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German Pages 198 [199] Year 2022
Fotos im Nationalsozialismus
Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte Bd. 20 Herausgegeben im Auftrag der Stadt Dachau und des Max-Mannheimer-Hauses. Studienzentrum und Internationales Jugendgästehaus von Sybille Steinbacher
Fotos im Nationalsozialismus Neue Forschungen zu einer besonderen Quelle Herausgegeben von Michael Wildt und Sybille Steinbacher
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Wallstein Verlag, Göttingen 22 www.wallstein-verlag.de Vom Verlag gesetzt aus der Adobe Garamond Umschlagkonzept: Basta Werbeagentur, Steffi Riemann ISBN (Print) 978-3-8353-5318-3 ISBN (E-Book, pdf ) 978-3-8353-4949-0
Inhalt
Michael Wildt Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I . Von Fotoalben und Bilderrahmen. Private Blicke im NS -Deutschland Maiken Umbach Fotografie als politische Praxis im Nationalsozialismus. Überlegungen zur Vermittlung von Ideologie und Subjektivität in privaten Fotoalben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ulrich Prehn Mit der Kamera »zu Leibe rücken«. Zur fotografischen Erzeugung von Nähe und Distanz im nationalsozialistischen Deutschland .
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II . Gegen-Blicke.
Jüdische Fotografinnen und Fotografen Robert Mueller-Stahl Selbstbestimmte Unbeschwertheit? Deutsch-jüdische Urlaubsfotografie im Nationalsozialismus. Aus einem Fotoalbum der Familie Chotzen . . . . . . . . . . . .
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Theresia Ziehe Jüdische Perspektiven in der Fotografie der NS-Zeit. Aus den Beständen des Jüdischen Museums Berlin . . . . . . . .
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III . Fotografie und Gewalt.
Neue Perspektiven
Christoph Kreutzmüller Grauen Übersehen. Reflektion über die Bilder des Lili-Jacob-Albums . . . . . . . . . 117
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IV . Fotografien des Nationalsozialismus im Internet.
Chancen und Probleme
Christine Bartlitz Das Internet hat keinen Kurator. Chancen und Herausforderungen für Historikerinnen und Historiker im Umgang mit digitalen Fotografien aus der Zeit des Nationalsozialismus . . 141
V . Podiumsdiskussion Brauchen wir eine Enzyklopädie der Bilder? Podiumsdiskussion mit Cornelia Brink, Petra Bopp, Gabriele Hammermann und Annette Vowinckel . . . . . . . . . . . . . . 163 Moderiert von Michael Wildt und Sybille Steinbacher
Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
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Einführung »Ohne seine Bildwelten ist der Nationalsozialismus nicht zu begreifen«, konstatiert Gerhard Paul zu Recht.1 Die Sichtbarkeit ihrer Macht ist für die Diktaturen im 20. Jahrhundert unverzichtbar. Herrschaft definierte sich in besonderer Weise über die Beherrschung der Bilder, totale Kontrolle über sich zu erlangen. Jede Diktatur hat Institutionen errichtet, die die Produktion, Distribution und Rezeption von Bildern, vor allem die Massenmedien Film und Fotografie, lenken und überwachen sollten. Zugleich entwickelte sich das Fotografieren zu einer massenhaften, alltäglichen Praxis. Von der 1930 eingeführten, preiswerten »Agfa-Box« wurden innerhalb von zwei Jahren über eine Million Exemplare verkauft. Um 1939 herum besaßen, Timm Starl zufolge, bereits rund zehn Prozent der deutschen Bevölkerung eine Kamera, wobei der Gesamtanteil der Fotoamateure sicher höher gelegen hat, da eine Kamera, zumal im Familienzusammenhang, nicht selten von mehreren Hobby-Fotografen benutzt wurde.2 Die Wehrmachtsausstellungen des Hamburger Instituts für Sozialforschung wie die Ausstellung »Fremde im Visier« machten deutlich, wie verbreitet das Fotografieren von bzw. durch Soldaten im Zweiten Weltkrieg war.3 Die Bedeutung der Bilder, insbesondere der Fotografie, für die Geschichte des 20. Jahrhunderts ist seit langem bekannt, wie die Zeitschrift »Fotogeschichte«, die seit 1981 erscheint, die Arbeiten von Tim Starl, Anton Holzer, Karen Hartewig, Detlef Hoffmann, Diethart Kerbs, Ulrich Keller und anderen unter Beweis stellen.4 Auch die Untersuchung der Rolle von Fotografien im Nationalsozialismus hat durch die Studien von Rolf Sachsse, Ute Wrocklage, Sybil Milton, Cornelia Brink, Klaus Hesse, Miriam Arani, Ahlrich Meyer, Habbo Knoch, Frank Reuter und anderen mehr schon vor etlichen Jahren ihren Anfang genommen.5 Dennoch bedurfte es der Kontroverse um die Fotografien der ersten Wehrmachtsausstellung und des Historikertages 2006 in Konstanz, auf dem Visual History ein zentrales Thema darstellte, um die Bedeutung von Bildern für die Geschichtswissenschaft buchstäblich sichtbar werden zu lassen. 7
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Seither sind etliche gewichtige Studien herausgekommen wie Gerhard Pauls opus magnum zur Visual History im 20. Jahrhundert und jüngst zu Bildern des Nationalsozialismus,6 Ulrike Weckels Untersuchung zu den alliierten Filmen über nationalsozialistische Verbrechen in den Konzentrationslagern nach 1945,7 Annette Vowinckels Geschichte der Institutionen der Bilddistribution im 20. Jahrhundert8 oder Harriet Scharnbergs Untersuchung des Antisemitismus in nationalsozialistischen Fotoreportagen.9 Ebenso sind mittlerweile zahlreiche Bücher zu Bildern des Holocaust erschienen, so dass die einstige Kontroverse zwischen Claude Lanzmann, der für ein Bilderverbot stritt, und Georges DidiHuberman deutlich zugunsten dessen reflektierten Plädoyers »Bilder trotz allem« ausgegangen ist.10 Mehrere Forschungsprojekte haben mittlerweile Fotografien der NS Zeit untersucht: »Photography as Political Practice in National Socialism«, Department of History, University of Nottingham;11 »Jewish Photography in Nazi Germany«, »Jewish Photography of Crisis: The German Reality in the Eyes of Jewish Photographers, 1918-1938«, Richard Koebner Minerva Center for German History, Hebrew University Jerusalem, und Zentrum für Zeitgeschichtliche Forschung, Potsdam;12 »Fotografie im National sozialismus. Alltägliche Visualisierung von Vergemeinschaftungs- und Ausgrenzungspraktiken 1933-1945«, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin.13 Zeit also für eine Zwischenbilanz und Präsentation der mittlerweile erzielten Ergebnisse und Forschungen.14 Diesem Thema widmete sich das Dachauer Symposium zur Zeitgeschichte im Oktober 2021, dessen Beiträge in diesem Band veröffentlicht werden. Welche neuen Fragen werden heute an Fotografien gestellt? Welche neuen Erkenntnisse können aus dem Umgang mit Fotografien sowohl in der Vermittlung wie in der Forschung gewonnen werden? Welche Lösungsmöglichkeiten gibt es für das Problem von Fotografien aus der NS -Zeit im Internet? Diese Fragen standen im Mittelpunkt des Symposiums und durchziehen die Beiträge dieses Bandes.
Propaganda und Eigen-Sinn Trotz der schier unendlichen Zahl an Fotografien, die in der NS -Zeit aufgenommen worden sind, nehmen nach wie vor im öffentlichen Gedächtnis die Propaganda-Bilder des NS -Regimes selbst einen visuell beherrschenden Platz ein. Geht es um Reichsparteitage der NSDAP oder die Olympiade in Berlin 1936, greifen Fernsehsender und 8
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filmer immer noch auf die Filme von Leni Riefenstahl zurück. Fotografien von Adolf Hitler stammen, ohne den Kontext ihrer Entstehung zu erläutern, stets von Heinrich Hoffmann, der das Bild Hitlers ausdrücklich positiv gestalten sollte.15 Bilder aus den Ghettos oder Konzentra tionslagern, die in TV -Dokumentationen und zahlreichen Ausstellungen verwendet werden, sind von SS -Fotografen angefertigt worden.16 Der Kulturwissenschaftler Georg Seeßlen hat dieses eigentümliche Phänomen treffend auf den Punkt gebracht: »Das faschistische Bild erweist sich als dominant gegenüber dem Bild des Faschismus.«17 Propaganda sollte die Köpfe der Massen im Sinne der Diktaturen beeinflussen; sie habe, so Adolf Hitler, »nicht objektiv auch die Wahrheit, soweit sie den anderen günstig ist, zu erforschen, um sie dann der Masse in doktrinärer Aufrichtigkeit vorzusetzen, sondern ununterbrochen der eigenen zu dienen«.18 Gegenüber der Masse bestimme sich die Aufgabe der Propaganda darin, »dass sie, die gefühlsmäßige Vorstellungswelt der großen Menge begreifend, in psychologisch richtiger Form den Weg zur Aufmerksamkeit und weiter zum Herzen der breiten Masse findet«. Als fundamentaler Grundsatz gelte: »Sie hat sich auf wenig zu beschränken und dieses ewig zu wiederholen.«19 Mit dem Muster der nationalsozialistischen Diktatur, in der unter Joseph Goebbels ein eigenes Ministerium für »Volksaufklärung und Propaganda« eingerichtet worden war, ist die Analyse der in besonderer Weise visuell geprägten Propaganda lange Zeit von einer Top-down-Perspektive bestimmt gewesen, in der der Blickwinkel der Propagandisten im Mittelpunkt stand und die Technik der Propaganda als »Verführung« angesehen wurde. »Propaganda macht aus der Sprache ein Instrument, einen Hebel, eine Maschine«, formulierten Max Horkheimer und Theodor W. Adorno 1944. »Die Gemeinschaft der Lüge ist es, in der Führer und Geführte durch Propaganda sich zusammenfinden, auch wenn die Inhalte als solche richtig sind.«20 Peter Longerich betonte noch 2014, dass es bei der nationalsozialistischen Propaganda »nicht darum ging, Menschen zu überzeugen, zu manipulieren und zu verführen, sondern die Propaganda war Teil eines geschlossenen Systems zur Kontrolle der Öffentlichkeit«.21 Indes wäre zu fragen, ob die Botschaften der Propaganda, darunter auch ihre Bilder, ungebrochen von den Adressaten aufgenommen worden sind, sie sich die Bildsprache des NS -Regimes zu eigen gemacht haben. David Welch wies schon früh darauf hin, dass Propaganda keineswegs nur Lügen verbreite, sondern Erwartungen und Einstellungen ihres Publikums berücksichtigen müsse.22 Rainer Gries plädierte deshalb vehement dafür, die stark eingeengte Sicht auf Propaganda zu überwinden, vor allem die Adressaten in den Blick zu 9
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nehmen.23 Die Vorstellung, Propaganda könne Menschen manipulieren, übersieht die Dimension der Rezeption, der Aneignung von manipulativ intendierten Bildern, die keineswegs in der gleichen Weise aufgenommen werden müssen, wie sie von den Propagandisten hergestellt und verbreitet worden sind. Entgegen der Vorstellung, »Öffentlichkeit« sei ein homogener sozialer Raum, der entweder im aufklärerisch-emanzipativen Sinn der bürgerlichen Gesellschaft zum Durchbruch verhelfe oder in Diktaturen mit repressiven Mitteln gänzlich ausgeschaltet beziehungsweise durch eine einheitliche Zwangsöffentlichkeit ersetzt werde, kann Öffentlichkeit durchaus im Plural gedacht werden. Gerade in Diktatu ren, in denen es keine unabhängigen Medien gibt, bilden sich an diversen gesellschaftlichen Orten »kleine Öffentlichkeiten« heraus, die von verschiedenen Kommunikationsgemeinschaften, auch visuell, genutzt werden. Jenseits des simplen polaren Verhältnisses von »Verführer« und »Verführten« wären die Akteure dieser spezifischen Kommunikation zu bestimmen. Gerade Fotografien mit der Vielzahl von Fotografen und Fotografinnen gewähren multiperspektivische Einblicke in die verschiedenen kleinen, differenten Welten unter dem NS -Regime. Denn auch die Adressaten waren keine bloßen »Empfänger«. Menschen folgen nicht bloß den Codes und Repräsentationen von Bedeutungen und Wirklichkeit, die sie vorfinden, sondern sie nutzen Bilder, Worte, Praktiken, um sich zu orientieren, sie variieren sie, reiben sich an der Sprödigkeit, Unwillfährigkeit der Dinge und der Menschen und verändern damit die Dinge wie die sozialen Verhältnisse. Im Mittelpunkt einer solchen Perspektive stehen, wie Alf Lüdtke formulierte, die »Formen, in denen Menschen sich ›ihre‹ Welt ›angeeignet‹ – und dabei stets auch verändert haben.«24 Das NS -Regime ebenso wie andere Diktaturen des 20. Jahrhunderts ermunterten das Volk zu fotografieren, um Einvernehmen mit den Selbst-Bildern des Regimes herzustellen, und öffneten damit zugleich Felder des Umgangs mit Bildern, die sich der Kontrolle entzogen beziehungsweise Möglichkeiten boten, sich auf eigensinnige Weise Bilder des Alltags anzueignen. Fotografien, so Maiken Umbach, »are not ›objective‹ documents showing whether or not people resisted or were ›duped‹ by the fascist regime and its ideology. Rather, photos are part of what people did with this ideology, and how they translated it back into a sense of selfhood.«25 Fotografien eignen sich in besonderer Weise dazu, das Selbst und seine Rückbindung an das Gemeinschaftliche zu verhandeln. In ihnen finden sich aufschlussreiche Spuren von Individualitäts- und Kollektivstreben. Die kulturelle Konstruktion von Gemeinschaft, hier insbesondere »Volksgemeinschaft«, benötigt Symbolisierungen, zu denen auch 10
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Fotografien gehören. Erst durch das Bild wird Gemeinschaft sichtbar. Die historischen Akteure können sich im Bild als Gemeinschaft wiedererkennen, die Bilder werden zu Referenzpunkten. Bilder stiften Gemeinschaften, und so partizipieren auch die Amateurfotografinnen und -fotografen nicht nur an der Gestaltung von Familien- oder Betriebsgemeinschaften, sondern auch der »Volksgemeinschaft«. Fotografien ließen sich so auf ihre unterschiedlichen Funktionsweisen hinsichtlich der Stabilisierung von Gemeinschaften befragen, indem sie deren spe zifische Konstruiertheit und ebenso Momente von Individualitätsbeharren offenlegen. Fotografien, so die amerikanische Kulturanthropologin Elizabeth Edwards, bieten »prompts« für spezifische Lesarten/Seharten ebenso wie für gemeinsame Interpretationen der Betrachterinnen und Betrachter.26 Unter diesem Blickwinkel untersucht Maiken Umbach private Fotoalben aus der NS -Zeit, wobei sie Familien-, Ferien- und Soldatenalben unterscheidet, inwiefern dort die Formeln und Ideen aus der offiziellen Bildkultur des Nationalsozialismus aufgenommen, adaptiert, umfunktioniert worden sind. Privat wird verstanden »als koproduziert durch Individuen und diskursive, bildliche und habituelle Sinngebungsmuster, in denen sich Elemente nationalsozialistischer Ideologie mit Kommerz, technologischer Innovation und Mode vermischten«.27 In ihrer Analyse erweist sich, dass die Fotografinnen und Fotografen sowie diejenigen, die die Fotoalben zusammenstellten, keineswegs der nationalsozialistischen Bilderwelt erlagen, sondern, wie Maiken Umbach formuliert, zu erkennen geben, wie nationalsozialistische Bildangebote in eine Weltkonstruktion eingefügt wurden, die eigensinnig, in vielerlei Hinsicht konventionell, aber auch von großspurigen Fantasien und persönlichem Geltungsbedürfnis geprägt war. Ulrich Prehn geht in seinem Aufsatz der Frage nach Nähe und Distanz nach. Johannes Hähle, Fotograf einer Propagandakompanie, nahm im Oktober 1941 Jüdinnen und Juden im ukrainischen Lubny auf, die zusammengetrieben worden waren, um kurz darauf von einem SS -Sonderkommando erschossen zu werden. Etliche der Fotografien sind nahe Portraits, von denen nicht klar ist, warum Hähle sie aufgenommen hat. Die Fotografierten interagieren mit dem Fotografen bei diesen »Bildern wider Willen«, wie Cornelia Brink solche Aufnahmen einmal genannt hat, zeigen ihre Gefühle wie Ablehnung, Verachtung, die gleichsam Spuren auf diesen Bildern hinterlassen. Eine andere Serie stellen Fotografien dar, die ein unbekannter Fotograf 1938 von jüdischen Menschen in Leipzig aufgenommen hat und in distanzloser, nahezu übergriffiger Weise den Fotografierten »auf den Leib« gerückt ist. In einer dritten 11
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Bildserienanalyse stehen zwei Gruppenbilder im Mittelpunkt, die Aufschluss über die Veränderlichkeit und Variabilität von Nähe und Distanz geben. Auch Prehn bezieht die Kategorien Privatheit und Öffentlichkeit in seiner Reflektion ein und unterstreicht, wie sehr die Fotografie erst die Erinnerung erzeugt, wie stark Vergemeinschaftungs- und Ausschließungspraktiken in ihnen visualisiert werden.
Inklusion und Exklusion Das NS -Regime legte großen Wert darauf, dass die »Volksgemeinschaft« in den Bildern sichtbar war. Das hieß vor allem, dass die Vergemeinschaftung der »rassisch einwandfreien« Deutschen, hier insbesondere die unzertrennliche Einheit von »Führer« und »Volk«, positiv visualisiert wurde. Riefenstahls Filme heben immer wieder diese Verbindung hervor, die begeisterte Zustimmung der Bevölkerung, wenn Hitler im offenen Wagen vorbeifuhr oder von der Tribüne grüßte, ebenso wie die Zuwendung des »Führers« zum »Volk«, seine Adressierung der Massen.28 »Volksgemeinschaft« konstituierte sich aber nicht allein durch Inklusion, sondern die Zugehörigkeit definierte sich in besonderer Weise durch die Exklusion derjenigen, die im rassistischen Blick der Nationalsozialisten nicht dazugehören durften, allen voran Jüdinnen und Juden, ebenso Sinti und Roma, als erbkrank oder »asozial« definierte Menschen, »Fremdvölkische«, »Gemeinschaftsfremde«. Auch in der Bildsprache des Regimes wurden »arische« Menschen sogenannten »Untermenschen« gegenübergestellt, deutsche Ordnung gegen »bolschewistisches« oder »jüdisches« Chaos, »Volksgenossen« gegen »Gemeinschaftsfremde«, wie Harriet Scharnberg in ihrer Untersuchung von Fotografien von Menschen, die als jüdisch dargestellt wurden, in den illustrierten Zeitungen der NS -Zeit eindrücklich herausgearbeitet hat.29 Entsprechend der These der anthropologischen und rassistischen Forschung des 19. Jahrhunderts, dass das Gesicht ein Spiegel der Seele sei, war die »physio gnomische Argumentation« mittels Bildportraits ebenso wie Abbildungen des »jüdischen« und »arischen« Körpers zentral. Entsprechend der rassistischen Perspektive leiteten sich aus der physiognomischen Kontrastierung charakterliche Gegensätze ab. Juden waren »arbeitsscheu«, »asozial«, »hinterhältig«, »verschlagen«, »macht- und geldgierig« und »ungeordnet«. Diese habituellen und charakterlichen Zuschreibungen durchziehen, so Scharnberg, das gesamt Bildkorpus. Ebenso wurden sowjetische Kriegsgefangene als slawische »Untermenschen« dargestellt, deren angebliche Minderwertigkeit die deutsche Politik, sie ihres Landes 12
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und ihrer Ressourcen zu berauben, als Arbeitssklaven zu benutzen oder auch zu deportieren und zu ermorden, rechtfertigen sollte.30 Auch die Amateurfotografinnen und -fotografen hielten Gewaltpraktiken gegenüber den Ausgegrenzten und Verfolgten fest, wie Klaus Hesse und Philipp Springer in ihrem Band »Vor aller Augen« dokumentieren.31 Bilder vom Aprilboykott 1933, von demütigenden Umzügen, in denen die SA am helllichten Tag missliebige Opponenten und angebliche »Rasseschänderinnen« durch die Straßen trieb, waren keineswegs heimliche Aufnahmen, sondern wurden wie in der ostfriesischen Kleinstadt Norden öffentlich feilgeboten.32 Betrachtet man diese Fotografien, so fallen die Mengen auf, die diesen Umzug begleiten: Frauen, Kinder, Jugendliche laufen mit, lachen, verhöhnen, beschimpfen, bespucken die Opfer. Kaum jemand ist zu erkennen, der gegen diese Aktionen protestiert oder sich von ihen abgewandt hätte. Ähnliches Einverständnis legen auch die zahlreichen Fotografien nahe, die Soldaten von Situationen aufgenommen haben, in denen jüdischen Männern gewaltsam der Bart abgeschnitten, angebliche Partisanen öffentlich erhängt oder Jüdinnen und Juden von den Mordkommandos erschossen werden. Es wäre allerdings kurzschlüssig, diese Fotografien als bloße Täterbilder zu kategorisieren. Miriam Y. Arani zum Beispiel hat anhand von deutschen wie polnischen Fotokonvoluten die Selbst- und Fremdbilder analysiert, die verschiedenen Blicke, die die Fotografinnen und Fotografen auf sich und andere gerichtet haben.33 Selbstaufnahmen von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern in Deutschland zeigen durchaus selbstbewusste Menschen, die lachen, feiern oder einen Sonntagsausflug unternehmen.34 Und nicht zuletzt haben Jüdinnen und Juden ebenfalls fotografiert und sich visuell in einer feindlichen Umgebung situiert. Das Jüdische Museum in Berlin sammelt seit vielen Jahren fotografische Nachlässe, um eben jüdische Perspektiven auf das 20. Jahrhundert, insbesondere in der Zeit des Nationalsozialismus zu zeigen, die Theresia Ziehe, Kuratorin für Fotografie, in ihrem Beitrag vorstellt. Insbesondere für die neue Dauerausstellung wurden die fotografischen Überlieferungen intensiv erschlossen und zahlreiche Fotografien in die Ausstellung aufgenommen, wie Theresia Ziehe schildert. Exemplarisch erläutert sie die Sammlung von Leonie und Walter Frankenstein, die über 1.100 Fotografien umfasst und das Schicksal dieser jüdischen Familie aus Berlin vom späten 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart dokumentiert. Doch bleiben zentrale Geschehnisse nationalsozialistischer Judenverfolgung wie der Aprilboykott 1933 oder das Novemberpogrom 1938 in den Fotoalben unsichtbar, weil das Fotografieren in diesen Situationen viel zu gefährlich war und die Verfolgten sich um ihren eigenen Schutz 13
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kümmern mussten. Hier braucht es die Erinnerungen und andere schriftliche Quellen der Familie, um das Unsichtbare zu benennen. Was diese fotografische Sammlung besonders macht, sind Aufnahmen aus der Zeit, als Walter und Leonie Frankenstein mit ihrem Sohn Peter-Uri in Berlin illegal untergetaucht waren. Entscheidend an den Bildern von jüdischen Fotografinnen und Fotografen, so Theresia Ziehe, ist nicht nur das Abgebildete, sondern auch das Nicht-Abgebildete: Was konnte überhaupt fotografiert werden? Welche Gefahr ging vom Fotografieren und von der darauffolgenden Bewahrung der Bilder aus? Was ist bis heute erhalten geblieben? Und was wurde zerstört? Die entstandenen Leerstellen seien ebenso zu berücksichtigen wie die bis heute erhalten gebliebenen Fotografien. Robert Müller-Stahl untersucht in seinem Artikel ein Album mit Urlaubsfotos des jungen Paars Ilse Schwartz und Erich Chotzen aus den Jahren 1938 und 1940. Die beiden verbrachten in den Sommern einige Wochen außerhalb von Berlin. Eindrucksvoll, schreibt Robert MüllerStahl, seien diese Aufnahmen, weil sie inmitten eines absoluten Ausnahmezustands, einer praktisch allumfassenden Bedrohung, Anfeindung und Entrechtung eine scheinbar unberührte Normalität darstellten. Müller-Stahls luzide Analyse bleibt nicht bei der Feststellung stehen, dass sich jüdische Menschen trotz der Verfolgung selbst behaupteten, sie sich diese Momente jenseits der alltäglichen Erfahrungen von Antisemitismus, des Für-sich-sein-Könnens nicht nehmen lassen wollten. Er erkennt in den Fotografien auch den Versuch, den Ausschluss aus der gesellschaftlichen Öffentlichkeit umzudrehen und nicht nur, wie man erwarten könnte, das Private zu betonen, sondern den Garten des Ferienhauses im visuellen Arrangement als Öffentlichkeit zu gestalten. Während die Urlaubsfotografie mittlerweile Gegenstand wissenschaftlicher Studien ist, bilden Urlaubsbilder, die jüdische Fotografinnen und Fotografen aufgenommen haben, noch ein Forschungsdesiderat. Ofer Ashkenazi und Guy Miron haben in ihren Arbeiten argumentiert, dass der Urlaub für Jüdinnen und Juden einen Raum schuf, in dem sie vorübergehend der antisemitischen Zuschreibung zu entfliehen und am Strand und in den Bergen visuell an Status und Bürgerlichkeit anzuknüpfen versuchten, was ihnen unter dem Nationalsozialismus verwehrt wurde.35 Müller-Stahl zeigt nun, dass sich eben dieses Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit in den Fotografien von Erich Chotzen verändert und der Garten zur öffentlichen Bühne wird, der die private Urlaubssituation kontrastiert. Die Landschaft in den Fotografien aus dem Jahr 1940 tritt entgegen dem konventionellen Muster des Genres Urlaubsfotografie in den Hintergrund zugunsten der Darstellung der 14
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innigen Bindung des Paares. Beide entgingen ihren Verfolgern nicht. Zusammen mit Ilses Mutter wurden sie 1942 nach Riga deportiert und dort ermordet. Ihr Fotoalbum blieb erhalten.
Gewalt Die wohl verbreitetsten Fotografien aus der Zeit des Nationalsozialismus sind Bilder vom Holocaust. Schon gleich 1945 sorgten die Aufnahmen, die alliierte Soldaten von den Menschen in den befreiten Konzentrationslagern gemacht hatten, weltweit für Entsetzen. Entsprechende Filmaufnahmen waren Beweisdokumente im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher; die alliierten Besatzungsmächte stellten Filme wie »Todesmühlen« zusammen und sorgten dafür, dass sich die deutsche erwachsene Bevölkerung überall diese Dokumentationen der nationalsozialistischen Massenverbrechen anschaute.36 Doch waren diese »Ikonen der Vernichtung«, wie sie Cornelia Brink genannt hat, Aufnahmen von den Lagern im Moment ihrer Befreiung. Nur wenige Fotografien, die von den Häftlingen heimlich unter Lebensgefahr gemacht worden waren, wie die Aufnahmen von polnischen Frauen im KZ Ravensbrück, die die medizinischen Versuche an ihnen dokumentieren, oder die später bekannt gewordenen vier Aufnahmen vom Sonderkommando in Auschwitz, sind überliefert.37 Wenn es Fotografien von den Lagern vor 1945 gab, dann waren sie in der Regel von den SS -Tätern selbst aufgenommen worden und demonstrieren deren Sicht eines geordneten, nahezu gewaltfreien Lagers, das sich ganz unter Kontrolle befinde.38 Oder die Aufnahmen sollten die »erfolgreiche« Tätigkeit der SS unter Beweis stellen wie das bekannte Fotoalbum, das der SS -Kommandeur Jürgen Stroop zur Niederschlagung des jüdischen Aufstandes im Warschauer Ghetto 1943 anfertigen ließ und seinem vorgesetzten Höheren SS - und Polizeiführer sowie Heinrich H immler schickte.39 Doch erweist sich, dass selbst diese unmissverständlichen Täter fotos, in einen anderen Kontext gestellt, einen gänzlich anderen ikonischen Sinn erhalten können. Der Ausschnitt aus einer Fotografie dieses Albums, das einen kleinen Jungen mit erhobenen Händen zeigt, ist zu einer visuellen Ikone des Holocaust geworden.40 So lassen sich auch die Fotografien aus dem nach der Finderin, der Auschwitz-Überlebenden Lili Jacob, benannten Fotoalbum, das die SS Fotografen Bernhard Walter und Ernst Hofmann zu den in AuschwitzBirkenau eintreffenden Deportationen ungarischer Jüdinnen und Juden im Sommer 1944 angelegt haben, neue Perspektiven abgewinnen, 15
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wie Christoph Kreutzmüller in seinem Beitrag darstellt. Zusammen mit anderen hat er die Fotografien anders geordnet, genau analysiert und verortet, Orte und Zeiten bestimmt und lenkt die Blicke auf Details, die jenseits der Intention ihrer Fotografen zu sehen sind. So lassen die Fotografien von der »Rampe«, die in keiner Ausstellung, keinem Bildband oder keiner Fernsehdokumentation fehlen, erkennen, dass es bei der »Selektion« nicht so geordnet zuging, wie die Fotografen mit ihren Aufnahmen suggerieren wollten. Menschen sitzen abseits, sprechen mit Kapos, versuchen, einander zu helfen. Kreutzmüller und seine Kollegen können den Ablauf der »Selektion« bestimmen, belegen mit den Fotos von den Bergen von Gütern, die den Opfern abgenommen wurden, die Unordnung, die herrschte, und identifizieren sogar einzelne SS -Täter. Kreutzmüller stellt ausführlich die Aussagen Überlebender vor über die Erfahrung, fotografiert zu werden oder der bei sich getragenen Fotografien als Erinnerungs- und Verbindungsstücke zur eigenen Familie beraubt zu werden – eine Erfahrung des Verlustes von geliebten Menschen. Er widmet sich insbesondere den Fotografien einer Gruppe von Menschen, die vor dem Krematorium warten mussten. Walter und Hofmann inszenierten die Bilder von dieser Gruppe vor ihrer Ermordung zynisch wie einen Sommerausflug, während Kreutzmüller auf die Interaktionen der Menschen untereinander aufmerksam macht, die nicht wissen, dass sie kurze Zeit später ermordet werden. Kreutzmüllers akribische Bildanalyse versteht sich auch als Aufforderung an die zahlreichen Betrachterinnen und Betrachter heute, genau hinzuschauen, nicht das Grauen zu übersehen, das sich womöglich erst beim zweiten Blick auf das Bild erschließt. Dabei liegt der Grund für ein solches Übersehen oft gar nicht in einer Nachlässigkeit oder Gleichgültigkeit, sondern in der Dominanz der Narrative, die mit dem Bild verbunden sind und damit den Blick in bestimmter Weise lenken. Weil Bilder in den historischen Darstellungen immer noch zu häufig illustrativ eingesetzt werden, fehlt das genaue Hinsehen, die gründliche Auseinandersetzung mit dem, was auf der Fotografie abgebildet ist. Dadurch wird häufig die Chance verfehlt, eine unerwartete, verstörende, das gewohnte Narrativ auf brechende Perspektive zu gewinnen.
Digitale Bilderflut Bilder wie die aus dem Auschwitz-Album sind unzählig weltweit verbreitet, vor allem durch das Internet. Christine Bartlitz, Redakteurin des Internetportals »Visual History«,41 fragt nach Praktiken, wie mit 16
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ser Bilderflut im World Wide Web umgegangen werden kann. Sollten bestimmte Fotos gar nicht mehr online zu sehen sein? Braucht es eine spezifische Bildethik? Wie kann man sich vor Fälschungen und Bildbearbeitungen schützen? War der Umgang mit Bildern aus der NS -Zeit im analogen Zeitalter noch weitgehend durch spezifische Medien wie Bücher oder Ausstellungen bestimmt und hatten damit Gedenkstätten, Historikerinnen und Historiker eine spezifische Deutungsmacht, so verwandelt die Digitalität weltweit Millionen von Menschen in Produzenten wie Rezipienten von Bildern. Fotografien von Opfern wie von Tätern müssen nicht mehr in einem aufklärerischen Kontext gezeigt, sondern können für alle möglichen Zwecke verwandt werden. Das digitale Bild wird zu einem, wie Gerhard Paul formuliert, »dynamischen System von Variablen, die beständig verändert werden« können.42 Nutzerinnen und Nutzer des Internets können sich ihr eigenes Erinnerungsarchiv anlegen, virtuelle Ausstellungen generieren oder sich digital mit anderen über ihre Gefühle, Gedanken beim Betrachten von Bildern in einer Schnelligkeit weltweit austauschen, Distanzen überbrücken, die in Zeiten analoger Bilder nicht möglich gewesen wäre. Damit wird die Problematik deutlich, dass die Bildwelt über den Nationalsozialismus immer noch weitgehend von den Bildern geprägt ist, die das NS -Regime selbst über sich produziert hat. So werden die Aufnahmen, die SS -Fotografen 1942 vom Warschauer Ghetto gemacht haben, bis heute kommentarlos in Fernsehdokumentationen eingesetzt, ohne dass der Kontext und die Umstände, wie diese Aufnahmen zustande gekommen sind, erklärt würden.43 Im eigenen Umgang mit Bildern aus der NS -Zeit sehen sich daher Historikerinnen und Historiker vor die immense Aufgabe gestellt, so Christine Bartlitz, sowohl den zeitgeschichtlichen Kontext dieser Bilder als auch die Intention ihrer Entstehung und Verbreitung nachzuzeichnen. Bildarchive versuchen ihrerseits, einem Missbrauch ihrer ins Netz gestellten Digitalisate dadurch zu begegnen, dass sie nur in geringer Auflösung oder mit einem digitalen Wasserzeichen versehen zur Verfügung stehen. Wiederum zeigen verschiedene digitale Ausstellungen, die zum Beispiel von NS -Gedenkstätten hergestellt worden sind, dass Fotos aus der NS -Zeit durchaus in einem informativen wie verantwortungsvollen Kontext präsentiert werden können. Mittlerweile nehmen sich auch Universitäten dieses Themas an wie die University of Nottingham, die einen Online-Kurs »Photographing the Holocaust« anbietet.44 Solche wissenschaftlichen Angebote könnten, wie die Historikerin Svea Hammerle formuliert, »Inseln des Kontextes in der Flut von Fotos« im World Wide Web werden.45 17
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Brauchen wir daher eine Enzyklopädie der Bilder? Ein Internetportal, auf dem Bilder mit einem Digitalisat des Originals präsentiert und wissenschaftlich solide kontextualisiert werden? Dieser Frage widmete sich auf der Tagung eine Podiumsdiskussion mit Petra Bopp, Cornelia Brink, Gabriele Hammermann, Annette Vowinckel, moderiert von Sybille Steinbacher und Michael Wildt. Cornelia Brink weist auf die Heterogenität der Überlieferung von Fotografien hin und die Veränderungen des Bildwissens, mit dem die Fotos interpretiert und erläutert würden. Die Geschichte der visuellen Darstellung von NS -Verbrechen, so Brink, ließe sich als Geschichte einer Suche nach Fotografien beschreiben. Und ist eine Enzyklopädie die richtige Form? Wäre eine Edition, mit der Bilder als Quelle wissenschaftlich kommentiert werden, angemessener? Petra Bopp unternimmt einen Rückblick auf ihre langjährige Erfahrung im Umgang mit Fotografien und hebt die ganz unterschiedlichen Verwendungen in verschiedenen Ausstellungen hervor, am Beispiel eines einzelnes Foto einer Erschießung in Pancevo. Daher wäre eine Enzyklopädie sicher nützlich. Allerdings entsteht bildethisch das Problem, ob bestimmte Fotos öffentlich gezeigt werden sollen. Triggerwarnungen, die heute in Ausstellungen oder auf Websites existieren, weisen auf diese Problematik hin. Wie sollen Fotoalben in eine solche Enzyklopädie eingebracht werden, die jetzt schon in der zweiten und dritten Generation an die nachfolgende weitergegeben werden? Besteht nicht die Gefahr, sich auf wenige »Ikonen« zu beschränken und die Vielzahl von privaten Fotografien, die aber unverzichtbar zur Bilderwelt des Nationalsozialismus gehören, unberücksichtigt zu lassen? Gabriele Hammermann schildert die Arbeit an der fotografischen Sammlung der KZ -Gedenkstätte Dachau und betont die Notwendigkeit einer intensiven Erschließung der Bildbestände. Das Projekt der Gedenkstätte Buchenwald »Schwarz auf Weiß«, mit dem eine große Zahl der Fotografien kontextualisiert online zugänglich gemacht worden sind, sei ein gutes Beispiel und Vorbild. Annette Vowinckel knüpft an den Beitrag von Christine Bartlitz an und führt eine Bildrecherche mit Google vor, die belegt, wie viele, schier unzählige Verwendungen allein eine Fotografie von befreiten Häftlingen weltweit findet, in ganz anderen Kulturen und Sprachen, die gar nicht mehr überschaut werden können. Daher wäre eine kritische Edition von Fotografien aus der NS -Zeit sinnvoll; allerdings müssten die Kriterien, mit denen ein Bild kommentiert wird, präzise festgelegt werden. Eine solche kritische Bildedition, da waren sich alle einig, wäre sinnvoll, aber es braucht präzise Kriterien, welche Fotos wie kommentiert werden sollen. Dass eine solche Edition gelingen kann, zeigt neben dem Buchenwald-Projekt insbesondere die Website RomArchive (www.romarchive. 18
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eu), ein digitales Archiv zur Kultur und Kunst von Roma und Sinti, wo bekannte und unbekannte Fotografien präsentiert und kontextualisiert werden, aber auch das Medium Fotografie selbst thematisiert wird.
Anmerkungen 1 Gerhard Paul, Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel, Göttingen 2016, S. 218. 2 Timm Starl, Knipser. Die Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich von 1880 bis 1980, München 1995, S. 95-98. 3 Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.), Verbrechen der Wehrmacht. Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944, Hamburg 2002; S. dazu Ulrike Jureit, »Zeigen heißt verschweigen«. Die Ausstellungen über die Verbrechen der Wehrmacht, in: Mittelweg 36 13 (2004) H. 1, S. 3-27; Petra Bopp, Fremde im Visier. Foto-Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg, Bielefeld 2009; Sandra Starke: »Papi macht Witzchen«. SS -Soldaten als Knipser, medienamateure.de/pdfs/StarkeSS alsKnipser.pdf (22.7.2022); vgl. allgemein Gerhard Paul, Bilder des Krieges – Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, Paderborn 2004; Rainer Rother/Judith Prokasky (Hrsg.), Die Kamera als Waffe. Propagandabilder des Zweiten Weltkrieges, München 2010. 4 Anton Holzer (Hrsg.), Fotogeschichte schreiben. 40 Jahre Zeitschrift Fotogeschichte, Ilmtal 2021; Starl, Knipser (wie Anm. 2); Diethart Kerbs/ Walter Uka/Brigitte Walz-Richter (Hrsg.), Die Gleichschaltung der Bilder. Zur Geschichte der Pressefotografie 1930-1936, Berlin 1983; Ulrich Keller (Hrsg.), Fotografien aus dem Warschauer Ghetto, Berlin 1987; Detlef Hoffmann, Fotografierte Lager. Überlegungen zu einer Fotogeschichte deutscher Konzentrationslager, in: Fotogeschichte 54 (1994), S. 3-30; Karin Hartewig, Wir sind im Bilde. Eine Geschichte der Deutschen in Fotos vom Kriegsende bis zur Entspannungspolitik, Leipzig 2010. 5 Rolf Sachsse, Die Erziehung zum Wegsehen. Fotografie im NS -Staat, Dresden 2003; Ute Wrocklage, Die Fotoalben des KZ -Kommandanten Karl Otto Koch – private und öffentliche Gebrauchsweisen, in: Hildegard Frübis u. a. (Hrsg.), Fotografien aus den Lagern des NS -Regimes. Beweissicherung und ästhetische Praxis, Wien u. a. 2019, S. 179-205; Sybil Milton, Images of the Holocaust – Part I und II , in: Holocaust and Genocide Studies 1 (1986), S. 27-61 und 193-216; Cornelia Brink, Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945, Berlin 1998; Klaus Hesse/Philipp Springer, Vor aller Augen. Fotodokumente des nationalsozialistischen Terrors in der Provinz, Essen 2002; Miriam Y. Arani, Die fotohistorische Forschung zur NS -Diktatur als interdisziplinäre Bildwissenschaft, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 5 (2008), H. 3, zeithistorische-forschungen.
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michael wildt de/16126041-Arani-3-2008 (22.7.2022); Habbo Knoch, Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2001; Ahlrich Meyer, Der Blick des Besatzers. Propagandaphotographie der Wehrmacht aus Marseille 1942-1945, Bremen 1999; Frank Reuter, Der Bann des Fremden. Die fotografische Konstruktion des »Zigeuners«, Göttingen 2014. 6 Gerhard Paul, Das visuelle Zeitalter (wie Anm. 1); Ders., Bilder einer Dik tatur. Zur Visual History des »Dritten Reiches«, Göttingen 2020. 7 Ulrike Weckel, Beschämende Bilder. Deutsche Reaktionen auf alliierte Dokumentarfilme über befreite Konzentrationslager, Stuttgart 2012. 8 Annette Vowinckel, Agenten der Bilder. Fotografisches Handeln im 20. Jahrhundert, Göttingen 2016. 9 Harriet Scharnberg, Die »Judenfrage« im Bild. Der Antisemitismus in nationalsozialistischen Fotoreportagen, Hamburg 2018; vgl. auch Hanno Loewy, »… ohne Masken«. Juden im Visier der »Deutschen Fotografie« 1933-1945, in: Deutsche Fotografie. Macht eines Mediums 1870-1970, hrsg. von der Kunstund Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Zusammenarbeit mit Klaus Honnef/Rolf Sachsse/Karin Thomas, Köln 1997, S. 135-149. 10 Siehe zum Beispiel David Bathrick/Brad Prager/Michael D. Richardson (Hrsg.), Visualizing the Holocaust. Documents, Aesthetics, Memory, New York 2008; Janina Struk, Photographing the Holocaust. Interpretations of the Evidence, London 2004; Manuel Köppen/Klaus R. Scherpe (Hrsg.): Bilder des Holocaust. Literatur – Film – Bildende Kunst, Köln/Weimar/ Wien 1997; Georges Didi-Huberman, Bilder trotz allem, München 2007; Frank Reuter, Zeugnis und Stigma. Fotografische Quellen des Völkermords an den Sinti und Roma, in: Karola Fings/Sybille Steinbacher (Hrsg.), Sinti und Roma. Der nationalsozialistische Völkermord in historischer und gesellschaftlicher Perspektive, Göttingen 2021, S. 115-137. 11 S. nottingham.ac.uk/humanities/departments/history/research/researchprojects/current-projects/photography-as-political-practice/photography-aspolitical-practice-in-national-socialism.aspx (22.7.2022). 12 S. koebner.huji.ac.il/research-projects (22.7.2022). 13 S. geschichte.hu-berlin.de/de/bereiche-und-lehrstuehle/dtge-20jhd/forschung/abgeschlossene-forschungsprojekte/fotografie-im-nationalsozialismus (22.7.2022). 14 Auf dem Historikertag 2021 wurden Ergebnisse aus den genannten Forschungsprojekten vorgestellt: historikertag.de/Muenchen2021/sektionen/ fotografien-im-spannungsfeld-von-oeffentlichkeit-und-privatheit-im20-jahrhundert (22.7.2022); s. dazu auch den Panelbericht in: H-Soz-Kult, 27.11.2021: hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-127704 (28.7.2022). 15 Christina Irrgang, Hitlers Fotograf. Heinrich Hoffmann und die nationalsozialistische Bildpolitik, Bielefeld, 2020; Rudolf Herz, Hoffmann & Hitler. Fotografie als Medium des Führer-Mythos. Ausstellungskatalog, Bonn 1994. 16 Andrea Löw, Documenting as a »Passion and Obsession«. Photographs from the Lodz (Litzmannstadt) Ghetto, in: Central European History 48
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einführung (2015), H. 3, S. 387-404; Keller, Fotografien aus dem Warschauer Ghetto (wie Anm. 4), Berlin 1987; Tanja Kinzel, Im Fokus der Kamera. Fotografien aus dem Getto Lodz, Berlin 2021. 17 Georg Seeßlen, Natural Born Nazi. Faschismus in der populären Kultur, Berlin 1996, Bd. 2, S. 117, zit. n. Paul, Bilder einer Diktatur (wie Anm. 6), S. 10. 18 Christian Hartmann u. a. (Hrsg.), Adolf Hitler: Mein Kampf. Eine kritische Edition, München/Berlin 2016, (2 Bde., Bd. 1), S. 505 ff., Zitat 501. 19 Ebd., S. 509. 20 Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main 1969, S. 272; vgl. auch schon Peter Reichel, Der nationalsozia listische Staat im Bild, in: Deutsche Fotografie (wie Anm. 9), S. 103-117. 21 Peter Longerich, NS -Propaganda in Vergangenheit und Gegenwart. Bedeutung der nationalsozialistischen Tagespresse für Zeitgenossen und Nachgeborene, in: Christian Kuchler (Hrsg.), NS -Propaganda im 21. Jahrhundert. Zwischen Verbot und öffentlicher Auseinandersetzung, Köln u. a. 2014, S. 15-26, hier S. 19. 22 David Welch (Hrsg.), Nazi Propaganda. The Power and the Limitations, London/Canberra 1983; David Welch, Propaganda. Power and Persuasion, London 2013. 23 Rainer Gries, Zur Ästhetik und Architektur von Propagemen. Überlegungen zu einer Propagandageschichte als Kulturgeschichte, in: Ders. (Hrsg.), Kultur der Propaganda, Bochum 2005, S. 9-35, hier S. 13; Thymian Bussemer, Propaganda. Theoretisches Konzept und geschichtliche Bedeutung, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 2.8.2013, docupedia.de/zg/Propaganda (22.7.2022). 24 Alf Lüdtke, Einleitung: Was ist und wer treibt Alltagsgeschichte?, in: Ders. (Hrsg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt am Main 1989, S. 9-47, hier S. 12. 25 Maiken Umbach, Selfhood, Place, and Ideology in German Photo Albums, 1933-1945, in: Central European History 48 (2015), S. 335-365, hier S. 338. 26 Elizabeth Edwards, Raw Histories. Photographs, Anthropology, and Mu seums, Oxford 2001, S. 13-16. 27 Maiken Umbach, (Re-)Inventing the Private under National Socialism, in: Dies. u. a. (Hrsg.), Private Life and Privacy in Nazi Germany, Cambridge 2019, S. 102-131, hier S. 128 (Übersetzung von Maiken Umbach). 28 Peter Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt des Faschismus, Hamburg 2006. 29 Scharnberg, »Judenfrage« im Bild (Anm. 9). 30 Margot Blank/Babette Quinkert (Hrsg.), Dimensionen eines Verbrechens. Sowjetische Kriegsgefangene im Zweiten Weltkrieg, Berlin 2021. 31 Hesse/Springer, Vor aller Augen (wie Anm. 5). 32 Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007, S. 234-239; Christoph Kreutzmüller/Julia Werner, Fixiert. Fotografische Quellen zur
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michael wildt Verfolgung und Ermordung der Juden in Europa. Eine pädagogische Handreichung, Berlin 2012, S. 5-15. 33 Miriam Y. Arani, Fotografische Selbst- und Fremdbilder von Deutschen und Polen im Reichsgau Wartheland 1939-45. Unter besonderer Berücksich tigung der Region Wielkopolska, 2 Bde., Hamburg 2008. 34 Cord Pagenstecher, Vergessene Opfer. Zwangsarbeit im Nationalsozialismus auf öffentlichen und privaten Fotografien, in: Fotogeschichte 17 (1997), H. 65, S. 59-72; Stefan Hördler u. a. (Hrsg.), Zwangsarbeit im Nationalsozialismus, Göttingen 2016. 35 Ofer Ashkenazi/Guy Miron, Jewish Vacations in Nazi Germany. Reflections on Time and Space amid an Unlikely Respite, in: The Jewish Quarterly Review 110 (2020), S. 523-552. 36 Weckel, Beschämende Bilder (wie Anm. 7). 37 Andrea Genest, Fotografien als Zeugen – Häftlingsfotografien aus dem Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, in: Frübis, Fotografien aus den Lagern des NS -Regimes (wie Anm. 5), S. 85-112; Miriam Y. Arani, Holocaust. Die Fotos des »Sonderkommandos Auschwitz«, in: Gerhard Paul (Hrsg.), Das Jahrhundert der Bilder, 2 Bde., Bd. 1, Göttingen 2009, S. 658-665. 38 Arani schätzt, dass 99 Prozent der Bilder von Konzentrationslagern von SS -Fotografen stammen (Arani, Die fotohistorische Forschung zur NS -Dik tatur [wie Anm. 5], S. 6). 39 »Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr!«, National Archives Collection of World War II , War Crimes Records, 1933-1949, USA Exhibit 275, catalog.archives.gov/id/6003996 (22.7.2022). 40 Christoph Hamann, Der Junge aus dem Warschauer Ghetto. Der StroopBericht und die globalisierte Ikonografie des Holocaust, in: Paul, Das Jahrhundert der Bilder (wie Anm. 37), S. 614-623; Richard Raskin, A Child at Gunpoint. A Case Study in the Life of a Photo, Aarhus 2004. 41 visual-history.de/ (22.7.2022). 42 Paul, Das visuelle Zeitalter (wie Anm. 1), S. 708. 43 Anja Horstmann, Das Nachleben der Bilder. Farbfilmmaterial aus dem Warschauer Ghetto von 1942 in Fernsehdokumentarfilmen, in: Fritz Bauer Institut (Hrsg.), Jahrbuch zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Frankfurt am Main 2017, S. 227-241; Sebastian Schönemann, Symbolbilder des Holocaust. Fotografien der Vernichtung im sozialen Gedächtnis. Frankfurt am Main 2019. 44 Future Lean: Photographing the Holocaust, futurelearn.com/courses/photographing-the-holocaust/1 (22.7.2022). 45 Interview von Christine Bartlitz mit Svea Hammerle, s. den Beitrag von Christine Bartlitz in diesem Band.
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I . Von Fotoalben und Bilderrahmen. Private Blicke im NS -Deutschland
Maiken Umbach
Fotografie als politische Praxis im Nationalsozialismus Überlegungen zur Vermittlung von Ideologie und Subjektivität in privaten Fotoalben Dieser Aufsatz stellt, in aller Kürze, einige Ergebnisse aus dem Forschungsprojekt »Photography as Political Practice in National Socialism« an der Universität Nottingham vor. Das durch das englische Arts and Humanities Research Council geförderte Projekt umfasst mehrere Historikerinnen und Historiker, aber auch Kolleginnen und Kollegen aus der Pädagogik, Computer Science sowie unserer Partnerorganisation, dem englischen National Holocaust Centre and Museum. In dem Projekt geht es sowohl um den wissenschaftlichen Umgang mit Fotos aus den Kontexten von Nationalsozialismus und Holocaust als auch darum, wie sich neue Zugänge zu solchem Material museal, pädagogisch und mit digitalen Medien an eine allgemeine Öffentlichkeit und Schüler vermitteln lassen. Forschungen dazu laufen noch bis 2023; einige daraus hervorgehende Publikationen sind in Vorbereitung bzw. im Druck.1 Was ist gemeint, wenn es um Fotografie als politische Praxis im Nationalsozialismus geht? Die Mehrzahl der Fotos, mit denen wir uns beschäftigen, sind private Fotos. Aber sie interessieren uns hier nicht als Zeugnisse des Privatlebens schlechthin – das heißt nicht als Quellen einer Alltagsgeschichte2 –, sondern als Zeugnisse dafür, wie Formeln und Ideen aus der offiziellen politischen (Bild-)Kultur des Nationalsozialismus von privaten Personen rezipiert, aufgenommen, in eigenen Erzählungen umgesetzt, adaptiert und umfunktioniert wurden. Das Private fungiert hier also nicht als Antithese zum Politischen. Wir definieren es – wie wir es ausführlich in einem Gemeinschaftsprojekt über »Das Private im Nationalsozialismus« mit dem Institut für Zeitgeschichte in München erarbeitet haben – als eine Sphäre, in der weltanschauliche Deutungsmuster und ideologische Fantasien geprägt, eingeübt, umgesetzt und nutzbar gemacht werden.3 Privates Leben im Nationalsozia lismus, so heißt es in dem dazu erschienenen Band, 25
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»wird am besten verstanden als koproduziert durch Individuen und diskursive, bildliche und habituelle Sinngebungsmuster, in denen sich Elemente nationalsozialistischer Ideologie mit Kommerz, technologischer Innovation und Mode vermischten. […] Die Frage ist weniger, was der Nationalsozialismus mit den Deutschen gemacht hat, als was die Deutschen mit dem Nationalsozialismus gemacht haben. Offi zielle Ideologie, politische Publizistik und Werbung, neue Lebensstilangebote und auch die tragische Narration einer Nation im Krieg boten eine Rahmenerzählung an, durch die private Erfahrungen, Gefühle, Affekte und Wunschvorstellungen mit einer Aura historischer Bedeutsamkeit aufgeladen werden konnten«.4 Die private Fotografie, und vor allem die Gattung des Fotoalbums, bietet für eine Untersuchung von so verstandener politischer Privatheit besonders reiches Quellenmaterial – gerade, weil solche Alben keine reinen »Ego-Dokumente« waren. Fotoalben waren soziale Objekte, in Bezug auf ihre Produktion und auf ihre antizipierte und tatsächliche Rezeption.5 Fotos in den über tausend Alben, die wir analysiert haben, bilden fast immer Gruppensituationen und soziale Interaktionen ab. Dazu kommt, dass viele Alben eigene Fotos mit publiziertem Material vermischten und verknüpften: Ansichtskarten, Zeitungsausschnitte, Aufkleber, Werbeprospekte, Theater- und Kinokarten und vieles andere veröffentlichte und damit öffentliche Material wurden mit den eigenen Fotos in direkten visuellen Bezug gesetzt. Daher lässt sich an solchen Quellen besonders gut die Verschränkung von medialen beziehungsweise propagandistischen Angeboten und privater Lebensnarration nachvollziehen. Anders als etwa Tagebücher sind Fotoalben daher eher eine Vorform von sozialen Medien als ein Raum für private Reflektion. Die Bedeutung der privaten Fotos wird nicht nur vom Fotografen bestimmt, sondern auch und entscheidend von denen, die vor der Kamera posieren. Häufig wurden von solchen Aufnahmen gleich mehrere Abzüge hergestellt, so dass sich dieselben Fotos in mehreren privaten Alben finden, seien es Alben unterschiedlicher Familienmitglieder oder Alben von Menschen, die an Gruppenaktivitäten teilgenommen hatten: die Klassenfahrt, die Reisegruppe, der Betriebsausflug, die Hitlerjugend oder der Dienst in der Wehrmacht oder einer der zahlreichen NS -Organisationen. Fertigte man ein Album an, so geschah das nicht nur für den eigenen Gebrauch oder, wie ein privater Brief, für einen individuellen Rezipienten. Alben wurden im Hinblick auf eine ganze Reihe intendierter Betrachter angelegt: Familienangehörige, Freundeskreise, 26
fotografie als politische praxis im nationalsozialismus
raden, Berufskollegen oder Mit-Soldaten, und im Hinblick nicht nur auf die unmittelbare Rezeption, sondern auch als Erinnerungsobjekte für zukünftige Betrachterinnen und Betrachter. Der in solchen Alben gewählte Zeitausschnitt der Narration ist unterschiedlich. Es lassen sich im Wesentlichen drei Typen, jeweils mit diversen Untergattungen, unterscheiden: Erstens das Familienalbum, in dem sich oft Bilder von verschiedenen Familienmitgliedern mischen, und das oft einen Zeitraum von mehreren Jahren abdeckt; manchmal, aber nur selten, überschreiten solche Alben auch die Zeitumbrüche von 1933 beziehungsweise 1945. Ein zweiter Typ ist das Ferienalbum, meist einem einzigen Urlaub gewidmet, also in der Regel nur wenige Wochen oder Tage umfassend. Diesen zweiten Typ gibt es allerdings in zahlreichen Variationen, und oft wurden Konventionen des Ferienalbums auch auf andere Anlässe des Nicht-Zuhause-Seins übertragen, wie z. B. die Kinderlandverschickung, den Ernteeinsatz oder einen Lebensabschnitt im Reichsarbeitsdienst oder Kriegshilfsdienst. Ein dritter Typ ist das Soldatenalbum, das sowohl Kriegshandlungen als auch Alltag an der Front oder in den besetzen Gebieten thematisiert. Zwar tauchen Kriegsfotos gelegentlich auch innerhalb der Familienalben auf, und Soldatenalben enthalten gelegentlich Familienfotos vom Heimaturlaub. Aber meistens waren diesen Narrationen separate Alben gewidmet. Im Folgenden wird an einigen exemplarischen Fällen aller drei Typen kurz umrissen, was eine umfangreiche Untersuchung von vielen solcher Alben aus diversen Archiven und privaten Sammlungen im Rahmen des Projektes an Trends und Mustern hervorgebracht hat.6 Damit soll keinesfalls suggeriert werden, dass die hier angeführten Beispiele repräsentativ für die Gesamtheit der überlieferten Alben sind. Der Bestand ist so heterogen wie die Erfahrungen all jener Menschen, die vor dem Hintergrund ganz unterschiedlicher sozialen Umwelten, Berufsfelder, weltanschaulicher und religiöser Dispositionen, mit diversen Lebensaltern und individuellen Lebenswegen den Nationalsozialismus in Deutschland er- und durchlebten. Dazu kommt, dass allein der Entschluss, umfangreiche, oft liebevoll beschriftete, dekorierte und mit großem Aufwand hergestellte Alben anzulegen, in der Regel mit einer relativ affirmativen Haltung zum politischen Geschehen einherging. Zwar lassen sich auch hier – und insbesondere in den Soldatenalben – ganz erhebliche individuelle Variationen ablesen. Aber in der Regel war allein der Versuch, sich selbst und den Kreis der Familie und Freunde visuell in einen Bezug zum umgebenden Weltgeschehen zu setzen, ein Indiz für das Bemühen, der Verbindung von privater Erfahrung und politisch-sozialem Rahmen einen positiven Sinn abzugewinnen. Insofern sind explizit regimekritische 27
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Perspektiven in dieser Quellengattung eher selten anzutreffen. Andererseits darf eine über das Medium der Fotografie versuchte Sinnstiftung nicht einfach als politische Identifikation mit dem Nationalsozialismus oder den NS -Kriegszielen gelesen werden. Wie zu zeigen sein wird, wurde Politik in dieser Aneignung oft fast bis zur Unkenntlichkeit entstellt beziehungsweise gemäß privaten Wünschen und Zwecken umfunktioniert.
