Filmbildung: 2., vollständig überarbeitete Auflage 9783748600145

Von Applikationsarten und physikalischen Aspekten der Trocknung über polymer- und physikochemisch orientiertes Basiswiss

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German Pages 240 [243] Year 2018

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Filmbildung: 2., vollständig überarbeitete Auflage
 9783748600145

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Peter Mischke/Bernd Strehmel

Filmbildung in modernen Lacksystemen 2., überarbeitete Auflage

Umschlagsbild: Vege/Adobe Stock

Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Peter Mischke und Bernd Strehmel Filmbildung in modernen Lacksystemen, 2., vollständig überarbeitet Auflage Hannover: Vincentz Network, 2018 Farbe und Lack Bibliothek ISBN 978-3-74860-014-5 © 2018 Vincentz Network GmbH & Co. KG, Hannover Vincentz Network, Postfach 6247, 30062 Hannover, Germany Das Werk einschließlich seiner Einzelbeiträge aus Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urhebergesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmun-gen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchtnamen, Warenzeichen und Handelsnamen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass solche Namen ohne weiteres von jedermann benutzt werden dürfen. Vielmehr handelt es sich häufig um geschützte, eingetragene Warenzeichen. Das Verlagsverzeichnis schickt Ihnen gern: Vincentz Network, Plathnerstr. 4c, 30175 Hannover, Germany Tel. +49 511 9910-033, Fax +49 511 9910-029 E-mail: [email protected], www.farbeundlack.de Satz: Vincentz Network, Plathnerstr. 4c, 30175 Hannover, Germany

FARBEUNDLACK // BIBLIOTHEK

Peter Mischke/Bernd Strehmel

Filmbildung in modernen Lacksystemen 2., überarbeitete Auflage

Mischke/Strehmel: Filmbildung in modernen Lacksystemen, 2. Auflage © Copyright: 2018 Vincentz Network GmbH & Co. KG, Hannover

Inhalt

Auf ein Wort Um es gleich vorweg zu sagen: Mit Filmbildung ist hier nicht „Bildung durch Filme“ gemeint, wie man nach Eingabe dieses Begriffs in eine gut bekannte Internet-Suchmaschine meinen könnte. Es geht hier natürlich um die Bildung von Filmen aus Beschichtungsstoffen, vor allem bei Lacken. Eine Studentin fragte mich bei der Abfassung der ersten Auflage: „Kann man denn darüber ein ganzes Buch schreiben“? Diese Frage traf genau ins Schwarze. Denn in der Tat findet man in gängigen Lacklehrbüchern unter der Überschrift bzw. dem Stichwort Filmbildung meistens nur ein paar Seiten. Doch bei genauerem Hinsehen fällt auf, dass die Filmbildung in der Fachliteratur und in Fachgesprächen über Beschichtungstechnologie natürlich fast ständig behandelt oder wenigstens tangiert wird, ohne dass einem dies explizit bewusst (gemacht) wird. Und damit ist auch schon eine Problematik angesprochen, die der Behandlung dieses Themas innewohnt: Wie grenzt man den Stoff gegen die Gebiete Applikation, Chemie/Rezeptierung und Messtechnik bzw. gegen die übrige aktuelle Literatur über Lacke ab. Wie weit soll man neueste Spezialentwicklungen berücksichtigen. Und nicht zuletzt: Wo liegt der optimale Pfad zwischen praxisorientierter Anschaulichkeit und wissenschaftlicher Tiefe. Als Alleinautor der ersten Auflage bin ich mit der Intention an die Abfassung des Buches gegangen, die Grundprinzipien der Filmbildung in großer Breite und thematischer Ausgewogenheit darzustellen, ohne dabei zu sehr in andere Reviere einzudringen, zu theoretisch zu werden oder reine Spezialitäten anzuhäufen. Dabei habe ich meine eigenen Fachkenntnisse und didaktischen Erfahrungen aus der Hochschullehre ebenso eingebracht wie zahlreiche Informationen aus mir direkt zugänglichen Monographien und Zeitschriften wie „Farbe und Lack“. Nach einer kurzen Klärung der wichtigsten beschichtungstechnologischen Grundbegriffe wird die Applikation als erster Schritt zu einer fertigen Beschichtung vorgestellt. Dann werden physikalische Aspekte der Trocknung behandelt. Breiten Raum nimmt der vor allem polymer- und physikochemisch orientierte Grundlagenteil in der Mitte des Buches ein. Dadurch soll auch der nicht akademisch-chemisch vorgebildete Leser in die Lage versetzt werden, die folgenden spezielleren Inhalte des Buches zu verstehen, ohne dazu erst ein umfangreiches Lehrbuchstudium absolvieren zu müssen. In der zweiten Hälfte des Buches werden die grundlegenden Filmbildeprinzipien bzw. Beschichtungssysteme behandelt. Über die Untersuchungsmethoden zur Filmbildung wird im Anhang 4 ein kurzer Überblick geliefert. Doch wer sollte dieses Buch nun warum lesen? Für wen ist es geschrieben? Da wären u.a. zu nennen die –– Studierenden in beschichtungstechnologischen Fach- und Hochschulstudiengängen, die ihre Kenntnisse zwischen reiner Technik einerseits und reiner Lackchemie andererseits vertiefen und abrunden wollen; –– fachlichen Ein- und Umsteiger, die ein gut durchlesbares, nicht mit Einzelfakten und/oder Spezialisierungen überfrachtetes Lehrbuch suchen; –– Fachleute aus der betrieblichen Beschichtungspraxis, die über ihre Praxiserfahrung hinaus die Frage „Warum...“ stellen, um die vielen beobachteten Einzeleffekte besser einordnen und bei Problemen gezielter eingreifen zu können.

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Schließlich kann das Buch für besonders interessierte Laboranten und Techniker interessant sein, wenn sie ein tieferes Verständnis der Filmbildemechanismen erlangen wollen. Für die nun vorliegende zweite Auflage wurden einige Korrekturen, im Wesentlichen aber Ergänzungen, Aktualisierungen und kleinere Textverbesserungen vorgenommen. Besonders zu erwähnen ist die hinzugekommene Mitwirkung von Prof. Dr. Bernd Strehmel von der Hochschule Niederrhein als Coautor. Er hat insbesondere großen Wert auf die Integration neuer Technologien der photonischen Trocknung gelegt. Sie kann chemisch und physikalisch erfolgen. Interessant sind dabei in jedem Fall Betrachtungen zu LEDs und selbstverständlich die Lasertrocknung. Wir hoffen, dass auch die zweite Auflage viel Freude und Erkenntnis beim Lesen bringt. Willich und Krefeld, im Juli 2018 Peter Mischke und Bernd Strehmel

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FARBEUNDLACK // BIBLIOTHEK

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Das Standardwerk der industriellen Lackiertechnik kombiniert wichtiges Basiswissen von der Lackherstellung bis zum Lackierprozess. Neue Rohstoffe, Verfahren und Applikationstechniken werden umfassend beschrieben. Die Pflichtlektüre für die Lackbranche! 2., überarbeitete Auflage, 2014 863 Seiten // gebunden // 179,- € Bestell-Nr.: 682 // eBook: 682_EBOOK

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Lackformulierung und Lackrezeptur BODO MÜLLER UND ULRICH POTH Die Entwicklung von Lacken ist ein kreativer Prozess – und erfordert gleichzeitig eine solide wissenschaftliche Basis. Genau diese Basis liefert das Buch „Lackformulierung und Lackrezeptur“ – mit allen wichtigen physikalischen und chemischen Grundlagen, um erfolgreich praxisgerechte Formulierungen zu entwickeln. 4., überarbeitete Auflage, 2017 // 324 Seiten // gebunden 169,- € // Bestell-Nr.: 875 eBook: 875_EBOOK

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www.farbeundlack.de/bibliothek

Inhalt

Inhalt 1 Einführung���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 11 1.1 Grundbegriffe........................................................................................................................ 11 1.2 Allgemeine Zusammensetzung von Beschichtungsstoffen......................................... 13 1.3 Allgemeine Rezepturdaten.................................................................................................. 14 1.4 Grundlegende physikalische Eigenschaften.................................................................... 17 1.4.1 Dichte....................................................................................................................................... 17 1.4.2 Viskosität und Fließverhalten............................................................................................ 17 1.4.3 Oberflächenspannung.......................................................................................................... 19 1.5 Klassifizierung der Filmbildung......................................................................................... 20 2 Applikation��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 21 2.1 Streichen, Rollen, Walzen, Gießen, Fluten...................................................................... 21 2.1.1 Streichen und Rollen............................................................................................................ 21 2.1.2 Walzen..................................................................................................................................... 21 2.1.3 Gießen..................................................................................................................................... 22 2.1.4 Fluten....................................................................................................................................... 22 2.2 Tauchlackieren (Tauchen)................................................................................................... 23 2.2.1 Konventionelles Tauchlackieren......................................................................................... 23 2.2.2 Elektrotauchlackieren........................................................................................................... 23 2.2.3 Autophorese........................................................................................................................... 26 2.3 Spritzlackieren....................................................................................................................... 26 2.3.1 Pneumatisches Spritzen (Druckluft-Spritzen)................................................................. 27 2.3.2 Hydraulisches Spritzen (Airless-Spritzen)....................................................................... 28 2.3.3 Heißspritzen........................................................................................................................... 28 2.3.4 Spritzen mit überkritischem Kohlendioxid..................................................................... 29 2.4 Elektrostatisches Lackieren................................................................................................. 30 2.4.1 Elektrostatisch unterstützte konventionelle Spritzverfahren...................................... 31 2.4.2 Elektrostatische Hochrotationsverfahren........................................................................ 31 2.4.3 Rein elektrostatische Verfahren......................................................................................... 32 2.4.4 Besondere Effekte des elektrostatischen Lackierens..................................................... 32 2.5 Sonstige Applikationsverfahren für flüssige und pastöse Materialien..................... 33 2.6 Allgemeine Applikationsbedingungen............................................................................. 34 2.7 Pulverlack-Applikation......................................................................................................... 34 2.7.1 Pulverlacke.............................................................................................................................. 34 2.7.2 Elektrostatisches Pulversprühen........................................................................................ 35 2.7.3 Pulversinter-Verfahren......................................................................................................... 37 3 Untergrundbenetzung, Verlaufen, Ablaufen, Kantenflucht.......................................39 3.1 Untergrundbenetzung.......................................................................................................... 39 3.2 Verlaufen................................................................................................................................ 42 3.3 Ablaufen.................................................................................................................................. 46 3.4 Kantenflucht........................................................................................................................... 47

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Inhalt 4 Physikalisch-technische Prinzipien der Lacktrocknung und -härtung....................49 4.1 Konvektionstrocknung......................................................................................................... 49 4.2 Infrarottrocknung................................................................................................................. 53 4.2.1 Physikalische Grundlagen................................................................................................... 53 4.2.2 Technische Infrarotstrahler................................................................................................ 54 4.2.3 Strahlungseintrag in das Lackierobjekt............................................................................ 55 4.2.4 Lasertrocknung...................................................................................................................... 59 4.3 Chemische Trocknung......................................................................................................... 61 4.3.1 Allgemeines zur chemischen Trocknung mit photonischen Quellen........................ 61 4.3.2 UV-Strahler............................................................................................................................. 64 4.3.3 UV-Strahlungsintensität und -dosis.................................................................................. 67 5 Allgemeine Grundlagen zum Verständnis der Filmbildung.......................................71 5.1 Polymere................................................................................................................................. 71 5.1.1 Grunddefinitionen................................................................................................................. 71 5.1.2 Homo- und Copolymere...................................................................................................... 73 5.1.3 Mittlere Molmasse................................................................................................................ 74 5.1.4 Polymergrundtypen.............................................................................................................. 75 5.1.5 Molekülknäuel........................................................................................................................ 75 5.1.6 Zwischenmolekulare Kräfte und Aggregatstrukturen.................................................. 76 5.1.7 Polymernetzwerke................................................................................................................ 78 5.1.8 Glasübergang......................................................................................................................... 80 5.2 Lösemittel und Polymerlösungen...................................................................................... 83 5.2.1 Lösemittel............................................................................................................................... 83 5.2.2 Polymerlösungen................................................................................................................... 86 5.3 Wässrig-disperse Systeme.................................................................................................. 92 5.3.1 Grundbegriffe und Einteilung............................................................................................ 92 5.3.2 Echte und kolloidale Lösungen.......................................................................................... 93 5.3.3 Primärdispersionen.............................................................................................................. 95 5.3.4 Sekundärdispersionen und Emulsionen.......................................................................... 96 5.4 Diffusion.................................................................................................................................. 96 5.5 Grundprinzipien organisch-chemischer Reaktionen..................................................... 98 5.5.1 Allgemeines............................................................................................................................ 98 5.5.2 Grundsätzliches zum Ablauf organisch-chemischer Reaktionen................................ 99 5.5.3 Chemische Kinetik..............................................................................................................101 5.5.4 Polare Reaktionen...............................................................................................................103 5.5.5 Radikalische Reaktionen....................................................................................................104 5.5.6 Pericyclische Reaktionen...................................................................................................105 6

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Physikalische Trocknung..................................................................................................107 6.1 Physikalische Trocknung aus Lösungen.........................................................................107 6.1.1 Lösemittelübergang Film-Umgebungsluft und Wärmebilanz...................................107 6.1.2 Zeitlicher Verlauf des Trocknungsprozesses.................................................................109 6.1.3 Lösemittelauswahl..............................................................................................................113 6.1.4 Abdunstvorgänge bei wässrigen Systemen..................................................................114 6.1.5 Filmbildner für physikalisch trocknende Lacke............................................................116 6.2 Physikalische Filmbildung aus Dispersionen................................................................117

Inhalt

6.2.1 Wässrige Primärdispersionen..........................................................................................117 6.2.2 Wässrige Sekundärdispersionen.....................................................................................123 6.2.3 Emulsionen...........................................................................................................................124 6.2.4 Nichtwässrige disperse Systeme.....................................................................................126

7 Oxidative Vernetzung (oxidative Trocknung)..............................................................127 7.1 Allgemeines und Bindemitteltypen.................................................................................127 7.2 Mechanismen der oxidativen Vernetzung.....................................................................130 7.2.1 Isolierte Doppelbindungen...............................................................................................130 7.2.2 Konjugierte Doppelbindungen.........................................................................................132 7.3 Sikkative................................................................................................................................133 7.4 Hautverhinderung...............................................................................................................135 7.5 Einflüsse auf die oxidative Trocknung...........................................................................136 8 Härtung von Nasslacken durch Stufenreaktionen.....................................................137 8.1 Allgemeines..........................................................................................................................137 8.2 Polyaddition und Polykondensation...............................................................................137 8.2.1 Formale Prinzipien der Molekülvergrößerung und Vernetzung...............................139 8.2.2 Physikalisch-chemische Grundprinzipien der Vernetzung.........................................143 8.3 Wichtige Vernetzungsreaktionen (Auswahl)................................................................147 8.4 Ausgewählte Vernetzungsreaktionen im Detail...........................................................153 8.4.1 Vernetzung durch Polyurethanbildung..........................................................................153 8.4.2 Vernetzung von Epoxidharzen.........................................................................................159 8.4.3 Härtung von Harzpolyolen mit Formaldehyd-Kondensationsharzen.......................164 8.4.4 Vernetzung von Kieselsäureestern und Sol-Gel-Materialien.....................................168 8.4.5 Allgemeines zu High-Solid-Lacken..................................................................................169 9

Filmbildung von Pulverlacken.........................................................................................171 9.1 Allgemeines zu Pulverlacken und ihrer Verfilmung....................................................171 9.2 Bindemittel und ihre Vernetzungsreaktionen...............................................................172 9.2.1 Hybridpulver........................................................................................................................172 9.2.2 Epoxidpulver........................................................................................................................173 9.2.3 Polyesterpulver....................................................................................................................173 9.2.4 Acrylatpulver........................................................................................................................175 9.2.5 Allgemeines zur Gelierung und Vernetzung.................................................................176 9.3 Chemisch-physikalische Aspekte der Filmbildung......................................................176 9.3.1 Physikalische Grundprinzipien.........................................................................................176 9.3.2 Wirkung von Additiven, Mattierung...............................................................................179

10 F  ilmbildung durch Polymerisation................................................................................183 10.1 Allgemeine Polymerisationsmechanismen....................................................................183 10.2 Strahlenhärtung..................................................................................................................193 10.2.4 Wässrige Bindemittel.........................................................................................................204 10.2.5 Dual Cure..............................................................................................................................205 10.3 Härtung ungesättigter Polyester......................................................................................205

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Inhalt 11 Jenseits der Filmbildung: Selbstheilung.......................................................................209 11.1 Selbstheilung von oberflächlichen Kratzspuren...........................................................209 11.2 Strukturelle Selbstheilung................................................................................................210 Anhang 1: Anhang 2: Anhang 3:  Anhang 4: 

Zur Orchard-Gleichung......................................................................................212 Zur WLF-Gleichung.............................................................................................214 Zur Gelpunkt-Theorie von Flory und Stockmayer.......................................216 Prüfmethoden zur Filmbildung........................................................................218

Literaturverzeichnis...................................................................................................................224 Autoren����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������231 Index���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������232

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1.1

Grundbegriffe

1 Einführung 1.1

Grundbegriffe

Das Erzeugen fester, haftender, organisch-chemisch basierter Schichten bzw. Filme auf verschiedensten Untergrundmaterialien (Substraten) nennt man Beschichten. (Anorganische Schichten nennt man Überzüge; sie sind nicht Gegenstand dieses Buches.) Das gebrauchsfertige Ergebnis ist die Beschichtung; sie kann, je nach eingesetztem Beschichtungsstoff, z.B. einem Lack, einer Dispersionsfarbe, einer Bodenbeschichtungsmasse oder einer Spachtelmasse dekorativ, schützend oder sonst wie funktionell sein. Vor und direkt nach dem Applizieren (Auftragen) ist der Beschichtungsstoff flüssig, pastös oder – wie bei Pulverlacken – pulverförmig. Der Übergang in die fertige Beschichtung erfordert eine Verfestigung des Beschichtungsstoff-Films, welche Filmbildung, Verfilmung oder (anwendungstechnisch) Trocknung genannt wird. Die genannten Begriffe und weitere Fachbegriffe der Beschichtungstechnik sind im Wesentlichen in den Normen DIN EN ISO 4618 (2014) und ergänzend in DIN 55945 (2007) definiert. In DIN EN ISO 4618 ist die Filmbildung als „Übergang eines aufgetragenen Beschichtungsstoffes vom flüssigen oder bei Pulverlacken über den flüssigen in den festen Zustand“ definiert. Im ersten Fall spricht man laut der Norm auch von „Trocknung“, welche sich wiederum in die „physikalische Trocknung“ durch Verdunsten des Lösemittels (DIN 55945) und/ oder die „Härtung“ durch chemische Molekülvergrößerung (DIN EN ISO 4618) gliedert. Damit ein Beschichtungsstoff überhaupt verfilmen kann, muss er eine Substanz enthalten, die schon für sich allein, d.h. ohne die Anwesenheit der übrigen chemischen Bestandteile, in der Lage ist, einen Film zu bilden. Diese Substanz heißt Filmbildner oder Bindemittel. In älteren Normen-Ausgaben, z.B. in DIN 55945 (1988-12 und früheren), waren die Begriffe „Bindemittel“ und „Filmbildner“ deutlich unterschiedlich definiert. In den o.g. Normen ist der Begriff „Filmbildner“ jedoch nicht mehr enthalten, wohl weil er sich in der Praxis nie durchgesetzt hat. Für „Bindemittel“ steht in DIN EN ISO 4618: „nichtflüchtiger Anteil der Gesamtheit der Bestandteile der flüssigen Phase eines Beschichtungsstoffes.“1 Was genau mit „Bindemittel“ im konkreten Zusammenhang gemeint ist, ergibt sich meist klar aus dem Kontext. Es sind allgemein die filmbildenden (und bindenden) Bestandteile der Formulierung wie Lackharze, Dispersionen bzw. dispergierte Poly- oder Oligomere oder reaktive Monomere, d.h. die Substanzen, die klassisch als Filmbildner zu bezeichnen wären. Das Bindemittel (der Filmbildner) bestimmt in den meisten Fällen die Grundeigenschaften der Beschichtung. Seine Aufgabe ist, einen mehr oder weniger festen Film zu bilden und dabei – sofern vorhanden – die übrigen Bestandteile der Rezeptur einzubetten bzw. aneinander zu binden. Es handelt sich i.d.R. um organisch-chemische Stoffe sehr unterschiedlicher Molekülgröße. Je nach Beschaffenheit, Löse-/Verdünnungszustand bzw. Herstellungsverfahren spricht man von Harzen, z.B. Alkydharzen, Epoxidharzen, Melaminharzen usw., die in 100 %iger Form, gelöst oder dispergiert vorliegen können, oder von Kunststoffdispersionen (Polymerdispersionen). 1 Hiernach enthielte ein Pulverlack kein Bindemittel!? Mischke/Strehmel: Filmbildung in modernen Lacksystemen, 2. Auflage © Copyright: 2018 Vincentz Network GmbH & Co. KG, Hannover

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Einführung Bindemittel aus kleinen bis mittelgroßen Molekülen, entsprechend (mittleren) molaren Massen von einigen hundert bis ca. 10.000 g mol-1, müssen bei der Filmbildung chemisch in große Moleküle bzw. Molekülnetzwerke umgewandelt werden. Man spricht hier von Härtung. Bindemittel aus großen bzw. langen Molekülen (Makromolekülen) können auch ohne

physikalisch trocknender Filmbildner

vernetzende Filmbildner

lineare oder verzweigte große Polymermoleküle

meist verzweigte, kleinere Polymermoleküle bzw. Oligomere (Präpolymere) oder Monomere /Reaktivverdünner)

im Lack gelöst, dispergiert pulverförmig Beispiele: „Nitrocellulose“ Chlorkautschuk thermoplastische Acrylharze Kunststoffdispersionen thermoplastische Pulverlacke Organosole, Plastisole

Lösemittel (bzw. Wasser dunstet ggf. ab

physikalisch getrockneter Lackfilm

im Lack gelöst, dispergiert bzw. emulgiert, 100 %ig-flüssig, pulverförmig Beispiele: Alkydharze feuchtigkeitshärtende Polyurethan-Präpolymere Einbrennlacke (inkl. Pulverlacke und Sol-Gel-Materialien) 2K-Epoxid-Systeme 2K-Polyurethan-Systeme UV-härtende Acrylate, ungesättigte Polyester Lösemittel (bzw. Wasser dunstet ggf. ab Polyreaktion (entspr. hier: Vernetzungsreaktion)

vernetzter (gehärteter) Lackfilm

Abbildung 1.1: Filmbildung durch physikalische Trocknung (links) und Härtung (rechts)

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Allgemeine Zusammensetzung von Beschichtungsstoffen chemische Reaktion ausreichend Tabelle 1.1: Allgemeine, stoffliche Zusammensetzung von feste Filme bilden; dies geschieht Beschichtungsstoffen Beschichtungsstoff dadurch, dass das Löse- bzw. Dinicht flüchtiger Anteil flüchtiger Anteil spersionsmittel, in dem sie sich Lösemittel bzw. primär befinden, bei der FilmBindemittel Dispersionsmittel bildung lediglich verdunstet und Pigmente flüchtige Additive die langen Fadenmoleküle sich dabei – ähnlich den Fäden in eiFilmbildner nem Wattebausch – verfilzen. nicht flüchtige Additive (beim Einbrennen meist Diesen Filmbildeprozess nennt flüchtige Spaltprodukte) man physikalische Trocknung. Der Zusatz „physikalische“ darf hier nicht weglassen werden, da eine „Trocknung“ auch eine Härtung beinhalten kann. Bei den meisten Filmbildungen durch Härtung läuft – besonders im Anfangsstadium – eine zusätzliche physikalische Trocknung bzw. Antrocknung ab. In Abbildung 1.1 sind die beiden grundlegenden Filmbildemechanismen schematisch dargestellt.

1.2 Allgemeine Zusammensetzung von Beschichtungsstoffen Zur Verarbeitung eines Beschichtungsstoffes, den man für eine bestimmte Aufgabe ausgesucht bzw. erhalten hat, kann man sich mit Hilfe der Gebrauchsanleitung bzw. des technischen Merkblattes über die Art der Anwendung incl. der Trocknung informieren. Auch grobe Hinweise zur chemischen Zusammensetzung und zu möglichen Gesundheitsgefahren sowie zur Entsorgung stehen im Merkblatt bzw. auf dem Gebinde. Im Folgenden wird der stoffliche Aufbau von Beschichtungsstoffen in sehr allgemeiner Form kurz besprochen. Speziellere Angaben und fachliche Vertiefungen folgen im Buch dort, wo sie zum Verständnis der Filmbildung notwendig und sinnvoll sind. Tabelle 1.1 gibt einen Überblick über die allgemeine, stoffliche Zusammensetzung von Beschichtungsstoffen. Einschränkend sei gesagt, dass nicht alle Beschichtungsstoffe sämtliche Stoffgruppen aus Tabelle 1.1 enthalten. So enthält ein Klarlack keine Pigmente und Füllstoffe (im klassischen Sinne), ein Pulverlack keine Lösemittel. Die in Tabelle 1.1 genannten Bestandteile außer Bindemittel sind im Folgenden kurz beschrieben.

Pigmente

Dies sind sehr feinteilige, im Anwendungsmedium – d.h. in den flüssigen Bestandteilen des Beschichtungsstoffes – praktisch unlösliche, farbgebende und/oder korrosionsschützende und/oder anderweitig funktionell wirkende Pulver. Beispiele: Titandioxid (Weißpigment), Ruß (Schwarzpigment), Chinacridon-Pigment (Buntpigment), Perlglanzpigment (Effektpigment), Zinkphosphat (Korrosionsschutzpigment).

Füllstoffe

Auch Füllstoffe sind im Anwendungsmedium praktisch unlösliche Pulver, welche dem Beschichtungsstoff mehr Volumen bzw. Füllvermögen („Fülle“) verleihen und bestimmte techno13

Einführung logische Eigenschaften ergeben oder verbessern. Typische technologische Wirkungen sind: Änderung des Fließverhaltens, Rissunterdrückung (Armierung), Verbesserung von Schleifbarkeit, Haftfestigkeit und Wetterbeständigkeit, Mattierung u.a.m. Ausschlaggebend für die Wirkung eines Füllstoffes sind in erster Linie die Teilchengröße und die Teilchenform (isometrisch, lamellar, nadelförmig). Beispiele: Kreide, Talkum, Faserfüllstoffe.

Additive

Additive, klassisch auch „Hilfsstoffe“, sind der Rezeptur in relativ kleinen Mengen zugegebene Wirksubstanzen, die bei Herstellung und/oder Applikation des Beschichtungsstoffes bestimmte Eigenschaften hervorrufen bzw. verbessern oder die Filmeigenschaften gezielt beeinflussen. Additive haben unterschiedliche Flüchtigkeiten, d.h. sie verbleiben bei der Filmbildung entweder im Film oder verlassen ihn mehr oder weniger vollständig. Beispiele: Dispergieradditive (nicht flüchtig), Slip-Additive (nicht flüchtig), Katalysatoren (überwiegend nicht flüchtig), Entschäumer (überwiegend nicht flüchtig), Hautverhinderungsmittel (flüchtig), Filmbildehilfsmittel (flüchtig).

Lösemittel

Hierunter versteht man Flüssigkeiten, die ein Bindemittel echt, d.h. molekulardispers, auflösen. Lösemittel (im weiteren Sinne) sind organische Flüssigkeiten oder ggf. auch Wasser. Beispiele: Xylol (aromatischer Kohlenwasserstoff), Butylacetat (Ester), Methyisobutylketon (Keton), Butylglykol (Etheralkohol), Butanol (Alkohol). Wird das Lösemittel dem Beschichtungsstoff vor der Verarbeitung zur Einstellung der Viskosität zugesetzt, so spricht man von Verdünnungsmittel oder Verdünner, falsch: „Verdünnung“. Reaktivverdünner sind Verdünnungsmittel, die bei der Filmbildung praktisch vollständig chemisch in den Film eingebaut werden; sie gehören damit zum Bindemittel.

Dispersionsmittel

Im Gegensatz zu Lösemitteln sind dies Flüssigkeiten, meist Wasser, die ein Bindemittel nicht molekulardispers gelöst, sondern in Form submikroskopischer Partikel bzw. Tröpfchen enthalten. Das Gesamtsystem wird Dispersion genannt und ist – im Unterschied zu einer Lösung – i.d.R. mehr oder weniger trübe. Auch ein Dispersionsmittel kann als Verdünnungsmittel fungieren. So wird z.B. eine Innenwand-Dispersionsfarbe vor dem Rollen häufig mit etwas Wasser auf die optimale Konsistenz eingestellt.

1.3

Allgemeine Rezepturdaten

Ausgehend von der in Tabelle 1.2 dargestellten, einfachen Lackrezeptur seien im Folgenden die wichtigsten allgemeinen Rezepturdaten erläutert. Der nicht flüchtige A+nteil, nfA (auch noch: Festkörper, FK) ist der –– Massenanteil des Beschichtungsstoffes, der nach definierter Trocknung übrigbleibt. Zur Bestimmung des nfA wird gemäß DIN EN ISO 3251 eine genau eingewogene Menge des Beschichtungsstoffes, z.B. 2 g, unter definierten (vereinbarten) Bedingungen, z.B. während einer Stunde im Lacktrockenschrank bei 130 °C, in einem Dosendeckel getrocknet und Zurückgewogen. Falls bei der Trocknung durch chemische Reaktionen Spaltprodukte abgegeben werden, erhält man je nach Trocknungstemperatur bzw. -dauer evtl. deutlich unterschiedliche nfA-Werte. 14

Allgemeine Rezepturdaten Aus der Rezeptur der Tabelle 1.2 errechnet sich der theoretische nfA folgendermaßen: 60 % · 0,75 + 27 % = 72,0 % .

Tabelle 1.2: Einfache Lackrezeptur (weißer Malerlack) aus [3] Bestandteil1 Alkydharz, 75 % in Testbenzin Titandioxid (Weißpigment) Cobaltoctoat (10 % Co) Zirconium-Komplex (6 % Zr) Calciumoctoat (5 % Ca) Testbenzin

Massenanteil [%] 60,0 27,0 0,2 0,5 1,7 10,6 100,0

Die Additive werden dabei nicht mitberücksichtigt, wenn es sich um geringe Mengen handelt. Der nfA ist von zentraler anwen1) %-Angaben bedeuten Massenanteile (Ma-%) dungstechnischer Bedeutung, denn er besagt, wieviel Filmmasse nach der Trocknung einer eingesetzten Lackmasse auf dem Lackierobjekt verbleibt. Das Pigment-Bindemittel-Verhältnis beträgt in der Beispiel-Rezeptur

27,0 : (60 · 0,75) = 0,60 = 3 : 5

Die Pigment-Volumen-Konzentration, PVK ist der –– Volumenanteil der Pigmente und Füllstoffe am Trockenfilmvolumen. Die PVK errechnet sich aus Gleichung 1.1  wobei: VP Pigmentvolumen, VF Füllstoffvolumen, VB Bindemittelvolumen Das Bindemittelvolumen umfasst hier das Volumen aller nicht flüchtigen Anteile des Trockenfilms ohne Pigmente und Füllstoffe; es gehören also auch Härter, Reaktivverdünner und ggf. Weichmacher dazu. Die Volumina sind aus den Massenanteilen in der Rezeptur und den zugehörigen Dichten zu berechnen; letztere sind in den Merkblättern der Rohstoffe angegeben. Im Beispiel Tabelle 1.2 ist die Dichte des Harzes 1,04 g cm-3 und die Dichte des Pigmentes 4,1g cm-3. 2 Damit errechnet sich die PVK zu

Die kritische Pigment-Volumen-Konzentration, KPVK ist die –– PVK, bei der das Bindemittelvolumen gerade eben noch ausreicht, um die Freiräume zwischen den Pigment- und Füllstoffteilchen auszufüllen. 2 In diesem Buch werden zusammengesetzte Einheiten in Potenzschreibweise notiert, also z.B. J kg-1 K-1 (Joule pro Kilogramm und Kelvin) statt J/(kg K)

15

Einführung Um die KPVK zu berechnen, benötigt man die Größe des Hohlraumvolumens des in der Rezeptur vorliegenden Pigmentes bzw. der Pigment-/Füllstoff-Mischung. Ein gängiges Maß dafür ist die Ölzahl (DIN EN ISO 787-5). Darunter versteht man die Masse an Leinöl, die zur Anteigung von 100 g Pigment bzw. Füllstoff (ggf. ihrer Mischung) zu einer stockigen, nicht schmierenden Paste benötigt wird. Entsprechende Zahlen werden in der Rezeptierpraxis statt mit Leinöl auch direkt mit den verwendeten Bindemittel-Lösungen oder Wasser ermittelt. Obwohl die ÖlzahlWerte schlecht reproduzierbar sind, hat die Ölzahl wegen ihrer direkten Verwendbarkeit zur Rezepturberechnung bzw. -entwicklung nach wie vor große Bedeutung. Mittels der Ölzahl lässt sich die KPVK nach der folgenden, leicht herleitbaren Formel abschätzen.

ρP

OZ ρL



Gleichung 1.2

Dichte des Pigmentes/Füllstoffes Ölzahl des Pigmentes/Füllstoffes Dichte des Leinöls (0,935 g cm-3)

Nach dieser Formel berechnet sich die KPVK der Beispielrezeptur zu Sind mehrere Pigmente bzw. Füllstoffe vorhanden, so ist für ρP die durchschnittliche Dichte der Mischung einzusetzen; die Ölzahl muss von der kompletten Mischung experimentell bestimmt werden, da sich die Packung (Raumerfüllung) aus den Einzeldaten nicht vorausberechnen lässt.

Abbildung 1.2: Verschiedene Beschichtungsstoffe und Beschichtungseigenschaften mit den zugehörigen Q-Wert-Bereichen, aus [3]

16

Grundlegende physikalische Eigenschaften Der Q-Wert ist der –– Quotient PVK/KPVK (· 100 %). Im Beispiel beträgt der Q-Wert

Rezepturen mit Q-Werten von unter 100 % heißen unterkritisch. Hier ist mehr Bindemittel vorhanden, als zur Ausfüllung der Hohlräume notwendig ist. Der Trockenfilm ist daher nicht porös, also typisch lackartig. Beschichtungsstoffe mit Q-Werten über 100 % werden überkritisch genannt. Die Filme sind porös, also z.B. saugend; als typische Beispiele seien Innenwand-Dispersionsfarben und Zinkstaubfarben genannt. In Abbildung 1.2 ist der Zusammenhang zwischen Q-Wert, Beschichtungseigenschaften und Typ des Beschichtungsmaterials qualitativ dargestellt.

1.4 Grundlegende physikalische Eigenschaften 1.4.1 Dichte Die Dichte ρ ist der Quotient aus Masse m und Volumen V: ρ = m/V. Die SI-Einheit ist kg m-3; in der Praxis wird aber vielfach die anschaulichere Einheit g cm-3 verwendet, wobei gilt: 1 g cm-3 = 1000 kg m-3. Veraltete Begriffe für Dichte sind „spezifisches Gewicht“ und „Wichte“.

1.4.2

Viskosität und Fließverhalten

Die Lehre vom Fließverhalten heißt Rheologie. Die wichtigste rheologische Größe ist die dynamische Viskosität (Zähflüssigkeit) η eines fließfähigen Stoffes (Fluids). Sie ist definiert als Quotient aus Schubspannung τ und Geschwindigkeitsgefälle (Schergefälle) D bzw. γ· 3:



Gleichung 1.3

Die SI-Einheit ist Pa s (Pascal mal Sekunde, kurz: Pascal-Sekunde) oder der tausendste Teil davon: mPa s (Millipascal-Sekunde). Für die veraltete Einheit cP (Centipoise) gilt: 1 cP = 1 mPa s. Die Umformung obiger Gleichung in τ = η D ermöglicht die Veranschaulichung der Definition: Die Schubspannung, d.h. die scherende Kraft pro Flächeneinheit der gescherten Schicht, ist umso höher, je zähflüssiger das Material ist und/oder je schneller man schert. Abbildung 1.3 zeigt die gedankliche „Versuchsapparatur“ zur Definition der dynamischen Viskosität. (Weiterführende Hinweise siehe z.B. „Das Rheologie Handbuch“ von T. G. Mezger.)

3 Ein Punkt über einem Größensymbol bedeutet die Ableitung nach der Zeit (geteilt durch die Zeit, zeitliche Änderung).

17

Einführung

Abbildung 1.3: Gedankliche Messanordnung zur Definition der dynamischen Viskosität

Abbildung 1.4: Grundlegende rheolo­gi­sche Verhaltensweisen von Beschich­tungsstoffen: 1) newtonsch 2) struktur­-­viskos (scherverdünnend, pseudoplastisch) 2´) strukturviskos mit Fließgrenze (im τ/D-Diagramm) 3) dilatant (scher­ver­dickend) 4) thixotrop

18

In bestimmten Zusammenhängen ist die kinematische Viskosität ν eine brauchbarere Größe. Man versteht darunter den Quotienten ν = η/ρ aus dynamischer Viskosität und Dichte; SI-Einheit: m2 s-1. Ist die Viskosität unabhängig vom Geschwindigkeitsgefälle, d.h. bei Änderung des Geschwindigkeitsgefälles konstant, so nennt man das Fließverhalten newtonsch. Beschichtungsstoffe zeigen meist mehr oder weniger nichtnewtonsches Fließverhalten, d.h. die Viskosität ist vom Geschwindigkeitsgefälle und evtl. von der Scherzeit abhängig. Dabei wird zwischen folgenden Erscheinungen unterschieden (s. auch Abbildung 1.4): Strukturviskosität (Pseudoplastizität, Scherverdünnung): Die Viskosität fällt bei steigendem Geschwindigkeitsgefälle. Die Viskositätsänderung ist voll reversibel und folgt der Änderung des Geschwindigkeitsgefälles praktisch ohne Zeitverzögerung. Dilatanz oder Scherverdickung) ist das Gegenteil der Strukturviskosität, d.h. man beobachtet einen Anstieg der Viskosität bei wachsender Scherung. Das i.d.R. unerwünschte, dilantante Verhalten zeigen mitunter sehr hoch konzentrierte Pigment- oder Polymerdispersionen. Thixotropie liegt vor, wenn die Viskosität bei konstantem Geschwindigkeitsgefälle mehr oder weniger schnell asymptotisch abfällt und sich nach Ausschalten der Scherung wieder aufbaut. Die Thixotropie rührt vom reversiblen Ab- bzw. Aufbau von lockeren Gelstrukturen im Fluid her und kann gezielt durch entsprechende Rheologieadditive eingestellt werden. Rheopexie ist das Gegenteil der Thixotropie, d.h. die Viskosität steigt bei konstanter, schwacher Scherung an. Es handelt sich um ein sehr selten vorliegendes Fließverhalten. Eine Fließgrenze bedeutet, dass das Fluid erst nach Anlegen einer Mindestschubspannung fließt; sie tritt praktisch immer in Kombination mit Strukturviskosität oder Thixotropie auf. Das Vorhandensein einer

Grundlegende physikalische Eigenschaften Fließgrenze heißt auch Plastizität und führt bei starker Ausprägung zur sog. Stockigkeit. Eine Fließgrenze kann mit einfachen Viskosimetern nicht direkt, sondern nur extrapolativ (rechnerisch) erfasst werden. Fließgrenzen zeigen vor allem Produkte mit hohen Volumenanteilen pigmentärer Komponenten wie Dicht- und Spachtelmassen, Kitte, Plastisole, Dispersionsfarben und Gele, die ja schon rein visuell ihr Standvermögen zu erkennen geben. Das Fließverhalten von Beschichtungsstoffen ist von größter anwendungstechnischer Relevanz. In Hinblick auf die Filmbildung stehen als Rheologie-abhängige Prozesse, das sind i.d.R. erwünschtes Verlaufen und das unerwünschte Ablaufen von Lacken unter Bildung von „Läufern“ („Nasen“, „Gardinen“ usw.), im Vordergrund (s. Kapitel 3).

1.4.3

Oberflächenspannung

Die Oberflächenspannung einer Flüssigkeit σl oder eines Feststoffes (Festkörpers, Werkstoffes) σs ist die flächenbezogene Arbeit dW/dA 4, die zur Vergrößerung der Oberfläche (bei konstanter Masse) um dA erforderlich ist, wobei man unter „Oberfläche“ die Grenzfläche zur angrenzenden Gasphase oder zum Vakuum versteht. Die SI-Einheit ist N m-1 (bzw. mN m-1). Der Wortteil „ …spannung“ rührt daher, dass der obigen Definition von σ eine andere, auf einer Kraft basierende, äquivalent ist: Die formal erhaltene Länge L heißt Randlinie. Abbildung 1.5 zeigt beispielhaft und schematisch, wie man die Oberfläche einer in einem Drahtbügel aufgespannten Flüssigkeitslamelle vergrößern kann. Eine Verschiebung des Spanndrahtes um ds nach unten bringt eine Oberflächenvergrößerung um dA = 2 L ds mit sich (Vorder- und Rückseite). Dabei zieht die Lamelle mit der Kraft F = 2 σ L den Drahtbügel nach oben. Somit ist die Arbeit dW = F ds = (2 σ L) ds = σ (2 L ds) = σ dA von außen zu leisten, und diese steckt dann als Oberflächenenergie in der hinzugekommenen Oberfläche dA. Für die Praxis kann man die Oberflächenspannung allgemein als eine Kraft auffassen, die entlang jeder in oder am Rand einer Oberfläche existierenden materiellen oder auch nur gedachten Linie (Randlinie) angreift. Bei der Filmbildung hängen vor allem die Untergrundbenetzung und der Verlauf von der Oberflächenspannung des Lackes ab. Zahlreiche weitere, meist unerwünschte Effekte wie Kantenflucht, Kraterund Schaumbildung stehen ebenfalls im Zusammenhang mit der Oberflächenspannung (s. Kapitel 3).

4 Dort wo sinnvoll bzw. notwendig werden physikalische Größen bzw. ihre Änderungen direkt in Form der Differentiale (d … bzw. ∂ …) ausgedrückt.

Abbildung 1.5: Oberflächenspannung einer Flüssigkeitslamelle in einem Drahtbügel (die Fläche dA gilt für Vorder- und Rückseite)

19

Einführung

1.5

Klassifizierung der Filmbildung

Die Filmbildung umfasst – je nach Art des Beschichtungsstoffes – verschiedene physikalische und chemische Einzelprozesse, die sich z.T. zeitlich überlagern und beeinflussen. Den Beschichtungsstoff-Klassen kann man die Filmbilde- bzw. Trocknungsarten wie im Folgenden aufgelistet zuordnen. –– Physikalisch trocknende Beschichtungsstoffe –– Löse- oder dispersionsmittelhaltig (Bindemittel echt gelöst bzw. dispergiert) –– Filmbildung allein durch Verdunsten des Lösemittels/Wassers bei verschiedenen Temperaturen und ggf. Luftfeuchtigkeiten –– Beispiele: Cellulosenitrat- und Chlorkautschuk-Lacke, Dispersionsfarben. –– Rein chemisch härtende Beschichtungsstoffe –– Löse- bzw. dispersionsmittelfrei, trotzdem fließfähig („flüssige 100 %-Systeme“) –– Filmbildung durch selbstständig ablaufende, chemische Vernetzungsreaktion zwischen Stammlack und Härter (Zweikomponenten-Systeme, 2K-Systeme) oder durch Aktivierung der Vernetzung mittels Wärme, UV- oder Elektronenstrahlen (1K-Systeme) –– Beispiele: 2K-Materialien auf Urethan- oder Epoxid-Basis zur Dickbeschichtung im Bauten- und Korrosionsschutz, heißhärtende 1K-Polyurethan-Beschichtungsmassen, strahlenhärtende Holz-/Möbellacke auf Acrylat-Basis. –– Physikalisch (an)trocknende und chemisch härtende Beschichtungsstoffe –– Bindemittel echt gelöst oder dispergiert –– Filmbildung anfangs partiell durch Verdunstung des Lösemittels/Wassers, im Wesentlichen jedoch durch chemische Vernetzung, 2K-kalt- oder 1K-heißhärtend –– Beispiele: Die meisten Industrie und Fahrzeuglacke. –– Oxidativ oder feuchtigkeitshärtende Beschichtungsstoffe –– Lösemittelfreie oder -haltige 1K-Beschichtungsstoffe, die – ggf. nach physikalischer Antrocknung – bei Raum- oder leicht erhöhter Temperatur mit Luftsauerstoff oder Luftfeuchtigkeit vernetzen –– Beispiele: Malerlacke auf Alkydharz-Basis, feuchtigkeitshärtende Polyurethan-Bautenlacke. –– Pulverlacke (Beschichtungspulver) –– Thermoplastische Pulver: Filmbildung rein physikalisch durch Aufschmelzen auf die vorgeheizten Objekte –– Duromere (härtende) Pulver: Filmbildung durch chemische Vernetzung bei hoher Temperatur nach Aufschmelzen und Verfließen. Zusammenfassend sei festgestellt, dass bei allen Trocknungsarten ein energetischer und vielfach auch ein stofflicher Austausch mit der Umgebung stattfindet. Somit sind die äußeren Bedingungen bei der Trocknung, d.h. der Zustand der Umgebung um das mit Lack beaufschlagte Objekt, bestimmend für den Ablauf des Filmbildeprozesses. Insbesondere gilt dies für die Art und Intensität des Energieeintrages in die frisch applizierte Schicht (s. Kapitel 4).

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Streichen, Rollen, Walzen, Gießen, Fluten

2 Applikation Die Applikation, d.h. die Auftragung eines Beschichtungsstoffes, gehört streng genommen nicht zur Filmbildung, sie ist aber Voraussetzung und direkte Vorstufe Letzterer. Die Art der Applikation und die daraus resultierende Struktur des Nassfilms bzw. der Pulverschicht beeinflusst zwar die Grundmechanismen der Filmbildung nicht, wohl aber das Ergebnis des Beschichtungsprozesses in Form eines mehr oder weniger fehlerfreien Trockenfilms. Hier wird lediglich eine Grundübersicht über die Applikationsverfahren mit einigen spezielleren Anmerkungen geliefert. Wesentlich ausführlichere Darstellungen finden sich z.B. in den Werken [3, 7, 11, 15], auf denen auch dieses Kapitel überwiegend basiert.

2.1 Streichen, Rollen, Walzen, Gießen, Fluten 2.1.1

Streichen und Rollen

Das Verstreichen von Anstrichstoffen mit einem Pinsel hat immer noch seinen Platz in der Beschichtungstechnologie. Dies ergibt sich aus folgenden positiven Merkmalen: –– einfaches Verfahren –– hohe Flexibilität bei der Teileform –– kein oder nur kleinflächiges Abdecken nicht zu lackierender Flächen notwendig –– gute Benetzung des Untergrundes und Einarbeitung des Lackes in Hohlräume (Spalten, Lunker u.ä.) –– großer Auftragswirkungsgrad (AWG, auch: Festkörpernutzungsgrad, FKN) 5 –– breite Materialpalette ohne genaue Einstellung verarbeitbar. Dem stehen aber Schwächen gegenüber, wie –– kleine Flächenleistung –– ungleichmäßige Schichtdicke –– unebene Oberfläche in Form von Pinselfurchen. Das Rollen mit unterschiedlichsten Rollenwerkzeugen (Rollern) wie lang- oder kurzhaarigen Perlonfell- oder Schaumstoff-Rollen ergibt höhere Flächenleistungen bzw. ebenere Oberflächen. Dafür ist man aber weitgehend auf ebene Untergründe beschränkt.

2.1.2 Walzen Das Walzen ist gewissermaßen ein maschinelles Rollen mit entsprechend hoher Flächenleistung. Das Beschichtungsmaterial wird auf plane, tafel- oder bandförmige Substrate mit einer mehr oder weniger elastischen Walze aufgetragen. Dabei unterscheidet man in erster Linie zwischen dem klassischen Gleichlauf- und dem heute gebräuchlicheren Reverse-Verfahren 5 Damit ist gemeint: Auf das Objekt übertragene Festkörpermasse dividiert durch insgesamt eingesetzte (verbrauchte) Festkörpermasse des Beschichtungsstoffes in %. Mischke/Strehmel: Filmbildung in modernen Lacksystemen, 2. Auflage © Copyright: 2018 Vincentz Network GmbH & Co. KG, Hannover

21

Applikation (s. Abbildung 2.1). Während es beim Gleichlaufverfahren durch die Filmspaltung zwischen Walzen- und Substratoberfläche zu einer Walzstruktur kommt, die bei Schichtdicken über ca. 12 μm nicht mehr vollständig verläuft, sind im Reverse-Verfahren glatte Schichten zwischen 3 und 100 μm Dicke erzielbar. Auch können im Reverse-Verfahren unterschiedlichste Materialviskositäten vorliegen. Mit zwei hintereinander geschalteten Walzen können auch Zweikomponenten-(2K-)Materialien verarbeitet werden.

2.1.3 Gießen Beim Gießen wird der Lack durch einen horizontalen Spalt geleitet, aus dem er in Form eines sehr breiten, dünnen Strahls (Gießvorhangs) auf das mit Hilfe zweier separater Transportbänder darunter hindurchgeführte (nahezu) flache Objekt fällt. Überschüssiger Lack läuft in eine Auffangwanne und wird erneut zum Gießkopf gepumpt (s. Abbildung 2.2). Durch das Gießen erzielt man sehr ebene Schichten zwischen 50 und 500 μm Dicke. Da der Lack jedoch nur mit geringer kinetischer Energie auf das Werkstück fällt, also nicht in die Oberfläche gewissermaßen eingearbeitet wird, ist eine gute Oberflächenvorbehandlung bzw. Grundierung erforderlich, damit es nicht zu Benetzungsstörungen und unzureichender Haftung kommt. Mit zweier hintereinander angeordneten Gießköpfen ist auch eine 2K-Lackierung möglich.

2.1.4 Fluten Beim Fluten werden kompliziert geformte bzw. sperrige Teile, wie Heizkörper, grobe Maschinenteile, Dachziegel u.ä. mit Lack überschüttet oder aus Flutdüsen angespritzt. Der überschüssige Lack läuft ab. Um die unvermeidliche Läuferbildung zu reduzieren, werden die Werkstücke evtl. auch bewegt, z.B. gedreht. Das Verfahren ergibt nur grobe Lackierungen begrenzter Oberflächengüte.

Abbildung 2.1: Beschichten durch Walzen, aus [3]

22

Abbildung 2.2: Gießlackieren, aus [3]

Tauchlackieren (Tauchen)

2.2

Tauchlackieren (Tauchen)

2.2.1

Konventionelles Tauchlackieren

Beim konventionellen Tauchen wird das Lackiergut – im Gegensatz zur Elektrotauchlackierung (s. Kapitel 2.2.2) oder zur Autophorese (s. Kapitel 2.2.3) – ohne die Hilfe von (elektro-) chemischen Vorgängen mit Lack beaufschlagt. Zum Tauchen können Lacke auf Basis von organischen Lösemitteln eingesetzt werden, wenn für ausreichende Kapselung und Absaugung der Dämpfe sowie Explosionsschutz gesorgt wird. Die sog. Tri-Tauchlacke auf Basis des nicht brennbaren Trichlorethylens sind aus toxikologischen Gründen nicht mehr in Gebrauch. Vorteilhaft zum Tauchen ist die Verwendung von Wasserlacken, wobei allerdings Schaumbildung und Badinstabilitäten durch pH-Wertverschiebungen und Eintrag von Verunreinigungen (z.B. von der Vorbehandlung) auftreten können. In Bezug auf die Nassfilmqualität und die Anwendungsbereiche gilt etwa das über das Fluten Gesagte. Ungewünschte Läuferbildung kann ggf. durch Abziehen überschüssigen Lackes mit Hochspannungselektroden oder durch Abschleudern verhindert werden. Eine Sonderform des Tauchens ist das Trommeln. Hierbei werden in einer Art langsam rotierender Wäschetrommel befindliche kleine Massenteile, wie Knöpfe, Haken, Spielfiguren u.ä. durch Eintauchen der Trommel mit Lack beaufschlagt. Anschließend erfolgt nach Abfließen oder Abschleudern des überschüssigen Lackes ein thermisches Trocknen – entweder auf separaten Drahtnetzen oder direkt in der Trommel.

