Filmische Moderne: 60 Fragmente 9783839444818

Internationally renowned authors revisit films and series from 1959-2018 and show the diversity of audiovisual aesthetic

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German Pages 462 Year 2019

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Table of contents :
VORWORT
60 Filme
1959 – 1968
The Big Country (1959)
Midnight Lace (1960)
L`année dernière à Marienbad (1961)
The Man Who Shot Liberty Valance (1962)
The Nutty Professor (1963)
Les Parapluies de Cherbourg (1964)
Pierrot le fou (1965)
Blow Up (1966)
Poemfield No. 7 (1967-68)
Rosemary’s Baby (1968)
1969 – 1978
Les choses de la vie (1969)
Obitateli (Die Bewohner) (1970)
Warnung vor einer heiligen Nutte (1971)
Solaris (1972)
Ein Herz und eine Seele (1973)
Supermarkt (1974)
Wonder Woman (1975)
Network (1976)
Annie Hall (1977)
Messer im Kopf (1978)
1979 – 1988
First Case, Second Case (1979)
The Long Riders (1980)
Diva (1981)
Blade Runner (1982)
The Day After (1983)
Paris, Texas (1984)
A.K. (1985)
Henry. Portrait of a Serial Killer (1986)
Superstar: The Karen Carpenter Story (1987)
Něco z Alenky (Alice) (1988)
1989 – 1998
Splendor (1989)
Miller’s Crossing (1990)
Naked Lunch (1991)
Bram Stoker’s Dracula (1992)
Die Geschichte der Qiu Ju (1993)
Pulp Fiction (1994)
To Die For (1995)
Fargo (1996)
Sieben Hügel (1997)
What the Water Said, Nos. 1–3 (1998)
1999 – 2008
The Big Lebowski (1999)
In The Mood For Love (2000)
Legally blonde (2001)
Weinachten bei uns daheim (2002)
Good Bye, Lenin! (2003)
Primer (2004)
Caché (2005)
The Boss of It All (2006)
The Bourne Ultimatum (2007)
Waltz with Bashir (2008)
2009 – 2018
Corneille-Brecht ou Rome l’unique objet de mon ressentiment (2009)
Inception (2010)
Melancholia (2011)
Laurence Anyways (2012)
All This Can Happen (2013)
Birdman or (The Unexpected Virtue of Ignorance) (2014)
Grace and Frankie (2015 – …)
Stranger Things (2016)
Stranger Things II (2017)
Chris Marker, les 7 vies d’un cinéaste Folie de la Jetée (2018)
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Filmische Moderne: 60 Fragmente
 9783839444818

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Oliver Fahle, Lisa Gotto, Britta Neitzel, Lars Nowak, Hedwig Wagner, André Wendler, Daniela Wentz (Hg.) Filmische Moderne

Film

Oliver Fahle, Lisa Gotto, Britta Neitzel, Lars Nowak, Hedwig Wagner, André Wendler, Daniela Wentz (Hg.)

Filmische Moderne 60 Fragmente Lorenz Engell zum 60. Geburtstag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld, nach einem Konzept von Lars Nowak Umschlagabbildung: Moritz Wehrmann (Lichthaus-Kino Weimar mit freundlicher Genehmigung der Betreiber) Lektorat: Gabriele Schaller & die Herausgeber_innen Satz: Britta Neitzel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4481-4 PDF-ISBN 978-3-8394-4481-8 https://doi.org/10.14361/9783839444818 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

VORWORT

Ein Bild, das sich zur Charakterisierung der Filmgeschichte verbreitet und eingeprägt hat, ist das des Brühwürfels. Der Umgang mit dem Brühwürfel erfordert nicht nur ein neues Verständnis von Konkretem und Abstraktem, sondern wirft auch die Frage nach dem Verhältnis von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft auf, muss doch vom Rind auf der Weide auf den Würfel im Supermarkt bis hin zur Suppe in der Tasse geschlossen werden. Dadurch werden Verbindungen gestiftet, die vom Faktischen auf das Mögliche und von erfahrbaren auf vorgestellte Zusammenhänge schließen lassen: ein zentrales Unternehmen sowohl des Films als Einzelwerk als auch der Filmgeschichte als Arbeit an der temporalen Sinnstiftung des Films als Medium. Das Bild verdankt sich Lorenz Engell und beschreibt eines der zentralen Projekte des Nachdenkens über die medienphilosophische Dimension des Films. Folgt man Lorenz Engell, dann sind es die einzelnen Filme, die diese Reflexionen selbst ausführen, nicht aber um vorgängige Perspektiven und Entwicklungen des audiovisuellen Mediums schulphilosophisch nachzuzeichnen, sondern um die Störungen sowie die räumlichen und temporalen Verwerfungen an vorhandenen Modellierungen von Film und Filmgeschichte sichtbar zu machen. Ein Film birgt ein Kohärenzversprechen, gerade auch als populärkulturelles und massentaugliches Medium, das aber von »guten Filmen« (so der Hauptteil des sachlich-emphatischen Titels einer mehrfach aufgelegten Vorlesung von Lorenz Engell) unterlaufen und neu sortiert wird. Erst die filmwissenschaftliche Analyse legt die Singularität und das medienphilosophische Potenzial von Filmen frei und deckt Verknüpfungen auf, die Lorenz Engell schon früh als Serialisierung begriffen hat und die sich daher folgerichtig bis in die Gegenwart der Fernsehserien ausdehnt.

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Dieser Arbeit an der Auslegung von »guten« Filmen und Serien widmen sich die 60 Beiträge in diesem Band. Die Autorinnen und Autoren nehmen dabei, durchaus unter Berücksichtigung jeweils eigener theoriegeleiteter und persönlicher Vorlieben, die bisherige Lebenszeit von Lorenz Engell Jahr für Jahr in den Blick, deren Beginn – ist es Zufall? – mit dem internationalen Durchbruch der Nouvelle Vague, der Groupe Rive Gauche und weiteren, für den modernen Film entscheidenden Erneuerungsbewegungen zusammenfällt. Das Kohärenzversprechen kann auch hier nur unter den Bedingungen, denen Filme und Filmgeschichte unterliegen, eingelöst werden: im Blick auf Fragmente, die Ordnungen destabilisieren, von denen sie zunächst ausgehen.

28.1.2019 Oliver Fahle, Lisa Gotto, Britta Neitzel, Lars Nowak, Hedwig Wagner, André Wendler und Daniela Wentz

60 Filme 1959 – 1968 The Big Country (1959) Oliver Fahle | 17

Midnight Lace (1960) Bernhard Siegert | 23

L’année dernière à Marienbad (1961) Martin Schlesinger | 29

The Man Who Shot Liberty Valance (1962) Lars Nowak | 37

The Nutty Professor (1963) Volker Pantenburg | 45

Les Parapluies de Cherbourg (1964) Kristina Köhler | 51

Pierrot le fou (1965) Vollrath Hopp | 59

Blow Up (1966) Hermann Kappelhoff | 71

Poemfield No. 7 (1967-68) Antonio Somaini | 79

Rosemary’s Baby (1968) Michel Chion | 85

1969 – 1978 Les choses de la vie (1969) Wolfram Nitsch | 95

Obitateli (Die Bewohner) (1970) Wolfgang Beilenhoff | 103

Warnung vor einer heiligen Nutte (1971) Gertrud Koch | 111

Solaris (1972) Jens Schröter | 117

Ein Herz und eine Seele (1973) Michaela Krützen | 123

Supermarkt (1974) Andreas Ziemann | 137

Wonder Woman (1975) Brigitte Weingart | 143

Network (1976) Vinzenz Hediger | 151

Annie Hall (1977) Christiane Voss | 157

Messer im Kopf (1978) Kay Kirchmann | 163

1979 – 1988 First Case, Second Case (1979) Markus Stauff | 173

The Long Riders (1980) Ivo Ritzer | 181

Diva (1981) Michael Cuntz | 189

Blade Runner (1982) Jörg Brauns | 197

The Day After (1983) Claus Pias | 203

Paris, Texas (1984) Gerd Zimmermann | 215

A.K. (1985) Elisa Linseisen | 223

Henry. Portrait of a Serial Killer (1986) Adina Lauenburger | 229

Superstar: The Karen Carpenter Story (1987) Astrid Deuber-Mankowsky | 237

Něco z Alenky (Alice) (1988) Felix Hasebrink | 243

1989 – 1998 Splendor (1989) Vittoria Borsò | 253

Miller’s Crossing (1990) Britta Neitzel | 259

Naked Lunch (1991) Bernd Herzogenrath | 269

Bram Stoker’s Dracula (1992) Harun Maye | 277

Die Geschichte der Qiu Ju (1993) Hedwig Wagner | 283

Pulp Fiction (1994) Claudia Tittel | 291

To Die For (1995) Katerina Krtilova | 297

Fargo (1996) Johannes Boettner | 303

Sieben Hügel (1997) Peter Bexte | 309

What the Water Said, Nos. 1–3 (1998) Laura Frahm | 315

1999 – 2008 The Big Lebowski (1999) Jürgen Müller | 325

In The Mood For Love (2000) Katarzyna Włoszczyńska | 331

Legally blonde (2001) Ulrike Bergermann | 339

Weinachten bei uns daheim (2002) Gunar Wardenbach | 345

Good Bye, Lenin! (2003) Katharina Niemeyer | 351

Primer (2004) Michel Diester | 357

Caché (2005) Joseph Vogl | 365

The Boss of It All (2006) Leander Scholz | 371

The Bourne Ultimatum (2007) Frank Kessler | 377

Waltz with Bashir (2008) Ute Holl | 383

2009 – 2018 Corneille-Brecht ou Rome l’unique objet de mon ressentiment (2009) Katharina Hohmann/Fritz v. Klinggräff | 393

Inception (2010) Lisa Gotto | 399

Melancholia (2011) Réda Bensmaïa | 405

Laurence Anyways (2012) André Wendler | 413

All This Can Happen (2013) Friedrich Balke | 419

Birdman or (The Unexpected Virtue of Ignorance) (2014) Dominik Maeder | 425

Grace and Frankie (2015 – …) Hartmut Winkler | 433

Stranger Things (2016) Daniela Wentz | 439

Stranger Things II (2017) Daniela Wentz | 445

Chris Marker, les 7 vies d’un cinéaste – Folie de la Jetée (2018) Raymond Bellour | 451

to be continued ...

1959 – 1968

THE BIG COUNTRY (1959) Oliver Fahle Im Jahre 1996 unternahm ich nach einem Mittagessen einen Spaziergang mit Lorenz Engell. Der Weg führte hinter die Mensa der Bauhaus-Universität (die damals noch ›Hochschule für Architektur und Bauwesen (HAB)‹ hieß) auf eine der Anhöhen des Ilmparks, die einen Blick auf das Gartenhaus von Goethe freigab. Der Park war schon zu Zeiten des Herzogs Carl August so angelegt, dass zwischen den Baum- und Felsgruppen Blickachsen freigegärtnert wurden, durch die von einer Seite, auf der die Römische Villa des Herzogs stand, auf die andere Seite, wo sich das Gartenhaus befand, geschaut werden konnte. Vor einer solchen Sichtschneise angekommen, machte Engell den Vorschlag, für die im Jahr 1999 anstehende Verwandlung Weimars in die Kulturhauptstadt Europas neben das vermeintliche Original des Gartenhauses eine zweite, sogenannte originalgetreue Kopie zu stellen. Diese sollte sich – zumindest von außen – in nichts vom eigentlichen Gartenhaus unterscheiden. Dieser Vorschlag, den Engell bald darauf den Verantwortlichen für die Kulturaktivitäten, mit denen sich Weimar 1999 der Weltöffentlichkeit (mindestens dieser, so verstanden das die Weimarer) präsentieren wollte, vorstellte, wurde bekanntlich realisiert, übrigens ohne dass derjenige, der die Originalidee hatte, bei der Planung weiter berücksichtigt wurde. In gewisser Hinsicht war das aber doch auch eine Konsequenz genau dieser Idee, die auf eine Zeit anspielte, in der zwischen Original und Kopie nicht mehr unterschieden werden sollte, denn es regierte in den 1990er Jahren die Theorie der Simulation, maßgeblich inspiriert unter anderen vom französischen Soziologen Jean Baudrillard. Das doppelte Gartenhaus war jedoch über den aktuellen öffentlichen und theoretischen Anlass hinaus ein Paradebeispiel für modernes und postmodernes Denken, angeregt durch die ab den 1990er

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Oliver Fahle

Jahren auflebende Debatte zum Verhältnis von Aura und Künstlichkeit nach Walter Benjamin sowie durch die den modernen Film prägende Eigenschaft der Selbstüberholung. Diese beruht darauf, dass Erzählweisen, Subjekte und Dinge, aber auch gesellschaftliche Organisationen und kollektive Verhältnisse weniger einer teleologischen und linearen Entwicklung unterworfen sind, sondern im Gegenteil stets auf sich selbst zurückkommen, sich durch die ihnen inhärente Bewegung restrukturieren und damit auf einer grundlegenden Idee der Asynchronie beruhen, in der immer mehrere Zustände ein und desselben Phänomens zugleich wirken. Dies gilt herausgehoben für den Film, kann aber auch als eines der zentralen Anliegen des philosophischen Denkens aller Bewegtbilder gelten. Die Welt des Fernsehens begreift Lorenz Engell in diesem Sinne als »fließende Kenntnisnahme im paradoxen Strom des Nebeneinanders seiner theoretischen Ereignisse« (Engell 2012: 24), doch besonders der Film löst sich erkennbar aus den Zusammenhängen einer modal konstruierten narrativen Zeitlichkeit, dem von Gilles Deleuze sogenannten Aktionsbild, und führt neben der Gegenwart immer auch ein Vorher und Nachher mit, die sich nicht mehr in zentraler Weise ordnen lassen. Faszinierend für Engell ist, dass jeder (gute!) Film immer wieder etwas von vorne beginnt, eine ganz eigene Welt öffnet, die aber andere, bereits zugängliche Filmwelten mitführt und als zentrales Ereignis daher stets zugleich zurück und nach vorne denkt. Filme stehen im Strom des Werdens anderer Filme und des Universums der Bewegungsbilder (und auch das zeichnet einen guten Film aus), aber sie denken sich selbst über sich und den Film hinaus, ohne dass dieses ›Außen‹ darstellbar oder fassbar wäre. So hat Engell einst das New British Cinema als »Film nach dem Ende des Films« (Engell 1992: 287) bezeichnet, weil die Krise des linearen Erzählens nicht nur den Film, sondern vor allem auch die Filmgeschichtsschreibung affiziert, die nicht einfach verharren kann vor (Medien-)Realitäten, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft relational beliebig verknüpfen und damit zu Verhältnissen des Asynchronen oder gar des Anachronistischen (vgl. Wendler 2014) wenden. Daher rührt die intensive Beschäftigung Engells nicht nur mit dem Beginnen, sondern auch mit dem Ende, dem Enden und der Endlichkeit. Filme müssen enden, aber damit sind sie noch lange nicht zu Ende. Engell zufolge vermitteln Filme wie Rashomon (Akira Kurosawa, J, 1950), Stalker (Andrei Tarkowski, SU, 1978), E la nave va (Schiff der Träume,

The Big Countr y (1959)

Federico Fellini, I, 1983), Quer durch den Olivenhain (Abbas Kiarostami, IR, 1994) und Adaptation (Spike Jonze, USA, 2002) ihren Schluss nicht als Ende, sondern als Beginn einer Reflexion auf Wandel und Dynamik, als Verschränkung der Paradoxien von Ende und Endlosigkeit, von Repräsentation und Irrepräsentierbarem: Die Modernisierung des Films setzte damit ein, dass der Film das Ende nicht mehr einfach nur fraglos annahm, als meist ›Glückliches Ende‹ setzte, wie das das klassische Kino getan hatte. Der moderne Film entdeckte das Ende vielmehr als einen besonderen Gegenstand der Betrachtung, der mit der Entwicklung der spezifischen Betrachtungsformen des modernen Films jenseits der Zwänge klassischer Erzählung überhaupt erst erschlossen werden konnte. Die filmische Modernisierung führte dann dazu, dass der Film seine eigene Endlichkeit entdeckte und in komplexen Ref lexionen zugleich betrachtete und überstieg oder besser unterlief. (Engell 2005: 27)

Filme haben also immer einen Schluss und ein Ende. Sie schließen mit der letzten Einstellung und dem Abspann, aber sie enden in einer paradoxen Bewegung der Selbstüberholung. Sie entlassen uns Zuschauer (im guten Fall) als Philosophen, da sie eine Unordnung der Zeiten und Zuordnungen herbeigeführt haben, die unsere an der Gegenwart orientierte Wahrnehmung in eine vitale Unbehaustheit entlässt, welche uns an der Beobachtung unserer eigenen Asynchronitäten teilhaben lässt. Filme beruhen seit jeher auf dieser dynamischen Aufmischung von Zeiten, als ›Falten‹, auch wenn diese seit den 1960er Jahren eine andere theoretische Dimension erhalten haben. The Big Country von William Wyler ist so ein Film, 1958 produziert, 1959 in Deutschland uraufgeführt. Ein Western, der wie andere zu dieser Zeit (vgl. Lars Nowaks Beitrag zu The Man Who Shot Liberty Valance, USA, drei Jahre später, in diesem Band) seine klassischen Themen wie Mythen und Ikonografien der Landnahme, der Pioniere und der frontier, des Patriarchats, der Viehhaltung und der Cowboys im Gewande der eigenen Genrezugehörigkeit, ihrer Narrative, Archetypen und Stilisierungen, verhandelt. Es beginnt wie so oft: Ein Fremder trifft in einer Stadt ein, ein rudimentäres Gebilde aus Saloon und ein paar Häusern, die wie eine zu spät gekommene Miniatur einer Westernstadt aussehen. Dieser James McKay (Gregory Peck) will Pat (Carroll Baker) heiraten, die er irgendwo im Osten kennengelernt hat, die aber fest in ihrer Heimat

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verwurzelt ist, wo sie mit ihrem Vater, der nur ›Major‹ genannt wird, auf der Ladder-Ranch lebt. Dieser ist verfeindet mit einem anderen Clan, den Hannasseys, die ebenso unnachgiebig vom Patriarchen Rufus regiert werden. Die zwei Großclans streiten sich um einen Fluss, der auf dem Gebiet der Big Muddy liegt, die von Julie Maragon (Jean Simmons), der örtlichen Lehrerin, gehalten wird. Sie führt das Erbe ihres Großvaters weiter, der niemals eine der beiden Parteien vom Wasser abhalten wollte. McKay gerät nun zwischen diese Fronten und hat auch zwei männliche Konkurrenten: zum einen Steve Leech, den Vormann und eine Art Sohnersatz des Majors, der um Pat wirbt; zum anderen Buck Hannassey, den ältesten Sohn von Rufus, der Julie für sich gewinnen will und seinen Vater in dem Glauben lässt, dass sie ebenfalls eine Vorliebe für ihn habe. Beide Frauen, die miteinander befreundet sind, haben jedoch nur Interesse an McKay. Dieser sagt sich bald los von Pat, die enttäuscht ist, dass er auf die üblichen männlichen Rituale des Wilden Westens nicht eingeht (ein wildes Pferd reiten und sich nach Provokationen schlagen und duellieren), und fühlt sich Julie deutlich näher, der er schließlich die Big Muddy abkauft. Während die beiden Patriarchen sich in einem Duell gegenseitig erledigen, reiten McKay, Julie und ihr ortskundiger Gefährte, der mexikanische Rancharbeiter Ramón, einer eigenen Zukunft entgegen. Alle drei sind eigentlich längst aus den Westernritualen herausgefallen. Der Mexikaner, die selbstbestimmte Frau und der Mann aus dem Osten verlassen eine Landschaft, in der sie von Beginn an Außenseiter waren und in eine andere Epoche gehörten. Western liefern Narrative für die Herkunft der US-amerikanischen Zivilisation. The Big Country scheint den Western aber noch einmal anders zu erzählen, das Genre und seine Erzählungen noch einmal neu konzipieren zu wollen. Dies zeigt sich besonders an der Figur des McKay. Nicht nur sein Aufzug, insbesondere sein Hut, der vielfach belächelt und beschossen wird, zeigt die Asynchronie an (und verweist auf eine eigene Dingontologie in Filmen, welche die Film- und Medienwissenschaft zuletzt neu entdeckt hat). Wichtiger aber ist, dass er sich den Ritualen verweigert. Er ignoriert die Provokationen der Hannasseys, die seine Fahrt mit seiner Verlobten aufmischen. Er lässt sich weder von den Cowboys auf der Ranch auf das wilde Pferd Old Thunder setzen, noch schlägt er sich vor allen Leuten mit seinem Rivalen Leech. Allerdings: Er tut diese Dinge doch, aber im Verborgenen, reitet Old Thunder zu, wenn niemand bis auf

The Big Countr y (1959)

Ramón auf der Ranch ist, und schlägt sich mit Leech in der Nacht, wenn keiner es mitbekommt. The Big Country ist damit nicht ein Spätwestern, der die Mythen des klassischen Western zerstört, sondern einer, der sie neu erfindet: zeitgemäßer, wenn man so will; friedlicher, auch individueller, denn McKay macht die Dinge gerne im Verborgenen, als Individualist. Nachts reitet er alleine fort oder er kauft die Big Muddy, ohne dies jemandem mitzuteilen. In The Big Country geht es keineswegs um die Parodie oder gar Zerstörung eines Genres, sondern um eine paradoxe Selbstüberholung, in der das Ende des Westerns gleichzeitig als Verweis auf die Anfänge des Films als Western, aber auch auf die Zivilisation verstanden wird. Es geht daher vielmehr darum zu verdoppeln, es noch mal zu erzählen und zu erfahren anstatt es zu zerstören, ähnlich wie es beim doppelten Gartenhaus der Fall ist. Zugleich verweist der Film auf die Zukunft eines zeitgemäßeren Amerikas, das auf der Höhe seiner filmisch-modernen Medialität ankommt. So zeigen die Bilder zwar klassische Aufnahmen des Westerns: weite flache Landschaften und tiefe Schluchten, auf deren Anhöhen Statisten mit Gewehren sitzen. Dennoch geht es Wyler und wohl auch dem aus Deutschland emigrierten Kameramann Franz Planer (vgl. Koebner 2003) vor allem darum, die oft archetypischen Bilder als eine Art ›picturing‹ auszustellen. Darunter ist zu verstehen, dass einem Bild die Herstellung anzusehen ist, ohne dass dadurch die narrative Dimension verloren geht. Die Westernstadt ist eine solche Kulisse, aber gerade auch die Landschaft. Bevor McKay sich mit Leech prügelt, führt der Blick mehrmals von der Ranch in die Landschaft hinaus, die aber nicht weit und erhaben, nicht unwirtlich und gefährlich ist, wie etwa in den ersten Bildern von The Searchers (John Ford, USA, 1957), sondern fast schon flach und zweidimensional. Wenn Leech und McKay sich prügeln, bearbeiten sich Silhouetten vor einem dunklen Grund. Der Faustkampf zwischen zwei männlichen Rivalen ist nur eine der zahlreichen archetypischen Situationen, die The Big Country aufruft. Diesen setzt der Film jedoch die Gründung einer zweiten Zivilisation (Amerikas) entgegen: Die kommt aus dem Osten (McKay), so als würde dieser den Westen noch einmal neu gründen, er verhandelt ein anderes Frauenbild (der sich dem Patriarchat fügenden Pat wird die emanzipierte Lehrerin Julie entgegengestellt) und ergänzt das mythisch besetzte Aktionsbild durch ein medial inspiriertes Kino des picturing, das neben der Handlung immer auch fotografisch aufgeladen ist.

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The Big Country ist damit eines der vielen Asynchronitätsbilder, die das Kino von Beginn an interessierte, die besonders in zahlreichen Hollywoodproduktionen der 1950er Jahre so auffällig durchscheinen und die gute Filme, ob heute oder gestern, ob auf der Leinwand oder im Kopf, ob analog oder digital, zwischen den Zeiten und Wahrnehmungen, endlich und niemals endend, oszillieren lassen.

Referenzen Adaptation (USA, 2002, Spike Jonze). E la nave va (I, 1983, Federico Fellini). Engell, Lorenz (1992): Sinn und Industrie, Frankfurt a.M./New York: Campus. Ders. (2005): Bilder der Endlichkeit, Weimar: vdg. Ders. (2012): Fernsehtheorie zur Einführung, Hamburg: Junius. Koebner, Thomas (2003): »Weites Land«, in: Kiefer, Bernd/Grob,Norbert (Hg.): Filmgenres. Western, Stuttgart: Reclam, S. 222–226. Quer durch den Olivenhain (IR, 1994, Abbas Kiarostami). Rashomon (J, 1950, Akira Kurosawa). Stalker (SU, 1978, Andrei Tarkowski). The Man Who Shot Liberty Valance (USA, 1962, John Ford). The Searchers (USA, 1957, John Ford). Wendler, André (2014): Anachronismen. Historiografie und Kino, München: Fink.

Oliver Fahle ist seit 2009 als Film- und Fernsehwissenschaftler an der Ruhr-Universität Bochum tätig.

MIDNIGHT LACE (1960) Bernhard Siegert »Viel geschieht«, schrieb Fritz Heider in Ding und Medium, »was in unsere Welt gar nicht hinaufsteigt.« (Heider 1926: 130) Was in der »Lebenswelt« nicht erscheint und daher in der Regel »unwichtig« ist, sind sogenannte »Mediumvorgänge« (ebd.). Nur in Ausnahmefällen steigen »Mediumvorgänge« in unsere Welt auf, und ein solcher Ausnahmefall par excellence ist für Heider: Nebel. Am Beginn von David Millers Midnight Lace (1960) steigt ein »Mediumvorgang« auf in die Welt von Mrs Kit Preston. Kit (Doris Day) überquert im dicksten Londoner Nebel Grosvenor Square, um von der amerikanischen Botschaft nach Hause zu gelangen. Auf dem Weg von einer Institution der Reterritorialisierung, der nationalstaatlichen, zur anderen, der familiären, wird die Welt komplett ausgelöscht. Wenn das Medium sichtbar wird, verschwindet die Sichtbarkeit der Dinge. Auch Days weißer Mantel hebt sich nur verschwommen vom bläulich-weißen Grund ab. Heider erwähnt die Gefahr des Nebels für Seeleute und Bergsteiger; Leinwandfiguren hat er vergessen, wohl weil die Kinoleinwand für ihn das Gegenteil von Nebel ist: »Was wird nicht alles der weißen Wand des Kinos aufgezwungen! Wir sehen aber: da ist die Wand eigentlich Medium. Wir sehen nicht die Wand, wir sehen Anderes.« (Ebd.: 134) Wenn aber die weiße Wand des Nebels der weißen Wand des Kinos aufgezwungen wird, bringt der Nebel die Kinoleinwand zur Erscheinung. Aus dem Nebel, dieser Metapher der Kinoleinwand, erreicht Mrs Preston ein Anruf. Es ist der erste, der Ur-Anruf, der allen Telephonanrufen vorausgeht. Es ist eine versehrte Stimme, eine unnatürlich hohe männliche Stimme, »very sing-song«: die Stimme einer Bauchrednerpuppe. Kit sagt es selbst, als sie versucht, die Stimme ihrem Mann zu schildern: »it was like a puppet’s«. Die akusmatische Stimme ruft die Frau bei ihrem Namen: »Mrs Preston!«

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Das Acousmêtre ist hier im Grunde radikaler als in den Fällen, die Michel Chion zitiert. Weder wird uns ein Vorhang oder eine Tür gezeigt, hinter der man die Person vermutet, deren Stimme man hört. Noch geht es darum, dass eine Stimme von jemandem gehört wird, den man im hic et nunc der Szene vermutet, aber außerhalb der Kadrierung (vgl. Chion 2003: 126). Das hors-cadre ist hier innerhalb der Kadrierung. Nebel lässt das Acousmêtre (oder den Acousmaître) alle Punkte des champ besetzen. Die Angerufene versucht die Herkunft der Stimme zu orten; doch die paradoxe Orientierungshilfe, die die Dummy-Stimme gibt – »Over here!« –, verdeutlicht nur umso mehr die Referenzlosigkeit eines akusmatischen ›Hier‹. Die Deixis, mit der die Bedeutungsfunktion der Sprache an die körperliche Präsenz der Äußerung gebunden wird, verweist ins Leere. Wir wissen, der Sprechfilm ist selbst nichts anderes als eine große Bauchrednermaschine (vgl. Altman 1980; Connor 2000: 411). Daher lässt sich die Stimme der Bauchrednerpuppe, die Kit erst im Nebel und von da an fortlaufend am Telephon mit dem Tod bedroht, nur als Selbstreferenz des Mediums Sprechfilm verstehen.1 Das technische Prinzip des seit 1929 allgemein von den Studios verwendeten playback-Systems hatte die Tonspur bereits vor der Filmaufnahme vom Bild getrennt. Indem es den Darsteller mit einem Ton synchronisierte, den er oder sie nicht notwendig hervorgebracht hatte, erlaubte playback Profit aus dem zu schlagen, was Rick Altman »the sound film’s fundamental lie« nannte: »the implication that the sound is produced by the image when in fact it remains independent from it« (Altman 1985: 46). Der Sprechfilm funktioniert mithin aufgrund desselben Prinzips, das dem Bauchrednertrick zugrunde liegt, weshalb das Unheimliche an Filmen wie The Great Gabbo (1929), Dead of Night (1945), Devil Doll (1964) und Magic (1978) darin besteht, dass ihre Diegese das psychotechnische Prinzip des Sprechfilmes auf unbelebte Objekte (Puppen) anwendet. Midnight Lace spielt in gewisser Weise dasselbe Problem durch wie Alfred Hitchcocks Psycho (ebenfalls aus dem Jahre 1960): dasjenige der Identität einer Leinwandfigur. Während in Psycho aber 1 | Allerdings hat der Plot von M idnight L ace Vorläufer in der Wirklichkeit. Aktenkundig geworden ist der Fall eines Musikklub-Besitzers in Clerkenwell, der vor Angst gestorben sein soll, nachdem die ortlose Stimme eines Bauchredners ihm auf der Straße zugerufen hatte: »Thomas Britten, prepare to die.« (vgl. Connor 2000: 404 f.)

Midnight Lace (1960)

das Problem darin besteht, zu erkennen, dass zwei Personen (Norman Bates und seine Mutter) in Wirklichkeit eine sind, wobei der Eindruck, dass es sich um zwei Personen handelt, durch die akusmatische Stimme der Mutter hervorgerufen wird, besteht es in Midnight Lace umgekehrt darin, zu erkennen, dass das Acousmêtre am anderen Ende des Telephons2 tatsächlich ›real‹ ist und kein Phantom. Technische Medien geben dem Acousmêtre die Chance, sich der Entakusmatisierung permanent zu entziehen. Schon in Fritz Langs Das Testament des Dr. Mabuse (1933) erzeugte ein Grammophon hinter der Tür zum Arbeitszimmer oder der Schalltrichter hinter dem Vorhang eine geisterhafte Existenz an einem Ort, solange Sichtbarkeit und Hörbarkeit aufgesplittet waren. Auch am Ende von Midnight Lace wird im scheinbaren Moment der Entakusmatisierung der unheimlichen Stimme kein sprechender Körper sichtbar, sondern ein portables Tonbandgerät. Medien erlauben einen unendlichen Aufschub der Synchronisierung von Körper und Stimme. Die Anrufe kommen immer, nachdem Mrs Preston eine Enttäuschung durch ihren Mann erlitten hat: kein gemeinsames Dinner, keine Reise nach Venedig, vorzeitiger Auf bruch in der Oper. Der Inspektor von Scotland Yard interpretiert daher die Anrufe als hysterisches Symptom einer frustrierten weiblichen Sexualität. Gibt es überhaupt jemanden am anderen Ende, wenn der Hörer abgenommen wird? »The trouble is«, erklärt Mr Preston (Rex Harrison) gegenüber Aunt Bea (Myrna Loy), »that no one but Kit has heard this man.« Worauf Preston und der Inspektor hier anspielen, ist ein seit 1900 populärer medizinischer Diskurs, der weiß, was mit Frauen los ist, die Stimmen halluzinieren. So schrieb John Payne über Lady Burton, die auf Befehl ihres verstorbenen Mannes (der ihr nach seinem Tod mehrfach erschienen war) dessen nachgelassene Übersetzung von Scheikh Nefzawis Parfümiertem Garten verbrannt hatte: »She was of course a hysterian, and that explains everything. Women in all ages have mistaken vox uteri for vox Dei...« (Wright 1919: 177) Das Telephon in Midnight Lace ist also ein Medium, das sich die vox uteri gesucht hat, um sonofiziert zu werden. Das Telephon ist in seinem Wesen ein Hysterophon. Als herauskommt, dass Kit einen nicht-existenten Telephonanruf bloß inszeniert hat, damit man ihr glaubt, drängt sich der Ver2 | »Eine Person, die über das Telephon mit einem spricht und die man noch nie gesehen hat, ist ein acousmêtre.« (Chion 2003: 128)

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dacht, sie »is making everything up«, auch dem Zuschauer auf, von Aunt Bea und dem Inspektor ganz zu schweigen. Der Doppelsinn von »making up« erklärt auch den Titel des Filmes; denn das midnight lace, ein schwarzes Spitzenunterkleid, das Kit ihrem Mann am Anfang vorführt, hat einen wohlbekannten Bezug zur Symptomatologie der Hysterika. »Zum Beispiel werden großmaschige Stoffe getragen, Spitzen, Netzgewebe, die fleischfarbene Unterwäsche bedecken. [...] Die Kleidung erfüllt hier die Funktion des Make-up/ maquillage – das Wort trifft den Nagel auf den Kopf.« (Israël 1987: 60) Der doppelte Sinn von ›etwas zu sehen geben‹ und ›etwas vorspielen‹ fasst diejenigen Symptome der Hysterie zusammen, die der Bezug zum Make-up vereint, das die chronischen Zweifel des Mannes an seiner Männlichkeit beschwichtigen soll. She is making everything up, ihr ganzes Wesen ist midnight lace. Als schließlich Tante Bea einen Anruf in der Preston-Wohnung entgegennimmt und sich für Mrs Preston ausgibt, worauf die akusmatische Stimme sie fragt »What time shall I ring you, Mrs Preston? You haven’t called me«, scheint der Beweis erbracht, dass alles ein hysterisches Make-up war. Zwar protestiert Kit noch: »He is lying«; doch nun hat die Bauchrednerpuppe die Realitätsfunktion vollständig in ihre Gewalt gebracht. Damit die Ordnung des Kinos sich etablieren kann, muss die Wahrnehmung der Frau hysterisiert werden. Ein diabolisches Komplott (hinter dem, wie sich herausstellen wird, ihr Ehemann und dessen Geliebte stecken) hat erfolgreich eine Maschine konstruiert, die eine Frau dazu bringt, einen Schrei von sich zu geben: Chions Definition des Kinos selbst (vgl. Chion 1982: 68). Das Resultat, das diese Maschine namens Sprechfilm produziert, ist, was Kaja Silverman die Diegetisierung der weiblichen Stimme nennen würde (vgl. Silverman 1988: 61 f. und passim). Die von Tony Preston konstruierte Maschine, die zugleich die Maschine des Kinos ist, schließt Kit ein in eine Geschichte, in der die akusmatische Stimme eine von ihr selbst hervorgebrachte nicht-eigene Stimme ist. Es gibt keinen Acousmaître, es gibt nur Hysterika und Paranoiker, die nicht zwischen Innen und Außen unterscheiden können (vgl. ebd.: 65). Kit bricht in einem hysterischen Anfall zusammen, dessen Ikonographie allen Charcot schen Regeln entspricht, worauf dann auch prompt eine Einweisung in die Psychiatrie folgt und die entsprechende Diagnose des Arztes: »disassociation of personality«. Erfolgreich hat sich nun die Dissoziierung von Körper und Stimme, das Wesen der telephonischen Apparatur, im Inneren des weiblichen ‘

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Körpers eingerichtet. Die Struktur der Bauchrednermaschine Kino wird auf den (nicht immer weiblichen) Körper verschoben, exakt so wie am Ende der Bauchrednerepisode von Dead of Night, wenn aus der starren Mundöffnung des psychiatrisierten Maxwell Frere die Stimme von Hugo, dem Dummy, hörbar wird. Es gibt keine deakusmatisierte Stimme (vgl. Dolar 2014: 95). Es gibt keine ›eigene Stimme‹. Daher würde es auch nichts nützen zu schreien, wie die Bauchrednerpuppenstimme feststellt, wenn Kit am Ende mit ihrem diabolischen Mann allein im Dunkeln des Schlafzimmers ist, denn »you’re a known hysteric«. Die Entakusmatisierung, die die Regel des klassischen Sprechfilmes ist, führt zu schizoiden Persönlichkeiten. Kit Preston oder Maxwell Frere machen bloß die normative Pathologie des Filmbildes explizit. Midnight Lace ist zu harmlos und zu sehr bemüht, alles am Ende einer rationalen Erklärung zuzuführen, um so weit zu gehen, aus dem Mund einer wahnsinnigen Doris Day die unheimliche Bachrednerpuppenstimme ertönen zu lassen (wie am Ende von Dead of Night). Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die entkörperlichte Stimme, die Kit mit dem Tode bedroht hat, am Ende zur Stimme von Kit wird, die sie zu inkorporieren hat. Die akusmatische Stimme, die Stimme eines Dummys, wird zu ihrer eigenen Stimme, der Stimme einer Hysterika, einer Stimme »which is made up«. Die Dissoziierung des kinematographischen Apparats wird die Dissoziierung ihrer Persönlichkeit, und die Normalität des Sprechfilmes ist die Normalität eines (weiblichen) Körpers, der gezwungen werden soll, zu akzeptieren, dass er selbst die Quelle einer Dummy-Stimme ist. So wie der Bauchrednereffekt Stimme und Bild an einem Ort miteinander identifiziert, von dem die Stimme nicht herkommt, so werden nun das Acousmêtre und der Körper gewaltsam miteinander identifiziert. Man muss daraus schließen, dass, so wie der sichtbare Körper im Film keine Stimme hat, die seine eigene wäre, es auch keinen nicht-synchronisierten Sprechfilm gibt. All talkies are dubbed, including the non-dubbed. Weshalb der Usus, fremdsprachige Filme mit den Stimmen anderer Sprecher zu synchronisieren, im Grunde der Wahrheit, die Dead of Night oder Midnight Lace inszenieren, näher kommt als die vermeintlich cineastische Forderung, dass man Filme immer nur mit dem Originalton sehen müsse. Originalton gibt es nicht.

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Referenzen Altman, Rick (1980): »Moving Lips. Cinema as Ventriloquism«, in: Yale French Studies 60, S. 67–79. Ders. (1985): »The Evolution of Sound Technology«, in: Weis, Elisabeth/Belton, John (Hg.): Film Sound. Theory and Practice, New York: Columbia University Press, S. 44–53. Chion, Michel (1982): La Voix au cinéma, Paris: Editions de L’Etoile. Ders. (2003): »Mabuse – Magie und Kräfte des ›Acousmêtre‹. Auszüge aus ›Die Stimme im Kino‹«, in: Epping-Jäger, Cornelia/Linz, Erika (Hg.): Medien/Stimmen, Köln: DuMont, S. 124–159. Connor, Steven (2000): Dumbstruck. A Cultural History of Ventriloquism, Oxford/New York: Oxford University Press. Das Testament des Dr. Mabuse (D, 1933, Fritz Lang). Dead of Night (GB, 1945, Alberto Cavalcanti et al.). Devil Doll (GB, 1964, Lindsay Shonteff). Dolar, Mladen (2014): His Masters Voice. Eine Theorie der Stimme, Berlin: Suhrkamp. Heider, Fritz (1926): »Ding und Medium», in: Symposion I/2, S. 109–157. Israël, Lucien (1987): Die unerhörte Botschaft der Hysterie, München/Basel: Ernst Reinhardt. Magic (USA, 1978, Richard Attenborough). Psycho (USA, 1960, Alfred Hitchcock). Silverman, Kaja (1988): The Acoustic Mirror. The Female Voice in Psychoanalysis and Cinema, Bloomington/Indianapolis: Indiana University Press. The Great Gabbo (USA, 1929, James Cruze). Wright, Thomas (1919): The Life of John Payne. London: T. Fisher Unwin.

Bernhard Siegert, Prof. Dr. phil. habil., ist Professor für Geschichte und Theorie der Kulturtechniken und Co-Direktor des Internationalen Kollegs für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie an der Bauhaus-Universität Weimar.

L ’ ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD (1961) Martin Schlesinger

A Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern: In meinem ersten Semester an der Bauhaus-Universität Weimar, im Winter 2002/03, durfte ich im Rahmen der ersten Filmanalyse meines Lebens über L’année dernière à Marienbad (1961) referieren. Anhand meiner damaligen Notizen kann ich nachempfinden, wie wenig ich von diesem Film verstanden und wie orientierungslos ich mich in meinen Interpretationsversuchen verstrickt haben muss. In meiner Vortragsgruppe sollte ich über die kulturellen und philosophischen Bezüge sprechen. Wenn ich heute meine Aufzeichnungen betrachte, dann wirken diese wie ein planloses Zapping: zunächst einige Informationen zum Barock, dann eine knappe psychoanalytische Deutung mit einem Verweis auf das Spiegelstadium, gefolgt von Spiegelstrichen zur griechischen Mythologie, zur Renaissance, zu René Descartes, zur französischen Gartenarchitektur des 17./18. Jahrhunderts und letztlich noch flüchtige Bemerkungen zum Existentialismus. Von Gilles Deleuze, seinen Zeit- und Kristallbildern, über welche einer meiner Mitreferenten berichtete, hatte ich noch nichts gehört, und ich brauchte noch einige Semester, um die Deleuze’sche Filmphilosophie überhaupt ansatzweise zu begreifen (vgl. Deleuze 1991: 155 ff). Eine zweite Erinnerung, die ich mit diesem Film verbinde, ereignete sich fünf Jahre später, kurz vor Ende meines Studiums. Im Rahmen seiner Vorlesungsreihe »Der gute Film« präsentierte Lorenz Engell L’ année dernière à Marienbad am Mittwoch, den 24.10.2007 im Weimarer Lichthaus-Kino; eine Veranstaltung, bei welcher jeweils zunächst ein Film gezeigt und im Anschluss ein Vortrag gehalten wurde. Nach etwa achtzehn Minuten, in der Szene,

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in der fünf Männer in Anzügen aufgereiht nebeneinanderstehen, sich einzeln umdrehen und mit Pistolen auf Silhouetten schießen – da riss der Film. Solch ein kinematografischer Blackout, den man im Kino ohnehin selten erlebt, ist in Zeiten digitaler Projektionen sicherlich noch ungewöhnlicher. In diesem speziellen Fall wirkte er umso beeindruckender, da er mit dem Knall einer Pistole erfolgte und es daher so schien als hätten die Bilder etwas mit dieser Unterbrechung zu tun. Der Film selbst hatte sich aus der Ausweglosigkeit seines Apparats und zugleich aus seiner Geschichte befreit – auch wenn es nach einer kurzen Pause weiterging. Der plötzliche Riss und der zeitliche Bruch verliehen dieser unerwarteten kinematografischen Geste jedoch einen eigenartigen Sinn. In seiner anschließenden Vorlesung begrüßte Engell seine Zuhörer mit der Bitte, den Film als einen guten anzuerkennen, selbst wenn er einem persönlich nicht gefalle. »Falls Sie ihn nicht mögen, sind Sie damit auch nicht allein: Die Zuschauer des Jahres 1961 sollen gleich sitzreihenweise aus dem Kino geflohen sein!« Und er fügt das Versprechen hinzu: »Sie werden auch verstehen, dass, wenn man diesen Film einmal zu sehen und zu respektieren gelernt hat, man für das normale Hollywoodkino nahezu verloren ist.« (Vgl. Engell 2007/08) 1 Ich selbst schätzte ihn sicherlich gerade deshalb, weil ich mich schon im ersten Semester an ihm abgearbeitet, ihn nicht wirklich durchschaut hatte, und er dadurch rätselhaft blieb. Er war der Beginn einer ausführlicheren Auseinandersetzung mit anderen Werken von Alain Resnais und Alain Robbe-Grillet, mit der Rive Gauche und dem Nouveau Roman.2

X Wenn ich heute selbst Studenten überreden müsste, sich auf dieses schwer zugängliche, jedoch unumgängliche Werk einzulassen, so würde ich zunächst versuchen Ihnen zu verdeutlichen, inwiefern es als Pionierarbeit betrachtet werden kann, die wegweisende narrative und visuelle Ideen präsentierte, die später auch in massentauglichen Produktionen auftauchten. An erster Stelle wäre das die komplizier1 | Das Skript zur Vorlesung ist leider nicht mehr online verfügbar. 2 | Zu den Relationen zwischen Geschichte, Gedächtnis, Erinnerung und Erzählung bei Resnais siehe auch seine Dokumentarfilme L es Statues meurent aussi (1953), Nuit et Brouillard (1956) und Toute la M émoire du Monde (1957) sowie seinen vorigen Spielfilm H iroshima , mon A mour (1959).

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te Erzählweise mit ihren verworrenen Vergangenheits- und Gegenwartsschichten, Wiederholungen und widersprüchlichen Strängen, die unklare Abfolge von Erinnerungsfragmenten, Behauptungen und Imaginationen der dominanten, persuasiven männlichen Stimme und der zweifelnden, ängstlichen weiblichen; eine Narration, die man als unzuverlässig bezeichnen kann, ein Begriff der 1961 vom Literaturwissenschaftler Wanye C. Booth geprägt wurde (Booth 1961: 158 f.), und die eine grundsätzliche ›Unentscheidbarkeit‹ bezüglich der Wahrheitswerte vermeintlicher Ereignisse hervorbringt.3 Ich würde einen Bogen schlagen zu den Filmen, die Thomas Elsaesser prominent als »mindgame movies« bezeichnet hat, also zu den Produktionen ab Mitte der 1990er Jahre und nach der Jahrtausendwende, die in Zeiten von DVDs und den aufkommenden sozialen Netzwerken ein neues, vielschichtiges Verhältnis zu ihren Zuschauern etablierten (vgl. Elsaesser 2009: 245; Buckland 2009; Eckel 2012). Ich würde zudem behaupten, dass L’année dernière à Marienbad als filmischer Vorgänger eines inszenatorischen Phänomens gesehen werden kann, das 2016 auf Videoportalen und in sozialen Medien zu einem viralen Trend wurde: die Mannequin Challenge.4 Im Verlauf des Films passiert es nämlich mehrmals, dass Charaktere in unterschiedlichen Konstellationen erstarren, das heißt ihre Bewegungen frieren ein, wobei die Kamera in einigen Szenen verharrt, aber sich wiederholt auch um Personen herum bewegt, so dass diese wie leblose Statuen oder Schaufensterfiguren erscheinen. Diese Inszenierung, die man als eine mise en figement bezeichnen könnte, erinnert an künstlerische und theatrale tableaux vivants. In L’année dernière à Marienbad werden jedoch in diesem Skulptur-Werden, in den Übergängen zwischen Körper- und Kamerabewegung, eine andersartige Plastizität der Charaktere sowie ein scheinbares Stillstehen der Zeit sichtbar.5 In den jüngeren Videos der Mannequin 3 | Zum »mimetisch unentscheidbaren Erzählen« als Kategorie des unzuverlässigen Erzählens mit Anmerkungen zur Erzählweise Alain Robbe-Grillets vgl. Martinez/Scheffel 2016: 109 f. 4 | Die bekannteren dieser Videos wurden von Sportmannschaften, Musikern, Künstlern, Prominenten und Politikern gedreht. Vgl. den Wikipedia-Eintrag zur Mannequin Challenge (o.D.). 5 | Als Beispiel für ein solches Einfrieren in einem mindgame movie siehe das Ende von S ource C ode (2011), wo das Protagonistenpaar nach einem erstarrten Kuss der Zeitschleife entkommt.

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Challenges erreicht diese bewegte Bewegungslosigkeit eine neuartige Komplexität, da je nach Gruppengröße, Motiv und Ausstattung die Posen teils akrobatische Züge annehmen und auch die Fahrten durch Schwebestative oder kleine Kameras nicht nur länger, sondern oft auch aufwendig choreografiert sind.6

M Neben diesen narratologischen und bildästhetischen Verbindungslinien zur Gegenwart hat L’année dernière à Marienbad für mich auch eine persönliche wissenschaftliche Relevanz. Bis heute habe ich ein besonderes Faible für diese Art von Werken, die abgeschlossene Universen erschaffen, in denen Protagonisten nach Auswegen aus filmspezifischen Wirklichkeiten suchen.7 Denn der Film erzählt nicht nur die Geschichte einer Überredung, sondern auch die einer Gefangenschaft. Am Ende scheinen die Frau A und der Mann X nach ihrer offenbar erfolgreichen und irgendwie klärenden Diskussion über eine mögliche intime Vergangenheit aus dem Zeit(-Bild)-Labyrinth dieser ausweglosen Symmetrie des Schlosshotels und seines Gartens zu entkommen. Man könnte den Film daher auch als Sonderfall der escape movies oder der haunted house movies bezeichnen (vgl. Curtis 2008), ähnlich wie Luis Buñuels El Ángel exterminador (1962), in dem ebenfalls eine Gruppe von wohlhabenden Personen im surreal begrenzten Setting eines luxuriösen Hauses gefangen gehalten wird, obwohl sie keine sichtbare Kraft am Verlassen des Gebäudes hindert. Zwar geht es hier in einer mehrtägigen Isolation nicht um verschiedene Zeitebenen und tatsächlich um Leben und Tod, doch letztlich haben ebenfalls das Erinnern und ein ›Freisprechen‹ ausschlaggebende Auswirkungen, wenn den Gästen wieder einfällt, wann genau sie den richtigen Zeitpunkt zum Gehen verpasst haben, das heißt wann sie gewissermaßen im Drehbuch falsch abgezweigt sind, woraufhin sie ihre Dialoge reinszenieren und somit den seltsamen Freiheitsentzug auflösen können.

6 | Hierbei bestehen visuelle Ähnlichkeiten zur bullet time, die durch The M atrix (1999) populär wurde, wobei es sich jedoch um unterschiedliche technische Anforderungen und Aufnahmeverfahren handelt. Vgl. Røssaak 2006. 7 | Dieses Interesse führte zu meiner Dissertation mit dem Titel Bilder der E nge , die sich mit besonderen geschlossenen Gesellschaften/Räumen des brasilianischen Films beschäftigt.

L’ année dernière à Marienbad (1961)

Meine akademische Faszination für solche Filme wurde in erster Linie durch Vorträge und Texte Lorenz Engells geprägt, aber abgesehen von der persönlichen Vorliebe ist mein Eindruck, dass Szenografien der Ausweglosigkeit in seiner Filmphilosophie eine wichtige Rolle spielen. Vor allem anhand einiger Filme Stanley Kubricks (vgl. Engell 2008; Engell 2010a) und von Produktionen, die auf Drehbüchern des Autors und Regisseurs Charlie Kaufman basieren (vgl. Engell 2005; Engell 2010b), hat er aufgezeigt, inwiefern manchmal Helden nicht nur aus geschlossenen Architekturen, sondern zugleich aus eigenartigen bewegten Räumen ausbrechen müssen. Auffällig ist, dass Fragen nach dem Verhältnis von Vergangenheiten und Gegenwarten, Erinnerungen und Gedächtnis, zumeist mit räumlichen und zeitlichen Verengungen einhergehen. Es scheint kein Zufall, dass dann, wenn in narrativen und ästhetischen Zuspitzungen die Endlichkeit (vgl. Engell 2005) und/oder ein Verschwinden der Protagonisten (vgl. Engell 2010b) ins Zentrum rücken, sich auf besondere Weise ein filmphilosophisches Potenzial erschließt.

FIN L’année dernière à Marienbad kann als der Beginn dieser spezifischen Form des modernen Films gesehen werden. Nicht immer schaffen es die Figuren den eigenartigen, labyrinthischen oder schrumpfenden Bildräumen zu entfliehen, manchmal scheitern sie und nicht selten bleibt unklar, was für eine Welt sie außerhalb der Innenräume erwartet. Am Ende hat es den Anschein, dass es der Frau A und dem Mann X aufgrund ihrer Liebe gelingt, in die ungewisse Dunkelheit der Nacht auszubrechen. Aufgrund der besonderen Konstruktion dieses Films ist es jedoch wahrscheinlich, dass in diesem speziellen Universum und in der eigenen filmischen Philosophie die Frage um die Begegnung in Marienbad mit der nächsten Projektion wieder von vorne beginnen und das Happy End nur eines von endlos vielen gewesen sein wird.

Referenzen Booth, Wayne C. (1961): Rhetoric of Fiction, Chicago: University of Chicago Press. Buckland, Warren (2009): Puzzle Films. Complex Storytelling in Contemporary Cinema, Chichester: Wiley-Blackwell. Curtis, Barry (2008): Dark places: The haunted house in film, London: Reaktion Books.

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Deleuze, Gilles (1991): Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Eckel, Julia (2012): Zeitenwende des Films – Temporale Nonlinearität im zeitgenössischen Erzählkino, Marburg: Schüren. El Ángel exterminador (Der Würgeengel, MEX, 1962, Luis Buñuel). Elsaesser, Thomas (2009): »Film als Möglichkeitsform. Vom ›post-mortem‹ -Kino zu mindgame movies«, in: Ders.: Hollywood heute – Geschichte, Gender und Nation im postklassischen Kino, Berlin: Bertz+Fischer, S. 237–263. Engell, Lorenz (2000): »Die Jalousie. Ein Muster der Lichtführung und Aufklärung«, in: Ders.: Ausfahrt nach Babylon. Essais und Vorträge zur Kritik der Medienkultur, Weimar: VDG, S. 325–340. Ders. (2005): »Das Kino der Replikation: Being John Malkovich/ Adaption, Spike Jonze, USA 1999/2002«, in: Ders.: Bilder der Endlichkeit, Weimar: VDG, S. 144–185. Ders. (2007/08): »Vorlesung 3 (24.10.2007): Letztes Jahr in Marienbad (L ’ année dernière à Marienbad, Alain Resnais, F 1961)«, in: Der gute Film, Vorlesung an der Bauhaus-Universität Weimar, WS 2007/08. Unveröffentlichtes Vorlesungsskript. Ders. (2008): »Eyes Wide Shut. Die Agentur des Lichts – Szenen kinematographisch verteilter Handlungsmacht«, in: Becker, Ilka/ Cuntz, Michael/Kusser, Astrid (Hg.): Unmenge. Wie verteilt sich Handlungsmacht?, München: Fink, S. 75–92. Ders. (2010): Playtime. Münchener Film-Vorlesungen, Konstanz: UVK. Ders. (2010a): »Stanley Kubrick: The Shining«, in: Ders.: Playtime, S. 253–276. Ders. (2010b): »Michel Gondry: Eternal Sunshine of the Spotless Mind. Eine kleine Philosophie des Verschwindens durch Film«, in: Ders.: Playtime, S. 277–296. Hiroshima, mon Amour (F/J, 1959, Alain Resnais). Les Statues meurent aussi (Auch Statuen sterben, F, 1953, Alain Resnais). Mannequin Challenge (o.D.), Wikipedia. https://en.wikipedia.org/ wiki/Mannequin_Challenge, [06.06.2018]. Martinez, Matias/Scheffel, Michael (2016): Einführung in die Erzähltheorie, München: Beck. Nuit et Brouillard (Nacht und Nebel, F, 1956, Alain Resnais).

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Røssaak, Eivind (2006): »Figures of Sensation: Between Still and Moving Images«, in: Strauven, Wanda (Hg.): The Cinema of Attractions Reloaded, Amsterdam: Amsterdam University Press, S. 321–336. Source Code (USA/CDN, 2011, Duncan Jones). The Matrix (USA, 1999, The Wachowski Brothers). Toute la Mémoire du Monde (Alles Gedächtnis der Welt, F, 1957, Alain Resnais).

Martin Schlesinger ist Medienwissenschaftler, Autor und Filmemacher. Er studierte Medienkultur an der Bauhaus-Universität Weimar, Comunicação Social an der Universidade Federal de Minas Gerais in Belo Horizonte und promovierte an der Ruhr-Universität Bochum. Er lebt und arbeitet in München.

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THE MAN WHO SHOT LIBERT Y VALANCE (1962) Lars Nowak Gilles Deleuze’ Konzept des Aktions-Bildes ist »weitgehend nach dem Modellfall des Westerns erdacht« (Engell 2010: 152). Das gilt insbesondere für die große Form dieses Bildtyps, die im klassischen Western geradezu kosmische Ausmaße annimmt, weil hier das Milieu die gesamte Landschaft, den Horizont und letztlich auch den Himmel umfasst. Dieser Außenraum wirkt auf einen Helden ein, der organisch aus der Mitte einer Gemeinschaft hervorgeht und durch seine Handlungen die gestörte Ordnung des Milieus durch eine Kreis- oder Spiralbewegung in ihrer ursprünglichen oder einer verbesserten Form wiederherstellt. Als paradigmatische Verkörperungen dieses Westerns der großen Form gelten Deleuze die Filme John Fords, darunter auch The Man Who Shot Liberty Valance (1962). (vgl. Deleuze 1989: 199 ff.) Tatsächlich verweist bereits der Titel dieses Werkes auf das Duell, dem Deleuze jene »zentrale[n] Funktion […] im Handlungsfilm« zuspricht, an der die Anlehnung des Aktions-Bildes an den Western »[b]esonders deutlich« wird (Engell 2010: 152). Und mittels der Erschießung des titelgebenden Banditen durch den Ostküstenanwalt Ranse Stoddard wird vordergründig »die Ordnung« zyklisch »wiederhergestellt« (Deleuze 1989: 201). Genauer besehen, stehen sich hier jedoch zwei Rechtsordnungen gegenüber: Bereits beim Überfall auf die Postkutsche rechtfertigt Valance das Auspeitschen von Ranse als Ausdruck des »Western law«, das er dem durch den Anwalt inkarnierten »law« entgegenstellt, welches auf den Prinzipien des demokratischen Rechtsstaates beruht und auch eine Gleichstellung der Frauen und Farbigen einschließt (vgl. Redding 2007: 320). Insofern ermöglicht Valance’ Beseitigung eine für Ford besonders charakteristische Spiralbewegung (vgl. Deleuze 1989: 201), nämlich

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die Durchführung demokratischer Wahlen, bei denen die kleinen Farmer über die großen Rancher den Sieg davontragen (vgl. Redding 2007: 318), womit letztlich das »epische[n], ungeschriebene[n] Faustrecht des Wilden Westens« durch das »romanhafte[n] Gesetz der industriellen Zivilisation« substituiert wird (Deleuze 1989: 201). Valance’ Kontrastierung der beiden juridischen Ordnungen wird indes von dem Cowboy Tom Doniphon, der Ranse nach dem Überfall aufliest und nach Shinbone bringt, »just exactly« wiederholt. Deshalb wird die Ersetzung der einen durch die andere Ordnung nicht nur durch Valance’ Tötung, sondern auch durch den späteren Tod Toms symbolisiert, den Ranse ebenfalls zu Grabe trägt – zumal der Cowboy dem Juristen die Handlungsinitiative bereits vorher überlassen hatte (vgl. ebd.: 211; Redding 2007: 319). Folglich »löst der Mann des Gesetzes den Mann des Westens« hier gleich doppelt ab (Deleuze 1989: 211), was freilich auch bedeutet, dass die dort gepflegte Lebensweise am gesellschaftlichen Fortschritt zugrunde geht (vgl. Engell 1992: 206). Diese Verabschiedung des Westens und damit auch des Westerns erfährt dadurch eine Verstärkung, dass The Man Who Shot Liberty Valance zu den späteren Filmen Fords gehört, in denen dieser einige Konventionen dieses Genres, das er zuvor selbst so stark geprägt hatte, Revisionen unterzog. Am bekanntesten ist hier wohl die bereits erwähnte Neubewertung sozialer Minderheiten geworden, die in zwei anderen Filmen, nämlich The Searchers (1956) und Cheyenne Autumn (1964), auch auf die amerikanischen Ureinwohner bezogen wird. Fords Hinterfragung der Western-Konventionen muss jedoch auch als Ausdruck jener Krise verstanden werden, in die das gesamte Aktions-Bild-Kino in den 1950er Jahren geriet. Diese Krise erfasste alle etablierten Hollywood-Genres, die hierauf mit einer Verschiebung ihrer Grenzen und einer Hinwendung zur Selbstreflexion reagierten; dabei drang insbesondere in jene Genres, die sich bislang der großen Form der Erzählung bedient hatten, deren kleine Form ein (vgl. ebd.: 196 ff.). Diese Entwicklungen betrafen auch den Western, der somit in seine postklassische – und vielleicht sogar moderne – Phase eintrat. Deleuze hat hier zwischen zwei Varianten, nämlich den Western von Howard Hawks und den von ihm so genannten ›Neo-Western‹ Martin Ritts, Anthony Manns, Sam Peckinpahs und Budd Boettichers, unterschieden (vgl. Deleuze 1989: 223 ff.). Was ihm allerdings entging, ist der Umstand, dass auch The Man Who Shot Liberty Valance die große auf die kleine Form

The Man Who Shot Liber ty Valance (1962)

des Aktions-Bildes hin öffnete und dabei Strategien von Hawks mit solchen der anderen Regisseure verband. Am auffälligsten ist dabei eine formale, genauer: spatiale Besonderheit, die Fords Film mit denjenigen von Hawks teilt. So wie nämlich dessen Kammerspielwestern den Handlungsraum beispielweise auf einen Fluss oder eine Siedlung und das Innere ihrer Häuser reduzieren (vgl. ebd.: 224 f.), treten auch in The Man Who Shot Liberty Valance an die Stelle der weiten Landschaften, die insbesondere in Gestalt des Monument Valley Fords frühere Western prägten, die Gassen und Innenräume des Städtchens Shinbone (vgl. Koch 2016: 164, 169). Mit dieser physischen geht eine psychische Verinnerlichung einher. Denn Hawks’ Western betten die kleine in die große Form des Aktions-Bild ein, indem sie den Abstand zwischen dem Reiz und der Reaktion ausdehnen: Die Handlung wird jetzt nicht mehr durch die Situation determiniert, sondern hängt vom Helden ab, welcher erst »das Potential aktualisieren [muss], das ihn der Situation ebenbürtig macht« (Deleuze 1989: 223). Deshalb stammen »das Unerwartete, das Gewaltsame, das Ereignis« nun aus dem Innen, nicht mehr aus dem Außen (ebd.: 225). In The Man Who Shot Liberty Valance lässt sich genau diese Verzögerung beobachten: Der friedfertige Ranse kann Valance erst töten und damit die Situation verändern, nachdem er sich selbst verändert hat. Zur entscheidenden Handlung wird er allein dadurch fähig, dass er seine frühere Ablehnung physischer Gewalt aufgibt, den Gebrauch der Schusswaffe erlernt und schließlich Valance’ Herausforderung zum Duell annimmt. Diese Wandlung der Figur rückt Fords Film freilich auch in die Nähe des ›Neo-Westerns‹, welcher die maximalen Differenzen der großen Form unmittelbar durch die minimalen Differenzen der kleinen Form ersetzt, indem er etwa die verschiedenen Figuren, darunter auch Kontrahenten, aneinander angleicht (vgl. ebd.: 226 ff.; Engell 1992: 197). Zwar betont Ford zu Beginn den Gegensatz zwischen den Rechtsauffassungen von Ranse und Tom, indem er Ersteren als feminisiert und Letzteren als maskulin codiert. Doch nähert sich der Anwalt im Verlauf der Handlung nicht nur dadurch an das vom Cowboy verkörperte Männlichkeitsideal an, dass er sich dem Gangster mit der Waffe stellt, sondern auch insofern, als er gegenüber Tom selbst gewalttätig wird (vgl. Redding 2007: 319). Zudem verrät Ranse den Rechtsstaat, wenn er nach Valance’ Erschießung weder sich selbst noch Tom der Gerichtsbarkeit übergibt (vgl. Koch

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2016: 168). Auch Ranse’ Zögern bei der Anwendung von Gewalt selbst findet auf Seiten Toms darin eine Entsprechung, dass dieser seinen Heiratsantrag an Hallie endlos aufschiebt. Und schließlich wird diese von Ranse genauso wie von Tom umworben, der sich wiederum genau wie jener gegen Valance stellt (vgl. ebd.: 164). Eine weitere formale, in diesem Fall temporale Neuerung von The Man Who Shot Liberty Valance besteht in der Gestalt, die dieser Film der für Ford typischen Gegenüberstellung von zwei einander unmittelbar korrespondierenden Bildern verleiht. Denn wie gegen Deleuze einzuwenden ist, dienen diese beiden Bilder zwar in anderen Filmen Fords, nicht jedoch in The Man Who Shot Liberty Valance einer Verdeutlichung der organischen Spiralbewegung (vgl. Deleuze 1989: 201). Vielmehr ergibt sich die Verdopplung hier aus dem Einsatz zweier Rückblenden: einer langen Rückblende erster Ordnung, die das Duell verkürzt und damit unzuverlässig erzählt – ein seinerzeit im konventionellen Erzählkino noch sehr unübliches Mittel – und einer kurzen Rückblende zweiter Ordnung, die in die erste Rückblende eingebettet ist und die dortige Verfälschung des Duells durch eine Vervollständigung seiner Darstellung berichtigt (vgl. Koch 2016: 169). Diese Korrektur verstärkt die Affinität zum ›Neo-Western‹, weil sie einen komplexen Index einführt (vgl. Deleuze 1989: 227), der einerseits die Minimierung der Differenz zwischen den beiden Figuren aufrechterhält, andererseits aber auf eine maximale Differenz zwischen zwei Situationen verweist. Die zweite Rückblende enthüllt nämlich, dass Valance in Wirklichkeit nicht von Ranse, sondern von dem im Schießen wesentlich besser geübten Tom zur Strecke gebracht wurde. Mithin hat Tom die Handlung tatsächlich nicht an Ranse übergeben, sondern sie ihm umgekehrt abgenommen. Da Ranse aber wie Tom auf den Banditen geschossen hat, weil er moralisch dazu bereit war, diesen zu töten, reduziert sich der aktive Unterschied zwischen den beiden Männern darauf, dass Tom den Gegner getroffen, Ranse ihn verfehlt hat. Dem steht aber eine große Differenz zwischen den hieraus folgenden Situationen gegenüber. Denn nur dadurch, dass der von Gewissensbissen geplagte Ranse einerseits von Tom über seine Unschuld aufgeklärt wird und andererseits in der Öffentlichkeit weiterhin als jener Held gilt, der Valance beseitigt hat, kann er sich bei den Wahlen gegen seinen dubiosen Herausforderer – einen jener Großrancher, die den Gangster angeheuert hatten – durchsetzen und so auch dem Rechtsstaat weiterhin

The Man Who Shot Liber ty Valance (1962)

zur Durchsetzung verhelfen (vgl. ebd.: 201). Mit Blick auf die oben angesprochene Revision des Westerns ist aber festzuhalten, dass The Man Who Shot Liberty Valance damit ähnlich wie Fords früherer Film Fort Apache (1948) den genretypischen Heldenmythos als Fiktion entlarvt (vgl. Engell 1992: 204; Redding 2007: 318 ff.). Dabei beruht die Legende, Ranse habe Valance erschossen, auf einer bewussten Täuschung der Öffentlichkeit, die zunächst von Tom und Ranse, später von der Redaktion des Shinbone Star ausgeht. Denn obwohl der gealterte Ranse die ihn befragenden Reporter über die Wahrheit aufklärt, wird diese von ihnen nicht publiziert. So wechselt diese Zeitung, die einst die Öffentlichkeit über Valance’ kriminelle Machenschaften aufzuklären versuchte, von der Seite der Wahrhaftigkeit auf diejenige der Lüge (vgl. Redding 2007: 318; Koch 2016: 168). Steht bereits der Shinbone Star als Presseorgan für die vierte demokratische Gewalt, so bezichtigt The Man Who Shot Liberty Valance letztlich die gesamte amerikanische Gesellschaft der Unwahrhaftigkeit: So wie Valance wiederholt seine öffentliche Bloßstellung mit Gewalt zu verhindern sucht und der Redner, der den gegen Ranse antretenden Rinderbaron anpreist, sich einer rhetorischen Finte bedient, behauptet auch der Sheriff, er habe die – in Wirklichkeit von Tom in die Schranken gewiesene – Bande von Valance aus Shinbone verjagt. Gelogen wird demnach von den Vertretern und den Gegnern des Gesetzes gleichermaßen. Eine performative Entsprechung findet diese diegetische Grenzverwischung darin, dass auch die im Hollywood-Kino der Nachkriegszeit zu beobachtende Verschiebung der Genregrenzen den Western einschloss. Denn in The Man Who Shot Liberty Valance wird die epische außer durch eine romaneske auch durch eine dramatische, genauer: eine komische und eine tragische Ästhetik überlagert (vgl. Engell 1989: 65). Während die Komik insbesondere die unmännliche Wirkung von Ranse betrifft, der sich nach dem Überfall vorerst als Küchenhilfe verdingen muss, ergibt sich die Tragik zunächst aus der kammerspielartigen Begrenzung von Fords Film, ist doch nach Aristoteles der tragische weniger ausgedehnt und komplex als der epische Handlungsverlauf (vgl. Engell 1989: 58). Dabei wird die epische Vielheit (im Sinne der großen Form des Aktions-Bildes) auch in anderen Nachkriegswestern wie etwa Fred Zinnemans High Noon (1952) durch eine tragische Einheit (im Sinne seiner kleinen Form) verdrängt (vgl. Engell 1992: 203 f.). Tragische Züge nimmt der Western in seiner postklassischen Phase aber auch – in

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erneuter Übereinstimmung mit der kleinen Form – wegen der Einebnung des Unterschieds von Gut und Böse an (vgl. ebd.: 202 f.). Genauer ausgeführt wurde dies von André Bazin, dem zufolge dieses Genre auf Seiten der Frauen lediglich unterschiedliche Schattierungen des Guten kennt, während auf jener der Männer neben den bösen Antagonisten auch die guten Protagonisten Gewalt anwenden müssen, um ihre Widersacher zur Strecke zu bringen (vgl. Bazin 2004: 259 f., 263 f.; Engell 1989: 57). Damit gerät aber die Durchsetzung des kollektiven Gesetzes in einen Widerspruch zur individuellen Moral (vgl. Bazin 2004: 262), der normalerweise dadurch gelöst wird, dass es sich beim Protagonisten um einen frontiersman handelt, der die Zivilisation vor der Wildnis schützt, ohne ihr selbst anzugehören. Auch in The Man Shot Shot Liberty Valance sind die ›guten‹ an die ›bösen‹ Männer angeglichen, weil sie sich wie diese auf Gewalt und Lügen stützen. Und auch hier steht für diese Angleichung ein frontiersman, um den es sich bei Tom umso mehr handelt, als dieser Valance aus dem Hinterhalt erschießt. Doch zugleich wird Tom mit Ranse eine zweite ›gute‹ Figur an die Seite gestellt und damit ein textuelles Manöver vollzogen, das hochgradig ambivalent ist. Denn einerseits fungiert Tom in Bezug auf Ranse als ein »Deus ex machina« (ebd.: 265), der dessen moralische Schuld auf sich nimmt und deshalb durch seine politische wie private Marginalisierung und seinen frühen Tod geopfert wird. Diese Exkulpation des Helden Ranse vertieft nicht nur den tragischen Charakter von Fords Film, sondern führt auch den genrespezifischen Widerspruch von zivilisiertem Recht und wilder Gewalt einer neuartigen imaginären Lösung zu, die den Heldenmythos des Westerns und mit ihm den »amerikanischen Traum« als eine »gesunde[n] Illusion« bejaht (Deleuze 1989: 202). Andererseits erfüllt Ranse im Verhältnis zu Tom zwei gegenteilige Funktionen: Erstens verliert die Anwendung der Gewalt durch Ranse’ moralische Skrupel, die sich in seinem doppelten Zögern vor dem Duell und der Wahl manifestieren, ihre Selbstverständlichkeit. Folglich wird Ranse’ Heldenstatus nicht nur dadurch unterminiert, dass er Valance nicht erschossen hat, sondern auch dadurch, dass er eben dies durchaus versucht hat. Zweitens steht Ranse gerade nicht an der Schwelle von Wildnis und Zivilisation, sondern gehört ganz der Letzteren an, die jedoch durch seine Verstrickung in Valance’ Erschießung an die Erstere gebunden wird. Damit macht The Man Who Shot Liberty Valance auf ein

The Man Who Shot Liber ty Valance (1962)

Problem aufmerksam, das spätestens seit Walter Benjamin und Carl Schmitt auch die politische Philosophie beschäftigt hat, nämlich auf das Paradox, dass das Recht offenbar auf sein exaktes Gegenteil, Gewalt, gegründet ist (vgl. Redding 2007: 319; Koch 2016: 165). Mit der imaginären Lösung dieses Problems durch den frontiersman Tom demontiert Fords Film aber einen weiteren zentralen Mythos des Westerns; und erst hierin liegt seine eigentliche Modernität. Denn die bloße Amalgamierung epischer mit tragischen Momenten, zu der auch Ranse’ Exkulpation gehört, ist letztlich keine Errungenschaft des postklassischen Westerns, sondern – darin sind sich Bazin, Deleuze und Lorenz Engell einig – dem Western überhaupt eingeschrieben (vgl. Bazin 2004: 263 f.; Deleuze 1989: 200; Engell 1989: 57, 60).

Referenzen Bazin, André (2004): »Der Western oder: das amerikanische Kino par excellence«, in: Ders.: Was ist Film?, Berlin: Alexander, S. 255–266. Cheyenne Autumn (USA, 1964, John Ford). Deleuze, Gilles (1989): Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Engell, Lorenz (1989): »Laokoon Westbound. Vom Laokoon-Problem zum Tragischen Tod und vom klassischen zum italienischen Western«, in: Ders./Vogelsang, Bernd (Hg.): Der tödliche Augenblick. Wie Hören und Sehen vergeht, Köln: Runge, S. 57–71. Ders. (1992): Sinn und Industrie. Einführung in die Filmgeschichte, Frankfurt a.M.: Campus. Ders. (2010): Playtime. Münchener Film-Vorlesungen, Konstanz: UVK. Fort Apache (USA, 1948, John Ford). High Noon (USA, 1952, Fred Zinneman). Koch, Gertrud (2016): »Eine Rechtserzählung – John Fords The Man Who Shot Liberty Valance«, in: Dies.: Zwischen Raubtier und Chamäleon. Texte zu Film, Medien, Kunst und Kultur, Paderborn: Fink, S. 163–170. Redding, Arthur (2007): »Frontier Mythographies. Savagery and Civilization in Frederick Jackson Turner and John Ford«, in: Literature/Film Quarterly XXXV/4, S. 313–322. The Searchers (USA, 1956, John Ford).

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Lars Nowak, PD Dr., ist Privatdozent für Medienwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Arbeitsschwerpunkte: Film, Photographie, Kartographie, Körper- und Raumtheorie.

THE NUTT Y PROFESSOR (1963) Volker Pantenburg

I. Im Jahr 1963, das kein Schaltjahr war, gab es das Fernsehen bereits seit geraumer Zeit. Es gab auch das Kino noch, und im Kino war es nicht unüblich, vor dem Hauptfilm einen Vorfilm zu sehen. Unwahrscheinlich, dass Agnès Vardas Salut les cubains und Jerry Lewis’ The Nutty Professor an einem Abend gemeinsam auf dem Programm standen, aber am 28. Januar 2019, im Modus universeller Schaltbildlichkeit, braucht man nur wenige Clicks, um sich die beiden Filme nacheinander oder sogar nebeneinander auf den LED-Bildschirm zu holen. Zunächst springen die Gegensätze ins Auge: Rive gauche meets American Comedy, klassisches Schwarz-Weiß trifft auf die Röte des Rots von Technicolor, Fotografie auf Bewegtbild, das postrevolutionäre Kuba auf die akademische Routine an einer nicht näher definierten Provinzuniversität der USA. »Cuba sí, Yankee no« lautet ein damals populärer Slogan. Aber es gibt auch Gemeinsamkeiten, angefangen beim Produktionszeitpunkt: Blicken wir im Dezember 1962 in Echtzeit aus Satellitenperspektive – Sputnik dreht seit Oktober 1957, Explorer seit Februar 1958 seine Runden im All – auf die nördliche Hemisphäre. Dann zoomen wir uns wie im Buch Cosmic View. The Universe in 40 Jumps von 1957 Schritt für Schritt immer näher an die Erdoberfläche heran.1 Was sehen wir? Wir sehen Jerry Lewis und sein Filmteam wie Ameisen auf dem Campus der Arizona State University 1 | C osmic View des niederländischen Pädagogen Kees Boeke war die Vorlage für die beiden Versionen des Films Powers of Ten (1968 und 1977) von Charles und Ray Eames.

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in Tempe herumwuseln. Im weißen Jeep, vollgeladen mit Büchern, fährt der exzentrische Chemie-Professor zwischen Bibliothek und Labor hin und her, auf der Suche nach der Männlichkeitsformel, die zum Erfolg bei der Studentin Stella führen soll. Zeitgleich erkundet Agnès Varda auf Einladung des Instituto Cubano de Arte e Industria Cinematográficos (ICAIC) gemeinsam mit Jacques Ledoux von der Cinémathèque Belge das nachrevolutionäre Kuba. Sie drückt etwa 3000 Mal auf den Auslöser ihres Leica-Fotoapparats. Zigarren, Bärte, Frauen, neue Gebäude, Castro und seine Reden, der Musiker und Komponist Benny Moré, der zum Rhythmus der Congas tanzt. Die Landreform und die Verstaatlichung der Zuckerproduktion. 3000 Mal macht es »Klick«, nach jedem Klick muss sie den Apparat mechanisch aufziehen. Die technischen und infrastrukturellen Rahmenbedingungen der Filme von Lewis und Varda könnten nicht unterschiedlicher sein: Hier das hochbudgetierte und ausdifferenzierte Studiokino, das um die Star-Persona Jerry Lewis kreist, dort die kleinstmögliche filmpraktische Produktionseinheit: die Frau mit der Kamera, ein Tonmann und später, zurück in Paris, der Tricktisch. Und trotz dieser Differenz handelt es sich in beiden Fällen um Autorenfilme, bei denen Drehbuch, Produktion und Regie in einer Hand liegen und das, was auf der Leinwand zu sehen ist, bei aller Arbeitsteilung auf Varda/Lewis rückbeziehbar ist.

II. Allerdings leisten beide Filme Widerstand gegen die umstandslose Zuschreibung von Autorschaft. Ein störrischer Eigensinn der Dinge und Medien ist zu beobachten, der die Aktionen wie ein Motor antreibt, die Handlungen taktet. Ab der ersten Sekunde in The Nutty Professor ist klar: Das Primärfarbfeuerwerk, das sich im Seminarraum vor den ungläubig staunenden Augen der Studierenden abspielt, die Reagenzgläser und Bunsenbrenner, die rotierenden Kolben, phosphoreszierenden Pülverchen und blubbernden Lösungen bergen eine Energie, die kaum zu bändigen sein wird. In keiner der Einstellungen der Vorspannsequenz ist der Kopf des Experimentators zu sehen – es ist das Periodensystem selbst, das tanzt. Den letzten Title Credit, directed by Jerry Lewis, fegt die Detonationswolke einer ohrenbetäubenden Explosion weg, deren Druckwelle noch im weit entfernten Rektorat die Jalousien nach oben schnellen lässt. Hier sind akademische und extra-curriculare Dynamiken im Spiel,

The Nutty Professor (1963)

die nur schwer im Zaum zu halten sind und im Zweifelsfall auch Professor Kelp (Jerry Lewis) unter sich begraben.2 Vardas Film dagegen spielt wenige Monate nach der Kubakrise, in der die Weltpolitik so nah wie nie seit Hiroshima und Nagasaki an die Schwelle der atomaren Explosion geraten war. Bei ihr tanzen die Fotos im Rhythmus der Musik. Sie führen ein Eigenleben, treten in einen Vitalitätswettbewerb mit den abgebildeten Kubanerinnen und Kubanern ein. Freiheit ist auch hier die Freiheit, zwischen Foto und Film changieren zu können. Zu jedem Zeitpunkt kann das Bewegtbild eingefroren und gestoppt werden, das Standbild durch Montage dynamisiert und zu Cha-Cha-Cha, Bolero, Danson oder Rumba in Bewegung gesetzt werden. Salut les cubains ist, vielfach personell damit verknüpft, das fröhlich-optimistische Gegenstück zum ein Jahr zuvor entstandenen La Jetée, die utopische Fotofilmrückseite von Chris Markers Dystopie.3

III. The Nutty Professor in a nutshell: Surreal off-the-wall masterpiece, with Lewis again playing 7-stone cretin, this time a campus chemistry professor who woos his dream girl by inventing a magic potion that turns him (on and off ) into a he-man of the Dean Martin school (hip, brylcreemed, offensive). The Technicolor blazes and swirls with manic energy, while the Jekyll-and-Hyde plot hustles its way through a minefield of gags, and sneers eloquently at the joys of the New America (a popular off-limits bar called The Purple Pit). Parody and nostalgia: pure alchemy. (Auty 2004: 851)

Der Film beginnt im Labor. Schlagen wir also im Petit lexique des termes lewisiens der Cahiers du cinéma unter L wie Laboratoire nach: »Das Labor, das im Zentrum von The Nutty Professor steht, veranschaulicht die vielen Transformations-Prozeduren (von 2 | Man kann eine solche Dynamik natürlich auch wieder rückbinden an Lewis und seinen Körper und dann eher betonen, »daß alles, was um ihn [Lewis; VP] ist, ihm zum Objekt wird, Objekt und Requisit (Personen, Gegenstände), zum Anlaß (Situationen), zur Bühne (Szene) … Rohstoff, Beweisstoff seiner Komik.« (Gansera 1974: 151) 3 | Zu den anderen Rive Gauche-Filmemachern unterhält der Film eine enge Beziehung. Alain Resnais ist mehrfach mit seiner Filmkamera zu sehen, Chris Markers Cuba sí (1961) spricht Varda im Voice over ausdrücklich an.

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Fleisch, Materialien, Objekten, Farben, Formen) in Lewis’ Filmen. Auch konkretisiert es Lewis’ wissenschaftliche Bestrebungen und seinen unverwüstlichen Hang zur Persönlichkeitsspaltung. Siehe auch: Inversion, Technologie.« (Aumont et. al. 2013: 81) Schon 1963 ist das Labor ein Ort verschärfter Eigendynamik, ein hochtechnisierter Zusammenhang. Und das Experimentelle springt über auf die Ebene der Darstellung: Auf die erste Verwandlung Professor Kelps folgt eine der großartigsten Einstellungen der Filmgeschichte, eine lange Plansequenz-Subjektive. Mit Buddy Love, zum hallenden Klang seiner Schritte, nähern wir uns langsam der Eingangstür des ›Purple Pit‹. Wir sehen nur die Reaktionen auf ihn, kennen das Ergebnis der Transformation noch nicht. Fassungslose Blicke, angespannte Überraschung, ein Mann hält seine Frau fest. Nach dem Betreten des Musikclubs, als die ausgelassen feiernden Tänzer und Musiker ihn bemerken, stockt die Musik und setzt aus; zwei Küssende unterbrechen ihren Kuss, der Zigarettendame fällt das Sortiment aus der Bauchlade, ein Tablett stürzt zu Boden. Aufgerissene Augen. Erst dann der Gegenschuss und Zoom auf Buddy Holly, blauer Anzug, rosa Hemd, Zigarette im Mundwinkel, viel Brillantine im Haar. Erst allmählich kehrt die Partyroutine zurück, zu gewaltig ist der Coolness-Schock.

IV. Zurück nach Europa: 1962 war in Frankreich mit großem Erfolg Salut les copains lanciert worden, eine Radiosendung und Jugendzeitschrift, die die französische Jugend mit Yé Yé, Elvis Presley und anderen Pop-Phänomenen bekannt machte. Varda, immer zu haben für Wortspiele und Assoziationen, adaptiert und modifiziert den Titel für ihren Kubafilm. Vielleicht lässt sich Salut les copains mit ›Hi Buddys‹ übersetzen, man wäre dann gleich wieder bei Buddy Love, dem testosterongesteuerten Alter Ego von Professor Kelp. Beide Filme können aber auch als Beispiele dafür gelten, dass Filme immer auch – mal mehr, mal weniger – als Archive für Mediengeschichte fungieren. In Vardas Film ist der medienhistorische Umschlag von Fotografie in Film in spielerischer Weise inszeniert. Salut les cubains beginnt in St. Germain des Près, in einer Ausstellung mit Fotos aus Kuba, bevor der Film selbst nach Kuba geht und dort Bilder einsammelt, ein Archiv anlegt. Zurück in Paris geht es

The Nutty Professor (1963)

darum, motivische und andere Taxonomien zu finden, die Bilder in eine Ordnung zu bringen, die dann re-animiert werden kann.4 The Nutty Professor dagegen ist sowohl Schauplatz als auch Ergebnis der Technicolor-Revolution, die in vielem die Acrylfarbwelt und die Warenästhetik der Pop-Art begleiten, teils vorbereiten. »Die wilden Farben bei Tashlin oder im Nutty Professor von Jerry Lewis sind nicht geschmackvoll. Aber was für Filme, um sich eine Vorstellung davon zu machen, was die Fünfziger waren! Jerry Lewis und die Tashlin-Filme demonstrieren die Farbrevolution, die sich in Amerika vollzog«, so Frieda Grafe. (Grafe 2002: 58) Das stilisierte, auf die Zeichenhaftigkeit von Erlenmeyerkolben, Reagenzglas und farbigen Lösungen komprimierte Labor bei Lewis, aber auch die Dunkelkammer und der Tricktisch, die Vardas Film ermöglichen, bringen mediale Voraussetzungen auf den Punkt: Bewegung als Animation von Einzelbildern hier, die chemische Basis von Materialien und Emulsionen dort.

V. Kurze Intermission: Was sonst noch geschah im Jahr 1963: Andy Warhol produziert in der Factory die Brillo-Boxes. Die University of Toronto gründet das Centre for Culture and Technology, um Marshall McLuhan zu halten. Stan Vanderbeek beginnt, beeinflusst von Buckminster Fullers Geodesic Domes, mit der Konstruktion seiner Movie-Dromes. In den USA autorisiert – so behauptet jedenfalls Wikipedia – die Federal Communications Commission (FCC) die Fernbedienung für Fernsehgeräte. Abraham Zapruder dreht am 22. November in Dallas, Texas einen Amateurfilm. Am 1. April beginnt das ZDF mit dem Sendebetrieb; es gibt ab jetzt zwei Programme, mit einer von der FCC autorisierten Fernbedienung könnte man zwischen ihnen hin- und herschalten. In einer besseren Welt als unserer liefe bei der ARD The Nutty Professor und im ZDF zeitgleich Salut les cubains.

VI. Zuletzt: The Nutty Professor enthält auch – ganz lebenspraktisch – ein nützliches Rezept, wenn man so will die popkulturelle Buddy4 | Ein weiterer Film von 1963: L es C arabiniers , in dem die beiden Trottel Michel Ange und Ulysse aus dem Krieg einen Koffer mit Foto-Postkarten als Beute mitbringen und sie stolz vor ihren Frauen in motivisch sortierten Stapeln präsentieren.

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Love-Variante des Zaubertranks, den Professor Kelp zusammenbraut. ›Alaskan Polar Bear Heater‹ heißt der explosive Cocktail, von dem der entgeisterte Kellner im ›Purple Pit‹ noch nie gehört hat. Schritt für Schritt lotst Lewis/Love den Eingeschüchterten durch die Etappen der Zubereitung: »2 shots of vodka … a little rum … some bitters … a smidgen of vinegar …« – an dieser Stelle unterbricht der Bartender mit der Frage »You going to drink this here, or are you going to take it home and rub it on your chest?«, bevor Lewis fortfährt: »a shot of vermouth … a shot of gin … a little brandy … lemon peel … orange peel … a cherry some more scotch … Now, mix it nice. Pour it into a tall glass.« Einen Alaskan Polar Bear Heater für alle; für die, denen das zu hart ist, einen Cuba Libre. Cheers und Santé!

Referenzen Aumont, Jacques/Comolli, Jean-Louis/Labarthe, André S./Narboni, Jean/Pierre, Sylvie (2013): »Kleines Lewis-Lexikon«, in: Ofner, Astrid Johanna/Flach, Stefan (Hg.): Jerry Lewis. Eine Retrospektive der Viennale und des Österreichischen Filmmuseums, 18. Oktober bis 24. November 2013, Wien: Viennale, S. 79–87. Auty, Chris (2004): Art. The Nutty Professor, in: Time Out Film Guide, London: Penguin. Boeke, Kees (1957): Cosmic View: The Universe in 40 Jumps, New York : J. Day. Cuba sí! (F, 1961, Chris Marker). Gansera, Rainer (1974): »Jerry Lewis: Films for Fun«, in: Filmkritik 18/4, S. 145–185. Grafe, Frieda (2002): »Tomaten auf den Augen. Die Geschichte des Farbfilms ist die Geschichte einer Verdrängung. Gespräch mit Miklos Gimes [1989]«, in: Dies.: Filmfarben, Berlin: Brinkmann & Bose, S. 47–68. La Jetée (F, 1962, Chris Marker). Les Carabiniers (F, 1963, Jean-Luc Godard). Powers of Ten (USA, 1968/1977, Charles und Ray Eames). Salut les Cubains (F, 1963, Agnès Varda).

Volker Pantenburg ist Professor für Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin.

LES PARAPLUIES DE CHERBOURG (1964) Kristina Köhler

I. Cannes, im Mai 1964. An der Croisette reicht Catherine Deneuve Regenschirme in die Zuschauermenge – nicht etwa, weil es regnet. Mit dieser Aktion feiert das Team um Jacques Demy die Vorführung von Les Parapluies de Cherbourg, der den Grand Prix erhält und sich im Wettbewerb gegen Filme wie Truffauts La Peau Douce oder Glauber Rochas Deus e o Diabo na Terra do Sol durchsetzt.1 Wenn Demy und Deneuve die Regenschirme aus dem diegetischen Universum des Films heraus- und in die Festivalöffentlichkeit hineintragen, ist das mehr als ein raffinierter Werbegag.2 Die Geste setzt eine Reihe klimatischer, spielerischer und politischer Überschreitungen in Gang – zwischen dem verregneten Klima Nordfrankreichs und der sonnigen Mittelmeerküste, zwischen dem mondänen Tourismusort Cannes und der Arbeiterstadt Cherbourg, zwischen der märchenhaft-verträumten Grundhaltung des Films und den politischen und gesellschaftlichen Ereignissen der frühen 1960er Jahre. 1 | Die Entscheidung der Jury stieß auf heftige Kritik bei vielen Pressevertretern, die monierten, die Jury habe »diplomatische Erwägungen« über den »künstlerischen Wert« gestellt (ms., Les parapluies de Cherbourg, in: Neue Zürcher Zeitung v. 23.07.1964, S. c9). 2 | Gleichwohl verdichteten sich um die Regenschirme auch eine Reihe kommerzieller Interessen. Die im Film eingesetzten Regenschirme stammten vom Pariser Schirmfabrikanten O.N.M. Dessen Logo ist nicht nur in den Opening Credits, sondern auch in einigen Filmszenen in Madame Emérys Schirmladen zu sehen. Im Gegenzug warb O.N.M. auf Plakaten und Werbespots mit Bildmaterial aus dem Film und dem Slogan: »Les parapluies de Cherbourg sont – des parapluies O.N.M.«

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Kristina Köhler

Die Ausgangskonstellation des Films ist rasch erzählt: In Cherbourg verlieben sich Guy, der Automechaniker, und Geneviève, die Tochter der Schirmverkäuferin, ineinander. Schon bald muss Guy in den Krieg in Algerien; Geneviève bleibt zu Hause – schwanger nach der gemeinsamen Liebesnacht. Nur noch wie ein entferntes Echo klingen im Film Themen wie die Algerienkriege, die ungewollte Schwangerschaft eines Teenagers und die Krise des Bürgertums in den 1960er Jahren nach.3 1964 – das ist auch das Jahr der Kuba-Krise, das Jahr, in dem Sidney Poitier als erster schwarzer Hauptdarsteller einen Oscar verliehen bekommt und der Bürgerrechtler Nelson Mandela zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt wird, und schließlich das Jahr, in dem Lee Harvey Oswald als Mörder des US-Präsidenten John F. Kennedy verurteilt wird und Gerhard Richter Jackie Kennedy in Frau mit Schirm (1964) als anonyme Passantin malt. Als solche hätte die ehemalige First Lady in die Eröffnungssequenz von Les Parapluies de Cherbourg gepasst, wo die Kamera aus der Vogelperspektive zeigt, wie der Regen auf das graue Kopfsteinpflaster prasselt und Menschen mit farbigen Schirmen durch den Regen laufen. In auffällig arrangierten horizontalen, vertikalen und diagonalen Bewegungslinien durchqueren die bunten Kreise das Bild, als gelte es, den Bildraum, der hier zugleich Stadtraum ist, choreografisch zu vermessen. Mit dieser Eröffnungsszene deutet sich bereits an, dass die Regenschirme in Les Parapluies de Cherbourg mehr sind als ein Requisit. Als »kinematografisches Motiv« (Wendler/Engell 2009) sind sie auf intime Weise mit der Textur des Films verwoben und strukturieren das Universum des Films.4 Regenschirme schaffen Umräume, die es ermöglichen sich draußen und doch von der Witterung geschützt zu bewegen; sie etablieren ein Raum-Zeitgefüge der Intimität und setzen als buntgemusterte Accessoires Farbakzente vor tristem Wolkenhimmel. Diese Prinzipien bespielt Les Parapluies 3 | Wie Cuntz (2017: 126) pointiert, wird diese Krise über den Regenschirm erzählt. »Das titelgebende Schirmgeschäft steht vor dem Ruin […]. Der wohlhabend-altmodische Cassard wird als Beschützer von Genevièves Mutter umstandslos mit einem Regenschirm verglichen, während der proletarisch-moderne garagiste Guy und Geneviève nie einen solchen verwenden; prompt kommt es zur ungewollten Schwangerschaft.« 4 | Sie sind, so könnte man in Anschluss an Engell/Wendler (2011: 24) sagen, »nicht nur diegetisch, sondern auch ästhetisch handlungsmotivierend».

Les Parapluies de Cherbourg (1964)

de Cherbourg gleich auf mehreren Ebenen. Selbst dort, wo sie nicht im Bild zu sehen sind, verdichten sich in den Regenschirmen die besonderen Tonalitäten von Raum und Zeit, Wetter und Atmosphären, aber auch die Wahrnehmungs- und Erfahrungskonstellationen, die der Film auslegt.

II. Mit dem Regenschirm bringt der Film ein Objekt ins Spiel, das in der Filmgeschichte vielfältige Bezüge und Assoziationsräume eröffnet. Es verweist auf die atmosphärische Schwere nebliger Straßenzüge und nasser Pflastersteine, wie man sie aus dem Film Noir kennt, markiert die affektive Durchlässigkeit zwischen Innen- und Außenräumen wie im Melodram, transportiert aber auch die verspielte Leichtigkeit, mit der im US-amerikanischen Musical im Regen gesungen, getanzt und geliebt wird. Über sein prominent gesetztes Objekt bespielt Les Parapluies de Cherbourg also auch jenen (unwahrscheinlichen) Ort, an dem sich Melodram und Musical berühren. Zwar lässt sich dieses »cinema en-chanté«, wie Jacques Demy sein gesungenes und zugleich märchenhaftes Kino wortspielerisch umschreibt, durchaus als Hommage an das Filmmusical verstehen; zugleich radikalisiert es jedoch dessen Grundprinzip: Wenn jede einzelne Dialogzeile gesungen und alltägliche Bewegungen (wie das Spazieren durch den Regen) zu choreografischen Mustern arrangiert werden, wird die Gegenüberstellung von handlungstragenden Szenen und Tanz- und Gesangsnummern – als grundlegendes Prinzip des Musicals (Feuer 1993) – aufgehoben. Sie weicht Prinzipien fließender Übergänge und Verschiebungen. Und diese Übergänge arrangiert der Film auf meteorologische Weise – über das Wetter und seine verschiedenen Aggregatzustände. Der Regen des Films ist zunächst einer, der romantische Effekte zeitigt – er verdichtet die Räume, lässt die Körper aneinanderrücken und macht Berührungen wahrscheinlicher (vgl. Cuntz 2017: 127). Dicht aneinandergeschmiegt laufen, nein, schweben Guy und Geneviève nach dem Opernbesuch durch das nächtliche Cherbourg und entwerfen dabei eine gemeinsame Zukunft. Guy träumt von einer eigenen Tankstelle, Geneviève von einer Tochter, die »Françoise« heißen soll. Es gehört zur feinen Ironie des Films, dass ausgerechnet die beiden Liebenden keinen Regenschirm benötigen; sie scheinen vom Regen auf eigentümliche Weise ausgespart, als liefen sie unter einem unsichtbaren Schirm, während um sie herum bunt

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beschirmte Passanten durch den Regen hasten. Das Wetter scheint ihnen ebenso wenig anhaben zu können wie die äußeren Umstände (ihre Jugend, die Klassenunterschiede, der Krieg). Fast nahtlos geht der romantische Regen über in ein melodramatischeres Klima. Nebel und Nieselregen begleiten den Abschied der Liebenden am Bahnhof. Damit ist eine Nässe beschworen, die nicht mehr von den Körpern abperlt, sondern ihnen regelrecht unter die Haut geht – ähnlich wie das von Michel Legrand komponierte musikalische Thema des Films, das durch zahlreiche Variationen nach und nach einsickert. Ein melodramatischer Regen ist es auch, der Guy empfängt, als er Jahre später als Kriegsveteran mit hinkend-wetterfühligem Knie nach Cherbourg zurückkehrt und erfährt, dass Geneviève den Juwelenhändler Cassard geheiratet hat. Als er vor dem leerstehenden Schirmgeschäft ankommt, läuft ihm der Regen über das Gesicht – wie Tränen, suggeriert die Kamera, indem sie sein überströmtes Gesicht in einer Großaufnahme lange fokussiert.

III. Vom Wetter (le temps) ist es im Französischen nur ein kleiner Schritt zur Zeit (le temps). Das gilt auch für Les Parapluies de Cherbourg, wo die Zeit ein zentrales Thema bildet. Ihr Vergehen wird akribisch offengelegt (vgl. Berthomé 1995: 52–59) – nicht nur über die Strukturierung in drei Kapitel (»Le départ«, »L’absence« und »Le retour«) und die Zeitangaben im Bild, sondern auch über den Wechsel der Jahreszeiten und die Weisen, wie sie sich in die Körper einschreibt (Genevièves wachsendes Schwangerschaftsbäuchlein, Guys Kriegsverletzung). Es sind Zeitformen der Ungleichzeitigkeit – das ›Zu Früh‹ und ›Zu Spät‹, die verpassten Chancen – und, immer wieder, das Warten, die den Film strukturieren. Sämtliche Figuren sind in Ökonomien des Wartens eingebunden: Madame Eméry wartet in ihrem Schirmgeschäft tagelang auf Kundschaft, Geneviève wartet auf Nachricht von Guy, Cassard darauf, dass Geneviève sich endlich zur Hochzeit mit ihm durchringen kann; Tante Élise wartet mit dem Sterben bis Guy aus Algerien zurück ist und Madeleine darauf, dass dieser sie endlich zur Frau nimmt. Und auch hier sind es verschiedene Modi des Wartens, die der Film ineinander übergehen und gegeneinander anspielen lässt. Da ist einerseits das romantische Warten – die vorfreudige Erwartung etwa, mit der Guy und Geneviève Pläne für eine gemeinsame Zukunft schmieden. Fast schon zynisch entlarvt der Film

Les Parapluies de Cherbourg (1964)

zugleich die Fragilität dieser Versprechen mit ihren ›Für-Immers‹ und ›Nies‹. Noch im Bahnhofscafé vor Guys Abreise verspricht Geneviève, auf Guy zu warten; nur wenige Monate später wird sie zur »ungeduldigen Prinzessin« (Duggan 2013: 27), die sich – wenn auch widerwillig und unter dem Druck ihrer Mutter – auf die Hochzeit mit dem Juwelenhändler Cassard einlässt. Die ungeduldige Erwartung spiegelt sich auch in der Weise, wie der Film mitunter elliptisch durch Zeit und Raum springt. Da ist aber auch das tragische Warten, bei dem sich die Zeit dehnt – und das wird in Les Parapluies de Cherbourg ebenfalls filmisch erfahrbar. Während Geneviève auf Guy wartet, geraten sämtliche Gesten, Handlungen und Orte in Wiederholungsschlaufen. Diese Wiederholungen (etwa: der Postbote, der immer wieder im Schirmladen auftaucht) rhythmisieren den Film, verleihen ihm aber auch ein ihm eigenes Erinnerungsvermögen. Immer wieder kehrt der Film an frühere Schauplätze zurück, die nun leer oder neu besetzt sind (das Bistro mit den leeren Stühlen; die Hafenpromenade, an der Geneviève erst mit Guy, dann mit Cassard spaziert; das rote Tanzlokal, das nach Guys Rückkehr ein Bordell ist). Der Film erinnert sich sogar an Ereignisse, die ›vor seiner Zeit‹ stattgefunden haben. Zusammen mit Roland Cassard, einer Figur, die bereits aus Demys Film Lola (F 1961) bekannt war, denkt er zurück an dessen unglückliche Romanze mit Lola und schweift für eine kurze, aber prägnante Kamerafahrt zur Einkaufspassage in Nantes ab. Mit dem Erinnern geht es in Les Parapluies de Cherbourg schließlich auch um den Versuch, die Zeit stillzustellen. »Ici, rien n’a changé«, befindet Tante Élise bei Guys Rückkehr – als sei gar nichts passiert.

IV. Das regnerische Prinzip des Zerfließens (der Affekte, der Räume und Zeitebenen) bespielt der Film auch mit seiner auffälligen Farbdramaturgie. Bildeten die Regenschirme in der Eröffnungssequenz distinkte Farbtupfer auf grauer Fläche, so scheint die Farbe zunehmend ›auszulaufen‹. In einigen Szenen verläuft sie über die gesamte Bildfläche, färbt die Figuren und ihre Kleider, die Häuser, Treppenhäuser, Tapeten und Gegenstände ein – so dass sich gar nicht mehr so genau bestimmen lässt, wer hier auf wen ›abfärbt‹: der Mensch auf sein Milieu oder umgekehrt. Diese Farben bleiben ohne Schatten und Kontur, sie produzieren Flächeneffekte wie in den Gemälden von Henri Matisse oder der Pop-Art und verweisen mit einer ähnlich

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stilisierten Zeichenfunktion auf soziale und emotionale Räume, die sich nicht mehr mit Gewissheit einzelnen Figuren (im Sinne einer psychologischen Instanz) zuordnen lassen. Vielmehr werden die Situationen, von denen der Film erzählt, als Spannungen und Intensitäten in räumlich-sinnliche Konfiguration übertragen. Im Hinterzimmer des Schirmladens vor einer ornamental gemusterten Tapete in flammenden Rot- und Rosatönen gesteht Geneviève ihrer Mutter die Schwangerschaft. Die Kleider von Mutter und Tochter sind ebenfalls in Rottöne getaucht; sie stammen aus derselben ›Farbfamilie‹, stehen aber zugleich in Spannung zueinander – als würden die Farben der Tapeten und Kleider einen ähnlichen Konflikt austragen wie Geneviève und ihre Mutter. In anderen Einstellungen scheinen die Bilder wiederum ›auszulaufen‹, insofern sie ihre Farben fast vollständig verlieren. In nahezu monochrom weißen Bildern steuert der Film auf die Hochzeit von Geneviève und Cassard zu. Es ist das symbolische Weiß der Hochzeit, das sich wie ein Filter über die Bilder und wie ein Schleier über Genevièves Gesicht legt. Es sind aber auch seltsam ausgeblichene Bilder, aus denen sich die Farbe ebenso zurückgezogen zu haben scheint wie der Lebensmut aus Genevièves Gesicht, das uns in Großaufnahmen anblickt. »C’est drôle, l’absence«, singt sie an einer Stelle und beschreibt die Trennung von Guy wie ein Foto, das so verblichen ist, dass die Gesichtszüge des Geliebten nicht mehr zu erkennen sind.

V. Am Ende des Films kehren die ausgeblichenen Bilder unter neuen meteorologischen Vorzeichen wieder. Der prasselnde Regen hat sich zu dicken Schneeflocken verdichtet, die sachte auf Guys Esso-Tankstelle rieseln. Ausgerechnet am Heiligabend fährt Geneviève mit ihrer Tochter Françoise in einer Limousine vor seiner Tankstelle vor. »Il fait froid« – sind ihre ersten Worte an Guy, und sie kommentiert damit nicht nur das Wetter, nicht nur die Distanz, die sich zwischen ihnen eingestellt hat, sondern auch die Weise, wie der Film dieses Wiedersehen inszeniert. Der Schnee, der durch die Luft wirbelt und die Szenerie mit einer zuckrigen Schicht aus Kunstschnee überzieht, unterstützt zwar durchaus das Pathos der Situation, stellt aber auch das Kalkül ihres Arrangements heraus (vgl. McKim 2014: 161). In diesem unterkühlten Klima, so wird deutlich, reicht ein Regenschirm nicht mehr aus; es braucht weitere, schwerfälligere Schutz-

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schichten: Genevièves voluminösen Pelzmantel, das Auto, in dem die gemeinsame Tochter Françoise wie abgekapselt sitzt, den wärmenden Innenraum der Tankstelle mit dem liebevoll geschmückten Weihnachtsbaum und der großen Fensterfront, die vor dem Schneetreiben abschirmt. Dieses räumliche Arrangement, das Spiel mit Innen- und Außenräumen, Vorder- und Hintergründen, erlaubt es auch, das gesamte affektive Spektrum des Films – vom Pathos des Melodrams über die Leichtigkeit des Musicals bis hin zu deren Ironisierung – in einer einzigen Szene zu verdichten. Es ist die Schlusseinstellung, die diese Spannungen noch einmal symptomatisch zuspitzt: Nachdem Geneviève mit ihrer Tochter wegfährt, löst sich die Kamera mit einer schwebenden Kranbewegung vom Geschehen. Dieser erhöhte Blick, der suggeriert, dass wir mehr wissen als die Figuren selber, zeigt, wie Guys Frau Madeleine mit dem gemeinsamen Sohn von den Weihnachtseinkäufen zurückkommt, wie Guy seine Familie (etwas zu) euphorisch begrüßt und sie lachend in eine Schneeballschlacht verwickelt. Das Familienglück, das hier geradezu kitschig ins Bild gegossen ist, wird durch die Ton-Ebene vehement unterwandert. Mit einem leidenschaftlichen Crescendo braust hier noch einmal das musikalische Thema von Guy und Geneviève auf. Mit dem Auseinanderdriften von Bildund Ton-Ebene sind nicht nur die atmosphärischen und meteorologischen Spannungen des Films vermessen, sondern auch zwei Enden vermittelt: das Happy End von Guy und Madeleine sowie das tragische Ende von Guy und Geneviève – oder vielleicht beides auf einmal.

Referenzen Berthomé, Jean-Pierre (1995): Les Parapluies de Cherbourg, Paris: Nathan. Cuntz, Michael (2017): »Regenschirm«, in: Böttcher, Marius et al. (Hg.): Wörterbuch kinematografischer Objekte, Berlin: August, S. 125–127. Duggan, Anne E. (2013): Queer Enchantments. Gender, Sexuality, and Class in the Fairy-Tale Cinema of Jacques Demy, Detroit: Wayne. Engell, Lorenz/Wendler, André (2011): »Motiv und Geschichte«, in: Rabbit Eye – Zeitschrift für Filmforschung 3, S. 24–40. Feuer, Jane (1993): The Hollywood Musical, Bloomington: Indiana UP.

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McKim, Kristi (2014): Cinema as Weather. Stylistic Screens and Atmospheric Change, New York & Oxfordshire: Routledge. ms., Les parapluies de Cherbourg, in: Neue Zürcher Zeitung v. 23.07.1964, S. 9. Wendler, André/Engell, Lorenz (2009): »Medienwissenschaft der Motive«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 1, S. 38–49.

Kristina Köhler, Prof. Dr., ist Juniorprofessorin für Filmwissenschaft am Institut für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Arbeitsschwerpunkte: Filmgeschichte, Geschichte der Filmtheorie, Tanz- und Körperkulturen der Moderne.

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Vollrath Hopp ist Maler. Er lebt und arbeitet in Weimar.

BLOW UP (1966) Hermann Kappelhoff Die Wiederbegegnung mit dem Film hat mich irritiert. Ergab sie sich doch aus dem Umstand, dass ich mir sicher war, in Antonionis Blow Up einen Gegenstand gewählt zu haben, der sich von selbst versteht. Nicht zuletzt, weil der Film wie wenige andere als repräsentativ für das Lebensgefühl der Swinging Sixties einsteht. Genau darin aber lag das Problem. Verstellte mir doch das den Blick, was buchstäblich vorgeschrieben war, die Sätze und Bilder, die einen solchen Klassiker per definitionem umlagern. Offensichtlich hat sich der Film über die Jahrzehnte mit einer Bedeutsamkeit aufgeladen, die schließlich zum definitiven Kunsturteil führte: Blow Up sei »der vielleicht letzte große Film des modernen Kinos«: Der Held [...] kommt beim Spazieren an einem Tennisplatz vorbei. Dort gibt eine Gruppe von Hippies vor, Tennis zu spielen (ohne Ball simulieren sie die Schläge, laufen und springen herum, etc.). Im Rahmen dieses vorgeblichen Spiels springt der imaginäre Ball durch den Zaun des Platzes und bleibt in der Nähe des Helden liegen. Dieser zögert zunächst eine Weile, dann akzeptiert er das Spiel: er bückt sich, und tut so, als würde er den Ball auf heben und auf den Platz zurückwerfen... Diese Szene hat natürlich metaphorische Funktion für das Ganze des Films. Sie bringt den Helden dazu, sich damit abzufinden, daß ›das Spiel ohne Objekt abläuft‹ [...] (Žižek 1991: 96 f ).

Nun wäre es nicht schade um eine Filmepoche, wenn der Held ihres letzten großen Werkes sich tatsächlich in derart albernen Tiefsinnigkeiten erginge. Der zitierte Text ist auch nur ein Symptom gnadenlos sich vollziehender Klassizität. Habe ich also eine falsche Auswahl getroffen? Lassen sich Klassiker des Kinos überhaupt als Filme sehen? Kann man die tradierten

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Kommentare und Kunsturteile mit einem Satz überspringen, um den Filmen jenen Körper zu leihen, der ihnen immer schon gefehlt hat? Das wäre dann doch noch ein lohnendes Geschäft der in die Jahre gekommenen Filmhistoriografie. Es nähme seinen Ausgang in der jugendlichen Leidenschaft, vom Erleben eben dieses Körpers zu sprechen. Denn nur so weit, wie sie zu Medien eines fühlenden und denkenden Körpers werden, lassen sich Filme als Medien der Wahrnehmung begreifen, die es uns erlauben, die Sinnlichkeit einer anderen Zeit, d. i. die Historizität unserer eigenen Sinnlichkeit, zu erschließen. Ich bleibe also bei meiner Wahl und versuche die Probe aufs Exempel:

Straßen Die Straßen der Stadt am frühen Morgen, ein modernistischer Gebäudekomplex, der Sitz des Economist, 1966 gerade fertiggestellt, eine Gruppe junger Leute – teils kostümiert, teils weiß geschminkt oder mit Brillen und Hüten aus einem Theaterfundus maskiert – fährt im offenen Jeep in die Szenerie. Es sind Mimen, Pantomimen, die den sterilen Neubaukomplex zur Bühne eines Happenings machen. Dann ein Fabriktor, aus dem Männer treten, abgerissene Gestalten, wie im Film des Free Cinema aus den 50er Jahren – die Tristesse eines Industrieareals zwischen Bahndamm, Tunnelunterführungen und Brachflächen. Aber es sind keine Arbeiter; Thomas, der Fotograf, hat die Nacht mit Obdachlosen im Schlafasyl verbracht, zu Recherchezwecken. Jetzt rennt er davon, steigt in den offenen RollsRoyce, um beim nächsten Halt von der Theatertruppe stürmisch um Geld angehauen zu werden. Wenig später eine ähnliche Kollision absurder Gegensätze: Die Straße eines Arbeiterviertels, betrachtet aus dem fahrenden Cabriolet, eine Biegung, man sieht ein Neubauviertel. Sie tauchen so unvermittelt auf wie der Rolls-Royce an der Ecke zum Obdachlosenheim, so unvermittelt wie der Antiquitätenladen, wie auch der alte Mann, der zwischen dem Plunder erscheint. Unvermittelt schließlich der Park, dessen Eingang man plötzlich gewahr wird, wenn Thomas wieder auf die Straße tritt: die Rosen, die diffuse Helle eines bedeckten Himmels; unvermittelt endlich der Wind in den Bäumen, ein in sich bewegtes Landschaftsgemälde, in das man hineingehen kann.

