Saints and Their Male Collaborateurs. New York 2006. Cohn, Dorrit: Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction. Princeton 1978. Colledge, Edmund: Margery Kempe. In: Pre-­Reformation English Spirituality. Hrsg. von James Walsh. London 1965, S. 210 – 223. Collinson, Patrick: Lady Margaret Beaufort and her Professors of Divinity at Cambridge: 1502 – 1649. Cambridge 2003. A Companion to Julian of Norwich. Hrsg. von Liz Herbert McAvoy. Cambridge 2008. von Contzen, Eva: Wer bin ,Ich‘ und wenn ja, wie viele? Narrative Inszenierungen des Ichs in England und Schottland. In: Sonja Glauch/Katharina Philipowski (Hrsg.): Von sich selbst erzählen. Historische Dimensionen des Ich-­Erzählens. Heidelberg 2017 (Studien zur historischen Poetik), S. 63 – 97. Copeland, Rita: Lollard Writings. In: The Cambridge Companion to Medieval English Literature 1100 – 1500. Hrsg. von Larry Scanlon. Cambridge 2009, S. 111 – 122. Coppack, Glyn/Aston, Mike: Christ’s Poor Men. The Carthusians in England. Stroud, Gloucestershire 2002. Copsey, Richard: Misyn, Richard. In: Dictionary of National Biography. Oxford 2004. Online Edition http://www.oxforddnb.com/view/article/18823 [31. 08. 2018]. Ders.: Alan of Lynn (1347/8 – 1432). In: Dictionary of National Biography. Oxford 2004. Online Edition. http://www.oxforddnb.com/view/article/268 [16. 08. 2018]. Coué, Stephanie: Hagiographie im Kontext. Schreibanlass und Funktion von Bischofsviten aus dem 11. und vom Anfang des 12. Jahrhunderts. Berlin, New York 1997. Cowdrey, Herbert J.: Oxford Universität. In: Theologische Realenzyklopädie. Berlin, New York 2004, S. 568 – 575. Craymer, Suzanne: Margery Kempe’s Imitation of the Mary Magdalen and the Digby Plays. In: Mystics Quarterly 19 (1993), S. 173 – 181. Cré, Marleen: Women in the Charterhouse? Julian of Norwich’s Revelations of Divine Love and Marguerite Porete’s Mirror of Simple Souls in BL MS Add 37790. In: Writing Religious Women. Female Spirituality and Textual Practices in Late Medieval England. Hrsg. von Denis Renevey und Christiania Whitehead. Toronto 2000, S. 34 – 62. 394 | Literaturverzeichnis © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Dies.: Vernacular Mysticism in the Charterhouse. A Study of London, British Library, MS Add 37790. Turnhout 2006 (The Medieval Translator 9). Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und Lateinisches Mittelalter. 11. Auflage. Tübingen, Basel 1993. Davenport, Tony: Medieval Narrative. An Introduction. Oxford, New York 2004. Daxelmüller, Christoph: Zum Beispiel. Eine exemplarische Bibliographie. Dreiteilig. In: Jahrbuch für Volkskunde 13 (1990), S. 219 – 244; Jahrbuch für Volkskunde 14 (1991), S. 215 – 240; Jahrbuch für Volkskunde 16 (1993), S. 223 – 244. Deery Kurtz, Patricia: Marie of Oignies, Christine the Marvelous, and Medieval Heresy. In: Mystics Quarterly Volume 14, No. 4 (1988), S. 186 – 196. Delany, Sheila: Sexual Economics. Chaucer’s Wife of Bath and „The Book of Margery Kempe“. In: Feminist Readings in Middle English Literature. The Wife of Bath and All Her Secrets. Hrsg. von Ruth Evans und Lesley Johnson. London 1994, S. 72 – 87. Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Henrike Lähnemann und Sandra Linden. Berlin 2009. Dicke, Gerd: Aus der Seele gesprochen. Zur Semantik und Pragmatik der Gottesdialoge im „Fließenden Licht der Gottheit“ Mechthilds von Magdeburg. In: Dialoge. Sprachliche Kommunikation in und z­ wischen Texten im deutschen Mittelalter. Hamburger Colloquium 1999. Hrsg. von Nikolaus Henkel [u. a.]. Tübingen 2003, S. 267 – 278. Dickman, Susan: Margery Kempe and the Continental Tradition of the Pious Woman. In: The Medieval Mystical Tradition in England. Papers Read at Dartington Hall, July 1984 Exeter Symposium III. Hrsg. von Marion Glasscoe. Cambridge 1984, S. 150 – 168. Dies.: A Showing of God’s Grace. The Book of Margery Kempe. In: Mysticism and Spirituality in Medieval England. Hrsg. von William F. Pollard und Robert Boenig. Cambridge, Rochester, New York 1997, S. 159 – 176. Dillon, Janette: Holy Women and Their Confessors or Confessors and Their Holy Women? In: Prophets Abroad. The Reception of Continental Holy Women in Late Medieval England. Hrsg. von Rosalynn Voaden. Cambridge 1996, S. 115 – 141. Dimpel, Friedrich Michael: Das Häslein ist kein Sperber. Multiperspektivisches Erzählen im Märe. In: ZfdPh 132,1 (2013), S. 29 – 47. Dinzelbacher, Peter: Kleiner Exkurs zur feministischen Diskussion. In: Frauenmystik im Mittelalter. Wissenschaftliche Studientagung der Akademie der Diözese Rottenburg-­ Stuttgart, 22. – 25. 7. 1984 in Weingarten. Hrsg. von Peter Dinzelbacher und Dieter R. Bauer. Ostfildern 1985, S. 391 – 393. Ders.: Zur Interpretation erlebnismystischer Texte des Mittelalters. In: Mittelalterliche Frauenmystik. Hrsg. von Peter Dinzelbacher. Paderborn [u. a.] 1993, S. 304 – 332. Ders.: Die Gottesbeziehung als Geschlechterbeziehung. In: Personenbeziehung in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Helmut Brall. Düsseldorf 1994 (Studia humaniora 25), S. 3 – 36. Forschungsliteratur | 395 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Dixon, Laurinda S.: The Curse of Chastity. The Marginalization of Women in Medieval Art and Medicine. In: Matrons and Marginal Women in Medieval Society. Hrsg. von Robert Edwards und Vicky Ziegler. Cambridge 1995, S. 49 – 74. Dondaine, Antoine: Secrétaires de Saint Thomas. Roma 1956 (Editiones operum Sancti Thomae de Aquino). Doyle, Anthony I.: Thomas Betson of Syon Abbey. In: The Library 5th Series 11 (1956), S. 115 – 118. Ders.: Carthusian Participation in the Movement of Works of Richard Rolle between England and other Parts of Europe in the 14th and 15th Century. In: Kartäusermystik und -Mystiker. Band 2. Salzburg 1981 (Analecta Cartusiana 55), S. 109 – 121. Driver, Martha, W.: Pictures in Print. Late Fifteenth- and Early Sixteenth-­Century English Religious Books for Lay Readers. In: De Cella in Seculum. Religious and Secular Life and Devotion in Late Medieval England. An Interdisciplinary Conference in Celebration of the Eight Centenary of the Consecration of St. Hugh of Avalon, Bishop of Lincoln. 20 – 22 July 1986. Hrsg. von Michael G. Sargent. Cambridge 1989, S. 229 – 244. Duffy, Eamon: The Stripping of the Altars. Traditional Religion in England 1400 – 1580. 2nd Edition. New Haven und London 2005. Ders.: Marking the Hours. English People and Their Prayers 1240 – 1570. New Haven, London 2006. Dyas, Dee/Eden, Valerie/Ellis, Roger (Hrsg.): Approaching Medieval English Anchoritic and Mystical Texts. Rochester NY 2005. Eberley, Susan: Margery Kempe, St. Mary Magdalen and Patterns of Contemplation. In: Downside Review. A Quarterly of Catholic Thought 107 (1989), S. 209 – 233. Eisermann, Falk: Stimulus Amoris. Inhalt, lateinische Überlieferung, deutsche Übersetzung, Rezeption. Tübingen 2001 (Münchener Texte und Untersuchung zur deutschen Literatur des Mittelalters Band 118). Ellis, Roger: Viderunt eam filie Syon. The Spirituality of the English House of a Medieval Contemplative Order from its Beginnings to the Present Day. Salzburg 1984 ­(Analecta Cartusiana 68). Ders.: Margery Kempe’s Scribe and the Miraculous Books. In: Langland, the Mystics and Medieval English Religious Tradition. Essays in Honour of S. S. Hussey. Hrsg. von Helen Phillips. Cambridge 1990, S. 161 – 175. Emden, Alfred B.: A Biographical Register of the University of Cambridge. Cambridge 1963. Ders.: A Biographical Register of the University of Oxford to AD 1500. Volume III. Oxford 1989. Emmelius, Caroline: Verborgene Wahrheiten offenbaren. Verschriftlichungsprozesse in frauenmystischen Texten ­zwischen Subversion und Autorisierung. In: Offen und Verborgen. Vorstellungen und Praktiken des Öffentlichen und Privaten in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Caroline Emmelius [u. a.]. Göttingen 2004, S. 47 – 65. 396 | Literaturverzeichnis © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Dies.: Begnadung und Zweifel. Zur Interaktion von Innen- und Außenraum in den „Offenbarungen“ der Adelheid Langmann. In: Innenräume in der Literatur des deutschen Mittelalters: XIX Anglo-­German Colloquium Oxford 2005. Hrsg. von ­Burkhard Hasebrink [u. a.]. Tübingen 2008, S. 309 – 325. Dies.: Das visionäre Ich. Ich-­Stimmen in der Viten- und Offenbarungsliteratur z­ wischen Selbstthematisierung und Heterologie. In: Sonja Glauch/Katharina Philipowski (Hrsg.): Von sich selbst erzählen. Historische Dimensionen des Ich-­Erzählens. Heidelberg 2017 (Studien zur historischen Poetik), S. 361 – 389. Engler, Bernd/Müller, Kurt: Das Exemplum und seine Funktionalisierung. In: Exempla. Studien zur Bedeutung und Funktion des exemplarischen Erzählens. Hrsg. von Bernd Engler und Kurt Müller. Berlin 1995 (Schriften zur Literaturwissenschaft 10), S. 9 – 20. Erler, Mary C.: Margery Kempe’s White Clothes. In: Medium Aevum 62, 1 (1993), S. 78 – 85. Dies.: Women, Reading and Piety in Late Medieval England. Cambridge 2002. Evans, Ruth: The Book of Margery Kempe. In: A Companion to Medieval English Literature and Culture. Hrsg. von Peter Brown. Oxford 2007, S. 507 – 521. Evans, Ruth/Johnson, Lesley (Hrsg.): The Wife of Bath and All Her Secrets. London 1994. Falls, David J.: Nicholas Love’s Mirror and Late Medieval Devotio-­Literary Culture. Theological Politics and Devotional Practice in Fifteenth-Century England. New York, London 2016. Fanous, Samuel: Measuring the Pilgrim’s Progress. Internal Emphases in „The Book of Margery Kempe“. In: Writing Religious Women. Female Spirituality and Textual Practices in Late Medieval England. Hrsg. von Denis Renevey and Christiania ­Whitehead. Cardiff 2000, S. 157 – 176. Federer, Urban: Mystische Erfahrung im literarischen Dialog. Die Briefe Heinrichs von Nördlingen an Margareta Ebner. Berlin, New York 2011 (Scrinium Friburgense 25). Feistner, Edith: Imitatio als Funktion der Memoria. Zur Selbstreferentialität des religiösen Gedächtnisses in der Hagiographie des Mittelalters. In: Kunst und Erinnerung: memoriale Konzepte in der Erzählliteratur des Mittelalters. Hrsg. von Ulrich Ernst und Klaus Ridder. Köln 2003 (Ordo. Studien zur Literatur und Gesellschaft des Mittel­alters und der frühen Neuzeit Band 8). Fiktion und Fiktionalität in den Literaturen des Mittelalters. Jan-­Dirk Müller zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Ursula Peters und Rainer Warning. München 2009. Forde, Simon: Repyngdon, Philip (c. 1345 – 1424). In: Oxford Dictionary of National Biography. Oxford 2004. Online Edition, May 2008 http://www.oxforddnb.com/ view/article/23385 [25. 08. 2018]. Foster, Allyson: A Shorte Treatyse of Contemplacyon. The Book of Margery Kempe in its Early Print Context. In: A Companion to „The Book of Margery Kempe“. Hrsg. von John Arnold and Katherine J. Lewis. Cambridge 2004, S. 95 – 113.