2.2.2 Elektrotauchlackieren Der technische Einsatz des Elektrotauchlackierens (ETL) begann in den 60er Jahren in der Automobilindustrie – zunächst als anodische- (ATL, AETL), dann zunehmend als kathodische Elektrotauchlackierung (KTL, KETL) 6. Das technische Grundprinzip der ETL lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: In ein ausreichend großes, mit einem dünnflüssigen und relativ festkörperarmen Wasserlack (10 bis 20 % nfA) gefülltes Tauchbad werden die zu lackierenden bzw. grundierenden, vorbehandelten Metallteile getaucht und dabei anodisch (positiv) oder kathodisch (negativ) gegenüber dem Badbehälter oder separater Gegenelektroden polarisiert. Die Spannung liegt – je nach Verfahren und Zeitpunkt während der Tauchphase – zwischen 150 und 400 V. Dabei kommt es zur Abscheidung einer Lackschicht, die durch elektroosmotische Entwässerung (s.u.) bereits relativ trocken und festhaftend ist. Nach Austauchen der Teile und Spülen folgt das Einbrennen des Lackes im Trockenofen. Der elektrochemische Primärvorgang bei der ETL ist die Wasserelektrolyse, durch die an der Anode Protonen und Sauerstoff, an der Kathode Hydroxidionen und Wasserstoff gebildet werden. –– Anode: 2 H2O – 4 e -    4 H+ + O2    (4 H+ + 4 H2O    4 H3O+) –– Kathode: 4 H2O + 4 e -    4 OH - + 2 H2 Die an der Anode gebildeten Protonen (bzw. Hydronium-Ionen) wandern von der Oberfläche weg ins Innere der Lösung und führen innerhalb einer größenordnungsmäßig 100 μm dicken 6 Nicht ganz korrekt oft auch „elektrophoretische Lackierung“ oder „Anaphorese“ bzw. „Kataphorese“ genannt.

23

Applikation Schicht auf der Elektrode, der Diffusionsgrenzschicht, zu einem pH-Wert-Abfall um bis zu ca. 5 Einheiten. Entsprechend steigt der pH-Wert an der Kathode durch die gebildeten Hydroxid-Ionen um bis zu ca. 5 Einheiten an (Abbildung 2.3). Ein ATL-Lack enthält ein Bindemittel mit mehreren Carboxygruppen pro Molekül, die im Bad in mit Aminen und/oder Ammoniak neutralisierter ionischer Form vorliegen und somit eine Dispersion aus negativen Lackteilchen bilden. Umgekehrt ist ein KTL-Bindemittel ein aminogruppenhaltiges Oligomer, welches im Bad mit niederen Carbonsäuren (meistens Essigsäure) neutralisiert ist und positive Lackteilchen bildet (Abbildung 2.4). Die negativ geladenen kolloidalen Teilchen des ATL-Lackes, die aufgrund der Umwälzung des Bades, d.h. durch Konvektion, in die Grenzschicht der positiven Anode geraten, werden von letzterer angezogen und zugleich protoniert. Dadurch verlieren die Bindemittelmoleküle ihre Wasserverdünnbarkeit und es kommt zur Ausfällung, der sog. Elektrokoagulation, auf der Substratoberfläche. Das vorzeichenmäßig Umgekehrte spielt sich bei der KTL ab: Die positiven Lackteilchen gelangen in die Kathodengrenzschicht und koagulieren hier durch Deprotonierung (Abbildung 2.4). Da die abgeschiedene Lackschicht eine schlechte elektrische Leitfähigkeit hat, wird der Stromfluss dort, wo sich Lack zunächst bevorzugt abscheidet (freie, zur Gegenelektrode hin orientierte Flächen), schnell schwächer. Das Schichtwachstum kommt dadurch bei ca. 20 μm Dicke (Wert für KTL) zum Stillstand, und zugleich scheidet sich zunehmend auch Lack an geometrisch ungünstig gelegeneren Stellen ab, was man als Umgriff bezeichnet. Im Hinblick auf die Filmbildung sind vor allem noch folgende Effekte zu beachten: Durch die Gasbildung auf den Substratoberflächen sind die primär abgeschiedenen Lackschichten blasig und porös (s. Abbildung 2.5). Beim späteren Einbrennen müssen diese Strukturen verschwinden. Die Entwässerung der Schicht erfolgt nach dem Prinzip der Elektroosmose. Allgemein versteht man darunter (vereinfacht ausgedrückt) den Fluss von Elektrolytlösungen durch Kapillaren bzw. poröse Körper im von außen angelegten elektrischen Feld. Hier kommt dieser Effekt dadurch zustande, dass die von den Substratelektroden abgestoßenen Protonen (bei der ATL) bzw. Hydroxid-Ionen (bei der KTL) auf dem Weg durch die Lackschicht ihre Wasserhüllen mitschleppen. Der Festanteil der Lackschicht steigt so auf bis zu ca. 90 % an. Die anodische Polarisation der Teile bei der ATL führt zu einer nennenswerten Bildung von Metallionen aus dem Substrat, die z.B. in Form von Eisen(III)-Ionen sogar zu einer Gelbfärbung des Lackes führen können. Bei der KTL ist die geringfügige Auflösung von Aluminium oder Zink in Form von Hydroxokomplexen nachgewiesen worden. Für die ETL – wie auch für viele konventionelle, höherwerAbbildung 2.3: pH-Wert-Verschiebung an den Elektroden tige Metalllackierungen – werbei der Wasserelektrolyse. (Bei der ATL wäre das Objekt die den die Teile i.d.R. vorher phosAnode, bei der KTL die Kathode.) 24

Tauchlackieren (Tauchen) phatiert, chromatiert oder anderweitig mit anorganischen Konversionsschichten versehen. Dadurch steigen die Lackhaftung bzw. der Unterwanderungsschutz bei späterer korrosiver Belastung erheblich an. Die Konversionsschichten müssen ausreichend porös und/oder elektrisch leitfähig sein, damit die für eine Lackabscheidung notwenigen hohen Stromflüsse entstehen können. Die ETL wird dort eingesetzt, wo metallische Güter bei hohen Durchsätzen in immer gleicher Weise (Farbton u.a.m.) grundiert oder einschichtig lackiert werden. Die ATL ist zwar apparativ wesentlich einfacher als die KTL, aber vor allem wegen der gegenüber der KTL geringeren Korrosionsschutzwirkung der Lackierungen nur noch wenig verbreitet. Automobilkarossen werden heute ausschließlich mit der KTL grundiert.

Abbildung 2.4: Neutralisation und Fällung (Koagulation) von ETL-Bindemitteln auf der Substratoberfläche

Abbildung 2.5: Mikroskopische Aufnahme eines ungehärteten KTL-Films, aus [7]

25

Applikation

2.2.3 Autophorese Dieses an sich schon länger bekannte Tauchverfahren hat sich bisher in Europa nicht etablieren können, erlebt aber jetzt aufgrund einer optimierten Chemie offenbar doch eine gewisse Verbreitung. Das Verfahren ist zwischen dem konventionellen Tauchen und der ETL angesiedelt und bringt u.a. den Vorteil einer gegenüber der ETL wesentlich einfacheren Verfahrenstechnik mit sich. Der dünnflüssige Autophorese-Lack ist sehr sauer und enthält eine sauer stabilisierte Bindemitteldispersion. Entfettete, aber nicht weiter vorbehandelte Eisen- bzw. Stahlteile werden nach dem Eintauchen an der Oberfläche von der Säure angebeizt. Die dabei freigesetzten Eisen(II)-Ionen führen zu einer Destabilisierung der anionischen Dispersion und werden durch Oxidationsmittel zu dreiwertigen Ionen oxidiert. Es kommt so zur Koagulation von Lackteilchen auf der Oberfläche in Form einer porösen und wegen fehlender Elektroosmose noch sehr wasserhaltigen Schicht, die anschließend thermisch verdichtet und evtl. eingebrannt wird. Die gebildeten Lackschichten sind optisch oft nicht vollwertig, da sich alle Inhomogenitäten des Grundmetalls wegen der fehlenden Vorbehandlung abzeichnen. Wo dies nicht stört, z.B. bei nicht direkt (voll) sichtbaren Flächen, ist die Autophorese aber ein interessantes Verfahren zur Einschichtlackierung von Stahlteilen.

2.3 Spritzlackieren Die Spritzlackierverfahren teilen sich in Verfahren ohne und mit Elektrostatik auf, wobei letztere z.T. lediglich eine Erweiterung der konventionellen Verfahren darstellen (s. Kapitel 2.4). Allen Spritzverfahren ist gemein, dass der Lack als Tröpfchenwolke (Spritznebel) mehr oder weniger unvollständig auf das Objekt gelangt und hier primär ein „Tröpfchengebirge“ bildet (s. Abbildung 3.3), welches nach dem Zusammenfließen der Tröpfchen schnell verläuft. Grundsätzlich können durch die Spritzverfahren auch 2K-Lacke appliziert werden, wobei Stammlack und Härter entweder vor der Verarbeitung oder – bei hohen Durchsätzen und/

Abbildung 2.6: Schnitt durch den zerstäubenden Teil einer Hochdruck-Spritzpistole, aus [3]

26

Spritzlackieren oder kurzen Verarbeitungszeiten der Mischungen – mit Zusatzeinrichtungen wie statischen Mischern (z.B. Kenics-Mischern) und Dosiereinrichtungen in oder vor der Pistole in situ gemischt werden.

2.3.1

Pneumatisches Spritzen (Druckluft-Spritzen)

2.3.1.1 Hochdruckspritzen

Das konventionelle Lackspritzen mit Luftdrücken zwischen 2 und 8 bar (Hochdruckspritzen) erfolgt mit Lackspritzpistolen, deren vorderer zerstäubender Teil in Abbildung 2.6 dargestellt ist. (Je nach Fabrikat sind die konstruktiven Merkmale etwas unterschiedlich.) Bei Betätigen des Abzugshebels der Pistole gelangt schnell strömende, expandierende Pressluft, die der Pistole über einen Schlauch zugeführt wird, aus der ringförmigen Luftdüse. Dadurch entsteht vor der zentrischen Lackdüse ein Unterdruck, der den mit leichtem Vordruck austretenden Lack ansaugt und mitreißt. Es kommt durch die aus dem Impulsaustausch zwischen dem Luft- und dem Lackstrom resultierenden Kräfte 7 zur Zerteilung des Lackstrahles in einen Tröpfchenstrahl mit einer breiten Tropfengrößenverteilung. Dieser Spritzstrahl gelangt nun mit hoher Geschwindigkeit (bis zu 30 m s -1) auf das Objekt, wo sich vorrangig die größeren Tröpfchen niederschlagen und die feineren mit der am Objekt vorbeiströmenden oder davon abprallenden Spritzluft als Overspray fortgetragen werden. Auf die quantitative Beschreibung des sehr komplexen Zerstäubungsprozesses wird hier unter Beachtung der Thematik dieses Buches verzichtet. Abbildung 2.7 gibt aber einen visuellen Überblick über den Einfluss wichtiger Parameter auf den mittleren Tropfendurchmesser, dessen Optimalwert etwa 30 bis 40 μm beträgt. Die optimale Ausgangsviskosität des Lackes liegt beim Hochdruckspritzen um 20 s Auslaufzeit aus dem DIN4-Becher (DIN 53211, 1996 zurückgezogen) oder um 55 s aus dem „ISO-Becher“ mit 4 mmDüse (DIN EN ISO 2431), was einer kinematischen Viskosität von ca. 7·10-5 m2 s-1 = 70 mm2 s-1 entspricht. In Hinblick auf die sich anschließende Filmbildung ist zu bedenken, dass der Lack auf dem Weg von der Pistole zum Objekt ggf. erhebliche Mengen an flüchtigem Lösemittel – bis zu über 50 % – durch Verdunstung verliert, wobei der Verlust mit steigender Entfernung zwischen der Pistole und dem Objekt 7 Die Kraft F ist die zeitliche Ableitung des Impulses .

Abbildung 2.7: Einfluss verschiedener Parameter auf den mittleren Tropfendurchmesser beim Hochdruckspritzen, aus [3]

27

Applikation zunimmt [22]. Die dadurch ansteigende Viskosität verzögert das Ablaufen, aber leider auch das Verlaufen und ggf. die Penetration in einen porösen Untergrund. Das Hochdruckspritzen ergibt mit einfacher Technik die besten Spritzlackierergebnisse. Der Nachteil ist der relativ niedrige Auftragswirkungsgrad, der für großflächige Teile maximal ca. 50 % erreicht. Für die handwerkliche Verarbeitung kleinerer Lackmengen bei hohen optischen Ansprüchen (z.B. Autoreparatur-Lackierung) wird es noch viel eingesetzt.

2.3.1.2 Niederdruckspritzen

Verwendet man zum pneumatischen Spritzen Luft mit nur maximal 0,7 bar Druck und dafür entsprechend größerem Volumenstrom am Pistolenausgang, so ist der Tröpfchen-Feinanteil des Spritznebels geringer und der Abprall vom Objekt schwächer als beim Hochdruckspritzen. Das Resultat ist ein um bis zu 30 % höherer Auftragswirkungsgrad. Dieses sog. HVLP(High-Volume-Low-Pressure-)Spritzen liefert mit modernsten Pistolen nahezu gleich gute Lackierergebnisse wie das Hochdruckspritzen und setzt sich immer mehr durch.

2.3.2

Hydraulisches Spritzen (Airless-Spritzen)

Bei diesem auch als Höchstdruckspritzen bezeichneten Verfahren wird das gegenüber dem pneumatischen Spritzen deutlich viskosere, d.h. lösemittelärmere Material mit bis zu 400 bar durch eine Düse am Pistolenausgang gepresst. Durch die energiereichen Turbulenzen im Lack und die Entspannung beim Austreten aus der Düse kommt es zum Zerreißen des Lackstrahls in feine Tropfen, die als relativ scharf begrenzter Spritzstrahl auf das Objekt prallen. Vor allem wegen des fehlenden Abpralls des voluminösen Spritznebels vom Objekt bei der pneumatischen Zerstäubung ist der Auftragswirkungsgrad des Airless-Spritzens noch höher als der des HVLP-Verfahrens. Weitere Vorteile sind der wesentlich höhere Materialdurchsatz und die Möglichkeit, unverdünnten Lack zu verarbeiten. Nachteilig sind die scharfe Spritzstrahlabgrenzung und der höhere Tropfendurchmesser, was zu einer optisch weniger guten (weniger ebenen und ungleichmäßig dicken) Beschichtung führt. Das Airless-Verfahren wird deshalb vorwiegend für (sehr) großflächige Lackierungen bei geringeren optischen Qualitätsanforderungen eingesetzt. Eine Möglichkeit, die Vorteile des pneumatischen Spritzens mit denen des hydraulischen zu verbinden, ist das Airless-Spritzen mit Luftunterstützung (Airmix-Verfahren). Hiermit können u.a. der Spritzstrahl optimal geformt und die Tröpfchengröße oder alternativ der Lackdruck reduziert werden. Zum hydraulischen Spritzen gehört auch das Lackieren mit Sprühdosen (Spraydosen), in denen ein Treibgas den Lack mit einigen Bar Überdruck durch die Zerstäuberdüse drückt. Es ist vor allem im Do-it-yourself-Bereich zu finden.

2.3.3 Heißspritzen Beim Heißspritzen (Warmspritzen) nutzt man den Effekt, dass die Viskosität η von Polymerlösungen und damit auch von Lacken bei steigender Temperatur ungefähr gemäß der Arrhenius-Gleichung abfällt:  28



Gleichung 2.1 (Legende siehe S.29)

Spritzlackieren η∞ Eη R T

formaler Grenzwert von η für T  ∞ molare Aktivierungsenergie des viskosen Fließens allgemeine Gaskonstante (8,314 J mol-1K-1) absolute Temperatur (Kelvin-Temperatur)

Die in Abbildung 2.8 dargestellte Veränderung der Lackviskosität mit der Temperatur folgt dieser Gleichung in guter Näherung. In der Praxis wird der Heißspritzlack vor der Pistole im Durchlauf nach verschiedenen technischen Prinzipien auf 60 bis 80 °C erwärmt. Dank des Viskositätsabfalls können Lacke mit höherem Festkörperanteil bzw. geringerem Lösemittelgehalt direkt verspritzt werden, was zur Emissionsminderung führt. Durch die Abkühlung bis zum und auf dem Objekt steigt die Viskosität schnell wieder an, wodurch das Ablaufen auch bei hoher Schichtdicke weitgehend unterdrückt wird. Alternativ kann ein auf normale Spritzviskosität eingestellter Lack mit geringerem Luftdruck und damit weniger Overspray verarbeitet werden. Es gibt auch die Möglichkeit, zusätzlich oder ausschließlich mit warmer Zerstäuberluft zu spritzen, woraus sich weitere Vorteile ergeben [24].

2.3.4

Spritzen mit überkritischem Kohlendioxid

Das Gas Kohlendioxid (CO2) erreicht bei 31 °C und 73 bar den kritischen Zustand. Bei höherer Temperatur und höherem Druck liegt das CO2 im überkritischen (superkritischen) Zustand vor; es verhält sich dann wie eine Flüssigkeit und hat gutes Lösevermögen für Bindemittel. In einem modifizierten Airless-Verfahren können hochviskose, sehr festkörperreiche Lacke deshalb mit überkritischem CO2 „verdünnt“ werden. Durch das Expandieren des CO2 nach dem Verlassen der Spritzdüse kommt es zu einer optimalen Tropfenbildung und – ähnlich wie beim Heißspritzen – zu einem schnellen Viskositätsanstieg. Dieses unter dem Namen „Unicarb“ bekannte Verfahren ist sehr emissionsarm. (CO2 gilt nicht als VOC (Volatile Organic Compound), d.h. flüchtige organische Verbindung.) Trotzdem hat es in Europa – wohl wegen der nicht immer befriedigenden Lackierergebnisse bei relativ großem technischen Aufwand – keine nennenswerte Verbreitung gefunden.

Abbildung 2.8: Abhängigkeit der Viskosität zweier Lacke von der Temperatur, aus [7]

29

Applikation

2.4

Elektrostatisches Lackieren

Die wesentliche Schwäche der konventionellen Spritzverfahren, nämlich den schlechten Auftragswirkungsgrad, kann man dadurch abmildern, dass man zwischen dem Applikationsorgan und dem geerdeten Werkstück ein Hochspannungsfeld anlegt, in dem die beim oder direkt nach dem Versprühen elektrisch aufgeladenen Lacktröpfchen stärker zum Objekt geleitet werden als ohne elektrische Kräfte. In der Nähe der Objektoberfläche tritt zusätzlich noch eine Erhöhung der Feldstärke und damit der Anziehungskraft zwischen Lacktröpfchen und Oberfläche durch eine im Objekt influenzierte Spiegelladung auf. Das Grundprinzip des elektrostatischen Lackierens und die genannten elektrostatischen Einzeleffekte sind in Abbildung 2.9 dargestellt.

Abbildung 2.9: Grundprinzip des elektrostatischen Lackierens (vereinfachte Darstellung ohne Berücksichtigung der Raumladungseffekte durch die geladenen Lacktröpfchen und Luftionen), aus [15]

Abbildung 2.10: Lackieren mit einer Hochrotationsscheibe in einer Omegaschleife, aus [3]

30

Elektrostatisches Lackieren Die elektrostatischen Lackierverfahren lassen sich in die Hauptgruppen –– elektrostatisch unterstützte konventionelle Spritzverfahren, –– elektrostatisch unterstützte Hochrotationsverfahren und –– rein elektrostatische Verfahren. einteilen. Zusätzlich ist elektrotechnisch sehr wichtig, ob der zu verarbeitende Lack ein konventioneller (lösemittelbasierter) oder ein Wasserlack ist. Ersterer ist ein Isolator, letzterer ein Leiter.

2.4.1 Elektrostatisch unterstützte konventionelle Spritzverfahren Spritzpistolen, die an ihrer Mündung mit einer oder mehreren nadelförmigen Hochspannungselektroden (bis -90 kV gegenüber dem geerdeten Werkstück) versehen sind, heißen Elektrostatik-Pistolen. Die sog. Korona-Nadeln erzeugen das führende elektrische Feld und laden zugleich die Lacktröpfchen durch Ionisationsaufladung auf, indem durch Feldemission aus den Nadelspitzen Elektronen an die Luftmoleküle und dann sekundär an die Lacktröpfchen abgegeben werden. Nichtwässrige Lacke können auch zusätzlich durch Leitungsaufladung, d.h. direkte Berührung der Elektrode, aufgeladen werden, da über den Lack im Schlauch kein Kurzschluss mit dem geerdeten Lackversorgungssystem entstehen kann.

2.4.2

Elektrostatische Hochrotationsverfahren

Hier wird Lack kontinuierlich und zentrisch auf eine sehr schnell rotierende Hochrotationsscheibe (Durchmesser 100 bis 600 mm, Drehzahl bis 25.000 min-1) oder in eine recht kleine, schalenförmige Hochrotationsglocke (Durchmesser 30 bis 80 mm, Drehzahl bis 70.000 min-1) dosiert und von der Kante in Form sehr feiner Tropfen radial abgeschleudert. Im ersten Fall lädt sich der Lack beim Kontakt mit der auf Hochspannung liegenden Scheibe auf und gelangt nach dem Zerstäuben – durch die Feldkräfte geführt – direkt auf die in einer Omegaschleife um die Scheibe geführten, geerdeten Objekte (Abbildung 2.10). Bei der Glocke wird der Lacknebel durch einen Lenkluftstrom in Richtung der Glockenachse umgelenkt und zusätzlich durch die elektrischen Feldkräfte zum Objekt geleitet. Die Aufladung nichtwässriger Lacke erfolgt durch Leitungsaufladung an der Glocke, die von Wasserlacken (nach Zerstäuben) meist durch Korona-Aufladung mit um die Glocke angebrachten Außen- Abbildung 2.11: Hochrotationsglocke mit Außenelektroden elektroden (Abbildung 2.11). Al- zur Wasserlackzerstäubung, aus [3] 31

Applikation ternativ können auch Wasserlacke durch Leitungsaufladung direkt an der Glocke aufgeladen werden, wenn ein Kurzschluss zwischen Glocke und Erde über die Lacksäule in der Zuleitung durch eine sog. Potenzialtrennung verhindert wird. Hochrotationsscheiben sind in der allgemeinen Industrielackierung anzutreffen; ein Beispiel ist die Lackierung von Fahrradrahmen. Auf Hochrotationsglocken trifft man vor allem in der Automobil-Erstlackierung (OEM, Original Equipment Manufacturing).

2.4.3

Rein elektrostatische Verfahren

Von den scharfen Kanten einer sehr feinen Spaltdüse (elektrostatischer Sprühspalt) oder der Kante einer relativ langsam rotierenden Scheibe oder Glocke kann Lack rein elektrostatisch zerstäubt und abgesprüht werden. Durch den Kontakt mit der auf Hochspannung liegenden Kante kommt es durch die hohe Flächenladungsdichte auf dem Lack zu starken Abstoßungskräften in der Lackoberfläche, was über einen charakteristischen Zerwellvorgang zur Zerteilung des Lackes führt. Die rein elektrostatischen (elektrostatisch zerstäubenden) Verfahren haben den Vorteil einer fast 100 %igen Lackausbeute. Der Hauptnachteil ist der geringe Lackdurchsatz pro Sprühorgan, weshalb dies Verfahren nur noch in Sonderfällen wie dem Lackieren stark durchbrochener Teile (Maschendraht u.ä.) anzutreffen ist.

2.4.4

Besondere Effekte des elektrostatischen Lackierens

Überbeschichtung von Kanten Entsprechend der Tatsache, dass die elektrische Feldstärke über leitenden, geladenen Flächen umgekehrt proportional zum Krümmungsradius ist, ist sie auch in diesem Fall über Kanten und Ecken von Teilen besonders hoch. Deshalb scheiden sich hier besonders viele geladene Lacktröpfchen ab, was bei zu langsamem Verlauf zu einer Überbeschichtung an diesen Stellen führen kann und bei entsprechendem Aussehen auch Bilderrahmen-Effekt genannt wird (s. Abbildung 2.12).

Abbildung 2.12: Lacktröpfchenabscheidung ohne/mit elektrostatischer Lackaufladung, aus [3]

32

Sonstige Applikationsverfahren für flüssige und pastöse Materialien Umgriff Hierunter versteht man den auch beim Elektrotauchlackieren auftretenden, i.d.R. erwünschten Effekt, dass sich Lack auch an rückwärtigen, dem Lackstrom nicht zugewandten Seiten des Objektes (in geringerem Maße) niederschlägt. Dies rührt – bildlich ausgedrückt – daher, dass die Tröpfchen führenden Feldlinien teilweise auch auf der Rückseite des Teils enden (s. Abbildung 2.12). Faraday-Käfige Das elektrische Feld kann nur schwach in Hinterschneidungen oder gar Hohlräume im Werkstück eindringen. Folglich wird hier elektrostatisch auch nur wenig bis kein Lack abgeschieden (s. Abbildung 2.12). Ergänzend sei angemerkt, dass diese Effekte in analoger Weise auch beim Elektrotauchlackieren und beim elektrostatischen Pulversprühen nach dem Korona-Verfahren (s. Kapitel 2.7.2) auftreten.

2.5 Sonstige Applikationsverfahren für flüssige und pastöse Materialien Rakeln Das Rakeln ist im Prinzip eine Abstreiftechnik, durch die zunächst überschüssig auf einen flächigen Untergrund (Platte, Fußboden, Papier-, Textil-, Kunststoffbahn, Druckzylinder u.ä.) aufgebrachtes Material (Beschichtungsstoff, Druckfarbe, Klebstoff) nachträglich gleichmäßig verteilt bzw. eingearbeitet wird. Dabei wird durch einen definierten Rakelspalt entweder ein konstant dicker Nassfilm gebildet, oder das Material wird in die Poren bzw. Vertiefungen(Strukturen) des Untergrundes unter gleichzeitiger Abscherung des Überschusses von der Oberfläche eingedrückt. Sehr häufig wird das Rakeln auch im Labor zur Erzeugung sehr ebener, definiert dicker Filme für Prüfzwecke angewendet. Vom Prinzip her dem Rakeln sehr ähnlich ist das handwerkliche Spachteln, d.h. das Verarbeiten von Spachtelmassen mit einem Spachtelmesser u.ä. einfachen Werkzeugen. Siebdruck Der Siebdruck kann als eine Erweiterung des Rakelns betrachtet werden. Der relativ viskose (bis pastöse) Beschichtungsstoff bzw. die Siebdruckfarbe wird dabei mit einer Rakel durch ein Textilgewebe hindurch auf den Untergrund gedrückt; das Gewebe wird danach abgehoben. Der Wechsel von durchlässigen und undurchlässigen Stellen im Gewebe führt auf dem Untergrund zu entsprechenden Strukturen aus mit Material beaufschlagten bzw. nicht beaufschlagten Stellen der Oberfläche, was – wie in der Leiterplattenfertigung – einen rein technischen Sinn hat, oder – wie bei der Schilderlackierung oder dem Plakatdruck – einen informativ-dekorativen Zweck erfüllt. Vakuumlackieren Profilierte Leisten bzw. Stäbe werden beim Vakuumlackieren kontinuierlich horizontal durch eine unter Vakuum stehende Kammer geleitet. Die Ein- und Ausgangsöffnung sind dem Profil bis auf einen dünnen Spalt angepasst. In der Kammer findet eine dem Fluten ähnliche Be33

Applikation aufschlagung mit verspritztem Lack statt, und der Überschuss an Lack wird beim Austreten des Stabes aus der Kammer von der durch den Austrittsspalt einströmenden Luft abgeblasen. Spin Coating Hier wird Lack zentrisch auf kleine, flache Teile (Brillengläser, Compact Disks u.ä.) dosiert und danach durch schnelle Rotation um die senkrechte Schwerpunktachse zu einer gleichmäßig dicken und sehr gut verlaufenden Schicht verteilt.

2.6

Allgemeine Applikationsbedingungen

Ein flüssiges Beschichtungsmaterial, das Lösungs- bzw. Dispersionsmittel (Wasser) enthält, beginnt sofort nach der Applikation mit der physikalischen Trocknung. Durch die dabei ansteigende Viskosität werden sowohl das unerwünschte Ablaufen als auch das i.d.R. erwünschte Verlaufen gebremst. Damit Ersteres gerade noch nicht, Letzteres aber möglichst vollständig stattfindet, muss die optimale Abdunstgeschwindigkeit (Abdunstkinetik) vorliegen. Letztere wird durch die Temperatur (des Objektes und der Luft), die Luftströmungsgeschwindigkeit, und im Falle von Wasserlacken auch durch die relative Luftfeuchtigkeit 8 mitbestimmt: Je trockener die Luft, desto schneller die Abdunstung des Wassers. Man spricht hier von einem Applikationsfenster (s. Abbildung 2.13).

2.7 Pulverlack-Applikation 2.7.1 Pulverlacke Pulverlacke sind praktisch emissionsfrei und mit ca. 95 %iger Ausbeute verarbeitbare Beschichtungsstoffe. Deshalb haben sie sich als sehr umweltschonende Alternative zu (konventionellen) Nasslacken seit ihrer Einführung Mitte der 60er Jahre zunehmend in der Industrielackierung etabliert. Pulverlacke bestehen aus i.d.R. kantigen Körnern, die nahezu einheitlich aus Bindemittel(n) und Additiven, meist auch noch Pigmenten und evtl. Füllstoffen zusammengesetzt sind. Die mittlere Korngröße liegt bei den Einbrennpulvern meistens zwischen 20 und 45 μm; die Korngrößenverteilung reicht von ca. 5 bis 100 μm. Thermoplast-Pulver (Wirbelsinter-Pulver) sind deutlich gröber. Die Pulver werden direkt auf das Objekt gebracht, wo Abbildung 2.13: Applikationsfenster für die Verarbeitung eines Wasserbasislackes, aus [25] sie sofort oder in einem nachfol8 Relative Luftfeuchtigkeit: φ = p/ps ·100 %; p Wasserdampfpartialdruck in der Luft, ps Sättigungswasserdampfdruck

34

Allgemeine Applikationsbedingungen genden Härtungsprozess durch Schmelzen zu einem glatten Film verlaufen und ggf. chemisch vernetzen. Wegen der Notwendigkeit des Schmelzens der Körner können nur zumindest kurzfristig temperaturbeständige Werkstoffe wie Metalle, Glas, Keramik, Duromer-Werkstoffe und MDF (mitteldichte Faserplatte) pulverlackiert werden. Eine weitere Begrenzung des Pulverlackierens liegt in der Mindestdicke der Lackierung von etwa 40 μm, denn die Körner müssen auf der Oberfläche ja dicht zusammen liegen, damit keine freien Stellen in der Beschichtung verbleiben.

2.7.2

Elektrostatisches Pulversprühen

Bei diesem Verfahren wird das Pulver einem Sprühorgan, meistens einer Pistole bzw. MehrPistolen-Anordnung, aber auch einer Pulversprühglocke oder einem Rundsprühsystem (Scheibe) in fluidisierter, d.h. in durch Förderluft aufgewirbelter Form, über Schläuche zugeführt. Hier erfolgen die elektrische Aufladung der Pulverteilchen und das Austreten als Pulverwolke. Die Teilchen gelangen durch elektrostatische Kräfte und den Förder- und Zusatzluftstrom bzw. durch Fliehkräfte auf das Objekt und haften hier durch die elektrostatische Anziehung (Coulomb-Kräfte) von den in der Substratoberfläche influenzierten Spiegelladungen als poröse Schicht an. Da die Körner Isolatoren sind, behalten sie auch in der Schicht über Stunden ihre Ladung. Der bevorzugt aus kleineren Teilchen bestehende Overspray (50 bis 70 %) wird aufgefangen und nach Ergänzung mit Frischpulver erneut dem Sprühorgan zugeführt, wodurch Auftragswirkungsgrade bis fast 100 % erzielt werden können. Bezüg-

Abbildung 2.14: Prinzip der Korona-Sprühsysteme (oben) und Tribo-Sprühsysteme (unten), aus [15]

35

Applikation lich des Aufladungsmechanismus unterscheidet man zwischen der Korona- und der TriboAufladung (Reibungsaufladung). Die beiden Verfahren sind in Abbildung 2.14 schematisch dargestellt. Korona-Verfahren Die Teilchen werden – wie bei der Ionisationsaufladung beim Nasslackspritzen (s. Kapitel 2.4.1) – nach dem Austreten aus dem Sprühorgan durch eine Korona-Elektrode (max. 90 kV bei Hand-, 120 kV bei Automatikpistolen) berührungslos aufgeladen und im äußeren Feld zum Objekt geführt, wo sie wie oben beschrieben als Schicht elektrostatisch anhaften. Durch das Korona-Verfahren sind (bei korrekter Einstellung aller Parameter) alle Pulverlacke verarbeitbar. Aus der Existenz des starken äußeren Feldes resultieren jedoch auch hier die in Kapitel 2.4.4 erläuterten elektrostatischen Effekte. Ferner führt der starke Luftionenstrom durch die Schicht in das geerdete Objekt bei höheren Schichtdicken (ab ca. 80 μm) und/oder nicht optimalen technischen Parametern zum sog. Rücksprüheffekt (s.u.). Allgemein begrenzt sich die Pulverschichtdicke elektrostatisch bedingt auf 120 bis 150 μm. Unter Rücksprühen versteht man die Erscheinung, dass die Pulverschicht mit zunehmender Schichtdicke instabiler wird und es unter Zurücklassung von Kratern oder sogar Löchern in der Schicht lokal zum schlagartigen Wegsprühen von Pulverteilchen aus der Schicht kommt. Die Folge kann eine verstärkte Unebenheit der fertigen Pulverlackierung in Form einer Orangenschalenstruktur sein. Ursache für das Rücksprühen ist die zu hohe negative Ladungsanhäufung in der Schicht, die vor allem durch den Strom an negativ geladenen, durch die Schicht zur Objektoberfläche fliegenden Luftionen herrührt. Es kommt dadurch in der Schicht zur Bildung von Ionisationskanälen, d.h. elektrischen Überschlägen zwischen Teilchen und der Substratoberfläche. Die dadurch ent- oder sogar umgeladenen Teilchen fliegen dann aus der Schicht heraus [13, 15]. Das Rücksprühen kann durch Erniedrigen bzw. Variieren der Spannung in Abhängigkeit von der Objektform, Vergrößern des Abstandes SprühorganObjekt, Vermeiden zu hoher Schichtdicken und evtl. Verbessern der Erdung minimiert werden. Als apparative Möglichkeiten bieten sich heute sog. ionenarme Sprühsysteme mit zusätzlichen Hilfselektroden, Sprühorgane mit variabler Strom-Spannungs-Kennlinie oder der Umstieg auf die ausschließliche bzw. zusätzliche Tribo-Aufladung an [15]. Tribo-Verfahren Hier wird der Luft/Pulver-Strom im Sprühorgan (Pistole, Fingerdüse u.ä.) durch einen PTFEKanal 9 geblasen, wobei sich die Teilchen bei der Reibung am PTFE i.d.R. positiv aufladen und dann mit dieser Ladung austreten. Da hier kein äußeres elektrisches Feld vorhanden ist, wirken zunächst nur relativ schwache coulombsche Anziehungskräfte zwischen den Teilchen und dem geerdeten Objekt. Nahe der Objektoberfläche werden die Anziehungskräfte dann aber durch Influenz auch hier so stark, dass es zum Anhaften der Teilchen in Form der Pulverschicht kommt. Nachteile bzw. Begrenzungen des Tribo-Verfahrens liegen vor allem darin, dass sich nicht alle Pulverlacke ausreichend hoch aufladen und die Pulverdurchsätze geringer sind als beim Korona-Verfahren. Vorteile resultieren jedoch aus dem Fehlen des äußeren Feldes und des Luftionenstromes: Die Schichtdicke ist über das gesamte Teil gleichmäßiger, auch Vertiefungen und sogar Hohlräume sind beschichtbar, es kommt zu keiner Kantenüberbeschichtung, und das Rücksprühen ist schwächer bzw. tritt erst bei sehr hohen Schichtdicken auf. 9 PTFE: Polytetrafluorethylen, „Teflon“

36

Allgemeine Applikationsbedingungen Elektrostatische Wirbelbad-Verfahren Bei diesen vorzugsweise zur Lackierung von einfach geformten Kleinteilen genutzten Verfahren wird in einer Kammer oder einem Becken mit Hilfe von Luftdüsen bzw. einem Fluidboden eine nahezu stehende Wolke geladenen Pulvers erzeugt, durch die die geerdeten Teile geführt werden. Es können so Lackierungen mit Schichtdicken zwischen 40 und 500 μm erzielt werden.

2.7.3 Pulversinter-Verfahren Dieser Verfahrensgruppe ist gemein, dass ein Pulver eines thermoplastischen Kunststoffes wie Polyethylen und Ethylen-Copolymer, Polyamid, Polyvinylchlorid, Polyester oder Fluorpolymer auf ein auf 200 bis 400 °C erhitztes Objekt gebracht wird, auf dem es sofort zu einer i.d.R. zwischen 200 und 600 μm dicken Schicht aufschmilzt. Die Aufheiztemperatur richtet sich nach dem Fließbereich (Schmelzbereich) des Pulvers und der Wärmekapazität des Objektes. Das wichtigste und älteste Verfahren ist das Wirbelsintern. Hier wird das zu beschichtende heiße Teil in ein Becken getaucht, in dem sich mit Luft zu einem Wirbelbett aufgetriebenes Pulver befindet. Die Eintauchzeit beträgt 1 bis 5 Sekunden. Teilweise ist ein erneutes Aufheizen (Nachgelieren) notwendig, um den Schmelz- und Verlaufsvorgang abzuschließen. Auf diese Weise werden z.B. Geschirrkörbe, Armaturen und Gartenmöbel beschichtet. Zum Beschichten von Rohren, Behältern, Kleinteilen und Großobjekten gibt es weitere Verfahrensvarianten, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann.

37

Untergrundbenetzung

3 Untergrundbenetzung, Verlaufen, Ablaufen, Kantenflucht 3.1 Untergrundbenetzung Die erste Voraussetzung für die Beschichtbarkeit (Lackierbarkeit, Bedruckbarkeit usw.) eines Untergrundes (Substrates) ist, dass dieser vom Beschichtungsstoff benetzbar ist. Zur Erläuterung dieses Begriffes diene der einfache Modellfall eines auf einer Substratoberfläche befindlichen Lacktropfens, wie in Abbildung 3.1 dargestellt. Der Tropfen ist keine Kugel mehr, wie z.B. als Tröpfchen im Lacknebel, sondern durch die Schwerkraft und durch Ober- und Grenzflächenkräfte zu einer mehr oder weniger abgeflachten Kugelkalotte deformiert. Die kreisförmige Grenzlinie zwischen dem Tropfenrand und der freien Festkörperoberfläche bildet eine Randlinie. An jedem beliebig kleinen Abschnitt dL dieser Randlinie greifen drei Kräfte an, die – wenn sich zeitlich nichts verändert – folgendes Kräftegleichgewicht bilden (s. Abbildung 3.1):

und nach Dividieren durch dL:  σs σs,l σl α



Gleichung 3.1

Oberflächenenergie (Oberflächenspannung) des Substrates Grenzflächenspannung zwischen Flüssigkeit und Substrat Oberflächenspannung der Flüssigkeit (des Lackes) Randwinkel (Kontaktwinkel, Benetzungswinkel)

Diese Gleichung heißt YoungGleichung. Sie ist eine Gleichung mit zwei Unbekannten, σs und σs,l. Der Randwinkel α lässt sich mit entsprechenden Randwinkelmessgeräten optisch bestimmen, und die Messung der Oberflächenspannung σl des Beschichtungsstoffes ist ebenfalls im Prinzip kein Problem [13].

Abbildung 3.1: Kräftegleichgewicht an einem Tropfen auf einer Festkörperoberfläche. (Statt der Kräfte selbst sind nur die entsprechenden Spannungen notiert)

Mischke/Strehmel: Filmbildung in modernen Lacksystemen, 2. Auflage © Copyright: 2018 Vincentz Network GmbH & Co. KG, Hannover

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Untergrundbenetzung, Verlaufen, Ablaufen, Kantenflucht Nun gilt folgendes: Je flacher der Tropfen, desto –– kleiner ist der Randwinkel –– größer ist der cos α (maximal 1) –– besser ist die Benetzung der Substratoberfläche durch den Tropfen. Die Umstellung der Young-Gleichung zu 



Gleichung 3.2

zeigt, dass der Wert von cos α bei fest angenommener Grenzflächenspannung σs,l (grobe Näherung) umso größer und damit der Wert von α selbst umso kleiner wird, je kleiner σl und je größer σs ist. Schließlich wird im Grenzfall, in dem Zähler und Nenner des Bruches gleich sind, gerade eben cos α = 1, α = 0°. In diesem Fall ist die Benetzung gerade eben vollständig. Kleinere, d.h. negative Werte für α sind physikalisch nicht möglich, d.h. α bleibt auch bei noch besserer Benetzung als im obigen Grenzfall stets gleich Null, und die Young-Gleichung verliert ihre Gültigkeit. Für diesen Zustand definiert man eine weitere Größe, den sog. Spreitungskoeffizienten: Wie man leicht nachprüfen kann, ist S im oben beschriebenen Grenzfall gerade gleich Null, und für Werte des Bruches über Eins in Gleichung 3.2 ist S größer als Null. Letzteres heißt aber, dass die am Rand des Tropfens nach außen (weg vom Zentrum) ziehende Kraft stets größer ist als die Summe der Gegenkräfte. Es existiert kein Gleichgewicht, und der Tropfen zieht sich als immer dünner werdender Film ständig weiter auseinander, d.h. er spreitet, bis er am Rand verdunstet bzw. vom „Rauheitsgebirge“ des Untergrundes aufgehalten wird. Zusammengefasst gilt: –– Ein (flüssiger) Beschichtungsstoff muss zur Erreichung eines gleichmäßig dicken Films und einer gut haftenden Lackierung den Untergrund gut benetzen, möglichst auf ihm spreiten. Dies wird erreicht, wenn die Oberflächenenergie (Oberflächenspannung) des Substrates mindestens so groß ist wie die Oberflächenspannung des Beschichtungsstoffes. (σs,l ist, in diesem Fall sehr niedrig bzw. praktisch null [3, 7].) Da man die Oberflächenenergie von Festkörpern nicht einfach und genau messen kann, gibt es für die Praxis eine mit Testflüssigkeiten leicht und schnell bestimmbare Ersatzgröße für die Oberflächenenergie des Substrates, die sog. kritische Oberflächenspannung [13, 26]. Aus einer Serie von Testflüssigkeiten mit verschiedenen bekannten Oberflächenspannungen wird durch einfache Benetzungsversuche (Auftropfen, Aufpinseln) diejenige ermittelt, die gerade eben auf dem Untergrund spreitet (α ≈ 0°, cos α ≈ 1). Dann hat Gleichung 3.1 die spezielle Form und da hier



40

Untergrundbenetzung Die kritische Oberflächenspannung σkr des Substrates ist gleich der Oberflächenspannung einer Flüssigkeit, die auf der vorliegenden Substratoberfläche gerade eben spreitet (zerläuft). In Tabelle 3.1 sind beispielhaft die Oberflächenspannungswerte verschiedener Lösemittel, Substratmaterialien und Bindemittel aufgelistet. Als Faustregel gilt: –– Alle Flüssigkeiten (Lacke u.ä.), die eine niedrigere Oberflächenspannung haben als σkr, benetzen das Substrat vollständig. Diese Regel gilt allerdings umso weniger, je stärker die Polarität des Beschichtungsmaterials von der der Testflüssigkeit abweicht. Aus Tabelle 3.1 lässt sich allgemein etwa Folgendes entnehmen: Die Oberflächenspannung ist von –– organischen Lösemitteln niedrig bis mittelhoch –– Wasser sehr hoch –– Bindemitteln mittelhoch (i.A. höher als von Lösemitteln) –– Substraten niedrig (PTFE, Polyolefine PE, PP) bis mittelhoch (je nach Reinheitszustand). Verunreinigungen mit niedriger Oberflächenspannung wie Fettschmutz, Handschweiß, bestimmte Staubpartikel oder Verarbeitungshilfsstoffe auf dem Untergrund verschlechtern die Benetzbarkeit (und die spätere Lackhaftung) generell, so dass es im Extremfall nach der Applikation zur partiellen oder vollständigen Entnetzung kommen kann; der Lackfilm bekommt dünnere Stellen, Löcher, Krater, oder er zieht sich großflächig, inselartig zurück (s. Abbildung 3.2).

Tabelle 3.1: Oberflächenspannungswerte ausgewählter Lösemittel, Substrate und Bindemittel Flüssigkeit 1 Hexamethyldisiloxan (Silicon) n-Octan 2-Propanol Aceton Butylacetat Toluol Butylglykol Dioxan Wasser Bindemittel 3 Poly(meth)acrylate Alkydharze Polyvinylacetat Polyvinylalkohol Melaminharze Epoxidharze Chlorkautschuk Substrat 2 PTFE Polypropylen Polyethylen Polycarbonat Polyester Aluminium (unbehandelt) Stahl (phosphatiert) Stahl (unbehandelt) Glas

σ [mN m-1] 16 21 22 24 26 29 30 37 73 σ [mN m-1] 32 – 41 33 – 60 36 37 42 – 58 45 – 60 57 σ [mN m-1] 20 28 – 35 30 – 36 35 – 37 40 – 45 33 – 35 4) 43 – 46 4) 29 4) 73

1 aus [20, 27] (Angaben geringfügig unterschiedlich) 2 aus [3, 7, 13] (Angaben z.T. deutlich unterschiedlich) 3 aus [3] 4 kritische Oberflächenspannung

Die Untergrundbenetzung lässt sich grundsätzlich durch zwei Maßnahmen verbessern: –– Erhöhen bzw. Vergleichmäßigen der Oberflächenspannung des Substrates durch –– Reinigen, Entfetten –– gezieltes Aufrauen (Schleifen, Strahlen) –– chemisches Vorbehandeln (Oxidieren von Polyolefinen, Konversionsbehandlung von Metallen wie Phosphatieren oder Chromatieren). –– Erniedrigen der Oberflächenspannung des Beschichtungsstoffes durch Substratnetzadditive (spezielle Tenside bzw. tensidartige Substanzen).

41

Untergrundbenetzung, Verlaufen, Ablaufen, Kantenflucht Die Additive können die Oberflächenspannung eines Lackes bis ca. 20 mN m-1 erniedrigen, aber dadurch entstehen mitunter auch negative Begleiterscheinungen wie Schaumbildung oder schlechte Zwischenschichthaftung (nach späterem Überlackieren). Sie müssen deshalb sehr gezielt ausgesucht und dosiert werden [27, 28, 104]. Wasserbasierte Beschichtungsstoffe (Wasserlacke u.ä.) haben tendenziell natürlich eine höhere Oberflächenspannung als lösemittelbasierte Produkte. Aber auch sie können mit Hilfe geeigneter Additive sogar unpolare (vorbehandelte) Kunststoffe wie Polypropylen benetzen. Eine an sich nicht auseichende Substratbenetzung kann auch durch Erzeugen einer höheren Schichtdicke und/oder durch eine höhere Viskosität quasi kaschiert werden. Ein rascher Viskositätsanstieg nach der Applikation durch einen schnellen Rückgang der thixotropen Scherverdünnung und/oder durch schnelles Antrocknen kann die Entnetzung gewissermaßen zeitlich überholen. Die Gefahr hierbei ist, dass sich der Lack beim anschließenden Aufheizen wegen des damit verbundenen Viskositätsabfalls nachträglich zurückzieht, oder dass trotz befriedigender optischer Filmausbildung die Lackhaftung stellenweise mangelhaft bleibt.

3.2 Verlaufen Hier wird nur das Verlaufen von flüssigen Beschichtungsstofffilmen behandelt. Zum Verlauf von Pulverlacken s. Kapitel 9.3. Die Applikationsverfahren erzeugen den Nassfilm mit einer mehr oder weniger ausgeprägten Unebenheit (Struktur) der Oberfläche. Pinselfurchen, Walzstrukturen oder eine vom Spritzen herrührende Welligkeit sind Beispiele dafür. I.d.R. soll sich der Nassfilm selbstständig einebnen, um nach dem Trocknen eine plane Beschichtungsoberfläche zu ergeben. Als Beispiel für diesen Einebnungsprozess sei das nach dem Spritzen anfänglich vorliegende Tröpfchengebirge betrachtet (s. Abbildung 3.3). Zunächst müssen die Tröpfchen miteinander Verfließen; man nennt diesen Vorgang Koaleszenz. Danach liegt immer noch eine stark unebene Oberfläche mit „Bergen“ und „Tälern“ vor, und der eigentliche Verlauf beginnt. Triebkraft des Verlaufs ist die Tendenz des Films, seine Oberflächenenergie durch Verkleinerung der Oberfläche zu erniedrigen, so wie sich auch ein Bettlaken glattzieht, wenn man es von den Ecken bzw. Kanten her unter Spannung setzt. Man kann also erwarten, dass ein Lackfilm umso schneller verläuft, je höher seine Oberflächenspannung ist. Das Verlaufen ist aber mit einem Materialfluss aus den Bergen in die Täler verbunden, und dies erfolgt umso langsamer, je höher die Viskosität ist. Für einen guten VerAbbildung 3.2: Benetzungsstörungen (Entnetzungen) auf einem unreinen Untergrund, aus [25] lauf ist es deshalb wichtig, dass die Viskosi42

Verlaufen tät nach der Applikation nicht zu schnell ansteigt. Ursachen für den Viskositätsanstieg sind bzw. können sein: –– Lösemittel-/Wasserverdunstung (physikalische Antrocknung) –– Molekülvergrößerung (beginnende Härtung) –– Rückgang der von der Applikation herrührenden thixotropen Scherverdünnung. Die grundlegende physikalisch-mathematische Beschreibung des primären Verlaufsvorganges stammt von Orchard  [13, 29]. Er geht modellhaft von einem gleichmäßigen, sinusförmigen Profilquerschnitt aus (s. Abbildung 3.4) und erhält folgende Gleichung (Orchard-Gleichung):



Gleichung 3.3

a0 a t x σ λ η(t)

Anfangsamplitude (t = 0) Amplitude nach der Zeit t mittlere Filmdicke Oberflächenspannung des Films Wellenlänge der Sinuskurve (konstant) Viskosität (zeitabhängig)

Das Integral heißt Fluiditätsintegral. Falls die Viskosität ungefähr konstant bleibt, kann es durch das Produkt η · t ersetzt werden. (Die präzise Herleitung der Gleichung ist mathematisch sehr aufwändig. Eine vereinfachte Herleitung, die mit Ausnahme des Zahlenfaktors (16π4/3) ebenfalls zur Orchard-Gleichung führt, ist im Anhang 1 gegeben.) Aus Gleichung 3.3 kann man Folgendes entnehmen: –– die Einebnung schreitet mit der Zeit immer langsamer fort, –– sie wird durch steigende Oberflächenspannung mäßig beschleunigt und –– durch steigende Viskosität verlangsamt. –– Eine steigende Filmdicke hat einen stark positiven und –– eine steigende Wellenlänge einen sehr stark negativen Effekt auf den Verlauf.

