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German Pages 354 Year 2023
Boris Kaehler
Führen als Beruf Andere erfolgreich machen 2. Auflage
Führen als Beruf
Boris Kaehler
Führen als Beruf Andere erfolgreich machen 2. Auflage
Boris Kaehler goodHR Berlin, Deutschland
ISBN 978-3-662-67566-3 ISBN 978-3-662-67567-0 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-67567-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 1. Auflage: © Boris Kaehler/goodHR GbR Berlin 2019, exklusiv lizensiert an Verlag Tredition 2. Auflage: © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Christine Sheppard Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Gewidmet den vielen Führungskräften, die Komplementäre Führung praktizieren, ohne es zu wissen.
Vorwort
Die Erkenntnis als solche ist nicht neu: Führen ist ein Beruf. Das gilt jedenfalls für Führungskräfte in Unternehmen, Behörden, Startups oder Vereinen, die schließlich vor allem dafür angestellt und bezahlt werden, Personal zu führen. Viele von ihnen tun auch andere Dinge, z. B. in übergeordneten Projekten oder für wichtige Kunden. Auch wird ihnen in der Regel eine ganze Organisationseinheit übertragen, was neben Personalverantwortung auch Budget- und Sachfragen mit sich bringt. In erster Linie aber sind Führungskräfte Spezialistinnen und Spezialisten für das Führen von Mitarbeitenden1 oder sollten es jedenfalls sein. Dieses Buch beschreibt, worauf es beim Führen ankommt. Grundlage dafür ist mein Theoriemodell der Komplementären Führung, lang und breit hergeleitet im Grundlagenwerk gleichen Titels, das sich an führungskonzeptionell Interessierte richtet. „Führen als Beruf“ soll dieses Wissen für Führungskräfte als Anwenderinnen und Anwender 1
Wie die meisten Autorinnen und Autoren ringe ich in diesem Buch um eine sowohl geschlechtersensible als auch gut lesbare Sprache. Meine Lösung besteht darin, möglichst häufig eine Kombination der weiblichen und männlichen Form sowie neutrale Formulierungen wie „Führungskraft“ und „Mitarbeitende“ zu verwenden; ansonsten nutze ich das generische Maskulinum, in der Hoffnung, dass sich damit alle Lesenden angesprochen fühlen.
VII
VIII Vorwort
aufbereiten, gut verständlich und streng praxisorientiert. Fast alle Ideen und auch manche Formulierungen, die Sie hier finden, stammen aber aus dem ersten Buch.2 Das Modell, das auf sehr umfangreichen Literaturstudien und meiner zehnjährigen Praxis als Personalmanager und Führungskraft beruht, hat sehr gute Kritiken bekommen und darf mittlerweile als etabliert gelten. Komplementär zu führen bedeutet, als Führungskraft primär auf die Selbststeuerung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu setzen, aber im Bedarfsfall kompensierend einzuwirken. Bezugspunkt dafür sind die vielfältigen Aufgabenstellungen, Aktivitäten und Instrumente ganzheitlicher Personalführung, welche das Modell zu einem Gesamtkonzept integriert. Das Bedürfnis, einen Ratgeber zu schreiben, erwuchs im Kontext eines von mir entwickelten Führungskräfteentwicklungsprogramms3, das nach Begleitmaterial verlangte. Gedacht ist es als umfassende Grundausbildung in Sachen Führung. Ein solches Programm aus Seminaren und Coachings bietet natürlich mehr als ein Text: Verhalten wird geübt, Erfahrungen werden ausgetauscht und reales Führungshandeln reflektiert. Zum erfahrenen Führungsprofi reift man dann ohnehin erst durch ständige Anwendung in der Praxis. Entscheidend aber ist zunächst das richtige Führungsverständnis, und dieses kann man sich wunderbar anlesen. Langjährige Führungskräfte profitieren davon übrigens oft noch mehr als Nachwuchskräfte. Letztere sind mit dem Buch aber auch gut bedient, es wird sogar schon an einer Reihe von Hochschulen zur praktischen Führungsausbildung eingesetzt. Ich danke herzlich meiner lieben Familie für ihre Geduld mit mir als Vielschreiber, dem Verlagsteam um Christine Sheppard und Katharina Harsdorf für die nette Betreuung und reibungslose Produktion, Oliver Maas von maasgestaltet für das gelungene Layout der Grafiken und Tobias Keil für das hilfreiche Rechtschreiblektorat. Ganz besonders danke ich auch den vielen Führungsprofis aus Wissenschaft und Praxis,
2 Aus Gründen der Lesbarkeit – dies ist kein wissenschaftliches Werk – sind nicht alle Selbstzitate explizit als solche gekennzeichnet. Andere Autoren und Quellen werden aber natürlich nach bestem Wissen und Gewissen korrekt und vollständig zitiert. 3 „Führen als Beruf“ – Sie finden es bei Interesse unter www.komplementäreführung.de.
Vorwort IX
die mich als Freunde und Netzwerkkontakte durch die Jahre begleiten, für ihre Hinweise und Tipps. Führen ist, wie uns Management-Vordenker Peter F. Drucker mit auf den Weg gab, vor allem eins: Arbeit. Diese nimmt Ihnen kein Buch ab. Es kann aber vieles vermitteln, was Ihre Führungsarbeit verständlicher, leichter und wirksamer macht, und genau das wünsche ich Ihnen. Berlin im Juni 2023
Boris Kaehler
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung 1 1.1 Ein besonderer Beruf 1 1.2 Begriff und Konzept der Komplementären Führung 4 1.3 Wie allgemeingültig können Führungsempfehlungen sein? 6 1.4 Von der Komplexität des Kaffeekochens 8 1.5 Struktur des Buches 9 Literatur 12 Teil I Führungsverständnis 2
Personalführung im Kontext der Unternehmensführung 17 2.1 Das Konstrukt Management: Geführt wird nicht allein 18 2.2 Führung einer Organisationseinheit 20 2.3 Was ist Personalführung? 22 2.4 Personalmanagement als Medium der Unternehmensführung 23 XI
XII Inhaltsverzeichnis
2.5
Zeitlos und kulturunabhängig – auch in der digitalen Transformation 26 2.6 Von Irrlichtern, Moden und Worthülsen – Konzepte, die Sie nicht weiterbringen 29 2.7 „One HR“: Die Einheit von Mitarbeiterführung und Personalmanagement 35 Literatur 37 3
Das Theoriemodell der Komplementären Führung 39 3.1 Führen als Dienstleistung mit zwei Funktionen 40 3.2 Führungsaufgaben: Was braucht der produktive Mensch? 42 3.3 Die Leitidee des eigenverantwortlich handelnden Mitarbeitenden 45 3.4 Komplementäre Akteure: Die kompensierende Funktion anderer Führungsbeteiligter 48 3.5 Die Umsetzungselemente 53 3.6 Die Führungsroutinen: Führung wird konkret 55 3.7 Konkrete Umsetzung des Prinzips der Selbstführung 60 3.8 Nicht immer voll auf die Nuss! Von den Vorzügen sanfter Interventionen 62 Literatur 66
4
Der Beruf der Führungskraft 71 4.1 Von Hierarchien und Leitungsstellen 72 4.2 Die besondere Rolle oberer Führungskräfte 75 4.3 Die kritischen Führungsressourcen Information, Feedback und Zeit 76 4.4 Was ist Führungsleistung und wie wird sie sinnvollerweise gemessen? 82 4.5 Die Rolle des eigenen Führungsstils und der Persönlichkeit 85 4.6 Führungskompetenz: Was muss man können? 87 Literatur 90
Inhaltsverzeichnis XIII
5
Unschärfen und persönliche Dimensionen 93 5.1 Führungswunsch und Führungswirklichkeit 94 5.2 Einflussnahme in verschiedene Richtungen 96 5.3 Führungskraft werden und bleiben 97 5.4 Mikropolitik und Machtsicherung 101 5.5 Stress lass nach 102 5.6 Ethische und rechtliche Aspekte des Führens 104 Literatur 109
Teil II Führungsalltag 6
Arbeitsinhalte festlegen 113 6.1 Das Prinzip Arbeitsteilung 114 6.2 Festlegung von zu erfüllenden Arbeitszielen 115 6.3 Vorgaben zur Vorgehensweise bei der Erfüllung der Arbeitsziele 118 6.4 Die Arbeitsbesprechung als wichtigste Führungsroutine 120 6.5 Aufbau- und Prozessorganisation 123 6.6 Verhaltenskodex 135 Literatur 137
7
Einstellen, binden, trennen 139 7.1 Personalbeschaffung durch Führungskräfte 140 7.2 Wirksam rekrutieren 141 7.3 Bindung von A bis Z 145 7.4 Personalauswahl und Onboarding 148 7.5 Personalabbau 153 7.6 Einzelfalltrennung 159 7.7 Austrittsbegleitung 163 Literatur 169
8
Ressourcen und Orientierung geben 171 8.1 Arbeitsressourcen als Produktivitätshebel 172 8.2 Arbeitszeit und Arbeitsort 172 8.3 Sonstige Sachmittelausstattung 174 8.4 Orientierung durch Informationsweitergabe 175
XIV Inhaltsverzeichnis
8.5
Hierarchieüberspannende Kommunikation als Aufgabe oberer Führungskräfte 178 8.6 Leistung beurteilen und Feedback geben 180 8.7 Verhaltenskontrollen 186 8.8 Kritikgespräche 187 Literatur 191 9
Kompetenz und Entwicklung fördern 193 9.1 Entwicklung in weiterführende Positionen 194 9.2 Anpassungsqualifizierung 197 9.3 Anleitung/Coaching am Arbeitsplatz 199 9.4 Qualifizierungs- und Entwicklungsprojekte 201 9.5 Innovation kultivieren 202 Literatur 204
10 Zusammenarbeit gestalten 207 10.1 Mitarbeiter- oder Teamebene? 208 10.2 Abstimmungskommunikation im Team 209 10.3 Teamsitzung – Die überschätzte Routine 212 10.4 Beziehungsverantwortung und persönliche Netzwerke 215 10.5 Konflikte fördern und lösen 219 10.6 Umgang mit den Interessenvertretungen 222 10.7 Kultur und Vielfalt 224 10.8 Teamgeist 229 Literatur 234 11 Fürsorge gewähren 237 11.1 Gesundheit und Balance als Führungsmandat 238 11.2 Arbeits- und Gesundheitsschutz 240 11.3 Arbeitsüberlastung und Lebensbalance 242 11.4 Flow: Gesund und produktiv im Schaffensfluss 247 11.5 Veränderungsbegleitung 252 Literatur 258 12 Motivation stiften 261 12.1 Aber ja doch: Motivieren ist eine Führungsaufgabe 262 12.2 Bedürfnisse berücksichtigen 264
Inhaltsverzeichnis XV
12.3 Anreizfelder abrunden 266 12.4 Erwartungen, Absichten und Verhaltensimpulse 270 12.5 Kurzbesuche am Arbeitsplatz 273 Literatur 276 Teil III Führungsstrategie 13 Das Prinzip Normsetzung 281 13.1 Lassen Sie sich nichts erzählen 282 13.2 Normative Unternehmensführung: Der Schlüssel zum Erfolg 284 13.3 Sanfte Normsetzung jenseits von Geboten und Verboten 287 13.4 Personalführung und Sachgeschäftsführung 289 Literatur 292 14 Konstitutives Management 295 14.1 Führen mit Instrumenten 296 14.2 Organisationszweck und Geschäftsmodelle/-instrumente 298 14.3 Governance: Das normative Steuerungssystem 301 14.4 Personalinstrumente als Hilfsmittel und Ärgernis 303 14.5 Konzeptionsprojekte 306 14.6 Administration von Instrumenten 309 Literatur 311 15 Strategisches Management 313 15.1 Führen mit Strategien 314 15.2 Kontextpassung und Ergebnisdimensionen 315 15.3 Szenario-Vorsorgeplanung 319 15.4 Datenbasiertes Management 323 15.5 Strategieworkshop 325 15.6 Mitarbeiterjahresgespräche 329 Literatur 333 Nachwort 335 Stichwortverzeichnis 339
Abbildungsverzeichnis
Abb. 2.1
Prinzip der hierarchisch verschachtelten Organisationseinheiten 20 Abb. 2.2 Management als steuernde Querschnittsfunktion 24 Abb. 2.3 Driving Simple – Die Kunst des Autofahrens 33 Abb. 3.1 Prozessmodell der Mitarbeiterführung 42 Abb. 3.2 Kernmodell der Komplementären Führung 49 Abb. 3.3 Kompensatorisch-situatives Zusammenwirken der Akteure 52 Abb. 3.4 Gesamtmodell der Komplementären Führung 54 Abb. 4.1 Tätigkeitsbereiche der Führungskraft 74 Abb. 5.1 Einflussnahme in alle Richtungen 97 Abb. 7.1 Personalmarketing-Mix 144 Abb. 10.1 Aufwand für Beziehungs- und Sacharbeit im Zeitverlauf 230 Abb 12.1 Prozessmodell der Arbeitsmotivation 263 Abb. 12.2 Anreizfelder als Fishbone-Diagramm 267 Abb 14.1 Angebot, Nachfrage und Bedarf an Personalinstrumenten 306 Abb 15.1 Personalstrategie im strategischen Kontext 316
XVII
Tabellenverzeichnis
Tab. 2.1 Tab. 3.1 Tab. 3.2 Tab. 3.3 Tab. 3.4 Tab. 3.5 Tab. 5.1 Tab. 6.1 Tab. 7.1 Tab. 8.1 Tab. 8.2 Tab. 9.1 Tab. 9.2 Tab. 10.1
Kurzkritik wenig brauchbarer Führungskonzepte 30 Die 21 komplementären Aufgaben der Personalführung 44 Kompensatorische Interventionsoptionen der Führungskraft 51 Die wesentlichen Personalführungsroutinen 58 Abgrenzung von Selbstführung, Mitwirkung und Ausführungsarbeit 60 Sanfte und harte Interventionen 63 Mikropolitische Einflusstaktiken 100 Wichtige Regelungsgebiete 134 Alternative Bewerberzielgruppen 143 Informationsbedarfe 176 Wesentliche Routinen der hierarchieüberspannenden Kommunikation 179 Typische Entwicklungsprogramme 196 Beispielhafte Bildungsmaßnahmen 198 Mögliche Maßnahmen zur Stärkung der kollektiven Identifikation 231
XIX
XX Tabellenverzeichnis
Tab. 13.1 Tab. 14.1 Tab. 14.2
Sanfte und harte Normsetzung 288 Die wesentlichen Führungsinstrumente 303 Beispiele für Administrationsroutinen im Zusammenhang mit Führungsinstrumenten 309
Checklisten-Verzeichnis
Checkliste 1 Checkliste 2
Empfehlungen für Arbeitsbesprechungen 122 Empfehlungen für die Gestaltung der Aufbauorganisation 128 Checkliste 3 Empfehlungen für die Gestaltung der Prozessorganisation 131 Checkliste 4 Empfehlungen für teilstrukturierte Auswahlinterviews 150 Checkliste 5 Empfehlungen für die Eingliederung neuer Mitarbeitender 152 Checkliste 6 Empfehlungen für Trennungsgespräche 167 Checkliste 7 Empfehlungen für Kritikgespräche 189 Checkliste 8 Empfehlungen für Anleitungen am Arbeitsplatz 200 Checkliste 9 Empfehlungen für Qualifizierungs- und Entwicklungsprojekte 201 Checkliste 10 Empfehlungen für Teamsitzungen 213 Checkliste 11 Empfehlungen für Konfliktgespräche 220 Checkliste 12 Empfehlungen für Teambildungsworkshops 232
XXI
XXII Checklisten-Verzeichnis
Checkliste 13 Checkliste 14 Checkliste 15 Checkliste 16 Checkliste 17
Bedarfsroutinen im Krankheits- und Krisenfall Empfehlungen für Kurzbesuche am Arbeitsplatz Empfehlungen für Konzeptionsprojekte Empfehlungen für Strategieworkshops Empfehlungen für Mitarbeiterjahresgespräche
242 275 308 328 331
1 Einleitung
Führen kann ein Traumberuf sein: Andere erfolgreich zu machen und für die Ergebnisse einzustehen, schenkt einem Wirksamkeitserleben und Beitragsstolz.
1.1 Ein besonderer Beruf Backen ist für Bäcker ein Beruf, Unterrichten für Lehrer, Programmieren für Programmierer. Mit dem Führen in Organisationen steht es nicht anders: Es handelt sich um Arbeit, und diese Arbeit konstituiert einen Beruf: den Beruf der Führungskraft.I Er enthält Anteile von Sachtätigkeiten, die sich je nach Branche und Fachgebiet sehr unterscheiden. Im Wesentlichen aber beinhaltet er Personalführung – z. B. die Führung von Bäckern, Lehrern oder Programmierern –, und diese folgt überall den gleichen Prinzipien. Um einen Beruf erfolgreich
1 Die
These vom Management als Arbeit bzw. Beruf haben u. a. schon Peter F. Drucker (1954; 1973; 1998) und Fredmund Malik (2000) überzeugend vertreten. Letzterem kommt das Verdienst zu, das Drucker’sche Denken mit seinem praxisorientierten Standardwerk „Führen, Leisten, Leben“ im deutschsprachigen Raum bekannt gemacht zu haben. Vgl. außerdem Heifetz und Laurie (1997) sowie Müller-Stewens 2010.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Kaehler, Führen als Beruf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67567-0_1
1
2 B. Kaehler
ausüben zu können, muss man wissen, worum es dabei überhaupt geht. Man muss seine Tätigkeit kennen, verstehen, welche Ziele man verfolgt, und mit den Hilfsmitteln vertraut sein, die es zu nutzen gilt. Man braucht ein professionelles Selbstverständnis, eine klare Vorstellung davon, wofür man zuständig ist und wofür nicht. Man muss wissen, was gute berufliche Leistungen ausmacht und wie man sie erzielt. All dies ist eigentlich Gegenstand unzähliger Managementratgeber, wird an den Universitäten seit Jahrzehnten aufwendig beforscht und von den Organisationen mit Millionenbudgets adressiert. Seltsamerweise können trotzdem bis heute die wenigsten Führungskräfte präzise beantworten, worin denn ihr Job besteht. Nach der Lektüre dieses Buches wissen Sie es.2
wissen, was sie tun und » Führungsprofis warum. Unter einer Führungskraft (engl. „manager“, „leader“, „lead“, „head“) verstehe ich eine Person, die beruflich disziplinarische Verantwortung für eine Organisationseinheit mit mindestens drei unterstellten Mitarbeiterinnen oder Mitarbeitern im festen Arbeitsverhältnis trägt. Es ist eine große Unsitte, dass fast alle Studien und Meinungsumfragen auch reine Fachkräfte mit besonderer Verantwortung unter den Begriff einordnen. Das Führen von Mitarbeitenden ist aber völlig anders gelagert als eine Fach- oder Projektaufgabe, mag sie noch so erfolgskritisch und
2 Da die Kapitel in der E-Book-Version einzeln abrufbar sind, wiederhole ich den folgenden Hinweis aus dem Vorwort: Dieses Buch beruht auf dem Theoriemodell der Komplementären Führung, das ich für führungskonzeptionell Interessierte in meinem wissenschaftlichen Grundlagenwerk gleichen Titels dargelegt habe (Kaehler 2020). „Führen als Beruf“ soll dieses Wissen für Führungskräfte als Anwenderinnen und Anwender aufbereiten, gut verständlich und streng praxisorientiert. Fast alle Ideen und auch manche Formulierungen, die Sie hier finden, stammen aber aus dem ersten Buch, das lässt sich nicht vermeiden. Aus Gründen der Lesbarkeit – dies ist kein wissenschaftliches Werk – sind dabei nicht alle Selbstzitate explizit als solche gekennzeichnet. Andere Autoren und Quellen werden aber natürlich nach bestem Wissen und Gewissen korrekt und vollständig zitiert.
1 Einleitung 3
kostenintensiv sein. Auch wer nur einen oder zwei Mitarbeitende führt, betreibt keine Personalführung im Hauptberuf und geht i. d. R. weniger professionell und ernsthaft an die Sache heran. Hier gibt es sicher Ausnahmen, z. B. wenn jemand sehr bewusst führt, weil er das Führungshandwerk erlernen will, oder sehr schwierige Leute führt. Wenn Sie es so angehen, sind Sie eine Führungskraft. Keine Führungskraft im hier diskutierten Sinne sind hingegen alle, die Externe, Gleichgestellte oder sich selbst führen. Auch diejenigen, die sich in unstrukturierten Kontexten zu Anführern einer Gruppe von Menschen aufschwingen, bekleiden keine formale Führungsposition und sind keine Führungskräfte. Das eine oder andere hier mag für sie interessant sein, es ist aber nicht für sie und ihre Anforderungen geschrieben. Dieses Buch richtet sich also in erster Linie an Inhaberinnen und Inhaber klassischer Leitungsstellen. Führungskräfte sind unverzichtbar. Diese Erfahrung hat man z. B. bei Google gemacht, wo Anfang der 2000er Jahre mit der Abschaffung von Managementfunktionen experimentiert wurde.II Sehr spürbar werden die Auswirkungen fehlender Führung auch im Rahmen von Kampagnen, bei denen Großkonzerne alle paar Jahre ihren Mittelbau schrumpfen, nur um die gestrichenen Leitungsstellen dann nach und nach alle wiederaufzubauen. Die Leichtfertigkeit, mit der dies geschieht, und die billigen Schlagworte, die zur Begründung dienen, zeugen immer wieder davon, wie wenig Konsens über die Funktion und die Beiträge von Führungskräften besteht. Tatsächlich haben viele Organisationen so verschwommene Vorstellungen davon, was Führung bedeutet, dass sich daraus unmöglich klare Stellendefinitionen und Auslastungspläne herleiten lassen. Führungskräften in kleineren Unternehmen geht es kaum besser, denn hier sind Führungspositionen ohnehin meist nicht das Ergebnis rationaler Festlegungen, sondern ergeben sich einfach irgendwie. Zu allem Überfluss wollen uns auch noch viele selbst ernannte Expertinnen und Experten weismachen, eine schöne neue Arbeitswelt mache klassische Führung obsolet und an ihre Stelle träten selbstgesteuerte Netzwerke. Dabei lässt sich das Erfordernis von Führungspositionen durchaus recht klar begründen. Erstens ist Selbstführung zwar ein gutes Führungsprinzip, funktioniert aber nicht bedingungslos, auch nicht in Netzwerken. Es bedarf also eines Korrektivs in Gestalt einer übergeordneten Instanz, die unterstützt
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und ordnet. Zweitens ergeben die Partikularinteressen von Teileinheiten in Summe nicht automatisch das Interesse der Gesamteinheit. Jemand muss Sachwalter des Kollektivs sein. Und drittens erfordert die Steuerung einer Organisationseinheit situative Einflussnahme. Es bedarf menschlicher Entscheidungskompetenz, um die jeweiligen Erfordernisse zu erkennen und eine situative Passung herzustellen.3 Zugegebenermaßen sind all dies noch recht abstrakte Erwägungen. Leitet man daraus aber konkrete Aufgabenstellungen und Aktivitäten ab (Abschn. 4.1), so lassen sich die im jeweiligen Einzelfall erforderlichen Führungskapazitäten recht klar bestimmen.
» Ohne Führungskräfte geht es nicht. 1.2 Begriff und Konzept der Komplementären Führung Was ich heutzutage über Führung sage und schreibe, beruht auf meinem eigenen Theoriemodell, das in einem dicken Wälzer gleichen Namens für führungskonzeptionell Interessierte niedergelegt ist. Es soll hier für Führungskräfte allgemeinverständlich aufbereitet werden. Komplementäre Führung habe ich meinen Ansatz genannt. Derartige Wortschöpfungen begleiten uns seit den Anfängen der Führungswissenschaft (z. B. „Autoritäre Führung“) bis heute (z. B. „Agile Führung“). Kritische Stimmen bezeichnen dies als „adjektivisch“ und kritisieren zu Recht den monothematischen Fokus der meisten Ansätze.III Mir erschien der Terminus „Komplementäre Führung“ dennoch ideal, denn zum einen sind Praktiker und Theoretiker gleichermaßen mit solchen Begriffspaaren vertraut, und zum anderen passt es einfach inhaltlich.
3 Wie viele Bereiche unseres Lebens wird diese Grundregel allerdings derzeit durch den Siegeszug der künstlichen Intelligenz in Frage gestellt. Ein Roboter, der die Stimmung eines Mitarbeitenden erfasst und in sinnvoller Weise nicht-standardisiert beantwortet, mag menschlichen Führungskräften in der Zukunft in dieser Hinsicht zumindest ebenbürtig werden.
1 Einleitung 5
Von Komplementarität spricht man ja, wenn unterschiedliche Dinge sich gegenseitig zu einer Gesamtheit ergänzen. Komplementäre Führung weist mehrere solcher Aspekte auf. Sie beinhaltet, dass Mitarbeitende, Führungskräfte und Personalbetreuer als komplementäre Führungsakteure zusammenwirken. Führungskräfte sollen dabei primär auf die Selbststeuerung der Mitarbeiter setzen, bei Bedarf aber kompensatorisch eingreifen. Die Akteure erfüllen gemeinsam die komplementären Führungsaufgaben, welche zusammen die Gesamtaufgabe der Personalführung abbilden. Darin konkretisieren sich die komplementären Führungsfunktionen der Ordnung und der Unterstützung. Hinzu kommen zwei Umsetzungselemente, zum einen konkrete Aktivitäten, die ich Führungsroutinen nenne, und zum anderen Führungsinstrumente als formalisierte Hilfsmittel. Komplementäre Führung ist somit alles andere als eindimensional – welcher Beruf ist das schon? Aber keine Sorge: Sie werden den Überblick behalten, versprochen. Komplementär zu führen, bedeutet also für die Führungskraft, primär auf das Selbstmanagement der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu setzen, aber bei Bedarf kompensierend einzugreifen. Solchermaßen lassen sich die großen Vorteile der Selbststeuerung realisieren, ohne in naives Laisser-faire zu verfallen. Chef oder Chefin sind da, wenn sie gebraucht werden, aber verschwenden ihre Zeit nicht mit unnötigen Eingriffen, die zudem noch die Potenzialentfaltung ihrer Mitarbeitenden behindern. Um sicherzustellen, dass alle Aufgabenstellungen der Führung umgesetzt werden – und zwar vorzugsweise von den Mitarbeitenden selbst –, müssen Führungskräfte bestimmte Führungsaktivitäten absolvieren. Die Aktivitäten und Aufgaben konstituieren somit den Beruf der Führung. Dieses Führungskonzept ist gleichermaßen effektiv und effizient.IV Effektiv deswegen, weil alle Führungsaufgaben wahrgenommen und damit alle Leistungsbedingungen produktiver Arbeit erfüllt werden, und zwar auch bei Problemmitarbeitern. Solchermaßen erfüllt Führung ihren Zweck und bewirkt optimale Resultate einer Organisationseinheit. Unter Effektivität versteht man ja Wirksamkeit, also das Erreichen eines Ziels. Effizient deshalb, weil sparsam mit der „Ressource“ Führungskraft umgegangen wird und zugleich die großen Produktivitätsvorteile der Selbststeuerung genutzt werden. Unter Effizienz versteht man ja Wirtschaftlichkeit, d. h.
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ressourcenoptimierte Wegbewältigung. Was alles dahintersteckt, wird Ihnen im Verlauf des Buches noch klarer.
Führung ist effektive und » Komplementäre effiziente Führung.
1.3 Wie allgemeingültig können Führungsempfehlungen sein? Management ist im Kern nichts anderes als die kluge Balance zwischen Regeln und Regelungsfreiräumen. Auf diese grundlegende Erkenntnis werden wir noch verschiedentlich zurückkommen. Regeln sind dauerhafte (nicht aber unveränderliche) Festlegungen. Vielen sind sie suspekt, und tatsächlich gibt es ja unendlich viele Beispiele dysfunktionaler und sinnloser Regelungen. Es gibt aber nichts Dümmeres, als betriebliche Regeln per se in Frage zu stellen, denn sie konstituieren den Betrieb überhaupt erst. Die Forderung nach ihrer Abschaffung wäre schon deshalb absurd, weil sie selbst eine Regel darstellte. Auch der Beruf des Führens lässt sich über Regelhaftigkeiten und Wirkprinzipien beschreiben. Organisationen geben ihren Führungskräften üblicherweise normative Vorgaben in Form von betrieblichen Führungsmodellen oder -grundsätzen an die Hand. Das ist auch wichtig, denn anders ist eine flächendeckend hohe Führungsqualität nicht zu erreichen. Der Ansatz der Komplementären Führung wurde gezielt als Strukturierungshilfe dafür entwickelt. Für Sie selbst als Anwenderin oder Anwender ist es aber letztlich egal, ob Sie Führungsregeln den Statuten Ihres Arbeitgebers oder einem Managementratgeber entnehmen, Hauptsache, es sind die richtigen. Ohne Standards – ein anderes Wort für Regeln – geht es jedenfalls nicht, denn ein ständiges Wechseln von Führungsidee und -verhalten wäre für uns selbst ebenso unbefriedigend wie für unsere Mitmenschen im Betrieb. Es ist auch gar nicht nötig, denn natürlich lassen sich allgemeingültige Grundregeln für gute und wirksame Führung aufzeigen, die dauerhaft und situations-
1 Einleitung 7
übergreifend gültig sind. „Mut zum Normativen“ wurde dies treffend genanntV, und aus dem Komplementären Führungsmodell lassen sich in der Tat normative Empfehlungen dieser Art ableiten.
Führungsregeln lassen sich » Viele generalisieren … Freilich lässt sich gute Führung nicht vollständig standardisieren. Dauerhaft festzulegen, wie genau Menschen zu sein und wie ihre Interaktionen abzulaufen haben, würde bedeuten, jedwede situative Flexibilität einzubüßen und sich in Widerspruch zur wechselvollen Realität zu setzen. Aus diesem Grunde trifft das Komplementäre Führungsmodell keine Aussagen zur genauen Aufgabenverteilung unter den Führungsakteuren, zu Situationsvariablen im Stil herkömmlicher Kontingenztheorien, zu persönlichen und kommunikativen Anforderungen jenseits eines Mindeststandards und zu Anwendungskonflikten oder Dilemmata. All dies liegt im Bereich der Anwendung, und diese lässt sich nicht standardisieren. Sehr zu Recht warnte Management-Vordenker Peter F. Drucker davor, das Verhalten und die Einstellung von Führungskräften in den Mittelpunkt zu rücken; sie begännen dann nämlich, sich gegenüber ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern übermäßig zu kontrollieren und so krampfhaft zu versuchen, sich immer „richtig“ zu verhalten, dass jede lockere Beziehung zu ihnen unmöglich werde: „Oh je, der Alte hat ein Buch gelesen. Früher wussten wir, was er von uns wollte. Jetzt müssen wir raten.“VI Wirksame Führungskräfte – auch dies wusste schon Drucker – sind und agieren sehr unterschiedlich. Ein jeder muss den für sich passenden persönlichen Kommunikationsstil und die situativ richtige Tonlage treffen. Das lässt sich reflektieren, üben und über die Jahre erlernen. Man kann auch – wie es in diesem Buch geschieht – exemplarische Empfehlungen in Form von Verhaltensbausteinen anbieten. Generalisieren aber lassen sie sich nicht, immer ist die einzigartige Situation der Maßstab. Es käme schließlich auch niemand auf die Idee, einem Verkäufer den Wortlaut
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seines Akquisegespräches oder einem Lehrer vier situationsabhängige Unterrichtsstile vorzuschreiben.
ihre situative und individuelle » …, Umsetzung nicht.
1.4 Von der Komplexität des Kaffeekochens Ich halte regelmäßig Vorträge, berate Unternehmen und schreibe Texte sowie Weiterbildungskonzepte. Die Resonanz darauf fällt durchweg positiv aus, das Modell der Komplementären Führung ist offenbar für die allermeisten Führungskräfte nachvollziehbar und hilfreich. Kritische Rückmeldungen betreffen eigentlich immer nur seine Komplexität. Ich habe noch niemanden kennengelernt, der die fünf Modellelemente und ihre Anwendung selbst nicht verstanden hätte, aber schon sehr viele, die dennoch steif und fest behaupteten, sie seien im Betrieb nicht vermittelbar. Und in der Tat sind wir aus Theorie und Praxis andere, mundgerechtere Führungskonzepte gewohnt. Am liebsten soll alles schön simpel sein und ohne Vorwissen für jedermann verständlich. Gewünscht wird die ultimative Formel für Führungserfolg in fünf einfachen Schritten oder nach einem unschlagbaren Grundprinzip.4 Ich kontere dann immer mit der Frage, in wie vielen Aspekten einem Unkundigen Kaffeekochen zu beschreiben wäre, sodass er es versteht und mit Aussicht auf Erfolg umsetzen kann. Wasser, Strom, Kaffeepulver mit und ohne Koffein und unterschiedlichen Geschmacks, Milch und Sahne, Zucker oder Süßstoff, unterschiedliche Maschinen, Knöpfe, Mengen und Befüllungsgrade, Stromzufuhr, Dauer, Geschirr, und Vorsicht, Verbrühungsgefahr … Sie verstehen, worauf ich hinauswill:
4 Über das Bedürfnis nach Simplifizierung macht sich auch Managementautor und Vordenker Henry Mintzberg (1996) lustig. Er entwirft „Fünf einfache Schritte zur Zerstörung echten Nutzens“ („value“), und der fünfte Schritt besteht in der Empfehlung, unbedingt alles in fünf einfachen Schritten zu tun.
1 Einleitung 9
Führung ist diffiziler als Kaffeekochen. Als Phänomen und Tätigkeit ist sie erheblich vielschichtiger, als es gemeinhin dargestellt wird: „Führen ist, intellektuell gesehen, nicht ganz so schwer, wie es aussieht, doch auch nicht ganz so einfach, wie man in Handbüchern über Führung liest.“ (Hans L. MerkleVII) Kein Mensch käme auf die Idee, den Beruf des Piloten, Kochs, Wertpapieranalysten oder Gärtners in einem Vierfelderschema oder mit fünf Leitwerten zu beschreiben. Brauchbare Theoriemodelle können sich also unmöglich auf einige wenige Aspekte beschränken, sondern müssen zumindest die wesentlichen handlungsrelevanten Elemente aufgreifen und integrieren. Führungskräften darf und muss man diese reale Komplexität zumuten. So furchtbar schwierig ist das Ganze nun auch nicht. Wer sich einmal ein grundlegendes Verständnis erarbeitet hat, setzt die verinnerlichten Prinzipien im Alltag ganz selbstverständlich um und braucht sich nicht in verkopfter Weise ständig neu damit zu beschäftigen. Kaffeekochen können Sie schon, Führen lernen Sie auch. Die eigentliche Herausforderung besteht hier wie dort sowieso nicht im theoretischen Wissen, sondern in dessen praktischer Anwendung.
Verständnis erfordert vertiefte Aus» Echtes einandersetzung.
1.5 Struktur des Buches Dieses Buch beschreibt den Beruf der Führungskraft mit dem expliziten Anspruch, ein alltagstaugliches Verständnis aller wesentlichen Aspekte herauszuarbeiten und mit konkreten Tipps zu unterlegen. In Teil I zum „Führungsverständnis“ umreiße ich das Phänomen Führung, warne vor einigen Irrlehren und stelle meinen Ansatz der Komplementären Führung vor. Sie bekommen einen Überblick darüber, was die Tätigkeit ausmacht. Das sind zunächst einmal die Funktionen und Aufgaben, die es zu erfüllen gilt, sowie die konkreten Aktivitäten, mittels derer dies zu bewerkstelligen ist. Auf die Gestaltung
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von Führungsstellen sowie die nötigen Führungsressourcen wird ebenso eingegangen wie auf die ambivalente Rolle formalisierter Personalinstrumente. Auch Unschärfen und persönliche Dimensionen werden vertieft, z. B. die Fragen, was Führungskräfte können müssen und wie man Führungskraft wird bzw. bleibt. Danach haben Sie ein präzises Verständnis von Ihrer eigenen Rolle als Führungskraft und wissen, was viele daran reizt. In Teil II über den „Führungsalltag“ wird das Tagesgeschäft des Berufs beschrieben. Strukturiert ist dieser Teil nach Führungsaufgaben: Arbeitsinhalte festlegen, einstellen/binden/trennen, Ressourcen bereitstellen, Kompetenz und Entwicklung fördern, Zusammenarbeit gestalten, Fürsorge gewähren und Motivation stiften – alles drin. Führungsalltag eben, und nach diesen Ausführungen wissen Sie, wie Sie ihn angehen. Um es vorwegzunehmen: Es gibt viel zu tun, und um sich nicht in die Gruppe derer einzureihen, die Kernaspekte ihres Jobs vernachlässigen, sollen Sie wissen, was genau. Auch stecken im scheinbar Alltäglichen nicht nur manche Herausforderungen, sondern auch viele Möglichkeiten, um Schwierigkeiten und Fehlsteuerungen schon im Ansatz zu vermeiden. Teil III heißt „Führungsstrategie“ und thematisiert all das, was an langfristigen Normen zu gestalten ist. Auf dem Feld des konstitutiven Managements geht es um dauerhafte Führungsinstrumente. Dies sind formalisierte Werkzeuge der Sachgeschäftsführung, vor allem aber auch Personalinstrumente, und bei ihrer Konzeption ist allerlei zu beachten. Auf dem Feld des strategischen Managements gilt es, Festlegungen für die nächste Geschäftsperiode zu treffen. Dabei sind insbesondere die eigenen Beiträge zu bestimmen und Bedarfsszenarien durchzuplanen. Das alles mag hier in der Zusammenfassung dröge klingen und entspricht auch überhaupt nicht dem Zeitgeist. Ich verspreche Ihnen aber: Eben hierin liegt das Geheimnis, und dieser Buchteil ist der wichtigste. In Wahrheit lässt sich nämlich nichts in der Personalführung per sofort, also im Wege der Intervention, erreichen. Man muss sich rechtzeitig Gedanken machen und vorausschauende Festlegungen treffen. Hat man dies getan, ist der Lösungsraum so weit vorstrukturiert, dass einen so leicht nichts mehr aus der Bahn wirft.
1 Einleitung 11
Nichts von dem, was Sie hier lesen, erhebt übrigens den Anspruch, ewige Wahrheit zu sein. Ich habe das Komplementäre Führungsmodell nicht als Steintafel auf einem Berg empfangen, sondern aus zehn Jahren Berufspraxis, unzähligen Literaturquellen und eigenen konzeptionellen Ideen entwickelt. Mein Beitrag besteht sozusagen darin, die mühsame Vorarbeit auf mich genommen zu haben und Ihnen nun ein erprobtes Konzept vorzulegen – auf Tauglichkeit für Ihre Zwecke müssen Sie es schon selbst prüfen. Ich erinnere mich gern an eine Szene aus meiner Studienzeit, in der unser Professor, der über Kommunikationsmangel sprach, den Widerspruch eines Teilnehmers erntete: „Aber Watzlawick5 sagt doch, man kann nicht nicht kommunizieren!“ Die trockene Replik: „Man muss wohl nicht alles glauben, was Watzlawick sagt.“ Nun, man muss sicher auch nicht alles glauben, was Kaehler sagt. Dieses Buch dürfte einige tausend Empfehlungen enthalten, und die meisten davon habe ich im Laufe der Zeit selbst schon mehrfach revidiert und verbessert. Am besten halten Sie es also mit Kant: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Wenn eine meiner Thesen Sie dazu bringt, durch Nachdenken zur gegenteiligen Auffassung zu gelangen, haben Sie viel gelernt. So funktioniert Wissenschaft, und natürlich sollte auch der Erwerb von praktischem Führungswissen so funktionieren. Gute Führungskräfte beten nichts nach, sondern erwerben ihr Know-how durch aktive Auseinandersetzung mit eigenen Erfahrungen und fremder Expertise. So verstanden, bietet Ihnen dieses Buch eine optimale Grundlage dafür, als Führungskraft erfolgreich zu wirken und Ihre Organisationseinheit nachhaltig erfolgreich zu machen.
» Viel Spaß bei der kritischen Rezeption.
5 Paul
Watzlawick, ein sehr renommierter US-Kommunikationswissenschaftler (1921‒2007).
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Anmerkungen I. Vgl. Garvin 2014. II. Blessin/Wick 2021, S. 6. III. Ich bin nicht der einzige Führungsautor, der das von seinen Modellen behauptet. Insbesondere Fredmund Malik greift die wichtige Unterscheidung in fast allen seiner Werke auf. IV. Malik 2007, S. 62. V. Drucker 2007, S. 143. Der Originaltext in Drucker 1954, S. 124/125, weicht etwas ab. VI. Hans L. Merkle, ehemaliger Bosch-Chef, zitiert nach Merkle 2001, S. 41.
Literatur Blessin, Bernd/Wick, Alexander (2021): „Führen und Führen lassen – Ergebnisse, Kritik und Anwendungen der Führungsforschung“; 9. Auflage UVK Verlag/utb 2021. Drucker; Peter F. (1954): „The Practice of Management“; Neuauflage Harper Collins 2006 (Erstauflage 1954). Drucker; Peter F. (1973): „Management – Tasks, Responsibilities, Practices“; Neuauflage Harper Business 1993 (Erstauflage 1973). Drucker; Peter F. (1998): „Peter Drucker on the Profession of Management – A Harvard Business Review Book“; Harvard Business Press 1998. Drucker, Peter F. (2007): „Was ist Management – Das Beste aus 50 Jahren“, Ullstein Buchverlage; 5. Auflage 2007. Garvin, David A. (2014): „Wie die Ingenieure bei Google lernten, Manager zu lieben“; Harvard Business Manager 3/2014; S. 51‒61. Heifetz, Ronald A./Laurie, Donald L. (1997): „The Work of Leadership“; Harvard Business Review January/February 1997; S. 124‒134. Kaehler, Boris (2020): „Komplementäre Führung – Ein praxiserprobtes Modell der Personalführung in Organisationen“; 3. Auflage Springer Gabler 2020. Malik, Fredmund (2000): „Führen, Leisten, Leben“; Neuauflage Campus 2006 (Erstauflage 2000).
1 Einleitung 13
Malik, Fredmund (2007): „Management – das A und O des Handwerks“ (Band 1 der Serie „Management – Komplexität meistern“); Neuauflage Campus 2007. Merkle, Hans L. „Dienen und Führen – Erkenntnisse eines Unternehmers“; Hohenheim Verlag 2001. Mintzberg, Henry (1996): „Musings on Management“; Harvard Business Review July /August1996; S. 61‒67. Müller-Stewens, Günter (2010): „Management und Strategie als Beruf – Ein Plädoyer für eine Professionalisierungsinitiative“; in Kunisch, Sven/Welling, Christian/Schmitt, Ramona: „Strategische Führung auf dem Prüfstand“; Springer 2010.
Teil I Führungsverständnis
Gute Führung basiert auf richtigem Tun, und dieses wiederum basiert auf Erkenntnis: Führen ist Dienstleistung. Führen schafft Leistungsbedingungen. Führen ermöglicht Selbststeuerung.
Sie haben sich also auf den Weg gemacht – das verdient Respekt. Wenn Sie das Führungshandwerk gerade erst erlernen, stellen Sie sich einem Lernprozess. Es gilt, sich Wissen anzueignen, Klischees zu hinterfragen und neue Gewohnheiten aufzubauen. Das bringt Erkenntnisse, ist aber auch anstrengend. Für diejenigen, die schon lange Führungskraft sind, gehört sogar noch mehr dazu, nämlich die Bereitschaft, sich selbst und die eigenen Vorstellungen zu hinterfragen. Das sollten wir natürlich alle regelmäßig tun. Die Wahrheit aber ist: Die allermeisten tun es nicht, es erfordert zu viel Kraft. Ich kann Ihnen allerdings versprechen: Es lohnt sich.
» Glückwunsch, Sie sind auf gutem Wege.
16 Teil I Führungsverständnis
Im Folgenden stelle ich Ihnen mein Theoriemodell der Komplementären Führung vor. Zuvor aber werden die Konstrukte Management (i. S. v. Unternehmensführung) und Personalführung präzise definiert und gegeneinander abgegrenzt. Es wird geklärt, worin der Beruf der Führungskraft besteht und welche Kompetenzen und Ressourcen man dafür braucht. Auch Unschärfen und persönlich-politische Dimensionen des Berufs werden thematisiert, denn gute inhaltliche Arbeit allein ist noch keine hinreichende Bedingung für Erfolg. Am Ende des ersten Buchteils verstehen Sie Ihr Führungshandwerk ganz sicher besser als je zuvor. Ohne diese Grundlagen könnten Sie die danach folgenden Inhalte auch nicht wirklich gut nachvollziehen.
2 Personalführung im Kontext der Unternehmensführung
Dieses Kapitel wird einige theoretische Grundlagen für den Rest des Buches legen. Man sollte schließlich nicht über etwas schreiben, das nicht klar bestimmt ist. Was also ist Personalführung? Was ist Unternehmensführung? In welchem Verhältnis stehen Sie zueinander? Ist angesichts eines fundamentalen Wandels des Wirtschaftslebens auch neuartige Führung gefragt? All dies wird hier – so knapp und praxisorientiert wie möglich – beantwortet. Um Ihnen ein bisschen Kontext und Orientierung mitzuliefern, gebe ich zudem einen kurzen Überblick über solche Führungskonzepte, die ich für unbrauchbar halte. Und, ganz wichtig: Es wird beleuchtet, wie sich die Arbeit von Führungskräften und Personalabteilungen gegenseitig bedingen.1 1 Da
die Kapitel in der E-Book-Version einzeln abrufbar sind, wiederhole ich den folgenden Hinweis aus dem Vorwort: Dieses Buch beruht auf dem Theoriemodell der Komplementären Führung, das ich für führungskonzeptionell Interessierte in meinem wissenschaftlichen Grundlagenwerk gleichen Titels dargelegt habe (Kaehler 2020). „Führen als Beruf“ soll dieses Wissen für Führungskräfte als Anwenderinnen und Anwender aufbereiten, gut verständlich und streng praxisorientiert. Fast alle Ideen und auch manche Formulierungen, die Sie hier finden, stammen aber aus dem ersten Buch, das lässt sich nicht vermeiden. Aus Gründen der Lesbarkeit – dies ist kein wissenschaftliches Werk – sind dabei nicht alle Selbstzitate explizit als solche gekennzeichnet. Andere Autoren und Quellen werden aber natürlich nach bestem Wissen und Gewissen korrekt und vollständig zitiert.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Kaehler, Führen als Beruf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67567-0_2
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2.1 Das Konstrukt Management: Geführt wird nicht allein Wer den Beruf der Führungskraft verstehen will, muss zunächst das Konstrukt Führung verstehen. Bücher über Führung füllen halbe Bibliotheken, und eine Internetrecherche mit diesem Suchbegriff ergibt unzählige Quellen. Bei der Lektüre wird freilich deutlich, wie unterschiedlich und unpräzise Führung allgemein beschrieben wird. Auch überrascht, wie viele Autoren und Experten es gar nicht erst für nötig erachten, den Gegenstand ihrer Ausführungen konkret zu definieren. Entsprechend viel Unsinn wird über Führung geschrieben – ohne klares Verständnis eines Konstrukts lassen sich eben auch keine überzeugenden Entwürfe dazu liefern. Um die Sache aufzuklären, sollten wir uns zunächst mit dem Begriff „Management“ i. S. v. Unternehmensführung auseinandersetzen. Die etablierte Literatur erweist sich dabei leider als wenig hilfreich. In Lehrbüchern hat die Definition von Management nämlich fast immer zwei Komponenten: die Erreichung von Organisationszielen mit Hilfe von Ressourcen und den darauf bezogenen Steuerungszyklus aus Planen, Organisieren, Beauftragen und Kontrollieren. Beides hilft nicht weiter. Die fünf Aufgabenkategorien, die übrigens 100 Jahre alt sind und auf Fayol (1916) zurückgehen, sind viel zu breit und generisch, um das Konzept Unternehmensführung zu beschreiben. Sie treffen auf das Kochen eines Eintopfes ebenso zu wie auf das Lernen von Schulstoff. Die Nutzung von Ressourcen wiederum ist nur ein Teil des tatsächlichen Geschäftsbetriebs. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass Management eine steuernde Querschnittsfunktion darstellt (Abb. 2.2). Zwei Punkte müssen unbedingt ergänzt werden, kommen aber in der Mainstream-Literatur nicht vor. Der erste Punkt ist, dass der Bezugspunkt dieses Management-Einflusses die Organisationseinheit sein muss (und nicht etwa die Führenden oder Geführten sind). Der zweite Punkt ist, dass Management von unterschiedlichen Akteuren ausgeübt wird. Beides ist für die Führungspraxis sehr bedeutsam und wird in den folgenden Abschnitten noch genauer ausgeführt. Zusammenfassend ergibt sich die folgende, hinten in Teil IV noch einmal um ein wichtiges
2 Personalführung im Kontext der Unternehmensführung 19
Element zu ergänzende DefinitionI: Führung i. S. v. Management (als Kurzform von engl. „corporate management“ = Unternehmensführung) ist ein von multiplen organisationalen Akteuren ausgeübter, an Personal- oder Sachaspekten ansetzender Steuerungseinfluss auf den markt-, produktions- und ressourcenbezogenen Geschäftsbetrieb in einer Organisation und ihren Einheiten zum Zweck der Erreichung der Ziele der Einheit. Führung und Leitung sind Synonyme.
bedeutet, eine Organisations» Managen einheit zu steuern. Führung ist also niemals das Werk eines einzelnen Managers, sondern immer ein kollektiver Einfluss verschiedener Akteure.II Dies ergibt sich schon aus der Tatsache, dass das Führen einer Einheit auch das Führen ihrer Untereinheiten beinhaltet und dass diese Untereinheiten i. d. R. weiteren Führungskräften unterstellt sind. Außerdem wird Management eben oft auch partizipativ praktiziert, was nichts anderes bedeutet, als dass neben der Führungskraft auch die Mitarbeitenden mitentscheiden und in einem gewissen Maße Einfluss nehmen. Totale Fremdsteuerung ist schlechterdings unrealistisch, sodass Management als Konstrukt überhaupt nur Sinn ergibt, wenn dieser Steuerungseinfluss jedenfalls prinzipiell auch als Selbststeuerung ausgeübt werden kann. Führungseinfluss auf Organisationseinheiten üben zudem in fast allen größeren Organisationen auch Vertreter von Zentralabteilungen aus, z. B. Produkt- oder Personalspezialisten. Weitere Akteure kommen durch die sog. laterale Führung ins Spiel, also den Managementeinfluss Gleichgestellter. Die Führungskraft ist Kapitän eines Bootes, bestimmt dessen Kurs und Bordgeschehen aber nie ganz allein – das wäre weder möglich noch überhaupt praktikabel.
ist immer ein kollektives » Führung Geschehen.