Forschungsliteratur | 397 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Frauenmystik im Mittelalter. Wissenschaftliche Studientagung der Akademie der Diözese Rottenburg-­Stuttgart, 22. – 25. 7. 1984 in Weingarten. Hrsg. von Peter Dinzelbacher und Dieter R. Bauer. Ostfildern 1985. Fredell, Joel: Design and Authorship in the Book of Margery Kempe. In: Journal of the Early Book Society for the Study of Manuscripts and Print History Volume 12 (2009), S. 1 – 29. Frenken, Ralf: Kindheit und Mystik im Mittelalter. Frankfurt a. M. 2002 (Beihefte zur Mediaevistik). Frey, Dagobert: Ikonographische Bemerkungen zur Passionsmystik des späten Mittelalters. In: Neue Beiträge zur Archäologie und Kunstgeschichte Schwabens. Hrsg. von der Gesellschaft zur Förderung des Württembergischen Landesmuseums. Stuttgart 1952, S. 107 – 123. Fromm, Hans: Die mittelalterliche Handschrift und die Wissenschaft vom Mittelalter. In: Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz. Mitteilungen 8 (1976), S. 35 – 62. Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-­soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen. Hrsg. von Klaus Schreiner. München 2002. Fuhrmann, Daniela: Konfigurationen der Zeit. Dominikanerinnenviten des späten Mittel­ alters. Würzburg 2015 (Philologie der Kultur Band 12). Gallyon, Margaret: Margery Kempe of Lynn and Medieval England. Norwich 1995. Genette, Gérard: Die Erzählung. Dritte durchgesehene und korrigierte Auflage. Paderborn 2010 (UTB). Geschichte der abendländischen Mystik. Band 1: Die Grundlegung durch die Kirchenväter und die Mönchstheologie des 12. Jahrhunderts. Hrsg. von Kurt Ruh. München 1990. Geschichte der abendländischen Mystik. Band 2: Frauenmystik und frühe Franziskanermystik. Hrsg. von Kurt Ruh. München 1993. Gray, Douglas: London, British Library Additional MS 37049 – A Spiritual Encyclopedia. In: Text and Controversy. Essays in Honour of Anne Hutchinson. Hrsg. von Helen Barr und Ann M. Hutchinson. Turnhout 2005, S. 99 – 119. Greatrex, Joan: Biographical Register of the English Cathedral Priories of the Provinces of Canterbury c. 1066 – 1540. Oxford 1997. Gillespie, Vincent: Vernacular Books of Religion. In: Book Production and Publishing in Britain 1375 – 1475. Hrsg. von Jeremy Griffith und Derek Pearsall. Cambridge 1989 (Cambridge Studies in Publishing and Printing Histories), S. 317 – 344. Ders.: The Evolution of the Speculum Christiani in Late Medieval Texts and Manuscripts. In: Latin and Vernacular. Studies in Late Medieval Texts and Manuscripts. Hrsg. von A. J. Minnis. Cambridge 1989, S. 39 – 62. Ders.: Dial M for Mystic. Mystical Texts in the Library of Syon Abbey and the Spirituality of the Syon Brethren. In: The Medieval Mystical Tradition. England, Ireland and Wales. Exeter Symposium VI. Hrsg. von Marion Glasscoe. Cambridge 1999, S. 241 – 268. 398 | Literaturverzeichnis © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Goodman, Anthony: Margery Kempe and Her World. London, New York, Toronto 2002 (The Medieval World). Glauch, Sonja: An der Schwelle zur Literatur. Elemente einer Poetik des höfischen Erzählens. Heidelberg 2009 (Studien zur historischen Poetik Band 1). Glauch Sonja/Green, Jonathan: Lesen im Mittelalter. Forschungsergebnisse und Forschungsdesiderate. In: Buchwissenschaft in Deutschland. Ein Handbuch. Hrsg. von Ursula Rautenberg. Band 1. Berlin 2010, S. 361 – 410. Glasscoe, Marion: Visions and Revisions. A Further Look at the Manuscripts of Julian of Norwich. In: Studies in Bibliography Volume 42 (1989), S. 103 – 120. Graevenitz, Gerhard von: Problemfeld IV: Erzähler. In: Arbeitsbuch Romanalyse. Hrsg. von Hans-­Werner Ludwig. Tübingen 1982 (Literaturwissenschaft im Grundstudium 12). Greith, Carl: Die deutsche Mystik im Predigerorden (von 1250 – 1350) nach ihren Grundlehren, Liedern und Lebensbildern aus handschriftlichen Quellen. Freiburg i. Br. 1861. Grisé, C. Annette: In the Blessed Vyneȝerd of Oure Holy Saueour. Female Religious Readers and Textual Reception in „The Myroure of our ladye“ and „The Orchard of Syon“. In: The Medieval Mystical Tradition in England, Ireland and Wales. Exeter Symposium VI. Papers read at Charney Manor, July 1999. Hrsg. von Marion Glasscoe. Cambridge 1999, S. 193 – 213. Dies.: Holy Women in Print. Continental Female Mystics and the English Tradition. In: The Medieval Mystical Tradition. Exeter Symposium VII. Hrsg. von E. A. Jones. Cambridge 2004, S. 83 – 95. Grubmüller, Klaus: Sprechen und Schreiben. Das Beispiel Mechthilds von Magdeburg. In: Festschrift für Walter Haug und Burghart Wachinger. Hrsg. von Johannes Janota [u. a.]. Tübingen 1992, S. 335 – 448. Ders.: Überlieferung – Text – Autor. In: Die Präsenz des Mittelalters in seinen Handschriften. Ergebnisse der Berliner Tagung in der Staatsbibliothek zu Berlin 6. – 8. April 2000. Hrsg. von Hans-­Jochen Schiewer und Karl Stackmann. Tübingen 2002, S. 5 – 17. Gsell, Monika: Das fließende Blut der Offenbarungen der Elsbeth von Oye. In: Deutsche Mystik im abendländischen Zusammenhang. Neu erschlossene Texte, neue methodische Ansätze, neue theoretische Konzepte. Kolloquium Kloster Fischingen 1998. Hrsg. von Walter Haug und Wolfram Schneider-­Lastin. Tübingen 2000, S. 454 – 482. Haas, Alois: Sermo Mysticus. Studien zu Theologie und Sprache der deutschen Mystik. Freiburg/Schweiz 1979 (Dokiminion 4). Ders.: Was ist Mystik? In: Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposium Kloster Engelberg 1984. Hrsg. von Kurt Ruh. Stuttgart 1986 (Germanistische Symposien und Berichtsbände 7), S. 319 – 341. Hardiman Farley, Mary: Her Own Creature. Religion, Feminist Criticism, and the Functional Eccentricity of Magery Kempe, Exemplaria 11, 1 (1999), S. 1 – 21.

Forschungsliteratur | 399 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Harding, Wendy: Body into Text. „The Book of Margery Kempe“. In: Feminist Approaches to the Body in Medieval Literature. Hrsg. von Linda Loperis und Sarah Stanbury. Philadelphia 1993 (New Cultural Studies), S. 168 – 187. Harper, Steven: So euyl to rewlen. Madness and Authority in „The Book of Margery Kempe“. In: Neuphilologische Mitteilungen 98, 3 (1997), S. 53 – 61. Harriss, Gerald L.: Beaufort, Thomas, Duke of Exeter (c. 1377 – 1426), Oxford Dictionary of National Biography. Oxford 2004. Online Edition, Januar 2008 www.oxforddnb. com/view/article/1864 [20. 06. 2018]. Haug, Walter: Das Gespräch mit dem unvergleichlichen Partner. Der mystische Dialog bei Mechthild von Magdeburg als Paradigma für eine personale Gesprächsstruktur. In: Das Gespräch. Hrsg. von Karlheinz Stierle und Rainer Warning. München 1984 (Poetik und Hermeneutik), S. 251 – 279. Ders.: Geschichte, Fiktion und Wahrheit. Zu den literarischen Spielformen ­zwischen Faktizität und Phantasie. In: Historisches und fiktionales Erzählen im Mittelalter. Hrsg. von Fritz Peter Knapp und Manuela Niesner. Berlin 2002 (Schriften zur Literaturwissenschaft 19), S. 115 – 131. Ders.: Innerlichkeit, Körperlichkeit und Sprache in der spätmittelalterlichen ­Frauenmystik. In: Die Wahrheit der Fiktion. Studien zur weltlichen und geistlichen Literatur des Mittel­alters und der frühen Neuzeit. Hrsg. von Walter Haug. Tübingen 2003, S. 480 – 492. Hamburger, Jeffrey: Nuns as Artists. The Visual Culture of the Medieval Convent. Berkeley 1997. Hamburger, Jeffrey/Palmer, Nigel F.: The Prayer Book of Ursula Begerin. Volume 1 Art-­ Historical and Literary Introduction. Zürich 2015. Harvey, Nancy L.: Margery Kempe. Writer as Creature. In: Philological Quarterly 71, 2 (1992), S. 173 – 184. Hayes, Rosemary: William Alnwick (d. 1449). In: Oxford Dictionary of National Biography. Oxford 2004. Online-­Edition, 2008. http://www.oxforddnb.com/view/article/421 [18. 08. 2018]. Patriotische Heilige: Beiträge zur Konstruktion religiöser und politischer Identität in der Vormoderne. Hrsg. von Dieter Bauer und Klaus Herbers. Stuttgart 2007 (Beiträge zur Hagiographie 5). Heffernan, J. Thomas: The Popular Literature of Medieval England. Knoxville, Tennessee 1985. Ders.: Sacred Biographies. Saints and Their Biographers in the Middle Ages. New York, Oxford 1988. Henry IV: The Establishment of the Reign 1399 – 1406. Hrsg. von Gwilyn Dodd und Douglas Biggs. York 2003.

400 | Literaturverzeichnis © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Herbert Mc Avoy, Liz: Wonderfully turning & wrestyng hir body. Agonies, Ecstasies and Gendered Performances in „The Book of Margery Kempe“. In: The Book of ­Margery Kempe. An Abridged Translation. Cambridge 2003 (The Library of Medieval Women), S. 105 – 127. Dies.: Authority and the Female Body in the Writings of Julian of Norwich and Margery Kempe. Cambridge 2004 (Studies in Medieval Mysticism 5). Dies.: Virgin, Mother and Whore. The Spiritual Sexuality of Margery Kempe. In: Intersections of Sexuality and the Divine in Medieval Culture. The Word Made Flesh. Hrsg. von Susannah M. Chewning. London 2004, S. 119 – 136. Dies.: Closyd in an hows of ston. Anchoritic Discourse and „The Book of Margery Kempe“. In: Anchorites, Wombs and Tombs. Intersections of Gender and Enclosure. Hrsg. von Liz H. McAvoy und Mari Hughes-­Edwards. Cardiff 2004, S. 182 – 194. Hirsh, John C.: Author and Scribe in „The Book of Margery Kempe“. In: Medium Aevum 44 (1975), S. 145 – 150. Ders.: The Revelation of Margery Kempe. Paramystical Practices in Late Medieval England. Leiden 1988 (Medieval and Renaissance Authors 10). Höltgen, Karl Josef: Arbor, Scala und Fons Vitae. Vorformen devotionaler Embleme in einer mittelenglischen Handschrift (B. M. Add. MS. 37049). In: Chaucer und seine Zeit. Symposion für Walter F. Schirmer. Hrsg. von Arno Esch. Tübingen 1968 (Buchreihe der Anglia, Zeitschrift für englische Philologie Band 14), S. 355 – 391. Hogg, James: Mount Grace Charterhouse and Late Medieval English Spirituality. Volume II: The Trinity College Cambridge MS O. 2. 56. Salzburg 1978 (Analecta Cartusiana 64). Ders.: Mount Grace Charterhouse and Late Medieval English Spirituality. In: Collectanea Cartusiensia 3. Hrsg. von James Hogg. Salzburg 1980 (Analecta Cartusiana 82:3), S. 1 – 43. Ders.: A Mystical Diary. The Refectorium Salutis of Richard Methley of Mount Grace Charterhouse. In: Kartäusermystik und -Mystiker. Salzburg 1981 (Analecta ­Cartusiana 55:1), S. 214 – 238. Ders.: An Illustrated Yorkshire Carthusian Religious Miscellany. British Library London Additional MS 37049. Hrsg. von James Hogg. Volume 3: The Illustrations. Salzburg 1981 (Analecta Cartusiana 95). Ders.: A Morbid Preoccupation with Mortality? The Carthusian London British Library MS Add. 37049. In: Zeit, Tod und Ewigkeit in der Renaissance-­Literatur. Band 2. Salzburg 1986, S. 139 – 189. Ders.: The Evolution of the Carthusian Statutes from the Consuetudines Guigonis to the Tertia Compilatio. Documents: Volume I. Salzburg 1989 (Analecta Cartusiana 99), S. 7 – 57. Ders.: The Carthusians and the Temptation of Eve. In: Spiritualität heute und gestern, Band 15. Salzburg 1992 (Analecta Cartusiana 35), S. 138 – 186. Forschungsliteratur | 401 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Ders.: Richard Methley’s Latin Translations of The Cloud of Unknowing and Margarete Pourete’s The Mirrour of Simple Souls. In: Stand up to Godwards. Essays in Mystical and Monastic Theology in Honour of the Reverend John Clark on his sixty fifth birthday. Hrsg. von James Hogg. Salzburg 2002 (Analecta Cartusiana 204), S. 73 – 90. Holbrook, Sue Ellen: Order and Coherence in „The Book of Margery Kempe“. In: The Worlds of Medieval Women. Hrsg. von Constance H. Berman, Charles W. Connell und Judith Rice-­Rothschild. West Virginia 1985, S. 97 – 110. Dies.: Margery Kempe and Wynkyn de Worde. In: The Medieval Mystical Tradition in England. Papers Read at Dartington Hall, July 1987. Exeter Symposium IV. Hrsg. von Marion Glasscoe. Cambridge 1987, S. 27 – 46. Dies.: „About Her“. The Book of Margery Kempe of Feeling and Working. In: The Idea of Medieval Literature. New Essays on Chaucer and Medieval Culture in Honor of Donald R. Howard. Hrsg. von James M. Dean and Christian K. Zacher. Newark 1992, S. 265 – 284. Hornbeck, Patrick, J.: What is a Lollard? Dissent and Belief in Late Medieval England. Oxford 2010. Hornung, Hans: Daniel Sundermann als Handschriftensammler. Ein Beitrag zur Straßburger Bibliotheksgeschichte. Diss. (masch.) Tübingen 1956. Horstmann, C. (Hrsg.): Prosalegenden. In: Anglia 8 (1885), S. 102 – 196. Houses of Benedictine Monks. The Cathedral Priory of the Holy Trinity, Norwich. In: The Victoria History of the County of Norfolk. Volume 2. Hrsg. von William Page. London 1906 (Victoria History of the Counties of England), S. 317 – 328. Huber, Christoph: Geistliche Psychagogie. Zur Th ­ eorie der Affekte im Benjamin Minor des Richard von St. Victor. In: Codierungen von Emotionen im Mittelalter. Hrsg. von C. Stephen Jaeger und Ingrid Kasten. Berlin 2003, S. 16 – 31. Hübner, Gert: Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im „Eneas“, im „Iwein“ und im „Tristan“. Tübingen, Basel 2003 (Bibliotheca Germanica 44). Ders.: Fokalisierung im höfischen Roman. In: Erzähltechnik und Erzählstrategie in der deutschen Literatur des Mittelalters. Saarbrücker Kolloquium 2002. Hrsg. von ­Wolfgang Haubrichs, Eckart Conrad Lutz und Klaus Ridder. Berlin 2004 ­(Wolfram Studien XVIII. Veröffentlichungen der Wolfram von Eschenbach-­Gesellschaft), S. 129 – 149. Ders.: Historische Narratologie und mittelalterlich-­frühneuzeitliches Erzählen. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 56 (2015), S. 11 – 54. Hudson, Anne: Lollards and Their Books. London, Ronceverte 1985. Dies.: The Premature Reformation. Wycliffite Texts and Lollard History. Oxford 1988. Hudson, Anne/Kenny, Anthony: Wyclif, John (d. 1384). In: Oxford Dictionary of National Biography. Oxford 2004. Online Edition, September 2010 http://www.oxforddnb. com/view/article/30122 [25. 08. 2018].