Abbildung 3.3: „Tröpfchengebirge“ nach Spritzapplikation direkt vor Koaleszenz und Verlaufen, aus [3]

Abbildung 3.4: Profilmodell zur Berechnung des Lackverlaufs nach Orchard, aus [13]

43

Untergrundbenetzung, Verlaufen, Ablaufen, Kantenflucht Letzteres führt dazu, dass sich kurze Wellen schneller einebnen als lange. In der Literatur ist verschiedentlich zu lesen, dass auch die Schwerkraft für den Verlauf mitverantwortlich sei. Überschlägige Rechnungen zeigen jedoch, dass der Schweredruck eines „Lackberges“ der Höhe a (p = g ρ a) gegenüber dem durch den Krümmungsradius r verursachten Überdruck (p = 2 σ/r) praktisch vernachlässigbar ist. („While a person unacquainted with the field might first think that leveling results from gravitational effects, this is clearly not, to a significant degree, the case.“ [22]) Eine häufige Ursache für einen unbefriedigenden Verlauf ist ein zu schneller Viskositätsanstieg. Die Viskosität ist zwar gemäß Gleichung 3.3 mathematisch nur von mäßiger Bedeutung, sie ändert sich aber durch die oben genannten Ursachen schon vor der eigentlichen Verfilmung zeitlich oft relativ stark – nicht selten um eine Zehnerpotenz oder mehr – und ist deshalb praktisch doch von erheblichem Einfluss. Da eine niedrige Viskosität des Lackfilms den Verlauf zwar begünstigt, aber leider auch das unerwünschte Ablaufen an senkrechten Flächen (s. Kapitel 3.3), ist nicht eine niedrige Viskosität an sich, sondern ein optimales zeitliches Viskositätsprofil unmittelbar nach der Applikation anzustreben. Dies bedeutet praktisch, dass –– die Flüchtigkeit der Lösemittel –– die Temperaturführung und die Luftströmung in der Trockenzone (Abdunstzone, Ofen) –– die chemische Reaktivität des Lackes (falls härtend) –– und die Art und Menge von Rheologieadditiven (falls vorhanden) aufeinander abgestimmt sein müssen, was nur durch eine konstruktive Zusammenarbeit von Lackentwickler und Lackverarbeiter möglich ist. Eine weitere Ursache eines unbefriedigenden Verlaufes kann das Vorliegen einer Fließgrenze sein. Eine Fließgrenze liegt vor, wenn die Flüssigkeit unterhalb einer bestimmten Schubspannung praktisch nicht mehr fließt (s. Kapitel 1.4.2). Dies bedeutet in Hinblick auf den Verlauf, dass es ab dem Erreichen eines bestimmten Verlaufsgrades nicht zu einem weiteren Verlauf kommt. Fließgrenzen findet man z.B. bei Wasserlacken – auch Klarlacken – auf Dispersionsbasis. Nun könnte man meinen, dass nach Optimierung der Parameter in Gleichung 3.3 bzw. bei Einhalten aller genannten Bedingungen mit Sicherheit ein guter Verlauf bzw. eine ebene Lackierung zu erwarten sei. Das ist leider nicht so! Während nämlich die Oberflächenspannung die treibende Kraft für die Einebnung ist, führen unvermeidliche Differenzen der Oberflächenspannung in der Verdunstungsphase zur Strukturbildung, selbst wenn der Film vorübergehend schon nahezu eben war. Zunächst sei festgestellt, dass –– die Oberflächenspannung mit fallender Temperatur und zunehmender Aufkonzentrierung des Bindemittels durch Lösemittelverdunstung steigt. (Bei Verdunstung von Wasser fällt die Oberflächenspannung i.d.R.). Da die Verdunstungsgeschwindigkeit bzw. die damit verbundene Aufkonzentrierung und Abkühlung (Verdunstungskälte) über die Oberfläche von Ort zu Ort etwas unterschiedlich sind, kommt es zu Oberflächenspannungsdifferenzen in der Filmoberfläche. Nun gilt grundsätzlich: –– Wenn eine Oberflächenspannungsdifferenz auftritt, fließt Material aus dem Gebiet niedriger in das Gebiet hoher Oberflächenspannung.

44

Verlaufen Die Folge ist, dass sich Strukturen (Unebenheiten) ausbilden, die sich auch örtlich und zeitlich ändern können, bis der Prozess u.a. durch Viskositätszunahme zur Ruhe kommt. Besteht nun z.B. wegen beginnender Vernetzung bzw. Gelierung des Lackes keine Möglichkeit mehr für die Unebenheiten, spätestens beim Aufheizen im Trockenofen zu verfließen, entsteht eine unebene Lackierung. Ein typisches Erscheinungsbild für unebene Spritzlackierungen ist die in Abbildung 3.5 gezeigte sog. Orangenschalenstruktur (Orange Peel); sie umfasst etwa den Wellenlängenbereich von 1 bis 10 mm. Der gesamte relevante Wellenlängenbereich reicht von 0,1 bis 30 mm und wird in die fünf Unterbereiche Wa entspr. 0,1 bis 0,3 mm, Wb entspr. 0,3 bis 1 mm, Wc entspr. 1 bis 3 mm, Wd entspr. 3 bis 10 mm und We entspr. 10 bis 30 mm eingeteilt. Wa und Wb werden als kurzwellige Struktur, Wc bis We als langwellige Struktur zusammengefasst [146]. Die Wellenlängenanteile der Lackstruktur werden messtechnisch heute meist mit laseroptischen Handgeräten auf dem fertig lackierten Objekt erfasst [30]. Eine gelegentlich auftretende Sonderform der Strukturbildung sind die Bénard-Zellen. Dabei handelt es sich um Zirkulationsströmungen von Lackmaterial zwischen dem Untergrund und der Lackoberfläche in Form überwiegend sechseckiger Säulen, die durch lokale Temperatur-, Konzentrations- und Dichtedifferenzen entstehen (s. Abbildung 3.6). BénardZellen führen nicht nur zu Unebenheiten des Films, sondern bei Vorliegen von mindestens zwei Pigmenten mit stark unterschiedlicher Teilchengröße bzw. Teilchenbeweglichkeit, z.B. Titandioxid mit Ruß oder Phthalocyaninblau, auch zu als Ausschwimmen oder Floating bezeichneten Entmischungserscheinungen, die optisch als eine Art Wabenstruktur sichtbar sind [7, 13].

Abbildung 3.5: Schlecht verlaufene Spritzlackierung (Orangenschalenstruktur, Orange Peel), aus [25]

Abbildung 3.6: Entstehung und Gestalt einer BénardZelle; Querschnitt (unten) und Aufsicht (oben) 

45

Untergrundbenetzung, Verlaufen, Ablaufen, Kantenflucht Zur Verhinderung von Verlaufstörungen setzt man häufig Verlaufs(hilfs)mittel ein. Diese lassen sich nach Art und Wirkmechanismus in drei Klassen einteilen: –– Hochsiedende, das Bindemittel sehr gut lösende Lösemittel: Verhindern ein zu schnelles Antrocknen (Verfestigen) der Filmoberfläche und die Entstehung zu großer Oberflächenspannungsunterschiede. –– Spezielle Acrylharze (z.B. Butylacrylat-Copolymere): Überziehen den Lackfilm mit einer dünnen Schicht mit gleichmäßiger, aber kaum abgesenkter Oberflächenspannung. (Möglicher Zusatzeffekt: Entgasung). –– Modifizierte Silicone: Erniedrigen und vergleichsmäßigen die Oberflächenspannung. (Häufige Zusatzeffekte: Substratbenetzung, Slip). Das bis hier über das ‚Verlaufen‘ Gesagte stellt mit Ausnahme der 1962 aufgestellten Orchard-Gleichung (Gleichung 3.3) mit physikalischen Überlegungen gepaartes empirisches Erfahrungswissen dar. Ab Ende der 1980er Jahre sind viele mehr theoretisch geprägte Forschungsarbeiten zum Thema Lackverlauf durchgeführt worden, was wohl mit der Möglichkeit der mathematischen Simulation der Verlaufsmechanismen durch das Aufkommen des Computers zusammenhängt. Eine recht neue Arbeit hierzu ist die Promotionsarbeit von C. Hager [146]. In dieser Arbeit wurde ein geschlossenes, mathematisches 3D-Modell der Entstehung der verschiedenen Lackoberflächen-Wellenlängen in Abhängigkeit von wesentlichen Lackbzw. Lackierparametern und der Untergrundstruktur entwickelt. Die Ergebnisse, tabellarisch in Kapitel 7 der Arbeit dargestellt, sollen die Optimierung von Lackierprozessen erleichtern. Ferner enthält die Arbeit einen guten Überblick über die bisherigen Forschungsarbeiten zu diesem Thema. Allerdings sind die bei der Trocknung entstehenden Oberflächenspannungsdifferenzen, die ja nach Meinung vieler Fachleute wesentlich zur Strukturbildung beitragen, in dem entwickelten Modell (noch) nicht enthalten. Eine Zusammenfassung der aktuellen, im Fraunhofer-Institut „IPA“ (Stuttgart) erzielten Forschungsergebnisse zum Verlaufsverhalten rheologische komplexer Lacke findet sich in Lit. [147].

3.3 Ablaufen

Abbildung 3.7: Ablaufen von Lack in Form von Nasen und Gardinen, aus [25]

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Das Ablaufen eines Nassfilms bzw. einer Schmelze an schrägen oder senkrechten Flächen ist kein Teilprozess der Filmbildung, kann aber die Ausbildung eines ebenen Filmes stören bzw. verhindern. An senkrechten oder schrägen Flächen läuft ein fließfähiger Film immer mehr oder weniger schnell nach unten, wenn er nicht durch eine ausreichend hohe Fließgrenze daran gehindert wird. In der Lacktechnologie meint man mit Ablaufen nicht diesen primären Fließvorgang, sondern die sich daraus entwickelnde Bildung von sog. Läufern. Diese werden gemäß ihrem Aussehen mit Begriffen wie Gardinen (breit) oder Nasen (schmal) charakterisiert (s. Abbildung 3.7).

Ablaufen Würde der Lackfilm auf der gesamten Substratfläche gleich schnell fließen, gäbe es keine Läufer in der Fläche. Da aber die Fließgeschwindigkeit mit zunehmender Schichtdicke gemäß



Gleichung 3.4

vmax Fließgeschwindigkeit der Filmoberfläche g Erdbeschleunigung ρ Lackdichte α Neigungswinkel zur Horizontalen dynamische Viskosität η x Filmdicke stark ansteigt, führen die stets vorhandenen Unebenheiten des Films – zusammen mit lokalen Viskositätsunterschieden – zu ungleichen Fließgeschwindigkeiten und damit zu lokalen Materialanhäufungen, die dann zu den Läufern auswachsen. Die maximale Schubspannung in einem Lackfilm beträgt τmax = g ρ x · sin α. Ist die Schichtdicke x so klein, dass τmax unterhalb der Fließgrenze (Mindestschubspannung für das Fließen) liegt, kommt es überhaupt nicht zum Fließen bzw. Ablaufen. Dieser Fall wird durch Gleichung 3.4 insofern miterfasst, als bei einer Fließgrenze die Viskosität gegen unendlich und die Abfließgeschwindigkeit damit gegen Null geht. Das Abfließen des Films wird durch die Viskosität gebremst, und somit führt die Erhöhung der Viskosität zu einer Hinauszögerung der Läuferbildung. Ist die viskositätserhöhende Antrocknung schnell genug, kann sich ein sichtbares Ablaufen gar nicht erst entwickeln. Reicht dieser Effekt aber nicht aus, wie z.B. besonders bei den lösemittelarmen High-SolidLacken, muss das Ablaufen durch Verdickungsmittel oder besser Thixotropierungsmittel, hier auch speziell Antiablaufmittel genannt, unterdrückt werden. Letztere führen – bei richtiger Auswahl und Dosierung – dazu, dass das Verlaufen bei niedriger Viskosität abgeschlossen ist, bevor das Ablaufen durch das Anziehen der Viskosität verhindert wird. Allgemein wird die Neigung zur Läuferbildung durch zunehmende Schichtdicke größer, und zwar nicht nur aus rein mechanischen Gründen (gemäß Gleichung 3.4), sondern auch, weil die Verdickung durch physikalische Trocknung mit wachsender Schichtdicke langsamer von statten geht (s. Kapitel 6.1.2.2). Die Schichtdicke, ab der ein Nassfilm von einer senkrechten Fläche gerade noch nicht abläuft, nennt man Läufergrenze. Die Läufergrenze lässt sich relativ einfach z.B. mit einer Ablaufrakel bestimmen.

3.4

Kantenflucht

Ein über einer Kante (Schnitt-, Stanzkante u.ä.) befindlicher Lackfilm hat hier eine gekrümmte Oberfläche, unter der gegenüber dem ebenen Film ein Überdruck von p = σ/r existiert (r Krümmungsradius, σ Oberflächenspannung des Films). Dieser Überdruck presst nun Lackmaterial von der Kante weg in die angrenzenden Filmbereiche, wo es (vorübergehend) zur Wulstbildung kommt. Das Resultat dieser sog. Kantenflucht ist eine zu dünne bis fast vollständig fehlende Schicht über der Kante und damit ein mangelhafter Schutz der Kante vor korrosiven und mechanischen Einwirkungen (s. Abbildung 3.8). Man versucht, der Kantenflucht durch Absenkung der Oberflächenspannung und/oder Erhöhung der Viskosität zu begegnen, wobei Letzteres i.d.R. erfolgreicher ist. Da die Kanten47

Untergrundbenetzung, Verlaufen, Ablaufen, Kantenflucht flucht des Nassfilms innerhalb weniger Sekunden erfolgt [26], muss die Viskosität sofort ausreichend hoch sein, was aber den Verlauf stört. Die Kantenflucht ist deshalb nie ganz zu vermeiden. Günstig kann sich in Einzelfällen die verstärkte Beschichtung der Kanten bei der elektrostatischen und der Elektrotauchlackierung auswirken [17]. Falls der Lack im Ofen aber vorübergehend wieder sehr dünnflüssig wird, geht dieser anfänglich positive Effekt jedoch weitgehend wieder verloren. Eine grundlegende, physikalische Behandlung der Kantenflucht findet sich z.B. in Lit. [13].

Abbildung 3.8: Querschliff einer Lackierung mit Kantenflucht (Vergrößerung: 250), aus [25]

48

Konvektionstrocknung

4 Physikalisch-technische Prinzipien der Lacktrocknung und -härtung 4.1 Konvektionstrocknung Die klassische und immer noch dominierende Methode der Lacktrocknung bei erhöhter Temperatur ist die Konvektionstrocknung durch Umströmen bzw. Anblasen des Objektes mit aufgeheizter Luft. Das Lackiergut verweilt dazu in einem Konvektionsofen (Heißluftofen, Umluftofen) – entweder in Ruhe oder in Form einer langsamen Translation. Die Luft wird dabei überwiegend im Kreislauf geführt und kontinuierlich nur durch so viel Frischluft angereichert, dass sich mit den aus der Schicht bzw. dem Nassfilm ausdampfenden organischen Stoffen keine explosible Atmosphäre bildet. Die oberere Grenze für die Konzentration organischer Dämpfe in der Ofenluft beträgt gemäß DGUV Grundsatz 309-002 („Grundsätze für die lüftungstechnische Berechnung von Kammertrocknern und Durchlauftrocknern“) max. 50  % der unteren Explosionsgrenze oder 20 g m-3 (bei 20 °C), wenn die UEG nicht bekannt ist. Die Übertragung von Wärme aus der Trocknerluft in den Film und damit indirekt auch in die Objektoberfläche erfolgt durch konvektiven Wärmeübergang. Damit ist allgemein die Wärmeübertragung aus einem strömenden Fluid in eine angrenzende Fläche bzw. umgekehrt gemeint. Für den konvektiven Wärmeübergang gilt folgende empirische Gleichung:  . Q Wärmestrom über die Fläche A α Wärmeübergangskoeffizient ϑL Temperatur der Luft in Grad Celsius ϑF Temperatur der Film-/Schichtoberfläche in Grad Celsius absolute Temperatur (Kelvin-Temperatur) T ΔT Temperaturdifferenz 10

Gleichung 4.1

Strömt ein Fluid entlang einer Fläche, so nimmt seine Geschwindigkeit vom vollen Wert vL (weit weg von der Fläche) durch die bremsende Wirkung seiner Viskosität innerhalb der sog. Strömungsgrenzschicht der Dicke δ bis zur Oberfläche auf null ab (s. Abbildung 4.1). Betrachtet man den Wärmeübergang als speziellen Wärmeleitungsprozess durch die Strömungsgrenzschicht mit der mittleren Wärmeleitfähigkeit λGS, so kann man rein formal schreiben: Da die Grenzschichtdicke mit steigender Strömungsgeschwindigkeit fällt, nimmt der Wärmestrom mit steigender Strömungsgeschwindigkeit der Trocknerluft zu; sie liegt i.d.R. 10 Temperaturdifferenzen sollen in der Technik in der Einheit Kelvin (K) angegeben werden. Sie sind zahlenmäßig gleich den Differenzen in °C. Mischke/Strehmel: Filmbildung in modernen Lacksystemen, 2. Auflage © Copyright: 2018 Vincentz Network GmbH & Co. KG, Hannover

49

Physikalisch-technische Prinzipien der Lacktrocknung und -härtung zwischen 2 und 5 m s-1, kann aber beim direkten Anblasen bis 15 m s-1 betragen [7, 15]. Man merke sich also: Der Wärmestrom in den Film (und damit auch das Objekt) ist umso höher, je –– schneller der Film bzw. das Objekt von der Trocknerluft umströmt wird und je –– höher die Lufttemperatur über der Temperatur der Filmoberfläche liegt. Von zentraler Bedeutung ist die Temperatur im Film, denn der Grad der Trocknung bzw. Härtung des Films ist nur dann ausreichend, wenn er sich ausreichend lange auf ausreichend hoher Temperatur befunden hat. Die Kombination der Angaben von Temperatur, Zeit sowie evtl. weiteren technischen Bedingungen wie Luftfeuchtigkeit für die optimale und vollständige Filmbildung nennt man Einbrenn- bzw. Trocknungsbedingungen; mit den Toleranzbereichen der Größen ergeben sich sog. Einbrennfenster. Wird die mindestens notwendige Einbrennzeit und/oder Temperatur unterschritten, spricht man auch von Unterbrennen, im gegenteiligen Fall von Überbrennen. Für die Praxis extrem wichtig ist die Unterscheidung zwischen Objekttemperatur und Umlufttemperatur sowie zwischen Dauer (Haltezeit) einer bestimmten geforderten Objekt- bzw. Einbrenntemperatur und Ofenverweilzeit. In einer sehr vereinfachten Modellrechnung sei angenommen, dass zwei unbeschichtete Stahlplatten der Dicken d1 = 7,5 mm und d2 = 0,75 mm mit der Anfangstemperatur ϑ0 = 25 °C vom Zeitpunkt t = 0 an mit Heißluft der Temperatur ϑL = 150 °C auf der Oberund Unterseite gleichermaßen umströmt werden. Der Wärmeübergangskoeffizient betrage gemäß der Faustformel α/Wm-2K-1 = 5,6 + 4 vL/ms-1 [32] 20 W m-2 K-1, die Dichte des Stahls ρ = 7,8 ·103 kg m-3, und seine spezifische Wärmekapazität C = 0,50 kJ kg-1 K-1. Die Frage ist, wie schnell sich diese Platten auf eine gegebene Temperatur ϑ aufheizen würden. Die Formulierung der Wärmebilanz lautet: CVρdϑ = αA(ϑL - ϑ)dt A Flächenausschnitt, V Plattenvolumen = A·d, und die Integration:

führt zur Formel:

(Bei einseitiger Anströmung der Platte entfällt der Faktor 2.) Abbildung 4.1: Strömungsgrenzschicht und Temperaturprofil beim Wärmeübergang (Erläuterungen s. Text)

50

Durch Einsetzen obiger Daten und verschiedener Aufheizzeiten t (Ofenverweildauern) erhält man beispielhaft folgende Ergebnisse:

Konvektionstrocknung –– Platte mit d1 = 7,5 mm: 100 °C nach 10 min, 139 °C nach 30 min –– Platte mit d2 = 0,75 mm: 100 °C nach 1 min, 139 °C nach 3 min, 148 °C nach 5 min. Wenn also die Einbrenntemperatur (Objekttemperatur) von 150 °C gefordert ist, sind schon bei dem dünnen Blech ca. fünf Minuten Aufheizzeit bei beidseitiger Anströmung zu berücksichtigen, d.h. zur Ofenverweilzeit zu addieren; bei einseitiger Anströmung wäre die Aufheizzeit ca. 10 Minuten. Allgemein besteht also die Gefahr, dass insbesondere dicke Abschnitte eines Lackierobjektes während der Ofenverweilzeit möglicherweise zu kalt bleiben, wenn sie in Hinblick auf die Umströmung mit Ofenluft ungünstig liegen, d.h. abgeschirmt sind. Die Aufheizung kann jedoch durch direktes Anblasen aus Heißluftdüsen etwas beschleunigt werden, sofern dies nicht zu Verfilmungsstörungen wie Hautbildung führt. Um eine optimale Härtung aller Bereiche von Lackierobjekten zu gewährleisten, ist es deshalb notwendig, die Oberflächentemperaturen des Objektes während des Durchlaufes durch den Ofen möglichst genau zu erfassen. Dies geschieht berührungslos mit Strahlungspyrometern und zusätzlich – zur Prozessoptimierung – mit hitzebeständigen Messrecordern („Datenloggern“), die mit einem Originalobjekt durch den Ofen fahren und über zahlreiche Temperaturfühler die Objekttemperaturen in Abhängigkeit von der Zeit, die sog. Ofenkurven messen („Oven Tracker“) [33, 34]. Abbildung 4.2 zeigt beispielhaft drei Ofenkurven. Bei den bisherigen Erläuterungen wurde stillschweigend davon ausgegangen, dass die Filmtemperatur etwa gleich der Oberflächentemperatur des Untergrundes (Objekttemperatur) ist. Doch stimmt dies? Auch hier hilft eine kleine Modellrechnung weiter: Angenommen werde eine Oberflächentemperatur des Untergrundes in der Aufheizphase von ϑU = 130 °C und eine Ofenluft-Temperatur ϑL von 150 °C. Ferner nimmt man wieder

Abbildung 4.2: Ofenkurven. 1) Dünnes Material, gut angeströmt 2) dickeres Material und/oder schlechtere Anströmung, Härtung noch ausreichend 3) sehr dickes Material und/oder mangelhafte Anströmung, Härtung nicht ausreichend

51

Physikalisch-technische Prinzipien der Lacktrocknung und -härtung α = 20 W m-2 K-1 an. Die Wärmeleitfähigkeit des (bereits weitgehend getrockneten) Lackfilms der Dicke x = 40 μm betrage λ = 0,2 W m-1 K-1, was einem aufgerundeten Wert für Kunststoffe und andere Wärmeisolatoren entspricht [32]. Die Frage lautet nun, welche Oberflächentemperatur ϑF des Films sich im stationären, d.h. im betrachteten Zeitintervall konstanten Zustand einstellen würde. Der Ansatz lautet Auflösen nach ϑF führt zu ϑF = 130,08 °C, d.h. der Film ist bei der Konvektionstrocknung über die gesamte Dicke praktisch so heiß wie der Untergrund. Selbst eine lockere Pulverlackschicht von 150 μm Dicke wäre in der 150 °C-heißen Ofenluft auf dem 130 °C-heißen Untergrund an der Oberfläche nur wenig heißer als der Untergrund (maximal 132 °C). Trotz der geschilderten Begrenzungen der Filmtemperatur kann es – auch bei der Konvektionstrocknung – zum Überbrennen kommen, nämlich dann, wenn –– zwar die Ofenluft die gewünschte Einbrenntemperatur hat, es aber z.B. durch einen Bandstillstand zu einer zu hohen Verweilzeit im Durchlaufofen kommt –– oder – noch viel schlimmer – die Ofenluft-Temperatur zu Gunsten einer (sehr) kurzen Verweilzeit und damit schnellen Substrataufheizung wesentlich höher ist als die maximale Einbrenntemperatur und es dann zu einer zu hohen Verweilzeit kommt. Die Bedingungen des zweiten genannten Falles liegen beim (Metall-)Bandbeschichten (Coil Coating) vor. Die Verweilzeit liegt hier wegen der hohen Bandgeschwindigkeit von bis zu 250 m min-1 im Bereich 10 s bis 2 min. Damit sich in dieser kurzen Zeit das Band mit dem Film für die Härtung ausreichend hoch aufheizt (200 bis 270 °C Spitzentemperatur), muss die Ofenluft wesentlich heißer sein; bis zu 400 °C können hier vorliegen [7, 22]. Die insgesamt in das Lackierobjekt geströmte Wärme Qges setzt sich additiv aus den Wärmebedarfen zur Objektaufheizung (QO), Filmaufheizung (QF) und zur Verdampfung flüchtiger Bestandteile (QV) zusammen. Eine Härtungsreaktion liefert etwas Wärme (QR). Obwohl praktisch nicht von großer Relevanz, seien einmal überschlägige Werte der Wärmebeträge abgeschätzt. Hierzu wird modellhaft angenommen, dass sich der Klarlackfilm addi-

Abbildung 4.3: Einteilung der elektromagnetischen Strahlung nach Wellenlängenbereichen, aus [7]

52

Infrarottrocknung tiv aus einer 50 μm dicken Wasserschicht und einer 50 μm dicken Schicht aus Reaktionsharz (Polyol/Polyisocyanat) zusammensetzt und sich auf einem 0,75 mm dicken Stahlblech befindet. Die Aufheizung erfolge von 25 auf 150 °C. Ergebnis (Werte gerundet): QO = 360 kJ m-2 Aufheizung Stahlblech (0,75 mm): Aufheizung Film (Wasseranteil bis 100 °C): QF = 28 kJ m-2 Wasserverdampfung: QV = 110 kJ m-2 Chemische Reaktionswärme (–ΔRH): QR = 10 kJ m-2. In der Gesamtwärmebilanz für den Trocknungsprozess ist die zur Aufheizung der Frischluft, zur Kompensation der Wärmeverluste über die Ofenöffnungen und -wandungen und zur Aufheizung der Warenträger und ggf. massiven Objekte benötigte Wärme so groß, dass der Wärmeverbrauch des Films relativ dazu praktisch keine Rolle spielt [7].

4.2 Infrarottrocknung 4.2.1 Physikalische Grundlagen Infrarotstrahlung (IR-Strahlung), auch Ultrarot- oder Wärmestrahlung genannt, ist – wie auch das Licht – elektromagnetische Strahlung. Abbildung 4.3 zeigt die Einteilung der elektromagnetischen Strahlungsarten. Wie man sieht, schließt sich die IR-Strahlung auf der roten (langwelligen) Seite unmittelbar an den Bereich des sichtbaren Lichtes an. Der gesamte Wellenlängenbereich reicht von 780 bis 1 mm. Gemäß der Formel E = hν = h c/λ (h Plancksches Wirkungsquantum (6,626 ·10-34 J s), c Lichtgeschwindigkeit (2,998 ·108 m s-1), ν Frequenz, λ Wellenlänge) haben die IR-Photonen eine Energie von maximal 153 kJ mol-1 entspr. 1,59 eV (Elektronenvolt). Diese Energie ist kleiner als die Bindungsdissoziationsenergie fast aller chemischen Bindungen. IR-Strahlung ist also nicht in der Lage, stabile chemische Bindungen direkt zu brechen. Die Strahlung regt die Bindungen jedoch zum Schwingen an, was sich letztendlich als Erwärmung zeigt, die dann ihrerseits zu chemischen Reaktionen bzw. Bindungsbrüchen führen kann. Während die Aufnahme (Absorption) von IRStrahlung zur Erwärmung der Materie führt, wird umgekehrt IR-Strahlung von heißen Körpern ausgesandt (emittiert). Jeder Körper mit endlicher Temperatur (oberhalb Null Kelvin) emittiert IR-Strahlung – hier speziell Temperaturstrahlung genannt. Die Abbildung 4.4: Spektrale Verteilung der Strahlungsleistung verteilt sich dabei gemäß der Strahlungsleistung bei verschiedenen Planckschen Strahlungsformel (s. Lehrbücher der IR-Strahlertemperaturen, aus [7]

11 Max Planck, Herbst 1900: Formulierung der „Quantenhypothese“

53

Physikalisch-technische Prinzipien der Lacktrocknung und -härtung Physik) in Abhängigkeit von der Temperatur in charakteristischer Weise über die Wellenlängen (s. Abbildung 4.4)11. Wie man sieht, verschiebt sich die Strahlung mit steigender Temperatur zu kürzeren Wellenlängen. Diese Verschiebung beschreibt das Wiensche Verschiebungsgesetz:



Gleichung 4.2

λmax

Wellenlänge der maximalen, wellenlängenbezogenen Strahlungsleistung

T

absolute Temperatur (Kelvin-Temperatur)

Man sieht weiterhin, dass bei zunehmender Temperatur ein steigender Anteil der Strahlung im sichtbaren Bereich liegt. Je heißer ein Körper, desto stärker (heller) glüht er. Die Flächen unter den Kurven stellen die gesamte flächenbezogene Strahlungsleistung P über alle emittierten Wellenlängen dar. Für P gibt es ebenfalls eine verblüffend einfache Formel, das Stefan-Boltzmann-Gesetz (T-hoch-vier-Gesetz):



Gleichung 4.3

P flächenbezogene Strahlungsleistung CS Strahlungszahl des schwarzen Körpers (5,67 W m-2 K-4) ε Emissionsgrad des Körpers (ε ≤ 1) T absolute Temperatur (Kelvin-Temperatur) Die Ausstrahlung wächst also mit steigender Temperatur stark an. Rein schwarze Körper (Abstraktion) strahlen am stärksten. Alle realen Körper sind mehr oder weniger „grau“ und strahlen schwächer. Dies wird durch den Emissionsgrad ε ausgedrückt, der angibt, um welchen Faktor die Ausstrahlung des grauen Körpers schwächer ist als die des schwarzen.

4.2.2

Technische Infrarotstrahler

Technische IR-Strahler sind i.d.R. Temperaturstrahler, d.h. sie enthalten heiße, strahlende Flächen bzw. Körper. Aber auch IR-Laser werden eingesetzt, um Wärme in Materie einzutragen. Bauartbedingt sind die Aufheiz- und Abkühlzeiten sehr unterschiedlich; angestrebt werden zwecks guter Steuerbarkeit schnelle Reaktionszeiten [3, 11, 15]. Da die IR-Trockner nicht über ein materielles Medium (Luft) trocknen, dessen Temperatur direkt gemessen und eingestellt werden kann, ist die Überprüfung der Objektoberflächentemperaturen mit Hilfe der Strahlungspyrometer bei der IR-Trocknung noch wichtiger als bei der Konvektionstrocknung. Die allgemeine Einteilung der Strahler erfolgt – in der Literatur nicht einheitlich – nach ihren Wellenlängenbereichen des Strahlungsmaximums in langwellige Strahler (λmax = 5,1 bis 3,3 μm), mittelwellige Strahler (λmax = 3,3 bis 1,6 μm), kurzwellige Strahler (λmax = 1,6 bis 0,9 μm) und sehr kurzwellige Strahler („NIR“-Strahler, λmax um 0,8 μm). Tabelle 4.1 gibt einen Überblick über die strahlungstechnischen Daten. Langwellige Strahler, deren Temperatur unter 700 °C liegt und die deshalb kein sichtbares Glühlicht emittieren, nennt man auch 54

Infrarottrocknung Tabelle 4.1: Strahlungstechnische Daten von IR-Strahlern (Angaben in der Literatur sehr uneinheitlich) [7, 11, 15] Strahlerart langwellig mittelwellig kurzwellig NIR

Oberflächentemperatur [°C]

Wellenlänge des Strahlungsmaximums [µm]

300 – 600 600 – 1500 1500 – 3000 3300 – 3500

5,1 – 3,3 3,3 – 1,6 1,6 – 0,9 0,81 – 0,78

theoretische Strahlungs­ leistung (ε=1) in [kW m-2] 6,1 – 33 33 – 560 560 – 6508 9242 – 11492

technisch realisierte Strahlungsleistung [kW m-2] bis 20 8 – 50 20 – 100 >100

Dunkelstrahler. Heißere Strahler, die kürzere Wellenlängen emittieren, werden allgemein als Hellstrahler bezeichnet.

4.2.3

Strahlungseintrag in das Lackierobjekt

Stehen sich zwei große ebene Oberflächen ungleicher Temperatur parallel gegenüber, so sendet gemäß dem Stefan-Boltzmann-Gesetz (Gleichung 4.3) die wärmere Fläche Strahlung mit höherer Intensität zur kälteren, die kältere aber auch Strahlung mit geringerer Intensität zur wärmeren. Der effektiv übertragene Wärmestrom (entspr. Strahlungsleistung) beträgt



Gleichung 4.4

mit

ϑ A C1,2 T1, T2 ε1, ε2 Cs

übertragener Wärmestrom Flächenausschnitt (bei beiden Oberflächen gleich) mittlere Strahlungszahl absolute Temperatur der wärmeren/kälteren Oberfläche Emissionsgrade der Oberflächen Strahlungszahl des schwarzen Körpers (5,67 W m-2 K-4)

Wie man sofort sieht, wird kein effektiver Wärmestrom übertragen, wenn T1 = T2, was plausibel ist und ja auch vom zweiten Hauptsatz der Thermodynamik gefordert wird. Als Fazit bleibt, dass für die Wärmeübertragung nicht allein die Temperatur des Strahlers (Senders) ausschlaggebend ist, sondern auch die des Objektes (Empfängers). Allgemein gilt, dass durch IR-Strahlung wesentlich kürzere Aufheizzeiten im Vergleich zu Heißluft erreicht werden können als mit Heißluft. Ist die angestrahlte Fläche bzw. ein Ausschnitt daraus um einen Winkel α zur Strahlerfläche geneigt (d.h. α = 0 bei Parallelität), so ist der übertragene Wärmestrom um den Faktor cos α kleiner. Für den Strahlungsaustausch in geometrisch komplizierten Fällen gibt es spezielle Formeln [35]. 55

Physikalisch-technische Prinzipien der Lacktrocknung und -härtung In Hinblick auf die Filmbildung ist noch eine etwas differenziertere Betrachtung der Vorgänge auf der mit Lack überzogenen Objektoberfläche erforderlich. Fällt IR-Strahlung auf den Lackfilm, so spaltet sich diese Strahlung in maximal drei Anteile auf: Den absorbierten und in Wärme verwandelten Anteil α, den transmittierten (durchgelassenen) Anteil τ und den reflektierten Anteil ρ. Alle drei Anteile sind wellenlängenabhängig. Allgemein gilt bei jeder Wellenlänge α Absorptionsgrad τ Transmissionsgrad ρ Reflexionsgrad Ferner kann man durch ein Gedankenexperiment leicht beweisen, dass stets gilt: α = ε. Stoffe, die gut absorbieren, emittieren auch stark. Stoffe die stark reflektieren, absorbieren und emittieren wenig. Einige Beispiele für ε-Werte [32, 36]: Aluminium (poliert): 0,04 – 0,10; Eisen (matt): 0,25 – 0,4; Stahlblech (gewalzt): 0,67; Lacke: 0,80 – 0,97; Holz: 0,85 – 0,95; Glas, Keramik: 0,90 – 0,95. Lackfilme absorbieren IR-Strahlung in Abhängigkeit von der Zusammensetzung und der Wellenlänge bzw. vom Wellenlängenbereich unterschiedlich stark, wobei der Anteil der primär im Lack absorbierten Strahlung natürlich auch von der Schichtdicke abhängt, denn die Strahlung wird ja nicht direkt an der Oberfläche verschluckt, sondern dringt unter exponentieller Abschwächung in den Film ein.



Gleichung 4.5

I(x) Strahlungsintensität in der Tiefe x des Films I0 einfallende Strahlungsintensität A Absorptionskoeffizient (wellenlängenabhängig)

Abbildung 4.5: Aufheizgeschwindigkeit bei IR-Bestrahlung (Strahlungsmaximum bei 2,6 µm) eines Karosserieabschnittes im Zwischentrockner in Abhängigkeit von der Pigmentierung des Wasserbasislackes  Quelle: BASF

56

Abbildung 4.6: Typisches IR-Absorptionsspektrum von Lacken (Alkyd-/Melamin, weiβ und rot); Spektren oberhalb 6 µm nahezu identisch (in Anlehnung an [7])

Infrarottrocknung (A kann man z.B. in der Form A = 0,693/x1/2 ausdrücken, wobei x1/2 die „Halbwertstiefe“ ist, d.h. die Tiefe im Film (von der Oberfläche aus), bei der die Anfangsintensität I0 auf 1/2 I0 abgefallen ist.) Strahlung, die bis zum Untergrund vordringt, wird von diesem wieder teilweise in den Film zurückreflektiert, teilweise absorbiert und in Wärme umgewandelt. Sonderfälle stellen z.B. Metallic-Lacke dar, bei denen die Aluminium-Blättchen einen erheblichen Anteil der Strahlung reflektieren. Mit solchen Lacken beschichtete Objekte heizen sich in Infrarotzonen deutlich langsamer auf als unibeschichtete (s. Abbildung 4.5). Allgemein zeigt die IR-Absorption von Lacken eine starke spektrale Abhängigkeit. Die meisten Lackfilme haben ein Absorptionsverhalten, das dem in Abbildung 4.6 skizzierten Spektrum ähnlich ist. Diese Wellenlängenabhängigkeit der Absorption führt zu speziellen Effekten, die im Folgenden grob diskutiert sind  [6, 7, 11]. Dunkelstrahler strahlen im Bereich um 4 μm, wo Lacke wenig absorbieren. Die Strahlung dringt deshalb großenteils bis zum Untergrund vor, wo sie – je nach Strahlungseigenschaften des Substratmaterials – verschieden stark absorbiert und reflektiert wird. Es ergibt sich ungefähr das in Abbildung 4.7 a skizzierte Temperaturprofil, d.h. der Lack wird vorrangig vom Untergrund her aufgeheizt. Hierdurch wird die besonders bei dicken Nassfilmen existierende Gefahr der Bildung von Kochern (Blasen) gesenkt und der Verlauf verbessert, da die Oberfläche des Films länger „offen“ (niedrigviskos) bleibt bzw. keine Haut bildet. Dunkelstrahler heizen allerdings über ihre große Oberfläche die Ofenluft durch Konvektion recht stark auf, weshalb hier eine zusätzliche Konvektionstrocknung von der Oberfläche her vorliegt. Beim Übergang zu den Hellstrahlern wird der Wellenlängenbereich von 3,5 bis 2,5 μm miterfasst. Hier liegen starke Absorptionsbanden der CH-, NH- und OH-Valenzschwingungen. Der Lackfilm absorbiert die IR-Strahlung schon in den oberen Bereichen, was zu einem Temperaturprofil gemäß Abbildung 4.7 b führt. Der Wärmeeintrag ist hoch, aber bei dicken Nassfilmen kann die schnelle Antrocknung der Oberfläche zu Verfilmungsstörungen führen. Das Verhalten des Lackfilmes bei Wellenlängen unter 2 μm ist stärker von der Pigmentierung abhängig. Allgemein nimmt die Transmission ab, und das Verhältnis von Reflexion zur Absorption steigt mit heller werdender Pigmentierung [6, 7]. Jeder Leser hat sicher schon die Erfahrung gemacht, dass sich schwarz lackierte Autos bei Sonnenbestrahlung schneller aufheizen als helle oder gar silberne. Die sehr hohe Leistungsdichte der „NIR“-Strahler führt zu einer extrem schnellen Aufheizung der Lackschicht. Dies wird vor allem zur Pulverlack-Härtung auf temperaturempfindlichen Substraten wie MDF (mitteldichte Faserplatte) genutzt. Die Pulverlackschicht schmilzt innerhalb von fünf Sekunden und härtet dann in weiteren wenigen Sekunden vollständig aus, ohne dass das Substrat in dieser Zeit unzulässig hoch aufgeheizt und geschädigt wird [16]. Aber auch Nasslacke können nach ausreichender physikalischer Vortrocknung mit „NIR“-Strahlung ausgehärtet werden, wozu natürlich eine sehr genaue Prozessführung notwendig ist, damit es nicht zum Aufplatzen oder Überbrennen des Films kommt. Abbildung 4.7: Temperaturprofil im Lackfilm Mit NIR-Lasern kann z.B. die Trocknung und bei unterschiedlicher IR-Absorption im Lack (nachfolgende) Härtung von Sol-Gel-Materia- (qualitativ) a) schwache Absorption b) starke lien und Druckfarben in Sekundenschnelle er- Absorption(in Anlehnung an [11]) 57

Physikalisch-technische Prinzipien der Lacktrocknung und -härtung folgen, wodurch das Inline-Beschichten – auch von temperaturempfindlichen Untergründen – möglich ist [148, 158], weiteres zur Lasertrocknung siehe Kapitel 4.2.4. Bei Wasserlacken tritt ein besonderer Effekt auf. Wasser hat eine sehr starke Absorptionsbande bei 3 μm. Bestrahlt man einen frischen Wasserlackfilm stark mit dieser Wellenlänge, so wird das Wasser extrem schnell ausgedampft, während evtl. vorhandene, stark lösende Cosolventien (organische Hilfslösemittel) den Lackfilm nur sehr langsam verlassen [37]. Im Abschnitt 4.1 wurde gezeigt, dass Lackfilme bei Wärmezufuhr mit Hilfe von Heißluft kaum wärmer als die Objektoberfläche werden können. Doch wie sieht dies bei der Infrarot-Aufheizung aus? Anstatt zu versuchen, die Frage durch exakte Berechnung zu beantworten, was hier – zumindest mit „Zettel und Bleistift“ – gar nicht möglich ist, soll wieder eine Abschätzung über die Gleichung 4.1 vorgenommen werden. Dabei sei wieder angenommen, dass innerhalb eines kurzen Zeitintervalls kaum zeitliche Veränderungen der Temperaturen vorliegen (was bei sehr schnellen Aufheizungen natürlich nicht mehr zutrifft!). Fall 1: Nasslack –– Effektiver Leistungseintrag ϑ/A = 50 kW m-2 –– Scheinbare Schichtdicke x = 20 μm (kleiner als Lackfilmdicke, da Schwerpunkt des Wärmeeintrages im Film liegt) –– Wärmeleitfähigkeit des Nasslackes λ = 0,2 W m-1 K-1.

Der Lackfilm wird also im Innern ca. 5 K wärmer als der Untergrund. Fall 2: Pulverlack –– Effektiver Leistungseintrag ϑ/A = 100 kW m-2 –– Scheinbare Schichtdicke x = 100 μm –– Wärmeleitfähigkeit der Pulverschicht λ = 0,03 W m-1 K-1 (Luft: 0,02) Ergebnis: ΔΤ = 333 K. Abbildung 4.8: Lasertrocknung und dabei ablaufende Prozesse im Offsetdruck mit integrierter Lichtquelle (a) Die Generierung von Laserlicht in einer Linie mit vergleichbarem Intensitätsprofil kann durch Integration mehrerer Dioden (b) oder durch Diodenlaser Chips (c) erfolgen, woraus letztendlich aus vielen Diodenlaser Chips und optischen Komponenten ein Laserstrahl mit homogenem Linienfokus geformt wird (d), welcher kontinuierlich auf das zu bedruckende Substrat in der Druckmaschine projiziert wird (e)

Quelle: a) [151], b–d):Philips Photonics, www.philips.com/photonics, e)[152]  

58

Tatsächlich wird aber – selbst bei der extrem hohen Leistungsdichte der „NIR“-Härtung einer Pulverschicht – nur eine Filmtemperatur von ca. 230 °C, d.h. eine Temperaturdifferenz von ca. 210 K, erreicht [16]. Eine nach Ansicht des Autors mögliche Erklärung für diese scheinbare Diskre-

Infrarottrocknung panz ist, dass die Pulverschicht während des Aufheizens schmilzt, was die Weitererhitzung durch die dann schlagartig entstehende gute Wärmeleitfähigkeit stark bremst.Tatsächlich konnte mit NIR-Lasern, die einen Linienfokus zeigen, ein Pulverlack aufgeschmolzen und gleichzeitig vernetzt werden. Das erfolgte in einem Zeitfenster von mehreren Sekunden. Auch wenn dem „Theoretiker“ diese Abschätzungen suspekt sind, so zeigen sie doch wenigstens, dass Lackschichten bei Infrarotbestrahlung deutlich bis erheblich heißer sein können als der Untergrund, was z.B. die Pulverlackhärtung auf temperaturempfindlichen Substraten möglich macht oder die Abdunstung von Wasser aus Wasserlackfilmen vor dem eigentlichen Einbrennen beschleunigt.

4.2.4 Lasertrocknung In den Jahren 2005 bis 2009 wurde mit BMBF-Fördermitteln ausschließlich mit Industriepartnern eine neue Form der physikalischen Lacktrocknung entwickelt – die Lasertrocknung [149]. Diese eignet sich zur physikalischen Trocknung von Offset-Druckfarben [148-151]. In diesem Prozess wird der Druckfarbe ein NIR-Absorber hinzugesetzt, welcher die emittierte Strahlung eines NIR Lasers absorbiert, diese nahezu quantitativ in Wärme umwandelt und an die Umgebung abgibt. Das führt zu einer örtlich selektiven und schnelleren Trocknung des gedruckten Materials, das dadurch zeitiger ausgeliefert werden kann. Dieses Verfahren ist für Unternehmen interessant, die die Lagerkapazitäten einsparen müssen bzw. nach dem Lean-Manufacturing-Prinzip produzieren. In der Industrie hat sich aus dem Angelsächsischen der Begriff Lean-Manufacturing etabliert und steht für schlankes Produzierzieren. Abbildung 4.8 zeigt die einzelnen Prozesse, welche in diesem Trocknungsprozess ablaufen. Die verwendeten NIR Laser emittieren bevorzugt im nahen Infrarot (NIR), wobei die Emissionswellenlänge von 750 bis 1000 nm je nach Hardware-Konfiguration durchstimmbar ist. Prinzipiell ist die Betriebsweise im Multiwellenlängenbereich mit bis zu vier Emissionswellenlängen möglich. Die verwendeten Laser enthalten eine spezielle optische Konfiguration, welche aus dem punktförmigen Intensitätsprofil eines Lasers eine Linie mit vergleichbarer Intensität formen. Diese kann je nach integrierten Komponenten eine Länge von bis zu 2 m erreichen. Abbildung 4.9 zeigt einen Laborprototypen, wobei das NIR Laserlicht mit einem emittierenden Phosphor sichtbar gemacht wurde. Alternativ ist es möglich, wie in Abbildung 4.8 zu erkennen, dass auch Abbildung 4.9: Laserkopf mit Linienfokus der wird einzelne Dioden zu einem Block zusammen- Firma Limo-Lissotschenko. Der Linienfokus   [153] über ein spezielles Linsenarray gebildet . gesetzt werden, dessen Strahlung dann zu eiDie Laserstrahlung wird mit einem emittierenden ner Linie geformt werden kann. Phosphor sichtbar gemacht, welcher nach einem Neben der Hardwarekonfiguration be- aufkonvertierenden Mechanismus nichtsichtbare einflusst letztendlich die Auswahl des NIR-Strahlung in sichtbares Licht umwandelt. 59

Physikalisch-technische Prinzipien der Lacktrocknung und -härtung

Abbildung 4.10: Cyanin-Struktur, Absorber mit Absorption bei 980 nm

Abbildung 4.11: Struktur des Gegenions für das verwendete Cyanin

Abbildung 4.12: Struktur eines NIR-Absorbers mit Absorption um 800 nm

Abbildung 4.13: Jablonski Diagramm zur schematischen Darstellung ablaufender photophysikalischer Primärprozesse in NIR-Absorbern, weitere Erklärungen siehe Text

60

NIR-­Absorbers die Effizienz der physikalischen Trocknung der Druckfarbe. Diesbezüglich konnten sich speziell entwickelte Polymethine/Cyanine durchsetzen. Struktur Abbildung 4.10 ist ein repräsentatives Beispiel, welche eine ausreichende Löslichkeit in Offset-Druckfarben besitzt. Die schwach gelbe Farbe dieses Absorbers hat nur einen geringen Einfluss auf den Farbraum der gedruckten Produkte. Kritischer ist das mit Absorbern, welche bei 808 nm absorbieren, vgl. Struktur in Abbildung 4.12. Diese besitzen noch eine ausreichende Absorption im roten Spektralbereich, was die grüne Farbe von der Struktur in Abbildung 4.12 erklärt. Beim Einsatz dieser Verbindungen ist es erforderlich, dass die grüne Farbe des Absorbers bei der Lasertrocknung während des Prozesses verschwindet, was durch ein Ausbleichen dieses NIR Absorbers erreicht werden kann [154]. Dazu laufen gegenwärtig Entwicklungsarbeiten, um diesen Prozess effizienter zu gestalten. Die Funktionsweise dieser NIR-Absorber im physikalischen Trocknungsprozess ist mit dem für diese Verbindungen dargestellten Jablonski-Diagramm in Abbildung 4.13 erklärbar. Bei photophysikalischen Primärprozessen in NIR-Absorbern führt die Anregung aus dem energetisch tiefsten Schwingungszustand in höhere Schwingungsmoden des angeregten Zustandes, welche sehr schnell strahlungslos über mehrere Vibrationszustände (v’) in den energetisch tiefsten Schwingungszustand des angeregten Zustandes desaktivieren. Dieser kann über vibronische Kopplung mit höheren Schwingungsmoden des Grundzustandes koppeln, was zu strahlungsloser Desaktivierung führt, welche den Hauptanteil der umgewandelten Strahlungsenergie in Wärme darstellt. Dieser Desaktivierungsschritt erfolgt in ein höheres Schwingungsniveau des Grundzustandes, welcher letztendlich auch wieder über Rotation (v’’) in das unterste Schwingungsniveau des Grundzustandes relaxiert. Die Wärme wird über die beiden Rotations-

Chemische Trocknung schwingungsvorgänge v’ und v’’ und den strahlungslosen Desaktivierungsschritt vom angeregten Zustand in den Grundzustand an die Umgebung abgegeben [154] (>99,98 % Effizienz). Die Lasertrocknung wird in der Druckindustrie im Offsetdruck in mehreren Hotspots erfolgreich eingesetzt. Bemerkenswert ist, dass keine Verbrennung des Papiersubstrats zu erkennen war. Die ortselektive Umwandlung von Licht in Wärme durch den zugesetzten Absorber bewirkt das Verdampfen von Wasser aus der Offsetfarbe, was bekanntlich ein endothermer Prozess ist und in der Fachwelt als „weggeschlagen” bezeichnet wird.

4.3

Chemische Trocknung

4.3.1 Allgemeines zur chemischen Trocknung mit photonischen Quellen Im Gegensatz zu Abschnitt 4.2.4 kann die Trocknung eines Lackfilms auch chemisch erfolgen. Das läuft über einen Vernetzungsmechanismus ab (vgl. hierzu Kapitel 10), der eine Verfestigung des Beschichtungsstoffes auf einem gegebenen Substrat bewirkt. Dazu werden photonische Quellen eingesetzt, die Licht in einem ausgewählten Spektralbereich zwischen von 200 bis 1100 nm emittieren. Die chemische Trocknung mit Hilfe der Ultraviolettstrahlung (UVStrahlung) hat sich dabei in den letzten 30 Jahren industriell bewährt und ist heute in vielen Bereichen der Lacktechnologie anzutreffen [155]. Dabei führen Polymerisationsreaktionen zur Vernetzung/Härtung des applizierten Lackfilms. Dieser Prozess der photonisch induzierten Polymerbildung wird photochemisch ausgelöst, was sich in der Fachwelt als Photopolymerisation oder auch Photopolymertechnologie etabliert hat. Das Zeitfenster dieser Reaktion ist teilweise sehr kurz und umspannt bei der UV-Trocknung von Druckfarben nur wenige Millisekunden, in welcher die Verfestigung des Lackfilms, in diesem Fall die Druckfarbe, weitgehend abgeschlossen ist. Deshalb sind die Trocknungsstrecken kurz, was insbesondere für Anwender interessant ist, die platzsparend (Lean-Manufacturing) produzieren müssen. Ofenprozesse, die überwiegend in vielen Bereichen der Lacktechnologie anzutreffen sind, erfordern weitaus mehr Platz und Zeit bei Änderungen von Prozessparametern (aufheizen; abkühlen), was sich als ein großer Nachteil erweisen hat. Ofenprozesse sind deshalb weniger energieeffizient. Dies erklärt das gestiegene Interesse an energie- und ressourcenschonenden Verfahren, welche zur Trocknung eingesetzt werden können. Dazu zählt auch die chemische Trocknung mit Licht. Im Idealfall sollte die emittierte Strahlung komplett durch den photochemisch aktiven Absorber oder auch Sensibilisator absorbiert werden. Unter diesen Bedingungen erhält der Operator das ökonomisch günstigste Verhältnis von absorbierten Photonen zu emittierten Photonen der photonischen Quelle, Gl. 4.6. Diese Gleichung enthält die Absorptionskoeffizienz ηabs der photonisch aktiven Komponente, welche sich zusammensetzt aus dem Quotienten der Integrals der absorbierten Photonen (nabs(λ)) zum Integral der emittierten Photonen (nem(λ)). Dabei wird der Wellenlängenbereich in den Grenzen von λ1 und λ2 betrachtet. 