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Der Antiquitätenladen, die leere Straßenkreuzung, der Eingang des Parks: Die Raumkonstruktionen Antonionis lassen um ihren Protagonisten eine merkwürdige Leere entstehen, in die er hineinläuft. Von Anfang an beherrscht eine unheimliche Irrealität die Orte des Films; sie rührt aus der Kollision unterschiedlicher Zeitlichkeiten. Man mag in den schroffen Kollisionen solcher Ungleichzeitigkeiten einen Rhythmus wahrnehmen, der den Film als Ganzes durchzieht – Blow Up lässt fragmentierte Bildräume entstehen, deren Verbindungen und Anschlussstellen nicht durch Alltagswahrnehmung und Konvention vorgegeben sind. Sie müssen vielmehr in der Wahrnehmung der Zuschauer als Übergänge zwischen unterschiedlichen Registern von Bildern und deren Wechselbezügen (die Szene, der architektonische Raum, das Gemälde, die Fotografie, das filmische Bewegungsbild) selbst hergestellt werden.

Blumen Dann sind da die Stills: eine endlose Kolonne, die einem entgegenkommt, sobald man bei Google »Blow Up« eingibt. Stills – jedenfalls die, die im Kulturbetrieb zirkulieren, public stills – haben vor allem den Zweck zu repräsentieren, was sich nicht so ohne Weiteres repräsentieren lässt; nämlich das Vergnügen des Filme-Sehens. Sie haben deshalb die Angewohnheit, die Erinnerung an dieses Vergnügen zu okkupieren, ähnlich wie Familienfotos die Erinnerung der Kindheit. Bei Blow Up gilt das vor allem für jenes Foto, das Thomas zeigt, wie er, mit der Kamera in den Händen, rittlings auf der Frau sitzt, die am Boden liegt. Ihr Kleid, an den Seiten offen, gibt den Blick frei auf den dürren, sich auf bäumenden Körper, ihre Arme nach hinten über den Kopf gestreckt, die nackten Achselhöhlen, der Rücken nach oben gedrückt, sexuelle Ekstase mimend. Man erinnert die Fotosession: ihre Ekstase, seine Anfeuerungsrufe sind gestellt. Ein abgeklärtes Paar, das höchst professionell seinen Job macht. So abgeschmackt die Metapher ist, mit der die Fotosession dem Geschlechtsakt gleichgesetzt wird, so direkt ist die Dynamik des filmischen Bewegungsbildes auf die Position der Zuschauer hin inszeniert; sie werden in die Bewegung der sich annähernden Körper hineingezogen: eine Kaskade fragmentierter Einstellungen ansteigender körperlicher Erregung, mit denen das Zuschauen selbst, das Betrachten der Fotosession, zu einer Art sexueller Handlung wird: Man beobachtet ein Paar bei einem recht mechanisch vollzogenen Liebesakt.

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Das gilt auch für das Still mit Jane Birkin, in ihren gelblich-grünen Strumpfhosen; sie dreht ihren nackten Oberkörper verschämt gegen die Wand; sie spielt »The Blonde«, die sich mit ihrer Freundin, »The Brunette«, aufmacht, dem Popstar Thomas zu Hause aufzulauern. Die Strumpf hose der Freundin, das Pink, bringt einen weiteren schroffen Farbkontrast in das Bildarrangement. Die Strumpfhosen der ansonsten nackten Mädchen zerstören wie breit aufgetragene Pinselstriche das glatte Monochrom eines Wandprospekts, der als Lila-Hintergrund fotografischer Settings dient. Wieder sieht sich die Szene wie ein Geschlechtsakt an. Die Mädchen reißen die papierene Wand aus der Befestigung, balgen sich wie Kinder; eine erotische Tändelei, in deren Verlauf sich die Körper in das Lila verknäulen, als würden sie sich in einem Farbtopf wälzen. Die Sexszene gleicht denn auch mehr einer ekstatischen Maltechnik dynamischer Farbgebung, die zur Zeit von Blow Up längst als Kunst des Action Painting etabliert war. Das Pendant ist die Frau des Nachbarn, die Freundin des Malers Bill, die stets barfuß ist, mit bloßen Beinen und Kleidern, deren Stoffmuster den Gemälden des Freundes gleichen – so als hätte sie sich von der Leinwand wie aus einem Tableau Vivant gelöst. Auf Tableau Vivants beziehen sich auch die Stills, die der zweiten Fotosession entstammen. Versammelt sind die Topmodels der damaligen Londoner Modeszene; sie stehen breitbeinig in diagonaler Linie versetzt, hintereinander aufgereiht. Indem Glaswände die Frauen auf ganzer Körperlänge jeweils bis zur Mitte bedecken, entsteht der Effekt einer gebrochenen Spiegelung in der Spiegelung. Ihre Körper, durch die Schnittmuster der Kleider auf Linie gebracht, bilden so eine streng geometrische Anordnung, die sich wie ein Hologramm im unbestimmten Weiß des umgebenden Raums verliert. Nur vage angedeutet ragen Raumteiler, Kulissen, Prospekte und Stellwände ins Bild. Unter den zahllosen Fotos von Vanessa Redgrave aus Blow Up, die im Netz kursieren, sind nur wenige Stills. Das berühmteste zeigt die Liebesszene im Atelier. Es bezeichnet in gewisser Weise den Gegenpol zu den Fotosessions. Man sieht David Hemmings und Vanessa Redgrave, beide mit nacktem Oberkörper, ihren Körper von der Kamera abgewandt, den Blick über die Schulter zurückgewendet; er folgt der Linie ihres Arms, der Hand, den Fingern, die sachte seine Schulter berühren; er ist der Kamera zugewandt, halb sich umwendend, berührt er mit zwei Fingern ihren Arm, küsst die Hand auf seiner Schulter.

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War meine anfängliche Irritation einfach nur der aktuellen Stimmungslage unserer Tage geschuldet? Der Eilfertigkeit, mit der Gedichte prämiert und auf Fassaden gemalt werden, nur um sie bald ebenso eilig zu übermalen, weil jede moralische Ambivalenz unerträglich geworden ist? Tatsächlich schaut sich der Film im ersten Drittel wie Impressionen zum Gedicht von Eugen Gomringer an: Avenidas Avenidas y flores Flores Flores y mujeres Avenidas Avenidas y mujeres Avenidas y flores y mujeres y Un admirador

Die Frau im Park Aber kein Bewunderer tritt den Zuschauern entgegen, nur ein blasierter Jüngling, der seine anstößige Obsession mit einer anderen Reihung begründet: »Some people are bullfighters, some people are politicians, I’m a photographer.« Mit diesen Worten sucht Thomas die Frau im Park abzuwimmeln, die er heimlich fotografierte, um sich zügig aus dem Staub zu machen. Aber die Fotos, die wir von ihr zu sehen bekommen, sind explizit nicht von Thomas gemacht. Bei den Schwarz-Weiß-Aufnahmen handelt es sich durchweg um die Arbeiten Don McCullins. Seine Fotografien sind als solche, als signierte Arbeiten eines berühmten Fotografen, im Film zu sehen. Sie treten in diesem Film als Objekte auf, die ihre eigene Rolle spielen. Sie zeigen Vanessa Redgrave, die erschrocken in Richtung des Fotografen blickt, als habe sie den heimlichen Beobachter entdeckt; die näher kommt, ihn zu vertreiben sucht, ihre Hand vor das Gesicht hält, wenn er sie, oben auf der Treppe stehend, von unten fotografiert. Die Komplexität, die Schönheit der Fotografien geht nicht auf in der dargestellten Handlung. Sie gehören einer anderen Wirklichkeitsebene an als die Kameraeinstellungen, die zeigen, wie Thomas im Park heimlich ein Pärchen beim Liebesspiel fotografiert. Eine Szene, die selbst wiederum wie eine Schauspielprobe wirkt. Die Frau versucht, Thomas die Kamera zu entreißen, er zwingt sie in die Knie, ein Gestus, der an die Fotosession erinnert.

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Die Fotografien McCullins studieren die Gesten und Haltungen einer Frau, die einen Mann mit sich zieht, ihn ins Gebüsch lockt, um sich aller ungebetenen Blicke zu entledigen. Darin sind sie den Szenen im Atelier vergleichbar, in denen auf ganz ähnliche Weise die Bewegungen und Haltungen Vanessa Redgraves studiert werden – als sei die Sequenz in Gänze aus den fragmentierten Bewegungsstudien einer Schauspielerin zusammengesetzt worden; aus dem Material eines Castings, bei dem sich der Fotograf in das Model verliebt, um sich dann doch für das Foto zu entscheiden. Mit dem Sex verhält es sich hier genauso wie bei den Fotosessions oder der Begegnung mit den Groupies: Er ist weder ausgespart, noch metaphorisch bedeutet. Er zeigt sich den Zuschauern als ein Begehren, das den Fotografien und den filmischen Bildern des Fotografierens gilt. Auch die Blow Ups sind Arbeiten von Don McCullin; es sind Objekte, die buchstäblich die Titelrolle spielen. Sie scheinen auf fast komische Art den erschöpfend traktierten mortifizierenden Charakter der Fotografie in Szene zu setzen. Sie bezeichnen gleichsam den Nullpunkt des Visuellen. So abstrakt die Blow Ups, so grotesk konkretistisch ist das Close Up des wächsernen Gesichts der Leiche. Ein toter Mann im grünen Gras einer nächtlichen Parklandschaft, die so dramatisch ausgeleuchtet ist, als ginge es darum, ein Gemälde Caravaggios zu imitieren. Blow Up hinterlässt seinen Zuschauern die Frage, wie sich die Körper aus den Beschriftungen lösen können, die sie zum Verschwinden gebracht haben. Wie können sie durch die aufgelegten Farben, Schraffuren und Muster des Bedeuten-Wollens hindurch in ihrer Eigenbewegung sichtbar werden? Zweifellos erscheint Thomas als Agent einer Bildindustrie, die jede Frau und jeden Mann zu einem Ding werden lässt, an dem sich die Konsumierbarkeit selbst als das alles beherrschende Prinzip behauptet. Auch die jungen Leute – Studenten, Hippies, Pantomimen – zu Beginn des Films tun letztlich nichts anderes, als bei den Reichen Londons ein bisschen Geld einzusammeln. Das Happening besteht darin, sich selbst mit seinem Outfit zum Artikel im Kaufhaus des Swinging London zu machen. Der Ästhetizismus, den Thomas, den der Film zelebriert, wird den Zuschauern zu einem Gefühl für den Überdruss am immergleichen Himmelsbrot eines totalen Konsumismus. Insofern mag das Tennisspiel dann doch eine Metapher sein, die sehr viel radikaler vom Ende der Moderne handelt, als es das Wachpersonal auf

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der Schwelle zur fröhlichen Postmoderne für möglich hielt. Ist es doch ein präzises Bild der Zauberkraft des Warenfetischs, dem die Moderne erlegen ist, wie das Topmodel aus dem Märchen, das den wohlfeilen Gürteln, Kämmen und Äpfeln nicht widerstehen kann.

Referenzen Moser, Walter/Schröder, Klaus Albrecht (Hg.) (2014): Blow-Up: Antonionis Filmklassiker und die Fotografie, Ostfildern: Hatje Cantz. Žižek, Slavoj (1991): Liebe Dein Symptom wie Dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien, Berlin: Merve.

Hermann Kappelhoff, Prof. Dr., ist Professor für Filmwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Ästhetik und Politik audiovisueller Bilder, Theorie des filmischen Erfahrungsmodus.

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POEMFIELD NO. 7 (1967-68) Antonio Somaini Poemfield No. 7 is one of eight computer-generated animation films entitled Poemfields which were realized between 1964 and 1968 by the artist Stan VanDerBeek in collaboration with the programmer and computer graphics pioneer Ken Knowlton at the Bell Labs Laboratories. Although the 16mm film was the medium through which the Poemfields were first shown to the public in a specific context to which we will return later, the actual medium VanDerBeek and Knowlton worked with was a complex intertwining of digital and analog technologies. The Bell Labs, which at the time were promoting a series of collaborations between artists and engineers through a program entitled EAT (Experiments in Art and Technology), gave VanDerBeek and Knowlton access to an IBM 7094 mainframe computer and to a Stromberg-Carlson peripheral called S-C 4020. While the former was a cumbersome calculating machine, the latter was a hybrid dispositive combining a display – a cathode tube screen called Charactron CRT, which could visualize at high speed endless configurations of letters and patterns thanks to an electron beam passing through a grid of 252 x 184 alphanumeric characters – and a camera turned towards the screen and acting as a microfilm recorder. Working with a program developed by Knowlton and called BeFlix (a short term for »Bell Flicks«), the couple programmed each image of the movie through a series of punch cards which fed instructions into the IBM 7094: this in turn transferred the information to the S-C 4020, which, by photographing the patterns appearing onto the Charactron screen, produced a series of single black and white 35mm images, which were then manually spliced together and transferred onto 16mm film. Once the analog, celluloid film support was reached, further editing was possible, until color was added through

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a special color-printing process developed by the artists Bob Brown and Frank Olvey. The result of this complex process was in the case of Poemfield No. 7 a 4’20’’ computer-generated animation film, in which the images were produced one by one, photographed, and then set in motion at the moment of projection. The film begins with a blueish, mosaic-like, cruciform pattern, which changes color quickly, moving from blue to green and then from violet to fucsia. The pattern keeps on transforming, leading gradually to a black screen onto which two first words appear: LOVES OR. Immediately after, the two words undergo a series of graphic transformations (repetitions, enlargements, overlappings, lateral and vertical shifts) within the rectangular space of the grid-like screen. What unfolds in front of our eyes is a reinterpretation of visual, concrete poetry through computer-generated animation, and what we read is indeed a poem, whose verses echo the pacifist, anti-war movement of the years of the Vietnam war: »LOVES OR / LOVES OF / THERE IS NO WAY TO PEACE / PEACE IS THE WAY / NO MORE WAR«. One of the distinctive features of Poemfield No. 7 is the constant oscillation between meaning and meaninglessness, distinguishable words and indistinguishable noise, differentiation and undifferentiatedness. Throughout the entire four minutes and twenty seconds, words appear and disappear, emerging from and disappearing into the mosaic-like background, as if the grid-like texture of the perceptual field of the screen – with its 252 x 184 = 46.368 luminous points, which are actually endless variations of about 30 alphanumeric characters – were the stage for a continuous play of formation and dissolution, aggregation and disaggregation of small, basic units. Words – which in the film are actually words of words, since they are formed by blocks of smaller letters and characters – appear and disappear repeatedly, and what gives a rhythm to these oscillations is the return of the cruciform, mosaic-like pattern that we see at the beginning: a pattern that emerges repeatedly from the center of the screen, gradually absorbing the words in carpet-like texture of luminous points of colored light. The very last image, after a series of barely legible copyright credits and the phrase »A STUDY IN COMPUTER GRAPHICS«, is a flat surface of small flickering pixels, clearly evoking the traditions of mandalas and of Persian ornamental carpets. The soundtrack by John Cage, with its short, repetitive mu-

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sical patterns produced by a prepared piano, emphasizes this idea of suspension and dissolution in a flat space with no clear directions. In an article published in the journal Art in America in 1970 with the title New Talent: The Computer, Stan VanDerBeek highlighted what was for him the most interesting aspect of the Poemfields: the fact that the computer – in this case, the combination of the IBM 7094 mainframe and the S-C 4020 peripheral – had become a machine capable of generating, storing, and visualizing images. For VanDerBeek, who before the Poemfields had realized a series of films based on photo-collage and animation such as Science Friction (1959), the computer was a new »graphic tool« capable of opening still unexplored paths towards new ways of movie-making. As a »technically oriented film-artist«, what fascinated him the most was the non-human speed of such »graphic tool«, which could »plot points and draw lines a million times faster than a human draftsman« (VanDerBeek 1970: 86). Clearly influenced by McLuhan’s 1964 Understanding Media, Stan VanDerBeek saw in television a medium which had been capable of »touch[ing] the nerve-ends of all the world«, introducing a new »ecology of the senses« replacing the one that cinema had introduced at the turn of the century. According to him, movie-making, »for long the most revolutionary art form of our time«, had to embrace the revolution triggered by the TV screen, with its cathode tube and its pixelated surface, and needed to further develop it by turning »to computer graphics, to computer controls of environment, to a new cybernetic movie art«. The computer was for him »an extension of the mind with a tool technically as responsive as ourselves«: its »abstract notation systems«, its techniques for »image storage« and »retrieval« introduced a new »mental attitude to movie making«, in which images were produced through pure programming, without ever encountering any kind of profilmic reality. »Programming«, writes Stan VanDerBeek at the end of his article, will become in the near future »one of the new psycho-skills of the new technician-artist-citizen« (VanDerBeek 1970: 91). A »psycho-skill« because of its analogies with the functioning of the human mind, since computers, VanDerBeek believed, had »reached the speed of human computation in 1967«, precisely in the year of Poemfield No. 7. A »psycho-skill« also because of the analogies between the eye – »a miniaturized computer predetermining information before getting to the brain« through

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a »mosaic of nerve ends (rods and cones)« – and the »graphics display systems« of the time, with their »small points of light turned on or off at high speeds«, recalling Seurat’s Pointillism and half-tone newsprint, just as McLuhan had observed in Understanding Media (VanDerBeek n.d.: 4–6). The first public presentations of the Poemfields took place in the »Movie-Drome«, a metal, dome-like structure VanDerBeek had built in the woods surrounding his house in Stony Point, in the state of New York. He envisioned this space as a »dome-studio-laboratory-theater« in which simultaneous, multiple projections of still and moving images forming a »super-collage or movie-mosaic« would have immersed the audience in an endless »image flow« characterized by a form of »visual-velocity« (VanDerBeek 1965: one page, not numbered). Lying on the floor, their feet pointing towards the center of the dome, watching on the interior wall of the dome a complex array of computer-generated animations, stock newsreel footage, photographs, as well as images hand-drawn on acetate and then projected, the visitors were exposed to what VanDerBeek considered to be »a prototype for a new kind of cinema stage«, a way to »expand cinema« in the direction of a »world picture language« which was supposed to become »an international art and education form, called Culture-Intercom« (VanDerBeek 1966a: 1). A few years later, Culture: Intercom would become the title of a manifesto written by VanDerBeek and published in 1966 in the journal Film Culture. In it, the artist presents »a vision […] concerning motion pictures«, according to which »expanded cinema«, »the art form of our time«, was to become »a tool for world communication«. »It is imperative« – he writes – »that we (the world’s artists) invent a new world language… that we invent a non-verbal international picture-language […] using fundamentally motion pictures« and giving place to a new »experience machine«. This new »picture-language« was to be broadcasted across the planet by a system of »Movie-Dromes« hosting projections that VanDerBeek called »Movie-Murals«, »Ethos-Cinema«, »Newsreels of Dreams«, »Feedback«, »Image Libraries« and connected to one another by satellite (VanDerBeek 1966b: 15–18). As VanDerBeek writes in his manifesto: When I talk of the movie-dromes as image libraries, it is understood that techniques such as video tape and computer inter-play would be used and thus they

Poemfield No. 7 (1967-68)

would be real communication and storage centers. Each dome could receive its images by satellite from a worldwide library source, store them, and program a feedback presentation to the local community. ›Intra-communitronics‹, or dialogues with other centers, would be likely, and instant reference material via transmission television and telephone could be called for and received at 186.000 m.p.s. from anywhere in the world. Thus I call this presentation a ›newreel of ideas, of dreams, a movie-mural, a kinetic-library, a culture de-compression chamber, a culture-intercom.‹ (VanDerBeek 1966b: 17)

Fifty years later, there are various reasons for looking back at the Poemfields from the perspective of media theory: especially a media theory, such as the one that Lorenz Engell has taught us, that takes different media as viewpoints and acknowledges the fact that such different viewpoints may lead to different conclusions. Interpreted in the framework of a «Medientheorie der Medien selbst» (see Engell 2014), Stan VanDerBeek’s Poemfields provide us with precious insights on a number of crucial issues in media theory. The complex intertwining of digital and analog techniques that was used in producing them shows us that, beginning with the 1960s, the transition from analog to digital did not unfold as a gradual, linear process, but rather happened through a series of discontinuous steps producing hybrid analog-digital configurations of which the junction between the IBM 7094 and the S-C 4020, with its Charactron screen and its microfilm recorder, is an emblematic example. The way in which Stan VanDerBeek sees in television a medium capable of »touch(ing) the nerve-ends of all the world« and in the computer an »extension of the mind«, highlights the presence of McLuhan’s prosthetic vision of technology in the writings of one of the main promoters of expanded cinema. The hypnotic play of forming and unforming, aggregating and disaggregating, fixating and dissolving that a film such as Poemfield No. 7 displays in front of our eyes by constantly rearranging the 46.368 flickering points of the Charactron screen, is an almost literal manifestation of that Medium/Form dynamic theorized by Niklas Luhmann in his later writings (cf. Luhmann 1995: 165 ff.) and often referred to by Lorenz Engell in his texts. To these various reasons for looking back at the Poemfields, I would like to add one more. With their exploration of the plasticity of the mosaic-like texture of the first computer screen, of the way in which images are »resolved from mosaic points of light«, and with their conviction that the plasticity of

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the computer screen may point to new, life-transforming modes of communication, the Poemfields are one of the first in a series of investigations of the aesthetic, epistemic, and political implications of the high and low resolution of images that continue up to today in the different areas of contemporary art and contemporary visual culture.

References Engell, Lorenz (2014): »Medientheorien der Medien selbst«, in: Schröter, Jens (ed.): Handbuch Medienwissenschaft, Stuttgart, Weimar: Metzler, S. 207–213. Luhmann, Niklas (1995): Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp McLuhan, Marshall (1964): Understanding Media: The Extensions of Man, New York: McGraw Hill. Science Friction (USA, 1959, Stan VanDerBeek). VanDerBeek, Stan (n. d.): »Re: Look. Computerized Graphics. Light Brings Us News of the Universe«, typewritten text, unpublished, not dated (see: www.stanvanderbeek.com). id. (1965): »May 1965 Inventory«, typewritten, unpublished text, www.stanvanderbeek.com, [20.08.2018]. id. (1966a): typewritten, untitled and unpublished text, www.stanvanderbeek.com, [20.08.2018]. id. (1966b): »Culture: Intercom«, in: Film Culture, http://www.stanvanderbeek.com/_PDF/CultureIntercom1,2,3_PDF_LORES.pdf, [20.08.2018]. id. (1970): »New Talent: The Computer«, in: Art in America, January 1970. id.: various typewritten and printed texts on the Poemfields, on the Movie-Drome, and on the manifesto Culture: Intercom from www. stanvanderbeek.com, [20.08.1018].

Antonio Somaini is Professor for Film, Media, and Visual Culture Theory at the Université Sorbonne Nouvelle Paris 3 since 2012.

ROSEMARY’S BABY (1968) Michel Chion Cher Lorenz, Ce texte n’est pas censé prendre la forme d’une lettre personnelle, mais tant pis. Je vais d’abord te féliciter pour ton œuvre de chercheur, d’auteur et d’enseignant et l’accueil que tu as donné à tant d’autres chercheurs et te redire ma gratitude pour l’année merveilleuse que j’ai passée à Weimar, une des plus belles de ma vie, grâce à Bernhard Siegert et à toi. Je vais parler du film Rosemary’s Baby. Précisément, c’est un film que j’ai vu dès sa sortie en France, dans un cinéma parisien. De penser à cette année 1968 augmente, cher Lorenz, le sentiment que j’ai de notre différence d’âge. Quant tu avais 9 ans, j’en avais déjà 21, et en tant que citoyen français, c’était l’année de ma majorité (ce n’est qu’en 1974 que les jeunes Françaises et Français sont devenus majeurs dès 18 ans). En janvier 1968, j’avais reçu le droit d’ouvrir un compte bancaire – et de me marier sans l’autorisation de mes parents. Je ne me suis pas marié en 1968, mais j’ai vu beaucoup de films dont deux m’ont marqué pour la vie : 2001 : A space Odyssey, de Kubrick, sur lequel j’ai beaucoup écrit par la suite, (et toi aussi tu as écrit) et l’œuvre de Polański. Deux œuvres qui ont connu des destins différents : la première, celle de Kubrick, existe sans son auteur, elle tient debout toute seule, tel le monolithe trouvé sur la Lune par les humains et auparavant découvert par des singes sur la Terre. Tandis que le Rosemary’s Baby de Polański, d’après un roman d’Ira Levin, a été malheureusement éclaboussé par les atroces événements qui ont suivi sa sortie : les abominations qu’il évoque sont devenues vraies, mais pas sous forme surnaturelle. Les braves Satanistes à l’air idiot que l’on voit, à la fin du film Rosemary’s Baby, entourer le berceau drapé de noir et surmonté d’une croix la tête en bas, sont devenus réels, eux, et en 1969 ils ont assassiné plusieurs personnes, dont

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l’épouse de Polański Sharon Tate, ainsi que leur bébé de huit mois qu’elle portait dans son ventre. Comment voir ce film maintenant sans le barbouiller de ce qui est trop réel, toujours réel : la bêtise, le crime et le fanatisme, liés l’un à l’autre comme si souvent. Voilà, je l’ai dit, et maintenant, je vais parler du film. Ou plutôt, je ne peux pas m’empêcher d’associer le film de Kubrick et celui de Polański : ils ont beaucoup de choses en commun en fait, bien plus que le fait anecdotique d’être sortis en 1968. Certainement, n’importe quel film mis à côté d’un autre se met à faire couple avec lui dans notre esprit, mais là il y a, à côté de grandes différences, des points communs, et surtout un énorme point commun. Ce point commun si évident que, comme on dit en français, il « crève les yeux », c’est de finir sur un « baby », bien sûr, un enfant différent de tous les enfants, celui qui va tout changer, qu’il soit fils du Diable – pourquoi pas l’Antéchrist – ou chez Kubrick un Starchild, christique ou destructeur. Dans 2001, il y a ce fœtus qui apparaît lumineux dans un utérus céleste, au-dessus du grand lit à deux places où vieillissait seul Dave Bowman, et qui ensuite se répand dans l’espace (ce que la langue allemande appelle le « Weltraum ») et tourne son regard vers nous, après avoir regardé d’égal à égale une planète entière  ; et dans Rosemary’s Baby, il y a ce bébé qu’on ne montre pas, qui vagit dans un berceau noir mais qui serait né du coït forcé entre Rosemary Woodhouse, le personnage joué par Mia Farrow, et le diable lui-même … Deux bébés pas comme les autres … pas comme tous les bébés. D’ailleurs, le film de Kubrick finit par le regard du fœtus dirigé vers le spectateur, et celui que le réalisateur va faire ensuite, A Clockwork Orange, commence par le gros plan d’un jeune garçon qui nous regarde dans les yeux. Un adolescent qui fait le mal. Je rappelle également que le film 2001 contient une demande de « bébé œdipien » fait par une petite fille à son papa Floyd pour son anniversaire : elle veut un « bushbaby ». Floyd a une fille, mais pas de parents ; l’un des cosmonautes qui sont en route vers Jupiter, Frank Poole, a des parents, qui lui souhaitent son anniversaire par un message vidéo enregistré, mais pas d’enfant. Deuxième point commun entre les films de Polański et Kubrick, il y a le berceau. Une bonne partie des personnages de 2001 dorment dans un berceau nourricier, à l’époque une vision nouvelle sur les écrans, qui ressemble à un sarcophage, cette couche nourricière et close où ils meurent sans mouvement et sans autre bruit que celui des systèmes d’alerte. Quant au film de Polański, il se résume par le

Rosemary’s Baby (1968)

fait qu’au berceau blanc acheté à l’avance par Rosemary est substitué, après qu’on lui ait retiré son enfant, un berceau noir. Qui dit bébé et berceau dit famille. Kubrick, on le sait, a mis longtemps à filmer une famille ordinaire – pas celle de The Shining, où il a fait jouer Jack Nicholson comme un fou et Shelley Duvall comme une hystérique ; il a attendu son dernier film, Eyes Wide Shut, pour arriver à filmer une « famille ordinaire », une famille qui, après une dispute de couple, et une escapade du mari, va acheter des jouets à la petite fille pour Noël. En attendant, peut-être, d’avoir un autre enfant. Ensuite, il y a l’espace lui-même. L’espace d’une chambre, pour un bébé sorti du sein maternel, c’est immense, c’est déjà tout le cosmos. Il se trouve qu’en écrivant mon essai sur 2001, j’ai failli l’intituler « Une chambre trop grande. » (Chion 2005) En effet, j’avais été frappé d’un point commun entre plusieurs films de Kubrick : trop grand est l’hôtel Overlook pour ceux qui l’occupent dans The Shining, et trop grand est évidemment le cosmos pour le fœtus de 2001, même si ce fœtus a la taille d’une planète. Trop grande aussi la chambre de style ancien dans laquelle Dave Bowman passe, hors du temps, on ne sait combien de décennies à vieillir, à se rider. Or, dans Rosemary’s Baby, l’appartement que louent à un prix de faveur les Woodhouse dans un building gothique de Manhattan est bien trop grand pour eux aussi, et la mise en scène de Polański l’exprime très bien (le réalisateur a d’ailleurs fait plus tard un film sur cette question de l’habitation : Le Locataire). On entend l’espace s’infiltrer de partout : le piano joué par un voisin qui répète sans se lasser et sans faire beaucoup de progrès la bagatelle de Beethoven Für Elise, mais aussi les bruits du port sur l’Hudson River, les sons de la rue, les voix, tout est intrusion, il n’y a pas d’endroit en sécurité. L’appartement n’est pas formé d’un tout protégé, il ouvre à l’infini sur d’autres appartements. Et il y a les femmes : justement, dans 2001, à part une hôtesse de l’air dans la fusée qui mène Heywood Floyd sur la station tournant autour de la Lune, il n’y en a pratiquement pas, ce qui fait sens : cela veut dire qu’elles reviendront sous une forme ou une autre. En montrant un fœtus qui semble vivre sans problème dans le cosmos, Kubrick fait en effet de ce cosmos un utérus, un « womb », comme dit la Langue anglaise. Le maternel est partout, le père est nulle part … Ou plutôt, il se balade, il est ici, il est là, il fait « coucou », le « Fort-da ! » de Freud, c’est bien sûr le monolithe. Mais Ulysse peut se promener dans le monde entier, il sera toujours dans le monde

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de Pénélope. De nombreux films ont raconté cela, dont Eyes Wide Shut. Ce qui reste frappant, dans beaucoup de films des années 60 (puisqu’on m’a donné, selon une règle mystérieuse, l’année 1968), c’est le maquillage des femmes, ce sont leurs robes courtes. Les personnages féminins des films occidentaux, mais aussi des pays de l’Est, dans la fin des années 60, ont tous un air de parenté : cet air de parenté leur est donné par le maquillage, on dirait une véritable secte. Dans Rosemary’s Baby, il y a beaucoup de femmes, d’âges différents, et elles sont souvent intrusives, notamment la vieille voisine folle jouée si bien par Ruth Gordon. Le père, lui, est un peu minable : c’est l’acteur beau gosse Guy Woodhouse, ce raté si bien joué par John Cassavetes, qui s’est laissé déchoir de son rôle de géniteur et de père, pour faire avec le diable un médiocre pacte lui assurant le succès. En fait, il a vendu le corps de sa femme – drôle de « gestation pour autrui ». Le corps et l’intérieur de ce corps. A l’époque où Rosemary’s Baby est sorti, venait de commencer une révolution dont on parle peu, mais qui me semble avoir été importante : cette révolution est la popularisation de l’imagerie médicale montrant l’intérieur du corps humain en vie (cet intérieur du corps qu’un film de science-fiction, Fantastic Voyage, réalisé en 1966, avait reconstitué en décor, non sans poésie, pour y montrer le voyage d’un sous-marin miniaturisé). Deux ans avant la sortie du film j’avais vu dans le magazine populaire d’actualités Paris-Match (l’hebdomadaire français au plus gros tirage, un peu comme Bild à l’époque en Allemagne) les photos, publiées en 1965, d’un embryon humain vivant enveloppé de son placenta. Des photos réalisées, disait-on, par une caméra endoscopique, une des premières. Ces photos avaient d’abord paru dans le magazine Life, et bouleversé des millions de gens. Certains discutent aujourd’hui pour savoir si leur auteur, Lennart Nilsson, n’avait pas triché, et photographié «  artistiquement  » des fausses couches ou des fœtus morts. Reste que beaucoup de gens, dont moi, y ont cru. Dès lors que l’embryon vivant, dans le placenta maternel, accède au statut du visible, il me semble que quelque chose a changé dans notre regard sur le corps, le corps féminin et le corps en général. Or, Polański fait de son petit « enfant du diable » né et volé à sa mère, un être invisible pour le spectateur, sauf pour les yeux de sa mère, qui l’adopte, mais il ne le fait pas sortir du berceau noir.

Rosemary’s Baby (1968)

Kubrick, lui, comme s’il agrandissait les photos de Life, fait vivre un non-encore-né en dehors du corps maternel, et on se demande où est le cordon (l’image du cordon est bien sûr constante dans 2001 : c’est le tube d’arrivée d’air des cosmonautes). Ce qui se passe dans le corps féminin, et ce qui se passe dans l’univers semblent renvoyer l’un à l’autre. Jusqu’où faut-il aller loin, loin dans l’espace ou loin dans le temps, à un homme (au sens de « Mann ») pour échapper au corps maternel, c’est le sous-texte, à mon avis, de beaucoup de films de science-fiction, dont le très bel Interstellar, de Christopher Nolan. Rosemary’s Baby est par ailleurs un film que j’ai revu pour la première fois à Weimar, lors de mon séjour comme « fellow » à l’IKKM. Mon thème de travail, dont j’ai tiré un livre traduit en anglais, Words on Screen, portait en effet sur l’écrit au cinéma, et sur le mystère de l’écriture alphabétique. Et je me rappelais que le film de Polański comportait une scène d’anagramme : Rosemary découvre, en répandant des pièces de scrabble sur le plancher de son appartement, que le nom d’un de ses voisins est l’anagramme de celui d’un sorcier. Ce qui me frappe aujourd’hui, en revoyant le film, c’est l’image de ce plancher en bois sur lequel Mia Farrow fait tomber des lettres en désordre. Un plancher, pour un enfant, c’est déjà le monde entier. Et le cinéma, qui nous fait voyager dans les échelles les plus différentes, de l’atome à l’univers, a les moyens de recréer le cosmos entier, par l’image d’un plancher. Saluons la fidélité de Polański aux images qui le hantent : du bateau du Nóż w wodzie, aux différents refuges de Szpilman dans The Pianist, c’est le lieu clos, et le monde qu’il constitue. Pour terminer par une nouvelle allusion à la « lettre », il me paraît intéressant de signaler que Rosemary’s Baby est sorti en France à l’époque sous son titre original, ce qui était encore rare. Le génitif anglais, pour mes yeux de français, a quelque chose de fusionnel ; en tout cas, ce qui est clair, dans le titre du roman d’Ira Levin, c’est qu’il élimine le père (comme le film de Kubrick, à la fin, élimine la mère). Vaste sujet, à suivre … 19 juillet 2018, cinquante ans plus tard …

Références 2001: A Space Odyssey (GB/USA, 1968,Stanley Kubrick). A Clockwork Orange (1971, GB/USA, 1971, Stanley Kubrick).

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Chion, Michael (2005): Stanley Kubrick : L’humain, ni plus ni moins. [Paris]: Cahiers du Cinema. Eyes Wide Shut (GB/USA, 1999, Stanley Kubrick). Fantastic Voyage (USA, 1966, Richard Fleischer). Interstellar (GB/USA, 2014, Christopher Nolan). Le Locataire (F, 1976, Roman Polański). Nóż w wodzie (PL, 1962, Roman Polański). Rosemary’s Baby (USA, 1968, Roman Polański). The Pianist (F/GB/D/PL, 2002, Roman Polański). The Shining (USA/GB, 1980, Stanley Kubrick).

Michel Chion ist Autor und Komponist elektronischer Musik.

1969 – 1978

LES CHOSES DE LA VIE (1969) Wolfram Nitsch Mit seinem dritten Film Les choses de la vie, der 1969 den Prix Delluc erhielt, begann Claude Sautets zweite Karriere. Mit seinen frühen Gangsterfilmen hatte er zwar den Respekt Jean-Pierre Melvilles erworben, doch im Kino nur wenig Anklang gefunden, so dass er fünf Jahre lang als script doctor überwintern musste. Von nun an trat er als Regisseur erfolgreicher Melodramen hervor. Er wechselte das Genre so unwiderruflich, dass ihm selbst der anschließend gedrehte Einbrecherfilm Max et les ferrailleurs zum Melodrama geriet. Aber er gab ihm von Anfang an eine sehr französische Wendung, wie François Truffaut treffend festgestellt hat. (Truffaut 1975: 355) In Les choses de la vie rührt er das Publikum mit einer gedämpften Melodramatik, die an den nationalen Klassiker Jean Renoir erinnert; vor allem aber koppelt er sie an bestimmte materielle Objekte, namentlich an den Wagen des Protagonisten, und gelangt dadurch zu einer sozusagen automobilen Kinematographie, die wie eine diskrete Replik auf die filmischen Experimente der Nouvelle Vague erscheint.

Gedämpfte Melodramatik Ein Filmhistoriker, der Sautets Altersgenossen Resnais oder Godard zum Maßstab nimmt, mag seine Filme abtun als »in der Machart gelackte Gesellschaftsmelodramen.« (Gregor 1983: 44) Tatsächlich folgt er in Les choses de la vie in mancher Hinsicht den erfolgversprechenden Konventionen des Genres. Die nur anderthalb Tage umfassende Handlung beruht erwartungsgemäß auf einer Dreiecksgeschichte. Pierre, ein gut situierter Pariser Architekt, schwankt zwischen seiner jungen Geliebten Hélène und seiner Familie hin und her; als er sich auf einer Fahrt in die Provinz endlich für die illegitime Beziehung entscheidet, findet er bei einem Autounfall den

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Tod. Auch die Filmsprache bestätigt den Zuschauer immer wieder darin, dass er sich in einem Melodrama befindet. Die beiden Hauptrollen sind mit den europäischen Stars Michel Piccoli und Romy Schneider besetzt, die in halbnahen oder Nahaufnahmen regelmäßig die Leinwand ausfüllen. Dieser genretypischen, auf Affektbilder setzenden Mise en Scène entspricht die dramatische Filmmusik von Philippe Sarde, deren Hauptthema sich als so eingängig erwies, dass es Alejandro Agresti in Un mundo menos peor noch ein Vierteljahrhundert später recyceln konnte. Ganz offenkundig zielt Sautet auf ein Kino der großen Gefühle und scheut sich nicht, eine einfache Geschichte publikumswirksam zu »verschönen«, wie es gleich zu Beginn in einem von Hélène übersetzten deutschen Text heißt. Und doch trennen ihn Welten von den melodramatischen Exzessen eines Douglas Sirk .1 In seinem ersten Farbfilm dominieren die gedeckten Töne, abgesehen von der Trikolore, die Pierres Sohn in seinem Zimmer aufgehängt hat. Entsprechend beherrscht treten die Protagonisten in Szene, das Liebespaar ebenso wie die verlassene Ehefrau und Kollegin Catherine. Der elegante Architekt verliert nur einmal die Fassung, als ein berufliches Problem verhandelt wird; in privaten Dingen hingegen weiß er sich stets zusammenzunehmen. Nicht von ungefähr tippt er eine Liebeserklärung heimlich in Hélènes Manuskript, statt sie ihr gegenüber auszusprechen. Denn nicht anders als sie selbst zieht er dem Reden das Rauchen vor und beschränkt sogar seine Körpersprache auf eine denkbar minimalistische Mimik und Gestik. Alle befolgen die in der französischen Klassik eindringlich formulierte und in Renoirs melodramatischer Komödie La règle du jeu nochmals bekräftigte Regel, gerade in der schlimmsten Gefühlsverwirrung die Formen zu wahren. (Vgl. Mahler 1995: 90) Insofern zeigt die mehrfach sichtbare Großaufnahme des aus dem Wagen geschleuderten Helden, die an eine ähnlich nahe Einstellung aus Renoirs Partie de Campagne erinnert, kein wesentlich verändertes Gesicht: Im Sterben schaut Pierre nur eine Spur regloser drein als am letzten Tag seines Lebens. Die durchwegs gedämpften Gefühle der Figuren laufen außerdem auf eine durchaus unentschiedene Situation hinaus. Schon in Les choses de la vie mündet die Dreiecksgeschichte letztlich in eine auf Dauer gestellte ménage à trois, wie sie Sautet wenig später 1 | Zur Verschiedenheit von amerikanischem und französischem Melodrama vgl. Nitsch 2018.

Les choses de la vie (1969)

in César et Rosalie inszeniert. Auf seiner einsamen Fahrt trifft der hin- und hergerissene Held zwar anscheinend eine Entscheidung. Der nach einem Zerwürfnis mit Hélène unterwegs geschriebene Abschiedsbrief geht nicht in die Post; stattdessen lässt er ihr telefonisch ausrichten, dass er sie am Ziel seiner Reise ungeduldig erwartet. Allerdings hinterlässt dieser spontane Entschluss am Ende keine eindeutigen Spuren, weder bei ihm selbst noch bei den hinterbliebenen Frauen. Pierres Träume während der misslingenden Notoperation zeigen nicht nur seine Geliebte, sondern ebenso seine Frau und seine Familie; und Hélène bekommt den von Catherine entdeckten, doch rücksichtsvoll zerrissenen Abschiedsbrief nicht zu Gesicht, während Catherine wiederum nichts von der telefonischen Einladung weiß. So können beide Rivalinnen glauben, der am Vorabend seines Todes noch schwankende Mann wäre als der ihre gestorben. Bis zuletzt bleibt der stets nur schwelende Konflikt in der Schwebe, regiert die »Unsicherheit als Prinzip« (Sautet 1993).

Automobile Kinematographie Der vielzitierte Titel von Les choses de la vie spielt freilich nicht nur auf die ganz besonderen Augenblicke und Wechselfälle des Lebens, sondern auch auf ganz konkrete Objekte an. Wie Jacques Tatis zwei Jahre vorher ins Kino gekommene Komödie Playtime, wenn auch gewiss nicht so augenfällig und vernehmlich wie diese, führt Sautets erstes Melodrama bestimmte Dinge in ihrer Dinglichkeit vor, indem er ihre Sichtbarkeit, ihre Lautlichkeit und ihre Zeitlichkeit hervortreten lässt. (Vgl. Engell 2007) Zu diesen Dingen gehören etwa die selbstgebastelten Tonmaschinen von Pierres Sohn Bertrand, die Gezwitscher und andere Geräusche erzeugen. Wie die Musikautomaten des Marquis in La règle du jeu erinnern sie den Kinogeher daran, dass er sich gerade in einem Klangraum befindet und dort bestimmte Elemente seiner alltäglichen Geräuschkulisse in isolierter oder verstärkter Form wahrnehmen kann. Das wichtigste Objekt des Films, ja seine eigentliche Hauptfigur, ist jedoch das Auto des Protagonisten, das im Vorspann nicht umsonst neben dem Titel erscheint. Das Automobil, fast gleichzeitig mit dem Kino erfunden, gilt seit jeher als eine ihm eng verwandte Seh- und Bewegungsmaschine, mithin als kinematographisches Objekt par excellence. (Vgl. Imhof 2014) In Les choses de la vie kommt diese Wahlverwandtschaft gleich in dreifacher Hinsicht zur Geltung.

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Der silberfarbene Alfa Romeo Giulietta Sprint fungiert erstens als symbolischer Stellvertreter des Helden oder, mit Roland Barthes (1993) gesprochen, als Projektion seines Egos. Als schon zehn Jahre altes, auf französischen Straßen eher seltenes Oberklassemodell zeigt er nicht nur untrüglich an, wo sich Pierre gerade befindet, so dass Hélène beim Passieren der Unfallstelle an Hand des Wracks sofort das Opfer identifizieren kann. Darüber hinaus verkörpert das stilvolle Coupé auch die traditionsbewusste Eleganz seines Besitzers. Als Pierre im Stadtverkehr einen drängelnden Mercedes vorbeiziehen lässt und dessen herübergrollenden Fahrer souverän ignoriert, hebt sich sein in Fahrstil wie Mienenspiel greif bares Understatement vorteilhaft von solcher Großmannssucht ab. Dazu passt, dass sich der Architekt einmal entschieden dagegen verwahrt, dass bei einem Neubau Parkboxen die Gartenanlagen ersetzen. Als Fahrer eines schlanken und vergleichsweise langsamen Wagens scheint ihn die Vorstellung einer autogerechten Stadt zu befremden. Zweitens kommt sein Anti-Silberpfeil immer wieder als Schauraum ins Bild, als ebenso mobiler wie transparenter Schauplatz privater Kommunikation und Reflexion. Wenn Pierre am Steuer sitzt, blickt die Kamera nur ausnahmsweise mit ihm nach draußen, jedenfalls nicht so oft wie in Claude Lelouchs Rennfahrer-Melodrama Un homme et une femme. In der Regel zeigt sie, was auf der Innenseite der Windschutzscheibe geschieht. Als Pierre Hélène nach einem Abend bei ihren Eltern nach Hause fährt, verfolgt die Kamera von außen die Zuspitzung ihrer Beziehungskrise, die schon bei einer gemeinsamen Fahrstuhlfahrt offen ausgebrochen war. Hier bildet das Automobil nicht wie in César et Rosalie und vielen anderen Melodramen ein rollendes Glashaus der Liebe, in dem ein bedrängtes Paar Zuflucht findet, sondern im Gegenteil ein gläsernes Gefängnis auf Rädern, in dem die entzweiten Partner einander nicht zu entrinnen vermögen. Unterwegs wird ihr Schweigen so peinlich, dass Pierre das Autoradio einschaltet und Hélène es gleich wieder ausschaltet, um ihn zur Rede zu stellen. Dabei ist ihr freilich schmerzlich bewusst, dass sie ihm eine schon oft gesehene und daher recht abgedroschene Szene macht: »Une femme qui te fait une scène dans la voiture, c’est lamentable.« In karikaturaler Verzerrung kehrt eine derartige Szene am nächsten Tag wieder, als Pierre auf der Landstraße ein Paar mit einer Panne aufgabelt. Aber auch schon Hélènes nächtliche Szene macht sein Auto zum Kontrastvehikel des Fahrrads, auf dem er die Geliebte in einer überbelichteten Rückblende

Les choses de la vie (1969)

mitnimmt. Anders als dieses strahlende Inbild von Zweisamkeit in Freiheit nimmt sich der Alfa Romeo Giulietta auf der letzten gemeinsamen Fahrt wie das genaue Gegenteil der vom Markennamen aufgerufenen Liebesromantik aus. Besser ergeht es Pierre auf seiner unmittelbar anschließenden Fahrt in die Bretagne, die ihm Gelegenheit zur Reflexion und zur Rekapitulation seines Lebens bietet. Der auf die Scheiben prasselnde Regen begünstigt diese Rückwendung auf sich selbst, und die wechselnde Beleuchtung seines Gesichts im Widerschein des nächtlichen Verkehrs deutet auf eine heftige innere Bewegung. Die einsame und nach Tagesanbruch immer schnellere Reise bewirkt jene eigentümlich abstrakte Freiheit, die man gerne mit dem Autofahren verbindet, die nach einem zeitgenössischen Essay von Pierre Gascar jedoch in einer merkwürdigen Blindheit für die Risiken der Geschwindigkeit wurzelt. (Gascar 1967: 15–29) So setzt ihr die Karambolage mit zwei zu spät bemerkten Lastwagen ein jähes Ende. Bei dieser Kollision wird das Automobil schließlich drittens als Zeitmaschine kenntlich gemacht. (Vgl. Bongers 2013: 133–135) Die schon zu Beginn des Films und dann noch viermal eingeblendete Unfallszene aktiviert das dynamische Potenzial des sonst eher statischen Wagens in einer Weise, die nicht nur die Bewegung, sondern auch die Zeit als Kernelement des Kinos zur Anschauung bringt 2 . Dieser Effekt ergibt sich aus der Montage von sechsundsechzig einschlägigen Einstellungen, für deren Aufzeichnung nicht weniger als achtzehn Tage Drehzeit, fünf gleich lackierte Exemplare des Alfa Romeo Giulietta, drei Kameras sowie ein – zweimal noch kurz sichtbarer – Kaskadeur erforderlich waren. (Vgl. Kümmel-Schnur 2009: 275) Die daraus geschnittene Hauptunfallsequenz im letzten Drittel des Films unterstreicht die in Auto wie Kino gleichermaßen angelegte Möglichkeit der Beschleunigung und Entschleunigung. Schon in der letzten Szene davor, die Pierre noch im fließenden Verkehr auf der Landstraße zeigt, nimmt die Kamera die Bewegung des nunmehr schnell fahrenden Wagens auf und überbietet sie noch, indem sie ihm mit höherem Tempo davonfährt und dann mit einem Reißschwenk sozusagen vorausprescht zur Unfallstelle. Dort wiederum tritt die Rasanz der Karambolage dank einer Kombination verschiedener Aufnahmegeschwindigkeiten hervor. Dabei dominiert zu2 | Zum Automobil und Fahrzeugen überhaupt als Korrelat des Bewegungsbildes vgl. Deleuze 1983: 37.

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nächst eine starke Zeitlupe, wie sie auch bei den seit 1959 üblichen Crashtests der Automobilindustrie verwendet wird. Die paradoxe Verlangsamung der gefilmten Bewegung durch eine schneller drehende Kamera bewirkt, dass der anschließend nochmals teils in Echtzeit, teils im Zeitraffer gezeigte Zusammenstoß umso wuchtiger wirkt, auch weil beschleunigte Montage zum Einsatz kommt. Wie der erst aufs Gaspedal, dann auf die Bremse tretende Autofahrer variieren Kameramann und Regisseur das Tempo, um die Zeit rascher oder langsamer fließen zu lassen. Nur durch einen solchen »mélange des temps« schien es Sautet nach eigener Auskunft möglich, das an sich nur wenige Sekunden lange Unfallgeschehen auch aus der Sicht der daran beteiligten und darauf zurückblickenden Akteure ins Bild zu setzen. (Boujut 2001: 78–80) Veranschaulicht die große Karambolagesequenz das Akzelerationspotenzial von Auto und Kino, so führt die ihr vorgreifende Eingangssequenz des Films die beiden eigene Möglichkeit einer Umkehrung von Bewegung vor. Denn nach den ersten Zeitlupenbildern vom Unfall legt die Kamera im Vorspann sozusagen den Rückwärtsgang ein und spult Pierres Todesfahrt zurück bis zu Hélènes Wohnung, wo sie begann. Dieses bereits in Lumières démolition d’un mur erprobte Verfahren filmischer Zeitinversion hat hier die besondere Pointe, dass es an den Produktionsprozess der Automobilindustrie erinnert. Rückwärts abgespielt, verwandelt sich der Aufprall des Wagens auf einen Baum in einen Montagevorgang, bei dem Einzelteile zu einem komplexen Erzeugnis zusammengefügt werden. Schon von hierher, erst recht jedoch im Licht der ganzen Karambolagesequenz erschließt sich die erste Einstellung von Les choses de la vie, die in Großaufnahme ein einzelnes Autorad zeigt. Natürlich gehört dieses Rad zum Unfallfahrzeug, von dem es sich gelöst hat und weggerollt ist; durch seine bildliche Ausgliederung aus dem Geschehen gewinnt es aber auch eine zeichenhafte Bedeutung. Es verweist nicht so sehr auf das emblematische Rad der Fortuna oder seine moderne Variante, das im 19. Jahrhundert aufgekommene Rad der Zeit, sondern vielmehr auf neuere, ihrerseits rotierende Medientechniken der Zeitmanipulation wie das im Poetischen Realismus allgegenwärtige Grammophon oder eben auch den Kinematographen. So eröffnet Sautet sein erstes Melodrama mit einer Reflexion über die Kamera und ihr Double auf Rädern. Weit weniger plakativ als Resnais in Marienbad, zu dem er den Trailer gestaltet hat, bedenkt er in seinem »verschönenden« Genrefilm das

Les choses de la vie (1969)

Rätsel der Zeit an Hand eines jener Dinge des Lebens, die auch zu den ureigenen Dingen des Kinos gehören.

Referenzen Barthes, Roland (1993): »La voiture, projection de l’ego« (1963), in: Marty, Éric (Hg.): Œuvres complètes, Paris: Seuil, Bd. 1, S. 1136– 1142. Bongers, Wolfgang (2013): »Das mobile Kalkül: Berechnende Bewegung in Viaggio in Italia (1954) und Les choses de la vie (1970)«, in: Felten, Uta/Küchler, Kerstin (Hg.): Kino und Automobil, Tübingen: Stauffenburg, S. 123–137. Boujut, Michel (2001): Conversations avec Claude Sautet, Montpellier: Actes Sud. César et Rosalie (F, 1972, Claude Sautet). Deleuze, Gilles (1983): Cinéma 1: L’image-mouvement, Paris: Minuit 1983. Démolition d’un mur (F, 1896, Louis Lumière). Engell, Lorenz (2007): »Hulots Objekte. Dinge als Medien in den Filmen Jacques Tatis«, in: Walther, Silke (Hg.): Carte Blanche. Mediale Formate in der Kunst der Moderne, Berlin: Kadmos, 2007, S. 47–61. Gascar, Pierre (1967): Auto, Paris: Gallimard. Gregor, Ulrich (1983): Geschichte des Films ab 1960, Reinbek: Rowohlt. Imhof, Maria (2014): Art. »Automobil«, in: Böttcher, Marius et al. (Hg.): Wörterbuch kinematografischer Objekte, Berlin: August, 2014, S. 21–23. Kümmel-Schnur, Albert (2009): »›Immer Erklärungen. Sprechen. Das muss aufhören!‹«, in: Kassung, Christian (Hg.): Die Unordnung der Dinge. Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls, Bielefeld: transcript, S. 271–302. L’Année dernière à Marienbad (F/I, 1961, Alain Resnais). La règle du jeu (F, 1939, Jean Renoir). Les choses de la vie (F, 1969, Claude Sautet). Mahler, Andreas (1995): »Soziale Skepsis und filmisches Fest. ›La règle du jeu‹ oder ›La grande désillusion‹«, in: Ganssen, Heiner (Hg.): Jean Renoir und die Dreißiger. Soziale Utopie und ästhetische Revolution, München: Institut Français, S. 89–96. Max et les ferrailleurs (F, 1971, Claude Sautet).

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Wolfram Nitsch

Nitsch, Wolfram (2018): »The glass house of love: a key element of film style in French melodrama«, in: Björn Sonnenberg-Schrank, Björn et al. (Hg.): On style. Transdisciplinary articulations (in Vorbereitung). Partie de campagne (F, 1936, Jean Renoir). Playtime (F, 1967, Jacques Tati). Sautet, Claude (1993): »Unsicherheit als Prinzip. Gespräch mit Gerhard Midding« (1989), in: Steadycam Nr. 25, S. 63–67. Truffaut, François (1975): Les films de ma vie, Paris: Flammarion. Un homme et une femme (F, 1966, Claude Lelouch). Un mundo menos peor (ARG, 2004, Alejandro Agresti).

Wolfram Nitsch, Prof. Dr., ist Professor für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität zu Köln. Arbeitsschwerpunkte: Französische Prosa des 20. und 21. Jahrhunderts, Medientheorie und Mediengeschichte.

OBITATELI (DIE BEWOHNER) (1970) Wolfgang Beilenhoff

I. Vorspann Filmszenarium »Die Bewohner«: Einer nach dem anderen, langsam mit den Flügeln schlagend, erscheinen weiße Schwäne. Graziös wiegen sich die langbeinigen Störche. Vögel steigen auf in die Luft ... Möwen fliegen steil nach oben. Sie bewegen sich gleichmäßig, und jede ihrer Bewegungen ist Ausdruck des leidenschaftlichen und heiteren Strebens der ertönenden Melodie. Es tanzen die Vögel ... Es tanzen die wilden Tiere ... Es tanzt die gesamte Tierwelt ... Plötzlich ertönt ein lauter durchdringender Schrei. Es stürzen davon die beunruhigten Vögel. Nachdem sie eine ganze Wasserfontäne ausgespuckt haben, sperren die Nilpferde und andere Meeresungeheuer mit Gebrüll ihre riesigen Mäuler auf. Wedelnd mit ihren langen Rüsseln fliehen schwerfällig die Elefanten. Von Ast zu Ast springen die geschickten Affen. Vorbei jagen Tiger ... Wölfe ... Hirsche ... Bisons ... Tierkörper huschen vorüber in der Luft. Ringsum ist alles erfüllt vom Lärm und Gebrüll der wilden Tiere. Und in all diesem Chaos an Geräuschen ertönen Schüsse Einer ... ein zweiter ... ein dritter.

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Es fallen die wilden Tiere. Aufsteigend aus der Dunkelheit kommen zum Vorschein fremde, weiße, ausgedehnte Schatten ... Sie ziehen sich zusammen, schimmern, und, in den Umrissen verschwimmend, nehmen sie schrittweise die Form menschlicher Figuren an. Es fliehen die Vögel ... Es fliehen die wilden Tiere ... Es flieht das ganze Tierreich ... Erneut erklingt die uns schon bekannte nachdenkende lyrische Musik. Unaufhaltsam fließen Tränen aus den Augen eines kleinen wilden Tiers. Einer nach dem anderen, sanft mit den Flügeln schlagend, erscheinen aufs Neue die weißen Schwäne. Durch ein Gitter blicken traurig eingesperrte Löwen ... Hirsche ... Giraffen ... Meerkatzen ... Schön zu sehen, wie sich die freien Vögel in die Luft erheben. Es strecken sich in die Höhe Möwen ... Sie bewegen sich fließend, und jede ihrer Bewegungen ist Ausdruck der leidenschaftlichen und hellen Aufwallung der erklingenden Melodie. Es tanzen die Vögel ... Es tanzen die Tiere ... Es tanzt die ganze Tierwelt ... (Pelechjan 1988, Übersetzung Wolfgang Beilenhoff)

II. Neuartiges Tierkino Autor des Filmszenariums und Regisseur des gleichnamigen achteinhalbminütigen Films ist der armenische Filmemacher Artavazd Pelechjan. Er hat nach seinem Studium an der Moskauer Filmhochschule VGIK (Staatliche Hochschule der Kinematographie) bis zu diesem Zeitpunkt zwei kürzere Filmen mit vergleichbar generellen Titeln gemacht: Nacalo (Der Anfang), einen Film zum 50. Jahrestag der Oktoberrevolution, sowie My (Wir), einen Film über die armenische Geschichte mit besonderer Betonung des Genozids von 1915. Und nun, 1970, ein ungewöhnlicher Film über die Tierwelt, über Tiere als »Bewohner«.

Obitateli (Die Bewohner) (1970)

Tierfilme tragen in der Regel Titel wie Hunting the White Bear, Feeding the Rhinoceros oder Animal Cops Houston, Titel, die einen anthropozentrischen Blick signalisieren (vgl. Horak 2005). Ganz anders hingegen Pelechjans Titel Die Bewohner: ein Titel, der Häuslichkeit und einen alternativen Blick auf die Tierwelt signalisiert. Es ist ein Blick, der die geläufige Trennung von Menschen und nichtmenschlichen Wesen, von Mensch und Tier, aufzuheben verspricht und dadurch dem Tier das Recht auf ein eigenes Bild gibt. Ein Recht, das mit einem machtvollen, massenmedialen Gegner zu tun hat: Das Tier, immer schon ohne das Recht auf das eigene Bild, nomadet entsprechend der individuellen Intention des Bildproduzenten erfolgreich als Sujet in allen Bereichen der visuellen Kommunikation und der künstlerischen Praxis (vgl. Eskildsen 2005: 30).

III. Wiederholung als Programm Programmatisch und ebenso ungewöhnlich ist der Anfang des Films. Nach den credits in traditioneller Form – weißer Schrift auf schwarzem Grund – beginnt der Film nicht mit einem Bild, sondern mit einem stummen Schwarzkader. Nach zehn Sekunden setzt Orchestermusik ein. Das Bild bleibt immer noch schwarz. Über einen Schnitt geht der Film dann über in Darstellung. Im Kontrast zu dem leeren Schwarzkader sehen wir in einer extremen Großaufnahme, die fast eine Minute dauert, weiße Schwanenflügel in rhythmisch synchron sich formender fließender Bewegung. Ausgelöst durch die Bewegung der Schwanenflügel, erscheinen vom unteren Bildrand Möwen, die, in zunehmender Zahl, wie an einer Schnur gezogen, in den Himmel aufsteigen. Das Erwachen der Natur als visuelles Spektakel, gleichsam als Pathos-Formel. Anfänge, so Britta Hartmann, »vermitteln[n] grundsätzlich, welche Textsorte, welches ›System‹ hier vorliegt, welche ›Kodes‹ also an den Text anzulegen sind« (Hartmann 2009: 72). Unter diesem Gesichtspunkt zeigt sich bei Die Bewohner eine dreifache Kodierung. Sie verweist, als Schwarzbild, als »Minus-Verfahren« (Lotman 1973: 86 f.), auf die Leinwand als Agent des filmischen Dispositivs, so dass das Darstellungsmedium selbst reflexiv wird. Sie weist dem Ton, der von Beginn an den Film ohne jede Verbalsprache flankiert, absolute Autonomie zu und setzt eine Musik, die erklingt, noch ehe ein Bild zu sehen ist. Und sie expliziert, schon in den ersten beiden Einstellungen, durch den abrupten, übergangslosen Schnitt von der extremen Großaufnahme der Schwanenflügel zur offenen, jede räum-

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liche Verortung blockierenden Weite des Himmels, jenen Kontrast des Sehens, der den Film von Beginn an prägt. Diese Anfangsbilder werden wiederholt. Nicht irgendwo, sondern an einem prominenten Punkt des Films, an dessen Ende. Wieder kommt dort ein Schwarzkader – verbunden mit dem schon mehrfach vernommenen Musikmotiv. In einer extremen Großaufnahme, en face, sehen wir das Gesicht eines jungen Bären, der uns anzublicken scheint. Erneut schwingen, wie zu Beginn des Films, Schwanenflügel, die in musikalisch synchroner Bewegung eine Kreisform bilden: eine Bewegung, die auch hier einer Pathosformel gleicht und die zweifellos einem Trickfilmstudio entstammt. Der Film kehrt, so der Eindruck, an seinen Anfang zurück. Es folgen unterschiedliche Tiergesichter, erneut en face und in Großaufnahme, nun aber gerahmt und gefangen hinter Gittern: ein Pferd, eine Giraffe. Alternierend mit diesen Tiergesichtern werden die Einstellungen auffliegender Möwen wiederholt. Die leitmotivische Musik geht über in einen dramatisierenden Gestus. Durch ein Drahtgitter hindurch sehen wir einen jungen Affen. Abrupt endet der Film mit einer Totalen, in der zahllose Vögel himmelwärts fliegen.1 Wiederholung ist keine mechanische Verdopplung, keine Kopie – und auch kein Zitat. Wiederholung ist nicht dieselbe Einstellung noch einmal. Die Einstellungen, die wir am Ende des Films wiedersehen, sehen wir jetzt nicht so wie beim ersten Mal. Beide Einstellungen navigieren nun in neuen Verbindungen. Sie weisen zurück, auf ihr erstes Erscheinen, und sind gleichzeitig eingebunden in einen Kontext, der neue semantische Verdichtungen auslöst. Oder wie Pelechjan hervorhebt: »Und das Allerwichtigste ist – die Montage der Kontexte [Hervorhebung im Original]. Mit einer Veränderung der Kontexte erreichen wir eine Vertiefung und Entwicklung des Themas.« (Pelechjan 2004: 93) Die Schlusssequenz beginnt mit einem längeren Schwarzkader, einem Bild der Leere. Ohne jede Überleitung folgt in einer Großaufnahme wieder das Gesicht eines jungen Bären. Gerahmt, nahezu abgeschnitten, nur aus Mund und Augen bestehend, erscheint es in seiner »fremden Materialität« (Brinckmann 1996: 61) und seinem stumpfen Gesichtsausdruck wie eine Verkörperung der deleuzianischen Gesichtsmatrix von weißer Wand und schwarzem Loch und blockiert durch seine extreme Nähe die für Gesichtswahrnehmun1 | Zum Stellenwert der Tierwelt in D ie Bewohner vgl. Deville 2016.

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gen konstitutive Interaktion von Nähe und Distanz. Der besondere Stellenwert dieses Tiergesichts zeigt sich wenige Sekunden später. Es folgen weitere Tiergesichter; und indem der Zuschauer gleichzeitig Tiere und Tiergesichter erinnert, die er vorher gesehen hat, wird jenes »Blockprinzip« deutlich, das Pelechjan als konstitutives Verfahren der Distanzmontage definiert: Ich benenne das Wichtigste: Die Distanzmontage verleiht der Filmstruktur weder die Form einer herkömmlichen Montage-Kette noch die Form koordinierter unterschiedlicher Ketten, sondern bildet letztlich eine sich kreisförmig oder, genauer, ballonförmig drehende Konfiguration. (Pelechjan 2004: 95 ff.)

Motivketten, gewonnen über ästhetische und semantische Konvergenzen zwischen den Einstellungen und über die Wiederholung einzelner Einstellungen. Motivketten, die sich nicht nur horizontal entwickeln, sondern auch vertikal interagieren und jenes »Spannungsverhältnis« von Dinghaftigkeit, Zeit und Bewegung aufweisen, die das Konzept des kinematographischen Motivs auszeichnen (Wendler/Engell 2009: 45).

IV. Ein Kino der Emotion Ich komme noch einmal auf das Filmszenarium zurück. Die so auffällige Versstruktur mit Refrain signalisiert, wie sich am Stichwort ›Wiederholung‹ zeigte, andere Zielsetzungen als die fiktionalen und dokumentarischen traditionellen Tierfilme. Wohl gibt es elementare Geschehen wie Erwachen, Fliegen, Verfolgung, Flucht oder Tötung. Doch wird dies an keiner Stelle zu einer Erzählung. Auch bleiben die potenziellen Handlungsfiguren abstrakt, schemenhaft, aufgrund ihres metrischen Marschschritts bedrohliche geometrische Figurationen. Desgleichen zeigt sich, dass Pelechjan das dokumentarische Register dekonstruktiv einsetzt, indem die Archivbilder, aus denen der Film mehrheitlich besteht, nicht als Dokumente fungieren, sondern als ein Bildmaterial, das nach Maßgabe der eigenen Intention einer Re-Vision unterzogen wird. Gleichzeitig gibt es jedoch einen Bogen, der die unterschiedlichen Bildformate und Einstellungen überspannt: Emotion. Sie bildet das Epizentrum des Films und führt dazu, dass wir hier, wie Jean-Luc Godard in einem Gespräch mit Pelechjan hervorhebt, »[e]in ursprüngliches und neuartiges Kino« vor uns haben (Frodon 2004: 416). Ein Kino, so wäre zu präzisieren, der Emotion.

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Filmische Emotionen ergeben sich dann, so Francesco Casetti, wenn die »filmische Syntax« sich mit der »rationalen Syntax« vereint. »Erst diese Verknüpfung von emotionaler Syntax, die die Reaktionen des Zuschauers orchestriert, mit der rationalen Syntax, [...] die das unmittelbare Wiedererkennen des auf der Leinwand Sichtbaren anstrebt, [...] ermöglicht den Auf bau von wirklichen Emotionen, das heißt Momenten, in denen hauptsächlich die Sensibilität des Zuschauers angesprochen wird, ohne dass er deshalb das Verständnis der Situation verliert.« (Casetti 2005: 29) Betrachtet man unter diesem Gesichtspunkt Pelechjans Film, so zeigt sich eine auffallende Ambivalenz, eine zwischen diesen beiden Polen fluktuierende Gewichtung. Sie greift schon in den beiden einleitenden Einstellungen. Die Einstellung des Schwans, extrem nah und dekontextualisiert, konzentriert ausschließlich auf die plastische Figuration der Schwanenflügel, ist rein sinnliche Wahrnehmung, wohingegen die folgende Einstellung der auffliegenden Möwen, verstärkt durch die ruhige, nicht enden wollende Bewegung der Vögel, beides verbindet: sinnliche Wahrnehmung und Verstehen. Die so von Beginn an sich manifestierende Ambivalenz und die mit ihr verbundenen Grade an Emotionalität bleiben den ganzen Film über aktiv. Die Ambivalenz führt auf der Ebene der Einstellungen dazu, dass die Bilder als emotionale Kondensate und nicht als Analogon der Realität fungieren. Sie führt weiterhin dazu, dass die Montage zu einer hochgradig »emotionalen Syntax«, zu reiner Bewegungsenergie, wird. Sie führt schließlich auch dazu, dass einzelne Motive eine unerwartete Bindung an die Gegenwart entwerfen. So das Motiv der Flucht, das der Film uns an seinem Ende zeigt. Gefilmt aus einem Helikopter, somit in Vogelperspektive, ist dies eine der wenigen selbst gefilmten Passagen. Wir sehen zahllose schwarze Punkte – ob Menschen oder Tiere, ist aufgrund der Höhe nicht entscheidbar – ziellos, in chaotischer Bewegung, geradezu umherirrend, auf einem leeren Schneefeld. Eine Einstellung, die verdeutlicht, wie sehr die Bilder dieses Films offen sind für unterschiedliche Zeitlichkeiten: Für die Gegenwart der Wahrnehmung, für die Vergangenheit des Erinnerns und für die Zukunft einer Vision.

Referenzen Brinckmann, Christine Noll (1996): »Empathie mit dem Tier«, in: Cinema. Das Schweizer Filmjahrbuch, 42, S. 60–70.

Obitateli (Die Bewohner) (1970)

Casetti, Francesco (2005): »Die Sinne und der Sinn oder Wie der Film (zwischen) Emotionen vermittelt«, in: Brütsch, Matthias/ Hediger, Vinzens/von Keitz, Ursula (Hg.): Kinogefühle, Marburg: Schüren, S. 23–32. Déniel, Claire/Vappereau, Marguerite (Hg.) (2016): Artavazd Péléchian. Une Symphonie du monde, Cirsnée: Yellow Now/Coté cinéma. Deville, Vincent (2016): »Animal Locomotion. Les Habitants«, in: Déniel/Vappereau, Artavazd Péléchian, S. 79–87. Eskildsen, Ute (2005): »Kein Recht am Bild. Das fotografierte Tier – Ein Überblick«, in: Dies./Lechtreck, Nützlich, süß und museal, S. 11–31. Dies./Lechtreck, Hans-Jürgen (Hg.) (2005): Nützlich, süß und museal – Das fotografierte Tier, Essen/Göttingen: Museum Folkwang/Steidl. Frodon, Michel (2004): »Eine Sprache vor Babel. Kinogespräch zwischen Artavazd Peleschjan und Jean-Luc Godard«, in: Matt, Artavazd Peleschjan, S. 415–420. Hartmann, Britta (2009): Aller Anfang ist schwer. Zur Initialphase des Spielfilms, Marburg: Schüren. Horak, Jan-Christoph (2005): »Die Tierwelt im Dokumentarfilm«, in: Eskildsen/Lechtreck, Nützlich, süß und museal, S. 159–170. Lotman, Jurij M. (1973): Die Struktur des künstlerischen Textes, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Matt, Gerald (Hg.) (2004): Artavazd Peleschjan. Unser Jahrhundert, Wien: Ursula Blickle Stiftung/Kunsthalle Wien. My (UdSSR, 1969, Artavazd Pelechjan) Nacalo (UdSSR, 1967, Artavazd Pelechjan) Pelechjan, Artavazd (1988): »Obytatel«, in: Ders., Moe Kino. Sbornik statej, Erevan: Sovetakan Grogh, S. 30–31. Ders. (2004): »Distanzmontage oder die Theorie der Distanz«, in: Matt, Artavazd Peleschjan, S. 83–101. Wendler, André/Engell, Lorenz (2009): »Medienwissenschaft der Motive«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 1, S. 38–49.

Wolfgang Beilenhoff, Prof. Dr. emer., ist Alumnibeauftragter des Internationalen Kollegs für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie an der Bauhaus-Universität Weimar. Arbeitsschwerpunkt: Filmwissenschaft.

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WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE (1971) Gertrud Koch This film is one of Fassbinder’s masterpieces. It reflects the conditions of filmmaking on many levels: sharing life and work with a group, recognizing hierarchies between a crew and author/director, debates over irresolvable interests in different spheres, such as the artistic and economic, that manifest themselves as personal rivalries between director and producer etc., as well as the issues of sexual desire and power, betrayal and mistrust on the side of lovers, husbands and wives. The film was often interpreted as Fassbinder’s turn from the early programmatic idea of a romantic fusion of life, art, sex and work that had defined the conditions of his early theater groups. When Fassbinder made this film he had just come out of a disastrous experience during the making of his earlier movie, Whity – disastrous in terms of the chaos that grew day by day during the whole production and final shooting on a Western set somewhere in the desert around Almeria in the south of Spain, and also disastrous in psychological and financial terms. Warnung vor einer heiligen Nutte is considered both a reaction to and a reflection on productive and unproductive disasters in collaborative work pertaining to the role of directing. The director of photogtaphy of both films (and others by Fassbinder), Michael Ballhaus, very sarcastically recollects the situation in his memoirs when he writes: »Das Seltsame an diesem Film, den man ja auch als Brief Fassbinders an seine Leute, als Werk von Insidern für Insider, als Blick durchs Schlüsselloch ins tiefste Innerste von Fassbinders Ersatzfamilie betrachten könnte, das Seltsame ist, dass dieser Film, ›The Making of Whity‹, unterhaltsamer und spannender war als der hochstilisierte Whity. Man musste nicht wissen, für welche echten Personen die Figuren auf der Leinwand standen, um sich für deren

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Verknotungen und Verwirrungen zu interessieren.« (Ballhaus/Seidl 2014: 83 f.) In the center are Fassbinder and his team, which was mostly composed of members of the Munich based ›antiteater‹, a group of professionals and amateurs who lived and worked together in order to perform under Fassbinder’s strong leadership. When all hell broke loose during the shooting of Whity, the conflict between the group and the director became apparent. Warnung vor einer heiligen Nutte reflects the discrepancies between the strong aesthetic and artistic will to create a work and the need to produce it in collaboration with others. The central clash between director and crew turning around questions of author/izing is the subject of this film – and in many senses the film poses the question in a way similar in its radicalness to Jean-Luc Godard’s Le Mépris (1962). As depicted in Le Mépris, the shooting of a film has a grip on the whole team from the producer to the script girl, and most of the conflicts stem from the cross between functions and roles, person and character, power plays and the will to give form to a film – a film that is and will remain in the making. At the same time, this unshot film is the motor and the phantom that drives all activities. In Fassbinder’s notes on his film, he writes about this strange process of transfiguration of common places in a cinematic work that runs through the whole group including actors, crew and director: »Und ohne daß sie [...] es recht merken ist aus dramatisierter Hysterie und klischierter Leidenschaft etwas entstanden, was sie nie recht greifen konnten, was den Grund ihrer Verwirrung ausmacht, was sie sündigen und beten ließ: der Film, der sie anzieht und der sich ihnen entzieht, der Film – eine heilige Nutte.« (quoted in Töteberg 2015: 118) The metaphor of the ›holy whore‹ refers to the Christian mythical character of Mary Magdalene who combines a sinful (sexual) life with a sacrifice of passions to perform the love for the Lord and his son Jesus Christ. In applying this myth to cinema, Fassbinder ascribes film itself to the double-sided object that is at the same time the result of sin, passions and sex, but comes only into being through the transformational power of a sacral authority – the power of the Lord/the artist/creator/producer. One of the many twists in Fassbinder’s universe is that he leaves it open whether the godly creator is the producer and the sacrificed son the director/artist, who has to mediate between the economic power of production and the collective work during the making of the film, or whether the director plays

Warnung vor einer heiligen Nutte (1971)

the godlike creator. The film definitely film comes to terms with the romantic concept of collective production shaped after the model of a community of believers, a sect of art film. One could argue that the film makes a blasphemic use of the holy whore concept insofar as it portrays the crew, the community, as seduced, somewhat transformed into an entranced crowd under a spell. The film starts with the bored group of team members who are waiting for the arrival of the director (Lou Castel) and the main star (Eddie Constantine) in the lobby and at the bar of a Grand Hotel. One of the running gags is the production manager’s constant attempt to get a hold of the producer so he can ask for money that will never arrive. Eventually, like a deus ex machina, at least the director and star arrive and the preparation for shooting starts. One of the most disturbing features of Warnung vor einer heiligen Nutte is that the unfolding play about actors and performers follows some basic cinematographic modalities that are unthinkable in the realm of the theater: body and voice, function and role, locations and names are constantly mixed – leading to a fusion into a new body that only exists in cinematic fiction. To list just a few examples: we see the body of Magdalena Montezuma, one of the most charismatic actresses in Fassbinder’s and Werner Schroeter’s films, who plays the role of Irm (Hermann), while Montezuma’s voice is dubbed over by Irm Hermann. Irm Hermann is an important actress in many Fassbinder films and definitely took part in his early theatrical activities. Usually, she plays the role of a frustrated and mistreated (and mistreating) lover or housewife. Irm’s role in Warnung vor einer heiligen Nutte is the submissive girlfriend of the director who she thinks will marry her, a role of maximum distance to the persona the actress Magdalena Montezuma performs. When, in a dramatic sequence, we see her leaving the set in a motor boat, music by Gaetano Donizetti accompanies the scene, alluding to Schroeter’s film Eika Katappa (1969). Schroeter, the director of the boat sequence, also plays a role in the film, re-enacting it more than remaking it for Fassbinder. Fassbinder himself by no means can be seen in the role of the director. Instead, he plays the production manager who tries to prepare the shooting, while the role of the bisexual director is played by the actor Lou Castel, a rising star in Italian arthouse cinema at the time. The same goes for the mismatching of location and names. While Whity was shot in Spain and Warnung vor einer heiligen Nutte re-enacts the backstage situation of the earlier film, we are

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told that the hotel is located at the Spanish coast – but all semantic and iconographic details make it very clear that we are actually at a Grand Hotel in Sorrent, Italy. The helicopter which brings the director and star to the location has written the route ›Sorrent – Ischia‹ in big blue letters on its surface, and also several walls bear Italian writings and announcements. In this way the film constantly weaves a fabric of paradoxes that meander around the Ariadne threat of the film-in-the-making that will never be finished. The ongoing film itself therefore represents the big enigma of filmmaking, the creation of something that stems from many and strives to become one. Such is the paradox of collective work that, once accomplished, bears the name of a single author and a single title. Fiction as the unifying modality that stitches together all the ruptures and paradoxes of the production is also the theme of the musical score. In a prominent song written and composed by Peer Raben, who arranged the musical compositions for many Fassbinder films, fantasy is the key to life: »Believe in Fantasy« is the title of the song – sung by Günther Kaufmann, another member of the Fassbinder ›family‹. »I’m free because I believe in fantasy«, »You will save my life«, the song goes. And the song indeed functions as an allegory of fiction film. Raben’s score for the film is, as Caryl Flinn writes, »a steady stream of pop music from the 1960s (Ray Charles and Leonard Cohen), the presence of which is only partly explained by a jukebox in the room. The tunes are just background sound that seems as unmotivated as the characters that languish about […] though the monotone vocals of Leonard Cohen do parallel the scene’s visual stasis and melancholy.« (Flinn 2004: 36)1 The atmosphere of the film is very often described as aggressive, because it shows a lot of outbursts and screaming – but the music may indicate the deeper level of the filmic mood: melancholy. The melancholy of a group waiting for something to come that remains a fiction in the future. Hanna Schygulla always claims »der Film wird unheimlich schön werden«, but we will never see the film, only some of its shooting. If the prophecy of the ›beautiful film‹ given during the shooting is taken seriously, one can claim that the final film, the one we see under the title Warnung vor einer heiligen Nutte is an awesome film. Just as Godard’s le mépris is a movie about the making 1 | Cohen’s songs Suzanne and S o long M arianne are featured.

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of a film which turns into a melodrama, the different levels of fiction rescue Fassbinder’s movie. Even if the film that is shown to be filmed fails, the film about the film is great. The perfection in style is also sustained by a beautiful play of colors. Godard and Fassbinder referred to Douglas Sirk’s melodramas and their excess of color as their aesthetic forerunner. But the big difference between Sirk’s and Fassbinder’s uses of color lies in the tone. In Fassbinder, color is not excess but rather, like the music, an element of the film that creates a melancholic undertone. This contrasts with Sirk’s films where colors play with expression and symbolisms. They remain cold and devoid of any semantic meaning. Film, ›the holy whore‹, is a beautician which sells life-saving fiction and not so much a humanistic grasp of reality. Very often the actors stare directly into the camera, leaving the spectator with the strange feeling of looking not so much at a character than at an actor who remains entirely opaque. An actor playing an actor opens an uncanny gap between fiction and reality. Fassbinder’s realism is not a realism of style, it’s about the strange osmotic moments when film and spectator meet at eye level and the song about fantasy echoes »You will go with me«. The film ends on a card with a quote from Thomas Mann: »Ich sage Ihnen, dass ich es oft sterbensmüde bin, das Menschliche darzustellen, ohne am Menschlichen teilzuhaben.« The melancholic gap is the unbridgeable gap between life and art dealing with life instead of living – and this was the farewell Fassbinder the director gave to the group with which he had shared his life.

References Ballhaus, Michael/Claudius Seidl (2014): Bilder im Kopf. Die Geschichte meines Lebens, Munich: Deutsche Verlagsanstalt. Eika Katappa (D, 1969, Werner Schröter). Flinn, Caryl (2004): The New German Cinema. Music, History and the Matter of Style, Los Angeles: University of California Press. Le Mépris (F/I, 1963, Jean-Luc Godard). Töteberg, Michael (1990): »Warnung vor einer heiligen Nutte oder: Die sich verkaufen«, in: Belach, Helga/Jacobson, Wolfgang (eds.). Richard Oswald. Regisseur und Produzent, Munich: edition text + kritik, pp. 113–118. Whity (D, 1971, Rainer Werner Fassbinder).

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Gertrud Koch, Prof. Dr., is Professor of Film Studies at the Freie Universität Berlin. Main areas of interest: film theory, aesthetics, critical theory.

SOLARIS (1972) Jens Schröter Ein Ozean, eine amorphe Masse, die plötzlich und unverstanden die seltsamsten, oft bunten Formen ausbildet – so berichtet es in Tarkowskis großem Science Fiction-Film Solaris ein ganz verstört wirkender Pilot. Tarkowski realisierte den Film 1972 nach einer Vorlage von Stanislaw Lem. Auch wenn Lem mit der Verfilmung wohl nie ganz glücklich geworden ist, bleibt sie eine große Reflexion auf das Medium Film, ja von Medialität überhaupt. Wie Lorenz Engell unausgesetzt betont, kann ein Medium gar nichts darstellen ohne sich selbst mitdarzustellen. Daraus generiert sich der Sinn, den Medientheorie hat: Wäre ein Medium einfach transparent, wäre es gar nicht der Rede wert. Trägt es sich mit in die Botschaft ein, ja, wird es vielleicht selbst die Botschaft, dann hat Medientheorie einen Sinn und Zweck. Sie fragt nach den medialen Bedingungen von Sinn und Zweck überhaupt, macht diese sichtbar, hörbar, denkbar. Umgekehrt ist die Selbstreflexion eines Mediums wie des Films, sofern er sichtund hörbar ist, eben insoweit selbst theoretisch, als sie diese Bewegung selbst sicht- und hörbar macht. So gibt es eine ›Medientheorie der Medien selbst‹ (vgl. Engell 2014). Solaris berichtet von einer ferneren Zukunft, in welcher der Planet Solaris schon lange bekannt und seine Erforschung – die ›Solaristik‹ – eine etablierte Disziplin ist. Solaris ist zu diesem Zeitpunkt der einzige bekannte belebte Planet – doch das Leben dort ist rätselhaft. Es hat die Form jenes Ozeans, der den ganzen Planeten bedeckt. Alle Versuche direkt mit diesem Leben zu kommunizieren waren erfolglos, obwohl es scheint, als könne es denken. Der Film handelt davon, dass der Psychologe Kelvin (Donatas Banionis) die um den Planeten kreisende Raumstation besucht, da dort die Dinge aus dem Lot geraten sind. Einer der drei Wissenschaftler hat sich umgebracht, die anderen wirken verwirrt. Am Morgen nach seiner

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Ankunft erwacht Kelvin neben einer jungen Frau, die seiner toten Frau Hari genau gleicht. Bald stellt sich heraus, dass die Wissenschaftler auf der Station ihren materialisierten Erinnerungen begegnen. Dies scheint eine Weise zu sein, in der der mysteriöse Ozean zu kommunizieren versucht. Auf der Hand liegt, dass Solaris als Film sich in die erzählte Fiktion hineinspiegelt und [...] darin als ein Illusions- und Verdoppelungsmedium betrachtet, das Objekte von äußerst eigenwilligem ontologischem Status produziert, die zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, zwischen Wirksamkeit und Irrelevanz, zwischen Transparenz und Opazität, zwischen Verfügen und Versagen, zwischen Begehren und Entziehen beständig hin- und her oszillieren. (Ebd. 209)

Genau solche Objekte sind die geheimnisvollen Gäste auf der Station. Tot und lebendig zugleich, wie Kelvins Frau, die vor Jahren Suizid beging, was ihn mit den äußersten Schuldgefühlen konfrontiert. Sie sind gleichsam dreidimensionale Bilder, gemacht aus Erinnerungsbildern. Darin reflektieren sie nicht nur die Analogie des Films zum Denken, wie sie Engell im Anschluss an Deleuze immer wieder unterstrichen hat, sondern auch die Flachheit des kinematographischen Bildes, das als flächiges immer wieder in reflexiver Spannung zur (zentralperspektivischen) Tiefe der dargestellten Szenerie tritt. Doch mehr noch: Der Ozean oszilliert selbst zwischen amorphem Grau und den in ihm erscheinenden Formen, doch relativ zu Beginn des Films berichtet der anfänglich genannte Pilot in einer selbst als Film-im-Film aufgezeichneten Szene von diesen Erscheinungen und zeigt selbst einen Film von dem Ozean, auf dem aber nichts von den angeblichen Formen zu sehen ist (man wird sie erst ganz am Schluss sehen, s.u.). Nicht nur wird hier in einer mise-en-abyme der Film reflexiv geschachtelt und verweist so fortlaufend auf seine eigene Medialität, sondern vielmehr ist unklar, welchen höchst eigenwilligen Status diese Formen im Vergleich zu ihrem Medium, dem geheimnisvollen Ozean haben. Sind sie ein objektives Vorkommnis oder doch nur ein mentales Bild (Diskurs der Halluzination)? Und welchen Sinn hat dieser Unterschied noch im Lichte der dreidimensionalen, tangiblen ›Gäste‹ auf der Raumstation? Diese sind für alle anderen Anwesenden objektiv sichtbar, doch ein Bild, das seinem Referenten gleicht wie ein Ei dem anderen, ist gar kein Bild mehr, sondern ein weiteres Vorkommnis des Gegen-

Solaris (1972)

standes selbst. Die Grenze zwischen Bild und Ding verschwimmt. Diese ontologische Transgression ist das Thema von Solaris – und zumindest in Tarkowskis Verfilmung ist sogar die Heimkehr von Kelvin am Ende nurmehr eine Illusion, die das fremde Wesen, der Ozean, auf Solaris vorspiegelt. In seiner Diskussion von Niklas Luhmanns These, dass das Medium selbst unsichtbar und nur die in ihm jeweils aktualisierten Formen erkennbar seien, einer These, die das Argument einer Selbsteintragung des Mediums in das Dargestellte zu unterhöhlen droht, argumentiert Engell: Mag das Medium selbst auch nach strenger Lesart der Form-Medium-Differenz transparent und unthematisch und damit auch theorieunfähig bleiben, so ist doch sein als allmählicher Vorgang zu fassender Übergang in den Status der Form dies nicht. Vielmehr geht er einher mit einem mehr oder weniger langsamen, jedenfalls prozessualen Übergang des Mediums von einem Weniger zu einem Mehr an Sichtbarkeit und Theoriefähigkeit. (Ebd. 211)

Solaris handelt immerzu von solchen Übergängen: Von der Erinnerung zum Ding, vom amorphen Medium zur flüchtigen Form, von der Erde nach Solaris (und zurück?), aber auch von jenem von der Farbe zur Farblosigkeit und zurück. So kombiniert Tarkowski Farbmit Schwarz-Weiß-Film. Zunächst geschieht dies in der erwähnten Sequenz, in der der Film über den verwirrten Piloten, Benton (Wladislaw Dworschezki), gezeigt wird – der Übergang bleibt also noch innerdiegetisch motiviert. Auch die zweite Schwarz-Weiß-Sequenz ist derart motiviert, veranschaulicht sie doch eine Art von bildtelefonischem Anruf. Doch kurz danach sieht man Benton, der eben diesen Anruf getätigt hatte, im Auto fahren und die Szene bleibt schwarz-weiß. Dies kann nicht mehr durch irgendeine Art von innerdiegetischer Medialisierung gerechtfertigt werden, zumal die für reine narrative Funktionalität viel zu lange Szene der Autofahrt von einer seltsamen, elektronischen Musik unterlegt ist, die die Darstellung einer im Grunde ganz normalen Autofahrt irrealisiert.1 Geht die Fahrt in einen Tunnel, wird der Film vollständig zu schwarz-weißen Mustern verfremdet, die zusammen mit der seltsamen Musik eher an abstrakten Film erinnern. Mit einem Mal schlägt die lange Fahrt 1 | Die Musik ist von Eduard Artemjew, einem bedeutenden sowjetischen Komponisten elektronischer Musik.

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dann wieder in Farbe um, sehr gut erkennbar an einem kurz nach der fast ganz abstrakten Szene vorbeifahrenden, feuerroten Auto. Es geht mithin um den Übergang von Narration zu reinen opto-akustischen Ereignissen; von Farbe zu Schwarz-Weiß; von Figuration zu Abstraktion (und zurück). Viele der medialen Optionen des Films werden in dieser Sequenz exemplarisch durchgespielt und so der Übergang von reiner, unbeobachtbarer Medialität zu verschiedenen Formen (welcher schon thematisch im Zentrum steht) auf der Ebene der filmischen Form nochmals wiederholt. Am Ende der langen Autofahr-Sequenz sieht man (nach einigen weiteren schwarz-weißen Zwischenschnitten) farbig ein stark befahrenes Autobahnkreuz, die Musik steigert sich zu schriller Kakophonie – und reißt abrupt ab: Die nächste Szene zeigt totenstill einen Teich mit Bäumen ... auch die Übergänge von Lärm zu Stille, Kultur zu Natur, von Stadt und Land scheinen hier auf. In einer anderen Szene wird ein für das Werk von Tarkowski typisches Stilmittel benutzt: Eben noch trat Kelvin von rechts in das Bild, um mit Snaut (Jüri Järvet), einem der Wissenschaftler auf der Station, zu sprechen, dann fährt die Kamera narrativ ganz unmotiviert nach links an einigen stilllebenhaft arrangierten Gegenständen vorbei und ohne Schnitt tritt Kelvin dann wieder links ins Bild. Abgesehen von der eigensinnigen Rolle der Dinge, die hier ganz ohne narrative Motivation in ihrer bloßen Erscheinung als ›kinematographische Objekte‹ (vgl. Böttcher et al. 2014) auftreten, ist diese Szene nur möglich, wenn sich der Darsteller von Kelvin während der kurzen, langsamen Fahrt hinter der Kamera vorbei auf die andere Seite bewegt hat. Nicht nur führt das zu einer räumlichen Desorientierung, die die Zuschauer verwirrt und so ästhetisch die Desorientierung der Protagonisten spiegelt und unterstreicht, sondern auch zu einer Thematisierung der ›verbotenen Zone‹, des ›Absent One‹, des Ortes, an dem die unsichtbare Kamera als Enunziator steht2, denn nur durch die Durchquerung dieser extradiegetischen Zone konnte Kelvin an das Ende der Kamerafahrt gelangen. Durch ihr bloßes Erscheinen am anderen Ende der Kamerafahrt ist die Figur von einer irreduziblen Fremdheit gezeichnet. Tarkowski macht den kinematographischen Raum unvertraut und reflexiv, denn schließlich ist seine illusionistische Schließung subtil durchbrochen. Wieder trägt sich das Medium in das Dargestellte ein. 2 | Zum ›Absent One‹, vgl. Oudart (1978); zum Ort des Films Metz (1996).

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Der Film endet, nachdem klar geworden ist, dass auch die scheinbare Rückkehr von Kelvin nach Hause nur eine Illusion ist – die Kamera fährt zunächst zurück und wir sehen, dass seine Heimat nurmehr eine Insel auf Solaris ist. Zum ersten Mal sehen wir die Formen auf der Oberfläche, die sich aus dem amorphen Medium erheben. Die Kamera fährt, begleitet von sich immer weiter steigernder elektronischer Musik, zurück, und die Wolken verschleiern das Bild bis zum reinen Weiß. In einer einzigen Bewegung wird die Wolke als fundamentales Problem der okzidentalen Repräsentation (vgl. Damisch 2013) thematisiert und mit dem weißen Bild, das alle Bilder potentiell enthält, enggeführt, so wie die Musik sich dem Grenzfall weißen Rauschens annähert, dem Geräusch, das alle Musik potentiell enthält. Die Formen kollabieren am Ende wieder in das Medium – in der Umkehrung jenes Übergangs, den zu denken Lorenz Engell nicht müde wird.

Referenzen Böttcher, Marius et al. (Hg.): (2014): Wörterbuch kinematographischer Objekte, Berlin: August. Damisch, Hubert (2013): Theorie der Wolke. Für eine Geschichte der Malerei, Berlin: Diaphanes. Engell, Lorenz (2014): »Medientheorie der Medien selbst«, in: Schröter, Jens (Hg.): Handbuch Medienwissenschaft, Stuttgart: Metzler, S. 207–213. Metz, Christian (1996): Die unpersönliche Enunziation oder der Ort des Films, Münster: Nodus. Oudart, Jean-Pierre (1978): »Cinema and Suture«, in: Screen 18, S. 35–47.

Jens Schröter, Prof. Dr., hat den Lehrstuhl für Medienkulturwissenschaft an der Universität Bonn inne. Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Geschichte digitaler Medien, Theorie und Geschichte der Fotografie, Medientheorie und Wertkritik.

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I. Das Format Wer sich mit dem Thema ›Festschrift‹ befasst, stellt umgehend fest, dass der Begriff auch in der englischen Sprache verwendet wird. (Vgl. Agnes 2004: 524) Das Oxford Dictionary of English definiert »Festschrift (pl. Festschriften oder Festschrifts) a collection of writings published in honor of a scholar« (Stevenson 2010: 645) und verweist auf den deutschen Ursprung dieses Brauchs. 1640 erschien in Leipzig das Werk »Jubilaeum Typographorum Lipsiensium«1. Gefeiert wird in diesem Band noch kein Forscher, wie heutzutage üblich, sondern die Erfindung des Buchdrucks. Eine glückliche Fügung: So kann mein Beitrag zu einer Festschrift für einen deutschen Medienwissenschaftler mit dem Verweis darauf beginnen, dass die erste, jemals veröffentlichte Festschrift deutschen Ursprungs ist und sich mit der Etablierung eines neuen Mediums auseinandersetzte. Dass es sich dabei ausgerechnet um ein Buch über den Buchdruck handelt, somit um eine mise en abîme, dürfte Lorenz Engell, der mehrfach über diese Form der Selbstenthaltung geschrieben hat, unter anderem übrigens auch in einer Festschrift zum 60. Geburtstag eines anderen Medienwissenschaftlers, womöglich besonders freuen. (Vgl. Engell 2005: 154; Engell 2002) Die zweite Beobachtung, die sich bei der Auseinandersetzung mit Festschriften einstellt, ist, dass sie – obschon sie in Hülle und Fülle publiziert werden – einen schlechten Ruf in der Forschungsgemeinschaft genießen. Festschriften, so notiert ein Kenner der Publikationsform, »sind wegen der nicht seltenen Zufälligkeit der darin 1 | Volltext hier: http://www.deutschestextarchiv.de/book/view/oa_jubilaeum_ 1640?p=7, [18.11.2017].

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versammelten Themen eher bei den Jubilaren als beim Publikum beliebt« (Katzer 2001). Kritisiert werden die Zusammenhanglosigkeit der abgedruckten Texte und die Tendenz der Autoren, ältere Veröffentlichungen noch einmal zu verwerten. Beiden Mängeln haben die Herausgeber dieses Bandes den Kampf angesagt: Da als Thema ein Jahr aus der Lebenszeit von Lorenz Engell per Los zugewiesen wurde, ist Wiederverwertung nahezu ausgeschlossen. Die clevere Vorgabe wirft aber ein Problem für die Schreibenden auf: Welche Produktion aus dem Stichjahr soll man auswählen? Die Beantwortung dieser Frage erfordert eine zweite Vorbemerkung, wie es sich für eine Publikation zu Ehren von Lorenz Engell ohnehin geziemt, da er seinen Vorlesungen gerne drei kurze Einleitungen voranstellt. (Vgl. Engell 2010)

II. Die Auswahl Selbst bei einer Beschränkung auf fiktionale Formen stellt sich die sprichwörtliche ›Qual der Wahl‹ ein, da der Titel, den die Gratulantin wählt, zwangsläufig auf sie zurückfällt. Was sagt es zum Beispiel aus, wenn ich die Gangsterkomödie The Sting (Der Clou) aussuche, die Weihnachten 1973 ihre Premiere feierte? Immerhin entwickelte sich der Film im Folgejahr zum Oscarpreisträger und zum Spitzenreiter an den deutschen Kinokassen.2 Wäre der weltweit größte Kassenerfolg The Exorcist (Der Exorzist) nicht eine bessere Wahl? Ist nicht die Serie The Waltons (Die Waltons, 19721981) vorzuziehen, die in dem Jahr den Emmy gewann? Oder wäre die Analyse der deutschen Serie Der Kommissar (1968-1975) angemessener, die im Stichjahr immerhin einen Bambi erhielt? Sind all diese Titel nicht allzu gängig, allzu gefällig? Einen berühmten Autorenfilm auszusuchen – La Nuit américaine (Eine amerikanische Nacht), Scener ur ett äktenskap (Szenen einer Ehe), Mean Street (Hexenkessel) oder Amarcord – ist dann wohl doch zu naheliegend. Außergewöhnlicher wäre es sicher, die beiden heute kaum noch bekannten Spielfilme zu besprechen, die 1973 in Cannes die Goldene Palme gewonnen haben, The Hireling (Botschaft für Lady Franklin) und Scarecrow (Asphalt-Blüten), oder den Gewinner des Goldenen Bären, Ashani Sanket (Ferner Donner). Wäre diese Auswahl originell oder obskur? Ein Dilemma: Zu vermeiden sind sowohl demonstrativer Einfallsreichtum als auch 2 | http://www.insidekino.com/DJahr/D1974.htm, [18.11.2017].

Ein Herz und eine Seele (1973)

dumpfe Einfallslosigkeit. Umgetrieben von solch eitlen Sorgen kann man sich nicht nur stunden-, sondern tagelang mit der Frage befassen, welcher Titel welchen Eindruck auf potenzielle Leser (und den Jubilar) macht.3 Um dieser Falle zu entgehen, hatte ich mir vorgenommen, auf jeden Fall den kommerziell erfolgreichsten deutschen Film des Jahres zu wählen, das mir per Los zugewiesen wurde. Dabei handelt es sich, wie ein Blick in die Charts von 1973 zeigt, um Liebesgrüsse aus der Lederhose. Es folgen die Titel Geh zieh Dein Dirndl aus und Unterm Dirndl wird gejodelt.4 Auch wenn es einen gewissen Reiz gehabt hätte, als Vertreterin der Münchner Filmhochschule gerade über die ›Lederhosenfilme‹ zu schreiben, die sozusagen in der Nachbarschaft der HFF gedreht wurden, erschien mir diese Auswahl ungeeignet: Eine Sexkomödie zu besprechen zeugt nämlich sowohl von demonstrativem Einfallsreichtum als auch von dumpfer Einfallslosigkeit und wirkt wie der von vorneherein verunglückte Versuch, originell zu sein. Zudem findet sich im großen Œuvre von Lorenz Engell keinerlei Hinweis darauf, dass ihn die Liebesgrüsse aus der Lederhose auch nur im Entferntesten interessieren könnten. Nachdem ich diesen Blickwinkel – die Vorlieben des Adressaten – einmal eingenommen hatte, erschien mir das Ergebnis jeder weiteren formalen Suchstrategie unpassend. (Die verworfenen Produktionen überhaupt aufzulisten, hat den Vorteil, dass damit das mir zugeteilte Jahr grob umrissen ist; ein nur allzu leicht durchschaubarer Trick.) Um Engells Interessen zu ermitteln, die mich nun interessierten, bin ich seine Publikationen durchgegangen, bis ich eine Produktion aus dem Stichjahr 1973 fand, über die er ausführlicher 3 | Die Hitlisten der Kritiker und Filmemacher könnten einen Ausweg aus der Auswahlproblematik bieten, doch ein Blick in die Top 50 des British Film Institute hilft nicht weiter: Hier wird kein einziger Titel aus dem Stichjahr genannt. (http://www.bfi.org.uk/news/50-greatest-films-all-time, [18.11.2017]) Auf den ersten 50 Plätzen der Liste des American Film Institute ist ebenfalls kein Treffer zu verzeichnen (http://www.afi.com/100Years/movies10. aspx, [18.11.2017]; auf Platz 62 findet sich dann A merican Graffiti). Auch der Kanon der Bundeszentrale für politische Bildung führt keinen Film aus dem Jahr 1973 auf (http://www.bpb.de/gesellschaft/kultur/filmbildung/filmkanon/ [18.11.2017].). 4 | http://www.insidekino.com/DJahr/D1973.htm, [18.11.2017].

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geschrieben hat. Im Endeffekt hat also sein Werk über meine Wahl entschieden: Thema meines Beitrags ist Ein Herz und eine Seele, eine Sitcom, zu der Lorenz Engell erst jüngst einen umfangreichen Aufsatz verfasst hat. (Engell 2016) Mit der Benennung eines Titels ist aber noch keine Fragestellung benannt; deren Formulierung erfordert eine dritte Vorbemerkung.

III. Die Fragestellung Über den Publikumserfolg Ein Herz und eine Seele sind unzählige Artikel, zahlreiche Aufsätze und ein paar Monografien veröffentlicht worden. Das dominierende Thema der Texte ist die Politisierung der Familienserie. So schreibt Christina von Hodenberg 2015 über den sozialen Wandel, der sich in der Serie manifestiert. (von Hodenberg 2015: 11) Christa Wichterich wollte schon dreißig Jahre zuvor den »ideologischen Gehalt der Untersuchungsobjekte aufdecken.« (Wichterich 1974: 9) Bei der Historikerin, der Soziologin und bei fast allen anderen Autoren liegt der Schwerpunkt der Analyse auf der Figur Alfred, der es als der ›hässliche Deutsche‹ sogar auf das Cover des Spiegels brachte. Im Magazin heißt es: Er »hasst Streiks und Gastarbeiter, hat die Jusos, lange Haare und kurze Röcke gefressen, sieht vom Osten und von der SPD Tataren-Gefahren heraufziehen, will die Frau am Herd, hält den Tritt in den Hintern für das erzieherische Nonplusultra – aus Alfred brodelt das ungelüftete Spießergedankengut des Deutschen«.5 Mit diesem Zitat ist der Tenor der Texte erfasst. Nicht nur der »Nacken-kahle Façonschnitt und das in manchen Episoden fast quadratische Schnauzbärtchen« (Holzer 1999: 30) erinnere an Hitler, notiert eine Sitcom-Spezialistin. Fast alle Texte, seien sie von Wissenschaftlern oder Journalisten verfasst, setzen sich mit der Frage auseinander, ob sich der rassistisch, nationalistisch und frauenfeindlich äußernde Protagonist, »der Anti-Brandt« (Martenstein 1996: 80), als Identifikationsfigur für reaktionäre, möglicherweise sogar nationalsozialistisch denkende Zuschauer eignen könnte. Besorgt gab der WDR sogar eine Zuschauerbefragung beim Institut für empirische Psychologie in Auftrag, um diese Möglichkeit ausschließen zu können. (Vgl. Habel 2007: 12; von Hodenberg 2016: 39) Diese Studie muss für den Sender von besonderer Bedeutung gewesen sein, denn 5 | D er Spiegel 18.3.1974, online abruf bar: http://www.spiegel.de/spiegel/ print/d-41722015.html, [18.11.2017].

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der finanzielle Aufwand für die Befragung (50.000 DM) betrug fast die gleiche Summe wie das Budget einer Folge (62.000 DM).6 Mit der politischen Gesinnung des Protagonisten und deren gesellschaftlicher Akzeptanz hat sich Lorenz Engell in seinem Aufsatz selbstverständlich nicht befasst; dazu wurde in den seit der Erstausstrahlung vergangenen Jahrzehnten auch wirklich alles gesagt. Als Medienphilosoph geht es ihm vielmehr um ›experimentelles Fernsehen‹, beispielhaft erläutert an Ein Herz und eine Seele. (Vgl. Engell 2016) Dieser grundlegenden Überlegung lässt sich (erwartungsgemäß) kein neuer Gedanke hinzufügen; Widerspruch ist in Anbetracht seiner dichten Argumentation zwecklos. Daher soll hier lediglich der Versuch unternommen werden, dem Jubilar eine Fußnote zu schenken, die er bei künftigen Betrachtungen der Sitcom in kleinster Schriftgröße hinzusetzen könnte – zum Beispiel im Serien-Kapitel einer von ihm (und nur von ihm) noch zu schreibenden Theorie des Fernsehens. Mein Thema wird von Engell in einem Halbsatz angerissen, bezeichnenderweise auf der letzten Seite seines Aufsatzes: Hier erwähnt er Till Death Us Do Part, die Vorlage zu Ein Herz und eine Seele. Mit dem Verweis auf die britische Produktion befindet er sich in bester Gesellschaft: »Betrachtet man ausführlichere zeitgenössische Besprechungen von Ein Herz und eine Seele, fällt auf, dass dort zwar sehr oft auf die Vorgänger-Serie(n) hingewiesen wird, ein nennenswerter Vergleich jedoch nicht stattfindet und wenn doch, allein die Differenzen betont werden, statt die Parallelen entsprechend ihrer Relevanz zu benennen.« (Jahn-Sudmann 2001) Dieser Vergleich soll hier am Beispiel von zwei Folgen durchgeführt werden; das erfolgreiche amerikanische Pendant sei lediglich erwähnt (All in the Family, 1971-1979). Doch bevor die Gegenüberstellung der britischen mit der deutschen Produktion angegangen werden kann, muss die Materiallage geklärt werden – im ersten Abschnitt des zweigliedrigen Hauptteils. Das ist eine kleinteilige Fleißarbeit, die dem Jubilar, dessen Forschung auf grundsätzlichere Fragen abzielt, nicht zugemutet werden sollte. Falls Lorenz Engell noch einmal über Ein Herz und eine Seele schreiben möchte, kann er hier nachschlagen, auf welche Folgen überhaupt zurückgegriffen werden kann.

6 | Zu den Summen siehe von Hodenberg 2015: 62 und von Hodenberg 2015: 182.

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IV. Die Materiallage Gut 18 Stunden Lebenszeit kostet es, alle 25 Folgen von Ein Herz und eine Seele anzusehen; wer im binge watching geübt ist, kann das an einem verlängerten Wochenende locker bewältigen. Die Stundenzahl lässt sich merklich reduzieren, wenn man die Materiallage beachtet. Nur 21 Episoden wurden nämlich in der Originalbesetzung gedreht, also mit Heinz Schubert als Alfred, Elisabeth Wiedemann als seine Ehefrau Else, Hildegard Krekel als deren Tochter Rita und Dieter Krebs als Schwiegersohn Michael; ausgestrahlt wurden diese Episoden 1973 und 1974. Die 1976 gestartete Neuauflage, diesmal mit Helga Feddersen als Else und Klaus Dahlem als Michael, wurde nach nur vier Folgen eingestellt; nur wer an den Gründen für diesen Misserfolg interessiert ist, dürfte die Energie auf bringen, sich mit der zweiten Staffel zu befassen. Doch auch von den nunmehr verbliebenen 21 Episoden würde man wohl einige bei einem Serienmarathon auslassen. Das hängt mit den damaligen Produktionsverhältnissen zusammen: Elf Folgen wurden im Dritten Programm (WDR) gesendet, bevor die Sitcom mit zehn weiteren Folgen in die ARD gelangte. Von diesen zehn bundesweit zu empfangenden Episoden sind fünf aber lediglich Remakes der Vorlagen des WDR. Die Episoden 13, 15, 17, 18 und 21 sind in Farbe gedrehte, Neuverfilmungen der schon für den WDR realisierten Folgen 1, 2, 3, 8 und 11. Nur die eingefleischtesten Fans dürften sich für die Differenzen zwischen der ersten und zweiten Realisation interessieren. Somit verbleiben nur noch 16 Stoffe, bei denen es sich anbietet, sie mit der englischen Vorlage abzugleichen: die elf Folgen, die der WDR ausstrahlte, und die fünf, die für die bundesweite Ausstrahlung eigens verfasst wurden. Von Till Death Us Do Part wurden 54 Episoden ausgestrahlt. Klammert man die Pilotfolge aus, die als Einzelstück in der Reihe Comedy Playhouse lief, sowie die vier Sondersendungen, die anlässlich von Feiertagen oder Wahlen inszeniert wurden, dann verbleiben 49 Sendungen, die die BBC in sieben Staffeln produzierte. Von diesen sind aber nur 24 vor der deutschen Adaption hergestellt worden. Mit der Eingrenzung auf zwei Dutzend Folgen müsste es ein Leichtes sein, die deutschen Versionen mit dem Original zu vergleichen. Bedauerlicherweise aber hat die BBC einen Großteil der Episoden in den siebziger Jahren gelöscht. Bandmaterial war kostspielig, und dass man mit Wiederholungen Sendezeit füllen könnte, war

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noch unvorstellbar.7 Und so wurden viele Magnetbänder überspielt; ein Großteil von Till Death Us Do Part muss daher als verloren gelten.8 Neun Folgen der ersten drei Staffeln sind inzwischen nach intensiver, weltweiter Recherche gefunden worden.9 Da zudem nicht zu allen britischen Folgen, die in Gänze überliefert sind, deutsche Varianten entstanden, sind die Möglichkeiten eines Vergleichs höchst eingeschränkt. Ausgewählt wurde hier die erste Folge, die als Adaption erkennbar ist: Episode 4 von Till Death Us Do Part (A House With Love In It, 20.6.1966) war die Vorlage für Episode 7 von Ein Herz und eine Seele (Silberne Hochzeit, 9.4.1973).

V. Die Gegenüberstellung Till Death Us Do Part lief in Großbritannien ausgesprochen erfolgreich; bis zu 20 Millionen Zuschauer verfolgten die Episoden, was in etwa einem Drittel der Gesamtbevölkerung entsprach. (Waymark 2012: 141) Dieser Erfolg wurde auch in Deutschland wahrgenommen: Der WDR strahlte im Oktober 1969 vier (nach einem aus heutiger Sicht unklaren Prinzip) angekaufte Folgen in Synchronisation aus.10 Kurz darauf wurde eine deutsche Fassung in Auftrag gegeben.11 Intendant Klaus von Bismarck berichtet: »Eine normale Übersetzung des Textes erwies sich binnen kurzem als nicht ausreichend für eine glaubwürdige Übertragung auf deutsche Verhältnisse. So wurde lediglich die Konstruktion der Serie übernommen; die Texte wurden vollkommen neu geschrieben.«12 Autor Wolfgang 7 | Zur Wiederholung siehe Engell 1996: 146. 8 | 2016 wurden daher vier Folgen noch einmal neu inszeniert. http://www.bbc. com/news/entertainment-arts-36979491, [18.11.2017]. 9 | Zu den übrigen Episoden gibt es teilweise Audioaufnahmen, die von Zuschauern stammen. 10 | Staffel 1/ Folge 4 I ntoleranz (I ntolerance), Sa 04.10.1969 WDR; Staffel 2/ Folge 2 Sex vor der E he (Sex Before M arriage), Sa 11.10.1969 WDR; Staffel 2/ Folge 4 D ie britische Bulldogge (The Bulldog Breed) Sa 18.10.1969 WDR; Staffel 3/ Folge 2 D er Blutspender (The Blood D onor) Sa 25.10.1969 WDR; siehe auch Staffel 1/ Folge 2 H aarige Sachen (H air R aising), Sa 03.10.1970 NDR/RB/ SFB III . 11 | 1974 wurden erneut einzelne Folgen ausgestrahlt; vgl. von Hodenberg 2015: 283. 12 | Bilanz des Intendanten Klaus von Bismarck »Ein Herz und eine Seele«: 29.5.1974, S. 5, WDR ll A Nr. 12520.

