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German Pages 364 Year 2020
Sebastian Schellhaas First Nations Cuisines – Wandel und Professionalisierung indigener Ernährungskulturen in British Columbia, Kanada
Kultur und soziale Praxis
Sebastian Schellhaas, geb. 1984, ist Ethnologe. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf dem Feld der kulinarischen Ethnologie. Nach Stationen als Gastkurator am Frankfurter Weltkulturen-Museum und als Stipendiat im DFG-geförderten Graduiertenkolleg »Wert und Äquivalent« (Goethe-Universität Frankfurt a.M.) promovierte er 2019 am Frankfurter Institut für Ethnologie mit einer Arbeit über den Wandel und die gastronomische Professionalisierung indigener Ernährungskulturen in Kanada.
Sebastian Schellhaas
First Nations Cuisines – Wandel und Professionalisierung indigener Ernährungskulturen in British Columbia, Kanada
Das vorliegende Buch wurde in ungekürzter Fassung 2018 vom Fachbereich 8 der Goethe-Universität Frankfurt als Dissertation angenommen. Verfasst und gedruckt mit Unterstützung des DFG-Graduiertenkollegs »Wert und Äquivalent – Über Entstehung und Umwandlung von Werten aus archäologischer und ethnologischer Sicht«. Weitere Förderung der Drucklegung durch die Deutsche Akademie für Kulinaristik e. V.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Alert Bay, 2013, Foto: Sebastian Schellhaas Lektorat & Korrektorat: Sebastian Schellhaas Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-5103-4 PDF-ISBN 978-3-8394-5103-8 https://doi.org/10.14361/9783839451038 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschau-download
Inhalt
Einleitung ................................................................................ 7 1. Teil: Grundzüge einer Kulturgeschichte indigener Ernährungskulturen in British Columbia ............................................................. 33 1.1 Eine kurze Geschichte des Kulturkontakts in British Columbia ........................ 33 1.1.1 Erstkontakt und Pelzhandel: Indigene und nicht-indigene Entdecker und Händler .................................................................. 35 1.1.2 Im Schlaraffenland? Zum Überfluss an der Nordwestküste .................... 47 1.1.3 Die siedlerkoloniale Wende und »Modification of the Attitudes« in British Columbia ........................................................... 57 1.2 Ernährungskulturen der Coastal First Peoples ........................................ 61 1.2.1 »That’s Our Buffalo!«: Historische Ernährungskulturen der Coastal First Peoples ..................................................... 65 1.2.2 »If I had to Choose…«: Indigene Ernährungskulturen im Wandel der Zeit ....... 121 1.2.3 »Food is Our Medicine«: Zur Revitalisierung indigener Ernährungskulturen .... 152 1.3 Zusammenfassung .................................................................. 161 Bilderstrecke ............................................................................167 2. Teil: Die gastronomische Professionalisierung indigener Ernährungskulturen ....... 207 2.1 Indigene Gastronomie in British Columbia, 1974-2018................................. 207 2.1.1 Auf dem Weg zu einem neuen Forschungsfeld ................................ 210 2.1.2 Von Fine Dining bis Foodtruck: Landmarken indigener Gastronomie in British Columbia .......................................................... 216 2.1.3 Diversität und zunehmende Präsenz indigener Gastronomie in Kanada: Eine Zusammenfassung .....................................................242 2.2 Indigene Köch*innen bei der Internationalen Kochkunst-Ausstellung und der Prozess gastronomischer Professionalisierung ...................................... 251 2.2.1 Die Internationale Kochkunst-Ausstellung: Geschichte, Hintergründe und Organisation ............................................................253 2.2.2 »Going for the Gold«: Canadian Native Haute Cuisine bei der IKA 1992......... 257
2.2.3 »More Than a Competition«: Im Wettkampf für die Zukunft .................. 267 2.3 Zusammenfassung ................................................................ 285 3. Teil: Indigene Gastronomie und die kanadische gastroscape .........................291 3.1 Einführung in die Diskussion ........................................................ 291 3.2 »Not Just Served at Pow Wows Anymore!« Positionen zur Präsenz indigener Gastronomie in der kanadischen gastroscape ............................. 296 3.3 »Them Indians…« Imaginationen von Indigenität, Pizza Tests und der Kreislauf der Marginalisierung .............................................................. 306 3.4 »You Don’t Need to Make Moose Soup«: Kulinarische Vermittlungsorte und die Indigenisierung indigener Gastronomie.............................................. 319 Schlussbemerkungen .................................................................. 331 Danksagung ............................................................................ 335 Literatur ............................................................................... 337 Filme/Dokumentationen ............................................................... 359 Interviews/Gespräche (zitiert) ......................................................... 361
Einleitung
Im Zuge empirischer Forschung kann es zugleich zutiefst ernüchternd und die größte Motivation und Chance sein, wenn direkte Erfahrungen die eigenen Annahmen und Erwartungen in Frage stellen. Folgt man dieser Erkenntnis, klärt und fokussiert die anfängliche Ernüchterung den eigenen Blick. Daraufhin erscheinen nicht nur die eigenen Erfahrungen in einem anderen Licht. Es zeichnen sich auch ungeahnte und bislang unberührte Problemfelder und Fragestellungen ab. Das vorliegende Buch zur Kulturgeschichte und gastronomischen Professionalisierung von indigenem Kochen und Essen an der kanadischen Nordwestküste ist ein gutes Beispiel für eine solche positive Reibung. Ohne meine anfängliche Verwunderung über die Diskrepanz meiner Erwartungen und der faktischen gastronomischen Umsetzung von indigenem Kochen und Essen wäre das Thema indigener Gastronomie vermutlich sonst nie zum Gegenstand meiner Forschung und zum Thema dieses Buches geworden. Bevor die Ergebnisse meiner Forschungsarbeit dargelegt und diskutiert werden, handelt diese Einleitung von den regionalspezifischen ethnografischen Hintergründen der indigenen Gesellschaften an der kanadischen Nordwestküste. Als Ausgangspunkt dient eine Besprechung von distinktiven Merkmalen, welche die Nordwestküste als Naturregion und Kulturareal von anderen Teilen Nordamerikas unterscheidet.Eine Darlegung meines methodischen Vorgehens führt ferner zu einer ersten Skizze der Gründe und Umstände, aufgrund derer ich mich im Lauf meiner Forschungsaufenthalte in British Columbia auf das Thema indigene Gastronomie festgelegt habe. Entscheidend ist, dass mich erst meine anfänglich naiven Erwartungen an indigene gastronomische Betriebe auf dieses rezente Phänomen indigener Lebenswelten in British Columbia und anderer Teile des heutigen Kanadas und damit gleichwohl auf tatsächliches ethnografisches Neuland gestoßen haben. Zum Abschluss der Einleitung folgt die Vorstellung einer These zur soziokulturellen Bedeutung der zunehmenden Präsenz indigener Gastronomie im öffentlichen Raum in British Columbia und anderen Teilen Kanadas sowie eine Erläuterung des Aufbaus dieses ersten deutschsprachigen Buches zur Kulturge-
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schichte und gastronomischen Professionalisierung indigener Ernährungskulturen.1
Die Nordwestküste. Naturregion und Kulturareal Die kanadische Pazifikküste kann einem den Atem rauben. Mit dem Flugzeug aus Mitteleuropa kommend, nähert man sich der City of Vancouver in der heutigen Provinz British Columbia aus nord-nordöstlicher Richtung. Nachdem man bereits die unwirklich wirkenden Landschaften Nunavuts nördlich des Polarkreises und die einsamen Weiten der Nordwest-Territorien hinter sich gelassen hat, gleitet man über die scheinbar endlosen Ebenen Albertas hinweg, bis unter einem die spitzen, schneebedeckten Berge der Rocky Mountains auftauchen. Sie trennen die kanadische Prärie von der Provinz British Columbia. Kurz macht es auf der Höhe des Interior Plateau, einer Hochebene westlich der Rocky Mountains, den Anschein, als würden die steinernen Riesen auf dem Weg zum Pazifik gemächlich auslaufen und klanglos im Ozean verschwinden. Allerdings nur bis erneut ein Dickicht hoher Berge und noch tieferer Täler auftaucht – die Coast Mountains. Dieses Küstengebirge wirkt so unwegsam, dass man sich kaum vorstellen kann, dass je ein Mensch dieses dunkle Labyrinth von steilen Hängen, verwinkelten Fjorden, mäandernden Flüssen und glasklaren Seen betreten haben könnte. Gänzlich unvermittelt stürzen die dicht bewaldeten Coast Mountains schließlich steil in das tiefblaue Wasser der Salish Sea, der Meerenge zwischen dem Festland im Osten und Vancouver Island im Westen.2 Bereits im Sinkflug folgt man der Salish Sea nur ein kurzes Stück wei-
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Im Unterschied zu Formulierungen wie bspw. »Kochen und Essen«, »Küche«, »Cuisine«, »Ernährungsweisen«, »foodways« oder »food habits« trägt der hier und im weiteren Verlauf der Arbeit verwendete Begriff »Ernährungskultur/en« der Tatsache Rechnung, dass sich im gesamten Komplex der Ernährung einer Gruppe oder Gesellschaft – d.h. in allen Produkten, Techniken und Objekten materieller Kultur sowie Handlungen und Vorstellungen, die mit der Produktion, (Re-)Distribution, Konsumption und auch Reflexion von und über Ernährung verknüpft sind – nahezu alle Aspekte der lebensweltlichen Realität bzw. der Kultur der jeweiligen Gruppen und Gesellschaften reflektieren. Dieses Ineinandergreifen bzw. die wechselseitige Inhärenz von Ernährung und Kultur wird an verschiedenen Stellen im weiteren Verlauf der Darstellungen in dieser Einleitung und in den darauffolgenden Kapiteln thematisiert – etwa im Zusammenhang mit Marcel Mauss’ Begriff des sozialen Totalphänomens (Einleitung) und seiner Theorie sozialer Morphologie (Kapitel 1.2.1.), dem indigenen Ressourcenmanagement-Konzept des Keeping-it-Living (Kapitel 1.1.2.) und Claude Fischlers Antinomie gastronomy/gastro-anomy (Kapitel 1.2.2.). In ein paar wenigen Fällen, in denen diese wechselseitige Inhärenz explizit mitgedacht werden sollte, wird zudem die Schreibweise »(Ernährungs-)Kultur/en« verwendet. Die seit dem 12. November 2009 offiziell geltende Bezeichnung Salish Sea bezieht sich auf das gesamte Meeresgebiet im Grenzgebiet zwischen dem US-Bundesstaat Washington und British Columbia (Berger 2009). Die ehemaligen Bezeichnungen Juan-de-Fuca-Straße, Puget Sound und Straße von Georgia sind weiter im Gebrauch und finden auch hier Verwendung.
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ter in Richtung Süden, bevor man kurz vor der amerikanischen Grenze auf dem internationalen Flughafen der City of Vancouver landet. Nach diesem Spektakel geografischer Vielfalt holt einen die industrialisierte Gleichförmigkeit von Vancouvers Peripherie unsanft auf den Boden nordamerikanischer Tatsachen zurück. Allerdings dauert es selbst in Downtown Vancouver, einem Wald aus gläsernen Türmen, nicht lange, bis sich einem die unbeugsame Natur der Nordwestküste wieder in Erinnerung ruft. Der Spitzname der Stadt, »Raincouver«, verrät warum. Mit durchschnittlich über 160 Regentagen jährlich gilt Vancouver als die zweitregenreichste Stadt Kanadas.3 Für den Zeitraum von 1981-2010 ergibt sich etwa ein Jahresdurchschnitt von 165 Regentagen. Dabei gibt es im Winter mehr Tage mit Niederschlag als im Sommer. Schnee fällt allerdings nur an weniger als zehn Tagen im Jahr. Die jährliche Durchschnittstemperatur liegt bei rund 10 °C mit Höchsttemperaturen von 20 °C im Sommer und Tiefsttemperaturen von selten unter -10 °C im Winter. Mit moderaten Schwankungen im Tagesverlauf bewegt sich die Temperatur im Winter in der Regel um den Nullpunkt, sodass es selten zu mehr als nur oberflächlichem Bodenfrost kommt. Insgesamt unterscheidet sich das feuchtgemäßigte ozeanische Klima in Vancouver markant vom inländischen Kontinentalklima. Dort sind die Sommer heißer und die Winter kälter, sodass es in den Wintermonaten zu periodischem Permafrost kommen kann. Dabei ist die Niederschlagsmenge geringer und die Luft generell trockener. Wie die englischsprachige Verballhornung der Northwest Coast als »Wet Coast« ahnen lässt, stellt Vancouver in klimatischer Hinsicht für die Region keine Ausnahme dar. Die Coast Mountains, die mit Höhen von bis zu 4.019 Metern (Mount Waddington) über dem Meeresspiegel von der nördlichen Grenze des Lower Mainland4 über den südöstlichen Zipfel von Alaska, dem Alaska Panhandle, bis in den Südwesten des Yukon reichen, isolieren die Küste vom kontinentalen Klima des Interior Plateau im Osten der Provinz. Dabei wirkt sich die Wärmekapazität des Pazifiks regulierend auf die Lufttemperatur aus. Dies hat nicht nur die milden Temperaturen, sondern ebenso die verhältnismäßig geringen Temperaturschwankungen zur Folge. Zugleich drängt der in der Region übliche Westwind die warm-feuchte Meeresluft an die Küstenberge, wo sie in den Höhenlagen auf kältere Luftschichten trifft. Im Zuge des anschließenden Temperaturausgleichs bindet sich die Luftfeuchtigkeit und regnet über den Wäldern der Coast Mountains ab (Suttles 1990: 16-18). 3
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Die regenreichste Stadt Kanadas, Abbotsford, liegt ca. 70 km weiter östlich (Osborn o.J.). Die folgenden Angaben zum Klima in Vancouver und British Columbia im Allgemeinen sind – wenn nicht anders kenntlich gemacht – den Statistiken der offiziellen Website der kanadischen Regierung entnommen. Siehe hierzu Gouvernment of Canada (2018). Das Lower Mainland umfasst von Westen ausgehend den Großraum Metro Vancouver und im Osten Teile des Frazer Valley bis nach Hope. Als östlicher Teil der Georgia Senkung (Georgia Depression) trennt die Ebene des Lower Mainland die Kaskadenketten im Süden von den Coast Mountains im Norden.
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Dieses stabile feuchtgemäßigte Klima prägt die Vegetation und folglich das Erscheinungsbild der Nordwestküste maßgeblich. Zwar lässt sich das Gebiet bei genauerer Betrachtung durchaus in verschiedene Vegetationszonen einteilen (Turner 2006: 5, 2014: 7-10), im Großen und Ganzen ist für die gesamte, gebirgige Küstenregion jedoch ein von der Uferlinie bis hinauf zur Baumgrenze reichender, dicht bewachsener, nadelbaumdominierter, gemäßigter Regenwald (coastal temperate rain forest) charakteristisch. In Anbetracht der insgesamt knapp 16.000 Küstenkilometer (Suttles 1990: 16) der 5.234 Inseln (Natural Resources Canada 2009) und des Festlandes sowie der bis zu 80 Kilometer ins Inland hineinreichenden Fjorde und schließlich der unzähligen Flüsse und Seen der Region lässt sich zudem festhalten, dass der aquatische Lebensraum den Charakter der Nordwestküste dominiert. Die Region unterscheidet sich dadurch deutlich von anderen Gebieten sowohl im Osten British Columbias als auch im restlichen Nordamerika. Der amerikanische Anthropologe und Linguist Wayne Suttles bringt ihre Einzigartigkeit auf den Punkt, wenn er im Handbook of North American Indians (1990) von der pazifischen Nordwestküste als einer distinkten »natural region« spricht: »[…] radically different in climate, vegetation, and fauna from the region beyond the mountains.« (Suttles 1990: 1)5 Im Kontext der Beschreibungen der Nordwestküste als geografische, klimatische und vegetative Einheit (Northwest Coast natural region) hat sich zudem die Annahme etabliert, gleichermaßen von einer »Northwest Coast culture area« (Suttles 1990: 1) sprechen zu können (Boas 1921: 39-40; Drucker 1963: 196; 1965; Turner 2006: 7; Suttles 1990: 1-15). Nun ist das gesamte Gebiet, das heute den Namen British Columbia trägt, die Heimat von über 2006 First Nations, Tribes oder Bands7 . Insgesamt teilt sich die 5
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Das Gebiet, das Suttles beschreibt, erstreckt sich sowohl in nördlicher Richtung den Coast Mountains ins Yukon folgend als auch in südlicher Richtung entlang der Kaskadenkette über Washington und Oregon weiter bis nach Kalifornien. In dieser Arbeit wird der Begriff »Nordwestküste« – bis auf wenige explizite Ausnahmen – ausschließlich in Bezug auf den kanadischen Küstenabschnitt verwendet. Die genauen Zählungen gehen auseinander. Bspw. fällt die offizielle Zählung der Provinz British Columbia (www2.gov.bc.ca/) mit 291 größer aus als die desFirst Peoples’ Cultural Council, nach der es in British Columbia »203 First Nations communities« gibt (maps.fpcc.ca/, abgerufen am 07.08.2018). Da der siedlerkoloniale Kontext Kanadas hinsichtlich der Bezeichnung für diejenigen Menschen, deren Vorfahren diese Landschaften lange vor der Ankunft der Europäer bewohnt haben – das heißt First Nations (umfasst status und non-status Indians), Métis und Inuit –, nach besonderer Sensibilität verlangt, verwende ich im Folgenden (wann immer möglich oder notwendig) Eigenbezeichnungen. Im Rahmen allgemeiner Aussagen lege ich mich auf den inklusiven Begriff »Indigenität« fest und spreche im weiteren Verlauf – wenn keine nähere Bestimmung notwendig oder möglich ist – von der indigenen Bevölkerung, indigenen Gesellschaften, indigenen Gruppen u.Ä. Da sich meine Darstellungen zur indigenen Gastronomie auf keine homogene Gruppe von Vertreter*innen von First Nations, Métis oder Inuit beziehen, spreche ich in diesem Zusammenhang von indigenen Köch*innen. Aus Gründen
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indigene Bevölkerung in über fünfzig Sprachen und Dialekte aus sechs größeren Sprachfamilien auf: Na Dené, Ts’msyenic, Wakash, Salish, Haida und Ktunaxa (Turner 2014: 10-14).8 Davon ausgehend, dass die Individualität von Sprache kulturelle Individualität reflektiert, lässt sich bereits vermuten, dass das Gebiet des heutigen British Columbia in kultureller Hinsicht seit jeher mehr einem Flickenteppich als einem homogenen Block gleicht. So werden etwa auch die indigenen Gesellschaften im östlichen Inland (im Folgenden als Interior First Peoples zusammengefasst) von denen in den Küstengebieten westlich der Coast Mountains (im Folgenden als Coastal First Peoples zusammengefasst) unterschieden.9 Wenngleich die hier im Vordergrund stehenden Coastal First Peoples für sich genommen ebenfalls keinen homogenen Block darstellen, ist die Rede von einer Northwest Coast culture area und damit die Verwendung des Begriffs Coastal First Peoples für mehr als nur eine geografische Zusammenfassung der Bewohner*innen der Northwest Coast natural region dennoch sinnvoll. H.B. Hawthron betont etwa im Vorwort zu Philip Druckers Cultures of the North Pacific Coast (1965), dass es sich bei der Bezeichnung der Nordwestküste als culture area um eine heuristische Vereinheitlichung immanenter Diversität handelt: »In this work he [Drucker] describes a cultural area, its boundaries and salient features. This cultural area is not a local group or community and it should be remembered that the people who lived in this constituent groups had no name for the whole region […]. Thus the cultural area is something artificially created by the anthropologist. [However, t]his artificial creation has a proper use […].« (Drucker 1965: XV)
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der Lesbarkeit verwende ich zudem die, in der englischsprachigen Literatur zur Nordwestküste gebräuchlichen, Begriffe »Coastal First Peoples« und »Interior First Peoples« (Turner 1997 und 2006), um die indigenen Gesellschaften in den Küstengebieten westlich der Coast Mountains von denen im östlichen Inland zu unterscheiden. Zum Thema Terminologie in Kanada siehe Kesler (o.J.) und Vowel (2016: 7-22). Auch in diesem Fall variieren die Zählungen. Bspw. handelt es sich nach Thompson und Kinkade (1990: 30-51) um mindestens 45 Sprachen aus 13 Sprachfamilien. Trotz der verschiedenen Zählungen sind sich Kinkade, Thompson und Turner einig, dass die Vielfalt der Sprachen im Ballungsgebiet der Nordwestküste zu den reichhaltigsten Nordamerikas gehört. Gemäß des regionalen Fokus’ dieser Arbeit, wird auf diese Unterscheidung bzw. die Charakteristika der Interior First Peoples nicht im Einzelnen eingegangen. Allerdings sei darauf verwiesen, dass erstens die geografischen, klimatischen und vegetativen Eigenschaften des östlichen Inlands eine maßgebliche Rolle für diese Unterscheidung spielen und dass zweitens diese Unterscheidung nicht trennscharf ist. Schließlich lassen sich in diversen Lebensbereichen der Coastal und Interior First Peoples eklatante Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen erkennen. Dabei mag auch die Tatsache eine Rolle spielen, dass Coastal und Interior First Peoples seit jeher über Handelsbeziehungen miteinander in Kontakt standen. Zu diesen Handelsbeziehungen siehe Drucker (1965: 109-111) sowie Turner (1997) zu generellen Charakteristika der Interior First Peoples.
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Mit Blick auf die spezifischen geografischen, klimatischen und vegetativen Verhältnisse der Northwest Coast natural region, die manche Entwicklungen befördert und andere eingeschränkt haben mögen, konstatiert Drucker, dass sich in Korrelation mit diesen Verhältnissen verschiedene Motive oder Kulturmotive (fundamental motifs of areal culture) herausgebildet haben, die den einzelnen indigenen Gruppen an der Nordwestküste in unterschiedlichen Ausprägungen gemein sind: »Each group’s manifestations of the fundamental motifs of areal culture differed a bit. All were not of the same intensity. […] Yet all shared and utilized a series of concepts that, like the weft strands in weaving, connect the various elements – in this context the local cultural variants – into a unit distinctive and unique among native American cultures.« (Drucker 1963: 20) Eines der wichtigsten Kulturmotive, das die indigenen Bevölkerungsgruppen der Nordwestküste bis heute von anderen in Kanada und dem restlichen Nordamerika unterscheidet, ist die soziokulturelle Bedeutung ihrer historischen Aquafloraund -faunaorientierten Ökonomie – hierzu mehr in Kapitel 1.2.1. In Hinsicht auf diesbezügliche regionale bzw. gruppenspezifische Unterschiede ergänzt Suttles lediglich: »Where they may have differed is in the combination of fishing, hunting, and gathering of both shellfish and vegetable foods and in their methods of taking and preserving the great quantities periodically available to them.« (Suttles 1990: 2) Im Kontext der Northwest Coast natural region war diese wasserorientierte Ökonomie mit der Herausbildung einer, an den regionalen Anforderungen gewachsenen, materiellen Kultur verknüpft. Neben den elaborierten Techniken für den Fang von Fischen und Meeressäugern (Stewart 1977; Irwin 1984) betraf dies insbesondere Transportmittel und Aufbewahrungsbehältnisse, die weitere Kulturmotive darstellen: In Bezug auf die Transportmittel etablierten sich für die Wasserwege der Region Einbäume (dugout canoe) als primäre Bauart. Ohne viel Tiefgang lassen sich diese Boote auch in strömungsreichen Flüssen oder Gezeitenzonen in den Fjorden gut und schnell manövrieren. Im Hinblick auf die Aufbewahrungsbehältnisse war die von Suttles angesprochene Tatsache entscheidend, dass ein Großteil der an der Nordwestküste verfügbaren Lebensmittel nur saisonal und regional begrenzt, dann jedoch in großer Menge, verfügbar ist. Vor der Einführung und Verbreitung von Tiefkühltruhen und Einmachgläsern verlangte der saisonale und regionale Überfluss die Entwicklung von einerseits effektiven Präservierungstechniken und andererseits verlässlichen und transportablen Aufbewahrungsmöglichkeiten für diese Präserven. Hierzu wurden an der gesamten Nordwestküste sogenannte bentwood boxes (im Folgenden als bentwood-Kisten bezeichnet) verwendet. Dabei handelt es sich um meist rechteckige Holzkisten, die in der Regel aus nur drei Teilen bestanden: einem Boden, einem Deckel und den Seiten, die mit Hilfe der Bugholztechnik aus einer einzigen, durch Feuchtigkeit und Wärme biegsam gemachten Planke in einem viereckigen Grundriss gefaltet wurden (Boas 1921: 60-81;
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Stewart 1984: 88-92). Diese Bauweise macht die Kisten wasserdicht, sodass darin Gegenstände und Vorräte, zum Teil sogar Flüssigkeiten wie bspw. Fischöl sicher gelagert werden konnten (Boas 1921: 82-92). Nicht zuletzt waren bentwood-Kisten das am meisten gebrauchte Kochgeschirr – hierzu mehr in Kapitel 1.2.1. Die Konstruktion von bentwood-Kisten und Einbäumen setzt neben der Bugholztechnik eine Reihe anderer elaborierter Holzverarbeitungstechniken voraus, die auch in anderen Bereichen materieller Kultur Verwendung fanden.10 Prominente Beispiele materieller Kultur sind aufwendig gearbeitete Masken und Wappen- bzw. Totempfähle oder reichverziertes Festtagsbesteck und vor allem Festtagsgeschirr (feast dishes).11 Insgesamt lässt sich nicht nur der gesamte Komplex elaborierter Holzverarbeitungstechniken als Kulturmotiv bezeichnen, sondern nehmen einige der damit verknüpften Objektkategorien – allem voran jene Masken, Wappenpfähle und feast dishes – für sich genommen bereits den Status eines solchen ein. Darüber hinaus folgt die grafische Verzierung all dieser und anderer Objekte trotz gruppenspezifischer Akzente im Wesentlichen den gleichen Gestaltungsprinzipien, die unter dem von Bill Holm in Northwest Coast Indian Art. An Analysis of Form (1965) geprägten Begriff der formline art als ein weiteres, die Northwest Coast culture area charakterisierendes, Kulturmotiv zusammengefasst wurden.12 Im Hinblick auf sowohl jenen Komplex von Holzverarbeitungstechniken und den damit verknüpften hölzernen Objekten als auch in Bezug auf jene formline art war ein bestimmter Werkstoff von besonderer Bedeutung– das Holz des an der gesamten Nordwestküste heimischen western red cedar (Thuja plicata, Riesen-Lebensbaum). Das Holz dieser bis zu 70 Meter hohen Bäume, die
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Damit sind die diversen Techniken zum Schnitzen aber auch Verbinden von Hölzern durch Holznägel (Dübel), das Binden und Zusammennähen mit Hilfe von pflanzlichen Fasern und schließlich Zinkung gemeint. Deimel et al. (2011), Jonaitis (1991), Stewart (1977, 1984) und Turner (2007) geben Einblicke in diese Techniken. Zu den gängigen feast-dish-Formen gehören neben Tierformen und anthropomorphen Gefäßen große Servierschalen, die mal mehr mal weniger eindeutig Miniaturen von Kanus darstellen. Wie Aldona Jonaitis erklärt, sei das »quintessential image of richness […] a canoe laden with expensive goods.« (Jonaitis 2006: 148) Mit Bezug auf Festtagsgeschirr in Kanuform erläutert sie weiter: »Canoe shaped dishes […] represent a miniaturized wealth-bringer, now fully loaded with abundant food.« (Ebd.) Entsprechend erinnert auch die Gestaltung der großen Servierlöffel nicht selten an die zum Kanu gehörenden Paddel. Diese Gestaltungsprinzipien betreffen nicht nur Webarbeiten und zweidimensionale Verzierungen von bspw. bentwood-Kisten, Trommeln oder Hausfassaden in Form von Malerei, Reliefschnitzereien und Intarsien, sondern ebenso die dreidimensionale Gestaltung von bspw. Wappenpfählen, Masken, Rasseln, Schlaghölzern oder Festtagsgeschirr und -besteck. Holm hebt hervor: »The principles that govern two-dimensional design can also be applied to the plastic art of the area; in fact, the two art expressions are so interrelated that it is at times hard to say where one ends and the other begins.« (Holm 1965: 14) Für eine Überblicksdarstellung gruppenspezifischer Akzentuierung indigener formline art siehe Stewart (1973).
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mitunter mehrere Meter Durchmesser erreichen, ist leicht, langlebig und lässt sich verhältnismäßig einfach bearbeiten. Nicht zuletzt bieten sein Gewicht, seine Beständigkeit und insbesondere seine Struktur (arm an Astlöchern und mit langen, geraden und ungebrochenen Fasern) nicht nur beste Voraussetzungen für die Anwendung der Bugholztechnik, wie sie bei bentwood-Kisten und Einbäumen zum Einsatz kam. Darüber hinaus ermöglicht die Struktur des Holzes das Zerlegen großer Baumstämme allein mit Hilfe von Keilen in lange, gerade und gleichmäßige Planken.13 Diese Eigenschaft steht zudem in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem historischen Hausbau und letztlich der Siedlungsstruktur bzw. dem jahreszeitlichen Wechsel von Sommer- und Wintersiedlungen, die weitere prominente Kulturmotive darstellen – hierzu mehr in Kapitel 1.2.1. So fanden sich an der gesamten Küste Langhäuser, die zwar unterschiedlich aussahen, aber nach dem gleichen Prinzip gebaut waren: Wie überdimensionale und lange Schindeln wurden die Planken an permanent fixierte, tragende Balken befestigt und bildeten so Dach und Wände. Diese Bauweise erlaubte es, ganze Langhäuser (bis auf die Balken) in kürzester Zeit abzubauen, die Planken auf Boote zu verfrachten und an einen anderen Ort zu bringen, an dem wiederum permanent fixierte Balken darauf warteten, ein temporäres Dach und Wände zu bekommen. Abgesehen vom Holz waren die verschiedenen Rindenfasern des western red cedar von zentraler Bedeutung (Drucker 1963: 61-62). Vor der Verbreitung moderner Textilien wurden daraus nicht nur Seile, sondern ebenso Kleidung, Hüte, Matten und Körbe hergestellt (Stewart 1984; Turner 2007). Manche Stücke waren sogar wasserdicht. Das liegt daran, dass die Rindenfasern des western red cedar bei Kontakt mit Wasser quellen, wodurch sich die Maschen entsprechend eng verarbeiteter Kleidung, Hüte, Matten und Körbe so stark verdichten, dass kein Wasser mehr hindurch dringen kann. Dieser Effekt wurde nicht nur für effektiven Regenschutz genutzt, sondern ebenso für wasserdichte Körbe, in denen mit Hilfe von heißen Steinen gekocht wurde (Stewart 1977: 130-131). Insgesamt, so stellt die kanadische Ethnobotanistin Nancy J. Turner fest, lässt sich die Rolle von western red cedar sowohl als wichtigster Werkstoff als auch als richtungweisendes Element indigener Kultur an der pazifischen Nordwestküste kaum überbetonen. Er sei, so Turner, »the cornerstone of Northwest Coast aboriginal culture« (Turner 2005: 12). Die Liste der Kulturmotive, welche die indigenen Kulturen der Nordwestküste von jenen im restlichen Nordamerika abheben, könnte noch weiter fortgesetzt werden. Das Kulturmotiv, das die Nordwestküste zu einer der bekanntesten Regionen kulturwissenschaftlicher Forschung gemacht hat, ist jedoch der Handlungskomplex, der unter der Bezeichnung »Potlatch« maßgeblichen Einfluss auf Diskurse zu den transaktionalen Grundlagen menschlicher Gesellschaften genommen hat. 13
Siehe hierzu Garrick (1998) und Stewart (1984: 41-42). Mit der gleichen Technik wurden auch Planken aus Baumstämmen gelöst, ohne die Bäume zu fällen. (Ebd.)
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Potlatch Die Frage, was ein Potlatch oder Potlatch-Fest ist, lässt sich nicht einfach beantworten. Drucker und Robert F. Heizer halten hierzu treffend fest: »The term ›potlatch‹ derives from Chinook jargon[14] and means simply ›to give‹. (All discussants of the potlatch must make this statement; it is the only thing, we all agree on!).« (Drucker und Heizer 1967: 8) Der deutsche Ethnologe, Linguist und Nordwestküsten-Spezialist Henry Kammler macht darüber hinaus klar, dass sich die etymologischen Wurzeln dieses Begriffs auf die Bezeichnung ρačitł aus dem Nuučaanuł (Nuu-Chah-Nulth, einer Süd-Wakash-Sprache an der Westküste von Vancouver Island) zurückführen lassen (Kammler 2009: 208). Ausgehend von seiner ursprünglichen Bedeutung als Bezeichnung für einen »auf Reziprozität beruhenden individuellen Gabentausch« (ebd.), habe »[…] ›ρačitł‹, vermittelt durch die englischsprachigen Pelzhändler des ausgehenden 18. Jahrhunderts, als allgemeiner Terminus für ›geben‹ Eingang in das Handelspidgin Chinook-Jargon gefunden […] und von dort aus in der lautlichen Form ›potlatch‹ (patłeč) ein Eigenleben auch im ethnologischen Jargon entfaltet.« (Ebd.: 214) In The Potlatch Papers. A Colonial Case History (1997) zeichnet der kanadische Literaturwissenschaftler Christopher Bracken ein detailreiches Bild dieses Eigenlebens. Anhand einer diskursanalytischen Auseinandersetzung mit dem von 18851951 rechtskräftigen potlatch ban (Potlatch-Verbot) anhand der sogenannten potlatch papers15 zeigt Bracken, wie die kanadische Kolonialgesetzgebung des 19. Jahrhunderts »den« Potlatch im Zuge einer strengen Assimilationspolitik erfunden hat, um ihn anschließend verbieten zu können. Allerdings muss gesagt sein: Wenn hier von der kolonialgesetzlichen Erfindung des Potlatch die Rede ist, heißt das nicht, dass es keine Potlatch-Feste gab oder gibt. Es bedeutet aber, dass Potlatch als begriffliches Konzept mit Vorsicht behandelt werden muss. Nicht zuletzt deshalb, weil es unter den verschiedenen Sprachgruppen verschiedene Bezeichnungen für diverse kulturelle Praktiken gibt, die unter dem Begriff des Potlatch vereinheitlicht angesprochen wurden und werden – vor allem aber wegen der engen Verknüpfung des Begriffs mit der Kolonialgeschichte und der Marginalisierung der indigenen Bevölkerung im Gebiet des heutigen British Columbia. 14
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Als Chinook Jargon oder Chinook Wawa wird eine Pidgin-Sprache bezeichnet, die spätestens seit dem 18. Jahrhundert und bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein an der Westpazifikküste vom heutigen Oregon über Washington und British Columbia bis nach Alaska und Yukon als Handelssprache (später auch als Verkehrssprache in Fischfabriken und Holzfällerlagern) etabliert war. Der Begriff »potlatch papers« bezieht sich auf den dokumentierten Schriftverkehr zwischen der Regierung in Ottawa und Regierungsvertretern, Missionaren und Ethnologen in British Columbia im Zusammenhang mit dem potlatch ban.
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Worum also geht es bei Potlatch-Festen?16 Um diese Frage zu beantworten, muss vorangestellt werden, dass die indigenen Gesellschaften der Nordwestküste zum Teil stark stratifiziert waren – und es in gewisser Hinsicht bis heute sind.17 Entsprechend stellt Drucker im Zuge einer Analyse des Ineinandergreifens von sozialem Rang, Vermögen und Verwandtschaft in Rank, Wealth, and Kinship in Northwest Coast Society (1939) fest: »Northwest Coast society was organized on no idealistic premises of the equality of man. Each individual had his place in the arbitrarily calibrated social structure of his community.« (Drucker 1939: 55) Dabei macht er jedoch deutlich, dass die Rede von Klasse, »except of the division of society into freemen and slaves« (ebd.), in diesem Zusammenhang nicht angebracht ist. Um von Klassen sprechen zu können, müsste es klassenspezifische Unterschiede kultureller Teilhabe geben. Dies sei an der Nordwestküste aber nicht der Fall. Vielmehr gebe es unter den freemen eine »unbroken series of graduated statuses« (ebd.). Statusspezifische Unterschiede bestünden dann lediglich »in the extent of [cultural] participation, not kind« (ebd.: 56).18 Während Sklaven*innen meist Kriegsgefangene oder Personen waren, die durch Verschuldung oder andere Widrigkeiten zu Leibeigenen wurden19 , wird der Rang einer Person bis heute durch die Zugehörigkeit zu einer Verwandtschaftsgruppe sowie dem Rang der Verwandtschaftsgruppe im Verhältnis zu anderen definiert. Die individuellen Positionen innerhalb dieser Rangfolgen sind mit bestimmten Namen bzw. Namenstiteln identisch, an die wiederum bestimmte hereditäre Rechte – oder auch Pflichten – geknüpft sind. Potlatch-Feste stehen im konstitutiven Zusammenhang mit der hereditären Weitergabe dieser Namen, Rechte, Pflichten und Rangfolgen – kurz: mit den soziokulturellen Strukturen der indigenen Gesellschaften. Mit Rückgriff auf einen Schlüsseltext der PotlatchForschung von H.G. Bartlett, The Nature of the Potlatch (1938), fasst Kammler die Grundzüge dieses Kulturmotivs folgendermaßen zusammen: »Beim Potlatch handelt es sich grundsätzlich um von Adligen veranstaltete Übergangsriten, in denen Namenstitel einer Verwandtschaftsgruppe an Erben weitergegeben werden. Gültigkeit erlangen die dergestalt neu besetzten Adelspositionen nur durch die Zeugenschaft möglichst vieler hochrangiger Gäste aus anderen 16 17
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Für einen Überblick über die wesentlichen Interpretationen von Potlatch-Festen in der ethnologischen Forschungsgeschichte siehe Suttles und Jonaitis (1990: 84-86). Da die hier und im Folgenden behandelten soziokulturellen Strukturen in Verbindung mit Potlatch-Festen einen wichtigen Teil des zeitgenössischen indigenen kulturellen Selbstverständnisses darstellen, verwende ich in diesem Zusammenhang konsequent das Präsens. Siehe hierzu auch Codere (1957: 485). Sklaverei existiert in diesen Gesellschaften spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr. Zudem fällt der Begriff der Sklaverei in diesem Kontext nicht eindeutig mit dem westlichen Konzept der Sklaverei zusammen. Zur Sklaverei in indigenen Gesellschaften an der Nordwestküste in der Prä- und auch Post-Kontakt-Ära siehe Donald (1997).
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Familienverbänden und Ethnien, wofür sie aus den Händen der Gastgeber im großen Umfang Gaben erhalten, deren Annahme den Vorgang legitimiert.« (Kammler 2009: 201) Im Hinblick auf die Betonung der Zeugenschaft (Barnett 1938) und Legitimierung oder Validierung (Godelier 1999: 111; Jonaitis 1991: 11) erscheinen Potlatch-Feste damit als Inszenierungen von Identität. Entscheidend ist, dass diese Identität bzw. die soziokulturellen Strukturen, die sie zum Ausdruck bringt, unmittelbar mit territorialen Rechten (und somit den Ressourcen dieser Gesellschaften) wie auch kosmologischen Vorstellungen über die Ordnung der Welt verknüpft sind, welche die Gäste und der Gastgeber in jenem Wechselspiel von Inanspruchnahme und Bestätigung performativ-affirmativ nachvollziehen.20 Darüber hinaus spielt die Affirmation und Weitergabe von kulturellem Wissen über Protokolle, Verwandtschaftsverhältnisse, (mythische) Abstammungen, normative Ordnungen, Gesänge, Tänze etc. eine wesentliche Rolle. Kammler spricht vom Potlatch daher als der »kulturellen Kerninstitution« der Nordwestküste (Kammler 2009: 204). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es sich beim Potlatch um ein Beispiel für jene Momente soziokultureller Kohäsion einer Gesellschaft handelt, für die Marcel Mauss den Begriff des »sozialen Totalphänomens« geprägt hat. D.h., kulturelle Phänomene, in denen alle konstitutiven Elemente einer Gesellschaft (Religion, Recht, Moral, Ästhetik, Ökonomie, soziale Morphologie etc.) eine Rolle spielen und »gleichzeitig und mit einem Schlag zum Ausdruck« kommen (Mauss 1990: 17). Eine Formulierung der amerikanischen Anthropologen Abraham Rosman und Paula G. Rubel hebt ein wichtiges Detail im Zusammenhang mit der Totalität dieser sozialen Phänomene hervor. So sprechen Rosman und Rubel in Bezug auf Potlatch-Feste von »critical junctures« (Rosman und Rubel 1971: 206): »The concept of critical juncture in the social structure can be seen as, in effect, a rite de passage for the society. Potlatches are therefore rites de passage not only for individuals but for a society as well.« (Ebd.) Rosman und Rubel machen damit deutlich, dass bei Potlatch-Festen einiges auf dem Spiel steht: Potlatch-Feste sind nicht nur Ausdruck von Strukturen, sondern markieren als strukturierendes bzw. umstrukturierendes Moment sozialer Kohäsion immer auch einen Scheidepunkt des Fortbestehens der jeweiligen Gesellschaft oder Gruppe. So wichtig Potlatch-Feste demnach für die indigenen Kulturen der Nordwestküste sind, so weitreichend können die Folgen sein, wenn etwa ein Potlatch-Verbot es unmöglich macht, auf Veränderungen (Kolonialismus, Umsiedlung, Industrialisierung, Monetarisierung etc.) angemessen und in Bezug auf die indigenen Gemeinschaften diskursiv und gesamtgesellschaftlich zu reagieren. Dies kann zur Regression soziokultureller Kohäsion führen. Umgekehrt ver-
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Für eine Beschreibung des protokollarischen Ablaufs von Potlatch-Festen siehe Kammler (2009: 209).
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weist die prekäre Zentralität dieses Kulturmotivs darauf, dass in Potlatch-Festen das Fundament zum Verständnis der indigenen Kulturen der Nordwestküste liegt. In der Auseinandersetzung mit Potlatch-Festen innerhalb der Ethnologie, aber auch in den benachbarten kultur- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen, wird dieses facettenreiche Phänomen häufig auf einige wenige Elemente, Aspekte oder auch periodische Ausprägungen spezifischer historischer Kontexte reduziert. So ist es vor allem die als »agonistischer« Gabentausch prominent gewordene Ausprägung, die im Bild des Zerstörungspotlatch – »des Festes der Verschwendung und Vernichtung wertvoller Dinge zu Ehren der Gäste« (Hahn 2013: 92) – die Rezeptionsgeschichte und das gemeine Verständnis von Potlatch-Festen prägt.21 Die wohl prominenteste Arbeit in diesem Zusammenhang ist Mauss’ Essai sur le Don (1925, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften) – eines der grundlegenden Werke der ethnologischen Auseinandersetzung mit Transaktionsprozessen bzw. mit dem Verhältnis zwischen Ökonomie und Kultur. Neben dem von Bronislaw Malinowski beschriebenen Kula-Ring-Tausch Melanesiens (Malinowski [1922] 1984) und dem Wampum (Muschelgeld) der indigenen Bevölkerung der Nordostküste Nordamerikas sowie anderen Beispielen aus dem damaligen Fundus ethnografischer und historischer Literatur nehmen die Potlatch-Feste der Nordwestküste eine wichtige Rolle in Mauss’ vergleichender Untersuchung des Gabentauschs ein. Unter der Berufung auf Franz Boas’ ethnografisches Material beschreibt Mauss den Potlatch als »totale Leistung vom agonistischen Typ« (Mauss 1990: 25).22 Dabei ist es nicht von der Hand zu weisen, dass diese Form(en) kompetitiver Potlatch-Feste tatsächlich existierten. Wie jedoch die Boas-Schülerin Helen
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Letztlich hat diese eindimensional vereinheitlichende Auffassung von Potlatch-Festen das generelle Verständnis der indigenen Kulturen an der kanadischen Nordwestküste maßgeblich beeinflusst. Ein Beispiel hierfür ist die Boas-Schülerin Ruth Benedict. Vor dem Hintergrund des Boas’schen Kulturrelativismus, als der Auffassung der Einzigartigkeit und Inkommensurabilität von Kulturen, die je für sich geschlossene Ensembles von spezifischen kulturellen Eigenschaften wie Überzeugungen, Handlungsformen und Objekt-Repertoires darstellen und nur aus sich heraus verstanden werden können, beschreibt Benedict Kulturen in Analogie zu Persönlichkeiten. Im Vorwort zu Benedict’s Patterns of Culture ([1934] 2005) bestimmt Margeret Mead »her view of human cultures as ›personality writ large‹.« (ebd.: xiii). Im Kontext dieser Personifizierung und schließlich Psychologisierung beschreibt Benedict die Kulturen der Nordwestküste als »dionysisch« (ebd.: 175) und attestiert ihnen eine megalomanische Paranoia (»megalomaniac paranoid trend«), die – so Benedict – unter den Mitgliedern der Nordwestküstenkulturen ein »essential attribute of ideal man« sei. (ebd.: 222) Obschon sowohl Boas als auch Boas’ Schülerin Helen Codere mit Benedict eine kulturrelativistische Grundposition teilen, richten sich beide gegen ihre These, »that a culture, or, at least, some cultures, can be described in terms of a dominant character […].« (Codere 1956: 335) Zu Boas’ Kritik siehe Hahn (2015: 95). Siehe hierzu insbesondere Godelier (1999: 81-85).
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Codere in Fighting With Property. A Study of Kwakiutl Potlatching and Warefare 17921930 (1950) zeigt, stehen diese Formen kompetitiver Potlatch-Feste in einem spezifischen historischen Kontext tiefgreifender demografischer und sozioökonomischer Transformationsprozesse, vor deren Hintergrund sie als periodische Ausformung, aber sicher nicht als dominanter Wesenszug dieser kulturellen Kerninstitution verstanden werden müssen. Ungeachtet der vorangegangenen selektiven und stark reduzierenden Zusammenfassung der grundlegenden Annahmen und Positionen, wie sie die Potlatch-Forschung und -Literatur prägen, wird bei einer umfassenden Analyse dieses Forschungsfeldes bzw. der kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Potlatch-Festen (insbesondere mit deren Wandel) eines deutlich: Die spezifische Rolle von Kochen und Essen im Rahmen der Potlatch-Feste fand bislang kaum nennenswerte Beachtung. Dies überrascht um so mehr, bedenkt man, welche zentrale Rolle große Festessen im Zusammenhang mit Potlatch-Festen spielen. Zwar finden Festessen durchaus auch im Rahmen anderer familiärer und gesellschaftlicher Anlässe statt; weshalb ein Potlatch-Fest nicht identisch ist mit einem Festessen (Drucker 1965: 55; Drucker und Heizer 1967: 8; Kammler 2009: 208; Suttles 1991: 104). Nichtsdestotrotz muss klar gesagt sein: Ein Potlatch-Fest ohne (gleich mehrere) Festessen ist undenkbar.23 Und das nicht nur, weil die oftmals von weit her angereisten Gäste im Zuge der heute zwar meist nur einen Tag bzw. ein Wochenende, früher jedoch mehrere Tage andauernden Spektakel verpflegt werden müssen. Entscheidend ist ein anderer Punkt: Die Festessen selbst folgen minutiösen Protokollen (Konventionen) in Hinsicht auf Sitzordnung (Raum) und Servierfolgen (Zeit bzw. Chronologie), die sich wiederum an Rangfolgen wie auch bestimmten Altersklassen orientieren.24 Hinzu kommen lange Ansprachen vor, während und/oder nach dem Essen, in denen Dank gegenüber den Gästen und spirituellen Gebern ausgesprochen wird, Geschichten und Ursprungsmythen erzählt, sogenannte feast songs gesungen und Genealogien referiert werden, die bis in die Zeit mythischer Vorfahren zurückreichen. Zwar auf das ausgehende 18. Jahrhundert bezogen, jedoch heute nicht minder zutreffend, hält der kanadische
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So stellt etwa auch der kanadische Historiker Coll Thrush klar: »[A potlatch] was virtually unthinkable without feasting: as with blankets and kettles and sacks of flour, social status and spiritual power could be, and were, expressed in salmon and bannock and whale meat.« (Thrush 2011: 10) In diesem Zusammenhang ist auch die Bemerkung einer elder (Ältesten) interessant, die ich während eines Besuchs bei der 8th Annual Traditional Foods Conference des Vancouver Island and Coastal Communities Indigenous Food Network gehört habe. Im Zuge eines Story-Teller Workshops betonte sie, dass bei einem Potlatch-Fest letztlich das Essen und nicht »blankets« (gemeint sind die berühmten Decken der Hundson’s Bay Company) im Vordergrund stünden – selbst wenn Anthropologen das immer meinten. Siehe hierzu die Darstellung diverser Festessen in Boas (1921: 751-776).
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Historiker Cole Thrush entsprechend fest: »On the Northwest coast, the niceties of dining were serious business.« (Thrush 2011: 11) Letztendlich waren und sind diese Festessen bzw. die minutiösen Protokolle, denen sie folgen, mehr als nur ernste Angelegenheiten. Genau genommen muss man in Anlehnung daran, wie es weiter oben in Bezug auf die Potlatch-Feste im Allgemeinen formuliert wurde, von den Festessen als performativ-affirmatives Nachvollziehen von Vorstellungen über die Ordnung der Welt sprechen. In dem Sinn, dass sich diese Ordnung in den Protokollen und Strukturen der Festessen raumzeitlich reflektiert (Walens 1981). Nicht zuletzt stellen gerade Lebensmittel den wichtigsten Bestandteil jener Dinge dar, die an die Gäste verteilt werden. Ein Potlatch-Fest, bei dem vor allem das sogenannte grease (Fischöl)25 an die Gäste ausgegeben wird, gilt dabei nach wie vor als eine der spektakulärsten und prestigeträchtigsten Formen, die solch ein Ereignis annehmen kann (Boas 1921: 755-756).26 Im Anschluss an ein Potlatch-Fest werden die alimentären Gaben dann von den Gästen zusammen mit den Resten der opulenten Festessen mit nach Hause genommen, wo sie gemeinsam mit den Daheimgebliebenen geteilt und verspeist werden. Dies geschieht wiederum nicht ohne eine Erläuterung ihrer Herkunft in einer Ansprache, wodurch die Ansprüche des Gastgebers über die Grenzen des eigentlichen Potlatch-Festes bis in die Heimat der Gäste getragen werden. Der kanadische Anthropologe und Suttles-Schüler Stuart Piddocke greift diesen Aspekt der alimentären Gaben und Essensreste in The Potlatch System of the Southern Kwakiutl. A New Perspective (1965) heraus und betont den distributiven Effekt der Potlatch-Feste. So würde die Verteilung alimentärer und anderer PotlatchGaben an die anwesenden Gäste Verteilungsungerechtigkeiten innerhalb und zwischen verschiedenen Verwandtschaftsgruppen nivellieren. Die Validität dieser These ist jedoch verschiedentlich in Zweifel gezogen worden. Zwar kann die Redistribution von Ressourcen sicher als ein Aspekt von Potlatch-Festen verstanden werden. Allerdings gibt es keine Grundlage, auf der sich eine Reduktion auf diese Funktion rechtfertigen ließe (Anderson 2005: 194-196).27 Ohne an dieser Stelle zu versuchen, die Rolle von Essen im Kontext von Potlatch-Festen auf eine Funktion oder Bedeutung zu reduzieren, wird deutlich, 25
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Da es in den verschiedenen indigenen Sprachen entsprechende Eigenbezeichnungen für dieses zentrale Element der indigenen Ernährungskulturen der Nordwestküste gibt, wird hier der englische Begriff verwendet. Das Thema grease wird in Kapitel 1.2.1. eingehender besprochen. Für Kwakwaka’wakw halten Hunt und Boas eine (lose) Hierarchie thematischer Festessen fest. Da diese Hierarchien gruppenspezifischen Abweichungen unterliegen, macht es hier keinen Sinn, ins Detail zu gehen. Gerechterweise muss erwähnt werden, dass auch Piddocke die Reduktion der Potlatch-Feste auf redistributive Funktion explizit relativiert (Piddocke 1965: 258).
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dass diese kulturelle Kerninstitution der indigenen Bevölkerung der Nordwestküste von der Produktion, Verarbeitung, Konsumption und Redistribution von Lebensmitteln und Speisen durchdrungen ist. Die Erforschung der dezidiert kulinarischen Aspekte des Potlatch könnte folglich neues Licht auf eines der bekanntesten Phänomene der Ethnografie Nordamerikas werfen. Hierzu ist jedoch eine umfassendere Erforschung dieser kulturellen Kerninstitution nötig, als sie hier geleistet werden kann – und soll. Schließlich steht ein anderes Forschungsfeld im Mittelpunkt dieses Buches: die Geschichte, der Wandel und die gastronomische Professionalisierung indigener Ernährungskulturen in British Columbia.
Indigene Ernährungskulturen Einen ersten Hinweis auf die Relevanz und Komplexität dieses Forschungsfeldes findet sich bereits in einem zentralen Werk von einem der wichtigsten Wegbereiter der modernen Ethnologie. Gemeint ist der bereits erwähnte deutschstämmige Nordwestküsten-Spezialist und Begründer der amerikanischen Cultural Anthropology, Franz Boas28 , und eine knapp 300 Seiten umfassende Rezeptsammlung in Boas’ erstem Band der Ethnology of the Kwakiutl (1921: 305-601), die in der Forschungsgeschichte der Nordwestküste kurioserweise bislang so gut wie keine Beachtung gefunden hat. Wie vieles Weitere von Boas’ ethnografischem Material wurden die Rezepte von seinem langjährigen indigenen Forschungsassistenten George Hunt gesammelt.29 Dabei stammt der Großteil der Rezepte aus Hunts eigenem familiären Umfeld (Boas 1921: 45). Umso erstaunlicher erscheint die Vielfalt. So befassen sich von den insgesamt 155 Rezepten allein 33, also rund ein Fünftel, mit der Zubereitung von Lachs. Darüber hinaus findet man Rezepte für bspw. »Dried halibut«, »Boiled mountain goat meat«, »Steamed seal-meat«, »Barnacles«, »Seaweed«, »Another way for cooking clover«, aber auch Gerichte wie »Sticky salmon spawn«, »Dried halibut-stomach, boiled and soaked«, »Heringspawn with salmon-berry shoots«, »Unripe elderberries« und »Salal-berry cake«. Auffallend ist, dass die Rezepte keine bloß deskriptiven Handlungsanweisungen darstellen. Sie beschreiben im Detail die involvierte materielle Kultur und deren Handhabe; handeln von Etikette und Respekt und referieren die profanen oder auch spirituellen Protokolle sowie geschlechts- und altersspezifische Arbeitsteilung 28 29
Zu Boas’ Biografie und wissenschaftlichem Wirken siehe Pöhl und Tilg (2009). Hunt war der Sohn des Briten Robert Hunt, einem Mitarbeiter der Hudson’s Bay Company, und dessen Ehefrau Mary Ebbets (Tlingit, besser bekannt unter ihrem Tlingit-Namen Anisalaga) aus Tongass im Gebiet des Alaska Panhandle. Geboren am 14. Februar 1854 in Fort Rupert (Tsaxis) am nordöstlichen Ende von Vancouver Island, wuchs Hunt im Territorium der Kwakwaka’wakw (in älterer Literatur gewöhnlich als Kwakiutl bezeichnet) auf, lernte Kwak’wala (die Sprache der Kwakwaka’wakw; wörtlich »die, die Kwak’wala sprechen«) und studierte deren Kultur. Seine vielseitigen Sprach- und Kulturkenntnisse ermöglichten es ihm als Führer, Dolmetscher und schließlich auch als Boas’ Forschungsassistent zu arbeiten.
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rund um die Zubereitung, Präsentation, Verteilung und den Verzehr der eigentlichen Speisen. Trotz dieses Facettenreichtums sind mir lediglich drei Arbeiten bekannt, die sich mehr als nur referentiell auf Hunts Rezeptsammlung beziehen: Während Aldona Joanitis die Rezepte in Smoked Fish and Fermented Oil. Taste and Smell Among Kwakwaka’wakw (2006) in Hinsicht auf die Rolle indigener Speisen als »marker of difference« im siedlerkolonialen Kontext Kanadas bespricht30 , befasst sich Codere in The Amiable Side of Kwakiutl Life. The Potlatch and the Play Potlatch (1956) mit den Rezepttexten im Hinblick auf darin enthaltene Informationen zur sozialen Stratifizierung der indigenen Gesellschaften.31 Stanley Walens schließlich präsentiert in Feasting with Cannibals. An Essay on Kwakiutl Cosmology (1981) eine Sichtweise auf Hunt und Boas’ Rezeptsammlung, in der die einzelnen Texte weniger als Handlungsanweisungen bestimmter Zubereitungsprozesse als vielmehr detaillierte Beschreibungen sozialkonstitutiver Situationen diskutiert werden, in denen sich – ganz im Sinn Mauss’ – die indigene Lebenswelt als Ganzes artikuliert. »In those pages of recipes lies the key to the entire organization of Kwakiutl social and mental life. The so-called recipes are not recipes in our sense of the word, but rather accounts of the social events that comprise the preparation, preservation, cooking, serving, and eating of food at meals. The accounts include such important data as when the food is eaten, by whom, whether guests may be invited or indeed must be invited; how rules of ownership, the division of labor, and social rank affect food distribution; the patterns of interaction between members of the family, household, numaym[32] , and tribe; and the ritual relationships between mankind and the spirit beings who provide humans with sustenance. Since Kwakiutl social and intellectual life centers around the entire gestalt of eating and assimilation,
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»[…] Food in some way distinguishes the Kwakwaka’wakw from their colonizers and thus serves as a marker of difference.« (Jonaitis 2006: 142) Jonaitis betont hier die teils sehr spezifischen Geschmäcker, Gerüche und Konsistenzen der historischen Ernährungskulturen der Kwakwaka’wakw. »The 300 pages of Kwakiutl recipes contain a mass of detailed data on Kwakiutl society, much of which is relevant to the questions of whether there are classes or whether there is a class of commoners in Kwakiutl society.« (Codere 1957: 485) Die Bezeichnung »numaym« ist eine englische Abwandlungen eines Kwak’wala Begriffs und bezieht sich auf die oben im Zusammenhang mit den Potlatch-Festen erwähnten Verwandtschaftsgruppen (in diesem Fall bei den Kwakwaka’wakw). Suttles und Jonaitis schreiben hierzu: »Boas […] identified the corporate group of Kwakiutl society as the numaym […] dropping his earlier terms gens and clan on the grounds that they implied unilineal descent. It appeared that kinship was reckoned bilaterally, and the numaym was a nonexogameous group in which membership was optionally through father or mother and even marriage.« (Suttles und Jonaitis 1990: 87)
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these pages of descriptions of rites concerning food are the most important data we could hope for.« (Walens 1981: 89, Hervorheb. S.R.S.) Interessanterweise kommentieren Joanitis und Walens beide das allgemeine Desinteresse an Hunt und Boas’ Rezeptsammlung und bestätigen damit den Eindruck, dass es sich dabei um einen zumindest stark vernachlässigten Teil des ansonsten nahezu flächendeckend bearbeiteten Boas’schen Materials handelt.33 Angesichts des großen Forschungsinteresses an den historischen indigenen Ernährungskulturen der Nordwestküste, wie es sich in der Fülle an heute verfügbaren Publikationen zu dieser Thematik niederschlägt34 , überrascht dieses Desinteresse an einer dezidiert analytischen Auseinandersetzung mit Hunt und Boas’ Rezeptsammlung umso mehr. Zugleich existieren in Bezug auf die zeitgenössischen Ernährungskulturen und die Transformationsprozesse, die die indigenen Ernährungskulturen in den letzten 250 Jahren geprägt haben, unzählige kulturwissenschaftliche Untersuchungen sowie Fachliteratur diverser anderer Wissenschaftsbereiche, aufwendig produzierte Dokumentarfilme und schließlich auch künstlerische Arbeiten, die versuchen, die Geschichte und den Status quo indigener Ernährungskulturen in den öffentlichen Diskurs zu bringen. Auffällig ist, dass sich der bei weitem überwiegende Teil dieser Auseinandersetzungen mit den indigenen Ernährungskulturen mit den negativen Auswirkungen der Einführung und Verbreitung neuer Lebensmittel, der Regression kulinarischer Wissenskulturen und Praktiken, dem Verlust von Ernährungssicherheit und -souveränität und schließlich den diätisch bedingten gesundheitlichen Problemen befasst, mit denen der Großteil der indigenen Bevölkerung in British Columbia und anderen Teilen Kanadas heute konfrontiert ist. Insgesamt ermöglichen die verschiedenen Quellen eine sehr konkrete Vorstellung von den historischen Ernährungskulturen, den Transformationsprozessen 33
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Jonaitis zitiert etwa den Anthropologen Victor Barnouw: »Boas recorded pages after pages of blueberry-pie recipes […]. We do not know to what use they may ultimately be put.« (Barnouw nach Jonaitis 2006: 143) Ebenso schreibt Walens: »The more than three hundred pages recipes […] have often been singled out by anthropologists as an example of how Boas’ particularist bias forced him to collect trivial, useless materials.« (Walens 1981: 89) Es genügt an dieser Stelle auf zwei komplementäre Publikationen hinzuweisen, die mit ihrem jeweiligen Fokus auf einerseits tierische und andererseits pflanzliche Nahrungsmittel zusammengenommen das gesamte Spektrum historischer indigener Ernährungskulturen umspannen: In Bezug auf tierische Nahrungsmittel veröffentlichten Harriet V. Kuhnlein und Murray M. Humphries die Online-Publikation Traditional Animal Foods of Indigenous Peoples of Northern North America (2017, traditionalanimalfoods.org). Dabei handelt es sich um eine interaktive Enzyklopädie, in der Kuhnlein und Humphries den Status quo der verfügbaren Literatur und Wissensbestände zur Diversität und spezifischen Rolle tierischer Nahrungsmittel für die indigenen Ernährungskulturen Nordamerikas (und Grönlands) zusammengetragen haben. Ergänzt wird dieses beispiellose Überblickswerk durch Turners zweibändiges ethnobotanisches Opus Magnum Ancient Pathways, Ancestral Knowledge. Ethnobotany and Ecological Wisdom of Indigenous Peoples of Northwestern North America (2014).
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und vom Zustand, in dem sich die Ernährungskulturen eines Großteils der indigenen Bevölkerung heute befinden. Das Phänomen indigener Gastronomie bzw. der Prozess indigener gastronomischer Professionalisierung spielte dabei jedoch keine Rolle. Vielmehr stellt dieser Aspekt indigener kulinarischer Kulturgeschichte an der Nordwestküste bislang einen tatsächlichen blinden Fleck dar. So haben mich auch nicht ethnohistorische Recherchen, sondern erst meine Erfahrungen im Zuge empirischer Forschung und insbesondere das Scheitern meiner Erwartungen an indigene gastronomische Betriebe auf diese Forschungslücke aufmerksam gemacht.
Ethnografisches Neuland Ausgehend von einer umfassenden Recherche zur Geschichte und dem Wandel indigener Ernährungskulturen in British Columbia, habe ich mich in den ersten Tagen meiner ersten Forschungsreise im Sommer 201335 auf die Suche nach Orten gemacht, an denen man die Zutaten und Techniken, Geschmäcker und Gerüche indigener Ernährungskulturen erfahren kann. Dabei bin ich in Vancouver auf das damals einzige indigene Restaurant gestoßen: das Salmon n’ Bannock. Die Diskrepanz meines angelesenen Wissens über die historischen indigenen Ernährungskulturen auf der einen und die gastronomische Interpretation von zeitgenössischem indigenen Kochen und Essen im Salmon n’ Bannock auf der anderen Seite haben schließlich mein Interesse an dem Phänomen indigener Gastronomie geweckt – hierzu mehr in Kapitel 2.1.1. Wie sich im Verlauf meiner anschließenden Recherche bald herausstellte, handelt es sich bei indigener Gastronomie bzw. dem Prozess gastronomischer Professionalisierung indigener Ernährungskulturen um ein im Wachsen begriffenes Nischenphänomen. Auf der Suche nach entsprechender akademischer Literatur wurde jedoch schnell klar, dass dieser Aspekt indigener Lebenswelten bislang weder in der Ethnologie noch in irgendeiner der benachbarten kulturwissenschaftlichen Disziplinen Beachtung gefunden hat. Mit dieser Erkenntnis, tatsächliches Neuland im Bereich der Nordwestküstenethnografie zu betreten, konzentrierte ich meine Forschungsarbeit schließlich auf das Feld indigener Gastronomie. Zuallererst ging es um eine Bestandsaufnahme und die damit verknüpfte Skizze einer Kulturgeschichte der gastronomischen Professionalisierung indigener Ernährungskulturen. Hierzu waren zunächst ausgiebige Recherchen in Online-, Zeitungs- und Stadtarchiven maßgeblich. Hinzu kamen persönliche Nachfragen an den Orten und bei den Personen, die ich im Zuge dieser Recherchen ausfindig machen konnte, um von dort aus das Ausmaß der Entwicklung gastronomischer Professionalisierung abseits der spärlich verfügbaren Informationen in Archiven 35
Zwischen Sommer 2013 und Winter 2016 habe ich im Rahmen von sieben Forschungsaufenthalten insgesamt ein halbes Jahr in British Columbia und Alberta verbracht.
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und vereinzelten Erwähnungen in Print- und Onlinemedien erfassen zu können. Ein wichtiger Teil der Bestandsaufnahme war die Suche nach Netzwerken von indigenen Gastronom*innen und Köch*innen: Wie viele indigene Köch*innen und Gastronom*innen mit einem Fokus auf indigene Ernährungskulturen gibt es? Kennen sie sich untereinander? Gibt es Plattformen? Gibt es Austausch? Gibt es Kollaborationen? Gibt es eine geteilte Agenda? Wer bildet aus, wen und wo? Ein wichtiger Aspekt beim Betreten dieses ethnografischen Neulands ist die Frage der Zugänglichkeit zum Milieu indigener Gastronom*innen und Köch*innen. Schließlich ist es kein Geheimnis, dass die Welt der Gastronomie – egal ob indigen oder nicht-indigen – in gewisser Weise einer Parallelwelt gleichkommt. Der New Yorker Koch und Autor Anthony Bourdain machte dies in seiner autobiografischen Milieustudie in Kitchen Confidential. Adventures in the Culinary Underbelly (2001) in unverhohlen deutlicher Sprache anschaulich. In seiner Einleitung beschreibt Bourdain die Welt der Gastronomie als: »a subculture whose centuries-old militaristic hierarchy and ethos of ›rum, buggery and the lash‹ make for a mix of unwavering order and nerve-shattering chaos […]. I can move around easily in this life. I speak the language. In the small, incestuous community of chefs and cooks in New York City, I know the people, and in my kitchen, I know how to behave (as opposed to in real life, where I’m on shakier ground). […] Many of us have lived and breathed [this life] for most of our days and nights to the exclusion of ›normal‹ social interaction. Never having had a Friday or Saturday night off, always working holidays, being busiest when the rest of the world is just getting out of work, makes for a sometimes peculiar world-view.« (Bourdain 2001: 3-4) Wie bekommt man Zugang zu dieser Welt und den Menschen, die in ihr leben? Meine eigenen Erfahrungen als Koch in einem Restaurant in Frankfurt a.M. und selbständiger Caterer ebenso wie meine Vertrautheit mit der Geschichte und Gegenwart moderner Kochkunst haben mir dabei in vielerlei Hinsicht geholfen. Köch*innen reden nun mal gerne mit anderen Köch*innen. Man tauscht sich aus über Ärger mit Lieferant*innen, allergische Gäste und fahrige Mitarbeiter*innen, über die nie schlafende Konkurrenz, gastronomische Konzepte und die neuesten Trends. Mein eigener gastronomischer Hintergrund diente als Eisbrecher in Gesprächen mit indigenen Köch*innen und Gastronom*innen – meist nach Küchenschluss bei Fast Food und ein paar Bier. Im Anschluss an diese informellen Gespräche führte ich mit ihnen, zu einem oder mehreren vereinbarten Terminen, zwischen einer und vier Stunden dauernde semistrukturierte Interviews. Hierfür habe ich jeweils überschaubare und personenbezogene Kataloge von Themenkomplexen erstellt. Diese umfassten biografische Themen (retrospektiv und antizipierend), ereignisbezogene Fragen (bspw. zu kulinarischen Präsentationen im Rahmen der Expo 86, zur Internationalen Kochkunst-Ausstellung 1992 und
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2012, zur Winter Olympiade 2010 etc.) sowie Diskussionsthemen in Bezug auf die spezifischen Vorteile und Schwierigkeiten indigener Gastronomie. Eine wichtige Rolle spielten Fragen nach der persönlichen und/oder allgemeinen Agenda indigener Köch*innen und Gastronom*innen sowie die Bedeutung von Konzepten wie Tradition und Authentizität in diesem Zusammenhang.36 Meine Absicht war, meinem Gegenüber als informierter Gesprächspartner eine Reibungsfläche zu bieten, auf deren Grundlage diese, aus dem bereitgestellten Gesprächsstoff, eigene Problemfelder artikulieren und diesbezügliche Ansichten formulieren konnten. Darüber hinaus wurde ich von meinen Gesprächspartner*innen zu verschiedenen tasting menus eingeladen, war bei Dreharbeiten zu einer Pilotfolge für eine indigene Kochshow dabei, habe Kochpräsentationen und Vorträge von indigenen Köch*innen besucht und aberhunderte von Kilometern zurückgelegt, um möglichst alle (in British Columbia und Alberta) von mir ausfindig gemachten indigenen Betriebe aufzusuchen und mich an den Speisekarten abzuarbeiten. In Verknüpfung mit den bereits verfügbaren Informationen zur Geschichte, dem Wandel und Status quo indigener Ernährungskulturen bot sich damit die Möglichkeit, jene Lücke der Nordwestküsten-Forschung mit den Grundzügen einer Kulturgeschichte indigener Gastronomie zu schließen. Das vorliegende Buch konzentriert sich infolgedessen auf einerseits die Darstellung der Kulturgeschichte indigener Ernährungskulturen in British Columbia und andererseits auf die kulturgeschichtliche Einbettung des Prozesses indigener gastronomischer Professionalisierung als deren jüngstes Kapitel. Ergänzend zu den diesbezüglichen, in erster Linie (ethno-)historischen und ethnografischen Darstellungen widmet sich der abschließende analytische Teil der Arbeit der Diskussion der Rolle indigener Gastronomie in der kanadischen Öffentlichkeit. Zum Abschluss dieser Einleitung stellt der folgende Abschnitt die in diesem Zusammenhang diskutierte These vor und gibt zugleich einen zusammenfassenden Überblick über den Aufbau dieses Buches.
These und Aufbau Im Jahr 2017 feierte Kanada das 150-jährige Jubiläum seiner Gründung als föderaler Staat. Während aus diesem Anlass im gesamten Land Feste veranstaltet wurden, teilten längst nicht alle Bewohner*innen des heutigen Kanadas den Jubel. Vonseiten der indigenen Bevölkerung war neben Gemeinschaftsbekundungen und anhaltender Versöhnungsrhetorik auch vehemente Kritik an der Asymmetrie der be-
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Während das begriffliche Konzept der Authentizität (und damit implizit auch das der Tradition) erst im 3. Teil thematisiert und der Begriff deshalb bis dorthin vermieden wird, finden zumindest die Begriffe »Tradition« und »traditionell« zugunsten einer besseren Lesbarkeit und Verständlichkeit trotz ihrer analytischen Unschärfe in dieser Arbeit Verwendung – wenn auch nur vereinzelt und dann in einem lediglich heuristischen Sinn.
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stehenden Verhältnisse zu hören. Schließlich lebt ein Großteil der indigenen Bevölkerung im siedlerkolonialen Kontext Kanadas nach wie vor als politisch, ökonomisch und kulturell marginalisierte ethnische Minderheit inmitten und zugleich am Rande der nicht-indigenen Mehrheitsgesellschaft. Indes sind die Probleme, die das angespannte Verhältnis zwischen indigener Bevölkerung und nicht-indigener Mehrheitsgesellschaft prägen, so vielschichtig und multikausal, dass die Darstellungen der folgenden Kapitel in dieser Hinsicht unvollständig bleiben müssen.37 Anstatt in die Untiefen der Fülle von Einzelproblemen einzutauchen (nicht zuletzt würde dies zu weit vom eigentlichen Thema wegführen), steht stattdessen ein zentraler Knotenpunkt des bis tief in die Kulturgeschichte Kanadas hineinreichenden Beziehungsgeflechts zwischen indigener und nicht-indigener Bevölkerung im Mittelpunkt der weiterführenden Überlegungen zur Rolle indigener Gastronomie in der kanadischen Öffentlichkeit: Nämlich das Ineinandergreifen von einerseits der Abwesenheit indigener (Alltags-)Kultur im öffentlichen Raum und andererseits dem Fortbestehen historisch gewachsener – pejorativer, idealisierender oder auch nivellierender – Imaginationen von Indigenität und indigenen Lebenswelten vonseiten der nicht-indigenen Bevölkerung. Nun wäre es falsch, eine gänzliche Abwesenheit indigener Lebenswelten im öffentlichen Raum oder in öffentlichen Diskursen zu behaupten. Allerdings ist die Wahrnehmung der indigenen Bevölkerung durch die nicht-indigene Mehrheitsbevölkerung in weiten Teilen eine medial vermittelte und überdies in erster Linie durch Bilder indigener Proteste und Forderungen im Zusammenhang mit Themen wie Umweltschutz, Landrechten, politischer Souveränität und kultureller Anerkennung geprägt. Dabei gibt es streng genommen durchaus diverse Möglichkeiten, in »direkten Kontakt« mit einzelnen Aspekten zeitgenössischer indigener Lebenswelten zu kommen. Dies betrifft vor allem die Tourismusindustrie und zeitgenössische indigene Kunst. Allein, während im Bereich des Tourismus stereotype Imaginationen von Indigenität eher bedient als unterlaufen werden, ist für zeitgenössische indigene Kunst die Konzentration auf kritische Auseinandersetzungen mit der Kolonialgeschichte und der anhaltend konfliktgeladenen Beziehung
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Zwar werden einige dieser Probleme im Verlauf angesprochen. Da der Fokus hier nicht auf der Kolonialgeschichte Kanadas, sondern auf der Kulturgeschichte und gastronomischen Professionalisierung indigener Ernährungskulturen liegt, wird auf diesbezügliche Problemfelder nur soweit eingegangen, wie dies im Hinblick auf Validität und Vollständigkeit der Darstellungen notwendig ist. Für Arbeiten, die sich explizit mit der Kolonialgeschichte Kanadas und zeitgenössischen Dekolonialisierungsdiskursen befassen und die aufgrund ihres Detailreichtums einen hinreichenden Überblick über relevante Personen, Schauplätze, Ereignisse und Literatur geben, siehe beispielhaft Christoph Brackens The Potlatch Papers. A Colonial Case History (1997) und Glen S. Coulthards Red Skin, White Masks. Rejecting the Colonial Politics of Recognition (2014).
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von indigener und nicht-indigener Bevölkerung charakteristisch. Die Frage ist jedoch, welche Öffentlichkeit mit dieser Kritik konfrontiert wird – bzw. sich konfrontieren lässt. Wen erreicht sie? Wer besucht Museen und Galerien mit moderner Kunst? Wer erscheint zur Eröffnung eines neuen Denkmals zum Gedenken der Opfer des Residential School Systems? Wer nimmt an einer Freiluft-Performance in den Straßen von Vancouvers Downtown Eastside teil, die auf die hunderten indigenen Frauen aufmerksam macht, die in den letzten Jahrzehnten verschwunden sind oder im öffentlichen Raum Opfer von sexueller Gewalt wurden? Wer kommt zu Auftritten indigener Stand-up Comedians, die sich auf selbstironische Art und Weise mit »Indianer«-Stereotypen und dem Verlust territorialer, politischer und kultureller Souveränität auseinandersetzen und dabei kein einziges gutes Haar an der Siedlergesellschaft (oder Europäer*innen im Allgemeinen) lassen? Salopp gesagt, rennen diese Formen der Kritik und des Sichtbarmachens bei ihrem meist bestens informierten Publikum offene Türen ein. Der entscheidende Punkt ist, dass diese Kritik (als Form des Sichtbarmachens) nicht nur den Großteil der nicht-indigenen Mehrheitsgesellschaft nicht erreicht, sondern dass darüber hinaus diejenigen Aspekte aus dem Blickfeld geraten, welche direkte Einblicke in die Alltäglichkeit indigener Lebenswelten geben und so gängige Imaginationen von Indigenität und indigenen Lebenswelten (also auch Ernährungskulturen) nachhaltig unterlaufen könnten. Im Fall indigener Gastronomie, so die Annahme, verhält sich dies jedoch anders. Zwar gibt es Köch*innen und kulinarische Veranstaltungen, die indigenes Kochen und Essen als Medium einer expliziten Auseinandersetzung mit der kolonialen Geschichte und Gegenwart Kanadas instrumentalisieren. Wie weiter unten gezeigt wird, versucht der weitaus größere Teil indigener Köch*innen und Gastronom*innen jedoch nicht – oder zumindest nicht explizit – anti-koloniale Kritik zu formulieren oder öffentliche Diskurse anzustoßen. Sie verkaufen Essen. Und zwar solches, das Teile ihrer eigenen Lebenswelt bzw. zentrale Elemente zeitgenössischer indigener Ernährungskulturen reflektiert – d.h. Lebenswelten und Ernährungskulturen, die aufgrund kontinuierlicher, kulturimmanenter Ausdifferenzierungs- und Diversifizierungsprozesse (die bis in die Zeit vor dem Kontakt mit europäischen Entdeckern zurückreichen) durch eine irreduzible Diversität charakterisiert sind, die (wie weiter unten argumentiert wird) kulturelle Außenseiter irritiert und (gesetzt den Fall eines kontinuierlichen direkten Kontakts) auf diese Weise zum Nachdenken anregen kann. Anstelle der Rekonstruktion – bzw. der Reproduktion geläufiger Imaginationen – einer Vergangenheit, die ihrem eigenen Alltag ferner wäre als salmon burger, fried bologna sandwich, Tex-Mex, Kraft Dinner etc., rückt der Großteil zeitgenössischer indigener Köch*innen und Gastronom*innen eben diese kulinarischen Charakteristika indigener Alltagskultur und damit einen selbstbewussten Umgang mit der eigenen (Ernährungs-)Kultur in das Zentrum ihres Küchenprofils – also genau solche
Einleitung
Elemente (Gerichte, Kochtechniken und Zutaten), die am deutlichsten jene kontinuierlichen Ausdifferenzierungs- und Diversifizierungsprozesse widerspiegeln. Dabei darf nicht unerwähnt bleiben, dass das Küchenprofil dieser Köch*innen und Gastronom*innen – aufgrund einer gewissen Ähnlichkeit mit zentralen Charakteristika des kanadischen kulinarischen Mainstream bzw. mit einer industrial mass diet (Winson 2013) – zugleich den Geschmack nicht-indigener Kanadier trifft. Im Kontext der allgemein bekannten nordamerikanischen Tendenz zum auswärts Essen (Mintz 2005) und der nicht minder verbreiteten Vorliebe für Ethnorestaurants aller Art (Ray 2016, Heldke 2001), bietet indigene Gastronomie letztlich, so die Annahme, einen nicht-intellektuellen, nicht-privilegierten, nicht-politischen, kurzum: einen niedrigschwelligen Raum kultureller Vermittlung, in dem Vertreter*innen der nicht-indigenen Bevölkerung mit der Historizität und vielschichtigen Diversität indigener Lebenswelten in direkten Kontakt kommen können. Der Punkt ist, indem indigene Gastronomie nicht-indigene Erwartungshaltungen mit zentralen Elementen der lebensweltlichen Realität der indigenen Bevölkerung im Kanada des 21. Jahrhunderts konfrontiert, werden erstens etwaige pejorative, idealisierende oder auch nivellierende Imaginationen von Indigenität einem Stresstest ausgesetzt, wodurch zweitens die gastronomische Professionalisierung indigener Ernährungskulturen einen wichtigen Beitrag zur Re-Imagination von Indigenität und damit zum Unterlaufen jenes Ineinandergreifens von Marginalisierung und Imagination leisten kann. Zusammenfassend lautet die These, wie sie in der abschließenden Diskussion im letzten Teil dieser Arbeit erörtert wird, deshalb: Indigene Gastronomie konstituiert niedrigschwellige Räume kultureller Vermittlung, in denen die konfliktarme Konfrontation tradierter Imagination indigener Ernährungskulturen sowie von Indigenität im Allgemeinen mit der Historizität und Diversität indigener Alltagskultur entsprechende Re-Imaginationen indigener Ernährungskulturen und Indigenität evozieren kann. Vor dem Hintergrund der Annahme eines konstitutiven Ineinandergreifens von einerseits der Marginalisierung und andererseits der Imagination indigener Lebenswelten in British Columbia und anderen Teilen Kanadas birgt der Prozess indigener gastronomischer Professionalisierung demnach das Potential, den selbsterhaltenden Kreislauf von Marginalisierung und Imagination zu unterlaufen. In formaler Hinsicht sind die folgenden Darstellungen zur Kulturgeschichte und gastronomischen Professionalisierung indigener Ernährungskulturen sowie die abschließende Diskussion der vorgestellten These in drei Teile gegliedert. Die beiden ersten Teile befassen sich mit den zwei Leitmotiven meiner Auseinandersetzung mit indigenen Ernährungskulturen – gemeint ist erstens die Kulturgeschichte und zweitens die gastronomische Professionalisierung indigener Ernährungskulturen in British Columbia. Der 1. Teil skizziert entsprechend zunächst die Grundzüge einer Kulturgeschichte indigener Ernährungskulturen in British
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Columbia vom ersten Kontakt mit europäischen Seefahrern in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Hierzu gehört zum einen ein Einblick in die Geschichte des Kulturkontakts an der Nordwestküste und damit ein umfassenderes Verständnis der Umstände und Natur der (kulinarischen) Einflüsse, welche die indigenen Ernährungskulturen seit den Anfängen des Austauschs zwischen der indigenen Bevölkerung bzw. den Coastal First Peoples und Europäern geprägt haben. Zum anderen legt eine Darstellung der zentralen Charakteristika der historischen indigenen Ernährungskulturen den Grundstein für die Beschreibung und Diskussion sowohl der stattgefundenen Veränderungen als auch des Status quo zeitgenössischer indigener Ernährungsweisen. Die Darstellungen im 2. Teil rücken anschließend jenes bislang unterrepräsentierte Kapitel der Kulturgeschichte indigener Ernährungskulturen in British Columbia in den Mittelpunkt der Betrachtung: Die gastronomische Professionalisierung indigener Ernährungskulturen. Zu diesem Zweck wird zunächst das Forschungsfeld indigener Gastronomie methodisch abgesteckt. Darauf folgt ein Abriss der Geschichte indigener Gastronomie in British Columbia mittels der ausführlichen Besprechung sechs signifikanter Beispiele gastronomischer Betriebe, die zugleich die Diversität des gesamten Spektrums (von Fine Dining bis Foodtruck) indigener Gastronomie verdeutlichen. Um diese kurze Geschichte indigener Gastronomie in British Columbia hinreichend zu kontextualisieren, wird anschließend der regionale Fokus der Diskussion erweitert und der überregionale (gesamtkanadische) Prozess indigener gastronomischer Professionalisierung in den Blick genommen. Die Teilnahme einer Mannschaft indigener Köch*innen aus verschiedenen Regionen Kanadas bei der Internationalen Kochkunst-Ausstellung (IKA) 1992 in Frankfurt a.M. dient hierbei als leitendes Narrativ. Insgesamt verdeutlicht die Auseinandersetzung mit dem (überregionalen) Prozess indigener gastronomischer Professionalisierung das rasante Tempo, mit dem die Präsenz entsprechender gastronomischer Betriebe und damit gleichsam zeitgenössischer indigener Ernährungskulturen im öffentlichen Raum in British Columbia und anderen Teilen Kanadas zunimmt. Der 3. Teil Indigene Gastronomie und die kanadische gastroscape greift eben diese Feststellung der zunehmenden Präsenz auf und fragt nach der Rolle, die indigener Gastronomie in der kanadischen Gastronomie-Landschaft zukommt. Vor dem Hintergrund einer Positionierung im sich langsam etablierenden Diskurs im Hinblick auf die zwar zunehmende, jedoch nicht minder marginale Präsenz indigener Gastronomie am Anfang dieses dritten und letzten Teils sowie der darauffolgenden Erörterung der Natur tradierter Imaginationen von Indigenität und einer Darlegung des diesbezüglichen selbsterhaltenden Kreislaufs der Marginalisierung und Imagination indigener Lebenswelten in Kanada, wird schließlich die erläuterte These zur Bedeutung indigener Gastronomie als niedrigschwelliger Raum kultureller Vermittlung diskutiert.
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Als Ganzes stellt dieses Buch den Versuch dar, jene Lücke in der kulturwissenschaftlichen Forschung und Literatur zur Nordwestküste (bzw. zum indigenen Kanada im Allgemeinen) dadurch zu schließen, dass der Prozess indigener gastronomischer Professionalisierung als jüngstes Kapitel der Kulturgeschichte indigener Ernährungskulturen ernst genommen und in der gebotenen Tiefe dargelegt und diskutiert wird. In Anbetracht dessen, dass insbesondere die kulinarischen Transformationsprozesse im Zusammenhang mit der Einführung und Verbreitung neuer Lebensmittel und Lebensmitteltechniken im Zuge des Kontakts mit der »Alten Welt« eine zentrale Rolle für die Kulturgeschichte indigener Ernährungskulturen in British Columbia und damit gleichsam für ein angemessenes Verständnis indigener Gastronomie spielen, fängt das erste Kapitel des folgenden ersten Teils ganz vorne an – nämlich mit einer kurzen Geschichte des Kulturkontakts in British Columbia.
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1. Teil: Grundzüge einer Kulturgeschichte indigener Ernährungskulturen in British Columbia
1.1
Eine kurze Geschichte des Kulturkontakts in British Columbia
Die Ankunft der ersten europäischen Seefahrer markiert zweifellos den Beginn eines neuen Kapitels der Kulturgeschichte der Coastal und Interior First Peoples im heutigen British Columbia. Die eklatanten Entwicklungen, die alle Bereiche indigener Lebenswelten im Zuge der Ära des Erstkontakts und der darauffolgenden Etablierung des Pelzhandels durchlaufen haben, sind so zahlreich, dass jeder Versuch hier eine angemessene Zusammenfassung davon zu geben, vergebens wäre. Insgesamt lässt sich allein festhalten, dass sich die zeitgenössischen Lebensweisen der indigenen Bevölkerung in British Columbia auf einen ersten, flüchtigen Blick in weiten Teilen kaum vom konsumgesellschaftlichen Mainstream der nicht-indigenen Mehrheitsgesellschaft unterscheiden lassen. In diesem Kapitel geht es nun darum, ein differenziertes Bild von den historischen Gegebenheiten zu skizzieren, aus denen die zeitgenössischen indigenen Lebensweisen hervorgehen. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Auseinandersetzung mit charakteristischen Narrativen, die die Rezeptionsgeschichte dieser Entwicklungen bzw. der Kulturgeschichte der indigenen Gesellschaften in British Columbia und im Speziellen im Bezug auf die Coastal First Peoples geprägt haben. Ziel ist es, damit den Grundstein für ein adäquates Verständnis kulinarischer Transformationsprozesse zu legen, wie sie im darauffolgenden Kapitel 1.2. Ernährungskulturen der Coastal First Peoples erläutert werden. Gemeint ist ein Verständnis, das über das eindimensionale Bild der Europäisierung bzw. Amerikanisierung indigener (Ernährungs-)Kulturen hinausgeht. Dementsprechend nimmt das Kapitel 1.1.1. Erstkontakt und Pelzhandel: Indigene und nicht-indigene Entdecker und Händler seinen Ausgang in der Frage nach dem tatsächlich ersten Kontakt der Coastal First Peoples mit Europäern – und damit sowohl nach dem Beginn transaktionaler Beziehungen mit europäischen Seefahrern und Handelsreisenden als auch dem Ursprung europäischer kulinarischer Einflüsse. Im Zentrum der Darstellungen steht dabei die Konfrontation des »old stereotype of the avaricious trader stealing Indian furs for a few trinkets« (Fisher 1992a: 4) bzw. des Narrativs europäischer Hegemonie im Hinblick auf das Verhältnis und
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die Interaktion von indigener Bevölkerung und Europäern in der Ära des Erstkontakts und des späteren Pelzhandels mit der historischen Realität, wie sie in den Berichten früher europäischer Reisender und Händler dargestellt wird. Entgegen der einseitigen Interpretation der transformativen Effekte des Kulturkontakts und der Etablierung des Pelzhandels für die indigenen Kulturen der Nordwestküste wird gezeigt, dass die Prozesse der sozialen, kulturellen, ökonomischen und auch kulinarischen Diversifizierung und Ausdifferenzierung, als die sich der Wandel indigener Lebenswelten seit der Ära des Erstkontakts beschreiben lässt, den indigenen Lebenswelten nicht fremd, sondern eigen waren – in den Worten von Turner: »If there is one overriding theme extending over time and space for human survival in this vast region, it is change – and adaption to change.« (Turner 2005: 14) Insgesamt erscheint der Moment des Kulturkontakts und der anschließende Wandel indigener Lebenswelten damit weniger als radikaler Bruch einer (prä-)historischen1 Kontinuität indigener (Ernährungs-)Kulturen, denn als ein im Wesentlichen beschleunigendes Moment kulturimmanenter Diversifizierungs- und Ausdifferenzierungsprozesse. Das anschließende Kapitel 1.1.2. Im Schlaraffenland? Zum Überfluss an der Nordwestküste stellt ein weiteres prominentes Narrativ zur Diskussion: die Betonung des natürlichen Überflusses an der Nordwestküste im Zusammenhang mit der etablierten Beschreibung der Coastal First Peoples als Jäger-Sammler Gesellschaften. Während sich die Ressourcenvielfalt und die (saisonale) Üppigkeit, in der einige Nahrungsmittel an der Nordwestküste vorkommen (oder vorkamen), nicht von der Hand weisen lässt, verdeutlicht die Darstellung historischer indigener Subsistenzstrategien in diesem Kapitel den anthropogenen Ursprung der Verfügbarkeit dieser Ressourcen. Im Zentrum der Darstellung steht dabei das für die (historischen) indigenen Ernährungsweisen konstitutive Ineinandergreifen von indigenen Territorien, Ernährungsweisen und soziokultureller Kohäsion. Mit dem letzten Kapitel 1.1.3. Die siedlerkoloniale Wende und »Modification of the Attitudes« in British Columbia erreicht diese kurze Geschichte des Kulturkontakts in British Columbia den Moment der kolonialen Besiedlung der Nordwestküste in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Wie deutlich wird, manifestiert sich in dieser siedlerkolonialen Wende zugleich eine Kehrtwende des Verhältnisses von indigener Bevölkerung und Europäern. Ein wesentlicher Teil dieser Kehrtwende besteht dabei in der einhergehenden Stereotypisierung von Indigenität, die bis heute öffentliche Diskurse im Zusammenhang mit der indigenen Bevölkerung in British Columbia und anderen Teilen Kanadas prägt und die auch im Hinblick auf ein angemessenes Verständnis sowohl der historischen als auch der fortlaufenden Diversifizierung und Ausdifferenzierung indigener Ernährungskulturen eine zentrale Rolle spielt.
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Im Sinn von »vor dem Beginn europäischer Geschichtsschreibung« an der Nordwestküste.
1. Teil: Grundzüge einer Kulturgeschichte indigener Ernährungskulturen in British Columbia
1.1.1
Erstkontakt und Pelzhandel: Indigene und nicht-indigene Entdecker und Händler
Erstkontakt Das genaue Datum des ersten Kontakts mit europäischen Seefahrern ist ungewiss. Angeblich soll bereits 1592 der griechischstämmige Seefahrer Juan de Fuca unter spanischer Flagge die nach ihm benannte Juan-de-Fuca-Straße (der südwestliche Teil der heutigen Salish Sea) entdeckt und erkundet haben. Beweise gibt es dafür nicht.2 Tatsächlich könnte die erste Begegnung erst rund 150 Jahre später stattgefunden haben. Im Zuge der zweiten Kamtschatkaexpedition segelten der Däne Vitus Bering und der Russe Alexei Tschirikow 1741 unter russischer Flagge von Petropawlowsk-Kamtschatski auf der Halbinsel Kamtschatka am östlichen Ende Russlands mit zwei Schiffen entlang der Aleuten bis in den Golf von Alaska. Während Bering selbst mit dem Mount St. Elias in Sichtweite umkehrte, gelang es Tschirikow, der Küste bis in die Region des Alexanderarchipels vor der Küste Südostalaskas zu folgen (Erwin 1984: 6-7). Dort entsendete Tschirikow einen Teil seiner Besatzung in einem Beiboot zur Erkundung an Land. Als diese auch nach sechs Tagen noch nicht zurückgekehrt waren, entsendete er eine zweite Gruppe, die ebenfalls verschollen blieb (Golder 1922: 292-297, 311). Die Vermutung liegt nahe, dass Tschirikows Besatzung auf dort ansässige Tlingit gestoßen ist (Suttles 1990: 70). Was dann jedoch passierte, konnte nie aufgeklärt werden (Golder 1922: 311). Der erste nachweislich dokumentierte Kontakt zwischen Europäern und der indigenen Bevölkerung der Nordwestküste fand schließlich im Juli 1774 statt: Der spanische Kapitän Juan José Pérez Hernández (im Folgenden in der gängigen Kurzform als Juan Pérez) hatte vom damaligen Vizekönig Neuspaniens, Antonio María de Bucareli y Ursúa, den Auftrag erhalten, der Nordwestküste bis 60° Nord3 zu folgen (Griffin und Crespi 1891: 185), um nach russischen Handelsposten Ausschau zu halten, von denen die Spanier gehört hatten (Beals 1989: 24-25; Suttles 1990: 70). Ziel war es, Landansprüche der spanischen Krone geltend zu machen. So weit nördlich sollte Pérez im Zuge seiner durch schlechtes Wetter und dichten Nebel erschwerten
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Es spricht sogar einiges dagegen. Weder stimmen de Fucas geografische Koordinaten für die Mündung der Meerenge zwischen Vancouver Island und der Olympic-Halbinsel noch decken sich seine Beschreibungen der Landschaft mit den Gegebenheiten entlang der Küsten der Salish Sea. Hinzu kommt, dass es keinen eigenen Bericht von de Fuca gibt. Es existiert lediglich eine Nacherzählung von de Fucas Darstellung, wie er sie dem englischen Handelsreisenden Michael Lok (auch als Michael Locke bekannt) erzählt haben soll. Siehe hierzu Loks Nacherzählung in Purchas (1906: 416-417). Für eine Zusammenfassung der Argumente bezüglich der Zweifelhaftigkeit von de Fucas Entdeckung (und Reise) siehe Scholefield (1914: 22-30). Das entspricht in etwa dem Ort, an dem Bering umkehrte – nämlich am nordwestlichen Ende des Alaska Panhandle, auf der Höhe des Mount S. Elias und einem Sund, der heute den Namen Icy Bay trägt.
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Reise mit der Santiago nie kommen. Aus Pérez’ Tagebuch und den Reiseberichten der Franziskaner Juan Crespi und Thomás de la Peña, die Pérez begleiteten, kann man hingegen entnehmen, dass sich erst auf der Höhe von Langara Island, eine Insel am nordwestlichen Ende von Haida Gwaii, der Nebel soweit und lang genug lichtete, dass sich die Santiago der Küste nähern konnte. Am Mittwoch den 20. Juli 1774 kam es infolgedessen zu einem ersten direkten und lebhaft dokumentierten Kontakt mit der indigenen Bevölkerung (Beals 1989: 75-79; Griffin und Crespi 1891: 187-189; Griffin und Peña 1891: 121-122): »[W]e saw bonfires on the land, and presently there came to us a canoe with nine men in it. This canoe drew near to the vessel, the pagans in it singing; but they would not come near enough for us to communicate by means of signs. Having followed us for some time, they returned to the land. About five o’clock this canoe, and another in which there were six pagans, caught up with us, both drawing up to our stern. The Captain made them a present of some strings of beads and they gave us some dried fish.« (Griffin und Peña 1891: 121-122) Es blieb nicht bei diesem ersten Austausch. Am nächsten Tag näherten sich der Santiago einundzwanzig Einbäume mit insgesamt knapp zweihundert Männern, Frauen und Kindern an Bord: »They drew close to the ship, surrounding her on all sides, and presently there began between them and our people a traffic, and we soon knew that they had come for the purpose of bartering their effects for ours.« (Griffin und Crespi 1891: 191)4 Peña hebt darüber hinaus den expliziten Charakter indigener Nachfrage im Zuge dieser ersten Handelskontakte hervor: »It was apparent that what they liked most were things made of iron; but they wanted large pieces with a cutting edge, such as swords, wood-knives and the like – for, on being shown ribands they intimated that these were of trifling value, and, when offered rice from the barrel, they signified that this had no edge.« (Griffin und Peña 1891: 122-123) Schlechtes Wetter, Wind, Strömungen und dichter Nebel führte dazu, dass Pérez weder die Position halten noch weiter der Küste in nördlicher Richtung folgen konnte, weshalb er schließlich Segel Richtung Südsüdost setzen ließ. Am 8. August desselben Jahres warf Pérez dann vor der Westküste von Vancouver Island bei 49° Nord Anker. Bei dem Ort, den Pérez Surgidero de San Lorenzo taufte, handelte 4
Für weitere Details zu diesem ersten dokumentierten Austausch zwischen Europäern und der indigenen Bevölkerung siehe die vollständigen Darstellungen in Beals (1989: 75-79), Griffin und Peña (1891: 121-123) und Griffin und Crespi (1891: 191-192).
1. Teil: Grundzüge einer Kulturgeschichte indigener Ernährungskulturen in British Columbia
es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um einen Sund, der heute als Nootka Sound bekannt ist (Beals 1989: 88). Pérez und die Besatzung der Santiago gingen auch hier nicht an Land. Die ansässige indigene Bevölkerung kam ihnen erneut zuvor: »At daybreak we set about getting the long-boat into the water, in order to go ashore to plant the holy cross. While thus engaged we saw fifteen canoes leaving the land; in a short time they had come near to us, and we saw that there were about a hundred men, and some, though not many, women in them. They […] came near and began to trade with what they had in their canoes, which consisted only of skins of otters and other animals unknown to us, and some hats made of reeds […].« (Griffin und Crespi 1891: 201-203)5 Aufgrund von anhaltend schwierigen Wetterbedingungen und Problemen mit der Versorgung mit frischem Wasser und Vorräten verließ Pérez Nootka Sound bereits nach wenigen Tagen in Richtung San Blas, Mexiko – dem Heimathafen der Santiago (Pethik 1980: 8-9). Nur vier Jahre später, im März 1778, warf James Cook auf seiner dritten Reise mit der Resolution Anker im Nootka Sound, wo er für Reparaturarbeiten und das Auffüllen der Vorräte knapp einen Monat blieb. Wie bereits Pérez betrieb die Besatzung während dieser Zeit regen Handel mit Vertreter*innen der indigenen Bevölkerung, die zur Resolution kamen, um Pelze und indigene Lebensmittel wie getrockneten Fisch und Fischöl gegen europäische Waren einzutauschen. Darunter waren auch Pelze von Seeottern. Mit der posthumen Veröffentlichung von Cooks offiziellem Bericht zu seiner dritten Reise (1776-1780) im Jahr 1784 wurden in Europa schließlich die Gerüchte bestätigt, dass die glänzenden Seeotterfelle in China mit hohem Gewinn weiterverkauft werden konnten (Pethik 1980: 12). Bereits im darauffolgenden Jahr, im August 1785, erreichte der Brite James Hanna mit der Sea Otter die Gewässer des Nootka Sound (Pierce 1979). Dies war der Beginn des berühmten maritimen Pelzhandels (maritime fur trade) an der Nordwestküste6 und einer knapp zwanzig Jahre währenden Periode, in der Nootka Sound zu
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Hierzu existiert die Geschichte, dass, beabsichtigt oder nicht, ein paar spanische Silberlöffel in die Hände der indigenen Händler*innen geraten sein sollen. Kapitän James Cook, der wenig später in der gleichen Region ankam, soll diese Löffel gesehen und anhand dieser erkannt haben, dass dort bereits Spanier Handel betrieben hatten (Krause 1885: 21). In Crespis und Peñas ansonsten – vor allem in Bezug auf konkrete Kontaktsituationen – sehr detaillierten Tagebüchern ist jedoch nichts über den Handel mit oder auch den Diebstahl von Silberlöffeln zu finden. Es gäbe eine ganze Reihe von Entdeckern und frühen Handelsreisenden, die hier Erwähnung finden könnten oder müssten – beispielweise George Dixon und Nathaniel Portlock (17851788), John Kendrick (1787-1790), John Meares (1788) und einige andere. Für eine chronologische Liste der Handelsschiffe, die zwischen 1785 und 1825 die Nordwestküste bereist haben siehe Howay (1973).
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einem internationalen Handelszentrum und Austragungsort politischer und kriegerischer Querelen der europäischen Mächte wurde, die vor allem um die ökonomische Vorherrschaft über das westliche Ende der »Neuen Welt kämpften«.7 Dabei gilt die Handelssaison im Sommer 1792, während der gleichzeitig einundzwanzig Handelsschiffe8 an den Küsten des heutigen British Columbia verkehrten, als Beginn der von 1792-1812 andauernden Hochkonjunktur des maritimen Pelzhandels (Fisher 1992a: 2, 1996: 125), an den sich ab 1793 mit der Erschließung der Nordwestküste über den Landweg durch Alexander Mackenzie die Etablierung des landbasierten Pelzhandels anschloss (Drucker 1963: 31).
Bilaterale Verhältnisse In unzähligen Darstellungen des Erstkontakts mit europäischen Entdeckern sowie dem maritimen und später landbasierten Pelzhandel erscheint die indigene Bevölkerung meist in der Opferrolle. Als naive, unerfahrene Händler und im Fall etwaiger Kampfhandlungen unterlegene Zivilbevölkerung seien sie unfreiwillig in unilaterale, hegemoniale Handelsstrukturen und eine völlig fremde Handelskultur und Logik gezwungen worden, was schließlich zur Regression der indigenen Kulturen an der Nordwestküste geführt habe. Epidemien eingeschleppter Krankheiten und die Einführung von Feuerwaffen hätte diese soziokulturelle Abwärtsspirale der indigenen Gesellschaften bis zu einem Punkt fortgesetzt, an dem die Nordwestküste sowohl nahezu entvölkert als auch nachhaltig dekulturalisiert wurde. Wie der Historiker Robin Fisher in Contact and Conflict. Indian-European Relations in British Columbia, 1774-1890 ([1977] 1992a) im Detail aufzeigt, handelt es sich bei dieser Darstellung der frühen Geschichte des Kulturkontakts und des Verhältnisses zwischen indigener Bevölkerung und nicht-indigenen Neuankömmlingen um eine einseitig überspitzte Interpretation der historischen Quellen. Die indigene Bevölkerung wird im Zuge dessen in die Rolle passiver und geschichtsloser Statisten dieser Ära und der darauffolgenden Siedlungsgeschichte des heutigen British Columbia gedrängt. Der Austausch zwischen europäischen Händlern und der indigenen Bevölkerung erscheint dabei meist als »a trade in which gullible Indians where exploited by avaricious and unprincipled European traders.« (Fisher 1992a: 1) Wie die Berichte von Pérez, Crespi, Peña und anderen frühen europäischen Reisenden anschaulich zeigen, waren es im Zuge der frühen Kontaktsituationen jedoch vor allem die Vertreter*innen der indigenen Bevölkerung, die den Austausch
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Sie hierzu Derek Pethicks (1980) detailreiche Rekonstruktion der Klimax dieser Periode. Über die Hälfte davon segelten unter britischer Flagge. Nach 1801 wurde der maritime Pelzhandel von amerikanischen Handelsschiffen, die primär aus Boston (Massachusetts) stammten, dominiert (Fisher 1992a: 3).
1. Teil: Grundzüge einer Kulturgeschichte indigener Ernährungskulturen in British Columbia
von (Handels-)Gütern forcierten9 und dabei sehr konkrete Bedürfnisse formulierten. Wie aus den Berichten von bspw. Pérez, Crespi, Peña und Cook hervorgeht, hatten indigene Händler vor allem in den ersten Jahren ein großes Interesse an Eisen und Kupfer sowie allerlei Gegenständen aus Metall.10 Diese sehr konkreten Bedürfnisse konstituierten eine spezifische Nachfrage, der die europäischen und amerikanischen Pelzhändler gerecht werden mussten, um an die Pelze und anderen Handelsgüter der indigenen Händler gelangen zu können – womit die indigene Bevölkerung letztlich nachhaltigen Einfluss auf das Verhältnis zu den europäischen Neuankömmlingen nehmen konnte. »It was, after all, Indian demands that had to be satisfied before sea otter pelts exchanged hands.« (Fisher 1992a: 4) Entsprechend fasst auch Pérez zusammen: »From what has been experienced with them, they are very adept at trading and commerce, judging by briskness with which they dealt with us, and because before they would give trifles they had to hold those things they wanted in their hands, examining them and satisfying their fancy with a look. If pleased with them they ask for more, making it clear that without giving more, they will not pay.« (Beals 1989: 77)11 Fisher widerspricht zudem Darstellungen, nach denen die indigene Nachfrage nach bestimmten Gütern intuitiv und sprunghaft gewesen sei. Er zeigt stattdessen, dass der Wechsel von bspw. der hohen Nachfrage nach Eisen, Kupfer und Musketen hin zu Stoffen, Kleidung und später den berühmt-berüchtigten Decken der Hudson’s Bay Company mit der Sättigung indigener Märkte zusammenhing (Fisher 1992a: 6-9; außerdem Cole und Darling 1990: 120-123). Dabei mussten die europäischen Händler ihre Handelsgüter und -strategien nicht nur an der indigenen Nachfrage ausrichten. Europäische Händler waren geradezu erschrocken von den merkantilen Fähigkeiten der indigenen Händler und dem sehr differenzierten
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Fisher erwähnt in diesem Zusammenhang die Berichte von Dixon, in denen das genuine indigene Interesse am Handel mit Pelzen, um europäische Güter zu erstehen, geradezu überzeichnet erscheint: »[T]he Indians were falling over each other to trade their cloaks and furs: ›they fairly quarrelled with each other about which should sell his cloak first; and some actually threw their furs on board if nobody was at hand to receive them.‹« (Dixon in Fisher 1992a: 3) Der deutsch-polnische Naturwissenschaftler und Ethnologe Aurel Krause, der Ende des 19. Jahrhunderts (1881-1882) das Territorium der Tlingit im Gebiet des Alaska Panhandle bereiste, hält hierzu fest: »Als sich […] die Gelegenheit zum Eintausch europäischer Waren bot, ergriffen sie dieselbe […] auf das begierigste.« (Krause 1885: 184) »Like the explorers, the early fur traders found that the coast Indians were most partial to iron.« (Fisher 1992a: 5) Siehe hierzu außerdem Beals (1989: 78), Griffin und Peña (1891: 123), Griffin und Crespi (1891: 192), Krause 1885: 21, 184). Zur indigenen Einflussnahme auf den Pelzhandel siehe außerdem Cole und Darling (1990: 119-125).
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Verständnis ihrer Monopolstellung in Hinsicht auf Preisbildungsprozesse (Krause 1885: 187). Kapitän John Meares etwa berichtete, von anderen Handelsreisenden gewarnt worden zu sein: »[I]t appears that the natives are such intelligent traders, that should you be in the least degree lavish, or inattentive in forming bargains, they will so enhance the value of their furs, as not only to exhaust your present stock, but also to injure, if not to ruin, any future adventure.« (Meares nach Fisher 1992a: 5) Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass die Preise für Seeotterpelze aber auch andere indigene Waren, wie bspw. Lebensmittel, kontinuierlich und seit den frühen 1790er Jahren rapide stiegen (Fisher 1992a: 5-6, 1996: 130, Cole und Darling 1990: 123124) – und zwar ohne dass Seeotterpelze aufgrund bestandsgefährdender Jagd zur Mangelware geworden wären (Fisher 1992b: 282). Die Handelsreisen waren demzufolge ökonomisch riskante Unternehmungen, bei denen sich die Händler neben der indigenen Nachfrage und den indigenen Preisen außerdem – und nicht zuletzt – auch nach der indigenen Etikette richten mussten (Thrush 2011: 10-13). Denn die Beleidigung oder Beschämung eines indigenen Händlers, die ihrerseits meist gesellschaftlich hochrangige Persönlichkeiten waren, durch Verletzung indigener Etikette oder Verhaltenskodizes würde jedwede Handelsbestrebungen, wegen denen die Händler tausende von Seemeilen auf sich genommen hatte, zunichtemachen. Zudem konnten sich nicht-indigene Händler sicher sein, dass das nächste Schiff kommen und den Handel eventuell eingehen und man selbst (der nichtindigene Händler) entsprechend leer ausgehen würde. Diese Situation konkurrierender Käuferinteressen der europäischen, amerikanischen und auch russischen Pelzhändler bot indigenen Anbieter*innen reichlich Gelegenheit zur Preismanipulation12 und der Kontrolle von Handelsbeziehungen. Von einem klaren, einseitig bestimmten Verhältnis, in dem dominante Europäer ihren indigenen Handelspartnern den eigenen Willen aufzwangen, kann folglich kaum die Rede sein. Wobei in diesem Zusammenhang gerne darauf verwiesen wird, dass es sich für die indigene Bevölkerung letztlich doch um ein bargain at gunpoint gehandelt habe. Fisher hält dem entgegen, dass, vergleicht man die verfügbaren Waffen13 , körperliche Kon12
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Kapitän Richard J. Cleveland hält hierzu fest: »[T]he Indians are sufficiently cunning to derive all possible advantage from competition, and will go from one vessel to another, and back again, with assertion of offers made to them, which have no foundation in truth, and showing themselves to be as well versed in the tricks of the trade as the greatest adepts.« (Cleveland nach Fisher 1992a: 9) Für die indigene Bevölkerung waren zwar die europäischen Handfeuerwaffen und großkalibrige Kanonen etc. neu, nicht jedoch das Prinzip von Projektil-Waffen. Wobei die indigenen Projektil-Waffen (siehe Boas 1909: 512-515) handlicher, präziser, einfacher zu handhaben, effizienter und im feuchten Klima der Nordwestküste zuverlässiger waren, als die damaligen Feuerwaffen der Europäer (Fischer 1992a: 16).
1. Teil: Grundzüge einer Kulturgeschichte indigener Ernährungskulturen in British Columbia
stitution14 und das Wissen um die natürlichen Gegebenheiten der Region, die europäischen Handelsschiffe und ihre Besatzungen selbst in kriegerischer Hinsicht keine wirkliche Gefahr für die indigenen Bevölkerung darstellten. Es sei vielmehr bemerkenswert, dass es nicht öfter zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den europäischen Händlern und der indigenen Bevölkerung; genauer gesagt, zu Raubüberfällen und Plünderung europäischer Handelsschiffe kam (Fisher 1992a: 12-17). Wie aus John R. Jewitts ([1815] 1987) Bericht aus seiner Zeit als Gefangener von Mukw ina (auch bekannt als Maquinna) – Häuptling der Mowachaht-Muchalaht First Nations, die zu den Nuu-chah-nulth an der Westküste von Vancouver Island zählen – zu Beginn des 19. Jahrhunderts hervorgeht15 , war man sich aufseiten der indigenen Bevölkerung der möglichen geschäftsschädigenden Folgen gewalttätiger Auseinandersetzungen und Überfälle durchaus bewusst. Am deutlichsten wird dies an der Kritik, die aus den eigenen Reihen wie auch von Häuptlingen anderer Gruppen gegenüber Mukw ina und dessen Überfall auf die Boston im Frühjahr 1803 geäußert wurde (vgl. Jewitt 1987: 36, 80, 90).16 Zusammenfassend kann man sagen, dass das Verhältnis von indigener Bevölkerung und nicht-indigenen Neuankömmlingen eher als bilateral, denn als einseitig hegemonial verstanden werden muss. Der entscheidende Punkt ist, dass eine gewisse Kontrolle (von indigener Seite) über die Handelsbeziehungen einer verhältnismäßigen Kontrolle damaliger Machtverhältnisse zwischen indigener Bevölkerung und europäischen Entdeckern und Händlern, und damit letztlich auch der Kontrolle über die eigene Kultur bzw. der Kontrolle europäischer Einflüsse im Zeitalter des Erstkontakts und maritimen Pelzhandels gleichkam. Fisher hält deshalb fest: »In fact, the Indians of the northwest coast exercised a great deal of control over the trading relationships and as a consequence, remained in control of their culture during this early contact period.« (Fisher 1992a: 1) Das Gleiche, d.h. eine gewisse Bilateralität und damit das Fortbestehen territorialer, ökonomischer, politischer und kultureller Souveränität, gilt nach Fisher auch für den landbasierten Pelzhandel im Anschluss an Alexander Mackenzies Eintreffen an der Nordwestküste 1793 über den Landweg. Die Geschichte der Etablierung erster permanenter Handelsposten im Gebiet des heutigen British Columbia
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Wie man sich leicht vorstellen kann, waren die Besatzungen europäischer Schiffe nach der langen Reise über den Pazifik von Skorbut und anderen Krankheiten geplagt. Thrush zitiert hierzu den spanisch-baskischen Seefahrer Bruno de Hezeta y Dudagoitia, der 1775 über seine an Skorbut erkrankte Mannschaft schrieb: »[they] were in no position to inflict injury but rather receive it.« (Hezeta nach Trush 2011: 4) Jewitt lebte Anfang des 19. Jahrhunderts für zwei Jahre (1803-05) bei den MowachahtMuchalaht First Nations. Sein später veröffentlichtes Tagebuch aus dieser Zeit ist einer der wenigen detaillierten Zeitzeugenberichte von Europäern, die in dieser Epoche an der Nordwestküste über einen längeren Zeitraum in indigenen Gemeinschaften gelebt haben. Jewitts und das Schicksal der Boston werden weiter unten thematisiert.
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durch die konkurrierenden Handelsunternehmen North West Company und Hudson’s Bay Company ist vielerorts im Detail beschrieben worden, weshalb an dieser Stelle nicht näher darauf eingegangen wird.17 Nicht zuletzt ist in diesem Zusammenhang die Tatsache entscheidend, dass sich selbst mit der Etablierung permanenter Handelsposten und der 1821 erfolgten Fusion der beiden Unternehmen unter dem Firmenbanner der Hudson’s Bay Company an der Natur der Beziehung zwischen indigenen Händlern und der Company, und damit auch an der Kontrolle der indigenen Bevölkerung in Hinsicht auf territoriale, ökonomische, politische und kulturelle Souveränität, wenig änderte. Vielmehr waren beide Parteien daran interessiert das reziproke Verhältnis des maritimen Pelzhandels fortzusetzen. Bildlich gesprochen, hatten beide Seiten wenig Interesse daran, den Ast abzusägen, auf dem sie saßen. Denn genau so, wie die europäischen Händler von den indigenen Händlern abhingen, von denen sie Pelze bekamen, benötigte die indigene Bevölkerung die europäischen Handelsposten, um an die begehrten europäischen Güter zu gelangen. Allerdings kam aufseiten der Company die Tatsache hinzu, dass die Handelsposten in vielen Fällen von der Versorgung mit Nahrungsmitteln durch die indigene Bevölkerung abhängig waren (Fisher 1992a: 34, Kuhnlein und Truner 1996: 12). Dementsprechend hatten weder die Pelzhändler noch die Company ein Interesse daran, die Beziehungen zu den indigenen Händlern unnötig zu belasten oder die Lebensweise der indigenen Bevölkerung und deren territoriale Ansprüche in Frage zu stellen. »[The] Indians retained almost unimpaired control over their territory. The fur trade had little interest in placing limitation on Indian land or in more than altering the emphasis of the traditional hunting, fishing, and gathering economy.« (Cole und Darling 1990: 133)18
Transformation und Disposition Natürlich lässt sich nicht von der Hand weisen, dass sich die Kulturen der Nordwestküste im Zuge kultureller und materieller Einflüsse veränderten. Wie etwa wenn ganze, semipermanente Siedlungen aufgegeben und in der Nähe eines Handelsknotenpunkts als permanente Siedlung neu etabliert wurden, um so direkter von den neuen ökonomischen Möglichkeiten profitieren zu können. Fisher betont
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Für überblicksartige Darstellungen siehe exemplarisch Drucker (1963: 30-33) und Fisher (1992a: 24-48). Krause hebt hierzu zudem ein Einfuhrverbot von Alkohol und Hinterladern hervor, das nicht nur die Europäer schützen (Hinterlader), sondern ebenso die Lebensweise der indigenen Bevölkerung (Alkohol) und damit die Handelsgrundlagen intakt halten sollte (Krause 1885: 189). Zur Bilateralität des Verhältnisses von indigener Bevölkerung und europäischen Neuankömmlingen siehe außerdem Spradley (1972: 272).