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2.2 Führung einer Organisationseinheit In aller Regel wird einer Führungskraft nicht ausschließlich Personal anvertraut, sondern die Verantwortung für eine ganze Einheit einschließlich ihrer Belegschaft. Dies kann eine Gesamtorganisation sein, eine Abteilung, ein Team oder (als kleinste Einheit) eine Stelle. In klassisch organisierten Unternehmen und Behörden werden diese Organisationseinheiten über Berichtslinien verbunden und einander auf diese Weise über- bzw. untergeordnet. Entscheidend dabei ist, dass die Einheiten ineinander verschachtelt werden wie die berühmten Matrjoschka-Puppen, nur dass jede Figur mehrere kleinere Figuren statt einer einzigen enthält (Abb. 2.1). Das mag sich selbstverständlich anhören, ist aber kein Standardwissen und wird in Lehrbüchern ebenso
Abb. 2.1 Prinzip der hierarchisch verschachtelten Organisationseinheiten. (© Boris Kaehler & Jens Grundei 2023. All Rights Reserved.)III
2 Personalführung im Kontext der Unternehmensführung 21
ignoriert wie in der Praxis. Zwar wird in Literatur und Praxis gern nach „Unternehmen führen“, „Teams führen“, „Mitarbeitende führen“ und „sich selbst führen“ unterschieden. Hierbei werden mit den vier Ebenen aber regelmäßig unterschiedliche Managementinhalte verbunden, was konzeptionell und praktisch in die Irre führt. Richtig verstanden bedeutet das Konzept, dass das Führen einer Organisationseinheit immer auch das Führen aller Untereinheiten beinhaltet. Alles, was nur auf der übergeordneten Ebene geschieht, muss scheitern, wenn es nicht auch in alle untergeordneten Einheiten heruntergebrochen bzw. aus diesen heraus hochaggregiert wird. Themen wie Strategie oder Kultur lassen sich nicht sinnvoll auf die Gesamtentität beschränken, wie es allzu häufig geschieht.IV Der Vierklang „Unternehmen führen – Teams führen – Mitarbeiterstellen führen – die eigene Stelle führen“ ergibt also zumindest insofern Sinn, als er aufzeigt, welche Ebenen gleichzeitig zu managen sind. Dieses System der verschachtelten Organisationseinheiten nennt man übrigens Hierarchie, und sie ist in größeren Organisationen unverzichtbar. Zwar predigen vermeintliche Experten seit Jahrzehnten ihre Abschaffung, meinen mit dem Hierarchiebegriff aber fast immer etwas völlig anderes, nämlich Statusgehabe und fehlende Mitsprache. Diejenigen, die wirklich die Hierarchie als solches abschaffen wollen, sagen selten klar, dass dieses die Gleichordnung aller Stellen bedeutet und andere, viel aufwendigere Koordinationsformen erfordert. Auch geht ihr Hauptvorwurf, die Hierarchie sei starr, innovationsfeindlich und vernetzungshinderlich, völlig fehl. Sie ist schließlich nichts weiter als ein Merkmal der sog. Aufbauorganisation und als solches nur eine sehr begrenzte Perspektive auf die Organisation insgesamt. Deren Flexibilisierung und Relativierung erfolgen ganz zwangsläufig durch ergänzende Organisationsmerkmale wie die Prozess- und Projektorganisation, persönliche und institutionelle Netzwerke, Festlegungen zur Entscheidungsverteilung, informelle Organisationsroutinen und organisationskulturelle Muster. Und diese sind nicht zu verwechseln mit den operativen Interaktionen der Organisationsmitglieder, die den eigentlichen Zweck und die Daseinsberechtigung des Unternehmens oder der Behörde bilden. Die Hierarchie steht als Konstrukt überhaupt nicht in Konkurrenz zu diesen Aspekten, sondern bietet ihnen den
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Rahmen. Die Suppe schmeckt aber nicht besser, wenn man sie ohne Teller serviert.
klassische Hierarchie bleibt ein sinn» Die volles Organisationsprinzip.
2.3 Was ist Personalführung? Führung i. S. v. Unternehmensführung (engl. „management“) hatten wir eingangs als zielgerichtete Einflussnahme auf den Geschäftsbetrieb einer Organisationseinheit charakterisiert. Personalführung wird in Lehrbüchern und wissenschaftlichen Artikeln ganz ähnlich definiert: Mitarbeiterführung (engl. „leadership“ oder „people management“) ist zielbezogene Einflussnahme auf Menschen. So jedenfalls lautet der Kern fast aller Definitionen. Um diesen Kern werden dann je nach Quelle höchst unterschiedliche Aspekte herumgebaut, sodass vielfältige Varianten im Umlauf sind. Das wissenschaftliche Standardwerk „Führen und führen lassen“ listet 43 verschiedene Begriffsfassungen auf.V Unsere folgende DefinitionVI liegt ziemlich im Mainstream, kaum ein Experte dürfte widersprechen: Führung i. S. v. Personalführung ist ein von multiplen organisationalen Akteuren ausgeübter Steuerungseinfluss auf Menschen in einer Organisation und ihren Einheiten zum Zweck der Erreichung der Ziele der Einheit durch Erzeugung von Arbeitsleistungen und Erfüllung sonstiger Anforderungen. Diese nüchterne Zielorientierung mag manchen befremden, immerhin haben wir es hier mit unseren Mitmenschen zu tun. In der Tat ist die menschliche Perspektive eine berechtigte und wichtige, wir kommen in Abschn. 5.6 im Zusammenhang mit den ethischen Aspekten der Führung noch darauf zurück. Personalführung ist aber nun einmal von Nutzenerwägungen geprägt.
2 Personalführung im Kontext der Unternehmensführung 23
ist eine zielgerichtete » Personalführung Einflussnahme auf Mitarbeitende. Seit etwa hundert Jahren macht man sich Gedanken über spezifische Konzepte organisationaler Führung. Schon Taylors „Scientific Management“ (1911) sowie Webers Ausführungen über Bürokratie und Charisma (1922) lassen sich so verstehen. Spätestens seit Roetlisberger (1939) und Lewin (1939) werden solche Ansätze auch empirisch untersucht.VII Die Beschäftigung mit Führung als Einflussphänomen ist aber natürlich viel älter und war schon Thema im alten Ägypten und antiken Griechenland, wenn nicht gar in den Höhlen der ersten Menschen. In den letzten Jahrzehnten ist eine Vielzahl unterschiedlicher Konzepte und Modelle entstanden, die alle zum Ziel haben, das Führen von Mitarbeitenden in Organisationen zu beschreiben und zu optimieren. Ein detaillierter Überblick würde hier den Rahmen sprengen, Sie finden ihn anderswo.VIII Meine Erkenntnis bei der Sichtung aller verfügbaren Ansätze lässt sich so zusammenfassen, dass etliche Modelle interessante Ansatzpunkte bieten. Kein einziges aber beschreibt Führung auch nur ansatzweise so, dass Organisationen oder Führungskräfte daraus ein umfassendes und wirklich alltagstaugliches Führungsverständnis ableiten könnten. Aus diesem Grunde habe ich das Theoriemodell der Komplementären Führung entwickelt, das brauchbare Aspekte diverser anderer Ansätze aufgreift und mit weiteren Elementen zu einem integrativen Gesamtmodell neuer Art verknüpft.
2.4 Personalmanagement als Medium der Unternehmensführung Führungskräfte betreiben also sowohl Unternehmens- als auch Personalführung. Wie aber hängt das eine mit dem anderen zusammen? Einer erstaunlich populären und wohl zu Unrecht Mary Parker Follett zugeschriebenen Definition zufolge ist Management „the art of
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Unternehmensführung (= Management)
Operatives Management Absatzwirtschaft
Geschäfts- Produktionswirtschaft betrieb (= Ausführung)
Ressourcenwirtschaft
Steuerung des Tagesgeschäfts mittels Personalführung Marketing Vertrieb inkl. Absatzlogistik Fertigung bzw. Dienstleistung inkl. Logistik Forschung und Entwicklung Finanzierung/Investition/Buchhaltung Informations-/Datenwirtschaft Materialbeschaffung/Lagerhaltung/Entsorgung inkl. Logistik
Strategisches Management
Festlegung von Strategien für eine bestimmte Zeitperiode inkl. Personalstrategien
Konstitutives Management Festlegung dauerhafter interner Normen inkl. Personalinstrumente
Abb. 2.2 Management als steuernde Querschnittsfunktion. (© Boris Kaehler & Jens Grundei 2020. All Rights Reserved.)X
getting things done through people“ – also die Kunst, Dinge durch Menschen zu erledigen. Dies aber wäre höchst erstaunlich, denn es würde Management gleich Personalmanagement setzen. Das überzeugt nun wirklich nicht. Wenn aber Personalführung doch nur eine Teilmenge von Management ist, was bitte ist die Restmenge? Diese Frage wird in der Literatur nirgends sinnvoll beantwortet, und sie ist auch viel vertrackter, als sie auf den ersten Blick aussieht. Personaler sprechen traditionell von „Human Resources“2. Personal ist aber keine gewöhnliche Ressource, sondern – wie Abb. 2.2 verdeutlicht – ein Medium, das alle anderen betrieblichen Ressourcen und Funktionen steuert. Wenn ich es vortrage, erschließt sich dieses Argument manchen sofort, anderen hingegen gar nicht. „Finanzmittel werden ja auch überall gebraucht“, 2 Zur Gleichsetzung von Menschen und Ressourcen siehe Abschn. 5.6 zu ethischen und rechtlichen Aspekte des Führens.
2 Personalführung im Kontext der Unternehmensführung 25
heißt es dann. Geld schießt aber, wie wir wissen, keine ToreIX, und es erbringt auch keine Arbeitsleistungen in allen Bereichen des Geschäftsbetriebs. Das tun nur Menschen, und diesen Aspekt bringt „the art of getting things done through people“ immerhin gut zum Ausdruck. Aus diesem Grunde wird Personalmanagement in den meisten BWL-Lehrbüchern – anders als Produktion, Marketing, Finanzierung etc. – als Teil der Unternehmensführung aufgeführt. Personalführung ist eben kein Teil des Geschäftsbetriebs, sondern Teil der Steuerungsfunktion.
ist das Medium der operativen » Personal Betriebssteuerung. Unter theoretischen Gesichtspunkten ergibt all dies freilich nur Sinn, wenn man das Prinzip der Selbstführung und der verschachtelten Organisationseinheiten verstanden hat. Ein Bauarbeiter, der die von ihm selbst ausgehobene Grube kontrolliert, betreibt damit Management seiner eigenen Stelle und damit seiner eigenen Ausführungsarbeit. Sein Vorarbeiter managt den Bautrupp, indem er diese Selbstführung seiner Mitarbeiter komplementär absichert. Nur so wird ein Schuh daraus, anders ist der Grundgedanke einer steuernden Querschnittsfunktion nicht aufrechtzuerhalten. Allerdings ist damit die Frage nach der rein sachbezogenen Restmenge noch nicht beantwortet. Wir benötigen dafür weitere Managementprämissen, die in Abb. 2.1 mit dem Dreiklang „konstitutiv – strategisch – operativ“ bereits angedeutet sind. Wir kommen aber erst in Teil III darauf zurück. Dort wird auch auf die verbreitete Fehleinschätzung eingegangen, Personalführung sei eine Art neutraler Hygienefaktor, der zwar in allen Betrieben notwendig, aber auch ähnlich sei. Das Gegenteil ist der Fall: Personalführung ist einer der wesentlichen Wettbewerbs- und Qualitätshebel, denn sie beeinflusst nicht nur die Kostenstruktur, sondern auch die Ergebnisse einer Organisation massiv. An dieser Stelle soll zunächst die Feststellung ausreichen, dass es sich bei der Personalführung um eine Teilmenge der Gesamtaufgabe
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der Unternehmensführung handelt. Diese Teilaufgabe könnte freilich bedeutsamer nicht sein, denn die zu führenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter betreiben schließlich das eigentliche Geschäft der geführten Organisationseinheit.
2.5 Zeitlos und kulturunabhängig – auch in der digitalen Transformation Führung ist im Kern – aber auch nur im Kern – ein zeitloses und universelles Phänomen.XI Die grundlegenden Vorteile der Selbststeuerung gegenüber direktiver Fremdbestimmung wurden z. B. schon vor mehr als 100 Jahren diskutiert. Wer behauptet, im Kontext moderner Arbeitswelten sei ganz anders zu führen als in traditionell organisierten Betrieben, liegt damit – wissentlich oder aus Unkenntnis – völlig daneben. Natürlich sieht Führung anders aus, wenn unterschiedliche Menschen sie in unterschiedlichen Kontexten ausüben. Die fünf Elemente der Komplementären Führung lassen sich aber in allen Branchen, in Organisationen unterschiedlichster Größe und in fremden Kulturen umsetzen.
Führung ist zeitlos und » Komplementäre kulturunabhängig. Das ist erstens deswegen möglich, weil es Spielraum bei ihrer Ausgestaltung gibt. Sie lassen sich in Abhängigkeit von den jeweiligen Bedingungen, Erfordernissen und Gepflogenheiten anders gruppieren und benennen. So sollten Führungskräfte z. B. regelmäßige Arbeitsbesprechungen abhalten. In welchen Abständen diese stattfinden, ob andere Führungsaktivitäten daran gekoppelt sind und wie genau sie genannt werden, ist hingegen eine andere Sache. Solche Ausgestaltungsvarianten muss man im jeweiligen Unternehmen festlegen, es braucht dafür keine allgemeinen Empfehlungen. Zum Zweiten, in der Einleitung war schon die Rede davon, darf man nicht anfangen,
2 Personalführung im Kontext der Unternehmensführung 27
die situative und persönliche Umsetzung von Führungselementen zu standardisieren. Diese ist kultur-, personen- und kontextabhängig, und als Führungskraft müssen Sie mit schüchternen Intellektuellen im Video-Chat Berlin–Dubai anders umgehen als mit aufsässigen Vorarbeitern bei Betriebsversammlungen in Wuppertal. Ohnehin führt jeder und jede unterschiedlich, was an unseren verschiedenen Persönlichkeiten, Erfahrungen und Rahmenbedingungen liegt. Auch ist der Umgangston auf dem Bau rauer als in einer Privatbank und dort anders als in einem Start-up. Solche Variabilität betrifft aber nicht den Kern von Führung, sondern nur, wie diese praktiziert und gelebt wird. Dass vieles allgemeingültig ist, sich eine situative und persönliche Standardisierung aber verbietet, wurde ja schon in der Einleitung deutlich.
Führungsprinzipien sind universell, » Viele ihre Anwendung ist es nicht. Natürlich hat aber auch über den Kern von Führung nicht jeder die gleichen Vorstellungen, und es gibt Unternehmens- und Landeskulturen, die mit den Prinzipien der Komplementären Führung nichts anfangen können. Diese sind zwar überall anwendbar, aber nicht mit allem und allen kompatibel. Ein Team oder eine Organisation mit einer differierenden Kultur kann man sanft auf andere Bahnen lenken. Ist hingegen die gesamte Landeskultur so geprägt, wird man es schwer haben und bestenfalls eine Insel andersartiger Organisationsprinzipien schaffen. So wird Führung z. B. in vielen osteuropäischen und asiatischen Regionen als direktive Fremdbestimmung und Entscheidungszentralisation verstanden. Ein weiteres Beispiel ist die USamerikanische Führungsphilosophie, die traditionell auch die hiesige Führungsliteratur dominiert. Sie ist durch starkes Pathos, christlich-fundamentale Werte, Glauben an Vision und Inspiration, harte Resultatorientierung und eher rudimentäre arbeitsrechtliche Vorgaben geprägt. Anhänger dieser kulturellen Denkrichtungen werden mein Buch mit Skepsis lesen. Das Komplementäre Führungsmodell kommt ja
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eher nüchtern-säkularisiert daher, betont den Wert der Selbststeuerung, aber auch der klassischen Positionsmacht, und bildet die Wertentscheidungen des deutschen und europäischen Arbeitsrechts sowie der sozialen Marktwirtschaft ab. Es handelt sich also gewissermaßen um eine europäische Führungsphilosophie. Man muss auch immer schauen, welche Ziele mit Führung verbunden werden. Das betriebswirtschaftliche Ideal einer nachhaltigen Maximierung der Arbeitsleistungen und Stakeholder-Bedürfnisse wird sicher nicht von allen Organisationen und Führenden geteilt, und muss es ja auch nicht. Wenn aber gar nicht die Resultate, sondern z. B. die Versorgung von Positionsinhabern das Führungssystem legitimieren und prägen, bevorzugt man auch andere Konzepte. Grundsätzlich aber gilt: Komplementäre Führung ist in allen Branchen, zu allen Zeiten und in allen Ländern anwendbar, und zwar so, wie die Branche, die Zeit und das Land es erfordern.
Führung lässt sich als » Komplementäre europäischer Alternativentwurf verstehen. Apropos Zeit: Leben wir neuerdings wirklich, wie uns vermeintliche Expertinnen und Experten ständig versichern, in einer VUCA-Welt? Sind Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität tatsächlich so viel größer als früher? Natürlich bringt die digitale Transformation große Veränderungen der Wirtschaft und des Arbeitslebens mit sich. Ob diese Änderungen freilich so viel dramatischer sind als z. B. jene, die in vergangenen Epochen mit Kriegswirtschaft, Weltwirtschaftskrisen und Globalisierung einhergingen, lässt sich bezweifeln. Mehr als seine Kunden, sein Unternehmen und seinen Job kann man im Wirtschaftsleben nicht verlieren, und die jeweiligen historischen Gründe dafür dürften den Betroffenen herzlich egal sein. Natürlich geht die digitale Transformation – wie alle gesellschaftlichen Umwälzungen zuvor – mit besonderen Anforderungen einher. Neue Führungssysteme braucht man dafür allerdings nicht. Um sich für die neue Wirtschaftswelt zu rüsten, müssen Organisationen sich wettbewerbsfähig aufstellen, effizient und effektiv arbeiten, Absatz-, Produktions- und Ressourcenprozesse
2 Personalführung im Kontext der Unternehmensführung 29
im Griff haben und Innovation, Kundennähe und Selbststeuerung zum Prinzip erheben. Nichts davon ist neu, alle wesentlichen Aspekte wurden in 100 Jahren Managementgeschichte eingehend thematisiert. Die Tatsache, dass viele Unternehmen, Behörden und Vereine sich mit den erforderlichen Umstellungen schwertun, hat wenig mit Technologie- und Wertewandel zu tun und viel mit Ignoranz gegenüber evidenten Grundsätzen der wirtschaftlichen Betriebsführung. Feedbackschleifen und Kreativität sind keine Erfindung des neuen Millenniums. Die Digitalisierung bewältigen auch nicht die am besten, die die meisten „Working-Out-Loud“-Workshops veranstalten, Agile Coaches beschäftigen oder Hängeschaukeln aufhängen. Digitale Transformation erfordert kein wildes Herumexperimentieren, sondern durchdachte Managementstrukturen.
Digitalisierung erfordert gute Führung, » Die keine neue.
2.6 Von Irrlichtern, Moden und Worthülsen – Konzepte, die Sie nicht weiterbringen Leider gibt es auf dem Marktplatz der Ideen auch sonst sehr viel ausgemachten Unsinn. Auf wenigen Gebieten wird so viel Pseudowissen verbreitet wie auf dem der Führung. Eine Generalabrechnung will ich Ihnen ersparen, aber einige Irrlehren müssen Sie kennen, um nicht vom nächsten Bestseller oder Managementtraining gleich wieder aus der Verständnisbahn geworfen zu werden. Diese haben nämlich die unerfreuliche Tendenz, die ewig gleichen Säue durchs Dorf zu treiben, sie aber immer hübsch neu zu verkleiden. Wer dies nicht durchschaut, fühlt sich schnell wie ein Ignorant, ganz wie im Märchen von des Kaisers neuen Kleidern. Eine bewusst pointierte Verkürzung aus meiner Sicht wenig brauchbarer Führungslehren bietet Tab. 2.1. Nicht überall ist der Kaiser splitternackt; aber so prächtig, wie man uns einreden will, kleiden ihn seine Unterhosen auch nicht.
Agile Führung
Situative Führung
Demokratische Führung
Systemische Führung
Führen durch Vorbildwirkung
Menschen sind (natürlich) unterschiedlich
(Fortsetzung)
Sehr unterschiedliche Persönlichkeiten können auf ihre Art wirksam führen Unterschiedliche Standards Modelllernen ist für Führungskräfte und Mit(natürlich) eine gute arbeitende sind unproblematisch, Kommunikationstechnik wenn sie gut begründet sind und werden Führen findet (natürlich) in Regeln und Interventionen können Das System aus Beziehungen durchaus funktionieren, ohne einem System statt und Einflüssen relativiert geht es nicht Regeln und Interventionen Partizipation ist (natürlich) Mehrheitsentscheidungen sind Demokratische Elemente in Organisationen selten sinnerfolgskritisch beleben und legitimieren voll; demokratische Elemente die Unternehmens- und bietet bereits die Mitbestimmung Personalführung gemäß BVerfG/PersVG Situationsadäquates Verhalten ist Führung muss (natürlich) Auf bestimmte Personenextrem divers und lässt sich nicht situativ sein typen oder Situationsdurch wenige Situations- und konstellationen soll mit Reaktionskategorien abbilden bestimmten Führungsformen reagiert werden Maximale Flexibilisierung, Durch Abbau von Hierarchien, Führung muss (natürlich) Kommunikation und MitarbeiterAnpassungsfähigkeit intensive Kommunikation orientierung sind ineffizient gewährleisten und hohe Mitarbeiterorientierung sollen Organisationen flexibel agieren
Bestimmte Persönlichkeitsmerkmale befördern gute Führung Führende sollen vormachen, was sie von anderen verlangen
Problem
Persönlichkeitsorientierung
Erkenntnis
Gegenstand
Konzept
Tab. 2.1 Kurzkritik wenig brauchbarer Führungskonzepte (© Boris Kaehler 2019. All Rights Reserved.)
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Gegenstand
Führung soll gleichzeitig Bestehendes pflegen und Innovationen fördern
Erkenntnis Problem
Es geht hier im Wesentlichen Das Wechselspiel von um Sachfragen. InnovationsDynamik und Stabilität ist förderung und Veränderungs(natürlich) eine Kernfrage begleitung sind zudem nur ein des Managements kleiner Teil von Führung Werteorientierte und Führung soll gemeinsame Gesetze müssen (natürlich) Arbeitsfremde Wertdiktate sind ethische Führung unzulässig und diversitätsfeindeingehalten werden. Eine Werte und ethische gemeinsame Arbeitskultur lich. Ethik ist kein Ersatz für Haltungen prägen Gesetzestreue ist (natürlich) wichtig Virtuelle Führung Distanz und KommunikationsFührende nutzen (natürFührung aus der Distanz medien sind eher unwesentliche lich) auch digitale Medien mittels digitaler Medien Führungsaspekte und nicht weist Besonderheiten auf führungsspezifisch Visionäre Führung Die Idee der Vision ist überhöht Führung muss (natürlich) Attraktive Visionen dienen und spielt für Arbeitnehmer de Sinn und Richtung verals Mittel der Gefolgschaftsfacto selten eine Rolle mitteln bildung Transformationale Die vier Faktoren sind letztlich nur Führung muss (natürlich) Idealisierter Einfluss, Führung grobe und lückenhafte AufAnregungen bieten und inspirierende Motivation, gabenkategorien. Charisma und Einzelpersonen berückintellektuelle Anregung und künstliche Inspiration/Stimulation individuelle Berücksichtigung sichtigen sind im Arbeitskontext oft fehl erhöhen die Führungswirkam Platz. samkeit
Ambidextre Führung
Konzept
Tab. 2.1 (Fortsetzung)
2 Personalführung im Kontext der Unternehmensführung 31
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Besonders glattes Terrain betritt der Laie dort, wo von „Leadership“ die Rede ist. Zwar handelt es sich zunächst einmal nur um die wörtliche Übersetzung von Führung, mithin im Deutschen einen synonymen Anglizismus. Das Problem besteht indes darin, dass in beiden Sprachen auch das Wort „Management“ existiert, was dazu einlädt, sie mit unterschiedlichen Bedeutungen zu benutzen. Dabei wird dann Management gern als ein verwalterisches Führen verstanden, im Gegensatz zu Leadership als visionärem/begeisterndem Führen.XII Meist sollen Führungskräfte beides können.3 Das überzeugt nicht, da es dem allgemeinen Sprachgebrauch der Führungswissenschaft und -praxis widerspricht, wo beide Termini ständig synonym oder jedenfalls mit großen Schnittmengen benutzt werden. Das Ganze entspricht dem Versuch eines Marmeladenfreundes, Orangen als unansehnliche Saftgeber und Apfelsinen als knackige Fruchtstückchen darzustellen. Mein Rat: Vergessen Sie es und betrachten Sie Führung, Management und Leadership als Synonyme.
vs. Management ist eine » Leadership unsinnige Differenzierung. Apropos Begriffshuberei: Der prototypische Führungsautor und -trainer scheint nicht ohne Akronyme, Wortspiele und Metaphern auszukommen. Auch pseudo-wissenschaftliche Vierfelder-Schemata dürfen nicht fehlen, wobei diese bei näherem Hinsehen fast immer reinen Unsinn enthalten (die meisten Sachverhalte haben sehr viele Dimensionen und lassen sich im Zweiachsendiagramm schlicht nicht darstellen). Abb. 2.3 zeugt davon, wie plausibel reiner Stuss klingen kann, wenn er uns in ansprechender Form dargeboten wird. Ignorieren Sie solchen Budenzauber einfach und konzentrieren Sie sich darauf, ob irgendwelche umsetzungsrelevanten Erkenntnisse mitgeliefert werden. 3 Eine
besonders schräge Variante halten Bennis/Nanus bereit (1985, S. 28 f.): Leadership sei gleich Effektivität, Management gleich Effizienz. Da jedwede Tätigkeit natürlich beide Aspekte aufweist, sagt die anhaltende Popularität dieser These viel über das Reflexionsniveau unserer Führungsdebatten aus.
2 Personalführung im Kontext der Unternehmensführung 33
Driving simple – Die Kunst des Autofahrens Die meisten von Ihnen werden mit der Kunst des Autofahrens vertraut sein. Dennoch sind hoffentlich viele geneigt, ihre Fähigkeiten hier und da noch weiter zu verbessern. Statt eines theoretischen und praktischen Fahrertrainings empfehle ich Ihnen nun die folgenden, nach den neuesten Erkenntnissen der Automobilforschung gestalteten Lernhilfen.
Dillettantischer Stil („Anfänger“)
Halsbrecherischer Stil („Draufgänger“)
Vorsichtiger Stil („Pedant“)
Routinierter Stil („Profi“)
Niedrige Geschwindigkeit
Hohe Geschwindigkeit
Risikofreude
Risikovermeidung
Vier-Felder-Typologie der Fahrstile mit Entwicklungskurve Glänzendes Fell und prächtiges Gefieder stehen im Tierreich für Gesundheit und Dominanz; sie sichern dem Individuum seinen Platz im System. Waschen und pflegen Sie also regelmäßig Ihr Auto, um Nachbarn und Verkehrsteilnehmern Ihren Status zu verdeutlichen. Seien Sie der Alpha-Kakadu und pflegen Sie Ihre Haube. Die Weisheit der Kakadus
A – Aufmerksam U – Umsichtig T – Trickreich O – Ortskundig M – Mobil O – Ökonomisch B – Bewusst I – Informiert L – Lässig Die 9 Prinzipien des Autofahrens als Akronym
Automobil = griechisch „ “ (selbst), lateinisch „mobilis“ (beweglich) Daraus folgt: Man lasse das Auto sich selbst bewegen und greife möglichst wenig ein. Aus diesem Grund sprechen auch nur Ignoranten und Rückwärtsgewandte vom „Fahrzeugführer“ – der moderne Automobilist ist „Fahrzeug-Leader“! Übrigens: Nur wer er-fahren hat, was Reisen heißt, verfügt über natürliche Auto-rität. Erkenntnisreiche Wortspiele
Beschreibt das die Wirklichkeit des Autofahrens? Hilft es jemandem beim Autofahren? Eben.
Abb. 2.3 Driving Simple – Die Kunst des Autofahrens. (© Boris Kaehler 2014. All Rights Reserved.)XIII
Misstrauisch sollten Sie auch werden, wenn man Sie davon überzeugen will, auf evidenzbasierte Konzepte zu setzen. Trotz vieler Jahrzehnte weltweiter universitärer Forschung liegen leider sehr, sehr wenige praktisch brauchbare Resultate vor.4 Schauen Sie sich einfach kritisch an, welche Evidenz genau herangezogen wird, und Sie werden 4 Meiner
Meinung nach liegt dies an der unzureichenden theoretischen Fundierung, extremen Mikrofokussierung und ausgeprägten Praxisferne der empirischen Führungsforschung und ist natürlich ein Armutszeugnis für uns Wissenschaftler.
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fast immer enttäuscht sein. Vorsicht auch mit Studien von Beratungshäusern, die zu Marketingzwecken in Presse und sozialen Medien lanciert werden. Sie täuschen oft wissenschaftliche Erkenntnisse vor, sind methodisch aber i. d. R. ungenügend und bestehen meist zur Hälfte aus Worthülsen. Überhaupt wird viel geschwurbelt in der Führungsszene. Visionen und Inspiration verbreiten, Wandel anstoßen, Vertrauen aufbauen, Resultate erzielen, Loben, mitreden lassen, Vorbild sein – so wird uns Führung allenthalben vermittelt. Ein echtes Berufsverständnis entsteht aus solchen Versatzstücken aber nicht. Jede dieser Phrasen ist gleichzeitig richtig und falsch, wir knöpfen sie uns in diesem Buch noch einzeln vor. Auch käme niemand auf die Idee, den Beruf des Bäckers auf ein paar Schlagworte, pathetische Apelle und Binsenweisheiten zu reduzieren. Das Gute ist: All dies erschließt sich kritischem Denken; man muss die vermeintlichen Einsichten nur hinterfragen und mit eigenen beruflichen Erfahrungen abgleichen.
und simple Schemata erklären » Wortspiele keinen Beruf. Bevor es konstruktiver wird, muss an dieser Stelle noch kurz auf einen Parade-Irrweg eingegangen werden, und zwar die Verwechslung von organisationaler Personalführung und politischer Führung i. S. v. Anführertum. Insbesondere die US-amerikanische LeadershipLiteratur5 hängt einem Führungsverständnis an, das der politischen Sphäre und anderen unstrukturierten Kontexten entlehnt ist. Dabei liegt der Schwerpunkt auf Richtungsentscheidungen, der Erringung eines Führungsmandats und dem Erreichen von Zustimmung. Visionen und Ziele dienen hier als Mittel zum Aufbau personeller Gefolgschaft,
5 Zur US-amerikanischen Führungsliteratur ist anzumerken, dass sie weltweit stilprägend wirkt. Europäische Personalmanagement- und Führungskonzepte gibt es kaum, Trends aus den USA werden in der Regel 1:1 übernommen.
2 Personalführung im Kontext der Unternehmensführung 35
und personelle Gefolgschaft dient als Mittel zur Bindung an die Ziele. Mit organisationaler Führung hat das alles nur am Rande zu tun. Dort liegt der Schwerpunkt auf Erzeugung von Arbeitsleistungen mit begrenzten Ressourcen im Kontext spezieller Aufbau- und Prozessstrukturen und rechtlicher Vorgaben. Die Geführten sind vertraglich gebunden und eine maximale Bindung an Führungspersonen ist aus Organisationssicht überhaupt nicht wünschenswert (z. B. wg. möglicher Abwanderung und kollektiver Verfehlungen). So gern man sich vielleicht als Führungskraft auch in der Rolle der Anführerin oder des Anführers sehen möchte, die Analogie trügt: „Organisationen sind keine sozialen Gruppen, ein Vorgesetzter ist kein Bandenchef. […] Personalführung ist stets institutionelle Führung […].“XIV Aus ebendiesem Grunde sollten Sie sich als Führungskraft nicht übermäßig an Abraham Lincoln, Nelson Mandela oder Ernest Shackleton orientieren, deren historisches Wirken mit Ihrem eigenen Führungsjob herzlich wenig zu tun hat. Sich damit zu beschäftigen, schadet nie und die eine oder andere Erkenntnis mag Ihnen auch weiterhelfen. Vergessen Sie aber nicht, dass Ihr Führungsmandat ein durchaus anderes ist.
» Personalführung ist kein Anführertum. 2.7 „One HR“: Die Einheit von Mitarbeiterführung und Personalmanagement Zwischen Mitarbeiterführung und Personalmanagement wird traditionellerweise strikt unterschieden. Erstere, so wird angenommen, sei Aufgabe der Führungskraft, Letzteres hingegen Aufgabe der Personalabteilungen. Dieses Verständnis ist fatal. Zum einen ist es schlicht unmöglich, Personalmanagement in Gänze oder auch nur überwiegend zentral zu betreiben. Personalspezialisten wirken zumeist mittelbar, nämlich über die Führungskräfte als dezentrale Verteiler. Es gibt zwar auch direkte Interventionen und Selbstbedienungssysteme (engl. „employee
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self-services“). Im Regelfall aber sind Maßnahmen und Instrumente der Personalabteilungen an Führungskräfte adressiert, die diese dann in Richtung der Mitarbeitenden umschlagen. „Jede Führungskraft ist ein Personalmanager.“XV Umgekehrt verhält es sich genauso: Führungskräfte betreiben Mitarbeiterführung in der Regel nicht allein, sondern werden durch Personalspezialisten instruiert, unterstützt und kontrolliert. Natürlich gibt es Organisationen, die überhaupt keine Personalabteilung unterhalten; in Kleinstunternehmen ist dies sogar die Regel. Fast immer aber wird hier auf externe Hilfe zurückgegriffen, um z. B. Gehaltsabrechnungen oder Arbeitszeugnisse zu bewerkstelligen. All dies verdeutlicht: Mitarbeiterführung und Personalmanagement bilden keine getrennten Sphären, sondern sind ein und dasselbe. Führungskräfte und HR-Abteilungen arbeiten nicht unabhängig voneinander, sondern erfüllen ein gemeinsames Mandat, das in der zielgerichteten Beeinflussung der Mitarbeitenden besteht. Natürlich gehen sie dabei arbeitsteilig vor und spezialisieren sich auf bestimmte Aspekte. Diese Aufteilung ist aber umfeldabhängig. So sind in manchen Unternehmen Führungskräfte für Bewerbungs- und Kündigungsgespräche zuständig, in anderen die Personalspezialisten, in wieder anderen beide gemeinsam. In jedem Falle ist es ein und dasselbe Geschehen, an dem sie als Akteure mitwirken – sei es koordiniert oder planlos, harmonisch oder konfliktär. Das Schlagwort „One HR“ wird oft genutzt, um die Einheit zergliederter Personalabteilungen zu beschwören. Eigentlich könnte es aber auch für die Einheit von Führung und Personalmanagement stehen. Der ebenso schöne wie gebräuchliche Begriff der Personalführung beinhaltet beides und bringt den wichtigen Grundsatz damit gut zum Ausdruck.6
Führungskraft betreiben Sie Personal» Als management.
6 Der Begriff findet sich z. B. auch im Namen der Deutschen Gesellschaft für Personalführung (DGFP), einer der Fachorganisationen für Personalmanagement im deutschsprachigen Raum.
2 Personalführung im Kontext der Unternehmensführung 37
Anmerkungen I. Vgl. Kaehler/Grundei 2019, S. 20. II. Kaehler/Grundei 2019, S. 19. III. Abb. 2.1: Aus Kaehler 2024; dort nach Grundei/Kaehler 2018, S. 590. © Boris Kaehler & Jens Grundei. IV. Kaehler/Grundei 2019, S. 14. V. Blessin/Wick 2021, Online-Zusatzdokument 2. VI. Vgl. Kaehler/Grundei 2019, S. 37. VII. Taylor 1911; Weber 1922 (S. 157/160 ff./179 ff./703 ff.); Lewin/ Lippitt/White 1939; Roethlisberger/Dickson/Wright 1939. VIII. Siehe Kaehler 2020, Kap. 3. Ein Kollege nannte den dortigen Überblick einmal eine „Tour de Force durch die Führungstheorien“. IX. Ein bekanntes Bonmot von Fußballtrainer Otto Rehhagel. X. Abb. 2.2: Aus Kaehler 2024; dort aus Kaehler 2020, S. 62; dort nach Kaehler/Grundei 2019, S. 16. © Boris Kaehler/Jens Grundei. XI. Vgl. auch Malik 2000, S. 55 f. XII. Die Unterscheidung von Management und Leadership geht auf Zaleznik (1977) zurück und wurde von Bennis/Nanus (1985) und Kotter (1990a, b) ausgebaut. XIII. Abb. 2.3: Aus Kaehler 2024; dort aus Kaehler 2020, S. 12, Kaehler 2017, S. 11, und Kaehler 2014, S. 7. © Boris Kaehler. XIV. Türk 1981, S. 57. XV. Scholz 1996, S. 1081.
Literatur Bennis, Warren G./Nanus, Burt (1985): „Leaders“; 2. Auflage HarperCollins 2007. Blessin, Bernd/Wick, Alexander (2021): „Führen und Führen lassen – Ergebnisse, Kritik und Anwendungen der Führungsforschung“; 9. Auflage UVK Verlag/utb 2021. Fayol, Henri (1916): „Allgemeine und industrielle Verwaltung“; Oldenbourg 1929 (Erstveröffentlichung des französischen Originals 1916).
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Grundei, Jens/Kaehler, Boris (2018): „Corporate Governance: Zur Notwendigkeit einer Konturschärfung und betriebswirtschaftlichen Erweiterung des Begriffsverständnisses“; Der Betrieb 11/2018; S. 585‒592. Kaehler, Boris (2014): „Komplementäre Führung – Ein praxiserprobtes Modell der organisationalen Führung“; 1. Auflage Springer Gabler 2014. Kaehler, Boris (2017): „Komplementäre Führung – Ein praxiserprobtes Modell der Personalführung in Organisationen“; 2. Auflage Springer Gabler 2017. Kaehler, Boris (2020): „Komplementäre Führung – Ein praxiserprobtes Modell der Personalführung in Organisationen“; 3. Auflage Springer Gabler 2020. Kaehler, Boris (2024): „Komplementäre Führung – Ein praxiserprobtes Modell der Personalführung in Organisationen“; 4. Auflage Springer Gabler 2024 (noch unveröffentlichtes Manuskript). Kaehler, Boris/Grundei, Jens (2019): „HR Governance – A Theoretical Introduction“; Springer 2019. Kotter, John P. (1990a): „A Force for Change – How Leadership Differs from Management“; The Free Press 1990. Kotter, John P. (1990b): „What Leaders Really Do“; Harvard Business Review May/June 1990; S. 103‒111. Lewin, Kurt/Lippitt, Ronald/White, Ralph K. (1939): „Patterns of Aggressive Behavior in Experimentally Created Social Climates“; The Journal of Social Psychology May 1939 (10); S. 271‒299. Malik, Fredmund (2000): „Führen, Leisten, Leben“, Neuauflage Campus 2006 (Erstauflage 2000). Roethlisberger, F. J./Dickson, William J./Wright, Harold A. (1939): „Management and the Worker“; Harvard University Press 1949 (Erstveröffentlichung 1939). Scholz, Christian (1996): „Die virtuelle Personalabteilung – Ein Jahr später“; Personalführung Heft 12/1996 (Jahrgang 28); S. 1080‒1086. Taylor, Frederick W. (1911): „The Principles of Scientific Management“; Dover Publications 1998 (Erstveröffentlichung 1911). Türk, Klaus (1981): „Personalführung und soziale Kontrolle“; Ferdinand Enke Verlag 1981. Weber, Max (1922): „Wirtschaft und Gesellschaft“; Neuauflage Zweitausendundeins 2005. Zaleznik, Abraham (1977): „Managers and leaders – Are they different?“; Harvard Business Review May/June 1977; S. 67–78.
3 Das Theoriemodell der Komplementären Führung
In diesem Kapitel stelle ich mein Theoriemodell der Komplementären Führung vor. Es hat fünf Elemente mit diversen Einzelaspekten, mittels derer sich der Beruf der Führungskraft und seine Inhalte präzise beschreiben lassen. Mit weniger kommt man nicht aus, auch wenn es gern versucht wird. Auf einige theoretische Differenzierungen muss man sich einfach einlassen. Aber versprochen: Sie werden es nicht bereuen. Bekanntlich ist nichts so praktisch wie eine gute TheorieI, und das Komplementäre Führungsmodell habe ich schließlich genau für Führungskräfte wie Sie entwickelt.1
1 Da
die Kapitel in der E-Book-Version einzeln abrufbar sind, wiederhole ich den folgenden Hinweis aus dem Vorwort: Dieses Buch beruht auf dem Theoriemodell der Komplementären Führung, das ich für führungskonzeptionell Interessierte in meinem wissenschaftlichen Grundlagenwerk gleichen Titels dargelegt habe (Kaehler 2020). „Führen als Beruf“ soll dieses Wissen für Führungskräfte als Anwenderinnen und Anwender aufbereiten, gut verständlich und streng praxisorientiert. Fast alle Ideen und auch manche Formulierungen, die Sie hier finden, stammen aber aus dem ersten Buch, das lässt sich nicht vermeiden. Aus Gründen der Lesbarkeit – dies ist kein wissenschaftliches Werk – sind dabei nicht alle Selbstzitate explizit als solche gekennzeichnet. Andere Autoren und Quellen werden aber natürlich nach bestem Wissen und Gewissen korrekt und vollständig zitiert.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Kaehler, Führen als Beruf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67567-0_3
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40 B. Kaehler
3.1 Führen als Dienstleistung mit zwei Funktionen Personalführung ist eine Dienstleistung – diese These scheint mittlerweile fast konsensfähig zu sein. Dahinter steckt eine eigentlich selbstverständliche, im Ergebnis aber spektakuläre Grunderkenntnis, die Robert Greenleaf mit seinem Ansatz des „Servant Leadership“II herausgearbeitet hat: Die Mitarbeitenden sind nicht für die Führenden da, sondern umgekehrt. So weit wie Greenleaf mit seinem stark christlich orientierten Dienst am Mitmenschen muss man dabei gar nicht gehen, und man kann es im Arbeitskontext auch gar nicht verlangen. Die säkularisierte Variante des Führens als Dienstleistung reicht völlig aus.III Die meisten Autoren, die vom Führen als Dienen sprechen, meinen damit wohl ohnehin eher konkrete Arbeitsverpflichtungen.IV In diesem Sinne lässt sich auch eine berühmte Aussage des Alten Fritz interpretieren: „Der Herrscher ist der erste Diener des Staates. Er wird gut besoldet, damit er die Würde seines Standes aufrechterhalte. Man fordert aber von ihm, dass er werktätig für das Wohl des Staates arbeite und […] die Hauptgeschäfte mit Sorgfalt leite.“V Diese Vorstellung vom Staatsdiener entspricht dem Bild eines professionellen Dienstleisters, nicht dem eines Hausdieners. Wer die Idee des Führens als Dienstleistung ablehnt, missversteht es i. d. R. als grenzenloses Bedienen. Darauf kann man aber natürlich kein Führungssystem aufbauen und es widerspricht auch dem üblichen Verständnis beruflicher Dienstleistung. Der typische Job eines Kellners, Lehrers, Bankkassierers oder Polizisten hat zum einen immer eine Struktur in Gestalt definierter Aufgaben oder jedenfalls Verantwortungsbereiche. Keiner von ihnen tanzt auf Verlangen Samba oder putzt jemandem die Schuhe. Darüber hinaus hat jede dieser Tätigkeiten zwei Seiten: Der Kellner bringt Kaffee, aber er kassiert auch und sorgt für Ruhe. Der Polizist kontrolliert vielleicht den Verkehr, wird einer alten Dame aber auch über die Straße helfen. Ganz ähnliche Doppelfunktionen finden sich bei der Bankerin oder beim Lehrer. Alle diese Dienstleistungsberufe sind geprägt von einem Spannungs-
3 Das Theoriemodell der Komplementären Führung 41
verhältnis zwischen professioneller Hilfeleistung und professioneller Disziplinierung. Genau das macht sie interessant und herausfordernd.
» Sie sind kein Diener, aber Dienstleister. In ebendieser Weise hat auch die Dienstleistung Führung eine Ordnungs- und eine Unterstützungsfunktion – das erste Element des Komplementären Führungsmodells. Führungstheoretisch spiegeln sich hierin die klassischen Dualismen Mitarbeiterorientierung vs. ProduktionsorientierungVI, Fördern vs. Fordern sowie Einzelbedürfnis vs. Kollektivinteresse. Führen als doppelte Dienstleistung – das mag sich banal anhören, ist aber als Leitidee von durchschlagender Kraft. Wer sich als Dienstleister versteht, braucht keinesfalls jedermanns Liebling zu sein, sondern hat mitunter durchaus harte Entscheidungen zu treffen und disziplinarisch durchzugreifen. Er muss sich dabei allerdings den Aufgabenstellungen seiner Führungstätigkeit unterordnen. Mitarbeiter anzubrüllen oder bei Fehlern niederzumachen verträgt sich ebenso offensichtlich nicht mit der Idee der Dienstleistung wie die vorrangige Maximierung der eigenen Karriere-, Gehalts- oder Freizeitinteressen. Und wo alle springen müssen, nicht weil ein Problem oder Kunde drängt, sondern weil die Anliegen des Chefs prinzipiell Vorrang vor der eigentlichen Arbeit haben, stimmt ebenfalls etwas nicht. Darum empfehle ich Unternehmen, die sich an ein richtiges Führungsmodell nicht recht herantrauen, zumindest dieses eine Kernelement der Komplementären Führung – die Führungsfunktionen – in einen Führungsgrundsatz umzusetzen. Führungskräften empfehle ich, sich aus eigenem Antrieb selbst an der Idee des Führens als Dienstleistung zu orientieren und zu messen. Sie werden merken, wie dieses Leitmotiv Ihnen hilft, sich selbst zu disziplinieren und in eine konstruktive Führungsrolle zu finden.
» Führung unterstützt und ordnet.
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Abb. 3.1 Prozessmodell der Mitarbeiterführung. (© Boris Kaehler 2014. All Rights Reserved.)VII
3.2 Führungsaufgaben: Was braucht der produktive Mensch? Führen ist ein komplexes Geschehen mit vielen Facetten. Entsprechend kann man sehr unterschiedliche Ansatzpunkte wählen, um es zu gestalten (Abb. 3.1). Und tatsächlich steht jeder einzelne davon im Mittelpunkt irgendeines Führungskonzeptes, das findige Autoren dann in unterschiedlichen Spielarten und Varianten alle paar Jahrzehnte neu herausbringen. Einige davon wurden oben bereits verworfen. Kritische Betrachtungen der anderen erspare ich Ihnen hier und komme gleich zur Empfehlung: Führungskonzepte sollten grundsätzlich an den Führungsaufgaben ansetzen. Wer weiß, welche Aufgaben es zu erfüllen gilt, wird dies in aller Regel auch in Verhalten umsetzen, das dann – sofern die Aufgaben richtig gewählt sind – den Geführten beeinflusst, der seinerseits die für den Geschäftsbetrieb erforderliche Arbeitsleistung erbringt. Vertreter anderer Führungsansätze sind schnell dabei, solches Denken als mechanistisch zu geißeln. Jeder echte Praktiker hingegen weiß, dass Berufe sich am ehesten über Aufgaben definieren lassen und dass ein Profi sich in seinem Tun an seinem Tätigkeitsverständnis orientiert.