402 | Literaturverzeichnis © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Hughes, Jonathan: Arundel, Thomas (1353 – 1414). In: Oxford Dictionary of National Biography. Oxford 2004. Online Edition, May 2007 http://www.oxforddnb.com/ view/article/713 [25. 08. 2018]. Huot, Sylvia: The Romance of the Rose and its Medieval Readers. Interpretation, Reception, Manuscript Transmission. Cambridge 1993 (Cambridge Studies in Medieval Literature 16). Dies.: Madness in Medieval French Literature. Identities Found and Lost. Oxford 2003. Hutchinson, Anne M.: Devotional Reading in the Monastery and in the Late Medieval Household. In: De Cella in Seculum. Religious and Secular Life and Devotion in Late Medieval England. An Interdisciplinary Conference in Celebration of the Eight Centenary of the Consecration of St. Hugh of Avalon, Bishop of Lincoln. 20 – 22 July 1986. Hrsg. von Michael G. Sargent. Cambridge 1989, S. 215 – 229. Dies.: What the Nuns Read. In: Medieval Studies 57 (1995), S. 206 – 222. Inszenierungen von Subjektivität in der Literatur des Mittelalters. Hrsg von Martin Baisch. Königstein 2005. Innes-­Parker, Catherine: The Legacy of „Ancrenne Wisse“: Translations, Adaptations, Influences and Audiences, with Special Attention to Woman Readers. In: A Companion to „Ancrene Wisse“. Hrsg. von Yoko Wada. Cambridge 2003, S. 145 – 175. Jannidis, Fotis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. eBook. Berlin 2008 (Narratologia 3) [20. 08. 2018]. Janota, Johannes: Gnadenviten, Offenbarungsschriften, Schwesternbücher. In: Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Hrsg. von Joachim Heinzle. Band III: Vom späten Mittelalter zum Beginn der Neuzeit. Teil 1: Orientierung durch Schriftlichkeit (1280/90 – 1380/90) von Johannes Janota. Tübingen 2004, S. 106 – 129. Ders.: Freundschaft auf Erden und im Himmel. Die Mystikerin Margareta Ebner und der Gottesfreund Heinrich von Nördlingen. In: Impulse und Resonanzen. Tübinger mediävistische Beiträge zum 80. Geburtstag von Walter Haug. Hrsg. von Gisela Vollmann-­Profe [u. a.]. Tübingen 2007, S. 275 – 301. Jauß, Hans R.: Zur historischen Genese der Scheidung von Fiktion und Realität. In: Funktionen des Fiktiven. Hrsg. von Dieter Henrich und Wolfgang Iser. München 1983 (Poetik und Hermeneutik. Arbeitsergebnisse einer Forschergruppe X), S. 423 – 431. St. John’s College Cambridge. A History. Hrsg. von Peter Linehan. Woodbridge 2011. Jones, Edward A.: A Chapter of Richard Rolle in Two Fifteenth-­Century Compilations. In: Leeds Studies in English 27 (1996), S. 139 – 162. Ders.: Anchoritic Aspects of Julian Of Norwich. In: A Companion to Julian of Norwich. Hrsg. von Liz Herbert McAvoy. Cambridge 2008, S. 75 – 88. Ders.: The English Ordines for Enclosing of Anchorites, S. XII–S. XVI. In: Traditio Volume 67 (2012), S. 145 – 234. Forschungsliteratur | 403 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Ders. (Hrsg.): The Medieval Mystical Tradition in England. Papers read at Charney Manor, July 2011. Exeter Symposium VIII. Suffolk 2013. Jones, Michael, K./Underwood, Michael G.: The King’s Mother. Lady Margaret Beaufort, Countess of Richmond and Derby. Cambridge 1993. Kasten, Ingrid: Körperlichkeit und Performanz in der Frauenmystik. In: Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur. Kolloquium am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld. Berlin 2002 (Körper, Zeichen ­­ und Kultur Band 11), S. 159 – 174. Keen, Maurice H.: Wyclif, the Bibel and Transubstantiation. In: Wyclif in His Time. Hrsg. von Anthony Kenny. Oxford 1986, S. 1 – 16. Keiser, George R.: The Mystics and the Early English Printers. The Economics of Devotionalism. In: The Medieval Mystical Tradition in England. Exeter Symposium IV. Papers read at Dartington Hall, July 1987. Hrsg. von Marion Glasscoe. London 1988, S. 9 – 26. Kelliher, Hilton: The Rediscovery of Margery Kempe. A Footnote. In: The Electronic British Library Journal 1997, S. 259 – 263. Ker, Neil Ripley: Medieval Manuscripts from Norwich Cathedral Priory. In: Transactions of the Cambridge Bibliographical Society Volume 1, Number 1 (1949), S. 1 – 28. Ders. (Hrsg.): Medieval Libraries of Great Britain. A List of Surviving Books. 2nd Edition. London 1964 (Royal Historical Society Guides and Handbooks No. 3). Ders.: Medieval Manuscripts in British Libraries. Volume 4. Oxford 1992. Kerby-­Fulton, Katherine/Hilmo, Maidie (Hrsg): The Medieval Professional Reader at Work. Evidence from Manuscripts of Chaucer, Langland, Kempe, and Gower. ­Victoria BC 2001 (English Literary Studies). Kirakosian, Racha: Die Vita der Christina von Hane. Untersuchung und Edition. Berlin, Boston 2017 (Hermaea Neue Folge 144). Klapper, Joseph: Der Erfurter Kartäuser Johannes Hagen. Ein Reformtheologe des 15. Jahrhunderts. 2 Bände. Leipzig 1960/1961 (Erfurter Theologische Studien Band 9 – 10). Klein, Dorothea: Zwischen Abhängigkeit und Autonomie. Inszenierung inspirierter Autorschaft in der Literatur der Vormoderne. In: Inspiration und Adaption. Tarnkappen mittelalterlicher Autorschaft. Hrsg. von Renate Schlesier und Beatrice Trȋnca. Hildesheim 2008 (Spolia Berolinensia Band 29), S. 15 – 41. Koch, Barbara: Margaret Ebner. In: Medieval Holy Women in the Christian Tradition c. 1100–c. 1500. Hrsg. von Alaistir Minnis und Rosalynn Voaden. Turnhout 2010 (Brepols Essays in European Culture), S. 393 – 410. Kocijancic-­Pokorn, Nike K.: Original Audience of the Cloud of Unknowing (in support of Carthusian Authorship). In: The Mystical Tradition and the Carthusians. Hrsg. von James Hogg. Salzburg 1995 (Analecta Cartusiana 130), S. 60 – 77.

404 | Literaturverzeichnis © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Köbele, Susanne: Bilder der unbegriffenen Wahrheit. Zur Struktur der mystischen Rede im Spannungsfeld von Latein und Volkssprache. Tübingen, Basel 1993 (Bibliotheca Germanica 30). Köpf, Ulrich: Zur Spiritualität der frühen Kartäuser und Zisterzienser. In: Bücher, Biblio­ theken und Schriftkultur der Kartäuser. Festgabe zum 65. Geburtstag von Edward Potkowski. Stuttgart 2002 (Contubernium Band 59), S. 215 – 231. Knowles, David: The Religious Orders in England. Volume II: The End of the Middle Ages. Cambridge 1955. Ders.: The English Mystical Tradition. London 1961. Ders./Hadcock, R. Neville: Medieval Religious Houses. London 1971. Küsters, Urban: Narbenschriften. Zur religiösen Literatur des Spätmittelalters. In: Mittel­ alter. Neue Wege durch einen alten Kontinent. Hrsg. von Jan-­Dirk Müller. Stuttgart 1999, S. 81 – 110. Kuhn, Hugo: Versuch über das 15. Jahrhundert in der deutschen Literatur. In: Ders.: Entwürfe zu einer Literatursystematik des Spätmittelalters. Tübingen 1980, S. 77 – 103. Krug, Rebecca: Reading Families. Women’s Literary Practice in Late Medieval England. London 2002. Dies.: Margery Kempe and the Lonely Reader. Ithaca, N. Y. 2017. Krusenbaum-­Verheugen, Christiane: Figuren der Referenz. Untersuchungen zu Überlieferung und Komposition der ‚Gottesfreundeliteratur‘ in der Straßburger Johanniterkomturei zum ‚Grünen Wört‘. Tübingen 2013 (Bibliotheca Germanica 58). Langer, Otto: Zur dominikanischen Frauenmystik im spätmittelalterlichen Deutschland. In: Frauenmystik im Mittelalter. Wissenschaftliche Studientagung der Akademie der Diözese Rottenburg-­Stuttgart. Hrsg. von Peter Dinzelbacher. Ostfildern 1985, S. 341 – 346. Ders.: Geistliche Sinnlichkeit. Zur Frage der Gotteserfahrung in der Frauenmystik des Mittelalters. In: Jahrbuch für Volkskunde 14 (1991), S. 143 – 155. Largier, Niklaus: Schrift als Ereignis. Zur Inszenierungsstruktur mittelalterlicher Liturgie. In: Ereignis. Konzeption eines Begriffs in Geschichte, Kunst und Literatur. Hrsg. von Thomas Rathmann. Köln 2003. Ders.: Rhetorik des Begehrens. Die ‚Unterscheidung der Geister‘ als Paradigma mittelalterlicher Subjektivität. In: Inszenierungen von Subjektivität. Hrsg. von Martin Baisch [u. a.]. Königstein 2005, S. 249 – 270. Laude, Corinne: Maskierungen. Erzählinstanzen (in) der mittelalterlichen Epik. In: Inspiration und Adaption. Tarnkappen mittelalterlicher Autorschaft. Hrsg. von Renate Schlesier und Beatrice Trînca. Hildesheim 2008 (Spolia Berolinsea Band 29), S. 111 – 138. Lavezzo, Kathy: Sobs and Sighs between Women. The Homoerotics of Compassion in „The Book of Margery Kempe“. In: Luise Fradenburg und Carla Frecerro (Hrsg): Premodern Sexualities. New York, London 1996, S. 175 – 198. Forschungsliteratur | 405 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Lawes, Richard: The Madness of Margery Kempe. In: The Medieval Mystical Tradition in England, Wales and Ireland. Exeter Symposium VII. Papers Read at Charney Manor July 1999. Hrsg. von Marion Glasscoe. Cambridge 1999, S. 147 – 167. Ders.: Psychological Disorder and the Autobiographical Impulse in Julian of Norwich, Margery Kempe, and Thomas Hoccleve. Writing Religious Women. Female Spirituality and Textual Practices in Late Medieval England. Hrsg. von Denis Reveney und Christiania Whitehead. Cardiff 2000, S. 217 – 243. Lawton, David: Voice, Authority and Blasphemy in „The Book of Margery Kempe“. ­In: Margery Kempe. A Book of Essays. Hrsg. von Sandra McEntire. New York 1992, S. 93 – 115. Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt. Aus dem Französischen von Wolfram Bayer, Dieter Horning. Frankfurt a. M. 1994 (Edition Suhrkamp; Aesthetica, Band 1896). Lentes, Thomas: Inneres Auge, äußerer Blick und heilige Schau. Ein Diskussionsbeitrag zur visuellen Praxis in Frömmigkeit und Moraldidaxe des Späten Mittelalters. In: Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-­soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen. Hrsg. von Klaus Schreiner in Zusammenarbeit mit Marc Müntz. München 2002, S. 179 – 220. Lewis, Flora: Rewarding Devotion. Indulgences and the Promotion of Images. In: The Church and the Arts. Special Issue of Studies in Church History 28 (1992), S. 179 – 194. Lewis, Katherine, J.: The Cult of St. Katherine of Alexandria in Late Medieval England. Woodbridge 2000. Liebl, Ulrike: Maria Magdalena. In: Lexikon des Mittelalters, Band 6. München 1993, Sp. 282 – 284. Lloyd, Terrence Henry: England and the German Hanse, 1157 – 1611. A Study of Their Trade and Commercial Diplomacy. Cambridge 1991. Loades, David M.: Politics, Censorship and the English Reformation. London 1991. Lochrie, Karma: The Book of Margery Kempe. The Marginal Woman’s Quest for Literary Authority. In: Journal of Medieval and Renaissance Studies 16 (1986), S. 33 – 55. Dies.: Margery Kempe and Translations of the Flesh. Philadelphia, Pennsylvania 1991 (New Cultural Studies Series). Löser, Freimut: Postmoderne Th ­ eorie und Mittelalter-­Germanistik. Autor, Autortext und edierter Text aus überlieferungsgeschichtlicher Sicht. In: Theorien der Literaturwissenschaft. Grundlagen und Perspektiven. Band 2. Hrsg. von Hans Vilmar Geppert und Hubert Zapf. Tübingen 2005, S. 277 – 294. Ders.: Schriftmystik. Schreibprozesse in der deutschen Mystik. In: Finden – Gestalten – Vermitteln. Schreibprozesse und ihre Brechungen in der mittelalterlichen Überlieferung. Freiburger Colloquium 2010. Hrsg. von Eckart Conrad Lutz in Verb. mit Susanne Köbele und Klaus Ridder. Berlin 2012 (Wolfram Studien XXII), S. 155 – 201. Lollardy and the Gentry. Hrsg. von Margaret Aston and Colin Richmond. Stroud 1997.