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Menge bestätigt: »Das Problem war, daß wir dachten, daß wir das eindeutschen können. Aber als wir uns die Bücher angesehen haben, merkten wir, dass man nichts davon verwenden kann, abgesehen von der Konstruktion der Familie.« (Habel 2007: 157) In Menges Nachlass sind die Drehbücher von Johnny Speight zu finden, die er seinerzeit durchgearbeitet hat.13 Insgesamt lagen ihm alle bis dahin realisierten 24 Manuskripte vor; eine umgesetzte Folge der Serie will er nach eigenem Bekunden damals nicht gesehen haben. (Von Hodenberg 2015: 61) Das Ergebnis seiner Lektüre fasst Menge im Rückblick zusammen mit: »Nein, wir mussten alles anders machen.« (Habel 2007: 157) Diese Aussage scheint sich zunächst zu bestätigen, denn die beiden Vorspänne unterscheiden sich grundlegend, nicht nur in Bezug auf die Titelmusik. Till Death Us Do Part zeigt das House of Parliament, Luftbilder von London und schließlich ein kleines Reihenhaus von außen: eine konventionelle Etablierung des Spielorts, auf die ein establishing shot des Innenraums folgt, des Wohnzimmers der Familie Garnett. Ganz anders beginnt Ein Herz und eine Seele: Die Kamera schwenkt das Publikum ab und offenbart dann, dass es sich bei der Wohnung der Familie Tetzlaff um ein Bühnenbild handelt; Kameras und Kameramänner sind zu sehen. In der ersten Folge wurde sogar noch ein etablierender Text von der Schauspielerin Elisabeth Wiedemann verlesen, der das Konzept der Serie vorstellte. Damit wurden in der Tradition des Brecht'schen Verfremdungseffekts die Produktionsbedingungen offengelegt – ein gewichtiger Unterschied zur britischen Vorlage. Doch der Vorspann etabliert kein Prinzip, denn nach ihm wird die Narration nicht mehr unterbrochen. Bereits die erste Szene offenbart, wie ähnlich die deutsche Version der Vorlage ist. Das Setting und die Figurenkonstellation stimmen exakt überein. In beiden Fassungen spielt sich das Leben »zwischen Küche, Flur und Wohnzimmer ab.« (Wick 2006: 80) Die Arbeiterfamilien bestehen jeweils aus einem reaktionären Vater, einer dümmlichen Hausfrau, der modischen Tochter und deren Ehemann, dem politisch links eingestellten Schwiegersohn. Die Vornamen sind identisch (Alfred, Else, Rita und Mike, respektive Michael) und die Schimpfworte stimmen überein: aus der »silly moo« wird die »dusselige Kuh«. Beide Serien zeigen inhaltlich den verbalen Dauerstreit in der Familie, der in der Regel zwischen den beiden 13 | Stiftung Deutsche Kinemathek.

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Männern stattfindet. (Vgl. Beile 1994: 307-311) Unterschiedlich sind lediglich die Freund- und Feindbilder: Der britische Alf ist Royalist und wettert gegen die Einwanderer aus den ehemaligen Kolonien, der deutsche Alfred regt sich über Gastarbeiter auf und wittert überall Kommunisten. Die Mutter, die im Original allerdings Kettenraucherin ist, versteht zumeist nicht, worum es bei den Debatten geht, und die Tochter versucht zu vermitteln; schließlich muss man unter einem Dach leben und sich auf engstem Raum arrangieren. Wie ein solches Arrangement abläuft, zeigt der Anfang der Folge A House With Love In It. Rita und Mike schmücken das Wohnzimmer, da Alfred und Else heute ihren 25. Hochzeitstag begehen. Der Schwiegersohn hat sogar ein Geschenk gekauft, das er als von Alfred stammend ausgibt; Else fällt auf den Schwindel herein und ist gerührt. Genau diese Situation ist auch in der deutschen Fassung zu finden; es ist offenbar ein und derselbe Plot, der hier in Szene gesetzt wird. Die Unterschiede sind gering. So agiert die deutsche Else emotionaler als ihr britisches Vorbild, das ihrem Ehemann deutlicher Paroli bietet und mit Schimpfworten kontert. Eine weitere Differenz ist der Auftritt des Milchmanns Wally. Er macht mit der britischen Else eine komplizierte Abrechnung, die dubiose Pferdewetten einbezieht. Die Szene wurde gestrichen, da solche Wetten in Deutschland weniger verbreitet waren; ersetzt hat Wolfgang Menge sie durch den Auftritt eines Jungen, der Blumen bringt. Während der Dialog mit dem Milchmann aber viele, sehr laute Lacher einbringt, insbesondere als sich herausstellt, dass er am Ende kein Geld für all seine Lieferungen bekommt, sondern Else sogar noch ein Ei schuldet, ist der Auftritt des Botenjungen nur eine Variante der ersten Szene, da Alfred die Blumen als sein Geschenk ausgibt. Das deutsche Publikum reagiert verhalten. Das ist symptomatisch für die gesamte Folge: Die (wenigen) Zuschauer im Saal lachen weniger, da die Dichte der Gags im Dialog geringer ist. Das britische Original, das auch live vor Publikum gespielt wurde, provoziert die Lacher in engem Takt, wie es im Boulevardtheater üblich ist; hier ist das Timing präziser. Diese Beobachtung verweist auf den größten Unterschied: die Länge der Szene. In der britischen Vorlage liest Else die beigelegte (von Mike gefälschte) Liebeserklärung in Minute 3, in der deutschen Fassung dauert es ganze zehn Minuten, bis sie dazu kommt. Die Unterschiede im Timing setzen sich fort: In ein nobles Restaurant gehen die Garnetts in Minute 15, während die Tetzlaffs dort erst in Minute 26 eintreffen. Die Ursache ist leicht auszumachen:

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In Deutschland dauert eine Episode nicht wie im Original nur 30, sondern 45 Minuten. Die englische Fassung bringt in der wesentlich kürzeren Zeit sogar noch den Milchmann und eine dreiminütige Szene im Pub unter, in der Alfred erfährt, dass er am Abend zu einem Trinkgelage anlässlich einer Beerdigung gehen könnte, statt mit seiner Familie in einem Restaurant zu sitzen. Berücksichtigt man die Streichungen, dann benötigt die deutsche Fassung für die gleiche Geschichte fast die doppelte Erzählzeit. Wie langsam die deutsche Fassung inszeniert wurde, zeigt sich besonders in der Restaurantszene. Die britische Familie liefert sich im Dialog einen schnellen Schlagabtausch und ist sozusagen in Windeseile betrunken. Zudem sind die Witze drastischer: Else zieht sich ächzend die Schuhe aus und bei der Übersetzung der Speisekarte wird mehrfach vermutet, es handle sich um ›manure‹, also Dung. Das Restaurant ist nobler und die anderen Gäste agieren pikierter. Die deutsche Familie spricht wesentlich langsamer, insbesondere im Dialog mit dem Kellner, der seine Rolle auf Amateurniveau spielt. Bevor die Folgen des Weingenusses zu sehen sind, wird hier bezeichnenderweise eine kurze Texttafel für 25 lange Sekunden eingeblendet: »Einige Stunden später.« Die Eskalation, die die britische Folge als dritten Akt deutlich herausarbeitet, wird in der deutschen Fassung regelrecht ausgebremst. Es ist symptomatisch, dass Till Death Us Do Part mit einem klaren Schlussgag endet und mit einer Nahaufnahme Alfreds, sofort nachdem der Schwindel mit dem Geschenk aufgeflogen ist, während in der deutschen Fassung nach einem Schweigen der Figuren langsam in die Totale gezoomt wird und sich eine Blende wie ein Vorhang schließt. Auf den letzten Satz von Else, der als Schlussgag gemeint war (»Jedenfalls ist es das letzte Mal, dass ich mit Dir Silberne Hochzeit gefeiert habe!«), reagiert das Publikum bei Ein Herz und eine Seele bezeichnenderweise überhaupt nicht.

VI. Der Schluss »Tatsächlich besteht am innovativen Charakter der Serie kein Zweifel«, schreibt Andreas Jahn-Sudmann (2001: 76), der hier stellvertretend für viele Autoren genannt sein soll. Dieses Urteil über Ein Herz und eine Seele lässt sich nur nachvollziehen, wenn man national argumentiert: Deutsche Zuschauer hatten in den siebziger Jahren noch keine Erfahrung mit dem Format ›Sitcom‹ und nahmen die Serie daher als völlig neuartig wahr, obschon es sich um

Ein Herz und eine Seele (1973)

eine Adaption handelt, die sich (zumindest im vorliegenden Fall) sehr nahe an das Original hielt. Die britische Vorlage wurde (und wird) von den Zuschauern und auch von den Kritikern nicht wirklich wahrgenommen, obschon sie von den deutschen Machern nie verschwiegen wurde. Die Innovation bestand aus heutiger Sicht vor allem darin, das Potenzial der Originalserie erkannt und ein unbekanntes Format in Deutschland eingeführt zu haben. In Anbetracht der Ähnlichkeit beider Serien ist erstaunlich, dass vor allem die Figur des Alfred als typisch deutsch galt und gilt. (von Hodenberg 2015: 281) Das kann nicht nur mit den tagesaktuellen Bezügen zusammenhängen, die Wolfgang Menge in die Serie einbaute, denn gerade diese Verweise fehlen ja in der ausgewählten Folge. Es waren ohnehin nicht die politischen Themen, die das Publikum interessierten, sondern das Familienleben, wie eine Studie belegt. (von Hodenberg 2015: 202) Die lautesten Lacher erzielt Alfred, wenn er flucht oder das Weinglas in einem Zug leert – übrigens in beiden Versionen. Offenbar ist der ordinäre, reaktionäre Arbeiter mittleren Alters, der seine Frau schlecht behandelt, in den siebziger Jahren ein internationales Phänomen, das über Grenzen hinweg zum Lachen anregt. Warum ist das so? Wer sich dieser Frage stellen möchte, dem sei ein Blick in die amerikanische Fassung der Serie empfohlen. Die erste reguläre Folge von All in the Family behandelt den Hochzeitstag von Archie und Edith.14

Referenzen Agnes, Michael (Hg.): (2004): Webster’s New World College Dictionary, Chicester: Wiley Publishing. All in the Family (USA, 1971–1979). Amarcord (I, 1973, Federico Fellini). Ashani Sanket (IND, 1973, Satyajit Ray). Beile, Judith (1994): Frauen und Familien im Fernsehen der Bundesrepublik: Eine Untersuchung zu fiktionalen Serien von 1954 bis 1976, Frankfurt a.M. [u.a.]: Lang. Der Kommissar (D, 1968–1975). Engell, Lorenz (1996): »Das Amedium. Grundbegriffe des Fernsehens in Auflösung: Ereignis und Erwartung«, in: montage a/v 5/1/1996, S. 129–153. Ders. (2002): »Paradoxie, Indifferenz und Existenz. Abbas Kiarosta14 | M eet the Bunkers (12.1.1971).

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Michaela Krüt zen

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Ein Herz und eine Seele (1973)

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Michaela Krützen, Prof. Dr., ist Professorin für Medienwissenschaft an der Hochschule für Fernsehen und Film München (HFF München). Arbeitsschwerpunkte: Film- und Fernsehgeschichte.

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SUPERMARKT (1974) Andreas Ziemann

1. Nach langen Jahren prosperierenden Wachstums und dem Aufstieg der Angestellten und der Mittelklasse trägt Deutschland in den 1970er Jahren nun seinen Konflikt der Generationen aus und steht am Vorabend des deutschen Herbstes. Rudi Dutschke wirkt noch, die RAF noch nicht. Roland Klick zeichnet in seinem dritten großen Spielfilm Supermarkt ein passgenaues dokumentarisches Bild einer verunsicherten, sich suchenden BRD. Es geht ihm um das, was Deleuze dem cinéma de réalité zugeschrieben hat: »die realen Milieus, Situationen und Figuren objektiv sichtbar zu machen« und daneben »die Sichtweisen dieser Figuren selbst zu zeigen, die Art und Weise, wie sie ihre Situation, ihr Milieu und ihre Probleme selbst sahen« (vgl. 1991: 197). Klick steigt dafür ins – bildästhetisch immer im Halbdunkeln gehaltene – Milieu der Kleinkriminellen, der Prostitution, der Arbeitslosen und der auf begehrenden Jugend hinab, um deren Stimmen und Stimmung ans Licht zu bringen und von dort aus den gesellschaftlichen Strukturen und ›Normalerwartungen‹ den Spiegel vorzuhalten. Man kann für diesen inneren Zwiespalt die soziologischen Kollektivbegriffe von Staat und Gesellschaft bemühen, an denen sich die Lage zwischen Autorität, Repression und Saturiertheit versus Freiheit, Autonomie und demonstrativer Abweichung festmachen lässt, aber auch jene zwischen Etablierten und Abgehängten. Diese Frontstellung sticht an den Charakteren hervor, sie bricht sich Bahn zwischen den Institutionen von Presse und Polizei, und sie wird idealtypisch ins Bild gesetzt, wenn der Hamburger Hauptbahnhof mit dem Hamburger Villengrundstück am See konfrontiert wird. Auch im Bild des Supermarktes wird all das nochmals gespiegelt:

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Andreas Ziemann

Die Vorderbühne steht für Wohlstand und Konsum für alle, die Hinterbühne für die kriminelle Schattenseite der Selbstbedienung, die im Raubüberfall auf den Geldtransporter kulminiert. Und über allem steht der Metatext der Käuflichkeit und Warenförmigkeit sozialer Beziehungen (vgl. Haug 1971).

2. Weil alle etwas und nicht zuletzt sich selbst suchen, ist der Film fast dauernd in rastloser Bewegung. Vor allem der Hauptdarsteller Willi (Charly Wierczejewski in seiner Debütrolle) ist Suchender und Gesuchter, Fliehender und Anziehungskörper zugleich. Dieser Hamburger Straßenjunge, noch keine 18 Jahre alt, sucht die Freiheit gegenüber Erziehungsheim und geregelter Berufstätigkeit, sucht ein Zuhause und Antworten beim Journalisten Frank (Michael Degen), sucht Ruhe und kleines Geld bei einem Homosexuellen (Hans-Michael Rehberg), sucht das große Geld mit dem Zuhälter und Kriminellen Theo (Walter Kohut) und sucht die Liebe und Familienzukunft mit der Prostituierten Monika (Eva Mattes). Die Kamera beobachtet ihn und alle anderen dabei. Aber sie sieht nicht nur die verschiedenen sozialen Milieus, das unwahrscheinliche Aufeinandertreffen der einzelnen Protagonist_innen, deren Handlungsketten und Handlungsfolgen, sondern sie schafft vielmehr erst die Situationen-in-Bewegung (vgl. Engell 2013a: 244, 248). Die Kamera spielt variantenreich mit Handführung und Dolly und wirkt deshalb so ungemein frei und »drehfreudig«. Sie rennt andauernd mit; und das ist, so Claudius Seidl, »das Glück in diesem Film« (vgl. 2010: 26). Nicht von ungefähr wird Supermarkt für den Kameramann, Jost Vacano, zum Sprung ins internationale Geschäft: Er wird 1981 Das Boot (Regie: Wolfgang Petersen) drehen und dafür eine Oscar-Nominierung erhalten, später eng mit Paul Verhoeven zusammenarbeiten und 2001 in Deutschland als Ehrenkameramann des Jahres ausgezeichnet.

3. Seine Bewegung und Diegese machen Supermarkt zum Actionfilm: angefangen von Willis Flucht vor der Polizei, über mehrere Diebstähle, Gewaltdelikte und Tote, bis hin zum finalen Überfall auf den Geldtransporter mit Geiselnahme und Willis Ermordung des Komplizen Theo mit einer Maschinengewehrsalve. Der Film ist aber auch ein subtiles Sozialdrama seiner Zeit. Er zeigt eine Jugend,

Supermarkt (1974)

die sich weder ästhetisch noch anderweitig kulturell, weder rollenförmig noch ökonomisch anpassen will. Diese Jugend lässt sich gesellschaftlich nicht instrumentalisieren und zeigt der herrschenden politischen wie ökonomischen Klasse, dass die Zeiten vorbei sind, in denen man vorgeben konnte: »Wer die Jugend hat, der hat die Zukunft« (Tenbruck 1962: 11). Die Jugendlichen der 1970er Jahre testen – so zumindest die Perspektive des Films – eigenständig aus, woran sie sich binden wollen, welche Werte (noch) gelten können, welche transformiert werden müssen. Das liegt alles noch nicht fest. Erst die historische Nachbetrachtung wird hierüber Gewissheit erlangen. In diesem Sinne konstatiert Tenbruck zu Recht, dass die Jugendlichen aus den einst verbindlichen und Sicherheit gebenden Strukturen der Familie freigesetzt wurden und nunmehr ihre Sozialisation als autonome soziale Gruppe selbst vollziehen müssen (vgl. ebd.: 74 ff.). Die jugendliche counter-culture ist Effekt der strukturellen Entmachtung der Familie wie auch anderer traditionaler, lokaler Organisationen und Produkt der gruppenförmigen, selbst bezüglichen wie selbst verstärkenden »Sozialisierung in eigener Regie« (ebd.: 92). Das kann erfolgreich sein, das kann auch scheitern – je nachdem, wie etablierte Gesellschaftsstrukturen und Professionsrollen darauf reagieren. Zumindest kann man aber an der Jugend (immer wieder aufs Neue) beobachten, was an je gegenwärtiger Kultur und Gesellschaft attraktiv, bindend und opportun und was aus deren Perspektive kritisch, fragil, antiquiert und kaum mehr legitimierbar scheint. Die Jugend ist deshalb als soziale Gruppe nicht nur eine Kontrastfolie und Gegenbewegung, sondern im positiven Sinne auch Motor und Katalysator kultureller Veränderung, »eine geschichtliche Drehscheibe, auf der die Zukunft einer Gesellschaft neu eingestellt wird« (ebd.: 12). Mag die Gesellschaft dafür mitverantwortlich sein, wie und welche Jugend sie erzieht und produziert, so ist es letztlich doch die Jugend selbst, welche Gesellschaft(sbilder) neu formt und durchsetzt. Diesen zweiten Aspekt lässt Supermarkt vollkommen außen vor. Er präsentiert und appräsentiert dominant Abweichung, Gewalt, Exklusion und Vereinzelung und lässt neue Leitbilder der Jugend nicht erkennen. Er zeigt uns vielmehr ziemlich drastisch eine Jugend ohne Ausweispapiere, ohne Arbeit, ohne demokratische Interessen und auch ohne Familie: Willis Mutter ist dauerhaft abwesend, nicht einmal das Telefon kann eine Verbindung herstellen, und vom Vater

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ist nie die Rede, »existiert nur auf dem Papier«; der Homosexuelle lebt mit seiner betuchten Mutter nur bindungslos im Nebeneinander; die Prostituierte Monika hat ihr Kind bei Verwandten weit weg von St. Pauli. Dennoch oder deshalb suchen alle irgendwie Halt an einem imaginären Beziehungs- oder Familienmodell, gibt es das diffuse Austesten alternativ verbindlicher Beziehungen. Soziologisch wie sozialpsychologisch hochinteressant inszeniert Klick etwa auch die dynamische Triangulation zwischen Willi, dem Journalisten und dessen Freundin, einer Boutique-Besitzern, innerhalb derer immer nur eine dyadische Beziehung möglich und stabil scheint: Willi und Frank, in kurzen Szenen Willi und dessen Freundin oder Frank und seine Freundin ganz ohne Willi. Jede Überschreitung einer sozialen Interaktion auf mehr als zwei tendiert aus Klicks Perspektive zum Scheitern; und wo nicht einmal zwei sich wechselseitig Halt geben können und stabilisieren, dort zeigt sich letztlich nur strikte Vereinzelung und hoffnungslose Vereinsamung. In der Konsequenz werden nicht nur Willi und diese BRD-Jugend, sondern auch die teils progressiven, teils an den Rand gedrängten Erwachsenen als hoch labil, impulsiv, unsicher und verletzlich charakterisiert.

4. Es gibt im Film nach zehn Minuten eine kurze eindrucksvolle Sequenz, die all das bisherige Tempo reduziert, Willi von hinten beim nächtlichen Schlendern durchs Hamburger Vergnügungsviertel begleitet und die Reeperbahn bunt flackernd, unscharf gehalten ästhetisiert. Auditiv begleitet werden Willi und die Zuschauer_innen von Marius Wests alias Marius Müller-Westernhagens Komposition Celebration. Keine Originaltöne der Stadt, keine Stimmen, keine Schrittspuren; ein im Film mehrfach wiederholtes Spiel von Wortund Sprachlosigkeit. Das ergibt – mit Deleuze formuliert (vgl. 1991: 13 ff.) – eine rein optische Situation, in der die Handlung ausgesetzt ist und nur auf die (Sichtbarkeit der) Situation fokussiert wird. Kurz: Registrierende Beobachtung mit immersiv-affizierendem Soundtrack.

5. Jede(r) hat Nähe, Vertrauen und Geborgenheit gesucht – und am Ende haben alle verloren: die einen ihr Leben, die anderen Zweisamkeit, wieder andere ihre Hoffnungen, Ideale und Illusionen. Willi kann das noch nicht wissen, wenn er im ›Arbeitertunnel‹ seiner Zukunft

Supermarkt (1974)

entgegengeht. Die imaginierte Freiheit seiner Ego-Perspektive trifft inmitten der angepassten, heimwärts gehenden Schichtarbeiter auf die antizipierbare Bestrafung und Inhaftierung von Seiten der Gesellschaft und Staatsmacht. Die Zuschauer_innen wissen: Die Polizei wartet am Ausgang des Tunnels. Hier wird der Film ruhig. Die Bewegung wird aufs Schritttempo reduziert; und Willi entschwindet der distanznehmenden Kamera. Es scheint so, als hätten die konservativen und restaurativen Kräfte der BRD gesiegt. Dies aber, wie wir aus der weiteren Geschichte wissen, nur bis auf Weiteres. Seit den 1970er Jahren und vor allem in der aktuellen Gegenwart sind uns eigenständige, hoch differenzierte Jugendkulturen, das Übergreifen von Jugendlichkeit auf Erwachsene, progressive Prozesse der Gleichberechtigung und des Gendering oder auch egalitäre Strukturen in der Erziehung, der Arbeit und der Familie nur allzu bekannt und selbstverständlich geworden. Alles in allem bildet Supermarkt eine gelungene Synthese aus Großstadtfilm, Zeitdokument, sozialgeschichtlichem Lehrstück und Actionkrimi. Er markiert damit auch einen gezielten Konterpart zum Jungen Deutschen (Autoren-)Film, der Klick so verhasst war, weil er das Publikum nicht liebt, nicht mehr erzählt und einen pseudoinnovativen Stil inszeniert (vgl. Berg 1993: 36 f.). Von Claudius Seidl stammt die interessante Pointe, dass hier nicht nur Klick, Vascano, die Darsteller_innen und die gesamte Filmcrew wirkmächtig und erfolgreich zusammengearbeitet haben, sondern eine zentrale Co-Autorschaft der damaligen Gegenwart zuzuschreiben sei. Noch nach über vier Jahrzehnten seit seiner Produktion zeige Supermarkt, »dass die jeweilige Gegenwart des Films eine Co-Autorin ist, die wir normalerweise unterschätzen.« (vgl. Seidl 2010: 26) Das gibt Anlass, die verteilte Agency des Bewegtbildes analytisch in und um die Zeitdimension auszuweiten – ja, mehr noch und im Anschluss an Lorenz Engell (vgl. 2013b): die Zeitagenten und Agentenzeit gesondert zu erfassen und tiefenscharf auszulegen.

Referenzen Berg, Ulrich von (1993): Das Kino des Roland Klick, Essen: edition filmwerkstatt. Celebration (D, 1974, Marius West). Das Boot (D, 1981, Wolfgang Petersen). Deleuze, Gilles (1991): Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Engell, Lorenz (2013a): »Tat und Ort. Zur Situation der Dinge im bewegten Bild«, in: Ziemann, Andreas (Hg.): Offene Ordnung? Philosophie und Soziologie der Situation, Wiesbaden: Springer VS, S. 243–256. Ders. (2013b): »Zeitagenten und Agentenzeit. Uhrenhandeln in Christian Marclays The Clock«, in: Ders. et al. (Hg.): Körper des Denkens. Neue Positionen der Medienphilosophie, München: Fink, S. 305–317. Haug, Wolfgang Fritz (1971): Kritik der Warenästhetik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Seidl, Claudius (2010): »Das Unglück des Helden ist das Glück des Films. Roland Klick hasst den Jungen Deutschen Film und inszenierte unter dem schweren Hamburger Himmel noch einmal Ausser Atem«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 21.03.2010, S. 26. Tenbruck, Friedrich H. (1962): Jugend und Gesellschaft. Soziologische Perspektiven, Freiburg: Rombach.

Andreas Ziemann ist Professor für Mediensoziologie an der Bauhaus-Universität Weimar.

WONDER WOMAN (1975) Brigitte Weingart 1975 wird in den USA vom Sender ABC der Pilot zu der Fernsehserie Wonder Woman ausgestrahlt, die dann von 1976 bis 1979 in drei Staffeln zu sehen sein wird (Staffel 2 und 3 bei CBS); 1994 bringt sie der Privatsender RTL auch ins deutsche Fernsehen. Der 90-minütige Pilot hat einen eigenwilligen Titel: The New Original Wonder Woman – »new original«? Tatsächlich handelt es sich um einen ›neuen‹ Versuch, nachdem der erste im Jahr zuvor beim Publikum durchgefallen war – vermutlich, weil sich die TV-Adaption zu weit vom Comic-›Original‹ entfernt hatte. Und tatsächlich ging die um plakative Anleihen bei der Comic-Ästhetik bereicherte, neue-originale Version auch im Fernsehen erfolgreich in Serie. Mit der Formulierung ›New Original‹ wird hier die Logik der Serie insofern auf den Punkt gebracht, als diese die Wiederholung (des Schemas, Figurenrepertoires, Basisnarrativs, und hier: der sich um die Superheldin rankenden Mythologeme der Verwandlung und der übernatürlichen Kräfte) mit der Abweichung verbindet (neue Herausforderungen, Feindschaften, Abenteuer). Das gilt zumal für TV-Episodenserien (series) der 1960er und 70er Jahre, deren Held/ innen unter wechselnden Umständen beharrlich an ihren ›originären‹ Eigenschaften festhalten: »Sie lernen überhaupt nichts dazu, sie wissen alles immer schon, verändern sich jedoch in keiner Weise.« (Engell 2011: 122) Doch noch in Formen der Serialität jenseits des Fernsehmediums, die nach dem Vorbild industrieller Produktion auf Identität, auf die Wiederkehr der immergleichen Zeichen setzen, macht die Wiederholung einen Unterschied. Seitens der poststrukturalistischen Theorie wurde nicht nur darauf bestanden, dass sich Zeichen über ihre Zitierbarkeit definieren, sondern dass mit der Iteration notwendig Veränderung einhergeht: Die Zeichen mögen zwar sicht- und hörbar die gleichen sein, doch jeder Kontextwechsel

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bringt andere Bedeutungen ins Spiel (iter, ›nochmals‹, kommt aus dem Sanskrit, von itara, ›anders‹; vgl. Derrida 2001: 14). In der PopArt wird diese Iterationslogik geradezu parodiert, wenn etwa Andy Warhol in seiner »Factory« gerade mittels eines mechanischen Kopierverfahrens wie dem Siebdruck serielle Anordnungen produziert, die die Spielräume für Abweichung in der Wiederholung (Farbverluste, Schlieren) als solche in den Blick rücken. Mit Pop haben wir es auch bei dem Wonder Woman-Piloten und seinen Folgen zu tun, genauer gesagt: mit »TV-Pop«: »[W]enn die industrielle Populärkultur sich aus sich selbst heraus und dennoch von außen beobachtet, dann produziert sie Formen, die wir kurzerhand als ›Pop‹ bezeichnen.« (Engell 2004: 193) Aus dieser Perspektive erscheint Pop als exemplarischer Schauplatz, an dem Medien ein Wissen über sich selbst hervorbringen: »Medientheorien der Medien selbst« (Engell 2014a) – was ihre professionellen Interpret/ innen bekanntlich nicht von der immerhin selbstgewählten Aufgabe entbindet, dieses implizite Wissen in Worte zu fassen. Im Fall von Wonder Woman heißt das auch: den Zauber (spell) auszubuchstabieren (to spell out), denn was die Fernsehserie über sich selbst weiß – über Fernsehen, über Serialität, vor allem aber die Protagonistin, die unter diesen medialen Bedingungen zur Erscheinung gebracht wird –, scheint sich in einem wiederkehrenden magischen Moment zu verdichten: Ein Hauptfaszinosum der Serie ist offenbar der berühmte spin – die Sequenz, in der sich Diana Prince von einer geradezu auffällig ›gewöhnlichen‹ Krankenschwester und Sekretärin in jene Superheldin verwandelt, der für ihre Mission, die (US-amerikanische) Welt zu retten, übernatürliche Kräfte zur Verfügung stehen. Dafür sprechen nicht zuletzt die vielen vor allem auf YouTube verbreiteten Fanvideos, in denen die diversen Varianten dieses Übergangs zwischen ordinary und extraordinary aneinandermontiert werden, und unzählige Gifs, die die Transformation mittels Loop auf Dauer stellen. Was hat es also mit diesem Wirbel auf sich? Es ist das Fernsehen, das den spin zuerst ins transmediale Universum von Wonder Woman und schließlich ins Insignien-Repertoire der Pop-Ikone eingeführt hat, zu dem bis dato neben dem an das Sternenbanner angelehnte Outfit vor allem das magische Lasso gehörte, das jeden darin Gefangenen zur Wahrheit verpflichtet – ein Accessoire, mit dem es dem Wonder Woman-Erfinder William Moulton Marston gelang, seine psychotechnische Forschung zum Lügendetektor mit seinem Bonding-Fetisch kurzzuschließen.

Wonder Woman (1975)

In den ersten Comic-Folgen von Marston und H.G. Peter aus den 1940er Jahren (auf die sich der Pilot und Staffel 1 der TV-Serie beziehen) zieht sich Diana Prince schlicht um, wenn bei der Bekämpfung von Nazi-Fieslingen Wonder Womans Einsatz gefragt ist: Mit schöner Regelmäßigkeit ist ein Panel zu sehen, das sie – apropos Fetischismus – beim Hochziehen eines ihrer roten Stilettostiefel zeigt; nur ausnahmsweise geschieht dies bereits ›in lightening speed‹ oder ›in whirlwind speed‹. Dabei weist schon der fliegende Wechsel in Heft #6 ikonographisch auf den besonderen Dreh voraus, den die mediale Spezifik des Bewegtbilds ermöglichen wird (vgl. Hanley 2010). Diesem kommt auch ein Panel in Heft #212 (1974) recht nahe, in dem Zeichner Curt Swan in Heft #212 eine von ›Amazon scientists‹ entwickelte Blitzumkleidetechnik durch Wonder Womans Anwendung des magischen Lassos auf sich selbst einführt (vgl. Cronin 2010), mit der ein markerschütterndes Wirbelgeräusch einhergeht: »wwwhhrrrreeeeeeeeeee!« Im transformation spin der Fernsehfassung kommt dann einiges zusammen: Im Pilot und den ersten beiden Episoden wird er mit einer einfachen Überblendung umgesetzt, wobei die Drehung gleichzeitig verlangsamt wird – fade out Krankenschwester-Tracht (oder Army-Secretary-Uniform), fade in Wonder Woman-Kostüm. Statt Haube, Brille und Hochsteckfrisur offene Haare und viel Haut – kein Wunder, dass sich Produzent Don Kramer an einen »slow motion strip tease« erinnert fühlte (Hanley 2010). Eine reine Männerphantasie also? Immerhin dreht sich die Frau aus eigenem Impuls, und zwar im doppelten Sinne: Selbstauskünften zufolge hat sich die Wonder Woman-Darstellerin und Ex-Miss World Lynda Carter für die Gestaltung ihrer Verwandlung den spin – mit Schwung und tänzerisch erhobenen Armen, aus dem Alltagsrollenbild heraus in die Superheldinnen-Figur hinein – selbst einfallen lassen. Und die Wirkung von Eigenständigkeit unterstreicht nicht zuletzt der Vergleich mit anderen zauberhaften Verwandlungen der Filmgeschichte: Wenn der frühere Bühnenmagier und Trickfilm-Pionier Georges Méliès 1896 in Escamotage d’une dame chez Robert-Houdin mittels Stopptrick eine Dame erst verschwinden lässt, sie in einem zweiten Streich durch ein Skelett ersetzt und dieses in einem dritten wieder durch die Dame, dann ist schwer zu übersehen, dass hier die phantasmatische Kopplung von Gender-Rollen und Handlungsmacht, wie sie in der Bühnenmagie Tradition hat, neu aufgelegt wird (auch ohne den obligatorischen Zauberstab ...). Allerdings hat Mé-

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liès’ Kunststück zumindest retrospektiv selbst parodistische Züge, zumal der Film mit doppeltem Boden operiert und suggeriert, hier sei lediglich der bewährte Bühnentrick aufgezeichnet worden, während ihm tatsächlich ein rein filmischer Spezialeffekt (nämlich der Stopptrick) zugrunde liegt, den heutige Zuschauer/innen natürlich als solchen erkennen. Doch auch wenn sich der Zauber als Medieneffekt, als cinémagie eben, identifizieren und erklären lässt, greift die technisch bedingte Magie des Erscheinen- und Verschwindenlassens in Escamotage d’une dame nicht auf den Zauberer selbst über – anders als in anderen Filmen Méliès’, wo er sich als Magier am Ende selbst wegzaubert, bleibt er hier als »Verursacher« der Verwandlungen im Spiel (Engell 2014b: 363 f.). So auch Diana Prince/ Wonder Woman, die ebenso als Subjekt wie als Objekt ihrer Transformation erscheint – eine Vexierbildhaftigkeit, die in der von einem Changieren zwischen so gegensätzlichen Zuschreibungen wie ›sex object‹ und ›feminist icon‹ geprägten Rezeptionsgeschichte der Figur wiederbegegnet. Wenn also rund 80 Jahre später Wunder im Fernsehen noch immer mittels cinémagie alter Schule vollbracht werden, so haben sich doch die Vorzeichen verändert – sowohl in Bezug auf Special Effects wie auf das Verhältnis von Gender und Agency, zu dessen spektakulärer Inszenierung sie in Wonder Woman eingesetzt werden. Ab der dritten Folge wird die Verschiebung vom Illusionismus zu einer als solchen ausgestellten Künstlichkeit zusätzlich gesteigert: Für die Mutation »in lightening speed« wird von nun an ein Blitzlicht eingesetzt, das sich im Zuge der spin transformation kreisförmig über das Bild ausbreitet, begleitet nicht nur von einem funkigen Soundtrack (in dem das Sirren aus der 1974er Comicfolge wiederbegegnet), sondern auch von einem explosiven Krachen – schließlich hat man es wie bei ihren Vorgängerinnen auch bei der Pop-Hexe, die Marston als weibliche Antwort auf Superman konzipierte, mit einer phallischen Frau zu tun. Mit dem flash wurde nicht zuletzt auf das Problem reagiert, dass die Überblendung Wonder Woman in die Bredouille brachte, ihr Diana Prince-Outfit irgendwie loszuwerden (und tatsächlich kommt es der zauberhaften Wirkung nicht gerade zugute, wenn in der Pilotfolge erst noch die Krankenschwester-Kluft verstaut werden muss, bevor die Superheldin in Aktion tritt). Dass die Ikonografie des weiblichen Doppelwesens so stark an Kleidung und Accessoires hängt, bestätigt den Fetischismus-Verdacht, der allerdings in seiner kritischen Variante seinerseits die

Wonder Woman (1975)

Kritik provoziert, Eulen nach Athen (und damit zu den mythischen Ursprüngen der Amazonenfigur »Diana of Themyscira«) zu tragen. Denn sowohl in den frühen Comics wie in der Serie erscheinen die Kostümierungen Dianas sehr offensichtlich als solche, als drag, und zwar in beiden Rollen. Handelt es sich sowohl bei der ordinariness wie bei der extraordinariness der Figur um Gender-Parodien, die Weiblichkeitsvorstellungen (inklusive Männerphantasien) mittels Übertreibung als Kopie ohne Original ausstellen (vgl. Butler 1991), so rückt der fliegende Wechsel überdies die strukturellen Analogien der – für die 1950er Jahre – ›normalen‹ Gender-Performance einer Diana Prince zur offensichtlichen Kunstfigur Wonder Woman in den Blick. Kein Zufall, dass ihr gegenwärtiger Status als »LGBT superhero icon« (Greig 2017) in den zahlreichen Camp-Aneignungen einer Figur antizipiert wurde, die schon 1954 in Fredric Werthams Anti-Comic-Traktat als männerfeindliche Lesbe identifiziert und 2016 offiziell als »bisexual, obviously« geoutet wurde. Mit Blick auf die Fernsehserie ist allerdings festzuhalten, dass in Sachen Genderrollen vor allem die Narration dem Status Quo zuarbeitet – auch wenn die genderparodistischen Züge durchaus auf Dianas männlichen Counterpart übergreifen, dessen Verblendung durch Wonder Woman deren Sekretärinnen-Alter Ego gar nicht erst als Frau in den Blick geraten lässt. Am Ende geht in jeder Folge alles wieder mit rechten Dingen zu: Als Ausnahmeerscheinung bestätigt Wonder Woman die Regularität einer normkonformen Weiblichkeitsperformance – charmant, aber ohne die Fähigkeit, auch nur Verwunderung auszulösen. Offenbar wird also die Glorifizierung von Wonder Woman als Verkörperung feministischen oder queeren Empowerments durch eine selektive Rezeption begünstigt, was zum Wirbel um den spin zurückführt. So ist es wiederum nicht verwunderlich, dass die dezidiert kritisch gemeinte Arbeit der Künstlerin Dara Birnbaum Technology/Transformation: Wonder Woman seit ihrer Entstehung 1978-79 völlig konträre Lesarten provoziert hat. Der rund 6-minütige Clip besteht mehr als zur Hälfte aus teils geloopten Sequenzen der Serie, wobei insbesondere der spin (in seiner explosiven Dominante) die Montage auch akustisch dominiert; im zweiten Teil ist zum poppigen Wonder Woman-Soundtrack dessen Transkription zu lesen, die die unterstellte Sexualisierung der Figur im Klartext ausbuchstabiert: »I AM WONDER / WONDER WOMAN [...] SHOW YOU ALL THE POWERS / THAT I POSSESS/ AND OOOU-U-UU-UUU-UUUU [...] SHAKE THY WONDER MAKER« usw.

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Noch vor der Einführung der Homevideo-Technologie wendet Birnbaum also die Zitatverfahren der Appropriation Art auf das Fernsehen an – und praktiziert, wenn nicht ›Medientheorie‹, so doch Medienkritik ›der Medien selbst‹: »I wanted to use the medium on itself.« (1987: 12) Es spricht nicht gegen Birnbaums Clip, dass der u.a. an Laura Mulveys Essay über »Visual Pleasure and Narrative Cinema« geschulte Versuch der Entzauberung, des ›talking back to the media‹, auch nach hinten losgegangen ist, was nicht nur auf die Neubewertung von Sexyness im Post-Feminismus zurückzuführen ist (vgl. Demos 2010: 2), sondern auch auf den originären Pop-Appeal von Birnbaums Projekt, an dem nicht zuletzt der Soundtrack seinen Anteil hat. Symptomatischerweise taucht der Clip heutzutage auf YouTube im Kontext besagter Wonder Woman-Fanvids auf, deren tendenzielle Ununterscheidbarkeit von Birnbaums Projekt (vgl. Schwaab 2016) sich wiederum der Tatsache verdankt, dass es gerade der ikonische Moment des spins ist, der hier jeweils in Serie montiert wird. Genau diesen Moment hat aber bereits die Fernsehserie als Dreh- und Angelpunkt eines durch Wiederholung auf Dauer gestellten Oszillierens etabliert, so dass die Ambivalenz zwischen Fetischismus und Subversion, die für Birnbaums Kunstwerk reklamiert wird (vgl. Demos 2010), entgegen gängiger kunstkritischer Vorurteile schon im Fernsehen am Werk war. Als Meta-Pop TV machen die Zitatclips jedoch einen Unterschied, indem sie die Attraktion nicht nur über die Narration triumphieren lassen, sondern als hypnotisches Spektakel in Serie schalten, wobei gerade die Fanvideos analog zu Warhols seriellen Verfahren mit Diana Princes wechselnder Alltagsmode die iterative Logik zur Geltung bringen: The New Original New Original Wonder Woman. Von neuem, anders – aber nicht notwendig immer besser: In der Kinoversion von 2017 ist Wonder Woman nur noch im Superheldinnen-Look und also kein spin mehr zu sehen.

Referenzen Birnbaum, Dara (1987): Rough Edits: Popular Image Video, Works 1977-80, Hallifax: Press of Nova Scotia College of Art and Design. Butler, Judith (1991): Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/M.: Suhrkamp. Cronin, Brian (2010): »Comic Book Legends Revealed #288«, in: cbr. com, 26.11.2010, https://www.cbr.com/comic-book-legends-revea led-288, [1.3.2018].

Wonder Woman (1975)

Demos, T.J. (2010): Dara Birnbaum: Technology/Transformation: Wonder Woman, London: Afterall Books. Derrida, Jacques (2001): »Signatur Ereignis Kontext«, in: Ders.: Limited Inc, Wien: Passagen, S. 15–45. Engell, Lorenz (2004): »TV-Pop«, in: Grasskamp, Walter/Michaela Krützen/Stephan Schmitt (Hg.), Was ist Pop? Zehn Versuche, Frankfurt/M.: Fischer, S. 189–210. Ders. (2011): »Erinnern/Vergessen. Serien als operatives Gedächtnis des Fernsehens«, in: Blanchet, Robert et al. (Hg.): Serielle Formen. Von den frühen Film-Serials zu aktuellen Quality-TV- und Online-Serien, Marburg: Schüren, S. 155–133. Ders. (2014a): »Medientheorien der Medien selbst«, in: Schröter, Jens (Hg.): Handbuch Medienwissenschaft, Stuttgart: Metzler, S. 207–2013. Ders. (2014b): »The Magical Image in Georges Méliès’s Cinema«, in: Gaafar, Rania/Schulz, Martin (Hg.): Technology and Desire. The Transgressive Art of Moving Images, Bristol-Chicago: Intellect 2014, S. 257–270. Escamotage d’une dame chez Robert-Houdin (Frankreich, 1986, Georges Méliès). Greig, Finlay (2017): »Wonder Woman: the first LGBT superhero icon«, in: iNews, 7.6.2017, https://inews.co.uk/culture/film/wonder-woman-lgbt/icon-superhero/ [1.3.20118]. Hanley, Tim (2010): »The Evolution Of The Costume  Change« (Blog-Eintrag), 27.11.2010, in: https://thanley.wordpress. com/2010/ 11/27the-evolution-of-the-costume-change/[1.2.2018]. Schwaab, Herbert (2016): »Compulsive Repetition. Exploring the Ordinary in Popular Television on YouTube and in Dara Birnbaum’s Video Art from the 1970s«, Vortrag auf der Tagung Expanded Television, 15.1.2016, Universität zu Köln. Technology/Transformation: Wonder Woman (USA, 1977–78, Dara Birnbaum). Wonder Woman (USA, ABC, 1976-77 [Pilot, 1975, und Staffel 1], CBS, 1977-79 [Staffel 2 und 3].

Brigitte Weingart, Prof. Dr., ist Professorin für Medienkulturwissenschaft an der Universität zu Köln. Arbeitsschwerpunkte: Medientheorie und -geschichte (v.a. AV- und Schriftmedien), Faszination, Celebrity Cultures.

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NETWORK (1976) Vinzenz Hediger

Die Cinéphilie war der Gründungsaffekt der Filmwissenschaft. Die Filmologie, die erste Wissenschaft des Films, die sich nach 1945 auf Betreiben des Philosophen und Produzenten Gilbert Cohen-Séat an der Sorbonne etablierte, behandelte den Film als Massenmedium und fragte – wenn auch ausgehend von einer philosophischen Bestimmung der ästhetischen Spezifik des Films, die Etienne Souriau geliefert hatte – nach sozialen und psychologischen Wirkungen. Die Cinéphilie hingegen ordnete das Phänomen Kino zu einer Serie von erotisch besetzen, distinkten Einheiten von Autor, Werk und Stil. In einem Text, den er unter dem Pseudonym Florent Kirsch (der Vorname seines Sohnes, der Nachname seiner Frau) 1951 veröffentlichte, warf André Bazin der Filmologie ihre Leidenschaftslosigkeit und Ignoranz der Werke vor (vgl. Kirsch 1951). Den Sieg trug die Cinéphilie davon. Die Filmologie löste sich bald in Kommunikationswissenschaft auf, während der Film unter dem Gesichtspunkt einer Geschichte des Stils in einer Lücke zwischen Literatur und Kunst dauerhaft Einlass in die Universität fand. In den 1970er Jahren schämten sich manche Cinéphile ihrer Liebe. So erkannte die lacanianische apparatus theory im Modus der öffentlichen Selbstkritik in der Cinéphilie eine fatale Verstrickung in ein Dispositiv der industriellen Produktion des Imaginären. Die Erweiterung des Gegenstandsbereichs um Dinge wie Industrie- und Familienfilme hat die Epistemologie des Kanons mittlerweile obsolet werden lassen. Aber die affektive Besetzung des Objekts Film hat Bestand. Vor kurzem hat etwa Laura Mulvey ihre Kritik an Hitchcock revidiert und ihm zugebilligt, doch kein so konsequenter Sexist zu sein, wie sie ihm das 1975 in »Visual Pleasure and Narrative Cinema« noch attestiert hatte (vgl. Mulvey 2014). Die Liebe besiegt am Ende auch den Zweifel.

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Vinzenz Hediger

Das Fernsehen zu lieben, ist schwieriger. Eine Gemeinschaft der ›Téléphiles‹, die mit einer geteilten Leidenschaft die Grundlage für eine Wissenschaft des Fernsehens gelegt hätten, gab es nie. Möglicherweise ist das eine Frage der Medienspezifik. Das legt zumindest Network nahe, ein Film, der von der Schwierigkeit handelt das Fernsehen zu lieben und 1976 von Sidney Lumet auf der Grundlage eines Drehbuchs von Paddy Chayefsky realisiert wurde. William Holden spielt den Nachrichtenjournalisten Max Schuhmacher. Einst arbeitete er für Ed Murrow, den legendären ersten »anchorman« von CBS. Nun leitet er die Nachrichtenabteilung bei einem Network namens UBS. Seine Abteilung ist ein loss leader, ein Prestigeobjekt, das sich durch Qualität statt durch Quoten, durch Seriosität statt Sensationalismus rechtfertigt. Max verkörpert die gute, alte Zeit des Fernsehens, die »paléo-télévision«, um es mit Casetti und Odin zu sagen (Casetti/Odin 1990). Als ein Investmentfonds das Ruder übernimmt, der bald seinerseits von einem saudischen Staatsfonds geschluckt wird, zählt auch bei UBS nur noch die Quote. Der langjährige Anchorman Norman Beale, gespielt von Peter Finch, soll entlassen werden. Einsam und alt geworden, kündigt er eines Abends vor laufender Kamera seinen Selbstmord an. Er verbindet die Ankündigung mit einer Suada gegen die herrschenden Verhältnisse. Mit der Losung »I am mad as well, and I won’t take this anymore« macht sich Beale zum Wortführer der Wutbürger. Die Quote steigt sprunghaft an. Statt entlassen zu werden, erhält er seine eigene Show. Treibende Kraft ist dabei die neue Unterhaltungschefin Diana Christensen, gespielt von Faye Dunaway. Christensen steht für die »néo-télévision«. Sie feiert gerade mit einer Reality-Show über eine afro-amerikanische Stadt-Guerilla-Truppe Quotenerfolge und reißt sich, unterstützt vom neuen Geschäftsführer Frank Hackett, nun auch die Hauptnachrichten unter den Nagel. Max verliert seinen Job, aber er gewinnt immerhin Christensen als Geliebte. Gleich beim ersten Date lässt Diana Max wissen, dass sie ihn attraktiv findet, weil er ihrem Vaterkomplex entspreche. Paddy Chayefsky, dessen Dramen sonst jüdische Einwanderer in Brooklyn bevölkern, kennt seinen Freud. Für Diana verlässt Max nach fünfundzwanzig Jahren Ehe seine Frau. Doch sein neues Glück währt nicht lange. In einem Streit, nach dem Max zu seiner Frau zurückkehrt, wirft er Diana vor, dass sie nicht liebesfähig sei. Sie wisse nicht, wie das geht, gibt sie verdattert zu.

Network (1976)

Die Tragikomödie eines alternden Manns also, der seinen letzten Frühling verspürt. Aber Network geht es um mehr. In seiner Abschiedsrede verklärt Max Diana zur Allegorie: »You are television«, sagt er zu ihr. Sie steht nicht nur für die »néo-télévision«, sie verkörpert die Spezifik des Mediums, die in der »néo-télévision« zu sich kommt. Dass Max Diana liebt, aber Diana Max nicht lieben kann, heißt auf der allegorischen Ebene: Die »paléo-télévision« kann noch lieben, die »néo-télévision« kann es nicht mehr. Doch bei dieser Feststellung bleibt es nicht. »You are television«, sagt Max, um dann zu ergänzen: »Everything you touch dies.« Der Vaterkomplex der »néo-télévision« mündet ohnehin in einen Vatermord: Diana kostet Max, den sie als junge Studentin bewunderte, den Job. Aber das Fernsehen, das Diana verkörpert, ist überhaupt der Agent einer Transformation aller Ordnung, und sie selbst ist ein Engel des Todes. Während Diana sich von Max’ Abschiedsworten scheinbar ungerührt wieder ihrer Arbeit zuwendet, löst sie ihr nächstes Quotenproblem auf eine Weise, die Max’ Worten einen konkreten Sinn verleiht. Howard Beale hat sich unter dem Einfluss der Besitzer von UBS vom Wortführer des Aufstandes gegen die Vorherrschaft der Großkonzerne zum Propheten der Resignation gewandelt. Sein Publikum schwindet. Diana weiß, was zu tun ist. Die Stadtguerilla aus ihrer Reality-Serie infiltriert das Studiopublikum und erschießt Beale vor laufenden Kameras. Wo die Literatur nach Novalis (und der Film spätestens bei Godard) das Medium ist, in dem alles zum Anfang eines unendlichen Romans wird, ist das Fernsehen in der Tat das Medium, in dem alles zu Tode kommt. Zum Glück gibt es den Film, der uns das zeigt: das liebenswerte Medium, das die Liebe weitergibt und den Glauben an die Welt wiederherstellt, wie Deleuze sagt (vgl. Früchtl 2013: 40). Filme über Journalisten sind Teil des Repertoires des klassischen Hollywood-Kinos. Network führt diese Tradition fort und gehört zugleich zusammen mit Alan J. Pakulas Watergate-Film All the President’s Men, ebenfalls von 1976, in eine andere Kategorie. Network und All the President’s Men sind bis heute die Filme zu Fernsehen und Printjournalismus schlechthin. Gilles Deleuze hat sich zu Pakula nie geäußert; er gehört nicht zum Kanon der Cahiers, den Deleuze recht fromm abarbeitet. Lumet hingegen findet als Vertreter der ›New Yorker Schule‹ im Band I an zwei Stellen kurz Erwähnung, und Network wird als Beispiel für die Krise des Bewegungsbildes angeführt (vgl. Deleuze 1989: 281).

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Man will dem Meister ja nicht in die Parade fahren, aber beide Filme fügen sich auch ganz gut in das Stilschema des Zeitbildes. Network und All the President’s Men sind voll von Plansequenzen, Einstellungen, die von Raumtiefe und Dauer leben und in denen mindestens ebenso sehr Zeitschichten aufgedeckt wie Handlungen verknüpft werden. Diese Einstellungen sind meistens als Figurengruppen komponiert und weisen die größtmögliche Tiefenschärfe auf. Die Arbeitstreffen der Fernsehmanager in Network finden in hell erleuchteten Räumen in den modernistischen Bürotürmen in Manhattan statt, oft abends und nachts, wenn die Stadt im Hintergrund dunkelblau leuchtet. Die Gegensätze von Innen und Außen, Hell und Dunkel, Tag und Nacht strukturieren einen Ort, der über den Handlungsort und die jeweilige Aktion hinausreicht – einen Zeit-Raum, in dem die journalistischen Medien – die Presse in All the President’s Men, das Fernsehen in Network – erst wirklich lesbar werden. Besonders All the President’s Men ist ein Film, der alle anderen Medien zur Darstellung bringt – vom Notizblock der beiden Journalisten Bernstein und Woodward, über deren Schreibmaschine, das Telefon und die Zeitung bis zum Fernsehen. Der Film ist der letzte, der äußerste mediale Rahmen, außerhalb dessen es keine weitere Wahrheit mehr gibt oder braucht. Wie die Eule der Minerva in der Dämmerung zum Flug auf bricht, bringt der Film gleichsam im Modus einer hegelianischen Darstellung die Welt vom Ende der Story her auf den Begriff. Erschließt All the President’s Men die Zeit retrospektiv, so operiert Network prospektiv und im Modus der Prophetie. Chayefskys und Lumets Film enthüllt die kommende Wahrheit des Fernsehens und will zugleich die Welt mit den Mitteln des Films vor dieser Wahrheit retten. Eingetreten ist die Prophetie. Nicht von ungefähr betitelt der Publizist und republikanische Wahlkampfstratege Rick Wilson, ein innerparteilicher Gegner des amerikanischen Präsidenten und Kenner der Filmgeschichte, ein 2018 erschienenes Buch Everything Trump Touches Dies. Der gescheiterte Geschäftsmann, den eine Reality-Show zum Erfolgsmenschen stilisiert hatte und dessen spektakulär zur Schau getragener Hass in stundenlangen Liveübertragungen Nachrichtensendungen zu Einschaltquoten von Unterhaltungsprogrammen verhalf und ihn ins Weiße Haus trug, ist Howard Beale und Diana Christensen zugleich: das Medium einer Revolte gegen die herrschende Ordnung, das keine Empathie und schon gar

Network (1976)

keine Liebe kennt und alles zu Tode bringt, was mit ihm in Berührung kommt. Und nun, da die kommende Wahrheit des Fernsehens, die Network ausspricht, eingetreten ist, kommt es immer noch auf das an, was Chayefsky und Lumet versuchten, aber nicht vermochten: die Welt zu retten, und sei es mit den Mitteln des Films.

Referenzen All the President’s Men (USA, 1976, Alan J. Pakula). Casetti, Francesco/Odin, Roger (1990): »De la néo- à la paleo-télévision«, in: Communications 56, S. 67–78. Deleuze, Gilles (1989). Das Bewegungsbild. Kino 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Früchtl, Josef (2013): Vertrauen in die Welt. Eine Philosophie des Films, München: Fink. Kirsch, Florent (André Bazin) (1951): »Introduction à une filmologie de la filmologie«, in: Cahiers du cinéma 5, S. 33–38. Mulvey, Laura (2014): Historisch werden: Zuschauerschaft, Technologie und feministische Filmtheorie. http://www.kracauer-lectures.de/de/sommer-2014/laura-mulvey/, [17.06.2018]. Wilson, Rick (2018): Everything Trump Touches Dies. A Republican Strategist Gets Real About the Worst President Ever, New York: Simon & Schuster.

Vinzenz Hediger ist Professor für Filmwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt. Arbeitsschwerpunkte: Filmtheorie, Geschichte der Filmtheorie, Wissensgeschichte des Films, Medienökonomien.

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ANNIE HALL (1977) Christiane Voss »If life were only like this!« – wenn das Leben doch nur wie das Kino wäre. In Annie Hall (USA, 1977, Woody Allen), dem Oscar-Gewinner des Jahres 1978, gibt es eine berühmte Szene, in der Woody Allen diesen Satz direkt in die Kamera spricht. Weil jedoch Kino und Leben nie zur Deckung zu bringen sind, bleibt der Satz im Konjunktiv und eine Markierung des Komisch-Melancholischen. Aus der Spannung dieser Affektregister bezieht der Film seine atmosphärische Kontur: sorgt das komische Element für die Auflösung der präsentierten Ereignisse ins Lächerliche, so sorgt das melancholische Moment für das Nicht-Loslassen-Können einer Verlusterfahrung, die zur Wiederholung und filmischen Erzählung drängt. Erzählt wird die Liebesund Trennungsgeschichte von Annie Hall (Diane Keaton) und Alvy Singer (Woody Allen). Sie gehören zu einer Konstellation von New Yorker GroßstadtneurotikerInnen der 1970er Jahre, deren Zeitgeist durch sexuelle Aufklärung, Drogenexperimente, neomarxistischen Revolutionsgeist, Gender Trouble, Flower-Power, die Beatles und die Psychoanalyse bestimmt wird. Ein Filmklassiker ist Annie Hall deshalb, weil er auf innovative Weise mit der alles bestimmenden Medialität seines Mediums genreaustestend umgegangen ist: mit Zeit (vgl. Engell 2012). Durch sein Spiel mit Zeit- und Raumlogiken gewinnt Annie Hall eine ästhetische Singularität, die eine eigene Dimension von Zeit eröffnet, welche für andere Filme potenziell ästhetisch anschlussfähig ist (Ruda/Völker 2015: 8). Annie Hall droht als Film dauernd selbst die Form zu verlieren, so etwa wenn er plötzlich ins Comic-Register wechselt, sprachliche Vorstellungen instantan in Bilder umschlagen lässt, zum Beispiel wenn der Protagonist sich kurz in einen Rabbi verwandelt, oder wenn er geisterartige Verdopplungen seiner Figuren vornimmt, wie etwa von Annie in einer Sexszene usw. (Vgl. Voss 2010) Dass Filme ihre medienphilosophi-

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sche Arbeit bevorzugt im Medium des Komischen leisten, ist eine Leitidee des Medienphilosophen Lorenz Engell (vgl. Engell 2013). Er schreibt: Es hat nämlich den Anschein […] als könne […] diese Arbeit, […] die Erscheinungsweise des Komischen annehmen. […] das Komische benötigt […] ein zweites Medium, in dem es sich erst ereignen kann. Die Komödie als Form […] ist dann zugleich eine Ref lexion auf dieses zweite Medium. Das kann auch ein institutionalisiertes Medium sein […] wie der Film. In diesem Sinne wäre eine Filmkomödie immer eine Ref lexion auf das Medium Film […]. (Engell 2012: 151)

Die Berücksichtigung medien- und selbstreflexiver Bezüge von Filmen unterscheidet Engell zufolge medienphilosophische von anderen Zugangsweisen. Zurück zu Annie Hall also und zu einigen repräsentativen Szenen: Mit dem Ausspruch »If life were only like this!«, beendet Alvy eine Sequenz, in der er sich mit Annie (Diane Keaton) gerade über ihre Sexprobleme streitet, während sie in einer Warteschlange in einem Kino auf Einlass warten. Hinter ihnen steht ein Medientheoretiker, der seine Begleiterin über die Differenz ›heißer‹ und ›kalter‹ Medien bei Marshall McLuhan belehrt. Alvy unterbricht den Monolog des Experten schroff mit dem Vorwurf, er hätte überhaupt keine Ahnung von McLuhan. Als dieser sich empört dagegen verwehrt, zückt Alvy einen unglaublichen Joker: er zieht Marshall McLuhan in leibhaftiger Gestalt hinter einem Kinoplakatständer ins Bild und lässt sich und uns von diesem bestätigen, dass der von ihm beschimpfte Experte in der Tat überhaupt keine Ahnung habe. In dieser Miniatur wird durch den deus-ex-machina-Effekt die Macht der visuellen Evidenzerzeugung des Films selbst evident gemacht – und zwar auf der performativen Ebene des sichtbaren Geschehens, auf der bildlichen Oberfläche. Keine tiefere Bedeutung ist versteckt, jede dualistische Metaphysik wird überflüssig: dass McLuhan leibhaftig im Bild erscheint und seine Drehbuchsätze spricht, ist alles, was zur Wahrheitsfindung hier nötig ist. In einer filmischen Geste verdichten sich so ein narrativer und medialer Bezug, was sich mit Engell als komisches (Selbst-)Reflexionsvermögen des Filmmediums identifizieren lässt. Annie Hall nutzt technisch Split-Screens, Flashbacks- and Forwards, Comicstrip-Einlagen und instantane Verwandlungen und Rückverwandlungen von Menschen – etwa von Erwachsenen in Kinder. Eine rein narrativ-lineare Reihung des ›und-dann‹ wird so zu-

Annie Hall (1977)

gunsten einer kaleidoskopischen Aufschichtung diverser Zeit- und Erzählebenen aufgelockert, die in einer artifiziellen Präsenzzeit zusammengezogen werden. Diese Entdifferenzierung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gelingt in Annie Hall unter anderem durch eine einfache Strategie: die konventionelle Innen-Außen-Differenz zwischen innerlich-subjektiv-mentalen Räumen und äußerlich-objektiven Handlungs- und Umgebungsräumen wird immer wieder unterlaufen. Dafür drei Beispiele: In einer Szene führt Alvy laute Selbstgespräche über die Problematik der Liebe und fragt Passanten auf der Straße, was sie davon halten. Ein junges Paar, das er nach seinem Glücksgeheimnis fragt, antwortet, sie seien halt beide anspruchslos, dumm und desinteressiert an allem. Einen anderen Mann fragt Alvy, ob seine Frau auch immer erst (so wie Annie) Drogen nehmen müsse, um sich auf Sex vorzubereiten. Alle Antworten bestätigen nur Alvys Misanthropie. Doch neben dieser psychologischen Dimension geht es hier um eine dislozierende Verräumlichung von Zeit. Alvy wischt die Menschen geradezu physisch aus dem Bild, indem er mitsamt der ihn verfolgenden Kamera von Person zu Person auf der Straße weiterzieht und dabei immer neue Figuren ins Bildzentrum holt, während er (und die Kamera) andere wieder ins Off des Bildraums versetzen. Diese dynamische Regulierung von On- und OffGeschehen verwandelt den Straßenraum in ein begehbares Gehirn, dem man bei der Assoziationsbildung und Verneinung zuschauen kann. Auf medialer Ebene wird mit dem angespielten Off auf eine stets mitanwesende, virtuelle Bildebene hingewiesen, die der sichtbaren Bildebene ihre lebendige Latenz verleiht (vgl. Fahle 2011). Dislozierende Verräumlichungstendenzen bestimmen auch die Szene, die in die Grundschulzeit von Alvy zurückführt. Ein harter Schnitt versetzt den erwachsenen Alvy in sein früheres Klassenzimmer wo er nun als Kind und als Erwachsener zu sehen ist. Dies macht den gezeigten Ort zu einem (zeit-)logisch unmöglichen und die Existenz von Alvy zu einer Tautologie. Auf Alvys Nachfrage, was denn aus ihnen in der jetzt schon vergangenen Zukunft geworden sei, antworten die Kinder der Reihe nach, obwohl sie das zum gezeigten Zeitpunkt natürlich noch lange nicht wissen konnten. Diese komische Diskrepanz zwischen Bild und Ton, dargestelltem Körper und Sprache indiziert, dass es sich bei der erscheinenden Präsenzzeit um eine (subjektiv) projizierte (von Alvy) und um eine (filmtechnisch) konstruierte handelt.

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Dislozierend wirkt auch die Szene des ersten Dates, in der Annie und Alvy nervös aufeinander einreden, während Untertitel ihre Befürchtung, nicht zu gefallen, vergegenwärtigen. Diese Einmischung der Untertitel in das On des Filmbildes veruneindeutigt dieses. Ist es ein Erinnerungsbild von Alvy? Waren die Untertitel mitgedacht von ihm, während er sich in der Lage befand? Und wie kann Alvy selbst im Bild vorkommen? Sind sie eher Hinweise auf einen allwissenden Erzähler? Solche Fragen bleiben offen. Gleichwohl verliert man nie die Orientierung; die Geschichte verläuft von der Verliebtheit zur irreversiblen Trennung von Annie und Alvy. Die Dislozierungen des Filmkörpers bleiben dem Regime klassisch-linearer Mimesis untergeordnet. Der Genrestatus wird in diesem Sinn von der Filmkomödie Annie Hall als ambivalenter verhandelt. Neben den inframedialen Reflexions- und Steuerungsleistungen sieht Engell auch intermediale Bezüge am Werke: Über solche auf das europäische Autorenkino hinaus sieht Engell mit der direkten Adressierung der Kamera vor allem eine Referenz auf das Medium des Fernsehens verbunden (vgl. Engell 2012: 167). Der flächige, nicht-perspektivische Bildauf bau und der vordergründig bleibende Ton wie in Reportagen und Nachrichtenformaten seien in Annie Hall dominant. Die zeitaufschichtende Flächigkeit der Bild- und Tonwelt simuliere filmisch eine Ästhetik und Medialität, wie sie für elektronische (TV-)Bilder, Kathodenstrahlröhren und später für die Fenster der Computeroberflächen typisch seien. Damit antizipiere Annie Hall die Ästhetik digitaler Bilder (vgl. Engell 2012: 167–169). Oberflächen- und Tiefenraum werden Engell zufolge nicht mehr unterschieden und so entfalle auch der Dualismus von materieller Oberflächlichkeit und tiefer liegender, geistiger Bedeutungsebene. »If life were only like this«! – wenn Engell Recht hat, trifft es vielleicht doch zu, dass Sein und Repräsentation zusammenfallen – allerdings weniger im Kino, als vielmehr in der Welt der digitalen Bilder. Für Engell stellt Annie Hall den Kinofilm unter die Aufsicht des Fernsehens und gelange damit zu einer Neuformierung des Komischen: Das Komische bekommt in A nnie H all einen neuen […] medialen Körper. […] Eben darin liegt aus der Sicht der Medienphilosophie die epochale Bedeutung dieses Films für die Entwicklung der Filmkomödie und womöglich des Komischen als entratenem Zwilling der Philosophie überhaupt. (Engell 2012: 168)

Annie Hall (1977)

Diese postkinematographische Ästhetik entspricht m. E. eher ganzen Programmstrukturen des Fernsehens und dem Querschnitt digitaler Formate im Internet als einzelnen Filmen. Aber selbst digitale Bilder sind, bei aller Elastizität und Plastizität, auf narrative Linearisierungen verwiesen, wo sie nicht gänzlich auf das Erzählen von Geschichten verzichten. Insofern ist ergänzend zu Engell zu konstatieren, dass auch die Seite der anachronistischen Zeitordnung von Annie Hall einen Vorschein auf eine postkinematographische Ästhetik gibt.

Referenzen Engell, Lorenz (2012): »Unter Aufsicht. Medium und Philosophie in Woody Allens Filmkomödie Annie Hall«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaft ZMK, 1/2/2012, S. 150–179. Ders. (2013): »Zeitagenten und Agentenzeit. Uhrenhandeln in Christian Marclays The Clock«, in: Ders./Hartmann, Frank/Voss, Christiane (Hg.): Körper des Denkens. Neue Positionen der Medienphilosophie, München: Fink, S. 305–319. Fahle, Oliver (2011): »Das Bild und das Sichtbare und das Serielle. Eine Bildtheorie des Fernsehens angesichts des Digitalen«, in: Elia-Borer, Nadja/Sieber, Samuel/ Tholen, Georg Christoph (Hg.): Blickregime und Dispositive audiovisueller Medien, Bielefeld: transcript, S. 111–133. Ruda, Frank/Völker, Jan (2015): »Vorwort«, in: Dies.(Hg.): Art and Contemporaneity, Berlin: Diaphanes, S. 8. Voss, Christiane (2010): »Die Farce lacht. Der exzentrische Filmkörper und Paolo Sorrentinos Il Divo«, in: Hanich, Julian/Pauleit, Winfried (Hg.): Lachen im Kino und auf der Leinwand, Nach dem Film Nr. 12, http//:www.nachdemfilm.de, [16.03.2018].

Christiane Voss, Prof. Dr., Professur Philosophie audiovisueller Medien an der Bauhaus-Universität Weimar. Arbeitsschwerpunkte: Medienphilosophie, Ästhetik, (Medien-)Anthropologie, Affekttheorie.

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MESSER IM KOPF (1978) Kay Kirchmann

Vorspann Wenn man sich heute, in einer Zeit, die in den letzten Jahren ganz anderen Erfahrungen mit Terroranschlägen ausgesetzt gewesen ist, deutsche Filme zum RAF-Komplex aus dem historischen Umfeld der 1970er Jahre ansieht, fällt die Patina, die diese inzwischen angesetzt haben, besonders ins Auge. Es ist wohl nicht entlegen, diesen Filmen – neben Reinhard Hauffs Messer im Kopf (1978) z.B. Deutschland im Herbst (1978), Die verlorene Ehre der Katharina Blum (1975), später noch Die bleierne Zeit (1981) – eine gewisse Larmoyanz, ein Denken in recht simplen Dichotomien und ein durchgehend kritisches Verhältnis zum damaligen Print- und TV-Journalismus zu attestieren. Die wechselseitige Radikalisierung zwischen den RAF-Terroristen und ihrem sogenannten ›Sympathisantenumfeld‹ einerseits, einer zunehmend hysterischen Öffentlichkeit und einer immer weiter aufgerüsteten Polizei andererseits, ließ für differenziertere Betrachtungen wohl auch kaum Raum. Die Spirale von Gewalt und Gegengewalt schlug sich zudem nieder in einer zunehmenden rhetorischen Eskalation auf allen Seiten des Spektrums, die auch in den Filmen gespiegelt wird. Forderungen nach Todesstrafe gingen ebenso leicht über Lippen und Tastaturen wie Injurien wie ›Bullenschweine‹ oder Ähnliches. Wer wie Lorenz und ich seine späte Jugendzeit in diesen Jahren und auch noch gerade in Nordrhein-Westfalen, das spätestens seit der Schleyer-Entführung in Köln im Mittelpunkt zahlreicher Fahndungen stand, verbracht hat, wird sich noch gut an das Klima einer umfassenden Paranoia erinnern, das die Relektüre dieser Filme automatisch wieder wachruft.

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Persönliche Rückblende Noch vor meinem 16. Geburtstag im annus horribilis 1977, dem Jahr der Schleyer-Entführung, der Kaperung der Lufthansa-Maschine Landshut und des anschließenden Todes der in Stammheim inhaftierten RAF-Mitglieder Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe, kam ich auf dem Rücksitz des elterlichen Autos in den Genuss einer der vielen, damals grundsätzlich mit Maschinenpistolen durchgeführten Verkehrskontrollen. Während der ältere Polizist die Fahrzeug- und Personenpapiere durchsah, hielt sein jüngerer Kollege unentwegt die Waffe auf uns gerichtet. Er zitterte dabei so stark, dass ein versehentlich ausgelöster Schuss alles andere als unwahrscheinlich war. Erst nach massivem Drängen meines Vaters forderte der ältere Polizist seinen Kollegen auf, wenigstens ein paar Schritte zurückzutreten, die Waffe blieb gleichwohl auf uns gerichtet. Als nach meinem Jugendausweis verlangt wurde, fragte mein Vater, ob sich die Polizisten nicht albern vorkämen, wenn sie mittels Jugendausweisen Terroristenjagd betrieben, woraufhin er zur Antwort erhielt, dass das deutsche Volk (!) diesbezüglich schon viel zu lange verwöhnt worden sei. In der Schule warben Lehrer wie auch einige Mitschüler in einer der vielen Diskussionen zum Thema ungeniert für höchstmögliche Bestrafungen der inhaftierten Mitglieder der sogenannten ›Baader-Meinhof-Bande‹. Heinrich Böll (ein angeblicher ›Sympathisant‹) und Jean-Paul Sartre (der Baader im Hochsicherheitsgefängnis in Stammheim besucht hatte) wurden öffentlich als ›nützliche Idioten‹ beschimpft, ihre Werke gerieten unter Generalverdacht.

Orts- und Zeitwechsel 1981 habe ich mein Studium an der Universität zu Köln begonnen (Lorenz war schon vor mir da), wodurch ich automatisch auch mit älteren Studierenden aus der ›linken Szene‹ in Berührung kam, die den ›Kampf‹ (zumindest in ihren Köpfen) weiterführten. Immer wieder wurde von nächtlichen Wohnungsdurchsuchungen gerade im Kölner Uni-Center durch Polizisten in Kampfmontur berichtet.1 1 | Das 1973 fertiggestellte Uni-Center, ein Wohnhochhaus im Süden des Campus, war zumindest zum Teil vom Kölner Studentenwerk für Studentenwohnungen angemietet worden, während die überwiegende Mehrheit der insgesamt 968 Wohneinheiten als Eigentumswohnungen verkauft wurde. Die Verbindungen des Gebäudes zum Themenkomplex Terror und Medien sind real gegeben. Tatsäch-

Messer im Kopf (1978)

Wer ein Auto mit dem amtlichen Kennzeichen ›BM‹ (Bergheim, ein Ort in der Nähe von Köln, ebenso wie Erftstadt-Liblar, wo Schleyer tatsächlich von der RAF festgehalten worden war) fuhr,2 wurde gerne Gegenstand denunziatorischer Anrufe bei der Polizei mit entsprechenden Konsequenzen wie etwa einer plötzlichen Umzingelung durch Polizeifahrzeuge auf einem der großen Plätze in der Kölner Innenstadt. Auch vier Jahre nach dem ›Deutschen Herbst‹ war die Paranoia immer noch gegenwärtig und der ›Kampf‹ wurde offenbar noch in vielen Köpfen auf allen Seiten weitergeführt.

Hauptfilm Hauffs Film Messer im Kopf spielt nicht in Nordrhein-Westfalen, sondern in einer nicht näher benannten westdeutschen Großstadt. Gedreht wurde er jedenfalls in München, dessen Straßenzüge auch einige Male ins Bild gesetzt werden. Der Biogenetiker Berthold Hoffmann (Bruno Ganz), der von allen Figuren kurioserweise durchgängig nur mit seinem Nachnamen angesprochen wird, gerät zufällig in einem Jugendzentrum, in dem seine Frau Ann (Angela Winkler) als Sozialpädagogin arbeitet, in eine Polizeirazzia. Dabei soll er angeblich den jungen Polizeibeamten Schurig (Udo Samel) mit einem Messer angegriffen und verletzt haben, der ihm daraufhin in Notwehr in den Kopf schoss. Als Hoffmann aus dem Koma erwacht, hat er sein Gedächtnis, seine Sprachfähigkeit und seine motorischen Kompetenzen fast vollständig verloren. Von den Medien und der Polizei, vor allem Schurigs Vorgesetztem Scholz (Hans Brenner), wird er während der langwierigen und mühsamen Rehabilitation als Terrorist abgestempelt, während die linke Szene um Hoffmanns Ehefrau, deren Geliebten Volker (Heinz Hoenig) und dem älteren Anwalt Anleitner (Hans Christian Blech) zwischen persönlicher Verteidigung lich hatte Adelheid Schulz 1977 dort eine konspirative Wohnung angemietet, aus der heraus die Entführung Hanns Martin Schleyers geplant wurde. Im Oktober dieses Jahres, offenbar relativ parallel zur Entführung der Lufthansa-Maschine Landshut, wurde die inzwischen verlassene Wohnung von GSG 9-Beamten gestürmt. Es entbehrt nicht einer gewissen Pikanterie, dass eine solche Stürmung wenige Jahre zuvor in D ie verlorene E hre der K atharina Blum gezeigt und eben just im Uni-Center gedreht worden war. 2 | Es hielt sich hartnäckig das Gerücht, dass Autos mit diesem Kennzeichen bevorzugt von RAF-Mitgliedern gefahren würden, weil seine Lettern auf Baader-Meinhof verweisen sollten.

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des zu Unrecht Beschuldigten und seiner Instrumentalisierung für das politische Projekt oszillieren. Irgendwann ist nicht mehr ganz klar, ob Hoffmann den Verwirrten nur noch weiterspielt, um nicht zwischen den Mühlsteinen der jeweiligen Interessenslagen zerrieben zu werden. Aus dem Krankenhaus entlassen, muss Hoffmann bald erkennen, dass die Polizei ihn nicht mehr länger belangt, nachdem ihr der Aktivist Volker in die Fänge geraten ist. Um die letzten Lücken seiner Erinnerung wieder aufzufüllen, sucht er Schurig in dessen Privatwohnung auf und ›spielt‹ mit ihm die damaligen Ereignisse noch einmal nach, nur mit vertauschten Rollen. Es wird deutlich, dass die Messerstiche Schurig tatsächlich nur sehr oberflächlich verletzt haben. In der letzten Einstellung des Filmes nimmt Hoffmann Schurigs Dienstwaffe aus dem Halfter und zielt auf ihn. »Ich bin du«, sagt er und lächelt.

Setting Das Setting von Hauffs kammerspielartig angelegtem Film wird insgesamt von tristen und anonymen Funktionsbauten (dem monumentalen Klinikbau, in dem Hoffmann untergebracht ist, oder seinem Forschungslabor) beherrscht. Das als ›konspirativ‹ verdächtigte Jugendzentrum wird überwiegend von außen und als reine Fassade gezeigt und strahlt auf seine Art eine ähnliche Hermetik und Opazität wie die anderen Gebäude aus. Interessanter ist da schon die semantische Aufladung der Wohnräume: Hoffmann, seine Noch-Ehefrau Ann sowie sein Rivale Volker leben in einer schicken und weitverzweigten Altbauwohnung (was unwillkürlich die Frage aufwirft, wie man als Angestellter in einem Forschungslabor und Sozialpädagogin die Mietkosten dafür auf bringt). Alles atmet bürgerliche Saturiertheit und etablierte Lebensverhältnisse, aus denen heraus der Flirt mit dem politischen Radikalismus offenbar leichter fällt. Krasser könnte der Gegensatz nicht ausfallen zur Wohnung des Polizisten Schurig, deren Enge und blümchenverzierte Tapeten ihn eindeutig als kleinbürgerliche (und damit per se der falschen Ideologie verdächtige) Existenz ausweisen. Hauffs Reflexion über das Verhältnis von unbescholtenen Bürgern, Polizei und ›linker‹ Szene ruft einige der klassischen Versatzstücke des damaligen Diskurses wieder auf. Auf der Grundlage eines Drehbuches von Peter Schneider, seinerzeit so etwas wie der ›linke Vorzeige-Literat‹ schlechthin, erscheint die Polizei in Messer im Kopf als geradezu davon besessen, den zufällig in ihr Blickfeld geratenen Hoffmann

Messer im Kopf (1978)

als Terroristen überführen zu können. Der Rekonvaleszent kann nur unter Mühen von den behandelnden Ärzten vor einer Verlegung in die U-Haft bewahrt werden; bei einer kurzen Gegenüberstellung nutzen der ermittelnde Kriminalpolizist Scholz und das vorgebliche Hoffmann-Opfer Schurig eine kurzfristige Abwesenheit der Ärzte, um den Wehrlosen zu malträtieren und zu einem Geständnis zu zwingen. Polizeibeamte bewachen die Flure des Krankenhauses und kontrollieren die Besucher – der Überwachungsstaat scheint seine Protagonisten überall zu haben.

Mediale Zukunft und ikonographische Tradition Dabei – und das dürfte Lorenz in erster Linie an diesem Film interessiert haben – offenbaren sich jedoch sehr interessante medienhistorische Ungleichzeitigkeiten. Während die Aktivisten des Jugendzentrums noch ganz auf die klassischen Revolutionsmedien wie Flugblätter setzen, scheinen die Printmedien (in offenkundiger Anspielung auf damalige Diffamierungskampagnen in den Blättern der Springer-Presse) durchgängig auf der Seite der Staatsgewalt zu stehen. Etwas unbestimmter wirkt dagegen die Rolle des Fernsehens, bietet doch ein Kamerateam um einen Journalisten, der seinerseits als Verweis auf den ARD-Journalisten Klaus Bednarz verstanden werden könnte, Ann Hoffmann immerhin die Gelegenheit, ein Plädoyer für die Unschuld ihres Mannes zu halten. Diese mediale Omnipräsenz, die selbst bis in die abgeschirmten Flure des Krankenhauses vordringt und dadurch Hoffmann zu so etwas wie einen ›Star‹ unter den übrigen Patienten werden lässt, verdeckt indes eine ganz andere mediale Revolution, die sich gleichsam hinter dem Rücken der Figuren zuträgt. Zwar kann sich Volker noch köstlich über den Polizeibeamten vor Hoffmanns Krankenzimmer amüsieren, der jeden Beobachter telefonisch beim BKA in Wiesbaden melden und erfassen lassen muss, und ihn fragen, wann die Polizei eigentlich mal auf schnurlose Telekommunikationsformen umzusteigen gedenkt – doch dieser Anachronismus ist nur eine Seite der Medaille. Bekanntlich reagierte der Staat in Gestalt des damaligen BKA-Chefs Horst Herold mit einer massiven technologischen Aufrüstung auf die Bedrohungen durch die RAF. Dies führte vor allem zu einer deutlich besseren Ausrüstung der Behörden mit Computertechnologie, die schließlich in die Etablierung der sogenannten Rasterfahndung mündete. Zunächst recht unauffällig zeigt Messer im Kopf in einigen Sequenzen Beamte an Computerbildschirmen, bevor dann eine

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Schlüsselszene des Filmes den konkreten Medieneinsatz zu Fahndungszwecken explizit macht: Ann und Volker geraten in eine Straßenkontrolle, deren latent aggressive Durchführung mich frappant an das oben geschilderte Jugenderlebnis erinnert hat. Während sich Polizisten und Durchsuchte noch wortreich beschimpfen, wechselt die Kamera in das abgedunkelte und stille Innere eines offenbar verdeckt operierenden weiteren Polizeiautos. Ohne dass ein handelndes Subjekt direkt gezeigt würde, laufen über die Computerbildschirme Fotos von Ann und Volker sowie in rascher Geschwindigkeit ablaufende Datenaktualisierungen. Während also an der Oberfläche der polizeilichen Ermittlungen – so scheint der Kontrast zwischen dem Handeln der Polizisten auf der Straße und der computergestützten Ermittlung im Inneren des zweiten Fahrzeuges zu suggerieren – noch die konservativen Methoden vorherrschen, hat sich in der Tiefenstruktur bereits ein epochaler Umbruch vollzogen – das Zeitalter der automatisch ablaufenden digitalen Datenauswertung hat begonnen.3 Deutet Hauff auf dieser Ebene in die Zukunft der Medienentwicklung, so greift er andererseits ikonographisch weit in die Vergangenheit aus. Der Rekonvaleszent Hoffmann trägt während seines gesamten Krankenhausaufenthalts einen weißen Kopfverband, was der Regisseur nutzt, um ihn in deutlicher Anlehnung an Jacques-Louis Davids berühmtes Gemälde Der Tod des Marat (1793) als Revolutionsmärtyrer zu inszenieren. Zu diesem Gemälde sind unzählige Forschungsbeiträge erschienen, sodass ich mich an dieser Stelle darauf beschränken kann, auf die einschlägigen Texte aus einem der wichtigsten medienwissenschaftlichen Sammelbände der späten 1980er Jahre zu verweisen (vgl. Engell/Vogelsang 1989).

3 | Wann tatsächlich die erste Rasterfahndung in der Bundesrepublik stattgefunden hat, ist unklar. Offiziell bekannt gegeben wurden ein erster Einsatz und Fahndungserfolg erst im Jahre 1979. Der Wunsch von Horst Herold, ein Buch über die RAF-Fahndung zu schreiben, wurde durch die Weigerung des damaligen Innenministers Gerhart Baum, Herold vollumfängliche Akteneinsicht hierfür zu gewähren, torpediert. Die darauffolgenden Meinungsverschiedenheiten zwischen Baum und Herold führten dazu, dass Herold 1981 mit 57 Jahren in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wurde. Womöglich hätte man aus diesen Akten genauere Rückschlüsse über etwaige frühere Rasterfahndungen gewinnen können.

Messer im Kopf (1978)

Abspann Die hier nur angedeutete Spannung zwischen medialer Zukunft und ikonographischer Tradition ist indes bezeichnend für die merkwürdige Unentschiedenheit in Hauffs Film, der letztlich keine klare politische und ästhetische Position bezieht. Vielleicht auch deshalb wurde er mit Filmpreisen (Filmband in Silber, FIPRESCI-Preis, NBR-Award etc.) nur so überschüttet, während der viel provokativere, ästhetisch anspruchsvollere und politisch intelligentere Die dritte Generation (1979) von Rainer Werner Fassbinder weder Filmförderung noch -preise erhalten hat. Those were the days …

Referenzen Deutschland im Herbst (BRD, 1978, Alf Brustellin et al.). Die bleierne Zeit (BRD, 1981, Margarethe von Trotta). Die dritte Generation (BRD, 1979, Rainer Werner Fassbinder). Die verlorene Ehre der Katharina Blum (BRD, 1975, Volker Schlöndorff/Margarethe von Trotta). Engell, Lorenz/Vogelsang, Bernd (Hg.) (1989): Der tödliche Augenblick. Wie Hören und Sehen vergeht. Köln: Runge.

Kay Kirchmann, Prof. Dr. phil., ist Leiter des Lehrstuhls für Medienwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Arbeitsschwerpunkte: Medientheorie, Medien und Zeitlichkeit, Kultur- und Wahrnehmungsgeschichte der Medien.

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FIRST CASE, SECOND CASE (1979) Markus Stauff Mit Krzysztof Kieślowskis Der Filmamateur und Abbas Kiarostamis First Case, Second Case entstehen 1979 zwei frühe Filme von Regisseuren, die sich in ihrer weiteren Arbeit wiederholt mit der Durchdringung von Film und Realität beschäftigen werden. Im Gegensatz zu der zeitgleich aufkommenden Kritik an Spektakel und Simulation zielen ihre Filme nicht auf das Aufdecken realitätsverstellender Illusionen, sondern auf eine Untersuchung des realitätsgenerierenden Potenzials von Fiktion und Bewegtbild (Butler 2012: 72, 75). Dass ich mich im Folgenden ganz auf Kiarostamis Beispiel konzentrieren werde, hat – neben dem zur Verfügung stehenden Umfang – drei Gründe: Zunächst stellt First Case, Second Case ein didaktisches Problem zentral und ist damit für die Würdigung eines akademischen Werdegangs naheliegend. Darüber hinaus wird die scheinbar schematische Abhandlung des didaktischen Problems durch die materiellen Medienoperationen des Films in eine experimentelle Konstellation überführt, die anstelle von Antworten vor allem Unsicherheit darüber schafft, was eigentlich zur Diskussion steht (vgl. Engell 2008). Schließlich aber weitet sich die experimentelle Anordnung von First Case, Second Case über die materiellen Medienoperationen hinaus aus: Insofern der Film durch die Iranische Revolution erfasst und verändert wurde, stellt er nicht nur das realitätsgenerierende Pozential von Film, sondern auch die mediumgenerierende Dynamik der Realität zur Diskussion.

Störenfriede und die Realität des Films Wie der Titel First Case, Second Case schon andeutet, hat Kiarostamis nur 53 Minuten langer 16mm-Film eine parallelisierende Struktur, die vier deutlich unterschiedene Teile umfasst. Er beginnt

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mit der Inszenierung einer didaktischen Situation: Ein Lehrer, der das Diagramm eines Ohres an die Tafel malt, versucht mehrfach ein aus der Klasse kommendes Klopfgeräusch zu unterbinden. Nachdem dies nicht klappt, stellt er die Schüler, die in den letzten beiden Reihen sitzen, vor die Wahl: Entweder jemand bekennt, wer der Störenfried ist, oder alle werden für eine Woche suspendiert. Sieben Schüler verlassen daraufhin geschlossen den Raum. Im zweiten Teil werden zunächst die Väter der Schüler nach ihrer Meinung zu deren Verhalten befragt. Der dritte Teil des Films ist dann der eigentliche First Case: In Fortführung der im ersten Teil gezeigten Unterrichtssituation wird jetzt gezeigt, dass einer der suspendierten Jungen nach zwei Tagen in den Klassenraum zurückkehrt und dem Lehrer verrät, wer der Störenfried war. In der Folge beurteilen Vertreter_innen verschiedener gesellschaftlicher Institutionen das gezeigte Verhalten in kurzen Statements. Als letzter Teil des Films folgt dann der Second Case: Zunächst wird ein alternatives Ende des ursprünglichen Films gezeigt – die sieben Jungen bleiben sieben Tage vor dem Klassenraum stehen, ohne den Störenfried preiszugeben. Danach wird dieses Verhalten wiederum kommentiert. Schon durch seine formale Anordnung hält First Case, Second Case die eigentliche Zielsetzung der gesamten Experimentalanordnung sowie die Relevanz ihrer einzelnen Elemente in der Schwebe. Der Lernprozess wird wie in vielen anderen Filmen Kiarostamis nicht durch eindeutige Instruktionen, sondern durch ein Dilemma initiiert (Saeed-Vafa/Rosenbaum 2003: 10). Darüber hinaus bleibt das Verhältnis von Realität und medialer Repräsentation, von Inszenierung und Dokumentation ungeklärt: Bringt nicht die Tatsache, dass der Lehrer ausgerechnet den Querschnitt eines menschlichen Ohres an die Tafel malt, die Schüler erst auf die Idee, Geräusche zu produzieren? Zudem lässt die Tonspur des Films das Klacken der Kreide auf der Tafel ganz ähnlich klingen wie das Störgeräusch aus dem Klassenraum. Überhaupt ist die Schule hier (wie im späteren Film Close-Up das Gericht [Vatulescu 2011]) ein Medium, das Verhalten so formatiert, dass es vom Film dann remediatisiert werden kann. Auch die einzelnen Äußerungen der interviewten Personen changieren zwischen verschiedenen Realitätsebenen. Nach der didaktischen Modellsituation – die mit ihrer sorgfältigen Cadrage und subtilen Spannungserzeugung deutlicherweise inszeniert ist – wer-

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den zunächst die Väter der suspendierten Jungen befragt, als würde es sich um einen Dokumentarfilm handeln. Zugleich bleibt durch den gesamten Film hin die filmische Apparatur sichtbar: In fast allen Einstellungen der Interviewten ist zumindest eine Spule des Projektors sichtbar; zwischen den einzelnen Statements wird gelegentlich eine frontale Sicht auf das Objektiv eingefügt; mehrfach beginnt ein Statement mit Metakommunikation (»Kann ich jetzt sprechen?«). Immer wieder lenkt First Case, Second Case die Aufmerksamkeit vor allem auf die unterschiedlichen Weisen, in denen über einen Film gesprochen werden kann. Ein Vater geht gar nicht auf die Frage ein, und wiederholt nur immer wieder, dass sein Sohn niemals den Unterricht stören würde; ein Experte deutet die filmisch ›dokumentierten‹ Gesten des Jungens, der wieder in den Klassenraum zurückkehrt, als Hinweise auf dessen Emotionen; manche Äußerungen adressieren das Verhalten als Modelle für pädagogische dos and don’ts, andere als Symptome für die gesellschaftlichen Konflikte im prärevolutionären Iran. Indem die Expert_innen in Zwischentiteln mit ihren Funktionen eingeführt werden, bleibt zudem in der Schwebe, ob hier persönliche und situative Meinungen oder die standardisierten Positionen einer Institution geäußert werden. Die materiellen Medienoperationen von First Case, Second Case schaffen somit vor allem Uneindeutigkeiten: Der Film zeigt nicht nur vielfältige Reaktionen auf zwei alternative Verhaltensweisen, ohne eine davon durch auktoriales closure als bessere zu markieren. Darüber hinaus verundeutlicht er auch noch in den tatsächlich repräsentierten Antworten und Stellungnahmen, was deren Referenzpunkt ist. Der Film transformiert – ähnlich wie es Lorenz Engell für Kiarostamis späteren Quer durch den Olivenhain gezeigt hat (Engell 2002) – verschiedene Realitätsebenen ineinander. Während die soziale Situation sowohl für den Lehrer wie für die Jungen als paradox erscheinen mag, inszeniert der Film Indifferenz gegenüber eindeutigen Klassifizierungen und Festlegungen: Der Film eröffnet somit Fragen und mögliche Einsichten, die bei der Planung des Films (und der Errichtung seiner Experimentalanordnung) noch gar keine Rolle spielten.

Die Realität als Störenfried Die Verwicklungen von First Case, Second Case in die außerfilmische Realität, die den Film materiell und symbolisch transformiert, spitzt diesen experimentellen Aspekt in einer Weise zu, die Fragen

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zur generativen Vermischung von Film und Realität im noch radikaleren Sinne stellt. Zunächst ist der Film im Rahmen von Kiarostamis Arbeit für das Zentrum für die intellektuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen (Kanun) entstanden. Er hatte dort ohne viele Erfahrungen als Filmemacher begonnen. Neben recht eindeutig didaktischen Filmen (etwa über Hygiene) hatte er genug Spielraum, um Filme zu drehen, die ähnlich wie First Case, Second Case Kinder und Jugendliche mit komplizierten Entscheidungen und dem Widerspruch zwischen Wünschen und gesellschaftlichen Konventionen konfrontieren (eine Übersicht findet sich bei Elena 2005). Interessant für den hier besprochenen Zusammenhang ist, dass die Produktion didaktischer Filme für Kiarostami selbst einen Lernprozess darstellte: Er nutzte die Arbeit an den kurzen Filmen, um seine Fertigkeiten und Sensibilitäten als Filmemacher zu entwickeln und um andere Personen mit dem Filmemachen vertraut zu machen (Saeed-Vafa/Rosenbaum 2003: 8 f, 12). Wenn man bedenkt, wie sehr didaktische Situation und pädagogische Fragestellung auch den späteren, außerhalb des Kanun entstandenen Filmen von Kiarostami ihre Form geben (Butler 2012: 1966), dann kann First Case, Second Case als einer von vielen Transformationsschritten gelten, die Realität und Film in einen wechselseitig generativen Zusammenhang bringen. Selbst die Indifferenz gegenüber der Unterscheidung von Realität und Film ist eine, die sich aus der (notwendigerweise medienbasierten) didaktischen Situation in die filmische Inszenierung übersetzt. Kiarostamis Filme machen in prägnanter Weise deutlich, dass (und wie) Formen zwischen ästhetischen und sozialen Praktiken hin- und herwandern (Levine 2016: 5). Das Beispiel First Case, Second Case geht aber noch einen Schritt weiter, weil nicht nur der Austausch seiner Formen mit sozialen Situationen, sondern die Transformation der materiellen Medienoperationen selbst dazu beiträgt, das generative Pozential von Film zu reflektieren: Die Form, in der First Case, Second Case heute vorliegt, ist nämlich nicht seine ursprüngliche. Als der Film im Januar 1979 fertiggestellt war, setzte die Iranische Revolution ein. Kiarostami drehte daraufhin eine neue Fassung des Films und ließ Funktionsträger_innen der Islamischen Republik das Verhalten kommentieren. Es mag der Ambivalenz von Kiarostamis Filmen angemessen sein, dass über die genauen Unterschiede der Fassungen wenig eindeutige Informationen zu erhalten sind. Klar ist allerdings, dass die

First Case, Second Case (1979)

gesamte Aufteilung der pädagogischen Situation in zwei gegensätzliche Fälle überhaupt erst für diese zweite Version gedreht wurde. Die zwei Alternativen, die im Film zur Diskussion gestellt werden, überkreuzen sich somit in komplexer Weise mit den alternativen Handlungsanforderungen sowie den formalen Normen und Konventionen zweier politischer Regimes. Wie in der filmischen Form selbst, sind diese Alternativen aber kaum eindeutig klassifizierbar. Die auftretenden Figuren veränderten auch nach der Fertigstellung der zweiten Fassung ihren Status. Sedegh Ghotbzadeh beispielsweise, der hier noch als Chef des Staatsfernsehens auftritt, wurde schon 1982 auf Grund von Spionagevorwürfen hingerichtet (Saeed-Vafa/Rosenbaum 2003: 64). Der Film ist somit auch ein in sich brüchiges Dokument eines historischen Transformationsprozesses und seiner Spannungen (Elena 2005: 38). Was er dokumentiert, bleibt allerdings in Veränderung. Die historischen Konstellationen und Ereignisse tragen demnach genauso wie die materiellen Medienoperationen zu dem Status des Films als offenes Experiment bei. Filmbilder können als mobilisierte Blicke auf die Welt (anstatt als Repräsentationen) fungieren (Nancy 2001: 16), wenn nicht nur die Medialität der sozialen Situation, sondern auch die Eingebundenheit der visuellen Formen in die historischen Kontingenzen berücksichtigt wird. Dies gilt nicht zuletzt, weil die Realereignisse auch die schlichte Verfügbarkeit des Films strukturierten: First Case, Second Case wurde im ersten Jahr der Revolutionsregierung noch gezeigt und gewann sogar einen Preis auf einem Teheraner Filmfestival, wurde dann aber verbannt. Erst 2003 im Rahmen einer Retrospektive in Turin wurde er wieder zugänglich und später – als einer der wenigen Kiarostami-Filme – online auf Vimeo zugänglich gemacht, was wiederum ermöglichte, dass er hier in einem filmhistorisch orientierten Band gelandet ist. In dieser generativen Wechselbeziehung von filmischer Form und außerfilmischer Realität verschränken sich auch Intentionalität und Kontingenz. Kiarostami plädierte für ein interaktives und unvollständiges Kino – als poetisches Prinzip, das den Zuschauer_innen den größtmöglichen Spielraum lässt, aber eben auch als Reaktion auf die immer drohende Zensur. Verschiedene Fassungen ein und desselben Films können deshalb uneindeutig bleiben zwischen ›director’s cut‹ und externen ›Zwängen‹. Als viele Reaktionen das metafiktionale Ende seines Der Geschmack der Kirsche kriti-

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sierten, ließ Kiarostami bei Kopien der italienisch synchronisierten Fassung das Ende entfernen, um spielerisch die Reaktionen des Publikums zu testen (Saeed-Vafa/Rosenbaum 2003: 29). Mit ihrer Indifferenz gegenüber herkömmlichen Unterscheidungen machen die materiellen Medienoperationen von First Case, Second Case Realität und Medialität als gleichberechtigte Faktoren von Lernen und Lehren einsichtig. So wie allerdings der Störenfried im Film eine Kette von Mediatisierungen auslöst – und reale Reaktionen produziert–, so ist die Realität ein Störenfried, der in der Veränderung der filmischen Experimentalanordnung neue Fragen aufwirft.

Referenzen Butler, Rex (2012): »Abbas Kiarostami: The Shock of the Real«, in: Angelaki 17,4, S. 61–76. Close-Up (Nema-ye Nazdik, IR, 1990, Abbas Kiarostami). Der Filmamateur (Amator, PL, 1979, Krzysztof Kieślowski). Der Geschmack der Kirsche (Ta‘m-e gīlās / Le Goût de la cerise, IR/F, 1997, Abbas Kiarostami). Elena, Alberto (2005): The Cinema of Abbas Kiarostami. London: Saqi. Engell, Lorenz (2002): »Paradoxie, Indifferenz und soziale Existenz in Abbas Kiarostamis Quer durch den Olivenhain und Yves Barels Paradoxe et Système«, https://www.uni-konstanz.de/pa ech2002/zdb/beitrg/Engell.htm/, [15.12.2002]. Ders. (2008): »Fernsehen mit Unbekannten. Überlegungen zur experimentellen Television«, in: Grisko, Michael/Münker, Stefan (Hg.): Fernsehexperimente. Stationen eines Mediums, Berlin: Kadmos, S. 15–45. Levine, Caroline (2016): Forms. Whole, Rhythm, Hierarchy, Network, Princeton/Oxford: Princeton University Press. Nancy, Jean-Luc (2001): L’évidence du film: Abbas Kiarostami – The Evidence of Film, Bruxelles: Gevaert. Quer durch den Olivenhain (Zire darakhatan zeyton, IR, 1994, Abbas Kiarostami). Saeed-Vafa, Mehrnaz/Rosenbaum, Jonathan (2003): Abbas Kiarostami, Urbana/Chicago: University of Illinois Press. Vatulescu, Cristina (2011): »›The Face to Face Encounter of Art and Law‹: Abbas Kiarostami’s Close-Up«, in: Law and Literature 23, 2, S. 173–94.

First Case, Second Case (1979)

Markus Stauff ist Assistant Professor Media Studies an der Universität Amsterdam (UvA). Forschungsschwerpunkte: Fernsehen und Digitale Medien, Cultural Studies, Governmentality Studies, Mediensport.

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Genres und Gesetze Einen Western zu drehen, bedeutet, das Kino neu zu erfinden. So hat Raymond Bellour einmal schön geschrieben (vgl. Bellour 2007: 80), und er trifft hiermit freilich einen Punkt, der in letzter Konsequenz die Ontologien von Kino und Genres per se tangiert. Denn wie wir seit Jacques Derridas Ausführungen zu »La loi du genre« wissen, gibt es kein ästhetisches Objekt ohne Genrestrukturen, so wie es für die Ästhetik kein Genre ohne konkrete Objekte gibt. Anders gesagt: Es gibt keine Kunst ohne Genrestrukturen, so wie es für die Kunst kein Genre ohne konkrete Kunstwerke gibt. Diese Teilhabe aber darf nicht als Einschluss von Merkmalen verstanden sein. Es gilt hier Derrida zu folgen, der gegen die Begrenzung einer essenzialisierenden Zugehörigkeit bekanntlich einen offenen Genre-Begriff proklamiert: »Und zwar nicht nur wegen einer Überfülle an Reichtum oder an freier, anarchischer und nicht klassifizierbarer Produktivität, sondern wegen des Zugs der Teilhabe selbst, wegen der Wirkung des Codes und der Gattungsmarkierung.« (Derrida 1994: 260) Derrida argumentiert gegen ein purifizierendes Gesetz des Genres, das mit dem Pathos der ›Reinheit‹ taxonomieren will und damit unweigerlich einen legitimierenden Diskurs perpetuiert. Dem Gesetz gegenüber situiert Derrida ja einen Zug der Teilhabe, der eben keinen präskriptiven Impetus besitzt, sondern immer ›unrein‹ anzusiedeln bleibt zwischen Innen und Außen. Dieser Zug wird stets durch sein Gegenteil konstituiert und unterstreicht damit, dass weder eine Endlichkeit der Genres existiert noch alle Genres auf Basis einer definierenden Logik zu deduzieren wären. Für das einzelne ästhetische Objekt bedeutet dies, dass es niemals in einem Genre aufgeht, dennoch immer aber generische Relationen ausbildet. Somit lässt sich

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ein spezifisches Genre nie an einem einzelnen Objekt festmachen, ebenso wenig wie an einem einzelnen Objekt alle Merkmale eines spezifischen Genres zu demonstrieren sind. Stattdessen spielt jedes ästhetische Objekt immer mit verschiedenen Genres, ebenso wie es vor der Matrix verschiedener Genres einer Lektüre unterzogen werden kann. Genres bilden aus dieser Perspektive keine ›realen‹ Entitäten, sondern sind nur als »Spuren« (Derrida 1983: 77 ff.) erkennbar, deren Bedeutung immer aufgeschoben bleibt. Genres differieren für Derrida folglich sowohl zueinander als auch immer in und zu sich selbst. Gerade die Unmöglichkeit ›reiner‹ Genres bildet das »Gesetz der Gattung« (vgl. Derrida 1994: 245 ff.) und evoziert eine prinzipiell unendliche Vielfalt der Genres. Jedes ästhetische Objekt steht stets in einem generischen Kontext, erschöpft sich darin aber niemals vollständig. Lorenz Engell hat dieses Verhältnis in einer Reihe von wichtigen Arbeiten (vgl. Engell 2010; Engell 2012; Engell 2013) sehr treffend als eine »Ontologie der Nicht-Identität« (Engell 2010: 282) beschrieben. Denn gerade weil sich jedes ästhetische Objekt notwendigerweise gegenüber dem Gesetz der Genres situiert, muss es zugleich von seinem Regelwerk abweichen, um die Teilhabe an der generischen Idee eben qua Abweichung zu demonstrieren. Dies wiederum führt direkt zur zentralen These der vorliegenden Miniatur: dass jedes ästhetische Objekt die Geschichte der Genres immer weiter-, über- und umschreibt. Einen Western zu drehen also, das bedeutet, das Kino neu zu erfinden. Im Jahr 1980 hat der kalifornische maverick director Walter Hill das Kino noch einmal neu erfunden. In The Long Riders – dem ersten Western im Wettbewerb der Filmfestspiele von Cannes, der mithin, ganz hegelianisch gedacht, offiziell den Tod des Westerns als Genre markiert – bleibt die genrekonstitutive Konfrontation von Kultur und Natur gänzlich ausgespart. Nicht Eroberung und Erschließung eines Kontinents stehen im Zentrum, sondern vielmehr der Riss durch die USA nach Ende des Sezessionskrieges. Visuell erinnert der Film nur bedingt an das klassische Western-Kino: Long shots, welche die Weite des Landes betonen, gibt es kaum. Schon in der ersten Einstellung, als die long riders durch Missouris grasige Hügellandschaft galoppieren, werden sie zu Reisenden zwischen Diesseits und Jenseits stilisiert. Hill interessiert sich nicht für Bewegung durch den Raum, sondern für Bewegung als Modus von Erfahrung. Die long riders reiten nur durch einen zweidimensionalen Raum, da extreme Teleobjektive alles Sichtbare radikal komprimie-

The Long Riders (1980)

ren. Die langen Brennweiten reduzieren den virtuellen Abstand von der Kamera zum Abgebildeten, so dass ein Eindruck großer Bilddichte sich konstituiert. Nicht um mimetische Reproduktion physischer Realität geht es, sondern um den Old West als künstlichen Kosmos: ein Raum der Phantasie dominiert. Immer wieder lässt The Long Riders dann den Schnitt die Aufnahmen der Kamera in ein Kaleidoskop mobiler Bildteilchen fragmentierten, wobei der temporale Modus permanent zwischen Slow Motion und Echtzeit oszilliert. Jedoch geht es hier, völlig anders als bei Akira Kurosawa oder Sam Peckinpah, die oft so ganz falsch mit Hill in Verbindung gebracht werden, keineswegs um eine Überhöhung der Wirklichkeit denn vielmehr um das exakte Gegenteil: eine onirische Verfremdung in lyrischer Traumzeit. Das Kino von Hill kennt nur zwei Genres: Western- und Noir-Fiktion. Beide sind bei ihm bestimmt durch das Gesetz einer radikalen Stilisierung, die ich seit vielen Jahren immer wieder neu auf den Begriff zu bringen versucht habe (vgl. Ritzer 2009; Ritzer 2015; Ritzer 2016). Das Kino der generischen Stilisierung funktioniert als Anagramm der gegenständlichen Realität, im Sinne einer spielerischen Permutation. Denn es arbeitet nicht mimetisch, sondern markiert: »Es ist das Leben selbst in dem, was an ihm nicht darstellbar ist.« (Derrida 1976: 353) Die Nachahmung des Lebens wird ersetzt durch nachahmendes Leben. Anders gesagt: Es geht nicht um die Repräsentation von etwas Eigentlichem, die Repräsentation selbst formt das Eigentliche. Ein besonderer Blick wird entscheidend, der eine Ordnung bestimmt im Chaos des Möglichen und so sichtbar werden lässt, was ansonsten verdeckt bliebe. Bei Hill ist das Reale fiktiv und die Fiktion real. Die Referenzebene verschiebt sich vom reproduzierenden hin zum artifiziellen Erscheinen. In eben diesem Sinne aber wird ein autoreflexiver Diskurs des Generischen erst möglich: Er muss, wie Derrida gezeigt hat, »die Form dessen haben, worüber er spricht« (ebd.: 433). Er muss also das Generische im Material der Genres selbst durchdringen. Kurz bevor er Jesse James erschießt, sagt sein Mörder Bob Ford: »I shot Jesse James.« Genau das ist freilich wiederum der Titel von Samuel Fullers Debütfilm von 1949, einem Western über das tragische Schicksal von Bob Ford. Ich weiß, dass Ihr wisst, dass Ihr in einem Western über Jesse James sitzt, sagt Hill auf diese Weise, und nun wisst Ihr auch, dass ich weiß, dass Ihr es wisst. In The Long Riders wird der Western ontologisch selbst thematisiert, weil

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dasjenige mit Spuren des Erzählens versehen ist, was vor der kinematographischen Apparatur an Mise en Scène stattfindet. Hill öffnet im generischen Gesetz so eine Lücke zwischen Film und Publikum, die als Teil dessen erscheint, was Derrida für die Malerei in seiner Kant-Lektüre als Parergon beschrieben hat. Das Parergon wirkt supplementär, es »tritt dem ergon, der gemachten Arbeit, der Tatsache, dem Werk entgegen, zur Seite und zu ihm hinzu, aber es fällt nicht beiseite, es berührt und wirkt, von einem bestimmten Außen her, im Inneren des Verfahrens mit; weder einfach außen noch einfach innen« (Derrida 1992: 74). Es kollabiert der Raum zwischen Bewegungsbild und Betrachtersubjekt bei Hill. Er schafft ein Parergon, das nicht zum Außen des Films und nicht zum Innen der Zuschauersubjekte gehört, sondern Anteil an beiden hat.

Neo-Western oder die Neuerfindung des Kinos The Long Riders markiert den Startpunkt der langjährigen Zusammenarbeit zwischen Hill und dem Musiker Ry Cooder. Es sind vor allem Cooders Kompositionen, die den Film als traditionsbewussten Western zu erkennen geben. Er kontextualisiert auf der Tonspur jene abstrakte Bildkomposition, die so sehr abweicht von der Ikonographie des klassischen Westerns. Mithin fällt ein neuer Blick auf das alte Genre, wenn die traditionelle Ausdrucksform des Westerns auf andere populäre Erscheinungsformen seines Mythos trifft. Ein Mythos, der nicht vergegenwärtigt, sondern gegenwärtig wird. Von den ersten Einstellungen an begleiten Banjo, Mandoline und Gitarre alles Geschehen in The Long Riders. Es sind Instrumente, die einen eigenen sinnhaften Raum konstituieren. Die Musik bezieht sich dabei nicht auf die Weite des Landes, sondern vielmehr schon auf die Landschaft der Legende. In The Long Riders, daneben aber auch in weiteren Meisterwerken wie The Warriors (1979), Streets of Fire (1984), Trespass (1992), Undisputed (2002) oder Bullet to the Head (2012) sind die eingesetzten Songs exakt auf den Plot der Filme abgestimmt. Aber sie erklären nicht. Sie dienen eher der Reflexion, sie aktivieren und intensivieren. Die Musik unterstreicht nicht nur das Gezeigte, sie verweist auch auf eine Spannung hinter den Bildern, die zurückwirkt auf das Sichtbare. Sie arbeitet sowohl performativ als auch parergonal, d.h. sie sorgt für einen Rahmenwechsel, dessen traditionelle Bestimmung, mit Derrida gesprochen, es ist, »sich nicht abzuheben, sondern zu verschwinden, zu versinken, zu verblassen, in dem Augenblick, wo e[r] seine größte Energie

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entfaltet« (ebd.: 82). Der Mythos des Westerns wird demnach nicht aufgehoben, sondern als Mythos differenziert. So ist der Film tatsächlich ein Neo-Western: d.h. ein Film, der Traditionelles unter Gegebenheiten der Moderne rekombiniert, das Alte im Neuen bricht. Ein Film also, der vom Ende seines Genres zeugt und simultan einen Neuanfang vornimmt. Hill ist der moderne Traditionalist des Kinos. Sein Blick erneuert traditionelle Genres: mal durch eine außergewöhnliche Geste, mal durch eine außergewöhnliche Perspektive, mal durch eine außergewöhnliche Ordnung im Raum. Stilisieren heißt bei ihm immer auch Modulation, d.h. eine Befragung und Übermalung, Lektüre und Re-Lektüre des Zitierten. Seine Western etwa, neben The Long Riders auch Extreme Prejudice (1987), Geronimo. An American Legend (1993), Wild Bill (1995), Last Man Standing (1996) und Broken Trail (2006), sie alle sind radikal selbstreflexive Genre-Arbeiten, die gleichwohl dennoch ohne jegliche ironisierende Anführungszeichen operieren. Sie machen ihre Referenzen nicht zu Bildungsgütern; d. h anstatt zum Thema der Filme zu werden, bleiben sie stets als zusätzliche Bedeutungsebene unter die Geschichten gelegt. Engell hat in seinen Münchener Film-Vorlesungen bei Stanley Kubrick ein ähnliches Interesse für das jeweilige »Herz des Genres« ausgemacht (Engell 2010: 254). Ein verwandter Zugang existiert auch bei Hill, dieser aber zielt letztlich weniger wie bei Kubrick auf barocke Symbolisierung, sondern stärker auf ein konservierendes Destillieren der generischen Gesetze ab. Bei Hill heißt Kino stets die Arbeit mit und an der Filmgeschichte von Classical Hollywood. Er wolle, sagt er selbst, die Menschen an Vergessenes erinnern: »Jeder meiner Filme ist irgendwie ein Western.« (Zit. n. Höbel/Hüetlin 1996: 260) Neo-Western also: Er versucht unter den Bedingungen der Gegenwart zu bewahren, was in der Vergangenheit als erstes aller Genres das Hollywood-Kino bis in die 1960er Jahre bestimmt hat. Hill greift auf das ästhetische Material des Classical Hollywood zurück, und stets bestimmt eine moderne Kombination traditioneller Genres die Logik aller filmischen Erscheinungen. Einen Western zu drehen, bedeutet, das Kino neu zu erfinden. Wie stets bei Hill geht es in The Long Riders nicht darum, äußere Wirklichkeit zu erretten, sondern vielmehr Formen des Kinos. Gegenstand seiner Stilisierung sind Mythologie und Ästhetik des klassischen Westerns. Er löst dessen Formen heraus aus ihrem ursprünglichen Rahmen und überführt sie in eine Gültigkeit zweiter

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Ordnung. Derrida hat mit seinem Konzept der différance auf eine solche Praxis hingewiesen: einen Ort von Dynamik und Fluss. Das Kino von Hill scheint exakt dort situiert, in der différance zwischen den Genres. Die différance, führt Derrida aus, »bewirkt, daß die Bewegung des Bedeutens nur möglich ist, wenn jedes sogenannte ›gegenwärtige‹ Element, das auf der Szene der Anwesenheit erscheint, sich auf etwas anderes als sich selbst bezieht, während es das Merkmal (marque) des vergangenen Elementes an sich behält und sich bereits durch das Merkmal seiner Beziehung zu einem zukünftigen Element aushöhlen läßt« (Derrida 1988: 39). Bedeutung kann so nur entstehen, wenn die Gegenwart eine Relation zum Vergangenen besitzt, das sich ereignet hat, sowie zum Zukünftigen, das sich ereignen kann. Übertragen auf das Kino und seine Genres scheint der Moment der Signifikation damit fortwährend gebunden an Konventionen, die sich in der Vergangenheit herausgebildet haben und in der Zukunft umgebildet werden können. Der Neo-Western geht hervor aus Traditionen, schafft aber durch den modernen Zugriff spezifische Nuancen einer différance, die im Konventionalisierten bereits das Innovative anlegt. So entsteht eine neue Konstellation, zugleich generisch und nicht-generisch – ein hybrider Zwischenraum, atopisch in seiner Struktur. Mit dem Neo-Western, Walter Hill und Jacques Derrida können wir daher ganz unapologetisch proklamieren: Das Kino ist tot – lang lebe das Kino!