3 Das Theoriemodell der Komplementären Führung 43
Dieses Tätigkeitsverständnis beinhaltet Erfahrungswerte und erfüllt daher im Großen und Ganzen meist auch seinen Zweck. Nicht anders steht es mit den Führungsaufgaben, unabhängig davon, ob Führungskräfte sich eigeninitiativ an ihnen orientieren oder ob betriebliche Führungsgrundsätze es ihnen vorschreiben.
» Berufe werden über Aufgaben definiert. Aufgabenmodelle der Führung gibt es in der Literatur viele. Schon Fayol (1916), Barnard (1938), Drucker (1973), Mintzberg (1975), Kouzes/Posner (1987) und Malik (2000) haben diesen Weg beschritten.VIII Entscheidend ist dabei, das Führungsgeschehen über normative Aufgabenpakete prägen zu wollen. Die genaue Ausgestaltung des Katalogs ist hingegen teilweise Geschmackssache, denn natürlich lassen sich die einzelnen Führungsaufgaben nach Belieben differenzieren und kategorisieren. Auch liegt nicht alles jedem Autor gleichermaßen am Herzen. Jede Führungsaufgabe besteht zudem aus diversen Elementaraufgaben, die nicht führungsspezifisch sind. Handlungsziele zu definieren, Lob auszusprechen oder eine Ressource zuzuweisen sind solche Elementaraufgaben, die man in vielen Berufen zu erfüllen hat. Erst ihre führungsspezifische Zielstellung und Bündelung ergibt Führungsaufgaben. Wenn ich größere Zuhörergruppen aber bitte, mit mir ein kleines Brainstorming zu Führungsaufgaben durchzuführen, kommen meist etwa zwei Drittel des in Tab. 3.1 dargestellten Katalogs dabei heraus. Das ist wenig verwunderlich, denn der ganze Aufgabenansatz folgt implizit einer bestimmten Prämisse. Diese ist ganz entscheidend für ein richtiges Verständnis von Führung, erschließt sich aber erst bei näherer Betrachtung. Unsere Personalführungsdefinition war ja verkürzt „Steuerungseinfluss auf Menschen in einer Organisationseinheit zum Zweck der Erzeugung von Arbeitsleistungen“. Entsprechend steht hinter dem Katalog der Führungsaufgaben die Frage, was ein Mensch benötigt, um nachhaltig produktive Arbeit zu leisten. Personalführung
44 B. Kaehler Tab. 3.1 Die 21 komplementären Aufgaben der Personalführung. (© Boris Kaehler 2023. All Rights Reserved.)IX
Aufgabenkategorie
Einzelaufgaben
Arbeitsinhalte festlegen
Arbeitsziele bestimmen Arbeitsaktivitäten spezifizieren Aufbau und Abläufe optimieren
Einstellen, binden, trennen
Rekrutieren und binden Auswählen und eingliedern Entlassen und freisetzen
Ressourcen und Orientierung geben
Arbeitszeit und Arbeitsort gestalten Informationen und Arbeitsmittel verschaffen Leistung beurteilen und Feedback geben
Kompetenz und Entwicklung fördern
Qualifizieren Heran- und weiterentwickeln Innovation kultivieren
Zusammenarbeit gestalten
Abstimmungskommunikation gewährleisten Einzelbeziehungen pflegen und Konflikte lösen Kultur, Diversität und Teamgeist pflegen
Fürsorge gewähren
Gesundheit und Lebensbalance schützen Flowbedingungen schaffen Veränderungen erklären und begleiten
Motivation stiften
Bedürfnisse berücksichtigen Anreizfeld abrunden Erwartungen prägen, Sinn und Impulse geben
dient also der Herstellung dieser Leistungsbedingungen, und die Führungsaufgaben konkretisieren sie. Dies erklärt, warum die Brainstorming-Vorschläge berufserfahrener Menschen hier nicht sonderlich weit streuen. Ohne Auftragsverständnis, Qualifikation, Motivation etc. keine Arbeitsleistung – das weiß jeder, der schon einmal gearbeitet hat. Der hier propagierte Katalog soll ganzheitlicher und vollständiger sein als die herkömmlichen Entwürfe und wirklich alle Leistungsbedingungen abbilden. Unternehmen und Führungskräfte, die ihn in
3 Das Theoriemodell der Komplementären Führung 45
betriebliche Konzepte übersetzen, kategorisieren und benennen die Aufgaben für sich aber meist etwas anders, ihrem eigenen Sprachgebrauch entsprechend.
sind Leistungs» Führungsaufgaben bedingungen. In der Systematik der Komplementären Führung sind die Führungsaufgaben das vielleicht wichtigste Element, denn sie bilden den Bezugspunkt aller anderen Modellelemente. So konkretisieren sich in den Aufgaben u. a. die oben diskutierten Dienstleistungsfunktionen, also die Ordnungs- und die Unterstützungsfunktion der Führung. Dabei verwirklicht jede einzelne Aufgabe beide Funktionen gleichermaßen. Wenn Führende z. B. Leistungsfeedback geben oder einen Konflikt schlichten, so hat dies sowohl einen helfenden als auch einen disziplinierenden Aspekt. Diese stehen in einem je nach Anwendungssituation völlig unterschiedlichen Mischungsverhältnis. Immer aber trägt die Aufgabe Züge beider Aspekte.
Führungsaufgabe verwirklicht beide » Jede Funktionen.
3.3 Die Leitidee des eigenverantwortlich handelnden Mitarbeitenden Wer mit dem Werk von Managementautor Reinhard Sprenger vertraut ist, wird eben beim Wort „Motivation“ kurz gezuckt haben. Man soll Mitarbeitende nicht motivieren, haben viele von ihm gelernt.X Und das stimmt natürlich, jedenfalls zumindest dem Grundsatz nach: Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sollen sich bitteschön selbst motivieren. Führungskräfte sollen diese Eigenmotivation in den Vordergrund stellen
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und nicht zerstören. Dies gilt aber nicht nur für Motivation, sondern für alle Führungsaufgaben. Wirklich professionelle Arbeitskräfte suchen sich ihre eigenen Aufgaben, beurteilen und kontrollieren sich selbst, lösen ihre Konflikte eigenständig, schließen proaktiv ihre Qualifikationslücken etc. Genau diese Prämisse, Selbststeuerung vor Fremdsteuerung, ist der Dreh- und Angelpunkt guter Führungskonzepte: „Wer führt, darf denen, die er führt, nicht im Wege stehen.“XI Sie ist der Dreh- und Angelpunkt des Komplementären Führungsmodells und sollte auch der rote Faden Ihres Handelns als Führungskraft sein. Dieses Prinzip der Selbstführung ist gerade wieder aktuell, man liest viel davon. Das ist durchaus zu begrüßen. Eigentlich handelt es sich aber um ein zeitloses Thema und eines der Grundmotive wirksamer Führung überhaupt. So merkte Mary Parker Follett schon 1930 an: „Aufgabe der Höhergestellten ist nicht, Entscheidungen für ihre Untergebenen zu treffen, sondern ihnen beizubringen, wie sie ihre Probleme selbst bewältigen und ihre eigenen Entscheidungen treffen.“XII 1954 stellte Peter F. Drucker seine Technik „management by objectives and self-control“ vor und bezeichnete sie als Managementphilosophie der Freiheit.XIII In den 1960er und 1970er Jahren löste das sog. „Harzburger Modell“XIV in der deutschen Wirtschaft eine Revolution von oben aus. Das damals verbreitete autoritär-patriarchalische Führungsverhalten sollte durch ein betrieblich verankertes System der Delegation von Entscheidungsfreiheiten abgelöst werden. Dies war großflächig erfolgreich und in hohem Maße prägend für die hiesige Führungskultur (auch wenn es mancherorts noch immer autoritär-patriarchalisch zugeht).2 Der in praktisch allen deutschen Unternehmen genutzte Begriff „Mitarbeiter“ stammt von dort und zeigt, wie weit dieser Führungsansatz, der im Übrigen besser ist als sein Ruf, noch immer verbreitet ist. Selbstführung ist also kein neues, sondern ein hoch etabliertes Konzept.
2 In seinen Hochzeiten sollen die Harzer Akademie pro Jahr um die 30.000 Teilnehmer einschließlich vieler Vorstandsmitglieder durchlaufen haben. Das Modell wurde teilweise als starr und bürokratisch kritisiert, geriet aber vermutlich vor allem durch die NS-Vergangenheit seines Begründers in Verruf (o. V. 1989; Die Akademie für Führungskräfte 2018).
3 Das Theoriemodell der Komplementären Führung 47
Wenn Mitarbeiter (da ist das Wort wieder) sich weitgehend selbst führen, hat dies viele Vorteile. Die meisten Menschen besitzen eine ausgeprägte Aversion gegen Fremdsteuerung und erleben Handlungsspielräume als anregend, selbstwertsteigernd und motivierend. Überlegen Sie doch einfach einmal, was Sie selbst leistungsfähiger macht: Möchten Sie gern eigenverantwortlich handeln oder auf Schritt und Tritt Anweisungen bekommen? Eben, und Ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen geht es sicher nicht anders. Unter dem Gesichtspunkt der Flexibilität und Reaktionsgeschwindigkeit – das Modewort „Agilität“ vermeide ich hier bewusst – ist Eigenverantwortung ebenfalls unabdingbar. Diejenigen, die den Sachverhalt, den Kunden, die Maschine etc. aus eigener Anschauung kennen, können in der Regel auch schnellere und angemessenere Entscheidungen treffen. Bei Zusammenbrechen der Kommunikationswege oder Ausfall des Chefs ist Selbstführung sogar die Voraussetzung dafür, überhaupt noch handlungsfähig zu sein. Darüber hinaus wird die Ressource Führungskraft geschont: Wer Mitarbeitende nicht rundum bemuttert, kann mehr von ihnen führen oder sich um Sachaufgaben kümmern. Jede Menge Vorteile also. Aus einer rein theoretischen Perspektive ist ein gewisses Maß an Selbstführung ohnehin unvermeidlich, weil totale Fremdsteuerung in der Realität gar nicht vorkommt. Daraus folgt: Führung ist nie alleinige Aufgabe der Führungskraft, sondern de facto immer zum Teil Selbstführung. Diesen Teil gilt es auszubauen.
ist ein superiores » Selbststeuerung Führungsprinzip. So populär die Idee der Selbstführung auch ist, so wenig hilfreich sind die Ausführungen, die man allenthalben darüber findet. Dies liegt zum einen daran, dass fast immer unklar bleibt, was überhaupt konkret darunter zu verstehen ist. Unsere obige Definition – Steuerungseinfluss zum Zwecke der Erzeugung von Arbeitsleistungen – lässt sich auch auf die Selbstführung anwenden und geht damit weiter als die meisten
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Quellen, ist aber natürlich auch noch nicht konkret genug. Zum anderen wird Selbstführung oft mit bedingungsloser Selbstbestimmung gleichgesetzt. Diese aber gibt es ebenso wenig wie totale Fremdsteuerung. Organisationen funktionieren arbeitsteilig, und damit geht immer auch eine gewisse Einflussnahme von außen einher. Komischerweise sagt Ihnen keiner der Texte, die Sie bei einer Literaturrecherche zum Thema finden, welche Grenzen dem Ganzen zu setzen sind und was bei versagender Selbstführung zu tun ist. Das ist aber ja genau der Knackpunkt, denn niemand von uns ist in der Lage, sich immer, in jeder Hinsicht und vollumfänglich selbst zu führen. Auch kennen wir alle Mitarbeitende mit massiven Selbstführungsdefiziten. Der Ansatz der Komplementären Führung löst diese Frage, indem Führung auf die Führungsaufgaben heruntergebrochen wird – wir kommen gleich noch darauf zurück. Selbstführung bedeutet also, möglichst viele Führungsaufgaben möglichst vollständig und möglichst oft selbst zu erfüllen. Sie hat als Führungsprinzip absolute Priorität, d. h., Mitarbeitende sind nachdrücklich angehalten, sich selbst zu führen, und Führungskräfte sind nachdrücklich angehalten, Selbstführung zu ermöglichen.
Selbstführung funktioniert » Bedingungslose leider nicht.
3.4 Komplementäre Akteure: Die kompensierende Funktion anderer Führungsbeteiligter Wie aber ist mit Selbstführungsdefiziten umzugehen? Neben dem Primat der Selbstführung sieht das Modell der Komplementären Führung ergänzende komplementäre Akteure vor – u. a. daher der Name. Dies geht auf den Theorieansatz der Geteilten Führung (engl. „shared leadership“) zurück, der die eigentlich selbstverständliche Tatsache ins Bewusstsein ruft, dass Führung nicht nur Führungskräften obliegt, sondern mehrere Führende zusammenwirken.XV Führung ist
3 Das Theoriemodell der Komplementären Führung 49
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Einstellen, binden, trennen
Arbeitsinhalte festlegen
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Ressourcen und Orientierung geben
Kompetenz und Entwicklung fördern
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Mitarbeiter/in Kollege/in Führungskraft Obere Führungskraft HR-Manager/in Abb. 3.2 Kernmodell der Komplementären Führung (mit rein beispielhafter Akteursaufteilung je Aufgabenkategorie, welche die situativ unterschiedliche und bei jeder Führungsaufgabe andere Verteilung verdeutlichen soll). (© Boris Kaehler 2023. All Rights Reserved.)XVI
de facto immer ein kollektives Geschehen. Entsprechend sind auch die 21 Führungsaufgaben nicht etwa nur durch die Führungskraft oder nur durch den Mitarbeiter zu erfüllen. Vielmehr wirken an jeder Aufgabe i. d. R. mehrere Akteure mit. Abb. 3.2 gibt einen Überblick über das Kernmodell der Komplementären Führung und verdeutlicht den Zusammenhang: Die beiden Führungsfunktionen der Ordnung und Unterstützung konkretisieren sich in sieben Kategorien von Führungsaufgaben, an denen mehrere komplementäre Führungsakteure beteiligt sind.
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» Niemand führt allein. Als Linienmanager sind Sie einer von diesen Akteuren, und wenn man die Grundidee der Geteilten Führung um den oben diskutierten Aufgabenbezug und ein kompensatorisches Mandat erweitert, konkretisiert sich die Rolle der wirksamen Führungskraft. Sie besteht darin, Defizite in der Selbstführung jedes einzelnen Mitarbeiters zu kompensieren. Dies ist sogar der wesentliche Grund dafür, dass es die Position der Führungskraft überhaupt gibt und geben muss. Nur sie kann situativ abschätzen, welche Führungsaufgaben nicht durch den Mitarbeiter erfüllt werden, und geeignete Maßnahmen ergreifen. Dort, wo Selbstführung funktioniert, muss sie sich zurückhalten. Aber sie funktioniert nicht immer. Um mit Robert Greenleaf zu sprechen: „Perfekte Leute könnte jeder führen – wenn es sie gäbe.“XVII Es gibt sie nicht, und jemand muss das ausgleichen. Sie als Führungskraft sollen mitbekommen, welche der 21 Führungsaufgaben ein Mitarbeiter wann nicht selbst übernimmt und dann – aber nur dann – eingreifen. Manchen Führungskräften fällt die Zurückhaltung schwer, anderen die Intervention, aber der Führungsjob erfordert eben beides. Schließt ein Mitarbeiter z. B. seine Qualifikationslücken selbst und löst seine Konflikte allein, soll die Führungskraft nicht intervenieren, sondern bestenfalls bestärken. Tut er dies aber nicht, so muss sie intervenieren, und zwar mit der vollen Autorität ihrer Position. Gegen Positionsmacht wird gern polemisiert, aber es gibt sie und hier zeigt sich, wozu sie gut ist. Persönliche und moralische Autorität auszustrahlen ist eine schöne Sache, reicht aber nicht aus.
kompensieren Selbst» Führungskräfte führungsdefizite.
3 Das Theoriemodell der Komplementären Führung 51 Tab. 3.2 Kompensatorische Interventionsoptionen der Führungskraft (hier dargestellt am Beispiel der Führungsaufgabe „Konflikte lösen“). (© Boris Kaehler 2020. All Rights Reserved.)XVIII
Interventionsform
Erläuterung
Interventionsgrad
Korrigierende Intervention
Die Führungskraft veranlasst den Mitarbeiter, die Führungsaufgabe wahrzunehmen (also z. B. einen bestehenden Konflikt selbst beizulegen)
Niedrig
Gemeinsame Intervention
Mittel Die Führungskraft unterstützt den Mitarbeiter bei der Wahrnehmung der Führungsaufgabe (d. h. dabei, den Konflikt beizulegen)
Delegierende Intervention
Mittel Die Führungskraft veranlasst einen Kollegen des Mitarbeiters oder die Personalabteilung, die Führungsaufgabe wahrzunehmen (also den Konflikt zu schlichten)
Substituierende Intervention
Hoch Die Führungskraft übernimmt die Führungsaufgabe selbst (und schlichtet den Konflikt)
Wie Tab. 3.2 aufzeigt, hat die Führungskraft bei ihrer kompensierenden Intervention unterschiedliche Optionen. Eine davon besteht darin, die Einflussnahme zu delegieren, denn natürlich können auch Kollegen des Mitarbeiters Führungsaufgaben übernehmen. So finden z. B. sehr viel Qualifizierung und Konfliktlösung in kollegialer Runde am Arbeitsplatz statt. Dies kann, muss aber nicht zwingend auf die Führungskraft zurückgehen. Oft genug übernehmen Kollegen Führungsaufgaben auch aus eigenem Antrieb oder weil sie vom Betreffenden selbst dazu aufgefordert werden. Bliebe es dabei, so hätte das Theoriemodell eine fatale Schwachstelle: Auch Führungskräfte sind nicht perfekt. Den meisten rutscht
52 B. Kaehler
Abb. 3.3 Kompensatorisch-situatives Zusammenwirken der Akteure. (© Boris Kaehler 2014. All Rights Reserved.)XIX
immer wieder einmal ein Selbstführungsdefizit des Mitarbeiters durch. Unter dutzenden Führungskräften sind außerdem, wie jeder Personaler weiß, immer auch einige, die ganz grundsätzlich nicht willens oder in der Lage sind, ihrer kompensatorischen Rolle gerecht zu werden. Dies stellt zwar eine Missachtung ihrer eigenen Dienstpflichten dar (sofern sie entsprechend konkretisiert sind). Es kommt aber oft genug vor, und ein sinnvolles Führungsmodell braucht also auch hier ein Korrektiv. Dieses Korrektiv bilden der Personalbetreuer und die obere Führungskraft als weitere kompensatorische Instanzen (Abb. 3.3). Auch sie müssen nach denselben Prinzipien agieren, also die Selbststeuerung der Führungskraft achten, wo sie funktioniert, und eingreifen, wo die Führungskraft Selbstführungsdefizite eines Mitarbeiters de facto nicht schließt. Beide haben dabei ähnliche Interventionsmöglichkeiten wie die in Tab. 3.2 aufgezeigten. Für Sie als Führungskraft bedeutet dies:
3 Das Theoriemodell der Komplementären Führung 53
Sie können, wenn Ihre Organisation hier ordentlich aufgestellt ist, bei Interventionen auf die Hilfe Ihres Personalbetreuers und Ihrer eigenen Führungskraft zurückgreifen. Bei Bewerberinterviews und Kündigungsgesprächen ist dies in den meisten Unternehmen sogar das normale Prozedere; es funktioniert aber bei allen anderen Führungsaufgaben ganz genauso. Auf der anderen Seite sollten Sie sich nicht wundern, wenn Ihr Personalbetreuer Sie auf Missstände aufmerksam macht. Ohne dieses balancierte System von Kontrolle und Verantwortung (engl. „checks and balances“) kann Personalführung gar nicht flächendeckend funktionieren.
und obere Führungskräfte sind » Personaler ein zusätzliches Korrektiv.
3.5 Die Umsetzungselemente Bislang haben wir uns auf das Kernmodell der Komplementären Führung mit seinen drei Elementen konzentriert: Die komplementären Führungsakteure erfüllen gemeinsam die komplementären Führungsaufgaben, in denen sich die beiden komplementären Führungsfunktionen der Ordnung und Unterstützung konkretisieren. Das alles dürfte plausibel sein. Sie hätten aber Schwierigkeiten, es in der Praxis mit Leben zu füllen, denn das Ganze ist doch reichlich abstrakt. Es bedarf weiterer Modellelemente, um einen Beruf zu konstituieren, der sich tatsächlich praktizieren lässt: der Umsetzungselemente. Erst durch sie wird Führung so konkret, dass Sie als Führungskraft darin Ihren Beruf wiedererkennen. Das erste dieser beiden Umsetzungselemente bilden die Führungsroutinen, die nichts anderes sind als Aktivitäten (siehe Abschn. 3.6). Man kommt sicher nicht ohne weiteres darauf, aber wenn ich Ihnen verrate, dass unsere 21 Führungsaufgaben eigentlich Aufgabenstellungen sind, werden Sie das leicht nachvollziehen können. Motivieren, qualifizieren, gesund erhalten etc. sind keine Aktivitäten,
54 B. Kaehler
S achgeschäf t Un
t ers
t ü t z u n gs f u nk t
Motivation stiften
Fürsorge gewähren
FührungsRoutinen
Kompetenz und Entwicklung fördern
n u n g sfu nktio n
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O rd
Ressourcen und Orientierung geben
un
e
nt
Fü
hr
Arbeitsinhalte festlegen
Zusammenarbeit gestalten
ion
Einstellen, binden, trennen
g s -I nst r u m
Umsetzungselemente:
◦ Führungsroutinen (= Aktivitäten) ◦ Führungsinstrumente (= formalisierte Werkzeuge)
Kernmodell:
◦ Führungsfunktionen ◦ Führungsaufgaben (= Aufgabenstellungen) ◦ Führungsakteure
Abb. 3.4 Gesamtmodell der Komplementären Führung. (© Boris Kaehler 2023. All Rights Reserved.)XX
sie hören sich nur so an. In Wirklichkeit handelt es sich um angestrebte Ergebnisse, und wir brauchen zusätzlich einen Katalog von Führungsaktivitäten – z. B. regelmäßige Gespräche und Sitzungen –, mittels derer wir sie verwirklichen. Das zweite Umsetzungselement bilden die Führungsinstrumente, unter denen ich formalisierte Hilfsmittel wie Formulare, Programme oder Systeme verstehe (siehe Abschn. 14.1). Selbst kleinere Organisationen haben eine Menge davon und erwarten, dass sie im Führungsalltag auch eingesetzt werden.
3 Das Theoriemodell der Komplementären Führung 55
Umsetzungselemente machen das » Die Modell praktikabel. Systematisch lässt sich der Zusammenhang dann folgendermaßen beschreiben: Führende verwirklichen die Dienstleistungsfunktionen (Ordnung und Unterstützung), indem sie Aufgaben (z. B. Leistungsfeedback) mittels Routinen (z. B. Gesprächen) erfüllen und wenden dabei Instrumente an (z. B. Arbeitszeitregelungen). Zugegebenermaßen mutet das Modell Ihnen damit eine ziemliche Fülle theoretischer Differenzierungen zu und Sie werden vielleicht eine Weile brauchen, bis Sie den Überblick haben. Diese reale Komplexität kann ich Ihnen aber nicht ersparen. Jeder andere Beruf ‒ denken Sie beispielsweise einmal an Maurer, Richter oder Polizisten ‒ ist de facto ähnlich vielschichtig. Im Folgenden geht es zunächst einmal auch nur um die Führungsroutinen. Auf die Führungstragegien und Führungsinstrumente kommen wir dann im dritten Buchteil zurück.
3.6 Die Führungsroutinen: Führung wird konkret Die gute Nachricht: Tatsächlich wird die Sache durch das Modellelement der Führungsroutinen nicht komplizierter, sondern einfacher. Diese sind nämlich der Kristallisationspunkt der gesamten Führungsarbeit. Im Grunde genommen geht es ja um die Frage, worin eigentlich Ihr konkreter Job als Führungskraft besteht. Und die beruhigend klare Antwort lautet: darin, die erforderlichen Führungsroutinen wahrzunehmen.
welchen Aktivitäten besteht Ihr » Aus Führungsjob?
56 B. Kaehler
Führungsroutinen sind also nichts anderes als führungsbezogene Aktivitäten bzw. Handlungen, also das konkrete Tun des Führens. Sie bilden eines der beiden Umsetzungselemente der Komplementären Führung. Es reicht eben nicht aus, mehr oder weniger abstrakte Aufgabenstellungen zu verfolgen; man muss auch in irgendeiner Weise tätig werden, um sie zu verwirklichen. Dazu bedarf es eines Katalogs von konkreten Führungsaktivitäten. Nur die Führungsroutinen lassen sich mit Zeitaufwänden hinterlegen und machen Führung überhaupt zeitlich planbar.3 Das Konzept greift das managementtheoretische Konstrukt der sog. „Organisationsroutinen“ auf und verdeutlicht, dass bestimmte Verhaltensweisen strukturiert durchgeführt und routinemäßig abrufbar sein müssen.XXI Mir selbst gefällt der Begriff der Routine sehr, vielleicht deshalb, weil mir gewohnheitsmäßiges Tun generell zusagt (auch und gerade bei der Bewältigung von neuen Herausforderungen). Ich verbinde damit Effizienz und unaufgeregte Beherrschung eines Handwerks. Wer das Wort hingegen nicht mag und eher im Sinne einer gelangweilten Pflichtübung versteht, mag stattdessen gern von „Führungsaktivitäten“ sprechen.
dienen der Erfüllung der » Führungsroutinen 21 Führungsaufgaben. Führen, davon war schon verschiedentlich die Rede, ist eine berufliche Tätigkeit. Die Aktivitäten, aus denen diese Tätigkeit besteht, sollten daher genauso planmäßig strukturiert werden wie die jedes anderen Berufes. Jemand muss sich überlegen, welche Routinen erforderlich und welche Akteure daran beteiligt sind. Irgendwelche Festlegungen dieser Art gibt es immer, aber was im Wege der Gewohnheitsbildung von selbst entsteht, ist nicht immer funktional.XXII Organisationen
3 Das Fehlen dieses Elements in den meisten betrieblichen Modellen dürfte einer der Gründe dafür sein, dass sich viele so schwer mit der Konzeption des Führens in Teilzeit tun (vgl. dazu Karlshaus/Kaehler 2023).
3 Das Theoriemodell der Komplementären Führung 57
sind daher gut beraten, über betriebliche Führungsmodelle und Leitfäden eine gewisse Vorstrukturierung der Führungstätigkeit zu erreichen. Ansonsten müssen Sie sich als Führungskraft eben allein überlegen, wie Ihr Job zu strukturieren ist. In Leitfäden und Trainings o. Ä. können Tipps für die Durchführung von Routinen gegeben werden, aber das ist nicht das Entscheidende. Vielmehr gilt es, ganz grundsätzlich den Kanon der durchzuführenden Aktivitäten und ihres Umfangs zu bestimmen. Ich bin immer wieder entsetzt, wie sehr sich die Auffassungen von Führungskräften z. B. in Bezug auf individuelle Arbeitsbesprechungen unterscheiden. In einer Gruppe von Trainingsteilnehmern findet typischerweise die Hälfte, wöchentliche Einzelgespräche von ca. einer Stunde mit jedem Mitarbeiter seien eine Selbstverständlichkeit, während die andere Hälfte bestenfalls jährliche Gespräche durchführt und für sinnvoll erachtet. So beliebig aber sind Routinen nicht ausgestaltbar. Um die 21 komplementären Personalführungsaufgaben (= Leistungsbedingungen produktiver Arbeit) zu erfüllen, ist ein gewisser Kanon an Routinen unabdingbar.
Führungsroutinen sind unerläss» Manche lich. Unterscheiden lassen sich operative, strategische und konstitutive Personalführungsroutinen (Tab. 3.3). Die operativen Routinen gliedern sich wiederum in Dauerroutinen und Bedarfsroutinen. Dauerroutinen finden im Wochen- oder Monatsrhythmus regelmäßig statt. Neben der individuellen Arbeitsbesprechung sind dies insb. Kurzbesuche am Arbeitsplatz und Teamsitzungen. Bedarfsroutinen hingegen werden nur dann durchgeführt, wenn es Anlass dazu gibt. Zu denken ist hier z. B. an Kritikgespräche bei Fehlverhalten, Kriseninterventionen, Anleitungen am Arbeitsplatz oder Einstellungs-/Trennungsprojekte. Den Rahmen dafür bilden die strategischen und konstitutiven Führungsroutinen, auf die in Teil III näher einzugehen ist.
58 B. Kaehler Tab. 3.3 Die wesentlichen Personalführungsroutinen. (© Boris Kaehler 2023. All Rights Reserved.)XXIII
Kategorie
Einzelroutine
Operative Dauerroutinen (im Wochen- oder Monatsrhythmus)
Individuelle Arbeitsbesprechung (Abschn. 6.4) Kurzbesuche am Arbeitsplatz (Abschn. 12.5) Teamsitzung (Abschn. 10.3) Obere Führungskräfte: Dauerroutinen der hierarchieüberspannenden Kommunikation (Abschn. 8.5)
Operative Bedarfsroutinen (bei Bedarf)
Außerplanmäßige Kurz-Arbeitsbesprechung (Abschn. 6.4) Kritikgespräch bei Fehlverhalten (Abschn. 8.8) Konfliktlösungsgespräch (Abschn. 10.5) Anleitung am Arbeitsplatz (Abschn. 9.3) Qualifizierungs- und Entwicklungsprojekte (Abschn. 9.4) Einstellungsprojekt (Abschn. 7.2) Trennungsprojekt (Abschn. 7.7) Veränderungsprojekt (Abschn. 11.5) Krankheits- und Kriseninterventionen (Wiedereingliederung, Sucht, psychische Probleme, Pandemie, Gefährdung etc.) (Abschn. 11.2) Teambildungsveranstaltung (Abschn. 10.8) Team-Gemeinschaftsveranstaltung (Abschn. 10.8) Obere Führungskräfte: Bedarfsroutinen der hierarchieüberspannenden Kommunikation (Abschn. 8.5) etc.
Strategische Routinen Strategieworkshop (Abschn. 15.5) (im Jahres- oder Zweijahresrhythmus) Mitarbeiter-Jahresgespräch (Abschn. 15.6) Konstitutive Routinen (bei Bedarf)
Projekt zur Entwicklung von Führungsinstrumenten (z. B. Leitbild, Vergütungssystem, Beurteilungsformular etc.) (Abschn. 14.6)
3 Das Theoriemodell der Komplementären Führung 59
Viele Aktivitäten, die in Literatur und Praxis im Zusammenhang mit Führung thematisiert werden, sind allerdings gar keine Führungsaktivitäten, sondern nur deren Grundlage. Kommunizieren, planen, entscheiden, reflektieren etc. tut jeder, der in irgendeiner Weise mit Menschen und Arbeit zu tun hat. Diese Elementaraktivitäten konstituieren Führung also nicht, sondern sind lediglich Verhaltensbausteine dafür. Sie sind sicherlich auch und besonders für die Wahrnehmung von Führungsaufgaben relevant, nicht weniger jedoch für viele andere Tätigkeiten, z. B. die von Verkäufern, Lehrern, Bahnschaffnern, Sekretären, Friseuren und Schwimmmeistern.
und Entscheiden sind » Kommunizieren keine Führungsroutinen. Im Übrigen besteht die berufliche Tätigkeit der Führungskraft natürlich nicht nur aus Personalführung. Wie Abb. 4.1 in Kap. 4 verdeutlicht, sind vielmehr drei Aktivitätsbereiche zu unterscheiden: die Personalführung, die Selbstführung und die Sachgeschäftsführung. In allen drei Bereichen gibt es unverzichtbare Aktivitäten und andere, die Führungsstellen oft zusätzlich zugewiesen werden, aber bei Stellenüberlastung durchaus verzichtbar wären. Den Personalführungsteil bilden die Personalführungsroutinen. Der Selbstführungsteil beinhaltet nichts anderes, als dass die Führungskraft an Routinen beteiligt ist, die ihrer eigenen Führung dienen. Führende sind ja schließlich selbst, im Hinblick auf ihren eigenen Job, auch Geführte. Inhaltlich – wie könnte es anders sein? – geht es dabei um die gleichen Routinen wie im Personalführungsteil, nur ist die Führungskraft hier in der Mitarbeiterrolle und hat z. B. regelmäßige Arbeitsbesprechungen mit ihrer eigenen Führungskraft. Der Sachgeschäftsführungsteil schließlich umfasst jene Routinen, die der Steuerung des Sachgeschäfts dienen. Dazu gehören die sachbezogenen Aktivitäten des konstitutiven und strategischen Managements (siehe Teil III), ferner das Repräsentieren der Einheit nach außen und die Beteiligung an sachbezogenen Stör-/Eskalations-
60 B. Kaehler Tab. 3.4 Abgrenzung von Selbstführung, Mitwirkung und Ausführungsarbeit. (© Boris Kaehler 2023. All Rights Reserved.)XXVI
Autonome Ausführungsarbeit
Mitwirkung
Selbstführung
im Sinne der Sachtätigkeit (d. h. die eigentlichen Arbeitsinhalte der Tätigkeit des Mitarbeiters)
an den Führungsaktivitäten der Führungskraft (Gespräche, Sitzungen etc.)
im Sinne der Übernahme von Führungsaufgaben (z. B. „Arbeitsaufgaben steuern“, „Zusammenarbeit gestalten“, „Kompetenz und Entwicklung fördern“)
➩ Genuine Aufgabe des Mitarbeiters, Führungskraft soll diese nicht an sich ziehen
➩ Teilnahme der Führungskraft zwingend notwendig ➩ Vorbereitung, Leitung und/oder Protokoll kann Mitarbeiter übernehmen
➩ „Entwicklungsorientierte Fremdführung“ (mit dem Ziel maximaler Selbstführung; bedeutet für Führungskraft u. a. kürzere/weniger Führungsaktivitäten) ➩ Rekrutierung selbstmanagementstarker Mitarbeiter ➩ Kompensatorisches Eingreifen der Führungskraft bei Bedarf
fällen. Es gibt durchaus Schnittmengen zwischen den drei Feldern und damit eine gewisse Unschärfe der Aufteilung. Die Unterscheidung ist aber dennoch höchst praktisch, denn sie vermittelt ein gutes Verständnis des zu bewältigenden Arbeitsvolumens.
3.7 Konkrete Umsetzung des Prinzips der Selbstführung In den Führungsroutinen erwacht auch der Grundsatz der Selbstführung und damit das kompensatorische Prinzip der Komplementären Führung zum Leben. Die Führungskraft soll beispielsweise, wie in Kap. 6 noch genauer dargelegt wird, die Arbeitsziele und -vorgaben
3 Das Theoriemodell der Komplementären Führung 61
nicht bevorzugt selbst festlegen. Vielmehr ist es am Mitarbeitenden, entsprechende Vorschläge zu machen. Soweit Person und Arbeitsumfeld dies zulassen, sollte das Ziel sein, den Geführten im Laufe vieler Gespräche zu immer weitgehender Selbstführung zu veranlassen. Das ist weniger schwierig, als manch einer denken mag: „Wenn ein Mitarbeiter mit Fragen bezüglich eines Projektes zu Ihnen kommt, ist die beste Antwort oft ‚Was denken Sie?‘“ (Dave UlrichXXIV) Oder, anders ausgedrückt: „Wie würden Sie handeln, wenn ich nicht da wäre?“ (Joachim SchledtXXV) Hinsichtlich aller anderen Führungsaufgaben lässt sich analog vorgehen. Freilich sollte man klar zwischen Ausführungsarbeit, Mitwirkung und Selbstführung differenzieren (Tab. 3.4). Die Unterscheidung mutet vielleicht etwas künstlich an, ist aber wichtig. Wer von anderen verlangt, sich selbst zu führen, muss wissen, was er damit meint. Dort, wo bislang ein autoritärer Führungsansatz praktiziert wurde und Führung überwiegend Sache des Vorgesetzten war, mag es eine Weile dauern, bis der Mitarbeiter beginnt, selbst Verantwortung dafür zu übernehmen. Neue Führungskräfte müssen hier Vorsicht walten lassen, um ihr Team nicht in Windeseile gegen sich aufzubringen („Wofür wird der eigentlich bezahlt?“). Behutsame Schritte in diese Richtung bringen indes üblicherweise nach und nach das angestrebte Rollenverhältnis. Aber natürlich: Wenn Mitarbeitende, aus welche Gründen auch immer, sich z. B. selbst keine Arbeitsziele und -vorgaben geben, müssen die Führungskraft und die anderen komplementären Akteure dafür sorgen, dass diese dennoch im erforderlichen Umfang definiert werden. Selbst maximale Selbststeuerung im Hinblick auf die diversen Führungsaufgaben macht die regelmäßige Aufgabenbesprechung im Übrigen nicht obsolet. Wenn dort, was höchst selten ist, nichts weiter geschieht, als dass sich die Führungskraft einer vollumfänglich funktionierenden Selbstführung vergewissert, so ist die Zeit für das Gespräch schon gut angelegt und absolut notwendig.
Sie autoritäre Systeme behutsam » Stellen auf Selbstführung um.
62 B. Kaehler
3.8 Nicht immer voll auf die Nuss! Von den Vorzügen sanfter Interventionen Am Beispiel der Arbeitsvergabe wurde im vorherigen Absatz bereits deutlich, wie das kompensatorische Prinzip der Komplementären Führung praktisch umzusetzen ist. Es gilt, die Mitarbeitenden in die Pflicht zu nehmen, sich möglichst weitgehend selbst zu führen. Die Führungskraft, so hatten wir verschiedentlich festgestellt, sollte ihre Rolle auf die eines komplementär Führenden beschränken dergestalt, dass sie Selbstführungsdefizite jedes einzelnen Mitarbeiters kompensiert. Idealerweise nimmt ein Mitarbeiter alle Führungsaufgaben selbst wahr. Tut er dies nicht, muss die Führungskraft eingreifen und für jene Aufgabenklarheit, Konfliktschlichtung, Gesunderhaltung etc. sorgen, die der Geführte selbst vernachlässigt. Diese Interventionen sollten aber so sanft wie möglich erfolgen. Dabei geht es mir um Himmels willen nicht darum, Führungsverhalten im Sinne persönlicher oder situativer Handlungsweisen zu standardisieren. Dies ist ja gerade der Holzweg der allermeisten Führungsansätze und Führungstrainings. Gehen Sie also so vor, wie es situativ angemessen ist und Ihrer Persönlichkeit entspricht. Freilich gelten dabei zwei Einschränkungen. Erstens müssen Sie sich an Mindeststandards der respektvollen Kommunikation halten, wie sie viele Organisationen sehr zu Recht vorgeben. Beleidigungen, Anschreien, Belästigungen und destruktives Auftreten sind im Wirtschaftsleben nie angezeigt. Zum anderen sollten Sie die Vorteile und Möglichkeiten sanfter Intervention kennen und Ihr Verhaltensrepertoire entsprechend erweitern. Der Lösungsraum ist nämlich erstaunlich breit (Tab. 3.5). Es gibt durchaus Fälle – man denke an Feuer oder Gewaltausbrüche –, in denen Führende gut beraten sind, hoch dominant aufzutreten und Befehle zu erteilen. Dies sind aber extreme Ausnahmen. Im Allgemeinen gilt: Je sanfter, desto besser. Führungskräfte müssen keineswegs immer hart agieren, indem sie dem Mitarbeiter gegenüber persönlich auftreten, explizit appellieren („Tue dies! Lasse das!“), strafen und diskretionär entscheiden. Dies geht nämlich mit diversen Nachteilen einher. Menschen reagieren im Allgemeinen mit Widerstand und Reaktanz (psychischer Abwehr) auf die Beschränkungen ihrer
3 Das Theoriemodell der Komplementären Führung 63 Tab. 3.5 Sanfte und harte Interventionen. (© Boris Kaehler 2023. All Rights Reserved.)XXVII Rollenverteilung
Harte Interventionen
Sanfte Interventionen
Fremdbestimmende Intervention durch die Führungskraft
Selbstbestimmte Intervention des Mitarbeiters (Selbststeuerung)
Einseitige Dominanz
Alternierende Dominanz
Hoher Interventionsgrad Niedriger Interventions(= substituierende Inter- grad (= korrigierende, vention, siehe Tab. 3.2) gemeinsame oder delegierende Intervention, siehe Tab. 3.2) Anweisung Diskretionäre persönliche Entscheidungen Persönlicher Kontakt
Kommunikationsweise
Sanktionen
Appellative Kommunikation
Bitte um Beiträge oder Hilfe Verweis auf generelle Regelungen Kontakt über Dritte (je nach Sachlage z. B. Kollege, Coach, obere Führungskraft, Personalbetreuer) Implizite Kommunikation (Metaphern, Andeutungen, Geschichtenerzählen, Symbole und Vorbildwirkung/Modelllernen)
Harsch und bestimmend
Freundlich und überzeugend/werbend
Begründungslose Intervention
Vermittlung des Sinns einer Intervention
Drohen mit Strafe
Locken mit Belohnung
Handlungsfreiheit durch harte Fremdbeeinflussung. Dies gilt jedenfalls dann, wenn dieser Einfluss zu spürbar und umfassend ausfällt. Es ist zwar möglich, diesen Widerstand z. B. mit Zwang oder Kompensation auszuschalten. Daraus resultiert jedoch in aller Regel eine passive Haltung, die sich negativ auf Selbstwertgefühl, Kontrollbewusstsein und Flow-Erleben auswirkt. Damit wiederum geht eine verringerte Produktivität einher, denn der Mitarbeiter tut zwar, was er soll, identifiziert sich aber nicht mehr voll mit seiner Arbeit, bringt sich nicht aktiv
64 B. Kaehler
ein und leistet weniger, als er könnte. Aus diesem Grunde ist es im Allgemeinen wirksamer und nachhaltiger, Führungsinterventionen, wo immer möglich, sanft zu gestalten.
Interventionen erzeugen unnötigen » Harte Widerstand. Die vielen Optionen der sanften Intervention mögen Ihnen ein wenig unübersichtlich erscheinen. Es handelt sich aber eigentlich nur um allgemeine Grundprinzipien der wirksamen Kommunikation, die wir alle ständig anwenden (oder jedenfalls anwenden sollten). Sie sind nicht spezifisch für Führung, sondern gelten für die politische Menschenbeeinflussung ebenso wie für die Kundenkommunikation oder Kindererziehung. Sobald man versucht, sie in Trainings oder in der Praxis auszuprobieren, wird deutlich, dass sie tatsächlich Bestandteile einer ganz normalen Interaktion sind. Es lohnt sich, die eigenen Gewohnheiten hier ein wenig zu hinterfragen und auf ihre Funktionalität zu prüfen: „Wir Deutschen fallen mit unserer Meinung gerne gerade heraus und haben es im Indirekten noch nicht sehr weit gebracht“ (Johann Wolfgang von GoetheXXVIII). Führungsinterventionen müssen und sollten aber natürlich auch nicht zu 100 % sanft gestaltet werden. Es spricht nichts dagegen, Selbstführungsdefizite hier und da direkt anzusprechen. Mitunter muss man sogar richtig Tacheles reden, um zum Gegenüber durchzudringen. Im Allgemeinen aber ist der indirekte Weg der bessere. Er ist auch keineswegs schwerer als der direkte, eher im Gegenteil. Anmerkungen I. Das genaue Zitat von Kurt Lewin lautet: „Wir sollten uns des Wertes der Theorie bewusst sein. Ein Geschäftsmann erklärte einst: ‚Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie.‘“ (Lewin 1943, S. 118; ähnlich 1951, S. 169; eigene Übersetzung). II. Greenleaf 1970.
3 Das Theoriemodell der Komplementären Führung 65
III.
Krost/Kaehler (2010). Das Schlagwort vom Führen als Dienstleistung war übrigens eine Modeerscheinung in der Marketingliteratur der 1990er Jahre, vgl. z. B. Jacobi 1990, S. 172/178; Bühner 1998. IV. Vgl. z. B. Taylor 1912; S. 34; Drucker 1973, S: 343; Merkle 1979, S. 162. V. Friedrich der Große 1752, S. 53 f. VI. Die Unterscheidung von Mitarbeiterorientierung und Produktions- bzw. Aufgabenorientierung geht auf die sog. Ohio- und Michiganstudien (Hemphill/Coons 1957; Halpin/ Winer 1957) zurück und wurde durch das FührungsgitterModell von Blake/Mouton (1964) popularisiert. VII. Abb. 3.1: Aus Kaehler 2020, S. 12; dort aus Kaehler 2017, S. 11, und Kaehler 2014a, S. 7. VIII. Fayol (1916, S. 8); Barnard (1938, S. 215 f.); Drucker (1973, S. 400); Mintzberg (1975); Kouzes/Posner (1987), Malik (2000, S. 171 ff.). Ein umfassender Überblick findet sich in Kaehler 2020 (S. 105ff.). IX. Tab. 3.2: Nach Kaehler 2024 (© Boris Kaehler); dort nach Kaehler 2020, S. 190, Kaehler 2017, S. 174, Kaehler 2014a, S. 82 und Kaehler 2012, S. 37. © Boris Kaehler. X. Sprenger 1991. XI. Quelle unbekannt; wohl zu Unrecht mitunter Laotse zugeschrieben. XII. Parker Follett 1930, S. 282 (eigene Übersetzung). XIII. Drucker 1954, S. 135f. XIV. Vgl. z. B. Höhn 1969. XV. Vgl. z. B. Pearce/Conger 2003, aber auch schon Katz/Kahn (1966, S. 331 ff.). XVI. Abb. 3.2: Aus Kaehler 2024; dort modifiziert nach Kaehler 2020, S. 180, Kaehler 2017, S. 164, Kaehler 2014b; S. 460, Kaehler 2014a, S. 80 und Kaehler 2012, S. 36. © Boris Kaehler. XVII. Greenleaf 1970, S. 13. XVIII. Tab. 3.2: Nach Kaehler 2020; dort modifiziert nach Kaehler 2017, S. 182. © Boris Kaehler.
66 B. Kaehler
XIX.
Abb. 3.3: Aus Kaehler 2024; dort aus Kaehler 2020, S. 201, Kaehler 2017, S. 183, und Kaehler 2014b, S. 460; dort nach Kaehler 2014a, S. 193 und Kaehler 2012, S. 45. © Boris Kaehler. XX. Abb. 3.4: Aus Kaehler 2024; dort nach Kaehler 2020, S. 211, dort nach Kaehler 2017, S. 317. © Boris Kaehler. XXI. Vgl. z. B. Feldman und Pentland 2003; Becker 2004. XXII. So schon Ulrich 1978, S. 214. XXIII. Tab. 3.3: Aus Kaehler 2024; dort modifiziert nach Kaehler 2020, S. 218 und Kaehler 2017, S. 323. © Boris Kaehler. XXIV. Ulrich/Smallwood/Sweetman 2008, S. 124; eigene Übersetzung. XXV. Schledt 2015. XXVI. Tab. 3.4: Aus Kaehler 2024; dort modifiziert nach Kaehler 2020, S. 200. © Boris Kaehler. XXVII. Tab. 3.5: Aus Kaehler 2024; dort nach Kaehler 2020, S. 57. © Boris Kaehler. XXVIII. Johann Wolfgang von Goethe; https://www.projekt-guten berg.org/eckerman/gesprche/gsp1082.html (Zugriff am 16.5.2023).
Literatur Barnard, Chester I. (1938): „The Functions of the Executive“; Neuauflage Harvard University Press 1968 (Erstauflage 1938). Becker, Markus C. (2004): „Organizational Routines: a Review of the Literature“; Industrial and Corporate Change 4/2004 (13); S. 643‒677. Blake, Robert R./Mouton, Jane (1964): „The Managerial Grid: The Key to Leadership Excellence“; Gulf Publishing 1964. Bühner, Rolf (1998): „Mitarbeiterführung im Dienstleistungsunternehmen“; in Bruhn, Manfred/Meffert, Heribert (Hrsg.): „Handbuch Dienstleistungsmanagement“; Gabler 1998; S. 734‒749. Die Akademie für Führungskräfte (2018): „Historie der Akademie“; https:// www.die-akademie.de/die-akademie/historie-der-akademie (Zugriff am 28.2.2018; nicht mehr online).