406 | Literaturverzeichnis © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Long, Julia: Mysticism and Hysteria. The Histories of Margery Kempe and Anna O. In: Feminist Readings in Middle English Literature. Hrsg. von Ruth Evans und Leslie Johnson. London 1994, S. 88 – 111. Lorenz, Sönke: Ausbreitung und Studium der Kartäuser in Mitteleuropa. In: Bücher, Biblio­theken und Schriftkultur der Kartäuser: Festgabe zum 65. Geburtstag von Edward Potkowski. Hrsg. von Sönke Lorenz. Stuttgart 2002 (Contunerbium 59), S. 1 – 21. Lovatt, Roger: The Library of John Blacman and Contemporary Carthusian Spirituality. In: Journal of Ecclesiastical History 43 (1992), S. 195 – 230. Macmillan, Sarah: Mortifying the Mind. Ascetism, Mysticism and Oxford, Bodleian Library, MS Douce 114. In: The Medieval Mystical Tradition in England. Exeter Symposion VIII. Papers read at Charney Manor, July 2011. Hrsg. von Edward A. Jones. Cambridge 2013, S. 109 – 123. Mahoney, Dhira B.: Margery Kempe’s Tears and the Power over Language. In: Margery Kempe. A Book of Essays. Hrsg. von Sandra J. McEntire. New York 1992 (Garland Medieval Casebooks 4), S. 37 – 50. Margery Kempe’s Own Story. The First English Autobiography. In: The Times, Issue 47493, 30. September 1936, S. 13 – 14. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 8. Auflage, München 2009 (C. H. Beck Studium). McEntire, Sandra J. (Hrsg.): Margery Kempe. A Book of Essays. New York 1992 ­(Garland Medieval Casebooks 4). McHardy, Anne: De Heretico Comburendo. In: Lollardy and the Gentry. Hrsg. von ­Margaret Aston and Colin Richmond. Stroud 1997, S. 112 – 126. Meale, Carol: Women and Literature in Britain, 1150 – 1500. Cambridge 1993. Medieval Holy Women in the Christian Tradition c. 1100–c. 1500. Hrsg. von Alaistir Minnis und Rosalynn Voaden. Turnhout 2010 (Brepols Essays in European Culture). Meier, Christel: Autorschaft im 12. Jahrhundert. Persönliche Identität und Rollenkonstrukt. In: Unverwechselbarkeit. Persönliche Identität und Identifikation in der vormodernen Gesellschaft. Hrsg. von Peter von Moos. Köln 2004, S. 207 – 262. Meier, Esther: Die Gregorsmesse. Funktionen eines spätmittelalterlichen Bildtyps. Köln 2006. Mertens, Dieter: Jakob von Paradies (1361 – 1465) über die mystische Theologie. In: Kartäu­ sermystik und -mystiker. Band 5. Salzburg 1982 (Analecta Cartusiana 55). Mertens, Volker: Theoretische und narrative Narratologie von Chrétien bis Kafka. In: Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven. Hrsg. von Harald Haferland und Matthias Meyer. Berlin 2010 (Trends in Medieval Philology Volume 19), S. 17 – 34. Miedema, Nine: Zur historischen Narratologie am Beispiel der Dialoganalyse. In: Histo­ rische Narratologie. Mediävistische Perspektiven. Hrsg. von Harald Haferland und Matthias Meyer. Berlin 2010 (Trends in Medieval Philology Volume 19), S. 35 – 67. Forschungsliteratur | 407 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Milde, Wolfgang/Schude, Werner (Hrsg.): De captu lectoris. Wirkungen des Buches im 15. und 16. Jahrhundert dargestellt an ausgewählten Handschriften und Drucken. Berlin 1988. Mirwald-­Jakobi, Christine: Das mittelalterliche Buch. Funktion und Ausstattung. Stuttgart 2004. Mitchell, Marea: The Book of Margery Kempe. Scholarship, Community and Criticism. Frankfurt a. M. 2005. Mooney, Catherine M.: Gendered Voices. Medieval Saints and Their Interpreters. Phila­ delphia, Pennsylvania 1999. Moos, Peter von: Geschichte als Topik. Das rhetorische Exemplum von der Antike zur Neuzeit und die historiae im „Policratus“ Johanns von Salisbury. Hildesheim 1988 (Ordo, Band 2). Mueller, Janel M.: Autobiography of a New Creatur. Female Spirituality, Selfhood, and Autorship in „The Book of Margery Kempe“. In: The Female Autograph. Theory and Practice of Autobiography from the tenth to the twentieth Century. Hrsg. von Donna C. Stanton. Chicago, Illinois 1995, S. 57 – 69. Müller, Jan-­Dirk: Der Körper des Buches. Zum Medienwechsel ­zwischen Handschrift und Druck. In: Materialität der Kommunikation. Hrsg. von Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer. Frankfurt a. M. 1988 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 750), S. 203 – 217. Ders.: Auctor – Actor – Author. Einige Anmerkungen zum Verständnis vom Autor in lateinischen Schriften des frühen und hohen Mittelalters. In: Der Autor im Dialog. Beiträge zu Autorität und Autorschaft. Hrsg. von Felix Philipp Ingold und Werner Wender. St. Gallen 1995, S. 17 – 31. Ders.: Neue Altgermanistik. In: Jahrbuch der Schillergesellschaft 39 (1995), S. 445 – 453. Ders.: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes. Tübingen 1998. Ders.: Aufführung – Autor – Werk. Zu einigen blinden Stellen gegenwärtiger Diskussion. In: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Ergebnisse der Berliner Tagung, 9. – 11. Oktober 1997. Hrsg. von Nigel Palmer und Hans-Joachim Schiewer. Tübingen 1999, S. 149 – 166. Ders.: Formen literarischer Kommunikation im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. In: Die Literatur im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Hrsg. von Werner Röcke und Marina Münkler. München, Wien 2004 (Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart Band 1), S. 21 – 54. Ders.: Realpräsenz und Repräsentation. Theatrale Frömmigkeit und Geistliches Spiel. In: Mediävistische Kulturwissenschaft. Hrsg. von Jan-­Dirk Müller. Berlin [u. a.] 2010, S. 161 – 183. Nahmer, Dieter von der: Die lateinische Heiligenvita. Darmstadt 1994 (Das lateinische Mittel­alter). 408 | Literaturverzeichnis © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven. Hrsg. von Harald Haferland und Matthias Meyer. Berlin 2010 (Trends in Medieval Philology, Volume 19). Nemes, Balázs: Von der Schrift zum Buch – vom Ich zum Autor. Zur Text- und Autorkonstitution in Überlieferung und Rezeption des „Fließenden Lichts der Gottheit“ Mechthilds von Magdeburg. Tübingen, Basel 2010 (Bibliotheca Germanica 55). Ders.: Rezension zu Urban Federer: Mystische Erfahrung im literarischen Dialog. Die Briefe Heinrichs von Nördlingen an Margareta Ebner. Berlin, New York 2011 (Scrinium Friburgense 25). In: ZfdPh 132 (2013), 3, S. 454 – 469. Neuburger, Verena E.: Margery Kempe. A Study in Early English Feminism. Bern 1994 (European University Studies: Series 14, Anglo-­Saxon Language and Literature 278). Neumann, Hans: Zur Text- und Lebensgeschichte Mechthilds. In: Altdeutsche und Altniederländische Mystik. Hrsg. von Kurt Ruh. Darmstadt 1964 (Wege der Forschung Band XXIII), S. 175 – 240. Nichols, Stephen G.: Philology in a Manuscript Culture. In: Speculum. A Journal of Medieval Studies 65 (1990), S. 1 – 10. Ders.: On the Sociology of Medieval Manuscript Annotation. In: Annotation and Its Text. Hrsg. von Stephen A. Barney. Oxford 1991 (Publications of the University of California Humanities Research Institute), S. 43 – 74. Ders.: „What is Manuscript Culture? The Manuscript Matrix“. In: The Medieval Manuscript Book: Cultural Approaches. Hrsg. von Michael Johnston und Michael von Dussen. Cambridge 2015, S. 34 – 60. Ders.: Dynamic Reading of Medieval Manuscripts. In: Florilegium 32 (2015), S. 19 – 57. Nievergelt, Andreas: Die Glossierung der Handschrift Clm 18547b. Ein Beitrag zur Funktionalität mittelalterlicher Griffelglossierung. Heidelberg 2007 (Germanistische Bibliothek 28). Ochsenbein, Peter: Die Offenbarungen der Elsbeth von Oye als Dokument leidensfixierter Mystik. In: Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposium Kloster Engelberg 1984. Hrsg. von Kurt Ruh. Stuttgart 1986, S. 423 – 437. Ders.: Deutschsprachige Privatgebetbücher vor 1400. In: Deutsche Handschriften 1100 – 1400. Oxforder Kolloquium 1985. Hrsg. von Volker Honemann und Nigel ­Palmer. Tübingen 1988, S. 379 – 399. Ohly, Friedrich: Metaphern für die Sündenstufen und die Gegenwirkungen der Gnade. Opladen 1990 (Rheinisch-­Westfälische Akademie der Wissenschaften. Geisteswissenschaften. Vorträge G. 302). Olivia, Marilyn: The Convent and the Community in Late Medieval England. Female Monasteries in the Diocese of Norwich, 1350 – 1450. Woodbridge 1998 (Studies in the History of Medieval Religion). Olorenshaw, Joseph R.: Some Early Soham Wills. In: Fenland Notes and Queries Volume 4 (1898), S. 246 – 250. Forschungsliteratur | 409 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Olson, Linda/Kerby-­Fulton, Kathryn (Hrsg.): Voices in Dialogue. Reading Women in the Middle Ages. Notre Dame, Indiana 2005. O’Reilly, Jennifer: Studies in the Iconography of the Virtues and the Vices in the Middle Ages. New York 1988. Ost, Martin: Pflichtbeichte. Untersuchungen zum Bußwesen im hohen und späten Mittel­alter. Berlin 1995 (Beiträge zur historischen Theologie 89). Painter, George: William Caxton: A Quincentenary Biography of England’s First P ­ rinter, London 1976. Palmer, Nigel: Rezension zu Ringler, Siegfried: Viten- und Offenbarungsliteratur in Frauenklöstern des Mittelalters. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 3 (1985), S. 467 – 473. Ders.: Das Buch als Bedeutungsträger bei Mechthild von Magdeburg. In: Bildhafte Rede in Mittelalter und früher Neuzeit. Probleme ihrer Legitimation und Funktion. Hrsg. von Wolfgang Harms [u. a.]. Tübingen 1992, S. 217 – 235. Ders.: Deutschsprachige Literatur im Zisterzienserorden. Versuch einer Darstellung am Beispiel der ostschwäbischen Zisterzienser- und Zisterzienserinnenliteratur im Umkreis von Kloster Kaishaim im 13. und 14. Jahrhundert. In: Zisterziensisches Schreiben im Mittelalter. Das Skriptorium der Reiner Mönche. Beiträge der internationalen Tagung im Zisterzienserstift Rein 2003. Hrsg. von Anton Schob und Karin Kranich-­Hofbauer. Bern 2005 (Jahrbuch für Internationale Germanistik, R. A., Band 71), S. 231 – 266. Parsons, Kelly: The Red Ink Annotator of „The Book of Margery Kempe“ and His Lay Audience. In: The Medieval Professional Reader at Work. Evidence from Manuscripts of Chaucer, Langland, Kempe and Gower. Hrsg. von Kathryn Kerby-­Fulton und Maidie Hilmo. Victoria BC 2001, S. 143 – 217. Peters, Ursula: Das Leben der Christine Ebner. Textanalyse und kulturhistorischer Kommentar. In: Abendländische Mystik im Mittelalter. Symposion Kloster Engelberg. Hrsg. von Kurt Ruh. Stuttgart 1986 (Germanistische Symposien Berichtsbände 7), S. 402 – 422. Dies.: Religiöse Erfahrung als literarisches Faktum. Zur Vorgeschichte und Genese frauen­ mystischer Texte des 13. und 14. Jahrhunderts. Tübingen 1988 (Hermae. Germanistische Forschungen N. F. 56). Dies.: Hofkleriker – Stadtschreiber – Mystikerin. Zum literarischen Status dreier Autorentypen. In: Autorentypen. Hrsg. von Walter Haug [u. a.]. Tübingen 1991 (Fortuna Vitrea), S. 29 – 49. Dies.: Digitus Argumentalis. Autorbilder als Signatur von Lehr-­Auctoritas in der mittelalterlichen Liedüberlieferung. In: Manus Loquens. Medium der Gesten – Gesten der Medien. Hrsg. von Matthias Bickenbach, Annina Klappert und Hedwig Pompe. Köln 2003 (Mediologie Band 7), S. 31 – 65.