Referenzen Bellour, Raymond (2007): »Das große Spiel«, in: Rebhandl, Bert (Hg.): Western. Genre und Geschichte, Wien: Zsolnay, S. 71–81. Broken Trail (USA/C, 2006, Walter Hill). Bullet to the Head (USA, 2012, Walter Hill). Derrida, Jacques (1976): Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Ders. (1983): Grammatologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Ders. (1988): Randgänge der Philosophie, Wien: Passagen. Ders. (1992): Die Wahrheit in der Malerei, Wien: Passagen. Ders. (1994): Gestade, Wien: Passagen. Engell, Lorenz (2010): Playtime. Münchener Film-Vorlesungen, Konstanz: UVK.

The Long Riders (1980)

Ders. (2012): »Versuch und Irrtum. Film als experimentelle Anordnung«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft LVII/2, S. 297–306. Ders. (2013): »The Boss of It All. Beobachtungen zur Anthropologie der Filmkomödie«, in: Zeitschrift für Medien und Kulturforschung IV/1, S. 101–118. Extreme Prejudice (USA, 1987, Walter Hill). Geronimo. An American Legend (USA, 1993, Walter Hill). Höbel, Wolfgang/Hüetlin, Thomas (1996): »Den besten Gag nie am Anfang«. In: Der Spiegel 44 (28.10.1996), S. 260–262. Last Man Standing (USA, 1996, Walter Hill). Ritzer, Ivo (2009): Welt in Flammen. Walter Hill, Berlin: Bertz + Fischer. Ders. (2015): »Badiou to the Head. Zur In-Ästhetik transmedialer Genre-Autoren-Politik oder Wie die Graphic Novel-Adaption Bullet to the Head eine materialistische Dialektik denkt«, in: Ders./ Schulze, Peter W. (Hg.): Transmediale Genre-Passagen. Interdisziplinäre Perspektiven, Wiesbaden: Springer VS, S. 89–135. Ders. (2016): »Am Nexus des Weltkinos. Zu Theorie und Ästhetik von Walter Hills orientalem Genre-Auteurismus«, in: Rabbit Eye 8, S. 135–151. Streets of Fire (USA, 1984, Walter Hill). The Warriors (USA, 1979, Walter Hill). Trespass (USA, 1992, Walter Hill). Undisputed (USA, 2002, Walter Hill). Wild Bill (USA, 1995, Walter Hill).

Ivo Ritzer, Prof. Dr., ist Juniorprofessor für Medienwissenschaft an der Universität Bayreuth. Arbeitsschwerpunkte: Medienanthropologie, Medienphilosophie, Medienkulturtechnikforschung.

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DIVA (1981) Michael Cuntz

Der Streit zwischen neuen und alten Richtungen in der Kunst ist in manchen Punkten nichts anderes als ein Streit der Einstellungen – und wer seine Einstellung nicht aufgeben will, der wird schon aus diesem Grunde die Werke anderer Kunstrichtungen mit einem falschen Maßstab messen. (Geiger 1911: 29)

Ihre Einstellung nicht aufzugeben, sondern äußerst feindselig gegen das Neue zu behaupten, war die Reaktion der maßgeblichen Kritiker, allen voran der hohepriesterlichen Scharfrichter der Cahiers du cinéma, gegenüber Jean-Jacques Beineix’ Erstlingswerk Diva. Eingestellt war man auf das cinéma d’auteur, Komplexität à la Nouveau Roman (Alain Resnais), Realismus, Handlung, Sozialstudien und Botschaften.1 All dies schien Diva zu verweigern. Und wohl genau deshalb darf dieser Film, zusammen mit Brian de Palmas Blow up!, Anspruch erheben, im Kinojahr 1981 für etwas gesorgt zu haben, das mit einiger Verzögerung Epoche gemacht und den kinematographischen Stil der achtziger Jahre mitgeprägt hat. Auch der Erfolg beim Publikum stellte sich erst allmählich ein, als der Film bereits ein Jahr lang (!) in einigen Pariser Kinosälen gelaufen war. Doch nicht nur was die ökonomischen Verwertungszyklen anbetrifft, wären ein Film wie Diva und seine Wirkung heute schlicht undenkbar. Er konnte wohl nur in den Spielstätten eines 1 | Für eine Übersicht über die zeitgenössischen Kritiken, in den sich vor allem eine puritanische Ökonomie der Charakter- und Plotfixierung, Narrations-, Intentions- und Sinngetriebenheit enthüllt, vgl. Journot 2004, S. 15 ff.

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vergangen Kinozeitalters funktionieren, vorzugsweise in Spätvorstellungen und den ihnen eigenen perzeptiven Zuständen. In vielerlei Hinsicht wirkt der Film wie aus der Zeit gefallen. Ihn heute zu sehen, hat etwas von einer retrofuturistischen Erfahrung: Während Elemente seiner Ästhetik überdauert haben, gilt für den Film als Ensemble: ça date. Und dies kann man auch bedauern, denn was so ›überholt‹ wirkt, zur vergangenen Zukunft geworden ist, Diva zum period pic macht, sind Unbefangenheit, alberner Humor (»Ça, c’est une ouverture« – »Dépêche-toi, parce que moi, je vais fermer«), Naivität und gesuchte Unbeholfenheit années quatre-vingts nicht nur des Protagonisten Jules – Lichtjahre trennen die staunenden Augen (und Ohren) des am Beginn einer Initiation Stehenden vom desillusionierten Blick eines Rick Deckard –, sondern auch von Szenen und Dialogen. Diese Seite macht seinen fremdartigen Charme aus und prägt den Film nicht weniger als das, wofür er in der Regel diskutiert wird. Ein Jahr vor Blade Runner – die Dreharbeiten zu Scotts Film begannen am 9. März 1981, zwei Tage, bevor Diva in Frankreich in die Kinos kam – entwickelt dieser Film bereits eine neue Ästhetik; man kann sie, wenn es hilft, postmodern nennen (Jameson 1982), aber »neobarock« (Bassan 1989) ist interessanter, weil es das Aisthetische, die starken Kontraste, aber auch den Exzess betont. Eine Ästhetik, die Farbe vor allen Dingen in neonleuchtenden Nachtstücken zelebriert. Schon in den ersten Bildern: die chromatischen Leitmotive. Blau-Schwarz als Grundton (variiert in Gorodishs Loft durch die Hinzufügung von Weiß und Grau mit dem gigantischen Wellen-Puzzle als mise en abyme); der Dreiklang der Elementarfarben Rot (Helm) – Blau (Jacke) – Gelb (Satteltaschen), der auch Jules’ Fabrikwohnung strukturiert und den ganzen Film durchzieht – sogar auf einem Autofriedhof. Dazu die langsame chromatische Transformation Jules’ in einen homme rouge (die blaue Dienstjacke wird gegen eine rote Jacke getauscht, dann die mobylette gegen die rote Malaguti des copain), der im roten Licht von Straßenstrich und der salle des jeux der Étoile Foch kaum auffällt, wenn er sein Blut vergießt. Eine Ästhetik zudem, die den Soundtrack nicht nur in den Vordergrund mischt, sondern als organisierendes Element benutzt und das Hören von Musik zum Inhalt der Bilder macht, und die das Genre des néo-noir auf eine Weise parasitiert und ironisiert, die eher in den Romanen von Jean Echenoz seit Cherokee (1983) als im Kino ihre Fortsetzung fand.

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Die kapitalen Verbrechen, für die sich Beineix, sein Kinematograph Philippe Rousselot und sein Komponist Vladimir Cosma (dessen Name wahrscheinlich schon für die Filmmusik von La Boum (Claude Pinoteau, 1980), inklusive Dreams are my reality, auf filmpuristischen Todeslisten weit oben stand) verantworten mussten, waren also: 1. die Materialien des Films: Bild, Licht, Farbe, Klänge, Musik, aber eben auch die Dinge, die technischen Objekte, vor allem die der akustischen Aufzeichnungs- und Abspielmedien der Aufzeichnung wie Jules’ NAGRA, unübersehbar in den Mittelpunkt gestellt zu haben, anstatt sie sich als bloße Mittel dienstbar zu machen. 2. das Korsett der Handlung, in das der Film im Laufe der Jahrzehnte zunehmend gezwängt worden war, bis man es tatsächlich für sein Skelett hielt, gelockert oder zerlöchert zu haben, so dass darunter die Attraktionen wieder zum Vorschein kamen. 3. sich mit der Welt der minderen Medien, vor allem der Werbung, kompromittiert zu haben, um aus diesen neue Ressourcen zu beziehen, anstatt sich in den reinen negativen Gesten der Abgrenzung des Kunstbezirks und des Ikonoklasmus zu ergehen. Drei Verbrechen, zu denen sich ein irritierendes Changieren zwischen gebannter Anbetung, spirit of ecstasy, und radikalem Unernst gesellte. Von seinen Feinden wurde ein solches Kino mit Formeln wie »Werbeästhetik« und »cinéma du look«2 (mitgemeint waren darin die Filme von Léos Carax, Luc Besson und einiger anderer) gebrandmarkt – wer im maliziösen »look« einen antiamerikanisch-chauvinistischen Impuls mithört, hört richtig. Die mauvaise foi verstellte offenbar den Blick auf die Kratzer und Brüche in der vermeintlich so glatten Oberfläche des »looks« (auch wenn spiegelnden Flächen eine große Bedeutung zukommt): Diese zeigen sich schon vor den sublimen Ruinen des Théâtre des Bouffes du Nord, wo Diva Cynthia ihren eröffnenden Auftritt hat und erst recht vor dem demolierten Unfallwagen in Jules’ Domizil – darunter ein an der Riviera verunglückter Rolls-Royce. Bereits in der ersten Sequenz des Films sieht man, nach der blau-schwarzen Stimmung des Abendhimmels die Großaufnahme einer Emily. Diese korrespondiert zunächst jenen allegorischen Figuren, mit denen der Film beginnt (Apollo mit Musik und Poesie, die natürlich nicht das Dach 2 | Vgl. Allmer 2004. Woher der Begriff eigentlich kommt, ist nicht leicht rekonstruieren. Jedenfalls ist Bassan, der der neobarocken Ästhetik gegenüber aufgeschlossen ist, nicht, wie Wikipedia behauptet, der Urheber des pejorativen Labels.

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der Bouffes du Nord krönen, sondern jenes der Pariser Oper). Doch, wie die nächste Einstellung enthüllt, ist Emily tief aus der Sphäre des Glamours herabgesunken: Gelandet auf dem Vorbau von Jules’ mobylette – gerade so, wie sich als Quelle vermeintlich extradiegetische klassische Musik im Moment ihres brüsken Abschaltens der Kassettenrekorder entpuppt, der an dieses Gefährt von der traurigen Gestalt montiert ist. Dies antizipiert eine ganze Serie vor allem akustisch bewusst abrupter Schnitte zwischen den Szenen, welche die Heterogenität der Milieus und ihrer Stimmungen akzentuieren. Verstellt war (und blieb) der Blick damit auch für mögliche andere Genealogien als jene der Werbung (der Videoclip trat ohnehin erst nach Diva seinen Siegeszug an). Über der Arie aus Catalanis Oper La Wally hat man übersehen und überhört, dass Erik Satie für die atmosphärische Einstellung des Films noch wichtiger ist: »Monsieur le postier voleur de robes – on dirait une mélodie de Satie« sagt Cynthia.3 Auch das überhört man leicht, aber es bereitet natürlich jene zentrale Szene des Innehaltens vor, Cynthias und Jules’ Reise durch die Nacht, ein Stummfilm, begleitet von Saties verlorener vierter Gymnopédie, die Cosma aus dem Äther empfangen und unter dem eher prosaischen Titel Promenade musicale komponiert hatte. Über die Stimmung solcher Stücke vergisst man, und darauf spielt Cynthias Bonmot auch an, dass Satie auch einer der größten musikalischen Humoristen ist. Von ihm stammt die Filmmusik zu René Clairs Entr’acte (F 1924) und er ist der Mann, der in Anzug, Krawatte und Melone zusammen mit Francis Picabia (wenn auch, angesichts seines Alters, nicht so hoch wie dieser) neben einer Kanone herumhüpft. Immer wieder arbeitet Clairs Film in dieser Weise mit dem saugrenu, dem Albernen, um die Logik der Rationalität, der kohärenten Verknüpfung von Handlungen, Situationen und Narrationen zu erschüttern. Der Höhepunkt dieses saugrenu aber: »Le Zen dans l’art de la tartine«. Gorodish, der auch eine Taucherbrille zum Zwiebelschneiden trägt, demonstriert Jules mit großer Ernsthaftigkeit, wie er in der sich wiederholenden Geste des Streichens nicht mit Farbe und 3 | Tatsächlich ist Jules weniger der facteur als der faiticheur der doppelten Wahrheit: Unwissentlich der kriminologischen über den Kopf des Mädchenhändlerrings – Kommissar Saporta; wissentlich jener ästhetischen, dass die Liebe zur Kunst nichts mit interesselosem Wohlgefallen, dafür alles mit attachements zu tun hat.

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Leinwand, sondern mit Butter, Baguette und Messer verschmilzt: »Mon satori, c’est ça«. Satori bezeichnet ein Gleichgewicht, das man nach langer Übung erlangt: Genau darum geht es in dieser Szene: Die gute Temperatur der Butter, das Messer (ein gänzlich ungeeignetes Modell), nicht zu dünn, nicht zu dick, das Brot, frisch, nicht zu frisch, die Butter steht rechts, das Brot wird von links geholt, das Messer wartet in der Mitte, die Küchenzeile wird zu einer Waage, die mit Gorodishs Wellenwaage korrespondiert, welche in der nächsten Einstellung zu sehen ist. So hält der Film, wie Saties Musik, sprunghaft das metastabile Gleichgewicht zwischen Albernem und Lyrischem (Jules sagt es Alba ja ausdrücklich: »Je suis un lyrique«), um ein Surreales zu produzieren. Denn natürlich geht es in Diva nicht um einen damals schal gewordenen Realismus mit seinen Milieustudien. Auch Jules ist in kein traditionelles oder reales Milieu mehr eingebettet, aus dem er dann in die Welten von Gorodish oder Cynthia hinüberwechseln würde.4 »Je ne suis pas une chanteuse disco«, empört sich die Opernsängerin Cynthia gegenüber dem Kleiderdieb und Musikkenner Jules, um klar auszusprechen, welchen Platz die Musikindustrie (und das Publikum) einer schwarzen Sängerin in dieser Zeit anweist. Hier zeigt sich eine sehr wohl politische Dimension:5 Gorodish, »un rasta, un métèque«; Alba, eine Vietnamesin, die dieser irgendwo am Straßenrand aufgesammelt hat, eben nicht nur Lolita, sondern streetwise, autofahrende Meisterdiebin; Cynthia, die polyglotte afroamerikanische Opernsängerin;6 Jules, der sich in seiner mausgrauen Postbotenuniform unter die gutbürgerlichen Konzertbesucher in Abend4 | Diesbezüglich liegt Jameson 1982 in seinem Versuch falsch, D iva als Allegorie der anbrechenden Mitterand-Epoche zu lesen. 5 | Die Hainge 2015 nicht zu erkennen vermag, sondern lieber noch einmal à la Neunzigerjahre die reine Autoreferentialität des Films postuliert. 6 | Schlagfertigkeit, räumliche wie kulturelle Beweglichkeit, Aktivität und agency dieser Frauenfiguren müssen von einem Standard-Gender-Blick unterschlagen werden (vgl. Yerasi 1993, Powrie 1997), der in den Protagonistinnen von D iva gegen widersprechende filmische Evidenz nur die immobilen Opfer des männlichen Blicks zu erkennen vermag – der natürlich unstrittig ein Faktor des Films ist. Aber in einer solchen entdifferenzierenden Betrachtungsweise, die ihre, zudem fundamental ikonophoben, idées reçues auf den Film appliziert, ist Jules dann perfider Agent des Patriarchats, den nichts von Saporta oder den Taiwanesen unterscheidet (Yerasi 1993).

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garderobe mischt: Diese nach allen Regeln von Rasse und Klasse Marginalen oder Minoritären bilden mittels Übertretungen (Diebstähle von Kleidern und Schallplatten, genauer: Chick Corea/Gary Burton: Crystal silence, 1972) und Musik lieber unwahrscheinliche Wahlverwandtschaften aus, als unter den angeblich Ihren zu bleiben. Bewegen sie sich durch diese Milieus ihrer Zeit hindurch, so treten sie aus diesen heraus – nirgends wird dies deutlicher als bei Jules’ und Cynthias gemeinsamer Promenade, in der sie sich als polychrome Figuren vom grauen Hintergrund der Pariser Architektur und den grauen Skulpturen des Parks abheben. Jede dieser Figuren existiert bereits in einem dezidiert artifiziellen, sich von der konformistisch-farblosen Außenwelt isolierenden Milieu. Diese Milieus mit ihren spezifischen visuellen und akustischen Atmosphären koinzidieren mit den Emotionen der Figuren (die keine konventionelle Innerlichkeit mehr aufweisen), sie strukturieren die Räumlichkeiten, aber auch die temporale Architektur des Films, dem es eher um die Konstruktion solcher atmosphärischen raumzeitlichen Miniaturen geht als um Kohärenz: Lyrisch, nicht dramatisch geht Diva vor, indem die Progression retardiert wird, schreibt mit Licht und Klang poèmes en prose, denen der Roman nur als Vorwand dient. Es geht darum, etwas über die bestehende Realität hinausgehendes, also Surreales, zu schaffen und dabei der Usurpation von Schönheit durch ihre Ausbeuter nicht tatenlos zuzusehen, der Wirklichkeit etwas hinzuzufügen, statt sie einfach zu spiegeln: »[U]n roman est un miroir qui se promène sur une grande route. Tantôt il reflète à vos yeux l’azur des cieux, tantôt la fange des bourbiers de la route«, schreibt der Opernfan Stendhal in Le rouge et le noir (Stendhal 1989: 357). Dies tut der alte Citroën Traction Avant, als sich der kriminelle Kommissar Saporte mit ihm auf den Weg zum Lagerhaus macht. Doch Pfütze und Wagen spiegeln sich gegenseitig und das Porträt der Welt erscheint, geboren aus der Feuerkugel der Sonne, à la Parmigianino in der sphärischen Spiegelfläche des Scheinwerfers. Nicht allein das Auto mit seinen spiegelnden Oberflächen und Materialien steht für den Film. Dies tun vor allem textile Objekte. So geht nicht nur die Place de l’Opéra auf der Straße spazieren, nämlich auf dem Foto-Rock aus glänzendem Plastik, den Alba trägt. Cynthias matt glänzendes Kleid changiert zwischen Weiß und Silber und figuriert in seiner besonderen Art, mit dem Licht zu interagieren, den silver screen. Das wunderbarste Objekt dieser Art aber ist der Regen-

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schirm, mit dem Cynthia und Jules ins regnerische Morgengrauen schlendern. Denn dieser ist in zweifacher Hinsicht Schirm: Unter ihm entsteht jener geschützte Raum der diskreten Intimität, der nur den beiden Flanierenden gehört. Und sein seidiger, glänzender Stoff ist Medium, das die Transformationen des Lichts einfängt und projiziert: »Seine« Farbe ist undefinierbar, schwer zu fassen: Von Einstellung zu Einstellung, ja von Moment zu Moment changiert sie zwischen Weiß, Gold, Silber und zartem Grün, so als zeige er auch die affektive Temperatur der beiden an. Konsequenterweise wird danach das elementare Rot-Blau-Gelb beim Frühstück in Cynthias Hotelzimmer in das sanfte Pastell von Rosa, Fliederfarben und Hellgelb moduliert. Und »das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit« und Kommerzialisierung? Natürlich ist Diva klüger als jene, die die Kunst gegen das Technische der Aufzeichnung ausspielen wollen (vgl. Bassan 1989: 48, Yervasi 1993). Vielmehr dekliniert er, nicht nur im Hinblick auf die Frage der Aura (Olivier 2002) eine unauflösbare Ambivalenz durch: Die gleichen Medien, die eine économie restreinte der finanziellen Ausbeutung ermöglichen, die in der angedrohten Piratenpressung der Taiwanesen ihre höchste Gewaltsamkeit findet, ermöglichen auch die économie génerale der affektiven Verausgabung: Das Tonband mit der von Jules geraubten Stimme erlaubt nicht nur die solitäre fetischistische Rezeption im intimen Klangraum der Kopfhörer, die NAGRA im Schoß, so dass die Fingerspitzen auf ihrem Gehäuse ruhen, das Kleid der Diva wie eine Decke über den Körper gebreitet. Es zirkuliert auch als ein Medium der Gabe, der ansteckenden attachements, die auch Alba und Gorodish fesseln. Als Jules am Ende Cynthia in einem weiteren Theater (womit natürlich das Kino mitgemeint ist) ihren eigenen Gesang vorspielt, hat dies nicht Aggression, Depression oder Hysterie der Diva zu Folge, sondern eine staunende Autoaffektion, die offenbar mit dem Verstehen der Motive und Emotionen des Klangdiebs einhergeht. Welcher Art die abschließende Umarmung der beiden ist, lässt der Film im distanzierten Standbild, mit dem er schließt, offen.

Referenzen Allmer, Patricia (2004): »›Window Shopping‹? – Aesthetics of the Spectacular and Cinéma du look«, in: Scope February, https:// www.nottingham.ac.uk/scope/documents/2004/february-2004/ allmer.pdf, [07.08.2018].

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Bassan, Raphaël (1989) : »Trois néobaroques français. Beineix, Besson, Carax de Diva au Grand bleu«, in: La revue du cinéma, 449, S. 44_53. Blade Runner (USA, 1982, Ridley Scott). Blow up! (USA, 1981, Brian de Palma). Crystal silence (USA, 1972, Chick Corea/Gary Burton). Entr’acte (F, 1924, René Clair). Geiger, Moritz (1911): »Zum Problem der Stimmungseinfühlung«, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, 6/1, S.1–42. Hainge, Greg (2015): »Cadrage exquis: Reframing Jean-Jacques Beineix’ Diva« in: Australian Journal of French Studies, 52/2, https:// doi.org/10.3828/ajfs.2015.10, [07.08.2018]. Jameson, Fredric (1982): »On Diva«, in: Social Text, 6, S. 114–119. Journot, Marie-Thérèse (2004): Le courant de »l’esthétique publicitaire« dans le cinéma français des annés 80: la modernité en crise. Beineix, Besson, Carax, Paris u.a.: L’Harmattan. La Boum (F, 1980, Claude Pinoteau). La Wally (I, 1892, Alfredo Catalani). Oliver, Bert (2002): »No recording please! This is art. Or: What do Cynthia Hawkins and Walter Benjamin have in common (not)?«, in: Ders.: Projections. Philosophical Themes on Film, Summerstand: University of Port Elizabeth, S. 127–142. Powrie, Phil: »Diva’s Deluxe Disasters«, in: Ders.: French Cinema in the 1980s. Nostalgia and the Crisis of Masculinity, Oxford: Clarendon Press 1997, S. 109–120. Stendhal (1989): Le rouge et le noir [1830], Paris: Gallimard. Yervasi, Carina L. (1993): »Capturing the Elusive Representations in Beineix’s Diva«, in: Literature Film Quarterly 21/1, S. 38–46.

Michael Cuntz, Prof. Dr., ist Professor auf Zeit für Medienphilosophie an der Bauhaus-Universität Weimar. Arbeitsschwerpunkte: Medien, Technik, Domestikation.

BLADE RUNNER (1982) Jörg Brauns Der Vielzahl der möglichen Themen und Assoziationen, die dieser legendäre Film von Ridley Scott behandelt und aufruft und der just im Jahr 2019 spielt: der Mensch im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit, die dystopische Vision von Los Angeles, die Neuerfindung des Science Fiction Films aus dem Geiste des film noir, um nur einige zu nennen, kann und soll hier ebenso wenig nachgegangen werden wie seiner verworrenen Produktions- und Rezeptionsgeschichte. 1 Noch wird versucht, dieser disparaten Fülle durch eine Meta-These Herr zu werden. Stattdessen soll der Blick auf zwei merkwürdige Szenen fokussiert werden, in denen die Grenzen und Potenziale des filmischen Raums ausgelotet werden. In der einen Szene werden die Bilder in eine Tiefe geführt, die jenseits des bildtechnisch Möglichen liegt, und die nur der Erinnerung zugänglich ist, in der anderen kollabiert der filmische Raum derart, dass er mit dem Raum des Zuschauers verschmilzt. Der Betrachter von Blade Runner wird mit einem filmischen Raum konfrontiert, der vor allem durch folgende drei Aspekte konstituiert wird. Da ist zum einen die fast völlige Abwesenheit von natürlichem Licht. Zu den wenigen Ausnahmen gehören die – allerdings extrem künstlich wirkende – hinter dem Panoramafenster aufgehende Sonne bei Deckards erstem Zusammentreffen mit Rachael im Gebäude der Tyrell Company, das Insert mit der in einen blauen Himmel auffliegenden Taube nach Roy Battys Tod oder die im director’s cut gestrichene Schlusssequenz, die teilweise aus Material zusammengestellt wurde, das bei Warner noch von Kubricks The Shining im Archiv lag (Schnelle 1994: 66). Das Licht kommt daher entweder von Objekten wie Monitoren und Neonleuchten in 1 | Für einen Überblick siehe Schnelle sowie https://br-insight.com, [18.06.2018].

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der Szene selbst oder aber aus teilweise beweglichen oder oszillierenden Quellen, die die Innenräume wie im klassischen film noir vielfach gebrochen und reflektiert von außen beleuchten. Dazu kommt zweitens die fast völlige Abwesenheit von Horizontlinien oder anderen cartesianischen Ordnungsmitteln. Raumgrenzen verlieren sich im Halbdunkel. Die Kamera taucht in diese Räume oft von oben ein, etwa in das Büro, in dem die erste Befragung Leons stattfindet oder die Straßenszene im Regen, in der Deckard zum ersten Mal auftritt. Die Kamerafahrt in das Büro des Polizeioffiziers, der Deckard reaktiviert, durchbricht sogar die Decke des Raums von oben. Später im Film durchbricht dann nicht nur die Kamera, sondern auch der von Deckard verfolgte Replikant Batty eindrucksvoll mit Faust und Kopf die Wände des Gebäudes. Der klassische Ordnungsrahmen der Perspektive ist fragil geworden oder abwesend. Zum dritten werden die Räume sowohl innen auch als außen von einer Fülle von Objekten und Figuren beherrscht. Die Schränke und Regale im Büro des Polizeioffiziers sind gefüllt mit Monitoren, Kaffeemaschinen, Lautsprecherboxen, Tischventilatoren, auf seinem Schreibtisch türmen sich Papiere, Mikrofone Erinnerungsfotos, selbst der Lampenschirm ist mit solchen beklebt, es gibt keine geschlossenen Wände, sondern der Blick fällt durch mit Lamellen verhangene Glasfenster und -türen in die umgebenden Räume. Es dominiert ein »layering of detail upon detail« (Deutelbaum 1989: 67). Damit wird in Blade Runner überwiegend ein Typ von Raum geschaffen, der einem Vorschlag Elisabeth Strökers folgend, als gestimmter Raum bezeichnet werden kann und vom Aktionsraum und vom Anschauungsraum unterschieden wird. Dieser gestimmte Raum ist einerseits gekennzeichnet durch eine konstitutive Fülle und nicht eine Versammlung von Dingen in einem vorgängigen Leerraum (Ströker 1977: 31) sowie andererseits die Eigenschaft, dass sich Bewegungen nicht in ihm vollziehen, er ist nicht Raum für Bewegungen ist, sondern zum gestimmten Raum erst durch die Bewegung wird (Ströker 1977: 37). Will man diese Stimmung des Raumes und damit des Films auf Begriffe bringen, dann sind dies wohl die Ambivalenz und der mit dieser verbundene Zweifel, der Zweifel an allem Sichtbaren, den Erinnerungen, damit schließlich der Erkennbarkeit und Beherrschbarkeit der Welt. Und dennoch gibt es keinen anderen Zugang zu dieser Welt als über die Bilder, sowohl für uns Zuschauer als auch

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die Protagonisten des Films. Die Schlüsselszenen für diesen Zugang zu Blade Runner sind daher weder die berühmte Todesszene des Replikanten Roy Batty noch der mehrfach umgestaltete Schluss oder gar die merkwürdige Einhorn-Traumsequenz. Sie werden vielmehr eingeleitet mit der Frage von Batty an Leon: »Did you get your precious photos?«. Er hat sie nicht, denn die precious photos hat Deckard kurz zuvor zusammen mit der Schuppe eines Reptilienhaut bei der Durchsuchung von Leons Wohnung gefunden. Der Blick von Deckard und Kamera fällt dabei vor allem auf die beiläufige und auf den ersten Blick menschenleere Fotografie eines Innenraums, die an holländische Gemälde erinnert.2 Wenig später hat er in seiner Wohnung dieses Bild zusammen mit zwei anderen, die fast eine Sequenz von einer Nahaufnahme zu einer Totalen bilden, wieder in der Hand. Das Bild erscheint ein drittes Mal. In einer Szene, in der Deckard in seiner Wohnung am Klavier sitzend alte Erinnerungsfotos betrachtet, greift er wieder nach diesem, das dort auf einer aufgeschlagenen Partitur angeklemmt ist. Um es zu analysieren, führt er es in eine Apparatur, die sogenannte ESPER Maschine, ein, die ihm das Bild auf einem Monitor zeigt und auf seine gesprochenen Befehle hin vergrößert. Er erkennt dabei zunächst, dass sich am äußersten linken Bildrand ein Mann befindet, von dem nur der muskuläre Oberarm sichtbar ist. Erstaunlich ist schon hier die Auflösung des Bildes, die aber noch gesteigert wird als Deckard die Maschine wie eine Kamera in das Bild des runden Spiegels steuert. Hier wird erneut ein Spiegel sichtbar, der auch den runden Spiegel zeigt und damit den Raum, der auf der Fotografie verborgen ist. Deckard zoomt auf ein glitzerndes Stück Stoff, das offenbar aus den gleichen Schuppen besteht, wie die, die er zusammen mit dem Bild in Leons Wohnung gefunden hat. Im nächsten Schritt vollzieht die Maschine dann eine Wendung, die sie jenseits dessen führt, was eine noch so detaillierte Vergrößerung der zweidimensionalen Fotografie liefern könnte. Gesteuert von Deckards Befehlen wird die Spiegelung einer Frau sichtbar, was nur möglich ist, weil die imaginäre Kamera der Maschine in den Bildraum der Fotografie eingedrungen ist und dort eine Drehung 2 | Siehe dazu Deutelbaum 1989, der vor allem auf Jan van Eycks D ie Hoch zeit des  Giovanni A rnolfini von 1434 und Emanuel de Wittes I nterieur mit einer Dame am Virginal von 1660 verweist.

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vollzieht. Sichtbar wird bei dieser Operation etwas, das nicht die Fotografie speichern konnte, weil es jenseits ihres Aktionshorizontes lag, sondern nur im Erinnerungsraum dessen, der die Fotografie anfertigte, bewahrt sein konnte. Innerdiegetisch verweist dies darauf, dass die Fotografien dazu dienen sollen, den Replikanten mit künstlichen Erinnerungen auszustatten. Für den Zuschauer vollzieht sich hier als eine Art Film im Film eine Operation, die durch eine Montage von Bildern einen virtuellen Raum konstruiert, der den Anschauungsraum der klassischen Kamera transzendiert. Das alles vollzieht sich in einem extrem artifiziellen Setting auf dem Monitor der ESPER Maschine. Deren Operationen werden durch lautes Klicken angezeigt und visuell mit Bildrahmen, Positionsmarkierungen und eingeblendeten Koordinaten begleitet. Es handelt sich also auch um einen Aktionsraum der Maschine, der durch diese und nicht, wie bei Ströker, durch ein leibliches Wesen konstituiert wird (Ströker 1977: 69). Im Medium des Films wird hier ein anderes Medium, die Fotografie, die wiederum auf das Tafelbild verweist, über seine konstitutiven Grenzen hinaus geführt. Aber nicht durch das bloße Erfassen der Aktionen der Objekte und Figuren in einem beiden Medien vorgängigen Anschauungsraum, sondern durch die sequenzielle Konstruktion einer eigenen gestimmten Bildtiefe. Das Resultat auf der Handlungsebene ist dann ganz banal: Mit Hilfe des auf diese Weise herauspräparierten Bildes der Frau kommt Deckard dieser auf die Spur. Eine zweite Sequenz vollzieht die gegenteilige Operation. Der Filmraum bricht zusammen und wird scheinbar zur bloßen Oberfläche. Das Filmbild wird innerhalb von 30 Sekunden drei Mal so stark überblendet, dass ein rein weißes Bild erscheint. Rachael hat in der Szene zuvor Deckard gerettet, in dem sie Leon, der im Kampf mit Deckard diesen fast besiegt hatte, erschießt. Rachael steht jetzt, immer noch im Pelzmantel aus der Straßenszene, in Deckards Wohnung und offenbart sich diesem in einem kurzen Dialog. Rachaels Profil verschwindet abwechselnd fast vor dem dunklen Hintergrund von Deckards Wohnung oder wird von einem scharfen Gegenlicht überstrahlt, einem der typischen Scheinwerfer, der durch die Fenster dringt und wie der wandernde Strahl eines Leuchtturms wiederkehrend den Raum erhellt. Drei Mal wird dieses Licht, das die Kamera und damit den Zuschauer trifft, so stark, dass ein vollständig weißes Bild erscheint. Im Kino ist hier also nur die Leinwand zu sehen. Vor dem ersten Erscheinen dieses image blanche entgegnet sie Deckards

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Erklärungen seiner Gefühle als »part of the business« mit »I’m not the business.«. Und ergänzt nach dem image blanche »I am the business«. Soll dieses Licht also eine Art Offenbarungsszene illustrieren? Oder ist es eher der Versuch, den Betrachter für einen Moment aus dem Filmraum auszusperren und ihn zumindest im Kino in einem durch die Leinwand hell erleuchteten Zuschauerraum auf sich selbst zu verweisen? Es ist zumindest die extreme Form eines gestimmten Raums. Er wird weder wie der Aktionsraum durch die Bewegungen der Protagonisten oder der Kamera konstituiert, noch kann er als Anschauungsraum, der als „Mannigfaltigkeit phänomenaler Punkte“ (Ströker 1977: 98) erscheint, gesehen werden. Ebenso ist keine Unterscheidung von Ferne und Nähe mehr möglich. Es ist als Bild des Kontinuums der Leinwand reine Potenzialität. Hier wird für einen kurzen Moment die »leere Seite« gezeigt, die nach de Certeau Produktionsort für das Subjekt ist (de Certeau 1988: 246). Sie ist aber hier nicht, wie bei Certeau von den »Zweideutigkeiten der Welt befreit«, sondern ist ebenso wie der ganze Film ein Emblem der Ambivalenz.

Referenzen Certeau, Michel de (1988): Kunst des Handelns, Berlin: Merve. Deutelbaum, Marshall (1989): »Memory/Visual Design: The Remembered Sights of Blade Runner.«, in: Literature Film Quarterly, Bd. 17, Nr. 1, März 1989, S. 66–72. Schnelle, Frank (1994): Ridley Scott’s Blade Runner, Stuttgart: Wiedleroither. Ströker, Elisabeth (1977): Philosophische Untersuchungen zum Raum, Frankfurt a.M.: Klostermann. The Shining (USA, 1980, Stanley Kubrick).

Jörg Brauns, Dr., ist Kanzler der Universität Erfurt.

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THE DAY AF TER (1983) Claus Pias

»Über die Inhalte des Fernsehens wird viel diskutiert. … Vermitteln sie richtige oder falsche Werte? … Solche Fragen können auch wir nicht endgültig beantworten« (Was ist was, Bd. 112: Fernsehen)

1. Katastrophenfilme handeln –  wenn dies einem filmwissenschaftlichen Dilettanten zu behaupten erlaubt ist – von einigen Leuten, die durch ein ansehnliches Ereignis gezwungen sind, miteinander zu tun zu haben. Ihr typologisches Personal setzt sich aus Figuren wie dem (zerstrittenen) Ehepaar, dem (trockenen) Alkoholiker, dem oder der Single (mit leadership- bzw. hysterischen Qualitäten), dem Priester (der seinen Glauben verloren hat), dem Arzt (mit oder ohne Krankenschwester), dem Hasardeur, dem Afroamerikaner (oder Asiaten), dem Kind (zuweilen im Plural), dem Experten (männlicher Wissenschaftler, gerne Ingenieur), dem Vertreter (gerade arbeitslos geworden) usw. zusammen. Und klassischerweise kriegen die meisten von ihnen am Ende die Kurve (Überleben, Sinnkrisenbewältigung, Partnerfindung, Opfertod usw.), weil und während alles um sie herum besonders spektakulär zusammenbricht und etliche Namenlose im Hintergrund draufgehen. Die Kleingruppe bildet das Repräsentationsprinzip des Katastrophenfilms, der wahrscheinlich deshalb so viel Raum für Experimente hat, weil weder Personal noch Plot sonderlich begründungspflichtig sind.

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2. Das Gegenstück dazu ist das Ereignis hinreichender Größe, das – ob nun in leiblicher Kopräsenz erfahren oder durch Massenmedien übertragen – in Form eines Kollektivsingulars möglichst »Alle« einschließt. Seine Repräsentativität erlangt es aufgrund der großen Zahl, bzw. es braucht gar kein Repräsentationsprinzip mehr, denn wenn idealerweise »Alle« dabei sind, erübrigt sich das Personal, das für »Alle« einzustehen hat. »All you need is love«, »Mondlandung« oder »9/11« werden dann zu Chiffren einer umgekehrt verlaufenden, retrospektiven Kleingruppenbildung: Zufällig zusammengewürfelte Leute fragen sich viele Jahre später beim Abendessen, wo der- oder diejenige bei diesem oder jenem Ereignis war, das »uns alle« betroffen hat.

3. Lorenz Engell und ich sind uns beispielsweise am 22. Oktober 1983 zum ersten Mal nicht begegnet, obwohl wir beide an diesem Tag an der großen Friedensdemonstration gegen den NATO-Doppelbeschluss im Bonner Hofgarten teilgenommen haben. Dass wir uns darüber viele Jahre später bei McDonald’s in Gelmeroda, möglicherweise beim Verzehr einer Portion »Chicken McNuggets« (ebenfalls 1983 eingeführt), endlich Gewissheit verschaffen konnten und uns beide – unmittelbar in rheinische Diktion verfallend – sehr daran erfreut haben, verdankte sich der Gründung der »Fakultät Gestaltung« fast genau zehn Jahre später. Im Oktober 1993 traf man sich als künftige Fakultät in einem der nur drei verfügbaren Räume des »Winkelbaus« der HAB Weimar in einem Stuhlkreis inmitten eines größeren Kreises an die Wände geschobener Tische. Noch eine Kleingruppe.

4. Der Katastrophenfilm, von dem hier die Rede sein soll, war (zumindest in den USA) selbst ein Ereignis, an das man sich gemeinsam erinnert (vgl. Church 2010). Als The Day After gut einen Monat nach der Bonner Friedensdemo zur besten Sendezeit auf ABC ausgestrahlt wurde, saßen vermutlich etwa 100 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner vor ihren Fernsehgeräten. Der Sonntagabend des 20. November 1983 ist ein so eminenter Moment der Fernsehgeschichte, dass sich das Fernsehen inzwischen selbst seiner angenommen hat. Die neunte Folge der vierten Staffel von The Americans (eine Serie über das Leben sowjetischer ›Schläfer‹ in den 1980ern) zelebriert ge-

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nüsslich das getrennt-verbindende Dabeisein und damit geradezu lehrbuchhaft die Logik des Fernsehereignisses selbst. Alle schauen zu: die Geheimagenten Philip und Elizabeth mit ihren Kindern Paige und Henry ebenso wie Stan (der Nachbar vom FBI) mit seinem Sohn Matthew und auch Oleg und Tatiana, die Führungsoffiziere in der sowjetischen Botschaft. Und indem niemand unberührt bleibt und alle anschließend miteinander reden, wird noch einmal der Erfolg der medienpädagogischen Ambition von The Day After inszeniert und attestiert – nämlich Auslöser des Gesprächs über Generationen und Ideologien hinweg zu sein (vgl. Stuever 2016).

5. The Day After machte nicht nur (wie jedes Medienereignis) von sich reden, um Publikum zu gewinnen. Vielmehr bildete das ›Reden-Machen‹ seine zentrale und zuweilen umkämpfte Agenda. Zu deren inhaltistischer Manier gehörte es, von filmischen Qualitäten weitgehend abzusehen, weil es ja schließlich um ein Thema wie den Atomkrieg ging, über dessen Schrecken unsere Generation nicht nur in der Schule, sondern eigentlich täglich und überall aufgeklärt wurde. Während die Cultural Studies kurz zuvor die Freiheit der vielen selbstbestimmten Lektüren stark gemacht hatten, verteilte der Sender ABC schon vor der Ausstrahlung einen copyrightfreien, pädagogisch-psychologisch beratende Viewer’s Guide in hoher Auflage an die künftigen Zuschauer, um einen angemessenen Mediengebrauch sicherzustellen. Nachdem darin erst einmal der Plot verraten war und festgehalten wurde, dass ›die Menschen‹ sich immer ›ihre Geschichten‹ erzählen sollten, folgen drei konkrete Rezeptions-Arbeitsanweisungen. Erstens solle man sich vorab gemeinsam über seine Zuschauererwartungen klar werden: Mit wem hat man schon einmal über den Atomkrieg gesprochen? Was weiß man darüber? Welche Filme, Bücher und Songs haben die eigene Wahrnehmung geprägt? Was sind die größten Ängste? Was könnte man für sein Land und für den Weltfrieden tun? Zweitens solle man nach dem Film ausgewählte Sachaspekte, Gefühle und Meinungen im Familienkreis besprechen, wofür es eine Handreichung mit 30 möglichen Themen gibt: Reicht es nach Mexiko zu flüchten? Was ist eigentlich ein EMP? Welche Gefühle löst der Film aus? Welche der dargestellten Begebenheiten drücken Überlebenswillen aus? Ist der Mensch von Natur aus gut? Drittens und zuletzt, überschrieben mit »Further Explorations« und versehen mit einem Literaturver-

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zeichnis, möge man sich auf freiwilliger Basis weiter in das Thema einarbeiten: Etwa eine kommunale Filmreihe zum Nuclear Age veranstalten oder Reagans Civil Defense Program referieren, The Day After mit Hiroshima vergleichen oder anhand von John Irvings The World According to Garp diskutieren, sich gemeinsam an die Kuba-Krise oder die einstigen Duck-and-Cover-Programme erinnern.

6. Dieser Anspruch einer ›allgemeinen‹ Redemotivation zu Belangen von ›öffentlichem Interesse‹ ist in The Day After mustergültig »ideologisch« (Chomsky 2002) angelegt: Nicht in Großstädten wie New York oder L.A., sondern im mittleren Westen angesiedelt, situiert sich die Handlung im heartland amerikanischer Werte, der Heimat sogenannter ordinary Americans und ihrer eher konservativen politischen und sozialen Werte, die zugleich die kommerziell ideale Zuschauerschaft bildet (vgl. Overpeck 1983). Und auffällig ist, wie sehr alle Beobachter bemüht sind, genau jene Vielfalt möglicher Bedeutungen auszuschließen, für die sich die jungen Cultural Studies gerade stark machten. Von pazifistischer Seite, insbesondere von der National Nuclear Weapons Freeze Campaign, wurden Kopien des Films schon sechs Monate vor seiner Ausstrahlung verbreitet, um die Vermarktung und Deutungshoheit von ABC zu ›kapern‹ (vgl. Scheil 2017). Diese wurden im Rahmen friedensaktivistischer lokaler Diskussionsabende vorgeführt und von einer konkurrierenden Lektüreanweisung unter dem Titel Don’t Wait Until The Day After – The Day After: Speaker‘s Manual flankiert. Umgekehrt gab es aus dem Lager der Reagan-Regierung Bemühungen, den Film als eindeutiges Plädoyer für die Strategie der Abschreckung zu lesen (vgl. Hänni 2016). Niemand – weder der Sender, noch die Friedensbewegung, noch die MAD-Befürworter – traute dem Film offensichtlich zu, für sich selbst zu sprechen, und niemand mochte seinen Zuschauern zumuten, sich ihm ohne medienpädagogische Betreuung auszusetzen.

7. ABC selbst hatte der Ausstrahlung eine 80-minütige, hochkarätig besetzte Fernsehdiskussion mit Carl Sagan, Henry Kissinger, Elie Wiesel, Robert McNamara, Brent Snowcroft, William F. Buckley und George Schultz zur Seite gestellt. Was nicht weiter erwähnenswert wäre, wäre diese Sendung nicht in jene Mediengeschichte der Me-

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dientheorie eingegangen, die es noch zu schreiben gälte. Im zentralen Kapitel seines Bestsellers Wir amüsieren uns zu Tode entfaltet Neil Postman nämlich seine These vom Entertainment als »Superideologie des gesamten Fernsehdiskurses« anhand genau dieser Talkrunde, die nicht nur Millionen potenzieller Leser gesehen haben dürften, sondern an der sich die Fallhöhe zwischen dem Ernst der Lage und einer medienspezifisch unvermeidlichen Verfehlung der angemessenen Ernsthaftigkeit besonders effektvoll zuspitzen lässt: »Jeder der sechs Männer bekam ungefähr fünf Minuten, um etwas zum Thema zu sagen. Worin das Thema […] genau bestand, darüber hatte man sich nicht geeinigt, und niemand fühlte sich verpflichtet, auf das einzugehen, was die anderen gesagt hatten. […] Die Teilnehmer wurden wie Finalisten bei einem Schönheitswettbewerb aufgerufen […] Mit anderen Worten, dies war keine Diskussion im üblichen Sinne des Wortes. Selbst als der ›Diskussionsteil‹ begann, gab es keine Argumente oder Gegenargumente, kein sorgfältiges Abwägen von Voraussetzungen, keine Erklärungen, keine ausführlichen Darlegungen, keine Definitionen. […] Denken kommt auf dem Bildschirm nicht gut an […] Es gibt dabei nicht viel zu sehen. […] Denken ist keine darstellende Kunst. Doch das Fernsehen erfordert die Kunst der Darstellung, und so führte uns die Fernsehanstalt ABC vor, wie das Bild, das man sich von sprachgewandten Männern mit großer politischer Urteilskraft macht, ins Wanken gerät, wenn ein Medium sie zwingt, einen Auftritt zu absolvieren, statt Gedanken zu entwickeln. […] Die Botschaft des Fernsehens als Metapher besagt nicht nur, dass die Welt eine Bühne ist, sondern auch, dass diese Bühne in Las Vegas, Nevada steht.« (Postman 1999: 228 f., 231) Gar nicht überraschend ist, dass das manel der Diskutanten nicht über den Film spricht, dessen medialer Eigensinn als Film nicht einmal vorsichtig gestreift wird, sondern dass nur kurz die Frage nach einer ›realistischen‹ Darstellung auf blitzt, mit der hier ein politisch-militärisches Thema illustriert wird. Bemerkenswert hingegen ist, dass Neil Postman (in all seiner Fixierung auf die Vorbildhaftigkeit der Buchkultur und der amerikanischen Rhetoriktradition) gar nicht sieht, dass niemand den Film als Film sieht. Die Insistenz darauf, worüber man nicht reden kann, verschattet das, worüber nicht geredet wird. Trotz aller elaborierten und prononcierten Rede über Medienspezifiken bewegt sich Postman damit im gleichen Register wie die Herren auf der Bühne: So wie diese den Film nur auf eine ›realistische‹ Darstellungsrelation hin befragen, befragt der Medien-

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kritiker die Talkrunde nur auf ihre Relation zu einer ›wirklichen‹ Diskussion. Auch forcierte Medienkritik endet zuweilen in Medienvergessenheit.

8. Doch auch in Zeiten von SDI und Pershing II, von ›evil empire‹ und Doomsday Clock, von Friedensbewegung und Nuklearem Winter (den damals drei Viertel der Amerikaner binnen weniger Jahren erwarteten) heißt ›gut gemeint‹ noch nicht gut gemacht. Die Kritiken, die The Day After in filmischer Hinsicht erfuhr, waren vernichtend: »Der Schrecken, der uns […] ergreift, [ist] nicht Folge des Films und seiner Qualität, sondern lediglich Folge unserer Angst vor der Pershing.« (Greiner 1983) Eine »fast tendenzlose ›stenographische‹ Nachzeichnung der wissenschaftlichen Einsichten vom Leben nach dem Atomtod« (Karasek 1983: 132). »Die entstellten Strahlungsopfer sind dilettantisch geschminkt, die Kulissen deutlich zu erkennen; die handelnden Holzschnitt-Charaktere verhindern jede Anteilnahme an ihrem Schicksal.« (FAZ 1996) »The Day After was a particularly tasteless example of the American penchant for soap opera, ›Peyton Place with a nuclear explosion‹.« (Boyd-Bowman 1984: 72) »Even on the most indulgent view of it in cinematic terms, it is the veriest trash – composed almost entirely of verbal and visual clichés, the acting is dreadful.« (Levin 1983) Wobei diese Zitate allesamt europäischen Kritiken entnommen sind. Selbst 35 Jahre danach gründet der ›Klassikerstatus‹ von The Day After allein auf der gemeinschaftsbildenden Einschaltquote und einer Symptomhaftigkeit im Genre des Nuklearfilms der 1980er. Gerade weil das Thema so brisant war, hat sich anscheinend niemand gefragt, was der Film eigentlich sein wollte. Sein Regisseur Nicholas Meyer jedenfalls beabsichtigte keinen weiteren Katastrophenfilm »with viewers waiting to see Shelley Winters succumb to radiation poisoning«, obwohl das Genre seit den 70ern blühte (Keane 2001), sondern konstatierte: »the more The Day After resembles a film, the less effective it is likely to be«. Dementsprechend geraten die zeitgenössischen Genre-Zuschreibungen ratlos und suchend: Drama Documentary oder American Pastoral, Melodrama oder Horror, Sci-Fi, Disaster Movie oder Art Television – man weiß nicht genau, was man damit anfangen soll (Boyd-Bowman 1984: 85 ff.).

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9. Ein Begriff, der in der gesamten Diskussion niemals fällt, ist der des Szenarios. Ursprünglich selbst aus dem Filmgeschäft stammend (vgl. Abella 2008), wanderte er nach dem Zweiten Weltkrieg in die Rüstungsberatung, die mit seiner Hilfe ein spezifisches Problem des Atomzeitalters zu lösen suchte – nämlich wie militärische Planungen unter der Bedingung von Nuklearwaffen durchgeführt werden können, wo doch alles Erfahrungswissen versagt und tradierte Strategien nun unter der Prämisse evaluiert werden müssen, dass Kriegführung fortan in Kriegsvermeidung bestehen würde (vgl. Brodie 1946). Diese Zuständigkeitslücke für das ›Denken des Undenkbaren‹ füllte eine ganze Generation von civil defense intellectuals aus, die sich verschiedenster Methoden der Fiktion, des Spiels, des Gedankenexperiments, der Simulation, des Stegreiftheaters oder eben des Szenarios bediente (vgl. Pias 2009). Die Szenariotechnik, die in den 70er Jahren dann in die Wirtschaftswissenschaften ausschwärmen sollte (vgl. Notten 2005), bestand darin, eine hypothetische Folge von Ereignissen zu einem Krisen-Narrativ zu verdichten, das in eine offene Entscheidungssituation mündet. Diese Erzählung wird (üblicherweise medial auf bereitet in Texten, Zahlen, Diagrammen und Bewegtbildern) einer Gruppe von Experten vorgespielt, die ihre möglichen Fortsetzungen dann als Rollenspiel durcharbeitet, wobei ein ›control team‹ ihre Entscheidungen evaluiert und deren Konsequenzen an die Spielergruppe zurückgibt, die dann wiederum über Folgeentscheidungen berät. Entscheidend ist der strukturalistische, generative Aspekt von Szenarien: Es geht nicht um die einzelne Erzählung, sondern um die Erforschung narrativer Verzweigungsmöglichkeiten an entscheidenden Knotenpunkten. Ein Szenario macht nur im Plural Sinn: Durch ein Erzählen entlang eines Diagramms werden die Möglichkeiten und Bedingungen unterschiedlicher Ereignisfolgen narrativ erforscht. Das Szenario liefert – so seine Apologeten – keine Prognosen, sondern vermittelt ein ›Gefühl‹ für die Komplexität von Systemverhalten, für Optionen und für Effizienz, und soll als Institution des Möglichkeitssinns eine gewisse preparedness für den Ernstfall erzeugen. Szenarien handeln von der »Vielzahl der Beziehungen zwischen verschiedenen Wissensobjekten« (Brandstetter 2005: 155), und ihre Funktion könnte man als die eines lehrreichen Konversationsstückes beschreiben, als einen pädagogischen Rede-Anlass. Die Ergebnisse ihres Durchspielens wurden daher in der Regel zu (zahlengesättigten, also ›wissenschaft-

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lich‹ erscheinenden) Narrativen mehrerer »alternativer Zukünfte« (Kahn 1966) verschriftlicht.

10. Wie ein Szenario lokalisiert sich auch The Day After an der Schwelle zwischen zukünftigen Gegenwarten und gegenwärtiger Zukunft und organisiert damit Thematisierungsmöglichkeiten in Form von Erwartungsspielräumen. Es ist ein Film der – wie das Szenario – reden machen will, und dazu bedient er sich nicht nur ausgiebig an einem reichhaltig vorliegenden Szenario-Wissen zum Thema, sondern übernimmt auch dessen Strukturprinzip: Die erste Hälfte des Films entspricht dabei dem Eingangs-Briefing in Form eines Krisen-Narrativs, das mit einem nuklearen Schlag/Gegenschlag endet, worauf dann die zweite Hälfte des Films dessen mögliche Folgen ausagiert. Allerdings verlaufen Medienwechsel selten ohne Transportschäden. Erstens verrutschen die Proportionen: Wo das Briefing beim Szenario nur ein kurzer Auslöser ist, aufgrund dessen sich viele alternative Erzählstränge verzweigen, die sein eigentliches Interesse bilden, nimmt es im Film die Hälfte der Laufzeit ein. (Was dem Umstand geschuldet sein mag, dass der Film zunächst auf zwei gleichlange Sendeplätze an aufeinanderfolgenden Tagen aufgeteilt werden sollte.) Zweitens bildet das Spiel (und nicht das Zuschauen) den methodischen Kern der Szenariotechnik. Die Beobachtungen von Spielern bestehen dort in Entscheidungen in Form narrativer Spielzüge, die vom control team evaluiert werden. Zwar gibt es auch bei The Day After durch den Viewer’s Guide den Versuch, eine methodisch angeleitete Vor- und Nachbereitung des Gesehenen anzuleiten, doch diese Interaktivität kapselt nur eine völlig traditionelle Zuschauersituation ein. Drittens fehlt dem Film der komparatistische Plural, in dessen Modus das Szenario die möglichen Folgen der gleichen Ausgangskrise mehrfach durchspielt und vergleicht. Allenfalls kann der Film sie im Rahmen einzelner Erzählstränge parallelisieren – etwa als unterschiedliche Taktiken von Lager, Bunker oder Flucht –, aber solche Alternativen bleiben Teil einer Geschichte und damit einer Welt, gegen die das Szenario die vielen Geschichten mehrerer gleich möglicher Welten setzt. Und viertens und zuletzt wird die Rolle des Bildes und seines Eigensinns nicht zu unterschlagen sein, mit dem der Film das zeigen muss, was das Szenario in Schrift, Zahl und Diagramm bearbeitet. Indem The Day After nicht nur versucht, das Wissen von Szenarien (die selbst Fiktionsinstrumente

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sind) zu verfilmen, sondern zugleich auch selbst im Modus jenes Mediums zu operieren, aus dem er sein Wissen bezieht (also Szenario zu sein), stellt er sich eine schier unmögliche Aufgabe.

11. Und weil das Fernsehen selbst sich mit Medien so viel besser auskennt als die meisten seiner Kritiker, ist ihm nicht nur aufgefallen, was jenen entgangen ist, sondern es hat aus dieser Beobachtung auch gleich weiteres Fernsehen generiert. Zwei Tage nach der Ausstrahlung von The Day After zeigte ABC zu später Stunde vier 25-minütige Episoden mit dem Titel Crisis Game, die (wie die Talkrunde nach dem Film) von Ted Koppel moderiert wurden. Crisis Game ist das (vielleicht einmalige) Experiment, einfach das professionelle Durchspielen eines Szenarios nahezu unmodifiziert im Fernsehen auszustrahlen. (Womit es dem Genre heutiger »Let’s Play«-Videos erstaunlich nahekommt.) Es bildet darin nicht nur die Alternative zur erwähnten Kombination aus Zuschauer-Schulung, Filmausstrahlung und Talkrunde, sondern alles drei zugleich und darüber hinaus noch mehr. Die Zuschauer werden zunächst in die Szenariotechnik eingeführt, dann bekommen Spieler und Zuschauer gemeinsam ein etwa dreiminütiges, filmisch auf bereitetes Krisennarrativ im Nahen Osten als Briefing zu sehen, und anschließend schaut man einer Runde aus Militärs, Politikern, Journalisten und Beratern beim Spielen und Reden zu. Zugleich aber – und das unterscheidet diese Inszenierung grundlegend von der des Films – beobachtet man, wie Narrative generiert werden und wie jenes hypothetische Wissen über einen vermeintlich undenkbaren Krieg methodisch erzeugt wird, das dann wiederum zum Stoff für Romane und Filme werden kann. Die Anmoderation versichert daher zu Beginn noch einmal: »The crisis which we will outline for you in a couple of minutes is imaginary. The world’s situation (in other words) is not real. Although (as you’ll soon see) that at times will be difficult to remember. What we have tried to make as real as humanly possible in this war game is the process.« Woraufhin die Spieler (wie sonst allenfalls bei Brecht) mit ihren Rollen vorgestellt werden: Edward Muskie, Gouverneur von Maine und bis vor Kurzem noch Außenminister spielt heute Abend den Präsidenten. Und so weiter. Dazu wird (und muss auch) kaum etwas inszeniert werden, weil das Szenario ja selbst eine Form von Sprechtheater mit ein paar Requisiten und Spielleiter ist. An den Wänden hängen – wie im sogenannten wirklichen Leben – mehrere

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Karten und Diagramme, und ab und zu betreten die Spielleiter der control group die Bühne, spulen die Spielzeit vor und erzählen, was aus den letzten Zügen der Mitspieler erwachsen ist.

12. Zwanzig Jahre später nimmt The Day After Tomorrow den unvergessenen Filmtitel auf und verneigt sich gleich in der Eingangssequenz mit einem langen Kameraflug vor seinem berühmten Vorbild, um danach alles ganz anders zu machen. Nicht der Atomkrieg, sondern der Klimawandel bildet nun die Katastrophe, und während man sich im Kalten Krieg vor plötzlicher Hitze und einer langen Kälteperiode fürchtete, fürchtet man sich nach dem Tauwetter nun vor plötzlicher Kälte und einer langen Hitzeperiode. Dennoch könnten die Umstände epistemologisch und strukturell kaum ähnlicher sein: Atomkriege und Nuklearer Winter ebenso wie Klimakatastrophen und Erderwärmung sind Phänomene von globalem Ausmaß, deren Konsequenzen sich über inkommensurable Zeiträume erstrecken. Sie erfordern systemüberspannende Aushandlungsprozesse (Abrüstungsverhandlungen bzw. Klimagipfel) und verteilte Infrastrukturen (Frühwarn- und Abwehrsysteme bzw. Messstationen und Supercomputer) und haben Simulationswissenschaften hervorgebracht, die fortlaufend Szenarien des angeblich Undenkbaren bearbeiten. Deren Ergebnisse sind zwar nicht auf traditionelle, wissenschaftstheoretische Weise falsifizierbar, bilden gleichwohl aber gesellschaftliche Orientierungs- und Thematisierungsoptionen, an denen mehr oder minder alle teilhaben können und die ununterbrochen durch Diagramme, Erzählungen und Filme ausgestaltet werden. Kurz gesagt: Das Klima hat genau jenen systematischen Ort okkupiert, den der Atomkrieg verlassen hat, und die Lehre vom Anthropozän von dort mitgebracht.

Referenzen Abella, Alex (2008): Soldiers of Reason. The RAND Corporation and the Rise of the American Empire, Orlando: Mariner Books. Boyd-Bowman, Susan (1984): »›The Day After‹: Representations of the Nuclear Holocaust«, in: Screen, 25/4–5, S. 71–97. Brandstetter, Thomas (2005): »Der Staub und das Leben. Szenarien des nuklearen Winters«, in: Archiv für Mediengeschichte, 12, S. 149–156.

The Day Af ter (1983)

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Claus Pias, Prof. Dr., Professor für Mediengeschichte und Medientheorie an der Leuphana Universität Lüneburg. Arbeitsschwerpunkte: Mediengeschichte, Technikgeschichte, Digitale Kulturen.

PARIS, TEX AS (1984) Gerd Zimmermann Wenn im Vorspann der Titel aufscheint, »Paris, Texas«, tiefrot, in der Grafik eines US-Nummernschilds oder commercial signs, dann ahnen wir, es geht um Amerika. Wenn dann in der ersten Szene die Kamera das weite Panorama einer Wüstenlandschaft (Devil’s Graveyard) einfährt, die zwischen Death Valley und Monument Valley changiert, dann sind wir sicher, es geht um Amerika. Wenn dann der unwiderstehliche, legendäre Gitarrenscore von Ry Cooder einsetzt, ein Sound von magischer Klarheit, dann sind wir in der Assoziationswelt des Westerns, der Einsamkeit und nicht enden wollenden Weite des Kontinents und dann wissen wir: das ist Amerika. Paris, Texas, den Ort gibt es wirklich, nicht weit von Dallas. Im Film jedoch ist Paris, Texas die Chiffre für das entlegene Amerika, für Travis, den Haupthelden des Films, ein fiktiver Fixpunkt der zerfallenen Familie, für die Kritik Ausdruck der euro-amerikanischen Liaison, eine deutsch-französische Produktion, deren Regisseur Wim Wenders eine Schlüsselfigur des deutschen Autorenkinos mit einer Obsession für Amerika ist. Der Film Paris, Texas, 1984 erschienen, mit der Goldenen Palme von Cannes ausgezeichnet, entwirft in faszinierenden Sequenzen ein Bild dieses Amerikas. Ja, Wenders ist auch Hollywood, er gebraucht die entsprechenden cineastischen Formate und Klischees, den Western, das Road Movie, die Neon-Welt des Strip, die Robert Venturi in Learning from Las Vegas programmatisch seziert hat. Zugleich entwirft Wenders ein Gegenbild: No glamour, no action, no guns. Ja, eine Love-Story, mit tragischen Zügen, aber kein kitschiges Drama. Es gibt in diesem Film auch keinen Star-Kult. Harry Dean Stanton (Travis) hatte bis Paris, Texas nur Nebenrollen in B-Movies, Nastassja Kinski (Jane) war eine bewunderte Nachwuchsschauspielerin, hatte mit Polanski und Wenders schon gedreht. Aber hier werden

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die Charaktere zu wirklichen Stars. So prototypisch, ja archaisch die Rollen sein mögen, so grandios und sensibel ist deren Interpretation durch die Schauspieler. Diese Leute sind echt. Das Klischee wird lebendig. Aus diesem Anderssein vor dem Hintergrund der kanonisierten US-Bilderwelt sowie stereotyper Rollenbilder bezieht dieser Film seine Faszination. Es geht um die Verfremdung des Stereotyps, um den anderen, den individuellen Blick. Und: es geht um Amerika, um die erneut brisante Frage, ob die Legende von diesem Kontinent als Raum grenzenloser Freiheit und des weiten Horizonts der Wirklichkeit standhält. Auch wenn dieser Film diese Frage vielleicht gar nicht beantworten will. Am Anfang ist die Wüste. Ein Mann taucht auf, in verstaubtem, verschlissenem Anzug, rotes Basecap, Krawatte, trinkt den letzten Tropfen Wasser aus einem Plastikkanister, wirft ihn weg, hebt den Blick zu einem Falken, der sich auf einen Felsen setzt, blickt den Falken an und setzt seinen Weg fort in der endlosen Wüste. Travis, so heißt der Held des Films, erreicht schließlich halb verdurstet eine Tankstelle, findet nichts zu trinken, aber eine Kiste mit Eiswürfeln, stopft sie in sich hinein und fällt erschöpft um. Ein Arzt (Bernhard Wicki) päppelt ihn auf, der vollkommen verstörte Travis jedoch spricht kein Wort, reagiert auf keine Frage. Der Arzt findet bei Travis eine Visitenkarte, ruft den Bruder Walt (Dean Stockwell) in Los Angeles an, der dann mit Flugzeug und Auto an diesen vollkommen entlegenen Platz kommt, um Travis abzuholen. Travis, immer noch verstört und verstummt, weigert sich, nimmt seine irren Laufwege wieder auf, steigt dann aber ins Auto. Das Road Movie startet. Die Fahrt geht nach Los Angeles, wo Walt mit seiner Frau Anne (Aurore Clément) lebt, zusammen mit Hunter (Hunter Carson). Hunter, sieben Jahre alt, ist der leibliche Sohn von Travis und seiner Frau Jane. Nach der Trennung der beiden (Travis war für vier Jahre vollkommen verschwunden und wurde fast schon tot geglaubt) haben Walt und Anne Hunter zu sich genommen. Travis findet langsam und tastend in die Zivilisation und zu sich zurück, beginnt auch wieder zu sprechen, sucht auf seine Weise die Rückkehr in die Familie (putzt zum Beispiel über Nacht alle Schuhe für sie), erneuert aber vor allem den Kontakt zu Hunter, seinem Sohn. Nach dem Walt einen alten Super-8-Film vorführt, der die glückliche Zeit der gesamten Familie zeigt, beschließen Travis und Hunter, Jane zu suchen. Das Road Movie geht in seine nächste Etappe, denn

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Travis und Hunter fahren ohne Anne und Walt das zu sagen, nach Houston, finden – eigentlich zufällig – Jane. Sie folgen ihr in die Peep-Show in welcher sie arbeitet. Travis mietet die Kabine mit Jane und hier entwickelt sich die eigentliche Schlüsselszene des Films. Travis, ohne seine Identität preiszugeben, spricht mit Jane, die ihm – schön, jung, blond, roter Pullover – gegenübersitzt, die ihn aber durch die Einwegscheibe nicht sehen kann. Am folgenden Tag, sie sind noch in Houston, trifft er Jane in der Peep-Show-Kabine erneut und erzählt ihr, immer noch anonym, ihre gemeinsame Geschichte, die Geschichte einer unerträglich großen Liebe – und Eifersucht. Jane erkennt, dass es ihre Geschichte ist und dass der Mann hinter der Scheibe Travis ist. Jane macht das Licht aus, die Einwegscheibe wechselt die Richtung, sie sieht Travis. Beide bleiben, wo sie sind und sie berichtet ihre Geschichte. Jetzt beginnt das Finale des Films, denn Travis sagt Jane, dass Hunter im Hotel auf sie warte. Die Schlussszene dann zeigt uns vor dem Hintergrund der nächtlichen Skyline von Houston das Hotelzimmer, in welchem Jane und Hunter sich wiedersehen und euphorisch umarmen, während Travis die Szene vom Dach des benachbarten Parking House aus beobachtet, ins Auto steigt und die Stadt verlässt, in das Nirgendwo vielleicht, aus dem er in der Wüste anfangs kam. Reinhard Baumgart war der Meinung, dass dieser Film eigentlich ein Märchen sei und Nastassja Kinski hinter der Einwegscheibe Schneewittchen im Glassarg (Baumgart 1985). Dieter Wellershoff dagegen findet die Story skandalös und schreibt unter dem Titel »Fromme Lügen« einen Verriss (Wellershoff 1985), unter einer oberflächlichen Glanzfolie würde der Film eine falsche Botschaft verdecken. »Der eigentliche Skandal des Filmes ist seine zentrale Aussage, dass Kinder zu ihren biologischen Müttern gehören, egal wie unmütterlich sich diese verhalten haben.« Und weiter: »Da kommt also dieser falsche Prophet Travis aus seiner Wüste, um nach Jahren des Wahnsinns die narzistischen Kränkungen zu heilen, die ihm – einem elternfixierten Neurotiker – eine vitale, sexuell lebendige Frau geschlagen hat. Und es fällt ihm das alte probate Herrschaftsmittel des Patriarchats ein: – die Zähmung der Frau durch das Kind.« Die Kritik von Wellershoff geht jedoch fehl, da der Film gerade nicht solch politisch korrekte Didaktik pflegt. Denn die Botschaft des Films liegt in den Konditionen des Mediums selbst, in jenen Narrativen, welche die Bilder selbst konstruieren. Seine Qualität gründet in der Konstruktion präziser Bildwelten.

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Wie gesagt, ist der Film ein Road Movie. Es sind die Stationen des Weges, die Durchmessung des Raumes, welche die Erzählung strukturieren. Anfangs Travis’ Weg durch die Wüste, dann seine irren Laufversuche zum Horizont, dann das Kultobjekt Auto, die Weigerung von Travis, das Flugzeug zu nehmen, die Fahrt nach L.A., schließlich die Tour von Travis und Hunter nach Houston. Travis’ Rückkehr in die Zivilisation und zu sich selbst ist hier auch der Weg aus der Einsamkeit in die Metropole, aus der Wüste nach Downtown. War am Anfang ein völlig verlassener Flecken namens Marathon, so steht am Ende Houston. Aber auch das ist nicht das Ende, denn Travis verlässt mit dem Auto die Stadt, lässt den Ort wie auch seine Familie hinter sich, auf dem Weg zu einem Nirgendwo, aus dem er einst in der Wüste gekommen war. Das Road Movie also spannt den Bogen vom Monument der Landschaft zum Monument der Stadt, wobei sich das Wüste der menschenleeren Landschaft am Ende in der Metropole Houston wiederholt, die im Film ebenso menschenleer und monoton ist, wie es die Wüste am Anfang war. Und der Film ruft das klassische Format des Western auf. Es ist der einsame Westerner, der von irgendwo in die Stadt einreitet, diese von der brutalen Gang befreit, derart zum Helden avanciert und die Stadt wieder mit unbekanntem Ziel verlässt. So wie Travis. Es ist das Transitorische der bindungsunwilligen oder -unfähigen Figuren, das Western und Road Movie gleichermaßen transportieren. »The cowboy parallels once again appear at the film’s closing sequence, where Travis drives away from Houston into the sunset. Thus Travis is painted as a heroic figure, rather than a coward, for leaving his wife and child, as he has made a painful decision, sacrificing his own hopes for the happiness and those he loves most.« (Tacon 2003) Wim Wenders’ Film ist nicht nur ein Amerika-Panorama, er ist auch eine Love-Story. Julia Hick hat darauf verwiesen, wie vor allem die Farbe Rot in Paris, Texas quasi semiotisch funktioniert (Hick 2015): »Die Liebe zu Jane wird oft durch Farben symbolisiert. So trägt Travis am Anfang eine rote Kappe. Später wird diese durch eine rote Bluse eingetauscht. Rot, ganz klar, die Farbe der Liebe. Auch sein Sohn Hunter trägt während des Road Trips von Vater und Sohn ein rotes T-Shirt. Als sie Jane das erste Mal sehen, fährt diese – wie sollte es anders sein? – ein rotes Auto. Danach trägt sie einen pinken Pullover. Ihre Lippen sind rot geschminkt.« Zwei Schlüsselszenen im Film thematisieren diese Love-Story von Travis und Jane in besonderer Weise. Da ist zum einen die Se-

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quenz mit dem Super-8-Film, den Walt in Los Angeles Travis, Anne und Hunter vorführt, ein wunderbarer Film, den Walt einst gedreht hat als er und Anne Travis, Jane und Hunter an der texanischen Küste besuchten. Die erkennbare Technik, Unschärfe und spezielle Farbwelt des 8-mm-Films sowie die amateurhafte Machart des Films lassen enorm viel Unmittelbarkeit und Lebensfreude aufscheinen. Nastassja Kinski als Jane ist hier zum ersten Mal zu sehen. Wie genau hier gearbeitet wird, zeigt uns auch die Filmmusik: Canción mixteca, ein altes mexikanisches Volkslied, das hoch melancholisch die Sehnsucht nach einer verlorenen Heimat besingt, hier wieder mit der Gitarre von Ry Cooder, gesungen von Harry Dean Stanton persönlich. Und dieser anrührende, melancholische Blick zurück in eine bessere Zeit, filmtechnisch organisiert mit dem Motiv des Films im Film wird dann die Umschaltstelle zum zweiten Abschnitt des Road Movie, der Suche von Travis und Hunter nach Jane. Diese Suche führt zur zweiten Schlüsselszene zwischen Travis und Jane, der faszinierenden Szene in der Peep Show. Das Etablissement selbst liegt in einer Art vorstädtischem Gewerbe- oder Industrieareal. Außen zu sehen sind einige große Graffiti, die Freiheitsstatue, ein Indianer, innen die enge Kabine dieser extrem voyeuristischen Installation der Peep Show, Travis im Dunkel der einen Seite, Jane auf der anderen, der grell erleuchteten Seite. Wie hier mit der Einwegscheibe, dem Licht, dem Spiegel und der Spiegelung umgegangen wird, dies kann als perfekte Illustration der psychoanalytischen Theorie des Blicks von Lacan gelesen werden. Würden wir in einer Lacan’schen Lesart den ganzen Film als Spiegel verstehen, dann hätten wir nicht nur bei Super 8 das Motiv des Films im Film, sondern hier das Motiv des Spiegels im Spiegel, denn zu dem Spiegel in der Show tritt die sensitive Fläche der Kamera hinzu. Die Umkehrung des Peep-Show-Blicks inszeniert perfekt die Umkehrung des Erkennens bei Jane. Und doch wird die Peep-Show-Situation nicht aufgehoben, es kommt zu keiner Wiederbegegnung der beiden. Frank-Michael Helmke hat das wunderbar beschrieben (Helmke 2011): »Doch tatsächlich gelingt Wenders und seinen über sich hinaus wachsenden Darstellern Stanton und Kinski in dieser ausgedehnten Szene nicht nur die ebenso ergreifende wie stille Dramatisierung einer großen persönlichen Katharsis – allein Wenders‘ Inszenierung, die dem sehr beschränkten Set immer neue Blickwinkel und Einstellungsmöglichkeiten abringt und geradezu brillant eine visuelle Distanz zwischen zwei Figuren aufrechterhält,

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die doch nur wenige Zentimeter voneinander entfernt sind, ist schon für sich genommen ein bemerkenswerter Geniestreich.« Wenders wollte ursprünglich, dass sein Amerika-Film quer durch den Kontinent führt, von Alaska bis nach Texas (Wenders 1991). Sam Shepard brachte ihn davon ab und meinte, Texas allein würde pars pro toto für Amerika stehen können. Und das scheint zu stimmen. Doch allein darum geht es ja gar nicht. Vielmehr, wie wir schon eingangs feststellten, ist dieses Amerika gar nicht Amerika, nicht das Business Amerika, nicht das Corporate America, nicht Hollywood, nicht Disney. Die nationalen Icons kommen schon vor, aber en passant und pathosfrei, die Freiheitsstatue und der Indianer als mural paintings im Industriegebiet der Peep Show, Stars and Stripes als Aufnäher auf Hunters Ärmel und wenn er in Houston durch sein Fernglas schaut und bei der Flagge auf dem Skyscraper endet. Das Environment dieses Films, das sind vergessene Orte, der Zivilisationsschrott am Rande des verstaubten Highways, desolate, primitive Hütten, Fast Food Restaurants, Motels, labyrinthische Highway Crossings, Commercial Strips, das ganze Inventar fast wie eine temporäre Installation, die ›Architektur‹ so flüchtig wie der Blick vom Highway und manchmal auch überhaupt nur als mobiler Wohnwagen. Travis und Jane lebten einst in einem Wohnmobil, der Anfangs-Ort des Films mit dem wahrscheinlich treffenden Namen Marathon hat ebenfalls einen hohen Prozentsatz an Wohnmobilen. Und wenn dann der Film in Houston kulminiert, dann erscheint diese Stadt wie jene Vision der modernen Hochhaustadt, die Ludwig Hilberseimer 1924 gezeichnet hat: leer, kalt, fremdartig, und doch faszinierend und eine Stadt der Bewegungssysteme. »The images in the film show people framed by the vast, impersonal forms of modern architecture; the cities seem as empty as the desert did in the opening sequence. And yet this film is not the standard attack on American alienation. It seems fascinated by America, by our music, by the size of our cities, and a land so big that a man like the Stanton character might easily get misplaced«, so lesen wir in einer amerikanischen Kritik (Ebert 2008: 579). Noch die Peep-Show-Szene hat dieses banale Vorstadtambiente. Schmerzhaft regelrecht, wie primitiv und ignorant die Kabine von Jane dort zusammengeschustert ist, wo sie nur von ihr, nicht aber durch den Spiegel gesehen wird. Es ist das Absurde dieser Schalldämmung der Kabine, das zugleich die Fremdheit und Künstlichkeit der Telefonapparaturen unterstreicht, welche diese Trennung überwinden.

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Wenders kultiviert den Kult. Die Signets der Kultur, der Alltagskultur werden noch einmal überhöht, inszeniert. Das kann auch kritisiert werden, wie etwa Richard Brody schreibt (Brody 2017): »Wenders doesn’t see the landscape or the towns; he sees his repertory of myths and applies them to his settings like decals.« Nein, plakativ ist das eben gerade nicht. Vielmehr ist es diese Untrennbarkeit von Mythos und Wirklichkeit, welche dieser Amerika-Film konstruiert. Und vielleicht deshalb wird er immer besser, je öfter man ihn sieht.

Referenzen Baumgart, Reinhard (1985): »Der lange Film zum kurzen Abschied«, in: Die Zeit, Nr. 3, 1985. Brody, Richard (2017): »How Paris, Texas sold Harry Dean Stanton Short«, in: The New Yorker, Sept. 28, 2017. Ebert, Roger (2008): Paris, Texas, in: Ders.: Roger Ebert‘s Four Star Reviews 1967–2007, Kansas City: Andrews McMeel Publishing, S. 579 f.. Helmke, Frank-Michael (2011): Paris, Texas, in: http://www.filmszene.de/filme/paris-texas, [27.07.2018]. Hick, Julia (2015): »Hommage an Wim Wenders Paris, Texas«, in: http://cinema.arte.tv/de/artikel/paris-texas, [20.10.2018]. Tacon, David (2003): »Great Directors/Wim Wenders«, in: http:// sensesofcinema.com/2003/great-directors/wenders/, May 2003, [01.06.2018]. Wellershoff, Dieter (1985): »Fromme Lügen«, in: Die Zeit, Nr. 8, 1985. Wenders, Wim (1991): »Like Flying Blind Without Instruments: On the Turning Point in Paris, Texas (1984)«, in: Ders.: The Logic of Images. Essays and Conversations, London: Faber & Faber, S. 66.

Gerd Zimmermann, Prof. Dr.-Ing., Architekt, ist Professor i.R. für Entwerfen und Architekturtheorie an der Bauhaus-Universität Weimar, Arbeitsschwerpunkte: Architektur als Medium, Architektursemiotik und -psychologie. Rektor der Bauhaus-Universität 1992–2001 und 2005–2011.

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Zu Beginn platziert der Film den/die Zuschauer_in innerhalb eines Medienverbunds: ein Fernsehgerät, ein Videorekorder, ein Scheinwerfer, im Vordergrund eine Hand, die ein Tonbandgerät hält. Der Ort, an dem sich dieses Setting aufspannt, ist ein abstrakter aber dennoch affektgeladener. Die medialen Gehäuse setzen sich stark ab vom planen und reflektierend blutroten Hintergrund. Das Tonband macht eine Stimme vernehmbar, die davon spricht, dass Kreativität nur durch Erinnerung möglich ist. Ein Voice Over nimmt den Gedanken auf und kontrastiert tradierte Zeitlichkeit mit dem Fluss des Fernsehens: »Wir sahen jeden Abend fern. Das Aufrollen dieser erinnerungslosen Geschichte bildete einen krassen Kontrast zur Welt tagsüber. Die schwarzen Hänge des Fujiyama, die Figuren einer anderen Zeit, und die Gegenwart von Akira Kurosawa.« (Marker 1985: 00:00:52) Die Exposition wird mit einem Gegenschnitt besiegelt: der Blick richtet sich auf Kurosawa, wie er auf die Entstehung seines Filmes blickt, umgeben von einer konzentrierten Stille, bis zum erlösenden »Cut«. Der Zuschauer ist im Filmessay A.K. und damit am Set der Produktion von Ran (Kurosawa 1985) angekommen. Chris Markers A.K. zeigt eine Art über Filme nachzudenken. und zwar konkret über Ran, dessen Produktion er begleitet. A.K. verortet den/die Zuschauer_in mit der ersten Szene in einem hermetischen Setting, das durch seine ästhetische Abstraktion, das kaderfüllende Rot, die lose vor dem dimensionslosen Farbgrund platzierten Gerätschaften, im »krassen Kontrast zur Welt tagsüber«, dem Filmset von Ran, steht. Damit verbindet A.K. zwei Formen von filmischem Außen: das hors-cadre der Produktion von Ran und das hors-cadre der Reflexion über Ran. A.K. will, so scheint es, nicht nur die Entstehung eines Historien-Epos nachvollziehen oder den schöp-

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fenden »sensei«1 hinter eindrücklichen Filmbildern porträtieren. Im Abfilmen einer profilmischen Realität geht es weniger darum, selbstreflexiv die Gemachtheit von Ran auszustellen, sondern dem Handlungszusammenhang, welcher zur Entstehung des Filmes führt – eine nach Lorenz Engell als »kinematographische Agentur« (Engell 2010) zu verstehende Konstellation – ein eigenständiges filmphilosophisches Denken zuzugestehen. Die nun in A.K. nachzuvollziehende Reflexionsarbeit der kinematographischen Agentur findet statt, ohne einen expliziten Bezug zu den ›eigentlichen‹ Filmbildern aus Ran hervorzuheben. Ein Vergleich aus Filmzitat und den Bildern ihrer Herstellung bleibt aus. In der Überwindung einer para-filmischen Bezogenheit eines Making-ofs auf das entstehende Filmwerk ließe sich hier eine filmphilosophische Autarkie nachvollziehen, die sich in A.K. unter anderem in den rotgetränkten Szenen kondensiert. Der wiederholt stattfindende ›Rückzug‹ an diesen ›Denkraum‹ vollzieht eine Taktung des Arguments. Die ästhetische Aufdringlichkeit der Szenen produziert ästhetische Schnitte im sonst dokumentarisch geprägten Stil des Films. Hier beginnt das filmphilosophische Reflektieren, denn es wird gezeigt, wie über Ran nachgedacht wird. Die Bilder und Töne seiner Entstehung vom Fuße des Fujiyama finden dort Eintritt in einen Befragungszusammenhang, in Gang gesetzt durch mediale Versatzstücke, die wie Indizien eine Annäherung an und Rückschlüsse auf Kurosawas Filmwerk versprechen. Gesprächsfetzen, Filmausschnitte, biographische Bruchstücke oder Zelluloidschnipsel bündeln filmästhetische Motive im Schaffen Kurosawas, wie ›das Pferd‹ oder ›der Regen‹. Auf dem Fernsehbildschirm werden die Befunde als Supercut arrangiert. Diese Form des Nachdenkens über Ran in A.K. zeigt filmische Ermittlungsarbeit als »Begabung zur Bezugnahme und die Fähigkeit, Relationen einzugehen, Abstimmungen vorzunehmen und die verschiedenen Relationen wiederum aufeinander zu beziehen« (Engell 2015: 31). Nicht nur das ›Wie‹ der Entstehung von Ran am Filmset wird so sichtbar, sondern gleichsam das ›Wie‹ der Entstehung von filmphilosophischen Gedanken. Im Außen des Films von demselben affiziert (Fahle 2015), wird eine medientechnische Verbundsituation benötigt (Fernsehbildschirm, Aufzeichnun1 | Sensei ist die japanische Anrede für ›Meister‹ – die für denjenigen gewählt wird, »der durch technische Perfektion eine Art ›spirituellen Vorsprung‹ bekommt«. (Marker 1985, 00:28:16)

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gen, Videorekorder), um Erkenntnisse mit der filmischen Wirkung abzugleichen. Die Filmbilder selbst, also Szenen, die innerfilmisch in Ran erscheinen, sind dabei zwar Epizentrum der Betrachtung, jedoch völlig von der Observation unabhängig – sie bleiben in A.K. unsichtbar. Solange die Ashigaru-Krieger durch die geparkten Toyota- und Honda-Karosserien stapfen, ein Raupenbagger sich vor der Panoramaansicht des schneebedeckten Fujiyama seinen Weg bahnt oder die aus den USA importierten Pferde vor dem Werbebanner »Wrangler Ranch« traben, ist die Differenz von Film (Ran) und filmphilosophischer Betrachtung (A.K.) leicht zu identifizieren. Schwenkt Markers Kamera gegen den Himmel und filmt von unten den im Windspiel pendelnden Federschmuck der Kriegerrüstung, wird die Gefahr größer, A.K. mit Ran zu verwechseln. A.K. verpasst es nicht, auf das Problem aufmerksam zu machen: »Bei einem solchen Dreh darf man sich diese fremde Schönheit nicht zu eigen machen.« (Marker 1985: 00:10:25) Trotz der Aufdringlichkeit der ›entlehnten Schönheit‹ beharrt A.K. auf dem Standpunkt eines filmphilosophischen Fragens und Suchens: »aber wir werden versuchen, das zu zeigen, was wir sehen« (ebd.: 00:10:34). Die Konsequenz, mit der A.K. Ran eine ästhetische Autonomie zugesteht, zeigt sich, wenn gerade jene Szenen aufmerksamkeitsstark zu sehen sind, die es nicht in die Endfassung von Ran schaffen. Ein in Gold eingefärbtes Pampasgrasfeld soll sich durch die filigranen Grashalme wie Pinselstriche auf schwarzen Lack vom Nachthimmel absetzen. Wie dies im Film erscheinen könnte, wird als filmisches Potenzial durch die Szenen der Produktion sichtbar, die selbst nicht filmischer sein könnten. Dass die geschilderte Szene nicht eine eigene filmische Wirkung erzielt, hängt an der Abhängigkeit zu Ran. A.K. funktioniert nicht ohne Kurosawas Film, gleichzeitig beschränkt sich Markers Filmessay nicht darauf, den Status eines Making-ofs einzunehmen. Vielmehr ließe sich von einer Making-of-Situation der Beobachtung des Films sprechen, die sich in jenem filmästhetischen Überhandnehmen des in A.K. sichtbar werdenden goldenen Pampasgrasfeldes offenbart. Die Offenbarung des Filmeffekts leitet einen befragenden Modus ein, ohne auf die Beantwortung der Frage, im Abgleich mit Ran, zu bestehen. Genauso lässt sich eine zweite Leerstelle in A.K. erklären, die der Dokumentation auch immer wieder zum Vorwurf gemacht wurde (z.B. Canby 1986). Die Kamera verharrt in unaufdringlicher Distanz

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zu Akira Kurosawa. Markers Filmteam bleibt am Set von Ran in der Statistenrolle und liefert so Nahaufnahmen aus der Peripherie des Filmdrehs: die geschminkten Gesichter der zahlreichen Komparsen, die hinter einem Verschlag gestapelten Stuntpuppen, die akkurat geordneten Requisiten-Pfeile. Dabei wird als »höchst ungewöhnlich« (Marker 1985: 00:20:20) wahrgenommen, dass die Entstehung von Ran aus dem Zusammenhang lateraler Aktionen, unabhängig der Qualifikationen und Hierarchie der Teammitglieder, dargestellt wird. A.K. zeigt zum Beispiel, wie die Hand des Regisseurs den Nebelmacher schwenkt. Arbeitsschritte sind nicht durch Professionen voneinander trennbar, sondern ausgerichtet auf eine übergeordnete Mission: die Gestaltung des »Film[s] als Ganzes, als gemeinsames Unternehmen« (ebd.: 00:20:16). Das Augenmerk A.K.s liegt auf einer ›verteilten Wahrnehmungsleistung‹, der »sieben Samurai«, wie das treue Filmpersonal um Kurosawa genannt wird. Ihren Händen, Blicken und Standpunkten folgt die Kamera, in ihrer Wahrnehmung ist das Filmwerk Kurosawas archiviert: »Das sind die Augen, die sahen [...] wie der junge Nakadai in Sanjuro erstochen wurde. Das sind die Ohren, die die Melodie in Dodes‘ka-den aufnahmen.« (Ebd. 00:26:10) Die Darstellung der Entstehung von Ran als die Arbeit am Film ›als Ganzem‹ wird in A.K. – so könnte man im Gleichschritt mit der filmphilosophischen Beobachtung, die Engell in Bezug auf Ran macht (Engell 2003/04), erkennen – als ein Aktionsbild der großen Form wahrnehmbar (Deleuze 1997a). Man könnte fragen, ob Handlungsformationen am Set von Ran, jene kinematographischen Agenturen (Engell 2010: 139), mit der großen Form beschreibbar wären, die Engell mit Deleuzes Aktionsbild Ran zuspricht. Der »Atem«, »der alles als Eines durchzieht, alle Dinge wieder zu einem Ganzen vereint« (Deleuze 1997a: 253) und so das Aktionsbild in Ran als große Form konstituiert, würde dann die kinematographische Agentur, die für die Entstehung dieser Bilder verantwortlich ist, gleichermaßen infiltrieren. Deleuze erkennt in Kurosawas Werk nicht nur »Gegebenheiten einer Situation«, sondern »die Gegebenheiten einer Frage«, die erst freigelegt werden muss, »um handeln und auf die Situation antworten zu können« (ebd). Überträgt man auch diese befragende Fundierung der großen Formen der Aktionsbilder bei Kurosawa auf den Entstehungszusammenhang des Films, so ließen sich die gesichteten Handgriffe, Techniken und Personen in A.K., die an der Filmentstehung beteiligt sind, nicht nur als die Reaktion auf eine

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übergeordnete Situationsabhängigkeit darstellen, sondern vor allem als Versuch, eine Frage zu beantworten. Unter filmphilosophischen Vorzeichen könnte diese lauten: ›Was ist Film?‹ oder ›Was ist Kino?‹. Filmproduktion wird zu Filmphilosophie und so überlagern sich in A.K. die beiden Formen eines filmischen hors-cadre. Die der Situation zu Grunde liegende Frage zeigt sich zum Beispiel in der Ausrichtung auf die milieugebundenen Begebenheiten am Set – also der simplen Tatsache, unter restriktiven Einflüssen einen Film zu produzieren. Vor allem das Wetter wird als einflussnehmender Faktor hervorgehoben. Die unberechenbare Meteorologie am Fuße des Vulkans oktroyiert dem Filmdreh ihren Rhythmus auf (vgl. Nogami 2006). Antagonistisch schreiben sich Regen, Wind und Nebel in die Entstehung von Ran ein, indem sie die Produktionseinheiten von Szenen takten, die Arbeiten am Set verlangsamen oder blockieren. Die Situation und ihre zu Grunde liegende Frage ›Was ist Film?‹ bestimmen sie aber nicht nur auf Grund ihres Einflusses auf den Drehplan. »Das Wetter ist der rohe Klotz aus dem er [Kurosawa] den Film herausmeißelt« (Marker 1985 00:56:30), heißt es in A.K., und der Zuschauer sieht die Konturen von zu erahnenden Szenenbildern im Nebel verschwimmen. Jene Situationen eingeschränkter Sicht erscheinen als Ohnmachtserfahrung bei der Suche am Set nach einer Antwort auf die grundlegende Frage nach dem Film. Dann kippen die Aktionszusammenhänge der kinematographischen Agenturen in optische und akustische Situationen, die sich auf das beziehen »was sich im Sehen nicht sehen läßt« (Deleuze 1997b: 220) und es ließe sich hinzufügen: im Fragen nicht fragen. Die Beziehung von Atmosphäre und Film, die die Filmherstellung vor Herausforderungen der Bildproduktion stellt, ließe sich auf die Herstellungsbedingung der filmphilosophischen Reflexion selbst übertragen. Die Frage ›Was ist Film?‹ löst sich am Set von Ran dann weniger durch die Aktionen, die den Film entstehen lassen, sondern vielmehr, so zeigt A.K. die Bilder vom Set, wenn sich die Bedingungen der Frage selbst auflösen. Damit ist A.K. weniger ein Filmessay über die Entstehungsbedingungen von Film, als vielmehr über die Entstehungsbedingungen von Filmphilosophie. Für die Filmphilosophie gilt es den eigenen Analysemodus zu befragen und so schreibt Deleuze am Ende seiner Kinobücher: »Die Begriffe des Kinos sind nicht im Kino ›gegeben‹. Und dennoch sind es die Begriffe des Kinos und nicht Theorien über das Kino. So daß es immer, zwischen Mittag und Mitternacht, einen Augenblick gibt, in

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dem man nicht mehr fragen sollte: Was ist Kino, sondern: Was ist [Film]Philosophie?« (Ebd.: 358) Mit jenen »Hexenfrage[n]« (Deleuze 1997: 256) kehrt die Filmphilosophie zurück in ihren rot beleuchteten Denkraum, zum Beispiel der Medienkonstellation, die A.K. zum Reflektieren als Rückzug anbietet. Genauso aber könnte sie in ein anderes Setting einkehren, einen anderen medial verschachtelten, filmphilosophischen Resonanzraum aufsuchen: die abgedunkelte, rot beleuchtete Projektionssituation des Weimarer Lichthaus-Kinos, Wintersemester 03/04, Mittwoch, 17:30-21:30 Uhr, Vorlesung »Der gute Film«, dritte Vorlesung: Ran (Kurosawa).

Referenzen Canby, Vincent (1986): The Screen: A.K. and Ulysee, in: The New York Times, 29.01.1986. Deleuze, Gilles (1997a): Das Bewegungs-Bild. Kino I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Ders. (1997b): Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Dodes‘ka-den (J, R, 1970, Akira Kurosawa). Engell, Lorenz (2003/04): Vorlesung der gute Film (3). Ran, https:// web.archive.org/web/20050312154913/http://www.uni-weimar. de:80/medien/philosophie/lehre/ws0304/dergutefilm3.htm, [22.10.2018]. Ders. (2010): »Kinematographische Agenturen«, in: Ders. (Hg.): Medien denken. Von der Bewegung des Begriffs zu bewegten Bildern, Bielefeld: transcript, S. 137–156. Ders. (2015): »Agentur«, in: Ders. et al. (Hg.): Essays zur Film-Philosophie, Paderborn: Fink, S. 17–61. Fahle, Oliver (2015): »Das Außen«, in: Lorenz Engell, Lorenz et al. (Hg.): Essays zur Film-Philosophie, Paderborn: Fink, S.117–167. Nogami, Teruyo (2006): Waiting on the Weather. Making Movies with Akira Kurosawa, Berkeley: Stone Bridge Press. Snajuro (J, R, 1962, Akira Kurosawa).

Elisa Linseisen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin mit dem Schwerpunkt Filmtheorie und Filmästhetik an der Professur für Filmwissenschaft am Institut für Medienwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum.

HENRY. PORTRAIT OF A SERIAL KILLER (1986) Adina Lauenburger

1986 ist das Jahr der Atomreaktorkatastrophe von Tschernobyl. Es ist aber auch das Jahr, in dem Andrei Tarkowski seinen letzten Film dreht: Opfer, ein präapokalyptisches Spiegelkabinett, das die kinematographischen Möglichkeiten am Endpunkt der Bewegung vorführt: In Erwartung eines Atomkrieges sitzt eine Geburtstagsgesellschaft ihre Angst aus. Nur das Wehen der Gardinen weist noch auf die Existenz der Geister und Doppelgänger, die mit dem Phasenbild einst Einzug in den Film gehalten haben. 1986 erscheint auch das Buch Grammophon, Film, Typewriter des Medienwissenschaftlers Friedrich Kittler, das die Vorlage für diese Lesart bildet und die Ikono- wie Historiographie der titelgebenden Medien auf Jacques Lacans Trias des Realen, Imaginären und Symbolischen zurückführt: Erst die Schreibmaschine liefert eine Schrift, die Selektion aus dem abgezählten und geordneten Vorrat ihrer Tastatur ist. […] Im Gegensatz zum Fluß der Handschrift treten diskrete, durch Spatien abgetrennte Elemente nebeneinander. Also hat das Symbolische den Status von Blockschrift. – Erst der Film speichert jene bewegten Doppelgänger, in denen Menschen im Unterschied zu anderen Primaten ihren Körper (v)erkennen können. Also hat das Imaginäre den Status von Kino. – Und erst der Phonograph hält fest, was Kehlköpfe vor jeder Zeichenordnung und allen Wortbedeutungen an Geräusch auswerfen. Um Lust zu haben, müssen Freuds Patienten nicht mehr das Gute des Philosophen wollen. Sie dürfen einfach Blabla sagen. Also hat das Reale – zumal in der talking cure namens Psychoanalyse – den Status von Phonographie. (Kittler 1986: 28 f.)

»[J]ene bewegten Doppelgänger« des Films also sind bei Tarkowski Erstarrte, Stumme, Gelangweilte oder – Opferwillige. So muss der

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Ort, der Kino war, sinnbildlich in Flammen aufgehen. Doch damit wäre einiges über die ikonischen Zugriffe dieser Zeit, aber wenig über ihre Medien gesagt. In Betrachtung eines anderen Films, der ebenfalls 1986 entstanden ist, stellt sich nämlich die Frage: Wohin in dieser Aufzählung gehört das Video? Und gemeint ist die analoge, elektromagnetische Videoaufzeichnung, die zwar irgendwie ›Film‹ ist, aber, so der technologisch begründete Unterschied, optische und akustische Signale synchron aufnimmt und ausgibt, also durch die Brille Kittlers betrachtet, Imaginäres und Reales umfasst. Und es kommt hinzu, dass Video wegen seines soziokulturellen Hintergrundes und der Motive, die es hervorgebracht hat – das Rauschen des Realen, das ins Bild gewandert ist – eigentlich sogar gänzlich dem Vorsemantischen zugeordnet werden müsste. Das unbewusste Geständnis ist sein Geschäft. Doch Kittler hat auf die Video-Frage eine andere Antwort. Da sein Buch auf die Diskretisierung des Medialen – die Schreibmaschine – hinausläuft, heißt es am Ende der Einleitung: »Wie die Briefpartner Turings laufen ja alle von den analogen Maschinen zu diskreten über. Die Compact Disc digitalisiert das Grammophon, die Videokamera das Kino.« Das ist eine Voraussetzung, der Jean-Luc Godard ganz und gar nicht zugestimmt hätte. Der hat 1986 jedoch keinen kanonischen Film herausgebracht, anders als John McNaughton mit Henri. Portrait of a Serial Killer. Einem Debüt. Die Anfänge und Enden des Kinos finden sich in den hier vorgestellten Werken des Jahres 1986 verknotet. Dass Kittler das Video den diskreten Medien – wohlgemerkt den Medien des Symbolischen – subsumiert, ist auch darum eigenartig, weil er es dem Film zu Beginn des Film-Kapitels als Reales in Aussicht stellt: »Zwei Gründe, die dem Film Anschlüsse ans Reale versagen. Er speichert statt der physikalischen Schwingungen selber sehr global nur ihre chemischen Effekte auf sein Negativmaterial. Optisches Signalprozessing in Echtzeit bleibt Zukunftsmusik.« (Kittler 1986: 182) Doch meint dieser ›Anschluss‹ an das Reale offenbar keine Hin- oder Rückführung, sondern eine Überbietung – im Modus der Einverleibung – mit den Mitteln des Symbolischen. Kittlers Übertragung der Trias in technologische Aprioris unternimmt nämlich, so wird es jetzt offenbar, die Überwindung eines mit Video erst kritisch werdenden, elementaren Dualismus, der in Reales und Imaginäres aufund abgeschoben ist: »Die Tatsache, daß Schnitte bei der optischen Datenverarbeitung am Anfang, bei der akustischen erst am Ende

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standen, kann dann einen der fundamentalen Unterschiede unserer Merkwelt abgeben. Sie hat die Trennung von Imaginärem und Realem inauguriert.« (Kittler 1986: 180) Noch einmal wird hier wissensgeschichtlich ein Anfang aus einem Ende geboren. Das Video ist darum bei Kittler nicht Sound und also Reales plus Bild (der Anfang des Anfangs), sondern es ist schon unterwegs zum Diskreten: Digitalen, das diesen Spalt mit Spatien, Nullen, ausfüllt (dem Anfang aus einem technologisch hergeleiteten unwiderruflichen Ende). Und was weiß darüber der Film? Henry wohnt mit seinem ehemaligen Knastbruder Ottis in Chicago. Dessen Schwester Becky quartiert sich vorübergehend ein. Sie ist gerade ihrem brutalen Ehemann entflohen und entwickelt eine zärtliche Zuneigung zu Henry. Eine narrative – imaginäre – Schließung des Films gibt es jedoch nicht. Henry und Ottis sind aus dem Spiegelstadium, der ›Urszene‹ des Imaginären, ja schon aufgrund ihrer Pathologien herausgefallen. Die Videoaufnahmen, die den mittleren Teil des Films füllen, bilden daher keinen phantasmatischen Schirm. Beiläufig findet die Videokamera ihren Weg in den Film (und wieder heraus). So zeigt auch das home video, das den Auftakt bildet, an Psychologie nicht mehr als der zuvor definierte kinematographische Raum: Während Ottis sein Begehren unverhohlen auf alles, auch auf seine Schwester richtet, ist Henry zur Erwiderung von Zärtlichkeiten – dem Kuss Beckys – nicht befähigt. Er wendet sich ab (obwohl er moralische Grundsätze reproduzieren und mehrmals ihre Verteidigung übernehmen kann). Der Film wurde gedreht im 16mm-Format und auf 35mm umkopiert, was dem gesamten Bild eine recht körnige Textur gibt. Da die Farben überwiegend blass gehalten sind und auch die Ausleuchtung, jedenfalls die der Innenräume, eher zur Visualität des Fernsehens tendiert, hat der Film selbst eine insgesamt videoartige Anmutung. Doch die Dissoziation Henrys – so wir auf der Ebene der Figurenpsychologie verbleiben – wird durch die oben beschriebene Trennung von Bild und Ton ausgedrückt. Während die diegetische Kamera die toten und entblößten Körper seiner Opfer pietätvoll abtastet – mit einem technoästhetischen Blick – oder in Form ausgiebiger Kamerafahrten sowie zoomouts in den Erzählfluss einbettet, ist die Tonspur einer bereits mit den Mitteln der Montage ›überholten‹ Mordtat zu hören. So werden die Frauen zunächst in Detail- und Großaufnahmen erfasst und erst durch rückwärts verlaufende oder kreisförmige Kamerafahrten nach und nach als Opfer

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eines Gewaltverbrechens identifiziert. Ein andermal wird die Leiche – wie beiläufig – von der Kamera aufgegriffen, während sie das Treiben eines Milchkanisters auf einem Fluss verfolgt. Zusätzlich ziehen aber schrille oder erstickte Schreie von Bild zu Bild, vom Leichnam zu Henrys Händen oder seinem Gesicht – und bleiben doch flüchtig, entkoppelt, akusmatisch, wie ein Nachhall oder eine Halluzination. Daraus folgt: Henry tötet wahllos, ohne Muster und ohne Obsession. Henry verfolgt seine Opfer spontan. Ist die Gelegenheit nicht günstig, lässt er es einfach sein. Er tötet im Freien, in Wohnungen, in Diners: Blonde, Brünette, Hausfrauen, Kellnerinnen, Prostituierte. Der Film zeigt die Taten vermittels der Montage als Serie. Dazwischen sind Essen, Autofahren, Arbeiten und Kartenspielen mit Becky eingestreut. Feiern und Fernsehen dagegen sind Henry unangenehm oder lassen ihn kalt. Seine Taten bleiben so sinnlich entkoppelt, tief im Trauma verwurzelt, das er einmal gegenüber Becky, als Eingeständnis seiner Identität, doch in widersprüchlichen Worten andeutet. Ottis dagegen, der Henry bald auf seinen Streifzügen begleitet, filmt mit der Videokamera, die ihnen bei einem Mord zufällt, was ihm vor die Linse kommt und seine Lust erregen könnte: seine tanzende Schwester, die er später brutal vergewaltigen wird, aber auch fremde Überfälle – oder einfach schöne Frauenbeine. Sodass allein die Videoaufnahme während des Mordes an einer Familie am Ende des zweiten Drittels des Films eine Ausnahme bildet: Bilder und Schreie sind hier erstmals synchron, und bleiben doch aufgrund von Kadrierung und Bildqualität gleichermaßen geisterhaft. Henry, der hier zunächst die Kamera führt, ist kein Könner auf dem Gebiet der Bildproduktion. Ohne dramaturgischen Ehrgeiz schwenkt er sie hin und her, weniger angetrieben von einem neuartigen Tasten als von Ottis Drängen, die Kamera auf ihn und seine Schandtaten zu richten. Ebenso unbeholfen legt er sie schließlich zu Boden, um den heimkehrenden Sohn zu überwältigen. Doch gerade so, dass nicht nur Henry und Ottis, sondern auch die Zuschauer jederzeit ›im Bilde‹ bleiben. Im Gegensatz dazu stellt es für Ottis keinerlei Schwierigkeit dar, selbst aus einem fahrenden Auto heraus, bewegte Objekte gekonnt mit dem Fadenkreuz des Objektivs einzufangen. So kommen mit der Videokamera, wie sie Ottis lenkt, nun doch der Film und seine Kulturtechniken ins Spiel: »Die Geschichte der Filmkamera fällt also zusammen mit der Geschichte automatischer Waffen. Der Transport von Bildern wiederholt nur den von

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Patronen. Um im Raum bewegte Gegenstände, etwa Leute, visieren und fixieren zu können, gibt es zwei Verfahren: Schießen und Filmen.« (Kittler 1986: 190) Und beides kommt mit dem Camcorder auf eine (im Film) stets unheilvolle Weise zusammen, so wie in Michael Powells Peeping Tom (1960) die Motive ›Töten‹ und ›Filmen‹ bereits im Format des Super-8-Films zusammenfielen. Triumphierend ruft Ottis daher aus: »I got one«, bevor das Kameraobjektiv aus Unachtsamkeit an einem Laternenpfahl zerschellt. Doch die Videokamera hat ihren Zweck an dieser Stelle des Films bereits erfüllt: Achtlos wirft er sie daher, in doppelter Hinsicht unbrauchbar geworden, aus dem Fenster. Dieser Zweck kann zuletzt exakt bestimmt werden: Denn nichts von alledem übersteigt jemals die Grenzen der Erzählung. Die Videobilder werden von der diegetischen Kamera stets vom Sucher der Videokamera oder vom Fernsehbildschirm abgefilmt. Eine akusmatische Qualität wie die der Schreie, die auf ein die Erzählung übersteigendes Wissen hindeuten könnte, haben die Videoaufnahmen nicht. Henry zeigt im Gegensatz zu Ottis auch wenig Interesse an den Bildern. Um seine Mordserie fortsetzen zu können, ist es nicht nötig, die Aufnahmen anzuschauen. Ottis hingegen verbindet sich ›jubilatorisch‹ mit seinem Doppelgänger (vgl. Lacan 1996: 64) und überführt das Video so ins Imaginäre, also Film: »I want to see it again!« Wieder und wieder spielt er das Band in Zeitlupe ab, um die Projektionszeit zu verlängern; und schließlich schläft er dabei ein, narkotisiert von seinem eigenen Spiegelbild (vgl. McLuhan 1992: 57 ff.). Mit der ›Blendung‹ durch das spitze Ende eines Stielkamms, die wenig später seine Ermordung einleitet, ist er dann auch im ödipalen Dreieck angekommen – zur Beseitigung seiner Überreste muss er darum von Henry bloß wieder – jetzt aber buchstäblich – zerteilt werden. Von der Theorie des Films und des Fernsehens erinnert Henry demnach vieles, er setzt sie sogar in eins, von der Theorie Kittlers weiß er dagegen nichts. Und die Schreibmaschine? Die ist 1986 einem anderen Film zugestoßen: als doppelt anachronistisches Medien-Ding, das dieselbe Schließung verhindern muss. In Caravaggio von Derek Jarman markiert diese Schreibmaschine einen Durchlass zwischen den Zeiten (und damit den Medien) des Films, nämlich in der Szene des nachgestellten Gemäldes Der Tod des Marat (1793) von Jacques-Louis David, die, wie Lorenz Engell ausgeführt hat, auf vielen Ebenen eine Schlüsselstellung im Film einnimmt:

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Baglione – oder Marat – muss folglich durch die Zeit versetzt werden. […] Baglione imitiert ein Bild, das er gar nicht kennen kann, so daß zwischen der Handlungsebene und der Bildebene keine Verbindung mehr besteht. An ihre Stelle tritt nun der Zuschauer. Er transferiert Baglione aus dem Jahr 1600 ins Jahr 1793 und anschließend in dieser Dopplung ins Jahr 1985, wo er abgefilmt wird (unterwegs wird noch, etwa 1950, eine Schreibmaschine mitgenommen). Der besondere Trick besteht nun darin, das mehrschichtige Filmbild zurück ins Jahr 1600 zu projizieren, wo der arme Baglione nunmehr, bei völlig abgeschnittenem Rückweg, die Paradoxie aller Zeitreisenden erleidet, ja ausbaden muss, nämlich die Einheit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aushalten zu müssen. (Engell 1989: 302)

Diese Schreibmaschine füllt nun offenbar genau deshalb die ausgesparte Stelle von »Messer und Wunde, die eine ziemlich zwingende motivlogische Verbindung zwischen Davids Gemälde und dem Film ergeben hätten« (Engell 1989: 301), weil sie selbst für das ›Trennende‹ steht, das Bedeutung auf Differenz zurückführt. Sie repräsentiert das analytische Ordnungsprinzip des Films, in dem selbst der Tod nichts ›Reales‹ mehr an sich hat. An derselben Stelle findet Engell daher auch den Zuschauer wieder – aber einen, der sich im Knüpfen der Verbindungen jetzt auch als vom Imaginären Getrennter erfahren kann.