Gleichung 4.6

61

Physikalisch-technische Prinzipien der Lacktrocknung und -härtung Eine komplette Überlappung zwischen dem Emissionsspektrum des Strahlers und dem Absorptionsspektrum der photonisch aktiven Komponente ist oft nicht möglich, weil konventionelle Strahler, wie z.B. Quecksilberlampen, über einen wesentlich größeren Bereich emittieren, welcher durch das Absorptionsspektrum des Absorbers/des Sensibilisators/derphotochemisch aktiven Komponente nicht abgedeckt werden kann. Somit werden zahlreiche elektrisch generierte Photonen verschwendet, da diese nicht durch das System absorbiert werden. Das wird später noch einmal deutlicher dargestellt, wo einzelne Spektren von Quecksilberlampen und LEDs untereinander verglichen werden. Lediglich der Einsatz von LEDs kann zu Bedingungen führen, wo ηabs etwa den Wert eins erreichen kann. Ein weiterer Vorteil der Strahlenhärtung ist, dass die Beschichtungsmaterialien praktisch keine organischen Lösemittel abgeben, da sie zu 100 %ig flüssig sind oder in Wasser emulgiert vorliegen. Interessant ist auch die Tatsache, dass der Prozess im Gegensatz zu Ofentechnologien jederzeit gestoppt werden kann, da eine photonische Quelle jederzeit abgeschaltet werden kann und somit Wartungsarbeiten sofort durchführbar sind. Das ist bei Öfen nicht möglich, da diese eine gewisse Abkühlzeit erfordern. Dieses Beispiel zeigt, dass photonische Technologien energiesparend sind und erklärt deren zunehmende Popularität in der Lacktechnologie. Neue Gesetzgebungen innerhalb der Europäischen Union [156] haben mit zu dieser Entwicklung beigetragen. Die UV-Technologie hat seit ihrer Einführung in den 1960er Jahren eine starke Verbreitung gefunden und sich in bestimmten Branchen wie der Holz-/Möbellackierung oder im Druckbereich zu einer Standardmethode entwickelt. In anderen Bereichen wie der Automobilerstlackierung findet die Strahlenhärtung zunehmend Akzeptanz [11, 38, 39], obwohl die Entwicklung relativ langsam verläuft. Ein Grund dafür kann ein mangelndes Verständnis zwischen chemischer Reaktivität, Lichtabsorption und mangelndes Verständnis wie emittierte Strahlung zur chemischen Reaktivität beiträgt. Gemäß der Formel E = h · ν = h · c/λ steigt die Photonenenergie über den UVWellenlängenbereich von 3,26 eV (380 nm) auf 12,4 eV (100 nm) an. Bindungsspaltung, die z.B. nach einer Norrish Typ I Spaltung ablaufen kann, erfolgt in der Regel über einen Triplettzustand. Die Bindungsdissoziationsenergien korrelieren mit den Triplettenergien der Photoinitiatoren [157, 158]. Damit ist UV-Strahlung in der Lage, Bindungselektronen in Molekülen anzuregen bzw. Bindungen direkt zu spalten. Diese Tatsache nutzt man, indem man dem Beschichtungsstoff einen Photoinitiator zusetzt, der schon durch längerwellige UV-Strahlung (UV-A) in hoher Ausbeute in Radikale oder ionische Bruchstücke gespalten wird und dadurch die Vernetzungsreaktion auslöst (s. Kapitel 10). Sichtbares Licht kann diese Reaktionen bis auf wenige Ausnahmen bei thermisch stabilen Materialien nicht auslösen. Deshalb erfordert die Verwendung von sichtbarem Licht oder NIR-Licht die Verwendung eines Sensibilisators, der nach einem Elektronentransfermechanismus mit einem Initiator, was in der Regel eine elektronenarme Verbindung ist (z.B. Triazin A, Oniumsalz), initiierende Spezies wie Radikale und/oder Kationen bildet. Chemische Lacktrocknung mit Hilfe der UV-Technologie hat sich auf dem Gebiet der Strahlenhärtung erfolgreich etabliert [155]. Das ist damit begründet, da diese emittierte Strahlung in der Lage ist, die eingearbeiteten Photoinitiatoren direkt zu spalten [157, 158, 159]. Dies trägt zu einer Steigerung der Empfindlichkeit dieser Systeme bei. Dabei entstehen initiierende Radikale und/oder Kationen, welche die Polymerisation der Monomere starten. Die Verwendung von Photoinitiatoren hat den Vorteil, dass der Spektralbereich abhängig vom molekularen Aufbau des Photoinitiators im UV-A bzw. blauen Spektralbereich liegt. Damit ist die selektive Anregung des Photoinitiators von der Eigenabsorption der verwendeten 62

Chemische Trocknung Monomere im UV-C Bereich entkoppelt, was unter bestimmten Bedingungen eine Tiefenhärtung von bis zu mehreren Zentimetern ermöglicht [160]. Dabei sollten die gebildeten Photoprodukte nicht im UV-A Bereich absorbieren. Das ist mit UV-C Strahlung nicht möglich, da die Eigenabsorption der Monomere eine Penetration des Anregungslichts in tiefere Bereiche des Lackfilms verhindert. Die unter der Literaturstelle [161] gelisteten Referenzen geben einen guten Überblick der Photoinitiatoren zur radikalischen und kationischen Vernetzung von Lackfilmen. UV-A bzw. blaulicht-empfindliche Photoinitiatoren ermöglichen das Verarbeiten von lichtempfindlichen Lacken unter Gelblicht als Sicherheitslicht, wenn im offenen Raum verarbeitet werden muss. Lichtempfindliche Systeme, die basierend auf der Absorption von sichtbarem Licht >500 nm initiierende Spezies generieren, können in den meisten Fällen lediglich unter Rotlicht verarbeitet werden, was aus arbeitsmedizinischer Sicht grenzwertig ist, da das Arbeiten unter diesen Lichtverhältnissen über einen längeren Zeitraum mitunter zu Depressionen führen kann. Letztendlich sind Photoinitiatoren, welche im Bereich von 340 bis 430 nm absorbieren, für die photonische Trocknung mit UV-LEDs interessant. Langfristig ist auch basierend auf gesetzlicher Bestimmungen in der EU eine Substitution von Quecksilberstrahlern durch LEDs vorgesehen [156]. Allerdings ist das nicht problemlos möglich, da derzeitige UV-LED Systeme nicht an die spektrale Charakteristik der verwendeten Photoinitiatoren angepasst sind. Zusätzliche Forschungs- und Entwicklungsarbeiten sind erforderlich, um Strukturen für den Markt zu entwickeln, die auch im Bereich der Verbrauchsmaterialien zu wirtschaftlichen Bedingungen einsetzbar sind. UV-Strahlung ist sehr energiereich und schließt sich an die kurzwellige (violette) Seite des sichtbaren Lichts an (s. Abbildung 4.3). Die technisch relevanten Wellenlängenbereiche sind wie folgt aufgegliedert: –– UV-A (380 bis 315 nm): Einsatz von Photoinitiatoren zur Bildung reaktiver Spezies (Radikale, Kationen) erforderlich. –– UV-B (315 bis 280 nm): Einsatz von Photoinitiatoren zur Bildung reaktiver Spezies (Radikale, Kationen) erforderlich. –– UV-C (280 bis 100 nm): Anregung aller funktionellen Gruppen mit daraus resultierender Bindungsspaltung und Bildung reaktiver Spezies, Photoinitiatoren nicht unbedingt erforderlich, der hohe Energiegehalt dieser Strahlung ermöglicht die direkte Bildung von initiierenden Radikalen bzw. Kationen durch Anregung der Monomerbzw. Bindemittelkomponenten. Weiterhin unterscheidet man zwischen Quarz-UV und Vakuum-UV. Ersteres reicht von 380 bis 200 nm, da in diesem Bereich Quarzglas vollständig UV-durchlässig ist. Das Vakuum-UV reicht von 200 bis 100 nm und ist vor allem für die Mikroelektronik interessant. Unterhalb 200 nm absorbiert Sauerstoff die UV-Strahlung (lmax = 187 nm) unter Ozonbildung, weshalb UV-Bestrahlungen hier nur im Vakuum vorgenommen werden können. Die genannte Bildung von Ozon (O3) ist auch bei längerwelligen, technischen Strahlern nicht ganz auszuschließen, da kleine Strahlungsanteile unter 200 nm liegen können. Ozon ist giftig, riecht unangenehm und muss deshalb aus dem Strahlerraum abgesaugt werden. Interessant sind diese Wellenlängenbereiche im Bereich der Mikroelektronik, um Beschichtungen mit hoher Auflösung zu bebildern. 63

Physikalisch-technische Prinzipien der Lacktrocknung und -härtung

4.3.2 UV-Strahler Verschiedene Varianten von Quecksilberdampf-Strahlern werden für die Strahlenhärtung und somit chemische Trocknung eingesetzt. Diese unterscheiden sich hinsichtlich der spektralen Emission, was durch den Gasinnendruck und Dotierungen beeinflusst werden kann. Die Quecksilberdampf-Strahler bestehen im Wesentlichen aus einem Quarzrohr, in dem sich etwas Quecksilber befindet. Elektroden, die sich im Gasentladungsraum befinden, erzeugen eine Gasentladung im verdampften Quecksilber, wodurch es zur Emission eines Linienspektrums kommt. Je nach Quecksilberdampfdruck unterscheidet man zwischen Niederdruck-, Hochdruck- und Höchstdruck-Strahlern [40]. Letztere sind hier nicht von Bedeutung. Niederdruckstrahler sind den gewöhnlichen Leuchtstoffröhren ähnlich und werden wegen ihrer geringen Strahlungsintensität mitunter zum Vorgelieren eingesetzt [41], da diese UV-C Strahlung emittieren und somit an der Oberfläche des Lackes chemisch umgesetzt werden. Erwähnenswert sind besonders die TL-03-Niederdrucklampen, da ihre Strahlung zum großen Teil nicht vom Weißpigment Titandioxid absorbiert wird und somit bei der Härtung dicker, pigmentierter Lacksichten von Vorteil sein kann [5]. Die Hochdruckstrahler, auch Mitteldruckstrahler genannt, sind die Standardstrahler der UV-Härtung. Sie haben eine Leistungsaufnahme zwischen 80 und 240 W/cm Röhrenlänge. Von dieser Leistung werden (bei den undotierten Strahlern mit Elektroden, „Bogenstrahlern“) ca. 7 % im UV-A-, 8 % im UV-B-, 10 bis 15 % im UV-C-, 55 bis 60 % Abbildung 4.14: Emissionsspektren von Quecksilberdampflampen (Hoch- bzw. Mitteldruck) als im IR- Bereich emittiert; der Rest ist sichtbanichtdotiert Lichtquelle (a), mit Gallium dotierte res Licht [42, 43]. Durch Einsatz von Filtern könQuelle (b) und mit Eisen dotierte Lichtquelle (c). nen die kurzwelligen Strahlungsanteile herDie Spektren wurden mit einem USB-2000 Spektausgefiltert werden, z.B. um Ozonbildung zu rometer der Firma Ocean Optics aufgenommen

Abbildung 4.15: UV Bandanlage (links) mit integriertem Mikrowellenstrahler (Mitte, rechts) dargestellt aus unterschiedlichen Perspektiven

64

Chemische Trocknung vermeiden. Das kann zu einer Verschlechterung der Oberflächenhärtung führen [43]. Abbildung 14a zeigt das Spektrum eines undotierten Quecksilber-Strahlers. Man sieht, dass hier ein großer Anteil der Strahlung deutlich im UV-Bereich liegt. Zur Härtung pigmentierter UVLacke benötigt man jedoch Strahler, die an der Grenze zum sichtbaren Licht und im violettblauen Bereich stark emittieren. Dies erreicht man durch Dotierung des Quecksilbers mit z.B. Gallium oder Eisen (s. Abbildung 4.14b bis c). Der von den Strahlern emittierte IR-Anteil kann erwünscht sein. Das ist hilfreich, wenn thermische Prozesse den Trocknungsprozess fördern. Ein Beispiel wäre die physikalische Vortrocknung von wässrigen Dispersionen. Nachteilig wirken sich erhöhte Temperaturen auf temperaturempfindliche Substrate (Ausdehnungskoeffizienten) oder bei Lacken mit leicht flüchtigen Bestandteilen aus. Durch Kühlung der Strahler und/oder der Reflektoren mit Luft oder sogar Wasser und durch Verwendung IR-durchlässiger Reflektoren (Selektivreflektoren) wird die IR-Bestrahlung des Objektes reduziert [7, 43]. Ein weiterer Nachteil der Quecksilberdampflampen ist in deren relativ kurzer Lebensdauer zu sehen. Je nach Anwendung liegt diese zwischen 1000 und 2000 Stunden. Innerhalb dieser Periode fällt die Intensität des Strahlers mitunter auf die Hälfte der ursprünglichen Intensität. Das bedeutet, dass die verwendeten Photoinitiatoren diese Intensitätsschwankungen tolerieren müssen, um unter periodisch wiederkehrenden Härtungsbedingungen immer annähernd vergleichbare Qualität zu produzieren. Als interessante Alternative zu den normalen Quecksilberstrahlern (Bogenstrahlern) bieten sich auch elektrodenlose Strahler an. Hier wird das Quecksilber durch Mikrowellenstrahlung angeregt. Die Vorteile dieser Strahler sind u.a. die kurze Ein- und Ausschaltzeit, die höhere Lebensdauer (bis zu 10.000 h), die höhere Leistung pro cm Lampenlänge (bis 600 W/cm) und der größere UV-Strahlungsanteil bei geringerem IR-Anteil. Dafür ist die Technik, insbesondere die Energieversorgung der Röhre, aufwendiger als bei den Bogenstrahlern, und die Länge einer einzelnen Strahlerröhre ist (z.Z.) auf 250 mm begrenzt. Auch die elektrodenlosen Strahler gibt es mit verschiedenen Strahlungsspektren [44, 45]. Abbildung 4.15 zeigt den Aufbau eines Strahlerkopfes, welcher in eine UV-Bandanlage integriert wurde. Das Emissionsspektrum dieses Kopfes ist in Abbildung 4.16 dargestellt und ist mit dem in Abbildung 4.14a nahezu identisch. Weitere Strahlertypen sind die Blitzlampen und die Excimerstrahler bzw. Exciplexstrahler. Diese Strahler haben ihren Namen daher, da durch elektrische Entladungen angeregte Komplexe bilden, die aus einem Grundzustandsmolekül und einem Molekül des angeregten Zustands bestehen. Wenn diese Komplexe chemisch gleich sind, spricht man von Excimeren, was sich aus dem Angelsächsischen Abbildung 4.16: Emissionsspektrum des Quecksilberstrahlers, ableitet und für Excited Dimer der mit Hilfe von Mikrowellen angeregt wird steht. Wenn dieser Komplex sich Quelle: USB-2000 Spektrometer der Firma Ocean Optics 65

Physikalisch-technische Prinzipien der Lacktrocknung und -härtung chemisch unterscheidet, spricht man von einem Exciplex, was im Angelsächsischen für Excited State Complex steht. Excimere und auch Exciplexe können sofort nach ihrer Entstehung wieder durch Emission deaktivieren. Verbindungen, die in Excimer- oder Exciplexstrahlern eingesetzt werden, strahlen nahezu monochromatisch im UV-B bzw. UV-C Bereich, d.h. ohne IR-Anteil. Das macht sie trotz ihrer geringeren Strahlungsintensität dann interessant, wenn dünne Schichten wie z.B. Druckfarben auf sehr temperaturempfindlichen Substraten zu härten sind. Besonders geeignet für die kationische Lackhärtung ist der bei 308 nm emittierende XeCl-Strahler [47]. Der Xe2-Strahler emittiert bei 172 nm und regt – allerdings bei nur geringer Eindringtiefe in den Film – Acryl-Doppelbindungen direkt, d.h. ohne Photoinitiator an. Dies kann man zur Mattierung nutzen [22, 41, 48]. Von großer Bedeutung ist auch die Form (Krümmung) der Reflektoren. Im Wesentlichen unterscheidet man zwischen parabolischen und elliptischen Reflektoren. Bei ersteren wird die Strahlung parallel reflektiert, bei Letzteren in eine Brennlinie (s. Abbildung 4.17). Parallelstrahlen sind dann von Vorteil, wenn das Objekt nicht völlig flach ist und somit nicht komplett durch die Brennlinie eines elliptischen Reflektors hindurchlaufen würde. LED-Strahler werden in den nächsten Jahren verstärkt in der UV-Technologie zu Einsatz kommen. Abbildung 18 zeigt das Emissionsspektrums einer solchen UV-Quelle, die bei 395 nm emittiert. Diese Strahler besitzen die höchste Leistung (24 W, neuere Entwicklungen basieren auf einer Steigerung der verfügbaren Leistung) im Vergleich zu LED-Quellen, die im tieferen UV-Bereich (UV-B, UV-C) emittieren. Derzeitig sind UV-LEDs verfügbar, die auch im UV-C Bereich emittieren. Im Gegensatz zu Quecksilberstrahlern, die einen größeren Wellenlängenbereich abdecken, ist das Emissionsspektrum der UV-LEDs relativ schmalbandig, s. Abbildung 4.18. Die Halbwertsbreite dieser Emissionsspektren liegt bei 40 bis 80 nm. Deshalb können für eine LED, welche die abgebildete Emissionscharakteristik in Abbildung 4.18 zeigt, nur solche Photoinitiatoren zum Einsatz kommen, deren Absorption ausreichend mit der Emission der LED spektral überlappen. Diese Photoinitiatoren, z.B. „Irgacure“ 819 [159], sind in der Regel gelb und sollten idealerweise ausbleichen, wenn ein farbloser transparenter Lackfilm erhalten werden soll. Abbildung 4.19 zeigt den Einsatz eines UV-A LED-Strahlers. Dieser wurde in eine Bandanlage integriert, wobei das Substrat mit variabler Geschwindigkeit durch die Anlage gefahren wurde. Auf diese Weise ist die Verweilzeit unter der Lichtquelle variierbar. Die Hersteller integrieren in diesen LED-Köpfen mehrere LED-Einheiten zu einem größeren Feld (angelsäch-

Abbildung 4.17: Strahlengang im parabolischen und elliptischen Reflektor (vereinfacht)

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Abbildung 4.18: Emissionsspektrum einer UV-LED (Roithner, 1 W, Öffnungswinkel 120°) Quelle: USB 2000 Spektrometer der Firma Ocean Optics

Chemische Trocknung sisch: Array), wobei jedes Feld mit einer Linse versehen ist, die einen großen Öffnungswinkel besitzt, Abbildung 4.20. Das ermöglicht die Bestrahlung von großen Substratflächen mit einer vergleichbaren Intensität. Diese Arrays werden heute in große Bandbestrahlungsanlagen integriert, was die chemische Trocknung von großflächigen Substraten mit Bandlaufgeschwindigkeiten bis zu mehreren 100 m/min unter Inertgas ermöglicht. Abbildung 4.21 zeigt den Aufbau einer solchen Anlage. Vorteilhaft gegenüber Quecksilberstrahlern ist in jedem Fall die hohe Laufleistung von LED-Einheiten, die bis zu mehreren 10.000 Betriebsstunden betragen kann. Dabei erfolgt in der Regel ein wesentlich geringerer Intensitätsabfall im Vergleich zu Quecksilberdampflampen.

4.3.3

UV-Strahlungsintensität und -dosis

Die von der Lampe kommende Strahlungsintensität wird präziser definiert als Strahlungsflussdichte. Diese ist in Gleichung 4.7 definiert und hat die Einheit einer Leistung pro Fläche (w/m2).



I = dϕ/dA

Gleichung 4.7

dϕ Strahlungsfluss = Strahlungsleistung, dA senkrecht von dϕ durchsetzte Fläche Diese Größe I wird in UV-Härtungsanlagen zur Prozesskontrolle bzw. Regelung der Lampen ständig gemessen. Dabei muss genau darauf geachtet werden, welche Wellenlängen diese

Abbildung 4.20: UV-LED-Array mit integrierten Einheiten, die mit einer Linse mit großem Öffnungswinkel versehen sind

Abbildung 4.19: UV Bandanlage mit integrierter UV LED

Abbildung 4.21: Implementierung einer UV-LEDAnlage in den Beschichtungsprozess  Quelle: Easytec GmbH

67

Physikalisch-technische Prinzipien der Lacktrocknung und -härtung Intensität umfasst, denn für photonische Technologien ist es relevant, ob die Strahlung z.B. bei 300 nm oder bei 400 nm ihre höchste Intensität besitzt. Eine weitere Einheit, die in der Bestrahlungsstärke verwendet wird, ist die Bestrahlungsstärke, die durch Gleichung 4.8 definiert wird. Dabei besitzt diese den größtmöglichen Wert, wenn die möglichste parallele Strahlung auf einen Flächenausschnitt dA der Filmoberfläche in einem Winkel von 90° zum Substrat trifft.

S = I · cos α



α

Gleichung 4.8

Winkel zwischen Strahl und Flächennormale

Der Grad der Härtung wird in erster Linie dadurch bestimmt, wie hoch die Strahlungsenergie (bei gegebener Spektralverteilung) ist, die auf einen Ausschnitt dA der Filmoberfläche fällt. Diese Strahlungsdosis D (in mJ cm–2) ergibt sich im einfachsten Fall (ruhendes Objekt, gleichmäßige Bestrahlung) durch Multiplikation von S mit der Zeit t. Meistens wird das Objekt mit konstanter Geschwindigkeit von 5 bis 40 m min–1 unter einem oder mehreren Strahlern hindurchgeführt [7]. Damit ändern sich sowohl die einfallende (effektive) Strahlungsflussdichte I als auch der Strahlungseinfallswinkel < zeitlich, und es gilt somit Gleichung 4.9.  Gleichung 4.9 Über die Fördergeschwindigkeit v = dx/dt lässt sich die Zeit in eine Strecke umrechnen: dt = dx/v, und das Integral erhält die Form in Gleichung 4.10.



Abbildung 4.22: Aktivierung und Deaktivierungsprozesse durch Lichtenergie

68

Gleichung 4.10 wobei x1 bis x2 die gesamte Förderstrecke darstellt, über die Strahlung auf das Flächenstück dA fällt. Man sieht, dass die Strahlungsdosis umgekehrt proportional zur Fördergeschwindigkeit ist. Bei sehr hohen Fördergeschwindigkeiten muss man mehrere Strahler hintereinander anordnen, um ausreichende Strahlungsdosen zu erhalten, was in der Praxis oft realisiert wird. Abbildung 4.22 zeigt schematisch die Lichtanregung aus dem Grundzustand (S0) durch Einphotonenabsorption (OP). Sie führt zur Besetzung von angeregten Singulettzuständen (S1, S2). S1, bzw. S2 desaktivieren durch

Chemische Trocknung Schwingungsrelaxation (v) strahlungslos in das unterste Schwingungsniveau. Alternativ ist eine Abgabe von überschüssiger Schwingungsenergie an Matrixmoleküle durch Kollision möglich (nicht eingezeichnet). Eine weitere strahlungslose Desaktivierungsmöglichkeit von S1 bzw. S2 bildet der strahlungslose Übergang (IC) in ein koppelndes höheres Schwingungsniveau de Grundzustandes. Überschüssige Schwingungsenergie wird entweder durch Kollision mit Matrixmolekülen an die Umgebung abgegeben (nicht eingezeichnet) oder es erfolgt Relaxation in das unterteste Schwingungsniveau des S0 (D) bzw. S1 (D‘). Weiterhin ist durch Spinumkehr (ISC) in einem isoenergetischen Prozess die Besetzung des Triplettzustandes T1 möglich. Die strahlungslose Desaktivierung des T1 erfolgt durch ISC‘ isoenergetisch in ein koppelndes Schwingungsniveau des S0. S1 und T1 desaktivieren weiterhin durch Strahlung (F: Fluoreszenz, P: Phosphoreszenz). Photochemie erfolgt aus dem S1 bzw. T1, wobei reaktive Intermediate (Radikale, Ionen) in einer monomolekularen Reaktion (z. B. Spaltung) oder bimolekularen Reaktion mit einem Reaktionspartner A (z. B. Elektronenübertragung, Cycloaddition) gebildet werden  [162].

69

Polymere

5 Allgemeine Grundlagen zum Verständnis der Filmbildung In den bisherigen Kapiteln sind schon viele technische Begriffe vorgekommen und dort – soweit notwendig und sinnvoll – auch erklärt worden. Aber der Kern der Filmbildung, nämlich die Umwandlung des aufgetragenen Beschichtungsstoffes in die feste, gebrauchsfähige Beschichtung wurde nur vereinzelt und in recht allgemeiner Weise erwähnt. Zum genaueren Verständnis der Filmbildung sind weitergehende naturwissenschaftliche und lacktechnologische Grundkenntnisse erforderlich, die im Folgenden in kompakter Form und auf das Thema Filmbildung bezogen dargestellt sind.

5.1 Polymere 5.1.1

Grunddefinitionen

Jeder fertige Beschichtungsfilm enthält als wesentlichen Bestandteil ein oder mehrere Polymere, die entweder mit dem Bindemittel (Filmbildner) des Beschichtungsstoffes identisch sind oder aus dem Bindemittel durch chemische Reaktion(en) bei der Härtung entstehen. Im ersten Fall muss das Bindemittel schon im Beschichtungsstoff vor der Verarbeitung hochmolekular sein, während es im letzteren Fall vor der Filmbildung aus deutlich kleineren Molekülen, oft sog. Oligomeren oder sogar Monomeren besteht. Polymere (speziell: Hochpolymere) oder makromolekulare Stoffe bestehen aus fadenförmigen Großmolekülen mit Molmassen (M) über 10.000 g mol-1 und werden technisch bzw. künstlich durch die Polyreaktionen Polyaddition, Polykondensation oder Polymersiation (s. Kapitel 8.2 und 10.1) aus Monomeren bzw. Oligomeren (s.u.) aufgebaut. Nimmt man für ein typisches Monomer eine Molmasse von ca. 100 g mol-1 (z.B. Styrol) an, so enthält ein Polymermolekül demnach mindestens 100 Monomereinheiten. Die Anzahl Monomereinheiten (eingebaute Monomermoleküle) in einem Polymermolekül heißt Polymerisationsgrad (P). Man kann die Größe eines Polymermoleküls also entweder durch M oder P ausdrücken. Makromolekulare Bindemittel können i.d.R. rein physikalisch, d.h. ohne weitere chemische Molekülvergrößerung, ausreichend stabile Filme bilden. Beispiele für Polymere sind Polymethylmethacrylat, Polyvinylchlorid, Polyurethan, Polyester, Cellulosenitrat (veresterte Polyglucose) und Polyisopren (Natur- bzw. Synthesekautschuk). Je nachdem, ob ein Polymer durch Polymerisation, Polykondensation oder Polyaddition entstanden ist, bezeichnet man es als Polymerisat, Polykondensat bzw. Polyaddukt. Monomere bestehen aus kleinen Molekülen, die i.d.R. zwei oder mehr Bindungsstellen in Form von Doppelbindungen oder sonstigen funktionellen (reaktiven) Gruppen haben und somit durch chemische Aneinanderreihung mindestens lineare (unverzweigte) Ketten bzw. lineare Polymere bilden können. Die Anzahl der von einem Monomermolekül ausgehenden Bindungsmöglichkeiten nennt man seine Funktionalität oder unscharf auch Wertigkeit. Während höher als bifunktionelle Monomere zu Verzweigungen bzw. verzweigten und sogar vernetzMischke/Strehmel: Filmbildung in modernen Lacksystemen, 2. Auflage © Copyright: 2018 Vincentz Network GmbH & Co. KG, Hannover

71

Allgemeine Grundlagen zum Verständnis der Filmbildung ten Polymeren führen, werden monofunktionelle Monomere manchmal bei der Harzsynthese als Kettenabbrecher („chain stopper“) und bei der Lackhärtung als flexibilisierend wirkenden Reaktivverdünner eingesetzt. Monomere dienen überwiegend als Syntheserohstoffe für Bindemittel, jedoch liegen gewisse Restanteile bzw. Spuren an Monomeren (Restmonomere) auch nach Abschluss der Synthese in vielen Bindemitteln vor. Gewisse Monomere werden aber auch zur Lackhärtung als Vernetzer bzw. Härter und/oder als Reaktivverdünner eingesetzt. Beispiele: Styrol, Acrylate, Polyamine, niedermolekulare Epoxide. Achtung! In diesem Zusammenhang kann es zu einer Begriffsverwirrung kommen: – Die Vorsilbe „Poly“ steht nicht nur für Polymere (Makromoleküle), sondern auch in den Namen für Substanzen unterschiedlicher Molekülgröße im Sinne von „mehrfunktionell“ für zwei oder mehr Funktionalitäten pro Molekül. So sind Polyamine, Polyole, Polyepoxide und Polyisocyanate Stoffe mit mehreren Amino-, Hydroxy-, Epoxid- bzw. Isocyanatgruppen im Molekül. Besonders unglücklich ist diese Mehrdeutigkeit in der Acrylat-Chemie. Ein Polyacrylat kann sowohl ein durch Polymerisation von Acrylmonomeren hergestelltes Polymer als auch ein niedermolekularer Reaktivverdünner oder ein Oligomer mit mehreren angebundenen Acrylsäure-Resten (Acryloyl-Gruppen) sein. Was gemeint ist, ergibt sich dann nur aus dem konkreten Zusammenhang. Relativ niedermolekulare Polymere mit Polymerisationsgraden bis etwa 20 bzw. Molmassen von maximal wenigen Tausend g mol-1 nennt man auch Oligomere. Viele Bindemittel sind vor der Filmbildung Oligomere und in reiner Form noch dickflüssig oder halbfest. Sie gehen ggf. durch Härtung, d.h. Molekülvergrößerung und Vernetzung, in Hochpolymere über und werden dann technisch auch Präpolymere genannt. Zahlreiche härtbare Lackharze haben Molmassen zwischen 2000 und 10.000 g mol-1. Ihr physikalisch-chemisches Verhalten liegt damit ebenfalls zwischen dem der niedermolekularen Substanzen incl. der Oligomere und der echten Polymere (Hochpolymere) und ist deshalb formal schwer zu beschreiben. Mit dem o.g. Begriff Reaktivverdünner belegt man flüssige Monomere, die dem Beschichtungsstoff zur Viskositätsabsenkung bzw. -einstellung zugesetzt werden, dann nach der

Abbildung 5.1: Monomere, Oligomere, a) lineares b) verzweigtes c) vernetztes Polymer

72

Polymere Applikation aber nicht wie Lösemittel verdunsten, sondern bei der Härtung mit in den Film eingebaut werden. Ein Reaktivverdünner ist ein Bindemittelbestandteil und wird somit nicht zum Lösemittelanteil (VOC) gerechnet. Allerdings ist die dennoch endlich große Flüchtigkeit vieler Reaktivverdünner in Form von Geruchsbildung noch deutlich wahrnehmbar. In Abbildung 5.1 sind die wichtigsten Begriffe noch einmal bildhaft erklärt.

5.1.2

Homo- und Copolymere

Ein Polymerisat, das aus nur einem Monomer wie z.B. Styrol entstanden ist, heißt Homopolymer (Homopolymerisat) oder neuerdings auch Unipolymer. Copolymere (Copolymerisate) entstehen aus zwei oder mehr verschiedenen Monomeren. Bei Polykondensaten und Polyaddukten müssen zur Kettenbildung i.d.R. mindestens zwei komplementäre Monomere wie z.B. eine Dicarbonsäure und ein Diol vorhanden sein, die alternierend eingebaut werden. Deshalb spricht man in diesem Fall auch dann von Homopolymeren, z.B. Homopolyestern, wenn nur diese Mindestzahl an zwei Monomeren eingebaut ist. Bei drei und mehr Monomeren liegen auch hier Copolymere, z.B. Copolyester, vor. Homopolymere haben einen sehr regelmäßigen Kettenaufbau und neigen dadurch zu einer Kettenpackung bzw. -bündelung bis hin zu einer Teilkristallinität. In der Praxis führt dies zu verminderter Löslichkeit und evtl. auch schlechtem Verlauf und Filmeintrübung. Lackbindemittel sind u.a. deshalb fast ausnahmslos Copolymere. Liegen sog. statistische Copolymere vor (s.u.), so verhindert die zusätzliche intramolekulare Unordnung eine Kristallisation vollständig. Gemäß den unterschiedlichen Sequenzen bzw. Anordnungen der verschiedenen Monomereinheiten innerhalb eines Moleküls teilt man Copolymere ein in – statistische Copolymere: Die Monomereinheiten wechseln sich in der Kette rein zufällig, d.h. ohne erkennbare Regelmäßigkeit, ab. Schematisch: AABABBBAABABBBABABBABABBAAAABBABABBAABAAA – alternierende Copolymere: Zwei Monomereinheiten wechseln sich regelmäßig ab. Schematisch: ABABABABABABA – Blockcopolymere: Längere Segmente aus jeweils gleichen Monomereinheiten folgen aufeinander. Schematisch: AAAAAAAAAAAAAABBBBBBBBBBBBBAAAAAAAAAAAAAA – Pfropfcopoylmere (Graft-Coplymere): An einer langen Kette aus gleichen Monomereinheiten hängen aus dem anderen Monomer gebildete („aufgepfropfte“) Seitenketten. Schematisch: AAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAA AAABAAAAAAABAAAAAAAAAAAB AAAABAAAAAABAAAA AAABAAAAAAABAAAAAAAAAAAB AAAABAAAAAABAAAA AAABAAAAAAABAAAAAAAAAAAB AAAABAAAAAABAAAA AAABAAAAAAABAAAAAAAAAAAB AAAABAAAAAABAAAA AAABAAAAAAABAAAAAAAAAAAB AAAABAAAAAABAAAA AAABAAAAAAABAAAAAAAAAAAB AAAABAAAAAABAAAA AAABAAAAAAABAAAAAAAAAAAB AAAABAAAAAABAAAA A, B = Monomereinheiten 73

Allgemeine Grundlagen zum Verständnis der Filmbildung

5.1.3

Mittlere Molmasse

Die Masse und damit indirekt die Größe von Molekülen drückt man in der Chemie durch ihre molare Masse (Molmasse) aus. Das ist ganz einfach die Masse von 1 mol, d.h. 6,022·1023 Molekülen. (6,022·1023 mol-1 = NA, Avogadro-Konstante.) Ein technisches Polymer besteht aus Molekülen verschiedener Größe, da die Anzahl der Monomereinheiten pro Molekül, d.h. der Polymersiationsgrad, durch den statistischen Charakter der Polyreaktionen nicht auf einen Wert festlegbar ist. Technische Polymere (incl. Oligomere) weisen deshalb charakteristische Molmassenverteilungen auf, und für ein gegebenes Polymer kann nur eine mittlere Molmasse angegeben werden. Die wichtigsten Mittelwerte der Molmasse sind das Zahlenmittel 



Ni

Gleichung 5.1

Anzahl Moleküle mit der Molmass Mi

und das sog. Gewichtsmittel



Gleichung 5.2

Das Zahlenmittel ist das arithmetische Mittel der Anzahlen der unterschiedlich großen Moleküle, das Gewichtsmittel das arithmetische Mittel der Gewichte (korrekter: der Massen). Da in das Gewichtsmittel die Moleküle mit dem Produkt ihrer Anzahl und Masse eingehen, liegt das Gewichtsmittel höher als das Zahlenmittel. (Der weniger erfahrene Leser möge dies an einfachen Zahlenbeispielen verifizieren.) Der Unterschied fällt umso größer aus, je breiter die Molmassenverteilung, d.h. je uneinheitlicher die Molekülgröße ist. Als Maß für die Uneinheitlichkeit oder Polydispersität der Molmasse, d.h. die Breite der Molmassenverteilung, dient der Ausdruck

(oder auch nur

).

Dividiert man die Gleichungen 5.1 und 5.2 jeweils durch die durchschnittliche Molmasse ei–  ) bzw. das Gewichtsmittel (P  –  ) des ner Monomereinheit, so ergibt sich das Zahlenmittel (P  n w Polymerisationsgrades. Die mittlere Molmasse und in zweiter Linie auch die Molmassenverteilung haben großen Einfluss auf die Eigenschaften von Beschichtungsstoffen und Beschichtungen. Genannt seien hier z.B. die Lackviskosität (im Fall gelöster Bindemittel) und das Eigenschaftspaar Filmfestigkeit und Flexibilität. Als grobe Regel gilt: – Je höher die Molmasse und je enger die Molmassenverteilung, desto mechanisch fester der Film bei gegebener Flexibilität (Dehnbarkeit, Reißdehnung). 74

Polymere

5.1.4 Polymergrundtypen Nach ihren grundlegenden physikalisch-chemischen Eigenschaften teilt man die Polymere in folgende Gruppen ein: Thermoplaste Diese bestehen aus diskreten, nicht vernetzten, linearen oder verzweigten Molekülen. Sie erweichen bei Erwärmung bis hin zur Fließfähigkeit, und nach dem Abkühlen liegen sie unverändert vor. In geeigneten Lösemitteln lösen sie sich auf. Die Bindemittel physikalisch trocknender Lackfilme stellen Thermoplaste dar. Elastomere (Elaste) Hier liegen weitmaschige Molekülnetzwerke mit sehr flexiblen Kettenstücken (Netzbögen) vor. Elastomere schmelzen nicht beim Erwärmen; es kommt bei hoher Temperatur direkt zur Zersetzung. Mit Lösemitteln tritt eine starke Quellung, aber keine Auflösung ein. Elastomeres, d.h. gummiartiges Verhalten, zeigen z.B. bestimmte Dichtmassen; im Lackbereich ist dieser Zustand selten bzw. nicht in reiner Form anzutreffen. Duromere (Duroplaste) Dies sind engmaschige, räumliche Molekülnetzwerke. Erwärmen führt zu nur geringer Eigenschaftsänderung. Mit Lösemitteln ist allenfalls ein geringes, reversibles Anquellen möglich. Je enger die Maschen und je steifer die Netzbögen sind, desto härter und weniger flexibel ist der Stoff. In hoch vernetzten, harten Lackierungen liegt das Bindemittel in duromerem Zustand vor.

5.1.5 Molekülknäuel Da chemische Einfachbindungen, die ja in Polymermolekülen meistens zahlenmäßig dominieren, in sich axial drehbar und die Bindungen an den Atomen gewinkelt sind, liegen die Moleküle nicht als gerade, d.h. vollständig gestreckte Ketten, sondern – je nach Länge, Flexibilität und ggf. Lösungszustand – mehr oder weniger weite Knäuel vor (s. Abbildung 5.2). Es gibt umfangreiche Theorien zur Knäuelgestalt von Molekülen. Für die Praxis sind aber die folgenden qualitativen Aussagen meist ausreichend: Die Knäuelgröße ist umso höher, je – höher die Molmasse – höher die Temperatur – steifer die Ketten – besser lösend (solvatisierend) ggf. das Lösemittel. Die Größe der Knäuel beeinflusst wichtige Eigenschaften wie die Lösungsviskosität und die Filmfestigkeit. In Hinblick auf verschiedene Polymereigenschaften ist ferner die Tatsache von großer Bedeutung, dass (freie) Polymerknäuel sehr diffus sind, d.h. im Wesentlichen aus Hohlraum bestehen. Dadurch können sich die Knäuel gegenseitig durchdringen (s. Kapitel 5.1.6).

Abbildung 5.2: Knäuelgestalt eines Polymermoleküls (räumlich zu denken) aus [3]

75

Allgemeine Grundlagen zum Verständnis der Filmbildung

5.1.6

Zwischenmolekulare Kräfte und Aggregatstrukturen

Zwischen freien Atomen und kleinen Molekülen wirken intermolekulare, physikalische Anziehungskräfte, die häufig zusammenfassend auch Nebenvalenzkräfte genannt werden. Diese lassen sich wie folgt einteilen [49]: – Van-der-Waals-Kräfte –– London-Van-der-Waals-Kräfte (Dispersionskräfte) Grundkraft, stets vorhanden. Ursache: Quantenmechanisch, fluktuierende Dipole. Bindungsenergie (ca.): 8 kJ mol-1. –– Orientierungskräfte Elektrostatische Anziehungskräfte zwischen permanenten Dipolen bzw. Di- und Monopolen, d.h. polaren Gruppen und ggf. Ionen. Mit zunehmender Temperatur schwächer, da die thermische Molekularbewegung der Orientierung entgegenwirkt. (Ion-Ion-Kräfte sind Ionenbindungen, d.h. Hauptvalenzbindungen.) Bindungsenergie (ca.): 4 kJ mol-1 –– Induktionskräfte Elektrostatische Anziehungskräfte zwischen (Di- oder Mono-)Polen und den durch Polarisation in Nachbarmolekülen induzierten Dipolen. Bindungsenergie (ca.): 8 kJ mol-1 – Wasserstoffbrücken-Bindungen –– Im Wesentlichen Kräfte zwischen OH- oder NH-Bindungen des einen und O- oder N-Atomen des anderen Moleküls; schematisch: X-H······Y mit X, Y = O oder N Bindungsenergie (ca.): 20 kJ mol-1 (übrig Bindungen nicht notiert). Zum Vergleich: Eine echte chemische Bindung (Hauptvalenz) hat eine Bindungsenergie in der Größenordnung von 300 kJ mol-1. Bei großen Molekülen wie z.B. Polymermolekülen wirken diese Kräfte nicht über die gesamten Moleküle als Ganzes, sondern nur örtlich zwischen Segmenten und ggf. polaren Gruppen. Aber auch dadurch kommt es zur Zusammenlagerung (Assoziation, Aggregation) vom Molekülen unter Ausbildung von Aggregatstrukturen (übermolekularen Strukturen). Wie in Kapitel 5.1.5 erklärt, liegen isolierte Polymermoleküle als Knäuel vor. Die werkstofftechnischen Eigenschaften von Polymeren bzw. der daraus gebildeten Filme hängen vom physikalischen Zusammenspiel sehr vieler Moleküle ab. Eine einfache Rechnung zeigt, dass 1 cm2 Polymerfilm von 50 μm Dicke ca. 1017 Moleküle der mittleren Molmasse 30.000 g mol-1 enthält. Die überschlägige Berechnung des Volumens eines (ungestörten) Knäuels aus Polystyrol als Modellsubstanz und Multiplikation mit der Molekülanzahl ergibt, dass das Gesamtvolumen der Knäuel ca. 19-mal so hoch ist wie das Filmvolumen. Das heißt, dass die Knäuel im Film einander stark durchdrungen und evtl. zusätzlich komprimiert vorliegen. Eine analoge Modellrechnung mit der Molmasse von 3000 g mol-1 ergibt nur noch ein um sechsmal größeres Knäuelvolumen als das Filmvolumen. Die Knäueldurchdringung – definiert als gegenseitig durchdrungenes Volumen – nimmt also mit fallender Molmasse ab. Die Knäueldurchdringung führt gewissermaßen zu einer Verfilzung der Molekülfäden; man spricht hier wissenschaftlicher von Verschlaufungen („entanglements“). Die Verschlaufungen treten erst ab einer bestimmten, für das jeweils vorliegende Polymer charakteristischen Molmasse, d.h. Molekülfadenlänge auf, die man Entanglement-Molmasse nennt. Ein ähnliches Maß ist die Verschlaufungslänge, d.h. die mittlere Molmasse zwischen zwei aufeinander folgende Verschlaufungen. Sie liegt bei vielen Polymeren zwischen 2·103 und einigen 104 g mol-1. Oligomere bzw. niedermolekulare Bindemittel bilden also keine Verschlaufun76

Polymere gen, die ihre Ketten kürzer als die Verschlaufungslängen sind [23]. Zusätzlich zu den Verschlaufungen führt die Knäueldurchdringung aber auch zur Ausbildung der oben beschriebenen Nebenvalenzbindungen zwischen benachbarten Molekülfäden, d.h. zu Van-der-Waals-Bindungen und ggf. Wasserstoffbrücken. Das gewünschte mechanische Filmverhalten, nämlich Zugfestigkeit und Härte bei gleichzeitig hoher Dehnbarkeit ergibt sich als Summenwirkung von Nebenvalenzbindungen und Verschlaufungen. Abbildung 5.3 veranschaulicht dies an zwei herausgegriffenen Fadensegmenten. Die Nebenvalenzbindungen werden bei Temperaturerhöhung zunehmend aufgebrochen; der Zusammenhalt der Moleküle wird schwächer, das Polymer (der Film) wird weicher, und schließlich entsteht eine viskose Schmelze, in der ganze Moleküle nahezu ohne Abbildung 5.3: Zusammenhalt zweier Molekülfäden durch: äußere Krafteinwirkung aneinan- N) Nebenvalenzbindungen und V) Verschlaufungen (grob der abgleiten. Der Schmelz- oder schematisch) zumindest stark erweichte Zustand ist in der Lacktechnologie an verschiedenen Stellen von Bedeutung, so bei Pulverlacken, bei Reflow-Lacken (können nach dem Schleifen durch Erhitzen erneut verfließen) und bei der thermischen Entlackung. Bei der Berührung und Durchdringung von Polymermolekülknäueln, z.B. im Verlaufe der physikalischen Trocknung, können sich die Kettensegmente verschieden zusammenlagern und dadurch entsprechende Aggregatstrukturen unterschiedlicher Ordnung bilden – vom völlig unstrukturierten „Molekülfilz“ bis zum teilkristallinen Zustand. In Abbildung 5.4 sind diese Strukturen schematisch dargestellt. Die Zellenstruktur aus praktisch nicht durchdrungenen Knäueln als auch der teilkristalline Zustand sind selten bzw. nicht realisierte Zustände in der Lackchemie. Abbildung 5.4: Aggregatstrukturen von Polymeren aus [3] 77

Allgemeine Grundlagen zum Verständnis der Filmbildung

5.1.7 Polymernetzwerke Grundsätzlich unterscheidet man zwischen kovalenten, ionischen und physikalischen Netzwerken. Kovalente Netzwerke sind über kovalente Bindungen, d.h. sehr fest zusammengehaltene Netzwerke. Sie spielen in der Beschichtungstechnologie die bei weitem größte Rolle. Ionische Netzwerke bilden sich dadurch, dass Säuregruppen, i.d.R. Carboxylat-Gruppen (–COO-), über zwei oder höherwertige Metallionen wie Zn2+, Zr2+ oder Al3+ ionisch zusammengehalten werden; man spricht hier auch von Salzvernetzung. Physikalische Netzwerke entstehen durch partielle Kristallisation, Domänenbildung12 oder auch nur die oben genannten Verschlaufungen; ihre Bildung wird i.d.R. nicht als Vernetzung (im engeren Sinn) bezeichnet. Netzwerke setzen sich aus Netzbögen und Netzpunkten zusammen. Erstere sind die linearen Kettensegmente zwischen zwei Netzpunkten, letztere die Verzweigungsstellen der Ketten. Die Netzbögen bilden wiederum geschlossene Linien, die sog. Netzmaschen. In Abbildung 5.5 sind die Begriffe veranschaulicht. Die Angabe einer Molmasse für ein vernetztes Polymer (Polymernetzwerk) ist i.d.R. nicht möglich, da durch die Vernetzung makroskopische Körper ohne abgegrenzte Moleküle entstehen, d.h. die Molmassen praktisch unendlich groß werden. Eine sinnvolle Angabe von größter Bedeutung in Hinblick auf zahlreiche Filmeigenschaften ist hingegen die sog Vernetzungsdichte (ν) Hierunter versteht man die Anzahl der Netzbögen pro Volumeneinheit des Polymers. (Häufig trifft man auch auf den schlecht definierten Ausdruck „Vernetzungsgrad“. Damit ist je nach Zusammenhang entweder die Vernetzungsdichte, der chemische Umsatz(grad) der reaktiven Vernetzungsgruppen oder der Gelanteil (s.u.) gemeint.) Alterna–  tiv kann man die mittlere Molmasse (M   C) der Netzbögen angeben. Beide Größen stehen in reziprokem Zusammenhang zueinander: nC VP mC ρP



Gleichung 5.3

Stoffmenge (Molzahl) der Netzbögen Volumen der Polymerprobe Masse aller Netzbögen = Probenmasse mP Dichte der Polymerprobe Während ein unvernetztes Polymer – wie schon in Kapitel 5.1.4 gesagt – thermoplastisch und in geeigneten Lösemitteln echt löslich ist, zeigen vernetzte Polymere keine Möglichkeit des Fließens mehr, und in Lösemitteln quellen sie nur noch auf bzw. an. Diese Eigenschaftsunterschiede machen sich während der Lackhärtung bei beginnender Vernetzung, am sog. Gelpunkt, deutlich bemerkbar.

Abbildung 5.5: Netzbogen (1), Netzpunkt (2) und Netzmasche (3) eines Polymernetzwerkes

78

12 Assoziation von chemisch einheitlichen Polymeranteilen (Kettenabschnitten) zu mikroskopisch kleinen, partikulären Bereichen; ähnlich einer Kristallitbildung.

Polymere – Der Gelpunkt ist der chemische Umsatz UG der miteinander reaktionsfähigen Gruppen, bei dem erstmalig ein (noch sehr weitmaschiges) Netzwerk entsteht. Ab dem Gelpunkt ist das Bindemittel nicht mehr vollständig löslich, und ein weiterer Lackverlauf ist nicht mehr möglich, da das viskose Fließen von einer elastischen Rückfederung überlagert wird. (Zur Abschätzung von UG s. Kapitel 8.2.1 und Anhang 3) Aus der Theorie der Gummielastizität (Entropieelastizität) folgt für ideale Netzwerke, das sind Netzwerke ohne Schlaufen und freie Kettenenden und mit einer Gaußschen Verteilung der Abstände der Netzpunkte, die Gleichung [21, 23]



Gleichung 5.4

E Elastizitätsmodul (bzw. Speichermodul) ν Vernetzungsdichte R allgemeine Gaskonstante (8,314 J mol-1 K-1) T absolute Temperatur (Kelvin-Temperatur) Der Elastizitätsmodul E = σ/ε (σ Normalspannung in N mm-2, ε Dehnung ΔL/L0) ist ein Maß für die Steifigkeit bzw. Härte des Materials und steigt mit wachsender Vernetzungsdichte an. Dicht vernetzte Lackfilme sind hart und steif, aber weniger flexibel. Außerdem ist ihre Quellbarkeit mit Lösemitteln gering, was sich bei entsprechenden Beschichtungen als Lösemittelbeständigkeit, z.B. Superbenzin-Beständigkeit von Autolackierungen oder Skydrol-Beständigkeit von Flugzeuglackierungen zeigt. Außer der Vernetzungsdichte selbst ist auch ihre Gleichmäßigkeit im Film von großer Bedeutung. Höchste Filmfestigkeiten bei gleichzeitig größten Flexibilitäten setzen homogene Netzwerke voraus. Ferner sollten die Netzwerke keine in sich geschlossenen Netzbögen (Schlaufen) und freien Kettenenden haben, da diese sog. Netzwerkdefekte nicht zur Festigkeit beitragen. Wie vorhergehend beschrieben, beginnt die Vernetzung eines Films beim Gelpunkt. Hier werden aber natürlich nicht alle Bindemittelmoleküle auf einen Schlag über mindestens eine Bindung an das Netzwerk angebunAbbildung 5.6: Prinzipielle Wege zu Polymernetzwerken. den, sondern ein großer Massen- a) aus vielen kleinen, wenig verzweigten Molekülen, anteil des Bindemittels liegt noch b) aus wenigen größeren, linearen Molekülen durch Quer­ frei als sog. Solanteil (ws) vor. vernetzung, c) aus größeren, stark verzweigten Molekülen 79

Allgemeine Grundlagen zum Verständnis der Filmbildung Den vernetzten Anteil nennt man Gelanteil (wg). Es gilt somit stets: ws + wg = 1 bzw. 100 %. Die Anteile lassen sich durch Extrahieren (Herauswaschen) mit einem starken Lösemittel bestimmen, da der Solanteil in Lösung geht und der Gelanteil als unlöslicher Quellkörper zurückbleibt. Die Netzwerkbildung kann im Prinzip auf drei Wegen erfolgen (s. Abbildung 5.6): – Oligomere und/oder Monomere reagieren durch Ausbildung sehr vieler neuer Bindungen – Beispiel: 2K-System aus High-Solid-Harzpolyol (z.B. Polyester) und Polyisocyanat – Weitgehend lineare Polymere vernetzen durch Quervernetzung von Kette zu Kette – Beispiel: Härtung ungesättigter Polyester mit Styrol und Peroxid – Stark verzweigte Polymere vernetzen unter Ausbildung relativ weniger neuer Bindungen – Beispiel: Langölalkydharz (oxidativ trocknend). Eine neue Klasse an reaktiven Bindemitteln, die hyperverzweigten Polymere aus strauchartigen Molekülen, zeigt nach Vernetzung, z.B. als Polyurethan, bei hoher Härte eine ungewöhnlich gute Flexibilität [50]. Die Ursache der hohen Leistungsfähigkeit dürfte in der Kombination aus hoher Vernetzungsdichte mit zugleich sehr beweglichen Netzbögen liegen.

