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German Pages 166 [174] Year 1971
ZETEMATA MONOGRAPHIEN ZUR KLASSISCHEN
ALTERTUMSWISSENSCHAFT
IN GEMEINSCHAFT KARL BÜCHNER,
HELLFRIED
DAHLMANN,
HERAUSGEGEBEN ERICH
MIT ALFRED
VON
BURCK UND HANS DILLER HEFT 56
HEUSS
Formale Konventionen der homerischen Epik
VON TILMAN KRISCHER
C. H. BECK'SCHE
VERLAGSBUCHHANDLUNG
MÜNCHEN
1971
ISBN 3 406 03296 6 © C. H. Bedt'sdie Verlagsbudihandlung (Oscar Bedt) Mündien 1971 Als Habilitationssdirifl: auf Empfehlung des Fadibereidis ,Altertumswissensdiafl:en' der Freien Universität Berlin gedrudtt mit Unterstützung der Deutsdien Forsdiungsgemeinsdiafl: Drudt: MZ-Verlagsdrudterei GmbH, Memmingen Printed in Germany
HANS SCHW AB L IN DANKBARKEIT GEWIDMET
VORWORT
Anläßlich des Erscheinens dieser Studie habe ich für mancherlei Hilfe zu danken. Das Wichtigste soll die Widmung ausdrücken: Hans Sehwahl, dessen Assistent ich war, hat die Anregung gegeben und den Fortgang unter seine Obhut gestellt. Adolf Köhnken hat als guter Freund den Skizzen und Entwürfen seine besonnene Kritik angedeihen lassen. In einem fortgeschritteneren Stadium haben sich Paul Moraux, Hans Diller und Erich Burck der Mühe der Kritik unterzogen und mir wertvolle Ratschläge erteilt. Den beiden letzteren Herren gilt mein Dank darüber hinaus für die Aufnahme der Arbeit in die Zetemata. Karin Alt und Ulrich Stache danke ich für das Mitlesen der Korrekturen, der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses und dem Verlag Beck für die rasche Drucklegung. Berlin-Wannsee, im August 1971
Tilman K rischer
I NHALTSVERZE
ICH NI S
Einleitung 1. Zur Methode II. Milman Parry und seine Schule Parrys Programm .2.Die Resultate und ihre Aporie 1.
III. Der Formalismus mündlicher Großepik
4 4
s 9
Gleichnistypik und Aristie 1. Einleitung Problem und Methode .2.Beispiel eines Gleichnis-Typus 1.
II. Die größeren Aristien der Ilias III. Die Gleichnistypen der Aristie Glanz der Waffen .2.Auszug zum Kampf . 3. Ansturm des Aristeuon 4. Flucht und Verfolgung 5. Der Sieger und sein Opfer 6. Unentschiedener Kampf 7. Standhalten 8. Zurückweichen 9. Der Krieger fällt 1.
IV. Die kleineren Aristien als komplementärer Typus V. Die x6Äo~µux.'11 im Plan der Aristien
13 13 19
.23 36 36 39
49 5.2 59 61 67 69 7.2 75
85
Zielinskis Gesetz
I. Das Problem II. Zielinskis Beobachtungen 1. Die indirekte Darstellung .2.Verzögerung eines Handlungsstranges und falscher Synchronismus 3. Szenenwechsel und gleichmäßiger Vorgang
III. Zwei Erklärungsversuche 1. Zielinskis Theorie vom schauenden Dichter .2.Die geistesgeschichtliche Deutung .
91 93
93 94 96 97 97 100
l n!Jaltsverzeichnis
Vill
IV. Die Verzweigung der Handlung 1.
2.
Angekündigte Verzweigungen Nicht angekündigte Verzweigungen
V. Einfügung eines neuen Stranges VI. Die Verknüpfung der Verzweigungen VII. Die Teilung der Telemachie VIII. Die Verschiebung des zweiten Stranges der Verzweigung IX. Die Genese des Systems
103 103 109 113
117 122 124
128
Der Katalogische Stil
I. Das Prinzip der Klassifikation II. Epische Regression III. Katalog und Typisierung IV. KataÄ.eyELV
131
136 141
1.
146 146
2.
148
Problem und Methode Der Gebrauch des Wortes 3. Die Bestandteile des Wortes 4. Die beiden Verbalaspekte
Literaturhinweise Register
IP 155 1 59
EINLEITUNG
1. Zur Methode
Die Homerphilologie ist durch den nun schon mehr als hundert Jahre andauernden Streit der ,Analytiker' und ,Unitarier' in eine sehr problematische Lage geraten. Der Forscher sieht sich einer unerhörten Fülle von Einzelerkenntnissen konfrontiert, aber diese lassen sich nicht mehr zu einem überzeugenden Gesamtbild organisieren. Was die Organisation des Materials anlangt, hat die Homerphilologie nur ein Chaos von Hypothesen anzubieten. An dieser Situation haben auch Milman Parry und seine Schule nichts zu ändern vermocht, die in dem Phänomen der ,oral poetry' den Schlüssel zum Homerverständnis zu finden glaubten. Was Parry beigesteuert hat, ist eine überaus wichtige Einzelerkenntnis, an der niemand vorübergehen darf, der sich wissenschaftlich mit Homer beschäftigt. Aber diese Parrysche Entdeckung hat die Homerphilologie nur wieder vor neue, heikle Probleme gestellt, ohne die großen Fragen der älteren Homerforschung zu lösen oder zu eliminieren. Das Problem, um das man so lange vergebens gerungen hat, ist die Frage nach dem Ganzen und seinen Teilen, anders ausgedrückt: die Frage nach dem Verhältnis der Teile zueinander. Daß sie zentral ist, wird niemand bestreiten; sie ist in jeder Interpretation eines literarischen Kunstwerks die zentrale Frage. Drüd{t sich doch in dem Verhältnis der Teile zueinander die Absicht des Schriftstellers aus, und ein Interpret, der dieses Verhältnis vollständig und genau erfaßt hat, der hat eben den ,Sinn' des Werkes erfaßt, die literarische Aussage und ihre Komplexität (bzw. die Sinnlosigkeit, wenn eine rein mechanische Verbindung unvereinbarer Teile vorliegt). Selbstverständlich ist das genannte Ziel auch anderwärts schwer (und nie endgültig) zu erreichen, aber die Lage ist wohl kaum irgendwo so ungünstig wie eben beim Homer. Der Interpret kann immer nur (ein Stück weit) präzisieren; um den Sinn genauer zu erfassen, muß er den möglichen Sinn bereits kennen. Will er einen Teil erklären, so müssen ihm die Eigenarten, Tendenzen und Probleme des Dichters und seines Zeitalters vertraut sein. Das ist der be. rüchtigte ,hermeneutische Zirkel'. Im Falle Homers aber ist das Wissen, das der Interpret mitbringt, denkbar gering und die Zahl der Teile, deren Verhältnis es
Einleitung
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zu bestimmen gilt, sehr groß. Daraus folgt, daß das Urteil des Interpreten weitgehend subjektiv ist, die Absicht des Dichters nicht greifbar wird und der Text uns, je länger die Forschung dauert, immer fremder wird. Die nachfolgenden Studien sollen dieser Situation Rechnung tragen, indem sie die Frage nach den Intentionen des Dichters so weit als möglich ausklammern und statt dessen ihr Augenmerk auf die (objektiv feststellbaren) Eigenschaften des Textes richten. Dieses Programm bedarf nun freilich in doppelter Hinsicht einer Erläuterung: 1. um was für Eigen6chaften handelt es sich? 2. Was hat dieses neue Programm mit dem oben skizzierten Zentralproblem der Homerinterpretation zu tun? Soll es dieses womöglich ersetzen? Zu dem ersten Punkt wäre zu sagen, daß wir alle jene Eigenschaften meinen, die der homerischen Erzählung Regularität verleihen. So hat z. B. W. Arend in seiner Arbeit über die typischen Szenen bei Homer gezeigt, daß gewisse Themen wie ,Wappnung', ,Wagenfahrt', ,Ankunft', ,Bad' stets nach gleichbleibenden Schemata dargestellt werden, die nur in relativ engen Grenzen Variationen zulassen. Diese Schemata aber verleihen der homerischen Erzählung insofern Regularität, als sie Induktionsschlüsse möglid1 machen. Wer etwa das Thema ,Ankunft' an einem Dutzend von Beispielen studiert hat, der kann, wenn er dann im Epos weiterliest, sozusagen voraussagen, wie die nächste Ankunftsszene ungefähr aussehen wird, d. h. welche Hauptpunkte in welcher Folge durchlaufen werden; und wer die Typik eines Themas sehr gründlich studiert hat, der kann eine entsprechende Szene im homerischen Stil gestalten. Die Basis einer solchen Kenntnis ist natürlich statistischer Art: wir beobachten, daß ein bestimmtes Thema sehr häufig auf eine bestimmte \Veise gestaltet wird, und finden kein Gegenbeispiel; also schließen wir, daß das ,bei Homer' bzw. ,im homerischen Stil' immer so gemacht wird, gleichgültig, wie der größere Zusammenhang aussieht, in welchem das Thema verwendet wird. Ein in gewisser Hinsicht noch eindrucksvollerer Fall von Regularität ist die von Milman Parry entdeckte Formelökonomie, die besagt, daß der Dichter mit dem gleichen Namen in gleicher metrischer Position immer das gleiche Epitheton verbindet. 1 Diese Regularität ist insofern erheblich strenger als die zuvor genannte, als sie nicht den Duktus einer Szene im großen und ganzen festlegt, sondern das einzelne Wort. Dafür fördert sie auf der anderen Seite - wenn man
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Unsere Formulierung vereinfacht stark; maßgeblid1 ist Parrys Studie L'cpithete traditionnelle dans Homere. Daß formclhafl:e Epitheta, die nicht zu einem Eigennamen gehören, weniger streng an die Position gebunden sind, zeigt neuerdings J. B. Hainsworth (The Flexibility of the Homeric Formula; vgl. hierzu E. Heitsch, Gnomon 42, 1970, 433 ff.).
I. Zur Methode
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von den bedeutsamen Rückschlüssen auf die mündliche Entstehung des Epos absieht - unser Verständnis des Epos nicht unmittelbar; sind doch die Epitheta praktisch funktionslose Elemente der epischen Erzählung. Diese Bemerkung führt uns von selbst auf die zweite der obengenannten Fragen: kann die Beobachtung der Regularitäten das Programm der älteren Homerforschung, die Frage nach dem Verhältnis der Teile zueinander, ersetzen? Oder führt am Ende gerade diese Art der Untersuchung zu jenem unübersehbaren Wissensstoff, der sich nicht mehr organisieren läßt und uns einen Text, der Jahrtausende hindurch den begeisterten Lesern vertraut war, immer fremder macht? Die Antwort, die wir auf diese Frage geben, ist zwiespältig, sie setzt sich aus einer negativen und einer positiven Feststellung zusammen. Die erstere lautet: in den (statistisch ermittelten) Regularitäten wird niemals das (einmalige) Kunstwerk sichtbar, sondern immer nur das (beliebig reproduzierbare) Handwerk des Künstlers. Wer gelernt hat, wie man im Homerischen Stil Ankunff:, Wappnung u. dgl. gestaltet, ist noch lange kein Dichter, sondern er hat gewissermaßen das Material in der Hand, aus dem der Dichter gestaltet. Entsprechendes aber gilt für den Kritiker, dessen Urteil sich immer nur auf die Details des Handwerks bezieht. Insofern also ist die alte Frage nach dem Ganzen und seinen Teilen nicht eliminierbar. Könnten wir von dem Handwerk des epischen Erzählers nur unzusammenhängende Einzelheiten erfassen, etwa wie eine Ankunff: oder eine Wappnung gestaltet wird, so bestände kaum Hoffnung, daß auf dem Wege, den wir beschreiten, das Verständnis des Dichters nachhaltig gefördert wird. Aber gerade in diesem Punkt soll die vorliegende Arbeit einen Schritt weiterführen. Es ist unser Ziel, den Zusammenhang der verschiedenen Regularitäten (oder ,Konventionen') aufzuweisen und zu zeigen, wie dieses Handwerk funktioniert. Nicht daß wir uns anheischig machten, die homerischen Konventionen in ihrer Gesamtheit zu erfassen; da von kann keine Rede sein. Es soll lediglich gezeigt werden, daß es zwei Konventionen (bzw. zwei Komplexe von Konventionen) gibt, denen deswegen eine besondere Bedeutung zukommt, weil sie in einer Gattung kurzer Erzählungen überflüssig wären und offenbar dazu dienen, dem Dichter die Gestaltung möglichst umfangreicher und komplizierter Erzählungen zu erleichtern. Daß von dieser Basis aus das Handwerk des Dichters verständlich wird, mag die Analyse selbst zeigen; es hat keinen Sinn, dergleid1en im voraus beweisen zu wollen. Auch die nod1 weitergehende Frage, was das so verstandene Handwerk für die Beurteilung der Kunst als der einmaligen Schöpfung hergibt, muß zurückgestellt werden; sie kann ohnehin in dieser mehr vorbereitenden Studie nur andeutungsweise beantwortet werden.
Einleitung
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Zum Schluß noch eine kurze Bemerkung, die einem naheliegenden Mißverständnis vorbeugen soll. Die obigen Ausführungen erwecken nur allzu leicht den Eindruck, als werde hier ausschließlich von objektiv nachprüfbaren Beobachtungen die Rede sein, während andere Richtungen der Homerphilologie sich mit unbeweisbaren Hypothesen abgeben. So einfach liegen die Dinge nicht. Selbstverständlich werden auch in dieser Arbeit Hypothesen aufgestellt. Eine Konvention wird auf statistischem Wege ermittelt, also (sozusagen) beobachtet; den Zweck einer Konvention kann man nicht beobachten, sondern nur durch eine Hypothese erfassen; desgleichen den Zusammenhang mehrerer Konventionen. Der methodische Unterschied liegt also nicht in der Zulassung oder Meidung hypothetischer Aussagen, sondern einzig und allein darin, daß wir hier (im Unterschied zur älteren Homerphilologie) nicht über die Absicht diskutieren, in der der Dichter diesen Vers oder jene Szene gestaltet hat, sondern ausschließlich über den Zweck und Zusammenhang von Konventionen.
II. Milman Parry und seine Sd,ule
1.