1. Teil: Grundzüge einer Kulturgeschichte indigener Ernährungskulturen in British Columbia
jedoch, dass der überwiegende Teil dieser Veränderungen das soziokulturelle Fundament der indigenen Bevölkerung unberührt ließ. Vielmehr seien diese Transformationsprozesse und Einflüsse mit kulturimmanenten Strukturen kongruent gewesen und hätten ohnehin gegebene Entwicklungstendenzen lediglich verstärkt und beschleunigt (Fisher 1992a: 17). Letztendlich stellte der Kontakt und der Umgang mit kulturell fremden Einflüssen weder für die Coastal noch für die Interior First Peoples ein wirkliches Novum dar. Schließlich gab es bereits lange vor dem Kontakt mit nicht-indigenen Seefahrern zwischen den einzelnen Gruppen etablierte und rege Handelsbeziehungen entlang der Küste und auch ins Landesinnere. Der deutsche Ethnologe Aurel Krause schreibt hierzu etwa: »Daß es sich aber nicht um neue Gewohnheiten handelte, daß dieser Handel sich in uralten Bahnen bewegte und vielleicht nur durch das Eingreifen der Europäer einen lebhaften Aufschwung erhalten hatte, erfahren wir aus den Berichten der Pelzhändler, welche die Eingeborenen mit allen Handelskünsten vertraut fanden.« (Krause 1885: 184-185)19 Dabei lässt es sich nur schwer vorstellen, dass diese ökonomischen Beziehungen nicht immer auch ein gewisses Maß kulturellen Austauschs bedeuteten. Im Grunde also vertraut mit dem Phänomen des Kontakts mit kultureller Andersartigkeit sowie der Andersartigkeit materieller Kultur, fiel der Umgang mit dem neuen Horizont an Möglichkeiten, den die Europäer an die Nordwestküste trugen, entsprechend gezielt, nutzenorientiert und selektiv aus. Neben der erwähnten expliziten Nachfrage nach bestimmten europäischen Gütern wie Metallen, Waffen und Textilien macht ein erster, flüchtiger Blick auf die indigenen Ernährungskulturen den selektiven Umgang mit fremden Einflüssen greifbar. Schließlich fanden bereits seit den ersten Kontakten mit europäischen Entdeckern Lebensmittel wie Melasse, Schiffszwieback, Mehl, Kartoffeln und Reis Eingang in die indigenen Ernährungskulturen20 , ohne diese jedoch grundlegend zu unterlaufen oder auch nur merkbar zu verändern. Ein Grund dafür scheint zu sein, dass sich einige dieser Produkte und womöglich auch Zubereitungsweisen ohne großen Widerstand in die Struktur der indigenen Ernährungskulturen einfügen ließen: Melasse war etwa dem bereits (wenn auch selten) verfügbaren Honig und den aus verschiedenen Bäumen und anderen Gewächsen gewonnen süßen Säften sehr ähnlich; Kartoffeln erinnerten stark an die essbaren Rhizome diverser heimischer Pflanzen; Schiffszwieback und Getreidemehl waren einfach zugängliche Quellen für sättigende Kohlenhydrate; Reis schließlich war vergleichbar mit einerseits dem, über ferne Handelsbeziehungen mit anderen indigenen Gruppen im In19 20
Zu den intertribalen Handelsbeziehungen der Prä-Kontakt-Ära siehe außerdem Drucker (1965: 109-111) oder Weiteres in Krause (1885: 183-185, 191-192). Siehe hierzu bspw. Drucker (1963: 31), Tennant (2016 passim) und Thrush (2011: 16).
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land erlangten, indigenen Wildreis und entsprach andererseits vom Aussehen her den reisartigen Bestandteilen des essbaren Rhizoms der Schatten-Schachblume.21 Dass nicht alles, was die Europäer feilboten, auch von indigenem Interesse war, wird darin deutlich, dass andere europäische Lebensmittel wie bspw. mit Salz konserviertes Fleisch und Fisch von indigener Seite her explizit abgelehnt wurden. Andere Beispiele für abgelehnte Lebensmittel wären Hühnerfleisch, Milchprodukte, Nudeln und Kohl sowie Knoblauch, Olivenöl, Essig und Gewürze (Thrush 2011: 16). Mindestens in diesem kulinarischen Kontext war es die indigene Bevölkerung selbst, die aus ihrer kulturellen Disposition heraus darüber entschied, was, in welcher Form und in welchem Ausmaß übernommen wurde. Entsprechende Transformationsprozesse erscheinen dabei mehr im Licht kultureller Diversifizierung oder Ausdifferenzierung denn als Symptom kultureller Regression oder gar der Europäisierung indigener Lebenswelten. Der Aspekt der Diversifizierung oder Ausdifferenzierung wird insbesondere am Beispiel der Potlatch-Feste und dem indigenen Kunsthandwerk deutlich. Im Hinblick auf Fishers Annahme, dass europäische Einflüsse und Transformationsprozesse im Zuge der Ära des Erstkontakts und dem anschließenden Pelzhandel gegebene Entwicklungstendenzen innerhalb der indigenen Lebenswelten verstärkten und beschleunigten, kann man bspw. festhalten, dass diese beiden Kulturmotive durch die neuen ökonomischen Möglichkeiten des Pelzhandels eine sowohl quantitative als auch qualitative Steigerung erfuhren. So wurden mit den neuen Reichtümern mehr und größere Potlatch-Feste veranstaltet. Zugleich wurde mehr und neuartiges Kunsthandwerk für den Eigengebrauch im Zusammenhang mit den vermehrten Potlatch-Festen wie auch für die Winterzeremonien und den Handel mit Europäern hergestellt. In der Summe führte diese quantitative Steigerung letztlich zur Ausdifferenzierung zeremonieller Ereignisse und Protokolle – und damit auch den damit zusammenfallenden soziokulturellen Strukturen – sowie zur Verfeinerung indigenen Kunsthandwerks im Allgemeinen. Den indigenen Umgang mit europäischen Einflüssen und die Art der stattgefundenen Transformationsprozesse zusammenfassend kommt Fisher zu dem Schluss: »The impact of the fur-trading frontier on their culture was creative rather than destructive.« (Fisher 1992a: 48)22 Im gleichen Ton halten die Anthropologen Douglas Cole und David Darling in einem Überblicksartikel über die frühe Periode des Erstkontakts und der Ära des Pelzhandels im Handbook of North American Indians. Northwest Coast (1990) fest: »Contact brought significant change to the Indians of the Northwest Coast. Resources that previously had had only a limited, domestic use suddenly became valuable commodities for export and sale; and new materials and technologies 21 22
Zu diesen und anderen Aspekten der historischen indigenen Ernährungskulturen siehe Kapitel 1.2.1. Siehe außerdem Spradley (1972: 272).
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were available. The new resource exploitation, the resulting wealth, and the new goods were incorporated and adapted into existing social and cultural patterns. Change, even enrichment, occurred, but it did not revolutionize Indian society or significantly lessen native autonomy.« (ebd.: 133, Hervorheb. S.R.S.)23 Genauso, wie das pejorative Rollenbild der indigenen Bevölkerung als gewissermaßen Prekariat24 der Ära des Erstkontakts und des Pelzhandels den historischen Tatsachen zu widersprechen scheint, kann man nicht behaupten, dass der Kontakt mit Entdeckern und Handelsreisenden ausschließlich Vorzüge für die indigenen Lebenswelten hatte. Bspw. führte der nachhaltige Einfluss des Pelzhandels auf die intra- und intertribale Verteilung von Wertgegenständen und Eigentum nicht selten zu blutigen Fehden. Ebenso erfuhr die ökonomische Bedeutung von Frauen innerhalb der indigenen Gesellschaften durch die Etablierung von Prostitution als lukrative Einnahmequelle eine wesentliche wie kontroverse Verschiebung.25 Cole und Darling (1990: 30) betonen darüber hinaus die Rolle von Prostitution im Zusammenhang mit der Verbreitung von Geschlechtskrankheiten und anderen Epidemien.26 Vor allem dieser letzte Punkt erinnert daran, dass es mindestens einen Aspekt dieser ersten Jahrzehnte des Austauschs und der Interaktion an der Nordwestküste gab, über den die indigene Bevölkerung keinerlei Kontrolle hatte: Das waren die Krankheiten, die die Europäer mit sich brachten. Ohne die geringste Immunität gegen Masern, Pocken, Grippe und eine Reihe von ungekannten Infektionskrankheiten, war die indigene Bevölkerung den stillen Begleitern der Pelzhändler und den verheerenden Epidemien, die diese entfachten, hilflos ausgeliefert. Das
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Vermutlich muss man hierzu kaum erwähnen, dass diese Charakteristika des Kulturkontakts (Diversifizierung und Ausdifferenzierung) sich nicht für gesamt Nordamerika vereinheitlichen lassen. Vielmehr stellen die Beziehungen der indigenen Bevölkerung der Nordwestküste zu europäischen Entdeckern und Handelsreisenden eine bemerkenswerte Ausnahme dar, weshalb auch Fisher nicht vergisst klarzustellen: »The florescence of art and ceremonial that occurred on the northwest coast was perhaps exceptional among North American Indian reactions to European contact.« (Fisher 1992a: 46) Der Begriff lehnt sich hier an Berthold Vogels Definition an, der diesbezüglich von einer »Unterschicht der Abgehängten und Aussichtslosen« spricht und deren Repräsentanten als »wohlfahrts- und sozialpolitisch behandlungsbedürftige Modernisierungsverlierer« (Vogel 2008: 14) beschreibt. Zur ökonomischen Rolle von Prostitution siehe Fisher (1992a: 19-20) und Cole und Darling (1990: 30). Während Fisher auch in diesem Zusammenhang hervorhebt, dass Prostitution für sich zunächst keinen zersetzenden Effekt auf die soziokulturellen Strukturen der indigenen Gesellschaften gehabt hätte (Fisher 1992a: 20), findet man indigene Stimmen aus dem ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, die dieser Behauptung explizit widersprechen und stattdessen die moralische Verwerflichkeit hervorheben, die mit der patriarchalen Utilisierung von Prostitution und Planheiraten als Einnahmequelle für Potlatch-Feste zusammenhängt. Siehe bspw. Robertson und Kwagu’ Gixsam Clan (2012: 337). Siehe hierzu außerdem Arima und Dewhirst (1990: 408).
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genaue Ausmaß der Epidemien und der Effekt, den sie auf das Fortbestehen der indigenen Kulturen an der Nordwestküste im Detail hatten, sind Gegenstand andauernder Diskussionen.27 Unabhängig davon gelten diese Epidemien gemeinhin als zentrale Ursache eines massiven Populationsrückgangs, der nicht ohne Folgen für die indigenen Lebensweisen blieb.
(K)ein eindeutiges Bild Nun ist es selbstredend, dass meine selektive Darstellung des Erstkontakts mit europäischen Entdeckern und dem Aufblühen des maritimen und später landbasierten Pelzhandels bei weitem nicht vollständig ist. Das Ziel war, ausgehend von konkreten Kontaktsituationen und einer generellen Darstellung der Interaktion von indigener Bevölkerung und Europäern in der Ära des Pelzhandels sowie der Rahmenbedingungen dieser Interaktion den Blick auf die Frage zu lenken, wie in diesem Kontext stattgefundene oder fußende soziokulturelle Transformationsprozesse verstanden werden können. Nichtsdestotrotz geht es hier nicht darum, die Rollenbilder von indigener Bevölkerung und europäischen Neuankömmlingen umzukehren oder einander anzugleichen, sondern darum, die oft stereotypen Vorstellungen indigener Lebenswelten an der Nordwestküste mit der komplexen Diversität und Nicht-Eindeutigkeit der historischen Realität zu konfrontieren. In Contact and Conflict legt Fisher hierfür nicht nur bestimmte Details der damaligen Interaktion offen, um so dem Rollenbild der indigenen Bevölkerung zu widersprechen, nach dem die bedürftigen, im ökonomischen Handeln unerfahrenen »Indianer«, für ein paar Glasperlen und Alkohol sowohl ihr Hab und Gut als auch ihre Kultur hergegeben und gleichzeitig ganze Tierpopulationen ausgerottet hätten. Über diese notwendigen Richtigstellungen hinaus verweisen Fishers Darstellungen vielmehr auf einen Punkt, der im abschließenden 3. Teil Indigene Gastronomie und die kanadische gastroscape diskutiert wird: die Imagination von Indigenität. Im Hinblick auf die Ära des Erstkontakts und Pelzhandels lässt sich die unten angestellte Überlegung zur Imagination von Indigenität folgendermaßen (grob) zusammenfassen: Die Anerkennung der indigenen Bevölkerung als nicht-geschichtslose, souveräne Akteur*innen jener Ära ist der erste Schritt. Der zweite Schritt besteht darin, diese Rolle in ihrer Eigenart ernst zu nehmen, ohne dabei weder indigene Lebenswelten (sowohl pejorativ als auch idealisierend) zu »verandern« (Bierschenk et al. 2013: 25) noch die Unterschiede zwischen den indigenen Kulturen und denen der europäischen Entdecker und Pelzhändler zu nivellieren. Das bedeutet, anzuerkennen, dass diese Rolle nicht nur mit der Vorstellung eines indigenen Prekariats, sondern ebenso in vielerlei Hinsicht mit Vorstellungen bricht, nach denen die indigene Bevölke27
Siehe hierzu die Darstellung des Forschungsstandes epidemisch bedingten demografischen Wandels der indigenen Population im heutigen British Columbia in Boyd (1990) sowie Fishers Kritik an Boyd und anderen Untersuchungen zu dieser Thematik (Fisher 1992a: xvi, 21).
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rung kein Interesse an materiellen Dingen, ökonomischem Austausch und Wettbewerb, Reichtum und Fortschritt gehabt hätte. Dies jedoch ohne dabei der Vorstellung anheimzufallen, dass es sich an der Nordwestküste um gewissermaßen protokapitalistische Gesellschaften gehandelt habe. Der entscheidende Punkt ist, dass reduktive Stereotype – ganz gleich, ob sie pejorativer, idealisierender oder nivellierender Natur sind – blind sind für die Komplexität, Diversität und den immanent paradoxen Charakter menschlicher Lebenswelten. In dem Sinn, dass sie die empirische Wirklichkeit auf binäre Gegensätze reduzieren – fremd/eigen, wild/kultiviert, primitiv/zivilisiert, Intuition/Kalkül, Tradition/Fortschritt, historisch/zeitgenössisch, Aberglaube/Vernunft etc. –, die zwangsläufig an der Komplexität der auf mehr als Binaritäten beruhenden Realität scheitern müssen. Phänomene wie ökonomisch interessierte, traditionelle Gesellschaften, in denen gerade Veränderungen und Fortschritt die Reproduktion soziokultureller Kohäsion und damit das Fortbestehen einer distinkten kulturellen Identität ermöglichen, haben in einer binären Entweder-Oder-Denkweise keinen Platz. Sie bleiben unverstanden und werden deshalb auf die eine oder andere Weise auf bestimmte – dadurch stereotype – Eigenschaften reduziert. Nachdem im vorangegangenen Abschnitt die Natur der Interaktion von indigener Bevölkerung und Europäern in der Ära des Erstkontakts und des Pelzhandels und damit gleichsam eine Kritik am stereotypen Rollenbild der indigenen Bevölkerung im Vordergrund standen, konzentriert sich der folgende Abschnitt auf die Beziehung von indigener Bevölkerung und Land bzw. indigenen Territorien an der Nordwestküste. Im Zentrum der Darstellung steht die Diskussion des oft hervorgehobenen Überflusses (abundance) natürlicher Ressourcen und dessen Rolle im Zusammenhang mit der Herausbildung indigener Lebensweisen und Ernährungskulturen an der Nordwestküste.
1.1.2
Im Schlaraffenland? Zum Überfluss an der Nordwestküste
From-Tide-to-Table? Vor der Ankunft der Europäer an der Nordwestküste beruhten die Ernährungskulturen in der Region vor allem auf dem, was der Pazifische Ozean sowie die Flüsse und Seen zu bieten hatten. Die üppige Flora und Fauna der dichten gemäßigten Regenwälder sowie reger Handel entlang der Küste wie auch zwischen den Coastal und Interior First Peoples sorgte für weitere Vielfalt auf den lokalen Speiseplänen. Ein an der Nordwestküste weitverbreitetes indigenes Sprichwort streicht diesen
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Reichtum der indigenen Territorien lebhaft heraus: »When the tide goes out, the table is set.«28 Und tatsächlich, obschon die Verfügbarkeit und die Vielfältigkeit an natürlichen Nahrungsquellen regional variiert, sind weite Teile der steinigen Uferlinien und Gezeitenzonen so reich an Aquafauna, dass man sprichwörtlich nur warten muss, bis die Ebbe einsetzt, um sich am üppig mit Muscheln, Seeigeln, Seeschnecken, Tintenfischen, Seegurken, allerlei Krebstieren und vielem mehr gedeckten Tisch des Pazifischen Ozeans, der Meerengen und Fjorde zu bedienen. Darüber hinaus setzt sich diese Ressourcenfülle auch an Land sowohl in Bezug auf pflanzliche als auch auf tierische Nahrungsquellen beinah ungebrochen fort. Doch so wahr der natürliche Reichtum, von dem das Sprichwort berichtet, ist, so naheliegend sind die Missverständnisse, die es evoziert. Denn natürlich sind auch – oder gerade – im geografisch-klimatisch-vegetativen Kontext der Northwest Coast natural region Fertigkeiten und Wissen darüber notwendig, welche Nahrungsquellen wo, wann und auf welchem Weg verfügbar sind. Ohne die Umwelt auf diese Weise lesen zu können, leidet man selbst am reich gedeckten Tisch der Nordwestküste Hunger. Am deutlichsten wird das an den vielen europäischen Seefahrern, die seit Pérez an die Nordwestküste kamen und ohne die Versorgung mit (frischen) Lebensmitteln durch die lokale indigene Bevölkerung verhungert oder an Skorbut gestorben wären. Mit Bezug auf die Reiseberichte von George Vancouver (1798) und Archibald Menzies (1923), der Vancouver bei seiner Reise (Vancouver Expedition, 1791-1795) um die Welt auf der HMS Discovery begleitete, fasst Thrush in Vancouver the Cannibal. Cuisine, Encounter, and the Dilemma of Difference on the Northwest Coast, 1774-1808 (2011) zusammen: »[Their] inability to read the Northwest coast landscape put Vancouver and his compatriots and competitors at risk. […] [The] foreigner’s struggles to obtain food on the Northwest coast meant that the newcomers depended on aboriginal hospitality.« (Thrush 2011: 7-8)29 Dabei langt es auch aufseiten der indigenen Bevölkerung nicht aus, ihre Umwelt bloß »lesen« zu können. Stattdessen war es maßgeblich, die Fertigkeiten (einerseits 28
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Im Zuge meiner Forschungsaufenthalte habe ich dieses Sprichwort in diversen Versionen gehört und gelesen. Für verschiedene Erwähnungen siehe beispielhaft Drucker (1963: 3) und Suzuki und Taylor (2009: 189). Thrush erwähnt an anderer Stelle, inwiefern sich dieses Verhältnis sogar in indigenen Bezeichnungen für die europäischen Entdecker und Händler niedergeschlagen hat: »Meanwhile, among many Coast Salish communities, hunger meant not having fresh food, and so salted pork, portable soup, and other preserved foods of the newcomers, despite their novelty, must have also raise eyebrows regarding their owners status. In fact, many Coast Salish language words for the newcomers are variations on a word that means ›hungry people‹ […].« (Thrush 2011: 11, Hervorheb. S.R.S.) Siehe hierzu außerdem Kuhnlein und Turner (1996).
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das kulinarisch-ökologische Wissen und andererseits die notwendigen Techniken) dazu zu besitzen, um sich den essbaren Teil der Umwelt überhaupt erst verfügbar und schließlich verlässlich verfügbar machen zu können. Im Vorwort von Hilary Stewarts Indian Fishing. Early Methods on the Northwest Coast (1977) schreibt der kanadische Anthropologe Michael Kew hierzu: »[…] nowhere were riches of nature always abundant or entirely free for the taking. Some of them […] were exceptionally hard to get […]. It was technology, plus the knowledge of its application, which provided the vital links – means for tapping the resources.« (Stewart 1977: 7) Nichtsdestotrotz sind es nicht die Fertigkeiten, Techniken und das kulinarökologische Wissen der indigenen Bevölkerung, die das gängige Bild der Nordwestküste und die Rolle der indigenen Bevölkerung in diesem Zusammenhang geprägt haben. Stattdessen hallt der natürliche Reichtum des tide-to-table-Narrativs als beispielloser Überfluss – wie es in der Literatur zur Nordwestküste häufig heißt – im Bild der Nordwestküste lautstark nach. Demnach lebte die indigene Bevölkerung in British Columbia in einem Schlaraffenland grenzenloser Verfügbarkeit, in dem sich die sorglosen Bewohner*innen frei an den großzügigen und unerschöpflichen Gaben von Mutter Natur bedienen konnten. So schreibt bspw. auch Ruth Benedict: »Their civilization was built upon an ample supply of goods, inexhaustible, and obtained without excessive expenditure of labour.« (Benedict 2005: 173)30 Vor dem Kontakt mit Europäern hätten die Bewohner*innen der Nordwestküste folglich weder Nutztiere (nicht zu Land und auch nicht zu Wasser) domestiziert noch irgendeine Form der Kultivierung pflanzlicher Nahrungsmittel betrieben, weshalb die indigenen Gesellschaften gemeinhin als Jäger-Sammler Gesellschaften bezeichnet werden. Ethnolog*innen sind jedoch meist bemüht, dieses subsidiäre Schwarz-Weiß-Bild angemessen zu kolorieren. Entsprechend betont Benedict in Bezug auf die Kwakwaka’wakw zwar zunächst: »they did not add to their food supply by means of agriculture«, um gleich im darauffolgenden Satz zu ergänzen: »They added small fields of clover or cinquefoil«, wobei sie wiederum einschränkend hinzufügt: »but that was all.« (Benedict 2005: 174) Während bereits Benedicts Schwanken erahnen lässt, dass sich die indigenen Subsistenzstrategien und Lebensweisen nur schwer eindeutig kategorisieren lassen, fügt Drucker der Charakterisierung der indigenen Gesellschaften der Nordwestküste eine wichtige relativierende Ergänzung hinzu, wenn er sie darüber hinaus als Anomalie unter den Jäger-Sammler Gesellschaften beschreibt (Drucker 1965: 1): Die Fülle und Vielfalt an Nahrungsquellen und anderen natürlichen Ressourcen hätte die Entwicklung
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Beispiele vergleichbarer Aussagen finden sich bei Batdorf (1990: 9), Drucker (1965: 15) und Irwin (1984: 12).
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einer soziokulturellen Komplexität ermöglicht, die zwar für agrarkulturelle Gesellschaften charakteristisch, für Jäger und Sammler oder »nonhorticultural people« (Suttles 1990: 4) jedoch untypisch sei. Wie zuvor Benedict, beschreibt Drucker die Komplexität der sozialen und politischen Strukturen, der Kosmologie und des zeremoniellen Lebens sowie die Ausdifferenzierung und Verfeinerung indigener Kunst und Handwerkskunst im Licht jenes ›natürlichen‹ Überflusses: »It is an anthropological truism that development of complex, or ›high‹, culture among primitive people is linked, or, better, results from the notable increase in economic productivity that accompanies the invention or acquisition of agricultural techniques, and within limits, the domestication of animals.[…] The expansion of the economic base effected by agriculture raises the general standard of living, permits increased settled populations, provides more leisure time to cultivate the arts, to elaborate religious, social, and political concepts, and to perfect the material aspects of culture […]. The culture of the Northwest Coast, therefore, seems to be an anomaly, for it was a civilization of the so-called ›huntingand-gathering‹ type, without agriculture (except for a few instances of tobacco growing) and possessing no domesticated animals other than the dog. […] That they were able to attain their high level of civilization is due largely to the amazing wealth of the natural resources of their area.« (Drucker 1963: 1-3)31 Obschon die Fruchtbarkeit der Region und deren Vielfalt an essbarer Flora und Fauna nicht zu leugnen sind und unabhängig von der Tatsache, dass Jagen und Sammeln zweifelsohne zentrale Bestandteile des kulturellen Lebens wie auch des nackten Überlebens waren, ist die Betonung des Überflusses an verfügbaren Nahrungsmitteln und damit die Jäger-Sammler-Überfluss-Anomalie These wenn auch nicht falsch, so doch irreführend. Ein wesentlicher Aspekt geht dadurch unter: nämlich die Rolle, die indigene Gesellschaften in Hinsicht auf die Verfügbarkeit und Pflege dieses Überflusses in Gestalt von indigenem Ressourcenmanagement gespielt haben.
Indigenes Ressourcenmanagement Rezente Publikationen von bspw. Deur (2002a, 2002b, 2005, mit Turner 2005), Thrush (2011), Turner (2005, 2014) und anderen feinjustieren dieses Bild indigener Subsistenzstrategien. In der Summe verdeutlichen ihre Darstellungen nicht
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An anderer Stelle betont Drucker die Rolle des Kulturmotivs der aquafaunaorientierten Ökonomie in diesem Zusammenhang: »The North Pacific Coast is unique among areas where man lived on the so-called ›hunting and gathering‹ level in that the inhabitants developed a rich culture, and this circumstance can be traced directly to the nature and abundance of the area’s basic food source, the salmon.« (Drucker 1965: 15)
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nur dass, sondern vor allem inwiefern indigene Gesellschaften im Gebiet des heutigen British Columbia ein außerordentliches Wissen über ihre Umwelt und deren Nutzbarmachung hatten. Über Generationen hinweg entwickelten sie nicht nur ausgeklügelte Techniken zum Jagen, Fischen und Fallenstellen, sondern ebenso ausgesprochene Fertigkeiten im Umgang mit pflanzlichen und tierischen Nahrungsmittelressourcen. Deur und Turner identifizieren in diesem Zusammenhang eine ganze Reihe von Beispielen indigenen Ressourcenmanagements in Form tatsächlicher Kultivierungstechniken, d.h. als: »practices to modify plant communities and animal populations in order to secure and promote the growth and productivity as well as quality of culturally important foods.« (Deur und Turner 2005: 332) Thrush bringt die wesentlichen Formen dieser practices auf den Punkt und fasst zusammen: »[A]boriginal peoples of the Northwest coast […] were in fact both extensive and intensive managers of their environments. They burned lowland prairies and alpine meadows that otherwise would have turned to forest, encouraging the rejuvenation of nutritious roots, bulbs, and berries; they built stone terraces to expand shellfish habitat and sank stones to create reefs for rockfish and octopus; they managed gardens in estuaries and above beaches. The languages of the region included words for such practices: the Northern Coast Salish called their rock-buttressed clam gardens wuxwuthin; the Kwakwaka’wakw used the word t’ekilakw (literally, ›manufactured soil‹) to describe coastal beds of silverweed and springbank clover.« (Thrush 2011: 6) Da diese practices oder Kultivierungstechniken ebenso komplex und vielseitig sind wie die entsprechenden Pflanzen und Tiere zahlreich und all dies je nach Gruppe und Region stark variiert, gehe ich hier nicht weiter ins Detail.32 Ein paar wenige Beispiele mögen an dieser Stelle hinreichend veranschaulichen, was bspw. Turner meint, wenn sie betont, dass es sich bei der indigenen Bevölkerung nicht um »simply opportunistic harvesters of naturally occurring wild fish and random pluckers of berries and roots as the commonly used term ›hunter-gatherer‹ would imply«, sondern um »astute and sophisticated care takers of their plant and animal resources« (Turner 2005: 150) handelt(e). So berichtet sie im Hinblick auf bspw. die Anwendung von Brandrodung von einer Insel vor der Westküste von Banks Island in der Hecate-Straße zwischen Haida Gwaii und dem Festland, deren indigene Bezeichnung so viel heißt wie »›burned over continiously‹ because the people set fire 32
Für weiterführende Informationen zur vegetativen Vielfalt der kanadischen Nordwestküste siehe in Bezug auf pflanzliche Nahrungsmittel Turner (1995, 1997, 2005, 2014) und in Bezug auf tierische Nahrungsmittel Kuhnlein und Humphries (2017).
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to it to keep it open for blueberry production« (Turner 2005: 159). Dabei stellt diese Blaubeer-Insel keine Ausnahme dar. Extensive Brandrodung gehörte bei einigen sowohl Coastal als auch Interior First Peoples zum Standardrepertoire indigenen Ressourcenmanagements (Turner 2005: 151-161). Für die Coastal First Peoples ist insbesondere eine Kultivierungstechnik charakteristisch: In den Ästuaren, d.h. im Mündungsgebiet von Frischwasserflüssen entlang der Küsten wurden Gärten zum Anbau von Pflanzen mit essbaren Rhizomen angelegt (Deur 2005: 321). Für die sogenannten estuarine root gardens (im Folgenden kurz als root gardens bezeichnet) wurden nicht nur teils große Flächen der ästuaren Salzwiesen (salt marsh, Gebiete, die teils regelmäßig, teils unregelmäßig von Salzwasser überschwemmt sind) von unerwünschtem Bewuchs und Steinen gesäubert, sondern ebenso der Nährwert der Erde durch Düngen erhöht und das Erdreich durch regelmäßiges Umgraben und Untermengen von Sand aufgelockert. Darüber hinaus wurden durch Landgewinnungsmaßnahmen mithilfe von Steinen und Erde das Gefälle der Salzwiesen so verändert, dass der für den Anbau von essbaren Rhizomen nutzbare Abschnitt der Salzwiesen künstlich vergrößert wurde.33 Turner und Deur berichten zudem davon, dass nicht nur zu kleine Wurzeln sowie die Enden großer Rhizome (als Samen) rückgepflanzt wurden, sondern ebenso Setzlinge aus Gärten an andere Orte gebracht wurden, um dort neue Pflanzenpopulationen zu etablieren (Deur 2005: 397-309, Turner 2005: 30, 164-165). In Hinsicht auf die Frage, inwiefern Teile der indigenen Subsistenzstrategie als eine Form von Hortikultur – im Sinn der Kultivierung von Nutzpflanzen – bezeichnet werden können, konstatiert Deur: »Certainly, many of the criteria now widely accepted for the presence of ›plant cultivation‹– such as vegetative propagation, soil enhancement, weeding, and hydrological modification – are well represented in the estuarine root-cultivation practices of the region’s indigenous inhabitants.« (Deur 2005: 320)34 Wenngleich diese Art indigenen Ressourcenmanagements in Gestalt intensiver und expansiver Kultivierungstechniken Spuren in der Landschaft hinterlässt, scheinen die nicht-geometrisch angelegten root gardens für die an die landschaftliche Morphologie der europäischen Agrarrevolution gewöhnten Augen der Neuankömmlinge zur Zeit des Erstkontakts und der Ära des Pelzhandels, geradezu unsichtbar gewesen zu sein.35 John Rickman, der mit Cook am Ende des 18. Jahrhunderts die 33 34 35
Für eine anschauliche Darstellung in Gestalt eines idealisierten Querschnitts natürlicher Salzwiesen und künstlicher root gardens siehe Deur (2005: 313). Siehe hierzu außerdem den Abschnitt Reconceptualizing Cultivation in Deur und Turner (2005: 14-16). Thrush spricht in diesem Zusammenhang von einer »lens of cultivation« (Thrush 2011: 4), durch die die Neuankömmlinge Land und Leute der pazifischen Nordwestküste gesehen hätten und die das Bild prägten, das sich in den Berichten dieser Zeit tradierte. Fisher spricht
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Nordwestküste erreichte, berichtete etwa: »We saw no plantations which exhibited the least trace of knowledge in the cultivation of the earth; all seemed to remain in a pure state of nature.« (zitiert nach Thrush 2011: 6) Menzies beschreibt sogar, wie er eine Gruppe von indigenen Frauen bei der Arbeit in einem dieser root gardens beobachtete. Allerdings erkannte er in ihrer Arbeit nicht das »Ernten in einem Garten«, sondern die »Nahrungssuche auf einer Wiese«: »In the evening our curiosity was excited in observing a number of Females busily occupied in digging up a part of a Meadow close to us with Sticks, which as much care and assiduity as if it had been a Potato field in search of a small creeping root […].« (Menzies 1923: 116) Noch schwieriger ist es im Fall von Unterwassergärten, wie sie in Mündungsgebieten von Flüssen zum Anbau von bspw. wapato (Chinook Jargon für Sagittaria latifolia, auch bekannt als Indian potato)36 angelegt wurden. Erst kürzlich wurden archäologische Belege dafür gefunden, dass diese Art von Unterwassergärten an der Nordwestküste bereits seit Jahrtausenden bekannt ist: Bei Straßenbauarbeiten im April 2016 im Territorium der Katzie First Nation (im Gebiet der heutigen Kleinstadt Pitt Meadows; sie zählen zu den Küsten-Salish), das als Teil des Frazer Valley ein ehemaliges Feuchtgebiet am Zusammenfluss von Frazer River und Pitt River im westlichen Lower Mainland darstellt, stieß man auf eine augenscheinlich künstlich angelegte Steinfläche. Ein Team von Archäolog*innen kam zu dem Ergebnis, dass es sich bei der Fläche um eine 3.800 Jahre alte Konstruktion für den Anbau von wapato handelt (Hoffmann et al. 2016). Sie konnten nicht nur nachweisen, dass es sich bei den verwendeten Steinen um durch Hitze geborstene, zum Kochen verwendete Steine handelte, deren – durch das Bersten entstandene – plane Oberflächen zu einer geschlossenen Ebene eng aneinandergereiht wurden. Sie fanden sogar im Sediment konservierte wapato-Knollen. Der Aufbau entsprach dem, was unter der indigenen Bevölkerung des Lower Mainland zwar noch bekannt ist, aber heute nicht mehr praktiziert wird: In seichtem Wasser wurde eine plane Steinschicht zusammengetragen und auf diese Schlamm geschichtet, in dem die wapato-Knollen wuchsen, während der Rest (Blätter und Blühte) der Pflanze aus dem Wasser ragte. Die Steinschicht diente dazu, dass die wapato-Knollen nicht zu tief ins Erdreich wuchsen und somit einfacher (mit Hilfe eines handlichen Grabstocks) geerntet werden konnten.37
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entsprechend von einem ›kulturellen Filter‹: »Indigenous society and behaviour is viewed through a cultural filter that distorts ›reality‹ into an image that is more consistent with European preconceptions and proposes.« (Fisher 1992a: 73) Siehe hierzu (Darby 2006 passim), Deur (2002: 144), Suttles (1987: 141-144) und Turner (2006: 36-37). Zu wapato bei den Katzie First Nations siehe auch Suttles (1955).
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Dieses architektonische Eingreifen in die Natur (künstliche Anbauflächen und Gärten zu Land und unter Wasser), um die Effizienz beim Ernten sowie letztlich auch die Quantität und Qualität des geernteten Produkts zu steigern, setzt sich auch hinsichtlich der Aquafauna fort – nämlich in Gestalt von künstlich geschaffenen Stein- und Sandbänken, in denen alle möglichen Arten von Meeresfrüchten, vor allem aber Muscheln kultiviert wurden. Archäologischen Funden zufolge lassen sich die (heute als solche identifizierten) indigenen Muschelgärten – Deur et al. (2015) sprechen in diesem Zusammenhang auch von »anthropogenic ecosystems« (ebd.: 1) – teils auf eine Zeit von vor bis zu 2.000 Jahren zurückdatieren.38 Dieses einprägsame Beispiel für indigenes Ressourcenmanagement hat in den letzten Jahren vermehrt mediale Aufmerksamkeit auf sich gezogen, sodass 2015 schließlich gleich mehrere Zeitungen im deutschen Sprachraum darüber berichteten (Calonego 2015a, b; Heinemann 2015). Andere Aspekte indigenen Ressourcenmanagements in Bezug auf Tierpopulationen erfahren weniger Beachtung, ohne jedoch weniger bemerkenswert zu sein. Anderson berichtet etwa davon, dass es unter Nuu-chah-nulth auf Vancouver Island eine weitverbreitete Technik zur Kultivierung von Lachs gab. Dazu wurde Lachsrogen aus fischreichen Flüssen in fischärmere Flussläufe transferiert, um dort neue Lachspopulationen anzusiedeln (Anderson 1996: 66, außerdem Iriwin 1984: 14, Suttles 2005: 193). Turner betont zudem die Umsichtigkeit, mit der die indigene Bevölkerung die Fischressourcen ihrer Territorien pflegten. So hätte man etwa beim Fischen von Lachs bewusst Löcher in Fangnetze geschnitten und Reusen oder die Gatter von großen, wehrartigen Lachsfallen geöffnet, um sicherzustellen, dass genügend Fische für den Fortbestand entweichen konnten (Turner 2005: 149).
Keeping it Living Die Liste indigener Techniken zum Kultivieren und Managen von Pflanzen- und Tierpopulationen ist lang. Da jeder Versuch, hier die Fülle an Praktiken sowie ihre soziokulturellen Hintergründe und Bedeutungen darzustellen, notwendig unvollständig bleiben muss, lohnt es sich stattdessen einen Aspekt zu unterstreichen, der für das Verhältnis von indigener Bevölkerung und indigenen Territorien und somit für jene anthropogene Verfügbarkeit des natürlichen Überflusses an der Nordwestküste wesentlich ist: q’waq’wala7owkw. Bei q’waq’wala7owkw handelt es sich um einen Begriff aus dem Kwak’wala, der mit »keeping it living« (Turner 2005: 148) übersetzt wird. Er bezieht sich auf ein Konzept, das unter den indigenen Gruppen
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Siehe hierzu beispielhaft Groesbeck et al. (2014), Isabella (2011) und Lepofsky und Caldwell (2013). Interessante Einblicke in das Thema ›indigene Muschelgärten‹ geben außerdem die Homepage des The Clam Garden Network (clamgarden.com) sowie der Dokumentarfilm Ancient Sea Gardens. Mystery of the Pacific Northwest (Woods und Woods 2005).
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entlang der Küste weitverbreitet ist, in den unterschiedlichen Sprachen und Gruppen jedoch verschieden bezeichnet wird. Thrush und Turner diskutieren hierzu etwa den Nuu-chah-nulth-Begriff hahuulthi (Thrush 2011: 6; Turner 2005: 169-171). Auch wenn keeping it living direkte Assoziationen hinsichtlich einer idealtypischen, stets ressourcenschonenden und naturverbundenen Lebensweise weckt, geht es an dieser Stelle nicht darum, das stereotype Bild des ecological Indian (Krech 1999) zu bedienen. Wie in der Diskussion im 3. Teil erläutert wird, spiegeln sich in diesem Bild primär nicht-indigene Konzepte, Antizipationen und romantisierende Nostalgie anstatt der tatsächlichen Realität indigener Lebenswelten wider. Letztlich gerät in diesem Bild zudem ein Aspekt aus dem Blick, den auch das tide-to-table-Narrativ verschweigt. Nämlich was es bedeutete, wenn Schlechtwetterperioden oder in früheren Zeiten auch kriegerische Auseinandersetzungen in der Erntezeit folgenschwere Ernteausfälle bedingten; wenn die jährliche Lachswanderung geringer als erwartet oder gar gänzlich ausfiel oder andere tragische Umstände zu Hungersnöten inmitten der gefüllten Vorratskammer der Nordwestküste führten. Um diese Gefahren einzudämmen bzw. das physische wie auch kulturelle Überleben zu sichern, sind Mechanismen notwendig, die mögliche unerwartete Ausfälle abfangen und im Zusammenhang mit entsprechenden Kultivierungs- und Managementmaßnahmen gar verhindern können. Im Fall der Coastal First Peoples bilden hierfür die im Kontext von Potlatch-Festen manifest werdende Verknüpfung von sozialer Struktur und kosmologischer Ordnung sowie die diesbezügliche Verquickung von Status und hereditären Rechten die Grundlage. Anderson schreibt hierzu: »In short, on the Northwest Coast, conservation was managed by political regulation supported by appeal to individual morality. […] Chiefly Power, ritual power, and personal power of individual morality maintained the system. This required a tremendous knowledge of the ecosystem. It also required a political system, that allowed specification of the resource base to eliminate tragedies of the commons by vesting control of resources in the local community, and providing actual means for enforcing that control.« (Anderson 1996: 68) Der Punkt ist: Letztendlich war es für die Validität einer Statusposition unerlässlich, durch den bestmöglichen und vorausschauenden Umgang mit den je spezifischen hereditären Rechten – d.h. vor allem Rechte in Hinsicht auf Verfügungs- und Bestimmungsrechte über Orte und Ressourcen wie fischreiche Gewässer, Muschelgärten oder Unterwasseranbauflächen und root gardens, aber auch über Plätze, an denen bestimmte Beeren, Blattgemüse, Bäume und andere verwertbare Ressourcen wachsen – den gleichermaßen hereditären Pflichten gegenüber der Gemeinschaft (oder der Familie) nachzukommen. Letztlich sind die individuellen hereditären Rechte folglich identisch mit Pflichten gegenüber dem Kollektiv. Entscheidend ist, dass diese Pflichten nicht nur darin bestehen, die rein physische Lebensgrund-
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lage, sondern ebenso die soziokulturellen Strukturen und damit gleichsam die kosmologische Ordnung als Ganzes aufrechtzuerhalten, in der alles und jeder einen Platz (Status) und damit eine Funktion (Rechte und Pflichten) hat. Wie die einzelnen Beiträge in Keeping it Living (2005) anhand der Auseinandersetzung mit Fallbeispielen entsprechender Techniken indigenen Ressourcenmanagements und deren Verknüpfung mit soziokulturellen Strukturen aus verschiedenen Regionen British Columbias zeigen, muss der Reichtum an verfügbaren Lebensmittelressourcen respektive die anthropogene Verfügbarkeit jenes natürlichen Überflusses in diesem Zusammenhang gesehen werden. So betonen Deur und Turner in der Einleitung, dassdiesbezügliche Techniken nicht nur natürliche Ressourcen (und damit auch menschliche Ressourcennutzer) am Leben hielten. Sie heben stattdessen die Rolle dieser Techniken für das Überleben bzw. die Reproduktion soziokultureller Kohäsion indigener Gesellschaften als Ganzes hervor: »Resource production was required not only to meet the daily needs of Northwest Coast peoples but, in addition, the social, political, and economic structures of these peoples were vitally dependent upon the display and redistribution of wealth acquired through surplus resource harvesting.« (Deur und Turner 2005: 11) Dabei wird anhand der unterschiedlichen Erläuterungen und Diskussionen von keeping it living nicht nur die aktive Rolle deutlich, die die indigene Bevölkerung in Hinsicht auf den verfügbaren Überfluss als Fundament ihrer eigenen Kulturentwicklung spielt. Vielmehr veranschaulichen sie die gordische Verflechtung von indigener Bevölkerung und indigenen Territorien an der kanadischen Nordwestküste – also die untrennbare Verknüpfung von Land (und Wasser), Ernährung und Kultur bzw. von indigenen Territorien und Ressourcen, physischer, psychischer und spiritueller Gesundheit und schließlich kultureller Identität –, die im Konzept des keeping it living bzw. in indigenen Begriffen wie q’waq’wala7owkw oder hahuulthi Ausdruck findet. Nun liegt es auf der Hand, dass erst ein hinreichendes Bewusstsein hinsichtlich dieses Ineinandergreifens es ermöglicht, die indigenen Ernährungskulturen in ihrem transformativen Charakter zu verstehen. Bevor sich das Kapitel 1.2. Ernährungskulturen der Coastal First Peoples einer ethnohistorischen Skizze der indigenen Ernährungskulturen in British Columbia von der Präkontakt-Zeit bis in die Gegenwart widmet, geht es im folgenden Abschnitt zur siedlerkolonialen Kehrtwende um eine andere Überlegung – nämlich um die historischen Hintergründe der Stereotypisierung indigener Lebenswelten, wie sie am Ende des letzten Abschnitts bereits erwähnt wurde.
1. Teil: Grundzüge einer Kulturgeschichte indigener Ernährungskulturen in British Columbia
1.1.3
Die siedlerkoloniale Wende und »Modification of the Attitudes« in British Columbia
Ohne die Hintergründe und vielschichtigen Prozesse der kolonialen Besiedlung der Nordwestküste im Zuge der Erklärung Vancouver Islands zur britischen Kolonie unter der administrativen Schirmherrschaft der Company im Jahr 184939 sowie der 1858 erfolgten Etablierung der Kolonie British Columbia auf dem angrenzenden Festland und schließlich der Zusammenführung beider Kolonien 1866 im Einzelnen zu erörtern40 , lässt sich Folgendes zusammenfassen: Erst nachdem sich mit der Rezession des Pelzhandels auch die europäischen Interessen in (und an) der kanadischen Nordwestküste von Handelsbeziehungen hin zu territorialer Expansion – d.h., von einem Interesse an ökonomischem Austausch mit der indigenen Bevölkerung hin zum Interesse an den indigenen Grundlagen dieses Austauschs (Land, Gewässer und diesbezügliche Ressourcen) – verschoben haben, setzt mit dem Untergraben des indigenen Komplexes von Land, Ernährung und Kultur der eigentliche Kontrollverlust über die eigenen (indigenen) Lebensweisen und damit oft identifizierte Prozesse kultureller Regression ein. Der Schotte Walter Colquhoun Grant, der 1849 im Süden von Vancouver Island als offiziell erster Siedler von der Company Land erwarb, hatte diese Verschiebung europäischer Interessen und deren Effekt auf die indigenen Lebenswelten sehr deutlich vor Augen, als er bereits 1857 in einem Bericht für die Royal Geographical Society feststellt: »[I]n Vancouver Island, the tribe who have principally been in intercourse with the white man, have found it for their interest to keep up that intercourse in amity for the purposes of trade, and the white adventurers have been so few in number, that they have not at all interfered with the ordinary pursuits of the natives. As the Colonial population increases […] the red man will find his fisheries occupied, and his game, on which he depended for subsistence killed by others: the fisheries will probably cause the first difficulty, as all the tribes are singularly jealous of their fishing privileges, and guard their rights with the strictness of a manorial preserve. Collisions will then doubtless take place, and [they] will be numbered with the bygone braves of the Oneida and the Delaware.« (Grant 1857: 303-304) Fisher, der die historische Demarkationslinie dieses Wechsels zwischen einerseits der frühen Periode des Erstkontakts und Pelzhandels und andererseits der europäischen Besiedlung des heutigen British Columbias anhand historischer Mate-
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Am 13. Januar 1849 wurde Vancouver Island durch eine Königliche Satzung (royal charter) offiziell zur Kolonie unter der Führung der Hudson’s Bay Company erklärt. Die Company übernahm diese Rolle bis 1858. Siehe hierzu Fisher (1992a: 49). Für eine detailreiche Darstellung der historischen Zusammenhänge siehe Fisher (1992a, b, 1996).
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rialien eindeutig identifiziert und belegt, betont, dass mit der wesentlichen Verschiebung der Rahmenbedingungen der Interaktion zwischen der indigenen Bevölkerung und den Neuankömmlingen zugleich eine grundlegende Verschiebung hinsichtlich der Haltung (modification of the attitudes, Fisher 1992a: xxix) der Siedler*innen gegenüber der indigenen Bevölkerung einhergegangen sei. Er rückt dabei das Verhältnis von tatsächlicher Erfahrung und antizipativer Erwartungshaltung in den Fokus seiner Überlegung: »When settlers arrived there was a definite change in the tone of writing about the Indians. In the sense that they had preconceptions about the Indians and their cultures and refused to change their opinions on the basis of new experience, the settlers as a group were more prejudiced than the fur traders. Frequently settler images were in large part the consequences of events and currents of thought in the metropolis, whereas trader’s attitudes were more a product of life on the frontier. That is, generally traders reacted to what they saw, while settlers tended to react to what they expected to see.« (Fisher 1992a: 74, Hervorheb. S.R.S.) Das vermittelte Bild, das die Siedler*innen von der indigenen Bevölkerung hatten, beruhte in den meisten Fällen auf Berichten von Seefahrern und Pelzhändlern, in denen nicht nur die in Kapitel 1.1.1. erwähnten Episoden zu den Handelsinteressen und merkantilen Fähigkeiten, sondern ebenso häufig Kuriositäten wie Erzählungen über Kannibalismus oder Zauberei und Spekulationen über das gewalttätige und primitive Wesen der indigenen Bevölkerung Platz fanden. Unabhängig davon, dass diese Kuriositäten und Spekulationen vermutlich nicht selten auf den eigenen Befürchtungen der Autoren und einem fundamentalen Missverstehen des beobachteten indigenen Verhaltens beruhte, waren es diese bizarren und bedrohlichen Facetten der Berichte, die auf ein reges Interesse bei der europäischen Leserschaft stießen. Das auf diese Weise sukzessiv und selektiv ausgedünnte Bild der indigenen Bevölkerung verdichtete sich mit der Zeit zu stereotypen Imaginationen indigener Lebensweisen bzw. von Indigenität, die sich unter den Siedler*innen verbreitet und über Generationen von Mitgliedern der nicht-indigenen Bevölkerung tradiert hat. Ungeachtet obiger Feststellung, dass die indigene Bevölkerung im Zuge des Erstkontakts und anschließenden Pelzhandels weitestgehend die Kontrolle über die eigene Kultur und Lebensweise erhalten konnte, heißt das gewiss nicht, dass die gegenseitige Wahrnehmung damals nicht auch durch Stereotype geprägt war. Es scheint jedoch so, dass sich von den frühen Kontakten mit Europäern und vom maritimen Pelzhandel über den landbasierten Handel bis hin zur kolonialen Besiedelung ein ab dem siedlerkolonialen Wendepunkt rapide steigendes Maß an Distanzierung von nicht-indigener Seite nachvollziehen lässt. Die Siedler*innen wie auch Vertreter der allmählich Fuß fassenden Kolonialverwaltung hatten in den meisten Fällen offenbar kein Interesse daran, das schiefe Bild zu korrigieren und
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Stereotype zu hinterfragen. Bracken bringt diese Haltungstendenz mit einer möglichen Identitätskrise europäischer Siedler*innen in Zusammenhang. Inwiefern dies damit verknüpft sein kann, dass das Interesse der indigenen Bevölkerung am Austausch und der Aneignung europäischer Objekte, Verhaltensmuster und Erscheinungsbilder – vor allem Kleidung, Hausbau und Ernährung – die identitätskonstitutiven Unterscheidungsmerkmale der Europäer*innen auf verschiedenen Ebenen unterlaufen hat, kann indes nur spekuliert werden.41 Für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts schreibt Bracken hierzu: »When Canada finally delivered itself to its western border, it found Europe already embodied in a group of cultures that white Canadians wished to define themselves against. […] It was as if from the moment that society found itself reflected back to itself by the local First nations, it could no longer lay claim to its own identity – as if white settlers arrived in British Columbia only to discover they were somehow unequal to themselves.« (Bracken 1996: 2-3) Überzogen formuliert war es deshalb nötig, die Realität durch ein Bild zu ersetzen, das die Siedler*innen ihrer europäischen Identität versicherte. Und zwar gleichermaßen für sich selbst wie auch in Abgrenzung gegenüber der indigenen Bevölkerung und schließlich gegenüber den Europäer*innen in der »Alten Welt« – als gewissermaßen Beweis dafür, immer noch Europäer*innen und nicht von der Wildnis am westlichsten Ende der westlichen Welt geschluckt worden zu sein. Die amerikanische Anthropologin Paige Raibmon schreibt hierzu in Authentic Indians. Episodes of Encounter from the Late-Nineteenth-Century Northwest Coast (2005): »Heightened attention to the value of ethic boundaries occur at a time when these boundaries have never been less certain.« (Raibmon 2005: 205) Im Zuge dieser Distanzierung wurden zugleich die der indigenen Bevölkerung der Nordwestküste immanenten Unterschiede zwischen den einzelnen Gruppen zu Gunsten einer als einheitlich konstruierten Indigenität nivelliert, sodass eine klare Abgrenzung von einerseits »Wir« (Siedler*innen) und andererseits »Die« (indigene Bevölkerung) möglich war (Fischer 1992a: 88). Entscheidend in diesem Zusammenhang ist die Distinktion (wir/die) anhand der Zuschreibung signifikanter Eigenschaften entlang der Achse binärer Unterscheidungsmerkmale, wie sie 41
Insbesondere die Rolle von Brot, Zwieback, Scones, Keksen und bannock scheint hier wichtig zu sein. Schließlich fand Mehl und alles, was daraus hergestellt werden kann, schnell Eingang in die indigene Alltagsernährung. Zieht man die zentrale Rolle von Brot und Gebäck – bzw. von Getreideprodukten im Allgemeinen – für das europäische Selbstverständnis in Betracht, muss die indigene Aneignung des »täglichen Brots« für die europäischen Migrant*innen eine echte konzeptuelle, ihr Selbstverständnis in Zweifel ziehende Herausforderung dargestellt haben. Das Gleiche gilt für die Kartoffel. Einige Entdecker und Siedler*innen waren vermutlich verwundert, dass ihnen schon in frühen Jahren des Austauschs von indigenen Händler*innen feinste Erdäpfel feilgeboten wurden. Hierzu mehr in Kapitel 1.2.2.
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weiter oben bereits angesprochen wurden: zivilisiert/primitiv, kultiviert/wild, fortschrittlich/archaisch, vernünftig/irrational, religiös/abergläubisch, reflektiert/impulsiv, Gartenbauer/Sammler, Viehzüchter/Jäger, Mensch/Menschenfresser etc. Wichtig hierbei ist, dass die grundsätzlichen Pole dieser Binaritäten einander ausschließen. In dem Sinn, dass Eigenschaften auf der linken Seite des Schrägstrichs unter sich kommensurabel, mit denen auf der rechten Seite jedoch inkommensurabel sind. D.h., »Die« können nicht archaisch lebende, vernünftig denkende, Hortikultur betreibende Jäger sein, die europäisch gekleidet, traditionelle zeremonielle Feste feiern, bei denen durch die Vergabe moderner (europäischer) Güter die archaischen soziokulturellen Strukturen der Gesellschaften reproduziert werden. Knapp zusammengefasst wird der Punkt darin deutlich, dass gerade diejenigen Vertreter*innen der indigenen Bevölkerung, die in den urbanen Zentren wie Victoria und Vancouver oder auch nur, aufgrund der ökonomisch vorteilhaften Lage, in der Nähe von Handelsposten lebten – dann auch abschätzig fort Indians genannt – und mitunter am stärksten an europäische Lebensweisen und Erscheinungsbilder angepasst bzw. assimiliert waren, als unbestreitbarer Beleg des defizitären, jedoch unüberwindbaren Andersseins der indigenen Bevölkerung herhielten. Was darin zum Ausdruck kommt, ist die Konstatierung einer nicht-permeablen Trennlinie, die die Siedler*innen zugleich für den gefürchteten Vorwurf des going native immunisierte. Denn so, wie »Die« durch das Übernehmen oder – aus der Sicht der Siedler*innen – das Imitieren europäischer Verhaltensweisen nicht Teil des »Wir« werden konnten, konnten die Siedler*innen gleichsam nicht in den Status der indigenen Bevölkerung abrutschen und somit zu »Denen« und nicht mehr zu »Uns« gehören. Nun ist diese Art der Differenzierung anhand binärer und sich gegenseitig ausschließender Eigenschaften sicherlich kein Phänomen, das einzig auf den Kulturkontakt an der Nordwestküste zutrifft. Dennoch scheint gerade dieses Moment an der Klimax der Distanzierung von indigener Bevölkerung und Siedlergesellschaft die Wurzel einer Entwicklung zu kennzeichnen, die sich in der fortwährenden, oft subtilen, deshalb nicht minder präsenten, stereotypen Imagination von Indigenität manifestiert, die sowohl die öffentliche Wahrnehmung zeitgenössischer indigener Lebenswelten als auch politische Diskurse und sogar juristische Verfahren im Zusammenhang mit der indigenen Bevölkerung im heutigen British Columbia und anderen Teilen Kanadas prägt. Wie im folgenden Kapitel 1.2. Ernährungskulturen der Coastal First Peoples deutlich werden wird, stellen sowohl die historische als auch die zeitgenössische nicht-indigene Wahrnehmung der indigenen Ernährungskulturen und insbesondere deren Wandel keine Ausnahmen dar.
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1.2
Ernährungskulturen der Coastal First Peoples »The king then seated me by him and ordered his women to bring him something to eat. They sat before him some dried clams and train oil […] of which he ate very heartily and encouraged me to follow his example, telling me to eat much and take a great deal of oil which would make me strong and fat. Notwithstanding his praise of this new kind of food, I felt no disposition to indulge in it, both smell and taste being loathsome to me.« (Jewitt 1987: 32)
Der König in dieser Passage war Mukw ina, der bereits erwähnte Häuptling der Mowachaht-Muchalaht First Nation an der Westküste von Vancouver Island.42 Sein wenig enthusiastischer Gast war der Brite John R. Jewitt. Jewitt, der hier von seinem ersten Kontakt mit den indigenen Ernährungskulturen der Nordwestküste berichtet, war (Waffen-)Schmied an Bord der Boston, einem amerikanischen Pelzhandelsschiff. Allerdings war er alles andere als ein herkömmlicher Gast. Er war Mukw inas Gefangener: Am 2. März 1803 erreichte Jewitt mit der Boston die Siedlung Yuquot an der Mündung des Nootka Sound – also den Ort, an dem Pérez knapp dreißig Jahre zuvor, im August 1774, Anker warf und das zweite Mal mit indigenen Händler*innen in Kontakt kam. Eine komplexe und unglückliche Verkettung von Ereignissen endete am 22. März in einer Attacke der Mowachaht-Muchalaht, bei der mit Ausnahme von Jewitt und John Thompson, einem Segelmacher, die gesamte Besatzung der Boston getötet wurde. Als einzige Überlebende und nützliche Handwerker wurden die beiden Mukw inas Gefangene bzw. Sklaven, bis sie sich schließlich im Sommer 1805 befreien konnten. Als Jewitt 1815 sein Tagebuch aus der Zeit seiner Gefangenschaft veröffentlichte, gaben seine Bemerkungen über sein erstes Gastmahl recht genau ein damals weitverbreitetes europäisches Vorurteil gegenüber den indigenen Ernährungskulturen wieder – nämlich die Ungenießbarkeit indigenen Kochens und Essens.43 Nun darf man vor dem Hintergrund des erörterten bilateralen Verhältnisses von indigener Bevölkerung und Europäern in der Ära des Erstkontakts bis zu siedlerkolonialen Wende im Hinblick auf dieses Vorurteil nicht unerwähnt lassen, dass fremden Küchen in Situationen des Kontakts einander fremder Kulturen per se mit (zumindest anfänglicher) Ablehnung begegnet wird, stellen diese als soziale
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Bei »Mukw ina« (auch bekannt als ›Maquinna‹ oder auch ›Maquina‹) handelt es sich um einen hereditären Namen, der (mindestens) in der Zeit vom 18.-19. Jahrhundert von einem scheidenden an den nachfolgenden Häuptling der Mowachaht-Muchalaht weitergegeben wurde (Stewart 1987: 42). Bei der Lektüre früher europäischer Berichte kann dies leicht zu Missverständnissen führen. Siehe hierzu Fisher (1983). Zu derlei kollektiven Imaginationen siehe beispielhaft Thrush (2011: 9, 14-17) und Fisher (1992a: 73-94).
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Totalphänomene doch ein wesentliches Distinktionsmerkmal menschlicher Gesellschaften dar. Der Fairness halber muss außerdem nicht nur gesagt werden, dass Jewitt im Laufe seines Aufenthalts seine anfängliche Ablehnung überwinden und sogar einigen Gefallen (nicht nur) an getrockneten Muscheln und den diversen Fischölen oder Tranen finden konnte. Es muss ebenso daran erinnert werden, dass der tatsächliche Kontakt zwischen indigener Bevölkerung und europäischen Händlern nicht selten mit dem für die Europäer mitunter lebensrettenden, oft aber auch genussreichen Handel mit indigenen Lebensmitteln einherging. Bspw. erwähnt Thrush, wie Kapitän George Dixon nach seinem Aufenthalt in Nootka Sound im Jahr 1787 das dortige Fischöl als »perfectly sweet« beschreibt (Dixon nach Thrush 2011: 15).44 Darüber hinaus verweist Thrush darauf, dass kollektive Imaginationen und Vorurteile sowie die damit verbundene Ablehnung fremder Lebensmittel, wie sie bei Jewitt vorzufinden sind, in der frühen Periode des Erstkontakts keinesfalls allein für Europäer charakteristisch waren: »Clearly, indigenous noses were turned up just as often as those of the newcomers.« (Thrush 2011: 16) Wie maßgeblich kollektive Imaginationen auf beiden Seiten sowohl die gegenseitige Wahrnehmung als auch das Verhalten prägten, veranschaulicht eine Episode aus den Berichten von Vancouver (Vancouver 1798: 268-270; außerdem Thrush 2011): Im Mai 1792 begaben sich Vancouver und ein paar wenige Besatzungsmitglieder in einer Segeljolle auf eine Erkundungsfahrt in die flachen Gewässer der Sunde im Osten der Olympic-Halbinsel, für die die Discovery zu viel Tiefgang hatte. Am Mittag gingen sie für eine Mahlzeit an Land, wo sie bereits wenig später Besuch von etwa einem Dutzend Vertretern der dort ansässigen S’Klallam bekamen. Nach einer Weile baten zwei der S’Klallam darum, die Linie überschreiten zu dürfen, die Vancouver und seine Begleiter im Sand zwischen sich und den S’Klallam gezogen hatten. Mit Vancouvers Erlaubnis nahmen die beiden zwischen den Europäern Platz und aßen ohne zu zögern von deren Brot und Fisch. Als man ihnen aber eine Pastete mit Wildbret (venison pie) anbot, wurden sie skeptisch. Nach kurzer Begutachtung warfen sie die Pastete entsetzt auf den Boden: »[…] they pointed to each other, and made signs that could not be misunderstood, that it was the flesh of human beings […].« (Vancouver 1798: 270) Während europäische Entdecker und Händler in ihren Berichten und Erzählungen über die Nordwestküste nicht selten über den Kannibalismus der indigenen Bevölkerung fabulierten, waren es nun Vancouver und seine Begleiter, die sich dem Vorwurf der Anthropophagie ausgesetzt sahen. Wie Vancouver anmerkt, war dies: »[…] an impression which it was highly expedient should be done away.« (Ebd.: 269-270) Erst nachdem die Europäer eilig die Reste einer Rehkeule als Gegenbeweis
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Zum europäischen Interesse an den indigenen Fischölen und Tranen siehe auch Drucker (1963: 31), Fisher (1992a: 9) und Hirch (2003: 7).
1. Teil: Grundzüge einer Kulturgeschichte indigener Ernährungskulturen in British Columbia
hervorkramten, entspannte sich die Situation und einige der S’Klallam kosteten sogar von der vermeintlichen Menschenpastete. Selbstverständlich war dies nicht das einzige Beispiel anfänglicher indigener Vorurteile in Verbindung mit der Ablehnung europäischer Lebensmittel. So hätten etwa Tlingit Reis für Maden, Tsimshian Brot für Baumpilze und Molasse für Menschensaft (»the rot of people«) gehalten (Thrush 2011: 18). Wie das Beispiel von »Vancouver, dem Kannibalen«, aber auch Jewitts Sinneswandel und die Tatsache, dass ebenso Reis, Brot und natürlich auch Molasse letztlich zu (wenn auch nicht immer essentiellen, so doch zumindest generellen) Lebensmitteln für die indigene Bevölkerung wurden, veranschaulichen, lässt der unmittelbare Kontakt mit Neuem und Fremdem letztendlich (wenn auch nicht immer sofort) die meisten (aber nicht alle) Vorurteile an der Realität scheitern. Nun gibt es für die Zeit des frühen Kontakts auf beiden Seiten – die indigene Bevölkerung auf der einen und die Europäer auf der anderen – zahlreiche Beispiele für die Ablehnung und Übernahme kulinarischer Einflüsse. Einige davon werden aufgegriffen, wenn es im Kapitel 1.2.2. »If I had to Choose…«: Indigene Ernährungskulturen im Wandel der Zeit um die Transformation indigener Ernährungskulturen und im darauffolgenden Kapitel 1.2.3. »Food is Our Medicine«: Zur Revitalisierung indigener Ernährungskulturen um Versuche geht, diese Transformationsprozesse umzukehren. Zuvor gilt es jedoch im Kapitel 1.2.1. »That’s Our Buffalo!«: Die historischen Ernährungskulturen der Coastal First Peoples ein Bild davon zu zeichnen, was für die indigenen Ernährungskulturen der Nordwestküste in der Zeit kurz vor und während der Ära des Erstkontakts charakteristisch war. Meine diesbezügliche Darstellung ist in Anbetracht der Fülle an Details, die zu den indigenen Ernährungskulturen der Nordwestküste bekannt sind, fraglos selektiv.45 Diesem Vorgehen liegt die Annahme zugrunde, dass eine solche selektive Darstellung es ermöglicht, am Ende des Kapitels 1.2.1. die zentralen Wesenszüge der indigenen Ernährungskulturen an der Nordwestküste ableiten und damit ein zwar stark reduziertes, aber hinreichendes Bild geben zu können. Den Hintergrund dieser Herangehensweise bilden Überlegungen, die ihren Ausgang im Konzept der sogenannten flavor principles nehmen: In Culinary Themes and Variations (2005) bestimmen Elizabeth Rozin und ihr Ehemann, der Verhaltens- und Ernährungspsychologe Paul Rozin, flavor principles als »distinctive and pervasive flavoring combinations [that] seem to impart a clear and characteristic identity to the food of any group.« (Rozin und Rozin 2005: 35) Die
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An dieser Stelle sei auf eine Reihe von (für die Nordwestküste im Allgemeinen wie auch für spezifische Gruppen) geradezu enzyklopädischen Arbeiten darüber, was gegessen, wie dieses Essbare kultiviert, geerntet und gejagt wurde und wie diese Zutaten schließlich zubereitet, serviert und verzehrt wurden, hingewiesen. Siehe etwa Batdorf (1990), Kuhnlein und Turner (1996), Kuhnlein und Humphries (2017), Nabhan (2006), Pasco et al. (1998), People of ’Ksan (1980) sowie die unzähligen Arbeiten von Turner (bspw. 1997, 2005, 2006, 2014).
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reduzierte Darstellung bestimmter Ernährungskulturen anhand der für sie spezifischen flavor principles, d.h. anhand der für sie üblichen Kombination prominenter Geschmäcker, ermöglicht es demnach, ihre identitätsstiftenden Charakteristika greifbar und damit von anderen Ernährungskulturen unterscheidbar zu machen.46 Während Rozin und Rozin allerdings Gewürze und den Eigengeschmack prominenter Zutaten als primäre Geschmackselemente deutlich in den Vordergrund rücken, scheint dies zumindest in Bezug auf die indigenen Ernährungskulturen der Nordwestküste nicht hinzureichen, um die wesentlichen Charakterzüge dieser Ernährungskulturen sichtbar zu machen. Denn wie im folgenden Kapitel 1.2.1. deutlich wird, spielten für die historischen Ernährungskulturen der Coastal First Peoples geschmackliche Qualitäten von insbesondere Präservierungs- und Kochtechniken eine entscheidende Rolle. Um der Tatsache Rechnung zu tragen, dass es im Hinblick auf die historischen indigenen Ernährungskulturen weniger – oder nicht nur – die prominenten Zutaten, als vielmehr die Art und Weise war, wie diese verwendet wurden, worin der unverkennbare Charakter der Ernährungskulturen bestand, wird im weiteren Verlauf anstelle des Begriffs flavor principles dem Begriff der »kulinarischen Grammatik« (Trenk 2012: 57) Vorzug gegeben.47 Wie weiter unten erläutert wird, dient diese linguistische Metaphorik dazu, den Fokus weg von den Eigenschaften einzelner Zutaten (=Begriffe) hin zu den beobachtbaren Gesetzmäßigkeiten einer kulturell verankerten kulinarischen Praxis (=Sprache) zu verschieben. Indem im folgenden Kapitel demnach nicht nur die verfügbaren Nahrungsmittelressourcen der Northwest Coast natural region gesammelt und auf dieser Grundlage dominante Geschmackskombinationen erörtert werden, sondern versucht wird, das Ineinandergreifen von Nahrungsmittelressourcen und Lebensweise mit Koch- und Präservierungstechniken zu erläutern, werden damit zugleich die Grundlagen einer kulinarischen Grammatik indigener Ernährungskulturen an der Nordwestküste skizziert. Dabei gibt es ohne Frage trotz aller Ähnlichkeit und Gemeinsamkeiten auch zwischen den verschiedenen Gruppen der Coastal First Peoples teils große Unterschiede. Die Reduktion dieser Diversität anhand der Bestimmung einer gemeinsamen kulinarischen Grammatik scheint als heuristisches Mittel zur komparativen Veranschaulichung stattgefundener und fortwährender 46
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Für Rozin und Rozin geht es in Culinary Themes and Variations allerdings nicht nur um die Identifikation oder Unterscheidbarkeit von Küchen oder kulturspezifischen Ernährungsweisen. Vor dem Hintergrund von Paul Rozins eigentlicher Profession als renommierter Verhaltensund Ernährungspsychologe diskutieren sie die Rolle von flavor principles im Zusammenhang mit einem Problem, das im Rückgriff auf Paul Rozin’s The Selection of Foods by Rats, Humans and Other Animals (1976) bekannt wurde als the omnivore’s problem (Rozin 1976), the omnivore’s paradox (Fischler 1980, 1988) oder auch the omnivore’s dilemma (Pollan 2006). Siehe hierzu meine Erläuterung in Kapitel 1.2.2. im Abschnitt Gastro(a)nomie indigener Ernährungskulturen. Ähnliche linguistische Analogien finden sich bspw. bei Claude Fischler (1980: 944; 1988: 286), Mary Douglas (1966, 1972) und Thomas Reinhardt (2017).
1. Teil: Grundzüge einer Kulturgeschichte indigener Ernährungskulturen in British Columbia
Transformationsprozesse dennoch legitim. Bildlich gesprochen, lässt bereits ein flüchtiger Blick auf die Ernährungskulturen der indigenen Bevölkerung zwischen Alaska und der Olympic-Halbinsel die regionalen und gruppenspezifischen Besonderheiten eher als Dialekte denn als grundverschiedene Sprachen erscheinen. Je weiter man sich allerdings aus dem Gebiet der Northwest Coast natural region und deren ökologischen Gegebenheiten entfernt – und dies gilt bereits für Teile des Interior Plateau östlich des Küstengebirges – desto signifikanter und inkommensurabler sind die Differenzen. Schließlich haben die unterschiedlichen Geografien, Ressourcen und historischen Prozesse gleichsam unterschiedliche Komplexe kulinarischer Wissenskulturen und Praktiken sowie damit zusammenhängende technische Details und Objekte materieller Kultur hervorgebracht. Ungeachtet dieser unterschiedlichen Komplexe, konzentriert sich das folgende Kapitel 1.2.1. auf eine (verallgemeinernde) Darstellung der Ernährungskulturen der Coastal First Peoples, die auch Jewitt anfangs verschmähte und doch bald zu schätzen lernte.
1.2.1
»That’s Our Buffalo!«: Historische Ernährungskulturen der Coastal First Peoples
People from the Shore Verallgemeinerungen mögen grundsätzlich problematisch sein. Vor allem dann, wenn es sich um einen historischen Rückblick handelt, der stets Gefahr läuft, vielschichtige Prozesse zu statischen Entitäten zu verdichten und unterbestimmte Diversität zu scheinbar gegebener Eindeutigkeit zu reduzieren. Doch wenn eines für die indigenen Gruppen an der Nordwestküste außer Frage steht, dann ist es die zentrale Rolle, die Wasser bzw. die Gewässer und Uferlinien des Meeres, der Fjorde, Flüsse, Seen und all das, was darin an Aquaflora und -fauna anzutreffen ist, für die Geschichte, Kultur und das Selbstverständnis der Coastal First Peoples im Allgemeinen spielt. Die im wahrsten Sinne genealogische Verknüpfung der »People from the Shore« (Sewid-Smith 2013) mit dem Wasser und dem Leben darin, wird in einer der bekanntesten Ursprungsmythen der Haida im Norden von British Columbia greifbar: Nach der großen Flut lag eine Muschel am Strand. Als Rabe48 über den Strand flog, sah er die Muschel und hörte Geräusche aus ihrem Inneren. Als er sich näherte, öffnete sich die Muschel ein wenig und Menschen schauten ängstlich hinaus. Rabe forderte sie auf, herauszukommen. Anfangs zögerten sie. Nach und nach kamen
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In den Mythologien nahezu aller indigener Gruppen in den Küstengebieten des heutigen British Columbia spielt die Figur des Raben eine zentrale Rolle.
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immer mehr Menschen aus der Muschel gekrochen und begannen vom Strand aus das Land zu bevölkerten.49 Genauso wie die ersten Menschen aus dem Meer kamen und vom Strand aus die Welt bevölkerten und belebten, ist die Lebenswelt der indigenen Bevölkerung vom Wasser und dem Leben darin durchdrungen. Man könnte auch sagen – um eine, wenn auch von ihrem ursprünglichen Kontext geradezu diametral entfremdete, Formulierung von Sidney Mintz zu leihen –, dass das Wasser und das Leben darin das waren, was dem Leben der Coastal First Peoples »Sinn und Richtung« (Mintz 1987: 37) gab.50 Derjenige Lebensbereich, in dem diese Durchdringung am deutlichsten zutage tritt, sind die indigenen Ernährungskulturen. Schließlich beruhten diese, neben einigen pflanzlichen und tierischen Nahrungsmitteln aus den Wäldern und Graslandschaften, bis zur Verbreitung europäischer Nahrungsmittel in erster Linie auf Salz- und Süßwasserfischen, großen wie kleinen Meeressäugern, diversen Meeresfrüchten und einer ganzen Reihe von Meeresalgen und Süßwasserpflanzen aus den Sumpf- und Feuchtgebieten in den Flussmündungen und entlang der fruchtbaren Flussufer. Die fünf pazifischen Lachsarten – Rotlachs (sockeye), Silberlachs (coho oder silver), Königslachs (chinook oder spring), Buckellachs (pink auch humpback oder humpies) und Ketalachs oder auch Hundslachs (chum oder dog salmon) – nehmen dabei eine besondere Rolle ein51 : Zum einen war Lachs in quantitativer Hinsicht »das« zentrale Grundnahrungsmittel. Zum anderen stehen Lachse in einem konstitutiven Verhältnis zu dem, was man als »duale Morphologie« der Lebenswelt der Coastal First Peoples bezeichnen kann, wobei diese duale Morphologie wiederum unmittelbar mit der kulinarischen Grammatik der indigenen Ernährungskulturen verknüpft ist. Aber beginnen wir am Anfang. 49
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Siehe hierzu Stewart (1977: 18-19) und Cross (2011). Besondere Bekanntschaft und öffentliche Aufmerksamkeit hat dieser Ursprungsmythos durch Bill Reids (Haida) Darstellung der Szenerie in Gestalt der monumentalen Statue The Raven and the First Man (1980, Museum of Anthropology, Vancouver) erlangt. Reid (1920-1998) war einer der einflussreichsten indigenen Künstler der Nordwestküste. Hilary Stewart fasst hierzu zusammen: »Many myths, songs, dances, and ceremonies were based on some aspect of the sea or the river, its spirits, the underwater world or the characteristics of the fish. Creatures of the sea became family crest or spirit helpers, and were carved into bowls, painted on possessions, tattooed on the body, woven into the patterns of life.« (Stewart 1977: 18) Eine wichtige Einschränkung ist die Tatsache, dass die Lachsvorkommnisse im Norden British Columbias geringer ausfallen, als das südlich von Haida Gwaii der Fall ist. Laut Stewart nimmt in den Ernährungskulturen der Haida und Tlingit deshalb der Heilbutt eine Rolle ein, die in gewisser Hinsicht mit der Zentralität von Lachs bei den weiter südlich lebenden Gruppen vergleichbar sei (Stewart 1977: 29; außerdem Jonaitis 1981). Zur besonderen Rolle von Lachs im mittleren und südlichen Teil British Columbias sowie dem amerikanischen Teil der Nordwestküste siehe insbesondere die Beiträge der indigenen Autor*innen in Roche und McHutchison (1998).
1. Teil: Grundzüge einer Kulturgeschichte indigener Ernährungskulturen in British Columbia
Im Gegensatz zu den an der Nordwestküste heimischen und das ganze Jahr über verfügbaren Meeresfrüchten, Meeressäugern (bis auf Wale) und Speisefischen, wie etwa Heilbutt, Flunder, Rotbarsch oder Kabeljau, sind Lachse anadrome Wanderfische. Im Laufe ihres artspezifischen Lebenszyklus migrieren sie aus den Süßwasserflüssen British Columbias in die Weiten des Pazifiks. Sind sie ausgewachsen und geschlechtsreif, kehren sie je nach Art zwischen Frühling und Herbst in großen Schwärmen zurück an die Küste. Ihr einziges Ziel ist es dann, flussaufwärts zu ihrem Geburtsort zu gelangen, um dort zu laichen und anschließend zu verenden. Die maßlose Fülle, in der sie zu den Hochzeiten dieser alljährlichen Lachswanderungen (salmon run) vom Meer kommend die Gewässer der Nordwestküste bevölkern, wird oft damit beschrieben, dass man in früheren Zeiten auf ihren dicht an dicht gedrängten Körpern sprichwörtlich übers Wasser laufen konnte (Osawa 1998: 134). Dass ein solches Naturschauspiel nicht ohne Effekt auf die Lebensweise und Ernährungskulturen der indigenen Bevölkerung bleibt, lässt sich leicht erahnen. Roy Cranmer (’Namgis, Berufsfischer aus Alert Bay) bringt die Bedeutung der Lachswanderungen bzw. des Lachses und ebenso anderer maritimer Nahrungsmittelressourcen für die Coastal First Peoples am Ende des Dokumentarfilms Laxwesa Wa. Strenght of the River (1995) auf den Punkt: »If the salmon or any other resource from the sea weren’t here, we wouldn’t be here. I mean … We never had buffalo here to eat. No. … That’s our buffalo! The salmon and whatever other resource we have from the sea.«52 Würden also nicht Millionen von Lachsen Jahr für Jahr die Gewässer British Columbias überschwemmen, würden auch die ’Namgis und andere Coastal First Peoples nicht bereits seit Jahrtausenden die Nordwestküste bevölkern und damit auch nicht die distinkten Gesellschaften darstellen, die sie heute sind – Gesellschaften, die sich in vielerlei Hinsicht eklatant von anderen indigenen Bevölkerungsteilen Nordamerikas unterscheiden: That’s our buffalo! In Anlehnung an Ann Garibaldi und Nancy J. Turner (2004) kann man deshalb in Bezug auf die Northwest Coast culture
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Cranmer (1995, Minute 52:08-52:26). In Laxwesa Wa geht es um die Lachsfischereitraditionen der Stó:lō, Heiltsuk und ’Namgis First Nation und die negativen Auswirkungen behördlicher Fischereiregularien auf diese Traditionen und damit verknüpfte Lebensweisen. Nicht zuletzt macht Regisseurin und Produzentin Barb Cranmer (’Namgis) deutlich, inwiefern diese Regularien nicht nur die indigene Lachsfischerei unterlaufen. Laxwesa Wa handelt ebenso davon, dass diese Ressourcen durch kommerzielle Fischerei, Lachsfarmen und andere Eingriffe (Schifffahrt, Straßenbau, Holzeinschlag, Abwasser etc.) in die aquatischen Ökosysteme der Nordwestküste stark gefährdet und teils irreversibel beschädigt sind. Cranmer verweist in diesem Zusammenhang schließlich darauf, dass eine behördliche Inklusion des Wissens und der Techniken indigenen Ressourcenmanagements einen Weg darstellen kann, diesen ökologischen – und aufseiten der indigenen Bevölkerung gleichsam soziokulturellen – Problemen nachhaltig zu begegnen.
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area auch vom Lachs als einer sogenannten cultural keystone species sprechen – d.h. als einer »culturally salient species that shape in a major way the cultural identity of a people. Their importance is reflected in the fundamental roles these species play in diet, materials, medicine, and/or spiritual practices.« (Garibaldi und Turner 2004: 15) Garibaldi und Turners begriffliche Bestimmung lässt sich dahingehend ergänzen, dass sich die Zentralität einer solchen Spezies in der spezifischen raumzeitlichen Organisation einer Gesellschaft niederschlägt – also in dem, was Mauss unter dem Begriff der »sozialen Morphologie« diskutiert hat. Mit Bezug auf Emile Durkheims Bestimmung des Begriffs (Durkheim 1897), schreibt Mauss, die soziale Morphologie einer Gesellschaft zu untersuchen, bedeutet »das materielle Substrat der Gesellschaft […] [zu erforschen], das heißt die Form, die sie annehmen, wenn sie sich auf einem Territorium niederlassen, Größe und Dichte der Bevölkerung, die Art und Weise, wie diese verteilt ist, sowie das Ensemble der Dinge, in denen das kollektive Leben seinen Sitz hat.« (Mauss 1974: 183) Nun ist das materielle Substrat einer Gesellschaft nicht zwingend statisch, sondern kann je nach Region erhebliche jahreszeitliche Veränderungen durchlaufen. So zeigt Mauss am Beispiel historischer Gesellschaften im nördlichen Polargebiet, wie sich deren soziale Morphologie beim jahreszeitlichen Wechsel von Winter und Sommer in Gestalt einer räumlichen Verdichtung oder Konzentration der Gruppen im Winter und einer entsprechenden Zerstreuung im Sommer stets radikal wandelte. Der Punkt ist, dass dieser Wandel »im Rhythmus von Konzentration und Zerstreuung« (1974: 240) mit einem grundlegenden Wandel von Siedlungsstruktur und Behausung einherging, der sich zugleich in einem Wandel der Gruppenzugehörigkeit, hauswirtschaftlichen Organisation, Rechtsprechung, Moral und Religion reflektierte. So sei es, schreibt Mauss, »allgemein gültig, dass die Menschen sich nach zwei verschiedenen Weisen gruppieren und dass diesen Gruppenformen zwei Rechtssysteme, zwei Moralen und zwei Arten von Hauswirtschaft und religiösem Leben entsprechen.« (Mauss 1974: 271) Entscheidend ist, dass diese von Mauss beschriebene, durch den jahreszeitlichen Wechsel von Sommer und Winter bestimmte, doppelte soziale Morphologie (im Folgenden kurz als »duale Morphologie« bezeichnet) der Gesellschaften im nördlichen Polargebiet in gleicher Weise auf die indigenen Gesellschaften der Nordwestküste zutrifft (Mauss 1974: 272). Mit Blick auf die Hintergründe dieser Dualität, spielen in beiden Fällen Fragen der Subsistenz eine erwartungsgemäß zentrale Rolle. In dem Sinne, dass »die Bewegung, welche die Gesellschaft belebt, […] mit der des umgebenden Lebens [synchron ist].« (Mauss 1974: 240)
1. Teil: Grundzüge einer Kulturgeschichte indigener Ernährungskulturen in British Columbia
Weiter oben wurde bereits erwähnt, dass die meisten indigenen Gruppen an der Nordwestküste innerhalb ihrer Territorien neben einer (semi-)permanenten Wintersiedlung eine Sommersiedlung und/oder mehrere saisonale Camps besaßen, auf die sich die Gruppen zwischen Frühling und Herbst aufteilten. Die Standorte der Sommersiedlungen und Camps waren von den an diesen Orten vorzufindenden, gemanagten oder kultivierten pflanzlichen und tierischen, maritimen und terrestrischen Nahrungsmittelressourcen abhängig. Es scheint deshalb gerechtfertigt, zu behaupten, dass die Saisonalität und der Ort (Regionalität) spezifischer Ressourcen konstitutive Elemente der raumzeitlichen Ordnung und Organisation bzw. der sozialen Morphologie der Coastal First Peoples waren – die alljährliche Bewegung von Konzentration und Zerstreuung dieser Gruppen also synchron mit der sie umgebenden natürlichen wie auch anthropogenen Umwelt verlief. Und es liegt nahe, dass die Lachse als quantitativ wichtigstes Nahrungsmittel hierbei eine ausschlaggebende Rolle spielten. Nicht zuletzt ließen sich mit den richtigen Kenntnissen, effektiven Fischfangtechniken und Techniken zur hinlänglichen Präservierung von Überschüssen innerhalb weniger Wochen Vorräte für einen ganzen Winter erwirtschaften. Dabei darf jedoch nicht unerwähnt bleiben: Auch wenn es im Zuge der Verstopfung der Küsten, Fjorde und Flüsse mit Lachsschwärmen Orte und Situationen gegeben haben mag, die es erlaubten, im wahrsten Sinne Fische mit der bloßen Hand zu fangen, zeugen die Berichte von Vancouver und anderen Europäern davon, dass diese Fülle, wenn auch sichtbar, so doch nicht ohne Weiteres verfügbar war (Stewart 1977: 25, Thrush 2011: 7-8). Um diese außerordentliche Nahrungsquelle effektiv nutzbar zu machen, mussten die indigenen Gesellschaften erst ausgefeilte Fischfangtechniken entwickeln, die sie nahezu perfektionierten. So schreibt etwa der amerikanische Admiral Albert P. Niblack 1885 in einem Bericht über das nördliche British Columbia und Alaska: »There is little in the art of fishing we can teach these Indians.« (Niblack nach Stewart 1977: 25) Die vielseitigen, an die regionalen Gegebenheiten der Gewässer angepassten Fischfangtechniken variierten vom Fang mit Haken und Schnur, über Speere, Harpunen und allerlei Netzarten bis hin zu aufwändigen Reusensystemen, künstlichen Becken in den Gezeitenzonen53 und plattformartigen Konstruktionen an Wasserfällen.54 Derweilen markiert der Rückzug in die Wintersiedlungen eben nicht bloß den klimatischen Wechsel der Jahreszeiten. Für die indigene Bevölkerung endete da53 54
Bei Flut schwammen die Fische über die Steinwände in die Becken dahinter, aus denen sie beim Einsetzen der Ebbe nicht mehr herauskamen. Beim Versuch Wasserfälle hinaufzuspringen, fielen die Fische auf die hölzernen Gitter, von denen sie anschließend eingesammelt werden konnten. Für einen knappen Überblick über die indigene Fischereikunst siehe Irwin (1984) und für eine ausführliche Besprechung der verschiedenen regionalen Fischfangtechniken, detailreiche Illustrationen und Hintergründe Stewart (1977); außerdem Boas (1909: 461-506). Für die Rolle indigenen Ressourcenmanagements in diesem Zusammenhang siehe Anderson (1996: 54-72).
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mit zugleich die Zeit der profanen Arbeiten (Anbau, Ernte/Jagd und Präservierung) und begann die Zeit der Winterzeremonien – und das bedeutet natürlich auch die Zeit der großen Festessen.55 Entscheidend ist: Für diese Festessen, aber auch schlicht aufgrund der Tatsache, dass es an der Nordwestküste im Winter erheblich schwieriger ist, an frische Lebensmittel zu gelangen und Fischen und Jagen deutlich mühsamer sind, mussten die immensen Mengen von an verschiedenen Orten gejagten, gesammelten und geernteten saisonalen Nahrungsmitteln sowohl für den Transport in die Wintersiedlungen und für den intertribalen Handel als auch zur allgemeinen Bevorratung haltbar gemacht, also präserviert werden. Die duale Morphologie indigener Lebensweise stellt somit ein konstitutives Element der kulinarischen Grammatik der historischen Ernährungskulturen der Coastal First Peoples dar. In dem Sinne, dass neben den intrinsischen Eigenschaften jeweilig saisonal verfügbarer tierischer und pflanzlicher Nahrungsmittel die Präservierungstechniken bzw. das unmittelbare Ineinandergreifen von der dualen Morphologie indigener Lebensweisen, Präservierungs- und Kochtechniken einen signifikanten Beitrag zum identitätsstiftenden Charakter historischer indigener Ernährungskulturen leisteten. Um diesen Charakter bzw. die kulinarische Grammatik historischer indigener Ernährungskulturen an der Nordwestküste greifbar zu machen, wird im Folgenden ein Überblick über einige der wesentlichen Nahrungsmittel – oder Zutaten – und die diesbezüglichen Zubereitungs- und Präservierungstechniken gegeben. Der erste Abschnitt bezieht sich auf ein Nahrungsmittel, das bei den meisten Gruppen nicht nur einen konstitutiven und prominenten Bestandteil alltäglicher wie auch festtäglicher Ernährung darstellte, sondern das zudem den mit Abstand größten Teil der Vorratsbildung ausmachte: Lachs.
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Ohne tiefer in das faszinierende Thema der Winterzeremonien einzusteigen, lohnt es sich zumindest einen Aspekt zu erwähnen, auf den auch Mauss referiert, wenn er die morphologische Analogie der Gesellschaften im nördlichen Polargebiet und an der Nordwestküste diskutiert: Um die fundamentale Dualität der sozialen Morphologie dieser Gesellschaften zu unterstreichen, betont er mit Bezug auf Boas The Social Organization and the Secret Societies of the Kwakiutl Indians (1897), dass der jahreszeitliche Wandel des materiellen Substrats jener Gesellschaften zugleich den Übergang von einer profanen zu einer spirituellen Ordnung der Welt kennzeichnete, was nicht zuletzt im Wechsel der individuellen Namen zum Ausdruck kam. (Mauss 1974: 272) Boas schreibt hierzu in Kapitel VII. The Organization of the Tribe During the Season of the Winter Ceremonial: »[…] from the moment when the spirits are supposed to be present, all the summer names are dropped, and the members of the nobility take their winter names. It is clear, that with the change of name the whole social structure, which is based on these names, must break down. Instead of being grouped in clans, the Indians are now grouped according to the spirits which have initiated them. […] Thus, at the time of the beginning of the winter ceremonial the social system is completely changed.« (Boas 1897: 418)
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Lachs Gesellschaften, deren Leben sich um ein bestimmtes Nahrungsmittel herum organisiert, haben nicht nur erwartungsgemäß ausdifferenzierte Ansichten zur Qualität der entsprechenden Rohmaterialien, sondern verfügen ebenso über ausgefeilte Techniken zu deren Verarbeitung bzw. Zubereitung (Drucker 1951: 62-63). So schreibt etwa der Kwakawaka’wakw Fischer James Sewid (Alert Bay) in seiner Autobiografie (1977): »We had lots of ways of cooking fish […]. We could cook halibut or salmon in many more ways than the white people even knew about. […] I used to live on fish that had been barbecued or boiled in oil and it would be different for every meal.« (Spradley 1972: 235) Auch wenn sich diese Vielfalt nicht erschöpfend darstellen lässt, können einige wesentliche wie verallgemeinerbare Aspekte zusammengefasst werden. Sie geben eine hinreichende Vorstellung der Rolle und Verwendung von Lachs in den indigenen Ernährungskulturen: Abgesehen von Heilbutt und Flunder, die aufgrund ihrer Physiognomie, oder andere Fische, wie etwa die weniger als einen Fuß messenden gestreiften Klippfische (kelpfisch, Gibbonsia metzi), die allein aufgrund ihrer geringen Größe (max. 25cm) nach einer anderen Verarbeitung verlangen, werden Lachse unabhängig davon, ob sie frisch zubereitet oder präserviert werden, zunächst auf eine spezifische, nahezu immer gleiche Weise zerlegt.56 Im Gegensatz zur in weiten Teilen Zentraleuropas üblichen Vorgehensweise, bei der der Fisch über den Bauch geöffnet, ausgenommen und anschließend vom Nacken an den Rücken entlang schneidend filetiert wird, wird der Fisch an der Nordwestküste bis heute meist über den Rücken, d.h. vom Nacken an der Wirbelsäule bis zur Schwanzflosse folgend geschnitten. Der Bauch bleibt dabei unversehrt und die beiden Filets auf diese Weise verbunden. Der Fisch kann dann der Länge nach aufgefaltet und die Karkasse in einem Stück entnommen werden. Zur weiteren Verarbeitung, d.h., um den im Ganzen entbeinten Fisch zu filetieren oder anderweitig zweckgerichtet zurechtzuschneiden und zu portionieren (etwa zum Grillen, Trocknen oder Räuchern), wird der Fisch auf der Haut liegend auf einem Schneidbrett oder gar auf eigens dafür gedachten Schneidebrett-Vorrichtung platziert. Letztere gleichen einem Satteldach, über das der schmetterlingsförmig aufgeschnittene Fisch der Länge nach – an je-
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Außer vereinzelter Erwähnungen wird im Folgenden aus Gründen der Übersicht nicht im Detail auf die Besonderheiten anderer Fischarten als der Pazifischen Lachsarten eingegangen. Ausnahmen sind der Pazifische Hering und der Kerzenfisch. Nicht zuletzt lassen bereits ein kurzer Blick in Hunt und Boas’ Rezeptsammlungen als auch die Darstellungen in People of ’Ksan (1980) und Stewart (1977) erkennen, dass die allgemeine Handhabung im Grunde den gleichen Prinzipien (Präservierungs- und Zubereitungstechniken) folgt.
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der Seite hängt eines der Filets herunter – ausgebreitet und so bequem verarbeitet werden kann.57 Wie im Fall der Schnitttechniken zum Zerlegen der Lachse, die je nach Gruppe im Detail variiert haben mögen, im Wesentlichen jedoch demselben Prinzip folgten, lassen sich auch im Zusammenhang mit der weiteren Handhabung von Lachsen grundlegende Gemeinsamkeiten formulieren, die für die gesamte Nordwestküste charakteristisch sind: Zunächst einmal wurden die Lachse nach dem Fang unverzüglich entweder frisch zubereitet, zur Bevorratung luft- bzw. sonnengetrocknet oder gleich geräuchert. Generell wurde frisch gefangener Fisch in keinem Fall roh gegessen (Krause 1885: 155; People of ’Ksan 1980: 48). Bei frischer Zubereitung wurden die Lachse gewöhnlich am offenen Feuer gegrillt.58 Hierfür wurden entweder der im Ganzen entbeinte Fisch oder nur die Filets in ca. 1,5 Meter lange hölzerne Zangen eingeklemmt und mit Hilfe von dünn gespaltenem Nadelbaumholz aufgespannt.59 Die an Grillroste erinnernden Konstruktionen wurden anschließend aufrecht stehend um ein Feuer herum aufgestellt (Abb. 1). Zunächst wurde der Fisch von der Hautseite gegrillt und gedreht, sobald die Haut anfing Blasen zu werfen. Fertig war der Fisch, wenn kein Fett mehr aus ihm heraustropfte.60 Insgesamt bekam das Fleisch nicht nur durch den Rauch des Feuers, sondern zudem durch den harzigen Duft des zum Aufspannen frisch gespaltenen Nadelbaumholzes ein unverkennbares Aroma. Da das Fleisch frischer bzw. »junger« Lachse61 trotz des austropfenden Fettes nach dem Grillen immer noch ausrei57
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Siehe hierzu Drucker (1951: 63), Krause (1885: 176), Stewart (1977: 44) und People of ’Ksan (1990: 37). Neben dieser Vorrichtung kamen früher auch einfache Matten (Boas 1921: passim) als Schneideunterlage oder aber Schneidbretter zum Einsatz, die ähnlich einer flachen Staffelei mit Hilfe eines Holzpfahls zu einer Schräge aufgerichtet wurden (Boas 1921: 225, 304). Für eine analoge Feststellung siehe Drucker (1951: 62). Stewart berichtet zudem davon, dass frischer Lachs und andere Fische – teils zusammen mit Meeresfrüchten – auch in Erdöfen gedünstet oder in offenen Erdgruben auf heißen Steinen (rock oven) gegart wurden (Stewart 1977: 130-131). Im Zuge der 8th Traditional Food Conference des Vancouver Island and Coastal Communities Indigenous Food Network (VICCIFN) im Herbst 2015 wirkte ich unter der Anleitung von Tom Child (Kwakwaka’wakw) beim Kochen in einem Erdofen mit. Child erwähnte in diesem Zusammenhang ebenfalls die Zubereitung von Fisch und Meeresfrüchten in Erdöfen und betonte, dass der Vorteil eines Erdofens darin bestehe, dass man nicht nur nicht danebenstehen und aufpassen müsse, sondern dass man auf diese Weise ohne Weiteres in der Lage wäre, »to feed a small army!« Allerdings scheint Grillen am offenen Feuer zwar eine weniger ergiebige, dafür jedoch weniger aufwendige und geläufigere Garmethode für frischen Lachs und anderen Fisch gewesen zu sein. Der Aufbau und die Nutzung von Erdöfen werden deshalb erst weiter unten thematisiert. Die Techniken zum Aufspannen der Fische variieren im Detail, folgen jedoch sämtlich dem gleichen Prinzip. In einigen Fällen wurde das heraustropfende Fett aufgefangen und weiterverwertet. Als »jung« wurde Lachs bezeichnet, der vor der Küste oder in Küstennähe in den unteren Teilen der Flüsse und Fjorde gefangen wurde und dessen Fettreserven für die Reise flussauf-
1. Teil: Grundzüge einer Kulturgeschichte indigener Ernährungskulturen in British Columbia
chend saftig und ölig ist, wurde zu am Feuer gegrilltem Lachs offenbar kein Fischöl oder Ähnliches gereicht (Boas 1921: 307-308). Eine zweite geläufige Zubereitungsart für frischen Lachs bestand darin, die Filets ohne weitere Zutaten in Süßwasser zu (zer)kochen (Boas 1921: 355). Hierfür wurden die Filets auf der Hautseite quer eingeschnitten, sodass das Fleisch bereits nach kurzem Sieden unter stetigem Rühren komplett zerfiel. Gegessen wurde dieses Gericht mit Löffeln, wobei auch in diesem Fall kein Öl dazu serviert wurde.62 Der überwiegende Teil der Lachse wurde allerdings nicht fangfrisch zubereitet, sondern mit Hilfe verschiedener Dehydrierungstechniken haltbar gemacht. Diese Techniken richteten sich nach den jeweiligen klimatischen Gegebenheiten. Bspw. wurde der Fisch in trockeneren Gebieten wie dem Frazer Valley eher luftgetrocknet, während weiter nördlich und in feuchteren Gegenden das Trocknen mit Hilfe der Wärme eines Feuers oder die Verwendung von separaten Räucherkammern (smoke houses) üblich war (Stewart 1977: 135). Artspezifische Unterschiede spielten ebenfalls eine Rolle. So seien bspw. Rot- und Silberlachs sehr ähnlich (Boas 1921: 237) und insbesondere Rotlachs zum Lufttrocknen geeignet – ganz im Gegensatz zu etwa Hundslachs (ebd.: 238-240). Damit die Dehydrierung möglichst effektiv verlief, wurden je nach Witterung und der spezifischen Art des Trockenvorgangs (Wind, Wärme, Rauch) verschiedene Schnitttechniken verwendet. Dabei galt das einfache Prinzip: je mehr Oberfläche das Fleisch hat, desto besser kann die Feuchtigkeit entweichen; und umso trockener das Fleisch ist, desto länger ist es haltbar.63 Um mehr Oberfläche als bei einem einfachen Filet zu bekommen, wurde das Fleisch bspw. in regelmäßigen Abständen quer eingeschnitten; die Haut entfernt; oder die Filets in mehrere sehr dünne Stücke aufgeteilt. Noch mehr Feuchtigkeit konnte entweichen, wenn die eingeschnittenen Filets beim Trocknen oder Räuchern gelegentlich auseinandergezogen wurden. Bereits getrockneter und/oder geräucherter Fisch wurde zur vollständigen Dehydrierung darüber hinaus noch im Haus eine Weile auf von der Decke über der Kochstelle hängenden Rosten weiter getrocknet und indirekt geräuchert. Durch diese, in Europa als Dielenräuchern bekannte, Art der Präservierung wurde das Räuchergut noch haltbarer und das Aroma entsprechend intensiver.
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wärts noch nicht verbraucht waren. Als »old« oder auch »ugly« hingegen, wurde Lachs bezeichnet, der in den oberen Teilen der Flüsse bzw. nach dem Laichen gefangen wurde (Boas 1921: 223, 239). Hunt und Boas betonen in diesem Zusammenhang, dass wenn dieses Gericht nicht mit jungem, sondern mit old salmon zubereitet wurde, dem Ganzen aufgrund des geringen Körperfettanteils der Fische Öl hinzugefügt werden musste: »The only difference with this and the way they do with dog-salmon, caught on the upper part of the river is that they put much oil into it, for it is lean […].« (Boas 1921: 354) Ein weiterer Faktor beim Präservieren war der Körperfettanteil der Fische – denn je mehr Körperfett, desto prekärer die Präservierung.
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Abgesehen von der reinen Haltbarkeit, war für die Qualität des Endprodukts entscheidend, dass alle Gräten hinreichend entfernt wurden. Die Angst, sich an einer Gräte zu verschlucken und öffentlich husten zu müssen, war groß. Schließlich war sowohl das Husten als auch das Trinken während des Essens, um den Hustenreiz zu lindern, ein beschämender Fauxpas.64 Wie profund bzw. beschämend ein Verletzen dieser Verhaltensregel war, macht Boas unmissverständlich deutlich: »when they get choked, […] they would be ashamed to show that they are choking, for, if they should get choked, they would have to drink water in the middle (of the meal) before they finish eating. Then they would at once promise a potlatch. Therefore they would rather choke to death.« (Boas 1909: 428) Allerdings gab es auch weniger aufwendige Präservierungstechniken, bei denen die Lachse zum Teil weder vollständig entbeint noch filetiert, sondern einfach (ohne Kopf) der Länge nach bis kurz vor der Schwanzflosse halbiert und so zum Trocknen oder Räuchern aufgehängt wurden (Boas 1921: 239). In Bezug auf die Details war das Spektrum an Möglichkeiten die Fische zu verarbeiten also groß, weshalb auch Stewart schreibt: »There were almost as many ways of butchering and preserving the fish as there were of catching them.« (Stewart 1977: 135) Das Grundprinzip der Präservierung blieb jedoch immer das Gleiche: Dehydrierung. Stewart betont überdies nicht nur die Dehydrierung als gemeinsamen Nenner der diversen Präservierungstechniken, sondern hebt außerdem die ausgesprochen wichtige Rolle hervor, die diese Techniken für die Kulturgeschichte der indigenen Bevölkerung an der Nordwestküste gespielt haben, wenn sie zusammenfasst: »The result, whatever the method, was dehydration of the fish so that it could be kept for a considerable amount of time. It was this skill in preservation that enabled a large population to thrive along the coast […]. Thus the preservation of the catch was as important as the quantity.« (Stewart 1977: 135) Der hinreichend präservierte Fisch wurde schließlich gebündelt in luftdurchlässigen Körben oder vollständig geschlossenen bentwood-Kisten eingelagert. Durch die Dehydrierung waren die Fischpräserven nicht nur lange haltbar, sondern hatten zudem eine erwartungsgemäß harte Konsistenz. In manchen Fällen wurden die Filets im Zuge des Dehydrierungsprozesses deshalb wiederholt weich geklopft, sodass sie auch im vollkommen trockenen Zustand noch einigermaßen weich und somit auch zum direkten Verzehr ohne langes Einweichen geeignet blieben. Dabei
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Die meisten von Hunt und Boas’ Rezepten beinhalten den Verweis darauf, dass vor und nach dem Essen Wasser gereicht wurde, um zu trinken; keinesfalls jedoch während des Essens. In The Kwakiutl of Vancouver Island (1909) schreibt Boas: »It is considered improper to drink water during meal-time.« (Boas 1909: 427)
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war es, Hunt und Boas’ Rezeptsammlung nach zu urteilen, vor allem zum Frühstück oder als Snack üblich, Trockenfisch direkt zu verzehren. Hierfür wurden die getrockneten Lachse zunächst am Feuer abgeflammt (scorched) – unter anderem, um damit die Fischhaut von lästigen Schuppen zu säubern –, weich(er) geklopft und anschließend zusammen mit Fischöl gegessen (Boas 1921: 309-310). Zwar wurde auch zu anderen Anlässen getrockneter Fisch lediglich abgeflammt in kleine Stücke zerbrochen und ohne etwaiges Weichklopfen oder Einweichen zusammen mit Öl serviert. Der bei weitem überwiegende Teil der Fischpräserven wurde aber vor der Weiterverarbeitung mindestens eine Nacht in einer eigens dafür vorgesehenen bentwood-Kiste gewässert. Die auf diese Weise rekonstituierten Fischpräserven ließen sich teilweise wie frischer Fisch bearbeiten. Allerdings wurde rekonstituierter Fisch in keinem Fall am offenen Feuer gegrillt, sondern nahezu ausschließlich in Wasser gesotten. Vor der Verbreitung von metallenem Kochgeschirr Ende des 18. Jahrhunderts wurden hierfür wasserdichte bentwood-Kisten verwendet. Zu diesem Zweck wurden zunächst Steine in einem Feuer erhitzt und eine große bentwood-Kiste, die rundherum mit Seilen verstärkt wurde, mit ausreichend Wasser befüllt. Hatten die Steine die passende Temperatur erreicht, wurden sie mit hölzernen Zangen aus dem Feuer geholt und, bevor sie in die eigentliche Koch-Kiste kamen, in eine zweite mit Wasser gefüllte Kiste getaucht, um Aschereste abzuwaschen. Waren alle heißen Steine im Wasser, kam das Gargut hinzu und die KochKiste wurde mit Matten abgedeckt, sodass keine Hitze oder Dampf entweichen konnte. Wenn nötig, konnte die Temperatur durch Hinzugabe oder Entnahme heißer Steine entsprechend reguliert werden.65 Wie sich im weiteren Verlauf zeigen wird, stellte die Verwendung heißer Steine zum Erhitzen von Wasser vermutlich »die« zentrale Kochtechnik indigener Ernährungskulturen an der Nordwestküste dar. Je nach verwendeter Wassermenge, konnte mit der nahezu gleichen Technik Gargut sowohl gesotten als auch gedämpft werden. Damit reichte die Palette der möglichen Gerichte von mit Löffeln verspeisten Pürees oder Breis (muchs), Eintöpfen und Suppen bis hin zu leicht gedünsteten Filets, die im Ganzen mit Fischöl übergossen serviert und mit den Händen gegessen wurden. Nun wurde weiter oben erwähnt, dass frischer Lachs und anderer Frischfisch üblicherweise nicht gesotten, sondern am offenen Feuer gegrillt und in der Regel explizit ohne Fischöl verzehrt wurde. Fischpräserven stellen hierzu folglich das genaue Gegenteil dar: Nicht nur wurden sie als Mahlzeiten üblicherweise durch das Sieden in Wasser zubereitet, sondern darüber hinaus beinahe ausnahmslos mit
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Zu den Kochsteinen erwähnen die People of ’Ksan ein nennenswertes Detail. Denn bei diesen Steinen handelte es sich nicht einfach um die nächstbesten: »These stones were kept neatly piled, ready to be used again and again.« (People of ’Ksan 1980: 15-16)
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reichlich Öl serviert.66 Schließlich war der für die Präserven präferierte Lachs idealerweise mager und das fertige Gericht entsprechend fettarm67 , weshalb Fischöl in diesem Kontext sowohl als Zutat als auch als begleitende »Soße« ein maßgebliches Strukturelement darstellte. In manchen Fällen wurde Öl auch durch die Flüssigkeiten substituiert, die beim Einweichen und Kochen entstanden. Besonders im Fall von knorpeligem bzw. knochen- oder fetthaltigem Gargut war die Kochflüssigkeit alles andere als wässrig. Vielmehr müssen freigesetzte Kollagene und Fette die Kochflüssigkeit geradezu cremig – oder, in Hunt und Boas’ Worten, »milky«68 – gemacht haben. Neben fangfrisch zubereitetem Lachs einerseits und vollständig dehydrierten Präserven andererseits, gab es dazwischen noch ein Drittes: den green salmon (Boas 1921: 316), wie der nur halbgetrocknete Lachs laut Hunt und Boas auch genannt wurde. Er wurde sowohl gewässert als auch ungewässert zubereitet. Ungewässert wurde er meist entweder kurz beidseitig am Feuer angeröstet69 oder schlicht portioniert in Süßwasser gekocht bzw. gedämpft und wie andere Präserven jeweils zusammen mit Öl serviert. Gewässerter green salmon wurde zwar nicht angeröstet, ansonsten jedoch auf die gleiche Weise gekocht bzw. gedämpft und jeweils zusammen mit viel Fischöl serviert. Ein spezielleres Gericht darf in diesem Zusammenhang nicht unerwähnt bleiben. Es wurde aus green salmon zubereitet, der nicht in Körben oder Kisten, sondern in Erdlöchern (earth cellar) geschichtet mit Gras und einer Lehm-Sand-Mischung vergraben und so für den Winter bevorratet wurde (Boas 1921: 236-237). Beim späteren Ausgraben war der halbtrockene green salmon schon reichlich gereift, weshalb er wohl auch nach dem ersten Waschen nicht in einer bentwood-Kiste mit Wasser, sondern in einem fließenden Gewässer über Nacht gewässert wurde. Die hinreichend gewässerten Filets wurden anschließend kleingeschnitten und mehrfach aufgekocht: »When it is done, it becomes a mush« (ebd.: 322). Diesem mush wurde schließlich reichlich Fischöl zugegeben und das Ganze ein weiteres Mal unter stetigem Rühren aufgekocht. 66
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Die Rede ist hier explizit von Mahlzeiten. Hunt und Boas erwähnen mehrfach, dass ölige Speisen nicht als Frühstück oder Snack geeignet wären, weil sie einen schläfrig machen würden. Siehe bspw. Boas (1921: 308). Hunt und Boas erwähnen hierzu, dass die ’Namgis (bei Hunt und Boas als »Nimkish«) extra den Nimpkish River hinauf reisten, um flussaufwärts alten Lachs fangen zu können, »that is not fat« (Boas 1921: 223). Siehe außerdem Boas (1921: 225, 305). Hunt und Boas formulieren das zugrunde liegende Prinzip der Emulsion in einem anderen Zusammenhang: »[T]he fat and the liquid become mixed; and for this reason the liquid becomes thick, and the liquid also becomes really milky. It looks as though flour had been put into it.« (Boas 1921: 385) Auch wenn der green salmon in diesem Fall nicht im Vornherein gewässert wurde, wurde er danach, solange er noch heiß war, mit Wasser besprenkelt. Das Wasser zog in das warme, halbtrockene Fleisch ein und weichte damit die Oberfläche (bei halbtrockenem Lachs der härteste Teil) auf.
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Erwartungsgemäß wurde neben den Filets der Lachse (frisch wie auch präserviert) prinzipiell der gesamte Fisch verwertet: Schwanzflossen und andere Teile der Karkasse wurden geräuchert und getrocknet oder knusprig geröstet als Snacks gegessen; die Fischköpfe, insbesondere Augen, Bäckchen und Nasen, galten als Delikatessen, die zunächst dehydriert, dann rekonstituiert und schließlich wie andere Präserven zwar in Wasser gekocht, dann aber ohne Öl gegessen wurden70 ; fangfrische Lachsköpfe wurden wie green salmon und auch frischer Lachs zu einem mush verkocht (ebd. 338); darüber hinaus wurden die Mägen fangfrisch gesäubert und anschließend zu einem eintopfartigen Gericht verarbeitet, das nach Hunt und Boas außerordentlich salzig war und, wie im Falle von frischem Lachs üblich, ohne Öl serviert wurde (ebd.: 356). Der orange bis rubinfarbene Rogen schließlich wurde als solcher gesotten, geräuchert, getrocknet oder sogar auf heißen Steinplatten gebraten (Boas 1921: 344-345).71 Am häufigsten wurde der Rogen allerdings mit elaborierten Fermentationstechniken zu komplexen Speisen veredelt und damit zugleich präserviert. Weshalb auch Jewitt schreibt: »Though they frequently eat it [spawn] fresh, they esteem it much more when it has acquired a strong taste.« (Jewitt 1987: 70). Während Jewitt eine eher einfache Technik beschreibt – »[…] they take out [the spawn], and without any further preparation, throw it into their tubs, where they leave it to ferment.« (Ebd.) – geben andere Quellen einen Einblick in umfassendere Verarbeitungsweisen. Die wesentlichen Techniken sind die Reifung und Aufbewahrung in entweder bentwood-Kisten oder Säcken aus Seehundmägen. So berichten etwa Hunt und Boas von sticky spawn: Im Herbst wurde der frische Rogen zerstampft und in einen Seehundmagen gefüllt, der zugebunden und an der Decke des Hauses zum Reifen und Abtropfen befestigt wurde – »Then it remains there until the fern and the salmon-berries begin to sprout [in spring].« (Boas 1921: 236) Im Frühling wurde der gereifte sticky spawn schließlich zusammen mit gerösteten Farnwurzeln oder den geschälten jungen Trieben der Prachthimbeere (salmon-berry) gegessen (Boas 1921: 343). Wie genau die Konsistenz von sticky spawn vorzustellen ist, erwähnen Hunt und Boas nicht. Anders als Drucker, der ein ähnliches Prozedere für die Nuu-chah-nulth skizziert – der einzige Unterschied ist, dass der Rogen nicht zerstampft wird –, und die Konsistenz als hart und kompakt beschreibt, weshalb der fermentierte Rogen auch als »Siwash cheese« bezeichnet wurde (Drucker 1951: 64). Nora Marks Dauenhauer (Tlingit) erwähnt ein ähnliches Gericht, das sie 70
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Vermutlich spielte hierbei der Umstand eine Rolle, dass die ausgekochten Kollagene und Fette, die in diesen Teilen der Fische reichlich vorhandenen waren, die Speise ohnehin sämig bzw. milky machten. Turner berichtet zudem davon, dass auch die Fischmilch der männlichen Lachse getrocknet wurde (Turner 2006: 193). Allerdings macht sie keine Angabe zum genauen Vorgehen bzw. wird auch nicht eindeutig klar, ob die Milch für sich oder vermischt mit Rogen (oder anderem) getrocknet wird.
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allerdings nicht als Käse, sondern als »Tlingit ›power bar‹« umschreibt: »Another delicacy […] was fermented salmon eggs packed in seal stomachs along with dried salmon strips. The eggs are mashed and pounded and pushed into the stomach and the dried strips are also pushed in.« (Marks Dauenhauer 1998: 110) Die Assoziation vergleichbarer Produkte aus fermentiertem Lachsrogen mit Käse ist jedoch wesentlich geläufiger, weshalb man in diesem Zusammenhang nicht selten der Bezeichnung als Indian cheese begegnet (NFNPS 1984: 14). So erläutern bspw. auch die People of ’Ksan einige Verarbeitungstechniken, deren Endprodukte sie mit Käse vergleichen: Frischer oder geräucherter Rogen wurde in Birkenrinde eingeschlagen in bentwood-Kisten gepackt und im Boden vergraben, um dort für einige Monate zu reifen – »until the mixture is ripened like a good cheese.« (People of ’Ksan 1980: 42) Außer dieser Variante aus reinem Rogen gab es eine weitere, bei der rohes Fleisch von Fischköpfen untergemischt, das Ganze ansonsten aber gleich verarbeitet wurde. Die Endprodukte beider Varianten wurden meist roh, zum Teil aber auch gesotten gegessen (ebd.: 43). Stewart beschreibt eine ähnliche Technik im Zusammenhang mit bentwood-Kisten, nur dass die mit Rogen gefüllten Kisten nicht vergraben, sondern im tiefen Fließwasser von Flüssen platziert wurden, sodass die Eier bei konstant kühler Temperatur gleichmäßig und relativ kontrolliert fermentieren konnten (Stewart 1977: 146). Hunt und Boas beschreiben ebenfalls das Fermentieren von Rogen in bentwood-Kisten. Das Endprodukt in ihrer Beschreibung klingt jedoch um einiges extremer als die bisherigen Beispiele: Der Rogen wurde ohne weiteres Zutun in Kisten gepackt in einer Ecke im Haus reifen bzw. »verrotten« gelassen – wie Hunt und Boas es ausdrücken (Boas 1921: 399-402). War der Rogen ausreichend gereift, wurde er mit ausgesprochen viel Öl – »really much oil […] [because] it chokes those who eat it.« – durch sehr langes Sieden unter ständigem Rühren zu einer homogenen Masse verkocht – »it just looks like boiled flour, and it is mushy.« (Ebd.: 340-341) Wie jeder, der schon einmal unter den Folgen einer Lebensmittelvergiftung leiden musste, weiß, ist das Reifen oder Fermentieren von tierischen Eiweißen alles andere als eine ungefährliche Angelegenheit. Im schlimmsten Fall kann eine falsche Handhabung sogar tödliche Folgen haben. Gleichwohl, wie hier und im Folgenden deutlich wird, stellten die aufwendigen Techniken des Reifens und Fermentierens zentrale Aspekte der indigenen Ernährungskulturen der Nordwestküste dar. Und das betraf bei weitem nicht nur Rogen, sondern wird in verschiedenen Zusammenhängen wie dem bereits genannten grease (auf das weiter unten näher eingegangen wird) oder auch im Hinblick auf Fischarten deutlich, die ungern fangfrisch gegessen wurden. Hunt und Boas erwähnen bspw. explizit den gestreiften Klippfisch (Boas 1921: 393) und auch Kabeljau (ebd.: 386), die am liebsten erst nach ausgiebiger Reifung zubereitet wurden – »after they have been in the house for a long time.« (Ebd.: 393) Wie sehr diese Präferenz für gereiften Fisch die indigenen Ernährungskulturen von anderen, d.h. vor allem von denen der Europäer im
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18. und 19. Jahrhundert unterschied und wie viel Wert dieser Fertigkeit des kontrollierten Zerfalls innerhalb der indigenen Gesellschaften zugleich beigemessen wurde, macht eine Aussage von Jewitt in Bezug auf Indian cheese deutlich. Denn für Jewitt ist klar: Während »scarcely anything could be more repugnant to a European palate«, steht der Geschmack bzw. die Wertschätzung der indigenen Bevölkerung gegenüber fermentierten Fischprodukten den europäischen Gewohnheiten diametral entgegen. Schließlich sei etwa die Darreichung von Indian cheese »one of the greatest favours they can confer on any person« (Jewitt 1987: 71). Allerdings darf nicht unerwähnt bleiben, dass es auch Fischprodukte gab, die keinesfalls reifen oder fermentieren gelassen wurden. Ein prominentes Beispiel hierfür ist der Heringsrogen.