410 | Literaturverzeichnis © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Dies.: Frauenliteratur im Mittelalter. Überlegungen zur Trobairitzpoesie, zur Frauenmystik und zur feministischen Literaturbetrachtung. In: Von der Sozialgeschichte zur Kulturwissenschaft. Aufsätze 1973 – 2000. Hrsg. von Susanne Bürkle, Lorenz Deutsch und Timo Reuvekamp-­Felber. Tübingen, Basel 2004, S. 107 – 130. Dies.: Das Ich im Bild. Die Figur des Autors in volksprachigen Bilderhandschriften des 13. und 16. Jahrhunderts. Köln 2008 (pictura et poësis 22). Pfister, Oskar: Hysterie und Mystik bei Margareta Ebner. In: Zentralblatt für Psychoanalyse 1 (1911), S. 468 – 485. Poor, Sara S.: Gender und Autorität in der Konstruktion einer schriftlichen Tradition. In: Autorität der/in Sprache, Literatur, Neue Medien. Vorträge des Bonner Germanistentages 1997. Band 2. Hrsg. von Jürgen Fohrmann, Ingrid Kasten und Eva Neuland. ­Bielefeld 1999, S. 532 – 552. Dies.: Mechthild of Magdeburg and Her Book: Gender and the Making of Textual Authority. Philadelphia, Pennsylvania 2004 (The Middle Ages Series). Pollard, William F./Boening, Roberts (Hrsg.): Mysticism and Spirituality in Medieval England. Cambridge, Rochester, New York 1997. Powell, Susan: Lady Margaret Beaufort and her Books. In: The Library. A Quarterly Journal of Bibliography. Sixth Series Volume XX, Number 3 (1998), S. 197 – 240. Pratsch, Thomas: Der hagiographische Topos. Griechische Heiligenviten in mittelbyzantinischer Zeit. Berlin 2005 (Millenium Studien 6). Quast, Bruno: drücken und schriben. Passionsmystische Frömmigkeit in den Offenbarungen der Margarethe Ebner. In: Gewalt im Mittelalter. Realitäten, Imaginationen. Hrsg. von Manuel Braun und Cornelia Herberichs. München 2005, S. 293 – 307. Ders.: Vom Kult zur Kunst. Öffnung des rituellen Textes im Mittelalter und Früher Neuzeit. Tübingen, Basel 2005 (Bibliotheca Germanica 48). Ders.: Heinrich Seuses Vita als Dekonstruktion einer Aufstiegsbiographie. In: Anfang und Ende. Formen narrativer Zeitmodellierung der Vormoderne. Hrsg. von Udo Friedrich [u. a.]. Berlin 2013, S. 157 – 173. Quellenstudien zur Geschichte der Heiligen Elisabeth Landgräfin von Thüringen. Von Albert Huykens. Marburg 1908. Rahner, Hugo: De Dominici pectoris fonte potavit. In: Zeitschrift für katholische Theologie 55 (1931), S. 103 – 108. Reikerstorfer, Johann: Thesen einer anamnetischen Christologie. In: Dem Leiden ein Gedächtnis geben. Thesen zu einer anamnetischen Christologie. Hrsg. von Kurt Appel [u. a.]. Göttingen 2012. Religiöse Frauenbewegung und mystische Frömmigkeit im Mittelalter. Hrsg. von Peter Dinzelbacher und Dieter R. Bauer. Köln, Wien 1988 (Beihefte zum Archiv für Kultur­ geschichte 28).

Forschungsliteratur | 411 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Renevey, Denis: The Name Poured Out. Margins, Illuminations and Miniatures as Evidence for the Practice of Devotions to the Name of Jesus in Late Medieval England. In: The Mystical Tradition and the Carthusians. Volume 5. Hrsg. von James Hogg. Salzburg 1996 (Analecta Cartusiana 130), S. 127 – 146. Ders.: Margery’s Performing Body. The Translation of Late Medieval Discursive Religious Practices. In: Writing Religious Women. Female Spirituality and Textual Practices in Late Medieval England. Hrsg. von Denis Renevey und Christiana Whitehead. Cardiff 2000, S. 197 – 217. Renevey, Denis/Whitehead, Christiania (Hrsg.): Writing Religious Women. Female Spirituality and Textual Practices in Late Medieval England. Cardiff 2000. Richards, William: The History of Lynn. Volume 1. Lynn 1812. Riches, Samantha/Salih, Sarah (Hrsg.): Gender and Holiness. Men, Women and Saints in Late Medieval Europe. London 2002. Riddy, Felicity: Julian of Norwich and Self-­Textualization. In: Editing Women. Hrsg. von Anne M. Hutchinson. Cardiff 1998, S. 101 – 121. Dies.: Text and Self in „The Book of Margery Kempe“. In: Voices in Dialogue. Reading Women in the Middle Ages. Hrsg. von Linda Olson und Kathryn Kerby-­Fulton. Notre Dame, Indiana 2005, S. 435 – 454. Riehle, Wolfgang: Englische Mystik des Mittelalters. München 2011. Ders.: The Secret Within. Hermits, Recluses and Spiritual Outsiders in Medieval England. Translated by Charity Scott ­Stokes. Ithaca, New York 2014. Ringler, Siegfried: Ebner, Christine. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasser­ lexikon. Begründet von Wolfgang Stammler; fortgeführt von Karl Langosch, Band 2, 1980, Sp. 297 – 302. Ders.: Ebner, Margareta. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Begründet von Wolfgang Stammler; fortgeführt von Karl Langosch, Band 2, 1980, Sp. 303 – 306. Ders.: Viten- und Offenbarungsliteratur in Frauenklöstern des Mittelalters. Quellen und Studien. München 1980 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters). Ders.: Die Rezeption mittelalterlicher Frauenmystik als wissenschaftliches Problem, dargestellt am Werk der Christine Ebner. In: Frauenmystik im Mittelalter. Hrsg. von Peter Dinzelbacher. Ostfildern 1985, S. 178 – 200. Ders.: Gnadenviten aus süddeutschen Frauenklöstern des 14. Jahrhunderts – Vitenschreibung als mystische Lehre. In: Minnichlichiu gotes erkennusse. Studien zur frühen abendländischen Mystiktradition. Heidelberger Mystiksymposium vom 16. Januar 1989. Hrsg. von Dietrich Schmidtke. Stuttgart, Bad Cannstatt 1990 (Mystik in Geschichte und Gegenwart: Abt. 1, Christliche Mystik 7), S. 89 – 104.

412 | Literaturverzeichnis © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Röcke, Werner: Maria Magdalena und Judas Ischarioth. Das Alsfelder Passionsspiel und die Erlauer Spiele als Experimentierfelder des Bösen und des soziokulturellen Standards im Mittelalter. In: Transformationen des Religiösen. Transformativität und Textualität im geistlichen Spiel. Hrsg. von Ingrid Kasten und Erika Fischer-­Lichte. Berlin 2007 (Trends in Medieval Philology), S. 80 – 99. Ross, Robert C.: Oral Life, Written Text. The Genesis of „The Book of Margery Kempe“. In: Yearbook of English Studies 22 (1992), S. 226 – 237. Ross, Thomas W.: Five Fifteenth-Century „Emblem“ Verses. In: Speculum 32, Number 2 (1957), S. 274 – 282. Roth, Cornelius: Discretio spirituum. Kriterien geistlicher Unterscheidung bei Johannes Gerson. Würzburg 2010. Roth, Detlef: Das Exemplum z­ wischen ‚illustratio‘ und ‚argumentatio‘. In: Mittellateinisches Jahrbuch 29, 2 (1994), S. 19 – 27. Rozenski, Stephen: The Chastising of God’s Children from Manuscript to Print. In: ­Études Anglaises 66, 3 (2013), S. 369 – 378. Ruh, Kurt: Johannes-­Evangelium 1,1 – 14. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Begründet von Wolfgang Stammler; fortgeführt von Karl Langosch, Band 4, 1983, Sp. 831 – 833. Ders.: Überlieferungsgeschichte mittelalterlicher Texte als methodischer Ansatz zu einer erweiterten Konzeption von Literaturgeschichte. In: Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. Beiträge der Würzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung. Hrsg. von Kurt Ruh. Tübingen 1985 (Texte und Textgeschichte 19), S. 262 – 273. Ders.: Geistliche Liebeslehren des XII. Jahrhunderts. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur. Hrsg. von Hans Fromm, Peter Ganz und Marga Reis. 111. Band. Tübingen 1989, S. 157 – 178. Ders.: Wilhelm von St. Thierry. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Begründet von Wolfgang Stammler; fortgeführt von Karl Langosch, Band 10, 1999, Sp. 1138 – 1142. Ruhrberg, Christiane: Der literarische Körper der Heiligen: Leben und Viten der ­Christina von Stommeln (1214 – 1312). Tübingen 1995 (Bibliotheca Germanica 35). Rychterova, Pavlína: Die Offenbarungen der Heiligen Birgitta von Schweden. Eine Untersuchung zur alttschechischen Übersetzung des Thomas von Štítné. Köln [u. a.] 2004. Sargent, Michael G.: The Transmission by the English Carthusians of some Late Medieval Spiritual Writing. In: Journal of Ecclesiastical History, 27 (1976), S. 225 – 241. Ders.: The Self-­Verification of Visionary Phenomena. Richard Methleys Experimentum Veritatis. In: Kartäusermystik und -Mystiker. Dritter internationaler Kongress über die Kartäusergeschichte und -Spiritualität. Band 2. Hrsg. von James Hogg. Salzburg 1981 (Analecta Cartusiana 55), S. 121 – 137.

Forschungsliteratur | 413 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Ders.: Contemporary Criticism of Richard Rolle. In: Kartäusermystik und -Mystiker. Band 1. Salzburg 1981 (Analecta Cartusiana 55), S. 160 – 187. Ders.: James Grenehalgh. The Biographical Record. In: Kartäusermystik und -Mystiker. Band 4. Salzburg 1982 (Analecta Cartusiana 55), S. 20 – 54. Ders.: Walter Hilton’s Scale of Perfection. The London Manuscript Group Reconsidered. In: Medium Aevum 52 (1983), S. 189 – 215. Ders.: James Grenehalgh as Textual Critic. 2 Bände. Salzburg 1984 (Analecta Cartusiana 85). Ders.: Nicholas Love as Ecclesiastical Reformer. In: Church History and Religious Culture 96 (2016), S. 40 – 64. Salih, Sarah: Versions of Virginity in Late Medieval England. Woodbridge 2001. Dies.: Staging Conversion. The Digby Saint Plays and „The Book of Margery Kempe“. In: Gender and Holiness. Men, Women and Saints in Late Medieval Europe. Hrsg. von Samantha Riches und Sarah Salih. London 2002, S. 121 – 134. Dies.: Margery’s Bodies. Piety, Work and Penance. In: A Companion to „The Book of Margery Kempe“. Hrsg. von John H. Arnold und Katherine J. Lewis. Cambridge 2004, S. 161 – 176. Salter, Elizabeth: The Manuscripts of Nicholas Love’s „Myrrour of the Blessed Lyf of Jesus Christ“ and Related Texts. In: Middle English Prose. Essays on the Bibliographical Problems. Hrsg. von A. S. G. Edwards und Derek Pearsall. New York 1981, S. 115 – 127. Schiegg, Markus: Frühmittelalterliche Glossen. Ein Beitrag zur Funktionalität und Kontextualität mittelalterlicher Schriftlichkeit. Heidelberg 2015 (Germanistische Bibliothek Band 52). Schiewer, Hans-Jochen: Die beiden Sankt Johannsen. Ein dominikanischer Johannes-­ Libellus und das literarische Leben im Bodenseeraum um 1300. In: Oxford German Studies (1993), S. 21 – 54. Schindler, Alfred: Hagiographie und Hagiologie in Augustins Werk, vor allem in den Confessiones. In: Autobiographie und Hagiographie in der christlichen Antike. Hrsg. von J. van Oort und D. Wyrwa. Leuven 2009, S. 89 – 129. Schmid, Wolfgang: Elemente der Narratologie. 2. verbesserte Auflage. Berlin, New York 2008. Schmidt, Nadine Jessica: Konstruktionen literarischer Authentizität in autobiographischen Erzähltexten. Göttingen 2013 (Literatur- und Mediengeschichte der Moderne Band 3). Schneider, Karin: Die Bibliothek des Katharinenklosters in Nürnberg und die städtische Gesellschaft. In: Bericht über Kolloquien der Kommission zur Erforschung der Kultur des Spätmittelalters 1978 – 1981. Hrsg. von Bernd Moeller. Göttingen 1983 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-­Historische Klasse Dritte Folge 137), S. 70 – 82. Dies.: Tucher, Katharina. In: Verfasserlexikon 9, 1995, Sp. 1132 – 1134.