5.1.8 Glasübergang Bei sehr tiefer Temperatur ist ein Polymer sprödhart bis glasartig; es befindet sich im sog. Glaszustand. Kühlt man z.B. einen Weichgummikörper (Band, Schlauch o.ä.) in flüssigem Stickstoff auf ca. -190 °C ab, so zersplittert er bei mechanischer Beanspruchung. Bei stetiger Erwärmung tritt zunächst nur eine schwache Elastifizierung ein, bis schließlich über einen begrenzten Temperaturbereich hinweg die vollständige Erweichung stattfindet; das Polymer befindet dann sich im sog. viskoelastischen Zustand. Wie dieser Zustand genau aussieht, hängt von Faktoren wie vernetzt/nicht vernetzt, Vernetzungsdichte bzw. Molmasse/Molmassenverteilung, amorph/teilkristallin u.a.m. ab.

Abbildung 5.7: Temperaturabhängigkeit des Volumens und freien Volumens einer Polymerprobe

80

Polymere Bestimmt man während des oben geschilderten „Aufwärmversuches“ ständig das Volumen des Polymerkörpers und trägt es gegen die Temperatur auf, so erhält man qualitativ die in Abbildung 5.7 dargestellte Kurve. Ihre Gestalt kommt molekular betrachtet folgendermaßen zu Stande: Deutlich unterhalb einer bestimmten Temperatur, der Glasübergangstemperatur (Tg), auch Glastemperatur oder Glaspunkt genannt, zeigen die Polymerketten keine Bewegungen; lediglich Schwingungen und Rotationen von Atomen bzw. Atomgruppen existieren. Der thermische Ausdehnungskoeffizient dV/dT rührt – wie bei normalen Festkörpern – nur von der Zunahme dieser Schwingungen her. In der Nähe von Tg „erwachen“ dann Segmentschwingungen, die man auch mikrobrownsche Bewegung nennt. Die Kettensegmente schlagen gewissermaßen kleine Hohlräume im Polymer frei, die in der Summe das sog. freie Volumen des Polymers bilden. Je höher die Temperatur, desto vehementer die Schwingungen und länger die schwingenden Segmente, da die hemmenden Nebenvalenzbindungen zunehmend gebrochen werden. Das freie Volumen steigt etwa linear mit der Temperatur an. Liegt ein Thermoplast vor, so beginnt er schließlich zu fließen, indem ganze Moleküle aneinander abgleiten (makrobrownsche Bewegung). Im Falle eines vernetzten Polymers schwingen im Extremfall, wenn alle Nebenvalenzbindungen zwischen den Ketten thermisch gespalten sind, die kompletten Netzbögen durch. Das Polymer verhält sich beim Vorliegen langer Netzbögen dann gummielastisch, beim Vorliegen kurzer Netzbögen hartelastisch. Der Glasübergang, auch je nach Richtung der Temperaturänderung als Erweichung bzw. Einfrieren bezeichnet, ist kein Phasenübergang wie das Schmelzen von Kristallen oder die Änderung einer Kristallstruktur. Es handelt sich hier nur um einen gleitenden Übergang innerhalb einer Temperaturspanne der Größenordnung 20 bis 60 K, und Tg ist eine Temperatur aus dieser Spanne, die nur über die jeweilige Messmethode hinreichend genau definierbar ist. Der Glasübergangsbereich verbreitert sich allgemein mit zunehmender Breite der Molmassenverteilung. Beim Vorliegen mehrerer gemischter Polymerer mit unterschiedlichen Tg-Werten kommt es bei guter Mischbarkeit (Verträglichkeit) zu einer Verbreiterung des Glasübergangsbereiches mit nur einem mittleren Tg-Wert, beim Vorliegen von Phasenseparationen (Unverträglichkeiten) zu mehreren unterscheidbaren Übergangsbereichen und Tg-Werten [23, 51, 52]. Für die Tg-Werte von Copolymerisaten, homogenen Mischungen mehrerer Polymerer oder homogenen Mischungen von Polymeren mit anderen Substanzen wie Weichmachern und Lösemitteln gilt in erster Näherung die Gleichung von Fox:



Gleichung 5.5

Massenanteile der Substanzen in der Mischung wA, wB, wC, … bzw. Monomereinheiten im Copolymer Tg,A, Tg,B, Tg,C, … Tg-Werte der Substanzen in der Mischung bzw. der Homopolymere der copolymerisierten Monomere (Es gibt noch andere Formeln, die aber komplizierter sind und für die meisten Überlegungen nur unwesentlich genauere Ergebnisse liefern.) Nun enthalten viele getrocknete Lacke und sonstige Beschichtungsstoffe neben Bindemitteln vor allem auch Pigmente und Füllstoffe. Da diese nicht homogen mit dem Bindemittel mischbar sind und auch keine Tg besitzen, kann die Foxsche Gleichung hier natürlich nicht angewendet werden. Rein empirisch stellt man fest, dass (fast) alle Pigmente die Tg des Tro81

Allgemeine Grundlagen zum Verständnis der Filmbildung ckenfilms erhöhen. Der Effekt ist sehr unterschiedlich stark; er hängt ab von der Chemie der Pigmentteilchenoberfläche im Zusammenspiel mit dem Bindemittel und ggf. den Additiven, der Teilchengröße und ihrer Verteilung, der Teilchenform, der Packungsdichte beim Vorliegen mehrerer Pigmente und der Pigmentierungshöhe (PVK). Der Effekt liegt i.d.R. zwischen 0 und 5 K pro 10 % PVK-Erhöhung. Die Ursache der Tg-Erhöhung liegt in der Behinderung der Polymersegmentbeweglichkeit in den Adsorptionsschichten [23, 53]. In Hinblick auf die Filmbildung sind folgende fünf Aspekte besonders wichtig: – Ein Lackfilm ist umso härter, je höher seine Tg über der aktuellen Temperatur (Gebrauchstemperatur) liegt; er ist umso weicher, je tiefer seine Tg unter der aktuellen Temperatur liegt. – Die Foxsche Gleichung gilt im Prinzip auch für Mischungen aus Polymeren und Lösemitteln, d.h. physikalisch trocknende Lackfilme, wenn man den Lösemitteln Tg-Werte zuordnet (Erstarrungstemperaturen der unterkühlten, nicht kristallisierten Lösemittel [22]); Lösemittel senken die Tg, d.h. sie machen den Film gewissermaßen weich – bis hin zum fließfähigen Zustand. – Mit zunehmender Molmasse nimmt die Tg zu. Es gilt näherungsweise:



Gleichung 5.6

Tg ∞ Tg bei sehr hoher Molmasse (Asymptote) K empirische Konstante n Zahlenmittel der Molmasse Da bei der Härtung die Molekülgröße zunimmt, steigen dabei auch die Tg und damit die Härte bzw. der dadurch beeinflusste Trockengrad. – Mit zunehmender Vernetzungsdichte steigt die Tg. Auch dies zeigt sich direkt als Zunahme der Härte des Films. – Zwischen der Tg eines unvernetzten Polymers (auch als Schmelze oder konzentrierte Lösung) und seiner Viskosität η besteht ein Zusammenhang, der durch die WLF-Gleichung (Williams-Landel-Ferry-Gleichung) beschrieben wird: T



Gleichung 5.7

aktuelle Temperatur (Tg ≤ T ≤ Tg + 100 K)

In Abbildung 5.8 ist der Zusammenhang für T = 293,15 K (20 °C) graphisch dargestellt, und wegen der großen Bedeutung dieser Gleichung ist im Anhang 2 eine Herleitung gegeben. Da die Tg bei der Filmtrocknung ansteigt, steigt gemäß der WLF-Gleichung auch die Viskosität, was sich als Zunahme des Trockengrades zeigt. Ab ca. 103 Pa s ist der Zustand „grifffest“ und ab 107 Pa s der Zustand „blockfest“13 erreicht. 1012 Pa s entspricht etwa der Viskosität eines völlig trockenen Thermoplasten bei T = Tg [22].

13 „Blockfest“ bedeutet, dass zwei über eine definierte Zeit aufeinandergedrückte Filme nicht miteinander verkleben.

82

Lösemittel und Polymerlösungen Zusammengefasst sei noch einmal aufgelistet, wie die Tg eines reinen Polymers qualitativ von verschiedenen molekularen Parametern abhängt: Die Tg steigt mit – steigender Molmasse (bis zu einem Grenzwert) – zunehmenden Nebenvalenzkräften (Dipolkräften, Wasserstoffbrücken) – zunehmender Steifheit der Ketten (z.B. durch aromatische Ringe) – zunehmender Anzahl kleiner starrer Gruppen bzw. Substituenten an den Ketten (z.B. Methyl- und Phenylgruppen) – zunehmender Vernetzungsdichte. Flexible Abschnitte in den Hauptketten und längere Seitenketten erniedrigen die Tg, was man auch als innere Weichmachung bezeichnet. Da sich beim Durchlaufen des Glasübergangsbereiches zahlreiche physikalische Parameter eines Polymers verstärkt ändern, gibt es auch mehrere gebräuchliche Messmethoden für die Tg. Zu nennen sind vor allem die DMA (Dynamisch-Mechanische Analyse), die DSC (Differential Scanning Calorimetry) und die TMA (Thermisch-Mechanische Analyse).

5.2 Lösemittel und Polymerlösungen 5.2.1 Lösemittel 5.2.1.1 Definition und Einteilung Laut DIN EN ISO 4618 ist ein Lösemittel eine Flüssigkeit aus einer oder mehreren Komponenten, die unter den festgelegten Trocknungsbedingungen flüchtig ist und in der das Bindemittel löslich ist. Über diese technischen Grundbedingungen hinaus sollen Lösemittel keine Eigenfärbung haben, thermisch und chemisch stabil (inert), geruchsarm und toxikolgisch weitestgehend unbedenklich sein. Zwischen den Lösemittelmolekülen wirken die in Kapitel 5.1.6 beschriebenen intermolekularen Anziehungskräfte. Vom physiko-chemischen Standpunkt aus ist es deshalb sinnvoll, die Lösemittel gemäß Art und Stärke dieser Kräfte einzuteilen: – Nur London-van-der-Waals-Kräfte (Dispersionskräfte): Aliphatische und alicyclische (cycloaliphatische) Kohlenwasserstoffe (KW) wie Pentan, Hexan, Heptan, Isoparaffine, Benzine, Cyclohexan, Dekalin. – London- und schwache Orientierungsund Induktionskräfte: Aromatische Kohlenwasserstoffe wie Abbildung 5.8: Zusammenhang zwischen Toluol, Xylol, Solvent-Naphtha, Tg und η gemäß der WLF-Gleichung (für Filmtemperatur 20 °C) „Solvesso“, „Shellsol“. 83

Allgemeine Grundlagen zum Verständnis der Filmbildung – London-, Induktions- und Orientierungskräfte (mit separaten Protonendonatoren auch Wasserstoffbrücken): Polare Moleküle ohne leicht abspaltbare Protonen (polar-aprotonische Lösemittel) wie Ester, Ketone, Nitroparaffine, Dimethylformamid (DMF), N-Methylpyrrolidon (NMP), Dimethylsulfoxid (DMSO). – London-, Induktions-, Orientierungs- und Wasserstoffbrückenbindungskräfte: Polare Moleküle mit leicht abspaltbaren Protonen wie niedere Alkohole (Ethanol, Propanole, Butanole, Amylalkohole) und Etheralkohole (Butylglykol, Butyldiglykol, Methoxypropanol u.a.). Physikalisch-technisch werden die Lösemittel vor allem nach ihrer Flüchtigkeit und ihrem Siedepunkt eingeteilt.

5.2.1.2

Flüchtigkeit von Lösemitteln

Ein Stoff (Lösemittel) siedet, wenn sein Dampfdruck gleich dem Umgebungsdruck (i.d.R. Atmosphärendruck, ca. 1 bar = 105 Pa) ist. Da der Dampfdruck eindeutig von der Temperatur abhängt, hat somit jedes Lösemittel einen Siedepunkt. (Bei Misch- bzw. unreinen Lösemitteln können mehr oder weniger breite Siedebereiche vorliegen.) Allgemein steigt der Seidepunkt mit zunehmender Molekülgröße und zunehmender Stärke der intermolekularen Bindungskräfte, wobei sich letztere in einer steigenden Verdampfungsenthalpie 14 niederschlägt. Für den Zusammenhang zwischen Siedepunkt und Verdampfungsenthalpie gilt gemäß dem Theorem der übereinstimmenden Zustände näherungsweise die Pictet-Troutonsche Regel: ΔVSm ΔVHm TS



Gleichung 5.8

molare Verdampfungsentropie (bei TS) molare Verdampfungsenthalpie (bei TS) Siedepunkt (in K)

Nach ihrem Siedepunkt teilt man die Lösemittel ein in – Niedrigsieder: Siedepunkt/-Bereich unter 100 °C – Mittelsieder: Siedepunkt/-Bereich 100 bis 150 °C – Hochsieder: Seidepunkt/-Bereich über 150 °C. (Flüssigkeiten mit einem Siedepunkt über 250 °C gelten nicht mehr als Lösemittel im engeren Sinn, sondern als Weichmacher, sofern sie in ein Polymer einzudringen vermögen und letzteres dadurch flexibilisieren.) Für die Lacktrocknung wichtiger als der Siedepunkt ist die Flüchtigkeit der Lösemittel, d.h. ihre Verdunstungsgeschwindigkeit unterhalb des Siedepunktes. Als Maß für die Flüchtigkeit bei Raumtemperatur (23 °C) dient die Verdunstungszahl (VD), die die Verdunstungszeit unter festgelegten (genormten) Bedingungen eines Lösemittels relativ zu der von Diethylether angibt (DIN 53170). Hohe Verdunstungszahlen bedeuten also langsame Verdunstung.

14 Der Begriff „Enthalpie“ steht für die bei Vorgängen (hier Verdampfung) entstehende oder verbrauchte Wärme immer dann, wenn der Vorgang unter konstantem Umgebungsdruck abläuft.

84

Lösemittel und Polymerlösungen (In den USA und einigen anderen Ländern dient Butylacetat als Vergleich, und der Zusammenhang ist reziprok: Hohe Verdunstungszahlen bedeuten hier schnelle Verdunstung.) Nach der Verdunstungszahl teilt man die Lösemittel ein in VD bis 10 – leichtflüchtig: – mittelflüchtig: VD 10 bis 35 – schwerflüchtig: VD 35 bis 50 – sehr schwerflüchtig: VD über 50 Zwischen den Größen Siedepunkt, Dampfdruck bei Raumtemperatur und Verdunstungszahl gibt es keine präzisen Zusammenhänge, sondern nur folgende allgemeine Trends: – je höher der Siedepunkt, desto höher in der Tendenz die Verdunstungszahl – je höher der Dampfdruck bei Raumtemperatur, desto niedriger in der Tendenz die Verdunstungszahl Die Verdunstungsgeschwindigkeit hängt von zahlreichen substanzspezifischen und äußeren Parametern ab. Die wichtigsten sind – der Dampfdruck bei der Verdunstungstemperatur – die Verdampfungsenthalpie – Molmasse – spezifische Wärmekapazität – Lufttemperatur – Luftströmungsgeschwindigkeit – Kontaktfläche Luft-Lösemittel und – Wärmekapazität des Trägers bzw. Substrates. In der Beschichtungspraxis liegen meist Gemische von Lösemitteln – auch in Kombination mit Wasser – vor. Für den Gesamtdampfdruck pg eines homogenen Gemisches gilt gemäß dem Raoultschen Gesetz in guter Näherung 1, 2, 3, … f1, f2, f3, … x1, x2, x3, … p01, p02, p03, … fi xi P0i



Gleichung 5.9

Lösemittel (Komponenten) Aktivitätskoeffizienten Stoffmengenanteile (Molenbrüche) Sättigungsdampfdrücke der reinen Lösemittel Partialdampfdruck der Komponente i

(Das Produkt aus f und x ist die sog. Aktivität: ai = fi xi .) Ein Aktivitätskoeffizient ist ein Maß für die Wechselwirkung einer Komponente mit dem übrigen System. Werte unter Eins bedeuten, dass die intermolekulare Wechselwirkung (Bindungsstärke) stärker ist als in reinem Zustand („mit sich selbst“); der Partialdampfdruck ist dann erniedrigt. Bei Werten über Eins gilt das Entgegengesetzte. Die Aktivitätskoeffizienten der Komponenten in Mischungen können zwar mit Hilfe von physikochemisch basierten Computerprogrammen wie UNIFAC (Universal Quasichemical Functional Group Activity Coefficients) recht genau berechnet werden, was aber für die Lacktrocknung von nur mäßigem Wert ist, da die Verdunstungsgeschwindigkeiten 85

Allgemeine Grundlagen zum Verständnis der Filmbildung der Lösemittelkomponenten nicht proportional ihren Partialdampfdrücken sind. Unter dem Strich bleibt für den Lackentwickler in der Praxis als Faustregel, dass ein für sich leicht oder schwer verdunstendes Lösemittel auch aus der Mischung leicht bzw. schwer herausdunstet. Ein Lösemittel fällt in vielerlei Hinsicht aus dem Rahmen, nämlich das Wasser. Die wichtigsten wärmetechnischen Daten sind – TS = 100 °C, Dampfdruck (25 °C) = 24 mbar, Verdunstungszahl = 80, spezifische Verdampfungsenthalpie (100 °C) = 2257 kJ kg-1, Oberflächenspannung (20 °C) = 73 ∙10-3 N m-1. Besonders auffällig sind beim Wasser die Schwerflüchtigkeit in Relation zum Siedepunkt und die sehr hohe Verdampfungsenthalpie, die ein Vielfaches derjenigen von organischen Lösemitteln beträgt. So hat z.B. Propylacetat mit Ts = 102 °C eine Verdunstungszahl von 4,8 und eine Verdampfungsenthalpie beim Siedepunkt von ca. 330 kJ kg-1; es verdunstet also ca. 16mal so schnell wie das nahezu gleich hoch siedende Wasser. Die Schwerflüchtigkeit des Wassers führt in der Praxis dazu, dass die Trocknung von Wasserlacken oft längere Zeit braucht als die von konventionellen Lacken. Auch ist die Verdunstungsgeschwindigkeit jetzt stark von der relativen Luftfeuchtigkeit abhängig: Je feuchter die Luft, desto langsamer die Verdunstung des Wassers bzw. Wasseranteils (s. Kapitel 6.1.1). Viele Wasserlacke enthalten neben Wasser noch mit Wasser mischbare Cosolventien wie Butylglykol, Butyldiglykol und eventuell Butanol. Die Verdunstungsraten der Komponenten sind hier zusätzlich von zwei Erscheinungen gesteuert, erstens – wie vorab erwähnt – der relativen Luftfeuchtigkeit und zweitens der möglichen Bildung von Azeotropen. Für beispielsweise ein Wasser/Butylglykol-Gemisch gilt tendenziell Folgendes: Je höher die Luftfeuchte, desto stärker wird die Verdunstung des Wasseranteils zurückgedrängt, und desto mehr reichert sich das Gemisch mit Wasser an und umgekehrt. Mögliche Azeotrop-Bildungen verkomplizieren die Abläufe zusätzlich. Bei einem Wassergehalt von 79,2 % hat das Gemisch ein Siedepunkt-Minimum von 98,8 °C, und der Dampf hat die gleiche Zusammensetzung wie die Flüssigkeit. Das Gemisch bildet hier ein sog. Azeotrop [20]. Bei der Lacktrocknung siedet das Gemisch aber i.d.R. nicht, es verdunstet, und dies bei sich verändernder Temperatur und Zusammensetzung. Hinzu kommt der Einfluss der übrigen Lackbestandteile auf die Flüchtigkeit der Lösemittelkomponenten (s. Kapitel 5.2.2.3). Unter dem Strich bleibt die in der Fachwelt allgemein bekannte Aussage, dass mögliche Azeotrop-Bildungen die physikalische Trocknung incl. des Wasseraustrages beschleunigen können (Weiteres s. Kapitel 6.1.4).

5.2.2 Polymerlösungen 5.2.2.1 Allgemeines

Bringt man eine Probe eines unvernetzten, amorphen Polymers mit einem geeigneten Lösemittel (Löser) in Kontakt, so dringen die Lösemittelmoleküle in das Knäuelwirrwarr ein und umhüllen die Polymermoleküle unter Ausbildung von Nebenvalenzbindungen. Letzteres nennt man Solvatation. Je nach Molmasse der Polymermoleküle, Solvatationsvermögen (Lösevermögen) des Lösemittels in Bezug auf das vorliegende Polymer und Volumenverhältnis Polymer/Lösemittel kommt es beim Lösen zu einer mehr oder weniger starken Knäuelaufweitung und Entzerrung bzw. Trennung der Knäuel. Dieser Prozess geht so lange weiter, bis ein homogenes, d.h. gleichmäßig zusammengesetztes System, eine (echte) Polymerlösung entstanden ist. Das Lösen ist hier – im Gegensatz zum Auflösen von kristallinen Stoffen wie Kochsalz in Wasser – nicht mit einem Kristallabbau verbunden und somit eigentlich nur als 86

Lösemittel und Polymerlösungen Durchmischungsvorgang aufzufassen. So kommt es auch bei der Umkehrung des Löseprozesses, d.h. beim Eindunsten der Lösung, meist nicht zu einer Ausfällung einer separaten Phase (Ausnahme s.u.), sondern nur zu einer allmählichen Verfestigung des Systems. Genau dieser Prozess läuft bei der physikalischen Trocknung konventioneller Lacke ab. Das in den Knäueln befindliche Lösemittel kann man (sehr schematisch) in gebundenes und freies Lösemittel einteilen. Gebundenes Lösemittel haftet über die Nebenvalenzkräfte so fest an den Molekülfäden, dass es deren Bewegungen mitmacht und nicht abgespült wird. Freies Lösemittel ist nahezu ungebunden und durchspült die Knäuel bei deren Translation durch die Lösung (s. Abbildung 5.9). Bei der physikalischen Trocknung eines Films wird das freie Lösemittel wesentlich leichter abgegeben als das gebundene. Mischt man nun in diese Lösung ein nicht lösendes Lösemittel, einen sog. Nichtlöser ein, so kommt es ab einer bestimmten Zusatzmenge zu einer Trübung. Das Polymer fängt an, in mehr oder weniger gequollener Form auszufallen, also unverträglich mit der restlichen Lösung zu werden. Dabei fallen die Moleküle mit der höchsten Molmasse zuerst aus, da die Löslichkeit von Polymeren mit steigender Molmasse allgemein abnimmt; dann folgen bei weiterem Zusatz die nächst kleineren Moleküle usw. In Hinblick auf die Lacktrocknung ist dieser Prozess von großer Bedeutung, denn durch zu schnelle Verdunstung des (guten) Lösers aus dem im Nassfilm vorhandenen Lösemittelgemisch kann es zur Ausfällung von Bindemittel und damit zu Filmdefekten wie Verlaufsstörungen kommen. Der Vollständigkeit halber sei hier noch der gelegentlich auftretende Begriff Theta-Zustand erwähnt. Dieser Zustand eines gegebenen Polymers in einer verdünnten Lösung ist festgelegt durch die Kombination aus Polymertyp, Lösemittel und Temperatur, bei der alles Lösemittel gebunden ist, d.h. die Knäuel sind nicht durchspült und bei dieser Temperatur liegt das Polymer gerade an der Löslichkeitsgrenze vor. Ein Theta-Lösemittel ist also ein relativ schlechter Löser in Bezug auf das vorliegende Polymer. Vernetzte Polymere können lediglich mehr oder weniger Quellen, aber keine Lösungen bilden, da ja alle Molekülfäden chemisch aneinandergebunden sind, also nicht frei umherschwimmen können. Von Lösungen zu unterscheiden sind Dispersionen bzw. Emulsionen. Diese dispersen, mikroheterogenen Systeme bestehen aus Polymerteilchen bzw. Oligomertröpfchen im Größenbereich von ca. 0,03 bis wenige μm, die in einem Nichtlöser als Dispersionsmittel, meistens Wasser, gleichmäßig verteilt vorliegen (s. Kapitel 5.3).

5.2.2.2 Affinität Polymer/ Lösemittel und Löslichkeitsparameter Das Löse- bzw. Quellvermögen eines Lösemittels für ein gegebenes Polymer hängt im Wesentlichen von der Stärke der Wechselwirkung zwischen den Polymerketten bzw. ihren Monomereinheiten und den Lösemittelmolekülen ab. Diese Wechselwirkung

Abbildung 5.9: Gebundenes und freies Lösemittel in einem teildurchspülten Polymerknäuel (grob schematisch)

87

Allgemeine Grundlagen zum Verständnis der Filmbildung wird im Rahmen einfacher, aber halbquantitativ zutreffender Modellvorstellungen, durch den sog. Flory-Hugginsschen Wechselwirkungsparameter χ beschrieben. Dieser kann Werte zwischen 0,5 und Null annehmen, wobei 0,5 für schwache Polymer-Lösemittel-Wechselwirkung (entspricht Theta-Zustand) und Null für starke Wechselwirkung steht. Aus der FloryHuggins-Theorie lässt sich eine praktischere und in der Lackchemie gängigere Größe herleiten, der sog. Löslichkeitsparameter. Allgemein ist ein Löslichkeitsparameter δ die Quadratwurzel aus der Kohäsionsenergiedichte des betrachteten Stoffes, d.h. hier des Polymers oder Lösemittels:



Gleichung 5.10

Ek Kohäsionsenergie V Volumen der Substanzprobe Die Kohäsionsenergie ist die Energiemenge, die aufgebracht werden muss, um alle Moleküle der vorliegenden Substanzprobe vollständig voneinander zu trennen. Dieser Trennprozess ist identisch mit der Verdampfung der Probe, und somit kann δ für verdampfbare Stoffe aus der Verdampfungsenergie berechnet werden. Für nicht verdampfbare Stoffe wie Polymere muss man indirekt vorgehen (s.u.). Als Einheit von δ wird heute (J cm-3)1/2 gesetzt; sie ist 2,05-mal größer als die frühere Einheit (cal cm-3)1/2. Die Lösungsenthalpie ΔmixH, d.h. die Lösungswärme beim Lösen eines Polymers, ergibt sich theoretisch zu



Gleichung 5.11

VL Volumen des Lösemittels (L) ΦΡ Volumenanteil des Polymers (P) δ Löslichkeitsparameter Man erkennt hieraus, dass die Lösungsenthalpie im Rahmen dieses Modells nur Null oder größer sein kann. Ein positiver Wert bedeutet aber Endothermie, was thermodynamisch ungünstig ist. Der Umkehrschluss führt nun zu folgender Regel: – Die Mischbarkeit zweier Stoffe bzw. die Löslichkeit eines Polymers in einem Lösemittel ist umso besser, je enger δP und δL zusammen liegen, d.h. je geringer die Endothermie des Löseprozesses ist. (Der noch günstigere Fall der Exothermie ist hier rein mathematisch nicht möglich.) Die obigen eindimensionalen Löslichkeitsparameter (nach Hildebrand) führen vielfach zu falschen Löslichkeitsvorhersagen. Deshalb werden heute praktisch nur noch die dreidimensionalen Löslichkeitsparameter (nach Hansen) verwendet, die durch Zerlegung der Kohäsionsenergie in einen dispersiven (von den London-van-der-Waals-Kräften), einen polaren (von den Orientierungs- und Induktionskräften) und einen Wasserstoffbrückenbindungs-Anteil entstehen. Es ergibt sich damit die Definition 88



Gleichung 5.12

Lösemittel und Polymerlösungen bzw. 

δ Gesamtparameter disperser Parameter(-Anteil) δ D δP polarer Parameter(-Anteil) δ H Wasserstoffbrücken-Parameter(-Anteil) In Diagrammen werden δD, δP und δH senkrecht zueinander aufgetragen. Dann weist der Vektor δ vom Ursprung zum Punkt (δD, δP, δH). Anders formuliert: Der dreidimensionale Löslichkeitsparameter eines Stoffes ist als Punkt im δD–δP–δH–Koordinatensystem darstellbar. Für die Differenz der Löslichkeitsparameter des Polymers und Lösemittels im Raum, die gemäß vorhergehenden Überlegungen ein Maß für das (thermodynamische) Lösevermögen eines Lösemittels für ein gegebenes Polymer bzw. Bindemittel ist, ergibt sich dann gemäß dem räumlichem Lehrsatz des Pythagoras bzw. den Regeln der Vektoralgebra Δδ δD,P δD,L δP,P δP,L δH,P δH,L



Gleichung 5.13

Differenz der Löslichkeitsparameter dispersiver Parameter vom Polymer bzw. Lösemittel polarer Parameter vom Polymer bzw. Lösemittel Wasserstoffbrücken-Parameter vom Polymer bzw. Lösemittel

Bei der physikalischen Trocknung ist von großer Wichtigkeit, in welche Richtung sich der Löslichkeitsparameter des vorhandenen Lösemittelgemisches bei ungleicher Verdunstung der Lösemittelkomponenten relativ zum Parameter des Bindemittels verschiebt. Für die Parameter von Lösemittelgemischen gilt näherungsweise 

Gleichung 5.14

(ebenso für δΡ und δΗ) Φ1, Φ2, Φ3, … Volumenanteile der Lösemittel 1, 2, 3, … Die Abschätzung ist allerdings umso ungenauer, je mehr verschiedene Lösemittel vorliegen. Zur experimentellen Bestimmung des Löslichkeitsparameters eines Polymers bzw. Bindemittels, dessen Kohäsionsenergie nicht durch Verdampfung messbar ist, kann man folgendermaßen vorgehen: Man macht mit einer großen Anzahl verschiedener Lösemittel bzw. Lösemittelgemische bekannter Parameter Löseversuche. Alle verwendeten Lösemittelparameter werden ins dreidimensionale System gewissermaßen als Punktwolke eingetragen. (Der δD-Parameter steht senkrecht auf der Papierebene. Da sich die δD-Werte nicht stark voneinander unterscheiden, werden nahe zusammen liegende Werte häufig durch ihren Mittelwert als Parameter ersetzt, wodurch zweidimensionale Schnitte parallel zur Papierebene durch den Löslichkeitsparameter-Raum entstehen.) Nun wird eine geschlossene Hüllfläche derart in das System gezeichnet, dass alle Löser innerhalb, alle Nichtlöser außerhalb des umhüllten Löslichkeitsbereiches liegen. In der zweidimensionalen Darstellung erhält man für die verschiedenen δD-Werte zugeordnete ebene Löslichkeitsbereiche. Nun gilt: 89

Allgemeine Grundlagen zum Verständnis der Filmbildung Tabelle 5.1: Löslichkeitsparameter ausgewählter Lösemittel und Bindemittel in (J cm -3)1/2 δD δP δH Substanz n-Hexan1 14,9 0 0 18,0 1,4 2,0 Toluol1 15,3 6,1 4,1 Methylisobutylketon1 1 15,8 3,7 6,3 Butylacetat Isobutanol1 15,3 5,7 15,8 Wasser2 14,3 16,3 42,6 17,6 1,2 3,6 Kohlenwasserstoffharz1 20,4 3,4 4,6 Langölalkydharz1 18,7 10,1 8,5 Polymethylmethacrylat2 15,4 14,7 8,8 Cellulosenitrat3 1 20,4 8,5 10,6 Hexamethoxymethylmelamin (HMMM) Epoxidharz2

17,3

11,2

11,5

δ4 14,9 18,2 17,0 17,4 22,7 47,8 18,0 21,2 22,9 23,0 24,5 23,5

1 aus [3] 2 aus [6] 3 aus [13] 4 eindimensionaler Parameter, rechnerisch aus den Anteilen nach Gleichung 5.12

– Der dreidimensionale Löslichkeitsparameter des Polymers (Bindemittels) liegt im Schwerpunkt des Löslichkeitsbereiches. Damit liegen auch die Parameter(-Punkte) thermodynamisch guter Löser nahe dem Zentrum, die Parameter schlechter Löser am Rand und die Parameter der Nichtlöser außerhalb des Löslichkeitsbereiches. Rein empirisch stellt man fest, dass die räumliche Parameterdifferenz, oberhalb der meist keine Löslichkeit mehr vorliegt, bei 6 (J cm-3)1/2 liegt. Bei bekannten Parametern von Bindemitteln und Lösemitteln sind auf der Basis dieser Faustregel Löslichkeitsprognosen möglich. In Abbildung 5.10 ist das Löslichkeitsparameter-Diagramm eines Melaminharzes wiedergegeben, und in Tabelle 5.1 sind einige Löslichkeitsparameter als Beispiele aufgelistet.

5.2.2.3 Dampfdruck eines Lösemittels in einer Polymerlösung

Abbildung 5.10: Löslichkeitsparameter-Diagramm eines Melaminharzes aus [3]

90

Ein Lösemittel, das sich in einer homogenen Mischung mit anderen niedermolekularen Stoffen befindet, hat gemäß dem Raoultschen Gesetz p = p0 a = p0 f x (p0 Dampfdruck des reinen Lösemittels) einen Dampfdruck p, der proportional dem Molenbruch x und dem Aktivitätskoeffizienten f des Lösemittels in der Mischung ist. (Für das reine Löse­mittel ist x = f = a = 1.) Das gilt – in

Lösemittel und Polymerlösungen modifizierter Weise – auch für Polymerlösungen. In ihnen liegt das Lösemittel gewissermaßen durch das Polymer verdünnt vor, was formal zu einem kleineren x und damit einem kleineren Dampfdruck führt. Hinzu kommt die Lösemittel-Polymer-Wechselwirkung, die sich in f niederschlägt. Je stärker sie ist, desto niedriger sind f und damit p. Anders formuliert: – Gute Löser werden bei der Trocknung im Lackfilm tendenziell stärker zurückgehalten als schlechte. Dieser Effekt kann allerdings durch die ggf. höhere Flüchtigkeit des guten Lösers überkompensiert werden, so dass sich der schlechte Löser dann trotzdem anreichert und es zu einer Verfilmungsstörung durch Ausfällung des Bindemittels kommt.

5.2.2.4 Viskosität von Polymerlösungen

Bei der Betrachtung der Viskosität von Polymer- bzw. Bindemittellösungen ist es notwendig, zwischen verdünnten und konzentrierten Lösungen zu unterscheiden. In verdünnten Lösungen liegen die Moleküle bzw. makromolekularen Molekülknäuel in solvatisierter Form auf Abstand vor; sie berühren und durchdringen sich nicht. Für diesen Zustand gibt es relativ einfache Gesetzmäßigkeiten, die sich z.B. in der Staudinger-Mark-Houwink-Gleichung (SMH-Gleichung) niederschlagen. In der Lacktechnologie und somit auch bei der Filmbildung hat man es aber mit konzentrierten Lösungen zu tun, wobei mit „konzentriert“ gemeint ist, dass sich die Knäuel berühren und mehr oder weniger verhaken oder gar durchdringen. Bei hochmolekularen Polymeren kann dieser Zustand bereits bei unter 1 g l-1 erreicht werden [13]. In Hinblick auf die Filmbildung sind die Abhängigkeiten der Viskosität von konzentrierteren Polymerlösungen von der Molmasse, der Konzentration und der Temperatur von Bedeutung. Für den Zusammenhang zwischen Viskosität, Molmasse und Konzentration gibt es mehrere empirische Gleichungen, die jeweils eingeschränkte Gültigkeitsbereiche haben. Eine in der Literatur [3, 7, 22, 26] häufig anzutreffende Gleichung ist.



Gleichung 5.15

η Viskosität der Lösung Viskosität des reinen Lösemittels η0 w Massenanteil des Polymers (entspr. nfA) Molmasse (Mittelwert) M k Konstante (Zur Art des Molmasse-Mittelwertes wird keine einheitliche Angabe gemacht.) Die Gleichung soll am besten auf Oligomere mit enger Molmassenverteilung in guten Lösern im Bereich von 0,01 bis 10 Pa s zutreffen [22]. Für höhermolekulare Bindemittel ist der Exponent größer als 0,5. Die Gleichung zeigt zunächst, dass man zur Erzielung niedriger Lösungsviskositäten bzw. hoher Bindemittelkonzentrationen wie bei High-Solid-Lacken möglichst niedrigviskose Lösemittel einsetzen muss. In konzentrierten Polymerlösungen hängen die Polymerknäuel umso schwächer aneinander fest, je stärker ihre Nebenvalenzbindungsstellen durch Lösemittel abgesättigt sind. Darüber hinaus sollten die Knäuel möglichst klein, also wenig aufgeweitet 91

Allgemeine Grundlagen zum Verständnis der Filmbildung sein, was für gute Löser mit δ-Parametern ähnlich denen des Bindemittels nicht der Fall ist. Für Alkyd-/Melaminharz-Kombinationen z.B. konnte in Übereinstimmung mit diesen Überlegungen gezeigt werden, dass niedrige Lackviskositäten mit Lösemitteln resultieren, die sich im Löslichkeitsbereich des Löslichkeitsparameter-Diagramms am Rand mit hohen δP- und δH-Werten befinden [55]. Die genannten Harze sind nämlich relativ polar und bilden über OHGruppen intermolekulare Wasserstoffbrücken aus. Polare Lösemittel, d.h. Wasserstoffbrücken-Akzeptoren wie Ester und Ketone oder Wasserstoffbrücken-Akzeptoren-Donatoren wie Alkohole, können diese Wasserstoffbrücken „brechen“, indem sie selbst Wasserstoffbrücken mit den Bindemittelmolekülen bilden und die Moleküle so voneinander trennen. Es resultiert ein Viskositätsabfall. Die Viskosität einer Polymerlösung oder -schmelze nimmt mit steigender Temperatur ab. Für Polymerlösungen bei Temperaturen über Tg + 100 K (der Lösung) und niedermolekulare, nichtassoziierte Flüssigkeiten stellt Gleichung 2.1, d.h. die Arrhenius-Gleichung, eine recht gute Näherung dar. Für konzentrierte Polymerlösungen sowie für Polymerschmelzen im Temperaturbereich Tg bis Tg + 100 K ist Gleichung 5.7, d.h. die WLF-Gleichung, meist zutreffender [22, 56, 57].

5.3

Wässrig-disperse Systeme

5.3.1

Grundbegriffe und Einteilung

Unter dem dispersen Zustand eines Stoffes versteht man seine (sub-)mikroskopische Verteilungsform in einem Löse- bzw. Dispersionsmittel. Im Folgenden wird als Löse- bzw. Dispersionsmittel stets Wasser angenommen. Grundsätzlich muss man zwischen Lösungen und Dispersionen unterscheiden: – In einer Lösung liegen die Bindemittelmoleküle einzeln (molekulardispers) oder geringfügig assoziiert vor. Lösungen sind optisch klar bis sehr schwach getrübt (opaleszierend). – In einer Dispersion liegen kolloidale 15 oder gröbere Teilchen bzw. Tröpfchen aus jeweils zahlreichen Bindemittelmolekülen vor, die im Dispersionsmittel (hier Wasser) verteilt sind. Es existieren – im Gegensatz zu Lösungen – mehr oder weniger scharfe Phasengrenzen zwischen dem Dispersionsmittel und dem darin verteilten (dispersen) Stoff. Im Fall von dispergierten Tröpfchen spricht man spezieller auch von einer Emulsion. Dispersionen sind i.d.R. mehr oder weniger trübe, wobei die Trübung allgemein mit wachsender Teilchenbzw. Tröpfchengröße und steigender Differenz der Brechzahlen von Wasser und disperser Phase zunimmt. Darüber hinaus gibt es Hybridsysteme, unter denen in diesem Zusammenhang Mischungen aus Bindemittellösungen und -dispersionen, i.d.R. Primärdispersionen, verstanden werden. Dispersionen werden ihrerseits eingeteilt in Primär- und Sekundärdispersionen: – Eine Primärdispersion entsteht durch Emulsionspolymerisation von einfachen Monomeren direkt als Verteilung von kolloidalen, hochmolekularen Polymerkügelchen in Wasser. Andere Bezeichnungen sind Kunststoffdispersion, Polymerdispersion, Emulsionspolymerisat oder Latex. 15 Der kolloidale Teilchengrößenbereich reicht von ca. 5 bis 50 nm.

92

Wässrig-disperse Systeme – Eine Sekundärdispersion entsteht, indem man ein Polymer oder Oligomer in Wasser dispergiert bzw. emulgiert. Beispiele: Polyurethandispersion, Alkydharzemulsion. Abbildung 5.11 gibt eine schematische Übersicht über die wässrig-dispersen Bindemittel­systeme.

5.3.2

Echte und kolloidale Lösungen

Polymermoleküle, die in Wasser echt löslich sein sollen, müssen sehr hydrophil (wasserliebend) sein. Da konventionelle, unmodifizierte Lackbindemittel – von wenigen Ausnahmen abgesehen – hydrophob und damit nicht wasserlöslich sind, müssen sie entsprechend chemisch modifiziert werden. Diese Modifizierung besteht im Einbau einer ausreichend großen Menge an sauren oder basischen Gruppen, i.d.R. Carboxy-(COOH-) oder Amino-(NR2-, NHR-, NH2-) Gruppen in die Bindemittelmoleküle, die nach Neutralisation („Versalzung“) mit niedermolekularen Basen bzw. Säuren stark hydrophile Zentren bilden (s. Abbildung 5.12). Die Neutralisation von Carboxy-Gruppen mit Aminen oder Ammoniak muss zur Erzielung eines hohen Neutralisationsgrades i.d.R. bis zwischen pH 7,5 und 8,5 erfolgen. Zu geringe Neutralisation bringt die Gefahr der unkontrollierten Viskositätserhöhung oder gar Bindemittelausfällung mit sich – beispielsweise, wenn dauerhaft CO2 aus der Luft auf die Lösung bzw. den Lack einwirkt, das Amin teilweise vorzeitig verdunstet oder sich chemisch umsetzt. Die Neutralisation aminischer Bindemittel (für die kathodische Elektrotauchlackierung) erfolgt mit Essigsäure, z.T. auch mit Ameisen-, PropionAbbildung 5.11: Disperse Zustände von Bindemitteln in Wasser oder Milchsäure, und erfordert gemäß technischer Terminologie in Anlehnung an [3, 4]  [3, 58] pH-Werte zwischen 5 und 6,5 . Zusätzlich bzw. partiell ersatzweise können die Moleküle noch nichtionische hydrophile Elemente wie Polyethylenoxid-Ketten (…–O–(CH2–CH2–O)n–CH2–CH2– O–…) mit 5 bis 50 Ethylenoxid-Einheiten enthalten. Ferner enthalten die Lösungen herstellungsbedingt und zur Erhöhung des Lösevermögens teilweise erhebliche Mengen an vollständig oder partiell wassermischbaren Lösemitteln (Colösern, Cosolvenzien) wie Butyl(di) Abbildung 5.12: Prinzip der ionischen Hydrophilierung von glykol, Butanol oder N-Ethylpyr- Bindemitteln aus [3] 93

Allgemeine Grundlagen zum Verständnis der Filmbildung rolidon. Als Lösungen können z.B. Alkydharze, Acrylharze, gesättigte Polyester und spezielle Melaminharze (HMMM-Harze) vorliegen; letztere sind ohne Modifizierung löslich bis selbstemulgierbar. Echte, d.h. molekulardisperse Lösungen von Bindemitteln setzen das Vorhandensein vieler hydrophiler Gruppen in den Molekülen und niedrige Molmassen von maximal wenigen Tausend g mol-1 voraus. So muss bei anionischer Stabilisierung die Säurezahl 16 über 40 betragen, was einen entsprechend hohen Aminbedarf zur Neutralisation nach sich zieht. Die starke Ionizität führt wiederum zu einer unerwünschten Viskositätsanomalie, dem sog. „Wasserberg“ (s. Abbildung 5.13). Darunter versteht man die Erscheinung, dass das z.B. in einem wassermischmischbaren organischen Lösemittel bzw. Lösemittelgemisch konzentriert angelieferte Bindemittel (z.B. 70 %ig in Butylglykol) nach Aminzusatz beim Verdünnen mit Wasser einen mehr oder weniger starken Viskositätsanstieg der Lösung zeigt. Die Höhe und Lage des Wasserbergs ist vom chemischen Charakter des Bindemittels, seiner Molmasse, seiner Säurezahl und von der Art und Menge des Neutralisationsamins abhängig. Seine Höhe lässt sich zwar auch durch weitere Zugabe von möglichst optimalem Colöser wie Butylglykol reduzieren, aber dies führt natürlich zu einer Erhöhung des VOC-Wertes und ist somit kontraproduktiv. Für die Entstehung des Wasserbergs gibt es leicht voneinander abweichende, im Wesentlichen aber übereinstimmende Theorien, die hier nicht diskutiert werden [4, 22, 59]. In Hinblick auf die Filmbildung ist der Wasserberg – sofern überhaupt vorhanden – deshalb von Bedeutung, weil bei der Trocknung eine Aufkonzentrierung des Lackes bzw. der Bindemittellösung stattfindet und der Wasserberg somit ebenfalls durchlaufen wird. Wie in Kapitel 3 dargelegt können die dabei auftretenden Viskositätsanomalien das Ver- und Ablaufen erheblich beeinflussen. Wegen – des hohen Aminbedarfes –  des hohen Colösergehaltes bzw. „Wasserbergs“ –  der niedrigen Molmasse (nur schwache physikalische Antrocknung) und ggf. – dem schnellen hydrolytischen Abbau (Verseifung) polyesterbasierter Bindemittel bei der Lagerung der wässrigen Lösungen bzw. Lacke

Abbildung 5.13: Viskosität von organisch gelöstem Polyester, wässrig gelöstem Polyester (mit Wasserberg) und Dispersion in Abhängigkeit vom nichtflüchtigen Anteil aus [60]

sind echte Bindemittellösungen nur noch von geringer Be­deu­tung [15]. Bei fallendem Gehalt an Säuregruppen und damit Amin sowie

16 Die Säurezahl entspricht der Masse Kaliumhydroxid (KOH) in mg, die zur Neutralisation der in 1 g Substanz enthaltenen Säure(gruppen) erforderlich ist.

94

Wässrig-disperse Systeme steigender Molmasse (bis ca. 105 g mol-1) geht die echte Löslichkeit der Bindemittel gleitend in eine kolloidale Dispergierbarkeit bzw. Selbstemulgierbarkeit über. Sie kann durch interne und/oder externe Emulgatoren wie Polyetherketten bzw. Tenside unterstützt werden. Liegen stabile, kolloidale Lösungen von Klustern assozierter Bindemittelmoleküle vor, so sind die Lösungen fast klar bzw. opaleszierend. Diese – auch als Hydrogele bezeichneten Systeme – stellen den direkten moderneren Nachfolgetyp der echt löslichen Bindemittel dar 17 [4, 15]. Die Vorteile gegenüber den echt molekulardispersen Systemen sind – geringerer Colöser- und Aminbedarf – kein Auftreten eines „Wasserberges“ – bessere hydrolytische Stabilität – höhere Molmasse (bessere physikalische Antrocknung).

5.3.3 Primärdispersionen Primärdispersionen wie Reinacrylat-, Styrolacrylat-, Vinylacetat-Copolymer- und Styrol-Butadien-Dispersion werden direkt durch das Verfahren der Emulsionspolymerisation erhalten. Sie bestehen aus einer Emulgatoren (Tenside) und evtl. auch Schutzkolloide wie Polyvinylalkohol oder Cellulosederivate sowie weitere Hilfsstoffe enthaltenden Wasserphase, in der kugelförmige oder mikrostrukturierte Polymerteilchen verteilt sind. Primärdispersionen lassen sich grob folgendermaßen charakterisieren: –  – mittlere Molmasse (M    n): 105 bis 106 g mol-1 (teilweise noch höher) – mittlerer Teilchendurchmesser: 0,03 bis einige μm – nicht flüchtiger Anteil: 30 bis 60 % (teilweise noch höher) – Viskosität: fast wasserdünn bis dickflüssig (Schutzkolloide wirken verdickend) – mit steigender Teilchengröße: durchscheinend  weiß-bläulich schimmernd, nahezu undurchsichtig  völlig weiß, undurchsichtig – thermodynamisch metastabil, d.h. nicht unbegrenzt lagerfähig und bedingt empfindlich gegen chemische, mechanische und thermische Einwirkungen. Ein wesentlicher Vorteil von Polymerdispersionen gegenüber Polymerlösungen ist, dass sie trotz sehr hoher Molmassen (über 100.000 g mol-1) bei mittleren Festkörpergehalten niedrigviskos sind. Die Konzentrationsabhängigkeit der Viskosität von Dispersionen (auch z.B. Pigmentdispersionen) wird im Prinzip z.B. durch die Mooney-Gleichung beschrieben [18]:

η ηK ΦD KF KP



Gleichung 5.16

Viskosität der Dispersion Viskosität des Dispersionsmittels (Wasserphase) Volumenanteil der dispersen Phase formabhängiger Faktor (2,5 für Kugeln) Packungsfaktor (0,637 für dichtgepackte Kugeln)

17 Der Begriff „Hydrogel“ wird in der Literatur nicht einheitlich verwendet. Dies trifft in noch stärkerem Maß auf das Schlagwort „Hydrosol“ zu, das deshalb in diesem Buch nicht explizit verwendet wird.

95

Allgemeine Grundlagen zum Verständnis der Filmbildung In Hinblick auf die Filmbildung ist von dieser Gleichung nur der Nenner interessant. Nähert sich nämlich der Quotient ΦD/KP durch Aufkonzentrierung (Trocknung) der Dispersion dem Wert 1, dann steigt die Viskosität η steil an (s. Abbildung 5.13). Die Teilchensphären berühren sich und es kommt sofort zu starken Wechselwirkungen. Primärdispersionen verfilmen großenteils rein physikalisch durch Deformation und Verschweißen der Teilchen (Koaleszenz) und bilden wegen der hohen Molmassen recht stabile Filme. Auf Primärdispersionen basierende Beschichtungsstoffe heißen Dispersionsfarben und Dispersionslacke. Erstere haben PVK-Werte von 40 bis 90 %; die Anstriche der überkritischen Innenwandfarben sind porös und matt, die Filme der unterkritischen Dispersionslackfarben lackartig. Dispersionslacke haben meist PVK-Werte von unter 25 % und können als Klarlacke auch völlig unpigmentiert sein.

5.3.4 Sekundärdispersionen und Emulsionen Sekundärdispersionen sind mikroheterogene, d.h. mehr oder weniger trübe Verteilungen von Polymeren in (meistens) Wasser, die durch Eindispergieren oder evtl. schon einfaches Einrühren von zunächst wasserfrei vorliegenden Bindemitteln entstehen. Bei der Synthese oder vor der Dispergierung zur Viskositätserniedrigung des Harzes zugesetztes organisches Hilfslösemittel kann – falls gewünscht und technisch möglich – destillativ entfernt werden, wodurch völlig lösemittelfreie Dispersionen entstehen. Ist der disperse Stoff, d.h. das Bindemittel, flüssig, spricht man auch von einer Emulsion. Im weiteren Sinne werden die Emulsionen also zu den Dispersionen gerechnet, zumal viele Bindemittel im dispersen Zustand halbfest, d.h. weder rein flüssig noch rein fest vorliegen. Sekundärdispersionen haben deutlich kleinere Molmassen als Primärdispersionen, da das Polymer dispergierbar sein muss. Bezüglich vielerlei Eigenschaften liegen die Sekundärdispersionen zwischen den kolloidalen Lösungen (Hydrogelen) und den groben Primärdispersionen, wobei eine scharfe Abgrenzung zu den kolloidalen Lösungen nicht möglich und sinnvoll ist. Je nach Hydrophilie der Moleküle können thermodynamisch stabile, amin-neutralisierte, nahezu klare Produkte bis mehr oder weniger milchige, emulgator-haltige, grobteiligere Systeme mit oft begrenzter Lagerstabiliät vorliegen. Letztere enthalten häufig weitere Hilfskomponenten wie Schutzkolloide oder organische Lösemittel.