Das Familienalbum: Ideologie und Idylle Als Walter Benjamin den Faschismus als die Ästhetisierung der Politik definierte, meinte er damit, dass im Faschismus politische Inhalte tradierter Art durch eine mediale Inszenierung von politischem Affekt ersetzt werden, die emotionale Loyalität erzeugt und Bürger zu unkritischen Konsumenten von Ideologie macht.7 Aus dieser These ging in den 1990er Jahren eine umfangreiche Historiographie hervor, die, vor allem auf die italienische Spielart des Faschismus bezogen, von einer »Politik des Spektakels« sprach.8 Studien dieser Art haben neues Licht auf die Inszenierung von Führerkult, Männlichkeit, Rassenwahn und Gewaltfantasien im Faschismus und Nationalsozialismus geworfen. Aber sie haben sich vor allem auf die Intentionen der Regime konzentriert. Wie normale Mitbürger auf solche Angebote reagierten, wurde dabei kaum beachtet, die intuitive Überzeugungskraft solcher Inszenierungen eher postuliert als hinterfragt. Dabei bieten die unzähligen Fotoalben dieser Zeit sehr genaue Einblicke in die ästhetische Aneignung von Politik im Nationalsozialismus. Allerdings enthüllen diese Quellen keinesfalls eine Gesellschaft, die wehrlos der Faszination des Faschismus erlag. Im Gegenteil zeigen sie, wie nationalsozialistische Bildangebote in eine Weltkonstruktion eingefügt wurden, die in vielerlei Hinsicht konventionelle private Freuden zelebrierte, aber die auch von großspurigen Fantasien und starkem persönlichen Geltungsbedürfnis geprägt war. Ein eindrückliches Beispiel hierfür ist ein Album der Familie K. Die Familie, ein Ehepaar mit zwei Kindern, war evangelisch und wohnte in einer mittelständischen Wohnung in Berlin-Schöneberg. Das von der Mutter liebevoll angelegte Album, das insgesamt 74 Seiten umfasst, beginnt mit der Geburt des zweiten Kindes, Oskar, im Jahre 1935. Die ersten Seiten beinhalten gar keine privaten Fotos, sondern Kollagen aus Dutzenden von Briefen und Gratulationskarten zur Geburt des Babys. Die Bildmotivik ist kitschig: verschnörkelte Goldschrift, Blümchen und zahlreiche kommerzielle Zeichnungen strahlender, rotbackiger Ideal-Babys 28
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Abb. 1: Album der Familie K. aus Berlin. Private Sammlung Maiken Umbach.
suggerieren eine heile Welt, in der, abgesehen von sehr traditionellen Familienidealen und Genderrollen, offizielle Politik keinen Platz hat. Das gesamte Album, das bis ins Jahr 1941 führt, bleibt auf die KindThematik bezogen. Strukturierendes Element sind Oskars verschiedene Geburtstage, mit weiteren Gratulationskarten, Briefen der Familie, Postkarten, Zeichnungen der Schwester Ilse. Doch ab der zwölften Seite wird diese persönliche Chronologie zunächst gelegentlich, dann immer öfter und direkter mit dem Fortschreiten nationalsozialistischer Ereignisse und Erfolge parallelisiert. Die Olympischen Spiele von 1936 sind das erste öffentliche Ereignis, das auf diesem Weg präsentiert wird. Zwischen Babyfotos zeigen mehrere Seiten die Olympiabauten in Berlin, die Flaggen teilnehmender Nationen und die Route des olympischen Staffellaufes. Doch bald wird die Ideologie noch expliziter: Der Kapitulation Frankreichs sind drei Seiten gewidmet, in denen Zeitungsausschnitte mit Schlagzeilen wie »Fahnen des Sieges« und »Nur noch England!« eingeklebt sind. Mehrere sind liebevoll rot umrandet, andere mit dekorativen Aufklebern von Wehrmachtssoldaten und, auf anderen Seiten, SA-Männern. 29
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Abb. 2: Albumseite der Familie K. aus Berlin. Private Sammlung Maiken Umbach.
Oft stehen Seiten mit privatem und politischem Inhalt in diesem Album einander direkt gegenüber und spiegeln so die eigene Erfahrungswelt erhöhend im Zeitgeschehen wider. Links sehen wir Oskars Geburtstag, rechts die prachtvolle NS -Inszenierung des 700-jährigen Jahrestags der Stadt Berlin. Das Spektakel der großen Politik wurde aber auf diese Weise nicht einfach passiv absorbiert. Es wurde, ähnlich Mode- und Konsumgütern, zu einer Art Lifestyle-Accessoire, mit dessen Hilfe man Status und die erfolgreiche Hinwendung zum neuen Zeitgeist demons trieren konnte. Dabei wurden zahlreiche Versuche des NS -Regimes, den »Kitsch« zu unterbinden – insbesondere die kitschhafte Verwendung von offiziellen Partei- und Staatssymbolen –, ignoriert. Die Verkitschung solcher Symbole – etwas die Kombination von SA -Aufklebern und Weihnachtsmännern oder die Kombination von Hitler-Fotos mit niedlichen Osterküken – war integraler Teil einer Strategie, die sich die Ideologie zu eigen machte und zum persönlichen Statussymbol umfunktionierte. Die Dimension der Zeit spielt in diesem und vielen ähnlichen Alben eine zentrale Rolle. Einerseits zeichnen Alben Zeitabläufe nach: das Private, in diesem Fall das Aufwachsen des Kindes Oskar, wird eingerahmt und symbolisch aufgewertet durch den Überbau der politischen 30
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Rahmenhandlung, die sich, sozusagen Kapitel für Kapitel, schrittweise entfaltet und Kontur annimmt. Aber gleichzeitig wird die aktuell erlebte Zeit eingebettet in einen makro-historischen Rahmen, durch den man sich der Legitimität und historischen Bedeutsamkeit der selbst erlebten Epoche des Nationalsozialismus versicherte. In vielen Alben geschah das durch das Fotografieren von Familie und Freunden vor historischen Monumenten oder Kulissen. Besonders beliebt waren deutsche Kathedralen, allen voran Bamberg mit dem Bamberger Reiter, der ersten vollplastischen Reiterstatue des Spätmittelalters, die antike Vorbilder aufgreifend eine zentrale Rolle in der NS-K unst propaganda spielte. Andere beliebte Staffagen fürs private Fotografieren waren nationale Monumente des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, wie das Deutsche Eck am Rhein oder das Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald. Aber nicht nur Monumente, sondern auch historische und »typisch deutsche« Stadtbilder waren eine beliebte Kulisse für solche Fotos. Besonders häufig fotografiert wurde Nürnberg, die Stadt der Reichsparteitage, die in der nationalsozialistischen Propaganda eine besonders prominente Rolle spielte. Die nationalsozialistischen Prachtbauten selbst tauchen jedoch nur selten in privaten Alben auf, es sei denn, es handelt sich um persön liche Fotos von Menschen, die selbst an den NS -Veranstaltungen teilgenommen hatten. Weitaus beliebter als Fotomotiv war der historische Stadtkern von Nürnberg aus der Renaissance. Einerseits zeigt dies das Fortleben älterer Traditionen touristischer Ferienfotografie. Andererseits war diese Kulisse keineswegs politisch neutral. Nürnberg, die Geburtsstadt Albrecht Dürers, war bereits in der deutsch-nationalen und dann nationalsozialistischen Kunstgeschichte und Geschichtspolitik zum Inbegriff einer nicht als Renaissance, sondern als »Dürerzeit« bezeichneten Epoche deutscher Kulturblüte und Authentizität geworden. Der NS - Architekturkritiker Paul Schultze-Naumburg pries vor allem die besonders spitzen Dächer als Inbegriff »arischer« Baukunst.9 Zu solchen nationalen Motiven kamen oft solche, die die Geschichte der eigenen Region zelebrierten. Im Falle des Albums der Familie K. aus Berlin spielte das preußische Erbe bei diesem Prozess der Selbst-Historisierung eine markante Rolle. Besonders umfangreich wurden Familienausflüge zu den Wirkungsstätten Friedrichs des Großen dargestellt. Dazu gehörten nicht nur Fotos und Postkarten von Sanssouci und seinen Gartenanlangen, sondern auch Bahnfahrkarten und Eintrittskarten, die das Selbst-dort-Sein dokumentarisch bewiesen. Interessant ist in diesem Zusammenhang besonders eine Seite (Abb. 3), die eine Postkarte mit einer historischen Abbildung des »Alten Fritz« mit Windhunden 31
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Abb. 3: Albumseite der Familie K. aus Berlin. Private Sammlung Maiken Umbach.
in Sanssouci direkt neben zwei Bilder von Hitler stellt, die den Führer einmal bei den Olympischen Spielen in Berlin und einmal bei der Eröffnung der neuen Reichsautobahn zeigen. Einerseits wird durch diese Parallelisierung Hitler in den historischen Zeithorizont großer deutscher Führerpersönlichkeiten gestellt. Die Autobahnstrecke, als scheinbar persönliche Errungenschaft des spatenschwingenden Hitler, funktioniert als visuelles Echo der imposanten Treppenanlange des Lieblingsschlosses des preußischen Königs; beide, in einer Diagonale auf der Albumseite angeordnet, weisen über sich selbst hinaus in eine visionäre Zukunft, sind sozusagen formgewordene Gedankenblasen, die aus den Köpfen historischer Führer entspringen. Andererseits wird diese pathetische Bildsprache durch zwei bunte Osterkarten konterkariert und sozusagen domestiziert. Das leuchtende Gelb, Blau, Grün und Rot der Ostergrüße bildet eine zweite Diagonale mit den farbigen Olympiaringen aus dem kolorierten Hitlerfoto. Damit wird der Führerkult privat, anheimelnd: Man partizipiert an ihm im selben Duktus, mit dem man an Festtagen wie Ostern teilnimmt. Untrennbar mit diesen Zeitvorstellungen ist die Verknüpfung von persönlicher Erfahrung und Raum verbunden. Wichtiges Thema vieler 32
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Alben ist das tatsächliche und metaphorische Erfahren von Raum. Die Reichsautobahnen selbst mit ihren vielen Raststätten waren ein besonders beliebtes Fotomotiv.10 Man posierte, wo möglich, mit dem eigenen Wagen, geparkt am Fahrbahnrand; wo ein Auto nicht zur Verfügung stand, übernahmen diese Funktion der Autobus oder das Fahrrad. Fotos zeigen Menschen, die neben den Fahrzeugen stehen und pausieren. Die Pause wird aber nicht einfach als Moment der Entspannung gezeigt. Menschen stehen ernst, mit strammer Körperhaltung, ins Weite blickend. Selten ist der Blick auf ein bestimmtes Objekt gerichtet; inszeniert wird der Blick in den Raum. Das physische Er-Fahren des Raumes per Mobilität wird so symbolisch mit einer Aura versehen, die umgebende Landschaft zum Objekt von Kontemplation und zum Akt persönlicher Erfahrung und Charakterbildung gemacht. Solche Motive waren besonders in Urlaubs alben beliebt.
Das »Dritte Reich« als Ferienparadies Für sein Buch »The Ratline« und seinen Dokumentarfilm »My Nazi Legacy« lud der international renommierte Menschenrechtsanwalt Philippe Sands zwei Männer zum Interview ein.11 Einer war Niklas Frank, Sohn von Hans Frank, der das Generalgouvernement, also das besetzte, nicht annektierte Polen von 1939 bis 1945 leitete. Der andere war Horst von Wächter, Sohn Otto von Wächters, des Gouverneurs der Distrikte Krakau and Galizien zwischen 1939 und 1944. Während Niklas Frank seinen Vater extrem kritisch sieht, entwirft Horst von Wächter von dem seinen das Bild eines Mannes, der »in schwierigen Umständen« nur immer »das Beste für die Bevölkerung« wollte. Egal, wie viele Beweise Sands für Otto von Wächters verbrecherische Tätigkeiten präsentiert, der Sohn ist von seiner ignorant-positiven Sicht des Vaters nicht abzubringen. Dabei helfen ihm die Fotos. Zu Beginn des Filmes sitzen Sands und Horst von Wächter an einem Tisch und betrachten die Wächterschen Familienalben aus der NS Zeit. Sie zeigen eine scheinbar intakte Welt, einen liebevollen und immer zu Späßen aufgelegten Vater, perfektes Familienglück. Zwischen den Familienfotos kleben Bilder von Hitler und anderem hochrangingen NS -Führungspersonal. Politik erscheint als die direkte und logische Fortsetzung des privaten Lebens. Im Gegenzug dienen für Niklas Frank das Fehlen solcher Alben und die erinnerte Abwesenheit des Vaters, der nur mit Geschäften befasst war, als Beleg für das sowohl private als auch ideologische Fehlverhalten des Hans Frank. Aber sogar Horst von Wächter ist überrascht, dass das dominante Bild 33
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des Lebens im »Dritten Reichs«, das in diesen Alben entsteht, nicht nur eines von Familienglück, sondern auch eines von ständigen Ferien ist, wie die Alben der Familie Wächter dokumentieren. Wie Horst von Wächter, der die Alben seiner Kindheit nun neu betrachtet, gewinnt man bei der Durchsicht tausender ähnlicher Alben leicht den Eindruck, Lebenserfahrung im Nationalsozialismus sei vor allem durch ständige Ferien definiert gewesen. Dies fand nicht nur einmal im Jahr statt: Alben widmen sich dem Winterurlaub, Pfingsturlaub, Osterurlaub, Sommerurlaub, Herbsturlaub. Sie zeigen Szenen am Strand, Bergwanderungen, Skifahren, Picknicks. Auch wenn die ostentativ zele brierte Ferienstimmung wie im Fall Wächter in einem bezeichnenden Kontrast zum mörderischen Alltag steht, handelt es sich dabei keinesfalls nur um Eskapismus. Ferien boten einen Anlass, einen Anspruch und ein Anrecht auf privates Glück auszuleben, und das Ferienalbum diente dazu, diesen Anspruch zu dokumentieren: Dies bewies Status im »Dritten Reich«. Signifikanterweise wurde diese Urlaubslust durch Leidenserfahrungen im Krieg keineswegs gemindert. Eher das Gegenteil ist der Fall. Unser Korpus umfasst Alben vom Strandurlaub – komplett mit Strandkorb, Sandburg und Turnübungen am Meer – im Sommer 1944 und vom Skiurlaub im Winter 1944. Eine Frau, deren Album eine Rodelpartie der Familie in den Harburger Bergen bei Hamburg dokumentiert, kommentiert, zwischen Schlittenfahren und Schneemann-Bauen, in einer Bildunterschrift am Rande, dass die abgebildete Waldschänke der Ort sei, wo sie ihren späteren Mann Hansi kennengelernt hatte. Hansi sei leider vor wenigen Wochen an der Ostfront gefallen. All dies tut dem Ferienvergnügen keinen Abbruch: Es scheint fast so, dass die Fähigkeit, »trotz alledem« Spaß zu haben, selbst eine wesentliche Motivation für das Anlegen solcher Alben war. Im Nachhinein dienen solche Alben für den Sohn von Wächters als Beleg dafür, dass der Vater eine legitime und ehrenhafte Existenz geführt habe. Der Genuss privaten Lebens wurde bereits zur Zeit des Nationalsozialismus als Beweis dafür angesehen, die richtige »rassische« Abstammung und die richtige politische Einstellung zu haben. Spaß und Freude – wie im Titel der NS -Organisation Kraft durch Freude (KdF) – waren nicht etwa verpönt, sondern sollten die Bevölkerung im Geiste des Regimes physisch und mental stärken.12 Gleichzeitig konnte man durch das Vorführen privater Freude sichtbar die Mitglieder der regimetreuen Volksgemeinschaft von denen differenzieren, die aus sogenannten rassischen oder ideologischen Gründen exkludiert wurden und deren Privatsphäre das Regime mit zahlreichen Maßnahmen systematisch zerstörte.13 34
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Hitler selbst führte diese Ambition, private Freude fernab der normalen Wohn- und Arbeitsstätte auszuleben, geradezu exemplarisch vor, indem er sich zunehmend aus Berlin zurückzog und die Staatsgeschäfte von seinem »Ferienhaus«, dem malerisch gelegenen Berghof in den Alpen bei Berchtesgaden, lenkte. Sein Fotograf Heinrich Hoffmann dokumentierte dies in unzähligen Bildern, die den Führer in den Bergen und auf der Terrasse des Hauses zeigen, den Ausblick genießend, mit dem Hund spielend oder beim Sonnenbaden.14 Solche Bilder erschienen in zahlreichen Zeitschriften und waren auch Thema beliebter Bildbände mit Titeln wie »Hitler in seinen Bergen« von 1935 und »Hitler, wie ihn keiner kennt« (1938), mit jeweils 100 Portraits des Führers in der pittoresken Bergwelt. Die massenhafte Veröffentlichung solcher Fotos sorgte dafür, dass jeder Medienkonsument in Deutschland genau dieses Bild Hitlers sehr genau kannte. Gleichzeitig wurde Berchtesgaden zum touristischen Ferienziel und einer Art Wallfahrtsort ausgebaut. Eine neue Reichsaustobahn von München und eine neue Bahnlinie beförderten täglich Touristen, die das exemplarische Leben des Führers in ländlicher Idylle und vor dem dramatischen Hintergrund der alpinen Bergwelt bewundern sollten.15 Doch nicht nur die pittoresken Ferienziele selbst wurden so ideologisch aufgewertet. Ferien bedeuteten auch Mobilität, das Hinter-sichLassen der heimischen Wohnung und vertrauten sozialen Umgebung mit ihren hergebrachten Regeln, Routinen und Lebensweisen. Sich auf Entdeckungsfahrt zu begeben – sei es in die Natur oder zu markanten historischen Stätten –, diente nicht nur dazu, wie schon am Fall des Albums der Familie K. aus Berlin sichtbar wurde, sich in eine größere nationale Rahmenhandlung einzugliedern. Mobilität half auch dabei, die Konventionen abzulegen und sich in eine neue Welt hineinzudenken und hineinzufühlen, die die Nationalsozialisten erst erschaffen wollten – und diese Welt, qua Ferienreise, sozusagen antizipatorisch auszuprobieren und sich in ihr heimisch zu machen. So ist es kein Zufall, dass mehr als die Hälfte der Alben in dem von uns untersuchten Korpus den Ferien gewidmet sind – und in der Regel bekam dabei jede einzelne Ferienreise ein eigenes Album. Titelseiten wurden oft speziell um das Ferienmotiv herum gestaltet und zeigen entweder Vergrößerungen besonders prägnanter Fotos oder farbenfrohe Zeichnungen der Ferienziele. Die Bildsprache der aufregenden Ferienreise findet sich aber nicht nur in Alben, die tatsächliche Ferienreisen zeigen. Auch andere Anlässe, sich aus der gewohnten Umgebung zu entfernen und neue Lebenssituationen und neue Formen der Geselligkeit auszuprobieren, wurden in Alben dokumentiert, die die Ikonografie des Ferienalbums aufnahmen. Oft waren 35
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Abb. 4: Album der Ilse A., »Schön war die Zeit! RAD and KhD, 1943-1944«. Private Sammlung Maiken Umbach.
solche Anlässe direkt mit dem Nationalsozialismus verknüpft, der durch Organisationen wie Hitlerjugendfahrten, KdF-Fahrten, Erntehilfseinsatz, Reichsarbeitsdienst und den Kriegshilfsdienst zahlreiche Gelegenheiten bot. Ein typisches Beispiel ist das Album von Ilse A., einer jungen Frau. Das Titelbild ist die Vergrößerung eines Fotos, das sie offenbar für besonders gelungen hielt, liebevoll mit grobem Hanfgarn auf der Seite genäht. Das Bild zeigt eine winterliche Berglandschaft. Der Vordergrund wird dominiert durch schneebedeckte Bäume. Die Perspektive rechts öffnet den Blick in weite Ferne, im Hintergrund sehen wir Berggipfel voller Schnee. Eine Skispur führt über den Hügel im Vordergrund und zeigt, diagonal verlaufend, auf den Ausblick nach hinten rechts: Sie fungiert wie ein Zeiger, der dem Bild Dynamik verleiht und die Mobilität in der Natur sinnbildlich macht. Oben rechts befindet sich der Titel des Albums: »Schön war die Zeit!« Daneben stehen die Daten, auf die sich das Album bezieht: Ilses Tätigkeit im Reichsarbeitsdienst 1943 in Österreich und im Kriegshilfsdienst 1944. Der Titel ist für das Album tonangebend. Nur zwei der weit über hundert Bilder zeigen einen tatsächlichen Arbeitseinsatz. Die anderen Fotos fallen in drei Genres: uum einen sind es Bilder von Ilse A. mit ihren neuen Kameradinnen, und das Thema 36
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Abb. 5: Albumseite der Ilse A., »Schön war die Zeit! RAD and KhD, 1943-1944«. Private Sammlung Maiken Umbach.
der Frauen-Kameradschaft wird auch in den Bildunterschriften häufig zelebriert. Zweitens sehen wir Landschaftsaufnahmen zu verschiedenen Jahreszeiten, selten fokussiert aufs Detail, fast immer mit weitem Blick in die Ferne. Solche Bilder suggerieren eine Freiheitserfahrung, die das Gefühl des Entkommens aus physisch und mental beengten Verhältnissen in eine schöne neue Welt sinnbildlich macht. Drittens sehen wir Bilder, die Kameradschaft und Natur kombinieren. Sie zeigen junge Frauen bei Ausflügen, beim Picknick, bei Besichtigungen von Ortschaften in der Umgebung und beim Bergsteigen. Besonders auffallend ist das ständige Verwenden von Ausrufezeichen hinter fast der Hälfte aller Bildunterschriften. An sich ist weder die Existenz der Tiroler Stadt Imst noch die Existenz des Rotgüldensees besonders überraschend, da beide Ausflugsziele in der Nähe von Ilses Einsatzort lagen. Aber solche Orte werden in den Beschriftungen der Fotos regelmäßig mit Ausrufezeichen, oftmals einer ganzen Reihe, versehen: »Der Rotgüldensee !!!«. Die Album-Macherin ist darum bemüht, dem Betrachter zu vermitteln, wie aufregend das neue Leben war. Das Ausrufezeichen steht synonym für einen Begriff von Erfahrung und Befreiung. Es verleiht auch alltäglichen Aktivitäten eine Aura des Neuen und Sensationellen. 37
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An Beispielen wie diesem wird sichtbar, dass die Ferienalben, die Horst von Wächter so nostalgisch betrachtete, alles andere als eine Ausflucht aus dem Alltag des Nationalsozialismus waren. Im Gegenteil, sich aus der gewohnten Umgebung zu entfernen, sei es durch tatsächliche Ferien, durch organisierte Fahrten, durch Arbeitseinsätze oder durch den Militärdienst bedingt, als einen aufregenden Auf bruch zu neuen Erfahrungshorizonten zu inszenieren, war selbst ideologisch konnotiert. Ferienalben inszenierten eine neue Welt, wie man sie sich vom Nationalsozialismus erträumte. Das heißt nicht, dass diese antizipierte Welt immer ein direktes Spiegelbild der NS -Propaganda war. Die erwartete und hier ausprobierte Zukunft war ideologisch diffuser, hatte mehr zu tun mit der Suche nach persönlicher Freiheit, erlebter Kameradschaft mit Gleichaltrigen und Gleichgesinnten und Auf bruchsstimmung als mit einem klar definierten politischen Programm. Sie ließ sich gut mit dem Versprechen der Volksgemeinschaft zusammendenken, ohne ideologische Ziele mit politischer Präzision zu definieren.
Die Kamera im Krieg Über die Fotografien deutscher Soldaten ist bereits etliches publiziert worden.16 Petra Bopp, Miriam Arani, Bernd Boll, Kathrin Hoffman-Curtius und andere haben wegweisende Studien vorgelegt, die nachzeichnen, wie Angehörige der Wehrmacht mit der eigenen Kamera Feindbilder konstruierten und vermeintliche rassische Hierarchien bildhaft nachinszenierten.17 Thomas Eller hat beschrieben, wie private Soldatenfotos als geplante Erinnerungsobjekte fungierten.18 Dass auch alltägliche Szenen des Kriegsalltags Thema private Fotografie waren, haben Linda Conze, Ulrich Prehn und Michael Wildt gezeigt.19 Die Funde unseres Projektes decken sich in vielerlei Hinsicht mit diesen Studien. Im Vordergrund unserer Untersuchung steht aber für uns die Frage, wie sich private Emotionalität ideologisch auflud und inwieweit die Fotoalben deutscher Soldaten in dieser Hinsicht den zuvor besprochenen Familien- und Ferienalben ähneln. Die folgenden Absätze sollen diese Fragestellung kurz umreißen. Wenn man bedenkt, dass Soldaten vor allem aus einfacheren sozialen Milieus und aus provinzieller Herkunft im Krieg oft das erste Mal für längere Zeit die vertraute Heimat verließen, ist der Griff nach den visuellen Konventionen der Ferienfotografie weniger erstaunlich, als es die Diskrepanz mit der Ernsthaftigkeit des Themas zunächst vermuten lässt. Auch an der Front und in den besetzten Gebieten wurden vor allem die emotionalen Dispositionen, die auch aus anderen Alben der 38
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Zeit bekannt waren, in Szene gesetzt. Erfahrung im doppelten Sinne des Wortes, also als Mobilität und als Erlebnis; Landschaft, Kameradschaft, Freude. Album-Macher stellten Fotos von Kriegshandlungen und Kriegsverbrechen direkt neben Fotos vom Baden, vom Mittagsschläfchen oder von spontanem Theaterspiel in den Baracken. Durch das Inszenieren der eigenen, als authentisch deutsch bzw. »arisch« verstandenen Fähigkeit, Freude am Leben zu empfinden und diese auch vor der Kamera zur Schau zu stellen, legitimierte man Kriegsziele und insbesondere die Aktivitäten der Wehrmacht in den besetzten Ostgebieten. Dies wird besonders deutlich, wenn man die Fotoalben derselben Soldaten vergleicht, die zunächst im Frankreich-Feldzug und danach bei der Besetzung Polens und der Invasion der Sowjetunion zum Einsatz kamen. Französische Landschaften wurden nach den Mustern klassischer europäischer Landschaftsästhetik fotografiert. Zwar hing diesen Fotos der Hauch des Triumphalen an – man inszenierte sich selbst stolz als Besatzer, vorführend, das unvollendete Werk der Väter-Generation aus dem Ersten Weltkrieg so rasch zum Sieg geführt zu haben.20 Doch der Raum selbst und die eigene Beziehung zu diesem Raum wurden nicht substantiell anders in Szene gesetzt, als man das in der heimischen beziehungsweise Ferienfotografie eingeübt hatte. Landschaften wurden pittoresk gerahmt; vor allem erscheinen sie fast immer als klar strukturiert. Diese Ästhetik macht den Raum lesbar und definiert so den Platz des »Kulturmenschen« darin. Ein Baum oder eine Kirche im Vordergrund geben solchen Fotos einen klaren Fokus. Der Mittelgrund zeigt eine harmonische Landschaft, mit Feldern, Hügeln und Vegetation. Der Hintergrund öffnet den weiten Blick zum Horizont, oft im Dunst, gelegentlich bei Sonnenuntergang, und suggeriert ein Gefühl der Weite und Erhabenheit. Viele solcher Fotos zeigen Soldaten selbst im Vordergrund posierend, aber fast immer mit dem Blick von der Kamera abgewandt, ins Weite schauend. Oft erscheint die Figur des Soldaten nur als Silhouette. Der Betrachter wird eingeladen, dem Blick des im Vordergrund Posierenden zu folgen. Der Blick auf die Landschaft und die kontemplative Versenkung in die Natur (gelegentlich auch, vor allem von den besetzten britischen Kanalinseln, der Blick aufs unendliche Meer) ist das eigentliche Thema der Fotos. Auch waren solche Bilder eng an die Bildsprache der Romantik, vor allem die Gemälde Caspar David Friedrichs, angelehnt.21 Das hier abgebildete Beispiel aus dem Album des Alfons H. in Frankreich folgt dieser Bildformel. Fotografiert von einem Kameraden, zeigt es ihn in halber Hinteransicht, im Rahmen eines Fensters sitzend; auch die Inklusion des Fensterrahmens, das dem Bild Halt und Struktur verleiht, ist ein in Friedrichs Gemälden oft auftauchender Topos. 39
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Abb. 6: Kriegsalbumseite des Alfons H. Private Sammlung Maiken Umbach.
Alfons blickt, in lässiger Haltung, auf eine malerische Landschaft, mit Bäumen im Mittelgrund und einer dunstig-sonnigen Hügelkette im Hintergrund. Im Mittelfeld ist klar eine Kirche zu erkennen, die die Umgebung als eine christlich geprägte Kulturlandschaft definiert. Sein Blick scheint auf den Kirchturm gerichtet. Die Haltung ist entspannt, aber nicht spontan: Das aufrechte Kreuz, die verschränkten Arme, der leicht geneigte Kopf suggerieren Nachdenklichkeit, einen inneren Dialog mit der Landschaft. Im selben Album – und darin ist es für diese Gattung typisch – ändert sich die Abbildung von Raum jedoch radikal, als Alfons an die Ostfront versetzt wird. Zwar gibt es auch hier »Kulturbilder«, doch diese beschränken sich auf Portrait- und Nahaufnahmen von deutschstämmigen Minderheiten, vor allem den Siebenbürger Sachsen, deren Trachten er ausführlich fotografierte und entsprechend im Album beschriftete. Dieser ethnographische Blick kontrastiert solche Individuen mit Fotos von Menschen, gegenüber denen er sich – ganz so, wie es Bopp und andere beschrieben haben – als rassisch überlegen empfindet: Slawen, russische Kriegsgefangene und vor allem Juden. Interessant ist aber, dass sich mit der Einstellung zur einheimischen Bevölkerung auch die 40
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Abb. 7: Kriegsalbumseite des Alfons H. Private Sammlung Maiken Umbach.
Einstellung zum Raum selbst ändert. Zwar gibt es weiterhin zahlreiche Fotos, die gute Stimmung und fröhliche Kameraderie vorführen. Das Baden in Seen und Flüssen, oft auch nackt, gehört ebenfalls zum Repertoire. Doch der einfühlsame Dialog mit der Landschaft macht auf diesen Bildern nun einem Kontrast Platz, mit dem das eigene »Ich« in Opposition zur Umgebung gestellt wird. Naturbilder sind nicht mehr als »Landschaft« strukturiert. Natur wird stattdessen als leerer Raum fotografiert: ohne Vor-, Mittel- und Hintergrund, ohne lesbare ästhetische Merkmale, sondern als ödes und verlassenes Terrain, mit dem kein innerer Dialog möglich ist. Typisch ist hierbei der Hintergrund des Bildes »So wurde der gr. russische Panzerangriff abgeschlagen«. Auch hier erscheint der Soldat entspannt: Mit geschlossenen Augen nimmt er ein Sonnenbad. Aber diese Pose bekommt einen ironischen Unterton – der russische Angriff ist so wenig bemerkenswert, dass man ihn sozusagen im Schlaf abwehren konnte. Der ruhende Soldat steht nicht mehr in einem inneren Bezug zur Natur. Der Panzer umgibt ihn und positioniert seinen Körper als separiert vom umgebenden Land. Der Fotograf steht oder sitzt auf dem Panzer, die Kamera blickt auf die leere Umgebung herab. Interessant ist auch, dass bei diesem und beim 41
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Abb. 8: Kriegsalbumseite des Alfons H. Private Sammlung Maiken Umbach.
folgenden Bild die Bildunterschriften direkt auf das Foto geschrieben wurden. Soldatenalben wurden oft erst angelegt, wenn Heimat- oder Genesungsurlaub Gelegenheit dazu boten. In selteneren Fällen stammen Bildunterschriften auch aus der Nachkriegszeit. Alfons H. fertigte seine Alben während der Kriegszeit an. Die Bilder sind chronologisch geordnet, Bildunterschriften machen, ebenso wie die Bilder selbst, die Entwicklung deutlich, mit der sich die Wahrnehmung eines »normalen« europäischen Krieges allmählich in Richtung eines rassischen Vernichtungskrieges entwickelt. Aber in einigen Fällen – Abbildungen 7 und 8 sind Beispiele hierfür – war die sinngebende Beschriftung des Bildes so dringend, dass Alfons sie offenbar sofort nach der Entwicklung aufs Bild schrieb, noch bevor er es auf einer Albumseite montieren konnte. Dieselbe fast cowboyhafte Lässigkeit wie im Panzer charakterisiert ein weiteres Bild aus demselben Album, das laut Bildbeschriftung zeigt, wie ein »jüdischer Heckenschütze gestellt« wird. In der Sowjetunion fotografiert, zeigt dieses Foto einen in Zivil gekleideten Mann, der in einer Vertiefung vor einem Hauseingang steht. Mehrere Bretter lassen darauf schließen, dass er sich dort versteckt hatte und soeben von Wehrmachtssoldaten entdeckt wurde. Da er unbewaffnet ist, ist seine 42
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Bezeichnung als Heckenschütze geradezu zynisch. Der Mann hat seine Hände erhoben. Er ergibt sich. Die Geste ist an Soldaten gerichtet, die außerhalb des Bildes stehen, ihn vermutlich mit einer oder mehreren Waffen bedrohen. Es ist charakteristisch für solche Fotos, dass sie selten die militärische Anstrengung der Wehrmacht zeigen. Ähnlich wie bei den berühmten Fotos der Propagandakompanie (PK ) von der Niederschlagung des Warschauer Ghetto-Aufstandes 194322 suggerieren diese Fotos, Juden ergäben sich einfach in der Gegenwart der überlegenen Deutschen, die auf den Straßen herumstehen. Auch dieses Bild folgt diesem Schema. Der einzelne Soldat rechts steht bewusst lässig, der linke Arm stützt sich auf seine Hüfte, die Pistole in der rechten Hand zeigt auf den Boden, sein Kopf ist geneigt, er grinst. Lässigkeit hier hat nichts mehr zu tun mit dem Sich-Hineinfühlen in eine Landschaft oder eine neue soziale Situation – sie ist selbst zur Waffe geworden, dient dazu, sich von der Umgebung zu distanzieren, auf Raum und Menschen herabzublicken und die eigene vermeintliche Überlegenheit für die Kamera plakativ in Szene zu setzen.
Fazit Die Bildsprachen privater Fotos und Fotoalben aus der Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland waren keineswegs grundlegend neu. Private Fotografie bediente sich vieler Konventionen, sowohl aus früheren Formen des Genres als auch, wie am Beispiel Caspar David Friedrichs zu sehen ist, aus der Malerei. Gleichzeitig wurden solche Konventionen aber nicht einfach wiederholt, sondern neuen Lebenssituationen, Erfahrungshorizonten und Ambitionen angepasst. Der Nationalsozialismus schuf zahlreiche neue Anlässe für Amateurfotografen und Amateurfotografinnen, sich durch die Kamera zum Weltgeschehen zu positionieren. Wichtig dabei waren vor allem zwei Dimensionen: Zeit spielte eine zentrale Rolle. Man nahm qua Fotografie an der Entfaltung des NS Regimes teil und erhöhte symbolisch die Bedeutung eigener Lebens abschnitte durch Parallelisierung mit offiziellen Ereignissen. Gleichzeitig erlaubte die Fotografie, sich in der Geschichte rückzuversichern, indem die eigenen mikrohistorischen Ereignisse und Zukunftserwartungen in einen makrohistorischen Rahmen eingefügt wurden, der Legitimation stiftete. Raum war die zweite wichtige Dimension. Durch Fotos platzierte man sich im Raum, stellte eine Beziehung zwischen dem eigenen Ich und der Umgebung dar, die physisch und symbolisch erfahren wurde. Die Zugehörigkeiten zu Räumen und Landschaften war ein wichtiges 43
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Mittel der Selbstversicherung und Selbstlegitimation. Raum wurde dabei selbst mit Emotionen aufgeladen und bekam eine sinnstiftende Identität, mit der sich der Fotograf in eine scheinbare Übereinstimmung begab. Fotografie von Menschen im Raum konnte aber, wie wir am Beispiel von Alfons H. gesehen haben, auch zu einem aggressiven Akt werden, wenn man nicht nur anderen Menschen, sondern auch anderen Räumen sozusagen Charaktere zuschrieb, denen man entweder auf Augenhöhe oder von einer Position überheblicher Verachtung aus begegnete. Private Fotografie war ein Akt von politscher »Selbstermächtigung« im Sinne Michael Wildts.23 Gleichzeitig darf man aber aus den Echos nationalsozialistischer Ideen in privaten Fotos nicht den Schluss ziehen, Fotoalben zeigten eine einheitliche Gesellschaft, deren Denken und Fühlen ganz auf die offizielle Linie eingeschwenkt war. Im Rahmen dieses Aufsatzes war es nicht möglich, differenzierter auf generationsspezifische, milieubedingte und situationsbedingte Variationen in der privaten Fotografie einzugehen. Ebenso gab es in der soldatischen Fotografie auch signifikante Unterschiede, z. B. zwischen der regulären Wehrmacht und der Luftwaffe, der SS und anderen Spezialeinheiten. Auch über solche Gruppenidentitäten hinaus treten erhebliche individuelle Variatio nen auf. Fotografie war, bei aller Konvention, ein extrem individueller und, im Sinne Alf Lüdtkes, »eigensinniger« Akt.24 Indem man sich politische Bildersprachen zu eigen machte, konnte man sie auch umdeuten und eher für private denn für regimetreue Zwecke einsetzen. Spezifische Bildmuster finden sich sogar in den Fotografien und Alben jener Familien, die explizit aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossen waren. Auch in den Fotoalben jüdischer Familien gibt es zum Beispiel Bilder von der kontemplativen Rast an der Reichsautobahn bis zum Posieren im alten Nürnberg oder vor dem Bamberger Dom.25 In solchen Fällen diente diese Bildsprache dazu, gegen jene Exklusion zu protes tieren und Zugehörigkeit zu demonstrieren, wo diese vom Regime explizit nicht erwünscht war. Aber was auch immer die spezifische Intention gewesen sein mag: Wenn man sich vor der Kamera in Szene setzte, verschwammen die Grenzen zwischen privaten und öffentlichen Räumen und Identitäten. Das bedeutete nicht unbedingt eine Übernahme von NS -spezifischen Ansichten und Einstellungen. Die Fotografie als politische Praxis jedoch beförderte die totalitäre Ambition, traditionelle Bereiche des Politischen weit in die private Sphäre auszudehnen und Ästhetik und Affekt für die Herausbildung neuer Identitäten zu mobilisieren. Die Kehrseite allerdings zeigte sich darin, dass dabei der spezifische ideologische Inhalt dieser Affekt-Politik oft seltsam verwaschen wurde. 44
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Man machte sich neue Haltungen – etwa die der vielpropagierten »Kraft durch Freude« oder die Idee der Erfahrung – zu eigen, aber diese dienten vor allem dazu, private Wunschvorstellungen auszuleben. So erklärt sich auch, dass sich dieser Duktus nach 1945 nur allmählich änderte. Die inszenierte Freude als Selbstlegitimation, das Zelebrieren von Erfahrung als Selbstwert, die urdeutsche Art, sich in einen performativen Dialog zur Natur zu setzen, die inszenierte Suche nach Freiheit und Freizeit – all dies schrieb sich fort und gewann nach und nach durch den »American Dream« oder, in anderer Spielart, durch die Kultivierung von Jugend und Gesundheit im DDR -Sozialismus einen neuen ideologischen Überbau. Private Fotografie im Nationalsozialismus war nie eine rein private, sondern auch eine politische Praxis und schuf dadurch zugleich einen Interpretationsspielraum, durch den private Ambitionen die Inhalte der Politik instrumentalisieren und für sehr eigene Zwecke umfunktionieren konnten.
Anmerkungen 1 Ausgangspunkt des Projektes war das Sonderheft »Photography and German History« der Zeitschrift Central European History 48 (2015) Nr. 3, herausgegeben von Maiken Umbach und Elizabeth Harvey, in dem Herausgeberinnen, Beiträger und Beiträgerinnen neue methodische Zugänge auf die Beziehungsgeschichte zwischen professioneller und privater Fotografie als Quelle für die Politik- und Mentalitätsgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert vorstellten. Seitdem erschien außerdem eine Monografie, die am Beispiel der Familie Salzmann aus Berlin nachzeichnet, welche Aufschlüsse ein privates Foto-Archiv auf deutsch- jüdischen Identitätskonstruktionen unter dem Nationalsozialismus zulässt: Maiken Umbach/Scott Sulzener, Photography, Migration, and Identity. A German-Jewish-American Story, Basingstoke 2018, und zum Verhältnis von Fotos und Zeitzeugenaussagen zum Holocaust: Maiken Umbach/Alice Tofts, ›Private photos and Holocaust testimony: A complex relationship‹, Holocaust Studies, May 2022 (DOI : 10.1080/17504902.2022.2074208). Demnächst erscheinende Aufsätze widmen sich der fragmentierten Überlieferung vor allem jüdischer Privatfotografie (Sylvia Necker) und der problematischen Rolle von Fotografie in der Holocaust-Pädagogik (Gary Mills/Maiken Umbach). Eine weitere Monografie über private deutsche Fotografie im Nationalsozialismus ist in Vorbereitung. 2 Alf Lüdtke (Hrsg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt am Main 1989; Berliner Geschichtswerkstatt (Hrsg.), Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Münster 1994; Dirk van Laak,
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maiken umbach schichte, in: Michael Maurer (Hrsg.), Aufriß der Historischen Wissenschaften, Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaften (7 Bde., Bd. 7), Stuttgart 2003, S. 14-80. S. auch die Diskussionsrunde »Everyday Life in Nazi Germany«, mit Beiträgen von Andrew Stuart Bergerson/Elissa Mailänder Koslov/Gideon Reuveni/Paul Steege/Dennis Sweeney, in: German History 27 (2009) Nr. 4, S. 560-597. 3 Der Abschlussbericht des Projektes ist einzusehen auf leibniz-gemeinschaft. de/fileadmin/user_upload/Bilder_und_Downloads/Forschung/Wettbewerb/ Vorhaben/Abschlussberichte/Sachbericht_SAW -2013-IfZ-7.pdf (17.6.2022). 4 Maiken Umbach, (Re-)Inventing the Private under National Socialism, in: Dies./Elizabeth Harvey/Johannes Hürter/Andreas Wirsching (Hrsg.), Private Life and Privacy in Nazi Germany, Cambridge 2019, S. 128. 5 Wir folgen hier dem Ansatz von Elizabeth Edwards, die die Bedeutung von Fotografie im Spannungsfeld zwischen Produktion und dem »Social Life« der Fotos in anschließender Verwendung und Betrachtung definiert. S. Dies./Sigrid Lien (Hrsg.), Uncertain Images. Museums and the Work of Photographs, Oxford 2014; Dies., Photographs and the Practice of History. A Short Primer, London u. a. 2021. 6 Die wichtigsten der von uns konsultierten Archive sind das Fotoarchiv des Deutschen Historischen Museums Berlin, das Archiv des Schulmuseums Hamburg, das Militärarchiv im Bundesarchiv Freiburg, das Archiv des Kommunikationsmuseums Berlin, das Tagebucharchiv Emmendingen sowie zahlreiche deutsche Stadtarchive. Wir haben außerdem eine eigene Sammlung von Fotoalben der Zeit des Nationalsozialismus angelegt, aus der die hier besprochenen Beispiele stammen. 7 Walter Benjamin, Theorien des deutschen Faschismus. Zu der Sammelschrift »Krieg und Krieger«. Herausgegeben von Ernst Jünger, in: Ders., Gesammelte Schriften. Kritiken und Rezension, (14 Bde., Bd. 3), Frankfurt am Main 1981, S. 238-250. Eine interessante Neudefinition dieses Ansatzes bietet Paul Betts, The New Fascination with Fascism. The Case of Nazi Modernism, in: Journal of Contemporary History 37 (2002) Nr. 4, S. 541-558. 8 Simonetta Falasca-Zamponi, Fascist Spectacle. The Aesthetics of Power in Mussolini’s Italy, Berkeley/Kalifornien 1997; Marla Stone, The Patron State. Culture and Politics in Fascist Italy, Princeton/NJ 1998; Matthew Affron/ Mark Antliff (Hrsg.), Fascist Visions. Art and Ideology in France and Italy, Princeton/NJ 1997; Ruth Ben-Ghiat, Envisioning Modernity. Desire and Discipline in the Italian Fascist Film, Critical Inquiry 23 (1996) H. 1, S. 109144; Roger Griffin, Modernism and Fascism. The Sense of a New Beginning under Mussolini and Hitler, Basingstoke/Hampshire 2007. 9 Paul Schultze-Naumburg, Das flache und das geneigte Dach, Berlin 1927. S. dazu Maiken Umbach, German Cities and Bourgeois Modernism. 18901924, Oxford, 2009. 10 Zur Ikonografie der Reichsautobahnen s. Thomas Zeller, Driving Germany. The Landscape of the German Autobahn. 1930-1970, New York/NY 2007; James D. Shand, The Reichsautobahn. Symbol for the Third Reich, in:
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fotografie als politische praxis im nationalsozialismus Journal of Contemporary History 19 (1984), Nr. 2, S. 189-200; William Rollins, Whose Landscape? Technology, Fascism, and Environmentalism on the National Socialist Autobahn, in: Annals of the Association of American Geographers 85 (1995), Nr. 3, S. 494-520. 11 Philippe Sands, My Nazi Legacy. A Storyville Documentary, 2015; Ders., The Ratline. Love, Lies and Justice on the Trail of a Nazi Fugitive, New York/NY 2021, deutsche Ausgabe: Die Rattenlinie. Ein Nazi auf der Flucht. Lügen, Liebe und die Suche nach der Wahrheit, Frankfurt am Main 2020. 12 Zu den unterschiedlichen Wirkungsbereichen von »Kraft durch Freude« s. Shelley Baranowski, Strength through Joy. Consumerism and Mass Tourism in the Third Reich, Cambridge 2004; Kristen Semmens, Seeing Hitler’s Germany. Tourism in the Third Reich, Basingstoke 2005; Wolfgang König, Volkswagen, Volksempfänger, Volksgemeinschaft. »Volksprodukte« im Dritten Reich. Vom Scheitern einer nationalsozialistischen Konsumgesellschaft, Paderborn 2004; Bernhard Rieger, The People’s Car. A Global History of the Volkswagen Beetle, Cambridge/MA 2013. 13 Carlos Haas, Das Private im Ghetto. Jüdisches Leben im deutsch besetzten Polen 1939 bis 1944, Göttingen 2020. 14 Rudolf Herz, Hoffmann und Hitler. Fotografie als Medium des FührerMythos, München 1994. 15 Despina Stratigakos, Hitler at Home, New Haven/Connecticut 2015. Vgl. auch die Dokumentation Obersalzberg: obersalzberg.de/home (17.6.2022). 16 Gerhard Paul, Bilder des Krieges, Krieg der Bilder. Die Visualisierung des modernen Krieges, Paderborn 2004; Anton Holzer (Hrsg.), Mit der Kamera bewaffnet. Krieg und Fotografie, Marburg 2003. 17 Miriam Y. Arani, Fotografische Selbst- und Fremdbilder von Deutschen und Polen im Reichsgau Wartheland 1939-1945, Hamburg 2008; Petra Bopp, Fremde im Visier. Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg, Bielefeld 2012; Bernd Boll, Das Adlerauge des Soldaten. Zur Photopraxis deutscher Amateure im Zweiten Weltkrieg, in: Fotogeschichte 85-86 (2002), H. 22, S. 7587; Kathrin Hoffman-Curtius, Trophäen und Amulette. Die Fotografien von Wehrmachts- und SS -Verbrechen in den Brieftaschen der Soldaten, in: Fotogeschichte 78 (2000), S. 63-76. 18 Thomas Eller/Petra Bopp (Hrsg.), Willi Rose. Shadows of War. A German Soldier’s Lost Photographs of World War II , New York/NY 2004. 19 Linda Conze/Ulrich Prehn/Michael Wildt, Sitzen, baden, durch die Straßen laufen. Überlegungen zu fotografischen Repräsentationen von »Alltäglichem« und »Unalltäglichem« im Nationalsozialismus, in Annelie Ramsbrock/Annette Vowinckel/Malte Zierenberg (Hrsg.), Fotografien im 20. Jahrhundert. Vermittlung und Verbreitung, Göttingen 2013. S. 270-299, hier S. 296. 20 Nicholas Stargardt, Der deutsche Krieg 1939-1945, Frankfurt am Main 2015. 21 Maiken Umbach, Selfhood, Place, and Ideology in German Photo Albums, 1933-1945, in: Central European History 48 (2015), Nr. 3, S. 335-365. 22 Zur Fotografie im Warschauer Ghetto s. Richard Raskin, A Child at Gunpoint. A Case Study in the Life of a Photo, Aarhus 2004; Ulrich Keller
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maiken umbach (Hrsg.), Fotografien aus dem Warschauer Ghetto, Berlin 1987; Günther Schwarberg, In the Ghetto of Warsaw. Heinrich Jöst’s Photographs, Göttingen 2001; Janina Struk, Photographing the Holocaust. Interpretations of the Evidence, London 2004. 23 Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007. 24 Alf Lüdtke, Eigen-Sinn revisited, in: Ders., Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Münster 2015, S. 9-14. 25 Vgl. Umbach/Sulzener, Photography (wie Anm. 1).
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Ulrich Prehn
Mit der Kamera »zu Leibe rücken« Zur fotografischen Erzeugung von Nähe und Distanz im nationalsozialistischen Deutschland Die Bedeutung des Mediums Fotografie für die Etablierung und Stabi lisierung der Herrschaft autoritärer Regime im 20. Jahrhundert sowie für die konkrete Ausformulierung und Veranschaulichung entsprechender Ideologeme, Politik(en) und Propaganda ist vielfach betont worden.1 Für die Bereiche »offizieller« Fotografie, namentlich für Propagandaaufnahmen sowie für Auftragsarbeiten von Berufsfotografinnen und -fotografen, ist dies noch immer weitaus besser untersucht als für das Feld der Alltagsfotografie durch (ambitionierte) Amateurfotografinnen und -fotografen oder die technisch oft wenig versierten und häufig nur mit einfachen, preiswerten Box-Kameras agierenden sogenannten Knipser.2 In diesem Aufsatz werden Strategien der fotografischen Erzeugung dessen, was unter dem Begriffspaar »Nähe« – »Distanz« gefasst werden soll, in Bezug auf fotografische Praxen – d. h. Abbildungs-, Repräsentations- und Inszenierungsweisen – beschrieben und diskutiert. Die grundlegenden Überlegungen dazu basieren auf zwei analytischen Zugriffen: Zum einen wird das Verhältnis von Fotografinnen beziehungsweise Fotografen zu den fotografierten Personen oder Personengruppen in den Blick genommen, zum andern werden Strategien des »Ins-Bild-Setzens«, also etwa der Perspektiv- und Ausschnittwahl und deren Wirkung, untersucht. Wenn also Aussagen getroffen werden sollen über fotografische Möglichkeiten, »Nähe« und »Distanz« auszudrücken oder hinsichtlich künftiger Betrachterinnen und Betrachter in ihrem Verhältnis zu den Fotografierten zu erzeugen, sind die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der NS -Diktatur sowie entsprechende Herrschafts- und Alltagspraxen ebenfalls zu bedenken: Rassismus und Antisemitismus etwa sowie entsprechende Strategien des Ausschlusses, aber auch von Vergemeinschaftung. Der Aufsatz gliedert sich in drei Abschnitte. Zunächst wird anhand zweier Beispiele aus einer bekannten Serie eines »Bildberichters«, der 49
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als Angehöriger einer Propagandakompanie der Wehrmacht im deutschen Vernichtungskrieg u. a. Jüdinnen und Juden fotografierte, sowie einer antisemitischen Miniserie eines zivilen »Knipsers«, der 1938 in Leipzig von ihm als »Juden« bezeichnete Menschen fotografierte, analysiert, wie nah die beiden Fotografen die jeweiligen Menschen abbildeten, ihre Ausschnitte wählten und welche Wirkungen dadurch auf Betrachterinnen und Betrachter erzeugt werden. Im zweiten Abschnitt dienen Aufnahmen von Angehörigen der Werksfeuerwehren verschiedener deutscher Betriebe in den 1930er- und früher 1940er-Jahren dazu, verschiedene fotografische Repräsentationsweisen von Gruppenkonstel lationen zu ergründen und Überlegungen sowohl zu den Entstehungs bedingungen und -zusammenhängen jener Aufnahmen als auch zu ihren Gebrauchsweisen und Funktionen anzustellen, die zwischen Privatheit und (Halb-)Öffentlichkeit schwankten. Schließlich wird anhand eines Fotos, das nicht aus dem betrieblichen Kontext stammt, sondern eine NS -Frauenschafts-Ortsgruppe im öffentlichen, städtischen Raum zeigt, die spannungsreiche Repräsentation von Gruppen verschiedenen Geschlechts in ein und demselben Bild analysiert. In einem Fazit werden schließlich mit Blick auf die Bedeutung des Mediums Fotografie im Nationalsozialismus einige grundlegende Befunde zu den Spannungsfeldern »Öffentlichkeit und Privatheit« sowie »Nähe und Distanz« formuliert; diskutiert wird auch die Frage nach der Erinnerungswürdigkeit und bestimmten Modi der Gestaltung und Steuerung von Erinnerung durch Fotografien. Die ausgewählten Fotografien stammen nicht aus Fotoalben, sind also nicht Teil eines diesem speziellen Medium entsprechenden Narrativs.3 Vielmehr sind sie als Einzelfotos oder Serien (welche auch – Stichwort »serielles Erzählen« – ein Narrativ transportieren können) überliefert. Alle im vorliegenden Aufsatz analysierten Fotografien stammen – mit Ausnahme der Propagandaaufnahmen des Bildberichters Johannes Hähle (Abb. 1 und 2) – aus einer Sammlung, die ich über einen Zeitraum von über zwölf Jahren durch Käufe über Internetauktionen, in selteneren Fällen auch bei Militaria-Händlern aufgebaut habe. Sie umfasst mehrere tausend in den unterschiedlichsten Formaten vorliegende Fotografien mit Motiven vornehmlich aus der Zeit des Nationalsozialismus.