3 Das Theoriemodell der Komplementären Führung 67
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3 Das Theoriemodell der Komplementären Führung 69
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4 Der Beruf der Führungskraft
Führungskräfte sind, der Name sagt es schon, Führungsspezialisten. Wie ihre Rolle in einer bestimmten Organisation ausgestaltet ist, hängt stark davon ab, welche Aufbaustrukturen es dort gibt und was von Leitungsstellen inhaltlich erwartet wird. Ist dies unklar, bleibt Ihnen nichts anderes übrig, als es sich selbst zurechtlegen. Um Ihren Job gut machen zu können, müssen Sie ihn jedenfalls kennen. Erst dann lässt sich auch bestimmen, was Führungsleistung ist und welche Kompetenzen man dafür braucht. Zudem sollten Sie sich Gedanken um die kritischen Ressourcen Zeit, Information und Feedback machen. Die Lektüre dieses Kapitels wird Ihnen all dies verdeutlichen. Auch obere Führungskräfte – also solche, die ihrerseits Führungskräfte führen –, werden ihre besondere Rolle und deren Anforderungen präzise beschrieben finden.1 1 Da
die Kapitel in der E-Book-Version einzeln abrufbar sind, wiederhole ich den folgenden Hinweis aus dem Vorwort: Dieses Buch beruht auf dem Theoriemodell der Komplementären Führung, das ich für führungskonzeptionell Interessierte in meinem wissenschaftlichen Grundlagenwerk gleichen Titels dargelegt habe (Kaehler 2020). „Führen als Beruf“ soll dieses Wissen für Führungskräfte als Anwenderinnen und Anwender aufbereiten, gut verständlich und streng praxisorientiert. Fast alle Ideen und auch manche Formulierungen, die Sie hier finden, stammen aber aus dem ersten Buch, das lässt sich nicht vermeiden. Aus Gründen der Lesbarkeit – dies ist
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Kaehler, Führen als Beruf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67567-0_4
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72 B. Kaehler
4.1 Von Hierarchien und Leitungsstellen Wer sich mit dem Beruf der Führungskraft auseinandersetzt, sollte den Blick zunächst einmal auf dessen Grundlage richten: die sog. „Aufbauorganisation“. Ob es in einem Unternehmen oder einer Behörde überhaupt formale Leitungsstellen gibt und wie diese ausgestaltet sind, sind nämlich aufbauorganisatorische Fragen. Leitungsstellen setzen eine Hierarchie voraus, worunter man die Über- und Unterordnung von Organisationseinheiten mittels Berichtslinien versteht. Für viele ist das ein rotes Tuch, die meisten wollen Hierarchien abbauen. Dass sie dabei Äpfel mit Birnen verwechseln, wurde bereits angemerkt, denn Hierarchien bedingen keineswegs das Machtgehabe, die Entscheidungszentralisation und die stufenweise Weitergabe von Informationen, die allgemein mit dem Begriff assoziiert werden. Auch handelt es sich um eine begrenzte Perspektive auf die Organisation; alternative Perspektiven – insb. informelle Beziehungen und Abläufe – sind ebenso relevant und werden durch die Beschäftigung mit der Hierarchie in keiner Weise entwertet. Von völliger Unkenntnis zeugt auch die populäre Forderung nach „flachen Hierarchien“. Leitungsspanne (die Zahl unterstellter Stellen) und Leitungstiefe (die Zahl der Hierarchieebenen) stehen nämlich in einem negativen Verhältnis. Wer viele Mitarbeitende hat und diese mit flacher Hierarchie führen will, nimmt eine große Leitungsspanne in Kauf. Mehr als 15‒20 Mitarbeitende in direkter Berichtslinie kann aber niemand bewältigen. Einer alten und natürlich nicht allgemeingültigen Faustregel nach benötigt jeder Mitarbeiter etwa 5 % der Arbeitszeit einer Führungskraft. Mehr als 15 disziplinarisch unterstellte Mitarbeitende sind demnach kaum praktikabel; 5‒10 erscheinen als ein gutes Maß, jedenfalls dann, wenn auch noch substanzielle Sachtätigkeiten hinzukommen. In solchen Fällen entstehen entweder informelle und damit intransparente Schattenhierarchien oder es wird nicht richtig geführt. Je
kein wissenschaftliches Werk – sind dabei nicht alle Selbstzitate explizit als solche gekennzeichnet. Andere Autoren und Quellen werden aber natürlich nach bestem Wissen und Gewissen korrekt und vollständig zitiert.
4 Der Beruf der Führungskraft 73
mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine Organisation also hat, umso tiefer muss die Hierarchie sein. Das hat an und für sich auch erst einmal keine Nachteile, sofern Kommunikation, Entscheidungsfindung, Kultur, Stellenausstattung usw. als separate Sachverhalte erkannt und systematisch gestaltet werden. Maßstab dafür, ob eine Hierarchie aufoder abgebaut werden muss, ist also die Leitungsspanne. Kleine Teams, die automatisch mehr Hierarchiestufen bedeuten, sind im Übrigen keineswegs per se schlecht. Einer Teamleitung nur zwei oder drei Mitarbeiter zuzuweisen, kann sehr funktional sein, z. B. dann, wenn es sich um eine Teilzeitführungsstelle handelt oder jede Menge Sachaufgaben hinzukommen. Auch hier ist also systematische Aufbaugestaltung gefragt.
Hierarchien zu predigen, zeugt von » Flache Unkenntnis. Was den anderen Aspekt des Führungsaufbaus, die inhaltliche Stellengestaltung der Leitungsstellen, angeht, so dreht sich diese um die Frage, welche Aufgaben und Aktivitäten in einer Führungsstelle gebündelt werden. Eine gewisse Vorstrukturierung sollte sich eigentlich durch die betrieblichen Regelungen ergeben, allen voran das Führungsmodell und die Stellenbeschreibung. Diese sind in den allermeisten Unternehmen zwar vorhanden, bleiben aber üblicherweise viel zu schwammig, sodass es der Führungskraft und den anderen Führungsakteuren obliegt, den faktischen Zuschnitt zu erkennen und zu gestalten. Im Mittelpunkt stehen dabei die Führungsroutinen (= Aktivitäten), auf die in Abschn. 3.6 schon näher eingegangen wurde. Zusammengenommen ergeben sie die Tätigkeit der Führungskraft (Abb. 4.1). Diese umfasst grundsätzlich die drei Aktivitätsbereiche der Sachgeschäfts-, Personal- und Selbstführung. Es sind dies die Tätigkeitsbereiche, die unverzichtbar sind. Um alle drei Bereiche herum lassen sich dann noch bestimmte Tätigkeiten identifizieren, die zusätzliche Aktivitäten darstellen und durchaus verzichtbar wären. Dabei handelt es sich überwiegend nicht um Führungs-, sondern um Ausführungs-
74 B. Kaehler
ggf. zusätzliche Sachaktivitäten:
• Wichtige Kunden • Projekte/Sachgeschäft • Retinierte (= nicht-delegierte) Sacharbeit der Mitarbeiter
Sachgeschäftsführung
Personalführung
• Konstitutive und strategische Sachgeschäftsführungsroutinen • Stör-/Eskalationsfälle • Repräsentation
• Operative und strategische Personalführungsroutinen (mitarbeiterbezogen)
ggf. zusätzliche Personalaktivitäten:
• Unnötige und dysfunktionale HR-Aktivitäten • Insb. obere Führungskräfte: Gestaltung von Personalinstrumenten
Selbstführung • Personalführungsroutinen (auf sich selbst bezogen) ggf. zusätzliche Eigenaktivitäten:
• Sekretariatsaktivitäten • Haushaltsführung etc.
Abb. 4.1 Tätigkeitsbereiche der Führungskraft. (© Boris Kaehler 2023. All Rights Reserved.)I
aktivitäten. Das bedeutet nicht, dass es generell unsinnig wäre, sie einer Leitungsstelle zuzuweisen. Wenn die Kernbereiche wahrgenommen werden und noch Zeit verbleibt, spricht nichts dagegen, dass eine Führungskraft auch rein ausführende Sachaufgaben übernimmt. Das Schlagwort vom „erster Sachbearbeiter“ muss also gar nicht so negativ sein, wie es i. d. R. gemeint ist. Wenn die Mitarbeitenden aber unselbständig, die Leitungsspanne hoch und die Regelarbeitszeit begrenzt sind, sollte die entsprechende Leitungsstelle solche Aktivitäten nicht wahrnehmen müssen. Sachzuständigkeiten sind natürlich stark kontextabhängig. Die Personalführungsanteile lassen sich hingegen (wie in der Einleitung thematisiert) durchaus generalisieren. Das Modell der Komplementären Führung legt hier eine spezifische Konfiguration aus 21 Aufgaben und etwa einem Dutzend operativer, strategischer und konstitutiver Aktivitäten nahe (Abschn. 3.2 und 3.6). In der Praxis muss aber jede Organisation selbst festlegen, wie ihre Führungsstellen ausgestaltet werden. Der Lösungsraum wirksamer Führung ist dabei durchaus begrenzt: Wer für Entwicklung, Motivation oder Leistungsfeedback nicht zuständig ist, kann nie und nimmer gut führen. Zu berücksichtigen ist ferner, dass Querverbindungen zur Gestaltung der Stellen der Mitarbeitenden, der Personalspezialisten und der oberen Führungs-
4 Der Beruf der Führungskraft 75
kräfte bestehen. Dies deshalb, weil die komplementären Akteure das Mandat der Führung ja arbeitsteilig bewerkstelligen und daher die Gestaltung der Aufgaben und Aktivitäten des einen Akteurs automatisch Auswirkungen auf jene des anderen Akteurs hat. De facto gestalten die meisten Organisationen Führungspositionen allerdings gar nicht im Detail, sondern begnügen sich mit Allgemeinplätzen. Dies dürfte mit dem verbreitet sehr unspezifischen Führungsverständnis zusammenhängen. Sinnvoll ist es aber nicht. Eine Leitungsstelle muss einen klaren Aufgaben- und Verantwortungsbereich haben und genauso systematisch gestaltet werden wie jede andere Stelle. Wenn Ihre Organisation Ihnen dabei nicht hilft, legen Sie Ihre Stelle eben selbst fest. „Job Crafting“ nennen das die Fachleute, und es funktioniert wunderbar.
Führungsstellen müssen sorgfältig » Auch gestaltet werden.
4.2 Die besondere Rolle oberer Führungskräfte Oberen Führungskräften – also solchen, die ihrerseits Führungskräfte führen – kommt eine besondere Rolle im Leitungssystem von Organisationen zu. Zunächst einmal praktizieren sie „normale“ Personalführung in Bezug auf die unmittelbar an sie berichtenden Personen, d. h., sie wirken als einfache Führungskräfte. Da die Arbeit der Geführten aber wiederum in Personalführung besteht, müssen obere Führungskräfte diese Tätigkeit selbst in besonderer Weise verstehen, um sie beurteilen und ggf. anleiten zu können. Dies gilt umso mehr, als dass das Komplementäre Führungsmodell oberen Führungskräften eine besondere Akteursrolle zuweist, die darin besteht, kompensierend einzugreifen, wenn die unterstellten Führungskräfte bei Selbstführungsdefiziten der Mitarbeitenden untätig bleiben. Solchermaßen erstreckt sich das Führungsmandat oberer Führungskräfte nicht nur auf die direkt unterstellte Ebene, sondern auch auf die darunter.
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Führungskräfte führen Führungs» Obere kräfte. Eine weitere Besonderheit stellt die sog. hierarchieüberspannende Kommunikation mit der Gesamtbelegschaft dar, die über Stellvertreter oder mit Mitteln der Massenkommunikation erfolgen kann (Abschn. 8.5). Hier ergibt sich die Bedeutung aus der Zahl der Angesprochenen – jedes Wort beeinflusst viele. Informationen sollten in Organisationen nicht ausschließlich nach dem Stille-Post-Prinzip über Zwischenebenen kommuniziert werden, sondern auch direkt fließen. Obere Führungsebenen müssen daher Präsenz auf allen Ebenen zeigen. Zu guter Letzt ist noch daran zu denken, dass obere Führungskräfte von den HR-Bereichen häufig auch in die Entwicklung formaler Personalinstrumente eingebunden werden (Abschn. 14.5). Aus all diesen Gründen sind obere Führungskräfte besonders maßgeblich für die Führungsqualität im Betrieb und benötigen daher besonders vertiefte Führungskenntnisse.
4.3 Die kritischen Führungsressourcen Information, Feedback und Zeit Wer arbeitet, braucht Ressourcen. Dies gilt für jeden Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin, weshalb es sich um eine wichtige Führungsaufgabe handelt, diese Ressourcen bereitzustellen (Kap. 8). Bei Führungskräften ist es nicht anders. Auch hier ist es zunächst an der Führungskraft als Selbstmanager, diese sicherzustellen. Ergänzend liegt es in der kompensatorischen Verantwortung der oberen Führungskraft. Zudem lässt sich die Ressourcenversorgung durch formalisierte Instrumente – also Informations- Feedback- und Arbeitszeitsysteme – strukturell unterstützen. Allerdings scheitert die Wirksamkeit von Führungskräften in der Praxis so häufig an fehlenden Informationen, fehlendem
4 Der Beruf der Führungskraft 77
Feedback und/oder fehlender Arbeitszeit, dass hier vorab kurz schon einmal darauf eingegangen werden soll. Was die Führungsressource Information betrifft, so geht es schlicht darum, dass Führungskräfte gut informiert sein müssen, um ihren Job zu machen. Leicht einsehbar können Sie weder die Sachgeschäfte Ihrer Einheit sinnvoll ausrichten noch Ihren Mitarbeitenden die erforderliche Orientierung bieten, wenn Sie selbst nicht wissen, in welchem Umfeld Sie sich bewegen. Sie müssen daher zum einen den übergeordneten konstitutiven Rahmen kennen, der insb. Faktoren wie die Unternehmensmission, den rechtlichen Ordnungsrahmen, die Rechts-/ Organisationsform, die Organisationsstrukturen, das Geschäftsmodell, die Stakeholder-Interessen sowie das Planungs-, Führungs- und Controllingsystem umfasst. Ebenso müssen Sie hinsichtlich der übergeordneten Sachgeschäftsstrategien in den Bereichen Markt, Produktion und Ressourcen im Bilde sein. Gleiches gilt für die übergeordneten Personalstrategien. Wie könnten Sie sonst sinnvolle Strategien für Ihre eigene Organisationseinheit entwickeln und auf die Gesamtstrategien ausrichten? Und schließlich müssen Sie die aktuelle Lage einschätzen können, insb. in Bezug auf den Markt, die Ertrags-/Kostensituation sowie aktuell geplante Vorhaben von Relevanz für Ihre Einheit. Idealerweise gibt es im Unternehmen formalisierte Informationssysteme, die dafür sorgen, dass alle relevanten Informationen an die richtigen Adressaten kommen. Auch steht die obere Führungskraft hier in der kompensatorischen Führungsverantwortung. Zuallererst ist es jedoch an Ihnen als Führungskraft, sich die erforderlichen Informationen durch Abfragen und Recherchen selbst zu verschaffen.2
werden zu Führungs» Informationsdefizite defiziten.
2 Das
alles betrifft hier wie gesagt die Führungskraft als Selbstmanager; für die Mitarbeitenden gilt es natürlich analog, denn Informationsversorgung ist ja eine Führungsaufgabe (Abschn. 8.4).
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Eine ganz wichtige Informationsquelle bilden dabei Ihre Leute. Wer weiß denn am besten über die einzelnen Kunden und Sachgeschäfte Bescheid? Wer kennt die versteckten Kostentreiber und eventuellen Potenziale aus ständiger eigener Anschauung? Eben. Von Henry MintzbergII stammt der Vorschlag, Organisationen als Kreise darzustellen, mit den Topmanagern in der Mitte als denjenigen, die zwar den Überblick haben, aber keine Detailkenntnis des Geschäftsbetriebs. Den äußeren Rand bilden die Mitarbeitenden mit perfekter Detailkenntnis, aber ohne Überblick. Mittlere Führungskräfte als Schicht dazwischen, mit mäßigem Überblick wie Detailwissen, hätten dann die Aufgabe, beide als Informationsvermittler miteinander zu verbinden. Und dies beinhaltet eben nicht nur die Informationsweitergabe durch die Führungskraft (Abschn. 8.4), sondern durchaus auch die Information der Führungskräfte durch die Belegschaft. Feedback, die zweite typische Problemressource, meint nichts anderes als Rückmeldungen über die eigene Führungsleistung. Ohne Informationen über die erzielte Wirkung – auch dies ein generelles Prinzip – kann die Führungskraft ihr Handeln nicht steuern. Die meisten Führungskräfte sind als Selbstmanager bereit und in der Lage, sich solches Feedback zu verschaffen. Dies beginnt mit der normalen Gesprächsführung, bei der ja durchaus erkennbar wird, ob der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin z. B. bestimmte Dinge verstanden oder erbracht hat. Wichtig ist aber auch, leistungsrelevante Daten auszuwerten (Produktivität, Krankenstand etc.) und in regelmäßigen Abständen Befindlichkeiten aufzunehmen. Viele erfahrene Führungskräfte haben es sich daher zur Gewohnheit gemacht, in den Arbeitsbesprechungen routinemäßig abzufragen, wie zufrieden der jeweilige Mitarbeiter mit Ihnen als Chef oder Chefin ist und was er sich ggf. wünscht. Bewährt haben sich auch moderierte Workshops, in denen das Team zunächst allein eine Bewertung der Führungsleistung vornimmt, die der Führungskraft anschließend vorgestellt wird.3 Die klassische formale Mitarbeiterbefragung ist demgegenüber unpersön-
3 Z. B. nach der sog. „start – stop – continue“-Methode: Was soll die Führungskraft tun, was bislang nicht getan wurde? Was soll sie lassen? Womit soll sie weitermachen?
4 Der Beruf der Führungskraft 79
licher und störanfälliger. Ohne Rückmeldungen Ihrer Mitarbeitenden können Sie jedenfalls nicht wirksam führen. Da diese nun aber nur eine einzelne Perspektive auf die Führungsleistung beitragen können, benötigen Sie auch Feedback von allen anderen Akteuren. Sowohl die obere Führungskraft als auch die Personalspezialisten und die Kollegen sollten es im Rahmen ihrer normalen Führungstätigkeit geben, notfalls können Sie sie auch darauf ansprechen. Wie immer ergibt es aber auch hier Sinn, nicht nur auf die Eigeninitiative und Kommunikationsfreude der Beteiligten zu setzen, sondern verbindliche Strukturen zu schaffen. Ob das so generierte Feedback vertraulich oder öffentlich ist, wird sehr unterschiedlich gehandhabt. Beides hat Vorteile. Peter F. Drucker empfahl, solche Informationen nur zur Selbstkontrolle des Managers und nicht zur Kontrolle von oben zu verwenden.III Das instrumentalisierte Feedback rein freiwillig zu gestalten, ergibt indes wenig Sinn, denn Feedback ist eben besonders dort eine notwendige Ressource, wo schlecht geführt und zweiseitige Kommunikation vermieden wird. Im Übrigen handelt es sich beim Führungsfeedback letztlich um eine spezifische Form der Leistungsbeurteilung, sodass alle diesbezüglich in Abschn. 8.6 dargelegten Grundsätze auch hier anzuwenden sind. Dies gilt z. B. für die Trennung der Rohdatenerhebung von der eigentlichen Beurteilung: Nur weil Ihre Mitarbeitenden Sie negativ beurteilen, ist Ihre Führungsleistung nicht automatisch negativ; erforderlich ist vielmehr ein gesonderter Bewertungsschritt. Wichtig außerdem: Feedback spiegelt immer das eigene Führungsverständnis. Wo beide Seiten mangels konkreter betrieblicher Führungsregelungen nur ihre subjektiven Erwartungen abarbeiten, kann Feedback sehr destruktiv wirken.
Führungskräfte müssen wissen, wo » Auch sie stehen. Die dritte für Führungskräfte oft problematische Ressource ist die für Führung erforderliche Arbeitszeit. Hier liegt einiges im Argen.
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Viele Führungskräfte sind so stark mit anderen Dingen beschäftigt, dass sie sich die Zeit für Personalführung nicht nehmen. Dies wird sicher dadurch begünstigt, dass das Sachgeschäft vielerorts konkreter beschrieben und höher priorisiert wird als die Personalführung und manch einer sie deshalb stärker gewichtet. Auch sind es häufig exzellente fachliche Leistungen, wegen derer Expertinnen und Experten in Führungspositionen befördert werden. Dass diese das ihnen viel vertrautere Sachgeschäft dann gern der Personalarbeit vorziehen, ist wenig verwunderlich. De facto arbeiten nicht wenige fast in Vollzeit in Projekten und am Kunden und vernachlässigen dabei das Personal, ganz nach dem Motto: „Ich habe keine Zeit zum Führen, ich muss ja noch arbeiten.“IV Dies ist nicht akzeptabel. Wer eine Führungsposition übernimmt, muss verstehen, dass er oder sie fortan zu einem großen Teil für Personalführung bezahlt wird. Um ein bekanntes Bonmot aufzugreifen: Der hierarchische Aufstieg ist in gewisser Hinsicht auch ein fachlicher Abstieg. Man mag sich, was durchaus anzuraten ist, in bestimmten Feldern Kernwurzeln echter Expertise erhalten, und eine gewisse Sachkenntnis ist auch für die Personalführung unabdingbar. Für ein großes Team verantwortlich zu sein und gleichzeitig ein breites Spezialistentum zu pflegen, ist jedoch unrealistisch. Manager sind eben in erster Linie Experten für Management, also für Sachgeschäfts- und Personalführung. Im Rahmen der Führungsausbildung sollte dies geklärt und später im Wege der Leistungsbeurteilung durchgesetzt werden. Orientiert man sich einmal an der bereits genannten Faustregel, nach der eine durchschnittliche Führungskraft zur Führung eines durchschnittlichen Mitarbeiters ca. 5 % ihrer Arbeitszeit benötigt, wird der Lösungsraum deutlich. Wer nicht bereit ist, sich Zeit für die Mitarbeiterführung zu nehmen, ist in Führungspositionen falsch aufgehoben. Freilich muss es der Führungskraft überhaupt möglich sein, sich die Zeit zu nehmen. Dass dies vielerorts nicht der Fall ist, liegt einerseits am Stellenzuschnitt und anderseits am Grad der Selbstführung der Mitarbeitenden. Damit sind dann auch schon die beiden Stellschrauben benannt, mittels welcher sich Zeit für Personalführung richtig bemessen lässt. Dabei kann je nach Möglichkeit entweder die faktische Arbeitszeit dem Stellenzuschnitt und Selbstführungsgrad angepasst werden oder umgekehrt dieses beides der verfügbaren Arbeits-
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zeit. Hauptsache, der Zusammenhang wird erkannt und die Führungskraft hat unter dem Strich ausreichend Zeit für gute Führung. Es ergibt es wenig Sinn, gute Personalführung zu fordern, den Führenden aber keine Arbeitszeit dafür zuzugestehen.
» Führung ist ein Beruf, kein Hobby! Von einem Aspekt, dem Stellenzuschnitt, war in Abschnitt 4.1 die Rede. In vielen Unternehmen sind die Führungsspannen und der Stellenzuschnitt so breit, dass echte Personalführung von vornherein gar nicht möglich ist. Der andere Aspekt, das Prinzip der Selbstführung, wurde bereits in Abschn. 3.3 ausführlich erläutert. Im Wesentlichen geht es dabei um die Aufteilung der Führungsinhalte zwischen den komplementären Akteuren (siehe Tab. 3.5). Viele Führungskräfte übernehmen dauerhaft zu hohe Anteile an den Führungsaufgaben und -aktivitäten. Die Teilnahme der Führungskraft an den für sie definierten Führungsaktivitäten – also Gesprächen, Sitzungen etc. – ist zwingend notwendig. Vorbereitung, Leitung und/oder Protokoll lassen sich aber durchaus delegieren. Weitere Zeitersparnis erbringt, wenn sie gut gemacht ist, die Vorstrukturierung durch formalisierte Instrumente, z. B. Checklisten. Was die Führungsaufgaben – z. B. die Definition von Zielen oder Lösung von Konflikten – angeht, so lassen sich diese zwar nicht mit Zeit hinterlegen, denn es handelt sich ja nicht um Tätigkeiten, sondern um abstrakte Aufgabenstellungen. Wer es aber schafft, sich, wie empfohlen auf das rein kompensatorische Eingreifen zu beschränken, hat im Ergebnis einen kleineren Anteil an den Führungsaufgaben, was mit weniger und kürzeren Führungsaktivitäten einhergeht. Dies gelingt durch die Rekrutierung selbstmanagementstarker Einstellungskandidaten und eine entwicklungsorientierte Fremdführung, die unselbstständige Mitarbeitende nach und nach immer weiter an das Ziel weitgehender Selbstführung heranbringt. Wohlgemerkt: Es geht um Führungsaufgaben und -aktivitäten, also Steuerungsarbeit. Dass die Führungskraft die ausführende Sacharbeit,
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also die eigentlichen Arbeitsinhalte der Tätigkeit der Mitarbeitenden, konsequent delegieren und nicht an sich ziehen sollte, versteht sich von selbst. Wer dies alles konsequent so umsetzt, wie das Komplementäre Führungsmodell es vorsieht, reduziert die erforderliche Zeit für Führung mittelfristig ganz erheblich.
4.4 Was ist Führungsleistung und wie wird sie sinnvollerweise gemessen? Führungsleistung ist das, was ein implizites oder explizites Führungsmodell als Führungsleistung definiert. Wenn Ihre Organisation es als Leistung ansieht, lange im Büro zu sitzen, dann ist dies eben der Maßstab. Wenn Bernd Stromberg aus der gleichnamigen Fernsehserie den Chef als „eine Art Büroanimateur“ definiert, so ist auch dies ein Maßstab. Hat eine Organisation oder eine Führungskraft gar keine konkrete Vorstellung vom Führen, so lässt sich natürlich auch die Führungsleistung nicht exakt bestimmen. Der Leistungsbegriff der Komplementären Führung ist hingegen glasklar. Allerdings werden Sie sich ein wenig eindenken müssen, denn er zieht ja sozusagen die Klammer um den Beruf des Führens und es wäre sehr unplausibel, wenn etwas Eindimensionales dabei herauskäme. Auch muss auf das Thema Leistungsbeurteilung (Abschn. 8.6) vorgegriffen werden, denn Führen ist ja schließlich eine ganz normale berufliche Arbeit, für die die normalen Grundsätze gelten müssen. Zu beachten ist, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer arbeitsrechtlich nicht das Arbeitsergebnis (das Werk), sondern nur den Arbeitseinsatz (das Wirken) schulden.V Die meisten Führungskräfte sind ja solche, und dieser Grundsatz ist außerdem so sinnvoll, dass man ihn auch auf Nicht-Arbeitnehmer übertragen kann. Der Arbeitnehmer ist zwar dafür verantwortlich, Arbeitsergebnisse anzustreben, der Arbeitgeber hat die Arbeit aber so zu organisieren und zu lenken, dass die Ergebnisse auch tatsächlich erzielt werden. Wenn die Führungskraft also keinen Führungserfolg erzielt, ist dies ein mögliches Anzeichen für mangelnden Einsatz und dysfunktionales Verhalten. Ebenso gut kann es aber auch ein Indiz für
4 Der Beruf der Führungskraft 83
mangelhafte Führungsstrukturen sein, und tatsächlich ist dies vielerorts der Fall. Leistung mit Resultaten gleichzusetzen ist ohnehin eine große Dummheit, denn der Arbeitseinsatz und das Arbeitsverhalten sind die Bedingungen dafür und nicht weniger wichtig. Die Resultate sind am Ende das Entscheidende, aber ohne Berücksichtigung von Einsatz und Verhalten blendet man den Weg dorthin aus und kann letztlich überhaupt nicht beurteilen, ob die Resultate dem unter den jeweiligen Umständen Möglichen entsprechen. Als Arbeitgeber schleicht man sich so aus der Verantwortung für den Leistungsprozess – das ist unanständig und das Gegenteil managerialer Steuerung.
Führungsleistung ist nicht immer » Schlechte die Schuld der Führungskraft. Woran wollen und müssen Sie sich nun also als Führungskraft – nach den Standards der Komplementären Führung – messen lassen? Ganz grundsätzlich sollte erst einmal zwischen den Personalführungsleistungen und den sachbezogenen Führungsleistungen unterschieden werden. Letztere stellen wir hier einmal zurück, in Abschn. 13.4 kommen wir darauf zurück. Hier soll es also erst einmal nur um die Personalführungsleistung gehen. Der erste Leistungsaspekt, der Führungseinsatz, lässt sich als Wahrnehmung der Führungsroutinen (Abschn. 3.6) und Bewerkstelligung der Führungsaufgaben (Abschn. 3.2) verstehen. Die Frage ist hier einerseits, ob die Führungskraft die festgelegten Routinen wirklich in den vorgesehenen Abständen durchführt (z. B. wöchentliche Aufgabengespräche). Andererseits geht es darum, ob sie im Rahmen dieser Aktivitäten tatsächlich für klare Arbeitsaufträge, wirksame Anreize, notwendige Qualifizierung etc. sorgt, also dafür, dass alle Führungsaufgaben in Bezug auf jede Mitarbeiterin und jeden Mitarbeiter tatsächlich umgesetzt werden. Dies entspricht – um ein Vergleichsbeispiel zu bringen – dem Verkäufer, der Termine mit Kunden vereinbart und sie von Produkten überzeugt. Wenn Sie sich einen Eindruck davon verschaffen, ob Ihre Mit-
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arbeitenden umfassendes Selbstmanagement betreiben (d. h., ob sie alle definierten Führungsaufgaben selbst übernehmen, sich z. B. die richtige Arbeit suchen und ihren Leistungsstand kennen) und bei Bedarf kompensatorisch eingreifen, ist das voller Einsatz. Wissen Ihre Mitarbeitenden hingegen nicht, was sie zu tun oder wie sie ihre bisherigen Leistungen einzuschätzen haben, haben Sie diese Personalführungsaufgaben – und mit ihnen einen wichtigen Teil Ihrer Führungstätigkeit – vernachlässigt. Der zweite Leistungsaspekt, das Führungsverhalten, betrifft das Arbeits- und Sozialverhalten der Führungskraft. Dies beinhaltet vor allem ihren Umgang mit den übrigen Führungsakteuren sowie den Umgang mit den formalisierten Personalinstrumenten im Sinne der Einhaltung der instrumentenbezogenen Vorgaben. Es geht hier also um die Erfüllung der organisationsspezifischen Verhaltensstandards. Wer sein Team zerstört, indem er die besten Mitarbeiter in die Eigenkündigung treibt, sollte nicht für sonstige Leistungen gefeiert werden. Der dritte Aspekt betrifft dann in der Tat die Führungsresultate. Hier geht es darum, ob die erzeugten Arbeitsleistungen und Personalkosten quantitativ und qualitativ die angestrebten Vorgaben erfüllen und die sonstigen Ziele erreicht werden (Abschn. 15.2). Ist dies der Fall, so bedeutet dies Führungserfolg. Sinnvoll ist es, bei diesen sonstigen Zielen gleich auch die prognostizierten Auswirkungen auf die dauerhaft-strukturelle Leistungsfähigkeit zu berücksichtigen und die rein periodenbezogenen Ergebnisse damit zu relativieren. Wer ein bestimmtes Ergebnisziel erreicht, indem er übermäßigen Druck auf die Belegschaft ausübt, das Arbeitszeitgesetz bricht und wahllos irgendwelche Leute einstellt, dessen Personalführung mag kurzfristig erfolgreich sein. Sie schwächt aber dauerhaft die Personalstruktur und vernachlässigt Stakeholder sowie Rechtsnormen. Nach diesem Maßstab wäre dann die Personalführung insgesamt eben nicht erfolgreich. Auch dies entspricht genau dem Vertriebsbeispiel, wo es nicht nur ums Verkaufen geht, sondern auch darum, die Kundenbasis, Kaufbereitschaft und Weiterempfehlungsbereitschaft dauerhaft zu erhalten. Die ersten beiden Aspekte – Einsatz und Verhalten – lassen sich recht gut bei den beteiligten Führungsakteuren abfragen und damit messbar machen. Für den dritten Aspekt, die Ergebnisse, liegen in den meisten Unternehmen geeignete Kennzahlen vor oder lassen sich sonst recht problemlos generieren.
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umfasst Einsatz, Ver» Führungsleistung halten und Resultate.
4.5 Die Rolle des eigenen Führungsstils und der Persönlichkeit Erfolgreiche Führungskräfte sind oft sehr unterschiedlich und auf ihre eigene Art erfolgreich – das ist Management-Standardwissen.VI Vor dem Hintergrund des Komplementären Führungsmodells wird verständlich, warum dies so sein muss. Nicht nur sind Führungsaufgaben unter den komplementären Akteuren situativ völlig unterschiedlich verteilt, wobei der eine die Defizite des anderen kompensieren kann und soll. Auch lässt sich die Umsetzung der Führungsaufgaben in den Führungsaktivitäten nicht standardisieren, da es um situative Passung geht und diese auf vielerlei Arten erreicht werden kann. Außerdem sind Belegschaften sehr wohl in der Lage, sich an die Eigenheiten ihrer Führungskraft anzupassen. Es geht also nicht darum, was gute Führungskräfte sind (ihre Eigenschaften und Charakteristika), sondern vielmehr darum, was sie können und tun (Handlungsfähigkeiten und Tätigkeiten).VII Organisationen sollten Führungspositionen zwar besser mit intelligenten und kommunikationsstarken Menschen besetzen als mit infantilen Psychopathen. Das gilt aber für alle Kontaktberufe und hat nur am Rande mit Führung zu tun. Führungserfolg erfordert keine bestimmte Persönlichkeit.
eine Führungspersönlichkeit gibt es » Die nicht. Führungsstil wiederum ist ein Wort, das ich am liebsten vermeide, weil darunter alles Mögliche verstanden wird – von Persönlichkeitsmerkmalen über Umgangsformen bis hin zu Handlungsmustern.
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Wenn es um individuelle Spielarten des Auftretens geht, spreche ich deshalb lieber von der Art und Weise des Führens. Sie ahnen es: Es gibt auch hier sehr viele Optionen, die gleichermaßen zum Ziel führen. Führungskräfte müssen Führungsaktivitäten durchführen, um die Erfüllung aller 21 Führungsaufgaben zu gewährleisten. Wie sie es tun, spielt keine Rolle. Natürlich gibt es Mindeststandards der Kommunikation und des Zusammenlebens, die kulturell determiniert sind und deren Verletzung Führung unwirksam macht. Andere anzuschreien oder zu beleidigen ist selten angezeigt und verfehlt in aller Regel den Zweck der Interaktion; Mundgeruch und aggressive Körpersprache erzeugen Ablehnung; Monologe und Handynutzung machen jedes Gespräch zur Farce. Nicht nur Führungskräfte, sondern alle, die mit Menschen kommunizieren, sollten solcherlei Unsitten vermeiden. Darüber hinaus aber lassen sich keine generellen Vorgaben machen. Allerdings sollte jede Führungskraft die ihr eigene Kommunikationsund Führungsweise finden. Diese muss zur eigenen Persönlichkeit passen, aber auch situativ flexibel sein. Ob Sie locker oder formal, humorvoll oder bierernst, dynamisch oder ruhig auftreten, ist letztlich egal, solange Sie es authentisch, natürlich und situationsangemessen tun. Wenn Sie die Möglichkeit haben, sollten Sie in Führungstrainings o. Ä. unterschiedliche Verhaltensweisen ausprobieren und deren Effekt reflektieren. Der „eigene Stil“ – um das Wort hier doch einmal zu verwenden – ist also durchaus erstrebenswert. Er darf nur nicht als Schutzbehauptung für Selbstbezug missbraucht werden, denn Führung ist dienstleistende Einflussnahme, kein privilegierter Ego-Trip.
» Führen Sie auf Ihre eigene Art und Weise.
4 Der Beruf der Führungskraft 87
4.6 Führungskompetenz: Was muss man können? Wer führen will, braucht Führungskompetenz. Führungskräfte müssen über vielerlei Fähigkeiten verfügen, die von Kommunikations- und Verhandlungskompetenz über Beurteilungs- und Entscheidungskompetenz sowie Achtsamkeitskompetenz, Lernkompetenz, Reflexionsfähigkeit, Planungs- und Strukturierungskompetenz bis hin zu kreativer und konzeptioneller Kompetenz sowie Zeitmanagement- und Regenerationskompetenz reichen. All diese Kompetenzen sind für die Personalführung wichtig, aber eben nicht nur für die Personalführung. Sie beziehen sich auf kleine Versatzstücke von Aktivitäten und Aufgaben, die auch für viele andere berufliche Tätigkeiten relevant sind. Aus diesem Grunde sollte man sie als Elementarkompetenzen verstehen. Jeder Vertriebler, Ingenieur, Lehrer und Schwimmmeister muss die meisten davon genauso beherrschen. Es ist sinnvoll, sie zu trainieren und zu vertiefen, macht einen aber noch nicht zur kompetenten Führungskraft. Das gilt auch für die Befähigung zur Nutzung digitaler Medien, die für alle Berufsgruppen einschließlich jener der Führungskräfte immer wichtiger wird.
sind berufs» Elementarkompetenzen unspezifisch. Zu diesen Elementarkompetenzen gehört übrigens auch die je nach Geschäftsfeld sehr unterschiedliche Sach- und Fachkompetenz. Führungskräfte benötigen ein grundlegendes Verständnis aller im Verantwortungsbereich anfallenden Aufgaben. Um über die Arbeit anderer zu entscheiden, muss man diese Arbeit zwar nicht so gut oder schnell ausführen können wie sie. Man muss aber zumindest die Abläufe, Probleme und Herausforderungen ihrer Tätigkeit im Detail verstehen. Dies stellt eine besondere Herausforderung für Quereinsteiger dar, die in ein für sie zuvor unbekanntes Terrain wechseln und sich dann
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eben gute Detailkenntnis der im eigenen Bereich anfallenden Tätigkeiten aneignen müssen. Meine Empfehlung: Absolvieren Sie „interne Hospitationen“ im eigenen Bereich, bei denen Sie nicht nur zuschauen, sondern tatsächlich selbst mitarbeiten. Diese direkte eigene Erfahrung sollte natürlich durch Beobachten oder Befragen der Mitarbeitenden bei der Arbeit, Gespräche mit Experten (z. B. externen Beratern) sowie vertieftes Einlesen ergänzt werden, kann sie aber niemals ganz ersetzen.
und Fachkompetenz ist unverzicht» Sachbar. Was aber ist nun wirklich spezifische Führungskompetenz und damit nicht nur notwendig, sondern auch hinreichend, um gut zu führen? Die Antwort auf diese Fragen hängt naturgemäß vom jeweiligen Führungsverständnis ab. Da bei der Komplementären Führung die Führungsaufgaben und Führungsroutinen die eigentliche Tätigkeit konstituieren, verstehe ich unter Führungskompetenz schlicht die Fähigkeit, die definierten Routinen zu praktizieren und die definierten Aufgaben zu verwirklichen. Wenn es gilt, dabei bestimmte Führungsinstrumente und -strategien anzuwenden, gehört auch das dazu. In Abgrenzung zu den Elementarkompetenzen sollte man hier von Handlungskompetenzen sprechen. Eine Arbeitsbesprechung durchzuführen oder eine Sitzung zu leiten und dabei z. B. Ziele zu setzen und Arbeit zu koordinieren, ist eine solche Handlungskompetenz. Umfassende Führungskompetenz beinhaltet dann die Befähigung zur Umsetzung aller Führungsaufgaben und -routinen.
ist Handlungs» Führungskompetenz kompetenz.
4 Der Beruf der Führungskraft 89
Ob man Führen überhaupt lernen kann, hängt wieder einmal davon ab, was man darunter versteht. Sich das Charisma anzueignen, welches z. B. das in Tab. 2.1 kritisierte Transformationale Führungsmodell von Ihnen fordertVIII, dürfe schwierig werden. Komplementär zu führen und sich dabei z. B. in Gesprächen zu vergewissern, ob derjede Mitarbeiterin und jeder Mitarbeiter seine Arbeit, Teambeziehung und Gesunderhaltung im Griff hat, kann dagegen fast jeder lernen. Die komplementären Aufgaben sind ja – ich hoffe, Sie stimmen mir zu – ziemlich allgemeinverständlich und die Routinen nichts weiter als spezifische Gespräche und Handlungsabläufe. Bestimmt gibt es, wie bei allen Berufen, auch Menschen, die wirklich nicht in der Lage sind, sich die erforderlichen Kompetenzen anzueignen. Sie sind aber die Ausnahme. Wer zum Verkäufer, Lehrer oder Sekretär taugt, kann sich auch Personalführungskompetenzen aneignen (was natürlich nicht heißt, dass jeder die Neigung dazu verspürt und es tatsächlich tun sollte). Grundsätzlich gilt also: Wenn Sie vernunftbegabt sind und mit anderen Menschen kommunizieren können, sind Sie auch in der Lage, Personal zu führen bzw. es zu erlernen.
» Personalführung kann fast jeder lernen. Freilich stellen sich die erforderlichen Fähigkeiten mit der Übernahme einer Führungsposition nicht von selber ein. Wie jede berufliche Tätigkeit, so kann und muss auch komplementäre Personalführung erlernt werden. Man kann zwar versuchen, sich die entsprechenden Fähigkeiten autodidaktisch im Alltag anzueignen. Dazu gehört aber eine gehörige Portion Selbstlernkompetenz und ist sicher nicht der einfachste Weg. Nicht umsonst durchlaufen viele Führungskräfte eine systematische und umfassende Aus- und Weiterbildung, die ihnen ihre Arbeitgeber anbieten oder vorgeben. Wer nicht in den Genuss solcher organisationsinternen Maßnahmen kommt, findet auf dem freien Markt eine Vielzahl von Programmen und Fördermöglichkeiten. Diese beinhalten in der Regel u. a. Seminare und Coachings, in denen Verhalten eingeübt,
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Erfahrungen ausgetauscht und reales Führungshandeln reflektiert werden können.4 Zum wirklichen Führungsprofi reift man dann ohnehin erst durch ständige Anwendungserfahrung in der Praxis. Grundlage für all dies ist aber erst einmal ein grundlegendes Verständnis guter Führung. Anmerkungen I. Abb. 4.1: Aus Kaehler 2024; dort nach Kaehler 2020, S. 238; dort nach Kaehler 2017, S. 411, Kaehler 2014a, S. 56, und Kaehler 2012; S. 26. © Boris Kaehler. II. Mintzberg 1996, S. 61 f. III. Drucker 1954, S. 131. IV. Unbenannter US-Manager, zitiert von Sprenger 2012, S. 29. V. Bundesarbeitsgericht 11.12.2003; 2 AZR 667/02. VI. Katz 1955, S. 33; Drucker 1988, S. 101; Malik 2000, S. 37‒39; Welch/Welch 2005, S. 71; Malik 2007, S. 261; Buckingham 2012; Sprenger 2012, S. 27. VII. Katz 1955, S. 33; ähnlich Malik 2000, S. 38/48. VIII. „Idealisierter Einfluss“, eine der vier Säulen des Transformationalen Führungsmodells, ist letztlich nichts anderes als Charisma (vgl. Yukl 2013, S. 301).
Literatur Buckingham, Marcus (2012): „Leadership Development In the Age of The Algorithm“; Harvard Business Review Heft June 2012; S. 86‒94. Drucker; Peter F. (1954): „The Practice of Management“; Neuauflage Harper Collins 2006 (Erstauflage 1954). Drucker, Peter F. (1988): „Managing for the Future“; Butterworth Heinemann 1993 (Kap. 15 im Text auf 1988 datiert).
4 Ich selbst habe auch ein solches Führungskräfteentwicklungsprogramm konzipiert („Führen als Beruf“). Sie finden es bei Interesse unter www.komplementäreführung.de.
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Kaehler, Boris (2012): „Komplementäre Führung – Ein Beitrag zur Theorie und konzeptionellen Praxis der organisationalen Führung“; epubli Verlag/ Holtzbrinck 2012. Kaehler, Boris (2014a): „Komplementäre Führung – Ein praxiserprobtes Modell der organisationalen Führung“; 1. Auflage Springer Gabler 2014. Kaehler, Boris (2017): „Komplementäre Führung – Ein praxiserprobtes Modell der Personalführung in Organisationen“; 2. Auflage Springer Gabler 2017. Kaehler, Boris (2020): „Komplementäre Führung – Ein praxiserprobtes Modell der Personalführung in Organisationen“; 3. Auflage Springer Gabler 2020. Kaehler, Boris (2024): „Komplementäre Führung – Ein praxiserprobtes Modell der Personalführung in Organisationen“; 4. Auflage Springer Gabler 2024 (noch unveröffentlichtes Manuskript). Katz, Robert L. (1955): „Skills of an Effective Administrator“; Harvard Business Review Heft January/February 1955; S. 33‒42. Malik, Fredmund (2000): „Führen, Leisten, Leben“; Neuauflage Campus 2006 (Erstauflage 2000). Malik, Fredmund (2007): „Management – das A und O des Handwerks“ (Band 1 der Serie „Management – Komplexität meistern“); Neuauflage Campus 2007. Mintzberg, Henry (1996): „Musings on Management“; Harvard Business Review July/August 1996; S. 61‒67. Sprenger, Reinhard K. (2012): „Radikal führen“; Campus 2012. Welch, Jack/Welch, Suzy (2005): „Winning – Das ist Management“; Campus 2005. Yukl, Gary (2013): „Leadership in Organizations“; 8. Auflage Pearson 2013.
5 Unschärfen und persönliche Dimensionen
Der Beruf der Führungskraft lässt sich zwar recht präzise beschreiben, hat aber auch seine Ungewissheitszonen. Dies beginnt mit der Frage, warum man Führungskraft wird und wie man es bleibt. Führungskräfte sind unweigerlich auch mit Machtphänomenen konfrontiert und müssen ein gewisses mikropolitisches Geschick zeigen. Ihr Mandat geht de facto über das Führen unterstellter Mitarbeitender hinaus, denn um sich zu halten und Dinge zu bewegen, gilt es, Einfluss in verschiedenste Richtungen auszuüben. Auch über das Thema Stress lohnt es sich nachzudenken, denn der Führungsalltag ist eben nicht immer locker und leicht. Daneben werden im folgenden Kapitel auch noch ethische und rechtliche Aspekte des Führens angeschnitten.1 1 Da
die Kapitel in der E-Book-Version einzeln abrufbar sind, wiederhole ich den folgenden Hinweis aus dem Vorwort: Dieses Buch beruht auf dem Theoriemodell der Komplementären Führung, das ich für führungskonzeptionell Interessierte in meinem wissenschaftlichen Grundlagenwerk gleichen Titels dargelegt habe (Kaehler 2020). „Führen als Beruf“ soll dieses Wissen für Führungskräfte als Anwenderinnen und Anwender aufbereiten, gut verständlich und streng praxisorientiert. Fast alle Ideen und auch manche Formulierungen, die Sie hier finden, stammen aber aus dem ersten Buch, das lässt sich nicht vermeiden. Aus Gründen der Lesbarkeit – dies ist kein wissenschaftliches Werk – sind dabei nicht alle Selbstzitate explizit als solche gekennzeichnet. Andere Autoren und Quellen werden aber natürlich nach bestem Wissen und Gewissen korrekt und vollständig zitiert.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Kaehler, Führen als Beruf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67567-0_5
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5.1 Führungswunsch und Führungswirklichkeit Sie haben sich hoffentlich gut überlegt, ob Sie Führungskraft werden wollen. Falls nicht, denken Sie am besten jetzt noch einmal darüber nach. Führen hat zwar auch eine sachlich-fachliche Komponente. Im Wesentlichen beinhaltet sie aber Verantwortung für und Kommunikation mit Menschen. Und diese Menschen sind, wie wir schon festgestellt hatten, nicht perfekt. Der Job der Führungskraft bezieht seine Berechtigung letztlich primär aus diesem Umstand. Das impliziert: Als Führungskraft beschäftigen Sie sich tagein, tagaus mit Ihren Mitarbeitern, deren Arbeitsleistungen und Selbstführungsdefiziten. Nicht jedem liegt das. Die mit Managementpositionen verbundenen Gehalts-, Ausstattungs-, Gestaltungs- und Statusprivilegien gefallen dagegen fast allen. Organisationen sollten daher unbedingt attraktive Alternativen zur Führungslaufbahn anbieten, z. B. gut dotierte Projekt- und Expertenlaufbahnen. Sonst werden auch solche Leute in die Personalverantwortung gelockt und gezwungen, die gar keine Neigung dazu haben. Selbst wenn man die völlig Untauglichen durch Auswahlmaßnahmen aussortiert, klafft bei den Verbliebenen doch oft eine Lücke zwischen dem, was sie tun sollen (insb. Personalführung), und dem, was sie gern tun (Sachaufgaben, Selbstoptimierung). Bringt man sie, z. B. durch wirksame Feedbacksysteme, zur Erfüllung ihres Jobprofils, so bekommt das Ganze den Beigeschmack des Erzwungenen. Als Führungskraft sollten Sie sich diesbezüglich selbst hinterfragen und reflektieren, warum Sie überhaupt führen wollen. Sie haben auch andere Optionen! Hält Ihre Organisation keine solchen Angebote bereit, orientieren Sie sich eben auf dem Markt. Viele Investmentbanker verdienen mehr als Vorstände, Softwareingenieure werden überall gesucht und teils fürstlich vergütet, als gefragter Berater haben Sie große Handlungsspielräume und Verdienstchancen. Andere Felder bieten vielleicht nicht ganz so attraktive Rahmenbedingungen, dafür aber ggf. die Arbeit, die Ihnen wirklich liegt. Alles ist besser, als seinen Beruf zu verfehlen.