414 | Literaturverzeichnis © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Dies.: Rezension zu Antje Willing: Literatur- und Ordensreform im 15. Jahrhundert. Deutsche Abendmahlsschriften im Nürnberger Katharinenkloster. Münster, New York 2004 (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit). In: ZfdA 136, Heft 2 (2007), S. 253 – 255. Schneider-­Lastin, Wolfram: Das Handexemplar einer mittelalterlichen Autorin. Zur Edition der Offenbarungen der Elsbeth von Oye. In: Editio 8 (1994), S. 53 – 70. Ders.: Die Fortsetzung des Oetenbacher Schwesternbuchs und andere vermisste Texte in Breslau. In: ZfdA 124 (1995), S. 201 – 210. Ders.: Leben und Offenbarungen der Elsbeth von Oye. Textkritische Edition der Vita aus dem „Ötenbacher Schwesternbuch“. In: Kulturanthropologie des deutschsprachigen Südwestens im späteren Mittelalter. Studien und Texte. Hrsg. von Barbara Fleith and Rene Wetzel. Tübingen 2009, S. 395 – 567. Schnell, Bernhard: Zur Bedeutung der Bibliotheksgeschichte für eine Überlieferungsund Wirkungsgeschichte. In: Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. Beiträge der Würzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung. Hrsg. von Kurt Ruh. Tübingen 1985 (Texte und Textgeschichte, Würzburger Forschungen 19), S. 221 – 230. Schnell, Rüdiger: Was ist neu an der „New Philology“? Zum Diskussionsstand in der germanistischen Mediävistik. In: Alte und neue Philologie. Hrsg. von Martin Dietrich Glessgen und Franz Lebsanft. Tübingen 1997 (Beihefte zu editio 8), S. 61 – 95. Ders.: Autor und Werk im deutschen Mittelalter. Forschungskritik und Forschungsperspektiven. In: Neue Wege der Mittelalter-­Philologie. Landshuter Kolloquium 1996. Hrsg. von Joachim Heinzle [u. a.]. Berlin 1998 (Wolfram Studien XV), S. 12 – 73. Ders.: Handschrift und Druck. Zur funktionalen Differenzierung im 15. und 16. Jahrhundert. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. 32. Band, 1. Heft (2007), S. 66 – 111. Schnelle, Udo: Antidoketische Christologie im Johannesevangelium. Eine Untersuchung zur Stellung des vierten Evangeliums in der johanneischen Schule. Göttingen 1987. Schoeck, Robert J.: Alcock, John (1430 – 1500). In: Oxford Dictionary of National Biography, Oxford 2004. Online Edition, September 2010 http://www.oxforddnb.com/ view/article/289 [25. 08. 2018]. Schoff, Rebecca L.: Reformations. Three Medieval Authors in Manuscript and Movable Print Type. Turnhout 2007 (Texts and Transitions Volume 4). Schreiner, Klaus: „Göttliche Schreib-­Kunst“. Eigenhändige Aufzeichnungen Gottes, Jesu und Mariä. Schriftlichkeit in heilsgeschichtlichen Kontexten. In: Frühmittelalterliche Studien 36 (2002), S. 95 – 133. Ders./Marc Müntz (Hrsg.): Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-­soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen. München 2002. Schulz, Armin: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Studienausgabe. 2. Auflage. Hrsg. von Manuel Braun, Alexandra Dunkel und Jan-­Dirk Müller. Berlin 2015. Forschungsliteratur | 415 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Schultz, Richard: Heinrich von Nördlingen. Seine Zeit, sein Leben und seine Stellung innerhalb der deutschen Mystik. In: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 10 (1976), S. 114 – 164. Scott Stokes, Charity: Margery Kempe: Her Life and the Early History of her Book. In: Mystics Quarterly Volume 25, No. 1/2 (1999), S. 9 – 68. Sobecki, Sebastian: The Writyng of this Tretys: Margery Kempe’s Son and the ­Authorship of Her Book. In: Studies in the Age of Chaucer Volume 37 (2015), S. 257 – 283. Spanily, Claudia: Autorschaft und Geschlechterrolle. Möglichkeiten weiblichen Literatentums im Mittelalter. Frankfurt a. M. (Tradition – Reform – Innovation Band 5), 2002. Spilling, Herrad: Johannes Mickel – Kartäuser oder Benediktiner? In: Bücher, Bibliotheken und Schriftkultur der Kartäuser: Festgabe zum 65. Geburtstag von Edward Potkowski. Hrsg. von Sönke Lorenz. Stuttgart 2002 (Contunerbium 59), S. 289 – 317. Spitz, Hans-­Jörg: Schilfrohr und Binse als Sinnträger in der lateinischen Bibelexegese. In: Frühmittelalterliche Studien 12 (1978), S. 230 – 257. Stackmann, Karl: Neue Philologie? In: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Hrsg. von Joachim Heinzle. Frankfurt a. M. 1994, S. 398 – 407. Stanzel, Franz K.: Typische Formen des Romans. 12. Auflage. Göttingen 1993 (Kleine Vandenhoeck-­Reihe 1187). Ders.: ­Theorie des Erzählens. 7. Auflage. Göttingen 2001 (Uni Taschenbücher 904). Staley, Lynn: The Trope of The Scribe and The Question of Literary Authority in the Works of Julian of Norwich and Margery Kempe. In: Speculum 66, 4 (1991), S. 820 – 838. Dies.: Margery Kempe as Social Critic. In: Journal of Medieval and Renaissance Studies 22 (1992), S. 159 – 184. Dies.: Margery Kempe’s Dissenting Fictions. Pennsylvania 1994. Stargardt, Ute: The Beguines of Belgium, the Dominican Nuns of Germany, and ­Margery Kempe. In: The Popular Literature of Medieval England. Hrsg. von Thomas J. ­Heffernan. Knoxville, Tennessee 1985, S. 277 – 313. Staubach, Nikolaus: Diversa raptim undique collecta. Das Rapiarium im geistlichen Reformprogramm der Devotio moderna. In: Literarische Formen des Mittelalters. Florilegien, Kompilationen, Kollektionen. Hrsg. von Kaspar Elm. Wiesbaden 2000, S. 115 – 147. Steer, Georg: Gebrauchsfunktionale Text- und Überlieferungsanalyse. In: Überlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. Beiträge der Würzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung. Hrsg. von Kurt Ruh. Tübingen 1985 (Texte und Textgeschichte, Würzburger Forschungen 19), S. 5 – 37. Steineke, Barbara: Paradiesgarten oder Gefängnis? Das Nürnberger Katharinenkloster z­ wischen Klosterreform und Reformation. Tübingen 2006 (Spätmittelalter der Reformation 30). Steinmetz, Karl-­Heinz: Mystische Erfahrung und mystisches Wissen in den mittelenglischen Cloud-­Texten. Berlin 2005 (Münchner Universitätsschriften Katholisch-­Theologische 416 | Literaturverzeichnis © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Fakultät. Veröffentlichungen des Grabmann-­Institutes zur Erforschung der mittelalterlichen Theologie und Philosophie Band 50). Strohm, Paul: England’s Empty Throne. Usurpation and the Language of Legitimation 1399 – 1422. New Haven, London 1998. Strohschneider, Peter: Situationen des Textes. Okkasionelle Bemerkungen zur New Philology. In: Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte. Hrsg. von Helmut Tervooren und Horst Wenzel. In: ZfdPh Sonderheft 116 (1997), S. 62 – 86. Ders.: Unlesbarkeit von Schrift. Literarhistorische Anmerkungen zu Schriftpraxen in der religiösen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts. In: Regeln der Bedeutung. Zur ­Theorie der Bedeutung literarischer Texte. Hrsg. von Fotis Jannidis et al. Berlin 2003, S. 591 – 627. Ders.: Text-­Reliquie. Über Schriftgebrauch und Textpraxis im Hochmittelalter. In: Performativität und Medialität. Hrsg. von Sybille Krämer. München 2004, S. 249 – 269. Suerbaum, Almut: Dialogische Identitätskonzeption bei Mechthild von Magdeburg. In: Dialoge. Sprachliche Kommunikation in und ­zwischen Texten im deutschen Mittelalter. Hamburger Colloquium 1999. Hrsg. von Nikolaus Henkel [u. a.]. Tübingen 2003, S. 239 – 255. Dies.: Die Paradoxie mystischer Lehre im „St. Trudperter Hohenlied“ und im „Fließenden Licht der Gottheit“. In: Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Henrike Lähnemann und Sandra Linden. Berlin, New York 2009, S. 27 – 40. Summit, Jennifer: Lost Property. The Woman Writer and English Literary History 1380 – 1589. Chicago, Illinois 2000. Sutherland, Annie: The Dating and Authorship of the Cloud-­Corpus: A Reassessement of the Evidence. In: Medium Aevum 71, Issue 1 (2002), S. 82 – 100. Swanson, Robert N.: Will The Real Margery Kempe Please Stand Up? In: Women and Religion in Medieval England. Hrsg. von Diana Wood. Oxford 2003, S. 141 – 165. Szarmach, Paul (Hrsg.): An Introduction to the Medieval Mystics of Europe. Albany, State of New York 1984. Szell, Timea K.: From Woe to Weal and Weal to Woe. Notes on the Structure of „The Book of Margery Kempe“. In: Margery Kempe. A Book of Essays. Hrsg. von Sandra ­McEntire. New York 1992 (Garland Medieval Casebooks 4), S. 73 – 91. Tannen, Silke: Rot sehen – Blut berühren. In: Die Farben imaginärer Welten: Zur Kulturgeschichte ihrer Codierung. Hrsg. von Monika Schausten. Berlin 2012, S. 303 – 323. Tanner, Norman: The Ages of Faith. Popular Religion in Late Medieval England and Western Europe. London, New York 2009 (International Library of Historical Studies 56). Thali, Johanna: vil herczliebe kúngin. Die Bedeutung Marias in der Gnadenvita des Engelthaler Klosterkaplans Friedrich Sunder. In: Mittelalterliche Literatur im