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mit der kamera »zu leibe rücken«
I . Ausschnitt und Wirkung – Nähe und Distanz: Zwei Beispiele
Mit dem folgenden Vergleich zweier Fotoserien, genauer: von Teilen zweier Serien, soll aufgezeigt werden, in welchem Maße die Wirkung von Fotografien davon abhängt, welchen Ausschnitt der Fotograf oder die Fotografin gewählt hat beziehungsweise wie nahe er oder sie mit der Kamera der fotografierten Szene und vor allem den abgebildeten Personen gekommen ist. Die beiden Serien sind unter extrem unterschiedlichen Rahmenbedingungen entstanden: Das Bildgeschehen der Aufnahmen der ersten Serie ist vor dem Hintergrund dessen zu sehen, was seit 2007/08 unter dem Schlagwort Holocaust by Bullets 4 beziehungsweise mit dem neutraleren Begriff »Massenerschießungen«5 bald auch in die wissenschaftliche Diskussion verstärkt Eingang fand: dem Prozess der Sammlung und Erschießung von Jüdinnen und Juden aus Lubny (Ukraine) durch Angehörige des Sonderkommandos 4a am 16. Oktober 1941. Diese Fotografien werden kontrastiert durch – gegenüber der ersten Bildüberlieferung vollkommen unbekannte – Aufnahmen von einer auf eine individuelle Entscheidung zurückgehenden »Judenjagd« mit der Kamera in der Leipziger Innenstadt im August 1938. Die ersten beiden Fotos stammen aus einer 38 Schwarz-Weiß-Negative umfassenden Serie,6 die der Fotograf Johannes Hähle – seit dem 1. Juli 1941 Angehöriger der Propagandakompanie (PK ) 637 der Wehrmacht –7 von Jüdinnen und Juden aus Lubny machte, die von Angehörigen des Sonderkommandos 4a der Einsatzgruppe C auf freiem Feld versammelt und kurz darauf erschossen wurden. In der entsprechenden »Ereignismeldung« ist von 1.865 Menschen die Rede.8 Hähle fotografierte die Menschen nicht nur auf dem Weg vom Sammelplatz zur Exekutionsstätte, sondern fertigte auch eine Reihe von Aufnahmen einzelner Personengruppen an, doch nicht die Erschießungen selbst. Massenexekutio nen und andere Gewaltexzesse zu fotografieren, war auch Angehörigen der Propagandakompanien verboten.9 Einige dieser Bilder, die als Beispiel für unzählige »Fotografien wider Willen«10 gelten können, die in Diktaturen, in Kriegs- und anderen Zwangs- und Gewaltsituationen von stigmatisierten, erniedrigten Menschen und Menschengruppen angefertigt wurden, zeigen die ihrem Tod entgegensehenden Menschen in Halbnah- und Nahaufnahmen. Und auf die Wirkung von relativ nah aufgenommenen Personenporträts soll in der Analyse beider Fotoserien, der aus Lubny und den 1938 von einem »Knipser« in Leipzig angefertigten Aufnahmen, das Augenmerk gerichtet werden. Für die folgenden beiden Fotos aus der in/bei Lubny 51
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Abb. 1: Foto des PK -Fotografen Johannes Hähle, Lubny, 16. Oktober 1941. Scan vom SW -Negativ. Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung, Bildnummer 008-051.
entstandenen Serie hat der PK -Fotograf Hähle seine Kamera zu den Abgebildeten annähernd in Augenhöhe positioniert. Die Fotohistorikerin Miriam Arani hat in Bezug auf die Lubny-Serie, die zum Teil in der Ausstellung »Verbrechen der Wehrmacht. Dimen sionen des Vernichtungskrieges 1941-1944« des Hamburger Instituts für Sozialforschung gezeigt wurde, die Frage aufgeworfen, »inwiefern Inhalt und Darstellungsweise auf individuelle Entscheidungen des PK -Fotografen, auf dessen innere Anteilnahme, auf berufsgruppenspezifische Verhaltensweisen oder auf Anweisungen von vorgesetzten Stellen zurückzuführen sind«.11 Die mögliche Deutung, dass Hähles Fotos Anteilnahme am Schicksal der abgebildeten Menschen ausdrücken könnten, hält Arani für weniger wahrscheinlich. Sie schlägt eine aus ihrer Sicht plausiblere Erklärung vor: »[D]ass ein PK -Fotograf eine Vielzahl von Nahaufnahmen einzelner Juden macht, ist im organisatorischen Zusammenhang der gelenkten Pressefotografie des NS -Staats und der Konkurrenz der ›Bildbericht erstatter‹ untereinander sehr wahrscheinlich nicht auf dessen indivi duelle Anteilnahme an deren Schicksal, sondern vielmehr auf ein professionelles Ziel der PK-Fotografen zurückzuführen, ›brauchbares‹ 52
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Propagandamaterial für seine Abnehmer in der Abteilung Wehrmachtpropaganda und im Reichspropagandaministerium zu liefern.«12 Doch erklärt das, was Arani als »professionelles Ziel der PK -Fotografen« anführt, denn wirklich, auf welche Art und Weise Hähle die Jüdinnen und Juden aus Lubny fotografisch in Szene setzte? Immerhin vermeidet Arani es, vom einzelnen Fotografen und dessen (angeblicher) Intention auszugehen. Prinzipiell erscheint es sinnvoll, bei der Analyse von Fotografien möglichst nicht, vor allem nicht im ersten Analyse-Schritt, von der Abbildungsabsicht des Fotografen oder der Fotografin auszugehen, denn allzu vorschnell stülpt man als Betrachter oder Betrachterin dem, was man auf dem Foto zu sehen glaubt, eine bloße Annahme über. Nur selten sind die fotografischen Repräsentations- oder Inszenierungsweisen selbst so eindeutig, dass unmittelbar auf Intentionen des Fotografen beziehungsweise der Fotografin rückgeschlossen werden kann. Ertragreicher kann es vielmehr sein, sich in der Untersuchung eines Fotos auf die Wirkung oder die möglichen Wirkungen zu beziehen, die es auf die Betrachtenden hat,13 verbunden mit Überlegungen, mit welchen fotografischen Mitteln und Techniken die Wirkungen erzeugt werden. Und noch ein weiterer Umstand lässt sich gegen die Interpretation eines angeblichen »professionellen Ziels« anführen: die Tatsache, dass Hähle die Fotos samt Negativen nicht, wie im Fall eines offiziellen Auftrags vorgeschrieben, bei der entsprechenden Wehrmachtsdienststelle ablieferte, sondern sie in seinem Privatbesitz behielt.14 An einem zweiten Motiv aus der Serie (Abb. 2) wird deutlich, dass der Fotograf sich für seine Bilder Zeit nahm: Die Kameraposition ist im Vergleich zur ersten Aufnahme nur wenig verändert; auf diesem Foto ist der Mann am rechten Bildrand mit Mütze und Vollbart als eine der beiden Personen auf dem ersten Foto (Abb. 1) identifizierbar. Von zentraler Bedeutung für die Bildwirkung ist jedoch die Frau in dem gefleckten Mantel, die ihren Kopf Hähle zugewandt hat und fest den Kamerablick erwidert. Ihr Gesichtsausdruck und ihr Blick spiegeln ihre Gefühle wider, für deren Beschreibung die Begriffe Ablehnung, Groll und Verachtung angemessen erscheinen. Beide Abbildungen belegen, dass Fotografien Ergebnisse eines Interaktionsprozesses zwischen der Fotografin beziehungsweise dem Fotografen und den Fotografierten sind und dass sich diese Interaktionen auf die eine oder andere Weise – Aktion/Reaktion, Emotionen, Bewegung, Pose – im Foto widerspiegeln oder Spuren hinterlassen. Gleichzeitig verweisen die Aufnahmen der von Hähle angefertigten Serie, über die Helmut Lethen schreibt, sie hätten »nichts Anonymes«, 53
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Abb. 2: Foto des PK -Fotografen Johannes Hähle, Lubny, 16. Oktober 1941. Scan vom SW -Negativ. Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung, Bildnummer 008-050.
sondern wirkten vielmehr »unheimlich vertraut«, auf den verstörenden Aspekt, dass der PK -Fotograf uns, die wir später diese Aufnahmen betrachten, sie zwar nahezubringen sucht, den Fotos jedoch keine Erzählung zur Seite stehe, die den Abgebildeten »Namen und Zukunft verleihen würde«,15 sie also eben doch im Zustand der Anonymität belasse und in der Erinnerung in gewissem Sinne auf Distanz halte. Ein anderer Ort – eine deutsche Großstadt – und damit eine andere Art von Öffentlichkeit sind als prägend für die Rahmen- und Entstehungsbedingungen der folgenden beiden Fotomotive anzusehen. Beide Fotos stammen aus einer Serie, über deren Umfang keine Angaben gemacht werden können.16 Der Name des Fotografen ist unbekannt, die Motive wirken im Prinzip ganz unscheinbar. Lediglich aufgrund der rückseitigen Beschriftung »31 August 1938 / Jüd auf dem Brühl« erschließt sich heutigen Betrachterinnen und Betrachtern das Motiv und es lassen sich davon Rückschlüsse auf den Hintergrund der fotografischen Aktivität des unbekannten Autors beziehungsweise der Autorin ziehen. Aufgenommen wurde das Bild 54
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Abb. 3: Foto vom Brühl, Leipzig, 31. August 1938 (Fotograf: unbekannt). SW -Abzug, 6,5 × 6,5 cm, Fotopapier: VELOX , rückseitig beschriftet. Slg. Ulrich Prehn, 496a.
in Leipzig, auf dem Brühl, zeitgenössisch bekannt als die »Weltstraße der Pelze«, mit vielen entsprechenden Firmensitzen und Geschäften. Der Anteil von Juden in diesem Gewerbezweig der Stadt war bereits im 19. Jahrhundert beträchtlich. Es ist selbstverständlich schwierig, präzise Aussagen darüber zu treffen, in welchem Maße sich antisemitische Zerrbilder in den »Bildhaus halt« nichtjüdischer Deutscher (also deren »Bilder im Kopf«) eingeschrieben hatten. Doch gerade antisemitische Karikaturen, durchaus weit verbreitet in Zeitschriften der völkischen Rechten oder als Postkartenmotive,17 werden dem unbekannten Fotografen, der in Leipzig im Sommer 1938 auf »Judenjagd« ging, vermutlich nicht gänzlich unbekannt gewesen sein. Mit Blick auf die im Sommer 1938 auf dem Brühl entstandenen Aufnahmen lässt sich nicht zweifelsfrei argumentieren, welche Motive und Absichten der Abbildung der Personen in der Leipziger Innenstadt zugrunde lagen. Auf die Fallstricke, die sich daraus ergeben können, wenn vorschnell über Intentionen von Fotografinnen und Fotografen spe55
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Abb. 4: Foto vom Brühl, Leipzig, 28. August 1938 (Fotograf: unbekannt). SW -Abzug, 6,5 × 6,5 cm, Fotopapier: VELOX , rückseitig beschriftet. Slg. Ulrich Prehn, 496.
kuliert wird, ist weiter oben bereits hinsichtlich der Aufnahmen von PK -Fotografen hingewiesen worden. Doch so viel scheint in diesem Fall festzustehen: Es kam dem Fotografen darauf an, Juden (beziehungsweise wen er dafür hielt, denn es ist nicht davon auszugehen, dass er die Abgebildeten persönlich kannte) zu identifizieren und fotografisch festzuhalten.18 In aufdringlicher, übergriffiger Weise rückte er ihnen mit der Kamera »auf den Leib«,19 wie auch das zweite Motiv (Abb. 4), rückseitig beschriftet »28 August 1938 / Jud bei Regen in Leipzig«, zeigt. Zweifellos auch ein Schnappschuss wie Abb. 3, legt die geringe Tiefenschärfe (in die sich zudem ein gewisses Maß an Bewegungsunschärfe mischt) jedoch nahe, dass das Foto mit relativ langer Brennweite aufgenommen wurde. Dementsprechend ist weder auf dem ersten noch auf dem zweiten Foto erkennbar, dass die Fotografierten den ihnen Unbekannten bemerkten, der sie in aller Öffentlichkeit ablichtete. Es ist allerdings auch möglich, dass die jeweils Abgebildeten den Fotografen durchaus bemerkten, ihm aber nicht die »Genugtuung« geben 56
mit der kamera »zu leibe rücken«
wollten, ins Objektiv zu schauen und damit ihre Wehrlosigkeit ob der Belästigung zu dokumentieren und zu unterstreichen. Beide Fotos sind also vermutlich aus etwas größerer Distanz und – der nicht sonderlich gelungene Ausschnitt des zweiten Motivs (Abb. 4) legt dies nahe – eher hastig gemacht worden, und zwar von jemandem, der möglicherweise gar nicht in Leipzig lebte. Denn der Stempel auf der Rückseite von Abb. 3 weist als Sitz des Foto-Labors (»Foto-Fischer«) die Stadt Glashütte in Sachsen aus, einen Ort also, der in Luftlinie über 100 Kilometer von Leipzig entfernt ist. Denkbar wäre also, dass sich in diesem Fall in den grundsätzlich touristisch motivierten fotografischen Blick anlässlich des Großstadt-Besuchs eine spezielle antisemitisch motivierte (oder zumindest grundierte) Schaulust mischte. Das Eigentümliche im Hinblick auf die Kategorien »Nähe« und »Distanz« in den Motiven aus den beiden bisher analysierten Serien liegt zum einen darin, dass sich Fotograf und Fotografierte nicht kannten, sondern einander fremd waren. Und zum andern, dass der fotografische Akt in beiden Fotografiersituationen und -kontexten selbst zweifellos ein Machtgefälle ausdrückte und etwas hochgradig Übergriffiges darstellte. Beides verhält sich vollkommen anders in den Fotografiersituationen und -kontexten, die den Aufnahmen zugrunde liegen, die im folgenden Abschnitt untersucht werden. II . Kollektiv – Körper – Kohäsion: Repräsentationsweisen
von Gruppenkonstellationen in privater und institutionsöffentlicher Fotografie
Mit dem ersten der hier analysierten Gruppenbilder sei auf zweierlei hingewiesen: darauf, dass Fotografien nicht zuletzt materielle Objekte sind und dass deren Überlieferung und materielle Beschaffenheit nicht nur die Wirkung der Aufnahme (genauer: des Bild-»Inhalts«, seiner Bedeutung) bestimmen, sondern dass von der Objekthaftigkeit, der materiellen Beschaffenheit, der Form der Überlieferung also, ganz eigene Wirkungen auf die Betrachterin beziehungsweise den Betrachter – zumal in unterschiedlichen Zeitschichten – ausgehen.20 Die zweidimensionale Abbildung in der Reproduktion (Abb. 5) wird dem Charakter des Originalobjekts, etwa seiner Haptik, nicht vollends gerecht. Zwar kann man in diesem Fall einerseits den Rahmen in die Hand nehmen, aber nicht mehr den Abzug selbst, er ist hinter Glas auf Pappe montiert – Techniken, die in rein materieller Hinsicht eine gewisse Distanz schaffen. Andererseits drückt sich in dem Akt, das Foto zu 57
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Abb. 5: Gruppenaufnahme von Angehörigen der Betriebsfeuerwehr der Dürener Metallwerke, 1937. Gerahmter, auf Pappe montierter SW -Abzug, 12,3 × 17,2 cm. Slg. Ulrich Prehn, 733.
rahmen und – womöglich – an die Wand zu hängen oder einen anderen privilegierten Ort der Aufbewahrung und Betrachtungsmöglichkeit zu wählen, der Wunsch aus, in einer alltäglichen Gebrauchspraxis Annäherung und Nähe zu ermöglichen.21 Bereits in formaler Hinsicht ist dieses Gruppenporträt ganz offensichtlich stark inszeniert – darauf weist allein die Aufstellung der 28 uniformierten Männer und eines einzigen, in der Mitte der untersten Reihe abgebildeten, zivil (im Anzug) gekleideten Mannes hin. Gruppenporträts wie dieses lassen in der starren Anordnung, der auf Ordnung bedachten Steifheit der Repräsentationspose und der entsprechenden Bildbotschaft (»Wir gehören alle zu einer Gruppe« bzw. »Wir bilden eine Einheit«) keine große Nähe zu Betrachterinnen und Betrachtern aufkommen, die nicht zu der Gruppe gehören, zumindest sofern sie nicht mit einem der Abgebildeten näher bekannt oder verwandt sind. Gleichzeitig dient dieses Foto als Kontrastfolie für das folgende Einzelmotiv und eine weitere kleine Serie, die von den Bildmotiven her interessanter sind als das gerahmte Gruppenporträt der Betriebsfeuerwehr der Dürener Metallwerke. Um aber auf einer Ebene ein gewisses Maß an Vergleichbarkeit zu gewährleisten, sind Motive ausgewählt worden, in denen die Abgebildeten entweder ebenfalls zu einer Werksfeuerwehrein58
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Abb. 6: Gruppenaufnahme von Angehörigen des Werk-Luftschutzes der Firma D.K.W., Weihnachten 1935. SW -Abzug, 8,7 × 14 cm, Fotopapier: Agfa, mit nachträglich vorgenommener grafischer Hervorhebung (U. P.). Slg. Ulrich Prehn, 1264.
heit gehören oder, wie in obigem Foto (Abb. 6), zum Werk-Luftschutz, hier der Firma D.K.W. (Abkürzung für Dampf Kraft Wagen), einem deutschen Automobil-, Motorrad- und Kühlmaschinenhersteller mit ursprünglichem Sitz in Zschopau bei Chemnitz. Das Gruppenfoto, das Angehörige des D. K.W.-Werk-Luftschutzes zu Weihnachten 1935 anfertigten, ist in der Anordnung der Gruppe – obwohl eine lockere Aufstellung in Reihen prinzipiell strukturgebend ist – weitaus weniger straff und starr organisiert als das Bildbeispiel aus Düren (Abb. 5): So erscheinen in Abb. 6 etwa drei der in der zweiten Reihe links abgebildeten Männer als enger miteinander verbunden, davon zeugt zum Beispiel die Hand des rechten Mannes in der Dreiergruppe auf der Schulter seines in der Mitte der Binnengruppe abgebildeten »Kameraden«. Der physisch ausgedrückte enge Gruppenzusammenhalt dominiert das Bild; dass die ganze Szenerie unter einer Hakenkreuzflagge stattfindet, wird durch die Abbildungsentscheidungen, die der Fotograf fällte, in den Hintergrund – genauer: an den Rand, den äußersten (oberen) Bildrand, gedrängt. Die folgenden vier Aufnahmen bilden eine Serie; die Motive zeigen Angehörige der Werksfeuerwehr der Norddeutschen Dornier-Werke in Lübeck im Rahmen einer Weihnachtsfeier im Jahr 1940 oder 1941. Die 59
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Abb. 7-10: Gruppenaufnahme von Angehörigen der Werksfeuerwehr der Norddeutschen Dornier-Werke Lübeck, Weihnachten 1940 oder 1941. SW -Abzug, 5,6 × 8,6 cm, Fotopapier: Agfa-Lupex. Slg. Ulrich Prehn, 1637, 1637e, 1637c und 16371.
Vorteile einer Serie gegenüber dem Einzelfoto treten hier offensichtlich zutage, denn das erste Motiv (Abb. 7) allein ist völlig unspektakulär: eine banal wirkende, fotografisch wenig anspruchsvolle Gruppenaufnahme, das Arrangement der zehn Männer wirkt ähnlich statisch wie das gerahmte Gruppenfoto aus den Dürener Metallwerken. Auffällig ist jedoch, dass die Mehrheit der Abgebildeten nicht in die Kamera blickt, der Blick von vier Männern ist vielmehr auf ein sich (aus der Perspektive der Betrachtenden) links von der Kamera abspielendes Ereignis gerichtet. Abb. 8 zeigt dieselben zehn Männer nun deutlicher in Aktion, die beiden Personen am rechten Bildrand sind stark an- beziehungsweise beinahe vollkommen abgeschnitten aufgenommen worden. Es wirkt so, als habe der Fotograf, dem es offenbar wichtiger war, die links platzierte beschriftete Tafel abzubilden statt die komplette Gruppe, nicht weiter zurücktreten können. Zusammengehalten wird die Gruppe nicht nur durch die soziale Praxis – das gemeinschaftliche Trinken –, sondern durch die Pose des Flasche-an-den-Hals-Setzens, durch die das Bild weitaus dynamischer wirkt als die zuvor gezeigte Aufnahme. Doch die Anwesenheit der Kamera und des Fotografen stimulierte offenbar die vermutlich schon »angeheiterten« Männer zu weiteren perfor60
mit der kamera »zu leibe rücken«
Abb. 8.
mativen Akten, wie Abb. 9 zeigt. Partielle Entblößung und Verkleidung sind Praktiken, wie sie insbesondere für Fotos vom Reichsarbeitsdienst oder vom Freizeitleben in Wehrmachtseinheiten typisch sind, die meist mit dem Stichwort »Budenzauber« umschrieben werden.22 In der letzten Aufnahme der Vierer-Serie (Abb. 10) sind die Abgebildeten nur mehr mit Rudimenten ihrer Uniform, nämlich Mützen und, in einem Fall, einer Krawatte bekleidet. Dafür wird ausgelassen musiziert, und es werden, neben der Schrifttafel, nun auch weitere Gegenstände für das Foto »ausgestellt«: ein Exemplar der Lübecker Zeitung, das schon in Abb. 9 zu sehen (dort allerdings nicht leserlich) war, sowie – vor der Schrifttafel – drei Zigarettenschachteln. Mit Blick auf die hier verfolgte Fragestellung – Herstellung von Nähe und Distanz durch das Medium Fotografie – erscheint es wichtig zu betonen, dass alle vier Aufnahmen explizit das enge, vertraute Verhältnis widerspiegeln, das zwischen Fotograf und Fotografierten bestanden haben muss: Der Fotograf war, ohne dass es zu beweisen ist, zweifellos »einer von ihnen«. Anders ausgedrückt: Die fotografische »Nähe« entspricht hier (oder basiert auf ) einer sozialen Nähe. Ohnehin bestehende Kohäsionskräfte werden durch performative Akte vor der (und auch: für die) Kamera be- und verstärkt sowie durch den fotografischen Akt gestaltet. Das Interagieren von Fotograf und Fotografierten bestimmte also die konkrete »Formgebung« der fotografischen Repräsentation, wie 61
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Abb. 9.
auch die allseitige Beteiligung am Zustandekommen der Aufnahmen als verstärkender Faktor dafür anzusehen ist, dass das ausgelassene Geschehen auf der Weihnachtsfeier qua fotografischer Repräsentation als erinnerungswürdig ausgewiesen wurde. Vollkommen ungewiss ist für alle drei in diesem Abschnitt analysierten Beispiele, also für das gerahmte Foto der Betriebsfeuerwehr der Dürener Metallwerke, die D. K.W.-Gruppenaufnahme im Postkartenformat sowie für die Vierer-Serie aus den Norddeutschen Dornier-Werken, wie ihr Status zu klassifizieren ist. Im Zentrum der Frage nach dem Status der jeweiligen Fotografien steht dabei das für die Überschrift dieses Abschnitts gewählte Begriffspaar »private« und »institutionsöffentliche« Fotografie. Entscheidend für die Einordnung von Aufnahmen in die eine oder die andere Kategorie können zwei Aspekte sein: Erstens der Aspekt der Produktion – also mit Blick auf die hier abgedruckten Bildbeispiele die Frage: Handelte es sich beim Produzenten der Aufnahme um eine professionelle Fotografin oder einen professionellen Fotografen (also etwa den Werksfotografen oder eine beauftragte externe Berufsfotografin)? Und zweitens der Gesichtspunkt des Gebrauchs der Fotografien, also deren Zirkulation und Auf bewahrung – und gegebenenfalls der Veröffentlichung. Wanderten die Abzüge (und die Negative) in ein privates Album oder ins Firmenarchiv? Zirkulierten die Abzüge nur unter den Beteiligten (also innerhalb der fotografierten Gruppe)? In diesem 62
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Abb. 10.
Sinne also wäre – idealtypisch – zu unterscheiden zwischen »privater« und »institutionsöffentlicher« bzw. »halböffentlicher« Fotografie. Doch letzten Endes erscheint für keine der drei fotografischen Überlieferungen eine eindeutige Einordnung in eine der beiden »Status«-Kategorien möglich, vielmehr sind hier die Grenzen zwischen »Privatheit« und »(Halb-)Öffentlichkeit« fließend. Noch komplizierter stellt sich die Analyse dar, wenn nicht nur eine Gruppe im Foto abgebildet ist, sondern gleich mehrere. Mit einer solchen Aufnahme (Abb. 11) sei schließlich auf bestimmte mediale und gesellschaftliche »Einbettungen«, Rahmungen und Interdependenzen, aber auch auf die Handlungsmacht von Fotografien hingewiesen. Am konkreten Bildbeispiel soll also nicht zuletzt das Zusammenspiel von fotografisch erzeugter Öffentlichkeit, fotografisch erzeugter Kohäsion und gleichzeitig fotografisch erzeugter Spannung gezeigt werden. In Abb. 11 entfaltet diese Spannung vor allem im Hinblick auf die durch das Bild repräsentierte (und zwar in perpetuierender, verstärkender Form repräsentierte) Geschlechterordnung auf heutige Betrachterinnen und Betrachter ihre Wirkung. Ungefähr zwei Drittel des Bildraums nehmen dreißig zivil gekleidete Frauen ein, von denen zwei in der ersten Reihe stehende dem Fotografen oder der Fotografin eine Fahne präsentieren, die den Schriftzug »N.S. FR LENNEP « aufweist, der im oberen Teil des Großbuchstaben F platziert 63
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Abb. 11: Gruppenaufnahme der NS -Frauenschaft Remscheid-Lennep, Düsseldorf 1933 (Fotograf: unbekannt). SW -Abzug, 6 × 9 cm, rückseitig beschriftet. Slg. Ulrich Prehn, 019.
ist, darunter im Zentrum ein Hakenkreuz. Es handelte sich offenbar um Angehörige der NS -Frauenschafts-Ortsgruppe Lennep, eines Stadtteils von Remscheid. Diese waren, so ist der rückseitigen Beschriftung des in einem Fotolabor in Lennep hergestellten Abzugs zu entnehmen, 1933 nach Düsseldorf gereist, um dort an einem »Frauenkongreß« teilzunehmen. Die dreißig Frauen präsentierten sich, in fünf Reihen angeordnet, vor und auf den untersten Stufen einer relativ hohen Treppe, also im öffentlichen Raum. Ihnen zur Seite stehen, ungefähr ein Drittel des Bildraums einnehmend, fünf SA -Männer, von denen vier ihren Blick von der Frauengruppe abgewandt haben: Drei von ihnen scheinen ein Geschehen zu betrachten, das sich (aus der Perspektive der Betrachtenden) jenseits des rechten Bildrands abspielt, während der SA -Mann, der unmittelbar rechts des Mittelgeländers steht, sein Gesicht dem rechts oberhalb von ihm postierten Kameraden zuwendet. Auch einige der Frauen (fünf oder sechs) richten im Augenblick der Aufnahme ihre Aufmerksamkeit auf das sich rechts außerhalb des Bildraums vollziehende Geschehen. Auffällig an diesem Motiv ist das eigentümliche Spannungsverhältnis zwischen beiden Gruppen: Auf den ersten Blick im Prinzip vereint durch die gemeinsame nationalsozialistische Gesinnung, stehen sie als 64
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eine überaus geschlossene und zahlenmäßig weitaus stärkere Gruppe – die NS -Frauenschaft – einerseits und als eine Gruppe von fünf locker im Bildraum verteilt stehenden SA -Männern andererseits eher abgegrenzt als sich vermischend nebeneinander. Genauer: Auf der Bildebene wirkt die Anordnung beider Gruppen so, als seien die SA -Männer der Frauenschafts-Ortsgruppe an die Seite gestellt worden als eine Mischung aus patriarchalem »Schutz« und (gleichermaßen patriarchalen) »Aufpassern« und Kontrolleuren: ein überaus beredtes Bild von der Geschlechterordnung im Nationalsozialismus, sogar unter politisch Gleichgesinnten. Die in diesem Abschnitt analysierten Gruppenaufnahmen – also die Bilder von Werksfeuerwehren beziehungsweise vom Werk-Luftschutz sowie das zuletzt analysierte NS -Frauenschafts-Foto – unterscheiden sich von den Aufnahmen aus Lubny und vom Leipziger Brühl in verschiedener Hinsicht erheblich. Angesichts jener heterogenen Einzelfotos und Fotoserien seien abschließend einige Überlegungen angestellt, die Bausteine für eine systematisierende Betrachtungsweise fotografischer Repräsentations- oder Herstellungsweisen liefern können, für die als zentrale Elemente die Spannungsfelder »Privatheit/Öffentlichkeit« sowie »Nähe/ Distanz« auszumachen sind. III . Fazit
Über die fotografische Erzeugung von »Nähe« und »Distanz« zu sprechen, erscheint nur dann sinnvoll, wenn in unsere Betrachtung die Frage einbezogen wird, in welchen Rahmen von »Öffentlichkeit« oder »Privatheit« die jeweiligen Aufnahmen einzuordnen sind, welche Strategien und Rahmenbedingungen des (fotografischen) Ins-Bild-Setzens im Nationalsozialismus also zu identifizieren sind. Der bislang überzeugendste Vorschlag zur groben Unterscheidung und Klassifizierung fotografischer Zeugnisse und Überlieferungen – ganz gleich, welcher Untersuchungszeitraum, geografischer und kultureller Kontext betrachtet wird – stammt von Ulrike Pilarczyk und Ulrike Mietzner.23 Ihr Ansatz besticht u. a. dadurch, dass er die maßgeblichen Unterschiede zwischen öffentlichen und privaten »Sphären« (das heißt: von Autorschaft, Entstehungskontexten und Gebrauchsweisen) von Fotografie(n) ebenso benennt wie Bereiche, die weniger trennscharf voneinander abgegrenzt werden können. Pilarczyk und Mietzner nennen in Bezug auf die Urheberinnen oder Urheber von Fotografien drei grundsätzliche Unterscheidungskriterien: »nach dem fotografischen Selbstverständnis der Fotografinnen und Fotografen, nach ihrer Ausbildung und 65
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dem prinzipiellen Gebrauch, den sie selbst von der Fotografie machen«.24 Wichtiger noch ist mit Blick auf die analysierten Einzelaufnahmen und Serien die von den beiden Autorinnen vorgeschlagene Differenzierung in Bezug auf die jeweilige Funktion von Fotografie – und damit auf den Status beziehungsweise Grad von Öffentlichkeit fotografischer Aufnahmen.25 Dabei betonen sie, ausgehend von der generellen medienspezifischen Vieldeutigkeit, Komplexität und Wandlungsfähigkeit der Fotografie, eine besondere Ausprägung jener Charakteristika mit Blick auf die (changierenden) Sphären von »Privatheit« und »Öffentlichkeit«: »So ist es gar nicht selten, dass Privatfotografien durch Publikationen zu öffentlichen Bildern werden, andererseits ist es auch üblich, öffentliche Fotografien privat zu verwenden.«26 Überdies erscheint es – gerade im Hinblick auf Gruppenaufnahmen – außerordentlich sinnvoll, sich die Gruppenkonstellation in den jeweiligen fotografischen Repräsentationen genauer anzuschauen: Ist hier wirklich eine geschlossene Gruppe als Einheit abgebildet? Oder zerfällt die Gruppe bei genauer Betrachtung in Binnengruppen oder kleine Handlungseinheiten, etwa was ihre Blickrichtung, Aufmerksamkeit und das Interagieren beziehungsweise das Nichtbeachten des Fotografen oder der Fotografin anbelangt?27 Gleichzeitig vergegenwärtigt die zuletzt analysierte Aufnahme (Abb. 11) auch zweierlei grundlegende Aspekte der Themenkomplexe »Fotografie im Nationalsozialismus« sowie »Fotografie und Erinnerung«: zum einen die Einnahme des öffentlichen Raumes, hier einer Großstadt, in der frühen Phase des NS -Regimes. Und zum andern eine wichtige prinzipielle Funktion von Fotografie: das Ausweisen einer bestimmten Situation oder Konstellation beziehungsweise eines Ereignisses als erinnerungswürdig. Dabei determiniert die gewählte Art der Inszenierung – hier der Gruppe(n) im öffentlichen Raum, vor der Kamera – sowie die Gestaltung durch den Fotografen oder die Fotografin, nicht nur, was erinnert werden sollte, sondern legt in starkem Maße fest, wie es erinnert werden soll.28 In Hinsicht auf die in den Medienwissenschaften und Memory Studies grundlegend gestellte Frage »Does the photographic image allow the memory to come forth, or does it actually create the memory?«29 belegt die im vorliegenden Aufsatz vorgenommene Analyse des exemplarisch vorgestellten fotografischen Materials eher letztere Annahme, wobei in Bezug auf private und institutionsöffentliche, aber auch öffentliche Fotografie in der Zeit des Nationalsozialismus nicht nur der Aspekt des Erschaffens von Erinnerung hervorzuheben ist. Vielmehr ist das Augenmerk darauf zu richten, wie und durch welche Mittel jene 66
mit der kamera »zu leibe rücken«
rungen gestaltet wurden. Die Analysekategorien »Nähe« und »Distanz« können sich dabei, wie gezeigt worden ist, auf die Aufnahmesituation (Entfernung des Fotografen von den Fotografierten) beziehen. Sie sind aber auch zu berücksichtigen, wenn das Verhältnis der vom Fotografen gewählten gestalterischen Mittel zur erzeugten Wirkung der jeweiligen Aufnahme30 diskutiert wird. In seinem Aufsatz über »Die Bilder der Macht und die Ohnmacht der Bilder« beruft sich der Sozialpsychologe Harald Welzer auf den Sprachwissenschaftler und Judaisten James E. Young sowie auf Hannah Arendt, die »schon sehr früh herausgearbeitet [habe], daß totalitäre Systeme das Ziel der vollständigen Beherrschbarkeit des Menschen erst dann erreichen, wenn die Erinnerung an die Vergangenheit vollständig durch eine selbst geschriebene Geschichte determiniert ist«.31 Allerdings rücken Fotografien wie die hier untersuchten die Vielzahl fotografischer Akteure (also Fotografinnen und Fotografen ebenso wie die – in der Fotografiersituation wenn auch häufig nur begrenzt handlungsmäch tigen – Fotografierten) in den Mittelpunkt, sodass mit Blick auf solche und ähnliche Foto-Überlieferungen nicht von Versuchen einer gleichsam monolithisch-totalitären Neuschreibung von Geschichte (im nationalsozialistischen Sinn) die Rede sein kann. Vielmehr sind die Akte der fotografisch inszenierten – und häufig auch im beziehungsweise für das jeweilige Foto performierten, »aufgeführten« – Vergemeinschaftungsund Ausschlusspraktiken vergleichend zu interpretieren: Reiht sich das vorgefundene Motiv ein in eine Genealogie von »Vor-Bildern«, also von medial vermittelten Stereotypen und Abbildungskonventionen? Oder vermittelt die Bildsprache, zumal wenn es sich um Aufnahmen von Fotoamateuren handelt, Elemente, die auf vornehmlich individuell oder als Angehörige eines bestimmten Sozialmilieus geprägte lebensweltliche Erfahrungen zurückgehen? Diese übergreifenden Fragen können anhand des diesem Aufsatz zugrundeliegenden Material-Samples selbstverständlich nur angerissen werden. Doch erscheint es plausibel und vielversprechend, »Nähe« und »Distanz« im Hinblick auf den Prozess ihrer fotografischen Erzeugung gegenüber bestimmten Menschengruppen, Sozialmilieus und Berufsgemeinschaften sowie für fotografische Quellen und die alltagsweltlichen »Begegnungen« heterogener Akteurinnen und Akteure beziehungsweise Akteursgruppen als aussagekräftige Analyse kategorien zu nutzen.
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Anmerkungen 1 Vgl. etwa das von Annette Vowinckel und Michael Wildt herausgegebene Themenheft »Fotografie in Diktaturen. Zeitgeschichtliche Forschungen« 12 (2015), H. 2; sowie das Themenheft »Photography and Dictatorships in the Twentieth Century«, das ich zusammen mit Linda Conze und Michael Wildt herausgeben habe: Journal of Modern European History 16 (2018), Nr. 4. 2 Hierzu immer noch grundlegend: Timm Starl, Knipser. Die Bildgeschichte der privaten Fotografie in Deutschland und Österreich von 1880 bis 1980, München 1995. 3 Zu diesem Aspekt vgl. meine vertiefenden Überlegungen: Ulrich Prehn, Selbst-(Re-)Präsentationen von Körperlichkeit, Geschlechter- und Genera tionenbeziehungen. Fotoalben der deutschen Jugendbewegung und der Hitler-Jugend aus den 1920er- und 1930er-Jahren, in: zeitgeschichte 49 (2022), H. 2, S. 155-183. 4 Vgl. das mit einem Vorwort von Paul Shapiro versehene Buch von Father Patrick Desbois, The Holocaust by Bullets. A Priest’s Journey to Uncover the Truth Behind the Murder of 1.5 Million Jews, New York 2008. Zur im Juni 2007 eröffneten Ausstellung »The Mass Shooting of Jews in Ukraine 1941-1944: The Holocaust by Bullets« s. memorialdelashoah.org/upload/minisites/ukraine/en/en_exposition1.htm (21.10.2021). 5 Vgl.: Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas/Stiftung Topographie des Terrors (Hrsg.), Massenerschießungen. Der Holocaust zwischen Ostsee und Schwarzem Meer 1941-1944. Katalogband zur gleichnamigen Ausstellung, Berlin 2016. 6 Die gesamte Serie (sowie eine weitere, die Vorgänge um Massenmorde von Kiew/Babyn Yar vom 29./30. September 1941 betreffende Serie) ist online abruf bar: his-online.de/archiv/bestaende/fotos-johannes-haehle/ (9.3.2022). 7 Zu den Propagandakompanien vgl. Daniel Uziel, Propaganda, Kriegsbericht erstattung und die Wehrmacht. Stellenwert und Funktion der Propaganda truppen im NS -Staat, in: Rainer Rother/Judith Prokasky (Hrsg.), Die Kamera als Waffe. Propagandabilder des Zweiten Weltkrieges, München 2010, S. 13-36; sowie Bernd Boll, Das Bild als Waffe. Quellenkritische Anmerkungen zum Foto- und Filmmaterial der deutschen Propagandatruppen 19381945, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 54 (2006), S. 974-998. 8 Vgl. Stiftung, Massenerschießungen (wie Anm. 5), S. 120. 9 Vgl. hierzu sowie zu biographischen Angaben über Hähle den Abschnitt »Der Fotograf und die Entstehung der Aufnahmen«, https://www.his-online.de/archiv/bestaende/fotos-johannes-haehle/ (9.3.2022). 10 Den Begriff prägte Susanne Regener, Fotografische Erfassung. Zur Geschichte medialer Konstruktionen des Kriminellen, München 1999, S. 16; produktiv aufgegriffen wurde er von Cornelia Brink, Vor aller Augen: Foto grafien-wider-Willen in der Geschichtsschreibung, in: WerkstattGeschichte 16 (2007), H. 47, S. 61-74.
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mit der kamera »zu leibe rücken« 11 S. Miriam Y. Arani, »Und an den Fotos entzündete sich die Kritik«. Die »Wehrmachtsausstellung«, deren Kritiker und die Neukonzeption. Ein Beitrag aus fotohistorisch-quellenkritischer Sicht, in: Fotogeschichte 22 (2002) H. 85/86, S. 97-124, S. 115. 12 Ebd., S. 116. 13 Zu Recht betonen Cornelia Brink und Jonas Wegerer: »Die Reaktionen der Betrachter müssen also nicht notwendig den Absichten des Fotografen folgen. Wer ein Foto anschaut, kann anders, anderes sehen, als der Fotograf ursprünglich zeigen wollte.« S. Dies., Wie kommt die Gewalt ins Bild? Über den Zusammenhang von Gewaltakt, fotografischer Aufnahme und Bildwirkungen, in: Fotogeschichte 32 (2012), H. 125, S. 5-14, S. 11. 14 Zur Überlieferungsgeschichte vgl. den entsprechenden Abschnitt in: »Der Fotograf und die Entstehung der Aufnahmen«, his-online.de/archiv/bestaende/ fotos-johannes-haehle/ (9.3.2022). Zu Hähles Entscheidung, die Negative nicht abzuliefern, vgl. Helmut Lethen, Der Schatten des Fotografen. Bilder und ihre Wirklichkeit, Berlin 22014, S. 188 f. 15 Ebd., S. 189. 16 Ich konnte zwei der im Rahmen einer Internetauktion angebotenen SW Abzüge im Juni 2012 ersteigern, ein drittes Foto (rückseitig beschriftet: »24 August 1938. 3 Juden beim Geschäft am Brühl in Leipzig« und mit dem gleichen Labor-Stempel versehen wie Abb. 3) wurde anderweitig verkauft. Jene dritte Aufnahme zeigt drei Männer, die vor dem Eingang des Rauchwarengeschäfts des Händlers Baruch Sender stehen, während einige Passanten auf dem Bürgersteig vor dem Schaufenster durchs Bild laufen. Die Datierung des Fotos liegt eine Woche vor der von Abb. 3 – der Fotograf hielt sich also, sofern er nicht in Leipzig lebte, länger in der Stadt auf. 17 Im Arthur Langerman Archiv für die Erforschung des visuellen Antisemitismus (ALAVA ) am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin liegen laut schriftlicher Auskunft von Carl-Eric Linsler an den Verfasser v. 10.3.2022 rund 30 Postkartenmotive zur Leipziger Messe mit eindeutig antisemitischer Botschaft oder Grundierung vor. 18 Neben den erwähnten antisemitischen Bildpostkartenmotiven hat als bedeutende »Vorbild«-Produzentin für Fotoamateure die am 8. November 1937 eröffnete antisemitische Wanderausstellung »Der ewige Jude« zu gelten, wie Hanno Loewy betont hat; vgl. Ders., Der ewige Jude. Zur Ikonografie antisemitischer Bildpropaganda im Nationalsozialismus, in: Gerhard Paul (Hrsg.), Das Jahrhundert der Bilder, Bd. 1: 1900 bis 1949, Bonn 2009, S. 542-549, hier S. 547. 19 Eine – wenn auch in einem weitaus gewalttätigeren und zumal kollektiven (Handlungs-)Zusammenhang – vergleichbare fotografische Praxis des Aufden-Leib-Rückens hat Gerhard Paul in Bezug auf den antijüdischen Pogrom in Lemberg/Lwiw vom 30.6./1.7.1941 herausgearbeitet; vgl. Ders., ›Bloodlands‹ ’41. Gewalt in Bildern – Bilder als Gewalt – Gewalt an Bildern, in: Ders., BilderMACHT . Studien zur Visual History des 20. und 21. Jahrhunderts, Göttingen 2013, S. 155-197, hier S. 176.
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ulrich prehn 20 Vgl. hierzu Elizabeth Edwards, The Thingness of Photographs, in: Stephen Bull (Hrsg.), A Companion to Photography, Hoboken 2020, S. 97-112. 21 Die US -amerikanische Anthropologin Janet Hoskins hat überzeugend argumentiert, dass bestimmte Objekte – »[…] used as a vehicle for a sense of selfhood« – in Bezug auf ihre Besitzerinnen und Besitzer eine überaus persönliche Qualität und entsprechende Funktionen für das Selbstbild als Individuum, doch nicht zuletzt auch im Hinblick auf dessen Einbindung in soziale Kontexte besitzen, wobei die (mündlich erzählten) Geschichten, die jene Objekte generieren oder evozieren, von erheblicher Bedeutung für die individuellen wie kollektiven Sinnbildungen seien. Vgl. Dies., Biographical Objects. How Things Tell the Stories of People’s Lives, New York/London 1998, S. 2. 22 Anschauliche Beispiele finden sich in dem vom Londoner Archive of Modern Conflict herausgegebenen Band: Ed Jones/Timothy Prus (Hrsg.), Nein, Onkel! Snapshots from Another Front, 1938-1945, London 2007, etwa S. 8, 20, 175, 207-209; sowie in: Ulrich Prehn, »Kriegstrauung« – »Apachentanz«: Zur Stabilisierung und Destabilisierung von Geschlechterordnungen im Ersten und Zweiten Weltkrieg durch Fotografie(n), in: WerkstattGeschichte 86 (2022), H. 2, S. 89-102, S. 94. Vgl. außerdem Martin Dammann, Soldier Studies. Cross-Dressing in der Wehrmacht, Berlin 2019. 23 Ulrike Pilarczyk/Ulrike Mietzner, Das reflektierte Bild. Die seriell-ikonografische Fotoanalyse in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften, Bad Heilbrunn 2005, S. 81-90. 24 Dadurch teile sich »das Gesamtgebiet der Fotografie in professionelle und Amateur-Fotografie«; vgl. ebd., S. 81. 25 Ebd. Pilarczyk/Mietzner unterscheiden zwischen »öffentlicher«, »halb öffentlicher« und »privater« Fotografie, wobei als ein prominentes Beispiel halb öffentlicher Fotografie der Bereich der institutionsöffentlichen Herstellung fotografischer Aufnahmen und deren Verwendung benannt wird. Vgl. ebd., S. 89 f. 26 Ebd., S. 82. 27 In genau diese Richtung hat z. B. Linda Conze in ihrer Analyse von Foto grafien von Menschenmengen und -massen anlässlich von 1.-Mai-Kund gebungen in den ersten Jahren der NS -Diktatur u. a. mit dem Begriff micro-communities argumentiert; vgl. Dies., Filling the Frame: Photography of May Day Crowds during the Early Nazi Era, in: Journal of Modern European History 16 (2018), Nr. 4, S. 463-486. 28 Vgl. hierzu Ines Nurkovic, Private Bilderwelten. Über die politische Steuerung der Amateurfotografie im Nationalsozialismus, in: Falk Blask/Thomas Friedrich (Hrsg.), Menschenbild und Volksgesicht. Positionen zur Porträtfotografie im Nationalsozialismus, Münster 2005, S. 194-200, hier S. 197; sowie Ulrich Prehn, Working Photos: Propaganda, Participation, and the Visual Production of Memory in Nazi Germany, in: Central European History 48 (2015), Nr. 3, S. 366-386, S. 384 ff. Harald Welzer wies bereits 1995 auf den Aspekt der »Überzeitlichkeit« hin, der »medial aufbewahrte[n]
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mit der kamera »zu leibe rücken« Bilder[n]« eigen sei. Diese manifestieren, so Welzer, »scheinbar authentische, in Wirklichkeit höchst artifizielle Fixpunkte in Geschehensverläufen, und damit werden sie zu Deutungsvorgaben, zu Interpretaments dafür, wie etwas war«. S. Ders., Die Bilder der Macht und die Ohnmacht der Bilder. Über Besetzung und Auslöschung von Erinnerung, in: Ders. (Hrsg.), Das Gedächtnis der Bilder. Ästhetik und Nationalsozialismus, Tübingen 1995, S. 165-194, S. 165. 29 So formulierte es der Herausgeber der Zeitschrift »Memory Studies«, Andrew Hoskins, Bezug nehmend auf die Arbeiten der Medien- und Filmwissenschaftlerin Marita Sturken; s. Andrew Hoskins, New Memory. Mediating History, in: Historical Journal of Film, Radio and Television 21 (2001), Nr. 4, S. 333-346, S. 338. 30 Dabei ist zu bedenken, dass die Wirkung von Fotografien auf verschiedene Betrachterinnen und Betrachter variieren kann. Vgl. hierzu Cornelia Brink, Bildeffekte. Überlegungen zum Zusammenhang von Fotografie und Emo tionen, in: Geschichte und Gesellschaft 37 (2011), S. 104-129. 31 Vgl. Welzer, Die Bilder der Macht (wie Anm. 28), S. 176 (Hervorhebung U. P.).
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II . Gegen-Blicke.
Jüdische Fotografinnen und Fotografen
Robert Mueller-Stahl
Selbstbestimmte Unbeschwertheit? Deutsch-jüdische Urlaubsfotografie im Nationalsozialismus. Aus einem Fotoalbum der Familie Chotzen Im Sommer 1938 verreisten Ilse Schwarz und Erich Chotzen, ein junges Liebespaar aus Berlin, in den Süden Brandenburgs, in die Nähe des Teupitzer Sees. Bekannte hatten ihnen hierzu für zwei Wochen ihr Haus überlassen. Mit dabei waren auch die Eltern von Erich Chotzen. Später kamen zwei seiner Brüder hinzu, dann noch der dritte, gemeinsam mit einem Freund, schließlich auch Ilse Schwarz’ Mutter. Ihr Vater und ihre drei Jahre ältere Schwester waren hingegen nicht Teil der Gruppe. Gemeinsam verbrachten die Gäste ihre Zeit im Haus und am See. Sie machten Spaziergänge, aßen und tranken zusammen, trieben Sport oder entspannten sich im Garten. Zwei Jahre später, im Juni 1940, verreisten Ilse Schwarz und Erich Chotzen noch einmal in das östlich von Berlin gelegene Strausberg. Dieses Mal waren sie zu zweit. Beide Urlaube sind in einem Fotoalbum festgehalten. Erich Chotzen, wie auch seine Brüder ein passionierter Amateurfotograf und Album gestalter, hat es angelegt. Dass das Album heute noch existiert, ist erstaunlich. Erich Chotzen selbst konnte sich an den Bildern nicht mehr lange erfreuen. Im November 1941 hatten Ilse und er noch in einer Berliner Synagoge geheiratet. Zwei Monate später wurden sie zusammen mit Ilses Mutter in das Rigaer Ghetto deportiert. Wie aus einer Reihe von Briefen hervorgeht, die Ilse Chotzen mit der Feldpostnummer eines deutschen Soldaten nach Berlin verschicken konnte, verstarb Erich Chotzen dort im März 1942. Die Umstände seines Todes blieben ungeklärt. Ilse Chotzens letzter Brief ist vom 14. Dezember desselben Jahres.1 Er ist das letzte Zeugnis ihres Lebens. Rückwirkend wurde ihre Ermordung auf den 31. Dezember 1942 datiert.2 Das Fotoalbum ließen sie in Berlin zurück. Wahrscheinlich übergab es das Ehepaar Erichs Mutter, Elsa Chotzen, die als gebürtige Nicht-Jüdin den nationalsozialistischen Terror und den Krieg zuhause überlebte. Nach Kriegsende versandte sie es vermutlich in die Vereinigten Staaten, 75
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wohin die Schwester von Ilse Schwarz, Ruth, emigrieren konnte, nachdem sie 1939 mit 19 Jahren zuerst nach London geflohen war.3 Heute ist das Album im Besitz ihrer Tochter, Kay Henning Danley, in ihrem Zuhause in Portland, Oregon.4 Schon in seiner Überlieferung spiegelt sich so die ganze Tragweite des Holocaust, die, so Marion Kaplan, längst nicht nur an den Ermordeten bemessen werden dürfe, sondern ebenso am Leben derjenigen, die ihm entkamen.5 Außergewöhnlich ist das Album aber nicht nur aufgrund der Geschichte, die sich im Nachhinein in seine Seiten eingeschrieben hat. Auch aus sich selbst heraus, aus dem, was es enthält und erzählt, ist es ein eindrucksvolles Dokument, denn es bildet einen Aspekt des jüdischen Lebens in Deutschland ab, der zum Ende der dreißiger Jahre kaum mehr vorstellbar schien: Urlaub zu machen. Eindrucksvoll ist das Album dabei vor allem, weil es inmitten eines absoluten Ausnahme zustands, einer praktisch allumfassenden Bedrohung, Anfeindung und Entrechtung eine scheinbar unberührte Normalität darstellt. Dabei waren der Alltag und die Lebensentwürfe der Chotzens und Ilse Schwarz’ durch die nationalsozialistische Verfolgungspolitik über Jahre hinweg sukzessive zerrüttet worden. Erichs ältester Bruder Joseph Chotzen war aufgrund seiner Gewerkschaftstätigkeiten bereits im Februar 1933 zur Kündigung gezwungen worden. Wenige Monate später wurde er verhaftet und tagelang im Gestapogefängnis und späteren Konzentrationslager Columbia-Haus in Berlin-Tempelhof interniert.6 Im selben Jahr musste Erich Chotzen 16-jährig das Gymnasium verlassen. Als er drei Jahre später Ilse Schwarz kennenlernte, war er bereits aus mehreren niedrigen Anstellungsverhältnissen entlassen worden, nachdem die Betriebe »arisiert« worden waren. 1936 verlor schließlich auch Erichs Vater, Josef Chotzen, seine langjährige Beschäftigung als Abteilungsleiter einer Textilproduktion.7 Die finanzielle Lage der Familie, das belegt ein akribisch geführtes Haushaltsbuch von Elsa Chotzen, wurde fortan immer prekärer.8 Auch in ihrem Wilmersdorfer Wohnumfeld waren die Chotzens zunehmend eingeschränkt und bedroht. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten, erinnerte sich Joseph Chotzen später, sei kaum ein Haus nicht mit dem Hakenkreuz beflaggt gewesen.9 Die Chotzens wurden fortan immer wieder schikaniert. Vermutlich mehrmals warfen Nachbarn die Fensterscheiben ihrer Wohnung ein.10 Auch der Sport, neben der Fotografie die eigentliche Leidenschaft der Brüder, wurde 1933 umgehend gleichgeschaltet.11 Ihren langjährigen Verein mussten sie in der Folge zwar nicht umgehend verlassen. 1937 aber, das geht aus einem anderen Fotoalbum aus dem familiären Nachlass hervor, waren alle vier 76
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der »Jüdischen Sportgemeinschaft 1933 Berlin« beigetreten.12 In Reaktion auf den Ausschluss jüdischer Athletinnen und Athleten aus dem deutschen Sportbetrieb gegründet, gehörte sie zu den größten Vereinigungen des Schild-Verbandes, dem sportlichen Zweig des Reichsbunds Jüdischer Frontsoldaten.13 Im darauffolgenden Jahr, in dem die Chotzens an den Teupitzer See fuhren, hatte sich ihre Lage noch einmal dramatisch zugespitzt. Josef Chotzen und seine Söhne wurden zur Zwangsarbeit rekrutiert.14 Auch die Gestaltung einer »Freizeit« abseits der Arbeit war ihnen nur noch äußerst eingeschränkt möglich. Der jüdische Sportverein, dem die Brüder erst im Jahr zuvor notgedrungen beigetreten waren, wurde 1938 verboten und aufgelöst. Die Brüder fuhren fortan viele Male in das HachscharaZentrum »Gut Winkel« in Fürstenwalde, in dem jüdische Jugendliche seit 1933 auf die Auswanderung nach Palästina vorbereitet wurden.15 Ohne selbst an dem zionistischen Auf bauprogramm teilzunehmen, konnten die Brüder gemeinsam mit den Auszubildenden Sport betreiben. Ein geregelter Wettbewerbsbetrieb aber, der in den Jahren davor gerade durch seine Regelmäßigkeit das Aufleben und Fortbestehen einer jüdischen Gemeinschaft verheißen hatte, war so nicht mehr möglich.16 Auf den Fotografien des Albums ist von all dem erst einmal nichts zu sehen. Abgebildet sind Szenerien, die in gewisser Weise quer stehen zu den Erwartungen, die mit den jüdischen Lebenswelten im Nationalsozialismus verknüpft werden. Die Freude und Leichtigkeit, die zur Schau gestellt sind, fügen sich nicht recht ein in das Wissen um die Ausgrenzung, Bedrohung und Gewalt, die auch die Chotzens als Juden fortwährend erfuhren. Eben hierhin liegt die Irritation der Aufnahmen. Sie bildet den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen. Denn es stellt sich die Frage, welche Erkenntnisse man gewinnen kann: Was können die Fotos und ihr Arrangement im Album jenseits der abgebildeten Personen und Schauplätze über die Bedeutungen erzählen, die der Urlaub für Jüdinnen und Juden nach 1933 haben konnte – und damit auch darüber, wie die Verfolgten den nationalsozialistischen Terror erlebten? In meiner Analyse ist das Album mehr als eine schlichte Dokumentation der Urlaube. Vielmehr ermöglichten die Fotografie und ihre nachträgliche Zusammenstellung den Chotzens eine bewusste Rahmung und Reflektion ihrer Erfahrungen im nationalsozialistischen Deutschland. So war die Kamera im Garten des Hauses ein integraler Bestandteil einer bewussten Inszenierung von Öffentlichkeit. Außerhalb der Unterkunft hingegen kehrte sich der Fluchtpunkt des fotografischen Selbstentwurfs geradewegs um. Inmitten der umliegenden Landschaft diente die Fotografie Ilse Schwarz und Erich Chotzen weniger zum Festhalten 77
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eines repräsentativen bürgerlichen Auftretens als zur Fixierung ihrer innigen Beziehung. Inmitten eines Umfelds, das ihnen als Juden ihre Zugehörigkeit, ja ihre Menschlichkeit immer mehr abgesprochen hatte, erlaubte die Fotografie, eben dies zu bewahren.