5 Unschärfen und persönliche Dimensionen 95
Sie Ihre Neigung und » Reflektieren Eignung. Was den Beruf der Führungskraft ausmacht, ist nicht nur Ordnung, sondern vor allem auch Durcheinander. Henry Mintzberg ist als Managementexperte damit berühmt geworden, den Alltag von Managern, der in der Literatur immer so schön geordnet klingt, zu beobachten und wirklichkeitsgetreu zu beschreiben. Nach seiner Feststellung ist er eben nicht primär durch Strategie und Systematik geprägt, sondern durch ständigen Zeitdruck, Unterbrechungen und Kriseninterventionen.I Tatsächlich ist die Führungswirklichkeit ein ziemliches Gestrampel. Den Beruf der Führungskraft zu verstehen ist recht einfach, ihn zu leben aber schwer. Denn: „Beim Fußball verkompliziert sich alles durch die Anwesenheit des Gegners.“ (Jean-Paul SartreII). Es gibt Fehlpässe, parteiische Schiedsrichter und unfaire Fans. Ein Kontrahent zieht Sie am Arm, Ihr Mitspieler ist im entscheidenden Moment nicht anspielbar, am Kopf trifft Sie eine Banane und der nackte Spielfeldflitzer bekommt mehr Applaus als Sie für Ihr Tor. Solche Metaphern darf man nicht überstrapazieren – der Mitarbeiter ist kein Gegner und Führen kein sportlicher Wettkampf. Das FußballZitat veranschaulicht aber doch recht gut, dass Führung Umsetzung und Umsetzung Unordnung bedeutet. Manch einer geht darin unter, erschreckend viele Führungskräfte verbringen ihr ganzes Berufsleben im Zustand des Kontrollverlustes. Das ist aber nicht erstrebenswert und es gibt durchaus Möglichkeiten, den Führungsalltag strukturierter anzugehen. Am Anfang steht ein gutes Verständnis des eigenen Berufs. Sie müssen wissen, was Führung ist und soll, um sie wirksam zu praktizieren. Am Ende dieses Buches sollten Sie eine brauchbare Vorstellung davon entwickelt haben. Sodann arrangieren Sie sich mit den faktischen Strukturen der Umwelt. Die Mitarbeitenden und Kollegen sind zunächst einmal, wie sie sind, Gleiches gilt für die Ressourcen und Hilfsmittel, die Sie als Führungskraft zur Verfügung haben, sowie für die Anforderungen, die an Sie gestellt werden. Mit alldem müssen
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Sie sich arrangieren, indem Sie sich passende Strukturen dafür entwickeln. Sind Ansprechpartner weit weg, benötigt man entsprechende Medien und Reisepläne. Ertrinkt man in Anrufen und E-Mails, muss man diesen Strom mit alternativen Informationsangeboten und Erreichbarkeitsregeln kanalisieren und reduzieren. Den einen oder anderen anstrengenden Zeitgenossen hält man sich durch gezielte Schnittstellenminimierung vom Hals. Was nach solchen und anderen strukturierenden Maßnahmen bleibt, ist Ihr Job, und er wird oft nicht einfach sein. Wäre er es, bräuchte man Sie nicht.
» Führen ist mitunter anstrengend. 5.2 Einflussnahme in verschiedene Richtungen Führung findet nicht nur in Richtung der eigenen Mitarbeiter statt, sondern in alle RichtungenIII. Es geht beim Beruf der Führungskraft also nicht nur darum, unterstellte Mitarbeiter zu führen, sondern ähnlichen Einfluss auch auf Kollegen, externe Kräfte und den eigenen Chef zu nehmen. Dies freilich erwartet man auch von jedem Mitarbeiter. Er soll schließlich nicht nur die Führungsaufgabe der Beziehungspflege und Konfliktlösung (Kap. 10) weitgehend selbst übernehmen, sondern ganz generell als Selbstführender am Führungsgeschehen mitwirken. Diesem Prinzip folgend muss natürlich auch die Führungskraft – hier in ihrer Rolle als Selbstmanagerin oder Selbstmanager – alle Schnittstellen und Einzelbeziehungen, die die Tätigkeit nun einmal mit sich bringt, systematisch pflegen. Auch sie ist ja der Einflussnahme von allen Seiten ausgesetzt und soll diese nicht passiv erdulden, sondern sich proaktiv einbringen. Insofern ist die Einflussnahme in verschiedene Richtungen (Abb. 5.1) ein wichtiges, aber keineswegs auf die Führungskraft beschränktes Prinzip. Entsprechend unserer Führungsdefinition (Abschn. 2.3) lässt sich nicht bei allen von Führung im engeren Sinne sprechen. In jedem Falle wird man den Kreis hier auf diejenigen beschränken, die Mitglieder oder jedenfalls Mitwirkende
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Einflussnahme auf die obere Führungskraft
Einflussnahme auf Zentralstellenund Stabsmitarbeiter
Einflussnahme auf externe Personaldienstleister
Führung der direkt unterstellten Mitarbeiter
Einflussnahme auf die eigene Führungskraft
Führung der eigenen Person
Laterale Führung gleichgestellter Kollegen
Einflussnahme auf den Betriebsrat/ Personalrat
Führung der indirekt unterstellten Mitarbeiter
Abb. 5.1 Einflussnahme in alle Richtungen. (© Boris Kaehler 2019. All Rights Reserved.)IV
der Organisationseinheit sind. Mit externen Stakeholdern wie Kunden, Wettbewerbern, Zulieferern, Investoren, Öffentlichkeit, Gesetzgebern oder Gerichten muss man zwar ebenfalls zielgerichtet interagieren. Diese Form der Einflussnahme ist aber unspezifischer und deshalb keine Führung. Wo auch immer man die Grenze zieht, entscheidend ist die Erkenntnis, dass das Führungsmandat mehr umfasst als nur die Steuerung direkt unterstellter Mitarbeiter.
5.3 Führungskraft werden und bleiben Wer Führungskraft sein will, muss eine Organisation dazu bringen, ihm eine Führungsposition anzuvertrauen. Wenn Sie eine solche Führungsposition bekleiden, führen Sie arbeitende Menschen und sind
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eine Führungskraft.2 Das ist ein völlig anderer Job als der eines Fachspezialisten. Dennoch werden in vielen Organisationen immer noch bevorzugt solche Leute in Führungsverantwortung gebracht, die sich zuvor durch exzellente fachliche Arbeit und besonders professionelles Auftreten hervorgetan haben. Als Führungsaspirant sind Sie also im Allgemeinen gut beraten, sich durch solches zu empfehlen. Im Kontext professioneller Personalmanagementstrukturen von Großunternehmen sollte es aber eigentlich auch spezielle Instrumente zur Identifikation und Entwicklung von Führungstalenten geben. Sofern diese keine Selbstnominierungen vorsehen, ist es an Ihnen, Ihre Chefin oder Ihren Chef von der Sinnhaftigkeit einer solchen Maßnahme zu überzeugen. Alternativ kann man sich natürlich auch gezielt auf dem internen oder externen Arbeitsmarkt um entsprechende Stellen bewerben. In diesem Fall tun Sie gut daran, Ihre Führungsausbildung gleich mit zu verhandeln oder diese bereits im Vorfeld zu absolvieren. Für Berufseinsteiger werden oft auch Traineeprogramme und ähnliche Fördermaßnahmen angeboten, die von vornherein als Vorbereitung für eine Führungslaufbahn gedacht sind. Wenn es gut läuft, ist Ihnen Ihre Führungsposition damit schon fast sicher. Mit einer solchen Führungsposition geht Positionsmacht einher. Sie als Positionsinhaber oder -inhaberin bestimmen maßgeblich mit über die Gehälter, Arbeitsaufgaben, Ressourcen und Arbeitsverhältnisse Ihrer Mitarbeitenden. Grundlage dafür, dass es all dies überhaupt gibt, ist das arbeitsvertragliche Austauschverhältnis, das beide Seiten freiwillig eingegangen sind. Manche Führungstheorien und Trainer wollen uns erzählen, wir müssten all dies ausblenden und im luftleeren Raum dafür kämpfen, als Führende anerkannt zu werden. In Wirklichkeit aber wird die Interaktion in der Organisation sehr maßgeblich durch diese aufbaustrukturellen Faktoren bestimmt. Profis – egal ob auf Mit-
2 Zur Erinnerung: Unter einer Führungskraft (engl. „manager“) verstehe ich eine Person, die beruflich disziplinarische Verantwortung für eine Organisationseinheit mit mindestens drei unterstellten Mitarbeitern im festen Arbeitsverhältnis trägt. Wenn jemand heimlicher Anführer einer losen Gruppe ist oder nur einen einzigen unterstellten Mitarbeitenden hat, führt er oder sie natürlich auch. Damit gehen aber ganz andere Anforderungen einher, die nicht Gegenstand dieses Buches sind.
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arbeiter- oder Führungsebene – akzeptieren in der Regel die ihnen zugewiesenen Rollen. Im Alltag trägt das über weite Strecken ganz gut. Nur paranoide und sehr schwache Manager sorgen sich ständig um ihren Stand im sozialen Gefüge. Hilfreich ist es freilich, wenn sowohl die Führungskraft als auch die Mitarbeiter ein klares Verständnis von ihren jeweiligen Tätigkeiten und Verantwortlichkeiten haben. Man weiß dann, was man voneinander zu erwarten hat, und muss dies nicht laufend neu aushandeln.
» Positionsmacht ist wichtig … Auch organisatorisch verankerte Führungspositionen können aber kippen! Wer zu viel Unmut der Mitarbeiter, Chefs oder Kollegen auf sich zieht, wird früher oder später in Frage gestellt. Liegt dies an Mängeln im Bereich der personen- oder sachbezogenen Führung und lassen sich diese klar aufzeigen, handelt es sich eigentlich um einen ganz normalen Fall von Minderleistung. Man erfährt, was im Argen liegt, und hat die Chance, sein Verhalten entsprechend anzupassen. Fühlen sich z. B. Mitarbeiter überhaupt nicht angesprochen und abgeholt, so geht dies in aller Regel auch mit vernachlässigten Führungsaufgaben einher. Da aber vielerorts gar nicht klar definiert ist, was gute Führungsleistung und angemessenes Führungsverhalten genau beinhalten, ist dies eher die Ausnahme. In den allermeisten Fällen, in denen es Führungskräften an den Kragen geht, liegt die Ursache anderswo. Zu denken ist hier z. B. an betriebliche Umstrukturierungen, die mit einer Reduktion der Führungspositionen einhergehen, oft begleitet durch mehr oder weniger überzeugende neue Kompetenzmodelle. In anderen Fällen entwickeln Vorgesetzte einen diffusen Unmut gegen eine Führungskraft, der sich bei irgendeinem Anlass in einen Austauschwunsch steigert. Gefährlich sind auch Intrigen seitens der Mitarbeitenden oder Kollegen, die Mobbingcharakter annehmen und auf einen Führungswechsel abzielen. All dies ist im Vorhinein nur schwer zu abzusehen und wird oft erst erkannt, wenn es zu spät ist. Aus diesem Grunde sind Macht-
100 B. Kaehler Tab. 5.1 Mikropolitische Einflusstaktiken (© Boris Kaehler 2019. All Rights Reserved.)VII
Kategorie
Einzeltaktik
Generelle Vorkehrungen
Selbstdarstellung und Imagepflege Netzwerken und Maßnahmen der Beziehungspflege Angriffe systematisch und früh erkennen (z. B. durch Studium von Sitzungsprotokollen o. Ä. oder zugetragen durch Kontakte)
Gesprächstaktik
Sachlich-rationale Argumentation/Information in Einzelgesprächen oder Sitzungen Verdeckte Kommunikation vor/nach offiziellen Gesprächen Begründung von Anliegen mit sachlichen Erfordernissen des Geschäfts und des Kontextes (nicht mit den eigenen Interessen) Freundlichkeit/Einschmeicheln oder bestimmtes/ forderndes Auftreten Manipulation und Überredung Berufen auf Rechte, Traditionen, Pflichten und Vorschriften Appell an höhere Werte oder Idealismus, charismatische Inspiration
Transaktionen
Schaffen vollendeter Tatsachen, zupackendes Handeln Tauschhandel, Versprechen oder Verschaffen von Vorteilen für Entgegenkommen Unter Druck setzen, Drohung mit Sanktionen
Einschalten Dritter
Zweckbezogene Bündnisse und Koalitionen eingehen Rat und emotionale Unterstützung holen (bei Kollegen/Freunden, Mentoren oder Externen) Eskalation durch Einschaltung übergeordneter Instanzen (z. B. Vorgesetzte, Interessenvertreter, Gerichte, Öffentlichkeit)
sicherung und Mikropolitik untrennbar mit jeder Führungsposition verbunden.
» …, sie trägt aber nicht unbegrenzt.
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5.4 Mikropolitik und Machtsicherung Mikropolitik bezeichnet das Arsenal alltäglicher Techniken, mit denen Macht aufgebaut und eingesetzt wird, um den eigenen Handlungsspielraum zu erweitern und sich fremder Kontrolle zu entziehen.V Sie erzeugt Reibung und kann die Organisationseinheit vom eigentlichen Unternehmenszweck wegführen. Zugleich erfüllt sie aber eine wichtige dynamisierende und flexibilisierende Funktion, da sie Formalregelungen ergänzt, die weder jedes Detail abdecken noch ewig Bestand haben können.VI Mikropolitik ganz aus Organisationen zu verbannen, ist daher nicht nur unrealistisch, sondern auch gar nicht wünschenswert. Tab. 5.1 gibt einen Überblick über einschlägige Taktiken. Für die Führungskraft ist Mikropolitik vor allem eine Aufgabe des Selbstmanagements. Sie muss über politische Kompetenz verfügen, sowohl im Interesse der eigenen Karriereentwicklung als auch im Interesse der zu lösenden Sachfragen. Auch wenn man es sich wünschen mag: Es geht eben nicht nur um gute Führungsarbeit und untadeliges Verhalten, sondern auch um innerbetriebliche Konflikt- und Konkurrenzsituationen. Das beste Führungskonzept nützt Ihnen gar nichts, wenn man Ihnen mit Ihrem Job auch die Möglichkeit nimmt, es umzusetzen. Ohne mikropolitische Strategien hält sich niemand lange in einer Führungsposition. Machtsicherung und Mikropolitik sind also untrennbar mit jeder Führungsposition verbunden und beanspruchen nicht unerheblich viel Zeit und Energie der Führungskräfte. Es ist ein klassischer Fehler von Teilzeitführenden und privat stark Belasteten, sich wegen der begrenzten Arbeitszeit nur noch um inhaltliche Dinge zu kümmern. Mikropolitische Arbeit gehört aber zwingend dazu. Fast jede Führungskraft hat daher schon entsprechende Ratgeber gelesen, seien es klassische Werke z. B. von Sun Tzu, Machiavelli und Carnegie oder moderne Managementbücher von Kotter und Greene. Nicht wenige lassen sich diesbezüglich auch systematisch coachen und beraten. Als Führungskraft müssen Sie die üblichen Spielchen kennen und selbst beherrschen. Vergessen Sie aber nicht: Mikropolitik ist nicht Ihr Hauptjob, sondern nur die Voraussetzung dafür, dass Sie ihn machen können.
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» Mikropolitisches Geschick ist unabdingbar. Mikropolitik ist aber auch eine Aufgabe der Mitarbeiterführung. Dies zum einen deshalb, weil das Management der Beziehungen und Konflikte eine Führungsaufgabe ist, bei der die übergeordneten Instanzen in der kompensatorischen Verantwortung stehen (Kap. 10). Statt eine Laissez-faire-Linie zu verfolgen, müssen Sie für die Bündelung der Energien auf gemeinsame Ziele sorgen und unfaire mikropolitische Spielchen unterbinden. Zum anderen ist machtpolitisches Vorgehen umso erforderlicher, je weniger Gewissheiten, d. h. je weniger organisatorische Regelungen, bestehen.VIII In solchen Fällen vervielfachen sich die mikropolitischen Aktivitäten der Beteiligten. Es ist daher an der Führungskraft, auf klare Aufgabenzuordnungen, wohldefinierte Prozesse und explizite Verhaltensregeln sowie Eskalationswege für Konflikte zu dringen. Ansonsten füllen Machtkämpfe das Vakuum und die Mitarbeiter verbringen früher oder später einen Großteil ihrer Zeit damit, sich gegen Angriffe abzusichern, mögliche Gegner zu neutralisieren und ihrerseits bewusste Übergriffe auf fremde Territorien zu unternehmen. Auch wenn selbst bei optimaler Organisation immer ein Restbedarf an Mikropolitik besteht: Ohne Regeln und Schiedsrichter wird aus jedem Spielfeld ein Kampfplatz.
5.5 Stress lass nach Der Beruf der Führungskraft kann stressig sein, oft über weite Strecken. Dabei verstehe ich unter Stress einen negativen Spannungszustand, der mit Kontrollverlust assoziiert ist.IX Zum einen entspricht dies dem normalen Sprachgebrauch, denn wer über positiven Stress redet, sagt dies fast immer dazu. Zum anderen beinhaltet dieses Begriffsverständnis bereits die entscheidende Gegenmaßnahme: Kontrolle zurückgewinnen. Stress kann zum einen aus schierer Überlastung resultieren. Die Übernahme einer chaotischen Abteilung oder einer sehr herausfordernden
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Belegschaft bedeuten zu Beginn meist sehr viel Arbeit. Eigentlich sollten Organisationen so flexibel sein, solche Phasen mit Zusatzressourcen zu unterstützen. Beispielsweise können externe Berater Teilprojekte übernehmen oder erfahrene Mitarbeiter anderer Bereiche das Team und seine Leitung zeitweilig unterstützen. Da aber die wenigsten Organisationen eine klare Vorstellung davon haben, was die Führungstätigkeit genau beinhaltet, und sie daher auch die erforderlichen Zeitressourcen nicht präzise abschätzen können, wird das Problem in aller Regel individualisiert. Mit anderen Worten: Die Führungskraft puffert den Zusatzaufwand durch Arbeitszeitverdichtung und -verlängerung ab. Man rennt den ganzen Tag von einer Baustelle zur nächsten, wird von Anfragen überschüttet und rückt ad hoc aus, um Brände zu löschen. Dies füllt den Tag, und so kommt man erst am Abend oder am Wochenende dazu, die neuen Strukturen zu entwickeln, die solchen Zuständen auf die Dauer vorbeugen. Gutes Zeitmanagement hilft ein wenig, löst das Problem aber nicht wirklich. Ideal ist das nicht, und es besteht die große Gefahr, Netzwerke, Strategiearbeit und Privatleben darüber zu vernachlässigen. Mitunter aber geht es nicht anders. Am besten lässt sich die Kontrolle zurückgewinnen, indem man sich auf eine Zeit der Mehrbelastung einrichtet und durch Grundlagenarbeit dafür sorgt, dass solche Phasen nicht zur Regel werden. Der Beruf der Führungskraft weist hier zwar eine gewisse Besonderheit auf, das Thema Überlastung und Balance ist indes ein allgemeines, auf das wir in Abschn. 11.3 im Kontext der Aufgabenkategorie „Fürsorge“ zurückkommen.
gehört dazu, man muss ihn ver» Stress tragen. Stress resultiert aber auch aus Reibung. Als Führungskraft steht man in einem Spannungsfeld unterschiedlicher Interessen und kann es nicht immer allen recht machen. Konflikte gehören zum Geschäft. Solange es dabei halbwegs gesittet zugeht, das eigene Verhalten gerechtfertigt erscheint und die Führungsposition nicht in Frage gestellt wird, ist
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dies wenig problematisch. Mitunter gerät man aber – ob gewollt oder ungewollt – in Eskalationsspiralen, die sehr belastend sein können. Eine zu scharf formulierte E-Mail oder ein zu hartes Wort im Meeting lässt manchen nächtelang nicht schlafen. Nicht immer hat man solche Konflikte selbst zu verantworten. Es gibt genug Zeitgenossen, die gar nicht an einer konstruktiven Zusammenarbeit interessiert sind, sondern im Betrieb schlicht ihre Neurosen und/oder Machtgelüste ausleben. Wer mit solchen Menschen zu tun hat und kein Duckmäuser ist, gerät fast zwangsläufig mit ihnen aneinander. Mit ein wenig Pech oder Ungeschicklichkeit können daraus multiple Konfliktherde entstehen, die in Summe die eigene Reputation und Position gefährden oder sich zumindest so anfühlen. Dies wiederum erhöht den psychischen Druck ungemein. In diesen Dingen die Kontrolle zu behalten, ist gar nicht so einfach. Wer nicht schon von Natur aus tiefenentspannt ist, lernt im Laufe der Führungsjahre, diesbezüglich eine gewisse Gelassenheit an den Tag zu legen. Oft kann man durch die eigene Kommunikation auch dazu beitragen, mittelfristig ein für alle besseres Betriebsklima zu schaffen. Dass es aber immer nett zugeht und bei der Arbeit keinerlei Beziehungsstress aufkommt, wäre eine eher unrealistische Erwartung.
5.6 Ethische und rechtliche Aspekte des Führens Unternehmen beschäftigen Mitarbeiter nicht als Selbstzweck, sondern als „Human Resources“3, mittels derer sie ihre jeweiligen Leistungen für die Außenwelt erbringen. Nichts anderes gilt für Behörden und die meisten nicht-kommerziellen Institutionen, wenn sie ihren
3 Begriffe wie Humanressourcen oder Humankapital (zu Unrecht das Unwort des Jahres 2004) sind übrigens keine Abwertung, sondern stehen für eine nüchterne Fachperspektive auf den Faktor Mensch. Jeder Museumsdirektor denkt über seine Gemäldesammlung ebenso ressourcenorientiert nach, was weder ihn noch andere daran hindert, sich bei anderer Gelegenheit dem Kunstgenuss hinzugeben. Ebenso wenig spricht es den Menschen ihre individuelle Würde und persönliche Einzigartigkeit ab, wenn Fachleute sie als Passagiere, Patienten oder eben Humanressourcen bezeichnen.
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Organisationszweck nicht verfehlen wollen. Dabei stehen zunächst einmal die betriebswirtschaftlichen Kategorien von Nutzen und Aufwand im Vordergrund. Auch die Belegschaftsinteressen haben aber ihren Platz: Erstens sind Organisationen und Führungskräfte gut beraten, ihre Mitarbeitenden als Stakeholder zu betrachten und deren Belange in die in unserer Führungsdefinition angesprochenen „sonstigen Ziele“ einfließen zu lassen. Menschen haben schließlich eine menschliche Würde und menschliche Bedürfnisse. Stärker als je zuvor fordern auch Kunden, Investoren etc. soziale Standards ein. Zweitens sind Führungskräfte zwar Sachwalter der Organisationsinteressen, ihrem betriebswirtschaftlichen Streben sind aber äußere Grenzen gesetzt. So gleicht das deutsche Arbeitsrecht die strukturelle Überlegenheit des Arbeitgebers in vielen Punkten aus – es wird nicht umsonst als „Schutzrecht des Arbeitnehmers“ definiert. Auch bilden Gewerkschaften und Betriebsräte bzw. Personalräte als Arbeitnehmervertretungen einen schlagkräftigen Gegenpol. Zudem sorgt der Arbeitsmarkt, jedenfalls in guten Zeiten, für Konkurrenzangebote und eine starke individuelle Verhandlungsposition der Mitarbeiter. Es gibt natürlich Interessengegensätze zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Unsere Rechts- und Wirtschaftsordnung hält aber durchaus Mechanismen bereit, um sie zum Ausgleich zu bringen. Führungskräfte können und dürfen daher also keinen Manchesterkapitalismus betreiben. Drittens nähern sich die Interessen der Arbeitsvertragsparteien unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit bei langfristiger Perspektive wieder an. Wer nicht nur in den kommenden Monaten, sondern auf Jahre hinaus optimale Arbeitsleistungen erzeugen will, kommt aus reinem Eigeninteresse gar nicht umhin, sich Gedanken um Gesunderhaltung, Entwicklung und Bindung seiner Mitarbeiter zu machen und diese anständig zu behandeln. Fakt ist aber: Führungskräfte sind Arbeitgebervertreter. Faire und menschliche Arbeitsbedingungen entstehen aus den o. g. Nutzenerwägungen heraus sowie aus der regulierenden Einwirkung des Gesetzgebers, des Arbeitsmarktes und der gewählten Arbeitnehmervertretungen. Im Interesse der Menschen sollte unsere Gesellschaft diese Mechanismen pflegen und fortentwickeln. Führungskräfte mit moralischem Unterton zu obersten Repräsentanten der Mitarbeiterinteressen zu erklären, wäre schlicht unredlich.
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zu vernachlässigen, » Mitarbeiterinteressen ist unklug. Überhaupt sind wenige Debatten so verlogen wie die um Ethik im Wirtschaftsleben. Vor einigen Jahren las ich in einer Fachzeitschrift den Artikel eines Ethikfunktionärs über Führungsethik, der ein bekanntes Kommunikationsmodell auf den Führungskontext übertrug – ohne Zitat, d. h. plagiierend. Wie schrieb doch Mark Twain? „Gut sein ist edel, aber andere lehren, gut zu sein, ist noch edler und macht keine Umstände“ (Mark TwainX). Wo explizit über ethisches Verhalten gesprochen wird, sollte man meiner Meinung nach misstrauisch werden. Wir alle haben nämlich eine klare, überindividuelle ethische Richtschnur für unser Verhalten: Recht und Gesetz. Diese verbindlichen externen Vorgaben werden ergänzt durch organisationsinterne Kodizes (Abschn. 6.6). Der Spielraum für solche internen Verhaltensstandards ist jedoch, wie wir sehen werden, sehr klein – und das ist auch gut so. Bei den heute meist hoch diversen Belegschaften können Sie eben gerade nicht davon ausgehen, dass z. B. Ihre eigene Definition von Fairness auch von allen Kolleginnen und Kollegen geteilt wird. Diese sind vielleicht sozial ganz anders gestellt, haben andere weltanschauliche Vorstellungen und sind in völlig anderen Kulturen aufgewachsen. Wer behauptet, bestimmte Dinge seien zwar legal, aber ethisch nicht vertretbar, argumentiert entweder ego- bzw. ethnozentristisch oder hat eine Regelungslücke gefunden, die der Gesetzgeber und/oder die Organisation schnellstens schließen sollten. Natürlich hat jeder halbwegs anständige Mensch seine eigenen moralischen Maßstäbe und versucht, sein eigenes Verhalten daran auszurichten. Nicht umsonst wird Integrität in der Führungsforschung auch als Übereinstimmung des Führungshandelns mit den behaupteten eigenen Werten, dem Einhalten von Versprechen und der Nutzung ethischer Überlegungen als Richtschnur der Entscheidungs- und Handlungsfindung verstanden.XI Dies aber ist ein individueller Maßstab. Ethik berechtigt niemanden, anderen seine ganz persönlichen Werthaltungen aufzudrücken. Wenn in Hollywood vergewaltigt und in Wolfsburg betrogen wurde, waren
5 Unschärfen und persönliche Dimensionen 107
dies keine abstrakten Ethikprobleme, sondern kriminelle Gesetzesbrüche. Möglicherweise laufen in vielen Organisationen auch deshalb immer noch so viele – aber ja doch – Grapscher, Diebe und Faulenzer herum, weil die Verantwortlichen lieber Sonntagspredigten halten, als das geltende Recht durchzusetzen.
Sie keinem, der über Ethik » Trauen schwadroniert. Natürlich ist nicht jede Rechtsfrage gerichtlich ausgeurteilt. Vieles aber ist geklärt, und für den Rest gibt es doch zumindest auslegbare Generalklauseln. Die Maßstäbe der Arbeitsgerichtsbarkeit sind ein wunderbarer ethischer Maßstab für Führungsverhalten, denn immer sind Verhältnismäßigkeit und Schutzbedürfnis zu wahren.4 Ein Manager, der für sich ein unanständig hohes Gehalt beansprucht, das ihm vertraglich zugestanden und gesetzlich nicht gedeckelt wurde, nimmt seine legitimen Rechte wahr (was nicht heißt, dass er es tun sollte). Eine Führungskraft, die bei hohem Arbeitsanfall regelwidrig Nachtarbeit anordnet oder Bewerberinnen nach einer Schwangerschaft fragt, mag ihren eigenen Maßstäben treu bleiben, handelt aber rechtswidrig. Maßstab für beides ist das geltende Recht. Organisationen und Führungskräfte, die Worthülsen wie Respekt, Toleranz und Mut als übergesetzliche ethische Maßstäbe propagieren, schaffen de facto ein Willkürregime, in denen unliebsamen Mitarbeitenden – und natürlich immer nur diesen – jederzeit ein Verstoß vorgeworfen werden kann. Meine Empfehlung: Orientieren Sie sich in Ihrem Führungshandeln vor allem am geltenden Recht. Reflektieren Sie ferner Ihre ganz persönlichen ethischen Werthaltungen. Sind diese mit Ihrem Führungs-
4 So
erklärte z. B. das BAG im Fall „Emily“ eine Kündigung wegen Bagatelldiebstahls von Flaschenbons – die wegen Vertrauensverlust grundsätzlich möglich ist – nach Interessenabwägung im Lichte der 30-jährigen Zusammenarbeit für unverhältnismäßig und damit für unwirksam (10.6.2010, 2 AZR 541/09).
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job (der mitunter auch harte Entscheidungen beinhaltet) und Ihrer Organisation (die mitunter vielleicht auch Dinge verlangt, die Sie selbst anders entscheiden würden) kompatibel? Und bedenken Sie, das unanständiges, aber nicht justitiables Verhalten – wie z. B. ein Wortbruch – Ihnen später mit großer Wahrscheinlichkeit als Retourkutsche oder Reputationsverlust wieder auf die Füße fällt.
Sie sich an geltendes Recht und » Halten bleiben Sie sich treu. Anmerkungen I. Mintzberg 1975. II. Jean-Paul Sartre, zitiert nach Seidenstricker 2008, S. 288. III. Ein Konzept von Malik 2000, S. 383; 2007, S. 95 ff. IV. Abb. 5.1: Grob angelehnt an Malik 2000, S. 383. © Boris Kaehler. V.Blessin/Wick 2021, S. 489; dort nach Neuberger. VI. Vgl. Kaehler 2024; dort nach Neuberger 2002, S. 689 ff.; Blessin/Wick 2021, S. 490ff. VII. Tab. 5.1: Aus Kaehler 2024; dort aus Kaehler 2020, S. 255; dort modifiziert nach Neuberger 2002, S. 714 sowie Blessin/Wick 2021, S. 493 f. © Boris Kaehler. VIII. Nicht umsonst definiert Neuberger (2006, S. 18) Mikropolitik als die Verfolgung eigener Interessen in organisationalen Ungewissheitszonen. IX. Vgl. z. B. Nerdinger/Blickle/Schaper 2014; S. 519. X. Mark Twain, eigene Übersetzung. Original: „To be good is noble; but to show others how to be good is nobler and no trouble.“; aus Twain 2000, S. 102. XI. Gentry et al. 2013.
5 Unschärfen und persönliche Dimensionen 109
Literatur Blessin, Bernd/Wick, Alexander (2021): „Führen und Führen lassen – Ergebnisse, Kritik und Anwendungen der Führungsforschung“; 9. Auflage UVK Verlag/utb 2021. Gentry, William A./Cullen, Kristin L./Sosik, John J./Chun, Jae Uk/Leupold, Christopher R./Tonidandel, Scott (2013): „Integrity’s Place Among the Character Strengths of Middle-level Managers and Top-level Executives“; The Leadership Quarterly 2013 (24); S. 395‒404. Kaehler, Boris (2020): „Komplementäre Führung – Ein praxiserprobtes Modell der Personalführung in Organisationen“; 3. Auflage Springer Gabler 2020. Kaehler, Boris (2024): „Komplementäre Führung – Ein praxiserprobtes Modell der Personalführung in Organisationen“; 4. Auflage Springer Gabler 2024 (noch unveröffentlichtes Manuskript). Malik, Fredmund (2000): „Führen, Leisten, Leben“; Neuauflage Campus 2006 (Erstauflage 2000). Malik, Fredmund (2007): „Management – das A und O des Handwerks“ (Band 1 der Serie „Management – Komplexität meistern“); Neuauflage Campus 2007. Mintzberg, Henry (1975): „The manager’s job – folklore and fact“; Harvard Business Review July/August 1975; S. 49‒61. Nerdinger, Friedemann W./Blickle, Gerhard/Schaper, Niclas (2014): „Arbeitsund Organisationspsychologie“; 3. Auflage Springer 2014. Neuberger, Oswald (2002): „Führen und führen lassen“; 6. Auflage UTB Lucius & Lucius 2002. Neuberger, Oswald (2006): „Mikropolitik und Moral in Organisationen“; 2. Auflage UTB Lucius & Lucius 2006. Seidenstricker, Iris (Hrsg.): „Das große Buch der Lebensweisheiten: 2222 humorvolle und geistreiche Sprüche“; Reader’s Digest 2008. Twain, Mark (2000): „The Jumping Frog And 18 Other Stories“; Book Tree 2000.
Teil II Führungsalltag
Wer führt, leistet Führungsarbeit: im Rahmen bestimmter Arbeitsaktivitäten bestimmte Arbeitsaufgaben sind zu erfüllen und bestimmte Formalwerkzeuge anzuwenden. Gute Führungskräfte beherrschen ihr Handwerk nicht nur, sondern üben es auch aus.
Hut ab, Sie haben durchgehalten. Sie wissen nun, was Führung ist, kennen einige grundlegende Konzepte und verstehen die wesentlichen Rahmenbedingungen. Ich hoffe, es hat Ihnen Spaß gemacht, sich ein wenig theoretisch zu belesen. Immerhin ging es ja um anwendungsorientierte Ideen und darum, sich in der Praxis zu orientieren. Im zweiten Teil wird es nun richtig handlungsrelevant. In jedem Kapitel knöpfen wir uns eine der sieben Aufgabenkategorien der Komplementären Führung vor und arbeiten heraus, was es bei den einzelnen Führungsaufgaben zu erreichen gilt. Dabei werden nach und nach auch die konkreten Routinen (also Aktivitäten) behandelt, mittels derer diese Aufgaben umzusetzen sind und die Ihre Führungstätigkeit konstituieren. Um den thematischen Zusammenhang zu wahren, werden hier auch schon Führungsinstrumente (Abschn. 14.5) vorgestellt, die die Routinen unterstützen. Die inhaltliche Zuordnung
112 Teil II: Führungsalltag
erfolgt dabei rein pragmatisch, denn Routinen und Instrumente lassen sich nicht exklusiv einer einzigen Führungsaufgabe zuordnen. Es geht in diesem Teil um das Brot-und-Butter-Geschäft der Führung, um das, was fast alle Führungskräfte ständig tun. Es geht aber auch um Problemsituationen, die gerade unerfahrenen Führungskräften oft die Sorgenfalten ins Gesicht treiben. Man muss damit vertraut sein und wissen, was zu tun ist, um zu einer gewissen professionellen Gelassenheit zu finden – Sie wollen ja nicht als Schönwetterchef oder -chefin enden. Auch bei diesen Anwendungsthemen kommt man ohne Spezialwissen nicht aus, im Vordergrund stehen aber praktische Fragen und Handlungsempfehlungen.
wir von den Grundlagen zum » Kommen Handeln.
6 Arbeitsinhalte festlegen
In diesem Kapitel lernen sie die drei Führungsaufgaben der Kategorie „Arbeitsinhalte festlegen“ kennen. Sie mögen zunächst abstrakt klingen, betreffen aber tatsächlich den Kern des Führungsberufs – andere produktiv zu machen. Erstens muss jeder Mitarbeitende Arbeitsaufgaben (= Ziele) haben, d. h., diese gilt es festzulegen. Daneben sind zweitens Vorgaben zur Vorgehensweise (= Wegspezifikationen) erforderlich. Drittens sind aufbau- und prozessorganisatorische Strukturen sowie kodifizierte Verhaltensregeln zu gestalten, denn sie strukturieren die ersten beiden Aufgaben mehr oder weniger weitgehend vor. Alles dies soll idealerweise der einzelne Mitarbeiter als Selbstführender bewerkstelligen. Als komplementäre Akteurin oder komplementärer Akteur muss die Führungskraft aber zur Stelle sein, wenn sich Defizite zeigen. Der wesentliche Ansatzpunkt dafür sind regelmäßige Arbeitsbesprechungen, die hier ausführlich behandelt und mit Praxistipps hinterlegt werden.1
1 Da
die Kapitel in der E-Book-Version einzeln abrufbar sind, wiederhole ich den folgenden Hinweis aus dem Vorwort: Dieses Buch beruht auf dem Theoriemodell der Komplementären Führung, das ich für führungskonzeptionell Interessierte in meinem wissenschaftlichen Grundlagenwerk gleichen Titels dargelegt habe (Kaehler 2020). „Führen als Beruf“ soll dieses Wissen
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Kaehler, Führen als Beruf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67567-0_6
113
114 B. Kaehler
6.1 Das Prinzip Arbeitsteilung Organisationen, dies wurde bereits verschiedentlich deutlich, unterhalten ihre Belegschaft nicht als Selbstzweck, sondern als Medium der Arbeitsbewältigung. Dies gilt für Unternehmen, Behörden und Vereine gleichermaßen, und es gilt für jede einzelne ihrer Organisationseinheiten. Insofern ist die zu verrichtende Arbeit der Ausgangs- und Bezugspunkt aller organisationalen Führung: „Im Immobiliengeschäft gibt es eine alte Redeweise, nach dieser sind die drei wichtigsten Erfolgsfaktoren ‚Lage, Lage, Lage‘. In der Führungsentwicklung sind die drei wichtigsten Erfolgsfaktoren ‚Arbeitsaufgabe, Arbeitsaufgabe, Arbeitsaufgabe‘“ (Dave UlrichI). Wenn es halbwegs mit richtigen Dingen zugeht, entfällt auf jede Abteilung, Arbeitsgruppe etc. eine bestimmte Menge der von der Gesamtorganisation zu bewerkstelligenden Arbeit. Und diese muss wiederum auf die einzelnen Stellen, definiert als kleinste Organisationseinheiten, aufgeteilt werden. Das dahinter liegende Prinzip nennt man Arbeitsteilung. Sie erfordert nicht etwa nur die Aufteilung und Zuweisung der Arbeit, sondern auch die Integration der daraus entstehenden Teile zur Gesamtleistung: „Die Leistungen, die von einem Manager erwartet werden, müssen von den Leistungszielen des Unternehmens abgeleitet werden, und die Ergebnisse seiner Tätigkeit müssen daran gemessen werden, inwieweit sie zum Erfolg des Unternehmens beitragen“ (Peter F. DruckerII). Aus diesem Grund steht die Führungsaufgabenkategorie „Arbeitsinhalte festlegen“ im Mittelpunkt der grafischen Darstellung des Komplementären Führungsmodells (Abb. 3.4 in Kap. 3).
für Führungskräfte als Anwenderinnen und Anwender aufbereiten, gut verständlich und streng praxisorientiert. Fast alle Ideen und auch manche Formulierungen, die Sie hier finden, stammen aber aus dem ersten Buch, das lässt sich nicht vermeiden. Aus Gründen der Lesbarkeit – dies ist kein wissenschaftliches Werk – sind dabei nicht alle Selbstzitate explizit als solche gekennzeichnet. Andere Autoren und Quellen werden aber natürlich nach bestem Wissen und Gewissen korrekt und vollständig zitiert.
6 Arbeitsinhalte festlegen 115
ist zentraler als die Arbeit, die zu » Nichts tun ist. Unter einer Arbeitsaufgabe (synonym: „Arbeitsziel“ oder „Arbeitsauftrag“) wird hier ein zu erbringender Arbeitsinhalt im Sinne einer Aufgabenstellung verstanden. Dies können wiederkehrende Routineaufgaben oder einmalige Projektaufgaben sein, ferner die Selbstführungsaufgaben, die ihrer Strukturierung dienen. Von den Aufgaben abzugrenzen sind die konkreten Arbeitsaktivitäten, die ihrer Verwirklichung dienen und eben nicht das Ergebnis, sondern das Tun bezeichnen. Diese Differenzierung war ja bereits im Zusammenhang mit Führungsarbeit unser Thema, und natürlich lässt sie sich auch im Hinblick auf jede andere Arbeit durchhalten. Bei der Vergabe von Arbeit geht es also einerseits darum, die zu erreichenden Aufgabenstellungen zu spezifizieren, und anderseits darum, die dafür notwendigen Aktivitäten festzulegen. Beides kann umfänglich oder detailliert, ausschnitthaft oder rudimentär geschehen. Ich gebe zu, es ist ein wenig verwirrend und vielleicht gar nicht so einfach, beim Lesen zwischen Führungsaufgaben und Arbeitsaufgaben zu unterscheiden. Anderseits ist es aber auch logisch: Führen ist Arbeit, und eine Führungsaufgabe besteht eben darin, Arbeitsaufgaben zu vergeben. Die wesentliche Führungsroutine zur Umsetzung dieser Führungsaufgabe ist die individuelle Arbeitsbesprechung. Die hier dargelegten Prinzipien gelten aber auch dann, wenn Arbeit im Rahmen anderer Routinen vergeben wird, z. B. in Sitzungen oder Kurzgesprächen am Arbeitsplatz.
6.2 Festlegung von zu erfüllenden Arbeitszielen Die Steuerung von Arbeit über ihre Ziele stellt ein Grundprinzip wirksamer Führung dar. Mit seiner Methode „Führen mit Zielen und Selbstkontrolle“ (engl. „management by objectives and self control“) erhob
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Peter F. Drucker sie sehr zu Recht zur Managementphilosophie.III Ziele dienen der Arbeitsvergabe, durch ihre Ableitung aus übergeordneten Zielen wird aber gleichzeitig eine Integration der Teilleistung zur Gesamtleistung sichergestellt. Die Orientierung an Zielen ist im Übrigen einer der wichtigsten kognitiven Motivationsmechanismen überhauptIV, sodass diese Form der Arbeitssteuerung auch insofern von besonderer Bedeutung ist. Druckers Konzept hat freilich noch weitere wesentliche Aspekte, u. a. den der Selbstverpflichtung. Er empfiehlt nämlich, die Ziele nicht etwa im Wege der Fremdbestimmung vorzugeben, sondern es den Geführten zu überlassen, Ziele (= Aufgabenstellungen) vorzuschlagen. Denn: „Delegieren durch Abkippen ist kein verantwortungsbewusstes Management“ (Henry MintzbergV). Die Führungskraft kann Vorschläge durchaus als unzureichend zurückweisen und neue einfordern. Sie verzichtet aber hier bewusst darauf, Ziele einfach aus übergeordneter Entscheidungsmacht heraus festzulegen. Darin liegt eine gewaltige Schubumkehr, denn der Mitarbeiter geht durch seinen Vorschlag eine Selbstverpflichtung ein, die ihn psychologisch in besonderer Weise an das Ziel bindet. Natürlich sind nicht alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von vornherein bereit dazu. Das Ziel sollte aber sein, jedem nach und nach eine immer größere Zielverantwortung zu übertragen. Dabei soll der Geführte zunächst nur die kurzfristigen, im Laufe der Zeit dann aber auch immer mehr langfristige und dauerhafte Ziele seiner Stelle festlegen. Schafft er dies, wird er immer stärker auch in die Entwicklung der Ziele der übergeordneten Organisationseinheit einbezogen. Ich nenne diese allmähliche Steigerung des Partizipationsgrades „entwicklungsorientiertes Aufgabenmanagement“.
fremdzubestimmen ist » Arbeitsziele ineffizient. Dieser universelle Mechanismus der Zielsetzung greift auf allen drei Feldern der Unternehmensführung (siehe Abb. 2.2). Wo von
6 Arbeitsinhalte festlegen 117
„Zielen“ die Rede ist, sind zwar in Literatur und Praxis fast immer nur strategische Ziele für die Geschäftsperiode – i. d. R. ein Jahr und länger – gemeint. So enthalten Geschäftsstrategien fast immer die im Folgejahr angestrebten Gewinne nebst Maßgaben zum Vorgehen. Ziele können aber durchaus auch kurzfristiger Natur und tage-, wochenoder monatsbezogen formuliert sein. Dies unterfällt dem Bereich des operativen Managements, also der Steuerung des ausführenden Betriebs im laufenden Tagesgeschäft. So mag nach einem Geschäftseinbruch das Ziel ausgegeben werden, in der kommenden Woche soundso viel aufzuholen. Auch wenn eine exakte Abgrenzung wohl weder möglich noch nötig ist, so hilft es sehr, hier einen Unterschied zu machen. Strategische Ziele als Vorab-Regelungen setzen den Rahmen, den es durch operative Etappenziele zu füllen gilt. Sie können daher abstrakter sein als diese und lediglich eine Klammer bilden, die unterjährige Ziele von diverser Fristigkeit über eine Jahres- oder Mehrjahresfrist bündelt. Eines der vielen Probleme der meisten Zielvereinbarungssysteme ist eben, dass sie dazu zwingen, operative Detailziele gewaltsam in strategische Laufzeiten zu pressen; dies macht die Zielfindung zur Qual und verhindert die meist unvermeidlichen unterjährigen Zielanpassungen. Auch auf dem dritten Feld, dem konstitutiven Management, gilt es, Ziele zu setzen. Diese sind dauerhafter Natur und betreffen die Ausrichtung einer Organisationseinheit. Im Falle der Stelle als kleinster Einheit sind diese Dauerziele (= Aufgaben) Gegenstand der Stellenbeschreibung. Nicht umsonst stand Letztere im Mittelpunkt des einflussreichen Harzer Führungsmodells (Abschn. 3.3), denn die dauerhafte Delegation eines festen Aufgabenbereichs ist eben auch eine Form der Arbeitsvergabe und als Führungsmethode vermutlich sogar noch effektiver als die Steuerung über geschäftsperiodenbezogene strategische Ziele. Wenn klar ist, dass bestimmte neue Aufgaben immer in den Verantwortungsbereich einer bestimmten Stelle fallen, erledigt sich die operative und strategische Zielfestlegung sozusagen von selbst.
gibt operative, strategische und » Eskonstitutive Ziele.
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Ziele festzulegen, d. h. für jeden Mitarbeiter die zu erbringenden Arbeitsaufgaben zu definieren, ist eine Kernaufgabe der Führung. Hier wird besonders deutlich, weshalb operative Personalführung das Medium der Unternehmensführung insgesamt ist (Abb. 2.2), denn die Mitarbeitenden als Personen erledigen ja schließlich ebenjene Arbeit, die die Organisation als Abstraktum zu leisten hat. Voraussetzung dafür ist das kaskadierende Herunterbrechen und integrierende Zusammenführen der Einzelleistungen, für das die klassische Hierarchie mit ihren formalen Unterstellungsverhältnissen beste Voraussetzungen bietet. Dabei geht es um Inhalte, nicht um Techniken. In welcher Form die Ziele festgelegt werden, spielt letztlich keine Rolle. So ist z. B. die beliebte „SMART“-Formel, wonach Ziele immer spezifisch, messbar, attraktiv, realistisch und terminiert zu sein haben, nicht sonderlich hilfreich. Zum einen müssen inhaltlich sinnvolle Ziele keineswegs alle fünf Kriterien erfüllen; zum anderen lässt sich auch völliger Unsinn in dieser Form konkretisieren. Ziele brauchen also, auch wenn viele es irgendwo gelernt haben, nicht unbedingt „SMART“ zu sein. Und dass das, was die meisten Organisationen unter der Bezeichnung „Zielvereinbarungssysteme“ praktizieren – nämlich starre Jahreszielanweisungen –, eine Pervertierung des Führens mit Zielen und Selbstkontrolle ist, dürfte im Vorausgegangenen hinreichend deutlich geworden sein. Kein Stück besser sind übrigens die vor allem in IT- und Startup-Unternehmen als Alternative gefeierte OKR-Methode („objectives and key results“), deren wesentliche Neuerung darin besteht, den gleichen starren Formalismus mit vierteljährlicher Laufzeit zu veranstalten.VI
6.3 Vorgaben zur Vorgehensweise bei der Erfüllung der Arbeitsziele Neben der Definition von Arbeitsaufgaben (= Zielen) beinhaltet die Arbeitsvergabe auch die Definition von Vorgaben in Bezug auf die konkreten Arbeitsaktivitäten. Damit können zwei unterschiedliche Dinge gemeint sein. Entweder geht es um die Art und Weise, in der die Aktivitäten durchgeführt werden: schnell oder langsam, freundlich oder rabiat, kostengünstig oder teuer usw.; oder es geht um die Abfolge
6 Arbeitsinhalte festlegen 119
und Frequenz der zu ergreifenden Einzelschritte auf dem Weg zur Erfüllung der jeweiligen Aufgabe. Vorgaben für die Vorgehensweise zu machen, beinhaltet keineswegs zwangsläufig eine Fremdsteuerung, denn natürlich können Mitarbeitende sich solche Vorgaben auch selbst auferlegen. Ebendies ist ein weiteres Element des Drucker’schen „Führens mit Zielen und Selbstkontrolle“. Es stellt nämlich darauf ab, dass dem Mitarbeiter die Entscheidung über den Weg zum Ziel selbst überlassen werden soll. Im militärischen Kontext, dem Drucker sein Konzept wohl entlehnt hat, spricht man von „Auftragstaktik“VII. Dahinter steht die Idee, auf allzu detaillierte Vorgaben zur Vorgehensweise zu verzichten und dem Geführten eine Selbststeuerung im Hinblick auf die zu ergreifenden Schritte und die Art und Weise des Handelns zu ermöglichen. Diese Wegfreiheit erhöht die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit enorm, denn der genaue Weg der Arbeitserbringung kann immer wieder situativ an die konkreten Erfordernisse und Möglichkeiten angepasst werden. So entstehen besonders sachgerechte Lösungen und ein ausgeprägtes Kontrollbewusstsein der handelnden Personen. Wer meint, jeden Handgriff vorgeben zu müssen, verschenkt diese Vorteile.