Heringsrogen Während auch der Rogen anderer Fische, wie Forellen und insbesondere die in anderen Teilen der Welt für ihren Kaviar bekannten Störe, zum regionalen Speiseplan gehörte, kommt dem Rogen einer anderen kleinen, an der Nordwestküste saisonal ähnlich inflationär wie die Lachsschwärme auftretenden Fischgattung besondere Aufmerksamkeit zu. Die Rede ist vom pazifischen Hering. Nun ist der pazifische Hering kein Wanderfisch im strengen Sinn. Allerdings verdichten sich die Schwärme für etwa drei Wochen zwischen März und April, wenn die Heringe sich zum Laichen in seichteren Gewässern versammeln. Ähnlich den Bedingungen bei Lachsschwärmen, sind die Gewässer dann an bestimmten Orten und zu bestimmten Zeiten geradezu gesättigt mit Heringen. Um sie zu fangen, bediente man sich in früheren Zeiten rechenähnlicher Konstruktionen, die mit spitzen Zinken aus Knochen oder Holz gespickt waren. Vorne im Einbaum stehend, stachen die Fischer wie bei einem Paddelschlag mit dem Herings-Rechen ins Wasser, zogen den Rechen durch den Schwarm und hievten die aufgespießte Beute, ohne ihre Paddelbewegung zu unterbrechen, in den Bauch des Einbaums (Krause 1885: 178-179). Die Fischer konnten auf diese Weise den Einbaum in kurzer Zeit bis zum Rand mit Hering füllen. Allerdings muss man hinsichtlich der Rolle des Herings in den Ernährungskulturen der Coastal First Peoples klar sagen, dass er zwar durchaus gegessen wurde – meist im Ganzen geräuchert, getrocknet oder am offenen Feuer geröstet. In kulinarischer Hinsicht war es jedoch der Heringsrogen (herring spawn), dem das größere Interesse galt. So findet man auch in Hunts Rezeptsammlung insgesamt sechs Einträge zum Thema Heringsrogen (Boas 1921: 422-428), aber keinen einzigen zum Hering als solchem. Der Rogen wurde indes nicht durch Säubern (Ausweiden) gefangener Fische gewonnen, wie es beim Lachs der Fall war. Er wurde stattdessen geerntet: Wenn Heringe an der Nordwestküste laichen, setzt sich der Rogen in 1-3 cm dicken Schichten auf den großen, wie überdimensionale Bandnudeln anmutenden Blättern des weit verbreiteten Riesentangs (giant kelp,
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Macrocystis integrifolia) und anderen Algen fest. Um den Rogen zu ernten, musste man dann lediglich die mit Rogen bedeckten Algen im Ganzen abschneiden und einsammeln. Eine andere Methode zur Ernte bestand darin, wenige Tage vor Eintreffen der Heringsschwärme Zweige von Nadelbäumen an den als Laichgründe bekannten Stellen im Wasser mit Seilen zu fixieren und mit Bojen zu kennzeichnen (Boas 1921: 184-185; Krause 1885: 179). Nach dem Eintreffen der Heringe und dem Beginn der Laichzeit waren die Zweige binnen weniger Tage über und über mit Rogen bedeckt und mussten nur noch eingesammelt werden. Diese beiden Varianten Heringsrogen zu ernten, ergaben genau gesehen zwei sehr unterschiedliche Produkte: Da die Zweige nicht essbar und der Geschmack der Nadelbäume zwar nicht gänzlich abgelehnt wurde, aber zumindest nicht im Vordergrund stehen sollte, musste der auf diese Weise gesammelte Heringsrogen vor dem Verzehr oder jedweder Weiterverarbeitung von Ästen und Nadeln gereinigt werden (Boas 1921: 422; Drucker 1951: 61; Turner 2006: 33). Dahingegen waren Seetang und andere Algenarten nicht nur Rogen-Träger, sondern ein wichtiger essbarer Bestandteil. Nicht zuletzt unterstreicht der salzig-grüne geschmackliche Grundton der Pflanzen den meeresfrischen Geschmack des kernigen Heringsrogens. Dennoch wurden beide – d.h. sowohl die von den Zweigen separierten Fischeier als auch der mit Rogen bedeckte Riesentang (herring roe on kelp) – nicht nur frisch gegessen bzw. roh oder mittels Dämpfen, Simmern oder kurzen Räucherns gegart und dann verzehrt. Der Großteil wurde getrocknet – entweder als herring roe on kelp oder als lose Fischeier – und so für den Winter, die Festessen und den Handel mit anderen Gruppen haltbar gemacht. Während frischer und (in Wasser) rekonstituierter Rogen, der zu mundgerechten Bällen geformt wurde (Boas 1921: 424-425), saftig genug waren, um ohne die Zugabe weiterer Zutaten gegessen zu werden, betonen Hunt und Boas in Bezug auf alle anderen Formen getrockneten Heringsrogens: »They take much oil with it, for dried herring spawn is very rough to eat.« (Ebd.: 425) Das galt allerdings auch für den bis heute hochgeschätzten getrockneten herring roe on kelp, der zum Servieren zunächst über Nacht rekonstituiert und anschließend lange in Wasser gekocht wurde, bevor er mit reichlich Öl serviert wurde. Interessant ist außerdem eine andere Variante, bei der junge Stängel der Pracht-Himbeere (salmonberry, Rubus spectabilis) zum Dippen von lose getrocknetem Heringsrogen verwendet wurden. Die jungen Stängel wurden hierfür geschält, sodass nur das saftig-fleischige Innere zurückblieb, und anschließend zunächst in Öl und dann in den lose getrockneten Heringsrogen gedippt, der daran kleben blieb (Boas 1921: 428; außerdem Turner 2006: 127). Wenngleich gerade letztere Variante, Heringsrogen zu kredenzen, für sich genommen faszinierend ist, lohnt es sich, hier noch ein spezielles Element herauszugreifen. Denn wenn in diesem Kontext von Öl die Rede ist, so meint dies meist nicht irgendein Öl oder vielmehr ein beliebiges Fischöl, sondern ein ganz bestimmtes – nämlich eben jenes, in der englischsprachigen Literatur gemeinhin
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als grease bezeichnete Öl, das ohne Zweifel eines der wichtigsten Elemente der indigenen Ernährungskulturen an der Nordwestküste darstellt: das Kerzenfischöl.
Kerzenfischöl Der sogenannte Kerzenfisch (eulachon oder oolichan72 ) ist ein eher unscheinbarer Fisch, der sich im Frühling, (im Norden bereits im Februar und weiter südlich bis in den April) noch vor den ersten Lachsen und Heringen, in großen Schwärmen vor der Küste versammelt und darauf wartet, dass die frühjährliche Schneeschmelze den Wasserspiegel der Flüsse weit genug steigen lässt, um flussaufwärts bis zu seinen Laichgründen migrieren zu können. So unscheinbar dieser schmale, max. 20-30 cm lange Fisch im Vergleich zum »König Lachs« auch sein mag, so zentral war die Rolle, die er bei einem Großteil der Coastal First Peoples einnahm. Einer der Gründe hierfür ist, dass er in den Regionen, in denen er in British Columbia vorkommt, der erste Frischfisch nach dem Winter war, weshalb er auch als »salvation fish« bekannt ist (Stewart 1977: 95). Ähnlich dem Hering, der aufgrund seines Eintreffens im Frühjahr ebenfalls zu den ersten frischen Nahrungsmitteln gehört, jedoch weniger seines Fleisches als vielmehr seines Rogens wegen begehrt war, geht das primäre Interesse am Kerzenfisch auf eine andere Eigenschaft zurück als bloß die, eine willkommene Abwechslung zu den vergangenen Monaten der Präservenkost darzustellen. Die Bezeichnung »Kerzenfisch« verrät, warum. Ihm wird nachgesagt, dass sein Körperfettanteil so hoch ist, dass er getrocknet wie eine Kerze brennt.73 Während also durchaus der ein oder andere Kerzenfisch zum direkten Verzehr am Feuer geröstet oder geräuchert wurde, wurde der bei weitem größte Anteil der gefangenen Fische für die aufwendige Herstellung von grease verwendet (Abb. 2). Dabei scheint es, als könne man die Rolle von diesem (und anderem) Fischöl für das Leben und die Kultur der Menschen in dieser Region kaum überbetonen (Kuhnlein et al. 1982: 155). Wie im Folgenden deutlich wird, kann man in Bezug auf den Kerzenfisch deshalb ebenfalls von einer cultural keystone species sprechen (Senkowasky 2007: 720), die vor allem in Form von grease die Kulturen der Nordwestküste und schließlich die indigenen Ernährungskulturen in vielerlei Hinsicht maßgeblich bestimmt hat.
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Bei den englischen Bezeichnungen handelt es sich um eine Adaption der indigenen Bezeichnung »oolichan« zu der verschiedene Schreibweisen und Aussprachen (historisch und regional) existieren. Wie Mirjam Hirch erläutert, hat diese Bezeichnung ihren Ursprung im Chinook Jargon (Hirch 2003: 1). Tatsächlich spiegelt sich diese Eigenschaft in der Bezeichnung als Thaleichthys pacificus wieder. So bedeutet das griechische thaleia so viel wie reich und ichthys Fisch, während sich pacificus auf den Pazifik bezieht. Die Übersetzung dieser Bezeichnung als Der Reiche-Fisch des Pazifiks lässt sich wiederum in der gelegentlich verwendeten englischen Bezeichnung als rich fish wiederfinden (Hirch 2003: 1).
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Noch heute werden die Fische für die Herstellung des grease in Erdgruben kniehoch geschichtet und für eine Dauer von wenigen Tagen bis zu drei Wochen – je nach Wetterbedingung – reifen gelassen.74 Mit dem einsetzenden Fermentationsprozess beginnt sich das Fett aus dem Fleisch zu lösen. Die ausreichend gereiften Fische werden anschließend in Süßwasser verkocht. Sind die Fische hinreichend zerfallen, sammelt sich bei der passenden Temperatur das Öl an der Oberfläche und kann vorsichtig abgeschöpft, abgeseiht und abgefüllt werden.75 Früher wurde das fertige Öl in dichten bentwood-Kisten oder auch in Kalebassen ähnlichen Behältnissen verpackt, die aus entsprechend präparierten bull kelp (Nereocystis luetkeana) gefertigt wurden. Die elastischen bull-kelp-Flaschen wurden zur Aufbewahrung aufgerollt an den Innenwänden der Häuser aufgehängt oder wie die meisten Vorräte in bentwood-Kisten verwahrt.76 Insgesamt gab es an der Nordwestküste etwa dreißig Flüsse mit jährlichen Kerzenfischwanderungen (Hirch 2003: 1). Aufgrund der gruppenspezifischen Territorien hatten deshalb nicht alle einen direkten Zugang zu den entsprechenden Flüssen und insofern auch keine Ressourcen zur eigenen Herstellung des begehrten Öls. Bspw. hatten die Haida, Tlingit und Nuu-chah-nulth kein eigenes Öl, weshalb sie regen Handel mit ölproduzierenden Gruppen oder Familienverbänden betrieben. Folglich kam dem Fischöl eine nicht unwesentliche ökonomische und somit auch infrastrukturelle Bedeutung zu.77 So gab es ein ganzes Netz von Handelswegen entlang der Küste und ins Inland, die heute als grease trails, also Fett- oder Öl-Pfade, bekannt sind. Einige der grease trails führten durch das Küstengebirge bis auf das Interior Plateau. Diese über Jahrhunderte, womöglich Jahrtausende ausgetretenen Pfade verloren auch in der Zeit nach dem Kontakt mit den Europäern nicht an Relevanz – d.h. nicht nur für die Geschichte, sondern ebenso für die Gegenwart British Columbias: So waren es zunächst die Mitglieder der MacKenzieExpedition, die über die grease trails zwischen Inland und Küste bereits zwölf Jahre 74
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Barb Cranmer gibt in dem Dokumentarfilm T’lina. The Rendering of Wealth (Cranmer 2008) einen detaillierten Einblick in das Herstellungsverfahren von t’lina (Kwak’wala für grease). Im Zentrum ihrer Darstellung steht jedoch nicht die Herstellung von t’lina, sondern dessen Rolle als Konvergenzpunkt sozialer Kohäsion und kulturellen Selbstverständnisses der indigenen Bevölkerung. Für eine kompakte Darstellung dieser Thematik siehe die Kurzdokumentation Making Grease (2009) von Rupert Wilson. Aufgrund ihres Fassungsvermögens dienten früher auch große Einbäume als Behälter, deren Inhalt mit heißen Steinen zum Sieden gebracht wurde. Für eine ausführliche Beschreibung und bildliche Darstellung der grease-Herstellung in Einbäumen siehe Krause (1885: 177-178). Turner ergänzt hierzu, dass die bull-kelp-Flaschen später auch zum Transport von Molasse verwendet wurden (Turner 2006: 188). Zur Herstellung und Verwendung von bull-kelp-Flaschen siehe außerdem Boas (1909: 404-407, 419-420; 1966: 10) und Stewart (1977: 154). Für eine ausführliche Erörterung indigener Handelsstrukturen und der »characteristics of market cultures« (Le Dressay et al. 2013: 109) vor dem Kontakt mit europäischen Handelspraktiken und im Zusammenhang mit grease siehe Le Dressay et al. (2013).
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vor der Lewis-und-Clark-Expedition die Westküste über den Landweg erreichten. Später wurden die trails für den Pelzhandel genutzt. Sie spielten eine wichtige infrastrukturelle Rolle im Zuge des Fraser River Gold Rush sowie für den Bau der Eisenbahn, für die frühe Siedlergesellschaft, den Holzeinschlag und schließlich den Bau vieler Straßen im heutigen British Columbia (Stewart 1977: 149; Hirch 2003: 3, 10), die dem Verlauf der ehemaligen trails folgen. Im Zeitalter des grease-Handels gelangten überdies nicht nur Pelze und Leder aus dem Inland an die Küste, sondern auch eine ganze Reihe an Nahrungsmittelprodukten der Interior First Peoples – vor allem Trockenfleisch und Fett vom Wild, getrocknete Beeren und diverse essbare Rhizome –, die einen Platz in den Ernährungskulturen der Coastal First Peoples fanden (People of ’Ksan 1980: 89; Hirch 2003: 4). Die People of ’Ksan (1980) verweisen zudem darauf, dass nicht nur verzehrfertiges grease, sondern ebenso Fischereirechte gehandelt wurden, sodass Gruppen aus allen Himmelsrichtungen über die trails zu den Kerzenfischgründen kamen, um dort gegen eine Pacht selbst zu fischen und grease herzustellen. Stellt man sich vor, wie sich in den drei bis vier Wochen, die die Wanderung der Kerzenfische dauerte, entlang der Uferlinien die Fisch-Camps reihten und Händler von nah und fern ein und aus gingen, tritt ein wesentlicher Aspekt der Rolle des grease und damit des Kerzenfischs als cultural keystone species für die indigenen Gesellschaften der Nordwestküste hervor, den die People of ’Ksan explizit machen, wenn sie dessen Beitrag zur Herausbildung einer distinkten Northwest Coast culture area betonen: »This yearly get-together was undoubtedly a primary influence in unifying what is called the ›Northwest Indian culture.‹ […] All aspects of life, art styles, songs, dances, weaving techniques, carving etc. were doubtless compared and discussed. You can picture the activity. Carvers took orders for next year’s delivery; weavers traded their handiwork for grease; the basket maker took her pay in smoked oolichan.« (People of ’Ksan 1980: 91)78 Insgesamt macht bereits dieser kurze Abriss zur kulturhistorischen Bedeutung von grease an der Nordwestküste eine Annahme greifbar, die weiter oben in Bezug auf die Bilateralität der Verhältnisse zwischen indigener Bevölkerung und Europäern in der Zeit zwischen 1774 und 1858 bereits formuliert wurde: Nämlich die Tatsache, dass ökonomisches Handeln und damit verbundene merkantile Strategien ebenso 78
In einer fast nebensächlichen Bemerkung kehren die People of ’Ksan einen weiteren interessanten Punkt der Produktion und des Handels mit grease hervor. Nämlich die Tatsache, dass für den indigenen Handel eine Normierung der gehandelten Produkte charakteristisch war: »With trade in mind, we had put our dried berries into boxes which were designed to fit the racks of dried clams and oolichans that we hoped to bring home in the same boxes.« (People of ’Ksan 1980: 91) Zur Standardisierung im Kontext indigenen Handels in der Prä-Kontakt-Ära siehe außerdem Darby (2005: 208) und Turner (2005: 32).
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wenig ein Novum des Kontakts mit Europäern darstellten, wie das hinsichtlich der Inkorporation oder Aneignung fremder materieller wie auch immaterieller Einflüsse der Fall war. In Hinsicht auf seine Rolle als zentraler marker of difference (Jonaitis 2006: 148) der kulinarischen Grammatik der historischen indigenen Ernährungskulturen, als den Jonaitis grease in Smoked Fish and Fermented Oil. Taste and Smell among Kwakwaka’wakw (2006) beschreibt, wird schließlich im Zuge der weiteren Darstellungen deutlich werden, dass nahezu alle Nahrungsmittel – ob tierisch oder pflanzlich, süß oder salzig – in das unverkennbar und intensiv schmeckende und riechende grease gedippt, darin konfiert, damit zubereitet (wie bspw. Suppen) oder darin präserviert (Krause 1885: 178) wurden, wenn nicht gar das Kerzenfischöl als solches für sich allein getrunken wurde (Boas 1921: 311-313). Die People of ’Ksan (1980) bringen diese Omnipräsenz von grease auf den Punkt, wenn sie festhalten: »We used grease to add zest to our foods. In fact, it was our major condiment before sugar, salt, pepper or spices came our way. Grease coated fresh, uncooked berries, dried fish or meat, succulent raw or cooked roots and greens – almost every food was, we felt, improved by the addition of a little grease, particularly oolichan grease.« (People of ’Ksan 1980: 49)
Meeressäuger Letztendlich war das Kerzenfischöl nicht das einzige, wenn auch das mit Abstand wichtigste Öl. Neben Ölen, die aus Lachs, Kabeljauleber und anderen Fischarten gewonnen wurden, spielte Tran, der aus dem blubber (dicke Fettschicht) von Seehunden, Stellers Seelöwen, Stellers Seekühen (seit Ende des 18. Jahrhunderts ausgestorben) und verschiedener Walarten hergestellt wurde, eine wichtige Rolle. Auch dabei gab es regionale Unterschiede. Während etwa Seehunde an der gesamten Nordwestküste und bis zu 200 km ins Inland gejagt wurden (Suttle 1987: 235), verfügten nur wenige Gruppen der Nuu-chah-nulth und Küsten-Salish, vornehmlich an der Westküste von Vancouver Island und der Olympic-Halbinsel, über das notwendige technische Know-how und die Erfahrung, um größere Wale, wie bspw. Grauwale, auf offener See jagen zu können (Suttles 1987: 233-247). Die restlichen Gruppen begnügten sich mit Walkadavern, die an die Küsten angespült wurden und deren blubber wegen seines ausgeprägten Hautgouts geschätzt wurde. Bezeichnenderweise beginnt auch Hunts und Boas’ Abschnitt mit Walrezepten mit den Worten: »Whale. (A whale is found dead on the beach).« (Boas 1921: 464) Was dann folgt, entspricht den üblichen Darstellungen im Hinblick auf die Verwertung von Meeressäugern in der ethnologischen Literatur zur Nordwestküste, die sich in der Regel fast ausschließlich auf diesbezügliche materielle Kultur (Einbäume und Jagdequipment), Jagd-Protokolle (Rollenverteilungen, Abläufe, Verhaltensregeln etc.) und Distributions-Regeln (wer bekommt was, wie viel und warum;
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wie wird geschnitten etc.) konzentrieren. In kulinarischer Hinsicht wird meist einzig die Herstellung von Tran durch Auskochen des blubbers in bentwood-Kisten mit Hilfe von heißen Steinen und Wasser erläutert – oder aber beschrieben, wie der blubber am Stück verspeist wurde. Über die Zubereitung des Fleisches erfährt man hingegen wenig oder gar nichts. Ein Grund für die Konzentration auf diese Aspekte und das auffällige Desinteresse der Autoren an der Zubereitung besteht vermutlich darin, dass der gesamte Prozess – insbesondere die prozessleitenden Protokolle – im engen Zusammenhang mit den fundamentalen Prinzipien sozialer Organisation stand. In dem Sinn, dass der Ablauf denselben genealogischen Organisationsprinzipien folgte und diese affirmativ-performativ nachvollzog, die auch den Potlatch-Festen zugrunde lagen. Entsprechend unterstreicht auch Suttles mit den Worten des Boas-Schülers Thomas T. Waterman: »[T]he cutting-up of the whale and the distribution of the blubber is a form of potlatch.« (Waterman nach Suttles 1987: 242) Indes machen die wenigen Informationen, die man in kulinarischer Hinsicht über Meeressäuger zusammentragen kann, den Anschein, dass das Fleisch der Meeressäuger nicht zu Präserven verarbeitet, sondern meist direkt – bei größeren Tieren dann im Zuge eines Festessens – verspeist wurde. Hierfür wurde das dunkle, von Geschmack und Konsistenz an eine Mischung aus Wild und Fisch erinnernde Fleisch gewöhnlich für lange Zeit gesotten, bis es hinreichend weichgekocht war. Das Gleiche gilt für die Innereien. Da am Ende dieser einheitlichen Zubereitungsart meist blubber hinzugegeben und mitgekocht wurde, spielte das ansonsten omnipräsente grease hierbei keine Rolle. Wenngleich die Zubereitung von Meeressäuger-Fleisch und -Innereien sich demnach im Wesentlichen auf das Kochen in Wasser (boiling) beschränkte, nennen Hunt und Boas zumindest im Zusammenhang mit Seehunden zwei interessante Spezialitäten: gedämpfter Seehund und Blutsuppe. Bei ersterem wurde der Seehund in großen Stücken für mehrere Stunden in einem Erdofen am Strand gedämpft. Bemerkenswert ist, dass das Fleisch dabei auf Zweigen aromatisch duftender Westamerikanischer Hemlocktannen (western hemlock) lag und mit blubber bedeckt wurde, bevor man Wasser hinzugab und den Erdofen mit Matten verschloss (Boas 1921: 461-462). Für die Blutsuppe wurde das beim Zerteilen eines Seehundes aufgefangene Blut mit Wasser vermischt unter Rühren zum Simmern gebracht. Das Blut emulgierte mit dem Wasser zu einer dicken Suppe, die zusammen mit gesottenen Innereien gegessen wurde (ebd.: 453-457). Ungeachtet dieser beiden Spezialitäten wird beim Sichten der Literatur klar, dass sich der erste Eindruck im umfassenderen Bild bestätigt: Im Zusammenhang mit Meeressäugern stand in kulinarischer Hinsicht insgesamt der blubber und der daraus gewonnene Tran im Vordergrund. Wurde der blubber nicht zu Tran verarbeitet, wurde er in lange Streifen geschnitten. Diese Streifen konnten zwar auch am Feuer gegrillt werden, meist wurden sie aber in bentwood-Kisten gesotten oder
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gedämpft. Ins Auge fällt dabei weniger die Zubereitung als vielmehr die Art, auf welche der blubber verzehrt wurde. Hunt und Boas erwähnen hierzu, dass sich die Männer möglichst lange blubber-Streifen um den Hals legten und von einem Ende anfangend, den blubber von der Haut herunter bissen und ohne Weiteres verzehrten (Boas 1921: 458). Ziel war, so viel wie möglich zu essen. Wenngleich nur dezidierte Experten den blubber bei sich behalten konnten: »As soon as they finish, they go out and vomit all behind the house, for it really makes one feel squeamish.« (Ebd.: 461) Bleibt noch zu erwähnen, dass neben den großen Meeressäugern auch kleinere, halb-aquatische Säugetiere wie Seeotter und Biber gegessen wurden. Während Biber bei einigen Gruppen eine hochgeschätzte Speise war (People of ’Ksan 1980: 46), die meist direkt zubereitet wurde, indem das Fleisch kleingeschnitten, gesotten oder am Stück am Feuer gegrillt wurde, stellten Seeotter keinen zentralen Bestandteil der Ernährungskulturen dar. Insgesamt macht es den Anschein, dass in beiden Fällen letztlich die Pelze der Tiere und weniger ihr Fleisch im Vordergrund indigenen Interesses standen.
Meeresfrüchte Vor dem Hintergrund der generellen Betonung der zentralen Rolle von Fisch, vor allem Lachs, Hering und Kerzenfisch, für die historischen (Ernährungs-)Kulturen, plädieren Deur et al. in Kwakwaka’wakw Clam Gardens. Motive and Agency in Traditional Northwest Coast Mariculture (2015) dafür, Muscheln und Schalentiere dabei nicht aus den Augen zu verlieren. Die Autor*innen sprechen sogar von einer Richtigstellung (correction) in Bezug auf die Bedeutung dieser Nahrungsmittelressourcen für die Coastal First Peoples. In der Tat nahm die vielfältige Weichtierpopulation der Gezeitenzonen, wie das tide-to-table-Narrativ bereits anklingen ließ, in den Ernährungskulturen der Coastal First Peoples einen prominenten Platz ein. So wurden etwa nahezu alle vorkommenden kleineren und größeren Muschelarten gegessen (Pasco et al. 1998: 43-49) und einige davon sogar in den oben erwähnten Muschelgärten kultiviert. Mitunter wurden in den Gezeitenzonen auch kleine Höhlen aus Steinen errichtet, in denen sich Tintenfische einnisteten und dann bei Ebbe gefangen werden konnten. Sehr wertgeschätzt wurden außerdem die stark jodhaltigen Seeigel (sea urchins oder auch sea eggs) und Seegurken (sea cucumbers) sowie Seeohren (abalone), Käferschnecken (chiton), Seeschnecken (sea slug), Seepocken (barnacles), Entenmuscheln (gooseneck barnacles), Taschenkrebse (dungeness crab) und andere Krebstiere. Der überwiegende Teil dieser Meeresfrüchte, allen voran Krebstiere, wurde gewöhnlich fangfrisch auf die eine oder andere Weise gegart und anschließend direkt verzehrt. Gängige Garmethoden waren das Dämpfen oder Sieden in bentwoodKisten, das Backen in heißer Asche oder am Rand eines Feuers und schließlich das
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Grillen am offenen Feuer mit Hilfe von Holzspangen, in die das jeweilige Gargut geklemmt wurde (Boas 1921: 470-510). Einzig Seeigel und Seegurken wurden auch ungegart gegessen. Die diversen Muschelarten wurden darüber hinaus nicht nur frisch zubereitet, sondern auch geräuchert und getrocknet. Die, meist wie Perlen auf Schnüre aufgezogenen, Muschelpräserven dienten dann als Wintervorrat, Handelsgut und prestigereiche Potlatch-Gaben.
Salz- und Süßwasserpflanzen Abgesehen von der kulinarisch angeeigneten Aquafauna gibt es eine ganze Reihe essbarer Wasserpflanzen, von denen einige zu Recht als cultural keystone species bezeichnet werden. Garibaldi und Turner heben diesbezüglich eine Süß- und eine Salzwasserpflanze hervor, die hier exemplarisch besprochen werden: wapato und Porphyra abbottae, eine rötliche Alge. Wapato, jenes Knollengewächs mit dem Spitznamen Indian potato, wurde weiter oben bereits im Hinblick auf die indigenen Unterwassergärten erwähnt. Auf den ersten Blick sind nur die pfeilförmigen Blätter und weißen Blüten zu sehen, die auf der Wasseroberfläche schwimmen, während die Knollen im ufernahen Sediment von Süßwassergewässern sowie im schlammigen Erdreich von Feuchtgebieten wachsen. Um die etwas mehr als golfballgroßen Knollen zu ernten, wurden sie mit speziellen Grabstöcken oder den Füßen aus dem Sediment gelöst. Da die Knollen schwimmen, trieb die Ernte dann an der Oberfläche und musste bloß noch eingesammelt werden. Eine andere Möglichkeit war, im Einbaum sitzend die Knollen mit einem beherzten Ruck an den Blättern und Stielen aus dem Erdreich zu ziehen und anschließend ins Boot zu hieven. Von Geschmack und Konsistenz her werden sie als der herkömmlichen Kartoffel (Solanum tuberosum) ähnlich schmeckend und mit einem süßlich-nussigen, an Kastanien erinnernden Beigeschmack beschrieben. Sicherlich ein Grund dafür, warum wapato bereits Anfang des 19. Jahrhunderts zu einem wichtigen Handelsgut im Austausch mit Europäern avancierte. Wie die erwähnten archäologischen Funde im Lower Mainland zeigen, wurde wapato dort bereits lange vor dem Kontakt mit Europäern intensiv angebaut und geerntet. Wobei Suttles betont, dass die wapato-Gärten kein Gemeingut, sondern in individuellem Besitz waren (Suttles 1987: 147). Da der Anbau von wapato als aquatische bzw. semi-aquatische Pflanze ausgedehnte ruhige Gewässer und Feuchtgebiete voraussetzt, war das Vorkommen dieser Knollenfrucht stark eingeschränkt. Während wapato für die indigene Bevölkerung des Lower Mainland – und weiter südlich im Gebiet des unteren Columbia River79 – aufgrund seiner geo-vegetativ gegebenen Verfügbarkeit einen wichtigen Kohlenhydratlieferant und damit ein 79
Anbau und Gebrauch sowie die ökonomische und soziokulturelle Bedeutung von wapato sind bei beiden (den indigenen Gruppen im Lower Frazer Valley und am unteren Columbia River) nahezu gleich (Darby 2005: 205-207).
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Grundnahrungsmittel darstellte, gelangten andere Gruppen in erster Linie über intertribalen Handel oder mittels an Pachtverträge erinnernde Beziehungen (ähnlich den erwähnten Pachtverträgen im Kontext der grease-Herstellung) an die beliebten Knollen. Offensichtlich beruhte die zentrale Rolle, die wapato bei den indigenen Gruppen im Lower Mainland und am Columbia River einnahm, nicht bloß auf dessen delektablen Eigenschaften. Im Vergleich zu anderen Ressourcen, insbesondere der essbaren, nicht aquatischen Knollen- und Wurzelgewächse in der Region, ist wapato ausgesprochen lange in der Saison, nämlich von September bis Mai. Tatsächlich geerntet wurde allerdings hauptsächlich im Oktober und (frühem) November, kurz vor Wintereinbruch (Turner 2006: 37). Wie Kartoffeln lassen sich die Knollen ungewaschen über mehrere Monate roh aufbewahren. Mit dem beginnenden Frühling konnte im März die wapato-Ernte wieder aufgegriffen werden (Darby 2005: 195196). Da wapato, wie gesagt, bei Bedarf auch in den Wintermonaten zwischen den Haupterntezeiten gesammelt werden konnte, dann also, wenn etwa wider Erwarten die Vorräte verfrüht zuneige gingen, bezeichnet die amerikanische Archäologin Melissa Darby die kleinen Knollen auch als »›risk reducing‹ resource« (ebd.: 215). Über diese Vorteile in Hinsicht auf Vorratsbildung (lange Erntezeit und natürlich gegebene Haltbarkeit) und Ernährungssicherheit garantierenden (risk reducing) Eigenschaften hinaus, hat wapato weitere Vorzüge: Die Knollen wurden wie Kartoffeln zubereitet; konnten also in bentwood-Kisten gedämpft bzw. gesotten – oder seltener direkt in Asche gebacken – werden. Dabei war die Garzeit der kleinen Knollen in jedem der drei Fälle mit etwa zehn Minuten im Vergleich zu einigen anderen Wurzelgewächsen, die zum Teil ein oder gar anderthalb Tage in einem Erdofen benötigten, um genießbar zu sein, ausgesprochen kurz. Die Kürze der Garzeit schlug sich wiederum im Energieverbrauch (Brennholz etc.) nieder, der entsprechend gering ausfiel (ebd.: 195). Darby fasst deshalb zusammen: »[I]t was prolific, has a long harvest season, is cost-effective to harvest, stores well fresh but could also be dried, and takes only little fuel and a short time to cook.« (Ebd.: 198) In den Regionen, die über keine großen wapato-Vorkommnisse verfügten, nahmen die Rhizome anderer nicht-aquatischer Pflanzen die zentrale Rolle ein, die der Indian potato im Lower Mainland und dem unteren Columbia River zukam. Bevor unten jene essbaren Rhizome nicht-aquatischer Pflanzen zur Sprache kommen, nimmt die folgende Darstellung eines der an der Nordwestküste am weitesten verbreiteten pflanzlichen Nahrungsmittels in den Blick: maritime Algen. Nachdem mit wapato die prominenteste Süßwasserpflanze der Nordwestküste vorgestellt wurde, steht im Folgenden also die prominenteste Salzwasserpflanze der Region im Vordergrund. Maritime Algen sind ganzjährig verfügbar. In der Regel wurden sie nicht frisch gegessen, sondern mussten erst getrocknet und mitunter aufwendig bearbeitet werden. Das setzt konstante, wenig feuchte Witterung voraus. Zudem wurden jun-
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ge Algen bevorzugt. Der Großteil der Ernte wurde deshalb meist im Frühling (Mai) eingeholt. Insgesamt gab es in den Gewässern der Nordwestküste eine Vielzahl grundsätzlich essbarer Algenarten. Allerdings ist Porphyra abbottae (im Englischen meist einfach als seaweed bezeichnet) die bis heute am weitesten verbreitete Art und darüber hinaus als einzige Algenart fester Bestandteil indigener Ernährungskulturen an der Nordwestküste. So ist sie auch neben dem oben im Zusammenhang mit herring roe on kelp erwähnten Riesentang und Gewöhnlichem Seegras (eelgrass, zostera marina) eine von nur drei Algenarten, die in Turners Standardwerk Food Plants of Coastal First Peoples (2006) Erwähnung findet.80 Um an die begehrte Alge zu gelangen, war nicht viel Aufwand nötig. Sie wurde nicht einmal aus dem Wasser gefischt, sondern bei Ebbe von Felsen und steinigen Ufern eingesammelt. Während das Ernten der Alge sich denkbar einfach gestaltete, verlangten die darauffolgenden Arbeitsschritte ein umso höheres Maß an Erfahrung, um das gewünschte, lang haltbare Endprodukt zu erlangen. In Hunts Rezeptsammlung finden sich hierzu zwei Anleitungen (Boas 1921: 292-296), von denen hier ein kurzer Ausschnitt aus einer der beiden zitiert wird. Er beschreibt die Weiterverarbeitung nach der Ernte: »An experienced woman only takes the seaweed out of the canoe, and she takes a mat and covers it over on the beach, after she has piled it up on the beach, even when the day is fine. She does not spread it for a long time, for she wishes it to rot. After it has been in this way for four days, she takes off the matt cover.« (Boas 1921: 292-293, Hervorheb. S.R.S.) Garibaldi und Turner dokumentieren eine zeitgenössische Variante dieser Technik und zitieren hierfür Colleen Robinson (Gitga’at elder aus Hartley Bay), die die noch feuchten Algen für drei Tage in einer bentwood-Kiste reifen lässt: »to ›get its flavor‹« (Garibaldi und Turner 2004: 11). Der entscheidende Kniff im Hinblick auf Algen als Nahrungsmittel besteht folglich darin, die Ernte kontrolliert fermentieren zu lassen. Erst die hinreichend fermentierten Algen wurden dann zur Bevorratung entweder gehackt oder zu kompakten Fladen gepresst und mit Hilfe von Sonnenlicht, Wind und/oder Wärme vollständig dehydriert. Je nach spezifischer Präferenz wurden diese Fermentationsprozesse und die dadurch hervorgebrachten charakteristischen Eigenschaften des Endprodukts durch weitere Geschmack gebende Komponenten oder Bearbeitung ergänzt. So konnten die getrockneten Algenfladen z.B. zusammen mit red-cedar-Zweigen geschichtet in bentwood-Kisten verpackt werden und sich die ätherischen Aromen der Zweige auf den Geschmack der Algenfladen übertragen. Ebenso konnten die Algen beim Pressen der Fladen mit dem Kochwasser von Knochenschnecken besprenkelt werden (Boas 1921: 293294, Turner 2006: 21). Je öfter man dieses Prozedere (Besprenkeln, Pressen, Trock80
Zur besonderen Rolle von Porphyra abbottae siehe insbesondere Turner (2003).
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nen) wiederholte, desto intensiver wurde der Geschmack. Nichtsdestotrotz gab es auch ein Schnellverfahren, bei dem die Algen schlicht auf Fels oder Matten trocknen gelassen wurden. Das Ergebnis war jedoch deutlich ärmer im Geschmack. Die getrockneten, würzig-salzigen Algen wurden anschließend vielseitig verwendet. Sie wurden etwa als Gewürz auf andere Speisen gebröselt oder grob gehackt untergemischt. Eine andere Möglichkeit bestand darin, grob gehackte Algen zu zerkauen und anschließend zusammen mit Wasser und grease zu einer dicken Suppe einzukochen (Boas 1921: 514-516). Eine entscheidende Rolle spielen hierbei die in Rotalgen wie der Porphyra abbottae vorkommenden Carrageene. Als natürliches Verdickungsmittel sorgen die Carrageene für eine Sämigkeit, wie man sie mit dem heute handelsüblichen, meist aus Rotalgen hergestellten Geliermittel, AgarAgar erreichen kann. Diese verdickende Eigenschaft der Algen wurde auch in anderen Speisen, wie sämige Fischeier- und Muschelsuppe (ebd.: 516-517), genutzt. Bemerkenswert ist, dass zu Pulver gemahlene getrocknete Algen mit etwas Wasser vermischt zu einem festen Schaum aufgeschlagen werden können, der laut Turner als Dessert gegessen wurde (Turner 2006: 22). Neben der Verwendung der Algen als Gewürz, Hauptzutat (Suppe) und Verdickungsmittel gab es außerdem zu kleinen Ballen geformtes und getrocknetes Algen-Popcorn (»Red Laver ›popcorn‹«, ebd.: 22), das sowohl als knuspriger Snack gegessen als auch als gewissermaßen InstantSuppengemüse verwendet wurde. Roh, also weder fermentiert noch getrocknet, wurden die Algen hingegen nie gegessen. In Renewing Salmon Nation’s Food Traditions (2006) berichtet der amerikanische Ökologe und Ethnobotaniker Gary P. Nabham von einer Ausnahme in diesem Zusammenhang. Mit Bezug auf die Kwakwaka’wakw hält er fest, dass das Gewöhnliche Seegras die einzige maritime Alge gewesen sei, die ausschließlich frisch bzw. ungegart gegessen wurde (Nabham 2006: 32, außerdem Turner 2006: 53-54). Allerdings wurde keinesfalls die ganze Pflanze, sondern lediglich das gesäuberte und geschälte untere Drittel (Wurzel und Stamm) gegessen. Boas erwähnt hierzu, dass die geschälten Stängel in gleichlange Stücke gebrochen und mit einem Seegrasblatt zusammengebunden in grease gedippt wurden (Boas 1921: 513).
Moos, Farn und Flechte Die Regenwälder und Küsten im warmgemäßigten Klima der Nordwestküste sind gesäumt mit allerlei Farnen, Moosen und Flechten: Von den Zweigen der Bäume hängen lange und dichte Matten der heimischen Flechtenarten wie große Wandteppiche. Am Fuß der Bäume, zwischen vermodernden Baumstümpfen und -stämmen, füllen üppig wachsende Farne mit ihren ausladenden Wedeln die Lücken und alles ist von einer dicken Moosschicht überzogen, die den Wald im Schatten der Baumkronen in ein sattes Grün taucht. Moos fand als Bestandteil mancher Küchentechniken (etwa in Erdöfen als Feuchtigkeitsspender, Schutz vor
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Verunreinigung oder als Isoliermaterial) Verwendung. Als Speise gegessen wurde es allerdings nicht. Dem hingegen wurde Bryoria fremontii (black tree lichen), eine Flechte, gegessen und sogar aufwendig für den Winter präserviert. Das betrifft jedoch weniger die Coastal als die Interior First Peoples.81 Bei den Coastal First Peoples dienten die Flechten – wenn überhaupt – als Notfallnahrung (famine foods; Turner und Davis 1996 passim). Von tatsächlich nennenswerter Bedeutung für die indigenen Ernährungskulturen sind von diesen drei Charakteristika der Regenwälder allein die Farne. Genauer sind dies der Wald-Frauenfarn (lady fern, Athyrium filix-femina), der Feingliedrige Dornfarn (spiny wood fern, Dryopteris expansa), der Westamerikanische Schwertfarn (sword fern, Polystichum munitum), der Lakritz-Farn (licorice fern, Polypodium glycyrrhiza) und der Adlerfarn (bracken fern, Pteridium aquilinum). In der Regel wurden im Frühling die jungen Triebe (fiddleheads) und im Herbst die Wurzeln gegessen (Turner 2006: 25-31). Die Wedel (bei einigen Farnarten giftig) wurden gemeinhin nicht verzehrt, aber beim Dämpfen in Erdöfen und bentwood-Kisten verwendet. Während die Triebe gewöhnlich gedämpft oder gesotten wurden, wurden die Wurzeln darüber hinaus in heißer Asche, in Erdöfen (Garzeit bis zu anderthalb Tage; Boas 1921: 517-523) oder unter einem Feuer begraben gegart oder am Rand eines Feuers liegend so lange geröstet, bis sie außen verkohlt (charred) und innen weich waren. Roh bzw. ungegart wurden sie hingegen nie verzehrt. Die gegarten Wurzeln wurden in Fischöl gedippt oder (in Stücke geschnitten) zusammen mit Fischöl in eine Schüssel gegeben und mit Löffeln gegessen. Unabhängig davon, ob die Wurzeln gesotten, gedämpft oder auch geröstet und gegrillt wurden, hatten sie keine homogene Struktur wie bspw. wapato. Vielmehr waren auch durchgegarte Farnwurzeln noch von festen Fasern durchzogen, die nicht mitgegessen und wieder ausgespuckt wurden. Suttles erwähnt, dass manche Küsten-Salish Gruppen Adlerfarnwurzeln zu einer homogenen Masse verarbeiteten, um daraus Fladen zu backen, die an Brotlaibe erinnerten: »[…] the roots (rhizomes) were signed and then pounded to convert the edible material into a dough that was eaten in that form or baked as a ›bread‹.« (Suttles 2005: 185) Wenngleich sich aufgrund der Dokumentation nur schwer sagen lässt, wie verbreitet diese besondere Verarbeitungsweise tatsächlich war, stellt Turner zumindest fest: »Virtually all coastal indigenous groups use the rhizomes as food.« (Turner 2006: 30) Neben dem Adlerfarn, der also bereits allein wegen seiner Verbreitung unter den verschiedenen Farnarten hervorsticht, lohnt es sich außerdem den LakritzFarn hervorzuheben. Allerdings spielte er weniger als sättigendes Nahrungsmittel,
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»People all over the Interior Plateau region pit-cooked the lichen, dried it up and cut it into cakes. Then they cooked it in soups and stews in the wintertime.« (Turner 2005: 196) Für weitere Angaben und Hintergründe zur Verwendung von Flechten bei den Interior First Peoples siehe außerdem Turner und Davis (1996) sowie Turner (2005: 62-64; 2014: 313-314).
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sondern Kraft seines außergewöhnlichen und intensiven Lakritzgeschmacks eine bemerkenswerte Rolle. Entsprechend wurde er meist nur gekaut, aber nicht gegessen bzw. geschluckt. Insgesamt kann man darüber hinaus festhalten, dass Farnwurzeln im Allgemeinen keine nennenswerte Rolle als Präserve im Sinne eines Grundnahrungsmittels oder risk reducing resource zukam. Zumindest ließen sich keine Angabe dazu ausfindig machen, dass Farnwurzeln als Vorrat für den Winter präpariert worden wären – was selbstverständlich nicht heißt, dass dies nicht auch vorgekommen sein mag. Die Vermutung, dass es sich beim Adlerfarn wie auch bei anderen Farnen um keine typischen Präserven handelte, wird dadurch untermauert, dass Hunt und Boas in Bezug auf andere essbare Rhizome deren Funktion als Wintervorrat stets explizit herausstellen. Zu den Farnwurzeln halten sie hingegen fest, dass sie zwar »valuable food« (Boas 1921: 523) gewesen seien. Jedoch wurden sie schon wenige Tage nach der Ernte verzehrt. Es scheint daher so, als ob Farnwurzeln ähnlich den jungen Farntrieben eher eine saisonale Spezialität als ein Grundnahrungsmittel darstellten.
Essbare Rhizome Während Farnwurzeln fester (saisonaler) Bestandteil der Ernährungskulturen aller indigenen Gruppen an der gesamten Nordwestküste waren, kamen je nach Region andere Rhizome hinzu.82 Im Gegensatz zu den Farnwurzeln, wurden diese in eigens dafür angelegten Gärten, den erwähnten estuarine root gardens, kultiviert. Während der Aufbau der Gärten stets den gleichen Prinzipien folgte, konnten die kultivierten Rhizome regional und gruppenspezifisch variieren (Deur 2005: 320321). Diese Unterschiede waren jedoch marginal. Meist wurden Pflanzen angebaut, die ebenfalls an der gesamten Küste zwischen Salish Sea und Alaska heimisch waren. Dies waren insbesondere eine Kleeart (Trifolium wormskioldii) mit dem Namen springbank clover (im Folgenden kurz Klee) sowie Gänsefingerkraut (pacific silverweed, Argentina pacifica) und die Schatten-Schachblume (northern rice root, Fritillaria camschatcensis). Diese drei und teils weitere, wie die Alaska-Lupine (nootka lupine, Lupinus nootkatensis)83 und eine Pflanze aus der Familie der Selleriegewächse, die 82
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Zu allen im Folgenden genannten Pflanzen mit essbaren Rhizomen gibt es jeweils mehrere Unterarten oder nah verwandte Pflanzen, die an der Seite ihrer bekannteren und verbreiteteren Verwandten meist ebenfalls Eingang in die indigenen Ernährungskulturen gefunden haben. Die folgende Darstellung konzentriert sich auf die prominenteren Arten. Die Auswahl orientiert sich an den Arbeiten von Turner (insbesondere 2005, 2006 sowie Turner und Kuhnlein 1982), Boas (1921) und NFNPS (1984). Die Wurzeln der Alaska-Lupine und der nah verwandten Lupinus littoralis (beach lupine oder chinook licorice) sind nicht zuletzt deshalb nennenswert, weil sie gegessen wurden, obwohl sie im rohen Zustand toxische Alkaloide enthalten (Turner 2006: 92-93). Sie wirken narkotisierend: »After eating [raw] lupine-root […] they become really dizzy […]. When the woman
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als wild carrot (pacific hemlock-parsley, Conioselinum pacificum) bekannt ist, wurden je nach Region in verschiedenen Kombinationen zusammen oder gar in Monokultur angebaut (ebd.: 308). Wenngleich es vermessen wäre, in Bezug auf diese Rhizome den Begriff der core-Speise anzuwenden, wie ihn Sidney Mintz für den zentralen Kohlenhydratlieferanten in Agrarwirtschaft betreibenden Gesellschaften bestimmt hat84 , heben Turner und Kuhnlein (1982) hervor, dass die Rolle, die den verschiedenen heimischen essbaren Rhizomen innerhalb der indigenen Ernährungskulturen zukam, vor dem Hintergrund der wasserorientierten Lebensweise und der damit verknüpften dualen Morphologie vielfach unterschätzt wurde (Turner und Kuhnlein 1982: 411). So schreibt bspw. Drucker: »The North Pacific Coast, although bountifully endowed with fish and game, was deficient in vegetable foods. […] The tough fibrous roots of certain ferns, the wiry roots of a kind of clover […] were eaten by many coastal Indians, but these products were neither abundant nor very tasty.« (Drucker 1965: 20)85 Wie Turner und Kuhnlein, aber auch Deur und eine ganze Reihe anderer Autor*innen zeitgenössischer Arbeiten zur historischen Lebensweise der indigenen Bevölkerung an der Nordwestküste deutlich machen, wird diese Einschätzung den Tatsachen nicht hinreichend gerecht. Denn obschon Fisch, Meeresfrüchteund -säugetiere die indigenen Ernährungskulturen unverkennbar dominierten, nahmen pflanzliche Nahrungsmittel und im Speziellen Rhizome bei allen Gruppen eine sowohl in diätischer als auch soziokultureller Hinsicht signifikante Rolle ein (Turner und Kuhnlein 1982: 411; Turner und Deur 2005). Deur hierzu: »Not only did these root vegetables serve as an important food source and the primary source of dietary carbohydrates for most precontact Northwest Coast peoples. Estuarine root foods were also intricate and intimately associated with indigenous cosmology and ceremony, and trade in these roots served as numerous social and economic ends.« (Deur 2005: 300)
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and her husband eat too much of the lupine-roots, they become really drunk. Their eyes are heavy, and they can not keep them open, and their bodies are like dead, and they are really sleepy.« (Boas 1921: 199) Allerdings war es offenbar nicht unüblich, diesen Effekt der rohen Wurzeln auszukosten (ebd.). Gegart ist ihr Konsum unbedenklich: »Now they do not get drunk […].« (Ebd.: 551) Siehe hierzu Mintz (1992). Ein zentraler Punkt seiner Definition besteht darin, dass die coreSpeise »den Hauptbedarf an Kalorien deckt« (Mintz 1992: 18). Wie sich zeigen wird, trifft dies auf die hier besprochenen Rhizome nur in Teilen zu. Drucker fügt dem an anderer Stelle hinzu: »It has been suggested that the great emphasis on oils and fats in the northern Northwest Coast dietary may have developed to compensate for the dearth of starches.« (Drucker 1963: 53) Siehe außerdem Drucker (1951: 62-63).
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In diätischer Hinsicht waren sie nicht nur wichtiger Lieferant von Kohlenhydraten und Ballaststoffen: Wenn im späten Winter und am Frühlingsanfang die Wintervorräte langsam zur Neige gingen, sorgten lange haltbare Knollen und Wurzeln als risk reducing resource für ein gewisses Maß an Ernährungssicherheit.86 Im Einklang mit der verfügbaren Literatur kann deshalb angenommen werden, dass Klee, Gänsefingerkraut und die Schatten-Schachblume für die Coastal First Peoples die Rolle von cultural keystone species einnahmen, wie sie bereits im Hinblick auf wapato skizziert wurde (Deur 2005; Turner und Kuhnlein 1982). Indessen hat die Feststellung, dass die ›festen, faserigen, drahtigen und nicht besonders schmackhaften‹ Rhizome für die historischen indigenen Lebenswelten und Ernährungskulturen an der Nordwestküste keinesfalls nebensächlich waren, eine Tragweite, auf die der Vollständigkeit halber zwar verwiesen werden soll, ohne dass jedoch näher darauf eingegangen wird: In rezenten Diskursen zum Verhältnis zwischen indigener Bevölkerung und indigenen Territorien nehmen die landbasierten pflanzlichen Nahrungsmittel oder vielmehr der Komplex von pflanzlichen Nahrungsmittelressourcen, Kultivierungstechniken und Ressourcenmanagement einen prominenten Platz ein. Grund dafür ist eine gewissermaßen ethnobotanische Wende im Zusammenhang mit Debatten um indigene Landansprüche (land claims) im Sinne der Repatriierung von Land oder/und entsprechender Reparationen.87 Dabei wird die Tatsache hervorgehoben, dass in der historischen Wahrnehmung indigener Ansprüche der aquatische Lebensraum (Zugang zu Fischgründen, Muschelgärten etc.) im Vordergrund stand; nicht jedoch indigene Anbauflächen wie die estuarine root gardens. Autor*innen wie Turner und Deur engagieren sich mit ihren Arbeiten gegen die Tradierung dieser Wahrnehmung.88 Da der Fokus hier nicht auf land claim-Debatten, sondern auf der Kulturgeschichte indigener Ernährungskulturen liegt, steht im Folgenden ein anderer Aspekt dieses Bereichs indigener Lebenswelten an der Nordwestküste im Zentrum meiner Darstellung: nämlich die Rolle essbarer Rhizome – in diesem Fall von Klee, Gänsefingerkraut und Schatten-Schachblume – für die kulinarische Grammatik indigener Ernährungskulturen. Klee und Gänsefingerkraut: Der Klee und das Gänsefingerkraut sind verschiedene Pflanzen. Für die indigenen Kulturen der Nordwestküste und deren historische Ernährungskulturen waren sie bzw. ihre essbaren Rhizome jedoch nahezu austauschbar salva veritate: 86
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Zur Rolle essbarer Rhizome als risk reducing ressource siehe Deur (2005: 303-304). Zur Rolle von pflanzlichen Nahrungsmitteln im Allgemeinen im Hinblick auf Ernährungssicherheit siehe Turners und Davis (1993). Siehe hierzu beispielhaft die Arbeiten der wohl prominentesten akademischen Vertreter*innen dieser Debatte, Douglas Deur und Nancy J. Turner: Deur (2002a, b), Deur et al. (2015), Deur und Turner (2005), Turner (2005). Siehe außerdem Thrush (2011).
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»These 2 types of ›roots‹ – actually rhizomes in clover – were frequently harvested, prepared, and eaten in a similar way, and as they grow in similar habitats on the Northwest Coast, they are almost always discussed together by native people knowledgeable about their traditional foods.« (Turner und Kuhnlein 1982: 412413)89 Geerntet wurden die langen, dünnen, weißlichen Wurzeln der beiden Pflanzen im Herbst und/oder Frühling. Beide ließen sich – vorgegart, getrocknet und in luftdurchlässigen Körben zwischen trockenem Gras verpackt – gleichermaßen gut und lange an einem kühlen und trockenen Ort lagern.90 Geschmacklich haben sie wohl wenig mit Getreideprodukten gemein: »In taste and appearance, the clover ›roots‹ were described by native women as resembling cooked beansprouts.« (Turner und Kuhnlein: 427) Dennoch werden sie aufgrund ihres Aussehens auch als »Indian spaghetti« (ebd.: 415) bezeichnet. Wie die meisten zum Verzehr geeigneten Rhizome der Nordwestküste wurden sie gewöhnlich nicht roh gegessen – allenfalls als Snack während der Ernte. Üblicherweise wurden die Wurzeln gedämpft oder gesotten. Turner und Kuhnlein beschreiben diesbezüglich und für die Zeit vor dem Kontakt mit Europäern zunächst zwei Techniken: das Dämpfen im unterirdischen Erdofen und das Dämpfen in einem oberirdischen Ofen. Der Aufbau ist in beiden Fällen im Wesentlichen gleich (ebd.: 424-246): Auf ein Bett von heißen Steinen wurden Lagen von Algen, Farnwedeln und Wurzeln (dem Gargut) geschichtet und zum Schluss Wasser hinzugegeben, das beim Kontakt mit den heißen Steinen am Boden verdampfte. Um den aufsteigenden Wasserdampf nicht entweichen zu lassen, wurde beim unterirdischen Ofen die Öffnung der Grube mit Matten abgedeckt, während die oberirdische Variante rundum mit Matten und teilweise Erde, Moos oder Grasmatten verkleidet wurde. Drucker berichtet von legendären Klee-Wurzel-Festessen, bei denen der oberirdische Ofen so üppig gefüllt war, dass jemand auf das nächstliegende Dach steigen musste, um das Wasser anzugießen (Drucker 1951: 62). Hunt und Boas schildern zudem zwei weitere Zubereitungsarten. Bei der ersten Variante wurde ein mit Wurzeln gefüllter Korb in eine hohe bentwood-Kiste gehängt. Am Boden der Kiste lagen heiße Steine, auf die – wie zuvor bei den Öfen 89
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Auch ein Blick in Hunt und Boas’ Rezeptsammlung (Boas 1921: 527-544) sowie die Angaben in NFNPS (1984: 40-41) untermauert diese Einschätzung. Im Hinblick auf regionale Unterschiede konstatieren Turner und Kuhnlein: »On the Northwest Coast, the procedures for harvesting and preparing clover and silverweed ›roots‹ were generally similar among the different groups using them.« (Turner und Kuhnlein 1982: 419) Für detailreiche Informationen zu Anbau, Ernte, Verarbeitung und soziokultureller Bedeutung von Klee und Gänsefingerkraut siehe insbesondere Turner und Kuhnleins Two Important »Root« Foods of the Northwest Coast Indians: Springbank Clover (Trifolium wormskioldii) and Pacific Silverweed (Potentilla anserina ssp. pacified) (1982). Siehe außerdem Turner (2006: 94-95) zu Klee und Boas (1921: 186-188) zur analogen Ernte von Klee und Gänsefingerkraut.
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– Wasser gegossen wurde. Matten zur Abdeckung verhinderten, dass der Dampf entweichen konnte. Bei der zweiten, moderneren Variante wurden die Wurzeln auf einen rostartigen Dämpfeinsatz aus red cedar am Boden eines Topfes (kettle) platziert. Zum Dämpfen wurde etwas Wasser angegossen; der Topf mit befeuchteter red-cedar-Rinde abgedeckt; und das Ganze aufs Feuer gestellt (Boas 1921: 531-533). Hunt und Boas erwähnen zudem, dass die erste Variante für Festessen, die zweite hingegen für profane Mahlzeiten im Kreis der Kernfamilie vorbehalten gewesen sei. Wenngleich die beiden Varianten hinsichtlich sowohl des Behältnisses (Holz oder Metall) als auch der Hitzequelle (intern oder extern) sehr verschieden sind, ist das Prinzip trotz technischer Veränderungen das Gleiche – nämlich Dämpfen91 . Selbiges gilt für unter- und oberirdische Öfen, wenngleich die Garzeit hierbei länger und der Aufwand größer waren. Die gegarten Rhizome wurden schließlich entweder für den Winter getrocknet oder direkt verzehrt. Dabei wurden sie häufig zusammen mit anderen Speisen wie bspw. geflammtem getrocknetem Lachs oder aber mit getrockneten oder fermentierten Fischeiern gegessen. In jedem Fall wurden sie vor dem Verzehr in Fischöl gedippt (Boas 1921: 532-533; Turner und Kuhnlein 1982: 427) oder direkt darin serviert. Ein besonderes Detail sowohl im Hinblick auf die Zubereitung als auch auf den Verzehr von Klee- und Gänsefingerkrautwurzeln weckt noch einmal Assoziationen in Bezug auf die oben erwähnte Bezeichnung als Indian spaghetti. Denn keinesfalls durften die langen Wurzeln verkocht oder zerbrochen werden. Sie mussten gewissermaßen al dente und nicht zusammenklebend serviert werden. Hierzu wurden die Wurzeln nach dem Dämpfen auf einer Matte ausgebreitet – »[to] shake the steam out of them.« (Boas 1921: 541) – und vorsichtig voneinander getrennt. Die gegarten Indian spaghetti wurden schließlich in Schüsseln gegeben, mit reichlich Fischöl übergossen und zum Essen zu kleinen, mundgerechten Ballen geformt (ebd.). In Hinsicht auf die soziokulturelle Bedeutung von Indian spaghetti bzw. von
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Zwar sprechen Hunt und Boas bei der zweiten Variante explizit von »boiling«. Ihre Beschreibung legt es jedoch nahe, den Vorgang als Dämpfen (steaming) zu bezeichnen. So schreiben sie: »She places (the clover-roots) on top of the cedar-sticks at the bottom of the small kettle. She does not press them down, for she wishes (them) to lie loosely inside the kettle, so that the steam can pass through easily.« (Boas 1921: 532) An anderer Stelle, wenn es um einen analogen Aufbau (Topf mit Dämpfeinsatz und Abdeckung) geht, den sie ebenfalls als »boiling« bezeichnen, halten sie fest: »She pours on very little water, about half a cupful.« (Ebd.: 543) Die Vermutung liegt deshalb nahe, dass wenn Hunt und Boas von boiling sprechen, sich dies vor allem darauf bezieht, dass Wasser in einem Topf mithilfe einer externen Hitzequelle aufgekocht wird. Zumal der Topf, sobald das Wasser siedet und Dampf aufsteigt, von der Feuerstelle genommen und das Gargut im anhaltenden Wasserdampf ziehen gelassen wurde. Siehe Boas (ebd.: 558-559) als weiteren Beleg für dieser Interpretation.
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Klee und Gänsefingerkaut ist die Tatsache entscheidend, dass nur Personen von hohem Status die sorgfältig zubereiteten langen Wurzeln serviert bekamen, während die gemeinen Mitglieder der jeweiligen Essgemeinschaft sich mit dem Bruch oder zumindest den kürzeren Wurzeln zufrieden geben mussten. Bei Hunt und Boas findet sich auch ein vor diesem Hintergrund eher außergewöhnliches Rezept, bei dem die bereits gegarten Wurzeln für ein Festessen zerbröckelt und mit Fischöl zu einer Art Stampf (grobes Püree) vermischt wurden, das mit Löffeln gegessen wurde (ebd.: 527-531). Außerdem berichten sie von einer Zubereitungsmethode in Ausnahmesituationen, etwa auf der Jagd oder auf Reisen, in denen die notwendigen Kochutensilien fehlten. Die Wurzeln wurden dann in große Blätter oder Farnwedel gewickelt und in der Asche unter einem Feuer vergraben (ebd.: 533-534). Die Außergewöhnlichkeit dieser Zubereitungsart und ihres Kontexts wird nicht zuletzt darin deutlich, dass Hunt und Boas explizit hervorheben, dass in diesem Fall grease kein Teil der kargen Mahlzeit war. Schatten-Schachblume: Die als Indian rice oder von den Gitksan schlicht als »Gitksan wild rice« (People of ’Ksan 1980: 77-78) bezeichnete Schatten-Schachblume wurde bereits mehrfach angesprochen. Ihre Spitznamen gehen auf die kleinen reiskornförmigen Auswüchse zurück, mit denen ihre rundliche Hauptknolle gespickt ist. (Abb. 3) Die Pflanze selbst kommt an der gesamten Nordwestküste vor, und ihre Knolle war fester Bestandteil der Ernährungskulturen nahezu aller indigener Gruppen von Oregon bis Alaska (Deut 2005: 322; Turner 2006: 46; Turner und Kuhnlein 1983; Turner et al. 2013: 122). Wie die meisten anderen essbaren Rhizome wurden sie in der Regel nicht roh gegessen. Im Herbst wurden, je nach Größe, entweder das ganze Rhizom oder lediglich die reiskornförmigen Auswüchse geerntet, während die Hauptknolle, die sogenannte Großmutter zurückgepflanzt wurde.92 Durch dieses Rückpflanzen der Großmutter wurden die Rhizome und damit der Ertrag im nächsten Jahr größer und qualitativ hochwertiger. Getrocknet und mit den eigenen Blättern der Pflanze bedeckt, wurde die Ernte in bentwood-Kisten für große Festessen im Zuge der winterlichen Zeremonien bevorratet. Prinzipiell konnte der Indian rice jedoch – je nach Wetterbedingungen – den gesamten Winter über bis in den Februar geerntet werden (NFNPS 1984: 41). Die root gardens waren damit gewissermaßen natürliche Wurzelspeicher außerhalb der Siedlungen und Indian rice in dem Sinn eine risk reducing resource. Zum Verzehr wurden die kleinen Knollen gewöhnlich in bentwood-Kisten entweder gedämpft oder gesotten. Für die Haida im Norden und Nuu-chah-nulth an der Westküste von Vancouver Island berichtet Turner davon, dass die Knollen neben dem auch dort üblichen Dämpfen oder Sieden teilweise in Asche gebacken 92
Diese Information geht auf ein Panel zum Thema root gardens im Zuge der 8th Traditional Food Conference des Vancouver Island and Coastal Communities Indigenous Food Network (VICCIFN) im Herbst 2015 zurück.
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oder in Erdöfen zubereitet wurden (Turner 2005: 47; außerdem Joseph 2012: 22, 23). Generell lässt sich allerdings sagen, dass die Knollen eine sehr kurze Garzeit haben und im gegarten Zustand sehr weich und wenig formstabil sind. Das bedeutet nicht nur, dass sie (ähnlich wie wapato) nicht viel Energie zum Garen benötigten, sondern ebenso, dass sie aufgrund ihrer Konsistenz nicht zum Dippen in Fischöl geeignet waren. Natürlich wurde deshalb nicht auf grease verzichtet. Im Gegenteil: Die weichgekochten Knollen wurden mit ausgesprochen viel grease angerührt oder gleich – mit reichlich grease – zu einem Stampf zerdrückt und mit Löffeln gegessen.93 Die große Menge an zugegebenem grease – deretwegen nach dem Essen Wasser getrunken werden müsse, um Unwohlsein zu vermeiden – begründen Hunt und Boas mit dem bitteren Geschmack der Knolle, den das grease mildern sollte: »[…] after they have […] [eaten lily-bulbs], they drink a little water, for they do not want to get squeamish, because there is much oil in it, for there is more oil than lily-bulbs. It tastes bitter when there is only little oil with it: therefore they put much oil in […].« (Boas 1921: 563) Die Familien der Liliengewächse, zu denen auch die Schatten-Schachblume zählt, umfasst einige weitere Arten, deren Knollen essbar sind und von verschiedenen Gruppen als Nahrungsmittel verwendet wurden. Dazu gehören bspw. der Rosa Hundszahn (pink fawn lily, Erythronium revolutum), die sogenannte tiger lily (Lilium columbianum) und die Essbare Prärielilie (blue camas, in der Kurzform oft als camas bezeichnet). Wie beim Klee und Gänsefingerkraut, gleichen sich der Umgang mit den verschiedenen Liliengewächsen und die Zubereitung ihrer Knollen im Wesentlichen. So wurde nach Hunt und Boas’ Darstellung (Boas 1921: 544-550) die Hundszahn-Lilie für gewöhnlich (zumindest bei Kwakwaka’wakw) in Analogie zur Schatten-Schachblume verwendet: Die Knollen wurden zerkocht und zusammen mit reichlich grease zu einem dicken Brei (thick paste, ebd. 546) verrührt. Darüber hinaus seien die Knollen der Hundszahn-Lilie, ähnlich der erwähnten Variante zur Zubereitung der Schatten-Schachblumen-Rhizome bei den Haida und Nuuchah-nulth, für alltägliche Mahlzeiten auch in Asche gebacken und anschließend in Fischöl gedippt worden (ebd.: 549; Turner 2005: 45). Die Essbare Prärielilie schließlich ist im Hinblick auf indigene Ernährungskulturen an der Nordwestküste eine
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Zur Verarbeitung der Knollen der Schatten-Schachblume in den verschiedenen indigenen Gruppen entlang der gesamten kanadischen Nordwestküste siehe Joseph (2010). Wie Joseph zeigt, gab es auch im Fall der Schatten-Schachblume diverse Zubereitungsmethoden. Im Großen und Ganzen wird jedoch deutlich, dass die gewöhnlichen Arten der Zubereitung in diesem Fall das Dämpfen oder Sieden waren und dass die gegarten Rhizome nicht ohne grease als obligatorischem Begleiter auskamen.
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der bekanntesten Vertreterinnen der Lilienfamilie (zusammen mit der SchattenSchachblume). Allerdings kommt die Pflanze vor allem im Gebiet des Columbia River vor, während sie im heutigen British Columbia eher selten ist. Genau genommen wächst sie fast ausschließlich im südöstlichen Teil von Vancouver Island, auf den San Juan Islands und dem benachbarten Festland.94 Nichtsdestotrotz waren die Knollen bei den meisten indigenen Gruppen auch weiter nördlich bekannt und ein geschätztes Handelsgut. Dies lässt sich vermutlich nicht zuletzt darauf zurückführen, dass die Knollen im Gegensatz zur gängigen Meinung (und den Knollen der anderen Lilienarten) keine Stärke enthalten, sondern einen hohen Anteil von Inulin, einem komplexen Zucker, der sich durch langes Erhitzen in Fructose umwandelt (Turner 2006: 43). Um die Süße freizusetzen, wurden die Knollen deshalb in Erdöfen einen bis eineinhalb Tage gegart. Danach waren sie weich, braun und so süß, dass sie vor der Einführung von Rohrzucker mitunter zum Süßen anderer Speisen verwendet wurden.95 Bevor im Folgenden weitere pflanzliche Nahrungsmittel zur Sprache kommen, von denen die meisten im Gegensatz zu den oben diskutierten Rhizomen nicht zur Vorratsbildung geeignet waren und deshalb wie die Farnwurzeln und Triebe lediglich zu bestimmten saisonalen Höhepunkten gegessen wurden, lohnt es sich, eine letzte Pflanze mit prinzipiell essbaren Rhizomen vorzustellen: den Stinkkohl (skunk cabbage, Lysichiton americanus). Die Betonung liegt hier auf »prinzipiell«, denn wie Turner feststellt: »None of these groups prized any part of the Skunk Cabbage highly.« (Turner 2006: 38) Zwar wurden die Wurzeln des Stinkkohls von manchen Gruppen (bspw. Nuu-chah-nulth und Squamisch, ebd.) gegessen, jedoch eher als famine food (Turner und Davis 1993 passim; Turner 2005: 64-66). Letztendlich spielt der im gesamten Gebiet der Coastal First Peoples heimische Stinkkohl zwar keine zentrale Rolle als tatsächliches Nahrungsmittel, umso mehr aber als integraler Bestandteil einer Reihe von Küchentechniken. Abgesehen von der Funktion der großen grünen und robusten Blätter als Einweggeschirr und »Indian wax paper«96
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Zum Anbau, zur Verwendung (Zubereitung und Konsum) und zur soziokulturellen Rolle der Essbaren Prärielilie für die Küsten-Salish in diesem Gebiet siehe Suttles (2005). Ein weiteres Beispiel für eine Pflanze, die zwar nicht im Gebiet der Coastal First Peoples vorkommt, deren essbare Rhizome jedoch hochgeschätzt und deshalb über Handelsbeziehungen erworben wurden, ist die Bitterwurzel (bitter root, Lewisia rediviva). Letztlich deutet ihre alternative Bezeichnung als »desert rose« bereits an, dass es sich um eine Pflanze handelt, die in British Columbia ausschließlich im (semi-)ariden Inland des Interior Plateau vorzufinden war. Dort stellten die gegart geschmacklich an Chinin erinnernden Wurzeln ein wichtiges Grundnahrungsmittel und wertvolles Handelsgut dar (Turner 2005: 29-32). Wie vieles andere gelangten die Wurzeln im Austausch zwischen Coastal und Interior First Peoples bis an die Küste. »Wherever Skunk Cabbage leaves were available, they were used as ›Indian wax paper‹ for lining berry baskets, berry drying racks, and steaming pits.« (Turner 2006: 38)
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(Wachs- oder Butterbrotpapier) berichtet Turner von der Verwendung getrockneter und anschließend zerstoßener Stinkkohl-Blätter als Verdickungsmittel, das bei der Herstellung von Fruchtkuchen (siehe den Abschnitt zu Beeren und Früchten) oder auch im Zuge der Herstellung der fermentierten Fischrogen (Turner 2006: 38) verwendet wurde (Turner 2006: 38, 98). Wenngleich die Autor*innen von People of ’Ksan (1980) darüber hinaus erwähnen, dass die Blätter des Stinkkohls durch wiederholtes Blanchieren ihren unangenehmen Geschmack verlieren würden und auf diese Weise im Frühling junge Blätter als Blattgemüse zubereitet werden konnten, betonen bspw. Turner (2006: 38), Pasco et al. (1998) und Devereaux et al. (2011) die Toxizität und deshalb die Nichtessbarkeit der Blätter.
(Blatt-)Gemüse Obschon die tatsächliche Anzahl sehr überschaubar war, gab es an der Nordwestküste ein paar Pflanzenarten, die sich ähnlich der in Zentraleuropa üblichen Zubereitung von Spinat, Mangold oder Stängelkohl (Rapa) verarbeiten ließen. Davon sind aufgrund ihrer überregionalen und ausgesprochen großen Verfügbarkeit insbesondere zwei hervorzuheben: Brennnesseln (stinging nettles) und eine Pflanze aus der Familie der Ampfer (western dock, Rumex occidentalis). Erstere, die Brennnesseln, wurden zu Frühlingsanfang gesammelt, wenn die Stängel der Pflanze noch nicht verholzt waren. Neben der Verwendung als Tee, wurde sie, wie ihr Spitzname Indian spinach (Turner 2006: 131) erahnen lässt, im Wesentlichen stets auf die gleiche Art zubereitet – nämlich: »same way as you would [cook] spinach.« (NFNPS 1984: 36) Das Gleiche gilt für den Ampfer: »The Nuxalk gathered the young leaves in spring, cooked them, mashed them with grease and ate them ›like spinach‹.« (Turner 2006: 108) Zwar scheinen beide Pflanzen einen festen Platz in den indigenen Ernährungskulturen nahezu aller Gruppen gehabt zu haben. Deutlich häufiger als in Bezug auf Blattgemüse begegnet einem allerdings eine explizite Präferenz für essbarer Pflanzenstängel. Prominent in diesem Zusammenhang ist bspw. ein Vertreter aus der Familie der Selleriegewächse, von denen weiter oben bereits wild carrots erwähnt wurden. Im Gegensatz zu wild carrots wurde der sogenannte Indian celery (cow parsnip, Heracleum lanatum) nicht wegen seines Rhizoms, sondern wegen seiner mild nach Sellerie schmeckenden Stängel wertgeschätzt. Dabei wurden ausschließlich die jungen Stängel gegessen, die zwischen Februar und April geerntet und nicht gegart, sondern lediglich von der faserigen Haut befreit und roh in grease gedippt wurden (Turner 2006: 58). Das Gleiche gilt für den Riesen-Schachtelhalm (giant horse tail, Equisetum telmateia) und das Schmalblättrige Weidenröschen (fireweed, Epilobium angustifolium) sowie verschiedene Vertreter der Rosengewächse wie bspw. die Nootka Rose (common wild rose, Rosa nutkana), die Weiße Zimthimbeere (thimbleberry, Rubus parviflorus) und die Pracht-Himbeere (salmonberry, Rubus spectabilis). Wie
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weiter unten deutlich wird, setzt sich die Präferenz für junge Stängel verschiedener Gemüse in dem weitverbreiteten Genuss von essbarem Holz fort. Bevor im folgenden Abschnitt auf die Früchte einiger Rosengewächse eingegangen wird, deren junge Stängel bis heute, wenn sie im Frühjahr hellgrün und saftig am Wegrand stehen, im Vorbeigehen gekappt, geschält und gegessen werden, lohnt es sich drei weitere pflanzliche Nahrungsmittel vorzustellen, die jedes auf seine Weise eine Besonderheit darstellen: Eine erste Ausnahme sind die oben angesprochenen jungen Farnspitzen (fiddleheads), die gedünstet oder gesotten und in grease gedippt wurden (People of ’Ksan 1990: 87). Außerdem nennenswert sind wilde Zwiebeln (allium cernuum, Turner 2006: 40-41). Sie waren an der gesamten Küste verbreitet und wurden entweder roh gegessen oder in Erdöfen gegart. Darüber, dass sie in irgendeiner Form im Sinne einer Geschmack gebenden Zutat im Zusammenhang mit anderen Gerichten wie bspw. Suppen, Eintöpfen oder mushs verwendet wurden, liegen mir indessen keine Informationen vor. Eine letzte Besonderheit ist das sogenannte stronecrop (sedum divergens), das aufgrund seiner roten fleischigen Blätter in der Literatur für gewöhnlich im Zusammenhang mit den diversen Beerensorten an der Nordwestküste genannt wird. Nur handelt es sich beim stonecrop nicht um eine Beere, sondern um eine Gattung der Fetthennen aus der Familie der Dickblattgewächse, deren knackig-fleischige Blätter roh gegessen wurden (ebd.: 72). Letztendlich waren nicht nur die Blätter, die erst im Herbst rot werden, sondern auch der Rest der sukkulenten Pflanze essbar. Die kleinen, 5-10 cm großen Pflanzen wurden zu diesem Zweck im Ganzen im Frühling an den steinigen Uferlinien geerntet, gereinigt und roh in reichlich Fischöl gedippt verzehrt (People of ’Ksan 1980: 87).
Beeren und andere Früchte Im Gegensatz zu den (Blatt-)Gemüsen, die lediglich saisonal, d.h. im Frühjahr und Frühsommer, frisch gegessen und nicht präserviert wurden, waren Beeren und andere Früchte typische und hochgeschätzte Präserven. Die Vielfalt der essbaren Beeren und Früchte an der Nordwestküste ist dabei überwältigend. Vergleicht man die Literatur zu dieser Thematik, lassen sich nicht weniger als knapp vierzig Arten bestimmen, die je nach Region mal mehr, mal weniger regelmäßig gegessen wurden (Boas 1921: 204-221, 255-302, 564-601; NFNPS 1984: 24-36; People of ’Ksan 1980: 5876; Turner 2006 passim). Über die Hälfte davon sind Unterarten von drei dominierenden Pflanzengattungen. Dies sind die Gattung der Heidelbeergewächse (Vaccinium), verschiedene Arten der Gattung Johannisbeere (Ribes) und schließlich diverse Pflanzen der Gattung Rubus, zu der bspw. die bereits erwähnte Pracht-Himbeere (salmonberry) und die Weiße Zimt-Himbeere (thimbleberry), aber auch gewöhnliche Himbeeren und Brombeeren zählen. Eine weitere Beere, die zwar nicht zu einer der drei dominierenden Pflanzengattungen zählt, aber aufgrund ihrer Verbreitung
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nicht unerwähnt bleiben sollte, ist die Erlenblättrige Felsenbirne (saskatoon, Amelanchier alnifolia). Da sowohl die Präservierung als auch die anschließende Weiterverarbeitung der diversen Beeren- und Fruchtpräserven im Wesentlichen denselben Prinzipien folgen, werden artspezifische Besonderheiten hier nicht im Detail besprochen. Die einzige Ausnahme, auf die unten im Einzelnen näher eingegangen wird, ist die Kanadische Büffelbeere (Shepherdia canadensis), besser bekannt als soopolallie oder auch soapberry. Insgesamt stellen Beeren und andere Früchte keinen nebensächlichen Aspekt der indigenen Ernährungskulturen dar. Während sie zwischen Frühsommer und Spätherbst eine willkommene saisonale Abwechslung boten, waren sie im Winter eine wichtige diätische Ergänzung zur protein- und fettreichen Präservenkost. Nicht zuletzt spielten einige Beerenpräserven als prestigeträchtige Wertgegenstände und Handelsgut eine prominente Rolle in den winterlichen Potlatch-Festen und Festessen, bei denen sie in großen Mengen in bentwood-Kisten verpackt an die hochrangigen Gäste vergeben und/oder denselben in aufwendig verzierten feast dishes mit reichlich grease serviert wurden. Die People of ’Ksan (1980) heben bspw. hervor, dass ein Gericht Namens hlayax – eine Mischung von Beeren oder anderen Früchten und grease – alles andere als ein vernachlässigbarer Dessertgang war. Im Gegenteil: »[It] was used by si’moogit [the chief] as a main course of a feast.« (Ebd.: 76) Um die meist leichtverderblichen Beeren und Früchte haltbar zu machen, gab es verschiedene Techniken, wobei nicht alle Sorten von Beeren und Früchten für alle Techniken gleichermaßen geeignet waren. Dies war abhängig von der jeweiligen Dicke der Haut, der Menge an Fruchtfleisch, der Größe und Menge der Kerne und dem Saftgehalt. Manche Beeren eigneten sich etwa aufgrund des Saftgehalts weder zum Trocknen noch zum frisch Einlagern und wurden deshalb ausschließlich frisch gegessen (bspw. die an der Nordwestküste heimischen wilden Erdbeerarten; ebd.: 72; Turner 2006: 113) und die meisten Arten der Gattung Johannisbeere (Turner 2006: 98-102, 192). Beeren, die sich zum Trocknen eigneten, wurden entweder wie Rosinen im Ganzen gedörrt oder zu quittenbrotartigen Fruchtkuchen (berry cake oder berry leather, VICCIFN 2011: 45) verarbeitet. Um Beeren im Ganzen zu dehydrieren, wurden sie entweder frisch oder vorgegart97 auf Matten ausgebreitet, im Sonnenlicht gedörrt und anschließend in Kisten verwahrt. Für die Fruchtkuchen wurden die Beeren gewöhnlich zerdrückt oder auch im Ganzen mit Hilfe von heißen Steinen in bentwood-Kisten eingekocht. Es gab jedoch auch Beeren, bei denen es ausreichte, die rohe, zerdrückte Masse lediglich ein paar Tage
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In diesem Fall wurden harte, unreife Beeren mit entsprechend geringem Saftgehalt zunächst in bentwood-Kisten gedämpft bzw. gekocht oder gar in Erdöfen über ein bis zwei Tage weich gegart.
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stehen zu lassen, um sie durch Oxidation hinreichend eindicken zu lassen. Zugleich gab es andere Sorten, bei denen es nötig war, während des Kochvorgangs getrocknete und zermahlene Stinkkohlblätter (Boas 1921: 275-281) oder fein zerstoßene Holunder-Fruchtkuchen (ebd.: 265-268) als Verdickungsmittel beizumischen. Die ausreichend eingedickte Masse wurde anschließend auf eigens dafür konstruierten Rosten in mit Stinkkohlblättern ausgelegte Rahmen (30cm x 90cm) etwa 3cm dick ausgestrichen. Unter regelmäßigem Wenden wurden die großen Fruchtkuchen-Matten dann trocknen gelassen. Um den Dehydrierungsprozess zu beschleunigen, konnte unter dem Rost außerdem ein Feuer entfacht werden.98 In manchen Fällen wurde auch der austretende Saft aufgefangen, entweder um ihn zu trinken (People of ’Ksan 1980: 94) oder um die Masse während des Trocknens damit zu beträufeln (NFNPS 1984: 24) und so den Geschmack zu verdichten. Waren die Fruchtkuchen-Matten ausreichend getrocknet, wurden sie entweder aufgerollt (People of ’Ksan 1980: 56), gefaltet (Boas 1921: 275) oder zurechtgeschnitten und in bentwood-Kisten geschichtet. Obschon die Form der Präservierung durch Dehydrierung je nach Beere und Gruppe im Detail variierten, war das zugrunde liegende Prinzip (Dehydrierung) stets dasselbe und waren die hergestellten Präserven (lose Beeren, Fruchtkuchen) im Wesentlichen gleich.99 Neben der Dehydrierung gab es auch die Möglichkeit, frische, meist unreife Beeren und Früchte mit einer festen Schale für den Winter einzulagern. Hierfür wurden die Früchte entweder in Körben aufgehängt oder in bentwood-Kisten gegeben und mit heißem Wasser übergossen oder auch direkt in der Kiste zusammen mit Wasser aufgekocht. Die Kisten wurden dann verschlossen, solange sie noch heiß waren. Letztere Technik wurde bspw. bei Moltebeeren (cloudberry, Rubus chamaemorus, Turner 2006: 121, einer kleinen, orangefarbenen, vom Aussehen an unreife Himbeeren erinnernden Frucht mit bitter-säuerlichem Geschmack) und highbush cranberries (Viburnum edule, ebd.: 69-70, einer kleinen roten, sauer-herb schmeckenden Beere) aber auch im Zusammenhang mit anderen Früchten wie dem wild crabapple (Malus fusca, einer wilden Apfelart mit dattelgroßen, säuerlichen Früchten, Boas 1921: 286-289) verwendet. Die beiden letztgenannten Früchte, high-bush cranberries und wild crabapple, konnten darüber hinaus wie bspw. auch Preiselbeeren (low-bush cranberry, Vaccinium vitis-idea) und Blaubeeren (oval-leaved blueberry, Viccinium ovalifolium) mit einer weiteren bemerkenswerten Technik präserviert werden, von der auch Krause (1885) berichtet: »Im Herbst werden mit ihm [dem grease] ebenso wie mit dem Lachsfett auch verschiedene Beeren für den Winterbedarf eingemacht.« (Krause
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Für eine detailreiche Illustration dieses Vorgangs siehe People of ’Ksan (1980: 51-58). Für weiterführende Informationen und Details zu den variierenden Präservierungstechniken siehe beispielhaft die diversen Angaben in Boas (1921: 264-292) NFNPS (1984: 24-36), People of ’Ksan (1980: 51-76) und Turner (2006: 66-90, 98-103, 110-128).
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1885: 178) Hierzu wurden die frischen, meist unreifen Früchte roh oder vorgegart in bentwood-Kisten gegeben und mit einem heißen Gemisch aus Wasser und grease übergossen oder mit Hilfe von heißen Steinen in demselben Gemisch kurz aufgekocht und anschließend abgedeckt.100 Beim Abkühlen härtete das Wassergrease-Gemisch aus und versiegelte die Beeren und Früchte mit einer luftdichten, soliden, weißlichen Fettschicht.101 In Bezug auf das Konservieren bzw. Konfieren von crabapples in grease formulieren die People of ’Ksan einen anschaulichen Vergleich: »It is interesting to note that today’s professional fruit growers dip their apples in wax before marketing them. The wax does the same work that our grease did, but ›the wax hasn’t the flavour or food value of grease.‹« (People of ’Ksan 1980: 66) Wenn die auf diese Weise präservierten, frischen respektive nicht-dehydrierten Früchte zum Verzehr nicht ohne weitere Verarbeitung portioniert und an die jeweilige Essgemeinschaft verteilt wurden, konnten sie entweder kalt oder nach kurzem Aufkochen zu einem mit reichlich grease vermischten Mus zerdrückt werden, der mit Löffeln gegessen wurde. Im Fall der dehydrierten Beeren waren daraus zubereitete Gerichte ähnlich, sofern sie nicht wie Dörrobst für sich und dabei meist in grease gedippt gegessen wurden.102 Für die Weiterverarbeitung der dehydrierten und komprimierten Beeren (lose Beeren und Fruchtkuchen) konnten sie bei Bedarf durch die Zugabe von Wasser rekonstituiert werden. Im Fall der Fruchtkuchen wurden diese zunächst zerbrochen, in Wasser ziehen gelassen (Rekonstituierung) und dann an den Seitenwänden einer Schüssel gerieben, sodass die größeren Klumpen gleichmäßig zerfielen. Bemerkenswert ist, dass die Fruchtkuchen verschiedener Beerensorten bzw. der entsprechende Bruch auch miteinander vermischt wurden (Turner 2006: 68). Wie bei den beiden oben genannten gewöhnlichen Servier- oder Zubereitungsmethoden der nicht dehydrierten Fruchtpräserven, wurden die rekonstituierten Beeren dann entweder mit grease zu einem Mus verarbeitet oder zumindest mit grease – als »shining dressing« (People of ’Ksan 1980: 76) – vermengt. Allerdings wurden die Beeren gewöhnlich nicht einfach mit grease übergossen. Die People of
100 Zum Teil wurden auch die dehydrierten Fruchtkuchen in Fischöl konserviert (NFNPS 1984: 24). 101 Siehe hierzu beispielhaft die Ausführungen in Boas (1921: 229, 291-292, 300-301) und People of ’Ksan (1980: 27). Aus lebensmitteltechnischer Sicht hat grease ausgesprochen gute Präservierungseigenschaften und ist selbst lange haltbar. In Hinsicht auf die Präserven ist die Tatsache ausschlaggebend, dass grease bei Temperaturen von bis zu 15 °C solide bleibt (Phinney et al. 2009). 102 Die People of ’Ksan betonen in diesem Zusammenhang, dass Fruchtkuchen ein »handy food« (People of ’Ksan 1980: 57) gewesen seien, das man auch auf längeren Reisen gut als Proviant mitnehmen konnte.
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’Ksan erwähnen im Zusammenhang mit dem oben angesprochenen hlayax, dass Wasser und grease zu einer weißen, cremigen Emulsion103 vermengt wurden, unter die anschließend die Beeren oder Früchte gezogen wurden (ebd.). Ganz egal also, ob es sich um dehydrierte oder nicht dehydrierte und ebenso frische Beeren und Früchte handelte, grease spielte in den allermeisten Fällen als Zutat oder eben dressing eine zentrale Rolle beim Verzehr der Fruchtpräserven: »In the opinion of the old folk, any berry was improved by the addition of grease.« (Ebd.)104 Während Beeren nun wie die meisten anderen Nahrungsmittelpräserven (mit Ausnahme mancher Versionen des Indian cheese und des Konservierens oder Konfierens in grease) für sich genommen, d.h. ohne die Zugabe anderer Zutaten (Verdickungsmittel ausgeschlossen) präserviert wurden, findet man bei Drucker (1951: 65) und Boas (1921: 296-300) zwei bemerkenswerte Ausnahmen. So berichtet Drucker in Bezug auf Nuu-chah-nulth von einem Kuchen, der aus Beeren und Muscheln hergestellt wurde: »There was another method, in which the sticks of roasted clams were laid out on a board and covered with a layer of thimbleberries, then with another of clams. A length of plank was laid on top of the sandwichlike arrangement and weights were put on it, or the woman sat on it. Then the cake was sun-dried and stored.« (Drucker 1951: 65) Turner fasst ein ähnlich faszinierendes Rezept aus Hunt und Boas’ Rezeptsammlung zusammen, in dem red huckleberries (Vaccinium parvifolium) mit Lachsrogen vermischt präserviert werden: »The Kwakwaka’wakw boiled them [red huckleberries] in cedar boxes, mixed with red salmon spawn, covered them with heated Skunk Cabbage leaves, and sealed the top with Eulachan fat […] and strips of heated Skunk Cabbage leaves. Prepared in this manner, the berries kept for many months. At winter feats they ate them with the usual addition of grease.« (Turner 2006: 88)105 Ein Sonderling unter den Beeren der Northwest Coast natural region ist die Kanadische Büffelbeere oder soapberry. Allerdings ist sie dies nicht etwa aufgrund von Seltenheit – im Gegenteil. Selbst wenn sie regional nicht vorkamen, wurden die Beeren von den dort lebenden Gruppen über den Handel mit anderen Gruppen erworben. Weshalb auch Turner betont: »Soapberry has been – and continues to be – one of the most widely used fruits in British Columbia.« (Turner 2006: 73-74) 103 Teilweise ist davon die Rede, dass diese Emulsion, wenn man Schnee anstelle von Wasser verwendet, vom Aussehen und Standhaftigkeit an geschlagene Sahne erinnern kann. 104 An anderer Stelle schreiben sie ähnlich anschaulich: »Grease improved the dry fruits just as butter improves bread.« (People of ’Ksan 1980: 49) 105 Siehe hierzu Boas (1921: 296-300). Hunt und Boas erwähnen dort, dass für diese Art der Zubereitung auch andere Beerensorten Verwendung fanden (ebd.: 299-300).
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Entscheidend für ihre Ausnahmerolle innerhalb der indigenen Ernährungskulturen sind stattdessen die charakteristischen Eigenschaften dieser kleinen Beere, die in ihrer gewöhnlichen Bezeichnung als soapberry widerhallen. Denn während alle anderen Beeren und Früchte auch als solche frisch vom Strauch gegessen wurden, wurde die soapberry ausschließlich zu einem einzigen Gericht verarbeitet, das heute überregional als Indian ice-cream bekannt ist. Dabei handelt es sich um einen standfesten, dichten, rosafarbenen Schaum, der entsteht, wenn man die frischen oder – nachdem sie im Sommer geerntet und anschließend einzeln oder zu Fruchtkuchen getrocknet wurden – rekonstituierten soapberries leicht andrückt und in einem Gefäß zusammen mit etwas Wasser oder gar Schnee mit Hilfe der bloßen Hand oder ein paar blättrigen Ästen (meist Weiße Zimt-Himbeere oder Shallon-Scheinbeere, salal, Gaultheria shallon) wie mit einem Schneebesen aufschlägt. Im Gegensatz zu den Gerichten, die aus Früchten und grease hergestellt wurden, nahm die sauer-bittere, geschmacklich an Tonicwater erinnernde Indian ice-cream tatsächlich – wenn auch nicht immer – die Rolle eines Desserts ein, das bei Festessen und vor allem nach schweren, öligen Speisen gereicht werden konnte (People of ’Ksan 1980: 63).106 Die fertige Indian ice-cream konnte schließlich noch mit anderen süßen Beeren, gegarten (süßen) Rhizomen der Essbaren Prärielilie oder aber mit frischem bzw. getrocknetem und zerstoßenem Kambium, dem erwähnten essbaren Holz, verfeinert werden.
Essbares Holz In der Einleitung wurde darauf verwiesen, dass Nadelbäume und vor allem western red cedar als Werkstoff einen wesentlichen Teil zur Ausgestaltung der Northwest Coast culture area beigetragen haben. Doch abgesehen davon, dass prinzipiell nahezu alle Teile der verschiedenen Nadelbäume auf die eine oder andere Weise technologisch genutzt wurden, spielten sie auch als Nahrungsmittel eine Rolle. Und das betrifft nicht bloß weniger aufwendige Produkte wie bspw. gesammeltes und mit kaltem Wasser gehärtetes Fichtenharz, das als eine Art Kaugummi gekaut wurde (Krause 1885: 186; Turner 2006: 33) oder die Verwendung junger Triebe (shoots), die gedämpft oder schlicht mitgekocht als signifikante Küchenkräuter oder auch als Tee dienten (Stewart 1987: 104). Es betrifft ebenso bemerkenswert aufwendige Speisen: Im Frühling wurde das Kambium und der als Bast bezeichnete Teil verschiedener Kieferngewächse wie bspw. der Sitka-Fichte, Westamerikanischen Hemlocktanne und Banks-Kiefer gegessen (Pasco et al. 1998: 20; People of ’Ksan 1980: 80-83). Als Kambium oder Kambiumring wird die dünne Wachstumsschicht bezeichnet, die sich zwischen Holz und Rinde eines Baums befindet. Der Bast ist
106 Boas berichtet davon, im Zuge einer Winterzeremonie im November 1885 in Fort Rupert Indian ice-cream als ersten Gang serviert bekommen zu haben (Boas 1966: 180).
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der lebende Teil der Rinde, in dem unter anderem die durch Photosynthese produzierte Saccharose transportiert wird, und der sich zwischen Kambium und Borke (abgestorbener Bast) befindet. Nachdem vorsichtig die Borke entfernt wurde, konnten Kambium und Bast vom Stamm geschabt werden. Frisch verzehrt, wurden die weißlich dünnen, süßen Streifen auch als pine noodles bezeichnet (People of ’Ksan 1980: 80-81). Teilweise wurden die pine noodles auch zu Fladen gepresst – manchmal auch unter Zugabe verschiedener Beeren –, die anschließend als Wintervorrat getrocknet wurden (Turner 2006: 32-35). Die People of ’Ksan (1980) berichten darüber hinaus von einer weiteren Nadelbaumspeise, die aus Splintholz hergestellt wird. Splintholz befindet sich zwischen Kambium und Hartholz. Das junge Splintholz wurde im Juli abgeschabt, über Nacht im Erdofen gedämpft, gestampft, zu Fladen geformt und abschließend getrocknet (ebd.: 83-86). Die getrockneten Kambium-, Bast- und Splintholzkuchen konnten schließlich zerstoßen über andere Speisen wie bspw. Beeren gegeben oder rekonstituiert als solches gegessen werden. Turner zitiert hierzu Margaret Siwallace aus Bella Coola die berichtet: »One cake at a time was taken out and soaked in warm water. Then it was stirred into a pasty substance and mixed with grease.« (Turner 2006: 35) Indessen scheinen Laubbäume keinen vergleichbaren Stellenwert in den indigenen Ernährungskulturen eingenommen zu haben. Zwar wurden teilweise das Kambium und der Bast von Oregon-Ahorn (broad leaved maple), Rot-Erle (red alder) und Westlicher Balsam-Pappel (black cottonwood) wie pine noodles geerntet und zubereitet (Turner 2006: 55-56, 64-65, 130), doch selbst den Nüssen anderer Laubbäume, wie z.B. der Haselnuss (Turner 2006: 65-66) und Oregon-Eiche (garry oak, Turner 2006: 97), kam eine geringe Bedeutung zu. So waren etwa selbst bei den wenigen Gruppen im heutigen British Columbia, in denen die Eicheln der Oregon-Eiche geschätzt wurden, diese stärkehaltigen Früchte bei weitem nicht so zentral für die Ernährung, wie das bei den indigenen Gruppen weiter südlich in Oregon und Kalifornien der Fall war (Turner 2006: 97). Bevor nun abschließend die tierischen nicht-aquatischen Nahrungsmittelressourcen thematisiert werden, darf eine weitere Kategorie von Nahrungsmitteln nicht unerwähnt bleiben, die weder tierisch noch pflanzlich ist: Pilze.
Pilze Wer als Pilzliebhaber die sattgrünen, warm-feuchten Regenwälder mit ihren moosbedeckten Waldböden betritt, wird überwältigt sein von der Vielfalt sowie Quantität und Qualität essbarer Fungi.107 Kuhnlein und Turner widmen den Fungi in ihrem umfassenden Überblickswerk Traditional Plant Foods of Canadian Indigenous Peoples. Nutrition, Botany, and Use (1996) gleich ein ganzes Kapitel, in dem sie die
107 Paul Nabham gibt hierzu einen Überblick in Form einer short-list (Nabham 2006: 30-32).
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verschiedenen Arten nicht nur botanisch bestimmen, sondern ebenso ihren Nährwert und gegebenenfalls entsprechende Gefahren besprechen (Turner und Kuhnlen 1996: 25-30). Letztendlich halten sie jedoch fest: »Among the Northwest Coast Peoples, despite the availability of innumerable kinds of edible mushrooms, few if any were recognized with generic level names, and with some minor exceptions, none was eaten.« (Ebd.: 25)108
Wild und Geflügel Natürlich spielte allerlei großes und kleines Wild wie Rehe, Elche, Bergziegen und Bären oder auch Hasen, Eichhörnchen, Wiesel und verschiedenes Geflügel je nach regionalem Vorkommen eine Rolle als Nahrungsmittel und Quelle diverser Rohstoffe wie Felle, Knochen und Sehnen.109 Wenig überraschend nahm Wild bei den Interior First Peoples eine wesentlich tragendere Rolle ein, als das bei den Coastal First Peoples der Fall war. Krause macht darüber hinaus deutlich, dass Tlingit zwar Klein- und Großwild gejagt hätten, jedoch seien weniger das Fleisch als Nahrungsmittel als vielmehr die Felle und Häute als Material für Kleidung und Textilien von Interesse gewesen (Krause 1885: 180-181; hierzu außerdem People of ’Ksan 1980: 45). Er erwähnt auch, dass Tlingit äußerst schlechte Schützen, dafür jedoch umso bessere Fallensteller gewesen seien. Zumindest die Charakterisierung als talentierte Fallensteller lässt sich auf die gesamte Nordwestküste übertragen. Dies wird nicht nur an den ehemals an der gesamten Nordwestküste verbreiteten Fallgruben, Schlagbaum- und Springfallen für alle Größen von Wild deutlich (Boas 1909: 507512), sondern auch in Hinsicht auf die Vogeljagd. Dabei scheint an der Küste die Vogeljagd in quantitativer Hinsicht generell mehr Raum eingenommen zu haben als im Inland. Schließlich kam entlang der Küstengebiete im Zuge der alljährlichen 108 Ungeachtet der Tatsache, dass Pilzen an der Nordwestküste keine nennenswerte Rolle als Nahrungsmittel zukam, spielten diverse Arten im Hinblick auf nicht-alimentäre Zwecke sehr wohl eine Rolle. Siehe hierzu Turner (1979: 52-58). Für eine nennenswerte Ausnahme bei zumindest den Interior First Peoples siehe Turner et al. (1987). 109 Diese Aufzählung ist selbstverständlich nicht vollständig. Für eine umfassende Darstellung regionaler Artenvielfalt siehe Kuhnlein und Humphries (2017). Abgesehen von regional verschiedenem Vorkommen, gab es je nach Gruppe Tiere oder bestimmte Teile von Tieren, die aus verschiedenen Gründen nicht gegessen wurden oder zumindest für bestimmte Teile der Gruppe generell oder periodisch einem Verbot unterlagen. Bspw. berichtet Boas davon, dass Kwakwaka’wakw Rehfleisch gemieden hätten, da es einen vergesslich machen würde (Boas 1909: 512) und Turner davon, dass Tsimshian und andere Gruppen keine Wölfe gegessen hätten (Turner 2005: 85). People of ’Ksan erwähnen wiederum, dass männliche Kinder und Jugendliche weder Kopf noch Beine von Bären essen durften (People of ’Ksan 1980: 45), während Jewitt für die Nuu-chah-nulth festhält, dass wer Bärenfleisch gegessen hatte, zwei Monate keinen Fisch essen durfte (Jewitt 1987: 75). Generell lassen sich diese Verbote nicht einheitlich darstellen bzw. wäre für eine hinreichende Besprechung dieser Thematik eine eigenständige Untersuchung notwendig.
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Vogelzüge im Frühjahr und Spätherbst mehr Geflügel als östlich des Küstengebirges vorbeigezogen. Die migrierenden Enten und Gänse wurden mit Hilfe von teils über 10 Meter in den Himmel ragenden Konstruktionen mit feinen Netzen gefangen, die in der Nähe von Rastplätzen der Zugvögel errichtet wurden (Batdorf 1990: 61-62; Irwin 1984: 51).110 Bei einer anderen Technik machte man sich die Vorliebe der Zugvögel für die essbaren Rhizome von Klee und Gänsefingerkraut, die in den estuarine root gardens kultiviert wurden, zunutze. Um die Vögel zu fangen, ließ man sie sich zunächst an Klee und Gänsefingerkraut bedienen, um schließlich ein großes, über dem Garten gespanntes Netz fallen zu lassen (Deur 2005: 307).111 Obschon also Wild (vor allem im Winter) und Geflügel (vor allem im Herbst und Frühling) gejagt, gefangen und gegessen wurden – und dabei wie bspw. Enten als wahre Delikatessen galten –, muss man festhalten, dass ihre Rolle für die indigenen Ernährungskulturen der Coastal First Peoples nicht mit jener der Aquafauna vergleichbar war. Dabei ist auffallend, dass Wild und Geflügel kaum präserviert wurden, bzw. Produkte wie etwa Pemmikan112 , Hirschtalg oder Bärenfett meist über den Handel mit Interior First Peoples Eingang in die indigenen Ernährungskulturen westlich des Küstengebirges gefunden haben. Entsprechend findet man – mit der Ausnahme von Bergziegen, die weiter unten zur Sprache kommen – auch in Hunt und Boas’ ansonsten umfassenden Darstellungen in Boas (1921) keine Angaben zur Präservierung oder anderweitigen Zubereitung von Wild und Geflügel. Gleichsam dokumentiert Drucker in Bezug auf Nuu-chah-nulth: »Flesh of mammals and birds […] was never dried, say informants.« (Drucker 1951: 65) Dies muss allerdings nicht heißen, dass Wild oder Geflügel von keiner der indigenen Gruppe geräuchert und
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Interessanterweise wusste bspw. Vancouver die imposanten Konstruktionen in seinem Bericht nicht zu deuten (Vancouver 1798: 225), wobei er an derselben Stelle im Bericht betont, dass Mitglieder seiner Besatzung vergeblich versucht hatten, die zwar massenhaft vorkommenden, jedoch in scheuer Distanz zur Discovery gebliebenen Wasservögel mit ihren Schusswaffen zu jagen: »We found the surface of the sea almost covert with aquatic birds of various kinds, but all so extremely shy that our sportsmen were unable to reach them with their guns […].« (Ebd.: 225) Für weitere Techniken und Konstruktionen zum Fangen von Geflügel siehe Boas (1909: 515516). Der Begriff »Pemmikan« (pemmican) leitet sich von dem Cree-Wort pimîhkân und dessen Wortstamm pimî für »Fett« ab. Pemmican bezeichnet eine Mischung aus getrocknetem Fleisch, Fett und oftmals getrockneten Beeren oder Dörrobst. Pemmikan war im gesamten indigenen Nordamerika weitverbreitet. Aufgrund seiner Nahrhaftigkeit bei gleichzeitiger langer Haltbarkeit und eines verhältnismäßig geringen Gewichts, war es als Proviant auf langen Reisen nicht nur bei der indigenen Bevölkerung beliebt. Die kanadische Ernährungshistorikerin Dorothy Duncan beschreibt etwa die Rolle, die Pemmikan als Handelsobjekt zwischen indigenen und nicht-indigenen Akteuren im Pelzhandel und schließlich bei der kolonialen Erschließung des kanadischen Westens über den Landweg gespielt hat (Duncan 2011: 49-50).
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getrocknet worden wäre. Vielmehr ist die Tatsache entscheidend, dass zum einen die Menge an erlegtem Wild und Geflügel wesentlich geringer war als die saisonal zwischen Frühling und Winteranfang erwirtschafteten aquatischen Nahrungsmittel, auf denen das Überleben im Winter beruhte. Zum anderen muss man gerade größeres Wild im Lichte seiner Saison betrachten, die vom Herbst bis Frühling reichte. Wild und Geflügel erschienen damit eher als willkommene Abwechslung denn als überlebenssichernde risk reducing recources. Entsprechend wurde die Jagdbeute, wie auch Jewitt am Beispiel von Bärenfleisch hervorhebt (Jewitt 1987: 77), insbesondere im Fall von Geflügel und kleinerem Wild, unmittelbar frisch zubereitet: »They are usually eaten immediately.« (People of ’Ksan 1980: 46) Dabei wurde kleines Wild und auch Geflügel im Ganzen entbeint und anschließend, ähnlich dem oben beschriebenen Vorgehen zum Grillen von Lachs, in direkter Nähe zum Feuer aufgespannt. Auch größeres Wild konnte zerlegt und stückweise am Feuer gegrillt werden. Allerdings betont Drucker im Einklang mit anderen Quellen: »[…] most red meats and fowl were boiled.« (Drucker 1951: 62)113 Neben diesen zwei Zubereitungsmethoden (Grillen und Sieden) und der Möglichkeit Fleisch und Geflügel in Erdöfen zuzubereiten berichten Batdorf und die People of ’Ksan von einer ausgefeilten Garmethode. Hierzu wurde Geflügel im Ganzen mit Lehm ummantelt und in Asche oder Glut gebacken. War der Lehm hart gebrannt, war das Geflügel im Inneren im eigenen Saft gar geschmort (People of ’Ksan 1980: 46; Batdorf 1990: 62-63). Die Schweigsamkeit von Hunt und Boas in Bezug auf Wild und Geflügel steht indes in einem starken Kontrast zu den 18 Seiten umfassenden Abschnitt mit mountain goat-Rezepten (Boas 1921: 428-446). Wenngleich die Bergziegen in der ethnografischen Literatur zur Nordwestküste primär im Zusammenhang mit der Verwendung ihres Fells für die Herstellung von Wolle Erwähnung finden, aus der die berühmten chilkat blankets gefertigt wurden,114 legen Hunt und Boas interessante Details zur Zubereitung von frischem wie auch in großen Stücken präserviertem Bergziegenfleisch offen: Während sowohl frisches als auch getrocknetes Fleisch (letzteres nach der üblichen Rekonstituierung) in Streifen geschnitten und in bentwood-Kisten gesotten wurde, konnte rekonstituiertes Fleisch bei großen Festessen außerdem im Ganzen gesotten und anschließend als gewissermaßen pulled goat serviert werden. Frisches Fleisch wurde darüber hinaus mit Hilfe einer ausgefeilten
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Siehe hierzu bspw. Jewitt, der in Bezug auf Geflügel festhält: »These they cooked in the usual manner, by boiling, without any further dressing than skinning them.« (Jewitt 1987: 71) Von Bären berichtet er darüber hinaus: »the animal is taken and skinned, and the flesh and entrails are boiled up into a soup.« (Ebd.: 75) Das einzige andere Tier, dessen Fell für die Herstellung von Wolle genutzt wurde, war eine Hunderasse, die zu diesem Zweck und zur Jagdhilfe zwar domestiziert, aber im Gegensatz zu den Ziegen nicht gegessen wurde.
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Schnitttechnik (ähnlich der unter deutschsprachigen Metzgern als Schmetterlingsschnitt bekannten Technik) zu einem großflächigen, dünnen Stück Fleisch ausgebreitet, das wie bspw. Lachs und Geflügel aufgespannt und senkrecht am Feuer stehend gegrillt wurde. Insgesamt allerdings gewinnt man bei der Lektüre der mountain goat-Rezepte am Ende den Eindruck, dass, wie schon im Fall der Kerzenfische und der Meeressäuger, dem Körperfett der Tiere eine prominentere Rolle innerhalb der indigenen Ernährungskulturen zukam als dem eigentlichen Fleisch. So wurde das Fett von Niere und Magen ausgelassen, warm und flüssig in Form gegossen und anschließend, ausgekühlt und ausgehärtet, als Talgkuchen in einem dünnen Stück Rinde eingeschlagen in bentwood-Kisten verpackt und für den Winter verwahrt. Abgesehen davon, dass der feste weiße Talg auch als effektiver Sonnen- und Kälteschutz diente, wurde er als individuell portionierte Delikatesse kredenzt und als wertvolles Gastgeschenk bei Festessen gereicht, die laut Hunt und Boas sogar noch prestigeträchtiger waren als die erwähnten grease-Feste (Boas 1921: 436). Ein besonders raffiniertes Rezept, das Bergziegentalg in einem Gericht unterbringt, in dem die Verwendung von Fett jeglicher Art im Normalfall rein technisch ausgeschlossen war, gibt indessen eine Vorstellung davon, wie sehr der Geschmack des Talgs geschätzt wurde. Die Rede ist von einem Rezept für Indian ice-cream, die mit »snow flavoured with smoked mountain goat fat« verfeinert wurde (NFNPS 1984: 32). Das bedeutet mit Schnee, der zuvor in einem grobmaschigen Korb in großem Abstand über einem glühendheißen Stein aufgehängt wurde, auf den man Talg gab. Der Talg verbrannte und der aufsteigende Rauch aromatisierte den darüber hängenden Schnee, der anschließend unter die Indian ice-cream gehoben wurde. Wie raffiniert diese Technik ist, wird darin deutlich, für welches Problem sie eine Lösung darstellt. Nämlich dafür, dass soapberries keinesfalls mit fettigen Substanzen in Berührung kommen dürfen, da sie sonst ihre schaumbildenden Eigenschaften verlieren. Selbst das nachträgliche Untermengen von fettigen Substanzen unter die fertige Masse ist problematisch. Und das nicht zuletzt deshalb, weil sich weder Talg noch Tran oder auch grease in der luftigen Masse homogen verteilen ließen. Der Schaum würde zusammenfallen. Die aufwendigen Bemühungen, die im Fall dieser Kombination von soapberries und Bergziegentalg unternommen wurden, um die Geschmäcker zweier sich einander für gewöhnlich ausschließender, beliebter Lebensmittel kombinierbar zu machen, ist ein markantes Beispiel dafür, dass jene tierischen Fette, also Talg, Tran und grease (wie auch andere Fischöle) nicht nur als hoch-kalorienhaltige und wenig verderbliche Präserve dienten. Vielmehr verweisen sie darauf, dass Talg, Tran und grease zentrale Elemente der kulinarischen Grammatik indigener Ernährungskulturen an der Nordwestküste darstellten.
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Kulinarische Grammatik der indigenen Ernährungskulturen Die vorangegangenen Abschnitte geben einen Einblick in die Vielfalt der Nahrungsmittelressourcen und Techniken, auf denen die indigenen Ernährungskulturen an der Nordwestküste bis zum Ende des 18. Jahrhunderts beruht haben. Wenngleich die Auswahl der vorgestellten aquatischen und nicht-aquatischen tierischen und pflanzlichen Nahrungsmittel fraglos selektiv ist, wird deutlich, wie umfassend die Coastal First Peoples ihre Umwelt vom Meeresboden bis in die Baumkronen kulinarisch durchdrungen hatten. Die Beispiele lassen zudem die kulinar-grammatikalischen Basiselemente der indigenen Ernährungskulturen sichtbar werden. Im Hinblick auf diese Basiselemente sind neben den spezifischen Eigenschaften der jeweiligen Nahrungsmittel und den tatsächlichen Zubereitungsmethoden zwei Faktoren maßgeblich, die in einem konstitutiven Verhältnis mit jener dualen Morphologie indigener Lebensweise stehen: Regionalität und Saisonalität. In dem Sinne, dass die meisten der oben erwähnten Nahrungsmittel nur saisonal und an verschiedenen Orten innerhalb der gruppenspezifischen Territorien oder gar nur in bestimmten, teils weit entfernten Regionen in Territorien anderer Gruppen verfügbar waren. Diese beiden konstitutiven Elemente morphologischer Dualität (Regionalität und Saisonalität) manifestierten sich in der Mobilität (Raum) und Temporalität (Zeit), d.h. in der raum-zeitlichen Organisation indigener Lebensweisen, die schließlich in einem integralen Aspekt der indigenen Ernährungskulturen konvergierten: den Präservierungstechniken. Abgesehen von den speziellen Techniken zur feuchten Präservierung frischer Lebensmittel mit Hilfe von bspw. grease (in dem rohe oder vorgegarte Beeren luftdicht versiegelt wurden) oder in der Erde vergrabenen Vorräten, wie bspw. green salmon, scheinen trockene Präserven, die auf dem Prinzip der Dehydration beruhten, eine quantitativ größere Rolle gespielt zu haben. Grund dafür ist nicht nur, dass das zentrale Grundnahrungsmittel (Lachs) allein durch Dehydrierung hinreichend vor Fäule geschützt werden konnte. Vor dem Hintergrund der Regionalität und Saisonalität der Nahrungsmittelressourcen hatten dehydrierte Präserven zudem den entscheidenden Vorteil, dass die Nahrungsmittel an Volumen und Gewicht verloren, was den Transport der Präserven erleichterte. Das war nicht nur im Hinblick auf die duale-morphologische Lebensweise von Vorteil. Das Zusammenspiel von Haltbarkeit und den Transport vereinfachenden Eigenschaften (leicht und kompakt) trockener Präserven begünstigte ferner den Handel und Austausch zwischen einzelnen Gruppen und über mitunter erhebliche Distanzen hinweg – etwa zwischen Coastal und Interior First Peoples oder gar mit Vertreter*innen von indigenen Gruppen in der kanadischen Prärie östlich der Rocky Mountains. Neben anderen Aspekten wie dem Austausch von Kulturelementen, Techniken und Werkstoffen beförderten diese Handelsbeziehungen zugleich die Diversifizierung und Ausdifferenzierung indigener Ernährungsweisen. Wenn
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demnach weiter oben die Rede davon war, dass Handel und Austausch bzw. der Umgang mit fremden Einflüssen kein Novum des Kontakts mit Europäern darstellte, dann wird spätestens an dieser Stelle deutlich, dass die Präservierungstechniken hierbei alles andere als nebensächlich waren. Selbstredend spielten indigene Präserven auch im Austausch mit europäischen Entdeckern und Händlern eine Rolle. Diese waren nicht selten von der Versorgung mit Nahrungsmitteln durch die indigene Bevölkerung abhängig, die ihrerseits auf diese Weise mit neuen, europäischen Waren, Nahrungsmitteln und Techniken in Kontakt kamen. Abgesehen von der Rolle indigener Präservierungstechniken im Kontext von dual-morphologischer Lebensweise, Austausch, Handel und indigenen kulinarischen Transformationsprozessen bleibt die Frage bestehen: Inwiefern war jener Konvergenzpunkt indigener Lebensweisen, als den die Präservierungstechniken beschrieben wurden, mit kulinar-grammatikalischen Basiselementen der indigenen Ernährungskulturen verwoben? Die Antwort auf diese Frage hängt zum einen damit zusammen, wie diese Techniken das Ausgangsprodukt veränderten. Zum anderen spielt die Tatsache eine Rolle, dass diese Techniken mit jeweils spezifischen historischen Kochtechniken verknüpft waren. Zunächst einmal bedingte etwa die Dehydrierung von Nahrungsmitteln sowohl spezifische Konsistenzen, die von spröde-brüchig (bspw. magerer luftgetrockneter Lachs) bis gummiartig-zäh (bspw. geräucherte Meeresfrüchte) reichten, als auch besonders konzentrierte Aromen. Das gilt neben der Süße von Beeren und essbarem Holz insbesondere für den Salzgehalt von z.B. präservierten Muscheln, Algen und Fischrogen sowie von dehydriertem Fisch und Fleisch im Allgemeinen. Und natürlich war für geräucherte Präserven das herzhaft-reiche Aroma von Rauch kennzeichnend. Wurden die trockenen Präserven nicht als solche ›gesnackt‹ (bspw. AlgenPopcorn) oder wie luftgetrockneter Lachs abgeflammt zusammen mit grease zum Frühstück gegessen, mussten sie für die Weiterverarbeitung zu einer Mahlzeit oder Speise zunächst rekonstituiert, d.h. mehrere Stunden oder gar Tage in Wasser ziehen gelassen werden. Rekonstituierte Nahrungsmittel wurden anschließend nahezu ausnahmslos gesotten oder gedämpft, also mittels feuchter Hitze gegart – keinesfalls jedoch mittels trockener Hitze, wie etwa beim Grillen, Rösten oder Backen. Das Gleiche gilt für die meisten feuchten Präserven (insbesondere für tierische). Frische Nahrungsmittel konnten hingegen sowohl mittels trockener als auch feuchter Hitze gegart werden. Mit Blick auf die Darstellungen der vorangegangenen Abschnitte lassen sich bezüglich der Fülle der im Detail variierenden Zubereitungsmethoden für präservierte und frische Lebensmittel vier Basis-Kochtechniken erkennen, die sich des Weiteren anhand der Unterscheidung von trockener und feuchter Hitze in zwei Gruppen gliedern lassen. So gab es zum einen 1. das Sieden oder Dämpfen in bentwood-Kisten oder wasserdichten Körben und 2. das Dämpfen oder Schmoren im
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Erdofen. Zum anderen gab es 3. das Backen in heißer Asche und 4. das Grillen am offenen Feuer. Auch wenn sich keine eindeutigen Aussagen darüber machen lassen, welche der Basis-Kochtechniken wie oft angewandt wurde und in welchem Verhältnis diese Anwendungsfrequenz zu denen anderer Techniken stand, scheint insgesamt das Kochen mit feuchter Hitze und im Speziellen die Verwendung von bentwood-Kisten die historischen Ernährungskulturen sowohl im Hinblick auf die Alltagsernährung als auch in Bezug auf Festessen charakterisiert zu haben. Für diese Einschätzung ist nicht zuletzt die Tatsache maßgeblich, dass trockene Hitze fast ausschließlich für frische Lebensmittel verwendet wurde, während das Sieden und Dämpfen in bentwood-Kisten nicht nur für sowohl trockene (rekonstituierte) als auch feuchte Präserven nahezu obligatorisch, sondern ebenso für eine Vielzahl frischer Nahrungsmittel üblich war.115 Überdies war die Verarbeitung von Nahrungsmitteln in bentwood-Kisten mit Hilfe von heißen Steinen und Wasser die zentrale Methode zur Herstellung von grease und dem Auskochen von blubber sowie generell zur Herstellung verschiedener Präserven wie dem Konservieren frischer crabapples in grease und Wasser oder dem Einkochen zerdrückter Beeren für die Herstellung von berry leather. Insgesamt erscheint damit das zubereitungstechnische Ensemble von bentwood-Kiste, Zange (zum Platzieren der heißen Steine), Steine und eine zweite Kiste mit Wasser, in die die aufgeheizten und verkohlten heißen Steine mithilfe der Zange kurz gedippt und so gereinigt wurden, bevor sie zum Gargut kamen, als Dreh- und Angelpunkt indigenen Kochens. Bemerkenswert ist, dass, obschon Sieden und Dämpfen zentrale Charakteristika indigenen Kochens darstellten, an der Nordwestküste keine Töpferwaren vorkamen. Wie die erwähnte Technik zur Zubereitung von Geflügel im Lehmmantel oder auch eine andere Technik, bei der Farnwurzeln mit roter Erde (red ochre) ummantelt am Stock über dem offenen Feuer gegrillt wurden (Turner 2006: 27), zeigen, war der härtende Effekt, den das Brennen von lehmartiger Erde hat, gewiss nicht unbekannt. Allerdings sind die verfügbaren Holzarten, insbesondere western red cedar, und die resultierenden Gerätschaften, wie etwa die wasserdichten bentwood-Kisten, im Hinblick auf Verarbeitbarkeit, Gewicht und Beständigkeit nicht zu überbieten. 115
Nicht unerwähnt bleiben darf, dass sich nicht ex aequo von einer dualen kulinarischen Grammatik sprechen lässt. Die Unterschiede im Kochen und Essen der Sommer- und Wintersiedlungen waren streng genommen nicht mehr als graduell: Bestimmte Techniken fanden lediglich häufiger und einzelne Nahrungsmittel mehr oder eben weniger (oder in anderer Form, also präserviert oder nicht) Verwendung. In Anlehnung an die linguistische Metapher einer kulinarischen Grammatik, lässt sich daher sagen, dass beim jahreszeitlichen Wandel kein tatsächlicher Wechsel der (kulinarischen) Sprache und damit auch kein Wechsel einer sprachimmanenten Grammatik stattfand. Ähnlich eines sprachlichen Dialekts, müssen die Unterschiede stattdessen als Variationen innerhalb eines übergeordneten (kulinar-)sprachlichen Systems betrachtet werden.