Urlaubsbilder im Kontext der deutsch-jüdischen Geschichte Lange Zeit stand die Geschichtswissenschaft, wie überhaupt weite Teile der intellektuellen Kulturkritik, dem Urlaub eher skeptisch gegenüber. In einem emblematischen Beitrag für den Merkur von 1958 beschrieb Hans Magnus Enzensberger den Urlaub als eine »Fluchtbewegung aus der Wirklichkeit«.17 Dabei schien ihm der eskapistische Impuls des Verreisens durchaus redlich. Letztlich sei er jedoch vergeblich, denn sein Wesen beruhe auf der zeitlichen Begrenzung. »Indem wir auf die Rückfahrkarte in unserer Tasche pochen«, schloss er, »gestehen wir ein, daß Freiheit nicht unser Ziel ist, daß wir schon vergessen haben, was sie ist.«18 Über viele Jahre war Enzensbergers analytischer Determinismus wegweisend für die historiografische Annäherung an das Verreisen. Und mehr noch für ihr Ausbleiben.19 Erst in den neunziger Jahren begann sich die Geschichtswissenschaft in neuer Weise auf den Urlaub einzulassen. Ausgehend von Anthropologen wie James Clifford, die das Unterwegssein als eine Grunderfahrung der Moderne beschrieben, wandten sich auch Historikerinnen und Historiker den sozialen Funktionen und Bedeutungen des Reisens aus neuer Warte zu.20 Rudy Koshar etwa erkannte im Verreisen eine Möglichkeit, moderne Erfahrungen von Entfremdung in durchaus angenehmerer Weise zu verstehen und zu verhandeln.21 Seither haben Historikerinnen und Historiker immer wieder gefordert, das Verreisen jenseits eines flüchtigen Eskapismus(versprechens) auf der einen und eines reinen Distinktionsakts auf der anderen Seite zu betrachten. Vielmehr, das haben jüngere Studien hervorgehoben, sei es eine offene, vielschichtige und damit ernstzunehmende Praxis. Auch wenn die Pfade selbst immer tiefer eingeebnet seien, könnte das Verreisen doch stets unterschiedliche, auch unerwartete Eindrücke und Erfahrungen erzeugen.22 Der Fotografie kam hierbei eine besondere Bedeutung zu. Ihre rasante Verbreitung ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verlief nicht einfach parallel zum Aufkommen des modernen Tourismus. Ihre Aufstiege bedingten sich gegenseitig. So stellte das Reisen von Beginn an eines der zentralen Motive der Fotografie dar. Umgekehrt war, wie John Urry 78
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und Jonas Larsen argumentiert haben, die Kamera der wichtigste technologische Wegbereiter eines distinkten »touristischen Blickes«.23 Die Kamera, so Hasso Spode, strukturierte, sie leitete die Wahrnehmung der Reisenden, die wie selbstverständlich zu Aussichtspunkten hinaufstiegen, um zu beglaubigen und festzuhalten, was die Ansichtskarten schon im Vorhinein versprochen hatten.24 Aus eben dieser Verquickung heraus hat Susan Sontag eine scharfe Polemik gegen die Urlaubsfotografie abgeleitet. »Als Mittel zur Beglaubigung von Erfahrung verwandt, bedeutet das Fotografieren aber auch eine Form der Verweigerung von Erfahrung.« Anstatt sich auf das Andere einzulassen, und damit gleichsam etwas über sich zu lernen, so Sontags Vorwurf, suchten moderne Touristinnen und Touristen ihre Umgebung nur mehr nach fotogenen Motiven ab: »stehenbleiben, knipsen, weitergehen«.25 Die Macht der Kamera entspreche so der Ohnmacht ihrer Akteure. Martha Langford hat Sontag entgegengehalten, dass ihr Rundumschlag gegen die schier endlose Flut an Fotografien, die der Massentourismus der Nachkriegsjahrzehnte zweifelsohne hervorbrachte, die erzählerischen Möglichkeiten übersehe, die im Kleinen zwischen ihnen entstanden. Ihr Lamento der vermeintlich ewiggleichen Urlaubsbilder verkenne die erzählerische Vielfalt, die durch ihr Arrangement gerade in privaten Alben entstehe.26 Das Fotoalbum, so Langford, diene schließlich nicht weniger einer allgemeinen, indifferenten Repräsentation des Urlaubs als umgekehrt: Der Urlaub werde zum Gegenstand, durch den ein weiterführendes und zutiefst persönliches Narrativ entfaltet werden könne.27 Die Bedeutungen des Urlaubs in der deutsch-jüdischen Geschichte aber standen zumeist außerhalb solcher Überlegungen. Sie blieb ein separates Forschungsfeld. In gewisser Weise spiegelt sich hierin eine historische Wirklichkeit. Wie Frank Bajohr gezeigt hat, erfuhren Jüdinnen und Juden in nord- und ostdeutschen Urlaubsorten schon im Kaiserreich eine derart massive Anfeindung, dass eigens hierfür der Begriff des »Bäder-Antisemitismus« aufkam.28 Dabei war es nicht nur die Dichte seines Vorkommens, die ihn von anderen Formen des Antisemitismus unterschied. In Borkum und anderen Badeorten »ging es nicht allein um rechtliche Diskriminierung oder wirtschaftliche Ausplünderung, sondern um den Ausschluss der jüdischen Gäste«29 per se. Die Chotzens erfuhren dies ganz unmittelbar. Als Erichs Bruder Hugo-Kurt 1938 in das Seebad Ahlbeck an der Ostsee fuhr, fand er, wie in einem weiteren Fotoalbum zu sehen ist, einen mit Hakenkreuz-Fahnen übersäten Strand vor.30 79
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In den vorangehenden Jahren hatten sich jüdische Deutsche hierauf in vielfältiger Weise zur Wehr gesetzt. Wie Jacob Borut dargelegt hat, begann der Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV ), seit dem späten 19. Jahrhundert die größte Vereinigung des bürgerlich-liberalen Judentums in Deutschland, nach dem Ersten Weltkrieg, eigene Orts- und Gaststättenverzeichnisse für jüdische Urlaubsgäste anzulegen.31 Basierend auf einem mühseligen und konfliktreichen Aushandlungs- und Abwägungsverfahren konnten sich die Leserinnen und Leser der CV -Zeitung so im Vorhinein über das Risiko einer Anfeindung informieren.32 Als der Bäderantisemitismus nach 1933 eine gänzlich neue Qualität erreichte, sah sich der CV außerstande, seine »Warnlisten« fortzuführen. An seine Stelle traten jüdische Reisebüros, die nicht mehr über jüdische No-go-Areas informierten, sondern umgekehrt Auskunft darüber gaben, wo jüdische Gäste noch willkommen waren.33 Dabei blieb die Ausgrenzung von Jüdinnen und Juden mitnichten auf die nord- und ostdeutschen Küstenstriche begrenzt. Die Alpen, der zweite zentrale Fixpunkt des modernen Tourismus, waren ebenso anti semitisch geprägt. Der Deutsche und Österreichische Alpenverein, der seit dem 19. Jahrhundert maßgeblich für die Anlage von Wanderwegen und den Betrieb der Hütten verantwortlich war, schloss als einer der ersten großen Freizeitverbände schon zu Beginn der zwanziger Jahre vielerorts jüdische Mitglieder aus.34 Durch diskriminierende Schilder und Fahnen stellten zahlreiche verbandseigene Berghütten ihren Antisemitismus offen dar. Die Alpen, an deren Erschließung Jüdinnen und Juden von Beginn an ganz maßgeblich beteiligt waren, waren so schon lange vor 1933 ein nicht minder »prekäres Territorium«.35 An dem alljährlichen Urlaub als fester Bestandteil des bürgerlichen Kalenders änderte sich auch nach 1933 erst einmal wenig. Zwar verschob und verengte sich die Infrastruktur des jüdischen Verreisens zumal innerhalb Deutschlands massiv. Selbst ein Ort wie Norderney, einstmals als »jüdische Insel« bekannt, rühmte sich nun offiziell damit, »judenfrei« zu sein.36 Die Fahrt der Chotzens an den Teupitzer See steht insofern am Ende einer langen, sich sukzessive zuspitzenden Restriktion jüdischer Erholungsmöglichkeiten. Dass die Familien etwa in relativer Nähe, im Haus von ebenfalls jüdischen Bekannten, unterkamen, liegt auch daran, dass sie kaum eine andere Wahl hatten. Die touristische Infrastruktur war 1940 vollständig »arisiert«.37 Ein gewöhnlicher Urlaub war Jüdinnen und Juden längst nicht mehr möglich. Dennoch: Auch wenn die Räume immer kleiner wurden, Jüdinnen und Juden fuhren auch nach 1933 in den Urlaub. Was sich indes veränderte, waren die Bedeutungen, die den Ferien zukamen. Gerade die private Fotografie vermag das zu verdeutlichen. 80
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Wie Ofer Ashkenazi und Guy Miron argumentiert haben, war das wiederholte Aufgreifen klassischer Urlaubsmotive eine Möglichkeit, über den Umbruch von 1933 hinweg visuelle Beständigkeit herzustellen. Dabei waren die Urlaubsalben deutscher Jüdinnen und Juden mitnichten Zeugnisse einer trügerischen Illusion, in denen Kontinuitäten konstruiert wurden, die jenseits der Bilder kaum zu finden waren. Vielmehr, so Ashkenazi und Miron, schuf der Urlaub einen Raum, in dem Jüdinnen und Juden zumindest vorübergehend dem Status und der Zuschreibung »als Juden« entfliehen und stattdessen ihre mittelständische Zugehörigkeit demonstrieren konnten. Am Strand oder in den Bergen, das machen die Fotos deutlich, konnten Jüdinnen und Juden an ein Früher anknüpfen, es visuell für sich behaupten, das ihnen zu Hause längst verwehrt war.38 Auch das Album der Chotzens bestätigt dies. Dabei enthalten die Bilder selbst keinerlei unmittelbare Bezüge zur Herkunft und Zugehörigkeit ihrer Protagonisten. Wozu auch? Es ist ein familiäres Urlaubsalbum, in dem sich alle Beteiligten wohlbekannt waren. Erst in der Rückschau von heute – einer Rückschau, die auch das Wissen um die Überlieferung und die Hintergründe seiner Akteure einschließt – kann das Album als Teil einer »jüdischen« Geschichte erscheinen. Dabei geht es dezidiert nicht darum, in einem essenzialisierenden Sinne das »Jüdische« in den Bildern auszumachen. »Jews«, so Sarah Wobick-Segev, »frequently photographed like non-Jews.«39 Denn selbst dort, wo die Hinweise auf einen jüdischen Kontext, sei es in Form von Orten oder Symbolen, ersichtlich sind, bleibt die Frage, was dies für die Fotografie selbst bedeutet. Ein »jüdischer Blick« jedenfalls, wie er für die Autorenfotografie des 20. Jahrhunderts weithin diskutiert wurde und wird, findet sich in der zumeist um Konvention bemühten Privatfotografie nicht wieder.40 Dennoch, so Wobick-Segev weiter, »specific photos and albums can reveal a particularly Jewish standpoint when we factor in the context in which the photograph was taken and understand the tensions and dissonances associated with specific photographic acts.«41 Entscheidend dafür ist, so die These, die fotografische Konstruktion von Privatheit und Öffentlichkeit. Als eine Praxis, die an der Schnittstelle von innerfamiliärem Ereignis und gesellschaftlicher, zumindest aber bürgerlicher Routine stattfand, verschob sich ihre Bedeutung mit dem Wandel dieser Kategorien. Entgegen älterer Studien, die das Private im Nationalsozialismus als dezidiert losgelöst von einer öffentlichen und politischen Sphäre betrachteten, haben jüngere Forschungen auf die gegenseitige Durchdringung hingewiesen.42 Das Private sei in diesem Sinne kein fester Ort, der an der Haustür und am Gartenzaun ende, 81
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sondern ein Konstrukt, das erst in Relation zum Öffentlichen entstehe.43 Auch, ja gerade, wenn die Akteure selbst beides voneinander getrennt wissen wollten.44 Der Fotografie kam dabei eine zentrale Funktion zu. Sie erlaubte es den Protagonisten vor wie hinter der Kamera, die Räume um sie herum für sich zu bestimmen. Die Wahl eines Ausschnittes, die Haltungen und Posen der Protagonisten, schließlich die spätere Anordnung und Platzierung des Bildes: All dies war Ausdruck einer räumlichen Aneignung. Im Fotoalbum, so Leora Auslander, wurde das Private nicht festgehalten, sondern selbst erschaffen.45 Dass die private Fotografie dabei nur selten ausgefallen und experimentell war, schmälert ihre Aussagekraft keineswegs, im Gegenteil. Konformität, so Geoffrey Batchen, sei kein Manko der Knipserfotografie, sondern ihr bewusster Maßstab. Visuell und politisch unterliege sie einer Ökonomie des »same but different«.46 Wenngleich eine zutiefst individuelle Praxis, war die private Fotografie stets an kollektive Vorbilder gebunden. Die Vorstellung, wie etwa ein gelungenes Urlaubsbild auszusehen hatte, schlug sich in der privaten Fotografie unmittelbar nieder. Sie wurde nachgeahmt, übertragen oder auch bewusst gebrochen. Immer aber setzte sie den Einzelnen in Bezug zur Gesellschaft. Das Private, kurzum, war weniger ein Fakt als eine Frage der Perspektive.
Der Garten als Bühne Das Album von Erich Chotzen macht dies in komplexer Weise deutlich. Dabei ist es vergleichsweise schmal und kompakt. Gerade einmal 38 Fotos sind auf insgesamt 13 Seiten verteilt. In zeitgenössisch typischer Weise sind die Aufnahmen auf schwarzes Papier geklebt und mit weißer Schrift kommentiert. Zumeist sind es drei Bilder pro Seite, die in unterschiedlicher Weise angeordnet sind. Die meisten haben einen Büttenrand. Einzig auf den letzten drei Seiten sind einige Aufnahmen mit glattem Rand eingeklebt. Sie sind auch nicht mehr während des familiären Urlaubs von 1938 entstanden, sondern noch einmal zwei Jahre später, im Zuge einer weiteren Urlaubsreise ins brandenburgische Strausberg, die Erich Chotzen und Ilse Schwarz zu zweit unternahmen. Die letzte Seite enthält schließlich drei Aufnahmen, die Erich und Ilse jeweils einzeln und als Paar auf offener Straße in einem großstädtischen Umfeld zeigen, vermutlich in Berlin. Das Gros des Albums aber ist in und um Strausberg entstanden. Der familiäre Urlaub ist das eigentliche Thema des Albums. 82
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Abb. 1: Fotoalbum Erich Chotzen und Ilse Schwarz, Privatbesitz Kay Henning Danley, S. 3.
Der zentrale Schauplatz ist das Haus. Die Familie Friedländer, Freunde der Chotzens, gab ihnen, wie es gleich auf der zweiten Seite heißt, hier »in dankenswerter Weise für 14 Tage Unterkunft«. Das Bild rechts darüber ist schräg vor dem Haus aufgenommen. Darauf sind der offene Eingangsbereich, zwei Seiten des Hauses und Ansätze des Gartens zu sehen. Der Bereich vor dem Haus ist hingegen nicht abgebildet. Einzig die Zweige eines Baumes ragen von links in das Bild. Ob es zwischen anderen steht oder abgelegen und für sich, ob es an einer Straße liegt oder an einem Feldweg, bleibt offen. Überhaupt ist das Haus in keiner Weise in seine Umgebung eingebettet. Auf einer der hinteren Seiten erfährt man lediglich, dass es in einiger Entfernung vom See liegt. Mehr aber auch nicht. Das Haus der Friedländers erscheint im Album nicht als Teil einer Landschaft, erst recht nicht einer Ortschaft, sondern als ein eigener, von seiner Umwelt losgelöster Raum. Wann der Urlaub aber stattfand, bleibt im Album selbst ungewiss. Die Fotos enthalten keinerlei Anhaltspunkt über das Datum ihrer Entstehung. Dass sie im Sommer 1938 aufgenommen wurden, lässt sich einzig anhand eines anderen Fotoalbums aus der Sammlung der Chotzens ableiten, in dem einige Abzüge derselben Fotos eingeklebt sind, diesmal 83
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mit einer Datierung versehen. Im Urlaubsalbum von Erich Chotzen aber fehlen solche Verweise. Die erste und einzige Jahreszahl ist im hinteren Abschnitt zu Strausberg eingefügt. Das Haus am Teupitzer See steht so buchstäblich außerhalb der Zeit. Blättert man eine Seite weiter, hat sich das Geschehen von der Vorderauf die Rückseite verlagert, in den Garten des Hauses. Er ist das eigentliche Zentrum des Albums. 18 der 29 Aufnahmen des Urlaubs sind hier entstanden. Oft füllen sie die ganze Seite aus. Hier sind auf der dritten Seite drei Fotos treppig nach unten montiert: oben links Ilse Schwarz, in der Mitte Erichs Eltern, unten rechts Ilse Schwarz und Erich, Arm in Arm. »Mutti und Papa kamen mit, um auf uns beide aufzupassen«, hat Erich die Bilder kommentiert. Er spielt darauf an, dass das junge Liebespaar im Urlaub nicht allein war. Es ist also gerade das Fehlen einer Privatsphäre, das hier augenzwinkernd angesprochen wird und das einen Schlüssel zum Verständnis der Bilder liefert. Besonders die unteren beiden Fotos sind hier aufschlussreich. Die Kamera ist jeweils aus mittlerer Höhe auf sie gerichtet. Bis auf Erich Chotzen schauen alle zu ihr hin, doch auch er ist sich ihrer Anwesenheit bewusst. Die Paare laufen geradewegs auf sie zu, doch tun sie dies ohne jede Zielstrebigkeit und Hektik. Ihren Haltungen wohnen Dynamik und Entschleunigung gleichermaßen inne. Auf diese Weise erinnern die Bilder weniger an typische Szenerien aus der eigenen Unterkunft als an das Promenieren durch den Park oder Urlaubsort. Es sind Aufführungen eines Spaziergangs. Der Garten des Hauses bekommt so den Charakter eines öffentlichen Raumes. Das obere Bild hingegen scheint vordergründig mit dem bürgerlichen Repräsentationsgestus der unteren Aufnahmen zu brechen. Ilse Schwarz hat sich auf dem Boden des Gartens hingehockt, als würde sie sich ausruhen oder auf etwas warten. Verglichen mit den überlegten, womöglich gemeinsam vorbereiteten Flanieraufnahmen wirkt es weit weniger inszeniert. Ob sie sich der Aufnahme bewusst ist, kann nur vermutet werden. Ebenso bleibt der Zusammenhang der Aufnahme, der Grund für Ilse Schwarz’ Innehalten, vollends verborgen. Eben darin liegt aber der Witz des Bildes. Obwohl es ein Schnappschuss ist, hat es nichts Entlarvendes, Vorführendes an sich. Ihre wartende Haltung bildet keinen Kontrast zur herausgestellten Bewegung der unteren Bilder. Vielmehr erscheint sie als performativer Bestandteil dessen. Gerade der spontane, scheinbar unbeobachtete Charakter der Aufnahme unterstreicht die Bedeutung des bürgerlichen Auftretens als fotografischem Thema. Es ist die Rast, die zum Spaziergang dazugehört, die Pause, die den Umfang der Aufführung erst erahnen lässt. 84
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In all dem aber, das ist entscheidend, ist der Garten des Hauses immer präsent. Dies aber nicht, weil es schlicht unvermeidbar gewesen wäre, sich das private Refugium bei aller Mühe – und allem fotografischen Knowhow – letztlich nicht als Promenade darstellen ließ. Durchweg sind Pflanzen und Pfade, Holzhütte und Hausfassade ein sichtbarer, bewusst integrierter und genau umschriebener Bestandteil der Bilder. »Dieser hübsche Garten gehört zum Haus«, heißt es etwa auf dieser Seite. »Im Hintergrund sehen wir die Gartenlaube« auf einer der folgenden Seiten. Das ist bemerkenswert, denn durch die Akzentuierung der Umgebung entsteht eine visuelle Dissonanz zwischen dem abgeschlossenen, fast arkanen Ort und dem umtriebigen, expressiven Auftreten seiner Gäste. Wozu die Inszenierung, wo das Publikum doch scheinbar fehlt? Vielleicht gerade deswegen. Auch im Urlaub waren die Chotzens weitgehend abgesondert. Anstatt aber die relative Isolation ihres Umfelds zu vertuschen und sie fotografisch auszublenden, oder aber sich ihr zu ergeben und sich visuell in sie einzufügen, stellen die Aufnahmen die Abgeschiedenheit des Ortes bewusst heraus – um sie im gleichen Augenblick performativ zu brechen. Durchweg erscheinen Haus und Garten als abgeschlossener, von seiner Umgebung losgelöster Raum. Das Auftreten der Gäste aber fügt sich hierin nicht ein. Auf den Bildern erscheinen sie nie als Eingeschlossene, im Gegenteil: Stets sind sie tätig, beschäftigt, selbst die Erholung ist in erhabener Pose abgebildet. Und dort, wo es nicht so ist, macht gerade dieser Bruch den Witz der Aufnahme aus. Es ist eine Aufführung bürgerlicher Repräsentationspraktiken – und damit von lang vorenthaltener Normalität –, die buchstäblich erst vor ihrem Hintergrund ihre spezifische Bedeutung bekommt. Denn erst die fotografische Fokussierung auf Haus und Garten bewirkt, dass das Auftreten der Gäste nicht als bloße Imitation der entsagten Freiheiten erscheint, sondern als performatives Spiel mit ihnen. Die Normalität in einem Ausnahmezustand wird weder ausgeblendet, noch wird sie blind behauptet. Im Album wird sie subtil hergestellt. Und gerade dadurch selbstbestimmt. Die Aufnahme der sitzenden Ilse Schwarz aus dem Garten des Hauses lässt sich noch in einer zweiten, gewissermaßen gegensätzlichen Weise lesen. Betrachtet man das Bild im Kontext seiner Platzierung auf der Seite, scheint es weniger im harmonischen Einklang mit den unteren beiden Aufnahmen als in einer subtilen Spannung, zumindest aber einer visuellen Distanz zu ihnen zu stehen. Aus der oberen linken Ecke heraus ist Ilse Schwarz’ Blick geradewegs auf die beiden Paare – sie selbst und Erich Chotzen und knapp darüber dessen Eltern – gerichtet. So gesehen 85
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erscheint sie weniger als Teil der gemeinsamen Aufführung bürgerlicher Öffentlichkeit denn als dessen außenstehende Beobachterin. Die zwei Wochen am Teupitzer See waren von großer Geselligkeit geprägt. Die fortwährende Ankunft weiterer Gäste ist ein strukturbilden des Element der Albumerzählung. Immer wieder trafen neue Familien mitglieder, Freunde und Bekannte ein. Mindestens neun Personen kamen im Laufe des zweiwöchigen Aufenthaltes im Haus zusammen. Bei aller Weitläufigkeit, die Haus und Garten boten, lässt die fotografische Herausstellung des repräsentativen Auftretens so zugleich auch den Mangel eines Rückzugsraums erahnen. Tatsächlich setzt sich das repräsentative Schauspiel außerhalb des Hauses und seines Gartens nicht fort. Zwar ist die Mehrzahl der Fotos im Garten des Hauses aufgenommen. Aus den verbleibenden Bildern lässt sich jedoch zweifelsfrei rekonstruieren, dass zumindest die jüngeren Gäste bisweilen auch längere Wege auf sich nahmen, um etwa zur, wie es vier Seiten weiter im Album heißt, »leider etwas sehr weit ab« gelegenen Badestelle am Teupitzer See zu gelangen. Auf gleich mehreren Aufnahmen sind ihre Ausflüge dorthin abgebildet. Sie zeigen die Urlauberinnen und Urlauber am Ufer des Sees und beim Rudern, während eines Spaziergangs entlang einer Allee und beim Handball-Spielen auf einer weiten Lichtung. Der repräsentative Gestus ist aus den Bildern gewichen. Der Raum abseits von Haus und Garten erscheint hier nicht als verlagerte Bühne für ein und dieselbe Aufführung bürgerlicher Öffentlichkeit. Vielmehr hat sich die Funktion der Fotografie selbst verschoben. Ihr visueller Referenzpunk ist ein anderer. So sind etwa keinerlei Sehenswürdigkeiten aufgeführt. Aufnahmen landschaftlicher oder historischer Fixpunkte, die gemeinhin ein zentrales Moment der Urlaubsfotografie bildeten, sind nirgends zu finden. Überhaupt ist kein Bild einer umliegenden Ortschaft zu sehen. Jegliches Anzeichen einer Teilhabe an touristischen Konsumgütern, an Geschäften, Cafés oder Restaurants fehlt. Nur auf einer Seite sind in einiger Entfernung an einer Badestelle Fremde zu erahnen. Doch auch hier deutet nichts auf eine vorangehende oder künftige Interaktion hin. Stattdessen unterstreichen mehrere Aufnahmen, die die Chotzens beim Kochen oder Wasserpumpen zeigen, den autarken Charakter ihrer Urlaubsgemeinschaft. Das hatte gewiss pragmatische Gründe. Jedes öffentliche Auftreten barg, zumal in der Provinz und zumal mit einer Kamera, das Risiko der Entdeckung und Anfeindung. Gleichzeitig finden sich in der Sammlung der Chotzens häufig Fotografien aus den späten dreißiger Jahren, die die Brüder an ganz unmittelbar öffentlichen Orten aufnahmen, vor dem 86
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Brandenburger Tor, am Heidelberger Platz oder Unter den Linden. Die Kamera war in diesen Fällen kein Multiplikator der Bedrohung, sondern im Gegenteil: ein Aktant der Versicherung. Mit ihr konnten die Berliner Juden als unauffällige Touristen erscheinen. Unter den hier versammelten Bildern aus dem Berliner Umland ist gleichwohl keine derartige Aufnahme zu finden. Was immer es »zu sehen gab«,47 in diesen Fotos war es sekundär.
Intime Landschaften Bedeutungslos ist die Landschaft außerhalb des unmittelbar privaten Raumes dabei keineswegs. Besonders deutlich wird das im zweiten Abschnitt des Albums. Die letzten drei Seiten sind nicht mehr am Teupitzer See aufgenommen, sondern zwei Jahre später bei Strausberg im Osten von Berlin. Ilse Schwarz und Erich Chotzen verbrachten hier, wie es einführend heißt, »noch ein paar wunderschöne Tage«; dieses Mal, wie es scheint, tatsächlich zu zweit. Auch hier ist der Ort selbst kein Gegenstand der Aufnahmen. Wäre es nicht Erich Chotzens nachträgliche Eintragung, es ließe sich kaum erahnen, wo sie sich aufhielten. Die Seite enthält auch eine Datierung: »Juni 1940«. Womöglich schrieb Erich Chotzen sie dazu, weil die dabei entstandenen Fotos an keiner anderen Stelle in der familiären Sammlung auftauchen. Anders als der Urlaub am Teupitzer See zwei Jahre zuvor, der in mindestens einem anderen Album abgebildet ist, standen die »wunderschönen Tage« in Strausberg außerhalb der gemeinschaftlichen Erinnerung. Erst durch die Aneinanderreihung im Album wurden sie zum Teil davon. Die Datierung erfüllt insofern zwei Funktionen: Sie half, die Bilder auch rückblickend für diejenigen verständlich zu machen, die selbst nicht dabei gewesen waren. Eben dadurch markierte sie aber zugleich eine Differenz zum vorangegangenen, familiären Urlaub. Die zeitliche Einordnung erzeugte eine gleichsam persönlichere Rahmung der zu zweit verlebten Urlaubszeit. Dabei bleibt die Unterkunft selbst weitgehend unbestimmt. Ein Kommentar von Erich Chotzen deutet zwar darauf hin, dass das Paar abermals bei Bekannten unterkam. Das dazugehörige Bild zeigt Ilse Schwarz beim Bedienen einer privaten Wasserpumpe. Der Garten, in dem sie steht, bleibt aber weitestgehend unsichtbar. Die restlichen Bilder schließlich sind allesamt außerhalb der Unterkunft aufgenommen. Auf ihnen sind Ilse Schwarz und Erich Chotzen, 87
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Abb. 2: Fotoalbum Erich Chotzen und Ilse Schwarz, Privatbesitz Kay Henning Danley, S. 12.
jeweils einzeln, am Ufer eines nahegelegenen Sees zu sehen, oder aber, wie auf dieser Seite, inmitten einer weiten und idyllischen Landschaft. Während Ilse in einiger Entfernung in einem Feld steht und geradewegs in die Kamera blickt, hat sich Erich, ein Buch in der Hand, auf einer Decke niedergelassen. Die Aufnahme wirkt ausgeruht und arrangiert. Das Verhältnis von Vorder- und Hintergrund ist genau ausstaffiert. Nichts scheint zufällig. Durch die versierte Aufteilung von Himmel und Hügeln erscheint die Landschaft im Bild ausgesprochen pittoresk. Und auch Erich, wenngleich augenscheinlich anderweitig beschäftigt, wirkt keineswegs überrascht von der Aufnahme. Die Aufnahme von Erich Chotzen lässt sich in einer kulturgeschichtlichen Tradition bürgerlicher Landschaftsaneignung verorten, in der Protagonist und Landschaft, Kultur und Natur in einer betont harmonischen, einander verbundenen Art und Weise abgebildet sind.48 Und doch ist seine Wirkung eine andere. Erich Chotzens Blick ist weder auf das Panorama um ihn gerichtet noch in das Buch vor ihm, sondern geradewegs zu Ilse Schwarz. Es ist die Interaktion zwischen ihm und ihr, die das eigentliche Zentrum des Bildes ausmacht. Nicht Mensch und Natur werden hier in Beziehung gesetzt, sondern Fotogra88
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fin und Fotografierter. Die Umgebung tritt demgegenüber buchstäblich in den Hintergrund. Sie gerät zur Kulisse. Die obere Aufnahme verstärkt diesen Eindruck einmal mehr. Der Horizont ist in einer merklichen Schieflage. Das mag einem Zufall geschuldet sein, eine Unachtsamkeit, wie sie für die private Knipserfotografie allzu typisch ist. Umso bemerkenswerter ist es aber, dass Ilse Schwarz selbst gerade und aufrecht steht. Der Blick des Fotografen, mit anderen Worten, ist ganz auf sie gerichtet. Sie auch in der Ferne achtsam und akkurat abzubilden, scheint das eigentliche Anliegen von Erich Chotzen gewesen zu sein. Hier wie im unteren Bild ist die Konzentration der beiden also ganz aufeinander bezogen. Die Aufnahmen widerlegen insofern Susan Sontags Vorbehalte gegen über der Urlaubsfotografie. Zwar strukturiert die Kamera in beiden Bildern unmittelbar die Situation. Sie bestimmt das Sehen und Gesehen-Werden. Dadurch aber verhindert sie gerade nicht die Auseinandersetzung mit der Umgebung. Die Landschaft wird in den Bildern nicht entlang den ästhetischen Vorlagen von Ansichtskarten auf die klassischen Motive der Heimatikonografie reduziert. Umgekehrt lassen sich Ilse Schwarz und Erich Chotzen vor der Linse auch nicht zu allzu typischen, austauschbaren und von ihrem Umfeld entkoppelten Posen verleiten. Stattdessen sind die Bilder Zeugnisse eines gegenseitigen Erkennens. Ilse Schwarz und Erich Chotzen erscheinen nicht als klassische Urlauber – erst recht nicht als Urlauber, die der permanenten Ausgrenzung, Anfeindung und Entrechtung temporär entfliehen wollen –, sondern als Liebende. Die Kamera fängt den Augenblick großer, fast intimer Privatheit nicht einfach ein. Sie erschafft ihn mit. Die Fotografie ist hier kein Mittel zur kontemplativen, wenn nicht gar klischeehaften Erfahrung und Erfassung der Landschaft, sondern zur Darstellung, vielleicht auch zur Erschaffung ihrer innigen Bindung. Das letzte Bild schließlich ist das erste und einzige tatsächliche Landschaftsbild. Bezeichnenderweise ist es im Vorbeifahren geknipst.
Fazit Lange Zeit hat die Forschung den Urlaub als mehr oder minder erfolgreichen Ausbruch aus dem Alltag verstanden, als Bestreben, den modernen Raum- und Zeitregimen zu entfliehen und zu einer anderen, tieferen und vor allem: außeralltäglichen Erlebens- und Erfahrungsschicht vorzudringen. Hier das Regelmäßige, dort die Ausnahme, hier das ewig Gleiche, dort das Aufregende, Andere und Neue. 89
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Eine solche Perspektive verkennt jedoch die Funktionen, die der Urlaub für diejenigen haben konnte, denen ein geordneter Alltag sukzessive entsagt worden war. Für deutsche Jüdinnen und Juden konnte der Urlaub nach 1933 eine nachgerade gegenteilige Bedeutung tragen: Er war kein Ausbruch aus dem bürgerlichen Alltag, sondern der Versuch, einen solchen Alltag, wenn auch nur vorübergehend, zurückzuerlangen und neu aufleben zu lassen. Enzensbergers Eingangsbeobachtung, dass der Urlaub sein widerständiges Potential mit der Rückfahrkarte einbüße, kann mit Blick auf das jüdische Reisen im Nationalsozialismus somit kurzerhand umgekehrt werden. Erst die Gewissheit der Rückkehr machte das Erleben, ja das Erschaffen von Normalität möglich. Die beiden Urlaube der Chotzens von 1938 und 1940 bestätigen dies in beeindruckender Weise. Die Normalität, die die Chotzens erst am Teupitzer See, dann in Strausberg herstellten und behaupteten, scheint in der Tat nur vor dem Hintergrund ihrer zeitlichen Begrenzung überhaupt denkbar. Die Alternative wäre nicht Freiheit gewesen, sondern Flucht. Die Biografin der Chotzens, Barbara Schieb, attestierte der Familie ein »trotziges Selbstbewusstsein«.49 Ihre Urlaube sind zweifelsohne Ausdruck eben dessen, zeugten sie doch von einem unbedingten Streben aller Beteiligten, inmitten eines immer bedrohlicheren Umfeldes gemeinsam eine selbstbestimme – und das hieß vor allem: unbeschwerte – Zeit zu erleben. Dabei erschöpft sich die Bedeutung des Albums nicht in seinem dokumentarischen Gehalt. Zwar sind die Bilder unmittelbar an die Urlaube gebunden, durch das Setting, das abgebildet ist, aber auch in der Auswahl der Motive, die sich bewusst an den Konventionen der Urlaubsfotografie orientieren. Dennoch ist das Album in gewisser Weise losgelöst von seinem Kontext. Erzählerisch weist es über seinen Gegenstand – den Urlaub – hinaus. Während die Bilder den geschützten Garten der Bekannten in eine Bühne für die Aufführung von bürgerlicher Repräsentativität verwandeln, verhält es sich im Umland von Strausberg genau umgekehrt. Die offene, idyllische Landschaft ist hier gerade kein Fixpunkt zur visuellen Herstellung einer tiefergreifenden Zugehörigkeit, im Gegenteil: Sie gerät zur Kulisse, vor der sich Ilse und Erich Chotzen als privates, junges und inniges Liebespaar erkennen und festhalten konnten. Auf den Bildern erscheinen die Urlaube als Rahmen, in dem sich die Chotzens so darstellen konnten, wie sie sich selbst wahrgenommen und erinnert wissen wollten. Inmitten von Anfeindung und Ausgrenzung bildet die Fotografie das Ringen um Normalität nicht einfach ab. Sie ist selbst Teil davon. 90
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Anmerkungen 1 Vgl. Barbara Schieb, Nachricht von Chotzen. »Wer immer hofft, stirbt singend«, Berlin 2000, S. 169-186. Der umfangreiche Nachlass ist heute im Haus der Wannsee-Konferenz aufbewahrt. Joseph Chotzen, der als einziger der vier Brüder den Holocaust überlebte, hat ihn nach seinem Tod der Gedenk- und Bildungsstätte überlassen. 2 Vgl. ebd., S. 93-97. 3 Vgl. Kay Henning Danley, A Leaf in the Wind, o. O. 2020, v. a. S. 43-99. 4 Für die Übersendung einer digitalen Kopie des Albums, die Erlaubnis zur Verwendung der Bilder im Rahmen der Tagung und hier, in diesem Beitrag, vor allem aber für die langen und zahlreichen Gespräche, in denen sie mir die Geschichten ihrer Familie näherbrachte, möchte ich mich von ganzem Herzen bei Kay Henning Danley bedanken. 5 Vgl. Marion Kaplan, Hitler’s Jewish Refugees. Hope and Anxiety in Por tugal, New Haven/Massachusetts 2020, S. 3. 6 Vgl. Karoline Georg, Jüdische Häftlinge im Gestapogefängnis und Konzentrationslager Columbia-Haus 1933-1936, Berlin 2021. 7 Vgl. Gorch Pieken/Cornelia Kruse, Das Haushaltsbuch der Chotzens. Schicksal einer jüdischen Familie 1937-1946, Berlin 2008, S. 33 ff. 8 Vgl. ebd. S. 35-39. 9 Vgl. Schieb, Nachricht (wie Anm. 1), S. 53. 10 Vgl. ebd., S. 56. 11 Henry Wahlig, Sport im Abseits. Die Geschichte der jüdischen Sportbewegung im nationalsozialistischen Deutschland, Bonn 2014. 12 Vgl. ebd., S. 40-51. 13 Vgl. ebd., S. 119-139. Zur Organisation des jüdischen Sports in Berlin vgl. Philipp Holt, »Hat es unter diesen Umständen überhaupt noch Zweck, Leistungssport zu treiben?« Die Organisation des jüdischen Sports in Berlin 1933-1938, in: Hanno Hochmuth/Paul Nolte (Hrsg.), Stadtgeschichte als Zeitgeschichte. Berlin im 20. Jahrhundert, Göttingen 2019, S. 91-116. 14 Wolf Gruner, Der Geschlossene Arbeitseinsatz deutscher Juden. Zur Zwangsarbeit als Element der Verfolgung 1938-1943, Berlin 1997. 15 Vgl. Irmgard Klönne/Ilana Michaeli (Hrsg.), Gut Winkel – die schützende Insel. Hachschara 1933-1941, Berlin 2007. Vgl. weiterhin Ulrike Pilarczyk/ Ulrike Mietzner, Gemeinschaft in Bildern. Jüdische Jugendbewegung und zionistische Erziehungspraxis in Deutschland und Palästina/Israel, Göttingen 2009. 16 Vgl. Wahlig, Sport (wie Anm. 11), S. 69 f. 17 Hans Magnus Enzensberger, Vergebliche Brandung der Ferne. Eine Theorie des Tourismus, in: Merkur 126 (August 1958), S. 701-720, hier S. 719, merkur-zeitschrift.de/hans-magnus-enzensberger-vergebliche-brandung-derferne/ (18.1.2022). 18 Ebd., S 720. 19 Vgl. Rüdiger Hachtmann, Tourismus und Tourismusgeschichte. Version:
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robert mueller-stahl 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 22.12.2010, docupedia.de/zg/hachtmann_ tourismusgeschichte_v1_de_2010 (18.1.2022). 20 Vgl. James Clifford, Routes. Travel and translation in the late twentieth century, Camebridge/Massachusetts 1997, v. a. S. 2 f. 21 Vgl. Rudy Koshar, German Travel Cultures, Oxford 2000. 22 Vgl. exemplarisch Richard Ivan Jobs, Backpack Ambassadors. How Youth Travel Integrated Europe, Chicago/Illinois 2017. 23 John Urry/Jonas Larsen, The Tourist Gaze 3.0, Los Angeles/California u. a. 2011, S. 155. 24 Hasso Spode, Der Tourist, in: Ute Frevert (Hrsg.), Der Mensch des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1999, S. 113-137, hier S. 117. 25 Susan Sontag, Über Fotografie, Frankfurt am Main 2016 (amerikanische Erstveröffentlichung 1977), S. 15. 26 Vgl. Martha Langford, Suspended conversations. The Afterlife of Memory in Photographic Albums, Montreal 2001, S. 87 f. 27 Vgl. ebd., S. 77-88, v. a. S. 81. Vgl. exemplarisch Cord Pagenstecher, Der bundesdeutsche Tourismus. Ansätze zu einer Visual History. Urlaubsprospekte, Reiseführer, Fotoalben, 1950-1990, Hamburg 2012. 28 Frank Bajohr, »Unser Hotel ist judenfrei«. Bäder-Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2003, S. 7. 29 Michael Wildt, »Der muß hinaus! Der muß hinaus!« Antisemitismus in deutschen Nord- und Ostseebädern 1920-1934, in: Mittelweg 36 (2001), Nr. 4, S. 3-25, hier S. 25. 30 Vgl. Schieb, Nachricht (wie Anm. 1), S. 58 f. 31 Zum CV vgl. grundlegend Avraham Barkai, Wehr Dich! Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C. V.) 1893-1938, München 2002. 32 Vgl. Jacob Borut, Antisemitism in Tourist Facilities in Weimar Germany, in: Yad Vashem Studies 28 (2000), S. 7-50, hier S. 21-29. 33 Vgl. Bajohr, Hotel (wie Anm. 28), S. 135 ff. 34 Vgl. Martin Achrainer, »So, jetzt machen wir ganz unter uns!« Antisemitismus im Alpenverein, in: Hanno Loewy/Gerhard Milchram (Hrsg.), Hast du meine Alpen gesehen? Eine jüdische Beziehungsgeschichte, Hohenems 2009, S. 288-317. 35 Bajohr, Hotel (wie Anm. 28), S. 68. 36 Zur Ausgrenzungspolitik auf Norderney nach 1933 vgl. Simon Holdermann/ Sarah Korsikowski/Andres Wischnath, Die antisemitische Politik des Nordseebades Norderney 1933-1938, in: Lisa Andryszak/Christiane Bramkamp (Hrsg.), Jüdisches Leben auf Norderney. Präsenz, Vielfalt und Ausgrenzung, Berlin/Münster 2016, S. 150-228. 37 Vgl. Bajohr, Hotel (wie Anm. 28). 38 Ofer Ashkenazi/Guy Miron, Jewish Vacations in Nazi Germany. Reflections on Time and Space amid an Unlikely Respite, in: The Jewish Quarterly Review 110 (2020), S. 523-552, hier S. 526 ff.
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selbstbestimmte unbeschwertheit? 39 Sarah Wobick-Segev, A Jewish Italienische Reise during the Nazi period, in: Journal of Contemporary History 56 (2021), Nr. 3, S. 720-744, hier S. 730. 40 Vgl. Hanno Loewy, Fotografie, in: Dan Diner (Hrsg.), Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, 7 Bde., Bd. 2, Stuttgart 2012, 361-366; Michael Berkowitz, Jews and Photography in Britain, Austin/Texas 2015; Tim Nachum Gidal, Jews in Photography, in: Leo Baeck Institute Year Book 32 (1987), S. 437-453. 41 Wobick-Segev, Italienische Reise (wie Anm. 39), S. 730. 42 Siehe die Beiträge in Elizabeth Harvey/Johannes Hürter/Maiken Umbach/ Andreas Wirsching (Hrsg.), Private life and Privacy in Nazi Germany, Cambridge 2019. 43 Vgl. Susan Gal, A Semiotics of the Public/Private Distinction, in: Differences: A Journal of Feminist Cultural Studies 13 (2002), S. 77-95. 44 Vgl. Mary Fulbrook, Private Lifes, Public Faces. On the Social Self in Nazi Germany, in: Harvey u. a. (Hrsg), Private life (wie Anm. 42), S. 55-80. 45 Vgl. Leora Auslander, Reading German Jewry through Vernacular Photo graphy: From the Kaiserreich to the Third Reich, in: Central European History 48 (2015), Nr. 3, S. 300-334. Vgl. weiterhin Sandra Starke, Fenster und Spiegel. Private Fotografie zwischen Norm und Individualität, in: Histori sche Anthropologie 19 (2011), Nr. 3, S. 447-474, hier S. 457 ff.; vgl. weiterhin Maiken Umbach, (Re-)Inventing the Private under National Socialism, in: Harvey u. a. (Hrsg.), Private life (wie Anm. 41), S. 102-131. 46 Geoffrey Batchen, SNAPSHOTS , in: photographies 1 (2008), Nr. 2, S. 121142, hier S. 125. 47 Rudy Koshar, »What ought to be seen«: Tourists’ Guidebooks and National Identities in Modern Germany and Europe, in: Journal of Contemporary History 33 (1998), Nr. 3, S. 323-340. 48 Vgl. Maiken Umbach, Selfhood, Place, and Ideology in German Photo Albums, 1933-1945, in: Central European History 48 (2015), Nr. 3, S. 335-365, hier S. 340-344. 49 Schieb, Nachricht (wie Anm. 1), S. 50.
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Jüdische Perspektiven in der Fotografie der NS-Zeit Aus den Beständen des Jüdischen Museums Berlin Fotografien sind mehr als Bilder. Als Quellen vermitteln sie nämlich nicht nur den dargestellten Bildinhalt, sondern auch weitaus mehr, deshalb sollten sie in ihrer Komplexität gelesen und analysiert werden.1 Dies gilt in besonderem Maße für Fotografien aus der Zeit des Natio nalsozialismus. Fernab von der vermeintlich getreuen Abbildung von Wirklichkeit wurden Fotografien propagandistisch vielfältig instrumentalisiert, vom Entstehungszusammenhang über die Erstellung bis zur Verwendung. Ins Bildgedächtnis haben sich häufig Fotografien eingeschrieben, die aus der Täterperspektive entstanden sind, sowohl durch professionelle Fotografen und Fotografinnen als auch durch Fotoamateure. Darin verwoben sind antisemitische Zerrbilder, die die Abgebildeten auf vielfältige Weise diffamieren und sie zu Objekten degradieren. »Niemals wurden größere Anstrengungen unternommen, das ›Wesen deutscher Fotografie‹ zu bestimmen, als in den Jahren zwischen 1933 und 1945. Das Bild, das ›deutsche Fotografen‹ in dieser Zeit von Juden beziehungsweise ›vom Juden‹ entwarfen, hatte Funktionen in vielerlei Hinsicht. […] Es war Ferment im Prozeß der Kenntlichmachung des ›Anderen‹, der Stigmatisierung ›des Juden‹, die seiner physischen Vernichtung notwendig vorausging, ihre Realisierung überhaupt erst denkbar machte«,2 so beschreibt Hanno Loewy die Funktionen dieser Bilder und ihre Wirkungsmacht. Umso wichtiger ist es, Bilder verstärkt in den Blick zu nehmen, die von jüdischen Fotografinnen und Fotografen aufgenommen wurden und somit eine ganz andere Perspektive einnehmen. Bei der Analyse solcher Fotografien müssen besondere Aspekte bedacht werden. Oft ist das Eigentliche in diesen Abbildungen nicht leicht zu lesen und benötigt weitere Kontextinformationen. Dazu bleibt in den Fotografien vieles unabgebildet, Bilddokumente konnten nicht bis heute überliefert oder 94
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überhaupt nicht angefertigt werden. Diese visuellen Leerstellen sind für unser Bildgedächtnis ebenso relevant. Sowohl im analogen als auch digitalen Bereich werden Bilder weiterhin meist illustrativ verwendet. Eine analytische Lesart hingegen verweist auf die Vieldeutigkeit fotografischer Zeugnisse, indem sie möglichst viele Kontextinformationen berücksichtigt, damit den sensiblen, aber auch kritischen Umgang mit Fotografien fördert und größtmög liche Multiperspektivität ermöglicht. Im Folgenden werden Fotografien aus den Beständen des Jüdischen Museums Berlin vorgestellt. Dabei geht es um unterschiedliche Sammlungen, Fotoalben und Einzelfotografien der Fotografischen Sammlung sowie der Dauerausstellung. Ein Schwerpunkt liegt auf einem umfangreichen Konvolut, das dem Museum von Leonie und Walter Frankenstein geschenkt wurde. Anhand dieser Beispiele soll den Fragen nachgegangen werden, was genau unter jüdischen Perspektiven zu verstehen ist, was besonders an den Fotografien ist, was darauf abgebildet ist und was unsichtbar bleibt.
Fotografien im Jüdischen Museum Berlin Die Fotografische Sammlung des Jüdischen Museums Berlin umfasst umfangreiche Bestände von den Anfängen der Fotografie bis heute, darunter auch zahlreiche Fotografien aus der Zeit des Nationalsozialismus. Neben Einzelbeständen, themen- und personenbezogenen Sammlungen und Einzelarbeiten namhafter Fotografinnen und Fotografen stammen die meisten Bilder aus sogenannten Familiensammlungen, also Sammlungen, die starke biografische Bezüge aufweisen und dem Museum von Stifterinnen und Stiftern aus der ganzen Welt geschenkt wurden.3 Auch wenn das Museum sehr bemüht ist, die Sammlungen bestmöglich zu erschließen, ist der tatsächliche Zustand der Bestände etwas ernüchternd. Fotografien werden inventarisiert, durch Recherchen kontextualisiert und nach objektgerechten Standards gelagert und langfristig bewahrt. Da diese Arbeitsschritte viel Zeit in Anspruch nehmen und sehr personalintensiv sind, kann die wissenschaftliche Erschließung darüber hinaus nur punktuell erfolgen. Meist geschieht dies mit Fokus auf einzelne Bestände und weniger im vergleichenden Blick auf unterschiedliche Sammlungen. Darüber hinaus sind Kontexte zu den einzelnen Fotografien sehr unterschiedlich überliefert und können durch Recherchen nur zum Teil aufgefüllt werden. Eine besondere Herausforderung liegt dabei darin, dass Gespräche mit Stifterinnen und Stiftern aufgrund ihres 95
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hohen Lebensalters immer seltener stattfinden können. Viele Fragen lassen sich dadurch nicht mehr beantworten. Durch die Entwicklung einer neuen Dauerausstellung im Jüdischen Museum Berlin, an der ein zwanzigköpfiges Team über fünf Jahre gearbeitet hat und die im August 2020 eröffnet wurde, konnten einzelne Bestände verstärkt in den Blick genommen und tiefgründig erschlossen werden. Die Ausstellung zeigt »Jüdische Geschichte und Gegenwart in Deutschland«.4 Sie setzt neue Schwerpunkte, zeigt diese in einer komplett neuen Szenografie und präsentiert vor allem Exponate aus den eigenen Sammlungen. Die chronologische Darstellung der Epochen – von den Anfängen jüdischen Lebens in Aschkenas bis heute – wechselt sich mit Themeninseln ab, die Einblicke in jüdische Themen jenseits geografischer und zeitlicher Grenzen geben. Das Leben von Jüdinnen und Juden in Beziehung zu ihrer nichtjüdischen Umwelt, zwischen Zugehörigkeit und Ausgrenzung wird multiperspektivisch, vielfältig und vielstimmig gezeigt. Als Reaktion auf das große Interesse der Besucherinnen und Besucher nimmt neben der Zeit »Nach 1945« auch die Epochendarstellung des Nationalsozialismus mit dem Titel »Katastrophe« mehr Raum als noch bei der letzten Dauerausstellung ein. Dort werden die Jahre 1933 bis 1945 neben anderen Exponaten durch zahlreiche Fotografien präsentiert.