» Wegfreiheit ist gelebte Selbststeuerung. Ebenso wie die Bestimmung der Arbeitsziele findet auch die Bestimmung der Vorgehensweise auf allen drei Feldern der Unternehmensführung statt (siehe Abb. 2.2). Im operativen Management gilt es, Entscheidungen über den ausführenden Betrieb im laufenden Tagesgeschäft zu treffen. Das strategische Management beinhaltet dagegen solche Umsetzungsvorgaben, die Regelungscharakter für eine ganze Geschäftsperiode haben. Das konstitutive Management schließlich umfasst das Setzen dauerhafter Vorgaben bezüglich der Art und Weise sowie der Abläufe ausführender Arbeitstätigkeiten, z. B. in Prozessvorgaben oder Verhaltenskodizes. In vielen Unternehmen existieren schon so viele konstitutive und strategische Regeln, dass Führungskräfte nicht ohne Not ergänzende operative Vorgaben zur Vorgehensweise machen sollten.
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Und was an Vorgaben unbedingt erforderlich ist, sollte Mitarbeitende nicht unnötig aus dem Feld rufen oder in ihrem Schaffensfluss beeinträchtigen: „Vom Fußball können wir […] etwas ganz Einfaches lernen, was aber selten befolgt wird: Der Trainer erklärt seine Taktik vor dem Spiel. Nicht während des Spiels“ (Reinhard K. SprengerVIII). Fragen Sie sich immer zweimal, ob kompensierendes Eingreifen wirklich nötig ist.
Vorgaben zur Vorgehensweise » Operative sind meist unnötig.
6.4 Die Arbeitsbesprechung als wichtigste Führungsroutine Die zentrale Aktivität, mittels derer die beiden Aufgabenstellungen der Bestimmung von Arbeitszielen und Arbeitsvorgaben verwirklicht werden, ist die individuelle Arbeitsbesprechung. Diese gilt es regelmäßig als Einzelgespräch durchzuführen. Gegenstand sind die Arbeitsaufgaben und -aktivitäten des Mitarbeiters oder der Mitarbeiterin und alle in diesem Zusammenhang relevanten Fragen. Im Mittelpunkt stehen also die soeben näher beleuchteten Führungsaufgaben der Festlegung von Arbeitszielen und der Spezifikation der Arbeitsaktivitäten. Das Gespräch dient aber durchaus auch anderen Führungsaufgaben. Zu denken ist hier insbesondere an die Zuweisung von Arbeitszeit und Arbeitsmitteln sowie die Leistungsbeurteilung (Kap. 8). Im Gespräch wird ja nicht nur neue Arbeit vergeben, sondern hoffentlich auch besprochen, was dafür gebraucht wird, und die getane Arbeit gewürdigt, sowohl im Hinblick auf die Ziele als auch auf die Vorgehensweise. Zudem werden noch diverse andere Führungsaufgaben umgesetzt – vom Motivationsimpuls über die Qualifizierung durch Unterweisung bis hin zum Schutz der Gesundheit. Eigentlich gibt es fast keine der 21 komplementären Führungsaufgaben, die in der regelmäßigen Arbeitsbesprechung nicht mit erledigt wird oder werden kann.
6 Arbeitsinhalte festlegen 121
Entscheidender Erfolgsfaktor ist, dass das Gespräch im Kern um sachliche Arbeitsfragen kreist und nicht etwa um psychologische Befindlichkeiten. Wo Chef und Mitarbeiter als „Nerds“ ihres Fachgebietes interessante Sachdinge besprechen, kommt Persönliches früher oder später von ganz allein auf den Tisch. Psychologisierende Gesprächstechniken und vordergründige Menschenorientierung können dies nicht in gleichem Maße leisten; sie sprengen i. d. R. die gemeinsame Basis, die eben aus dem Arbeitsverhältnis besteht, und schädigen genau jenes Vertrauensverhältnis, das sie vermeintlich erzeugen sollen. Richtig verstanden, handelt es sich zunächst einmal um einen mündlichen Bericht des oder der Geführten über die Arbeit der vergangenen Woche, aus dem sich im Verlauf ein Dialog entspinnt. Das Gespräch „gehört“ also dem Mitarbeiter. Der Führungskraft verlangt dies Zurückhaltung ab: „Solange man selbst redet, erfährt man nichts.“IX
» Führen Sie ein Fachgespräch. Für viele ist es eine Selbstverständlichkeit, solche Besprechungen im wöchentlichen oder zweiwöchentlichen Rhythmus durchzuführen, oft in Form eines fest terminierten „jour fixe“ von etwa 30 bis 60 min. Dies gibt beiden Akteuren Gelegenheit, zu besprechende Themen über die Woche zu sammeln, was einen wohltuenden Effekt auf das Zeitmanagement hat, denn es reduziert die Fälle spontaner Rückfragen. Es gibt freilich nicht wenige Führungskräfte, die angeben, Besprechungen dieser Art nur als Jahresgespräche durchzuführen, und die eine wöchentliche Frequenz für nicht weniger als absurd halten. Das ist immer ein Fehler, denn wöchentliche Sitzungen im Kollektiv, anlassbezogene Interventionen und Einzelbesprechungen im Jahresrhythmus sind nicht geeignet, einen umfassenden Eindruck von der Arbeit einer Person zu bekommen. Sicher: Wer zu wenig Zeit bzw. zu viele Mitarbeitende hat, kann der Forderung nicht entsprechen. Das ist aber kein sinnvolles alternatives Führungskonzept, sondern schlichtweg
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ein schlechtes, und zwar unabhängig davon, ob die Führungskraft selbst oder zentrale Vorgaben dafür verantwortlich sind. Einige hilfreiche Praxistipps für die Durchführung von Arbeitsbesprechungen finden Sie in Checkliste 1.
regelmäßige Einzelgespräch ist » Das unersetzlich.
Checkliste 1: Empfehlungen für Arbeitsbesprechungen. (© Boris Kaehler 2019. All Rights Reserved.) • Regelmäßige Einzelgespräche: Führen Sie mit jedem Mitarbeiter und jeder Mitarbeiterin regelmäßige Einzel-Arbeitsbesprechungen durch. In den meisten Fällen bewährt sich ein fester Termin von ca. einer Stunde etwa alle 1‒2 Wochen. Die Zeit ist gut angelegt, denn das Gespräch dient vielerlei Zwecken. Wirksame Führung erfordert Einzelgespräche. • Umfassender Ansatz: Es geht vor allem um die operative Festlegung klarer Arbeitsziele und -vorgaben; ferner ist für Leistungsfeedback und angemessene Ressourcen und -informationsausstattung zu sorgen. Sie verschaffen sich aber (mit wechselnden Schwerpunkten) auch einen Eindruck von allen anderen Führungsaufgaben und können diese bei Bedarf thematisieren. • Vorbereiten: Beide Seiten sollten sich auf die Gespräche vorbereiten. Das Sammeln von Rückmeldungen und offenen Punkten entlastet die Woche. • Selbstführung praktizieren: Das Gespräch gehört dem Mitarbeiter, es geht um seine Arbeit. Erkundigen Sie sich nach dem persönlichen Befinden und fragen Sie dann die Einschätzung der aktuellen Arbeitssituation ab. Unterbinden Sie Störungen, hören Sie aktiv zu, halten Sie ihren eigenen Redeanteil bei unter 30 %. Ihr Gegenüber soll zu eigenen Lösungen und Bewertungen finden. Nutzen Sie z. B. den folgenden Vierschritt:Einschätzung und Vorschlag des Mitarbeitenden – ergänzendeFeststellungen der Führungskraft – ergänzende Stellungnahme des Mitarbeitenden – kurze Bewertung und Schlussfolgerung derFührungskraft, idealerweise als reine Bestätigung • Als Fachgespräch gestalten: Die Besprechung soll um arbeitsrelevante Dinge kreisen und den Charakter eines engagierten Fachgesprächs zwischen zwei „Nerds“ haben. Es geht nicht darum, zu
6 Arbeitsinhalte festlegen 123
psychologisieren/manipulieren, sondern sich offen und natürlich über Erfordernisse der Arbeit auszutauschen. • Kritik sinnvoll einbringen: Beachten Sie auch in der Arbeitsbesprechung die Empfehlungen für Kritikgespräche in Checkliste 7. • Verbindliches Ergebnis: Fassen Sie das Gespräch kurz zusammen und geben Sie dem oder der Mitarbeitenden etwas positive Energie mit. Die Dokumentation der wesentlichen Eckpunkte, insb. offener Arbeitsaufgaben und Handlungsbedarfe, kann auch der oder die Mitarbeitende übernehmen und Ihnen zuschicken.
Freilich lässt sich nicht alles auf die nächste reguläre Arbeitsbesprechung verschieben, auch wenn dies grundsätzlich erstrebenswert erscheint. Der Arbeitsalltag wirft eben vielfältige Probleme und Fragen auf, und manches – man denke z. B. an dringende Sachangelegenheiten oder emotionalen Unterstützungsbedarf – kann einfach nicht warten. Für pressierende Anliegen müssen sich die Beteiligten daher auch außerhalb der Wochengespräche Zeit nehmen und spontan eine Kurz-Arbeitsbesprechung ansetzen. Dabei sollten nur wirklich dringende Dinge kurz und knapp beredet werden, während alles andere der wöchentlichen Arbeitsbesprechung vorbehalten bleibt. Relevant ist dabei aber nicht nur die objektiv-sachliche Dringlichkeit aus Sicht der Führungskraft, sondern ebenso die subjektive Befindlichkeit des Mitarbeiter bzw. der Mitarbeiterin. Vergessen Sie nicht: Die Führungskraft ist Dienstleister.
Dringliches gibt es die Kurz-Arbeits» Für besprechung.
6.5 Aufbau- und Prozessorganisation Im Katalog der 21 Führungsaufgaben (Abschn. 3.2) ist die Aufbauund Prozessorganisation eigentlich fehl am Platze, denn es handelt sich streng genommen gar nicht um eine Führungsaufgabe (= Aufgabenstellung), sondern um ein Führungsinstrument (formalisiertes Werkzeug). Aufbau- und prozessorganisatorische Regelungen sind
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formalisiert und auf Dauer angelegt und damit Gegenstand und Ergebnis des konstitutiven Managements (Kap. 14).2 Auf Grund ihrer besonderen Wichtigkeit und um sie sichtbar zu machen, habe ich sie dennoch als dritte Einzelaufgabe explizit in die Kategorie „Arbeitsinhalte festlegen“ aufgenommen. Immerhin haben praktisch alle Organisationen solche Strukturen, und ihre Optimierung ist zwar keine echte Leistungsbedingung im Sinne der anderen 20 Führungsaufgaben, aber ein ganz wesentlicher Zwischenschritt auf dem Weg zur Festlegung der Arbeitsziele und -vorgaben. Ohne eine Vorstrukturierung durch feste Aufbaustrukturen und Abläufe hätten Sie es als Führungskraft schwer, denn Sie und Ihre Mitarbeitenden müssten ständig neu entscheiden, wer was wie zu erledigen hat. Organisieren in diesem speziellen Sinn ist daher (soweit es um Vorgaben für menschliche Arbeit geht) ein wesentlicher Bestandteil der Personalführung. Wie alle Routinen und Instrumente lässt sich auch die Aufbau- und Prozessorganisation nicht exklusiv einer Aufgabe zuordnen, sondern ist in unterschiedlichem Maße für alle 21 Führungsaufgaben relevant. Im Kern handelt es sich aber um Instrumente der Arbeitsvergabe, also der Festlegung der Arbeitsziele und -vorgaben. Als solche bieten sie einen dauerhaften Rahmen für die ausführende Arbeit. Es gibt Bereiche, speziell solche der industriellen Fertigung, in denen fast alle Handgriffe von spezialisierten Organisationsfachleuten analysiert und organisiert werden. Die Philosophie des Qualitätsmanagements wird hier bis ins Detail perfektioniert und auf Basis von DIN- und ISO-Normen mit elaborierten Methoden wie z. B. dem Six Sigma angegangen. In weiten Teilen des Arbeitslebens, z. B. in den Büroberufen oder im Vertrieb, ist dies aber nicht der Fall oder jedenfalls die Ausnahme. Dort werden Organisationseinheiten und Abläufe meist eher freihändig festgelegt. Fast überall gibt es zwar von Spezialisten erstellte Ablauf- und Aufbaudokumentationen; sie spielen im Alltag der Mitarbeitenden aber oft nicht die geringste Rolle.
2 Aufbau- und Prozessorganisation können auch Gegenstand des Strategischen Managements sein, und zwar dann, wenn eine Strategie beinhaltet, sie anzupassen. Die Normen als solche sind aber dauerhaft und damit keine Strategien.
6 Arbeitsinhalte festlegen 125
Das ist schlecht, denn eine funktionale und lebendige Aufbau- und Prozessorganisationsnormen entlastet den operativen Alltag sehr. Ich lege Ihnen und Ihren Mitarbeitenden daher nachdrücklich ans Herz, diese Normen nicht als bürokratisches Artefakt zu betrachten, sondern ins tägliche Arbeitsleben zu integrieren. Das wird schwerpunktmäßig in den regelmäßigen individuellen Arbeitsbesprechungen und im jährlichen Strategieworkshop geschehen; grundsätzlich können aber alle Führungsroutinen Ansatzpunkte für organisatorische Anpassungen sein. Von selbst passiert es jedenfalls nicht: „Das Erste, was wir gelernt haben, ist, dass […] Organisationsstrukturen nicht einfach,entstehen‘. Die einzigen Dinge, die in Organisationen entstehen, sind Unordnung, Reibung, Schlechtleistung. […] Organisationsgestaltung und -strukturen erfordern Denken, Analyse und einen systematischen Ansatz“ (Peter F. DruckerX).
Sie die Aufbau- und Prozess» Erwecken organisation zum Leben. Die Aufbau- und Prozessorganisation ist auch deshalb so wichtig, weil es keinen Sinn ergibt, die Leistung und das Verhalten von Mitarbeitenden mit intervenierenden und psychologisierenden Personalmaßnahmen zu beeinflussen, wenn unsinnige oder ineffiziente Strukturen optimale Leistung überhaupt nicht zulassen bzw. sie in die falsche Richtung lenken. So besteht Ihre Aufgabe als Führungskraft z. B. beim Auftreten von Fehlern nicht primär darin, die handelnden Personen zu qualifizieren, zu bestrafen, zu incentivieren, loszuwerden oder besser zu beaufsichtigen. Vielmehr geht es darum, die Gründe für die Fehler zu finden und zu beheben (Abschn. 8.8). Der Ansatzpunkt dafür sind fast immer aufbau- und prozessorganisatorische Anpassungen, z. B. die Klärung von Zuständigkeiten oder die Einführung von Checklisten. Wo dies der Fall ist, können Sie sich und Ihren Mitarbeitenden die persönlichen Interventionen ersparen.
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Sie die Leute in Ruhe, solange » Lassen Organisationsmängel bestehen. Das Konzept der Aufbauorganisation ist schnell erklärt. Es beinhaltet die Bündelung von Arbeitsaufgaben in Stellen sowie die Bündelung dieser Stellen in größeren Einheiten. Dabei ist die Stelle (engl. „job“) die kleinste Organisationseinheit und ein Abstraktum, denn sie kann, wie ein Stuhl, mit einer Person besetzt sein oder vakant. Die Struktur, die durch Über-/Unterordnung solcher Organisationseinheiten mittels Berichtslinien entsteht, nennt man Hierarchie3. Die Führungsaufgabe besteht hier darin, Stellen und Einheiten zu bilden und anzupassen. Es geht dabei um dauerhafte Aufbaustrukturen der Regelorganisation (im Gegensatz zu befristeten Projekten).4 Die Aufbauorganisation ist nur eine Perspektive unter vielen. Sie steht nicht im Widerspruch zu anderen Organisationsaspekten wie z. B. Prozessen, Projekten, informellen Netzwerken oder kulturellen Mustern, sondern ergänzt sie. Der Stellenzuschnitt als Kernelement der Aufbauorganisation ergibt sich durch die Zuweisung von Einzelaufgaben. Gleichartige Arbeitsaufgaben können auf mehrere Stellen verteilt (= Mengenteilung) oder nur einer/ wenigen Stelle/n zugewiesen werden (= Spezialisierung). Nach den gleichen Prinzipien wie die Stellenbildung erfolgt dann die Abteilungsbildung und -spezialisierung. Dabei ist die Aufbaugestaltung keine einmalige Aufgabe, sondern die Strukturen sind laufend zu überprüfen und anzupassen. Schwerpunktmäßig passiert dies in den regelmäßigen Arbeitsbesprechungen und im jährlichen Strategieworkshop. Letztlich sollten aber durchaus alle Routinen der Verwirklichung dieser Führungsaufgabe dienen. Organisationsmängel zeigen sich schließlich
3 Die
Hierarchie ist in meinen Augen weiterhin ein zeitgemäßes Aufbauprinzip. In Abschn. 4.1 wurde dies bereits ausführlich dargelegt. 4 Projekte haben ebenfalls eine Aufbauorganisation, sie folgt aber ganz anderen Prinzipien. Projektstrukturen unreflektiert für die dauerhafte Regelorganisation zu nutzen, wie es z. B. zuletzt unter dem Schlagwort „agil“ vielerorts geschah, halte ich für verfehlt.
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bei unterschiedlichsten Gelegenheiten. Praxistipps für die Gestaltung der Aufbauorganisation finden Sie in Checkliste 2.
beinhaltet Stellen» Aufbauorganisation und Hierarchiebildung. In der Praxis sind bei der Aufbaugestaltung zwei wesentliche Probleme anzutreffen. Beide betreffen nicht nur einzelne Stellen, sondern gelten analog auch für die Gestaltung von Teams, Abteilungen und Gesamtorganisationen. Das erste Problem besteht darin, dass Organisationseinheiten oft nicht systematisch gestaltet werden und dann i. d. R. schlicht unzweckmäßig sind. So haben viele Fälle von Minderleistung weniger mit der Person des Stelleninhabers zu tun als mit einem untauglichen Stellenzuschnitt: „Fehlerhaftes, nicht gründlich durchdachtes Job Design ist eine der Hauptquellen für Demotivation, Unzufriedenheit und schlechte Produktivität der Humanressourcen“ (Fredmund MalikXI). Mitunter werden auf einer Stelle, in der zu viele und zu verschiedenartige Tätigkeiten gebündelt sind, mehrere Mitarbeiter hintereinander verschlissen (der sog. „Killerjob“XII). Anderswo bleiben Aufgaben unerledigt, weil keine Stelle sie abdeckt, erschweren unattraktive Stellenzuschnitte die Rekrutierung oder überschneiden sich Stellen und erzeugen so unnötige Konflikte. Der Fehler in all diesen Fällen besteht darin, zuzulassen, dass die Aufbauorganisation ein Eigenleben entwickelt und sich nicht mehr auf diejenigen bezieht, die sie ausfüllen: „Der Mensch ist zwar dafür geschaffen, zu arbeiten, die meisten Jobs sind aber nicht für Menschen geschaffen“ (Mihaly CsikszentmihalyiXIII). Aufbauorganisation darf aber nicht zum Selbstzweck werden, sondern dient dazu, Arbeit vorzustrukturieren. Das zweite Problem hängt mit dem ersten zusammen und ist sogar oft seine Ursache. Es besteht in der fehlenden Flexibilität vieler aufbaustrukturellen Regelungen. De facto werden die Stellenprofile zwar laufend angepasst, dies aber meist rein informell in Wege des sog. „Job Crafting“ (engl. für „Stellenbauen“) durch die Stelleninhaberinnen
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und -inhaber.XIV Auf diese Weise entfernt sich die gelebte Praxis immer mehr von den formalen Aufbaustrukturen, bis beide kaum mehr etwas miteinander zu tun haben. Wieder einmal zeigt sich hier, dass Personalführung mit zentralen, instrumentenbasierten Lösungen allein nicht funktionieren kann. Dezentral, also über Führungskräfte und Selbstführung, die die Aufbaugestaltung in Führungsroutinen betreiben, ist Flexibilität hingegen gut erreichbar: „Wenn du einen besonderen Spieler hast, musst du alles um ihn herum nach ihm ausrichten“ (Michel PlatiniXV). Idealerweise lassen die formalen Organisationsinstrumente das zu; andernfalls müssen Sie sie sich zurechtbiegen oder andere nutzen.
Zuschnitt von Einheiten muss » Der angemessen und veränderlich sein.
Checkliste 2: Empfehlungen für die Gestaltung der Aufbauorganisation. (© Boris Kaehler 2019. All Rights Reserved.) • Alle Aufgaben verteilen: Stellen Sie sicher, dass alle regelmäßig anfallenden Teilaufgaben auch tatsächlich einer Stelle zugeordnet sind. • Der Stelleninhaber muss die Aufgaben schaffen können: Sorgen Sie dafür, dass die einer Stelle zugewiesenen Teilaufgaben in der zur Verfügung stehenden Arbeitszeit und mit den vorhandenen Ressourcen zu bewältigen sind. • Stellvertretung organisieren: Für jede Stelle sollten Vertretungsregelungen bestehen, d. h., die Vertretung der Stelle muss einer anderen Stelle als Aufgabe zugewiesen werden. • Überschneidungsfreiheit gewährleisten: Stellen sollten sich nur in begründeten Ausnahmefällen überschneiden. • Mechanismen für eine situative Entlastung schaffen: Umverteilungsmöglichkeiten oder spezielle „Springer“-Stellen, die bei Engpässen aushelfen, erhöhen die Flexibilität. • Systematische Spezialisierungsentscheidung: Analysieren Sie genau, ob für eine bestimmte Stellen- und Aufgabenart eher eine Spezialisierung oder eine Generalisierung sinnvoll ist. Mögliche Spezialisierungsvorteile sind: Skaleneffekte durch erhöhte Stück-
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zahlen bei einer einzelnen Leistung; Verbundeffekte durch Bündelung/ Verkettung bestimmter Arbeiten bei unterschiedlichen Leistungen; schnellere und bessere Aufgabenerledigung durch Übungseffekte; Erleichterung von Automatisierung durch Stückzahlerhöhung; kürzere Anlernzeiten; Optimierung der Arbeitsplatzausstattung; Stellenbesetzung mit gering qualifizierten und damit leichter verfügbaren und niedriger bezahlten Personen; Vermeidung von Zeitverlusten beim Tätigkeitswechsel; leichtere Überwachung und Kontrolle bei eindeutig abgegrenzten Aufgaben. Mögliche Spezialisierungsnachteile sind: Erfordernis koordinierender Maßnahmen; fehlendes Verständnis des Gesamten aufgrund eingeschränkter Perspektive; Arbeitsunzufriedenheit; erhöhter Erholungsbedarf und/oder niedrigere Arbeitsqualität durch Entfremdung von der Tätigkeit; verringerte Konzentration und Fehlleistungen durch Monotonie; gesundheitliche Schäden durch einseitige Belastung; höherer Aufwand für „Transport“ und „Lagerung“ zwischen den Abschnitten durch die größere Anzahl von Abschnitten im Arbeitsablauf. • Laufende Anpassung: Es muss möglich sein, Stellen und Einheiten operativ anzupassen und dies auch in den Dokumentationen zu ändern. Andernfalls führt informelles „Job Crafting“ dazu, dass die gelebte Praxis sich immer weiter vom systematisch entwickelten Formalaufbau entfernt. • Nutzerfreundliche Aufbaudokumentation: Die klassischen Dokumentationsinstrumente Organigramm, Stellenbeschreibungen und Stellenbesetzungsplan sind in dieser Kombination durchaus sinnvoll, müssen aber angenehm und intuitiv nutzbar sein. Je besser dies gelingt, desto eher orientieren sich die Mitarbeitenden auch wirklich daran und aktualisieren sie laufend.
Das Konzept der Prozessorganisation (auch: Ablauforganisation) ist ebenfalls recht simpel. Es bezeichnet die Strukturen der zeitlichdynamischen Arbeitsprozesse, also die Regelung von Arbeitsabläufen im Zeitverlauf. Die Führungsaufgabe besteht darin, die Abläufe kontinuierlich zu optimieren. Gemeint sind damit dauerhafte Ablaufstrukturen der Regelorganisation.5 Die wesentlichen Parameter solcher Abläufe sind die Arbeitskraft („Wer macht …?“), die Arbeitsteilung („… was?“), die Arbeitsfolge („… wann?“), der Arbeitsort („… wo?“), die Arbeits-
5 Im
Gegensatz zu befristeten Projekten, die natürlich ebenfalls Abläufe haben.
130 B. Kaehler
methode („… wie?“) sowie die Arbeitsmittel („… womit?“). Die Optimierung zielt dabei vor allem auf geringe Durchlaufzeiten, geringe Prozesskosten und hohe Prozessqualität, wobei diese drei Ziele in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander stehen (das sog. „Magische Dreieck der Prozessgestaltung“).XVI Wie effektive und effiziente Prozesse zu erarbeiten sind, ist Gegenstand unzähliger Managementkonzepte. Die Grenze zur Logistik ist fließend und im technischen Bereich, beispielsweise in der industriellen Fertigung oder im Transportwesen, werden hier hoch ausdifferenzierte Analyse- und Optimierungsmethoden eingesetzt. Möglicherweise haben Sie selbst mit solchen Fragen zu tun und greifen dann vermutlich auf die Unterstützung von Spezialisten zurück. Mir geht es an dieser Stelle eher darum, pragmatische Hinweise zur Gestaltung „normaler“ Arbeitsprozesse z. B. im Büro- oder Vertriebsumfeld zu geben. Dafür ist es wichtig, die Aufgabe der Prozessoptimierung im Arbeitsalltag zu verankern. Eine wesentliche Rolle spielt dabei die Prozessdokumentation, für die alle in den vorherigen Absätzen im Hinblick auf die Aufbaudokumentation getroffenen Aussagen analog gelten. Sie dient nicht nur der Informationsverbreitung, sondern auch dem Verständnis und der Fortentwicklung der Prozesse selbst. Denn: „Wenn Sie das, was Sie tun, nicht als Prozess beschreiben können, dann wissen Sie nicht, was Sie tun.“XVII Umfangreiche Praxistipps für die pragmatische Gestaltung der Prozessorganisation enthält Checkliste 3. Ich gebe zu, sie sind ein wenig lang geraten und ohne Anlass nicht sonderlich gut lesbar. Ich bin aber sicher, dass Sie mit Interesse darauf zurückgreifen werden, wenn im konkreten Fall Mängel auftreten, die es prozessorganisatorisch zu heilen gilt. Alle diese Empfehlungen entstammen der Praxis, und sobald Sie sie umsetzen, werden aus dem trockenen Lehrstoff alltägliche Lösungen.
beinhaltet die Fest» Prozessorganisation legung von Arbeitsabläufen.
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Checkliste 3: Empfehlungen für die Gestaltung der Prozessorganisation (© Boris Kaehler 2019. All Rights Reserved.)XVIII • Systematische Auswahl der zu organisierenden Prozesse: Nicht alle Abläufe brauchen optimiert zu werden. Selten auftretende Prozesse und solche, die zwar wiederholt vorkommen, aber nicht erfolgskritisch sind, können ungeregelt bleiben. Alle wichtigen Prozesse müssen dagegen systematisch gestaltet werden. Dies sind a) alle ständig wiederkehrende Routineprozesse, wie z. B. der regelmäßige Kundenverkehr, b) alle wiederholt auftretenden erfolgskritischen Prozesse, wie z. B. der Großkundenverkehr, und c) alle selten auftretenden, aber besonders erfolgsrelevanten Prozesse wie z. B. Notfälle. • Ermittlung und Optimierung der einzelnen Prozessschritte: Alle notwendigen Prozessbestandteile sind aufzulisten und auf Vollständigkeit zu überprüfen. Häufig vergessen werden dabei eine vorgeschaltete Bedarfsanalyse, ein zwischengeschaltetes Feedback z. B. von Kunden und eine nachgeschaltete Evaluation. Die Notwendigkeit jedes einzelnen Prozessschrittes ist zu prüfen. Entbehrliche Schritte – wie z. B. Doppelarbeiten, unnötige Perfektionierungen, Dokumentationen und Kontrollen – sind zu eliminieren. Für jeden einzelnen Prozessschritt ist zu prüfen, ob dieser verbessert, beschleunigt oder verbilligt werden kann, z. B. durch Vereinfachung von Formularen, Automatisierung mittels zusätzlicher Software/Hardware oder Verfeinerung der Arbeitsmethoden. Die einzelnen Prozessschritte sind zu standardisieren. Hierbei sollte aber i. d. R. keine lückenlose Spezifizierung erfolgen, vielmehr müssen sinnvolle Freiräume für Disposition und Improvisation eingearbeitet werden (u. a. für situative Erfordernisse sowie Sonder-/ Notfälle). Die für jeden Prozessschritt erforderlichen Ressourcen müssen identifiziert werden (Mitarbeiter- und Maschinenkapazitäten, Materialien etc.). Zur Vermeidung von Engpässen sind Reservekapazitäten vorzuhalten. • Schnittstellendefinition und -optimierung: Jeder Prozessschritt muss daraufhin geprüft werden, ob die Vorteile einer Spezialisierung den zusätzlichen Koordinationsaufwand rechtfertigen. Ist dies nicht der Fall, kann die Schnittstelle entfallen – so z. B. wenn Generalisten alle erforderlichen Prozessschritte allein erledigen (was voraussetzt, dass sie über die erforderlichen Fähigkeiten und Ressourcen für alle Prozessschritte verfügen). Hierbei kann es sinnvoll sein, eine Spezialisierung, und damit eine Schnittstelle, zwar grundsätzlich zu etablieren, die Mitarbeiter aber mit Zusatzressourcen auszustatten. Dies können Universalressourcen (z. B. Generalschlüssel, generalistische Fähigkeiten) und/oder Reserveressourcen (z. B. Ersatzmaschinen/-kräfte/-material oder die Möglichkeit der zusätzlichen zeitlichen Nutzung vorhandener Ressourcen, z. B. Überstunden, höhere Maschinenlaufzeiten o. Ä.)
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sein. Auf diese Weise kann bei Bedarf, insb. in Sonder-/Notfällen, auf den Spezialisten und die Schnittstelle verzichtet werden; die äußeren Abhängigkeiten werden so reduziert. Alle Schnittstellen sind aufzulisten und zu definieren. Dabei müssen den beteiligten Stellen die entsprechenden Abstimmungsaufgaben in Stellenbeschreibungen/ Arbeitsanweisungen eindeutig zugewiesen werden. Nicht selten wird in der Praxis viel Zeit und Energie verschwendet, weil Mitarbeiter erst herausfinden bzw. verhandeln müssen, wer an Arbeitsprozessen wie beteiligt ist. Die Austauschprozesse an den Schnittstellen sind in Bezug auf Zeitpunkt, Umfang und Qualität zu standardisieren, d. h., in den Prozess sind gleich auch die damit verbundenen Abstimmungsaufgaben aufzunehmen (z. B. „bei Ausbleiben einer Lieferung per Standardmail erinnern“). Diese Abstimmungen können gegenseitig erwartete Vorleistungen betreffen (z. B. Informationen oder Material), aber auch gemeinsam genutzte Ressourcen (z. B. Geld, Maschinen, Arbeitskräfte) oder gemeinsame Aktivitäten im Markt. Bei der Festlegung dieser Austauschprozesse darf keine überzogene Spezifizierung erfolgen, vielmehr ist es i. d. R. sinnvoll, mit Bandbreiten (Definition von Schwankungsbereichen, bei deren Einhaltung es keiner zusätzlichen Abstimmungen bedarf, z. B. „Lieferung zwischen 9.00–10.00 Uhr“) und Puffern (z. B. Zwischenlager oder vorgesehene zeitliche Abstände zwischen zwei Prozessschritten) zu arbeiten und die aufeinanderfolgenden Teilprozesse auf diese Weise etwas zu entkoppeln. Zum anderen sind Freiräume für eine Adhoc-Abstimmungskommunikation, insb. Verhandlungslösungen, zu definieren, denn oft erbringt nur diese situationsangemessene Ergebnisse. Es müssen Maßnahmen zur Verhinderung des sog. Silodenkens (der nur auf den eigenen Bereich beschränkten Perspektive) getroffen werden. Dies kann z. B. durch Benennung eines zusätzlichen Prozessverantwortlichen geschehen, der den gesamten Prozess im Blick hat. Zudem sollten Spezialisten immer auch mit der Gesamtprozessperspektive und den zu erzielenden Gesamtergebnissen vertraut gemacht werden. • (Neu-)Festlegung der zeitlichen Abfolge: Die sinnvolle Abfolge der Prozessschritte ist zu untersuchen. Dabei sollte insbesondere die Möglichkeit einer Parallelisierung geprüft werden (= gleichzeitiges Abarbeiten mehrerer Prozessschritte, z. B. parallele Fertigung von zwei Teilbausteinen). Sodann ist die zeitliche Abfolge neu festzulegen und zu standardisieren, wobei jedoch auch hier nicht übertrieben spezifiziert (= überorganisiert) werden sollte, sondern sinnvolle Freiräume für einzelfallbezogene Disposition und vorläufige Improvisation bestehen bleiben müssen (u. a. für situative Erfordernisse sowie Sonder-/Notfälle).
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• Aufsetzen einer Prozessdokumentation und -steuerung: Die neue Prozessstruktur ist entsprechend den jeweiligen Dokumentationsstandards schriftlich zu fixieren und an alle Prozessbeteiligten zu kommunizieren. Es sind sinnvolle, aber nicht zu viele Parameter auszuwählen, anhand derer die Zeiten, Kosten und Ergebnisse des Prozesses gemessen und gesteuert werden können. Diese Parameter sind dann regelmäßig zu erheben und auszuwerten (z. B. anhand früherer und externer Vergleichsmaßstäbe). Dafür sind die entsprechenden Verantwortlichkeiten festzulegen. Es ist ein regelmäßiges Feedback an alle Prozessbeteiligte zu implementieren.
Oft vernachlässigt wird im Kontext der Aufbau- und Prozessorganisation das Weglassen von Aufgaben. Es ist hier jedoch mindestens genauso essenziell wie bei der Strategiefindung: „Zu entscheiden, was nicht getan werden soll, ist ebenso wichtig, wie zu entscheiden, was getan werden soll“ (Steve JobsXIX). Bevor Sie darangehen, die Strukturen zu optimieren, sollten Sie also prüfen, welche Aufgaben möglicherweise entfallen können. Was perspektivisch keinen ausreichenden Mehrwert und keine anderweitigen Vorteile bringt, kann weg. Es braucht dann auch nicht organisiert zu werden und bindet nicht unnötig Ressourcen wie z. B. Finanzmittel und Arbeitskapazitäten. Sie können sich dann ganz aus den entsprechenden Aktivitäten zurückziehen und auf die Erbringung dieser Leistungen verzichten. Nichts wäre falscher, als nutzlose Dinge über lange Zeit weiter zu betreiben – aus Gewohnheit, weil es niemandem auffällt oder weil maßgebliche Personen persönlich daran hängen. Prüfen Sie daher regelmäßig die Erforderlichkeit aller Aufgaben und Aktivitäten mit Blick auf die gesetzten Ziele und Strategien. Überlegen Sie sich, wovon sich Ihre Einheit trennen könnte und was sie nicht mehr tun sollte, z. B. indem Sie hinterfragen, welche Prozesse, Instrumente und Aktivitäten etc. Sie nach heutigem Stand nicht mehr neu beginnen würden.XX So nimmt z. B. ein Ludwigsburger Bauträger in seine Jahrespläne „Stopplisten“ auf, die jeweils gegen Ende des Vorjahres gefüllt werden; alle Mitarbeitenden sind aufgerufen, unnötige Anordnungen und Abläufe zu benennen, auf die das Unternehmen im kommenden Jahr verzichten soll. Denn, so der Geschäftsführer: „Wir muten unseren
134 B. Kaehler Tab. 6.1 Wichtige Regelungsgebiete. (© Boris Kaehler 2023. All Rights Reserved.)XXII Privates am Arbeitsplatz
Private Tätigkeiten während der Arbeitszeit Private Nutzung von Telefon und Internet
Allgemeines Betragen
Mindeststandards respektvoller und professioneller Kommunikation Alkohol- und Tabakgenuss auf dem Firmengelände Arbeitskleidung Mobbing, sexuelle Belästigung, Diskriminierung
Umgang mit Firmeneigentum
Kopieren und Speichern von Geschäftsunterlagen Mitnahme/Weiterleitung von Daten und Unterlagen in die private Sphäre
Kriminalität
Aneignung von Firmeneigentum; Diebstahl Anrechnung nicht erbrachter Arbeitszeiten (Arbeitszeitbetrug) Annahme von Geschenken, passive Bestechung Vergabe von Geschenken, aktive Korruption Tolerieren von Regelverstößen anderer Personen
Sicherheit
Weitergabe vertraulicher Daten, Wirtschaftsspionage Mitnahme von Daten und Arbeitsmaterial nach Hause Sicherheitsregeln (z. B. Betriebszugang)
Mitarbeitern fast täglich neue Prozesse zu – deshalb muss man auch immer wieder etwas rausnehmen“.XXI Weglassen muss im Übrigen nicht bedeuten, dass etwas gänzlich unterbleibt. Manche Aufgaben oder Aktivitäten lassen sich auch im Wege des sog. „Outsourcing“ auf externe Dienstleister verlagern oder an Zentralabteilungen abgeben (was aus Sicht Ihrer Einheit den gleichen Effekt hat).
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» Stoppen Sie alles, was keinen Nutzen hat. 6.6 Verhaltenskodex Aufbau- und prozessorganisatorische Normen regeln vor allem die inhaltlichen Aspekte der eigentlichen Arbeitstätigkeit. Ergänzende Verhaltensregeln werden zumeist in einem separaten Verhaltenskodex (engl. „code of conduct“) niedergelegt, der die ohnehin geltenden externen Rechtsvorschriften ergänzt. Auch hierbei handelt es sich um ein Führungsinstrument, ein formalisiertes Werkzeug. Vor dem Hintergrund der vielen großen Skandale der letzten Jahrzehnte – z. B. in der Bank-, Film- und Automobilindustrie, aber auch im Journalismus und im öffentlichen Sektor – verfügt heute fast jede größere Organisation über einen solchen Kodex. Das reicht aber nicht aus. Entscheidend ist letztlich, ob diese Regeln auch in jeder einzelnen Einheit durchgesetzt werden und ob sie die dortigen Gegebenheiten abdecken. Wenn der Katalog der übergeordneten Einheiten nicht spezifisch oder vollständig genug ist, gilt es sie zu ergänzen. Idealerweise stellen die Mitarbeitenden selbst solche Regelungen auf und halten sich daran. Wirklich üblich aber ist dies nicht, sodass die Aufgabe meist kompensatorisch Ihnen als Führungskraft zufällt. Wie immer bedeutet das nicht zwingend, dass Sie die Regeln autoritär zu setzen hätten. Sie müssen lediglich dafür sorgen, dass ein adäquater Regelkatalog erarbeitet wird. Tab. 6.1 gibt einen Überblick über die wesentlichen Regelungsgebiete. Die operative Kontrolle dieser konstitutiven Verhaltensregeln ist dann Teil der Leistungsbeurteilung (Abschn. 8.7).
rechtzeitig einen Kodex als plötzlich » Lieber einen Skandal.
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Anmerkungen I. Ulrich/Smallwood/Sweetman 2008, S. 168; eigene Übersetzung. II. Drucker 2007, S. 141. III. Drucker 1954, S. 121; 1973, S. 430 ff. IV. Vgl. Locke/Latham 1979 und Locke/Latham 2002. V. Mintzberg 2009; S. 175; eigene Übersetzung. VI. Kretschmar 2018. VII. Zur Auftragstaktik vgl. z. B. Berg 1976, S. 76 ff./262 ff.; Widder 2002; Hoffmann 2011, SS. 122 ff. VIII. Sprenger 2008, S. 111. IX. Unbekannte Quelle; oft Marie von Ebner-Eschenbach zugeschrieben, möglicherweise zu Unrecht. X. Drucker 1973, S. 444; eigene Übersetzung. XI. Malik 2000, S. 298. XII. Malik 2000, S. 302. XIII. Csikszentmihalyi 2004, S. 85; eigene Übersetzung. XIV. Vgl. z. B. Nerdinger/Blickle/Schaper 2014, S. 446 ff. XV. Michel Platini, ehemaliger französische Fußball-Nationaltrainer; zitiert nach Sprenger 2008, S. 157. XVI. Klimmer 2012, S. 112/115 ff. XVII. Oft W. Edwards Deming zugeschrieben, möglicherweise zu Unrecht. XVIII. Checkliste 3: Nach Kaehler 2020; dort aus Kaehler 2017, S. 210 f. © Boris Kaehler. XIX. Zitiert nach Isaacson 2012, S. 94; eigene Übersetzung. XX. Eine sehr sinnvolle Empfehlung von Malik 2000, S. 360/359 ff., der dieses Vorgehen treffend die „systematische Müllabfuhr“ nennt. XXI. Fallbeispiel und wörtliche Rede zitiert nach Lambrecht 2014, S. 56. XXII. Tab. 6.1: Nach Kaehler 2020; dort nach Kaehler 2017, S. 358. (© Boris Kaehler).
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Literatur Berg, Wolfhard-Dietrich (1976): „Kooperative Führung – Der Führungsvorgang im militärischen Führungssystem“; Mittler & Sohn 1976. Csikszentmihalyi, Mihaly (2004): „Good Business – Leadership, Flow, and the Making of Meaning“; Penguin 2004. Drucker; Peter F. (1954): „The Practice of Management“; Neuauflage Harper Collins 2006 (Erstauflage 1954). Drucker; Peter F. (1973): „Management – Tasks, Responsibilities, Practices“; Neuauflage Harper Business 1993 (Erstauflage 1973). Drucker, Peter F. (2007): „Was ist Management – Das Beste aus 50 Jahren“; Ullstein Buchverlage; 5. Auflage 2007. Hoffmann, Erwin (2011): „Die Pflicht zu führen – Was Manager vom Militär lernen können“; Gabler 2011. Isaacson, Walter (2012): „The Real Leadership Lessons of Steve Jobs“; Harvard Business Review April 2012; S. 92–102. Kaehler, Boris (2017): „Komplementäre Führung – Ein praxiserprobtes Modell der Personalführung in Organisationen“; 2. Auflage Springer Gabler 2017. Kaehler, Boris (2020): „Komplementäre Führung – Ein praxiserprobtes Modell der Personalführung in Organisationen“; 3. Auflage Springer Gabler 2020. Klimmer, Matthias (2012): „Unternehmensorganisation – Eine kompakte und praxisnahe Einführung“; 3. Auflage NWB 2012. Kretschmar, Theresa (2018): „Ziele nicht zu erreichen, ist kein Makel – Flexible OKRs statt Zielvereinbarungen“; Personalführung 3/2018, S. 42‒47. Lambrecht, Matthias (2014): „Ein Drama in unzähligen Akten“; Handelsblatt 25./26./27. April 2014; S. 50–57. Locke, Edwin A./Latham, Gary P. (1979): „Goal Setting – A Motivational Technique That Works!“; Organizational Dynamics Autumn 1979. Locke, Edwin A./Latham, Gary P. (2002): „Building a Practically Useful Theory of Goal Setting and Task Motivation – A 35-Year Odyssey“; American Psychologist September 2002; S. 705‒717. Malik, Fredmund (2000): „Führen, Leisten, Leben“; Neuauflage Campus 2006 (Erstauflage 2000). Mintzberg, Henry (2009): „Managing“; Berret-Koehler Publishers 2009. Nerdinger, Friedemann W./Blickle, Gerhard/Schaper, Niclas (2014): „Arbeitsund Organisationspsychologie“; 3. Auflage Springer 2014.
138 B. Kaehler
Sprenger, Reinhard K. (2008): „Gut aufgestellt – Fußballstrategien für Manager“; Campus 2008, S. 111. Ulrich, Dave/Smallwood, Norm/Sweetman, Kate (2008): „The Leadership Code – Five Rules to Lead by“; Harvard Business Press 2008. Widder, Werner (2002): „Auftragstaktik and Innere Führung – Trademarks of German Leadership“; Military Review September-October 2002; S. 3‒9.
7 Einstellen, binden, trennen
Um Mitarbeitende führen zu können, müssen sie erst einmal da sein. In den letzten Jahren tun sich viele Organisationen schwer damit, und einer der Gründe dafür ist, dass sie ihre Führungskräfte nicht hinreichend in die Personalbeschaffung einbeziehen. In diesem Kapitel erfahren Sie, welche Stellschrauben es für die wirksame Rekrutierung, Auswahl, Eingliederung und Bindung neuen Personals gibt und welchen Beitrag Führungskräfte dabei leisten. Umgekehrt gibt es immer wieder auch Situationen, in denen man sich von Mitarbeitenden trennt, sei es im Zuge eines Stellenabbaus oder bei Minderleistung und Fehlverhalten. Auch hierbei spielen Sie als Führungskraft eine entscheidende Rolle. Bei der Austrittsbegleitung kann freilich einiges schiefgehen, und für den Fall der Fälle sollten Sie sich damit auskennen.1
1 Da
die Kapitel in der E-Book-Version einzeln abrufbar sind, wiederhole ich den folgenden Hinweis aus dem Vorwort: Dieses Buch beruht auf dem Theoriemodell der Komplementären Führung, das ich für führungskonzeptionell Interessierte in meinem wissenschaftlichen Grundlagenwerk gleichen Titels dargelegt habe (Kaehler 2020). „Führen als Beruf“ soll dieses Wissen für Führungskräfte als Anwenderinnen und Anwender aufbereiten, gut verständlich und streng praxisorientiert. Fast alle Ideen und auch manche Formulierungen, die Sie hier finden, stammen aber aus dem ersten Buch, das lässt sich nicht vermeiden. Aus Gründen der Lesbarkeit – dies ist kein wissenschaftliches Werk – sind dabei nicht alle Selbstzitate explizit als solche gekennzeichnet.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Kaehler, Führen als Beruf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67567-0_7
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7.1 Personalbeschaffung durch Führungskräfte Ist Rekrutieren eine Führungsaufgabe? Viele Führungskräfte und Personalexperten würden dies spontan verneinen. Zu gefestigt ist das zweigeteilte Bild von der Personalabteilung, die Personalmanagement betreibt, und den Führungskräften, die für die Mitarbeiterführung zuständig sind. Nun hatten wir aber bereits festgestellt, dass dieses Zwei-Sphären-Modell nicht funktionieren kann. Es gibt schlichtweg keine Personalführungsaufgaben, die sich von vornherein einem der beiden Akteure zuordnen lassen. Natürlich können sie sich die Aufgaben im Wege der Arbeitsteilung untereinander aufteilen; z. B. mag die Personalabteilung in einem bestimmten Unternehmen für das Schalten von Stellenanzeigen zuständig sein. Rekrutierung ausschließlich als Sache der Personaler ansehen, ist freilich ein schwerer Fehler. Wie alle Führungsaufgaben, so ist auch diese nicht zentralisiert zu bewerkstelligen. Anzeigen zu schalten und auf Bewerbungen zu warten („post and pray“) war immer schon ein naiver und unprofessioneller Weg der Personalgewinnung. Wirksame Rekrutierung erfordert Kontakte zur Zielgruppe, die nur Leute mit gutem Zugang zu ihr wirksam aufbauen und halten können. Das sind i. d. R. eben Fachleute aus dieser Expertengruppe, und sie können auch viel eher beurteilen, um wen es sich zu bemühen lohnt. Organisationen, die ihre Führungskräfte nicht systematisch in die Personalbeschaffung einbeziehen, lassen diesen Hebel ungenutzt und verschenken Arbeitsmarktpotenziale. Und die Dezentralisierungslogik geht sogar noch weiter: Wie alle Führungsaufgaben, so ist auch die Rekrutierung primär Selbstmanagementaufgabe. Ziel muss es sein, dass geeignete Kandidatinnen und Kandidaten von selbst in die Organisation streben. Die Führungskraft fungiert dann auch diesbezüglich nur als kompensatorische Instanz, die hier und da nachhelfen muss. Dabei bedient sie sich u. a. auch der anderen Mitarbeitenden. Die Grundprinzipien der Komplementären Führung
Andere Autoren und Quellen werden aber natürlich nach bestem Wissen und Gewissen korrekt und vollständig zitiert.
7 Einstellen, binden, trennen 141
gelten also auch hier. Hören Sie sich doch einmal um. Wo die Personalbeschaffung auch in engen Arbeitsmärkten wirklich gelingt, sind praktisch immer Kontakte der Führungskräfte, Mitarbeiterempfehlungen oder eigeninitiierte Bewerbungen im Spiel.
alte Erkenntnis: Gute Leute kennen » Eine gute Leute.