Referenzen Caravaggio (GB, 1986, Derek Jarman). Engell, Lorenz (1989): »Nicht Hoffnung noch Furcht. Der Tod als Ordnung in Derek Jarmans Film ›Caravaggio‹«, in: Ders./Vogelsang, Bernd (Hg.): Der tödliche Augenblick. Wie Hören und Sehen vergeht, Köln: Runge, S. 276–317. Kittler, Friedrich (1986): Grammophon, Film, Typewriter, Berlin: Brinkmann & Bose. Lacan, Jacques (1996): »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint«, in: Ders.: Schriften I, Weinheim: Quadriga, S. 61–70. McLuhan, Marshall (1992): Die magischen Kanäle. Understanding Media, Düsseldorf: Econ. Opfer (S/GB/F, 1986, Andrei Tarkowski). Peeping Tom (GB, 1960, Michael Powell).

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Adina Lauenburger, M.A., ist Projektkoordinatorin am Jüdischen Museum Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Unschärfebild, Historiographie analoger Medien, Medientheorie.

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SUPERSTAR: THE K AREN CARPENTER STORY (1987) Astrid Deuber-Mankowsky

Wie für das Internet gemacht Todd Haynes war 26 Jahre alt, als er zusammen mit seiner Koproduzentin Cynthia Schneider das Drehbuch für das 43 Minuten lange Biopic Superstar: The Karen Carpenter Story schrieb und es dann in einer Privatwohnung auf 16 mm verfilmte. Es gab keine Platzprobleme, denn die Rollen wurden durchweg mit Barbiepuppen gespielt. Die Welt von Karen Carpenter wurde für den Film auf Barbiegröße geschrumpft und als Puppenwelt rekonstruiert: das Haus ihrer Eltern in Downey/Kalifornien, das Aufnahmestudio, in dem sie mit ihrem Bruder die Songs einstudierte, die das Duo weltberühmt machen sollten, die Bühnen auf denen die beiden spielten, die Restaurants, in denen sie sich mit Freunden und ihrer Familie traf. 1987 war Karen Carpenter, Sängerin und Percussionistin des Duos The Carpenters bereits drei Jahre tot. Sie war mit 32 Jahren an der Folge einer Anorexie gestorben. Superstar, der Titel des Films, ist zugleich der Titel jenes Songs, mit dem sie und ihr Bruder Richard 1971 den ersten Welterfolg feierten. Mit diesem Song wurde Karen selbst ein Superstar, eingefroren im Bild des Mädchens mit der dunklen und doch so sanften Stimme. Für Todd Haynes verkörperte die Geschichte von Karen Carpenter die Allgegenwart von Gewalt und Tod im Alltag der US-amerikanischen Gesellschaft, deren Verdrängung in den 70er Jahren noch möglich war, weil Vietnam weit weg zu sein schien, mit Reagans Aidspolitik in den 80er Jahren jedoch im Mutterland selbst angekommen und nicht mehr zu übersehen war. Die Wut des jungen Todd Haynes, der mit seinem experimentellen Film Poison nur zwei Jahre später die Bewegung

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des Queer Cinema mit einläuten sollte, schärfte seinen Blick auf die bürgerliche, weiße heteronormative Gesellschaft Kaliforniens, in der er selbst aufgewachsen war und die er gut kannte. Der Film ist unterlegt mit den Songs der Carpenters und lebt von der Spannung zwischen deren sanfter Melancholie und der Todessehnsucht, die sie überdeckt. Er tourte 1988 durch die einschlägigen unabhängigen Filmfestivals, begeisterte das Publikum und war dennoch in den regulären Kinos nicht zu sehen. Cynthia Schneider und Todd Haynes hatten bei der Produktion von Superstar: The Karen Carpenter Story die Musikrechte an den Liedern ignoriert. Es kam zu einem Prozess mit Richard Carpenter, der mit der Darstellung der Geschichte seiner Familie nicht einverstanden war. Haynes verlor den Prozess mit dem Effekt, dass der Film seit 1990 nicht mehr öffentlich gezeigt werden darf. »Some films were made for the internet well before the internet was made for them«, so schrieb der Guardian fast 30 Jahre später, »Todd Haynes Superstar: The Karen Carpenter Story is one« (Lodge 2016). Der auf 16mm gedrehte Film, dessen Produktionsgeschichte nicht nur wie eine Vorwegnahme der Produktion von YouTube-Videos, sondern auch der Probleme der Remix-Kultur (Lessig 2008) anmutet, wurde dank der interaktiven Vernetzungsmöglichkeit des digitalisierten Films und Mund-zu-Mund-Propaganda dennoch zum Kultfilm. Er ist auf YouTube zugänglich und kann dort verlinkt, weitergeschickt und heruntergeladen werden (vgl. dazu und zum Folgenden: Deuber-Mankowsky 2017: 42–49).

Anorexie als Auto/Immunreaktion Haynes ist nicht interessiert an stabilen Identitäten, aber er ist interessiert an Prozessen der Identifikation und an Prozessen der Desidentifikation. Die theoretische Inspiration dafür bezog er aus der feministischen Theorie der 1970er und 1980er Jahre. In der Einleitung zu den Drehbüchern von Superstar: The Karen Carpenter Story, Safe und des Melodrams Far from Heaven (2002) zollte Haynes der feministischen Theorie den folgenden Tribut: From my first encounter with the invigorating notion of gender as a product of ideology, feminist theory has left an indelible mark on my own – critical and creative – thinking. As far as I knew, at least until the emergence of AIDS in the late 1980s, there was really no study of homosexuality that could rival the complexity – and diversity – of feminist thought [...]. For me, everything that I

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questioned about what it meant to be a man – and how much my sexuality would perpetually challenge those meanings – could be found in arguments posed by feminists. What can I say? I identified. (Haynes 2003: VIII)

Haynes identifizierte sich mit dem feministischen Interesse an Prozessen der Desidentifikation, mit der feministischen Kritik an der normativen Geschlechterordnung, mit dem Interesse an prekären sexuellen Identitäten und er identifizierte sich mit den Frauen, die sich gegen die patriarchale bürgerliche Familie auflehnten. In diesem Sinn fährt er fort: »Identification, to all three of these films, is critical. Not merely my own identification – with Karen, or Carol, or Cathy – but identification itself: that compulsive narrative drive to inhabit what we see (which always seems to function best when we’re not noticing).« (Ebd.) Karen Carpenter, die mit ihrer sanften und zugleich dunklen Stimme die Generationen über den Abgrund des Vietnamkriegs hinweg versöhnte, starb 1983 an Anorexia Nervosa. In dem 16mm-Film spielte Haynes die Karriere und das Leben von Karen Carpenter im Rise and Fall of a Star-Genre nach. Obwohl in dem Film nur Barbieund Ken-Puppen zu sehen sind, funktioniert der Immersionseffekt hervorragend: Er zieht die Zuschauer_in von der ersten Einstellung an in die Geschichte hinein, man vergisst, dass es sich um Puppen handelt, man identifiziert sich. Ein wichtiger Grund dafür sind zum einen die Originallieder der Carpenters und dabei vor allem die Originalstimme von Karen. Es ist schwer, nicht in ihren melodischen, einlullenden Rhythmus einzufallen. Zum anderen jedoch ist es die vollendete Übertragung der generischen Form des Biopics mit Kameraführung, Kamerafahrten, Schnitten und Gegenschnitten auf Barbiepuppengröße, welche den Puppen Leben verleiht und die Einfühlung in Karens Schicksals so einladend gestaltet. Der Film legt über die persönliche Geschichte von Karen Carpenter den in jener Zeit populären und kontroversen Diskurs über die Anorexie. Dabei liegt der Schwerpunkt auf feministischen Deutungen der Anorexie, welche die Verweigerung des Essens als Weigerung der Anorektikerinnen auslegten, sich mit dem normativen Ideal der Weiblichkeit zu identifizieren. An einer Stelle des Films werden in Schriftblöcken, die über eine Kamerafahrt entlang von Supermarktregalen montiert sind, kontroverse Aussagen zur Bedeutung der Anorexie vorgestellt. Sie werden von einer Stimme aus dem Off konterkariert, welche die Geschich-

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te des wirtschaftlichen Aufschwungs und der Supermärkte in den USA in der Nachkriegszeit erzählt. In einem dieser Schriftblöcke heißt es: »In a culture that continues to control women through the commoditization of their bodies, the anorexic body excludes itself rejecting the doctrines of femininity, driven by a vision of complete mastery and control.«1 Dieses Zitat legt es nahe, die Anorexie als eine Art der Autoimmunerkrankung zu verstehen. In ihrer Studie Nicht ich aus dem Jahr 1985 wies Christina von Braun nachdrücklich darauf hin, dass die Verweigerung der Anorektikerin nicht als Verweigerung missverstanden werden dürfe, Frau zu werden, sondern dass es der Anorektikerin im Gegenteil darum gehe, »die Frau als Sexualwesen zu wahren, wenn nicht physisch, dann zumindest als Idee« (Braun 1985: 462). Von Braun legt die Anorexie als Verweigerung aus, ein Prinzip zu verkörpern, in dem »die Ambiguität, das Sexualwesen, die psychische Bisexualität keinen Platz haben« (ebd.). Anorexia Nervosa wäre gewissermaßen eine Auto/Immunreaktion auf die Heteronormativität, die die Frau in das Ideal der bürgerlichen Familie einschließt. Über sein Spiel mit der generischen Form des Biopics, über die Verwendung von Puppen statt von Schauspieler_innen, über die formalen Experimente der sich immer in Bewegung befindlichen Kamera, den häufigen Einsatz der subjektiven Kamera, den Einsatz der Musik und die gleichzeitige Überlagerung der Geschichte des Stars mit den als Schriftblöcken aufscheinenden Versatzstücken des Anorexiediskurses stellt Superstar: The Karen Carpenter Story nicht nur das Moment des Widerständigen in Karens Anorexie aus, sondern reflektiert auf einer weiteren Ebene auch das Begehren der Zuschauer_innen nach Identifikation mit dem Schicksal der Figuren. Wie kann man sich mit einer Barbiepuppe identifizieren? Was bedeutet es, wenn man sich mit einer Barbiepuppe identifizieren kann? Der Film lädt zur Identifikation mit Karens Verweigerung ein, ein Geschlechterideal zu verkörpern, welches den Verzicht auf das Leben als Sexualwesen erfordert und weder Ambivalenz noch Transgression zulässt. Er spielt auf einer klug komponierten formalen Ebene die Ambivalenz und die Ambiguität aus, die nach von Braun auf eine psychische Bisexualität verweist (vgl. ebd.) und die Jacques 1 | Superstar : The K aren C arpenter Story, 22:31.

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Derrida mit dem Konzept der sexuellen Differenz verbindet, die »noch nicht/nicht sexuelle Dualität« (Derrida 1988: 42) wäre. Haynes schreibt an einer Stelle, dass alle seine »Frauenfilme« den Heldinnen gefährliche Erschütterungen zufügten, welche den Prozess der Identifikation der Zuschauer_innen mit der Geschichte selbst gefährden. In jedem Film stehe etwas zwischen den Hauptcharakteren und den Zuschauer_innen, das die Identifikation aufs Spiel setze (vgl. Haynes 2003: IX). Seine frühen Filme Poison, Superstar: The Karen Carpenter Story und Safe problematisieren in unterschiedlicher Weise die Biopolitiken des Selbst, die sich auf das Modell des Immunsystems beziehen und von diesem ausgehen. Sie intervenieren in den Diskurs des Immunsystems, indem sie diesen mit einer Verwundbarkeit affizieren, die sich nicht auf den Organismus, sondern auf die Selbstbezüglichkeit des Selbst bezieht, das im Diskurs der Immunität adressiert wird. Und sie verknüpfen die Verletzlichkeit des Selbst mit der Transgression der sexuellen Identität. In diesem Sinne diskutiert auch Derrida den Begriff der Autoimmunität in seinen Texten nach dem 11. September 2001 (vgl. Derrida 2003). Am Beispiel der Demokratie zeigt er, dass die Autoimmunität ihre Dynamik auch im Fall der Gemeinschaft entfaltet und auf jene sexuelle Differenz verweist, die »noch nicht/nicht sexuelle Dualität« (Derrida 1988: 42) ist. Diese Korrelation zwischen der Deutung der Anorexie und Derridas Verbindung von Demokratie und Autoimmunität lassen den Film über die 30 Jahre seiner Entstehungszeit hinweg ebenso visionär erscheinen wie seine mediale Affinität zum Zeitalter des Internets.

Referenzen Braun, Christina von (1985): Nicht Ich. Logik, Lüge, Libido, Frankfurt a.M.: Neue Kritik. Derrida, Jacques (1988): Geschlecht (Heidegger), Wien: Passagen. Ders. (2003): Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Deuber-Mankowsky, Astrid (2017): Queeres Post-Cinema. Yael Bartana. Su Friedrich. Todd Haynes. Sharon Hayes, Berlin: August. Far from Heaven (USA, 2002, Todd Haynes). Haynes, Todd (2003): Far from Heaven, Safe and Superstar: Three Screenplays. New York: Grove Press.

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Lessig, Lawrence (2008): Remix: Making Art and Commerce Thrive in the Hybrid Economy. London: Bloomsbury Academic. Lodge, Guy (2016): Superstar: Todd Haynes’ banned Karen Carpenter Movie is visionary, in: The Guardian vom 11.08.2016, https:// www.theguardian.com/film/2016/aug11/superstar-todd-hay nes-banned-karen-carpenter-movie, [17.07.2018]. Poison (GB/USA, 1991, Todd Haynes). Safe (USA, 1995, Todd Haynes).

Astrid Deuber-Mankowsky, Prof. Dr., ist Professorin für Mediale Öffentlichkeit und Medienakteure unter besonderer Berücksichtigung von Gender am Institut für Medienwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Arbeitsschwerpunkte: Öffentlichkeit und Post-Cinema, Gender- und Queer Theory, Technoimagination, Medienphilosophie.

NĚCO Z ALENKY (ALICE) (1988) Felix Hasebrink Der Weg ins Wunderland führt bei Jan Švankmajer nicht durch einen Kaninchenbau. Alice folgt in seiner Lewis-Carroll-Adaption Něco z Alenky (Alice, wörtlich: »Etwas über Alice«) zwar auch einem weißen Kaninchen, es verschwindet aber nicht in einem Loch unter der Gartenhecke, sondern in einer Schreibtischschublade.1 Alice klettert hinterher und stürzt, nachdem das Kaninchen abermals entwischt ist, durch den Boden eines durchgerosteten Eimers in einen Fahrstuhl. Es geht abwärts, vorbei an Regalen mit Kinderspielzeugen, Marionetten, einem Metronom, Gemüse und Obst in Einmachgläsern. Sowohl bei Carroll als auch im Film greift sich Alice im Vorbeifallen (bzw. -fahren) ein Glas mit Orangenmarmelade. Doch als Švankmajers Alice kosten will, bemerkt sie etwas Seltsames: Im Orangengelee stecken rostige Reißzwecken. Dinge und Wesen sind in Něco z Alenky nicht an ihrem Platz. Glühbirnen stecken in einem Essiggurkenglas, Kakerlaken krabbeln aus einer Thunfischdose, Butter wird auf die Zahnräder einer Taschenuhr geschmiert. Derartige Kombinationen erinnern an die surrealistischen Poetiken eines André Breton;2 auch Švankmajer ordnet sich, bis zu einem gewissen Grad, in die tschechische Varian1 | Überhaupt ist N ěco z A lenky im wahrsten Sinne des Wortes ein Schubladenfilm. Insgesamt sieben Mal muss Alice eine klemmende Schublade öffnen, um an den Schlüssel für eine verschlossene Tür zu gelangen. 2 | Die Verbindung von »zwei voneinander entfernten Wirklichkeiten« in einem (Sprach-)Bild ist ein Kernthema in Bretons erstem surrealistischen Manifest. Breton betont dabei explizit, dass die Beziehung der beiden Wirklichkeiten keine logisch nachvollziehbare sein darf – ist sie doch im Idealfall Produkt eines automatischen, unbewussten Schreibens, das sich nicht auf Autorintentionen zurückführen lässt (vgl. Breton 2009: 22–23, 34–37).

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te dieser Traditionslinie ein (vgl. Hames 2008: 109–114). Ich möchte an dieser Stelle trotzdem eine andere Route durch sein Wunderland vorschlagen. Sie beginnt bei zwei Fragen: Was haben filmische Dinge wie die Reißzwecken-Marmelade mit Lewis Carrolls literarischer Vorlage zu tun? Und zweitens: Inwiefern entsteht in der Zusammenstellung von unterschiedlichen realweltlichen Materialien eine eigene animationsfilmische Ästhetik, die sich von den Verfahren anderer Alice-in-Wonderland-Verfilmungen unterscheidet? Es geht damit zum einen um besondere Adaptionsstrategien, zum anderen um ihre Relevanz für Vorgänge des In-Bewegung-Setzens und des Verlebendigens selbst. Něco z Alenky basiert darauf sowohl technisch – die Wunderland-Wesen sind Stop-Motion-Animationen –, bespiegelt sie aber auch innerfilmisch mit Szenen von Verlebendigungen und plötzlicher Bewegungsfähigkeit. Damit überträgt Švankmajer, so meine These, Sprachspiele und sprachliche Paradoxa aus Carrolls Erzählung in filmische Anordnungen. Oder, anders ausgedrückt: Formen der Animation sind es, die hier die Rolle der Sprache im literarischen Text übernehmen. Něco z Alenky basiert zunächst auf einem ähnlichen Erzählrahmen wie Alice’s Aventures in Wonderland, nämlich auf dem mutmaßlichen Beginn und dem Ende von Alices Tagtraum. Ebenso treten im Film die bekannten Figuren aus Carrolls Erzählung auf, darunter illustre Gestalten wie der »verrückte Hutmacher« oder die »Herz-Königin«, die immerfort die Enthauptung ihrer Untertanen befiehlt. In Něco z Alenky finden Alices Begegnungen mit diesen Figuren zumeist in inkohärent aneinandermontierten Szenen in Altbauzimmern statt. Auffällig ist allerdings nicht nur das Verlegen der Handlung von Außen- in Innenräume;3 zusätzlich arbeitet der Film mit stark reduzierten Dialogen. Die einzige Figur, die in Něco z Alenky tatsächlich spricht, ist Alice selbst. Ihre sprachlichen Einwürfe beschränken sich auf knappe Anreden einzelner Figuren, vor allem aber auf kurze, zitathafte Inquit-Formeln. Hierfür werden Großaufnahmen von Alices sprechendem Mund in die laufende Handlung insertiert. Als Erzählerin spricht sie aus einem nicht näher definierten, diegetischen Off, das vom Raum der eigentlichen 3 | Streng genommen findet Alices Reise auch bei Carroll nicht unter freiem Himmel statt, sondern unter der Erdoberf läche (das Manuskript trug ursprünglich den Titel A lice ’s A dventures Under Ground). Dennoch beschreibt Carroll fortwährend offene Settings, die eher ›draußen‹ als ›drinnen‹ angesiedelt sind.

Něco z Alenky (Alice) (1988)

Handlung kategorisch abgetrennt bleibt. Bis auf eine gezielt paradoxe Formulierung während des Vorspanns4 enthalten die sprachlichen Passagen außerdem gerade keine Spuren der Neologismen, Lautverschiebungen, Sprachwitze und Spiele mit Sprichwörtern, die Carrolls Texte auszeichnen. Ein markantes Beispiel hierfür ist das Jabberwocky-Gedicht in Through the Looking-Glass: Die Wortneuschöpfungen in den einzelnen Verszeilen sind i.d.R. Kombinationen aus zwei existierenden Begriffen, etwa das Adjektiv »slythy« (aus »slimy« und »lithe«). Diese sprachliche Technik ist nun der Kombination aus Reißnägeln und Orangenmarmelade gar nicht unähnlich, die in Něco z Alenky demonstriert wird. Sowohl im Wort als auch im filmischen Ding bleiben die beiden existierenden Begriffe bzw. realweltlichen Objekte deutlich erkennbar. Dennoch generiert ihre Zusammenstellung einen semantischen Überschuss, der weder in beide Begriffe oder Objekte rückführbar ist, noch unmittelbar vom Leser oder Zuschauer entschlüsselt werden kann. In Něco z Alenky wird so ein eigentlich sprachliches Prinzip in eine konkrete, filmische Anordnung übertragen. Damit findet ein mehrstufiger Medienwechsel statt: von Sprache zu einer materialen Konfiguration, von Literatur zum Film, schließlich aber auch von einer realfilmischen Materialität zu einer Materialität der Formen von Animation. Denn während die Reißzwecken-Orangenmarmelade ein starres Objekt bleibt, wird das Wunderland in Něco z Alenky ebenfalls von beweglichen Hybrid-Wesen bevölkert. Dazu zählen etwa die zuckenden und sich windenden Objekte, auf die Alice in einer Vorratskammer stößt: ein Butterhörnchen, aus dem Zimmermannsnägel heraussprießen, ein Klumpen rohes Fleisch, der eilig hinter eine Regalwand kriecht, schließlich eine Palette mit Hühnereiern, aus denen kleine und eigelbverklebte Tierschädel schlüpfen. Diese Wesen bewegen sich wie von selbst und reagieren auf Alice mit quasi-mimischen Ausdrücken, dennoch bleiben ihnen unübersehbare Anzeichen des Toten eingeschrieben: Knochen, nacktes Fleisch, Skelettteile – zusätzlich dadurch unterstrichen, dass anhand der zerplatzenden Eier eigentlich ein Geburtsmoment inszeniert wird. 4 | Direkt an die Zuschauer gewendet erklärt Alices Mund in frontaler Großaufnahme: »Nun werdet ihr einen Film sehen, der für Kinder gemacht wurde – vielleicht. Aber, fast hätte ich’s vergessen: Ihr müsst die Augen schließen, sonst werdet ihr gar nichts sehen.«

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Dick Tomasovic verweist darauf, dass hier eigentlich totes Material re-animiert wird: »Svankmajer [sic!] anime à partir de la mort, et non à partir du vivant.« (Tomasovic 2006: 89) Besonders deutlich wird dieses Prinzip an dem weißen Kaninchen: Es ist ein eigentlich totes, ausgestopftes Tier; und als ein solches bleibt es trotz seiner flinken Eigenbewegungen auch erkennbar. Das liegt nicht nur etwa an seinen lidlosen Glasaugen, sondern auch an den Bewegungsabläufen. Sie sind vergleichsweise starr und abgehakt; auch die Mimik des Kaninchens ist stark eingeschränkt. ›Animation‹ bedeutet demnach keinen Zuwachs von Bewegungsfähigkeit. Es geht um keine kinetischen Omnipotenz-Fantasien, ebenso wenig wie um das Auflösen und das Übersteigen festgefügter Körperformen – also genau nicht um die Eigenschaften, die Sergej Eisenstein einst den Figuren des frühen Zeichentrickfilms attestierte (vgl. Eisenstein 2011).5 In Něco z Alenky passiert das genaue Gegenteil: Hat Alice das Tintenfass ausgetrunken, schrumpft sie selbst zur Porzellanpuppe. Ihre Mimik ist wie eingefroren, ihre Bewegungen sind ruckartig. Auch sie ist zu einer Stop-Motion-Figur geworden, bis sie durch den erneuten Verzehr eines Kekses wieder zu einem realfilmischen Mädchen heranwächst. Něco z Alenky nimmt damit eine Umkehrung der Animationsstrategien früherer Carroll-Verfilmungen wie Disneys Alice in Wonderland (1951) vor. Statt an ein plasmaartiges Formschwanken führt der Film seine Figurenkörper näher an einen Zustand der Einschränkung, der Erstarrung, letztendlich auch der Bewegungslosigkeit und des Todes heran. Filmische Animation, so eine paradox anmutende Grundidee des Films, ist nur um den Preis eines Quasi-Todes zu haben. Diese Volte verknüpft der Film ein letztes Mal mit einem Carroll’schen Konnex, nämlich der Verbindung aus Sprache/Sprechen und Essen. In Alice’s Adventure in Wonderland wird sie besonders in Szenen virulent, in denen Alice entweder irgendetwas verzehrt, oder sich mit anderen Figuren auf komplexe, sprachlogische Debatten einlässt. Die philosophischen und psychoanalytischen Implika5 | Das ist auch dadurch bedeutsam, weil sich Eisenstein in seinen Überlegungen zur »plasmatischen« Qualität des Zeichentrickfilms dezidiert auf A lice in Wonderland beruft: Alices Schrumpfen und Wachsen bei Carroll ähnele den gummiähnlichen Verformungen der Zeichentrickfiguren von Disney (vgl. Eisenstein 2011: 13–15).

Něco z Alenky (Alice) (1988)

tionen dieser Motivketten wurden insbesondere von Gilles Deleuze umfassend ausgedeutet. Deleuze liest Carrolls Texte als literarische Auseinandersetzung mit der schmalen Kontaktzone zwischen den ›Dingen‹ und den ›Wörtern‹ – ein Bereich, den er mit der Kategorie des ›Sinns‹ identifiziert. Carrolls Beitrag zu einer ›Logik des Sinns‹ liege im Nachweis einer untrennbaren Verbundenheit des Sinns mit dem Unsinn, der sich in verschiedenen Formen des Paradoxen innerhalb serieller Strukturen manifestiere. Dazu zählt für Deleuze auch die Sprache selbst, wofür er Beispiele aus Carrolls Œuvre anführt. In Něco z Alenky steckt nun der Unsinn nicht länger in der Sprache, sondern in den animierten Objekten und Körpern selbst. Der Film stellt Vorgänge der Belebung und des In-Bewegung-Setzens aus, die ihrerseits mit Momenten des Paradoxen und des Essens zusammenhängen. Keine Figur verdeutlicht dies so anschaulich wie das weiße Kaninchen. Als es sich zu Beginn des Films aus einem Glasterrarium in Alices Kinderzimmer befreien will, platzt eine Naht an seinem Unterleib auf. Aus dem Schlitz rieseln Sägespäne, mit denen es offenbar ausgestopft wurde. Diese Wunde wird nicht wieder vollständig geschlossen. Fortwährend hinterlässt das Kaninchen eine Spur aus Sägespänen. Belebung wird hier zum autopoetischen perpetuum mobile: Das Kaninchen muss die Sägespäne essen, die unten wieder aus ihm hinausrieseln. Diese paradoxe Form des Stoffwechsels garantiert seine Bewegungsfähigkeit und ›Lebendigkeit‹; einem Baron Münchhausen nicht unähnlich, der sich selbst an den Haaren wieder aus dem Sumpf zieht. (Selbst)Animation wird damit entweder zu einem Zirkelschluss oder zu einem unendlichen Regress. Dies ist für Deleuze eine Form der paradoxalen Serialisierung, die sich zum Beispiel in einer Szene in Behind the Looking-Glas manifestiert: Ein Ritter nennt Alice den Namen eines Liedes, der aber nicht das Lied, sondern nur den Namen des Liedes bezeichnet (vgl. Deleuze 1993: 48–51). Něco z Alenky nutzt so die Impulse seiner literarischen Vorlage, um ›Animation‹ innerfilmisch als paradoxes Verfahren auszustellen – und dies mit einer Materialästhetik, die sich signifikant von früheren Adaptionen unterscheidet. Vielleicht ist es kein Zufall, dass ein Animationsfilm Verlebendigungs- und Bewegungsvorgänge genau dann als paradoxe Momente inszeniert, wenn bereits mit Hochdruck an vollständig computererzeugten Bewegungsbildern gearbeitet wird. Diese mögen zwar auf ähnlichen technischen Logiken wie

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Stop-Motion oder Zeichentrick basieren, doch ihr ästhetisches Programm ist ein anderes: Sichtbare Spuren manueller Bewegungserzeugung, die unheimliche Präsenz des Toten im Quasi-Lebendigen und die irritierende Nähe filmischer Verlebendigung zum Paradoxen werden fast vollständig aus ihnen getilgt.

Referenzen Alice in Wonderland (USA, 1951, Clyde Geronimi, Wilfred Jackson, Hamilton Luske). Breton, André (2009): »Surrealistisches Manifest«, in: Ders.: Die Manifeste des Surrealismus, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, S. 9–43. Carroll, Lewis (2001): The Annotated Alice. The Definitive Edition. Alice’s Adventures in Wonderland and Through the Looking-Glass. Original Illustrations by John Tenniel. With an Introduction and Notes by Martin Gardner, London: Penguin Books. Deleuze, Gilles (1993): Logik des Sinns, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Eisenstein, Sergej (2011): Disney, Berlin: PotemkinPress. Hames, Peter (2008): »Interview with Jan Švankmajer«, in: Hames, Peter (Hg.): The Cinema of Jan Švankmajer, Dark Alchemy, London/New York: Wallflower, S. 104–139. Tomasovic, Dick (2006): Le Corps en abîme. Sur la figurine et le cinéma d’animation, Pertuis: Rouge Profond.

Felix Hasebrink, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medienwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Forschungsschwerpunkte: Animationsfilm; Theorien und Ästhetiken des Making-of.

1989 – 1998

SPLENDOR (1989) Vittoria Borsò Fortuna entschied, dass ich einen Film aus dem Jahr 1989 für diesen Band zu Ehren von Lorenz Engell bespreche. Fortuna ist blind und kann alle möglichen Wendungen implizieren. Die griechische Herkunft alea betont mehr die Kontingenz, die auf dem Spiel stand. Die unvorhergesehenen Wendungen, die vom Organisationsprinzip dieses Bandes gewollt waren, sind mit Splendor (1989) von Ettore Scola mit Marcello Mastroianni (Jordan, Kinobesitzer), Massimo Troisi (Luigi, Projektionist) und Marina Vlady (Platzanweiserin) ganz und gar ein Glücksfall: Der Film ist eine Elegie des Kinos vor dem Horizont seines Verschwindens angesichts des Triumphs des Fernsehens Ende der 80er Jahre. Thematisch umfasst also der Film die Schwelle von Kino und Fernsehen, die für das Denken und für die Schriften von Lorenz Engell so produktiv ist. Die Operationen, die diese Schwelle materialisieren, sind die der Zeitfiguren und der Erinnerung. Will man nicht dem Thema einer nostalgischen Retrospektive zum Kino und der suggestiven Schrift Nostalghia auf einem Plakat am Anfang des Filmes erliegen, so ist Deleuzes Theorie des Kinos bei der Beschreibung dieses Filmes unabdingbar. Erst mit (Bergson und) Deleuze kann man das Bild als Materie in Bewegung – jenseits analogischer Konzeptionen – denken und die »mise en présence« von Kräften erfassen, die auch in diesem Film spezifische Denkformen produzieren. Eine dieser Denkformen ist die Affinität von Kino und Welt.1 Wie in der Film-Story, in der das Kino (zugunsten des Fernsehens) vom Publikum verschmäht wird, hatte auch der Film 1 | Das auf dem Immanenzplan angesiedelte Denken ist zweiseitig: Zum einen führt das Bild auf die Denkpraktiken; zum anderen ist es Materie: »C’est en ce sens qu’on dit que penser et être sont une seule et même chose. Ou plutôt le mouvement n’est pas image de la pensée sans être aussi matière de l’être. […] Le

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selbst trotz zahlreicher Preise keinen Kassenerfolg, so dass er bald nicht mehr zu sehen war. Die Filmhandlung besteht aus der Schichtung von drei sich immer wieder überlappenden Zeitebenen: 1.) Ende der 70er Jahre, als das alte Cinema Splendor verkauft werden muss, 2.) Das Leben des Kinos und mit dem Kino seit den frühen 20er Jahren des 20. Jahrhunderts2 3.) die Gegenwart der Zukunft nach dem Verkauf des Kinos. So ist auch Splendor eine spezifische Materialisierung von Zeit und von der Kontinuität von Kino und Welt. Zugleich konfigurieren die 15 zitierten Filme die Geschichte des 20. Jahrhunderts als das Jahrhundert der siebten Kunst. Die Rahmenhandlung des Bankrotts von Cinema Splendor ist also Anlass für eine Reihe von teils wiedererkennbaren Zitaten anderer Filme, die nicht, oder nur zum Teil, chronologisch eingeblendet werden. Die Geschichte des Kinos widerspricht oder ergänzt in einigen Punkten Deleuze (etwa die von Deleuze eher vernachlässigte Bedeutung des Stummfilmes als – in heutiger Perspektive – experimentelle Ästhetik) und nimmt sowohl in der Art der narrativen Disjunktion als auch in der doppelten Wirkung in Bezug auf die Geschichte des Jahrhunderts und der Verfertigung des Gedächtnisses teilweise die Performativität von Jean-Luc Godards Histoire(s) (1988–1998) vorweg. Dass es nicht um eine chronologische Geschichte des Kinos geht, zeigen schon der erste und letzte Film, die wie eine Klammer die Filmzitate zusamenhalten: Metropolis (1927) bzw. It’s a Wonderful life von Frank Capra (1946). Diese Klammer ist einmal historisch relevant; sie umfasst die Zeit zwischen Beginn und Ende des Faschismus – im Film durch die Szene visualisiert, in der die von Pfosten gehaltene, bewegliche und sich im Wind bewegende Leinwand so positioniert wird, dass das Ende einer Mussolini huldigenden Wandschrift sichtbar wird. Die gewählten Szenen zeigen das Kino als Produktionsstätte einer doppelten Erfahrung: das Schreckliche, nämlich das lebensverachtende politische Regime wird kritisch reflektiert (dies ist die Seinsweise von Kunst überhaupt), aber auch alternative, mögliche Welten werden real (dies ist die Besonderheit plan d’immanence a deux faces, comme Pensée et comme Nature,comme Physis et comme Noûs.« (Deleuze/Guattari 1980: 41) 2 | Es sind die Rückblende des Wanderkinos des Vaters, mit dem etwa 10jährigen Jordan als Tontechniker, und die Verf lechtung von Erinnerungsfiguren mit 15 Filmen zwischen 1927 und 1978.

Splendor (1989)

des Kinos): In den weiteren Sequenzen von Splendor wird die Leinwand so verschoben, dass das Wort Mussolini verdeckt wird; bald darauf versammeln sich die Dorfleute vor der Leinwand – erfasst durch die Kamera in einer an den Neorealismus erinnernden Halbtotale, in die die Menge hineinströmt. Die in Großaufnahme gezeigten Zelluloid-Spulen werfen nun Lichtstrahlen auf die Leindwand mitten im Dunkel der Nacht; die Kamera nimmt Gesichter und Gesten glücklicher Zuschauer, Menschen jeden Alters in Nahaufnahme auf. Die Technik, besonders die Analogie der Filmspulen mit den übergroßen Zahnrädern von Metropolis, wird betont, jedoch nicht als bedrohlich, wie Fritz Langs z. T. Antiutopie verstanden wurde, sondern als Generator von alternativen Welten, nämlich der glücklichen Welt des Zuschauens und der Welt des möglichen Widerstandes, zu der die nächste Sequenz von Metropolis mit den Reihen von als Automaten marschierenden Menschen aufzurufen scheint. Schon hier zeigt sich das Prinzip der Zitate und ihrer Reihung, nämlich die Szenen und Sequenzen aus einer narrativen Kohärenz zu befreien und als kontextlose »Affektbilder« dem Sehen anzubieten. Ähnliches gilt für das musikalische Zitat von It’s a Wonderful Life, das Ettore Scola für den Filmschluss wählt. Es ist die Weihnachtsszene, in der alle Protagonisten den Walzer For Auld Lang Syne singen. Das Zitat mag zwar auch in Splendor im Sinne einer utopischen Vision gelten, doch ist im neuen Kontext nicht so sehr das glückliche Ende einer Story relevant, die in Scolas Film unbestimmt bleibt, sondern vielmehr das Potenzial, das sich durch eine Handlung öffnet: das Zuschauen auf die Leinwand und die Kräfte, die durch diese Handlung generiert werden. Zu dieser Handlung rufen Jordan und der Vater auf, die aus dem Wanderkino in der Piazza Garibaldi die Projektion von Metropolis mit dem Megaphon ankündigen, in der letzten Erinnerungsequenz des Filmes. Affekte (und Affektbilder) sind wegen der von ihnen ausgehenden Intensität und der Mikro- oder Molekularbewegungen Träger dieses auch politischen Potenzials.3 Denn trotz des zweifellos melodramatisch anmutenden Finales ist der evozierte Affekt nicht minder real, nämlich das somatische Erfahren des Werts des Lebens trotz aller 3 | Zum Affektbild als Potenzialität »Or, l’image-affection n’est rien d’autre  : c’est la qualité ou la puissance, c’est la potentialité considérée pour elle-même en tant qu’exprimée. Le signe correspondant est donc l’expression, non pas l’actualisation.« (Deleuze 1983: 139)

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zerstörerischen Umstände im Capra- wie auch im Scola-Film (hier markiert durch die Jahreszahl 1927). 1946 ist das Jahr des als Wunder erfahrenen Wiederauf baus des Lebens aus der Trümmerwelt der Nachkriegszeit. Angesichts dieser Re-Kontextualisierung ist die in das »Weihnachtswunder« einstimmende Musik nichts anderes als die Materialisierung einer Gegenwart, in der sich nach der Zerstörung zwischen 1927 und 1945 eine Schwelle zur Zukunft öffnet. Die Gegenwart ist zwar, hier für das Cinema Splendor, zerstörerisch. Die Arbeiter sind dabei, die Kinositze abzumontieren und den Saal für die Eröffnung eines Möbel-Supermarkts vorzubereiten. Aber die drei Protagonisten üben Widerstand gegen die materielle De-Montage des Kinos aus, indem sie den Film weiterschauen. Die Menge von Kinobesuchern flutet nun den Kinosaal wieder wie zu Zeiten des Goldenen Zeitalters des Kinos; ihr Widerstand produziert das – zweifellos pathetisch an Pfingsten erinnernde – Wunder der aus dem offenen Kinodach mitten im Juni auf die Zuschauer des Films niederrieselnden Schneeflocken. Die Wahrheit des Kinos (Capras Film) wird zur Wahrheit der (Film-)Realität.

Erinnerungsbilder als Zeitbilder der Gegenwart und die Genealogie des Zuschauens Innerhalb der bisher besprochenen Klammer öffnet sich zwar die Vergangenheit zunächst scheinbar generiert aus der subjektiven Erinnerung von Jordan, doch die materiellen Operationen markieren diese Zeit als Gegenwart der Vergangenheit schon von Beginn an, ist doch z. B. die diegetische Instanz der Narration dieser Szene der kleine Jordan. Überdies erfolgt die Verfertigung der Vergangenheit durch unmerkliche Überblendungen. Zunehmend verselbstständigt sich das Bild der Vergangenheit von dem der Gegenwart und wird zur Koaleszenz von Virtuellem und Aktuellem, nämlich als das Kristallbild des Kinos. Es sind aber keine reinen Zeitbilder, sondern vielmehr Zeitbilder der Gegenwart. Ihre Funktion ist es, die Gegenwart zu »de-aktualisieren« (Deleuze 1985: 132), ihre Potenzialität oder Virtualität zu restutuieren. Diese Zeitfigur der Erinnerung bekommt in diesem Film eine eigene Funktion, nämlich die Potenzialität der Gegenwart des Kinoschauens zu markieren. Kein Zweifel: Es geht in Splendor um ein Lob des (Kino-)Schauens, denn die Zitate von Fritz Lang am Anfang und von Frank Capra am Ende sind keine einfachen »habituellen Erinnerungen« (Bergson), die der Handlung dienen. Vielmehr zeigt die Kamera unent-

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wegt Menschen, die vor der Leinwand sitzen und einem Film anschauen – der Trailer übernimmt die Handlung des Kindes, das als erster auf der Piazza Garibaldi sich einen Platz vor der Leinwand organisiert. Die Leinwand ist der Mittler zur offenen Zukunft einer trostlosen Gegenwart. Dies gilt auch medial.4 Es ist vielleicht nicht unbedeutend, dass der Holzschuhbaum, der die Zitate der zweiten Filmreihe schließt, eine Produktion der RAI, des italienischen Fernsehens, ist.5 »Regarder la toile, l’écrain«: Die Präsenz der Leinwand als materielle Substanz des Bildschirms verweist in Splendor auf ein Feld von Kräften, die mit den medientechnischen Verschiebungen auch Differenzen in der Ontologie des Bildes generieren. Dies betont Lorenz Engell mit der Umschreibung des Incipits von Prousts À la recherche du temps perdu zu Beginn seines Aufsatzes »Regarder la télévision avec Gilles Deleuze« (1997: 482). So war die Beschreibung von Splendor anhand von Deleuze auch wegen der vorausgreifenden Anschlüsse an eine Evolutionstheorie der Medien eine »fortuna feconda«: Das Schauen der Bilder im »petit écran« steht nicht im Gegensatz zum Kino. Trotz der Figur der Endlichkeit (Engell 2005) öffnet der Film Scolas eine Schwelle auf die Zukunft des televisiven Sehens und ihrer digitalen Praktiken (Engell 2000).

Referenzen Deleuze, Gilles (1983): L’image-mouvement. Paris: Minuit. Ders. (1985): »Les cristaux du temps«. Cinéma 2. L’image-temps, Paris: Minuit, S. 92–128. Ders./Guattari, Félix (1980): Mille Plateaux. Capitalisme et schizophrénie 2, Paris: Minuit. Der Holzschuhbaum [L’albero degli zoccoli] (I/F, 1978, Ermanno Olmi). Engell, Lorenz (1997): »Regarder la télévision avec Gilles Deleuze«. In: Fahle, Oliver/Ders. (Hg.): Le cinéma selon Deleuze, Weimar/ Paris: Verlag der Bauhaus-Universität Weimar/Presses de la Sorbonne Nouvelle, S. 482–495. Ders. (2000): »Die Liquidation des Intervalls: zur Entstehung des 4 | Die Leinwand in Cinema Splendor hat einen Theatervorhang und materialisiert die Schwelle zu vergangenen Medien. 5 | Die RAI produzierte auch Padre Padrone der Gebrüder Taviani (mit D er Holzschuhbaum Gewinner der goldenen Palme von Cannes).

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digitalen Bildes aus Zwischenraum und Zwischenzeit«, in: Ausfahrt nach Babylon: Essais und Vorträge zur Kritik der Medienkultur, Weimar: VDG, S. 183–207. Ders. (2005): Bilder der Endlichkeit, Weimar: VDG. Histoire(s) Du Cinéma (F/CH, 1988–1989, Jean-Luc Godard). It’s a Wonderful Life (USA, 1946, Frank Capra). Metropolis (D, 1927, Fritz Lang). Padre Padrone – Mein Vater, mein Herr (Padre padrone, I, 1977, Paolo & Vittorio Taviani).

Vittoria Borsò ist Professorin für romanische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

MILLER’S CROSSING (1990) Britta Neitzel

Szene 1 (0:00): innen, großer, eleganter Büroraum: Vier Hüte Hut eins (Fedora) hängt zusammen mit einem Mantel an einem Kleiderständer neben der Ausgangstür. Hut zwei (Fedora) liegt zusammen mit einem Mantel auf der rechten Armlehne eines Ledersofas. Hut drei (Melone) wird von der rechten Hand eines stehenden Mannes gehalten. Hut vier (Fedora) befindet sich auf dem Kopf des stehenden Mannes. 5:04 Hut drei wird neben der Tür vom stehenden Mann an seinen Besitzer gegeben. Dieser setzt ihn auf. Hut drei und vier verlassen den Raum. 6:30 Hut zwei wird neben der Tür aufgesetzt und verlässt den Raum. Hut eins bleibt zurück.1

Vorspann (6:39): außen, Wald Aufblende, Musik (Oboe), Kamerafahrt, Kamera blickt von unten auf Baumwipfel. Überblendung von den Baumwipfeln auf einen Waldweg mit trockenen Nadeln und Blättern. Die Kamera scheint auf dem Boden zu liegen, der Fokus ist zentralperspektivisch nach vorn, den Waldweg entlang, gerichtet. 1 | In dieser Anfangsszene werden die vier Protagonisten des Films vorgestellt, wobei ich mich nicht festlegen möchte, ob es sich dabei um die Hüte oder die Hutträger handelt. Entsprechend werden im Folgenden manchmal die einen, manchmal die anderen benannt. Die Hüte gehören zu Leo O Bannon (Hut eins), Tom Reagan (Hut zwei), Johnny Casper (Hut 3) und Eddie Dane (Hut 4). ‘

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Ein weicher, schwarzer Filzhut, eine Fedora (wahrscheinlich von Borsalino), fällt aus dem Off auf den Weg – direkt vor die Kamera. Er bleibt liegen, die Öffnung auf dem Boden. Wind kommt auf, bewegt den Hut leicht, hebt ihn schließlich an und weht ihn den Weg hinunter. Er taumelt und dreht sich im Wind bis er aus dem Bild verschwindet. Durch Schärfenverlagerung bleibt der Fokus auf dem Hut.

Szene 2 (8:15): innen, Bar: kein Hut Tom Reagan, der auf einem Sofa in Anzug und Mantel schläft, wird unsanft geweckt. Er erwacht, greift sich an den Kopf, fragt, was passiert und – sofort danach – wo sein Hut ist.

Szene 3 (9:27): innen, Hausflur/Wohnung Tom, ohne Hut, klopft an eine Tür. Diese wird von einer Frau geöffnet. Sie lässt ihn, nachdem sie sich zunächst weigert, ein und schließt die Tür.

Szene 4 (10:09): innen, Schlafzimmer/Wohnung Nahaufnahme von Hut, der auf einer Schlafzimmerkommode liegt. Die Kamera zoomt auf, so dass im Spiegel Tom ohne Hut auf dem Bett zu sehen ist. Es klopft. Tom geht zur Wohnungstür und lässt Hut 1 herein. Hut 1 wird abgesetzt und in der Hand gehalten von Leo, der sich in einen Sessel setzt. 14:56 Hut 1 wird aufgesetzt und verlässt die Wohnung. Tom geht zurück ins Schlafzimmer und spricht mit der Frau.

Szene 5 (16:17): außen, Straße Blick eines kleinen Hundes und eines kleinen Jungen mit Mütze auf einen toten Mann, der ohne Hut an einer Wand lehnt. Der Junge berührt kurz die Haare des Mannes. Dessen Haarteil verrutscht. Der Junge greift vorsichtig nach dem Haarteil, dreht es erstaunt kurz in der Hand und läuft, begleitet vom bellenden Hund, schnell weg. Zurück bleibt der kahlköpfige Tote.

Szene 6 (17:08): innen, Café Nahaufnahme einer Zeitung, dahinter Hut 2. Die Zeitung wird langsam abgelegt und das Gesicht des Hutträgers sichtbar.

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Szene 7 (17.07): innen, Shenandoah Club (Clubraum, Leos Büro, Damentoilette) Keine nennenswerten Hutaktivitäten.

Szene 8 (23:37): innen, Wohnung Total: Ein Telefon klingelt. Die Kamera neben der Wohnungstür zeigt einen Wohnraum. Tom kommt im Vordergrund ins Bild, durchquert das Wohnzimmer und setzt sich mit Hut und Mantel in einen Sessel, Blick in die Kamera. Er schlägt die Beine übereinander (links über rechts), nimmt seinen Hut (wahrscheinlich Borsalino) ab und wirft ihn auf seinen linken Fuß. Dann nimmt er den Telefonhörer und spricht. Nach dem Telefonat schaut er weiterhin in die gleiche Richtung. Umschnitt, halbnah: Im Sessel gegenüber ein Mann im Frack. Er hat einen Hut (Melone) auf sein Knie gelegt. Der Borsalino auf dem Fuß und die Melone auf dem Knie sprechen miteinander. 26:13 Der Borsalino wandert vom linken Fuß in die rechte Hand und wird dort auf einem Finger gedreht. 26:19 Die Melone wandert vom Knie auf den Kopf und verlässt den Raum.

Szene 9 (26:34): außen, Straße Viele Männer, teils mit Hut, teils mit Mütze. Hut 2 spricht mit einer der Mützen. Zwei Hüte nähern sich Hut 2 von hinten, drehen in unsanft um und wollen ihn mitnehmen.

Szene 10 (27:09): innen, Halle/außen, Straße Hut 2 wird von den beiden Abholerhüten in eine große Halle geführt. Hut 2 wird ab- und in die Hand genommen. Die anderen beiden Hüte bleiben auf den Köpfen. Drinnen befinden sich schon Casper (ohne Hut) und Hut 4 auf dem Kopf auf einem Sofa. 28:10 Hut 2 nähert sich dem Pokertisch, hinter dem Casper sitzt, und wird auf dem Tisch abgelegt. [...] 32:31 Einer der Abholerhüte wird auf den Kleiderständer neben der Tür gehängt – zusammen mit Jackett und Mantel. Er nähert sich Hut 2 und will ihn verprügeln. Hut 2 zieht ebenfalls sein Jackett aus und wehrt sich.

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31:00 Der zweite Abholer kommt herein, behält sein Jackett an, wirft jedoch seinen Hut mit einer großen Geste weit in den Raum. Er verprügelt Hut 2. 31:53 Die Polizei stürmt den Raum. Die Polizisten tragen Mützen. 32:25 Ein Polizist ohne Kopf bedeckung, der Hut 2 in der Hand trägt, verlässt mit Tom den Raum. Außen: Hut 2 unterhält sich mit Polizeichef mit Uniformmütze.

Szene 11 (33:34): innen, Hausflur/Wohnung Wie Szene 3, jedoch trägt Tom diesmal einen Hut . Die Frau will ihn wieder nicht einlassen, doch verschafft er sich Zutritt zur Wohnung. In Hut und Mantel telefoniert er, holt sich etwas zu trinken und reinigt sich ostentativ die Fingernägel. Sie nähert sich ihm. Als sie sich küssen, nimmt sie ihm seinen Hut vom Kopf und wirft diesen fort. 36:34 Nahaufnahme von Hut 2, der auf einem Sessel liegt. Schwenk auf die leicht wehende Gardine und Überblendung auf eine andere Gardine.

Szene 12 (36:35): O h D a nn y, B oy oder: Hüte gegen Pantoffeln Zwei Männer in Hut und Mantel dringen in das Haus von Leo ein, um ihn zu ermorden. Er kann jedoch aus dem Haus entkommen, indem er einen Mann gleich in seinem Schlafzimmer erschießt und den anderen, nachdem er das Haus verlassen hat. Die Männer in Straßenkleidung im Haus sind tot, während Leo, ohne Hut, aber mit Hausmantel und Hausschuhen bekleidet, draußen steht.

Szene 13 (40:23): innen, Gang/Büro/Treppen im Club Tom wird durch einen Gang, in dem viele Männer ohne Hut stehen, in Leos Büro (Szene 1) geführt. Er hat seinen Hut in der Hand. Im Büro legt er den Hut auf Leos Schreibtisch. [...] Tom setzt den Hut auf und verlässt den Raum. Leo folgt ihm, hutlos, zieht sein Jackett aus und schlägt Tom mit der Faust ins Gesicht. Dieser strauchelt, verliert seinen Hut. Ein Mann stützt Tom, ein anderer reicht ihm seinen Hut. Leo schlägt Tom wiederholt, dieser strauchelt, hält seinen Hut nun jedoch fest in der Hand. Er wird eine Treppe hinunter geworfen, verliert seinen Hut, richtet sich auf und nimmt auch seinen Hut auf. Leo schlägt ihn noch einmal. Tom trudelt eine weitere Treppe hinunter, seinen Hut in der Hand, und steht wieder auf. Er wird erneut geschlagen, wobei

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er seinen Hut verliert und gegen eine dicke Frau geschleudert wird, die ihn schreiend zu Boden schlägt. Tom liegt auf dem Boden, Leo hebt dessen Hut auf und wirft ihn auf Tom.

49:23 Der Traum »A dream I had once. – I was walking in the woods. Don’t know why. Wind came and blew me hat off.« »And you chased it, right? You ran and ran, finnaly got up to it. You picked it up but it wasn’t a hat anymore. It had changed into something else, something beautiful.« »No, it stayed a hat. And no, I didn’t chase it. Nothing more foolish than a man chasing his hat.«

Szene 14 (50:23): innen, Büro Hut 2 betritt den Raum und wird abgenommen. Am Kleiderständer neben der Tür hängen ein Hut (Melone) und ein Mantel. Der Polizeichef und der Bürgermeister sitzen vor dem Schreibtisch von Casper, Hut bzw. Mütze auf dem Schoß. Sie werden hinausgeschickt. 51:50 halbnah: Hut 2 wird auf den Schreibtisch gelegt, im Hintergrund Hut 4 auf dem Kopf auf einem Ledersofa sitzend.

Szene 15 (54:36): außen/innen Nah: Hut 2 sitzt am Steuer eines Autos, der Kopf des Mannes mit der Melone aus Szene 8 wird – hutlos – gegen die Seitenscheibe des Wagens geschlagen.

Szene 16 (54:53): außen, vor der Stadt: Miller’s Crossing Total: Der hutlose Mann wird von zwei Männern mit Hut verprügelt. Nah: Hut 2 im Auto. Der Hut sitzt lose auf dem Kopf, leicht nach hinten geschoben. Durch das offene Fenster wird ihm eine Pistole gereicht. Er nimmt sie und zieht den Hut tief ins Gesicht bevor er aussteigt. 56:02 halbtotal: Hut 2 geht mit dem Hutlosen vor sich durch den Wald. 56:04 nah: Hut 2 ist nach vorn gezogen, so dass ein Auge des Trägers verdeckt ist. 59:10 total: Hut 2 steht im Wald von der Seite zu sehen, den Kopf leicht vorgebeugt. Er schaut auf die Stelle an der sich zuvor der Hutlose befunden hat. 59:36 total: Drei Hüte steigen ins Auto.

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Szene 17 (59:58): außen, Nacht Nah: Hut 2 steht in einer Telefonzelle und spricht, von hinten zu sehen. Als er sich nach dem Telefonat umdreht, schlägt ihm eine Faust ins Gesicht. Er verliert den Hut. Die Faust mit Hut hebt den Hut auf und reicht ihn zurück. Faust mit Hut und Hut 2 in der Hand führen ein Gespräch.

Szene 18 (1:01:15): innen, Büro von Hut 3 Hut 2 sitzt vor dem Schreibtisch von Hut 3. Im Hintergrund an der Tür ein Kleiderständer mit Hut und Mantel. [...] 1:02:16 Casper geht zum Kleiderständer, nimmt Hut (diesmal Homburger) und Mantel, dreht sich zu Hut 2 um und behält beides in der Hand. 1:02:42 Er setzt den Hut auf und begibt sich wieder hinter den Schreibtisch, wo er sich mit Hut auf dem Kopf mit Hut 2, der nicht auf auf dem Kopf ist, unterhält.

Szene 19 (1:04:38): innen/außen, Boxhalle Hut 2 mit Zeitung spricht mit der Frau. Er ist nach hinten geschoben, so dass das Gesicht gut zu sehen ist. Die Frau verlässt die Boxhalle und wird dabei von Hut 4 beobachtet.

Szene 20 (1:05:40): innen, Wohnung der Frau Hut 4 tritt bei der Frau die Wohnungstür ein, in Hut und Mantel. Zwei weitere Hüte kommen, um Hut 4 zu töten. Er erschießt die Hüte. Ein Hut liegt auf dem Boden.

Szene 21 (1:08:43): innen, Wohnung von Hut 2 Klopfen, dann Geräusche. Tom, hutlos, erhebt sich aus dem Bett und stellt sich in den Türrahmen zum Wohnzimmer. Der Mann aus Szene 8 sitzt wieder im Wohnzimmer, diesmal auf dem Stuhl neben dem Telefon und mit Mütze und Mantel. Die Mütze liegt auf einem Knie. Tom setzt sich in den Sessel gegenüber. [...] 1:11:11 Die Mütze wird aufgesetzt und stellt sich vor Tom, dann verlässt sie den Raum. Tom springt auf, rennt ins Schlafzimmer, nimmt eine Pistole und setzt seinen Hut auf. Barfuß klettert er aus dem Fenster und betritt durch die Hintertür wieder das Haus, rennt durch den Flur, jemand

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stellt ihm ein Bein. Er fällt, behält aber den Hut auf. Die Mütze hat ihm das Bein gestellt. Sie tritt Tom ins Gesicht, so dass der Hut vom Kopf fällt.

Szene 22 (1:12:10): innen/außen, Shenandoah Club Hut 2 liegt auf dem Bartresen und unterhält sich mit dem Barkeeper. 1:12:56 Die Polizei (Mützen auf dem Kopf) stürmt das Lokal. Hut 2 dreht sich um, nimmt seinen Hut und geht langsam hinaus. Vor dem Club unterhält er sich mit dem Polizeichef mit Mütze.

Szene 23 (1:13:48): außen, Straße/innen, Auto Total: Hut 2 geht einen Bürgersteig entlang, ein heranfahrendes Auto versperrt ihm den Weg, zwei Hüte steigen aus und zwingen Hut 2 in den Wagen. Nah, im Auto: Hut 4, diesmal nicht auf dem Kopf, spricht mit Hut 2 auf dem Kopf. [...] Hut 4 wird aufgesetzt und der Blick von Hut 2 abgewendet.

Szene 24 (1:15:34): außen, Miller’s Crossing Einstellung der Baumwipfel aus dem Vorspann. Ein italienisches Lied wird gesungen. Nah: Hut 2, ins Gesicht gezogen, und dahinter Hut 4 gehen durch den Wald. Hut 2 kniet nieder und übergibt sich. Hut 4 reißt Hut 2 vom Kopf und schleudert ihn in den Wald. Drei Hüte und der hutlose Tom stehen vor einer hut- und gesichtslosen Leiche.

Szene 25 (1:18:29): Wohnung, hutloser Boxer Hut 2 betritt die Wohnung des Boxers. Dieser sitzt am Küchentisch und isst. Hut 2 auf dem Kopf inspiziert die Wohnung, nimmt eine Melone von einer Kommode und setzt sie dem Boxer auf den Kopf. Sie ist ihm viel zu klein.

Szene 26 (1:21:57): innen, Vorzimmer/Büro des Bürgermeisters Hut 2 geht zum Tisch der Sekretärin, setzt sich darauf und legt den Hut auf sein Knie. Hut 2 betritt das Büro des Bürgermeisters, bleibt neben der Tür und wird auf einen dort stehenden Tisch gelegt.

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Der Bürgermeister sitzt hinter seinem Schreibtisch und diskutiert lautstark mit Casper, der davor sitzt – beide ohne Hut. Auf einem Sofa sitzen männliche Zwillinge mit Melonen auf den Knien. Der Bürgermeister verlässt hutlos den Raum, Casper setzt sich hinter den Schreibtisch.

Szene 27 (1:25:40): innen, Wohnung Halb liegend sitzt Tom in einem Sessel und telefoniert. Er hat einen Waschlappen auf der Stirn.

Szene 28 (1:27:45): innen, Hausflur Hut 2 verlässt seine Wohnung. Drei Männer in Hut und Mantel erwarten ihn vor der Tür. Er wird geschlagen und verliert seinen Hut. Einer der drei Männer spricht mit ihm, ein zweiter hält ihn fest und ein dritter schlägt ihm in den Magen. 1:29:02 Tom sinkt zusammen. Die Männer gehen.

Szene 29 (1:29:13): außen/innen, Caspers Haus Hut 2 klopft an eine Tür. Er wird eingelassen und gibt einem Diener Hut und Mantel, der beides wegträgt. Casper, im Hausmantel, kommt Hut 2 entgegen. Sie gehen in ein Büro. 1:30:16 total: Hut 4 geht in Hut und Mantel durch den Raum, schließt die Tür, nähert sich Tom und schlägt ihn, so dass er in die Mitte des Raumes fliegt. 1:31:00 Hut 4 nähert sich dem auf dem Boden liegenden Tom, hebt ihn hoch und beginnt ihn zu würgen. 1:31:40 Hut 4 bekommt einen Schlag mit einem Schürhaken ins Gesicht, bricht zusammen und verliert seinen Hut.

Szene 30 (1:32:57): innen/außen, Kneipe, Nacht Detail: Eine Uhr zeigt 3:32 Uhr. Nah: Hut 2 liegt auf einem Tisch neben Kaffeetasse und Aschenbecher und wird aufgenommen. Halbtotal: Hut 2 verlässt die Kneipe, wird tiefer ins Gesicht gezogen. Die Frau (ohne Hut) kommt und geht mit ihm den Bürgersteig entlang. Hut 2 zieht sie in eine Nische. Nah, von der Seite: Hut 2 und die Frau stehen in der kleinen Nische zwischen zwei Häusern. 1:35:22 Die Frau geht ohne Hut im nächtlichen Regen davon.

Miller’s Crossing (1990)

Szene 31 (1:35:38): außen/innen, Haus und Hausflur von Hut 2 Halbtotal: Ein Auto fährt vor. Hut 3 unterhält sich mit seinem Chauffeur (mit Hut) und geht dann in Hut und Mantel ins Haus. Hut 2 kommt und schickt das wartende Auto weg. Er betritt das Haus. Auf der Treppe liegt ein Hut. Langsam nähert er sich dem Hut. 1:37:25 halbnah: Der Hut auf der Treppe. Die Kamera schwenkt nach oben, wo der tote Casper liegt. Hut 2 geht langsam die Treppe hoch. Neben seiner Wohnungstür steht der Mann aus Szene 8. Er trägt keine Kopf bedeckung. [...] 1:41:40 Hut 2 geht in seine Wohnung, wirft seinen Hut auf einen Sessel, setzt sich im Mantel in einen anderen und telefoniert. Abblende.

Szene 32 (1:42:16): innen, Shenandoah Club Keine Hutaktivitäten.

Szene 33 (1:42:34): außen, Miller’s Crossing Hut 1 mit Kippa und die Frau mit Hut stehen vor einem Grab. Hut 2 steigt aus einem Auto und wird in die Hand genommen. Er nähert sich den beiden. Die Frau wirft Erde ins Grab und geht. Hut 1 nimmt die Kippa in die Hand und spricht mit Hut 2. 1:45:40 total: Leo (von hinten) geht mit dem Hut in der Hand einen Weg hinunter. 1:45:49 amerikanisch: Hut 2 lehnt sich an einen Baum und wird aufgesetzt. 1:45:53 total, wie eben: Hut 1 wird aufgesetzt und geht weiter. 1:45:59 amerikanisch: Sorgsam wird Hut 2 mit beiden Händen tiefer ins Gesicht gezogen. Die Kamera fährt heran, so dass einen Moment lang kein Gesicht, sondern fast nur ein Hut zu sehen ist.

Britta Neitzel, Dr. phil. habil., verwaltet derzeit die Professur »Theorie und Geschichte gegenwärtiger Medien« an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Arbeitsschwerpunkte: Game Studies, mediale Räume, Kulturgeschichte des Spiels.

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NAKED LUNCH (1991) Bernd Herzogenrath The early 1990s appear to be a regime of the bio-pic: literature adaptions of autobiographies, lives of writers, films about the literariness of literature – The Sheltering Sky (1990), Henry and June (1990), Prospero’s Books (1990); or Barton Fink (1990). At first glance, David Cronenberg’s Naked Lunch (1991) seems like an easy fit here – an attempt to film the ›unfilmable‹ 1959 cult-book by (in)famous Junkie and Homo William S. Burroughs. Cronenberg’s take on Naked Lunch is a particular one: his film is about the writing process of the book known as Naked Lunch. Mixing parts of Burroughs’s life (which are not in the book) with parts of Burroughs’s book (which were not in his life); he created a film about the ›writing process‹ … becoming-Naked-Lunch. This is somehow somewhat similar to another 1991 bio-pic-which-ain’t-one: Steven Soderbergh’s Kafka.1 I want this essay to be a Garden of Forking Paths, with Naked Lunch and Kafka living in incompossible universes, universes that nevertheless are possible, simultaneous, and real – the actual|virtual divide: all virtual divergences happen at once, and sometimes converge again … sometimes … Since our main dish here will be (a) Naked Lunch, Kafka will have to munch his lunch all by himself, at the kiddies’ table, downstairs in the footnotes … an ongoing ›Mitesser‹ (fellow eater) in the lower margins (la fourchette basse, the lower range, a term from the fields of statistics – Kafka would have known). Lunchtime!! I need an actual fork to begin with … According to Burroughs, the book’s title – Naked Lunch – was coined by Jack Kerouac (›Hank‹ in Naked Lunch) – »The title means exactly what the 1 | K afka mixes elements of Franz Kaf ka’s life and fiction into a somewhat similar hybrid.

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words say: NAKED Lunch – a frozen moment when everyone sees what is on the end of every fork.« (Burroughs 2015: 199)2 With them forks established, we can now turn the Garden of Forking Paths into an Essay of Passing Forks … Could you please pass the fork, Franz? (Franzi, podas mi vidlicku, prosím?) Accordingly, the following menu will consist of little tidbits, tapas, pívni psí – Gabelbissen: not an interpretation (the logic of ›because of this … that‹), but an agençement, an assemblage (the logic of AND … AND). Have a nice meal – Besaha!3

The Question of Genre Naked Lunch, on first glance, could be described as a film noir, even a spy thriller, seasoned with hints of German Expressionism.4 Peter Suschitzky, Cronenberg’s Director of Photography, on having read the screenplay, »felt it should look expressionistic, reminiscent of Kaf ka or Dr. Caligari« (Silverberg 1974), but for Cronenberg that was too much. Instead, Suschitzky flooded the film with shadows – one of which is actually the first moving image after the opening credits: the shadow of Bill Lee’s (played by Peter Weller, Lee being the quasi-autobiographical alter ego of Burroughs) fedora hat. And the first 2 | So much for the Burroughs-Fork – here comes the Kaf ka-Fork: The Deutsches Literaturarchiv Marbach prides itself of the possession of a fork owned by Franz Kaf ka (even though this might not be true – the inscription reads ›F. Kaf ka‹ – maybe Frank, Ferdinand, Friedrich? Or even another Franz?). The story goes that Kaf ka lost this fork during a game of cards in a pivovar in 1911. Be it as it may – isn’t it odd somehow that Kaf ka left behind a fork, of all things … Kaf ka, the Hunger Artist? 3 | Dobrou Chuť! 4 | K afka , on first glance, could be described as a German expressionist film, seasoned with hints of film noir, even of a spy thriller. Anticipating Kracauer’s From Caligari to Hitler thesis, in Kaf ka’s oeuvre already, you hear »[d]iabolical powers … brush up against the doors and rejoice already from the fact that they will arrive soon« (qtd. in Deleuze/Guattari 1986: 12n5) – »the American technocratic apparatus or the Russian bureaucracy or the machinery of fascism« (ibid. 12), various guises of control and domination, exactly those ugly powers that Burroughss is obsessive about. The first scene after the opening credits is that of a man escaping over an empty Charles Bridge and through narrow Prague alleyways, shot in typical Expressionist angles, pausing and taking a deep [last] breath next to a poster advertising The C abinet of D r . C aligari, only to be brutally killed by some strange, Golem-like figure.

Naked Lunch (1991)

word spoken is the word »Exterminator!« – relating to Burroughs’s 1973 short story collection by the same name; to the fact that Burroughs worked in pest-control as an exterminator, before he became a writer; to the motto »exterminate all rational thought« as a viable counter measure against thought-control; and of course to the fact that Burroughs will become (by accident?) the murderer of his wife Joan.

Opening Credits But first things first: the Opening Credits.5 Naked Lunch opens with a title sequence reminiscent of old 50s thrillers, in this case even reminiscent of Saul Bass’s computer-animated title sequence for Hitchcock’s Vertigo (1958, one year before the publication of Burroughs’s Naked Lunch). Naked Lunch’s title sequence basically consists of pairs of colored geometrical shapes moving in space, and overlapping while moving into opposite directions. Similar to Bass’s title sequence for Vertigo, in which the graphics correspond to motifs from the movie itself (the ubiquitous spiral element corresponding to the staircase that triggers Scottie’s vertigo), in Naked Lunch we can observe a similar effect – the traversing and overlapping shapes create momentary interzones (Interzone being the name of the hallucinogenic ›state‹ in which Lee finds himself) – and those interzones even appear to be impossible, since the mixing of colors does not always logically add up to the laws of Farbenlehre (though this might depend on how the question will be settled if what we are dealing with here is going along the lines of additive or subtractive colors, the mixing of material colors, or of light). Be it as it may – what the open5 | But first things first: the Opening Credits. K afka opens with a b/w title sequence (the whole film is shot in b/w, Expressionist-style, except for one pivotal scene shot in color). Against the background of blurred images of Baroque Prague, five white letters appear, of the typewriter-character-type, one by one, first blurred, then pulled into focus, producing the name KAFKA. The score by Cliff Martinez is highly reminiscent of Anton Karas’ score for The Third M an (Carol Reed 1949, a film starring Orson Welles, who would later direct The Trial [1962], based on Kaf ka’s novel of the same name) – except for one small (but significant) difference: whereas the Karas soundtrack was played on a zither, Martinez is employing a cimbalom, a Central-European variant of the zither that is not plucked, but played with two beaters – basically, the typewriter-variant of the zither!

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ing title sequence presents is the color palette of Naked Lunch (see also Robnik/Palm 1992: 100), which not only partially corresponds to color palette of much of the late 50s films – aka Technicolor (and that would settle above question to ›subtractive colors‹, since that’s Technicolor’s modus operandi in the early and mid-50s).6 The music of the opening sequence is a sonic interzone created by the overlapping of Ornette Coleman’s sax-impros (reminiscent of the cool jazz and Bebop connoted with the Beat Generation), plus Howard Shore’s Bernard-Herrmann-like orchestral score, somewhat precisely orchestrating the tension of 1950s America between mainstream and avant-garde, culture and counterculture, Bourgeoisie and Beat.

Accidents | Control | Agent »There are no accidents,« Tom Frost says to Bill Lee (00:45.19-21), replying to Lee’s apology that he shot his wife Joan by chance.7 What had happened? In a state of extreme intoxication, Lee (and ›in real life also Burroughs) had shot his wife by staging what they called the ›Wilhelm-Tell-Routine‹: Joan placed a glass on her head, Bill/ William aimed, fired – and shot his wife in the head. »I am forced to the appalling conclusion that I would have never become a writer but for Joan‘s death.« (Burroughs 2010: 134-5) Lee is ›controlled‹ by various typewriters (and drugs) that urge him to write reports, reports that ›add up‹ (or do not) to the book Naked Lunch. It’s as if Lee is indirectly following orders already issued by the ›Wilhelm-Tell-Routine‹: ›William, Tell!!‹ (cp Göttler 1992). So Lee becomes an agent in Interzone (agent = working on external orders, as you know best, 6 | It also corresponds to the color palette of the singular color scene in the otherwise b/w K afka , the scene in Dr Murnau’s lab, thus by means of color already connecting the pre-totalitarian system of domination (b&w bureaucracy) to the post-war control that Burroughs is concerned about – from disciplinary societies to societies of control. 7 | Kaf ka would have thought differently – as an employee of the Worker’s Accident Insurance Institute in Prague, he had to deal with the realities and statistics of accidents every day. Ironically, Tom Frost (based on Paul Bowles), the writer who denies the possibility of accidents, is played by Ian Holm, who in K afka plays the evil scientist Dr Murnau, who not only staged his own accident, but also benefits from various other staged accidents that Kaf ka is inquiring as an agent of the Insurance agency.

Naked Lunch (1991)

Lorenz!), with homosexuality being »the best all-around cover an agent ever had« (00:39:15-19), as a bug-cum-typewriter (Lee’s ›controller‹) dictates him. But, in the end, »all agents defect.« Bill leaves Interzone with Joan Frost (Tom’s wife – both Joans are played by Judy Davis), and wants to cross the border to Annexia, but he has to prove that he is a writer. Showing a pen is not enough – he has to repeat the Urszene of his writer-empowerment: he shoots Joan (this time Frost) ›again.‹ There’s no leeway for Lee.

Out of Joint Space!8 In Cronenberg’s Naked Lunch, space is out of joint: the Tangier-inspired Interzone features an NY fire hydrant in the casbah, and a view of NY backstreets from the window of the Frost’s Interzone home … Interzone is clearly a state of mind, not a localizable place.

Typewriter UNSER SCHREIBZEUG ARBEITET MIT AN UNSEREN GEDANKEN (»Our writing equipment takes part in the forming of our thoughts« – Nietzsche, qtd. in Kittler 1999: 204).9 With regard to the various and varying fragments that make up the book Naked Lunch,

8 | Time! In Soderbergh’s K afka , time is out of joint. Kaf ka mentions that he is working on a story »about a man who wakes up to find himself transformed into a giant insect« (00:13:13-16) – ›The Metamorphosis‹ (1912-15). But some things don’t fit: the poster of The C abinet of D r . C aligari (1920), Dr Murnau’s (fake) date of death (1918), Kaf ka’s confiding to Gabriela Rossmann that he was engaged twice already – to the same woman (Felice Bauer, ›Anna‹ in K afka, 1913 and 1916) – all of those incidents happened after the publication of ›The Metamorphosis‹ … sloppy research? Or a time-warp? 9 | In K afka, the typewriter is equated with an anonymous, merely bureaucratic writing process (00:06:00-13), even death, when Kaf ka in a hallucination mistakes a stretcher for a file cart (00:21:09-19), or when, in order to get into the castle via a secret tunnel, Kaf ka enters through a tomb, and exits through a file cabinet (01:06:00-01:08:30). On the other hand, Kaf ka’s literary work is equated with handwriting. Pen & Ink are even life-saving (when Kaf ka marks his escape-route in the Castle with a drop of ink (01:09:25-29). With that same token, however, life easily f lips over into death, when a similar black trace on white ground now is hemoptysis on a white kerchief. So bureaucratic type-writing is death-in-life, while the artistic process (handwriting) is a life-in-death.

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using different bug-writers (Clark Nova, Martinelli, Mujahideen) and mug-writers that even produce a drug when they like what’s written on them, in a kind of perpetuum mobile of creativity, Naked Lunch proves Nietzsche right!

Café Worm-Hole As a writer in Interzone, Lee often works in literary cafés: e.g. the Café Central, the Café Municipal – Kafka as well!10 So maybe that’s the worm-hole by which Kafka might make it into Naked Lunch – and he does: »It’s a Kafka high,« says Joan (00:08:29-31). So, finally, we can confirm what we’ve always known: bugs can’t be fixed, books can kill, and the literary café is a Castle of Crossed Destinies, a Garden of Forking Paths where Kafka and Burroughs might pass forks: a Naked Lunch with Kafka.

References Barton Fink (USA/D, 1990, Coen Brothers). Burroughs, William S. (2010): Queer. 25th Anniversary Edition, Oliver Harris (ed.), London: Penguin. Burroughs, William S. (2015): Naked Lunch. The Restored Text, James Grauerholz/Barry Miles (eds.), London: Penguin. Das Cabinet des Dr. Caligari (D, 1920, Robert Wiene). Deleuze, Gilles/Guattari, Felix (1986): Kafka. Toward a Minor Literature, Minneapolis: University of Minnesota Press. Göttler, Fritz (1992): »Geh nach Hause, Lazarus. Zwischen Burroughs und Cronenberg, Naked Lunch‹ der Film, in: Süddeutsche Zeitung, 04.05.1992. Henry and June (USA/D, 1990, Philip Kaufman). Kafka (USA/D, 1991, Steven Soderbergh). Kittler, Friedrich A. (1999): Gramophone, Film, Typewriter, Stanford, Calif.: Stanford University Press. Prospero’s Books (GB/D, 1990, Peter Greenaway). Robnik, Drehli/Palm, Michael (1992): »Vieles, gleichzeitig. Einige Bewegungen in Naked Lunch«, in: ead. (eds.): Und das Wort 10 | As a writer in Prague, Kaf ka often works in literary cafés: e.g. the Café Continental – Lee as well! So maybe that’s the worm-hole by which Lee might make it into Kafka – and he does (at least as a near-homophone): »Did you think you›d be safe back home in your little burrow?« (01:02:58-01:03:00), his assistants ask him.

Naked Lunch (1991)

ist Fleisch geworden. Texte über Filme von David Cronenberg, Wien: PVS Verleger, pp 96–105. The Sheltering Sky (GB/D, 1990, Bernardo Bertolucci). The Third Man (GB/D, 1949, Carol Reed). The Trial (F/D, 1962, Orson Welles).

Bernd Herzogenrath, Prof. Dr., is Professor of American Studies at Goethe University Frankfurt am Main. Research Focus: Film Studies, Sound Studies, Media Philosophy.

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BRAM STOKER’S DRACULA (1992) Harun Maye

1. Inter view with the Vampire Die Sequenz beginnt in den Straßen von London 1897: Dracula flaniert im Aufzug eines britischen Dandys durch die Stadt, aus dem Off ist die Stimme eines Ausrufers zu hören, der den Kinematographen als ein Wunder der modernen Zivilisation bezeichnet. Dracula stößt absichtlich mit Mina Harker zusammen, die gerade eine Apotheke verlässt. Als er sie nach dem Weg zum Kinematographen fragt und dabei die Worte des Ausrufers wiederholt, »I understand it is a wonder of the civilized world«, antwortet ihm die zuvor mehrfach als Bildungsbürgerin ausgewiesene Mina: »If you seek culture, then visit a museum. London is filled with them.« Was für Mina, die Viktorianerin, nach der billigen Anmache eines Pick-up-Artisten klingt, erscheint für uns in einem buchstäblich anderen Licht. Denn Mina weiß noch nicht, was alle Zuschauer des Films bereits wissen: dass hinter dem geckenhaften Aufzug kein transsilvanischer Prinz auf einen erlösenden Kuss, sondern ein weltberühmtes Kinomonster auf den ersten Biss wartet.1 Aber um die eindeutig zweideutig sich aufrichtenden Eckzähne in Minas Hals bohren zu können, muss er die skeptische Leserin erst zu jenem Ort führen, an dem er seine langen Zähne zum ersten Mal erhalten hatte. Erst 1958, in der Hammer-Verfilmung von Terence Fisher, zeigt Christopher Lee als Dracula die ikonischen Eckzähne. Horror of Dracula ist auch die erste Verfilmung von Stokers Kultbuch, in der mit Dr. Sewards Phonographen zumindest eine jener Medientechnologien vorkommt, von denen der Roman so prominent 1 | Zu Dracula als Kinomonster und den Elementen des sogenannten New Gothic Cinema in BRAM STOKER’S DRACULA vgl. Meteling 2006: 265–272.

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handelt, die aber in fast allen anderen Verfilmungen verschwiegen werden. Das sollte sich erst mit Bram Stoker’s Dracula ändern, ein Film, in dem nicht nur alle Gadgets aus dem Roman eingeführt, sondern in schöner Selbstreferenz auch fast alle Verfilmungen des Dracula-Stoffs zitiert werden, inklusive der Verfilmung von Francis Ford Coppola selbst (vgl. Rickels 1999: 114–117).

2. Dracula Untold Friedrich Kittler war der erste Literatur- und Medienwissenschaftler, der nicht danach gefragt hat, was Doppelgänger, Gespenster und Vampire bedeuten, sondern wie und warum sie erscheinen. Da die Antagonisten in der phantastischen Literatur Wiedergänger sind und im Gegensatz zu ihren Autoren nicht sterben können, müssen sie sich andauernd neue Körper und Medien suchen, in denen sie fortleben können. Die Antwort auf die Frage nach dem Erscheinen von Untoten liegt demnach in der Beziehung, die sie zu jenen Medien unterhalten, die ihre Auferstehung in Bilder oder Buchstaben setzen. Kittler deutet die genrebildenden Merkmale von Friedrich Wilhelm Murnaus Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens, der ersten Dracula-Verfilmung, dementsprechend buchstäblich als Effekte von Projektion. Bevor das Lichtspiel mit Schatten oder die Umkehrung der Tonwerte allzu rasch als Expressionismus missverstanden werden, sind sie erst einmal rein filmische Techniken (vgl. Kittler 2015: 104–109). Der Horrorfilm ist ein Genre, in dem sich das Medium selbst reflektiert, denn die Filmkamera transformiert alle Menschen unterschiedslos in belichtete Schatten, die über Kinoleinwände geistern und spätestens seit Werner Herzogs Remake von Murnaus Vampirfilm auch so genannt werden: Phantome der Nacht (vgl. ebd.: 55–56). Bram Stokers berühmter Roman, »das Sachbuch unserer Bürokratisierung«, thematisiert bereits die außerliterarischen Bedingungen, die eine sogenannte Phantastik allererst möglich gemacht haben (Kittler 1993: 43). Die zunehmende Erschließung Mitteleuropas durch Technik, Verkehr und Tourismus exorzierte Gespenster und Vampire aus dem alten Europa und exportierte sie in die Medien der neuen Welt. Einmal freigesetzt, musste das Grauen, das vorher in der Natur wohnte, künstliche Paradiese aufsuchen und ist so in die Zuständigkeit von Unterhaltungsmedien gefallen. Phantastische Erzählungen sind daher Palimpseste. Ihre Handlungen suggerieren, einem Medium entsprungen zu sein, dessen Signifikanten das

Bram Stoker’s Dracula (1992)

Grauen nicht nur erzählen, sondern auch bewirken. Wer phantastische Bücher oder Filme rezipiert, wiederholt und aktualisiert die Schrecken, von denen sie berichten (vgl. Bickenbach 2009). Darum handelt Phantastik auch so oft von Büchern, die unlesbar sind, von Bildern, auf denen Unsichtbares sichtbar wird, von Bildschirmen, denen Geister entsteigen. Das Buch im Buch, das Bild im Bild, der Film im Film sind zentrale Motive der Phantastik und bereits an sich grauenhaft, denn das Medium im Medium birgt ein unaussprechliches Geheimnis. Wer es dennoch konsumiert, riskiert sein Leben.

3. Shadow of the Vampire Die Sequenz, in der Dracula zum ersten Mal auf Mina trifft, verweist selbstreferentiell auf jene frühen Filmbilder, die kurz darauf auch in der Diegese thematisch werden. Francis Ford Coppola hatte in New York eine alte Pathé-Filmkamera ersteigert, mit der die ersten 30 Sekunden dieser Sequenz gedreht worden sind (vgl. In-Camera: The Naïve Visual Effects of Bram Stoker’s Dracula). Die daraus resultierende Bildästhetik des frühen Stummfilms ist erkennbar an der schnellen und ruckelnden Bildfolge, die schätzungsweise aus 14–16 Einzelbildern pro Sekunde besteht. Coppola simuliert hier nicht einfach nur jene Bilder, denen Dracula und Mina im Varieté wenige Augenblicke später zuschauen werden, sondern er stellt sie mit authentischen Mitteln nach. »Astounding! There are no limits to science.« – mit dieser Apologie des gerade erst erfundenen Mediums will Dracula davon ablenken, dass auf der Leinwand nur halbnackte Frauen und ein einfahrender Zug zu sehen sind. Mina erwidert schlagfertig: »How can you call this science? Do you think Madame Curie would invite such comparisons? Really! I shouldn’t have come here.« Die Einsicht kommt indes zu spät. Dracula greift nach Minas Arm und führt sie in ein Hinterzimmer. Auf der Leinwand sind anzügliche Szenen zu sehen. Draculas Augen wechseln ihre Farbe, seine Eckzähne schieben sich hervor, aber noch bevor er zubeißen kann, bricht in dem Varieté eine Panik aus: Ein aus dem Zoo entflohener Wolf streift durch die Menge. Auf der Leinwand im Hintergrund sieht man einen Zug einfahren. »Knapper und ironischer kann man den Gründungsmythos der Kinematographie kaum dekonstruieren.« (Kümmel 2004: 152) Dieser Mythos besagt, dass am 28. Dezember 1895 im Grand Café in Paris die erste öffentliche Filmvorführung vor einem zahlenden Publikum stattfand, in der Angestellte der Brüder Lumière

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zehn selbstgedrehte Kurzfilme zeigten, darunter auch L’Arrivée d’un train en gare de La Ciotat. Angeblich sollen einige Zuschauer aus Furcht vor dem einfahrenden Zug die Vorführung verlassen haben. Bei Coppola bricht hingegen eine Massenpanik aus, weil sich das Publikum vor einem großen weißen Wolf fürchtet, nicht aber vor einem Zug, der nur auf der Leinwand existiert. Historiker des frühen Films haben Coppolas Vermutung mittlerweile bestätigt. Sie konnten nachweisen, dass es während der Pariser Aufführung zu keiner Panik kam und der berüchtigte Film gar nicht auf den originalen Programmzetteln aufgeführt war (vgl. Gunning 1989; Loiperdinger 1996). Coppola traut also nicht nur den Zuschauern seines Films, sondern bereits den Zuschauern der Brüder Lumière durchaus etwas zu, was ihnen Pädagogen um 1900 abgesprochen haben und teilweise noch heute absprechen. Denn in jenem Jahr, als der Film erfunden wurde und Züge auf Leinwänden angeblich noch Massen in Panik versetzen konnten, wurde auch die Psychologie der Massen entwickelt. Das gleichnamige Hauptwerk des Sozialpsychologen Gustave Le Bon, das 1895 zum ersten Mal veröffentlicht wurde, beschreibt die Masse als besonders bildergläubig sowie unfähig zum logischen Denken (vgl. Le Bon 1982: 43–46). Theoretiker des frühen Films, wie der Psychologe Hermann Duenschmann, konnten diese Thesen direkt mit der Kinematographie kurzschließen und behaupten, dass die Massen überhaupt »nur in Bildern denken«, analog zum Kinogeher, der zwischen Schein und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden könne (vgl. ebd.: 44; Duenschmann 2002). Die Sequenz im fiktiven Varieté von 1897 beweist nicht nur den Unsinn dieser Annahme, sondern verweist auch auf eine Wesensverwandtschaft zwischen dem Film und jenem Vampir, der nicht umsonst »oceans of time« überquert hat, wie er im Film sagt, um seine Geliebte ausgerechnet in einer kinematographischen Vorstellung wiederzufinden. Einer der ersten, der den untoten Charakter von Filmbildern diagnostiziert hatte, war ein Kollege und Zeitgenosse Stokers, der mit Bambi und Josefine Mutzenbacher zwei literarische Figuren erfunden hat, deren Leben durch den Film ebenfalls unsterblich und hundertfach gesteigert wurde: »Das Leben wird ins Hundertfache gesteigert durch diese Erfindung, wird gleichsam lebendiger durch sie, und der Tod kann es jetzt nicht mehr so vernichten, wie einst. Diese Erfindung wird alles, was sterblich an uns gewesen ist, erhalten und auf bewahren bis in ferne Tage.« (Salten 1913:

Bram Stoker’s Dracula (1992)

2) Weil Vampire auf der Leinwand vor Augen stellen, was uns blüht, wenn wir gefilmt werden, sind Vampirfilme so beliebt und eines der erfolgreichsten Genres der Filmgeschichte.

4. The Return of Dracula Das Thema und die Geschichte der Untoten ist mit der Geschichte des Kinos eng verbunden: »Man braucht nur an die alten, noch lebenden Stars zu denken, die ihrem früheren Selbst zuschauen. Jeder Kinostar ist sein eigener Dracula, der versucht, wieder aufzuerstehen, ein weiteres Mal zu bezaubern«. (Elsaesser 1998: 86) Filmschauspieler sind Vampire, die sich manchmal sogar selbst als solche vorstellen: »I am Dracula«, so lautete der erste Satz, den Bela Lugosi in einem amerikanischen Tonfilm sagen musste (vgl. Maye 2000). Ausgerechnet über ein Medium, das im Roman gar nicht erwähnt wird, sollte Draculas Wiederauferstehung seitdem Nacht für Nacht laufen. Der Journalist Abraham Stoker hat die Wertschätzung seines Namens eingebüßt, damit fortan der Name seines schattenlosen Titelhelden für immer als belichteter Schatten über Kinoleinwände geistern konnte. Seit 1931 verschwand dieser Name nicht mehr zwischen Buchdeckeln und in der Zeit, sondern die Rede des Vampirs wurde, wie sie immer gewesen ist, unsterblich. Dracula is Cinema, and Cinema is Dracula. There is no separation of the two.2

Referenzen Bickenbach, Matthias (2009): »Terror nicht Horror. Die Technologie der Angst und ihre Mediengeschichte in Ring«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 0, S. 167–183. Borland, Carol (1980): »Foreword«, in: Bojarski, Richard: The Films of Bela Lugosi, Secaucus, NJ: Citadel Pr. Dracula (USA, 1931, Tod Browning). Duenschmann, Hermann (2002): »Kinematograph und Psychologie der Volksmenge: Eine sozialpolitische Studie [1912]«, in: Kümmel, Albett/Löffler, Petra (Hg.): Medientheorie 1888–1933. Texte und Kommentare, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 85–99. Elsaesser, Thomas (1998): »Augenweide am Auge des Maelstroms? – Francis Ford Coppola inszeniert Bram Stoker’s Dracula als den ewig jungen Mythos Hollywood«, in: Rost, Andreas/Sandbothe, 2 | »Let me admit with no apology that to me Dracula is Bela Lugosi, and Lugosi is Dracula. There is no separation of the two.« Borland (1980: 9)

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Harun Maye, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie (IKKM) der Bauhaus-Universität Weimar.

DIE GESCHICHTE DER QIU JU (1993) Hedwig Wagner

Die Geschichte der Qiu Ju1 zeigt die nicht deckungsgleich zu bringenden Register erstens des menschlichen Empfindens eines geschehenen Unrechts und zweitens der moralischen Bewertung desselben sowie drittens der rechtlichen Verhandlung darüber. Die Verschiedenheit von Gerechtigkeit und Recht wird von einer jungen chinesischen Bäuerin erfahren, deren Mann von seinem Vorgesetzten geschlagen wurde. Abhängigkeiten von Autoritäten, Respektbezeugungen, chinesische Kommunikationsformen (die sich nur über interkulturelle Differenzen erahnen lassen) wie landwirtschaftliche Arbeitsverhältnisse und Produktionsbedingungen, Nachbarschaftsbeziehungen und Familienbande verbinden sich in diesem Drama zu einem komplexen Geflecht. Umgangsformen im ländlichen China, der Unterschied zwischen Stadt und Land, zwischen ruraler Subsidiarität und städtischer Industrialisierung, zwischen geregelter Bürokratie und spontanem zwischenmenschlichen Handeln spannt einen Gegensatz auf, in dessen Mitte die hochschwangere Qui Ju, eine Chili-Bäuerin aus der Provinz Xigaouzi, umherirrt. Wie auch immer der Film in der chinesischen Gesellschaft verstanden werden konnte – dies nachzuvollziehen ist der Autorin nicht gegeben –, in der deutschen konnte der Film sehr gut vor dem Hintergrund der in den 80er, hauptsächlich späten 80er Jahren, sehr

1 | D ie Geschichte der Qui Ju [Qiu Ju da guan si]; VR China/HK 1992; Regie: Zhang Yimou; Drehbuch: Heng Liu, Romanvorlage The Wan Family ’s L awsuit von Chen Luan Bin; Kamera: Chi Xiaoning, Lu Honggyi, Lu Xiaoquin; Musik: Zhao Jiping; Kostüm: Tong Huamiao; Schnitt: Du Yuan; Video: Arthouse; DVD: Hongkong China Star; Darsteller: Gong Li, Liu Peiqi, Yang Liuchun, Lei Quesheng, Ge Zhijun u.a.; 100 Minuten; Deutsche Uraufführung: 22.April 1993.

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populären Debatte um zwei Moraltypen gelesen werden. In der Feminismus-Debatte war Carol Gilligans These von der weiblichen Moral, die in Die andere Stimme. Lebenskonflikte und Moral der Frau (Gilligan 1991), 1982 erstmalig, 1993 in der sechsten Auflage erschienen, breit rezipiert worden und hatte Eingang gefunden, nicht nur in spezifisch feministische Argumentationsweisen, sondern in gesamtgesellschaftliche Denkmuster. Gilligan stellte ihre Studie dem 6-Stufenmodell der Moralentwicklung von Lawrence Kohlberg (Kohlberg 1974, 1995) (populär geworden unter dem Schlagwort der männlichen Moral) an die Seite bzw. von der populären Rezeption her gedacht: entgegen. Gertrud Nunner-Winklers Widerlegung der These, die schon 1986 erfolgte, wurde in der populären Debatte nicht wahrgenommen (Nunner-Winkler 1991a, 1991b). In dem binären Denkschema, das der männlichen Moral die Wertmaßstäbe der Gerechtigkeit und der Gesetzestreue unterstellte und der weiblichen Moral die Maßstäbe der Fürsorge, der Rücksichtnahme, der Hilfe für andere, also all die an den sozialen, zwischenmenschlichen Beziehungen orientierten Entscheidungsgrundlagen zuwies, durchbricht die Protagonistin des chinesischen Regisseurs der 5. Generation, Zhang Yimou, die geschlechterstereotypen Zuweisungen. Im Dilemma von moralischer Werteerwartung und menschlicher Zugewandtheit steckt die Protagonistin im inneren Konflikt fest und treibt gerade dadurch die Handlung an. Mit der Exposition des Films wird auch die thematische Eröffnung geleistet: Qui Ju, gespielt von Gong Li, die hochschwangere Frau von Wan Qinglai (Liu Peiqi) ist mit Meizi (Yang Liuchung), ihrer Schwägerin, unterwegs. Wenn auch suchend und unsicher, hat sie ihr Ziel klar vor Augen und bestimmt den Weg. Meizi folgt ihr stets, führt ihre Anweisungen aus. Dieses Motiv des Unterwegs-Seins im Dorf, im ländlichen China, im nächstgelegenen Städtchen, zur Kreisstadt und schließlich zur Hauptstadt Peking bestimmt den Film und strukturiert ihn in Sequenzen. Auch die Thematik bleibt: bei den Autoritäten etwas erreichen zu wollen: Wiederherstellung, Wiedergutmachung. In den ersten Filmminuten sind die beiden Dorffrauen mit dem Mann Wan Qinglai, der auf einem Karren liegend von seiner Schwester Meizi gezogen wird, in eine Stadt unterwegs, um einen Arzt aufzusuchen. Wan Qinglai war von Wang Shantang (Lei Queshaeng), dem Dorfvorsitzenden, getreten worden und ist nun verletzt.

Die Geschichte der Qiu Ju (1993)

Sie erhalten ein ärztliches Attest, das gestempelt werden muss. Ein erstes Dokument, das zu einer Akte genommen werden kann; etwas, was den Vorfall zu einem dokumentierten Fall – der später justiziabel wird – macht; ein Beweisstück, ein Gegenstand der Auseinandersetzung. Ins Dorf zurückgekehrt, unternimmt Qui Ju einen ersten Anlauf zur Klärung der Angelegenheit. In einem offen angelegten Ausspracheversuch mit dem Dorfvorsitzenden befragt sie diesen direkt nach dem Grund für sein Handeln. Der verweigert die Angabe von Gründen, er rechtfertigt sich nicht, er erklärt sich nicht, er entschuldigt sich nicht, er verweigert Handlungsempfehlungen auszusprechen. Er erteilt keine Ratschläge, weil er sich nicht in die Lage der anderen hineinversetzen will. Keine Empathie, keine allgemeinverbindlichen Standards im Zusammenleben werden von ihm anerkannt. Es zeigt sich kein erkennbares Moralbewusstsein bei ihm, stattdessen bietet Wang Shantang das Auge-um-Auge-Vergeltungsprinzip an. Die Frau des Dorfvorsitzenden zeigt sich ›weiblich‹ fürsorglich, die bestehenden Sozialbeziehungen im Dorf sollen intakt bleiben. Die an Dialog, Verstehen und von allen verbindlich anerkannten menschlichen Umgangsformen – allgemeingültigen moralischen Wertmaßstäben – interessierte Qui Ju ist entsetzt: »What kind of justice is this?« Für sie ist dies keine Gerechtigkeit. Auf den Bericht zu Hause, dass sie keine Gerechtigkeit erfahren hat, folgt die erste der drei Reisen. Sie führt sie ins Dorf zu Officer Li. Der Gang ins Dorf führt Qui Ju zu Officer Li (Ge Zhijung), der Gemeindeverwaltungsdinge unter sich hat (administrative Belange) wie Mittler- und Schlichterperson ist, eine Art Ombudsmann, und der (so erschließt es sich in der interkulturellen Differenz) ein Nachbarschaftskomitee anleitet. Der Bericht von Qui Ju an Officer Li ist – da von einer anderen Formatvorgabe gerahmt – grundsätzlich anderer Natur als ihre Aussprache mit dem Dorfvorsitzenden – und doch geht es um die gleiche Sache. Andere Argumente werden genannt, ein anderer Sachverhalt wird erkennbar. Der Bericht, in dem die Protagonistin in geordneter Reihenfolge und in für andere nachvollziehbaren Argumenten ihr Anliegen strukturiert hervorbringt, wird mit der Meldung des Schadens eröffnet. Die Nennung der Gründe folgt sodann: die Auseinandersetzung um die wirtschaftliche Existenz, die vom Chili-Anbau abhängt, wird als Beweggrund für den Streit hervorgebracht. Mithin werden allgemein anerkannte Geltungsansprüche vorgetragen. Bis Meizi, die Schwester, den Bruder als verrückt bezeichnet und die von ihm geäußerte Beleidigung

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des Dorfvorsitzenden (er kann keinen männlichen Erben vorweisen, da er nur Töchter gezeugt hat und damit in Ehre und Ansehen herabgesetzt ist) erzählt. Auf den verbalen Schlag Wan Qinglais unter die Gürtellinie erfolgte der tatsächliche Schlag unter die Gürtellinie Wang Shantangs. Die Unterschiedlichkeit der Fallrekonstruktion bringt Officer Li dazu, nachzufragen und das Verhalten von Wan Qinglai zu hinterfragen, da er von einer beidseitigen Schuld und beidseitigen Schuldbereinigung ausgeht. Beide Seiten sollen sich in Selbstkritik üben. In einer Spiegelvariante zum vorgetragenen Fall hören wir Zuschauer_innen den Bericht von einer handgreiflichen Auseinandersetzung, bei der ein Mann einen anderen (wahrscheinlich handelt es sich eben um jenen Dorfvorsitzenden) beleidigte, indem er dieses schmachvolle Nur-Frauen-in-der-Familie evoziert. Doch der Angegriffene schlägt nicht zu. Der Beleidigende, kampf bereit, sieht, dass sein kampf bereiter Gegenpart nicht zugeschlagen hat und er dies für nicht möglich hält. Damit wird die Auge-um-Auge-Vergeltung als das gängige und erwartbare Verhalten ausgewiesen und als in der gängigen Moralvorstellung für legitim und gerecht erachtete. Später appelliert Officer Li beim Schlichtungsgespräch mit dem Dorfvorsitzenden an seine Rolle als Vorgesetzter und Vorbild, gemahnt, dass er als der Ältere vernünftiger und verantwortungsvoller sein sollte. Moralisches Verhalten wird dergestalt an die soziale Rolle geknüpft. Der Polizist, dem am beidseitigen Schuldeingeständnis und der beidseitigen Klärung gelegen ist, weist auf sein Fehlverhalten hin. Der Dorfvorsitzende verfällt in eine Selbstrechtfertigung: er habe nur Befehle befolgt (Verbot des Schuppenbaus auf offenem Feld), gibt dann aber zu, dass dies nur vorgeschoben ist – der Ehemann kenne den wahren Grund –, bestätigt also die Beleidigungs-Rache-Motivation, belässt aber die offizielle Variante, nach der das moralische Dilemma darin besteht, dass die wirtschaftliche Existenzsicherung (Schuppenbau für die Chili-Ernte) des einen versus Vorschriftenbefolgung des anderen abzuwägen sei. Und in einer weiteren Hinsicht differenziert sich der Vorfall: in Schlagen (körperliche Beeinträchtigung zufügen, für einige Tage arbeitsunfähig sein, Verdienstausfall erleiden) und den Tritt ins Geschlecht, eine Ehrherabsetzung und Demütigung. Der Vermittlungsversuch des Mediators, der finanzielle Entschädigung (für Arztrechnungen und Verdienstausfall) aushandelt, wird zunächst von beiden unwidersprochen angenommen. Der Dorfvor-

Die Geschichte der Qiu Ju (1993)

sitzende wäre bereit ihr 200 Dollar zu geben, tut dies aber nicht aus Einsicht in sein Fehlverhalten oder aus Einsicht in die berechtigen Ansprüche des Anderen, sondern damit die dritte Person, die Autorität, keinen Gesichtsverlust erleidet und Officer Lis Anweisung , befolgt wird. Dies ist die Kohlberg sche erste moralische Ebene, die konventionelle Ebene, als Handlungsorientierung. Dieses Handeln, das nicht aus Einsicht und Überzeugung erfolgt, entgleitet aber dann. Er wirft ihr das Geld in demütigender Weise auf den Boden, sodass sie sich vor ihm bücken müsste, um die 20 Zehn-Dollar-Noten aufzuheben. Dies verweigert die eigensinnige Qui Ju. Sie weist alle niederen Beweggründe von sich (sie tue dies nicht aus finanziellen Gründen heraus), meldet ihre Sicht der Gerechtigkeit an und rechtfertigt ihre moralischen Wertvorstellungen. Qui Jus Eigenperspektive bricht sich Bahn, die in der Entschädigung den falschen Lösungsansatz sieht, und eine Entschuldigung erwartet. Wang Shantang setzt auf das Vergeltungsprinzip: sein finanzieller Schaden, die 200 Dollar Entschädigung, evtl. auch seine Demütigung, von Officer Li zurechtgewiesen worden zu sein, gegen ihre Demütigung sich vor ihm für das Geld bücken zu müssen. Dann sei nach Ansicht des Dorfvorsitzenden ein Ausgleich hergestellt worden. Dies wird von Qui Ju damit gekontert, dass sie sich vorbehält zu bestimmen, wann ein Ausgleich hergestellt wird. Sie will die Macht des Handelns und des Austarierens behalten. Ein Aushandeln ist eine zweiseitige Transaktion, bei der die Bestimmung eines Wertes mit einem Gegenwert durch das Medium des Geldes erfolgt, als Adäquanz gesetzt wird. Ein Ausgleich hingegen ist eine zweiseitige zeitversetzte, durch eine angerufene Instanz vermittelte Transaktion, bei der die Bestimmung eines Vorkommnisses mit einem Gegenwert einer anderen Kategorie vorliegt, die nicht durch das Medium Geld geregelt wird. Und eine Entschuldigung wiederum ist eine einseitige, nicht auf eine Handlung, sondern auf eine Haltung gerichtete Aktion, die ebenfalls performativ durch einen verbalen Akt erfolgt, und die im Gegenzug die moralischen Wertvorstellungen der Allgemeinheit oder des Gegenübers anerkennt. (Um im Idealfall auf Einsicht, den gleichen Geltungsansprüchen zu beruhen – hier schließt sich die Moraldebatte an die interkulturelle Debatte an, genauer an die Debatte um universalistische Ansprüche in der kulturhermeneutischen Variante, die von der hermeneutischen den Verstehenshorizont übernimmt und vom kulturhermeneutischen die Anerkenntnis anderer Geltungsansprü-

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che und den Kommunikationsernstfall, dass die gleichen Geltungsansprüche erzielt werden müssen.) Die zweite Reise führt Qiu Ju in die Provinzhauptstadt zum Haus der inneren Sicherheit. Der Fall wird aktenkundig, er wird justiziabel und wechselt somit seine Verhandlungslogik. Ein offizielles Prozedere mit üblicherweise klaren Zielvorstellungen wird in Gang gesetzt. Für Qiu Ju heißt das, vorstellig zu werden, ›es‹ zu einem Fall zu machen. So lässt sie einen Beschwerdebrief schreiben; sie ist sich bewusst nun aktenkundig zu werden. Sie muss Entscheidungen treffen, die nicht ihrer Eigenlogik und ihren Vorstellungen entsprechen. So muss sie zwischen Nuancen im Ton und in der Konsequenz wählen, den Widerspruch zwischen menschlichem Vertrauen in Autoritätspersonen, hier Direktor Wan, und ihrer Handlungsvorstellung aushalten. Eine noch viel größere Diskrepanz zwischen ihrem Wunsch nach Aussprache, Entschuldigung und dem formalen Fortgang der Justiz offenbart sich bei ihrer dritten Reise nach Peking, zum obersten Gerichtshof. In ihrem hartnäckigen Beharren darauf, eine Erklärung und eine Entschuldigung für das Fehlverhalten des Chefs zu bekommen und die Einhaltung der menschlichen Umgangsformen einzufordern, erreicht sie bei der Gerichtsverhandlung genau das nicht, sondern bewirkt eine Verurteilung, aus der die polizeiliche Abführung des Chefs resultiert. Qui Jus Zurückweisung der Zweckorientierung, durch die Anrufung einer Instanz und deren Schiedsspruch das Problem schlichtweg aus der Welt zu schaffen, steht zwischen Irrationalität (die Uneinsichtigkeit in den immer gleich oder ähnlich ausfallenden Urteilen, die von Instanzen so getroffen werden, weil sie kategoriell bzw. kategorisierbar urteilen) und Resilienz, moralische Wertvorstellungen nicht anheimzugeben, dies von anderen einzufordern und als allgemeinverbindliche Gemeinschaftsregeln zu akzeptieren. Nach Kohlbergs 6-Stufenmodell der Moralentwicklung geurteilt, hat Qiu Ju sehr wohl verstanden, dass Andere andere Sichtweisen auf den Fall haben, es ist ihr bewusst, doch es beeinflusst sie nicht. Sie geht also über die präkonventionelle Ebene hinaus, denn sie erkennt prinzipiell die Autoritäten an, doch diese sind zum Aushandeln von moralischen Erwartungen nicht bereit. In dieser Filmminiatur sind die Unternehmungen Qiu Jus in ihrem Kampf um ihre Moralvorstellungen näher beleuchtet worden, die durch das kommunikative Verhalten Qiu Jus gesteuert sind. Im Lauf ihrer drei Reisen weicht der persönliche Kampf um Gerechtig-

Die Geschichte der Qiu Ju (1993)

keit einem langen Marsch durch die Instanzen. Der Klageweg wird beschritten und der Rechtsstreit geht von einer Instanz zur anderen, von der Provinzhauptstadt zur Hauptstadt Chinas. Als in letzter Instanz Wang Shantang, der ihr unter der Geburt ihres Sohnes das Leben gerettet hat, abgeführt wird, bleibt Qui Ju entsetzt im Dorf bei der Feier des Geburtsfestes zurück. Sie sieht, dass sie nicht Reue und Entschuldigung bekommen wird, sondern die eigentlich intakten dörflichen Sozialbeziehungen gestört hat. Sie hat anfänglich nach den Gillligan schen Vorstellungen der ›weiblichen Moral‹ gehandelt, musste sich dann zwangsweise dem Rechtssystem der ›männlichen Moral‹ unterstellen und hat am Ende Recht bekommen, aber keine Gerechtigkeit erfahren und auch anderen nicht widerfahren lassen und somit ihre eigenen Moralvorstellungen verfehlt.



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Hedwig Wagner, Prof. Dr., ist Professorin für europäische Medienwissenschaft an der Europa-Universität Flensburg. Arbeitsschwerpunkte: Europa_Medien, Geo-Medien, Gender Media Studies.

PULP FICTION (1994) Claudia Tittel Wohl über wenige Filme ist so viel geschrieben worden, wie über Quentin Tarantinos zweite Regiearbeit Pulp Fiction. Selten auch wurde bzw. wird ein Film von seinem Publikum so verehrt. Zahlreiche Fanseiten versuchen den Film bis ins kleinste Detail hinein zu analysieren; sie loben den Film und seinen Autor in den siebten Himmel. Es gelinge ihm nicht nur, Geschichten kunstvoll miteinander zu verweben, sondern darüber hinaus den Geist der 1990er Jahre, die Oberflächenästhetik (Laist 2013) und die Sinnentleertheit der Postmoderne kinematografisch zu beschreiben und einzufangen (Polan 2000: 7). Nicht nur die grellen Farben, sondern vor allem die zweckfreien absurden Dialoge über Mainstream und Massenkultur, z.B. der beiden Killer Vincent Vega und Jules Winfield, tragen diesem Faktum Rechnung, wenn die beiden Ganoven zum Beispiel über den kulturellen Unterschied der Burger von McDonalds in Europa und Amerika diskutieren oder anstatt geradewegs ihren Auftrag zu verrichten, ihr Gespräch über Fußmassagen und deren sexuelle Wirkung fortführen. In diesen Szenen zeigen sich nicht nur die Selbstreferentialität des Filmischen und seine starken popkulturellen Referenzen, sondern es vollzieht sich auch der Bruch mit den Konventionen der Genres. Das Triviale verweist dabei nicht nur auf den Alltag (der Figuren), sondern bricht in das Genre des Gangsterfilms ein und dekonstruiert dabei sowohl seine Helden, die vom Killer zum Softy avancieren, als auch das Genre selbst (Kaul/ Palmer 2013: 60). Durch die herrlich witzigen Dialoge werden zudem die Killer als Kunstfiguren entlarvt, als erfundene, der Fantasie des Regisseurs entsprungene Charaktere (Fischer 2000: 156). Während manche Filmkritiker meinen, Pulp Fiction sei »kein Meisterwerk, sondern ein brillanter cleverer Stunt, der längst erzählte Geschichten mit einem kleinen Trick trendmäßig konsumierbar

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macht« (Gerold 2000: 364), ist Pulp Fiction für andere der beste und coolste Film der 1990er Jahre, ein Film, der das Hollywood-Kino neu erfand und revolutionierte (Bernard 1995, Carr 1994, Kilb 1994, Seal 2013, Thomas 2003 u.v.a.). Was Blade Runner für die 1980er war, ist Pulp Fiction für die 1990er Jahre – ein schillerndes cineastisches Spektakel. Auch deshalb bezeichnet die amerikanische Filmwissenschaftlerin Dana Polan Pulp Fiction weniger als Film, sondern als ein Phänomen (Polan 2000: 7). In Pulp Fiction werden nicht nur mannigfaltige Filme zitiert und lassen sich unzählige Anspielungen finden, sondern Tarantino persifliert diese zudem filmtechnisch perfekt. Indem er den Szenen eine unerwartete Wendung gibt (Kaul/Palmer 2013: 60), etwa wenn aus der knisternden, sich anbahnenden Liebesszene zwischen Mia Wallace und Vincent Vega ein Drogendrama wird, weil Mia in ihrer Unbekümmertheit eine Überdosis Heroin schnupft und fast stirbt, bedient er klassische Genres und unterläuft sie gleichzeitig (Fischer 2000: 156). Da er außerdem die einzelnen Episoden in nicht-linearer Erzählweise miteinander verknüpft, – die Mia-Vincent-Szene ist zwischen die Nachtclub- und »The Golden Watch«-Szene eingeordnet – entstehen einerseits parallele Storylines, die jedoch andererseits so ineinander verwoben sind, dass sie den gesamten Film zusammenhalten und dabei immer wieder neue Perspektiven auf vorhergehende Situationen, aber auch ihre Referenzen eröffnen. Hauptfiguren werden in den verschiedenen Szenen zu Nebenfiguren und umgekehrt (Fischer 2000: 150). So referiert jene Sequenz, in der Vincent und Jules ihren Auftrag erfüllen und den angeforderten Koffer in einer Bar bei ihrem Chef Marsellus Wallace abgeben, auf eine weitere Story des Boxers Butch, der mit Marsellus Wallace zwar einen Deal aushandelt, aber eigentlich andere Pläne verfolgt. Butch ist in der Bar noch Nebenfigur, avanciert jedoch in der übernächsten Szene ›The Golden Watch‹ zur Hauptfigur. Ebenso sind Vincent und Jules, die in der ›Bonnie-Situation‹ zu Beginn des Films als Nebenfiguren nur am Rande zu sehen sind, die Protagonisten der zweiten Story, die sich um den Koffer dreht. Pulp Fiction ist eine Hommage ans Filmemachen, an das Kino schlechthin, an Bilder und Figuren, die Kinogeschichte schrieben, an Sounds, die Besucherinnen und Besucher bewegt haben und auch heute noch bewegen und die Atmosphären schaffen und damit die Figuren von einer Situation in die nächste schlittern lassen: Die »Originalität«, meint Peter Körte, »liegt in der Kombinatorik

Pulp Fiction (1994)

verschiedener Versatzstücke [...]« (Körte 2000: 28). Pulp Fictions filmische Operationen torpedieren gängige Einstellungen, erzählen alte Geschichten neu, verfremden Genres und vermischen sie. Scheinbar zufällig geschehen Missgeschicke, etwa wenn Vincent in seiner Tollpatschigkeit den Informanten Marvin der kleinkriminellen Bande durch eine Unachtsamkeit leichtsinnig im Auto erschießt , und nun das gesamte Auto einem Nitsch schen Blutbild gleicht: Dann wird der Gangsterfilm zur Komödie, zum Slapstick (ebd.). Die sorgfältige Konstruktion des Films, die verschachtelte Erzählweise, die schillernden Figuren gepaart mit trivialen nihilistischen Dialogen, die Gewaltszenen gespickt mit Komik und Humor, die Vermischung zwischen High und Low Culture haben Pulp Fiction Kultstatus verliehen. Sein künstlerischer bzw. kinematographischer Wert konstituiert sich durch die Art und Weise, wie Tarantino mit Filmgenres, Klischees und Charakteren der Kinogeschichte spielt (Polan 2000: 7) und diese in einem poststrukturalistischen Sinn auch als solches, als pures Spiel, deklariert oder ad absurdum führt. Pulp Fiction setzt dabei Baudrillard'sche und Lyotard'sche Theorien filmisch um (Laist 2013, Seeßlen 1994). Es scheint, als sei Pulp Fiction der poststrukturalistische Film schlechthin, als habe Baudrillard Pulp Fiction antizipiert (Laist 2013): Realität und Vorstellung, Artifizialität der Figuren und Natürlichkeit verschmelzen mit unzähligen Codes, die auf andere Filme und Figuren verweisen. Pulp Fiction ist ein Konglomerat aus Verweisen, Codes und diversen Bezügen und dies auf allen Ebenen: filmästhetisch, strukturell, aber auch operativ. Tarantino kann auch deshalb mit gängigen Narrativen, vertrauten Mustern und Erwartungshaltungen des Publikums brechen, weil er die Kinosprache beherrscht und diese gleichzeitig als Subtext immer mitliefert. Pulp Fiction changiert zwischen großem Hollywoodkino und exzellenten Cinema d’auteur, zwischen »Trash und Baudrillard« (Seeßlen 1994). Dass Tarantino dabei auch die Metafiktionalität des Filmemachens reflektiert, ist ein weiterer Hinweis auf seine poststrukturalistische Verwandtschaft. Sie zeigt sich insbesondere in der berühmten Tanz-Szene, in der Kinogeschichte, Fiktion und filmische Wirklichkeit miteinander verschmelzen. Spielort der Szene ist das Jack Rabbit Slim, ein Diner-Restaurant im Stil der 1950er Jahre, in dem als Pop-Ikonen wie Marilyn Monroe, James Dean, Buddy Holly u.a. verkleidete Kellnerinnen und Kellner arbeiten. Wie auch das Restaurant nur Kulisse ist, so sind die Filmikonen vor allem Symbole für die

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amerikanische Popkultur. Indem Tarantino jedoch John Travolta in dieses Ambiente platziert, vermischen sich die beiden Ebenen zwischen Schauspieler und Pop-Ikone und damit auch zwischen Kulisse und Spiel-Ort (Fischer 2000: 156). Wenn Uma Thurmann und John Travolta im Jack Rabbit Slim auf die Bühne steigen und beginnen, ihren berühmten Twist hinzulegen, dann halten die Zuschauerinnen und Zuschauer den Atem an (Weingarten 1994: 242). Obwohl die Szene konventionell gefilmt ist: von der Totalen zur Nahaufnahme Uma Thurmann, Gegenshot Nahaufnahme John Travolta, Schwenk der Kamera zwischen Tänzerin und Tänzer, dann wieder Halbtotale, dann Nahaufnahme Travolta, Nahaufnahme Thurmann, gehört sie inzwischen zu den meistbeachteten der Filmgeschichte. Nicht nur der Twist ist unwiderstehlich, sondern Tarantino lässt Travolta verschiedene Figuren gleichzeitig spielen. Er verwebt die echte Pop-Ikone mit Fake und erfindet dabei den bekanntesten Dancefloorklassiker der 1970er Jahre – Saturday Night Fever (1977) – neu: Wie John Travolta im weißen Suite Case in Saturday Night Fever zu den Bee Gees tanzte, war nicht nur grandios, sondern wurde zum Symbol für das Disco-Zeitalter (Lebeau 2013) und John Travolta damit zur Pop-Ikone der 1970er Jahre und zum Mythos: Wenn Tarantino Travolta nun wieder tanzen lässt, »verschwimmen vollends die Grenzen zwischen Schauspieler und Figur« (Fischer 2000: 157). Hingegen freut sich das Publikum, dass es Travolta tanzen sehen kann (Weingarten 1994: 242). Die Twist-Szene ist ein doppelter Einschub in eine ohnehin von Zitaten wimmelnde Szenerie: Obwohl Tarantino Saturday Night Fever parodiert, ist sie nicht nur eine Reminiszenz an die Popkultur und seine Ikone Travolta, sondern auch an das französische Autorenkino: »Meine liebsten Musical-Szenen«, verriet Travolta, »waren immer in Godard-Filmen, weil sie dort wie aus dem Nichts kommen. Und die Tatsache, dass der Film ja gar kein Musical ist, sondern Godard die Geschichte einfach anhält, um eine Musical-Szene einzubauen, verleiht der Sache umso mehr Charme.« (Tarantino, zit. nach Fischer 2000: 154) Wie Godard in seinem Bande à part (1964) den Film angehalten hat, steigen auch Mia und Vincent auf die Bühne und tanzen unvermittelt einen Twist. Sie tun dies einerseits um ihrer selbst willen, andererseits weil Tarantino auch hier wieder Kinogeschichte mehrfach verflicht. Durch die Umstellung der Szene, ihre intertextuellen Querverweise auf die Kinogeschichte, die Verwischung der Grenze zwischen Realität und Fiktion, die Dekonstruktion der Figuren und die Artifizialität des

Pulp Fiction (1994)

Schauplatzes stellt Tarantino das Medium Film als das dar, was es ist: als Konstrukt, als eine Traum-Maschine, in der alles möglich wird.