Forschungsliteratur | 417 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Lebenszusammenhang. Ergebnisse des Troisième Cycle Romand 1994. Hrsg. von Eckart Conrad Lutz. Freiburg, Schweiz 1997 (Scrinium Friburgense Band 8), S. 265 – 315. Dies.: Beten, Schreiben, Lesen. Literarisches Leben und Marienspiritualität im Kloster Engelthal. Tübingen 2003 (Bibliotheca Germanica 42). Thompson, Margaret: The Carthusian Order in England. Published for the Church Historical Society. London, New York, Toronto 1930. Thurston, Herbert: „Margery the Astonishing“. In: The Month 2 (1936), S. 446 – 456. Todorov, Tzvetan: Les catégories du récit litteraire. In: Communications 8 (1966), S. 121 – 151. Uhlmann, Diana R.: The Comfort of the Voice, the Solace of the Script. Orality and Literacy in „The Book of Margery Kempe“. In: Studies in Philology 91 (1994), S. 50 – 69. Underwood, Michael G.: Politics and Piety in the Household of Lady Margaret Beaufort. In: Journal of Ecclesiastical History 38 (1987), S. 39 – 52. Unzeitig, Monika: Von der Schwierigkeit, ­zwischen Autor und Erzähler zu unterscheiden. In: Erzähltechnik und Erzählstrategie in der deutschen Literatur des Mittelalters. Saarbrücker Kolloquium 2002. Hrsg. von Wolfgang Haubrichs, Eckart Conrad Lutz und Klaus Ridder. Berlin 2004 (Wolfram Studien XVIII), S. 59 – 83. Dies.: Autorname und Autorschaft. Bezeichnung und Konstruktion in der deutschen und französischen Erzählliteratur des 12. und 13. Jahrhunderts. Berlin, New York 2010 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters). Voaden, Rosalynn (Hrsg.): Prophets Abroad. The Reception of Continental Holy Women in Late Medieval England. Cambridge 1996. Dies.: God’s Words, Women’s Voice. The Discernment of Spirits in the Writings of Late Medieval Women Visionaries. York 1999. Vogt, Jochen: Aspekte erzählender Prosa. Opladen 1990 (WV-Studium Band 145). Volfing, Annette: John the Evangelist and Medieval German Writing. Imitating the Inimitable. Oxford 2001. Dies.: Dialog und Brautmystik bei Mechthild von Magdeburg. In: Dialoge. S­ prachliche Kommunikation in und ­zwischen Texten im deutschen Mittelalter. Hamburger Colloquium 1999. Hrsg. von Nikolaus Henkel [u. a.]. Tübingen 2003, S. 257 – 266. Vollmann, Benedikt K.: Autorrollen in der lateinischen Literatur des 13. Jahrhunderts. In: Literarisches Leben. Rollenentwürfe in der Literatur des Hoch- und Spätmittelalters. Festschrift für Volker Mertens zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Matthias Meyer und Hans-­Jochen Schiewer. Tübingen 2002, S. 813 – 828. Ders.: Erlaubte Fiktionalität: die Heiligenlegende. In: Historisches und fiktionales Erzählen im Mittelalter. Hrsg. von Fritz Peter Knapp und Manuela Niesner. Berlin 2002 (Schriften zur Literaturwissenschaft 19), S. 63 – 72. Wachinger, Burghart: Pietas vel Misericordia. Exempelsammlungen des späten Mittelalters und ihr Umgang mit einer antiken Erzählung. In: Kleinere Erzählformen im M ­ ittelalter. Paderborner Kolloquium 1987. Hrsg. von Klaus Grubmüller, Peter L. Johnson und 418 | Literaturverzeichnis © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Hans-­Hugo Steinhoff. Paderborn 1988 (Schriften der Universität-­Gesamthochschule Paderborn Band 10), S. 225 – 242. Ders.: Autorschaft und Überlieferung. In: Autorentypen. Hrsg. von Walter Haug [u. a.]. Tübingen 1991 (Fortuna Vitrea 6), S. 1 – 29. Wada, Yoko: What is Ancrene Wisse? In: A Companion to Ancrene Wisse. Hrsg. von Yoko Wada. Cambridge 2003, S. 1 – 29. Walker Bynum, Caroline: Jesus as Mother. Studies in the Spirituality of the High Middle Ages. Berkeley, California [u. a.] 1982. Walker Bynum, Caroline/Harrell, Stevan/Richman, Paula (Hrsg.): Gender and Religion. On the Complexity of Symbols. Boston 1986. Walker Bynum, Caroline: Holy Feast and Holy Fast. The Religious Significance of Food to Medieval Women. Berkeley, London, Los Angeles, California 1987. Dies.: Fragmentation and Redemption. Essays on Gender and the Human Body in Medieval Religion. New York 1992. Ward, Benedicta: Julian the Solitary. In: Julian Reconsidered. Hrsg. von Kenneth Leech und Sister Benedicta. Oxford 1988, S. 11 – 31. Warning, Rainer: Formen narrativer Identitätskonstitution im höfischen Roman. In: Identitäten. Hrsg. von Odo Marquardt und Karlheinz Stierle. München 1979 (Poetik und Hermeneutik. Arbeitsergebnisse einer Forschergruppe VIII), S. 551 – 589. Warren, Anne K.: Anchorites and Their Patrons in Medieval England. Berkeley, California 1985. Warren-­Bradley, Nancy: Spiritual Economies. Female Monasticism in Later Medieval England. Philadelphia, Pennsylvania 2001 (Middle Age Series). Watson, Nicholas: Richard Rolle and the Invention of Authority. Cambridge 1991. Ders.: The Composition of Julian of Norwich’s Revelation of Love. In: Speculum Volume 68, No. 3 (1993), S. 637 – 683. Ders.: Censorship and Cultural Change in Late Medieval England. Vernacular Theology, the Oxford Translation Debate, and Arundel’s Constitutions of 1409. In: Speculum Volume 70, No. 4 (1995), S. 822 – 864. Ders.: The Making of „The Book of Margery Kempe“. In: Voices in Dialogue. Hrsg. von Linda Olson und Kathryn Kerby-­Fulton. Notre Dame, Indiana 2005, S. 395 – 434. Watt, Diane: Secretaries of God. Women Prophets in Late Medieval and Early Modern England. Cambridge 1997. Dies. (Hrsg.): Medieval Women in Their Communities. Cardiff 1997. Dies.: Saint Julian of the Apocalypse. In: A Companion to Julian of Norwich. Hrsg. von Liz Herbert McAvoy. Cambridge 2008, S. 64 – 75. Wehrli-­Johns, Martina: Das Selbstverständnis des Predigerordens im Graduale von Katha­ rinenthal. Ein Beitrag zur Deutung der Christus-­Johannes-­Gruppe. In: Contemplata

Forschungsliteratur | 419 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

aliis tradere. Studien zum Verhältnis von Literatur und Spiritualität. Hrsg. von ­Claudia Brinker. Bern [u. a.] 1995, S. 241 – 271. Weissmann, Hope P.: Margery Kempe in Jerusalem. Hysteria Compassio in the Late Middle Ages. Acts of Interpretations. The Text in its Contexts 700 – 1600. Hrsg. von Mary Carruthers und Elizabeth Kirk. Norman 1982, S. 201 – 217. Weitlauff, Manfred: Ebner, Margaretha. In: Verfasserlexikon. Begründet von Wolfgang Stammler; fortgeführt von Karl Langosch, Band 2, 1980, Sp. 303 – 306. Ders.: „dein got redender munt machet mich redenlosz …“ Margareta Ebner und H ­ einrich von Nördlingen. In: Religiöse Frauenbewegung und mystische Frömmigkeit im Mittelalter. Hrsg. von Peter Dinzelbacher und Dieter R. Bauer. Köln, Wien 1988, S. 303 – 353. Weitzmann, Kurt: Illustration in Roll and Codex. A Study of the Origin and Method of Text Illustration. Princeton, New Jersey 1947 (Studies in Manuscript Illumination 2). Wenzel, Horst: Hören und Sehen. Schrift und Bild. Kultur und Gedächtnis im Mittelalter. München 1995. Ders.: Autorenbilder. Zur Ausdifferenzierung von Autorfunktionen in mittelalterlichen Miniaturen. In: Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen, 1995. Hrsg. von Elizabeth Andersen, Jens Haustein, Anne Simon und Peter Strohschneider. Tübingen 1998, S. 1 – 28. Ders.: Wahrnehmung und Deixis. Zur Poetik der Sichtbarkeit in der höfischen Literatur. In: Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Bildern und Texten. Hrsg. von Horst Wenzel und C. Stephen Jaeger in Zusammenarbeit mit Wolfgang Harms, Peter Strohschneider und Christof L. Diedrichs. Berlin 2006 (Philologische Studien und Quellen Heft 195), S. 17 – 44. Wetzel, René: Spricht maister Eberhart. Die Unfestigkeit von Autor, Text und Textbausteinen im Cod. Bodmer 59 und in der Überlieferung weiterer mystischer Sammelhandschriften des 15. Jahrhunderts. In: Kulturtopographie des deutschsprachigen Südwestens im späteren Mittelalter. Studium und Texte. Hrsg. von Barbara Fleith und René Wetzel. Berlin 2009 (Kulturtopographie des alemannischen Raums Band 1), S. 301 – 327. Wiethaus, Ulrike (Hrsg.): Maps of Flesh and Light. The Religious Experience of Medieval Women Mystics. Syracuse, New York 1993. Dies.: Thieves and Carnivals. Gender in German Dominican Literature of the Fourteenth Century. In: The Vernacular Spirit. Essays on Medieval Religious Literature. Hrsg. von Renate Blumenfeld-­Kosinski, Duncan Robertson und Nancy Bradley. New York 2002, S. 209 – 238. Williams-­Krapp, Werner: Frauenmystik und Ordensreform im 15. Jahrhundert. In: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991. Hrsg. von Joachim Heinzle. Stuttgart 1993 (Germanistische Symposien und Berichtsbände XIV), S. 301 – 313. 420 | Literaturverzeichnis © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Willing, Antje: Literatur und Ordensreform im 15. Jahrhundert. Deutsche Abendmahlsschriften im Nürnberger Katharinenkloster. Münster 2004 (Studien und Texte zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 4). Wilson, Janet: Communities of Dissent. The Secular and Ecclesiastical Communities of Margery Kempe’s Book. In: Medieval Women in Their Communities. Hrsg. von Diane Watt. Cardiff 1997, S. 155 – 185. Windeatt, Barry: Reading and Re-­Reading „The Book of Margery Kempe“. In: A Companion to „The Book of Margery Kempe“. Hrsg. von John Arnold und Katherine J. Lewis. Cambridge 2004, S. 1 – 17. Wittchow, Frank: Exemplarisches Erzählen bei Ammianus Marcellinus. Episode, Exemplum, Anekdote. München, Leipzig 2001 (Beiträge zur Altertumskunde Band 144). Wogan-­Browne, Jocelyn/Voaden, Rosalynn/Diamond, Arlyn [u. a.] (Hrsg.): Medieval Women. Texts and Contexts in Medieval Britain: Essays for Felicity Riddy. Turnhout 2000. Wogan-­Browne, Jocelyn: Saint’s Life and Women’s Literary Culture, c. 1150 – 1300. ­Virginity and its Authorisations. Oxford 2001. Wolf, Jürgen: Buch und Text. Literatur- und kulturhistorische Untersuchungen zur volkssprachlichen Schriftlichkeit im 12. und 13. Jahrhundert. Tübingen 2008. Wolpers, Theodor: Die englische Heiligenlegende des Mittelalters: Eine Formgeschichte des Legendenerzählens von der spätantiken lateinischen Tradition bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts. Tübingen 1964 (Anglia Band 10). Wood, Diana (Hrsg.): Women and Religion in Medieval England. Oxford 2003. Wunderle, Elisabeth: Handschriftenbeschreibung der Handschrift M, Maria M ­ edingen (Mödingen/Dillingen), Klosterbibliothek (Vita Beatae Margarithae Ebner). In: https:// www.bayerische-­landesbibliothek-­online.de/images/pdf/medingenwunderle.pdf [14. 08. 2018]. Yoshikawa, Kukita Naoë: Margery Kempe’s Meditations: The Context of Medieval and Devotional Literature, Liturgy and Iconography. Cardiff 2007 (Religion and Culture in the Middle Ages). Zeller, Rosmarie: Erzähler. In: Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturwissenschaft. Band 1. Hrsg. von Georg Braungart [u. a.]. Berlin, New York 2007, S. 502 – 505. Zoepf, Ludwig: Die Mystikerin Margaretha Ebner (c. 1291 – 1351). Leipzig 1914 (Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance 16).

Forschungsliteratur | 421 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Abbildungen

Abb. 1

422 | Abbildungen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Abb. 2

Abbildungen | 423 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Abb. 3

424 | Abbildungen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Abb. 4

Abbildungen | 425 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Abb. 5

426 | Abbildungen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Abb. 6

Abbildungen | 427 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Abb. 7

428 | Abbildungen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Abb. 8

Abbildungen | 429 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Abb. 9

430 | Abbildungen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Abb. 10

Abbildungen | 431 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Abb.11

432 | Abbildungen © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Abb. 12

Abbildungen | 433 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1 The Book of Margery Kempe, London, British Library, Add MS 61823 (Mitte des 15. Jahrhunderts), fol. 15r: Zeichnung einer Säule im Innenrand. © The British Library Board. Abb. 2 The Book of Margery Kempe, London, British Library, Add MS 61823 (Mitte des 15. Jahrhunderts), fol. 115r: Zeichnung eines Marien-­Gewandes und Klammersymbol, das die korrespondierende Textpassage markiert. Der Schreiber Salthows hat das Wort Aachen im Textfeld (Zeile 13) wiederholt und mit einem Dreiblattsymbol hervorgehoben. © The British Library Board. Abb. 3 The Book of Margery Kempe, London, British Library, Add MS 61823 (Mitte des 15. Jahrhunderts), fol. 33v: Linker Außenrand, Zeile 18 mit einer Annotation Salthows’ mit Dreiblattsymbol und nachträglicher, rubrizierter Rahmung. Linker Außenrand, Zeile 26 – 30 Methley/Norton-­Marginaleintrag (16. Jh.) mit Pfeilspitze, die auf das Wort weyke deutet. © The British Library Board. Abb. 4 The Book of Margery Kempe, London, British Library, Add MS 61823 (Mitte des 15. Jahrhunderts), fol. 59r: Rechter Außenrand, Zeile 23 mit nota-­Zeichen des Annotators N und dem Rahmeneintrag seculer. p. des rubrizierenden Annotators. © The British Library Board. Abb. 5 The Book of Margery Kempe, London, British Library, Add MS 61823 (Mitte des 15. Jahrhunderts), fol. 51v, 21 – 28: Rubriziertes Klammersymbol in hellroter Tinte, das nachträglich mit dunkelroter Tinte modifiziert worden ist. In Zeile 5 – 7 befindet sich der Marginaleintrag zu Prior Norton (16. Jh.). Im Kopfsteg ist ein Jesusmonogramm platziert. © The British Library Board. Abb. 6 The Book of Margery Kempe, London, British Library, Add MS 61823 (Mitte des 15. Jahrhunderts), fol. 61r, 4: Salthows hat narracio in bräunlicher Tinte eingetragen. Der rubrizierende Annotator hat Salthows’ Eintrag nachträglich gerahmt und mit einem Zusatz versehen. © The British Library Board. Abb. 7 Kartäusersammelhandschrift, London, British Library, Add MS 37049 (1. Hälfte des 15. Jahrhunderts), fol. 52v: Autorbild Richard Rolles. © The British Library Board. Abb. 8 Kartäusersammelhandschrift, London, British Library, Add MS 37049 (1. Hälfte des 15. Jahrhunderts), fol. 36v: Christusmonogramm-­Illustration. © The British Library Board. Abb. 9 Amherst-­Kompendium, London, British Library, Add MS 37790 (Mitte des 15. Jh.), fol. 97r. © The British Library Board. Abb. 10 Amherst-­Kompendium, London, British Library, Add MS 37790 (Mitte des 15. Jh.), fol. 109v: Manicula (Z. 19), linker Außenrand. © The British Library Board. 434 | Abbildungsverzeichnis © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Abb. 11 Amherst-­Kompendium, London, British Library, Add MS 37790 (Mitte des 15. Jh.), fol. 110v: Marginaleinträge 16. Jh. © The British Library Board. Abb. 12 Cloud of Unknowing-­Sammelhandschrift, London, British Library, MS Harley 2373 (15. Jh.), fol. 70v, 16 – 18: Marginaleintrag von James Grenehalgh. © The ­British Library Board.