Parrys Programm
Die obigen Ausführungen über den methodischen Ansatz unserer Studie bedürfen einer Ergänzung, die klarstellt, inwiefern sich unser Programm von dem der Parryschen Schule unterscheidet und inwiefern es auf diesem basiert. Es könnte nämlich sonst der Verdacht entstehen, als wollten wir von Parry abrücken, nur um in etwas anderen Worten dasselbe zu sagen wie er. Die Formelökonomie, die wir als Beispiel erwähnten, ist schließlich von Parry entdeckt, und die typischen Szenen gehören gleichfalls zu den sozusagen klassischen Themen der Parryschen Schule. Was hat die vorliegende Arbeit demgegenüber Neues zu bieten, und was bedeuten diese Neuerungen für das Homerverständnis? Durch die Entdeckung der Formelökonomie wurde Parry zu der Annahme geführt, die homerischen Epen seien mündlich entstanden. Die Annahme beruht auf zwei Voraussetzungen, von denen die eine streng beweisbar ist: Kein Schriftsteller, so sagte sich Parry, wird ein für allemal festlegen, an welcher Versstelle er mit weld1em Namen welches Epitheton verbindet. Eine solche Festlegung nämlich würde einen erheblichen Aufwand an Mühe erfordern und statt eines Gewinnes nur Nachteile bringen: wenn die Kontexte wechseln und die Epitheta immer die gleichen bleiben, wird beides einmal besser und einmal weniger gut zusammenpassen. Wozu sollte der Schriftsteller das alles in Kauf nehmen? Nimmt man jedoch an, daß der Dichter mündlich und im Angesicht seines Publikums
II. Milman Parry und seine Sd,ule
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Verse gestaltet, dann hat die Formelökonomie ihren guten Sinn: sie erleichtert dem Dichter die Arbeit, da er nun nicht mehr nach dem jeweils passendsten Epitheton zu suchen braucht, sondern rein mechanisch einsetzt. Voraussetzung ist natürlich, daß die Beherrschung des Formelsystems selbst keine Mühe kostet, d. h. daß der Dichter es von seinen Zunftgenossen zusammen mit den Stoffen, Liedern, Szenen durch Einübung mehr oder minder mechanisch übernimmt. Soweit die Hypothese; bewiesen wird sie durch die Feststellung, daß einerseits erzählende Versdichtung, die nachweislich mündlich entstanden ist, immer ein dem homerischen vergleichbares Formelsystem aufweist und daß andererseits jene Versdichtung, die sicher schriftlich entstanden ist (z.B. hellenistische und römische Epik), eine solche strenge Regularität nicht kennt. Aus diesen Oberlegungen und Beobachtungen geht nun allerdings nicht hervor, daß ein Epos, das die Formelökonomie aufweist, ohne die Hilfe der Schrift entstanden ist. Die Formelökonomie beweist lediglich, daß der Dichter die Technik der oral poetry beherrscht hat, d. h. daß er sein Handwerk aus einer Tradition mündlicher Epik übernommen hat; sie schließt jedoch nicht die Möglichkeit aus, daß der Dichter außerdem noch von der Schrift Gebrauch gemacht hat. Diese Frage, die für die Homerischen Epen wegen ihres großen Umfangs von einiger Bedeutung ist, wird von der Parryschen Schule durch einen Hinweis auf die Praxis der zeitgenössischen Guslaren Jugoslawiens beantwortet. Sie machen durchweg von der Schrift keinen Gebrauch und würden durch diese stark behindert, weil sie an ein Tempo der Gedankenassoziation gewöhnt sind, das sie beim Schreiben nicht entfernt erreichen können. So kommt Parry zu der Oberzeugung, daß oral poetry eine völlig andere Art von geistiger Aktivität ist als literarisches Schaffen. Folglich müsse man eine scharfe Trennungslinie ziehen zwischen der mündlichen Epik Homers und der nachhomerischen Kunstepik. Auf der anderen Seite müsse das homerische Epos zusammengestellt werden mit den übrigen Produkten einer weltweit verbreiteten oral poetry, aus deren Bedingungen und Charakteristika also die homerischen Probleme zu lösen seien. Die Feldforschung auf dem Gebiet der oral poetry hat somit die Grundlage für das Homerverständnis zu liefern. Zu welchen Ergebnissen hat dieser Ansatz geführt?
2.
Die Resultate und ihre Aporie
Das Material, das Parry gemeinsam mit seinem Schüler A. B. Lord gesammelt hat, wurde von dem letzteren ediert und ausgewertet. In seinem Buch The Singer of Tales zeichnet Lord ein mit allen Hilfsmitteln empirischer Forschung gewonnenes Bild von der Tätigkeit und dem Werk des oral poet.
Einleitung
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Was die Arbeitsweise anlangt, hat Lord zwei Charakteristika herausgearbeitet, die aller oral poetry eigen sind und gewissermaßen die Voraussetzung ihrer Existenz darstellen: ,formula' und ,theme'. Unter ,formula' ist ein Repertoire von Wörtern in fester metrischer Position zu verstehen. Alle häufiger vorkommenden Ausdrücke sind metrisch vorgeprägt, so daß sie sich leicht zu Versen zusammensetzen lassen. Diese Formelsprache allein ermöglicht es dem Sänger, längere Zeit hindurch frei Verse zu bilden. Unter ,theme' ist ein Repertoire typischer Gestalten, Szenen und Motive zu verstehen, die sich in leichter Modifikation immer wieder als Elemente anderer Geschichten verwenden lassen. Ein solches ,Thema' leistet also für die Komposition das gleiche wie die ,Formel' für die Versifikation. Der Sänger, der über beides, die Formelsprache und das Repertoire der ,Themen', verfügt, kann beispielsweise eine Erzählung, die er zum ersten Mal hört, sofort frei, d. h. in seinen eigenen Worten und seinem eigenen Darstellungsstil, nad1erzählen. Entsprechend kann er natürlich auch die Lieder, die er selbst schon mehrfach vorgetragen hat, bei jedem Vortrag neu variieren und modifizieren. Die Schöpfungen des oral poet werden nach Lord ganz wesentlich durch eine negative Aussage charakterisiert: es gibt im Bereich der oral poetry niemals einen festen und endgültigen Text. Was wir in der Hand halten, wenn wir Erzeugnisse dieser Kunst lesen, sind immer nur „Momentausschnitte aus der Tradition", also Fixierungen eines einzelnen Vortrages, nicht ,das Epos', sondern eine seiner zahllosen Variationen. 2 Das Epos selbst, die Erzählung, deren Variationen wir lesen, ist nach Lord ein ,Proteus', der immer, wenn wir ihn fassen wollen, eine neue Gestalt annimmt. Wendet man diese Vorstellungen auf die homerischen Epen an, so gerät man, entgegen dem Eindruck, den Lord erwecken möchte, in ganz erhebliche Schwierigkeiten, die Entstehung wie die Überlieferung betreffend. Um mit dem letzteren Punkt zu beginnen: Nach Lords Auffassung sind die homerischen Epen unverfälschte Produkte der oral poetry, die - aus welchen Gründen auch immer - vom Verfasser diktiert wurden. Solche oral dictated texts aber sind prinzipiell dem einzelnen Vortrag eines Epos gleichzusetzen, sie sind also gleichfalls ,Momentausschnitte aus der Tradition'. Sie sind auch nicht in der Lage, die Tradition nachhaltig zu beeinflussen, weil der Sänger stets frei gestaltet und nicht nach einem Textbuch vorträgt. Er hat nicht einmal die Vorstellung von einem festen Text, denn „Sänger, die die Vorstellung von einem festen Text übernehmen, sind Wir zitieren nach der deutschen Ausgabe »Der Sänger erzählt"; die Seitenzahlen der Originalausgabe folgen in eckigen Klammern. Vgl. I 8 5, im Original: ,,a single moment in the tradition" [124]. 2
II. Mi/man Parry und seine Schule
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für die mündliche Tradition verloren" .3 Wie läßt sich diese Theorie zusammenreimen mit dem geschichtlichenBefund? Hier liegt vieles im Dunkel, aber so viel ist jedenfalls deutlich, daß die homerischen Epen eine unbestrittene kanonische Geltung hatten. Wenn also die nachhomerische Rhapsodenpoesie zur oral poetry gerechnet werden muß, dann kannten diese Sänger sehr wohl einen festen Text, ohne deswegen ,für die mündliche Tradition verloren' zu sein. Im andern Falle ist diese mündliche Tradition offenbar sehr rasch erloschen, ohne etwas zu hinterlassen, das mit den homerischen Epen auch nur entfernt vergleichbar wäre. Es ist nicht ganz deutlich, wie man unter diesen Umständen Ilias und Odyssee als ,Momentausschnitte einer Tradition' verstehen kann. Alles deutet vielmehr darauf hin, daß hier eine Tradition ihren Höhepunkt und Abschluß gefunden und dabei einen ,festen Text' hervorgebracht hat. Auch hinsichtlich der Entstehung der homerischen Epen gerät man in ausweglose Schwierigkeiten, wenn man diese Werke als ,Momentausschnitte einer Tradition' betrachtet. Nach Lords Vorstellung hat der Dichter, da er als echter oral poet nicht selbst schreibt, sein \Verk diktiert. 4 Da er beim Diktieren mehr Muße hatte als heim Vortrag vor dem Publikum, ist die Version besonders sorgfältig ausgearbeitet. Aber sie ist andererseits auch wieder nicht das Ergebnis eines Strebens nach einem festen Text und stand also trotz der etwas sorgfältigeren Ausführung gleichberechtigt neben zahllosen anderen Versionen. Diese hatten offenbar je nach der Stimmung des Dichters ein anderes Arrangement der Szenen und Helden; wäre nämlich der Aufbau als Ergebnis langer Suche und Arbeit festgelegt gewesen, dann läge ihm eben doch so etwas wie ein Streben nach einem ,festen Text' zugrunde. Wären Ilias und Odyssee mehr oder minder zufällige Ausschnitte aus einer beliebig fortsetzbaren Sagendarstellung, so ließe sich gegen Lords Auffassung nicht allzuviel einwenden. Aber es handelt sich nun einmal um Werke, die trotz mancherlei Unstimmigkeiten eine Einheit bilden, die von ihrem Anfang in weitem Bogen zu ihrem Ende führen, Werke, denen ein monumentaler Plan zugrunde liegt. Dieser Plan also soll einer von Dutzenden oder Hunderten gewesen sein, die der Dichter geschaffen hat? Die Kritiker der Parryschen Thesen haben immer wieder mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß gerade in diesem Punkt ein immenser Unterschied besteht zwischen den homerischen Epen und den Werken der Guslarcn. 5 Parrys
3
203 [137]. ' 227 [153]. 5 Literatur bei Lesky, Gesch. d. Griech. Lit. 1963 2 , 32, 54, 56. Eine sehr vorsichtige Kritik der vergleichenden Betrachtung bei Kirk, Songs of Homer 83 ff.
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Einleitung
Schüler pflegen darauf mit einem Hinweis auf den Unterschied der Begabung zu antworten, indem sie erklären, daß Homer der begabteste aller Barden war, die Guslaren des 20. Jahrhunderts hingegen die Epigonen einer absterbenden Tradition sind. Diese Argumentation ist jedoch trügerisch, weil sie etwas, das notwendige Bedingung ist, zugleich als hinreichende erscheinen lassen möchte. Natürlich ist der Verfasser der Ilias bzw. der Odyssee Parrys Guslaren bei weitem überlegen; ohne Zweifel bedarf es einer ganz und gar ungewöhnlichen Begabung, um eine so umfangreiche und komplizierte Erzählung wie die Ilias gestalten zu können -, dazu mündlich gestalten zu können. Aber woher weiß ich, daß ein hochbegabter Sänger allemal umfangreichere und kompliziertere Gebilde hervorbringen wird als seine Kollegen? Wir sind gewohnt, Novelle und Roman als literarische Gattungen zu unterscheiden, ohne dabei zu unterstellen, daß die eine für große Schriftsteller da ist, die andere für kleine. Der Unterschied liegt vielmehr in der künstlerischen Intention -, und warum sollte das bei den mündlich gestalteten Verserzählungen anders sein? Lord hat offenbar nirgends die Erfahrung gemacht, daß es der besondere Ehrgeiz eines jeden tüchtigen Guslaren sei, möglichst lange und komplizierte Erzählungen zu gestalten. Daß ein begabter Sänger, vor allem wenn er darum gebeten wird, seine Geschichte durch vielerlei Details ausschmücken und so auf einen beträchtlichen Umfang bringen kann, hat Lord festgestellt; daß dies das Ideal war, daß man im Zweifelsfalle der längeren und komplizierteren von zwei Erzählungen den Vorzug gab, hat Lord nicht festgestellt. Also erklärt er, wenn er von den Guslaren zu Homer übergeht, Umfang und Kompliziertheit seiner Epen aus der persönlichen Begabung und Neigung des Dichters. Darin liegt eine gewisse Naivität. Wer hat je bewiesen, daß es innerhalb der oral poetry keine Gattungsunterschiede gibt? Ist es denn so abwegig anzunehmen, daß die Monumentalität das Kunstideal ganzer Generationen von Sängern war, ein Ideal, um das sich alle mit größerem oder geringerem Erfolg bemühten? Gesetzt den Fall, diese letztere Annahme ließe sich beweisen, würden dadurch nicht auch Lords Behauptungen über die Unvereinbarkeit von oral poetry und ,festem Text' in Frage gestellt? Wäre es nicht möglich, daß jener Sänger, der um den möglichst großen und komplizierten Plan bemüht ist, für seine Architektur festen Grund benötigt, während der Novellist den Proteus liebt? Es wäre eine weitere Naivität, wenn man die Fähigkeit zur exakten Reproduktion als etwas von der Natur Vorgegebenes ansähe und nicht als etwas, das in hohem Maße vom Willen abhängt.