7.2 Wirksam rekrutieren Als Führungskraft müssen Sie also dafür sorgen, dass die richtigen Kandidatinnen und Kandidaten zu Ihnen finden, und dabei geht es immer um Wettbewerbsfähigkeit.2 Unter ansonsten gleichen Bedingungen wird von zwei konkurrierenden Versicherungsagenturen diejenige, die Top-Verkäufer für sich gewinnen kann, die andere mittelfristig vom Absatzmarkt verdrängen, wenn jene nur DurchschnittsVerkäufer rekrutiert. Es kann also auch in engen Arbeitsmärkten nicht darum gehen, halbwegs geeignete Leute zu rekrutieren. Keine Bewerber zu haben, ist deshalb viel besser, als gerade noch genug Durchschnittskandidaten zu finden, denn es öffnet immerhin die Augen für die Wettbewerbsproblematik. Das ist für manch einen schwer zu verstehen. „Es können doch nicht alle die besten Mitarbeiter beschäftigen!“ Nein, natürlich nicht. Es können aber auch nicht alle den besten Preis und die besten Produkte bieten. Wer freilich gar keinen Wettbewerbsvorteil hat, wird im Wettbewerb auch nicht bestehen. Beim Thema Personal kommt erschwerend hinzu, dass es eben unsere Mitarbeitenden sind, die die Produkte, Services und Preise machen und damit unsere Konkurrenzfähigkeit garantieren sollen. So zu tun, als ob die Leistungsfähigkeit der Belegschaft keine Rolle spielte, solange nur alle in
2 Nicht
alle Organisationen stehen im freien Wettbewerb – die Grundlogik lässt sich aber auf die meisten übertragen.
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der Lage sind, ihren Job überhaupt zu tun, wäre schlicht naiv. Ihre Organisationseinheit braucht also nicht nur geeignete Mitarbeitende, sondern zwingend solche, die sie im Wettbewerb überleben und gewinnen lassen. Das macht die Sache freilich nicht einfacher: „Gute Mitarbeiter zu finden ist schwer. Hervorragende Mitarbeiter zu finden ist eine Kunst“ (Jack WelchI).
brauchen konkurrenzfähige Mit» Sie arbeitende. Personalbeschaffung ist ein klassisches Feld der Personalwirtschaft und wir HR-Experten haben uns im Laufe der Jahre von den „echten“ Marketing- und Vertriebsleuten eine Reihe von Methoden abgeschaut, die uns dabei helfen. In beiden Fällen geht es ja um Wettbewerb, einmal auf dem Absatzmarkt und einmal auf dem Arbeitsmarkt. Es handelt sich zwar nur um eine Analogie, denn das „Verkaufen“ von Jobs ist deutlich anders gelagert als der Absatz von Produkten. Viele Marketingtechniken sind aber auch hier wirksam, und Führungskräfte müssen sie kennen, um wirksam rekrutieren zu können. Das geht mit der Zielgruppendefinition los. Befragen Sie doch einmal diejenigen, die angeblich unter Fachkräftemangel leiden, und Sie werden feststellen, dass sie fast immer in sehr beschränkten, stark umkämpften Arbeitsmarktsegmenten fischen. Der erste Schritt besteht also darin, alternative Zielgruppen zu definieren und zu erschließen (Tab. 7.1). Dies müssen Zielgruppen sein, in denen Sie mit Ihren spezifischen Angeboten besonders wettbewerbsfähig sind, also bessere Angebote als andere Arbeitgeber machen können. Jede Zielgruppe bringt spezifische Probleme mit sich. Genau darin liegt freilich der Hebel, denn wer mit diesen Problemen – oder besser „Besonderheiten“ – umzugehen versteht, ist automatisch in einer guten Marktposition. Wer also z. B. unter den jungen, ausgebildeten Männern seiner Region und Branche keine idealen Einstellungsinteressenten findet, ist gut beraten, in andere Zielgruppen auszuweichen. Wie aber gewinnt man sie? Natürlich
7 Einstellen, binden, trennen 143 Tab. 7.1 Alternative Bewerberzielgruppen. (© Boris Kaehler 2019. All Rights Reserved.)II
Quereinsteiger
Besonderer Hintergrund
Zielgruppe
Probleme/Wettbewerbshebel
Quereinsteiger aus anderen Branchen
Fehlendes Branchenwissen; Kulturunterschiede; spezifische Ansprache
Quereinsteiger aus anderen Funktionen bzw. Berufen
Fehlende Formalqualifikation oder Spezialkompetenz; spezifische Ansprache
Andere Lebenslagen (z. B. Eltern, Straftäter)
z. B. Notwendigkeit von familienfreundlichen Arbeitsbedingungen oder Resozialisierungshilfen; spezifische Ansprache
Andere EntwicklungsQualifikationsbedarfe; stufen (z. B. Ungelernte, ggf. GehaltsvorAzubis, Meister, stellungen; spezifische Absolventen) Ansprache
Überregionale
Andere Alters-, Bevölkerungs- oder Geschlechtsgruppen
Alters-, gruppen- oder geschlechtsspezifische Bedürfnisse; spezifische Ansprache
Kandidaten in anderen Ländern und Regionen
Sprachdefizite, Kulturunterschiede, soziale Integration; spezifische Ansprache
nicht anders als die angestammten Zielgruppen, also mit zielgruppengerechten Angeboten.
Arbeitsmarkt folgt Marktmechanis» Der men. Dabei hilft die Idee des sog. „Marketing-Mix“, also der Optimierung des Angebots unter den vier Aspekten der Tätigkeits-, Entgelt-,
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Abb. 7.1 Personalmarketing-Mix. (© Boris Kaehler 2019. All Rights Reserved.)III
Distributions- und Kommunikationsgestaltung (Abb. 7.1). Marketing ist eben nicht gleich Werbung. Wer z. B. junge Eltern von einer Stelle überzeugen möchte, muss sie über die richtigen Kanäle und in der richtigen Tonlage ansprechen, sollte aber auch familienfreundliche Arbeitsbedingungen und zielgruppengerechte Vergütungselemente anbieten. Der Marketing-Mix lässt sich als Führungsinstrument verstehen, als formalisiertes Werkzeug dauerhafter Art (Abschn. 14.5). An dieser Stelle kann nicht weiter auf die Feinheiten der Arbeit damit eingegangen werden. Es versteht sich aber von selbst, dass zielgruppengerechte Angebote nicht vom Himmel fallen, sondern das Ergebnis einer kreativen und durchaus arbeitsreichen Konzeptionstätigkeit sind. Ohne Aufwand lässt sich – in der Personalführung wie im Leben – nun einmal auch nichts bewegen. Wenn Ihnen die Weite des Lösungsfeldes aber erst einmal bewusst ist, werden Sie zweifellos ganz von
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selbst auf gute Angebotspakete kommen. Dabei dürfen Sie nur nicht vergessen, dass Sie sich um die besten Kandidatinnen und Kandidaten bemühen.
akzeptieren keine Durch» Top-Leute schnitts-Angebote. Die Zielgruppenidee war ja nicht, irgendwelche Leute aus einer bestimmten Bevölkerungsgruppe zu gewinnen, sondern (potenzielle) Spitzenmitarbeiter in einem weniger umkämpften Arbeitsmarktsegment. Für diese Top-Kandidaten, und idealerweise nur für sie, sollen die Angebote attraktiv sein. Hohe Grundgehälter und Wohlfühlatmosphäre können hier helfen, aber durchaus auch kontraproduktiv sein, nämlich falls Ihre eigentlichen Wunschkandidaten sportliche Leistungsanforderungen und leistungsorientierte Verdienstchancen bevorzugen sollten. Dies einzuschätzen, ist ebenfalls Teil der Führungsaufgabe Rekrutierung.
7.3 Bindung von A bis Z Auf einen Aspekt des Marketing-Mix sollten wir nun doch unbedingt noch einmal genauer eingehen, denn er ist von besonderer Bedeutung und schlägt zudem die Brücke zur Führungsaufgabe der Bindung. Es ist der Distributionsweg über Kandidatenpools. Natürlich kann man auch den Weg über Vermittler wählen (z. B. Headhunter, Arbeitsagentur) oder Direktvermarktung betreiben (z. B. mit Anzeigen). Viel effektiver ist es aber, Kandidatinnen und Kandidaten, die für eine spätere Einstellung in Frage kommen, systematisch zu binden. Solche Kandidatenpools können sich aus unterschiedlichen Quellen speisen. In Frage kommen z. B. Initiativbewerbungen und abgesagte Bewerber oder, speziell auf dem internen Arbeitsmarkt, bekanntermaßen wechselwillige bzw. abkömmliche Mitarbeitende anderer Einheiten. Einen
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besonders effektiven Kandidatenpool bilden die Teilnehmer von Praktikanten-, Trainee- und sonstigen Entwicklungsprogrammen – eben dafür hat man sie ja. Zwar stehen die Absolventen eines solchen Programms nur für eine gewisse Zeit als Einstellungskandidaten zur Verfügung. Das macht aber nichts. Wer jedes Jahr eine neue, angemessen große Kohorte startet, baut Schritt für Schritt in alle Zukunft vor. Wirksamer geht es nicht! Die duale Berufsausbildung als prototypisches Programm dieser Art ist nicht umsonst ein so erfolgreiches Modell. Ganz nebenbei ergeben sich außerdem zwei Effekte, die Kandidatenpools wirklich zum Königsweg der Mitarbeitergewinnung machen. Zum einen ist keine treffsicherere Eignungsdiagnostik möglich, als jemanden über längere Zeit tätigkeitsnah einzusetzen. Kein Test, kein Interview erreicht die eignungsdiagnostische Güte einer solchen Langzeitarbeitsprobe. Zum anderen ist gutes Bindungsmanagement gleichbedeutend damit, die Kandidaten vom Arbeitsmarkt abzuschirmen und fernzuhalten. Kaum ein Azubi oder Werkstudent, dem rechtzeitig der richtige Job angeboten wird, informiert sich auch nur über andere Arbeitgeber. „Beziehungsmarketing“ nennen das die Marketingexperten. Daraus folgt: Wer auf dem offenen Arbeitsmarkt rekrutiert, rekrutiert systematisch in der Restmenge ungebundener Kandidaten. Wer sich dann noch über den schlimmen Fachkräftemangel beschwert, zeigt eigentlich nur, dass er die Regeln des Spiels, das er verliert, nicht verstanden hat: „Ein Unternehmen, das eine Suchanzeige aufgeben muss, hat den Wettlauf um die Besten schon verloren“ (Reinhard K. SprengerIV).
sind der Königsweg der » Kandidatenpools Rekrutierung. Bindung beginnt also schon in der Rekrutierungsphase. Sie endet aber nicht dort. Viele Arbeitgeber machen in den letzten zwei Jahrzehnten die Erfahrung, dass unterschriebene Arbeitsverträge keine Garantie mehr dafür sind, dass die Kandidatinnen und Kandidaten
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ihren Job auch wirklich antreten. Entsprechend muss die gesamte Anbahnungsphase durch systematische Bindungsmaßnahmen begleitet werden. Hier ein freundlicher Brief mit ein paar Neujahrsgrüßen, Vorbereitungsmaterialien und Werbegeschenken, dort eine Einladung zum Abteilungsfest oder informellen Kennenlernen, und die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass jemand noch abspringt. Und natürlich geht die Bindungsaufgabe weiter. Egal ob in der Einarbeitung, auf dem Leistungsplateau, während krisenhafter Berufsabschnitte oder in Rentennähe: Wer nicht gebunden wird, ist weg. Dabei geht es wiederum nicht darum, alle und jeden zu binden. Sie rekrutieren nur wettbewerbsfähige Leute, also sollten Sie auch nur wettbewerbsfähige aktiv halten. Einmal mehr handelt es sich um eine Selbstmanagementaufgabe. Wer auf seinem Posten falsch ist, merkt dies mitunter selbst und geht. Wer seinen Job gut und erfolgreich macht, bindet sich in der Regel selbst. Ihre komplementären Führungsaktivitäten sollten diese Selbstbindung unterstützen und Bindungsdefizite – z. B. wenn ein Konkurrenzangebot in Versuchung führt – durch geeignete Maßnahmen kompensieren. Letztlich geht es dabei immer um die Frage, ob der gebotene Marketing-Mix zum jeweiligen Zeitpunkt den Bedürfnissen des Einzelnen entspricht. Dumm nur, dass gerade unsere Spitzenkräfte auch andere Optionen haben: „Ihre besten Mitarbeiter haben das Talent und die Möglichkeit, Ihr Unternehmen zu verlassen und anderswo Arbeit zu finden. Sie sollten sie führen wie Freiwillige“ (Jack Lowe JuniorV). Sie müssen daher aufpassen, dass Sie Ihnen genug Zeit widmen und sich nicht zu sehr auf Problemfälle konzentrieren. Bindung ist eben auch eine Führungsaufgabe und nicht anders als z. B. bei Qualifikationsdefiziten müssen Sie auch hier ggf. kompensierend eingreifen.
» Bindung ist eine Daueraufgabe. Verlässt jemand, den wir eigentlich halten wollten, den Betrieb, geht die Bindung trotzdem weiter und der Kreis schließt sich. Ehemalige
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sind nämlich einer der besten Kandidatenpools überhaupt. Wer am eigenen Leib erfahren hat, dass bei anderen Arbeitgebern auch nicht alles rundläuft, kommt bescheidener wieder und bringt außerdem wertvolle Erfahrungen mit. Es verbietet sich also, Mitarbeitende, die das Haus verlassen, als untreue Dissidenten zu behandeln. Sie sind vielmehr Teil eines potenziellen Alumninetzwerkes und Kandidatenpools und zeigen uns mit ihrem Abgang Schwächen unseres Marketing-Mix auf. Gelingt die Wiedereinstellung, müssten wir dem Wettbewerber eigentlich für die kostenlose Personalentwicklungsmaßnahme und offenbarten Geschäftsgeheimnisse danken. Nur, leider: Aus seiner Perspektive geht der Dank an uns, nämlich für die vorherige Station unter umgekehrten Vorzeichen. Grund genug also, die Bindungsaufgabe ernst zu nehmen.
7.4 Personalauswahl und Onboarding Eignungsdiagnostik – nichts anderes betreiben Sie bei der Personalauswahl – ist ein komplexes Fachthema. Es gibt unzählige Verfahren, die unterschiedlichen Gütekriterien gerecht werden müssen, und stapelweise Forschung dazu. Ob Interview, Zeugnisanalyse oder Persönlichkeitstest, überall sind diverse Feinheiten und Bedingungen zu beachten. Am Beispiel des Assessment Center-Verfahrens, von der Wissenschaft jahrzehntelang als besonders valide Methode empfohlen und später deutlich zurückgestuft, zeigt sich, wie wackelig manche Forschungsergebnisse sind. Gleiches gilt für die angebliche Überlegenheit vollstrukturierter Interviews, die nicht der Erfahrung der meisten Praktikerinnen und Praktiker entspricht. HR-Spezialisten sollten sich damit auskennen und Ihnen als Führungskraft brauchbare Auswahlverfahren zur Verfügung stellen. Leider steht es hierum in der Realität nicht besser als um die anderen Personalinstrumente: Vieles, was praktiziert wird, ist de facto dysfunktional. Ich möchte Ihnen hier zumindest ein paar grundlegende Prinzipien an die Hand geben. Zuallererst wäre zu klären, was Sie überhaupt tun, wenn Sie über einen Einstellungskandidaten befinden, welchem Ziel die ganze Übung also dient. Mit ein bisschen Nachdenken kommt man vermutlich selbst darauf: Es geht um eine Prognoseentscheidung über
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künftigen Berufserfolg. Diese Voraussage ist nie perfekt, kann aber die Wahrscheinlichkeit, dass der oder die Falsche eingestellt wird, sehr verringern. Selbstverständlich gibt es dabei nicht den universell richtigen Kandidaten. Immer muss zunächst das Anforderungsprofil erhoben und bedacht werden, und zwar das zukünftige, nicht das der Vergangenheit. Die Güte der Entscheidung wird nicht automatisch besser, wenn mehr Verfahren eingesetzt werden. Entscheidend ist vielmehr, welche Güte die Einzelverfahren haben und ob es gelingt, eine Auswahlkaskade aufzubauen, die die Zahl der Kandidaten auf jeder Stufe des Auswahlprozesses verringert und gleichzeitig den Anteil der Geeigneten erhöht. So gesehen stellt sich schon die Rekrutierungsphase als Personalauswahl dar. Wer es versteht, gezielt geeignete Kandidaten anzusprechen, muss anschließend weniger Eignungsdiagnostik auffahren; wer im Gegenteil fast jeden anspricht, muss großen Aufwand treiben, um die wenigen Geeigneten herauszufiltern. Letzteres ist der typische Effekt einer Arbeitsteilung, bei der reine Rekrutierungsspezialisten zunächst einmal möglichst viele Bewerber generieren. Dies trägt mitunter durchaus Züge von Selbstbeschäftigung, denn als Linienführungskraft würden Sie viele davon schon im Erstkontakt wegschicken (vorzugsweise zur Konkurrenz), und man könnte sich die teuren Auswahlverfahren sparen. Letzten Endes müssen Sie selbst beurteilen, wie hilfreich die Instrumente Ihnen bei der Aufgabe der Auswahl sind. Aber bitte vergessen Sie nicht: Geeignet sind nur die Besten. Glauben Sie wirklich, dass Top-Kandidaten, denen anderswo der rote Teppich ausgerollt wird, bei Ihnen willig erniedrigende Gruppenübungen und Selbstentblößungstests über sich ergehen lassen? Das Motto „Wer das nicht mitmacht, will gar nicht wirklich zu uns“, war schon immer einer der dümmsten Personalsprüche überhaupt. Gute Kandidatinnen und Kandidaten sind erstens meist gebunden, zweitens sehr gesucht und drittens fast immer ziemlich beschäftigt. Schauen Sie sich diejenigen, die den Online-Workflow abbrechen oder die Einladung zum Auswahlworkshop ablehnen, doch mal genauer an. Wenn es schlecht läuft, haben Sie sich eine negative Auswahlkaskade gebaut, die nicht den Anteil der Höchstleister, sondern den der Unbedachten oder Verzweifelten maximiert.
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Sie keine dysfunktionale Aus» Konstruieren wahlkaskade. Was auch immer Sie für Personalauswahlinstrumente nutzen, um ein teilstrukturiertes Interview kommen Sie selten herum. Ich halte das für gut, denn die wissenschaftliche Befundlage, wonach vollstrukturierte Auswahlinterviews valider sind, hat mich nie überzeugt.3 Als Praktiker mit Erfahrung aus etwa tausend Bewerbergesprächen weiß ich zum einem um das große diagnostische Potenzial teilstrukturierter Interviews, zum anderen aber auch um die höhere Wertschätzung, die sie den Kandidatinnen und Kandidaten vermitteln. Um effektive und effiziente Interviews zu führen, muss man fragliche Punkte vertiefen können, was dem Prinzip der Standardisierung widerspricht. In Checkliste 4 gebe ich Ihnen einige Praxistipps. Checkliste 4: Empfehlungen für teilstrukturierte Auswahlinterviews. (© Boris Kaehler 2019. All Rights Reserved.) • Zu zweit interviewen: Führen Sie Bewerbungsgespräche immer mit einem zweiten Interviewer, vorzugsweise einem Personaler. Einigen Sie sich vor dem Gespräch auf Ihre Rollen (wer fragt was?). Die beiden Interviewer sollten sich nicht gegenseitig in ihrem Rhythmus stören und ihr jeweiliges Vorgehen nicht vor dem Bewerber in Frage stellen. • Anforderungsprofil als Basis: Erstellen Sie – ein generelles eignungsdiagnostisches Prinzip – vorab ein schriftliches Anforderungsprofil über die fachlichen, methodischen, selbstbezogenen und sozialen Erfordernisse der Stelle und ergänzen Sie es (wo notwendig) durch mündliche Anforderungen. • Dokumentencheck vorab: Analysieren Sie sorgfältig die Bewerbungsunterlagen, sie ergeben meist einen wichtigen ersten Eindruck über die Qualifikation. • Eröffnung: Schaffen Sie eine so natürliche und angenehme Interviewsituation wie möglich (Gesprächsführung, Atmosphäre, Getränke etc.) und nehmen Sie sich Zeit für ein wenig Smalltalk zum Warmwerden.
3 Ich bin der Meinung, dass die entsprechenden Untersuchungen wesentliche Aspekte unberücksichtigt lassen und damit Messfehler generieren.
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• Hauptteil (beurteilungsrelevante Information): Gehen Sie nach und nach den Werdegang des Kandidaten und das Anforderungsprofil durch. Fragen Sie, statt zu monologisieren, und stellen Sie keine Ja/ Nein-Fragen (das Ziel besteht darin, Redeströme des Bewerbers zu generieren). Konzentrieren Sie sich aus Effizienzgründen auf die fraglichen Aspekte. Gehen Sie hypothesengeleitet vor: Nehmen Sie die vorliegende Information und stellen Sie Fragen, um die daraus folgenden Hypothesen zu bestätigen oder zu falsifizieren (dies erfordert die Fähigkeit, erste Eindrücke wieder zu verwerfen). • Formalteil (vertragsrelevante Informationen): Fragen Sie ab, wann der Bewerber anfangen könnte (Kündigungsfrist), welches Gehalt inkl. Nebenleistungen er erwartet, ob er den Wohnort wechseln wird etc. • Informationsteil: Informieren Sie über die Stelle und Ihr Unternehmen (dieser Teil kann bei offensichtlich ungeeigneten Kandidaten entfallen bzw. gekürzt werden). Ermutigen Sie die Selbstselektion ungeeigneter Bewerber durch realistische Schilderung der realen Anforderungen. Nutzen Sie diesen Gesprächsteil, um bei guten Bewerbern für sich zu werben, indem Sie die Vorteile des Jobs herausstellen (TopKandidatinnen und -kandidaten haben immer mehrere Optionen). • Gesprächsabschluss: Informieren Sie über den weiteren Ablauf und geben Sie Ihrem Gegenüber ein gutes Gefühl mit. • Entscheidung: Wählen Sie bewusst den Fehlertyp, den Sie minimieren möchten: a) keinen ungeeigneten Kandidaten einstellen oder b) keinen geeigneten Kandidaten zurückweisen (meine Empfehlung lautet a). Beurteilen Sie nach dem Interview dessen prognostische Qualität. Zweifeln Sie an dieser, sollten Sie gegen den Bewerber entscheiden oder ein weiteres Interview ansetzen (statt auf der Basis unzureichender Information zu entscheiden). Stellen Sie verschiedene Informationsquellen bewusst nebeneinander, z. B. a) Bewerbungsunterlagen, b) Auftreten, c) Interviewverhalten, d) Antwortinhalte, e) Sympathie/Antipathie (die Kunden und Kollegen nicht selten teilen), f) Intuition (die sich schulen lässt und dann ein gutes Gegengewicht zur rationalen Analyse darstellt).
Wie alle anderen Führungsaufgaben ist auch die Personalauswahl letztlich eine Selbstführungsaufgabe. Selbstselektion ist ein entscheidender Schlüssel und muss – im Positiven wie im Negativen – integraler Bestandteil von Auswahlkonzepten sein. Wie wir gesehen haben, zeigen sich große Überschneidungen mit dem Thema Bindung: Die Falschen sollen abspringen und die Richtigen dabeibleiben. Wenn immer die besten Kandidaten den Auswahlprozess abbrechen, ist dies auch eine
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Form der Personalauswahl, nur leider keine gute. Wenn mühsam entwickelte Azubis sich wegbewerben, weil der Anschlussvertrag nicht rechtzeitig vorliegt, ist dies Negativauswahl par excellence (wer erhält denn am schnellsten anderweitige Angebote?). Kommt es zu einer Einstellung, ist die Auswahlphase noch nicht vorbei. Die Probezeit ist eines der validesten Auswahlverfahren überhaupt, und beide Seiten entscheiden darüber, ob es sich lohnt, miteinander weiterzumachen. Als Führungskraft sollten Sie diese Phase nutzen. Wer in den ersten fünf Monaten4 nicht zur vollen Leistung findet, wird dies mit großer Wahrscheinlichkeit auch später nicht schaffen. Voraussetzung ist freilich eine angemessene Eingliederung (engl. „onboarding“), damit Neuzugänge überhaupt eine Chance haben, zu zeigen, was sie können. Praxistipps dafür finden Sie in Checkliste 5.
» Nutzen Sie die Probezeit, dafür gibt es sie. Checkliste 5: Empfehlungen für die Eingliederung neuer Mitarbeitender. (© Boris Kaehler 2019. All Rights Reserved.)VI • Verträge als Medium nutzen: Verwenden Sie attraktiv gestaltete, verständlich und wertschätzend formulierte Arbeitsverträge. • Abspringen verhindern: Überlegen Sie sich Bindungsmaßnahmen zwischen Vertragsabschluss und Arbeitsantritt (z. B. Informationsmaterialien, Werbegeschenke, Einladung zu Firmenveranstaltungen, Kontakt in sozialen Netzwerken). • Willkommen heißen: Schnüren Sie ein Begrüßungspaket (Blumenstrauß, Einführungsbroschüre etc.). • Laufzettel: Nutzen Sie einen „Laufzettel“ mit allen erforderlichen Schritten (z. B. EDV-Anmeldungen). • Einarbeitungsplan: Erstellen Sie einen Einarbeitungsplan inkl. Terminierung von Kennenlerngesprächen mit allen für die Tätigkeit wichtigen Schlüsselpersonen.
4 Der Kündigungsschutz greift nach 6 Monaten, aber vor einer Probezeitkündigung sind in der Regel Abstimmungsprozesse zu durchlaufen, insb. die gesetzlich vorgeschriebene Betriebsrats-/ Personalratsanhörung.
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• Arbeitsfähigkeit sicherstellen: Es sollte ein fertig ausgestatteter und funktionstüchtiger Arbeitsplatz bereitstehen und ggf. eine Einweisung in komplizierte Geräte o. Ä. erfolgen. • Gruppenveranstaltung: Eine Einführungsveranstaltung für alle in einem bestimmten Zeitraum eingetretenen Mitarbeitenden ist hilfreich. • Pate oder Mentor: Benennen Sie einen gleich- oder höherrangigen Paten/Mentor (nicht die eigene Führungskraft). • Nicht überladen: Schonen Sie den Neueinsteiger bewusst bei der Arbeitszuteilung. Berge aufgestauter Arbeit zur Begrüßung verbieten sich. • Systematische Rückmeldungen: Nutzen Sie die ersten Monate für regelmäßiges, beidseitiges, informelles Feedback. Führen Sie ein formalisiertes Feedback als „100-Tage-Gespräch“ und ein Probezeitende-Gespräch. • Personalauswahl: Die Probezeit ist ein Auswahlinstrument. Wenn es trotz optimaler Einarbeitungsbedingungen Schwierigkeiten gibt, ziehen Sie konsequent die Notbremse (Absch. 7.6).
7.5 Personalabbau Eigentlich ist die Sache klar: In guten Zeiten wird Personal aufgebaut, in schlechten müssen diese Kapazitäten wieder reduziert werden. Keine wirtschaftlich geführte Organisation wird dauerhaft Leute beschäftigen, die gar nicht gebraucht werden. Ganz so einfach ist es aber doch nicht. Das liegt zum einen daran, dass größere Unternehmen eine besondere Verantwortung gegenüber ihren Angestellten haben, was sich nicht nur in arbeitsrechtlichen Beschränkungen, sondern auch in gesellschaftlichen Sensibilitäten niederschlägt. Zum anderen geht es beim Personalabbau oft gar nicht um Kapazitäten, sondern um Kosten. Das ist zwar ein Fehler, denn beides sollte besser unabhängig voneinander optimiert werden. Tatsächlich handelt es sich aber um eine sehr typische Konstellation. In jedem Falle müssen Sie als Führungskraft in der Lage sein, sowohl mit den sozialen Aspekten als auch mit den Kostenaspekten umzugehen. Sehr wahrscheinlich kommt früher oder später auch auf Ihre Organisationseinheit einmal ein Personalabbau zu, und Sie sind dann verantwortlich dafür, dass er richtig umgesetzt wird.
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Beim ersten Punkt, der sozialen Verantwortung, ergeben sich wieder einmal schöne Übereinstimmungen zwischen deutschem Arbeitsrecht und nachhaltigem Wirtschaften. Arbeitgebern steht es grundsätzlich frei, ihre Strukturen zu ändern und die vorhandenen Stellen auf das erforderliche Maß zu reduzieren. Sie können ihre Mitarbeitenden aber nicht nach Belieben vor die Tür setzen, sondern müssen deren schutzwürdige Belange berücksichtigen. Wer schon einmal über Leistungsbedingungen produktiver Arbeit, das Wesen von Arbeitsmärkten oder gesellschaftliche Akzeptanz unternehmerischer Tätigkeit nachgedacht hat, kommt wohl zum gleichen Ergebnis: Kündigungen sind die „Ultima Ratio“, das allerletzte Mittel. Der Gesetzgeber erschwert dieses Mittel für Betriebe mit mehr als 10 Arbeitnehmern durch die in § 1 Abs. 3 KSchG vorgesehene Pflicht zur Sozialauswahl. Demnach sind bei der Auswahl der zu Kündigenden die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter, die Unterhaltspflichten und eine Schwerbehinderung zu berücksichtigen. Nach § 111 BetrVG sind Betriebsänderungen, die wesentliche Nachteile für die Belegschaft haben können, rechtzeitig und umfassend mit dem Betriebsrat abzustimmen. Im Ergebnis werden dann i. d. R. ein „Interessenausgleich“ und ein „Sozialplan“ nach §§ 112 f. BetrVG geschlossen. Solchermaßen kommt auf Arbeitnehmerseite kollektive Verhandlungsmacht ins Spiel, die sich üblicherweise in zusätzlichen Trennungserschwernissen und höheren Abfindungspaketen niederschlägt. Daneben gibt es diverse andere Vorschriften, u. a. die Anzeigepflicht bei Massenentlassungen. Betriebsbedingte Kündigungen umzusetzen, ist also ein steiniger Weg. Es gibt Situationen, in denen es unvermeidlich ist. Bis dahin sollte man aber alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft haben. Ein Vertreter von BMW gab vor längerer Zeit einmal zu Protokoll, der Konzern würde selbst einen schweren Absatzeinbruch von 30 % über einen Zeitraum von vier Jahren ohne Entlassungen von fest angestellten Mitarbeitern überstehen.VII Genau so sollte mit dem Thema umgegangen werden.
» Kündigungen als letztes Mittel.
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Wie also lässt sich ein Personalabbau ohne betriebsbedingte Kündigungen bewerkstelligen? Es gibt hier im Wesentlichen drei Maßnahmenkategorien: Arbeitszeitreduzierungen, Abbau von Randbelegschaften und einvernehmliche Trennungen. Der Klassiker der Arbeitszeitreduzierung ist der Abbau von Zeitguthaben (Überstunden, Urlaub), die freilich zuvor richtig verbucht worden sein müssen, um als vorübergehende Kapazitätsreduktion kostenwirksam zu sein. Auch Vorruhestands- und Altersteilzeitregelungen werden von manchen gern angenommen und reduzieren den Druck auf jüngere Belegschaftsteile. Daneben kommen vorübergehende oder dauerhafte Teilzeitregelungen oder längere Auszeiten in Form von Sabbaticals und Elternzeiten in Betracht. Erfahrungsgemäß interessieren sich längst nicht alle, aber doch viele Arbeitnehmer aus Balancegründen für solche Reduzierungen und sind in den meisten Fällen bereit, sich dabei auch nach den Bedürfnissen des Arbeitgebers zu richten. Derartiges zentral zu administrieren, ist fast aussichtslos. Als Führungskraft, die regelmäßig mit ihren Mitarbeitenden spricht, wird es Ihnen aber nicht schwerfallen, solche Szenarien auszuhandeln. So könnten Sie z. B. locker vereinbaren, dass eine bestimmte Person irgendwann mit sechs Monaten Vorankündigung ein Jahr unbezahlten Urlaub bekommt, spätestens aber in fünf Jahren. Sollte in dieser Zeit kein Personalabbau notwendig sein, muss man ihn oder sie eben trotzdem ziehen lassen, was kein unlösbares Problem darstellt. Schriftlich regeln lässt sich das kaum, aber wenn Sie mit mehreren Personen solche Absprachen haben, müsste es mit dem Teufel zugehen, wenn im Falle eines Falles nicht wenigstens ein bis zwei davon auch Gebrauch machen. Eleganter lassen sich die Interessen beider Seiten nicht verbinden.
Zeitwirtschaft kann eine Win -win» Flexible Lösung sein. Der Abbau von Randbelegschaften betrifft insbesondere Zeitarbeitskräfte und befristet Beschäftigte. Durch Kündigung des Überlassungs-
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vertrages bzw. Nichtverlängerung des Vertrages lassen sie sich nicht nur deutlich einfacher freisetzen als dauerhaft Beschäftigte, sondern auch sozialverträglicher, denn die unsichere Vertragskonstellation war ihnen von vornherein bewusst. Ähnlich lässt sich mit Kräften von Outsourcing-Dienstleistern aller Art verfahren, die zwar rein rechtlich keine Betriebsangehörigen sind, oft genug aber faktisch in ähnlicher Weise präsent und kostenwirksam.5 Ein wichtiger Nebenaspekt besteht hier darin, dass die mühsam aufgebaute Kernbelegschaft und ihr Know-how erhalten bleiben. Das bedeutet: Sie müssen in guten Zeiten eine Randbelegschaft aufbauen. Auch die kleinste Einheit braucht einen Werkstudenten, Probezeitler oder Zeitarbeiter, der das Team unterstützt und als Flexibilisierungsreserve dient. Zudem lassen sich Kohorten bilden: Wer einsteigt, ist eine Weile ungeschützt, wird aber bei Bewährung irgendwann in ein festes Angestelltenverhältnis übernommen. Sofern Sie dabei ordentliche Konditionen bieten, wird sich niemand beschweren.
» Jedes Team braucht eine Randbelegschaft. Was Trennungen im gegenseitigen Einvernehmen angeht, so liegt die wesentliche Möglichkeit im Abschluss von Aufhebungsverträgen gegen Abfindung. Hier sollte man allerdings nicht dem Beispiel vieler Großunternehmen folgen, sog. „Sprinterprämien“ für Freiwillige auszuloben, die bis zu einem sehr kurzfristigen Stichtag ausscheiden. Dies deshalb, weil es regelmäßig nur Mitarbeitende tun, die bereits andere Angebote haben oder sie schnell generieren können. Mit anderen Worten: Es gehen die Besten, Sie senken das Leistungspotenzial Ihrer Einheit, und das kostet auch noch viel Geld. Das spiegelbildliche Idealvorgehen besteht darin, zunächst einmal durch konsequente Ansprache von Minderleistung dafür zu sorgen, dass diejenigen gehen, die die Ein-
5 Allerdings handelt es sich buchhalterisch um Sach- und nicht um Personalkosten, wir kommen gleich darauf zurück.
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heit nicht voranbringen. Gewerkschaften und Betriebsräte reagieren zu Recht allergisch darauf, wenn solche Einzelfalltrennungen für einen kollektiven Personalabbau missbraucht werden. Wo Minderleistungsansprache aber zum Alltag gehört, sind meist auch immer einige Mitarbeitende auf dem Weg zur Trennung, und diesen ein besonders gutes Angebot zu machen, ist zweifellos besser, als das gleiche Geld in Mitnahmeeffekte bei Leistungsträgern zu investieren. Erfahrungsgemäß sind manche Mitarbeitenden sehr froh, wenn sie durch großzügige Konditionen in die Lage versetzt werden, anderswo ganz neu anzufangen. Eine weitere Möglichkeit, die Trennungsbereitschaft zu erhöhen, ist die Gründung einer Transfergesellschaft nach § 111 SGB III, denn diese bietet immerhin eine befristete Weiterbeschäftigung. Sehr hilfreich ist erfahrungsgemäß auch das Angebot eines sog. Outplacements. Dabei handelt es sich um eine Beratungsleistung spezialisierter Dienstleister, die die individuelle Unterstützung bei der psychischen Verarbeitung, Zielfindung, Marktanalyse, Bewerbung und beruflichen Neuorientierung beinhaltet.
» Aufhebungsverträge, aber richtig. Wo diese drei Kategorien von Abbaumaßnahmen – Zeitflexibilität, Randbelegschaften und Aufhebung – systematisch genutzt werden, lassen sich Entlassungen in Form von betriebsbedingten Arbeitgeberkündigungen in aller Regel vermeiden. Und wenn sie sich auf Grund der Schwere der Lage nicht vermeiden lassen, sind sie zumindest ein Beleg für redliches Bemühen. Dieses wiederum erleichtert sowohl die Innen- und Außenkommunikation deutlich und verbessert die Rechtssicherheit im Hinblick auf die auszusprechenden Kündigungen. Der zweite problematische Punkt beim Personalabbau, der die Reduzierung der Kapazitäten in Diskussionen und Konzepten leider oft überlagert, ist das Thema Kosten. Es gibt Gegenbeispiele, wie den unerwarteten Verzicht vieler deutscher Unternehmen auf Massenentlassungen während der Wirtschaftskrise 2008–2010, wo teils
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dramatische Kosteneffekte hingenommen wurden, um bei Wiederanspringen der Konjunktur keine Personalengpässe zu erleiden. Organisationen haben also durchaus die Möglichkeit, vorübergehend oder dauerhaft eine Überbesetzung bei entsprechend erhöhten Kosten zu tolerieren. In aller Regel wird bei Kostenproblemen aber reflexartig der Ruf nach Personalabbau laut. Dies ist freilich eine Scheinlösung, denn erstens sind Personalkosten nur ein Posten unter vielen und zum anderen sind sie ein träges Element. Alles in der Personalführung braucht zeitlichen Vorlauf, und bis die intendierten Kosteneinsparungen greifen, hat sich die Situation oft längst gedreht und die fehlenden Kapazitäten müssen teuer wieder aufgebaut werden. Oft genug sind durch Personalabbau auch gar keine sinnvollen Kosteneffekte zu erzielen, weil Berater, Durchführung, Abfindungen und Rechtskosten jedenfalls kurzfristig mehr kosten, als durch Wegfall von Gehältern eingespart wird. Gar nicht so selten sind zudem auch Fälle, in denen leichtfertig beauftragte Unternehmensberateranalysen so teuer sind, dass Personal einzig und allein deshalb abgebaut werden muss, um dieses Geld wieder hereinzuholen. Mikropolitisch findige Führungskräfte wissen zudem, dass Zeitarbeitskräfte, Werkverträge und Beratungsleistungen keine Personalkosten, sondern Sachkosten darstellen, und decken ihre Kapazitätsbedarfe notfalls einfach nach dem Prinzip „Linke Tasche, rechte Tasche“. Ein so tölpelhafter Umgang mit dem sensiblen Thema spricht sich naturgemäß herum, löst Empörung aus und zerstört ebenjene kooperative Basis, die für eine effektive und effiziente Personalführung erforderlich ist. Im Ergebnis entstehen oft an völlig anderer Stelle Zusatzkosten, z. B. bei Verhandlungen über kollektivrechtliche Vereinbarungen, die nichts mit dem Personalabbau zu tun haben. Richtig angegangen, müssen bei Kostenproblemen sowohl die Kapazitäten als auch die sonstigen Personal- und Sachkosten umfassend auf den Prüfstand gestellt werden. Häufig lassen sich durch Modernisierung und Verschlankung dysfunktionaler Strukturen, z. B. in der Personalentwicklung oder in den Personalabteilungen, mehr Kosten einsparen als durch Abbau von Linienstellen. Wie immer gilt auch hier: nicht gleich losrennen und Berater beauftragen, sondern erst einmal den realen Bedarf prüfen. Selbstverständlich sollten überhöhte Personalkosten einer Organisationseinheit ggf. reduziert werden. Dies
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muss aber mit ruhiger Hand und strategischer Ausrichtung geschehen (Kap. 15) und außerdem rechtzeitig: „Sparmaßnahmen muss man dann ergreifen, wenn man viel Geld verdient. Sobald man in den roten Zahlen ist, ist es zu spät.“VIII
gehen oft nach hinten » Kostenkampagnen los.
7.6 Einzelfalltrennung Auch in Zeiten, in denen eigentlich kein Personal abgebaut werden muss, kommt es hin und wieder zu Einzelfalltrennungen. Systematisch ist auch diese wichtige Führungsaufgabe zunächst wieder eine Selbstführungsaufgabe. Idealerweise erkennen Mitarbeitende selbst, wenn sie fehl am Platz sind, und suchen sich proaktiv etwas anderes. Tun sie es nicht, ist es an der Führungskraft, als komplementärer Akteur diese Erkenntnis zu befördern und Konsequenzen zu ziehen. Zum Leidwesen der Personaler, die ihrerseits die entsprechenden Defizite zu kompensieren haben, versagen viele Führungskräfte hier total. Statt die maßgeblichen Tatbestände systematisch herauszuarbeiten, tolerieren bzw. ignorieren sie die Probleme oft so lange, bis ihnen schließlich der Kragen platzt und die Personalabteilung ohne Vorwarnung aufgefordert wird, dem Mitarbeiter zu kündigen. Bei näherer Betrachtung stellt sich dann regelmäßig heraus, dass nicht nur nie Kritik an seinem Verhalten geübt wurde, sondern dass der Betroffene in jüngster Zeit sogar noch gute Beurteilungen und Gehaltserhöhungen bekommen hat. Das ist aber natürlich weder fair noch arbeitsrechtlich haltbar, es macht die Trennung schwierig und/oder teuer. Vor diesem Hintergrund entsteht dann der Mythos, Problemmitarbeitende würde man ohnehin nicht los, was wiederum dazu führt, dass so lange nichts versucht wird, bis es nicht mehr anders geht – ein Teufelskreis.
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hier sind keine Schnellschüsse » Auch angezeigt. Dabei ist es von größter Bedeutung, Einzelfalltrennungen einerseits fair und transparent, anderseits aber auch entschieden anzugehen: „Wenn wir Manager fragten, was sie bei der Umsetzung von Projekten hätten besser machen sollen, sagten sie unausweichlich, sie hatten mutiger und aggressiver reagieren sollen. Wenn wir nachfragen, was genau sie hätten mutiger tun sollen, betrifft die Antwort fast immer Mitarbeiter und das Entfernen von Mitarbeitern, die nicht in der Lage waren, die erforderliche Arbeit zu tun“ (Dave UlrichIX). Wichtig auch: Es geht keineswegs nur um den Problemmitarbeiter selbst, sondern um die Kulturstandards in der Organisationseinheit: „Nichts demotiviert Leistungsträger mehr, als wenn schwache Leistungen von Führungskräften oder Mitarbeitern dauerhaft ohne Konsequenzen bleiben“ (Karl-Heinz StrohX). Nicht immer obliegen Ihnen die Entscheidung über Trennungen und deren Durchführung allein; in vielen Unternehmen werden sie maßgeblich durch die Personalabteilungen umgesetzt. Immer aber ist es an Ihnen, rechtzeitig aktiv zu werden. Und sofern der Grund nicht in einem einmaligen Extremvorfall liegt, müssen Sie die Trennung zunächst nach und nach herausarbeiten. Manche Organisationen halten Leitfäden vor, die Führungskräften helfen, systematisch eskalierend und arbeitsrechtlich korrekt vorzugehen. Der entscheidende Punkt lässt sich aber intuitiv umsetzen: Der Mitarbeiter oder die Mitarbeiterin muss die Gelegenheit haben, sein Verhalten zu ändern. Alles andere wäre weder fair noch arbeitsrechtlich tragfähig.
» Jeder einzelne Fall hat Signalwirkung. Für Einzelfalltrennungen gibt es im Wesentlichen drei Gründe: Schlechtleistung, Dauerkrankheit und Regelverstöße. Das Vorgehen
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ist jeweils ein anderes und hängt naturgemäß stark von den situativen Gegebenheiten ab. In den meisten Fällen sind die jeweiligen Missstände aber in einer Reihe von Gesprächen zu thematisieren. Zu Beginn mag der Ausgang dabei noch offen sein, nach und nach wird aber dann, sofern keine Besserung zu erreichen ist, die Notwendigkeit eines Ausscheidens immer deutlicher. Bei Minderleistung und häufigem Absentismus (vorgetäuschter Krankheit) geschieht dies i. d. R. in gesonderten Krankenrückkehr- und Kritikgesprächen. Dauerkrankheit wird meist im Rahmen des sog. Betrieblichen Eingliederungsmanagements verhandelt. Wo der Arbeitnehmer seinen arbeitsvertraglichen Pflichten dauerhaft nicht nachkommen kann, steht nach arbeitsrechtlichen Grundsätzen das Arbeitsverhältnis, das ja ein Austauschverhältnis ist, insgesamt in Frage. Grobe Regelverstöße können auch schon einmal zur sofortigen Entlassung führen, der Normalfall ist aber eher ein wiederholtes kleineres Fehlverhalten, das einer Abmahnung, d. h. der Warnung durch schriftliche Kündigungsandrohung, bedarf. Wenn die Beziehung nicht schon gänzlich zerrüttet ist, kommt es natürlich auch hier zu Gesprächen, in denen erläutert wird, warum das entsprechende Verhalten nicht akzeptabel ist. Ohnehin – eine uralte Erkenntnis – ist natürlich nicht jeder Schlechtleister ein Trennungskandidat: „Da sich erweisen lässt, dass viele der ‚ungeschickten‘ oder sonst ‚unbegabten‘ Arbeiter an anderer Stelle relativ Besseres leisten könnten, so erscheint die Forderung ohne weiteres gegeben, durch eine bessere Verteilung der Arbeiter ‚jeden Mann an die rechte Stelle‘ zu bringen, d. h. an die Stelle, an der er relativ am meisten leistet“ (Kurt LewinXI).
Arbeitsverhältnis ist ein Austauschver» Das hältnis. Viele denken bei Trennung zunächst an eine Kündigung. Und in der Tat ist es unabdingbar, dieses Szenario durch ordentliche Dokumentation vorzubereiten und sich durch anwaltliche Beratung
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abzusichern. Mitunter lässt sich die Kündigung nicht vermeiden, und dann ist in aller Regel mit einer Kündigungsschutzklage zu rechnen. Das deutsche Arbeitsrecht ist indes so komplex, veränderungsreich und durch regionale Unterschiede in der Rechtsprechung gekennzeichnet, dass selbst Fachanwälte, Professoren oder Richter keine verbindlichen Prognosen über den Ausgang eines Verfahrens treffen können. Sehr treffend ist hier ein alter Spruch: „Vor Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand.“ Es geht aber auch nicht zwingend darum, ein Verfahren anzustreben und zu gewinnen, sondern die Chancen eines gerichtlichen Obsiegens zu erhöhen und damit eine Drohkulisse aufzubauen. Eine zweite Trennungsmöglichkeit besteht darin, durch offene Ansprache der Missstände eine Eigenkündigung anzuregen. Idealerweise sollte der Mitarbeiter im Zuge etlicher offener Gespräche selbst erkennen, dass es so nicht weitergeht, und von sich aus etwas ändern oder gehen.XII Das klappt naturgemäß nicht immer, ist aber auch für eine spätere arbeitgeberseitige Trennung von großer Bedeutung. Die Neigung der Mitarbeitenden, Trennungsangebote anzunehmen, hängt schließlich auch vom Grad der Einsicht ab. Wohlbemerkt: Es geht hier nicht um Schikane und Mobbing, sondern um eine sachliche Auseinandersetzung mit den objektiven Anforderungen der vertraglich geschuldeten Tätigkeit. Die dritte Trennungsmöglichkeit ist ein Aufhebungsvertrag gegen Abfindungszahlung.6 Darauf laufen auch die beiden anderen Optionen fast immer hinaus, denn kaum jemand ist bereit, von sich aus zu gehen, oder akzeptiert eine Kündigung ohne rechtliche Gegenmaßnahmen. Jedes Kündigungsschutzverfahren beginnt zunächst mit einer Güteverhandlung, und auch im späteren Prozess übt das Gericht (insb. aus Kapazitätsgründen) immer wieder Druck auf beide Seiten aus, zu einer einvernehmlichen Lösung zu kommen. Solche Verhandlungslösungen kann man freilich auch im Vorfeld erzielen und allen Beteiligten damit Aufwand ersparen. Dabei gilt das Prinzip: Je besser die Kündigungschancen und je größer die Ein-
6 Im Gegensatz zur Kündigung als einseitiger Willenserklärung handelt es sich beim Aufhebungsvertrag um eine zweiseitige Übereinkunft, die naturgemäß auch nicht dem Kündigungsschutz unterliegt.
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sicht des Mitarbeiters, desto kostengünstiger wird die Trennung. Für genug Geld geht jeder übrigens sofort.
Trennungen sind nur eine Frage » Schnelle des Preises.