5.4

Diffusion

Unter Diffusion versteht man die durch eine Konzentrationsdifferenz ausgelöste Wanderung eines gelösten Stoffes innerhalb einer Lösung bzw. die selbstständige Vermischung eines Stoffes mit einem angrenzenden anderen. Beispiele sind die allmähliche Ausbreitung eines in ruhendem Wasser befindlichen Tintentropfens oder die Aufquellung eines Lackfilms durch darauf getropftes Lösemittel. Die Diffusionsgeschwindigkeit wird in der physikalischen Chemie durch den flächenbezogenen Stoffmengenstrom angegeben, klassisch auch Molenstromdichte genannt. Sie ist proportional dem Konzentrationsgefälle bzw. der negativen Konzentrationssteigung – (dc/dx) des diffundierenden Stoffes mit dem Diffusionskoeffizienten D als Proportionalitätsfaktor. Die entsprechende Gleichung heißt erstes Ficksches Gesetz:

 

96

Gleichung 5.17 (Legende s. S. 97)

Diffusion j . n A Δc Δx D

flächenbezogener Stoffmengenstrom (Molenstromdichte) Stoffmengenstrom (Molenstrom) dn/dt Flächenausschnitt, durch den die Diffusion stattfindet Konzentrationsdifferenz (in mol l-1) Strecke, über die die Konzentrationsdifferenz existiert Diffusionskoeffizient

Das Rundungszeichen weist darauf hin, dass das integrale Gefälle mit dem differenziellen (lokalen) nicht genau übereinstimmt, da das Konzentrationsprofil c(x) i.d.R. nicht streng linear

Abbildung 5.14: Diffusion von Lösemittel in einem Lackfilm bei physikalischer Trocknung (Bedeutung der Größen s. Gleichung 5.17)

97

Allgemeine Grundlagen zum Verständnis der Filmbildung ist. Außerdem ist statt der Konzentrationsdifferenz genau genommen die Aktivitätsdifferenz einzusetzen. Für praxisbezogene Betrachtungen bzw. Abschätzungen reicht die obige vereinfachte Darstellung jedoch aus. Bei gegebenem Konzentrationsgefälle wird die Diffusionsgeschwindigkeit also durch den Diffusionskoeffizienten ausgedrückt. Für verdünnte Lösungen gilt R T NA fR



Gleichung 5.18

allgemeine Gaskonstante (8,314 Nm mol-1 K-1) absolute Temperatur (Kelvin-Temperatur) Avogadrosche Konstante (6,022×1023 mol-1) Reibungswiderstand eines Moleküls des diffundierenden Stoffes

Der Reibungswiderstand fR ist der Quotient F/v aus Reibungskraft und Wanderungsgeschwindigkeit und proportional der Viskosität und dem effektiven (äquivalenten) Molekülradius: fR = 6 π η reff. Große Moleküle diffundieren also langsamer als kleine. Und da in Gleichung 5.18 der Zähler mit T steigt und im Nenner η und damit fR mit T fällt, nimmt die Diffusionsgeschwindigkeit mit steigender Temperatur stark zu. In Hinblick auf die Diffusionsgeschwindigkeit von z.B. Lösemittel oder die Interdiffusion von Polymermolekülen in einem thermoplastischen oder allenfalls schwach vernetzten Polymer(film) spielt das freie Volumen die entscheidende Rolle. Die vielen submikroskopischen Hohlräume in der Polymermasse machen diese durchlässiger für Moleküle bzw. Molekülkettenenden. Rein empirisch findet man, dass die Diffusionsgeschwindigkeit mit dem freien Volumen und dieses wiederum mit der Differenz T – Tg, d.h. mit T bei konstanter Tg (s. Kapitel 5.1.8 und Anhang 2), steigt. Tg stellt eine markante Grenze dar. Sie trennt den Glaszustand mit sehr hoher Viskosität und sehr kleinem Diffusionskoeffizienten vom viskoelastischen Zustand mit um Größenordnungen niedrigerer Viskosität und entsprechend hohem Diffusionskoeffizienten ab, wobei diese Trennung aber nicht sprunghaft, sondern gleitend über die Breite des Glasübergangsbereiches erfolgt. In Abbildung 5.14 ist die Diffusion von Lösemittel oder Wasser innerhalb eines trocknenden Bindemittelfilms schematisch dargestellt. Die Diffusion ist bei verschiedenen Teilvorgängen der Filmbildung von großer Bedeutung, so bei der Lösemittelverdunstung aus einem Nassfilm, bei Vernetzungsreaktionen und bei der Verfilmung von Dispersionen.

5.5 Grundprinzipien organisch-chemischer Reaktionen 5.5.1 Allgemeines Das Gros der Beschichtungen liegt chemisch gehärtet, d.h. in Form von durch chemische Reaktionen entstandenen Polymernetzwerken vor. Zum Verständnis des Härtungsverlaufes sind vor allem folgende Aspekte zu betrachten, die miteinander eng zusammenhängen: – Chemisch-mechanistische Details: liefern Aussagen zur Reaktionsfähigkeit von Molekülen bzw. ihrer funktionellen Gruppen. 98

Grundprinzipien organisch-chemischer Reaktionen – Chemisch-kinetische Parameter: beschreiben den zeitlichen Ablauf von Reaktionen, hier speziell von Vernetzungsreaktionen. – Molekular-strukturelle Betrachtungen: liefern bildliche Modellvorstellungen von den geometrischen (topologischen) Veränderungen im Film während der Vernetzung. Thermochemische Überlegungen spielen im Gegensatz zur Bindemittelsynthese bei der Filmbildung nur eine untergeordnete Rolle, da Reaktionswärmen aus dem dünnen, großflächigen Lackfilm schnell abgeleitet werden und in der Gesamt-Wärmebilanz quasi untergehen (s. Kapitel 4.1). Organisch-chemischen Reaktionen lassen sich gemäß dem Charakter der reaktiven Zwischenstufen in drei Klassen einteilen: – polare Reaktionen (ionische Reaktionen, heterolytische Reaktionen) – radikalische Reaktionen (Radikalreaktionen, homolytische Reaktionen) – pericyclische Reaktionen. Vorbemerkung zur Schreibweise von Strukturformeln: Organische Moleküle und damit auch Bindemittelmoleküle bestehen im Wesentlichen aus chemisch kaum reaktiven, ketten- oder ringförmigen Teilen und sog. funktionellen Gruppen als reaktive Einheiten (Atomgruppen). Die nicht reaktiven Anteile werden in Strukturformeln meist als „R“ oder – in der Bindemittelchemie – als Wellenlinien geschrieben, je nachdem, ob es sich um kurze bzw. längere Abschnitte handelt. Für viele Zwecke reicht es sogar aus, einbindige Reste bzw. Molekülteile zu Gunsten noch größerer Übersichtlichkeit gar nicht mitzuschreiben, sondern nur die Bindungen zu diesen Molekülteilen als freie Bindestriche zu notieren. Zick-Zack-Linien stehen in der modernen Notation für Kohlenwasserstoff-Ketten, wobei an jedem Knick und jedem freien Ende ein Kohlenstoffatom (C) sitzt; Wasserstoffatome (H), die bis zur Vierbindigkeit des Kohlenstoffs vorhanden sind, werden der Übersichtlichkeit wegen in diesen Formeln nicht mitgeschrieben. Dort wo gewünscht, dürfen in den Zick-ZackKetten die C- und H-Atome zwecks besonderer Hervorhebung explizit notiert werden. Heteroatome, d.h. Nicht-C-Atome, müssen natürlich – nebst anhängenden weiteren Atomen – durch ihr Elementsymbol notiert werden, da man sie ja sonst nicht als solche erkennt. In diesem Buch werden Strukturformeln nur dort in der „Zick-Zack-Form“ geschrieben, wo das Formelbild sonst zu unübersichtlich bzw. voluminös wäre.

5.5.2

Grundsätzliches zum Ablauf organisch-chemischer Reaktionen

Bei allen chemischen Reaktionen werden Bindungen der Edukte (Ausgangsstoffe) gespalten und neue Bindungen unter Bildung der Produkte gebildet. Die meisten chemischen Reaktionen verlaufen über mehrere Einzelschritte, sog. Elementarreaktionen, welche eine Bindungsspaltung, eine Bindungsbildung oder Beides umfassen. Dabei entstehen instabile Zwischenstoffe, auch reaktive Zwischenstufen genannt. Die Elementarreaktionen sind im Prinzip immer umkehrbar (reversibel), werden jedoch als „irreversibel“ bezeichnet, wenn sie praktisch nur nach rechts verlaufen, d.h. die jeweilige Rückreaktion sehr langsam ist. Laufen dagegen sowohl die Hin- als auch die Rückreaktion merklich schnell ab, so liegt ein chemisches Gleichgewicht zwischen den beteiligten Zwischenstoffen vor, was man in Reaktionsgleichungen durch einen Doppelpfeil notiert. Chemische Gleichgewichte sind eigentlich 99

Allgemeine Grundlagen zum Verständnis der Filmbildung quasistatische Zustände; sie streben zumindest einen Ruhezustand an. Bei ständiger Neubildung und Weiterreaktion einzelner beteiligter Stoffe (Reaktanden), was in Reaktionsfolgen der Fall ist, sind die Gleichgewichte jedoch gestört und werden dann auch Fließgleichgewichte genannt. Als Beispiel für einen sog. Reaktionsmechanismus, d.h. die Abfolge der Elementarreaktionen einer Gesamtreaktion (Brutto-Reaktion), sei die Reaktion eines Eduktes (ED) zu einem Haupt- (PH) und einem Nebenprodukt (PN) über zwei Zwischenstufen (Z1, Z2) betrachtet:



Die erste Elementarreaktion bildet hier ein sog. vorgelagertes Gleichgewicht aus; Z1 wird schnell gebildet (was nicht immer der Fall sein muss) und liegt in praktisch konstanter Konzentration vor. Die Folgeschritte sind irreversibel, d.h. die Gleichgewichte liegen praktisch vollständig auf der Produktseite, da die Rückreaktionen jeweils extrem langsam sind. Der Schritt von Z1 zu Z2 ist häufig der langsamste, d.h. der geschwindigkeitsbestimmende Schritt. Das Verhältnis, mit dem PH und PN gebildet werden, entspricht dem Verhältnis der Reaktionsgeschwindigkeiten der beiden Konkurrenzreaktionen von Z2. Während jeder Elementarreaktion wird von der Gesamtheit der am jeweiligen Reaktionsschritt beteiligten Moleküle ein Energiemaximum durchlaufen, an dem die Moleküle in Form eines sog. aktivierten Komplexes oder Übergangszustandes vorliegen. Die Höhe des Energiemaximums in Bezug auf die Edukte bzw. Produkte der jeweiligen Elementarreaktion heißt Aktivierungsenergie Ea der Hin- bzw. Rückreaktion. Abbildung 5.15 zeigt das qualitative Energieprofil des oben notierten Reaktionsmechanismus. Die wichtigsten zum Verständnis des Ablaufes chemischer Reaktionen benötigten allgemeinen Zusammenhänge bzw. Fakten lauten: –  Eine Elementarreaktion verläuft umso schneller, je niedriger ihre Aktivierungsenergie ist. – Die Hin- und Rückrichtung einer Elementarreaktion haben i.d.R. unterschiedliche Aktivierungsenergien. Die Differenz der Aktivierungsenergien bestimmt die Lage des Gleichgewichtes der Elementarreaktion. – Das Gleichgewicht stellt sich umso schneller ein, je niedriger die beteiligten Aktivierungsenergien sind. – Die langsamste Elementarreaktion eines Reaktionsmechanismus (Folge von Elementarreaktionen) bestimmt im Wesentlichen die Geschwindigkeit der Gesamtreaktion (geAbbildung 5.15: Energieprofil des im Text schwindigkeitsbestimmender Schritt). erläuterten Reaktionsmechanismus (Ü1…4 Übergangszustände; Ea+, Ea– Aktivierungsenergie von Hin- bzw. Rückreaktion, entsprechend auch für übrige Elementarreaktionen)

100

Ein weiterer fundamentaler Begriff ist Reaktionsmolekularität. Hierunter versteht man

Grundprinzipien organisch-chemischer Reaktionen die Anzahl Moleküle, die bei der langsamsten, d.h. geschwindigkeitsbestimmenden Elementarreaktion zusammentreffen müssen. Je nachdem, ob ein Molekül aus sich selbst heraus reagiert oder mit einem bzw. zwei weiteren Molekülen den aktivierten Komplex bildet, spricht man von einer mono- (uni-), bi- bzw. trimolekularen Reaktion.

5.5.3

Chemische Kinetik

Liegt eine Reaktion der Edukte bzw. reaktiven Gruppen A, B usw. zu Produkten bzw. Gruppen C, D usw. vor, so wird die Reaktionsgeschwindigkeit r durch 



Gleichung 5.19

Konzentration (in mol l-1) [ ] α, ß Exponenten (meist ganzzahlig incl. null) kR Geschwindigkeitskonstante ausgedrückt. Die Summe der Exponenten α + ß + … heißt Ordnung der Reaktion. Die Ordnung ist häufig gleich der Molekularität der geschwindigkeitsbestimmenden Elementarreaktion der Gesamtreaktion. Wie man sieht, ist die Reaktionsgeschwindigkeit umso höher, je konzentrierter die Edukte bzw. reaktiven Gruppen sind. Während der Reaktion steigt die Konzentration der Produkte. Ist die Gesamtreaktion nun umkehrbar, so steigt damit entsprechend Gleichung 5.19 (Produkte sind Edukte der Rückreaktion) die Reaktionsgeschwindigkeit der Rückreaktion stetig an, bis die immer langsamer werdende Hin- und die immer schneller werdende Rückreaktion gleich schnell sind. Es liegt nun ein dynamisches Gleichgewicht, das sog. chemische Gleichgewicht vor, d.h. die Konzentrationen aller Stoffe bzw. reaktiver Gruppen sind zeitlich konstant. Dieses Gleichgewicht wird durch das Massenwirkungsgesetz (MWG) beschrieben:



Gleichung 5.20

K Gleichgewichtskonstante α, β, … Einzelreaktionsordnungen der Hinreaktion γ, δ, … Einzelreaktionsordnungen der Rückreaktion Der Wert der Gleichgewichtskonstante K ist von der Reaktivität aller beteiligten Stoffe bzw. Gruppen (Reaktanden, d.h. Edukte und Produkte) und der Temperatur abhängig. (Die Druckabhängigkeit ist nur bei Gasreaktionen interessant.) Die Temperaturabhängigkeit lässt sich qualitativ gut durch das Prinzip vom kleinsten Zwang (Le Chatelier und Braun) erklären: – Das Gleichgewicht einer exothermen Reaktion wird durch Temperaturerhöhung nach links, d.h. zu den Edukten, das Gleichgewicht einer endothermen Reaktion nach rechts, d.h. zu den Produkten verschoben. 101

Allgemeine Grundlagen zum Verständnis der Filmbildung Beobachten kann man das z.B. bei Polymeren: Eine Polymerisation ist immer exotherm. Daher führt starkes Erhitzen eines Polymerisates zu einer Verschiebung des bei Raumtemperatur ganz rechts (beim Polymer) liegenden Polymerisationsgleichgewichtes nach links, d.h. hin zu den Monomeren; es kommt zu einer (partiellen) Depolymerisation. Die Temperatur, ab der das merklich beginnt, heißt Ceiling-Temperatur. Gemäß Gleichung 5.19 ist die Reaktionsgeschwindigkeit außer durch die Konzentrationen der Edukte direkt durch die Geschwindigkeitskonstante kR bestimmt. Letztere lässt sich gemäß der Arrhenius-Gleichung A Ea R T



Gleichung 5.21

präexponentieller Faktor molare Aktivierungsenergie allgemeine Gaskonstante (8,314 J mol-1 K-1) absolute Temperatur (Kelvin-Temperatur)

auf die Aktivierungsenergie der Reaktion bzw. der geschwindigkeitsbestimmenden Elementarreaktion zurückführen. A ist die Geschwindigkeitskonstante bei quasi unendlich hoher Temperatur. Als Anwendung der Gleichung sei die Beschleunigung einer Reaktion durch 10 K Temperaturerhöhung ab 300 K (27 °C) bei drei verschiedenen Aktivierungsenergien betrachtet:

Die Ergebnisse stimmen mit der empirischen Beobachtung überein, dass sich die Reaktionsgeschwindigkeit der meisten chemischen Reaktionen bei Temperaturerhöhung um 10 K verdoppelt bis vervierfacht. Man sieht ferner, dass der Temperatureinfluss mit fallender Aktivierungsenergie immer schwächer wird. Die Deutung gewisser Phänomene bzw. Beobachtungen bei chemischen Reaktionen erfordern noch eine weitere Verfeinerung der Theorie. Durch Eyring ist die Arrhenius-Gleichung auf der Basis der statistischen Thermodynamik neu gedeutet worden. Die EyringGleichung lautet:



kR Geschwindigkeitskonstante kB Boltzmann-Konstante (8,381·10-23 J K-1) h Plancksches Wirkungsquantum (6,626·10-34 J s) ΔSm ≠ molare Aktivierungsentropie ΔHm ≠ molare Aktivierungsenthalpie

102

Gleichung 5.22

Grundprinzipien organisch-chemischer Reaktionen Durch Vergleich mit der Arrhenius-Gleichung (5.21) unter Berücksichtigung der van’t Hoffschen Reaktionsisobare [∂(lnK)/∂T]p = ΔHm/(RT2) (s. Lehrbücher der Physikalischen Chemie) ergibt sich folgende Zuordnung: Eine Elementarreaktion verläuft demnach schnell, wenn die Aktivierungsenthalpie (Aktivierungsenergie) klein und die Aktivierungsentropie groß ist. Die Aktivierungsentropie ist die Zunahme an molekularer Unordnung auf dem Weg von den Edukten bzw. dem Edukt (der Elementarreaktion) zum Übergangszustand. Da der Übergangszustand geordneter ist als die frei beweglichen Edukt-Moleküle, ist die Aktivierungsentropie negativ. Eine große Aktivierungsentropie bedeutet somit im mathematischen Sinn eine wenig negative Aktivierungsentropie, was einer nur geringen Zunahme der Ordnung entspricht. Anders formuliert: Annahme: Aktivierter Komplex sehr viel „geordneter“ als Ausgangsmoleküle  starker Entropieverlust bei der Aktivierung, d.h. stark negative Aktivierungsentropie  kleiner Wert für A  kleiner Wert für Geschwindigkeitskonstante k (langsame Reaktion) aber: Starke Beschleunigung der Reaktion durch Temperaturerhöhung, wenn Ea groß ist. Beispiel: 1K-Einbrennlacke dürfen bei Raumtemperatur zu Gunsten einer guten Lagerbeständigkeit nur extrem langsam reagieren, müssen bei möglichst niedriger Einbrenntemperatur dann aber schnell aushärten. Um dies zu erreichen, ist ein hoher Wert für A und für Ea anzustreben: – Der große Faktor A (nur geringer Ordnungszuwachs bei der Aktivierung) sorgt grundsätzlich für eine schnelle Reaktion. – Ein großer Werte von Ea bringt eine starke Temperaturabhängigkeit der Reaktionsgeschwindigkeit mit sich: Bei Raumtemperatur ist der Exponentialterm so klein, dass die Reaktion (trotz des großen A) praktisch nicht abläuft. Bei hoher Temperatur ist er dagegen so groß, dass die Vernetzungsreaktion – unterstützt durch das große A – jetzt schnell abläuft. Leider sind die geschwindigkeitsbestimmenden Schritte der Vernetzungsreaktionen i.d.R. bimolekular und haben somit tendenziell niedrige A-Werte. Durch Übergang zu blockierten Vernetzern oder blockierten Katalysatoren kann man die Reaktionen evtl. aber kinetisch in Richtung Monomolekularität drängen und dadurch die A-Faktoren erhöhen [22].

5.5.4

Polare Reaktionen

Bei chemischen Reaktionen werden Bindungen gebrochen und i.d.R. andere neu gebildet. Dieser Bindungsbruch kann homolytisch unter Bildung von Radikalen (s. Kapitel 5.5.5) oder heterolytisch erfolgen:



heterolytische Bindungsspaltung (Heterolyse) N-E polares Molekül (bzw. polare Bindung darin) δ(-), δ(+) Partialladungen 103

Allgemeine Grundlagen zum Verständnis der Filmbildung Die Bruchstücke können, falls die Ausgangsmoleküle Ladungen tragen, auch ungeladen sein. Die Partialladungen deuten den dipolaren Charakter der Bindung an, der aus den unterschiedlichen Elektronegativitäten der direkt gebundenen oder – über den induktiven Effekt (I-Effekt) – benachbarten Atome resultiert (s. Lehrbücher der Organischen Chemie). Das Bruchstück mit dem freien Elektronenpaar ist ein sog. Nucleophil, d.h. ein kernsuchendes (nucleophiles) Teilchen, wobei mit „kern …“ ein vollständig oder partiell positiv geladenes Atom (eines Moleküls) gemeint ist. Das Nucleophil schlägt dann – gewissermaßen in Umkehrung der Spaltungsreaktion – mittels seines Elektronenpaares eine neue Bindung zum positiven Reaktionspartner. Das positive Bruchstück, das Elektrophil, sucht sich ein negatives bzw. elektronenreiches Atom zur Bindungsneubildung; es ist elektronensuchend (elektrophil). Nach diesem Grundmuster verlaufen im Prinzip alle polaren bzw. ionischen organischen Reaktionen. Durch die unterschiedlichen Möglichkeiten der Ladungs- und Elektronenverschiebungen, häufig in Kombination mit Mesomerie (siehe Kapitel 7.2.1), haben die Reaktionsmechanismen jedoch häufig ein kompliziertes Formelbild. Ferner gibt es mehrere Regeln bzw. Prinzipien, die man beim Interpretieren bzw. Formulieren von Reaktionsmechanismen beachten muss (s. Lehrbücher der organischen Chemie). Polare Reaktionen sind der häufigste Reaktionstyp der organischen Chemie. Sie werden begünstigt bzw. ausgelöst und ggf. beschleunigt durch – starke Polaritäten (polarisierte Bindungen) und/oder ersatzweise – gute Polarisierbarkeiten von Bindungen in den Edukten – polare Lösemittel – ionische oder ionenbildende bzw. stark elektro- oder nucleophile Zusätze (Lewissäuren und -basen) zum Reaktionsgemisch. Letztere heißen Katalysatoren, wenn sie bei der Reaktion formal nicht verbraucht werden, und Beschleuniger bzw. Initiatoren, wenn sie bei der Reaktion mit abreagieren.

5.5.5

Radikalische Reaktionen

Radikalische Reaktionen beginnen häufig durch homolytische Spaltung (Homolyse) von Bindungen: R1 – R2  R1• + R2• homolytische Bindungsspaltung (Homolyse) R1•, R1• Radikale Die Homolyse kann durch hohe Temperatur, d.h. starke Schwingungen der gebundenen Atome, oder durch Einfang von Strahlung erfolgen. Letztere kann elektromagnetischer (Licht, UV-, Gammastrahlung) oder korpuskularer Natur (Elektronenstahlung) sein. Die entstehenden Radikale sind neutrale oder evtl. auch geladene Moleküle (Radikalionen) mit mindestens einem ungepaarten Elektron. Sie sind i.d.R. sehr energiereich und damit reaktiv, da sich das Elektron „paaren“ möchte. Radikale können u.a. folgendermaßen reagieren: R• + A–B  R–A + B• R• + A=B  R–A–B• R• + S•  R–S 104

Grundprinzipien organisch-chemischer Reaktionen Die im ersten und zweiten Fall entstehenden Sekundärradikale reagieren meist schnell weiter, wodurch es häufig zu Kettenreaktionen kommt. Das wichtigste Beispiel für diesen Reaktionstyp ist die radikalische Polymerisation, die auch als Härtungsreaktion von großer Bedeutung ist (s. Kapitel 10). Im dritten Fall liegt eine Radikalkombination vor. Dabei geht die Anregungsenergie beider Radikale verloren und die Reaktionskette bricht ab. Ein wichtiges, relativ energiearmes, aber allgegenwärtiges Radikal, das Radikalreaktionen – je nach Reaktionsbedingungen und Reaktionspartnern – stoppen oder auslösen kann, ist das Sauerstoffmolekül O2. Es ist im elektronischen Grundzustand ein Diradikal: •OO•. Auf der radikalischen Reaktion mit Sauerstoff basiert u.a. die oxidative Trocknung (Vernetzung) von Ölen, Alkydharzen und anderen Filmbildnern (s. Kapitel 7). Radikalreaktionen werden begünstigt bzw. ausgelöst durch – gute elektronische Stabilisierung des Radikalzustandes (Mesomerie) – hohe Temperaturen (über ca. 250 °C) – kurzwellige Strahlung (UV, blaues Licht) – unpolare Lösemittel – angreifende Radikale bzw. Radikalbildner (radikalische Initiatoren) wobei nicht alle Bedingungen gleichzeitig erfüllt sein müssen.

5.5.6

Pericyclische Reaktionen

Dieser Reaktionstyp spielt in der Filmbildungschemie nahezu keine Rolle. Er kann jedoch evtl. für zukünftige Entwicklungen auf diesem Gebiet interessant werden und sei hier deshalb kurz erläutert. Bestimmte Moleküle mit einer oder mehreren Doppelbindungen können bei hoher Temperatur oder fotochemischer Anregung leicht intra- oder intermolekulare Reaktionen eingehen, bei denen in einem Elementarschritt über einen ringförmigen Übergangszustand eine Bindungsverschiebung (Elektronenpaar-Verschiebung) stattfindet. Da man hier weder radikalische noch ionische Zwischenzustände feststellen kann, liegt offenbar ein separates Reaktionsprinzip vor. Die treibende Kraft ist dabei der Übergang energiereicherer π- in energieärmere σ-Bindungen 18, d.h. von Doppel- in Einfachbindungen. In der Lackchemie ist die Diels-Alder-Reaktion, auch Diensynthese oder [4+2]-Cycloaddition genannt, von relativ größter Bedeutung. Dabei reagiert eine Doppelbindung eines Moleküls, des Dienophils, bei hoher Temperatur (Symbol: Δ) mit zwei konjugierten Doppelbindungen eines zweiten Moleküls, des Diens, unter Ausbildung eines Sechsringes, z.B. Dien Dienophil Diels-Adler-Addukt (z.B. Fettsäurekette) (hier: Maleinsäure anhydrid) 18 Eine Doppelbindung besteht aus einer stabileren (energieärmeren) σ- und einer schwächeren (energier­eicheren) π-Bindung.

105

Allgemeine Grundlagen zum Verständnis der Filmbildung Beispiele für Diels-Alder-Reaktionen aus der Lackchemie sind die Umsetzung ungesättigter Bindemittel mit Maleinsäureanhydrid, die Dimerisierungen von ungesättigten Fettsäuren bzw. Fettsäureketten und die Addition von trocknenden Ölen an Resole (über Chinonmethide).

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Physikalische Trocknung aus Lösungen

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Physikalische Trocknung

In Kapitel 3.2 bis 3.4 wurde bereits der Einfluss der Lösemittelverdunstung bzw. Filmeindickung auf die Nassfilmausbildung betrachtet. In Kapitel 4.1 und 4.2 folgten physikalischtechnische Aspekte zur Trocknung, insbesondere zum Eintrag von Wärme in die Lackschicht bzw. in das Lackierobjekt, und in Kapitel 5.2 ist bereits viel Grundsätzliches über Lösemittel und Polymer- bzw. Bindemittellösungen gesagt worden, wobei besonders an die WLF-Gleichung (Gleichung 5.7) und Abbildung 5.8 erinnert sei. Die folgenden Erläuterungen sind deshalb in Zusammenhang mit diesen Kapiteln zu sehen. Ferner bezieht sich das Folgende nicht nur auf die vollständige physikalische Trocknung von Filmen, sondern teilweise auch auf die Antrocknung vor einer Härtung.

6.1

Physikalische Trocknung aus Lösungen

6.1.1 Lösemittelübergang Film-Umgebungsluft und Wärmebilanz Gleichung 4.1 stellt die allgemeine Wärme-Transportgleichung für den Wärmeübergang dar. Alle speziellen Informationen des konkret vorliegenden Prozesses stecken im Wärmeübergangskoeffizienten α. Eine völlig analoge Gleichung kann man auch für den Stoffübergang formulieren, womit hier speziell der Lösemitteldampfstrom aus der Nassfilmoberfläche in das Innere der angrenzenden Gasphase (Umgebungsluft, Trocknerluft) gemeint ist: D βn cD,F cD,L



Gleichung 6.1

Stoffmengenstrom (Molenstrom) über die Fläche A Stoffübergangskoeffizient (in molarer Form) Dampfkonzentration (n/V) an der Filmoberfläche Dampfkonzentration im Innern der umgebenden Luft

Betrachtet man den Lösemitteldampf näherungsweise als ideales Gas, so kann man mittels p = c R T die Konzentration durch den Druck ersetzen: pD,F pD,L



Gleichung 6.2

Dampfdruck an der Filmoberfläche Dampfdruck im Innern der Umgebungsluft

Für eine schnelle Verdunstung ist also der Lösemitteldampfdruck in der Umgebungs- bzw. Trocknerluft niedrig zu halten; in freier Atmosphäre ist er im Fall organischer Lösemittel praktisch Null. Der Wasserdampfdruck in der Luft ist gemäß p = ps φ / 100 % (φ relative Luftfeuchtigkeit in %, ps Sättigungsdampfdruck) hingegen endlich und von deutlichem EinMischke/Strehmel: Filmbildung in modernen Lacksystemen, 2. Auflage © Copyright: 2018 Vincentz Network GmbH & Co. KG, Hannover

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Physikalische Trocknung fluss auf die Verdunstungsgeschwindigkeit. Je feuchter die Luft, desto langsamer ist die Wasserverdunstung. Da pro Mol verdampften Lösemittels die molare Verdampfungsenthalpie ΔvHm zuzuführen ist, gilt für den notwendigen Verdampfungswärmestrom 



Gleichung 6.3

Nun werde vereinfacht angenommen, dass Quasistationarität, d.h. nahezu zeitliche Konstanz aller Parameter während eines endlichen Zeitintervalls herrscht und dieser Wärmestrom entsprechend Gleichung 4.1 ausschließlich durch den Wärmeübergang aus der Luft in die Film­ oberfläche eingebracht wird: ϑL ϑF

Temperatur im Innern der Umgebungsluft Temperatur der Filmoberfläche

Durch Vereinigung dieser Gleichung mit den Gleichungen 6.2., 6.3 erhält man dann



Gleichung 6.4

die besagt, dass der flächenbezogene Lösemitteldampfstrom (Molenstromdichte) n· /A mit steigendem Wärmeübergangskoeffizienten α und steigender Temperaturdifferenz zwischen Umgebungsluft und Nassfilmoberfläche zunimmt und der Verdampfungsenthalpie ΔvHm umgekehrt proportional ist. Auch hier fällt Wasser aus dem Rahmen: Seine Verdampfungsenthalpie ist um ein Mehrfaches höher als die von organischen Lösemitteln, was die wesentliche Ursache der hohen Verdunstungszahl von 80 gegenüber z.B. 6,1 von Toluol (Sdp. 111 °C) ist. Wie in Kapitel 4.1 erläutert wurde, steigt α mit zunehmender Strömungsgeschwindigkeit der Luft. Der Vergleich von Gleichung 6.1 mit dem ersten Fickschen Gesetz (Gleichung 5.17) zeigt weiterhin, dass βn formal dem Quotienten D/Δx entspricht, d.h. der Diffusionsschichtdicke Δx umgekehrt proportional ist. Letztere fällt aber mit steigender Strömungsgeschwindigkeit, was zur Verstärkung des Dampf-Diffusionsstromes, d.h. ebenfalls zur Beschleunigung der Trocknung führt. Die Zusammenfassung der gewonnenen Ergebnisse lautet in qualitativer Form: Die physikalische Trocknung verläuft umso schneller, je –– höher die Luftströmungsgeschwindigkeit –– höher die Temperaturdifferenz zwischen Umgebungsluft und Filmoberfläche –– höher die Differenz zwischen dem Lösemittel- bzw. Wasserdampfdruck in der Umgebungsluft und an der Filmoberfläche –– niedriger die Verdampfungsenthalpie bzw. flüchtiger das Lösemittels ist. Es muss allerdings betont werden, dass die aufgezählten Größen, insbesondere die thermischen, voneinander abhängen, d.h. sich gegenseitig in komplizierter Weise beeinflussen. So führt z.B. eine niedrigere Verdampfungenthalpie zu einem höheren Dampfdruck bzw. einer 108

Physikalische Trocknung aus Lösungen höheren Flüchtigkeit, wodurch sich die Filmoberfläche – besonders bei starker Luftströmung – stärker abkühlt, was den Dampfdruck senkt und die Verdunstung verlangsamt, aber zugleich den Wärmeübergang verstärkt, usw. Je nachdem, welche Effekte überwiegen, fällt das Gesamtergebnis sehr verschieden aus. Rein experimentell kann man feststellen, dass das Abblasen von sehr flüchtigen Flüssigkeiten zu einer starken Abkühlung führt, was man jargonartig mit dem Begriff Verdunstungskälte umschreibt. Die anfangs sehr schnelle Verdunstung bremst sich sozusagen durch Abkühlung der Oberfläche selbst aus, wodurch die Differenz zwischen Film- und Lufttemperatur und damit die Wärmezufuhr ansteigt und der Prozess sich der Stationarität nähert. Die Abkühlung der Lackoberfläche kann zum negativen Effekt des Weißanlaufens führen. Unter Weißanlaufen versteht man die Erscheinung, dass sich die Oberfläche sehr schnell trocknender Lackfilme – besonders solcher auf Basis von Cellulosenitrat und Niedrigsiedern – unter den Taupunkt der Luftfeuchtigkeit abkühlt, wodurch es nach der Kondensation zur Einlagerung feiner Wassertröpfchen in die Filmoberfläche kommt. Nach dem Verdunsten des Wassers verbleiben kleine, eine weiße Lichtstreuung verursachende Hohlräume in der Filmoberfläche. Durch eine Optimierung der Trocknungsparameter und der Lösemittelzusammensetzung kann das Weißanlaufen verhindert werden. Besonders wirksam ist der Zusatz polarer, nur mäßig flüchtiger und relativ hygroskopischer Lösemittel wie z.B. Butanol, die zunächst die Verträglichkeit des Lackes mit Wasser erhöhen und letzteres dann durch Azeotrop-Bildung (s. Kapitel 5.2.1.2) schnell aus dem Film ausschleppen [17, 61]. Auch Aromaten wie z.B. Xylol oder Toluol haben eine gute Schleppwirkung, sind aber aus toxikologischen Gründen meistens unerwünscht.

6.1.2

Zeitlicher Verlauf des Trocknungsprozesses

6.1.2.1 Verdunstung, Diffusion und Lösemittelretention

In Abbildung 6.1 a und b ist der zeitliche, experimentell ermittelte Massenverlust eines physikalisch trocknenden Klarlackfilms dargestellt [62]. Aus der logarithmischen Darstellung (s. Abbildung 6.1 b) erkennt man sehr gut den asymptotischen Verlauf der Trocknung bei hohen Zeiten. Die Trocknung war erst nach 18 Wochen vollständig, was man daran erkannte, dass durch Tempern des Films bei 100 °C kein weiterer Massenverlust auftrat; eine bleibende Lösemittelretention (s.u.) lag also nicht vor. Abbildung 6.2 zeigt zum Vergleich drei theoretische Trocknungskurven, die unter verschiedenen Annahmen erhalten werden. Kurve 1 stellt die zeitliche Verringerung der Masse einer 20 %-igen Bindemittellösung dar, wobei die auf die Angangsfilmmasse bezogene Verdunstungsrate mit konstant (minus) 1 % min-1 angesetzt wurde. Für Kurve 2 wurde als erste Annäherung an die Realität modellhaft angenommen, dass die relative Verdunstungsrate stets proportional dem Volumenanteil des Lösemittels im Film ist: dm, dmLM Masseänderung des Films bzw. Lösemittlels m·  LM,0 Verdunstungsrate des Lösemittels zu Beginn (-1 % min-1) VLM, VBM Volumen des Löse- bzw. Bindemittels (Dichten gleichgesetzt) dt Zeitdifferential (0,8 für 80 % Lösemittelanteil) 109

Physikalische Trocknung In Kurve 3 ist zusätzlich die diffusionsbedingte Verzögerung der Trocknung inklusive der Lösemittelretention (s.u.) qualitativ mitberücksichtigt. Man beachte, dass die Zeitachse logarithmisch skaliert ist. So benötigt die Lösemittelverdunstung bei Kurve 2 (keine Diffusionskontrolle) von 10 bis 1 g Restlösemittel (auf 20 g Bindemittel) rund 45 Minuten, was aus der Abbildung nicht direkt ersichtlich ist. Bei sehr hohem Lösemittelgehalt des Nassfilms, d.h. bei weit über 50 Ma.-%, ist die Verdunstungsgeschwindigkeit des Lösemittels fast so hoch wie die des reinen Lösemittels, d.h.

a

b Abbildung 6.1: Zeitlicher Trocknungsverlauf eines Cellulosenitrat-Klarlackes. a) Zeitskala linear b) Zeitskala logarithmisch (in Anlehnung an [62])

110

Physikalische Trocknung aus Lösungen durch die Verdunstungszahl gegeben. Mit zunehmendem Bindemittelgehalt macht sich erstens die „Verdünnung“ des Lösemittels durch das Bindemittel bremsend bemerkbar, und zweitens wird die Nachdiffusion des Lösemittels aus der Tiefe des Films immer langsamer, bis sie schließlich geschwindigkeitsbestimmend ist. Durch die Trocknung des Films steigt die Tg an, was zur Abnahme des freien Volumens und damit der Diffusionskonstante führt (s. Kapitel 5.1.8 und 5.4). Hat das reine Bindemittel eine Tg deutlich über der Trocknungstemperatur, so übersteigt die Tg des noch nicht ganz lösemittelfreien Films schließlich die Trocknungstemperatur; das freie Volumen verschwindet nahezu vollständig und die Diffusion kommt praktisch zum Erliegen. Die Folge ist eine Lösemittelretention, d.h. eine Zurückhaltung von Lösemittel im Film, die sich über Jahre hinziehen kann. Dass die Lösemittelretention kinetisch und nicht thermodynamisch bedingt ist, erkennt man z.B. daran, dass das Restlösemittel nicht durch Anlegen von Vakuum entfernbar ist, wohl aber durch längerfristiges Erwärmen über Tg [22]. Das Restlösemittel gibt sich natürlich nicht durch eine spürbare Weichheit oder Klebrigkeit des Films zu erkennen, denn der Film ist ja voraussetzungsgemäß verglast. Dennoch schwächt die Lösemittelretention den Film und birgt die Gefahr der lang andauernden, geringen Lösemittelemission, was in Innenräumen oder im Lebensmittelbereich sehr unerwünscht bzw. unzulässig ist. Die Abhängigkeit der Diffusionsgeschwindigkeit von Lösemitteln vom freien Volumen, d.h. der Anzahl und Größe der thermisch erzeugten Hohlräume in der polymeren Bindemittelmatrix, kann man dadurch erklären, dass man als wesentlichen Diffusionsmechanismus ein „Springen“ der Lösemittelmoleküle von Loch zu Loch (des freien Volumens) annimmt. Tendenziell verlassen kleine Lösemittelmoleküle den Film somit aus zwei Gründen schneller als große: –– erstens steigt die Flüchtigkeit mit abnehmender Molekülgröße, und –– zweitens passen die kleinen Moleküle in mehr Löcher, was ihre „Sprungwahrscheinlichkeit“ erhöht [22]. So ist Cyclohexan zwar fast doppelt so flüchtig wie Toluol, verbleibt aber in höherem Ausmaß im Film, da die sperrigeren Cyclohexanmoleküle nicht so leicht in die Löcher passen wie die flachen Toluolmoleküle. Ähnliches wurde bei Lösungen von Acrylharz oder Cellulosenitrat in einem Gemisch aus Iso- und n-Butylacetat (IBAc bzw. BAc) 60 : 40 beobachtet. Aus dem nassen Film mit hohem Lösemittelüberschuss verdunstet das flüchtigere IBAc zunächst schneller. Ab einer Lösemittelkonzentration von 20 Ma.-% auf Bindemittel steigt der IBAc-Anteil im Restlösemittel dann aber wieder an (bis auf ca. 90 %), da es wegen der größeren Sperrigkeit seiner Moleküle langsamer diffundiert als BAc [22]. Wenn auch die physikalische Trocknung unter realen Bedingungen mathematisch nicht vollständig berechenbar sein dürfte, so darf man sich doch (vorsichtig) ein qualitatives Bild von der zeitlichen EntwickAbbildung 6.2: Trocknungskurven von Nassfillung des Lösemittel-Konzentrationsprofils in men gemäß einfacher Rechenmodelle (1 und 2) der Lackschicht machen. Die Trocknung des bzw. beim Vorliegen von Diffusionshemmung (3) Lackfilmes geht von der Oberfläche aus, und (Erläuterungen s. Text) 111

Physikalische Trocknung somit wird die Tg des Films von der Oberfläche zum Untergrund und der Diffusionskoeffizent in umgekehrter Richtung abfallen. Ein kleiner Diffusionskoeffizient an der Oberfläche bremst die Nachdiffusion von Lösemittel aus den tieferen Schichten, was gemäß dem ersten Fickschen Gesetz zu einer Abnahme des Konzentrationsgefälles in der Tiefe führt. Der Extremfall ist eine durch zu schnelle Oberflächentrocknung verursachte Hautbildung bzw. Verglasung der Oberfläche, wodurch die Tiefentrocknung fast völlig zum Erliegen kommt. Auch die zu schnelle Vernetzung der Oberfläche bei der oxidativen Trocknung oder Einbrennhärtung kann zu solch einer Barrierewirkung führen. In Abbildung 6.3 sind Konzentrationsprofile nach Einschätzung des Autors skizziert.

6.1.2.2

Einfluss der Schichtdicke

In der handwerklichen Lack- bzw. Anstrichtechnik, wo die physikalische Trocknung noch ein zeitlich bedeutender Faktor sein kann, gibt es die alte Malerweisheit: „Zweimal dünn ist besser als einmal dick“ [7]. Diese Regel lässt sich durch ein Gedankenexperiment leicht begründen: Wie in Kapitel 6.1.2.1 erläutert, ist die Trocknungsgeschwindigkeit bei den relativ hohen Festkörpergehalten (nfA) von Anstrichstoffen im fortgeschrittenen Stadium überwiegend diffusionskontrolliert. Nun stelle man sich zwei nasse Lackschichten vor, die sich nur in ihrer um den Faktor Zwei verschiedenen Schichtdicke unterscheiden. Die eine Schicht (A) sei 50, die andere (B) 100 μm dick. Dann entspricht z.B. die 1 μm dicke Teilschicht (TA) von 10 bis 11 μm Tiefe in A der 2 μm dicken Teilschicht (TB) von 20 bis 22 μm in B. Um den gleichen Trocknungsgrad in diesen Teilschichten zu erreichen, muss aus TB doppelt so viel Lösemittel abdiffundieren wie aus TA, was eben auch die doppelte Zeit benötigen würde. Nun ist aber auch noch der Diffusionsweg aus dem Innern der Teilschicht bis zur Oberfläche in B (im Mittel 21 μm) doppelt so lang wie in A (im Mittel 10,5 μm). Daraus resultiert gemäß dem ersten Fickschen Gesetz (Gleichung 5.17) eine in B halb so schnelle Diffusion wie in A, also eine doppelt so lange Diffusionsdauer für die gleiche Lösemittelmenge. Damit vervierfacht sich die Trocknungsdauer insgesamt bei Verdopplung der Schichtdicke. Allgemein: –– Die Trocknungsdauer wächst (ungefähr) mit dem Quadrat der Schichtdicke. Das Ersetzen einer dicken Schicht durch zwei dünne hat noch einen weiteren Vorteil. I.d.R. haben getrocknete Lackschichten vereinzelt feinste Poren, die die Wanderung von korrosiven Medien durch die Schicht ermöglichen. Appliziert man nun zwei Schichten übereinander, so ist die Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine Pore der ersten Schicht mit einer Pore der zweiten Schicht zur Deckung kommt dadurch eine gemeinsame Pore bildet, praktisch gleich Null. Dieser technologische Vorteil ist natürlich gegen die höheren Arbeitskosten für Mehrschichtlackierungen aufzurechnen. Darüber hinaus kann es beim Überlackieren vorher applizierter Schichten zu verminderter Zwischenschichthaftung oder zum Hochziehen kommen, wobei mit Letzterem das starke Wiederanlösen der unteren Schichten durch den neuen Nassfilm Abbildung 6.3: Lösemittel-Konzentrationsprofile gemeint ist. über die Trocknungszeit 112

Physikalische Trocknung aus Lösungen

6.1.3 Lösemittelauswahl Die fehlerfreie physikalische Trocknung bzw. Antrocknung (bei vernetzenden Lacken) erfordert Gemische aus zwei oder mehr Lösemitteln. Häufig ist das Lösemittelgemisch so zusammengesetzt, dass sein Löslichkeitsparameter(-Punkt) am Rand des Löslichkeitsbereiches des Bindemittels liegt (s. Kapitel 5.2.2.2). Bei der Trocknung soll sich die Lösemittelzusammensetzung jedoch so ändern, dass der resultierende Parameter zum Zentrum des Löslichkeitsbereiches, d.h. zum Bindemittelparameter wandert. Das nicht- oder schlechtlösende Lösemittel (Nichtlöser, Verschnittmittel) muss also flüchtiger sein als der gute Löser, denn letzterer muss sich bei der Trocknung anreichern. In Abbildung 6.4 ist das Prinzip für ein binäres Lösemittelgemisch dargestellt. Für bei Raumtemperatur trocknende (lufttrocknende) Lacke gilt folgende Faustregel für die Lösemittelauswahl: –– ca. 45 % Niedrigsieder –– ca. 45 % Mittelsieder –– ca. 10 % Hochsieder (gut lösend).

Abbildung 6.4: Vorteilhafte Verschiebung des Löslichkeitsparameters eines Lösemittelgemisches (Xylol/ Butylglykol ca. 2:1) relativ zum Bindemittelparameter bei der Trocknung

113

Physikalische Trocknung Für Einbrennlacke sind Niedrig- und evtl. auch Mittelsieder wegzulassen, da es sonst durch zu schnelle Verdunstung bzw. Verdampfung von Lösemittelanteilen zu Dampfblasen (Kochern, Kochblasen) kommen kann, die nach dem Aufplatzen bei schnellem Viskositätsanstieg durch die einsetzende Härtung i.d.R. Krater hinterlassen [54]. Es sei hier auch daran erinnert, dass thermodynamisch gute Löser eine hohe Affinität zum Bindemittel haben, was – ggf. in Kombination mit der Schwerflüchtigkeit – die Gefahr der Lösemittelretention verstärkt (s. Kapitel 5.2.2.3). Wenn das zuletzt übrigbleibende Lösemittel(Gemisch) – wie gefordert – ein guter Löser ist, fördert es den Verlauf und damit die Glanzausbildung des Lackes; ist es hingegen ein schlechter Löser oder gar Nichtlöser, sind Verlaufsstörungen durch starken Viskositätsanstieg bzw. Ausfällung des Bindemittels zu erwarten. Auch die molekulare Filmstruktur wird durch das Solvatationsvermögen des Lösemittels beeinflusst. Gute Löser führen zu einer stärkeren Knäuelaufweitung bzw. Entknäulung der Bindemittelmoleküle als schlechte. Dies fördert die Knäueldurchdringung und Verschlaufung, und der getrocknete Film weist die Netzwerkstruktur gemäß Abbildung 5.4 auf; es resultiert eine hohe Filmfestigkeit. Schlechte Löser lassen die Knäuel dagegen schrumpfen; letztere liegen im Nass- und später im Trockenfilm dann weniger durchdrungen, d.h. mehr in der Zellenstruktur gemäß Abbildung 5.4 vor [6].

6.1.4

Abdunstvorgänge bei wässrigen Systemen

Echte bzw. kolloidale Bindemittellösungen (s. Kapitel 5.3.2) zeigen – im Gegensatz zu Dispersionen – wegen der niedrigen Molmassen der gelösten Moleküle nur eine allenfalls schwache physikalische Antrocknung. Stabile Filme werden erst durch chemische Vernetzung erzielt. Dennoch sind die physikalischen Abdunstprozesse am Anfang der Filmbildung von erheblichem Einfluss auf die Güte der erzielten Lackierung. Allgemein gilt: –– Wasser, Amin und ggf. Colöser dunsten mit unterschiedlicher Geschwindigkeit ab. Ihre Flüchtigkeiten sind den Trocknungsbedingungen anzupassen (oder umgekehrt). Da das Bindemittel seine Löslichkeit beim Abdunsten des Amins weitgehend verliert, muss die Flüchtigkeit des Amins auf die Trocknungsbedingungen abgestimmt sein, damit es nicht zu Verlaufsstörungen durch vorzeitigen Viskositätsanstieg oder umgekehrt zu einer Trocknungsverzögerung durch zu langes Verbleiben des Amins im Film kommt. So verwendet man für Einbrennlacke bevorzugt Dimethylethanolamin (N,N-Dimethylamino-ethanol, DMEA, Ts = 134 °C) oder auch das sehr schwerflüchtige Aminomethylpropanol (2-Amino-2-methyl-1-propanol, AMP), für lufttrocknende Lacke vorwiegend Triethylamin (TEA, Ts = 86 °C) und/oder Ammoniak (NH3, gasförmig) [14, 63]. Zu beachten ist auch, dass Amine mit Wasser und ggf. Colöser Azeotrope, d.h. Gemische mit einem Dampfdruck bzw. Flüchtigkeitsmaximum und Konstanz der Zusammensetzung beim Verdampfen, bilden und somit unerwartet schnell ausgetragen werden können. Umgekehrt werden Amine durch die Bindung an die Carboxygruppen in Abhängigkeit von ihrer Basenstärke im Film festgehalten, was ihre Flüchtigkeit erniedrigt [14]. Im Film vorhandenes Amin wirkt sich aber nicht nur auf die Bindemittellöslichkeit bzw. die Viskosität während der Trocknung aus, sondern über seine pH-Wert-Erhöhung ggf. auch auf pH-abhängige Vernetzungsreaktionen wie z.B. die säurekatalysierte Vernetzung von Harzpolyolen mit Melaminharzen. Befindet sich in der Oberfläche zu wenig inhibierendes Amin, kommt es dort zu einer vorzeitigen Vernetzung, die bei der späteren Tiefenhärtung zur Mat114

Physikalische Trocknung aus Lösungen tierung durch Bildung feiner Runzeln führt [22]. Ferner können Amine mit OH- und/oder NHBindungen bei hoher Temperatur mit Lackbestandteilen, insbesondere dem Bindemittel, abreagieren und so aus dem Gemisch verschwinden. Die Untersuchung der Verdunstungsgeschwindigkeit von Wasser/Lösemittel-Mischungen ergab, dass an erster Stelle die relative Luftfeuchtigkeit (untersuchter Bereich: 10 bis 90 %) und an zweiter Stelle die Temperatur (untersuchter Bereich: 20 bis 40 °C) Einfluss nehmen. Andere Parameter wie das Verhältnis von Wasser zu Lösemittel (hier sek. Butanol) und die Luftströmungsgeschwindigkeit erwiesen sich dagegen als relativ unbedeutend [4] 19 (vgl. auch Abbildung 2.13). Die Colöser bzw. Filmbildehilfsmittel (s. Kapitel 6.2.1.3), die echte Löser für das Bindemittel sind, wirken am Ende der physikalischen Antrocknung verlaufsfördernd und dürfen somit ggf. erst bei beginnender Vernetzung vollständig ausdampfen. Ist ihr Anteil zum Schluss zu hoch, besteht die Gefahr der Läuferbildung. Allgemein gilt: –– Um gute Standfestigkeit, guten Verlauf, und in zweiter Linie auch gute Untergrund- und Pigmentbenetzung sowie Glanzentwicklung zu erreichen, muss das Wasser/LösemittelVerhältnis während der (An)Trockning stets in einem optimalen Bereich liegen [4]. Ein unerwünscht schneller und/oder starker Viskositätseinbruch kann auch dann entstehen, wenn sich die Bindemittelkonzentration des Lackes zu Beginn des Abdunstens noch im Bereich des Wasserbergs befindet (s. Kapitel 5.3.2, Abbildung 5.13). Bei der Wasserverdunstung steigt die Bindemittelkonzentration an und wandert somit in den Bereich niedrigerer Viskosität. Bei modernen Wasserlacken auf Basis kolloidaler Lösungen und/oder Dispersionen liegt allerdings praktisch kein Wasserberg mehr vor. In Kapitel 5.2.1.2 wurde die Azeotropbildung aus Butylglykol und Wasser erläutert. Unterhalb des Siedepunktes liegt das Azeotrop bei einer anderen Zusammensetzung und verliert gegenüber dem Einfluss der Luftfeuchtigkeit an Bedeutung, denn eine Verdunstung ist im Gegensatz zur Verdampfung diffusionskontrolliert und damit abhängig von der Dampfzusammensetzung. Da die Abdunstgeschwindigkeit von Butylglykol in erster Näherung von der Luftfeuchtigkeit unabhängig ist, die von Wasser aber mit zunehmender Luftfeuchtigkeit fällt, wird mit zunehmender Luftfeuchtigkeit der Wassergehalt des ohne Veränderung der Zusammensetzung verdunstenden Gemisches steigen. Für jedes Lösemittel/Wasser-Gemisch gibt es eine von der Temperatur abhängige sog. kritische relative Luftfeuchtigkeit (KRL, engl.: CRH), bei der sich die Zusammensetzung des Gemisches beim Verdunsten nicht ändert. Für die Praxis lässt sich damit folgende Regel formulieren: –– Die KRL und die relative Luftfeuchtigkeit der Trocknungsluft sollten möglichst nahe beieinander liegen, damit sich das Wasser/Colöser-Verhältnis nicht unzulässig stark ändert (Vgl. „Applikationsfenster“, Kapitel 2.6). Ein besonderer Effekt tritt bei der in der industriellen Wasserlack-Verarbeitung häufig anzutreffenden IR-Vor- oder Zusatztrocknung bei Einsatz von IR-Hellstrahlern mit einer starken Emission bei ca. 3 μm Wellenlänge auf: Wasser absorbiert diese Strahlung sehr stark und wird deshalb fast selektiv ausgetrieben, während der bzw. die Colöser relativ langsam abdunsten [37].