III. Der Formalism1'smündlicher Großepik
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III. Der Formalismusmündlicher Großepik Die vorliegenden Untersuchungen sollen einen Weg aufzeigen, der aus dem Dilemma des Parryschen Ansatzes herausführt. Nach der in Abschnitt I erläuterten Methode soll bewiesen werden, daß der (bzw. die) Verfasser der homerischen Epen außer ,formula' und ,theme' noch weitere Hilfsmittel zur Gestaltung verwendet haben, und zwar solche, die speziell auf die Bedürfnisse einer mündlichen Großepik zugeschnitten sind. Es handelt sich einmal um die Konventionen, nach denen Aristien gebildet und miteinander verknüpft werden. Diese Konventionen ermöglichen es dem Dichter, in das Kampfgeschehen des Epos eine große Anzahl von Helden so zu verwickeln, daß am Ende jeder das Seinige geleistet, d. h. den ihm zustehenden Rang erhalt.en hat. Es dürfte einleuchten, daß ein Dichter, der sich ohne die Hilfe derartiger Konventionen frei improvisierend dieser Aufgabe unterzöge, leicht in Schwierigkeiten geraten könnte. Was die eine Partei leistet, geht auf Kosten der anderen; das einmal gewonnene Bild darf nicht im nächsten Augenblick zerstört werden; alles muß in die richtigen Proportionen gebracht werden. Daß diese Schwierigkeiten auf die Großepik beschränkt sind, d. h. in einer Erzählung mit nur zwei oder drei Helden wegfallen, liegt auf der Hand. Ein zweiter Komplex von Konventionen, der hier behandelt werden soll, ist das Zielinskische Gesetz. Wie wir zu zeigen hoffen, liegt hier ein System von Regeln vor, das es dem Sänger ermöglicht, die Schwierigkeiten der Synchronisation von Parallelhandlungen zu umgehen. Auch diese Konventionen sind für eine mündliche Großepik entscheidend, und nur für sie. Weder der Schriftsteller noch der Improvisator von kurzen, überschaubaren Erzählungen benötigt ein derartiges System; will jedoch der oral poet ein Gebilde von romanhafter Komplexität gestalten, so wird dieses notwendig Parallelhandlungen enthalten, und dieses beim improvisierenden Gestalten miteinander zu synchronisieren dürfte ganz außerordentliche Schwierigkeiten bereiten. Der Schriftsteller kann bei der Ausarbeitung des einen Handlungsstranges die anderen im Auge behalten; wer im Angesicht des Publikums dichtet, muß sich jeweils auf das konzentrieren, was er im Augenblick vorträgt. ,Formal' sollen diese Konventionen genannt werden, weil sie weitgehend unabhängig sind vom Inhalt der betreffenden Erzählung. Natürlich ist die Aristie an Kämpfe und aristokratische Gesellschaft gebunden und insofern ,inhaltlich'; die Odyssee etwa behandelt ein anderes Thema, und entsprechend haben die Konventionen der Aristie nur hie und da geringe Spuren hinterlassen. Gleichwohl scheint es uns nicht falsch, auch diese Konventionen ,formal' zu nennen, weil Kämpfe als aristokratische Bewährungsproben zweifellos zum Grund-
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Einleitung
bestand heroischer Epik gehören und folglich entsprechende Darstellungskonventionen mit großer Wahrscheinlichkeit einen sehr weiten Anwendungsbereid1 hatten. Eine andere Frage ist, wie man überhaupt beweisen kann, daß gewisse Eigenarten der Ilias als Konventionen anzusehen sind, die auch außerhalb der Ilias Gültigkeit hatten. Dieser Beweis ist - wie bereits angedeutet wurde statistischer Art. Wir beobachten gewisse Regelmäßigkeiten und ermitteln auf diese Weise wiederkehrende Elemente der Erzählung. Dann fragen wir nach der Verwendung der verschiedenartigen Elemente und stellen hypothetisch gewisse Regeln für ihr Zusammenspiel auf. Wenn dann die Rechnung aufgeht, die Handlung sich also ohne Gewaltsamkeiten nach unseren Regeln rekonstruieren läßt, dann nehmen wir an, daß unsere Regeln richtig sind. Selbstverständlich bliebe dann immer noch die Möglichkeit, daß der Dichter die Regeln selbst erfunden haben könnte für seine Ilias. Aber diese Möglichkeit wird durch die Diff erenziertheit des Systems praktisch ausgeschlossen. Es hängen nämlich an den Spielregeln der Aristie auch noch die überaus zahlreichen Kampf-Gleichnisse mit ihrer eigenen Typik, so daß der Dichter das gesamte System ausgefeilt haben müßte, ehe er mit der Erzählung, für die das System entworfen wurde, beginnt. Diese Annahme aber ist absurd. Es bleibt also nur die Möglichkeit, daß der Dichter dieses System und ebenso auch das Zielinskische Gesetz, nicht anders als die Parrysche Formelökonomie, aus einer Tradition mündlicher Epik übernommen hat. Aber damit tauchen auch sogleich neue Probleme auf. Wie bringt denn diese Tradition das Kunststück fertig, ein System der geschilderten Art zu schaffen? Im Falle der Formelökonomie ist diese Frage ganz unwesentlich, weil die ,Regeln' dieses ,Systems' voneinander weitgehend unabhängig sind. Es ist für den oral poet unerläßlich, die Epitheta zu normieren; also setzt sich für einen bestimmten Namen an einer bestimmten Versstelle ein bestimmtes Epitheton durch, wobei es im Prinzip gleichgültig ist, welches. Bei der Aristie und dem Zielinskischen Gesetz hingegen liegen die Dinge insofern anders, als Abhängigkeitsverhältnisse vorliegen und die eine Regel nur im Zusammenspiel mit den andern ihre Funktion erfüllt. Dieses sehr ernste genetische Problem kann hier nicht vollständig, sondern nur in Ansätzen gelöst werden. Auszugehen ist von der Annahme, daß die Sänger jener Zeit keine oder nur bescheidene theoretische Überlegungen über ihr Handwerk angestellt haben. Das bedeutet eo ipso, daß die genannten Systeme sich in der Praxis schrittweise entwickelt haben müssen. Diese Genese läßt sich, wie wir hoffen, beim Zielinskischen Gesetz mit einiger Sicherheit rekonstruieren. Die Abhängigkeit der Regeln ist nämlich eine einseitige, d. h. man kann zeigen, daß von den (nicht sehr zahlreichen) Regeln eine ohne die andern verständlich und sinnvoll ist, während die übrigen jene eine offenbar voraussetzen.
!II. Der Formalismus mündlicher Großepik
II
Bei der Aristie sind die Verhältnisse komplizierter, weil wir es hier mit typischen Elementen und ihrer Verwendung zu tun haben und nicht mit (leicht definierbaren) Verboten. Zwar läßt sich auch dieses System in Regeln formulieren, aber diese sind jedenfalls zahlreicher und weniger selbständig als die des Zielinskischen Gesetzes, so daß auch die Abhängigkeiten nicht mit Sicherheit bestimmt werden können. Aber es läßt sich für diesen Mangel an Durchsichtigkeit ein Ersatz finden, der womöglich auch nicht ganz wertlos ist. Die beiden Systeme weisen nämlich einen gemeinsamen Grundzug auf, der sich aud1 anderwärts in der Homerischen Darstellung nachweisen läßt. Wir nennen ihn das ,klassifizierende' oder ,katalogische' Prinzip. Das abschließende Kapitel der Studie mag daher diesem allgemeinsten Prinzip gewidmet sein und zeigen, daß das Fundament der homerischen Darstellungskonventionen eine Form des Redens und Denkens ist, die stets soweit als möglich vom Ganzen zu seinen Teilen übergeht und nicht umgekehrt.
GLEICHNISTYPIK
UND ARISTIE
l. Einleitung
1.
Problem und Methode
In der nachfolgenden Untersuchung werden zwei Themenkreise miteinander verknüpft, die man bisher getrennt zu behandeln pflegte: Gleichnis und Aristie. Es soll gezeigt werden, daß das Verständnis der homerischen Aristie durch eine Untersuchung der zugehörigen Gleichnisse wesentlich gefördert wird und daß umgekehrt die Analyse der Aristie wichtige Aufschlüsse vermittelt über Gestaltung und Funktion eines sehr großen Teiles der homerischen Gleichnisse. Um dieses Ziel deutlich werden zu lassen, umreißen wir zunächst für jedes der beiden Themen gesondert die Frage, die es zu beantworten gilt, und die Methode der Untersuchung. Die Aristie betreffend soll etwa das erreicht werden, was W. Arend in seinem Buch »Die typischen Scenen bei Homer" für einige andere Gegenstände wie ,Ankunft', ,Opfer und Mahl', ,Wagenfahrt' durchgeführt hat: die Beschreibung der Normalform und ihrer Variationen. Die Aufgabe ist freilich weniger einfach als jene, die sich Arend gestellt hat, weil die Aristie ein weit größeres und komplexeres Gebilde ist als eine Wagenfahrt oder die Bereitung eines Opfermahles. Arend behandelt z.B. auch die Wappnungsszenen, die zur Vorbereitung der Aristie gehören, also eines der vielen Elemente der Aristie bilden. Was hier behandelt werden soll, sind nicht die Teile, sondern das aus vielen Teilen bestehende Ganze. 1 Wesentliche Vorarbeiten zu diesem Ziel hat Robert Schröter in seiner Dissertation »Die Aristie als Grundform homerischer Dichtung und der Freiermord in der Odyssee" geleistet. Schröter hat gezeigt, daß die Aristie aus einer Fülle typischer Motive besteht, etwa der Erweckung des Helden durch die Gottheit,
1
Der Gegenstand unserer Untersuchung überschneidet sich mit der kürzlich erschienenen Untersuchung von Bernard Fenik, Typical Battle Scenes in the Iliad (Hermes Einzelschr. 21). Fenik liefert wertvolle Einzelbeobachtungen, doch scheint uns, daß er die Zusammenhänge nicht hinreichend erfaßt, weil - so unsere These - bei Homer alles Kampfgeschehen der Aristie dient, d. h. der Abstufung von Heldengröße.
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Gleichnistypik und Aristie
Verwundung des Helden, Wiederherstellung durch die Gottheit, Streitreden, Monomachie, prahlende Reden (das sog. Euchos des Siegers) usw. Die aus diesen Elementen zusammengesetzte Aristie wird von ihm als ,Motivkatalog' bezeichnet. Charakteristisch für die Aristie sind also nach Schröter ihre einzelnen Elemente, die übrigens auch in andersartige Zusammenhänge (wie den Freierrnord) übertragen werden können und diesen dann Aristie-Charakter verleihen. 2 Geht man von Schröters Ergebnissen aus, so läßt sich das Problem, das hier gelöst werden soll, in einem vorläufigen Sinne formulieren als die Frage, ob es für die typischen Elemente der Aristie auch eine typische Folge gibt. M. a. W. kann der Dichter die typischen Elemente der Aristie ganz nach Belieben zusammensetzen, um Aristien der verschiedensten Formen zu erhalten, oder sind es nur bestimmte Kombinationen dieser Motive, die als ,Aristie' gelten können? Wenn ja, dann ist der Ausdruck ,Motivkatalog' für die Aristie keine ausreichende Charakterisierung; die Aristie ist nämlich in diesem Falle definiert als ein bestimmter Geschehensablauf, dessen einzelne Phasen oder Teile alle eine feste Position und Funktion im Ganzen haben. Gegen diese Zielsetzung unserer Untersuchung ließe sich ein naheliegender Einwand erheben, dem wir sogleich begegnen werden. Ist nicht jede Aristie der Ilias von jeder anderen so deutlich unterschieden, daß man durch Vergleiche allenfalls Analogien ermitteln kann, nicht aber eine für den Dichter verbindliche Typik? Oder anders ausgedrückt: wird nicht der Begriff der ,Typik' bis zur Unkenntlichkeit entstellt, wenn man ihn so erweitert, daß Gegenstände darunter fallen, die offenkundig Individualitäten sind und es auch sein müssen, wenn sie den Inhalt einer Dichtung abgeben sollen? In den von Arend behandelten Szenen spielt die Variation eine relativ bescheidene Rolle, so daß man die zugrundeliegende Normalform unmittelbar sieht und eigentlich nur die Nuancen der Variation Gegenstand der Untersuchung sein können. In diesem Sinne aber, so mag man fortfahren, sind nur die Elemente der Aristie, etwa die Wappnung oder die Monomachie, typisch; wenn das Ausmaß der Variation größer ist, kann man nur von Analogien sprechen, aber nicht von Typik. Die Ergebnisse unserer Untersuchung vorwegnehmend, erwidern wir darauf folgendes: 1. Die Betrachtung zeigt, daß es zwei grundverschiedene Typen von Aristien gibt, die sich im wesentlichen dadurch unterscheiden, daß in dem einen
In der von Sduöter gewiesenen Richtung hat neuerdings Marion Müller weitergearbeitet. (Athene als göttliche Helferin in der Odyssee, Heidelberg 1966.) Die Arbeit zeigt, daß Schröters Ansätze fruchtbar sind, doch wird man um der begrifflichen Klarheit willen zwischen ,Aristie-Motivik' (im weiteren Sinne) und ,Aristie' (im engeren Sinne) zu unterscheiden haben. 2
!. Einleitung
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Typus der Aristeuon einen bedeutenden Helden der Gegenpartei im Zweikampf tötet, während in dem anderen Typus der Aristeuon sich in einem unentschiedenen Zweikampf mit einem stärkeren Gegner bewährt. Aristie par excellence ist ohne Zweifel der erste Typus; der zweite Typus ist jedoch unerläßlich, weil es offenbar Prinzip ist, daß jeder der größeren Helden eine Aristie erhält; wären dies aber alles Aristien der ersten Art, dann würde am Sd1luß des Epos nur ein einziger Held überleben. Da im ersten Typus der Aristeuon mit einem unterlegenen Gegner kämpft, im zweiten mit einem überlegenen Gegner, ist der Verlauf des Geschehens in beiden Typen ein sehr verschiedener. Man darf also beim Vergleichen nicht alles durcheinandermischen, sondern man muß jede Aristie innerhalb ihres Typus betrachten. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Aristien werden, wenn man von dieser Distinktion ausgeht, erheblich reduziert. 2. Was die Unterschiede innerhalb eines Typus anlangt, so ist allerdings das Bestreben des Dichters deutlich, jede einzelne Aristie zu einer Individualität zu gestalten, und dies ist auch notwendig, denn jeder Held ist weitgehend durch seine Aristie charakterisiert. Gäbe es keine Unterschiede zwischen den Aristien, so wären alle Helden einander gleich. Gleichwohl ist die Variation keine beliebige und willkürliche, sondern sie folgt klar definierten Prinzipien. In den Aristien des ersten Typus, die aus einer relativ großen Anzahl von Elementen bestehen, wird die Reihenfolge der Elemente niemals verändert, wohl aber ihre Zahl und das Gewicht des einzelnen Elementes. Die Aristie wird also variiert durch Auslassung zu erwartender Elemente und durch die Verlagerung des Schwerpunktes. Die Möglichkeiten solcher Variationen sind natürlich begrenzt, und man kann anhand einer Tabelle zeigen, daß der Dichter das System optimal ausgenutzt hat, indem er die Abweichungen von der Normalform möglichst gering hält und jeweils dort, wo die eine Aristie besonders stark von der Normalform abweicht, alle anderen normal verlaufen läßt. Auf diese \Veise wird bei einem Maximum an Obereinstimmung zugleich ein Maximum an Differenzierung erreicht. Wir wollen dieses Prinzip der Variation die ,Ökonomie der Differenzen' nennen. Die Variation der Aristien zweiter Art hängt im wesentlid1en davon ab, wie weit der überlegene Gegner, gegen den der Aristeuon kämpft, diesen überragt. Die Variation ist hier also durch die Kombination der Aristien bedingt. Die Frage, ob die Aristie trotz des stärkeren Ausmaßes der Variation einer Typik unterliege, wird somit durch den Hinweis auf die (im folgenden zu beweisende) Methode der Variation beantwortet. Zugleich dürfte einleuchten, daß eine Analyse der Methodik der Variation und Kombination der Aristien einige Aufschlüsse vermittelt über den Gesamtplan der Aristien, d. h. die Komposition der Ilias. - Auch was die Gleichnisse anlangt, stellen wir die Frage nach der Existenz einer Typik, und dieses Unterfangen mag dem Homerleser gänzlich
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aussichtslos, ja geradezu abwegig erscheinen. Welchen Sinn soll es haben, von einer ,Gleichnistypik' zu reden, wo doch ganz offensichtlich in keinem Teil der homerischen Darstellung die Freiheit der Variation so groß ist wie im Gleichnis? Man hat mit gutem Recht geradezu von einem Gegensatz gesprochen zwischen der Handlung, in der die Typik mit ihrer ständigen Wiederkehr des Ähnlichen herrscht, und den Gleichnissen, in denen sich die Phantasie des Dichters frei entfalten kann und offenbar bestrebt ist, immer neue Bilder zu gestalten. 3 Diese Unterscheidung zwischen einer ,freien' Welt der Gleichnisse und einer ,gebundenen' Handlung scheint uns deswegen einer Oberprüfung zu bedürfen, weil sie die Möglichkeit einer an den Typus gebundenen Verwendung der Gleichnisse außer acht läßt. Jedes Gleichnis ist an ein Motiv der Handlung angeknüpft, welches im Sinne der obigen Unterscheidung der Typik unterliegt. Es ist also mit der Möglichkeit zu rechnen, daß sich mit der Wiederholung der Handlungsmotive auch die Anknüpfungspunkte für die Gleichnisse wiederholen. Zwangsläufig ist das nicht, denn es wäre sehr wohl denkbar, daß der Dichter es strikt vermeidet, mehrfach an dem gleichen Punkt eines wiederkehrenden Handlungsablaufs ein Gleichnis einzusetzen. Ebensogut ist es aber auch möglich, daß mit der Wiederkehr der Handlungsabläufe auch die Einsatzstellen für die Gleichnisse sich wiederholen. In diesem Falle kann man die Gleichnisse gruppieren, indem man die zu demselben Handlungsmotiv gehörigen Gleichnisse zusammenstellt; und man kann sodann untersuchen, ob nicht die zu derselben Gruppe gehörigen Gleichnisse trotz aller Variation Gemeinsamkeiten aufweisen. Diese Probe soll im Folgenden durchgeführt werden, und es wird sich zeigen, daß sie positiv ausfällt. Wir hoffen nachzuweisen, daß in der Tat jede zu einem bestimmten Motiv gehörige Gruppe von Gleichnissen einen gemeinsamen Rahmen hat, innerhalb dessen variiert wird. Unter Umständen kann dieser ,Rahmen' auch charakteristische Varianten aufweisen, wie z.B. im Falle der Gleichnisse, die zu dem Motiv ,Standhalten' gehören. Der standhaltende Held wird entweder mit etwas Festgegründetem verglichen, das allen Naturgewalten trotzt (Eiche im Sturm, Fels in der Brandung), oder mit einem Tier, das in seinem Schlupfwinkel aufgestöbert wird und sich bis zum Letzten verteidigt (Schlange, Panther, Eber usw.). Für das Verständnis der Gleichnisse ist dieses Ergebnis deswegen von Bedeutung, weil die Zusammenstellung der verschiedenen Gruppen (sie sollen im Folgenden ,Typen' genannt werden) zeigt, daß man die charakteristische Nuance des einzelnen Gleichnisses nicht unmittelbar durch das Aufsuchen von
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So schreibt etwa H. Fränkel in ,Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums' (44): ,,Für die Gleichnisse gilt das Gesetz der Auswahl nicht, von dem die Erzählung regiert wird."