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Weingarten, Susanne (1994): »Der Killer als Plauderer«, in: Der Spiegel 44/1994, S. 237-242.

Claudia Tittel, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin (PostDoc) an der Professur für Geschichte und Theorie der Kulturtechniken an der Bauhaus-Universität Weimar. Arbeitsschwerpunkte: Medien- und Kunsttheorie, Film an der Schnittstelle zu anderen Medien.

TO DIE FOR (1995) Katerina Krtilova In The Matrix, dem berühmten Science-Fiction-Film, der vier Jahre nach To Die For erscheint, ist in einer der ersten Szenen ein Buch mit dem Titel Simulacra and Simulation zu sehen, das nicht zufälligerweise auf Jean Baudrillard verweist1. Suzanne Stone, die Hauptfigur des Films von Gus Van Sant, scheint auf den ersten Blick ebenfalls ganz im Baudrillard'schen Universum gefangen, auf den zweiten Blick aber – stellen wir uns ein Buch von Lorenz Engell in Suzannes Wohnzimmer vor – nimmt sie als zugleich Medienereignis und seine Theoretikerin eine Position ein, die die Simulationsthese mit viel Ironie in Frage stellt (Engell 1994: 19–37). Die Antiheldin Suzanne wird anders als Neo in The Matrix am Ende des Films nicht auferstehen, um die Macht über die (eigenen) Bilder wiederzuerlangen. Suzannes Leben und Lebensende fallen mit ihrer Sichtbarkeit als Bild, Fernseh-, Video- und Filmbild, in eins: »You are nobody in America unless you’re on TV«, so ihr Motto. Sie mordet für ihre Karriere – und kommt als Angeklagte tatsächlich ins landesweite Fernsehen, um nicht hinter Gittern, aber tot in einem See bei Little Hope wieder zu verschwinden. Neos Tod am Ende von The Matrix wird verhindert, indem er seine tödliche Verwundung in der Bildwelt der Matrix als Täuschung erkennt. Die Figur des Neo innerhalb der Matrix, das ist der Clou des Films, ist nur eine Simulation des ›real existierenden‹ Menschen Neo, dessen Körper in einer von Maschinen regierten Welt als Energiequelle genutzt wird. Im Sterben durchschaut Neo die Bilder als Bilder und lernt damit die Matrix-Bildwelt zu beherrschen. Doch die simulierten Bilder 1 | Baudrillard äußerte sich selbst kritisch zum Verhältnis seiner – in den

90er Jahren weltweit bekannt gewordenen – Arbeiten und The M atrix im Interview mit Aude Lancelin in Le Nouvel Observateur 2003.

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unterscheiden sich als Bilder nicht von denen der ›realen‹ Welt – bis auf die digitalen Spezialeffekte, die die Eingriffe in die Matrix sichtbar machen. Der eigentliche Kunstgriff ist die Trennung der beiden Bildwelten, die Behauptung der Realität der Maschinenwelt und der Illusion der maschinell generierten Bilder. Als Neo die letzteren Bilder durchschaut, zeigt der Film die Technik ›dahinter‹ in Form von beweglichen Reihen graphischer Symbole, die nur zum Teil den in Programmiersprachen verwendeten Zeichen entsprechen, das als ›digital rain‹ oder ›green rain‹ bekannte Bild des unsichtbaren Codes unter der Oberfläche der Bilder. To Die For lässt die gar nicht mysteriös von Apparaten generierten Bilder auf eine andere Art als Bilder durchschauen – sie werden nicht transparent, sondern opak. In der Titelsequenz, bei der Zeitungsberichte gezeigt werden, die Suzannes ganze Geschichte vorwegnehmen – Wettermoderatorin eines lokalen Fernsehsenders verführt Jugendlichen und lässt ihn ihren Ehemann ermorden – endet mit einem Zoom zunächst auf ein Zeitungsfoto Suzannes, das sie im Fernsehstudio zeigt. Der Zoom endet mit dem Detail der schwarzen Punkte und weißen Flächen der bedruckten Seite, um dann zu Suzannes Pupille und Auge zu wechseln und bis zu einem Close-up ihres Gesichtes herauszuzoomen. Beim Detail des Auges sind Videostreifen zu sehen, das (als ob) abgefilmte Videobild geht dann nahtlos in den Film Close-up über. Im Off-Kommentar erklärt Suzanne: »I mean, if you get too close to the screen all you can see is a bunch of little dots.« Die Technik hinter den Bildern ist hier nicht der große unfassbare Apparat, Hardware-Maschinen oder Software-Agenten wie in The Matrix, sondern steckt im Detail – das Unsichtbare ist im Bild selbst, nicht dahinter oder jenseits: es ist die opake Oberfläche des Blattes Papier ebenso wie die leuchtende Fläche des Bildschirms. Anders als Neo will Suzanne nicht hinter die Bilder gelangen, sondern ins Fernsehen kommen. Ihre Kernthese: »On TV is where we learn who we really are. Because what’s the point of doing anything worth while if nobody is watching«. Sie will in einer bunten Hyperrealität leben, perfekter als die Realität, in einer Überzeichnung des American Dream (Weber 2014: 161 f). Suzanne durchschaut gar nichts, ist aber auch kein Opfer, das von den technischen Bildern manipuliert oder ausgesaugt wird, sondern von Anfang an Teil der Bilder, ein Oberflächeneffekt. Gerade diese Position wird zum Ausgangspunkt einer Medienreflexion, die nicht bei Baudrillard ansetzt (We-

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ber 2014: 163); einer Medienreflexion, die nicht den (theoretischen) Standpunkt außerhalb der Film-, Video- und Fernsehbilder sucht (Engell 2003: 53). Zeigt die ›digital rain‹- Szene eine transzendente Verwandlung Neos als des »Auserwählten« an, geht es in To Die For um immanent televisive Verschiebungen, reflektiert im und durch den Film. Das Drehbuch basiert auf einem Roman von Joyce Maynard, der auf dem wahren, medienwirksamen Fall der Lehrerin Pamela Smart beruht. Gus Van Sant betrachtet diesen Fall allerdings nicht von außen, auf Abstand zu den Medien (im landläufigen Sinne), ob in kritischer Auseinandersetzung oder die mediale Dimension des Falls außer Acht lassend. Suzanne Stone ist vielmehr eine Agentin des Fernsehens (vgl. Engell 2015)2 – Opfer und Täterin, Objekt und Subjekt, Beobachterin und Beobachtete. Sie moderiert die Show ihres Lebens, eine Fernsehshow, die »überhaupt nicht auf Abbilden von fernseh-unabhängigen Gegenständen abziel[t]«, sondern »das Vergnügen am Hinsehen auf das Vorgestellte als solches – eben Präsentation.« (Engell 1989: 55) Wieso Suzanne Larry heiratet und ihn später umbringen lässt, bleibt – wenn wir Suzanne in Entsprechung mit einer real existierenden Person (z.B. Pamela Smart) sehen wollten – unverständlich. In der Logik der Fernsehshow hingegen ist klar: Suzannes Hochzeit ist ein sorgfältig inszeniertes Medienereignis, hier präsentiert in Fotografien. Es gibt keinen wahren Kern, keine Geschichte, die tatsächlich passiert ist, nur Erzählungen, Darstellungen. Immer wieder wird das jeweils aktuelle Bild neu gerahmt, der Blick auf das Studio freigegeben, in dem es aufgezeichnet wird – bei Suzannes Video ihr eigenes Wohnzimmer, in dem sie vor einer Videokamera sitzt. Alle Interviews mit Familienangehörigen, Gespräche in Talkshows, ›Spielfilm‹-Sequenzen, von Suzanne gedrehte Videoaufnahmen, Fernseh- und Videoaufnahmen von Suzanne, jedes der Bilder sieht aus wie ein »immer schon aus der Perspektive eines anderen Bildes […] gesehenes Bild« (Engell 2010: 153). Der Film zeigt Interviews, Videos, Fotografien, als (Fernseh-)Interviews etc. Den Wendepunkt in Suzannes Leben, an dem es überhaupt zu einer Geschichte wird, markiert der Mord an ihrem Ehemann. Beschreibt Lorenz Engell die Mondlandung als die kopernikanische Wende des Fernsehens, die Sichtbarmachung der Erde auf der Erde, 2 | »Being an investigative reporter is very much like being a kind of secret agent.« (Suzanne Stone)

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durch das vom Mond übertragene Fernsehbild (ebd.), vollzieht sich eine analoge Blickwendung in der Sichtbarmachung Suzannes in ihrem Wohnzimmer: Sie wird erst sichtbar durch das Fernsehen, aber nicht an einem anderen Ort, sondern zu Hause, in ihrem Leben. »…and it is the television journalist who serves as messenger, bringing the world into our homes and our homes into the world«, erklärt ihr und uns ein Fernsehexperte. Suzanne überbringt aber keine Nachrichten, sie ist selbst die Nachricht: Ihr Leben wird in die Welt ausgestrahlt. In der Mordszene kreuzen sich der Blick des Fernsehzuschauers im Wohnzimmer (hier Jimmy, der Suzannes Wetterbericht sieht, während er die Waffe auf ihren Ehemann richtet) und der Fernsehkamera, durch die Suzanne hindurchzusehen scheint, während sie im Studio moderiert, das Geschehen in ihrem Wohnzimmer beobachtend. Suzannes Gesicht ist vor dem Schuss in einer fernsehuntypischen Großaufnahme zu sehen, als ob in das Wohnzimmer hineinblickend, beim tödlichen Schuss scheint sie dann (im Studio) innezuhalten. Auf ein Detail von Larrys Auge, dessen Pupille sich verfärbt, folgt das Close-up von Suzannes Gesicht mit starr in die Kamera/das Wohnzimmer blickenden Augen. Als Suzanne dann in ihr Wohnzimmer zurückkehrt, schreitet sie gleich weiter in Richtung des gleißenden Scheinwerferlichts, das von außen durch die Jalousien ins Zimmer dringt (in Umkehrung des heimeligen Lichts, das aus Fenstern auf die Straße fällt). Das Wohnzimmer wird zur Bühne, zum Schauplatz der Fernsehsendung(en) zum Fall Suzannes. Das Unheimliche dieser Szene ist nicht der (erwartete) Mord, die Realität, die von den Journalisten aufgedeckt wird, sondern das Wohnzimmer als immer schon die Bühne, eins mit dem lokalen Fernsehstudio – keine von hyperrealen Bildern beherrschte Wirklichkeit. Das Fernsehen schafft eine Sichtbarkeit, die vorher nicht da war, die es nicht ohne das Bild gibt. Es macht überhaupt erst etwas sichtbar, in den verschiedenen Formaten, die im und durch das Fernsehen zusammengefügt werden und eine globale Sichtbarkeit im Lokalen, ja dem privatesten, intimsten Raum erzeugen.3

3 | Im Film kurz angesprochen, lässt das »neue Computerzeitalter« Suzannes Selbstdarstellung mit neuen Formaten digitaler Medien zusammen denken, sozialen Medien und anderen (Platt-)Formen der Präsentation von (bewegten) Bildern – die ganz ohne Journalisten, Scheinwerfer, die klobige Videokamera und Videokassette auskommen.

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Die medienreflexive Wendung findet in den Bildern statt, die immer schon Bilder zweiter Ordnung sind. Während der Zusammenhang der Interviews, Videos, Spielfilmszenen, Fotografien etc. einem televisiven Prinzip folgt – wir schalten ins Studio, zurück zu Suzannes Ausführungen, ihren Hochzeitsfotos usw. – wird in der beschriebenen Mordsequenz das genuin filmische Verfahren der Montage eingesetzt: nur die Montage der Details des Auges von Larry, des Gesichtes von Suzanne etc. erzeugt den Eindruck, dass die Geschehen im Studio und im Wohnzimmer verbunden sind. Suzanne erweist sich damit als Agentin des Fernsehens und des Films: schalten wir in das Haus des frischvermählten Paares, präsentiert Suzanne – vor dem ausgeschalteten Fernsehapparat sitzend – perfekt gestylt, geschminkt und frisiert ihrer und Larrys Familie (die in gleicher Anordnung später im Fernsehstudio sitzen) das perfekte Dinner, welches als Bild gestaltet ist: das gekochte Gemüse ist kunstvoll in einem ›Korb‹ aus Gemüsescheiben drapiert. Die bunten, wild gemusterten Tapeten, Vorhänge, Teppiche, die Möbel und Accessoires bilden dann einen Rahmen, dessen Ästhetik Christian Weber mit Douglas Sirks Melodramen vergleicht – allerdings wirken die Protagonisten eher wie einer Sitcom entsprungen. Träte bei einer Sitcom aber die eher elementare Ausstattung in den Hintergrund, kommt im Film (dem Farbspektrum und Detailreichtum des Filmbildes) das Kulissenhafte von Suzannes fernsehtauglichen Bildern zur Geltung. Auf der großen Leinwand lassen das perfekt gestaltete Heim und die Hausherrin eher an David Lynch denken: Es tun sich Abgründe auf in der amerikanischen Durchschnitts-Kleinstadt in der Durchschnittsfamilie. Suzanne aber feiert die Oberflächlichkeit des Fernsehens – auch wenn am Ende nur das erstarrte (Film-)Close-up des Gesichtes eines Filmstars (Nicole Kidman als Suzanne) unter der Eisdecke bleibt. Bis zur Wiederholung im Fernsehen.

Referenzen Baudrillard, Jean (1994): Simulacra and Simulation, Ann Arbor, MI: University of Michigan Press. Ders./Lancelin, Aude (2004): »The Matrix Decoded. Le Nouvel Observateur, Interview With Jean Baudrillard«, in: International Journal of Baudrillard Studies, Volume 1, Number 2, https:// www2.ubishops.ca/baudrillardstudies/vol1 _2/genosko.htm, [05.03.2018].

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Engell, Lorenz (1989): Vom Widerspruch zur Langeweile. Logische und temporale Begründungen des Fernsehens, Frankfurt a.M. u.a.: Lang. Ders. (1994): Das Gespenst der Simulation. Ein Beitrag zur Überwindung der ›Medientheorie‹ durch Analyse ihrer Logik und Ästhetik, Weimar: VDG. Ders. (2003): »Tasten, Wählen, Denken. Genese und Funktion einer philosophischen Apparatur«, in: Münker, Stefan/Roesler, Alexander/Sandbothe, Mike (Hg.): Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 53–77. Ders. (2010): »Die kopernikanische Wende des Fernsehens«, in: Bergermann, Ulrike/Otto. Isabell (Hg.): Das Planetarische. Kultur-Technik-Medien im postglobalen Zeitalter, München: Fink, S. 139–154. Ders. (2015): »Agentur«, in: Lorenz Engell et. al., Essays zur Film-Philosophie, München: Fink, S. 17–62. The Matrix (USA, 1999, Lana & Lilly Wachowski). Weber, Christian (2014): »Hollywood Homes. To Die For (1995): The Medium Is the Message«, in: Ders.: Gus Van Sant. Looking for a Place Like Home, Berlin: Bertz + Fischer, S. 156–173.

Katerina Krtilova, Dr. des., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theorie, ZHdK und Koordinatorin des Doktoratsprogramms »Epistemologien ästhetischer Praktiken«. Arbeitsschwerpunkte: Medienphilosophie und -theorie, Ästhetik.

FARGO (1996) Johannes Boettner In Fargo, ihrem bis dahin kommerziell erfolgreichsten Film, erzählen Joel und Ethan Coen eine Kidnapping-Story wie auch schon in Raising Arizona und später in The Big Lebowski. Anders als in den beiden anderen Fällen überschreiten sie in Fargo – bei allem Sinn fürs Tragisch-Komische – aber nie die Grenze zur Kriminalkomödie, obwohl der bizarre Plot dies nahezulegen scheint: Eine schwangere Polizeioffizierin (Frances McDormand) untersucht einen Mordfall mit drei Toten. Die Morde wurden von zwei Kriminellen (Steve Buscemi und Peter Stormare) verübt, als sie im Auftrag eines in Finanznot geratenen Autoverkäufers (William H. Macy) dessen Ehefrau (Kristin Rudrüd) entführen, um von deren wohlhabendem Vater (Harve Presnell) ein stattliches Lösegeld zu erpressen. Der Plan misslingt. Es sterben: ein Polizist, der eine Verkehrskontrolle durchführen will; zwei Augenzeugen, die zufällig vorbeikommen; der Vater der Entführten, der die Geldübergabe in die eigene Hand nimmt, die Entführte und einer der beiden Entführer.

Kalte Heimat Minnesota Dem Plot nach eine (schräge) Kriminalgeschichte, könnte man den Film mit gutem Recht auch als einen (schrägen) Heimatfilm auffassen. Er spielt in North-Dakota und Minnesota, wo die Coen-Brüder aufgewachsen sind. Die beiden sind mit der Region daher bestens vertraut, und in der New Yorker Vergleichsperspektive ihres Erwachsenenlebens ist ihnen, wie sie rückblickend konstatieren, auch die Exotik und Fremdheit dieser Gegend und des nordischen Habitus ihrer Bewohner aufgegangen (Allen 2006: 72 ff.). Allerdings reicht das biographische Moment für die Klassifizierung als Heimatfilm nicht aus. Wenn jemand in der Gegend, aus der er kommt, einen Film dreht, so ist das Produkt nicht zwingend

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ein Heimatfilm. Und auch wenn die Protagonisten in ihrer Sprache allesamt eine starke regionale Prägung erkennen lassen, wie im vorliegenden Fall das Idiom der skandinavischen Einwanderer Minnesotas, so ist der Film nicht allein deshalb ein Heimatfilm, wiewohl wir der Sache damit schon näherkommen. Ort oder Landschaft sind niemals an sich Heimat, sondern sie werden dazu durch soziale Erfahrung und durch das Gefühl, das sich mit ihnen verbindet. So kann man von einem Heimatfilm im engeren Sinne erst sprechen, wenn der Film die emotionsgetränkten ›Nachbilder‹, die Landschaften und Orte im Gedächtnis derer hinterlassen, die dort jetzt nicht mehr sind, rezipierbar macht. Was in sentimentaler und verkitschter Form geschehen kann, aber nicht muss, wie das Beispiel Fargo zeigt. Der Film ist an vielen Stellen komisch, aber nicht nett. Diese Heimat ist nicht oder nur in wenigen Momenten heimelig. Und dennoch findet der Zuschauer hier Bilder, die nicht einfach Orte und Landschaften abbilden, sondern in ihrer geradezu magischen Intensität eher die inneren Nachbilder dieser Orte und Landschaften zu zeigen scheinen. Das geschieht höchst eindringlich schon mit der ersten Einstellung. Wir sehen eine riesige weiß-graue Fläche, ein Schneetreiben, in dem winzig ein herumflatternder Vogel sichtbar wird. Erst allmählich zeichnet sich schwach die Kontur einer Straße ab, auf der sich von fern ein Auto nähert. Man sieht punktartig die beiden Scheinwerfer. Dann verschwindet das Auto in einer Bodenwelle, um wenig später näher und viel größer wieder aufzutauchen. Das geschieht unter den melancholischen Klängen von The lost sheep, einem skandinavischen Lied in der Bearbeitung von Carter Burwell. Dank der Bodenwelle und der anschwellenden Musik wird das Auto zu einem Ereignis, es ›passiert‹ im doppelten Sinne des Wortes. Wir sehen die Gestalt des Fahrers und erkennen nun auch, dass er auf einem Anhänger ein weiteres Auto transportiert. Auf der endlos wirkenden Straße zieht das Autogespann nun seine Bahn, umgeben von der horizontlosen Weite riesiger Schneefelder, deren Grau-Weiß in der Ferne mit dem Grau-Weiß des Himmels verschwimmt. Mit diesem Bild der Orientierungslosigkeit und Verlorenheit beginnt der Film, dessen Hauptakteur, Jerry Lundegaards, in seinem ebenso ungeschickten wie kaltherzigen Versuch, sein Schicksal mittels einer von ihm selbst angestifteten Entführung seiner Ehefrau zu wenden, in der Tat ein ›Verlorener‹ ist. Die äußere Szenerie reflektiert diese Verlorenheit und büßt auch im weiteren Verlauf des Film-

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geschehens nichts von ihrer Unwirtlichkeit ein. Mehr als einmal bleiben Fluchtversuche schon nach wenigen Schritten im vereisten Schneefeld stecken. Es ist eine Gegend, die man am besten durch die Windschutzscheibe eines Autos erlebt. Als schützende Hüllen gehören Autos zu dieser Welt, wie das schwere Schuhwerk, die dicken Mäntel, Mützen und Fäustlinge, die die Protagonisten ungelenk wie Bären im Schnee herumtapsen lassen, sobald sie den automobilen Innenraum einmal zu verlassen gezwungen sind.

Zeichen des Authentischen This is a true story. The events depicted in this film took place in Minnesota in 1987. At the request of the survivors, the names have been changed. Out of respect for the dead, the rest has been told exactly as it occurred.

Diese Mitteilung stellen die Coens ihrem Film voran, eine Authentizitätsbehauptung, die in den ersten Presseberichten sogar für bare Münze genommen wurde (Rowell 2007: 194), faktisch aber unzutreffend ist (Sterritt 2004: 17). Zwar könnte man im Stil einer filmakademischen Prüfungsfrage darüber spekulieren, ob die Behauptung in einem tieferen Sinn vielleicht doch zutreffe. Aber so apodiktisch, wie die Aussage formuliert worden ist, bietet sie für gedankliche Tief bohrungen dieser Art nur wenig Spielraum. Plausibler scheint es daher, sie einfach als das zu nehmen, was sie ja unbestreitbar ist: Gestaltungselement in einem Werk, das eine fiktionale Welt konstruiert und diese mit den Insignien des Authentischen ausstattet. Von der Frage, ob die Aussage richtig ist, verschiebt sich das Augenmerk so auf den Effekt, den sie auf die Rezeption des Publikums ausübt, wenn sie von diesem (und sei es auch nur für’s Erste) geglaubt wird. Entscheidend ist dabei, den Coens zufolge, »that the audience gives you permission to do certain things, if they feel the story is real« (zit. n. Rowell 2007: 177). Die Rahmung als ›real‹ ermöglicht den Verzicht auf viele typische Zutaten eines Hollywood-Thrillers und wird im Gegenzug durch diesen zugleich erneuert und bekräftigt, wodurch auch der Handlungsverlauf und die eher eindimensional gezeichneten Charaktere an Plausibilität und Glaubwürdigkeit gewinnen. ›Realistisch‹ ist dieser Film auf eine durchaus unrealistische, den Kontrast zu den Konventionen des Genres stilisierende Art. Die sehr ruhige Kameraführung, der Verzicht auf Beleuchtungstechnik trotz trüben Wetters, die unspektakulären Schauplätze, die seltsam verkürzte

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Sprechweise, die Präsenz von Alltäglichkeit in Gestalt ritualisierter Kommunikation – dies alles sind Zeichen des Authentischen, die ihre Plausibilität aus der Negation der gewohnten Filmrealität beziehen. Sie sagen: in diesem Film ist es nicht ›wie im Film‹. So gibt es in Fargo zwar, wie in Kriminalgeschichten üblich, auf Seiten der Polizei eine umfassend positive Heldenfigur, Marge Gunderson, Chefin der Polizeistation in der Kleinstadt Brainerd, die nicht nur über ein sehr gefestigtes Wertesystem verfügt, sondern auch über einen scharfen kriminalistischen Verstand, mit dessen Hilfe sie die Täter schließlich und erwartungsgemäß zur Strecke bringt. Daneben ist sie jedoch mit weiteren, durchaus überraschenderen Eigenschaften ausgestattet, wovon besonders die Tatsache ins Auge springt, dass sie hochschwanger ist und mit einer entsprechend schwerfälligen Motorik durch die Tatorte stapft. Ungewöhnlich gewöhnlich sind überdies ihre häuslichen Lebensumstände, ihre Ernährungsgewohnheiten und ihre bieder-harmonische Ehe mit Norm, der naturgetreue Gemälde von Enten anfertigt. Die stärkste Abweichung von den eingelebten medialen Erwartungsstrukturen liegt indes in der Tatsache, dass es geschlagene 33 Minuten dauert, bis sie als einziger Charakter, der das Publikum ungebrochen zur Identifikation einlädt, überhaupt erstmals in Erscheinung tritt. Dies ist eine beachtliche Wartezeit, gemessen an der alten Daumenregel, wonach kommerziell erfolgreiche Filme dem Publikum gewöhnlich innerhalb der ersten zehn Minuten eine positive Identifikationsmöglichkeit anbieten, eine Figur, mit der es mitfühlen und mitfiebern kann (Hague 1988: 44). Offenbar gehört auch dies zu den »certain things«, die die Coens durch die Reality-Rahmung für das Publikum tolerierbar machen: Statt einer positiven Heldengestalt folgt das Publikum gut eine halbe Stunde lang den Machenschaften von Jerry Lundegaards, mit dem eine Identifikation schon deshalb schwierig ist, weil er als jemand in Szene gesetzt wird, der sich nicht einmal mit sich selbst identifizieren kann. Die durch die Rahmung angesprochene Frage der Authentizität wird so auch innerhalb des Filmgeschehens selbst noch einmal zum Thema. Einen Terminus Erving Goffmans aufgreifend, könnte man einen Fall von »wrong face« diagnostizieren (Goffman 1967: 8). Jerry versucht etwas zu sein, was er nicht ist und auch nicht überzeugend darstellen kann. In der Unterredung mit den beiden von ihm engagierten Kriminellen Carl Showalter und Gaear Grimsrud führt er sich nicht wie

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deren Auftraggeber auf, sondern reagiert auf Carls Vorhaltung, er habe sich verspätet, mit stolpernden Rechtfertigungsversuchen wie ein zu Unrecht beschuldigtes Kind. An seinem Arbeitsplatz erleben wir ihn, wie er – halb Falschspieler, halb Schmierenkomödiant – erfolglos einem betrogenen Kunden die Empörung auszureden versucht. Er ist eine wandelnde Lüge, aber eine schlechte Lüge, die als solche leicht zu erkennen ist. Es ist daher nicht überraschend, dass Wade, sein Schwiegervater und Chef, ihm gegenüber Respekt und Wertschätzung vollständig vermissen lässt. Wie Jerrys Verlegenheitsgesten anzeigen, entgeht ihm diese Missachtung nicht. Unfähig, sich in die Lage eines anderen hineinzuversetzen und dessen Perspektive zu übernehmen, realisiert er aber nicht wirklich, wie Wade ihn sieht; er könnte sonst unmöglich unterstellen, dass dieser ihm, dem Looser, die verantwortungsvolle Aufgabe der Lösegeldübergabe einfach überlassen würde. Auf dieser von keinerlei Selbsterkenntnis getrübten Unterstellung beruht aber Jerrys ganzer Plan, und daran scheitert er dann auch. Das Kidnapping-Projekt entgleitet ihm. In der Hand von Carl und Gaear nimmt es immer blutigere Züge an, wodurch die Polizistin Marge ins Spiel kommt – eine Frau, die ihrem ganzen Auftreten nach die personifizierte Authentizität und somit das direkte Kontrastprogramm zu Jerry ist. Ihr ›Face‹ scheint für sie kein Thema zu sein; sie ist einfach, was sie ist: als Polizistin scharfsinnig und hartnäckig, als Ehefrau fürsorglich, beides auf eine sehr gelassene Art und ohne von sich selbst sonderlich Aufhebens machen zu müssen. Die Coens unterstützen diesen Eindruck, indem sie alles weglassen, was ihn infrage stellen könnte. So erfahren wir zwar beiläufig durch einen ehemaligen Schulkameraden, dass sie anlässlich der Morde im Fernsehen zu sehen war; anders als in Kriminalgeschichten sonst üblich, wird dies aber nicht gezeigt: keine Pressekonferenzen, keine Interviews, keine Mikrofone, keine Kameras. Stattdessen erleben wir sie (die soeben den Mörder Gaear gestellt hat, als er dabei war, die sterblichen Überreste seines Komplizen mittels Häckselmaschine in einen blutroten Sprühregen zu verwandeln) im Ehebett mit ihrem sanften Gatten Norm, den sie geschickt darüber hinwegtröstet, dass sein Entenmotiv es nur auf die Zwei-Cent-Briefmarke geschafft hat, als gäbe es im Moment nichts Wichtigeres als das. Das ist witzig und zugleich, bei aller Ironie, auch ein bisschen rührend. Marge repräsentiert ein Glück im Winkel der Normalität, das in der kalten Heimat Minnesota den Gegenpol bildet zur horizontlosen

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Weite, in der Menschen wie Jerry und Carl an sich und ihrer Kleinheit verzweifeln. Vielleicht ist das wahr; vielleicht ist Fargo so wahr wie die Geschichte vom Riesen Paul Bunyan, einer regionalen Märchengestalt, dessen Standbild an der Ortszufahrt von Brainerd mehrfach im Vorbeifahren gezeigt wird und dabei mal einen harmlos folkloristischen, mal einen höchst unheimlichen Eindruck macht.1 Wenn wir dies als einen hermeneutischen Wink mit dem Zaunpfahl nehmen, dann erscheint Fargo als moderne Spielart von »tall tale« (Rowell 2007: 174) und die Authentizitätsbehauptung im Vorspann des Films wird als zeitgenössisches Äquivalent dessen erkennbar, was im Märchen »Es war einmal …« hieß.

Referenzen Allen, William Rodney (Hg.) (2006): The Coen Brothers – Interviews, Jackson: University Press of Mississippi. Goffman, Erving (1967): Interaction Ritual. Essay on Face to Face Behavior, New York: Anchor Books. Hague, Michael (1988): Writing Screenplays that Sell, New York: McCraw-Hill. Raising Arizona (USA, 1987, Joel Coen/Ethan Coen). Rowell, Erica (2007): The Brothers Grim. The Films of Ethan and Joel Coen, Lanham, Maryland u.a.: The Scarecrow Press. Sterritt, David (2004): »Fargo in Context«, in: Luhr, William G. (Hg.): The Coen Brothers' Fargo, Cambridge: University Press. The Big Lebowski (USA/GB, 1998, Joel Coen/Ethan Coen). 

Johannes Boettner, Prof. Dr., ist Professor (i.R.) für Soziologie im Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung an der Hochschule Neubrandenburg. Arbeitsschwerpunkt: Interaktions- und Öffentlichkeitssoziologie.

1 | Ein solches Standbild gibt es dort nicht wirklich. Es wurde, wie Sterritt (2004) berichtet, eigens für den Film entworfen.

SIEBEN HÜGEL (1997) Peter Bexte

Kaliko-Welt Seltsam ist es, eine Oscar-Figur plötzlich in den Händen zu halten: einen Ritter im Art-déco-Stil, auf ein großes Schwert gestützt und auf einer Filmrolle stehend. Schaut aus wie ein erstarrtes Bewegtbild, 3D-Screenshot gleichsam einer Fantasyproduktion, die dem Medium Film unausrottbar anhängt. Wie so viele Fetischobjekte hat die Statuette einen gewissen Hang zum Spielzeug, zu Puppen und Nippes, mit allen Zügen eines sinnlich-übersinnlichen Dings voll theologischer Mucken (frei nach Karl Marx). So ein Oscar badet gleichsam in Bedeutung. In der Tat ist das Ding derart überdeterminiert, dass es wie eine Rakete in den Outer Space abheben könnte. Da würden sich die Aliens aber wundern, wie es auf der Erde ausschaut! Der Oscar, den ich eines Tages in Händen hielt, gehörte Ken Adam. Er hatte ihn 1976 für die Ausstattung des Films Barry Lyndon erhalten. Neben ihm stand sein Bruder, der hieß auch Oscar, und war 1995 für das Production Design von The Madness of King George verliehen worden. Beide Oscars standen auf dem Kaminsims von Ken Adams Londoner Haus. Nun war aber einer von beiden einmal heruntergefallen, und zwar so unglücklich, dass eine Ecke des Metalls abplatzte. Hierdurch blickte man ins Innere und sah etwas sehr Profanes: einen milchig-weißen Plastikkern. Es war, als ob dieser lädierte Oscar ein Geheimnis des Films ausplaudern würde: dass er stets auf Außenhäuten spielt. Siegfried Kracauer hat dies eine Kaliko-Welt genannt. Dabei dachte er an jene Babelsberger Filmkulissen, die er in den 1920er Jahren sah: Pappmaché-Burgen mit Kemenaten, Wällen und Gräben; hüfthohe Hochhäuser für den Metropolis-Film; gipserne Götter im Exil und anderes dieser Art. Der lädierte Oscar schien mir ein vortrefflicher Vertreter eben dieser

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Kaliko-Welt zu sein; zumindest einerseits. Andererseits aber passte er so gar nicht recht zu Ken Adams Materialansprüchen, wie ich bald bemerken sollte. Damals kuratierte ich die zentrale Abteilung der Berliner Millenniumsausstellung Sieben Hügel: Bilder und Zeichen des 21. Jahrhunderts. Zu unserer freudigen Überraschung gelang es Gereon Sievernich, Ken Adam für die Gestaltung zu gewinnen. Es sollten intensive Jahre werden. Dabei ist keinerlei Pappmaché eingesetzt worden, aber sehr viel Stahl. Zudem verlangte Ken Adam nicht irgendeinen Stahl, sondern Stahl in gun-metal finish. Es war eben jenes Material, dessen Einsatz seit den frühen James-Bond-Filmen zu seinen Markenzeichen zählte. Von wegen Kaliko-Welt! Am Ende der Ausstellung waren wir das größte Stahllager Berlins.

Typhoon Gespräche mit Ken Adam führten immer wieder auf seine Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg zurück. Ohne diesen Hintergrund kann man weder sein Engagement für die Berliner Ausstellung verstehen, noch sein Design der frühen James-Bond-Filme, und wohl auch nicht sein berühmtestes Set: den War Room in Stanley Kubricks Film Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb. Ken Adam hieß als Kind Klaus Adam. Er wuchs im Berlin der 1920er Jahre auf, wo seine Eltern ein bekanntes Sportgeschäft führten. 1933 musste die Familie fliehen und ging nach London. Dort meldete sich der Sohn zum Militär. Er hatte damals noch keinen britischen Pass und wurde als einziger Deutscher von der Royal Air Force akzeptiert. Das Land seiner Herkunft sollte er aus der Kanzel einer Hawker Typhoon wiedersehen, einem der damals schnellsten Flieger. Zweifellos sind einige Elemente dieser Kriegserfahrungen in seine späteren Entwürfe eingegangen: die Geschwindigkeit, das Technische, der unmittelbare Übergang vom schönen Schein ins Reich des Bösen usw. Bis zum Lebensende war er stolz darauf, dass ihm die Queen den Order of the Britisch Empire (OBE) verliehen hatte. Sein spezielles Verhältnis zu Deutschland wurde deutlich spürbar, als das Ausstellungsteam sich erstmals im Lichthof des Martin-Gropius-Baus versammelte. Das Gebäude aus dem 19. Jahrhundert war im Krieg beschädigt und später so restauriert worden, dass ein paar statische Probleme blieben. Zur Erläuterung gab es Fotos des Hauses in dem ruinierten Zustand von 1945. Letizia Adam, die

Sieben Hügel (1997)

hier wie stets dabei war, blickte zerstreut auf diese Bilder und fragte plötzlich: »But who destroyed this wonderful building? Who did it?« Da wandte sich Ken Adam zu ihr und sagte lächelnd: »We did it, darling«.

Think big Filmleute sagen gern »Think big!«, was allerlei bedeuten kann, etwa: das meiste Geld, die breiteste Leinwand, der pompöseste Sound usw. Bei Ken Adam zielte das Bonmot auf zweierlei: erstens auf Grundannahmen zum Medium Film; zweitens auf einen gewissen Arbeitsstil. Dass ein Set die Realität besser darstellen könne als die sogenannte Realität sich selbst: Von dieser filmischen Weisheit war Ken Adam zutiefst überzeugt. Die Welt will überboten sein, um sichtbar zu werden. Darum hat er die Goldbarren in Fort Knox größer bauen lassen, als sie materialtechnisch überhaupt sein könnten (Goldfinger, 1964). Nur so kommt die Macht des Goldes zur Darstellung. Seine Realität liegt im Imaginären, und das verlangt nach Überschuss. Mit dieser Haltung ist die eine Seite des Grundsatzes »Think big!« angesprochen. Die andere Seite bestand darin, noch das kleinste Detail ernst zu nehmen. Wiederholt habe ich mit ihm Handwerker in ihren Werkstätten besucht. Die waren baff. Alle kannten einen James-BondFilm, und so etwas hatten sie noch nicht erlebt: dass deren Macher in ihrer kleinen Klitsche auftauchte und beispielsweise über Schraubenköpfe sprach. Noch das geringste Detail wurde ebenso ernsthaft wie humorvoll diskutiert, und von dieser Bewegung wurde selbst der jüngste Lehrling mitgerissen. Das Ehepaar Adam hat alle bezaubert. In ihrer Großherzigkeit steckte die andere Seite des »Think big!«. Zu dem Erinnerungsbild dieses Mannes gehört ganz zweifellos die freundliche Bestimmtheit seines Auftretens. Selten habe ich erlebt, dass er den Ton wechselte. Nach zehnstündigen Beratungen, deren Ende noch nicht abzusehen war, hat einmal jemand in der Runde gegähnt. Da unterbrach der Siebenundsiebzigjährige seine Ausführungen und sagte: »Ihr gähnt schon? Das könntet ihr euch in Hollywood nicht leisten!«

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Sitzfleisch, getriggert Die späten 1990er Jahre waren die Zeit des Irakkrieges. Damals hörte man von Jagdflugzeugen, die angeblich per Eye-Tracking gesteuert würden. Manche Berliner Medienwissenschaftler waren begeistert von dieser Nachricht, schien sie doch zu bestätigen, dass der Krieg der Vater aller Medien sei. Ich fragte den alten Kampfpiloten Ken Adam, ob er sich vorstellen könne, ein Jagdflugzeug mit den Augen zu lenken. Er sah mich von oben bis unten an und schnaubte vor Verachtung. »Mit den Augen?!?? Ich will dir sagen, Peter, wie man so ein Dingen fliegt: Du fliegst es mit dem Hintern! Da spürst du, ob die Kiste abschmiert oder ob sie noch unterwegs ist. Mit dem Hintern fliegst du sie!«

Spatial Turn Bei dem Production Design des Films You Only Live Twice (1967) hatte Ken Adam einen japanischen Vulkan im Sinn gehabt. Er war ihm bei einem Hubschrauberflug aufgefallen und schien der ideale Ort für das nächste Reich des Bösen zu sein: ein archaischer Angstraum als perfekter Ort für perverses Hightech. Diesen Krater hat er im Maßstab 1:1 auf dem Gelände der Pinewood Studios nachgebaut, und zwar ohne dass es schon ein Drehbuch gegeben hätte. Dies war ein Novum, denn normalerweise wird etwas Schriftliches vor jedem Bild verlangt. Hier aber orientierte sich das Script von Roald Dahl an den räumlichen Gegebenheiten, nicht etwa umgekehrt. Es war ein Spatial turn im Film. Etwas von der Mächtigkeit des Räumlichen hat auch mich angeweht, als Ken Adam seine Entwürfe für die Berliner Millenniumsausstellung erläuterte. Anschließend habe ich einige Scripte erneuert.

Piranesi in Fort Knox Von Friedrich Nietzsche stammt die widerwillig formulierte Bemerkung, dass unser Schreibzeug (leider Gottes) an unseren Gedanken mitarbeiten würde. Für die Zeichenstifte von Ken Adam gilt das Wort in einer positiven Lesart. Er benutzte stets den Flo-Master, und zwar aus gutem Grund. Dieser Stift ermöglicht präzise Linien ebenso wie Modellierungen und Schattierungen. Beides war Ken Adam wichtig. Schon seine Handzeichnungen waren in der Regel so genau, dass ein Architekt damit arbeiten konnte. Zugleich vermittelten

Sieben Hügel (1997)

sie eine Ahnung von der Stimmung des Ganzen samt Hinweisen für die Lichtführung, mithin für die Kamera. Ken Adam kannte die Geschichte der europäischen Zeichenkunst. Nicht von ungefähr erinnern manche seiner Entwürfe an die Carceri d‘invenzione von Giovanni Battista Piranesi.

P yramidal Wenn es eine Geometrie des Bösen gibt, so steckt sie in den Filmsets von Ken Adam. Sie sind in aller Regel aus den grundlegenden Formen aufgebaut: Kreis, Rechteck, Dreieck, Kugel, Pyramide. Ein kreisrunder Tisch unter pyramidal geneigten Wänden hat dem War Room in Stanley Kubricks Dr. Strangelove seine unvergessliche Gestalt verliehen. Im Konflikt der elementaren Formen verbirgt sich das Entscheidende für ein Setdesign, in dem der Raum dynamisch wird und symbolische Form annimmt. Hier sind vor allem die Pyramiden zu nennen, die Ken Adam immer wieder gebaut hat. In ihren geneigten Wänden mag ein ferner Reflex jener expressionistischen Filmkulissen stecken, die er in seiner Berliner Kindheit sah und die ihn tief beeindruckten. Ken Adam war ein Mann des Studios, der nicht gern on location drehte, weil man dort zumeist nur rechteckige Kisten findet. Pyramiden aber sind per definitionem nicht rechteckig. Zudem sind sie auf mehrfache Weise ambivalent: Figur des Geheimnisvollen wie Gehäuse des Todes; dynamisches Zeichen nach oben und subterrane Folterzelle. Von hier aus sollten die Raketen starten, mit denen promovierte Bösewichte vom Schlage eines Dr. No sich anschickten, die Welt zu vernichten. Für den James-Bond-Film Moonraker (1979) hatte Ken Adam eine solche Pyramide gebaut. Sie sollte zum Vorbild für die Gestaltung unserer Ausstellung werden. Es ging um nichts Geringeres als die Verwandlung des gesamten Lichthofs in den Innenraum einer Pyramide. Sie wurde aus Stahlrohren gebildet und oben abgeschnitten, so dass sie die Decke des Martin-Gropius-Baus zu durchschlagen schien und das historistische Gebäude in eine Raketenstation verwandelte. In dieses dynamisch strukturierte Raumgefüge sollte ich meine 189 Exponate einsetzen (172 Leihgaben, 17 Auftragsproduktionen). Im Zentrum stand eine riesige Globuskugel mit simulierten Magmaströmen. An der Stirnwand prangte, einer gotischen Rosette gleich, die kreisrunde Detektorscheibe aus einem Teilchenbeschleuniger des CERN in Genf. Ein

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Aufzug fuhr bis unter das Glasdach. So blickte man von oben auf die im Raum verteilten Exponate aus Wissenschaft und Kunst. Mit Kreis und Kugel und Pyramide waren wesentliche Elemente einer Geometrie des Raumes versammelt, als Ken Adam kurz vor der Eröffnung plötzlich sagte, es würde ihm noch eine Linie fehlen, und zwar eine Diagonale. Angesichts des immensen Zeitdrucks, unter dem wir standen, sind damals einige im Team bleich geworden. Gewiss, die Diagonale ist die dynamische Linie schlechthin; als solche hat sie für die Avantgarde der 1920er Jahre eine immense Rolle gespielt. Und dem ausführenden Architekten Christian Axt ist es gelungen, noch rechtzeitig eine Querung in die oberste Lage der Pyramide einzuhängen. Der Effekt war in der Tat beeindruckend. Denn je klarer die Grundformen, desto stärker die Wirkung einer einzigen Linie. Damit war der Raum dynamisiert, vertikal wie horizontal. Als Volker Schlöndorff auf die Baustelle kam, hat er sich einmal im Kreis gedreht und dann gesagt: »Wow Ken, it’s a movie set!«

Diamonds are forever Ken Adam ist im März 2016 verstorben. Sein zeichnerischer Nachlass liegt im Archiv der Stiftung Deutsche Kinemathek/Berlin, darunter auch das Konvolut zur Berliner Millenniumsausstellung: https://ken-adam-archiv.de/ken-adam/sieben-hgel-bilder-zeichendes-21-jahrhunderts

Referenzen Barry Lyndon (GB, 1975, Stanley Kubrick). Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb (GB, 1964, Stanley Kubrick). Goldfinger (GB, 1964, Guy Hamilton). The Madness of King George (GB, 1994, Nicholas Hytner). You Only Live Twice (GB, 1967, Lewis Gilbert).

Peter Bexte, Prof. Dr., ist Professor für Ästhetik an der KHM Kunsthochschule für Medien Köln. Arbeitsschwerpunkte: Wissenschaftsgeschichte und Geschichte der Ästhetik.

WHAT THE WATER SAID, NOS. 1–3 (1998) Laura Frahm Als David Gatten am 22. August 1998 den letzten seiner Filmstreifen, die er am Morgen in einem Krabbennetz gebündelt im Ozean auf Seabrook Island an der Küste South Carolinas versenkt hat, wieder aus dem Wasser zieht, legt er damit nicht allein den Grundstein für eines der außergewöhnlichsten Filmexperimente des Avantgardefilms im ausgehenden 20. Jahrhundert – ein Experiment, das er im Jahr 2007 mit einer weiteren Serie von in Wasser getauchten und durch das Wasser bearbeiteten Filmstreifen fortsetzen sollte. Er markiert damit zugleich einen möglichen Endpunkt in der filmischen Beschäftigung mit dem Wasser, oder präziser noch, mit den Möglichkeiten, das Wasser selbst einen ›Film‹ schreiben zu lassen – eine Faszination, die sich bis in die frühen Erkundungen des filmischen Mediums hinein zurückverfolgen lässt. What the Water Said, nos. 1–3 ist ein Bildexperiment, das buchstäblich aus dem Wasser kommt, das durch eine Serie chemischer Reaktionen zwischen den unterschiedlich präparierten Filmstreifen und den Wellenbewegungen des Wassers entstand und das uns auf diese Weise tatsächlich mit dem konfrontiert, wie der suggestive Titel besagt, ›what the water said.‹ David Gatten hat sein Projekt selbst einmal als eine außergewöhnliche Kooperation zwischen den Strömungen des Ozeans, den Bewegungen der Algen und Meerestiere, und der Materialität jener schwarz-weißen oder farbigen, neuen oder bereits abgelaufenen Filmstreifen beschrieben, die er für sein Experiment zusammentrug, und sein Projekt lässt sich damit zuallererst als eine Experimentalanordnung zwischen dem maritimen und dem filmischen Medium begreifen. What the Water Said, nos. 1–3 entstand in drei unterschiedlichen Phasen: die erste Serie fand vom 1. bis 3. Januar 1997 mit kontrastreichem, schwarz-weißem Tonfilmmaterial (7378 Optical Sound

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Film) in kaltem, stürmisch-bewegten Wasser, die zweite Serie vom 13. bis 15. Oktober 1997 mit einigen Rollen Positiv-Farbfilm (7386 Color Positive Print Stock) inmitten eines starken Herbststurms und die dritte Serie schließlich am 22. August 1998 mit abgelaufenem Farbfilmmaterial (7399 Color Reversal Print Stock) in ruhigem, klaren Wasser bei sommerlichen Temperaturen statt. Dabei legt die außergewöhnliche Variationsbreite in der materiellen Beschaffenheit der Celluloidstreifen nahe, dass es Gatten nicht allein darum ging, die variierenden Wetterbedingungen an der Küste South Carolinas –  von den kalten Januartagen zu den stürmischen Bedingungen im Oktober bis hin zu den sommerlichen Temperaturen im August im Folgejahr – auf Celluloid zu bannen, wie er selbst in zahlreichen Interviews äußerte. Vielmehr begründet sich in der Variationsbreite des Filmmaterials zugleich ein dezidiert experimentelles Interesse am Film, was nicht zuletzt dadurch belegt wird, dass Gatten mit unterschiedlichen Zeitspannen experimentierte, in denen er seine Celluloidstreifen ins Wasser tauchte und nach einem festgesetzten Zeitraum wieder herauszog, um sie nach einer Weile erneut im Wasser zu versenken. Mehr noch, laut Michael Sicinski lässt sich What the Water Said, nos. 1–3 als eine Art ›chemischer Kalender‹ beschreiben, welcher die chemischen Reaktionen zwischen dem maritimen und dem filmischen Medium auf minutiöse Weise aufzeichnet: »These raw records of turbulence, salinity, available light, friction, and sometimes, direct engagement with underwater life form a kind of chemical calendar.« (Sicinski 2012: 40 –41) Damit verdeutlicht Sicinski nicht zuletzt, dass Gattens Experiment als eine filmische Versuchsanordnung begriffen werden kann, die auf einer Vielzahl unterschiedlicher – materieller, meteorologischer und chemischer – Variablen beruht bzw. die das ständige Variieren einzelner Variablen zum zentralen Organisationsprinzip erhebt. Dabei führt die Variationsbreite der unterschiedlichen Komponenten, die Gattens Filmexperiment ausmachen, zu einem außergewöhnlichen und vielschichtigen visuellen Spektrum: Während die erste Versuchsanordnung (no. 1) ihren bildlichen Ausdruck in weißen Flecken und ständig oszillierenden Kratzern vor einem schwarzen Hintergrund findet, der immer wieder Einrisse im Filmmaterial selbst aufzeigt – das Resultat zahlreicher Friktionen mit den Stäben des Krabbennetzes und dem zunehmenden Auflösungszustand des Filmmaterials selbst –, resultierte die zweite Versuchsanordnung (no. 2) in einem noch stärker bewegten Bildspektrum, in dem sich

What the Water Said, Nos. 1–3 (1998)

immer wieder organische Formen in das helle, beigefarbene Filmmaterial einschreiben. Den deutlichsten visuellen Kontrast markiert hingegen das dritte Experiment (no. 3), das in einem dichten, schimmernden Farbspektrum seinen Ausdruck findet, das zwischen Rosaund Goldtönen changiert und auf welches sich das Wasser ebenso wie die zahlreichen ›kooperierenden‹ Meerestiere in einer Reihe von Blasen und Kratzern in die Celluloidschicht einschreiben. David Gattens Wasserexperiment verweist damit auf jene experimentellen Praktiken in der Tradition der direct animation und des kameralosen Films, mit denen sich zahlreiche Experimentalfilmer im 20. Jahrhundert auseinandergesetzt haben und deren Kernpunkt in der aktiven Bearbeitung des Filmmaterials selbst liegt, so etwa durch das Einritzen, Kratzen und Punktieren der Emulsion oder durch das Bemalen, Bleichen und Färben des Filmstreifens selbst. Insbesondere im Bereich der visuellen Musik, die auf der jahrhundertealten Vision beruht, eine ›Musik für das Auge‹ zu kreieren, d.h. visuelle und auditive Ausdruckformen so zu synchronisieren, dass sie zu einer vollkommen gleichberechtigten Einheit geführt werden, finden sich zahlreiche Filmemacher, die durch die direkte Manipulation der Filmstreifen die bildlichen Formen auf präziseste Weise auf die Rhythmen und Bewegungsbögen der Musik abzustimmen versuchten. Hier ließe sich etwa an die Experimente eines Len Lye, Norman McLaren, Harry Smith, Stan Brakhage oder auch Nathaniel Dorsky denken, die immer wieder neue Varianten einer direkten Manipulation der Filmstreifen erkundet und ausgetestet haben. Mehr noch, zahlreiche Experimente mit visueller Musik beruhen gerade darin, aus den auf Celluloid gemalten und eingeritzten Formen unmittelbar einen Ton zu erzeugen – ein Aspekt, der auch in David Gattens Wasserfilm eine zentrale Rolle spielt, wenn er nicht allein auf der visuellen, sondern auch auf der auditiven Ebene mit den materiellen Manifestationen des Wassers auf Film experimentiert. In allen drei Varianten von What the Water Said, nos. 1–3 verwendete Gatten Tonfilm, wodurch alle Tonspuren ein ebenso außerordentliches Spektrum an Unterwassergeräuschen aufweisen wie die visuelle Ebene auf vielschichtige Weise vom Wasser gezeichnet ist. Die Vielzahl der Bezüge von Gattens Filmexperiment zum maritimen Medium wird nicht zuletzt durch eine weitere, nachträglich hinzugefügte Tonspur verdeutlicht, die sich aus einer Reihe von Zitaten aus Wassertexten speist – von Edgar Allen Poes Descent into the Maelström zu Daniel Defoes Robinson Crusoe, von Fernando Pes-

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soas The Sea Monster zu Herman Melvilles Moby Dick –, die allesamt das Bildmaterial immer wieder überlagern und konzeptuell verdichten. David Gatten hat What the Water Said, nos. 1–3 einmal als eines seiner persönlichsten Filmprojekte beschrieben, gerade weil er genau jene Stelle des Atlantischen Ozeans für seine filmische Wassererzählung auswählte, an welcher er seit Kindheitstagen mit seiner Familie die Sommerferien verbrachte. Zugleich fällt sein Experiment jedoch auch mit einer zentralen und entscheidenden Phase seines Schaffens zusammen: Einerseits war David Gatten in dieser Zeit intensiv mit seinen Experimenten mit ›black leader‹ beschäftigt, in denen er sich, inspiriert von Agnes Martins Grid Paintings, mit der Ästhetik von Celluloid und der strukturellen Beschaffenheit des Filmmaterials auseinandersetzte. Andererseits zeichnete diese Zeit aber auch sein wachsendes Interesse mit dem Leben und Schaffen von William Byrd II aus – und insbesondere mit dessen umfassender Bibliothek –, eine Beschäftigung, die bereits ein Jahr später zum Auftakt seines Hauptwerks, der neuteiligen Reihe Secret History of the Dividing Line (1999–2011), führen sollte. In beiden Projekten setzte sich Gatten intensiv mit der Materialität des Films auseinander, wobei seine Experimente mit den Möglichkeiten der direkten Manipulation des Filmmaterials sogar so weit führten, wie er Scott MacDonald gegenüber in einem Interview äußerte, dass er Buchstaben und Textpassagen aus ausgewählten Schriften sich wortwörtlich in die Filmstreifen einbrennen ließ (MacDonald 2007: 38–40). Laut Sicinski liegt der Kernpunkt von Gattens intensivierter Beschäftigung mit der Materialität des Films in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts vor allem darin, eine Art von cinema degree zero entstehen zu lassen, das sich noch einmal auf fundamentale Weise mit den Möglichkeiten und Bedingungen des filmischen Mediums auseinandersetzt. Vor diesem Hintergrund schildert er What the Water Said, nos. 1–3, ähnlich wie »the inks of the Byrd films [as] a kind of cinema degree zero wherein a photochemical transaction between the celluloid and the ocean has bypassed ›representation‹, in any conventional sense« (Sicinski 2012: 40–41). Und es ist genau diese Vorstellung eines cinema degree zero, die auch in Scott MacDonalds Beschreibungen zu Gattens Film anklingt, wenn er What the Water Said, nos. 1–3 im Epilog zu seiner großen Studie des unabhängigen Films im 20. Jahrhundert, The Garden in the Machine (2001), als eine Art Widerlager gegen die zunehmende Verbreitung

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digitaler Techniken im Bereich des Experimentalfilms ins Feld führt und damit zugleich eine ganze Geschichte jener Avantgarde- und Experimentalfilme, die sich mit Städten und Landschaften, mit Straßen und Gärten auseinandergesetzt haben, im Wasser enden lässt. Von diesem Punkt ausgehend ließen sich nun mehrere Fährten legen, die auf eine alternative bzw. erweiterte Geschichte des Experimentalfilms und experimentaler Praktiken verweisen: Einerseits begründet sich in What the Water Said, nos. 1–3 eine mögliche Variante eines non-human cinema, bei dem es nicht mehr –  oder nur noch bedingt – die menschliche Hand ist, die sich mit Formen und Farben in die Filmstreifen einschreibt, sondern vielmehr die elementaren Kräfte des Wassers, die Friktionen des Krabbennetzes, die chemischen Reaktionen und Verfärbungen des Filmmaterials, sowie das aktive ›Filmschreiben‹ der Meerestiere. Insbesondere der dritte Teil von What the Water Said verweist damit auf ein animal cinema, wie es zuletzt Emilio Vavarella entfaltet hat, in welchem neben einer Reihe anderer Tiere auch drei Unterwassertiere – eine Halloweenkrabbe, ein Oktopus und eine Kokosnuss-Krake – mit Hochsensor-Kameras ausgestattet ihren eigenen Film ›drehten‹. Andererseits verweist What the Water Said, nos. 1–3 mit seinen gebündelten Filmstreifen jedoch auch auf die Möglichkeiten, einen nicht-linearen Film entstehen zu lassen, den Gatten zu dieser Zeit explizit anstrebte und den er nicht zuletzt als Gegenentwurf gegenüber jener experimentellen Filmpraxis sah, die letztlich immer noch, so Gatten, auf die lineare Projektion des Films bezogen bleibe. Wie Gatten mehrfach geäußert hat, legte er die Filmstreifen für sein Experiment in einem ›spaghetti style‹ in die Krabbenfallen, was dazu führte, dass »any given frame on the strip could have been created in any possible relationship to the other frames on the strip: before, after, at the same time« (MacDonald 2007: 374), was sich nicht zuletzt mit den philosophischen Exkursen eines Michel Serres in Verbindung bringen ließe, jenem Denker des Flüssigen und Fließenden, der sich intensiv mit den Möglichkeiten einer nicht-linearen Geschichtsschreibung auseinandergesetzt hat, die sich in der berühmt gewordenen Gedankenfigur des gefalteten Taschentuchs verdichtet, bei welcher jeder noch so weit entfernte Punkt auf dem Taschentuch durch den Prozess des Faltens (pli) in unmittelbare topologische Nachbarschaft mit einem anderen gebracht werden kann (Serres/Latour 1995: 60–61). Gattens Bündel aus abgespulten Filmstreifen wird damit zugleich zum Anfangspunkt jener liquid histo-

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ry, die Stephen Clucas in Bezug auf Serres’ Denken entwickelt hat (Clucas 2005) und die zugleich auf eine mögliche Filmgeschichte verweist, die in den Bildern des Flüssigen ihren Ausgang nimmt. Der Film, so hat Lorenz Engell einmal in einer wunderbaren Filmreihe entwickelt, begibt sich immer wieder ans Wasser, gerade weil sich in den Relationen zwischen der Bewegtheit des Wassers und der Bewegtheit des Films ein Möglichkeitsfeld des Filmischen und, mehr noch, ein Denken des Flüssigen eröffnet. Und auch in Gattens What the Water Said, nos. 1–3 scheint immer wieder diese besondere Verbindung zwischen dem Wasser und dem Film, zwischen dem maritimen und dem filmischen Medium hindurch, auf die sich so zahlreiche Filme vor und nach ihm eingelassen haben: sei es, da sie am Wasser angesiedelt sind und das Wasser, sowohl in Bild und Ton, stetig präsent halten; sei es, da sie sich auf intensive Weise mit dem Wasser, seinen Bewegungsformen und seiner inneren Bewegtheit, beschäftigen; oder sei es, da sie, wie einige der großartigsten Filme, die die Filmgeschichte hervorgebracht hat, immer wieder aufs Neue – und oftmals auf unvergessliche Weise – am Wasser enden.

Referenzen Animal Cinema (USA/I, 2017, Emilio Vavarella). Clucas, Stephen (2005): »Liquid History: Serres and Lucretius«, in: Abbas, Niran (Hg.): Mapping Michel Serres, Ann Arbor: University of Michigan Press, S. 72–83. MacDonald, Scott (2001): The Garden in the Machine: A Field Guide to Independent Films about Place, Berkeley: University of California Press. Ders. (2007): »Gentle Iconoclast: An Interview with David Gatten«, in Film Quarterly, Vol. 61, No. 2, S. 36–44. Secret History of the Dividing Line (USA, 1999–2011, David Gatten). Serres, Michel/Latour, Bruno (1995): Conversations on Science, Culture, and Time, Ann Arbor: University of Michigan Press. Sicinski, Michael (2012): »The Systematically Incomplete Dialectical Process, or, Articulations of Structural Mythopoeia in the Para-Classical Realm for the Metrickally Measured Linguistical Motivics and Deeply Felt Cinematic Appoggiatura of Mr. David Gatten, Gentleman«, in: Cinema Scope 49 (Winter 2012), S. 40–41.

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Laura Frahm ist Assistant Professor of Visual and Environmental Studies an der Harvard-Universität. Arbeitsschwerpunkte: Film- und Architekturgeschichte, Medientheorie, Bauhaus, visuelle Musik.

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THE BIG LEBOWSKI (1999) Jürgen Müller Man kann das Kino der Coen-Brüder aus vielen Gründen lieben. Da ist zunächst einmal ihr Sinn für Absurdität. Dies gilt sowohl in Bezug auf ihre verwirrenden Plots, als auch auf die Darsteller. Wo bekommen wir es schon mit einem so merkwürdigen Außenseiter zu tun wie Barton Fink? Und wo gibt es einen derartig durchgeknallten Mörder wie in Fargo? Auch Walter (John Goodman) und der Dude (Jeff Bridges), die Hauptfiguren in The Big Lebowski, sind beide auf ihre Weise obsessive Charaktere, die den mehr oder weniger ›normalen‹ Donny (Steve Buscemi) erst so richtig bemerken, als er nicht mehr da ist. Der Dude verkörpert einen extremen Phlegmatiker, Walter einen ausgeprägten Choleriker. Die Qualität des Films hängt mit dieser komplementären Struktur zusammen. Bis zum Ende bleiben beide in ihrer Welt gefangen. Walter hat einen sehr eingeschränkten Blickwinkel und stilisiert sich selbst zum Vietnamveteranen. Er liebt es, seinem Gegner im Kampfanzug gegenüberzutreten und gibt vor, für alles eine Lösung zu haben. Die Übergabe des Lösegeldes aber vermasselt er, auch bei der Befragung des Teenagers, von dem sie vermuten, er könne das Geld genommen haben, gelingt es ihm nicht einmal, auch nur eine Antwort zu erhalten. Daraufhin demoliert er das vermeintliche Auto des jungen Mannes, bis der Nachbar als eigentlicher Besitzer hinzukommt, um nun seinerseits durchzudrehen. Man denke nur an den armen Smokey, den er beschuldigt, beim Bowlen die Linie übertreten zu haben, woraufhin er ihn mit seiner Waffe bedroht, weil es sich um ein Ligaspiel handelt. Walter verkörpert einen Menschen, der das Leben als durch Regeln bestimmt ansieht. Deshalb kennt er keinen Selbstzweifel. Er lebt ein Phantasma, das er für die Wirklichkeit hält. Nur bei der Luftbestattung von Donny scheint er für einen kurzen Moment ein

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schlechtes Gewissen zu haben, das er ansonsten nicht spürt. Warum auch, überall gibt es Linien, über die man nicht treten darf, wie es einmal in einem Gespräch heißt. Er zweifelt weder an sich, noch an der Schuld der anderen. In seinem Leben gibt es immer jemanden, der gerade über eine Linie getreten ist. Walter ist immer in Rage, immer außer sich und verfügt über keine Form der Verlangsamung. Er zielt auf Aktion. Genau das Gegenteil gilt für den Dude, der keiner geregelten Arbeit nachgeht. Der Dude ist ein kontemplativer Mensch, der niemandem schaden möchte, aber auch niemandem helfen kann – bedingt nicht zuletzt durch seinen Drogenkonsum. Die Wirklichkeit ist viel zu schnell für ihn, sodass er sie nur als Echo wahrnimmt. Dies wird deutlich, wenn er im Gespräch en permanence Wörter seines Gegenübers wiederholt. Wenn er in der Badewanne liegend die Geräusche der Wale imitiert oder eine Tai-Chi-Figur ausführt, zeigt dies sein holistisches Weltbild. Der Dude ist grenzenlos tolerant und er hat keinerlei Verständnis für Menschen, die es nicht sind. Umso mehr ärgert er sich über Walters Unfähigkeit zu einer friedlichen Weltwahrnehmung. Der zweite Grund, warum man die Coens lieben muss, hängt mit ihrem Sinn für die Geschichte des Kinos zusammen. So gibt es keinen Film, der nicht in cinephiler Manier bekannte Vorbilder aufgreift. Nicht umsonst ist für The Big Lebowski auf die Bedeutung der Tanzfilme von Busby Berkeley und Howard Hawks’ The Big Sleep verwiesen worden. So ist es die personale Grundkonstellation von Vater, missratenen Töchtern und Privatdetektiv des Film Noir, die hier an erster Stelle zu nennen ist. Die Bezugnahme auf die Filmgeschichte findet aber auch in Form konkreter Zitate statt. Es erfolgen Anspielungen auf Orson Welles’ Die Lady von Shanghai und in extenso macht sich der Film über das Pathos von Citizen Kane lustig. Aber auch Anspielungen auf die berühmte Traumsequenz von Alfred Hitchcocks Spellbound finden im Coen-Film Verwendung. Der dritte Grund, warum das Kino der Coen-Brüder so überzeugend ist, besteht in ihrem präzisen Umgang mit Bildern. Die Worte haben die Deutungsmacht über die Welt verloren, sie sind nurmehr ideologisch gefärbte Hülsen. Das Kino der Coens erzählt von den Imponderabilien der Vernunft. All ihre Filme führen an einen Punkt, an dem Wirklichkeit die Komplexität der Worte übersteigt und Pläne

The Big Lebowski (1999)

scheitern – die Welt, so die Botschaft, findet jenseits der geäußerten Intentionen statt und sie macht uns sprachlos.

Fortuna lieben Bereits in den ersten Momenten der Opening sequence, noch bevor uns die Stimme des Erzählers in die Handlung einführt, erhalten wir durch die einsetzende Musik einen wichtigen Hinweis für das Verständnis des Films. In dem Moment nämlich, in dem der 1934 erstmals veröffentlichte Song Tumbling Tumbleweeds der Sons Of the Pioneers einsetzt, heißt es dort: »See them tumbling down. Pledging their love to the ground!« Passend dazu werden wir dieser Windhexe (englisch: Tumbleweed) gewahr, die durch die Prärie gen Westen getrieben wird. Spätestens aber als dieses Gebilde in den Straßen des nächtlichen L.A. angekommen ist, wird im Film erstmals auf das Motiv des Bowlens im Sinne der sich vorwärts bewegenden Kugel angespielt. Ungewöhnlich lang treibt der annähernd kugelige Strauch auf dem Mittelstreifen der Straße entlang, die durch die Beleuchtung der angrenzenden Gebäude wie eine nie endende Bowlingbahn erscheint. Um am Ende der Sequenz schließlich am Pazifik anzukommen, hat auch die Windhexe, wie es im Song heißt, ihr Glück an den Boden verpfändet. »See them tumbling down« lässt sich nun gleichermaßen auf die fallenden Pins wie auf das Straucheln der Protagonisten beziehen. In der nächsten Einstellung bekommen wir den Dude zum ersten Mal zu Gesicht. In Bademantel und Shorts kommt er zwischen den Regalen eines Supermarktes hervorgeschlappt. Dabei bewegt sich die Kamera von Roger Deakins, einer Bowlingkugel gleich, geradezu provozierend langsam auf ihn zu. Die nächste Szene verdeutlicht die passive Natur des Protagonisten. Die beiden Schläger schnappen sich den verdutzten Dude, um ihn einen Gang entlang bis ins Badezimmer und dann in die offene Toilette ›rollen‹ zu lassen: Volltreffer. Es ist allerdings kein Zufall, dass der Dude selbst eine Bowlingkugel trägt, die wir auch mit ihm identifizieren können oder sollen. In einer ersten Traumsequenz wird der Dude – und wir mit ihm – von einer Bowlingkugel regelrecht verschluckt und auf eine turbulente Reise geschickt. Die Vorstellung einer ebenso surrealen wie unbeherrschbaren Welt zieht sich durch den gesamten Film. Dieser erscheint letztlich als filmische Aktualisierung eines uralten Themas, handelt es sich doch um die Variation des Fortuna-Motivs und mit der Bowlingku-

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gel eines ihrer wichtigsten Attribute: The Big Lebowski erzählt davon, dass der Zufall die Welt regiert. Zur Entfaltung dieser Allegorie dient das Bowlingspiel, über das sich die eigentliche Tiefendimension des Films erschließt. Auch der Soundtrack und eine Coverversion von Viva Las Vegas spielen auf die Metaphern von Glücksspiel und Fortuna an. Bereits der Vorspann macht uns mit diesem zentralen Bildfeld vertraut. Der Titel des Films wird eingeblendet, der sich dann wie ein Vorhang anhebt. Nun erkennen wir, dass sich die Kamera und wir mit ihr, am Ende einer Bowlingbahn hinter den Pins befinden. Schnitt. Jetzt wird dem Spieler auf der gegenüberliegenden Seite durch die Maschine angezeigt, dass er an der Reihe ist, er stellt sein Bier zur Seite, wartet auf seine Kugel, die er ergreift, um sie schließlich zu werfen. Die Kamera bewegt sich vor der Kugel her, um ihr nach einem Umschnitt zu folgen. Alle Pins fallen um und der Bowler vollführt eine Bewegung der Freude über den gelungenen Wurf. Weitere Utensilien der Bahn werden vorgestellt, um nun nacheinander Menschen beim Bowlen zu beobachten. Dabei fällt auf, dass Personen unterschiedlicher Ethnien gezeigt werden. Erst sehen wir einen Hawaiianer, einen Hispano usw. Die Bowlingbahn, auf der wir uns befinden, ist Amerika. Alle versuchen ihr Glück, haben Teil am Pursuit of Happiness. Die Sterne an den Wänden der Bowlingbahn sind Glückssterne, die aufgehen, sich kurz um ihre eigene Achse drehen und dann vergehen. Man denke auch an Donnys schicksalhaften letzten Wurf, bevor ihn ein Herzinfarkt ereilt. Ein Kegel bleibt stehen. Nicht er trifft die Pins, sondern die Kugel hat ihn getroffen. Im Zusammenhang mit der Bowlingmetaphorik sei auch der zweite Traum mit seinem hohen Schuhregal erwähnt, das aus einer zweiten Perspektive wie eine Bowlingbahn erscheint. Ein ums andere Mal können wir gar nicht anders, als das majestätische Gleiten der Kugel zu beobachten, die zunächst langsam zu rollen scheint, nach dem Umschnitt immer schneller wird, um schließlich die Kegel wegzustoßen. Kein Zweifel, diese Kugel ist eine Macht. Darüber hinaus bedeutet im Englischen das Wort Balls umgangssprachlich ›Eier‹. Das Bowlingspiel ist auch eine sexuelle Metapher, was uns vor allem die Figur des Jezus deutlich macht, der gemeinsam mit seinem Partner der Pflege der Kugel große Aufmerksamkeit widmet, wie er das Sportgerät insgesamt zu liebkosen weiß. Besonders aber die erotische Phantasie des zweiten Traums spielt mit der phallischen Dimension von Kugel und Kegel, um in einem totalen Deli-

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rium sexueller Ekstase fortgesetzt zu werden, das am Ende als Pornoproduktion von Treehorn erscheint. Daran wiederum schließen Kastrationsphantasien an, die auf den von Dali gestalteten Traum aus Spellbound zurückführen und die absurder nicht sein könnten.

Das Paradox lieben Der Film entwickelt eine Art Unschärferelation, wissen wir doch nie genau, wer Kugel und wer Pin ist. Dies wird auch in jener Szene deutlich, in der Lebowski das Atelier von Maude besucht. Zunächst glauben wir, der Dude müsse die Kugel sein, geht er doch einen langen Korridor entlang. Dann müssen wir jedoch feststellen, dass er der Pin ist, der fast getroffen worden wäre. Diese Entweder-Oder-Konstruktion ist die philosophische Pointe des Films: »Manchmal verspeist man den Bären und manchmal ist es umgekehrt«. Wir können nicht wissen, ob wir Kugel oder Pin sind, oder anders: Für den Menschen lassen sich Zufall und Notwendigkeit nicht unterscheiden. Das Credo der Coens erscheint als Paradox. Wir glauben uns zu bewegen, werden aber in Wirklichkeit bewegt, wenn nicht gar umgeworfen. Das Leben ist unbeherrschbar. Dem Kino der Coen-Brüder wird zuweilen vorgeworfen, ein zu negatives Menschenbild zu zeichnen und einem gewissen Nihilismus das Wort zu reden. Gemessen an The Big Lebowski kann man das nicht behaupten. Es ist ein Merkmal dieser Form des Kinos, ironisch zu argumentieren. Ernst und Komik lassen sich nur schwer trennen. Keine Epoche und auch kein Land hat den Alleinvertretungsanspruch für die Wahrheit, aber was uns alle verbindet und vielleicht solidarisch machen könnte, ist die Wette aufs Schicksal, der Pursuit of Happiness als Wunsch nach einem gelungenen Leben. Jeder Wurf auf der Bowlingbahn repräsentiert eine solche Wette aufs Gelingen. Davon lassen sich selbst der Film und sein Zuschauer nicht ausnehmen. In übertragenem Sinne ist der Betrachter der Bowler, mit dem das Spiel beginnt. Er muss die Kugel ergreifen. Der Film selbst wird mit dem Lauf einer Kugel parallelisiert. Am Ende sieht man, was passiert, wenn der Wurf erfolgt ist. Die Kegel werden wieder aufgestellt.

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Referenzen Citizen Kane (USA, 1941, Orson Welles). Spellbound (USA, 1945, Alfred Hitchcock). The Big Sleep (USA, 1946, Howard Hawks). The Lady from Shanghai (USA, 1947, Orson Welles).

Jürgen Müller, Prof. Dr., ist Inhaber des Lehrstuhls für Mittlere und Neuere Kunstgeschichte an der Technischen Universität Dresden. Arbeitsschwerpunkte: Foto- und Filmgeschichte, Kunst der Frühen Neuzeit.

IN THE MOOD FOR LOVE (2000) Katarzyna Włoszczyńska

I. Wong Kar-wais vielfach preisgekrönter und von Publikum, Kritik wie Theorie gleichermaßen geschätzter Liebesfilm ist mehr als dies, denn er versteht es eindrucksvoll, die verschiedenen Modi der titelgebenden ›Verliebtheit‹ als filmische auszustellen und ihre gegenseitige Durchdringung zu reflektieren. Um deren spezifische Überlagerung darf es im Folgenden gehen, wo es eine aus der Liebe zum Kino belebte wissenschaftliche Karriere zu ehren gilt. Das im Hong Kong der frühen 1960er Jahre angesiedelte und diese Zeit in stilisiertem Kostüm und Set-Design nostalgisch aufrufende Melodrama erzählt vom Entstehen und Aufgeben einer Liebe in einem repressiven sozialen Umfeld, gezeichnet von Untreue und bürgerlicher Scheinmoral. Narrativ und bildlich fokussiert es seine zwei Hauptfiguren, die Nachbarn Chow Mo-wan (Tony Leung) und Chan Su Li-zhen (Maggie Cheung), einen Journalisten und eine Reisebürosekretärin, die sich ineinander verlieben, nachdem sie durch die Affäre ihrer Ehepartner emotional frei dafür geworden sind. Der Film erzählt also von verliebten Menschen, doch vor allem zeigt er verliebte Bild-Menschen, Geschöpfe aus Zelluloid, Licht und Ton, so wirklich wie nur das Kino sie vor uns treten lassen kann.1 Mr Chow und Li-zhen erkennen ihre Gefühle erst im letzten Filmdrittel, während die Filmbilder und die Bild-Menschen, die aus ihnen ebenso hervorgehenden wie sie sie mithervorbringen, den Figuren in ihrem ›mood for love‹ voraus sind. 1 | Der Bild-Mensch wird im vorliegenden Zusammenhang lediglich in seiner elementaren Eigenschaft als durch die kinematographische Reproduktion Bild gewordener Mensch betrachtet. Für eine Inbeziehungsetzung zu anderen »Menschen des Films« im Rahmen eines filmanthropologischen Zugangs vgl. Morin 1956 und fortführend Engell 2010: 70–77.

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Die Gestimmtheit der Hervorbringungsgeste der Filmbilder, die frühe Filmtheorien in euphorischen Anthropomorphisierungen des Kinematographen mitunter pathetisch adressierten, fügt sich nicht ohne eine gewisse theoretische Scham in die Nüchternheit gegenwärtigen Schreibens über Film. Doch die wie Gemälde durchkomponierten Kader in In The Mood For Love, die in sorgsam in die Tiefe gestaffelten Setarrangements mit akzentuierten Licht- und Objektfarben mehr um ihrer selbst als um einer erzählerischen Aufgabe willen ineinanderfließen, lassen gerade solche poetischen Beschreibungen des Kinos widerhallen. So angesichts der zahlreichen Großaufnahmen, beispielsweise jene Béla Balázs’, der dieses Bildformat als »Naturalismus der Liebe« bezeichnete, da es ein »Gefühl der zärtlichen Zuneigung zu den Dingen« wecke. (Balázs 2001: 51) Die Großaufnahmen der Gesichter der charismatischen und auffallend schönen ›sichtbaren Menschen‹ Leung und Cheung exponieren diese zusätzlich durch Profilansichten, fehlenden Gegenschuss in Gesprächssituationen oder eine mimische Reaktionen überschreitende Dauer. Die nicht minder prominenten leinwandfüllenden Vergrößerungen von Gegenständen (wie Telefon, Uhr, Zigarette) stellen ebenso deutlich die ›liebevolle‹ Zuwendung des Films zu seinen Objekten, als den in dieser Geste erschaffenen Bild-Dingen und Bild-Menschen, aus. Unter der Bezeichnung ›Photogénie‹2 wird diese schöpferische Fähigkeit des Films in den Schriften der französischen Filmavantgarde der 1920er Jahre wesentlich relational gedacht: als Eignung der vorfilmischen Welt für eine zweite, im ästhetischen Wert gesteigerte Leinwandexistenz sowie als deren medienspezifische Ermöglichung im photographischen Aufzeichungsautomatismus. Es ist vor allem Jean Epstein, der die vitalistisch aufgeladene Zuwendungsbeziehung als eine immer schon emotional affizierte und darin explizit durch das Gefühl der Liebe ge- und bestimmte fasst. Seine Lobpreisungen des Kinos als »une nouvelle connaissance, un nouvel amour, une nouvelle possession du monde par les yeux« (Epstein 1948: 129) beziehen sich auf die Genese wie auf die Wahrnehmung des Films. Den Zusammenhang von ›Photogénie‹ und ›Liebe‹ in Epsteins Denken, als je selbst nicht fassbare aber transformierende 2 | Für eine umfassende Abhandlung zum Photogénie-Konzept im Kontext der französischen Filmtheorie der 1920er Jahre und darüber hinaus vgl. Fahle 2000: 33–80.

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und seinssetzende Kräfte, stellt Katie Kirtland unter Einbezug seiner frühen poetologischen und philosophischen Schriften La Poésie d’aujourd’hui und La Lyrosophie heraus. Diese entfalten seine Annahme, dass die Liebe und das Ästhetische einen gemeinsamen Ursprung im Unterbewussten haben, aus dem sie von einem Objekt attrahiert hervorbrechen, um sich an dieses zu binden. (Vgl. Kirtland 2012: 101, 111) Einige der in ihrer photogenen Qualität durch Großaufnahme oder Slow Motion intensivierten Bild-Dinge in In The Mood For Love spielen Epsteins frühe Konzeption des Kinos als ›Drama‹ der filmischen Objekte jenseits der Narration geradezu aus: Der Vorhang, in dem die ›ausgesetzte Tragödie‹ weht, dominiert in sattem, die linke Bildhälfte füllendem Rot den langen Flur zu Mr Chows Hotelzimmer, dessen Durchqueren für Li-zhen das ganze Ausmaß der moralischen Verfehlung aufspannt und später, zu spät durchquert, die Schwere der verpassten Möglichkeit eines gemeinsamen Lebens; darum weiß der Film schon wenige Einstellungen zuvor – ›Le téléphone sonne. Tout est perdu‹, weil Li-zhen, sich zu spät für ihre Liebe entscheidend, nicht abhebt, auch wenn die Großaufnahme lange genug läutend wartet; die Zigarette in der ›Kehle des Aschenbechers‹ in Mr Chows Zimmer in Singapur trägt in der Detailaufnahme Lippenstift, der Li-zhens heimlichen Besuch verrät und ein letztes Mal die Gefühle der Figuren als einen durch gemeinsame Präsenz gestimmten Bildraum entstehen lässt. Der Tintentropfen schließlich, der die ›Tragödie auf blühen lassen könnte‹, wenn er denn ›an der Spitze der Feder‹ auftauchte, tut dies in der Hand von Mr Chow in drei geduldigen Detailaufnahmen erst in Wong Kar-wais nächstem Film 2046 (HK 2004) nicht.3

II. Nun ist In The Mood For Love ein narrativer Film, keine bloße ›Tragödie‹ photogener Bild-Dinge. Einige Seiten später schreibt Epstein: »Tout se transforme selon les quatre photogénies. […] L’atmosphère est gonflée d’amour. Je regarde.« (Epstein 1921a: 43–44) Ob er sich hier auf konkrete Szenen eines fiktionalen Films bezieht 3 | »La véritable tragédie est en suspens. […] Elle est dans le rideau de la fenêtre et le loquet de la porte. Chaque goutte d’encre peut la faire f leurir au bout du stylographe. […] Le cigare fume comme une menace sur la gorge du cendrier.« (Epstein 1921a: 30)

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und eine subjektive Zuschauerrührung versinnbildlicht, oder Wesen und Potenzial des Films adressiert, bleibt offen. Gerade in dieser Ambiguität aber wird die Produktivität des Zusammenfallens von melodramatischer Gestimmtheit mit der ›in Liebe gestimmten‹ filmischen Bildgenese greif bar, die In The Mood For Love so eindrücklich prägt. Die Atmosphäre des Films ist in der Tat ›gonflée d‘amour‹, was auf thematischer Ebene zunächst konventionell unter Rückgriff auf gattungsspezifische Gestaltungsmittel erreicht wird. Die überwiegende Inszenierung in Innenräumen oder zur Nachtzeit erlaubt eine ›romantisch‹ konnotierte Lichtsetzung. Die Tonspur dominieren sentimentale Schlager von Nat King Cole und ein eingängiger, neun Mal erklingender instrumentaler Walzer mit melancholischen Streicherklängen. Der Montagerhythmus folgt dem langsamen Tempo der Filmmusik und auch die Kamerabewegungen scheinen von ihrem ruhigen Fließen getragen. Im Vergleich zu Wong Kar-wais früheren Filmen wie Chungking Express (HK 1994) zunächst statisch wirkend, erweisen sich die Kader nämlich als stets (minimal) bewegte, wenn der Kamerablick ein stehendes Objekt vorübergehend anvisiert oder einem bewegten zeitweilig folgt, bevor er sich löst und weitergleitet. Komplettiert wird die melodramatische Einstimmung durch erotisch aufgeladene Motive. Die häufigen Nah- bis Detailaufnahmen von Li-zhens Highheels oder Nacken, berührenden Händen (an Tischkante, Geländer, Telefonhörer, Mauerloch, verlangsamt am eigenen Körper, sekundenkurz an der Hand des anderen) oder von immer wieder zum Mund geführten Lebensmitteln oder Zigaretten verleihen den Bildern eine Sinnlichkeit, die den Figuren versagt bleibt, da ihre Liebesgeschichte die körperliche Annäherung ausspart. Die »zärtliche[] Aufmerksamkeit« (Balázs 2001: 51) des Films wendet sich in den Großaufnahmen (und den anderen genannten Akzentuierungen) dem Retro-Charme der Architekturelemente, Einrichtungs- und Gebrauchsgegenstände gleichermaßen zu wie Maggie Cheungs in tänzerischer Geschmeidigkeit bewegtem und tastendem Körper, der in mehr als zwanzig verschiedene eng anliegende und auffällig farbige bzw. gemusterte Cheongsams gehüllt ist. In dieser harmonisierenden Blickzuwendung und der vereinheitlichenden Stilisierung von Kostüm und Set verschmelzen die Bild-Dinge mit den Bild-Menschen (anstatt in klassischer Manier nur den Hintergrund für ihre Handlungen zu stellen) zu einer einzigen,

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visuell attraktiven Bildfläche. Die Einheit von Bild-Mensch und Bild wird unterstrichen von der alles Sicht- und Hörbare einhüllenden extradiegetischen Musik und der in ihrer unwirklichen Farbigkeit als künstliche erkennbaren Beleuchtung. Die Motive des kaderfüllenden Zigarettenrauchs oder Regens in Zeitlupenaufnahmen vereinigen Bildinhalt und Bildfläche und nehmen die Bild-Menschen in sich auf. Die Sicht auf die Schauspielerkörper ist noch in vielfacher, den Bildstatus auffällig markierender Weise verstellt – durch Tür- und Fensterrahmen oder -gitter, Vorhänge, Treppenfluchten, Spiegel oder teiltransparente Scheiben. In diesem Kontext verdient das von Giuliana Bruno untersuchte Verhältnis der textilen Oberflächen (Bekleidung, Einrichtungs-/Wandstoffe) zueinander und zu anderen dargestellten Außenseiten (Ding-/Architekturfassaden) wie zur Leinwand selbst Erwähnung. Brunos aufmerksame Analyse setzt bei der Stofflichkeit von Oberflächen im Allgemeinen an und mündet in einer Beschreibung von In The Mood For Love als »visual tapestry«. (Vgl. Bruno 2014: 29–51, 48) Li-zhen wirkt tatsächlich in die Leinwand ›gekleidet‹, wenn in einer einprägsamen Einstellung zum Ende des zweiten Filmdrittels die gelbe Narzisse mit grünen Blättern auf ihrem grauen Cheongsam im Blumendruck des seitlichen Fenstervorhangs zitathafte Rahmung findet und in zweiter Einfassung vom gelben Sprossenfenster links und frischem Baumgrün vor grauer Wand rechts, farbliche Ausdehnung erfährt.

III. Der Bild-Mensch ist als in dieses eingewobener zunächst ein Produkt seines Bildes. Ist dieses ›in the mood for love‹, so ist er es auch. Der ›verliebte‹ Bild-Mensch Li-zhen vereint so Maggie Cheung und Chan Su Li-zhen, Schauspielerinnenkörper und fiktive Figur, ohne in einer der beiden aufzugehen. Aus der auf Zelluloid gebannten Miss Photogenic Hong Kong 1983 entsteht sie nur in ihrer Einkleidung aus Cheongsams, Vorhängen, Farblicht, Walzerrhythmus und in Zeitlupe schwebender Bewegtheit. Die Filmfigur kann von der Zuschauerin befragt werden, was sie in der narrativ ausgeklammerten Nacht im Hotel tat oder welche psychologische Motivation hinter ihrem gefühlsschweren Nicht-Handeln steht. Diese Dimensionen sind für den Bild-Menschen Li-zhen zweitrangig, da sie nicht bloß Produkt einer Narration ist; in das Bild gekleidet ist sie aber auch mehr als sein Produkt, sie hat Anteil an seiner Genese. Wie auch die frühen Filmtheorien angesichts der bewegtbildlichen Sichtbarma-

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chung des Menschen betont haben, ist der Bild-Mensch, wenngleich eins mit dem Bild, ein besonderes Leinwandobjekt. Als bewegter und Bild-Dinge wie Kamerablick bewegender agiert er in den filmischen Raum hinein und gestaltet diesen nach den Bedürfnissen seiner Präsenz. Wenn Li-zhen im Singapurer Zimmer Mr Chows zunächst das Bett Probe liegt und den Sessel Probe sitzt, an Wand und Bettrahmen entlangstreicht und ein Duftfläschchen sowie Zigaretten zu Nase und Mund führt, spürt die Figur den Spuren ihres Geliebten nach, während der Bild-Mensch sich den Raum tastend aneignet und ihn darin zum Bildraum macht. Durch die relative Dialogarmut des Films zusätzlich exponiert überlagern sich die berührenden Gesten der Bild-Menschen in ihrer Gestimmtheit mit der bilderschaffenden Geste selbst; die Zuneigung des kinematographischen Blicks zu einem photogenen Objekt wird fortgeführt in dessen zärtlicher Berührung, die vor allem Li-zhens Hände in achtsamer, gleichsam dieses Auftrags bewusster Langsamkeit ausführen.4 Wong Kar-wais Film gehört vielleicht auch daher zu den sehenswertesten der Jahrtausendwende, weil es ihm gelingt, die Verschränkung und wechselseitige Affizierung von thematischem und schöpferischem Modus als doppelte Gestimmtheit der Filmbilder in einem medienspezifischen ›mood for love‹ zu inszenieren, der für das verweigerte Happy End mehr als entschädigt. »Alors, vraiment, vous tenez tant que cela à savoir s’ils se marient au bout. Mais IL N’Y A PAS de films qui finissent mal, et on entre dans le bonheur à l’heure prévue par l’horaire.« (Epstein 1921a: 31)

Referenzen Balázs, Béla (2001/1924): Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bruno, Giuliana (2014): Surface. Matters of aesthetics, materiality, and media, Chicago/London: The University of Chicago Press. Engell, Lorenz (2010): »Solange es Menschen gibt. Kinematographische Anthropologie«, in: Ders., Playtime. Münchener Film-Vorlesungen, Konstanz: UVK, S. 55–81. Epstein, Jean (1921a): Bonjour cinéma, Paris: Editions de la Sirène.

4 | Zum bewegten Schauspielerkörper bei Wong Kar-wai und zur Rolle der Hände im Besonderen vgl. McElhaney 2016; zur leibphänomenologischen Lesart von Epsteins Photogénie-Konzept vgl. Wall-Romana 2012.

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Ders. (1921b): La Poésie d‘aujourd‘hui. Un nouvel état de l’intelligence, Paris: Editions de la Sirène. Ders. (1922): La Lyrosophie, Paris: Editions de la Sirène. Ders. (1948): »Le Ralenti du son« (in: Livre d’or du cinéma francais, Paris: Agence d’information cinégraphique), Nachdruck in: Ders., Écrits sur le cinéma 1921-1953. Édition chronologique en deux volumes, Paris: Seghers. Tome 2, S. 129–131. Fahle, Oliver (2000): Jenseits des Bildes. Poetik des französischen Films der zwanziger Jahre, Mainz: Bender. Kirtland, Katie (2012): »The Cinema of the Kaleidoscope«, in: Keller, Sarah/Paul, Jason (Hg.): Jean Epstein. Critical essays and new translations, Amsterdam: Amsterdam University Press, S. 93–114. McElhaney, Joe (2016): »The Actor, Framed«, in: Nochimson, Martha P. (Hg.): A Companion to Wong Kar-Wai, Malden, Mass.: Wiley Blackwell, S. 353–377. Morin, Edgar (1956): Le cinema, ou, l homme imaginaire. Essai d anthropologie, Paris: Editions de Minuit. Wall-Romana, Christophe (2012): »Epstein’s photogénie as corporeal vision«, in: Keller, Sarah/Paul, Jason (Hg.): Jean Epstein. Critical essays and new translations, Amsterdam: Amsterdam University Press, S. 51–71. ‘



Katarzyna Włoszczyńska ist Doktorandin am Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie der Bauhaus-Universität Weimar.

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LEGALLY BLONDE (2001) Ulrike Bergermann Die ersten Minuten sind hart in all ihrer Zuckerperligkeit. Wer es durch diese Brandung von rosa Klischees, Cheerleaderkichern, Nagellackdöschen und Rüschen in white middle class suburbia geschafft hat, kann sich kaum in ruhigeren Gewässern freischwimmen, denn auch dort bewegt sich der Plot um die superblonde Elle Woods und ihre Freundinnen nur darum, ob das Haar genug Pflegespülung, die Nägel genug Farbe und die Garderobe genug neueste Accessoires bekommen hat, um den jeweiligen Mann dazu zu bewegen, dass er den Heiratsantrag ausspricht. Da Elle, eine Protagonistin wie eine Frauenzeitschrift, allerdings erstens von Reese Witherspoon gespielt wird und zweitens darauf beharrt, dass man auch mit einem Master in Modemarketing und ohne Beziehungen oder Kenntnis der sozialen Regeln der Oberschicht problemlos ein Jurastudium in Harvard absolvieren kann, wurde Legally Blonde 2001 sowohl in der Filmkritik als auch an den Kinokassen ein Riesenerfolg. In einer Anspielung auf George W. Bush erhält Elles NochFreund Warner durch einen Anruf seiner einflussreichen Familie einen Studienplatz für Jura in Harvard und beschließt, sich ›eine Jackie zu suchen anstatt seine Marilyn zu heiraten‹. Um ihn zurückzugewinnen, paukt Elle für die Zulassung zum gleichen Studium, erreicht knapp die Punktzahl und stolpert in Folge durch streberhafte Oberklassen-Langeweiler, gerät von einer Peinlichkeit in die nächste, aber erreicht durch Integrität und Emotionalität sowie Fleiß dennoch Studienerfolge und einen begehrten Praktikumsplatz in einer Bostoner Starkanzlei. Um eine zu Unrecht angeklagte, ihr bekannte Fitnesstrainerin zu entlasten, vertraut sie ihrer Intuition sowie Kenntnissen der Mode- und Kosmetikregeln (der Poolreiniger, der der Verdächtigen als Geliebter ein Alibi geben will, beschimpft Woods Schuhe als Modelle der vorigen Saison, muss also schwul

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sein, hat also ein falsches Alibi gegeben usw.), löst den Fall, bekommt den richtigen Mann und die Karriere. Der Film zeichnet sich durch die Gleichzeitigkeit von Vorführen und Mitfühlen aus, das Ineinander zweier Ebenen: Erstens der Einladung dazu, sich beständig über die Naiven und Dummen oder über die Eingebildeten und Überheblichen lustig zu machen, denn fast alle sind überzeichnet und ragen immer wieder ins Groteske hinein. Hierbei sind die Extreme klassenförmig markiert: Es sind die im Norden/Nordwesten der USA, die spaßfrei und snobistisch, und die im Süden (Florida und Kalifornien werden genannt, die Südstaaten angespielt), die antiintellektuell und partyorientiert sind. Zweitens gibt es dann doch eine Einladung zum partiellen Identifizieren, und diese adressiert ›Frauen‹ oder alle, die sich in einem Konglomerat aus Modeverliebtheit, Ausstattungsdetails, Körperkontrolle und Selbstbehauptung zu Hause fühlen. Der besondere Dreh des Films besteht darin, dem ›Wissen‹ um Details aus der Sphäre des Weiblichen eine tragende Rolle zuzuweisen. Während das Publikum immerzu schlauer ist als die Protagonist_innen, kann es diese sichere Bank auch verlassen, um sich auf die Seite derjenigen zu schlagen, die es ungerecht finden, wenn eine Person ausschließlich nach ihrer Art zu reden, sich zu kleiden, zu kichern oder stereotyp sexy zu sein, beurteilt wird – genauer: nicht nach irgendeiner Art, sondern speziell einer, die als prollig und ›kulturfern‹ markiert ist. Die Fähigkeit intellektueller Leistungen wie die eines Jurastudiums oder menschlicher Urteilskraft in einem Gerichtsverfahren, so die Botschaft, stecke in jedem Bikini, auch wenn dieser es selbst noch nicht weiß: Klassenkampf geht in den USA nur im Mantel eines (weißen) Feminismus (die Darstellung einer Schwarzen Frau als derartig dumm und oversexed hätte sicher Stürme der Entrüstung hervorgerufen). Darstellerin Witherspoon wurde von allen Seiten für ihre Performance gelobt; sie wirkt puppenartig genug, um das Rollenhafte der Figur zu betonen, darin aber niemals ironisch – und sie geht mit ihrer Starpersona als rollennah (naiv und gewieft) durch. Der intellektuellen Elite Harvards, grau gekleidet, konkurrent und voller Floskeln, ist keine positive Figur zugeteilt (der zukünftige Gatte der Protagonistin deutet sich als langhaarige Ausnahme an). Sich nicht durch sexuelle Diskriminierung abschrecken zu lassen, vereint letztlich Frauen aller Alters- und Statusgruppen. Da es unwahrscheinlich ist, dass sich ein nennenswerter Anteil des männlichen Publikums über die ersten Minuten

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voller Mädchengekicher, Schminken, Fönen und Maniküre, Kleideranproben und Hochzeitsphantasien bis hierhin hinweggerettet hat, kann sich der verbliebene Rest weiblichen Publikums hier quasifeministischen Andeutungen hingeben, ohne sich vor dem männlichen Sitznachbarn dafür vermeintlich entschuldigen zu müssen. Eine Playtime-Filmanalyse würde sich nun auf die Filmgrammatik fokussieren, auf formale, ästhetische und bildlogische Überlegungen, nicht aber auf Politik oder Ideologie, in einer Gegenüberstellung von Gefühl und Verstand, bei der Antirassismus auf der Seite des Gefühls platziert wird – zur Begründung dieser Trennung schrieb Engell über Birth of a Nation: Der Film kann »einen moralischen und politischen Zorn auslösen […], der es unmöglich machen kann, die Geduld und Sorgfalt für eine ungerührte Analyse seines Funktionierens aufzubringen. Dann aber käme man nie dahin, die Verquickung zwischen der formalen Grundlage der klassischen Filmerzählung und der rassistischen und in Sonderheit xenophoben Ideologie und Praxis zu verstehen.« (Engell 2010: 163) Gilt das auch für Sexismus und entsprechende Gefühle? Legally blonde will die Trennung von Form und Gefühlspolitik unterlaufen. Nun haben wir in den Münchener Vorlesungen gelernt, dass »der Film nicht trennt zwischen Anschaulichem, Sensiblem, und dem Denkbaren, Intelligiblen. Sie liegen untrennbar zusammen. Bild und Begriff, Sichtbares und Sagbares bewohnen die gleiche Welt, und diese Einheit begründet die Welt-Anschauung des Films.« (Engell 2010: 9) Wenn das wahr ist, dann muss es auch für ein Playboy-Bunny wahr sein, dessen Schminkkoffer eine Einheit bildet, eine bildliche wie begriffliche Einheit, eine Weltanschauung. Nun will es der Zufall oder ein Gesetz Hollywoods, dass der Schminkkoffer selbst – ebenso wie der Filmtitel1 – sofort als medienreflexives Ding gelesen 1 | Legally blind, ›rechtlich blind‹ bezeichnet eine juristisch definierte Sehbehinderung (mit einem Restsehvermögen von 10% oder einer Sehfeldverengung) – ›rechtlich blond‹ wäre analog eine Kondition, in der der Staat bzw. die Legislative definiert, wie zurechnungsfähig eine körperliche Beeinträchtigung das juristische Subjekt macht. Dass der deutsche Verleihtitel daraus Natürlich blond macht, changiert die Doppelbedeutung stärker in die Umgangssprache einerseits sowie in das Genre der Blondinenwitze (engl. blond jokes) andererseits; es legt ein Augenzwinkern in der Herstellung von Blondheit als Schönheitsideal nahe.

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werden kann, handelt er doch mit Concealer und Make up vom Herstellen des Gesichts, einer durch race und Klasse gekennzeichneten Erscheinung, von der Maske, dem Hervorbringen durch Übermalen etc. Aber das Konzept ›Weltanschauung‹ müsste ja für alles und jedes im Film Sichtbare gelten; das Sinnliche und das Intelligible kommen in jedem filmisch Sichtbaren zusammen, eben nicht nur in den Elementen, die aus anderen Ordnungen (symbolisch usw.) bereits doppelte Bedeutungen zugeschrieben bekommen haben. Die Weltanschauung/das Weltdenken von Legally blonde liegt auch im Hündchen, der Architektur etc. Speziell ist hier die chemo-technische Komplizenschaft. »Ich bekam eine frische Dauerwelle, und dann ging ich duschen.« Während ich diese Zeugenaussage im Film hörte, dachte ich etwas müde nebenbei: Das ist wohl die Strategie, Frauen als Publikum anzusprechen, indem ihre sogenannten Lebensrealitäten auch im Kleineren plot-würdig werden, was für eine Anrufung zum involvement! Nur dass der Drehbuchautor keine Ahnung hat: Nach einer Dauerwelle geht man nicht gleich duschen, um sie nicht zu zerstören. (Oder eine Drehbuchautorin wollte das nicht verraten, wegen der Idee ›müheloser Schönheit‹.) Dann kommt Reese Witherspoon als Anwaltsgehilfin und löst den Fall triumphierend: Das Alibi ist falsch! Keine Frau würde mit frischer Dauerwelle duschen! Was wie ein ›natürliches Wissen‹ von Frauen daherkommt, wird noch chemisch unterlegt: Das Ammoniumthioglycolat einer Dauerwelle wird in den ersten 24 Stunden nach Anwendung durch Wasser oder gar Shampoo deaktiviert, und wer seit 15 Jahren zwei Anwendungen im Jahr bekommt wie die Zeugin, kennt diese Regel! Das Aufdecken ›weiblicher Geheimnisse‹ trägt den Plot des Films. Ich war ertappt. Nicht einer guilty pleasure überführt (des Konsums eines klischeetriefenden heteroesken Kommerzprodukts), sondern einer ungewohnten Komplizenschaft. Auch als Elle der zu Unrecht verdächtigten Schönheitsverbündeten als Erste-Hilfe-Paket für die Untersuchungshaft einen Kosmetikkorb mitbringt, hatte ich gedacht: Ohne Hautcreme ist es bestimmt blöd in der Zelle. Die billigsten Identifikationsangebote über geteilte Identitätsmarker funktionieren. Eine gewisse Komplizenschaft als Teil eines technosozialen Settings ist sowohl intradiegetisch nötig zur Lösung des Falls als auch nötig zum Mit- oder zumindest Nachvollziehen der Handlung als Zuschauer_in. Natürlich stammt das unnütze Wissen, das zur Auflösung des Falls zum Happy End beiträgt, aus dem

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Repertoire unterdrückerischer Künstlichkeit, der Fassade für Weiblichkeit, Arbeit auch an dem Selbst, das den Klassenaufstieg probt. Aber die Kosmetik ist auch: die ganze Schauspielerei. Ein Modell für Witherspoon, für die ganze Filmproduktion. Die Kosmetik konstituiert dich als Ich, aber du bist danach nicht gleich einsatzbereit. Die echte Herstellung des Stylings benötigt einen Aussetzer. Wer den nicht hat, ist der Täter. Elle resümiert: »Die Regeln der Haarpflege sind unumstößlich. Jedes Cosmo-Girl hätte das gewusst.« Und der Film schafft es, so zu tun, als seien solche Sätze bewusst selbstironisch, ohne darin wirklich ironisch zu werden – man nehme den Benefit eines sich schlauer fühlenden Augenzwinkerns, einer Kritik an Dummheit, die als Selbstkritik daherkommt, und verzichte auf alle weiteren Unannehmlichkeiten, die daraus folgen könnten. Legally blonde entstand noch in der Zeit vor dem televisuellen programmierten Fremdschämen. Es ist eine überzeichnete Komödie, die vorgibt, sich über alle aufgerufenen Klischeetypen gleichermaßen lustig zu machen, was schon deswegen nicht stimmt, weil praktisch nur weiße Figuren auftreten, aber auch, weil die Heiterkeit der Hauptfigur undurchdringlich bleibt. Wie bei Engell zu lernen war, gibt es nach Luhmann keine Produktion von Sinnlosigkeit – jede Unterscheidung macht eine Bedeutung (vgl. Engell 1995: 287), und Horkheimer und Adorno müssten schon unbegründeterweise wissen, was den wesentlichen Kern einer Sache von deren oberflächlichem Schein unterscheide, um von einem Umschlag kulturindustrieller Sinnentleerung sprechen zu können (vgl. Engell 1995: 287). Nun würde man Legally blonde umstandslos unter den Ausverkauf kleinbürgerlicher oder bäuerlicher Aufstiegsträume in eine kommodifizierte Unterhaltungsindustrie einsortieren können bzw. müsste schon arge Anstrengungen unternehmen, die Affirmation heterosexistischer Klischees mit einer Cultural Studies-affinen Lektüre zusammenzubringen. Die Wiederholungen kosmetischer Praktiken, die Oberflächlichkeit des falschen Bunny-Kostüms, die immer neu vermarktete Geschichte vom Klassenaufstieg in Legally blonde liegen auf der, Verzeihung, Handoberfläche. Aber es geht weiter. Mit der Herausbildung des Starsystems, so argumentiert Engell mit Elsaesser, werden »die Erwartungen der Rezipienten an den Star [...] synchronisiert mit den Erwartungen, die innerfilmisch, innerhalb der Fiktion, dem Star entgegengebracht werden; die Rezipientener-

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wartungen werden somit in den Film hineinkonstruierbar. [...] Damit schreibt sich der Rezipient eine eigene Souveränität zu, die keineswegs mit der des Stars zu identifizieren ist. [...] Vermittelt durch diesen Zusammenhang erhalten die Zuschauer so die Möglichkeit, sich selbst als Urheber der filmischen Sinnbezüge zu setzen und damit ihre eigene Individualität zu bestätigen.« (Engell 1995: 285) Deren Geschlecht wäre mit Legally blonde weiterzulesen:2 Die Zuschauerposition bildet hier eine Individualität heraus, die nur ist, insofern sie sich mit den als ›weiblich‹ markierten Logiken gemein macht. Legally. Eine mediale Performativität, deren extremer Konservatismus part of the playtime ist: »Das Schematische und Stabilisierende wird einmal mehr über das Bewegliche und Restabilisierende gesiegt haben, und einmal mehr vorübergehend. Dem Fernsehen wäre der Stachel gezogen, bis zur nächsten Allgemeinen Verunsicherung. Es muß ja nicht dabei bleiben.« (Engell 1994: 61)

Referenzen Birth of a Nation (USA, 1915, D.W. Griffith). Engell, Lorenz (1994): Das Gespenst der Simulation. Ein Beitrag zur Überwindung der »Medientheorie« durch Analyse ihrer Logik und Ästhetik, Weimar: VDG. Ders. (1995): bewegen beschreiben. Theorie zur Filmgeschichte, Weimar: VDG. Ders. (2006): »Vorwort«, in: Gotto, Lisa, Traum und Trauma in Schwarz-Weiß. Ethnische Grenzgänge im amerikanischen Film, Konstanz: UVK, S. 8–13. Ders. (2010): Playtime. Münchener Film-Vorlesungen, Konstanz: UVK. Playtime (F/I, 1987, Jacques Tati).

Ulrike Bergermann, Prof. Dr., ist Professorin für Medienwissenschaft an der HBK Braunschweig. Arbeitsschwerpunkte: Gender und Postcolonial Studies. 2 | Engell hat sein Grundstudium in Feminismus bei Renate Möhrmann mit Eleganz und Freude absolviert; lieber als Rassismustheorie oder Postcolonial Studies war ihm im Folgenden die Systemtheorie (Engell 2010: 163-181, ders. 2006: 8-13).