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Betont werden muss zudem: So einfach das zugrunde liegende Prinzip zum Garen in bentwood-Kisten mit heißen Steinen war, so vielseitig konnte sich das Ergebnis gestalten. Wie bereits erwähnt, war die jeweils hinzugegebene Wassermenge entscheidend. Wobei es den Anschein macht, dass die meisten essbaren Rhizome und anderen Gemüse meist mit wenig Wasser gedämpft, Fisch, Meeresfrüchte oder auch Fleisch hingegen üblicherweise mit viel Wasser gesotten wurden. Insgesamt reichte das Spektrum möglicher Gerichte aus der bentwood-Kiste von Pürees oder Breien (mush), Eintöpfen (stew) und Suppen bis hin zu leicht gedünsteten Speisen. Gerichte wie die gekonnt al dente gedünsteten langen Klee- und Gänsefingerkrautwurzeln (Indian spaghetti) auf der einen Seite und der zu Brei verkochte green salmon, der mit reichlich grease zu einem ölig-nassen mush verrührt wurde, auf der anderen, geben eine Vorstellung von den extremen Facetten dieses Spektrums. Allerdings liegt die Vermutung nahe, dass es auch innerhalb dieses Spektrums deutliche Schwerpunkte gab. Nun wurde oben argumentiert, dass pflanzliche Nahrungsmittel, vor allem essbare Rhizome, eine wesentlich größere und diätisch wichtigere Rolle innerhalb der indigenen Ernährungskulturen spielten, als ihnen in klassischen Darstellungen zugesprochen wurde, in denen sie in der Regel als lediglich marginaler Bestandteil Erwähnung fanden. Diese Re-Evaluation kommt jedoch keinesfalls einer Umkehrung der Verhältnisse gleich. Wenngleich pflanzliche Nahrungsmittel eine größere Rolle spielten, als dies in vielen Arbeiten den Anschein macht, sind es zweifelsohne die tierischen Nahrungsmittelprodukte, die im Zentrum indigener Ernährungskulturen standen. In Anbetracht des Umstand, dass 1. gegarte Speisen aus tierischen Nahrungsmitteln wie z.B. Lachsköpfe und -backen, Fischeier, Lachsmägen oder reichlich gereifter Kabeljau wie auch Gerichte aus den Innereien von Seehunden oder Bärenfleisch häufig ausgiebig gesotten, also mit viel Wasser zubereitet wurden und das Gargut zerkocht wurde und dass 2. das Gleiche für eine ganze Reihe von auf pflanzlichen Nahrungsmitteln basierenden Speisen wie etwa Indian spinach oder die diversen mushs gilt, die sowohl aus gedünsteten als auch aus gesottenen Rhizomen wie Indian rice und reichlich grease hergestellt wurden, dann scheint die Annahme gerechtfertigt, dass eine feuchte oder sämige, oft sehr ölige und eher homogene Konsistenz – im Sinn der Meidung krasser haptischer Gegensätze – für einen signifikanten Teil der Speisen und Gerichte der historischen indigenen Ernährungskulturen kennzeichnend war. Was natürlich nicht bedeutet, dass es gar keine Beispiele für indigene Speisen gegeben hätte, die haptische Gegensätze vereinten. Allerdings findet man diese Gegensätze weniger in einem Gericht, als bei zusammen servierten Komponenten, wie etwa wenn gesottener blubber zusammen mit getrocknetem Heilbutt serviert wurde (Boas 1921: 463). Denkt man darüber hinaus daran zurück, wie groß die oben erwähnte Angst war, sich während des Essens an Gräten oder generell an im Hals kratzenden Speisen zu verschlucken und öffentlich husten zu müssen, wird die indigene Präferenz für sämig-feuchte und meist
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ölige Speisen umso deutlicher. So betont auch Jewitt, nachdem er das Kochen in bentwood-Kisten als die bei den Mowachaht-Muchalaht am häufigsten angewandte Kochtechnik bezeichnet, die Präferenz für Suppen und breiartige Gerichte, wenn er in Bezug auf die Zubereitung von Lachs festhält: »it is left to cook until the whole is nearly reduced to one mass. […] In a similar manner they cook their blubber and spawn, smoked or dried fish, and in fine, almost everything they eat […].« (Jewitt 1987: 51) Bezeichnenderweise findet man in der Literatur zum Thema Etikette Anmerkungen dazu, dass Frauen von hohem Status beim Essen den Mund kaum öffneten, um keine Zähne zu zeigen, und die flüssigen bzw. zerkochten Speisen möglichst geräuscharm von der Spitze des einzigen Essbestecks nippten, das die indigenen Kulturen an der Nordwestküste bis zum Kontakt mit europäischem Besteck kannten: dem Löffel oder als Löffel verwendete Muscheln. Abgesehen von status- und geschlechtsbezogener Etikette enden unzählige von Hunt und Boas’ Rezepten mit der Angabe, dass das fertige Gericht mit Löffeln gegessen wurde. Ganz gleich, ob es sich um in bentwood-Kisten gegarte oder frische bzw. ungegarte Nahrungsmittel wie bspw. mit reichlich grease vermengte Beeren und zerdrückte crabapples handelte. Im Hinblick auf die Gewohnheit, tierische Nahrungsmittel ohne die Zugabe weiterer Zutaten so lange in bentwood-Kisten zu garen, bis sie zerfallen und die freigesetzten Kollagene und Fette die Speise sämig machen, fällt die Tatsache ins Auge, dass die in Fleisch, Fisch und Geflügel natürlich enthaltenen Glutamate im Zuge des Siedens erst nach einer gewissen Zeit freigesetzt werden. Wie beim Suppenhühnchen gilt die Regel: Je länger das Gargut zieht, desto intensiver, breiter und vielfältiger wird das Aroma. Die Kochtechnik selbst wird damit zum Gewürz. Wirft man einen genauen Blick auf die anderen Basis-Kochtechniken, lässt sich das Gleiche behaupten. Wenn auch die Gründe verschieden sein mögen, wird bei jeder einzelnen dieser Techniken deutlich, dass sie sich sowohl in der Konsistenz als auch in ihrem spezifischen Aromen-Spektrum signifikant unterschieden: Das Schmoren oder Dämpfen im Erdofen, bei dem jede Menge Stinkkohlblätter, Farnwedel, Algen, Beerenstrauchblätter oder auch Nadelbaumzweige über und unter dem Gargut platziert wurden (Turner 2006: 43), zeichnete sich neben ebenfalls langen Garzeiten mit feuchter Hitze durch prominente erdige und grüne Aromen sowie durch eine meist (über)weiche Konsistenz des Garguts aus. Das Backen mit trockener Hitze in heißer Asche wiederum fügte dem Gargut ebenfalls erdige, vor allem aber scharfe (weil verkohlte) und salzige Röstaromen zu, während die Konsistenz der in der Regel pflanzlichen Nahrungsmittel wie Farnwurzeln oder andere Rhizome durch ein hartes, verkohltes Äußeres und ein weiches Innere geprägt war (Boas 1921: 525). Das Grillen am offenen Feuer schließlich verlieh dem in erster Linie tierischen Gargut starke Rauch- und (je nach Nähe zum Feuer) auch Röstaromen. Dadurch, dass Fisch und Fleisch meist mit Hilfe von Nadelbaumholz auf-
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gespannt wurden, wurden die Rauch- und Röstaromen durch ätherisch-frische, harzige Holzaromen ergänzt. Interessanterweise verweist auch Drucker indirekt auf diese Funktion der Kochtechniken als Gewürz, wenn er in Bezug auf die vordergründige Begrenztheit und Einfachheit der verwendeten Techniken der Nuuchah-nulth bei der gleichzeitigen Vielfalt und Qualität der diversen verfügbaren Nahrungsmittel festhält: »However, the few techniques and the lack of condiments did not mean that food was consumed merely to stave off hunger, with no concern for niceties of flavor. Foods were not thrown all into the same cooking box, stew fashion; each was cooked and served separately. For feasts, anywhere from 4 to 10 courses, each different, were served.« (Drucker 1951: 61) Der Verweis auf die Funktion der Kochtechniken als Gewürz ist deshalb nur indirekt, da der Fokus in Druckers Plädoyer für den Facettenreichtum indigenen Kochens und Essens auf den Nahrungsmitteln selbst zu liegen scheint, d.h. mittels der einzelnen Gänge, die sich (neben dem obligatorischen grease oder anderen Fischölen und Tranen) auf nur ein Nahrungsmittel konzentrierten. Zweifelsohne brachte die Vielfalt an Lebensmitteln zwischen Meeresgrund und Baumkronen einen mindestens ebenso großen Facettenreichtum an Eigengeschmäckern mit sich. Wie die Darstellung des Ineinandergreifens von Lebensweise, Präservierungstechniken und Kochtechniken mit spezifischen Konsistenzen und Aromen in diesem Abschnitt gezeigt hat, waren es jedoch weniger die spezifischen Eigengeschmäcker der einzelnen Nahrungsmittel als solche, als vielmehr die Art und Weise, wie sie verwendet wurden, die die kulinarische Grammatik indigener Ernährungskulturen an der Nordwestküste charakterisierten. Um diesen Punkt zu verdeutlichen, lohnt es sich, ein weiteres Mal einen tentativen linguistischen Vergleich zu ziehen. Ausgangspunkt ist die, auf die Arbeiten des deutschen Philosophen Gottlob Frege ([1892] 2008) zurückgehende Theorie vom semantischen Primat des Satzes. Sie besagt, dass die Bedeutung eines Begriffs nicht für sich, sondern in dessen Verwendung in einem sinnvollen Satz besteht. Nun ist die Sinnhaftigkeit eines Satzes nicht nur von den anderen im Satz enthaltenen Begriffen, sondern von deren korrekter Anordnung, also der Satzstruktur, abhängig, die den grammatikalischen Grundregeln der jeweiligen Sprachpraxis folgt. Der Kern einer Sprache ist demnach weniger eine Ansammlung von Begriffen als die Art und Weise, wie diese gebraucht werden. Um eine Sprache abzubilden und auch, um sie mit anderen vergleichbar zu machen, muss demnach einen Blick auf die Verwendung der Begriffe, d.h. auf die sprachliche Praxis geworfen und auf Gesetzmäßigkeiten geachtet werden, die ihre Grammatik darstellen. Vor diesem Hintergrund kann man festhalten: Ganz in dem Sinne, dass eine Liste von Begriffen noch keine Sprache abbildet, stellt die bloße Auflistung von Zutaten und deren Geschmack noch kein Abbild einer differenzierbaren Küche dar. Erst die Darstellung einer kulinarischen Praxis, oder wie
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in diesem Fall insbesondere der Küchentechniken, gibt den Blick auf die zugrunde liegende kulinarische Grammatik und damit den spezifischen, identitätsstiftenden Charakter einer Ernährungskultur frei. Was die indigenen Ernährungskulturen an der Nordwestküste anbelangt, ist es in diesem Zusammenhang vielsagend, dass überhaupt selten Nahrungsmittel roh gegessen wurden – allenfalls Beeren und junge Stängel verschiedener Pflanzen (Indian celery, diverse Rosengewächse und eelgras) sowie manche Meeresfrüchte. Wobei auch diese Nahrungsmittel mit jeweils einer oder mehreren der üblichen Präservierungs- und Kochtechniken zubereitet bzw. transformiert werden konnten. Der charakteristische Facettenreichtum indigener Ernährungskulturen, wie ihn Drucker hervorhebt, wurde folglich nicht allein über die Vielfalt an essbarer Flora und Fauna als vielmehr über die möglichen Zustände der Nahrungsmittel bestimmt. D.h. durch Konsistenzen und Aromen, die erst mittels der elaborierten Reifungs-, Präservierungs- und Kochtechniken freigesetzt wurden. Grease, das aus besagten Kerzenfischen hergestellt wird, ist eine gutes Beispiel: Zwar wurden die Fische auch als solche gegessen. Identitätsstiftendes Merkmal indigener Ernährungskultur wurde der Kerzenfisch jedoch allein in Gestalt von grease. Als kulinargrammatikalisches Basiselement ist es ein Produkt ausgeklügelter Fermentationsund Verdichtungstechniken, bei denen das charakteristische, streng fischige Aroma mit der Tatsache verknüpft ist, dass erst ausgiebiges Verrotten (Reifen) die wertvollen Fette aus dem Fleisch des Kerzenfischs hinreichend löst. Gleichwohl ist es im Hinblick auf die Rolle von Reifungs-, Präservierungs- und Kochtechniken als das zentrale ›Gewürz‹ der Ernährungskulturen der Coastal First Peoples wichtig zu unterstreichen, dass nicht nur herkömmliche Gewürze, sondern ebenso geschmacksverstärkende Mittel wie Zucker und Salz keine Rolle in den historischen indigenen Ernährungskulturen gespielt haben bzw. schlicht nicht vorkamen. Was allerdings nicht heißt, dass es bspw. keine Mittel gegeben hätte, Speisen wie die bittere Indian ice-cream oder auch saure Beeren mit Produkten aus anderen Pflanzen zu süßen (Turner und Kuhnlen 1996: 9). Getrocknetes und zerstoßenes Kambium oder aber der eingekochte, zu Sirup verdichtete Saft, den man aus Kambium und Bast gewinnen konnte, sind hierfür gute Beispiele. Letztlich sind es auch in diesen Fall erst die Techniken (partielle oder vollständige Dehydration) die es ermöglichen, dass das Ausgangsprodukt über seine unmittelbare Essbarkeit hinaus zur Komplexität indigenen Kochens und Essens beitragen konnte. In Bezug auf die Abwesenheit von Salz in den historischen indigenen Ernährungskulturen verhält es sich ähnlich: Wie der zuvor beschriebene Effekt langen Garens mit feuchter Hitze, aber auch der weiter oben erwähnte geschmacklich verdichtende Effekt der Dehydrierung von Lebensmitteln veranschaulicht, machte man sich das geschmacksverstärkende Potential von einerseits der Verdichtung des natürlichen Salzgehalts durch Dehydration und andererseits der Freisetzung von natürlich im Fleisch und Fisch enthaltenem Glutamat (einem Salz) durch langes Kochen
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und/oder Reifung zunutze. Indigene Gerichte waren demnach alles andere als fad. Stattdessen darf man sich einige der Gerichte durchaus herzhaft und leicht salzig vorstellen. Die häufige Zugabe von getrockneten Algen verstärkte diesen Geschmack merkbar. Dennoch lässt sich ohne Zweifel sagen, dass ein starker salziger Geschmack unüblich oder gar unerwünscht war. Jewitt berichtet etwa beim Anblick der sinkenden Boston: »the disappointment we experienced was still more severely felt for we had calculated on having the provision to ourselves, […] as whatever is cured with salt […] are never eaten by these people.« (Jewitt 1987: 38) Während Jewitt wiederholt die kategorische Ablehnung von stark salzigem Essen oder auch reinem Salz betont (Jewitt 1987: 41; außerdem Thrush 2011: 16), erwähnt Nora Marks Dauenhauer (Tlingit) in Five Slices of Salmon (1998) eine Speise, die man als gepökelte Lachsköpfe bezeichnen könnte: »They saved the heads, especially the large ones. They split these. At low tide the men dug a large pit [in the tidal zone] and lined it with skunk cabbage. Then they put a bunch of innards from the salmon in it. On top of this they put the salmon heads. They kept adding the innards and layering the heads, spread open. This is how we make k’ínk’- fermented fish heads. There are four tides a day: two high and two low. The rising and falling of tide rinses and flushes the fish heads with natural brine. In about two weeks they are ready to eat.« (Marks Dauenhauer 1998: 109) Wenngleich die biochemischen Reaktionen verschieden sind, ist leichtes Pökeln dennoch prinzipiell verwandt mit den bereits beschriebenen Fermentations- und Reifungsprozessen. Und zwar in der Hinsicht, dass sie Garprozesse darstellen, d.h. Denaturierungsprozesse, die auch ohne die Einwirkung von feuchter oder trockener Hitze einen klar erkennbaren Effekt auf die Konsistenz und/oder den Geschmack bzw. das Spektrum von Aromen des Ausgangsprodukts (Fisch, Fischeiern, grease, blubber, Algen und Fleisch von Meeressäugern) haben. Freilich bietet die verfügbare Literatur zu den indigenen Ernährungskulturen an der Nordwestküste unzählige Spezialitäten, die eine Erwähnung wert wären. Bspw. gab es bei Gitksan ein Schaum-Dessert aus Wasser, Schnee und Kerzenfischöl: Die drei Komponenten wurden aufgeschlagen, bis eine feste, cremige Masse entstand – »similar to wipped cream.« (People of ’Ksan 1980: 74) – unter die zum Abschluss beliebige Beerensorten gehoben wurden. Krause wiederum berichtet von Tlingit, die im Sommer aus den Bergen Schnee geholt und als Delikatesse verzehrten haben (Krause 1985: 156). Bei Nuxalk machte man sich sogar Schnee bzw. Kälte als ›Kochtechnik‹ zu eigen, wenn zu festlichen Anlässen kleine Happen aus grease hergestellt wurden, indem man in großen Kanus Schnee und grease schichtete; das grease fest werden ließ; und anschließend in Würfel portioniert individuell servierte (NFNPS 1984: 19). Obwohl es ohne Zweifel unmöglich ist, den Facettenreichtum der Ernährungskulturen der Coastal First Peoples erschöpfend
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darzulegen, bietet der in diesem Kapitel unternommene Versuch, grundlegende Elemente der kulinarischen Grammatik indigener Ernährungskulturen zu skizzieren, die nötigen Grundlagen, um die im folgenden Kapitel 1.2.2. erläuterten kulinarischen Transformationsprozesse hinreichend kontextualisieren zu können. Zum Zweck der Kontextualisierung lässt sich zusammenfassend festhalten: Der identitätsstiftende Charakter historischer indigener Ernährungskulturen an der Nordwestküste war maßgeblich durch das Ineinandergreifen der dualen Morphologie indigener Lebensweisen, Präservierungstechniken und Kochtechniken geprägt. Abgesehen davon, dass dieses Ineinandergreifen sowie die technologische als auch die Ressourcenvielfalt ein umfassendes Spektrum an Konsistenzen und Aromen ermöglichten, die von Algen-Popcorn bis zu Indian cheese reichten, hat die Diskussion dieses Komplexes gezeigt, dass die historischen indigenen Ernährungskulturen am besten als Koch-Küchen verstanden werden können. D.h. als Küchen: in denen Gesottenes oder Gedünstetes die zentralen kulinar-grammatikalischen Basiselemente darstellten; für die mit feuchter Hitze gegarte Speisen üblich waren, die meist eine feuchte bis sämige Konsistenz hatten; in denen nur wenige Dinge roh, im Sinne von nicht präserviert und/oder ungegart gegessen wurden; die durch die Kombination von der scheinbaren Omnipräsenz von Tran, Fischöl und vor allem dem fermentierten grease, der Dominanz aquafaunischer Nahrungsmittel sowie der Abwesenheit von Gewürzen (im gängigen Sinn von Gewürz), allem voran Zucker und Salz, durchdrungen waren; in denen sich das Aroma-Spektrum gängiger Speisen – neben einigen frischen, meist nur leicht süßen, dafür oft leicht bis markant sauren und bitteren Aromen der wenigen frisch verzehrten pflanzlichen Nahrungsmittel – durch rauchige (Räuchern, Grillen), ölige (grease, blubber, Tran), erdige (Lehm, Erdofen, Asche) und grüne (Algen, Farn, Moos, Stinkkohl) Aromen auszeichnete, die zum Teil durch ätherisch-frische, harzige Holzaromen ergänzt wurden. Mit Blick auf diese Charakterisierung erscheinen Burger und Pommes Frites, fried bologna, Tex-Mex und vieles mehr, was die Alltagsernährung der zeitgenössischen indigenen Bevölkerung prägt, als disparat. Das folgende Kapitel 1.2.2. diskutiert das Spannungsfeld dieser Entwicklung von der Integration der ersten Kartoffeln in indigenen root gardens im ausgehenden 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, die Autor*innen wie die kanadische Anthropologin Gillian Crowther in Anlehnung an einen Begriff des französischen Soziologen Claude Fischler (1980) auch als das Zeitalter der »Gastro-anomie« (Crowther 2013: 212) bezeichnen.
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1.2.2
»If I had to Choose…«: Indigene Ernährungskulturen im Wandel der Zeit
Transformation, Diversifizierung, Ausdifferenzierung Seit dem ersten Kontakt mit europäischen Seefahrern in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts haben die Lebenswelten der Coastal First Peoples tiefgreifende Transformationsprozesse durchlaufen. Die indigenen Ernährungskulturen stellen da keine Ausnahme dar. Wie allerdings in den vorangegangenen Kapiteln erläutert wurde und es auch im Folgenden deutlich werden wird, ist der Begriff »Transformation« streng genommen unpassend. Zum einen evoziert er die Vorstellung, dass die historischen indigenen Lebenswelten statisch, homogen und gleichförmig waren, sodass erst der Moment des Kulturkontakts innergesellschaftliche Veränderungen oder gar Fortschritt erlaubte. Vor dem Hintergrund der vielfältigen Einflüsse, die durch intertribalen Handel und Austausch die indigenen Lebenswelten geprägt haben, lange bevor Perez und dessen Nachfolger*innen die Nordwestküste erreichten, kann von einer solchen ahistorischen soziokulturellen Statik und Homogenität nicht die Rede sein. Anstelle von Transformation erscheint es deshalb passender, diese Prozesse mit den zuvor im Zusammenhang mit indigenem Handel in der Prä-Kontakt-Ära verwendeten Begriffen der soziokulturellen Diversifizierung und Ausdifferenzierung zu beschreiben. Dabei steht außer Frage – wie weiter oben mit Rückgriff auf Fishers Thesen in Contact and Conflict (1992a) herausgearbeitet wurde –, dass sich diese Prozesse seit dem 18. Jahrhundert eklatant beschleunigt haben (Fisher 1992a: 17). Ebenso wie kein Zweifel daran besteht, dass der Kulturkontakt an der Nordwestküste auf indigener Seite in mannigfacher Hinsicht extreme Auswirkungen hatte; etwa den epidemisch bedingten demografischen Wandel und die Prekarisierung der Lebensverhältnisse durch den Verlust ökonomischer Souveränität und der historischen Subsistenzgrundlagen, die mit dem Verlust indigener Territorien im Zuge der siedlerkolonialen Wende einhergingen. Zum anderen bringt die Verwendung der Begriffe Diversifizierung und Ausdifferenzierung anstelle von Transformation eine signifikante Bedeutungsverschiebung mit sich. Sie rückt den Fokus weg von der Vorstellung einer europäischen Überformung passiver indigener Lebenswelten hin zur aktiven Auseinandersetzung indigener Akteur*innen mit dem Horizont an Möglichkeiten, den die Neuankömmlinge an die Nordwestküste brachten. In Kapitel 1.1. wurde hierzu dargelegt, dass das Verhältnis von indigener Bevölkerung und nicht-indigenen Neuankömmlingen im Zeitalter des Erstkontakts und maritimen wie landbasierten Pelzhandels als eher bilateral, denn als einseitig hegemonial verstanden werden muss. Und dass sich dieses Verhältnis für die indigene Bevölkerung erst im Zuge der siedlerkolonialen Wende ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zum eigentlichen
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Kontrollverlust über die eigene Lebensweise und den damit assoziierten Prozessen kultureller Regression hin verschob. Der entscheidende Punkt in Bezug auf die indigenen Ernährungskulturen ist, dass ein wesentlicher Teil der neuen nicht-indigenen Nahrungsmittel und Techniken zum Zeitpunkt jener Wende – weg von einer bilateralen Handels- hin zu einer kolonialen Siedlungspolitik – bereits Eingang in die indigenen Lebenswelten gefunden hatte. Allerdings ist anzunehmen, dass bei weitem nicht alles, was die Europäer an Viktualien mit sich brachten und vor Ort zu kultivieren oder zu veräußern versuchten, bei der indigenen Bevölkerung auch Anklang fand. So erwähnt z.B. Jewitt, dass er gelegentlich Gemüse aus einem verwilderten Garten in der Nähe zu Mukw inas Sommersiedlung in Yuquot geerntet habe, der knapp 15 Jahre zuvor von Spaniern angelegt wurde (Jewitt 1987: 67).116 Für die Zwiebeln, Knoblauch, Rüben und anderen Früchte, die der Garten auch nach knapp einem Jahrzehnt Verwilderung noch abwarf, interessierten sich die Mowachaht-Muchalaht allerdings ebenso wenig wie für die zusammen mit der Boston verbrannten und gesunkenen Vorräte an gepökeltem Fleisch, denen Jewitt nachtrauerte. Zu den europäischen Neuheiten, die bereits ab den 1770er Jahren das Repertoire der indigenen Vorratskisten bereicherten, gehörten wiederum nicht nur Tee, Kaffee, Zucker, Molasse, Schokolade und Alkohol (Thrush 2011: 16-17). Auch Blattsalat und Brokkoli fanden sich nach kurzer Zeit in indigenen Gärten wieder (ebd.).117 Außerdem berichtete der mexikanische Botaniker José Mariano Mociño, der 1792 die Nordwestküste bereiste, über Mukw ina und die Mowachaht-Muchalaht im Nootka Sound, dass insbesondere Personen von hohem Status Gefallen an weißen Gartenbohnen gefunden hätten. Nicht zuletzt würde diese Vorliebe in dem indigenen Kreol-Begriff tais frijoles (tais = Adeliger oder Häuptling bzw. chief im Nuu-chah-nulth, frijoles = Bohnen im Spanischen) für die Gartenbohnen manifest werden (ebd.). Was genau von den verschiedenen Nahrungsmittelimporten der Europäer auf lokalen Speiseplänen und in indigenen Gärten Platz fand und was nicht, konnte je nach Gruppe stark variieren. Zwei Produkte, die nahezu überall gleich früh und enthusiastisch aufgenommen wurden, waren Kartoffeln und Brot bzw. Getreidemehl. In Anbetracht der in den root gardens kultivierten, wild gesammelten oder über Handel erlangten essbaren Rhizome waren komplexe Kohlenhydrate gewiss
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Der Garten gehörte zum 1789 errichteten Fort San Miguel, einer spanischen Befestigungsanlage zum Schutz der ersten europäischen (spanischen) Kolonie Santa Cruz de Nuca, die von 1789 bis zum Dritten Nootka Abkommen zwischen der spanischen und britischen Krone 1794 (mehr oder weniger) permanent existierte. Siehe hierzu Pethick (1980 passim) und Tovell (2008: 202-203). Siehe hierzu beispielhaft die tabellarische Auflistung Foods generally accepted or generally rejected by aboriginal people and by newcomers (Europeans and Americans) on the Northwest coast, 1774-1808 in Thrush (2011: 17).
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nicht unbekannt. Weshalb Drucker entsprechend konstatiert: »Certainly these Indians had no initiate dislike for starchy foods: they promptly acquired a taste for white man’s bread, flour, and potatoes […].« (Drucker 1963:53)
Kartoffeln Als frühste Möglichkeit, wie die Kartoffel den Weg an die Nordwestküste gefunden haben könnte, gelten russische Seefahrer und später russische Handelsposten und Siedlungen im heutigen Alaska in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Während dies für die erste Ankunft der Kartoffel im Nordwesten Nordamerikas stimmen mag, spricht vieles dafür, dass die letztliche Verbreitung der Kartoffel unter der indigenen Bevölkerung der Nordwestküste in umgekehrter Richtung, also von Süden nach Norden, verlief (Suttles 1987: 138-141). Dabei geht man davon aus, dass spanische Seefahrer die ersten Kartoffeln am Ende des 18. Jahrhunderts im Nootka Sound pflanzten.118 Anhand von Gentests konnte nachgewiesen werden, dass die sogenannte Haida potato, die im Territorium der Haida (Haida Gwaii) im äußersten Norden der Küste British Columbias seit den 1820er Jahren angebaut wird, von der heute als Ozette119 bekannten Kartoffelsorte abstammt, die ursprünglich spanische Entdecker aus Südamerika kommend mit sich in das Gebiet der heutigen Salish Sea und an die Südwestküste Vancouver Islands brachten (Turner 2014: 199-200). Wobei es ein bemerkenswertes Detail ist, dass es sich bei dieser Sorte um einen südamerikanischen Direktimport und nicht wie in anderen Teilen des kolonialzeitlichen Nordamerikas um eine europäische Zuchtsorte handelte. Die enorme Geschwindigkeit, mit der sich die Kartoffel unter den indigenen Gruppen im heutigen British Columbia verbreitete, lässt sich anhand der Berichte von Seefahrern und Pelzhändlern nachvollziehen. Während etwa Vancouver, Menzies und andere im ausgehenden 18. Jahrhundert noch davon berichteten, keine Spuren von Kultivierung gesehen zu haben, zeugen Berichte ab den 1840er Jahren davon, dass Kartoffeln überall angebaut wurden (Suttles 1987: 137). Bemerkenswert ist zudem, dass einige indigene Gruppen aufgrund der – auch nach der Ankunft der Europäer noch für lange Zeit nahezu ungebrochen fortbestandenen – intertribalen Handels- und exogamen Heiratsbeziehungen der Prä-Kontakt-Ära früher Kontakt mit Kartoffeln hatten als mit Europäern (ebd.: 137-140). Ein anderer Aspekt, der bei der zügigen Verbreitung eine wichtige Rolle gespielt haben wird, waren die interethnischen Heiraten zwischen den europäischen Angestellten der Handelsposten und indigenen Frauen: »At each of these posts company employees 118 119
Wobei Suttles mit Recht darauf verweist, dass Jewitt in Bezug auf den spanischen Gemüsegarten, an dessen Überresten er sich bediente, keine Kartoffeln erwähnt (Suttles 1987: 138). Auch bekannt als Makah Ozette. Unabhängig von diesen eher rezenten Bezeichnungen, versucht sich Suttles an einem linguistischen Nachweis der Diffusion der Kartoffel unter der indigenen Bevölkerung der Nordwestküste entlang der Süd-Nord-Achse anhand der diversen indigenen Bezeichnungen für die Kartoffel (Suttles 1987: 142-144).
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were married to Native women, and it is likely that through them cultivation was spread among the natives.« (Ebd.: 139) Insgesamt bedeutete dies, dass die Kartoffel bereits da war, als wenig später in den 1850er Jahren die ersten Siedler*innen ankamen (Turner 2014: 198). In Anbetracht der Tatsache, dass 1. die neuen Siedler*innen sich vornehmlich in den Regionen und auf den Flächen niederließen, die zuvor sowohl zum Anbau der indigenen essbaren Rhizome als auch der Kartoffel genutzt wurden – schließlich waren diese Flächen gerodet und offensichtlich für den Anbau von Gemüse geeignet –, und 2. die Siedler*innen ihre importierten Nutztiere frei grasen ließen – wodurch auch die Pflanzen der umliegenden indigen bewirtschafteten Flächen dem Hunger des Siedlerviehs zum Opfer fielen – betont Suttles, dass nicht nur davon auszugehen sei, dass die Kartoffel vielerorts vor den Siedler*innen eingetroffen war. Vielmehr müsse man sich vor Augen führen, dass darüber hinaus auf indigener Seite vor der siedlerkolonialen Wende sogar mehr Kartoffeln angebaut wurden als danach (Suttle 1987: 146). Wenngleich indigene wie auch nicht-indigene Handels- und Heiratsbeziehungen als maßgebliche Kanäle der raschen Verbreitung der Kartoffel vor der siedlerkolonialen Wende gesehen werden können, stellt sich dennoch die Frage: Wie kam es, dass dieses neue Produkt so reibungslos integriert wurde? In The Early Diffusion of the Potato among the Coast Salish (1987) erörtert Suttles die Umstände und Voraussetzungen dieser frühen und raschen Verbreitung und Aneignung der Kartoffel an der Nordwestküste am Beispiel der Küsten-Salish. Wie Suttles zeigt, fügte sich die Kartoffel passgenau in gegebene Strukturen ein. Er nennt dabei zwei zentrale Voraussetzungen, nämlich einerseits die bereits zuvor weit verbreitete Praxis der Kultivierung indigener root gardens und alles, was dies in Hinsicht auf Arbeitsteilung – schließlich kümmerten sich die Frauen um die root gardens und das Sammeln von Beeren und Meeresfrüchten, während die Männer für Jagd und Fischfang zuständig waren –, Anbautechnik und diesbezügliche materielle Kultur sowie Präservierungs- oder Lagerungstechniken implizierte. Andererseits nennt Suttles Sesshaftigkeit im Rahmen der dualen Morphologie indigener Lebensweise als Voraussetzung. Entscheidend sei, dass diese (dual morphologische) Sesshaftigkeit120 nicht nur die notwendige Pflege der meist nicht weiter als maximal eine Tagesreise entfernten Gärten und Pflanzen ermöglichte, sondern dass diese Pflege darüber hinaus in einem konstitutiven Zusammenhang mit einem dezidierten Eigentumsverständnis gestanden habe (ebd.: 146-147). Suttles überträgt all dies auf die Kartoffel und stellt fest:
120 Das heißt in dem Sinn, dass »[t]he […] people maintained permanent dwellings in which extended families lived during half the year and which served as bases for food gathering expeditions on the other half.« (Suttles 1987: 146)
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»The institutions and techniques of the Native food-gathering societies were organized in such a way that the cultivation of potatoes was able to enter without any major economic readjustment. […] The only new elements that were added were the plant itself and the planting of it.« (Ebd.: 146-147) Dabei fügte sich die Kartoffel nicht nur in Bezug auf die indigenen Anbautechniken und generelle Lebensweise, sondern auch in kulinarischer Hinsicht einigermaßen passgenau ein. So ähnelte sie einerseits manchen der indigenen essbaren Rhizome wie bspw. wapato oder Indian rice in geschmacklicher Hinsicht und konnte andererseits mit der gleichen und allgemeinen üblichen Gartechnik in bentwood-Kisten mit Hilfe von heißen Steinen und Wasser oder aber wie Farnwurzeln in heißer Asche gegart werden, was zugleich vergleichbare Konsistenzen bei einem ebenfalls ähnlichen Zeit- und Energieaufwand bedeutete. Auch in Hinsicht auf das Dippen in grease oder Zerstampfen mit grease oder anderen Zutaten wie Rogen oder Fisch ließ sich die Kartoffel den indigenen Konsummustern angleichen bzw. in die kulinarische Grammatik integrieren. Melissa Darby pflichtet Suttles’ Darstellung deshalb bei, wenn sie bezüglich der Einführung der Kartoffel zusammenfasst: »The potato was adopted quite readily by the Indians of the region in part because the potato fit well into their culinary repertoire, and […] they were able to fit food-producing into pre-existing patterns.« (Darby 2005: 214)121 Neben der Tatsache, dass sich die Kartoffel insgesamt reibungslos in die bestehenden Strukturen und Praktiken integrieren ließ, waren Kartoffeln ein begehrtes Handelsgut von Seiten nicht-indigener Seefahrer und Pelzhändler, die sie von den indigenen Produzent*innen erwarben. Letztendlich handelte es sich bei Kartoffeln deshalb um ein Importgut, dass aufgrund seiner Kommensurabilität mit sowohl den indigenen Lebenswelten im Allgemeinen als auch der indigenen kulinarischen Grammatik im Speziellen nicht nur zur Diversifizierung und Ausdifferenzierung soziokultureller Strukturen und Ernährungskulturen beitragen konnte. Die neuen ökonomischen Möglichkeiten – genauer gesagt die Möglichkeit monetärer Wertschöpfung innerhalb der kultureigenen Strukturen durch den Anbau und Handel mit Kartoffeln – beförderten zugleich die Souveränität der indigenen Bevölkerung. Zu guter Letzt nahm die Kartoffel selbst bei entlegenen Gruppen, die in keinen direkten monetären Handelsbeziehungen mit Europäern standen, einen hohen Stellenwert ein, den Suttles auf ihren zumindest potentiellen »cash value« zurückführt (Suttles 1987: 145). Während sich dieser insgesamt positive Grundton bei der Rede über die Bedingungen der Übernahme der Kartoffel, wie man ihn in kulturwissenschaftlichen Arbeiten zur Nordwestküste in diesem Zusammenhang antrifft, im gewöhnlichen (außer-akademischen) Schweigen über die Rolle der Kartoffel in der Kul-
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Hierzu ebenso Turner (2014: 198).
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turgeschichte der indigenen Bevölkerung widerspiegelt – als ob die Kartoffel kein (europäischer) Import gewesen sei –, ist dies bei Brot oder Getreidemehl geradezu diametral verschieden. Entscheidende Tatsachen in diesem Zusammenhang sind 1., dass Getreide, anders als Kartoffeln, nicht im eigenen Garten angebaut werden konnte; weder für den Eigengebrauch, noch für den Verkauf. Hierfür wären zunächst eine grundlegende Änderung der Anbauverfahren und der technischen Voraussetzungen notwendig gewesen. 2. Dadurch, dass Getreide also nicht selbst angebaut werden konnte und darüber hinaus die technischen Mittel zur Herstellung von Getreidemehl fehlten, musste Getreidemehl käuflich erworben werden. 3. Steht die zunehmende Abhängigkeit von käuflich zu erwerbenden Nahrungsmitteln im engen Zusammenhang mit der siedlerkolonialen Wende und dem Verlust indigener Subsistenzgrundlagen im Zuge der Enteignung indigener Territorien. Es verwundert deshalb nicht, wenn die Wahrnehmung von Kartoffeln und Brot auseinanderfallen. Allerdings lohnt es sich, einen genaueren Blick auf nicht nur die Verbreitungsgeschichte von Brot und Getreidemehl an der Nordwestküste zu werfen, sondern ebenso die vielschichtige Rolle zu umreißen, die sie in Gestalt von bannock – dem »Aboriginal stuff of life« (Bell o.J.a: 1) – als janusköpfigem Identitätsmarker indigener Gesellschaften und gleichsam zentrales Element indigener Ernährungskulturen spielen.
Bannock Weder historische Quellen noch archäologische Funde deuten darauf hin, dass die Coastal First Peoples in der Prä-Kontakt-Ära irgendeine Form von Getreide angebaut, daraus Mehl gewonnen und hieraus Brot oder Ähnliches gebacken hätten. Nichtsdestotrotz ist heute neben Lachs, Wild, Beeren und vielleicht noch Wal- und Seehundfleisch bannock (eine Art Brot) ein, wenn nicht sogar das prominenteste, Nahrungsmittelprodukt, das in der kanadischen Öffentlichkeit mit indigenem Kochen und Essen identifiziert wird. Dies gilt nicht nur für British Columbia, sondern ebenso für das restliche Kanada bzw. Nordamerika, sodass man letztlich von bannock als einem indigenen oder »pan-indianischen« Identitätsmarker sprechen kann.122 Genauer besehen ist bannock mehr als eine bestimmte Art Brot. Bannock 122
Die Verwendung des Begriffs einer »pan-indianischen« Identität lehnt sich in diesem Zusammenhang an eine Formulierung von Dana Vantreases (2013: 56, 58, 67) an. Wenngleich Vantrease sich mit der Rolle von commodity foods als »super-tribal indentity symbols« (Vantrease 2013: 56) indigener Gesellschaften in den USA befasst, lassen sich ihre Aussagen in Bezug auf die Rolle nicht-indigener Nahrungsmittel als vergemeinschaftende Identitätsmarker (im Hinblick auf bannock) auf die indigene Bevölkerung in British Columbia und anderen Teilen Kanadas übertragen. Siehe hierzu exemplarisch Bell (o.J.a), Blackstock (2013), Cyr und Slater (2016), Kavasch (1995) und Tennant (2016). Aufgrund dieser Übertragbarkeit und der Marginalität von Literatur zum Thema bannock werden auch im Folgenden weitere Quellen herangezogen, die sich auf die indigene Bevölkerung der USA beziehen.
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ist vielmehr ein Schirmbegriff für verschiedene Arten von ungesäuertem Brot. So schreibt der indigene Koch Andrew George Jr. (Wet’suwet’en Nation) in seinem ersten Kochbuch Feast! Canadian Native Cuisine for all Seasons (1997) treffend: »[…] bannock is a bread of incredible versatility, the only limitation on various styles for various occasions being the creativity of the baker. Only a few bannock recipes are included in these pages, but it could easily command an entire cookbook of its own.« (George und Gairns 1997: 19) In Enduring Harvests. Native American Foods and Festivals for Every Season (1995) bringt E. Barrie Kavasch (Cherokee) diese Vielfalt auf eine griffige Formel, denn schließlich gebe es »as many different recipes for this modern pan-Indian flatbread as there are Native cooks to make it.« (Kavasch 1995: 11) Michael D. Blackstock (Gitxsan) macht in Bannock Awareness ([2001] 2013) schließlich deutlich, dass sich diese Diversität in der Vielfalt lokaler Bezeichnungen widerspiegelt: »There are almost as many words for Bannock as there are ways of cooking it. Known also as bannaq, bannuc, galette, gallette de mischif and sapli’l, it plays a vital role in the lives of Aboriginal Canadians.« (Blackstock 2013: 11) Der gemeinsame Nenner, der Klaviatur an gebackenen oder frittierten – dann auch frybread genannten123 – Teigfladen oder Laiben, deren variierende Konsistenzen von brüchigen Scones bis hin zu außen fettig-knusprig und innen luftigweichen, ungarischem Lángos ähnlichen Fladen reichen, sind die Grundzutaten: Weizenmehl, Backpulver, Salz, Zucker und Wasser sowie häufig auch Kuhmilch, Schweineschmalz oder Pflanzenöl. Zutaten also, die (bis auf Wasser und mancherorts Salz) allesamt erst nach 1492 in Nordamerika in Gebrauch sind. Während allseitig kein Zweifel daran besteht, dass bannock an der gesamten Nordwestküste wie auch in den meisten anderen Teilen Nordamerikas fester Bestandteil der indigenen Ernährungskulturen ist, konzedieren selbst Autoritäten der kulinarischen Geschichte und Gegenwartkultur Kanadas wie Lenore Newman, Inhaberin des Canada Research Chair für Food Security and Environment an der University of the Fraser Valley und Autorin von Speaking in Cod Tongues. A Canadian Culinary Journey (2017): »Bannock itself is a rather mysterious food.« (Newman 2017: 89) Zwar gäbe es verschiedene Theorien darüber, wie sich bannock im indigenen Nordamerika verbreitet haben könnte. Letzten Endes müsse man eingestehen – so Newman in
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Da im öffentlichen Diskurs sowie in der Literatur in Kanada der Begriff bannock sowohl für nicht-frittierte als auch frittierte Teigfladen verwendet wird, während der in den USA prominentere Begriff fry bread nur Letzteres bezeichnet, wird aus Gründen der Vereinfachung im Folgenden in der Regel der inklusivere Begriff »bannock« verwendet. Weil darüber hinaus in Hinsicht auf die generelle kulturelle Signifikanz kein Unterschied darin besteht, ob es sich um nicht-frittiertes oder frittiertes bannock handelt, werden Aussagen und Zitate zu fry bread als in gleicher Weise auf bannock zutreffend behandelt.
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einem Interview im Rahmen der CBC Radio-Podcast Serie Unreserved124 zum Thema How food brings Indigenous communities together: »We don’t really know how bannock came to North America entirely.« (CBC-Radio 2017a) Ein wesentlicher Grund für diese Wissenslücke besteht nicht zuletzt darin, dass es bislang keine eigenständigen Versuche gegeben hat, die Geschichte von bannock im Detail aufzuarbeiten (Cyr und Slater 2016: 60). Ebenso wie es keine eingehenden Untersuchungen gibt, die sich dem Thema bannock und dessen Bedeutung für die indigenen Gesellschaften aus einer emischen Perspektive nähern würden (ebd.: 67). Was man stattdessen findet, sind meist undifferenzierte Gemeinplätze. In Breaking Bread. Bannock’s Contentious Place in Aboriginal Cuisine (2016) fasst die kanadische Journalistin Zoe H. Tennant die landläufige Version der Geschichte, wie bannock ins heutige Kanada kam und zum festen Bestandteil indigener Ernährungskulturen wurde, zusammen: »The story goes something like this: originally a Scottish bread, brought here in the bellies of ships carrying fur traders and early settlers during the late eighteenth century, bannock – bannach in Scots Gaelic – was adopted and adapted by Indigenous nations across the country.« (Tennant 2016) Allerdings kann man Tennant nur zustimmen, wenn sie gleich im Anschluss feststellt: »The story is true, but it’s also deceptively simple.« (Ebd.) Nicht zuletzt bleibt die zentrale Frage, wie es dazu kam, dass bannock von der indigenen Bevölkerung »adopted and adapted« wurde, unberührt. Verkompliziert wird die Geschichte des Verhältnisses von bannock und indigenen Ernährungskulturen in Nordamerika insbesondere durch die eklatanten Unterschiede im Hinblick auf die jeweiligen soziokulturellen Hintergründe und die konkreten Umstände des Kontakts der diversen lokalen indigenen Gruppen mit europäischen Entdeckern, Händlern, Siedler*innen und eben jenen Grundzutaten. Ohne hier die mannigfaltigen Details dieser Unterschiede erschöpfend darstellen und angemessen diskutieren zu können, lässt sich – zumindest für Kanada – ein gemeinsamer Nenner identifizieren. Nämlich die Rolle, die der Verlust indigener Territorien, koloniale Reservationspolitik und die ab der zweiten Hälfte des 19. bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts währende Assimilationspolitik Kanadas im Zusammenhang mit der Verbreitung von bannock (in Kanada) gespiel haben. In Bezug auf Ersteres ist entscheidend, dass die territoriale Enteignung und Umsiedlung in Reservationen zunächst die subsidiären Grundlagen indigener Lebensweise und Ernährungskulturen untergraben haben, wodurch die indigene Bevölkerung schließlich in die Abhängigkeit
124 Unreserved ist eine Radio-Podcast Serie, die auf Themen rund um indigene Persönlichkeiten und Angelegenheiten spezialisiert ist. Auf der offiziellen Website wird die Sendung beschrieben als: »radio space for Indigenous community, culture, and conversation.« (www.cbc.ca/radio/unreserved/about, abgerufen am 07.08.2018)
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von sogenannten commodity foods und government rations getrieben wurde. Berüchtigt sind in diesem Zusammenhang vor allem die »five gifts of the white man« (Tennant 2016): Salz, Zucker, Mehl, Milch und Schweineschmalz. Mit Blick auf die Nordwestküste schreibt Tennant hierzu: »Settlers plowed over gardens of rice root and silverweed. Access to Indigenous hunting and fishing sites was blocked. Grocery foods and government-issued rations of bacon, salt, sugar, flour, baking soda, and lard displaced foods from the land. And the ›five gifts of the white man‹ became a part of daily life.« (Ebd.) Diese bereits prekäre Situation wurde schließlich durch Assimilierungsbestrebungen verstärkt, die in Duncan Campbell Scotts (Leiter des Department of Indian Affairs von 1913-1932) berüchtigter Agenda kumulieren: »to get rid of the Indian Problem«.125 Neben der Evangelisierung der indigenen Gesellschaften und dem offiziellen Verbot jener kulturellen Kerninstitution, den Potlatch-Festen, waren es die kulturelle ›Umschulung‹ im Kindesalter mit Hilfe des Residential School Systems126 und der damit verknüpfte Verlust indigener Sprachen und familiärer Generationenbeziehungen, die einen alles blockierenden Keil in die Mechanismen kultureller Tradierung und somit das historische subsidiäre System trieben, auf dem die indigenen Ernährungskulturen beruhten. Der Verlust indigener Territorien sowie kulturellen Wissens bezüglich des Umgangs mit Nahrungsmittelressourcen führte bei einem Großteil der indigenen Gruppen schließlich dazu, dass die five gifts und andere commodity foods und government rations sowie diesbezügliche Techniken an die Stelle historischer Nahrungsmittel und Zubereitungsmethoden aus der Prä-Kontakt-Ära traten. Der Effekt ist ein heute überdurchschnittlich hohes Vorkommen von Herz-KreislaufErkrankungen, Typ-2-Diabetes, Adipositas und anderen ernährungsbedingten Krankheiten unter den Mitgliedern der indigenen Bevölkerung. Vor dem Hintergrund, dass die gesamte Geschichte Nordamerikas seit der kolumbischen Wende bekanntermaßen durch vergleichbare Prozesse (Enteignung indigener Territorien, koloniale Reservations- und Assimilationspolitik sowie der heutigen prekären gesundheitlichen Situation der indigenen Bevölkerung) charakterisiert ist, wird bannock im öffentlichen Diskurs im gesamten indigenen Nordamerika vermehrt zu einem Ausdruck indigener Leidensgeschichte, kolonialer Unterdrückung und kultureller Regression reduziert.127 So begründet bspw. der auf der Pine Ridge Indian 125 126
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Zur Assimilationspolitik unter Scott siehe Bracken (1997: 202-208). Die Agenda des Residential School Systems wird häufig mit einem Zitat zusammengefasst, das dem ersten Premierminister Kanadas, Sir John A. Macdonald, zugeschrieben wird: »[to] take the Indian out of the child« (Fine 2015) oder »[to] kill the Indian in the child« (www.trc.ca/websites/trcinstitution/index.php?p=39, abgerufen am 07.08.2018). In Indigenous Health Initiatives, Frybread, and the Marketing of Nontraditional »Traditional« American Indian Foods (2016) gibt Devon A. Mihesuah (Choctaw), Historikerin und prominente
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Reservation im US-Bundesstaat South Dakota aufgewachsene und in den letzten Jahren national wie auch international bekannt gewordene Koch Sean Sherman (Oglala Lakota) seine Entscheidung, kein Rezept für bannock bzw. fry bread in seinem Debut-Kochbuch The Sioux Chef’s Indigenous Kitchen (2017) aufzunehmen, mit den Worten: »Fry bread is a simple food but also a difficult symbol linking generation with generation, connecting the present to the painful narrative of our history.« (Sherman und Dooley 2017: 9) Oder wie es der in Saskatchewan wohnhafte und durch die kanadische Kochshow Top Chef Canada bekannt gewordene Koch Rich Francis im Rahmen der oben erwähnten Folge der CBC Radio-Podcast Serie Unreserved radikaler ausdrückt: »I’m probably the biggest bannock racist you’ll ever meet in your life. I’ve never made it in my life. […] I consider it a symbol of survival. That’s it. I mean, it was never meant for us. Everything that was ever given to us was meant to wipe us out.« (CBC-Radio 2017a) Während es falsch wäre, zu behaupten, dass bannock nicht im Zusammenhang mit dem Verlust indigener Territorien, kolonialer Reservations- und Assimilationspolitik steht, wird die generalisierende Reduktion auf diesen fraglos wichtigen historischen Komplex der vielschichtigen Rolle von bannock – wie auch anderer europäischer Importe – innerhalb der indigenen Gesellschaften und Ernährungskulturen nicht gerecht. So muss betont werden, dass, obwohl die siedlerkoloniale Wende ohne Frage ein signifikantes Datum darstellt und in vielerlei Hinsicht die zeitgenössischen Lebenswelten der indigenen Bevölkerung folgenschwer bestimmt, die Geschichte von bannock an der Nordwestküste lange davor beginnt. Tatsächlich finden sich in vielen frühen Berichten bereits Hinweise darauf, dass die indigene Bevölkerung, wie im Fall der Kartoffel, bereits im Zuge erster Kontakte mit europäischen Backwaren wie Hartkeks und Schiffszwieback in Berührung kamen. Wenngleich – wie weiter oben am Beispiel von Tsimshian, die Brot für Baumpilze hielten, angedeutet – nicht alle das harte Gebäck auf Anhieb essbar wähnten. So erwähnt etwa Cook, dass Nuu-chah-nulth, denen er und seine Begleiter Ende der 1770er Jahre Schiffszwieback anboten, die harten Brocken entweder für ungenießbar hielten oder zum Talisman umfunktionierten (Thrush 2011: 18). Die Autor*innen von Gathering What the Great Nature Provided. Food Traditions of the Gitksan (1990) wissen Ähnliches über den ersten Kontakt mit Brot im Gebiet des oberen Skeena River im tiefen nordwestlichen Inland British Columbias zu berichten: Da man nicht wusste, was
Stimme der in den USA seit Mitte der 2000er Jahre und heute auch in Kanada an Zuwachs gewinnenden Decolonizing Our Diets-Bewegung (siehe Kapitel 1.2.3.), ein Beispiel für eine solche generalisierende Darstellung oder »Reduktion« (Simard 1994) mit Blick auf die indigene Bevölkerung in den USA.
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man mit den Brotlaiben anfangen sollte, die man von europäischen Händlern bekommen hatte, hätte man sie auf den »berry drying racks« trocknen lassen und anschließend den Kindern zum Spielen gegeben, die sich mit den harten Brocken bewarfen (People of ’Ksan 1990: 98). Auf der anderen Seite hebt Thrush hervor, dass sich diese Skepsis und anfängliche Ablehnung noch vor dem Ende des 18. Jahrhunderts ins Gegenteil umkehrte, sodass europäisches Gebäck und Mehl fernab jedweder Kuriosität als selbstverständliche Nahrungsmittel gehandelt und gegessen wurden (Thrush 2011: 16). Die oben erwähnte Episode aus Vancouvers Bericht über seine Begegnung mit S’Klallam im Mai 1792 ist hierfür ein gutes Beispiel. Während zwar oben der Vorwurf der Anthropophagie gegenüber Vancouver und seinen Begleitern und weniger der konvivale Ethos des gemeinsamen Brotbrechens im Vordergrund stand, fällt bei genauerem Hinsehen ein anderer Punkt auf. Und zwar benennt Vancouver explizit die Selbstverständlichkeit, mit der seine indigenen Tischgenossen vor dem Zwischenfall mit den vermeintlichen Menschenpasteten ohne zu zögern von ihrem Fisch und vor allem Brot gegessen hätten: »They sat down by us, and ate of the bread and fish that we gave them without the least hesitation.« (Vancouver 1798: 269) Jewitt wiederum fügt für die Zeit kurz nach der Jahrhundertwende in seinen Erzählungen hinzu, dass Brot oder allgemein Gebäck, von indigener Seite nicht nur verzehrt, sondern sogar mit Vorliebe gegessen wurde. Er berichtet von einem Abendessen, zu dem Kapitän Salter wenige Tage vor Mukw inas Angriff auf die Boston denselben eingeladen hatte: »They cannot stand the taste of salt, and the only thing they would eat with us was ship bread which they were very fond of, especially when dipped in molasses.« (Jewitt 1987: 27) Wie aus anderen Berichten ersichtlich wird, beließen es die indigenen Akteur*innen nicht dabei, Gelegenheiten abzuwarten, bei denen ihnen Gebäck serviert wurde, sondern erwarben eigenständig fertige Backwaren oder unverarbeitetes Getreidemehl von den europäischen, amerikanischen oder auch russischen Händlern.128 Krause berichtet bspw. für die 1820er Jahre von Tlingit, die im Austausch für indigene Viktualien und andere Dinge wie Hüte, Matten und Masken von russischen Pelzhändler neben Tabak, Eisenpfannen, Äxten und Glaswaren auch Mehl erstanden (Krause 1885: 62-63). An anderer Stelle schreibt Krause in Bezug auf frühe Handelsbeziehungen: »Von Genußmitteln werden hauptsächlich Tabak, Hartbrot, Zucker und Mehl eingeführt; der Gebrauch von letzterem Artikel steigert sich von Jahr zu Jahr.« (Ebd.: 189) Darüber hinaus verweist Krause auf die
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Leider gibt es für die frühe Kontaktzeit kaum direkte Darstellungen über die Art und Weise, wie Brot oder Gebäck und Getreidemehl von indigenen Akteur*innen außerhalb des Zusammentreffens mit Europäern benutzt wurden. Lediglich die Regelmäßigkeit, mit der diese Produkte der indigenen Bevölkerung zur Verfügung standen, lässt sich anhand historischer Zeitzeugenberichte eindeutig nachvollziehen.
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Kontinuität dieser Tendenz, wenn er für den Zeitraum seiner eigenen Reise Anfang der 1880er Jahre die weiterhin zunehmende Verwendung von Mehl betont: »Immer mehr findet Weizenmehl Eingang, aus dem man einen Mehlbrei bereitet oder unter Zuthat von Hefe Brot in Pfannen und auf flachen Steinen bäckt.« (Ebd.: 155) Neben dem direkten Austausch mit nicht-indigenen Händlern sorgten die alten indigenen Handelsnetze entlang der Küste und mit den Interior First Peoples für eine weitere Verbreitung dieser Produkte und Techniken. Über die Beziehungen zwischen indigenen Frauen und den ersten stationären Pelzhändlern kamen zu diesen intertribalen Netzen noch familiäre Verknüpfungen als weitere Verbreitungskanäle hinzu (Bell o.J.a: 4, 9). Glaubt man also den Berichten, dauerte es nicht lange, bis sich der Konsum von Getreidemehl und die Techniken zu seiner Verarbeitung unter der indigenen Bevölkerung im heutigen British Columbia so weit verbreitet hatten, dass sie zum Zeitpunkt der siedlerkolonialen Wende bzw. bis zur Etablierung des Residential School Systems in den 1880er Jahren bereits fest zum Repertoire der indigenen Ernährungskulturen gehörten. Was gewiss nicht bedeutete, dass diese Produkte und Techniken zum alleinigen Zentrum der alltäglichen Ernährung arriviert wären. Vielmehr waren sie Mittel und Ausdruck der beschleunigten Diversifizierung und Ausdifferenzierung der indigenen Ernährungskulturen. Während Krauses Beschreibungen insgesamt bereits den Eindruck geben, dass kulinarische Neuerungen (zumindest) in dem Zeitraum vom Ende des 18. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts lediglich ergänzend zu den historischen Zubereitungsmethoden und Nahrungsmittelressourcen hinzukamen, macht Margery Fee in Stories of Traditional Aboriginal Food, Territory and Health (2009) deutlich: »European foods, however, were supplemented to the main diet of game, fish, and other wild foods; they were not the sole diet.« (Fee 2009: 62) Nun wurde oben in Bezug auf die Kartoffel skizziert, inwiefern ihre Einführung und Verbreitung durch die Verknüpfung von indigenen root gardens, der dual-morphologischen Lebensweise und der kulinarischen Grammatik indigener Ernährungskulturen begünstigt wurden. In Bezug auf Gebäck oder Getreidemehl finden sich ähnliche Argumentationen. So baut etwa das von Generationen von Ethnolog*innen und schließlich auch von indigenen Autor*innen am meisten bemühte Argument für das hohe indigene Interesse an Gebäck und Getreidemehl auf der Annahme auf, dass die historischen indigenen Ernährungskulturen durch einen signifikanten Mangel an Kohlenhydraten charakterisiert waren. Wie oben erläutert wurde, entspricht dies nicht den historischen Tatsachen – zumindest nicht gänzlich. Allerdings greift das Argument fraglos dahingehend, dass es wesentlich einfacher war, einen Sack Mehl oder Brot käuflich zu erwerben, als sich um das Anlegen, die Pflege und schließlich die Ernte indigener root gardens zu kümmern. Vermutlich war es deshalb weniger die vermeintliche Seltenheit komplexer Kohlenhydrate, als der immense Aufwand, der betrieben werden musste, um deren
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Verfügbarkeit zu gewährleisten, für den das durch Handel erhältliche Gebäck und Getreide eine zeit- und energieökonomisch günstige Alternative darstellte. Thrush stellt ein weiteres prominentes Argument heraus, wenn er betont, dass die Autoren früher Berichte die indigene Vorliebe für Getreide und Gebäck häufig als Ausdruck eines Strebens nach Zivilisation interpretierten (Thrush 2011: 16). Während der eurozentristische Hintergrund dieser kulturevolutionistischen Annahmen eines generalisierten Strebens nach zivilisatorischem Fortschritt problematisch ist, kann man dennoch annehmen, dass das Prestige, das mit dem Besitz und Gebrauch von Neuem und Fremdem – und damit Besonderem – einherging, bei der Begeisterung der indigenen Bevölkerung für diese fremden Produkte und Techniken eine maßgebliche Rolle gespielt haben mag. Auch gustative Aspekte dürfen nicht außer Acht gelassen werden. Schließlich mag auch der süßliche Geschmack eine Rolle gespielt haben, der entsteht, wenn durch Speichel und Kauen die in Getreide enthaltene Stärke in einer enzymatischen Reaktion in Zucker umgewandelt wird. Während die Argumente der Praktikabilität, des Prestiges und des Geschmacks auf dem Kontrast dieser neuen Lebensmittel mit den Gegebenheiten der indigenen Ernährungskulturen fußen, begegnet einem häufig ein weiterer Argumentationsstrang, der einen gegenläufigen Aspekt betont. Dabei steht die Annahme im Vordergrund, dass Gebäck oder Brot an sich nichts Neues gewesen seien, sondern sich lediglich der Rohstoff geändert habe. Das Argument lautet demnach: Die Wurzeln von bannock reichen bis zu indigenen Vorläufern in die Prä-Kontakt-Ära zurück, sodass bannock gar nicht erst integriert wurde, sondern in gewisser Hinsicht bereits da war. Als Beispiele für solche indigenen bannock-Vorläufer gelten etwa Fladen aus den Rhizomen der Essbaren Prärielilie (blue camas): Die Rhizome wurden zunächst in Erdöfen für lange Zeit gegart und anschließend plattgedrückt oder zu einer Masse geknetet, die zu Laiben geformt und getrocknet werden konnten. In Kapitel 1.2.1. wurde zudem Suttles zitiert, der von bread berichtet, das aus den Wurzeln von Adlerfarnen (bracken fern) hergestellt wurde (Suttles 2005: 185). Insgesamt macht es jedoch den Anschein, dass heute vieles mit dem Begriff bannock oder auch bread in Verbindung gebracht wird, von dem nicht wirklich klar ist, ob hier eine Verwandtschaft besteht. Entsprechend schreibt auch Turner: »Northwest Coast people were said to have made a type of ›bread‹ from the baked and pounded rhizomes of bracken fern (Pteridium aquilinum), and some have referred to the flattened, dried, pit-cooked bulbs of camas as ›bread ‹ , but these were quite different from the biscuits, cakes, bannock, and wheat bread products of the Europeans.« (Turner 2014: 215) Generell stellt sich bei Beispielen für indigene bannock-Vorläufer die Frage, ob diese Verweise den Inhalten der historischen Berichte, auf die sie sich beziehen, gerecht werden bzw. ob die bloße Referenz darauf, dass der Begriff bread genannt wird,
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dafür hinreicht, diese Nennung als Beweis für die Existenz von Brot, bannock oder Ähnlichem in der Prä-Kontakt-Ära an der Nordwestküste und anderen Teilen Kanadas heranzuziehen. Beispiele, die daran zweifeln lassen, findet man unter anderem in Alison Bells Food as Symbol. Bannock and the Aboriginal Peoples of Canada (o.J.a) sowie in Blackstocks Bannock Awareness (2013). Beide Autoren beschreiben dort ein Produkt als bannock, das aus sehr lange in Erdöfen eingekochtem Moos oder Flechten hergestellt wurde. Blackstock gibt etwa ein Rezept von Mary Thomas (elder, Neskonlith Indian Band, Secwepemc, früher bekannt als Shuswap) für Secwepemc Lichen Bannock an: »Pit cook or steam black tree lichen (Bryoria fuscescens). It turns into a hardened licorice tasting ›bannock‹. It can be cooked with berries.« (Blackstock 2013: 19) Während das Endprodukt zwar die – mehr oder weniger feste – Form eines Fladens oder Ähnlichem annehmen mag, scheint der Begriff bannock oder auch bread in diesem Zusammenhang unpassend129 bzw. wirft diese Verwendung der Begriffe die Frage auf, warum nicht auch die getrockneten und in Form gepressten Beeren und Algen gleichermaßen als indigene Formen von bannock bemüht werden. Nicht zuletzt spricht man bei den getrockneten Beeren ebenso wie beim getrockneten Kambium zudem von Kuchen (cakes). Bell wiederum verweist zwar auf »bread made from moss« in der Gegend des Huronsee im heutigen Ontario (Bell o.J.:7).Die Stelle in John MacLeans C anadian Savage Folk. The Native Tribes of Canada (1896), auf die Bell sich bezieht, macht bei genauerem Hinsehen – d.h., indem man einige Zeilen vor der von ihr zitierten Passage zu lesen beginnt – nicht den Eindruck, als ob es hier überhaupt um indigene Formen von bannock bzw. allgemein um bread aus Moos geht: »We were gone two weeks, and having got out of bread and meat, we were obliged to gather moss, called in the Indian tongue, wahkoonun, ›from the rocks‹. This moss we boiled, which became very slimy, but which possessed some nourishing qualities.« (MacLean 1896: 407) Nun soll es nicht darum gehen, über Begrifflichkeiten zu streiten, also darüber, ob etwas bread, Brot oder bannock ist oder nicht. Der Punkt ist ein anderer: Im Hinblick auf die kulturgeschichtliche Bedeutung von bannock für die indigenen Gesellschaften und deren Ernährungskulturen scheint insgesamt weder die Nivellierung von Unterschieden durch die Rückführung von bannock auf mögliche indigene Vorreiter – in dem Sinn, dass sich im Grunde nur die Natur des Rohstoffs geändert hätte (Bell o.J. a, b) – noch die Überbetonung der Fremdheit von bannock durch die Reduktion seiner Historizität auf ausgewählte – deshalb gewiss
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Siehe hierzu außerdem in Kapitel 1.2.1. den Abschnitt Moos, Farn und Flechte. Dort wurde darauf hingewiesen, dass Flechten im Interior Plateau zwar in Form von Fladen für den Winter präserviert wurden. Allerdings wurden sie letztlich zu Suppen und Eintöpfen verarbeitet.
1. Teil: Grundzüge einer Kulturgeschichte indigener Ernährungskulturen in British Columbia
nicht weniger reale – Aspekte seiner kolonialgeschichtlichen Vergangenheit (Mihesuah (2016) zielführend zu sein. Nicht zuletzt fällt ein rein retrospektiver, auf vermeintlich eindeutig bestimmbare Ursprünge fokussierter Blick zurück auf jene fragliche Binarität einer Entweder-Oder-Denkweise, wie sie weiter oben in Kapitel 1.1. erörtert wurde, und lenkt damit zugleich davon ab, dass 1. jeglicher Versuch einer Reduktion der Bedeutung von bannock auf entweder eine indigene Brotkultur in der Prä-Kontakt-Ära auf der einen Seite oder den Verlust indigener Territorien im Zusammenhang mit kolonialer Reservations- und Assimilationspolitik auf der anderen Seite an der Tatsache vorbeigeht, dass an der Nordwestküste die Einführung und Übernahme von Gebäck, Getreidemehl und Techniken zur Herstellung von bannock in erster Linie Ausdruck einer – wenn auch abrupten – Beschleunigung immanenter Diversifizierungs- und Ausdifferenzierungsprozesse der indigenen Ernährungskulturen darstellte. Darüber hinaus gerät dadurch 2. die nunmehr tief verwurzelte Bedeutung, die bannock für die indigene Bevölkerung zweifelsohne hat, aus dem Blick. Nun gibt es, wie gesagt, keine oder kaum Studien und entsprechende Literatur, die sich explizit mit Letzterem auseinandersetzen. Monica Cyr (Métis) und Joyce Slaters Artikel Got Bannock? Traditional Indigenous Bread in Winnipeg’s North End (2016) stellt hierzu eine nennenswerte Ausnahme dar.130 Cyr und Slater diskutieren darin die Ergebnisse ihrer Studie zur Bedeutung von bannock für die indigene Bevölkerung im heutigen Kanada aus einer emischen Perspektive. Wie sie anhand der Analyse von 25 Interviews mit indigenen Gesprächspartner*innen aus Winnipegs North End anschaulich zeigen, besteht ein wesentlicher Grund dafür, warum bannock trotz – oder gerade wegen – seiner kolonialen Wurzeln einen wichtigen Identitätsmarker darstellt, darin, dass es untrennbar mit individuellen Lebensgeschichten verknüpft ist und dabei ein spezifisches familiäres wie auch kulturelles Zugehörigkeitsgefühl (sense of belonging, Cyr und Slater 2016: 60) berührt. Einer der zentralen Punkte, den die Autorinnen mit Zitaten ihrer Informant*innen wiederholt betonen, ist die Verknüpfung von bannock mit Erinnerungen an die eigene Kindheit, an Heimat und Geborgenheit, an die ersten eigenen bannock-Versuche unter Anleitung von Müttern, Vätern, Tanten, Onkeln und Großeltern sowie an Familienfeste, community gatherings und Festessen im Zuge von Zeremonien und Potlatch-Festen, bei denen bannock meist fester Bestandteil ist. Bannock selbst oder
130 Weiter oben wurde in Fußnote 122, S. 126, auf Vantreases Commod Bods and Frybread Power. Government Food Aid in American Indian Culture (2013) verwiesen. Wenngleich sich Vantrease ebenfalls mit emischen Perspektiven befasst, liegt ihr Fokus weniger auf bannock als vielmehr auf commodity foods im Allgemeinen. Nicht zuletzt beruhen ihre Darstellung und ihr Argument dabei auf der spezifisch amerikanischen Kolonialgeschichte und Reservationspolitik, die in vielerlei Hinsicht verschieden sind von der Kanadas.
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auch die Fähigkeit bannock zubereiten zu können, sei damit Ausdruck von »positive familial connections« (ebd.: 66) und deshalb intakter Kanäle der Tradierung kulturellen Wissens, weshalb Cyr und Slater in diesem Zusammenhang auch von »cultural teachings it [bannock] embodies« (ebd.: 71) sprechen und zusammenfassen: »Bannock is associated with family histories, cultural events and ceremonies, and food security. Bannock is seen as having a deep connection to identity.« (Ebd.: 59) In Anbetracht der Tatsache, dass bannock bei Familientreffen, Zeremonien, community gatherings etc. in der Regel zusammen mit anderen traditional foods – d.h. »other ›country‹ or ›traditional‹ dishes, such as stews, soups, and wild meats« (ebd.: 64) – serviert wird, betonen Cyr und Slater, dass die entsprechenden indigenen Zutaten in urbanen Kontexten bzw. off-reserve nicht oder nur schwer erhältlich und meist zu teuer seien (ebd.: 64-65). Infolgedessen fungiert bannock in diesen urbanen traditional-food deserts131 aufgrund seiner starken Assoziation mit anderen traditional foods und den Situationen, in denen sie zur Geltung kommen, als Stellvertreter (ebd.). Vor dem Hintergrund der meist prekären finanziellen Situation der in Städten wie Winnpeg oder auch Vancouver und Victoria wohnhaften indigenen Bevölkerung, ist bannock als günstiges traditional food nicht nur Ausdruck von Ernährungssicherheit und -souveränität, sondern bietet die Möglichkeit, selbst mit einem geringen Haushaltsbudget Gäste empfangen, Feste feiern und aktiv an community gatherings teilhaben zu können. Dies erlaubt nicht nur, den für das indigene Selbstverständnis wesentlichen sozialen Verpflichtungen des Teilens und der Großzügigkeit nachkommen zu können. Vielmehr noch steht bannock damit in einem konstitutiven Zusammenhang mit der Reproduktion soziokultureller Strukturen und zentraler kultureller Werte. Bevor in den nächsten beiden Abschnitten zunächst ein Überblick über die Charakteristika indigener Ernährungskulturen im 21. Jahrhunderts gegeben und dieser anschließend mit dem Vorwurf kultureller Entwurzelung konfrontiert wird, lässt sich im Hinblick auf die Ergebnisse von Cyr und Slaters Studie insgesamt festhalten, dass sie abseits jener Nivellierung von Unterschieden und der Überbetonung von Fremdheit einen entscheidenden Aspekt der Bedeutung von bannock für die indigenen Ernährungskulturen herauskehren: die identitätsstiftende und, bildlich gesprochen, zentripetale Wirkmächtigkeit, die bannock den zentrifugalen
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Als food desert werden städtische oder auch ländliche, meist von Minoritäten und einkommensschwachen Bevölkerungsteilen bewohnte Gebiete bezeichnet, in denen der Zugang zu frischen, nicht-vorverarbeiteten, generell nahrhaften Lebensmitteln stark limitiert ist. Der Zusatz traditional soll hier der Tatsache Rechnung tragen, dass es nicht nur um die Abwesenheit oder strukturelle Unzugänglichkeit allein diätisch sinnvoller, sondern vor allem kulturrelevanter Nahrungsmittel geht.
1. Teil: Grundzüge einer Kulturgeschichte indigener Ernährungskulturen in British Columbia
Kräften der Geschichte und demografischen Entwicklungen, welche die Lebenswelten der indigenen Bevölkerung prägen, entgegensetzt. Oder wie es Blackstock zwar allgemein, aber mit Blick auf die Rolle von bannock treffend formuliert: »Food not only nourishes us, but gives us comfort; a special dish served the way our mothers and grandmothers prepared it reassures us in a changing world.« (Blackstock 2013: 1)
Zentrale Charakteristika indigener kulinarischer Alltagskultur im 21. Jahrhundert Kartoffeln und bannock sind heute feste Bestandteile der indigenen Ernährungskulturen. Dabei kommen Kartoffeln in allen denkbaren Formen auf den Tisch: als Suppen, Eintöpfe, Kartoffelsalat, Salzkartoffeln, Bratkartoffeln, hash browns, Kartoffelstampf oder Püree sowie natürlich als French fries und potato chip (auch potato crisp genannt). Bannock hingegen findet sich meistens in seiner lokalspezifischen »Ur«-Form, sprich als eine Art Brot vor. Da der Grundteig theoretisch unbegrenzt vielfältig einsetzbar ist, existieren allerdings auch Adaptionen wie bannock pizza, bannock dog132 , bannock cinnamon buns oder bannock bread pudding, um nur ein paar der unzähligen Möglichkeiten zu nennen. Insgesamt lässt sich davon sprechen, so wurde in den vorangegangenen Abschnitten argumentiert, dass sich in der heutigen Prominenz von Kartoffeln und bannock in der indigenen kulinarischen Alltagskultur an der Nordwestküste die aktive Diversifizierung und Ausdifferenzierung und weniger eine passiv-regressive Transformation der Ernährungskulturen widerspiegelt. Wie weiter oben deutlich wurde, stößt diese Argumentation in Bezug auf Kartoffeln auf wenig Widerstand, während bei bannock nicht selten das Gegenteil der Fall ist. Bannock steht dabei nicht für sich allein, sondern ist vielmehr Sinnbild nicht nur jener kolonialen Vergangenheit, sondern ebenso eines kulinarischen Kataklysmus, als welchen jene Prozesse der Diversifizierung und Ausdifferenzierung indigener Ernährungskulturen im Allgemeinen beschrieben werden. Tatsächlich liegt eine solche Sichtweise nicht fern, stellen doch für die Mehrheit der indigenen Bevölkerung in British Columbia und anderen Teilen Kanadas Fast Food und industriell hergestellte Convenience-Produkte konstitutive Bestandteile der alltäglichen Ernährung dar. Längst haben Tiefkühltruhen, Kühlschränke, Fritteusen und Mikrowellen die historischen Präservierungs- und Zubereitungstechniken sowie die dazugehörigen Objekte materieller Kultur aus dem Alltag verdrängt. Die für die historischen Ernährungskulturen charakteristische Konzentration auf den Eigengeschmack der verwendeten Lebensmittel und dessen präservierungs- und kochtechnische Akzentuierung oder Manipulation sowie die 132
Vergleichbar mit Würstchen im Schlafrock. Allerdings wird die gleiche Bezeichnung auch für Hot Dogs verwendet, bei denen für das Brötchen bannock – dann meist frittiert – verwendet wird.
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Omnipräsenz von grease und anderen Fischölen oder Tranen als kulinar-grammatikalische Basiselemente lassen heute kräftigen Gewürzmischungen, BBQ-Sauce, Hot-Sauce, Tabascosauce, Sweet Chili Sauce oder Klassikern wie Worcestershire-, HP- und Sriracha-Sauce den Vortritt. Wo früher getrocknete Präserven in grease getunkt und in bentwood-Kisten gesottene oder gedünstete Speisen von meist nicht mehr als einer Hauptzutat (Fisch, Gemüse, Fleisch etc.), Wasser und Öl die hölzernen Essschalen füllten, wird die heutige kulinarische Alltagskultur dominiert von Sandwiches, Burgern, Pasta, Pizza, Lasagne, fish and chips, fried chicken, poutine, meat pies und anderen in Nordamerika verbreiteten comfort food-Artikeln133 wie ginger beef, breakfast burritos, chop suey und mac and cheese. Indes wird der überwiegende Teil dieser Gerichte entweder direkt auswärts gegessen oder als take-out gekauft und zuhause serviert. Nicht selten dienen dann take-out-Boxen aus Plastik oder Styropor oder auch Einweggeschirr als unkomplizierter Ersatz nicht nur für das historische hölzerne, sondern auch modernes Essgeschirr. Abgesehen von verzehrfertigen Speisen, sind darüber hinaus Convenience-Produkte wie Kraft Dinner, Hungry Man134 , allerlei Asia-Nudel-Snacks, Tex-Mex-Produkte oder Snacks wie fried bologna Sandwiches sowie das reichhaltige Angebot der »Heißen Theken« größerer Supermärkte, die in den heimischen Küchen zubereitet oder aufgewärmt werden, charakteristische Elemente der kulinarischen Alltagskultur. Begleitet wird all dies von Softdrinks (pops), Energydrinks, Kaffee135 und Frucht-Getränken (juice136 ). Letzten Endes lässt sich hierbei kaum ein Unterschied zu dem ausmachen, was Sidney Mintz als Charakteristika der Ernährungsgewohnheiten der »majority of the American people« (Mintz 2005: 117) beschrieben hat: »eating out frequently, often choose fast foods, as well as ordering take-out to eat at home; eating much prepared and packed foods, which require only intense heat or nothing at all to be ›cooked‹; continuing to eat diets high in animal protein, salt, fats, and processed sugars, low in fresh fruits and vegetables; drinking more soda than tap water.« (Ebd.: 117-118)
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Nach den Angabe von Oxford English Living Dictionaries (OELD) lassen sich comfort foods definieren als: »Food that provides consolation or a feeling of well-being, typically having a high sugar or carbohydrate content and associated with childhood or home cooking.« (en.oxforddictionaries.com/definition/comfort_food, abgerufen am 01.05. 2018) Hungry Man ist der heutige Produktname des in den 1950er Jahren von der Firma Swanson (damals C.A. Swanson & Sons) entwickelten original »TV Dinners«, das damals unter dem Produktnamen TV Brand Frozen Dinner berühmt wurde. In indigenen Haushalten wurde mir zum Kaffee in der Regel nicht Milch, sondern bereits gezuckerter Sahneersatz der Marke Coffee-Mate angeboten. »Fruchtsaft« wäre hier keine angemessene Übersetzung, da es sich meist um Misch-Getränke mit einem geringen Fruchtgehalt, dafür jedoch umso höheren Zuckeranteil handelt.
1. Teil: Grundzüge einer Kulturgeschichte indigener Ernährungskulturen in British Columbia
Ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit gibt diese Darstellung eine Vorstellung von den zentralen Charakteristika, durch die die indigene kulinarische Alltagskultur in British Columbia unabhängig von regionalen, demographischen und altersgruppenspezifischen Unterschieden geprägt ist. Vor dem Hintergrund der historischen kulinarischen Grammatik indigener Ernährungskulturen kann man diese Charakteristika zu einem groben Muster zusammenfassen, das in seiner Polarität einem Paradigmenwechsel nahekommt: Aus gewürz- und kohlenhydratarmen, zucker- und salzlosen, auf ballaststoffreichen pflanzlichen Nahrungsmitteln und tierischen Fetten und Proteinen von wild gefangenem oft gereiftem, geräuchertem oder getrocknetem Fisch, Meeressäugern und Wild beruhenden Ernährungskulturen, die als Koch-Küchen charakterisiert wurden, werden auf Kohlenhydrate und meist industriell vorverarbeitete tierische Proteine von primär Schweinen, Rindern und Hühnern konzentrierte gewürz-, zucker- und salzlastige dafür jedoch an frischem Gemüse und Obst arme Ernährungsweisen, für die das Frittieren und Anbraten die am meisten verwendeten Kochtechniken darstellen. Führt man sich vor Augen, dass für die historischen indigenen Ernährungskulturen gerade die Kochtechniken bzw. die komplexe Verknüpfung von Zutaten, Präservierungstechniken und Zubereitungsmethoden die charakteristische Würze darstellten, wird die Drastik dieser Entwicklung umso greifbarer. Zwei weitere Kontrapunkte, die eine separate Nennung verdienen, sind zum einen die Tatsache, dass für die historischen indigenen Ernährungskulturen Milchprodukte keine Rolle spielten, während sie heute eine zentrale Lebensmittelkategorie darstellen. Zum anderen sind grease, Tran und andere Fischöle den diversen salzig-süßen Würzsaucen nahezu vollständig gewichen. Schematisch dargestellt, ergibt sich daraus folgende Gegenüberstellung (Abb. 4): Abb. 4: Kulinarischer Paradigmenwechsel
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Würde man nach einem ikonischen Gericht dieses Paradigmenwechsels fragen, wäre die Antwort zweifellos: Indian tacos, ein Gericht, das in seiner Komposition von verschiedenen Zutaten, Techniken, Konsistenzen und Würzung keinerlei Entsprechung im Repertoire der historischen indigenen Ernährungskulturen hat. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um meist frittiertes bannock garniert mit Chili con Carne, geschreddertem Eisbergsalat, geriebenem Cheddar Käse, gewürfelten Tomaten, saurer Sahne und Salsa-Sauce (Abb. 5). Die Zutaten können im Einzelnen je nach Kreativität des Kochs variieren. Entscheidend ist lediglich, dass die grundlegende Struktur wiederzuerkennen ist. Das bedeutet, dass bannock gewissermaßen als Teller dient, auf dem sich die Garnierungen (toppings) aus Fleisch, Fisch oder vegetarischer Alternative, Salat, Tomaten, Käse und Saucen türmen – »teepee high« wie Christa Guenther (Peguis First Nation), Eigentümerin und Betreiberin des Feast Café Bistro (seit 2015) in Winnipeg, Manitoba, betont (CBC-Radio 2017b). Während etwa Paul R. Natrall (Squamish) alias Mr. Bannock in Vancouvers einzigem indigenen Food Truck (seit 2018) mit seinem »Award Winning Indian Taco: Housemade chili, sharp cheddar, lime sour cream, salsa verde, spicy chip on top of fresh fried bannock« (Abb. 6) eine eher klassische Variante anbietet, serviert Shawn Adler (Ojibway) in seinem Pow Wow Café (seit 2016) in Toronto Taco-Variationen mit »Pork Souvlaki with Feta Cheese, Greek Salad + Tzaziki« oder »Coconut Lime Leave Chicken Curry with Mango Chutney« – wobei natürlich auch hier eine klassische(re) Variante nicht fehlen darf (Abb. 7). Indes sind Indian tacos alles andere als eine Kuriosität. Im Gegenteil – oder wie es die Radiomoderatorin Rosanna Deerchild im Rahmen der erwähnten Radiodokumentation How food brings Indigenous communities together aus der CBC-Reihe Unreserved ausdrückt: »We can’t do an Indigenous food show without this popular but controversial dish on the menu.« (CBC-Radio 2017a) Tatsächlich sind Indian tacos neben bannock das erste Gericht, das einem in Kanada auf der Suche nach indigenem Kochen und Essen begegnet. Nicht nur dürfen sie bei keinem Powwow östlich der Rocky Mountains fehlen. Man findet sie gleichwohl in British Columbia bei großen community gatherings (sofern diese öffentlich zugänglich sind), auf Volksfesten oder bei öffentlichen Veranstaltungen von indigenen Gemeinschaftszentren (community centre). Nicht zuletzt sind sie oft das am meisten verkaufte Gericht auf den Speisekarten indigener gastronomischer Betriebe, wie Mr. Bannock’s Indigenious Food Truck oder Adlers Pow Wow Café. Wenngleich sich die Popularität von Indian tacos unter den Mitgliedern der indigenen Bevölkerung in British Columbia und dem Rest Kanadas nicht leugnen lässt, ist es ebenfalls nicht von der Hand zu weisen, dass dieses Gericht – als Sinnbild der in der schematischen Gegenüberstellung unverkennbar deutlich gewordenen Polarität historischer und zeitgenössischer indigener Alltagsernährung – gleichsam die Verschiebung indigener Subsistenzstrategien und damit der Lebensweisen im Allgemeinen verkörpert. Nicht zuletzt sind die verwendeten Zutaten allesamt Konsumgüter, die über den Lebensmittelhandel erworben werden und in keinem direkten Zusam-
1. Teil: Grundzüge einer Kulturgeschichte indigener Ernährungskulturen in British Columbia
menhang mit den indigenen Territorien und der diesbezüglich verfügbaren Ressourcen stehen. Die kanadische Anthropologin Gillian Crowther verweist in diesem Kontext auf einerseits die Abhängigkeit indigener Akteur*innen von der transnationalen Lebensmittelindustrie und entsprechender globaler agrarökonomischer Prozesse und betont andererseits die kulturelle Entwurzelung der daraus resultierenden (vom kanadischen »Mainstream« kaum unterscheidbaren) kulinarischen Alltagskultur (Crowther 2013: 210-215). Im Hinblick auf die Entwurzelung indigener kulinarischer Alltagskultur im Zeitalter der Globalisierung spricht Crowther auch von »Indigenous Gastro-anomie« – ein Begriff, der eine genauere Betrachtung verlangt.
Gastro(a)nomie indigener Ernährungskulturen? Mit dem Begriff »Indigenous Gastro-anomie« lehnt sich Crowther an das vom französischen Ernährungssoziologen Claude Fischler in den 1980er Jahren geprägte antonyme Begriffspaar »gastronomy/gastro-anomy« (Fischler 1980: 947) an. Entgegen der landläufigen Verwendung des Begriffs »Gastronomie« umschreibt Fischler »gastronomy (in the literal sense, from nomos, law)« als »the sets of rules, norms, and meanings associated with food« (ebd.). Hintergrund dieser semantischen Verschiebung stellt das sogenannte »Paradox des Omnivoren« dar. Dieses Paradox (Fischler 1980, 1988), Problem (Rozin 1976) oder auch Dilemma (Pollan 2006) des menschlichen Allesfressers besteht vereinfacht ausgedrückt darin, dass die Eigenschaft »alles« essen zu können eine kulinarische Freiheit impliziert, die dadurch zur Bürde wird, dass der Mensch im Gegensatz zu spezialisierten Essern wie bspw. Koalas – für die sich die »Frage der richtigen Ernährung« (Trenk 2015: 212) gar nicht erst stellt – selbst entscheiden muss, was gut und was schlecht für ihn ist bzw. was für ihn zu essen »richtig« ist. Fischlers These ist, dass menschliche Gesellschaften spezifische »Gastronomien«, also handlungsleitende Regel-, Normenund Bedeutungszusammenhänge, kurzum Küchen (cuisines, Fischler 1988: 277) herausgebildet haben, mit deren Hilfe die Mitglieder einer Gesellschaft Elemente ihrer jeweiligen Umwelt identifizieren und sich kulinarisch aneignen können. Mit Fischlers Worten: »A group’s cuisine can […] be understood as a body of practices, representations, rules and norms […], one of whose essential functions is precisely to resolve the omnivore’s paradox.« (Ebd.: 279) Die Gesetze (nomos) des Magens (gastros) bzw. kulturspezifische Küchen erscheinen demnach als – bildlich gesprochen – Steckkästen zur Identifikation der essbaren Bestandteile der Welt: Dabei ist nur das essbar, was sich in den kulinarischen Steckkasten einer Gesellschaft einfügen lässt. Der Prozess der Identifikation geht jedoch weit über die Frage der bloßen Essbarkeit hinaus: »To identify a food, one has […] to understand its place in the world and therefore understand
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the world, and in particular distinguish, order and classify the elements of which it consists.« (Ebd.: 284) Die Welt verstehen; Dinge unterscheiden, einander zuordnen und klassifizieren zu können; was heißt das in Bezug auf Kochen und Essen? Es bedeutet im Kontext einer bestimmten Gesellschaft zu wissen, was, wie, in welcher Kombination, Menge und Reihenfolge, wo, wann, für wen und mit wem (zu essen) richtig oder falsch ist. Dabei werden im Kochen und Essen nicht nur Dinge einander (räumlich, zeitlich, relational) zugeordnet. Der Akt des Kochens und Essens wird zugleich zum Akt der Selbstverortung innerhalb der Ordnung der Welt – d.h. auch innerhalb oder außerhalb einer Gesellschaft, Kultur oder Lebenswelt –, die damit in ihrer Gesamtheit reproduziert wird. Fischler fasst entsprechend zusammen: »Thus, cookery helps to give food and its eaters a place in the world, a meaning. The order it constructs and applies is inseparable from the order of the world which culture as a whole constructs. [Cooking or cuisine] sets all these things in the order of the world and so confirm the world is still in order.« (Ebd.: 286-287) Stanley Walens scheint die gleiche oder eine zumindest zum Verwechseln ähnliche Auffassung zu vertreten, wenn er in Feasting with Cannibals. An Essay on Kwakiutl Cosmology (1981) in Bezug auf Hunt und Boas’ über 300-seitige Rezeptsammlung feststellt: »In those pages of recipes lies the key to the entire organization of Kwakiutl social and mental life.« (Walens 1981: 89) In der Einleitung wurde hierzu bereits erwähnt, dass Walens die Rezepte aus Hunt und Boas’ Sammlung weniger unter dem Aspekt planmäßiger Kochanleitungen, denn als detaillierte Beschreibungen komplexer Handlungsabläufe analysiert, in denen sich die soziale Struktur und kosmologische Ordnung der indigenen Lebenswelt der Kwakwaka’wakw nicht nur widerspiegelt. Vielmehr (re-)produzieren die dokumentierten Praktiken diese Struktur und Ordnung bzw. sind Erstere identisch mit Letzteren. Die Rezepte beschreiben demnach nicht weniger als die Welt und ihre Gesetzmäßigkeiten an sich. Wenngleich nun davon auszugehen ist, dass er mit Fischlers Terminologie (gastronomy/-anomy) nicht vertraut gewesen sein dürfte, könnte Walens’ Buch demnach – salopp formuliert – alternativ betitelt werden mit: Feasting with Cannibals. An Essay on Kwakiutl »Gastronomy«; aber dies nur am Rande. Entscheidend an dieser Stelle ist ein anderer Punkt. Er führt zurück zu Fischler und der anderen Seite seines antonymen Begriffpaars: Vor dem Hintergrund des Ineinandergreifens von Land (und Wasser), Kultur (soziale Struktur/Stratifizierung) und Ernährung, wie es weiter oben bereits im Hinblick auf das Konzept des keeping it living erläutert wurde, lässt sich bereits erahnen, was der Verlust indigener Territorien im Zuge der siedlerkolonialen Wende; der Verlust von Mobilität als Folge föderaler Reservationspolitik; die legislative Restriktionen der Nutzung indigener Ressourcen (Fischereiund Jagdrecht); die weitreichenden ökologischen Veränderungen zu Land und zu
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Wasser137 ; das Verbot von Festessen und Potlatch-Festen (jener kulturellen Kerninstitution); die Evangelisierung und aktive Assimilationspolitik sowie die damit verknüpfte aktive Blockade generationenübergeifender Tradierungskanäle indigenen Wissens; das Auflösen von Geschlechterrollen; und schließlich die Integration in die Marktwirtschaft und die dadurch entstandene Verknappung von Zeit; was all dies für die historischen indigenen Ernährungskulturen bedeutete. Knapp zusammengefasst implizierten diese Veränderungen nicht nur den Verlust eines Großteils der physischen Grundlagen indigener Ernährungskulturen. Sie scheinen vielmehr den Kollaps der damit untrennbar verknüpften Regeln, Normen und Bedeutungszusammenhänge zu verkörpern – im Sinn von Fischler also den Kollaps »indigener Gastronomien«. Denn wenn die Welt an sich nicht mehr »in Ordnung« ist, dann fallen auch die Regeln, Normen und Bedeutungszusammenhänge weg, die sich aus der Wahrnehmung dieser Ordnung ableiten ließen. Ohne diese Orientierungshilfen (der Steckkasten) lässt sich jedoch auch die Ordnung der Dinge nicht mehr gleichermaßen (re)produzieren. Im Hinblick auf Veränderungen, wie sie die historischen indigenen Ernährungskulturen in den letzten 250 Jahren durchlaufen haben – Veränderungen, die Crowther als »shift from a traditional to an industrial diet« (Crowther 2013: 213) bezeichnet –, bestimmt Fischler schließlich den anderen Teil seines Begriffspaars: »One could say that the crisis of gastronomy leads to a state of gastro-anomy. Modern individuals are left without clear socio-cultural cues as to what their choice should be, as to when, how and how much they should eat. Food selection and intake are now increasingly a matter of individual, not social, decisions, and they are no longer under ecological or seasonal constrains.« (Fischler 1980: 948) Im Gegensatz zu den Ernährungskulturen wie denen der (historischen) indigenen Gesellschaften der kanadischen Nordwestküste würde das Orientierung gebende Geflecht von kulinarischen Regeln, Normen und Bedeutungszusammenhängen in industrialisierten Konsumgesellschaften, in denen prinzipiell alles für jeden, immer und in jeder Menge – und je nach den verfügbaren Mitteln in jeder Qualität – zur individuellen Verfügung steht, aufgebrochen, sodass der »shift« mit einer kulinarischen »Rat- und Gesetzlosigkeit« (Trenk 2015: 186) einhergeht. Neue Lebensmittel, Techniken, Geschmäcker, Verzehrsituationen, Speisefolgen etc. hätten
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Gemeint sind bspw. Flüsse und Wasserläufe, deren Aquaflora und -fauna (vor allem Lachs, Kerzenfische und Hering) durch industrielle Verschmutzung, steigenden PH-Wert, Staudämme zur Stromgewinnung oder übermäßige Sedimentierung signifikant gefährdet wurden. Letzteres, die übermäßige Sedimentierung, geht in erster Linie zurück auf den Bau von Verkehrswegen (Straßen und Gleise) entlang der Gewässer sowie auf durch flächendeckenden Kahlschlag verursachte Bodenerosion.
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demnach keinen Ort, keinen Kontext und kein Maß, das ihnen oder dem sie zugeordnet werden könnten. In der Konsequenz laufen derlei Entwicklungen Gefahr, zu im wahrsten Sinne krankhaften Ernährungsweisen zu führen. In den Ernährungswissenschaften wird diese Form von kulinarischen Entwicklungsprozessen als »nutrition transition« bezeichnet (Popkin 1993). Ausgehend vom Ineinandergreifen demografischer, diätischer und soziokultureller Veränderungen, rückt das Konzept der nutrition transition die epidemiologischen Aspekte dieser Prozesse in den Vordergrund. Im Hinblick auf indigene Gesellschaften spricht die kanadische Ernährungsökologin Harriet V. Kuhnlein diesbezüglich von »diseases of the so called western diet and lifestyle« und fasst zusammen: »[…] Obesity and diabetes, the cardiovascular diseases, cancer, infant morbidity and mortality in higher frequencies, alcoholism, loss of teeth and clear eyesight, and rampant infections are all part of this diet and health picture that has emerged for Indigenous peoples in the last 100 years.« (Kuhnlein 1993: 259) Das »Bild«, das Kuhnlein hier umreißt, wird nicht nur in diversen Statistiken zum gesundheitlichen Zustand der indigenen Bevölkerung in British Columbia manifest (Hacketts 2005).138 Es spiegelt zugleich den Eindruck wider, den ein kurzer Besuch in indigenen Haushalten oder Gemeinschaften vermittelt. Insgesamt, so kann man festhalten, besteht kein Zweifel daran, dass die siedlerkoloniale Wende und die daran anschließende Reservations- und Assimilationspolitik durch die Erosion des Ineinandergreifens von Land, Kultur und Ernährung die Basis der historischen indigenen Ernährungskulturen untergraben und damit einen fruchtbaren Boden für jenen »shift from a traditional to an industrial diet« geschaffen haben. Hat man allerdings die Möglichkeit, mehr Zeit in indigenen Gemeinschaften zu verbringen und Gelegenheit dazu, einen Blick in die Gefriertruhen und Vorratskammern indigener Haushalte in verschiedenen Regionen und Kontexten (urban und ländlich, on und off-reserve) zu werfen, entsteht ein weitaus facettenreicheres Bild, als es das häufig bemühte Narrativ des Kataklysmus indigener Ernährungskulturen suggeriert, auf das jener shift gemeinhin reduziert wird.
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Für entsprechende Statistiken zu den Themen Übergewicht, Typ-2-Diabetes, Herz-KreislaufErkrankungen, Krebserkrankungen, Kinderkrankheiten und -sterblichkeit, Alkoholismus etc. unter den Mitgliedern der indigenen Bevölkerung in British Columbia siehe insbesondere die Seiten 113-141 in Pathways to Health and Healing. 2nd Report on the Health and Well-being of Aboriginal People in British Columbia (Provincial Health Officer, BC 2007). Für eine kulturwissenschaftliche Diskussion der Ursachen und Auswirkungen jener nutrition transition im soziopolitischen Kontext des siedlerkolonialen Kanadas siehe außerdem Fee (2009).
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Gefriertruhen und der Trumpf des Omnivoren Als ich im Oktober 2015 an der 8th Traditional Food Conference (TFC) des Vancouver Island and Coastal Communities Indigenous Food Network (VICCIFN)139 in Fort Rupert teilnahm, bot mir eine befreundete indigene Designerin140 , die in Vancouver lebt, an, dass ich im Haus ihres Vaters unterkommen könne. Er wohne in unmittelbarer Nachbarschaft zum Veranstaltungsgelände und außerdem könne ich bei der Gelegenheit auf dem Rückweg auch etwas Fisch für sie mitbringen. Ihr Vater habe sicher welchen in seiner Gefriertruhe. Ich nahm das Übernachtungsangebot dankend an und gab ihre Anfrage, Fisch mitzubringen, an meinen Gastgeber und dessen Frau weiter. Am Tag meiner Rückfahrt nach Vancouver ging ich mit meiner Gastgeberin in die Garage, wo zwei große Gefriertruhen standen. Neben Tiefkühlpizza und -gemüse waren beide in erster Linie mit zweierlei gefüllt: Fisch und Meeresfrüchten. Da lagen große Stücke Heilbutt, ganze sockeye-Lachse, luftgetrockneter und geräucherter Lachs sowie Krabben und Netzsäcke voller Muscheln. Als meine Gastgeberin mein Erstaunen über die Menge und Vielfalt von Fisch und Meeresfrüchten bemerkte, hielt sie mich dazu an, viel einzupacken und stöhnte: »Everyone always brings him [meinem Gastgeber] fish. I don’t even know when to cook it.« Meine Gastgeberin bezog sich mit dieser Äußerung auf die Praxis, dass in großer Menge gefangener Fisch, gesammelte Meeresfrüchte, gejagtes Wild oder geerntete pflanzliche Nahrungsmittel in indigenen Gemeinschaften idealerweise nicht für sich behalten, sondern unter Verwandten und insbesondere den elders der jeweiligen community verteilt werden. Der Vater meiner Bekannten gehört zu den elders im Ort und ist zudem Teil einer hoch angesehenen und großen Familie. Nicht zuletzt ist die Gegend rund um Fort Rupert nach wie vor reich an indigenen Ressourcen: In den Wäldern existieren trotz florierender Geschäfte mit deren Abholzung signifikante Wildbestände, sodass man nach Sonnenuntergang auf den Landstraßen rund um Fort Rupert stets Gefahr läuft, dass plötzlich ein Reh, Elch, Bär oder anderes Wild die Straße überquert. In den Flüssen und Wasserläufen tummeln sich im Zuge der jährlichen Lachswanderungen Abertausende Fische, wenngleich es auch nicht mehr so viele sein mögen, wie sie es einst einmal waren. Zudem ist das Meer reich an anderen Fischarten, Meeressäugern und Meeresfrüchten aller Art und selbst in den verwilderten root gardens in den Küstenfeuchtgebieten braucht man nicht lange nach Gänsefingerkraut und Schatten-Schachblumen zu suchen, um an die essbaren Rhizome dieser Pflanzen zu gelangen. 139
Für weiterführende Informationen zum VICCIFN sowie der TFC siehe: www.indigenousfoodsvi.ca. 140 Alle in diesem Buch erwähnten Privatpersonen aus dem Kontext meiner Feldforschung wurden anonymisiert. Von mir im Einvernehmen interviewte indigene Köch*innen und Gastronom*innen werden bei ihren echten Namen genannt.
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Diese prinzipielle Verfügbarkeit eines großen Spektrums indigener Nahrungsmittelressourcen lässt sich allerdings kaum für alle Regionen British Columbias feststellen, weshalb die Annahme falsch wäre, dass man in allen indigenen Haushalten gleichermaßen üppig mit kulturell bedeutsamen indigenen Nahrungsmitteln gefüllte Gefriertruhen antrifft. Wie beim Besuch anderer Haushalte verschiedener Altersgruppen und Einkommensschichten on und off-reserve in Alert Bay, Port Alberni, Langley und Vancouver im Rahmen meiner Forschungsaufenthalte deutlich wurde, ist ein gewisser Vorrat an indigenen Nahrungsmitteln dennoch keine Seltenheit.141 Dies beinhaltet nicht nur eingefrorenen, getrockneten oder geräucherten Fisch, sondern ebenso gefrorene Vorräte an allerlei Meeresfrüchten, herring roe on kelp und Wild wie Elch und Reh. Außerdem finden sich in Vorratskammern und Küchenschränken bis zum Rand mit Lachs gefüllte Einmachgläser; Ziploc-Tüten mit getrocknetem seaweed, große Flaschen mit goldgelb schimmerndem grease; Gläser mit Gelees aus indigenen Beeren und eingemachte soapberries, aus denen man die immer noch beliebte Indian ice-cream herstellt – gerne verfeinert mit ein wenig, aber nicht zu viel Zucker, denn »too much spoils the flavour.« (Turner 2006: 74) Abgesehen von Präserven und Tiefkühlvorräten in Privathaushalten sind indigene Nahrungsmittel fester Bestandteil großer wie kleiner Festessen in Langhäusern und Gemeinschaftszentren. Weshalb auch Wet’suwet’en-Koch Andrew George Jr. bei einem Gespräch über den Status quo indigener Ernährungskulturen betonte: »When you look at Aboriginal cuisine in Canada, people say its non-existent but they are looking in the wrong areas. If you go up the coast there are a lot of massive feast halls. There are potlatch halls. That’s where all the food is.« (George 2016) Hat man das Glück bei einem solchen Festessen anwesend zu sein, sieht man getrockneten, geräucherten oder am Feuer gegrillten Lachs, hering roe on kelp oder branches, blanchierten Lachsrogen, geräucherte Kerzenfische, Fischsuppen, Eintöpfe von Wild, getrocknetes oder teils auch frittiertes seaweed, Krebse und Krabben sowie gedünstete, geräucherte oder auch am Feuer gegrillte Muscheln, Indian icecream und natürlich auch grease. In manchen Fällen gibt es zudem Spezialitäten wie Seehundfleisch, Wal-blubber oder Möweneier. Auffällig ist, dass indigene Wurzelgemüse wie Klee- und Gänsefingerkrautwurzeln oder auch Indian rice sowie essbares Holz und die meisten anderen essbaren Pflanzen, wie sie in Kapitel 1.2.1. beschrieben wurden, weder in Privathaushalten noch im Zuge von Festessen eine Rolle spielen. Genau genommen macht es den Anschein, dass gerade die pflanzlichen Lebensmittel der historischen indigenen Ernährungsweisen aus dem Fokus indigener Konsument*innen geraten sind – d.h. 141
Ich berufe mich hierbei auf meine eigenen Erfahrungen sowie auf die Darstellungen meiner diversen indigenen Gesprächspartner*innen. Entsprechende Statistiken hierzu sind mir nicht bekannt.
1. Teil: Grundzüge einer Kulturgeschichte indigener Ernährungskulturen in British Columbia
im verhältnismäßigen Gegensatz zu tierischen Präserven und Gerichten im Rahmen jener Vorräte und Feste.142 Neben den genannten indigenen Beerenarten und getrocknetem seaweed sind die erwähnten jungen Stängel bestimmter Beerensträucher eine nennenswerte Ausnahme. So lässt sich gerade in ländlicheren Gegenden beobachten, wie im Frühling die jungen, grünen Stängel am Wegrand gepflückt und geschält werden, um an das essbare, säuerlich-frische Innere zu gelangen.143 Allerdings werden die geschälten Stängel nicht wie einst in grease und/oder getrockneten Heringsrogen, sondern in Zucker gedippt. Und dennoch: Im öffentlichen Raum bzw. außerhalb indigener communities und insbesondere in urbanen Kontexten begegnet man im Alltag in der Regel keinen Elementen der historischen indigenen Ernährungskulturen. Was auch damit etwas zu tun hat, dass indigene Nahrungsmittel(-Präserven) nicht selten für eben jene Festessen, also für »die« zentralen Situationen soziokultureller Reproduktion, aufgespart oder schlicht als zu kostbar empfunden werden, als dass man sie ohne Weiteres in der Profanität alltäglicher Mahlzeiten untergehen lassen wollte.144 Nicht zuletzt durch dieses Zurückhalten lassen sich die alltäglichen Ernährungsgewohnheiten der indigenen Bevölkerung in weiten Teilen kaum vom kanadischen Mainstream oder dem unterscheiden, was der kanadische Soziologe Anthony Winson als »industrial mass diet« oder auch als »American diet« bezeichnet (Winson 2013: 3). Dies führt schließlich dazu, dass selbst in ländlicheren Gegenden wie in Alert Bay oder auch Kleinstädten wie Port Alberni im öffentlichen Raum und Alltag der Eindruck entsteht, als ob es sich bei diesen Gegenden um traditional food deserts handeln würde. Die zuvor skizzierte Präsenz diverser Elemente der historischen indigenen Ernährungskulturen in indigenen Haushalten in Gestalt eines (kleinen) Vorrats an kulturell wichtigen Nahrungsmitteln sowie deren Präsenz im Rahmen großer wie kleiner Festessen innerhalb indigener communities legen jedoch die tönernen Füße offen, auf denen die scheinbare Eindeutigkeit dieses Eindrucks und gleichermaßen die Eindimensionalität des kulinarischen Kataklysmus-Narrativs stehen.
142 Was allerdings nicht heißt, dass die als prinzipiell essbar identifizierten Tiere auch gegessen werden. Ebenso wenig heißt es, dass noch alle Techniken zur Verarbeitung entsprechender tierischer Lebensmittel bekannt sind. So erzählte mir bspw. eine elder im Rahmen der 8th Traditional Food Conference davon, dass sie Indian cheese noch aus ihrer Kindheit kenne. Heute würde das niemand mehr machen, weil keiner mehr wüsste, wie es geht. 143 So gesehen in Alert Bay im Frühling 2014. Zudem haben mir mehrere meiner Gesprächspartner*innen davon berichtet, dass dies während ihrer eigenen Jugend ein gängiger, saisonaler Snack gewesen sei. 144 Während etwa meine Bekannte aus Vancouver, die Tochter meines Gastgebers in Fort Rupert, im Alltag handelsüblichen Lachs aus der Dose verkocht, war der Fisch, den ich im Kofferraum transportierte für ein Abendessen in ihrer Wohnung in North Vancouver gedacht, zu dem Freunde und Verwandte eingeladen wurden.
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Um Missverständnissen vorzubeugen, muss an dieser Stelle nochmals betont werden: Nicht alle indigenen Haushalte verfügen über den Zugang zu indigenen Nahrungsmitteln oder entsprechende Vorräte. Der jeweilige Standort bzw. das demografische Umfeld und die sozioökonomische Situation spielen eine maßgebliche Rolle. Wobei es insbesondere in städtischen Kontexten oder auch off-reserve entscheidend ist, dass die entsprechenden Haushalte im Kontakt und Austausch mit Verwandten oder Freunden in communities in ländlicheren Gegenden stehen, in denen mehr indigene Nahrungsmittelressourcen vorhanden sind. Ohne solche direkten Kontakte oder auch die Teilhabe an redistributiven Aktivitäten, wie etwa der Praxis, elders mit indigenen Nahrungsmitteln zu versorgen oder dem Verteilen von left-overs im Zuge gemeinschaftlicher Veranstaltungen (community gatherings, Potlatch-Feste etc.) und Festessen, gibt es kaum einen Weg, um an diese, in der Regel ausschließlich über informelle Austauschbeziehungen erhältlichen, Lebensmittelprodukte zu gelangen. Und selbst im Hinblick auf außerordentlich gut mit indigenen Lebensmitteln ausgestattete Haushalte, wie dem meines Gastgebers in Fort Rupert, behaupte ich nicht, dass diese Vorräte für eine alltägliche alimentäre Versorgung quantitativ hinreichend wären oder als solche genutzt würden. Dies ist nicht der Fall. Es geht also nicht darum, der Tatsache widersprechen zu wollen, dass sich die alltäglichen Ernährungsweisen der indigenen Bevölkerung grundlegend verändert haben; dass diese Veränderungen in einem konstitutiven Zusammenhang mit der siedlerkolonialen Geschichte und Gegenwart verknüpft sind; und dass diese Veränderungen für viele – gerade einkommensschwache, städtische – indigene Haushalte negative gesundheitliche Konsequenzen implizieren. Der Punkt, auf den ich hinaus möchte, greift zurück auf jene Prozesse der Diversifizierung und Ausdifferenzierung, die sowohl die lebensweltliche Realität der Coastal First Peoples im Allgemeinen als auch im Speziellen die indigenen Ernährungskulturen prägen, und deren Wurzeln – wie im Kapitel 1.1. erläutert wurde – tiefer reichen als die Geschichte europäischen Kulturkontakts in British Columbia. Anders formuliert geht es darum, einerseits die Diversität der heute innerhalb indigener Haushalte oder Gemeinschaften insgesamt verfügbaren Lebensmittel und Lebensmitteltechniken – und zwar inklusive sowohl der charakteristischen Elemente einer industrial mass diet als auch etwaiger Elemente der historischen indigenen Ernährungskulturen – zu betonen sowie andererseits den Facettenreichtum des soziokulturellen und sozioökonomischen Spektrums indigener Lebenswelten an der Nordwestküste (und in anderen Teilen Kanadas) zu unterstreichen. Eine Äußerung von einem meiner Bekannten aus Alert Bay macht das Ineinandergreifen der Diversität zeitgenössischer indigener Ernährungskulturen mit dem Facettenreichtum indigener Lebenswelten im Allgemeinen in seiner lediglich vordergründigen Widersprüchlichkeit greifbar.
1. Teil: Grundzüge einer Kulturgeschichte indigener Ernährungskulturen in British Columbia
Während einer längeren Autofahrt im April 2017 hatten Rob und ich viel Zeit, uns ausgiebig zu unterhalten. Dabei ließ Rob (’Namgis ) die Bemerkung fallen, dass er außerhalb seiner Heimat per se keinen Fisch essen würde. Wir unterhielten uns über die Qualität diverser Fischprodukte und dem teilweise stark variierenden Geschmack und Geruch von grease. Ich fragte nach seinen Präferenzen und seiner generellen Haltung zum Geschmack von grease. Robs Antwort überraschte mich. Hatte ich doch bei einem gemeinsamen Abendessen mit einigen seiner Verwandten und Arbeitskollegen in seinem Zuhause in Alert Bay vier Jahre zuvor, im November 2013, sein eigenes grease probieren dürfen, während er mir die zentrale soziokulturelle Bedeutung von t’lina (grease in Kwak’wala) und die Rolle des Kerzenfischs als cultural-key-stone-species der Coastal First Peoples (»my people«) erklärte. Jetzt, im Auto sitzend, sprach er über eine weitere Facette von t’lina, die weniger die Wichtigkeit dieses Lebensmittels für das kulturelle Selbstverständnis der indigenen Bevölkerung als vielmehr dessen Rolle in Robs persönlichem Alltag betraf: »If I had to choose…I would always choose pasta over t’lina.« Nun handelt es sich bei Nudeln und grease um zwei sehr unterschiedliche Arten von Lebensmitteln – nämlich Fette und Kohlenhydrate.145 Dabei habe ich Rob so verstanden, dass es keinesfalls darum ging, tatsächlich zwischen diesen beiden zu wählen, oder gar um die Frage, ob grease nicht auch als Sauce mit Nudeln gegessen werden könnte. Vor dem Hintergrund der Ausführungen zur soziokulturellen Bedeutung von t’lina in seinem Zuhause in Alert Bay verweist Robs Aussage stattdessen darauf, dass Nudeln und grease zwei distinkte Facetten seiner Lebenswelt markieren. In Analogie zur historischen dualen Morphologie indigener Gesellschaften könnte man auch sagen, dass sie zwei fundamental verschiedene lebensweltliche Kontexte repräsentieren, zwischen denen er sich kontinuierlich bewegt – nämlich einerseits eines sich auf zentrale kulturelle Werte historischer indigener Lebenswelten berufenden community-Lebens, in dem grease nach wie vor ein zentrales Element indigenen Selbstverständnisses darstellt und andererseits die konsumgesellschaftliche Realität der kanadischen Gegenwartskultur. Trotz der mannigfachen Unterschiede stellen beide nichtsdestoweniger gleichermaßen konstitutive Bestandteile von Robs Lebenswelt dar, deren inhärente Heterogenität zugleich die Heterogenität widerspiegelt, die indigene Lebenswelten in British Columbia (und auch anderen Teilen Kanadas) im Allgemeinen prägt.
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Letztlich sind beides für sich Lebensmittelkategorien, die alles andere als periphere Rollen innerhalb spezifischer Ernährungskulturen spielen. Meist sind es gerade bestimmte Fette und Kohlenhydrate, die ihnen ihren distinkten Charakter geben. Um sich die Zentralität dieser beiden Lebensmittelkategorien vor Augen zu führen, muss man sich nur vorstellen, man würde versuchen, einer italienischen Nonna Quinoa anstelle von Nudeln aus Weizen und Frittierfett anstelle von Olivenöl zu servieren.
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Nun mag manch eine*r bedauern, wenn sich die people of the shore als große Liebhaber*innen von bannock, Burgern und Pasta herausstellen; wenn PotlatchFeste nicht länger in nur durch ein zentrales Lagerfeuer beleuchteten Langhäusern, sondern gleichwohl in mit Neonlicht gefluteten Sport- oder Mehrzweckhallen gefeiert werden; wenn indigene Künstler*innen meterhohe Wappenpfähle mit Kettensägen und elektrischen Schleifmaschinen anstelle der historischen Werkzeuge herstellen; oder wenn indigene Walfänger in Motorbooten und mit modernen Harpunen bewaffnet auf die Jagd nach großen Meeressäugern gehen. Im Hinblick auf das Überleben der Coastal First Peoples als »a unit distinctive and unique among native American cultures« (Drucker 1963: 20) – um eine Formulierung aus der Einleitung aufzugreifen – ist es jedoch entscheidend, dass gerade die Disposition zur Diversifizierung und Ausdifferenzierung diesen Gesellschaften ermöglicht hat, die massiven Einschnitte in ihre Lebensweisen und soziokulturellen Reproduktionsgrundlagen in Gestalt der Enteignung indigener Territorien im Zuge der siedlerkolonialen Wende sowie der darauffolgenden kanadischen Reservations- und Assimilationspolitik zu überdauern. Eine Analogie zum erwähnten Unterschied zwischen spezialisierten und nichtspezialisierten Essern mag diesen Punkt verdeutlichen: Während spezialisierte Esser den Vorteil haben, dass sie nur eine (oder einige wenige) Nahrungsmittelressource(n) benötigen, um ihre Existenz zu sichern, impliziert diese Spezialisierung zugleich die totale Abhängigkeit von dieser (diesen) Ressource(n). Nicht-spezialisierte Esser stehen zwar vor dem Problem, selbst entscheiden zu müssen, was für sie gut und was schlecht zu essen ist. Der Trumpf der Omnivoren ist jedoch, dass sie die Last ihres Überlebens auf mehrere Schultern, also verschieden Ressourcen verteilen und sich deshalb besser an neue oder veränderte Lebensumstände und Ressourcenverfügbarkeit anpassen können. In Analogie hierzu kann man behaupten, dass die fortwährenden, weit in die Vergangenheit zurückreichenden Prozesse soziokultureller wie kulinarischer Diversifizierung und Ausdifferenzierung den »Druck«, den jene Einschnitte kolonialer Geschichte auf die jeweiligen Lebensweisen und Ernährungskulturen durch neue oder veränderte Lebensumstände und Ressourcenverfügbarkeit ausüben, auf mehrere (alte und neue) Schultern verteilen. Ein besonders anschauliches Beispiel für diese Art soziokulturellen Reproduktionspotentials der Diversifizierung und Ausdifferenzierung ist die Präsenz, oder besser Prominenz, von Getreidemehl und bannock im Zuge nicht nur rezenter Festessen und community gatherings, sondern ebenso im Rahmen großer Potlatch-Feste im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. So findet man etwa in Jonaitis’ Chiefly Feasts. The Enduring Kwakiutl Potlatch (1991) Fotografien von PotlatchFesten in Alert Bay vom Anfang des 20. Jahrhunderts (Jonaitis 1991: 154), auf denen die zu sehenden, zu haushohen Wänden aufgeschichteten Mehlsäcke und Kisten mit »pilot biscuit« (ebd.: 155) keinen Zweifel daran lassen, dass diese und andere europäische Importe nicht per se im Widerspruch, sondern mitunter in einem kon-
1. Teil: Grundzüge einer Kulturgeschichte indigener Ernährungskulturen in British Columbia
stitutiven Zusammenhang mit dieser kulturellen Kerninstitution (Kammler 2009: 204) und damit der Reproduktion soziokultureller Kohäsion standen. Mihesuah erwähnt einen noch früheren Bericht eines Kolonialbeamten, der von einem PotlatchFest im Puget Sound in den 1890er Jahren erzählt, bei dem den Gästen neben Muscheln, Lachs, Wild, huckleberries und Äpfeln auch Kartoffeln und sogar »fried bread« gereicht wurden (Mihesua 2016: 50). Für den gleichen Zeitraum berichtete Boas nach seinem Besuch bei einem 18tägigen Potlatch-Fest in Fort Rupert im Jahr 1895 davon, dass in den begleitenden Festessen neben indigenen Nahrungsmitteln und Speisen auch kommerzielle Nahrungsmittel eine Rolle spielten (Joanitis 2006: 150). Vor dem Hintergrund des von 1885-1951 währenden potlatch ban betont Jonaitis, dass die Verwendung kommerzieller Lebensmittel wie Getreidemehl und pilot biscuit als Potlatch-Gaben unter anderem zum Zweck gehabt hätten, den eigentlichen Anlass der Zusammenkunft und der Vergabe von Gütern zu verschleiern. Etwa indem behauptet wurde, dass man lediglich Lebensmittel an bedürftige Verwandte verteilen würde (ebd.: 151). Wenngleich Jonaitis die Integration solcher neuen Elemente im Kontext des potlatch ban vor allem als Instrumente kreativen Widerstandes beschreibt146 , muss der politisierte Begriff des Widerstandes (resistance) und auch das Bild der Instrumentalisierung von Getreidemehl und anderer neuer oder kommerzieller Nahrungsmittel nicht übernommen werden. Stattdessen ließe sich auch darauf verweisen, dass gerade im Kontext von Potlatch-Festen das Prestige, das mit dem Besitz und Gebrauch von Neuem und Fremden und deshalb Besonderem einhergeht, eine maßgebliche Rolle spielte. Ebenso darf die erläuterte generell große Beliebtheit jeglicher Backwaren nicht außer Acht gelassen werden. Letztlich mag die Motivation, neue und kommerzielle Nahrungsmittel (und Gebrauchsgegenständen) in die komplexen Protokolle von Potlatch-Festen zu integrieren, im Einzelfall verschieden und auch dann mehr als eindimensional gewesen sein. Entscheidend ist, dass die Prozesse der Diversifizierung und Ausdifferenzierung – wie sie in der Rolle solcher neuen Nahrungsmittel und -techniken im Rahmen kultureller Institutionen wie Potlatch-Festen und Festessen zum Ausdruck kommen –, dem generellen Druck auf die Lebensweise und Ernährungskulturen bzw. der reservations- und assimilationspolitischen Zersetzung der Grundlagen der soziokulturellen Reproduktion der indigenen Bevölkerung entgegenwirkten. Wenn also heute, über 120 Jahre nach den Potlatch-Festen, von denen Boas, Jonaitis und Mihesuah erzählen, bei Festessen und community gatherings neben am Feuer gegrilltem Lachs, Fischsuppe, getrocknetem seaweed, grease und anderen Speisen, die man mit den historischen indigenen Ernährungskulturen verbinden
146 »A container holding a commercially-produced foodstuff, although ostensibly a source of nutrition for hungry relatives, was now an indigenous indicator of resistance.« (Joanitis 2006: 151) Zur Rolle kommerzieller Nahrungsmittelprodukte im Rahmen von Potlatch-Festen und Festessen siehe außerdem Joanitis (ebd.: 150-152).