1. Einleitung
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Analogien zwischen dem Bild und seinem Kontext erfassen kann (was zu den wildesten Spekulationen führt), sondern nur auf dem Umweg über die Normalform des Typus und die Typik des Kontextes. (Wie man dabei vorzugehen hat, soll im zweiten Teil dieser Einleitung an einem besonders geeigneten Beispiel demonstriert werden.) Diese Gleichnistypik ist nicht eine Uniformierung, die dem Dichter Schranken auferlegt, sondern im Gegenteil eine Methode der Variation, von der man annehmen darf, daß sie den unabsehbaren Reichtum der homerischen Gleichnisse ermöglicht hat. Welche Hilfe sie dem Dichter bringt, mag die folgende Überlegung in modellhafter Form andeuten. Nehmen wir an, der Dichter wolle seine Erzählung durch hundert Gleichnisse schmücken, von denen jedes von jedem andern verschieden sein soll, obwohl in der zugehörigen Handlung Wiederholungen vorkommen. Das bedeutet doch wohl, daß er bei jedem neuen Gleichnis, das er gestaltet, alle vorhergehenden gegenwärtig haben muß, um sicher zu sein, etwas Neues zu bringen. Beim letzten Gleichnis hätte er somit 99 Vorgänger zu berücksichtigen. Sind hingegen die Gleichnisse nach den zugehörigen Motiven in 10 Gruppen eingeteilt, von denen jede ihren Typus hat, der von den anderen Typen verschieden ist, so daß es keine Möglichkeit der Verwechslung gibt, dann braucht der Dichter das einzelne Gleichnis nur innerhalb seines Typus gegen dessen übrige Vertreter abzuheben. Das bedeutet, daß der Dichter, wenn jeder Typus 10 Vertreter hat, im Höchstfalle 9 Vorgänger eines Gleichnisses zu berücksichtigen braucht. Das Prinzip heißt also: Variation durch Differenzierung innerhalb einer Ordnung. Es dürfte einleuchten, daß diese Ordnung nicht von einem einzelnen Dichter als technisches Hilfsmittel erfunden worden ist und daß das Prinzip speziell den Bedürfnissen der mündlichen Dichtung entgegenkommt. Was hat nun diese Gleichnistypik mit der Aristie zu tun, d. h. inwiefern fördert die Erforschung des einen Gegenstandes das Verständnis des anderen und umgekehrt? Daß ein wie immer gearteter Zusammenhang zwischen beiden Bereichen besteht, geht aus der quantitativen Verteilung der Gleichnisse auf die beiden Epen bzw. die verschiedenen Gesänge hervor. Die Ilias enthält etwa fünfmal so viele Gleichnisse wie die Odyssee, und innerhalb der Ilias haben die Kampfschilderungen im Durchschnitt fünfmal so viele Gleichnisse wie die übrigen Darstellungen. Man kann daher ohne weiteres sagen, daß in den Kampfschilderungen, und nur in ihnen, das Gleichnis ein fester Bestandteil der Darstellung ist. Eine Ausnahme bildet lediglich die xoÄo; µaxri,die nur zwei Gleichnisse aufweist (0 306 und 338). Gerade dieser Kampf verläuft jedoch, wie unsere typologische Analyse zeigen wird, ohne Aristie, während alle anderen Schlachten aus einer kontinuierlichen Folge von Aristien bestehen. Man spricht also besser von einer Verbindung von Aristie und Gleichnis als von Kampf und Gleichnis.
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Gleichnistypik und Aristie
Die eine Seite unseres Programms dürfte damit geklärt sein: wenn man die Auswirkungen der Handlungstypik auf die Gestaltung der Gleidinisse untersudien will, dann gibt es offenbar kein günstigeres Feld als eben die Aristie; ihre Typik muß man analysieren, um die Ordnung des größten Komplexes von Gleidinissen im homerisdien Epos zu erfassen. Aber inwiefern fördert dann die Typologie der Gleidinisse das Verständnis der Aristie? In der Tat, man kann die Typik der Aristie in ihren Prinzipien audi ohne Bezugnahme auf die Gleidinisse erfassen, indem man lediglidi fragt: ,,was tut der Held"? Bei diesem Verfahren gehen jedoch die Nuancen verloren. Wenn es nämlidi eine zur Aristie gehörige Gleichnistypik gibt, dann bedeutet das eo ipso, daß gewisse Element der Aristie durch die Zuordnung eines Gleidinistypus ausgezeidinct werden. Sollte es nidit aufsdilußreich sein, diese Elemente zu kennen? Sdiließlich wird die Aristie ganz wesentlidi durch die Verlagerung der Gewiditc variiert, und dabei verleiht natürlidi das Gleichnis dem zugehörigen Motiv Gewicht. Außerdem aber kann der Dichter auch innerhalb eines Gleidinistypus das Pathos dosieren. Schließlich aber haben einige der zur Aristie gehörigen Gleichnistypen im Verlaufe der Aristie eine feste Position. Daraus ergibt sidi, daß die Gleidinisse dieser Typen vom Hörer sozusagen als Signale verstanden werden können, die ihn orientieren. Soldie Signale sind einmal dann nützlidi oder gar notwendig, wenn der Dichter ein zu erwartendes Motiv weggelassen hat; zum anderen aber zur Ankündigung einer Aristie. Um das Geschehen zu verstehen und den Helden bewerten zu können, muß der Hörer auf die Aristie vorbereitet werden. Das gesd1ieht im Rahmen der ,größeren' Aristien normalerweise durch die Wappnungsszene. Aber auf diese Weise kann der Diditer jeweils nur den Haupthelden des Tages herausstellen, während andere Aristien im Verlauf der Kämpfe angekündigt werden müssen. Das bctriffi: vor allem die ,kleineren' Aristien, in denen der Aristeuon mit einem überlegenen Gegner kämpft. Zusammenfassend kann man also sagen, daß die Gleidinistypik ein unerhört feines Instrumentarium des Ausdrucks ist, das der Diditer braudit, um den Formalismus der Aristien mit Leben zu erfüllen, und das der Interpret kennen muß, um die Poesie homerischer Heldendarstellung einigermaßen würdigen zu können. In diesen Ausführungen dürfte deutlich geworden sein, daß der Leser eigentlich die Gleichnistypik und die Aristie abwechselnd studieren müßte, um schrittweise in den Zusammenhang einzudringen. Dieses Verfahren kann in der vorliegenden Untersudiung jedoch nidit angewandt werden, weil es notwendig Wiederholungen mit sich bringt. Wir haben daher die Behandlung jener Aristien, die für das Verständnis der G leidinistypik unerläßlich sind, an den Anfang gestellt, lassen dann die Gleidinistypik folgen und darauf die „kleineren" Aristien, die selbst für die Gleichnisse weniger wichtig sind, durdi diese jedodi ihr Kolorit erhalten.
/. Einleitung
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Zur Abrundung des Bildes bringen wir sodann eine Analyse der x6t..o; µax.ri, die als aristielose Schlacht ein Unikum darstellt, dessen Eigenart erst durch die Typologie der Aristien deutlich wird. Den Abschluß mag eine genetische Betrachtung der Aristie bilden. Nod1 im Rahmen dieser Einleitung aber soll dem Ganzen die Erörterung eines Gleichnistypus vorangestellt werden, der außerhalb des komplexen Zusammenhangs der Aristie steht und daher als Modell geeignet ist.
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Beispiel eines Gleichnis-Typus
Daß eine Gottheit sich auf den Weg macht, um einen Auftrag oder einen Plan auszuführen, gehört ohne Zweifel zu den typischen Situationen der epischen Handlung. Die Reise des Gottes aber wird immer wieder im Gleichnis dargestellt, so daß wir hier ein ganz eindeutiges Beispiel haben für eine Reihe von verschiedenartigen Gleichnissen, die alle das gleiche Handlungsmotiv illustrieren. Welche Gemeinsamkeiten weisen die Glieder dieser Reihe auf und wie werden sie von Fall zu Fall differenziert? ~ 75 wird Athene, die, einem Geheiß des Zeus folgend, vom Olymp herabeilt zur troischen Ebene, mit einem Meteor verglichen, den Zeus sendet, den Seeleuten oder einem großen Heer zum Zeichen. N 62 wird Poseidon mit einem Falken verglichen, der von einem hohen Felsen herabstößt, um einen Vogel über die Ebene zu verfolgen. Der Gott hatte soeben die beiden Aianten zum Kampf angespornt und begibt sich nun zu den Schiffen, um jene anzufeuern, die sich dort vom Kampf ausruhen. - 0 80 begibt sich Hera auf Geheiß des Zeus vom Ida zum Olymp, welcher Vorgang mit dem Flug des Gedankens eines Mannes verglichen wird, der weit gereist ist und nun denkt: "wäre ich da oder dort". - 0 170 begibt sich Iris auf Geheiß des Zeus vom Ida zur troischen Ebene wie ein Schneeoder Hagelschauer beim Wehen des Boreas. - 0 237 ist es Apoll, der auf Zeus' Geheiß vom !da-Gipfel zur troischen Ebene eilt; er wird mit einem taubentötenden Falken verglichen, dem schnellsten der Vögel. Hier handelt es sich im Grunde nur um einen Vergleich, nicht um ein ausgeführtes Gleichnis. - P 547 eilt Athene, von Zeus gesandt, vom Olymp zum Schlachtfeld, ,,wie wenn Zeus einen purpurnen Regenbogen vom Himmel her ausspannt, den Menschen zum Zeichen, daß Krieg oder harter Winter bevorsteht ... so tauchte Athene, in eine purpurne Wolke gehüllt, unter in den Scharen der Achäer". Q 80 eilt Iris auf Zeus' Geheiß vom Olymp herab und taucht in die Tiefe des Meeres zur Grotte der Thetis, wie eine Bleikugel an einer Angel. Und schließlich das berühmteste Gleichnis der Reihe: E 5 1 eilt Hermes, den Auftrag des Zeus befolgend, vom Olymp zur Insel des Kalypso wie eine Möwe, die, Fische fangend, über die ge-
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waltigen Wogentäler des Meeres streicht. Zu diesen Gleichnissen käme E 770 noch ein Maßvergleich hinzu: Athene und Hera haben sich gerüstet, um in die Kämpfe einzugreifen; auf ihren Wagen eilen sie vom Olymp zum Schlachtfeld herab, wobei die Pferde bei jedem Sprung so weit fliegen, wie ein Mensch sehen kann, der auf einer Warte sitzt und übers Meer schaut. Wir wollen dieses Gleichnis vorerst zurückstellen. Die Gleichförmigkeit der Ausgangssituation ist ebenso deutlich wie das Bemühen des Dichters, die zugehörigen Gleichnisse zu variieren. Nur ein einziges Mal wiederholt er sich, im Bild vom Falken, doch handelt es sich, wie gesagt, (0 237) nur um einen Vergleich, denn hier wird keine Situation ausgemalt. Im übrigen weist die Reihe: Meteor, Falke, Gedanke, Schneeschauer, Bleikugel, Regenbogen, Möwe eine erstaunliche Vielfalt auf. Bedeutet das jedoch, daß kein einigendes Band mehr vorhanden ist? Auf den ersten Blick ist zu sehen, daß bei dem Meteor, dem Falken, dem Gedanken, dem Schneeschauer und der Bleikugel die Schnelligkeit der Bewegung hervorgehoben wird. Bei dem Bild von der Möwe tritt dieses Moment weniger deutlich hervor, ist aber sicher impliziert. Das Gleichnis vom Regenbogen scheint insofern eine Ausnahme zu machen, als in der Apodosis ausdrücklich die purpurne Farbe als Vergleichspunkt genannt ist. Aber das braucht wohl doch nicht zu bedeuten, daß das Bild nur um dieses Vergleichspunktes willen erfunden worden sei. Athene schwingt sich vom Himmel herab, wie wenn Zeus vom Himmel herab einen Regenbogen ausspannt (o'ÖQavoi}Ev xa'taßäoa - ZEi,; E~ ouQavoOEv). Die Vorstellung „vom Himmel herab zur Erde" ist also unverkennbar in dem Bild enthalten, und insofern gehört das Gleichnis eng zusammen mit dem vom Meteor und vom Schneeschauer.Daß wir den Regenbogen als etwas Statisches empfinden, ändert daran nichts, denn bei Homer ist jedenfalls daran gedacht, daß Zeus den Bogen vom Himmel ausgehen läßt. Was haben also die Glieder der Reihe miteinander gemein? Man muß einmal andersartige Metaphern wie ,pfeilschnell'' oder ,windschnell' daneben halten, um die Gemeinsamkeiten zu sehen. Der Pfeil ist schnell, wenn er von jemandem abgeschossen wird; es ist die Tätigkeit und Kraft eines andern, die ihm die Schnelligkeit verleiht. Solche Gegenstände werden für die Gleichnisse unseres Typs nicht verwendet. Meteor, Regenbogen, Schneeschauer, Bleikugel bewegen sich, indem sie ihrer eigenen Natur folgen, sei es Schwerkraft oder welches physikalisches Gesetz immer. Wenn dafür gelegentlich gesagt wird, daß Zeus den Regenbogen ausspannt oder den Meteor sendet, ist das kein Widerspruch; Zeus als Wettergott steht hier für die Natur. Dieses Sich-Bewegen aus der eigenen ' Das Bild vom Pfeil wird von Vergil Acn. XII, 856 ff. in genau analo3cr Situation verwendet.