WEIHNACHTEN BEI UNS DAHEIM (2002) Gunar Wardenbach 2002 also hat mir das Los oder die Vorsehung oder aber der Zufall auf den Tisch geworfen. Dieses Jahr war jedoch ein Jahr ohne jegliche Besonderheit. Im Grunde passierte nichts. Kein Film, kein Lied, kein Stück, nichts. Die Massenmedien rauschten vor sich hin, die Realität rauschte mit.1 Endgültig war der Punkt erreicht, an dem alles gleichzeitig immer besser und immer schlechter wurde. Wer damals schon lebte, ist jetzt 16 Jahre älter und die Augen sind kleiner und schlechter geworden. Macht man gute Augen ganz klein, kann man in die Zukunft sehen. Hätte ein guter Beobachter dieses 2002 getan, wäre da schon die Produktion Weihnachten bei uns daheim augen- und vielleicht auch auffällig geworden, obwohl der launische Weltgeist die Sendung erst im Jahr 2017 produzieren ließ. Und zwar in dem im erkaltenden Universum seiner eigenen Erstarrung entgegen flimmernden öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Also Fernsehen. SWR, 25.12.2017. Unweit der Wege, auf denen der alte Herr Heidegger quasi daheim und unterwegs (WDR) war, präsentiert der studierte Politikwissenschaftler Florian Weber: »tolle musikalische Gäste mit ihren Weihnachtsliedern: Mit dabei sind u. a. Anita und Alexandra Hofmann, die Gruppe VoXXClub, die Trenkwalder, Bernhard Brink, Marc Pircher, Anna Maria Zimmermann, die Dorfrocker, Oesch‘s die Dritten, Feuerherz, der Kinderchor SingsalaSing aus Ochsenhausen, nochmals Bernhard Brink und Marc Marshall. Dazu gibt es einen Blick über die Schulter verschiedener traditioneller Handwerker.« Die erste Sängerin kann alles: »Schlager, große Gefühle 1 | Sogar der TV-Simulator als Einbruchschutz für Vielreisende, Ängstliche und besorgte Bürger aller Art wurde leider vermutlich erst viel später erfunden. Das blaue Licht ...

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und, sie kann Weihnachten.« Den linken Arm bewegen kann die 1,8 Meter große Anna-Maria Zimmermann nach einem Hubschrauberabsturz auf dem Weg zur Ballermann-Awards-Verleihung allerdings nicht. Egal. Anschließend Klaus Weggler, ein Kerzenliebhaber aus Passion. Sein Sortiment ist unendlich, über 100 verschiedene Artikel stellt er her. Hat sein helles Licht bei der Nacht zu tuen mit der Schwarzen Hütte? Wir wissen es nicht. Dann kommen die phantasievollen Dorfrocker, die ihrer Heimat treu geblieben sind. In kurzen Hosen singen sie neben einem Pferdeschlitten im Schnee. Im Schlitten selbst sitzt ein mürrischer Kutscher, er hat das Trio aus dem Mittelalter oder der Steinzeit herangekarrt. Er weiß: Auch die Zuschauer und vor allem Zuschauerinnen sitzen bereits seit dem Mittelalter oder der Steinzeit an den Empfangsgeräten. Sie kennen das also und freuen sich über die lebenslustig lächelnden Burschen und die ewige Wiederkunft des Gleichen. Das dritte Programm! Welch programmatisches Programm. Schon singen aber Anita und Alexandra Hofmann aus Sigmaringen, eine der beiden hat eine freche Frisur. Dann: Die Sommelière Natalie Lumpp (!) spricht lehrreich über die verschiedenen Arten, Glühwein herzustellen. Nelson Mandela z.B. trank gar keinen Wein. Die feinen Unterschiede! Ohne diese Musik wäre das Leben kein Irrtum: VoXXClub. Wieder Männer in sexykurzen Hosen und mit disparaten Bärten. Komm, sag es allen weiter singen sie sinnvoll industriell formatiert, auch dies ein Angriff aus der Steckdose. Gegenstrategie? Keine. Zu spät. Sag es allen weiter. Auch sie gehören wohl zu Deutschland. Jetzt knetet ein bockig-fahriger Konditor wie aus dem Bilderbuch Lebkuchenteig. Will er einen Großfilm formen? Nein, aber eine ältere Schauspielerin erscheint und erzählt vom Lebkuchenweiblein. Etwas wird anders. Die Dinge wandeln sich. Sie werden andere Dinge, werden Bilder, werden andere Bilder, werden Gedanken, Taten. Lieder. Die drei nachdenklichen Trenkwalder wandern durch den Winterwald, einer singt: Holadojehi, die Weihnachtszeit. Dann Besuch bei einem Glasbläser: Dem Moderator gelingt ein Blowjob, ein Glas. Aber: Still, still, still, weil‘s Kindlein schlafen will – singt Johannes Kalpers, Vertreter der Hypermoral. Dann ein Vertreter der Megakrise: Jürgen Pintscher. Er ist im Besitz von 3000 Weihnachtsmännern, den ersten hat er 1960 in Darmstadt gekauft, für eine Mark. Heute ein Mehrfaches wert. Und schon kommen

Weihnachten bei uns daheim (2002)

Feuerherz, die nächste Schlager-Boy-Group, noch gnadenloser formatiert: Wir leben, wir lieben, wir feiern den Moment! Vielleicht ist es gar nicht schlecht, tot zu sein. Tot, aber zufrieden. Aber vorher wird noch geschnitzt, ein Sinnlosigkeitsverdacht tritt ein, danach ein Kinderchor: Die wissen es noch nicht. Dann eine sich mit großer Wahrscheinlichkeit nicht als Transperson lesen lassen wollende Person: Die hemdsärmelig-hölzerne Ingeborg Hölzle. Sie backt mit zahnenden kleinen und halbkleinen Mädchen, weit entfernt vom Universum der Bilder und dem von vornherein mit einem Glaubwürdigkeitsbonus ausgestatteten geschriebenen Wort. Das Wort aber lautet: Springerle. Dieses Wort ist den sympathischen Kommunistinnen bzw. Oberösterreicherinnen Sigrid und Marina, die sich bei Moderator Florian Weber eingefunden haben »ehrlich gesagt« unbekannt. Aber auch in deren Kindheit gab es Gebäck. Von der Oma gebacken, Gebäck: Kekserl und Kipferln. Wärme und Geborgenheit, Gefühle, die man ein Leben lang in sich trägt. Und schon erzählen die unsympathischen Frauen von den Rauhnacht-Bräuchen in ihrer Heimat. Damals rollten brennende Hakenkreuze zu Tale, heuer begnügt man sich mit qualmenden Weihrauch-Pfannen, die man durchs Haus trägt und so die bösen Geister vertreibt. Wer eigentlich sind die bösen Geister? Die gleichen? Die selben? Die ihre Dirndl auf die alte Art sympathisch ausfüllenden beiden Sängerinnen wahrscheinlich nicht. A Weihnacht, wie’s früher war, so singen sie im 08/15-Weihnachtszimmer: Kerze, Mandarine, Tannenzapfen. Der Spardruck, der auf den Öffentlich-Rechtlichen lastet, macht auch Weihnachten keine Atempause; wird auch keine neue Geschichte gemacht (wie denn auch?), so wird die alte immerhin fortgesponnen, an jenem Webstuhl der Zeit, den wir noch vor Jahrzehnten oder Jahrhunderten, als wir glücklich und zufrieden vor den Höhlen und Häusern in der Abendsonne saßen und dachten: Ach, könnte es doch immer so sein!, »Das Fernsehen« nannten. Die alte Geschichte. Weihnachten. Hier will sie wie die robuste Pflegegrad-Unterhaltung derer scheinen, die in der Wartehalle des Todes in der ersten Reihe sitzen, schon zu Lebzeiten in die Hölle des Fernsehprogramms geraten sind und nicht mehr umschalten können (obwohl es bekanntlich auf allen Kanälen tausendmal Schlimmeres, Schädlicheres und Grauenhafteres zu sehen gibt). Und jedes Weihnachten, das haben wir von Dr. Who gelernt, ist das letzte Weihnachten! Immer ist es das letzte Mal!

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Gunar Wardenbach

Daran kann auch der berühmte Sänger Marc Marshall, Sohn des noch berühmteren Sängers Tony Marshall, nichts ändern. Dunkle Weste, weißes Hemd und Blue Jeans trägt er, genau wie der sympathische Moderator. Die Uniform von was ist das eigentlich? Als Ausdruck einer politischen Gesinnung jedenfalls dürfte sie in Deutschland nicht öffentlich getragen werden. Immerhin: Es geht um Heimat, das »erdende Gefühl«, in Baden-Baden, aber auch im unendlichen großen Weltenall. Und natürlich auch im Südwesten, in unserem Westen, im Nordosten, im Norden oder Nord-Süden, von wo aus die dritten Programme als und für eingestaubte Identitäten unverdrossen bis zum letzten Atemzug weiter senden: Heimat, deine Sterne! Wie schnell wird das verschwunden sein! Wenn man die Augen ganz klein macht, kann man es schon sehen! Bzw. schon nicht mehr sehen! Zurück zur Weihnacht! Sämtliche Beiträge, Gespräche und Gesänge sind Ausdrucksformen und sogar Bilder des Wandels und seine Agenten zugleich. Sie sind Bilder, die zeigen, wie etwas anders wird und die etwas verändern, während und indem sie selbst sich wandeln. Bilder der Endlichkeit. Genau. Aber noch sind die zwei wunderschönen Stunden mit vorweihnachtlicher Stimmung, Musik und Bräuchen nicht vorbei, es zieht sich ... Björn Landberg, ein Mann mit dunkler Weste, weißem Hemd und Blue Jeans, aber ohne Wikipedia-Eintrag. Sagt man eigentlich noch Blue Jeans? Sagt man eigentlich noch Wikipedia-Eintrag? Er jedenfalls singt ein Lied mit dem Titel Weihnacht. Ein Weihnachtslied. Cool. Dann geht es auf den Weihnachtsmarkt, bzw. die schönsten Weihnachtsmärkte der Region. Fundamentalistische Lastkraftwagenfahrer jeglichen Glaubens kommen nicht herbeigerast, aber ein Weihnachtsschiff, man sieht den größten Adventskalender der Welt und unzählige naturgemäß leuchtende Kinderaugen. Bratwurst und Glühwein unterm Viadukt der Höllentalbahn laden zum Verweilen ein. Wer das lesen könnt ... Melanie Oesch aus der Schweiz hat leider viel zu wenig Zeit. Für Weihnachtsmärkte. Wenn es weiter nichts ist. Sie ist viel unterwegs, um Musik für andere zu machen. Zum Ausgleich fertigt sie Mobiles aus Schwemmholz, trägt eine helle Weste zum dunkelkarierten Hemd und jodelt mit Familie (Oesch‘s die Dritten) für’s Christkind. Wer will ihr das verdenken?2 Noch einmal Bernhard Brink. Der hat2 | Herbert Zimmermann, Bern 1954: »Jetzt hat Fritz Walter den Ball über die

Weihnachten bei uns daheim (2002)

te die gute Idee, aus dem Song White Christmas den Song Weisse Weihnacht zu machen, sich neben Hund und Weihnachtsbaum in den verschneiten Garten zu stellen und zu singen. Und schon ist diese Idee Wirklichkeit geworden! Yeah, mit welchem Swing der Mann in der Daunenjacke aber auch durch den Schnee wirbelt! Sie nennen es »gute Laune«. Und ein einzger Wunsch stellt sich ein: Möcht’s auf Erden Frieden immer sein. Aber erst muss Marc Pircher noch ran, mit seinem Es wird schon glei dumpa. Dann gehen im Schwarzwald, dem nach wie vor wohl schwärzesten unserer Wälder, die Lichter aus, ein Kind weint und irgendwo wird ein Heiland geboren. Dumpa! Diesen ebenso seelenlosen wie seelenvollen Zauber verantwortet als Regisseurin Doris Alberti, die exakt so aussieht, wie man sich eine Person gleichen Namens vorstellt. Oder sich vorstellen muss. Derselbe Name, dasselbe Gesicht! Wer das lesen könnt ...

Gunar Wardenbach, M.A. ist freier Trailer-Autor, WDR/One, Köln.

Außenlinie in’s Aus geschlagen, wer will ihm das verdenken?« (5 Sekunden später war das Spiel dann aus, aus, aus! Das Spiel ist aus!)

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GOOD BYE, LENIN! (2003) Katharina Niemeyer

In den »Der Gute Film«-Vorlesungen von Lorenz Engell (Engell 1999/2000) war Good Bye, Lenin! logischerweise 1999 nicht dabei; das Jahr in dem der zweite Jahrgang der Europäischen Medienkultur in Weimar anlief und genau das Jahr, in dem ich selbst zu dem deutsch-französischen Studiengang hinzutraf. Good Bye, Lenin! ist im strengen Sinne und sehr höchstwahrscheinlich nicht der ›beste‹, bestimmt auch nicht der ›schönste‹ Film dieser Festschrift, aber als mir das Jahr 2003 für diese Publikation zugelost wurde, musste ich nicht lange zögern, denn Good Bye, Lenin! ist mit der Zeit in Weimar verbunden; aber eben auch mit der sogenannten Ostalgie die damals stark präsent war (vgl. Allan 2006). Der Film von Wolfgang Becker traf einen sentimentalen und auch politischen Nerv. In den folgenden Zeilen soll es nicht um die Frage nach einem ›guten‹ Film gehen und ebenso wenig wird die Ostalgie im Zentrum der Problematisierung stehen, denn letztere wurde schon oftmals im Zusammenhang mit Good Bye, Lenin! und anderen Medienproduktionen diskutiert (vgl. Roberts 2005, Twark 2011). Good Bye, Lenin! ist natürlich auf historiografischer und narrativ-temporaler Ebene interessant: Alexander kreiert die ideale DDR für seine Mutter, die vor dem Fall der Mauer ins Koma gefallen war und will mit seiner Illusionswelt weitere medizinische Komplikationen verhindern. Dabei gerät er in eine utopisch-(n)ostalgische, vielleicht sogar retro-topische Spirale, die die Vergangenheit künstlich aufrecht erhält, insbesondere in dem Schlafzimmer der Mutter, das so wie früher wieder aufgebaut wurde (Bücher, Möbel und Deko aus der DDR-Zeit) und demnach als eine Art Geschichts-Museum fungiert (vgl. Ferguson 2010). Gleichzeitig wird aber der Gegenwart eine Idealisierung aufgesetzt: eine DDR, von der Alexander, und so sagt er es selbst im Film, geträumt hätte. Die mediale und kulturelle Auf bereitung dieser (n)os-

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talgischen Welt für seine Mutter vernetzt sich mit dem Alltag nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung. Dieser kurze Beitrag konzentriert sich auf die bildlichen Zeitschichtkonstruktionen, die Good Bye, Lenin! für die Medienwissenschaft interessant machen. Es ist nicht neu, dass visuelle Medien, vom Kinofilm zur Nachrichtensendung an historiografischen und mnemonischen Prozessen teilnehmen und gleichzeitig (ihre eigene) Geschichte (re-)konstruieren (vgl. Crivellari/Grampp 2004, Niemeyer 2011, Wendler 2014), sowie medienphilosophisch-diagrammatisch denken (vgl. Wentz 2017). Die folgende Reflexion stützt sich theoretisch auf diese Ansätze und ebenso auf ein Kapitel, das ich vor Kurzem mit Manuel Menke über Vintage, Retro und Nostalgie in der visuellen Bildkultur geschrieben habe (Menke & Niemeyer 2018). Es ging darin um folgende miteinander verwobene, visuelle Vergangenheitszugänge: 1. Durch Archivierung werden gegenwärtige visuelle Medieninhalte selbst Bestandteil der »visuellen Vergangenheit« von Gesellschaften und somit inhaltlich und ästhetisch Zeugen ihrer Zeit; auf kollektiver und persönlicher Ebene. 2. Visuelle Medien ermöglichen demnach die (Re-)konstruktion des Vergangenen durch Aktivierung des Archivs. 3. Visuelle Medien machen es möglich, das Vergangene formal-ästhetisch zu imitieren. 4. Visuelle Medien machen außerdem den Zugang zu einer Imagination des Vergangenen über fiktionale Inhalte und Formen möglich. Im Falle von Good Bye, Lenin! werden alle vier der oben genannten visuellen Vergangenheitszugänge und -effekte mobilisiert und können demnach zu den klassisch narrativen und formal ästhetischen Zeitkonstruktionen des Films (Flashbacks, lineare und nicht lineare Narration, Kristallbilder, Zeitbilder, Bewegungsbilder usw.), aber auch zu anderen Zeitvorstellungen im Zusammenhang mit dem Film zugezählt werden, wie der Endlichkeit (vgl. Engell 2005). Good Bye, Lenin! entwirft allerdings keine komplexen, temporalen Strukturen, Schichten oder Montagen, wie David Lynch dies zum Beispiel tut. Trotzdem ist der formal ästhetische Auf bau von verschiedenen Vergangenheitsformen interessant. Der Film navigiert zwischen Retro, Vintage und fake-Vintage-Bildern, die sich innerhalb der oben genannten vier Vergangenheitszugänge entfalten.

Good Bye, Lenin! (2003)

Filmische Retro- und Vintagevergangenheitszugänge Die Begriffe Retro und Vintage werden oftmals miteinander verwechselt und tauchen immer wieder, auch in der wissenschaftlichen Literatur, beliebig austauschbar benutzt auf. Simon Reynolds weist zwar darauf hin, dass Vintage Bezug auf die Produktionsweise nimmt, sich also mit der Frage des Originals und seiner Fabrikation als Qualitätsfaktor beschäftigt, allerdings expliziert er den historischen Übergang zur Populärkultur nicht (vgl. Reynolds 2011). Der Vintage-Begriff bezeichnete im 18. und 19. Jahrhundert eine gegenwärtige und qualitativ exzeptionelle Weinernte und den daraus stammenden Wein. Es soll hier festgehalten werden, dass Vintage als spezieller Herstellungsprozess verstanden werden kann, mit welchem Objekte produziert werden, die sich durch ihre »langanhaltende Qualität und feinen, exzeptionellen Produktionsmethoden auszeichnen« (Niemeyer 2015: 92). Retro hingegen nimmt, im Gegensatz zu Vintage, eher Bezug auf vergangene Vorstellungen der Zukunft und setzt diese spielerisch in Szene (vgl. Guffey 2006). Kurz gesagt, Vintage bezeichnet meistens handwerkliche oder industrielle Techniken, mit denen Produkte von Qualität hergestellt werden können, die andauern, sich aber auch aufgrund von Alterungsprozessen materiell verändern. Genauer gesagt: Andauerndes Vintage trägt die reellen Zeichen der Zeit, die auf das Material Einfluss nehmen, es ästhetisch verändern (Fotografien, die vergilben, zum Beispiel); Retro hingegen kopiert oftmals diesen Altersprozess und imitiert ihn als fake-vintage. Stefano Baschiera und Elena Caoduro weisen in ihrer Analyse des Kinos darauf hin, dass der Begriff Vintage oftmals auch zur Qualifizierung von Autorenfilmen genutzt wird und somit die Idee des Klassikers unterstreicht, der nicht alt wird, egal wann er auf der Leinwand erscheint (vgl. Baschiera/Caoduro 2015). Good Bye, Lenin! ist in diesem Sinne ein Vintage-Klassiker der Ostalgiefilme. Die Autoren differenzieren ebenfalls zwischen fake-vintage, retro und anachronistischem Kino. Die erste Form bezeichnet die Filme, die alte Vintage-Techniken zum Filmen nutzen, wie zum Beispiel die 16mm-Kamera oder aber reelles Vintage-Material (Archivmaterial), das in die Filme integriert wird. Good Bye, Lenin! ist hier das perfekte Beispiel. Fake-vintage-Archivbilder unterstreichen die Familienvergangenheit von Alexander. Seine Mutter erscheint oftmals in einer Super-8-Vision, die visuelle Flashbacks ermöglicht. Dieser Bilder werden mit reellem Fernseharchivmaterial kombiniert (Fußballweltmeisterschaft, die Nacht des Mauerfalls usw.). Unter Retro-Kino

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verstehen Baschiera und Caoduro solche Filme, die mit der Vergangenheit spielen, aber diese nicht spezifisch über Filter oder Archive bildästhetisch rekonstruieren. Auch diese Bilder existieren in Good Bye, Lenin! Es sind die Momente, in denen Alexander Freunde und Familie in alte DDR-Kleidung schlüpfen lässt, um mit ihnen in dem DDR-dekorierten Zimmer den Geburtstag seiner Mutter zu feiern. Die zu Beginn vorgeschlagenen Vergangenheitszugänge visueller Medien können also durch die Unterscheidung der Begriffe Vintage und Retro klarer gefasst, typologisiert und für den Film anschaulich gemacht werden. Doch durch Archivierung und Dokumentation werden gegenwärtige fiktive oder nicht-fiktive Filminhalte selbst zur visuellen Vintage-Vergangenheit (egal, ob sie schon inhaltlich oder formal-ästhetisch fake-vintage oder Retro-Elemente in sich tragen oder nicht) und werden somit Zeugen ihrer Zeit. Filmbilder ermöglichen demnach die Rekonstruktion des Vergangenen durch Reaktivierung des Archivs und sind auch Zeitzeugen der jeweils möglichen technischen (Re-)produktionsbedingungen dieser Bilder. Good Bye, Lenin! kann durch diese verschiedenen Vergangenheitsbilder und Stilmittel die Ostalgie erst sichtbar machen und sagt letztendlich mehr über die Nostalgie der vergangenen Zukunft, der politischen Utopie, aus als über den Wunsch, die DDR wieder mittels einer regressiven Nostalgie heraufzubeschwören.

Referenzen Allan, Seán (2006): »Good Bye, Lenin!: Ostalgie und Identität im wieder vereinigten Deutschland«, in: gfl-journal, N°1, S. 46–59. Baschiera, Stefano/Caoduro, Elena (2015): »Retro, faux-vintage, and anachronism: When cinema looks back«, in: NECSUS. European Journal of Media Studies, 4 (2), S. 143–163. Crivellari, Fabio et al. (Hg.) (2004): Die Medien der Geschichte: Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive, Konstanz: UVK. Engell, Lorenz (1999/2000): »Vorlesung: ›Der Gute Film, 2‹«, in: https://web.archive.org/web/20150807192242/http://www. uni-weimar.de:80/medien/archiv/ws9900/film/index.html, [02.11.2018]. Ders. (2005): Bilder der Endlichkeit, Weimar: VDG. Ferguson, Kevin L. (2010): »Home Movies: Historical Space and the Mother’s Memory«, in: Scope, 18, S. 1–13.

Good Bye, Lenin! (2003)

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Katharina Niemeyer, Prof. Dr., ist Professorin für Medientheorie an der Medienschule der Université du Québec à Montreal, Kanada. Arbeitsschwerpunkte: Medientheorie, Gedächtnis und Nostalgie.

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PRIMER (2004) Michel Diester

Das Kino kennt keine Gründung, dafür aber zahlreiche »Gründungserzählungen oder Gründungsakte(n)« (Balke 2011: 23). Film als vorerst letzter Baustein in einer Reihe illudierender Geräte – wie der laterna magica oder dem Praxinoskop –, die im Laufe des 19. Jahrhunderts allmählich das Bild in Bewegung bringen;1 Kino als Verfertigung des Wunsches, die Welt in ihrer Fülle und Vollkommenheit ganzheitlich nachzubilden (vgl. Bazin 2009); Film als kompensatorische Kulturtechnik, um der industrialisierten Welt verlorengegangenen Sinn zurückzugeben (vgl. Engell 1992: 14 ff.) – all diesen Erzählungen ist gemein, dass sie dem Film weitere Gründungskomplemente – vorangegangene Technologien, Ideen, historische Parallelentwicklungen – in die Wiege legen. Aus diesem Grund und bedingt durch das »ostentativ fiktive oder hypothetische Moment« (Saar 2009: 260) von Genealogien scheint es demnach erlaubt, eine weitere Gründungsakte des Kinos zu öffnen. 1895, als zeitgleich die ersten Bilder des Kinematographen vorgeführt werden, erscheint H.G. Wells' Roman Die Zeitmaschine. Darin tüftelt ein Erfinder an einem Apparat, der es ihm ermöglichen soll, durch die Zeit zu reisen. Zwar sei dies schon mithilfe des Gedächtnisses möglich – »Für einen Augenblick springe ich in die Vergangenheit zurück« (Wells 2006: 10) –, jedoch beschränken sich die Erinnerungsreisen jeweils nur auf das selbst Erlebte. Um unter Ausschluss des Gedächtnisses durch die Weltzeit reisen zu können, bedarf es also maschineller Hilfe. Der Erfinder führt dies auf die

1 | Dass der fotografische Film diese Reihe nicht abschließt, stellt Lev Manovich in Aussicht, indem er den digitalen Film an die optischen Geräte des 19. Jahrhunderts rückkoppelt (Manovich 2001: 286–334).

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Michel Diester

Darstellung erweiternden Möglichkeiten anderer Medien zurück. Zunächst rekurriert er auf das perspektivische Bild oder die Fotografie: »Es ist bekannt, wie man auf einer Fläche, die ja nur zwei Dimensionen hat, die Figur eines dreidimensionalen Körpers räumlich darstellen kann[.]« (Ebd.: 8) Weiter steigern lässt sich die Darstellung, indem man mehrere Bilder, etwa solche eines Menschen in verschiedenen Lebensaltern, zu einem übergeordneten Ganzen montiert: »Alle diese Bilder sind in der Tat Schnitte, das heißt dreidimensionale Projektionen eines vierdimensionalen Daseins.« (Ebd.)2 Eine weitere Dimension, die Zeit als Dauer, komme schließlich hinzu, so ließe sich der Gedanke des Wells’schen Erfinders fortsetzen, sobald es sich um »bewegliche Schnitte« (Deleuze 1989: 26) handelt. Damit wäre man nicht nur beim Film, sondern auch näher an dem angelangt, was der Erfinder sich, wenngleich sein Apparat bekanntlich einen anderen Weg einschlägt, unter einer Zeitmaschine vorstellt. Um zu erproben, ob und wie sich das Kino als Zeitmaschine beschreiben lässt, scheint es vonnöten, deren Wirkweise eingehender zu betrachten. Wie eine Zeitmaschine operiert, das lässt sich vielleicht am deutlichsten in Primer (USA, 2004, Shane Carruth) beobachten. Ihr Vorhandensein ist dabei nicht etwa, wie Bazin mit Blick auf den Film anführt, das Produkt »einer hartnäckig verfolgten fixen Idee« (Bazin 2009: 43), sondern schlicht die Folge glücklicher, nur zufällig bemerkter Umstände. Die Ingenieure Aaron und Abe wundern sich über einen Pilz in einer selbst gebauten Box, dessen Alter, obgleich nur wenige Wochen gewachsen, auf sechs Jahre taxiert wird. Die beiden Ingenieure schlussfolgern: Die Zeit muss innerhalb der Box, die eigentlich nur Masse reduzieren sollte, anderen Gesetzen folgen als außerhalb. Offenbar oszilliert ein Objekt in ihrem Inneren zwischen zwei Polen in einer Art Zeitschleife, wobei die beiden Pole den Zeitpunkten des Ein- und des Ausschaltens der Maschine entsprechen. Falls das Innere keinen Gegenstand, sondern ein intelligentes Wesen beherbergt, vermuten die Ingenieure, könnte dieses selbst steuern, wann es die Box betritt und verlässt. Eine Zeitreise wäre dann erfolgt, wenn der Passagier während des 2 | Die allzu gut aus dem Film bekannten ›Schnitte‹ gehen auf »sections« (Wells 1922: 10) in der englischen Originalausgabe zurück. Die unwillkürlich anachronistisch vorgehende Übertragung ins Deutsche sieht die Boten des Films offenbar schon in Reichweite. In einer Übersetzung von 1900 ist dagegen von »Lektionen« im Sinne von Einheiten die Rede (Wells 1900: 5).

Primer (2004)

Ausschaltvorgangs eintritt und am anderen Pol, dem Einschalten, wieder austritt. Aaron und Abe, jeweils »zugleich Versuchsleiter und Versuchsperson« (Kittler 1986: 222),3 nutzen die Gunst der Stunde, um an der Börse Geld zu verdienen. Die Besonderheit der Zeitmaschine in Primer besteht nun darin, dass Aaron und Abe, sobald sie nach einer erfolgten Zeitreise in der Vergangenheit ankommen, dort auf sich selbst treffen. Denn die Zeitmaschine versetzt sie an einen vergangenen Zeitpunkt, an dem es ja schon einen Aaron und einen Abe gibt. Ein Aufeinandertreffen mit den Doppelgängern soll jedoch zwingend vermieden werden. Es gilt hier noch jenes Diktum, das schon die Doppelgänger bei Dostojewski ausgehandelt haben: »Entweder Sie oder ich; aber nebeneinander haben wir nicht Platz!« (2012: 150) Um dies zu gewährleisten, treffen sie zwei Vorkehrungen: Zum einen verwenden sie eine Zeitschaltuhr, die die Maschine selbstständig aktiviert. Zum anderen schotten sie sich in einem Hotel ab und vermeiden jeden Kontakt zur Außenwelt. Denn solange sie keinen Eingriff in das vornehmen, was sie bereits erlebt haben, wissen sie, dass ihre Doppelgänger genau das tun werden, was sie bereits getan haben: nämlich mit der Zeitmaschine in die Vergangenheit reisen – und somit letztlich aus ihrer timeline verschwinden. Doch die Übereinkunft der Zeitreisenden, keinen Einfluss auf den Lauf der Geschichte nehmen zu wollen, droht schon bald zu erodieren. Zwangsläufig zeitigt die Maschine Fragen, die grundlegenden Vorstellungen von Subjektivität und Kausalität argwöhnisch gegenüberstehen; Fragestellungen also, wie sie vor allem im mindgame movie auftreten (vgl. Elsaesser 2009). Mögliche Eingriffe werden zunächst nur anhand trivialer Gedankenspiele exerziert. Dann aber nötigt ein Zwischenfall – ein Geschäftspartner hat ihre Maschine entdeckt und ist mit ihr zurückgereist – Aaron und Abe dazu, ihrerseits eine noch tiefer in die Vergangenheit reichende Reise durchzuführen, um den Vorfall ungeschehen zu machen. Möglich wird dies durch eine fail-safe box, die Abe noch vor der ersten angetretenen Reise aktiviert hatte. Verkompliziert wird dies wiederum durch den Umstand, dass Aaron zwischenzeitlich ohne Abes Wissen eine weitere, klandestine Zeitreise unternommen hat. Schließlich kommt es 3 | Eine Doppelrolle, die, so Kittler, typisch ist für »Medientechniker der Gründerzeit« (ebd.) und dergestalt auch in der fiktiven Erzählung D ie Zeitmaschine auftritt.

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zu der zweifellos komplexen Situation, dass eine timeline nun drei Versionen von Aaron und zwei Versionen von Abe beherbergt. Diese lassen sich nur insofern unterscheiden, als ihnen unterschiedliche Erinnerungen, andere Wissensstände zugeschrieben werden können. Zeitmaschinen, wie Primer sie hier vorstellt, zeichnen sich also nicht nur dadurch aus, dass sie einen spezifischen Zugriff auf die Zeit haben, sondern auch dadurch, dass sie etwas erzeugen: Zeitmaschinen erweisen sich vorderhand als Doppelgängermaschinen. Dem Kino selbst kann eine ähnliche Funktion zugeschrieben werden. Kittler attestiert der filmischen Frühphase nicht nur einen »Doppelgängerboom« (1986: 232), sondern begreift den Film grundlegend als Technik zur Aufzeichnung und Speicherung von Körpern. Hiermit sind jedoch nicht ausschließlich Repräsentationen außerfilmischer Körper gemeint, da der Film den Körper tatsächlich verdoppelt, was sich Kittler zufolge in den aufkommenden Theorien zum Unheimlichen und Unbewussten niederschlägt, die einen zusätzlichen, außer Kontrolle geratenen Körper als Teil der menschlichen Existenz ins Feld führen. Beim Doppelgänger im Film handelt es sich somit um eine reflexive Figur, die auf jenen Wahnsinn verweist, den der Film erst produziert: »Filmdoppelgänger verfilmen Verfilmung selber. Sie führen vor, was mit Leuten geschieht, die in die Schußlinie technischer Medien geraten.« (Ebd.: 224) Im Hinblick auf die Doppelgänger in Primer ist sogleich einzuwenden, dass diese weder dem Wahnsinn anheimfallen noch eine Spaltung des Subjekts vorantreiben. Zudem verzichtet die mise-en-scène fast gänzlich darauf, zwei oder mehrere Körper von Aaron bzw. Abe gleichzeitig ins Bild zu bringen. So ergeben sich irritierende Sequenzen: Zunächst zeigt eine Einstellung, wie Aaron und Abe an ihrem Truck stehen, wobei Aaron durch ein Fernglas schaut. Es folgt eine Einstellung, die Aarons Blick wiedergibt. Was er durch das Fernglas sieht, ist Abe, der doch eigentlich neben ihm steht. Vielleicht mag der Grund hierfür auch darin zu suchen sein, dass die vierstelligen Produktionskosten die Frage nach Spezialeffekten gar nicht erst stellen lassen (vgl. Johnston 2012: 2). Dennoch erscheint Kittlers Behauptung nicht minder stichhaltig: »Der Doppelgängertrick ist nichts weniger als unheimlich.« (1986: 230) Mit der Hilfe von Schwarzblenden, die den Bildrahmen anteilsmäßig abdecken, so dass zwei heterochrone Aufnahmen in einer Einstellung amalgamieren, lassen sich im Bild sichtbare Doppelgänger mit

Primer (2004)

wenig Aufwand erzeugen (vgl. ebd.). Doch der Verzicht auf Trickaufnahmen, auf filmtechnisch induzierte Effekte, wird an anderer Stelle noch deutlicher. Zeitrafferaufnahmen drängen sich gerade dann auf, wenn eine Passage mit einer außergewöhnlichen Fließgeschwindigkeit durch die Zeit dargestellt werden soll. Dass der Effekt des Zeitraffens schon bei Wells anzufinden ist, führt Werner Oeder zu der Annahme, die Wells’sche Zeitmaschine antizipiere visuelle Darstellungsmittel des Kinos. Neben dem Zeitraffer nennt Oeder abrupte Schnitte sowie das szenische Auf- und Abblenden, die Wells jeweils literarisch einsetzt, um die Reise durch die beschleunigte Zeit kenntlich zu machen (vgl. 1993: 37). Primer dagegen verzichtet auf diese Mittel, weil das Prinzip der Zeitreise hier verkehrt wird: Nicht die Außenwelt wandelt sich schneller, wie es der Zeitraffer veranschaulicht, vielmehr findet die besondere Bewegung durch die Zeit im Apparat selbst statt. Die Zeitmaschine in Primer besitzt eine Eigengesetzlichkeit, die nur für das Innere des Apparats gilt, gleichwohl damit Konsequenzen für die Außenwelt, wie die multiple Erzeugung von welthaften timelines, einhergehen. Wollte man die Zeitmaschine in Primer mit Blick auf den Film medial einordnen, zeigt sich abschließend zweierlei: Einerseits dient sie – auf der inhaltlichen Ebene – vor allem dem Zweck, die Marktbewegungen an der Börse vorhersehbar zu machen, womit eine Funktion adressiert ist, die in ähnlicher Form bereits von prognosetüchtigen Computern ausgefüllt wird. Die Zeitmaschine arbeitet demnach an einer Vorhersehbarkeit, an einer »Entzauberung der Zukunft« (Stopka 1999: 124), die schon im Wells’schen Apparat angelegt ist. Andererseits erweist sich das Modell der »exakt steuerbaren Zeitmaschine« (Oeder 1993: 33) auf der filmischen Ebene jedoch auch als unberechenbar. Denn die Zeitmaschine teilt mit dem Film ein basales Merkmal, das Deleuze wie folgt beschreibt: »Der Film präsentiert nicht nur Bilder, er umgibt sie auch mit einer Welt.« (1991: 95) Ebenso präsentiert die Zeitmaschine in Primer nicht nur Doppelgänger, sondern schafft auch eine Umwelt, in der mehrere Weltenwürfe zugleich möglich werden. Die bildliche Isolierung einzelner Doppelgänger weist schon darauf hinaus, dass diese längst zu Einzelgängern geworden sind, die – nach anfänglichen Konflikten – jeweils eine individuelle Agenda verfolgen. Dabei ist nie ganz klar, welches Weltbild auf Basis welcher Wissens- und Erinnerungslage der Film gerade zeigt und erzeugt. Vielleicht liegt gerade in diesen filmisch-willkürlichen Zeitanordnungen und -schnitten jenes Ele-

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ment, das in der Eigengesetzlichkeit der Zeitmaschine seine Entsprechung findet.

Referenzen Balke, Friedrich (2011): »Gründungserzählungen«, in: Maye, Harun/ Scholz, Leander (Hg.): Einführung in die Kulturwissenschaft, München: Fink, S. 23–48. Bazin, André (2009): »Der Mythos vom totalen Film«, in: Ders.: Was ist Film?, Berlin: Alexander, S. 43–49. Deleuze, Gilles (1989): Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Ders. (1991): Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Dostojewski, Fjodor (2012): Der Doppelgänger [1846], Köln: Anaconda. Elsaesser, Thomas (2009): »Film als Möglichkeitsform: Vom ›post-mortem‹-Kino zu mindgame movies«, in: Ders.: Hollywood heute. Geschichte, Gender und Nation im postklassischen Kino, Berlin: Bertz + Fischer, S. 237–263. Engell, Lorenz (1992): Sinn und Industrie, Frankfurt a.M./New York: Campus. Johnston, Nessa (2012): »Beneath sci-fi sound: primer, science fiction sound design, and American independent cinema«, in: Alphaville: Journal of Film and Screen Media 3, http://www.alphavillejournal.com/Issue%203/HTML/ArticleJohnston.html, [18.02.2018]. Kittler, Friedrich (1986): Grammophon Film Typewriter, Berlin: Brinkmann & Bose. Manovich, Lev (2001): The Language of New Media, Massachusetts: MIT Press. Oeder, Werner (1993): »Die wirklich erste Zeitmaschine: Erkundigungen zu H.G. Wells’ The Time Machine«, in: Tholen, Georg Christoph/Scholl, Michael/Heller, Martin (Hg.): Zeitreise: Bilder, Maschinen, Strategien, Rätsel, Basel/Frankfurt a.M.: Stroemfeld/Roter Stern, S. 27–46. Saar, Martin (2009): »Genealogische Kritik«, in: Jaeggi, Rahel/Wesche, Tilo (Hg.): Was ist Kritik?, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 247–265. Stopka, Katja (1999): »Zukunftsmaschinen – Vergangenheitsmaschinen. Zur Entwirklichung von Zeithorizonten bei H.G. Wells

Primer (2004)

und Jean Baudrillard«, in: Porombka, Stephan/Scharnowski, Susanne (Hg.): Phänomene der Derealisierung, Wien: Passagen, S.117–138. Wells, H.G. (1922): The Time Machine [1895], New York: Henry Holt and Company; dt. (1900): Die Zeitmaschine, Minden: J.C.C. Bruns; dt. (2006): Die Zeitmaschine, München: dtv.

Michel Diester ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kunst/Medienästhetik an der Universität Paderborn. Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Ästhetik audiovisueller Medien.

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CACHÉ (2005) Joseph Vogl Als mehr als zwei Minuten nach Filmbeginn der karge Wortwechsel zwischen Mann und Frau aus dem Off hörbar wird (»›Und?‹ – ›Nichts‹«), hat sich die erste Einstellung des Films bereits als Verdichtung unterschiedlicher Bildebenen, Zeitschichten, visueller und akustischer Materien erwiesen, als emblematic shot, der die Intrigen der Filmerzählung wie die Verfahren ihrer Darstellung umschließt. Denn in der statischen Aufnahme der Fassade eines unscheinbaren Wohnhauses irgendwo in Paris, die als erratische Videobotschaft ins Innere des gezeigten Hauses und vor die Augen von Mann und Frau geraten ist, treffen nun die Blicke der Zuschauer mit denen von Anne und Georges und diese wiederum mit der Perspektive einer ominösen Überwachungskamera zusammen. Es ist ein und dasselbe Bildfeld, in dem sich die Sichtbarkeiten von Film, Überwachungskamera und Videobild amalgamieren. Zudem zieht das, was man hier sieht und hört, unterschiedliche Zeiten und Episoden der filmischen Narration in eine einzige Einstellung zusammen. Einerseits holt die Sequenz, die von den beunruhigten Hausbewohnern abgespielt, vorgespult und dann angehalten wird, die jüngste Vergangenheit des Films in seine Gegenwart herein; was offenbar vor Kurzem und von einer unbekannten Instanz aufgezeichnet wurde, wird hier und jetzt noch einmal gezeigt. Andererseits enthält die Tonspur einen Vorgriff auf die Zukunft des Geschehens, das dort aber, im künftigen Filmverlauf, auf die Vorgeschichte der Erzählung verweist. Das beiläufige Vogelgezwitscher, das an einem Sommernachmittag in der Pariser Vorortstraße aus dem Off erklang und nun das gutbürgerliche Wohnzimmer erfüllt, wiederholt das Gezwitscher von Spatzen, das – wiederum aus dem Off – Jahrzehnte zuvor anderswo, auf einem französischen Landsitz weitab von Paris eine einschneidende Szene begleitete (vgl. Ezra/Sillars 2007).

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Georges, so will es die Intrige, hatte damals als sechsjähriges Kind auf dem Gutshof seiner Eltern mit erlogenen Anschuldigungen einen gleichaltrigen algerischen Jungen denunziert. Dessen Eltern, Landarbeiter auf dem Hof, waren beim Massaker an algerischen Demonstranten am 17. Oktober 1961 in Paris ums Leben gekommen; die Denunziation verhinderte eine geplante Adoption des verwaisten Majid durch Georges’ Eltern, und unter lautem Geschrei wurde Majid dann vom Anwesen geholt und in ein Waisenhaus abtransportiert. Die vorletzte Einstellung des Films hat diese Szene wiederum aus der Distanz und mit statischer Kamera festgehalten: Nur das Vogelgezwitscher in der Stille danach blieb als akustische Spur erhalten und führt – als Analepse im Film, als Prolepse in der Geschichte – auf den Filmanfang und ins Heute zurück. Der Schauplatz von damals ist, noch unkenntlich, in die Familienidylle von jetzt eingekehrt. So wenig also Michael Hanekes Film einen Zweifel darüber bestehen lässt, was einst geschehen war und mit seinem verborgenen (frz. caché) Fortwirken den Fluchtpunkt der Erzählung setzt, so sehr musste man darüber rätseln, wie die Nachricht dieser verschütteten Vergangenheit in die Gegenwart und vor alle Augen und Ohren geraten konnte. Der Film selbst operiert daher mit einem zweiteiligen Programm, das sich zum einen auf Ereignisse, zum anderen aber auf Übertragungsereignisse bezieht. So ist der gesamte Film zunächst von Geschichtszeichen durchsetzt, die nicht nur historische Daten, sondern die Durchdringung privater Milieus mit dem signalement politischer Lagen dokumentieren. Fernsehnachrichten, Buchtitel, Straßennamen oder Filmplakate legen lesbare Spuren aus, in denen persönliche Geschicke mit der Geschichte von Krieg und Gewalt – Zweitem Weltkrieg, Algerienkrieg, Irakkrieg, Abu Ghraib oder Palästina-Konflikt – verflochten sind. Ein besonderer Akzent wird dabei auf Momente des Verschweigens, Fälschens oder Verleugnens gesetzt. In der Literatursendung, die Georges für das Fernsehen moderiert, taucht für einen kurzen Cameo-Effekt die lange verschwiegene uneheliche Tochter François Mitterands auf (vgl. Müller 2014: 182); und Georges selbst schneidet aus einer aufgezeichneten Gesprächssendung eine Szene heraus, in der von der postumen Zensur von Rimbauds Dichtungen durch dessen Schwester die Rede war. In diesem Sinn tritt die Abfolge wesentlicher Erzählereignisse nur gegen den Widerstand ihrer – historischen oder fiktiven – Protagonisten hervor. Die Serie beginnt mit dem vom ehemaligen Vichy-Funktionär Maurice Papon verordneten

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Massaker von 1961 (Berichte darüber wurden verboten, die Zahl der Ermordeten, die in die Hunderte ging, ist bis heute unbekannt) und führt mit der Ermordung von Majids Eltern, mit dessen Denunziation und Verbannung an die Filmgegenwart heran, die von der Entdeckung seltsamer Videobotschaften über die Wiederbegegnung zwischen Georges und Majid bis zu dessen Selbstmord reicht – eine Reihe, die von Bemerkungen begleitet wird wie: »keine Ahnung«, »Ich weiß nicht mehr«, »Ich habe nichts zu verbergen«, »Ich bin nicht verantwortlich«. Was geschehen war, kommt nur allmählich aus der Latenz. Es erscheint darum konsequent, dass der Film und seine Protagonisten von solchen Taten und Ereignissen ablenken und die Nachfragen vor allem an Übertragungsereignisse, an die Herkunft von Botschaften richten. Neben Kinderzeichnungen, Postkarten und Telefonaten sind das jene fünf Videos, die von unbekannten Absendern offenbar an Georges gerichtet sind: die Aufzeichnung des Pariser Wohnhauses; ein Video mit derselben Einstellung bei Nacht; ein Video mit dem Bruchstück einer Autofahrt, die vor Georges’ Elternhaus in der Provinz endet; ein Video mit einer Kamerafahrt, die in einen düsteren Hausflur mündet; schließlich ein Video von der Auseinandersetzung zwischen Georges und Majid, in dem dieser von jenem der Autorschaft solcher bedrohlichen Sendungen beschuldigt wird und dann schluchzend zusammenbricht. Einerseits werden damit angestrengte Recherchen im Raum ausgelöst. Andererseits führen sie zwar zur Entdeckung Majids und seiner Sozialwohnung, verfehlen aber jede Adresse, die auf eine Urheberschaft der erratischen Botschaften schließen ließe. Die Fragen ›Wer‹, ›Wo‹ und ›Woher‹ waren offenbar falsch gestellt, bleiben bis zum Schluss unbeantwortet und leiten den gesamten Verfolgungsapparat nur in die Lücke eines fehlenden Orts bzw. Grunds. Diese Grundlosigkeit ist allerdings logisch, erzähllogisch und filmisch begründet. Denn der Status der Videos erweist sich auf eigentümliche Weise ortlos oder de-platziert und manifestiert sich mit seiner Eigenart bereits in der Eingangssequenz. Was auf dem Bildfeld sichtbar wird, spielt sich ja gleichermaßen auf dem häuslichen Bildschirm, vor der unbekannten Überwachungskamera sowie vor dem Objektiv der Filmkamera ab; die Instanz des Sehens operiert damit intra- und extradiegetisch zugleich, sie zeigt diese Differenz, um sie sogleich zu löschen. Ein derartiges Verfahren – das narratologisch einem discours indirect libre, rhetorisch einer Metalepse

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entspricht – wird durch die Bildtechnologie unterstützt. Während im Vorspulen und Anhalten des Videos aus der Eingangssequenz eine Unterscheidung zwischen Filmaufnahme und Videobild in ein und derselben Einstellung vorgezeigt wird, hebt die identische HD-Qualität von Video- und Filmmaterial diese Differenz in aller Sichtbarkeit auf, als Unterscheidung, die keinen Unterschied macht (vgl. Speck 2010: 39, 94). Damit ist die Position der unsichtbaren Überwachungsinstanz klar definiert: Sie operiert intra- und extradiegetisch zugleich, schließt Filmbilder mit Bildern im Film kurz, steht innerhalb wie außerhalb der erzählten Welt und somit an keinem adressierbaren Ort. Die Kadrierung der Videobilder erzeugt eine Ambiguität zwischen relativem und absolutem Außen – in André Bazins Worten: zwischen cache und cadre – und somit einen Blick, der im raumzeitlichen Kontinuum nicht lokalisierbar ist und – eigentlich inexistent – mit einer beunruhigenden Präsenz insistiert (vgl. Deleuze 1989: 32–34). Diese Lage wird durch einen weiteren Sachverhalt verschärft. Denn was für die Eingangssequenz gilt – dass sie verschiedene Zeitschichten vereint –, bestimmt die Struktur der Videobotschaften überhaupt. In ihnen wiederholt sich, was geschieht oder geschehen war, gelegentlich nehmen sie künftiges Geschehen vorweg: wie die Kamerafahrt durch den düsteren Flur, der einmal auf Video, ein zweites Mal aus der Perspektive Georges’ im Film selbst erscheint. Die Videos wiederholen Gegenwarten, Vergangenheiten und Zukünfte zugleich, und in ihrer reinsten Form sind sie schlicht Filmsequenzen, die identische Filmsequenzen reproduzieren. Daraus ergibt sich der doppelte Grund dafür, warum die Senderadresse der Videobotschaften nicht auffindbar ist. Sie liegt auf dem unausgedehnten geometrischen Ort, der die Erzählung vom Erzählten trennt; und sie hat sich nicht im Raum, sondern in der Zeit lokalisiert. So sehr also die Frage nach der Herkunft der Videos deren Adresse verfehlt, so sehr sammelt der Film selbst die Kräfte der Zeit, die sich in Zeitsignalen, in Sendungen aus der Tiefe der Geschichte manifestieren. Was sich im Vogelgezwitscher ankündigt, verwirklicht sich in der Koaleszenz der Zeitschichten: mit den Bildern einer kontinuierlich vergehenden Gegenwart, in denen eine fortdauernde Vergangenheit insistiert (vgl. Deleuze 1991: 95–131). Hanekes Caché ist somit ein Beispiel dafür, dass Dinge, Wesen und Ereignisse im Kino eben nicht nur einen Platz im erzählten Raum, sondern vor allem in der Zeit besetzen.

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Schließlich wiederholt sich diese Doppelstruktur der Videotapes in einer intriganten Spaltung des Sehfeldes. Gerade weil sich die Videobilder – gleichsam intentionslos – jeder Mitteilung (etwa eines Vorwurfs, einer Klage) enthalten, wird in ihnen nicht etwas, sondern das Sehen selbst mitgeteilt; Sehen und gesehenes Sehen werden im selben Bildfeld gesehen: etwa in dem Augenblick, in dem Georges in der Eingangssequenz das zugestellte Überwachungsvideo an der Stelle anhält, wo er aus dem Haus und der unerkannten Videokamera gegenübertritt, sich selbst also gesehen sieht. Diese Spaltung kennzeichnet eine Blicklogik der Beschämung (vgl. Rowe 2017: 163– 193), in der sich – am Beispiel der Hauptfigur Georges – die Kräfte von Exponiertsein und (Selbst-)Verbergung wechselseitig steigern, den immanenten Reflexionszwang der Bilder auslösen und Georges zur erzwungenen Adresse einer Heimsuchung transformieren. Im Fortgang der Filmerzählung geschieht dies durch subjektive Erinnerungs- oder Traumbilder: ein nächtliches Bild des jungen Majid; ein junger Majid, der Blut erbricht; dann derselbe Majid, der einen Hahn geköpft hat und blutverschmiert und mit einer Axt in der Hand auf den Zuschauer eindringt. Man konnte in solchen Bildern die blutgetränkten kolonialen Imagines identifizieren, die während des Algerienkriegs in Frankreich kursierten (vgl. Silverman 2007); und tatsächlich konzentrieren sich in ihnen jene Lügen, mit denen Georges einst den jungen Majid als Bedrohung denunzierte. Gerade damit aber hat sich die komplexe narrative und temporale Ordnung des Films in ein ethisches Register übersetzt. In der Heimsuchung durch die Bilder der erlogenen Bedrohung wird noch einmal die Verursachung der Tat mit der Verursachung ihrer Botschaft vertauscht. Dies verweist allerdings weniger auf eine geleugnete Schuld als auf die Zeitstruktur eines besonderen Affekts, der den Namen des Ressentiments verdient. Denn so wenig das damalige Kind Georges schuldig gesprochen werden kann und seine Denunziation zudem nur koloniale Klischees kolportiert, so sehr folgte sein kindlicher Verbannungsreflex – stellvertretend fürs Kollektiv – jenem reaktiven »Nein zu einem ›Außerhalb‹, zu einem ›Anders‹, zu einem ›NichtSelbst‹«, das für Nietzsche die »schöpferische Tat« des Ressentiments verkörpert. Sie charakterisiert einen Typ mit einer Neigung zu Fälschungen, der »weder aufrichtig noch naiv, noch mit sich selber ehrlich und geradezu« ist (Nietzsche 1999: 270–272). Gerade mit der aktuellen Verfolgung Majids, der Absender der Videos sein soll, wird die einstige Verneinung des Anderen wiederholt und eine zeitli-

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che Kontraktion hergestellt, mit der das damalige Opfer schuldig dafür befunden wird, heute Urheber des schlechten Gewissens zu sein (Georges: »Ich weigere mich, ein schlechtes Gewissen zu haben«). Darum schließt sich im Selbstmord, den Majid vor Georges’ Augen begeht, der Kreis in der Logik des Ressentiments: Im blutigen Akt ziehen sich – metonymisch – verschwiegene Lügen wie zensiertes Massaker zusammen; und mit seinem Selbstmord, gefilmt wiederum aus dem Blickwinkel der unentdeckten Videokamera, wird Majid endlich als filmische Botschaft seiner Auslöschung geschickt.

Referenzen Deleuze, Gilles (1989): Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Ders. (1991): Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Ezra, Elizabeth/Sillars, Jane (2007): »Hidden in plain sight: bringing terror home«, in: Screen 48 (2), S. 215–221. Müller, Katharina (2014): Haneke. Keine Biographie, Bielefeld: transcript. Nietzsche, Friedrich (1999): »Zur Genealogie der Moral«, in: Ders: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München: Deutscher Taschenbuchverlag, Bd. 5, S. 245–412. Rowe, Christopher (2017): Michael Haneke. The Intermedial Void, Evanston, IL: Northwestern University Press. Silverman, Walter (2007): »The Empire looks back«, in: Screen 48 (2), S. 245–249. Speck, Oliver C. (2010): Funny Frames. The Filmic Concepts of Michael Haneke, London/New York: Continuum.

Joseph Vogl ist Professor für Neuere deutsche Literatur und Kulturwissenschaft/Medien am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin und Permanent Visiting Professor am German Department der Princeton University.

THE BOSS OF IT ALL (2006) Leander Scholz Der Film beginnt mit einer juridischen Szene. Ein Firmeninhaber schließt mit einem Schauspieler einen Vertrag ab. Ravn ist Eigentümer einer kleinen dänischen Softwarefirma. Den Angestellten gegenüber hat er sich jedoch von Anfang an als Prokurist ausgegeben. Der wahre Chef soll in Amerika leben. So konnte Ravn die Geschicke der Firma lenken, ohne dafür die Verantwortung übernehmen zu müssen. Nun soll die Firma verkauft werden. Aber der finnische Investor will den Vertrag nur mit dem tatsächlichen Eigentümer abschließen. Aus diesem Grund engagiert Ravn einen Schauspieler. Er soll den wahren Chef geben und das Schauspiel, das Ravn vor langer Zeit begonnen hat, zu Ende bringen. Kristoffer ist arbeitslos und ein Anhänger des Theaters der Avantgarde. Er wirkt von Beginn an wie ein Trottel, der zwischen der Welt des Schauspiels und der Realität nicht zu unterscheiden vermag. Der ausgehandelte Vertrag scheint ihm wenig zu bedeuten. Ravn dagegen ist ein Meister der Verträge. Für Kristoffer gilt nur das Gesetz des Theaters. Der Film The Boss of It All inszeniert einen Wettstreit zwischen der Rhetorik der dissimulatio und dem Imperativ zur Authentizität, der spätestens seit dem frühen 18. Jahrhundert die europäischen Debatten zum politischen Stellenwert der Rhetorik begleitet (Geitner 1992: 149–208). Der Vertrag, mit dem der Film beginnt, soll die authentische Treue zu den Figuren, der sich Kristoffer verpflichtet fühlt, in den Dienst einer Verstellungskunst stellen, wie sie Ravn über Jahre erfolgreich betrieben hat. Aus dieser Sicht ist das Authentische nichts anderes als eine weitere Sprache der Verstellung, deren Ziel in der Manipulation des Gegenübers besteht, zum Guten oder zum Bösen. Als Prokurist und heimlicher Chef hat sich Ravn so verhalten, wie es zeitgenössische Managementtheorien nahelegen. Um die Gefühle der weiblichen und männlichen Angestell-

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ten einzubeziehen, hat er ihnen den kollegialen Freund in einer flat organization vorgespielt (Hardt/Negri 2002: 37–55). Er hat sie motiviert, gelobt und getröstet. Aber vor allem hat er sie in dem Glauben gelassen, sie würden Anteile an den Lizenzen der Softwareprodukte besitzen. Anstatt sich bloß als Angestellte zu betrachten, sollten sie sich wie Partner fühlen, die sich aufeinander verlassen können. Wenn es Entscheidungen zu fällen galt, die ihn in Misskredit gebracht hätten, hat sie Ravn an den wahren Chef delegiert, der seine Befehle aus Amerika an ihn übermittelt hat. Auf diese Weise konnte Ravn eine Nähe zur Belegschaft auf bauen und sie zugleich optimal auspressen. Der Wettstreit zwischen Ravn und Kristoffer beginnt, nachdem die erste Verhandlung mit dem finnischen Investor gescheitert ist, da dieser den Strohmann als solchen erkennt. Kristoffer hat sich nicht nur ungeschickt angestellt, sondern darüber hinaus auch noch den Fehler begangen, sich den Angestellten zu zeigen. Ob er das absichtlich getan hat oder es aus Fahrlässigkeit geschehen ist, bleibt offen. Jedenfalls zwingt er Ravn damit, den Umfang des Vertrags zu erweitern und seiner Rolle eine größere Bedeutung zuzumessen. Kristoffer soll eine ganze Woche in der Firma verbringen und nicht nur an den Treffen mit den Angestellten teilnehmen, sondern sich allen einzeln so zuwenden, wie Ravn das in den vergangenen Jahren mit der Figur des erfundenen Chefs getan hat. Denn bei der Autorität, die der wahre Chef darstellt, handelt es sich um eine Macht, die sich dem Individuum zuwendet und seine Individualität bestätigt (Foucault 2004: 173–238). Für alle Angestellten hat Ravn einen individuellen Chef erfunden, der mit besonderen Anweisungen auf die jeweilige Lage eingeht. So konnte Ravn nicht nur über eine Figur verfügen, die ihm die Verantwortung abnimmt, sondern gezielt auf die Stimmungen der Angestellten einwirken. Aus diesem Grund bedeutet der erweiterte Auftrag für Kristoffer nun, eine komplexe Figur zu verkörpern, in der sich das gesamte soziale Gefüge der Firma widerspiegelt. Der weitere Verlauf des Wettstreits, den Lars von Trier in The Boss of It All inszeniert, stellt auch einen Kommentar zu seinem eigenen Werk dar. Denn spätestens seit seinem Manifest Dogme 95 hat sich der Regisseur deutlich in die Tradition der europäischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts gestellt (vgl. Schepelern 2001). Der Imperativ zur Authentizität kommt dabei nicht nur in den Forderungen zum Ausdruck, ausschließlich Handkameras zu verwen-

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den und nur an Originalschauplätzen zu drehen. Auch inhaltlich stehen im Zentrum der Dogma-Filme solche Konflikte, bei denen die Frage aufgeworfen wird, was authentisches Handeln bedeutet. Dass jedoch keine noch so radikale Ästhetik davor geschützt ist, Teil einer Verstellungskunst zu sein, macht bereits der erste Auftritt von Kristoffer deutlich, der sich mit seinem Selbstverständnis als Schauspieler auf einen fiktiven Theoretiker des absurden Theaters beruft und zugleich als eine typische Figur aus dem Arsenal der Filmwerke von Lars von Trier zu erkennen ist. Dessen Verhalten wirkt wie eine Persiflage des Ethos, das den Film Idioten auszeichnet und trägt. Die experimentelle Radikalität, mit der in diesem Film die Suche nach einem authentischen Verhalten betrieben wird, erscheint bei Kristoffer zu einer lächerlichen Position verkommen zu sein. Denn längst ist der Imperativ zur Authentizität im Zentrum der Machtspiele angekommen, wie sie von Ravn verkörpert werden. Nicht nur bei produktiven Tätigkeiten in einer Arbeitswelt der lean production (vgl. Rifkin 2004: 80–106), die sich durch Kreativität auszeichnen, gehört die Vorgabe, authentisch zu sein, inzwischen zum Standard. Das gesamte Lebensspektrum steht heute in der Pflicht, alle vernehmenswerten Lebensäußerungen unter den Titel ureigener Authentizität zu stellen. Die Frage nach dem wahren Chef, den bereits der Filmtitel ankündigt, verweist daher nicht bloß auf die Durchdringung von fiktiver und realer Macht, die jede Form der Autorität kennzeichnet, sondern auf die spezifischen Bedingungen, unter denen die Position der Macht sich in die Gestalt ihres Verschwindens kleidet. In den klassischen Führungslehren hat sich der Chef durch eine unbeirrbare Führungsstärke auszuweisen. Gerade die allgemeine Sichtbarkeit seiner Entscheidungen legitimiert dessen Herrschaft in der Hierarchie. Die postmodernen Führungslehren müssen dagegen mit dem Paradox umgehen, dass die Hemmnisse der Hierarchie abgebaut werden sollen und dennoch die Funktion des Chefs erhalten bleiben muss (vgl. Baecker 1994: 25–40). An die Stelle direkter Befehle von oben tritt ein Regime indirekter Führung durch Führungen, das dem authentischen Selbstgefühl möglichst viel Raum lässt. Mit seiner Doppelrolle als Chef und Prokurist hat Ravn dieses postmoderne Paradox effizient ausagiert. Dagegen wirkt die gesamte Belegschaft wie Figuren aus dem überkommenen Filmfundus der Idioten, als wäre es tatsächlich an der Zeit, sich ihrer zu entledigen. Nur Ravn ist nicht aus der Zeit gefallen.

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Auf den ersten Blick scheint sich Kristoffer allein für seine Rolle zu interessieren. Selbst als er erfährt, dass alle Angestellten entlassen werden sollen, wenn es zum Verkauf der Firma kommt, führt das nicht zu einer Infragestellung seines Auftrags. Er bleibt stur seiner Rolle verpflichtet. Aber gerade dadurch, dass er idiotisch an seinem Vorbild kleben bleibt, gewinnt seine Rolle immer mehr an eigener Dynamik und an eigener Macht (vgl. Muhle 2017). Je bedeutender seine Rolle wird, desto mehr gerät Ravn in Bedrängnis, der zunehmend vom Double seiner eigenen Erfindung abhängig wird. Mehrfach muss er sich mit Kristoffer auf neutralem Grund außerhalb der Firma treffen, um ihm die eigentliche Absicht ihres Vertrags wieder in Erinnerung zu rufen. Der Wettstreit zwischen Ravn und Kristoffer erscheint nun als ein Wettstreit zwischen der Eitelkeit des Firmeninhabers und der Eitelkeit des Schauspielers. Während sich die Eitelkeit von Ravn darin zeigt, dass er selbst dann noch von der Belegschaft gemocht werden will, wenn er im Begriff ist, sie zu verraten, besteht die Eitelkeit von Kristoffer in dem Verlangen, auch von einem Publikum bestätigt zu werden, das in ihm einen betrügerischen Schauspieler sehen muss. Die letzte Szene ist wie ein Theaterstück aufgebaut und gibt viele Hinweise darauf, dass The Boss of It All auch als eine Reflexion auf das Filmemachen selbst zu verstehen ist (vgl. Engell 2013). Die Angestellten wissen nun, dass ihre Firma verkauft werden soll. Dem Akt der Unterzeichnung des Kaufvertrags können sie nur noch tatenlos zusehen. Bevor es jedoch so weit ist, kommt es zu einer beeindruckenden Demonstration der Macht der Rhetorik. Kristoffer hält eine aufwühlende Rede über die Firmengeschichte, die Ravn derart berührt, dass er ihn bittet, den Vertrag nicht zu unterzeichnen und die Vollmacht zurückzugeben. Kristoffer ist als Sieger aus dem Wettstreit hervorgegangen. Ravn bereut seine Pläne, die Angestellten verzeihen ihm und nehmen ihn wieder in ihre Gemeinschaft auf. Beide werden vom Publikum geliebt. Doch bevor Kristoffer seine Macht wieder abgibt, will er seinen Erfolg noch einmal auskosten. Unter dem Hinweis, er brauche Zeit, um fühlen zu können, was seine Figur wirklich wolle, zögert er den Abbruch der Verhandlung hinaus. In diesem Augenblick steht der finnische Investor wütend auf und bezeichnet die Situation als absurdes Theater. Dabei nennt er den fiktiven Theoretiker, auf den sich Kristoffer beruft und den außer den beiden niemand zu kennen scheint. Kristoffer fühlt sich endlich verstanden und unterschreibt den Vertrag. Die Angestellten verlas-

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sen den Raum, das Publikum tritt ab. Das Ende von The Boss of It All ist das Gegenteil des Endes von Idioten, in dem der Imperativ zur Authentizität zu einem ethisch Realen geführt hat. Als wahrer Chef enthüllt sich zuletzt der Regisseur des Films selbst. Wie der Fürst in der höfischen Welt des 17. Jahrhunderts bleibt er trotz aller ästhetischen Anstrengungen, den Raum der Verstellungskunst zu verlassen, allein mit sich selbst und wird zum Teil der filmischen Komödie, die er inszeniert hat.

Referenzen Baecker, Dirk (1994): Postheroisches Management: ein Vademecum, Berlin: Merve. Engell, Lorenz (2013): »The Boss of It All. Beobachtungen zur Anthropologie der Filmkomödie«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 4/1, S. 101–117. Foucault, Michel (2004): Geschichte der Gouvernementalität I : Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Geitner, Ursula (1992): Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen: Niemeyer. Hardt, Michael/Negri, Antonio (2002): Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a.M./New York: Campus. Idioten (Dänemark, 1998, Lars von Trier). Muhle, Maria (2017): »Praktiken des Inkarnierens. Nachstellen, Verkörpern, Einverleiben«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung 8/1, S. 123–137. Rifkin, Jeremy (2004): Das Ende der Arbeit und ihre Zukunft. Neue Konzepte für das 21. Jahrhundert, Frankfurt a.M./New York: Campus. Schepelern, Peter (2001): »Film und Dogma: Spielregeln, Hindernisse und Befreiungen«, in: Hallberg, Jana/Wewerka, Alexander (Hg.):  Dogma 95. Zwischen Kontrolle und Chaos, Berlin: Alexander.

Leander Scholz, Dr. phil. habil, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie (IKKM) der Bauhaus-Universität Weimar. Arbeitsschwerpunkte: Kultur- und Medienphilosophie, Philosophische Ästhetik, Politische Philosophie.

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THE BOURNE ULTIMATUM (2007) Frank Kessler

London, Waterloo Station. Jason Bourne will einen britischen Journalisten treffen, der Informationen über das geheime Regierungsprogramm »Blackbriar« hat, in dem Bourne zu einem Auftragskiller ausgebildet und seine frühere Identität »gelöscht« wurde. Der Journalist, Simon Ross, wird vom amerikanischen Geheimdienst überwacht, weil er in einem Telefongespräch das Wort »Blackbriar« verwendet hat. Allein die Nennung des Programms löste im Telefonüberwachungssystem der Amerikaner einen Alarm aus. Geheimdienstagenten verfolgen Ross zur Waterloo Station, wohin überdies auch ein Killer beordert wird. Bourne ersteht im Bahnhof ein Prepaid-Mobiltelefon und steckt es Ross unbemerkt in dessen Jackentasche, als er entdeckt, dass dieser beschattet wird. Damit kann er mit ihm kommunizieren, ohne dass die CIA mithören kann. So gelingt es Bourne, unbemerkt mit Ross zu reden, seine Verfolger auf eine falsche Spur zu lenken und den Journalisten trotz der überall installierten Überwachungskameras ungesehen durch die Waterloo Station zu lotsen. Doch dann gerät Ross in Panik und bricht aus der ihm von Bourne vorgegebenen Bewegungslinie aus, wodurch er von den Kameras erfasst wird. Ein Agententeam soll ihn ergreifen und entführen. Zwar gelingt es Bourne, ihn noch einmal zu retten und die Verfolger auszuschalten, doch dabei wird er von einer Überwachungskamera erfasst, und die CIA weiß nun, dass Bourne versucht, über Ross an Informationen über das Geheimprogramm zu kommen. Da die CIA befürchtet, Bourne werde diese Informationen öffentlich machen, befiehlt der Verantwortliche für die Operation, Bourne und Ross »auszuschalten«, also zu töten. Bourne versucht nun, mit Ross einen Weg ins Freie zu finden, doch begeht Ross erneut den Fehler, nicht auf seinen Beschützer zu hören und wird von

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dem Auftragskiller der CIA erschossen. Bourne selbst taucht in der Menschenmenge unter und versucht seinerseits, den Killer zu verfolgen, der ihm jedoch in der U-Bahn entkommt. Diese fulminante Szene, die alles in allem nur ein Dutzend Minuten allerdings hochkonzentrierter Action umfasst, wird strukturiert von der telefonischen Kommunikation zwischen Bourne und Ross einerseits, und dem Überwachungsdispositiv, dessen die CIA sich bedient, andererseits. Nur weil Bourne durch das Prepaid-Telefon die Abhöraktionen des Geheimdienstes technisch zu unterlaufen imstande ist, kann er, für eine gewisse Zeit zumindest und so lange Ross sich von ihm leiten lässt, den übermächtigen Apparat neutralisieren. Das Mobiltelefon wird somit zum zentralen Element, weil es Bourne erlaubt, Ross durch die videoüberwachte Bahnhofshalle zu lotsen und zu beschützen, ohne sich in seiner unmittelbaren Nähe zu befinden. Gleichzeitig ermöglicht es ihm, die CIA in die Irre zu führen und trotz der allgegenwärtigen Kameras unsichtbar zu bleiben. Das Mobiltelefon fungiert hier geradezu exemplarisch als ein kinematographisches Motiv: Gemäß der Definition dieses Begriffs bei André Wendler und Lorenz Engell (2009) veranlasst es Bewegung. Die Affordanzen des technischen Apparats werden zum Drehund Angelpunkt nicht nur der Narration, sondern auch der Mise en Scène. Ross bewegt sich wie an einem unsichtbaren Faden durch die Menschenmenge in der Waterloo Station. Erst als er diesen Faden in seiner Panik abreißen lässt und versucht, selbst das Gesetz der Bewegung zu bestimmen, verliert er die ihm von Bourne vermittels der mobiltelefonischen Kommunikation möglich gemachte Unsichtbarkeit für den geheimdienstlichen Überwachungsapparat, und als er das zum zweiten Mal tut, auch sein Leben. Wendler und Engell unterstreichen genau diese besondere Position eines Gegenstands, wenn er zu einem kinematografischen Motiv wird: er ist Ding und gleichzeitig Akteur innerhalb eines raum-zeitlichen Zusammenhangs: Kinematografische Motive, und das ist das entscheidende Spannungsverhältnis, in dem sie zu begreifen sind, sind einerseits unhintergehbar dinghaft, begegnungsfähige, im Film (möglicherweise auch indirekt: aus dem Off ) sichtund hörbare Objekte. Andererseits sind sie genau so fundamental an Zeit und Bewegung gebunden, an die geschichtliche Bewegung ebenso wie an diejenige des bewegten Bildes oder der handelnden Figuren. (Wendler/Engell 2009: 45)

The Bourne Ultimatum (2007)

Dieser geschichtlichen Bewegung sind jedoch auch die Dinge selbst unterworfen, ihre Historizität und ihre damit einhergehende Stellung in der Lebenswelt hat Konsequenzen für die Art und Weise, wie sie als kinematografische Motive funktionieren, genauer: funktionieren können. Das Telefon als kinematografisches Motiv zieht sich durch die gesamte Filmgeschichte (vgl. Forschungsgruppe Telefonkommunikation 1991). Schon in der Frühzeit finden sich zahlreiche Filme, in denen das Telefon nicht nur eine zentrale dramaturgische Funktion erfüllt, sondern auch bei der Artikulation spezifischer filmsprachlicher Verfahren eine Rolle spielt, wie z. B. denen der alternierenden Montage oder der Split-Screen (vgl. Olsson 2004). Diese Verfahren müssen zum Ausdruck bringen, dass die telefonische Kommunikation bis zum Durchbruch der mobilen Telefonie in den 1990er Jahren vor allem durch die Tatsache bestimmt wird, dass die Gesprächsteilnehmer physisch voneinander getrennt sind, aber über die Telefonverbindung sich dennoch gleichzeitig in einem Kommunikationsraum befinden. Es gibt somit ein akustisches Band zwischen beiden, das wiederum eine Reihe von dramaturgischen Möglichkeiten eröffnet. So wird in dem Grand Guignol-Stück Au téléphone (1901), das 1906 unter dem Titel Terrible angoisse von Pathé frères verfilmt wurde, ein Mann am Telefon zum ohnmächtigen Zeugen der Ermordung seiner Familie. Der Telefonapparat hat, bis zur Einführung der schnurlosen Geräte, seinen festen Platz in der Wohnung. Nur deshalb kann in Alfred Hitchcocks Dial M for Murder (1954) der Ehemann den Mord so genau planen, denn er weiß, wo sich seine Frau befinden wird, wenn sie seinen Anruf beantwortet. Im Zeitalter des schnurlosen Telefons wäre das nicht möglich gewesen. Wenn das Telefon früher Bewegung veranlasste, dann war das eine Bewegung hin zum Standplatz des Apparats, an dem der Telefonierende dann allenfalls über einen geringen Bewegungsradius verfügte. In der Telefonzelle ist man regelrecht eingeschlossen, eine Situation, die der Film Phone Booth in aller Ausführlichkeit ausspielt. Das Mobiltelefon hebt diese Grundkonstellation gänzlich auf. Man kann heute, wenn man will, in einem Boot nebeneinander sitzend miteinander telefonieren. Bis vor 25 Jahren wäre es bei einem Anruf völlig unbegreiflich gewesen, hätte man den Gesprächspartner gefragt: »Wo bist Du?« (außer, wenn man durch die Hintergrundgeräusche zu dem Schluss kam, dass der Anrufer nicht von zu Hause aus telefonierte, aber dann fragte man eher »Von wo rufst Du an?«).

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Frank Kessler

In der Waterloo Station-Sequenz in The Bourne Ultimatum dominiert die Bewegung: die Bewegung der Figuren, der Kamera, des Schnitts. In Bewegung bleiben, heißt für Ross, unsichtbar bleiben, also überleben, die falsche Bewegung bedeutet, der CIA in die Hände zu fallen, ja den Tod. Immer wieder fragt CIA Deputy Director Noah Vosen, der die Operation in London leitet, seine Mitarbeiter an den Computern »Where is he?«. Der Einzige, der die Gesamtsituation im Blick und dadurch unter Kontrolle hat, ist Bourne. Blitzartig erfasst er die Bewegungen der Agenten und der Überwachungskameras, antizipiert deren Aktionen und kann dadurch Ross beschützen. Bournes Bewegungsfreiheit beruht einerseits darauf, dass die CIA anfangs nicht weiß, dass er es ist, der Ross treffen will, andererseits auf der technischen Möglichkeit, mit Ross zu kommunizieren, ohne sich direkt bei ihm zu befinden. Umso bemerkenswerter ist es, dass er Ross die entscheidenden Fragen zu »Blackbriar« immer dann stellt, wenn er tatsächlich für einen kurzen Moment face-toface mit ihm sprechen kann. Das Mobiltelefon dient in The Bourne Ultimatum dazu, Bewegung zu veranlassen, sie zu dirigieren und in Gang zu halten so lange es geht, in der Hoffnung den Weg ins Freie zu finden und der Überwachung zu entgehen. Es ist, im Wortsinne, ein Instrument, genauer: ein Medium, der Mobilität. Es schafft, bietet und kommuniziert Bewegungsmöglichkeiten. Das macht es zu einem eminent kinematografischen Motiv, selbst wenn es sich bei einem Mobiltelefon um ein Ding handelt, dessen Sichtbarkeit sehr eingeschränkt ist (man sieht vor allem die Gebärde Ross’, der sich das Gerät ans Ohr hält; Bourne benutzt eine Freisprechanalage und ist so auf den ersten Blick nicht einmal als Telefonierender zu erkennen) und dessen Hörbarkeit auf der expliziten Entscheidung des Filmemachers beruht, die telefonische Kommunikation im Tonraum einer Szene wie dieser zu privilegieren. Die Waterloo Station-Sequenz in The Bourne Ultimatum ist geradezu ein Schulbeispiel dafür, welche Handlungsräume das Mobiltelefon eröffnen kann: für die Figuren, aber auch für die Filmschaffenden selbst.

Referenzen Dial M for Murder (USA, 1954, Alfred Hitchcock). Forschungsgruppe Telefonkommunikation (Hg.) (1991): Telefon und Kultur. Das Telefon im Spielfilm, Berlin: Spiess.

The Bourne Ultimatum (2007)

Olsson, Jan (2004): »Framing Silent Calls: Coming to Cinematographic Terms with Telephony«, in: Fullerton, John/Olsson, Jan (Hg.): Allegories of Communication: Intermedial Concerns from Cinema to the Digital, Rom: John Libbey Publishing, S. 157–192. Phone Booth (USA, 2003, Joel Schumacher). Terrible angoisse (F, 1906, Lucien Nonguet). Wendler, André/Engell, Lorenz (2009): »Medienwissenschaft der Motive«, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 1, 2009, S. 38– 49.

Frank Kessler, Prof. Dr., ist Professor für Mediengeschichte an der Universität Utrecht. Arbeitsschwerpunkte: Frühe Filmgeschichte, Geschichte der Filmtheorie.

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WALTZ WITH BASHIR (2008) Ute Holl Nekiya, die Hadesreise, steht am Anfang aller Geschichtsschreibung. »Wie Orpheus muß der Historiker in die Unterwelt hinabsteigen, um die Toten ins Leben zurückzubringen.« (Kracauer 1971: 97) Waltz with Bashir (ISR/F/D 2008) realisiert das auf schonungslose Weise. Sein Sujet ist die Begegnung von Lebenden und Toten in einem fiktiven Raum, der Gedächtnis heißt. Dieser Raum wird für das 20. Jh. mit filmischen Mitteln und im Kino erzeugt. Das Kino setzt ein Denken der Dinge selbst gegen die Abstraktion geschichtlicher Begriffe, schreibt Siegfried Kracauer und eröffnet so, mit Gabriel Marcel, einen Zugang zur »Erde, die unsere Wohnstätte ist«. Daher können filmische Formen, »die vergänglichen Phänomene der äußeren Welt einverleiben und sie derart der Vergessenheit entreißen« (Kracauer 1971: 219). Als Animationsfilm gibt Waltz with Bashir den Bildern eine bestimmte Formalisierung zurück. Wenn er verschiedene Formen der Erinnerung ohne Rücksicht auf Authentifizierung gegeneinander ins Feld führt, lässt er den Kinoraum des Gedächtnisses selbst zum Schlachtfeld der Geschichte werden. Unerschrocken führt er seine Zuschauer in den Hades. Aber er führt nicht wieder heraus. Waltz with Bashir ist ein Film über Aufklärung und deren Dialektik zwischen Militärischem und Psychologie. Ein Bild von Leuchtkugeln am Himmel in der Nacht über Beirut kehrt darin wieder und orientiert jene Suche des Regisseurs Ari Folman nach Erinnerungen israelischer Soldaten aus dem Libanon-Krieg 1982, seinen eigenen und denen seiner Freunde. Offenbar waren sie alle da, als die Massaker in den Flüchtlingslagern Sabra und Schatila stattfanden. Aber sie erinnern sich nicht. Das orangegelbe Licht dieser Illumination, sagt David Polonsky, Art Director des Films, stand am Anfang des Konzepts als Klangfarbe der gesamten Arbeit. Das Licht

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taucht auf in Momenten der Überlagerung von Traumwelten und Realitätseffekten. Es liegt über den Wellen des Meeres, auf dem die Soldaten wie Amphibien treiben, bevor sie, dürre Körper fröstelnder Teenager, nackt an Land gehen, die Waffen in der Hand; das orangenfarbene Licht glänzt in den Augen der 26 Hunde, die einen der Zeugen in Alpträumen jagen, weil er genau 26 Tiere in Palästinenserdörfern vor Razzien erschossen hat; es kehrt wieder in den Bildern einer Straßenkreuzung in West-Beirut, auf der Folman seinen Freund Shmuel Frenkel mit einem Maschinengewehr »tanzen sieht wie in Trance«, während er auf umgebende Hochhäuser feuert; und schließlich kehren die Leuchtraketen wieder, wenn die Falangisten in die Lager ziehen, um sie zu »säubern«, wie es heißt. Das Leuchten in Waltz with Bashir legt eine Spur zwischen Wahrnehmung und Erinnerung, die nach Sigmund Freud der Wunschlogik folgt: »Jedes Wiedererscheinen der Wahrnehmung ist Wunscherfüllung.« (Freud 1976: 571) Einerseits setzt das gelbliche Licht eine Trance der Soldaten ins Bild. Andererseits antwortet es präzise auf jene große Anklage, die Jean Genet formulierte, nachdem er am Tag nach dem Massaker vier Stunden lang durch die Straßen von Schatila gewandert war, um die Toten, die Leichen, mit eigenen Augen zu sehen, seine Hadesfahrt: »Wenn die Israelis lediglich das Lager in Licht getaucht, die Schüsse gehört und nur zugehört haben, wie so viel Munition verfeuert wurde, über deren Hülsen (tausend und abertausend) ich geschritten bin, wer schoß dann wirklich?« fragt er spöttisch (Genet 2001: 28/29). Wer hat hingeschaut und wer hat einfach zugehört, während gemordet wurde, heißt das. Der Film antwortet darauf in einer analogen Trennung von Hörbarem und Sichtbarem: auf der Tonspur sprechen die Zeugen, zwanzig Jahre später, ihre eigenen Texte aus Gesprächen, die Ari Folman zum Drehbuch verdichtet hat. Da wird keine Anstrengung gemacht, Reden zu authentifizieren, Aussagen zu prüfen. Auf der Bildebene haben die Protagonisten einen Namen und ein Gesicht, oder genauer, zwei: das der jungen Soldaten, die den Krieg nicht richtig wahrnehmen, und das der gemachten Männer, die sich nicht richtig erinnern. Wie bewegliche Masken verhalten sich die Gesichter zu den Stimmen, die zwar keine akusmatischen sind, jedoch verloren wirken, nicht richtig gebunden an die Körper, aus denen sie kommen. Dass die Leute fragil wirken, leicht dezentriert und ohne Bodenberührung, dass ihre Gesten seltsam ungerichtet bleiben, ist nicht zuletzt Effekt der eigentümlichen Animation. Auf der Grundlage

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von Gesprächen ließ Folman erinnerte Sequenzen im Studio nachspielen, roh und ohne Empathie. Die Handlungen vor leeren Flächen wurden geschnitten und in ein Storyboard aufgelöst. Elektronisch als Animatic in Bewegung gesetzt diente es zu ersten Vorführungen vor Koproduzenten. Danach wurde der Film Einstellung für Einstellung gezeichnet, nach fotografischen Vorlagen von Umgebungen, oder nach Traumgesichten, und von einem ganzen Team zum Teil sehr unterschiedlich animiert. In dieser Phase kamen Details ins Bild, Objekte, Ereignisse am Rande des Geschehens, die einem Indizienparadigma zu folgen scheinen, aber freilich gelegte Spuren sind. Denn das Ungestellte, Zufällige, Kontingente, das Kracauer als Kraft der Fotografie zur Rettung der äußeren Wirklichkeit anführt, ist in der Animation selbst Formalisiertes (vgl. Kracauer 1985: 45). Vor allem unterscheidet sich das Verfahren von konventioneller Rotoskopie dadurch, dass es keine Vorlage, kein filmisches Original, keinen vorgängigen Raum der Handlungen gibt. Ein Gedächtnisraum wird im Prozess der Animation erzeugt. Formen der Animation oder des Comix können Erinnerungen und Deckerinnerungen, Traumata und Wunscherfüllungen, Toten und Lebenden denselben Realitätsstatus in einem Bild verleihen und damit eine besondere Form der Geschichtsschreibung eröffnen. Das haben Art Spiegelmans Mouse-Geschichten bewiesen. Nicht weil sie authentifizieren, was sie zeigen, sondern insofern sie ganz unterschiedliche Zeiten und Wirklichkeiten als Kräfteverhältnisse zueinander in Beziehung setzen, arbeiten solche Dokumentationen mit an der Geschichte. Das gehört zu den Grundannahmen des Dokumentarischen: »Man erinnert sich nicht, man schreibt das Gedächtnis um. Wie man die Geschichte umschreibt«, heißt es in Chris Markers Sans Soleil 1983 (Marker 1983: 3). Dokumentieren heißt nicht, der Wahrheit auf die Spur zu kommen, sondern die Prozeduren der Wahrheitsproduktion freizulegen. Im Film wird das als täuschende Verschränkung von Medien und Mentalem angekündigt: Der Psychotherapeut Ori Sivan, von dem Folman eine Erklärung fordert für das viele Vergessen, berichtet von Experimenten, in denen Probanden gefälschte Fotografien, waren sie nur in schönes Licht gerückt, als Momente des eigenen Lebens wiedererkannten. Technische Medien arbeiten mit an der Umschrift der Geschichte. Waltz with Bashir zeichnet ein Gedächtnis mit filmischen Mitteln. Einstellungen vom Einmarsch der israelischen Soldaten in den Libanon im Juni 1982 sind deutlich als Überlagerung von Kino und

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Gedächtnis realisiert. Einerseits waren alle Soldaten irgendwie 19, und wie Konrad Wolf in seinem Film führt Folman den Einmarsch auf der Folie anderer, historischer Befreiungsfilme vor. Zugleich evozieren Hubschrauber-Kavalkaden, Märsche durch Olivenhaine, die als Dschungellandschaft inszeniert sind, Truppenboote, auf denen gefeiert wird und Surfen im Bombenhagel Einstellungen aus amerikanischen Kriegsfilmen. Das Grölen von »Good Morning Lebanon« erinnert ans Truppenradio für Vietnam, vermutlich haben israelische Soldaten ihren Auftritt im Libanon tatsächlich an Filmszenen orientiert. Allerdings war die Popkultur Israels 1982 vom Punk bestimmt: »I bombed Sidon today« wird Jonny-Rotten-mäßig gesungen, während die Animation ein Telefongespräch zwischen Scharon, Begin und Eitan zeigt, die derweil Tee trinken. Das Aufwachen aus dem Traum, alles sei nur ein dreckiger Kriegsfilm, ist entsprechend als Filmriss beschrieben, zuerst in den Worten der Trauma-Forscherin Zahava Solomon, selbst animierte Figur im Film, und dann als animierter Filmriss selbst. Der Filmriss wird zum Moment der Erkenntnis, das ist die paradoxe Struktur des Films. Jedoch erscheint mit jedem erkenntniskritischen Riss eine neue Schicht der Traumatisierung. Dazwischen erscheint Folmans Satz, der den ganzen Film animiert: »Sie merkten nicht, dass Sie einem Völkermord zusahen.« Zunächst scheint Waltz with Bashir der Vietnam-Filmkultur auch darin zu folgen, dass die Anderen, der Feind, die Opfer der Säuberungen, kein Gesicht haben. Das Drama bleibt auf der Seite der gedächtnislosen Täter, die mit sich selbst und ihrem Vergessen beschäftigt sind. Der renommierte Journalist Ron Ben-Yishay, auch er Protagonist im Film, ruft am Ende wiederum eine fotografische Analogie auf, in die sich der Film auflöst. Wie Genet oder Robert Fisk gehörte Ben-Yishay zu denen, die am Morgen des 18. September nach Schatila fuhren, um aufzunehmen, was geschehen war: »Du kennst dieses Bild aus dem Warschauer Ghetto, auf dem man ein Kind sieht mit erhobenen Händen.« Das Bild erscheint animiert im Film, jetzt versetzt ins Morgengrauen, in dem Überlebende, mit ihnen ein Junge mit erhobenen Händen, das Lager Schatila verlassen, über dem eine gelbe Sonne wie eine Leuchtkugel glüht. Nekya. Die Wahrnehmung dreht sich im Kreis und wird nicht zur Erinnerung. Sie steht im Dienst der Wunscherfüllung, nichts gesehen zu haben und also auch nicht »an der Stelle der Nazis« gestanden zu haben, wie  Ori Sivan mutmaßt, die Szene nicht mit Leuchtkugeln erhellt

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und also nicht Mitwissende eines Völkermords gewesen zu sein. Die Bilder von 1943 und die von 1982 überlagern sich. Mit dieser Animation ist die Erinnerung gerettet. Wo aber bleibt die Rettung der Wirklichkeit? Genau in diesem Moment springt der Film aus der Animation, zeigt gefilmtes Material von Frauen, die weinend aus dem Lager kommen, und danach weiteres Beweismaterial eines Kamerateams: Leichen und Schutt, Schutt und Leichen. »Nur weil wir Araber sind«, rufen die Frauen. Jetzt erhalten sie ein Gesicht, eine Stimme, aber immer noch keinen Namen. Der Film animiert das Gedächtnis israelischer Soldaten. Doch es wird wieder Sache der Opfer bleiben, Namen zu suchen, zu nennen, zu beweisen, dass in Schatila ein Massaker, kein Kampf stattgefunden hat (Nuwayhed al-Hout 2004: 11). Anders als Spiegelman, der seine Gespräche mit dem Vater aufnahm, transkribierte, zeichnete und montierte, folgt Folman einer Spur des Unbehagens, der Unschärfe, einem gelben Nichts. Die Logik der Animation lässt symptomatische Momente, die sich der Wunscherfüllung entgegenstellen, nur als Leerstellen zu. Das Abwesende bleibt unbemerkt oder verbannt ins Off. Dazu gehört die Weigerung des Freundes Carmi Cna’an, im Film aufzutreten – kurzerhand wird er von einem Schauspieler ersetzt. Spuren, die Zeichnerinnen und Animateure aus unterschiedlichen Generationen ins Bild setzten, werden nur im Making-of sichtbar: ein Close-Up zeigt die Plastiksandalen eines Passanten, die im Entwurf noch jene groben Holzpantinen aus deutschen Konzentrationslagern waren. Das gelbliche Licht der Leuchtraketen klärt nicht auf, sondern verbindet verschiedene Schichten und historische Zeiten von Morden an Völkern oder Bevölkerungen. Der Blick auf eine Erde, die Wohnstätte werden könnte, wird verweigert. Der Film verharrt in der Nekiya, in der das Morden weitergeht, und auch das Zuschauen. In Schatila, gegründet 1949 als UNRWA Lager für 3000 Leute auf der Flucht, leben heute über 22.000 und es kommen aus Syrien täglich mehr.

Referenzen Freud, Sigmund (1976): Die Traumdeutung. Gesammelte Werke Band II/III, Frankfurt a.M.: Fischer. Genet, Jean (2001): 4 Stunden in Chatila, Gifkendorf: Merlin. Kracauer, Siegfried (1971): Geschichte – vor den letzten Dingen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

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Ders. (1985): Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt a.M., Suhrkamp. Langbein, Martin/Theweleit, Klaus (1981): Art Spiegelman. Breakdowns. Zugabe, Frankfurt a.M.: Roter Stern. Nuwayhed al-Hout, Bayan (2004): Sabra and Shatila. September 1982, London/Ann Arbor: Pluto Press. Marker, Chris (1983): Sans Soleil. Unsichtbare Sonne. Vollständiger Text zum gleichnamigen Film-Essay von Chris Marker in der deutschsprachigen Übertragung von Elmar Tophoeven, Hamburg: FiFiGe/AG-Kono.

Ute Holl lehrt Medienästhetik mit den Schwerpunkten Wahrnehmungsgeschichte technischer Medien, Kino- und Radioforschung an der Universität Basel.

2009 – 2018

CORNEILLE-BRECHT OU ROME L’UNIQUE OBJET DE MON RESSENTIMENT (2009) Katharina Hohmann/Fritz v. Klinggräff

Am 20. April 2018 bricht in ganz Europa der Frühling aus. In der Buvette am Campingplatz von Rolle, am Genfer See, werden Tische und Stühle aufgestellt. Ganz nah am See kann man hier sitzen, der Blick schweift über Schichten von Blau, horizontal ineinander gewoben, ein lang gezogener Streifen in zarten, wie traumverloren schillernden Schleiertönen ausgebreitet. Heute ist das ganze Bergpanorama freigestellt, weiß noch die Wipfel. Ein Tag wie ein Wunder nach dem langen Winter. Am 5. Mai 1990, vor 28 Jahren, veröffentlichten wir in der taz anlässlich der Premiere des Films Paul Cézanne ein Gespräch mit dem Filmemacher-Paar Danièle Huillet und Jean-Marie Straub: Die guten Götter Hölderlins. Schier endlos geht es um die wunderbare Frage der Cadrage durch »die beiden exzessivsten Bildeinsteller der Welt« (taz 1990) und darum, warum der Cézanne dann doch schief im Raum hängt: »Das Foto klebte an einer roten Hauswand und obwohl wir es ganz gerade gehängt hatten, war es nachher schief, weil die Hauswand nicht ganz gerade war«. Und immer wieder geht es um das Außen im Zentrum des Oeuvres von Huillet und Straub: »Die Farben, die da kommen, die kann man doch nicht bestimmen. Die werden vom normalen Licht oder von Gottvater gegeben. Das ist alles. Auch wenn man beleuchtet.« Bei Cézanne, Hölderlin, Schönberg. Oder in Corneille-Brecht, dem Film von 2009. Jean-Marie Straub friert an diesem 20. April 2018, obwohl er als Einziger von uns vieren einen Sonnenplatz abbekommen hat. »Es war kalt in Metz, 1942. Ich habe mich geweigert, den Algerienkrieg mitzumachen. Dann kam ich auf eine Liste. Es ging so weit, daß die Polizei …« – »In Frankreich waren das die gendarmes«, sagt Barbara

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Ulrich, seine Begleiterin – » … bei einem Freund, einem Bankangestellten, geklingelt hat: ›Wo ist ein gewisser Straub?‹ – ›Der ist oben im Speicher.‹ Aber da war ich schon weg. In Deutschland.« 1959 ist Jean-Marie 26 Jahre alt, ein Geflüchteter in München, einer, der seine Entscheidung getroffen hat. »Die ganze Geschichte beginnt 1959«, sagt und schreibt Lorenz Engell 1990, im Jahr unseres Interviews mit Straub/Huillet. Lustig. Aber der Satz ist natürlich aus dem ganz anderen Zusammenhang seiner Einführung in die Filmgeschichte gerissen. Seite 222. Aber dass die ganze Geschichte 1959 beginnt, sagt immerhin auch Ute Holl: Mit der Flucht Jean-Marie Straubs vor dem Kriegsdienst in Algerien nach München, mit dem Exil, der Wüste, dem ganzen Moses-Komplex. Jahreszahlen, nachträglich in einen Zusammenhang gerissen. Entscheidungen aber sind von anderer Natur. »In Metz haben sie sich jetzt erinnert, dass sie ein berühmtes Kind haben«, sagt Barbara Ulrich: »In drei Wochen fahren wir hin und Jean-Marie Straub bekommt die Medaille d‘honneur.« 1942 war es kalt in Metz, sagte Jean-Marie Straub: »Stalingrad«. Dieses grollende Deutsch hat seine Geschichte nun überlebt. »Das sind die Piquets«, sagt er, »drüben ist Frankreich«. Sein neuer Film, Gens du Lac (Leute vom See), ist gerade erschienen, auf ein paar Festivals gezeigt worden und hat schon einen Preis bekommen, erzählt Barbara Ulrich, die Jean-Marie Straub seit vielen Jahren begleitet und mit uns langsam ins Gespräch findet. »Es ist eine Mischung«, sagt Jean-Marie Straub. Es sei ein politischer Film.Und zugleich ein lokaler Film. In seiner Vorlage, dem Roman gleichen Titels von Janine Massard geht es um eine Familie, um den Krieg, die Résistance, das persönliche Engagement. Der Film, 18 Minuten lang, wenige Einstellungen. Ein Mann sitzt auf dem Bug eines Fischerbootes mitten im See, schaukelnd der Horizont, und er liest. Er sinnt seiner Kindheit in der schweizerischen Waadt nach, einer Fischerfamilie und ihrem geheimen Hin und Her über den See während des Zweiten Weltkriegs, der Nachkriegsgeschichte, zu Zeiten der Entscheidung, wohin man gehört. Manchmal wechselt die Einstellung und man sieht den Erzähler zwischen den Ufern zweier Länder. Der Genfer See ist ein politischer Ort, mitten in ihm verläuft eine Grenze zwischen der neutralen Schweiz, in der Jean-Marie Straub und Barbara Ulrich seit ein paar Jahren leben, und Frankreich, dem Land seiner Herkunft. »Jean-Luc Godard wohnt auch hier«, sagt Straub, und Barbara Ulrich

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erzählt von den kleinen Botschaften, die die beiden Männer miteinander austauschen. Gens du Lac, »das ist die Autobiographie von einem jungen Mann und«, sagt Straub. Mit seinen hellblauen Augen schaut er dem Gesprächspartner ins Gesicht. Wo mag sich der zweite Teil seines Satzes verbergen? »Seit dem Film Tod des Empedokles«, 1987 von Straub/Huillet in minutiöser Arbeit in vier Fassungen geschnitten, sagt Barbara Ulrich, »meint Jean-Marie Straub jedes Mal, es sei sein letzter Film. Man weiß nie«. Blitze, »mehr kann man nicht liefern«, sagt Jean-Marie Straub in seinem Interview vom Mai 1990. Denn Filmemacher zeigen nicht. Zu zeigen, das mache »der Film nur nebenbei und zusätzlich und wie aus Gottes Gnade und mehr nicht«. Ganz real aber »sind«, sagt Straub, hier und jetzt im Bild und Film »die guten Götter« Hölderlins: Die unmittelbare Pracht der Äpfel und Orangen auf dem Tisch im Modus des dynamischen Konjunktiv: »Das wäre das Ergebnis einer Gesellschaft, die sich daran erinnern würde, dass die einzige Berechtigung des Menschen auf der Erde die wäre, seinen Garten zu hüten und daraus eine Pracht zu machen und ihn nicht zu zertreten, zu vernichten, zu veröden.« »Mir gefällt diese Stelle in ihrem Interview über den Film Cézanne [...] «, sagt dazu Barbara Ulrich. Im Januar 2018 feierten die Freunde seinen 85. Geburtstag im schönen Kino Capitol von Lausanne. Dort hatten auch die Gens du Lac Premiere. Drei von Straub und Ulrich ausgewählte Filme, inzwischen sind es 47, wurden gezeigt: Neben Gens du Lac Machorka Muff (1963), Barbara Ulrichs Lieblingsfilm, »ein Film, in dem alles enthalten ist«, und Toute révolution est un coup de dés (1977). Aber vergessen wir darüber nicht: Jean-Marie Straubs Filme sind Verfilmungen. Ohne die Aufschreibesysteme der Literatur, scheinen die Filme des Monsieur Straub zu sagen, fehlt dem Film ein Moment: Das weiße Textblatt, der Aufschub der Erzählung, das Innehalten im Blick der Vorleserin, die Revolution als Verspätung. Der Konjunktiv. Geschichte ist nicht nur eine Diskursabfolge im Medium der Medienrevolutionen, sagen die Filme der Straubs, Revolution ist anders. Jetzt, wo die Kriege wieder näher rücken, ist das Böll'sche Universum (Machorka Muff) vielleicht auch wieder aktueller? »Wir sprechen darüber jeden Tag, warum sich Machorka Muff dem Verständnis von heute entzieht«, sagt Barbara Ulrich. Aber die Welt hier in Rolle sei »vollständig in Ordnung«.

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»Im vergangenen Jahr war die große Straub-Huillet-Ausstellung in der Berliner Akademie der Künste zu sehen, so was gab es noch nie. Wir sind am letzten Wochenende hingefahren, zur Finissage. Da gab es noch mehrere Screenings. Wir saßen da, mitten im Publikum und am Ende des Films gab es einen Riesenapplaus, und alle sahen Jean-Marie an, es war wie ein Dank, ein großes Versprechen, ein Vertrauen darauf, dass es weitergeht.« »Suite à la mort de Danièle, Jean-Marie fut la victime d’un accident de la circulation à Paris, ce qui nécessita de très longues hospitalisations. Barbara Ulrich, une ancienne fraternelle connaissance du couple, prit soin de lui et l’incita à reprendre goût à l’existence, à ses méditations, d’où sans cesse, avec ses auteurs choisis, le travail du cinéaste a pu se poursuivre«, schreibt Freddy Buache, Direktor der Cinémathèque Suisse von 1951 à 1996, ihm zum Geburtstag, zur Premiere von Gens du Lac. Gibt es erst seit dem Tod von Danièle Huillet jene weißen Textblätter in der Bildmitte der Filme Jean-Marie Straubs? »2008, zwei Jahre nach dem Tod von Danièle Huillet und der langen Phase im Krankenhaus«, sagt Barbara Ulrich, »machte er seinen Film Corneille-Brecht«. Ein Film aus dem Totenreich. Corneille-Brecht, 2009 fertiggestellt, und Gens du Lac von 2018 zeigen Lesende mit niedergeschlagenen Augen. Die hellrote Mund-Horizontale öffnet und schließt sich über der entrückten weißen Fläche, zwei vertikale Linien trennen die auf das Blatt gesenkten Augen. Eine Textur aus Licht und Schatten. In der halbgeöffneten Rechten der Leserin aber sammelt sich die Prosodie jener Stimmen, die aus der Mauer mit dem Blattwerk hinter ihr zu kommen scheinen: die dünne Wand, die die Sklaven, die Mittler der Lebenden und der Toten, vom Totenreich trennt. Wenn »die Operationen strenger Relationen auf Materie treffen«, schreibt Ute Holl, springen »unvordenkliche, unvorstellbare Räume und Richtungen« auf. Manchmal aber blitzt das Auge der Leserin hinein in den offenen Raum zwischen dem unmittelbaren Bild und uns, und füllt ihn mit unserem Imaginären: »Ist Das wahr, König?« »Die Autobiografie eines jungen Mannes und«, sagt Jean-Marie Straub am Gänseblümchenstrand von Rolle und schaut mit seinen blauen Augen auf seine Hände. Schon vor Moses Und Aaron, vor 1959, habe es seine Chronik gegeben, weiß Barbara Ulrich, seine Chronistin: »Machen Sie Diesen Film! « habe Bresson damals, 1954, den 21-jährigen Straub aufgefordert und ihm mit diesen Worten den Staffelstab weitergegeben. Aber andererseits zielt Chronologie

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nur aufs Immer-weiter einer sich aufhäufenden Vergangenheit und schreibt mit dem »Leben« nichts als die endlose Textur seiner Ideologie. Menschen und Filme hingegen hören irgendwann auf. Die Nachkriegszeit ist zu Ende. Die Welt lüstert wieder nach Krieg. Lukullus, der Feldherr, musste nicht auferstehen von den Toten; sie hatten ihn in ihren Kreis nie mit aufgenommen. Man schaue Corneille-Brecht, 2009. »Aber was kann der Filmemacher bei all dem schon tun?«, fragt Jean-Marie Straub in unserem Gespräch mit ihm, 1990: »Er kann nur sagen: Hier ist eine Utopie. Doch sie werden schon sehen, dass das Wenige, was noch zu vernichten ist, und was trotzdem besser war, drüben, hinter der Mauer, dass das jetzt vernichtet wird von der freien Marktwirtschaft. Nicht nur die Natur, sondern die Beziehung zwischen Menschen, und der Alltag. Das wird vernichtet, zernichtet, zertreten. Und der Zynismus wird wie ein Wind die ganzen Ostblockländer, wie die Sainte-Victoire verbrennen, vernichten, zernichten. Das geschieht innerhalb der nächsten zehn Jahre. Und dann werden Leute sich bereichern und die armen Hunde werden irgendwelche Bananen kaufen können oder Computer.« Jean-Marie Straub war Teleologe, allzeit bereit zu dem unerhörten Wagnis, »das Vorkommen der Geschichte unter den Zugriff seines Endes zu stellen« (Lorenz Engell). Das haben ihm wenige verziehen. Seine Filme aber halten vor diesem Wagnis den Atem an: »Ist das wahr, König?«

Katharina Hohmann, bildende Künstlerin, und Fritz v. Klinggräff, freier Autor, wohnen in Genf. Von 1999 bis 2011 lebten sie in Weimar.

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INCEPTION (2010) Lisa Gotto Christopher Nolans Inception entwickelt ein Modell, das sich mit der Begehbarkeit von Bewusstseinsschichten befasst. Dabei geht es nicht nur um die Frage nach dem Eintritt in verschiedene Ebenen des Erlebens, sondern auch um die Frage nach deren Konstruktion und Gestaltung, Verbindung und Überlagerung. Abrückend von der Tradition des linearen Erzählens entfaltet Inception eine mehrfach geschichtete Geschichte: ein Level-Modell. Damit lässt sich der Film in die von Thomas Elsaesser identifizierte Gruppe der sogenannten »mind game movies« einordnen (Elsaesser 2009). »Mind game movies«, so Lorenz Engell, »zeichnen sich durch Spiele aus, die sie mit der kinematographischen Logik treiben« (Engell 2010: 278). Gemeint sind damit zunächst Spiele mit der Logik der Erzählung, also »(narrato-)logische Spiele« (ebd.), weiterhin aber auch Spiele mit uns, den Zuschauern: »Die Mitarbeit des Zuschauers wird in logische Engpässe, in unendliche Regresse, in reductiones ad absurdum, in petitiones principii, in Tautologien und Endlosschleifen geschickt.« (Ebd.: 280) Das gilt ganz sicher auch für Inception. Im Computerspiel-Zeitalter sind wir jedoch nicht nur Mitarbeiter, sondern auch Mitspieler – wir sind nicht nur filmerfahren, sondern auch gamesgeschult. Inception lässt es darauf ankommen, dieses Spielwissen in Bewegung zu bringen. Das Spiel, das Inception spielt, ist ein Spiel mit Innenwelt und Außenwelt, mit Gewissheit und Bewusstsein. Der Protagonist Dom Cobb ist ein Big Player der Industriespionage; er stiehlt geheime Informationen aus dem Unbewussten, wenn es im Traumzustand besonders angreif bar ist. Als »Extractor« dringt er jedoch nicht nur in die Träume seiner Opfer ein, sondern beeinflusst und modifiziert sie auch. Zu seiner Unterstützung engagiert er die Studentin Ariadne, die mit der Konstruktion von Traumwelten beauftragt wird. Ariad-

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ne ist eine Meisterin des Traumbaus: Sie entwirft paradoxe Architekturen und gestaltet labyrinthische Räume. Für einen besonderen Coup entwickelt sie drei ineinander verschachtelte Levels, in denen die Träumenden sich bewegen. Dabei ist ein sukzessiver Rückgang von Komplexität zu beobachten. Ist das erste Level noch in einem urbanen Setting mit zahlreichen Gebäuden und verkehrsreichen Straßen angesiedelt, verlagert sich die zweite Ebene vom kaum überschaubaren Außen in das begrenzte Innen eines Hotels. Hier hat sich nicht nur die Anzahl der Figuren, sondern auch ihr Aktionsradius deutlich verringert. Im dritten Level schließlich finden sich die Träumenden in einer Schneelandschaft wieder, die sich durch eine weitere Stufe der Reduktion auszeichnet. Sowohl die Figuren als auch der Raum erscheinen entdifferenziert: Individuelle Merkmale (Gesicht und Körperformen) sind bis zur Unkenntlichkeit unter wattierter Kleidung und maskenartigen Schutzbrillen verborgen; Begrenzungen und Markierungen (Wege und Übergänge) können kaum mehr ausgemacht werden. Selbst dort, wo einzelne Elemente, etwa Gesteinsbrocken oder Tannenwipfel, aus der Schneeschicht herausragen, bleibt die Orientierung durch Erschütterungen und Verwehungen bedroht. Weitet sich das Bild im einen Moment zum Panorama, bricht eben jene vermeintliche Übersicht sogleich wieder zusammen. Während einer Hang-Abfahrt wirbeln die Skifahrer wiederholt Schnee auf, der das Bild fontänenartig ausfüllt und zunehmend undurchsichtig werden lässt. Eine Steigerung erfährt diese Trübung des Blicks durch eine gewaltige Lawine, die sich schließlich über den Hang ergießt und alles, was zuvor wenigstens andeutungsweise der Orientierung gedient hatte, unter ihren Schneemassen begräbt. Die Einschränkung der Wahrnehmungsfähigkeit betrifft jedoch nicht nur die visuelle, sondern auch die auditive Ebene. Der Schnee schluckt nicht nur Struktur und Kontur, er dämpft auch Geräusche und Töne. »Cobb, do you hear that?«, fragt Eames, »I first noticed it twenty minutes ago. I thought it was the wind up here.« Doch was wie Wind klingt, ist Musik. Sie kommt aus der Ferne, aus dem Off. Ein Fragment eines Chansons ist zu hören, kaum wahrnehmbar, da in zurückgenommener Lautstärke, entschleunigt und verzerrt: »No, rien de rien …« Mit dem Verweis auf das Nichts, auf das Nichts als Nichts, scheint das Weiße als Leere auf. Das dritte Level wirkt unterentwickelt. Seine Form erweckt den Eindruck einer unfertigen Herstellung, sie erscheint informationsarm und nicht völlig funktionstüchtig. Ein Sys-

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temfehler? Das wäre denkbar. Möglicherweise kommt hier aber noch etwas anderes ins Spiel, und zwar die Reflexion auf die Möglichkeit des Spiels. Die weißen Flecken auf der Raum-Karte des Levels wären dann als Leerstellen zu verstehen, die aufgesucht werden, um auf die Gestaltbarkeit der Ebenen und die Prozessualität der Entwicklung zu verweisen. Im Spiel und durch das Spiel entfaltet sich ein neues Verhältnis von Raum und Zeit. Jenseits von festgelegten Strukturen und vorgefertigten Settings entwickeln sich räumliche Praktiken und Verfahren, die in ihrer Schichtung, Dynamik und Flexibilität eher an den Möglichkeitsraum des Computerspiels als an den Darstellungsraum der Leinwand erinnern. Auch die Zeit scheint spielbar zu werden; sie lässt sich dehnen und stauchen, auseinander- und zusammenziehen, in unterschiedliche Ebenen auffächern und auf verschiedene Levels verteilen. Nirgends wird das deutlicher als bei der Gestaltung des Soundtracks. »Just for the game of it«, erklärt der Komponist Hans Zimmer, »all the music in the score is subdivisions and multiplications of the tempo of the Edith Piaf track. So I could slip into half-time; I could slip into a third of a time. Anything could go anywhere. At any moment I could drop into a different level of time.« (Itzkoff 2010) »Non, rien de rien …«, heißt es in Edith Piafs Chanson – und, an einer anderen Stelle: »Je repars à zéro«. Damit ist eine Grundbedingung der Spielmöglichkeit benannt: Das Zurückkehren auf den Anfang, der Beginn einer neuen Runde. Der Film Inception nimmt dieses Charakteristikum auf, um es in seinen eigenen Umlauf zu integrieren: Er spielt mit der Zeitform, er präsentiert Loops und Feedbacks, Schleifen und Schlaufen, Verdrehungen und Verkehrungen. Für seine eigene filmische Form bedeutet das eine deutliche Abkehr von der Logik der linearen Erzählung: »Das Rundenmodell als klassisches Spielmodell nimmt der Narration ihre eindeutige Gerichtetheit und erschafft einen Möglichkeitsraum, der die synchrone Aktualisierung unterschiedlicher Erzählweisen und ebenso unterschiedlicher intertextueller Referenzen gestattet.« (Leschke/Venus 2007: 10) Das Prinzip der Rekursion bildet das spielerische Zentrum von Inception: Alles dreht sich darum. Schon in Bezug auf die Chronologie der Narration, die sich von der Vorstellung einer Zeitgeraden verabschiedet, wird das deutlich: Hier geht es nicht um Ablauf, hier geht es um Kreislauf. Der Verweis des Endes auf den Anfang und der Verweis des Anfangs auf das Ende wären hier zu nennen, weiterhin

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die spiralförmige Anordnung des Traums im Traum sowie die vielfältigen sequenziellen Formen der Iteration und Irritation (vgl. Shores 2012). In Inception kommt die Rekursion jedoch nicht nur als Struktur-, sondern auch als Bildelement vor. Die Schlüsselfigur ist dabei der Kreisel. Sein Status ist nicht stabil, sondern schwankend. Einerseits ist er ein tatsächlich existierendes Requisit, andererseits ein freischwebendes Emblem: eine Form der Rekursion, die sich spielerisch zwischen unterschiedlichen Ebenen bewegt. Der Kreisel wird zunächst eingeführt als Element der Überprüfung: Cobbs setzt ihn zur Unterscheidung zwischen Wach- und Traumzustand ein. Eine unausgesetzte Rotation steht dabei für den Traum, ein auslaufender Drehimpuls für die Wirklichkeit. Am Ende des Films bringt Cobb die Spielfigur ein letztes Mal in Bewegung. Die Kamera zeigt den Kreisel einige Sekunden in Großaufnahme – und blendet, kurz nachdem er sich zu drehen begonnen hat, ab. Kein Schluss ist hier möglich, jedenfalls nicht im Sinne von Aufschluss oder Abschluss. Das Ende des Films macht seine Geschichte nicht komplett. Vielmehr verweist es auf den Anfang, und zwar nicht nur auf den Anfang der Narration, sondern auch auf den Anfang der Rezeption, genauer: auf den Beginn der Rezeptionsgeschichte von Inception. Das erste, was von dem Film vor seinem Kinostart zu sehen war, hatte bereits Spielcharakter: Die offizielle Webseite zeigte acht Monate vor der Premiere des Films einen sich drehenden Kreisel, der mit jedem Monat stärker schwankte. Neben dieser einfachen Betrachtung eines Spielelements kündigte sich der Film jedoch auch über ein komplexeres partizipatorisches Spiel an, ein digitales Game. Das sechs Monate vor Kinostart lancierte Browserspiel Mind Crime zeigt in einem ersten Level eine leere Fläche: Zu sehen ist weißes Zeichenpapier, daneben ein Stift. Mit diesem virtuellen Stift kann zunächst der Entwurf einer Spielroute aufs Papier geworfen werden. Aus der Zeichnung heraus entsteht dann im nächsten Level ein dreidimensionaler Parcours mit diversen Bauformen und Schwierigkeitsfaktoren, die von den Spielern erprobt werden können. Inception bringt ein Spiel ans Laufen, bevor er selbst im Kino läuft. Dieses Spiel weist auf das Weiße, um einen Möglichkeitsraum vorzustellen, der die Grundlage verschiedener Entwurfstechniken bildet. Dabei spielt die Prozessualität des Werdens eine besondere Rolle. Thomas Elsaesser weist darauf hin, »dass mindgame movies gerade aus den Bedingungen ihrer eigenen (Un)Möglichkeit ein ›Ge-

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dankenspiel‹ machen: Sie bringen dem Publikum die neuen Spielregeln bei, und zur gleichen Zeit lernen sie diese selbst.« (Elsaesser 2009: 262) Diese Regeln besagen, dass alles noch einmal anders werden kann. Gerade der Entwurf macht das deutlich: Selbst schon eine rekursive Kette von Entwerfen und Verwerfen, deutet er auf einen Operationsmodus, der es weniger mit dem Fertigen als mit dem zu Verfertigenden zu tun hat. Nun ist es ein definitorisches Merkmal von Filmen, dass sie, wenn sie ins Kino gelangen, fertig sind: Sie haben Anfang und Ende (Engell 2005). Inception ist jedoch ein prominentes Beispiel dafür, wie im digitalen Zeitalter mit diesem Merkmal gespielt werden kann. Dabei ruft der Film das Spiel nicht nur thematisch auf, sondern entwickelt Spielformen, die ihn selbst umformen. Diese Spielformen zielen ab auf Variation und Modifikation. Sie lösen Anfang und Ende zwar nicht auf, beginnen aber darüber nachzudenken, wie Filme sich von ihren zu bearbeitenden Anfängen und Enden her neu erfinden könnten. Was von dort aus alles möglich sein könnte, lässt sich nicht als Abschluss denken, sondern als Beginn: Inception.