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würde, nicht nur große Einweg-Aluminium-Schalen mit Bergen von bannock auf dem Buffet stehen, sondern ebenso bunt glasierte Muffins, einzeln in Ziploc-Tüten verpackte Sandwiches, Kartoffelsalat und grüner Blattsalat und daneben Flaschen mit industriellem Fertigdressing, diverse Würzsaucen, Salz, Pfeffer und vieles mehr von dem zu finden ist, was heute fester Bestandteil indigener kulinarischer Alltagskultur ist, dann stehen diese und andere Speisen, die in erster Linie als Elemente einer industrial mass diet identifiziert werden, in keinem Widerspruch mit den – als Inbegriff der Reproduktion bzw. des performativ-affirmativen Nachvollziehens indigener Identität geltenden – Situationen, in denen sie auf den Tisch kommen. Sie reflektieren lediglich die komplexe Diversität indigener Lebenswelten und Ernährungskulturen.147 Bevor sich der 2. Teil dieser Arbeit ausführlich der gastronomischen Professionalisierung indigener Ernährungskulturen widmet, die diese Diversität in den öffentlichen Raum in British Columbia trägt und damit zugleich für die nicht-indigene Öffentlichkeit erfahrbar macht, rückt das letzte Kapitel dieses ersten Teils das Thema der Revitalisierung indigener (Ernährungs-)Kulturen in das Zentrum der Darstellung. Schließlich sollte klar geworden sein, dass das erörterte soziokulturelle Reproduktions-Potential der Disposition zur Diversifizierung und Ausdifferenzierung keine »heile Welt« bedeutet.
1.2.3
»Food is Our Medicine«: Zur Revitalisierung indigener Ernährungskulturen
Im Rahmen des Installationsprojekts The Gift that Keeps on Giving (2011) thematisierte die in Manitoba lebende Oji-Cree Künstlerin KC Adams die epidemischen Konsequenzen der veränderten Ernährungssituation der indigenen Bevölkerung in Kanada. Vor dem Hintergrund der hohen Verbreitung ernährungsbedingter Krankheiten in indigenen communities und ihren eigenen Erfahrungen mit diesen Krankheiten in ihrem familiären Umfeld befüllte Adams dreißig ungebrannte Lehmtöpfe mit jeweils einem der five gifts – d.h. mit Salz, Zucker, Weizenmehl, Milch und Schweineschmalz. Im Zentrum der Installation stand der Effekt, den die five gifts auf die ungebrannten Lehmtöpfe hatten – als »metaphor for our bodies« (Adams zitiert nach Tennant 2016: 63) oder wie es die Kuratorin der rahmengebenden Aus-
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Die erwähnte Auswahl ›moderner‹ Speisen bei zeitgenössischen Potlatch-Festen und Festessen spiegelt lediglich einen kleinen Teil meiner eigenen Erfahrungen im Zuge solcher Festessen und community gatherings wider und könnte beliebig erweitert werden. Dabei ist es allerdings wichtig, zu betonen, dass nicht alles, was seit 1774 Eingang in die indigenen Ernährungskulturen gefunden hat, auch auf derlei Buffets anzutreffen ist. So wird man im Rahmen von community gatherings oder Potlatch-Festen etwa in keinem Fall Alkohol vorfinden.
1. Teil: Grundzüge einer Kulturgeschichte indigener Ernährungskulturen in British Columbia
stellung Best Before148 Lisa Myers (Anishinaabe) formuliert: »As the pottery transforms and absorbs the food, it brings to mind the way food enters the body, with all of the attendant biological influences and implications, and changes in appearance and composition.« (Myers 2012: 179) Die teilweise desaströsen Transformationen, die die Töpfe über die Dauer der Ausstellung durchliefen, reflektierten nicht nur die epidemischen Folgen der five gifts als solche. Adams verweist vielmehr auf die siedlerkoloniale Erosion indigener Lebenswelten als Ganzer und identifiziert in diesem Zusammenhang zugleich den Verlust von Ernährungssicherheit und -souveränität als zentrales perpetuierendes oder verstetigendes Moment dieser Entwicklung. Während ihr Installationsprojekt damit in erster Linie ein bekanntes Problem aufgreift, artikuliert Adams drei Jahre später den Umkehrschluss der Aussage von The Gift that Keeps on Giving in einem kulinarischen Selbstversuch, in dessen Zentrum die Meidung der five gifts und anderer nicht-indigener Lebensmittel stand (Tennant 2015: 70-71). Im Rückgriff auf ein Interview mit Adams fasst Tennant die Intention hinter ihrer Version einer – wie Adams es nennt – »hunter-gatherer« (ebd.: 70) oder »reclamation of well-being diet« (Wheeler 2014) zusammen: »Eating a traditional diet is a way to rebuild her Native identity and to undo some of the damage inflicted on her culture by colonization.« (Tennant 2015: 74) Es ist unklar, wie weit Adams mit ihrem Vorhaben (»to rebuild« und »to undo«) kommen kann – oder kam. Wie Adams in einem Interview mit CBC-Reporterin Kim Wheeler selbst erwähnt, kann sie sich diese Art der Ernährung nur für einen begrenzten Zeitraum leisten, schließlich sind Lebensmittel wie frischer Fisch, Wildgeflügel, Kleinwild wie Hasen und Großwild wie Elch, Bison und Reh aber auch Wildreis und allerlei lokal und »organic« produziertes Gemüse und Obst in der Regel teurer oder schwerer zugänglich als industriell produzierte oder vorverarbeitete Lebensmittel (Wheeler 2014). Allein in finanzieller Hinsicht ist eine solche Ernährungsumstellung deshalb für viele und insbesondere für diejenigen indigenen Haushalte kaum realisierbar, die ihren Alltag im Schatten prekärer Verhältnisse bestreiten müssen und demnach am meisten von den Folgen der nutrition transition betroffen sind. Hinzu kommt außerdem, dass die Mitglieder entsprechender Haushalte sowohl über die Zeit als auch die kochtechnischen Fähigkeiten verfügen müssen, um indigene, nicht-verarbeitete Lebensmittel zubereiten zu können. Eine Voraussetzung, die angesichts der oben genannten Charakteristika zeitgenössischer indigener Ernährungskulturen nur schwer vorstellbar ist. Abgesehen von (zeit)ökonomischen und die küchentechnischen Fähigkeiten betreffenden Hürden der Umsetzbarkeit eines solchen radikalen Ernährungswandels 148 Für eine detaillierte Erläuterung von Best Before (27.04.-07.05.2011, OCADU Graduate Gallery, Toronto) siehe Myers (2012). Einen visuellen Eindruck von der Ausstellung und KC Adams’ The Gift that Keeps on Giving gibt Myers auf ihrem Blog: tmblr.co/Zqd-zvU_FqL6.
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auf einerseits der privaten Ebene und andererseits im Hinblick auf größere Teile der indigenen Bevölkerung, erweist sich das in Adams’ Ansatz implizite Idealbild indigener Ernährungsweisen auch in anderer Hinsicht als inkommensurabel mit den indigenen Lebenswelten in Kanada. Nämlich in dem Sinne, dass ein solches Idealbild den Großteil der indigenen Bevölkerung mit einer Vorstellung von indigener Ernährungskultur oder gar von Indigenität im Allgemeinen konfrontiert, das in den meisten Fällen eklatant vom lebensweltlichen Erfahrungshorizont und nicht zuletzt den Lebensentwürfen dieser Menschen abweicht. Adams selbst spricht diesen Aspekt der Inkommensurabilität des Ideals einer »dekolonialisierten« Diät mit den eigenen – durch die Sozialisierung im Kontext der globalisierten Gegenwartskultur des 21. Jahrhunderts geprägten – Ansprüchen und Wünschen (indirekt) an, wenn sie erwähnt, dass die kulinarische Vielfalt der Prärie Manitobas »just too limited« sei und deshalb sie und ein paar befreundete Mitstreiter der reclamation of well-being diet keine andere Wahl gehabt hätten: »So, we opened it up to North America and to thinking of the trade routes.« (Tennant 2015: 70) Während Adams letzten Endes keine über ihren persönlichen Lebensweg hinausgehende Agenda formuliert bzw. kein normatives Idealbild postuliert – zumindest nicht explizit –, sind The Gift that Keeps on Giving sowie ihr kulinarischer Selbstversuch trotzdem wichtige Beiträge dazu, in der kanadischen Öffentlichkeit das Nachdenken über einerseits die facettenreichen Folgen der siedlerkolonialen Geschichte und Gegenwart und andererseits über mögliche Wege aus dem asymmetrischen Verhältnis der Morbidität von indigener und nicht-indigener Bevölkerung zu fördern oder überhaupt anzustoßen. Nun liegt es im Hinblick auf den Umgang mit konkreten ernährungsbedingten Krankheitsfällen auf der Hand, dass die explizite Meidung oder zumindest eine signifikante Reduktion bestimmter Nahrungsmittel unerlässlich sein kann. Und die five gifts stellen in dieser Hinsicht zweifellos prominente Anwärter auf die Kategorie zu meidender Nahrungsmittel dar. Nichtsdestotrotz erscheint die generalisierende Subtraktion der five gifts (als kategoriale Stellvertreter anderer nichtindigener industrieller Lebensmittel) bzw. eine Ernährungsdoktrin, die dem entspricht, was heute als Paleo-Diät149 oder Low-Carb-High-Fat-Diät (LCHF) bezeichnet wird, aufgrund jener Inkommensurabilität – d.h. indem sie eklatant an der lebensweltlichen Realität der indigenen und letztlich auch eines Großteils der nicht-
149 Als Paleo-Diät – auch bekannt als Steinzeiternährung oder als Cave Man Diet im Englischen – wird eine Ernährungsweise bezeichnet, bei der alle Errungenschaften der neolithischen Revolution gemieden werden. Ausgeschlossen sind demnach alle landwirtschaftlich erzeugten Nahrungsmittel wie Getreide und Hülsenfrüchte sowie die damit verknüpften Milch- und Fleischprodukte. Das Gleiche gilt für raffinierten Zucker und andere industriell verarbeitete Lebensmittel.
1. Teil: Grundzüge einer Kulturgeschichte indigener Ernährungskulturen in British Columbia
indigenen Bevölkerung vorbeigeht – als nicht zielführend, um den entsprechenden epidemischen Folgen der nutrition transition nachhaltig entgegenzuwirken. Der kurze Hinweis auf ein Projekt, mit dem ich 2013 in Alert Bay durch verschiedene Informanten bekannt gemacht wurde, macht diesen Punkt bzw. das Problem der Inkommensurabilität greifbar: Von August 2006 bis Januar 2008 leitete Dr. med. Jay Wortman (Métis) in Alert Bay ein medizinisch begleitetes Ernährungs(umstellungs)programm.150 Wortman erforscht (nach eigenen Angaben) den Effekt einer kohlenhydratarmen, dafür fett- und proteinreichen Ernährung auf Typ-2Diabetes-Erkrankungen. Dass seine Wahl auf Alert Bay als Standort für das Programm fiel, dessen Ergebnisse später als Datengrundlage für Wortmans Studien dienen sollten, hatte im Wesentlichen zwei Gründe: Erstens, die hohe Prävalenz von Adipositas und Typ-2 Diabetes unter den indigenen Einwohnern von Alert Bay. Zweitens, so Wortman in einer 2008 erschienenen CBC-Dokumentation über das Programm mit dem Titel My Big Fat Diet 151 , hätte die historische Ernährungsweise der dort lebenden Kwakwaka’wakw bereits den Prinzipien einer LCHF oder Paleo-Diät entsprochen. Sie sei arm an Kohlenhydraten und reich an tierischen Fetten und Proteinen gewesen. Die Umsetzung seiner ernährungsphysiologischen Agenda, so Wortman, komme deshalb einer Revitalisierung der historischen Ernährungskultur gleich. Allerdings mit der Einschränkung, dass es nicht darum ging, ausschließlich indigene Nahrungsmittel zu sich zu nehmen oder diese in den Alltag zu integrieren. Im Vordergrund stand die generelle Vermeidung von Kohlenhydraten und industriell verarbeiteter Lebensmittel. Ansonsten sollten die über 50 Teilnehmer*innen so viel Eier, Speck, Rind- und Schweinefleisch, Hühnchen, Fisch, Meeresfrüchte etc. essen, wie sie wollten. Gemüse stand natürlich auch auf dem Speiseplan, ebenso wie zerbröselter Blumenkohl als »Ersatz-Reis«, was zu einem kurzzeitigen Blumenkohl-Boom mit anschließender Blumenkohl-Rezession im örtlichen Supermarkt führte. Während die Dokumentation, die sich auf sechs ausgewählte Teilnehmer*innen des Programms konzentrierte, den kurzzeitigen Erfolg einzelner Teilnehmer*innen unterstreicht, scheint ein positiver Langzeiteffekt ausgeblieben zu sein, was nicht zuletzt die am Ende unverkauft gebliebenen und schließlich entsorgten Blumenkohlköpfe bezeugten. Verschiedene Personen in Alert Bay berichteten mir hierzu, dass der bei weitem größte Teil derer, die bis zum Schluss des Programms aktiv teilgenommen hatten, bereits kurz nach dessen Ende in alte Konsummuster zurückgefallen seien – inklusive des abzusehenden Jo-Jo-Effekts. Führt man sich vor Augen, dass letztlich nur ein sehr kleiner Teil (knapp 5 %) der etwas weniger als eintausend Bewohner*innen von Alert Bay teilgenommen und ihre Lebensweise und Konsummuster entsprechend verändert haben, während die 150 Für Hintergrundinformationen siehe Wortmans Weblog: www.drjaywortman.com. 151 Den Trailer zur einstündigen Dokumentation findet man online unter: youtu.be/h1KrPb62i1c.
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restlichen Gegebenheiten unverändert blieben152 , lässt sich erahnen, wie schwierig es für die ehemaligen Teilnehmer*innen war, diese Lebensweise und Konsummuster im Alltag aufrechtzuerhalten. Die Frustration war entsprechend groß. Nicht nur über das, wie man mir erklärte, persönliche Scheitern, sondern gleichwohl darüber, dass man sie nach dem Ende des Projekts – nach dem Sammeln der Daten für Wortmans Studie – ohne weitere Anleitung und Unterstützung durch Wortman und sein Team sich selbst überlassen hätte.153 Neben dem Problem der Inkommensurabilität und der generellen Uneinigkeit der ernährungsmedizinischen Fachwelt darüber, ob überhaupt und wenn ja für wen, wann und in welchem Ausmaß eine LCHF oder Paleo-Diät sinnvoll ist, birgt der Versuch, insbesondere die five gifts – bzw. mindestens drei der fünf, nämlich Mehl, Zucker und Milch (wegen des Milchzuckers) – aus den indigenen Ernährungskulturen zu verbannen, weitreichende Implikationen, die nicht nur persönliche Ernährungsgewohnheiten oder physische Gesundheit einzelner Personen oder Personengruppen betreffen. Die Forderung, die five gifts zu meiden, würde zugleich bedeuteten, jenen Konvergenzpunkt der Geschichte und Gegenwart indigener Ernährungskulturen und damit ein – wie mit Cyr und Slater (2016) argumentiert wurde – zentrales Element der soziokulturellen Reproduktionsfähigkeit zeitgenössischer indigener Gemeinschaften zu unterlaufen: nämlich bannock. Vor dem Hintergrund ihrer Studie kritisieren Cyr und Slater in diesem Zusammenhang Initiativen und Programme rund um den Komplex von Ernährung und Gesundheit innerhalb indigener communities, deren Initiator*innen – »federal and provincial governments, ministers of health and educators alike« (Cyr und Slater 2016: 70) – ähnlich Wortmans Agenda darauf abzielen würden, bannock aus den indigenen Ernährungsgewohnheiten zu verdrängen. Dabei lassen Cyr und Slater keinen Zweifel daran, dass bannock ungesund sein kann. Das Gegenteil ist der Fall. Sie heben vielmehr hervor, dass sich indigene Konsument*innen über die metabolischen Eigenschaften und mögliche gesundheitliche Konsequenzen von bannock und den five gifts im Klaren seien. Nur würden für die meisten von ihnen schlichtweg andere Qualitäten von bannock überwiegen, weshalb sie nicht darauf verzichten wollen. Einer ihrer Informanten erklärt hierzu: »I [have] been a diabetic for a long time, since I was fourteen. I still eat bannock, no-one’s gonna stop me from eating bannock.« (Ebd.: 65) 152
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Das betrifft nicht nur das Angebot und die Preise im örtlichen Supermarkt, sondern ebenso gesellschaftliche Ereignisse und soziale Verpflichtungen, die nicht selten mit Essen oder gar Festessen verknüpft sind, in denen, wie im vorherigen Abschnitt dargelegt wurde, einige indigene Nahrungsmittel, aber auch viele Vertreter oder Verwandte der five gifts auf dem Buffet zu finden sind. Siehe hierzu Munro (2009), die im Gegensatz zum Gros der auffällig enthusiastischen Zeitungsartikel, die man zu dem Projekt und My Big Fat Diet finden kann, auch kritische Stimmen aus dem Kreis der ehemaligen Teilnehmer*innen zur Wort kommen lässt.
1. Teil: Grundzüge einer Kulturgeschichte indigener Ernährungskulturen in British Columbia
Auch Bell (o.J.a, b) versucht diese Einbettung von bannock in die indigenen Ernährungskulturen herauszuarbeiten. Allerdings geht sie deutlich zu weit, wenn sie zu dem Schluss kommt: »The negative impact of bannock on Aboriginal health pales in comparison to the positive influence it has had on the Aboriginal psyche.« (Bell o.J.a: 11) Cyr und Slater halten stattdessen fest, dass zunehmend mehr indigene Konsument*innen einzelne Zutaten durch als gesünder geltende Alternativen substituieren würden. So wird bspw. normales Weizenmehl durch Vollkornmehl oder Schmalz durch Rapsöl ersetzt – jedoch unter der Prämisse, dass das Endprodukt als bannock, wie sie es kennen, wiederzuerkennen ist. Das Fazit, das Cyr und Slater im Hinblick auf den Umgang mit bannock artikulieren, ist entsprechend umsichtiger als das von Bell, wenn sie von jenen Initiativen oder Programmen »a more respectful approach« (Cyr und Slater 2016: 70) fordern. Als respektvolle Ansätze bestimmen sie solche, die Nahrungsmittel, Gerichte oder auch Ernährungsweisen, die die soziokulturelle Kohäsion indigener communities reproduzieren, als solche anerkennen und vor diesem Hintergrund – sollte es sich dabei um gesundheitlich bedenkliche Dinge wie frittiertes bannock handeln – sowohl ernährungsphysiologisch als auch soziokulturell sinnvolle Substitute für einzelne Zutaten oder Rezepturen vorschlagen. Nun muss klar gesagt werden, dass bspw. Wortmans Ernährungsumstellungsprogramm ein seltenes Extrem darstellt. Bis auf orthodoxe indigene (kulinarische) (Dekolonialisierungs-)Aktivist*innen verfolgen die meisten Initiativen oder Programme, die auf lokaler Ebene oder in enger Zusammenarbeit mit Vertreter*innen lokaler communities erarbeitet werden, von vornherein einen weniger subtrahierenden als einen explizit integrativen Ansatz. Dabei geht es weniger darum zeitgenössische Konsummuster zu beschneiden, als vielmehr darum, sie zu bereichern. Und zwar durch sowohl die Integration indigener Nahrungsmittel und entsprechender Techniken als auch – und vor allem – durch die Revitalisierung indigener Wissenskulturen bei gleichzeitiger Vermittlung von gesundheitsrelevantem Ernährungswissen. Wenn in diesen Kontexten also von der Revitalisierung indigener Ernährungskulturen oder der Wiederherstellung von Ernährungssicherheit und -souveränität die Rede ist, dann ist damit nicht die radikale Rückkehr zu alten Ernährungsmustern und Subsistenzstrategien gemeint, sondern steht die ergänzende Integration indigener Nahrungsmittel und entsprechender Techniken in die zeitgenössische kulinarische Alltagskultur und somit die (fortlaufende) Diversifizierung und Ausdifferenzierung indigener Ernährungskulturen im Vordergrund. Eine Formulierung, die man in diesem Zusammenhang oft hört, ist die äquivoke Parität von Ernährung und Medizin: »Food is our medicine«. Die Gleichsetzung ist dahingehend mehrdeutig, dass sie sich nicht nur auf die Tatsache bezieht, dass Nahrungsmittel eine bestimmte Wirkung auf den menschlichen Organismus haben, sodass manchen Nahrungsmitteln heilende oder vitalisierende Eigenschaften
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zugeschrieben werden.154 Die Formulierung bezieht sich gleichermaßen auf die rekonstituierende Rolle, die der Wiederbelebung und dem Erhalt indigener kulinarischer Wissenskulturen im Hinblick auf die Reproduktion der soziokulturellen Kohäsion der indigenen Gesellschaften zukommen. »Food« ist in diesem Sinn also heilende oder vitalisierende »medicine« für nicht nur den physischen, sondern gleichermaßen den sozialen Körper. Indes sind die Initiativen und Programme sowie die dahinterstehenden Personengruppen, Organisationen und Netzwerke, die sich auf die Wiederbelebung indigener Wissenskulturen konzentrieren, so zahlreich und vielfältig, dass der Versuch vergeblich wäre, im Rahmen dieses Abschnitts eine repräsentative Auswahl zu treffen und diese zu besprechen. Aus einer Meta-Perspektive kann man festhalten: Das Spektrum reicht von einerseits – in ruralen wie urbanen Kontexten gleichermaßen häufig zu findenden – lokal organisierten Initiativen wie community gardens und Hands-On-Workshops in der örtlichen community hall – bspw. zum Thema Fischpräserven herstellen, jelly making oder gemeinsamen bannock-Backen – oder Kräuterspaziergänge und beach walks, bei denen elders oder andere kulturelle Expert*innen155 aus den jeweiligen communities junge Generationen mit ihrer Umwelt vertraut machen. Andererseits gibt es groß angelegte staatlich geförderte Programme wie das Nuxalk Food Education Program, das Anfang der 1980er Jahre in Bella Coola aus einer Zusammenarbeit zwischen der Nuxalk Nation, Health and Welfare Canada, der University of British Columbia, McGill University und dem Royal British Columbia Museum hervorging und bis heute evaluiert wird.156 Ein wesentlicher Aspekt im Zusammenhang mit der Wiederbelebung und dem Erhalt indigener Wissenskulturen ist die Dokumentation und anschließende Publikation der im Zuge dieser Initiativen und Programme erarbeiteten Informationen. Deshalb findet man als Output von sowohl lokal organisierten Initiativen als auch groß angelegten Programmen wie dem Nuxalk Food Education Program diverse Hand- und Kochbücher mit nicht nur Rezepten, sondern vor allem ethnobotanischen und ethnozoologischen Informationen, historischen Hintergründen und Er154 155
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Siehe etwa das Kapitel Medicine-Food Congruence in Turner (2014: 429-432). Damit sind Mitglieder der jeweiligen indigenen Gemeinschaften gemeint, die über ein spezielles Wissen von diversen pflanzlichen und tierischen Ressourcen, Ernte- und Jagdpraktiken, historischen Verarbeitungsweisen und der soziokulturellen Einbettung entsprechender Lebensmittel verfügen. In Evaluation of the Nuxalk Food and Nutrition Program. Traditional Food Use by a Native Indian Group in Canada (1989) fassen Harriet V. Kuhnlein und Sandy A. Moody die Agenda des Programms zusammen: »The central focus of the program was the traditional cultural food system of the Nuxalk. Program goals were to enhance community knowledge of the use of these traditional foods; to encourage their expanded use; and to improve the overall nutritional health of the Nuxalk people« (Kuhnlein und Moody 1989: 128) Für weiterführende Informationen zu den Hintergründen, dem Ablauf und den Ergebnissen des Programms siehe außerdem Kuhnlein (1984), Kuhnlein et al. (2013), NFNPS (1984) und Turner et al. (2009).
1. Teil: Grundzüge einer Kulturgeschichte indigener Ernährungskulturen in British Columbia
fahrungsberichten von elders sowie konkrete Anleitungen für Anbau-, Ernte- und Jagdtechniken und schließlich Informationen zur Weiterverarbeitung von Pflanzen und Tieren als Rohstoff und Nahrungsmittel(-Präserven).157 Nennenswerte Beispiele solcher Publikationen sind (in chronologischer Reihenfolge): • • • • • • •
Indian Food. A Cookbook of Native Foods from British Columbia (Canada Medical Services 1971) Gathering What the Great Nature Provided. Food Traditions of the Gitksan (People of ’Ksan 1980) Nuxalk Food and Nutrition Handbook (NFNPS 1984) KANUSYAM A SNKNIC. »Real good food«. A Nuxalk Recipe Book (NFNPS 1985) Nuu-chah-nulth Traditional Foods Toolkit (Uuathluk 2011)158 Camus. West Coast Cooking Nuu-chah-nulth Style (Uuathluk 2012)159 Feasting for Change. Revitalizing Connection to Food, Land and Culture (Devereaux et al. 2011)
Darüber hinaus produziert bspw. das Vancouver Island and Coastal Communities Indigenous Food Network (VICCIFN) neben Hand- und Kochbüchern handliche und für den Outdoor-Gebrauch zusätzlich laminierte Plant Knowledge Cards.160 Als passende Ergänzung hierzu vertreibt die von Nuu-cha-nulth in Port Alberni ins Leben gerufene »aquatic resource management organization« Uu-a-thluk (Nuu-chah-nulth für »taking care of «) sogenannte Ocean Knowledge Cards.161 157
Nicht selten dient der Erlös aus dem Verkauf der jeweiligen Bücher dazu, Folgeprojekte finanziell zu unterstützen. 158 Das Toolkit umfasst insgesamt sechs Einzelhefte zu den Themen (Titel der Hefte): Eelgrass »Candy of the Sea«; Herring Spawn; Quu-as Tips for Drying and Smoking Salmon; Steam Pit Cooking; Low Tide Foods; Nuu-chah-nulth Traditional Foods Reference Guide. Siehe hierzu: uuathluk.ca/wordpress/feasting-toolkit. 159 uuathluk.ca/wordpress/cookbook. 160 Auf der Verpackung steht zu den Karten: »Pacific Northwest Coastal Plant Knowledge Cards highlight 65 edible and medicinal plants. The cards describe traditional uses and ways of harvesting each plant and feature Indigenous languages, including SENÉOŦEN, Hul’q'umi’num, and Dididaht. Bring the cards out on walks to help identify plants, their uses, and keep the old ways strong. Please use these cards as an inspiration to talk to an Elder or Knowledge Keeper.« Für weitere Informationen zur indigenen Non-Profit-Organisation VICCIFN und den Plant Knowledge Cards siehe: indigenousfoodsvi.ca. 161 Für weitere Informationen zu Uu-a-thluk siehe: uuathluk.ca. Auf der Website der Organisation steht zu den Karten: »The Nuu-chah-nulth Ocean Knowledge Cards highlight 36 species of sea life found along Vancouver Island’s west coast. The cards show the ways that Nuu-chahnulth people harvest and prepare these sea foods […]. On your next visit to the seashore, take these cards to help you identify the species, explore their habitat, learn more about how Nuu-chah-nulth people use them, and discover scientific knowledge.« (uuathluk.ca/publications/ocean-knowledge-cards/, abgerufen am 06.03.2018)
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Ohne weiter auf Details darüber einzugehen, welche Inhalte die Initiativen und Programme im Einzelnen generieren und welche Formen ihr Output, abgesehen von Hand- und Kochbüchern oder knowledge cards, annehmen kann, lässt der konkret anwendungsorientierte Charakter Letzterer einen Aspekt anklingen, der neben dem Sammeln, Aufarbeiten und Archivieren bzw. Publizieren von kulturellem Wissen rund um die historischen Ernährungs- und Lebensweisen ein elementares Ziel entsprechender Revitalisierungsbestrebungen darstellt: Die Fähigkeit, die Bestandteile der eigenen Umwelt, insbesondere die essbaren, umfassend und differenziert »identifizieren« und zueinander »in Beziehung setzen« zu können.162 Was zunächst banal klingt, lässt bei genauerer Betrachtung fatale Missstände deutlich werden. Denn vor dem Hintergrund des oben erläuterten Verlusts indigener Territorien und erzwungener Umsiedlungen im Zusammenhang mit der kanadischen Reservationspolitik sowie dem Untergraben von Tradierungskanälen indigenen Wissens und dem damit einhergehenden Verlust indigener Sprachen im Zusammenhang mit der kanadischen Assimilationspolitik könnte man bildlich gesprochen behaupten, dass für den Großteil der indigenen Bevölkerung in British Columbia und anderer Teile Kanadas die Welt in gewisser Hinsicht geschrumpft oder zumindest weniger facettereich geworden ist: Wo für die Vorfahren vieler indigener Jugendlicher einst eine Vielfalt von Dingen mit distinkten Namen, Funktionen und Bedeutungen existierte, sehen vor allem jüngere Generationen aus urbanen Kontexten oft nichts als namenlose Wildnis. Dass in einigen indigenen Gruppen sogar ehemalige Grundnahrungsmittel sprichwörtlich unsichtbar geworden sind, unterstreicht auch Turner, wenn sie für Stò:lo im Frazer Valley feststellt: »Most Stò:lo today do not recognize wapato, let alone know that it was a major food of their ancestors.« (Turner 2006: 204) Was es bedeutet, die Fähigkeit (wieder) zu erlangen, indigene Nahrungsmittel identifizieren zu können, konnte ich im Zuge der bereits erwähnten Traditional Food Conference des VICCIFN in Fort Rupert im Herbst 2015 erfahren: Im Rahmen eines Panels zum Thema root gardens machten wir einen Spaziergang durch ein Feuchtwiesengebiet in Küstennähe. Auf den ersten Blick wirkte das Gelände wie eine wild bewachsene Wiese. Erst nachdem der indigene Tourguide die Aufmerksamkeit der Teilnehmer*innen auf zwei kleine, aber sehr unterschiedliche Pflanzen lenkte, wurde ersichtlich, wo wir uns befanden (Abb. 8). Bei den beiden Pflanzen 162
Die Rolle von indigenen Sprachen, d.h nicht nur im Hinblick auf indigene Bezeichnungen für Tiere und Pflanzen, sondern ebenso auf die Beziehungen von Mensch und Umwelt im Allgemeinen (vgl. keeping it living), ist in diesem Zusammenhang ein wichtiger Aspekt, auf den hier aus Platzgründen nicht näher eingegangen werden kann. Siehe hierzu Turner (2014: 117-190). Zusammenfassend schreibt Turner: »Language and plant names are tied to places, to narratives, to technologies, and to seasons. They are key to communicating local ecological knowledge and therefore key to people’s survival and to the continuity of their knowledge, practice and belief.« (Turner 2014: 188)
1. Teil: Grundzüge einer Kulturgeschichte indigener Ernährungskulturen in British Columbia
handelte es sich um zwei der oben im Abschnitt Essbare Rhizome besprochenen cultural keystone species, nämlich um Gänsefingerkraut und die Schatten-Schachblume. Jetzt, da unser Guide die Pflanzen benannt und einige Hintergründe zum Anbau, der Ernte und der Zubereitung von Indian spaghetti und Indian rice erläutert hatte, reichte ein kurzer Blick auf den Boden, um festzustellen, dass das büschelige Gras der gesamten Fläche um uns herum von Gänsefingerkraut und SchattenSchachblumen durchsetzt war. Anders gesagt: Was eben noch eine nichtssagende Wiese war, offenbarte sich nun als ein verwaister root garden, womit aus der scheinbaren Wildnis eine anthropogene Landschaft wurde, die zentrale Elemente der historischen indigenen Lebensweisen an der Nordwestküste greifbar werden ließ. Vor dem Hintergrund, dass die Fähigkeit zur Identifikation und differenzierten Wahrnehmung der eigenen Umwelt demnach die eigene Lebenswelt facettenreicher macht, lässt sich im Rückgriff auf meine Formulierung im vorangegangenen Abschnitt zugleich behaupten, dass die durch Revitalisierungsbestrebungen angeregten Prozesse der Diversifizierung und Ausdifferenzierung sowohl der indigenen Lebenswelten im Allgemeinen als auch der indigenen Ernährungskulturen im Speziellen, den »Druck« etwaiger (die soziokulturelle Kohäsion untergrabender) Einflüsse auf die indigenen Gesellschaften auf mehrere Schultern verteilen und damit Möglichkeiten schaffen, selbstbestimmt auf weitere Einflüsse zu reagieren. In The Earth’s Blanket. Traditional Teachings for Sustainable Living (2005) bringt Turner diesen Punkt als wesentliches Ziel der Wiederbelebung und des Erhalts indigener Wissenskulturen im Allgemeinen und damit auch das wesentliche Ziel der Revitalisierung indigener Ernährungskulturen im Speziellen zum Ausdruck, wenn sie zusammenfasst: »[I]nitiatives enhance [the] […] ability both to persist and to adapt. Improving capacity for learning is important for building resilience, as it enables people and communities to adjust to an ever-changing world.« (Turner 2005: 234)
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Zusammenfassung
Ziel der Darstellungen im 1. Teil Grundzüge einer Kulturgeschichte indigener Ernährungskulturen in British Columbia war es, die facettenreiche Historizität und zeitgenössische Diversität indigener (Ernährungs-)Kulturen zu veranschaulichen. Den Hintergrund hierzu stellte die Feststellung dar, dass die Rezeption des Wandels indigener (Ernährungs-)Kulturen an der Nordwestküste in weiten Teilen einseitig ist und von stereotypen Narrativen dominiert wird, die der Komplexität der historischen und zeitgenössischen Realität indigener Lebenswelten nicht gerecht werden. Insbesondere betrifft dies zum einen das Verhältnis zwischen indigener Bevölkerung und Europäern in der Ära des Erstkontakts und Pelzhandels sowie zum anderen die Kongruenz zeitgenössischer indigener kulinarischer Alltagskultur mit den
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zentralen Charakteristika einer industrial mass diet. Während für Ersteres die Annahme hegemonialer Verhältnisse und damit gleichwohl einer alternativlosen Europäisierung indigener Lebenswelten kennzeichnend ist, wird Letzteres dem entsprechend mit einer Europäisierung indigener Ernährungskulturen gleichgesetzt. Meine Darstellungen widersprechen diesen Annahmen und stellen ihrer kontrafaktischen Eindeutigkeit ein differenzierteres Bild gegenüber. Der Punkt, in dem die Argumente gegen diese beiden Annahmen und Narrative im Zuge der vorangegangenen Diskussionen konvergieren, besteht in jener Disposition zur Diversifizierung und Ausdifferenzierung, die Claude Lévi-Strauss in Der Weg der Masken ([1975] 2004) mit Bezug auf die rasante Weiterentwicklung indigener Kunst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts einmal beschrieben hat als immanenten Drang zur »unaufhörlichen Erneuerung« und letztlich progressive »Verachtung für ausgetretene Pfade, die zu immer neuen Improvisationen drängt […].« (Lévi-Strauss 2004: 10) Um ein hinreichend differenziertes Bild indigener (Ernährungs-)Kulturen zu zeichnen, nahm das Kapitel 1.1. Eine kurze Geschichte des Kulturkontakts in British Columbia seinen Ausgang in einer Erörterung der Natur der Interaktion von indigenen und nicht-indigenen Entdeckern und Händlern in der Ära des Kulturkontakts und der Etablierung des Pelzhandels in Kapitel 1.1.1. Erstkontakt und Pelzhandel: Indigene und nicht-indigene Entdecker und Händler. Bei der diesbezüglichen Auseinandersetzung mit Berichten europäischer Seefahrer und Händler sowie relevanter geschichts- und kulturwissenschaftlicher Literatur lag der Fokus auf dem souveränen Umgang der indigenen Bevölkerung mit dem Horizont an Möglichkeiten, der sich ihnen im Zuge dieser Interaktion bot. Vor dem Hintergrund einer weit in die Prä-Kontakt-Ära zurückreichenden Praxis indigenen Handelns und interkulturellen Austauschs; der Notwendigkeit der Anpassung an sich verändernde Lebensumstände, wie sie in der dualen Morphologie indigener Lebenswelten zum Ausdruck kommt; und schließlich die Beschreibung jener Interaktion als bilateral, wurde der Kontakt der indigenen Bevölkerung mit Europäern und europäischen Gütern weniger als radikaler Bruch, denn als beschleunigendes Moment im Kontext der kulturimmanenten Disposition zur Diversifizierung und Ausdifferenzierung deutlich. Nachdem mit der Bestimmung dieser Disposition bereits der Grundstein für ein differenziertes Verständnis der Bedeutung europäischer Einflüsse gelegt wurde, konzentrierten sich die Darstellungen in Kapitel 1.1.2. Im Schlaraffenland? Zum Überfluss an der Nordwestküste auf historische Subsistenzstrategien und Techniken indigenen Ressourcenmanagements, wodurch zugleich das für die historischen indigenen (Ernährungs-)Kulturen maßgebende Ineinandergreifen von Land, Ernährung und Kultur deutlich wurde. Das Kapitel 1.1.3. Die siedlerkoloniale Wende und »Modification of the Attitudes« in British Columbia erläuterte schließlich nicht nur das Ende bilateraler Verhältnisse zwischen indigener Bevölkerung und Europäern im Zuge der siedlerkolonialen Wende, sondern erörterte zugleich die damit einher-
1. Teil: Grundzüge einer Kulturgeschichte indigener Ernährungskulturen in British Columbia
gehende Verdichtung stereotyper Vorstellungen einer einheitlich und ahistorisch konstruierten Indigenität, die auch im reduktiven Zerrbild zeitgenössischer indigener Ernährungskulturen als Sinnbild eines kulinarischen Kataklysmus eine Rolle spielen. Im Anschluss an die Darlegung der für ein differenziertes Bild indigener Ernährungskulturen an der Nordwestküste relevanten Hintergründe in Kapitel 1.1. konzentrierte sich das Kapitel 1.2. Ernährungskulturen der Coastal First Peoples auf eine detaillierte Darstellung zentraler Charakteristika indigener Ernährungskulturen und diesbezüglicher Prozesse der Diversifizierung und Ausdifferenzierung, wie sie sich von der Zeit des Erstkontakts bis in die Gegenwart nachvollziehen lassen. Ausgehend von der dualen Morphologie der Lebenswelt der people of the shore diente das erste Kapitel 1.2.1. »That’s Our Buffalo!«: Historische Ernährungskulturen der Coastal First Peoples dazu, mittels der Besprechung ausgewählter Nahrungsmittel und Nahrungsmittelkategorien die kulinarische Grammatik der historischen Ernährungskulturen der Coastal First Peoples darzulegen, für die nicht nur die spezifischen Eigenschaften der Zutaten für sich, sondern insbesondere das Zusammenspiel von Lebensweise (duale Morphologie), Präservierungs- und Kochtechniken von zentraler Bedeutung war. Vor dem Hintergrund der Ausführungen zur historischen kulinarischen Grammatik nahm das darauffolgende Kapitel 1.2.2. »If I had to Choose…«: Indigene Ernährungskulturen im Wandel der Zeit die Diversifizierungsund Ausdifferenzierungsprozesse in den Blick, die den Status quo der kulinarischen Alltagskultur der Coastal First Peoples im 21. Jahrhundert prägen. Ausgehend von einer Diskussion der Einführung und Verbreitung von Kartoffeln und Getreidemehl bzw. Produkten aus Getreidemehl als paradigmatische Beispiele dieser Entwicklung rückte zunächst die Rolle von bannock als janusköpfiger Identitätsmarker in das Zentrum der Darstellung. Als Inbegriff der five gifts und damit der negativen und nicht zuletzt epidemischen Konsequenzen des Wandels indigener (Ernährungs-)Kulturen im Fahrwasser der Kolonialisierung, führte die Diskussion rund um bannock zu einer zusammenfassenden Gegenüberstellung der Charakteristika historischer und zeitgenössischer indigener Ernährungsweisen und der Feststellung, dass Letztere in weiten Teilen mit den Merkmalen einer industrial mass diet kongruent sind. Während die Diskussion dieser Kongruenz in der Auseinandersetzung mit dem antonymen Begriffspaar gastronomy/gastro-anomy zunächst die Annahme zu bestätigen schien, dass der Wandel indigener Ernährungskulturen sehr wohl als Ausdruck (ernährungs-)kultureller Regression verstanden werden muss, legte die Besprechung eigener Erfahrungen im Zuge meiner Feldforschungsaufenthalte eine andere Sichtweise nahe. Es wird dafür argumentiert, die Geschichte indigener Ernährungskulturen im Licht kultureller Diversifizierungsund Ausdifferenzierungsprozesse zu sehen, wodurch sich die Kongruenz von zeitgenössischer kulinarischer Alltagskultur und industrial mass diet letztlich als Symptom von kultur- bzw. gesellschaftsimmanenter Diversität und nicht als Index ei-
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nes kulinarischen Kataklysmus zu erkennen gab. Im Gegenteil wurde unter dem Begriff »Trumpf des Omnivoren« sogar für das soziokulturelle Reproduktionspotential der Inkorporation fremder Lebensmittel- und Lebensmitteltechniken in die indigenen (Ernährungs-)Kulturen argumentiert.163 Das letzte Kapitel 1.2.3. »Food is Our Medicine«: Zur Revitalisierung indigener Ernährungskulturen erinnerte schließlich daran, dass ein differenziertes Bild indigener (Ernährungs-)Kulturen nicht bedeutet, dass darin eine heile Welt abgebildet wird. Nicht nur die epidemischen Konsequenzen der stattgefundenen Veränderungen, sondern ebenso die Tatsache, dass die Lebenswelt der indigenen Bevölkerung mit sowohl dem Verlust indigener Territorien als auch damit verknüpfter Wissenskulturen geschrumpft ist, lässt sich nicht wegretuschieren. Es wurde jedoch deutlich gemacht, dass die Idee der Revitalisierung bestimmter (in diesem Fall kulinarischer) Elemente indigener Lebenswelten eine Sensibilität voraussetzt, die gleichsam die heute gegebene Diversität indigener Ernährungskulturen bzw. die Heterogenität indigener Gesellschaften und damit einhergehende Unterschiedlichkeit individueller Lebensentwürfe respektiert. Im Hinblick auf dementsprechende – oben als »integrativ« bezeichnete – Revitalisierungsansätze wurde Turner (2005: 234) zitiert, die betont, dass die Verfügbarkeit indigener Wissenskulturen und die darin enthaltenen Normen und Regeln Orientierungsmöglichkeiten bieten, welche die Belastbarkeit und Anpassungsfähigkeit indigener communities im Umgang mit den Herausforderungen globaler Einflüsse und Veränderungen stärkt. Wie sich weiter unten zeigen wird, kann auch der Prozess gastronomischer Professionalisierung indigener Ernährungskulturen hierbei eine Rolle spielen. Im Rückgriff auf die eingangs erwähnte These zur Rolle indigener Gastronomie im öffentlichen Raum in Kanada, lohnt es sich zum Abschluss dieses ersten Teils noch einen anderen Punkt hervorzuheben: Der überwiegende Teil der nichtindigenen Öffentlichkeit hat weder Zugang zu indigenen Haushalten und dem entsprechenden lebensweltlichen Alltag der indigenen Bevölkerung noch zu PotlatchFesten und Festessen innerhalb indigener communities. Direkte Erfahrungen mit der komplexen Heterogenität indigener Lebenswelten, die sich in der Diversität indigener Ernährungskulturen reflektiert, sind damit weitestgehend ausgeschlossen. 163
Ein Aspekt, auf den hier leider nicht näher eingegangen werden kann, ist die Rolle, die indigene Ernährungskulturen – in umgekehrter Weise – im Zusammenhang mit der Herausbildung einer kanadischen Küche gespielt haben. Autorinnen wie bspw. Anita Stewart (2008), Dorothy Duncan (2011, 2012) oder Lenore Newman (2017), die mit ihren Arbeiten zur Geschichte – und letztlich zur Frage nach einer möglichen Definition – der kanadischen Küche zu Autoritäten in diesem Bereich der Kulturgeschichte Kanadas avanciert sind, heben den Einfluss hervor, den die indigenen Ernährungskulturen auf die Herausbildung dessen gehabt haben, was heute in kulinarischer Hinsicht als »Canadian« verstanden wird. Zum indigenen Einfluss auf nicht-indigene Ernährungsweisen siehe außerdem den Abschnitt Sharing Food and Food Technologies in Fee (2008: 60-62).
1. Teil: Grundzüge einer Kulturgeschichte indigener Ernährungskulturen in British Columbia
Stattdessen speisen sich die geläufigen Vorstellungen von Indigenität überwiegend aus tradierten Stereotypen, die den Grenzen der stringenten Binarität einer Entweder-oder-Denkweise verhaftet bleiben. Indigene Gastronomie stellt in diesem Zusammenhang eine Brücke dar, welche die Heterogenität indigener Lebenswelten in Gestalt der Diversität indigener Ernährungskultur in den öffentlichen Raum trägt und für die nicht-indigene Öffentlichkeit erfahrbar macht. Der anschließende 2. Teil befasst sich nun mit diesem Prozess der gastronomischen Professionalisierung indigener Ernährungskulturen am Beispiel von British Columbia.
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Abb.1: Tłu’bukw, Seafest, Alert Bay, 2013
Foto: Sebastian Schellhaas.
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Abb. 2: Grease, Frankfurt a.M., 2015
Foto: Sebastian Schellhaas.
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Abb. 3: Essbares Rhizom der Schatten-Schachblume, Cluxewe (Nähe Fort Rupert), 2015
Fotos: Sebastian Schellhaas.
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Abb. 5: Indian taco, Thunderbird Café, Whistler, 2013
Foto: Sebastian Schellhaas.
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Abb. 6: »Our award winning Indian Taco«, Mr. Bannock, Vancouver, 2018
Foto: Paul R. Natrall.
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Abb. 7: Indian taco (›klassisch‹), Pow Wow Café, Toronto, 2017
Foto: Tiffany Mayer.
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Abb. 8: Besichtigung eines aufgegebenen root gardens in Cluxewe (Nähe Fort Rupert) im Rahmen der 8 Traditional Food Conference (2015) des VICCIFN. Zu sehen sind die (im Oktober) sichtbaren Teile der Schatten-Schachblume (getrocknete Kapselfrüchte) und des Gänsefingerkrauts (Blätter)
Fotos: Sebastian Schellhaas.
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Abb. 9: Speisekarte, »DINNER MENU MAY 2018 «, Salmon n’ Bannock, Vancouver
Quelle: salmonandbannock.net, abgerufen 16.05.2018.
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Abb. 10: Speisekarte, »Contemporary Cowichan Cuisine«, Riverwalk Café, Duncan, 2013
Foto: Sebastian Schellhaas.
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Abb. 11: Speisekarte, »Contemporary Cowichan Cuisine«, Riverwalk Café, Duncan, 2013
Foto: Sebastian Schellhaas.
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Abb. 12: »STS EELHTUN HASH. Char Grilled Peppered Wild Sockeye Salmon, Qu’wut’sun Yukon Gold Potato Hash and 2 Poached Eggs«, Riverwalk Café, Duncan, 2013
Foto: Sebastian Schellhaas.
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Abb. 13+14: Plakat, »Culture Shock. Tłu’bukw«, Seafest, Alert Bay, 2013; Teller mit tłu’bukw, frittiertem bannock, Kartoffeln, Kartoffelstampf, Salat und grease, Seafest, Alert Bay, 2013
Fotos: Sebastian Schellhaas.
Abb. 15: Eingang Muckamuck Restaurant. Northwest Coast Indian Food, Vancouver, 1978
Foto: Sean Griffin, mit freundlicher Genehmigung der Tribune Publishing Collection, Simon Fraser University.
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Abb. 16: Werbematerial des Muckamuck Restaurant mit »Special Menu Suggestions«, Vorderseite, ca. 1975
Foto: Sebastian Schellhaas, Original: City of Vancouver Archives, Reference code: AM1519-: 2011-045.1.
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Abb. 17: Werbematerial des Muckamuck Restaurant mit »Special Menu Suggestions«, Rückseite, ca. 1975
Foto: Sebastian Schellhaas, Original: City of Vancouver Archives, Reference code: AM1519-: 2011-045.1.
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Abb. 18+19: Eingang Quilicum. Westcoast Indian Restaurant, Vancouver, ca. 1989; Werbeanzeige Quilicum Westcoast Indian Restaurant, 1986
Quelle: Hewitt (1989: 131); Windspeaker, 28.03.1986, S. 17.
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Abb. 20: Werbeanzeige Toody-Ni Grill and Catering Company, 1992
Quelle: Windspeaker, 13.04.1992, S. 15.
Abb. 21: Gastraum, Liliget Feast House, Vancouver, 1999
Foto: Roger Mahler, Pacific Rim Magazine 1999.
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Abb. 22: Speisekarte Liliget Feast House, Vancouver, ca. 2006
Quelle: Annie Watts.
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Abb. 23+24: Eingang Salmon n’ Bannock, Vancouver, 2018; »Elk Osso Buco«, Salmon n’ Bannock, Vancouver, 2016
Fotos: Charlene Johnny; Sebastian Schellhaas.
Abb. 25+26: »Wild Cured Salmon in Beetroot and Citrus«, »Double Smoked Sea Lion«, Salmon n’ Bannock, Vancouver, 2016
Fotos: Sebastian Schellhaas.
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Abb. 27: Eingang Kekuli Cafe, Westbank, 2015
Foto: Sebastian Schellhaas.
Abb. 28: »Eggs Bannodict«, Kekuli Cafe, Westbank, 2015
Foto: Sebastian Schellhaas.
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Abb. 29+30: »Bannock Bison Burger«, Vegetarischer Indian taco, Kekuli Cafe, Westbank, 2015
Fotos: Sebastian Schellhaas.
Abb. 31: »Breakfast Bannock Sandwich«, Kekuli Cafe, Westbank, 2015
Foto: Sebastian Schellhaas.
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Abb. 32: Mr. Bannock. Indigenous Food Truck, North Vancouver, 2016
Foto: Paul R. Natrall.
Abb. 33: Paul R. Natralls Küchenwagen, North Vancouver, 2018
Foto: Sebastian Schellhaas.
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Abb. 34: »Food Truck Menu«, Mr. Bannock, Juli 2018
Quelle: Paul R. Natrall.
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Abb. 35: »Catering Menu«, Mr. Bannock, Juli 2018
Quelle: Paul R. Natrall.
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Abb. 36: Elchbein von Rich Francis, Saskatchewan, 2018
Foto: Rich Francis.
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Abb. 37+38: »Mountain lion« von Rich Francis, Osoyoos, 2017: »Osoyoos mountain lion, ponderosa pine scented squash, foraged mushroom and mountain tea ragout, cactus chutney, Indian ice cream.«; »Pan fried Cod« von Rich Francis, 2018 »Simple summer things. Pan fried Cod, bacon braised cherries, fresh snow peas, tiger Lilly salad and bone marrow.«
Fotos und Text: Rich Francis.
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Abb. 39: Sous vide gegarter Lachs, Lachsrogen, Kapern, Ziegenfrischkäse, konfierte gelbe Beete und Hibiskusreduktion. Shane Chartrand, Sage Restaurant, Edmonton, 2015
Foto: Sebastian Schellhaas.
Abb. 40: Bison Ragout, Kartoffeln, pochierte Eier und schwarzer Knoblauch. Shane Chartrand, Sage Restaurant, Edmonton, 2015
Foto: Sebastian Schellhaas.
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Abb. 41: Arctic char, Pastinake (Püree und Chip), Morcheln und glühender Zimt. Shane Chartrand, Sage Restaurant, Edmonton, 2015
Foto: Sebastian Schellhaas.
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Abb. 42: Indigene gastronomische Betriebe insgesamt (47) von 1974 bis 2018
Sebastian Schellhaas (Daten) und Philipp Matschoss (Gestaltung).
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Abb. 43: Indigene gastronomische Betriebe insgesamt (47) von 1974 bis 2018 nach Provinzen
Sebastian Schellhaas (Daten) und Philipp Matschoss (Gestaltung).
Abb. 44: Indigene gastronomische Betriebe insgesamt (4) in 2000 nach Provinzen
Sebastian Schellhaas (Daten) und Philipp Matschoss (Gestaltung).
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Abb. 45: Indigene gastronomische Betriebe insgesamt (9) in 2010 nach Provinzen
Sebastian Schellhaas (Daten) und Philipp Matschoss (Gestaltung).
Abb. 46: Indigene gastronomische Betriebe insgesamt (37) in 2018 nach Provinzen
Sebastian Schellhaas (Daten) und Philipp Matschoss (Gestaltung).
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Abb. 47: »Coastal-Salish-Style Salmon-Bar-B-Que «, Pacific National Exhibition, Vancouver, 1977
Foto: Bob Tipple, City of Vancouver Archives, CVA 180-7483.
Abb. 48: »Salmon Bar-B-Que display«, Pacific National Exhibition, Vancouver, 1977
Foto: Bob Tipple, City of Vancouver Archives, CVA 180-7484.
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Abb. 49: Canadian Native Haute Cuisine Mannschaft, (v.l.n.r.) Bertha Skye, David Wolfman, Arnold Olson und Andrew George Jr., ca. 1992
Foto: Andrew George Jr.
Abb. 50: Canadian Native Haute Cuisine Mannschaft mit Team-Manager und Trainer, (v.l.n.r.) Andrew George Jr., David Wolfman, George Chauvet, Niels Kjeldsen, Bertha Skye und Arnold Olson, Ort unbekannt, ca. 1992
Foto: Andrew George Jr.
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Abb. 51: Logo Canadian Native Haute Cuisine auf Andrew George Jrs. Kochuniform, Vancouver 2016
Foto: Zoe Tennant.
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Abb. 52: Schautisch (vermutlich »Western Canada«) mit Arnold Olsen (links) und Bertha Skye (rechts), Frankfurt a.M., IKA 1992
Foto: Verband der Köche Deutschlands.
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Abb. 53: (v.l.n.r.) Arnold Olsen, Bertha Skye und Andrew George, Frankfurt a.M., IKA 1992
Quelle: Schultz (1992: C2).
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Abb. 54: Schauplatte von Bertha Skye, Frankfurt a.M., IKA 1992 »Vorspeisen aus British Columbia. Roulade von Lachs und Hummer; Muschelsalat mit Tomaten; getrüffelte Garnelenwurst; bunte Entensülze; gefüllter Tintenfisch; Hochrippe vom Junghirsch; Poulardenbrust mit Steinpilzchampignons und Kirsche.«
Foto: Wolfgang Usbeck; Quelle und Text: VKD (1993: 78).
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Abb. 55: Patisserie und Schaustücke von Bertha Skye, Frankfurt a.M., IKA 1992 »Petit fours ›Queen Charlotte‹. Hergestellt aus Fondant, Dobosmasse, Konfitüre, Nugat und diversen Cremes; das Schaustück ist aus Kuvertüre geschnitzt.«
Foto: Wolfgang Usbeck; Quelle und Text: VKD (1993: 309).
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Abb. 56: Drei-Gänge-Menü von Arnold Olsen, Frankfurt a.M., IKA 1992 »Tagesmenü aus See und Wald. Barschfilet auf Kartoffelscheiben mit Petersiliensauce; Elchhaxe mit jungem Gemüse; marinierte Pflaume in Quarkteig.«
Foto: Wolfgang Usbeck; Quelle und Text: VKD (1993: 167).
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Abb. 57: Medaillenverleihung mit Danielle Medina (links) und Bertha Skye (rechts), Frankfurt a.M., IKA 1992
Foto: Verband der Köche Deutschlands.
Abb. 58: Medaillenverleihung mit George Chauvet (links) und Arnold Olsen (rechts), Frankfurt a.M., IKA 1992
Foto: Verband der Köche Deutschlands.
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Abb. 59: Werbeplakat, Kekuli Cafe, Westbank, 2015
Foto: Sebastian Schellhaas.
2. Teil: Die gastronomische Professionalisierung indigener Ernährungskulturen
2.1
Indigene Gastronomie in British Columbia, 1974-2018
Die Anfänge der gastronomischen Professionalisierung indigener Ernährungskulturen lassen sich in British Columbia bis in die frühen 1970er Jahren zurückverfolgen. D.h. bis an den Punkt, an dem im damals noch keine 100 Jahre alten Vancouver das erste Restaurant mit einem Fokus auf indigene Nahrungsmittel und Gerichte an der Nordwestküste eröffnete. Seitdem hat sich viel getan: Die Anzahl an Indigenous owned Catering-Firmen, Verkaufsständen bei Volksfesten oder night markets, Foodtrucks, Bistros, Cafés und Restaurants, die Indigenous food oder zumindest ein Indigenous-inspired menu für die indigene wie auch nicht-indigene Öffentlichkeit feilbieten, steigt stetig. Zugleich reicht der Prozess gastronomischer Professionalisierung weit über die Grenzen der gastronomischen Betriebe hinaus. In dem Sinn, dass sie lediglich sichtbare Knotenpunkte innerhalb eines wachsenden Netzwerks von indigenen Köch*innen, Produzent*innen und Lieferant*innen markieren. Wie die folgende Episode aus meinem ersten Forschungsaufenthalt in British Columbia deutlich werden lässt, verlangt das Phänomen indigener Gastronomie bzw. der rasant voranschreitende Prozess gastronomischer Professionalisierung nach einer differenzierten Betrachtung. Als ich im Sommer 2013 das erste Mal mit einem Leihwagen von Victoria, der Hauptstadt British Columbias im Südosten von Vancouver Island, über den Highway 19 knapp 500 km bis an das nordöstliche Ende der Insel gefahren bin, staunte ich nicht schlecht. Nachdem ich nach etwas mehr als der Hälfte der Strecke die vorerst letzte Stadt auf dem Weg in den Norden, Campbell River, durchquert hatte, musste ich nach zwei Stunden Fahrt durch das dicht bewaldete und wenig besiedelte Hinterland tanken, um nicht inmitten der Wildnis stehenzubleiben. Etwa eine Stunde zuvor hatte ich an einer Kreuzung mit einer Tankstelle und einem Campingplatz im Vorbeifahren ein Warnschild zur Kenntnis genommen: »Check Your Fuel. No Service For The Next 70 km«. In Woss schließlich, einer kleinen Siedlung am gefühlten Ende der Welt, fand ich eine Tankstelle, zu der ein Imbiss und
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ein general store gehörte, in dem man neben Non-Food-Artikeln wie Angelzubehör und Kettensägenöl zwischen Tiefkühlkost, Konserven und auf Hochglanz polierten Äpfeln wählen konnte. Während mir all das für eine abgelegene Tankstelle in British Columbia nicht ungewöhnlich schien, zog die Leuchtreklame am Motel nebenan meine Aufmerksamkeit auf sich: Lucky Logger Pub & Fish House. Und dazu in großen Lettern: SUSHI. Sushi? Im Nirgendwo? In einer kleinen Siedlung zu der nur eine einzige Straße führt und in der 2016 sogar die Grundschule aufgrund rückläufiger Schülerzahlen ihre Türen für immer geschlossen hat? Was mir auf den ersten Blick als Kuriosität erschien, lag genau genommen nicht fern. Schließlich ist Sushi in British Columbia in etwa so verbreitet und beliebt wie Lachs, Wild oder Kaffee. Das Gleiche gilt für die Küchen anderer süd- und ostasiatischer Länder. So war es dann auch nicht mehr überraschend, als ich wenige Tage später mit der Fähre von Port McNeil kommend die Kleinstadt Alert Bay auf Cormorant Island erreichte und dort ein ausgezeichnetes indisches Restaurant mit dem wenig indisch anmutenden Namen Bayside Grill antraf, dass neben nordamerikanischen Diner-Klassikern und den für indische Restaurants typischen Gerichten auch Kreationen wie bspw. einen tandoori halibut auf der Karte führte. Außerdem gab es im Rahmen des alljährlichen Seafest Besuch von einem Asia-Foodtruck mit einem gemischten Angebot von Gerichten verschiedener ostasiatischer Küchen sowie das im Ort für seine Pizza bekannte Pass’n Thyme. Hinzu kamen schließlich noch The Cook Shack und eine heiße Theke im örtlichen Supermarkt ShopRite Deli, deren beider Repertoire ein breites und wechselndes Angebot von Sandwiches, Wraps, Suppen, Eintöpfen und Gerichten wie Chicken Wings, Chicken Teriyaki, Lasagne, Pizza, Burritos, Chow Mein etc. umfasste. Während das Spektrum kulinarischer Vielfalt im öffentlichen Raum also selbst in einer kanadischen Kleinstadt auf einer abgelegenen Insel nahezu einmal um den Globus reichte und man an einer Tankstelle im Nirgendwo Sushi von japanischen Köchen serviert bekam, war trotz des hohen indigenen Bevölkerungsanteils in dieser Region British Columbias eines nur selten oder überhaupt nicht zu finden: indigenes Kochen und Essen. Selbst in Vancouver, jener kulinarischen Wunderkammer, in der fast jede Küche der Welt mit gleich mehreren Restaurants, Bistros, Cafés, Foodtrucks oder Ähnlichem vertreten ist, war indigenes Kochen und Essen eine echte Rarität. Während man etwa in der gesamten Region Metro Vancouver zwischen knapp 570 dezidierten Sushi-Restaurants wählen kann1 , konnte ich 2013 bei der Suche nach Adressen indigener Restaurants oder Ähnlichem nur eine Adresse ausfindig machen: das Salmon n’ Bannock Bistro, 1128 W Broadway. 1
www.zomato.com/vancouver/restaurants/sushi, abgerufen am 07.08.2018. Zur außerordentlichen Präsenz von Sushi in Vancouver stellt die kanadische Food-Journalistin Claudia McNeilly fest: »If New York City has pizza, and Los Angeles has tacos, then Vancouver is a sushi town.« (McNeilly 2017)
2. Teil: Die gastronomische Professionalisierung indigener Ernährungskulturen
Und dennoch: Wenngleich indigenes Kochen und Essen in Vancouver und dem Rest der Provinz bis heute noch nicht zum kulinarischen oder gastronomischen Mainstream avanciert ist, nimmt die Präsenz indigener Gastronomie im öffentlichen Raum zu.2 Das wird nicht nur in Großstädten wie Vancouver und Victoria oder auch Edmonton, Winnipeg und Toronto deutlich, wenn plötzlich neue indigene Restaurants, Foodtrucks und Pop-Up Dinner das urbane gastronomische Spektrum erweitern. Greifbar wird dies auch in abgelegenen Kleinstädten wie Port Hardy und Alert Bay. Läuft man etwa heute (2017), vier Jahre nach meinem ersten Aufenthalt in Alert Bay, die Hauptstraße entlang, dauert es nicht lange, bis man an Dungees Bannock and Desserts vorbeikommt, wo man je nach Tagesangebot bannock und Indian tacos, Eintöpfe, Suppen und vieles mehr serviert bekommt. Und während man in Port Hardy 2013 noch das Gefühl hatte, dass es an diesem Ort einfacher ist, auf offener Straße Crack zu kaufen als an eine Kostprobe von indigenem Kochen und Essen zu kommen, hat dort im April 2017 das Restaurant Ha’me’ seine Türen geöffnet. Insbesondere bemerkenswert ist, dass es sich meiner Kenntnis nach um den einzigen indigenen gastronomischen Betrieb handelt, der in 2017 offiziell grease auf der Karte führte. Und zwar wird dieses kulinar-grammatikalische Basiselement der indigenen Ernährungskulturen an der Nordwestküste im »[Not so] Classic Ceasar Salad« als indigenes Substitut für die in diesem Gericht häufig verwendeten Anchovis verwendet.3 Offizielle Zahlen oder Informationen darüber, wie viele indigene gastronomische Betriebe und Produzenten es tatsächlich gibt, existieren ebenso wenig – oder sind mir bislang nicht bekannt –, wie es in Kanada nach wie vor weder einen offiziellen noch einen inoffiziellen Verband indigener Köch*innen und Gastronom*innen gibt.4 Ausgehend von meinen Recherchen und diesbezüglichen Gesprächen mit kanadischen Kolleginnen und Kollegen sowie indigenen Köch*innen und Gastronom*innen lässt sich festhalten, dass es in British Columbia derzeit etwa ein 2 3 4
Kapitel 3.2. widmet sich einer ausführlichen Diskussion der Marginalität indigener Gastronomie. hamerestaurant.ca, abgerufen am 18.09.2017. In den USA sieht dies anders aus: Dort gibt es nicht nur die von Nephi Craig (Koch, White Mountain Apache und Navajo) geründete Native American Culinary Association (NACA), sondern zudem ein eigenes – wenn auch unregelmäßig erscheinendes – Magazin, Native Foodways (www.nativefoodways.org). In 2017 gründete sich zudem das I-Collective (www.icollectiveinc.org), deren Mitglieder seit der Gründung diverse Pop-Up Restaurants und Dinner Veranstaltungen an verschiedenen Standorten in den USA organisiert haben. Auf ihrer Homepage wird das Kollektiv beschrieben als: »The I-Collective stands for four principles: Indigenous, Inspired, Innovative, and Independent. An autonomous group of Indigenous chefs, activists, herbalists, seed, and knowledge keepers, the I-Collective strives to open a dialogue and create a new narrative that highlights not only historical Indigenous contributions, but also promotes our community’s resilience and innovations in gastronomy, agriculture, the arts, and society at large.« (www.icollectiveinc.org/, abgerufen am 14.06.2018)
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Dutzend und über ganz Kanada verteilt etwa drei Dutzend indigene gastronomische Betriebe gibt. Bevor jedoch in Kapitel 2.1.2. die Diversität des Spektrums indigener Gastronomie anhand ausgewählter Beispiele umrissen wird, geben die im folgenden Kapitel 2.1.1. erläuterten Episoden aus meiner Feldforschung erste Einblicke in sowohl das Forschungsfeld indigener Gastronomie als auch meinen persönlichen Zugang zu diesem Feld. Mit Blick auf die zunehmende Präsenz indigener Ernährungskulturen in der kanadischen Öffentlichkeit gibt das Kapitel 2.1.3. schließlich einen Überblick über den Status quo indigener Gastronomie.
2.1.1
Auf dem Weg zu einem neuen Forschungsfeld
Auf den Geschmack gekommen Bis zu meiner ersten Reise nach British Columbia hatte ich lediglich eine angelesene Vorstellung von den indigenen Ernährungskulturen der Nordwestküste. Direkte Erfahrung mit der komplexen historischen-kulinarischen Grammatik indigener Ernährungskulturen, wie sie in Kapitel 1.2.1. skizziert wurden, fehlten mir. Ein Besuch des Salmon n’ Bannock stand deshalb ganz oben auf der Agenda meiner ersten Reise. Meine Annahme war, dass der Besuch eines indigenen Restaurants eine niedrigschwellige Möglichkeit darstellen würde, einen ersten Einblick in die indigenen Ernährungskulturen zu bekommen. Dass dieser Einblick durch die Brille gastronomischer Professionalisierung gefiltert sein würde, war mir zwar bewusst, bevor ich zum Telefonhörer griff, um im Salmon n’ Bannock für den Abend einen Tisch zu reservieren. Wie sehr mich am Abend dennoch vieles überraschte, hatte ich hingegen nicht erahnt: Bereits beim Eintreten in den kleinen, in schummriges Licht getauchten Gastraum mit rot gestrichenen Wänden, schwarzen Stühlen und Tischen und einem dunklen Holzboden irritierte mich die seichte an andines Sikuri (Panflötenmusik) erinnernde Weltmusik. Verglichen mit der üblichen, durch streng rhythmisches Klatschen und Schlagen von Schlaghölzern, Rahmentrommeln oder riesigen, aus ganzen Baumstämmen gefertigten, Schlitztrommeln charakterisierten Musik der Nordwestküste, schien mir die Wahl sphärischer Klänge ungewöhnlich. Auch die Speisekarte hielt einiges bereit, das nicht recht in meinen Erwartungshorizont passen wollte: bspw. eine Auswahl von Weinen eines indigenen Weinguts, ein starker Fokus auf Bison-Fleisch und gebackenes bannock als obligatorische Beilage – auf Wunsch auch in einer glutenfreien Variante erhältlich. Zur Vorspeise konnte man zwischen verschiedenen kleinen Gerichten, Salaten oder Suppen wählen.5 Es gab etwa »Mushrooms on Toasted Bannock – bison demi-glace, and Little Qualicum
5
Die folgenden Angaben gehen aus persönlichen Notizen hervor. Zur Veranschaulichung siehe beispielhaft das »Dinner Menu May 2018« (Abb. 9).
2. Teil: Die gastronomische Professionalisierung indigener Ernährungskulturen
brie«, »Salmon Sampler: Wild salmon prepared 3 different ways served with bannock crackers« und dreierlei Suppen: »Wild Salmon«, »Game« oder »Butternut Squash, Apple and Smoked Cheese«. Neben verschiedenen bannock-Sandwiches wie dem »Elk Burger – sautéed mushrooms, alder smoked bacon, tomato, smoked cheddar, organic greens, house made mayo« und Varianten von Indian tacos mit wahlweise Fisch, Wild oder vegetarischem Topping konnte man für den Hauptgang zwischen Variationen von Fisch und Wild wählen, die standardmäßig zusammen mit bannock, Gemüse und Kartoffeln oder alternativ (gegen einen Aufpreis) mit »wild rice, oat and mushroom risotto« serviert wurden. Insgesamt erinnerte die Zusammenstellung der übersichtlichen, grafisch schlicht gehaltenen, einseitigen Speisekarte (die Getränkekarte befindet sich auf der Rückseite) tatsächlich an die eines Bistros, in dem tendenziell wenige »einfache« – dafür meistens »gute« – Klassiker das Profil der Küche markieren. Ich bestellte zur Vorspeise eine sehr pfeffrige Suppe vom Wild (in dem Fall Bison), die mit sehr dichtem, gebackenem bannock und abgepackter Butter serviert wurde. Als Hauptgang wählte ich das »Wild Sockeye Salmon Filet (6oz)« mit dem Wildreis-Risotto und saisonalem Gemüse (Karotten und grüner Spargel) und zur Nachspeise einen »bannock bread pudding«. Insgesamt stutzig angesichts meiner latenten Skepsis, die mich durch den Abend begleitete und aufgrund der Enttäuschung darüber, auf der Karte des Salmon n’ Bannock keine der indigenen Spezialitäten wie etwa herring roe on kelp oder grease finden zu können, wurde ich neugierig, was wohl andere indigene Restaurants auf ihren Speisekarten haben und ob bzw. wie verschiedene Restaurants indigenes Kochen und Essen gastronomisch interpretieren und präsentieren. Aus anfangs rein persönlichem Interesse suchte ich nach weiteren Restaurants. Über die Internetseite der Aboriginal Tourism Association British Columbia fand ich drei Adressen in Duncan, Ucluelet und Whistler, wobei das Riverwalk Café in Duncan auf meiner ohnehin geplanten Reiseroute von Victoria in den Norden nach Alert Bay lag.6 Das Riverwalk Café befindet sich auf dem Gelände des Cowichan Native Village – einer Art Informationszentrum mit Souvenirladen, Show-Garten, indigener Kunst, einem kleinen Conference Center mit Veranstaltungsräumen und Informationstafeln zur indigenen Bevölkerung – in einem Gewerbegebiet am Ortseingang von Duncan kaum einhundert Meter vom Highway entfernt. Vom Highway aus sah man auf der linken Seite nichts außer den weitläufigen Parkplatzflächen zwischen London Drugs, Superstore und anderen Ketten, wie sie
6
Auf der Website finden sich heute (2017) unter der Kategorie Food & Wine mehr Adressen als noch 2013. Wobei einige davon zu indigenen Lodges oder Hotels gehören, die zwar auch Restaurants haben, deren Karten jedoch keinen Fokus auf indigene Ernährungskulturen legen. Siehe www.aboriginalbc.com.
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für kanadische Gewerbegebiete charakteristisch sind. Ich bog nach links ab und folgte der Straße bis ich links auf den Parkplatz des Cowichan Native Village kam. Ein Schild »Riverwalk Café« wies zu einer Seitenstraße am Ende des Parkplatzes, die zwischen hohen Lattenzäunen zu einem weiteren kleinen Parkplatz führte. Ich folgte der Straße bis zum Ende und parkte direkt neben der Treppe, die auf die Terrasse eines Holzhauses führte, an dem eine kleines Schild hing: »Riverwalk Café«. Wie ich später bemerkte, hatte ich, ohne es zu wissen, den Hintereingang genommen. Zum aufwendiger gestalteten Haupteingang gelangte man nur, indem man das kostenpflichtige Cowichan Native Village durchquerte. Der Gastraum war unscheinbar: grauer Teppichboden, weiße Wände mit wenigen Bildern dekoriert. Eine größere Gruppe saß an zusammengeschobenen Tischen. Auf der Terrasse war nur ein weiterer Tisch besetzt. Ich nahm draußen Platz und studierte die Karte: »Riverwalk Café. Contemporary Cowichan Cuisine« (Abb. 10 und 11). Im Gegensatz zum Salmon n’ Bannock war die Karte mit formline art verziert. Außerdem trugen fast alle Speisen indigene Bezeichnungen, die durch detaillierte Beschreibungen in Englisch ergänzt wurden. Zu den etwa zwanzig Gerichten auf der Karte zählten neben einer Tagessuppe, Indian candy und einer Art Indian taco, genannt »TS’LHHWULMUHW TACO. House Made Venison Chili, Traditional Fried Bread, Lettuce, Tomatoes, Mixed Cheddar and Mozzarella Cheese, Sour Cream and Our Avocado Salsa«, Gerichte wie »STS’EHQ KAAN. Tri Color Corn Tortillas, Cheddar and Mozzarella, Banana Peppers, Tomatoes, Black Olives, Jalapeños, Our House Made Avocado Salsa and Sour Cream«, der »RIVERWALK CAFÉ SALAD. Char-grilled Maple Marinated Wild Pacific Salmon, Spring Greens, Fresh Herbs and Soba Noodles Drizzled with our Elderberry Herb Vinaigrette«, »COAST SALISH SEAFOOD. Maple Marinated Wild Pacific Salmon, Pan Seared Scallops, Garlic Prawns, Garlic Cream Clam Sauce on Spaghettini Noodles« oder »ME’UQW TELO‹. 1 lb of Chicken Wings with a choice of our House Made BBQ Sauce, Salt & Pepper or Hot«. Wenngleich die gesamte Gestaltung der Speisekarte im Vergleich zu der des Salmon n’ Bannock mehr Gewicht auf indigene Elemente legt, ist der explizite Bezug auf nicht nur Elemente des nordamerikanischen gastronomischen Mainstream, wie im Fall des »1 lb of Chicken Wings«, sondern ebenso auf ethnokulinarische Verkaufsschlager wie Tortilias (Tex-Mex), Soba Noodles (japanisch), Spaghetti und Focaccia (italienisch) auffällig. Ich fragte nach einer Empfehlung und bestellte entsprechend das »STS EELHTUN HASH. Char Grilled Peppered Wild Sockeye Salmon, Qu’wut’sun Yukon Gold Potato Hash and 2 Poached Eggs«. (Abb. 12) Nicht nur geschmacklich war das nur sehr leicht gesalzene Stampf aus Lachs, Kartoffeln, Frühlingszwiebeln und den zwei pochierten Eiern ein Glücksgriff. Ich musste unmittelbar an die im Kapitel 1.2.1. als Charakteristikum historischer indi-
2. Teil: Die gastronomische Professionalisierung indigener Ernährungskulturen
gener Ernährungskulturen beschriebenen (salzarmen) Gerichte aus der bentwoodKiste und die mit dieser Basis-Kochtechnik zusammenhängenden Konsistenzen denken. Wie bereits im Salmon n’ Bannock sucht man allerdings auch auf der Karte des Riverwalk Café vergeblich nach indigenen Spezialitäten wie z.B. grease. Da meine Suche nach weiteren indigenen Restaurants oder Ähnlichem sowohl auf Nachfrage im Riverwalk Café als auch über das Internet oder anderweitige Touristeninformationen ergebnislos blieb, versuchte ich mein Glück am Empfang des Wei Wai Kum First Nation Council in Campbell River, meinem nächsten Stopp auf dem Weg in Richtung Norden. Auf meine Fragen nach indigenen Restaurants oder Märkten, auf denen man indigene Lebensmittel(produkte) kaufen könne, erhielt ich von der Sekretärin am Empfang die allmählich vertraut klingende Antwort, dass es so etwas nicht gebe bzw. sie nichts dergleichen kenne. Ich stand bereits wieder mit einem Fuß auf der Türschwelle, da fiel ihr ein, dass in Alert Bay am kommenden Wochenende das alljährliche Seafest stattfinden würde, bei dem es vermutlich auch ein »traditional salmon BBQ« geben würde. Als ich am darauffolgenden Tag in Alert Bay ankam, hing am Ende des Fähranlegers tatsächlich ein grell-pinkes Pappschild: »Saturday. Culture Shock. Tłu’bukw« (Abb. 13). Wie sich herausstellte ist das Culture Shock kein Restaurant oder Ähnliches, sondern eine Mischung aus Souvenirladen und Boutique, in der man darüber hinaus sowohl verschiedenste Touren (whale watching, Kajak-, Insel- oder Abenteuer-Touren etc.) buchen als auch den – nach eigenen Angaben – besten Kaffee der Insel trinken kann.7 Im Rahmen spezieller Events wie dem Seafest bietet das Culture Shock gelegentlich gegrillten Lachs an, der im Kwak’wala tłu’bukw genannt wird. Das große tłu’bukw-Essen war für den Samstagnachmittag, den zweiten Tag des Seafest angekündigt. Ich ging bereits am frühen Nachmittag am Culture Shock vorbei. Vielleicht könnte ich mithelfen. Das Culture Shock befindet sich direkt am Wasser auf dem schmalen boardwalk entlang der Bucht, sodass während stürmischer Flut die Wellen von unten gegen den Boden des zur Hälfte auf Stelzen stehenden kleinen Gebäudes schlagen können. Als ich am Culture Shock ankam, war gerade Ebbe. Unten am Wasser bereitete ein Mann bereits ein Feuer vor. In der Luft lag der süßliche frisch-harzige Geruch von red cedar, das als Brennholz und Grillrost diente. Ich schaute vom boardwalk aus zu, bis er mich bemerkte. Wir kamen ins Gespräch. Ich ging zu ihm runter und wir unterhielten uns, während er fachmännisch die Lachse über den Rücken filetierte, die Filets mit dünnen red cedar-Hölzern aufspannte, am Feuer platzierte und grillte (Abb. 1). Das fertige Buffet stand unter freiem Himmel. Als Beilage für den Lachs standen auf Klapptischen frittiertes bannock, Kartoffeln, Kartoffelstampf, Salat und
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Das Culture Shock heißt mit vollständigem Namen Culture Shock Interactive Gallery und wird von Barb († 2019), Donna und Andrea Cranmer (’Namgis) betrieben.
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eine große Flasche Fertigdressing der Marke Kraft. Der Lachs war saftig und herzhaft-rauchig. Ich war überrascht wie präsent das red cedar-Aroma war. Das salzige und zugleich leicht süße bannock war außen knusprig und innen luftig-weich. Auch der Kartoffelstampf, unter den offenbar Ei und Zwiebeln gemischt worden waren, war zwar kalt, aber dennoch locker und deftig. Ich musste an das STS EELHTUN HASH denken, das ich wenige Tage zuvor in Duncan gegessen hatte. In der Mitte des Buffets, gleich neben dem Lachs und den Kartoffeln stand eine große grüne bauchige Flasche. Sie wurde eifrig herumgereicht. Ich sah, wie sich elders kleine Schälchen mit der klaren, goldgelb schimmernden Flüssigkeit, die sich in der Flasche befand, füllten und noch mehr davon über angedrückte Kartoffeln gaben, die sie auf ihrem Teller geschichtet hatten. Das sei grease. Ob ich probieren wolle. Ich nahm ein Schälchen, füllte etwas grease hinein und setzte mich mit meinem Teller auf ein Mäuerchen am Rand (Abb. 14). Ich hatte mich auf viel eingestellt. In Südostasien hatte ich auf Märkten und in Garküchen bereits verschiedenste, teils ungenießbar strenge Fischsoßen probiert. Das grease hatte wenig damit zu tun. Der fischig-ranzige Geruch des grease war definitiv strenger als der relativ homogene Geschmack, der lang anhaltend und fast trocken war, wie bei frischem Olivenöl, und der zudem eine gewisse Schärfe mit sich brachte. Ich wusste nun, was genau Jonaitis meint, wenn sie den zweifellos gewöhnungsbedürftigen Geschmack von grease unaufgeregt und treffend beschreibt als: »[…] quite indescribable, but […] something like exceedingly strong fish with a slightly rancid undercurrent and an oil texture that coats the mouth.« (Jonaitis 2006: 156) Auf dem Rückweg von Alert Bay in Richtung Süden machte ich Halt in Tofino und Ucluelet an der Westküste von Vancouver Island. Leider waren der Kwisitis Visitor Centre in Ucluelet und das daran angeschlossene Kwisitis Feast House, die zweite Adresse aus meiner ersten Gastronomie-Recherche, bei meiner Ankunft außerplanmäßig geschlossen. Im Hinblick auf einen niedrigschwelligen Zugang zu indigenem Kochen und Essen blieb vorerst nur die dritte Adresse, das Thunderbird Café im Squamish Lil’wat Cultural Centre in Whistler. Allein blieb mir im Rahmen meiner ersten Reise keine Zeit für einen Besuch. Mein Interesse war jedoch geweckt. Abgesehen von anderen Aspekten, war ich von der Tatsache fasziniert, dass auf den Speisekarten sowohl des Salmon n’ Bannock als auch des Riverwalk Cafés nicht nur keine oder kaum stereotype Reproduktionen historischer Gerichte zu finden waren. Vielmehr noch ging der egalitäre Umgang, im Sinne einer gleichwertigen, äquivalenten Verwendung und Vermischung historischer indigener Zutaten und Techniken mit nicht-indigenen kulinarischen Einflüssen, schlichtweg unkommentiert über das in der Literatur und in diversen Vermittlungskontexten (Museen, Cultural Center etc.) gewöhnlich eindimensionale, düster gezeichnete Bild regressiver indigener Ernährungskulturen und die Rolle nicht-indigener Einflüsse im Sinne der five gifts hinweg. Insgesamt reichten bereits diese ersten Begegnun-
2. Teil: Die gastronomische Professionalisierung indigener Ernährungskulturen
gen mit indigener Gastronomie – die Irritation und anschließende Neugier, die sie auslösten – sowie die Feststellung, dass dieser Bereich zeitgenössischer indigener Lebenswelten in der kulturwissenschaftlichen Literatur zur Nordwestküste bislang keine Beachtung gefunden hat, um mein anfängliches Interesse an der gastronomischen Interpretation indigener Ernährungskulturen zu einem handfesten Forschungsvorhaben über die Geschichte und soziokulturelle Bedeutung indigener Gastronomie werden zu lassen.
Fragen, Fokus und Grenzen Die erste Frage, die sich mir stellte, war: Wie viele indigene gastronomische Betriebe gibt es? Daran schlossen sich weitere Fragen an, wie etwa: Wie gleich oder verschieden sind sie im Hinblick auf gastronomische Konzepte, Ästhetik und Menü? Seit wann gibt es indigene Gastronomie? Hat sich die Art und Weise, wie entsprechende Restaurants, Cafés etc. indigenes Kochen und Essen gastronomisch interpretieren im Lauf der Zeit verändert? Wenn ja, inwiefern? Sicher könnte – oder muss – man zugleich fragen: Was genau ist indigene Gastronomie? Bzw. was macht ein Restaurant zu einem »indigenen« Restaurant? Diese beiden letzten Fragen werden hier zunächst ausgeklammert, um in der Diskussion im 3. Teil aufgegriffen zu werden. Im Folgenden steht stattdessen eine Überblicksdarstellung der Geschichte und des Status quo indigener Gastronomie in British Columbia (Anzahl, Verteilung und Geschichte) im Vordergrund. Für eine aussagekräftige Überblicksdarstellung muss indes klar sein, wo die Grenzen des Forschungsfeldes indigener Gastronomie liegen. Bspw. werden semiprofessionelle Cateringfirmen ausgelassen, die ihre Dienste ausschließlich für Veranstaltungen innerhalb indigener Gemeinschaften zur Verfügung stellen. Ebenfalls nicht berücksichtigt werden indigen betriebene Filialen von Franchiseunternehmen wie Tim Hortons8 oder auch Hotels und gastronomische Betriebe, die zwar in indigenem Besitz sind und unter indigener Leitung stehen, deren Angebot an Speisen aber keinen speziellen Fokus auf indigenes Kochen und Essen explizit formuliert. Ein extremes Beispiel für Letzteres war das Sage im River Cree Casino Resort in Edmonton.9 Extrem war dieses Beispiel, weil die Küche des Sage von einem der derzeit prominentesten indigenen Köche geleitet wurde: Shane M. Chartrand (Enoch Cree Nation und Métis aus Red Deer, Alberta).10 Während Chartrand, der 8
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Siehe beispielhaft Gray (2017) und Smith (2016) zu den Eröffnungen von Tim Hortons-Filialen in indigenem Besitz in Regina (Saskatchwan) und auf der Six Nations of the Grand River Reservation in Ontario. Beim River Cree Casino Resort handelt es sich um einen Casino- und Hotel-Komplex im Besitz der Enoch Cree Nation. Der 2006 eröffnete Casino-Hotel-Komplex befindet sich auf der Enoch Cree Nation Reservation Stony Plain 135 am westlichen Stadtrand von Edmonton. Das Sage wurde Anfang 2018 umgebaut und im Sommer desselben Jahres als SC Restaurant (Shane Chartrand Restaurant) wiedereröffnet.
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seinen Kochstil als »progressive Indigenous« (Chartrand 2015) bezeichnet11 , seine Ideen auch in das Menü des Sage einfließen ließ, benannte das Management diese Einflüsse nicht explizit. Tasting menus, wie ich sie im Sage von Chartrand zum Thema »progressive Indigenous« serviert bekommen habe, waren informelle Ausnahmen vom normalen Küchenbetrieb. Nicht zuletzt, so Chartrand, sei es eben immer noch ein Casino-Restaurant, das am besten besucht sei, wenn surf and turf als special of the day für 29,99 CAD auf der Karte steht (Chartrand 2016). Eine weitere Einschränkung besteht in der Kontinuität der Verfügbarkeit. So gibt es eine ganze Reihe von – meist nur kurzfristig und in unregelmäßigen Abständen stattfindenden – Möglichkeiten, um im Rahmen von Volksfesten, GastroEvents oder speziellen Gala-Veranstaltungen mit indigenem Kochen und Essen in Kontakt zu kommen. Zwar werden einige dieser Möglichkeiten im Folgenden am Rande erwähnt. Um aussagekräftige Angaben machen zu können, habe ich das Feld indigener Gastronomie jedoch durch drei Kriterien eingegrenzt und berücksichtige entsprechend nur solche Betriebe, die 1) ganzjährig oder zumindest regelmäßig geöffnet haben, die 2) ihr Küchenprofil explizit als Indigenous oder Ähnliches beschreiben und die 3) Indigenous owned sind und/oder deren Angestellte zur indigenen Bevölkerung zählen. Trotz dieser Einschränkungen ist die Liste lang – und sie wächst weiter.
2.1.2
Von Fine Dining bis Foodtruck: Landmarken indigener Gastronomie in British Columbia
Muckamuck, Quilicum und das Liliget Feast House (1974-2007) Bei der Recherche nach Vorläufern heutiger indigener Gastronomie in British Columbia stößt man schnell auf ein Restaurant in Vancouver, das nur wenige Jahre vor der Eröffnung des Salmon n’ Bannock im Jahr 2010 seine Türen schloss: das Liliget Feast House, das von 1995-2007 von Dolly (Watts) McRea (Gitk’san First Nation aus Kitwanga, British Columbia) und ihrer Tochter Annie Watts betrieben wurde. Da McRea und Watts noch im selben Jahr der Schließung des Liliget ihr preisgekröntes Kochbuch Where People Feast. An Indigenous People’s Cookbook (2007) veröffentlichten, existieren unzählige Berichte, Zeitungsartikel, Interviews und sogar Videoaufnahmen, die ausführlich über das Kochbuch, das Restaurant und die beiden Betreiberinnen berichten. Einige dieser Berichte beinhalten Hinweise auf Vorläufer des Liliget. Informationen zu diesen Vorgängern sind jedoch rar und meist unkonkret. Klar wird nur, dass die Vorgeschichte des Liliget bis in die 1970er Jahre zurückreicht. Verlässliche Informationen über zumindest die Standorte wie auch Angaben darüber, wie lange jene Restaurants in Betrieb waren, sind in den City of Vancouver Archives zu finden. Aus Grundbucheinträgen, alten Gewerberegistern 11
Mehr zu Chartrand in Kapitel 2.1.3.
2. Teil: Die gastronomische Professionalisierung indigener Ernährungskulturen
und Telefonbüchern lässt sich dort rekonstruieren, dass bereits 1974 im Westen von Downtown Vancouver das Muckamuck Restaurant. Northwest Coast Indian Food eröffnete. Das Muckamuck war nicht nur das erste, sondern bis zu seiner Schließung 1981 zugleich das einzige Restaurant in Vancouver, dessen Angebot sich auf indigenes Kochen und Essen konzentrierte. Fünf Jahre nach der Schließung eröffnete 1986 das Quilicum Westcoast Indian Restaurant im gleichen Gebäude. Nachdem dieses wiederum 1994 schloss, übernahm schließlich McRea die leer stehenden Räumlichkeiten und eröffnete 1995 das Liliget Feast House. Ein genauerer Blick in die Geschichte dieser drei Restaurants legt neben einigen Gemeinsamkeiten, die über die Adresse hinausgehen, einige Unterschiede offen. Muckamuck Restaurant. Northwest Coast Indian Food (1974-1981). (Abb. 15) Das Wort muck-a-muck stammt aus dem Chinook Jargon und wird übersetzt mit »essen/Essen« (to eat, to bite, food, Blanchet 1883: 17). Nach Erzählungen von Dolly (Watts) McRea, Andrew George Jr. und anderen indigenen Köch*innen und Gastronom*innen war das Muckamuck auf indigene Zutaten (vor allem Fisch und Meeresfrüchte) spezialisiert, die – und das sei eine echte Besonderheit gewesen – über einem offenen Feuer zubereitet wurden. Wie ein Werbezettel des Muckamuck aus dem Jahr 1975 zeigt, gehörten nicht nur Fisch, Meeresfrüchte und auch Wild »all barbecued over open alder fires« sowie gedämpfte Gemüse und Meeresfrüchte, sondern ebenso indigene Spezialitäten wie wind- und sonnengetrockneter Lachs, seaweed und »Indian style smoked salmon and oolichans« zum Angebot (Abb. 16 und 17). Als Dessert konnte man neben heißem Pioneer Pudding oder frischen Beeren der Saison mit Sahne außerdem zwischen einer kalten Himbeersuppe (cold raspberry soup) oder einer Kombination von heißem Apfelkompott (applesauce) mit Indian ice-cream wählen. Die Vorderseite der Karte wird von einer Farbfotografie eines Arrangements von einigen der aufgelisteten Speisen geschmückt. Die Art und Weise, wie bannock, gegrillter Lachs, gedünstete junge Farnspitzen (fiddleheads), gehacktes seaweed, Muscheln und geräucherte Kerzenfische in verzierten hölzernen feast dishes am Fuß eines Wappenpfahls drapiert wurden, lassen erahnen, was gemeint ist, wenn das Muckamuck in der lokalen Presse als ein Restaurant beschrieben wurde, in welchem: »about 20 Indians prepare and serve such traditional Northwest Coast delicacies as seaweed, herring roe and soapberries as well as full-course seafood meals eaten from carved Haida feast bowls.« (The Vancouver Sun 1978, zitert nach Smith 2014: 52) Wenngleich sich kaum Informationen und kein Bildmaterial zu den Räumlichkeiten des Muckamuck finden lassen, wird in Nicole (1997) deutlich, dass das Restaurant in einen Lounge-Bereich im Erdgeschoss und das eigentliche Restaurant im Keller des Gebäudes aufgeteilt war (Nicole 1997: 245). Bezüglich der Atmosphäre im Gastraum heißt es weiter: »Pebbles cover the floor and Indian art hangs from the candle-lit walls. The taped music alternates between Indian chants and country and western.« (Ebd.)
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Alteingesessenen Vancouverites (dt. Bewohner*innen von Vancouver) könnte das Muckamuck heute noch ein Begriff sein – allerdings weniger aufgrund der ungewöhnlichen Speisekarte. Mediale Aufmerksamkeit erlangte das Muckamuck in erster Linie durch einen Rechtsstreit und eine drei Jahre währende Streikpostenkette auf dem Gehsteig vor dem Eingang des Restaurants auf der Davie Street, 1724. Der Rechtsstreit begann im März 1978, nachdem sich einige Angestellte einer feministischen Gewerkschaft anschlossen – der Service, Office and Retail Workers’ Union of Canada (SORWUC). Als Grund dafür wurden schlechte Arbeitsbedingungen und Löhne angegeben. Da das nicht-indigene Management und die ebenfalls nichtindigenen Eigentümer des Restaurants zunächst jegliche Verhandlungen ablehnten, entschieden sich einige Angestellte zusammen mit Vertreter*innen der SORWUC dazu, Flugblätter mit ihren Forderungen an Passanten und Restaurantgäste zu verteilen, woraufhin der Streit eskalierte.12 Ab dem 1. Juni 1978 folgten schließlich Streiks und tägliche Demonstrationen vor dem Restaurant (Abb. 15), die 1981 zur Schließung des Muckamuck führten.13 In Artikeln und Berichten, in denen das Muckamuck als das erste dezidiert indigene Restaurant an der Nordwestküste Erwähnung findet, wird dieser Teil der Geschichte für gewöhnlich ausgeklammert. Nichtsdestotrotz, d.h., trotz der nicht-indigenen Geschäftsleitung und der Kontroverse im Zusammenhang mit den Gründen, die zur Schließung des Muckamuck geführt haben, stellte dieses Restaurant in »Vancouver’s trendy West End« (Smith 2014: 52) einen Markstein der Geschichte indigener Gastronomie dar. Ein Restaurant mit einem expliziten Fokus auf indigenes Kochen und Essen und fast ausschließlich indigenen Angestellten, war ein Novum. Nicht zuletzt war es, wie ein Zitat von George weiter unten deutlich macht und wie mir McRea bei einem unserer Gespräche erklärte, bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht nur üblich, dass Restaurants, Hotels etc. lediglich für die nicht-
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Die Eigentümer waren der umstrittene Kunsthändler Doug Christmas, die ehemalige Tänzerin und Kunstsammlerin Teresa Bjornson und Jane Erickson. Bjornson verkaufte ihre Anteile, nachdem bereits zu Beginn der Streitigkeiten Rassismusvorwürfe gegenüber den Eigentümern im Raum standen (Nicol 1997: 236). Es lohnt sich an dieser Stelle auf zwei Arbeiten zu verweisen, die aufzeigen, inwiefern die Verknüpfung von Gewerkschaftsarbeit und feministischen Vereinigungen einerseits dazu beitrugen, den Konflikt und damit zugleich das generelle problematische Verhältnis von indigener und nicht-indigener Bevölkerung in die Öffentlichkeit zu tragen – »the dispute became a ›civil rights‹ issue for First Nations people.« (Nicol 1997: 250) Andererseits führte die Orientierung der streikenden Angestellten an den Vorgaben und Organisationsformen einer im Kern nicht-indigenen Vereinigung zu Kontroversen innerhalb der indigenen Gemeinschaft. Janet M. Nicole (1997) bringt diesen Zwiespalt auf den Punkt, wenn sie Ethel Gardner, eine der zentralen Organisatoren auf indigener Seite, zitiert: »Even the Native community didn’t support the strike to the extent they could have. People say ›unions aren’t Native.‹« (Nicole 1997: 243) Siehe außerdem Smiths (2014).
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indigene Bevölkerung zugänglich waren (George 2016, McRea 2013).14 Darüber hinaus gab es kein indigenes gastronomisches Fachpersonal. Im Muckamuck war dies anders. Hier managte indigenes Servicepersonal den Gastraum, und es standen indigene Köch*innen in der Küche, wo sie offenbar alle Aufgaben und nicht nur die Rolle von Tellerwäscher*innen oder prep cooks15 übernahmen. Dennoch führte die Tatsache, dass sowohl die leitende Position des Restaurantmanagers als auch die Eigentümer nicht indigen waren, dazu, dass die Diskussion um die kulturelle Aneignung und ökonomische Ausbeutung indigener Ernährungskultur und weniger das im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung stand, worum es beim Muckamuck eigentlich ging: indigenes Kochen und Essen. Quilicum. Westcoast Indian Restaurant (1986-1994). (Abb. 18) Wie bereits beim Muckamuck, hat der Name des Restaurants seinen Ursprung im Chinnock Jargon. Quilicum bedeutet soviel wie »return of the people« (Lepine 1986: 17, Hewitt 1989: 131). Da unter den neuen Eigentümern und Betreibern des Restaurants auch ehemalige (streikende) Angestellte des Muckamuck waren (Nicole 1997: 249), scheint es nicht ausgeschlossen, dass dieser Name auf den Disput zwischen indigenen Angestellten und nicht-indigenen Eigentümern des Muckamuck anspielt. Dem hingegen betont die Journalistin Jeanne Lepine in einem Artikel im Windspeaker von 1986: »in choosing the name Quilicum, the owner/operators are intent to keep the Native traditions alive.« (Lepine 1986: 17) Eigentümer und Betreiber des Restaurants war das Ehepaar Bonnie Thorne (Nuu-Chah-Nulth) und Arthur Bolton (Tsimshian). Zumindest im ersten Jahr hatten außerdem noch Rebekah Sells (Navajo) und Malcolm McSporrn Anteile am Quilicum (ebd.). Dabei war es offenbar McSporrn16 , der die Initiative zur Wiedereröffnung des leer stehenden Restaurants im Keller des Gebäudes in der Davie Street ergriff (Nicole 1997: 249). Während der Lounge-Bereich im oberen Teil (Erdgeschoss) des Restaurants vom zwischenzeitlich gewechselten Eigentümer umgebaut und in einen Supermarkt umfunktioniert wurde, scheinen der Gastraum und die Küche
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Tennant gibt hierzu eine Episode aus dem Leben von Georges Großvater, Paddy Isaac, wieder, als dieser auf einer Reise im Inland von British Columbia nach einer Unterkunft für die Nacht suchte. Nachdem Isaac in allen Hotels im Ort abgewiesen wurde, verbrachte er auf eigene Nachfrage und kostenpflichtig die Nacht in einer Zelle der örtlichen Polizeistation (Tennant 2015: 83-84). Als prep cooks werden unausgebildete Küchenhilfen bezeichnet, die lediglich die vorbereitenden Arbeiten (schälen, waschen, grobe Schneidarbeiten etc.) eines Küchenbetriebs erledigen. McSporrn ist Architekt und Inhaber der Firma Quinkatla Development Planing Inc., die seit den 1970er Jahren neben der Konzeption und Planung von Hotel- und Wohnkomplexen bei diversen indigenen Bauprojekten in British Columbia involviert war. (www.quinkatla.com) In jüngster Vergangenheit war McSporrn bei der Konzeption und Planung des oben erwähnten, 2017 in Port Hardy eröffneten Restaurants Ha’me’ beteiligt.
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im Untergeschoss weitestgehend erhalten geblieben zu sein. Somit lassen sich anhand von Informationen zum Quilicum Rückschlüsse auf zumindest den Gastraum (im Untergeschoss) des Muckamuck ziehen. Nachdem der obere Teil des Gebäudes umfunktioniert wurde, betrat man das Restaurant über die nun mit einem überdimensionalen – für die indigenen Kulturen an der Nordwestküste typischen – trichterförmigen Hut überdachte Eingangstür, die zu einer Treppe in das Untergeschoss des Gebäudes führte. Die amerikanischen Reisejournalisten Paul Lasley und Elizabeth Harryman schrieben hierzu 1986 in einem Bericht für die Los Angeles Times: »Downstairs, you enter another world: Carved spirit masks hang on the walls, pebbles and planks form the floor, and low tables set on concrete platforms suggest the interior of a Northwest Indian lodge.« (Lasley und Harryman 1986) Interessant an der Innenarchitektur war, dass sie mit der Einrichtung des Gastraums zusammenfiel.17 So waren die mit Holzplanken ausgelegten Laufwege wie Kanäle angelegt, die in den eigentlichen Boden eingelassen waren, auf dem die Gäste, wie in vielen Langhäusern üblich, saßen. Mit dem Unterschied, dass der Boden unter den auf den ersten Blick wie flache japanische Tische wirkenden Esstischen ebenfalls ausgespart war, sodass ausreichend Beinfreiheit vorhanden war, um bequem sitzen zu können. Wie im Muckamuck wurden die meisten Gerichte in handgeschnitzten feast dishes serviert – »painted in the bold blacks, whites and reds of Northwest Native American art.« (Cardozo und Hirsch 1990) Auch im Hinblick auf das Angebot der Küche scheint unter der Leitung von Küchenchef George Ross (Tsimshian) vieles gleich geblieben zu sein (Abb. 19). Wie das Muckamuck hatte das Quilicum indigene Spezialitäten wie herring roe on kelp, luftgetrockneten Lachs und geräucherte Kerzenfische auf der Karte. Bemerkenswert ist, dass die Gäste im Quilicum die seltene Gelegenheit hatten, in direkten Kontakt mit einem zentralen kulinar-grammatikalischen Basiselement indigener Ernährungskulturen zu kommen, das eigentlich (damals wie heute) ausschließlich über informelle Austauschbeziehungen von indigenen Produzent*innen zu in der Regel ebenso indigenen Konsument*innen gelangt – nämlich grease (ebd.). Neben Suppen und Eintöpfen aus Wildgeflügel, Fisch und Meeresfrüchten wurde auch im Quilicum ein Großteil der Gerichte auf offenem Feuer zubereitet. Das betraf insbesondere Wild (Hase, Ziege und Rentier), Fisch, Austern und andere Meeresfrüchte. Hinzu kamen allerlei gedämpfte Speisen, wie bspw. junge Farnspitzen, Muscheln, Garnelen und andere Meeresfrüchte sowie zuvor geräucherter und anschließend gedämpfter Fisch (Forelle und Kohlenfisch, black cod) und pochierter, also in heißem (nicht kochendem) Wasser oder Brühe gar gezogener Lachs oder Heilbutt. Als Beilagen gab es das obligatorische bannock sowie Wildreis oder Reis, der mit gehacktem seaweed vermengt 17
Der Gastraum wurde von dem kanadischen Stararchitekten Arthur Erickson entworfen (McRea und Watts 2007: 12).
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serviert wurde. Wie im Muckamuck war außerdem ein »watercress salad« auf der Speisekarte zu finden.18 Die Dessertauswahl war durch einen starken Fokus auf die indigenen Beerensorten geprägt, wobei neben dem »Upside-down blueberry cake« und dem, vermutlich als Hommage an die indigenen Präservierungstechniken zu sehenden, »Dried fruit cocktail« die »whipped soapalallie berry« (Indian ice-cream) sicher das Highlight darstellte. Während die geschmacklich an kräftiges Tonicwater erinnernde Indian ice-cream im Muckamuck auf heißem Apfelkompott serviert wurde, wurde sie im Quilicum auf kalter Himbeerbeersuppe (cold raspberry soup) angerichtet. Cardozo und Hirsch, die den sperrigen Geschmack der rosaschaumigen Indian ice-cream alleine als »sweet shaving cream laced with quinine« beschreiben, schwärmen von dieser Kombination als »a woven tapestry of mingled tastes – sweet, bitter, smooth, foamy. And that is really quite marvelous.« (Cardozo und Hirsch 1990) Besonderheiten wie Indian ice-cream auf kalter Himbeersuppe oder geräucherter Kerzenfisch und nicht zuletzt auch grease stellten im Vancouver des ausgehenden 20. Jahrhunderts zweifelsohne gastronomische Alleinstellungsmerkmale dar. Dagegen sind die meisten der oben genannten Zutaten wie Lachs, Heilbutt, Wild und insbesondere Meeresfrüchte schon aufgrund der Tatsache, dass sie konstitutive Bestandteile der Northwest Coast natural region sind, ein zentrales Charakteristikum der generell stark an lokalen Ressourcen orientierten Restaurantkultur in British Columbia. Das skizzierte Angebot des Quilicum reflektiert indes einen zentralen Aspekt der kulinarischen Grammatik der historischen indigenen Ernährungskulturen wie sie in Kapitel 1.2.1. herausgearbeitet wurde. Nämlich die maßgebende Rolle der verwendeten Kochtechniken oder Zubereitungsmethoden (Grillen, Dämpfen, Lufttrocknen, Räuchern etc.) bzw. des Ineinandergreifens von einerseits der Qualität der Lebensmittel19 und andererseits der Zubereitungsmethode – oder, wie im Fall der geräucherten und anschließend pochierten Fische, die
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Vor dem Hintergrund, dass rohes Blattgemüse keinen nennenswerten Teil der historischen indigenen Ernährungskulturen an der Nordwestküste darstellt, hält Turner fest: »Watercress is a weedy plant of stream banks, introduced from Europe. The Saanich used to pick it at Shady Creek near Brentwood on Vancouver Island and eat the leaves raw, a practice probably learned from the local colonists.« (Turner 2006: 134) Einige Spezialitäten wie Heringsrogen, seaweed, geräucherte Kerzenfische, soapberries, Ziegenfleisch und luftgetrockneter Lachs stammten offenbar von indigenen Produzent*innen. Cardozo und Hirsch erwähnen hierzu mit Bezug auf Angaben von Thorne und Bolten: »The food all comes, one way or another, from native Canadians. The smoked oolichans and seaweed are from Prince Rupert, B.C.; the herring roe from the Queen Charlotte Islands; the wind-dried salmon from Vancouver Island; and the goat from someone in the Northwest Territories. Even the fiddlehead ferns come, roundabout, from an Indian source.« (Cardozo und Hirsch 1990)
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Kombination von Präservierungstechnik und Zubereitungsmethode – als das eigentliche und letztlich einzige »Gewürz«. Bolton betont hierzu gegenüber Lasley und Harryman: »We try to keep as close as we can to the old traditional ways of cooking over an open fire with real alder wood. Everything we use is fresh and natural, aside from herbs the only seasoning is the steam that comes out of the pot.« (Lasley und Harryman 1986) Ein wichtiges Detail im Hinblick auf die Rolle des Quilicum im Kontext von Vancouvers damaliger Restaurantlandschaft und die zunehmende Präsenz indigener Gastronomie in der kanadischen Öffentlichkeit ist, dass einer der Köche, der 1985 im Quilicum arbeitete, Andrew George Jr., wenige Jahre später, im Jahr 1991, zusammen mit George Seipp20 die Toody-Ni Grill and Catering Company eröffnete (Abb. 20). In dem kurzen Zeitraum, von 1991 bis 1993, in dem das Toody-Ni in Betrieb war, gab es erstmals gleichzeitig zwei indigene Restaurants in Vancouver, die zudem unterschiedliche Ansätze im Umgang mit indigenem Kochen und Essen verfolgten. So war das Angebot von Georges Küche im Gegensatz zum Quilicum (zumindest am Anfang) stärker auf Gerichte fokussiert, die gemeinhin als comfort food verstanden werden. Oder wie George es formulierte: »We started out very basic, you know, doing buffalo burgers and all that other stuff.« (George 2016) Inwiefern sich der Fokus der Küche in den nur zwei Jahren, die das Toody-Ni in Betrieb war, grundlegend geändert hat oder nicht, ließ sich nicht eindeutig in Erfahrung bringen. Lediglich im Hinblick auf Veranstaltungen außer Haus betonte George: »But when we got into catering we did a lot of traditional foods, a lot of traditional drumming and all that other stuff.« (Ebd.) Klar ist, dass das Toody-Ni eine grundlegend andere Klientel ansprach als das Quilicum. Die Standorte der beiden Restaurants sind hierfür der beste Indikator. Während sich das Quilicum in Downtown Vancouver in Sichtweite des bei Touristen und Vancouverites gleichermaßen beliebten English Bay Beach befand, kann der Standort des Toody-Ni in den Räumen der Vancouver Aboriginal Friendship Centre Society (VAFCS), 1607 E Hastings St., kaum unterschiedlicher sein. Das Zentrum der Downtown Eastside – »The epicentre of hell« (Shore 2006)21 –, die seit den späten 1980er Jahren als Vancouvers Ballungszentrum von Prostitution, Drogenszene, Obdachlosigkeit, Armut und Kriminalität bekannt ist, war zwar gute dreißig Gehminuten entlang der E Hastings St. in Richtung Downtown entfernt. Die Nähe zu diesem Ort, an dem die Straßenreinigung um Polizeischutz bittet, um ihre Arbeit
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George und Seipp hatten gemeinsam ein Ausbildungsprogramm am Vancouver Vocational Institute (VVI, heute Vancouver Community College, VCC) absolviert (George 2016). Als »Epizentrum der Hölle« beschreibt Journalist Randy Shore die vier Blocks rund um die Straßenkreuzung E Hastings St. und Columbia Street im Herzen der Downtown Eastside.
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verrichten zu können (Steffenhagen 2006), ist jedoch die gesamte E Hastings St. bis tief nach East Vancouver und damit auch in der Umgebung des VAFCS deutlich zu spüren. Die Lage des Toody-Ni stand somit nicht nur im Sinn der Himmelsrichtung in einem diametralen Verhältnis zu »Vancouver’s trendy West End« (Smith 2014: 52). Während das Quilicum in erster Linie Touristen bewirtete (Hewitt 1989: 132), beschreibt George seine Kernkundschaft als »professionals«, also Personen, die in der Gegend arbeiteten. Dass das Toody-Ni nach zwei Jahren seinen Betrieb einstellen musste, hängt laut George damit zusammen, dass die Verantwortlichen des VAFCS die Miete erhöhten (George 2016). Nach der Schließung des Toody-Ni 1993 dauerte es nur knapp ein Jahr, bis schließlich auch das Quilicum seine letzten Gäste bewirtete.22 Nachdem es für eine Zeitspanne von zwei Jahren erstmals gleichzeitig zwei und zudem sehr unterschiedliche indigene gastronomische Betriebe in Vancouver gab, verschwanden die indigenen Ernährungskulturen der Nordwestküste Mitte der 1990er Jahre vorerst aus der Restaurantlandschaft British Columbias. Allerdings nur für sehr kurze Zeit.23 Liliget Feast House. Northwest Native Cuisine (1995-2007). Der Name des Restaurants in den Räumlichkeiten im Untergeschoss der Davies Street 1724 geht auf den Gitk’san-Begriff liliget zurück, den man mit »where people feast« (McRea und Watts 2007: 12) übersetzen kann. Die Eigentümerin und Betreiberin Dolly (Watts) McRea war bereits 59 Jahre alt, als sie die Räumlichkeiten 1995 übernahm.24 Geboren 1935 in Kitwanga als das zehnte von vierzehn Geschwistern, beschreibt McRea ihre Kindheit im nördlichen Inland von British Columbia in My Name is Dolly (2014) kurz und bündig: »My family was rich in culture and never hungry.« (McRea 2014: 6) Neben anderen Elementen der historischen indigenen Lebensweisen prägte das Jagen von Wild und das Fischen im Skeena River sowie die gemeinschaftliche Arbeit in berry picking camps; das Kochen in der großmütterlichen Küche; das Backen von frischem bannock am offenen Feuer; Snacks wie essbare Sukkulenten mit grease und Zucker oder Baumharz-Kaugummi und nicht zuletzt die Köstlichkeiten großer Potlatch-Feste ihre Kindheitserinnerungen. Laut McRea 22 23
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Einem Interview mit McRea im Windspeaker zufolge wurde das Quilicum geschlossen, weil Thorne schwer erkrankt und kurz darauf verstorben sei (Lin 2001). Der Vollständigkeit halber muss an dieser Stelle im Hinblick auf die Verbreitung indigener Gastronomie in anderen Teilen Kanadas erwähnt werden, dass ca. 1987 in Morley, Alberta, das Chief Chiniki Restaurant eröffnete (siehe The City of Calgary Archives [2002: 32]; ein genaueres Datum ließ sich nicht ermitteln). Bemerkenswert ist zudem, dass das Restaurant erst 2012 aufgrund eines verheerenden Brandes geschlossen und 2017 als Stones Restaurant wiedereröffnet wurde. Insgesamt war das Chief Chiniki Restaurant damit eines der frühsten indigenen Restaurants in Kanada, das sich zudem noch unmittelbar an einer von Kanadas Hauptverkehrsadern, dem Trans Canada Highway 1, befand. Diese und die meisten der folgenden Informationen gehen, wenn nicht anders gekennzeichnet, auf persönliche Gespräche mit Dolly (Watts) McRea im Dezember 2013, März 2014 und Februar 2015 zurück.
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sind es eben diese Erfahrungen, die bis heute ihren Zugang und Umgang mit indigenem Kochen und Essen bestimmen. Dabei sollte es eine ganze Weile dauern, bis McRea über Umwege auf die Idee kam, ein Restaurant zu eröffnen. Genau genommen entdeckte sie erst durch die Immatrikulation an der University of British Columbia (UBC) 1984 im Alter von 49 Jahren ihre Leidenschaft und ihr Talent für eine gastronomische Karriere. Das Schlüsselmoment dieser Kehrtwende ereignete sich, als McRea anderen indigenen Studenten half, Geld für eine Studienfahrt zu sammeln. Sie verkaufte zu diesem Zweck frittiertes bannock vor dem Eingang des Museum of Anthropology (MOA) auf dem UBC-Campus. Der überraschende Erfolg dieser Aktion bewegte McRea nach Abschluss eines Bachelors in Cultural Anthropology 1989 dazu, ab 1992 unter dem Namen Just like Grandma’s Bannock, regelmäßig bannock und mit der Zeit auch andere Speisen wie gegrillten Lachs, Suppen und Eintöpfe anzubieten. Wegen der stetig wachsenden Nachfrage nach Just like Grandma’s Bannock mietete sie zunächst wechselnde Küchen, um dort zu produzieren und andernorts (wie bspw. auch im bei Touristen beliebten Granville Island Public Market) verkaufen zu können. Als die Nachfrage weiter anstieg und McRea von dem leer stehenden Restaurant in der Davie Street erfuhr, ergriff sie die Chance. Da die Innenarchitektur des Restaurants untrennbar mit der Einrichtung verbunden war, entsprach das Erscheinungsbild des Gastraums im Liliget im Wesentlichen dem der beiden Vorgänger (Abb. 21). Lediglich das indigene Kunsthandwerk an den Wänden und die Gestaltung des Eingangsbereichs änderten sich merklich. Auch im Hinblick auf das Menü war eine gewisse Kontinuität nicht zu übersehen. Wie zuvor im Muckamuck und Quilicum war die Speisekarte, neben diversen gedünsteten und gedämpften Speisen, von auf dem Grill zubereitetem Wild, Fisch und Meeresfrüchten dominiert. Auch die angebotenen indigenen Spezialitäten wie seaweed, geräucherte Kerzenfische, luftgetrockneter Lachs, Indian ice-cream, herring roe on kelp und natürlich bannock waren nahezu gleich. Auf meine Frage, inwiefern sich das Muckamuck, Quilicum und Liliget im Hinblick auf die Speisekarte unterschieden haben, antwortete George entsprechend: »They were fairly similar. The menu was almost the same.« (George 2016) Nichtsdestotrotz standen einige Gerichte auf der Karte, die im Hinblick auf das Angebot der Vorgänger des Liliget aus der Reihe fielen. Dazu gehörten bspw. »Crab Cakes«, »Clam fritters«, »sweet potato tart«, »stuffed Jalapenos with cream cheese« und »Cheddar Cheese perogies« (Abb. 22). Darüber hinaus ist es auffällig, dass McRea davon absah, Fleisch und Fisch »nicht« zu marinieren oder anderweitig mit etwas anderem als der Kombination von Zutaten und (Präservierungstechnik und) Zubereitungsmethode zu würzen. Entsprechend ihrer Rezepte verfeinerte McReas langjähriger Küchechef Felix Parnell (Haida) die Gerichte stattdessen mit Würzsaucen wie Ketchup, Soja- und Worcestershiresauce. Bemerkenswert ist, dass luftgetrockneter Lachs nicht mit grease, sondern mit geschmolzener Butter
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(drawn butter) serviert wurde, wie sie in gewöhnlichen Fisch- und MeeresfrüchteRestaurants üblicherweise zu gedünsteten Krabben oder Hummer gereicht wird. Sucht man nach Erfahrungsberichten zum Liliget, findet man (fast) ausschließlich sehr positive Bewertungen. Wie McRea allerdings selbst betont, bestand der überwiegende Teil der Kundschaft in erster Linie aus Touristen. In einem Interview im Kontext der Verleihung des BC Aboriginal Business Award for Individual Achievement in 2010 wurde McRea noch deutlicher: »We hardly ever served First Nations.«25 Der Punkt sei, dass das Angebot des Liliget für indigene Kunden ohnehin nichts Neues bereitgehalten hätte.26 Und um das, was man bei Festessen, diversen community gatherings oder auch zu Hause gewissermaßen umsonst essen kann, in einem Restaurant zu bestellen, in dem der Koch den Fisch vielleicht nicht so grillt, wie man es selbst getan hätte; das grease eventuell nicht den eigenen Ansprüchen gerecht wird; das bannock womöglich zu fest, zu weich, zu viel oder zu wenig fettig ist; war ein Besuch im Liliget zu kostspielig. Abgesehen davon, dass die indigene Bevölkerung in der Region offenbar wenig Interesse daran hatte – und oftmals auch nicht die finanziellem Mittel – McReas Restaurant zu besuchen, lässt sich nicht von der Hand weisen, dass das Liliget, wie bereits seine Vorgänger, das gastronomische Spektrum Vancouvers signifikant erweitert und zugleich die Präsenz indigener Ernährungskulturen im öffentlichen Raum aufrechterhalten hat. McRea wusste um diese Rolle ihres Restaurants. Als das Grundstück, auf dem sich auch das Liliget befand, an einen Bau-Investor verkauft wurde, war für McRea deshalb klar, dass das Liliget nicht einfach verschwinden durfte. Stattdessen nahm sie das Kästchen mit den fleckigen Karteikarten, auf denen sie ihre Rezepte festgehalten hatte, und publizierte eine Auswahl davon in Where People Feast. An Indigenous People’s Cookbook (2007). Wenngleich McReas und Watts Kochbuch demnach einen relativ unverfälschten Einblick in den Facettenreichtum des Liliget gibt27 , besiegelte der Abriss des gesamten Gebäudekomplexes 1724 Davie Street 2008 das Ende der Ära indigener Gastronomie in Downtown Vancouver.