I. Einleitung
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Natur heraus gilt natürlich auch für den Falken und die Möwe und nicht zuletzt für den Gedanken. Dieser fliegt zurück zu den Stätten, die der ,weitgereiste Mann' besucht hat. Daß der Wind nicht in die Reihe paßt, dürfte daran liegen, daß man ihn in erster Linie an seinen Begleiterscheinungen wahrnimmt: Schneller Wind heißt Sturm; dieser wühlt das Meer auf, schüttelt die Bäume usw. Dieses Bild wird in den zum Kampf gehörigen Gleichnissen begegnen. Die Gottheit aber naht ohne Getöse wie ein Gedanke, eine Sternschnuppe, ein Schneeschauer oder ein Regenbogen. Die Reihe hat also trotz Vielfalt der Bilder durchaus ihre Gemeinsamkeiten; der Dichter (oder die Tradition, der er angehört) scheint geradezu systematisch nach Gegenständen gesucht zu haben, die sich - sozusagen - aus eigener Kraft schnell und leise durch die Luft bewegen. Bedeutet das aber nicht, daß die Glieder der Reihe miteinander vertauschbar sind? Ganz eindeutig nicht austauschbar ist das Bild von der Bleikugel an der Angelschnur, welches zu dem Gang der Iris vom Olymp zur Grotte der Thetis am Boden des Meeres gehört. Kein anderer Gott taucht ins Meer, kein anderes Gleichnis stellt die Bewegung im Wasser dar. Aber wie steht es etwa mit den Gleichnissen vom Gedanken (0 80) und vom Schneeschauer (0 170)? Könnte nicht Hera wie ein Schneeschauer eilen und Iris wie der Gedanke? Hier gilt es zu bedenken, daß Hera vom Ida zum Olymp eilt, Iris hingegen vom Ida hinunter zur troischen Ebene, die darunter liegt. Dem entspricht die im Gleichnis dargestellte Bewegung: der Schneeschauer bewegt sich primär vertikal, vom Himmel auf die Erde; der Gedanke hingegen bewegt sich primär horizontal; denn er eilt von einem Ort der Erde zum andern. Außerdem bewegt sich der Gedanke zu einer bevorzugten Stätte hin, die dem vielgereisten Mann als ein Wunschbild in der Erinnerung blieb; so eilt Hera vom Ida zum Olymp. Zu einem Botengang der Iris auf das troische Schlachtfeld würde das Bild entschieden weniger gut passen. Was die übrigen Gleichnisse anlangt, so läßt sich feststellen, daß der Bewegung eines Gottes vom Olymp zur Erde im Gleichnis in der Regel eine vorwiegend vertikale Bewegung entspricht (Meteor, Regenbogen, Bleikugel). Die einzige deutliche Ausnahme ist das Möwengleichnis der Odyssee. Der andere Fall, daß der Gott sich auf der Erde bewegt, liegt N 62 vor, und hier ist die Zuordnung der Bewegungsrichtungen weniger deutlich; der Falke erhebt sich von einem Felsen, stößt herab und verfolgt dann einen Vogel über die Ebene. Das Möwengleichnis weicht, wie gesagt, insofern von den übrigen Gliedern der Reihe ab, als der Gott sich vom Olymp zur Erde begibt, in der Gleichnishandlung jedoch nicht wie sonst eine vorwiegend vertikale Bewegung ausgeführt wird. Sucht man nach einer Erklärung für diese Eigenart, dann wird man zu-
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nächst eme weitere Abweichung zu notieren haben: überall sonst ist die im Gleichnis dargestellte Bewegung eine begrenzte: Der Meteor bewegt sich, bis er die Erde erreicht hat; ähnlich der Schneeschauer, der Regenbogen, der Gedanke, die Bleikugel. Auch der Falke, der einen andern Vogel verfolgt, hat sein Ziel. Anders die Möwe: Sie schnappt sich hin und wieder einen Fisch, aber das ist nicht das Ziel ihrer Bewegung; sie fliegt weiter. Diese beiden Besonderheiten stimmen nun aufs genaueste mit den Besonderheiten der Reise des Hermes überein: er eilt nicht vom Olymp herab auf die sozusagen in Sichtweite befindliche troische Ebene, sondern er fliegt zur Insel der Kalypso, die am Rande der Welt liegt. Dem trägt das Gleichnis Rechnung, indem es die kurze vertikale Bewegung vom Olymp herab verschwinden läßt zugunsten der unvergleichlich viel längeren vertikalen und indem es diese als eine unbegrenzte erscheinen läßt: die Möwe fliegt und fliegt.5 Nach diesem überblick sollte auch der zum Gleichnis ausgestaltete Maßvergleich E 770 in die Betrachtung einbezogen werden, weil er an dasselbe Motiv angeknüpft ist. Läßt sich das Bild trotz der andersartigen Verknüpfung in den Rahmen des Typus einordnen oder nicht? Was die Situation anlangt, so ist davon auszugehen, daß hier und nur hier zwei Gottheiten zusammen im Wagen ausfahren. Und dies ist für die Frage der Verknüpfung des Gleichnisses nicht ganz unwichtig, denn es ist sehr zu bezweifeln, daß auf diese Situation sich irgendeines der behandelten Bilder des Typus anwenden ließe. Kann der Wagen wie eine Sternschnuppe, wie ein Schneeschauer oder ein Regenbogen vom Himmel herunterfahren? Kann der Dichter zwei Göttinnen in einem Wagen mit einem Vogel vergleichen? Also ist es nicht ganz abwegig, das von der Norm abweichende Öaaov-t"6aaov aus eben dieser Schwierigkeit zu erklären: Der Dichter konnte das übliche ,wie-so' nicht gebrauchen, weil dann automatisch - sofern er überhaupt im Typus bleibt - der prächtige Götterwagen einem durch die Luft fliegenden Gegenstand verglichen wird. Denken wir also uns den Wagen und das öooov zugleich weg und fragen wir, ob ein Gleichnis des behandelten Typs übrigbleibt. „Wie ein Mann von hoher Warte aus über das Meer zum Horizont blickt, so flog die Gottheit vom Olymp zum troischen Schlachtfeld." Das fügt sich bestens in den Rahmen des Typus, denn aus dem Gleichnis vom Gedanken muß man doch wohl schließen, daß auch der Blick als etwas quasi Materielles durch die Luft fliegt. Im Gleichnis vom Gedanken hatte der Dichter zum Verbum voEi:v das Substantiv v6o~, um jenes quasi-materielle Etwas, das sich fortbewegt, zu 5
An diesem Beispiel zeigt sich besonders deutlich, was die typologische Betrachtung leistet. Man vergleiche insbesondere die Deutungen von K. Riezler (Die Antike 12, 1936, 2 58) und H. Fränkel (Die homerischen Gleichnisse, 1 5 und 86).
II. Die größeren Aristien der Ilias
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bezeichnen; zu i.öEivgibt es ein entsprechendes Substantiv nicht. Gleichwohl ist offensichtlich gemeint, daß der Blickende etwas aussendet. Die göttlichen Rosse fliegen bei jedem Sprung so weit (und gewiß so schnell), wie der Blick eines Mannes durch die Luft zu dringen vermag.
II. Die größeren Aristien der llias Um festzustellen, was die Aristien der Ilias (bzw. jene Gebilde, denen nach allgemeinemKonsens diese Bezeichnung zuerkannt wird) gemeinsam haben und inwiefern sie sich unterscheiden, muß man jede einzelne von ihnen mit jeder anderen vergleichen. Da dieses Verfahren jedoch zu einer sehr umfangreichen Erörterung führt, stellen wir die Normalform, die auf diese Weise ermittelt wurde, lieber voran, um sie als Maßstab zu verwenden. Es ist dann nämlich nur noch ein einziger Durchgang nötig, in welchem gezeigt wird, wo die einzelne Aristie mit dieser Normalform übereinstimmt und wo sie abweicht. Die Normalform läßt sich folgendermaßen beschreiben: Die Darstellung der Kämpfe wird vorbereitet durch eine Rüstungsszene, in welcher der künftige Aristeuon besonders herausragt; seine Wappnung wird ausführlich beschrieben, und von seinen Waffen erstrahlt ein siegverheißender Glanz. Nun ziehen die Heere zum Kampf aus, treffen aufeinander und messen sich eine Weile mit wechselndem Glück. Dann ist für den Aristeuon die Stunde gekommen. Erst tötet er einige Gegner, die namentlich genannt werden, im Einzelkampf; dann steigert er seine Anstrengungen und bricht in die Phalangen der Gegner ein, wobei er zahlreiche Feinde tötet, die nun nicht mehr namentlich auf gezählt werden. In einer weiteren Steigerung erreicht diese Linie ihren Höhepunkt: der Aristeuon treibt das gesamte feindliche Heer zu Paaren vor sich her, niederschlagend, wen er erreichen kann. Dann kommt die Wende: der Aristeuon wird verwundet, was für seine Partei einen Stillstand oder Rückschlag bedeutet. Aber schon greift, auf ein Gebet des Verwundeten hin, eine Helfergottheit ein, die ihn wiederherstellt. Sogleich stürzt er sich mit vermehrter Kraft wieder in den Kampf, doch da fühlt sich der Hauptheld der Gegner in seiner Ehre getroffen, stellt sich zur Monomachie und fällt. Den Schlußakt des Dramas bildet der Kampf um die Leiche des gefallenen Gegners, die unter äußersten Anstrengungen und nicht ohne Hilfe der Götter dem Zugriff des Siegers entzogen wird. Da wir das Ergebnis der Untersuchung in einer Tabelle übersichtlich zusammenstellen wollen, numerieren wir die Elemente des Schemas, indem wir dieses zunächst in seine wichtigsten Phasen einteilen und sodann untergliedern. Die
Gleichnistypik und Aristie
Wappnung, die der Ankündigung der Aristie dient, mag die Ziffer o erhalten, die Kämpfe bis zur Verwundung 1, die Verwundung selbst mit der Wiederherstellung 2, die Monomachie mit ihrem Nachspiel 3. Im einzelnen: Anlegen der Waffen o a, Glanz der Waffen ob, Einzelkämpfe r a, Ansturm auf die Phalangen r b, Verfolgung des Heeres I c, Verwundung 2 a, Wiederherstellung 2 b, Monomachie 3 a, Kampf um die Leiche 3 b. - Untersucht werden sollen die Aristien von Achill, Hektor, Diomedes, Patroklos und Agamemnon. Da die Reihenfolge der Behandlung im Prinzip gleichgültig ist, die Aristie Hektors aber bei weitem am schwierigsten zu übersd1auen, stellen wir sie ans Ende der Reihe. Die Aristie des Diomedes wird nicht durch eine Rüstungsszene angekündigt. Lediglich am Ende der Epipolesis (;\ 412-421) erhält der Hörer einen Hinweis, wer sich in dieser Schlacht auszeidmen wird. Aber der Dichter hat noch einen weiteren Ersatz geschaffen: nach den unentschiedenen Kämpfen am Ende des L\ läßt plötzlich zu Beginn des E Athene von Helm und Schild des Helden ein Feuer leuchten. Damit ist das Signal gegeben, das anderwärts bei oder nach der Wappnung sichtbar wird. Da der von der Göttin verliehene Feuerglanz offensichtlich Ersatz für ein (aus kompositorischen Gründen) ausgefallenes Motiv ist, und der Dichter in diesem Sinne öfters vorgeht, wollen wir hierfür die Bezeichnung ,Ersatzmotiv' einführen. Der Held stößt nun auf das Brüderpaar Phegeus und Idaios, von denen der eine getötet wird, während der andere die Flucht ergreift (E 9 ff.). Dieser Anblick geht den Troern so sehr zu Herzen, daß sie zu weichen beginnen (29). Sechs Anführer der Danaer erlegen je einen Gegner. Da die Opfer alle im Rücken getroffen werden, befinden sie sich offenbar auf der Flucht (37-84). Allerdings heißt das nicht, daß das gesamte Heer schon auf der Flucht wäre, sondern lediglich, daß die Promachoi sich eilig zurückziehen. Nun bricht Diomedes ein in die Phalangen wie ein Strom, der über die Ufer getreten ist und alles mit sich reißt, was ihm im Wege steht (85-94). Von einzelnen Kämpfen und Opfern ist hier nicht mehr die Rede. Während der Held wütet, gelingt es Pandaros, ihn mit einem Pfeil zu verwunden (98). Aber kaum hat sich der Sieger seines Erfolges gerühmt, da läßt sich Diomedes von Sthenelos den Pfeil aus der Wunde ziehen und betet zu Athene, sie möge ihm gewähren, den Gegner zu erlegen. Die Göttin erscheint sogleich, gibt ihrem Schützling Kraft ein und heißt ihn Aphrodite verwunden, sobald er ihrer ansichtig werde (115-132). Bis zu diesem Punkt haben wir die Elemente ob, 1 a, 1 b, 2 a, 2 b, des obigen Schemas durchlaufen, während oa und r c, Wappnung und Verfolgung des feindlichen Heeres, fehlen. In dem Teil, der auf die Wiederherstellung folgt, scheint sich die Aristie erheblich vom Schema zu entfernen, und zwar je länger die Kämpfe dauern, desto mehr. Der Anfang fügt sich noch der Norm: der Held greift mit verdreifachter