Jüdische Perspektiven Jüdische Museen unterscheiden sich von anderen Museen durch die eingenommene Perspektive. Im Leitbild des Museums heißt es: »Das Jüdische Museum Berlin ist der Ort für das materielle und immaterielle Erbe des deutschen Judentums. Es vermittelt verlässliche Kenntnisse über jüdische Kultur und Tradition und zeigt vielstimmige jüdische Perspektiven und Standpunkte«.5 Dies geschieht in der Verflechtung mit der nichtjüdischen Umwelt und Mehrheitskultur, aber der Fokus ist auf die jüdischen Perspektiven gerichtet. Jüdische Quellen werden zu Grunde gelegt – Quellen, die von Jüdinnen und Juden verfasst oder überliefert wurden oder sich auf jüdische Biografien beziehen. Die Auswahl der Protagonistinnen und Protagonisten spielt dabei also eine entscheidende Rolle. Für die Darstellung der Zeit des Nationalsozialismus bedeutet dieser Ansatz eine besondere Herausforderung, gerade in der Verwendung von Fotografien. In Bildern von jüdischen Fotografinnen und Fotografen bleiben wichtige Ereignisse und Aspekte der Zeit zum Teil unsichtbar, wohingegen Bilder aus Täterperspektive dazu vorhanden sind. Es muss 96
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Abb. 1: Blick in die Dauerausstellung, Installation »Elf Tage in Buchenwald«; Jüdisches Museum Berlin, Foto: Roman März.
also abgewogen werden, wie bestimmte Geschehnisse dargestellt werden können und welche Quellen es dabei zu berücksichtigen gilt. Ein in der Dauerausstellung präsentiertes Großrepro ist hierzu ein Beispiel. Es zeigt eine Aufnahme jüdischer Häftlinge beim Appell im Konzen trationslager Buchenwald im November 1938 und stammt aus dem Fotoalbum des KZ -Kommandanten Karl-Otto Koch. Ohne die Verwendung des Fotos und mit einer strikten Fokussierung auf jüdische Quellen hätten der Schock der Massenverhaftungen und die Entindividualisierung der Betroffenen nicht dargestellt werden können. Gleichzeitig wurde versucht, die Visualisierung aus Tätersicht um die Perspektive der Opfer zu erweitern. Die fotografische Reproduktion wurde in drei große Abschnitte unterteilt. Die drei Bildteile sind jeweils durch Textfelder unterbrochen, die einen Augenzeugenbericht des Magdeburger Rabbiners Georg Wilde lesbar machen, der elf Tage in Buchenwald festgehalten wurde. Entlassen wurde er mit der Auflage, Deutschland zu verlassen, was ihm durch seine Emigration nach England auch gelang. Fotografie und Text sind so im Raum präsentiert, dass die Besucherinnen und Besucher sie je nach Betrachtungswinkel auf unterschiedliche Weise miteinander in Beziehung setzen. Dadurch verdeutlichen sich zweierlei Perspektiven. 97
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Die Sammlung von Leonie und Walter Frankenstein Die Sammlung von Leonie und Walter Frankenstein umfasst neben Dokumenten und einigen Objekten mehr als 1.100 Fotografien, die das Leben der Familie eindrücklich und anschaulich abbilden und mit zentralen Ereignissen des 20. Jahrhunderts verknüpfen.6 Erste Fotoalben gelangten 2008 als Schenkung in die Sammlung, danach folgten sukzessive weitere Fotografien, so dass sich heute der gesamte Vorlass im Museum befindet. Gerade im fotografischen Kontext ist diese Sammlung herausragend, da es nur selten Konvolute gibt, in denen die Geschichte einer Familie so ausführlich durch die Jahrzehnte visuell begleitet wird. Walter Frankenstein wurde 1924 geboren und wuchs in Flatow auf, dem heutigen Złotów in Polen. Seine Eltern betrieben einen Landhandel und eine Gastwirtschaft. Nach dem Tod seines Vaters 1929 führte die Mutter die Betriebe alleine weiter. Aufgrund der antisemitischen Anfeindungen und dem Verbot, weiterhin die Schule in Flatow zu besuchen, kam Walter 1936 ins Auerbach’sche Waisenhaus nach Berlin. Die bereits 1832 gegründeten Baruch-Auerbach’schen Waisenerziehungsanstalten hatten einen sehr guten Ruf und nahmen sowohl Jungen als auch Mädchen auf. Walter lernte dort 1941 Leonie Rosner kennen. Sie war in Leipzig aufgewachsen und begann später in Berlin eine Ausbildung am jüdischen Kindergärtnerinnen-Seminar, ehe sie nach dessen Schließung als Praktikantin an das Waisenhaus kam. Walter wurde ab 1938 als Maurer in der jüdischen Bauschule ausgebildet. Nachdem diese drei Jahre später geschlossen wurde, arbeitete er als Handwerker bei der Jüdischen Gemeinde. Wie alle dort angestellten Handwerker musste er Zwangs arbeit im Reichssicherheitshauptamt leisten. 1942 heirateten Leonie und Walter. Ein Jahr später entschieden sich beide, in die Illegalität zu gehen. 1943 und 1944 kamen ihre zwei Söhne Peter-Uri und Michael zur Welt. Alle überlebten die Zeit des Nationalsozialismus in verschiedenen Verstecken in Berlin und Leipzig durch die Hilfe zahlreicher Personen. Verwandte und Freunde, darunter auch die Mütter von Walter und Leonie, wurden ermordet. Bereits im November 1945 gelang es Leonie, mit den zwei Söhnen nach Palästina auszuwandern. Walter arbeitete kurze Zeit als Sportlehrer bei den Freizeitspielen in Berlin-Neukölln und dann im Displaced Persons-Lager Greifenberg am Ammersee. Beim Versuch, ebenfalls nach Palästina zu emigrieren, wurde er zuerst auf Zypern und später in Palästina interniert. Im Spätsommer 1947 kam er frei, und die Familie fand endlich zusammen. Am 14. Mai 1948, dem Tag der Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel, wurde er zum Wehrdienst einberufen. Doch auch in Friedenszeiten blieb die Situation herausfordernd 98
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für die Familie, und so zog sie 1956 weiter nach Stockholm. Walters und Leonies gemeinsame Zeit endete nach 66 Ehejahren im Mai 2009 mit Leonies Tod. Walter lebt bis heute in Stockholm. Er sagt über sich: »Ich bin der Sohn Deutscher jüdischen Glaubens und selbst bin ich schwe discher Bürger und Atheist.«7 Die Sammlung Frankenstein umfasst zahlreiche Fotoalben sowie Einzelfotos und deckt einen Zeitraum von 1870 bis heute ab. Einen Schwerpunkt bilden die Fotografien aus der Zeit des Nationalsozialismus, darunter vor allem Motive aus Flatow und Berlin. Ein umfangreiches Album zeigt Aufnahmen von Mitgliedern und Bekannten der Familie Frankenstein und Rosner.8 Sie sind durch schwedische Beschriftungen ergänzt, so dass davon auszugehen ist, dass Walter Frankenstein das Album nach seiner Ankunft in Schweden 1956 neu zusammengefügt hat. Das Album beinhaltet viele Porträts, Aufnahmen von Familienfeiern und dem Leben der Frankensteins in Flatow. Viele sind schon vor 1933 entstanden, darunter zum Beispiel ein Porträt des Urgroßvaters, das um 1870 entstand, oder des Vaters als Soldat im Ersten Weltkrieg, viele Kinderfotos von Walter, aber auch Aufnahmen des Geschäftes sowie aus dem Familienleben in Flatow. Wie die früheren Aufnahmen zeigen auch die Fotografien aus der Zeit nach 1933 eher unauffällige Szenen. Hinweise auf das immer feindlichere Umfeld bilden sich darauf nicht direkt ab. Eine Fotografie zeigt Walter zusammen mit seiner Mutter in Berlin 1939, im Jahr nachdem die Mutter zum Verkauf ihres Geschäfts in Flatow gezwungen und in die Hauptstadt gezogen war. Ein späteres Einzelporträt aus dem Jahr 1941 stammt vermutlich aus ihrer Kennkarte. Hervorzuheben sind zwei Außenaufnahmen von 1944 aus der Zeit der Illegalität. Sie sind in Briesenhorst in Brandenburg entstanden und zeigen Leonie mit Peter-Uri. Auf einem Abzug sind beide stehend auf einer Decke mit Spielzeug abgebildet, Leonie hält Peter-Uri, vermutlich bei seinen ersten Steh- und Laufversuchen, an den Händen, das andere Foto zeigt Mutter und Kind sitzend inmitten einer Wiese. In Briesenhorst verbrachten die beiden das Frühjahr und den Sommer bei einer Bäuerin und deren Tochter unter falscher Identität. Leonie gelang es, sich als Bombengeschädigte zu melden. Unter dem Vorwand, dass alle ihre Papiere vernichtet worden seien, erhielt sie einen neuen Ausweis, gab darin den Namen einer alten Schulfreundin an und konnte somit mit ihrem Sohn aufs Land verschickt werden. Thematischer Schwerpunkt eines weiteren, 81 Seiten umfassenden Albums ist das Auerbach’sche Waisenhaus in der Schönhauser Allee 162 in Berlin mit einer Vielzahl von Innen- und Außenaufnahmen des Gebäudes, Aufnahmen von Zöglingen und Mitarbeitern sowie von 99
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denen Freizeitaktivitäten, Sportveranstaltungen, Ausflügen, religiösen Festtagen, Theateraufführungen usw.9 Walter Frankenstein beschreibt seine Zeit dort als Refugium inmitten einer feindlichen Außenwelt: »Wir wohnten dort wie auf einer geschützten kleinen Insel. Wir haben die Verfolgungen bis zur Pogromnacht 1938 gar nicht so richtig mit bekommen.«10 Dies änderte sich kurz danach, als immer mehr Zöglinge, Mitarbeiter und Unterstützer ins Ausland emigrierten. Im Oktober 1942 begannen die Transporte in die Vernichtungslager, im November wurde das Waisenhaus endgültig geschlossen. Die ersten Seiten des Albums zeigen, neben touristischen Ansichtskarten von Berlin, Aufnahmen des Olympiastadions. Am 27. Juli 1936 kam Walter mit dem Zug am Bahnhof Alexanderplatz an. Damals waren die Vorbereitungen für die Olympischen Sommerspiele schon in vollem Gange, und Walter hatte die Gelegenheit, die Spiele mit seinem Onkel selbst zu erleben, was für ihn ein ganz besonderes Ereignis war. Viele Fotografien, die in dem Album zu sehen sind, fertigte Walter Frankenstein selbst mit seiner Kamera an, es gab aber auch andere Jungen im Waisenhaus, die einen Fotoapparat hatten. Die Aufnahmen konnten in einer Drogerie, die sich neben dem Waisenhaus befand, entwickelt werden. Die Bilder wurden oft mehrfach abgezogen und untereinander verteilt oder getauscht. Dies bestätigt eine Sammlung von Stephan H. Lewy, ebenfalls Zögling im Waisenhaus, die sich heute im United States Holocaust Memorial Museum in Washington befindet und die einige Aufnahmen umfasst, die mit den Fotografien aus dem Album von Walter Frankenstein übereinstimmen. Neben den selbst angefertigten Fotos, die meist in kleinem Format mit Büttenrand hergestellt wurden, enthält Frankensteins Album auch einige professionelle Motive des Fotografen Abraham Pisarek, die das Leben im Waisenhaus dokumentieren. Walter Frankenstein hatte sie in späteren Jahren von der Tochter des Fotografen bekommen. Auch Fotografien des Waisenhauses in Pankow sind darin enthalten, wo Walter während seiner Lehre eine Zeit lang untergebracht war. Als die Institution 1940 geschlossen wurde, zog er jedoch wieder zurück in die Schönhauser Allee. Andere Motive zeigen Ansichten von Ausstellungen der jüdischen Berufsschulen und Lehrwerkstätten in Berlin. Im Gegensatz zum davor beschriebenen Album enthält dieses nur wenige Beschriftungen und wurde laut Walter Frankenstein bereits während seiner Zeit in Israel neu zusammengefügt. Auch wenn die Sammlung Frankenstein zahlreiche Fotografien aus der Zeit des Nationalsozialismus enthält, bleiben wichtige Aspekte der Zeit und des damaligen Lebens der Familie unsichtbar. Doch durch die 100
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Erzählungen und Erinnerungen Walter Frankensteins lassen sich einige Lücken schließen. Dass vieles nicht abgebildet ist, erklärt sich durch die erhöhte Gefahrenlage, die von der Anfertigung von Fotografien in bestimmten Situationen ausgegangen wäre. So gibt es keine Abbildung des Boykotts der jüdischen Geschäfte, der auch in Flatow am 1. April 1933 stattgefunden hatte. Das Ladengeschäft der Familie war unmittelbar betroffen: Unbekannte schossen von der Straße in das Geschäft. Walter erinnert sich daran, dass er im Anblick eines der Schützen Gott das folgende Ultimatum stellte: »Lieber Gott, wenn dieser Mann nicht auf den nächsten 50 Metern tot umfällt, dann glaube ich nicht mehr an dich«. Tatsächlich fasste er folgenden Entschluss: »Er ist nicht umgefallen, und ich war Atheist. Ich bin es bis heute geblieben.«11 Fotografien zur Pogromnacht 1938 sind in der Sammlung ebenfalls nicht zu finden. Auch hier gibt es Erinnerungen von Walter Frankenstein, die verdeutlichen, dass das Fotografieren für ihn in dieser Nacht undenkbar gewesen wäre. Ein SA -Trupp betrat das Gebäude und wollte es anzünden. Walter und drei weitere Lehrlinge konnten sich den Männern entgegenstellen und das Schlimmste mit dem Argument verhindern, dass Kinder und Säuglinge im Haus wohnten und aufgrund der dichten Bebauung die umliegenden Gebäude Feuer fangen würden. Daraufhin zogen die SA -Männer zwar ab, löschten zuvor aber das ewige Licht im Betsaal und drehten den Gashahn auf, was glücklicherweise bemerkt wurde. Danach stiegen die vier Lehrlinge auf das Dach und sahen von dort die zahlreichen Brände in der gesamten Stadt. Ein weiterer Moment, der in Fotoalben üblicherweise nicht fehlen darf, bleibt in der Sammlung unsichtbar: die Hochzeit von Leonie und Walter Frankenstein am 20. Februar 1942 in einem Standesamt in Prenzlauer Berg. Vor der Eheschließung mussten Leonie und Walter die Erlaubnis seiner Mutter einholen, da er noch nicht volljährig war. Das Paar erhielt keine schriftliche Bestätigung, wurde jedoch von einem Standesbeamten formell getraut. Nach der Trauung gingen die wenigen Gäste mit dem Hochzeitspaar zum Kuchenessen in die Wohnung, in der die zwei zur Untermiete wohnten. Ungewöhnlich und auffallend ist, dass Fotografien aus der Zeit der Illegalität vorhanden und bis heute erhalten sind. Die schon erwähnten Fotografien aus Briesenhorst sind seltene und einmalige Zeitzeugnisse. Auch in einem anderen Album finden sich weitere fünf Motive von Leonie und Peter-Uri aus dieser Zeit.12 Sie zeigen Peter-Uri im Kinderwagen, an einem Stuhl stehend, Leonie mit ihrem Sohn auf dem Arm sowie ein Porträt von Peter-Uri – auf einem runden gemusterten Kissen –, bei dem es sich um eine Studioaufnahme handeln könnte. Bei 101
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einem weiteren Abzug ist nur der untere Bildteil erhalten, das Motiv entspricht der schon erwähnten Aufnahme mit Leonie und Peter-Uri, stehend auf einer Decke mit Spielsachen. Die in Schwedisch verfasste Seitenbeschriftung erklärt: »Leonie und Uri Frankenstein 1944 in Briesenhorst, Deutschland, in der illegalen Zeit«. Andere Motive aus der Zeit der Illegalität sind nicht überliefert. Die Fotografien in Briesenhorst konnten vermutlich nur entstehen, da die Abgebildeten dort unter falscher Identität lebten und dadurch die Gefahr eingehen konnten, sich fotografieren zu lassen. Für Walter Frankenstein sind seine Aufnahmen bis heute von besonderer Bedeutung. 1936 bekam er zu seinem zwölften Geburtstag seinen ersten Fotoapparat geschenkt und dokumentierte mit diesen seine ersten Jahre in Berlin. Während des Krieges packte er die Abzüge, zusammen mit anderen Aufnahmen seiner Familie, die er dafür zum Teil aus Alben herausgelöst hatte, in ein Segeltuch und legte alles gemeinsam mit seinem »Judenstern« in eine Blechdose. Diese vergrub er Anfang 1943 im Grunewald in der Nähe des Königssees zwischen drei Bäumen und grub sie erst wieder aus, als die Amerikaner in Berlin einmarschiert waren. Später fügte er die einzelnen Abzüge in neuen Alben zusammen. Die Fotografien mit Rückseitenbeschriftungen fixierte er mit Fotoecken, die anderen klebte er direkt ein. Er ergänzte einige Alben mit Beschriftungen, die größtenteils in Schwedisch verfasst sind. Die Fotoalben vereinen damit verschiedene Zeitebenen: das Datum der Entstehung der Fotografien, das Datum des Zusammenstellens der Alben und das Datum, als die Bilder neu beschriftet wurden. In einem Brief vom 16. Oktober 1945 an seinen Freund Rolf Rothschild, der ebenfalls Zögling im Auerbach’schen Waisenhaus war und 1939 nach Schweden emigrieren konnte, beschreibt Walter Frankenstein die schwere Zeit in der Illegalität und betont, was für einen hohen Stellenwert die Fotografien für ihn haben: »Ja, ich lebe tatsächlich noch. Auch meine liebe Frau und meine beiden Jungen sind gesund. Wir haben seit Anfang 43 illegal in Berlin gelebt. Was das an Strapazen bedeutet, so ohne Lebensmittelkarten, Ausweispapiere und ohne Wohnung, dazu die schweren Fliegerangriffe ohne in einen Luftschutzkeller gehen zu können, das wirst Du Dir als normal lebender Mensch wohl kaum vorstellen können. […] Das einzige was ich durch die ganze Zeit gerettet habe, sind meine Bilder aus dem Auerbachschen Waisenhaus. Letzteres ist auch vollkommen zerstört.«13 102
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Abb. 2: Seite aus dem Fotoalbum von Walter Frankenstein, Briesenhorst 1944; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2010/164/0, Schenkung von Leonie und Walter Frankenstein.
Das Aufbewahren der Fotografien ermöglichte ihm eine, wenn auch eingeschränkte, Kontinuität der visuellen Familienerinnerung durch die Zeit der Verfolgung und des Mordens. Nach der Befreiung im Sommer 1945 fertigte er für sich, seine Frau und die zwei Söhne jeweils Passbilder an, vermutlich für neue Ausweispapiere. Sie versinnbildlichen aber auch den positiven Einschnitt des Kriegsendes und die Freude darüber, dass es nun wieder möglich war, Fotos zu machen und besondere Augenblicke festzuhalten. Bis ins hohe Lebensalter blieb Walter Frankenstein engagierter Hobbyf otograf. Bis heute kann er sich an viele einzelne Motive sehr gut erinnern, obwohl er diese durch sein eingeschränktes Sehvermögen nur noch schwer erkennen kann. Sein eindrückliches Erinnerungsvermögen lieferte viele Kontextinformationen zu einzelnen Fotografien bis hin zu den genauen Namen der Abgebildeten. Die Abbildungen visualisieren 103
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wertvolle Erinnerungen an verschiedene Stationen seines Lebens, aber auch seiner Familie. Lange Zeit bewahrte er die Fotografien behutsam auf, zeigte sie immer wieder seiner Familie, den Söhnen und Enkel kindern, bevor er sie dann dem Museum zur Verfügung stellte. Dass er diesen persönlichen Schatz, der ihn so viele Jahre begleitete, abzugeben bereit war, stellt einen großen Vertrauensbeweis in die Museumsarbeit dar. Gleichzeitig ist es auch eine große Verantwortung und Verpflichtung für das Museum, die Sammlung zu erschließen, zu bewahren und das Wissen darüber an ein möglichst großes Publikum weiterzugeben. Walter Frankenstein hat auch dabei das Museum immer wieder unterstützt und bei zahlreichen Zeitzeugengesprächen aus seinem Leben erzählt. Bei allen öffentlichen Auftritten stellt er zu Anfang stets ein gerahmtes Fotoporträt seiner Frau für alle gut sichtbar neben sich auf. Für sein Engagement wurde er im Juni 2014 mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Den Orden bewahrt er zusammen mit seinem »Judenstern« in einer Schatulle auf. Beide Symbole sind für ihn untrennbar miteinander verbunden.
Fotografien aus der Zeit des Nationalsozialismus in der Dauerausstellung und der Sammlung des Museums In der Präsentation der Zeit von 1933 bis 1945 werden einschneidende Momente der Diskriminierung und Verfolgung von Jüdinnen und Juden neben anderen Exponaten auch durch Fotografien thematisiert. Juden und Jüdinnen werden als handelnde Personen gezeigt, die ihre Entscheidungen individuell getroffen haben. Die Epoche wird nicht vom Ende aus erzählt, sondern in den zeitgenössischen Narrativen nähergebracht. Dadurch wird verdeutlicht, dass Personen nicht wussten, was sie in den folgenden Monaten und Jahren erwartete. Manche Themenkomplexe, die im Konvolut Frankenstein unsichtbar bleiben, können hier durch Fotografien abgebildet werden. So beginnt das Segment »Katastrophe« mit dem Aprilboykott 1933 und einer Fotografie, die von der 19-jährigen Elsbeth Kahn aus dem pfälzischen Zweibrücken stammt.14 Es ist eines der wenigen überlieferten Fotos, die von Juden am Tag des Boykotts aufgenommen wurden. Aus der elterlichen Wohnung im zweiten Stock fotografierte die junge Frau unbemerkt einen SA - und einen SS -Mann vor der Rechtsanwaltskanzlei ihres Vaters auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Neben dem Eingang ist ein an die Hauswand gelehntes Schild mit der Aufschrift »Geht nicht zu jüdischen Rechtsanwälten« zu sehen. Die 104
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grafie ist Teil eines Berichts mit der Überschrift »A bit of history for my grandchildren. Do not forget – ever!«. Elsbeth Kahn gelang es, 1935 nach Palästina zu emigrieren. Dort verfasste sie 2003 dieses Dokument und schenkte es kurze Zeit darauf dem Museum. Sie richtet sich in ihrem Erfahrungsbericht direkt an ihre Nachfahren. »If the nazis had looked up, it may have meant at least concentration camp«, schreibt sie und veranschaulicht, in welche Lebensgefahr sie sich begab, als sie die Szene fotografierte. Mehrere Fotoserien aus dem Jahr 1935 bilden einen weiteren Schwerpunkt in der Ausstellung. Die Aufnahmen stammen alle von jüdischen Fotografen, zum einen von Herbert Sonnenfeld und Abraham Pisarek, zum anderen von Werner Fritz Fürstenberg. Alle drei dokumentierten den Alltag in Deutschland auf sehr unterschiedliche Art und Weise mit ihren Kameras: Sonnenfeld und Pisarek richteten ihren Blick nach innen, auf die jüdische Lebenswelt. Beide fotografierten soziale Einrichtungen, Ferienlager, Ausbildungsstätten, Kultur- und Sportveranstaltungen sowie die Ausreisevorbereitungen.15 Ihre Aufnahmen entstanden vornehmlich in Berlin und Umgebung und erschienen in den großen deutsch-jüdischen Zeitungen. Sie zeigen Rückzugsorte, wollten Halt geben und das Selbstbewusstsein stärken. Die Bilder wirken positiv, aber ihre Entstehung ist eng mit Ausgrenzung, Entrechtung und Diffamierung verknüpft. Sie bilden den erfahrenen Ausschluss aus der »Volks gemeinschaft« sozusagen indirekt ab. Werner Fritz Fürstenberg richtete den Blick seiner Kamera hingegen nach außen, er fotografierte Schilder, die mit Aufschriften wie »Juden nicht erwünscht«, »Juden betreten diesen Ort auf eigene Gefahr« oder »Juden – Achtung. Der Weg nach Palästina führt nicht durch diesen Ort !« an vielen Ortseingängen aufgestellt worden waren.16 Er wollte damit die Ausgrenzungssituation und die immer größer werdende Lebensgefahr für Juden in Deutschland dokumentieren. 1933 eröffnete der Berliner Geschäftsmann in Amsterdam eine Dependance seines Unternehmens der Lederwarengeschäfte Albert Rosenhain und pendelte seither häufig mit dem Auto zwischen beiden Städten. Im August 1935 fotografierte er unter hohem Risiko 26 antisemitische Schilder, Plakate und Stürmer-Kästen, an denen er während seiner Fahrt vorbeikam. Die Aufnahmen wirken gespenstisch, da sie bis auf wenige Ausnahmen menschenleer sind – ein Hinweis, für wie groß er die Gefahr hielt, beim Fotografieren gesehen zu werden. Fürstenberg musste auf unbeobachtete Momente warten. Einige Aufnahmen sind zudem direkt aus dem Auto entstanden, was eine abgebildete Kühlerhaube in manchen Motiven beweist. Auch seine Verlobte porträtierte er stehend vor einem 105
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jüdischen Schild mit einem Hund auf dem Arm, eine Aufnahme, die eher an ein harmloses Urlaubsfoto erinnert und vermutlich ebenfalls als Tarnung diente. In Amsterdam übergab Werner Fritz Fürstenberg seine Abzüge dem Jewish Central Information Office, das Informationen über Deutschland und die Verfolgung der Juden sammelte. Einige der Bilder wurden dort 1935 und 1936 in einem Vortrag gezeigt. Dabei wurde, um Fürstenberg zu schützen, eine fingierte Reiseroute angegeben und behauptet, die Fotografien seien von einem niederländischen Motorradfahrer gemacht worden. Herbert Sonnenfeld gelang Ende 1939 die Auswanderung nach New York, im Gepäck befand sich nur ein geringer Teil der Fotografien, die in den Jahren zuvor entstanden waren. Bereits Anfang 1988 konnte die Jüdische Abteilung des Berlin Museums einen Teil seines Nachlasses erwerben, der später in die Sammlung des Jüdischen Museums Berlin überging. Das umfangreiche Konvolut umfasst rund 3.000 Negative und konnte schon bald nach der Eröffnung des Museums 2001 inventarisiert und wissenschaftlich erschlossen werden. Die Fotografien Herbert Sonnenfelds gehören zu den ersten Einträgen der Onlinestellung der museumseigenen Sammlungen, die 2012 begann und seitdem kontinuierlich wächst.17 Abraham Pisarek blieb im Gegensatz zu Sonnenfeld in Berlin. Er konnte in einer sogenannten »Mischehe« überleben, musste aber Zwangsarbeit leisten. Seine Bilder sind heute Bestandteil mehrerer Archive und über die Bildagentur akg-images gut recherchierbar.18 Das eigentliche analoge Fotomaterial in Form von Abzügen und Negativen befindet sich weiterhin im Nachlass, der in der Familie verblieben ist. Werner Fritz Fürstenberg gelang es, nach seiner Emigration in die Niederlande in die Schweiz zu flüchten. Seine Fotografien wurden dem Museum 2005 als Dauerleihgabe übergeben. Das Thema Emigration behandelt ein weiteres Exponat der Ausstellung, ein Album für Ernst und Margot Rosenthal, das sie anlässlich ihrer Emigration 1936 von Chemnitz in die USA von Freunden geschenkt bekommen hatten.19 Im Frühjahr 1934 verlor Ernst Rosenthal seine Kassenzulassung als Augenarzt. Daraufhin bemühte er sich um Auswanderung, die ihm 1936 zusammen mit seiner Frau gelang. Zum Abschied erhielten sie von ihren zurückbleibenden Freunden ein selbstgestaltetes Album, in dem diese ihnen humorvolle Tipps für das Leben in den USA gaben. Das Album umfasst Fotografien, aber auch handschriftliche Verse, Sprüche und Zeichnungen. Die Aufschrift auf der ersten Seite lautet »Amerika, du Land der Träume, der Hoffnung auf ein neues Glück. Unendlich sind doch deine Räume, oh gib uns nur ein kleines Stück«. Es 106
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Abb. 3: Werner Fritz Fürstenberg, Schild »Juden sind hier nicht erwünscht«, Lübbecke/Westfalen August 1935; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. L-2005/30/6.016, Dauerleihgabe der Familie Fürstenberg.
zeigt collagenartig die Skyline von Chicago, eine Landkarte mit dem umrandeten Städtenamen und ein Foto von Ernst und Margot Rosenthal. Bruno Heidenheim, der das Album gestaltete, wurde im November 1938 inhaftiert, musste bald Zwangsarbeit leisten und starb 1940 an deren Folgen. Seine Frau überlebte in der Illegalität, ihre gemeinsame Tochter entkam mit einem Kindertransport nach England. Zusammen wanderten Mutter und Tochter 1949 nach Australien aus. Die Geschichte des Albums verbindet das Schicksal zweier Familien – einer Familie gelang die Emigration, die andere blieb zurück und war Verfolgung, Ausbeutung und systematischem Mord ausgesetzt. Die brutalen Ereignisse zwischen dem 9. und 11. November 1938 verdeutlicht die Ausstellung unter anderem durch eine Fotografie, die eine stark zerstörte Wohnung zeigt. In der linken Hälfte des Bildes ist ein 107
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massiver Schrank zu sehen, der mitsamt dem darin untergebrachten Geschirr umgeworfen wurde, darunter viel zerbrochenes Glas. In der rechten Bildhälfte ist im Anschnitt eine Art Schreibtisch zu sehen, darauf eine Tischlampe, deren Licht die Zerstörung ausleuchtet. In der Pogromnacht drangen SA -Männer und andere Gewalttäter in unzählige Wohnungen und Häuser ein, zertrümmerten komplette Wohnungseinrichtungen und zerstörten und beschädigten persönliche Gegenstände. So auch in der hier fotografierten Wohnung der Familie Sachs in Nürnberg. Die Spuren der Gewalt sind eindeutig zu erkennen. Hans Sachs selbst dokumentierte die Schäden in seiner Wohnung und leuchtete den Tatort durch das Licht einer Lampe aus. Diese und acht weitere Fotografien fügte er nach dem Krieg seinem Entschädigungsantrag bei, heute befinden sie sich im Bayerischen Hauptstaatsarchiv.20 Durch solche Bilder vom Pogrom kann das Geschehene unmittelbar aus der Perspektive der Betroffenen visualisiert und dadurch erfahrbar gemacht werden. Dies macht sie zu sehr seltenen und damit umso wichtigeren Zeitzeugnissen. Zwei weitere Beispiele aus der Ausstellung zeigen, welch sprechende Quellen fotografische Exponate sind. Ein Fotoalbum aus dem Jahr 1940/41 enthält auf den ersten Blick unscheinbare Fotografien eines Liebespaares.21 Heinz Joachim stellte das Album für seine Frau Marianne zusammen. Beide waren frisch verheiratet, als sie sich der jüdischen und kommunistischen Widerstandsgruppe um Herbert Baum anschlossen. Nach dem Brandanschlag der Gruppe auf die antisowjetische Ausstellung »Das Sowjet-Paradies« in Berlin im Mai 1942 wurden beide verhaftet und zum Tode verurteilt. Sie wurden wie fast zwanzig weitere Mitglieder der Gruppe Baum in der Haftanstalt Berlin-Plötzensee hingerichtet. Fast alle siebzig Fotografien sind Porträts und wurden mit liebevollen, teils witzigen, teils ironischen Kommentaren versehen. Sie zeigen Heinz und Marianne Joachim mit Freunden und Bekannten. Die Bilder sind in Rathenau entstanden, wo Marianne Joachim von 1940 an Zwangsarbeit leisten musste. An den Wochenenden bekamen die jungen Arbeiterinnen dort Besuch von ihren Freunden. Diese scheinbar unbeschwerten Tage sind in dem liebevoll gestalteten Album festgehalten. Die Abbildungen zeigen den Versuch, sich trotz der schwierigen Situation ein Stück Normalität und jugendliche Unbeschwertheit zu bewahren. 2003 übergab der Bruder von Heinz Joachim das Album als Dauerleihgabe an das Jüdische Museum. Eine Einzelfotografie, die eine ganz andere Atmosphäre einfängt, zeigt eine Frau auf einem Sofa sitzend, ein aufgeschlagenes Buch in der Hand, die wie abwesend ins Leere blickt.22 Im Zimmer ist im 108
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Abb. 4: Annemarie Kuttner, Margarete Kuttner kurz vor ihrer Deportation in ihrer Wohnung, Berlin 1943; Jüdisches Museum Berlin, Inv.-Nr. 2016/185/0, Schenkung von Paul Kuttner.
grund ein Schreibtisch mit Schreibutensilien und Lampe zu sehen und rechts im Vordergrund das Fußende eines Doppelbettes. Die Abbildung zeigt Margarete Kuttner kurz vor ihrer Deportation. Am 26. Februar 1943 wurde sie mit über 900 anderen Berliner Jüdinnen und Juden nach Auschwitz-Birkenau verschleppt und dort ermordet. Aufgenommen wurde das Foto von ihrer Tochter Annemarie. Die Tochter überlebte im Untergrund, konnte ihre Mutter aber nicht zu diesem Schritt überreden. Der Sohn Paul Kuttner, der mit sechzehn Jahren Berlin 1939 mit einem Kindertransport Richtung England verließ, schrieb zu dem Bild: »Meine Mutter, Margarete Kuttner, in ihrem Zimmer in Berlin’s Uhlandstrasse 114/115 ungefaehr einen oder zwei Tage bevor sie von der Gestapo nach Auschwitz verschleppt wurde. Meine Schwester Annemarie hat das Bild aufgenommen und entwickeln lassen; gleich danach ging sie untergrund und hatte sich dadurch das Leben gerettet. Sie flehte meine Mutter an, auch mit ihr sich zu verstecken, aber meine Mutter dachte, dass sie nur irgendwo zur Zwangsarbeit geschickt wuerde, aber anstatt dessen ist sie sofort am 26. Februar 1943 mit dem 30. Osttransport nach Auschwitz gebracht worden, s[w]o sie in der letzten Vergasung dort im November 1944 umkam.«23 109
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Viele der vorgestellten Fotografien verdeutlichen die Bedeutung der Geschichten hinter der bloßen Abbildung. Auf den ersten Blick erscheinen sie oft unscheinbar, zum Teil sogar ausgesprochen positiv – ihren Kontext erhalten sie durch zusätzliche Informationen. So ist den Fotografien von Sonnenfeld nicht anzusehen, dass sie durch Ausgrenzung und Diffamierung entstanden sind. Das umfangreiche Konvolut wird von externen Interessierten oft angefragt, auch um das jüdische Leben in den 1930er Jahren generell und bunt abzubilden. Eine wichtige Aufgabe ist es hierbei, immer auf den Entstehungskontext der Bilder zu verweisen und ihre besonders komplexe Bedeutung zu vermitteln. Ein anderes Beispiel ist das vorgestellte Album von Marianne und Heinz Joachim. Die Fotografien betonen die Unbeschwertheit des abgebildeten Paars, wohingegen die Betrachter in der Ausstellung erfahren, dass sich die beiden dem Widerstand gegen die Nationalsozialisten angeschlossen hatten und zum Tode verurteilt wurden. Um die verschiedenen Bedeutungsebenen herausarbeiten zu können, müssen Fotografien sehr genau erschlossen werden. Museen sind hier in einer besonderen Verantwortung, zu recherchieren, die Informationen zu dokumentieren und auch weiterzugeben: Wer hat was, wann und für wen fotografiert? Wer hat Beschriftungen vorgenommen und wann wurden diese hinzugefügt? Wann, wie und von wem wurde die Fotografie an die Museumssammlung weitergegeben? Im Gegensatz zu Einzelfotografien kommen bei Fotoalben zusätzliche Fragen hinzu: Wer hat die einzelnen Aufnahmen in die neue Struktur eines Albums zusammengefügt? Für wen, mit welcher Intention und wann ist dies geschehen? Wer hat Zusatzinformationen hinzugefügt, wie Beschriftungen oder Kommentare auf den Seiten des Albums? Werden die Fotografien dadurch in andere Kontexte gestellt? Und wie wurden Alben überliefert? Fotoalben sind komplexe Informationssysteme, die sorgfältig gelesen werden müssen. Meist folgen die Alben einer bewusst gewählten Choreografie, einer Ordnung, einer Leserichtung. Interessant ist nicht nur das Abgebildete, sondern auch das, was fehlt. Das Nicht-Abgebildete liegt entweder als fotografische Aufnahme grundsätzlich nicht vor oder wurde nicht in das Album aufgenommen. Die Bedeutung von Rückseitenbeschriftungen verdeutlichen zwei weitere Fotografien aus der Fotografischen Sammlung. Die handschriftlich hinzugefügten Informationen verändern den Kontext des Abgebildeten grundlegend. Die erste Fotografie zeigt eine in die Kamera lächelnde Frau im Sommerkostüm, ihr etwa viermonatiges Baby in einem Kinderwagen vor ihr – eine typische und positiv konnotierte Alltagsszene.24 Auf der Rückseite ist handschriftlich mit Kugelschreiber vermerkt: » 110
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sine / Helga / mit Baby / 1941 / Berlin / deportiert 1942«. Die Rückseiten beschriftung steht in krassem Gegensatz zum Bildinhalt. Eine weitere Fotografie zeigt einen jungen lächelnden Mann im leicht seitlichen Profil, die Frisur zurechtgemacht, im Anschnitt Hemd, Sakko und Krawatte erkennbar. Die Rückseite ergänzt das unauffällige Porträt mit der handschriftlichen Aufschrift: »19-10-42 / Vergast«.25 Die beiden Fotografien erhalten durch die Beschriftungen auf den Rückseiten einen spezifischen Kontext und stellen die abgebildeten Personen in direkten Bezug zu Verfolgung und Mord. Zudem werden die Bedeutung der Fotografie im Gedächtnis der Familie und die enge Bindung zu den Abgebildeten unterstrichen. Wie bei dem Foto von Margarete Kutter halten die Abbildungen Szenen von Menschen fest, die kurze Zeit später ermordet wurden. Die Fotografien werden dadurch zu Objekten, durch die an diese Personen erinnert werden kann. Neben solchen Einzelfotografien enthält die Fotografische Sammlung auch Fotoalben, die im Zusammenhang mit der Bildüberlieferung aus der Zeit des Nationalsozialismus von besonderem Interesse sind. In diesen Alben kommt es vor, dass einzelne relevante Fotografien in einem größeren Themenkomplex geradezu versteckt sind. So in dem Album mit verschiedenen Fotografien von Walter Roos, der 1917 in Brücken, einem Dorf im heutigen Rheinland-Pfalz, geboren wurde und 1939 in die USA emigrierte.26 Das Album enthält typische Bilder vom Fami lienleben: Schule, Ausflüge und der Berufsalltag im eigenen Geschäft. Eine Albumseite dazwischen zeigt fünf Fotografien mit umgestoßenen und zerstörten Grabsteinen – eine Friedhofsschändung 1934/35 in dem kleinen Ort Steinbach am Glan. Die Fotografien konnten in die Emigration mitgenommen werden und sind dadurch bis heute erhalten geblieben. In einem Fotoalbum von Rudi Barta ist ein anderes besonderes Foto zu finden.27 Rudi Barta wurde 1914 geboren, wuchs in Berlin auf und war in der jüdischen Jugendbewegung sehr aktiv. 1938 konnte er zusammen mit seiner Frau – das Paar hatte kurz zuvor geheiratet – nach Palästina fliehen. Das Album wurde ihm 1937 zu seinem Geburtstag von zwei Kindern übergeben, die er betreut hatte. Es enthält viele Fotos der jüdischen Jugend- und Hachscharabewegung, darunter zahlreiche Gruppenporträts im Freien. Eine Aufnahme zeigt eine Gruppe marschierender Personen. Leider ist das Bild nicht gut erhalten, aber durch die Erinnerungen Rudi Bartas wird die Aufnahme zu einem einzig artigen Zeitzeugnis: In der abgebildeten Gruppe ist unter anderem Rudi Barta zu sehen. Sein rechter Arm ist ausgestreckt in Andeutung eines Hitlergrußes, womit er sich über die Hitlerjugend lustig machte. Das 111
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Bild wurde wahrscheinlich 1935 aufgenommen. Für Juden war es nicht nur gefährlich, solche Fotografien zu machen, sondern auch, sie zu besitzen und aufzuheben. Vielleicht sind solche Fotografien deshalb in unscheinbareren Zusammenhängen größerer Alben versteckt worden, in unauffälligen Familienkontexten oder Gruppenaufnahmen, um das Gefahrenpotential, das von ihnen ausging, zu minimieren. Wie die zwei letztgenannten Beispiele sind auch viele weitere Foto grafien aus der Zeit des Nationalsozialismus nur erhalten geblieben, weil sie in die Emigration mitgenommen werden konnten. In den Familien werden sie als wichtige Zeugnisse bewahrt und sind für die Familien erinnerungen prägend. Die Fotografien von Werner Fritz Fürstenberg wurden dem Jüdischen Museum Berlin in einem Album übergeben. Neben den schon erwähnten 26 Fotografien von antisemitischen Schildern aus dem Jahr 1935 sind dort 18 Fotos vom noch zerstörten Berlin aus dem Jahr 1949 zu sehen, darunter auch das stark beschädigte Rosenhaingeschäft am Kudamm. Es ist sicherlich kein Zufall, dass diese beiden Motivgruppen in einem Album zusammengeführt wurden und somit die Ausgrenzung und Diffamierung von Juden mit den immensen Kriegsschäden in Verbindung gebracht werden.
Fazit Unter »Fotografie im Nationalsozialismus« werden meist Bilder aus Täterperspektive verstanden und behandelt. Auch im Internet wird dies durch eine entsprechende Bildersuche bestätigt. Der Begriff umfasst aber auch Bilder, die jüdische Fotografen und Fotografinnen zwischen 1933 und 1945 angefertigt haben. Die Benennung dieser Abbildungen als »Gegen-Bilder« lenkt vom Wesentlichen dieser Fotografien ab. Sie sind nicht zuerst Bilder »gegen etwas«, sondern definieren sich vielmehr durch ihren speziellen Blick. Diese jüdischen Perspektiven können nicht nur mit Hilfe der überlieferten Geschichten gelesen werden, sondern auch auf einer rein visuellen Ebene, wie zum Beispiel bei den Foto grafien von Werner Fritz Fürstenberg oder Hans Sachs. Anhand der Fotografien aus dem Jüdischen Museum Berlin in Dauerausstellung und Sammlung wurde versucht, das Besondere an Bildern, die jüdische Perspektiven wiedergeben, zu verdeutlichen. Entscheidend ist bei diesen Aufnahmen nicht nur das Abgebildete, sondern auch das Nicht-Abgebildete: Was konnte überhaupt fotografiert werden? Welche Gefahr ging vom Fotografieren und von der darauffolgenden Bewahrung der Bilder aus? Was ist bis heute erhalten geblieben? Und was 112
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wurde zerstört? Die entstandenen Leerstellen sind dabei genauso zu berücksichtigen wie die bis heute erhalten gebliebenen Fotografien. Während die Dauerausstellung des Jüdischen Museums Berlin in der Darstellung der Zeit von 1933 bis 1945 nicht ganz ohne Motive aus Tätersicht auskommt, werden solche Motive in der Fotografischen Sammlung des Museums nicht aufgenommen. Fast alle Fotografien, die dort aufbewahrt werden, sind durch die Mitnahme in die Emigration erhalten geblieben. Es gibt aber auch Motive, die in der Illegalität entstanden sind und bis heute überliefert wurden, oder Fotografien, die noch heute existieren, aber von Personen angefertigt wurden oder Personen zeigen, die ermordet wurden. Die Sammlungstätigkeit des Museums beweist, dass solche Fotografien weiterhin entdeckt werden können. Sie tauchen auch heute noch im Privatbesitz auf, auch in Entschädigungsakten oder in anderen thematischen Zusammenhängen. In den Familien werden sie als wichtige Artefakte auf bewahrt, oft zusammen mit Informationen und Geschichten über die abgebildeten Themen und Personen, häufig aber auch ohne Zusatzinformationen oder nur mit sehr rudimentären Angaben. Des Öfteren sind sie auch mit Erinnerungen an Menschen verbunden, von denen es keine Fotos mehr gibt. Wenn Stifterinnen und Stifter dem Museum solche Fotografien schenken, ist dies sowohl ein großer Vertrauensbeweis als auch eine besondere Verpflichtung, die Abbildungen im Kontext weiterer Informationen zu dokumentieren und zu bewahren. Die Fotografien sind essentielle historische Quellen, die das heutige Bildgedächtnis der Zeit des Nationalsozialismus wesentlich erweitern und somit zu mehr Multiperspektivität, Differenzierung und Sensibilität beitragen.
Anmerkungen 1 Vgl. Gerhard Paul, Vom Bild her denken. visual history 2.0.1.6., in: Jürgen Danyel u. a. (Hrsg.), Arbeit am Bild. Visual History als Praxis, Göttingen 2017, S. 15-72; Jens Jäger/Martin Knauer, Bilder als historische Quellen? Ein Problemaufriss, in: Dies. (Hrsg.), Bilder als historische Quellen? Dimension der Debatten um historische Bildforschung, München 2009, S. 7-26. 2 Hanno Loewy, »… ohne Masken«. Juden im Visier der »Deutschen Fotografie« 1933-1945, in: Kunst- & Ausstellungshalle der BRD (Hrsg.), Deutsche Fotografie. Macht eines Mediums 1870-1970, Köln 1997, S. 135. 3 Vgl. Theresia Ziehe, Die Geschichten hinter den Fotografien. Die Fotografische Sammlung des Jüdischen Museums Berlin, in: Rundbrief Fotografie 22 (2015), S. 26-36. 4 jmberlin.de/dauerausstellung (17.1.2022).
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theresia ziehe 5 jmberlin.de/leitbild-jmb (17.1.2022). 6 Vgl. Anna Rosemann, Erinnerungen aus dem Leben Walter Frankensteins. Mit vielen Fotos aus der Sammlung Walter und Leonie Frankenstein, 2017/18, jmberlin.de/node/6137 (17.1.2022); Klaus Hillenbrand, Nicht mit uns. Das Leben von Leonie und Walter Frankenstein, Frankfurt am Main 2008. 7 Jüdisches Museum Berlin (JMB ), Interview mit Walter Frankenstein, 1.12.2016 in Berlin. 8 JMB , Inv. Nr. 2011/73/0. 9 JMB , Inv. Nr. 2008/311/0. 10 Hillenbrand, Leben (wie Anm. 6), S. 11. 11 Ebd., S. 56. 12 JMB , Inv. Nr. 2010/164/0. 13 JMB , Inv. Nr. 2010/265/0. 14 JMB , Bericht von Elisheva Lernau, 1.4.2003, Inv. Nr. 2004/127/29. 15 Fotografien von Herbert Sonnenfeld: JMB , Inv. Nr. FOT 88/500/0; Fotografien von Abraham Pisarek: Bildarchiv Abraham Pisarek. 16 JMB , Inv. Nr. L-2005/30/6. Vgl. Christoph Kreutzmüller/Theresia Ziehe, Crossing Borders in 1935. Fritz Fürstenberg’s Photographs of Persecution in Nazi Germany, Leo Baeck Yearbook 64 (2019), S. 73-89. 17 Vgl. Theresia Ziehe, Fotografische Zeitzeugnisse. Zur Geschichte der Sammlung Herbert Sonnenfeld, 2014, jmberlin.de/node/7513 (23.1.2022). 18 Vgl. bpk-bildagentur.de (23.1.2022). 19 JMB , Inv. Nr. 2017/285/0. 20 Bayerisches Hauptstaatsarchiv, Landesentschädigungsamt, LEA 31509. 21 JMB , Inv. Nr. L-2003/19/128. 22 JMB , Inv. Nr. 2016/185/0. 23 JMB , Zettel mit schreibmaschinengetipptem Text von Paul Kuttner zur Fotografie. Vgl. Paul Kuttner, An Endless Struggle. Reminiscences and Reflections, New York 2009. 24 JMB , Inv. Nr. DOK 96/14/15. 25 JMB , Inv. Nr. 2010/122/392. 26 JMB , Inv. Nr. 2020/72/0; Sabrina Akermann, Das Fotoalbum der Familie Roos, 2020, jmberlin.de/node/7425 (18.1.2022). 27 JMB , Inv. Nr. Fremdbestand/1257/0.
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III . Fotografie und Gewalt.
Neue Perspektiven
Christoph Kreutzmüller
Grauen Übersehen Reflektion über die Bilder des Lili-Jacob-Albums
»Grauen« kann, so das Grimm’sche Wörterbuch, sowohl ein »sittliches Entsetzen« als auch eine »scheue Erregung« sein. Grauen ist ein Schauer, den wir alle zuweilen lustvoll zulassen oder der einen lähmend überkommt. Der Eintrag erfasst gängige zwiegespaltene und zwiespältige Reaktionen auf die Fotos der Shoah sehr präzise. Natürlich gibt es Bilder, welche die Betrachtenden nicht nur im Sinne einer düsteren Faszination »erregen«, sondern auch »entsetzen«. Ihr Anblick lähmt auf den ersten Blick. Die Gewalt, die in ihnen ist – die Gewalt, die die Bilder zeigen, und/oder die das Schießen der Bilder ausdrückt – springt sofort ins Auge. Der Fotograf oder (viel seltener) die Fotografin war Teil der Tat oder stand den Tätern doch wenigstens nahe. Die Kamera war zur Waffe geworden. Jeder Schuss entwürdigte die Abgebildeten zusätzlich – und konservierte den Zustand des Entwürdigt-Seins durch die Zeit. Oft ist die abgebildete Gewalt solcherart, dass die Betroffenen sie nicht überlebt haben können. Sie konnten ihre Zustimmung zum Zeigen der Fotos nicht mehr geben. Doch wurden auch jene, die überlebt haben, in der Regel nicht gefragt, was sie von einer Veröffentlichung der Fotos halten. Ob ich als Autor, Kurator oder Lehrender diese Fotos zeigen und »Das Leiden anderer betrachten« (Susan Sontag)1 will, darüber ist zu streiten, das gilt es, mit Augenmaß abzuwägen und den Bildern wie den Abgebildeten mit Respekt zu begegnen.2 In diesem Sinne hat der »pictorial turn« uns Betrachtenden nicht nur die Bedeutung von visuellen Quellen nachdrücklich vor Augen geführt, sondern auch ans Licht gebracht, wie wenig über die Fotografien der Shoah bekannt ist. Jahrzehntelange, respektlose Vernachlässigung in Form der Verwendung der Fotos als Illustrationen hat dazu geführt, dass relevante Kontextinformationen verloren gingen oder gar nicht erst aufgezeichnet wurden. Selbst die Geschichte eines der berühmtesten Fotoalben, des Lili Jacob-Albums, ist schwer zu rekonstruieren. Dieses Album mit dem historischen Titel »Die Umsiedlung der Juden aus 117
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Ungarn« hatte der SS -Fotograf und Leiter des Erkennungsdienstes der Politischen Abteilung im KZ Auschwitz, Bernhard Walter, zusammen mit seinem Assistenten Ernst Hofmann im Auftrag des Kommandanten Rudolf Höß angelegt. Ziel des zwischen Mitte Mai und Anfang August 1944 fotografierten Albums war es, die größte Massenmordaktion in der Geschichte von Auschwitz-Birkenau – die Ermordung der Jüdinnen und Juden aus Ungarn – als reibungslos gemeisterten Prozess zu inszenieren.3 Die Holocaust-Überlebende Lili Jacob fand das Album in den Privatsachen Bernhard Walters nach der Befreiung des KZ Mittelbau-Dora, wohin Walter im Februar 1945 versetzt worden war, und erlaubte dem Jüdischen Museum in Prag ein Jahr später, das Album abzufotografieren. Diese Prager Fotos dienten in den Folgejahren als Beweismittel vor Gericht und als Grundlage für weitere Kopien und für Publikationen.4 Bereits in ihrer Erstveröffentlichung in Friedrich Bedřich Steiners »Tragödie der Slowakischen Juden« wurden die Bilder 1949 aus ihrem geographischen Zusammenhang gerissen: Steiner nutzte Abzüge der Kopie, um das Schicksal der Jüdinnen und Juden aus der Slowakei zu bebildern. Die großen Transporte aus der Slowakei waren allerdings bereits 1942 in Auschwitz-Birkenau eingetroffen, meistens bei Nacht und lange bevor die auf den Fotos sorgsam im Tageslicht in Szene gesetzte Rampe gebaut wurde.5 Ota Kraus und Erich Kulka verwandten in der vierten Auflage ihrer einflussreichen Studie »Todesfabrik« (Továrna na Smrt) die von ihnen ausgewählten Fotos des Albums gleichsam als Illustration des Mordes an sich.6 Es ist davon auszugehen, dass Gerhard Schoenberner über diese Publikation auf die Fotos aufmerksam wurde. In jedem Falle wählte er 1959 einige Bilder des Albums für seine bahnbrechende und auflagenstarke Edition »Der Gelbe Stern« aus. Dabei ging er auf den Kontext der Entstehung der, wie er es nannte, »Kollektion« kaum ein.7 So kam es, dass Serge Klarsfeld Ende der 1970er Jahre richtiggehend überrascht war, als er herausfand, dass es sich bei den Fotos aus Auschwitz-Birkenau um ein zusammenhängendes Album handelte.8 Mit dem Erfolg des »Gelben Sterns« wurden die Fotos noch bekannter, in Tausenden von Ausstellungen gezeigt, in einer nicht mehr zu überblickenden Anzahl von Publikationen gedruckt und wahrscheinlich auf ebenso vielen Websites geladen und geteilt.9 Wirklich betrachtet wurden sie dabei aber häufig nicht. Auf der Studie »Die fotografische Inszenierung des Verbrechens« aufbauend wird im Folgenden überprüft, welche Aussagen sich zu den Fotos des Albums und dem Akt des Fotografierens in Auschwitz-Birkenau in frühen Interviews mit Überlebenden rekonstruieren lassen, und inwieweit das Album selbst helfen kann, einzelne Fotos angemessen zu betrachten und besser zu verstehen. 118
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Fotos im Licht früher Aussagen Zur Kontextualisierung der Fotos – und der Frage, wie die Fotos des Albums entstanden – sind keine schriftlichen Quellen bekannt. Wahrscheinlich war das Album ursprünglich Teil eines Berichts von Rudolf Höß über die »Ungarn-Aktion«. Dieser ist aber ebenso wenig überliefert wie beispielsweise der Schriftverkehr, der mutmaßlich zur Sondergenehmigung für die Erstellung des Albums führte.10 Umso wichtiger sind die Aussagen der Überlebenden. Hierbei ist allerdings zu beachten, dass die Erinnerung der Überlebenden durch das Betrachten von Fotos beeinflusst worden sein könnte. Jorge Semprún, der in Buchenwald befreit worden war, hat dies reflektiert: »Es gab auch Bilder aus Buchenwald, die ich wiedererkannte. Oder vielmehr: von denen ich mit Bestimmtheit wußte, daß sie aus Buchenwald stammten, ohne sicher zu sein, sie wieder zu erkennen. Oder vielmehr: ohne mit Sicherheit zu wissen, daß ich sie selbst ge sehen hatte. Dennoch hatte ich sie gesehen. Oder vielmehr: ich hatte sie erlebt. Verwirrend war der Unterschied zwischen dem Gesehenen und dem Erlebten.«11 Um Interferenzen zu vermeiden, scheint es geboten, sich besonders auf jene Aussagen zu konzentrieren, die entstanden, bevor die Fotos ab Anfang der 1960er Jahre immer größere Verbreitung fanden: Dabei kommen vor allem die Interviews der ungarischen Hilfsorganisation, des Nationalen Komitees zur Betreuung der Deportierten (Degob) in den Blick. Diese Interviews wurden 1945/46 in Ungarn geführt. Im Laufe von achtzehn Monaten haben die Mitglieder-Komitees die persönlichen Geschichten von etwa 5.000 Überlebenden aufgezeichnet. Der Großteil der Berichte ist auf Ungarisch, konnte aber in den letzten Jahren ins Englische übersetzt werden. Wie jede andere Quelle haben auch diese Berichte ihre Grenzen: Es wurden natürlich diejenigen befragt, die nach Ungarn zurückkehrten. Lili Jacob war nicht unter ihnen. Obwohl sie 1944 aus dem damaligen Ungarn deportiert wurde, fühlte sie sich als tschechoslowakische Staatsbürgerin und ließ sich – nach der Befreiung – zunächst in der tschechischen Stadt Děčín nieder.12 Nichtsdestotrotz waren die Berichte der ungarischen Jüdinnen und Juden bei den Arbeiten für die Kontextualisierung der Fotos des Lili Jacob-Albums von unschätzbarem Wert.13 Eine Suche nach den Stichworten »camera«, »film«, »photo«, »photograph« und »picture« in der Datenbank des Degob liefert allerdings nur etwa zwanzig Ergebnisse und ein einziges Bild, das ein Lager in Berlin 119
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zeigt und nicht Auschwitz-Birkenau.14 Nur wenige Überlebende erinnerten sich daran, fotografiert worden zu sein. Ganz augenscheinlich war das Fotografiertwerden nur eines von vielen Geschehnissen, die den Jüdinnen und Juden widerfahren waren – und sicher nicht das Einprägsamste.15 Zwei Frauen aus Pestszenterzsébet erinnerten sich, dass amerikanische Soldaten nach der Befreiung »sogar ein Foto« von ihrem »schrecklichen Zustand« gemacht hätten.16 Dies öffnet eine andere Perspektive auf die Fotos der sogenannten Befreiung, als Semprún beschreibt. Die beiden Frauen empfanden das Fotografiertwerden angesichts ihres körperlichen Zustandes offenbar auch als Demütigung. Ganz ähnliche Gefühle hatten zwei Frauen aus Técső ein Jahr zuvor beherrscht: Sie gaben an, dass die »schreckliche Demütigung der Registrierung« und der Umkleideprozeduren »noch dadurch verschlimmert wurde, dass die Deutschen uns nacheinander fotografierten, wenn wir herauskamen«.17 Es ist davon auszugehen, dass mit »den Deutschen« Bernd Walter und Ernst Hofmann gemeint waren, die im Auftrag von Höß mit einer Sondergenehmigung frei im Lagerkomplex fotografieren durften. Keines der erwähnten Fotos von nackten Frauen wurde jedoch in das überlieferte Album aufgenommen. War der Film nichts geworden? Oder hatten Walter und Hofmann die Frauen einfach nur demütigen wollen und/oder haben sie aus abgrundtief gemeinen sexuellen Motiven fotografiert? Eine weitere Analyse der Aussagen zeigt allerdings, dass es den Über lebenden weniger um die Frage ging, ob sie vielleicht fotografiert worden waren, sondern um den Verlust der persönlichen Fotos.18 Dieser Verlust wog umso schwerer, als die meisten der abgebildeten Familienmitglieder ermordet worden waren.19 Auch Lili Jacob erinnerte sich 1959, dass das Familienfotoalbum von ihrer Mutter nach Auschwitz-Birkenau mitgenommen worden war – und verschwand, als sie das Gepäck auf der Rampe zurücklassen mussten.20 Das Fotoalbum der Familie wird sich in dem Berg von Gegenständen befunden haben, der am Morgen des 26. Mai 1944 am westlichen Ende der noch unfertigen Rampe (oben rechts auf dem Foto) aufgetürmt worden war. In ihrer 1961 erschienenen Autobiografie beschreibt die ungarische Jüdin Recha Weiss, dass sie auf den Boden vor den leeren Waggons neben »zerbrochenen Flaschen« auch einen »zerrissenen Film« gesehen hatte.21 Auf den Fotos, die Walter und Hofmann aufnahmen, sind auf dem Boden neben den Waggons außer häufig zerrissenen Papieren auch Fotografien zu sehen. Die zurückgelassenen Filme, Fotos und Alben wurden im Effekten lager, »Kanada« genannt, aussortiert oder einfach plattgetreten. 120
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Abb. 1: Foto von Bernhard Walter, 26.5.1944, Yad Vashem FA 268/26.