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www.bcachievement.com/aboriginalbusiness/2010/video/dollywatts.mp4, abgerufen am 30.07.2018. Von diversen indigenen Köch*innen und Gastronom*innen bekam ich stets eine nahezu identische Antwort auf die Frage, ob sie denn die indigenen Restaurants in Vancouver besucht hätten: »No. It is not a big thrill for me. I have that stuff every day!" Als ich McRea im Dezember 2013 das erste Mal in Port Alberni besuchte, zeigte sie mir das kleine Kästchen mit den alten und sichtbar gebrauchten Rezept-Karteikarten. Nebenbei – ich hätte es beinah überhört – erwähnte sie, dass ihre Tochter Annie einige Rezepte für die Publikation mit »fancy spices« aufgepeppt hatte. Bspw. enthielten die clam fritters im Original keinen Kardamon (McRea 2013).
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Salmon n’ Bannock Bistro (seit 2010) Nach zwei Jahren, in denen es in Vancouver kein indigenes Restaurant gab, eröffneten Inez Cook (Nuxalk) und Remi Caudron pünktlich zu den Olympischen Winterspielen 2010 das Salmon n’ Bannock auf dem W Broadway, einer von Vancouvers Hauptverkehrsadern (Abb. 23). Die Idee dazu kam Cook ein Jahr zuvor, als sie in Westbank das damals neu eröffnete Kekuli Cafe kennenlernte.28 Wie konnte es sein, dass es in Westbank indigene Gastronomie gibt und in Vancouver nicht mehr? Cook und Caudron waren zu diesem Zeitpunkt – und sind nach wie vor – hauptberuflich Flugbegleiter bei Air Canada.29 Für beide war jedoch klar, dass diese Lücke in der gastronomischen Landschaft Vancouvers und die kommenden Winterspiele zusammen eine einmalige Chance boten. Mit den Winterspielen im Blick war der Name Salmon n’ Bannock schnell gefunden. Schließlich reflektiert er zwei charakteristische Elemente indigener Ernährungskultur, die sowohl nicht-indigene Gäste (salmon) als auch indigene Gäste (bannock) direkt ansprechen. Im Gegensatz zu Thorne und Bolton vom Quilicum und McRea vom Liliget konnten Cook und Caudron auf keine hinreichend thematisch-eingerichteten Räumlichkeiten zurückgreifen. Stattdessen mieteten sie das kleine, leer stehende Restaurant mit seinen flachen Decken und dem unscheinbaren Eingang inmitten der endlosen Ladenfronten entlang des vierspurigen W Broadways. Den Gastraum gestalteten sie in einem krassen Kontrast zu Arthur Ericksons »Langhaus-Atmosphäre« und dessen kontrapunktischem Zusammenspiel von hellem Holz und grauem Beton in den Kellerräumen in der Davie Street. Mit den tiefroten Wänden und der ansonsten in schwarz gehaltenen Einrichtung und dem dunklen Holzboden entschieden sich Cook und Caudron für die beiden zentralen Farbtöne indigener Kunst an der Nordwestküste.30 Wie bei den Vorgängern hängen an den Wänden wechselnde zum Verkauf stehende Kunstwerke indigener Künstler*innen. Außerdem gibt es in dem schmalen Gang, der in den hinteren Teil des Restaurants am Kücheneingang vorbei in Richtung Toilette und Notausgang führt, ein kleines Regal mit indigenen Designobjekten wie Pfeffer- und Salzmühlen oder auch im Stil der formline art bedruckte Seidentücher und Kaffeetassen. Neben der Lage und der Einrichtung besteht ein wesentlicher Unterschied zum Muckamuck, Quilicum und Liliget darin, dass sich in der sehr kleinen Küche des 28
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Die Informationen zum Salmon n’ Bannock gehen, sofern nicht anders gekennzeichnet, auf die vielen Gespräche zurück, die ich mit (hauptsächlich) Caudron und (seltener) Cook im Laufe meiner Feldforschungsaufenthalte geführt habe. Während meines letzten Gesprächs mit Caudron im Februar 2018 erwähnte er, dass er sich noch vor Ende des Jahres als Eigentümer zurückziehen und von da an Cook die alleinige Eigentümerin und Betreiberin sein werde. Dies gilt vor allem für Gruppen im südlichen und mittleren Teil der kanadischen Nordwestküste. Bei weiter nördlich gelegenen Gruppen wie den Tlingit, Haida und Tsimshian ist hingegen die Kombination von Gelb, Schwarz und zum Teil auch Blau charakteristisch.
2. Teil: Die gastronomische Professionalisierung indigener Ernährungskulturen
Salmon n’ Bannock kein holzbefeuerter Grill befindet. Während die Vorgänger des Salmon n’ Bannock gerade diesen Aspekt der Küche als Distinktionsmerkmal herausstellten, beschreiben Cook und Caudron ihr Restaurant auf dessen Website mit den Worten: »We are Vancouver’s only First Nations restaurant. We specialize in wild fish, free range game meat and of course bannock, freshly baked daily. We use traditional ingredients that we prepare and present in a modern way.«31 Bei meinem ersten Besuch im Salmon n’ Bannock an einem Abend im Juli 2013 hatte ich im vollbesetzten Restaurant keine Gelegenheit mit einem der beiden Eigentümer ins Gespräch zu kommen und war überrumpelt von eben jenem »modern way«. Bei meinem zweiten Besuch im Dezember 2013 war ich am frühen Mittag anfangs der einzige Gast, was mir die Gelegenheit gab, mich vorzustellen und ins Gespräch zu kommen: Es sei tatsächlich das einzige indigene Restaurant in Vancouver, wobei es noch ein paar Caterer gäbe. »Traditional Indigenous cuisine« würde man generell eher schwer bekommen und in der Stadt schon gar nicht. Grund dafür sei die geschmackliche Konkurrenz. Die Leute würden lieber asiatisch essen. Das sei einfach geschmacksintensiver und würziger als »traditional Indigenous cuisine«, die generell salzarm, »simple« und »not elaborated« sei. Ich fragte nach einer Empfehlungen. Was sollte ich bestellen, um die tragenden Säulen indigener Ernährungskultur kennenzulernen. Die Antwort kam prompt und dem Slogan des Salmon n’ Bannock entsprechend: »We got Game!« Ich solle am besten die »Sampler« bestellen. Damit könne ich die wichtigsten Aspekte abdecken: nämlich Fisch und Wild. Ich bestellte also den »Game Sampler« mit drei verschiedenen Wildarten auf drei verschiedene Weisen zubereitet. Es gab Moschusochsen-Prosciutto, »Smoked Bison« und »Spicy Moose Saussage«, dazu »Double Smoked Cheese«, »Blueberry Jelly« mit Wacholder, »Cedar Jelly« und bannock. Der anschließende »Salmon Sampler« bestand aus mit Salbei geräuchertem sockeye-Lachs, Indian candy, einer Lachscreme und noch mehr bannock. Nachdem eine Bedienung die leeren Teller abgeräumt hatte, kam ein weiterer Teller aus der Küche, auf dem sich bannock cracker und ein kleines Schälchen befanden. Da ich ja offenbar was Essen angeht »open minded« sei, sollte ich das einmal probieren: grease. Das überraschend milde grease kaum aus Cooks Heimat, Bella Coola, und war auf der Speisekarte nicht zu finden. Wie weiter oben bereits erwähnt wurde, umfasst die Speisekarte des Salmon n’ Bannock ein überschaubares Angebot von tendenziell einfachen Gerichten (Abb. 9). Zwar gibt es neben der kleinen Auswahl an Wild-Charcuterie und LachsSpezialitäten der game und salmon sampler auch ambitioniertere Kreationen wie »Sage Infused Blueberry Preserve« oder modische Vorspeisen wie »Wild Sockeye 31
www.salmonandbannock.net/about.html, abgerufen am 30.07.2018.
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Cured in Beetroot and Citrus« und auch gelegentliche specials wie herring roe on kelp, Elch Ossobuco oder oolichan in a blanket (Kerzenfisch im Blätterteigmantel). Der Kern der Speisekarte konzentriert sich aber auf Hauptspeisen von Fisch und Wild wie »Wild Sockeye Salmon«, »Feature Game Sausages«, »Slow Cooked Free Range Bison Short Ribs« und »Red Snapper«, die alle mit gebackenem bannock und Kartoffeln oder alternativ »Ojibway Wild Rice Pilaf« als Sättigungsbeilage sowie grünem Spargel, Karotten und Zucchini als Gemüsebeilage serviert werden. Darüber hinaus gehören »indigenous inspired« comfort foods zum Küchen-Profil. So gibt es neben »Bannock Burgers« und »Bannock Bowls«32 auch Indian tacos. Allerdings werden Letztere auf der Karte des Salmon n’ Bannock nicht als solche, sondern als »Bannock Tacos« bezeichnet, die mit verschiedenen Chili-Varianten garniert werden. So kann man wählen zwischen entweder vegetarischem Chili oder nicht-vegetarischen Varianten basierend auf Bison, Elch, »pulled boar« oder »game sausage«. Die Auswahl an Desserts schließlich wechselt je nach Verfügbarkeit. Neben chocolate vulcanos, allerlei gedeckten Kuchen mit Sahne oder Eiscreme und bannock-bread pudding hat man gelegentlich die Möglichkeit, Indian ice-cream zu probieren, die leicht gesüßt, mit ein paar Beeren und einem Minzblatt garniert serviert wird. Bis auf die game und salmon sampler, die auf Holzbrettern angerichtet werden, wird für alle anderen vorwiegend als Tellergerichte konzipierten Speisen weißes Keramikgeschirr und keine verzierten hölzernen feast dishes verwendet, wie das im Liliget und den anderen Vorgängern (zum Teil) noch der Fall war. Auffällig ist zudem, dass das Salmon n’ Bannock mit seiner Spezialisierung auf Fisch und Wild zwei der für die Vorgänger charakteristischen Lebensmittelkategorien ins Zentrum des Küchenprofils rückt, während Meeresfrüchte überhaupt keine Rolle mehr spielen. Gleichzeitig setzt sich die untergeordnete Bedeutung, die indigenem Gemüse und insbesondere den essbaren Rhizomen im Muckamuck, Quilicum und Liliget zukam, im Salmon n’ Bannock ungebrochen fort. So gibt es bis auf wild rice, soapberries und andere indigene Beerenarten allenfalls gelegentlich specials wie junge gedünstete Farnspitzen als Gemüsebeilage oder eingelegte Tannentriebe (pickled spruce tips) als geschmacksintensive Garnierung auf durchgebratenem sockeye-Filet. Im Gegensatz zum Muckamuck und Quilicum, aber im Einklang mit dem Liliget, werden im Salmon n’ Bannock zudem Würzsaucen wie bspw. BBQ Sauce verwendet, etwa beim »Wild Pulled Boar« mit »House Made Barbecue Sauce and Bannock Crackers«. Außerdem werden Salate und andere Speisen mit Balsamico-Creme oder mit auf Milchprodukten basierenden Cremes verfeinert und verziert. Insgesamt spielt das, für die
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Dieses Gericht – »a bread bowl made of bannock that’s filled with home-style comfort foods like vegetarian or wild buffalo chili, or smoky, tender wild deer stew« (The Georgia Straight 2010) – steht mittlerweile nicht mehr auf der Speisekarte.
2. Teil: Die gastronomische Professionalisierung indigener Ernährungskulturen
kulinarische Grammatik der historischen indigenen Ernährungskulturen charakteristische Zusammenspiel von Lebensmittel, Präservierungs- und Zubereitungstechniken, wie es in den Küchenprofilen der drei Vorgänger noch zu erahnen war, keine merkbare Rolle mehr.33 Bezüglich der Zutaten versicherte Cordron, dass sie versuchen würden, so viel wie möglich von indigenen Produzent*innen zu beziehen.34 Das Problem sei jedoch, dass bis auf bspw. Lachs oder Heilbutt, der von kommerziellen indigenen Fischern gefangen und vertrieben wird, der Großteil der indigenen Zutaten, die sie theoretisch beziehen könnten, nicht zertifiziert werden kann. Dies betrifft insbesondere Produkte wie grease oder Spezialitäten wie smoked sea lion sowie verschiedene Wildarten, die nicht gezüchtet werden (können).35 Die kanadische Journalistin, Foodbloggerin und Kanadistin L. Sasha Gora schreibt hierzu in Vancouver’s Only Aboriginal Restaurant’s Got Game (2016): »Serving game is a complicated matter in Canada with distinct regulations in each province and territory. In British Columbia, like most of country [sic!], meat that is served in a restaurant has to be raised on a farm and slaughtered in a governmentapproved facility.« (Gora 2016) Die Spezialisierung auf Fisch und Wild sowie der Versuch, sowohl die Produzent*innen als auch die eigenen Mitarbeiter fair zu bezahlen, hat zur Folge, dass ein Essen im Salmon n’ Bannock – wie bereits bei seinen Vorgängern – oberhalb der durchschnittlichen Restaurantpreise in Vancouver liegt. Insgesamt lässt sich zwar festhalten, dass Cook und Caudron einen Ansatz verfolgen, der auf Qualität setzt, allerdings nicht zwangsläufig in Bezug auf die kulinarischen Qualitäten eines küchentechnisch hochwertigen Endprodukts. Wie Caudron mir gegenüber deutlich machte, steht für Cook und ihn vielmehr die Qualität sozialer Beziehungen im Vordergrund. Soziales Engagement für sowohl die lokale indigene community als auch die indigene Bevölkerung in Kanada im Allgemeinen sei ein maßgebender Aspekt ihrer Firmenpolitik. Entsprechend nimmt das Salmon n’ Bannock immer
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Um eine Vorstellung von den Speisen und dem Stil zu bekommen, in dem dieselben angerichtet werden, siehe Abb. 24-26. In einem Interview mit der Vancouver Sun sagte Cook hierzu: »The first choice in purchasing ingredients is First Nations suppliers,[…] then local, then Canadian, then Turtle Island (North America).« (Stainsby 2018) Das heißt jedoch nicht, dass diese Dinge nicht ihren Weg in die Küche des Salmon n’ Bannock finden würden. Sie stehen bloß nicht auf der Speisekarte und werden (wenn) nur unter der Hand verkauft. Bzw. wird grease primär an indigene Gäste ausgegeben oder ggf. als Kostprobe verschenkt. Auf meine Frage, ob sie sich keine Sorgen über etwaige Konsequenzen machen würden, erklärte mir Cordron, dass sie dieses Risiko auf sich nehmen würden. Nicht zuletzt würden sie Produkte wie smoked sea lion nur gelegentlich und dann in solch geringen Mengen bekommen, dass diese ausverkauft seien, bevor irgendein Amt davon erführe.
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wieder an Aktionen indigener (meist lokaler) Initiativen teil oder stellen Cook und Caudron ihre Räumlichkeiten für Veranstaltungen wie bspw. eine Serie von Reconciliation Dinner Workshops36 zur Verfügung. Am deutlichsten kommt dieses Engagement jedoch in der inoffiziellen all Indigenous policy zum Tragen – also dem Grundsatz, nur indigene Mitarbeiter (notfalls auch ohne jedwede Qualifikation) einzustellen und, sofern möglich, von indigenen Produzent*innen zu kaufen, selbst wenn qualitativ hochwertigere Produkte zu günstigeren Preisen erhältlich sind. Nicht zuletzt ist es Cook und Cordrons dezidierte Absicht, ihr Restaurant durch ihr Engagement und das generelle öffentliche Auftreten als einen Ort kenntlich zu machen, an dem sich Mitglieder der indigenen Bevölkerung inmitten der nicht-indigenen Öffentlichkeit Vancouvers zugehörig fühlen sollen; an dem sie keinerlei Ressentiments aufgrund ihrer Herkunft zu befürchten haben; an dem elders mit dem gebührenden Respekt behandelt werden oder auch mal ein Preisnachlass zugestanden wird. Diese Sensibilität, das soziale Engagement und nicht zuletzt die flache Hierarchie innerhalb des Betriebs hängen auch damit zusammen, dass Caudron als Miteigentümer und -betreiber von »Vancouver’s only First Nations restaurant« kein Mitglied der indigenen Bevölkerung ist und somit schnell der Vorwurf kultureller Aneignung und Ausbeutung indigener Kultur im Raum steht.37 Während Cordrons nicht-indigene Herkunft in keiner Weise unterschlagen wird, hält er sich bei Interviews und bei Veranstaltungen außer Haus, um Missverständnisse zu vermeiden, meist im Hintergrund, sodass Cook letztlich Gesicht und Stimme des Salmon n’ Bannock in der Öffentlichkeit ist. Wie schnell dieser Vorwurf trotz allem formuliert wird, erfuhren Cook und Caudron bereits kurz nach der Eröffnung. Denn Cook ist zwar gebürtige Nuxalk, als Opfer des sogenannten Sixties Scoop wuchs sie jedoch ohne Kontakt zu ihren Verwandten auf.38 Als dann in allen bekannten Nachrich36
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Dabei handelt es sich um Veranstaltungen, bei denen im Rahmen eines Drei-Gänge-Menüs Themen im Zusammenhang mit dem historischen und gegenwärtigen Verhältnis von indigener und nicht-indigener Bevölkerung mit eingeladenen Expert*innen diskutiert werden. Inhaltlich kuratiert wird die Veranstaltung von Sk’elep Reconciliation (www.skelepreconciliation.com) und Indigenize It (www.indigenizeit.com). Wenngleich der bereits erwähnte Oglala-Lakota-Koch Sean Sherman sich im Folgenden auf seine Erfahrungen in den USA bezieht, gibt seine Aussage in einem Interview mit The Washington Post zur Aneignung indigener Ernährungskulturen durch nicht-indigene Köch*innen und Gastronom*innen recht genau die geläufigen Ansichten wieder, wie sie entsprechende Diskurse in Kanada prägen: »I’ve seen some pop-up restaurant start-ups start to come around where nonnative people are trying to do Native American food […]. And we had a conversation with them – ›You know, you can do whatever you want to do, but if you call your food Native American food and you don’t even have any native people on your staff, then it’s completely cultural appropriation.‹« (Judkis 2017) Im Zuge des Sixties Scoop wurden zwischen den 1950er bis 1980er Jahren geschätzte 20.000 indigene Kinder im Kleinkindalter aus ihren Familien genommen und entweder zur Adopti-
2. Teil: Die gastronomische Professionalisierung indigener Ernährungskulturen
tenkanälen in British Columbia über die Eröffnung des Salmon n’ Bannock berichtet und dabei erwähnt wurde, dass einer der Betreiber Nuxalk aus Bella Coola ist, wurde man innerhalb der dortigen communities hellhörig. Schließlich war Cook dort bis dato eine Unbekannte. Es dauerte nicht lange, bis Cook und Caudron im Restaurant Besuch bekamen. Man vermutete Betrug. In einem Interview mit CBC-Radio berichtet Cook von einer Situation, in der eine Nuxalk-elder sie mit Fragen löcherte. Als Cook am Ende des Gesprächs kurz den Tisch verlassen musste, griff die Frau zum Telefon. Nach dem Auflegen ging sie mit offenen Armen auf Cook zu, mit den Worten: »Let me be the first to welcome you home. We’re family.« (CBC-Radio 2017c) Zusammenfassend kann man festhalten, dass das Salmon n’ Bannock im Hinblick auf sein Küchenprofil durch eine Vielseitigkeit charakterisiert ist, die von indigenen Zutaten (vor allem Fisch und Wild) und Spezialitäten wie herring roe on kelp, smoked oolichans oder smoked sea lion über die Verwendung klassischer (im Sinne französischer) Küchentechniken und einem modernen Präsentationsstil bis zu indigenem comfort food reicht. Diese Vielseitigkeit reflektiert sich im heterogenen Kundenstamm des Salmon n’ Bannock, der wiederum von Touristen und Foodies, über Stammgäste, Schulklassen und Studentengruppen bis hin zu Vertreter*innen der lokalen indigenen community und indigenen prominenten Persönlichkeiten reicht. Gerade vor dem Hintergrund von Cook und Cordrons sozialer Agenda verlangt eine weitere Kategorie von Gästen nach einer separaten Nennung – nämlich indigene Patienten des zwei Häuserblocks entfernten Vancouver General Hospital. Für die Patienten, die ihre Familien und Heimat in ländlichen indigenen communities verlassen, um sich in Vancouver medizinisch behandeln zu lassen, ist das Salmon n’ Bannock ein wichtiger Anlaufpunkt. Hier wissen sie nicht nur, dass sie uneingeschränkt willkommen sind. Im Rückgriff auf ein Zitat, das weiter oben im Zusammenhang mit der identitätsstiftenden und -versichernden Rolle von bannock bereits erwähnt wurde, wird vielmehr deutlich, wie wichtig das Salmon n’ Bannock als Zugang zu indigenem Kochen und Essen – allem voran bannock – für diese Menschen in dieser oft ungewissen Phase ihres Lebens ist. Denn wie Blackstock in Bannock Awareness festhält: »Food not only nourishes us, but gives us comfort; a special dish served the way our mothers and grandmothers prepared it reassures us in a changing world.« (Blackstock 2013: 1)39
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on in nicht-indigene Mittelklasse Haushalte freigegeben oder kamen in nicht-indigene Pflegefamilien und -heime. Tatsächlich gibt es sogar vereinzelte Initiativen, deren Ziel es ist, indigenes Kochen und Essen als Verpflegung für indigene Patienten in öffentlichen Krankenhäusern zu etablieren. Siehe hierzu bspw. einen Artikel zu einem entsprechenden Programm in Nunavut von Hwang (2017). Außerdem berichtete mir George davon, dass er zu Zeiten des Toody Ni im Auftrag von Verwandten immer wieder elders, die für medizinische Behandlungen aus ihren communities
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Kekuli Cafe (seit 2009) »Don’t Panic…We Have Bannock!« – Mit diesem Slogan wirbt das Kekuli Cafe in Westbank. Der Begriff Kekuli benennt eine Hausbauart, die man im Deutschen als Gruben- oder Erdhaus bezeichnen würde. Bis zum ersten Kontakt mit Europäern waren diese unterirdischen Kekuli auf der Hochebene des Interior Plateau weitverbreitet. Ungeachtet seines Namens befindet sich das 2009 eröffnete Kekuli Cafe (im Folgenden kurz als Kekuli bezeichnet) jedoch nicht in einem historischen Grubenhaus, sondern in einem für ein zeitgenössisches nordamerikanisches Gewerbegebiet üblichen Gebäude (Abb. 27).40 Die Eigentümer, Sharon Bond-Hogg (Nlaka’pamux, auch bekannt als Thompson) und ihr Ehemann, Darren Hogg, hatten sich vor der Eröffnung des Kekuli in Westbank bereits seit 2004 an kleineren Geschäftsmodellen indigener Gastronomie probiert. Zuvor waren beide arbeitslos geworden und mussten sich nach neuen Möglichkeiten umsehen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Bond-Hogg hatte schon länger davon geträumt, ihre Passion zum Beruf zu machen und ein eigenes bannock-Restaurant zu eröffnen. Auf der Homepage des Kekuli schreibt sie zu den ersten Schritten: »One issue, I needed money, money and money. So we decided to take my bannock recipe & skills & open a bannock stand at Westside Daze.«41 Bond-Hoggs bannock verkaufte sich gut. So gut, dass ihr im Anschluss ein Bekannter anbot, den kleinen Kiosk auf dem Gelände seiner Autowaschanlage zu übernehmen. Während Bond-Hoggs Kiosk im ersten Jahr noch den Namen Patricia Sam’s Bannock Cafe trug, erfolgte 2005 die Umbenennung in Kekuli Cafe (Okanagan Edge 2018). Der Erfolg dieser ersten gastronomischen Gehversuche avancierte zu einem Erfolgsmodell, das, wie der Slogan verrät, vor allem auf einem basiert: bannock.42 Neben den gängigen Kaffeespezialitäten, Softdrinks, Smoothies wie dem »Saskatoon Berry Smoothie« oder »Warrior Cleanse Juice« und nordamerikanischen Frühstückklassikern wie Eiern mit Speck, Bratkartoffeln und bannock (anstelle von Toast), umfasst die Karte ein breites Angebot von bannock mit bunten, klirrend-süßen Glasuren wie »Saskatoon Cream«, »Cinnamon Sugar«, »Sum’oreo«, »Caramel
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nach Vancouver kamen, bis ans Krankenbett mit bannock, stews und geräuchertem Fisch und Meeresfrüchten beliefert hat. Ich beziehe mich hierbei und im Folgenden auf den Stand der Dinge im Zeitraum zwischen meinem ersten Besuch im Frühjahr 2015 und dem kürzlichen Umzug des Kekuli innerhalb Westbanks im Frühjahr 2018. Siehe hierzu: www.kekulicafe.com/bannock-business, abgerufen am 07.08.2018. Das mehrtägige Westside Daze findet jedes Jahr am Canada Day (1. Juli) in West Kelowna statt. Siehe hierzu: www.westsidedaze.com. Sofern nicht anders gekennzeichnet, beziehen sich die folgenden Angaben zum Angebot des Kekuli sowie entsprechende Schreibweisen auf den Stand der Speisekarte zum Zeitpunkt meines Besuchs im Frühjahr 2015.
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Apple Spice«, »Ogopogo«, »Cream Cheese Skor«, »Maple Glazed« und »Maple Wal«. Außerdem gibt es »Traditional Bannock«43 , »Eggs-Bannodict«44 , diverse »BannockBurger«, »Bannock-Wiches« und »Pow Wow Frybread Indian Tacos« sowie Salate, Suppen und stews mit bannock als Beilage (Abb. 28-31). Und, als ob die zuckerglasierten bannock-Variationen nicht auch als Dessert serviert werden könnten, gibt es auf der Karte schließlich auch noch einen warmen »Bannock Bread Pudding« mit Vanilleeis und heißen Beeren. Gemäß dieses Schwerpunktes ist das Kekuli Aboriginal Foods Inc. – wie das Unternehmen offiziell gemeldet ist – nach eigener Definition ein: »First Nations owned […] original Bannock restaurant with a modern contemporary twist, First Nations style!«45 Im Unterschied zum Muckamuck, Quilicum und Liliget ist das Kekuli allerdings kein Restaurant im Sinne eines, wie es im Englischen heißt, fine dining restaurant. In der Nomenklatur nordamerikanischer Gastronomie würde man vermutlich am ehesten von einem casual dining oder einem, wie es auf der Website von Aboriginal Tourism BC heißt, cafe-style46 restaurant sprechen. Bekam man laut der oben zitierten Zeitzeugenberichte zur Gestaltung und Inneneinrichtung des Quilicum und später auch des Liliget, im unterirdischen Gastraum in der Davie Street 1724, den Eindruck vermittelt, eine andere Welt zu betreten, ist dies im Kekuli ganz und gar nicht der Fall. In dem hellen Gastraum riecht es nach Kaffee, frisch frittiertem bannock und gebratenen Burgern. Der deutliche, aber nicht unangenehm laute Geräuschpegel – eine Mischung aus aktueller Pop-Musik, klapperndem Besteck, gelegentlichen Signalgeräuschen diverser Küchenmaschinen, Gesprächsfetzen anderer Gäste und der überschwänglich gut gelaunten Stimme der Bedienung am Schalter – spiegelt eine lebendige Atmosphäre wider, wie sie in British Columbia in geschäftigen Familienrestaurants wie White Spot 47 oder Denny’s48 üblich ist. Noch vor dem Hinsetzen wird am Schalter bestellt. Und zwar in einer Pose, die man aus Fast-Food-Restaurants oder Café-Ketten wie Tim Hortons, Starbucks oder JJ Beans gewohnt ist – nämlich mit dem Kopf im Nacken 43
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Hierbei handelt es sich um das gleiche frittierte bannock, das auch für die glasierten Versionen verwendet wird, nur dass es in diesem Fall ohne irgendeine Form von Glasur serviert wird. Zwar werden auch gebackenes bannock und seit dem Frühjahr 2018 bannock flatbread angeboten, frittiertes bannock, das in nahezu industrialisierter Präzision in Bezug auf Form und Garungsgrad stets die gleiche knusprige gold-gelbe Kruste und ein luftig weiches Inneres hat, stellt dennoch den Dreh- und Angelpunkt der Speisekarte des Kekuli dar. Bei dieser Adaption des nordamerikanischen Frühstückklassikers wird der gewöhnlich als Träger dienende English Muffin durch frittiertes bannock und der Schinken durch Räucherlachs ersetzt. www.kekulicafe.com. www.aboriginalbc.com/members/kekuli-cafe-merritt, abgerufen am 15.05.2018. White Spot ist eine kanadische Restaurantkette die 1928 in Vancouver ihr erstes Restaurant eröffnete (www.whitespot.ca/our-story, abgerufen am 15.05.2018). Denny’s wurde 1953 in Lakewood, Californien, gegründet (www.dennys.com/company/about, abgerufen am 15.05.2018).
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an die Bildschirme über den Smoothie- und Kaffeemaschinen hinter der Bedienung blickend. Getränke und kalte Speisen bringt man selbst zum Tisch. Warme Gerichte werden aufgrund der Wartezeit vom Personal gebracht. Indes werden die meisten Gerichte auf neutralem weißen Keramikgeschirr serviert, während bspw. bannock-burger und -wiches, auf die in nordamerikanischen Fast-Food-Restaurants und Diners weitverbreitete Weise in mit schwarz-weiß kariertem Wachspapier ausgelegten Plastikkörbchen angerichtet werden (Abb. 29-31). Zwar hängt auch im Kekuli neben Landschaftsfotografien und Accessoires wie Traumfängern oder Trommeln ein wenig indigene Malerei an den Wänden. Ansonsten nehmen Autogrammbilder prominenter indigener Schauspieler und Plakate lokaler Veranstaltungen und Konzerte, die gelegentlich im Kekuli stattfinden, den Platz ein, den indigenes Kunsthandwerk im Muckamuck, Quilicum, Liliget und Salmon n’ Bannock innehat bzw. -hatte. Wie im Salmon n’ Bannock gibt es zudem in einer Ecke des Gastraums ein Regal mit Produkten wie Baseballkappen, Tassen und Thermoskannen mit dem Logo des Kekuli, kleine Traumfänger, Handtaschen und Schals im formline-art-Design, abgepackten »Saskatoon Loose Leaf Tea«, Kaffee der indigenen Marke Spirit Bear, getrocknete saskatoon berrries und saskatoon berrries im Schokoladenmantel. Während das gastronomische Grundkonzept und die gesamte Einrichtung bereits signifikante Unterschiede zum Muckamuck, Quilicum, Liliget und Salmon n’ Bannock markieren, ist die Verschiedenartigkeit des Kekuli auch im Hinblick auf die angebotenen Speisen nicht zu übersehen. Wie die oben genannten bannockVariationen, bannock-witches, frybread Indian tacos, stews etc. bereits anklingen lassen, stehen im Kekuli Speisen im Vordergrund, die sich mit Begriffen wie comfort food oder treats (für Süßes) zusammenfassen lassen. D.h. Gerichte, die Konsument*innen glücklich und zufrieden machen, indem sie das Gefühl von Heimat und Familie, von Vertrautheit und Geborgenheit evozieren bzw. solche, die das eigene Selbstverständnis und die eigene lebensweltliche Alltäglichkeit bestätigen. Letztlich ist es genau dieser comfort-Aspekt, den der Slogan des Kekuli als beruhigendes und fast tröstliches Versprechen artikuliert: »Don’t Panic…We Have Bannock!« Während die Speisekarte demnach im Wesentlichen das widerspiegelt, was die indigene aber auch nicht-indigene Kundschaft aus ihrer Kindheit, von zuhause oder schlicht aus dem Alltag kennt, gehören Gerichte nach historischem Vorbild nicht zum Profil der nach den Prinzipien moderner Systemgastronomie organisierten Küche. Selbst der für die bislang erwähnten indigenen Restaurants charakteristische Fokus auf Fisch und Wild wird im Kekuli aufgeweicht. So kommt Fisch nur als handelsüblicher Räucherlachs oder gebratenes Lachsfilet vor – Ersterer als Teil der eggs bennodict und des »Wild Salmon Breakfast Bannock«, Letzterer als Lachsburger –, während Meeresfrüchte (wie im Salmon n’ Bannock) gar keine Rolle spielen. Was in Anbetracht der geografischen Lage am Rand des Okanagan Valley
2. Teil: Die gastronomische Professionalisierung indigener Ernährungskulturen
im Inland von British Columbia nicht weiter verwunderlich ist. Umso auffälliger ist, dass das Kekuli nur wenige Wildgerichte auf der Karte führt. Bei einem Besuch im Kekuli im Frühjahr 2015 waren dies »Bison Stew« und »Bison Burger«.49 Dafür nehmen Schweinefleisch als bacon und pulled pork sowie Rindfleisch und Hühnchen umso prominentere Plätze auf der Speisekarte ein. Indigene pflanzliche Nahrungsmittel schließlich kommen im Repertoire des Kekuli einzig in Form von Beeren zur Geltung. Mit Blick auf das bislang skizzierte Spektrum indigener Gastronomie – vom Muckamuck bis zum Salmon n’ Bannock – macht es insgesamt den Anschein, als stellten das Muckamuck und Kekuli zwar nicht die jeweiligen Enden, aber doch signifikant auseinanderliegende Punkte auf diesem Spektrum dar. Nicht zuletzt lässt sich im Hinblick auf die verwendeten Kochtechniken fast davon sprechen, dass das Küchenprofil des Kekuli jenen Wechsel verkörpert, der oben als Wechsel von einer Kochküche zur Frittier- und Anbratküche bezeichnet wurde. Entscheidend ist dabei auch, was dieser Wechsel für das geschmackliche Profil des Kekuli bedeutet. Während etwa Arthur Bolton (Eigentümer und Betreiber des Quilicum) im Hinblick auf das Ineinandergreifen von Kochtechniken und Geschmack betonte, dass im Quilicum neben Kräutern die Art der Zubereitung die eigentliche Würzung dargestellt hätte (Lasley und Harryman 1986), kommen im Kekuli nicht nur trockene Gewürze wie bspw. Pfeffer, Senfmehl (dry mustard), Knoblauch- oder Zwiebelpulver, sondern auch Würzsaucen wie Ketchup, BBQ-Sauce und Worcestershiresauce zum Einsatz. Deswegen schmecken die Gerichte nicht schlecht. Die meisten Gerichte, bspw. der bison burger oder die frybread Indian tacos, sind durch das Zusammenspiel von Süße und Salzigkeit echte Umami-Bomben. Allein das salzig-süße frittierte bannock scheint ein für die breite Masse der kanadischen Öffentlichkeit attraktiver Konsumartikel zu sein. Schließlich entspricht gerade frittiertes bannock genau dem, was Mintz (2005) als die in Nordamerika präferierte Form beschrieben hat, in der Kohlenhydrate auf den Tisch kommen – so sehr präferiert, dass sich dafür sogar der Begriff munchies als eigene Bezeichnung etabliert hat.50
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Heute steht anstelle des bison stew ein neues Gericht auf der Karte: »Venison Flatbread Taco«. (www.kekulicafe.com/menu/, abgerufen am 07.08.2018) Tatsächlich rückt dieses Gericht Indian tacos näher an das bekannte mexikanische Fast-Food-Gericht. Anstelle einer Mais- oder Weizen-Tortilla werden die Garnierungen auf einem in Öl ausgebackenen, an Chapati erinnernden, »Flatbread« getürmt und das Ganze wie mexikanische Tacos mit den Händen gegessen. Mit Blick darauf, wie sich in Nordamerika der Konsum komplexer Kohlenhydrate hin zur Konzentration auf einfache Kohlenhydrate verschiebt, hält Mintz fest: »Over time, more and more of what was left of comlex carbohydrate consumption took the form of deep-fried, salted, and sweetened particles, so much as to produce a special name, ›munchies,‹ for such foods.« (Mintz 2005: 118-119)
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Die Tatsache, dass das Angebot des Kekuli durch vertraute bzw. beliebte Geschmacksmuster charakterisiert ist; der schnelle Service; die im Wesentlichen moderaten bis günstigen Preise; die einfach zu findende und zugängliche Lage in einem Gewerbegebiet direkt am Highway und die Selbstverständlichkeit, mit der sich das Kekuli in die Reihen der anderen Geschäfte einfügt, sodass man nach einem Einkauf bei London Drugs noch schnell einen »large dark roast to go« und einen »Saskatoon Cream« oder »Caramel Apple Spice«-bannock für den Heimweg mitnimmt; all das sorgt für einen merklich heterogenen Kundenstamm. Zwar trifft man ebenso sowohl ausländische als auch kanadische Touristen, die durch dessen mediale Präsenz vom Kekuli erfahren haben.51 Als ich im Frühjahr 2015 einen Tag damit verbracht habe, mich durch die Speisekarte des Kekuli hindurchzuessen, war jedoch nicht zu übersehen, dass der Großteil der vielen indigenen und nicht-indigenen Menschen, die ich den Tag über reinkommen und rausgehen sah, entweder Laufkundschaft oder Stammkunden waren, die ihre Bestellung trotz der großen Auswahl knapp und präzise platzierten und sich entweder nach wenigen Minuten wieder auf dem Weg zu ihrem Auto befanden oder mit einer Zeitung bzw. einem Smartphone in der Hand Platz nahmen und auf ihre Bestellung warteten. Genau genommen riss der Strom an Kunden zu keiner Zeit wirklich ab. Insgesamt entsteht somit der Eindruck, dass das Konzept eines »original Bannock restaurant with a modern contemporary twist, First Nations style« aufgeht. Abgesehen von diesem Eindruck darf nicht unerwähnt bleiben, dass Bond-Hogg und Hogg 2014 als erster indigener gastronomischer Betrieb eine Dependance ihres Kekuli im 100 km entfernten Merritt eröffneten. Da sich auch das zweite Kekuli als voller Erfolg herausstellte, arbeiten Bond-Hogg und Hogg seit 2016 an einem nächsten, womöglich bahnbrechenden Schritt: das Kekuli Cafe soll zur ersten indigenen gastronomischen Franchise-Marke in Kanada werden.52 Dabei ist insbesondere ein Aspekt bemerkenswert. Bond-Hogg und Hogg bewerben ihre FranchisePläne nämlich explizit damit, dass die Vergabe von Lizenzen, wie bereits die Mitarbeit in einem ihrer Cafés in Kelowna und Merritt, nicht an einen ethnischen Hintergrund gebunden ist.53 Während sie damit klar von der all Indigenous policy des Salmon n’ Bannock abweichen, stellt soziales Engagement nichtsdestotrotz ein zentrales Element ihrer Firmenpolitik dar. Auf der Homepage des Kekuli steht hierzu: 51
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Neben diversen Zeitungsartikeln und Interviews in regionalen und nationalen Print- und Onlinemedien hatte das Kekuli werbewirksame Auftritte in sowohl der populären TV-Sendung You Gotta Eat Here (2012) des Spartensenders Food Network als auch in der beliebten APTNProduktion (Aboriginal Peoples Television Network) Moosemeat and Marmalade (2017). www.kekulicafe.com/dont-panic-we-are-ready-to-franchise und www.kekulicafe.com/franchise-info, abgerufen am 15.05.2018. Siehe hierzu ein Interview mit Bond-Hogg www.youtube.com/watch?v=DnpglUNCdsU, abgerufen am 15.05.2018.
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»Like most people, they [Bond-Hogg und Hogg] have been through and witnessed their family and friends struggle in life. At Kekuli Cafe we demand to create, inspire & make a positive impact in our respective communities, by giving back and to continue to remain focused on supporting our communities, through in-store product donations, offering jobs, training and bannock donations.«54
Mr. Bannock. Indigenous Food Truck (seit 2018) Seit 1974 hat sich die gastronomische Landschaft sowohl in Vancouver, dem kulinarischen Mekka British Columbias, als auch im restlichen Kanada ohne Zweifel verändert. Foodtrucks, die heute zum Stadtbild von Vancouver gehören wie das Eishockey-Stadion der Vancouver Canucks, gab es damals noch keine. Während die allgemeinen Ursprünge heutiger Foodtrucks von manch einem bis zu den Garküchen der römischen Antike zurück datiert werden, sind die (Gourmet-)Foodtrucks, wie sie sich heute auf Streetfood-Festivals nicht nur in Nordamerika, sondern zunehmend auch in Europa aneinanderdrängen, ein Phänomen, das sich grob in die 2000er Jahre datieren und an der Westküste Nordamerikas verorten lässt (Trenk 2015: 276-279). Zwar gehörte Vancouver nicht zu den Pionieren der FoodtruckBewegung, doch die Stadtverwaltung nahm sich 2010 Städte wie Portland zum Vorbild und änderte die Bestimmungen zur Vergabe von Lizenzen für mobile gastronomische Betriebe (Small Business BC 2017). Gerade einmal fünf Jahre später, 2015, war die gefühlte Hauptstadt British Columbias die Stadt mit den meisten lizenzierten Foodtrucks (63) in ganz Kanada (Kozicka 2015).55 Seit Januar 2018 ist das Spektrum von Vancouvers Foodtruck-Szene nun um eine weitere Facette reicher geworden: Mit Mr. Bannock. Indigenous Food Truck bringt Paul R. Natrall alias Mr. Bannock seine Vision von »Indigenous Cuisine« auf die Straßen von Vancouver (Abb. 32).56 Als ich Natrall im November 2016 das erste Mal in seinem Zuhause auf der Mission Indian Reserve No. 1 der Squamish Nation in North Vancouver traf57 , war der Anlass unseres Treffens ein Gespräch über seine Teilnahme bei der Internationalen
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www.kekulicafe.com/about, abgerufen am 15.05.2018. Für Informationen zur jüngeren Entwicklung der Foodtruck-Bewegung in Vancouver siehe Vancity (2015). Während Mr. Bannock tatsächlich Vancouvers erster indigener Foodtruck ist, darf nicht unerwähnt bleiben, dass das Konzept in British Columbia nicht unbekannt ist. Bereits 2016 eröffnete in Victoria der von Frühling bis Spätherbst geöffnete Songhees. Seafood and Steam Foodtruck. Für nähere Informationen siehe www.songheesseafood.com. Auch in den USA sind indigene Foodtrucks nicht unbekannt. So gibt es etwa in Seattle den Off the Rez Foodtruck (seit 2011) und gab es in Minneapolis von 2015 bis 2017 den Tatanka Truck. Sofern nicht anders gekennzeichnet, geht die folgende Darstellung auf Informationen aus mehreren Gesprächen mit Natrall im November 2016 in seinem Zuhause auf der Mission Indian Reserve No. 1 zurück.
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Kochkunst Ausstellung (IKA) 2012 in Erfurt.58 Natrall erzählte mir bei dieser Gelegenheit viel über seine Kindheit in North Vancouver: Nach dem Tod seines Vaters wuchs er ab seinem elften Lebensjahr in der Obhut seiner beiden Großmütter auf. Zwar lagen die Wohnhäuser der beiden einen Steinwurf voneinander entfernt auf den gegenüberliegenden Seiten derselben Straße. In kulinarischer Hinsicht stellte das Leben in den beiden Haushalten für Natrall jedoch zwei unterschiedliche Welten dar: »After my dad’s death my grandmothers pretty well raised me. My grandmother that took us in lived over there [zeigt auf die andere Straßenseite]. She would have a lot of fish, a lot of salmon. Now, I wasn’t a huge fan of it. So I would come here, where my other granny stayed, to make me something else. And I would be sitting there, watching her cook.« (Natrall 2016) Hier, in dem Haus, in dem wir gerade saßen, sei er von einer seiner Großmütter mit »home style cooking« verwöhnt worden: »Starting off with eggs and potatoes for breakfast. And than probably pastas, like spaghetti, macaroni. Oh, and lots of soups and stews.« (Ebd.) Burger soup (Hackfleischeintopf) war eine ihrer Spezialitäten. Unabhängig von seiner bis heute ungebrochenen Abneigung gegenüber Lachs, der einfach zu »fishy« sei, und abgesehen von seiner Präferenz für home style cooking, waren indigene Lebensmittel wie Fisch und Wild trotz des urbanen Umfelds keine Seltenheit in Natralls Familie. Nicht nur hätte seine Großmutter auf der anderen Straßenseite immer Lachs im Haus gehabt – »There were always fishermen around. And she was an elder. So they would always come and stock her freezer« (ebd.). Verwandte hätten sie ebenfalls mit Wild versorgt, das Natrall nicht zuletzt deshalb zu schätzen lernte, da sich Wild gut in besagtes home style cooking integrieren ließ. In einem Interview mit der kanadischen Journalistin und Food-Bloggering Tiffany Mayer erwähnt er hierzu: »We’d have chow mein with elk meat in there. We’d have elk steaks or deer steaks, deer stew. We’d have deer goulash with potatoes.« (Mayer 2018) Wie viele indigene Jugendliche, die in der großstädtischen Peripherie ohne einen hinreichenden familiären Kompass aufwachsen und schließlich auf die schiefe Bahn geraten, durchlebte Natrall in seiner Jugend einige prekäre Jahre, bis er sich 2004 im Alter von zwanzig Jahren dazu entschied, das Angebot eines youth at riskProgramms in der Downtown Eastside in Anspruch zu nehmen. Das Cook Studio bot ein sechsmonatiges Schulungsprogramm an, mit dem man sich für die Arbeit in professionellen Küchen qualifizieren konnte.59 Natrall absolvierte das Pro-
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Ich komme in Kapitel 2.2.3. auf Natralls Teilnahme bei der IKA 2012 zurück. Zum Cook Studio und anderen vergleichbaren Programmen in Vancouver, wie bspw. dem Picasso Café, in dem Ende der 1990er Jahre Natralls späterer Mentor Ben Genaille gearbeitete hat (zu Genaille siehe Kapitel 2.2.3.), siehe Quarter et al. (2009: 111-112).
2. Teil: Die gastronomische Professionalisierung indigener Ernährungskulturen
gramm und entschloss sich 2009, nachdem er einige Jahre als Tellerwäscher und prep cook gearbeitet hatte, für eine Kochausbildung. Bei der Suche nach entsprechenden Ausbildungsplätzen stieß er auf die Aboriginal Culinary Arts Class, ein auf indigenes Kochen und Essen spezialisiertes Ausbildungsprogramm, am Vancouver Community College (VCC).60 Nach dem Abschluss des Programms arbeitete Natrall für das indigene Catering-Unternehmen Kanata. Der Inhaber, Ben Genaille (Métis, Cree Nation französischer Abstammung), Natralls ehemaliger Ausbilder am VCC, war gleichzeitig Initiator des Aboriginal Culinary Team Canada (ACTC), als dessen Mitglied Natrall 2012 zur IKA nach Erfurt reiste.61 Im Anschluss daran nahm Natrall eine Stelle als Koch in der Kantine der Capilano University in North Vancouver an (2013-2015), bevor er sich 2016 mit finanzieller Unterstützung durch den Squamish Nation Trust mit seinem ersten gastronomischen Unternehmen, der CateringFirma PR Bannock Factory (das PR steht für Paul Roy), selbstständig machte. Als PR Bannock Factory hatte Natrall kein feststehendes Catering-Angebot, sondern kochte in der Regel nach den Wünschen der jeweiligen Auftraggeber. Nach eigenen Angaben gehörten neben seiner Spezialität, nämlich »bannock products« – bspw. Indian tacos, rezdogs (Würstchen im bannock-Schlafrock), home style Chilli mit bannock und allerlei süße bannock-Variationen – Kochstile zu seinem Repertoire, die er als »Italian«, »Greek« und »Asian« beschreibt. Während ausschließlich indigene Kunden seine Catering-Dienste für kleinere Feste oder auch Versammlungen von bis zu 200 Personen in Anspruch nahmen, betrieb Natrall unter dem gleichen Namen einen kleinen Imbisswagen, mit dem er gelegentlich auf Märkten, wie dem Ambleside Farmers Market in West Vancouver oder im Lonsdale Quay Market in North Vancouver rezdogs und frittiertes bannock mit verschiedenen Glasuren und süßen Garnierungen verkaufte. Dabei waren es laut Natrall im Gegensatz zu seinem Catering-Angebot in erster Linie nicht-indigene Kunden, die sich auf den Märkten für seine Produkte interessierten. Eine wesentliche Einschränkung bestand allerdings darin, dass Natrall aufgrund der geltenden Hygiene- und Lebensmittelsicherheitsvorschriften von seinem Stand aus nur kalte, abgepackte Speisen verkaufen durfte, die er zuvor in seiner zertifizierten Küche – einem umgebauten Bauwagen auf der anderen Straßenseiten schräg gegenüber seines Zuhauses (Abb. 33) – zubereitet hatte. Trotz dieser Einschränkung hatte Natrall durch den Verkauf auf den Märkten und seine Erfahrung in Erfurt für sich selbst festgestellt, wie positiv und interessiert die nicht-indigene Öffentlichkeit in Kanada und Europa auf die Präsenz von »Indigenous Cuisine« reagiert. Für Natrall war deshalb klar: »What a great opportunity to share and promote our culture through food.« (Natrall 2016)
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Siehe hierzu Kapitel 2.2.3. Zur Teilnahme des ACTC bei der IKA 2012 sowie der relevanten Hintergünde zum Wettkampfformat und der Geschichte der IKA siehe Kapitel 2.2.
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»Down the road«, erklärte mir Natrall in 2016, sei es deshalb sein Traum, einen Foodtruck zu betreiben (ebd.). Während die Eröffnung eines Foodtrucks für viele junge Köch*innen ein erster Schritt in Richtung eines eigenen Restaurants darstellt, machte Natrall deutlich, dass das nicht in seinem Interesse wäre. Abgesehen von den betriebswirtschaftlichen Aspekten hätte ein Foodtruck den Vorteil, dass nicht die Öffentlichkeit den Weg in sein Restaurant finden muss, sondern er selbst seine Küche in die Öffentlichkeit bringen kann. Der Punkt sei, dass nicht nur viele Leute nicht wüssten, was »Indigenous Cuisine« ist. Den meisten sei vielmehr gar nicht erst bewusst, dass es so etwas überhaupt gibt. Es ginge folglich darum, zunächst ein Bewusstsein und damit eine Nachfrage zu schaffen. Nun seien die Leute auf FoodtruckFestivals, farmers markets, night markets und Volksfesten oder wenn er mit seinem Truck auf der Straße vor einer der vielen Mikrobrauereien in Vancouver steht, generell neugieriger und offener. Nicht zuletzt seien insbesondere die Besucher von Foodie-Veranstaltungen wie jenen Festivals und Markets in erster Linie dort, um Neues zu entdecken und Ungewohntes zu probieren. Im Gegensatz zu einem Restaurant bedeute ein Foodtruck demnach nicht nur, im öffentlichen Raum warme Speisen anbieten zu können. Eine fahrende Küche böte vielmehr die Möglichkeit, die breite Öffentlichkeit in Vancouver mit zeitgenössischer indigener Ernährungskultur, bzw. seiner Vision von »Indigenous Cuisine« vertraut zu machen. Was im Rahmen unserer Gespräche in 2016 noch reine Zukunftsmusik war, wurde im Lauf des darauffolgenden Jahres zu einem handfesten Geschäftsplan, der im Januar 2018 schließlich zur Eröffnung von Mr. Bannock. Indigenous Food Truck (im Folgenden kurz als Mr. Bannock bezeichnet) führte. Im Rückblick auf Natralls Begeisterung für das home style cooking seiner Großmutter kann man das auf sechs verschiedene »bannock products« konzentrierte Angebot der Karte unter dem Begriff comfort food zusammenfassen. Neben »Fresh fry bread with house made honey butter«, gibt es Indian tacos (mit und ohne Fleisch), bannock-burger (mit Rind oder Lachs) und Natralls Interpretation von chicken and waffles: »Juniper berry dry rubbed chicken, stuffed in between house made bannock waffle, apple slaw, finished with hot sauce« (Abb. 34).62 Darüber hinaus experimentiert Natrall mit anderen bannock-basierten Speisen wie bannock-Pizza und einer »indigenous fusion«-Version, wie Natrall es formuliert, eines Klassikers der britischen Küche: Yorkshire Pudding mit Roast Beef. Nur dass Natrall kleine,
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Mr. Bannock bietet auch einen Catering-Service an. Abgesehen von seinem »Award Winning Indian Taco« und »Waffle Bannock« spielen die Burger- und Sandwichgerichte der FoodtruckKarte keine Rolle. Stattdessen gibt es für Buffets besser geeignete bannock-, Frucht- oder Rohkost-Platten mit Dip, gemischtem Salat, »Stew & Bannock« sowie eine vegane und glutenfreie »Plant-Base Bowl. Mixed greens, golden beets, purple beets, apple chips, nut mix, edible flower, drizzled with maple syrup & balsamic vinaigrette«. (Abb. 35)
2. Teil: Die gastronomische Professionalisierung indigener Ernährungskulturen
frittierte bannock anstelle von Yorkshire Puddings nimmt und diese mit dünn aufgeschnittenem »elk roast« anstelle von Roast Beef befüllt. Entsprechend streicht Mayer den Dreh- und Angelpunkt von Mr. Bannocks Küchenprofil treffend heraus, wenn sie festhält: »It’s to serve people the food Natrall has known his whole life. Food he loves; food that makes him feel proud.« (Mayer 2018) Nichtsdestotrotz scheut Natrall sich nicht davor, sich neuen Aufgaben im Hinblick auf die Revitalisierung bestimmter Elemente der historischen indigenen Ernährungskulturen zu stellen. Genauso wie der mit Natrall befreundete HeiltsukKünstler KC Hall klassische formline-art in die Formsprache seiner Graffitikunst und damit gleichsam in die grafische Gestaltung von Natralls Foodtruck integriert, arbeitet Natrall ebenfalls mit historischen kulinar-grammatikalischen Elementen, die er in seine Vorstellung von »Indigenous Cuisine« mit seiner Präferenz für home style cooking zu integrieren versucht. Auf der offiziellen Website von Mr. Bannock schreibt Natrall hierzu: »We take pride and joy in sharing fusion Indigenous cuisine, using traditional ingredients from Squamish Nation such as juniper berries, smoked wild salmon and meats, and traditional methods such as clay baking and stone baking.«63 Wichtige Details in diesem Zusammenhang sind die Wege, die Natrall gewählt hat, um diese Elemente – d.h. das Räuchern und stone bzw. clay baking – in sein Foodtruck-Konzept integrieren zu können: Zum Räuchern verwendet er einen handelsüblichen Räucherschrank und für das stone und clay baking einen transportablen gasbetriebenen Pizzaofen mit einer rotierenden Steinplatte. Trotz des Versuchs, Elemente der historischen indigenen Ernährungskulturen zu integrieren, wird beim Blick auf Mr. Bannocks Speisekarte deutlich, dass alles, was in seinem eigenen Leben bzw. seiner privaten Küche keine Rolle spielt, sich ebenso wenig in seiner professionellen Küche wiederfinden lässt – mit Ausnahme natürlich von Lachs. So kommen bspw. Meeresfrüchte und auch grease an keiner Stelle vor. Auf meine Frage, ob er grease möge, antwortete Natrall prompt: »No! Haha. No, no. I only tried it once and that was, like, years ago.« Stattdessen sind kräftiger Cheddar Käse, Salsa Verde, Saure Sahne mit Limette, Speck, BBQ Sauce, Hot Sauce, Ketchup, Senf und Mayonnaise die zentralen geschmacklichen Elemente, die neben einer latenten Süße und Salzigkeit Natralls Kochstil prägen. Indes überträgt Natrall nicht nur seine eigenen Präferenzen auf die Pappteller seiner Kunden. Es ist auch das Essen, das seine Kinder, Freunde und Verwandten mögen und das – wie das im Fenster seines Foodtrucks zunehmend öfter zu sehende Schild »Sold Out« bezeugt – gleichermaßen den Geschmack der
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www.mrbannock.com, abgerufen am 15.05.2018.
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breiten Öffentlichkeit trifft. Die mediale Aufmerksamkeit, die Mr. Bannock zudem entgegengebracht wird, befördert und unterstreicht dies in vielerlei Hinsicht.64 Für Natrall, der zeitweise alleinerziehender Vater von fünf Kindern war und heute mit seiner Lebensgefährtin insgesamt sieben Kinder in seiner Obhut hat, ist es einer der wichtigsten Aspekte im Zusammenhang mit der positiven gesteigerten Aufmerksamkeit gegenüber seinem Foodtruck, seiner bisherigen Karriere als Koch und seiner Teilhabe am Prozess der gastronomischen Professionalisierung indigener Ernährungskulturen, seinen Kindern zeigen zu können, dass sie stolz sein können – und sollen – sowohl auf ihre Geschichte als auch ihre gegenwärtige Rolle als junge indigene Mitglieder der kanadischen Bevölkerung. In einem VideoPortrait zu seiner persönlichen Geschichte, seinem Foodtruck und seinen Lebenszielen fasst Natrall zusammen: »I hope to spark interest into another generation and pass the torch so they can showcase our culture and just keep it moving through food.«65
2.1.3
Diversität und zunehmende Präsenz indigener Gastronomie in Kanada: Eine Zusammenfassung
Zwischen der exklusiven fine dining-Atmosphäre des von Star-Architekt Arthur Erickson gestalteten Gastraums und dem starken Fokus der Küche des Muckamuck auf zentrale Elemente historischer indigener Ernährungskulturen auf der einen und dem im Stil zeitgenössischer Graffitikunst designten Mr. Bannock. Indigenous Food Truck und dessen im Streetfood-Stil gehaltenen indigenen comfort food auf der anderen Seite liegen in vielerlei Hinsicht Welten. Während das Muckamuck und Mr. Bannock zweifelsohne Extreme darstellen, zwischen denen über 40 Jahre soziokultureller Entwicklung im Zeitalter der Globalisierung liegen, könnten auch Mr. Bannock und das Salmon n’ Bannock, die seit Anfang 2018 zeitgleich Vancouvers gastronomische Landschaft erweitern, kaum unterschiedlicher sein. Ohne die Details der vorangegangenen Darstellungen in ihrer Fülle zu wiederholen, gibt die Verschiedenheit dieser drei Betriebe bereits eine Vorstellung von der Diversität, die das breite historische wie zeitgenössische Spektrum indigener Gastronomie allein in British Columbia charakterisiert. In Hinsicht auf die zunehmende Anzahl indigener gastronomischer Betriebe im gesamten Kanada ist das Spektrum umso 64
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Beginnend mit seiner Mitarbeit im ACTC in 2012 und später im Zusammenhang mit seiner ersten Catering Firma PR Bannock Factory in 2016 ist Natrall zunehmend mehr in den lokalen Print- und Onlinemedien wie lokale Nachrichten und Weblogs zur regionalen wie auch nationalen Gastronomieszene vertreten. Insbesondere seit der Eröffnung seines Foodtrucks ist er zudem ein gern gesehener Gast in TV Formaten wie CBC News (www.cbc.ca/player/play/1151427651589, abgerufen am 17.05.2018.) oder Global News Morning Weekend BC (globalnews.ca/video/4159398/saturday-chef-hands-on-cook-off, abgerufen am 17.05.2018.). www.truecallingmedia.com/feature-video/food-truck-chef, abgerufen am 04.06.2018.
2. Teil: Die gastronomische Professionalisierung indigener Ernährungskulturen
facettenreicher. Die diversen Betriebe im Einzelnen zu besprechen würde jedoch den Rahmen dieses zusammenfassenden Überblicks sprengen. Die wesentlichen Parameter dieses Facettenreichtums bzw. der Diversität indigener Gastronomie wurden in den vorangegangenen Beispielen bereits deutlich. Sie betreffen das gastronomische Grundkonzept, also die Frage, ob es sich um fine dining, casual dining oder Fast Food in Gestalt eines individual- oder systemgastronomischen Restaurants, Bistros, Cafés oder Foodtrucks handelt. Ebenso spielt die Frage der institutionellen Anbindung an Museen oder cultural center eine Rolle. Ein weiterer Parameter ist der demografische Kontext, in dem sich ein Betrieb befindet, d.h. ob sich ein Betrieb in einer Groß- oder Kleinstadt, im urbanen Zentrum oder vorstädtischer Peripherie, im Szeneviertel oder Gewerbegebiet etc. befindet. Hinzukommen Fragen innenarchitektonischer Gestaltungsmöglichkeiten, die von mit indigenem Kunsthandwerk dekorierten Gasträumen (oder gar dem Eindruck eine »andere Welt« zu betreten) bis hin zur pop-kulturellen Ästhetik der konsumgesellschaftlichen Alltäglichkeit eines Fast-Food-Restaurants reichen. Neben unterschiedlichen Anrichte- und Servicestilen sind nicht zuletzt die jeweiligen Zielgruppen (von Touristen und zahlungskräftigem Publikum bis zum Jedermann) und die Frage der Personalpolitik entscheidend. Während etwa in Bezug auf Letzteres für Bond-Hogg und Hogg weder für eine Anstellung im Kekuli Cafe noch für die Vergabe eine Franchiselizenz der ethnische Hintergrund entscheidend ist, vertreten einige Betriebe, wie bspw. das Salmon n’ Bannock oder auch das Feast Café Bistro in Winnipeg, Manitoba, eine – zumindest inoffizielle – all Indigenous policy. Die Eigentümerin und Betreiberin des Feast Café Bistro, Christa Guenther (Peguis First Nation) erklärt hierzu auf ihrer Homepage: »The average unemployment rate in Canada is around 7 %, for First Nation people, that rate jumps to about 13 %. There are many factors that cause this disparity, but at Feast, we’re trying to curb it. Some of our staff previously struggled when looking for work, and were often turned away, this was possible due to their ethnicity, lack of experience and age. I decided when I started this venture that I wanted to make a difference. Not only, in feeding affordable and nourishing meals to the community but also to give people opportunities to succeed. My staff’s resumes may be short but their work ethic, will to learn, and big hearts are extraordinary. I realize this may be a risk, but I am committed to providing employment to someone who really wants a chance to prove themselves.«66 Zu den wichtigsten Parametern im Hinblick auf die Diversität indigener Gastronomie zählen freilich auch die verwendeten Lebensmittel und Lebensmitteltech66
www.feastcafebistro.com/blog, insbesondere der Eintrag vom 06.06.2015 (abgerufen am 15.06.2018).
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niken, die das jeweilige Küchenprofil prägen. Allerdings muss klar gesagt sein, dass ein expliziter Fokus auf das Zusammenspiel indigener Ingredienzien mit historischen Präservierungstechniken und Zubereitungsmethoden bzw. die kulinargrammatikalischen Basiselemente, wie sie für die historischen indigenen Ernährungskulturen typisch waren, in erster Linie für bereits geschlossene Restaurants wie das Muckamuck, Quilicum und Liliget charakteristisch waren. In den meisten zeitgenössischen indigenen gastronomischen Betrieben konzentriert sich die Verwendung indigener Ingredienzien auf Wild und Fisch (insbesondere Bison, Elch und Lachs) als Stellvertreter der Palette indigener Nahrungsmittelressourcen, die in den, dem Standard moderner Gastronomie- und Hotelindustrie entsprechenden, Küchen dieser Betriebe mit professionellen Kochtechniken zubereitet werden, wie sie standardmäßig in culinary arts-Programmen an kanadischen Berufsschulen gelehrt werden. Holzbefeuerte Grills, bentwood-Kisten etc. spielen dabei in der Regel ebenso wenig eine Rolle wie historische Präservierungs- und Fermentationstechniken. Tatsächlich finden diese Elemente indigener Ernährungskulturen heute lediglich in den weitgehend projektbasierten Arbeitsweisen ein paar weniger progressiver indigener celebrity chefs wie Rich Francis und Shane M. Chartrand Verwendung, auf die hier nur am Rande eingegangen werden kann. Während Francis und Chartrand beide durch die Teilnahme an Kochsendungen des Spartensenders Foodnetwork nationale Bekanntheit erlangten67 , sind der kulturelle Hintergrund, die Arbeitsweise, der Küchenstil und die persönliche Agenda der beiden sehr verschieden. Francis, der in Fort McPherson, Nordwest-Territorien, aufwuchs und vor seiner Kochkarriere als Stahlarbeiter tätig war, wohnt heute mit seiner Familie in Saskatoon, Saskatchewan. Nach seiner Ausbildung an der Stratford Chef School (2006-2008) arbeitete er zunächst im fine dining Restaurant Splendido in Toronto und gehörte später zum Küchenteam des Salmon n’ Bannock. Seit 2010 ist er unter dem Firmennamen Aboriginal Culinary Concepts als freiberuflicher Koch, Berater und cultural educator tätig. Neben Hands-on-Workshops zu indigenen Ernährungskulturen an Schulen und in community centres, konzentriert sich seine Arbeit auf Projekte wie Cooking for Reconciliation – eine Serie von Dinner-Veranstaltungen, die er beschreibt als »candid journey towards Truth and Reconciliation using indigenous foods to create a better understanding of pre-colonial Indigenous culture and the impact of colonization.« (Johnson 2017) Wie es in dieser Beschreibung anklingt und es bereits weiter oben im Hinblick auf Francis’ Kommentar zu bannock und seiner diesbezüglichen Selbstbezeichnung als »biggest bannock racist you will ever meet« unmissverständlich deutlich wurde, konzentriert sich Francis sowohl in seiner Vermittlungsarbeit als auch in kulinarischer Hinsicht auf das, was er als
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Nachdem Francis es 2014 bis in das Finale der vierten Staffel von Top Chef Canada schaffte, trat Chartrand 2015 bei der zweiten Staffel von Chopped Canada an.
2. Teil: Die gastronomische Professionalisierung indigener Ernährungskulturen
»pre-colonial« bezeichnet. Infolgedessen stehen bei seinen Kreationen Nahrungsmittel und entsprechende Techniken historischer indigener Ernährungskulturen im Vordergrund. Zwar spielen auch seine klassische Ausbildung und die Kenntnis moderner Kochtechniken eine Rolle. Die Gerichte, die Francis seinen Gästen serviert oder auch im Rahmen seiner mehrteiligen Kochdokumentation Red Chef Revival. A Travel Series about Food and Reconciliation68 präsentiert, reflektieren in erster Linie »fearless creativity«69 – um eine Formulierung von Francis zur Beschreibung dessen aufzugreifen, was man außer indigenen Nahrungsmittelprodukten und entsprechendem kulturellen Wissen für eine »Modern Aboriginal Cuisine« benötigt. Dabei erinnert nicht nur mancher Arbeitsschritt seiner nicht selten außerhalb professioneller Küchen stattfindenden Kochprojekte an die unorthodoxen und extravaganten Kochtechniken eines Francis Mallmann70 (Abb. 36), sondern reflektieren auch die fertigen Gerichte jene angstfreie Kreativität in Gestalt einer oft bunten, kontrastreichen, durch eine beinah überladene Fülle anstelle konzentrierter Sparsamkeit geprägten Ästhetik (Abb. 37 und 38).71 Der Koch- und Präsentationsstil von Chartrand unterscheidet sich hiervon merklich. Chartrand, gebürtiges Mitglied der Enoch Cree Nation, wuchs bis zu seinem siebten Lebensjahr in einem Pflegeheim auf, bevor er den Rest seiner Kindheit und Jugend bei seinen Adoptiveltern (Métis) in Red Deer, Alberta, verbrachte. Nach seiner ersten Anstellung als Tellerwäscher im Alter von 14 Jahren entschied er sich früh für eine Karriere als Koch. Nach dem Abschluss einer Kochausbildung am Northern Alberta Institute of Technology in Edmonton sammelte Chartrand Erfahrungen in diversen individual- oder systemgastronomischen Betrieben, wo er von mediterran über koscher bis klassisch nordamerikanisch alle möglichen Kochstile erlernte und kochte (Chartrand 2015), bevor er 2014 Küchenchef im bereits erwähnte Sage, in Edmonton, Alberta wurde. Ein wesentlicher Grund für Chartrands Bekanntheit ist seine regelmäßige Teilnahme an lokalen wie auch nationalen Kochwettbewerben wie etwa Gold Medal Plates.72 68 69 70
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www.storyhive.com/project/show/id/2644, abgerufen am 01.08.2018. www.harbourfrontcentre.com/whatson/food.cfm?id=4274, abgerufen am 01.08.2018. Francis Mallmann ist der wohl bekannteste Koch Argentiniens, der für seine Spezialisierung auf das Kochen am offenen Feuer berühmt ist. Siehe hierzu beispielhaft How Francis Mallmann Feeds the Rich and Famous with Food From the Fire (Ross 2017). Tennant, die beim ersten Cooking for Reconciliation-Dinner in Vancouver (3./4. März 2017) als Journalistin anwesend war, merkte in einem unserer Gespräche an, dass man geradezu davon sprechen könne, dass dieser Stil die Ablehnung der Hegemonie kanonisierter Zubereitungstechniken sowie Service- und Präsentationsstile zum Ausdruck bringt, wie sie sich aus der französischen Hochküche heraus entwickelt haben – im Sinne von, wie Tennant es ausdrückte: »decolonizing the plate as part of the reconciliation process.« (Tennant 2017) Gold Medal Plates ist ein medienwirksamer Kochwettbewerb, der zugleich zur regionalen Vorausscheidung für das ebenso medienwirksame nationale Canadian Culinary Championship dient. Beide Veranstaltungen sind Fundraiser-Events zur Unterstützung kanadischer Olym-
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Dabei verweist Chartrands Enthusiasmus für derlei Wettkämpfe letztlich auf sein starkes Interesse an den zeitgenössischen Entwicklungen und neuesten Trends der internationalen Spitzengastronomie, die er mit indigenen Zutaten und seinem kulturellen Hintergrund zu fusionieren versucht. Seine Faszination für die Arbeitsweisen von Köchen wie René Redzepi, Magnus Ek, Magnus Nielson und vielen anderen Vertreter*innen einer hoch technisierten, aber zugleich ästhetisch reduzierten und insgesamt auf die Eigenschaften des Ausgangsprodukts konzentrierten Kochstils, spielt hierbei eine zentrale Rolle. So lassen sich einige der Kreationen, die Chartrand – bislang nicht im Restaurant á la carte, aber – im Zuge diverser Dinner-Veranstaltungen und tasting menus sowie als kulinarische Begleitung von Vorträgen zu indigenen Ernährungskulturen und seiner Vision von Progressive Indigenous präsentiert hat, in ihrer Ästhetik mitunter kaum von dem unterscheiden, was man in Restaurants wie dem NOMA in Kopenhagen, dem Nobelhart und Schmutzig in Berlin oder Oaxen in Stockholm serviert bekommt (Abb. 39-41). Es verwundert deshalb kaum, wenn Chartrand heute häufig in Nachrichtensendungen und im Frühstücksfernsehen lokaler TV-Sender zu sehen ist; wenn er dazu eingeladen wird, Rezepte für Kochbücher wie Great Canadian Masters (Vol. 1 und 2) (Canadian Museum Association 2016: 67, 2017) oder Feast. Recipes and Stories from a Canadian Road Trip (Anderson und Vanveller 2017: 38) beizusteuern; wenn er gebeten wird, im Rahmen von Veranstaltungen wie REDxTalks73 oder auch internationaler Symposien wie Terroir 74 über seine Arbeit zu sprechen oder seine Expertise in Veranstaltungsformate wie dem international renommierten kulinarischen Think Tank Cook it Raw75 einfließen zu lassen.
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pioniken (goldmedalplates.com). Bei den regionalen Wettbewerben in Edmonton gewann Chartrand 2013 Silber, 2016 Bronze und 2017 schließlich Gold. Die REDx Talks sind eine indigene Aneignung des populären TED Talk-Formats, wobei das Akronym RED für »Resilience, Empowerment, Discourse« (Widerstandsfähigkeit, Selbstbestimmung, Diskurs) steht. Die Veranstalter, die Iiniistsi Treaty Arts Society aus Calgary, beschreiben die REDx Talks als »a non-profit speaker series that expresses and embodies Indigenous world views from elders, teachers, youth and allies.« (www.facebook.com/pg/REDxTalks/about, abgerufen am 04.08.2018) Das internationale Terroir Symposium findet seit 10 Jahren in Toronto statt. Die Veranstalter beschreiben das Symposium als: »an annual professional development conference that brings together innovative and creative influencers from the field of hospitality, including chefs, food and beverage experts, producers and distributors, writers and business leaders.« (www.facebook.com/events/1872253262992799/) Für das Terroir Symposium 2017 wurde Chartrand für eine Keynote über indigene Ernährungskulturen und Gastronomie eingeladen. Das 2009 von Alessandro Porcelli ins Leben gerufene jährliche Treffen ausgewählter (Star)Köch*innen, die sich im Rahmen eines mehrwöchigen Aufenthalts an meist abgelegenen Orten (bspw. in Lappland oder im kanadischen Alberta) aus ihrer professionellen und kulturellen Disposition heraus mit den lokalen Gegebenheiten (Landschaft, Zutaten, Küchentradition etc.) befassen sollen, ist einer der bekanntesten und renommiertesten kulinarischen Think Tanks der internationalen Gastronomieszene. Porcelli beschreibt dieses For-
2. Teil: Die gastronomische Professionalisierung indigener Ernährungskulturen
Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Progressivität Francis’ kulinarischen Schaffens vor dem Hintergrund der pre-colonial-Doktrin zu einem erheblichen Teil eine politische Agenda zum Ausdruck bringt, bei der (indigenes) Kochen und Essen als Medium einer kritischen Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte Kanadas fungiert. Chartrands Kochstil und öffentliches Auftreten sind hingegen in erster Linie durch ein starkes Interesse an den jüngsten Entwicklungen in der internationalen Spitzengastronomie geleitet, was nicht zuletzt in seiner eigenen Bezeichnung seines Kochstils als »Progressive Indigenous« widerhallt. Nun gibt es zwar auch Betriebe wie das »high-end Indigenous restaurant« KūKŭm Kitchen76 in Toronto, in dem Eigentümer und Küchenchef Joseph Shawana (Wikwemikong First Nation), vor dem Hintergrund seiner klassisch französischen Ausbildung in namhaften Küchen in Toronto, klassische und moderne Küchentechniken mit ausgewählten indigenen Zutaten verbindet. Neben Gerichten wie »Rabbit Legs Confit in Sage Butter, with Beets, Carrots and Pearl Onions« oder »Seared Elk Loin, with a Smoked Wild Cherry Reduction« ist insbesondere sein signature dish, Robbentartar mit Wachteleigelb, erwähnenswert, mit dem Shawana ungewollt internationale Aufmerksamkeit erlangte, nachdem Tierschützer in einer Online-Petition zum Boykott seines kleinen Restaurants mit gerade einmal 30 Sitzplätzen aufriefen.77 Ungeachtet derlei kulinarisch ambitionierter Betriebe wie Kū-Kŭm Kitchen oder auch La Trait (seit 2008) in Wendake, Quebec, und auch seinerzeit das Keriwa Cafe (2011-2013) in Toronto, Ontario, liegt der Schwerpunkt des Spektrums indigener Gastronomie an anderer Stelle. So verweist der gemeinsame Nenner der überwiegenden Anzahl der Betriebe – nämlich die prominente Rolle von bannock, Indian tacos und anderen bannock products auf den jeweiligen Speisekarten – darauf, dass letztlich indigene comfort foods den Dreh- und Angelpunkt der gastronomischen Professionalisierung indigener Ernährungskulturen bzw. dass auf indigenes comfort food und bannock products konzentrierte Betriebe wie Mr. Bannock, das Salmon n’ Bannock oder das Kekuli Cafe den Schwerpunkt indigener Gastronomie darstellen. Wobei deutlich geworden sein sollte, dass selbst dieser Schwerpunkt keine homogene Gruppe gastronomischer Betriebe markiert.
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mat mit den Worten: »Cook It Raw is an annual gathering of culinary luminaries who explore possibilities of cuisine.« (www.cookitraw.org/about/vision/, abgerufen am 04.08.2018) Chartrand nahm 2015 als Repräsentant der indigenen Bevölkerung an Cook it Raw Alberta. The Shaping of a New Culinary Frontier teil. Siehe hierzu auch Salminen (2015a, b) und Cockrall-King (2015). www.kukum-kitchen.com. Die Bezeichnung »high-end Indigenous restaurant« geht auf eine CBC Reportage zurück (www.youtube.com/watch?v=3K9h0W1EPeg, abgerufen am 10.10.2017). Sieh hierzu bespielhaft Andrews (2017).
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Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Geschichte und gegenwärtige Ausgestaltung indigener Gastronomie sowohl in vertikaler (diachron/historisch) als auch horizontaler (simultan/zeitgenössisch) Hinsicht von Diversifizierungs- und Ausdifferenzierungsprozessen zeugen, wie sie bereits für sowohl die indigenen Gesellschaften als Ganzes als auch für die indigenen Ernährungskulturen beschrieben wurden. Konstitutiver Bestandteil dieser vertikalen wie horizontalen Diversität ist die kontinuierlich wachsende Anzahl und damit zunehmende Präsenz indigener gastronomischer Betriebe in der kanadischen Öffentlichkeit, die sich seit der Eröffnung des Muckamuck 1974 nachvollziehen lässt. Umso verwunderlicher ist, dass, während indigener Gastronomie als einer mehr und mehr an Präsenz gewinnenden Facette der kanadischen Gastronomielandschaft zunehmend mehr mediale Aufmerksamkeit zuteil wird, es bislang keine Versuche gibt, nicht nur den Status quo, sondern ebenso ihre Verbreitungs- und Entwicklungsgeschichte detaillierter nachzuvollziehen. Zugegebenermaßen gestaltet sich die Recherche hierzu schwierig. Nicht nur wissen die meisten indigenen Gastronom*innen und Köch*innen nichts voneinander. Hinzukommt, dass die meisten Betriebe bis vor wenigen Jahren allenfalls Gegenstand lokaler Nachrichtensendungen und Zeitungen waren. Nationale Berichterstattung, wie sie bspw. zum Kekuli Cafe und Feast Café Bistro existiert, oder gar internationale Beachtung, wie sie heute das Kū-Kŭm Kitchen78 oder auch das Salmon n’ Bannock79 erfahren, ist hingegen ein Phänomen der jüngeren Vergangenheit. Mangels bereits verfügbarer (hinreichender) Überblicksdarstellungen beruhen die folgenden Angaben zum Status quo sowie zur Verbreitungs- und Entwicklungsgeschichte indigener Gastronomie in British Columbia und dem restlichen Kanada auf meinen eigenen Recherchen. Dabei ergab sich für die Zeit von 1974 bis heute eine Anzahl von insgesamt 47 indigenen gastronomischen Betrieben – davon 20 in British Columbia (Abb. 42 und 43). Von diesen 47 Betrieben waren bis August 2018 noch 37 in Betrieb – davon 14 in British Columbia (Abb. 46). Indes veranschaulichen entsprechende chronologische Überblicksdarstellungen, dass diese Entwicklung seit den späten 2000er Jahren und insbesondere nach 2010 rapide zugenommen hat. Waren es im Jahr 2000 gerade einmal vier Betriebe (jeweils einer in British Columbia, Alberta, Saskatchewan und Quebec, Abb. 44), hatte sich diese Zahl bis 2010 mit neun Betrieben mehr als verdoppelt (drei in British Columbia, zwei in Alberta, jeweils einer in Saskatchewan und Ontario sowie zwei in Quebec, Abb. 45) und bis heute (2018) mit 37 Betrieben insgesamt nahezu verzehnfacht (vierzehn in
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Siehe hierzu in Der Tagesspiegel vom 19.10.2017 Robbenfleisch mit Wachtelei. Kanadisches Restaurant löst Proteste aus (Braune 2017). Siehe hierzu auf Spiegel Online vom 05.02.2016 Bison-Burger gegen das Vergessen. First-NationLokal in Vancouver (Mahmoodi 2016).
2. Teil: Die gastronomische Professionalisierung indigener Ernährungskulturen
British Columbia, sieben in Alberta, jeweils drei in Saskatchewan und Manitoba, sechs Ontario und vier in Quebec, Abb. 46). Im Zuge eines Gesprächs mit Theresa Contois, das wir 2015 in Vancouver zusammen mit zwei weiteren Mitarbeitern ihrer Catering Firma Cedar Feast House80 geführt haben, erklärte mir die ehemalige Co-Ausbilderin der Aboriginal Culinary Arts Class am VCC, dass dieser rapide Anstieg seit 2010 – zumindest in British Columbia – mit den damals in Vancouver abgehaltenen Olympischen Winterspielen zusammenhinge. Der Punkt sei: »With the 2010 Olympics it suddenly became cool to be Indigenous.« (Contois 2015) In A Feast for All Seasons. Traditional Native Peoples’ Cuisine (2010), einer Neuauflage von Andrew George Jr. und Robert Gairns’ Kochbuch Feast! Canadian Native Cuisine for All Seasons (1997), verweisen die Autoren ebenfalls auf die Rolle, die die Winterspiele 2010 für die Wahrnehmung und Anerkennung der indigenen Bevölkerung in British Columbia spielten. So beschreiben sie die Spiele als: »the first games in which Indigenous peoples were recognized as official host partners by the International Olympic Commite.« (George und Garins 2010: 151) Unabhängig davon, dass die Winterspiele 2010 die öffentliche (nationale wie auch internationale) Wahrnehmung der indigenen Gesellschaften der Nordwestküste und des restlichen Kanadas mit Sicherheit nicht unberührt ließen, sind die Hintergründe der zunehmenden Präsenz indigener gastronomischer Betriebe in der kanadischen Restaurantlandschaft und Öffentlichkeit bzw. der gesamte Prozess der gastronomischen Professionalisierung denkbar komplexer und multikausaler. Das folgende Kapitel 2.2. Indigene Köch*innen bei der Internationalen KochkunstAusstellung und der Prozess gastronomischer Professionalisierung gibt Einblicke in diese Hintergründe. Zuvor darf eine weitere Facette der zunehmenden Präsenz nicht unerwähnt bleiben: Neben ganzjährig geöffneten gastronomischen Betrieben treten indigene Ernährungskulturen nicht zuletzt als lediglich ephemere Bestandteile des öffentlichen Lebens in Kanada in Erscheinung. In diesen Fällen sind dies meist Stände, an denen im Nordwestküsten-Stil gegrillter Lachs oder bannock-burger verkauft werden – bspw. im Rahmen von Volks- und Straßenfesten, allerlei Arten von Musikfestivals oder auch von Großveranstaltungen wie Expo ’86, die Winter Olympiade 1988 und eben 2010 oder Festivitäten im Zusammenhang mit dem kanadischen Nationalfeiertag (Canada Day, 1. Juli) und unlängst als Teil von Canada 150-Feiern81 . Im Hinblick auf frühe Beispiele für derlei temporäre Gastronomie finden sich in den City of Vancouver Archives verschiedene Fotografien aus den 1970er und 1980er
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www.cedarfeasthouse.ca. Kanada feierte 2017 das 150jährige Jubiläum der Kanadischen Föderation, aus der am 01.07.1867 die Gründung des Bundesstaats Kanada hervorging. Canada 150 war das offizielle Banner, unter dem verschiedenste Jubiläumsveranstaltungen in allen Teilen Kanadas stattfanden.
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Jahren, auf denen diverse (aber ausschließlich) Lachs-Grillstationen zu sehen sind, die zum »Coast Salish Native Village« der alljährlichen Pacific National Exhibition gehörten. Die ältesten dieser Fotografien stammen aus dem Jahr 1977 (Abb. 47 und 48). Das prominenteste und mit Abstand früheste Beispiel temporärer indigener Gastronomie – allerdings außerhalb von British Columbia – stammt hingegen aus dem Jahr 1967: Im Kanadischen Pavillon der Expo ’67 (April bis Oktober 1967) in Montreal befanden sich zwei Restaurants, von denen das eine, The Tundra, neben den Kategorien »Cuisine Canadienne« und »International Cuisine« einen dritten Teil der Speisekarte mit der Überschrift »La Toundra« den indigenen Ernährungskulturen der arktischen Regionen Kanadas widmete. Zu den Gerichten, die zwar nicht alle den arktischen Regionen zuzuordnen sind, dafür aber allesamt einen, wie Myers zusammenfasst, »›fresh from the land‹ appeal« (Myers 2012: 176) vermittelten, gehörten »Kelalugak Beluga Casserole. The hearty flavour of beluga whale meat prepared in the fashion of today«, »Paillard of Buffalo. Generous slice of tender grilled buffalo meat flamed at the table« oder auch »Rainbow Trout Agnakuk« mit der vielsagenden, aber wenig konkreten Beschreibung: »Live trout prepared in the ultimate manner. Or, should you prefer, sauted in butter.« In The Taste82 gibt der kanadische Journalist Frank Rasky zudem einen lebhaften Einblick in den distinkten Charakter des Restaurants, das für kanadische und ausländische Besucher gleichermaßen »strange rather than familiar« (Richman Kenneally 2008: 290) gewesen sein muss: »At $3.50, I had a superb meal – beaver tail consommé, roast Ontario turkey stuffed with chestnuts, maple sugar pie and a truly noble cup of coffee. But the pièce de résistance came when one of the attractive Eskimo hostesses served me a $1.15 assortment of inuk titbits – most notable of which were the smoked ilkalu (a delicate Arctic char) and the succulent slices of grilled muktuk (the skin of the white whale, tangy with a dash of lemon juice).« (Rasky 1967) Da The Tundra nicht den oben erwähnten Kriterien indigener Gastronomie entspricht, wird an dieser Stelle nicht weiter auf die Ausgestaltung und die Hintergründe dieses temporären Restaurants eingegangen. Nicht zuletzt stellt die Rolle nationaler und ethnischer Küchen im Zuge von insbesondere Weltausstellungen sowie anderer nationaler und internationaler Ausstellungsformate eine Thematik dar, die aufgrund der teilweise expliziten – meistens jedoch impliziten – Verknüpfung mit politischen Agenden nach einer eigenen Auseinandersetzung verlangt.83 82
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The Taste ist einer von fünf Einzelbeiträgen, die im Canadian Magazine unter dem gemeinsamen Titel The Wondrous Fair die Besonderheiten der Expo ’67 aus der Warte von je einem der fünf Sinne (Tastsinn, Hören, Sehen, Riechen und Schmecken) beschreiben. Für eine Diskussion dieser Thematik in Bezug auf die Rolle von The Tundra im Zuge der Expo ’67 und den damit verknüpften Ambitionen im Hinblick auf die Erfindung einer Canadian cuisine im Kontext des 100jährigen Jubiläums der Gründung Kanadas siehe insbesondere Richman
2. Teil: Die gastronomische Professionalisierung indigener Ernährungskulturen
Entscheidend am Ende dieses letzten Unterkapitels zum Thema Indigene Gastronomie in British Columbia, 1974-2018 ist letztlich ein anderer Punkt, den der Ausblick auf die, das gesamte Kanada umfassende, Verbreitungs- und Entwicklungsgeschichte indigener Gastronomie weiter verdeutlicht hat. Dies ist die stetig und seit ca. 2010 rapide zunehmende Präsenz indigener Gastronomie im öffentlichen Raum in British Columbia und anderer Teile Kanadas, als Effekt des Prozesses der gastronomischen Professionalisierung indigener Ernährungskulturen, wie er im Folgenden erörtert wird. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Teilnahme einer indigenen Kochmannschaft bei der Internationalen Kochkunst-Ausstellung (IKA) am Anfang der 1990er Jahre. Die Geschichte der Mannschaft, die Diskussion ihrer Motivation und die Rekonstruktion der relevanten Hintergründe dienen in diesem Zusammenhang als narrativer Leitfaden zur Darstellung des Prozesses indigener gastronomischer Professionalisierung.84
2.2
Indigene Köch*innen bei der Internationalen Kochkunst-Ausstellung und der Prozess gastronomischer Professionalisierung
Indigene Gastronomie gibt es in Kanada spätestens seit den 1970er Jahren. Nichtsdestotrotz gab es auch zwanzig Jahre später, am Anfang der 1990er Jahre, kaum ganzjährig geöffnete indigene gastronomische Betriebe und nur wenige professionell ausgebildete indigene Köch*innen. Wie das vorangegangene Kapitel deutlich gemacht hat, hat sich dieser Zustand grundlegend geändert, sodass indigene Gastronomie heute ein zunehmend an Präsenz gewinnendes Element des öffentlichen Raums in Kanada darstellt. In diesem Kapitel geht es nun darum, einige Hintergründe dieser Entwicklung zu beleuchten, die zeigen, dass diese zunehmende Präsenz zu einem nicht unerheblichen Teil dem Engagement einiger bestimmter Personen geschuldet ist. Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang fünf indigene Köch*innen aus verschiedenen Regionen Kanadas, die 1992 bei einem
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Kenneally (2008) sowie Newman (2017: 109-110). Eine Einführung in die Rolle von Kochen und Essen im Zuge internationaler bzw. Weltausstellungen im Allgemeinen geben die Beiträge in Teughels und Scholliers (2016). Da der gesamte Prozess indigener gastronomischer Professionalisierung multikausal bestimmt ist und eine Zeitspanne von knapp einem halben Jahrhundert sowie unzählige Orte und das Engagement einer großen Anzahl von Personen umfasst, stellt jeder Versuch einer systematischen und nachvollziehbaren Darstellung der relevanten Zusammenhänge notwendig eine Verkürzung der Sachlage dar. Gerade aufgrund der Vielschichtigkeit des gesamten Prozesses und trotz der insgesamt schwierigen Quellenlage, bietet die Orientierung an der Geschichte und dem Personenkreis rund um die indigene IKA-Teilnahme von 1992 eine Möglichkeit, den Prozess greifbar zu machen.
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der größten Kochwettbewerbe der Welt, der Internationalen Kochkunst-Ausstellung (IKA) in Frankfurt a.M. teilgenommen haben. Ihr Ziel war es, Vorbilder zu schaffen, um indigene Jugendliche für das weite und profitable Feld der Gastronomie zu begeistern und so der marginalisierten indigenen Bevölkerung mittels gastronomischer Professionalisierung eine Möglichkeit für wirtschaftliches Wachstum an die Hand zu geben. Ein wichtiges Thema im Hinblick auf die folgende Darstellung der Geschichte dieser Köch*innen, ihrer Teilnahme bei der IKA 1992 und ihrer aktiven Rolle im Prozess der gastronomischen Professionalisierung von indigenem Kochen und Essen seit den frühen 1990er Jahren ist (erneut) die schwierige Quellenlage. Nicht nur existieren bislang keinerlei Publikationen mit explizitem Fokus auf indigene gastronomische Professionalisierung im Allgemeinen. Auch im Hinblick auf die Teilnahme bei der IKA 1992 sind im Grunde nur ein paar wenige Zeitungsartikel sowie knappe schriftlich publizierte Darstellungen von zwei der fünf Mannschaftsmitglieder vorhanden. Neben diesen Zeitungsartikeln und Publikationen beruhen meine Informationen zu den Hintergründen und Ereignissen von 1992 auf verschiedenen Quellen. Dazu gehören unter anderem Recherchen im Archiv der IKAOrganisatoren, dem Verband der Köche Deutschlands (VKD) mit Sitz in Frankfurt a.M. und Interviews mit Vertreter*innen des VKD sowie Mitarbeitern und Juroren der IKA 1992. Während die Recherchen im Umfeld des VKD und insbesondere die Sichtung der offiziellen Wettkampfunterlagen sowie von bislang unveröffentlichtem Bildmaterial dabei half, eine Vorstellung von den Ereignissen in Frankfurt im Oktober 1992 zu bekommen, ermöglichten E-Mail-Korrespondenzen mit Vertretern der kanadischen Kochvereinigung85 und schließlich die Zusammenarbeit mit Andrew George Jr., einem der ehemaligen Mitglieder der indigenen Kochmannschaft, Einblicke in die Hintergründe der indigenen Wettkampfteilnahme. George nahm dabei eine zentrale Rolle ein. Abgesehen von mehrstündigen, semistrukturierten Interviews im Februar 2015 und 2016, in denen George ausführlich über die Vorgeschichte, den Wettkampf in Frankfurt und die Zeit nach der IKA berichtete, gab er mir Zugang zu einem Konvolut aus seinem privaten Archiv, in dem sich nicht nur Fotos und Zeitungsberichte, sondern ebenso offizielle Pressemitteilungen und 85
Von besonderer Wichtigkeit sind hierbei zum einen Maurice O’Flynn, der damalige Teammanager der kanadischen Nationalmannschaft, und Norman Goldie. Zwar konnte O’Flynn selbst keine Angaben zur indigenen Mannschaft machen. Als Teammanager der Nationalmannschaft, die damals das zweite Mal in der Geschichte der kanadischen Kochvereinigung den Gesamtsieg bei der IKA erzielte, war er zu sehr in den Wettkampf seiner eigenen Mannschaft eingebunden. O’Flynn stellte jedoch den Kontakt mit Goldie her, der eng mit der indigenen Mannschaft zusammenarbeitete. Wenngleich Goldie in keiner der mir vorliegenden offiziellen Dokumente zur indigenen IKA-Teilnahme sowie in keiner Publikationen zur indigenen IKA-Teilnahme genannt wird, bestätigte einer meiner Hauptinformanten, Andrew George Jr., dessen aktive Rolle.
2. Teil: Die gastronomische Professionalisierung indigener Ernährungskulturen
Unterlagen befanden, die im Zusammenhang mit der Planung, Umsetzung und Nachbereitung der indigenen IKA-Teilnahme standen. Während das Zusammenspiel dieser verschiedenen Quellen eine lebhafte Vorstellung der Geschichte der fünf Köch*innen gibt, weichen einige der gesammelten Informationen teils stark voneinander ab oder sind gar widersprüchlich. Das betrifft bspw. die tatsächliche Aufstellung des Teams und die Frage nach etwaigen (nicht-indigenen) Helfern im Zuge des Wettkampfs und dessen Vorbereitung; die Frage der genauen Rahmenbedingungen; den genauen Wettkampfablauf; oder die tatsächliche Anzahl und Art der gewonnen Medaillen. Um im Zuge der Diskussion der indigenen IKA-Teilnahme nicht durch quellenkritische Seitenschauplätze von der eigentlichen Geschichte abzulenken, orientieren sich die folgenden Ausführungen an den Darstellungen von derjenigen Person, die aus dem Kreis meiner Informanten den engsten Bezug zur Thematik hat – nämlich Andrew George Jr.86 Neben diesen Ungereimtheiten oder Widersprüchen ist es auffällig, dass die üblichen Darstellungen oder auch Verweise auf die indigene IKA-Teilnahme in der Regel nicht darauf eingehen, was genau die Internationale KochkunstAusstellung eigentlich ist. Da eine angemessene Diskussion der indigenen IKAWettkampfteilnahme ein Verständnis des gesamten Kontextes und damit auch des Wettkampfszenarios selbst voraussetzt, gibt das folgende Kapitel 2.2.1. zunächst einen Einblick in die Geschichte, Hintergründe und Struktur der IKA. Vor dem Hintergrund der Einführung in die Eigen- und Besonderheiten dieses geschichtsträchtigen Kochwettbewerbs widmet sich das anschließende Kapitel 2.2.2. der Teilnahme der indigenen Kochmannschaft bei der IKA 1992. Die Darstellung des Engagements einiger Mannschaftsmitglieder nach 1992 und die Diskussion ihrer Rolle für den Prozess der gastronomischen Professionalisierung im abschließenden apitel 2.2.3. gibt schließlich Einblicke in die Hintergründe, die zur heutigen Präsenz indigener Gastronomie im öffentlichen Raum in Kanada geführt haben.
2.2.1
Die Internationale Kochkunst-Ausstellung: Geschichte, Hintergründe und Organisation
Unter den unzähligen regionalen, nationalen und internationalen Wettbewerben für professionelle Köch*innen rund um den Globus nimmt die Internationale Kochkunst-Ausstellung (IKA) einen besonderen Platz ein. Als einziger der vier größten und prestigeträchtigsten Wettbewerbe87 kann die IKA auf eine Geschichte
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Damit etwaige Ungereimtheiten oder Widersprüche nicht unbenannt bleiben, sind der Darstellung Fußnoten mit entsprechenden Verweisen beigefügt. Die anderen drei sind der Bocuse d’Or in Frankreich, Food and Hotel Asia Culinary Challenge in Singapur und der Culinary World Cup in Luxemburg.
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zurückblicken, die bis an das Ende des 19. Jahrhunderts zurückreicht.88 Zwar gab es bereits seit den 1870er Jahren vergleichbare Veranstaltungen in Frankreich, England und Deutschland, die von den jeweiligen nationalen Organisationen wie der Société des Cuisiniers Française oder dem Verband Deutscher Köche veranstaltet wurden. Als im Jahr 1900 die erste offizielle IKA in Frankfurt a.M. stattfand, brachte dies jedoch zentrale Neuerungen mit sich. Zum einen hatten andere Kochkunstausstellungen und Wettbewerbe einen explizit nationalen Fokus, während die IKA einem dezidiert internationalem Credo folgte (Coydon 2016: 70).89 Nicht zuletzt trug sowohl die Veranstaltung selbst als auch der hauptverantwortliche Veranstalter, der 1895 in Frankfurt a.M. gegründete Internationale Verband der Köche (IVK, seit 1948 umbenannt in Verband der Köche Deutschlands, VKD), die »internationale« Orientierung der IKA bereits im Namen. Im Zusammenhang mit dem internationalen Fokus der IKA führten die Veranstalter zum anderen erstmals sogenannte »Kosthallen für Nationalgerichte« (Schwarz 1989: 47) ein. In diesen Hallen befanden sich gläserne Schauküchen, in denen Gerichte von Köch*innen aus den entsprechenden Ländern zubereitet wurden, die als Kostproben erworben werden konnten. Entsprechend schrieb der IVK im Vorwort zum Offiziellen Katalog der Internationalen Kochkunst-Ausstellung: »[…] wenn einmal eine Kochkunst-Ausstellung ihren Namen mit vollem Recht verdient, dann muss sie dem Besucher die Kochkunst in ihrem ganzen Umfang zeigen. Nicht nur der gegenwärtige Stand der Kochkunst einer Gegend oder eines Landes soll uns gezeigt werden, sondern auch die Küche der Nachbarländer muss berücksichtigt werden und Alles was gezeigt wird, muss auch gekostet werden können […].« (zitiert nach Schwarz 1989: 48) Wie bei den anderen Kochkunstausstellungen, aber auch den kulinarischen Zurschaustellungen im Zuge der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert zunehmend an Popularität gewinnenden Weltausstellungen, spielte das, was als »culinary nationalism« bezeichnet werden könnte – nämlich »the discursive construction of national cuisines as part of a constructed national culture« (Coydon 2016: 71) –,
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Gemäß ihrer besonderen Rolle und historischen Bedeutung wird die IKA außerhalb des deutschsprachigen Europas seit den 1960er Jahren auch als Culinary Olympics oder World Culinary Olympics bezeichnet. Mittlerweile verwendet auch der VKD die alternative Bezeichnung IKA. Die Olympiade der Köche. In dieser Arbeit wird primär von der weiterhin offiziellen Bezeichnung IKA Gebrauch gemacht. Zur historischen Verortung siehe insbesondere Eva Coydons (2016) umfassende Darstellung der Hintergründe und Gegebenheiten der ersten drei IKAs 1900, 1905 und 1911 sowie Schwarz (1989: 45-67).
2. Teil: Die gastronomische Professionalisierung indigener Ernährungskulturen
auch bei der IKA eine prominente Rolle.90 Ein wichtiger Punkt in diesem Zusammenhang ist sicher auch eine weitere Neuerung der IKA. Denn nicht nur wurden die kulinarischen Kreationen der verschiedenen Nationen sowohl ausgestellt als auch verköstigt, es wurden zudem die entsprechenden Rezepte ausgehändigt. Versteht man nun die Verschriftlichung und Vervielfältigung von Rezepten oder ganzen Kochbüchern mit Arjun Appadurais Überlegungen in How to Make a National Cuisine. Cookbooks in Contemporary India (1986) als »revealing artifacts of culture in the making« (Appadurai 1986: 22), scheint dies dem behaupteten internationalen Credo zunächst zu widersprechen. Allerdings nur scheinbar. Denn während durchaus auch diskursive Konstruktionen nationaler Küchen als Teil der vor allem in Deutschland noch jungen Nationalkultur spielten, war die IKA der Modernisierung der Kochkunst verpflichtet, wie sie mit dem Namen Auguste Escoffier und seinem revolutionären 1903 veröffentlichten Le Guide Culinaire assoziiert ist. D.h. einer Modernisierung in Gestalt der Standardisierung von Basisküchentechniken, Rezepten und Servierstilen sowie der Rationalisierung von Arbeitsprozessen und der Organisation professioneller Küchen. Insgesamt erwies sich der internationale oder – im Licht der als gewissermaßen universell geltend-gedachten Standardisierung und Rationalisierung professionellen Kochens im Guide – transnationale Fokus der IKA als zeitgemäß, wenn nicht sogar wegweisend. Abgesehen von ein paar Unregelmäßigkeiten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und Pausen während des Ersten und Zweiten Weltkrieges treffen sich bis heute alle vier Jahre Köch*innen aus der ganzen Welt, um an dieser Veranstaltung teilzunehmen, die zu einem Fixstern innerhalb der Welt der Gastronomie und des professionellen Kochens avanciert ist. Dabei haben sich der Aufbau und die Wettkampfstruktur in der über einhundert Jahre währenden IKA-Geschichte stets weiterentwickelt. Es würde jedoch zu weit vom Thema wegführen, auf diese Veränderungen im Einzelnen einzugehen. Letzten Endes gibt es für Köch*innen heute verschiedene Möglichkeiten bei der IKA anzutreten: Neben Einzelaussteller*innen, Patisserie-, Kantinen- oder Großverpflegungs-Mannschaften und militärischen Feldküchen treten National- und Jugendnationalmannschaften und schließlich Regionalmannschaften zum Kampf um die Medaillen an. Je nach Art der Teilnahme müssen die Mannschaften oder Einzelaussteller*innen jeweils klar definierte Aufgaben bestimmter Kategorien erfüllen. Ohne auf die komplexen Details dieser Kategorien und Aufgaben einzugehen, ist es in diesem Kapitel ausreichend, den in diesem Zusammenhang zentralen Unterschied hervorzukehren: nämlich den Unterschied zwischen der Hot Show und der Cold Show, wie die beiden wesentlichen Wettkampfformate im Zuge der IKA inoffiziell bezeichnet werden. Der 90
Zum Thema culinary nationalism und der Rolle von Kochen und Essen im Zuge internationaler bzw. Weltausstellungen siehe Teughels und Scholliers (2016) sowie Parkhurst Ferguson (2010).
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Unterschied besteht in erster Linie zwischen einerseits Menüs, die 110 zahlenden IKA-Besuchern im Restaurant der Nationen heiß serviert und im Zuge dessen auch von der Jury verkostet und beurteilt werden, und andererseits Kochkunst, die chemisiert91 , kalt ausgestellt und nur visuell begutachtet wird. Eine der offiziellen »Richtlinien für Aussteller/Teilnehmer und Jury«, wie sie im Katalog der IKA 1992 abgedruckt sind, verweist nicht nur auf die basalen Anforderungen an die Köch*innen und Aussteller*innen, nach denen die Juroren in beiden Wettkampfformaten (Cold/Hot) Punkte vergeben, sondern unterstreicht ein weiteres Mal den oben beschriebenen inter- bzw. transnationalen Charakter der IKA: »Richtige Grundzubereitung, der heutigen modernen Kochkunst entsprechend.« (VKD 1993: 18) Mit der »heutigen modernen Kochkunst« bezeichnen die Organisatoren jene Standards im Hinblick auf die physische und soziale Organisation professioneller Küchen sowie die Kanonisierung von Basisrezepten, Kochtechniken, Mahlzeitstrukturen, Tellerarrangements und Servierstilen, die für das Handwerk des professionellen Kochens, wie es in den der klassischen Haute Cuisine verschriebenen Kochschulen weltweit gelehrt und in den Küchen der internationalen Gastronomie und Hotelindustrie praktiziert wird, charakteristisch sind. Da diese Standards von einer ganzen Reihe prominenter Autor*innen und Küchenpraktiker*innen hinreichend beschrieben und analysiert wurden, gehe ich hier nicht weiter ins Detail.92 Es ist an dieser Stelle vielmehr ausreichend festzuhalten, dass die Formulierung »der heutigen modernen Kochkunst entsprechend« darauf verweist, dass die historische Entwicklung handwerklicher (europäischer) Kochkunst und die systematische Organisation des Kochprozesses den Referenzrahmen der IKA-Jury darstellen. Für die Teilnehmer*innen der Hot Show gilt entsprechend, dass die Meisterung ihres Handwerks in ihrer Gesamtheit beurteilt wird. D.h. von der PreisLeistungskalkulation der Zutaten über die Zubereitung und das Anrichten in verglasten und standardisierten Schauküchen bis zum Geschmack ihrer ephemeren Kochkunst-Werke. Im Gegensatz hierzu haben die Teilnehmer*innen der Cold Show weder Schauküchen noch werden ihre Kreationen verköstigt. Stattdessen müssen sie sich in Küchen außerhalb des IKA-Veranstaltungsgeländes einmieten, um dort ihre Gerichte zuzubereiten, zu chemisieren und anschließend frühmorgens auf Schautischen zur lediglich visuellen Beurteilung anzurichten. Dieser grundlegende Unterschied kennzeichnet die fundamentale Differenz zwischen den beiden Arten von Mannschaften oder Teilnehmer*innen, die im Rahmen 91 92
Beim Chemisieren werden die einzelnen Komponenten eines Tellergerichts oder einer Schauplatte mit Gelatine oder Aspik glasiert. Dadurch sehen die Speisen länger frisch aus. Für detailreiche Darstellungen und Diskussionen dieser Standards und ihrer Historie sowie der Institutionalisierung moderner Gastronomie (Restaurants und Hotels) siehe beispielhaft die Arbeiten von Mennell (1988), Poulain and Neirinck (2004), Spang (2001) und Sikorski (2012).
2. Teil: Die gastronomische Professionalisierung indigener Ernährungskulturen
dieses Kapitels relevant sind – nämlich Nationalmannschaften auf der einen Seite und Regionalmannschaften und Einzelaussteller*innen auf der anderen Seite. Während von diesen dreien nur die Nationalmannschaften neben der Cold Show auch in der Hot Show antreten, sind die Regionalmannschaften und Einzelaussteller*innen auf die Cold Show begrenzt. Der entscheidende Punkt ist, dass jede Nation nur eine Nationalmannschaft stellen kann, die im Fall von Kanada die Canadian Culinary Federation of Chefs and Cooks (CCFCC) repräsentiert. Dementsprechend sind alle anderen kanadischen Teilnehmer*innen darauf beschränkt, als Regionalmannschaft oder Einzelaussteller*innen anzutreten. Was zugleich bedeutet, dass ihre Teilnahme auf die Cold Show begrenzt ist. Während gerade Letzteres fraglos eine Einschränkung darstellt, gibt Andrew George Jr. (Wet’suwet’en), einer der indigenen Köch*innen, die an der IKA 1992 in Frankfurt a.M. teilnahmen, in seinem ersten Kochbuch, Feast! Canadian Native Cuisine for All Seasons (1997) seine Sicht auf die besonderen Herausforderungen der Cold Show preis: »Our participation in the competitions was not judged on taste. It didn’t have anything to do with whose pastry was flakier or whose sauce was zestier. […] In this competitive pressure cooker on the world stage, it’s all about the other kind of taste – presentation, imagination, and artistic impression.« (George and Gairns 1997: 11)
2.2.2
»Going for the Gold«: Canadian Native Haute Cuisine bei der IKA 1992
Die CNHC-Mannschaft Es muss eine echte Überraschung gewesen sein, als George mitten im gewöhnlich geschäftigen Küchenbetrieb seines Restaurants Toody-Ni Grill and Catering Company in East Vancouver im Sommer 1991 ans Telefon gerufen wurde. Im Gegensatz zu sonst, war es allerdings weder ein Händler, der zu einem ungünstigen Zeitpunkt versuchte George von irgendwelchen Angeboten zu überzeugen, noch war es ein Kunde, der einen Tisch reservieren oder etwas zum Mitnehmen bestellen wollte. Stattdessen fragte die Person am anderen Ende der Leitung, »from out of nowhere« (George und Gairns 1997: 9), ob George sich vorstellen könne, Teil von einer Gruppe indigener Köch*innen zu werden, die indigenes Kochen und Essen auf die Weltbühne bringen würde. Der Anrufer erklärte, dass sie gerade dabei wären, unter dem Namen Canadian Native Haute Cuisine (CNHC) eine indigene Koch-Mannschaft auf die Beine zu stellen, die im nächsten Jahr nach Frankfurt a.M. reisen und dort an der IKA 1992 teilnehmen würde. »Sie«, das waren indigene und nicht-indigene Personen aus sowohl dem privatwirtschaftlichen Sektor als auch Vertreter*innen staatlicher Organisationen. In Delicious Resistance, Sweet Persistence. First Nations Culinary Arts in Canada (2005) be-
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nennt Annie Turner die Initiator*innen hinter der Idee und dem Konzept sowie der letztlichen Planung und Organisation der CNHC-Mannschaft.93 Sie verweist dabei auf die Tatsache, dass die Canadian Tourism Commission (CTC) vor dem Hintergrund der zu Beginn der 1990er Jahre angespannten Beziehungen zwischen der indigenen und nicht-indigenen Bevölkerung in Kanada in Anschluss an die OkaKrise eine Reihe von Initiativen startete, um diese Beziehungen wieder zu verbessern (A. Turner 2005: 83).94 Die CTC engagierten zu diesem Zweck Robert Gairns (Métis), der mit der Entwicklung einer Reihe von »Aboriginal initiatives« (ebd.) beauftragt wurde. Gairns und die CTC schlossen sich in diesem Kontext mit dem erfahrenen indigenen Unternehmer Albert Diamond (Cree, Oudeheemin Foods)95 und der Gastronomie-Beraterin Danielle Medina (Medina Foods)96 zusammen und entwickelten die Idee einer indigenen Kochmannschaft. Nun gibt es keine institutionalisierten Vorentscheidungs- oder zentralisierten Auswahlprozesse, um sich für die Teilnahme bei der IKA zu qualifizieren. Der Wettbewerb steht im Grunde jedem offen, der Mitglied einer nationalen KochOrganisation oder der World Association of Chefs Society (WACS) ist und der darüber hinaus über die notwendigen finanziellen Mittel verfügt oder entsprechende Sponsoren hat. Mit der Unterstützung des Minister of Employment and Immigration und
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Um im weiteren Verlauf der Arbeit Verwechslungen zwischen Annie Turner und Nancy J. Turner vorzubeugen, wird Annie Turner im Folgenden stets als »A. Turner« abgekürzt. Bei der Oka-Krise handelt es sich um eine 78 Tage (11.07.-26.09.1990) dauernde bewaffnete Auseinandersetzug zwischen protestierenden Mitgliedern der Mohawk und der Polizei von Quebec mit Unterstützung des kanadischen Militärs. Grund war ein Streit um Land zwischen Mohawk und der Gemeinde Oka in der Provinz Quebec. Für weiterführende Informationen und Details zu den Ursachen, Geschehnissen und Folgen dieses wichtigen Kapitels der kanadischen Geschichte des ausgehenden 20. Jahrhunderts siehe insbesondere die online verfügbaren Darstellungen unter www.thecanadianencyclopedia.ca/en/article/oka-crisis/ (abgerufen am 01.08.2018) und blogs.mcgill.ca/hist203momentsthatmatter/2018/04/06/the-oka-crisis/ (abgerufen am 01.08.2018) sowie den Eintrag Oka Crisis in The Oxford Companion to Canadian History (Miller 2004). Albert Diamond († 15.09.2009) war der Bruder von Billy Diamond († 30.09.2010), der für seine Rolle als erster Grand Chief des Eeyou Istchee (besser bekannt als Grand Council of the Crees) im Zuge der Aushandlung des James Bay and Northern Quebec Agreement von 1975 – »the first modern land-claims settlement in Canada« (German 2009) – und die daran anschließende Gründung einer Reihe von indigenen Betrieben wie bspw. der Fluggesellschaft Air Creebec (seit 1982) unter der indigenen Bevölkerung in Kanada ein hohes Ansehen genoss. Die gemeinsam als »Diamond Brothers« bekannt gewordenen Brüder gelten gemeinhin als Vorbilder erfolgreichen indigenen Unternehmertums. Siehe German (2009) und waskaganish.ca/billy-diamond. Danielle Medina ist Gründerin und Geschäftsführerin von Medina Foods Inc. (seit 1980). Medina Foods Inc. ist spezialisiert auf die Beratung im Bereich Lebensmittelsicherheit für sowohl kleinere als auch größere Unternehmen (vor allem aus dem Bereich des Personenluftverkehrs).
2. Teil: Die gastronomische Professionalisierung indigener Ernährungskulturen
Minister of Industry, Science and Technology Canada sowie der Bank of Montreal, Air Canada und der Canadian Egg Marketing Agency konnte die CNHC-Mannschaft finanziell aus dem Vollen schöpfen.97 Ein viel größeres Problem der Organisatoren war es hingegen, ausreichend viele professionell ausgebildete indigene Köch*innen zu finden (George 2016, außerdem A. Turner 2005: 83). Durch den, wie George es formuliert, »›moccasin telegraph,‹ our native gossip hotline« (George und Gairns 1997: 9), fanden sie schließlich zehn Kandidat*innen für die fünfköpfige Mannschaft (George 2016). Wie genau der entsprechende Auswahlprozess vonstatten ging, ist ebenso unbekannt, wie auch keine Informationen darüber verfügbar sind, wer die anderen fünf (oder mehr) waren und warum sie ausgeschieden sind. Sicher ist nur, wie die finale Besetzung der Mannschaft aussah. Sie bestand aus David Wolfman, Bertha Skye, Andrew George Jr., Arnold Olson und Bryan Sappier (Abb. 49 und 50). Während zu den ersten drei aufgrund autobiografischer Publikationen greifbare Informationen vorliegen, lassen sich zu Olsen und Sappier für die Zeit vor ihrer Aufnahme in die CNHC-Mannschaft kaum verlässliche Angaben finden. Sicher ist lediglich, dass Olsen Mitglied der Cree Nation aus Saskatchewan und Sappier Mitglied der Wolastoqiyik (auch bekannt als Maliseet) ist, deren Territorium sich über die kanadische und amerikanische Grenze hinweg von Québec über Maine nach New Brunswick erstreckt. Über Wolfman ist mehr bekannt, was daran liegt, dass er seit dem Ende der 1990er Jahre seine eigene Fernsehsendung, Cooking with the Wolfman, produziert und 2017 zudem sein gleichnamiges Kochbuch Cooking with the Wolfman. Indigenous Fusion veröffentlichte. Wolfman ist Mitglied der Xaxli’p First Nation (auch bekannt als Fountain First Nation), deren Territorium sich im südlichen Teil des Inlandes von British Columbia befindet. Allerdings geht aus dem Vorwort zu Cooking with the Wolfman hervor, dass er in einem gänzlich anderen Umfeld in Downtown Toronto geboren und aufgewachsen ist. Im Hinblick auf die Tatsache, dass er die Lebensweise seiner indigenen Vorfahren mütterlicherseits (Wolfmans Vater war russisch-jüdischer Abstammung) nur aus Erzählungen kannte, betont Wolfman: »[we] just blended as best we could in our downtown neighbourhood.« (Wolfman und Finn 2017: 1) Entsprechend war Wolfmans Kochkarriere in den ersten Jahren auch nicht durch einen indigenen Fokus oder eine entsprechende Spezialisierung charakterisiert. Der erste Blick in Richtung seines eigenen kulturellen Hintergrundes und damit auch die Spezialisierung auf das, was er heute als Indigenous Fusi-
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Diese Aussage basiert auf der Sichtung offizieller Pressemitteilungen und anderer interner Unterlagen der Organisatoren aus dem privaten Archiv von Andrew George Jr. Zwar werden auch dort keine konkreten Zahlen genannt. Die Liste der Sponsoren und Unterstützer zusammen mit der aufwendigen Gestaltung der Teilnahme der CNHC-Mannschaft, wie sie in diesem Kapitel dargestellt wird, lässt jedoch erahnen, welche Mittel den Organisatoren zur Verfügung standen.