Abbildungsverzeichnis | 435 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Personen- und Werkregister

Alan of Lynn  219 f. Alcock, John  91 – 93, 103 Anm. 246, 191 Anm. 641 – „Mons Perfeccionis“  91 – 93 – „Desponsacio Virginis Christo“  92 Anm. 192 Alnwick, William  238 Alfonso de Jaén  89, 162 – „Epistola Solitarii ad Reges“  89 f., 162 Angela von Foligno  16 Anm. 29 Anselm von Canterbury  134 Anm. 404, 168 Arundel, Thomas (Erzbischof von Canterbury)  10, 39 f., 170 – 174, 261 f., 262 Anm. 296 Augustinus  169, 298 Anm. 126 Awne, John  67 f., 175 Beaufort, Margaret  83, 87, 99 – 101, 103 f., 358 Beaufort, Thomas  103 Anm. 247 Bernhard von Clairvaux  168 f., 306 Anm. 166, 345 Anm. 347, 372 – „Sermones de diversis“  109 – „Sermones super Cantica canticorum“ 134 Anm. 404 Betson, Thomas  80 f. Birgitta von Schweden  16 Anm. 29, 17 Anm. 31, 70 Anm. 88, 89, 94, 169, 365 Anm. 26, 374 – „Liber Caelestis“  313, 374 Anm. 82 – „Quattuor Orationes“  374 Anm. 82 – „Regula Salvatoris“  374 Anm. 82 – „Revelationes“  162, 374 Anm. 82 – „Sermo Angelicus“  374 Anm. 82 – Vita 375 Anm. 84 Bitterlein, Margaretha  281 f. Bonaventura  168 – 170 Brunham, John  25 f. Bruno von Köln  190 f.

„The Chastysing of Goddes Chyldern“  88 – 91, 99 Chaucer, Geoffrey – „Chaucers Wordes Unto Adam, His Owne Scriveyn“ 49 Anm. 182 Christina von Hane  21 – „Vita der Christina von Hane“  15 Anm. 20, 21, 26, 37 f., 210 Anm. 52, 230, 266 Anm. 315 Christina Mirabilis  93, 257 Anm. 271 „The Cloud of Unknowing“  98, 106 – 109, 115 f., 147, 148 Anm. 457, 162, 168, 175 – 178, 250 „Contemplacyons of the Dread and Love of God“  101 Dely, Awdrey  90 „The Desert of Religion“  116, 192 f., 197 Anm. 669 Pseudo-Dionysius Areopagita  98, 106, 168 Dorothea von Montau  16 Anm. 29, 94, 209 f. – „Vita“  209 f., 365 Anm. 26 Ebner, Christine  16 f., 182, 318, 258 f., 275, 317, 344 Anm. 340, 375 – „Gnadenvita“  30, 36 f., 39, 126, 229, 258 f., 261, 281 Anm. 55, 313, 318 – 340, 341, 342 Anm. 336, 344 f., 348 Anm. 364, 352, 355, 360 – 362, 369, 376 – „Offenbarungen“  28, 30 f., 35, 258 f., 281 Anm. 55 Ebner, Margareta  16 f., 22, 266, 271 f., 273, 275 – 277, 279 f., 283, 289 f., 294 f., 302, 369 – „Offenbarungen“  17, 22, 24 Anm. 56, 30, 35, 50, 80 Anm. 141, 182 Anm. 605, 247 Anm. 225, 261, 269 – 316, 328, 350 Anm. 373, 359 f., 362 Ebner von Eschenbach, Wilhelm Hieronymus  281 Eike von Repgow – „Der Sachsenspiegel“  49 Anm. 182 Elisabeth von Schönau  94, 169, 309 Anm. 183 Elisabeth von Spalbeck  93 Elisabeth von Thüringen  93, 244

436 | Personen- und Werkregister © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Elsbeth von Oye  367 – „Offenbarungen“  362 f. Engelinus (Eg(g)eling) Becker von Braunschweig 57 „The Epistle of the Discretion of Stirrings“ („The Epystle of Dyscrecyon in Styrynges of the Soule“)  106, 109, 115 „The Epistle of Prayer“ („The Epystle of Prayer“)  106, 108, 115 Eysenhuet, Eustachius  280, 288 f. Falder-Pistoris, Georg  375 Anm. 84 „Fifteen Oes“  70 Anm. 88, 100, 103 Fisher, John  112 „Gebetbuch der Ursula Begerin“  56 f. Gregor I., der Große  67, 133, 168 f. Grenehalgh, James  69 Anm. 82, 78 Anm. 132, 96 – 98, 101, 115 Anm. 310, 142 f., 168, 176 f., 181 – 187, 359 Guigo I. Prior der Grande Chartreuse  91, 190 Guigo II. Prokurator und Prior der Grande Chartreuse  138 Anm. 416, 168 Guillaume des Lorris und Jean de Meun – „Der Rosenroman“  286 f. Hagen, Johannes  132, 169 Heinrich IV., König von England  165 Heinrich VIII., König von England  165 f. Heinrich von Nördlingen  22, 271 f., 274 – 276, 290 – 295, 328, 369 Heslyngton, Margaret  181 Anm. 598 Hildegard von Bingen  94 Hilton, Walter  50, 98 f., 105, 169, 199, 358 – „Meditacio Pauperis“  90 – „Scala Perfeccionis“  95 – 97 – „Scale of Perfection“  98, 166 Anm. 541, 181 – „Song of Angels“ („Of the Songe of Aungelles“)  106, 108 f., 116 Hugh of Lincoln  56

Jakob von Vitry  240 Anm. 201, 295 Johannes Cassian  168 Juliana von Norwich  10, 144, 160, 182 Anm. 601, 188 f., 261 – „A Vision Showed to a Devout Woman“ (Short Text)  68 f., 178 Anm. 592, 179, 181 – 189, 357 – „A Revelation of Love“ (Long Text)  212 Anm. 64, 179 Anm. 593, 187 Anm. 625, 313 Kartäuserin, Margarete  372 f. Katharina von Alexandria  75 Katharina von Siena  93 f. – „Legenda maior“  80 Anm. 141 – „Orcherd of Syon“  94 – „Ein geistlicher Rosengarten“  82 Anm. 156 – „Vita“  93 f., 106 – 108 Kempe, John (Ehemann der Margery Kempe)  25 f., 202 f., 223 Anm. 122 Kempe, John (Sohn der Margery Kempe)  25 Anm. 59, 223 f. Kingslowe, John  89 Konrad von Füssen  28 Anm. 78, 126 Anm. 367, 319 Anm. 221 und 222, 322 – 324, 327 f., 342 Anm. 335 Konrad von Heimesfurt – „Diu Urstende“  49 Anm. 182 Konrad von Würzburg – „Alexius“  298 f. Langmann, Adelheid  16, 26 Anm. 66, 27, 182, 321 – „Offenbarungen“  17, 26 Anm. 66, 27 f., 30, 35, 36 Anm. 112, 37, 39, 318, 325 Anm. 247, 328, 340, 349 – 356, 361, 369, 375 Love, Nicholas  170, 172 Anm. 568, 174 f., 198 – „Mirror of the Blessed Life of Jesus Christ“  169 – 175, 256 f. „Lucidarius“ 371 Ludolf von Sachsen – „Vita Christi“  56, 195 f. Ludwig der Bayer  261, 275 Anm. 29, 284 f., 296 Anm. 117

Personen- und Werkregister | 437 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

Luther, Martin  112 – „Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche“  112 – „95 Thesen: nebst dem Sermon vom Ablass und Gnade“  112 „Lyf of Saynt Katherin of senis with the reuelacions of saynt Elysabeth the kynges doughter of hungarye“  93 Margareta von Antiochien  75 Margareta zum Goldenen Ring  278 Anm. 43 Marguerite von Oingt  313 Maria von Ägypten  265 Anm. 312 Maria Madgalena  144 f., 151, 220 f., 337, 370 Marie von Oignies  16 Anm. 29, 93, 151 Anm. 469, 240 – 243, 245, 246 Anm. 222, 247 Anm. 225, 295 Marquard von Lindau  143 Mechthild von Hackeborn  169 Mechthild von Magdeburg  21 f., 259 f. – „Das fließende Licht der Gottheit“  21 f., 29, 37, 50, 126, 259 f., 277 – 279, 290 Anm. 96, 305 f., 320, 377 „Meditationes Vitae Christi“  169 f., 171 Anm. 568 Melton, William (Chancellor of York, verstorben 1528)  123 Anm. 347 Melton, William (Franziskanermönch)  123 Anm. 347 Methley, Richard  51, 60, 78, 90, 114, 116 Anm. 315, 118, 120, 125, 138, 146 – 164, 165, 168, 180, 197 f., 243, 245, 358 f. – „Divina Caligo Ignorancie“  147 f., 148 Anm. 457, 162 – „Dormitorium Dilecti Dilecti“  147 Anm. 452, 153 – 157 – „Experimentum Veritatis“  90, 147, 153, 159 – 162, 175 – „To Hew Heremyte a Pystyl of Solytary Lyfe Nowadayes“  147 – „Refectorium Salutis“  147 Anm. 452, 153, 155 – 158 – „Scola Amoris Languidi“  133, 147 Anm. 452, 153 – 156

Meyer, Johannes  369 Anm. 48 – „Buch der Reformacio Predigerordens“  370 Anm. 53 Misyn, Richard  180 Anm. 598 Morepath, Edith  90 Moyne, Richard  104 Nevell, Mary  90 Niklasin, Kunigund  366 Anm. 30, 368 Norton, John  51, 60, 78, 85, 120 Anm. 334, 125, 134, 146 – 164, 165, 197 f., 245, 358 – „Deuota Lamentacio deuoti Iohannis Norton Prioris“  146, 163 – „Musica Monachorum“  146, 150 Anm. 466, 163 – „Thesaurus Cordium vere Amancium“  146, 163 Nützlin, Klara  373 Palmer, Katherine  90 Pepwell, Henry  54, 70 f., 105 f., 112 Anm. 299, 113, 115, 177, 358 Porete, Marguerite  147 f. – „Le Miroir des simples âmes“  147, 148 Anm. 457, 162 – „The Mirror of Simple Souls“  178 – 180, 181 Anm. 599, „Pricke of Love“  245 Querela divina  110, 112 f., 194 f. „Remedy ayenst temptacyons“  101 Repingdon, Philip (Bischof von Lincoln)  10, 40, 160, 202 – 204, 261, 264 Richard II., König von England  165 Richard von St. Victor – „Benjamin Minor“  106 – 108, 115, 177 Roger de Blicklingge  63 f. Rolle, Richard  50, 101 – 103, 105, 143 Anm. 434, 155, 166 Anm. 541, 169, 197 Anm. 669, 199, 358 – „Ego Dormio“  101, 102 Anm. 242, 179 Anm. 595

438 | Personen- und Werkregister © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813

– „The Form of Living“  101, 179 Anm. 595 – „Incendium Amoris“  97, 98 Anm. 224, 101 Anm. 240 und Anm. 241, 103, 155, 166 Anm. 541, 179, 180 Anm. 598, 181, 197 Anm. 669, 244 f., 249 Anm. 232 – „Mending of Life“  178 Anm. 592, 179 Anm. 595 Salthows  54 Anm. 9, 61 – 64, 66 f., 69 Anm. 86, 120 – 128, 131 f., 136, 141 f., 146, 149 f., 164, 225, 358 Scheppach, Elsbeth  283 f., 290 Anm. 95, 302 Anm. 150 Schlettstetter, Sebastian  280 „Schwabenspiegel“ 371 Seuse, Heinrich  16 Anm. 29, 102 Anm. 242, 169 – „Büchlein der ewigen Weisheit“  144, 314, 347, 356, 371 – Exemplar  49 Anm. 182, 102 Anm. 242 – „Horologium Sapientiae“  88 Anm. 170, 93, 293 Anm. 101 – „Vita“  43, 162, 273 f. Sewell, Joanna  97 f. Slighe, Dorothy  90 Southfield, William  261, 264 f. „Speculum Spiritualium“  169 Spryngold, Robert  79, 222 Anm. 118 „Of þe state of religion“  92 f., 191 – 193

„Stimulus Amoris“ („Prykke of Lofe“)  99, 243 f., 245 Storoure, Edmund  89, 90 Anm. 178, 166 Anm. 541 Sunder, Friedrich  17, 35, 328 Anm. 262 – „Gnadenleben des Friedrich Sunder“  318, 321, 323 Anm. 242, 338 Anm. 314, 340 – 349, 355, 360 Sutton, Richard  94 Tauler, Johannes  311, 375 Thomas von Aquin  168, 372 Thomas de Holand  165 „Treatyse of Dyscernynge of Spyrytes“  109 f., 115 „Tretyse of Loue“  91 „A Tretyse of Priue Counseile“  175 Anm. 580, 176 f. Tucher, Katharina  52 – „Offenbarungen“  362 – 377 Wilhelm von St. Thierry – „Epistola ad fratres de Monte Dei“  371 Wirnt von Grafenberg – „Wigalois“ 49 Wolfram von Eschenbach – „Parzival“  349, 369 Anm. 52 Wyclif, John  171 Wynkyn de Worde  54, 70 f., 74, 81, 83, 85, 87 f., 91, 93, 100, 105, 129, 199, 357 f.

Personen- und Werkregister | 439 © 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln ISBN Print: 9783412511760 — ISBN E-Book: 9783412518813