19 Leider sind die Ergebnisse hier missverständlich und nur sehr unvollständig beschrieben.

115

Physikalische Trocknung

6.1.5

Filmbildner für physikalisch trocknende Lacke

Grundsätzlich ist hier zu unterscheiden zwischen Filmbildnern, die aus Lösungen eintrocknen und den (meistens wässrigen) Dispersionen. Das Trocknen von Dispersionen ist Thema des nächsten Kapitels. Hier werden deshalb nur kurz einige wichtige Filmbildner vorgestellt, die aus Lösungen heraus fertige Lackfilme bilden. Thermoplastische Filmbildner haben höhere mittlere Molmassen, meistens im Bereich von 20 ·10-3 bis 50 ·10-3 g mol-1 (oder höher), was zu hohen Viskositäten bzw. niedrigen Festkörpergehalten der Lacke führt; man erhält meistens nur „magere“ Lacke mit wenig Füllvermögen („Fülle“) und hohem VOC-Wert. Dennoch behalten diese Bindemittel wohl weiterhin begrenzte Bedeutung für einkomponentig zu verarbeitende und bei Raumtemperatur schnell trocknende Beschichtungsstoffe. Darüber hinaus weisen die thermoplastischen Filmbildner einige allgemeine und spezifische technische Merkmale auf, die im Einzelfall erwünscht sein können. Da die Beschichtungen nicht vernetzt sind, können sie – z.B. nach dem Anschleifen – durch Erwärmen neu Verlaufen (Reflow-Lacke) oder leicht wieder abgebeizt werden. Bei ausreichender Verträglichkeit werden die Thermoplaste häufig mit anderen, auch vernetzenden Filmbildnern kombiniert, oft zwecks Beschleunigung der physikalischen Antrocknung oder – z.B. in Form der niedermolekularen Weichharze – zur Flexibilisierung. Man muss allerdings berücksichtigen, dass diese Filmbildner ihre Thermoplastizität, z.B. in Gestalt erniedrigter Lösemittelbeständigkeit, in die Beschichtungen einbringen. In günstigen Fällen, wie z.B. bei Cellulosederivaten, reagieren die zunächst rein physikalisch trocknenden Filmbildner mit der Vernetzerkomponente des Lackes und verlieren damit weitgehend ihre Thermoplastizität. Beispiele für physikalisch trocknende Filmbildner: –– Chlorkautschuk –– Cyclokautschuk –– Vinylchlorid-Copolymerisate –– Cellulosenitrat (Nitrocellulose) –– Celluloseacetobutyrat (CAB) –– thermoplastische Polyacrylate –– Polyvinylester (-Copolymerisate) –– Kohlenwasserstoffharze –– hochmolekulare Epoxidharze (Phenoxyharze) –– Novolake (nichtreaktive Phenolharze) –– Siliconharze –– Polyamide –– Bitumen, Naturasphalt. Abbildung 6.5: Prinzip der Verfilmung von Dispersionen aus [14]

116

Physikalische Filmbildung aus Dispersionen

6.2 Physikalische Filmbildung aus Dispersionen 6.2.1

Wässrige Primärdispersionen

6.2.1.1

Qualitative Betrachtung der Filmbildung

In Kapitel 5.3.3 sind Primärdispersionen, d.h. Emulsionspolymerisate, allgemein beschrieben. Die Filmbildung dieses wichtigen Bindemitteltyps bzw. der damit hergestellten Dispersionsbeschichtungsstoffe wie Dispersionsfarben und -lacke bzw. -lackfarben verläuft mechanistisch betrachtet grundsätzlich anders als die physikalische Trocknung gelöster Filmbildner. Es überlagern sich zeitlich versetzt Verdunstungs-, mechanische und Diffusionsprozesse. Für alle diese Einzelstufen gibt es verschiedene theoretische Ansätze, die großenteils zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen und sich teilweise sogar widersprechen. Deshalb wird hier folgender Weg beschritten: Abbildung 6.5 bis 6.7 vermitteln zunächst einen groben visuellen Eindruck des Filmbildeprozesses. Dann folgt die verbale Beschreibung des Prozesses unter Einbeziehung experimenteller Fakten. Im Kapitel 6.2.1.2 werden einige physikalische Überlegungen und Modelle kurz diskutiert.

Abbildung 6.6 links: Dispersion vor Koaleszenz; rechts: Dispersion weitgehend koalesziert

Quelle: BASF SE [64]

Abbildung 6.7: Rasterelektronenmikroskopische Aufnahmen der Filmbildung einer Dispersion, aus [7]

117

Physikalische Trocknung In Abbildung 6.8 ist die Wasserabgabe einer Modelldispersion über die Zeit dargestellt. Es zeigen sich hier drei Stadien: Im Abschnitt I ist die Wasserabgabe schnell und zeitproportional. Die Verdunstungsrate beträgt etwa 85 % von der des reinen Wassers. Die Teilchen sind voneinander getrennt. Im Abschnitt II fällt die Verdunstungsgeschwindigkeit schnell ab. Die Teilchen verbinden sich miteinander, wodurch die für die Wasserverdunstung zur Verfügung stehende Fläche abnimmt. Im Abschnitt III findet die Wasserabgabe nur noch sehr langsam statt, und zwar im Wesentlichen durch Diffusion. Diese Einteilung entspricht dem sog. DreiStufen-Modell nach Vanderhoff   [65]. Gemäß übereinstimmender Darstellungen in der Literatur [3, 10, 66] kann der Filmbildeprozess detaillierter folgendermaßen beschrieben werden: –– Nach der Applikation der Dispersion kommt es an der Oberfläche des Nassfilms zur Verdunstung von Wasser, was aufgrund der relativ hohen Verdunstungszahl des Wassers von 80 relativ langsam von statten geht. –– Bei einem Volumenanteil der Teilchen von ca. 52 % sind sich die Teilchen so nahe, dass es zu ersten Berührungen kommt und sich anziehende Kapillarkräfte aufbauen; gemäß der Mooney-Gleichung (Gleichung 5.16) steigt die Viskosität steil an. –– Die Kugelpackung verdichtet sich weiter, bis – im idealen bzw. theoretischen Fall – bei 74 Vol.-% die dichteste Kugelpackung (für gleichgroße Teilchen) entsteht. –– Durch weiteren Wasserverlust kommt es zur Deformation der Teilchen zu rhombischen Dodekaedern mit Sechsecksymmetrie. Die Hüllen aus Emulagtoren und ggf. Schutzkolloiden werden durchbrochen und es kommt zum Verfließen (zur Koaleszenz) und zur Interdiffusion der Polymermoleküle über die ursprünglichen Teilchengrenzen hinweg. Durch die engen Kapillaren, die die restlichen Zwickel zwischen den deformierten Teilchen bilden, wird das letzte Wasser mit hohem Druck herausgepresst. Ergänzend seien folgende Ergebnisse von Filmbildeexperimenten genannt: –– Die Geschwindigkeit der Filmbildung ist durch die Geschwindigkeit der Wasserverdunstung bestimmt. Wird die Verdunstung des Wassers gehemmt, z.B. durch sehr hohe Luftfeuchtigkeit, so verlangsamt sich auch die Filmbildung. –– Auch Kunststoffdispersionen aus mäßig vernetzten Teilchen bilden einen kontinuierlichen Film. Obwohl die Vernetzung ein gegenseitiges Durchdringen der Teilchen weitgehend verhindert, müssen hier Kräfte wirksam werden, die hoch genug sind, um die Kräfte der Grenzflächen Polymer/Wasser zu überwinden und zur Verschweißung der Teilchen zu führen. –– Zur Verfilmung von Dispersionsteilchen in Abwesenheit von Wasser ist eine deutlich höhere Temperatur erforderlich als mit Wasser. Dies beweist die wichtige Rolle des Wassers bei der Koaleszenz [67]. –– Hwa zeigte, dass zahlreiche Kunststoffdispersionen vor Erreichen der dichtesten Kugelpackung bereits nicht mehr als flüssiges System vorliegen, sondern aggregiert („flocculated“) sind. Die Teilchen berühren einander in diesem Zustand und bilden ein Abbildung 6.8: Trocknungskurve einer zusammenhängendes Netzwerk, zusamPoly(n-butylmethacrylat)-Dispersion bei 40 °C; mengehalten durch Van-der-Waals-Kräfte, Erläuterungen s. Text, in Anlehnung an [65] 118

Physikalische Filmbildung aus Dispersionen die stark genug sind, um ein Redispergieren zu verhindern. Hwa beobachtete diese Erscheinung bei Polymervolumenanteilen von etwa 0,5 bis 0,6; also bereits vor Erreichen der dichtesten Kugelpackung [68]. Allgemein handelt es sich bei Primärdispersionen um schnell trocknende Bindemittel. Dies bringt nicht nur Vorteile, sondern auch gewisse Probleme wie vorschnelle Antrocknung in Form von Ankrustungen, Haut- oder Fadenbildung bei der Verarbeitung und eine zu kurze offene Zeit nach der Applikation mit sich. Diesen Schwierigkeiten kann man jedoch durch Rezepturanpassungen wie Additivzusatz oder Abmischung mit echt gelösten Bindemitteln zu Hybridsystemen und/oder durch Optimierung der Applikationsbedingungen (höhere Luftfeuchtigkeit, niedrigere Applikationstemperatur) meistens ausreichend begegnen. In Innenwand-Dispersionsfarben befinden sich z.B. Celluloseether, die eine Wasserretention bewirken und so die Trocknung etwas bremsen, denn nach dem oben Gesagten verfilmt eine Dispersion nur so schnell wie das Wasser verdunstet.

6.2.1.2

Physikalische Modellvorstellungen

Brown nahm an, dass es mindestens vier treibende Kräfte für die Filmbildung gibt, nämlich die –– aus der Oberflächenspannung der Teilchen resultierende Kraft FO, die auf das Bestreben nach Oberflächenverkleinerung zurückzuführen ist. –– Kapillarkraft FK, resultierend aus der Oberflächenspannung der wässrigen Phase an den Menisken in den Kapillaren. –– Van-der-Waals-Kräfte FV zwischen den Teilchen. –– Gravitationskraft FG, die zum Absetzen der Teilchen führt [67]. Diesen Kräften stehen entgegen –– der Deformationswiderstand FD der Teilchen und –– die Abstoßung FS, die durch die elektrostatische und/oder sterische Stabilisierung zu Stande kommt [67]. FO wird nur zwischen nichtbenetzten Teilchen wirksam und dürfte damit irrelevant sein. Bei benetzten Teilchen wäre stattdessen die aus der Grenzflächenspannung σs,1 resultierende Grenzflächenkraft wirksam, die wegen der aus der Anwesenheit von Tensiden resultierenden guten Benetzung zunächst sehr klein, wenn nicht gar Null ist. Daraus und aus der Tatsache, dass auch gut stabilisierte Dispersionen ohne Probleme verfilmen, könnte geschlossen werden, dass Grenzflächenkräfte praktisch keine Rolle spielen. Doch genau in dieser Annahme liegt der wichtigste Streitpunkt zwischen den verschiedenen Experten bzw. Theorien [22, 68]. Zwei Argumente sprechen doch für die erhebliche Bedeutung von Grenzflächenkräften: –– Erstens muss der Gesamtprozess der Verfilmung eine thermodynamische Triebkraft haben, die nur aus der Freisetzung von Grenzflächenenergie durch Koaleszenz stammen kann. –– Zweitens liegt die o.g. gute Benetzung bzw. Stabilisierung der Teilchen nur im ungestörten Ausgangszustand der Dispersion vor; durch die Entwässerung des Films kommt es zur Destabilisierung, d.h. Energiezunahme der Grenzflächen. Im Folgenden werden Grenzflächenkräfte zwar nicht explizit berücksichtigt, könnten aber als Zusatzbetrag zu den Kapillarkräften addiert werden, ohne dass sich an der Gesamtbetrachtung qualitativ etwas ändert. Je nach gewähltem Modell für die Form der Hohlräume zwischen den Polymerteilchen würden die durch die Grenzflächenkräfte erzeugten Drücke zwischen σs,l /r und 2 σs,l /r liegen (r = Kugelradius). 119

Physikalische Trocknung Das Vorhandensein bzw. die Relevanz von Kapillarkräften (FK) wird in der Literatur durchgängig angenommen. In Abbildung 6.9 ist das Zustandekommen von Kapillarkräften bzw. von Kapillardrücken schematisch skizziert. Der (scheinbare) Druck, mit dem sich eine Flüssigkeit mit einer Oberflächenspannung von (z.B.) 30·10-3 N m-1 bei vollständiger Benetzung in eine Kapillare von 0,01 μm Durchmesser (ca. 1/10 Teilchendurchmesser) zieht, beträgt gemäß der Formel p = 2 σ / r 120 bar. Dieser Druck pflanzt sich über die Flüssigkeitssäule gewissermaßen als Sog fort und zieht die Teilchen mit einer daraus resultierenden Kraft zueinander. Wie stark sich Van-der-Waals-Kräfte Fv zwischen den Teilchen auswirken, sei durch eine kleine Überschlagsrechnung überprüft: Für Kugeln, deren lichter Abstand klein gegen den Radius ist, gilt näherungsweise



Gleichung 6.5

potenzielle Van-der-Waals-Anziehungsenergie Vv A H effektive Hamaker-Konstante r Kugelradius lichter Abstand zwischen den Kugeln H FV Van-der-Waals-Anziehungskraft Nimmt man für AH den Durchschnittswert 1·10-20 J an [69], so ergibt sich für r = 50 nm (0,05 μm) und H = 5 nm eine Anziehungskraft von 1,67·10-12 N, was auf die Projektionsfläche πr2 des Teilchens bezogen einem Druck von ca. 200 N m-2 entspricht und damit gegenüber den Kapillarkräften vernachlässigt werden kann. Die Gravitationskräfte (FG) sind natürlich ebenfalls vernachlässigbar.

Abbildung 6.9: Zustandekommen von Kapillarkräften (schematisch)

120

Physikalische Filmbildung aus Dispersionen Von den Widerstandskräften ist nur die Deformationskraft (FD) relevant, denn die elektrostatischen und sterischen Abstoßungskräfte (FS) liegen in der gleichen Größenordnung wie die Van-der-Waals-Anziehungskräfte. Von allen Kräften verbleiben somit als hier relevant nur FK und FD, und für eine Filmbildung gilt die Bedingung [67] FK > FD Sie ist nur erfüllbar, wenn die Teilchen ausreichend leicht deformierbar sind, und es ist anzunehmen, dass dies eine Temperatur oberhalb von Tg, d.h. den erweichten Zustand, voraussetzt. Nun ist die Filmbildung durch bloße Deformation der Teilchen nicht beendet. Bis hier würde sich ein Film ohne Zugfestigkeit ergeben. Es muss zur Verschmelzung der Teilchen kommen. Zwei sich berührende Tröpfchen koaleszieren, d.h. fließen zu einem zusammen, wenn es zu einem ersten direkten Kontakt der Tröpfchensubstanz gekommen ist und als treibende Kraft eine Ober- bzw. Grenzflächenspannung vorliegt. Wie aber oben erläutert, besteht über die Existenz bzw. Höhe von Grenzflächenspannungen in der Forschung keine einheitliche Meinung. Die weitere Ursache – wahrscheinlich die Hauptursache – für die Teilchenverschmelzung ist die Interdiffusion. Die Interdiffusion läuft nur oberhalb Tg schnell ab. Für eine ausreichende Filmfestigkeit ist eine Verschlaufung der Moleküle über die ursprünglichen Teilchengrenzen hinweg notwendig. Dies erfordert, dass die Diffusionslängen mindestens in den Größenbereich der Verschlaufungslängen der Polymermoleküle reichen (s. Kapitel 5.1.6); letztere liegen wesentlich niedriger als die Teilchendurchmesser [22, 70]. Je nach Lage von Tg relativ zur Gebrauchstemperatur geht die Interdiffusion noch für Tage bis Wochen weiter oder erreicht sogar nie den Gleichgewichtszustand [22, 66]. Interessant ist, dass eine gewisse Abgrenzung der Teilchen auch nach abgeschlossener Filmbildung noch erkennbar ist [64]. Nichtflüchtige Hilfsstoffe wie Emulgatoren, Schutzkolloide, ionische Initiator-Reste und ggf. Puffersalze befinden sich überwiegend in den ehemaligen Zwickelbereichen der Teilchen und wirken sich nachteilig auf die Filmeigenschaften, insbesondere die Wasserfestigkeit, aus.

6.2.1.3

Mindestfilmbildetemperatur und Filmbildehilfsmittel

Wie vorher erläutert, setzen die Deformation und die Koaleszenz der Teilchen sowie die Interdiffusion voraus, dass sich die Teilchen bei der Filmbildung im erweichten Zustand befinden. Das ist der Fall, wenn die Filmbildetemperatur T über der Tg liegt. In der Praxis wird jedoch nicht die Tg der Dispersion bzw. des Polymers bestimmt, sondern direkt die niedrigste Temperatur, oberhalb der die Dispersion einen einwandfreien Film bildet. Einzelheiten finden sich in DIN ISO 2115; das genormte Messgerät heißt MFT-Bank. Dabei steht „MFT“ für Mindestfilmbildetemperatur, auch „minimale Filmbildetemperatur“ genannt. Unterhalb der MFT bildet sich ein rissiger Film oder sogar (unterhalb des Weißpunktes) eine weißlichpulvrige Schicht [10]. Die MFT liegt meistens etwas unterhalb der Tg des reinen Polymers, da das Dispersionswasser – je nach Hydrophilie (Polarität) des Polymers – eine gewisse weichmachende Wirkung hat. So kann eine Polyvinylacetat-Dispersion mit einer Tg des reinen Polymers von 28 °C eine MFT von 16 °C aufweisen [10]. Auch die Menge an hydrophilen Hilfsstoffen (Emulgatoren, Schutzkolloiden) bestimmen durch ihr Wasserbindevermögen die MFT mit; je mehr die Dispersion davon enthält, desto niedriger die MFT [22]. 121

Physikalische Trocknung Da viele Dispersionsbeschichtungsstoffe, z.B. Bautenfarben oder Holzlasuren für Außenanwendung, noch bei Temperaturen wenig über 0 °C verarbeitbar sein sollen, taucht ein gravierendes Problem auf: Die MFT muss nahe 0 °C liegen, andererseits darf die Beschichtung aber bei bis zu ca. 50 °C nicht klebrig werden, da sonst Verblockungen (Verklebungen aufeinanderliegender Trockenfilme) und/oder irreversible Anschmutzungen durch anklebenden Partikelschmutz auftreten. Auflösen von Gleichung 5.7 nach T - Tg und Einsetzen von 107 Pa s für ηT, was der Mindestviskosität für die Blockfestigkeit entspricht [22], führt zur Bedingung Tg ≥T – 21 K, d.h. die Tg muss im vorliegenden Beispiel mindestens 50 - 21 = 29 °C betragen. Dieser Widerspruch wird – außer bei Innenwandfarben – i.d.R. dadurch gelöst, dass man dem Dispersionslack bis maximal ca. 10 % eines Hilfslösemittels (Filmbildehilfsmittels, Koaleszenzmittels) zusetzt, das die Dispersionsteilchen während der Filmbildung weich macht, nach der Verfilmung aber schnell verdunstet und damit die Tg wieder steigen lässt. Die Wirkung eines Filmbildehilfsmittels kann gut mit dem sog. Dreiphasenmodell erklärt werden. Danach verteilt sich das Filmbildehilfsmittel (FBH) gemäß folgendem Schema: Wasserphase      Teilchenäußeres      Teilcheninneres. Die stärkste MFT-Absenkung wird erreicht, wenn sich das FBH vorwiegend in den äußeren Bereichen der Teilchen anreichert, da hier die Verschmelzung stattfindet. Daraus ergibt sich, dass das FBH bezüglich seiner Löseeigenschaften auf den Polymertyp der Dispersion abgestimmt sein muss. Typische FBH sind vor allem Ester wie z.B. 2,2,4-Trimethyl-1,3pentandiol-monoisobutyrat („Texanol“), Etheralkohole wie z.B. (Di)Ethylenglykolmonobutylether (Butyl(di)glykol) oder Glykole wie z.B. Ethan- oder Propandiol (Ethylen- bzw. Propylenglykol) [71]. Neben der weichmachenden Wirkung eines FBH ist in Hinblick auf die Filmbildung vor allem die Flüchtigkeit in Kombination mit Wasser und dem Polymer von großer Bedeutung. Es soll langsamer abdunsten als das Wasser und sich somit während der Verfilmung in der Dispersion anreichern, nach der Koaleszenz aber zügig aus dem Film entweichen, damit schnell die Endhärte erreicht wird. Hier zeigt sich ein starker Einfluss der Luftfeuchtigkeit. Bei niedriger Feuchte ist die Verdunstung des Wassers schnell und es kommt eher zu einer Anreicherung des FBH. Bei hoher Feuchte ist es umgekehrt. Das FBH muss also außer auf die Dispersion selbst auch noch auf die Applikationsbedingungen abgestimmt sein, die sich als sog. Applikationsfenster darstellen lassen (s. Abbildung 2.13) [72].

6.2.1.4

Weitere Möglichkeiten der MFT-Absenkung

Zunächst besteht die Vermutung, dass die Teilchengröße einen Einfluss auf die MFT haben sollte. Es wurde aber – wenn überhaupt – nur eine schwach ausgeprägte Absenkung der MFT mit fallender Teilchengröße gefunden; eine um den Faktor acht erniedrigte Teilchengröße bringt eine MFT-Absenkung um fünf bis zehn Grad [65]. Teilweise wurden auch keine oder sogar entgegen gesetzte Effekte beobachtet [22, 67]. Eine gezielte und signifikante Absenkung der MFT ist über die Teilchengröße also nicht erreichbar. Sieht man von der sehr seltenen (Mit)Verwendung echter äußerer Weichmacher wie praktisch nichtflüchtiger Phthalate, Phosphate usw. ab, so bleibt nur die Möglichkeit, Dispersionen mit Teilchen unterschiedlicher Tg herzustellen bzw. abzumischen oder besser Dispersionsteilchen durch entsprechende Polymerisationsverfahren gezielt uneinheitlich aufzubauen. Man kann so Teilchen mit einer stetigen Härtezunahme von außen nach innen, d.h. mit einem Härtegradienten, oder echt heterogenene (mehrphasigen) Strukturen erzeugen. Letz122

Physikalische Filmbildung aus Dispersionen tere werden ihrem prinzipiellen Aufbau entsprechend als Eichel-, Halbmond-, Einlagerungs-, Erdbeer- oder Kern-Schale-Morphologie bezeichnet [14]. Die gängigste Struktur ist die Kern-Schale-(Core-Shell-)Morphologie mit weicher Schale und hartem Kern. Die weiche Schale mit niedriger Tg ist für die Koaleszenz verantwortlich, während der harte Kern mit hoher Tg die Filmhärte mit sich bringt. So können z.B. AcrylatDispersionen erhalten werden, die bei einer MFT um 0 °C zugleich eine gute Blockfestigkeit bei bis zu 80 °C und hohen Glanz aufweisen. Die hohe Blockfestigkeit wird der Abschirmung der Weichphase an der Oberfläche durch die zusammengeklebten Hartphasen-Kerne zugeschrieben [73]. Nicht unerwähnt bleiben soll, dass es auch möglich ist, die Tg und damit die Festigkeit von Dispersionsfarbenfilmen während und nach der physikalischen Filmbildung durch zusätzliche interpartikuläre Vernetzung zu erhöhen (s. Kapitel 8.3, Reaktionen 15 bis 18 oder 12 bei entsprechender Silyl-Funktionalisierung).

6.2.1.5

Pigmentierte Dispersionsbeschichtungsstoffe

6.2.2

Wässrige Sekundärdispersionen

In pigmentierten Dispersionsfarben bzw. -lacken spielen sich bei der Filmbildung im Prinzip ähnliche Vorgänge wie in den reinen Dispersionsfilmen ab. Die Angabe der MFT bezieht sich nur auf die reine Dispersion. Bei Pigmentierung steigt die MFT in Abhängigkeit von der Rezeptur an [66]. Grundsätzlich muss zwischen den unterkritisch pigmentierten Dispersionslacken bzw. -lackfarben und den überkritischen Dispersionsfarben unterschieden werden. Erstere haben eine PVK von meistens unter 25 % [14]. Die Eigenschaften werden überwiegend durch das Bindemittel bestimmt, und es gelten im Prinzip die gleichen Zusammenhänge zwischen MFT, Blockfestigkeit und anderen Filmeigenschaften wie bei den reinen Dispersionsfilmen [73, 74]. Bei den überkritischen Innenwand-Dispersionsfarben mit PVK-Werten zwischen 60 und 90 % umhüllen die Dispersionsteilchen die deutlich bzw. erheblich größeren Pigment- und Füllstoff-Partikel und verkleben diese bei der Filmbildung miteinander. Das Bindemittel ist hier nur noch indirekt eigenschaftsbestimmend. In der Vergangenheit galt, dass eine Dispersion mit einer MFT von unter 5 °C zur keiner ausreichenden Pigment- und Füllstoffbindung – messbar als mangelhafte Nassabriebbeständigkeit bzw. Wasch- und Scheuerbeständigkeit – und zur Rissbildung der Dispersionsfarbe führte, und eine Dispersion mit einer MFT über 5 °C ein Filmbildehilfsmittel benötigte [66]. Neuere Dispersionstypen wie z.B. Terpolymere aus Vinylacetat, Acrylat und Vinylversatat („VeoVa“) [75] oder Vinylacetat-Ethylen-Copolymere [76] ermöglichen in Kombination mit weiteren Rezepturoptimierungen jedoch die Herstellung von emissions- und lösemittelfreien (ELF-) Dispersionsfarben auf dem Leistungsniveau der klassischen Farben.

Die meisten Sekundärdispersionen wie Epoxid-, Polyester-, Silicon- oder Alkydharz-Dispersionen bzw. -Emulsionen sind relativ niedermolekular und müssen deshalb vernetzt werden. Bei der vorgelagerten Wasserverdunstung bzw. -verdampfung müssen die kolloidalen Teilchen schnell zu einem Film verfließen, d.h. koaleszieren. Denn wenn die Vernetzung und damit Verfestigung des Polymers vorher – d.h. im partikulären Stadium – stattfindet, entsteht kein zugfester, widerstandsfähiger Film, da die Teilchen weitgehend ungebunden nebeneinander liegen bleiben. Dies ist besonders bei wässrigen 2K-Systemen zu beachten (s. Kapitel 8.4.1.2 und 8.4.2.3). 123

Physikalische Trocknung Als Beispiel für einen oft rein physikalisch verfilmenden Sekundärdispersionstyp seien Polyurethandispersionen (PUR- oder PU-Dispersionen) erwähnt. Die Polymerteilchen bestehen –   aus weitgehend linearen Polyurethan-Polyharnstoff-Molekülen mit mittleren Molmassen (M n) 4 -1  [77] von etwa 3 bis 11·10 g mol , in seltenen Fällen auch deutlich darüber ; die Teilchengröße liegt bei Lackanwendungen meistens unter 0,2 μm. Zur Stabilisierung in der Wasserphase enthalten sie eine ausreichende Menge an Säuregruppen – i.d.R. Carboxygruppen – an den Ketten, die durch Neutralisation der Säuregruppen mit Aminen oder Alkalihydroxiden sehr hydrophile ionische Zentren bilden. (Es gibt auch kationisch und nicht-ionisch stabilisierte PUR-Dispersionen.) [2, 19] Im Hinblick auf die Filmbildung gibt es im Vergleich zur Primärdispersionen zwei gravierende Unterschiede: –– Die Tg des trockenen Films liegt (bei weichen Typen) bei -70 bis -40 °C [77]. –– Die Dispersionsteilchen liegen mit Wasser stark aufgequollen vor und sind somit leicht deformierbar. –– PUR-Dispersionen sind selbstemulgierend, d.h. thermodynamisch stabil. Die niedrige Tg führt zu einer nur durch den Gefrierpunkt nach unten begrenzten MFT von ca. 0 °C ohne Lösemittel. Man fragt sich sofort, wieso ein so weicher Film überhaupt gebrauchsfähig sein kann, wo doch Primärdispersionen mit viel höheren Tg-Werten verblocken. Die Antwort ist in der außergewöhnlichen Polymerstruktur zu finden: Harte Urethan- und ggf. auch Harnstoffsegmente, die sich über Wasserstoffbrücken intermolekular zu kristallähnlichen Strukturen packen und die Interdiffusion hemmen, werden über längere Weichsegmente miteinander verbunden [78]. Es gibt auch neuere harte, lösemittelfreie PUR-Dispersionen, die trotz einer Tg von 50 bis 60 °C zwischen 0 und 5 °C verfilmen und andererseits erst bei 160 bis 180 °C blocken [77]. Die für rein amorphe Polymere geltenden Grundzusammenhänge sind hier also nur noch sehr eingeschränkt wieder zu finden. Die thermodynamische Stabilisierung der Dispersionen, die einer Filmbildung entgegenstehen sollte, geht bei der Trocknung aus zwei Gründen verloren: Erstens trocknet der Film aus, was zum Zusammenbruch der gegenseitigen elektrostatischen Abstoßung der Teilchen führt, und zweitens verflüchtigt sich ggf. das Neutralisationsmittel, wodurch die Polymermoleküle ihre Hydrophilie verlieren. Obwohl die Filme der physikalisch getrockneten PUR-Dispersionen gute optische und mechanische Eigenschaften (Zähelastizität) aufweisen und hierin die Filme von Primärdispersionen übertreffen, werden sie zur Erfüllung höchster Ansprüche im Industrie- und OEM-Bereich 2-komponentig oder durch Einbrennen vernetzt. Neben spezielleren Reaktionen bedient man sich dazu überwiegend der Standardreaktionen der Vernetzungschemie wie oxidative Trocknung, Hydroxy + N-Methylol (Melaminharz u.ä.), Hydroxy + freies oder geblocktes Polyisocyanat, Epoxid + Amin und UV-Härtung [19, 79, 80] sowie den speziell zur RaumtemperaturVernetzung von Dispersionen geeigneten Reaktionen 14 bis 18 aus Kapitel 8.3.

6.2.3 Emulsionen Emulsionen, d.h. mikroheterogene Verteilungen eines flüssigen Bindemittels in Wasser, trocknen anders an als die hochmolekularen Fest-in-Flüssig-Dispersionen. Darüber hinaus müssen sie anschließend als primär flüssige Substanzen vernetzt werden bzw. selbst vernetzen. Als Beispiel sei die erste, rein physikalische Trocknungsphase einer Alkydharzemulsion betrachtet, an die sich dann die oxidative Vernetzung anschließt (s. Kapitel 7). 124

Physikalische Filmbildung aus Dispersionen Alkydharzemulsionen sind mit externen Emulgatoren (nichtionischen und anionischen Tensiden) und teilweise zusätzlich mit Aminen/Ammoniak über Salzbildung kolloidal stabilisiert; evtl. ist noch etwas organisches Lösemittel zwecks Absenkung der Harzviskosität in der Emulsion enthalten. Sie können für Maler- und Industrielacke eingesetzt werden, vornehmlich zur Holzbeschichtung, aber auch im Korrosionsschutz [63]. Gegenüber z.B. Acrylat-Primärdispersionen weisen die Alkydharzemulsionen (bzw. die emulgierten Harze) eine –– wesentlich niedrigere mittlere Molmasse (wenige Tausend g mol-1) –– niedrigere Viskosität –– niedrigere Tg (-90 bis -60 °C) auf [81]. Aus diesen Eigenschaften resultiert u.a., dass bei Emulsionen keine MFT auftritt. Die erste Phase der Wasserverdunstung und Tröpfchenannäherung erfolgt hier nach den gleichen Prinzipien wie bei der Trocknung einer Dispersion. Nach dem Beginn der Tröpfchenverschmelzung, die hier wesentlich leichter erfolgt als bei hochmolekularen Dispersionspartikeln, tritt über einen metastabilen, optisch klaren, homogenen Zwischenzustand beim kritischen Volumenverhältnis die Phasenumkehr von einer Öl-in-Wasser-(O/W-) in eine Wasser-in-Öl-(W/O-) Emulsion ein. Das Restwasser bildet feinste, schwach lichtbrechende Tröpfchen im umgebenden Harz und kann anschließend nur noch durch Tröpfchenmigration und Diffusion an die Oberfläche gelangen. Parallel dazu beginnt langsam die oxidative Vernetzung [81]. Die verschiedenen Phasen kann man – unter optimierten Bedingungen – auch vorübergehend auf einmal sehen, wenn man ein Tröpfchen einer Alkydharzemulsion bzw. eines Emulsionsklarlackes auf einer Glasplatte antrocknen lässt (s. Abbildung 6.10).

Abbildung 6.10: Kolloidchemische Phasen bei der Antrocknung eines Alkydharz-Emulsionströpfchens auf einer Glasplatte aus [81]

125

Physikalische Trocknung

6.2.4 Nichtwässrige disperse Systeme Zu nicht wässrigen dispersen Systemen gehören: Non Aqueous Dispersions (NADs): Sterisch stabilisierte Polymerpartikel (i.d.R. Polyacrylat) in einem aliphatischen Kohlenwasserstoff als nichtlösendes Dispersionsmittel; hoher nfA (über 80 %) möglich; für hochwertige High-Solid-Decklacke; rein physikalisch trocknend oder thermisch vernetzend; auch mit gelösten Filmbildnern kombiniert. Plastisole Pastöse Dispersionen von PVC-(Copolymer-)Pulver – zusammen mit Pigmenten und Stabilisatoren – in einem bei Raumtemperatur nichtaktiven Weichmacher (Phthalat, Adipat, Phosphat u.ä.); zur Viskositätseinstellung evtl. geringer Lösemittelzusatz; verfilmen thermisch-physikalisch bei z.B. 200 °C/30 bis 60 s (Coil Coating) oder 180°C/10 min zu dicker, zähelastischer Schicht. Organosole Dispersionen von PVDF-(Polyvinylidenfluorid-)Pulver oder anderem Fluorpolymer – zusammen mit Pigmenten und Acrylharz – in einem Kohlenwasserstoff (Benzin o.ä.); verfilmen thermisch-physikalisch bei z.B. 240 bis 260°C/30 bis 60 s (Coil Coating) zu einem dünnen, flexiblen und extrem wetterbeständigen Film. Während die physikalische Verfilmung einer NAD ähnlich der einer wässrigen Dispersion ablaufen dürfte, liegt bei einem Organosol und (noch ausgeprägter) einem Plastisol ein besonderer Mechanismus vor, den man auch als Gelieren bezeichnet: Bei Raumtemperatur ist der Weichmacher lediglich ein Dispersionsmittel. Bei hoher Temperatur jedoch schmelzen die Polymerpartikel und der Weichmacher diffundiert in die Schmelzetröpfchen ein, die dadurch stark aufquellen. Durch die Tröpfchenberührung kommt es zur Koaleszenz mit Interdiffusion und zum Verlauf. Beim Abkühlen erstarrt der Film schließlich.

126

Allgemeines und Bindemitteltypen

7

Oxidative Vernetzung (oxidative Trocknung)

7.1

Allgemeines und Bindemitteltypen

Unter oxidativer Vernetzung – traditionell „oxidative Trocknung“ genannt – versteht man die selbständige Erhärtung von bestimmten ungesättigten Filmbildnern durch vernetzende Reaktion mit Luftsauerstoff. Obwohl der Begriff „oxidative Vernetzung“ den Härtungsprozess korrekter beschreibt als „oxidative Trocknung“, wird im Folgenden entsprechend der geschichtlichen Entwicklung und technischen Umgangssprache der zweite Begriff verwendet. Während von der Frühzeit der Anstrichtechnik und Malerei im Altertum bis ins 20. Jh. hinein sog. trocknende Öle, vor allem Leinöl, als oxidativ trocknende Filmbildner bzw. sikkativiert (s. Kapitel 7.3) als Klarlacke (Firnisse) verwendet wurden, sind heute die meisten oxidativ vernetzenden Bindemittel Umsetzungsprodukte dieser Öle mit anderen Rohstoffen. Das wichtigste Beispiel dafür sind die Alkydharze, die als öl- bzw. fettsäuremodifizierte Polyester definiert sind (s.u.). Die oxidative Trocknung hat zwei erhebliche Vorteile gegenüber vielen anderen Vernetzungsprinzipien: –– Die Beschichtungsstoffe sind einkomponentig trotz Vernetzung bei Raumtemperatur. –– Die Vernetzerkomponente (Luftsauerstoff) ist frei verfügbar und muss nicht eingearbeitet werden. Schwächen bzw. Beschränkungen sind: –– Vernetzung ist relativ langsam (Stunden). –– Neben- und Folgereaktionen führen zur stetig zunehmenden Vergilbung und Versprödung. –– Anfangs evtl. unangenehme Geruchsbildung durch Emission oxidativer Spaltprodukte. –– Kaum Freiheitsgrade bzgl. Vernetzungsdichte und Reaktionsbedingungen. Die überwiegend aus Pflanzensamen bzw. Früchten sowie auch aus Seetieren gewonnenen und durch Raffination von Begleitstoffen (Polysacchariden, Eiweißen, Lecithin u.a.m.) befreiten Öle sind ausschließlich Triglyceride, d.h. Ester aus einem Molekül Glycerin und drei Molekülen Fettsäure, z.B.

Mischke/Strehmel: Filmbildung in modernen Lacksystemen, 2. Auflage © Copyright: 2018 Vincentz Network GmbH & Co. KG, Hannover

127

Oxidative Vernetzung (oxidative Trocknung) Die am Glycerin gebundenen Fettsäuren bestimmen den Charakter des Öls. Allgemein handelt es sich um langkettige Monocarbonsäuren, meist mit 18 C-Atomen, die keine bis drei Doppelbindungen enthalten; Fischölfettsäuren können auch bis zu fünf Doppelbindungen aufweisen. In Hinblick auf das Trocknungsvermögen von Ölen bzw. Fettsäuren kann zwischen folgenden Fällen unterschieden werden: In der Fettsäurekette –– keine Doppelbindung; Öl nicht trocknend; Beispiel: Laurinsäure (im Kokosöl) –– eine Doppelbindung; Öl nahezu nicht trocknend; Beispiel: Ölsäure (im Erdnussöl); reaktive Struktur:

monoallylische Methylengruppe –– zwei isolierte Doppelbindungen; Öl mäßig trocknend (halbtrocknend); Beispiel: 9,12-Linolsäure (im Sojaöl); reaktive Struktur:

diallylische Methylengruppe –– drei isolierte Doppelbindungen; Öl trocknend; Beispiel: Linolensäure (im Leinöl); reaktive Struktur: –– zwei konjugierte Doppelbindungen; Öl schnell trocknend; Beispiel: 9,11-Linolsäure (im Ricinenöl); reaktive Struktur: –– drei konjugierte Doppelbindungen; sehr schnell trocknend; Beispiel: Eläostearinsäure (im Holzöl); reaktive Struktur: Die obigen Fallunterscheidungen lassen sich zu groben Regeln zusammenfassen: –– Je mehr Doppelbindungen ein Ölmolekül bzw. die darin enthaltenen Fettsäuren aufweisen, desto schneller und vollständiger ist die oxidative Trocknung. –– Konjugierte Doppelbindungen führen zu erheblich schnellerer Trocknung als die gleiche Anzahl isolierter Doppelbindungen. 128

Allgemeines und Bindemitteltypen Ein grobes Maß für den Gehalt als Doppelbindungen bzw. die Eigenschaft „Ungesättigtheit“ ist die Iodzahl (IZ). Darunter versteht man die Masse an Iod in g, die von 100 g Öl (bzw. Substanz) chemisch gebunden werden kann. Rein empirisch zeigt sich nun, dass i.d.R. folgendes gilt 20: –– IZ über 150: Öl ist trocknend bzw. schnell trocknend (z.B. Leinöl, Holzöl). –– IZ 100 bis 150: Öl ist halbtrocknend (z.B. Sojaöl, Saffloröl). –– IZ unter 100: Öl ist nichttrocknend (z.B. Kokosöl, Erdnussöl). Vor allem bei Isolenölen, d.h. Ölen mit isolierten Doppelbindungen, sind primär jedoch nicht die Doppelbindungen selbst, sondern die benachbarten (di)allylischen Methylengruppen Ausgangspunkt der Trocknung (s. Kapitel 7.2). Da Öle flüssige 100 %-Filmbildner sind, können sie nicht physikalisch antrocknen. Die Verfestigung entsteht ausschließlich durch die relativ langsame oxidative Vernetzung. Vor der Verbreitung der Alkydharze mischte man deshalb die Öle häufig mit physikalisch trocknenden Bindemitteln – z.B. (modifizierten) Naturharzen – ab, meistens mit anschließender Verkochung zur Erzielung einer ausreichenden Verträglichkeit. Heute baut man Fettsäuren gezielt in höhermolekulare Bindemittel wie Polyester, Epoxidharze, Phenolharze, Polyacrylate bzw. Acrylatdispersionen oder Polyurethandispersionen ein und erhält so aus Lösungen bzw. Emulsionen/Dispersionen heraus physikalisch (an)trocknende Bindemittel, welche danach oxidativ aushärten. Darüber hinaus kann die oxidative Trocknung auch als (nachträgliche) Zusatzhärtung zur schnelleren chemischen Vernetzung, z.B. durch Einbrennen, eingesetzt werden. Allgemein gilt für die Vernetzung bzw. Härtung von Bindemitteln: –– Je höher ihre Ausgangsmolmassen und –– je verzweigter ihre Moleküle, desto weniger neue chemische Bindungen sind zur Erzielung hoher Molmassen und schließlich zur Vernetzung notwendig und desto schneller verläuft demnach die Härtung. Damit wird verständlich, dass ein trocknendes Öl mit einer Molmasse von nur ca. 880 g mol-1, nur drei Fettsäureketten und nur einer Verzweigung viel mehr neue oxidative Bindungen zur Verfestigung bzw. Netzwerkbildung benötigt als ein Langölalkydharz mit z.B. 65 Ma-% Fettsäureanteil, das aus stark verzweigten Molekülen mit mittleren Molmassen im Bereich von 5000 g mol-1 besteht (vgl. auch Abbildung 5.6 a und c). Die überschlägige Rechnung ergibt eine Zahl von ca. elf Fettsäureketten pro Harzmolekül. Das Harzmolekül verhält sich etwa so wie ca. fünf Ölmoleküle, die bereits oxidativ miteinander verbunden sind. Solche anoxidierten, sog. geblasenen Öle werden tatsächlich auch als Bindemittel eingesetzt. Hinzu kommt noch die Fähigkeit großer Moleküle, durch Lösemittelverdunstung rein physikalisch anzutrocknen. Die oxidative Trocknungsfähigkeit eines Bindemittels wird im Wesentlichen durch Art und Menge der eingebauten Fettsäuren oder anderen autoxidablen Gruppen bestimmt. Bei den Alkydharzen ist deshalb zur groben Charakterisierung die Angabe der Öl- bzw. Fettsäureart und des Ölgehaltes als „Öllänge“ üblich: –– unter 40 Gew.-% Öl im Harz: Kurzölalkydharz –– 40 bis 60 Gew.-% Öl im Harz: Mittelölalkydharz –– über 60 Gew.-% Öl im Harz: Langölalkydharz. 20 Grenze in der Literatur z.T. auch bei Iodzahl 140

129

Oxidative Vernetzung (oxidative Trocknung) Je höher die Öllänge (der Ölgehalt) ist, desto schwächer ist der Anteil der schnelleren physikalischen Trocknung und desto höher ist der Anteil der langsameren oxidativen Vernetzung. So werden für schnelltrocknende Grundierungen und Vorlacke überwiegend Mittelölalkyde, teilweise auch Kurzölalkyde, eingesetzt, während wetterbeständigere Decklacke eher Langölalkyde enthalten. Außer den Fettsäureketten gibt es noch andere Träger eines oxidativen Trocknungsvermögens. Als Beispiele seien Bindemittel mit Allyloxygruppen (-O-CH2-CH=CH2) wie z.B. die ungesättigten Glanzpolyester (s. Kapitel 10.3.3) und relativ niedermolekulare cis-1,4-Polybutadiene (Polybutadienöle) genannt. In der Allyloxygruppe ist die Methylengruppe ähnlich für einen radikalischen Angriff durch Sauerstoff aktiviert wie eine diallylische Methylengruppe. Polybutadiene enthalten in den Ketten zahlreiche Doppelbindungen bzw. allylische Metylengruppen: –  cis-1,4-Polybutadien (Polybutadienöl), M   n = 1500 bis 3000 g mol–1 Polybutadienöle dienen als verseifungsbeständiger Ersatz für fette Öle; sie lassen sich leicht chemisch modifizieren und so z.B. in eine wasserverdünnbare Form überführen. Auch Butadien-Copolymerisate wie Styrol-Butadien-Dispersionen weisen noch eine oxidative Vernetzungsfähigkeit auf.

7.2

Mechanismen der oxidativen Vernetzung

Die chemischen Reaktionsmechanismen der oxidativen Trocknung sind weitgehend aufgeklärt, wenn auch bestimmte Details noch nicht voll verstanden und weiterhin Gegenstand der Forschung sind. Im Folgenden sind die Mechanismen soweit wiedergegeben, wie sie heute übereinstimmend in der Literatur zu finden sind und dem Verständnis der Filmbildung dienen. Wegen der teilweise unterschiedlichen Oxidationsmechanismen ist es notwendig, Bindemittel mit isolierten und mit konjugierten Doppelbindungen gesondert zu betrachten.

7.2.1

Isolierte Doppelbindungen

Das vereinfachte Reaktionsschema für den ersten Teil der Trocknung hat folgende Gestalt:

130

Mechanismen der oxidativen Vernetzung Der Mesomeriepfeil  verbindet optisch sog. mesomere Grenzformen eines Moleküls, die formal durch Verschiebung von Doppelbindungs- und ggf. Einzelelektronen bzw. freien Elektronenpaaren zustande kommen. Diese Elektronendelokalisation heißt Mesomerie (auch: Resonanz) und führt zur Stabilisierung (Energieabsenkung) des Moleküls; s. Lehrbücher der Organischen Chemie. Startpunkt der sog. Autoxidation sind allylische oder bevorzugt diallylische Methylengruppen. Ein Sauerstoffmolekül, das ja ein Diradikal ist (s. Kapitel 5.5.5), abstrahiert aus einer solchen aktivierten Methylengruppe zunächst ein Wasserstoffatom, wodurch ein mesomeriestabilisiertes Sekundärradikal entsteht. Da aus einer diallylischen Methylengruppe ein stärker mesomeristabilisiertes Radikal entsteht als aus einer monoallylischen, reagiert erstere auch wesentlich leichter mit Sauerstoff als letztere. Dann kommt es sofort zu einer Sauerstoff-Anlagerung an eine der Grenzformen. Das dadurch enstehende Peroxyradikal abstrahiert nun wieder ein Wasserstoffatom aus einer Methylengruppe, wodurch ein Hydroperoxid und erneut ein Diallylradikal entsteht, welches wieder Sauerstoff anlagert usw. Es läuft also eine Kettenreaktion ab, die unter Sauerstoffaufnahme zur Bildung von Hydroperoxiden führt. Die bisherigen Beschreibungen decken sich mit folgenden Beobachtungen der Trocknung von Leinöl: –– Zunächst kommt es im Laufe der sog. Induktionsperiode (Inkubationszeit) zu einer erheblichen Sauerstoffaufnahme (ca. 16 Ma-%). –– Die Viskosität nimmt dabei kaum zu. –– Der Doppelbindungsgehalt nimmt nicht ab. Am Beginn dieser ersten Reaktionsphase werden ggf. zunächst Reste natürlicher Antioxidantien wie Tocopherole (Vitamin E) abgebaut. Während der zweiten Trocknungsphase, der eigentlichen Verfilmung, d.h. Molekülvergrößerung und Vernetzung, zerfallen die Hydroperoxide in Alkoxy- und Hydroxy-Radikale, was ein sehr langsamer Prozess ist:

Diese Radikale können nun wieder Wasserstoff aus Fettsäureketten abstrahieren und so Sauerstoff aufnehmende Sekundärradikale (R•) bilden, (R-H weitere Fettsäurekette) oder sie können mit irgendwelchen anderen Radikalen kombinieren. Insgesamt ergeben sich folgende Möglichkeiten für Radikalkombinationen: 131

Oxidative Vernetzung (oxidative Trocknung) Ferner addieren sich die Radikale auch an Doppelbindungen, wodurch es zu weiteren intermolekularen Verknüpfungen unter Doppelbindungsverlust kommt, z.B.

Während nach Raumtemperatur-Trocknung (Lufttrocknung) die Ether-Verknüpfungen stark dominieren, nimmt der Gehalt an C-C-Verknüpfungen mit der Trocknungstemperatur zu und dominiert in eingebrannten Filmen. Peroxidbrücken werden in geringer Zahl ebenfalls gebildet; sie sind im Polymernetzwerk relativ stabil. Bei der Trocknung von Linolensäureethylester in Gegenwart von Sikkativen (s. Kapitel 7.3) wurden auch Epoxidgruppen nachgewiesen, deren Menge nach ca. fünf Tagen ein Maximum erreichte und nach ca. 100 Tagen gegen Null ging. Man nimmt an, dass die EP-Gruppen mit Carboxygruppen reagiert haben [22]. Der Sauerstoffgehalt des Films erreicht am Ende der Induktionsperiode sein Maximum und fällt mit beginnender Verfestigung wieder deutlich ab – bei Leinöl auf einen Restgehalt von 10 bis 12 % der Ölmasse. Dies kann durch die Sauerstoffabspaltung beim Zusammentreffen zweier Peroxyradikale erklärt werden. Der bei der oxidativen Trocknung von Isolenölen bzw. daraus hergestellten Bindemitteln anfangs über längere Zeit wahrnehmbare, als unangenehm empfundene Geruch rührt von der als Nebenreaktion der Vernetzung ablaufenden radikalischen Spaltung von Fettsäureketten, z.B. einer Linolsäurekette, her:

Allgemein werden verschiedene Aldehyde, Ketone und Carbonsäuren als Zersetzungsprodukte gefunden [1].

7.2.2

Konjugierte Doppelbindungen

Die konjugierten Doppelbindungen in sog. Konjuenölen wie Ricinen- oder Holzöl werden durch Sauerstoff oder daraus gebildete Sekundärradikale direkt angegriffen, wodurch es zu einer schnellen Oligomerisierung durch radikalische Polymerisation (mit häufigen Kettenübertragungen kommt), z.B. gemäß

132

Sikkative

(Für den ersten Additionsschritt wird auch eine 1,4-Addition eines Sauerstoffmoleküls zu einem labilen Sechsring angenommen.) In Übereinstimmung mit der Entstehung von vielen CC-Verknüpfungen ist feststellbar, dass die Filme hier weniger Sauerstoff bei der Trocknung aufnehmen als Isolenölfilme. Wie immer auch die genauen Startschritte der Autoxidation hier ablaufen, so bleiben als praxisrelevante Fakten der Konjuenöl- gegenüber der Isolenöltrocknung die deutlich schnellere Verfilmung und die auf den hohen Gehalt an C-C-Bindungen zurückführbare bessere Wetter-, Wasser- und Alkalibeständigkeit sowie die geringere Vergilbungs- und Versprödungsneigung der Filme. In Abbildung 7.1 ist das Netzwerk eines vernetzten Konjuenölfilms schematisch dargestellt.