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on bezeichnet, fand erst im Alter von 21 Jahren nach Abschluss einer klassischen Kochausbildung am George Brown College of Applied Arts and Technology in Toronto und dem überhaupt ersten Besuch seiner indigenen Verwandtschaft in British Columbia statt (Liu 2017). Im Verhältnis zu Wolfmans Biografie, eines in gewisser Hinsicht kulturell entwurzelten Stadtkindes, erzählen die Biografien von Skye und George diametrale Geschichten.98 So berichtet bspw. Skye (Ahtahkakoop First Nation, Cree) davon, wie sie als Kind im nördlichen Saskatchewan aufwuchs; wie sie von ihrem Vater lernte im Wald Hasenfallen aufzustellen; und wie ihre Mutter ihr beibrachte, die gefangenen Hasen zu häuten und zuzubereiten. Sie erzählt davon, wie sie mit ihrer Mutter auf »berry-picking expeditions« (Skye 1995: 113) ging und die gesammelten Beeren im Sonnenlicht trocknete; wie sie auf Jagdausflügen mit ihrem Vater lernte, über offenem Feuer bannock am Stock zu backen oder Rebhühner, Hasen und anderes kleines Wild am Rand eines Feuers mit Hölzern aufgespannt zu grillen. Im Hinblick auf Skye ist es darüber hinaus ein wichtiges Detail, dass sie knapp dreißig Jahre älter war, als die anderen vier, die zum Zeitpunkt der IKA 1992 alle im Alter zwischen 28-30 Jahren waren und jeweils etwa zehn Jahre Erfahrung in professionellen Küchen hatten. Dabei war George mit 28 Jahren der Jüngste und Skye mit 60 Jahren die Älteste. Zwar hatte Skye keine professionelle bzw. zertifizierte Ausbildung genossen. Da ihre Karriere als Köchin – nachdem sie bereits im Alter von zehn Jahren regelmäßig für ihre zehn Geschwister gekocht und bannock gebacken hatte – bereits im Alter von siebzehn Jahren als (externe) Hilfskraft in der Küche der Prince Albert Indian Residential School in Prince Albert, Saskatchewan, begann und sie später verschiedene Schulküchen als Küchenchefin leitete, brachte sie fraglos die meiste Praxiserfahrung mit. Vor dem Hintergrund ihrer Autodidaktik überrascht es nicht, dass ihr Kochstil auch in professionellen Küchen stark von indigenen Einflüssen geprägt war. D.h. von dem, was sie in ihrem familiären Umfeld im Hinblick auf die Ernährungskultur der Ahtahkakoop First Nation von Kindesalter an gelernt hatte. Entsprechend betont sie: »native dishes and desserts, especially pies and pastries, became my specialities.« (Skye 1995: 114) George wuchs in einem – wenn man so möchte – ähnlich »traditionellen« Umfeld auf, wenn auch in anderen territorialen Gegebenheiten. Geboren in Smithers im nördlichen Inland von British Columbia, verbrachte George seine Kindheit mit seinen fünf Geschwistern in Telkwa, einem kleinen Nachbarort von Smithers. George und seine Geschwister lebten mit ihren Eltern in sehr einfachen Verhältnissen. Fließendes Wasser gab es in Georges Elternhaus ebenso wenig wie eine hausinterne Toilette. Was die alimentäre Versorgung anbelangte, schreibt George in sei-
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Die folgenden Angaben zu Skye beziehen sich auf Skye (1995).
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nem zweiten99 Kochbuch Modern Native Feasts. Healthy, Innovative, Sustainable Cuisine (2013): »For food, my family and I had to take advantage of what was available to us seasonally, in the wild. In the spring and summer we would harvest trout and salmon; in the fall, we hunt moose, rabbit, and deer; in winter we would go ice fishing.« (George 2013: 9) Ähnlich wie im Fall von Skye waren es Georges Mutter und Großmutter, die ihn mit den küchentechnischen Grundlagen der Ernährungskultur der Wet’suwet’en vertraut machten. Im Unterschied zu Skye entschied sich Andrew 1983 im Alter von 19 Jahren, nachdem er zuvor bereits gelegentlich als Koch in Holzfäller-Camps angeheuert hatte, für ein Ausbildungsprogramm am Vancouver Vocational Institute (VVI, heute Vancouver Community College, VCC). Wie man aus seiner Biografie herauslesen kann, spielten Georges indigene kulinarische Wurzeln in seiner Kochkarriere vor der IKA 1992 stets eine zentrale Rolle – sei es als Aushilfe in der Küche des Vancouver Aboriginal Friendship Centre während seiner Zeit am VVI; seine erste Vollzeitanstellung nach Abschluss der klassischen Ausbildung am VVI im damaligen Quilicum; oder die Eröffnung seines eigenen Restaurants Toody Ni nur kurze Zeit bevor sein Telefon klingelte und George zum Mitglied der CNHC-Mannschaft wurde.
Das Training Obgleich alle fünf Mannschaftsmitglieder erfahrene Köch*innen waren, hatte keiner von ihnen je an einem Wettbewerbsformat wie dem der IKA teilgenommen. Die Begrenzung auf die Cold Show machte das Ganze nicht einfacher. Die Organisator*innen wandten sich deshalb an den preisgekrönten IKA-Veteranen und ehemaligen Präsidenten des CCFCC George Chauvet, den sie als Manager der Mannschaft gewinnen konnten. In Zusammenarbeit mit einem weiteren IKA-Veteranen, Niels Kjeldsen, entwickelte Chauvet ein Intensivkurs-Programm, das von Herbst 1991 bis Sommer 1992 in einer der Küchen des Sutton Place Hotel in Toronto stattfand (George and Gairns 1997: 9-11). Zu Beginn des Trainings sollten George und die anderen Mannschaftsmitglieder Rezepte mitbringen, die in Verbindung mit ihrem jeweiligen kulturellen Hintergrund und den territorialen Gegebenheiten ihrer Heimat standen. Sie dienten als Ausgangsmaterial für die Entwicklung der Schauplatten und IKA-Menüs der Mannschaft. Die Schwierigkeit lag zweifelsohne darin, die Rezepte mit jener zentralen Richtlinie der richtigen »Grundzubereitung, der heutigen modernen Koch-
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D.h., wenn man die um ein Vorwort von George und Gairns verlängerte Neuauflage von Feast! (1997) nicht mitzählt. Die Neuauflage erschien anlässlich der Olympischen Winterspiele 2010 unter dem überarbeiteten Titel A Feast for All Seasons. Traditional Native Peoples’ Cuisine (2010).
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kunst entsprechend« in Einklang zu bringen. Wie in den Gesprächen mit George deutlich wurde, stand dabei im Hinblick auf die – wenn man so möchte – Indigenität der Tellergerichte, Schauplatten und Schaustücke, die Indigenität der Ingredienzien in Vordergrund. Die angewandten Techniken und Präsentationsformen – »der heutigen modernen Kochkunst entsprechend« – waren lediglich das Medium, das diese Zutaten und deren kulturellen Hintergrund in die Hallen der Messe Frankfurt tragen sollte. In Anbetracht der sehr kurzen Vorbereitungszeit war das Training intensiv. Oder wie George es formulierte: »He [Chauvet] soon had us hitting the books pretty hard.« (George und Gairns 1997: 9) Ein wesentlicher Teil des Programms bestand darin, die Mannschaft mit Hilfe eines umfassenden »hands-on«-Trainings auf die Eigenheiten der Cold Show vorzubereiten. Dazu gehörten das aufwendige Tournieren von Gemüse, das Anfertigen von Skulpturen, sogenannten Schaustücken, aus Eis, Butter oder Schokolade, das Anrichten von Tellergerichten und Schauplatten nach den ästhetischen Grundregeln der klassischen Haute Cuisine und schließlich die elaborierten Chemisiertechniken, die, wenn sie perfekt ausgeführt werden, die Speisen aussehen lassen, als seien sie von einem dünnen Glas-Film überzogen. Als die CNHC-Mannschaft nach abgeschlossenem Training schließlich die Reise nach Frankfurt antrat, reisten George und die anderen mit weit mehr als nur einer Messertasche im Gepäck. Abgesehen von allerlei Kochutensilien und ihren Kochuniformen mit dem offiziellen CNHC-Logo auf der Brust (Abb. 51), hatten sie Zutaten wie z.B. Biber, Moschusochse und Rentier, junge Farnspitzen und diverse wilde Beerenarten dabei. Darüber hinaus brachte die Mannschaft verschiedene Kulturartefakte, Kunsthandwerk, Trommeln, indigene Kleidung nach historischem Vorbild aus Wildleder mit Fransen, Perlen und Federschmuck und sogar ein Tipi mit sich, das in der Ausstellungshalle neben ihrem Schautisch aufgestellt werden sollte (Abb. 52 und 53).
Der Wettkampf Als sie am 10. Oktober 1992 im Frankfurt ankamen, blieb ihnen nicht viel Zeit zum Ausruhen. Der Wettkampf begann bereits früh am (nächsten) Morgen. Kaum angekommen, mussten sie sich deshalb für die erste Nachtschicht in einer angemieteten Hotelküche einrichten, wo sie die ganze Nacht hindurch Tellergerichte, Schauplatten und Schaustücke vorbereiteten. Damit war die Arbeit noch nicht getan. Nachdem alles fertig gekocht, chemisiert und bereit zur Ausstellung war, mussten sie alles früh am Morgen in der Messehalle auf ihrem Schautisch arrangieren und dekorieren. Dieses Schema – nachts kochen, tagsüber präsentieren – prägte ihre gesamte Zeit bei der IKA. Denn hingegen der missverständlichen Formulierung »CNHC-Mannschaft« (Canadian Native Haute Cuisine team) traten sie genau genommen nicht als Mannschaft, sondern jedes Mitglied für sich als »Einzelaussteller*in«
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an – d.h. mit der Unterstützung der jeweils anderen.100 Tatsächlich taucht die Bezeichnung CNHC in keiner der offiziellen Unterlagen, die mir im Archiv des VKD zur Verfügung standen, auf. Stattdessen firmieren die einzelnen Mitglieder in der Anmeldeliste als Vertreter*innen von Medina Inc. Die Strategie hinter dieser Entscheidung liegt nahe. Die Mannschaft aufzuteilen, bedeutete, dass jedes Mitglied für einen der fünf Wettkampftage, vom 11.-15. Oktober, terminiert werden konnte. Das sicherte der Mannschaft eine kontinuierliche Sichtbarkeit innerhalb der gut besuchten Hallen der Messe Frankfurt und damit das größtmögliche Maß an Aufmerksamkeit. Darüber hinaus ermöglichte dieses ungewöhnliche Vorgehen, der regionalen Diversität indigenen Kochens und Essens in Kanada Rechnung tragen zu können. George erklärt hierzu: »Our entries – each a seven-course meal – were structured around the regions of the country, and each of us took a turn being the principal chef, while the rest acted as sous-chefs. Day one featured Native foods from the Atlantic provinces, day two the foods of the North, day three the foods of Quebec, day four the foods of Ontario, and finally day five […] the foods of Western Canada.« (George und Gairns 1997: 11) George war für den letzten Wettkampftag verantwortlich.101 Die Gerichte, Schauplatten und Schaustücke, die George und die anderen an diesem Tag präsentierten, reflektierten die Tatsache, dass Jagen, Fischen und Sammeln zentrale Bestandteile
100 Diese Information geht auf meine Recherchen im Archiv des VKD in Frankfurt a.M. zurück. Zwar findet man bei George und Gairns (1997: 11) entsprechende Andeutungen, allerdings wird dort, wie auch im überwiegenden Teil anderer verfügbarer Quellen zur CNHCMannschaft, nicht klar und eindeutig erwähnt, dass die Mannschaft nie als solche, d.h. als Mannschaft im eigentlichen Sinn, angetreten ist. Dieser Unterschied wird dann relevant, wenn in verschiedenen Berichterstattungen die Rede davon ist, dass das CNHC-Team mit der Anzahl der gewonnen Medaillen Rekorde gebrochen; alle anderen Mannschaften in den Schatten gestellt; oder gar die IKA »gewonnen« hätte. In aller Kürze sieht es hingegen so aus, dass Regionalteams an nur einem einzigen Tag antreten dürfen, an dem sie nach einer Gesamtbewertung der erfüllten Aufgaben eine – d.h. insgesamt nur eine einzige – Medaille gewinnen können. Einzelaussteller*innen, die ebenfalls an nur einem Tag antreten dürfen, können an diesem Tag bis zu fünf Medaillen erkochen (VKD 1993: 21-22). 101 Ich beziehe mich hier auf sowohl persönliche Gespräche mit George (2016) als auch auf entsprechende Angaben in George und Gairns (1997). Nicht unerwähnt bleiben darf, dass sich die originalen Wettkampfunterlagen der IKA 1992 im Archiv des VKD nicht mit dieser Darstellung decken. Dort wird Skye als für diesen Tag angemeldete Einzelausstellerin genannt. Inwiefern jene Unterlagen womöglich reine Formalien wiedergeben, die mit der tatsächlichen Praxis des Wettkampfs nicht zwangsläufig kongruent sein müssen, könnte hier nur spekuliert werden, weshalb ich es an dieser Stelle bei der Erwähnung dieser Unstimmigkeiten belasse.
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von Georges Leben seit seiner Kindheit im nördlichen Inland von British Columbia waren. Zu den ausgestellten Speisen gehörten »entree creations of Campbell River salmon« (Thorne 1992: 9), »terrine of smoked fish«, »arrangement of pacific prawns«, »smoked arctic char«, »venison tenderloin«, »scallop plate« und »poached pear« (George und Gairns 1997: 12). Eine Biberschwanz-Suppe, zubereitet in Anlehnung an ein Familienrezept von George, war mit Sicherheit eines der Highlights dieses Tages. Auf der einen Seite war da das gewohnte Aussehen einer kräftigen Fleischbrühe – einer mit akkurat geschnittenen Julienne, Pilzen, Schalotten und frischen Kräutern verfeinerten »deep brown, but clear« (Tennant 2016: 61) Consommé. Auf der anderen Seite war die Hauptzutat für die meisten Besucher der IKA mehr als ungewöhnlich.102 Am Ende scheint die Spannung zwischen vertrautem Aussehen und ungewöhnlichem Inhalt einen anhaltenden Eindruck sowohl auf die Gäste als auch auf die Jury hinterlassen zu haben. Ein Blickfang war sicher auch das Schaustück aus Schokolade, um das herum die anderen Tellergerichte und Schauplatten arrangiert waren (Abb. 52). George beschreibt es als: »A bear lying on its back with a salmon clutched in its front paws, and above it an eagle swooping down to steal the salmon. It’s a scene I had often seen before back home in British Columbia – but not in glazed chocolate.« (George und Gairns 1997: 12) Die Schokoladen-Schaustücke wechselten wie der Rest der ausgestellten Kreationen der CNHC-Mannschaft täglich. Eines stellte bspw. eine Bisonjagdszene dar, bei der zwei Reiter, in einer an hellenistische Bildhauerei erinnernden Dynamik, im scheinbar vollen Galopp ein Bison mit Speeren erlegen. Ein anderes Schaustück trug laut den offiziellen Bewertungsbögen den Namen »Indian Grandfather« und bestand aus einer fast einen Meter hohen Figur von einem Mann in Lederkleidung (nach historischem indigenen Vorbild) mit einem ausladenden Federschmuck auf dem Kopf.103 Wie bei allen anderen Gerichten und Schauplatten, die die CNHCMannschaft im Laufe der fünf IKA-Tage ausstellte, gibt es so gut wie keine Bilddokumentation oder detaillierte Beschreibungen bzw. verlässliche Informationen zum Kontext dieser Schaustücke. Selbst die wenigen Fotografien der Kreationen der CNHC-Mannschaft (Abb. 54-56), die im offiziellen Katalog der IKA 1992, Kochkunst in Bildern 4 (1993), veröffentlicht wurden, sind nicht wirklich hilfreich. Sie sind von zu schlechter Qualität, um Details erkennen zu lassen, und mit nur sehr wenigen Informationen versehen.104 Auf Abb. 56 ist bspw. ein »Tagesmenü aus See 102 Zum Wandel der Wahrnehmung von Biber als Nahrungsmittel in Kanada sowie der Geschichte des Bibers als Nahrungsmittel in Europa siehe Gora (2020). 103 So gesehen auf privaten Fotografien von Andrew George Jr. Siehe auch Gairns und St-Onge (o.J.: Minute 10:55-11:03). 104 Zum Teil sind diese Informationen sogar missverständlich, da sie nicht mit dem übereinstimmen, was von der CNHC-Mannschaft und kanadischen Medien im Nachhinein kommuniziert
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und Wald« zu sehen, das laut Bildüberschrift von Olsen stammt, der mit diesem Menü eine Goldmedaille gewann (VKD 1993: 167). Die Bildunterschrift beschreibt die drei Gänge des Menüs: »Barschfilet auf Kartoffelscheiben mit Petersiliensauce; Elchhaxe mit jungem Gemüse; marinierte Pflaume in Quarkteig.« (Ebd.) Detailliertere Informationen gibt es nicht und die schlechte Bildqualität lässt keine weiteren Rückschlüsse auf einzelne Bestandteilen der jeweiligen Gänge zu. Ungeachtet fehlender Details zu Olsens »Tagesmenü aus See und Wald« lassen sich (bis auf dieses eine Bild) generell keine näheren Informationen dazu finden, was Olsen zur IKATeilnahme der CNHC-Mannschaft beigetragen hat.105 Im Fall von Bertha Skye ist dies anders. Allerdings ist auf den Abbildungen von Skyes »Vorspeisen aus British Columbia« (Abb. 54) und den »Petits Fours ›Queen Charlotte‹« (Abb. 55) ebenfalls wenig zu erkennen. Während bei den Petits Fours zumindest die drei Schaustücke aus Kuvertüre als Wappenpfähle im formline art-Stil deutlich zu sehen sind, kann man die acht verschiedenen Vorspeisen aus British Columbia kaum den Angaben in der Bildunterschrift zuordnen. Laut dieser handelt es sich um: »Roulade vom Lachs und Hummer; Muschelsalat mit Tomaten; getrüffelte Garnelenwurst; bunte Entensülze; gefüllter Tintenfisch; Hochrippe vom Junghirsch; Poulardenbrust mit Steinpilzchampignons und Kirsche.« (VKD 1993: 78) Abgesehen von diesen zwei Abbildungen im Katalog, macht Skye selbst ein paar wenige Angaben zu ihren Gerichten und deren Hintergrund. In einem Kapitel in Jo Marie Powers und Anita Stewart’s Northern Bounty. A Celebration of Canadian Cuisine (1995) erklärt Skye, dass sie nach ihrer Kindheit und Jugend im ländlichen Norden von Saskatchewan und ihrer Arbeit in verschiedenen Residential School Küchen geheiratet hat und mit ihrem Mann zu dessen Familie auf die Six Nations of the Grand River Reservation im südlichen Ontario gezogen sei. Dort lernte sie von ihrer Schwiegermutter, wie man entsprechend der Ernährungskultur der Cayuga bzw. wurde. Es wurde bereits erwähnt, dass die originalen Wettkampfunterlagen von der offiziellen Darstellung der Mannschaft abweichen. Im Fall der Bilder entsprechen die Angaben denen der Wettkampfunterlagen. So wird im Katalog Skye als Urheberin der »Vorspeisen aus British Columbia« (Abb. 54) sowie der »Petits Fours ›Queen Charlotte‹« (VKD 1993: 78, 309, Abb. 55) angegeben. Dies stimmt zwar damit überein, dass der letzte Wettkampftag, der 15. Oktober, regional »Western Canada« gewidmet und Skye in den Wettkampfunterlagen auch offiziell für diesen letzten Tag als Einzelausstellerin eingetragen war. Allerdings widerspricht dies anderen Angaben, nach denen George an diesem Tag als »principal chef« (George und Gairns 1997: 11) und als Repräsentant des westlichen Kanadas agiert haben soll. Wie gesagt, ist es unklar, inwiefern jene Unterlagen reine Formalien wiedergeben, die mit der tatsächlichen Praxis des Wettkamps nicht zwangsläufig kongruent sein müssen. 105 Noch gravierender ist es im Fall von Wolfman und Sappier. Zu ihnen lassen sich weder offizielles Bildmaterial noch genauere Angaben zu ihren Wettkampfbeiträgen ausfindig machen. Dabei ist es auffällig, dass Sappier als einziges der fünf Mitglieder der CNHC-Mannschaft weder in den Unterlagen des VKD genannt wird noch auf Fotografien (sowohl auf offiziellem als auch privatem von mir gesichtetem Fotomaterial) der IKA zu sehen ist.
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gemäß der Familientradition ihres Mannes kochte. Erstaunt von den Unterschieden im Hinblick auf ihren eigenen (ernährungs-)kulturellen Hintergrund, begann sie damit, sich intensiv mit der Ernährungskultur der Cayuga zu befassen. Dabei lernte sie, dass »because they were an agricultural people, they had corn, beans, and squash to sustain them.« (Skye 1995: 116) Als Skye über die Zusammenstellung ihres Ontario-Menüs entschied, fokussierte sie sich entsprechend auf »Iroquois foods« und nahm bspw. eine three sisters soup106 nach dem Rezept ihrer Schwiegermutter in das Repertoire auf (ebd.). Letztendlich sind weder zu diesem noch zu einem anderen Gericht von Skye weitere Einzelheiten verfügbar. Sie erwähnt lediglich noch: »in addition to Three Sisters Soup, some of the other Iroquois foods we made were corn soup, bannock, and corn bread.« (Ebd.) Während das alles ist, was wir von ihr über ihr Ontario Menü erfahren, fügt sie noch im Allgemeinen hinzu: »Bannock hors d’oeuvres were one of the special foods we prepared for the Culinary Olympics. […] we used salmon, Arctic char, muskox, caviar, even dandelions, on bannock.« (Ebd.: 116-117) Abgesehen vom Mangel an Informationen und der dürftigen visuellen Dokumentation der fünf IKA-Tage der CNHC-Mannschaft, scheint wenigstens eines der wichtigsten Details klar zu sein: Am Ende zahlten sich das intensive Training, das Sponsoring und das Engagement der Mannschaft aus. Die originelle Kombination von professionellem Kochen, indigenen Ingredienzien und Kreativität überzeugte die Jury, und die Mannschaft konnte schließlich mit insgesamt elf Medaillen – zwei Bronze, zwei Silber und sieben Gold – nach Hause zurückkehren (George und Gairns 1997: 12-13, Abb. 57-58). Die Entscheidung, hierbei davon zu sprechen, dass es so »scheint«, als ob eines der wichtigsten Details klar sei, hängt damit zusammen, dass auch im Fall der Medaillen die Angaben der Mannschaft, die Pressestimmen und schließlich die offiziellen Wettkampfunterlagern im Archiv des VKD voneinander abweichen. Wie jedoch im Folgenden deutlich wird, kamen diesem und anderen Details – etwa: Wie kam die Mannschaft im Einzelnen zustande? Was genau wurde gekocht bzw. ausgestellt? Wann war wer dran? Wer gewann für was welche Medaille? Wie viele Medaillen waren es insgesamt? – letztlich eine nur untergeordnete Rolle zu.
106 Als die »Drei Schwestern« (three sisters) wird die in verschiedenen Regionen Nord- und Mesoamerikas verbreitete agrarwirtschaftliche Anbaumethode bezeichnet, bei der Kürbis-, Maisund Bohnengewächse in Mischkultur angepflanzt werden. Three sisters soup bezeichnet eine Suppe oder einen Eintopf, der aus diesen Produkten zubereitet wird.
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»More Than a Competition«: Im Wettkampf für die Zukunft
Begeisterung, Skepsis und die Frage der Motivation Der Lärm der Trommeln sei ohrenbetäubend gewesen. Noch im Flugzeug sitzend, hätte man das rhythmische Schlagen und die Willkommensgesänge der vielen Menschen gehört, die die CNHC-Mannschaft bei ihrer Rückkehr am Flughafen in Empfang nahmen (George 2016). Das ist es, was George hierzu berichtet, und eine andere Darstellung von der Rückkehr der Mannschaft ist mir nicht bekannt, was nicht zuletzt daran liegt, dass es eben keine umfassende Berichterstattung vor, während und nach der IKA gegeben zu haben scheint. In jedem Fall waren entsprechende Recherchen wenig ergiebig. Eine Ausnahme stellt ein Artikel im Windspeaker 107 dar, der nach der Heimkehr der indigenen Kochmannschaft veröffentlicht wurde. Unter dem Titel Native Chefs Sweep Culinary Olympics berichtet die Autorin Susan Thorne dort: »Native heritage came in for a good deal of attention in Europe recently though on unusual medium: Food. […] German television and print media gave them wide coverage, and the native kiosk was a favorite with the thousands of paying spectators who visited the site during the five days of competition.« (Thorne 1992: 9) Stellt man sich vor, wie George und die anderen Mitglieder der CNHC-Mannschaft in Wildleder gekleidet und mit Federkopfschmuck neben ihrem Tipi inmitten der, vom strengen Weiß der Kochuniformen und -hüte ihrer Kontrahenten dominierten, Hallen der Messe Frankfurt vor ihrem mit »indianischen« Spezialitäten gedeckten Schautisch standen, scheint es nur natürlich, dass sie die Aufmerksamkeit auf sich zogen. Führt man sich zudem die in Deutschland weitverbreitete Faszination und Begeisterung für die indigene Bevölkerung Nordamerikas vor Augen, dann ist das Interesse insbesondere der deutschen Öffentlichkeit an der CNHCMannschaft wenig überraschend.108 Entsprechend betonte George mir gegenüber, dass die deutschen IKA-Besucher – und vor allem Besucherinnen – darauf gebrannt hätten, ihn und die anderen Mitglieder der Mannschaft kennenzulernen. Der begeisterte Ton von Thornes Bericht war allerdings nicht die einzige Resonanz. Zur gleichen Zeit im Spätherbst 1992 äußerte sich etwa die kanadische Journalistin und Gastronomiekritikerin Judy Schultz im Edmonton Journal zur Teilnahme der CNHC-Mannschaft. Schultz selbst war als Berichterstatterin bei der IKA in Frankfurt anwesend. Ihr Kommentar in Bezug auf die CNHC-Mannschaft stellt
107 Der Windspeaker ist eine seit 1983 monatlich erscheinende indigene Zeitung mit Sitz in Edmonton, Alberta. www.windspeaker.com/about-uscontact-us/about-us/. 108 Zur Geschichte der deutschen Faszination bzw. dem »striking sense of affinity for American Indians that has permeated German cultures for two centuries« (Penny 2013: XI) siehe insbesondere Penny (2013).
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deshalb einen der wenigen veröffentlichten, direkten Erfahrungsberichte von Personen außerhalb der CNHC-Mannschaft und deren Organisator*innen dar. Schulz schreibt: »The hastily assembled team worked under the direction of the Canadian Federation of Chefs de Cuisine in order to make traditional native dishes and ingredients conform to the stringent rules of the haute cuisine community. Those who know genuine First Peoples cooking might wonder why anyone could contrive to send such a natural, historic cuisine down that particular road, but the five members of the team where enthusiastic.« (Schultz 1992: C2) Im Rahmen eines Gesprächs mit George im Februar 2016 in Chilliwack, British Columbia, berührte George Schultz’ Kommentar und Skepsis, indem er klarstellte: »Aboriginal foods and Aboriginal cuisines are two different things.«109 »Aboriginal foods« seien »traditional products«, die auf eine Art und Weise zubereitet sind, wie man sie noch heute bei Potlatch-Festen und anderen großen Festessen an der Nordwestküste antrifft. »Aboriginal cuisine« auf der anderen Seite sei dasjenige, was auf einem professionellen Level oder in professionellen Küchen unter Zuhilfenahme klassischer Kochtechniken und gemäß moderner Präsentationsformen produziert wird. Dabei habe ich George im Hinblick auf »Aboriginal cuisine« so verstanden, dass diese Professionalisierung aus seiner Sicht nicht zwangsläufig zur Modernisierung indigener Ernährungskulturen führt. Es geht vielmehr darum, moderne Techniken und Präsentationsformen mit »traditional products« zu »fusionieren«. Wobei es entscheidend ist, dass beidem der gleiche Respekt gezollt wird.110 Im Hinblick auf die IKA beschreibt George dieses Fusionieren als Bemühen »to bridge these two worlds, which is kind of hard, because even in the modern world there are hardly people that understand the Culinary Olympics and why we do it. […] Overall it is the promotion of the concept of professional cooking, and introducing that to the Aboriginal culture so that Aboriginal communities can benefit from that.« (George 2016)
109 Der gesamte folgende Absatz geht aus dem Treffen mit George hervor. Formulierungen in Anführungszeichen sind direkte Zitate aus Tonaufnahmen dieses Gesprächs. 110 Dieses Verständnis von »fusion« erinnert an Elain Sikorskis Bestimmung des Fusion-CookingKonzepts in ihrem einschlägigen Lehrbuch für Köch*innen, Cooking to the Image. A Plating Handbook (2012). Dort schreibt sie: »What makes a specific [fusion] dish work is an invisible understanding on the chef’s part of how an ingredient or technique functions in both the ›original cuisine‹ and the ›fused cuisine‹. […] [T]he focus food holds meaning in both cuisines being fused.« (Sikorski 2012: 58) Im Gegensatz hierzu scheint der Begriff der Modernisierung eine progressiv-teleologische Entwicklung zu beschreiben, bei der Veränderungen nicht bilateral, sondern zugunsten von einem der Ausgangselemente (Küchentraditionen, Techniken, Zutaten etc.) verlaufen.
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George zufolge hatte die Mannschaft demnach im Wesentlichen einen Grund dafür, sich auf den Weg nach Frankfurt zu begeben und das Spannungsfeld zwischen diesen beiden Welten – d.h. zwischen professionellem Kochen auf der einen und traditional foods respektive indigenen Ingredienzien auf der anderen Seite – zu überbrücken. Es sei darum gegangen, das professionelle Kochhandwerk als erfolgversprechendes Berufsfeld innerhalb der indigenen Bevölkerung zu bewerben. Vor dem Hintergrund der Annahme, dass Gastronomie und professionelles Kochen nicht nur Ausbildungschancen, sondern einen stetig wachsenden Stellenmarkt und gute Voraussetzungen zur beruflichen Selbstständigkeit bieten, könnten die im Kontext der siedlerkolonialen Geschichte Kanadas vielerorts sozioökonomisch marginalisierten indigenen Gemeinschaften tatsächlich von der Förderung gastronomischer Professionalisierung profitieren. Im Hinblick auf Schultz’ Verwunderung und Frage – »why anyone could contrive to send such a natural, historic cuisine down that particular road« – brachte George die Antwort entschieden auf den Punkt: »What we actually did was we fought for our right for education. It was more than a competition. It was a statement. […] ’Cause right up to about 1960, Aboriginal people weren’t even allowed in a lot of restaurants. So, even me going to school in 1983-1984 at the Vancouver Vocational Institute, I was one of maybe half a dozen Aboriginal cooks in that whole school. But now when I go to that school there are Aboriginal cooks everywhere. So I think overall that process is working.« (George 2016) Wenn George in diesem Zusammenhang davon spricht, dass der »Prozess funktioniert«, macht er darauf aufmerksam, dass diese Veränderung, d.h. die zunehmende Präsenz von Mitgliedern der indigenen Bevölkerung in entsprechenden Ausbildungsprogrammen und die damit verknüpfte wachsende Anzahl an indigenen Köch*innen und gastronomischen Betrieben kein Zufall ist.
Mission und Engagement der CNHC-Mannschaft nach 1992 Wie aus den erwähnten Unterlagen im Zusammenhang mit der Planung, Umsetzung und Nachbereitung der indigenen IKA-Teilnahme sowie aus offiziellen Pressemitteilungen und einem im Anschluss an die IKA produzierten Werbefilm Going for the Gold (Gairns und St-Onge o.J.) aus dem persönlichen Archiv von George hervorgeht, hatten die Organisator*innen der Mannschaft von Anfang an klar definierte Ziele. Eines dieser Ziele bestand darin, indigene Ernährungskulturen für die IKA-Besucher*innen und generelle europäische Öffentlichkeit sowie für die transnationale Gemeinschaft professioneller Köch*innen und Gastronom*innen sichtbar werden zu lassen und somit die allgemeine Aufmerksamkeit gegenüber der indigenen Bevölkerung Kanadas – d.h. gegenüber ihrer (ernährungs-)kulturellen Vielfalt sowie ihrer Geschichte, Gegenwart und Zukunft – zu fördern. Die
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letztlich zentrale Agenda oder Mission des gesamten CNHC-Projekts wird in einer Pressemitteilung vom 28. April 1992 explizit beschrieben als: »[to] help establish a profitable and professional industry for Canada’s Native People. The OudeheeminMedina connection has for [its] mission to create and commercialize a native cuisine.«111 Diese Mission war mit der Rückkehr der CNHC-Mannschaft bei weitem nicht abgeschlossen. Die Teilnahme an der IKA 1992 war vielmehr nur der erste Schritt. Schließlich ging es, wie auf einem Aufsteller neben dem Schautisch der CNHCMannschaft unmissverständlich geschrieben stand, in erster Linie um die »Unterstützung für Ureinwohner als Unternehmer« (Gairns und St-Onge o.J.: Minute 09:37). Das Zitat aus der Pressemitteilung legt dabei die ursprüngliche in gewisser Hinsicht doppelgleisige Strategie der Organisator*innen offen. Denn, um indigene Unternehmer unterstützen zu können, braucht es erstens ein entsprechendes Gewerbe und zweitens einen Gegenstand, den dieses Gewerbe kommerzialisieren kann. Um also indigene Gastronomie als profitables Gewerbe etablieren zu können, braucht es eine indigene Küche bzw. native cuisine – so die Rechnung der Organisator*innen der CNHC-Mannschaft. Zum Zweck der diskursiven Konstruktion einer solchen native cuisine bedienten sich die Organisator*innen der Verschriftlichung, Vervielfältigung und Verbreitung von Rezepten entsprechender Gerichte.112 Auf den Schautischen der CNHC-Mannschaft wurden demgemäß nicht nur die chemisierten, wie hyperrealistische Replikate echter Speisen wirkenden, Tellergerichte und Schauplatten ausgestellt. Es lagen zudem aufwendig produzierte Broschüren mit bebilderten Rezepten und dazugehörigen Hintergrundinformationen aus. Ein Jahr nach der IKA veröffentlichte Oudeheemin Foods Inc. zudem ein 28seitiges bilinguales Kochbuch mit dem Titel Tribute to Canadian Native Haute Cuisine/Hommage à la Haute Cuisine Autochtone Canadienne (1993).113 Die Diskussion des Versuchs, eine Canadian Native Haute Cuisine – wie es in besagten Broschüren heißt – zu »erfinden«, wird an dieser Stelle zurückgestellt, um im 3. Teil darauf zurückzukommen.
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Pressemitteilung, 28. April 1992, S. 1, Montreal. Privatarchiv von Andrew George Jr. Zur diskursiven Konstruktion von Küchen siehe insbesondere Appadurai (1988) sowie Morris (2013), die sich vor diesem Hintergrund mit der gastro-politischen (Appadurai 1981) Rolle von Maori-Kochbüchern in Neuseeland befasst. Wie oben bereits erwähnt, verweist Coydone (2016) zudem darauf, dass die diskursive Konstruktion von (National)Küchen im Zuge der IKA eine lange Tradition hat. Tatsächlich war es neben den erwähnten »Kosthallen für Nationalgerichte« eine der Neuerungen, die die IKA von anderen Kochkunstausstellungen am Anfang des 20. Jahrhunderts abhob, dass die ausgestellten National- oder landestypischen Gerichte nicht nur verkostet, sondern zudem die entsprechenden Rezepte erworben werden konnten (Coydon 2016: 82). Die Rezepte in diesem Buch gehen laut George ebenfalls auf die indigene IKA-Teilnahme zurück.
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Vorweggreifend lässt sich sagen, dass die Diversität, bzw. die stetig voranschreitende Diversifizierung und Ausdifferenzierung indigener Gastronomie, wie sie in Kapitel 2.1. dargelegt wurde, in einem eindeutigen Kontrast mit dem im Anschluss an die IKA von Oudeheemin Foods Inc. verfolgten Vorhaben steht, das Konzept einer Canadian Native Haute Cuisine (im Singular!) als eingetragene Marke – Canadian Native Haute CuisineTM – zu konstituieren und damit zugleich als Leitfaden indigener gastronomischer Professionalisierung zu etablieren. D.h. als Leitfaden, anhand dessen lokale indigene Produkte und Rezepte unter der Anwendung professioneller Kochtechniken und gemäß gängiger gastronomischer Präsentationsstile nach festgelegten Qualitätsstandards in puncto Nährwert und Lebensmittelsicherheit kommerzialisiert werden konnten.114 Statt dieser Diskussion steht an dieser Stelle der erstgenannte Punkt der Strategie zur »Unterstützung für Ureinwohner als Unternehmer« im Vordergrund, nämlich die Etablierung indigener Gastronomie als profitables Gewerbe bzw. dasjenige, was George oben als funktionierenden Prozess bezeichnet hatte. In einer der Broschüren, die während der IKA 1992 auf dem Schautisch der CNHCMannschaft lagen, verweisen die Organisatoren auf konkrete Pläne zum Erreichen dieses Ziels: »When the 1992 Culinary Olympics is over, Canadian Aboriginal Culinary Team members will return to their positions as professionals in the food industry in their native land. They will share their skill and experience with others […].«115 Was auf den ersten Blick relativ unspezifisch wirkt, stellt sich bei näherer Betrachtung als eine großangelegte, mit staatlichen Mitteln finanzierte Kampagne zur Förderung der indigenen Tourismusindustrie und in diesem Zuge auch indigener Gastronomie heraus, die in ein achtwöchiges Schulungsprogramm mündete, das im Zeitraum zwischen 1995-1997 zweimal jährlich im Institut de Tourisme et d’Hôtellerie du Québec in Montreal stattfand.116 Dass es sich bei dem Programm zunächst nur um einen Teilaspekt jener Kampagne handelte, wird aus den Unterlagen einer
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In einem im Anschluss an die IKA 1992 von Oudeheemin Foods Inc. produzierten Portfolio, in dem die Firma ihre Erfahrungen mit der CNHC-Mannschaft und weiterführende Pläne für das Konzept einer Canadian Native Haute Cuisine als Beratungsexpertise bewirbt, steht hierzu: »Oudeheemin Foods Inc. has developed standards and parameters for Canadian Native Haute CuisineTM which are used in Native recipes.« Privatarchiv von Andrew George Jr. Canadian Native Haute Cuisine Autochtone Canadienne (Titel der Broschüre). Privatarchiv von Andrew George Jr. Die Informationen zu den Rahmenbedingungen des Programms gehen je nach Quelle auseinander. Wie im Fall der vorangegangenen Ausführungen zur CNHC-Mannschaft, orientiere ich mich auch an dieser Stelle und im Folgenden an den Informationen aus persönlichen Gesprächen mit George als Leitfaden.
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Datenerhebung zum Status quo und Wachstumspotential indigenen Gastgewerbes deutlich, die dem Schulungsprogramm in Montreal vorangegangen war.117 Im Auftrag von Oudeheemin Food Inc. begutachtete Patrick Lamarre zwischen Juli und August 1994 fünf verschiedene indigene Ferienanlagen – davon eine in Quebec, eine in Alberta und drei in British Columbia.118 Neben dem Versuch die Grundlagen eines speziellen Klassifizierungssystems für indigenes Gastgewerbe zu erproben, stand ein generelles Problem dieser Betriebe im Vordergrund: Wie der Bericht von Lamarre zeigt, hatten die entsprechenden indigenen Gemeinschaften in Quebec, Alberta und British Columbia zum Teil bereits seit dem Ende der 1980er Jahre in die Tourismusindustrie und indigenes Gastgewerbe investiert, um Anstellungsmöglichkeiten für ihre Mitglieder und wirtschaftliches Wachstum in der Region zu ermöglichen.119 Allerdings fehlten den indigenen Besitzern hinreichend ausgebildetes indigenes Fach- und Führungspersonal, um ein anspruchsvolles und damit profitables Gastgewerbe zu betreiben. Infolgedessen waren die entscheidenden Positionen mit nicht-indigenen Personen besetzt. Für die Vertreter*innen der lokalen indigenen Gemeinschaften blieben (in den meisten Fällen) lediglich Positionen im Servicebereich – etwa als Reinigungskräfte, Empfangspersonal oder auch Küchenhilfe. Die Idee war, dass es für (zukünftiges) indigenes Personal einen angeleiteten Einstieg bräuchte, um sich mit dem richtigen Start – gewissermaßen bottom up – in Führungspositionen hineinarbeiten zu können, sodass über eine Spanne von etwa zehn Jahren letztlich alle Abteilungen der indigenen Betriebe mit professionell ausgebildetem indigenen Fachpersonal besetzen werden könnten. Da neben der Beherbergung (Logis) die Verpflegung (Kost) eine der beiden Grundsäulen des Gastgewerbes darstellt und die Expertise von Oudeheemen Foods Inc. deutlich auf Letzterem lag, konzentrierten sich deren Bemühungen auf das Ressort Verpflegung bzw. Gastronomie. Nach der ersten Erhebung im Sommer 1994 reisten deshalb Andrew George Jr. und Manfred Bertele im November desselben Jahres zu drei der von Lamarre besuchten Ferienanlagen – davon zwei in British Columbia und eine in Alberta – sowie eine weitere in New Brunswick120 ,
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Die Unterlagen, die auf den 2.09.1994 datiert sind, befinden sich im Privatarchiv von Andrew George Jr. 118 Die begutachteten Ferienanlagen waren: Auberge Kanio-Kashee Lodge, Waskaganish, Quebec; Nakoda Lodge, Morley, Alberta; Quaaout Lodge, Chase, British Columbia; Tin-Wis Best Western, Tofino, British Columbia; Tsa-Kwa-Luten Lodge, Cape Mudge, British Columbia. 119 Dies trifft insgesamt auf weit mehr als die fünf von Lamarre begutachteten Betriebe zu. Oudeheemin Foods Inc. hatte diese fünf nach zuvor erörterten Parametern ausgesucht. Diese Parameter bezogen sich unter anderem auf die Größe (mind. 24 Zimmer), Ausstattung (ein angeschlossenes Restaurant, Unterhaltungstechnik etc.) und den Umfang der Freizeitangebote. 120 In Georges Unterlagen ist hierzu vermerkt, dass Lamarre Bertle und ihn nach New Brunswick begleitete. Die besuchten Ferienanlagen waren: Mactaquac Inn (Best Western), Fredericton,
2. Teil: Die gastronomische Professionalisierung indigener Ernährungskulturen
um sowohl bei den Angestellten als auch unter den restlichen Mitgliedern der lokalen indigenen Gemeinschaften für eine professionelle Kochausbildung zu werben. Bertele hatte die Aufgabe sowohl über die Grundlagen und den Ablauf einer Kochausbildung als auch über die Möglichkeiten, die dieses Berufsfeld im Allgemeinen bietet, zu sprechen. Georges Aufgabe bestand darin, im Anschluss an Berteles Präsentation seinen eigenen Werdegang als praktisches Beispiel für eine Karriere als (indigener) Koch zu erläutern. Neben seinem familiären und kulturellen Hintergrund, seiner Ausbildung am VVI und den verschiedenen Stationen in diversen Restaurants und Hotelküchen sowie der Chance, bereits als junger Koch leitende Positionen zu übernehmen und schließlich der Eröffnung seines eigenen Restaurants Toody Ni im Alter von 27 Jahren, war sein Erfahrungsbericht als Mitglied der CNHCMannschaft ein zentraler Bestandteil seiner Präsentation. Zur Veranschaulichung führte George zudem den bereits erwähnten fünfzehnminütigen Werbefilm, Going for the Gold, über die Teilnahme der CNHC-Mannschaft bei der IKA 1992 vor. Das Video zeigt wenig Inhaltliches zum Thema, was Canadian Native Haute Cuisine ist bzw. was genau gekocht und präsentiert wurde, sondern konzentriert sich im Wesentlichen darauf, die Geschichte der CNHC-Mannschaft als »Erfolgsgeschichte« zu erzählen. George und die anderen Mannschaftsmitglieder werden als Vorbilder (role models) vorgestellt, deren internationaler Erfolg begeistern und zum Nacheifern motivieren soll. In Georges Unterlagen zu seiner Präsentation befindet sich zudem eine handschriftliche Notiz, mit der er diese Motivation wohl mit dem Gefühl der »unbegrenzten« Möglichkeiten einer Kochkarriere unterstreichen wollte. So notierte er: »Open doors after Olympics!« George betonte mir gegenüber die Wichtigkeit dieser Vorbildfunktion für den Prozess der gastronomischen Professionalisierung. So würden schulische und vor allem staatliche (Aus-)Bildungsprogramme jeder Art innerhalb der indigenen Gemeinschaften ein Problemfeld darstellen (George 2016). Nicht in dem Sinn, dass die Menschen nicht fähig wären zu lernen. Vor dem Hintergrund des Traumas der Residential Schools Ära bestünde die Schwierigkeit auf indigener Seite vielmehr darin, »education« nicht als Repressions- und Assimilierungswerkzeug, sondern als ein Mittel zur selbstbestimmten Gestaltung der eigenen Zukunft wahrzunehmen. Hinzu komme, dass innerhalb der indigenen Gemeinschaften und Familien oftmals die soziokulturellen Strukturen sowie die – wie George es formulierte – »lifeskill«-Voraussetzungen fehlen würden, um den langwierigen und anstrengenden Ausbildungsprozess zu unterstützen bzw. erfolgreich zu Ende zu bringen. Es sei deshalb nicht nur wichtig, potentielle Auszubildende mit Hilfe von Vorbildern und Karrierechancen hinreichend zu motivieren. Vielmehr brauche es darüber hinaus kultur-sensitive Unterrichts- und Ausbildungskonzepte, die in der Lage sind, die New Brunswick (mit Patrick Lamarre); Nakoda Lodge, Morley, Alberta; Quaaout Lodge, Chase, British Columbia; Tin-Wis Best Western, Tofino, British Columbia.
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lebensweltliche Ausgangssituation der indigenen Schüler*innen und Auszubildenden zu berücksichtigen. Als hauptsächlich indigenes Unternehmen121 war Oudeheemin Foods Inc. demnach in einer guten Ausgangssituation und stellte zudem die entscheidenden Weichen für den Erfolg ihres Schulungsprogramms in Montreal, indem sie George als Co-Ausbilder engagierten. Das Curriculum des Programms basierte (zumindest in Teilen)122 auf Chauvet und Kjeldsens ursprünglichem Trainingsplan der CNHC-Mannschaft und konzentrierte sich dementsprechend auf das, was George weiter oben als »Aboriginal Cuisine« bezeichnet hatte bzw. auf das, was Oudeheemin Foods Inc. als Canadian Native Haute CuisineTM vermarkten wollte. Das Programm hatte infolgedessen drei Schwerpunkte: Erstens eine Auseinandersetzung mit den indigenen Ernährungskulturen in Kanada, wobei sich das Programm offenbar an der regionalen Einteilung gemäß der Organisation der CNHC-Mannschaft orientierte.123 Ergänzt wurde dies, zweitens, durch eine Einführung in die Grundlagen professioneller Kochtechniken sowie Anrichte- und Servicestile, »den Regeln der modernen Kochkunst entsprechend«. Wobei die Kürze des Canadian Native Haute Cuisine Programms erahnen lässt, dass diese Einführung keinesfalls mit der Tiefe und Praxisnähe einer umfassenden Kochausbildung vergleichbar war. Das war auch gar nicht das Ziel. Schließlich ist eine zertifizierte Ausbildung keine Voraussetzung, um in kanadischen Hotel- und Restaurantküchen kochen zu dürfen. Es ging vielmehr darum, drittens, auf diese Weise die Grundlagen sinnvollen Fusionierens indigener Zutaten und Rezepte mit modernen Küchentechniken und Anrichtstilen zu erlernen, sodass die Teilnehmer*innen im Alter zwischen 15-25 Jahren nach ihrer Heimkehr die indigenen Ingredienzien und Rezepte aus ihren eigenen (aber auch aus anderen) Regionen Kanadas einem gastronomischen Standard gemäß zubereiten und entsprechend kommerzialisierbar machen konnten. Hatte man diesen Grundkurs in Canadian Native Haute Cuisine erst einmal absolviert und zugleich den Erfolg der CNHC-Mannschaft vor Augen bzw. George als greifbares Vorbild bei der Hand, mag der Schritt in Richtung Kochausbildung nicht mehr ganz so schwer gewesen sein. Inwiefern der Plan in dieser Form aufging, ist allerdings unklar. Letztlich existieren darüber, wie viele Personen insgesamt zwischen 1995-1997 das Programm
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Laut eigenen Angaben aus besagtem Portfolio war Oudeheemin Foods Inc. zu diesem Zeitpunkt (Mitte der 1990er Jahre) ein zu 80 % indigenes Unternehmen. Da mir weder das ursprüngliche Curriculum der CNHC-Mannschaft noch das des anschließenden Schulungsprogramms zugänglich waren, kann ich mich hier nur auf die Aussagen von George sowie auf entsprechende Formulierungen in besagtem Portfolio von Oudeheemin Foods Inc. berufen. 1) Nordwest-Territorien und Yukon, 2) Westkanada (British Columbia, Alberta, Saskatchewan und Manitoba), 3) Ontario, 4) Quebec und 5) die Atlantischen Provinzen (New Brunswick, Neufundland und Labrador, Nova Scotia und Prince Edward Island)
2. Teil: Die gastronomische Professionalisierung indigener Ernährungskulturen
absolvierten, wer diese Personen waren und was aus ihnen wurde, offenbar keine Aufzeichnungen. Auch George konnte mir hierzu keine näheren Angaben machen. Unabhängig vom Canadian Native Haute Cuisine Programm in Montreal trugen andere Mitglieder der ehemaligen CNHC-Mannschaft aktiv zum Prozess indigener gastronomischer Professionalisierung bei. Bspw. etablierte Skye ein Programm am Woodland Cultural Centre in ihrer Heimat, Six Nations (Skye 1995: 118), und Wolfman bekam 1994 sogar einen Lehrauftrag am George Brown College in Toronto (Wolfman und Finn 2017: 02). A. Turner erwähnt hierzu, dass Wolfman neben dem generellen Curriculum des Culinary Arts Departments auch »the first ever Aboriginal Cuisine program« unterrichtet hätte (A. Turner 2005: 86). Allerdings ließen sich hierzu keine genauere Angabe bzw. ein Beleg für diese Behauptung finden. Feststeht, dass es seit den 2000er Jahren eine ganze Reihe ähnlicher Schulungsprogramme in verschiedenen Regionen Kanadas gab. George erklärte mir hierzu, dass die meisten dieser auf indigene Auszubildende fokussierten Programme, wie bereits das in Montreal oder die Programme, die George selbst in Lauf der Jahre entwickelt und unterrichtet hat, als lediglich Einstiegshilfen konzipiert waren – mit Georges Worten: »[to] get them their prerequisites to go into real culinary school.« (George 2016) Da die meisten dieser Programme im Rahmen lokaler Initiativen und ohne direkte Anbindung an Hoch- oder Berufsschulen stattfanden, gibt es in der Regel keine detaillierten oder zuverlässigen Informationen – weder bezüglich der Anzahl an Programmen oder diesbezüglicher Teilnehmer*innen/Absolvent*innen noch hinsichtlich der jeweiligen Rahmenbedingungen und Curricula. Eine Ausnahme ist das Aboriginal Culinary Arts Class (ACAC) Programm, das von 2008 bis 2011 am Vancouver Community College (VCC) stattfand. Hierzu existieren zumindest ein paar wenige Artikel in lokalen Zeitungen und indigenen Nachrichtenkanälen. Ein Grund für diese Aufmerksamkeit ist, dass es sich um ein Programm für indigene Auszubildende mit dem thematischen Schwerpunkt Aboriginal Culinary Arts handelte, das – und das ist der Punkt – an einer staatlichen Berufs- und Fachhochschule unterrichtet wurde. Ein anderer ist die Tatsache, dass aus dem ACAC-Programm eine zweite Kochmannschaft hervorging, die zwanzig Jahre nach dem Debüt indigener Köch*innen bei der IKA erneut den Schritt auf die kulinarische Weltbühne wagte.
Das ACAC-Programm und die Rückkehr auf die kulinarische Weltbühne Das zwölfmonatige Curriculum des ACAC-Programms wirkt wie eine ausführlichere Variante des CNHC-Programms in Montreal.124 Es beinhaltete eine umfassende Einführung in die Grundlagen professioneller Küchentechniken in der ersten 124 Sofern nicht anders kenntlich gemacht, gehen die Informationen zum ACAC-Programm auf Gespräche mit dem leitenden Ausbilder des Programms, Ben Genaille, im Februar 2016 sowie auf ein Treffen mit der Co-Ausbilderin Theresa Contois im Februar 2015 und auf Gespräche
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Hälfte des Programms. Die zweite Hälfte war zunächst einer tiefschürfenden Auseinandersetzung mit der Geschichte und den kulturellen Hintergründen indigener Ernährungskulturen in British Columbia gewidmet. Dazu gehörten auch Exkursionen zu verschiedenen indigenen Gemeinschaften, bei denen die Schüler*innen im Austausch mit elders und anderen kulturellen Expert*innen im Zuge von Gesprächen und mittels direktem Hands-on Training mit den Verwendungsweisen verschiedener indigener Nahrungsmittel vertraut gemacht wurden. Vor dem Hintergrund der theoretischen und praktischen Ausbildung in sowohl professionellen Küchentechniken als auch den Spezifika indigener Ernährungskulturen betrieben die Schüler*innen am Ende des Programms jeweils im Sommer ein öffentliches Restaurant, das Wild Salmon auf dem VCC-Campus in Downtown Vancouver. Dort stellten die Auszubildenden ihre neu erworbenen Fähigkeiten, indigene Produkte und Rezepte mit professionellen Kochtechniken zu fusionieren, auf die gastronomische Praxisprobe. Im Hinblick auf das Ergebnis dieses Fusionierens spricht der damalige leitende Ausbilder, Ben Genaille (Métis, Cree Nation französischer Abstammung), auch von »Kanata Cuisine«. Ähnlich Georges Verständnis von »Aboriginal Cuisine«, wie es oben beschrieben wurde, nämlich das Fusionieren indigener Produkte und Rezepte mit professionellen Kochtechniken und modernen, d.h. in der Gastronomie gängigen Präsentationsformen, fasst Genaille die zentralen Charakteristika von Kanata Cuisine zusammen als: »utilizing Canadian First Nations produce, products and ingredients to prepare traditional foods with contemporary methods, presented with modern flair.«125 Wie man auf digitalisierten Speisekarten auf der Website des VCC lesen kann, umfasste das wechselnde Menü des Wild Salmon z.B. Salate wie »Pickled beet, and apple salad« oder Suppen wie »Bison consommé, shaved marrow, Manitoba morel mushrooms«; Hauptgänge wie »Poached salmon, watercress, scallop mousse, Squash noodles, Carrot broth« oder »Slow-smoked bison brisket, roasted squash salad and savory bannock bread pudding«; und schließlich Desserts wie »Bannock bread pudding, salmonberry ice cream« oder »Indian ice cream with fresh berries and shaved snow«.126 Theresa Contois (Anishnabe und Lakota), die seit 2009 als Co-Ausbilderin die Abläufe »in the front of the house«, also im Gastraum des Wild Salmon, koordinierte, erwähnte mir gegenüber, dass, während das ACAC-Programm im ersten Jahr ausschließlich indigenen Auszubildenden zugänglich war, es im zweiten Jahr (seit Herbst 2009) aufgrund des allgemein großen Interesses auch für nicht-indigene
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mit Paul Roy Natrall (alias Mr. Bannock), einem Absolventen des Programms, im November 2016 zurück. www.indigenousbc.com/corporate/events/thompson-rivers-universitys-aboriginal-culinaryarts-program, abgerufen 01.08.2018. www.vcc.ca/deptuploads/menu-wildsalmon.pdf und www.vcc.ca/deptUploads/menu-wildsalmon2011.pdf, abgerufen 01.08.2018.
2. Teil: Die gastronomische Professionalisierung indigener Ernährungskulturen
Auszubildende geöffnet worden sei. Der Großteil der Teilnehmer*innen sei jedoch weiterhin indigener Abstammung gewesen. Hinsichtlich der Anzahl der Auszubildenden macht Natrall (alias Mr. Bannock), der von 2009-2010 das Programm besuchte, die Angabe, dass er einer von insgesamt vierzehn Teilnehmer*innen gewesen sei, von denen drei – inklusive Natrall – den Kurs erfolgreich abgeschlossen hätten.127 Unabhängig von der offenbar geringen Abschlussquote ist es ein signifikantes Novum, dass ein inhaltlich auf die gastronomische Professionalisierung indigener Ernährungskulturen fokussiertes Schulungsprogramm für indigene Auszubildende zum Kursangebot einer staatlichen Berufs- und Fachhochschule gehörte.128 Umso mehr noch, führt man sich vor Augen, dass das Betreiben des Wild Salmon als Praxismodul den Schritt vom Klassenraum in die kanadische Öffentlichkeit zum festen Bestandteil des Curriculums machte. Darüber hinaus – wenngleich dies offiziell nicht vorgesehen war – rekrutierte Genaille aus den Reihen der Absolvent*innen eine zweite indigene Kochmannschaft, die im Oktober 2012 nach Deutschland reisen sollte, um an der 23. IKA (dieses Mal) in Erfurt teilzunehmen. Wie schon bei der ersten Mannschaft sind auch in diesem Fall kaum verlässliche Informationen verfügbar.129 Allerdings lässt sich aus den offiziellen Unterlagen im Archiv des VKD rekonstruieren, dass am Ende Samantha Nyce (Nisga’a und Tsimshian)130 , Faith Vickers (Coast Salish und Tsimshian) und Natrall unter 127
Genauere Angaben zur Teilnehmerzahl und Absolventenquote des gesamten Programms ließen sich nicht herausfinden. Während Nachfragen beim VCC von offizieller Seite unbeantwortet blieben, konnten mir zudem weder Genaille noch Contois verbindliche Angaben hierzu machen. 128 Bis auf Programme, die auf lokalen Initiativen beruhen, wie bspw. am Kla-how-eya Aborginal Center in Surrey unter der Leitung von George 2006 oder eines weiteren unter der Leitung von Genaille in Zusammenarbeit mit der Musqueam Indian Band in Vancouver im Zeitraum von ca. 1997-2004, ließen sich im Rahmen meiner Recherchen keine dem ACAC-Programm vergleichbaren Programme ausfindig machen. Im Gegensatz zum ACAC-Programm handelt es sich bei allen anderen auffindbaren Programmen um »pre-apprenticeship culinary program[s]« (George und Grains 2010: 11). 129 Während in Kanada ein paar wenige Zeitungsartikel vor und nach der IKA 2012 über in erster Linie indigene Nachrichtenkanäle erschienen, lässt sich im Hinblick auf deutsche Medien selbst im Pressespiegel des VKD keine Erwähnung von Genailles Mannschaft finden. Die einzige Ausnahme befindet sich im vom VKD herausgegebenen Magazin Küche: »Kanada. Starker Auftritt: Die Canadian Culinary Federation kämpft mit ihrer National- sowie Jugendnationalmannschaft und acht regionalen Teams. Darunter das Aboriginal Culinary Team, das mit seiner Kanata Cuisine auf breites Interesse stoßen wird.« (Küche 2012: 12) 130 Nyces Zusammenarbeit mit Genaille geht bereits auf dessen Rolle als Ausbilder am Northwest Community College (NWCC) in Terrace vor der Zeit am VCC zurück. Zwar hatte die Culinary Arts Klasse am NWCC inhaltlich keinen indigenen Schwerpunkt. Aufgrund des hohen indigenen Bevölkerungsanteils in der Gegend rund um Terrace waren laut Genaille knapp 75 % seiner Student*innen indigener Abstammung. Nyce gehörte zudem zu einer Gruppe
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dem Namen Aboriginal Culinary Team Canada (ACTC) am 10. Oktober 2012 als zweite indigene Kochmannschaft in der Geschichte der IKA zum Wettkampf antraten. Dieselben Unterlagen zeigen zudem, dass das ACTC im Gegensatz zur CNHCMannschaft als reguläre Regionalmannschaft angemeldet war. Nach den Regeln der IKA bedeutet dies, dass sie mit insgesamt fünf Personen antreten mussten, davon ein*e Mannschafts-Kapitän*in, drei Köch*innen und ein*e Patissier (VKD 2011: 21-23). Als Regionalmannschaft mussten sie ein zweiteiliges Ausstellungsprogramm absolvieren, wozu erstens ein »Programm Kochkunst« und zweitens ein »Programm Patisserie« gehörten. Beide Programme umfassten jeweils mehrere klar definierte Aufgabenfelder, die vollständig erfüllt und am eingetragenen Wettkampftag um 7:00 Uhr morgens auf dem Schautisch fertig angerichtet stehen mussten (ebd.). Wie ein Blick auf die wenigen (ausschließlich privaten) Fotos der Kreationen des ACTC trotz der minderwertigen Bildqualität zeigt, war das Niveau dessen, was die Mannschaft auf ihrem Schautisch ausstellte, durchaus hoch. Da die Mitglieder des ACTC am Ende jedoch lediglich zu dritt waren und Natrall sogar erst durch ein Nachrückverfahren zu einem aktiven Mitglied wurde131 , war allein aufgrund der Unvollständigkeit der Mannschaft klar, dass sie die Voraussetzungen und Aufgaben einer Regionalmannschaft nicht vollständig erfüllen konnten. Nichtsdestotrotz ließen sich Nyce, Vickers und Natrall nicht davon abbringen, die Früchte ihres Trainings zur Schau zu stellen. Wie bereits zwanzig Jahre zuvor bei der CNHCMannschaft spielte neben ihrem kochtechnischen Können die Besonderheit der indigenen Ingredienzien eine zentrale Rolle. Genaille äußerte sich hierzu während eines Gesprächs in Penticton, British Columbia, im Februar 2016: »I think for us our benefit is using ingredients that people haven’t seen before. So it is not: ›Ok that one. Ok that one. Ok that one.‹ But: ›Oh! Look at that! What is that?‹« (Genaille 2016) Vor dem Hintergrund, dass bis auf Genaille letztlich das gesamte ACTC aus British Columbia stammte, konzentrierte sich die Mannschaft – wie bereits das Programm am VCC – auf die Ressourcen und Ernährungskulturen der Nordwestküste. Vickers, die in Hazelton im Norden der Provinz aufwuchs, präsentierte vier
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von NWCC-Studentinnen, die zusammen mit Genaille 2008 die Kanadische Nationalmannschaft als Support-Team begleiteten. Wenngleich also die Wurzeln des ACTC zum Teil am NWCC und dem damaligen Support-Team liegen, wird hier nicht weiter auf diesen Hintergrund eingegangen, da das damalige Team zum einen nur in der Person von Nyce fortbestand und zum anderen weder das damalige Programm am NWCC noch die Arbeit des SupportTeams bei der IKA einen Fokus auf indigene Ernährungskulturen hatten. Weil Genaille als Teammanager nicht als aktives Mannschaftsmitglied zählt, blieben zwei Positionen unbesetzt. Die Umstände, unter denen die drei bereits offiziell angemeldeten Mannschaftsmitglieder von ihrer Teilnahme zurücktraten, ließen sich trotz Nachfragen bei Genaille und Natrall nicht aufklären.
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Tapas für je sieben Personen.132 Natrall, der seit seiner Kindheit auf der Mission Indian Reserve No. 1 der Squamish Nation in North Vancouver lebt, war für eine kalte Schauplatte für acht Personen zuständig. Ironischerweise fokussierte sich der Beitrag von Natrall, der, wie oben erwähnt wurde, selbst keinen Lachs isst, auf die fünf pazifischen Lachsarten, die er auf fünf verschiedene Weisen zubereitete – nämlich als Lachs-Koteletts (salmon chops), konfierten Lachs133 , Lachsbauch-Terrine, gegrillten Lachs und kalt geräucherten Lachs – und zusammen mit HagebuttenBeurre blanc und »sage infused«-grease servierte. Nyce aus Gitwinksihlkw (früher Canyon City) im Nass-River Tal im Norden British Columbias stellte ein Menü aus, dessen fünf Gänge in vielerlei Hinsicht Nyces ernährungskulturellen Hintergrund aus den Territorien der Nisga’a und Tsimshian im Gebiet des Skeena und Nass River in der Küstenregion an der kanadischen Grenze zum Alaska Panhandle reflektierten.134 Die fünf Gänge waren: 1. Taschenkrebsbein mit knuspriger LachshautSpirale, Pflaumensoße und Kresse-Garnitur; 2. Sidestripe Shrimp (Pandalopsis dispar), gedünstete Herzmuschel und geräucherter Kerzenfisch auf Kürbis-Püree; 3. Meeresfrüchte Salat von herring roe on kelp, Indian candy und geröstetem seaweed mit huckleberry-Dressing; 4. Sautierter Rotlachs mit »smoked black cod and side striped shrimp roll« auf Mais-Creme; und 5. Indian ice-cream in einer Eistüte aus Himbeer-berry leather auf Mango-Sorbet garniert mit wilden Erdbeeren, Himbeeren und Brombeeren. Im Hinblick auf die Zutaten für ihr IKA-Menü betonte Nyce, dass sie einen Großteil der traditional foods aus ihrem unmittelbaren Umfeld gewonnen und mit nach Erfurt gebracht hatte. Dazu gehörten bspw. der geräucherte Kerzenfisch aus dem Nass-River Tal; die selbst gesammelten Beeren für das Dessert aus den Lavafeldern des Anhluut’ukwsim Laxmihl Angwinga’asanskwhl Nisga’a Provincial Park (auch bekannt als Nisga’a Memorial Lava Bed Provincial Park) in der Nähe ihres Heimatorts Gitwinksihlkw; oder das seaweed, das sie in Metlakatla, British Columbia, geerntet und anschließend auf die von ihren Eltern und Großeltern gelernte Art und Weise getrocknet hatte. Unabhängig von den außergewöhnlichen Zutaten und dem hohen küchentechnischen Niveau konnten Nyce, Vickers und Natrall das zweiteilige Aufgabenprogramm für Regionalmannschaften, wie erwartet, nicht vollständig erfüllen, weshalb sie bei ihrer Rückkehr aus Erfurt keine Medaille, sondern nur ein Diplom zur »Anerkennung hervorragender Leistung« im Gepäck hatten. Genaille erklärte mir hierzu, dass sie bereits im Vorfeld der IKA aus den Reihen der CCFCC Unterstützung angeboten bekommen hätten und betonte zugleich: »You have to start some-
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Leider war es nicht möglich, hierzu verlässliche Informationen zu bekommen. Zum Konfieren benutzte Natrall eine Mischung aus Pflanzenöl und grease. Die Informationen zu Nyce Menü gehen aus einer schriftlichen Konversation mit Nyce im März 2018 zurück.
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where. […] Would it have been easier to bring in these other guys, the non-native chefs, to help us out with this? Sure. Would it have been fair to those guys [the Indigenous team]? Absolutely not.« (Genaille 2016) Im weiteren Verlauf unseres Gesprächs im Februar 2016 machte Genaille seinen Punkt deutlich: Es sei nicht ihre Absicht gewesen, die IKA-Bühne als »one-hit wonder« zu verlassen. Vielmehr sei die Reise nach Erfurt ein Schritt auf einem Weg (journey) gewesen, der nicht nur lange vor der IKA 2012 und dem ACAC-Programm begonnen hatte, sondern der überdies noch lange nicht zu Ende sei. Wie bereits George verwies Genaille in diesem Zusammenhang auf die verschwindend geringe Anzahl indigener Köch*innen zum Beginn seiner Karriere Mitte der 1980er Jahre und stellte im Vergleich dazu und mit Blick auf die Zukunft fest: »You know when I left Vancouver Community College [in 2011] we had twelve different kitchens. We had a pastry department downstairs with three, four different kitchens. There are Aboriginal students in every one of those kitchens now. […] So that’s all coming, and you gonna see an explosion, a blossoming, of aboriginal cooks, chefs and restaurants and business and what have you.« (Ebd.) Bezüglich der Relevanz der Teilnahme einer Mannschaft junger indigener Köch*innen bei der IKA für das, was Genaille als Weg (journey) beschrieben hat, fügte er hinzu: »I would argue in some ways these competitions help to fuel the new folks that are coming up; help to have those role models in the native world for people to look up to and chase.« (Ebd.) Genailles Verknüpfung der IKA-Teilnahme des ACTC mit dem »Aufblühen« (blossoming) indigener Gastronomie erinnert an das, was George als zentrales Element der Strategie des CNHC-Projekts zwanzig Jahre zuvor beschrieben hatte: Vorbilder zu schaffen und Karrierewege aufzuzeigen, um indigene Jugendliche für das Handwerk professionellen Kochens bzw. für die Gastronomie als facettenreiches und vielversprechendes Berufsfeld zu begeistern. Auch wenn der zeitliche Abstand zwischen den beiden Mannschaften auf einen flüchtigen Blick zunächst anders wirken mag, stellen die zwanzig Jahre, die es für die indigenen Gesellschaften in Kanada gedauert hat, um auf die kulinarische Weltbühne zurückzukehren, alles andere als ein Symptom der Stagnation oder gar Regression indigener gastronomischer Professionalisierung dar. Vielmehr erscheint die Tatsache, dass Nyce, Vickers, Natrall und Genaille selbstständig, d.h. ohne die Unterstützung einer ganzen Mannschaft von Organisator*innen, Trainer*innen, Hilfsköch*innen und Sponsoren135 , die Reise zur IKA antraten, als ein Index dafür, dass die
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Wenngleich sich Genaille zu keinen genaueren Angaben zur Finanzierung der Mannschaft bzw. der IKA-Teilnahme bewegen ließ, wird zum einen aus der Berichterstattung zum ACTC deutlich, dass diverse selbst organisierte Fundraising-Veranstaltungen im Zeitraum zwischen 2010 und 2012 eine zentrale Rolle spielten. Zum anderen betonte Genaille während
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gesamte Entwicklung über das ursprüngliche Ziel des CNHC-Projekts hinausgeht – nämlich das Ziel, Voraussetzungen für eine Entwicklung zu schaffen, an deren Ende alle Positionen in allen Bereichen (indigener) gastronomischer Betriebe von Vertreter*innen der indigenen Gesellschaften besetzt werden können. Nicht zuletzt ist es auffallend, dass die Organisatoren der CNHC-Projects – während sie klar und deutlich die Absicht formulieren, eine Canadian Native Haute CuisineTM zu kreieren, um selbige zu kommerzialisieren – an keiner Stelle in den erwähnten Pressemitteilungen, Broschüren und Portfolios auch nur andeuten, die Teilnahme indigener Köch*innen bei der IKA fortsetzen zu wollen. In Anbetracht des hohen finanziellen und organisatorischen Aufwands, wäre dies – zumindest im Format der Teilnahme der CNHC-Mannschaft von 1992 – vermutlich auch gar nicht möglich gewesen. Wenn demnach – vor dem Hintergrund des Status quo indigener Gastronomie am Anfang der 1990er Jahre – bereits zwanzig Jahre später eine Gruppe von Absolvent*innen eines auf die gastronomische Professionalisierung von indigenem Kochen und Essen fokussierten Ausbildungsprogramms für indigene Auszubildende an einer staatlichen Berufs- und Fachhochschule mit einem indigenen leitenden Ausbilder als selbst organisierte und finanzierte Kochmannschaft an der IKA teilnimmt, um ihre eigenen Vorstellungen einer sinnvollen Verknüpfung von indigenen Ernährungskulturen mit professionellen Techniken und einem Präsentierstil »den Regeln der modernen Kochkunst entsprechend« zur Schau zu stellen, dann verweist dies auf mindestens eine weitere Qualität des gesamten Prozesses, die über ein rein quantitatives Wachstum indigener Gastronomie bzw. ein rein wirtschaftliches Interesse an der gastronomischen Professionalisierung indigener Ernährungskulturen hinausgeht. Und das ist ein selbstbewusster Umgang mit der eigenen Ernährungskultur bzw. der eigenen (kulinarischen) Identität, die sich letztlich nicht nur in der IKA-Teilnahme des ACTC reflektiert, sondern ebenso in der Art und Weise zum Ausdruck kommt, mit der indigene Köch*innen sich und ihren Kochstil in zeitgenössische kulinarische Diskurse einbringen und verorten. So stellt bspw. Vickers in einem Interview nach der IKA 2012 fest, dass die Auseinandersetzung mit indigenen Ernährungskulturen im Zuge ihrer Ausbildung ihr ein positives Gefühl davon gegeben habe, woher sie kommt und wer sie ist. Nicht zuletzt würde ein Vergleich der Charakteristika indigener Ernährungskulturen mit den Schlagworten globaler Gastronomie- und Ernährungstrends wie etwa New Nordic Cusine, 100-mile diet, Paleo-Diät, LFHC-Diät, nose-to-tail, farm-to-fork, leaf-to-root etc. eines deutlich machen: »It’s actually ›cutting edge.‹« (Paillard 2013) Vickers Äußerungen verweisen letztendlich auch auf die unten diskutierte These, dass der Prozess der gastronomischen Professionalisierung signifikante Reunseres Gesprächs, dass rund 25 % der Kosten von Kanata Cuisine, Genailles gastronomische Beratungsfirma und Catering Unternehmen, übernommen wurden.
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Imaginationen indigener (Ernährungs-)Kulturen impliziert. Auf der einen, indigenen Seite verändert er den Blick auf die eigenen Ernährungskulturen und somit auf einen zentralen Aspekt des kulturellen Selbstverständnisses. Genaille spricht in diesem Zusammenhang von »sharing pride« im Sinn eines geteilten Stolzes und Selbstwertgefühls im Hinblick auf die eigenen historischen wie auch zeitgenössischen Ernährungskulturen und Lebensweisen (Genaille 2016). So sei es auch beim Antritt des ACTC auf der kulinarischen Weltbühne in erster Linie das Ziel gewesen, 1. im Ausland das Bewusstsein für die Geschichte und gegenwärtige Lebensweise der indigenen Kulturen im heutigen Kanada zu fördern und 2. zugleich den Stolz auf die eigenen indigenen (Ernährungs-)Kulturen in der Heimat zu lancieren. In Bezug auf Letzteres sei es darum gegangen, zu zeigen, dass es (zumindest) in Bezug auf indigenes Kochen und Essen keinen Grund gibt, sich zu schämen. Denn obwohl Indian tacos, fried bologna, bannock pizza, mac and cheese und andere comfort foods zweifelsohne fester Bestandteil der zeitgenössischen indigenen Ernährungskulturen und Lebensweisen sind, sind diese und ähnliche Gerichte eben nur »ein« Teil. Der andere Teil, den George als »Aboriginal foods« bezeichnet hatte, erweist sich beim näheren Hinsehen als in vielerlei Hinsicht zeitgemäß oder eben, um noch einmal Vickers Formulierung aufzugreifen, als »cutting edge« (Paillard 2013). Auf der anderen Seite betrifft diese Re-Imagination nicht-indigene Perspektiven auf indigene (Ernährungs-)Kulturen, die durch den direkten, synästhetischen Kontakt mit diesem Aspekt indigener Lebenswelten mit den Unzulänglichkeiten der eigenen Erwartungshaltung konfrontiert werden. Die Diskussion dieser ReImagination wird an dieser Stelle zurückgestellt, um im abschließenden 3. Teil darauf zurückzukommen. Zuvor skizziert der folgende letzte Abschnitt dieses Kapitels einige andere Effekte gastronomischer Professionalisierung, die über die Grenzen gastronomischer Betriebe und diesbezüglicher Personenkreise hinausgehen. Der Fokus liegt dabei auf dem konkret greifbaren Mehrwert, den die gastronomische Professionalisierung und zunehmende Präsenz indigener Ernährungskulturen im öffentlichen Raum Kanadas für die soziokulturelle Reproduktion indigener Gemeinschaften impliziert.
Gastronomische Professionalisierung jenseits der Küche Als die Organisatoren der CNHC-Mannschaft begannen, die Idee auszuarbeiten, indigene Köch*innen zur IKA zu schicken, hatten sie professionelles Kochen oder Gastronomie als Mittel für verschiedene Zwecke vor Augen. Wenn A. Turner, wie oben erwähnt, in diesem Kontext die Versöhnung (reconciliation) indigener und nicht-indigener Bevölkerungsteile als zentrale Motivation und Ziel des gesamten CNHC-Projekts konstatiert, mag dies vor dem Hintergrund der damaligen innenpolitischen Situation im Anschluss an die Oka-Krise zunächst einleuchtend sein. Vermutlich hatte dieser Aspekt tatsächlich auch eine Rolle gespielt. Allerdings las-
2. Teil: Die gastronomische Professionalisierung indigener Ernährungskulturen
sen sich keine stichhaltigen Indizien dafür finden, dass A. Turners Darstellung – wenngleich sie sich auf ein Interview mit Danielle Medina beruft – die relevanten Tatsachen hinreichend zusammenfasst. Stattdessen deuten die offiziellen Unterlagen aus Georges privatem Archiv und auch Norman Goldies136 Erläuterungen des gesamten Projekts in andere Richtungen. In einer der Broschüren, die auf dem CNHC-Schautisch bei der IKA 1992 auslagen, erwähnen die Organisatoren etwa explizit, dass die Teilnahme der Mannschaft nur der Anfang sei – bzw. sei sie »part of a long-term program of economic, social and cultural development for Aboriginal Canadians.«137 Während sich in Georges Unterlagen keine genaueren Angaben zum Thema »social and cultural development« finden lassen, machen die Organisatoren im Hinblick auf ökonomische Aspekte bzw. auf die Kommerzialisierung dessen, was sie als Canadian Native Haute CuisineTM bezeichnen, konkrete Angaben. Neben dem Ziel mittels indigener Gastronomie Anstellungs- und Karrieremöglichkeiten innerhalb lokaler Gemeinschaften im Küchen-, Service- und F&B-Managementbereich zu schaffen, hatten sie darüber hinaus die Produktion und Vermarktung von indigenen Lebensmittelprodukten im Blick. So bestand ein wichtiger Teil der angestrebten Kommerzialisierung jener Canadian Native Haute CuisineTM darin, »to include food products from different Reserves in Canada.«138 Zu diesem Zweck wollte Oudeheemin Foody Inc. in Zusammenarbeit mit Medina Foods Inc. ein Siegel etablieren, das indigene Produzent*innen in zweierlei Hinsicht zertifizieren würde: Einerseits sollte mit Rückgriff auf die Expertise von Medina Foods Inc. im Bereich Lebensmittelsicherheit die »Qualität« der Lebensmittelprodukte sichergestellt und entsprechend zertifiziert werden. Andererseits sollte das Siegel die »Authentizität« der Produkte garantieren. Als grafische Grundlage des Siegels war das Logo der CNHC-Mannschaft angedacht.139 Goldie, der im Anschluss an die IKA 1992 mit der Vermarktung einiger erster Produkte (vor allem Lachsprodukte) beauftragt wurde, verwies darauf, dass – abgesehen von der zertifizierten Qualität – im Hinblick auf den symbolischen Wert des Siegels nicht nur die Vorstellung der Ursprünglichkeit und Originalität »authentisch indigener« Produkte, sondern vor allem das Narrativ der international erfolgreichen CNHC-Mannschaft und damit gewissermaßen der Beweis von Bedeutung war, dass indigene Ernährungskulturen mehr zu bieten haben, dass sie komplexer, vielschichtiger und exquisiter sind, als das, was einerseits Schultz (vermutlich positiv anerkennend) als natural historic cuisine und andererseits Jewitt (zweifelsohne abwertend) im oben erwähnten Zitat als ungenießbar bezeichnet hatte. 136 137 138 139
Zu Norman Goldie siehe Fußnote 85, S. 252. Broschüre Canadian Native Haute Cuisine. A Gift from The Great Spirit, Privatarchiv von Andrew George Jr. Pressemitteilung, 28. April 1992, S. 1, Montreal. Privatarchiv von Andrew George Jr. Broschüre Canadian Native Haute Cuisine. A Gift from The Great Spirit, Privatarchiv von Andrew George Jr.
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Wenngleich bis heute kein solches Qualitäts- und Authentizitätssiegel existiert und Oudeheemin Foods Inc. weder selbst eine indigene Produktlinie noch ein eigenes Netzwerk entsprechender Produzent*innen und Lieferant*innen etablieren konnte, haben sich der Prozess indigener gastronomischer Professionalisierung und damit auch die Vermarktung indigener Produkte in gewisser Hinsicht gegenseitig verstärkt. Denn neben indigenen Köch*innen in der Küche und indigenem Servicepersonal im Gastraum erhöhen diese Betriebe unweigerlich die Nachfrage für rohe oder auch verarbeitete indigene Nahrungsmittel. Dies führt auf Dauer nicht nur dazu, dass indigene gastronomische Betriebe mehr indigene Produkte beziehen können, sondern schafft zugleich Möglichkeiten für entsprechende source communities, um als Produzenten und Lieferanten von dieser steigenden Nachfrage profitieren zu können. Zwar kann bis heute keinesfalls von einer umfassenden, verlässlichen und stets legalen Versorgung entsprechender Betriebe mit indigenen Produkten gesprochen werden. Nichtsdestotrotz steigt die Anzahl indigener Produzent*innen, die teils mehr und teils weniger regelmäßig indigene Gastronomiebetriebe mit verschiedensten Rohprodukten, wie bspw. wilde Beeren, Pilze, Farnsprossen und Algen, sowie mit wild gefangenem Lachs und Heilbutt, Kerzenfischen (frisch und geräuchert), grease, Heringsrogen (sowohl als herring roe on kelp als auch on branches) und diversem Klein- und Großwild oder auch mit Delikatessen wie Indian candy oder smoked sea lion beliefern. Abgesehen von diesen – auf gastronomische Abnehmer*innen konzentrierten – Produzent*innen, deren Produkte einzig über den Umweg durch Küche und Gastraum dieser Betriebe den Weg in die kanadische Öffentlichkeit finden, gibt es in gut sortierten liquor stores Weine indigener Weingüter140 und in manchen Supermärkten auch verarbeitete Lebensmittel, wie Kaffee141 , Tee142 , luftgetrocknetes Fleisch143 , Räucherlachs-Produkte144 , Tomahawk Chips145 und verzehrfertiges Bannock-In-a-Box 146 . Diese Form ökonomischer Umwegrentabilität indigener Gastronomie ist jedoch nicht der einzige Mehrwert, den die entsprechenden source communities aus dem Prozess gastronomischer Professionalisierung ziehen können. Schließlich impliziert das stetig wachsende Netzwerk indigener gastronomischer Betriebe, Köch*innen, Lieferant*innen und Produzent*innen zugleich einen zunehmenden Bedarf an kulturellen Expert*innen, die über ein umfassendes Wissen über indigene Nahrungsmittel, den Umgang mit selbigen und die entsprechenden
140 Nk’Mip Cellars (Osoyoos, British Columbia, nkmipcellars.com) und Indigenous World Winery (Kelowna, British Columbia, indigenousworldwinery.com). 141 Spirit Bear Coffee Company (Port Coquitlam, British Columbia, spiritbearcoffeecompany.com). 142 Raven and Hummingbird Tea (Vancouver, British Columbia, ravenhummingbirdtea.com). 143 Pânsâwân (Edmonton, Alberta, admin5005.wixsite.com/pansawan). 144 Little Miss Chief (Westbank, British Columbia, littlemisschief.com). 145 Tomahawk Chips (Riverton, Manitoba, tomahawkchips.ca). 146 The Bannock Factory (Winnipeg, Manitoba, thebannockfactory.com).
2. Teil: Die gastronomische Professionalisierung indigener Ernährungskulturen
Techniken indigenen Ressourcenmanagements verfügen. Überdies betont der Ethnobotaniker und Ökologe Gary P. Nabham, dass die Nachfrage nach indigenen Produkten neben den ökonomischen Möglichkeiten für diesbezügliche source communities und dem Bedarf an kulturellen Expert*innen zugleich das Potential hat, Prozesse ökologischer Revitalisierung und den Schutz entsprechender Ressourcen und Ökosysteme zu unterstützen (Nabhan 2006: v). Da das Konsultieren, der Austausch und die Zusammenarbeit mit solchen Expert*innen kulturelles Wissen reproduziert und sogar multipliziert, scheint darüber hinaus die Feststellung gerechtfertigt, dass der Prozess gastronomischer Professionalisierung zugleich einen wichtigen Beitrag zur Revitalisierung indigener kulinarischer Wissenskulturen und Praktiken leisten bzw. die »Wiederaneignung entaktualisierter Wissensbestände« (Kammler 2011: 85) innerhalb indigener Gemeinschaften effektiv befördern kann. Insgesamt lässt sich zum Abschluss dieses zweiten Teils in Anlehnung an das soziokulturelle Reproduktionspotential der Disposition zur Diversifizierung und Ausdifferenzierung, wie es weiter oben in Kapitel 1.2.2. im Hinblick auf die Einführung und Verbreitung neuer Lebensmittel und Lebensmitteltechniken unter dem Begriff »Trumpf des Omnivoren« erörtert wurde, behaupten, dass der Prozess indigener gastronomischer Professionalisierung ein vergleichbares Potential besitzt.
2.3 Zusammenfassung Nachdem im 1. Teil Grundzüge einer Kulturgeschichte indigener Ernährungskulturen in British Columbia die facettenreiche Historizität und zeitgenössische Diversität indigener (Ernährungs-)Kulturen dargelegt wurden, stand im 2. Teil Die gastronomische Professionalisierung indigener Ernährungskulturen die Geschichte indigener Gastronomie als jüngstes Kapitel der Kulturgeschichte indigener Ernährungskulturen im Zentrum der Darstellungen. Vor dem Hintergrund jener Disposition zur Diversifizierung und Ausdifferenzierung – jenem kulturimmanenten Drang zur »unaufhörlichen Erneuerung« und der »Verachtung für ausgetretene Pfade, die zu immer neuen Improvisationen drängt […]« (Lévi-Strauss 2004: 10) – ging es dabei nicht nur um den eigentlichen Prozess gastronomischer Professionalisierung und diesbezügliche ökonomische, ökologische und soziokulturelle Implikationen, sondern lag der Fokus zugleich auf der (vertikalen wie horizontalen) Diversität indigener Gastronomie. Angesichts der Tatsache, dass das Phänomen und insbesondere die Geschichte indigener Gastronomie in kulturwissenschaftlicher Hinsicht Neuland darstellt, widmete sich Kapitel 2.1. Indigene Gastronomie in British Columbia, 1974-2018 einer konzentrierten Skizze dieses Phänomens und seiner Geschichte. Hierzu wurde in Kapitel 2.1.1. Auf dem Weg zu einem neuen Forschungsfeld erläutert, wie einerseits der
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erste Eindruck der Abwesenheit indigenen Kochens und Essens im öffentlichen Raum und andererseits meine Verwunderung, Skepsis und Enttäuschung ob der Inkongruenz meines angelesenen Bildes indigener Ernährungskulturen und den vorgefundenen Speisekarten sowie der generellen Gestaltung der wenigen Betriebe, die ich anfangs ausfindig machen konnte, mein Forschungsinteresse geweckt haben. Nachdem damit die Motivation zur Auseinandersetzung mit indigener Gastronomie und der Zugang zu diesem Forschungsfeld sowie leitende Fragestellungen und methodologische Entscheidungen im Hinblick auf eine Eingrenzung des Forschungsfeldes dargelegt wurden, legten die darauffolgenden Kapitel das Augenmerk auf die beiden Kernthemen der Geschichte indigener Gastronomie, wie sie hier skizziert wurde: Diversität und zunehmende Präsenz. So konzentrierte sich Kapitel 2.1.2. Von Fine Dining bis Foodtruck: Landmarken indigener Gastronomie in British Columbia auf die Darlegung der Diversität des Spektrums indigener Gastronomie anhand der Besprechung sechs ausgewählter Beispiele. Das darauffolgende Kapitel 2.1.3. Diversität und zunehmende Präsenz indigener Gastronomie in Kanada: Eine Zusammenfassung erweiterte schließlich den regionalen Fokus auf British Columbia um eine Überblicksdarstellung dieser Entwicklung im gesamten Kanada. Mit Bezug auf die hiermit erstmalig vorliegende Bestandsaufname aller bekannten Betriebe seit 1974 (Abb. 42) und die Grafiken zur regionalspezifischen Verteilung indigener Gastronomie (Abb. 43-46) wurde die zunehmende Präsenz zugleich in Zahlen greifbar gemacht. Im Hinblick auf die Frage nach den Hintergründen dieser Entwicklung konzentrierte sich das Kapitel 2.2. Indigene Köch*innen bei der Internationalen Kochkunst-Ausstellung und der Prozess gastronomischer Professionalisierung auf die Besprechung von Ereignissen und Akteur*innen, welche die Geschichte und den Status quo indigener Gastronomie maßgebend geprägt haben. Die Teilnahme der NCHC-Mannschaft bei der IKA 1992 war hierbei von zentraler Bedeutung. Für eine hinreichende Kontextualisierung dieses Ereignisses und seines Effekts wurden in Kapitel 2.2.1. Die Internationale Kochkunst-Ausstellung: Geschichte, Hintergründe und Organisation zunächst die Eigenheiten der IKA umrissen. Nachdem anschließend in Kapitel 2.2.2. »Going for the Gold«: Canadian Native Haute Cuisine bei der IKA 1992 die Geschichte der NCHC-Mannschaft im Detail dargelegt wurde, stand in Kapitel 2.2.3. »More Than a Competition«: Im Wettkampf für die Zukunft die Diskussion der indigenen IKA-Teilnahme im Vordergrund. Wie gezeigt wurde, ging es für die Mannschaft sowohl um Bildung als auch um Unabhängigkeit; sowohl um individuellen Erfolg als auch um den Nutzen für die indigenen communities; sowohl um economic self-empowerment als auch um kulturelle Revitalisierung und schließlich auch um die Stärkung des kulturellen Selbstbewusstseins im Sinne eines selbstbewussten Umgangs mit der eigenen (Ernährungs-)Kultur. Dieser selbstbewusste Umgang reflektiert sich nicht nur in der IKA-Teilnahme des ACTC zwanzig Jahre später, sondern kommt ebenso in der Art und Weise zum Ausdruck,
2. Teil: Die gastronomische Professionalisierung indigener Ernährungskulturen
mit der indigene Köch*innen wie Shawn Adler, Shane Chartrand, Rich Francis, Ben Genaille, Andrew George Jr., Paul Roy Natrall, Joseph Shawana, Faith Vickers und andere sich und ihren Kochstil in zeitgenössische kulinarische Diskurse einbringen und verorten. Zum Abschluss dieses zweiten Teils, bleiben noch zwei Punkte zu nennen, die im Zusammenhang mit der steigenden Anzahl indigener gastronomischer Betriebe, Gastronom*innen, Köch*innen und Nahrungsmittelproduzent*innen nicht unerwähnt bleiben dürfen. Der erste Punkt betrifft die CNHC-Mannschaft und deren Erbe: Die Darstellung der indigenen Teilnahme bei der IKA 1992 zielte keinesfalls darauf ab, den Eindruck zu erwecken, die CNHC-Mannschaft und das anschließende CNHC-Programm in Montreal seien alleinige Ursachen der dargelegten Entwicklung. Schließlich gab es bereits lange zuvor indigene Restaurants und war auch George bekanntermaßen nicht der einzige indigene Koch, den Oudeheemin Foods Inc. und die anderen Organisator*innen über den »moccasin telegraph« (George und Gairns 1997: 9) ausfindig machen konnten. Freilich ließe sich deshalb auch argumentieren, dass der Prozess indigener gastronomischer Professionalisierung ohnehin längst begonnen hatte. Daran besteht kein Zweifel. Trotzdem liegt es nahe, anzunehmen, dass das Engagement der CNHC-Mannschaft vor, während und nach der IKA 1992 im Hinblick auf die Förderung professionellen Kochens und die Fusion indigener Ingredienzien und Rezepte mit professionellen Küchentechniken »den Regeln der modernen Kochkunst entsprechend« kein bloßes Epiphänomen war, sondern einen wichtiger Faktor der eklatanten Beschleunigung des gesamten Prozesses seit den 1990er Jahren darstellte. Der zweite Punkt betrifft die Zukunft indigener Gastronomie: In verschiedenen Gesprächen betonte George, dass der Arbeitsmarkt in British Columbia und anderen Teilen Kanadas von einer steigenden Nachfrage im Bereich handwerklicher Ausbildungsberufe geprägt sei. George, der seit 2014 als Apprenticeship Advisor für die Industry Training Authority (ITA) in Chilliwack arbeitet147 , erklärte hierzu: »The push in British Columbia probably the last 50 years has been academics – go to school or go to university. The trades weren’t even thought of.« (George 2016) Tatsächlich führt die Vernachlässigung handwerklicher Ausbildungsberufe laut eines Berichts des Ministry of Regional Economic and Skills Development (MRESD), dazu, dass British Columbia in den kommenden Jahren mit einem drastischen Mangel an ausgebildeten Fachkräften in diversen Handwerksberufen und Dienstleistungsbranchen konfrontiert sein wird – bzw. in Teilen schon jetzt konfrontiert
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»The Industry Training Authority (ITA) leads and coordinates British Columbia’s skilled trades system.« (www.itabc.ca/overview/about-ita, abgerufen am 08.08.2018) Als Apprenticeship Advisor ist George in erster Linie für die Beratung und Betreuung indigener Auszubildender zuständig.
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ist (MRESD 2010: 5). Entscheidend ist, dass die Wachstumsrate für Neuanstellungen von 2,3 % bei Ausbildungsberufen148 mit dem – am gesamtgesellschaftlichen Durchschnitt gemessenen – überproportionalen Wachstum der indigenen Bevölkerung in British Columbia im Allgemeinen zusammenfällt. In dem von der ITA veröffentlichten Aboriginal Initiatives Skills Training Plan 2015-18 (o.J.) stellen die Autor*innen deshalb fest: »the aboriginal population across B.C. and across Canada is younger and faster growing than the general population. As such, Aboriginal youth are a key source of potential skilled labour for the trades, as aging tradespersons are retiring in large numbers.« (ITA o.J.: 4) Insgesamt, so machte auch George wiederholt deutlich, entsteht aus dieser Entwicklung für die indigene Bevölkerung und insbesondere für Jugendliche eine vielversprechende ökonomische Nische. Gastronomie stellt hierbei keine Ausnahme dar. Wie George mir gegenüber allerdings erläuterte, wissen viele Mitglieder der indigenen Bevölkerung nicht von den Möglichkeiten, die sich ihnen in Ausbildungsberufen bieten; welche Ausbildungsprogramme es gibt oder wie sie an eine Ausbildungsstelle kommen. Zudem hätten selbst diejenigen, die ein Ausbildungsprogramm beginnen, häufig Probleme, diese auch erfolgreich zu beenden. Die Gründe hierfür seien vielfältig und hingen nicht selten mit dem kollektiven Trauma der Epoche des Residential School Systems zusammen. In dem Sinne, dass – wie weiter oben angesprochen wurde – innerhalb der indigenen Gesellschaften keine positive Kultur schulischer Ausbildung existiert und deshalb innerhalb der Familien häufig der notwendige Rückhalt und letztlich entsprechende Kompetenzen fehlen würden, um die Auszubildenden in ihrem Werdegang hinreichend zu unterstützen. Abgesehen von dem Wissen um die eigenen Möglichkeiten, so George, sei deshalb eine hinreichende Motivation und – kultursensible – Betreuung entscheidend dafür, jene Nische erfolgreich zu besetzen: »That’s why I joined the ITA, to deal with apprenticeships, to get as many Aboriginal people through the apprenticeship system as we can.« (George 2016) Sollte das anhaltende Engagement von George und anderen sowohl in British Columbia als auch in anderen Teilen Kanadas erfolgreich sein, dann könnte sich diese Nische letztlich als ein zentraler Faktor einer weiteren Beschleunigung des gesamten Prozesses indigener gastronomischer Professionalisierung herausstellen. Unabhängig von diesbezüglichen Spekulationen lassen die vorangegangenen Ausführungen in diesem 2. Teil keinen Zweifel daran, dass die gesamte Entwicklung einen Punkt erreicht hat, an dem indigenes Kochen und Essen zwar nicht 148 Bei einer generellen Wachstumsrate für Neuanstellungen von 1,8 % in British Columbia gehören handwerkliche und technische Ausbildungsberufe zu den drei am schnellsten wachsenden Berufsgruppen in der Provinz (MRESD 2010: 5).
2. Teil: Die gastronomische Professionalisierung indigener Ernährungskulturen
omnipräsent, aber immer häufiger und einfacher zu finden ist, und damit die Frage nach der Rolle indigener Gastronomie innerhalb der kanadischen gastroscape, wie sie im Folgenden diskutiert wird, bereits auf dem Tisch liegt.
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3. Teil: Indigene Gastronomie und die kanadische gastroscape
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Einführung in die Diskussion
»[F]ür einen einigermaßen civilisierten Gaumen ungenießbar« (Krause 1885: 178) – So beschreibt der Forschungsreisende Aurel Krause am Ende des 19. Jahrhunderts den Geschmack von grease; jenem fundamentalen Element der kulinarischen Grammatik historischer indigener Ernährungskulturen an der Nordwestküste. Dabei weckt seine Beschreibung unweigerlich Erinnerungen an Jewitts zitierte Bemerkungen über dessen erstes Gastmahl bei Mukw ina 80 Jahre zuvor. Im Anschluss an dieses Zitat wurde allerdings bereits angemerkt, dass nicht nur Jewitt seine anfängliche Ablehnung überwunden und – mit Ausnahme von bspw. fermentiertem Fischrogen – echten Gefallen an den indigenen Spezialitäten gefunden hat. Ebenso wussten die frühen Entdecker und andere Handelsreisende der Ära des maritimen und später landbasierten Pelzhandels die Fischöle und Trane wie auch getrockneten oder geräucherten Fisch, Wild und schließlich bestimmte essbare Rhizome wie etwa wapato, die sie von indigenen Händler*innen erwarben, zu schätzen. Ob Krause während seines knapp sechsmonatigen Aufenthalts von Dezember 1881 bis Mai 1882 bei den Tlingit letzten Endes doch noch Geschmack am grease gefunden hat, geht aus seinen Aufzeichnungen nicht hervor. Ohne den Forschungsreisenden Krause mit den Neuankömmlingen gleichzusetzen, die auf der Suche nach einer neuen Heimat an die Nordwestküste kamen, lässt sich jedoch festhalten, dass sein Kommentar eine (zu dieser Zeit) prominente Haltung gegenüber den indigenen Ernährungskulturen reflektiert – nämlich die Ungenießbarkeit indigenen Kochens und Essens in den Augen der wachsenden Siedlergesellschaft. Jonaitis hält hierzu fest: »Indeed, the colonial record is replete with expressions of disgust and repulsion at the taste of food and smell of unfamiliar substances.« (Jonaitis 2006: 160) Ohne den pejorativen Ton manch einer Beschreibung der historischen indigenen Ernährungskulturen leugnen zu wollen, darf nicht unerwähnt bleiben, dass die Ablehnung indigenen Kochens und Essens durch die wachsende Siedlergesellschaft nicht auf die Dichotomie von wild/zivilisiert reduziert werden kann. In dem Sinne, dass die Siedler*innen indigenes Kochen und Essen allein aus dem
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Grund abgelehnt hätten, dass es als unzivilisiert, wild und deshalb minderwertig galt. Zwar spielten derlei Zuschreibungen, wie weiter oben im Hinblick auf jene modification of the attitudes im Zuge der siedlerkolonialen Wende ab der Mitte des 19. Jahrhunderts erwähnt wurde, im Zusammenhang mit der Wahrnehmung von und dem anschließenden Umgang mit der indigenen Bevölkerung im Allgemeinen durchaus eine wichtige Rolle. Allerdings muss klar gesagt werden, dass fremdem Kochen und Essen per se mit (einer zumindest anfänglichen) Skepsis und nicht selten offener Ablehnung begegnet wird. In der Regel bedarf es daher kultureller Katalysatoren1 – oder im Extremfall existenzielle Notstände –, damit neue, fremde oder ungewohnte Zutaten und Techniken Eingang in spezifische Ernährungskulturen finden können. Letztlich reicht auch heute ein selbst flüchtiger Blick in die Kochtöpfe von Migrant*innen weltweit aus, um sich der Annahme versichern zu können, dass spezifische Ernährungsweisen zu den persistentesten Kulturelementen von im Wandel begriffenen, delokalisierten Bevölkerungsgruppen zählen.2 Etwas mehr als ein Jahrhundert nach Krauses und knapp zweihundert Jahre nach Jewitts Kommentar zur Ungenießbarkeit indigenen Kochens und Essens scheint die nicht-indigene Haltung gegenüber den indigenen Ernährungskulturen eine neue Wendung zu nehmen: Heute gewinnen Kochbücher indigener Autor*innen internationale Preise und werden indigene Köch*innen als Wettkampfteilnehmer*innen, Redner*innen oder Expert*innen zu renommierten nationalen und internationalen Gastro-Veranstaltungen wie Gold Medal Plates, Terroir Symposium und Cook it Raw eingeladen oder steuern Rezepte zu kollektiven Kochbuchprojekten (Anderson und Vanveller 2017, Canadian Museum Association 2016, 2017, Neal und Neal 2015) bei. Sie sind medienwirksame Kontrahent*innen in Kochshows wie Chopped Canada und Top Chef Canada und werden im Frühstücksfernsehen zu ihrer Arbeit, indigenen Ernährungskulturen und den neuesten Trends für das alljährliche Thanksgiving-Dinner befragt – inklusive Koch-Demonstration mit online verfügbaren Rezepten zum Downloaden. Nicht zuletzt trugen indigene Köch*innen zur kulinarischen Vielfalt der Canada 150-Feiern bei.3
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Die erwähnten flavor principles (Kapitel 1.2.) sind ein solcher Katalysator. Sie ermöglichen es, Neues in gewohnte Geschmacksmuster zu integrieren und dem Neuen damit seine Fremdheit zu nehmen. Siehe hierzu beispielhaft Ray (2004). In der Auseinandersetzung mit bengalischen Ernährungsweisen in Pre- und Post-Migrations-Kontexten diskutiert Ray am Beispiel bengalischer Migrant*innen in den USA die komplexen Prozesse der Veränderung und Persistenz kulturspezifischer Ernährungsweisen. Ein Beispiel hierfür ist die Veranstaltung Flavours of the North, 9.-10.12.2017, bei der indigene und nicht-indigene Köch*innen im Rahmen von Koch-Demonstrationen und der kostenfreien Verteilung von Kostproben einen Einblick in die kulinarische Vielfalt der borealen Zone gaben (passport2017.ca/events/saveurs-du-nord, abgerufen am 23.08.2018).
3. Teil: Indigene Gastronomie und die kanadische gastroscape
Während insbesondere Veranstaltungen wie Terroir Symposium und Canada 150 die Rolle indigener Nahrungsmittel und Nahrungsmitteltechniken im Kontext der Herausbildung einer genuinen Canadian Cuisine betonen und damit zugleich ein gesteigertes nationales Bewusstsein gegenüber dieser integralen Rolle indigener Einflüsse einfordern, verorten Veranstaltungen wie Cook it Raw indigenes Kochen und Essen im Feld zeitgenössischer internationaler kulinarischer Trends, wobei indigene kulinarische Wissenskulturen sowie entsprechende Präservierungstechniken und Zubereitungsmethoden in ihrer Vorreiterrolle als Vorbild und Referenz herangezogen werden. Dies geschieht nicht selten mit dem Ziel, die Ursprünglichkeit und damit geradezu normativ-teleologische »Echtheit« der in diesen Trends bemühten kulinarischen Paradigmen (bspw. Saisonalität, Regionalität, snout-to-tail, leaf-to-root oder den Gebrauch elementarer Kochtechniken wie Wind, Rauch, Fermentation und offenes Feuer) zu unterstreichen. Entsprechend werden die Rezepte indigener Köch*innen in jenen Kochbüchern nicht als exotisches Nischenphänomen, sondern als fester und genuiner, letztlich eine eminente, singuläre Historizität zum Ausdruck bringender, Bestandteil des kulinarischen und gastronomischen Repertoires eines multikulturellen Kanadas vorgestellt. Zwar sind im Speziellen sowohl der unverkennbare Geschmack von grease als auch andere fermentierte Spezialitäten der (historischen) indigenen Ernährungskulturen bis heute alles andere als massentauglich. Weshalb etwa Jonaitis feststellt: »I am the only white person I know who actually likes eulachon oil.« (Jonaitis 2006: 158) Abgesehen von diesem tatsächlich sperrigen Element indigener kulinarischer Grammatik, lässt sich allein anhand der gesteigerten medialen Aufmerksamkeit gegenüber indigenem Kochen und Essen sowie anhand von vollen Reservierungsbüchern indigener gastronomischer Betriebe im Rahmen von medienwirksamen Veranstaltungen wie dem Dine Out Vancouver Festival4 oder auch ausgebuchten Dinner-Veranstaltungen wie Rich Francis’ Cooking for Reconciliation DinnerSerie eine zunehmend positive oder zumindest interessierte Haltung von sowohl der nicht-indigenen Bevölkerung als auch von Journalist*innen, Blogger*innen, Foodies und Tourist*innen gegenüber diesem existenziellen Aspekt der indigenen Lebenswelten beobachten. Und dennoch: Trotz der zunehmenden Präsenz indigener Gastronomie im öffentlichen Raum wie auch der ostentativen Inklusion indigener Köch*innen in allerlei Kochbuchprojekte und Veranstaltungen wie Terroir Symposium und Canada 150 lässt sich nicht valide behaupten, dass indigenes Kochen und Essen heute zum gastronomischen Mainstream zählen würden. Stattdessen wird bereits im Vergleich zur erwähnten Omnipräsenz von Sushi in Vancouver die
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Das Dine Out Vancouver Festival ist das größte Festival dieser Art in Kanada und findet jedes Jahr im Frühjahr (Nebensaison) für zwei Wochen statt. Festivalbesucher*innen können in der ganzen Stadt in über 200 gastronomischen Betrieben an kulinarischen Veranstaltungen teilnehmen oder tasting menus verköstigen.
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verhältnismäßige Marginalität indigener Betriebe in der Gastronomie-Landschaft British Columbias – und letztlich des restlichen Kanadas – manifest. So gibt es allein in Vancouver derzeit in etwa fünfzehnmal mehr auf Sushi spezialisierte Betriebe (ca. 570)5 als in 2018 in ganz Kanada indigene gastronomische Betriebe (37) existierten (Abb. 46). Zoe Tennant nimmt diese Marginalität zum Ausgangspunkt, wenn sie in der Einleitung zu Terra Nullius on the Plate. Colonial Blindness, Indigenous Cuisines, and the NDNSPAM Cookbook (2018) die Frage aufwirft: »French gastronomic writer Jean Anthelme Brillat-Savarin’s oft-quoted ›Tell me what you eat: I will tell you what you are?‹ […] sums up the basic tenet of the social science of food: that what we eat and the way we eat it reflect wider cultural, social, and political processes. What if we were to flip this? What does it mean when a cuisine is not consumed?« (Tennant 2020) Worauf Tennants Frage – »What does it mean when a cuisine is not consumed?« – abzielt, ist die Annahme, dass der zeitgenössische Zustand indigener Gastronomie als faktisches Nischenphänomen sowie die größtenteils anhaltende marginale Präsenz indigenen Kochens und Essens im öffentlichen Raum letztlich das nach wie vor konfliktbehaftete Verhältnis von indigener und nicht-indigener Bevölkerung bzw. die generelle Marginalisierung der indigenen Gesellschaften in British Columbia und anderen Teilen Kanadas reflektiert. Wenn im vorangegangenen 2. Teil also die Rede davon war, dass die Sichtbarkeit oder Präsenz von indigenem Kochen und Essen im öffentlichen Raum zunimmt und oben Beispiele für die gesteigerte Aufmerksamkeit und Wertschätzung von indigenem Kochen und Essen genannt wurden, dann darf die Betonung dieser Veränderung nicht missverstanden werden. Es geht in keinem Fall darum, zu behaupten, dass das Verhältnis von indigener und nicht-indigener Bevölkerung mit dem 150-jährigen Jubiläum der kanadischen Konföderation einen Zustand der Symmetrie erreicht hätte. Stattdessen sind Rassismus, Diskriminierung und fortwährende Marginalisierung auf allen Arten von sozialen, politischen und kulturellen Ebenen sowie die erläuterte prekäre Ernährungssituation – im Sinne von Ernährungssicherheit und -souveränität sowie diesbezügliche epidemische Effekte, wie sie oben im Begriff der nutrition transition zusammengefasst wurden – bis heute zentrale Bestandteile der siedlerkolonialen Realität, mit der Vertreter*innen indigener Gesellschaften in Kanada im Alltag konfrontiert sind. Vor dem Hintergrund dieser Feststellung und im Rückblick auf Fishers (1992a) Argument zur Rolle von einerseits tatsächlicher Erfahrung und andererseits antizipativer Erwartungshaltung im Umgang mit der indigenen Bevölkerung6 , steht in diesem abschließenden 3. Teil die Diskussion der in der 5 6
www.zomato.com/vancouver/restaurants/sushi, abgerufen am 07.08.2018. Siehe Kapitel 1.1.3. Zudem ist es hilfreich, einen Teil einer oben zitierten Formulierung von Fisher zu wiederholen: »Frequently settler images were in large part the consequences of
3. Teil: Indigene Gastronomie und die kanadische gastroscape
Einleitung vorgestellten These zur Rolle indigener Gastronomie in der kanadischen Gastronomielandschaft im Vordergrund – nämlich: Indigene Gastronomie konstituiert niedrigschwellige Räume kultureller Vermittlung, in denen die konfliktarme Konfrontation tradierter Imagination indigener Ernährungskulturen sowie von Indigenität im Allgemeinen mit der Historizität und Diversität indigener Alltagskultur entsprechende Re-Imaginationen indigener Ernährungskulturen und Indigenität evozieren kann. Vor dem Hintergrund der Annahme eines konstitutiven Ineinandergreifens von einerseits der Marginalisierung und andererseits der Imagination indigener Lebenswelten in British Columbia und anderen Teilen Kanadas birgt der Prozess indigener gastronomischer Professionalisierung demnach das Potential, den selbsterhaltenden Kreislauf von Marginalisierung und Imagination zu unterlaufen. Die Diskussion dieser These ist in drei Kapitel (ohne Unterkapitel) gegliedert. Kapitel 3.2. »Not Just Served at Pow Wows Anymore!« Positionen zur Präsenz indigener Gastronomie in der kanadischen gastroscape konzentriert sich zunächst auf die Auseinandersetzung mit dem Begriff der gastroscape, wie er aus den Arbeiten von Autor*innen wie Gillian Crowther (2013), Josée Johnston und Shyon Bauman (2015), Caroline Morris (2010, 2013), Zoe Tennant (2020) und anderen hervorgeht. Ziel dabei ist es, einen analytischen Rahmen zu schaffen, der es erlaubt, die hier vertretene Position (zur Rolle indigener Gastronomie in der kanadischen Öffentlichkeit) im sich formierenden Diskurs zum Phänomen indigener Gastronomie im Allgemeinen (also auch in außer-kanadischen Kontexten) zu verorten. Von zentraler Bedeutung ist hierbei die positive Abgrenzung gegenüber dem negativen Grundton dieses Diskurses. In dem Sinne, dass die Kulturgeschichte indigener Gastronomie hier nicht auf die Parität der marginalen Präsenz indigenen Kochens und Essens im öffentlichen Raum als Indikator fortwährender siedlerkolonialer Marginalisierung reduziert wird (wohlgemerkt ohne diese zu leugnen). Stattdessen steht für die Diskussion in diesem 3. Teil das, durch eine solche Reduktion aus dem Blick geratende, kulturvermittelnde Potential indigener Gastronomie zur Überwindung tradierter Imaginationen im Vordergrund. Da das eigentliche Problem, nämlich die Natur jener Imaginationen – der österreichische Ethnologe Christian Feest spricht in diesem Zusammenhang von der »intellektuellen Domestizierung« (Feest 1994: 313) der indigenen Bevölkerung Nordamerikas –, bekannt sein muss, damit klar ist, was genau wie unterlaufen wird oder unterlaufen werden kann, werden im darauffolgenden Kapitel 3.3. »Them Indians…«. Imaginationen von Indigenität, Pizza Tests und der Kreislauf der Marginalisierung die relevanten Hintergründe und Efevents and currents of thought in the metropolis, whereas trader’s attitudes were more a product of life on the frontier. That is, generally traders reacted to what they saw, while settlers tended to react to what they expected to see.« (Fisher 1992a: 74)
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fekte tradierter Imaginationen von Indigenität erörtert.7 Ausgehend von der Frage nach den Grundlagen der weitverbreiteten Skepsis hinsichtlich der »Indigenität« prominenter Elemente der zeitgenössischen indigenen Ernährungskulturen, steht zunächst eine Auseinandersetzung mit dem Konzept der Authentizität und dessen Zusammenhang mit allgemeinen Imaginationen von Kultur und Indigenität im Vordergrund der Diskussion. Dies führt zu einer näheren Betrachtung von Paige Raibmons (2005) Überlegungen zur binären Entweder-Oder-Statik stereotyper Vorstellungen von authentic Indianness sowie zu der Diskussion von einem der prominentesten »Indianer«-Stereotypen: dem ecological Indian. Vor diesem Hintergrund wird anhand zweier Fallbeispiele erörtert, inwiefern Imaginationen von authentic Indianness sowohl im Hinblick auf moralische Urteile als auch im Rahmen juristischer Verfahren die Marginalisierung der indigenen Bevölkerung perpetuieren. Im Kontext des dargelegten selbsterhaltenden Kreislaufs von Imagination und Marginalisierung und schließlich mit Blick auf die vorgestellte These, widmet sich Kapitel 3.4. »You Don’t Need to Make Moose Soup«. Kulinarische Vermittlungsorte und die Indigenisierung indigener Gastronomie einer abschließenden Diskussion der Rolle indigener Gastronomie als niedrigschwelliger Raum kultureller Vermittlung.8
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»Not Just Served at Pow Wows Anymore!« Positionen zur Präsenz indigener Gastronomie in der kanadischen gastroscape
»Not just served at Pow Wows Anymore!«, mit diesem Slogan bewarb das Kekuli Cafe 2015 in den Schaufenstern der beiden Dependancen in Westbank und Merritt auf großen bunten Werbeplakaten jenen Klassiker zeitgenössischer indigener Ernährungskulturen, Indian tacos (Abb. 59). Die Eigentümer*innen, Bond-Hogg und 7
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Die Literatur hierzu ist in einem Maß zahlreich und vielfältig, dass die Erörterungen in Kapitel 3.3. zwangsläufig selektiv und unvollständig sind. Es lohnt sich deshalb vorab auf Arbeiten zu verweisen, die einen detaillierten Einblick in die Thematik geben. Insbesondere hilfreich sind zwei Monografien: The White Man’s Indian. Images of the American Indian from Columbus to the Present (1979) des amerikanischen Historikers Robert F. Berkhofer Jr. sowie (für einen speziellen Fokus auf Kanada) The Imaginary Indian. The Image of the Indian in Canadian Culture (2011) des kanadischen Historikers Daniel Francis. Lehrreich im Sinne eines tieferen Verständnisses der komplexen Ursachen, verschiedenen Gestalten und Folgen der Imaginationen von Indigenität sind außerdem die konkreten Fallbeispiele der Beiträge in James A. Cliftons Sammelband The Invented Indian. Cultural Fictions and Government Policies (1994). Ein wichtiger Aspekt darf hier nicht unerwähnt bleiben: Bei sowohl den bisherigen als auch den folgenden Aussagen zur Rolle indigener Gastronomie, und im Speziellen zu deren Vermittlungspotential, handelt es sich um Interpretationen des Autors und nicht um die Rekonstruktionen expliziter Intentionen indigener Köch*innen und Gastronom*innen. Die folgenden Ausführungen geben folglich nicht indigene, sondern in erster Linie die Ansichten des Autors wieder.