fetzen sind auf vielen Bildern im Kapitel »Effekten« des Lili JacobAlbums zu sehen. Da es keine Verwendung dafür gab und sie letztlich Beweise für den Mord waren, wurden die Überbleibsel in der Regel verbrannt. Es scheint, dass die Fotoalben – vor allem jene ohne (auffällige) Beschriftung – manchmal wiederverwendet wurden. Da die Alben oft nur mit einer Kordel zusammengehalten wurden, war es relativ einfach, sie auseinanderzunehmen und unbenutzte Seiten und Einbände zu verwenden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich viele SS- Männer im Effektenlager »bedienten«, wenn sie etwa ein neues Familienalbum anlegen wollten. Auch der SS- Fotograf Bernhard Walter tat dies allem Anschein nach. Die Kopie, welche Lili Jacob in der SS- Kaserne Dora-Nordhausen fand, war nach Lage der Dinge aus einem solchen wiederverwendeten Album angefertigt worden. Walter hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, die gesamte Beschriftung zu löschen.22 Häufiger als Alben, die in den Rucksäcken und Koffern der Deportierten verstaut waren und dann auf der Rampe zurückblieben, erwähnen die Überlebenden den Verlust einzelner Fotos, die sie oft direkt bei sich gehabt hatten. Diese Fotos verloren sie erst beim Auskleiden in dem Zentralsauna genannten Wasch- und Registrierungsgebäude, welches die Überlebenden als »Bad« bezeichneten. Eine Frau, die aus Munkács gebracht worden war, sagte so aus: 121
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»Wir waren 70 Personen in einem Viehwaggon. Es waren auch viele Kinder dabei und wir bekamen kein Wasser. Die Kinder weinten sehr und niemand wollte uns Wasser geben. Wir wurden von Gendarmen nach Kassa eskortiert, und dann wurden wir von den Deutschen übernommen. Wir weinten wegen des Hungers, besonders die Kinder. Nach meiner Ankunft in Auschwitz wurde ich von meiner Mutter und meinem Vater getrennt, da sie schon 50 Jahre alt waren. Wir haben uns nicht wiedergesehen. Wir gingen ins Bad, wo uns alles abgenommen wurde, sogar das Foto von meiner Mutter.«23 Unter ganz ähnlichen Umständen verlor auch eine Lehrerin aus Beregszász ihr letztes Foto. Die 1894 geborene Frau muss eine der ältesten Überlebenden des Transportes gewesen sein und berichtete, dass ihr das Bild ihrer beiden Söhne »im Bad« abgenommen worden war.24 Leider machte die Frau keine Angaben über das Datum ihrer Ankunft in Auschwitz-Birkenau. Da es drei Transporte aus Beregszász gab, muss sie nicht unbedingt in jenem gewesen sein, der am 26. Mai 1944 fotografiert wurde. Ebenfalls in der »Zentralsauna« verlor eine junge Frau das Foto ihres Babys. Sie berichtete, es in ihren Schuhen versteckt zu haben, die sie jedoch nicht zurückbekam.25 Viele Schuhe wurden in das KZ Sachsenhausen verschickt, wo sie dann auf der Suche nach Wertgegenständen zerlegt wurden. Die in den Schuhen versteckten Fotos wurden wahrscheinlich sofort vernichtet.26 Viele hatten die Fotos geliebter Menschen schon verloren, bevor sie in Auschwitz-Birkenau ankamen: Manchmal wurde in den kurzlebigen Sammelstellen geraubt, die die Überlebenden »Ghettos« nannten. Eine Frau aus Kispest erinnerte sich daran, von Hebammen durchsucht worden zu sein. Es ist offensichtlich, dass die Leibesvisitation über eine bloße äußere Abtastung des Körpers hinausging. Damit nicht genug: »Es war die schlimmste Minute meines Lebens, als ein ungarischer Soldat mein Gebetsbuch an sich riss. Es enthielt die Fotos meiner lieben Eltern und meines Verlobten und brach nach einem Tritt in tausend Teile«.27 Ein Mann aus Szentes, der in Ungarn zunächst Zwangsarbeit hatte leisten müssen, erinnerte sich, dass er von der SS ausgeraubt wurde, als er den Deportationszug bestieg: »Ich wurde zusammengeschlagen und mir wurde mein Mantel abgenommen. Als ich um das Foto meiner Familie bat, das ich in der Tasche des Mantels gelassen hatte, schlug mir die SS nochmal ins Gesicht«.28 Aus einer anderen Perspektive berichtet eine Frau, die im April 1944 mit einem sehr frühen (wenn nicht gar dem ersten) Transport aus Ungarn in Auschwitz-Birkenau ankam. Da die neue Rampe noch nicht annähernd fertiggestellt war, hielt »der Zug weit weg« vom Lager an der 122
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sogenannten alten Judenrampe. Dort fand auch die mörderische Selektion statt, welche Walter im Album »Aussortierung« nannte.29 Die Frau überstand sie – und auch die nachfolgende Quarantäne – und wurde mit anderen in das sogenannte Kanadakommando eingeteilt, das das Gepäck öffnete und die Kleidung der Deportierten sortierte. »Wir wurden besser behandelt und trugen die gleiche gestreifte Kleidung und rote Kopftücher. Ich verbrachte hier etwa vier Monate. Wir arbeiteten mit der Kleidung von Toten. Wir fanden Dokumente und Fotos in ihren Taschen. Diese Arbeit hat uns seelisch völlig zerstört. Es war schrecklich, die Schornsteine zu sehen, die jeden Tag Feuer ausstießen, und die brennenden Gruben von weitem zu sehen.«30 Eine aus Munkács deportierte Frau war ebenfalls im Kanadakommando, sie konzentrierte sich in ihrem Bericht auf eine andere Seite ihrer Sklavenarbeit: »Man konnte hier alles finden, von Kleidung, Lebensmitteln und Bettwäsche bis hin zum teuersten Schmuck, wertvollen Briefen und Fotos. Wir haben hier die schönsten Dinge gesehen, denn jeder hat seine besten Sachen hierhergebracht, weil niemand dachte, dass auch der letzte Rucksack beschlagnahmt werden würde. Wir durften nichts behalten. Sie durchsuchten uns jede Woche, und wenn sie bei jemandem etwas fanden, schnitten sie ihm die Haare ab, schlugen ihn zusammen oder schickten ihn weg. Unsere Arbeit war relativ einfach und gut.«31 Offenbar wurden etliche Jüdinnen aus dem Transport aus Munkács in das Kanadakommando eingeteilt, das zu dieser Zeit aufgestockt wurde, weil so viele Menschen ermordet wurden und ihre »Effekten« sortiert werden sollten. Zwei Schwestern aus dieser Stadt »sortierten alle Kleider und das Gepäck, das die Deportierten mit gebracht hatten. Wir fanden auch unsere eigenen Sachen, und wir wollten unsere Pullover anziehen, weil uns sehr kalt war. Aber als sie das bemerkten, gaben sie uns 25 Schläge und nahmen uns alles weg, was wir hatten. Das Einzige, was wir retten konnten, war ein Foto unseres Vaters, das wir auch in Brezinka [Birkenau] unter den Tausenden anderer Fotos gefunden hatten. Wir versteckten es in unseren Schuhen und so bewahrten wir es ein Jahr lang auf, was eine ziemliche Sache war, weil sie uns ständig durchsuchten und mehr als einmal unsere alten Kleider nahmen und uns neue gaben. Wir haben das Foto immer noch, auch wenn es zerrissen und zerfleddert ist. Es ist die einzige Erinnerung, die uns von unseren Eltern geblieben ist.«32 123
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Die Schwestern waren unter Quarantäne gestellt worden und begannen erst fünf Wochen nach ihrem Eintreffen in dem Effektenlager zu arbeiten. Dass sie die ihnen abgenommenen Sachen vorfanden, zeigt, wie lange die Lagerverwaltung brauchte, um die gestohlenen Gegenstände auszusortieren. Dies unterstreicht die Tatsache, die auch beim Betrachten der Fotos in Lili Jacobs Album deutlich wird: Die SS in Auschwitz war mit der schieren Menge der von den Jüdinnen und Juden aus Ungarn geraubten Güter überfordert. Neben Gläsern, Flaschen, Prothesen, Unterwäsche, Zahnbürsten und Ähnlichem wurden anscheinend auch Fotos auf einem großen Stapel gesammelt und später verbrannt. Die beiden Schwestern erwähnen auch, wie schwierig es war, ein Bild zu verstecken. Aufgrund der häufigen Leibesvisitationen versuchten einige Häftlinge, sie im Lager zu verbergen. Ein Deportierter aus Budapest berichtete, wie er solche Fotos zufällig fand: »Ich habe zwei Wochen in Auschwitz verbracht, ohne zu arbeiten. Nur einmal musste ich 3 Blöcke reinigen; alte kranke Frauen aus Österreich und der Tschechischen Republik waren am Morgen zuvor von dort ins Krematorium gebracht worden. Dort fand ich Fotos von 58-65-jährigen Frauen, die von ihren Kindern und Enkeln umgeben waren, Dokumente, die zeigten, dass diese unglücklichen, unschuldigen Frauen alle geliebte und wertvolle Familienmitglieder gewesen waren, die ein sehr langes und nützliches Leben hätten leben können, wenn die Umstände normal gewesen wären«.33 Offenbar war der Mann Zeuge der Ermordung der meisten Insassen des Theresienstädter Familienlagers am 11. Juli 1944 gewesen.34 Noch spärlicher als die Aussagen Überlebender sind die Aussagen vor Gericht. Die Rechtstradition in Deutschland (wie auch in vielen anderen Ländern) basiert auf Zeugenaussagen und schriftlichen Dokumenten – und nicht auf Fotos. Der Prozess gegen Adolf Eichmann war das erste große Verfahren, bei dem die Fotos aus dem Lili Jacob-Album Verwendung fanden. Es spricht viel dafür, dass sie der bereits erwähnte Friedrich Bedřich Steiner eingebracht hatte, der in Jerusalem als Zeuge auftrat. Der Staatsanwaltschaft ging es jedoch im Wesentlichen darum, die Echtheit der Bilder durch die Identifizierung von Abgebildeten zu beweisen. Die dazu einvernommene Zeugin Esther Goldstein konzentrierte sich auf Personen, die sie aus ihrer Heimatstadt Tacovo kannte. Zum Entstehungskontext des Albums sagte Goldstein nur aus, dass ein »Deutscher in SS -Uniform« sie fotografiert habe.35 Nach Lage der Dinge war dies Ernst Hofmann, der am 29. oder 30. Mai sehr eng mit Walter 124
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zusammenarbeitete, diese Aufnahme aber ohne Begleitung machte, beziehungsweise mit einer Begleitung machte, die so zurückhaltend agierte, dass Goldstein sie nicht wahrgenommen oder aber vergessen hatte.36 Der Angeklagte Adolf Eichmann wurde nicht einmal zu den Fotos befragt. Das hätte sich vielleicht sogar gelohnt, weil er sehr wahrscheinlich zum Kreis der Empfänger der etwa fünfzehn Kopien des Albums gehörte, was die israelischen Ermittler allerdings nicht wissen konnten.37 Im Ermittlungsverfahren, das zum ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess führte, war die Staatsanwaltschaft gründlicher. Zwar war Walter nicht unter den Angeklagten, weil er bereits eine Strafe wegen seines Einsatzes in Auschwitz verbüßt hatte. Die Staatsanwaltschaft wollte aber so viel wie möglich über die Funktionsweise des Lagers und die Aufgaben der Täter wissen und vernahm den ehemaligen Fotografen 1959 als Zeugen. Im gleichen Jahr sagte der ehemalige Häftling Alfred Wóycicki aus, dass Walter von seinen Besuchen an der Rampe nicht nur müde und dreckig, sondern auch betrunken zurückkehrte. Zuweilen habe er sich mit seinem Assistenten in der Dunkelkammer eingeschlossen, gelacht und Filme entwickelt.38 Recht ungeniert nummerierte ein Mit arbeiter oder eine Mitarbeiterin des Landgerichts Frankfurt die Fotos des Albums, das Lili Jacob vorlegte, und schrieb direkt in die unersetzliche historische Quelle, obwohl auch Kopien der Fotos vorlagen.39 Zwar vernahm das Gericht den Zeugen Bernhard Walter und brachte ihn zum Eingeständnis, dass er einige der Fotos gemacht hatte. Doch versäumten es die Richter und die Staatsanwaltschaft zu erfragen, unter welchen Umständen und aus welchem Grund der ehemalige Leiter des Erkennungsdienstes in Auschwitz das Album angefertigt hatte.40
Fotos im Kontext des Albums Vor dem Hintergrund der spärlichen Informationen zur Entstehung des Albums liegt es auf der Hand – und folgt einem deutlich erkenn baren Forschungstrend –, das Album selbst als Quelle zu erfassen.41 Wie fruchtbar dies sein kann, haben in den letzten Jahren unter anderem die Analyse der Fotoalben des SS -Mannes und Massenmörders Johann Niemann42 wie auch des Adjutanten des letzten Kommandanten im Stammlager Auschwitz, Karl Friedrich Höcker, gezeigt.43 Auch die Bilder des Lili Jacob-Albums erschließen sich nur über eine sorgfältige Gesamtanalyse und eine Isolierung der unterschiedlichen Serien, aus denen das Album besteht. In der rekonstruierten Abfolge gewinnen auch Fotos, die häufig übersehen werden, neue Dringlichkeit und Bedeutung. 125
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Im Gegensatz zu seinem Chef Bernhard Walter war der Fotograf Ernst Hofmann, Lehrer aus Thüringen, wenig an der Komposition der Bilder interessiert und knipste häufig Schnappschüsse.44 Die Fotos der Serie sind bei Sonnenschein um die Mittagszeit aufgenommen. Die Sonne steht hoch, aber blendet nicht. Wahrscheinlich hat Hofmann sie Mitte/Ende Mai gemacht. Hierfür sprechen das satte Gras und der Blütenstand des Löwenzahns (Abb. 6).45 Dass es sich um Jüdinnen und Juden aus Ungarn handelt (und damit um das Jahr 1944), belegen die handgemachten Judensterne, die auf den Fotos zu sehen sind. Hinzu kommt der Umstand, dass die Fotos des Lili Jacob-Albums nachweislich in zwei Etappen gemacht wurden. Zwischen dem 16. und dem 31. Mai schossen die SS -Fotografen das Gros der Fotos. Hierbei konzentrierten sie sich darauf, den scheinbar ruhigen Gang des mörderischen Prozesses zu inszenieren und den fotografischen Nachweis zu erbringen, dass es sinnvoll gewesen sei, die meisten Ankommenden direkt bei ihrer Ankunft zu ermorden. Denn die mit der hohen Zahl der Ermordeten korrespondierende geringe Zahl von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern war nicht nur in den Rüstungsbetrieben auf Kritik gestoßen. Fast im Sinne eines Nachsatzes – und im gewissen Gegensatz zu den vorherigen Fotos – konzentrierten sich Walter und Hofmann Ende Juli/Anfang August 1944 darauf, zu zeigen, dass im Rahmen der »Ungarn-Aktion« auch Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter ausgerüstet worden waren, und zeigten kräftige, arbeitsfähige Frauen. Die Bilder der hier in Rede stehenden Serie folgen deutlich dem ersten Narrativ.46 Auf Anhieb scheinen die Fotos der Serie zu jenen Bildern zu gehören, die Walter oder Hofmann im Wäldchen zwischen den Krematorien IV und V aufgenommen hatten. Allerdings fehlen auf den vorliegenden Fotos die Bäume. Während auf den Fotos im »Birkenwald« ein karger, sandiger Boden zu sehen ist, saßen die Jüdinnen und Juden hier auf langem Gras. Bei näherer Betrachtung fällt zudem auf, dass die Fotos der Serie teils vor Stacheldrahtzäunen und teils vor einer breiten Straße angefertigt worden sind. Eine solche Straße gab es in der Nähe der Krematorien IV und V nicht. Im Hintergrund kommen zudem zwei Fenster einer gemauerten Baracke ins Bild (Abb. 5). Diese gehörten zur sogenannten Entwesungsbaracke des Frauenlagers, in der Kleidung entlaust wurde. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist der Ort der Fotos also eine Fläche zwischen der Lagerstraße und der Umzäunung des Lagers B Ia, das seit 1942 als Frauenlager fungierte. Abseits der ausgetretenen Pfade und der Rampe zeigt ein alliiertes Luftbild vom 31. Mai 1944 an dieser Stelle eine dunkle Fläche – wahrscheinlich Gras.47 Dies ist auch am rechten Rand 126
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Abb. 2-8: Ernst Hofmann, o. D. (Mai 1944); Fotos 102, 101, 99, 96, 144, 142, 141 und 144 des LJA , Yad Vashem FA 268/97, 95, 94, 91, 137, 136, 134.
Abb. 3.
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Abb. 4.
Abb. 5.
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Abb. 6.
Abb. 7.
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Abb. 8.
eines kurz zuvor von Bernhard Walter aufgenommenen Fotos deutlich zu erkennen: Die Fotos sind im Album in den Kapiteln »Nicht mehr einsatzfähige Männer« und »Nicht mehr einsatzfähige Frauen« vermengt. Bei den Abgelichteten handelte es sich ausnahmslos um Personen, die bereits bei der sogenannten Selektion ausgemustert worden waren und ermordet werden sollten. Es ist unklar, warum die Menschen nach der Selektion gerade an dieser Stelle warten mussten. Das Gras, auf dem sie saßen, war in einem weitgehend unberührten Zustand. Keinesfalls hatten hier zuvor schon Tausende andere Menschen gekauert. Waren vielleicht an diesem Tag so viele Transporte angekommen, dass die Kapazitäten der Krematorien und der Rückhalteflächen ausgeschöpft waren? Oder hatte es unerwartete Störungen im Ablauf des Mordens gegeben? Weil es sich um Fotos einer ruhenden Gruppe von Menschen handelte und der Fotograf sich bewegte, lässt sich die Abfolge der Fotos kaum rekonstruieren. Nicht unwahrscheinlich ist, dass Hofmann auf dem Weg von der Hauptwache zur Kreuzung, die als informelles Zentrum der SS an der Rampe fungierte, war und (oder Walter) zunächst die am Zaun sitzenden Männer fotografierte und sich dann umdrehte, um die Frauen und Kinder abzulichten. Die Männer, die am Zaun kauerten, sind von der Erschöpfung der Fahrt gezeichnet. Die Abbildung 2 130
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Abb. 9: Bernd Walter, 29. oder 30. Mai 1944, Yad Vashem FA 268/21.
zeigt einen Mann, der bereits in Ungarn durch das Scheren seines Bartes gedemütigt worden war. Mit einem Tuch versuchte er notdürftig, seine Blöße zu bedecken.48 Die beiden Männer hinter ihm scheinen miteinander zu reden. Offenbar war ihnen befohlen worden, ihre Hüte abzunehmen. Auch auf einem weiteren Bild der Serie (Abb. 3) waren die Männer mit Ausnahme eines etwas abseitsstehenden Greises barhäuptig. Fünf Männer saßen erhöht – auf einem Kanaldeckel, der heute noch auf dem Gelände zu finden ist. Hinter den Männern, auf der anderen Seite des Stacheldrahtzaunes, ist ein Fuhrwerk zu erkennen. Solche pferde bespannten Wagen wurden in Auschwitz-Birkenau eingesetzt, um Unrat abzutransportieren. Nachdem Hofmann oder Walter im Anschluss eine weitere Gruppe barhäuptiger Männer fotografiert hatte (Abb. 4), wandte er sich einem alten Mann zu, der breitbeinig auf dem Gras saß und direkt in die Kamera schaute (Abb. 5). Er trug Fußlappen statt Schuhen, schien sehr arm gewesen zu sein. Auch dieser Mann hatte offenbar seine Kopfbedeckung abnehmen müssen. Der sich bückende Mann links von ihm ist auf dem vorherigen Foto ebenfalls zu sehen. Die beiden Fotos wurden also schnell nacheinander aufgenommen. Vermutlich wandte sich der Fotograf nun mit Blickrichtung Norden den Frauen und Kindern zu, die auf der Freifläche zwischen dem Zaun und der Lagerstraße saßen. Letztere scheint auf der Abbildung 6 im 131
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Hintergrund auf. Den erschöpften Frauen und ihren Kindern ist die Erleichterung anzusehen, endlich frische Luft, Platz und etwas Ruhe zu haben. Das nächste (überlieferte) Foto – es entstand offensichtlich im Knien – zeigt ein kleines Kind, welches sich an die Knie einer älteren Frau anlehnt und ausruht, möglicherweise schläft. Ganz rechts weint ein anderes Kind. Etwas isoliert links hinter dem Kreis von Frauen und Kindern sitzt eine Frau, die ihre Bluse zuknöpft. Fast scheint es so, als habe sie gerade ein Kind gestillt. Etwas weiter in der Bildmitte ist ein Junge abgebildet, der eine viel zu große Jacke trägt. Da auf die Jacke ein gelber Stern genäht ist – der Junge aber zu jung war, um der Kennzeichnungspflicht zu unterliegen –, ist davon auszugehen, dass jemand dem Jungen die Jacke geliehen hatte. Vielleicht war ihm kalt gewesen oder seine Kleidung nass oder verschmutzt. Für ein weiteres Bild wandte sich der Fotograf einer Gruppe von zehn Kindern zu, die um zwei Frauen – möglicherweise Mutter und Tochter – saßen (Abb. 7). Ein Teil der Kinder schaute neugierig zu dem Fotografen. Wieder ist ein Junge in zu großer Jacke mit einem – nur notdürftig befestigten – gelben Stern zu sehen. Im Fokus eines anderen Bildes (Abb. 8) stand ein kleines Mädchen, das den Fotografen aufmerksam, aber ohne Furcht anschaute. Während sich der Fotograf für dieses Foto ein wenig nach vorn gebeugt hatte, richtete er sich für ein weiteres Foto der Serie (Abb. 10) noch einmal auf beziehungsweise stieg vielleicht sogar auf einen Gegenstand – möglicherweise die halbhohe Hütte, die auf dem erwähnten Foto von Bernhard Walter zu sehen war. Aus großer Nähe, aber »von oben herab«, fotografierte Hofmann ein Panorama des Gewimmels abseits des Weges, insgesamt rund 80 Menschen, die auf der Wiese lagerten. Der Fotograf fokussierte auf eine Gruppe von Frauen, die vielleicht vier, fünf Meter von ihm entfernt auf dem Boden saßen und direkt in die Kamera blickten. Ein Junge mit einer Mütze störte den Bildauf bau empfindlich – wurde aber von Hofmann nicht etwa weggejagt. Dank einer kleinen Blende war der tiefenscharfe Bereich relativ groß. Nur das Gesicht des Kindes im Vordergrund und die Männer im Hintergrund am Zaun sind nicht mehr ganz scharf abgebildet. Am rechten Rand ist das Foto unten ebenfalls unscharf. Dies könnte allerdings eine mechanische Ursache haben. Möglicherweise ist das Foto einfach abgewetzt. Die Menschen sind einfach, aber beileibe nicht abgerissen gekleidet. Mit Ausnahme einer Frau am rechten Bildrand tragen alle erwachsenen Frauen Kopftücher. Einige verbergen damit ihren Haaransatz. Andere tragen das Kopftuch etwas legerer. Alle waren eher traditionellen, wenn nicht orthodoxen Schulen des jüdischen Glaubens zuzuordnen. Ganz 132
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Abb. 10: Ernst Hofmann, o. D. (Mai 1944); Foto 138 des LJA , Yad Vashem FA 268/132.
im Vordergrund ist allerdings auch ein Mädchen mit einem seinerzeit modernen Façonhaarschnitt zu sehen. Auffällig ist die große Nähe zwischen den Menschen. Sie stehen oder sitzen nicht nur dichtgedrängt. Sie halten einander fest, berühren, kosen und sorgen sich umeinander. Im Fokus des Fotos ist eine größere Gruppe von Frauen und Kindern. In dieser Gruppe ist ein kleines Kind zu erkennen, das einem anderen Kind – möglicherweise seinem Bruder – einen Löwenzahn reicht. Wahrscheinlich war diese Geste der Auslöser des Fotos. Daneben sitzt ein anderer Junge mit gefalteten Händen. Fast sieht es so aus, als ob er betet. Vielleicht reibt er sich aber auch nur die Hände. Hinter den Sitzenden ist viel Bewegung. Eine Frau in der Bildmitte bleibt stehen und schaut den Fotografen an, während sie ihre Hände in die Hüften stützt. Etwas weiter rechts tut sich eine Lücke zwischen den Gruppen auf. Auf dem Gras ist ein Mädchen zu sehen, dass sich gerade seine Strümpfe hochzieht. Am rechten Bildrand schaut ein Junge in einer schwarzen Jacke, der sich gerade etwas in den Mund steckt oder die Finger leckt, den Fotografen ebenfalls an. Rechts neben seinem Bein ist ein aufgeschlagenes 133
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Buch zu sehen. Ob es jemand liest, ist wegen des Abriebs des Fotos nicht zu erkennen. Nicht unwahrscheinlich handelt es sich um ein religiöses Buch, ein Gebetsbuch – in dem vielleicht sogar Fotos eingelegt waren. Zwischen dem Jungen, der sich etwas in den Mund steckt, und dem Jungen im Vordergrund mit dem viel zu großen Jackett und umgekrempelten Ärmeln ist eine Frau mit einem Kind auf dem Schoß zu sehen. Die Frau scheint – nach den damaligen Verhältnissen – zu alt, um die Mutter des Kindes zu sein. Dies ist etwas, was auf mehreren Fotos des Lili Jacob-Albums zu sehen ist. In der Zwangssituation hatten einige Mütter ihre Kinder an ältere Frauen – Tanten oder Mütter – weitergegeben. Auch die bereits erwähnte Frau, die über den Verlust des Fotos ihres Babys klagte, hatte dies getan. Sonst wäre sie sofort ermordet worden.
Fazit Die Degob-Interviews machen auf tragische Weise deutlich, dass die Geschichte der Fotografien der Shoah aus jüdischer Sicht vor allem eine Geschichte des Verlustes ist – des Verlustes von geliebten Menschen und den Fotos von ihnen. Lili Jacob bewahrte »ihr« Album auf, weil es ihre Verwandtschaft zeigte – als Ersatz für das Album, das ihre Mutter mit nach Auschwitz genommen und das sie verloren hatte. Niemand aus Ungarn erinnerte sich daran, während der Verfolgung ein Foto gemacht zu haben. Mit Ausnahme der Männer des Sonderkommandos, die mit einem Apparat, der vermutlich aus den Beständen von »Kanada« stammte, im August 1944 vier Fotos machen konnten, war es die SS , die die Kameras besaß, die Bilder aus Auschwitz machte und die bis heute die Sicht auf den Mord prägt – im Sinne eines grausamen und para doxen Panoramas.49 Das im Detail analysierte Bild zeigt Menschen, die sich ausruhen. Ohne es zu diesem Zeitpunkt zu wissen, werden sie bald darauf in die Gaskammern getrieben, um dort ermordet zu werden. Der Fotograf jedoch nutzte die Stockung im Betriebsablauf des Mordens, um das Warten hohnlachend als arg- und ahnungsloses Picknick zu inszenieren! Bei vielen Bildern erschließt sich das Grauen erst auf den zweiten Blick – im Detail oder aus dem Kontext. Wir Betrachtende übersehen es oft, weil unsere Augen die Bilder nur streifen. Freilich kann auch das Nicht-Beachten, das Übersehen den abgebildeten Menschen Gewalt antun. Vernachlässigung muss auch als eine Form der Gewaltausübung betrachtet werden. Natürlich ist es nicht Ziel der Auseinandersetzung mit historischen Fotografien (oder auch historischen Quellen), Grauen 134
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zu generieren – auch wenn dies dann sittliches Entsetzen bedeutet. Doch ist es nicht auch gut, zu begreifen, dass ein unschuldig daherkommendes Foto immer auch grauenvoll sein kann? Übersehen hat viele Gründe. Übersehen ist oft dem Umstand geschuldet, dass die Betrachtenden gar nicht genau sehen wollen, oft aber auch darauf zurückzuführen, dass die Betrachtenden die Kontexte nicht kennen und bestimmte Dinge einfach nicht sehen können. Die beiden Formen des Über-Sehens verstärken sich allerdings gegenseitig. Da Bilder in unserer schriftlich tradierten Welt der historischen Narrative allzu lange nicht als Quellen, sondern nur als Illustrationen betrachtet wurden, wurden die Kontexte ihrer Entstehung oft nicht erfragt oder nicht überliefert. Das Übersehen resultiert oft aber auch aus einer gewissen Überforderung, weil die Informationen in der Masse verschwinden. Fotos sind Massenspeichermedien. Auf einem nur in Quadratzentimeter zu messenden Negativ können (je nach Körnung des Films) Zehntausende Lichtreflexe und Schattenwürfe und damit vielleicht Tausende Gesichter erfasst werden. Wir Betrachtenden können das nur nachvollziehen, wenn wir häufiger – und ganz genau – hinschauen. Das haben die Bilder verdient – auch oder gerade, wenn sie von der SS aufgenommen wurden.
Anmerkungen 1 Susan Sontag, Das Leiden anderer betrachten, München 2003 (amerik. Erstveröffentlichung 2003). 2 Die Positionen hat Michaela Christ anlässlich einer Ausstellung über Massenerschießungen in der Topographie des Terrors 2016 zusammengefasst: Michaela Christ, Gewaltbilder. Über das Zeigen und Betrachten von Fotografien der Extreme, in: Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, Stiftung Topographie des Terrors (Hrsg.), Massenerschießungen. Der Holocaust zwischen Ostsee und Schwarzem Meer 1941-1944 (Mass Shootings. The Holocaust from the Baltic to the Black Sea 1941-1944), Berlin 2016, S. 302-316. 3 Tal Bruttmann/Stefan Hördler/Christoph Kreutzmüller, Die fotografische Inszenierung des Verbrechens. Ein Album aus Auschwitz, Darmstadt 2019, S. 229-233. 4 Ebd., S. 56 f. 5 Friedrich Bedřich Steiner, Tragédia Slovenských Židov. Fotografie a dokumenty, Bratislava 1949. 6 Ota Kraus/Erich Kulka, Die Todesfabrik, Berlin 1958, o. S. (Abbildungen im Mittelteil). 7 Gerhard Schoenberner, Der Gelbe Stern. Judenverfolgung in Europa 1933 bis 1945. 202 Bilddokumente, München 1978 (Hamburg 1960), S. 224.
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christoph kreutzmüller 8 Serge Klarsfeld, The Auschwitz Album. Lili Jacob’s Album, New York/NY 1980, o. S. (S. 1). 9 Ute Wrocklage, Auschwitz-Birkenau. Die Rampe, in: Detlef Hoffmann (Hrsg.), Das Gedächtnis der Dinge. KZ -Relikte und KZ -Denkmäler 19451995, Frankfurt am Main/New York 1998, S. 278-309, hier: S. 279. 10 Bruttmann/Hördler/Kreutzmüller, Fotografische Inszenierung (wie Anm. 3), S. 29. 11 Jorge Semprún, Schreiben oder Leben, Frankfurt am Main 1995, S. 237. 12 Bruttmann/Hördler/Kreutzmüller, Fotografische Inszenierung (wie Anm. 3), S. 57. 13 Ebd., S. 180-269. 14 Aussage eines Mannes aus Budapest, geboren 1911, degob.org/index. php?showjk=1788 (6.7.2022). 15 Janina Struk, Photographing the Holocaust. Interpretations of the Evidence, London 2004, S. 104. 16 Aussage von zwei Frauen aus Pestszenterzsébet, geboren in den Jahren 1924 und 1925, degob.org/index.php?showjk=2248 (6.7.2022). 17 Aussage von zwei Frauen aus Técső, geboren in den Jahren 1911 und 1913, degob.hu/index.php?showjk=3311 (6.7.2022). 18 Bericht eines Mannes aus Budapest, geboren 1911, degob.org/index. php?showjk=1788 (6.7.2022). 19 Ann Weiss, Das letzte Album. Familienbilder aus Auschwitz, München/ Zürich 2001. 20 Eidesstattliche Aussage Lilly Zelmanovic (geb. Jacob), 9.1.1959, Landesamt für Finanzen, Amt für Wiedergutmachung, 131091. 21 Reska Weiss, Journey through Hell. A Woman’s Account of her Experiences at the Hands of the Nazis, London 1961, S. 56. 22 Klarsfeld, Auschwitz Album (wie Anm. 8), o. S. (S. 13). 23 Aussage einer Frau aus Beregpapfalva, geboren 1931, degob.org/index.php? showjk=125, (6.7.2022). 24 Aussage einer Frau aus Beregszász, geboren 1894, degob.org/index. php?showjk=1230 (6.7.2022). An anderer Stelle erinnerte eine Überlebende, dass es auch zu verbalen Auseinandersetzungen und »Versuchen, um Erinnerungsstücke zu feilschen« kam. Vgl. Aussage Macha Ravine, nach: Vladimir Pozner, Abstieg in die Hölle. Zeugnisse über Auschwitz, Berlin 1985, S. 33. 25 Aussage einer Frau aus Huszt, geboren 1921, degob.org/index.php?showjk= 1412 (6.7.2022). 26 Stefan Hördler, Plundering. Dispossession and Corruption in the Concentration Camp System, in: Christoph Kreutzmüller/Jonathan Zatlin, Disposession. Plundering German Jewry 1933-1953, Ann Arbor/Michigan 2020, S. 236-259, hier: S. 244 f. 27 Aussage einer Frau aus Kispest, geboren 1921, degob.org/index.php?showjk= 3593 (6.7.2022). 28 Aussage eines Mannes aus Szentes, geboren 1904, degob.org/index.php? showjk=1195 (6.7.2022).
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grauen übersehen 29 Der erste »Sondertransport« traf am 16. Mai 1944 auf der »neuen Rampe« ein. Vgl. Arichvum Panstove Museum Auschwitz-Birkenau, BW 27/20, Tagebericht Nr. 246 vom Gleisanschluss BW 27; Dienstag 16.5.1944. 30 Aussage einer Frau aus Budapest, geboren 1915, degob.org/index.php? showjk=701 (6.7.2022). 31 Aussage von zwei Frauen aus Munkács, geboren in den Jahren 1926 und 1927, degob.org/index.php?showjk=2719 (6.7.2022). 32 Ebd. 33 Aussage eines Mannes aus Budapest, geboren 1903, degob.org/index.php? showjk=1530 (6.7.2022). 34 Miroslav Kárný, Das Theresienstädter Familienlager (Bllb) in Birkenau (September 1943–Juli 1944), in: Hefte von Auschwitz 20 (1997), S. 133-237. 35 Aussagen Raya Kagan und Ester Goldstein, in: The Nizkor Project, The Trial of Adolf Eichmann, Record of Proceedings in the District Court of Jerusalem (The State of Israel, Ministry for Justice), Vol. 3, Session 70, Part 5, www.nizkor.org/session-070-05-eichmann-adolf/ (6.7.2022). 36 Bruttmann/Hördler/Kreutzmüller, Fotografische Inszenierung (wie Anm. 3), S. 210-228. 37 Wilhelm Brasse, Fotograf 3444. Auschwitz 1940-1945, Krakau/Berlin 2012, S. 120 f. 38 Struk, Photographing the Holocaust (wie Anm. 15), S. 111. 39 Da sich das System der Nummerierung nach zwölf Seiten ändert, ist möglicherweise auch von zwei Mitarbeiterinnen oder Mitarbeitern auszugehen. Vgl. Archiv Fritz-Bauer-Institut (FBI ), FAP 1, Fotocopie [sic!] des Fotoalbums der Zeugin Zelmanovic vom 3.XII .1964; Cornelia Brink, Das »Auschwitz-Album« als Beweismittel im Frankfurter Auschwitz Prozess (1963-1965), Begleitmaterialien zu dem Film »Das Ende des Schweigens. Der Frankfurter Auschwitz Prozess 1963-1965«, o. D. (2005). 40 Aussage Bernhard Walter 14.8.1964, FBI , FAP 111. 41 Zur zunehmenden Bedeutung der Analyse von Alben vgl. auch: hsozkult. de/conferencereport/id/tagungsberichte-9142 (6.7.2022). 42 Bildungswerk Stanisław Hantz/Forschungsstelle Ludwigsburg der Univer sität Stuttgart (Hrsg.), Fotos aus Sobibor. Die Niemann-Sammlung zu Holocaust und Nationalsozialismus, Berlin 2020. 43 Christophe Busch/Stefan Hördler/ Robert Jan van Pelt (Hrsg.), Das Höcker-Album. Auschwitz durch die Linse der SS , Darmstadt 2016, S. 210. 44 Bruttmann/Hördler/Kreutzmüller, Fotografische Inszenierung (wie Anm. 3), S. 136-140. 45 Die Hauptblütezeit des Löwenzahns ist zwischen April und Juni – und erst nach der Blüte entwickeln sich die charakteristischen Samenstände der Pusteblume, die auf dem Foto zu sehen ist. 46 Bruttmann/Hördler/Kreutzmüller, Fotografische Inszenierung (wie Anm. 3), S. 229-233. 47 Luftfoto »Birkenau Extermination Camp«, 31.5.1944, U. S. National Archives and Records Administration, Photo 305986.
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christoph kreutzmüller 48 Vgl. Bruttmann/Hördler/Kreutzmüller, Fotografische Inszenierung (wie Anm. 3), S. 229-233. 49 Tal Bruttmann/Stefan Hördler/Christoph Kreutzmüller, A Paradox Pano rama. Aspects of Space in Lili Jacob’s Album, in: Natalia Aleksiun/Hana Kubátová (Hrsg.), Places, Spaces and Voids in the Holocaust, Göttingen 2021, S. 137-165.
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IV . Fotografien des Nationalsozialismus im Internet.
Chancen und Probleme
Christine Bartlitz
Das Internet hat keinen Kurator Chancen und Herausforderungen für Historikerinnen und Historiker im Umgang mit digitalen Fotografien aus der Zeit des Nationalsozialismus Hakenkreuzfahnen, soldatische Männer, in Formation marschierend, ausgestreckte rechte Arme und immer wieder Adolf Hitler – Fotografien aus der Zeit der NS -Diktatur sind im Internet allgegenwärtig. Die ersten Seiten der Bildersuche präsentieren unter dem Stichwort »Nationalsozialismus« zumeist Propagandafotos; nach längerem Scrollen folgt das erweiterte Bildangebot: KZ -Häftlinge nach der Befreiung, private »Knipserfotos«, Bilder von Kriegsgefangenen, jüdische Privatfotografie u.v.m. Die Fotografien finden sich in Online-Angeboten von Museen, Gedenkstätten und anderen Wissenschaftsinstitutionen ebenso wie in Digitalisaten aus Archiven und Bibliotheken, in Materialien der politischen Bildung, journalistischen Online-Medien, im Angebot der Bildagenturen, als Bestandteil von Dokumentarfilmen in Mediatheken und auf Streaming-Plattformen, auf privaten Websites und natürlich auf den Plattformen der Neuen oder Sozialen Medien wie Instagram, Facebook, Twitter, YouTube, Pinterest, TikTok etc. Die Anzahl der Fotografien aus der NS -Zeit sowie aus den Monaten der Befreiung im Jahr 1945 ist so exorbitant hoch, dass je nach Land und Suchmaschinenalgorithmus nur ein geringer Teil angezeigt wird, ganz abgesehen von der Unmöglichkeit, das Angebot wissenschaftlich zu erfassen und auf einer empirisch validen Grundlage analysieren zu können. Daher sei im Folgenden ein kurzer Überblick über das BildMaterial aus der Zeit des Nationalsozialismus im Internet gegeben, um Herausforderungen im Umgang damit aufzuzeigen. Vorgestellt werden digitale Präsentationen von Historikerinnen und Historikern zur Geschichte des Nationalsozialismus im Internet sowie Praktiken im Umgang mit den Fotografien. Welche Fragen stellen sich, wenn Fotografien aus der Zeit der NS Diktatur im Internet (wieder-)veröffentlicht werden? Gibt es Bilder, die 141
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Abb. 1: Screenshot: Google-Bildersuche »Nationalsozialismus«, 10.2.2022.
gar nicht online gezeigt werden sollten? Welche Rolle spielen bildethische Gesichtspunkte? Brauchen wir Vereinbarungen und Regeln für eine wissenschaftliche Kontextualisierung des Bildmaterials, für die Digita lisierung und Aufbereitung von Beständen? Ist überhaupt eine Kontrolle im Netz möglich? Oder sollten nach dem Grundsatz der Informationsfreiheit alle Bilder frei zur Nachnutzung online gestellt werden?
Das digitale Bild Das Internet hat (fast) alles verändert. Wir befinden uns inmitten einer digitalen Revolution, die der Soziologe Armin Nassehi als eine »Störung der Routinen der Moderne« beschrieben hat: Die Digitalisierung sei eine »ähnliche Katastrophe wie der Buchdruck für den Informa tionshaushalt der Gesellschaft«.1 Dass der digitale Wandel einen starken Einfluss auf die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Geschichte hat, ist unbestritten – welche Folgen sich daraus in der Vermittlung historischer Inhalte ergeben, wird aktuell diskutiert.2 Das Internet hebt die Unterscheidung von privaten und öffentlichen Räumen auf: Jede und jeder Einzelne kann eigene Öffentlichkeiten herstellen. Sowohl die immensen Speicherkapazitäten als auch die Möglichkeit der privaten wie öffentlichen Vernetzung haben das Internet zu einem globalen Gedächtnis- und Erinnerungsmedium gemacht. Online-Medien prägen die Geschichtskultur und das Verständnis von Geschichte in immer größerem Maße. 142
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Auch die Grenzen zwischen Produzentinnen und Produzenten sowie Nutzerinnen und Nutzern werden zunehmend durchlässiger, was wiederum Auswirkungen auf die Deutungshoheit der (Geschichts-)Wissenschaft hat. Viele Menschen nutzen seltener klassische Medien wie Ausstellungen, Fernseh- und Radiosendungen oder Bücher, sondern zunehmend die Kommunikationskanäle der Neuen Medien zu ihrer Information. Neben der schnellen Erreichbarkeit wird von den Nutzerinnen und Nutzern nicht nur das eigene Publizieren und Teilen von Inhalten geschätzt, sondern auch die Bewertung, Rezeption und Diskussion der Angebote fern der »Aufsicht« von Bildungsexpertinnen und -experten.3 Bilder gehören zu den selbstverständlichsten Mitteln digitaler Kommunikationspraktiken: Das Visuelle ist in digitalen Räumen dominant. »Visuelle Kultur«, so die Kultur- und Medienwissenschaftlerin Susanne Regener, beschäftige sich nicht allein mit einzelnen Bildern, »sondern mit der in der Moderne und Postmoderne vorherrschenden Tendenz, Dasein und Existenz überhaupt zu visualisieren«.4 Damit werden über das einzelne Objekt hinaus gleichermaßen die Praktiken des Sehens und Wahrnehmens in den Blick genommen. Fächer wie die Kunstgeschichte und Archäologie waren schon immer auf visuelle Medien angewiesen – im Gegensatz zur Geschichtswissenschaft, die sich erst vergleichsweise spät den Bildern jenseits der rein illustrativen Funktion zugewandt hat. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass es die Kunstgeschichte ist, die aktuell bei der theoretischen und methodischen Untersuchung von digitaler Bildkultur vorangeht.5 Der Kunsthistoriker Hubertus Kohle, der seit 2019 gemeinsam mit Hubert Locher das DFG -Schwerpunktprogramm »Das digitale Bild«6 leitet, spricht angesichts der Dimension dieses Prozesses von einer »tiefgreifende[n] epistemologische[n] Umwälzung«.7 Aber was macht überhaupt das »digitale Bild« aus? Grundsätzlich führt die Transformation von Bildinformationen in einen binären Code, darauf weist der Historiker Gerhard Paul hin, zu ganz neuen Eigenschaften des digitalen Bildes wie »Virtualität, Variabilität und Interaktivität«. Das Bild wird zu einem »dynamischen System von Variablen, die beständig verändert werden« können.8 Mühten sich sowjetische Zensoren in den 1930er Jahren noch mit Schere und Klebstoff, um in Ungnade gefallene Revolutionäre aus den Bildern zu tilgen, gelingt dies mit Bildbearbeitungsprogrammen heute mühelos, ohne dass Spuren der »Fälschung« auf den ersten Blick erkennbar sind.9 Neben der viel größeren Sichtbarkeit und Verbreitung einer Fotografie im Internet hat die Möglichkeit, Bilder digital in ihrer Größe zu 143
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ändern und am Bildschirm in einzelne Elemente hineinzuzoomen, nicht zu unterschätzende Auswirkungen – gerade aus bildethischer Perspektive bei Motiven von Gewalt oder Tod. Bei einer analogen Ausstellung dagegen ist das originale, meist sehr kleine Format einer historischen Fotografie ein wichtiges Kriterium, um Besucher und Besucherinnen nicht emotional zu überwältigen. Und noch ein weiterer Punkt sollte hier nicht unerwähnt bleiben. Bei der Nutzung digitaler Bilder ist eine Klärung der Urheber-, Nutzungsund Persönlichkeitsrechte besonders dringlich, denn sie sind im Netz mit Hilfe von Suchmaschinen sehr leicht auffindbar. Versteckt in einem Buch mit wenigen hundert Leserinnen und Lesern fällt ein Verstoß gegen das Urheberrecht schlichtweg meist gar nicht auf; ganz anders hingegen im Internet, wo die Suche nach fehlenden oder falschen Ur heberrechtsangaben, verbunden mit der Forderung nach Schadenersatz, zu einem recht einträglichen Geschäftszweig geworden ist. Ein besonders wichtiger Aspekt der Digitalität ist der rasend schnelle transnationale Bildertransfer. Die virale Verbreitung von Fotografien und ihre Weiterentwicklung durch Memes, Fanzines u. Ä. verändern ebenso ihre Wirkmacht wie die Aneignung in den unterschiedlichen Ländern, insbesondere in den Sozialen Medien.
Neue Formen der Erinnerung Diese globale Bild-zu-Bild-Kommunikation durch das Teilen und Weiterleiten hat Fotos weltweit zu Gebrauchsartikeln werden lassen. Der bedeutendste Bereich hierbei ist das Social Media-Universum. Auch wenn viele Historikerinnen und Historiker mit Twitter, Instagram und Facebook noch fremdeln und sogenannte Shitstorms ebenso wie eine Trivia lisierung der historischen Erkenntnis befürchten, lassen sich die Sozialen Medien in Fragen der Geschichtsvermittlung nicht mehr ignorieren. Die Verlagerung ins Internet hat auch dazu geführt, dass sich die Grenzen zwischen Expertinnen beziehungsweise Experten und Laien verwischen oder auch auflösen. Digitale Ausstellungen, die von den Besuchenden (mit-)kuratiert werden, oder Citizen Science-Projekte gewinnen auf der einen Seite auch in der Geschichtswissenschaft an Popularität und werden von den Förderinstitutionen zunehmend unterstützt.10 Auf der anderen Seite bleibt, so das Ergebnis der Studie von Hannes Burkhardt, die Geschichtswissenschaft in Erinnerungskulturen in Social Media eine »relevante Instanz mit fachlicher Autorität«, die »neben vielfältigen kreativen und fiktiven historischen Narrationen der 144
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Populärkultur auch quellengesättigte, multiperspektivische und kontroverse Geschichtserzählungen« ermögliche.11 Ohne an dieser Stelle auf die Eigenheiten von und sozialen Praktiken auf Social Media eingehen zu können, soll der Blick wenigstens kurz auf die Bilderwelten in sozialen Netzwerken gerichtet werden, und zwar hinsichtlich der Praktiken von Aneignung und Partizipation. Durch die Bilder und Videos, die täglich auf Social Media eingestellt, geteilt und neu arrangiert werden, liegt ein gigantisches Archiv vor, das als »kommunikativer Erinnerungsprozess»12 verstanden werden kann. Aus der Perspektive der Fachhistorikerinnen und Fachhistoriker erscheint dieser Prozess aufgrund seiner Vereinfachung vielfach beliebig, emotional, verzerrt sowie ideologisch aufgeladen; oftmals dient die Erinnerung an den Nationalsozialismus der positiven Verstärkung der eigenen persönlichen Inszenierung. Dennoch erfüllen der Austausch, die Vernetzung, das Teilen von Fotos von Umzäunungen, Wachtürmen, Gaskammern und Häftlingsunterkünften ein Bedürfnis vieler Menschen nach neuen Formen der Erinnerung, nach einer Vergegenwärtigung des Vergangenen. Die Kunsthistorikerin Petra Bopp13 verweist auf die große Bedeutung des Austauschs unter den Besucherinnen und Besuchern einer Ausstellung vor Ort bei der ersten »Wehrmachtsausstellung« sowie bei der Ausstellung »Fremde im Visier – Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg« gerade bei Fotografien, die starke Gefühle auslösen: Das kurze Gespräch mit anderen, das Teilen von Emotionen, das Wissen, dass sie zur gleichen Zeit diese Bilder betrachten, scheint einem Bedürfnis zu entspringen, das alleine vor dem Bildschirm eben nicht befriedigt werden kann – es braucht den digitalen Austausch mit anderen Nutzerinnen und Nutzern. Vielleicht lässt sich daran anknüpfen bei der Frage, warum Menschen in den Sozialen Medien Fotos aus der Zeit des Nationalsozialismus weiterverbreiten oder aus ihnen Memes und GIF s14 erstellen und damit Erinnerungskultur und persönliche Erinnerung neu verbinden. »Ist dieses Neuerzählen, dieses Neuaneignen ein anderer Weg, der über Narration und Fiktion verlaufen wird?«, fragt sich die Historikerin Sylvia Necker und verweist auf die zentrale Rolle von Bildern bei diesem Vorgang: »Sie haben tatsächlich auf einmal die gestaltende Rolle inne.«15
Zu viele Nazis? Das visuelle Gedächtnis der NS -Zeit ist bis heute in einem hohen Maß durch das Bildregime der Nationalsozialisten geprägt. Im Gegensatz zu aktuellen Ausstellungen in Museen und Gedenkstätten, die mittlerweile 145
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vielfach auf Täterfotografien verzichten oder sie durch begleitende Informationen und Medienstationen zeitgeschichtlich kontextualisieren, hat das Internet keinen Kurator. Alle Bilder, die jemals digital abgespeichert worden sind, können mit einem Klick präsentiert werden. Somit hat sich medial eine Sicht auf die Bilder der NS -Diktatur geformt, die, so Gerhard Paul, »nahezu unreflektiert und ungebrochen übernommen wurden und werden. Die medialen Konstruktionen der NS -Propaganda konnten auf diese Weise die Geschichtsbilder der Nachgeborenen formen.«16 So transportieren »Fotografien wider Willen«17 zum Beispiel von Kriegsgefangenen oder von Jüdinnen und Juden in Ghettos bis heute die Weltsichten und die Perspektive der NS -Täter. Die Demütigung und Erniedrigung der Menschen erfolgte auch über den Akt des Fotografierens. »Was ist die ›Haltung‹ der Bilder – sum marisch verstanden als die mit Herstellung und Verwendung, Motiv und Inszenierung einer Fotografie einhergehenden Ideen und Werte – und unsere Haltung ihnen gegenüber?«, fragt der Historiker Axel Bangert und benennt damit die beiden zentralen Punkte bei der Präsentation fotografischer Quellen.18 Die im Netz kursierenden Fotografien aus der NS -Zeit lassen sich grob in drei Gruppen unterteilen. Zuerst sind die Bilder der Propaganda-Kompanien (PK ) zu nennen:19 Tausende von PK -Fotografen und -Kameramännern in der Wehrmacht, später auch der SS , schufen mit ihren Foto- und Filmaufnahmen Unmengen von Propaganda-Material für die NS -Medien (Zeitschriften, Kino-Wochenschau), für Ausstellungen, Publikationen etc. Dieses Material besteht aus einer Vielzahl von rassistischen und antisemitischen Bildern; der Zweite Weltkrieg wird als Ort von körperlicher Härte und individuellem Überlebenskampf visua lisiert. Es wird bis heute häufig unkritisch auf Websites genutzt. Eine zweite Gruppe umfasst den heterogenen Bestand der Privatfoto grafien in Form von Schnappschüssen aus Stadt und Land, »Knipserfotos« von Wehrmachtsangehörigen, aber auch die immer sichtbarer werdenden privaten Fotografien von Jüdinnen und Juden in Europa.20 Die »Bilder vom Holocaust« sind die dritte Gruppe. Zu ihnen gehören neben den wenigen Fotografien aus den Lagern selbst die Bilder der Massenerschießungen durch die Einsatzgruppen in den besetzten östlichen Gebieten, fotografische Quellen über die Verfolgung, Deportation und Ghettoisierung der Menschen sowie die umfangreichen Bilderserien der Alliierten nach der Befreiung der Lager, die der visuellen Beweisaufnahme dienten.21 Schätzungen gehen von ca. zwei Millionen unterschiedlichen Fotos aus, die zum Teil bereits ihren Weg ins Internet gefunden haben und mit jeder Open Access-Publikation, 146
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jeder digitalen Ausstellung, jedem Digitalisierungsprojekt zahlreicher werden.22 Studien zum Umgang mit diesen »Symbolbildern« im Internet kommen zu dem Ergebnis, dass die Etablierung einer digitalen visuellen transnationalen Erinnerungskultur zu einer Reduzierung, Trivialisierung, Subjektivierung wie auch Universalisierung geführt habe.23 »Das Bildgedächtnis an den Holocaust schöpft aus einem visuellen Inventar, das sich von der historischen Überlieferung gelöst hat«, fasst der Soziologe Sebastian Schönemann diese Entwicklung zusammen.24 Abgetrennt vom historischen Einzelgeschehen avancieren die Fotografien zu einem universalen, globalen Mahnmal oder auch zu einem Werkzeug, um Demokratie und Menschenrechte in Gegenwart und Zukunft einzufordern. Der historische Kontext verblasst in diesem Prozess zunehmend. Da Bildgedächtnisse sich durch gesellschaftliche Diskurse verändern, sollte auch der jeweils zeitgenössische Blick auf die Fotos mitbedacht werden. Warum ruft ein bestimmtes Bild heute eine emotionale Wirkung hervor? Sahen die Zeitgenossen es vielleicht ganz anders? Wie berechtigt ist die methodische Sorge von Historikerinnen und Histo rikern bei der Arbeit mit Bildern, unbeabsichtigt von einer Kontinuität in der Wahrnehmung auszugehen, die sich an »gegenwärtigen Seh- und Geschmacksvorstellungen orientiert«?25 Bilder sind eben nicht nur zeitgeschichtliche Quellen, sondern auch ein selbstreferenzielles System mit einer eigenen Ästhetik und manchmal auch einem besonderen »Eigensinn«.26 Die Aufgabe, die sich für Historikerinnen und Historiker beim Umgang mit Bildern im Internet stellt, ist daher ziemlich umfassend: Die Fotos sollten in den zeitgeschichtlichen Kontext gesetzt und die Intention ihrer Entstehung und Verbreitung nachgezeichnet werden. Zu untersuchen wäre auch – selbst wenn dies in den praktisch schwer umzusetzenden Bereich der Rezeptionsforschung fällt –, welche eigenständigen ästhetischen und kognitiven Botschaften die Bilder transportieren.