7.3 Sikkative Ein Leinölfilm (Isolenöl) trocknet bei 25 °C in etwa 125 Stunden durch. Mischt man vorher eine optimale Menge Sikkative (Trockenstoffe, Trockner), d.h. katalytisch wirkende Metallverbindungen zu, so erreicht man den gleichen Trockengrad in ca. 2 ¼ Stunden. Ein Holzölfilm (Konjuenöl) trocknet jeweils etwa doppelt so schnell. In beiden Fällen wird die oxidative Trocknung durch die Sikkative also erheblich beschleunigt. Sikkative (für nichtwässrige) Beschichtungsstoffe sind Salze organischer Säuren und verschiedener Metalle; teilweise werden auch andere Metallverbindungen wie bestimmte Komplexe verwendet. Die Art der organischen Säure bestimmt im Wesentlichen nur die Löslichkeitseigenschaften des Sikkativs. Die früher verwendeten Fettsäuren und Harzsäuren sind

Abbildung 7.1: Vernetztes Konjuenöl (schematisch), C-C-Verknüpfungen mit * gekennzeichnet aus [6]

133

Oxidative Vernetzung (oxidative Trocknung) heute weitgehend durch Naphtensäuren (alicyclische Monocarbonsäuren aus Erdöl) und vor allem die synthetische 2-Ethylhexansäure (Isooctansäure) abgelöst worden. Nach der Art des Metalls [82] unterscheidet man zwischen –– Oberflächentrocknern: Cobalt (Co), Mangan (Mn), Vanadium (V), Eisen (Fe) und Cer (Ce) –– Durchtrocknern (Koordinationstrocknern): Zirkonium (Zr), Aluminium (Al), Bismut (Bi), Barium (Ba) u.a.m. –– Hilfstrocknern (Promotoren): Calcium (Ca), Kalium (K), Lithium (Li), Zink (Zn). Eine andere Einteilung unterscheidet zwischen Primärtrocknern, die mit obigen Oberflächentrocknern identisch sind, und Sekundärtrocknern, worunter alle anderen irgendwie aktiven Metallsalze fallen. Die Metalle der Oberflächentrockner können zwischen zwei (oder mehr) Oxidationszahlen wechseln, worauf ihre katalytsche Wirkung beruht. Für das aktivste Metall, das Co, lauten die Redoxgleichungen:

Der Zerfall der während der ersten Trocknungsphase gebildeten Hydroperoxide in molekülverknüpfende Radikale ist ein sehr langsamer Prozess, da die Aktivierungsenergie zur Bildung zweier Radikale hoch ist. Bildet sich stattdessen jedoch nur ein Radikal und das energiearme Hydroxidion, so ist die Aktivierungsenergie viel niedriger und der Zerfall entsprechend schneller (s. Abbildung 7.2). Zusätzlich zum hier formulierten Redoxmechanismus wird für die Primärtrockner auch ein Sauerstoffübertragungs-Mechanismus diskutiert [83]. Die Verwendung von Co wird aus toxikologischen Gründen mittlerweile kritisch gesehen, weshalb man es teilweise durch die leider weniger aktiven und zu stärkeren Verfärbungen führenden Metalle Mn oder V ersetzt [84]. Mn wird bisher schon i.d.R. in Kombination mit Co eingesetzt, da Co eine sehr schnelle Oberflächentrocknung und Mangan eine bessere Durchtrocknung bewirkt. Es ist aber gelungen, das Mangan durch spezielle Komplexierung so zu aktivieren, dass es die Wirkung von Co erreicht und aufgrund der dazu notwendigen niedrigen Konzentration auch nicht zur Vergilbung beiträgt [163]. Auch Eisen zeigt gute Wirkung, wenn die Bindemittel darauf abgestimmt werden [164, 165]. Die Durch- und Hilfstrockner (Sekundärtrockner) beschleunigen die Wirkung der OberfläAbbildung 7.2: Energieprofile für den Hydroperchentrockner (Primärtrockner) und sorgen oxidzerfall ohne und mit Primärtrockner. Man für eine gleichmäßigere Härtung über die gebeachte die stark unterschiedlichen Aktivierungssamte Schicht. Die Wirkungen basieren entenergien und daraus resultierenden unterschiedweder stärker auf einer ionischen Vernetzung lichen Spaltungsgeschwindigkeiten 134

Hautverhinderung (Salzvernetzung) der Carboxy- und Hydroxygruppen des Bindemittels oder einem noch nicht voll verstandenen Sauerstofftransport-Mechanismus in Koordination mit den Oberflächentrocknern. Der wirksamste Durchtrockner, das Blei, wird aus toxikologischen Gründen durch Zr ersetzt [14]. Die Einsatzmengen der Einzelmetalltrockner liegen bei 0,03 bis 0,2 Ma-% (Al bis 1 %) Metall auf das Bindemittel. Die Kombination und Dosierung der Metalle muss auf das jeweilige Bindemittel und die Trocknungsbedingungen abgestimmt werden; für Standard-Formulierungen gibt es aber auch fertige Metallkombinationen (Kombinationstrockner), z.B. aus Co, Mn und Zr. Eine besondere Gefahr ist die Runzelbildung bei zu schneller Oberflächentrocknung. Bei der Vernetzung der obersten Filmschicht schrumpft diese und behindert zugleich den Sauerstofftransport ins Innere. Bei späterer (langsamer) Durchtrocknung des Films zieht sich dann auch – ggf. verstärkt durch Lösemittelverdunstung – der tiefere Anteil zusammen und wirft die Oberflächenhaut in Falten. Bei Runzellacken (Kräusellacken) erzielt man diesen Effekt gewollt, z.B. durch Zusatz von Holzöl zum Lack und/oder Verwendung von Ricinenölalkydharzen und hohe Sikkativierung mit Cobalt. Temperaturerhöhung bei der Trocknung verstärkt die Runzelbildung [60, 85]. Bei in Wasser befindlichen Bindemitteln laufen im Wesentlichen die gleichen chemischen Reaktionen ab wie bei nichtwässrigen. Allerdings sind hier spezielle, durch Komplexbildung gegen Hydrolyse stabilisierte Sikkative erforderlich, wenn man nicht einen schnellen Aktivitätsverlust nach Einmischen in den Beschichtungsstoff in Kauf nehmen möchte. Auch muss die Dosierung etwas höher gewählt werden als im Lösemittelbereich, da die Reaktivität der Radikale im wässrigen Milieu geringer ist. Für wässrige Systeme typische Rezepturbestandteile wie Ammoniak, Amine, Phosphate oder anionische Tenside können die Aktivität der Metalle, insbesondere des Cobalts, ebenfalls beeinträchtigen [82]. Als generelle Regel für die Sikkativierung gilt: –– Der Sikkativzusatz soll so gering wie möglich sein, da die redoxaktiven Metalle die ständige Weiteroxidation und damit die Versprödung des Bindemittels und damit der Lackierung fördern.

7.4 Hautverhinderung In angebrochenen bzw. unvollständig gefüllten Gebinden bildet sich durch die eingeschlossene Luft i.d.R. eine oxidativ getrocknete Oberflächenschicht, eine sog. Haut, auf dem oxidativ trocknenden Beschichtungsstoff. Dies wird noch dadurch unterstützt, dass die Sikkative sich wegen ihrer tensidartigen (seifenartigen) Molekülstruktur besonders an der Oberfläche anreichern [14]. Der Hautbildung begegnet man durch Additivieren mit Hautverhinderungsmitteln (Antihautmitteln). Dahinter verbergen sich vom Wirkungsmechanismus her zwei unterschiedliche Substanzklassen, und zwar Antioxidantien und Komplexbildner, die häufig auch in Kombination eingesetzt werden. Antioxidantien sind substituierte Phenole, die sauerstoffhaltige Radikale abfangen und dadurch als Reduktionsmittel wirken. Sie sind schwerflüchtig und verdampfen allenfalls beim Einbrennen. Bei Lufttrocknung wirken die Antioxidantien als temporäre Inhibitoren, indem sie die Induktionsperiode verlängern. Dies kann in Hinblick auf die Endeigenschaften des Films u.U. von Vorteil sein [14]. Bei den Komplexbildnern handelt es sich fast ausschließlich um Oxime, also um Kondensationsprodukte aus Ketonen oder Aldehyden und Hydroxylamin. Der stark dominierende 135

Oxidative Vernetzung (oxidative Trocknung) Vertreter ist Methylethylketoxim (Butanonoxim). Die Oxime haben eine ähnliche Flüchtigkeit wie die Lösemittel. Dies hat zwei positive Effekte: Erstens befindet sich das Oxim auch im Dampfraum des Gebindes, so dass es gut auf die Lackoberfläche einwirken kann, und zweites verflüchtigt es sich nach dem Applizieren, wodurch die oxidative Trocknung schnell einsetzt. Die gängige Erklärung der Wirkung der Oxime ist folgende: Das Cobalt muss nach seiner Oxidation von Co(II) nach Co(III) wieder leicht reduzierbar sein. Das Oxim stabilisiert aber die dreiwertige Stufe des Co derart, dass sie unter den gegebenen Bedingungen nicht in die zweiwertige übergeht. Denn Co(III) (bzw. Co3+) hat die Elektronenkonfiguration 3d6, und bis zur erstrebten Edelgaskonfiguration 3d10 4s2p6 fehlen zwölf Elektronen, die von drei zweizähnigen Oximliganden geliefert werden; Co(II) würde die Edelgaskonfiguration dadurch nicht erreichen. An dem Redoxmechanismus in dieser einfachen Form gibt es allerdings gewisse Zweifel, weitergehende Informationen siehe [83]. Da die Oxim-Hautverhinderer – wie schon länger das Cobalt – als toxikologisch bedenklich gelten, versucht man, ihre Einsatzmenge wenigstens zu reduzieren. Dies kann bei angepasster Lösemittelformulierung und Alkydharzauswahl mit einem mikroverkapseltem, wassergelösten Eisenkomplex als Primärtrockner erreicht werden. Die Mikrokapseln werden bei der physikalischen Trocknung des applizierten High-Solid-Lackes zerstört, wodurch erst jetzt die vernetzende Autoxidation stattfindet und eine Haut im Gebinde nicht (vorher) entsteht [166].

7.5

Einflüsse auf die oxidative Trocknung

Die Geschwindigkeit der oxidativen Trocknung hängt von allen denkbaren äußeren Faktoren wie Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Ventilation, Belichtung, Untergrund und Schichtdicke ab. Es ist deshalb nicht möglich, eine genaue, allgemeingültige Trocknungszeit für oxidativ trocknende Beschichtungsstoffe anzugeben. Hinzu kommen Einflüsse von Rezepturbestandteilen wie Sikkativen, Hautverhinderern und Pigmenten. Im Folgenden werden lediglich einige allgemeine Fakten aufgezählt, ohne auf spezielle Messergebnisse und theoretische Hintergründe einzugehen. Sikkativierte Alkydharzfilme bzw. -lacke trocknen i.d.R. umso schneller durch, je –– höher die Temperatur –– niedriger die Luftfeuchtigkeit –– niedriger die Schichtdicke –– höher die Pigmentierung (bei dicken Schichten). ist. Ferner wird eine starke Abhängigkeit vom Untergrundmaterial festgestellt. Auf Stahl verläuft die Trocknung deutlich schneller als z.B. auf Glas [86]. Pigmente können durch Adsorption und damit Deaktivierung von Sikkativen einen Verlust an Trocknungsfähigkeit während der Lagerung von Lacken bewirken. Allgemein beeinflussen die chemischen Eigenschaften der Pigmentoberfläche, z.B. der Säure-Base-Charakter und die Menge an adsorbiertem Wasser und sonstigen abspaltbaren Fremdstoffen, die oxidative Trocknung in komplexer Weise. Eine schnelle Oberflächentrocknung durch starke Ventilation und/oder hohe bzw. falsche Sikkativierung kann zu einer Verzögerung der Durchtrocknung führen, da erstens ggf. die Lösemittelabgabe aus der Tiefe und zweitens die Sauerstoffaufnahme in die Tiefe durch die Barrierewirkung der Oberflächenhaut behindert wird. Besondere Probleme können beim Lackieren von Holz – insbesondere tropischer Herkunft – auftreten. Austretende phenolische und sonstige reduzierende Holzinhaltsstoffe sind im Prinzip Antioxidantien und können somit die oxidative Trocknung erheblich verzögern. 136

Polyaddition und Polykondensation

8 Härtung von Nasslacken durch Stufenreaktionen 8.1 Allgemeines Mit „Härtung“ von Beschichtungsstoffen ist gemeint, ihre Bindemittelmoleküle zu vernetzen. Kurzum: Härtung gleich Vernetzung. In Beschichtungsstoffen liegen die Bindemittelmoleküle zunächst noch als oligomere oder polymere Individuen vor. Falls sie hochmolekular sind, können sie ohne Vernetzung, d.h. durch physikalische Trocknung, stabile Filme bilden. Die Nachteile der physikalisch trocknenden Beschichtungsstoffe bzw. der daraus entstehenden Beschichtungen wie –– begrenzte Beständigkeit gegen Temperatur und organisch-flüssige Medien (Lösemittel u.ä.) –– nicht immer optimale mechanische Eigenschaftsprofile –– bei echt gelösten Filmbildnern der hohe Lösemittelgehalt (VOC-Wert) können durch gezielte Vernetzung überwunden werden. In der Regel liegen die mittleren Molmassen der vernetzbaren Filmbildner im Oligomer-bereich oder etwas darüber, also unter 10.000 g mol-1. Damit sind die Viskositäten der Filmbildner so niedrig, dass sie als mehr oder weniger festkörperreiche Lösungen (nfA über 50 %) oder sogar als flüssige 100 %-Systeme verarbeitbar sind. In Wasser liegen niedermolekulare Filmbildner – je nach Hydrophilie bzw. Mischbarkeit mit Wasser, ggf. nach Neutralisation – als Emulsionen oder Lösungen vor. Höhermolekulare Filmbildner bilden mit Wasser oder sonstigen Nichtlösern Dispersionen, die nach der physikalischen Filmbildung ggf. noch zusätzlich vernetzt werden können. Die Vernetzungsreaktionen sind Polyreaktionen, d.h. Polyadditionen, Polykondensationen oder Polymerisationen (im klassischen Sinn). Die Härtung durch Polymerisation ist Gegenstand von Kapitel 10; in diesem Kapitel werden deshalb nur die ersten beiden Reaktionstypen behandelt.

8.2 Polyaddition und Polykondensation Treffen Moleküle mit mindestens zwei funktionellen Gruppen pro Molekül zusammen und liegen im Gemisch miteinander paarweise reaktionsfähige Gruppen vor, die ohne Abspaltung von Substanzen wie Wasser, Alkohol, Ammoniak oder Chlorwasserstoff miteinander reagieren, so kommt es zu einer Molekülvergrößerung durch eine Polyaddition. Als Beispiel sei die Bildung eines linearen Polyurethans formuliert, wobei Isocyanat-(OCN-) mit Hydroxy-(HO-) zu Urethan- (-O-C(O)-NH-)Gruppen 21 reagieren:

21 Doppelt an das C-Atom gebundene O-Atome werden zwecks Unterscheidung von C–O-Bindungen in solchen linearen Strukturfomeln auch als C(O) notiert. Mischke/Strehmel: Filmbildung in modernen Lacksystemen, 2. Auflage © Copyright: 2018 Vincentz Network GmbH & Co. KG, Hannover

137

Härtung von Nasslacken durch Stufenreaktionen Die Isocyanatgruppen addieren die Hydroxygruppen bei Raumtemperatur unter exothermer Reaktion. Sind das Isocyanat und/oder der Alkohol höher als bifunktionell, so kommt es zu Verzweigungen und bei Überschreitung einer bestimmten mittleren Molmasse durch die Polyaddition zur Vernetzung. Treten bei der Polyreaktion einfache Moleküle wie die o.g. aus, so läuft eine sog. Polykondensation ab. Als Beispiel sei die Reaktion einer Dimethylol-Verbindung mit einem Diol gegeben, wobei Wasser abgespalten wird:

Gewöhnliche alkoholische Hydroxygruppen reagieren nur extrem schwer miteinander. In den Methylolgruppen (HO-CH2-) sind die OH-Gruppen jedoch durch den Kernbaustein X aktiviert. Die Methylolgruppen in Lack-Vernetzerharzen (Komplementärharzen) sind allerdings großenteils verethert; dadurch wird bei der Polykondensation statt Wasser überwiegend Alkohol abgespalten.

Abbildung 8.1: Bildung eines Netzwerkes aus di- und trifunktionellen Molekülen mit den reaktiven Gruppen A und B. a) vor der Reaktion; b) Bildung verzweigter Ketten; c) überschrittener Gelpunkt; (d) Umsatz/Vernetzung vollständig

138

Polyaddition und Polykondensation Polykondensationsreaktionen laufen in nennenswertem Umfang nur bei höherer Temperatur, i.d.R. bei über 120 °C (Einbrennen) ab, da die Aktivierungsenergie hoch ist. Durch starke Katalyse, z.B. mit Säure (Protonen), kann die Reaktionstemperatur im Extremfall aber bis auf Raumtemperatur abgesenkt werden; man spricht dann von Säurehärtung. Auch Polykondensationen führen natürlich zu Netzwerken, wenn die Bindemittelmoleküle im Mittel höher als bifunktionell sind. In Abbildung 8.1 ist die Netzwerkbildung schematisch dargestellt. Die folgenden Überlegungen sind unabhängig davon, ob es sich bei der Vernetzung um eine Polyaddition oder eine Polykondensation handelt. Die hier wichtige gemeinsame Eigenart beider Reaktionsarten ist jedoch, dass es sich um sog. Stufen-Polyreaktionen handelt. Während bei der Polymerisation ein Molekül durch eine Kettenreaktion nach dem Wachstumsstart fast momentan zum Polymermolekül heranwächst, erhöht sich die molare Masse der Moleküle hier graduell-stufenweise über die gesamte Reaktionsdauer. Jeder Wachstumsschritt ist eine diskrete, vollständig abgeschlossene, polare (ionische) Reaktion gemäß den Gesetzmäßigkeiten der gewöhnlichen organischen Chemie (s. Kapitel 5.5).

8.2.1 Formale Prinzipien der Molekülvergrößerung und Vernetzung Geht man zunächst ausschließlich – als einfachstem Fall – von bifunktionellen Molekülen (A–A und B–B) mit den reaktiven Gruppen A und B aus im Verhältnis 1:1 aus, so kann die Molekülvergrößerung folgendermaßen formuliert werden:

–  das arithmetische Mittel (Zahlenmittel) des Polymerisationsgrades ist. Wie man wobei P  n auch allgemein herleiten kann, gilt  Gleichung 8.1 Der Polymerisationsgrad steigt also mit wachsendem Umsatz zunächst recht langsam, dann aber schnell immer steiler an. Denn zu Beginn reagieren überwiegend nur kleine Moleküle miteinander, während sich im späteren Stadium immer größere Moleküle miteinander zu nochmals wesentlich größeren verbinden. Der theoretische Grenzfall des 100 %igen Umsatzes entspricht dem Polymerisationsgrad unendlich, der strukturell und rein formal durch Ringschluss im letzten Reaktionsschritt erreicht würde. 139

Härtung von Nasslacken durch Stufenreaktionen Für den allgemeinen Fall, dass das zahlen- bzw. molare Verhältnis der Gruppen, das sog. Einsatzverhältnis

r = Anzahl Unterschussgruppen ≤ 1 Anzahl Überschussgruppen

auch kleiner als Eins ist, gilt die Carothers-Gleichung 



Gleichung 8.2

Mit r = 1 ergibt sich daraus wieder Gleichung 8.1. Für U = 1 und z.B. r = 0,9 erhält man Die Senkung des Einsatzverhältnisses von 1 auf 0,9 ergibt also für vollständigen Umsatz statt des Polymerisationsgrades Unendlich den Wert 19. Dieses Ergebnis lässt sich anschaulich leicht verstehen: Je mehr Gruppen nicht abreagiert vorliegen (übrigbleiben), desto mehr Kettenenden gibt es, denn jede nicht umgesetzte Gruppe bildet ein Kettenende. Zwei Kettenenden terminieren jeweils ein Molekül. Somit liegen mit zunehmender Zahl freier Gruppen zunehmend viele Moleküle vor, die dann natürlich im Mittel kleiner sind. Nun führt die Reaktion ausschließlich bifunktioneller Moleküle nicht zur Vernetzung. Eine Vernetzung setzt einen gewissen Anteil an tri- oder höherfunktionellen Ausgangsmolekülen voraus. Für den Fall, dass das Einsatzverhältnis r = 1 ist, was man auch als 1:1-Vernetzung bezeichnet, lassen sich folgende relativ einfache Überlegungen anstellen: Die mittlere Funktionalität des Gemisches (Lackes) ist

wobei Ni die Anzahl (oder Molzahl) der Moleküle mit der Funktionalität fi und ΣNi die Gesamtzahl (N0) der Moleküle ist. f N0 ist die Gesamtzahl der vorhandenen funktionellen Gruppen zum Zeitpunkt t = 0. Beim Umsatz U haben Uf N0 Gruppen reagiert. Da beim Ablauf der Vernetzungsreaktion pro umgesetztem Gruppenpaar (A+B) ein Molekül weniger im Gemisch ist, sind bis zum Umsatz U  Nex = ½ Uf N0 Moleküle verschwunden. Ist Nt die Anzahl der zum Zeitpunkt t (Umsatz U) noch vorhandenen Moleküle, so gilt Nex = ½ U f N0 = N0 - Nt          Nt = N0 (1 - ½ U f ) –   = N /N ist (durchschnittliche Anzahl MonomereinDa der mittlere Polymerisationsgrad P  n 0 t heiten bzw. Ausgangsmoleküle pro gebildetem Polymermolekül), führt diese Gleichung direkt zu



die auch als modifizierte Carothers-Gleichung bekannt ist [21]. 140

Gleichung 8.3

Polyaddition und Polykondensation Wieder steigt der Polymerisationsgrad mit dem Umsatz an und wird unendlich für Uf = 2. Nimmt man nun nach Carothers an, dass das Erreichen des unendlich hohen Polymerisationsgrades der Gelierung bzw. beginnenden Durchvernetzung des Gemisches bzw. Lackfilms entspricht, so ergibt sich für den Gelierungsumsatz, den sog. Gelpunkt UG (s. auch Kapitel 5.1.7), der Wert



Gleichung 8.4

Für ausschließlich bifunktionelle Ausgangsmoleküle ist f = 2, und die Gelierung würde formal erst bei dem praktisch nicht erreichbaren Umsatz von 1 (100 %) auftreten. Je höher die mittlere Funktionalität über zwei ist, desto niedriger liegt der Gelpunkt. Stark verzweigte Bindemittelmoleküle mit vielen reaktiven Gruppen wie langölige Alkydharze oder die neueren Dendrimere (s. Kapitel 10.2.1.2) und hyperverzweigten Polyole (s. Kapitel 5.1.7) benötigen nur wenige neue Bindungen untereinander, um zu gelieren. Ein Gemisch aus Triisocyanat und Diol hätte eine mittlere Funktionalität f von 1/5·[(2·3) + (3·2)] = 2,4 und damit einen Gelpunkt UG von 0,83 (83 %). Bis zu diesem Umsatz wäre der Lackfilm noch fließfähig, d.h. ver- und ablauffähig. Eine alternative Gelierungstheorie stammt von Flory und Stockmayer; sie basiert auf Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen. Der Grundgedanke dabei ist folgender: Sucht man irgendeine der vielen A-(bzw. B-)Gruppen in einem Reaktionsgemisch – hier also einem Lackfilm – auf, so ist die Wahrscheinlichkeit dafür, dass diese Gruppe abreagiert ist, also das Molekül hier weitergeht, gleich dem Umsatz der A-(bzw. B-)Gruppen. Durch Anwendung des Additions- und Multiplikationssatzes der Wahrscheinlichkeitsrechnung kann man dann die Gesamtwahrscheinlichkeit für das Auftreten ganzer Segmentstrukturen und damit auch von Verzweigungen berechnen. Die Verzweigungswahrscheinlichkeit ist wiederum mit dem Gelpunkt durch die Annahme verknüpft, dass beim Gelpunkt erstmalig eine (theoretisch) nicht abbrechende Folge von Verzweigungen auftritt. Diese Theorie liefert für den Gelpunkt UG die Gleichung 

 Gleichung 8.5

r Einsatzverhältnis - f A, f B mittlere Funktionalität der A- bzw. B-Monomere nA,i, nB,i Stoffmenge (Molzahl) A- bzw. B-Moleküle mit der Funktionalität fA,i bzw. fB,i Man beachte, dass die mittleren Funktionalitäten hier gewissermaßen „Gewichtsmittel“ und nicht arithmetische Mittel darstellen. Dadurch wird berücksichtigt, dass Gruppen an höherfunktionellen Molekülen eine größere Reaktionswahrscheinlichkeit haben als Gruppen an niedriger funktionellen [12]. Als erstes Beispiel sei die bereits oben betrachtete 1:1-Vernetzung eines Gemisches aus Diol und Triisocyanat gerechnet: r = 1, f A = 2, f B = 3. Damit ergibt Gleichung 8.5: 141

Härtung von Nasslacken durch Stufenreaktionen Dieser Wert liegt deutlich niedriger als der nach Carothers (83 %). Der wahre Gelpunkt liegt dazwischen. Die Begründungen sind folgende [21]: –   ∞ auftritt; tatsächlich erfolgt sie aber –– Carothers nimmt an, dass Gelierung erst bei P  n früher. –– Flory geht davon aus, dass jede Verzweigung auch ein Netzpunkt ist, also zur Vernetzung beiträgt. Tatsächlich bilden sich von den Verzweigungen ausgehend aber auch in sich geschlossene Ringe; somit muss der Umsatz bis zur Gelierung höher sein. Als zweites Beispiel sei ein im Mittel trifunktionelles Harz (mit A-Gruppen) angenommen, das mit einem Vernetzer folgender Zusammensetzung gehärtet werde: 50 % der Moleküle trifunktionell, 30 % tetrafunktionell, 15 % pentafunktionell, 5 % hexafunktionell. Das Einsatzverhältnis sei 0,9:

Nach der Gelierung geht die Vernetzung mit steigendem Umsatz weiter: –  –– Die mittlere Molmasse der Netzbögen M   c nimmt ab. –– Der thermoplastische, ungebundene Molekülanteil (Solanteil ws) nimmt ab, der ins Netzwerk eingebaute (Gelanteil wg) zu. –  –– Die mittlere Molmasse des Solanteils M  n,s nimmt ab, da größere Solmoleküle eher ans Netzwerk gebunden werden als kleinere. –– Der Massenanteil freier Kettenenden wEnd steigt nach der Gelierung zunächst an, da die Menge an einfach gebundenen Solmolekülen zunimmt; dann aber werden auch die freien Kettenenden zunehmend gebunden. In Abbildung 8.2 sind die Fakten graphisch zusammengetragen. Zusammengefasst: –– Je höher die Funktionalitäten der Bindemittelmoleküle sind und je näher das Einsatzverhältnis (r) bei 1 liegt, desto • niedriger liegt der Gelpunkt • höher wird die Vernetzungsdichte.

Abbildung 8.2: Molekularstrukturelle Veränderungen in einem Lackfilm bei der Vernetzung (quantitativ); Erläuterung s. Text, in Anlehnung an [12]

142

Für die am Ende erreichbare Vernetzungsdichte, also die Netzmaschenweite, sind nicht nur die Funktionalitäten und das Einsatzverhältnis relevant, denn z.B. drei Gruppen (fi = 3) können an einem sehr kurzen oder einem sehr langen Molekül sitzen. Auf den Gelpunkt hat das (theoretisch) keinen Einfluss, wohl aber auf die Netzbogenlänge. Die primär relevante Größe ist hier also offenbar die Äquivalentmasse, d.h. der auf

Polyaddition und Polykondensation eine funktionelle Gruppe entfallende Molmassenanteil. Darüber hinaus führen auch Verzweigungen zu einer dichteren Vernetzung, denn jede Verzweigung wird ja später zu einem zusätzlichen Netzpunkt. Das Einsatzverhältnis hängt unmittelbar mit dem sog. Vernetzungsverhältnis zusammen. Hierunter versteht man das Molverhältnis nHärtergruppen : nHarzgruppen. Es ist bei sog. Übervernetzung größer als Eins, bei Untervernetzung dagegen kleiner. Nach obigen Regeln müsste die Vernetzungsdichte vom Verhältnis 1 : 1 ausgehend bei Härterüberschuss wieder abnehmen, da das r unter 1 fällt. Wie im nächsten Kapitel gezeigt wird, erreicht der Härtungsumsatz bei 1:1-Vernetzung jedoch i.d.R. nicht 100 %. Ein begrenzter Überschuss an Vernetzer kann deshalb – wegen der höheren Mobilität der relativ kleineren Vernetzermoleküle – den Härtungsumsatz und somit die Netzwerkdichte erhöhen. Ferner können die Vernetzermoleküle durch Neben- oder Folgereaktionen evt. zusätzliche Netzwerkbindungen ausbilden wie z.B. bei den Urethansystemen, in denen überschüssige Isocyanatgruppen mit Feuchtigkeit aus der Luft bzw. dem Lackfilm zu Harnstoffgruppen und mit bereits gebildeten Urethangruppen bei höherer Temperatur und/oder bei Vorhandensein von Katalysatoren zu Allophanatgruppen reagieren können [7, 19, 22]. In Epoxid-Amin-Systemen kann sich ein 10 bis 20 %iger Aminüberschuss (genauer: NH-Gruppen-Überschuss) positiv auf die Härtungsgeschwindigkeit und Filmeigenschaften auswirken [14].

8.2.2 Physikalisch-chemische Grundprinzipien der Vernetzung Nach der Applikation eines vernetzbaren, lösemittel- bzw. wasserhaltigen Beschichtungsstoffes setzt zunächst die physikalische Trocknung gemäß den in Kapitel 6 behandelten Prinzipien ein. Dabei steigt die Konzentration der funktionellen Gruppen (A, B) im Film zunächst an, und die Gruppen geraten durch thermische Molekularbewegung und daraus resultierende Diffusion im noch flüssigen Film fast ungehindert zueinander. Je nach Reaktivität sind dann verschiedene Fälle zu unterscheiden. Liegt ein 2K-System vor, so beginnt die Härtungsreaktion schon sofort nach dem Mischen von Stammlack und Härter, und zwar nicht nur – wie gewünscht – im Film, sondern leider auch schon in der noch nicht applizierten Mischung, die dadurch eine begrenzte Verarbeitungszeit (Topfzeit, Potlife) hat. Die Reaktion in der Mischung führt bei konventionellen 2K-Lacken zu einer stetigen Viskositätserhöhung, durch deren Messung man das Ende der Topfzeit feststellen kann. Häufig wird für Letztere die Verdopplung der Ausgangsviskosität festgelegt. Bei wässrigen 2K-Systemen besteht allerdings i.d.R. kein signifikanter Zusammenhang zwischen dem Vorreaktionsumsatz in der Mischung und der Viskosität; hier müssen die Topfzeitangaben der Lackhersteller strickt befolgt werden (s. Kapitel 8.4.1.2 und 8.4.2.3). 1K-Systeme härten entweder erst bei stark erhöhter Temperatur (Einbrennen) oder – im Fall von Polymerisationsfähigkeit – durch Strahlung (s. Kapitel 10.2). Sonderfälle stellen die oxidative Trocknung (s. Kapitel 7) und die Feuchtigkeitshärtung (s. Kapitel 8.4.1.3) dar, die lufttrocknende 1K-Systeme ermöglichen. Eine Stufen-Härtungsreaktion setzt sich aus einem Transport- bzw. Diffusions- und einem Reaktionsteil zusammen: 143

Härtung von Nasslacken durch Stufenreaktionen Die Gruppen A und B müssen zusammentreffen, um reagieren zu können, was reversibel erfolgt. Aus ihrer losen Verbindung A···B heraus erfolgt die eigentliche, insgesamt praktisch irreversible chemische Reaktion zum Produkt A-B, d.h. einer Vernetzungsstelle, wobei ein oder mehrere Elementarschritte mit den zugehörigen Übergangszuständen und Aktivierungsenergien durchlaufen werden. Aus dem Ansatz für die Gesamtgeschwindigkeit rges = kR [A···B] und der Bilanz kD [A][B] = kD [A···B] + kR [A···B] bei angenommener Stationarität ergibt sich



Gleichung 8.6

und durch Vergleich mit rges = kges [A][B] (Definitionsgleichung der Gesamtgeschwindigkeitskonstante)



Gleichung 8.7

Ist nun zunächst die Diffusion sehr schnell, so gilt kD >> kR, wodurch sich Gleichung 8.7 zu

mit der Gleichgewichtskonstante

vereinfacht.

Es liegt ein sich schnell einstellendes, vorgelagertes Diffusionsgleichgewicht vor, und die Gesamt-Reaktionsgeschwindigkeitskonstante kges ist nahezu nur von kR abhängig. kR wiederum gehorcht der Arrhenius-Gleichung (Gleichung 5.21) für die Temperaturabhängigkeit. Man spricht hier von Reaktivitätskontrolle. Durch die Lösemittel- bzw. Wasserverdunstung, die Molekülvergrößerung und die beginnende Vernetzung nimmt die Tg des Films ständig zu; das freie Volumen sinkt, und die Diffusionsgeschwindigkeit der Bindemittelmoleküle bzw. ihrer die reaktiven Gruppen tragenden Segmente bzw. Kettenenden fällt entsprechend. Kurzum: Die A- und B-Gruppen kommen in der sich verfestigenden Matrix nur noch langsam und seltener zueinander. Schließlich gilt die Beziehung kD aromatisches Amin 161

Härtung von Nasslacken durch Stufenreaktionen Letztere zwei Typen härten bei Raumtemperatur nur mit Beschleunigern, z.B. mit dem in Kapitel 8.4.2.1 skizzierten 2,4,6-Tris-(dimethylaminomethyl)-phenol, und/oder in der Wärme ausreichend durch [19]. Dabei findet parallel zur Aminaddition auch eine die Härtung unterstützende anionische Oligomerisierung (Polymerisation) von Epoxidgruppen statt [1]. Nur erwähnt sei, dass flüssige, lösemittelfreie Systeme wie konventionelle Fußbodenbeschichtungsstoffe Benzylalkohol als Verlaufsmittel, Weichmacher und Reaktionsbeschleuniger enthalten. Neu entwickelte Härter ermöglichen aber eventuell einen Verzicht auf diese relativ flüchtige Substanz (Sdp. 205 °C) [170]. Die aminische Härtung erfordert i.d.R. eine Mindesttemperatur von ca. 10 °C; mit Beschleunigern kann sie etwas abgesenkt werden. Bei Raumtemperatur-Härtung kommt der Umsatz wegen der Verglasung des Films bei zwischen 60 und 80 % Umsatz fast zum Erliegen, und die Tg erreicht zum Schluss – i.d.R. erst nach mehreren Tagen oder länger – nur Werte von 40 bis 50 °C [12, 22, 96]. Reicht dieser Aushärtungsgrad in Hinblick auf Härte und Beständigkeiten nicht aus, bringt entsprechend den in Kapitel 8.2.2 erklärten Zusammenhängen nur die Erhöhung der Härtungstemperatur oder ein nachträgliches Erhitzen (Tempern) Abhilfe, wodurch dann Spitzenwerte der Tg von 170 bis 180 °C erreicht werden können [9]. Die direkte Lufttrocknung mit niederen Aminen führt oft zu sog. Aminausblühungen, d.h. klebrigen, unansehnlich gefleckten Oberflächen. Dies beruht zum einen auf dem Ausschwitzen des Amins an die Oberfläche, wo sich dann zu viel Amin für eine optimale Netzwerkbildung befindet, und zum anderen auf der Reaktion der primären Aminogruppen mit dem Kohlendioxid der Luft zu inaktiven Carbamaten gemäß Eine Linderung dieser Probleme kann z.B. dadurch erzielt werden, dass man die Härterkomponente im geschlossenen Gebinde mit nur etwa der Hälfte der Harzkomponente z.B. über Nacht zu einem sog. In-Situ-Addukt vorreagieren lässt und dieses dann mit dem Rest das Harzes zum fertigen System mischt. Solche In-Situ-Addukt-Härter oder Aminaddukte sind auch schon fertig erhältlich. Um die Topfzeit ohne wesentliche Anhebung der Härtungsdauer erheblich zu erhöhen, können die primären Aminogruppen der Härter auch mit niederen Ketonen wie Butanon (Methylethylketon) blockiert werden. Die Reaktion dieser Polyketimine erfolgt gemäß Reaktion 7 in Kapitel 8.3 in zwei Stufen: 1. Deblockierung durch Hydrolyse bei Einwirkung von Luftfeuchtigkeit auf den Film und 2. Addition der freigewordenen Aminogruppen an die Epoxidgruppen. Obwohl so im Prinzip auch 1K-Systeme formulierbar wären, werden die Ketimin-Systeme wegen des Aufwandes zur Trocknung der sonstigen Lackrohstoffe i.d.R. zweikomponentig in den Handel gebracht.

8.4.2.3

Wässrige Epoxid-Amin-Systeme

Das Bindemittel eines wässrigen Epoxid-Amin-Systems besteht aus einer Emulsion eines flüssigen oder einer Dispersion eines festen Epoxidharzes, der eine Lösung bzw. Emulsion eines aminischen Härters zugesetzt ist. Die selbstemulgierenden und evtl. noch colöserhaltigen Komponenten werden entweder direkt vor der Anwendung gemischt und dann in Wasser emulgiert oder als fertige wässrige Produkte verarbeitet. Allgemein gelten – mit Ausnahme der Konkurrenzreaktion des Isocyanates mit Wasser – auch hier die in Kapitel 8.4.1.2 für 2K-PUR-Systeme beschriebenen Abläufe. Der Härter dringt in 162

Ausgewählte Vernetzungsreaktionen im Detail der 2K-Mischung durch Diffusion in die Harzteilchen ein und erhöht durch die beginnende Polyaddition deren Viskosität bis zur beginnenden Vernetzung – besonders in der äußeren Zone, wobei auch die Teilchengröße zunimmt. Nach der Topfzeit, deren Ende auch hier i.d.R. nicht durch einen signifikanten Viskositätsanstieg feststellbar ist, ist die Tg und damit die minimale Filmbildetemperatur (MFT) der 2K-Dispersion so hoch, dass sich kein glänzender und gleichmäßig durchvernetzter (fester und beständiger) Film mehr ausbilden kann. Topf- und Härtungszeit laufen natürlich in die gleiche Richtung, sind aber nicht zueinander proportional, da bei der Filmbildung die physikalische Antrocknung zur Vernetzung hinzukommt [14, 97]. In Abbildung 8.5 ist die MFT eines hochreaktiven 2K-Systems in Abhängigkeit von der Reaktionsdauer und -temperatur der Mischung dargestellt. Die frische Mischung hat eine MFT von ca. 12 °C, die dann etwa linear umso steiler ansteigt, je höher die Lagertemperatur ist. Die eingetragenen Hilfslinien zeigen beispielhaft, dass sich die Topfzeit bei 20 °C von ca. zwei auf ca. drei Stunden erhöht, wenn man die Trocknungstemperatur (Objekttemperatur) bzw. die MFT von 20 auf 25 °C erhöht. Grundsätzlich sind Epoxidharzemulsionen bzw. -dispersionen wie alle Dispersionskolloide nicht beliebig lange lagerfähig. Es kommt langsam zu einer Tröpfchen- bzw. Teilchenvergrößerung, bis schließlich eine sichtbare Phasentrennung erreicht wird. Auch werden Epoxidgruppen mit Wasser langsam zu 1,2-Diolen (Glykolen) hydrolysiert, die dann später nicht mehr mit Amin reagieren können [98].

8.4.2.4

Ergänzendes zur Härtung mit Polyanhydriden

Die Härtung von Epoxidharzen mit Anhydriden wie Pyromellithsäureanhydrid, Trimellithsäureanhydrid-Derivaten oder Maleinsäureanhydrid-Acrylat-Copolymeren gemäß Reaktion 9 in Kapitel 8.3 erfolgt in zwei Stufen: 3. Ringöffnung eines Anhydridringes mit einer Hydroxygruppe zum Halbester unter Freisetzung einer Carboxygruppe. 4. Reaktion der freigesetzten Carboxygruppe mit einer Epoxidgruppe unter Esterbildung und Freisetzung einer neuen Hydroxygruppe. Da insbesondere der erste Reaktionsschritt schon merklich bei Raumtemperatur abläuft, müssen flüssige Epoxid-Anhydrid-Systeme einerseits zweikomponentig verarbeitet werden, benötigen zur Aushärtung andererseits eine Temperatur von 180 bis 200 °C; durch Zusatz von Aminkatalysatoren kann die Temperatur abgesenkt werden. Da jede freigesetzte Säuregruppe nur mit einem Epoxidring reagieren kann, wäre theoretisch ein Mischungsverhältnis von 1 mol EP-Gruppen zu 1 mol Anhydridringen notwendig. Praktisch ist jedoch ein leichter Epoxidüberschuss optimal [19]. Die Epoxid-Anhydrid-Netzwerke sind wesentlich dichter als die Epoxid-AminNetzwerke, da bei Ersteren ja von jeder Epoxidgruppe zwei neue Bindungen ausgehen

Abbildung 8.5: Abhängigkeit der MFT einer wässrigen, hochreaktiven 2K-Epoxid-Amin-Mischung von der Reaktionszeit und Temperatur der Mischung (im Topf); Erläuterungen s. Text, aus [97]

163

Härtung von Nasslacken durch Stufenreaktionen und die in höhermolekularen Harzen entlang der Molekülkette vorhandenen Hydroxygruppen mitreagieren können. Die im Beschichtungsbereich relativ geringe Bedeutung der Anhydridhärtung beschränkt sich auf Doseninnenlacke u.ä., wo die gute Säurebeständigkeit der Filme zum Tragen kommt, und auf gewisse Pulverlacke.

8.4.2.5

Härtung über die OH-Gruppen

Längerkettige Bisphenol-A/F-Harze, vorzugsweise mit Molmassen über 4000 g mol-1 (n ≥13), reagieren eher wie Polyole als Epoxidharze. Sie lassen sich deshalb mit Polyisocyanaten oder mit Formaldehyd-Kondensationsharzen wie Harnstoff-, Melamin- oder Phenolharzen (s. Kapitel 8.4.3) dicht vernetzten; die Filme sind den Epoxid-Amin-Filmen insgesamt überlegen. In Hinblick auf die Flexibilität wirkt sich die Äquidistanz der Hydroxygruppen entlang der Molekülketten positiv aus. Während die Vernetzung mit freien aromatischen Polyisocyanaten bei bis hinab zu 0 °C schnell und zuverlässig abläuft (Vorteil gegenüber Epoxid-Amin!), müssen die 1K-Systeme mit blockiertem Polyisocyanat bzw. Formaldehydharz eingebrannt werden [1, 19]. Einen Sonderfall stellen die Bindemittel der kathodischen Elektrotauchlackierung (KTL) dar (s. Kapitel 2.2.2). Sie bestehen i.d.R. aus einem basischen Epoxidharz-Amin-Addukt und einem geblockten, aromatischen Polyisocyanat, wobei letzteres auch chemisch am EP-Harz fixiert sein kann. Im sauren Bad ist das Bindemittel – ebenso wie die anderen Lackbestandteile – dispergierbar, allerdings nicht echt löslich, weshalb ständig gerührt bzw. umgewälzt werden muss. Beim Einbrennen der abgeschiedenen und entwässerten Schicht bei 160 bis 180 °C reagieren die Isocyanatgruppen nach Deblockierung mit den Hydroxygruppen des Epoxidharzes.

8.4.3 Härtung von Harzpolyolen mit Formaldehyd-Kondensationsharzen Formaldehyd-Kondensationsharze, die in der Lacktechnologie zur Vernetzung von Harzpolyolen eingesetzt werden, entstehen durch Umsetzung nucleophiler Ausgangsmoleküle wie Phenol, Melamin, Harnstoff u.a. mit einem molaren Überschuss des Elektrophils Formaldehyd in Gegenwart niederer Alkohole wie n-, Isobutanol oder Methanol. Dementsprechend spricht man allgemein von Phenolharzen (PF) bzw. – im Gegensatz zu den nicht vernetzenden Novolaken – spezieller von Resolen, Melaminharzen (MF), Harnstoffharzen (UF) usw. Die reaktiven Gruppen sind Methylol- (Hydroxymethyl-), Alkoxymethylgruppen (veretherte Methylolgruppen) und ggf. auch NH-Bindungen:

R = n-/i-C4H9 (CH3) 164

Ausgewählte Vernetzungsreaktionen im Detail Die Harze sind relativ niedermolekular (oligomer) und kommen als konzentrierte Lösungen im Überschuss ihres Veretherungsalkohols oder praktisch lösemittelfrei in den Handel. Mit einem Harzpolyol (Kurz-/Mittelölalkyd, gesättigtem Polyester, Polyacrylpolyol, Epoxidharz) reagieren sie beim Einbrennen über die darin enthaltenen Hydroxy- und ggf. auch Carboxygruppen, parallel dazu mehr oder weniger auch mit sich selbst, unter Netzwerkbildung. Die Reaktionen 1, 1’ und 1’’ in Kapitel 8.3 sind die wesentlichen Vernetzungsreaktionen. Veretherte Methylolgruppen (–CH2–OR) der Vernetzerharze reagieren mit Hydroxygruppen wesentlich träger als freie Methylolgruppen. Dadurch lässt sich über den Veretherungsgrad der Harze ihre Reaktivität steuern. Höherveretherte Harze benötigen schärfere Einbrennbedingungen, sind dafür aber auch als 1K-Lack in Kombination mit dem Harzpolyol lagerbeständiger. Die Reaktion mit Carboxygruppen, die in wasserverdünnbaren Harzpolylolen aufgrund Hydrophilierung vorhanden sind, erfolgt langsamer als die mit Hydroxygruppen. Zugleich wirken die Carboxygruppen beschleunigend auf die Methylol-Vernetzung ein [9, 19]. Wegen der nicht genau quantifizierbaren Parallelität von Fremd- und Selbstvernetzung ist es bei diesen Lacken nicht üblich, das Mischungsverhältnis stöchiometrisch zu berechnen. Man geht vielmehr empirisch vom Massenverhältnis des harten Vernetzerharzes (Komplementärharzes) zum flexibilisierenden Polyol aus, wobei häufig ein Verhältnis von ca. 30:70 eingesetzt wird. Die Einbrenntemperatur der 1K-Systeme wird häufig durch Säurekatalysator-Zusatz abgesenkt. Zumischen von mehreren Prozent starker Säure wie para-Toluolsulfonsäure führt sogar zu einer Härtung bei Raumtemperatur. Es liegt dann ein säurehärtendes 2K-System vor, wobei der Stammlack das Polyol und das Vernetzerharz enthält, während der „Härter“ eine reine Säurelösung ist. Säurehärtende Lacke bestehen meistens aus Harnstoff- und Kurzoder Mittelölalkydharz im Massenverhältnis um 60 : 40; die Topfzeiten betragen einige Tage trotz schneller Trocknung. Bei der Härtung läuft im Wesentlichen die Selbstvernetzung des Harnstoffharzes ab. Das Alkydharz hat somit weitgehend nur die Funktion eines äußeren Weichmachers für das an sich sehr spröde Harnstoffharz-Netzwerk, wobei eine oxidative Trocknung zusätzlich zur Nachhärtung führen kann [9, 19]. Die Hauptanwendung ist die industrielle Holzlackierung. Wegen der sehr unerwünschten Formaldehydentwicklung bei der Härtung hat die Bedeutung der Säurehärtung stark abgenommen. Melaminharze unterscheiden sich voneinander außer durch die mittlere Molmasse bzw. Viskosität vor allem durch den Methylolierungs- und den Veretherungsgrad sowie den Veretherungsalkohol. Damit lassen sich die Harze grob in folgende drei Grundtypen einteilen: Typ A: Hochmethyloliert und hochverethert; Reaktivität niedrig; Veretherungsalkohol i.d.R. Methanol; mittlere Molmasse sehr niedrig; Bezeichnung als HMMM (Hexakismethoxymethylmelamin); niedrigviskos und direkt wasserverdünnbar, somit für High-Solid- und/ oder Wasserlacke geeignet; schematische Strukturformel:

165

Härtung von Nasslacken durch Stufenreaktionen Typ B: Hochmethyloliert, teilverethert; Reaktivität mäßig bis hoch; Veretherungsalkohol Butanol; konventioneller Typ; schematische Strukturformel der Monomereinheit (kondensativ an weitere Einheiten gebunden):

Typ C: Teilmethyloliert, hochverethert; Reaktivität hoch; Veretherungsalkohol i.d.R. Methanol; wenig Formaldehydabspaltung bei Härtung; schematische Strukturformel der Monomereinheit (kondensativ an weitere Einheiten gebunden):

Abbildung 8.6: Pendeldämpfung als Maß für den Härtungsgrad dreier Melaminharz-Polyester-Weiß­ lacke aus den Melaminharztypen A, B und C (s. Text) in Abhängigkeit von der Einbrenntemperatur und Säurekatalyse, aus [9]

166

Ausgewählte Vernetzungsreaktionen im Detail In Abbildung 8.6 ist die Filmaushärtung in Form der Pendeldämpfung (Pendelhärte) eines jeweils 20 Minuten lang gehärteten Melaminharz-Polyester-Weißlackes in Abhängigkeit von der Härtungstemperatur und der Stärke des Säurekatalysators für die drei Harztypen A, B und C dargestellt. Harztyp A (HMMM-Typ) härtet nur durch starke Säurekatalyse. Es ist als geschwindigkeitsbestimmender Schritt die Spaltung der Methoxymethylgruppen notwendig, was nur mit starker Säure wie para-Toluolsulfonsäure (auch als Ammoniumsalz geblockt) bei hoher Temperatur vollständig gelingt:

Mel = Melaminharz Eine merkliche Selbstvernetzung des Harzes kann nur in Gegenwart von Wasser festgestellt werden [9, 19]. Die in der Literatur mitunter zu lesende Behauptung, dass von den sechs Methoxymethylgruppen des HMMM aus sterischen Gründen tatsächlich nur drei bis vier reagieren würden, wird in [22] als Fehlinterpretation bzw. Missverständnis von Versuchsergebnissen bezeichnet. Die klassischen Harze vom Typ B härten schon ohne Säure aus; bereits Carbonsäure katalysiert stark. Neben der Selbstvernetzung unter Bildung von Dimethylenether- und Methylenbrücken aus zwei N-Methylolgruppen läuft die Vernetzung mit dem Polyol nach folgendem Reaktionsschema ab [9, 19]:

167

Härtung von Nasslacken durch Stufenreaktionen Das durch Formaldehyd- und Butanolabspaltung entstehende Methylenimin (–N=CH2) ist sehr reaktiv und addiert schnell eine Hydroxygruppe vom Polyol, wonach die N-H-Bindung dann zusätzlich vernetzende Folgereaktionen eingeht. Die dargestellte Reaktionsfolge erklärt auch die relativ starke Formaldehydabspaltung bei der Härtung dieser Harze. Der modernere Harztyp C ist insgesamt am reaktivsten. Dies wird im Wesentlichen und (wohl stark vereinfacht!) damit begründet, dass hier die vorgelagerte, zeitbeanspruchende Formaldehydabspaltung aus Harztyp B entfällt. Die Formaldehydentwicklung beim Einbrennen ist bei diesem Harztyp natürlich gering [19].

8.4.4 Vernetzung von Kieselsäureestern und Sol-Gel-Materialien Ein schon lange verwendetes Bindemittel, insbesondere für Zinkstaubfarben, ist Tetraethylsilikat, Si(OC2H5)4. Wird es in ethanolischer Lösung wohldosiert mit wenig Wasser und starker Säure (Salzsäure) versetzt, so kommt es zu einer Teilhydrolyse und einer Oligomerisierung. Die entstehende kolloidale Lösung, ein sog. Sol, ist größenordnungsmäßig ein

Sol (metastabil in EtOH/H2O, pH 80 % nfA (VOC  65 bis 80 % nfa (VOC