Referenzen Elsaesser, Thomas (2009): »Film als Möglichkeitsform: Vom ›post-mortem‹-Kino zu mindgame movies«, in: Ders.: Hollywood heute. Geschichte, Gender und Nation im postklassischen Kino, Berlin: Bertz + Fischer, S. 237–263. Engell, Lorenz (2005): Bilder der Endlichkeit, Weimar: vdg. Ders. (2010): »Michel Gondry: Eternal Sunshine of the Spotless Mind. Eine kleine Philosophie des Verschwindens durch Film«, in: Ders.: Playtime. Münchener Film-Vorlesungen, Konstanz: UVK, S. 277–296. Itzkoff, Dave (2010): »Hans Zimmer Extracts the Secret of the ›Inception‹ Score«, in: New York Times, 28 July 2010, http://artsbeat. blogs.nytimes.com/2000/07/28/hans-zimmer-extracts-the-se crets-of-the-inception-score/ [08.08.2018]. Leschke, Rainer/Venus, Jochen (2007): »Spiele und Formen«, in: dies. (Hg.): Spielformen im Spielfilm. Zur Medienmorphologie des Kinos nach der Postmoderne, Bielefeld: transcript 2007, S. 7–18. Mind Crime (Syncopy/Warner Bros Entertainment Inc., 2010).

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Shores, Tyler (2012): »Paradox, Dreams, and Strange Loops in Inception«, in: Johnson, David Kyle (Hg.): Inception and Philosophy, Hoboken: Blackwell, S. 326–342.

Lisa Gotto, Prof. Dr., ist Professorin für Theorie des Films an der Universität Wien. Arbeitsschwerpunkte: Film- und Medientheorie, Digitale Medienkultur.

MELANCHOLIA (2011) Réda Bensmaïa

Haecceity # I: »To have an idea in cinema« »What is having an idea in cinema?« This is the question that opened the conference that Gilles Deleuze gave to the FEMIS in May 1987 in Paris. Later, during the development of his lecture, Gilles Deleuze provided more details on the question of what could be an ›idea‹ in cinema, by writing: »Having an idea in cinema, again, is not the same as having an idea elsewhere. And yet, there are ideas in cinema that could be of worth in other disciplines. But they would not look the same at all. And then, there are ideas in cinema that can only be cinematographic ...« (Deleuze 1987) To illustrate his thesis, Gilles Deleuze used several cases of filmmakers who had been able to meet the real challenge that consists, for a filmmaker, to produce ideas ›that could be of worth in other disciplines‹. When he convenes the other filmmakers, who create ›ideas in cinema‹ – Hans-Jürgen Syberberg, the Straubs or Marguerite Duras –, it is the same type of tearing away from phenomenological or simply diegetic time and space that Gilles Deleuze proceeds with: The cinema makes a great echo with, I don’t know, with a qualitative physics of the elements. It’s a kind of transformation, air, earth and water, fire [...]. A great circulation of elements in the cinema […]. It does not remove the storyline [...], the story is still there but what interests us is why the story is so interesting? If not, why there is all this stuff behind and [...] this voice that rises at the same time that it sinks under the ground ... (Ibid)

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Haecceity # II: Melancholy in reverse For Lars von Trier ›to have an idea in cinema‹, means certainly not to start from a ready-made idea with images and sounds, but rather the ›fortuitous and necessary‹ assemblage of very special ›objects‹, which are none other than those which Deleuze mentions in his conference – the earth, the sky, the air, the rain, the sea; but also, very soon, family, marriage, power, love, hatred, desire, the earth... So, initially, a nebula of sensations, a strange atmosphere, which results in conflicting impressions, a feeling that something is wrong, and soon an indeterminate ›malaise‹. But it is so because the idea has not yet been given. The idea is forthcoming and there is no guarantee that it can be extracted from the nebula in question. It is therefore ›moreover‹ [›par surcroît‹] that the idea will end up imposing itself on the viewer of the film, as it will have imposed itself previously to the filmmaker. But for the machine to start and the idea to take shape, as in the other films of Lars von Trier, a detonator is needed, an ›object‹, an event that will plunge us into a radically new situation. What we have at our starting point is a very ordinary story: Justine (Kirsten Dunst) and Michael (Alexander Skarsgård) celebrate their marriage at a sumptuous party in the home of Justine’s sister Claire (Charlotte Gainsbourg) and brother-in-law John (Kiefer Sutherland). But, very quickly, one realizes that despite Claire’s best efforts, the wedding falls apart. Family tensions mount and relationships will end up in a disastrous situation. If Lars von Trier had been content to follow only this line of passive destruction, the film would have quickly ended in the dead ends of classic bourgeois dramas and locked up the main characters in fixed or stereotyped categories. Lars von Trier is aware of this. He, who does not hesitate to say to Nils Thornsen (cf. Thornsen/Trier) in the manner of Flaubert that »Justine, it’s him«! But what makes the film so compelling is that by a most devilish ›scenario‹ artifice, one quickly realizes that it is not a simple psycho-dramatic force of destruction that we are dealing with in the film, but two: one, incarnating in the character of Justine and the other with the entry on the scene of a planet, Melancholia, which threaten to completely annihilate the earth. Because of this over-determination of the forces that now threaten the existence and survival of all that lives on earth, each of the characters in the film – and this includes the animals as well – will see their situation radically transformed. Justine, for example, can no longer be simply locked in human, too human categories of

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›depression‹ or ›melancholy‹. Soon every single character in the film will be destabilized and enter in a very special state of mind. It is this double postulation that will give the film the philosophical dimension that goes through it and gives form to the idea that presides over the unfolding of the ›drama‹ that Lars von Trier gives us to ponder. It is this sort of ›double-binding‹ new situations, which show how cinema can be equated with philosophical reflection and, as Deleuze points out, be able to produce ideas ›which could also apply in other disciplines‹. By doubling, the strength of destruction that Justine is carrying for herself and for others – her sister Claire, her would-be husband, her boss and her family –, the imminent destruction of the earth by the planet Melancholia propels us into a ›domain‹ where there is no longer any spatial or temporal horizon for living beings. What will be the consequences of such a situation on the minds and souls of humans? What kind of transformation will thought have to make to face an experience of this nature? What kind of thought remains possible in this case? Because for him it is not a matter of defending a ›thesis‹, Lars von Trier will somehow ›burn the steps‹ and put us in the situation of the »critical transition«1 (Virilio 1999: 34), where we would have already reached the threshold of the disappearance of what makes a ›world‹ exist for us. The planet Melancholia will soon disintegrate the earth and men are in danger to be turned into an over-equipped ›terminal man‹ with interactive prostheses – radars, telescopes, iPhones, computers –, which soon will serve them absolutely nothing. In this case, it is the idea of a simple »temporal switching« [commutation temporelle], caused by the imminent disappearance of earth. Soon, the spatial landmarks that made the land habitable will no longer be. With the annihilation of the earth, it is not only the outside and the inside, the near and the far, that will no longer have meaning, but life itself: to the aesthetics of the appearance of objects and people standing out on the apparent horizon of the unity of time and place of the classical perspective, we are now dealing with an aesthetic of the imminent disappearance of everything that lives and exists on earth. The earth has turned into a »hyperobject« (Morton 2013: 118)2, which we finally got 1 | Given the space I have, I can only refer to the extraordinary work that Paul Virilio did in this book. Anyone familiar with his work will recognize what I owe him here. 2 | »The time of hyperobjects« Morton writes, »is the time which we discover

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to know at the moment of its disappearance and without the slightest possibility of catching up with anything tangible. It is then no ›accident‹, if it is to the character of Justine that Lars von Trier will lend the responsibility to give all its strength and its philosophical dimension to this extra-ordinary phenomenological ›reduction‹3 exercise ... of the earth: an ›object‹ that the most experienced philosophers have never imagined being able to ›reduce‹, but which Lars von Trier will transform into what could be called an »event accelerator«: the disappearance of the earth and all that is there are no longer the result a phenomenological ›reduction‹, but a… reality. »Imagine that one day«, Lars von Trier seems to tell us, »you learn that the earth ...«

Haecceity # III: The ›accident‹ named ›Justine‹ When asked about Justine, Lars von Trier says, bluntly: »I think that Justine is very much me. She is based a lot on my person and my experiences with doomsday prophecies and depression. Whereas Claire is meant to be a ... ›normal‹ person.« (Cf. Thorsen/Trier) And in fact, we are dealing in the film with two perspectives radically opposed: there is, as the poet would say, »the one who (still) believes in the world«, and »the one who does not« (Louis Aragon). And it’s Justine. Doesn’t she say to her sister, with the greatest serenity in the world: »Life is evil, right?« A character who, as Nils Thorsen has rightly noted, »has a hard time finding her place in the world and assuming all of its empty rituals« (cf. Thorsen/Trier). But we must see further. Justine is the only character who is contemporary of the disaster that is preparing. Justine ›knows‹ in advance what will happen. And, from a certain point of view, she is not far from thinking that she is perhaps ourselves on the inside of some big objects (bigger than us, that is): Earth, global warming, evolution. Again, that’s what the eco in ecology originally means: Oikos, home«. 3 | In a late text written by Edmund Husserl in 1934, titled »The Earth as Originary Ark«, first published in 1968, Husserl presents the Earth as the original ground or archi-ground for every meaning of ground and every search for a grounded meaning (cf. Husserl 2006). It is interesting to note that when asked, »What do the wolves howl, ›come and get me?‹« Lars von Trier responds: »Yes, for I must belong somewhere. It’s also why Justine is howling at that planet: come and get me. And I’ll be damned if it doesn’t. And it devours her. And it was very poignant that it should not just be a collision between two planets, but that Melancholia should devour the Earth.« (Cf. Thorsen/Trier)

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at the origin of the catastrophe to come and that it is her operation of systematic destruction (of herself and what is around her) which will lead that of the earth. In this sense, the melancholy that runs through her is coupled with an ›apathy‹ that makes her a sad character without faith or law. And that is what makes this special character the signifier of a thought that cannot be reduced to the nosography of melancholy or depression. But there is more to it. Justine is not reconciled (with herself, with her family, her mother, her sister, her boss, her husband, with earth ...) because she knows that what is about to happen to earth is not new: it has been in the making for centuries, silently, irremediably. Justine is calm and almost serene because, somewhere, she lives in tune with a planet, which is polluted and shrinking every day. She does not let herself be impressed by the riches and the glitz of what surrounds her. She does not adhere to it. Justine is ›irreconcilable‹ because she is now out of sync with the images of the world. She, who works in a world reduced to images, realizes that she too has been transformed into an image. The goal will be to get rid of all the images that made her what she became, but also those which she has flooded the world with as a fashion designer and a publicist. In order to live her own life, she would have to destroy these images, redistribute them. And that is what she tries to do when, in a moment of despair, she begins to reorganize the reproductions of the paintings of masters, which were exhibited in the library of her brother-in-law. But it is too late. How then to free oneself from the images that formed us when everything is image? What is being without images? Can we be without images? On earth. Without a horizon and no time left. Lars von Trier’s response to these questions in his film is perfectly in line with Jean-Pierre Dupuy’s reflection on what he calls the »paradox of the prophecy of misfortune« (Dupuy 2005: 17), i.e. a type of thought that gives more ontological force to the realization of the upcoming disaster. Where the catastrophic event of the destruction of the earth is seen by climatologists and ecologists as a still distant or even uncertain fate, Lars von Trier precipitates the time of the catastrophe, and invites us to experience its imminence. Significantly, in his film we see the circle of wire that Justine’s brother-in-law and his son graft on their telescope to monitor the approaching Melancholia. But this object is not just a simple ›gimmick‹, for it functions as something that only a film can metamorphose into an object of thought and awareness. In fact, if  the tele-

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scope is an instrument that usually brings the stars closer to us, by allowing us to better control their trajectories, in von Trier’s film it fails miserably to ›frame‹ Melancholia’s advance toward the earth. Instead, the little wire shows that the planet Melancholia is approaching, and so makes us think and wait for no less than the mother of all events: the end of time. And in this sense, we can consider that, like this little circle of wire, the film is this instrument that allows us to see what keeps moving and transforming around us without us being always aware of it. This is one of the ›ideas‹ that crosses Lars von Trier’s beautiful film. In a similar way, by ›grafting‹ the drama of a family in crisis to the end of the world, that is by combining the farthest with the closest, the infinite with the finite, the filmmaker mobilizes the same power of vision of the small wire circle. And in so doing, he frees us from the denial of the coming catastrophe, a denial which is well expressed by a German proverb that Primo Levi once quoted thinking of the idea of »industrial extermination«: »Things whose existence seems morally impossible cannot exist.« (Dupuy 2005: 12) Finally, by making us think about an event as radical as the disappearance of the earth, – origin of all that is alive – von Trier puts our private personal dramas in a new perspective, frees us from our usual blindness toward the coming global catastrophes, and ultimately invites us to think about the place and destiny of humanity on earth.

References Deleuze, Gilles (1987): Qu’est-ce que l’acte de création? Conférence donnée dans le cadre des mardis de la fondation FEMIS, https:// www.webdeleuze.com/textes/134/,[03.06.2018]. Dupuy, Jean-Pierre (2005): Petite Métaphysique des Tsunamis. Paris: Éditions du Seuil. Husserl, Edmund (2006): »Kopernikanische Umwendung der Kopernikanischen Umwendung (1934)«, in: Dünne, Jörg/Günzel, Stefan (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am M.: Suhrkamp, S. 153165. Morton, Timothy (2013): Hyperobjects. Philosophy and ecology after the end of the world, Minneapolis: University of Minnesota Press.

Melancholia (2011)

Thorsen, Niels/Trier, Lars von: Longing for the End of All. Interview with Lars von Trier by Nils Thorsen, http://melancholiathemovie. com, [03.06.2018]. Virilio, Paul (1999): La vitesse de libération.,Paris: Galilée.

Réda Bensmaïa is University Professor at Brown University (Emeritus): Departments of French Studies and Comparative Literature.

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Wie soll man Laurence ansehen? Vielleicht gar nicht. Er beginnt als eine Art Hörspiel. Ein unverständliches Gewirr von Stimmen, Instrumente, die gestimmt werden. Das Bild nur schwarz mit den Produktionstiteln. Es schält sich, noch immer ohne Bild, gereizter Dialog heraus, in dem eine weibliche Stimme einem Sprecher vorhält, er möge ihr jetzt Zeit lassen, da er immerhin 40 Minuten zu spät erschienen sei. Offenbar versucht sie erfolglos ein Diktiergerät in Gang zu setzen. Dann: »Je disais donc, euh, qu’est-ce que vous recherchez, Laurence Alia?« Darauf er: »Ecoutez, je … recherche une personne qui comprenne ma langue, et qui la parle même; une personne qui, sans être un paria, ne s’interroge pas simplement sur les droits et l’utilité des marginaux, mais sur les droits et l’utilité de ceux qui se targuent d’être normaux.« Darauf folgt, kaum lesbar in hauchdünn rosafarben umrandeten schwarzen Buchstaben auf schwarzem Grund sein Titel: Laurence Anyways. Zu der klaren 80er-Jahre-Typografie beginnt der träge Beat von Fever Rays If I Had a Heart. Das erste Bild: streng symmetrisch ein leerer Raum. Akkurate Gardinen tauchen alles in ein muffiges Beige, von irgendwoher weht frische Luft durch das offene Fenster hinter den Gardinen herein. Es folgen weitere fast verlassene Räume: ein Schlafzimmer mit einer Matratze und ein paar Koffern auf dem Boden, eine Küche, in der kaum eine halbleere Kaffeetasse herumlungert. Die Einstellungen immer streng komponiert: in paralleler Fahrt zur Wand oder senkrecht von ihr weg. Eine schmutzige Tür fällt ohne Geräusch ins Schloss. Auf der Tonspur weiterhin Fever Ray: »This will never end ’cause I want more.« Im Gegenlicht, nur als Schatten, verlässt eine Person mit langen Haaren, hohen Schuhen und im Kostüm dieses Haus. Verschiedene Einstellungen auf

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Menschen, die etwas (die Person, die gerade das Haus verlassen hat?) anblicken, ignorieren, nicht wagen anzuschauen, von oben herab mustern, kaum zur Kenntnis nehmen, fragend hinterherschauen … Kaderfüllendes Beige, wie das der trostlosen Wohnung, löst sich in Nebel auf, aus dem heraus die Person tritt, nun von vorn. Das Kostüm ist grau und hat rosafarbene Applikationen, die sich in ihrem Nagellack wiederfinden. Zwischen weiteren Zuschauer_innen halb von der Seite, halb von hinten immer wieder sie, immer ohne Gesicht. Schließlich sie genau von hinten, die Kamera nähert sich ihr, deutet eine Bewegung über ihre Schulter an, sie dreht den Kopf etwas nach rechts. Durch die herabhängenden dunklen Haare sehen wir kaum eine Nase. Schnitt und sie verschwindet im beigefarbenen Nebel. Wie soll man Laurence ansehen? Filme und Gesichter haben keine Rückseite, dafür aber Gegenüber. Manchmal schafft es ein Gegenüber nicht, einem ins Gesicht zu sehen. Man denkt dann vielleicht: »Ist irgendetwas mit mir?« Und schaut umso genauer in das Gesicht-Gegenüber: Was sieht es? Wer Laurence als Person, was Laurence als Film ist, bestimmen die Gesichter gegenüber. Immer wieder tauchen im Film die symmetrischen Räume auf und immer wieder tauchen Gesichter auf, die wie Porträts kadriert werden und sogar in die Kamera schauen oder die Person anschauen, aus deren Perspektive die Kamera gerade blickt oder mich anschauen, das Gegenüber des Films. Die anfängliche Frage »Qu’est-ce que vous recherchez?« muss auch ich mir stellen lassen, wenn ich ihm gegenübersitze. Laurence Anyways ist eine Antwort auf diese Frage. Immer wieder gibt es hinter den Porträt-Gesichtern im Film Wände, streng parallel zum Bild, die auffällig gemustert sind, den Gesichtern etwas Malerisches oder Grafisches geben und mich mich umdrehen lassen, um zu sehen, was die Wand hinter mir mit meinem Gesicht macht. Mehrfach beschweren sich Leute im Film, dass sie nicht ordentlich angesehen werden: Regarde-moi si je te parle.

Wer bin ich für diesen Film? Was will er von mir? »Schau mich an, wenn ich mit dir spreche, aber halte Dein Maul. Du hast kein Recht mit mir zu sprechen, Du hast kein Recht mir Fragen zu stellen, Du dumme Kuh.« So brüllt Fred, Laurences Freundin, einmal eine alte Kellnerin an, die denkt, sie müsste Fragen über sie, über ihn, sie beide stellen. »Ne me parle pas!« Laurence und ich, wir sind Gegenüber füreinander. Eine exten-

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sive Oberfläche voller Oberflächen. Eine bewegte Enzyklopädie der 80er- und 90er-Jahre-Mode, ein Katalog des Designs zwischen 1989 und 1999, eine endlose Studie von Tapeten, Make-up, Teppichen, Pullovern, Polstermöbeln. Und eine Schalloberfläche, groß wie Bette Davis Eyes, die nach Oxygène schreien, Beethovens 5. vs. Enjoy the Silence, Tschaikowsky brüllt 1812 Tous les Cris les S.O.S. So wie Laurence die Menschen um sie herum überfordert bis sie schreien, sie hinauswerfen, vor ihr weglaufen, überfordert Laurence, der Film, mich optisch und akustisch so lang, bis aus meinen Tränen Sturzbäche geworden sind. Thomas Elsaesser hat hervorgehoben, dass es dem Melodram nicht um einen psychologischen Zugriff auf Personen geht, sondern dass seine mythenbildende Funktion aus »Struktur und Artikulation der Handlung« entspringt (Elsaesser 1994: 95). Die Erfahrung einer Figur als Formalismus klingender und bunter Oberflächen. Das filmische Melodram ist eine Erzählform, in der alle Konflikte und alle Weltzugänge als spezifische Erfahrungsweisen (modes of experience) sublimiert sind (vgl. ebd.: 102). Das führt einerseits zu einer zugespitzten narrativen Vereinfachung, in der jedes Objekt und jedes Dekor fast schon simplizistisch mit Bedeutung aufgeladen wird. Im Film selbst wird das kommentiert, wenn Laurence neue Freunde trifft, die den Kalauer, den man aus ihrem Namen machen kann, bis zum Exzess auswalzen. Als sie sich als Laurence Alia vorstellt, ruft Momy Rose entzückt aus: »Comme les chiottes?«, und die allgemeine Heiterkeit kennt keine Grenzen mehr. Das Holzschnitthafte, die Übertreibung, das Zuviel allen Dekors und aller Dinge erlaubt den Regisseuren dieser Filme die großen moralisch-ethischen Konflikte ihrer Zeit auf kleinstem Raum mit größter Intensität auszuagieren. »Die Welt ist geschlossen und auf die Figuren wird eingewirkt.« (Ebd.: 110) Elsaesser schreibt über das klassisch-amerikanische Familienmelodram der Technicolor-Ära und interpretiert es als spezifische Ausdrucksform einer spezifischen Zeit: »Im Hollywoodmelodram spielen Operettenfiguren die Tragödien der Menschheit durch, als welche sie die Widersprüche der amerikanischen Zivilisation erfahren.« (Ebd.: 126) Das kann Laurences Welt nicht sein. Er spielt im Kanada der 1990er, seine Schauspieler_innen sind keine Stars, Hollywood ist weit entfernt. Laurence ist eine hermetische Welt aus Zitaten der postmodernen Pop- und Designkultur des Westens nach dem Ende des kalten Krieges aus Neonlicht, Kunstpelzen, Synthieklängen und 80er-Jah-

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re-Haarspray. Zur Disposition steht hier eben nicht die amerikanische Kleinfamilie oder die sexuelle Befreiung der Frauen. Hier stehen Identitäten als solche zur Debatte, ganz gleich, ob sie hetero- oder homosexuell, männlich, weiblich oder trans sind: »une personne qui, sans être un paria, ne s’interroge pas simplement sur les droits et l’utilité des marginaux, mais sur les droits et l’utilité de ceux qui se targuent d’être normaux.« Sich für normal halten zu können, das ist der Skandal des Films. Laurence wird bis zum Schluss keine kohärente Identität annehmen, ihr sex spielt bestenfalls am Rand eine Rolle, ihre Stimme bleibt seine Stimme. Anders als die Heldinnen der klassischen Melodramen ist Laurence auch nicht die Hauptfigur, mit der ich im Kino um ihr eigenes Schicksal um die Wette weine. Während um sie herum die Gefühle bis zur Erschöpfung wüten, bleibt sie fast immer ruhig. Man hat manchmal den Eindruck, sie beobachtet sich selbst wie von außen oder anders gesagt: so wie ich sie. Laurence, c’est moi. Filme und Gesichter haben keine Rückseite, dafür aber Gegenüber. Im Gegenüber von Laurence und mir produzieren sich hybride Identitäten, die keine Stabilität haben. Ich kann mich als Bildkörper erfahren, über den andere Bildschichten gelegt werden können. Laurence wird als Körperbild denkbar, das mit meinen Tränen weint. Ein kinematografischer Leihkörper, bei dem unklar ist, wer wem was genau leiht (vgl. Voss 2013). Xavier Dolan hat in einem Interview einmal gesagt, dass er in seinen Filmen nicht Geschichten mit Musik illustriert, sondern dass bei ihm zuerst die Musik da ist, der dann Bilder gegeben werden. Ich rede mit Freunden immer zuerst über einen Trailer und die Lieder, zu denen ich ihn schneide, bevor ich überhaupt das Drehbuch schreibe. Das ist absurd, ich weiß. Aber für mich beginnt alles mit der Musik und endet mit ihr, wenn ich den Film im Schneideraum bearbeite und ihm seine finale Tonart gebe. (Dolan 2014)

Zu den hybriden Identitäten der Zeitklammer 1989 – 2012 gehören Popsongs so wie Make-up und Kinofilme. Dolan hat überall zurückgewiesen, dass es in seinen Filmen »nur« um schwule oder queere Themen ginge, dass Laurence Anyways »nur« ein Film über Transsexualität sei. So sehr er Filme über Identitäten macht, fragt er immer auch nach der Filmhaftigkeit von Identität selbst. Laurence, c’est moi, und seitdem es den Film gibt, ist Laurence ein Gegenüber meiner Identität, das (zum Glück!) nicht mehr zu tilgen ist.

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P. S.: La liste des choses qui nous enlèvent beaucoup de plaisir Seit Laurence und Fred schreibt man Listen von Dingen, die uns große Freude bereiten. Auf meiner Liste steht weit oben, in der Nähe von Laurence, auch Lorenz, der Freund, der mir beigebracht hat, dass die Liebe zum Kino mit dem intellektuellen Vergnügen es zu analysieren und zu beschreiben, nur immer größer wird. Danke dafür, Lorenz, anyways.

Referenzen Dolan, Xavier (2014): Interview. Xavier Dolan: »Für mich gibt es kein Hetero-Kino«, in: Queer.de, 25.01.2014, dauerhaft archiviert unter: https://web.archive.org/web/20180813144551/https://www. queer.de/detail.php?article_id=20897. Elsaesser, Thomas (1994): »Tales of Sound and Fury: Anmerkungen zum Familienmelodram«, in: Cargnelli, Christian/Palm, Michael (Hg.): Und immer wieder geht die Sonne auf: Texte zum Melodramatischen im Film, Wien: PVS Verleger, S. 93–128. Voss, Christiane (2013): Der Leihkörper: Erkenntnis und Ästhetik der Illusion, Paderborn: Fink.

André Wendler, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Forschungsreferent im Deutschen Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig.

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ALL THIS CAN HAPPEN (2013) Friedrich Balke Walter Benjamin hat in einer kurzen Rezension zu Robert Walser die »Sprachverwilderung« seiner Texte und die serielle Form seiner Literatur hervorgehoben, die sich nach den drei Berliner Romanen in einem anschwellenden Strom von Kurzprosatexten über den Leser ergießt, ihre irritierende »Geschwätzigkeit« sowie ihr umständlich allegorisierender Stil, vor allem aber die »verkommenen Helden«, die seine Texte bevölkern, Tagediebe, Strolche und Nichtstuer, die gerne einmal mitten in der Dienstzeit die Büroarbeit unterbrechen, um einen Spaziergang zu unternehmen (Benjamin 1991: 325 f.). Mit einem Begriff, den Tom Gunning für die frühen Non-Fiction-Filme vor der Entstehung des klassischen Dokumentarfilms geprägt hat, kann man Walsers Prosa als eine Literatur der Ansichten definieren. Ansichten sind an der Emphase erkennbar, mit der im frühen Kino die »Darstellung und Befriedigung der Schaulust« (Gunning 2015: 161) betrieben wurde. Dass sich die Ästhetik der Ansichten problemlos auf filmische und literarische Praktiken übertragen lässt, also zwischen unterschiedlichen Medien zirkuliert, hängt damit zusammen, dass, wie Gunning zeigt, »der Unterschied zwischen dem Arrangierten und dem einfach Aufgenommenen« so schwer zu behaupten und zu belegen ist, »dass ich die Trennlinie zwischen beiden nicht allzu deutlich ziehen möchte« (ebd.). Strukturell gesehen ist für die Ansicht entscheidend, dass sich in ihr die Präsentation eines Ortes oder eines Vorgangs mit dem Blick auf sie überlagern, der Blick also nicht unkenntlich gemacht, sondern eigens markiert wird: »Die Kamera agiert im wörtlichen Sinne als Tourist, Zuschauer oder Forscher, und das Vergnügen an dem Film liegt in diesem Surrogat des Blickens.« (Ebd.: 162) Walsers Obsession, einen Raum und Strecken, die man schon zu seiner Zeit mit technischen Vehikeln zurücklegt, zu durchwandern (Walser starb bekanntlich auf einer

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letzten Wanderung), erlaubt es, seine Literatur als eine ins Schreiben transponierte Form des Phantom-Rides zu begreifen, mit dem ein bestimmtes Territorium einigermaßen planlos durchquert und visuell angeeignet wird, nicht durch eine Art von panoramatischem Überblick, wie er am Beginn der neuzeitlichen Landschaftserfahrung steht (vgl. Ritter 1980), sondern in Form einer Kette von unendlich fortsetzbaren, literarisch protokollierten visuellen Eindrücken. 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, schreibt Walser einen langen Prosatext mit dem Titel Der Spaziergang, der die Ansichten-Literatur vorführt und zugleich metapoetisch situiert. »Eines Vormittags«, so beginnt die Erzählung, »da mich die Lust, einen Spaziergang zu machen, ankam, setzte ich den Hut auf den Kopf, lief aus dem Schreib- oder Geisterzimmer weg und die Treppe hinunter, um auf die Straße zu eilen« (Walser 1978: 209). Was dann folgt, ist ein Bericht über die zahlreichen Stationen, die der Spaziergänger auf seinem Weg, der ihn schließlich in einen Wald führt, ansteuert, ein detaillierter Bericht über die vielen, oft skurrilen Begegnungen, die ihn mit unterschiedlichsten Personen, Orten und Institutionen, aber auch mit allerlei nichtmenschlichen Lebewesen, physikalischen Erscheinungen und technischen Apparaten in Verbindung bringen, ohne dass er, mit einer Ausnahme, irgendwo je länger verweilen würde. Siobhan Davies und David Hinton, die durch ihre choreografischen Arbeiten und Tanzproduktionen für Bühne und Film bekannt geworden sind, haben die Nähe von Ansichten-Film und Ansichten-Literatur zum Anlass genommen, einen Footage-Film zu montieren, der vordergründig Walsers Geschichte ›dramatisiert‹ (All This Can Happen). Aber was heißt hier Dramatisierung? Auf einer bestimmten Ebene kann man durchaus sagen, dass der Film Bilder für den Text Walsers findet, der auf der Tonspur von einem Schauspieler (John Hefferman) in Ausschnitten vorgelesen wird. »Freudig war ich auf alles gespannt, was mir etwa begegnen oder entgegentreten könnte. Meine Schritte waren gemessen und ruhig. Indem ich meines Weges ging, ließ ich, so viel ich weiß, ziemlich viel würdevolles Wesen sehen.« (Ebd.) Davies und Hinton zeigen dieses würdevolle Wesen durchaus. Aber noch bevor es sich entfalten kann, ganz zu Beginn des Films, also noch bevor der Spaziergänger sich auf den Weg gemacht hat, und damit im hors champ der Erzählung, montieren sie ganz andere Bilder, die auf einen anderen ›Spaziergang‹ verweisen. Ein Spaziergang nämlich, so hatte es vielfach in der Publizistik von 1914 geheißen, sollte der Krieg für die deutschen Soldaten werden, die im August zur Front auf brachen.

All This Can Happen (2013)

Walsers Text berührt das Ereignis des Kriegs verschiedentlich, für die Ikonografie der Mobilmachung und Auf bruchsstimmung der Augusttage am markantesten an einer Stelle, wo der Spaziergänger an einer Bahnschranke auf einen vorbeisausenden Eisenbahnzug »voll Militär« trifft: »Alle aus den Fenstern schauenden, liebem, teurem Vaterlande Dienste erweisenden Soldaten einerseits und das unnütze Zivilpublikum andererseits grüßten einander gegenseitig fröhlich und patriotisch, eine Bewegung, die rundherum liebliche Stimmung verbreitete.« (Ebd.: 256) Die ersten Bilder des Films zeigen die sattsam bekannten Szenen des Grabenkriegs und der Materialschlachten nur am Rande. Sie konzentrieren sich stattdessen auf die versehrten Kriegsheimkehrer, die erst wieder lernen müssen, was Spaziergänger ganz selbstverständlich beherrschen: gehen. All This Can Happen setzt daher mit Bildern ein, die Männer zeigen, die gar nicht oder nur noch mit Mühe gehen können, die auf dem nackten Boden der Lazarette und Krankenzimmer liegen, sich winden und rollen, sich unter allergrößter Kraftanstrengung aufzurichten versuchen, die, kaum dass sie stehen, gleich wieder hinfallen; Männer, die in Betten liegen oder sich ängstlich unter Betten kauern, weil sie sich immer noch im Graben wähnen; Männer, die aus Krankenbetten heraus mit unablässig zitterndem Kopf den Blick der Kamera erwidern und an denen Krankenwärter hantieren, die die Köpfe ihrer Patienten wie in einen Schraubstock halten, gewaltsam hin und her bewegen, um ihnen die unkontrollierten Bewegungsreflexe abzugewöhnen. Davies und Hinton arbeiten intensiv mit der Technik des split screens. Zwei, vier, acht, gelegentlich bis zu 12 Bildfelder werden montiert, um, wie in den Eröffnungssequenzen, die Gegenwart der traumatisierten Körper mit dem hors champ des Grabenkrieges zu verbinden, dem diese Körper mit knapper Not entronnen sind. Auch der Schnittplatz erweist sich wie der Arbeitsplatz, den der Schriftsteller in Walsers Erzählung verlässt, zugleich als ein »Geisterzimmer«: room of phantoms, wie es in der englischen Übersetzung der Erzählung heißt. Der Spaziergänger weiß von all diesen institutionellen Versuchen der Wiederherstellung elementarer körperlicher Bewegungsfähigkeit nichts, genauer müsste man sagen: die ausgestellte und provozierende, die frivole Harmlosigkeit, mit der der Text den Bewegungstrieb des Schriftstellers zelebriert, verweist unterschwellig auf die Gewalt der erzwungenen Bewegungslosigkeit und der Maßnahmen zur Wiederherstellung der Mobilität.

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Im Film verdichtet sich die Heterogenität des geöffneten Bildarchivs durch die serielle Anordnung der Bilder, die allein durch die Erzählstimme in ein narratives Gefüge überführt werden. All This Can Happen ignoriert jede Aufteilung des Filmbildes nach Genres und Bildtypen, gerade weil die verwendeten Bilder ihren Bezug zu den ›Alltäglichkeiten‹, die sie zeigen, auf ganz unterschiedliche Weise regulieren. Material mit Spielhandlung steht unmittelbar neben Material aus »Aktualitätenfilmen«, wie Gunning Non-Fiction-Filme vor dem Dokumentarfilm nennt. Chronofotografische Sequenzen sind mit Fotogrammen verbunden und stellen einen Bezug zu prä-kinematografischen Bildtypen her. Hinzu kommen Verfahren, wie die exzessive Binnenkadrierung des Filmbildes, das Spiel mit Abstand und Nähe ebenso wie mit Schärfe und Vagheit sowie die fortwährenden Arretierungen der Bewegungsdynamik, die die Bilder für einen Moment einfrieren, sie stottern lassen und zu temporären Tableaus anordnen: All diese Verfahren, verstärkt durch das voice-over der Erzählerstimme, nähern den Film der Struktur einer audiovisuellen Enzyklopädie an. All This Can Happen blättert mit den Mitteln des Films die Welt auf, also jene ›Massen‹ oder Mengen an randständigen und alltäglichen Personen, Dingen, Ereignissen und Zeichen, die unterhalb der Wahrnehmungs- und Beschreibungsschwelle dessen verharren, was einer Kultur bewahrenswert erscheint. Eher schon ließe sich von bewegten, kinematografischen Wunderkammern sprechen, deren theatrales Anordnungsprinzip ja ebenfalls quer zu den Sortierungs- und Klassifizierungsformen steht, die thematisch ausdifferenzierte Museen kennzeichnen.1 Der Spaziergänger muss, wie eine narrativ undisziplinierte Kamera, seinen »sorgsamen Blick uneigennützig, unegoistisch überallhin schweifen, herumstreifen lassen, ganz nur im Anschauen und Merken aufzugehen fähig sein« (ebd.: 252 f.): Artistische Bewegungen auf dem Hochgerüst, riskante, unfallträchtige Fahrten von Autos, die die Spiele der Kinder auf der Straße durchkreuzen, mechanische Bewegungen von Spielzeugfiguren, automatisierte 1 | Zum »Theater der Exponate«, das die uns geläufigen Grenzziehungen zwischen naturalia und artificialia souverän ignoriert, vgl. Bredekamp 2004: 23–44, sowie te Heesen 2012: 30–47. Wunderkammern und Raritätenkabinette versammelten Disparates: »Eine unendlich erscheinende Anzahl von Gegenständen, von denen jeder einzelne für sich eine ganze Welt an Wissens- und Erkenntnismöglichkeiten bereithält, findet sich an einem Ort.« (Ebd.: 36)

All This Can Happen (2013)

Handbewegungen von Arbeitern, der Wurf einer Handgranate, das Sensen von Getreide und Melken der Kühe, Boxkämpfe und Straßenkämpfe, Polizeiknüppel, Schüsse und Verletzte, Babys, die sich ebenfalls mühsam aufzurichten versuchen, schaukelnde Kinderwagen, Wind und Wasser, elektrische Entladungen am Himmel: Die Liste der Bewegungen, für die der Film Bilder findet, die aus der Epoche der Erzählung stammen, ließe sich fortsetzen. »Dies alles kann immerhin vorkommen« (ebd.: 254), all this can happen. Walsers Literatur der listenförmig präsentierten Ansichten geht offenbar, ähnlich wie bei Kafka (vgl. Zischler 2017), aus Kinobesuchen hervor, in denen der serielle Blick und die Lockerung der Kausalitäten, die nicht länger als »Kohärenzmarker« (von Contzen 2017: 223 f.), fungieren, systematisch eingeübt worden sind (vgl. Engell 2012). Davies und Hinton streuen Fotogramme und chronofotografische Bildschnipsel in ihren Film ein, die durch die Zerlegung homogener Bewegungswahrnehmungen in diskrete Phasen das unendliche Kleine und Ephemere jeder Bewegung zur Anschauung bringt, das häufig unterhalb der Wahrnehmungsschwelle auch des Kinematografischen bleibt, das sich allzu glatt der Bewegungsillusion des Aktionsbildes verschreibt. Irgendwann, keine Frage, kommt alle Bewegung, darüber kann die Frenesie der Reihungen nicht hinwegtäuschen, an ihr literarisches oder filmisches Ende. In Walsers Erzählung hat aber nicht das »finstere Loch« das letzte Wort, das Grab, in das alle Bewegung zielsicher hineinführt, sondern wie so oft in seinen Texten, ein »jugendfrisches Mädchen« (Walser 1978: 276), dessen Gesicht der Film in märchenhaften close-ups zeigt; was wie ein visuelles Opium wirkt, das selbst den Tod vergessen macht, erweist sich aber als eine Figur des temporären Entzugs: »Umstände ermunterten sie zu verreisen, wodurch sie mir entschwand« (ebd.: 277), heißt es lakonisch. Auch sie, das Mädchen, ist also unterwegs, eine Reisende. Erzählung wie Film, die so viele Bewegungen auf ihren Seiten und in ihren Kadern versammeln und vors Auge stellen, enden mit einer Bewegung, die in ein hors-cadre führt, das sich den protokollarischen Erfassungsund Aufzeichnungstechniken aller Bewegungen beider Medien entzieht. Mit einer Schwarzblende endet daher Walsers Erzählung: »und alles war dunkel« (ebd.: 277).

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Referenzen Benjamin, Walter (1991): »Robert Walser«, in: Ders.: Aufsätze, Essays, Vorträge. Gesammelte Schriften, Bd. 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 324–328. Bredekamp, Horst (2004): Die Fenster der Monade. Gottfried Wilhelm Leibniz’ Theater der Natur und Kunst, Berlin: Akademie Verlag. Contzen, Eva von (2017): »Grenzfälle des Erzählens: Die Liste als einfache Form«, in: Koschorke, Albrecht (Hg.): Komplexität und Einfachheit. DFG-Symposion 2015, Stuttgart: Metzler, S. 221–239. Engell, Lorenz (2012): »Folgen und Ursachen. Über Serialität und Kausalität«, in: Kelleter, Frank (Hg.): Populäre Serialität: Narration – Evolution – Distinktion. Zum seriellen Erzählen seit dem 19. Jahrhundert, Bielefeld: transcript, S. 241–258. Gunning, Tom (2015): »Vor dem Dokumentarfilm. Frühe Non-Fiction-Filme und die Ästhetik der Ansicht«, in: Wöhrer, Renate (Hg.): Wie Bilder Dokumente wurden. Zur Genealogie dokumentarischer Darstellungspraktiken, Berlin: Kadmos, 155–174. Heesen, Anke te (2012): Theorien des Museums zur Einführung, Hamburg: Junius. Ritter, Joachim (1980): »Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft«, in: Ders.: Subjektivität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 141–163. Walser, Robert (1978): »Der Spaziergang«, in: Ders.: Das Gesamtwerk III. Poetenleben – Seeland – Die Rose, Zürich, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 209–277. Zischler, Hanns (2017): Kafka geht ins Kino, Berlin: Galiani.

Friedrich Balke ist Professor für Medienwissenschaft unter besonderer Berücksichtigung der Theorie, Geschichte und Ästhetik bilddokumentarischer Formen, und Sprecher des Graduiertenkollegs »Das Dokumentarische. Exzess und Entzug«.

BIRDMAN OR (THE UNEXPECTED VIRTUE OF IGNORANCE) (2014) Dominik Maeder

I. Kein Schnitt. Nur das Fließen der Bilder, von jeglicher Montage ununterbrochen. Hektisch, manchmal atemlos, bisweilen chaotisch. One-Shot. Ein Spektakel der Bewegung: Ausgestellt ist die Mobilität eines Kameradispositivs, das ebenso mühelos durch die engen, verwinkelten Korridore der backstage eines Broadway-Theaters1 navigiert wie es – im bruchlosen Übergang – durch die Hochhausfluchten Manhattans fliegt. Ein Spektakel auch der Plansequenz: Nahtlos geht hier Aktion in Folgeaktion nicht nur über: Noch die Idee von Aktion und Reaktion wird hier ersetzt durch einen Fluss von Tätigkeiten, die sich zwar in zeitlicher Sukzession ereignen, aber doch nicht als distinkte Ereignisse bildlich hervorgebracht werden. Ein Sich-Ereignen ohne Ereignisse, ein Tätigsein ohne Taten, eine Dauer ohne Zeit, ein tracking ohne shot. Die Permanenz dieses Handelns bringt dann auch keine Handlung hervor, sondern bildet ein Geflecht aus Beziehungs-, Affekt- und Motivlagen aus. Dies ist nicht nur genauso verworren wie der es behausende labyrinthische Raum, sondern auch wie die diegetische Situation des Films, die von der Probe und Aufführung eines Theaterstücks – Raymond Carvers What We Talk About When We Talk About Love – handelt und entsprechend von Redundanzen und Iterationen durchzogen ist.

1 | Gedreht wurde zwar auch am Originalschauplatz, dem St. James Theatre am Broadway. Dies wurde jedoch nur für die on-stage-Szenen in Beschlag genommen. Die backstage-Szenen, die den größeren Teil des Films ausmachen, sind im Studio entstanden. (Vgl. Ng 2014)

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II. Es gibt natürlich viele Schnitte in Alejandro González Iñárritus' Birdman or (The Unexpected Virtue of Ignorance): Unsichtbare, digitale Schnitte, die in den Obstakeln verborgen sind, auf welche die Kamera bei ihren zahllosen Achsendrehungen und Tiefenfahrten stößt.2 Eine Wand, eine Tür, ein Vorhang, ein Fenster, der Rücken einer Person, was auch immer der Kamera in den Weg tritt: ein möglicher Schnitt. Pseudo-One-Shot. Zu ihrer Verbergung dient aber die Bewegung selbst. Die Schnitte werden nur selten in Großaufnahmen und fixierten Objekten versteckt, sondern in Kameraschwenks und -fahrten an Wänden entlang, auf Türen zu, um Personen herum. Immer hat die Bewegung Primat vor dem Schnitt, selbst noch dort, wo er in der digitalen Postproduktion eskamotiert wird. Die Virtuosität dieser Eskamotage der Montage aber ist selbst Moment einer operationalen Ästhetik und so auch kinematographischer Schauwert, der zumindest den cinephilen Part des Publikums zur forensischen Filmanalyse animiert:3 Denn wir sehen, dass wir die Schnitte nicht-sehen. Das Unsichtbare ist eigentlicher Attraktionswert des Visuellen im Zeitalter des post-cinema.

2 | Die genaue Zahl der Schnitte ist aufgrund ihrer handwerklich exzeptionellen Verbergung schwer zu bestimmen und kann letztlich aus der Zuschauerperspektive auch in der frame-by-frame-Betrachtung nur erraten werden. Eine visuelle Analyse, die mehr als 60 Schnitte identifiziert (dabei aber wohl noch etliche verpasst), findet sich bei ShuttleworthVisuals 2015. 3 | Die Begriffe der operationalen Ästhetik sowie des forensischen Fantums entlehne ich Mittels Arbeit zur Serialität (2015). Eine operationale Ästhetik hebt demzufolge das ›Wie‹ der Gemachtheit (bei Mittell: einer Erzählung) hervor, während ein forensisches Fantum sich dank digitaler Vorführtechnik auf die minutiöse Analyse von Einzelbildern (bei Mittel: zum Zwecke narrativer Verdichtung) versteift. In Absetzung von diesem Fokus auf serielle Narration würde sich die operationale Ästhetik von Birdman auf die kinematographische Fabrikation der Bilder selbst beziehen. Die Postproduktion wird hier zum special effect gerade wo sie jeglichen Montage-Effekt unterdrückt. Mit der zunehmenden Bedeutung digitaler Postproduktion potenziert sich nicht zuletzt die Möglichkeit von Anschlussfehlern, da zum Teil ganze Elemente eines Bildes (Spiegel etwa) digital ausgetauscht werden. Diese Anschlussfehler lassen sich dann wiederum als ›fails‹ in einem forensic reading der Bildoberf lächen aufspüren und videographisch ausstellen. (Für Birdman siehe etwa reelly 2015)

Birdman or (The Unexpected Vir tue of Ignorance) (2014)

III. Der Traum vom schnittlosen Film mag so alt sein wie das klassische Erzählkino und das von ihm präferierte System des continuity editing selbst: »making each shot the logical outcome of its predecessor« (Bordwell 1985: 163). Und was wäre logischer als das nahtlose Aufgehen einer Einstellung in die nächste unter völliger Umgehung der Montage? Iñárritus' Pseudo-One-Shot exponiert so den Traum einer Montage, die sich selbst unsichtbar machen will, indem er diese Unsichtbarkeit selbst wieder sichtbar werden lässt. Der Traum des schnittlosen Films wird als Traum vorgeführt. Die maximal homogenisierte und kohärenzierte filmische Raumzeit von Birdman bringt just kein Aktionsbild der großen Form4 hervor, sondern wird von einem Aktionsfluss durchzogen, der sämtliche Akteure mit hinfortreißt. Die Akteure sind hier schließlich nicht nur immer schon Theaterschauspieler, konstitutiv mithin nicht sie selbst, sondern eigentlich Passanten, an denen die extreme Bildbewegung vorbeiläuft, denen das fremde wie das eigene Tätigsein, ja die Welt überhaupt passiert. Komisch verdichtet wird dies während der Generalprobe: Die Hintertür zum Bühneneingang fällt hinter dem Protagonisten (des Films wie des Stücks) während einer Raucherpause zu und klemmt seinen übergeworfenen Mantel ein, so dass er nur mit Unterhose bekleidet über den belebten Times Square und an hunderten Passanten (und deren Handykameras) vorbei das eigene Theater wieder zur Vordertür betreten muss.

IV. Kino also über das Kino. »Stop being so self-conscious« lässt der Film seine Figuren an mehreren Stellen sagen und kommentiert sich, noch der eigenen Selbstbewusstheit gewahr, darin fraglos auch selbst: Denn Protagonist Riggan Thompson ist nicht nur Regisseur, sondern vor allem auch abgewirtschafteter ehemaliger Superheldendarsteller – der titelgebende Birdman – der sich am Theater eine zweite Karriere zu verdienen gedenkt. Gespielt wird er von Batman-Darsteller Michael Keaton. Auch weitere tragende Rollen sind mit Emma Stone (The Amazing Spider-Man), Edward Norton (The Incredible Hulk) und Naomi Watts (King Kong) durch Darsteller mit Blockbusterhintergrund besetzt. Stop being so self-conscious

4 | Begriffsprägung im Anschluss an Burch bei Deleuze 1997, S. 193 ff.

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indeed.5 Nur kennt dieser Film keinen Halt, sondern nur das Fließen, das mal Stromschnelle, mal seichtes Plätschern, mal schwindelerregender Wasserfall, aber immer Bewegung ist, die sich in den alternierenden Perkussionsrhythmen auch auditiv wiederfindet. Ein Denken des Kinos nicht über die Repräsentation als Objekt, sondern in und durch die audiovisuelle Bewegung des Kinematographischen selbst.

V. Die irrgartenhafte Verschachteltheit, ja: die Inkonsistenz der Welt, die der Film schon formal und übrigens auch in seinem Titel zum Prinzip erhebt, stellt sich so auch diegetisch ein: Von missgünstigen Theaterkritikern, eitlen Kollegen, Selbstzweifeln, finanziellem Druck, nostalgischen Fans umstellt, die in ihm immer nur den Superheldenvogel von vor 30 Jahren erblicken, sowie von einer sonoren, ihn verspottenden inneren Stimme getrieben, transformiert sich Riggan Thompson immer wieder in jenen omnipotenten Birdman, der via Telekinese jegliches Hindernis aus dem Wege räumt, galant durch Midtown Manhattan fliegt oder die Welt auf Kommando in einen Actionfilm zu verwandeln vermag. Diese Macht ist für den alternden Mann dabei nicht nur höchster Genuss körperlicher Potenz, sondern auch immer Macht des Films selbst: »You’re a movie star, remember?«, gemahnt ihn seine Birdman-Stimme und ruft die ökonomische Potenz des Hollywood-Kinos auf, »We grossed billions, are you ashamed of that?«, »You are a global force«.

VI. Die Bilder machen auch dies entsprechend bruchlos, auf ein Fingerschnippen hin mit: Vollkommen fluide integrieren sie die visuellen Spezialeffekte des Blockbusterfilms in ihren eigenen, magischen (?) Realismus. Und leicht wie ein Vogel hebt auch die Kamera als FlugZeug spektakulär ab und gleitet mühelos wie ihr Protagonist durch die Lüfte. Die Bilder nehmen so auch die schizophrene Perspektive des Birdman von Anfang an ein, lassen es dabei jedoch konstitutiv offen, ob wir es mit einer Perspektive oder doch der Welt selbst zu 5 | ›Self-conscious‹ meint dabei im Englischen nicht nur das Selbstbewusstsein im Sinne des Sich-Gewahrseins, sondern vor allem auch die aus dieser Selbstbezüglichkeit resultierende Hemmung, die hier gegen die schauspielerische Kreativität gesetzt wird.

Birdman or (The Unexpected Vir tue of Ignorance) (2014)

tun haben.6 Das Kamerabewusstsein selbst steht unter der Bedingung einer dissoziierten Welt, in der Vergangenheit und Zukunft, Ansprüche und Möglichkeiten, Rolle und Leben, Alter und Ego, schließlich das Kino mit sich selbst nicht zur Deckung zu bringen sind: »Look at these people, look at their eyes, they’re all sparkling. They love this shit. They love blood. They love action. Not this talking depressing philosophical bullshit.«

VII. »A thing is a thing not what is talked about it«, besagt schließlich auch ein Zettel, der an Thompsons Garderobenspiegel haftet. Das Auseinanderfallen der Welt in die Dinge und die Rede ist nicht nur weiteres Merkmal für die Inkonsistenz der Welt, sondern ihr medialer Grund: Birdman ist nicht nur Kino über Kino, sondern Film über die mediale Bedingtheit – die ›Mediatisierung‹, würde mancher sagen – der Gegenwart selbst. Nicht bloß, weil wir es hier in der Filmhandlung bereits mit einem Filmdarsteller zu tun haben, der ein Theaterstück aufführt, das selbst Literaturadaption ist und dessen finanzieller Erfolg, so wird es dargelegt, ganz maßgeblich an den Kritiken im Feuilleton hängen wird. Auch das Fernsehen wird in Form des Reality-TVs noch als Verlängerung filmischer Reputationsökonomie vom Birdman-Alter Ego aufgerufen. Über Thompsons Tochter Sam aber lässt Birdman vor allem deutlich werden, dass diese Reputationsökonomie des movie stars im Zeitalter sozialer Medien zum Normalfall für jedermann geworden ist: »Guess what, there’s an entire world out there where people fight to be relevant every single day. And you pretend like it doesn’t exist […]«, hält Sam ihm vor, »You hate bloggers, you mock Twitter, you don’t even have a Facebook page. You’re the one who doesn’t exist.«

6 | Der Film gibt zwar kaum versteckte Hinweise auf den Phantasiecharakter dieser Metamorphosen, etwa wenn der Flug des Birdman vor dem Theatereingang endet, Thompson hineingeht und von einem Taxifahrer verfolgt wird, der seine Bezahlung einfordert. In seinen Bildern aber markiert er diese Sequenzen konsequent nicht als Phantasien – ihre gespaltene Ontologie bleibt stets bestehen.

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VIII. Die Kamera verweilt noch etliche Sekunden nach dem Monolog auf dem Gesicht der jungen Frau, in dem die Empörung langsam dem Schrecken einer Erkenntnis weicht: Nicht der Vater/Birdman ist aus der Welt gefallen. Die Welt hat die in ihm manifest gewordene Dissoziation vielmehr zu ihrem Prinzip erhoben.7 Am Film wie an seinem herausgehobenen Subjekt, dem movie star, beweist sich, dass ein Ding ein Ding und seine Repräsentation zugleich ist. Und dass diese Differenz unaufhebbar bleibt. Als Sam in der Schlusssequenz statt ihres Vaters nur das geöffnete Krankenhausfenster erblickt, schaut sie nicht nach unten zu den Sirenen und hupenden Autos, sondern nach oben zu den Vögeln – und der Film, die Birdmachine, hebt zum Flug an.8

Referenzen Batman (USA, 1989, Tim Burton). Bordwell, David (1985): Narration in the Fiction Film. Madison: University of Wisconsin Press. Deleuze, Gilles (1997): Das Bewegungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. King Kong (USA/Neuseeland, 2005, Peter Jackson). Mittel, Jason (2015): Complex TV. The Poetics of Contemporary Television Storytelling, New York: New York University Press. Ng, David (2014): »In Birdman, Broadway’s St. James Theatre plays itself«, in: latimes.com, 10.11.2014, http://www.latimes.com/entertainment/arts/culture/la-et-cm-birdman-broadway-st-jamestheatre-20141109-story.html, [11.4.2018]. reelly (2015): »Every Fail In Birdman | Everything Wrong With Birdman, Mistakes and Goofs«, YouTube-Video vom 28.03.2015, https://www.youtube.com/watch?v=VLaeCTtlBkw, [11.4.2018]. ShuttleworthVisuals (2015): »Birdman: Every Cut Analysis«, YouTubeVideo vom 29.04.2015, https://www.youtube.com/watch?v=Oqb6 kpRSxEY, [11.4.2018]. The Amazing Spider-Man (USA, 2012, Marc Webb). 7 | In ähnlicher Richtung ließe sich auch das aufgeführte Theaterstück lesen: als Frage nach der Liebe als Form ultimativer Anerkennung des Selbst durch den/ die andere/n, die sich auch nur im Tod erfüllt. 8 | Vgl. zur Beziehung zwischen Flugbild, dem Superheldenfilm und Birdman Walton 2017.

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The Incredible Hulk (USA, 2008, Louis Leterrier). Walton, Saige (2017): »Becoming Space in Every Direction: Birdman (2014) as Post-Cinematic Baroque«, in: Cinéma & Cie: International Film Studies Journal, Vol. XVI, Issue 26–27: »Post-what? Post-when? Thinking Moving Images Beyond the Post-medium/ Post-cinema Condition«, hg. v. Miriam De Rosa und Vinzenz Hediger, S. 65–76.

Dominik Maeder, M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Abteilung Medienwissenschaft, Universität Bonn. Arbeitsschwerpunkte: Television Studies, Seriality Studies, Gouvernementalität.

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GRACE AND FRANKIE (2015 – …) Hartmut Winkler Babyboomer sind, zumindest in Deutschland, zwischen 1955 und 1969 geboren; Babyboomer also werden jetzt irgendwann 60! Babyboomer sind nicht mehr ganz jung und doch noch nicht alt. Babyboomer regieren die Welt. Mittelschicht-Babyboomer sind wohlerzogen, eloquent und relativ guter Laune, denn Babyboomer sind die letzten, die eine akzeptable Rente bekommen. Babyboomer wohnen komfortabel, haben Geschmack und die entsprechenden Mittel; Babyboomer sind mobil und sie reisen gern; Präferenz ist September, wenn die anderen nach Hause müssen. Dann sind die Babyboomer mit den anderen Babyboomern allein. Und längst dreht man für Babyboomer eigene Filme und Serien, ein Beispiel ist Grace and Frankie. Der Plot ist sehr konstruiert: Zwei Männer steigen aus ihren Ehen aus, um ihre schwule Liebe zu leben; beide Paare waren vorher befreundet. Interessant aber ist, dass die Serie nicht die Männer, sondern ihre Frauen in den Mittelpunkt stellt. Beide kommen aus unterschiedlichen Welten; Grace ist die bürgerliche Geschäftsfrau, tough und im Schneiderkostüm, Frankie lebt die siebziger Jahre und macht grausige esoterische Kunst. Von ihren Männern verlassen ziehen die beiden Frauen zusammen, aus pragmatischen Gründen, weil es ein gemeinsames Strandhaus gibt. Und wenn das einfach wäre, hätte es keine Serie gegeben. Die Rätsel beginnen beim Casting. Warum – in aller Welt – lässt man Figuren, die laut Drehbuch siebzig sein sollen, von Achtzigjährigen spielen? Jane Fonda, Lily Tomlin, Sam Waterston und Martin Sheen sind zwischen 1937 und 1940 geboren. Sind das Babyboomer? Geht es überhaupt um diese Generation?

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In den USA hat der Babyboom zehn Jahre früher als in Europa begonnen. Dennoch aber: Warum Achtzigjährige? Meine These ist, dass es um Projektionen geht. Zum einen rückwärts, in die Vergangenheit; so bringt Fonda ihre lange Geschichte in die Serie ein; 60er Sex-Symbol in Barbarella und Cat Ballou, Exponentin der 68er und – »Hanoi-Jane« – des Vietnam-Protests, Ehefrau von Tom Hayden, einem Bürgerrechtsaktivisten, dann die Aerobic-Videos in den 80ern, und als Schauspielerin, das ist selten, bis heute gefragt. Martin Sheen ist assoziiert mit Apocalypse Now, wie Lily Tomlin mit den Filmen von Robert Altman; Sam Waterston bringt eine spezifische moralische Autorität aus seiner Rolle in Newsroom mit … Babyboomer sind fast obsessiv mit Geschichte und speziell mit den siebziger Jahren befasst. Babyboomer hatten da ihre große Zeit, und auch für die, die sie selbst verpasst haben, bleiben die Siebziger das Orientierungs-Jahrzehnt. Unterstellt wird ein Weltbild, das sich – comicartig schwarz-weiß – in zwei Welten trennt: bürgerliche Karriere, Einfamilienhaus und Erfolg auf der einen Seite, Polit-Freaks, Hippies, Aussteiger auf der anderen. Die Realität dieser Generation – selbstverständlich – war das nicht: Babyboomer haben es immer verstanden, beides zusammenzubringen, gleichzeitig oder in der Folge, indem sie nach dem Aussteigen wieder den Einstieg fanden. Die Medien aber lieben es eben polar. Und ganz offenbar tragen die Babyboomer an den Siebzigern schwer. So viele Hoffnungen, so viel Auf bruch, so viel Verkennung und Illusion, so viel Lust, unvermutet eingebrochen in das puritanische Erbe, Rockmusik selbst auf Beerdigungen und im Altenheim … Apropos: Die zweite Projektion geht vorwärts, in die Zukunft. Babyboomer sind gezwungen, sich mit dem Alter auseinanderzusetzen. Alter und Tod der Eltern sind der erste Bruch; dann geht es Schlag auf Schlag; gute Freunde sterben viel zu früh; andere werden krank; körperliche Einschränkungen, der Stress des Berufs, Rücken und Knie machen sich zunehmend bemerkbar. Und offenbar sind Achtzigjährige besser geeignet, die beiden Projektionen, Vergangenheit und Zukunft, zusammenzubringen. Zumal, wenn es solche handverlesenen Alterchen sind: Fonda sieht aus wie sechzig, wie immer hier Sport, eiserne Disziplin und plastische Chirurgie zusammengespielt haben; Waterston hat das Privileg, auf äußerst attraktive Weise gealtert zu sein, und Sheen, inzwischen ein kleines Dickerchen, nutzt die Rolle und dreht noch mal

Grace and Frankie (2015 – …)

richtig auf. Alle vier sind bei Weitem zu kregel; dieses Privileg, das ist abzusehen, wird wahrscheinlich nicht jeder haben. Babyboomer schleppen – ein Schatz oder eine Last? – ihre Vergangenheit mit. Und mit der Vergangenheit Themen, die – der zeitliche Abstand als V-Effekt – irgendwie schräg zu den heutigen stehen. Das Thema Sex ist mit dem Coming-out der Ehemänner gesetzt. Die Serie entscheidet sich für die Toleranz, die heute Mainstream ist, und die doppelbödig bleibt, weil die Diskriminierung so atemberaubend schnell beiseitegelegt wurde. Die Serie würzt die Toleranz durch die These, dass das schwule Verhältnis das eigentlich spießigste ist. Nicht nur, dass geheiratet wird, das schwule Paar besteht auch auf Treue; und der Eine macht ein großes Fass auf, als diese in Frage steht. Der Trailer zeigt eine Hochzeitstorte, die – ästhetisch wie inhaltlich wenig subtil – vor den Augen der Zuschauer in Stücke zerfällt. Etwas experimenteller ist die Serie, wo sie Liebe und Sexualität im Alter zum Thema macht. Als beide Frauen einen Versandhandel gründen, geht es nicht mehr um Kosmetik, die Branche, in der die ›Bürgerliche‹ ihr Geschäft hatte, sondern um Sex-Toys speziell für ältere Frauen. Probleme der körperlichen Liebe im Alter werden mit relativer Offenheit diskutiert; manchmal weiß man nicht, ob die Serie die Sex-Macke, die man den Siebzigern zuschreibt, zum Thema macht, ironisiert, oder schlicht in die Gegenwart übernimmt. Das Thema Toleranz wird verallgemeinert. Nicht nur, dass durch das Umsortieren der Paare eine Patchwork-Sippe entsteht; Patchwork war schon vorher das Muster, insofern zwei der Söhne Adoptivsöhne sind, und einer davon Afroamerikaner, was die Race-Dimension auf die gut verdauliche Ebene der Nebenfiguren bringt. Alkohol und weiche Drogen sind allgegenwärtig, Tomlin kifft und Fonda säuft, selbstverständlich nur die Figuren; ein Sohn ist auf Entzug. Und um Toleranz geht es auch, wo die männlichen Protagonisten zur politischen Aktion schreiten: Glücklicherweise finden sich einige örtliche Rednecks, die noch nicht ganz auf dem Stand sind und gegen die es ein schwules Theaterprojekt zu verteidigen gilt. Form und Bilderwelt dieses Protests sind Zitat, wieder aus den Siebzigern übernommen; wobei die Serie ausstellt, dass auch für die Beteiligten – alle Lust will Wiederholung – die Wiederaufführung eine Wiederaufführung ist. Ein weiteres Thema der Babyboomer, innerhalb wie außerhalb von Grace and Frankie, sind Lifestyle und Wohnen. Hier ist vor

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allem der Schauplatz, das Haus in La Jolla, wichtig. Würde man Mittelschicht-Babyboomer (rund um die Welt) nach ihren Phantasien fragen, würde ein Strandhaus an der Westküste sicher einen der vorderen Plätze belegen. Der Blick über den Pazifik ist schlicht atemberaubend. Und der Himmel, das Licht von Südkalifornien, bestimmt die Ästhetik der ganzen Serie. Es ist durchgängig hell; zumindest so ist es keine finstere Aussicht, älter zu werden. Zum Lifestyle gehört auch, dass Kochen und Essen eine wichtige Rolle spielen. Als sich die Herren eine gemeinsame Wohnung suchen, leistet man sich endlich das großzügige Ambiente, das man schon lange verdient. Eine geräumige Küche mit großer Kochinsel, immer wieder werden die beiden beim Kochen und Essen gezeigt; im Alter scheint die Liebe durch den Magen zu gehen. Vollständig ausgeschlossen aus dem narrativen Universum sind jene Armen, die, fern von Strandhäusern und Kochinseln, nicht das Glück haben, im Komfort der Mittelschichten zu leben. Sieht man von den Rednecks ab, kommen andere als Mittelschichtfiguren in der Serie nicht vor. Auch das scheint Teil des Lifestyles; und gleichzeitig ein durchaus realistisches Element: Hier wiederholt sich, was die Babyboomer selbst ausgeblendet haben; im offenen oder schweigenden Bündnis mit dem Neoliberalismus haben sie friedlich in ihrer Blase gelebt; Babyboomer beschäftigten sich gern mit sich selbst; bis mit Trump und Orban die Blase platzte. Das letzte der großen Themen ist die Populärkultur. Babyboomer sind die erste Generation, die konsequent von E auf U umgestellt hat, und von Kindheit an in einem populärkulturellen Umfeld lebt. Zitate aus Popmusik, Filmgeschichte und Fernsehen sind in der Serie allgegenwärtig; die Kenntnis wird als Teil der Identität und des gemeinsamen Umraums schlicht vorausgesetzt. Babyboomer verbinden Sinn und Industrie. Die Serie steht für die zusammengefassten Sorgen einer ganzen Generation. In Grace and Frankie wird fast alles durchgespielt, was Babyboomer interessiert oder beschäftigt: Die Schwierigkeiten und Freuden des Alters, das Problem, mit der letzten Phase des Berufs klarzukommen und sich dann, wenn man den Job beiseitelegt, neu zu definieren; den inneren Widerstand, den Staffelstab an die Jüngeren weiterzugeben, Unsicherheiten der Selbsteinschätzung, die Angst davor, irgendwann Souveränität und Handlungsfähigkeit zu verlieren, die Frage, ob man auch in 20 Jahren noch Auto fahren wird.

Grace and Frankie (2015 – …)

Dass Babyboomer in ihre vierte Lebensphase treten, ist offenbar ein transatlantisches Phänomen. Und wenn Europa als Antwort auf amerikanische Zölle als Allererstes (!) die Einfuhr von Harley-Davidsons, Bourbon und Levi’s erschweren will – wen wird es treffen? Die Babyboomer.

Hartmut Winkler, Prof. Dr., war bis 2017 Professor für Medienwissenschaften, Medientheorie und Medienkultur an der Universität Paderborn. Arbeitsschwerpunkte: Medien, Kulturtheorie, Techniktheorie, Alltagskultur, Semiotik.

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STRANGER THINGS (2016) Daniela Wentz

»Just little bits of history repeating« (The P ropellerheads feat. Shirley Bassey, 1997)

I. In der unübersichtlich gewordenen Welt der Serienproduktionen sticht Stranger Things als eine der erfolgreichsten Netflix-Eigenproduktionen heraus. Die Handlung ist für eine Sci-Fi-Mysteryserie vergleichsweise schnell erzählt. Nach dem Verschwinden eines Jungen in der fiktiven Kleinstadt Hawkins in Indiana machen sich unabhängig voneinander seine drei Freunde, seine Mutter und die lokale Polizei auf die Suche nach ihm. Zeitgleich passieren mysteriöse Dinge. Die Freunde treffen auf ein geheimnisvolles Mädchen, das zwar weder besonders gut sprechen kann, noch die einfachsten sozialen Umgangsregeln beherrscht, dafür aber mit telekinetischen und telepathischen Kräften ausgestattet ist. Im Verlauf der ersten Staffel stellt sich heraus, dass unter der Oberfläche der idyllischen Kleinstadt geheime Experimente der Regierung und entsetzliche Wesen aus einer Parallelwelt, genannt »Upside Down«, am Verschwinden des Jungen beteiligt sind, die allesamt bekämpft werden müssen, um ihn zurückzubekommen.

II. Die Serie spielt in den 1980er Jahren, genauer gesagt im Herbst 1983 in der ersten Staffel, in der zweiten ein Jahr später. Von Fans und Kritik wird sie vor allem für ihre historische Detailverliebtheit frenetisch gefeiert. Keine Besprechung, die diese Serie nicht nostalgisch

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Daniela Went z

nennte, kaum eine, die sie nicht als Hommage an die 80er bezeichnete und ohne den Hinweis auf die zahlreichen Referenzen und ihre Identifizierung auskäme. Mit den gleichen Begriffen besetzt und aus ähnlichen Gründen Aufmerksamkeit erlangt hat davor zuletzt Mad Men, dessen erste Staffel immerhin fast eine Dekade zurückliegt. Vor allem in ihrer ganz spezifischen Verschränkung von Historizität und serieller Medialität ist das Besondere der historiographischen Praxis Mad Mens identifiziert worden, die auch für ein genaueres Verständnis der seriellen Historiographie von Stranger Things Aufschlüsse bieten kann (vgl. Niemeyer/Wentz 2014, Schabacher 2013). Mad Men ist, wie jeder Historienfilm, eine mediatisierte Darstellung von Geschichte, die sich über die historische Korrektheit von Kostüm, Kulisse, Requisiten, epochendominante Diskurse und Praktiken sowie ereignisgeschichtliche Referenzen authentifiziert. Die dargestellte Epoche der 60er Jahre hat bereits eine mediale Codierung durchlaufen. Schließlich besteht die Besonderheit der seriellen Historisierung von Mad Men auch darin, dass sie Mediengeschichte behandelt, also nicht nur die politische Geschichte der 60er Jahre, sondern die Geschichte einer »Mediatisierung in dieser Zeit«, womit vor allem die schrittweise Durchdringung des (Berufs-) Alltags mit Medien gemeint ist (Schabacher 2013: 21).

III. Die serielle Historiographie von Stranger Things lässt sich vordergründig zunächst ganz anders an als diejenige Mad Mens. Während Mad Men den Alltag in einer New Yorker Werbeagentur der 60er Jahre erzählt, wird in Stranger Things der weltliche Alltag der nur fiktiven Kleinstadt im Mittleren Westen von übernatürlichen Ereignissen heimgesucht. Abgesehen von der genauen Datierung der Ereignisse verwendet Stranger Things im Vergleich mit Mad Men nur sehr wenige zeitgeschichtliche Referenzen. In der zweiten Staffel sehen wir immer wieder Wahlplakate des Präsidentschaftswahlkampfs zwischen Reagan und Mondale im Hintergrund, ohne dass dieser aber weiter thematisiert würde. Einen »historischen Authentizitätseffekt« (Schabacher) erzeugt die Serie aber dennoch, und zwar vor allem anderen durch die besondere Rolle, die sie den Medien, besser gesagt, der Medienkultur ihrer Epoche zuweist. Keine Minute vergeht ohne eine Referenz an die Filme etwa von Stephen Spielberg und John Carpenter, die Erzählungen von Stephen King oder die Musik von The Clash, The Police

Stranger Things (2016)

und Television. Die Filmposter an den Wänden, Merchandise-Artikel in den Regalen der Kinderzimmer, Videospiele in den Arcades und ins Bild gehaltene Kinokarten sind nicht nur easter eggs für das Detektivspiel, an dem Serienfans sich mindestens seit Twin Peaks erfreuen und spätestens seit Lost und Gilmore Girls Schwarmintelligenz bemühen müssen. Die Verweise auf Medienprodukte und Medienereignisse sind vielmehr gewichtiger Teil der historiographischen Methode der Serie. So wird etwa zu Beginn der zweiten Staffel, die überwiegend am Halloweenwochenende spielt, im örtlichen Kino The Terminator angekündigt, der tatsächlich vor diesem Wochenende 1984 angelaufen ist. Und auch den Trailer bekommen wir im Fernsehen zu sehen. Dieses und die anderen Fernsehfragmente, die es in der Serie zu sehen gibt, Ausschnitte aus Serienund Sitcom-Episoden und Werbespots, sind genau zu dieser Zeit im US-amerikanischen Fernsehprogramm ausgestrahlt worden.

IV. Und weil Stranger Things eine Serie ist, tut sie das, was sie am besten kann: Wiederholen. Dazu Lorenz Engell, Umberto Eco zitierend, der Les Levine zitiert: »Alles im Fernsehen [ist …] eine Wiederholung von allem im Fernsehen.« (Engell 2012: 10) Auch wenn Stranger Things keine Fernsehserie ist, merkt man ihr das konsequenterweise genau nicht an. Über die Kostüme, Kulissen und props hinaus betreibt die Serie auf ganz unterschiedlichen Ebenen und vor allem über wiederholende Momente perfekte Mimikry, – wären wir in den 80ern, würden wir es Simulation nennen – an der Medienkultur der 80er, vor allem an ihren Filmen.1 Der Plot um die (überwiegend) männliche Kindergruppe, die gemeinsam ein Abenteuer erlebt, erinnert nicht von ungefähr an The Goonies oder Stand by me, der wiederum auf einer Kurzgeschichte von Stephen King basiert und mit Stranger Things auch die Gemeinsamkeit teilt, dass kein Schatz, sondern ein verschwundener Junge gesucht wird. Die charakteristischen Büchercover Stephen Kings aus der Dekade sind das Vorbild für das rein typographische Intro der Serie. Am eindrücklichsten sind aber sicherlich die shot by shot-Wiederholungen ganzer Sequenzen von Stand by me, genauso wie fast exakt imitierte Einstellun1 | Dass das Fernsehen und mit ihm die Serie das schon in den 80ern konnten, wissen wir von John Caldwell, der das Fernsehen der 80er in zwei Stile unterteilte: the videographic und the cinematic (vgl. Caldwell: 1995).

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gen aus Close Encounters of the Third Kind, aus Poltergeist und ganze Szenen aus E.T. the Extra-Terrestrial, insbesondere die Verfolgungsjagd. Mit Eleven, dem geheimnisvollen Mädchen mit den Superkräften, hat die Serie auch gleich eine Doppelgängerin für E.T. erschaffen. Gleich mehrmals wird sie ähnlich ausstaffiert, mit Perücke und Kleid oder auch verkleidet als Gespenst, um genau wie E.T. an Halloween unerkannt bleiben zu können. Wird sie nicht mit E.T. verwechselt, dann in der ersten Staffel mit dem verschwundenen Will Byers, für den sie während der Suche immer wieder gehalten wird. Will wiederum hat seinen ganz eigenen Doppelgänger. Seine vermeintliche Leiche entpuppt sich als mit Watte ausgestopfter Fakekörper. Das »Upside Down«, besagte Parallelwelt, ist »like home, but dark and cold«, und damit am besten als hässlicher Zwilling der idyllischen Kleinstadt zu beschreiben. Schließlich die Creators der Serie: »the Duffer Brothers«. Zwillinge, so liest man anderswo. Man weiß nicht, ob sie Vornamen besitzen.

V. Das Casting von Sean Astin in der zweiten Staffel, dem wohl bekanntesten Darsteller aus The Goonies, ebenso wie von Winona Ryder, dem Postergirl der 80er, die in beiden bisherigen Staffeln die Mutter des verschwundenen Jungen verkörpert, ist geradezu kongenial. Wenn Astin als Boyfriend der Mutter sich in der zweiten Staffel an Halloween ausgerechnet als Graf Dracula verkleidet, und damit den Film aufruft, mit dem Ryder berühmt wurde, ist die Hermetik des Referenzzirkels perfekt. Dies alles macht am Ende deutlich, dass vom schrittweisen Prozess einer »Mediatisierung«, wie er in Mad Men für die 60er Jahre thematisiert wird, in Stranger Things keine Rede mehr sein kann. Die Serie zeigt uns die 80er als das, was sie sind: eine durch und durch unter ihren spezifisch medialen Bedingungen stehende Epoche. Besonders eindrücklich wird dies auch am Weltzugang der Kinder, die für das Unbekannte und Mysteriöse um sie herum in den Filmen, die sie gesehen haben und in ihrem Dungeons & Dragons-Rollenspiel immer schon ein Repertoire vorfinden, mit dem das Unbekannte benannt und analysiert werden kann.

Stranger Things (2016)

VI. Mit dieser fiktionalisierenden Rezeptionsweise der unheimlichen Ereignisse durch die Kinder kehrt die Serie upside down, wie wir, die Zuschauer*innen, das Grauen wohl verstehen sollen. Denn die realweltliche politische Situation der 1980er Jahre ist keineswegs nur der historische Hintergrund der Serie. Die besagten Geheimexperimente des vom »Department of Energy« betriebenen »Hawkins Lab« sind auf die Entwicklung von Waffen gegen die Kommunisten und Russen gerichtet. Und sie stehen, so stellt sich heraus, in der Tradition des ganz und gar nicht fiktiven – wenngleich man das glauben könnte – Project MKultra, das seit den 50er Jahren für die CIA illegale Experimente an Menschen durchgeführt hatte. Als Folge dieser Waffenexperimente wird versehentlich das Tor zum »Upside Down« geöffnet. »Like home, but dark and cold« behindern dort Aschepartikel die Sicht auf die dunkle Kleinstadtidylle und riesige Rauchmonster hausen darin. Diese gruselige Fiktion muss als Allegorie auf den realen Nuklearen Winter gelesen werden, der im Jahr 1983 so dicht wie nie zuvor gewesen ist.2

VII. Die zweite Staffel von Stranger Things folgt der Remake-Logik konsequent und trägt den Titel Stranger Things II. Sie spielt ziemlich genau ein Jahr nach dem Verschwinden von Will Byers und es wird sehr schnell klar, dass nichts mehr so ist wie vor diesem Ereignis.

Referenzen Caldwell, John (1995): Televisuality. Style, crisis, and authority in American television, New Brunswick, N.J.: Rutgers University Press. Close Encounters of the Third Kind (USA, 1977, Steven Spielberg). Dungeons & Dragons (USA, 1974 ff., Gary Gygax/Dave Arneson). Engell, Lorenz (2012): Fernsehtheorie zur Einführung, Hamburg: Junius. E.T. The Extra-Terrestrial (USA, 1982, Steven Spielberg). Gilmore Girls (USA, The WB, The CW, 2000–2007). 2 | Siehe dazu den Beitrag von Claus Pias in diesem Band, der zeigt, dass die Welt auch das vor allem aus dem Fernsehen wusste.

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Lost (USA, ABC, 2004–2010). Mad Men (USA, AMC, 2007–2015). Niemeyer, Katharina/Wentz, Daniela (2014): »Nostalgia is not what it used to be. Serial Nostalgia and Nostalgic Series«, in: Niemeyer, Katharina (Hg.): Media and Nostalgia. Yearning for the Past, the Present and the Future, London: Palgrave McMillan, S.129–138. Poltergeist (USA, 1982, Tobe Hooper). Schabacher, Gabriele (2013): »Mediatisierte Geschichte. Serielle Verfahren der Historisierung am Beispiel von Mad Men«, in: Navigationen, Jg. 13, H. 1, Der Medienwandel der Serie, hg. v. Dominik Maeder u. Daniela Wentz, S. 13–30. Stand by me (USA, 1986, Rob Reiner). Stranger Things II (USA, Netflix, 2017). The Goonies (USA, 1985, Richard Donner). The Terminator (USA, 1984, James Cameron). Twin Peaks (USA, ABC, 1990–1991).

Daniela Wentz, Dr. phil, ist Research Associate am Centre for Digital Cultures der Leuphana-Universität Lüneburg und forscht vor allem zu Bildkulturen, Serialität, Diagrammatik und Liebe.

STRANGER THINGS II (2017) Daniela Wentz

0. Was bisher geschah: In der ersten Staffel von Stranger Things verschwindet ein Junge und während der Suche nach ihm, – die am Ende erfolgreich sein wird, wohingegen ein verschwundenes Mädchen nicht zurückkehrt –, wird klar, dass illegale wissenschaftliche Machenschaften der Regierung dazu geführt haben, dass eine todbringende Parallelwelt mit der realen Welt in Kontakt geraten und kaum mehr unter Kontrolle zu bringen ist.

I. 1984, Halloween: Wie im echten Leben ist ein Jahr vergangen. Es geht in dieser zweiten Staffel der Netflix-Serie zunächst und zuvorderst um die Verarbeitung der schrecklichen Ereignisse von vor einem Jahr und den Versuch, wieder in den Alltag zurückzufinden. Will leidet, so anfänglich die Diagnose der immer noch dubiosen Wissenschaftler, an posttraumatischem Stress. Tatsächlich ist er aber, das haben wir ja bereits ein Jahr lang gefürchtet, nun wie Eleven mit dem »Upside Down« in unmittelbarem Kontakt und der Schrecken kehrt noch schlimmer als in Staffel 1 zurück in ihrer aller Leben.

II. Da im Sommer 1984 Ghostbusters in die Kinos kam, müssen die Ausstatter*innen der Serie nicht lange überlegt haben, in welchen Kostümen der heimgekehrte Will und seine drei Freunde einen Großteil der Staffel verbringen. Das sieht sehr niedlich aus, und mit ihren selbstgebastelten Protonenstrahlern wirken sie jetzt noch anrührend-hilfloser als mit dem anderen Retro-Kinderkram, mit

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dem sie in Staffel 1 das Böse bekämpft haben: Walkie Talkies, Amateur-Funkgeräte und BMX-Räder. Auch dieses Mal schaffen sie es nicht ohne die Hilfe von Eleven, dem wegen der illegalen Experimente mit übernatürlichen Kräften ausgestatteten Mädchen. Sie muss sich seit der ersten Staffel, zu deren Beginn sie aus der Gefangenschaft des Labors ausgebrochen ist, vor ihren Verfolgern verstecken. Die Zeit zwischen erster und zweiter Staffel, also den überwiegenden Teil des Jahres 1984, das erfahren wir in Flashbacks, verbringt sie, versteckt und versorgt vom Dorfpolizisten Hopper in einer Hütte im Wald. Dort ist sie zum Nichtstun verdammt und vertreibt sich die Zeit – wir ahnen es – mit Fernsehen: Oreo- und Coca-Cola-Werbung, Sitcoms (Cheers), Filmtrailer (The Terminator). Wir erleben Eleven hier als eine Fernsehzuschauerin, die mit dem Fernsehen alle Stadien der Langeweile durchlebt, wie Lorenz Engell sie – ebenfalls in den 80ern – beschrieben hat: zwischen Handlungshemmung, hektischem Stillstand und stumpfer Gleichgültigkeit (vgl. Engell 1989). Auch von ihrem väterlichen Freund Hopper, der sie zum Verstecken nötigt, erfährt sie nichts anderes als das Schema der Langeweile, wie Engell es für das Fernsehen beschreibt. Sie zählt in ihrem Versteck die Tage, doch ihr Wunsch, die Hütte zu verlassen, wird durch Hopper immer wieder aufgeschoben. Wie das Fernsehen, bei dem zwischen das Angekündigte und sein Eintreffen immer noch andere Bilder geschoben werden, macht Hopper ihr Versprechungen um Versprechungen, nur um sie wieder und wieder zu vertrösten und auf diese Weise hinzuhalten (Engell 1989: 239 f.).

III. Dieses spannungsgeladene und ungeduldige Innehalten, ein Warten ohne Ziel, zu dem Eleven und wir mit ihr verdammt sind, charakterisiert die Grundstimmung der ersten Hälfte der Staffel, in der sich der ganze Horror ankündigt, bevor er wieder voll einbricht. Überhaupt sind Schwellen, zeitliche und räumliche, das bestimmende Motiv der Serie. Da sind etwa die Schwellen zur Parallelwelt. Das große ›Tor‹ zum »Upside Down«, das sich unter dem Labor geöffnet hat und im großen Staffelfinale von Eleven geschlossen werden wird, ist nur einer der Übergänge. Auch an anderen, scheinbar beliebigen Stellen, entstehen immer wieder hautartige bis schleimige, permeable Membranen, aus denen die Monster auszubrechen drohen, die den Figuren umgekehrt aber auch Zutritt in das »Upside Down« verschaffen können. In der zweiten Hälfte der Staffel drängt

Stranger Things II (2017)

das Böse dann großflächig von unten an die Erdoberfläche, was sich vor allem in einer verdorbenen Kürbisernte manifestiert.

IV. In einem temporalen Schwellenzustand befindet sich die erzählte Zeit als diejenige mediale Ära, die Stranger Things etabliert. Wir erleben die 80er zwar als eine mediengesättigte Epoche, aber als eine, die der Digitalisierung ganz unmittelbar und auffallend ostentativ vorausgeht. Medienkommunikation steht zwar im Fokus der Narration, aber ausschließlich mittels analoger, vor allem simpler Technologien, etwa den Walkie Talkies und dem Amateurfunkgerät des schuleigenen AV-Clubs (= audiovisual), dessen Mitglieder sich ausschließlich aus der Jungsclique zusammensetzen. Auch das Fernsehen muss herhalten. Eleven nutzt es zur ganz individuellen Kommunikation. Mit verbundenen Augen setzt sie sich vor den signallosen Fernseher, um auf diese Weise telepathisch mit ihrer Mutter und ihrem Freund Mike – einseitigen – Kontakt aufzunehmen. Brauchte sie zur Kontaktaufnahme in der ersten Staffel noch einen sensory deprivation tank, ist ihr in der zweiten Bildrauschen ein ebenso guter Ersatz. Die meisten der Technologien scheinen darüber hinaus auf ähnlich mysteriöse Weise mit dem »Upside Down« verbunden. Will und andere kommunizieren aus der Parallelwelt in der ersten Staffel mittels des Festnetz-Telefons, das dabei allerdings spektakulär durchbrennt. Ersatz bringen die hauseigenen elektrischen Lampen und zum Zweck der Kommunikation schließlich hastig herbeigeschaffte bunte Weihnachtsbeleuchtung – wahrscheinlich die ästhetisch originellsten Bilder der Serie. Keines der Geräte und Vorrichtungen muss dabei mit dem Stromnetz verbunden sein. Lichter beginnen zu flackern und andere technologische Anomalien kündigen den Terror inter-dimensionaler Monster wie des »Demorgorgons« an.

V. Vor allem die Aufmerksamkeit für das Fernsehen ist für die Haltung der Serie charakteristisch, und das obwohl das gute alte Röhrenfernsehen vor dem Einzug des PCs das weitaus komplexeste Medium in den Haushalten war (vgl. Engell 2012: 14). Aus heutiger Sicht wirkt es beinahe rührend, wenn Mike der staunenden Eleven in der ersten Staffel stolz den hauseigenen Fernseher samt zugehörigem Ruhesessel »La-Z-Boy« präsentiert: »This is my living room, it’s mostly

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just for watching TV. Nice, right? It’s a 22-inch. That’s like ten times bigger than Dustin’s.« (S1E2) Tatsächlich sind die 80er Jahre aus fernsehhistorischer Perspektive eine ausnehmend bewegte Epoche. Sie erleben die Einführung des Kabelfernsehens und damit den Übergang vom Broad- zum Narrowcasting, also zum Zielgruppenfernsehen, als dessen derzeitiger Kulminationspunkt eine Plattform wie Netflix verstanden werden kann. Ästhetisch prägend für die Dekade ist vor allem das neue Musikfernsehen mit seiner Videoclip-Ästhetik. Der Videorekorder schließlich führte nicht nur zu einer grundlegenden Transformation der Medienrezeption, sondern bildete gleichzeitig die technische Bedingung der Herausbildung von TV-Fankulturen und deren Praxis des forensic fandom, zu der Stranger Things in nahezu jeder Einstellung und auf jeder Ebene einlädt. Gerät und dazugehörige forensische Praxis (watch rewind repeat) finden auch Eingang in die Serie selbst, nämlich dann, wenn Joyce Byers mit Hilfe des Videorekorders das »shadow monster« identifiziert und damit herausfindet, dass ihr Sohn noch immer oder jetzt erst recht in unmittelbarer Verbindung mit dem »Upside Down« steht.

VI. Und deshalb kann Stranger Things auch als Reflexion und Projektion des Wandels verstanden werden, ist doch ihr eigentliches Thema und das, worauf sich ihre vielbeschworene Nostalgie richtet, vor allem ihre eigene Vorgeschichte. Mit ihrem Fokus auf diejenigen medialen Werke, die seit den 80ern besonderen Kultstatus erlangt haben und die sie rezipiert, indem sie sie wiederholt, betreibt die Serie selbst forensic fandom, eine Spurensuche, die sich auf ihre eigenen Bedingungen und die Möglichkeiten ihrer Geltung als Kultserie richtet. Es sind schon merkwürdigere Dinge passiert.

Referenzen Cheers (USA, NBC, 1982–1993). Engell, Lorenz (1989): Vom Widerspruch zur Langeweile. Logische und temporale Begründungen des Fernsehens, Frankfurt a.M. u. a.: Lang. Ders. (2012): Fernsehtheorie zur Einführung, Hamburg: Junius. Ghostbusters (USA, 1984, Ivan Reitman).

Stranger Things II (2017)

Stranger Things (USA, Netflix, 2016). The Terminator (USA, 1984, James Cameron).

Daniela Wentz, Dr. phil, ist Research Associate am Centre for Digital Cultures der Leuphana-Universität Lüneburg und forscht vor allem zu Bildkulturen, Serialität, Diagrammatik und Liebe.

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CHRIS MARKER, LES 7 VIES D’UN CINÉASTE – FOLIE DE LA JETÉE (2018) Raymond Bellour Hier ist eine Fiktion, die Umrisse des Realen trägt. Eines schönen Tages im Jahr 1962 taucht Chris Marker in den reinsten Dokumentarfilm ein, den er je gedreht hat. Er befragt eine Vielzahl von Leuten nach den reellsten Realitäten ihrer so unterschiedlichen Leben. Aber dieses Zuviel an Realität zerreißt unter dem Druck eines Bildes. Ein mentales Bild, fix ohne fix zu sein, wie sie es immer sind, ein bewegtes Bild einer unbestimmten Bewegung. Marker wird eines Tages einem der Gesprächspartner, die ihn immer wieder mit Fragen über La Jetée überhäufen, anvertrauen, dass » dieser fünfundvierzig Jahre alte Film […] sich ganz von selbst komponierte […] und ohne dass ich genau verstanden hätte, was ich tat.« Und später in der Libération: »Es war eine Art ›Ecriture automatique‹ – ich drehte gerade Le Jolie Mai […] und am freien Tag des Teams fotografierte ich eine Geschichte, die ich selbst nicht ganz verstand, erst während des Schnitts sind die Puzzleteile zusammengekommen, und nicht ich hatte das Puzzle entworfen.« (Es gab jedoch ein Szenario für La Jetée und einen Vertrag, der viele Punkte genau festlegte, aber das eine entkräftet nicht das andere). La Jetée galt 1962 als der erste Film in der Geschichte des Kinos, der nahezu ausschließlich aus Fotografien besteht. Sofort entstehen weitere (Salut les Cubains von Agnès Varda 1963, dann 1965 der erschütternde Yunbogi no Nikki von Gaisa Oshima, mit dem Marker später in Level Five zusammenarbeiten wird). Aber noch im gleichen Jahr, 1962, realisiert Janusz Majewski einen fünfzehnminütigen Kurzfilm mit dem Titel Album Fleischera, nach einem Fotoalbum aus den Jahren 1940 bis 1944, aufgenommen in Polen von einem Offizier der Wehrmacht. Es ist das gemeinsame Schicksal des Krieges, des Nationalsozialismus und der Todeslager, auf die

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La Jetée Bezug nimmt mit seinen auf Deutsch flüsternden Stimmen der ausgezehrten Sieger des Dritten Weltkrieges, die in den unterirdischen Gängen des zerstörten Paris vor der radioaktiv verseuchten Erdoberfläche Zuflucht gefunden haben. Ein Schicksal, geweiht der unheilbaren Starre des Bildes. Als ob Marker jenseits der bewundernswerten Kamerafahrten von Alais Resnais durch die Baracken von Ausschwitz in Nuit et Brouillard, wo er neben Jean Cayrol als Assistent fungierte, auch der unheimlichen Unbeweglichkeit der geisterhaften Projektionen von atomisierten Körpern auf den Mauern Hiroshimas Rechnung tragen musste, um so eine andere Zeit zu betreten. Für David Rodowick stellt La Jetée das von Gilles Deleuze übersehene filmische Symbol des Kinos des Zeit-Bildes dar, welches die Geschichte von Marker verhandelt (»la race humaine était maintenant condamnée, […] l’Espace lui était fermé, […] la seule liaison possible avec les moyens de survie passait par le Temps.«) Was bleibt ist ein Kino, das sich einer paradoxen Zeitlichkeit weiht, in der das Bewegungsbild bedroht ist, sobald ein Film beschließt, an die unmögliche Übereinstimmung zwischen Fotografie und Photogramm glauben machen zu wollen. Deshalb nennt der Vorspann ihn »Photo-Roman« und nicht Film (und seit der Veröffentlichung des Drehbuches durch Zone Books 1992 »Ciné-Roman«) – ein Film, um den herum das Kino eine tiefe Erschütterung erfährt, um sich schließlich seiner selbst zu besinnen und zu transformieren. Diese Botschaft verkündet La Jetée. Seit einem halben Jahrhundert kommen wir immer wieder auf diesen Film zurück. Im Laufe der Zeit lassen sich die Kommentare als eine Geschichte der Kinokritik und des Kinodenkens lesen. Hier kreuzen sich vor allem zwei Themen: die fortwährende Unbewegtheit der Bilder (noch eindringlicher durch den einzigen Moment, an dem diese Logik gebrochen wird, nämlich wenn die schlafende Heldin plötzlich die Augen zu einem verstörenden Blick öffnet); und das zeitliche Paradox, auf dem der Film gründet, das den anfänglichen Anblick eines sterbenden Mannes durch ein Kind mit der Erkenntnis am Ende des Films zusammenfallen lässt, dass das Kind an diesem Tag den Moment seines eigenen Todes gesehen hat. Der flüchtige Anblick eines Frauengesichtes in eben jenem Moment, am Anfang und am Ende des Films, am Ende der Aussichtsplattform, verleiht dem Film den Anschein einer Handlung: Ein Mann, der hartnäckig an diesem Bild festhält, aus diesem Grund ausgewählt durch die Wächter des ›Lagers‹, damit er eine mentale

Chris Marker, les 7 vies d’un cinéaste – Folie de la Jetée (2018)

Zeitreise unternähme, die ihr Überleben durch diese unwahrscheinliche Umwandlung von Zeit in Raum sichern soll. Die Hoffnung ist vergebens, denn die Bindung des Helden an dieses Bild wird, nach einigen langen Begegnungen mit der erblickten, imaginierten, geliebten Frau bis zur Aussichtsplattform führen, wo er, auf sie zulaufend, von einer tödlichen Kugel getroffen wird, abgefeuert durch den Anführer seiner Folterer. Abgesehen von dem, was der Film zu erzählen scheint, ist auffällig, dass einige Schlüsseltexte, neben vielen anderen, die ihm im Laufe der Jahre gewidmet waren, sich durch ihr Beharren auf dieser oder jener Sichtweise unterschieden. Dass der Film aber diese so unterschiedlichen Lesweisen auf sich vereinen konnte, macht ihn nur noch einzigartiger. Roger Odin wählt einen Titel für seinen Text, der das Argument bereits vorwegnimmt: »Der Spielfilm bedroht durch die Fotografie und gerettet durch die Tonspur.« Gemeint ist damit die Art, wie die Off-Stimme tatsächlich eine Geschichte erzählt, sie kontinuierlich entwickelt und moduliert und wie die Klangelemente – die geflüsterten Stimmen der Peiniger genau wie die prachtvolle Musik Trevor Duncons und des Chors der Alexander-Newski-Kathedrale – die Dramatisierung der Geschichte stützen, gesteigert noch durch die Montage und die Kamerabewegungen im Inneren einiger Bilder. Dieses zwar starke, aber in seinen Augen zu einfache Argument zu verkomplizieren ist das Anliegen von Reda Bensmaïas Text »Du photogramme au pictogramme«. Der Text ist inspiriert durch das Konzept der Psychoanlytikerin Piera Aulagnier, für die ›der Raum und die Zeit ohne Zeit‹ den »Originärprozess« (die archaistische Dimension des Primärprozesses in der Freud'schen Theorie) charakterisieren. Für Bensmaïa produzieren die zahlreichen Überblendungen und Schwarzblenden, die La Jetée interpunktieren, zwischen den Bildern und im Rücken der erzählten Geschichte, Affekte der Verbindung und Zerstörung von Körpern, die wie »Piktogramme« die individuelle und kollektive Geschichte weben. Inspiriert durch einen Aufsatz Bergsons über die Relativität der Gegenwart, entwickelt Philippe Dubois die Idee von La Jetée als eines »›Cinematogramms‹ des Bewusstseins‹«. »La Jetée erzählt uns die Geschichte eines mentalen Films, der ganz und gar in eine Fotografie passen würde, und gleichzeitig ist der Film selbst ein auf Dauer gestelltes Foto.« Dieses Foto ist gleichzeitig Bild der Kindheit und Bild des Todes und damit »eine Verkörperung des Bewusstseins

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als unmittelbares Gedächtnis einer gesamten Dauer«. Letzteres ist der Grund für seinen Vorschlag ›Cinematogramm‹ (»ein Foto, das Film wird«) an der Stelle von ›Fotogramm‹ (»ein Filmbild, das Foto wird«) zu verwenden. – Dubois erwähnt an anderer Stelle die Existenz einer einzelnen Kopie der Brüsseler Kinemathek, in der noch vor dem Vorspann eine erste Einstellung zu sehen ist. Sie zeigt, wie der Held die Aussichtsplattform von Orly entlanggeht, von Weitem gefolgt in einem langen Panoramaschwenk, von dem Marker schließlich nur ein Standbild behalten hat. Chris Darke erklärt den Umstand dieser Einstellung in einer einzigen Kopie in seiner Monographie über La Jetée damit, dass Marker gegenüber dem CNC1 den Einsatz eines Kameramanns begründen musste. Unter Bezug auf den durch den Off-Kommentar hervorgerufenen Effekt schlägt Jean Louis Schefer vor, den Film als eine Art Sammlung für einen Roman oder autobiographisches Schreiben zu verstehen (genau dies ist auch eines der Themen Chris Darkes, der Bezüge herstellt zwischen Markers einzigem Roman, Le Cœur net und La Jetée; auch Michel Chion besteht auf der besonderen Qualität des Kommentarstils). Schefer betont auch, wie sehr dieser Film Teil der großen Tradition der deutschen und französischen Romantik ist, indem er die Frau mit Tod und Auferstehung verbindet (»diese Blume der reinen Liebe, Gegenstand der Nostalgie des Mannes, die Erinnerung an eine Liebe, in ihrem Bild unschuldig werdend«). In einem der ersten Artikel über La Jetée hat auch Roger Tailleur diese Idee der extremen Liebe anhand von Science-Fiction-Geschichten ins Spiel gebracht, die für Marker immer eine wichtige Rolle spielten (»Aelitha« von Protasonow ist einer der drei Einträge des Teils »Kino« in Immemory). Die eindrücklichsten Seiten in Jonathan Crarys 24/7: Schlaflos im Spätkapitalismus verstehen den Film als Betrachtung seiner Gegenwart der frühen sechziger Jahre, der dunklen Zeit der Folter in Algerien, der Kubakrise, der Erinnerung an den Horror der Todeslager und der Zerstörung Hiroshimas – und zugleich eine Zeit, in der das Bewusstsein über die gefährlichen Effekte einer standardisierten, mit Bildern gesättigten Kultur wächst. Dagegen stehe in La Jetée, so Crary, die Imagination als Unabdingbarkeit des kollektiven Überlebens, die Marker wiederum an die Seite früher Untersuchun1 | Anm. d. Übers.: Das Centre national du cinéma et de l’image animée (CNC) ist die staatliche französische Filmförderungsbehörde.

Chris Marker, les 7 vies d’un cinéaste – Folie de la Jetée (2018)

gen des Traums und des Tagtraums treten lasse (Rousseau, Nerval, Proust, Desnos). Es ist bemerkenswert, wie stark die Figur des zum Traum Gezwungenen in La Jetée, der mit seiner Maske nicht zuletzt an lange Nächte im Flugzeug erinnert, mit der Thematik von Crarys Buch im Einklang steht: dem gezielten Schlafentzug (»la police du camp espionnait jusqu’aux rêves«). Im Namen einer vergleichbaren Tragödie, jedoch in einem ganz anderen Kontext, nennt Jean-Luc Alpigiano La Jetée einen »lazarenischen« Film, in Anlehnung an die Perspektive, die Jeany Cayrols Buch Lazarus unter uns (Lazare parmi nous) Anfang der 50er Jahre eröffnet hat. Das Buch nähert sich auf eine ungewöhnliche Weise den Erfahrungen des Konzentrationslagers, abseits der großen historischen Zeugnisse von David Rousset oder Robert Antelme. Vögel, Gemälde, Statuen, Spiegel, sie alle verbinden die Bildwelt Markers mit der lazarenischen Literatur. Cayrol stellt sich bereits die zukünftigen Lager vor, in denen die Peiniger den Opfern noch ihre Träume, ihre letzte Zuflucht wegzunehmen wüssten. Das dritte La Jetée gewidmete Buch von Chris Darke wollte »alles« über diesen 28-minütigen Film sagen, von seiner Konzeption, über seine Rezeption bis hin zu seinen verschiedenen Themen und Gedanken, geduldig herausgearbeitet und kulminierend in der Idee des Lebens und des Todes der Bilder, die für Marker bestimmend ist und die La Jetée von all seinen Filmen am meisten verherrlicht. Jenseits des Bezugs zu Le Coeur net, gibt es einen Verweis auf eine frühere Kurzgeschichte von Marker, Les vivants et les morts2 . Auch ein Bezug zu Markers allererstem (unvollendeten) Film, La Clef des songes, der sich, wie der Titel schon sagt, ebenfalls mit dem Traum beschäftigt und überdies in einer Zeitschrift als »PhotoRoman« veröffentlicht wurde, kann in diesem Zusammenhang hergestellt werden. Ich selbst bin schließlich auch einmal mehr auf den Film zurückgekommen (vgl. Bellour 2012) und habe die einzigartige Wirkung betont, die er auf seine Zuschauer ausübt. Bei jedem Film sind die Erinnerungen, die während der Projektion entstehen, als mentale Bilder weder fix noch bewegt oder vielmehr fix und bewegt. Dies gilt umso mehr für die unbewegten und doch fließenden Bilder von La Jetée. Und vor allem unterliegen diese Bilder der raffinierten Wirkung der Faltung des Films auf sich selbst, von seinem Ende bis zu 2 | Esprit, Nr. 122, Mai 1946, S. 768–785 (gezeichnet Chris Mayor).

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seinem Beginn, von der Kindheit bis zum Tod. Marker sagte über Vertigo, den er nach Angaben des Erzählers in Sans Soleil 19-mal gesehen hat, und dessen »Remake in Paris« La Jetée darstellen soll (wir erinnern uns an die Baumscheiben-Szene in Vertigo, die in La Jetée im Botanischen Garten wiederholt wird), dass er ein zweischichtiger Film sei; wir können uns nicht nicht an die Verdoppelung der Protagonistin erinnern. Mehr noch als ein zweischichtiger Film ist La Jetée auch ein umkehrbarer Film, den man nicht auf eine vernünftige Weise analysieren kann, da er das Bild an sich einer paradoxalen Intensität ist. Außerdem tendieren wir dazu, den Film sofort noch einmal anzuschauen, wenn wir einmal an seinem Ende angekommen sind, um uns der Realität des gerade Gesehenen zu versichern, endlos wie im Inneren einer Zeitschleife. Folie de La Jetée. Sein Wahnsinn bemisst sich auch an der Masse von Bildern, die in den Archiven lagern, einige zeigen bestimmte Momente des Films, aber viele andere auch nicht: Mithin mehr als hundert Kontaktabzüge, die meisten in 24 x 36, einige in 6 x 6, viele haben Löcher durch vorherige Entnahmen (nicht weniger als 3000 Bilder, für einen Film mit 427 Bildern); Nahezu einhundert Abzüge in 13 x 18 nach Serien nummeriert, mit Einstellungslänge auf der Rückseite (einschließlich z. B. 13 Bildern von zerstörten Städten, während der Film nur 10 zeigt). Und schließlich, zwischen anderen verstreuten Elementen, zwei große Ordner, in denen ähnliche Abzüge 4 x 4 auf Doppelseiten angeordnet sind, in dem einen 90 Bilder, in dem anderen 300, darunter viele Aufnahmen des Films, aber eben auch einige unbekannte. All diese Bilder, die zu verschiedenen Dokumenten hinzugefügt wurden (Endschnitt, Drehbuch etc.) sind für die zukünftige Forschung Teile eines Puzzles, von dem der Autor von La Jetée behauptet, es nicht selbst entworfen zu haben. Ohne sich überhaupt mit den vielen Filmen oder Videos aufzuhalten, die von La Jetée beeinflusst wurden, von Terry Gilliams Hollywoodblockbuster Twelve Monkeys (1995) bis zu Manu Lukschs Experimentalfilm Faceless (2007), kann man zwei künstlerische Gesten hervorheben. Die erste ist eine Fotografie von Gérard Rondeau (2010). Sie zeigt eine von Hügeln umgebene Flusslandschaft mit einem schwarzen Rahmen, in dem sich zwei ebenfalls schwarze ineinander verschachtelte Innenrahmen befinden. Ein Satz, der am unteren Rand des kleineren der beiden Rahmen geschrieben steht (»il comprit qu’on

Chris Marker, les 7 vies d’un cinéaste – Folie de la Jetée (2018)

ne s’évadait pas«)3, setzt sich, gebrochen, im größeren Rahmen fort (»du temps«). Der entscheidende Satz von La Jetée ist auf diese Weise auseinandergerissen durch zwei gleichwohl miteinander verbundene, aber inkommensurable Räume und bringt so die zirkuläre Schicksalhaftigkeit des Films zum Ausdruck. Und in dieser »Landschaft mit Zeit« fehlt nicht einmal die Einladung an einen Zuschauer: positioniert in der asymmetrischen Mitte der beiden Rahmen steht ein leerer Hocker am Fluss. Die zweite Geste wird erkennbar in der Masse an Anmerkungen und Notizen über Markers Film durch Thierry Kuntzel in den 1970er Jahren, d. h. in dem Moment, in dem der brillanteste Filmwissenschaftler seiner Generation der Theorie den Rücken kehrt und sich der künstlerischen Arbeit zuwendet, deren Umrisse er jedoch selbst noch nicht kennt. »Er arbeitet nicht mehr ›über‹ La Jetée: La Jetée, – vergessen als Forschungsobjekt –, kehrt immer wieder in seiner Biographie, seinen eigenen Erinnerungen, seinen Vorträgen. Welche Sehnsucht ist damit verstrickt? Wirst du es beenden?« (15.01.77) »Es war wie ein Logbuch von La Jetée, am Rande des Wahnsinns, sich so sehr reinsteigernd, dass man davon verrückt werden konnte, sich ins Leere werfend, ins Bild, um sich dort zu verlieren, um nicht wieder diese tödliche Episode heraufzubeschwören.« (21.01.79) Am Ende formierte sich ein Projekt, um die Analyse in die Praxis zu übersetzen, ausgehend vom brennendsten Punkt der Besessenheit: eine Neubearbeitung von Markers Film nach einer Strategie, deren Geheimnis zusammen mit der Arbeit bis heute verschwunden ist. Der überlieferte Titel jedoch gibt Aufschluss auf das Unterfangen: La Rejetée. So wurde dieser überkommentierte Film zur einer Filmmatrize. Übersetzung: Daniela Wentz mit freundlicher Genehmigung aus © «La folie de la jetée» de Raymond Bellour, in: Chris Marker-L’HommeMonde , Actes Sud / Cinémathèque Française, 2018

Referenzen Album Fleischera (PL, 1962, Janusz Majewski). Alpigiano, Jean-Luc (1997): »Un film ›lazaréen‹«, in: Cinémathèque 12, S. 44–52. 3 | »er hat verstanden, dass man der Zeit nicht entkommen konnte« [Anm. d. Übers.]

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Bellour, Raymond (2012): »Marker forever«, in: Trafic 84, S. 15–21. Bensmaïa, Reda (1988): »Du photogramme au pictogramme : à propos de La Jetée de Chris Marker«, in: Iris 8, S. 8–30. Chion, Michel (2008): Le Complexe de Cyrano. La langue parlée dans les films français, Paris: Cahiers du cinéma, S. 75–80. Crary, Jonathan (2014): 24/7. Le capitalisme à l’assaut du sommeil, Paris: Zones, S. 103–108. Darke, Chris (2016): La Jetée, London: British Film Institute/Palgrave. Dubois, Philippe (2012): »La Jetée ou le cinématogramme de la conscience«, in: Ders. (Hg.): Recherches sur Chris Marker, Paris: Presses Sorbonne nouvelle, S. 8–45. Faceless (A, 2007, Manu Luksch). Immemory (F, 1997, Chris Marker). Le Jolie Mai (F, 1963, Chris Marker). Level Five (F, 1997, Chris Marker). Nuit et Brouillard (F, 1956, Alais Resnais). Odin, Roger (1981): »Le film de fiction menacé par la photographie et sauvé par la bande son. A propos de La Jetée de Chris Marker«, in: D. Château/A. Gardies/F. Jost (Hg.): Cinémas de la modernité, Paris: Klincksieck, S. 147–173. Rodowick, David (1997): Gilles Deleuze’s Time Machine, Durham/ London: Duke University Press, S. 4–5. Salut les Cubains (F, 1963, Agnès Varda). Sans Soleil (F, 1983, Chris Marker). Schefer, Jean Louis (1999): »A propos de La Jetée«, in: Images mobiles, P.O.L, S. 131–137. Tailleur, Roger (1963): »Entre quatre opéras«, in: Artsept 3, S. 77–80. Twelve Monkeys (USA, 1996, Terry Gilliam). Vertigo (USA, 1958, Alfred Hitchcock). Yunbogi no Nikki (JP, 1965, Gaisa Oshima).

Raymond Bellour ist Literatur- und Filmwissenschaftler. Bis zu seiner Emeritierung war er Directeur de Recherche am CNRS (Paris). Forschungsschwerpunkte: Filmtheorie, Filmanalyse, Literatur und zeitgenössische Videokunst.

TO BE CONTINUED ...