Online oder offline? Zeigen oder Nichtzeigen? Zwar waren Themen wie zum Beispiel die Auswahl von Fotografien für eine Ausstellung unter bildethischen27 Gesichtspunkten auch schon in vordigitalen Zeiten präsent, aber durch die digitale Massenverbreitung des Materials stellen sie sich mit ganz neuer Vehemenz: Zeigen oder Nichtzeigen, lautet hier die Frage. Was gibt es für Strategien und Überlegungen, wenn Historikerinnen und Historiker Bilder über eine 147
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tale Ausstellung, als E-Book oder in Form eines Digitalisierungsprojekts ins Internet bringen?28 Fotografien aus der NS -Zeit können für politische Zwecke eingesetzt werden und verändern dadurch ihren Wahrnehmungskontext. Der Kreisverband Nürnberg-Süd/Schwabach der Alternative für Deutschland (AfD) hat im Wahlkampf 2017 auf seiner Facebook-Seite eine Fotografie von Sophie Scholl mit der Schlagzeile gepostet: »Sophie Scholl würde AfD wählen.«29 Angesichts solcher Verschiebungen wächst die Sorge vieler Historikerinnen und Historiker, dass die von ihnen ins Internet gebrachten historischen Fotografien von rechtsextremer Seite missbraucht werden könnten. Das World Wide Web ist zur »größten Sammlung und Austauschbörse«30 für rassistische, fremdenfeindliche und antisemitische Darstellungen geworden. Daher kann nicht ausgeschlossen werden, dass NS -Propagandafotos auch in solchen Zusammenhängen genutzt werden. Viele Museen, Gedenkstätten und Archive haben in den letzten Jahren Teile ihrer Bestände aus der NS -Zeit als Digitalisate unter einer freien Lizenz (Public Domain oder Creative Commons) im Netz zur Nutzung freigegeben. Auch das von der Autorin geleitete Online-Portal Visual History hat dazu beigetragen, NS -Propaganda- und Kriegsfoto grafien im Internet verfügbar zu machen.31 Jedes genutzte Foto auf dem Portal ist sorgsam ausgewählt, mit Informationen versehen und kontextualisiert worden. In Einzelfällen ist die Entscheidung, rassistische und antisemitische Bilder zu zeigen, sehr bewusst getroffen worden, um Muster der Propaganda offenzulegen. Bei der Internet-Bildersuche zeigt sich aber zuerst einmal nur das bloße Bild. Erst der nächste Klick bringt die Nutzerinnen und Nutzer zum Visual History-Beitrag und damit zum zeitgeschichtlichen Kontext. Ein anderes Beispiel sind die Fotografien von Hitlers »Leibfotografen« Heinrich Hoffmann.32 Klaus Ceynowa von der Bayerischen Staatsbibliothek beschreibt den Versuch, bei der Massendigitalisierung des fotografischen Archivs von Hoffmann »problematische« Inhalte nur bedingt im Internet zugänglich zu machen: Eine »neutrale« Bildbeschreibung z. B. einer Fotografie von Adolf Hitler in kurzer Lederhose in winterlicher Landschaft – »Ganze Figur stehend (im Wald; m. kurzer Lederhose, SA -Hemd, Hakenkreuzarmbinde u. Kniestrümpfen; beide Hände in d. Hosentaschen; Schnee)« – sowie eine verringerte Auflösung (150 dpi) sollen das Digitalisat der »Sichtbarkeit« im Internet entziehen. Es gibt weitere technische Mittel und redaktionelle Verfahren im digitalen Veröffentlichungsprozess, um eine Dekontextualisierung zu erschweren, Sehgewohnheiten zu brechen und reinen »Bild-Konsum« 148
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zu erschweren: Einzelne Websites und Ressourcenanzeiger, sogenannte URL s, für Bilder können relativ einfach aus der Bildersuche der Suchmaschinen herausgelöst werden. So wird die einzelne Fotografie fast unsichtbar gemacht. Auch lässt sich die Bildunterschrift über ein Auszeichnungsformat mit der Bilddatei so verknüpfen, dass die Fotografie in ihrem Datensatz die Kontextinformationen behält. Und eine Sperre verhindert das sekundenschnelle Kopieren eines Bildes durch die rechte Maustaste (die sich allerdings umgehen lässt). Einige Archive und Institutionen sowie die meisten Bildagenturen legen ein Wasserzeichen auf ihr visuelles Angebot, um die Eigentumsrechte zu kennzeichnen und eine nicht genehmigte Nutzung auszuschließen. Eine Verpixelung des Gesichts einzelner Menschen aus ethischen Gründen oder auch aufgrund des Persönlichkeitsrechts ist eine Möglichkeit, Verbrechen und Leid sichtbar zu machen, die Abgebildeten aber durch die fehlende Identifizierbarkeit zu schützen und ihre Würde zu wahren.33 Auch Verfremdungseffekte, wie bestimmte (Über-)Belichtungen, eine andere Farbgebung oder auch der Einsatz von Tools, um Teile einer Fotografie unscharf zu machen, gehören zum Werkzeugkasten der Bildbearbeitung. Allerdings wird durch solche Eingriffe die originale Quelle verändert, was methodisch thematisiert werden sollte. Das australische Nationalarchiv entschied sich bei der digitalen Präsentation seiner Film- und Fotosammlung für einen Warnhinweis, eine Triggerwarnung, um der Verletzung von Gefühlen vorzubeugen und Respekt gegenüber den kulturellen Werten der Aborigines und TorresStrait-Insulanerinnen und -insulaner auszudrücken.34 Im digitalen Archiv für die Künste und Kulturen der Sinti und Roma, dem »RomArchive«, sind bestimmte rassistische und stereotype Bilder nur auf Anfrage und nach Darstellung des individuellen Recherche-Interesses in einem »internen Archiv« der Website zugänglich.35 Auf dem Portal Visual History haben wir einen Schieberegler für eine technisch eingeschränkte Präsentation eines »Täter«-Fotos aus dem »Auschwitz-Album« eingesetzt, um die Nutzerinnen und Nutzer auch visuell innehalten und aufmerksam werden zu lassen. Die Fotografie zeigt ungarische Frauen direkt an der Rampe und – nach Aussagen von Überlebenden – wahrscheinlich kurz vor dem Abtransport zur Zwangsarbeit. Wir nutzen diese Art der Darstellung, um an dieser Stelle die Frage zur Diskussion zu stellen, ob die visuelle Dokumentation der Aufklärung dient oder die Diskriminierung und die Position der Schwäche fortschreibt.36 Letztlich kann es aber keine vollständige Kontrolle über digital ver öffentlichte Bilder geben. Klaus Ceynowa bringt es auf den Punkt: »Ist 149
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Abb. 2: Screenshot: Visual History, 10.2.2022, visual-history.de/2020/07/20/bildethik/.
der digitale Geist einmal aus der Flasche, bekommt man ihn niemals wieder hinein. […] Der Wunsch nach einer ›offenen‹ Bereitstellung kollidiert mit der empfundenen Notwendigkeit einer Beschränkung auf ›legitime‹ Nutzungszwecke.«37
Digitale Präsentationen Neben dem Versuch, »problematische« Inhalte »unsichtbar« zu machen, lässt sich auch die entgegengesetzte Strategie verfolgen: eine maximale Sichtbarkeit der Fotografien, verbunden mit einer ausführlichen wissenschaftlichen Einordnung in den historischen Zusammenhang, die die Intention, die Umstände der Entstehung, im besten Fall auch die Rezeption und Weiterverbreitung in den Blick nimmt und erläutert. Auch wenn ein solches Vorgehen angesichts des zeitlichen und personellen Aufwandes sicher nur für einzelne Bilder geleistet werden kann, sollten sich Historikerinnen und Historiker davon nicht abhalten lassen, möglichst viele Informationen über Entstehung und Bildinhalt zu recherchieren. Das lässt sich an dem sogenannten Auschwitz-Album zeigen, das mit Verweis auf seine jüdische Finderin auch »Lili (Lilly)-Jacob-Album« ge150
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nannt wird. Die Historiker Christoph Kreutzmüller, Stefan Hördler und Tal Bruttmann haben, auf bauend auf der Editionsgeschichte des Albums seit 1980, mit einer detaillierten Analyse die Bilder erneut an das historische Geschehen rückgebunden.38 Aber wie kommt diese notwendige Kontextualisierung aus dem (analogen) Buch nun z. B. in das (digitale) Bildarchiv der Wikipedia, wo sich bei einigen dieser Bilder bislang nur der Hinweis findet: »KZ Auschwitz, Ankunft ungarischer Juden«?39 Sollten wir als Historikerinnen und Historiker aktiv werden und die Beschreibung für ein Bild in der Wikipedia jeweils mit unserer Expertise ergänzen, unser Wissen (wenn auch verknappt) der Allgemeinheit im Internet zur Verfügung stellen? Das wäre meines Erachtens eine ziemlich gute Idee. Einen ähnlichen Weg geht die Online-Lernplattform segu mit ihrem Modul »Auschwitz-Birkenau 1944 | Fotos aus zwei Perspektiven«.40 Anhand einer Fotografie aus dem Lili-Jacob-Album sowie eines Bildes, das von einem Häftling des jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz vor der Gaskammer heimlich gemacht wurde, sollen Schülerinnen und Schüler die Bildquellen untersuchen und dabei besonders die Perspektive der Fotografierenden in den Blick nehmen. Das Foto der ungarischen Frauen und Kinder bei der Selektion an der Rampe in Auschwitz wird in der Lerneinheit als Täterfoto identifiziert. Die zweite, unscharfe Fotografie gehört zu einer Serie von Bildern, die als Akt des Widerstands unter Lebensgefahr von jüdischen Häftlingen aufgenommen wurde.41 So gut und wichtig dieser Ansatz ist, die Bildkompetenz im Internet zu fördern, fällt es mir aus bildethischer Perspektive auf der einen Seite ein wenig schwer, das Foto von den nackten Frauen, die in die Gaskammer von Auschwitz-Birkenau getrieben werden, mit einem didaktischen Arbeitsbogen im Netz zu erfassen. Auf der anderen Seite ist das verschwommene und körnige Bild auch in der Wikipedia frei vorhanden42 und findet sich unter vielen weiteren Treffern, z. B. auf der Seite der Facebook-Gruppe »Pictures from the Holocaust«.43 Insofern ist es hilfreich, dass Schülerinnen und Schüler auf dem segu-Portal ein Modul nutzen können, das sie dafür sensibilisiert, die Bilder im Internet nicht nur als Symbol oder Chiffre zu nehmen, sondern sich mit ihnen und dem konkreten historischen Geschehen auseinanderzusetzen. Auch das Programm »Future Learn« – ein Zusammenschluss mehrerer Universitäten für den Online-Unterricht – bietet einen dreiwöchigen Selbstlernkurs »Photographing the Holocaust« der University of Nottingham im Internet an, geleitet von Maiken Umbach. Studierende können sich hier mit den Fotografien auseinandersetzen und durch eine Chatfunktion auch gemeinsam diskutieren: »What insights do photos 151
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offer into histories of National Socialism and the Holocaust? Are they authentic sources, or ›fake news‹?»44 Methodisch anregend geht die von der Bildungs- und Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz kuratierte, digitale Ausstellung »Stumme Zeugnisse 1939. Der deutsche Überfall auf Polen in Bildern und Dokumenten« mit diesen Fragen um. Mit dem Projekt wird das Ziel verfolgt, durch familienbiografische Zeugnisse einen Beitrag zu leisten, um »den deutschen Überfall auf Polen und die dort von Deutschen begangenen Verbrechen stärker in das öffentliche Bewusstsein zu rücken«.45 Die durch einen »Sammelaufruf« erhaltenen privaten Fotografien stehen alle unter einer Creative Commons-Lizenz und können nachgenutzt werden. Auf der Startseite der digitalen Ausstellung findet sich der Hinweis, dass einige der abgebildeten Personen in für »sie bedrohlichen oder demütigenden Situationen« vermutlich gegen ihren Willen fotografiert worden sind. Die Bilder werden dennoch gezeigt, um »als visueller Beleg der nationalsozialistischen Verbrechen Geschichtsverfälschungen oder -beschönigungen entgegenwirken« zu können.46 Ausnahme sind die Fotografien, auf denen tote Personen zu identifizieren sind. Sie wurden aus ethischen Gründen unkenntlich gemacht. Svea Hammerle, eine der Projektkoordinatorinnen, beschreibt die Herausforderung, das Verhältnis von »Beweis« und »Würde« auszutarieren: »Wie viele Fotos muss ich zeigen, um die NS -Verbrechen ›beweisen‹ zu können, und wie viele muss ich weglassen, um die Würde der abgebildeten Menschen zu bewahren?«47 Ein weiteres Beispiel für einen reflektierten Umgang mit Bildern aus der NS -Zeit48 ist die Online-Ausstellung »Gurs 1940«.49 Sie schildert die Deportationen von Tausenden Jüdinnen und Juden in das franzö sische Lager Gurs im Jahr 1940. In der Online-Präsentation werden auch Zeichnungen des Lageralltages eingesetzt, die, wie in vielen anderen Lagern auch, von den Häftlingen gefertigt wurden.50 Dieser Quellenbestand nimmt die Perspektive der Verfolgten ein und nicht jene der NS -Täter. Aus methodischer Perspektive stellt sich daher auch die Frage, ob es wirklich immer einer Fotografie bedarf, um Leben und Sterben zu visualisieren. Es können auch »Gegenbilder« gezeigt werden, die »in Form, Inhalt und Gebrauch auf andere Bilder reagieren, indem sie diese in Frage stellen oder ihnen widersprechen«, so die Historikerin und Kuratorin Lucia Halder.51 Gewohnte Seh-Erfahrungen lassen sich im Internet auch durchbrechen, indem gänzlich auf eine Visualisierung an ausgewählten Stellen verzichtet wird. Das auffällig gestaltete Kaddisch-Gebet eines Mannes für seine in Auschwitz ermordeten Eltern steht in der digitalen »Gurs«152
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Abb. 3: Screenshot: »Stumme Zeugnisse«, Fotoalbum von Gerhard W., Seite 11, 10.2.2022, onlinesammlungen.ghwk.de/stummezeugnisse/album/762/10.
Ausstellung für das Bild der Toten mit dem Hinweis: »Die Shoah überschreitet jede Grenze des Vorstellbaren. Sie entzieht sich allen Darstellungsversuchen.«52
Fazit »Das Gedächtnis arbeitet mit Standbildern, und die Grundeinheit bleibt das einzelne Bild«, schreibt Susan Sontag in ihrem berühmten Essay »Das Leiden anderer betrachten«.53 Damit betont sie noch einmal den Einfluss, den Fotografien auf die Erinnerung und das Gedächtnis haben. Wenn das enge Verhältnis von »Medialität und Vergangenheitsbezügen« nun noch im Kontext »digitalisierter Medialität« gesehen wird,54 tragen alle Nutzerinnen und Nutzer zu einer dynamischen und sich verändernden Erinnerungskultur bei. Der Medienwandel im Rahmen der Digitalisierung sollte daher als ein »sozialer« verstanden werden, der sich auf die Vermittlung von Geschichte ebenso auswirkt wie auf die Entstehung von neuen Erinnerungskulturen.55 Die Herausforderungen, die sich in diesem Prozess für Historikerinnen und Historiker ergeben, sind vielfältig. Es besteht die Gefahr, dass 153
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Fotografien aus der NS -Zeit im Internet dekontextualisiert und/oder in neue ideologische Bedeutungszusammenhänge gebracht werden, um Rassismus und Antisemitismus zu verbreiten. Ebenso ergeben sich aus bildethischer Perspektive Probleme, wenn durch die Präsentation von NS -Täterfotos Menschen in diskriminierender Weise abgebildet oder durch die Zurschaustellung von Gewalt und Tod ihrer Würde und Persönlichkeitsrechte beraubt werden. Jedoch hat die Digitalisierung bereits den Umgang von Historikerinnen und Historikern mit NS -Fotografien insgesamt verändert. Durch die massenhafte Verbreitung der Fotos – das Verlassen des geschützten Ausstellungs- oder Buchraumes –, die fehlende Kontrolle und die drohende Dekontextualisierung im digitalen Raum werden aktuell Auswahl und Funktion von Bildern viel stärker in der Geschichtswissenschaft reflektiert. Der Historiker Ulrich Prehn benennt als Veränderung das »tendenzielle Hinterfragen der rein illustrativen Nutzung von Fotografien zugunsten einer analytischen Würdigung von Bildern als eigenständige Quellen – und zwar nicht nur in der Wissenschaft und in Ausstellungen, sondern auch in der pädagogischen Arbeit«.56 Die Praktiken im Umgang mit den Fotografien im Internet sind ebenfalls vielfältig: Sie reichen von der Entscheidung, das Bildmaterial nicht zu zeigen beziehungsweise es nur für Forschungszwecke zur Verfügung zu stellen, über den Versuch, mit technischen oder redaktionellen Werkzeugen wie Wasserzeichen, Verpixelung etc. auf das Urheberrecht, die Persönlichkeitsrechte oder die »Botschaften« einzelner Fotografien aufmerksam zu machen, wie auch »problematische« Quellen »unsichtbar« werden zu lassen, bis hin zur freien Onlinestellung des vorhandenen Bildmaterials mit einer umfangreichen zeithistorischen Kontextualisierung. Die Entscheidung, wie mit einer Fotografie bei der Präsentation im Internet umgegangen wird, kann nur im Einzelfall getroffen werden. Es sollte aber viel mehr darüber diskutiert werden. Im Forschungsfeld von Fotografie und Kolonialismus stellen sich ähnliche »Fragen nach der Ikonografie, Provenienz, nach historischen und aktuellen Besitzverhältnissen«.57 Hier ist die Diskussion, inwieweit Deutungsmuster bei »kolonialen« Fotos aufgebrochen werden können, schon viel weiter. Historikerinnen und Historiker, die sich mit NS -Fotografien beschäftigen, profitieren sicherlich von der Zusammenarbeit und dem Austausch. Wünschenswert sind auch mehr wissenschaftliche Angebote im Internet, die das Bewusstsein für den Umgang mit schwierigen Fotografien schärfen und zur Auseinandersetzung damit anregen – für die Fachwissenschaft, aber auch als Vermittlungsleistung hinein in eine breitere 154
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fentlichkeit, die auch den Bereich Social Media mit einschließt. Solche Projekte könnten zu »Inseln des Kontextes in der Flut von Fotos« im World Wide Web werden,58 schlägt die Historikerin Svea Hammerle vor. Das Angebot im Internet ist bunt und wild, und so wird es wohl auch bleiben – ganz abgesehen von der Tatsache, dass Fotografien transnatio nal kursieren, global gelesen werden können und jeden Tag neue von ihnen hinzukommen. Nach Susan Sontag ließe sich dies auch als Chance begreifen: »Wer den Fortbestand der Erinnerung sichern will, der hat es unweigerlich mit der Aufgabe zu tun, die Erinnerung ständig zu erneuern, ständig neue Erinnerungen zu schaffen – vor allem mit Hilfe eindringlicher Fotos. Die Menschen wollen ihre Erinnerungen besichtigen und auffrischen können.«59
Anmerkungen 1 Armin Nassehi, Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft, München 2019, S. 119. 2 S. u. a. Markus Stumpf/Hans Petschar/Oliver Rathkolb (Hrsg.), Nationalsozialismus digital. Die Verantwortung von Bibliotheken, Archiven und Museen sowie Forschungseinrichtungen und Medien im Umgang mit der NS -Zeit im Netz, Göttingen 2021; Hannes Burkhardt, Geschichte in den Social Media. Nationalsozialismus und Holocaust in Erinnerungskulturen auf Facebook, Twitter, Pinterest und Instagram, Göttingen 2021; Erik Meyer, Erinnerungskultur 2.0? Kommemorative Kommunikation in digitalen Medien, Frankfurt am Main 2009; Dörte Hein, Erinnerungskulturen online. Angebote, Kommunikatoren und Nutzer von Websites zu Nationalsozialismus und Holocaust, Konstanz 2009. 3 Christopher Friedburg, Was heißt hier »Web 2.0«? Überlegungen zu einem Grundbegriff in der geschichtsdidaktischen Diskussion um den »digitalen Wandel«, in: Christoph Pallaske (Hrsg.), Medien machen Geschichte. Neue Anforderungen an den geschichtsdidaktischen Medienbegriff im digitalen Wandel, Berlin 2015, S. 85-97, hier S. 93. S. auch die Studie im Auftrag der Arolsen Archives »Wie steht die Gen Z zur NS -Zeit?« aus dem Januar 2022: enc.arolsen-archives.org/studie/ (10.2.2022). 4 Susanne Regener, Bilder / Geschichte. Theoretische Überlegungen zur Visuellen Kultur, in: Karin Hartewig/Alf Lüdtke (Hrsg.), Die DDR im Bild. Zum Gebrauch der Fotografie im anderen deutschen Staat, Göttingen 2004, S. 13-26, hier S. 13. 5 S. exemplarisch: Harald Klinke/Lars Stamm (Hrsg.), Bilder der Gegenwart. Aspekte und Perspektiven des digitalen Wandels, Göttingen 2013; Hubertus Kohle, Digitale Bildwissenschaft, Glückstadt 2013; Matthias Bruhn, Das
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christine bartlitz Bild. Theorie – Geschichte – Praxis, Berlin 2009; Peter Geimer, Theorien der Fotografie zur Einführung, Hamburg 62021. 6 S. die begleitende Website »Das digitale Bild«: digitalesbild.gwi.uni-muenchen.de/das-digitale-bild/ (10.2.2022) und die Vorstellung des Forschungsprojekts auf dem Online-Portal Visual History: Hubertus Kohle, Das digitale Bild / The Digital Image. DFG -Schwerpunktprogramm (SPP ), in: Visual History, 5.5.2020, visual-history.de/project/das-digitale-bild/ (10.2.2022). 7 Ebd. 8 Gerhard Paul, Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel, Göttingen 2016, S. 708. 9 Vgl. Klaus Waschik, Virtual Reality. Sowjetische Bild- und Zensurpolitik als Erinnerungskontrolle in den 1930er-Jahren, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe, 7 (2010), H. 1, zeithistorische-forschungen.de/1-2010/4745 (10.2.2022). 10 S. z.B. Arolsen Archives, #EveryNameCounts, vgl.: enc.arolsen-archives.org/ ueber-everynamecounts/ (10.2.2022); Ruhr-Universität Bochum, Universität Hamburg/Kulturpixel e. V., Social Media History, Univ. Hamburg, ruhr-uni-bochum.de/jpgeschichtsdidaktik/forschung/socialmedia.html.de (10.2.2022). 11 Burkhardt, Social Media (wie Anm. 2), S. 565. 12 Ebd., S. 17. 13 Interview der Verfasserin mit Petra Bopp, 26.1.2022, online. 14 Memes sind eine visuelle Kulturpraxis. Sie bestehen zumeist aus einer Abbildung, die durch einen (oft populärkulturellen) Kommentar mit konkretem Gegenwartsbezug erweitert wird. GIF bezeichnet ein Bildformat, bestehend aus einer kurzen Abfolge von Bewegtbildern. In der Kommunikation der jüngeren Generation im Internet kommen Memes und GIF s, häufig basierend auf einem gemeinsamen Referenzrahmen, zum Einsatz. 15 Interview der Verfasserin mit Sylvia Necker, 27.9.2021, Berlin. 16 Gerhard Paul, Bilder einer Diktatur. Zur Visual History des »Dritten Reiches«, Göttingen 2020, S. 9. 17 Der Begriff stammt von Susanne Regener, Fotografische Erfassung. Zur Geschichte medialer Konstruktionen des Kriminellen, München 1999. Vgl. auch Cornelia Brink, Vor aller Augen. Fotografien-wider-Willen in der Geschichtsschreibung, in: WerkstattGeschichte 47 (2008), S. 61-74. 18 Axel Bangert, Mit den Augen der Eroberer. Die Ausstellung »Dimensionen eines Verbrechens« des Deutsch-Russischen Museums Berlin-Karlshorst und ihre Fotografien, in: Visual History, 15.9.2021, visual-history.de/2021/09/15/ mit-den-augen-der-eroberer/ (10.2.2022). 19 S. zur NS -Propagandafotografie u. a. das Themendossier von Jens Jäger (Hrsg.), Propagandafotografie, in: Visual History, 12.2.2020, visual-history. de/2020/02/12/themendossier-propagandafotografie/ (10.2.2022), dort auch weiterführende Literatur. 20 S. die Beiträge von Robert Müller-Stahl und Theresa Ziehe in diesem Band. S. auch das Ausstellungsmodul »Bildgeschichte(n). Jüdische Privatfotografie
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das internet hat keinen kurator im 20. Jahrhundert«, kuratiert von Sylvia Necker, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte. Eine Online-Quellenedition: juedische-geschichte-online.net/ausstellung/bildgeschichten (10.2.2022). 21 Vgl. Hildegard Frübis, Einleitung: Beweissicherung und ästhetische Praxis, in: Dies./Clara Oberle/Agnieszka Pufelska (Hrsg.), Fotografien aus den Lagern des NS -Regimes. Beweissicherung und ästhetische Praxis, Wien 2019, S. 7-22, hier S. 10. 22 Vgl. Sebastian Schönemann, Symbolbilder des Holocaust. Fotografien der Vernichtung im sozialen Gedächtnis, Frankfurt am Main 2019, S. 40, der sich beruft auf: Sybil Milton, Photographs of the Warsaw Ghetto, in: Simon Wiesenthal Center Annual 3 (1986), S. 307-315, hier S. 307, aber davon ausgeht, dass die Zahl der überlieferten Fotografien weitaus höher ist. 23 Vgl. u. a. Burkhardt, Social Media (wie Anm. 2), S. 281, 555; Wolfram Dornik, Internet: Maschine des Vergessens oder globaler Gedächtnisspeicher? Der Holocaust in den digitalen Erinnerungskulturen zwischen 1990 und 2010, in: Gerhard Paul/Bernhard Schoßig (Hrsg.), Öffentliche Erinnerung und Medialisierung des Holocaust. Eine Bilanz der letzten dreißig Jahre, Göttingen 2010, S. 79-97; Gavriel D. Rosenfeld: Hi Hitler! How the Nazi Past Is Being Normalized in Contemporary Culture, Cambridge 2015. 24 Schönemann, Symbolbilder (wie Anm. 22), S. 40. Vgl. auch Burkhardt, Social Media (wie Anm. 2), S. 556. 25 Jens Jäger/Martin Knauer, Bilder als historische Quellen? Ein Problemaufriss, in: Dies. (Hrsg.), Bilder als historische Quellen? Dimension der Debatten um historische Bildforschung, München 2009, S. 7-26, hier S. 15. 26 Vgl. Gerhard Paul, Visual History, Version: 3.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 13.3.2014, docupedia.de/zg/paul_visual_history_v3_de_2014 (10.2.2022). 27 Vgl. u. a. Christine Bartlitz/Sarah Dellmann/Annette Vowinckel (Hrsg.), Themendossier: Bildethik. Zum Umgang mit Bildern im Internet, in: Visual History, 20.07.2020, visual-history.de/2020/07/20/themendossier-bild ethik/ (10.2.2022); Jennifer Evans/Paul Betts/Stefan-Ludwig Hoffmann (Hrsg.), The Ethics of Seeing. Photography and Twentieth-Century German History, New York/NY 2018. 28 Elf Historikerinnen und Historiker, die in Gedenkstätten und Museen, in wissenschaftlichen Institutionen wie auch als freie Kuratorinnen und Kuratoren arbeiten, haben in Kurzinterviews ihre Erfahrungen mit mir geteilt. Für diese Blickerweiterung bedanke ich mich ganz herzlich bei Petra Bopp, Simone Erpel, Svea Hammerle, Maren Jung-Diestelmeier, Christoph Kreutzmüller, Jürgen Matthäus, Sylvia Necker, Ulrich Prehn, David Rojkowski, Anja Tack und Sandra Starke. Ihre Überlegungen sind in die folgende Darstellung mit eingeflossen; hinzukommen eigene Erfahrungen als verantwortliche Redakteurin der beiden Internet-Portale Visual History und Docupedia-Zeitgeschichte. 29 Siehe z. B. die Berichterstattung auf Nordbayern, 16.1.2017, nordbayern. de/region/nuernberg/vergleich-mit-sophie-scholl-afd-sorgt-fur-facebookeklat-1.5751467/7.3138105 (10.2.2022).
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christine bartlitz 30 Markus Stumpf/Hans Petschar/Oliver Rathkolb, Zu diesem Buch, in: Dies., Nationalsozialismus digital (wie Anm. 2), S. 19-21, hier S. 19. 31 S. z.B. das Bildmaterial im Themendossier »Propagandafotografie« (wie Anm. 19). 32 Vgl. Klaus Ceynowa, Problematische Inhalte als Open Data? Das Beispiel des Fotoarchivs Hoffmann, in: Stumpf/Petschar/Rathkolb, Nationalsozialismus digital (wie Anm. 2), S. 267-276, hier S. 271. 33 S. z.B. die Fotografie, bei der das Gesicht einer unbekannten toten russischen Soldatin für die Veröffentlichung auf Visual History von mir verpixelt wurde: Armin Kille, Die Fotografie der Landser. Der Überfall auf die Sowjetunion 1941 dokumentiert in privaten Fototagebüchern deutscher Soldaten, Abb. 10, in: Visual History, 30.11.2020, visual-history.de/2020/11/30/die-fotografie-derlandser/ (10.2.2022). 34 S. z.B. National Film and Sound Archive of Australia: Crocodile Dundee: »You can’t take my photograph«, nfsa.gov.au/collection/curated/crocodiledundee-you-cant-take-my-photograph (10.2.2022); vgl. Anika Kreft, Zwischen Raubgut, Fremddarstellungen und menschlichen Überresten. Sammlungsstrategien und sensible Objekte, in: Visual History, 21.12.2020, visual-history. de/2020/12/21/sammlungsstrategien-und-sensible-objekte/ (10.2.2022). 35 Vgl. RomArchive – Digitales Archiv der Sinti und Roma: »Natürlich ist es auch möglich, die Verwendung des von Ihnen zur Verfügung gestellten Materials nur auf das ›Interne Archiv‹ zu beschränken, das nur nach Anmeldung und nach Nachweis eines berechtigten Rechercheinteresses zugänglich ist.« romarchive.eu/de/about/frequently-answered-questions/ (10.2.2022). 36 Vgl. Christine Bartlitz/Sarah Dellmann/Annette Vowinckel, Bildethik. Zum Umgang mit Bildern im Internet, in: Visual History, 20.7.2020, Abb. 5, visual-history.de/2020/07/20/bildethik/ (10.2.2022). 37 Ceynowa, Problematische Inhalte (wie Anm. 32), S. 273. 38 Vgl. Tal Bruttmann/Stefan Hördler/Christoph Kreutzmüller, Die fotografische Inszenierung des Verbrechens. Ein Album aus Auschwitz, Darmstadt 2019, sowie den Beitrag von Christoph Kreutzmüller in diesem Band. 39 S. z.B. eine Fotografie aus dem »Auschwitz-Album«, eingestellt vom Bundesarchiv, commons.wikimedia.org/wiki/File :Bundesarchiv_Bild_183N0827-318,_KZ _Auschwitz,_Ankunft_ungarischer_Juden.jpg (10.2.2022). 40 segu Geschichte (selbstgesteuert entwickelnder Geschichtsunterricht) ist eine Online-Lernplattform für offenen Geschichtsunterricht. Lernmodul: »Auschwitz-Birkenau 1944 | Fotos aus zwei Perspektiven«, segu-schichte.de/ auschwitz-birkenau/ (10.2.2022). 41 Die Bilderserie wird Alberto Ferreira zugeschrieben. Vgl. Georges Didi-Huberman, Bilder trotz allem, München 2007 (frz. Erstveröffentlichung 2003); Miriam Yegane Arani, Die Fotografien des »Sonderkommando Auschwitz«, in: Gerhard Paul (Hrsg.), Das Jahrhundert der Bilder. Bd. 1: 1900 bis 1949, Göttingen 2009, S. 658-665; Andreas Kilian, Zur Autorenschaft der Sonderkommando-Fotografien, in: Mitteilungsblatt der Lagergemeinschaft Auschwitz, Freundeskreis der Auschwitzer 36 (2016), H. 1, S. 7-17.
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das internet hat keinen kurator 42 Wikimedia Commons, commons.wikimedia.org/wiki/File:Auschwitz_Resistance_282_cropped.JPG (10.2.2022). 43 Facebook Pictures from the Holocaust, 1.4.2019, facebook.com/shoahpictures1/posts/2128366753911302 (10.2.2022). 44 Future Lean: Photographing the Holocaust, futurelearn.com/courses/photographing-the-holocaust/1 (10.2.2022). Vgl. auch den Beitrag von Maiken Umbach in diesem Band. 45 Stumme Zeugnisse 1939. Der deutsche Überfall auf Polen in Bildern und Dokumenten. Digitale Ausstellung 2019, Haus der Wannsee-Konferenz, onlinesammlungen.ghwk.de/stummezeugnisse/ (10.2.2022). 46 Ebd. 47 Interview der Verfasserin mit Svea Hammerle, Potsdam, 7.9.2021. 48 An dieser Stelle können nur sehr wenige Online-Präsentationen exemplarisch vorgestellt werden, um Aspekte im Umgang mit der NS -Fotografie zu verdeutlichen. Das Angebot ist natürlich weitaus umfangreicher. 49 Gurs 1940, digitale Ausstellung 2019, Haus der Wannsee-Konferenz, kuratiert von Christoph Kreutzmüller und Kerstin Stubenvoll, gurs1940.de/ (10.2.2022). 50 S. z.B. das Ausstellungskapitel »Todeszonen / Mordfabriken«, gurs1940.de/ de/ausstellung/todeszonen/mordfabriken (10.2.2022). 51 Lucia Halder, Gegenbilder, in: Visual History, 20.10.2020, visual-history. de/2020/10/20/gegenbilder/ (10.2.2022); s. zu einer neuen »Ethik des Sehens«: RomArchive romarchive.eu/de/ und dort besonders das kuratierte Kapitel »Bilderpolitik«, romarchive.eu/de/politics-photography/ (10.2.2022). 52 Gurs 1940, »Kaddisch«, gurs1940.de/de/ausstellung/kaddisch (10.2.2022). 53 Susan Sontag, Das Leiden anderer betrachten, Frankfurt am Main ²2008 (amerik. Erstveröffentlichung 2003), S. 29. 54 Gerd Sebald/Marie-Kristin Döbler, Einleitung, in: Dies. (Hrsg.), (Digitale) Medien und soziale Gedächtnisse, Wiesbaden 2018, S. 13-25, hier S. 14. 55 Vgl. Vivien Sommer, Mediatisierte Erinnerungen. Medienwissenschaftliche Perspektiven für eine Theoretisierung digitaler Erinnerungsprozesse, in: Sebald/Döbler, (Digitale) Medien (wie Anm. 54), S. 53-79, hier S. 70. 56 Interview der Verfasserin mit Ulrich Prehn, 4.10.2021, schriftlich. Vgl. auch den Beitrag von Ulrich Prehn in diesem Band. 57 Sophie Junge, Fotografie und Kolonialismus. Editorial, in: Fotogeschichte 162, 2021, S. 3-4, hier S. 3. Das gesamte Heft der »Fotogeschichte« ist in diesem Zusammenhang sehr zu empfehlen; dort auch weiterführende Literatur. 58 Interview der Verfasserin mit Svea Hammerle, 7.9.2021, Potsdam. 59 Sontag, Leiden anderer (wie Anm. 53), S. 101.
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V . Podiumsdiskussion
Brauchen wir eine Enzyklopädie der Bilder? Podiumsdiskussion mit Cornelia Brink, Petra Bopp, Gabriele Hammermann und Annette Vowinckel Moderiert von Michael Wildt und Sybille Steinbacher
Michael Wildt: Wir haben heute schon sehr eindrücklich über die flottierenden Bilder im Netz und die verschiedenen Varianten gesprochen, die es dort gibt. Ich bitte um ein Statement von allen auf dem Podium zu unserer Leitfrage »Brauchen wir eine Enzyklopädie der Bilder?«. Gibt es eigentlich Möglichkeiten, Fotos, die im Netz frei zugänglich sind, so anzubieten, oder Portale zu schaffen oder Ansprechpart nerinnen und -partner zu haben, dass Benutzerinnen und Benutzer, die über all das Fachwissen, das hier in diesem Raum versammelt ist, nicht verfügen, trotzdem sicher sein können, dass sie auf eine seriöse Seite oder ein seriöses Bildangebot kommen? Cornelia Brink: Referentinnen und Referenten haben ja die Möglichkeit, Ihre Frage selbst zu interpretieren. Ich habe mir diese Freiheit gekommen, weil es mir in dieser Runde und angeregt durch die Vorträge der letzten Tage sinnvoll erscheint, sich die Voraussetzungen dieser Frage und die Möglichkeiten einer digitalen Präsentation klarzumachen. Deshalb werde ich zunächst ein kleines Stück zurückgehen und noch keine Vorschläge für digitale Angebote machen, sondern Grundlagen definieren – und diese sind in vielem doch noch sehr analog gedacht. Die Brücke zum Digitalen ist aber gegeben. Ich konzentriere mich auf folgende Punkte: »Brauchen wir eine Enzyklopädie der Bilder?« – diese Frage nehme ich auseinander und frage erstens: Welche Bilder? Wir reden hier von Fotografien, aber wir können nicht voraussetzen, dass man, wenn man über Bilder aus den Jahren des NS -Regimes spricht, nur Fotografien im Kopf hat. Da gehören natürlich auch Grafiken dazu, Malerei, ganz zentral der Film – all das ist hier aber nicht Thema. Es sind die Fotografien ! Im Hinblick auf Fotografien wiederum interessiert mich deren Hetero genität. Also diese unglaubliche Vielfalt, mit der man es auf verschiedenen Ebenen zu tun hat, wenn man über NS -Fotografien spricht. 163
podiumsdiskussion
Und dann möchte ich zweitens den Begriff Enzyklopädie kurz proble matisieren. Ich fange mit den Fotografien und der Heterogenität der Bildwelten an. Wir haben in den letzten Tagen öfter gehört, dass die Fotografien, mit denen die nationalsozialistische Praxis der Vertreibung, Depor tation und Ermordung der Juden dokumentiert ist, kein abgeschlossenes Archiv bilden; bis heute tauchen immer wieder unbekannte Fotos aus den Jahren 1933 bis 1945 auf. Sie bilden auch insofern kein abgeschlossenes Archiv, als dessen Inhalt und Struktur seit 1945 ja nicht ein für alle Mal festgeschrieben war. Die Mehrzahl der Fotografien stand 1945 zur Verfügung. Man könnte darüber diskutieren, wann die Geschichte der NS -Fotografie beginnt. Beginnt sie 1933 oder startet die Vorgeschichte schon in der Weimarer Republik, etwa mit Familienfotografien aus den Jahren vor 1933, die in erinnerungskulturellen Kontexten wichtig wurden? Man kann auf jeden Fall sagen, dass nach dem Sommer 1945, nach Kriegsende, diesem Bestand viele weitere Fotos hinzugefügt wurden, die beispielsweise im Kontext der großen NS -Prozesse entstanden sind, und schließlich gibt es auch noch eine ganze Reihe späterer künstlerischer Aufnahmen, darunter Aufnahmen der persönlichen Habe der Ermordeten, ihrer Koffer, Brillen oder Rasierpinsel. Die Heterogenität der Bildwelten haben wir in den Vorträgen kennengelernt. Die Fotografien waren nach 1945 geografisch weit verstreut, über West- und Ostdeutschland, Westund Osteuropa, die USA , Israel und viele andere Länder. Sie sind bis heute auch institutionell weit verstreut, in den Archiven von Justiz, Militär, Presse, Museen und Gedenkstätten, von Organisationen der Überlebenden, in lokalen und staatlichen Archiven, bis hin zu Sammlungen und Bibliotheken, und ein großer Teil befindet sich in Privatbesitz. Inzwischen finden sich auch sehr viele historische Fotografien aus der NS -Zeit im Internet. Hinzukommt, dass die Überlieferung in ihrer Materialität noch einmal sehr heterogen ist. Die Fotos existieren als Negative, als Papierabzüge von Negativen, zeitgenössische oder spätere, als Reproduktionen, als Repros von Repros von Repros, mittlerweile als Digitalisate. Die Frage nach den Originalen, Michael Wildt hat das schon angesprochen, lässt sich auch auf der Ebene des Analogen gar nicht so einfach beantworteten. Wo liegt das Original? Wer verfügt über das Original? Was ist über den Kontext bekannt? Das ist je nach Institution sehr verschieden. Schon bis hierher kann einem schon schwindlig werden, angesichts der Heterogenität auf den unterschiedlichen Ebenen, die ich angesprochen habe. Hinzukommt, dass es keine einheitlichen 164
brauchen wir eine enzyklopädie der bilder?
Normen der Erschließung gibt. Das haben wir heute Morgen in Bezug auf die Bayerische Staatsbibliothek gehört: eine einheitliche Norm der Erschließung für die Überlieferung analoger Fotografien fehlt. Die gibt es für Fotos noch nicht einmal innerhalb eines Landes, geschweige denn in einer transnationalen Perspektive. Das heißt auch, dass sich die Zuschreibungen zum selben Motiv ja nach Auf bewahrungsort unterscheiden können. Wer ist abgebildet, welcher Ort und welche Daten zur Aufnahme werden identifiziert? Unter anderem hat die Wehrmachtsaustellung ja genau diese Unklarheiten und häufig auch unpräzisen Angaben sichtbar gemacht. Das heißt, wenn wir hier in der Runde über »Fotografien aus der Zeit des Nationalsozialismus« sprechen, haben wir es immer auch mit einer Vorstellung zu tun oder mit etwas, das auf unser jeweiliges Bildwissen rekurriert, nicht auf einen definierten Bestand, der irgendwo fixiert wäre. Und dieses Bildwissen hat sich unglaublich geändert in den letzten zwanzig Jahren. Die Geschichte der visuellen Darstellung von NS -Verbrechen, des Holocaust und der NS -Zeit lässt sich deshalb, und das gilt bis heute, als Geschichte einer Suche nach Fotografien beschreiben. Welche Fotos wann gefunden wurden, ihre Auswahl, Interpretation und Präsentation hängt von der Frage ab, mit der die Recherche aufgenommen wird. Diese Anstrengungen sind immer – und das gilt für »analoge« wie für »digitale« Zeiten – im Hinblick auf eine aufklärende Auseinandersetzung mit den NS -Verbrechen unternommen worden. Aber es gab und gibt auch stets kleinere Teilöffentlichkeiten, in denen etwa Bilder vom Krieg kursierten, ohne dass dabei die kritische Aufklärung über die Vergangenheit eine Rolle gespielt hätte; hinzukommen, das wurde heute Morgen kurz angesprochen, revisionistische Statements aus den 1970er Jahren. Das Problem, mit dem wir heute zu tun haben, wenn wir über Digitalisierung diskutieren, ist in anderer Weise in »analogen« Zeiten auch schon vorhanden gewesen. Mein erster Punkt, um sozusagen zur Verwirrung beizutragen: diese Heterogenität der fotografischen Überlieferung und ihrer Erschließung wäre sichtbar zu machen. Um dann zu fragen, wie wir mit dem Digitalen umgehen und was das qualitativ Neue ist, wenn wir über digitale Präsentationen sprechen. Mein zweiter Punkt: Terminologie und Enzyklopädie. Sie fragen, brauchen wir eine Enzyklopädie der Bilder? In der üblichen Definition wäre das ein Nachschlagewerk, in dem der gesamte Wissensstoff aller Disziplinen oder auch nur eines Fachgebiets in alphabetischer oder sonst systematischer Anordnung dargestellt wird; ein Nachschlagewerk, Lexikon. Das gibt es für den Holocaust – die »Enzyklopädie 165
podiumsdiskussion
des Holocaust« ist 1989 zuerst in Israel erschienen, später folgten Übersetzungen ins Deutsche und Englische. Bilder bzw. Fotografien spielen für die »Enzyklopädie des Holocaust« keine Rolle. Wenn man das Format »Enzyklopädie« für die Fotografien überlegen würde, also Lemmata auswählte, dann bräuchte man beispielsweise Fachartikel zu ausgewählten Tätern, die fotografierten, zur Propa gandafotografie, Knipser-Fotografie, der KZ -Fotografie und der Täter-Opfer-Fotografie. Und man könnte Artikel über Kameratypen wie die Leica oder über die Firma Agfa aufnehmen. So würde ich mir eine Enzyklopädie vorstellen, die analog funktioniert. Das ist jetzt kein Vorschlag, es zu tun ! Ich versuche das nur zu übersetzen – vom Print ins Digitale. Das gilt auch für die Alternative einer Edition der Bilder als wissenschaftliche Herausgabe von Quellen, in diesem Fall von Fotografien, die kommentiert werden. Auch dafür gibt es ein Vorbild: die von Susanne Heim und anderen herausgegebene Edition »Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das national sozialistische Deutschland 1933-1945« in 16 Bänden, die umfassendste Sammlung von Quellen und Dokumenten des Holocaust. Die Edition bleibt nicht stehen bei der Sammlung, der Zusammenstellung und der Kontextualisierung, mit der Bearbeitung war ein enorm großer Rechercheaufwand verbunden, die Edition ist also gleichzeitig ein Forschungsprojekt. Bei einer Edition von Fotografien würde man entsprechend von einzelnen Bildern oder Bildsammlungen ausgehen, also von den Quellen selbst, und eine zu begründende Auswahl mit Informationen zu den Kontexten von Herstellung, Motiv, evtl. zeitgenössischer Veröffent lichung und späterer Überlieferung publizieren. Edition oder Enzyklopädie – das sind unterschiedliche Formen, Wissen zusammen und zur Verfügung zu stellen. Beide sind mit der Printauflage abgeschlossen. Wenn man neues Wissen integrieren will, müsste man ständig neue Auflagen herausbringen. Man kann sich vorstellen, dass Projekte, die so viele Jahre in Anspruch nehmen, schon zum Zeitpunkt der Veröffentlichung nicht mehr aktuell sein können. Das war auch eine der Kritiken an der »Enzyklopädie des Holocaust«. Digitale Editionen oder Enzyklopädien wären dagegen dynamisch und offen. Sie könnten kollaborativ kontinuierlich erweitert werden mit einer Redaktion, die sie betreut. Sie sind offene wissenschaftliche Arbeitsinstrumente. Man könnte noch einen Schritt weitergehen und sich fragen: Sind Editionen und Enzyklopädien denn nicht Formen, Wissen aufzubereiten, die an Print geknüpft sind? Wo eine 166
brauchen wir eine enzyklopädie der bilder?
tragung in eine digitale Version gar nicht so viel Sinn ergibt? Internet und Social Media könnten einen ja an ganz andere Formen oder Narrationen denken lassen. Mir ist als Möglichkeit eine virtuelle Ausstellung eingefallen: das RomArchive1 hat mich da sehr überzeugt. Hier werden Fotos in Kontexte gestellt, unbekannte und bekannte Fotografien gemixt, und gleichzeitig werden auch Erläuterungen zum Medium Fotografie angeboten. Es wird also Verschiedenes verknüpft, das in Enzyklopädie und Edition vorhanden ist, und vor allen Dingen werden hier Medien genutzt, um Perspektiven zu wechseln, kurzum: Unbekannte Blicke und unbekannte Bilder werden sichtbar gemacht und diskutiert. Wofür auch immer man sich entscheidet, eine Enzyklopädie, eine Edition, eine virtuelle Ausstellung, so ein Projekt würde Fotos aus ganz unterschiedlicher Provenienz, aus ganz unterschiedlichen Aufbewahrungsorten in eine neue Ordnung transferieren. Es entstünde wieder eine Art von Ordnung – das ist unvermeidbar, das muss man reflektieren und in einer neuen Weise transparent machen. Mit neuer Weise meine ich medienspezifisch – denn digital funktioniert anders als analog bzw. print – und strukturell, durch das, was ich Ordnungssystem nenne. Ich denke, dass es immer um mehr geht als um Erschließung und Verfügbarmachen von Fotografien. Forschungsarbeit wird damit unvermeidlich verknüpft sein. Die Chance liegt natürlich darin, dass so eine digitale Version nicht nur den Forschungsstand repräsentiert, sondern auch ein Startpunkt für neue Fragen sein könnte, und damit für weiterführende Forschung. Ich habe einige Probleme, die ich sehe, auf den Tisch gelegt, und wir könnten darüber sprechen, was digital auf diesen Grundlagen möglich, denkbar und zu wünschen wäre. Petra Bopp: Auch ich habe die Ausgangsfrage eher als Aufforderung zum eigenen Nachdenken und zur eigenen Beschäftigung mit diesen Fotos verstanden. Ich gehe ein Stück zurück, an den Beginn meiner inzwischen 25-jährigen Auseinandersetzung mit diesen Bildern. Ausgehend von den Erfahrungen sowohl mit den Fotos der ersten Wehrmachtsausstellung und den Gesprächen mit ihren Besucherinnen und Besuchern als auch mit den Interviews, Ergebnissen und Analysen im Forschungsprojekt und in der Ausstellung »Fremde im Visier. Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg« stellt sich für mich immer dringender die Frage nach der nötigen Archivierung und damit auch der Kommentierung und Kontextualisierung von privater Fotografie im Nationalsozialismus. Die zunehmende Digitalisierung und 167
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die rasante Multiplizierung und Verfügbarkeit der Fotos im Internet verweisen auf die notwendige Kontextualisierung. In einer kurzen Recherche zu den Fotos der Erschießungen an der Friedhofsmauer in Pancevo, insbesondere zum Fangschussfoto, das durch die Verwendung in der Presse zur Ikone der ersten Wehrmachtsausstellung wurde, stellte ich 1999 fest, wie unterschiedlich der Gebrauch und die Kommentierung dieses Fotos in drei zeithistorischen Ausstellungen in Berlin waren, nämlich im Haus der Wannseekonferenz, im Deutschen Dom und in der Topographie des Terrors. Das Foto wurde im Format beschnitten, es wurde falsch datiert, geographisch fälschlich der Sowjetunion zugeordnet statt Jugoslawien und es wurde in unterschiedliche Kontexte einsortiert. Dies geschah alles zu halbwegs analogen Zeiten. Die Erfahrungen mit den Besucherinnen und Besuchern der ersten Wehrmachtsausstellung, die häufig mit vielen Fragen zu ihren eigenen Kriegsalben auf das Ausstellungsteam zukamen, machten deutlich, wie groß die Zahl der privaten Kriegsbilder in Privat besitz immer noch ist und welche Fragen sich daraus für die einzelnen Alben-Besitzer ergeben. Häufig standen zweifelnde und angsterfüllte Vermutungen im Vordergrund, denn die eigentliche Schockwirkung der Ausstellung bestand in der Erkenntnis der inhaltlichen Bedeutung dieser Familienalben im häuslichen Schrank oder Keller. Wie stark die Sogwirkung der Ausstellungsfotos war, zeigte sich in dem Versuch einer kleinen Historikergruppe, die Fotos in einer der Ausstellungsstationen zu kopieren und damit eine eigene, zusätz liche Ausstellung zum Thema zu gestalten. Zu dieser Duplizierung brauchte es noch nicht einmal das Internet. Zum zweiten Punkt: Beim Bearbeiten der Ausstellung »Fremde im Visier. Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg« und der Kontextua lisierung des nun ebenfalls zur Ikone gewordenen Fotos der »Minenprobe« wurde mir während der vergangenen zehn Jahre sehr klar, was die Publizierung und Digitalisierung eines Fotos bewirken können. Das reicht von der Anfrage der Fotografin Anaïs Horn aus Wien zum Reenactment über das zufällig im Netz entdeckte Ölbild von Sabine Moritz, der Frau des Künstlers Gerhard Richter, bis hin zur Verwendung in diversen Medien und Sammlungen: In Geschichtslehrbüchern, in den Spiegel Geschichte-Heften, im Deutsch-Russischen Museum Berlin-Karlshorst. Helmut Lethen verwendete das Foto als Cover zu seinem Buch »Der Schatten des Fotografen« (Berlin 2014) und beschrieb das Foto nicht immer ganz korrekt. Gerhard Paul interpretiert das Bild im Kontext zeithistorischer Forschungen in dem Buch »Bilder einer Diktatur. Zur Visual History des ›Dritten Reiches‹« 168
brauchen wir eine enzyklopädie der bilder?
(Göttingen 2020). Angesichts des breiten Interesses beschäftigt mich das Foto immer wieder in neuen Rezeptionszusammenhängen. Für eine solche Weiternutzung des Fotos wäre sicher eine Enzyklopädie der Bilder notwendig und verdienstvoll. Denn nicht alle Nutzerinnen und Nutzer lesen dazu die genaue Kontextualisierung im Buch. Weiterführend im Sinn der genauen Bildrecherche waren für mich die Arbeiten von Pierre Bonhomme und Clément Chéroux zu ihrer Ausstellung »Mémoire des camps« (Paris 2001). Für viele der gezeigten Fotos der Lager versuchten Bonhomme und Chéroux, sie bis zum Negativ oder Vintage-Print zurückzuverfolgen. Ihre Recherche formulierten sie in ausführlichen Bildbeschreibungen. Die Ausstellung wurde 2001 lediglich in Paris, Winterthur und in der Emilia Romagna in Italien gezeigt. Leider fand sich in Deutschland keine Ausstellungsinstitution für diesen wegweisenden Ansatz. Zum dritten Punkt: Vor drei Wochen nahm ich in Dresden an einem Workshop zur »Ethik des Zeigens« teil, bei dem Fragen zur Erstellung, Kommentierung und Kontextualisierung von Fotografien aus kolo nialen Kontexten in zwei großen Digitalisierungs- und Erschließungsprojekten diskutiert wurden. Fotografien sowohl aus den Museen für Völkerkunde in Dresden und Leipzig als auch Aufnahmen aus der Deutschen Fotothek wurden in zwei umfangreichen Datenbanken erfasst. Die dabei entstandenen Probleme der Kommentierung und Kontextualisierung ergaben herausfordernde Fragestellungen sowohl zum Zeigen überhaupt als auch zur Wortwahl bei den Bildunterschriften. Die weitestgehende Forderung dazu kam von der libanesischen Kunst- und Fotohistorikerin Hanin Hannouch, die gegenwärtig als Postdoc-Wissenschaftlerin am Ethnologischen Museum in Berlin arbeitet. Sie insistierte auf eine komplexe Kontextualisierung in Datenbanken, mit dem Ziel, zusätzlich zur Provenienz unter anderem auch geraubte Artefakte aus der gleichen Entstehungszeit hinzuzufügen, so dass das ganze Ausmaß der Entstehung und Verwendung der Fotos im Zusammenhang mit Raubgut deutlich werden kann. Grundsätzlich folgen wir diesem Prinzip, wenn wir Artikel zu bestimmten Fotografien recherchieren, sie in ihre Entstehungszeit ein fügen und analysieren. Für eine Datenbank von tausenden von Fotos ist dies jedoch eher eine utopische Forderung. Dennoch erweitert es die Perspektive der Recherche und der digitalen Bearbeitung. Eine zweite Forderung war ebenso strikt angelegt: Wann kann man ein Foto zeigen, wann sollte es lieber nicht in die Datenbank aufgenommen werden? An den beiden Fotobeispielen, die ich vorstellte, entzündete sich die Kritik. Es ging um die sogenannte 169
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nung. Ich zeigte zum Foto einer Hängung in den ehemaligen Kolonien Deutsch-Ostafrikas von 1889 ein Foto eines getöteten Soldaten aus der französischen Kolonialarmee von 1940 in Frankreich. Abgebildet ist die Leiche des Soldaten auf dem Rücken liegend mit dem Gesicht nach oben, also gegen das Fotografier-Tabu, den toten Feind mit offenem Gesicht als Toten abzulichten. Es befindet sich in einem Album aus der Projektsammlung, und ich erläuterte beim Workshop, warum ich dieses Foto weder in der Ausstellung noch im Buch publizierte, sondern das im Album nebenstehende Foto, auf dem man das Gesicht nicht sehen kann. In der anschließenden Diskussion beklagten drei jüngere Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Wucht des Bildes und vermissten die für sie notwendige Triggerwarnung, die ich nicht ausgesprochen hatte. Sie forderten für Lehrveranstaltungen und eben auch für Tagungen die vorherige Warnung. Ich war überrascht, weil ich dachte, dass wir in diesem geschlossenen Workshop der Kuratorinnen und Kuratoren offen über solche Fotos diskutieren könnten, zumal sie in einem privaten Fotoalbum montiert waren. Hanin Hannouch forderte hier eher die Nicht-Aufnahme in eine Datenbank. Mit diesem Beispiel möchte ich die Frage zur Ethik des Zeigens aus den vorherigen Beiträgen aufnehmen und möchte diesen neuen Kontrollmechanismus mit einem Zitat des Hamburger Fotokünstlers Stefan Moos zur Diskussion stellen, da wir alle immer wieder in Ausstellungen und bei Publikationen von Kriegsfotografien mit diesem Problem zu tun haben. Moos sagt: »Fortschreitend festigt sich die Routine bei Vermittlern von Bild und Film, auch etwa in Kinos und Ausstellungen, vor bestimmten Elementen im Gezeigten, vor allem Gewalt, zu warnen. Bilder werden dadurch zu etwas potentiell Gefährlichem deklariert. Sie sind nicht mehr Mittel zur Aufklärung, wo Gewalt denunziert werden soll, sie sind selbst Gewalt. Der Bote wird also zum Feind.«2 – Wie also damit umgehen? Eine besondere Form des Nicht-Zeigens fand ich in der Installation der Ausstellung »Der kalte Blick. Letze Bilder jüdischer Familien aus dem Ghetto von Tarnów« von Götz Aly, Margit Berner u. a. (Haus der Geschichte Österreich, Wien 2021, Topographie des Terrors, Berlin 2022). Zwei Wiener Anthropologinnen fotografierten 1942 in über 500 Aufnahmen jüdische Familien kurz vor ihrer Ermordung. Wie zeigt man diese Fotos? Das Ausstellungsteam wählte dazu unbegehbare schwarze Wände. Die Fotos der Familien sind anwesend und dennoch nicht zu erkennen. So lässt es sich vermeiden, dass die mit dem kalten Blick erfassten Menschen ein weiteres Mal gedemütigt werden. Wäre das eine Möglichkeit? 170
brauchen wir eine enzyklopädie der bilder?
Gerade die kaum zu überschauende Quantität an privaten Alben und Konvoluten aus der Zeit des Nationalsozialismus erfordert mit dem Übergang der Kriegsgeneration auf die Generation der Töchter und Söhne, beziehungsweise jetzt schon auf die Enkelgeneration, die Archivierung und damit auch die Digitalisierung für weitere Recherchen und Analysen dieses besonderen Bildmaterials. Oder um es mit einem Zitat von Jürgen Matthäus zu untermauern: »Wichtig ist der Umstand, dass Personen aus dem Umfeld des Albumautors mit dem Entschluss zur öffentlich zugänglichen Archivierung das Postulat der Geschichtsmächtigkeit dieser Alben artikulieren.«3 Zu den Stadtmuseen, die Fotonachlässe anlässlich der Ausstellung »Fremde im Visier« erhielten, braucht es aber meines Erachtens auch eine zentrale Stelle, die diese visuellen Relikte des Krieges sammelt und digital der Forschung zur Verfügung stellt. Ansätze dazu gibt es: im Museum für Kommunikation in Berlin und auch im Militär museum der Bundeswehr in Dresden. Als zentrale Stelle für eine solche Enzyklopädie der Bilder wäre das Deutsche Historische Museum der geeignete Ort. Wie weit sich das Fotoalbum bei jüngeren Fotografinnen und Fotografen und Fotokuratorinnen und -kuratoren schon eingenistet hat, zeigt das Programm für die achte Triennale für Fotografie in Hamburg 2022 mit dem Projekt »The Errant Photo Album«, in dem Geschichten und Gedanken zu Fotos von Teilnehmenden gesammelt und im Netz publiziert werden.4 Und auch das Fotomuseum Winterthur bietet im Juli 2022 einen Workshop zur analogen Erstellung eines Albums auf Papier mit Reproduktionen und Texten an.5 Mit jeder Ausstellung, mit jedem Buch, jedem Vortrag, jeder Digitalisierung setzen wir diese Bilder in neue Rahmen und Kontexte und verändern damit ihre Wirkung, wenn wir sie aus ihrem ursprüng lichen Zusammenhang des Albums oder des Archivs herausnehmen. Im Analysieren sowohl der jeweiligen Bedingungen als auch durch eine behutsame Annäherung lassen sich die unterschiedlichen Agentes aufspüren und erläutern. Mit dem Hinweis auf die Bedingungen der Fotografierenden und die weitere Bearbeitung der privaten Nachlässe durch die nächsten Generationen sowie die Verwendung der wissenschaftlichen Fotos in Publikationen verändern sich mit der Rezeption auch die Subjekt-Objekt-Beziehungen. Dies gilt für uns alle heute, die wir mit diesen Bildzeugnissen umgehen und im besonderen Maße für Historikerinnen und Historiker, für Kunst- und Fotohistorikerinnen und -historiker, aber eigentlich für alle, die diese Bilder in Medien zeigen. 171
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Gabriele Hammermann: Sybille Steinbacher hat mich gebeten, Einblick in die Arbeit der Gedenkstätte und die Heterogenität unserer Bestände zu gewähren. Die KZ -Gedenkstätte Dachau verfügt nur über wenige originale Fotobestände, obwohl die Gedenkstätte etwa 1.000 Fotos hat, die die 12-jährige Phase des Bestehens des KZ Dachau bis zur Befreiung beleuchten. Eine deutlich größere Zahl von Fotos des Signal Corps und privater Knipser sowie der amerikanischen GI s verschiedener Provenienzen liegen aus der Zeit unmittelbar nach der Befreiung vor. Ich will nur die wichtigsten Kategorien nennen, die die Gedenkstätte an Fotosammlungen hat: nämlich die Pressefotos, vor allem von 1933 bis 1936, eine ganz wichtige Kategorie. Die Fotos wurden hauptsächlich von Friedrich Franz Bauer bei Besichtigungen aufgenommen. Ferner Erinnerungsalben – da haben wir wie auch bei vielen anderen Beständen nur sehr wenige Originale. Darüber müssen wir, glaube ich, auch diskutieren, über diese Heterogenität der Bestände und die Frage, was das für die Digitalisierung bedeutet. Wir haben außerdem einen relativ großen Bestand an heimlich aufgenommenen Fotos, vor allem von tschechischen Häftlingen, aber auch von einem polnischen und einem belgischen Häftling, die unter Lebensgefahr in geschützten Räumen, wie beispielsweise der Lagerschreibstube, diese Fotos anfertigten. Der große Bestand, den wir auch noch haben, betrifft die Befreiungszeit, also die Fotos, die als Beweissicherung dienten. Und schließlich kommen Fotos von ehemaligen Häftlingen hinzu, die als Erinnerungsstücke und gleichzeitig als Auftragsfotos für die US -amerikanischen Armeeangehörigen dienten. Wir sind gerade dabei, einen Bestand von etwa sechzig Fotografien näher zu erforschen. Mein Plädoyer ist, dass wir versuchen sollten, auch punktuell mehr in die Tiefe zu gehen. Unser Vorbild ist das Projekt »Schwarz auf Weiß« der KZ -Gedenkstätte Buchenwald, die ihren Fotobestand, der das Bildgedächtnis von Buchenwald repräsentiert, aus verschiedenen Perspektiven historiografisch umfassend erschlossen und nach einem Provenienz-Prinzip verzeichnet und digital inventarisiert hat.6 Wie wichtig dieses Vorgehen der Verknüpfung mit Zeitzeugen-Interviews, mit Zeichnungen und schriftlichen Quellen ist, um die Fotos zu deuten, möchte ich an einem letzten Beispiel zeigen: Im Bestand zur Befreiungszeit befinden sich etwa sechzig Fotos, die mit einem groben Stempel, der an einen Kartoffel-Stempel erinnert, mit dem Schriftzug »Jugo Foto« versehen wurden. Bei diesen Aufnahmen untersuchen wir gerade die Entstehungsgeschichte und die Überlieferungsgeschichte, stießen aber sehr schnell an unsere Grenzen. Was zeigen die Fotos? Was zeigen sie nicht? Das hat uns lange beschäftigt. 172
brauchen wir eine enzyklopädie der bilder?