3. Teil: Indigene Gastronomie und die kanadische gastroscape
Hogg, machten damit nicht nur die Tatsache explizit, dass Indian tacos den Weg heraus aus den indigenen communities und gleichsam heraus aus dem Kontext des oft reichen Cateringangebots privater und öffentlicher Pow Wows in die kanadische nicht-indigene Öffentlichkeit gefunden haben.9 Der Slogan verwies gleichwohl (wenn auch indirekt) auf den voranschreitenden Prozess indigener gastronomischer Professionalisierung und damit auf die erläuterte, zunehmende Präsenz indigenen Kochens und Essens in der kanadischen Gastronomie-Landschaft – oder gastroscape, wie diese »Landschaft« im Folgenden bezeichnet wird. Der Begriff der gastroscape lehnt sich dabei an den in der englischsprachigen Literatur im Kontext der kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Ernährungskulturen geläufigen Begriff der foodscapes – seltener auch culinascapes (Morris 2010, 2013) – an (die Begriffe werden hier synonym verwendet). In einem weiten Sinn bezeichnet foodscape (im Singular) das gesamte »food environment« (MacKendrick 2014), das die alimentären Grundlagen einer Gesellschaft bestimmt. Oder wie die kanadische Soziologin Norah MacKendrick zusammenfasst: »Consider the places and spaces where you acquire food, prepare food, talk about food, or generally gather some sort of meaning from food. This is your foodscape.« (Ebd.) Letztlich beschreibt der Begriff damit mehr als nur physische oder zunehmend auch virtuelle Orte, an denen rohe, verarbeitete oder auch verzehrfertige Nahrungsmittel und Speisen verfügbar sind. Hierfür wäre die Bezeichnung food environment sicher passender. In Foodies. Democracy and Distinction in the Gourmet Foodscape (2015) unterstreichen die kanadischen Soziolog*innen Josée Johnston und Shyon Baumann hingegen die diskursive soziokulturelle Konstruiertheit von foodscapes, wenn sie dieselben beschreiben als »a dynamic social construction that relates food to places, people, meanings, and material processes« (Johnston und Baumann 2015: 3). Nicht zu übersehen ist hierbei die deutliche Anlehnung an Arjun Appadurais prominente Verwendung des Suffixes »-scape« in Modernity at Large. Cultural 9
Da eine hinreichende Beschreibung des Phänomens pow wow (auch pow-wow oder powwow geschrieben) sowie die Darlegung der Verbreitung, Geschichte und Bedeutung dieses zentralen wie facettenreichen Kulturelements der indigenen Bevölkerung Nordamerikas in diesem Kapitel nicht möglich ist, wird nicht auf diesbezügliche Details eingegangen. Gerade im Hinblick auf die kulinarischen Aspekte von pow wows lohnt sich aber der Verweis auf die unveröffentlichte Magisterarbeit von Felix Schmandt, Powwow Cow. Of Traditional Food on Powwows in the Region of the Upper Great Lakes (2015). Im Vorwort gibt Schmandt eine Vorstellung von der Gestalt, Verbreitung und Bedeutung dieses Kulturelements, wobei er die Rolle einer spezifischen Speise nicht unerwähnt lässt: »During the last fifty years, Native American dance events, also known as powwows, have become an increasingly important matter of debate in Native American circles and have, to some degree, affected almost every tribe in North America and Canada. The powwow originates in the American Midwest but has spread to tribes of all corners of the continent as a cultural phenomena that, as some argue, constitutes the rise of a generalized pan-Indian identity. On the forefront of this phenomena is frybread.« (Schmandt 2015: 3)
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Dimensions of Globalization (1996). Appadurai führt dort die Begriffe ethno-, media-, techno-, finance- und ideoscapes als Bezeichnungen für fünf zentrale, jedoch disjunkte Dimensionen »of global cultural flows« ein (Appadurai 1996: 33; außerdem 1990: 296-297). Wenngleich eine angemessene Diskussion von Appadurais scape-Konzept und gleichermaßen die Frage, inwiefern sein Ansatz in der geläufigen Verwendung von foodscape sinngerecht fortgeführt wird, die Möglichkeiten dieses Kapitels übersteigt (und zu weit vom Thema wegführt), lässt sich Eines festhalten. So scheint der kleinste gemeinsame Nenner in der Annahme zu liegen, dass jene soziokulturelle Konstruiertheit zutiefst perspektivisch ist – in Appadurais Worten: »These terms with the common suffix -scape […] indicate that these are not objectively given relations that look the same from every angle of vision, but rather, that they are deeply perspectival constructs, inflected by the historical, linguistic, and political situatedness of different sorts of actors.« (Appadurai 1996: 33) Im Hinblick auf jene perspektivische Konstruiertheit verweist die Rede von gastro-»scape« also auf die Tatsache, dass, so wie eine Landschaft von verschiedenen Standpunkten und aus verschiedenen Blickwinkeln verschieden aussieht (manche zuvor verdeckten Dinge werden plötzlich sichtbar, während andere aus der Sicht geraten oder verdeckt werden; manche Dinge verschwimmen in der Ferne, während andere aus direkter Nähe anders erscheinen als zuvor; Bewegungen ändern ihre Richtung, Verhältnisse kehren sich um etc.), die konstitutiven Verhältnisse der kanadischen Gastronomie-Landschaft oder gastroscape in den Augen verschiedener Akteur*innen oder Betrachter*innen verschieden wahrgenommen und bewertet werden. Was aber sind die konstitutiven Verhältnisse der kanadischen gastroscape und welche Bedeutung kommt der Perspektivität ihrer Konstruiertheit zu? Im Kontext der demografischen Entwicklungsgeschichte Kanadas als Einwanderungsland ist die kanadische gastroscape maßgeblich durch das komplexe Gewebe globaler (kulinarischer) Einflüsse geprägt, welche die diversen Bevölkerungsgruppen mit sich brachten, die seit der Ankunft der ersten Europäer in die Gebiete des heutigen Kanada immigrierten. Im Zusammenhang mit der seit den 1960er Jahren föderal explizit geförderten Philosophie des Multikulturalismus, die im Canadian Multiculturalism Act von 1988 zur politischen Leitidee erklärt wurde, reißt der stetige Strom an Zuwanderer*innen und damit stets neuer Einflüsse nicht ab. Dabei liegen die Herkunftsländer zunehmend mehr in Süd- und Ostasien, und weniger in Europa (Statistics Canada 2017). Die resultierende Diversität der kanadischen Bevölkerung ist indes in erster Linie für urbane Ballungsräume charakteristisch,
3. Teil: Indigene Gastronomie und die kanadische gastroscape
in denen die in Kanada als visible minorities10 bezeichneten Bevölkerungsgruppen (ca. 22 % der Bevölkerung, Statistics Canada 2017) vornehmlich leben. Statistisch ist British Columbia die Provinz mit den meisten Vertreter*innen von visible minorities, die größtenteils im Großraum Metro Vancouver ansässig sind. Ländliche Gegenden in British Columbia und gleichermaßen in anderen Provinzen sind hingegen durch eine hauptsächlich weiße, zumindest entfernt europäischstämmige, nicht-indigene Bevölkerung – im nordamerikanischen Sprachgebrauch auch vereinheitlichend als Caucasians bezeichnet – geprägt. Insgesamt macht bei aller Zuwanderung bereits ein flüchtiger Blick auf die Ergebnisse des 2016 Canadian Census11 deutlich, dass Caucasians nach wie vor das Gros der Bevölkerung darstellen (auch in den urbanen Ballungsräumen), während die indigene Bevölkerung mit 4,4 % der Gesamtbevölkerung bspw. gerade einmal 0,4 Prozentpunkte über dem indischstämmigen Bevölkerungsanteil (ca. 4,0 %) in Kanada liegt (ebd.). Mit Blick auf das generelle Verhältnis zwischen der ethnischen Zusammensetzung spezifischer Gesellschaften – oder, um noch einmal Appadurais Formulierung aufzugreifen, von ethnoscapes12 – und der diesbezüglichen gastroscapes hält die kanadische Kulturanthropologin Gillian Crowther fest: »The range of restaurants in any one society will represent the long-term history of settlement and migration of different ethnic groups through time, becoming the prevailing ethnic relations operating in a territory.« (Crowther 2013: 192-193) Der kulinarische und gastronomische Mainstream im Kontext bestimmter Gesellschaften reflektiert folglich »the dominant ethnic groups which have shaped a society’s institutions« (ebd.: 193). Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass diejenigen (ethnischen) Gruppen, deren Küchen lediglich Nischen innerhalb einer spezifischen gastroscape besetzen oder gar gänzlich fehlen, zu den ›dominierten‹ oder gar marginalisierten Minderheiten der betreffenden Gesellschaft zählen. Gastroscapes spiegeln demnach gesamtgesellschaftliche Verhältnisse wieder, die in der Regel nicht rein quantitativer, sondern immer auch qualitativer Natur sind. Wenn MacKendrick entsprechend feststellt: »Foodscapes are […] classed and racialized environments« (MacKendrick 2014), dann ist dies der Hintergrund, vor dem Tennant ihre zentrale Frage in Bezug auf die Rolle indigener Gastronomie in der ka-
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Als visible minorities gelten »persons, other than Aboriginal peoples, who are non-Caucasian in race or non-white in colour« (laws-lois.justice.gc.ca/eng/acts/E-5.401/section-3.html, abgerufen am 02.09.2018). Hierbei handelt es sich um die siebte von in einem Rhythmus von fünf Jahren stattfindenden Volkszählungen der kanadischen Bundesbehörde Statistics Canada/Statistique Canada (www.statcan.gc.ca). »By ethnoscape, I mean the landscape of persons who constitute the shifting world in which we live: tourists, immigrants, refugees, exiles, guest workers, and other moving groups and individuals constitute an essential feature of the world and appear to affect the politics of (and between) nations […].« (Appadurai 1996: 33)
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nadischen gastroscape formuliert: »What does it mean when a cuisine is not consumed?« Die Antwort auf ihre Frage artikuliert Tennant indes im Rückgriff auf Arbeiten der neuseeländischen Kulturanthropologin Caroline Morris, die sich in analoger Weise mit der verhältnismäßigen Abwesenheit von Māori-Restaurants in der neuseeländischen gastroscape befasst. In The Politics of Palatability. On the Absence of Māori Restaurants (2010) beginnt Morris ihre Darstellung mit einer ethnografischen Vignette, in der sie davon berichtet, wie sie mit ihren Arbeitskolleg*innen an der Massey University (Palmerston North, Neuseeland) gelegentlich freitagabends zum Essen ausgeht. An der Klimax ihrer Darstellung gelangt sie zu einer Feststellung, bei der lediglich das letzte Wort durch »Indigenous food« ersetzt werden müsste, um auch im kanadischen Kontext für weite Teile des Landes als gleichermaßen valide Beschreibung gelten zu können: »We can choose Chinese, Indian, Japanese, Vietnamese, Thai, Korean, Italian, Greek, Spanish, Middle Eastern, Mexican, Moroccan and Burmese. We cannot, however, choose Māori.« (Morris 2010: 6) Morris’ Auseinandersetzung mit der Frage danach, wie diese Abwesenheit zu erklären sei, führt im Wesentlichen zu zwei Begründungen: Einerseits hätten Māori selbst (als Kund*innen) größtenteils kein Interesse daran, in derlei Restaurants zu essen. So sei der Besuch in einem der wenigen Betriebe, die es seit den 1980er Jahren und heute in Neuseeland gab und gibt, für viele nicht nur zu kostspielig, sondern habe zudem keinen besonderen Reiz. »Māori food« sei für Māori schließlich »everyday food rather than treat food.« (Ebd: 24) Mit etwas mehr als 15,3 % der Gesamtbevölkerung13 reichen die geringe Kaufkraft und das Desinteresse der Māori als Begründung jener Abwesenheit jedoch nicht aus, weshalb Morris den größten Teil ihrer Diskussion auf die zweite Begründung konzentriert – nämlich die Annahme, dass es für Māori-Gastronomie ebenso wenig, wie es ein Māori-Klientel, auch kein Pākehā14 -Klientel gäbe. Der Grund hierfür sei die Ungenießbarkeit (unpalatability) von Māori-Kochen und -Essen in den Augen der meisten Pākehā. Der entscheidende Punkt ist, dass Morris diese Ungenießbarkeit als sozial konstruiert, nämlich als social taste, beschreibt: »[W]hat we like to eat is […] a fundamentally social and cultural matter, deeply intertwined with other aspects of social order. The perceived not-niceness [i.e. unpalatability] of Māori food is a social, not a physiological, taste.« (Ebd.: 8) Mit »other aspects of social order« verweist Morris hierbei auf das Verhältnis zwischen kulturellen oder ethnischen Majoritäten und Minoritäten sowie auf die Art und Weise, wie die soziokulturelle Anerkennung Letzterer vonseiten Ersterer
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Im Zuge des Zensus 2017 gaben 734.300 von insgesamt 4.793.700 in Neuseeland lebenden Personen an, Māori zu sein. (www.stats.govt.nz/information-releases/maori-populationestimates-mean-year-ended-31-december-20171, abgerufen am 05.09.2017). »Pākehā« ist der Māori-Begriff für die gesellschaftliche Mehrheit weißer Neuseeländer.
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in der Wertschätzung der Ernährungskultur (oder von Teilen davon) der Letzteren durch Erstere zum Ausdruck kommen – in Morris’ Worten: »culinary palatability equates with cultural palatability« (ebd.: 19).15 Mit Blick auf die Marginalisierung indigener Ernährungskulturen in der neuseeländischen Öffentlichkeit gelangt Morris im Umkehrschluss zu der Feststellung: »If we only eat the others we enjoy, then this lack of taste for Māori food signals a lack of Pākehā taste for Māori themselves, indicating that Māori have a spoilt identity.« (Ebd.: 24) Dabei sei im Hinblick auf diese spoilt identity insbesondere Eines ausschlaggebend: »Māori have spoiled their identity for Pākehā by not being nice, by refusing to be assimilated, refusing to be consumed.« (Ebd.)16 In einer radikal anschaulichen Weise stellt Morris hierzu fest, Māori seien »the fishbone in the Pākehā national throat, and have improved impossible to dislodge, despite multiple cultural and political Heimlich maneuvers.« (Ebd.: 23) Vor dem Hintergrund der Annahme »kulinarischer Ungenießbarkeit« von Māori-Kochen und -Essen seitens der Pākehā als nicht nur Grund der Abwesenheit indigener Gastronomie, sondern gleichermaßen als Index »kultureller Ungenießbarkeit« der Māori – also auch als Index der Ablehnung und rassistischer Ressentiments von Pākehā gegenüber Māori – gelangt Morris zu dem Schluss, dass sich die neuseeländische gastroscape gleichsam als Karte des komplexen »field of race relations« (ebd.: 6) im siedlerkolonialen Kontext Neuseelands lesen ließe. Tennant wiederum nimmt Morris’ Schlussfolgerung als Ausgangspunkt ihrer Überlegungen zur marginalen Präsenz indigener Ernährungskulturen im öffentlichen Raum Kanadas, wenn sie dieselbe auf eine Tradition der Invisibilisierung indigener Lebenswelten zurückführt – »a process with a long legacy in the colonial project« (Tennant 2020). Ihre These zusammenfassend, schreibt sie hierzu: »The invisibility of Indigenous cuisines in Canada’s public culinary landscape, I argue, can be understood as a continuation of a history of erasure, appropriation and colonial blindness.« (Ebd.) Tennants zentrale Annahme hierbei ist ein Ineinandergreifen von jener invisibility und dem, was sie als colonial blindness bezeichnet. Im Rückgriff
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Nicht unerwähnt bleiben darf, dass Morris in diesem Zusammenhang auch Positionen diskutiert, wie sie etwa von der amerikanischen Philosophin Lisa Heldke (2003) und dem libanesisch-australischen Kulturanthropologen Ghassan Hage (1998) vertreten werden. Ohne hier den facettenreichen Schauplatz kulinarischer Identitätspolitik im Einzelnen zu diskutieren, kann der wesentliche Punkt von Heldke und Hage zusammengefasst werden als die Annahme, dass »eating the other« weniger als kulinarisch performativer Akt soziokultureller Anerkennung, denn als Demonstration soziokultureller und –ökonomischer Hegemonie verstanden werden müsste. An anderer Stelle schreibt Morris: »[T]his unpalatability reflects the spoiling of Māori identity for Pākehā, the result of recent decades of political action designed to challenge Pākehā cultural and political dominance.« (Ebd.: 7)
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auf Coll Thrush (2011) beschreibt Tennant colonial blindness zunächst als die Blindheit der europäischen Neuankömmlinge im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert gegenüber der anthropogenen Natur der Landschaften des heutigen British Columbia. Diese Blindheit hätte der historischen Wahrnehmung dieser Landschaften als terra nullius (Niemandsland) und damit gleichsam der Rechtfertigung der Kolonialisierung der Nordwestküste – wie zuvor bereits anderer Teile des heutigen Kanada östlich der Rocky Mountains – zugrunde gelegen.17 Kurz gesagt: Die Unsichtbarkeit indigenen Einflusses in den historischen Landschaften British Columbias und anderer Teile Kanadas für die europäischen Neuankömmlinge hat in der Folge der mit der siedlerkolonialen Erschließung Kanadas einhergehenden räumlichen Verdrängung und soziokulturellen Marginalisierung der indigenen Bevölkerung zu deren tatsächlicher Invisibilisierung im öffentlichen Raum geführt. Im Hinblick auf Indigenous foods geht es Tennant allerdings nicht darum, dass Indigenous foods an sich, also als materielles Objekt, kein Teil des öffentlichen Raums bzw. der kanadischen gastroscape und in diesem Sinne abwesend oder unsichtbar seien. Schließlich gibt es z.B. in British Columbia unzählige (nicht-indigene) Restaurants, die als »local« bezeichnete Produkte wie wild gefangenen Lachs, Meeresfrüchte, Groß- und Kleinwild, Farnspitzen, wilde Beeren etc. servieren. Tennant verweist stattdessen darauf, dass diese Indigenous foods nicht als solche bezeichnet werden und damit auch als solche »unsichtbar« blieben. Koloniale Blindheit sei demnach nicht nur das historische Fundament der fortwährenden Marginalisierung der indigenen Bevölkerung und gleichsam indigener Ernährungskulturen, sondern setze sich darüber hinaus in der Aneignung von Indigenous food in Gestalt der (verschleiernden) Bezeichnung entsprechender Lebensmittel als »local« – oder in einem weiteren Kontext auch als »Canadian (food)« – fort:
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Wie in Kapitel 1.1.2. bereits erwähnt wurde, spricht Thrush in diesem Zusammenhang von einer »lense of cultivation« (Thrush 2011: 4), durch welche die Neuankömmlinge Land und Leute der pazifischen Nordwestküste gesehen hätten. Diese lens of cultivation beschreibt Thrush als den Wahrnehmungshorizont der Europäer*innen, der durch das alttestamentarisch begründete Motiv des dominium terrae (Herrschaft über die Erde; Genesis 1,28), die Sozialisation in der europäischen Agrarrevolution sowie das Klima der politischen Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts in Europa geprägt war. Man sei demnach davon ausgegangen, dass erst Agrarwirtschaft betreibende Gesellschaften sich die Natur durch Bearbeitung beziehungsweise Kultivierung zu eigen machen würden (Locke 1977: 219 [II § 32]) – wobei das, was als Kultivierung galt, durch das herrschende europäische Vorbild bestimmt war. Während die einen also die Natur zur anthropogenen Kulturlandschaft transformieren, zivilisieren und damit gleichsam zu eigen machen, belässt das Verhalten der anderen die Natur im ursprünglichen Zustand der ungezähmten Wildnis einer zur Aneignung bereitstehenden terra nullius. Zum Ineinandergreifen europäischer Wahrnehmungshorizonte und der Etablierung des kanadischen Siedlerkolonialismus siehe außerdem Fee (2009: 57-60) sowie für einen speziellen Fokus auf die Nordwestküste Deur und Turner (2005 passim).
3. Teil: Indigene Gastronomie und die kanadische gastroscape
»Restaurants that serve up Indigenous ingredients but call them ›local‹ are appropriating those foods […]. The separation and absence of the Indigenous roots of ›eating local‹ is not dissimilar to the ways in which Indigeneity has been historically erased from the landscape. Consider maps with the names of white explorers […] imposed on the terrain. The invisibility of Indigenous foods today is part of this history of erasure.« (Tennant 2020) Demnach stellt für Tennant nicht die Ungenießbarkeit von Indigenous food das zentrale Problem im Hinblick auf die marginale Präsenz indigenen Kochens und Essens im öffentlichen Raum dar. Stattdessen lenkt Tennant den Blick auf den Wolf der Aneignung indigener Ressourcen im Schafspelz nicht nur eines trendigen »locavorism« (Saffire 2008), sondern ebenso der (aktiven) Erfindung einer Canadian cuisine, deren Wesen (nicht-indigene) Autor*innen wie Duncan (2011, 2012), Newman (2017), Powers und Stewart (1995) und andere in der Polyphonie der Regionalität ihrer Ressourcen verorten.18 Indem indigene Ressourcen so zu lediglich lokalen oder kanadischen Ressourcen werden, haben indigenous foods als solche, so Tennant, kein oder nur ein geringes (genuines) soziales Kapital, auf das indigene Restaurants als wertschöpfendes Distinktionsmerkmal aufbauen könnten.19 In der Gegenüberstellung der Ansätze in Morris (2010) und Tennant (2020) wird demnach zweierlei deutlich: Für beide stellt letztlich das Fehlen einer spezifischen Nachfrage einen zentralen Grund der Abwesenheit von Māori food in Neuseeland und Indigenous foods in Kanada dar. Während bei Morris die Abwesenheit indigener Restaurants als Effekt der Ungenießbarkeit von Māori food aus der Sicht von Pākehā aufgrund der Widerspenstigkeit der Māori als »fishbone in the Pākehā national throat« beschrieben wird, steht für Tennant die Rolle der indigenen Bevölkerung in Kanada als Opfer kolonialer Blindheit bzw. einer kolonialen »history of erasure«
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Ein weiterer nennenswerter Aspekt in diesem Zusammenhang sind als »forager« bezeichnete nicht-indigene Hobby-Feldbeuter*innen, die mit Körben, Taschenmessern und Nachschlagewerken für essbare Pflanzen ausgerüstet in der kanadischen Wildnis der Idealvorstellung eines konsequenten locavorism nacheifern. Innerhalb indigener communities wird dieses Phänomen alles andere als begrüßt. Schließlich sind die forager in den meisten Fällen »blind« für die Grenzen nicht-umzäunter indigener Territorien und diesbezüglicher traditioneller indigener (familiärer) Rechte an bestimmten Ressourcen. Darüber hinaus folgt das Ernteverhalten der meisten Hobby-Feldbeuter*innen keinen, mit den Techniken indigenen Ressourcenmanagements vergleichbaren, Regeln im Hinblick auf wie viel, in welchem Zustand und an welchen Orten bestimmte Ressourcen geerntet werden dürfen, um dieselben für die Zukunft und insbesondere für die nachfolgenden Generationen zu erhalten oder gar deren sowohl quantitatives Wachstum zu fördern als auch deren Qualität zu steigern. Für ein analoges Argument im Hinblick auf die Aneignung von kai (Māori food) durch die weiße neuseeländische Mehrheitsgesellschaft (Pākehā) siehe Morris’ Artikel Kai or Kiwi? Maori and ›Kiwi‹ Cookbooks, and the Struggle for the Field of New Zealand Cuisine (2013).
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im Vordergrund, die sich in der Invisibilität indigenen Kochens und Essens in der kanadischen gastroscape manifestiert und damit greifbar würde. Nun lässt sich die Präsenz indigener Gastronomie eben nicht größer reden, als sie ist. Nicht zuletzt lassen sich neben absoluten Zahlen (Abb. 42-46) auch konkrete Wachstumshindernisse benennen. So muss etwa trotz der steigenden Anzahl professionell ausgebildeter indigener Köch*innen klar gesagt werden, dass eine hinreichende Ausbildung in den seltensten Fällen zur Eröffnung eines eigenen Restaurants führt. Meistens fehlt in indigenen communities das dafür nötige Startkapital. Darüber hinaus ist auch mit dem Überwinden der ersten Hürden (gemeint sind eine hinreichende Finanzierung, ein Standort, ausreichend [indigenes] Fachpersonal etc.) nur ein erster und vergleichsweise kleiner Schritt getan. Der schwierigere Teil besteht darin, einen gastronomischen Betrieb auch langfristig am Laufen zu halten. Schließlich ist es kein Geheimnis, dass Eigentümer*innen neuer gastronomischer Betriebe einen langen Atem benötigen, da die ersten Jahre in der Regel von »roten Zahlen« bestimmt werden – in dem Sinne, dass Kredite abgezahlt werden müssen; Werbung finanziert und ein Kundenstamm aufgebaut werden muss; zudem ist der Aufbau einer verlässlichen Infrastruktur von Lieferant*innen und Mitarbeiter*innen in der Regel mit kostspieligen Rückschlägen und Fehlinvestitionen verbunden; nicht zuletzt setzt eine hinreichende betriebswirtschaftliche Kalkulation Erfahrungswerte im Hinblick auf saisonale Schwankungen voraus, die gerade im jungen Feld indigener Gastronomie noch gesammelt werden müssen. Ein weiterer Faktor ist die oben angesprochene Tatsache, dass in professionellen Küchen in Kanada ausschließlich zertifizierte Lebensmittel verarbeitet werden dürfen. So verwiesen etwa George, Chartrand, McRea, Genaille, Natrall, Caudron und andere in diversen Gesprächen auf entsprechende Legalitätsprobleme im Hinblick auf spezielle Produkte, die einwandfrei als Indigenous foods erkennbar wären (etwa grease, geräucherter Kerzenfisch, Bärenfleisch etc.), als Hemmnis der Entwicklung indigener Gastronomie. Gora schreibt hierzu (2020): »One consequence is that Aboriginals who grow up learning to prepare game are not able to apply their specialized knowledge to the restaurant trade. Moreover, Indigenous restaurants cannot represent their food cultures through wild meats.« (Gora 2020)20
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Wenngleich, wie im nächsten Kapitel deutlich werden wird, identitätspolitische Probleme im Zusammenhang mit der Regulierung indigener Kulturpraktiken durch föderale Rechtsprechung nicht von der Hand zu weisen sind, scheint die Reduktion dieser, hygienischen Standards geschuldeten, Regularien auf »the colonial project« (Tennant 2020) zu weit gegriffen. Zwar fällt diese Einschränkung für indigene Betriebe und deren oft stark territorialen Bezug besonders ins Gewicht. Allerdings ist auch klar, dass in Kanada jegliche Form von Gastronomie – also auch nicht-indigene Betriebe – gleichermaßen davon betroffen ist.
3. Teil: Indigene Gastronomie und die kanadische gastroscape
Ungeachtet dieser offenkundigen Hindernisse und der für sich sprechenden Zahlen zur Entwicklung indigener Gastronomie, ist die Tatsache, dass die indigene Bevölkerung im Gebiet des heutigen Kanadas in vielerlei Hinsicht zu den Verlierer*innen der kolonialen Expansion Europas zählt, nicht verhandelbar. Wenn demnach hier gesagt und im weiteren Verlauf noch deutlicher wird, dass ich Tennants Ansatz und negative Schlussfolgerungen im Hinblick auf die Rolle indigener Gastronomie nicht teile, dann sollte dies nicht als eine Distanzierung von den Fakten – also von der marginalen Präsenz indigener Gastronomie und damit gleichsam indigenen Kochens und Essens in der kanadischen gastroscape sowie allgemein von den Folgen des Siedlerkolonialismus in Nordamerika – verstanden werden. Der wesentliche Unterschied besteht in der Interpretation dieser Fakten und damit auch der Entwicklungsgeschichte und dem Status quo indigener Gastronomie. Während Tennant die marginale Präsenz indigener Gastronomie bzw. indigenen Kochens und Essens in der kanadischen gastroscape als Indikator der Kontinuität dessen, was sie als colonial project bezeichnet, in den Vordergrund rückt, eröffneten die Darstellungen in den vorangegangenen Kapiteln zur Kulturgeschichte und gastronomischen Professionalisierung indigener Ernährungskulturen eine alternierende Perspektive. Anders (und nicht bar einer gewissen Metaphorik) formuliert, könnte man im Rückgriff auf die oben erläuterte Verwendung des Suffix -scape sagen, dass Tennants Ansatz und der hier verfolgte zwei unterschiedliche Perspektiven auf die gleiche (Gastronomie-)Landschaft einnehmen. Entscheidend ist, dass, wie die Fließrichtung eines Flusses mit dem Wechsel des perspektivischen Standpunkts seine relativ zum Betrachter verlaufende Richtung ändert, hier das für Tennant zentrale Narrativ der Abwesenheit umgekehrt wird, sodass unterrepräsentierte Facetten ein und desselben Sachverhalts, zum Vorschein kommen – nämlich die zunehmende Präsenz und das damit verknüpfte Vermittlungspotential indigener gastronomischer Betriebe im Hinblick auf die Re-Imagination indigener Ernährungskulturen bzw. von Indigenität im Allgemeinen. »Re-Imagination« bezieht sich in diesem Kontext indes nicht auf die weiter oben beschriebene rezente Wertschätzung von und gesteigerte Aufmerksamkeit gegenüber indigenem Kochen und Essen. Wenngleich dies fraglos eine Entwicklung ist, die in einer sich wechselseitig verstärkenden Beziehung damit steht, dass immer mehr junge indigene Köch*innen wie Natrall den Schritt in die gastronomische Selbstständigkeit wagen. »Re-Imagination« meint folglich keine »ReEvaluierung« indigenen Kochens und Essens – etwa von minderwertig zu hochwertig, von primitiv zu local, von nicht elaboriert zu cutting edge oder auch von unpalatable zu palatable. Es geht vielmehr darum, dafür zu argumentieren, dass die Inkongruenz von einerseits nicht-indigenen Erwartungshaltungen und andererseits der tatsächlichen Gestalt indigener gastronomischer Betriebe die latente Eindimensionalität gängiger Imaginationen indigener (Ernährungs-)Kulturen respektive von Indigenität im Allgemeinen mit der tatsächlichen Komplexität und
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Diversität indigener Lebenswelten im 21. Jahrhundert konfrontiert und auf diese Weise dazu anregt, so die Annahme, Indigenität in Begriffen zu denken, deren (scheinbare) Widersprüchlichkeit sich im direkten Kontakt mit der empirischen Realität auflöst. Dabei sind es gerade Betriebe wie Natralls Mr. Bannock oder das Kekuli Cafe – also solche, deren Angebot bestimmte Teile jener zeitgenössischen kulinarischen Alltagskultur der indigenen Bevölkerung reflektiert, für die bannock, fried bologna und Tex-Mex ebenso charakteristisch sind wie grease, tłu’bukw und Indian ice-cream –, die im Hinblick auf die Re-Imagination indigener (Ernährungs)Kulturen in British Columbia und anderen Teilen Kanadas maßgeblich sind. Sie geben Einblick in und betonen zugleich den genuinen identitätstiftenden Wert bestimmter Facetten zeitgenössischer indigener Lebenswelten, die im Diskurs zu indigenen Ernährungskulturen, wie oben skizziert wurde, gewöhnlich – vergleichbar der Invisibilisierung von Indigenous foods durch den Schleier der nominellen locavore-isierung und Kanadisierung – als nicht mehr als nur ein Beispiel des kanadischen kulinarischen Mainstreams einer industrial mass diet beschrieben und damit zum Inbegriff soziokultureller Regression oder gar dem Verlust einer genuin indigenen Identität reduziert werden. Um das kulturvermittelnde Potential indigener Gastronomie im Hinblick auf tradierte Imaginationen von Indigenität greifbar diskutieren zu können, muss jedoch das eigentliche Problem, nämlich die Natur jener Imaginationen, bekannt sein.
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»Them Indians…«21 Imaginationen von Indigenität, Pizza Tests und der Kreislauf der Marginalisierung
Außerhalb indigener communities sind nur wenige mit der facettenreichen Geschichte vertraut, die die indigene Bevölkerung mit bannock vereint. Nichtindigene Betrachter*innen reagieren deshalb bei der ersten Begegnung mit bannock in erster Linie verwundert – insbesondere dann, wenn bannock explizit in seiner Rolle als indigener Identitätsmarker vorgestellt wird –, kommt der (frittierte) Weizenmehlfladen doch nicht so »indigen« daher, wie das, was kulturelle Außenseiter*innen gemeinhin als Indigenous food erwarten oder meinen, erwarten zu können. Noch eklatanter ist die Verwunderung bei Indian tacos, jenem Sinnbild zeitgenössischer indigener Ernährungskulturen. Wann immer ich im Zuge von
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Diese Formulierung ist mir im Laufe meiner Forschungsaufenthalte in British Columbia und Alberta in Gesprächen mit verschiedenen nicht-indigenen Akteur*innen begegnet. Sie fungiert hier als Überschrift dieses Kapitels, da darin vereinheitlichende, reduktive Imaginationen von Indigenität freiheraus zum Ausdruck kommen, wie man ihnen (nicht nur) im Alltag in British Columbia begegnet.
3. Teil: Indigene Gastronomie und die kanadische gastroscape
Vorträgen oder Gesprächen mit Europäer*innen oder nicht-indigenen Kanadier*innen Indian tacos erwähnte, waren die Reaktionen erstaunlich einseitig und zielten gemeinhin auf die Frage ab, wie diese Mischung aus verschiedensten kulinarischen Einflüssen ein indigenes Produkt, gar ein Marker indigener Identität sein könne. Als Begründung ihrer Skepsis genügte den meisten ein Verweis auf die Herkunft und eine mehr oder weniger korrekte historische Verortung eben dieser Einflüsse. Es ist diese Skepsis, die zum Kern der Problematik führt, die in diesem Kapitel dargelegt und diskutiert wird. Sie verweist auf die Natur geläufiger Imaginationen indigener Ernährungskulturen und damit zugleich von Indigenität im Allgemeinen. Was also ist das Fundament dieser Skepsis? Was wird problematisiert oder in Zweifel gezogen? Die Antwort ist so eindeutig wie klärungsbedürftig: Es geht um Authentizität. Was aber ist es, dass wir zu problematisieren meinen, wenn wir von der Authentizität einer Sache oder sogar einer Person sprechen?22 In der Einleitung zu Culture and Authenticity (2008) stellt der amerikanische Kulturanthropologe Charles Lindholm zunächst fest, dass es sich bei Authentizität um einen absoluten, unumstößlichen Wert handelt: nämlich die Realität selbst, respektive eine bestimmte Vorstellung davon, wie die Realität beschaffen ist. Folgt man dem Argument des amerikanischen Literaturkritikers und Schriftstellers Lionel Trilling in Sincerity and Authenticity (1976) hat das – in erster Linie westliche – Konzept der Authentizität seinen Ursprung im Einbrechen der mittelalterlichen feudalen Gesellschaftsordnung und des damit verknüpften Weltbildes in der Wende zur Moderne. Die zentrale geistesgeschichtliche Wendung bestand dabei in der Herausbildung des modernen Individualismus. Gemeint ist damit der Wandel von der Vorstellung eines göttlich gegebenen Kosmos, in dem die jeweilige Stellung im Sinne einer relationalen Identität von Dingen und Menschen innerhalb dieser Ordnung primär war, hin zur Entstehung eines modernen Natur-, Gesellschaftsund Personenverständnisses, in dem das Einzelding (das betrifft leblose Gegenstände und Personen gleichermaßen) als possessive Individualität, d.h., als durch
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Für eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Konzept der Authentizität siehe insbesondere Charles Lindholms detailreiche Diskussion der (geistes-)historischen Hintergründe, theoretischen Grundlagen und der relevanten Literatur zum Thema Authentizität und »the modern thirst for the genuine« (Lindholm 2008: 2) in Culture and Authenticity (2008). Darüber hinaus bieten die Sammelbände Debating Authenticity. Concepts of Modernity in Anthropological Perspective (2012) von Thomas Fillitz und A. Jamie Saris sowie The Paradox of Authenticity in a Globalized World (2014) von Russell Cobb anhand der theoretischen Diskussionen und empirischen Fallbeispiele der diversen Beiträge zu Fragen der Authentizität im Kontext von Kunst, Küche und Politik; in den cultural contact zones der globalen Tourismusindustrie; im Hinblick auf das »Original« im Zeitalter digitaler Reproduzierbarkeit; und vielem mehr Einblicke in die Facetten gegenwärtiger Authentizitätsdebatten.
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seine ureigenen (nicht relationalen) Eigenschaften bestimmte Entität, in den Vordergrund rückt. In einem kurzen Essay mit dem Titel Authenticity beschreibt der amerikanische Kulturanthropologe Richard Handler (1986a) diesen modernen Individualismus in Bezug auf Trillings Darstellung und im Rückgriff auf Ernst Cassirers Analyse der Leitgedanken der Epoche der Aufklärung in Die Philosophie der Aufklärung ([1932] 2007) als: »[the] idea of the part, unit, or individual asserting itself against the rest of the world as a locus of ultimate meaning and reality« (Handler 1986a: 3). Für Trilling ist hierbei entscheidend, dass diese Individualisierung im Kontext der Umwälzung der mittelalterlichen Prinzipien gesellschaftlicher Ordnung23 die Frage der Aufrichtigkeit (sincerity) gesellschaftlicher Akteure provoziert, aus der schließlich die allgemeinere Frage (Lindholm 2008: 1) der Authentizität als »central element of the individualist world view« (Handler 1986a: 2) hervorgeht. Genauer gesagt, bezieht sich bei Trilling die Frage der Aufrichtigkeit einer Person auf die Rolle, die sie innerhalb der Gesellschaft einnimmt oder beansprucht. Dabei steht die, der Frage der Aufrichtigkeit zugrunde liegende, Skepsis im engen Zusammenhang mit dem – in Trillings Worten – »historical commonplace that, beginning with the sixteenth century, there was a decisive increase in the rate of social mobility […]. It became more and more possible for people to leave the class into which they were born.« (Trilling 1972: 15) Trilling verdeutlicht diesen Punkt in seinem ersten Kapitel, Sincerity: Its Origin and Rise (ebd.: 1-25), am Beispiel der semantischen Verschiebung (im Zuge der angesprochenen Wende) der altenglischen Bezeichnung villein oder villain für leibeigene Kleinbauern, die sich am untersten Ende der gesellschaftlichen Hierarchie des feudalen Mittealters befanden, hin zur Verwendung von villain als Bezeichnung für die gesellschaftliche und literarische Gestalt des Schurken oder Heuchlers: »The original social meaning of the word ›villain‹ bears decisively upon its later moral meaning. The opprobrious term referred to the man who stood lowest in the scale of the feudal society; the [subsequent] villain of plays and novels is characteristically a person who seeks to rise above the station to which he was born. He is not what he is […]. In the nature of this case, he is a hypocrite, which is to say one who plays a part.« (Ebd.: 16) Indem also der Platz des Einzelnen nicht mehr göttlich gegeben war, stand im Kontext zunehmender sozialer Mobilität die Frage der Rechtmäßigkeit der Inanspruchnahme der jeweiligen gesellschaftlichen Position im Raum. Ist jemand der gerechte Inhaber der Stellung, die er in der gesellschaftlichen Ordnung für sich 23
Trilling selbst spricht gleichwohl von »the extreme revision of traditional modes of communal organization which gave rise to the entity that now figures in men’s minds under the name of society.« (Trilling 1972: 26)
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beansprucht? Ist jemand derjenige, der er vorgibt zu sein? Oder spielt er nur eine Rolle in der »Choreografie« der (modernen) Gesellschaft (ebd.: 31)? Entsprechend bringt Handler den Kern von Trillings Ideengeschichte der Authentizität auf den Punkt, wenn er zusammenfasst: »Once it became important to focus on the individual self apart from social status or position in the divine hierarchy, people were led to ask about the congruence between one’s outer position, or the role one played, and one’s inner or true self.« (Handler 1986a: 3) Es ist also die Krise der personalen Identität, der gesellschaftlichen Ordnung und der abendländischen Kultur – gar der Realität als Ganzer, wie sie im descartes’schen methodischen Zweifel als Geburtsmoment der modernen (westlichen) Philosophie zum Ausdruck kommt –, die im geistesgeschichtlichen und gesellschaftlichen Klima der Moderne zu einer Vorstellung von Realität als etwas führt, das wie auch immer zugänglich oder für immer verborgen, hinter den wahrnehmbaren Erscheinungen der Gegenwart, im Dunkeln der Vergangenheit oder der Ungewissheit der Zukunft liegt. Es ist diese Krise und letztlich die Trennung der Einheit von Erscheinung und Wesen – »one’s inner or true self« (ebd.) –, die das Verlangen und Suchen nach dem Wesentlichen und Echten – »the modern thirst for the genuine« (Lindholm 2008: 2) –, kurzum, die Frage der Authentizität und somit jene Skepsis mit sich bringt, die im Zweifel an (oder zumindest der augenzwinkernden Anerkennung) der Indigenität von bspw. Indian tacos zum Ausdruck kommt. Handler verdeutlicht schließlich die Verknüpfung der Geburt dieser Skepsis bzw. der Suche nach Authentizität aus dem Geist des modernen Individualismus mit dem Konzept der Kultur, wenn er mit dem Blick auf »both commonsense and anthropological ideas about culture« (Handler 1986a: 2) festhält: »cultures are imagined as discrete, bounded units, each unique – like a personality configuration, as one suggestive simile has it […].« (Ebd.)24 24
Dass eine solche Darstellung insbesondere des, ethnologischer bzw. kulturanthropologischer Forschung zugrunde liegenden, Kulturverständnisses nicht unstrittig ist, wird an einem wenig später in Anthropolog Today erschienenen Kommentar zu Handlers Essay von Igor Kopytoff (1986) deutlich. Niemand würde, so Kopytoff, ernsthaft von Kulturen als »discrete, bounded units« ausgehen. Handler würde lediglich ein Scheinproblem und damit eine nicht-authentische »history of anthropology« (Kopytoff 1986: 24) konstruieren – in Kopytoffs Worten: »In brief, for most of its history, anthropology seems to exist entirely unsnarled by the pitfalls of what Dr. Handler sees as the central cultural construct of modern western thought. One cannot help but conclude, then, that before we analyse too deeply the mythologies of which we are the presumed victims, it may be worthwhile to rely on an authentic history of anthropology […].« (Ebd.) In Handlers Antwort auf Kopytoffs Kritik entgegnet dieser dem Vorwurf einer nicht-authentischen history of anthropology: »[…] I made no claim to discuss the history of anthropology per se; rather, I sketched elements of a broader intellectual history which, I argue, can help us to understand our present-day anthropological common sense.« (Handler
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Das Gleiche gilt letztlich für das Konzept der Indigenität als ein weiteres Beispiel der Vorstellung possessiver Individualität. In dem Sinne, dass etwa die Beschreibung von etwas oder jemandem als »indigen« nicht bloß auf geografische oder raum-zeitliche Ursprungskoordinaten Bezug nimmt. Die Rede von Indigenität referiert darüber hinaus auf die Originalität einer distinkten Konfiguration von Eigenschaften, die nur einer bestimmten Kultur oder den Mitgliedern einer bestimmten Gesellschaft eigen ist und damit – und das ist der entscheidende Punkt – diese Kultur von allen anderen bzw. die Mitglieder dieser Gesellschaft von allen anderen Menschen grundlegend und erkennbar unterscheidet.25 In Authentic Indians. Episodes of Encounter from the Late-Ninetheenth-Century Northwest Coast (2005) gibt die kanadische Historikerin Paige Raibmon ein konkretes Beispiel für dieses Verständnis von Indigenität im Sinne possessiver Individualität, wenn sie historische Vorstellungen von »authentic Indianness« (Raibmon 2005: 206) auf die Zuschreibung bestimmter als wesentlich verstandener Eigenschaften oder Unterscheidungsmerkmale – Raimbon spricht von »cultural markers« (ebd.: 8) – zurückführt, die in gewisser Hinsicht bis heute das Verständnis von Indigenität an der Nordwestküste Kanadas (und letztlich auch im restlichen Kanada) prägen: »Indians […] were traditional, uncivilized, cultural, impoverished, feminine, static, part of nature and of the past. Whites, on the other hand, were modern, civilized, political, prosperous, masculine, dynamic, part of society and of the future.« (Ebd.: 7) Für die Diskussion in diesem Kapitel ist der pejorative Charakter der von Raibmon exemplarisch genannten Eigenschaften oder Unterscheidungsmerkmale historischer Imaginationen von authentic Indianness nur von sekundärem Interesse. Im Vordergrund steht stattdessen ein Aspekt, auf den sie wenig später verweist – und der zugleich eine wichtige Ergänzung zu Handlers Konzeption von Authentizität, Kultur und Indigenität in Gestalt possessiver Individualität darstellt –, wenn sie in Bezug auf das Beispiel der zuvor genannten cultural marker von »Indians« und »Whites« konstatiert: »Non-Aboriginal people of all sorts set these traits in binary mortar, treating them as mutually exclusive and non-interchangeable.« (Ebd.) Unter der Bezeichnung »Binaries of Authenticity« (ebd.) visualisiert Raibmon diesen Aspekt mit Hilfe einer Grafik (Abb. 60).
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1986b: 24) Indes versäumt Handler nicht, die heuristische Notwendigkeit methodischer (wie auch administrativer) Essentialisierung zu unterstreichen, wobei er am Ende seiner Antwort auf Kopytoffs Kommentar zusammenfasst: »In brief, anthropologists routinely represent cultural ›things‹ that we admit don’t exist by means of conversation that presuppose their existence. To say this is not to provide a history of anthropology, but it does, I claim, speak to our disciplinary common sense.« (Handler 1986b: 24) Handler schreibt entsprechend: »An authentic Culture is one original to its possessors, one which exists only with them: in other words, an independently existing entity, asserting itself (to borrow Cassirer’s words) against all other cultures.« (Handler 1986a: 4)
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Abb. 60: Visualisierung binärer Unterscheidungsmerkmale (Binaries of Authenticity) nach Paige Raibmon (2005: 7)
Gestaltung: Maiken Laackmann.
Weiter oben wurde diese Form der Differenzierung, Identifikation oder Individualisierung anhand binärer, einander antithetisch ausschließender Eigenschaften – bspw. traditionell/modern, zivilisiert/unzivilisiert, kultiviert/wild, fortschrittlich/archaisch, vernünftig/irrational, religiös/abergläubisch, reflektiert/impulsiv, Viehzüchter/Jäger, Gartenbauer/Sammler, Mensch/Menschenfresser u.Ä. – bereits angesprochen. Entscheidend im Hinblick auf die binaries of authenticity ist, dass es sich bei den Eigenschaften oder Unterscheidungsmerkmalen auf beiden
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Seiten des Schrägstrichs (oder des horizontalen Trennstrichs in Raibmons Grafik) jeweils um gewissermaßen Klassen assoziierter Merkmale handelt, die eine Art Familienähnlichkeit aufweisen und deshalb unter sich kommensurabel sind, während sie mit denen auf der jeweils anderen Seite des Schrägstrichs (oder des horizontalen Trennstrich) generell inkommensurabel zu sein scheinen. Dabei unterstreicht Raibmon die Statik der darin zum Ausdruck kommenden EntwederOder-Denkweise anhand eines Vergleichs mit der »Ein-Tropfen-Regel« (one drop rule): »Binary understanding of cultural markers could work in a manner akin to the ›one drop‹ racial rule, whereby Anglo-Americans deemed black any individual with even ›one drop‹ of African blood.« (Ebd.: 8)26 Wenngleich Raibmon diese Statik in erster Linie an Fallbeispielen aus dem Kontext des ausgehenden 19. Jahrhunderts herausarbeitet, betont sie zugleich deren Aktualität, wie sie in der Kontinuität der Imagination von Indigenität in Nordamerika zum Ausdruck kommt: »When Aboriginal people today assert […] identities that are at once ›Aboriginal‹ and ›modern,‹ many non-Aboriginal people still reply with invocations of static categories of authentic Indianness.« (Ebd.: 206) Das wohl prominenteste Beispiel tradierter Vorstellungen von authentic Indianness, das diese Statik unverkennbar zum Vorschein bringt, ist das bereits erwähnte Stereotyp des ecological Indian. Zusammengefasst besteht dieses in der weitverbreiteten Vorstellung, dass die indigene Bevölkerung Nordamerikas bis zum Kontakt mit der »Alten Welt« im völligen Einklang mit ihrer Umwelt gelebt und entsprechend keinen ökologischen Fußabdruck hinterlassen habe. Erst durch den Kontakt mit der »Alten Welt« hätte das Ökosystem Nordamerikas und mit ihm die Lebensweise der indigenen Bevölkerung angefangen, sich zu verändern. Der amerikanische Historiker Alfred W. Crosby, der in seinem 1972 erschienenen Buch The Columbian Exchange. Biological and Cultural Consequences of 1492 die soziokulturellen und ökologischen Konsequenzen des Kontakts von »Alter« und »Neuer Welt« rekonstruiert, spricht diesbezüglich von der Annahme eines »American Big Bang« (Crosby 2002: 715). Wörtlich genommen würde dies bedeuten, dass sowohl das Ökosystem als auch die indigenen Lebenswelten vor diesem »amerikanischen Urknall« kontinuierlich, homogen und statisch waren. Eine Annahme, die Crosby aufgrund ihrer Ahistorizität und des augenscheinlichen Eurozentrismus grundlegend ablehnt (Crosby 2002). Im Einklang mit Crosbys Kritik am »amerikanischen Urknall« dekonstruiert der amerikanische Kulturanthropologe Shepard Krech III in The Ecological Indian. Myth and History (1999) den Prototyp heutiger Ökolog*innen und Naturschützer*innen im stereotypen Bild des geschichtslosen ecological Indian. Ausgehend von einer Biografie dieses Stereotyps – von seinen Wurzeln im Bild des Guten Wilden im
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Siehe hierzu Lemelle (2007).
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Zeitalter der europäischen Expansion seit dem 15. Jahrhundert27 bis hin zu zeitgenössischen Öko- und Naturschutzbewegungen – belegt Krech anhand einer Reihe von Fallbeispielen, dass die eindimensionale Vorstellung des von Grund auf naturverbundenen, stets genügsam und nachhaltig handelnden ecological Indian eine Komplexitätsreduktion darstellt, die der Vielschichtigkeit und Diversität indigener Lebenswelten in Nordamerika nicht gerecht wird. Krech fast an anderer Stelle zusammen: »My most general conclusion is that the rhetoric implicit in the image of the Ecological Indian masks differing and complex realities.« (Krech 2007: 3) So zeigt Krech etwa anhand archäologischer Funde das Ausmaß auf, in dem indigene Gruppen mehr Tiere erlegten, als sie zum Leben brauchten oder überhaupt nur verarbeiten konnten. Wenn etwa ganze Bisonherden am Head-Smashed-In Buffalo Jump im heutigen Alberta ins Verderben getrieben, jedoch nur ein Bruchteil der getöteten Tiere – und auch davon nur ausgewählte Teile und nie das ganze Tier – verarbeitet und der Rest verrotten gelassen wurde (Krech 1999: 123-149). Ein anderes Beispiel ist die indigene Beteiligung am Pelzhandel und die Rolle, die indigene Pelzjäger bei der fast vollständigen Ausrottung ganzer Tierpopulationen wie bspw. des Rehs (ebd.: 151-171) oder des Bibers gespielt haben (ebd.: 173-209). Allerdings lässt sich festhalten, dass Krech nicht behauptet, die indigenen Bewohner*innen Nordamerikas seien bei genauerer Betrachtung doch keine ökologischen Heiligen, sondern gewissermaßen non-ecological Indians oder am Ende zumindest genauso schlimm wie die Europäer gewesen. Stattdessen hält er an anderer Stelle fest: »Ecology is at base ethnoecology« (Krech 2007: 4). Folglich muss der Umgang mit bestimmten Ressourcen vor dem jeweiligen kulturellen Hintergrund28 und nicht in Begriffen europäischer Vorstellungen von Ökologie und Naturschutz verstanden
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Zum Ursprung des Bildes des Guten Wilden in der antiken Literatur bis zur – Christopher Kolumbus zugeschriebenen – Etablierung der »Legende« einer »[…] naturgemäßen Lebensweise der Völker der Neuen Welt […] in einem Zustand der Fülle und der Sorglosigkeit, der Tugendhaftigkeit, der Unschuld und des Friedens« (Kohl 1986: 12) siehe insbesondere Kohl (ebd.: 12-40). Ohne hier die Möglichkeit zu haben, auf Krechs minutiös dargelegte Beispiele im Einzelnen eingehen zu können, wird insgesamt deutlich, dass der indigene Umgang mit Ressourcen wie Bison, Reh und Bieber durch die Linse indigener Kosmologien betrachtet werden muss, in denen die Idee der Reinkarnation eine zentrale Rolle spielte. Letztlich sei es allem voran darum gegangen, die Tiere nicht zu verärgern, damit sie nach ihrer Reinkarnation zurückkehrten, um sich erneut jagen zu lassen. Für den Fortbestand der Tierpopulationen sei aus indigener Perspektive demnach die Pflege der Beziehung von Mensch und Tier bzw. der respektvolle Umgang von Ersterem mit Letzterem (bei der Jagd, beim Zerlegen, beim Verarbeiten, Zubereiten und Verzehren) und nicht die Anzahl der getöteten Tiere im Verhältnis zur gegebenen Tierpopulation entscheidend gewesen. Am Beispiel der Bisonherden konstatiert Krech: »[What was] most important to conserve was not a herd […] but one’s […] relationship with the buffalo.« (Krech 1999: 149)
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werden.29 Wie Krech verdeutlicht, ist das Stereotyp des ecological Indian hingegen ein Produkt eurozentristischer Selbstkritik und des Versuchs, mit der Erfahrung fremder Lebenswelten umzugehen: »From the moment they encountered the native people of North America and represented them in texts, prints, paintings, sculptures, performances – in all conceivable media – Europeans classified them in order to make them sensible. They made unfamiliar American Indians familiar by using customary taxonomic categories, but in the process often reduced them simplistically to one of two stereotypes or images, one noble and the other not.« (Krech 1999: 16) Nun stellt die romantisierende Idealisierung indigener Lebenswelten in der Gestalt des ecological Indian für die indigenen Gesellschaften ein zweischneidiges Schwert dar: Indem tatsächliche und spekulative Elemente historischer indigener Lebenswelten mittels nicht-indigener »customary taxonomic categories« – ganz im Sinne des Ineinandergreifens von Handlers possessivem Individualismus und Raibmons binaries of authenticity – zu einem indigenen Ethos synthetisiert und zugleich zum universalen moralischen Standard erhoben werden, entfaltet dies zunächst ein gewisses kulturelles Kapital. So ist nicht von der Hand zu weisen, dass das idealisierende Stereotyp des ecological Indian gelegentlich (vor allem in touristischen Kontexten) vonseiten indigener Akteur*innen selbst bemüht wird.30 Vor dem Hinter29
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Wenngleich Krech nicht müde wird, diesen Punkt im Zuge seiner Darstellungen wieder und wieder zu betonen, wurde The Ecological Indian von einigen (vornehmlich indigenen) Lesern*innen als Versuch verstanden, die indigene Bevölkerung Nordamerikas als »Mittäter« erscheinen zu lassen. So stammt etwa auch das vorangegangene Zitat, »Ecology is at base ethnoecology« (Krech 2007: 4), aus Krechs Beitrag, in dem von Michael E. Harkin und David R. Lewis herausgegebenen Sammelband Native Americans and the Environment. Perspectives on the Ecological Indian (2007), der im Anschluss an eine Konferenz, Re-figuring the Ecological Indian, publiziert wurde, die 2002 am American Heritage Center der University of Wyoming stattfand. Grund für die Konferenz war die lautstark geführte Kontroverse nach der Veröffentlichung von Krechs The Ecological Indian (1999). In seinem Beitrag rekapituliert Krech seine zentralen Thesen anhand einer zitatreichen Auseinandersetzung mit den Reaktionen auf sein Buch. Bspw. warf der prominente Standing Rock Sioux Historiker und Aktivist Vine Deloria Jr. Krech nicht nur Geschichtsrevisionismus vor, sondern bezeichnete ihn gleich als »the worst kind of racist« (Krech 2007: 6). Krech rekapituliert und diskutiert indes nicht nur die scharfe Kritik vonseiten indigener Kommentator*innen und nicht-indigenen Naturschützer*innen, sondern macht zugleich auf die unrechte, unreflektierte und von ihm gänzlich abgelehnte Vereinnahmung seiner Darstellungen seitens rechter Aktivist*innen und Gegner*innen der amerikanischen und kanadischen Politik im Umgang mit Native Americans und First Nations aufmerksam (ebd. 7-10). Wie nachhaltig das konzeptuelle Kuckucksei des ecological Indian im Speziellen und letztlich die skizzierte Natur der Imaginationen von Indigenität im Allgemeinen die indigene Selbstwahrnehmung beeinflusst, wird an Kim TallBears (Sisseton-Wahpeton Oyate und Cheyenne & Arapaho Tribes; unterrichtet Native Studies an der University Alberta) Besprechung
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grund der Ein-Tropfen-Regel fällt dieser Standard jedoch unweigerlich auf seine angeblichen, indigenen Urheber*innen zurück. Etwa, wenn dadurch historische indigene Pelzjäger rückwirkend als von westlichen Werten korrumpiert und gleichwohl assimiliert bzw. als non-authentic Indians gebrandmarkt werden. Gleiches gilt im zeitgenössischen Kontext für Reaktionen auf indigene Gruppen, die ihre Souveränität nutzen, um auf ihren Territorien Kasinos zu errichten oder entgeltlich atomaren und anderen Abfall zu deponieren. Ein konkretes und rezentes Beispiel stellen zudem die heftigen öffentlichen (auch internationalen) Reaktionen auf die Bestrebungen der Kwih-dich-chuh-aht (besser bekannt als Makah) zur Wiederbelebung des Walfangs Ende der 1990er Jahre und schließlich das (einmalige) Erlegen eines Grauwals am 17. Mai 1999 dar.31 Ihre Motive, nämlich durch die Wiederbelebung eines seit jeher zentralen Bestandteils des kulturellen Selbstverständnisses der Makah, die soziokulturelle Kohäsion innerhalb der Gemeinschaft der Makah zu stärken, wurden vehement in Zweifel gezogen. Zur Begründung dieser Zweifel und teils offenen Anfeindungen32 beriefen sich die Kritiker*innen nicht nur auf die Verwendung moderner Technik im Zuge dieser Unternehmung als Ausdruck einer »cultural bastardization« (van Ginkel 2004: 70)33 , sondern auch auf die
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von Krech (1999) deutlich. TallBear diskutiert Krechs Thesen anhand einer Kritik an deren Rezeption und stellt in Bezug auf insbesondere indigene Rezensionen fest: »[the] response to this book indicates the extent to which we Indians have assumed Judeo-Christian ideals of morality: There is good and there is evil. People are truthtellers or they are liars. Morality is absolute; it is never ambiguous, not flexible, and it does not change over time.« (TallBear 2000: 3) Makah sind ethnolinguistisch mit den Nuu-chah-nulth an der Westküste von Vancouver Island verwandt. Ihr Territorium erstreckt sich über den nordwestlichen Bereich der Olympischen Halbinseln im US-Bundesstaat Washington. Ausgehend von diesem Standpunkt, an dessen nördlichster Spitze sich der Pazifische Ozean und die Ströme der Juan-de-Fuca-Straße treffen, stechen die Makah seit vielen hundert Jahren in See, um Fische, Meeressäuger und vorbeiziehende Wale zu jagen. Nach der letzten Jagd 1926 stoppten die Makah den Walfang aus verschiedenen Gründen. Siehe hierzu Deur (2000) und van Ginkel (2004). Neben unzähligen Mord- und Bombendrohungen sowie einer Flut von Leserbriefen, Interviews im Fernsehen und Anrufen in Radioshows, in denen Makah auf alle denkbaren Weisen verunglimpft und beschimpft wurden – etwa als »bloodthursty savages«, »lazy, drunken, ›modernized welfare race‹« etc. – (Deur 2000: 163), wurden bei Protesten gegen MakahWalfänger Schilder hochgehalten mit der Aufschrift: »Save a Whale – Kill a Makah« (ebd.: 164) oder »Save a Whale, Harpoon a Makah!« (van Ginkel 2004: 74). Ebenso waren Aufkleber für Stoßstangen im Umlauf mit dem Slogan: »Save a Whale, Kill an Indian« (ebd.). Deur und van Ginkel berichten zudem beide von einem Mann, der eine Lizenz zum Töten von »Indians« mit der Begründung beantragt haben soll, damit eine Tradition seiner Vorfahren wiederbeleben zu wollen (Deur 2000: 163, van Ginkel 2004: 74). Van Ginkel zitiert hierzu prominente Stimmen der Makah-Walfang-Gegner*innen: »Paul Watson of the Sea Shepherds said: ›Today, with speed boats, military weaponry and the draconian assistance of the U.S. government in stifling all dissent, American whalers managed to blast a whale out of existence in American waters on the pretext of cultural privilege.‹ […]
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moderne Lebensweise der Makah. Im Hinblick auf Letzteres zitiert der niederländische Kulturanthropologe Rob van Ginkel neben anderem den Makah-kritischen Kommentar eines Wal-Touren-Veranstalters: »If they are so hell bent on going back to their roots, why the hell do they insist on: driving cars, using internal combustion engines, fiberglass, aluminum, roads, shopping centers, all the other stuff that has improved their lives since the coming of the ›White Man‹.« (van Ginkel 2004: 71) Allein die Idee, Wale zu jagen, wurde bereits als Beweis ihrer Assimilation – also dem Verlust einer individuellen Kultur und damit ihrer authentic Indianness – gesehen. Authentische (ecological) »Indians«, so die Annahme, würden gar nicht erst auf die Idee kommen Wale zu jagen, sondern die Natur, also auch Wale, schützen (Deur 2000: 163). In den Augen der nicht-indigenen Öffentlichkeit hätten die Makah im Hinblick auf die Ein-Tropfen-Regel das Fass in vielerlei Hinsicht zum Überlaufen gebracht, weshalb die Kritiker*innen des Makah-Wahlfangs nicht nur die authentic Indianness, sondern gleich den politischen und juristischen Status der Makah als Native Americans (inklusive des Rechts, Robben und Wale zu jagen) im Gebiet der heutigen USA öffentlich und lautstark infrage stellten. Wenngleich die gesamte Makah-Kontroverse den Status und die Rechte der Makah am Ende unberührt ließ, verweist Raibmon auf die Tatsache, dass (zumindest in Kanada) Entscheidungsprozesse hinsichtlich indigener Landrechte und politischer Souveränität durch persistente Imaginationen von Indigenität bzw. authentic Indianness beeinflusst sind: »White society continues to station authenticity as the gatekeeper of Aboriginal people’s right to things like commercial fisheries, land, and casinos.« (Raibmon 2005: 206)34 Hierzu ist es wichtig zu wissen, dass es zwar verschiedene Treaties (Völkerrechtliche Verträge) zwischen (pseudo-)souveränen35 indigenen Gruppen und der föderalen Regierung Kanadas gibt, doch unterliegt letztlich alles, was auf dem Gebiet und mit der Landmasse geschieht, die heute
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Jake Conroy of the anti-whaling group Sea Defense Alliance said: ›We’re obviously very upset that the Makah went ahead with killing an innocent, sentient creature in such a bloody and untraditional way.‹« (van Ginkel 2004: 68, Hervorheb. S.R.S.) In Ghosts and Shadows. The Reduction of North American Natives (1994) erläutert der kanadische Soziologe Jean-Jacques Simard in einer Ausführlichkeit, wie sich diese Imaginationen – Simard spricht von »reduction« (Simard 1994 passim) – in (sozial)politischen und juristischen Fakten niederschlagen, in denen sich zugleich die Marginalisierung indigener Lebenswelten perpetuiert. »(Pseudo-)souverän« in dem Sinne, dass es sich in diesem Fall nicht um Souveränität sui generis handelt. Sowohl die Kriterien dafür, was als politische wie territoriale indigene souveräne Einheit gilt, als auch Rechte, die diese Souveränität beinhaltet, bestehen nicht aus sich heraus, sondern werden letztlich durch die kanadische föderale Gesetzgebung bestimmt und nur durch sie garantiert.
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den Namen Kanada trägt, der kanadischen föderalen Politik und Gerichtsbarkeit.36 Selbst die Nutzung von Reservationsland, das den indigenen Gruppen zunächst von der britischen Monarchie im Zuge der Königlichen Proklamation von 1763 und später vom kanadischen Parlament durch den Indian Act von 1876 zur alleinigen Nutzung zugesprochen wurde, ist davon nicht ausgeschlossen. Entsprechend ist im Indian Act festgehalten: »Reserves are held by Her Majesty for the use and benefit of the respective bands for which they were set apart, […] and to the terms of any treaty or surrender, the Governor in Council may determine whether any purpose for which lands in a reserve are used or are to be used is for the use and benefit of the band.« (Indian Act, Abschnitt 18 [1])37 Raibmon veranschaulicht nun, inwiefern Entscheidungsprozesse hinsichtlich indigener Landrechte und politischer Souveränität durch persistente Imaginationen von authentic Indianness beeinflusst sind, unter anderem anhand von einem der prominentesten Fälle kanadischer Rechtsprechung, der als Delgamuukw Case (auch Delgamuukw v British Columbia oder Delgamuukw v The Queen) bekannt ist. In aller hier gebotenen Kürze zusammengefasst, ging es bei dem von 1987-1997 währenden Prozess um Landansprüche (land claims) der Gitxsan und Wet’suwet’en im Nordwesten British Columbias.38 Vor dem Hintergrund der Rechtslage sollten ihre Ansprüche nur dann als legitim anerkannt werden, wenn sie erstens beweisen könnten, dass sie das beanspruchte Territorium bereits vor dem Kontakt mit Europäern*innen genutzt und besiedelt haben; zweitens dürfen die Ansprüche nicht im Widerspruch mit Ansprüchen anderer indigener Gruppen stehen; drittens – und das ist hier entscheidend – müssten sie die »Kontinuität ihrer Eigentümerschaft« (continuous ownership, Beaudoin 2017) nachweisen können. Im Eintrag zum Delgamuukw Case in The Canadian Encyclopedia spricht der kanadische Jurist Gérald A. Beaudoin hierbei von einer »demonstration of a substantial maintenance of the bond between the people and the territory« (Beaudoin 2017). Die Entscheidung darüber, was genau eine »substantial maintenance of the bond between the people and the territory« beinhaltet, lag indes im Ermessen der Richter*innen des Supreme Court of Canada. Wenn in diesem Zusammenhang schließlich Veränderungen (bezüglich der Lebensweise) als Beweis von Assimilierung und weiter Assimilierung als im Widerspruch zu Kontinuität verstanden wurde (Raibmon 2005: 9), dann
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Für eine detaillierte Darlegung dieser Problematik am Beispiel von British Columbia siehe Harris (2003) und Tennant (1990). laws-lois.justice.gc.ca/PDF/I-5.pdf, abgerufen am 12.09.2018. Siehe hierzu Daly (2005) sowie Culhanes (1994; 1998). Einen Überblick bietet Beaudoin (2017).
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fungierten eben jene Vorstellungen von Indigenität, »Indianness« und Authentizität tatsächlich als – um noch einmal Raibmons Formulierung zu verwenden – gatekeeper. Interessanterweise gibt es einen kulinarisch konnotierten Begriff, der sich im Kontext von Auseinandersetzungen mit diesem und vergleichbaren Verfahren als Redewendung etabliert hat: der sogenannte »pizza test« (ebd.). Mit Bezug auf die Protokolle der Delgamuukw-Case-Verhandlungen fasst die kanadische Kulturanthropologin Dara Culhane das Konzept des pizza tests (sie spricht von »pizza syndrome«) zusammen: »It refers to the cross examination themes used by Crown counsel in Aboriginal rights cases where they question Aboriginal witnesses about their involvement in wage labour, use of ›western technology,‹ and consumption of ›white food‹ like Kentucky Fried Chicken, Pizza and MacDonald’s burgers. The implication […] is that this is evidence of assimilation.« (Culhane 1994: 193, FN 2)39 Der Konsum von Chicken Wings, Pizza und Burgern sowie die damit verknüpften Meinungen hinsichtlich der Authentizität der Ernährungsweisen einer Person oder Gruppe stellen indes keine juristisch belastbaren Kriterien dar, um über die Rechtmäßigkeit indigener Forderungen nach Land und Souveränität zu entscheiden. Während der Delgamuukw Case letztlich zugunsten der Gitxsan und Wet’suwet’en-Kläger*innen entschieden wurde, zeigte jedoch der Prozessverlauf und insbesondere der pizza test, wie tief die Imaginationen von Indigenität (und ebenso von authentic Indianness) oder vielmehr die Statik ihrer binären Konstitution im Entweder-Oder-Denken nicht-indigener – und nicht selten auch indigener – Akteur*innen verwurzelt sind. Der Punkt ist, dass diese Imaginationen die Grundlage handlungsleitender (Erwartungs-)Haltungen darstellen, die insbesondere öffentliche Diskurse prägen und damit einen entscheidenden Beitrag zur Marginalisierung der indigenen Bevölkerung – und, wie an der Makah-Kontroverse deutlich wurde, deshalb ebenso für das Fortbestehen von Diskriminierung und rassistischer Ressentiments – leisten. Der historische Ursprung dieser Diskriminierung und Ressentiments und damit des Ineinandergreifens von Imagination und Marginalisierung wurde in Kapitel 1.1.3. in jener modification of the attitudes im Zuge der siedlerkolonialen Wende verortet. Wie oben dargelegt, traten in diesem Zusammenhang Imaginationen von Indigenität an die Stelle direkter Erfahrungen mit den tatsächlichen indigenen Lebenswelten, wodurch sich die Haltung der Neuankömmlinge gegenüber – und damit auch der Umgang mit – der indigenen Bevölkerung signifikant veränderte. Im Zusammenspiel mit der darauffolgenden föderalen Reservations- und Assimilationspolitik führte dies schließlich zur Marginalisierung der indigenen Bevölkerung
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Siehe hierzu außerdem Tennant (1990: 15).
3. Teil: Indigene Gastronomie und die kanadische gastroscape
auf allen Arten von sozialen, politischen und kulturellen Ebenen und insbesondere im öffentlichen Raum in British Columbia und anderen Teilen Kanadas. Vor dem Hintergrund der Annahmen, dass 1. der konkrete Umgang mit der indigenen Bevölkerung konstitutiv ist für deren Marginalisierung in der kanadischen Öffentlichkeit und Gesellschaft; 2. dieser Umgang durch die erörterte Natur der Imaginationen von Indigenität bestimmt wird; und 3. diese Imaginationen maßgebend durch Prozesse entweder der Integration oder Marginalisierung gefördert werden, dann folgt daraus, dass (zumindest im Hinblick auf die Situation in Kanada im Anschluss an jene modification of attitudes) das Zusammenspiel von Imaginationen und Marginalisierung einen selbsterhaltenden Kreislauf bilden. Anders formuliert: Die Abwesenheit indigener (Alltags-)Kultur in der kanadischen Öffentlichkeit befördert das Fortbestehen historisch gewachsener – pejorativer, idealisierender oder auch nivellierender – Imaginationen von Indigenität. Dabei sind diese Imaginationen nicht nur Ausdruck, sondern zugleich Motor der Marginalisierung, indem sie für diejenigen Prozesse handlungsleitend sind, die zu jener Abwesenheit geführt haben, und die diese Abwesenheit – und mit ihnen die korrelierenden Imaginationen – tradieren. Entsprechend der vorgestellten These, argumentiert das folgende und letzte Kapitel 3.4. für die Annahme, dass die zunehmende Präsenz indigener Gastronomie als niedrigschwelliger Raum kultureller Vermittlung diesen Kreislauf der Marginalisierung unterlaufen kann.
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»You Don’t Need to Make Moose Soup«: Kulinarische Vermittlungsorte und die Indigenisierung indigener Gastronomie
»In 2018. What do people really think about Indigenous Canadians.« Mit dieser Einblende beginnt der Trailer zu First Contact (2018), einer dreiteiligen Reality-Show des Spartensenders Aboriginal Peoples Television Network (APTN), die erstmals im September 2018 ausgestrahlt wurde.40 Die Stichworte, die daraufhin von dramatischer Musik unterlegt und immer schnell aufeinander folgend eingeblendet werden, stehen exemplarisch für die Antworten der nicht-indigenen Protagonist*innen der Sendung auf die Frage, was sie über die indigene Bevölkerung denken: »Addicts. Welfare cheats. Dependent. Drain on the System. Hopeless. Lazy. Angry. Stuck in the past. Victims. Entitled. Unwanted. Violent. Invisible. Alcoholic. Degenerates. Child abuse. Unemployed. Criminals. Lost cause.«41 Vor dem Hintergrund der, durch diese Stichworte repräsentierten, weit verbreiteten und persistenten, Vorurteile gegenüber der indigenen Bevölkerung war
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www.youtube.com/watch?v=yPivaI8-dvc, abgerufen am 24.09.2018. Ebd.
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das erklärte Ziel der Sendung, sechs nicht-indigene »average Canadians«42 in direkten Kontakt mit den Lebenswelten der indigenen Bevölkerung zu bringen. Hierzu wurden sie als Gruppe in unterschiedliche indigene communities verteilt über ganz Kanada eingeflogen, wo sie unter anderem in Gesprächen mit elders und bei der Begleitung von Sozialarbeiter*innen auf den berüchtigten Straßen von Winnipegs Northend; beim Gefängnisbesuch und beim Abendessen in indigenen Haushalten; bei der Teilnahme an einem pow wow sowie einer Seehundjagd und vielem mehr ihre Vorurteile – und damit die vieler anderer Kanadier*innen – an der Realität messen sollten. Auf der Website von APTN steht hierzu: »Most Canadians have never taken the time to get to know Indigenous People or visit their communities. First Contact takes six average Canadians […] on a unique 28-day journey into Indigenous Canada. […] First Contact is a journey that will turn the six participants’ lives upside down. Challenging their perceptions and confronting their opinions about a world they never imagined they would see.«43 Nun lässt sich nicht leugnen, dass der Erfahrungshorizont von average Canadians im Hinblick auf die indigenen Bevölkerungsanteile tatsächlich stark begrenzt ist. Oft werden die wenigen im Schulunterricht oder im Rahmen des ein oder anderen Museumsbesuchs erlangten grundlegenden Kenntnisse im Alltag durch nicht viel mehr ergänzt als den Anblick indigener Obdachloser in den Großstädten sowie durch eine Medienpräsenz der indigenen Bevölkerung, die dominiert ist von Nachrichten über überdurchschnittlich hohe Suizidraten, soziale Probleme und Gewaltverbrechen in Reservationen (nicht selten im Zusammenhang mit Alkoholund/oder Drogenkonsum); von lautstarken Beschwerden der indigenen Bevölkerung über allgegenwärtige Diskriminierung, Alltagsrassismus und diverse Formen kultureller Aneignung (etwa in Gestalt der Verwendung von formline-art-Design durch nicht-indigene Künstler*innen oder Designer*innen und dem Verkauf von Traumfängern oder Pocahontas- und »Indianer«-Kostümen etc.); von indigenen Protesten gegen Lachsfarmen, Bergbau, Wasserverschmutzung, Abholzung, den Bau von Pipelines oder den Ausbau von Wasserstraßen und anderen, die ökologischen Systeme indigener Territorien gefährdenden Aktivitäten und schließlich von Berichten über indigene Forderungen nach Land, Fischerei- und Jagdrechten, Reparationen, politischer Souveränität und kultureller Anerkennung. Der Ansatz, nicht nur das Leben in indigenen communities hinter dem Schleier der Marginalisierung und tradierter Imaginationen im Rahmen einer landesweit ausgestrahlten Fernsehsendung offenzulegen, sondern ebenso am Beispiel jener sechs average Ca-
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aptn.ca/firstcontact, abgerufen am 24.09.2018. Ebd. Siehe außerdem die offizielle Website zur Serie: www.firstcontactcanada.ca.
3. Teil: Indigene Gastronomie und die kanadische gastroscape
nadians zu zeigen, dass sich im direkten »First Contact« gar die eigene Haltung ändern könnte, ist folglich naheliegend.44 Am Ende des Trailers, der aus einem Zusammenschnitt aller drei Episoden besteht, ist entsprechend ein Kommentar einer der drei weiblichen Protagonistinnen zu hören, der eine Vorstellung vom Erfolg des gesamten Unterfanges geben soll. Sie stellt fest: »I came here with ignorant views, and, you know what, I was wrong.«45 Offen bleibt, inwiefern es sich bei diesem Kommentar um mehr als ein Lippenbekenntnis handelt. Nicht zuletzt wurde sowohl im Verlauf der drei Episoden als auch in einer, einige Monate nach den Dreharbeiten zur First Contact im Studio der APTN-Sendung InFocus aufgezeichneten, »reunion« anhand einer Diskussion darüber, welchen bleibenden Effekt die gesammelten Erfahrungen auf das Leben, das Denken und das Handeln der Protagonist*innen haben, deutlich, dass nicht alle sechs gleichermaßen (oder gar überhaupt nicht) dazu bereit waren oder sind, ihre Haltung gegenüber der indigenen Bevölkerung zu ändern.46 Wenngleich am Ende also klar wird, dass ein kurzer Blick hinter den Schleier nicht automatisch ein Umdenken zur Folge hat, gibt die Sendung als Ganze dennoch eine konkrete Vorstellung davon, inwiefern der unmittelbare (und insbesondere der kontinuierliche) Kontakt mit einer Person oder einer Gruppe letztlich die meisten Vorurteile (aber nicht alle und nicht immer sofort) an der empirischen Realität scheitern lässt und auf diese Weise relevante Re-Imaginationen evozieren kann.47 Dabei wäre es falsch zu behaupten, dass es von indigener wie nicht-indigener Seite nicht diverse Versuche gäbe, bestimmte Aspekte der Geschichte und Gegenwart indigener Lebenswelten in die Öffentlichkeit zu tragen, um auf diesem Weg gängige Stereotype und Imaginationen von Indigenität öffentlich zu problematisieren. So wurde in der Einleitung etwa erwähnt, dass hierbei insbesondere
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Genau genommen geht das gesamte Konzept der Sendung auf eine gleichnamige Reality Show zurück, die im November 2014 (Season 1) sowie im November und Dezember 2016 (Season 2) auf dem australischen öffentlich-rechtlichen Sender Special Broadcasting Service (SBS) zu sehen war. Siehe hierzu die offizielle Website: www.sbs.com.au/programs/first-contact, abgerufen am 25.09.2018. Während das Thema, der Ansatz und das Format der Sendung von der indigenen und nicht-indigenen Öffentlichkeit in erster Linie positiv aufgenommen wurden, waren (wie bereits beim australischen Vorgänger) auch einige kritische Stimmen zu hören. Siehe hierzu exemplarisch Journalistin Michelle Butterfields Zusammenfassung kritischer Reaktionen (Butterfield 2018). www.youtube.com/watch?v=yPivaI8-dvc (Minute 2:10-2:14), abgerufen am 24.09.2018. Siehe hierzu First Contact participants reunite to speak about their 28 day journey | APTN InFocus (https://www.youtube.com/watch?v=93hJLCXQUVo, abgerufen am 24.09.2018). Natürlich stellt eine an Einschaltquoten orientierte Filmproduktion keine wissenschaftlich valide Studie dar. First Contact wurde dennoch zum Vergleich herangezogen, da sich darin die zentrale Annahme (das Unterlaufen des Kreislaufs von Imagination und Marginalisierung durch direkten Kontakt) an einem konkreten Beispiel veranschaulichen lässt.
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die indigene Tourismusindustrie und zeitgenössische indigene Kunst eine wichtige Rolle spielen. Während jedoch im Tourismusbereich Stereotype wie der ecological Indian eher bedient als unterlaufen werden und Indigenität insgesamt eher retrospektiv artikuliert wird, ist für zeitgenössische indigene Kunst die Konzentration auf kritische Auseinandersetzungen mit der Kolonialgeschichte und dem anhaltend angespannten Verhältnis zwischen der indigenen und der nicht-indigenen Bevölkerung charakteristisch.48 Der Punkt ist, dass Kunst nicht nur nicht besonders niedrigschwellig ist – schließlich ist nicht jeder von Natur aus an Ausstellungen oder performativen Darbietungen zeitgenössischer Kunst interessiert, wodurch die Gruppe potentieller Rezipient*innen und damit die potentielle Reichweite von vornherein stark eingeschränkt sind –, sondern dass, selbst wenn dies im Einzelfall nicht intendiert sein mag, die künstlerische Artikulation von historischen und gegenwärtigen Missständen stets die Frage der Schuld im Raum stehen lässt, wodurch diese Form der Vermittlung ein erhebliches Maß an Konfliktpotential birgt. Dieses bewirkt nicht nur kein gesteigertes Interesse am Diskurs von denjenigen, die im Zuge eines solchen Konflikts womöglich auf der Seite moralischer Schuld stehen und unter Rechtfertigungsdruck geraten könnten und deshalb von vornherein fernbleiben, sondern reproduziert zugleich einen diskursiven Raum, der diese Konfliktsituation (alternativlos) aufrechterhält. Nun richtet sich diese Feststellung nicht per se gegen die Benennung von Missständen. Die Diskussion hat hier lediglich einen anderen Schwerpunkt. In dem Sinne, dass nicht (zweifelsohne in vielerlei Hinsicht zu Recht geäußerte) anti-koloniale Kritik, sondern das Potential indigener gastronomischer Betriebe im Vordergrund steht, als Orte niedrigschwelliger Vermittlung – und gleichwohl Kochen und Essen als probates Medium der Vermittlung – eines differenzierteren Verständnisses indigener Lebenswelten zu fungieren. Als Museologin und Direktorin (seit 1993) des University of Alaska Museum of the North verweist auch Jonaitis (2006) explizit auf die Rolle, die Kochen und Essen als Vermittlungsmedium indigener Lebenswelten an der Nordwestküste – und, wie sich hinzufügen lässt, auch in anderen Teilen Kanadas – spielen. Allein geht es nicht etwa darum, bloß eine Vorstellung davon zu bekommen, wie indigenes Kochen und Essen schmeckt. Jonaitis hebt vielmehr hervor, inwiefern Kochen und Essen einen synästhetischen Zugang zu einem angemessenen Verständnis der Kulturen der Nordwestküsten (respektive allgemein von Kulturen) leisten können. Im Rückblick auf das im 1. Teil erörterte Ineinandergreifen von Land, Kultur und Ernährung wird umso deutlicher, was sie vor Augen zu haben scheint. So geht es
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Das betrifft auch indigene Kunst, bei der Kochen und Essen als Material ins Zentrum rückt. Zur Rolle von Kochen und Essen in zeitgenössischer indigener Kunst siehe Myers (2012) und Tennant (2020).
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nicht nur darum, die Beziehungen von Zutaten, Techniken, Gerüchen, Konsistenzen, geschmacklichen Kombinationen – kurzum die kulinarische Grammatik spezifischer Ernährungskulturen – kennenzulernen, sondern auch darum, diesen gesamten Komplex mit einer spezifischen Wahrnehmung der Umwelt und Geschichte der entsprechenden Gesellschaften zusammenbringen zu können. Dass dieser Ansatz im Kontext musealer Vermittlungsarbeit institutionellen Beschränkungen unterliegt, macht Jonaitis mit einer Episode deutlich, die sich im Rahmen der von ihr kuratierten Ausstellung Chiefly Feasts. The Enduring Kwakiutl Potlatch (American Museum of Natural History, Oktober 1991-Februar 1992) ereignete: »Chiefly Feasts included a section on food and feasting that displayed plain and decorated spoons, dishes, ladles, and bowls, with wall labels of Hunt’s ›recipes‹. To overcome the limitation of this fully non-sensual account of cuisine, Gloria Cranmer Webster prepared a public talk at the American Museum of Natural History on Kwakwaka’wakw foods in which she intended to offer the audience tastes of delights like seaweed, soapberries, and, of course, t’lina [grease]. This would be an excellent way to transcend the monopoly of the visual, and offer the public taste and smell first hand. Unfortunately this proved impossible […] and the full representation of the richness of Kwakwaka’wakw experience was denied.« (Jonaitis 2006: 160) Abgesehen von der offensichtlich konservatorisch sinnvollen Beschränkung, nicht mit Lebensmitteln in Ausstellungshallen hantieren zu dürfen, in denen sich empfindliche Exponate befinden, bietet Museumsgastronomie einen Rahmen, um indigene Ernährungskulturen in musealen Kontexten erfahrbar zu machen oder gar als Teil des Vermittlungsprogramms zu etablieren. Konkrete Beispiele hierfür sind etwa das erwähnte Kwisitis Feast House im Kwisitis Visitor Centre in Tofino und das Thunderbird Café im Squamish Lil’wat Cultural Centre in Whistler. Außerdem nennenswert ist das Riverwalk Café als Teil des Cowichan Native Village in Duncan, bei dem es sich zwar nicht um ein Museum, aber doch um eine dezidiert auf Vermittlung konzentrierte Institution handelt, zu der auch ein Ausstellungsbereich gehört. Allerdings sucht man mindestens in diesen drei Fällen gerade Produkte wie seaweed, soapberries oder grease (von denen Jonaitis spricht) ebenso vergeblich wie eine explizite Auseinandersetzung mit historischen Küchentechniken. Zum Zweck eines umfassenden Bildes der Ernährungskulturen wäre dies zwar mit Sicherheit wünschenswert, allerdings, so wird hier behauptet, liegt der eigentliche Wert des Beitrags, den diese und andere Betriebe zur Vermittlung indigener Lebenswelten (und damit zur Re-Imagination von sowohl indigenen Ernährungskulturen als auch Indigenität im Allgemeinen) im Kontext dieser (und anderer) Museen und cultural centre leisten, in einem anderen Aspekt. Denn während der Fokus der Ausstellung entsprechender Institutionen in der Regel auf der Vermittlung der Geschichte sowie der historischen, materiellen Kultur und kultureller Praktiken der indigenen
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Bevölkerung liegt, bekommt man nicht mehr als ein vages Bild der indigenen Gegenwartskultur. Genauer gesagt erhält man – bis auf die Hervorhebung der gesamtgesellschaftlichen Folgen des Verlusts indigener Territorien und der bis weit in das 20. Jahrhundert hineinreichenden Assimilationspolitik sowie der generationsübergreifenden Traumata im Zusammenhang mit dem Residential School System – selten (außer in Sonderausstellungen, Pop-up Events oder Ähnlichem) einen Einblick in indigene Alltags-, Pop- und Subkultur. In gewisser Hinsicht bieten die Restaurants und Cafés in den Museen und cultural centres jedoch genau dies oder entwickeln sich zumindest in eine entsprechende Richtung, indem sie indigene kulinarische Alltagskultur auf den Tisch bringen, wenn etwa im Kwisitis Feast House Sushi, im Riverwalk Café Chicken Wings und im Thunderbird Café tellergroße Indian tacos (und vieles mehr) serviert werden. Betriebe wie die drei genannten, können demnach das Vermittlungsprogramm von Museen und cultural centres signifikant, nämlich um explizite (und konfliktarme) Gegenwartsbezüge, erweitern. Allerdings, und darin besteht der wesentliche Unterschied zu den Betrieben, die im 2. Teil ausführlich besprochen wurden, sind auch diese und ähnliche institutionell angeschlossene Betriebe in zweierlei Hinsicht nicht niedrigschwellig. Dies betrifft nicht nur ihre direkte Affiliation zu Orten, deren Besucher*innen (gewöhnlich) bereits über ein entsprechendes Interesse und nicht selten über grundlegende Kenntnisse sowie die Bereitschaft verfügen, noch mehr lernen zu wollen. Ihre potentielle Klientel ist dadurch ebenso eingeschränkt wie jene von Kunstmuseen, Galerien, Performances etc. Der andere Punkt ist, dass solche Betriebe aufgrund ihrer institutionellen Anbindung (bis auf spezielle Veranstaltungen) an für Gastronomie untypische Öffnungszeiten gebunden sind und sich darüber hinaus nicht selten an für gastronomische Betriebe ungewöhnlichen Orten befinden. Im Gegensatz hierzu handelt es sich bei den oben besprochenen institutionell nicht angebundenen Restaurants, Bistros, Cafés oder Foodtrucks nicht um ausgewiesene Vermittlungsorte. Zwar kommen in Interviews mit Betreiber*innen indigener Restaurants gelegentlich auch Motive wie »sharing our indigenous culture« (z.B. George 2015; Natrall 2016) zur Sprache und stellen indigenes Kochen und Essen in diesem Kontext ebenso das zentrale Vermittlungsmedium dar. Eine explizite Auseinandersetzung mit der kolonialen Geschichte und Gegenwart Kanadas; dem angespannten Verhältnis von indigener und nicht-indigener Bevölkerung; den prekären Verhältnissen, in denen ein Großteil der indigenen Bevölkerung seinen Alltag bestreitet; den verschiedenen (von nicht-indigener Seite oft sogar unbewusst praktizierten) Formen der Diskriminierung und des Alltagsrassismus etc. spielt jedoch keine konzeptuell verankerte oder offen kommunizierte Rolle.49 Wobei entschei49
Das Gegenteil gilt indes für indigene kulinarische Veranstaltungen wie Rich Francis’ Cooking for Reconciliation Dinner-Serie oder Reconciliation Dinner Workshops im Salmon n’ Bannock. Sie
3. Teil: Indigene Gastronomie und die kanadische gastroscape
dend ist, dass, bedingt durch das Fehlen einer dezidierten Vermittlungsagenda, indigene Gastronomie als Raum kulinarischer Vermittlung (verhältnismäßig) wenig Konfliktpotential hat. Und da darüber hinaus die Motivation zum Betreten eines Restaurants, Bistros, Cafés etc. in der Regel nicht in dem Vorhaben besteht, etwas lernen zu wollen – was auch die Überzeugung voraussetzt, etwas lernen zu können bzw. überhaupt etwas lernen zu müssen –, sondern darin, etwas zu essen, scheint die Annahme gerechtfertigt, dass institutionell nicht angebundene im Gegensatz zu institutionell angebundener indigener Gastronomie ein tendenziell größeres Publikum anspricht – kurzum, niedrigschwelliger ist.50 Zwar ohne die verschiedenen Arten indigener Gastronomie auf diese oder eine ähnliche Weise zu differenzieren und ohne die hier betonte Niedrigschwelligkeit zu benennen, unterstreicht auch A. Turner (2005) das grundlegende Potential der gastronomischen Professionalisierung indigener Ernährungskulturen im Hinblick auf »[to] draw non-Native people into a dialogue, challenging them to rethink stereotypical portrayals of Native people« (A. Turner 2005: 110). Neben Dolly (Watts) McRea, ehemalige Inhaberin und Betreiberin des Liliget Feast House, und anderen zitiert A. Turner hierzu auch Robert Gairns, der die NCHC-Mannschaft bei der IKA 1992 miterleben durfte und später mit einem der Mitglieder der Mannschaft, Andrew George Jr., zwei Kochbücher veröffentlichte (George und Gairns 1997, 2010): »Robert Gairns explains, ›… I think that in a sense the image that some Canadians might have of Aboriginal people as being less than swift or less than rich, you know, they’re just a bunch of drunks and winos … and all this kind of thing. I think people are really surprised when they go into an upscale place like (Sweetgrass) and see how classy it is, you know, and how classy it can be. I mean, the whole idea of the decor itself, the food that’s presented to people, the staff, the paintings on
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machen komplexe Problematiken anhand der Auseinandersetzung mit indigenen Ernährungskulturen greifbarer. Jedoch sind diese Veranstaltungen nicht nur hoch exklusiv (im Bezug auf den Preis und die Verfügbarkeit von Plätzen) und finden nur unregelmäßig statt, sondern stehen zudem eben jene Problematiken und weniger das eigentliche Essen im Mittelpunkt der Diskussion. Einerseits wird dadurch der Personenkreis des potentiellen Publikums noch weiter reduziert. Andererseits geraten letztlich gerade die zeitgenössischen indigenen Lebenswelten und allem voran die kulinarische Alltagskultur gänzlich aus dem Blick. Nicht unerwähnt bleiben darf, dass gerade die Tatsache, dass ein Restaurantbesuch keine Intention voraussetzt, die eigenen Anschauungen zu hinterfragen – geht es doch in erster Linie darum, gut oder irgendwie »besonders« zu essen –, von Autor*innen wie etwa Lisa Heldke im Kontext von indigener oder auch ethnischer Gastronomie als problematisch im Hinblick auf identitätspolitische Implikationen diskutiert wird. So versteht Heldke das Verhalten von »Food Adventurers« (Heldke 2003: xx-xxiv) – gemeint ist die »tendency to go culture hopping in the kitchen and in restaurants« (ebd.: xv) ohne das eigene Verhalten zu reflektieren und die eigenen Anschauungen zu hinterfragen – als Demonstration soziokultureller und -ökonomischer Hegemonie, die sie als »Cultural Food Colonialism« beschreibt (ebd.: xv-xviii). Siehe auch Fußnote 15, S. 301.
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the wall of Aboriginal culture and scenes, I think it elevates people’s impression of the Aboriginal community. I think it makes a very positive contribution in that way, in the sort of attitudinal side of things.‹« (A. Turner 2005: 98) Wie aus diesem und anderen Zitaten deutlich wird51 , geht es A. Turner bei der Rolle indigener Gastronomie im Hinblick auf »to rethink stereotypical portrayals of Native people« (ebd.: 110) in erster Linie um Aufwertung und nicht um ein differenzierteres Verständnis indigener (Ernährungs-)Kulturen mittels des direkten Kontakts mit indigener kulinarischer Alltagskultur. Sie konzentriert sich also mehr auf den Aspekt der Re-Evaluation als den der Re-Imagination, wie er hier im Zentrum der Diskussion steht. Nun lässt sich in Gestalt der erwähnten Medienpräsenz von Köchen wie Rich Francis und Shane Chartrand; von Gastbeiträgen in Kochbuchprojekten; von Einladungen zu Veranstaltungen wie Cook it Raw oder Terroir etc. in der Tat eine gesteigerte Aufmerksamkeit und Wertschätzung bzw. eine Verschiebung nicht-indigener Wahrnehmung indigener (Ernährungs-)Kulturen beobachten. Allerdings beschränkt sich diese Aufmerksamkeit in erster Linie auf die sehr kleine Sparte von progressiven indigenen Köch*innen wie Francis, Chartrand, Shawana und anderen. Wie in Kapitel 2.1.3. erläutert wurde, handelt es sich beim überwiegenden Teil indigener gastronomischer Betriebe jedoch nicht um fine-dining-Restaurants und ist deren Küchenprofil nicht durch progressive Interpretationen indigenen Kochens und Essens charakterisiert, sondern stellen letztlich indigene comfort foods den Dreh- und Angelpunkt der gastronomischen Professionalisierung indigener Ernährungskulturen dar und unterschlägt die Überbetonung der progressiven und fine-dining-Sparte zugleich die Diversität des Spektrums indigener Gastronomie. Darüber hinaus ist die Natur der zentralen Narrative und Schlagworte relevant, die den Diskurs im Kontext dieser gesteigerten Aufmerksamkeit prägen – gemeint sind jene globalen Gastronomie- und Ernährungstrends: local, organic, 100-mile diet, Paleo-Diät, LFHC-Diät, snout-to-tail, farm-to-fork, leaf-to-root etc. Nicht nur handelt es sich dabei um Begriffe und Konzepte, die mit dem im Zusammenhang stehen, was weiter oben als der Schleier nomineller locavore-isierung und Kanadisierung beschrieben wurde. Sie übergehen vielmehr den Kern der indigenen kulinarischen Alltagskultur (wie er in Kapitel 1.2.2. beschrieben wurde) und gleichsam den Kern dessen, wofür hier exemplarisch das Kekuli Cafe und Mr. Bannock genannt werden können. Nämlich indigene Betriebe, die eben diese zeitgenössische indigene kulinarische Alltagskultur und diesbezügliche (indigene) Vorstellungen guten Kochens und Essens repräsentieren. 51
A. Turner zitiert an anderer Stelle die ehemalige Inhaberin und Betreiberin des Sweetgras Aboriginal Bistro in Toronto, Phoebe Sutherland: »[T]hey [non-Indigenous Canadians] can realize that Aboriginal people can be out there competing with four star restaurants« (A. Turner 2005: 111).
3. Teil: Indigene Gastronomie und die kanadische gastroscape
Indes lässt sich nicht leugnen, dass die genannten Narrative und Schlagworte für die indigene Gastronomieszene und damit gleichermaßen für die indigene Bevölkerung im Allgemeinen von Nutzen sein können. So sind diese Narrative und Schlagworte zwar in der Hand des mehrheitsgesellschaftlichen Mainstreams und daher wie oben bereits mit einem Zitat von Crowther deutlich wurde, in der Hand der »dominant ethnic groups which have shaped a society’s institutions« (Crowther 2013: 193). Köch*innen wie Andrew George Jr., Faith Vickers, Ben Genaille und andere betonen dennoch den Mehrwert, der für indigene Köch*innen, Gastronom*innen und Lebensmittelproduzent*innen entstehen kann, wenn sie sich diese Narrative und Trends im Rahmen von Interviews, Menükarten, Dinner-Veranstaltungen, Kochbüchern (George 2013) etc. zu eigen machen (Genaille 2016; George 2015, 2016; Paillard 2013). Allein – und das ist hier entscheidend – verschleiert jegliche Reduktion, ganz gleich, ob sie pejorativer oder auch idealisierender (wie im Fall des ecological Indian oder eben zeitgenössischer, betont progressiver, indigener Gastronomie und der Aneignung jener Narrative und Schlagworte) Natur ist, die komplexe Historizität und immanente Diversität zeitgenössischer indigener (Ernährungs-)Kulturen. Selbst die Ambitionen der Organisator*innen der CNHC-Mannschaft tragen zu dieser Komplexitätsreduktion bei: Denn wenngleich das in Kapitel 2.2.3. erwähnte Vorhaben der Erfindung, Etablierung und Kommerzialisierung einer Canadian Native Haute CuisineTM ohne einen tatsächlichen Effekt blieb, stellt allein die Idee einer »Native Cuisine« (im Singular) nicht nur einen Widerspruch zur Diversität indigener Gastronomie und Ernährungskulturen dar, sondern reflektiert zugleich ungebrochen die binäre Statik jener fragwürdigen Vorstellung von indigenem Kochen und Essen, wie sie im Zitat von Schultz – »natural historic cuisine« (ebenfalls im Singular) – angeklungen ist. Das Gleiche, so wurde argumentiert, gilt für das in Kapitel 1.2.3. besprochene Ideal einer subtrahierenden Dekolonialisierung indigener Ernährungskulturen. So gibt es zwar durchaus eine gerechtfertigte indigene Kritik daran, wie sich die indigenen Ernährungskulturen seit dem Kontakt mit der »Alten Welt« verändert haben. Jedoch muss klar gesagt werden: Unter dem Banner der Dekolonialisierung indigener Ernährungs- und Lebensweisen die Gegenwart mit einer primär anhand nichtindigener Begriffe gefassten Vorstellung der Vergangenheit zu kontrastieren (vgl. ecological Indian), macht nichts anderes, als die Komplexität sowohl historischer als auch zeitgenössischer Lebenswelten zu simplifizieren und damit die Identitätspolitik kolonialer Hegemonie zu tradieren. Trotz vermeintlich guter Absichten sind diese Kritiker*innen – und wären auch indigene Köch*innen, die etwa ausschließlich streng nach Hunt und Boas’ Sammlung von historischen Kwakwaka’wakw Rezepten kochten bzw. prinzipiell die Verwendung nicht-indigener Nahrungsmittel und Nahrungsmitteltechniken ablehnten –, wie es Raibmon treffend ausdrückt: »collaborators in a binary framework that defined Indian authenticity in relation to
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its antithesis.« (Raibmon 2005: 7) Vor dem Hintergrund der erörterten Disposition zur Diversifizierung und Ausdifferenzierung reflektiert ein solches Verständnis indigener Ernährungskulturen letztlich Annahmen, die Thrush auf den Punkt bringt, wenn er konstatiert »the present-day essentialist ideas of ›traditional‹ diets […] assume static ecological contexts, static networks of exchange, and static palates.« (Thrush 2011: 16) Gleichwohl jedweder anderen Form der Reduktion bringt auch der Versuch einer subtrahierenden Dekolonialisierung indigener Ernährungskulturen nichts anderes zum Ausdruck als das, was Thrush weiter beschreibt als »twentyfirst-century ideas about what constitutes ›authentic‹ cuisine«, und zwar »[ideas that] often fail to recognize the historical contigencies of migration, trade, and cultural exchange« (ebd.). Indigene gastronomische Betriebe machen in der Regel genau das Gegenteil: Ganz ähnlich wie Sherpard Krech III mit seiner Kritik am Bild des ecological Indian seine Leser*innen mit einer akribisch recherchierten, unglaublichen Fülle an Fakten zwingt, in (letztlich nur scheinbaren) Widersprüchen zu denken, konfrontieren indigene Köch*innen und Gastronom*innen eine breite Öffentlichkeit mit der irreduziblen Historizität und Diversität indigener Lebenswelten. Dabei reflektieren sich, wie im 2. Teil argumentiert wurde, in der Diversität des Spektrums indigener Gastronomie als Ganzem nicht nur eben jene »historical contigencies of migration, trade, and cultural exchange« (ebd.), sondern brechen im Einzelnen Betriebe wie das Kekuli Cafe oder Mr. Bannock mit der Spezialisierung auf indigenes comfort food wie etwa Indian tacos, bannock burger, bannock pizza etc. ganz offen mit ahistorischen und reduktiven Imaginationen von Indigenität und indigenen Ernährungskulturen bzw. mit Erwartungen hinsichtlich dessen, was indigene Gastronomie in British Columbia und anderen Teilen Kanadas zu sein habe – oder eben nicht. Wenn hier also abschließend von der Indigenisierung indigener Gastronomie die Rede ist, dann besteht diese Indigenisierung weder in der indigenen Aneignung nichtindigener Narrative und Schlagworte oder in der Erfindung einer CNHCTM (im Singular) noch in der retro-reduktiven Dekolonialisierung indigener Ernährungskulturen, sondern darin, die Historizität und immanente Diversität indigener Lebenswelten in ihrer ganzen, den Blick des kulturellen Außenseiters irritierenden Profanität offen zur Schau zu tragen. Die entscheidenden Akteur*innen, die indigenen Köch*innen und Gastronom*innen, sind demnach keine »Kollaborateur*innen«; sie spielen nicht authentische »Indianer*innen« – und das aus gutem Grund. Für den Großteil jener Köch*innen und Gastronom*innen ist etwa die ausschließliche Verwendung von Produkten und Techniken der historischen indigenen Ernährungskulturen ebenso fremd wie sie es für die überwiegende Mehrheit ihrer (potentiellen) indigenen Kundschaft wäre. Das liegt nicht zuletzt daran, dass ein Großteil der indigenen Bevölkerung im heutigen Kanada diesen Anforderungen im alltäglichen Leben selbst nur schwer gerecht werden könnte – oder überhaupt gerecht werden möchte.
3. Teil: Indigene Gastronomie und die kanadische gastroscape
Letzten Endes würde diese Form der Dekolonialisierung im Umkehrschluss bedeuten, dass sie (indigene Köch*innen, Gastronom*innen und Konsument*innen) sich damit selbst als (scheinbar) entfremdet von ihrer eigen(tlich)en Indigenität oder Identität erfahren müssten. Entsprechend betont auch Shane Chartrand in einem Interview mit dem Lifestyle-Magazin Avenue Edmonton: »You don’t need to make moose soup or pemmican or jerky or dry meat to have Aboriginal food.« (Klingbeil 2017) Chartrands Kommentar lässt sich indes nicht nur als Erklärung für nicht-indigene Skeptiker*innen lesen, sondern erscheint – aus dem Munde eines der einflussreichsten indigenen Köche in Kanada – vielmehr als Zuspruch und Selbstvergewisserung für Mitglieder der indigenen Bevölkerung, die im Kanada des 21. Jahrhunderts vielfach mit dem Problem zu kämpfen haben, sich weder mit dem gängigen Bild ihrer indigenen Vorfahr*innen bzw. mit dominanten Imaginationen von Indigenität noch mit der Mainstreamkultur der nicht-indigenen Mehrheitsgesellschaft identifizieren zu können. Entgegen dem Gefühl der Nichtzugehörigkeit zur nicht-indigenen Mehrheitsgesellschaft auf der einen Seite und dem Gefühl, geläufigen Erwartungshaltungen im Hinblick auf Indigenität nicht gerecht werden zu können, auf der anderen, »bestätigen« öffentliche Stellungnahmen und Kommentare wie dieser oder auch Slogans wie »Don’t Panic…We Have Bannock!« des Kekuli Cafes und schließlich die generell zunehmende Präsenz indigener (Ernährungs)Kulturen im öffentlichen Raum das eigene Selbstverständnis bzw. die eigene lebensweltliche Alltäglichkeit – nämlich einen Alltag, in dem »moose soup or pemmican or jerky or dry meat« eine geringe oder gar keine, dagegen Pizza, Burger, Cornflakes, Pasta, Softdrinks etc. eine umso prominentere Rolle spielen. Bezüglich indigener gastronomischer Betriebe ist es deshalb natürlich nicht ausgeschlossen, dass sich auch Indian ice-cream, geräucherter Seelöwe, windgetrockneter Lachs, grease und andere selten gewordene indigene Nahrungsmittel und Gerichte, wie sie für die historischen indigenen Ernährungskulturen charakteristisch waren, auf der (dann häufig informellen) Speisekarte wiederfinden. Letztlich spielen diese Elemente, wie oben erläutert, bis heute zentrale Rollen im Rahmen außerordentlicher Anlässe und verfügen deshalb auch viele indigene Haushalte über einen, wenn auch meist nur kleinen, Vorrat an solchen kulturell wichtigen Nahrungsmitteln. Nichtsdestotrotz reflektiert der Großteil der Speisekarten indigener gastronomischer Betriebe in British Columbia und anderen Teilen Kanadas gerade jene zentralen Elemente der lebensweltlichen Realität indigener Konsument*innen, die aus nicht-indigener Perspektive häufig zu Manifestationen einer zur industrial mass diet verkommenen indigenen Ernährungskultur reduziert werden. Gemessen am diskursiven Standard geben sie damit ein zwar unorthodoxes, allein deshalb aber umso adäquateres Bild von Indigenität in der kanadischen Öffentlichkeit wieder. Die Frage, ob etwas »authentisch« ist oder nicht, wird dabei von indigenen Köch*innen, Gastronom*innen und Konsument*innen gar
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nicht erst auf den Tisch gebracht. Die Frage, ob der jeweilige Indian taco, bannockdog oder die neueste Zuckerglasur etc. gut schmeckt oder nicht, hingegen sehr wohl. Und wie bspw. die Zusammensetzung der stetig wachsenden Kundschaft von expandierenden Betrieben wie dem Kekuli Cafe oder die Auszeichnungen von Mr. Bannock Indigenous Food Truck im Rahmen von Foodie-Veranstaltungen52 sowie dessen Aufnahme in die Liste 21 of the Best Food Trucks to Visit Around the World53 zeigen, trifft der selbstbewusste Umgang indigener Köch*innen mit ihrem kulinarischen Erbe und zeitgenössischer Alltagskultur, eben jene Indigenisierung indigener Gastronomie, gleichwohl den Geschmack ›civilisierter Gaumen‹ (Krause 1885: 178).54 Insgesamt, so lässt sich also festhalten, konstituiert indigene Gastronomie, nicht nur bezüglich ihres geringen Konfliktpotentials (gerade aufgrund einer fehlenden dezidierten Vermittlungsagenda) und ihrer generellen Verfügbarkeit als Teil des öffentlichen Raums, sondern ebenso im Hinblick auf kulinarische Präferenzen nicht-indigener Akteur*innen, niedrigschwellige Räume kultureller Vermittlung. Damit sind die besten Voraussetzungen gegeben, um durch direkten Kontakt mit diesem spezifischen Element der Lebenswelten der indigenen Bevölkerung in British Columbia und anderen Teilen Kanadas dominante Imaginationen von Indigenität und damit den selbsterhaltenden Kreislauf von Imagination und Marginalisierung zu unterlaufen.
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2017 erzielte Paul R. Natrall beim Taco Fest in Burnaby den dritten Platz. www.thisisinsider.com/food-trucks-around-the-world-2018-9, abgerufen am 05.10.2018. Gerade aufgrund dieser Kongruenz, so muss noch hinzugefügt werden, müssen indigene Köch*innen und Gastronom*innen den Geschmack ihres kulinarischen Angebots für nichtindigene Konsument*innen im Wesentlichen wenig anpassen. Das Gleiche scheint im Übrigen auch für progressive indigene Köch*innen zu gelten. Schließlich treffen sie mit ihrer Fusionenküche (aus indigenen Lebensmitteln und Lebensmitteltechniken auf der einen und den Techniken und Präsentationsstilen zeitgenössischer Spitzengastronomie auf der anderen Seite) den Nerv eines kulinarisch interessierten respektive »offenen« oder experimentierfreudigen und nicht selten internationalen Publikums.
Schlussbemerkungen
In der Einleitung wurde zu Beginn festgestellt, dass es zugleich zutiefst ernüchternd und die größte Motivation und Chance sein kann, wenn direkte Erfahrungen die eigenen Annahmen und Erwartungen in Frage stellen. Genau genommen nimmt der Satz damit den Kern der diskutierten These vorweg. So waren es erst die Irritation und Skepsis in Anbetracht des Spannungsfeldes zwischen meiner, auf ethnografischer Literatur fußenden, Erwartungshaltung und der letztlichen Ausgestaltung von sowohl indigener kulinarischer Alltagskultur und indigener Gastronomie als auch derjenigen Teile indigener Lebenswelten, die ich im Laufe der diversen Forschungsaufenthalte miterleben durfte, die ein Nachdenken über die Prämissen meiner Sichtweise auf die Kulturgeschichte und das Phänomen gastronomischer Professionalisierung indigener Ernährungskulturen provozierten. Aus der Sicht einer Art Selbstdiagnose bestanden diese Prämissen in dem, was oben mit den Worten Charles Lindholms als »the modern thirst for the genuine« (Lindholm 2008: 2) bezeichnet wurde. Vermutlich lag darin auch der Grund für mein anfangs gesteigertes Interesse an jenem Segment der gastronomischen Professionalisierung, das von Köchen wie Rich Francis und Joseph Shawana verkörpert und von Shane Chartrand als »Progressive Indigenous« bezeichnet wird. Nicht zuletzt haben die Kreationen dieser Köche am wenigsten mit dem gemein, was gewöhnlich zu einem Ausdruck soziokultureller wie kulinarischer Regression reduziert wird: die zeitgenössischen indigenen (Ernährungs-)Kulturen. Nun ist gerade dieses Segment progressiven indigenen Kochens und Essens zweifelsohne in vielerlei Hinsicht faszinierend. Allein lernt man dabei nicht nur wenig über die tatsächliche – im Sinne von gegenwärtige – Lebenswelt des Gros der Mitglieder der indigenen Gesellschaften, sondern bewegt sich darüber hinaus nach wie vor in einem diskursiven Raum, in dem Indigenität nur in der Vergangenheit existiert, während die Gegenwart als durch Assimilierung und soziokulturelle Regression unterlaufen verstanden wird und lediglich die Zukunft die Möglichkeit einer – wie auch immer – (re)konstituierten echten, »progressiven« Indigenität zu bergen scheint. Um dies zu realisieren und schließlich gerade jenen Großteil indigener gastronomischer Betriebe, wie er durch bspw. Mr. Bannock und das Kekuli Cafe repräsentiert wird, als den eigentlich (kulturwissenschaftlich) interessanten Teil
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indigener Gastronomie zu erkennen und ins Zentrum meiner Forschung rücken zu lassen, bedurfte es indes eines, über meine sieben Aufenthalte gewachsenen, Fundus an direkten Erfahrungen mit indigenen Lebenswelten sowie einer vertiefenden Lektüre von sowohl historischen Quellen als auch insbesondere der Arbeiten von Robin Fischer, Cole Thrush, Paige Raibmon und anderen, die nicht nur meine Sichtweise auf die Historizität indigener Lebenswelten und damit gleichsam der indigenen Ernährungskulturen, sondern ebenso auf die Rolle indigener Gastronomie im Kontext der Marginalisierung der indigenen Bevölkerung geprägt haben. Ein Schlüsselmoment dieses Erkenntnisprozesses stellt ein Erlebnis im Rahmen des Gawalapa Weekend Wellness Gathering, 14.-16. März 2014, im Langhaus von Alert Bay dar. Bei diesem Treffen stand »Heilung und Gesundheit« auf dem Programm – und zwar nicht nur im Sinne körperlicher Heilung und Gesundheit, sondern ebenso in Bezug auf soziale, kulturelle und spirituelle Integrität. Zu diesem Zweck gab es diverse Workshops zu etwa den Gestaltungsprinzipien indigener formline art und zur Herstellung von Schmuck aus Zedernrinde; Gesprächskreise mit elders, die von ihren eigenen Erfahrungen in Residential Schools und den historischen indigenen Ernährungskulturen berichteten; gemeinsamen Sprachübungen in Kwak’wala; Vorträgen; Filmvorführungen; kollektiven Meditationsübungen und Lachtherapie; gemeinsames Tanzen und Singen und vieles mehr. Ein Programmpunkt, der in den Pausen zwischen den Workshops und anderen Angeboten stattfand, wurde von den Organisator*innen im Rahmen diverser Ansprachen als wichtigstes »Therapieelement« angekündigt. So gab es – getreu dem Motto: »Food is Our Medicine« – zur Verpflegung diverse »traditional foods«. Abgesehen von Obst, Cup-Cakes, Salat und bannock, waren dies z.B. salmon soup, halibut soup, tłu’bukw und als Höhepunkt ein traditional deer stew. Dabei hatte ich das Vergnügen, das gesamte Wochenende in der Küche des Langhauses beim Zubereiten der diversen Speisen mithelfen zu dürfen. Jener Schlüsselmoment bezieht sich auf die Zubereitung des traditonal deer stew. Hierfür schnitten meine Küchenchefin, eine elder, die für das Catering der Veranstaltung engagiert wurde, und ich tiefgefrorene, in Plastiknetze verpackte Rehfleischstücke in Würfel, um sie mit Zwiebeln in einer Pfanne scharf anzubraten. Gut angebraten kam das Ganze in einen Topf; es wurden gewürfelte Karotten und ausreichend Wasser dazugegeben; und anschließend alles lange köcheln gelassen. Auf meine Frage, ob und wie wir das traditional deer stew würzen, antwortete meine Küchenchefin: »Everything that is there. HP Sauce, Ketchup, Steak Sauce, doesn’t matter.« Nachdem das stew also mit einer großen Flasche HP Sauce abgeschmeckt worden war, die meine Küchenchefin im Vorhinein besorgt hatte, wurde das stew kurz vor dem Servieren mit etwas Stärke angedickt und zu mashed potatoes auf Papptellern und mit Plastikbesteck serviert. In Anbetracht der wiederholten Betonung der Traditionalität des stew und der anderen Speisen sowie der Hervorhebung der wichtigen Rolle, die traditionelles
Schlussbemerkungen
Kochen und Essen für sowohl die Reproduktion als auch die Rekonstitution soziokultureller Kohäsion innerhalb der indigenen Gruppen spielen (»Food is Our Medicine«), war meine Verwunderung zugegebenermaßen groß – wenngleich sie das eigentlich nicht sein sollte, schließlich teile ich als Ethnologe kulturwissenschaftliche Gemeinplätze, wie sie etwa die Historiker Jean-Louis Flandrin und Massimo Montanari im Schlusskapitel zu ihrem gemeinsamen Sammelband Food. A Culinary History from Antiquity to the Present (2000) mit den Worten unterstreichen: »every culture is ›contaminated‹ by other cultures; every ›tradition‹ is a child of history, and history is never static. […] Clearly, there is no such thing as a ›pure‹ identity. […] What history teaches us [instead] is that change is inevitable and that there is no point in longing for the past.« (Flandrin und Montanari 2000: 553) In Bezug auf Kochen und Essen bringt der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Restaurantkritiker Jonathan Gold in einem Vortrag zum Thema Authentizität im Zuge des 3. Kopenhagener MAD-Symposiums (25.-26. August 2013)1 diesen Gemeinplatz auf die griffige Formel: »While in a sense authenticity is the most important thing in the culinary world […] – authenticity is simultaneously not important at all.«2 Damit hat Gold natürlich Recht – und zugleich auch nicht. Vor dem Hintergrund der Dekonstruktion des »modern thirst for the genuine« und des zugrunde liegenden Verständnisses von Authentizität, Kultur und Indigenität in Begriffen possessiver Individualität, wie sie oben im Zusammenhang mit Richard Handler, Lionel Trilling und anderen diskutiert wurden, behält Gold Recht. Versteht man, in Anlehnung an den kanadischen Philosophen Charles Taylor, Authentizität hingegen als die, im Licht der eigenen Lebensentwürfe und Wertevorstellungen, beste, »möglichst umfassende Realisierung der eigenen Entwicklungsmöglichkeiten und Potenziale« (Taylor im Interview mit Wolfram Eilenberger, 2014) – also nicht einmal als das Ergebnis, sondern als Manifestation des (ernst gemeinten) Versuchs, etwas (ganz gleich, ob es sich um bspw. geräucherten Lachs, ein fried bologna sandwich, grease oder bannock handelt) den eigenen Erwartungen entsprechend »gut« zu machen –, dann spielt Authentizität im Kontext von Kochen und Essen doch eine, wenn nicht gar »die« zentrale Rolle.3 So sind es im Hinblick auf
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Zum jährlichen Symposium der 2011 von René Redzepi gegründeten MAD Food Organization siehe: www.madfeed.co. Siehe hierzu Jonathan Gold at MAD3: »On Authenticity« (Minute 15:40-15:58, www.youtube.com/watch?v=jr7Si1s777g, abgerufen am 14.10.2017). Um Golds Ausführungen an dieser Stelle nicht unfair zu verzerren, soll gesagt sein, dass er im weiteren Verlauf seines Vortrags in ähnlicher Weise argumentiert. Allerdings bleibt diese Ähnlichkeit implizit und Gold schließt seinen Vortrag mit einer entsprechend offenen Frage bezüglich eines sehr speziellen tasting menus eines philippinischen Kochs, das Gold einmal in Kalifornien serviert wurde: »Was the Spam Wellington authentic? I leave that up to you.« (»On Authenticity«, Minute 21:35-21:41)
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die Suche nach kulinarischer Authentizität (im Sinne Taylors) im indigenen British Columbia gerade Erfahrungen wie das traditional deer stew im Langhaus von Alert Bay oder ein bannock bison burger im Kekuli Cafe, die kulturelle Außenseiter*innen in den direkten Kontakt mit eben solchen (authentischen) Versuchen und dementsprechend mit Teilen der tatsächlichen indigenen Lebenswelten bringen können, wie sie etwa in bannock, jenem indigenen Identitätsmarker und Konvergenzpunkt zeitgenössischer indigener Ernährungskulturen, zum Ausdruck kommen. Für diejenigen, die – wie ich selbst – in British Columbia auf der nicht immer einfachen Suche nach den indigenen Ernährungskulturen versuchen, ihren modern thirst zu stillen, könnten die Worte des Kekuli also beruhigender kaum sein: »Don’t Panic…We Have Bannock!«
Danksagung
Mein besonderer Dank gilt Remi Caudron, Shane Chartrand, Theresa Contois, Ben Genaille, Andrew George Jr., Norman Goldie, Paul Roy Natrall, Samantha Nyce, Dolly (Watts) McRea und allen anderen Köch*innen, Gastronom*innen, Künstler*innen, Aktivist*innen, Kolleg*innen und neuen Freund*innen, die auf meinen Forschungsreisen und während meiner Recherchearbeiten in Kanada und Deutschland ihre Geschichten, ihr Wissen und nicht selten eine Mahlzeit mit mir geteilt haben. Auf ihrer Großzügigkeit beruht dieses Buch. Es ist eine überarbeitete Version meiner Dissertation, die ich im Rahmen eines Promotionsstipendiums im DFG-geförderten Graduiertenkolleg Wert und Äquivalent (GRK) erarbeitetet und 2018 an der Goethe-Universität Frankfurt am Institut für Ethnologie eingereicht habe. Ein weiterer Dank gilt dem Verband der Köche Deutschlands (VKD) für die Erlaubnis im Archiv des VKD recherchieren und gefundenes Material verwenden zu dürfen. Außerdem danke ich Marin Trenk und Rüdiger Krause für ihre stets konstruktive Kritik und die gewährte Freiheit, die es braucht, um im Zuge empirischer Forschung ein bislang unberührtes Feld wie dasjenige indigener Gastronomie finden und gründlich erforschen zu können. Nicht zuletzt möchte ich Annabel Bokern, der wissenschaftlichen Koordinatorin des GRK, für die vielseitige Hilfe und organisatorische Unterstützung während meiner Promotionsphase danken. Nun ist eine Dissertation noch lange kein Buch, und so danke ich Benjamin Wehrmann, Felix Bröcker, Hanna Knell, Heike Knell (†), Karin Simon-Schellhaas, Mario Schmidt und Stephan Ebert für unzählige hilfreiche Kommentare und die gewissenhafte Hilfe bei der Korrektur des Manuskripts sowie Maiken Laackmann und Philipp Matschoss für ihre Unterstützung beim Erstellen der im Buch enthaltenen Grafiken. In diesem Zusammenhang danke ich auch den Verantwortlichen des GRK und damit gleichsam der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) sowie der Deutschen Akademie für Kulinaristik (DAfK) für die finanzielle Förderung dieser Publikation. Mein größter Dank gilt meiner Familie für ihr Verständnis, ihre Geduld und ihren Rückhalt auf dem selten leichten Weg vom ersten Scheitern im Feld bis zum letzten Punkt auf dem Blatt.
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Kulturwissenschaft Gabriele Dietze
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