II. Die größeren Aristien der Ilias
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Kraft in den Kampf ein und erlegt eine Reihe von Gegnern ( r 34-r 6 5). Das sieht Aineias und wendet sich in einer Schelte ermunternd an Pandaros: ,,Wo sind dein Bogen und deine gefiederten Pfeile und dein Heldenruhm?" Sie besteigen den Wagen; auf der anderen Seite rückt Diomedes mit Sthenelos vor, und es kommt zu einem Kampf, in dem Pandaros nach einem vergeblichen Lanzenwurf von Diomedes getötet wird. Da springt Aineias vom Wagen, den Gefährten zu verteidigen, wird von einem Steinwurf des Diomedes getroffen und bricht ohnmächtig zusammen (297 ff.). Nun greift Aphrodite ein und versucht, ihren ohnmächtigen Sohn vor dem Zugriff des Siegers zu retten, wird aber von diesem verfolgt, eingeholt und verwundet. Während sie zum Olymp entschwindet und dort von ihrer Mutter getröstet wird, übernimmt Apollon die Rolle der Helfergottheit. Er trägt den ohnmächtigen Helden endgültig vom Kampffeld weg, schaffi aber an seiner Stelle ein EHlwAov,um welches der Kampf entbrennt (449 ff.). Einern Hinweis des Apollon folgend, fordert Ares die Priamossöhne auf, um Aineias zu kämpfen, den sie doch einst wie Hektor ehrten (464-469). Der Verlauf der Handlung zeigt deutlich, daß von den beiden Gegnern des Diomedes der eigentliche Rivale Aineias i'.;t, nicht Pandaros. Dieser sollte ursprünglich den Wagen lenken (226 ff.), lehnt das aber ab, weil er Diomedes mit dem Speer erlegen möchte, und daran scheitert der Pfeilschütze. Die beiden Waffengänge dieser Monomachie sind auf die beiden Gegner des Aristeuon verteilt, wobei der zweite der vornehmere ist, zugleich derj.enige, von dem die Bewegung ausgegangen war. In dem Kampf um das ELÖmAov greifen wir wieder eines jener ,Ersatzmotive', von denen wir ein erstes Beispiel zu Beginn der Aristie kennenlernten. Das Abbild wird geschaffen, weil im Schema auf die Monomachie der Kampf um die Leiche des unterlegenen Rivalen folgt. Man vergleiche die Szene, in der Hektor unter dem Steinwurf des Aias ohnmächtig zusammenbricht (S 409ff.): es findet kein Kampf um den Körper des Ohnmächtigen statt, und kein Ei'.öooAov wird geschaffen. Hatten die Achäer geringeres Interesse an Hektor als an Aineias? War der Held den Göttern weniger lieb? Das Schema bietet eine plausible Erklärung an: Die Ohnmacht Hektors ist ein Bestandteil von dessen Aristie (Element 2 a), die Ohnmacht des Aineias hingegen ein Ersatz für den Tod des Helden in der Aristie des Diomedes (Element 3 a); im einen Falle sieht das Schema einen Kampf um die Leiche vor, im anderen nicht. Das ELÖooAov dient begreiflicherweise lediglich dazu, den Kampf in Gang zu bringen; nachdem die beiden Parteien einmal handgemein geworden sind, wird sofort der Held wiederhergestellt, und damit ist das döoo).ov verschwunden (E 512-518). Diese Lösung erscheint durchaus zwingend, denn man kann sich nicht recht vorstellen, wie der Kampf um ein Ei'.öooAov hätte enden können.
Gleidmistypi!-: und Aristie
Sollten die Troer es unter größten Anstrengungen retten, um dann zu merken, daß alles umsonst war? Oder sollte es (entgegen der Norm) erbeutet werden, um dann die Achäer zu enttäuschen? Aber widerlegt nicht die Wiederherstellung des Aineias unser Schema der Aristie, welches dieses Motiv nur für den Aristeuon selbst gelten läßt? Man vergleiche die fünf Verse ( 5 12-5 16), in denen die Wiederherstellung des Aineias mehr erwähnt als dargestellt wird, mit der Wiederherstellung des Diomedes (E n5 ff.) oder der des Hektor (0 236ff.), um zu sehen, wie hier aufs äußerste reduziert wird, was sich dort frei entfaltet. Der Dichter braucht die Wiederherstellung, um das ernro1.ovwieder loszuwerden, aber er gestaltet sie nicht zu einer plastischen Szene aus, weil Aineias nicht Aristeuon ist. Würde die Aristie des Diomedes in diesen Kampf, an dem der in der Monomachie besiegte Gegner wieder teilnimmt, ausmünden, so würde sie gewissermaßen im Sande verlaufen. Der Dichter ist dem Schema sehr weitgehend gefolgt, aber die Änderungen, die er vorgenommen hat, verlangen einen anderen Abschluß. Die Schlußszene des Gesanges (711 ff.), in welcher der Held, von seiner Helfergöttin geleitet, den Zweikampf mit Ares wagt, den Gott verwundet und vom Schlachtfeld vertreibt, löst diese Aufgabe aufs glänzendste. Sie ist also, selbst dem Schema nicht angehörig, mit den anderen Abweichungen, die das E aufweist, aufs engste verknüpft: wenn der in der Monomachie besiegte Gegner am Ende wieder mitkämpft, dann kann diese Monomachie eben nur ein Auftakt sein zu einer zweiten, noch größeren. Aus demselben Zusammenhang läßt sich aber auch die Abweichung im ersten Teil der Aristie verstehen: daß es dem Helden nicht vergönnt ist, das feindliche Heer zu den Toren der Stadt zu treiben, mindert diesen Teil ganz erheblich; und gerade das erscheint notwendig, weil ja auch die auf die Wiederherstellung folgende Monomachie durch das überleben des Besiegten entschieden gemindert ist und zum bloßen Vorspiel wird zu dem AresKampf. Die Aristie entfaltet sich also von relativ kleinem Anfang über einen ansehnlichen Mittelteil zu einem großen Finale. Ein mächtig ausgebauter Anfang würde, zusammen mit dem Finale, das Mittelstück entwerten. Hält man die Variation neben die erschlossene Normalform, so zeigt sich, daß beide trotz der relativ geringen Zahl von Abweichungen einen grundverschiedenen Charakter tragen: hier ein Siegeslauf, der schon im ersten Teil fast das Höchste zu erreichen scheint, dann jäh abbricht, um in einem neuen Ansatz zu einem bleibenden Erfolg zu führen. Am Schluß aber wird in dem Kampf um die Leiche eine unüberschreitbare Grenze sichtbar. Anders bei Diomedes: die Anfänge sind relativ bescheiden, die Verwundung bringt nur eine kurze Verzögerung, dann kommt die Monomachie, der ein bleibender Erfolg versagt ist, die aber dafür auch nur überleitet zu der strahlenden Höhe des Götterkampfes. Hier wird am Ende keine Grenze sichtbar, im Gegenteil! Noch ehe ein bleibender Erfolg
II. Die größeren Aristien der llias
erzielt wurde, weist eine beständig auf steigende Linie in übermenschliche Höhe für den Kenner der Materie gewiß eine sehr bedenkliche Entwicklung. Die Aristie Achills bildet zu derjenigen des Diomedes einen sehr starken Kontrast, obwohl beide in weitem Umfang der Normalform folgen. Die Vorbereitungsmotive sind beide vorhanden: T 368 ff. wird die \Vappnung des Helden beschrieben und T 374 ff. der Glanz der Waffen. Dann ziehen Held und Heer aus, aber ehe es zum Kampf kommt, findet noch eine Götterversammlung statt, die damit endet, daß die Götter gleichfalls gegeneinander zum Kampf antreten (Y 1-74). Nun treibt Apollon den Aineias zum Kampf gegen Achill, und nach einem einleitenden Wortgefecht kommt es dann zur Monomachie, die damit endet, daß Aineias von den Göttern entrückt wird (Y 75-352). Dieser Beginn der Achill-Aristie wurde von den Interpreten stets als Anomalie empfunden, und die typologische Betrachtung bestätigt dieses Urteil vollauf. Im Hinblick auf die Normalform der Aristie ist diese Monomachie ein Zusatz, und dieser ist nicht, wie die Ares-Monomachie des Diomedes, in das Gefüge der Aristie einbezogen. Dieser Zweikampf wirkt vielmehr wie ein Fremdkörper in der Aristie Achills, weil er unbestreitbar nicht dem Ruhme Achills dient, sondern dem Ruhm des Aineias. Wir vermerken also, daß hier ein höchst auffälliger Zusatz vorliegt und lassen die Frage nach der Erklärung vorerst offen. Nach dem ergebnislosen Kampf wendet sich Achill in einer Paränese an die Seinen, das gleiche tut Hektor auf der anderen Seite (Y 353-372), dann folgt eine Reihe von nicht weniger als vierzehn Einzelkampf-Siegen Achills (Y 3 8 I bis 489), dann wütet der Held unter den Feinden wie ein Waldbrand, zahllose Mannen erschlagend (Y 490-503). Darauf wird die Verfolgung beschrieben: ein Teil der Troer flieht zur Stadt, ein anderer wird zum Skamander abgedrängt und stürzt sich in die Fluten (I ff.). Das sind ganz deutlich die Elemente r a, b, c unseres Schemas. Dieses sieht nun die Verwundung vor, d. h. der Held müßte, durch den Speer oder Pfeil eines Gegners getroffen, in seinem Siegeslauf aufgehalten werden. Aber Achill trägt nun einmal die in der Nacht zuvor von Hephaist geschmiedete Rüstung. Wie könnte er also verwundet werden! Liest man nun, wie der Held an eben dem Punkt seiner Aristie, an dem das Schema die Verwundung vorsieht, durch den Flußgott Skamander in äußerste Lebensgefahr gebracht wird, sodann zu Zeus um Hilfe betet und zunächst von Athene und Poseidon beschützt, dann endgültig durch Hephaist errettet wird, so gibt es schwerlich einen Zweifel darüber, daß hier eines jener Ersatzmotive vorliegt, wie sie auch bei Diomedes begegneten. In diesem Falle dient der Ersatz, der gewiß durch die göttlichen Waffen Achills mitbedingt i~t, zugleich der Steigerung, denn die Gefährdung durch den Flußgott hebt den Helden weit hinaus über alle die anderen, die durch einen menschlichen Gegner in Gefahr geraten.