In dieser Fotoserie, die sich in zahlreichen Archiven befindet, nehmen ehemalige jugoslawische Häftlinge ihre befreiten Mithäftlinge auf. Sie stellten die Verbrennung der Leichen in den Krematorien nach. Sie dokumentieren die Leichenberge in den Totenkammern und vor den Krematorien. Jahrzehnte später – diese Quellen haben wir erst allmählich gefunden – haben sie in einer Verbandszeitschrift, die 1996 erschienen ist, über die Entstehungsgeschichte dieser unmittelbar nach dem Krieg entstandenen Fotos gesprochen. In den Werkstätten des SS -Lagers hatten die jugoslawischen Häftlinge eine mit Fotoplatten aus Glas betriebene alte Holzkastenkamera gefunden, die sie anfangs nicht zu bedienen wussten. Es fand sich schließlich ein mit Röntgengeräten vertrauter Medizinstudent, der die Entwicklung der Glasplatten übernahm. Er berichtet in der Verbandszeitschrift, dass sie einen Gummistempel mit dem Schriftzug »Jugo Fotos« zur Kennzeichnung angefertigt hätten. Interessant ist, dass nach wenigen Tagen US -Soldaten dieser Gruppe ehemaliger Häftlinge Auftragsarbeiten erteilten und sie mit Zigaretten und Schokolade entlohnten. Dabei arrangieren die Amerikaner verschiedene Szenarien und trugen zu einer weiteren Verbreitung dieser Fotos bei. Manche Aufnahmen sind weltweit zu Ikonen geworden und wurden als Beweismittel bei den Dachauer Prozessen verwendet. Viele der amerikanischen Soldaten ließen bei einem Fotostudio in München-Schwabing Fotoalben mit dieser Serie, kombiniert mit eigenen privaten Aufnahmen aus dem befreiten Lager, unter dem Titel »From out of the Concentration Camp« anfertigen. Verbreitet wurden Fotos auch über die frühen Broschüren, herausgegeben vom International Information Office, die eine ausgesprochen wichtige Quelle darstellen. Als Letztes möchte ich auf den Dokumentarfilm zu sprechen kommen. In dem neuen Dokumentarfilm der KZ -Gedenkstätte Dachau werden Fotos als historische Quelle eingeführt, und der Prozess des Erforschens wird transparent gemacht. Ich glaube, das ist ein wichtiger Punkt bei der Präsentation von Fotos im Internet. Die Fotos werden im Film durch die behandschuhte Kuratorenhand eingeführt, die Bildsprache der Propaganda-Fotos wird an verschiedenen Stellen dekonstruiert. Auf diese Weise beabsichtigten die Filmschaffenden, ein Gespür für die Beschaffenheit, für die unterschiedliche Materialität in der Bewegung zu vermitteln. Es geht also um ein Zeigen und Begreifen im Film. Zudem wollten sie durch das Zeigen des Phy sischen den Prozess des Zusammenstellens ausgewählter Objekte als eine materielle Seite der Rekonstruktion von historischen Ereignissen thematisieren. 173
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Annette Vowinckel: Ich habe ein paar Screenshots zusammengestellt, auf die ich gleich eingehen werde. Ich werde aber vorweg einige Worte zur Eingangsfrage dieses Podiums sagen: Brauchen wir eine Enzyklopädie der NS -Fotografie? Ich würde sie, was den Begriff der Enzyklopädie betrifft, eigentlich mit »Nein« beantworten und zwar aus dem einfachen Grund, dass es Enzyklopädien im 21. Jahrhundert eigentlich gar nicht mehr sinnvollerweise geben kann. Wissen ist immer im Fluss. Es kommen immer neue Erkenntnisse dazu. Die Vorstellung, dass Wissen in irgendeinem Gebiet irgendwann einmal abgeschlossen sein könnte, halte ich für völlig überholt. Ich würde deshalb den Begriff der Enzyklopädie durch den Begriff einer kritischen Edition ersetzen, die in sich das Prinzip der Erweiterbarkeit trägt und die den Gedanken einschließt, dass immer wieder neue Bildbestände erschlossen werden und dass Wissen grundsätzlich nie abgeschlossen ist. Schon gar nicht in einem Bereich, in dem Bilder publiziert, republiziert und verändert neu aufgelegt werden. Die Idee einer kritischen Edition von NS -Fotografie finde ich dagegen extrem hilfreich und sinnvoll. Ich würde aber dafür plädieren, dass man so etwas nur mehr digital machen kann – allenfalls in einer hybriden Version, die erweiterbar ist und zwar genau aus dem gleichen Grund: Wissen ist nie abgeschlossen ! Man muss die Option haben, sukzessive neue Bestände, Erkenntnisse, Daten zu integrieren. Ich komme noch einmal auf die Frage der Nutzung von Fotografien im Netz zurück. Bisher hat sich der Tenor ausgebildet, dass man das alles nicht kontrollieren kann. Das ist mit Sicherheit völlig richtig, aber man kann die Nutzung von Bildern im Netz analysieren. Wenn man den Begriff »Holocaust« bei Google eingibt und dann auf die Bildersuche geht, dann bekommt man natürlich eine ganze Reihe von Bildern, die uns bekannt sind. Man kann aber auch – und das ist offensichtlich vielen nicht bekannt, Christine Bartlitz hat das in ihrem Vortrag erwähnt – über das Bild selbst eine Suche starten. Wenn man nämlich im Suchschlitz auf das Kamera-Icon geht, kann man ein eigenes Bild hochladen oder eine URL eingeben, auf der dieses Bild genutzt wird, und bekommt dann Seiten angezeigt, auf denen genau dieses Bild verwendet wird. Hier wird man zum Beispiel, was mich sehr beruhigt hat, zuallererst mal auf die KZ -Gedenkstätte Buchenwald verwiesen, wenn man dieses Bild, das ich mehr oder weniger willkürlich ausgewählt habe, verwendet. Wenn man etwas hinunter scrollt, bekommt man eine Reihe von Bildern angezeigt, die Google als ähnlich oder identisch identifiziert hat. 174
brauchen wir eine enzyklopädie der bilder?
Abb. 1.
Das heißt, man bekommt auch schon einen ersten Eindruck davon, wo dieses Bild eigentlich im Netz auftaucht. Man kann zum Beispiel sehen, wenn man genau hinguckt, dass jemand eine Markierung darauf gesetzt hat. Man hat hier zumindest einen Anfangsverdacht dafür, dass jemand tatsächlich mit dem Bild gearbeitet hat. Dagegen hat man auch eine ganze Reihe von Bildern, die man eigentlich gar nicht als ähnlich oder gar identisch identifizieren würde, und man fragt sich daher, wie eigentlich irgendein Algorithmus auf die Idee kommt, uns das als Bildähnlichkeit anzuzeigen. Trotzdem würde ich sagen, es ist ein Einstieg in die Frage, wo diese Bilder im Netz auftauchen. Wenn man noch weiter hinunterscrollt, stellt man fest, die Bilder werden zum Beispiel bei ntv, Express.de, Tagesspiegel und im Ärzteblatt verwendet. Meine Suche für dieses Bild hat ergeben, dass die überwie175
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Abb. 2.
gende Mehrheit der Seiten, die es nutzen, doch seriöse Medien sind. Weiter unten landet man dann bei Facebook und Instagram, wo auch immer. Man stellt allerdings auch fest, dass man einen guten Anteil der Einträge gar nicht mehr lesen kann, wenn man die Sprache nicht beherrscht. Hier könnte ich noch sagen, das ist Russisch oder Belarussisch, unten Arabisch, aber es gibt auch Sprachen, die wir gar nicht mehr identifizieren können. Diese Seite zum Beispiel habe ich dann doch gefunden. Ich habe die Titelzeile bei Google Translate eingegeben und festgestellt, dass es eine koreanische Seite ist, die den Titel trägt: »Westlich orientierte Zusammensetzung ohne Afrika und Lateinamerika. Die westliche Geschichte ist unausgewogen.« Das mag uns jetzt nicht überraschen, aber die Frage ist: Was hat das Bild auf dieser Seite zu suchen? Das wissen wir nicht. Aber es ist auch nicht völlig unkontrollierbar oder unanalysierbar, was da im Netz eigentlich passiert. 176
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Mein Plädoyer geht deshalb in diese Richtung: Es ist erforderlich, die Verwendungsform, soweit das irgendwie sinnvoll möglich ist, mitzuberücksichtigen, und wir sollten von der Feststellung, dass wir die Verwendung nicht kontrollieren können, hingehen zu der Feststellung, dass wir einiges unter anderem mit digitalen Hilfsmitteln wie Google Translate durchaus analysieren können. Ich halte es also für sinnvoll, alles, was digital ist, als Medium oder als Werkzeug zu nutzen für eine Art von kritischer Edition. Von besonderer Wichtigkeit wäre aus meiner Sicht, für so eine Edition, für jedes einzelne Bild oder jeden Bildbestand, der integriert wird, einen Leitfaden zu entwickeln, anhand dessen bestimmte Grundfragen geklärt und Wissen gesichert werden kann, nämlich: Woher stammt das Bild? Wo ist es archiviert? Woher stammt der Bildbestand? Welche Abzüge oder Kopien sind im Umlauf ? Wer hat die Rechte für das Bild oder den Bildbestand? Wo wurde es publiziert, entweder analog oder auch digital? Wie kann man die Verwendung dieses Bildes möglicherweise auch im Netz verfolgen? Immer natürlich im Rahmen dessen, was noch sinnvoll und handhabbar ist. Statt einer Enzyklopädie, würde ich vorschlagen, bräuchten wir eine kritische Edition von Beständen, die bestimmte Standards einhält. Unter anderem bräuchten wir einen Leitfaden dazu, wie wir selbst mit solchen Bildern umgehen können, wenn wir sie für unsere eigenen Zwecke verwenden. Zum Beispiel die Frage: Kann man aus ethischen Gründen bestimmte Dinge verpixeln oder verbergen? Wie viel Kontext muss hergestellt werden? Was macht man überhaupt selbst im eigenen Umgang mit den Bildern? Das mag in diesem Raum noch relativ trivial erscheinen. Meine Erfahrung ist aber immer wieder mit Historikerinnen und Historikern, auch engen Kolleginnen und Kollegen, dass Bilder in einer Art und Weise verwendet werden, die eigentlich überhaupt nicht mehr up to date ist: also ohne Bildunterschrift, ohne Hinweis auf Urheberin oder Urheber, ohne Hinweis darauf, was man überhaupt sieht, sondern rein illustrativ. Das zu vermeiden hielte ich im Kontext der NS -Fotografie für besonders wichtig, auch dass Handreichungen herausgegeben werden, die so etwas verhindern. Sybille Steinbacher: Danke an das Podium für die intensive Auseinandersetzung mit der Frage »Brauchen wir eine Enzyklopädie der Bilder?« – aus Ihren jeweiligen Blickwinkeln und Arbeits- und Forschungsbereichen heraus. Der Begriff der Enzyklopädie war von Michael Wildt und mir gemeint als eine Art Wikipedia für Bilder. Nicht also als gedrucktes Werk, aber angelehnt an das, was Wikipedia, bei 177
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aller notwendigen Kritik daran, bieten könnte, also eine Möglichkeit der digitalen Sammlung und der informativen ebenso wie kritischen Auseinandersetzung mit Fotos. Es wurden Beispiele genannt, wo so etwas schon funktioniert, das RomArchive nämlich. Aus den Beiträgen hier auf dem Podium ist zu schließen, dass wohl niemand denkt, so etwas brauchen wir nicht, sondern im Gegenteil. Um ethische Aspekte muss es bei einem solchen Vorhaben ohne Zweifel auch gehen. Und es fragt sich: Wie wäre es überhaupt auf die Beine zu stellen? Cornelia Brink: Zu einem reflektierten ethischen Umgang gehören mindestens zwei verschiedene Aspekte. Einmal die Frage: Wer ist derjenige, für den ethische Vorgaben in Anschlag gebracht werden? Das haben wir bisher mehr oder weniger vorausgesetzt, aber noch nicht genauer durchdacht. Also sprechen wir über die Ansprüche der Ab gebildeten? Über die der Fotografen? Über die der Adressaten, also die, die Bilder anschauen? Das wäre für mich noch einmal eine Unterscheidung, die man expliziter machen könnte. Also: Wen haben wir im Blick, wenn wir ethische Ansprüche erheben? Dann habe ich versucht, die Idee von Annette Vowinckel, einen Leitfaden zu erstellen, zusammenzubringen mit dem, was wir über die Bayerische Staatsbibliothek gehört haben in Bezug auf Normdaten. Ich glaube, uns würde es in der Runde nicht schwerfallen, so einen Leitfaden zu erstellen. Aber wie ließe der sich verbinden mit der Notwendigkeit der Normierung, und den Schwierigkeiten, verschiedene Institutionen dazu zu bringen, sich auf Normdaten zu einigen, damit die Erschließung funktioniert? Ich glaube, das kann man gar nicht allein mit Historikerinnen und Historikern leisten, da braucht man die Kolleginnen und Kollegen aus den Archiven und vielleicht auch aus den Bibliotheken, die aktuell mit ähnlichen Fragen konfrontiert sind. Und dazu gehört auch, wie sich eine dauerhafte Zugänglichkeit technisch organisieren lässt. Ich habe nun schon wieder einige Probleme benannt. Das heißt überhaupt nicht, dass man es nicht tun sollte. Sondern dass die Aufgabe wirklich voraussetzungsvoll ist. Es gibt aber auch eine Menge Know-how, an das man anknüpfen kann. Michael Wildt: Ich möchte noch einmal die Hinweise von Petra Bopp aufgreifen, auf der einen Seite das RomArchive und auf der anderen Seite die Kolonialfotografie. Es gibt dieses Problem ja nicht nur bei Fotos aus dem Nationalsozialismus. Es gibt tatsächlich an vielen anderen Stellen auch rassistische Zuschreibungen, Bildunterschriften und so weiter. Man kann sich ja vorstellen, was in Archiven, auch 178
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in älteren Bildarchiven, an Bildunterschriften zur Kolonialfotografie existiert, was im Grunde genommen umgeschrieben oder neu geschrieben werden müsste. Oder noch einmal anders kontextualisiert, wenn es beispielsweise Originalunterschriften von Missionaren sind, die ihre Bilder im Kolonialarchiv abgeben haben. Ich glaube, eine solche Idee von kritischer Edition von Bildern kann viel von anderen lernen, die bereits an diesem Problem arbeiten, und ich glaube, sie muss auch aufsetzen auf den Arbeiten, die auch zum Bespiel schon in KZ Gedenkstätten geleistet wurden. Es ist ja nicht so, dass wir bei null anfangen, natürlich gibt es Arbeiten in den KZ- Gedenkstätten, eben die besondere Erschließung von Bildern. Es gibt auch das »Jahrhundert der Bilder«, von Gerhard Paul herausgegeben, wo eine Vielzahl von Bildern kontextualisiert wird. Hinzukommt Pauls Buch »Visual History des ›Dritten Reiches‹«. Ich glaube, da sind wir uns einig, dass eine solche Edition von Bildern nur digital sinnvoll ist, gerade weil sie dynamisch fortgeschrieben werden soll. Das ist, glaube ich, einer der immensen Vorteile der digitalen Welt, dass Wissen fortgeschrieben und ergänzend erweitert werden kann. Und dass wir uns von dieser abgeschlossenen Buchform, tatsächlich gerade was Bilder betrifft, verabschieden sollten. Das sind digitale Projekte und sollten auch von vorne herein digitale Projekte sein. – Wir können nun gern Beiträge aus dem Publikum aufgreifen. Ulrich Prehn: Als ich jetzt die Inputs hörte, Wikipedia als Modell anzudenken, hat das bei mir eine Frage aufgeworfen: Wikipedia als demokratisches »von unten«-Prinzip und dann gleichzeitig so etwas wie Leitfaden und kritische Edition – wie würde das aussehen können? Ich versuche mir das vorzustellen. Wer bestimmt denn eigentlich, über welche Bilder wir dann wie mit einem Leitfaden arbeiten? Wenn man dann zu irgendwas gekommen ist, um das möglichst einheitlich zu machen – das hat mir sehr eingeleuchtet – aber wer sind die, die das entscheiden? Ist es ein Kuratoren-Team? Mit den bildethischen Fragen wird es dann ganz speziell. Das finde ich alles unheimlich kompliziert. Die Hauptfrage ist für mich: Wer kuratiert das? Das müssten Expertinnen und Experten sein. Die Gegenfrage müsste lauten: Ist die Wikipedia-Masse dazu nicht befähigt? Andrea Genest: Ich bin voller Ideen, finde es sehr spannend und fühle mich ganz unwohl in der Rolle, ein Ja-aber vorzubringen, trotzdem: Ich finde die Idee gut, es im Netz zu machen, auch ein Stück weit partizipativ. Gerade fällt mir analog die Shoah Foundation ein, die 179
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angefangen hat, Interviews mit Shoah-Überlebenden zu machen und dann auch Opfer anderer Genozide dazugenommen hat. Das könnte man bei einer Bildersammlung auch machen, also andere Themen hineinzunehmen. Zugleich bei Wikipedia ist es das große Problem, dass wir mittlerweile Lobbyismus-Gruppen haben, die bestimmte Inhalte dort nicht zulassen. Das ist dann auch die Grenze von Parti zipation. Natürlich würde man wahrscheinlich eher mit den Bildern anfangen, die bekannt sind und die daher wichtig zu hinterfragen und zu ergründen sind, weil sie omnipräsent sind. Das würde aber wiederum die Distribution dieser Bilder im Netz extrem erhöhen. Es würde praktisch das Problem, das wir jetzt schon feststellen, noch einmal vergrößern. Maiken Umbach: Ich möchte auf das zurückkommen, worüber wir am Anfang gesprochen haben: das Foto im Fotoalbum. Mein Problem mit der Idee einer Enzyklopädie ist, dass es leicht darauf hinauslaufen könnte, Fotos aus der Zeit des Nationalsozialismus als Einzelfotos zu betrachten. Bilder vom Nationalsozialismus sind dann nur solche, auf denen Hitler zu sehen ist oder etwa eine NS -Großveranstaltung wie die Olympischen Spiele oder ein Reichsparteitag. Ich habe in meinem Vortrag ein paar Albumseiten gezeigt, wo wir den Nationalsozialismus auf andere Weise sehen. Zum Beispiel das Album der Familie K. aus Berlin, in dem Aufkleber von SA -Männern das Babyfoto einrahmen. Dieses Album umfasst vielleicht sieben oder acht Seiten, die explizit auf den Nationalsozialismus rekurrieren – und fast sechzig Seiten, auf denen nur Baby- und Familienfotos zu sehen sind. Es ist aber besonders interessant, wie ein anscheinend völlig privates Album diesen ideologischen Überbau nutzt, um eine Familien-Erzählung mit einer ideologischen Aura zu versehen. Nicht nur durch die Fotos selbst, sondern durch ihre Kombination mit anderen Materialien: Zeitungsausschnitte, getrockneten Blümchen, Aufkleber, Werbeannoncen etc. Das ist nur ein Beispiel. Mir scheint das auf ein prinzipielles Phänomen hinzuweisen. Wir fingen in der Diskussion an mit der Idee einer Enzyklopädie der Bilder zur Zeit des Nationalsozialismus. Dann kamen wir mehr und mehr zu einer Holocaust-Bilder-Enzyklopädie. Aber das ist etwas sehr viel Spezifischeres. Wenn wir über den Natio nalsozialismus insgesamt nachdenken und die vielen unterschiedlichen Arten, in denen Leute sozusagen ihre privaten Existenzen angedockt haben an Aspekte von nationalsozialistischer Ideologie, Politik und Praxis, in ganz unterschiedlichen Situationen und mit individuellen Motivationen, müssen wir uns klarmachen, dass diese Andockungen 180
brauchen wir eine enzyklopädie der bilder?
explizit oft nur in ganz wenigen der Bilder zu sehen sind. Sie sind aber integraler Teil von visuellen Narrationen, die augenscheinlich überwiegend privaten Charakter haben. Wenn wir jetzt nur die Bilder herausgreifen, auf denen jemand mit dem Hakenkreuzfähnchen wedelt und auf Hitler wartet, worauf also politische Affirmation direkt zu sehen ist, dann fehlt dieser Bezug, der verdeutlicht, wie eine solche Praxis in die größere Narration hineinpasst, in der deutlich wird, wie viele Deutsche den Nationalsozialismus für sich als eine Ressource genutzt haben, als »cultural capital« in Sinne Bourdieus. Für mich ist das besonders interessant mit Blick auf den stark erweiterten Täterbegriff aus der Forschung der letzten Jahrzehnte, mit dessen Hilfe man die Fotoforschung für die NS -Forschung sehr viel weitgehender nutzen kann, als nur Fotos von Gräueltaten das erlauben. Dasselbe darf auch für die Fotos der Opfer gelten. Viele dieser Fotos sind Bilder vom Leben in Deutschland oder anderswo vor 1939, wo man nicht offensichtlich den Nationalsozialismus sieht. Aber sie sind unglaublich wichtig für die Erfahrungsgeschichte jüdischer Menschen im Nationalsozialismus, die sich oft auch noch nach der Emigration fortschrieb. Insofern finde ich, das Problem der Enzyklopädie wäre, dass sie fast automatisch Grenzen zieht und diese ganz wichtigen Kontinuitäten sowohl von Opfer- als auch von Täterseite zwischen privatem Erleben, dem Mitvollziehen der Politik und der Partizipation daran verwischen würde – wo es doch gerade darum gehen müsste, das in den Vordergrund zu stellen. Petra Bopp: Es ist notwendig, dass auch die private Fotografie in ihrer Bildästhetik, in ihren Kontexten und in ihrer Rezeption differenziert analysiert werden muss. Die Ikonisierung, wie sie Gerhard Paul in seinem Artikel zur Minenprobe unternimmt, wird der visuellen Komplexität nicht gerecht, da er den Kontext der ganzen Bildserie mit 142 Fotos nicht berücksichtigt. Genauso ist es mit Alben, in denen auf zunächst harmlos anmutenden Seiten wichtige Informationen versteckt sind, die man bei der Betrachtung von zum Beispiel Frontfotos mitberücksichtigen muss, wenn man an die Mentalitätsfrage herankommen möchte. Es gibt Möglichkeiten, und die Online-Ausstellung von Svea Hammerle hat sehr gut gezeigt,7 wie man damit umgehen kann, sowohl Einzelbilder als auch eine Albumseite mit dem Kontext der jeweiligen Fotos zu betrachten. Wichtig ist: Wie sind die Fotos angeordnet? Was sagt uns das in der Montage? Um das zu tun, gibt es durchaus Möglichkeiten in der digitalen Darstellung. 181
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Cornelia Jahn: Danke für diese Diskussion, insbesondere auch zum Thema Ethik des Zeigens, Ethik der Bilder. Das ist eine Frage, die uns derzeit gerade in Zusammenhang mit unseren Arbeiten am SternFotoarchiv in der Bayerischen Staatsbibliothek intern intensiv beschäftigt. Weil wir einen sehr großen Kanon an Bildern haben, zu dem man sich natürlich kritische Fragen stellen könnte. Wir haben zu der Frage noch keine abschließende Meinung, der Prozess läuft gerade. Die neue Datenbank wird auch die Möglichkeit der Verpixelung oder Teilverpixelung vorsehen. Es kann unter Umständen notwendig werden – wenn die Bilder wirklich zu grausam sind und es rechtlich und ethisch nicht vertretbar ist, sie zu zeigen –, dass Teile der Kontaktbögen auch verpixelt werden und diese Bilder dann gar nicht angezeigt werden. Das sind ganz wichtige Überlegungen, die uns sehr beschäftigen. Zum Thema digitale Edition: Wenn man solche Überlegungen weiterverfolgt, ist es meines Erachtens ganz wichtig, die Institutionen, die diese Bestände verwahren, mit ins Boot zu holen. Ich spreche da immer gerne von Gedächtnisinstitutionen und meine damit Archive, Bibliotheken, Museen, KZ -Gedenkstätten und so weiter. Es ist in der Tat richtig, dass die Bibliotheken, was die Erschließung und den Normierungsgrad angeht, eine führende Rolle spielen. Das kann man historisch erklären, da die Bibliotheken schon Anfang des 20. Jahrhunderts durch die Verbundkataloge, die ja damals Kärtchenkataloge waren, von vornherein überregional gearbeitet haben, weil das Material, das sie ursprünglich verwalteten – nämlich die Bücher – ja primär nicht unikal ist. Diese Dinge haben sich dann weiterentwickelt und wurden in die digitale Welt übertragen. Es ist ja auch so, dass die Gemeinsame Normdatei (GND ) federführend von der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main und Leipzig betreut wird und dass das ein ganz zentrales Tool ist. Wir werden es bei der neuen Stern-Datenbank live einbinden. Durch diese Normdaten ist unendlich viel an Erschließungsarbeit bereits geleistet. Namen, Orte, Körperschaften sind dadurch bereits angesetzt. Ich würde sagen, dass auch wichtige Begriffe bei der Erschließung, mit denen wir es im Kontext des Nationalsozialismus zu tun haben, längst inkludiert sind. Das erscheint mir ebenfalls wichtig in diesem Zusammenhang: Was bei solchen Projekten meines Erachtens immer eine Gefahr ist, ist das Thema Nachhaltigkeit. Es nützt ja nichts, wenn man einen tollen Projektantrag stellt und so und so viel Sonder- und Drittmittel und befristete Stellen bekommt. Es muss im Hintergrund eine funktionierende und dauerhafte technische Infrastruktur geben. Und ebenso zu bedenken ist, dass die Daten langzeitarchiviert werden müssen. 182
brauchen wir eine enzyklopädie der bilder?
Svea Hammerle: Ich möchte die Gegenfrage zu Ulrich Prehn stellen – und zwar nicht, wer kreiert das, sondern: Für wen machen wir das? Reden wir über eine Enzyklopädie für uns, die Wissenschaft, reden wir über die Kuratorinnen und Kuratoren, reden wir über die Vermittlerinnen und Vermittler, die Lehrerinnen und Lehrer, die Schülerinnen und Schüler? Oder meinen wir schlichtweg die Allgemeinheit? Das wirft die wichtigste Frage auf, nämlich: Was muss da eigentlich rein? Und wie müssen wir das verbalisieren? Was für eine Sprache nutzen wir? Was wollen wir vermitteln? Ich denke, bevor solche Fragen nicht geklärt sind, braucht man gar nicht erst anzufangen, denn sonst verzettelt man sich. Das wäre meine Frage in die Runde: Für wen machen wir das eigentlich? Wer braucht das? Ich würde anmerken: die Medien. David Rojkowski: Das ist das, was ich auch ansprechen wollte: Was sind die Ziele von einem solchen Projekt? Und eben auch: Die Medien müsste man dazuholen. Ich fände es ein sehr wichtiges Ziel, dass es einen Leitfaden für Medien gibt, so dass sie, wenn sie etwas mit Bildern aus der NS -Zeit machen, dann darauf zugreifen können. Und wenn sie die Bilder von Getty Images oder anderen Bildagenturen benutzen, dann eben nicht die Propagandabilder der NS -Zeit wiederholen. Das wäre vielleicht ein Ziel, ihnen Ersatz zu bieten. Dann müsste man natürlich auch mit Bildagenturen zusammenarbeiten und sie auch gleich an Bord holen. Das als Ziel zu setzen, finde ich auch wichtig. Michael Wildt: Das ist eine ganz gute Frage für die Abschlussrunde: Was könnte das Ziel sein? Wie würde man im Netz präsent sein – was könnte in Bezug auf Bilder Netzpräsenz bedeuten? Annette Vowinckel: Das ist eine wahnsinnig wichtige Frage. Ich würde mir vorstellen, dass man eine möglichst breite Öffentlichkeit ansprechen müsste. Ich würde mir auch dringend wünschen, dass, wenn so ein Projekt ins Leben gerufen wird, man über die Suchmaschinenoptimierung die Suche so steuert, dass zum Beispiel Leute, die für eine Schülerzeitung ein Bild suchen, auf unser Angebot umgelenkt werden, damit sie an einer möglichst seriösen Adresse landen, die ihnen möglicherweise auch Antworten auf Fragen gibt, die sie gar nicht gestellt haben. Ich gebe zu bedenken, dass man die Leute da abholen muss, wo sie stehen. Ich würde es nicht als ein Fachportal für die Kolleginnen und Kollegen konzipieren, sondern wirklich als eine Antwort auf die virulente Frage: Was macht man mit diesem unglaublichen Überangebot von Bildern im Netz? 183
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Gabriele Hammermann: Ich möchte das ein Plädoyer für die Bildungsarbeit nennen wollen. Es ist einfach sehr wichtig, mit diesen Bildern zu arbeiten und ihre Hintergründe zu kennen. Und da möchte ich noch einmal auf die Einbeziehung von Expertinnen und Experten eingehen. Wie schaffen wir es, eine Tiefenschärfe der Interpretation zu erreichen? Das ist ganz zentral. Sybille Steinbacher: Für die breite Öffentlichkeit könnte so etwas hilfreich und wichtig sein, denke ich, nicht nur für Teilöffentlichkeiten, auch nicht bloß für die Medien. Natürlich müssen Expertinnen und Experten eingebunden werden, damit so etwas funktionieren kann. Für die breite Öffentlichkeit könnte so eine digitale Sammlung und Kommentierung ein Handwerkszeug für den Umgang mit der Vielzahl an Bildern im Internet sein und den kritischen Umgang mit diesem Material befördern. Petra Bopp: Ich möchte nach wie vor dafür plädieren, die private Fotografie mit einzubeziehen. Es wurde nach der Wehrmachtsausstellung und dem Bekanntwerden all der privaten Fotos schon deutlich, wie unterschiedlich die Motive und die Formen der NS -Fotografie sind – im Unterschied zu der immer wieder auf gleiche Weise genutzten offiziellen Propaganda-Fotografie, die in Schulbüchern und in den Medien inflationär auftaucht. Es gibt so viel mehr an Motiven und Formen, und deshalb würde ich versuchen oder es ermöglichen, die sicherlich etwas schwierigere Privatfotografie einzubeziehen. Cornelia Brink: Das würde ich unterstützen. Wenn man sich auf das konzentrieren würde, was ich vor über zwanzig Jahren »Ikonen« genannt habe, dann fiele man zurück hinter den mittlerweile erweiterten Forschungsstand. Es haben sich in den vergangenen Jahren viele Blicke in neue, bislang unbekannte Bildwelten geöffnet, die in ihrer Vielfalt auch den Blicken der Zeitgenossen und Zeitgenossinnen des NS näherkommen. Diese neuen Forschungen gilt es unbedingt einzubeziehen. Bei der Frage nach den Adressatinnen und Adressanten bin ich im Moment noch ratlos. Wenn ich mir in Erinnerung rufe, dass es selbst unter Kolleginnen und Kollegen in den historischen Wissenschaften noch nicht selbstverständlich ist, Bilder seriös zu kontextua lisieren und zu beschriften, dann ist schon unter den Spezialisten noch eine ganze Menge zu tun. Und von da aus an die breitere Öffentlichkeit zu gehen – ich würde mich zum jetzigen Zeitpunkt erst einmal hinsetzen und alle Aufgaben notieren, die mit einer kritischen Edition 184
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verbunden wären, und dann schauen, mit wem man am besten arbeiten könnte. Dafür hat uns diese Tagung sehr viel Input geliefert. Michael Wildt: Das finde ich jetzt einen schönen Schluss – ein Auf gabenheft, das übrigens auch noch analog angelegt werden kann. Das sind gute Impulse und sehr gute Anregungen. Es war auch nicht gedacht, mit der Podiumsdiskussion sozusagen den Startschuss für einen gemeinsamen Antrag bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft auf so ein Vorhaben zu stellen. Sondern die Idee war, genau darüber nachzudenken: Braucht es so etwas? Ist es sinnvoll? Wie kann es gelingen? Wer muss daran beteiligt sein? Ich glaube, ausgehend von dem, was Petra Bopp von dem Workshop zur Kolonialfotografie berichtet hat, wäre es eine Möglichkeit, im nächsten Frühjahr zu einem Workshop mit verschiedenen Institutionen einzuladen, um an dem Aufgabenheft zu arbeiten. Das ist ja nicht die erste Tagung über Fotografie im Nationalsozialismus. Viele kennen sich untereinander von vielen Workshops, und trotzdem ist es, finde ich, immer wieder spannend, wie viel Neues, Anregendes man auf einer solchen Tagung erlebt und erfährt. Dafür ist allen Referentinnen und Referenten und allen, die sich an der Diskussion beteiligt haben, zu danken. Herzlichen Dank! Sybille Steinbacher: Auch von mir: herzlichen Dank !
Anmerkungen 1 RomArchive ist ein digitales Archiv zur Kultur und Kunst von Sinti und Roma, vgl. romarchive.eu/ (22.2.2022). 2 Geäußert im Rahmen der Veranstaltung »Triggerwarnung! Historische und aktuelle Fotos aus dem Krieg – der Umgang mit den Bildern« am 24.4.2022, s. raprab.net/22 und youtube.com/watch?v=iQbFQD c5jXA (6.7.2022). 3 Jürgen Matthäus, Opa im Osten. Private deutsche Fotoalben zum Zweiten Weltkrieg, in: Fotogeschichte 165 (2022), im Druck. 4 Vgl. phototriennale.de/allegories-of-the-visible/ (6.7.2022). 5 S. »The Family Album – Stories to take home with you«, fotomuseum. ch/en/events-post/workshop-familienalbum-geschichten-zum-mitnehmen/ (6.7.2022). 6 S. schwarzaufweiss.buchenwald.de/ (30.6.2022). 7 S. die Ausstellung »Stumme Zeugnisse 1939. Der deutsche Überfall auf Polen in Bildern und Dokumenten«, onlinesammlungen.ghwk.de/stummezeugnisse/ (30.6.2022).
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Dank Zu danken ist den Autorinnen und Autoren dieses Bandes, die beim Dachauer Symposium zur Zeitgeschichte im Oktober 2021 ihre Forschungsergebnisse präsentierten und nun für die Drucklegung bear beitet haben, so dass auch Fragen und Themen, die in den Diskussionen aufkamen, darin Eingang fanden. Für die gute Zusammenarbeit richtet sich unser Dank an die Stadt Dachau, die die Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte finanziert, namentlich an Herrn Oberbürgermeister Florian Hartmann, ferner an Herrn Richard Seidl, den Referenten für Zeitgeschichte im Stadtrat, an Herrn Tobias Schneider, den Leiter des Kulturamtes, und an alle Mitwirkenden im Kulturausschuss. Bei der Stiftung Jugendgästehaus Dachau richtet sich unser Dank an das Team des Max-Mannheimer-Hauses, das uns einmal mehr herzlich aufgenommen hat. Der anregenden Atmosphäre, die das Haus bietet, haben die Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte viel zu verdanken. Wir sagen insbesondere seiner Leiterin Frau Felizitas Raith und Frau Petra Urbanski besten Dank. Beim Wallstein Verlag danken wir Frau Ursula Kömen und Herrn Prof. Thedel v. Wallmoden. Sie alle trugen zum Gelingen eines Bandes bei, der, ganz im Sinne der Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte, historisches Geschehen und Fragen nach der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der Gegenwart miteinander verbindet. Frau Mag. Sara Vorwalder am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien hat auch diesen Band lektoriert; für ihre sorgfältige Arbeit sei ihr herzlich gedankt. Sybille Steinbacher und Michael Wildt
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Autorinnen und Autoren Christine Bartlitz Wiss. Mitarbeiterin und verantwortliche Redakteurin der Online-Portale Docupedia-Zeitgeschichte (docupedia.de) und Visual History (visualhistory.de) am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. Sie lehrt als Dozentin Public History. Zu ihren Forschungs- und Publikationsschwerpunkten gehören u. a. Visual History, Public History und Digital History. Veröffentlichungen u.a.: (Hrsg. mit Annette Vowinckel und Sarah Dellmann), Bildethik. Zum Umgang mit Bildern im Internet, in: Visual History, Potsdam 2020, visual-history.de/2020/07/20/ themendossier-bildethik; Lost in Pictures? Fotos als Gebrauchsartikel, in: Fotogeschichte 40 (2020), Die Zukunft der Fotografie, H. 158, S. 6466; (Hrsg. mit Hanno Hochmuth, Tom Koltermann, Jakob Sass und Sara Stammnitz), Traum und Trauma. Die Besetzung und Räumung der Mainzer Straße 1990 in Ost-Berlin, Berlin 2020. Petra Bopp Dr., Kunsthistorikerin und Kuratorin in Hamburg. Sie wurde in Kunstgeschichte promoviert mit der Dissertation »Fern-Gesehen. Französische Bildexpeditionen in den Orient« (erschienen Marburg 1995). Sie war Koordinatorin der Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944« beim Hamburger Institut für Sozial forschung und dem Verein zur Förderung der Ausstellung Vernichtungskrieg e. V. in Hamburg. Ferner war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG -Forschungsprojekt Fremde im Visier. Privatfotografie der Wehrmachtsoldaten im Zweiten Weltkrieg (angesiedelt in Oldenburg und Jena). Seit 2009 ist sie außerdem Kuratorin der Wanderausstellung »Fremde im Visier. Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg«. Sie war Fellow der Kolleg-Forschergruppe »BildEvidenz. Geschichte und Ästhetik« am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität Berlin (2013-2017), und Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften der Kunstuniversität Linz in Wien (IFK ) (2014/15). Ihr aktuelles Forschungsprojekt trägt den Titel: »Blick – Gegenblick: Private Kriegsfotografie im Europa des Zweiten Weltkriegs«. Veröffentlichungen u. a.: Forced images? Entangled Connotations of Wehrmacht Soldiers’ Photos in Greece, in: Iro Katsaridou, Annie Kontogiorgi und Ioannis Motsianos (Hrsg.), The Occupier’s Gaze: Athens in the Photographs of German Soldiers, 1941-1944, Directorate of Modern 189
autorinnen und autoren
tural Heritage, Hellenic Ministry of Culture, Athens 2020, S. 40-64; »Wir glauben an die Objektivität der Kamera« – Private Fotografie der Wehrmachtsoldaten im Zweiten Weltkrieg, in: Svea Hammerle, HansChristian Jasch, Stephan Lehnstaedt (Hrsg.), 80 Jahre danach. Bilder und Tagebücher deutscher Soldaten vom Überfall auf Polen 1939, Berlin 2019, S. 69-85; A new sensibility? Photographs of violence of Wehrmacht soldiers in the Second World War, in: Joachim von Puttkamer, Dorothea Warneck (Hrsg.), Exhibiting violence, Przeglad Historyczny, Tom CVII , Zeszyt 1, Warschau 2016, S. 63-76; »Für den Soldaten ist das Farbenphoto die hundertprozentige Erfüllung« – Farbe als Evidenzversprechen inmitten schwarz-weißer Kriegserinnerungen, in: Monika Wagner, Helmut Lethen (Hrsg.), Schwarz-Weiß als Evidenz, Frankfurt/ Main 2015, S. 191-207; Fremde im Visier. Fotoalben aus dem Zweiten Weltkrieg, Bielefeld 22012 (zuerst 2009). Cornelia Brink Prof., Dr., Historikerin. Professorin (apl.) für Neuere und Neueste Geschichte und Historische Anthropologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Dort leitet und koordiniert sie seit 2012 den Masterstudiengang Interdisziplinäre Anthropologie. Von 2016 bis 2020 war sie Leiterin des Teilprojekts »Bilderkrieger und Bilder des Krieges. Kriegsfotografen als Helden und Heldenmacher im Zweiten Weltkrieg« im Sonderforschungsbereich 948 »Helden – Heroisierungen – Heroismen«. Seit 2020 leitet sie im Sonderforschungsbereich ein Teilprojekt zu »Maskulinität(en)«. Cornelia Brink wurde in der Volkskunde mit einer Studie zu Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern promoviert. In ihrer Habilitationsschrift in der Neueren und Neuesten Geschichte untersucht sie den Zusammenhang von Psychiatrie und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Veröffentlichungen u.a.: Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945, Berling 22000 (zuerst 1998); »Auschwitz in der Paulskirche«. Erinnerungspolitik in Fotoausstellungen der sechziger Jahre, Marburg 2000; Eine Fotografie verstehen. Zur Interaktion von Bild, Blick und Sprache. Mit Kommentaren von Anna Schreurs-Morét und Achim Aurnhammer, in: E-Journal »helden.heroes.heros«, H. 6.2 (2018), S. 3-16, DOI : 10.6094/helden.heroes. heros./2018/02/01; Wie kommt die Gewalt ins Bild? Über den Zusammenhang von Gewaltakt, fotografischer Aufnahme und Bildwirkungen, in: Fotogeschichte Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie 125 (2012), S. 5-14 (mit Jonas Wegerer), zeithistorische-forschungen.de/ sites/default/files/medien/material/Brink_Wegerer_2012.pdf. 190
autorinnen und autoren
Gabriele Hammermann Dr., Historikerin. Seit 2009 leitet sie die KZ -Gedenkstätte Dachau. Sie studierte Geschichte, Kunstgeschichte und Soziologie in München und Trier und war Stipendiatin am Deutschen Historischen Institut in Rom. Promoviert wurde sie mit der Studie »Zwangsarbeit für den Verbündeten. Die Arbeits- und Lebensbedingungen der italienischen Militärinternierten in Deutschland 1943-1945«; die Übersetzung ihres Buches wurde in Italien mit einem Literaturpreis ausgezeichnet. Sie war außerdem Mitglied der Deutsch-Italienischen Historikerkommission, die sich mit der gemeinsamen Kriegsvergangenheit der beiden Staaten im Zweiten Weltkrieg befasst hat, u.a. mit den Erfahrungen der italienischen Bevölkerung mit der deutschen Besatzungsmacht. In Dachau hat sie die Neugestaltung der Gedenkstätte SS -Schießplatz Hebertshausen auf den Weg gebracht und ferner ein umfassendes Konzept für die Neugestaltung der KZ -Gedenkstätte Dachau vorgelegt. Veröffentlichungen u.a.: Hrsg. mit Andrea Riedle), Der Massenmord an den sowjetischen Kriegsgefangenen auf dem SS -Schießplatz Hebertshausen 1941-1942. Begleitband zur Open-Air-Ausstellung und zur Gedenkinstallation »Ort der Namen«, Göttingen 2020; Religiöse Praxis in Konzentrationslagern und anderen NS -Haftstätten, in: (Hrsg. mit Insa Eschebach und Thomas Rahe), Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung (Hrsg. Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS -Verbrechen in Kooperation mit der Arbeitsgemeinschaft der KZ -Gedenkstätten in der Bundesrepublik Deutschland), Bd. 2, Göttingen 2021. Christoph Kreutzmüller Dr., Kurator, Historiker und Pädagoge in der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz in Berlin. Seit Oktober 2021 ist er zudem im Projekt »Last Pictures« für das Bildungsangebot verantwortlich. Von 2015 bis 2019 hat er das Segment »Katastrophe« für die neue Dauerausstellung des Jüdischen Museum Berlin vorbereitet. Seit 2017 ist er auch Vorstandsvorsitzender des Vereins Aktives Museum Faschismus und Widerstand in Berlin. Veröffentlichungen u. a.: »Ausverkauf. Die Vernichtung der jüdischen Gewerbetätigkeit in Berlin 1930-1945«, Berlin 2013; (mit Julia Werner), »Fixiert. Fotografische Quellen zur Verfolgung und Ermordung der Juden in Europa. Eine pädagogische Handreichung«, Bonn 2016; (mit Tal Bruttmann und Stefan Hördler), Die fotografische Inszenierung des Verbrechens. Ein Fotoalbum aus Auschwitz, Darmstadt 2019. 191
autorinnen und autoren
Robert Mueller-Stahl M. A., Studium der Politikwissenschaft und Geschichte in Göttingen mit Masterabschluss. 2017/18 war er Fulbright Fellow am Department of History an der University of Wisconsin-Madison (USA ) und ist jetzt assoziierter Doktorand am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam. In seiner Promotion, die von der German-Israeli Foundation for Scientific Research and Development gefördert wird, untersucht er die Verhandlung von Krisenerfahrungen in der deutschjüdischen Privatfotografie zwischen 1928 und 1938. Ulrich Prehn Dr., Historiker und Ausstellungskurator. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter bearbeitet er am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin das drittmittelgeförderte Forschungsprojekt »Die Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands im Nationalsozialismus«. Seine Interessen in der Erforschung der deutschen und europäischen Zeitgeschichte bewegen sich zwischen akteurszentrierten, alltagsgeschichtlichen Zugängen auf der einen und ideen- und mediengeschichtlichen Ansätzen auf der anderen Seite. Einen besonderen Schwerpunkt bildet seine Arbeit an und mit historischen Fotografien, vornehmlich zur Geschichte der Arbeitswelt, zur privaten Fotopraxis im Nationalsozialismus sowie zur Gewaltgeschichte des ausgehenden 19. und 20. Jahrhunderts. Am Lehrstuhl von Prof. Dr. Michael Wildt an der Humboldt-Universität zu Berlin war er von 2009 bis 2015 als Projektkoordinator des Forschungsprojekts »Fotografie im Nationalsozialismus. Alltägliche Visualisierung von Vergemeinschaftungs- und Ausgrenzungspraktiken 1933 bis 1945« tätig. Veröffentlichungen u.a.: Unklare Grenzziehungen. Zur Konstruktion von »Eigenem« und »Fremdem« in Aufnahmen deutscher Fotoamateure während des Zweiten Weltkriegs, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 29 (2020), Berlin 2020, S. 88-131; (Hrsg. mit Linda Conze und Michael Wildt), Photography and Dictatorships in the Twentieth Century, Journal of Modern European History 16 (2018), Heft 4; Working Photos: Propaganda, Participation, and the Visual Production of Memory in Nazi Germany, in: Central European History 48, 3 (2015) [Special Issue: Photography and Twentieth-Century German History], S. 366-386. Sybille Steinbacher Prof. Dr., Historikerin, Direktorin des Fritz Bauer Instituts und Professorin für Geschichte und Wirkung des Holocaust an der GoetheUniversität Frankfurt am Main, 2010 bis 2017 Universitätsprofessorin 192
autorinnen und autoren
für Zeitgeschichte/Vergleichende Diktatur-, Gewalt- und Genozidforschung an der Universität Wien. Feodor Lynen-Stipendiatin der Alexander von Humboldt-Stiftung 2004/05 an der Harvard University, 2010 Gastprofessorin am Fritz Bauer Institut, 2012/13 als Ina Levine Invitational Scholar am Mandel Center for Advanced Holocaust Studies am United States Holocaust Memorial Museum in Washington D. C. Seit 2012 Projektleiterin der Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte. Veröffentlichungen u.a.: Dachau. Die Stadt und das Konzentrations lager in der NS -Zeit. Die Untersuchung einer Nachbarschaft, Frankfurt am Main u.a. 21994 (zuerst 1993); »Musterstadt« Auschwitz. Germanisierungspolitik und Judenmord in Ostoberschlesien, München 2000; Auschwitz. Geschichte und Nachgeschichte, München 52020 (zuerst 2004); (mit Saul Friedländer, Norbert Frei und Dan Diner), Ein Verbrechen ohne Namen. Anmerkungen zum neuen Streit über den Holocaust, München 2022. Maiken Umbach Prof. Dr., Historikerin, Professorin für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte an der Universität Nottingham. Nach dem Studium und der Promotion in Cambridge lehrte sie zunächst in Cambridge und Manchester und hatte außerdem Gastprofessuren unter anderem in Harvard, Berlin, der Australian National University und der Universität Pompeu Fabra in Barcelona inne. Sie war Principal Investigator des vom Arts and Humanities Research Council finanzierten, multi-disziplinären Forschungsprojekts »Photography as Political Practice in National Socialism«. Sie forscht ferner zu mehreren zusätzlichen Projekten über den öffentlichen und musealen Umgang mit fotografischen Quellen aus dem Nationalsozialismus. Sie war außerdem Co-Investigator am Projekt »Das Private in Nationalsozialismus«, gefördert von der Leibniz Stiftung, das eine Kooperation zwischen dem Institut für Zeitgeschichte München und der Universität Nottingham war. Gegenwärtig ist sie Co-Investigator im DFG -Netzwerk »Technology Meets Testimony: An international and interdisciplinary research network investigating the future of Holocaust survivor testimonies«. Sie ist zur Zeit als Chief Academic Advisor am englischen National Holocaust Museum tätig; außerdem arbeitet sie mit dem Imperial War Museum London und dem United States Holocaust Memorial Museum in Washington zusammen. Veröffentlichungen u.a.: (mit Scott Sulzener), Photography, Migration, and Identity. A German-Jewish-American Story, Basingstoke 2018; (Hrsg. mit Elizabeth Harvey, Johannes Hürter und Andreas Wirsching), Private Life and Privacy in Nazi Germany, Cambridge 2019. 193
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Annette Vowinckel Prof. Dr., Historikerin, seit 2021 (apl.) Professorin am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie wurde mit einer Arbeit über Hannah Arendts Geschichtsbegriff an der Universität-Gesamthochschule Essen promoviert und hat sich mit einer Studie zur Kulturgeschichte der Renaissance an der Humboldt-Universität zu Berlin habilitiert. Seit 2014 leitet sie am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam die Abteilung für Mediengeschichte. Veröffentlichungen u.a.: Agenten der Bilder. Fotografisches Handeln im 20. Jahrhundert, Göttingen 2016; (Hrsg. mit Jürgen Danyel und Gerhard Paul), Arbeit am Bild. Visual History als Praxis, Göttingen 2017; (Hrsg. mit Jan-Holger Kirsch und Michael Wildt), Themenheft: Fotografie in Diktaturen, Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 12 (2015) Heft 2; (Hrsg. mit Annelie Ramsbrock und Malte Zierenberg), Fotografien im 20. Jahrhundert. Vermittlung und Verbreitung, Göttingen 2013. Michael Wildt Prof. Dr., Historiker, von 2009 bis 2022 Professor für deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt im Nationalsozialismus an der Humboldt-Universität zu Berlin. Davor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Theorie und Geschichte der Gewalt des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Veröffentlichungen u. a.: Zerborstene Zeit. Deutsche Geschichte 1918 bis 1945, München 2022; Ambivalenz des Volkes. Der Nationalsozialismus als Gesellschaftsgeschichte, Berlin 2019; (Hrsg. mit Linda Conze und Ulrich Prehn), Photography and Dictatorships in the Twentieth Century, Journal of Modern European History 16 (2018), Heft 4; Picturing Exclusion. Race, Honor, and Anti-Semitic Violence in Nazi Germany before Second World War, in: Jürgen Martschukat und Silvan Niedermeier (Hrsg.), Violence and Visibility in Modern History, New York 2013, S. 137-155. Theresia Ziehe Seit 2006 Kuratorin für Fotografie des Jüdischen Museums Berlin. Sie studierte Religionswissenschaft und Erziehungswissenschaft in Bonn und Berlin. Seit 1999 ist sie in verschiedenen Sammlungsbereichen des Jüdischen Museums Berlin tätig und gehört zudem dem Team der Kuratorinnen und Kuratoren der neuen Dauerausstellung an, die 2020 eröffnet worden ist. Sie kuratierte ferner die folgenden Ausstellungen am Jüdischen Museum Berlin: »Frédéric Brenner – Zerheilt« (2021), »Im Augenblick. Fotografien von Fred Stein« (2013), »Russen Juden 194
autorinnen und autoren
Deutsche. Fotografien von Michael Kerstgens seit 1992« (2012), »It must schwing. Blue Note – Fotografien von Francis Wolff und Jimmy Katz« (2009). Veröffentlichungen u.a.: Fred Steins Werk im Spiegel von Emigrationserfahrung und politischer Überzeugung, in: Erika Eschebach und Helena Weber (Hrsg.), Fred Stein. Dresden – Paris – New York, Dresden 2018, S. 94-105; Zur Situation jüdischer Fotografen und Fotografinnen in Berlin während des Nationalsozialismus, in: Miriam Halwani (Hrsg.), Karl Schenker. The Master of Beauty, Köln 2016, S. 154159; (mit Christoph Kreutzmüller), Crossing Borders in the Summer of 1935. Fritz Fürstenberg’s Photographs of Persecution in National Socialist Germany, in: Leo Baeck Yearbook 64 (2019), S. 73-89.
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Personenregister Adorno, Theodor W. 9 Arendt, Hannah 67 Barta, Rudi 111 Bauer, Friedrich Franz 172 Baum, Herbert 108 Benjamin, Walter 28 Chotzen, Elsa 75 f. Chotzen, Erich 14 f., 75-90 Chotzen, Hugo-Kurt 79-90 Chotzen, Josef 76 Chotzen, Jospeh 76 Didi-Huberman, Georges 8 Dürer, Albrecht 31 Eichmann, Adolf 124 f. Frank, Hans 33 Frank, Niklas 33 Frankenstein, Leonie 13 f., 95, 98-104 Frankenstein, Michael 98 Frankenstein, Peter-Uri 14, 98 f., 101 f. Frankenstein, Walter 13 f., 95, 98-104 Friedrich, Caspar David 39, 43 Fürstenberg, Werner Fritz 105 ff., 112 Goebbels, Joseph 9 Goldstein, Esther 124 f. Hähle, Johannes 11, 50-54, Heidenheim, Bruno 107
Henning Danley, Kay 76, 83, 88, 91 Himmler, Heinrich 15 Höcker, Karl Friedrich 125 Hoffmann, Heinrich 9, 120, 132, 148 Hofmann, Ernst 15 f., 118, 120, 124, 126 f., 130-133, Horkheimer, Max 9 Höß, Rudolf 118 f., 134 Jacob, Lili 15, 117-126, 134, 150 f. Joachim, Heinz 108, 110 Joachim, Marianne 108, 110 Kahn, Elsbeth 104 f. Koch, Karl-Otto 97 Kuttner, Annemarie 109 Kuttner, Margarete 109 Kuttner, Paul 109 Lanzmann, Claude 8 Lewy, Stephan H. 100 Moos, Stefan 170 Moritz, Sabine 168 Niemann, Johann 125 Pisarek, Abraham 100, 105 f. Richter, Gerhard 168 Riefenstahl, Leni 9, 12 Roos, Walter 111 Rosenhain, Albert 105 Rosenthal, Ernst 106 f. Rosenthal, Margot 106 f. 197
autorinnen und autoren
Rosner, Leonie siehe Frankenstein, Leonie Rothschild, Rolf 102 Sachs, Hans 108, 112, Scholl, Sophie 148 Schultze-Naumburg, Paul 31 Schwartz, Ilse 14 f., 75-90 Schwarz, Ruth 76 Sonnenfeld, Herbert 105 f., 110 Sontag, Susan 79, 89, 117, 153, 155 Steiner, Bedřich Friedrich 118, 124
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Stroop, Jürgen 15 Von Wächter, Horst 33 f., 38 Von Wächter, Otto 33 f. Walter, Berd siehe Walter, Bernhard Walter, Bernhard 15, 118, 121, 125 f., 130, 132 Weiss, Recha 120 Wilde, Georg 97 Wóycicki, Alfred 125