Gleichnistypik und Aristie
Auf die Befreiung Achills folgt als retardierendes Intermezzo die Götterschlacht (385-p 3), auf diese aber, vorbereitet durch die Agenor-Episode (544 ff.), die Monomachie mit Hektor. Nach dem Schema kommt diese Monomachie dadurch zustande, daß der Hauptheld der Gegner sich durch die Siege des Aristeuon in seiner Ehre getroffen fühlt, den Zweikampf wagt und dabei fällt. Das ist denn auch im wesentlichen der Verlauf des X, doch hat der Dichter die Handlung einmal dadurch bereichert, daß er Priamos und Hekabe den Sohn anflehen läßt, den Zweikampf nicht zu riskieren; zum andern aber durch die vergebliche Flucht Hektors. Auf diese Weise wird das Motiv bereichert, aber nicht eigentlich in seinem Charakter verändert. Ein Kampf um die Leiche Hektors findet nicht statt, weil kein Troer es wagte, beim Nahen Achills vor den Mauern zu bleiben. Dadurch wird, ähnlich wie durch das Ersatzmotiv für die Verwundung, die Größe der Aristie unermeßlich gesteigert. Aber der Kampf um die Leiche ist im Schema nicht lediglich eine Fortsetzung der Kämpfe über die Monomachie hinaus, sondern er macht zugleich die Anteilnahme der Götter am Schicksal des Besiegten sichtbar und zeigt eben damit, daß es für den Aristeuon trotz aller Erfolge eine unüberschreitbare Grenze gibt. Hat man aber diesen Sinn des Schlußaktes vor Augen, dann wird einem auch deutlich, daß die Lösung Hektors durch Priamos denselben Sinn hat, also ein Aequivalent ist, ein - sit venia verbo - ,Ersatzmotiv'. Die Götter zeigen diesem Helden, der über alles menschliche Maß hinausgewachsen ist, nicht die Grenze seiner Heldenkraft, sondern die Grenzen des Menschlichen. Die Aristie Agamemnons ist leichter als jede andere zu überschauen, denn sie durchläuft bis zur Verwundung alle Elemente unseres Schemas in ganz regelmäßiger Ausführung; mit der Verwundung aber bricht sie ab. A 16 ff. wappnet sich der Held, und A 44 f. leuchtet der Glanz seiner Waffen zum Himmel. Nachdem die Schlacht eine Weile unentschieden verlaufen ist, tötet der Aristeuon dreimal je zwei Gegner (A 91-147), dann wütet er unter den Feinden, die sdion nicht mehr standhalten, wie ein Waldbrand (A 148 ff.), dann verfolgt er sie bis zum Skäischen Tor (165-180). Nun wechselt die Szene: Zeus sendet Iris zu Hektor, ihm zu sagen, daß er, sobald Agamemnon verwundet ist, in den Kampf eingreifen solle, dann werde er bis zu den Schiffen vordringen und morden, bis die Sonne untergeht (A 185-210). Abgesehen davon, was diese Ankündigung für das Verständnis der HektorAristie bedeutet, erfährt der Hörer unmißverständlich, daß Agamemnons Aristie mit der V,erwundung endet. 6 Ein Hörer, dem das Schema der Aristie vertraut Zu dieser für das Verständnis der Ilias eminent wichtigen Partie vgl. Schadewaldt, Iliasstudien, 9 ff. 6
II. Die größeren Aristien der Ilias
ist, würde ohne diese Weissagung eine Wiederherstellung Agamemnons und die Fortsetzung seiner Aristie erwarten. Nach dieser Ankündigung der Ereignisse wird auf Hektors Betreiben der Kampf erneuert, und der Aristeuon erringt noch zwei Einzelkampf-Siege; dabei wird er verwundet und scheidet aus dem Kampf aus (A 2u-283). Die Aristie des Patroklos wird vorbereitet durch eine großangelegte Wappnungsszene (II 13off.), in der jedoch das Element ,Glanz der Waffen' fehlt. Die Patroklie ist die einzige der fünf großen Aristien, in der dieses Vorbereitungsmotiv fehlt, und damit deutet der Dichter, wie sich bei der Behandlung des entsprechenden Gleichnistypus zeigen wird, den tragischen Ausgang an. Wenn der Held sich zu seinem letzten Kampf rüstet, erglänzen die Waffen nicht. Der Beginn der Kämpfe ist durch das Waffentausch-Motiv gekennzeichnet: Die Troer halten den Helden für Achill, und jeder schaut sich um, wie er dem Verderben entrinnen kann (II 278-283). Aber eine regelrechte Flucht setzt doch erst nach dem ersten Einzelkampf-Sieg des Patroklos über Pyraichmes, den Führer der Paioner, ein (II 284-296). In einer ersten Etappe dieser Flucht werden die Schiffe frei, so daß der Brand gelöscht werden kann. Dann kommt es zu neuen Kämpfen, in denen eine Reihe von Achäer-Führern je einen Gegner töten (II 306-350). Nun wenden sich die Troer endgültig zur Flucht, auch Hektor vermag den Seinen keinen Schutz mehr zu gewähren und wird von Patroklos zur Ebene hinaus verfolgt (IT 366-393). Hier liegen also die Elemente ,Einzelkampf' und ,Verfolgung' vor, während der ,Ansturm' weggelassen ist, offenbar um des WaffentauschMotivs willen. Die Einzelkampf-Siege der anderen Achäer-Führer nach dem ersten Sieg des Aristeuon und vor dem ersten Höhepunkt der Aristie haben eine Analogie in der Aristie des Diomedes (E 37-8 3). Nach dem Schema müßte auf die ,Verfolgung' die ,Verwundung' folgen, aber dieses Element fehlt in der Patroklie. Da von den größeren Aristien alle anderen dieses Element aufweisen, dürfen wir annehmen, daß es in der Patroklie wegen des tragischen Ausganges weggelassen ist. Die Gefährdung des Aristeuon vor der Monomachie verliert ihren Sinn, wenn dem Helden bestimmt ist, nach eben dieser Monomachie zu fallen. Der Gang der Handlung ist nun in kurzen Zügen folgender: Patroklos läßt die fliehenden Troer gar nicht bis zur Stadt gelangen, sondern schneidet ihnen den Fluchtweg ab, um den Kampf in der Ebene zu erzwingen (II 394-398). Der Sinn dieses merkwürdigen Manövers liegt offensichtlich darin, nach dem Höhepunkt der Aristie noch eine neue Verfolgung zu ermöglichen, die zu dem Tod des Helden vor den Toren der Stadt führt. Zunächst aber geschieht folgendes: Sarpedon fühlt sich durch eine Reihe von Einzelkampf-Siegen des Aristeuon in seiner Ehre getroffen und ruft den Gefährten zu: ,,Schande, ihr Lykier ... " (II 422).
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Gleichnistypik und Aristie
Gleich darauf kommt es zur Monomachie, in der der Held fällt. Es entbrennt ein heftiger Kampf um seine Leiche, der damit endet, daß Zeus die Troer zur Flucht wendet, während Apollon den Toten vom Schlachtfeld fortträgt, ihn zu waschen und zu salben. Schließlich bringen Hypnos und Thanatos den toten Helden in seine Heimat. Damit ist das Ende der Aristie erreicht, was der Did1ter übrigens sehr deutlich markiert, indem er II 684 ff. bemerkt, daß Patroklos ,verblendet' und ,töricht' war, als er die erneute Verfolgung der Troer aufnahm. Als Begründung fügt er hinzu, daß der Held dem Tode entronnen wäre, wenn er die Warnung Achills beachtet hätte. Aber Achill hatte doch gesagt, er solle die Troer von den Schiffen vertreiben und zurückkehren (IT 87ff.)! Nie hätte er den Kampf in der Ebene erzwingen dürfen! Warum setzt also die Verblendung erst jetzt ein? Die Monomachie und der Kampf um die Leiche sind notwendig, damit der Held zu Ruhm gelangt; jeder weitere Schritt hat im Rahmen der Aristie keinen Sinn mehr und wird daher negativ bewertet. Der weitere Verlauf der Handlung gehört in den Rahmen der Hektor-Aristie, in welche die Patroklie so eingeschaltet ist, daß der Tod des Patroklos dem Element "Monomachie" entspricht und der Kampf um seine Leiche den Schlußakt bildet. Patroklos ist jener Gegner des Aristeuon, der sich durch dessen Siege in seiner Ehre getroffen fühlt, den Zweikampf riskiert und fällt. Aber im Unterschied zu allen anderen Helden, die diese Rolle spielen, durchläuft er, ehe er fällt, das ganze Schema der Aristie. Daß durch diese Schachtelung gewaltige Probleme entstehen, liegt auf der Hand. Um sie zu erklären, müssen wir die Aristie Hektors von Anfang an verfolgen. Daß das Kampfgeschehen des dritten Tages von der Verwundung Agamemnons an als ganzes eine Aristie Hektors bildet, wird angedeutet durch die Botschaft, die Zeus durch Iris dem Helden überbringen läßt: er werde ihm Kraft verleihen, daß er bis zu den Schiffen vordringe und morde, bis die Nacht hereinbricht (A 207-209). Das heißt doch wohl: von da an gehört dieser Tag bis zum Ende Hektor; er ist der Aristeuon. Bereits heim Auszug des troischen Heeres wurde durch die Waffenglanz-Typik (A 62) angedeutet, daß eine Aristie Hektors bevorsteht (Element ob). Aber diese übliche Vorbereitung reichte im vorliegenden Falle offenbar nicht aus. Einen Hörer, der an einen kohärenten Verlauf der Aristie gewöhnt war (wie er bei Achill oder Diomedes vorliegt), mußten die vielen Einlagen, durch welche Hektors Siegeslauf unterbrochen wird, notwendig irritieren. Die Botschaft:des Zeus wirkt dem entgegen, indem sie unmißverständlich sagt: Hektor bleibt Aristeuon, bis die Sonne untergeht - was immer inzwischen geschehen mag. Betrachtet man das Geschehen, das zwischen dieser Ankündigung und dem
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Tod des Patroklos liegt, so wird man die übrigen Elemente unseres Schemas unschwer identifizieren. Kaum ist Agamemnon ausgeschieden, da stürzt sich Hektor nach einer Paränese an die Gefährten in den Kampf (A 284 ff.). Erst tötet er neun namentlich genannte Gegner (299ff.), dann wütet er unter der namenlosen Masse, daß zahlreich die Häupter der Mannen durch Hektor fallen (305-309), und schon sind die Danaer, die vorher bis zu den Mauern Troias vorgedrungen waren, auf der Flucht zum Graben (cf 311, 327). Das ist der typischeBeginn einer Aristie, deren Elemente 1 a, b, c. Sehr leicht zu identifizieren sind im übrigen die Verwundung (8 409 ff.) und die Wiederherstellung durch die Gottheit (0 236ff.). 7 Demnach liegen also von der Ankündigung an sämtlidie Stufen unseres Schemas in der richtigen Reihenfolge vor. Um aber die Aristie in ihrem Zusammenhang zu verstehen, müssen wir nun auch die Handlungskomplexe zu erfassen sudien, die zwischen den deutlich erkennbaren Fixpunkten liegen, also einerseits zwischen dem zügigen Beginn der Aristie und der Verwundung, andererseits zwisd1en der Wiederherstellung und dem Tod des Patroklos. Wir beginnen mit dem ersten der beiden Komplexe, der deutlidi gegliedert ist in drei Teile: die weiteren Kämpfe des A, die Teidiomachie, der Gegensdilag der Achäer in N / 8. Die weiteren Kämpfe des A lassen sich in ihrem Bezug auf die Aristie Hektars wohl am besten erfassen, wenn man vom Schema ausgeht. Hektor hat den ersten Teil seiner Aristie durchlaufen und treibt die Feinde vor sich her. Was müßte geschehen? Offenbar dasselbe, was kurz vorher geschehen ist, als Agamemnon in der gleichen Situation war: der Aristeuon müßte verwundet werden. Tatsächlich aber geschieht folgendes: Während die Achäer vor Hektar fliehen, spornt 0dysseus Diomedes zum Kampf an, sie rüdcen gemeinsam vor und töten je einen Gegner im Einzelkampf; dann morden sie unter der namenlosen Masse, während die übrigen Achäer noch immer fliehen (A 3 I 3-327). Nach einigen weiteren
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Die Verwundung Hektors entspricht offenbar nicht ganz der Normalform, da Hektor in einem regelrechten Zweikampf unterliegt und nicht lediglich von einem Pfeil oder Speer getroffen wird. Zum Schema paßt jedenfalls besser eine Verwundung, die den Aristeuon mehr zufällig während seines Siegeslaufes triffi; eine Monomachie hingegen, die zur Verwundung führt, muß im Normalfall eine Dublette zu Element 3a des Schemas bilden. Bei Hektor aber liegen die Dinge anders, weil sein Rivale Patroklos nicht in einer regelrechten Monomachie fällt (was mit der Einfügung der Patroklie zusammenhängt); zweitens aber, weil er selbst, um ohnmächtig zusammenzubrechen, von einem Felsbrocken getroffen werden muß, den jedenfalls kein beliebiger Achäer im Vorübergehen schleudern kann. Die Ohnmacht des Helden aber ist notwendig wegen der ~u',; ami-rriund des Gegenschlages der Achäer; bei einer anderen Verwundung würde Hektor sofort die Götter zu Hilfe rufen.
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Gleichnistypik und Aristie
Siegen bemerkt Hektor die beiden, rückt gegen sie vor und wird von Diomedes' Speer am Helm getroffen. Zwar hält der Helm den Stoß aus, aber Hektor ist für den Augenblick am weiteren Kampf gehindert, springt rasch zurück, dann wird ihm schwarz vor Augen, und er sinkt für einen Moment in die Knie. Aber schon besteigt er seinen Wagen und fährt davon (ohne daß wir erfahren wohin), wobei ihm Diomedes höhnende Worte nachruft (349-367). Was soll diese merkwürdige Szene, in der Hektor getroffen und vorübergehend kampfunfähig wird, ohne wirklich verwundet zu sein? A 498 erfahren wir, daß Hektar auf der äußersten Linken des Schlachtfeldes (µo.x.11~ in' ClQL~futci:t11,die damit endet, daß Hypnos zu Poseidon eilt und ihn auffordert, unbesorgt den Achäern zu helfen (S 354-360). Dieser feuert die Achäer an, die inzwischen um die verwundeten Achäerführer vermehrt sind. Sie rüsten sich neu und rücken mit gewaltigem Kampfgeschrei vor, und endlich kommt es zu dem längst angekündigten und durch die Zwischenszenen retardierten Kampf zwischen Hektor und Aias. Hektor schleudert seinen Speer, der jedoch von der Rüstung des Aias aufgehalten wird, dann triffi: ihn Aias mit einem gewaltigen Felsbrocken, daß er ohnmächtig zusammenbricht (S 402-420). - Der überblick dürfte gezeigt haben, daß der gesamte Gegenschlag der Achäer konsequent auf dieses Ziel hin ausgerichtet ist, in der Darstellung freilich retardiert durch die Parallelhandlungen. Die letzte Lücke, die wir nun noch zu schließen haben, reicht von der Wiederherstellung Hektors (0 236 ff.) bis zum Tode des Patroklos (II 712 ff.), wobei natürlich die Aristie des Patroklos, die bereits behandelt wurde, auszuklammern ist. Nach der Wiederherstellung des Helden ist Apollon Promachos der Troer, bis der inzwischen verlorene Boden wiedergewonnen ist. Mit seiner Aigis treibt
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Gleichnistypik und Aristie
der Gott die Achäer zurück (0 3 r 8 ff.) und ebnet dann mit leichter Hand Wall und Graben ein, daß die Troer hereinströmen können (0 362 ff.). Nun entbrennt ein heftiger Kampf mit wechselndem Glück innerhalb des Lagers, bis endlich Zeus Hektor die Kraft verleiht, zu den Schiffen durchzubrechen und das Feuer hineinzuwerfen (0 592 ff.). Bei diesem letzten Ansturm, der den Höhepunkt der bisherigen Kämpfe darstellt und die Wende herbeiführt, erscheint Hektor, in einer Art Ekstase des Kampfes (cf. 0 605 µulvno) mit Schaum vor dem Mund und feurig leuchtenden Augen. Mit äußerster Kraft stürzt er sich in die Phalangen, erschüttert sie und schlägt sie in die Flucht (0 618-637). Als letzter hält Aias noch stand, aber schon ruft Hektor nach Feuer, und nach einer kurzen Zwischenszene, in der wir Achill und Patroklos im Gespräch sehen, lodern die Flammen (II 122 ff.). Vergleicht man diesen Verlauf des Geschehens mit der Normalform der Aristie, so zeigt sich ein deutlicher Unterschied. Zwar stürzt sich auch Diomedes nach der Wiederherstellung mit verdreifachter Kraft in den Kampf und tötet eine Reihe von Gegnern, aber das ist doch nicht mehr als ein Auftakt zur Monomachie. Diese ist, bei ihm wie bei Achill, nach der Gefährdung die entscheidende Leistung. Anders bei Hektor. Hier ist der Durchbruch zu den Schiffen, also die konsequente Fortsetzung des vor der Verwundung begonnenen Siegeslaufes, unbestreitbarer Höhepunkt der Aristie. Wie ist diese Anomalie zu verstehen? Sie ergibt sich ganz konsequent aus der Einfügung der Patroklie. Daß der Gegner, dem bestimmt ist, in der Monomachie mit dem Aristeuon zu fallen, selbst erst eine ganze Aristie durchläuft, bleibt nicht ohne Folgen auf den Kampf, in dem er fällt. Schließlich ist Hektor vor Patroklos geflohen, und der Zweikampf, der nach dem Schema den Höhepunkt der Hektor-Aristie bilden müßte, findet vor den Mauern von Troia statt! Man betrachte die Einleitung dieser Monomachie (II 712 ff.): Hektor wird von Apollon bei seiner Ehre gemahnt, den Kampf zu wagen. So ( oder ähnlich) pflegt nach dem Schema der Gegner des Aristeuon sich zum Kampf zu entschließen, nicht dieser selbst! Dieser Kampf kann nicht Höhepunkt von Hektors Aristie werden, und der Dichter hat alles getan, ihn zu entwerten, indem Apollon Patroklos wehrlos macht und Euphorbos ihn mit einem Pfeil triffi, so daß es kaum mehr ein Sieg zu nennen ist, wenn Hektor ihm den Todesstoß versetzt (IT 787 ff.). Erst in dem nun folgenden Kampf um die Leiche wird Hektor wieder zu dem Helden, vor dem die Achäer weichen müssen - obschon es ihm freilich nicht gelingt, die Leiche zu erbeuten. Damit dürfte klargeworden sein, inwiefern die Aristie Hektors der Normalform folgt und inwiefern sie von dieser abweicht. Der Normalform entspricht die typische Folge der typischen Elemente. Abweichung ist, daß Patroklos, ehe er durch Hektor fällt, eine Aristie durchläuft, was die Monomachie entwertet; da-
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für wird auf der anderen Seite der Ansturm und das Zurückdrängen des feindlichenHeeres gewaltig ausgedehnt und erhält seinen Höhepunkt erst nach der Verwundung. Außerdem aber schaffi der Dichter durch die ,Quasi-Verwundung' und die damit einsetzende Teilung des Schlachtfeldes Gelegenheit zu Parallelhandlungen, d. h. zu parallel laufenden kleineren Aristien. Auch in diesem Punkt unterscheidet sich Hektors Aristie nicht unwesentlich von den Aristien eines Diomedes oder Achill: Hektor ist nicht dadurch groß, daß er allein souverän das Schlachtfeld beherrscht, sondern dadurch, daß er sich letztlich nach manchen Verzögerungen und durch Patroklos vorübergehend gefährdet, allen anderen gegenüber als der Stärkste erweist. Abschließend fassen wir das Ergebnis unserer Durchmusterung der fünf größeren Aristien in einer Tabelle zusammen, die gewiß nur das Allergröbste festzuhalten vermag, aber vielleicht doch geeignet ist, das sichtbar zu machen, was wir eingangs die ,Ökonomie der Differenzen' nannten. Wir markieren das Vorhandensein eines Motivs durch +, das Fehlen durch -, Ersatzmotive durch ( + ). Zusätze wie die Monomachie Achills mit Aineias oder des Diomedes mit Ares und die Patroklie als Aufschub der Hektor-Aristie mögen durch einen Pfeil gekennzeichnet werden. Die Überwindung des Patroklos durch Hektor ist so weit von einer Monomachie entfernt, daß wir sie zu den Ersatzmotiven rechnen. Achill oa ob
+ +
Hektor
Diomedes
+
(+)
+ + + + +
+ +
Patroklos
Agamemnon
+
+ +
+
+ + + +
+-
Ia 1b IC 2a 2b
+ + + (+) (+)
+ + + +-
3a 3b
+ (+)
(+) +
+ (+)
+
+
+-
Durchmustert man die Helden der Ilias, so wird man auf zwei Namen stoßen, die zweifellos zu den größten zählen und doch hier nicht aufgeführt sind, weil der Dichter ihnen keine der größeren Aristien gegönnt hat: Aias und Aineias. Wie kommt das, wo doch Homer sonst ein so deutliches Empfinden für die Größenunterschiede hat und stets die Größe des Helden durch die Größe der
Gleichnistypik und Aristie
Aristie zum Ausdruck bringt? (Man vergleiche einmal Achill mit Diomedes oder Agamemnon!) Wir antworten: der jeweils zweitgrößte Held muß zu kurz kommen, weil sonst die Dichtung aus den Fugen ginge. Wohin würde es führen, wenn Aias eine fast so große Aristie erhielte wie Achill und Aineias eine fast so große wie Hektor! Hat man dieses Problem vor Augen, so wird die Monomachie des Aineias mit Achill, die so offenkundig, obwohl in der Aristie Achills stehend, dem Ruhm des Aineias dient, schon weniger rätselhaft. Hat nicht auch Aias im H eine ruhmvolle Monomachie mit Hektor? Den Beweis dafür, daß hier wirklich ein Prinzip vorliegt, werden die kleineren Aristien liefern, wenn sich zeigt, wie Sarpedon sein Heldentum beweist, indem er gegen Aias kämpft und Idomeneus, indem er vor einem Aineias nicht zurückweicht. Aber der Betrachtung der kleineren Aristien sollte die Typologie der Gleichnisse vorangehen.
III. Die Gleichnistypen der Aristie
1.
Glanz der Waffen
Die Gleichnisse, die den Glanz der Waffen darstellen, bilden, was die Variation der Bilder sowie ihre Funktion in der Erzählung anlangt, einen leicht überschaubaren Typus. Die Bilder sind: Feuer, Blitz oder das Leuditen eines Gestirns; die Funktion: Vorausdeuten auf bevorstehende Siege. Letzteres läßt sich nidit nur dadurch beweisen, daß man zeigt, wie jedesmal auf das Gleichnis Siege des betreffenden Helden folgen, sondern man kann geradezu die Gegenprobe machen: Die Gleichnisse dieses Typs werden bevorzugt in einer bestimmten Folge typischer Motive verwendet, bestehend aus ,Rüstung', ,Waffenglanz', ,Auszug zum Kampf'. Wenn der Kampf, zu dem der Held sich rüstet, sein letzter ist, wird das Motiv ,Waffenglanz' weggelassen. Der Hörer der Erzählung weiß damit, was geschehen wird. Das beste Beispiel hierfür ist die Rüstung des Patroklos lI 130 ff. Aber auch wenn Hektor die erbeuteten Waffen Achills anlegt (P 192 ff.), wird kein Glanz sichtbar. Das erste Exemplar unseres Typs ist B 4 5 5; die Achäer haben sich zum Kampf gerüstet und eilen hinaus auf die Ebene, um sich zu formieren, wobei ihre Waffen leuchten wie ein Waldbrand. Es folgt der erste Schlachttag, der für die Adiäer siegreich verläuft. Das Gleichnis unterscheidet sich insofern von den übrigen, als es nicht der einzelne Held ist, dessen Waffen hier leuchten, sondern ein ganzes Heer. Daß die typische Folge Rüstung, Waffenglanz, Auszug zum Kampf vorliegt, ist deutlich; die näheren Einzelheiten sind im Rahmen der Auszugstypik zu besprechen. B 780, also im gleichen Zusammenhang, klingt dasselbe Motiv
lll. Die Gleichnistypen der Aristie
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nocheinmal kurz an: ,,sie gingen, wie wenn die ganze Erde von Feuer verzehrt würde." Das nächste Beispiel findet sich E 5, zu Beginn der Aristie des Diomedes, die eben auf diese Weise angekündigt wird. Athene läßt von Haupt und Schultern des Helden ein Feuer leuchten, das dem Sirius gleicht, wenn er nach seinem Bad im Okeanos am Himmel erscheint. Das Gleichnis steht also nicht im Zusammenhang von Rüstung und Auszug, doch ist es an ein Motiv geknüpft, welches offenbar diesen Zusammenhang ersetzen soll. A 62 kehrt das Bild vom Sirius wieder, allerdings in einer interessanten Abwandlung: Wie der Sirius bald am Himmel erstrahlt, bald hinter den Wolken verschwindet, so war Hektor, der das Troer-Heer formierte, bald in den ersten Reihen sichtbar, bald verschwand er unter den letzten. Das Bild vom Glanz der Waffen ist also zugleich ein Bild der Tätigkeit des Helden. Diese Eigenart weist kein anderes Gleichnis unseres Typs auf, und wenn man den Kontext näher betrachtet, zeigt sich, daß sie aus den besonderen Bedingungen erklärbar ist, unter denen hier typische Motive verwendet werden. Der dritte Schlachttag, der mit dem A beginnt, bringt zunächst die Aristie Agamemnons und sodann die des Hektor. Hätte der Dichter diese Aristien in der üblichen Form vorbereiten wollen, so hätte er erstens beschreiben müssen, wie Agamemnon sich rüstet und seine Waffen glänzen, um unmittelbar darauf das gleiche noch einmal von Hektor zu berichten. Diese Doppelung hat er vermieden, indem er den Vorgang der Rüstung sowie Formierung des Heeres nur einmal beschreibt und zwischendurch von den Achäern zu den Troern überwechselt. Dabei erhält Agamemnon eine ausführliche Rüstungsszene, in der das Motiv „Waffenglanz" zwar angedeutet (44 f.), aber nicht im Gleichnis ausgestaltet wird. Das in diesem Kontext fällige Gleichnis erhält vielmehr Hektor, wobei das Bild der veränderten, gleichsam zu weit fortgeschrittenen Situation angepaßt wird. Dabei scheinen sich jedoch neue Schwierigkeiten zu ergeben, weil das wiederholte Sichtbar- und Unsichtbarwerden den Glanz des Helden in Frage stellen könnte. Also hat der Dichter an das Gleichnis noch einen zweiten Vergleich angehängt, der jede Unklarheit beseitigt: Hektor strahlte wie der Blitz des Zeus (66). Der Hörer, der mit dieser Art der Ankündigung vertraut war, durfte den Kämpfen wohl mit einiger Spannung entgegensehen. Im nächsten Gleichnis dieses Typs (N 242) wird das Bild des Blitzes zum vollen Gleichnis ausgestaltet. Der Kontext ist die typische Motiv-Folge: Rüstung, Waffenglanz, Auszug. Idomeneus hat sich - obwohl wir mitten in der Schlacht stehen - gerüstet (241), dann leuchten seine Waffen, dann triffi: er den Gefährten Meriones, um mit ihm gemeinsam in den Kampf zu ziehen. Das Gleichnis, das diesen Vorgang verdeutlicht (298), weist die Charakteristika der Auszugstypik
Gleichnistypik und Aristie
auf und wird im folgenden Abschnitt zu besprechen sein. Im übrigen wird der gesamte Motiv-Komplex noch einmal im Zusammenhang der kleineren Aristien behandelt werden. Auf Achill werden nicht weniger als vier Gleichnisse des behandelten Typs bezogen, eines davon steht an der vorgesehenen Stelle der Aristie, wenn der Held sich zu dem großen Kampf rüstet. Ein wenig freilich wird auch hier variiert; denn das Gleichnis steht nicht hinter der Rüstungsszene, sondern innerhalb derselben, dort wo Achill den Schild, das Wunderwerk des Hephaist, aufhebt. Er leuchtet wie ein Feuer hoch auf den Bergen (T 375). Blicken wir einen Augenblick zurück auf die Behandlung der fünf großen Aristien, so kommen wir zu folgendem Resultat: die Aristien von Achill, Hektor und Diomedes werden durch ein Waffenglanz-Gleichnis angekündigt. Bei Patroklos fällt das Motiv weg wegen des bevorstehenden Todes, während es bei Agamemnon angedeutet, nicht aber im Gleichnis ausgemalt wird. In der Tat steht ja auch diese Aristie, was das Ende anlangt, zwischen derjenigen des Patroklos und den drei anderen. Wir dürfen also annehmen, daß im Normalfall die Aristie durch ein WaffenglanzGleichnis angekündigt wurde. Von den drei übrigen auf Achill bezogenen Gleichnissen des behandelten Typs steht eines vor der Aristie, nämlich dort, wo Achill sich am Graben zeigt, um die Leiche des Patroklos zu retten ~ 207). Da er waffenlos ist, legt Athene ihm ums Haupt ein goldenes Gewölk, aus welchem Feuer hervorleuchtet, wie wenn aus einer belagerten Stadt am Tage Rauchzeichen und in der Nacht Feuerzeichen sichtbar werden. Das Bild paßt sich dem eigenartigen Motiv an, daß die Gottheit Waffenglanz verleiht, auch wo keine Waffen sind. Innerhalb der Aristie findet sich ein Gleichnis dieses Typs dort, wo Achill von der Verfolgung des Agenor bzw. Apoll zur Stadt zurückkehrt, also unmittelbar vor der Begegnung mit Hektar. Von den Mauern der Stadt aus sieht Priamos Achill nahen, strahlend im Glanz wie der Sirius, welcher der strahlendste aller Sterne ist, aber ein schlimmes Zeichen (X 26). Schließlich aber leuchtet die Lanze Achills wie der Abendstern, der als schönster aller Sterne am Himmel steht (X 317). Dies Gleichnis steht dort, wo Achill zu dem entscheidenden Lanzenwurf ansetzt, dem Hektor erliegt. Die Ankündigung des großen Sieges wird also immer wieder erneuert, wenn eine neue Etappe bevorsteht: vor Beginn der Aristie, vor Beginn der Begegnung mit Hektor, vor dem entscheidenden Lanzenwurf.
III. Die Gleichnistypen der Aristie
2.
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Auszug zum Kampf
Mit den Waffenglanz-Gleichnissen, die auf bevorstehende Siege vorausdeuten, werden häufig Gleichnisse eines anderen Typus verbunden, den wir den ,Auszugstypus' nennen wollen. Er ist, was die Zahl der Gleichnisse und die Vielfalt der Variationen anlangt, der reichste von allen Typen, die hier zu behandeln sind; die Situation, an die er anknüpft, ist das Vorrücken des Kriegers oder auch desHeeres zum Kampf. Häufig füllt dieses Vorrücken die Spanne zwischen der Rüstung und dem Beginn der Kämpfe aus. Die auf das Heer bezogenen Gleichnissehaben nahezu immer diese Position; sie finden sich besonders gehäuft in den GesängenB-~, also bei dem Auszug zur ersten Schlacht, welcher gewissermaßen der Auszug schlechthin ist. Die auf den einzelnen Helden bezogenen Gleichnisse finden sich regelmäßig (mit einer interessanten Ausnahme) im Rahmen der Aristie des betreffenden Helden, und zwar entweder bei deren Beginn oder am Anfang des zweiten Teiles, wenn der Aristeuon, von der Gottheit wiederhergestellt, mit erhöhter Kraft wieder in den Kampf eingreift. Diese zur Aristie gehörigen Gleichnisse haben, abgesehen von der typischen Position, noch eine gewisseTypik des Kontextes: Der zum Kampf vorrückende Held zeichnet sich durchein besonders stolzes Schreiten aus (riteµmtQa ßtßa;,µeya