7.7 Austrittsbegleitung Die Führungsroutine, d. h. die konkrete Aktivität, mittels derer eine Trennung erfolgt, nenne ich Trennungsprojekt. Es geht dabei um eine aktive Austrittsbegleitung. Dieses konkrete Tun nimmt unterschiedliche Formen an, je nachdem, ob es sich um eine vom Mitarbeiter selbstinitiierte Abwanderung, um eine arbeitgeberinitiierte Individualtrennung oder um einen Personalabbau mit kollektivem Charakter handelt. Beispielsweise ist der planerische Vorlauf im Falle eines Stellenabbaus i. d. R. länger. Einige Grundprinzipien gelten aber für alle Austritte. Dies beginnt mit der Erkenntnis, dass ausscheidende Mitarbeitende für ihre Arbeitgeber auch über das Ende des Arbeitsverhältnisses hinaus wichtig sind. Schließlich prägen sie das Arbeitgeberimage des Unternehmens auf dem Arbeitsmarkt mit und bleiben mitunter Kunden oder Anteilseigner. Als „Alumni“ bilden sie ein wertvolles Beziehungsnetzwerk innerhalb und außerhalb der eigenen Branche, und zwar im Analogen ebenso wie im Digitalen. Ein Teil der Ausgeschiedenen kehrt nach einer gewissen Zeit wieder zurück, nicht selten auf höheren Hierarchieebenen. Und wie der Zufall so spielt, könnten auch andere Ihnen wiederbegegnen: als Verhandlungspartner auf Kundenseite, anlässlich eines Zusammengehens mit anderen Organisationen – oder in einer dunklen Gasse. Das alles spricht dafür, fair und freundlich auseinanderzugehen. Außerdem hat der oder die Ausscheidende ja schließlich zeitweilig zum Unternehmenserfolg beigetragen und verdient dafür Respekt und Wertschätzung. Ohnehin bleiben viele noch eine Weile in ihrer Funktion aktiv, haben so lange weiterhin Zugriff auf Ressourcen sowie vertrauliche Daten und sollen in dieser Zeit noch produktiv und vertrauenswürdig sein.
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und -mitarbeiterinnen sind » Ex-Mitarbeiter weiter relevant. Vor diesem Hintergrund gelten – eine sinnvolle Empfehlung von Jack WelchXIII – für alle Trennungsprojekte zwei grundlegende Prinzipien: keine Überraschungen und keine Erniedrigungen. Ersteren beugt man im Wesentlichen durch Transparenz vor. In einer so fundamentalen Angelegenheit wie dem Jobverlust plötzlich vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden, ist unmenschlich. In Bezug auf Minderleistung und Fehlverhalten bedeutet dies, dass alle Vorgaben und Erwartungen bekannt sein und entsprechende Probleme konsequent angesprochen werden sollten. Jeder muss wissen, wo er oder sie steht, und die Gelegenheit bekommen, umzusteuern. Nicht umsonst verlangt das Arbeitsrecht in fast allen Fällen spezifische Abmahnungen und eine saubere Dokumentation des Bemühens um Verbesserung. In Fällen fristloser Kündigung müssen jedenfalls die Regeln und Konsequenzen im Vorhinein bekannt sein. Beim Stellenabbau hingegen ist wichtig, schon im Vorfeld dafür zu sorgen, dass alle Mitarbeitenden über die wirtschaftliche Lage ihrer Organisation und ihrer Einheit Bescheid wissen. So können sie die mögliche Entwicklung antizipieren und sich zumindest ein wenig darauf einstellen. Sogar bei Eigenkündigungen gilt dieses Prinzip, denn wer plötzlich unerwartet ein schlechtes Zeugnis oder eine Leistungsrückforderung bekommt, wird sie eher übel nehmen, als wenn sie vorher absehbar waren. Natürlich sind dies Idealvorstellungen, und als Führungskraft müssen Sie mitunter ohne Vorwarnung etwas umsetzen, das andere Ihnen eingebrockt haben. Das Prinzip gibt trotzdem die Richtung vor, denn hier ist es an Ihnen, den Schock wenigstens verarbeiten zu helfen. Letztlich geht es beim Verzicht auf Überraschungen ja nicht um ein unterschiedliches Ergebnis, sondern „nur“ um die Möglichkeit, sich mental darauf einstellen zu können. Dies gelingt am ehesten durch stückweise Annäherung.
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» Trennungen aus dem Nichts sind unwürdig. Das zweite Prinzip, der Verzicht auf Erniedrigungen, ist ebenso wichtig. Solange Sie um ein Mitglied Ihrer Einheit kämpfen, wird es kaum ohne Bewertungen und Vorwürfe abgehen und es mag im Eifer des Gefechts vielleicht sogar laut werden. Spätestens aber, wenn die Trennungsentscheidung gefallen ist, müssen Sie umschalten auf freundlich und professionell. Ein absolut sachliches Vorgehen ist angezeigt, ohne Beschuldigungen und Bloßstellungen. Das fällt vielen schwer, vor allem dann, wenn sie die Trennung begrüßen (weil z. B. etwas Ekliges vorgefallen ist) oder im Gegenteil verärgert darüber sind (weil sie z. B. viel in die Einarbeitung investiert haben). Als Führungskraft werden Sie aber hier nicht dafür bezahlt, in einer Trennungssituation Ihre Befindlichkeiten auszuleben. Vielmehr geht es darum, erstens negativer Mundpropaganda und Racheaktionen vorzubeugen, zweitens die Klagewahrscheinlichkeit und die Abfindungskosten zu reduzieren sowie drittens die Arbeitsleistung bis zum Ausscheiden zu sichern. Das alles gelingt nur durch maximale Schonung. Weder von Ihrer Seite noch aus dem Team darf es ein „Nachtreten“ geben. Dazu gehört auch, bei den Trennungskonditionen nicht allzu knauserig zu sein. Wer mit Auslauffrist, Abfindungshöhe und Arbeitszeugnis generös umgeht und vielleicht noch eine externe Outplacement-Beratung anbietet, wird nicht unbedingt Dankbarkeit ernten, bringt aber doch eine Portion Versöhnlichkeit in den Prozess. Vergessen Sie nicht: Wo es Trennungsgründe gibt, liegt immer auch ein gewisses Organisationsversagen vor, für das man anständigerweise Verantwortung übernehmen sollte.
» Nachtreten ist unprofessionell – und teuer. So weit, so grundsätzlich. Was aber ist im Rahmen eines Trennungsprojektes konkret zu tun? Auch wenn die Umsetzung nach Einzel-
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fall und Trennungsgrund durchaus unterschiedlich ausfällt, ist ein bestimmter Kanon an Maßnahmen eigentlich immer abzuarbeiten. Eine davon ist zwangsläufig die Planung, vor allem im Hinblick auf Ziele, Budget und Zeitrahmen. Außerdem sind in Unternehmen mit Betriebs- oder Personalrat diese Gremien vor Kündigungen anzuhören. Überhaupt muss der Abgang administrativ begleitet werden, z. B. bezüglich der Zeugniserstellung und Abrechnung, der Rückgabe von betrieblichem Eigentum, vorsorglichen Hinweisen auf das Datengeheimnis, Aufnahme in ein Alumni-Netzwerk sowie der technischen Umleitung von Telefon und Nachrichten. Ein ebenso wesentlicher wie oft vergessener Punkt ist der Transfer relevanten Wissens. Nichts ist peinlicher, als ehemalige Mitarbeitende im Nachhinein kontaktieren und nach betrieblichem Know-how fragen zu müssen. Ein weiterer Punkt ist die Kommunikation des Abgangs nach innen und außen. Geht ein einzelner Mitarbeiter, ist es in der Regel damit getan, seine internen und externen Arbeitskontakte zu unterrichten. Ob dies per Rundschreiben der Betriebsleitung oder durch Einzelmitteilung des Ausscheidenden geschieht, ist eine Sache der konkreten Fallkonstellation. Im Falle eines massiven Stellenabbaus ist die Information hingegen etwas für Kommunikationsprofis. Immer wieder demonstrieren Großunternehmen, die es eigentlich besser wissen sollten, was man hier alles falsch machen kann. Wenn, wie bei Siemens, der CEO eine vom Personalressort in seiner Abwesenheit verkündete Werksschließung nach Protesten zurücknimmtXIV oder, wie bei der Deutschen Bank, in ein und derselben Pressekonferenz ein Rekordgewinn und der Abbau von Tausenden Stellen verkündet werdenXV, kann man sich eigentlich nur wundern. Die Sensibilität der internen und externen Öffentlichkeit liegt doch eigentlich auf der Hand und verlangt nach einem durchdachten Kommunikationskonzept. Sofern solche vorgesehen sind, gehört auch die Umsetzung von Abfederungsmaßnahmen zum Trennungsprojekt, insb. der Beauftragung einer Outplacement-Beratung oder Gründung einer Transfergesellschaft. Ein Verabschiedungsgespräch am letzten Arbeitstag und eine idealerweise nach Austritt durchzuführende systematische Austrittsbefragung (engl. „exit interview“) bieten Gelegenheit, wertvolles Feedback zur Personalführung und zu möglichen Verbesserungen zu
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bekommen. Zum guten Ton gehören bei vielen Fallkonstellationen eigentlich auch eine nette Verabschiedungsrunde im Kollegenkreis und ein Abschiedsgeschenk. Natürlich kann man Leute auch mit weniger Aufwand loswerden. Aus den eingangs genannten Gründen lohnen sich aber diese Investitionen in eine strukturierte und versöhnliche Gestaltung der letzten Arbeitsphase ausscheidender Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
» Trennen macht Arbeit. Das eigentliche Trennungsgespräch muss im Rahmen des Trennungsprojekts natürlich auch geführt werden. Für die rechtliche Wirksamkeit einer Kündigung würde zwar eigentlich schon der von Kurieren bezeugte Zugang des Schriftstücks ausreichen. Das Gespräch hat aber dennoch eine wichtige Funktion, denn es geht darum, die Mitteilung ein Stück weit verdauen zu helfen. Sie als Führungskraft stehen hier, etwa eine Stunde lang, als Gesprächspartner oder -partnerin zur Verfügung und leisten erste Trennungsbegleitung. Dies nicht deshalb, weil es inhaltlich etwas zu diskutieren gäbe, sondern weil Sprechen, Jammern und Schimpfen Bestandteile eines Bewältigungsprozesses sind. Der Bedarf der Betroffenen ist mit einem Gespräch natürlich nicht gedeckt, Sie leisten aber immerhin einen ersten Beitrag. Das sind Sie Ihren Mitarbeitenden als Dienstleister schuldig, und es hilft den Betroffenen enorm. Praxistipps dafür finden Sie in Checkliste 6. Checkliste 6: Empfehlungen für Trennungsgespräche. (© Boris Kaehler 2019. All Rights Reserved.) • Vorbereitung: Klären Sie die arbeitsrechtliche Lage. Stimmen Sie die Trennungsentscheidung mit allen Entscheidungsträgern ab (insb. Personalabteilung, obere Führungskräfte). Denken Sie an die formale Anhörung des Betriebsrats/Personalrats. Vergegenwärtigen Sie sich Anknüpfungspunkte und Vorgeschichte sowie die Gründe für die Entscheidung. Klären Sie abschließend alle Konditionen (Kündigungsfrist; ggf. Freistellung; ggf. Abfindung; ggf. Outplacement-Beratung; ggf.
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gutes Zeugnis/Referenzen; zeitlicher Ablauf der Räumung des Arbeitsplatzes und der Information der Belegschaft). Terminplanung: Kündigen Sie den Termin kurzfristig als Personalgespräch an (Einzelgespräch, ggf. plus Personalabteilung und Betriebsrat) und führen Sie es nie vor Feiertagen, Urlaub oder an einem Freitagnachmittag. Stellen Sie ein ungestörtes Gespräch sicher (Handy aus! Telefon umstellen!). Planen Sie ausreichend Zeit ein. Eröffnung und Mitteilung: Beginnen Sie das Gespräch in ernsthafter Weise (kein Smalltalk), knüpfen Sie kurz an die Ausgangslage und die bereits bekannten Umstände an und sprechen Sie die Trennung unmissverständlich aus. Sofern dies vorgesehen ist, händigen Sie mit einem Zeugen die Kündigung aus. Sprechen Sie im Namen des Unternehmens. Verleugnen Sie nicht Ihren Anteil an der Entscheidung, aber verweisen Sie auf Ihre Rolle als Führungskraft und äußern Sie ggf. Ihr Bedauern. Erste Bewältigung: Erläutern Sie auf Nachfrage knapp die Kündigungsgründe, aber diskutieren Sie diese nicht und versichern Sie das Feststehen der Entscheidung, um keine falschen Hoffnungen zu wecken. Bleiben Sie während des gesamten Gesprächs ernst und sachlich. Lassen Sie Raum für alle denkbaren Reaktionen (solange sie nicht bedrohlich werden), aber gehen Sie nicht inhaltlich darauf ein, sondern versichern Sie nur Ihr Verständnis für die Betroffenheit des/der anderen. Abmilderung: Schildern Sie die ggf. zur Abmilderung vorgesehenen Konditionen und den weiteren Ablauf. Geben Sie den Rest des Tages frei. Abschluss: Vergewissern Sie sich, wie der oder die Mitarbeitende nach Hause kommt, und sorgen Sie ggf. für Begleitung oder Taxi. Verabschieden Sie sich.
Anmerkungen I. Welch/Welch (2005): „Winning“, S. 93. Im Original heißt es: „… Hiring good people is hard. Hiring great people is brutally hard.“ II. Tab. 7.1: Nach Kaehler 2020, S. 371. © Boris Kaehler. III. Abb. 7.1: Aus Kaehler 2020, S. 377; dort nach Kaehler 2017, S. 362; dort nach Kaehler 2014a, S. 570. © Boris Kaehler). IV. Sprenger 2008, S. 138. V. Zitiert nach Trompenaars/Voerman 2009, S. 35; eigene Übersetzung. VI. Checkliste 5: Nach Kaehler 2020; dort modifiziert nach Kaehler 2017, S. 347. © Boris Kaehler.
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VII. Manfred Schoch, Gesamtbetriebsratsvorsitzender von BMW; zitiert im Handelsblatt vom 26.11.2012, S. 23. VIII. Unbekannte Quelle; im deutschsprachigen Raum oft Jean Paul Getty zugeschrieben, aber wohl zu Unrecht. IX. Ulrich/Smallwood/Sweetman 2008, S. 73 f.; eigene Übersetzung. X. Karl-Heiz Stroh, ehemaliger Personalvorstand der Praktiker AG; zitiert nach Gertz 2008, S. 21. XI. Lewin 1920, S. 6 f. XII. Dieses Prinzip findet sich u. a. bei Jack Welch: Welch/Welch 2005, S. 119 ff. XIII. Welch/Welch 2005, S. 119 ff. XIV. Zu Siemens: https://www.handelsblatt.com/unternehmen/ industrie/restrukturierung-siemens-werk-goerlitz-ist-gerettetaber-es-kommt-zu-stellenabbau/21254990.html (Zugriff am 14.6.2023). XV. Zur Deutschen Bank: https://rp-online.de/wirtschaft/finanzen/ ackermann-der-abgehobene_aid-11526863 (Zugriff am 14.6.2023).
Literatur Gertz, Winfried (2008): „Geld ist nicht alles“; Personalwirtschaft 12/2008, S. 18‒21. Kaehler, Boris (2014a): „Ganzheitliche Personalbeschaffung – Dem Fachkräftemangel wirksam begegnen“; Arbeit und Arbeitsrecht Heft 10/2014; S. 568‒572. Kaehler, Boris (2017): „Komplementäre Führung – Ein praxiserprobtes Modell der Personalführung in Organisationen“; 2. Auflage Springer Gabler 2017. Kaehler, Boris (2020): „Komplementäre Führung – Ein praxiserprobtes Modell der Personalführung in Organisationen“; 3. Auflage Springer Gabler 2020. Lewin, Kurt (1920): „Die Sozialisierung des Taylorsystems – Eine grundsätzliche Untersuchung zur Arbeits- und Berufspsychologie“; Verlag Gesellschaft und Erziehung 1920. Sprenger, Reinhard K. (2008): „Gut aufgestellt – Fußballstrategien für Manager“; Campus 2008, S. 111.
170 B. Kaehler
Trompenaars, Fons/Voerman, Ed (2009): „Servant-Leadership across cultures“; Infinite Ideas Ltd. Oxford 2009. Ulrich, Dave/Smallwood, Norm/Sweetman, Kate (2008): Leadership Code; Harvard Business Press 2008. Welch, Jack/Welch, Suzy (2005): „Winning – Das ist Management“; Campus 2005.
8 Ressourcen und Orientierung geben
Die Bedeutung der Ressourcenausstattung und Orientierung wird im Führungskontext oft unterschätzt. Nichts demotiviert gute Mitarbeitende stärker als schlechte Arbeitsmittel und ein unklarer Kurs. Entsprechend sollten Sie sich als Führungskraft vertiefte Gedanken über Arbeitszeit und Arbeitsort, Sachmittelausstattung und Informationsweitergabe machen. Oberer Führungskräfte betreiben Letztere auch in Form hierarchieüberspannender Kommunikation. Leistungsbeurteilung und Feedback lassen sich ebenfalls als Ressourcen verstehen – ohne Rückmeldung keine Orientierung. Hier gibt es diverse methodische Feinheiten zu beachten und die hohe Kunst wertschätzender Kritikgespräche zu meistern. In diesem Kapitel finden Sie umfassende Erläuterungen und Praxisempfehlungen zu alldem.1
1 Da
die Kapitel in der E-Book-Version einzeln abrufbar sind, wiederhole ich den folgenden Hinweis aus dem Vorwort: Dieses Buch beruht auf dem Theoriemodell der Komplementären Führung, das ich für führungskonzeptionell Interessierte in meinem wissenschaftlichen Grundlagenwerk gleichen Titels dargelegt habe (Kaehler 2020). „Führen als Beruf“ soll dieses Wissen für Führungskräfte als Anwenderinnen und Anwender aufbereiten, gut verständlich und streng praxisorientiert. Fast alle Ideen und auch manche Formulierungen, die Sie hier finden, stammen aber aus dem ersten Buch, das lässt sich nicht vermeiden. Aus Gründen der Lesbarkeit – dies ist kein wissenschaftliches Werk – sind dabei nicht alle Selbstzitate explizit als solche gekennzeichnet.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Kaehler, Führen als Beruf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67567-0_8
171
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8.1 Arbeitsressourcen als Produktivitätshebel Eigentlich leuchtet es unmittelbar ein: Wer arbeiten soll, benötigt auch die dafür erforderlichen Ressourcen Aufgaben und Aktivitäten müssen also durch entsprechende Arbeitsmittelausstattung gedeckt sein. Dies gilt für die Arbeitszeit und den Arbeitsort, die Sachmittel- und Budgetausstattung sowie für Leistungsfeedback.2 Die Praxis stellt sich aber wieder einmal völlig anders dar. Organisationen geben zwar Millionen für Anreiz- und Zielsetzungssysteme aus, demotivieren und sabotieren aber zugleich die Arbeit und Motivation ihrer Belegschaften durch mangelhafte Ressourcenausstattung. Das ist hochgradig dysfunktional. Wo an Arbeitszeit, Arbeitsmitteln und Leistungsfeedback gespart wird, leiden immer die Falschen, nämlich diejenigen, die für ihren Job brennen und bestmögliche Leistungen erbringen wollen. Wer Dienst nach Vorschrift macht, hat dagegen meist kein Problem mit schlechten Arbeitsbedingungen. Eine ordentliche Ressourcenausstattung ist daher ein zentraler Baustein guter Personalführung und ein ganz entscheidender Produktivitätshebel.
Sie anderswo und gehen Sie hier in » Sparen die Vollen.
8.2 Arbeitszeit und Arbeitsort Was Arbeitszeit und Arbeitsort angeht, so fehlt es allenthalben an Flexibilität. Darunter verstehe ich hier keine einseitige Freizeitmaximierung auf Mitarbeiterseite, denn das Arbeitsverhältnis ist ein
Andere Autoren und Quellen werden aber natürlich nach bestem Wissen und Gewissen korrekt und vollständig zitiert. 2 Streng genommen betreffen auch alle anderen der 21 komplementären Führungsaufgaben Arbeitsressourcen im Sinne von Leistungsbedingungen. Die hier in diesem Abschnitt thematisierten Ressourcen bilden insofern eine Auffangkategorie.
8 Ressourcen und Orientierung geben 173
Austauschverhältnis. Es ergibt aber natürlich auch keinen Sinn, legitime Bedürfnisse ohne Not einzuschränken, zumal selbstständige und eigenverantwortliche Mitarbeitende i. d. R. keineswegs nur ihre privaten Interessen, sondern durchaus auch die Erfordernisse der Arbeit im Blick haben. Alle Arbeitszeitregelungen, die einer optimalen Leistungserbringung (einschl. Pausen und Erholung) entgegenstehen, gehören – soweit dies rechtlich möglich ist – abgeschafft.3 Vor allem aber sollte Flexibilität in der Zusteuerung des Arbeitsvolumens bestehen. Wer objektiv überlastet ist, muss die Möglichkeit haben, kurzfristig etwas abzugeben oder Unterstützungskapazitäten (z. B. Springer, Aushilfen) abzurufen; wer nichts zu tun hat, muss Zusatzaufträge bekommen können und andere unterstützen. Die meisten Aufbauorganisationsund Arbeitszeitsysteme geben das nicht her. Vielerorts sind Teile des Personals komplett überlastet, während andere Däumchen drehen. Einmal mehr handelt es sich um ein Symptom für den untauglichen Versuch, Personalführung zentral über formalisierte Instrumente zu betreiben, was schlichtweg unmöglich ist. Dezentral lässt sich die Aufgabe der Zuweisung von Arbeitszeit und -ort hingegen sehr gut bewältigen. In der regelmäßigen Arbeitsbesprechung kommt man meist von selbst auf dieses Thema und die Auslastung einzuschätzen, ist für die Führungskraft in der Regel einfach. Das Problem sind die Systeme, die formalisierten Instrumente, die wirklich produktives Arbeiten oft nicht zulassen (siehe Abschn. 14.5). In der Praxis biegen sich Führungskräfte und Mitarbeitende das vorhandene Regelwerk daher meist so zurecht, dass es halbwegs passt. Arbeitszeitregelungen werden großflächig gebrochen, starre Positionen durch eigenmächtige informelle Stellengestaltung („job crafting“) flexibel angepasst. Arbeitgeber und Gesetzgeber sind daher aufgefordert, endlich pragmatische Lösungen für sinnvolle Arbeitsgestaltungen zu finden. Damit will ich keineswegs der völligen Entgrenzung der Arbeit das Wort reden. Weder ist jede Arbeitstätigkeit geeignet, sie im Co-Working-Space zu
3 Das
ist nicht gleichbedeutend mit „Vertrauensarbeitszeit“, die nichts mit der freien Gestaltung der Arbeitszeiten zu tun hat, sondern nur den Verzicht auf Dokumentation und Kontrolle der Einhaltung der vertraglich geschuldeten Arbeitszeit meint.
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erledigen, noch wäre es verantwortbar, Selbstausbeutung durch überlange Abrufarbeit zu fördern. Auch gegen eine Dokumentation der erbrachten Arbeitszeiten spricht überhaupt nichts. Es sollte aber möglich sein, innerhalb eines gewissen Schutzrahmens so zu arbeiten, wie die situativen Arbeitsanforderungen und persönlichen Bedürfnisse es erfordern. Als Führungskraft sitzen Sie hier meist am situativen Entscheidungshebel.
Sie dysfunktionale Arbeits» Flexibilisieren systeme.
8.3 Sonstige Sachmittelausstattung Ähnliches gilt für Arbeitsplatz, Budget und Ausstattung. Nichts danken Ihnen gute Mitarbeiter mehr als optimale Sachmittel. Vielerorts wird freilich das Gegenteil praktiziert: Deutsche Muttersprachler versenden mangels professioneller Hilfe fehlerübersäte englische Geschäftsbriefe, Bildschirmarbeiter nutzen statt zwei großen nur einen kleinen Monitor, Vielfahrer im Vertrieb haben untermotorisierte Fahrzeuge und Vieltelefonierer müssen ohne Headsets auskommen. Steuern Sie hier bewusst gegen und sorgen Sie für eine angemessene Arbeitsplatzausstattung und adäquate Sachmittel, vom Bleistift bis zum Firmenfahrzeug. Wo die Arbeitsaufgaben Finanzmittel erfordern, sorgen Sie für ein angemessenes Budget. Oft kennen Mitarbeitende ihre Bedürfnisse hier selbst am besten und fordern das Notwendige auch ein. Manchmal ist dies aber auch nicht der Fall, und dann müssen Sie kompensatorisch aktiv werden. Gerade neue Mitarbeitende trauen sich oft nicht, Ressourcenbedarf geltend zu machen. Vor diesem Hintergrund ist zweierlei angezeigt. Zum einen bedarf es einer gewissen Großzügigkeit in der Ressourcenzuweisung. Verschwendung ist nie gut, aber optimale Ergebnisse und hohe Flexibilität haben ihren Preis. Zum anderen muss über fehlende Sachmittel offen geredet werden. Im Rahmen der Arbeitsbesprechungen sollten Sie die Mitarbeitenden
8 Ressourcen und Orientierung geben 175
regelmäßig dazu befragen. Nicht jeder Wunsch braucht genehmigt werden; eine begründete Ablehnung wird in der Regel ohne weiteres akzeptiert. Dafür müssen Sie aber natürlich Ihrerseits erst einmal selbst in der Lage sein, die Zuweisung der erforderlichen Ressourcen von der Unternehmensleitung oder den verantwortlichen Zentralabteilungen zu erwirken. Dies erfordert oft mikropolitisches Geschick und einen gewissen Kampfgeist im Umgang mit eingefahrenen Vorgehensweisen und sinnlosen Unternehmensrichtlinien, die einer leistungsfreundlichen Ausstattung allzu oft entgegenstehen.
Sachmittelausstattung wird stark » Die unterschätzt.
8.4 Orientierung durch Informationsweitergabe Bei der Informationsweitergabe geht es letztlich um die sachgerechte Verteilung von Informationen. Sie ließe sich daher auch unter Abstimmungskommunikation (Abschn. 10.2) abhandeln. Ich ziehe sie hier aber vor, weil die Ressourcensicht mir noch relevanter erscheint. Leute, die sich über das vermeintlich veraltete Prinzip der Hierarchie lustig machen, bemühen gern den „Stille-Post“-Effekt der Informationsweitergabe über Zwischenebenen. Das ist natürlich reiner Unsinn, denn der Großteil des Informationsaustausches in Organisationen muss anders organisiert werden und wird es de facto auch überall. Wir kommen im nächsten Absatz darauf zurück. Niemand bei Verstand hat je behauptet, die gesamte Kommunikation in Unternehmen müsse mit den Berichtswegen parallelisiert werden. Das grundlegende Prinzip der Informationsweitergabe durch die Führungskraft ist aber damit nicht völlig obsolet. Wesentlich am Modell der Komplementären Führung ist schließlich die Verpflichtung der Führungskraft, bei Selbstführungsdefiziten kompensatorisch einzugreifen. Verfügt der Mitarbeiter, aus welchen Gründen auch immer, nicht über die für die Arbeit erforder-
176 B. Kaehler Tab. 8.1 Informationsbedarfe Mitarbeitender. (© Boris Kaehler 2019. All Rights Reserved.)IV
Kategorie
Informationsgegenstand
Übergeordneter konstitutiver Rahmen Mission Ordnungsrahmen (z. B. Gesetze) Rechts-/Organisationsform Geschäftsmodell Stakeholderinteressen Planungs-, Führungs- und Controllingsystem etc. Übergeordneter strategischer Rahmen Sachgeschäftsstrategien (Markt, Produktion, Ressourcen) Personalstrategien Aktuelle Lage
Markt Umfeld Vorhaben Erträge und Kosten etc.
Verhaltensregeln
Relevante Gesetze und sonstige Rechtsvorschriften Interner Verhaltenskodex
lichen Informationen, muss die Führungskraft dafür sorgen, z. B. indem sie in Sitzungen und Gesprächen Informationen weitergibt. Oftmals wirkt sie ja tatsächlich als VerbindungsgliedI zwischen den unterschiedlichen Ebenen, da sie als Mitglied der Leitungsebene de facto Zugang zu Informationen hat, die den unterstellten Mitarbeitenden fehlen. Dies ist ein Kompensationsmechanismus, der den direkten Zugang zu Informationen nur flankiert. Ohne Informationen über den Kontext, in dem sie sich bewegen, können Menschen ihr Arbeitsverhalten nicht sinnvoll ausrichten. Wer, wie es leider sehr häufig vorkommt, weder über den Unternehmenszweck noch über die verfolgten Strategien oder die aktuelle Lage Bescheid weiß, hat keinen Handlungsrahmen, keine klare Richtung für seine Aktivitäten. Das führt zu unnötigen Problemen: „Es kommt zu häufig vor, dass Menschen für Fehler verantwortlich gemacht werden, die auf ihren unzureichenden Zugang zu den Informationen zurückzuführen sind, welche sie zur Erfüllung ihrer übertragenen Aufgaben benötigen“ (Henry MintzbergII). Welche Informationen wer
8 Ressourcen und Orientierung geben 177
für seine Tätigkeit braucht, hängt naturgemäß vom Unternehmen und der konkreten Stelle ab. Man kann aber durchaus einige grundlegende Kategorien herausarbeiten, die es erleichtern, den erforderlichen Informationsumfang zu bestimmen (Tab. 8.1). Unterschätzen Sie nicht, wie wichtig gerade die grundlegenden, vermeintlich selbstverständlichen Dinge sind. Der Informationsbedarf ist umso größer, je breiter die Handlungsspielräume der Mitarbeitenden sind. Wer mit kleinteiligen Anweisungen überwiegend fremdgesteuert wird, braucht weniger Informationen als jemand, der sich weitgehend selbst führt: „Nur vom informierten Mitarbeiter kann der Manager Selbständigkeit erwarten“ (Hans L. MerkleIII).
Informationsbedarf ist oft größer als » Der angenommen. Um diesem Informationsbedarf nachzukommen, müssen Sie sich wohl oder übel zunächst selbst ein hinreichendes Verständnis des Rahmens und der Lage erarbeiten. Erst dann können Sie sie weitergeben. Vielleicht gibt es in Ihrem Unternehmen ja formalisierte Strukturen, die dies erleichtern. Sinnvollerweise gehen viele heutzutage ja recht offen mit relevanten Daten um und unterwerfen nur wirklich sensible Informationen einer restriktiven Informationspolitik. Technische Lösungen wie Intranet oder Podcast erleichtern die Verbreitung zentraler Informationen und entlasten die Führungskräfte. Ob diese allgemeinen Informationen von allen wirklich zur Kenntnis genommen werden, steht auf einem anderen Blatt. Daher ist es wichtig, sich als Führungskraft einen laufenden Eindruck vom Informationsstand jedes einzelnen Mitarbeiters zu verschaffen und das wirklich Wichtige wiederholt anzusprechen: „Gehen Sie davon aus, dass Sie eine Botschaft zehnmal verbreiten müssen, damit sie einmal gehört und verstanden wird“ (Dave UlrichV). Dass die Informationsvermittlung keineswegs nur Aufgabe der Führungskraft, sondern wie alle Führungsaufgaben zunächst einmal
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Selbstführungsaufgabe ist, hatten wir oben schon festgestellt. Wer eigenständig agieren will, muss sich den übergeordneten Bezug seiner Arbeit immer wieder vergegenwärtigen und sich fehlende Informationen verschaffen. Es kann also auch hier nicht darum gehen, die Mitarbeitenden dauerhaft fremdzusteuern. Vielmehr sollten Sie jeden und jede dazu anzuhalten, sich auf einem professionellen Kenntnisstand zu halten und evtl. fehlende Informationen aktiv einzufordern.
8.5 Hierarchieüberspannende Kommunikation als Aufgabe oberer Führungskräfte Eine Führungsaufgabe, die letztlich nur einen Spezialfall dieser Informationsweitergabe darstellt4, aber dennoch hervorgehoben werden sollte, ist die Gewährleistung hierarchieüberspannender Kommunikation. Insbesondere für obere Führungskräfte bildet sie einen beträchtlichen Teil der Führungstätigkeit, der umso größer wird, je höher sie in der Hierarchie stehen und je mehr Mitarbeitende ihnen damit unterstellt sind. So sollten z. B. Vorstandsvorsitzende von Großkonzernen nicht nur für entsprechende Aktivitäten der ihnen direkt unterstellten Führungskräfte sorgen, sondern auch selbst viel Zeit damit verbringen, direkt mit Mitarbeitenden aller Ebenen in Kontakt zu treten. Ein Beispiel: „[Der Kontakt] fängt beim kurzen Gespräch im Aufzug an, geht über regelmäßige Townhall-Veranstaltungen und monatliche Mittagessen im Mitarbeiterkreis bis hin zu Werksbesuchen im In- und Ausland. Für alle, die ich nicht persönlich treffen kann, ist das […] Intranet der Kanal der Wahl. Letztes Jahr konnten unsere Mitarbeiter online Fragen stellen und für die besten Vorschläge ‚voten‘. Die ‚Top Ten‘ habe ich dann per Videobotschaft beantwortet. Dieses Jahr haben wir den Spieß umgedreht, und ich habe zehn Fragen gestellt […]“. (Dieter ZetscheVI Die hierarchieüberspannende Kommunikation
4 Wie bereits erwähnt, ist die Zuordnung zur Ressourcenversorgung hier ein Stück weit willkürlich. Die Informationsweitergabe ließe sich auch unter Zusammenarbeit (Abstimmungskommunikation und Teambeziehungen) thematisieren.
8 Ressourcen und Orientierung geben 179 Tab. 8.2 Wesentliche Routinen der hierarchieüberspannenden Kommunikation. (© Boris Kaehler 2019. All Rights Reserved.)IX
Kategorie
Einzelmaßnahme
Interaktion mit einer stellvertretenden Kurzbesuche am Arbeitsplatz Teilmenge der Belegschaft (Zufalls(„management by walking around“) auswahl, Eigen-/Fremdnominierung Kaminabende oder offizielle Interessenvertreter Konsultationen, Sprechstunden und wie Betriebsräte/Ombudsleute) Fragerunden in Präsenzform oder in digitalen Foren/Chats/Social Nets Meckerkasten, Vorschlagswesen, „whistle blowing“-Systeme Massenkommunikation (mit potenziell Betriebsversammlungen („townhall allen Mitarbeitenden) meetings“), Veranstaltungen ohne Agenda („open space“), Podiumsdiskussionen Übertragungen im Hausfernsehen/radio Auftritte in öffentlichen Medien, die auch von Mitarbeitenden rezipiert werden Massen-E-Mails, Posts in internen und externen Social Media, Newsletter, Aushänge, Mitarbeiterzeitschrift, Rundschreiben, Leitbild, Blogs, Twitter Mitarbeiterbefragungen
verbindet die obere Führungskraft mit der Unternehmensbasis und umgekehrt. Auf diese Weise ergänzt sie die hierarchiegebundene Kommunikationskaskade, die unersetzlich ist, aber eines Korrektivs bedarf, da sie fast immer mit Informationsverlusten nach dem StillePost-Prinzip einhergeht. Die diversen Maßnahmen, die hier in Frage kommen, konstituieren für obere Führungskräfte besondere zusätzliche Führungsroutinen (vgl. Abschn. 3.6), die als Dauer- oder Bedarfsroutinen ausgelegt und instrumentell unterstützt werden können (Tab. 8.2). Für Führungskräfte mittlerer Ebenen ist das Thema weniger bedeutsam und zeitintensiv, aber immer noch wichtig.
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Führungskräfte kommunizieren mit » Obere allen. Neben der Information der Mitarbeitenden erfüllt die hierarchieüberspannende Kommunikation freilich noch einen weiteren Zweck, nämlich die Information der oberen Führungskraft selbst: „Gegenseitiges Verständnis kann nie durch ‚Kommunikation nach unten‘ erreicht werden, kann nie durch Reden geschaffen werden: Es kann nur aus ‚Kommunikation nach oben‘ resultieren. Es erfordert sowohl die Bereitschaft des Vorgesetzten zuzuhören als auch ein spezielles Instrumentarium, das den unteren Managern Gehör verschafft“ (Peter F. DruckerVII). Diese alte Idee lässt sich durch die vielfältigen Möglichkeiten der modernen Kommunikation natürlich erheblich einfacher umsetzen als noch vor Jahren. Auch hier müssen Sie Ihren eigenen Stil finden. Egal, ob Sie sich regelmäßig vor die Kamera stellen, Podcasts aufnehmen oder Kaminabende veranstalten, es wird Ihre Beziehung zur Belegschaft verbessern und Ihre Perspektive auf die eigene Organisation erweitern. In jedem Falle gilt: „Sie müssen rausgehen, Sie müssen reden, Sie müssen überzeugen“ (Rüdiger GrubeVIII).
8.6 Leistung beurteilen und Feedback geben Leistungsbeurteilungen sind eine wichtige Ressource, denn sie erfüllen eine Feedbackfunktion. Um die eigenen Handlungen steuern und auf die Gesamtleistung der Organisationseinheit ausrichten zu können, muss der Mitarbeiter stets wissen, „wo er steht“, welche Fehler aufgetreten sind und welche Erfolge erzielt wurden. Dies gilt für jede einzelne Handlung sowie für die erbrachte Gesamtleistung. Das Wissen um die eigene Leistung und die Mitteilung von Fremdeinschätzungen sind außerdem motivierend. Daneben erfüllen Leistungsbeurteilungen auch eine Administrationsfunktion, denn sie bilden eine Informationsgrundlage für die Ableitung sonstiger Personalmaßnahmen (z. B. der
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Personalauswahl, Vergütung oder Weiterbildung). Diese Funktion steht leider oft im Vordergrund, ist aber eigentlich eher nachgelagert zu sehen.
Feedbackfunktion steht im Vorder» Die grund. Nun haben viele Führungskräfte und Mitarbeitenden eine ausgesprochene Aversion gegen Beurteilungen. Diese richtet sich allerdings kaum je gegen die Leistungsbeurteilung als solche, sondern nur gegen die vorherrschenden Leistungsbeurteilungssysteme und ihren Bürokratismus.X Formalisierte Instrumente sind natürlich nicht per se abzulehnen, aber was diesbezüglich in der Praxis geboten wird, ist oft haarsträubend. Das prototypische Leistungsbeurteilungssystem in Großunternehmen und Behörden bildet den Beurteilungsgegenstand einseitig ab, normiert mangelhafte Datenerhebungsverfahren und schreibt schräge Beurteilungsmaßstäbe vor. Das Schlimme ist: In der Regel wissen alle Beteiligten um die Mängel, man müsste sie nur fragen. Insofern sind Formalbeurteilungen ein schönes Beispiel für die in Abschn. 14.5 kritisierte „Diktatur der Personalinstrumente“. Der Kernfehler fast aller Beurteilungssysteme liegt darin, sie als reine Jahresbeurteilungen auszugestalten. Wie oben bereits angedeutet, entsteht Leistung aber aus einzelnen Handlungen, und diese bedürfen eines kurzfristigen Feedbacks, wenn die o. g. handlungssteuernde Wirkung erzielt werden soll. Es spricht nichts dagegen, Jahresbeurteilungen durchzuführen, sie sind aber lediglich Klammern, mittels derer die Leistungen des vergangenen Geschäfts- oder Kalenderjahres zusammenfassend bewertet werden. Als solche basieren sie inhaltlich auf vielen kleinen unterjährigen Beurteilungen. Sinnhafte Leistungsbeurteilungen müssen also die kurz-, mittel- und langfristige Perspektive integrieren. Wenn dieser Bezug nicht hergestellt wird, verkommen sie zu kafkaesken Ritualen, anlässlich derer sich beide Seiten etwas aus den Fingern saugen müssen. Die gute Nachricht ist, dass Sie dies als
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Führungskraft ganz einfach heilen können, und zwar indem Sie die laufenden Beurteilungen eigeninitiativ durchführen. Dafür bieten sich insbesondere die regelmäßigen Arbeitsbesprechungen (Abschn. 6.4) an, aber auch punktuelle Ad-hoc-Beurteilungen zu gerade laufenden Arbeitsvorgängen.
» Viele Beurteilungssysteme sind untauglich. Ein weiteres Problem vieler Leistungsbeurteilungen ist, dass sie den Gegenstand der Betrachtung – die erbrachte Arbeitsleistung – nur ausschnitthaft oder verzerrt würdigen. Manch einer ist sogar noch stolz darauf und behauptet, nur die Ergebnisse zählten (engl. „results only“). Solches entspricht aber zunächst einmal überhaupt nicht dem in Deutschland geltenden Arbeitsrecht. Demnach sind Arbeitnehmer nicht zur Erreichung eines objektiven Zielwerts, sondern nur zur Ausschöpfung ihrer persönlichen Leistungsfähigkeit verpflichtet. Arbeitsvertraglich schulden sie lediglich das Wirken, nicht das Werk.XI Reine Ergebnisbeurteilungen sind aber auch unter betriebswirtschaftlichen Aspekten untauglich, da wesentliche steuerungsrelevante Informationen unter den Tisch fallen. Zu würdigen sind daher grundsätzlich alle Aspekte der Arbeitsleistung. Neben den Leistungsergebnissen (nach Menge und Güte) sind dies der Leistungseinsatz (ebenfalls nach Menge und Güte) und das Arbeits- und Sozialverhalten (z. B. Hilfsbereitschaft oder Konfliktfreude). Ohne zu wissen, wie Ihre Mitarbeitenden ein bestimmtes Ergebnis erreicht haben, können Sie unmöglich einschätzen, ob sie ihre Leistungsfähigkeit ausgeschöpft haben und ob die Ergebnisse möglicherweise durch zweifelhaftes Vorgehen erzielt wurden. Ihr Job als Führungskraft besteht hier nicht darin, die Erreichung von Zielmarken nachzuhalten – das ist eine triviale und gut automatisierbare Aufgabe. Vielmehr müssen Sie sich einen Eindruck vom gesamten Leistungsprozess verschaffen und alle relevanten Faktoren so anpassen, dass die Arbeitsanstrengung auch optimale Resultate zeitigen kann. Dem Arbeitnehmer die alleinige Ergebnisverantwortung in die
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Schuhe zu schieben, ist unanständig und rechtswidrig. Es ist außerdem ineffizient, denn ein solches Vorgehen verschwendet Potenzial und lädt zu Manipulationen ein. Zu einer ganzheitlichen Leistungsbeurteilung gehören daher alle drei Aspekte – Einsatz, Verhalten und Resultate. Damit über den einen Teil der Tätigkeit nicht der andere vergessen wird, müssen Sie zudem darauf achten, sehr systematisch die gesamte Arbeitstätigkeit jedes Mitarbeiters und jeder Mitarbeiterin zu berücksichtigen. Dazu gehören neben den Daueraufgaben auch Projektaufgaben und (Selbst-)Führungsaufgaben. Die diversen Facetten dessen, was im konkreten Fall als Arbeitsleistung definiert wurde, sind dann über Beurteilungskriterien weiter zu spezifizieren. Beispielsweise bemessen sich Vertriebsergebnisse keineswegs nur nach Abschlüssen und Umsatz, sondern u. a. auch nach Risikopotenzial und Stornoquote. Das Arbeitsverhalten umfasst nicht nur das Auftreten beim Kunden, sondern insb. auch den Umgang mit allen anderen Arbeitskontakten, wie Führungskräften, Kollegen, Zentralabteilungen und Dienstleistern. Der Arbeitseinsatz besteht nicht nur im Zeitaufwand, sondern vor allem auch in der Intensität und dem Engagement des Vorgehens. Einmal mehr muss man sich hier der Komplexität des realen Lebens stellen. Leistung auf wenige Kriterien zu reduzieren, ist natürlich viel einfacher als die Berücksichtigung einer solchen Vielzahl an Variablen. Damit aber würde man der tatsächlichen Leistung nicht gerecht. Im Führungsalltag ist es allerdings auch völlig unproblematisch, vielerlei Beurteilungskriterien gleichzeitig im Auge zu behalten, denn sie bilden ja nur den normalen Geschäftsbetrieb ab.
» Leistung besteht nicht nur aus Ergebnissen. Nach all diesen Differenzierungen muss ich Ihnen leider noch eine weitere zumuten: die drei Schritte des Beurteilungsprozesses. Im ersten Schritt geht es darum, Ausgangsdaten zu generieren. Davon kann man, solange der Aufwand nicht zu groß wird, eigentlich nie genug haben; mehr Daten ergeben ein umfassenderes Bild. Allerdings
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muss die Qualität der Daten stimmen, und zwar sowohl der Primärdaten, die in die auszuwertenden Systeme oder die Meinungsbildung der Befragten eingehen, als auch der Sekundärdaten, die im Zuge der Auswertung oder Befragung erhoben werden. Fehlerhafte Daten beinträchtigen natürlich die spätere Bewertung (das gute alte „garbage in, garbage out“-Prinzip). Als Führungskraft müssen Sie sich daher ein Bild vom Zustandekommen der Ausgangsdaten machen. Der zweite Schritt der Leistungsbeurteilung besteht in der kriterienbezogenen Bewertung der Ausgangsdaten und ggf. ihrer Verdichtung zu einer Gesamtbewertung. Tatsächlich kranken viele Beurteilungen daran, dass die Rohdaten bereits als Beurteilung begriffen werden, nach dem Motto „negative Rückmeldung, negative Leistung“.5 Das aber kann nicht funktionieren. Entweder der Mitarbeiter als Selbstführender oder Sie als komplementäre Führungskraft müssen sich also Gedanken machen, ob eine bestimmte Kennziffer oder Rückmeldung so oder anders zu beurteilen ist. So kann z. B. eine Kundenbeschwerde völlig irrelevant sein oder aber ein Indiz für schwere Leistungsmängel. Dies erfordert eine Interpretation und geht mit entsprechender Subjektivität einher; anders ist eine offene und umfassende Leistungseinschätzung aber nicht zu erreichen. Wer hier auf reine Objektivität setzt, muss den Beurteilungsgegenstand unzulässig verkürzen, was nicht Sinn der Sache sein kann. Im dritten Schritt geht es darum, die getroffene Einschätzung zu verkünden oder anderweitig zu nutzen, z. B. im Rahmen von Personalentscheidungen. Das alles muss man vielleicht zweimal lesen. Wenn Sie den Dreischritt aber einmal verstanden haben, wird er Ihnen in der Praxis selbstverständlich erscheinen und helfen, Leistungsbeurteilungen sinnvoll anzulegen. Gewinnen Sie die Gestaltungshoheit zurück. Manager und Managerinnen aller Ebenen sind vollverantwortliche Führungsakteure, keine Umsetzungsbeauftragten für Beurteilungssysteme.
5 Dies
ist ein typisches Problem vieler „360°“- und „Peer Feedback“-Verfahren, in die u. a. Einschätzungen gleichgestellter Kollegen einfließen. Jeder der Befragten kann ja nur aus der begrenzten eigenen Perspektive heraus antworten.
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sind noch keine » Ausgangsdaten Beurteilung. Wie alle Führungsaufgaben ist auch die Beurteilung der Arbeitsleistung zunächst einmal eine Selbstführungsaufgabe. Jeder Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin solltedie eigene Leistung beurteilen, also sich selbst leistungsrelevante Informationen verschaffen und sie aus Organisationssicht bewerten. Nur falls dies unterbleibt oder fehlgeht, greift die Führungskraft kompensatorisch ein. Die Führungsroutinen, in denen dies geschieht, sind vor allem die regelmäßigen Arbeitsbesprechungen, die Kurzbesuche am Arbeitsplatz und die Jahresgespräche. Dort können Sie sich als Führungskraft ein Bild davon verschaffen, ob jeder Mitarbeiter seinen Leistungsstand kennt, und dieses Bild entweder bestätigen oder ergänzen. Beides sind wichtige Interventionen, denn die meisten Mitarbeitenden sind sich alles andere als sicher, wie ihre Leistung aus Sicht der Organisation einzuordnen ist. Manche überschätzen sich und übersehen dann die Notwendigkeit von Verhaltensänderungen. Andere unterschätzen sie, was unnötige Selbstzweifel nährt. Beides kann potenziell leistungsfähige Mitarbeitende zu Problemfällen machen und in beiden Fällen sind Sie als Führungskraft gefragt. Jeder erfahrene Personalbetreuer kennt Fälle, in denen TopLeute im Austrittsinterview nach einer Eigenkündigung angeben, ihnen sei gar nicht bewusst, intern als Leistungsträger angesehen zu werden. Oder solche, in denen die Führungskraft die alsbaldige Kündigung eines Mitarbeiters wegen konstanter Minderleistung verlangt, aber auf Nachfrage zugeben muss, die entsprechenden Mängel noch nie zuvor angesprochen zu haben. Wenn Sie Leistungsbeurteilungen als Führungsaufgabe und damit als Teil Ihres Jobs ansehen, kann derartiges eigentlich nicht passieren.
» Selbstbeurteilungen sind selten perfekt.
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8.7 Verhaltenskontrollen In Organisationen gelten zwangsläufig viele Verhaltensregeln (Abschn. 6.6). Die operative Kontrolle dieser konstitutiven Normen lässt sich als Teil der Führungsaufgabe Leistungsbeurteilung verstehen und wird in vielen Organisationen – im wahrsten Sinne des Wortes – sträflich vernachlässigt. Zwar ist viel von „Compliance“ (im Sinne von „rule compliance“, engl. für Regeleinhaltung) die Rede. Dabei stehen aber i. d. R. zentrale Spezialeinheiten und technische Überwachungssysteme im Vordergrund. Wie alle Führungsaufgaben funktioniert jedoch auch diese nur dezentral über Führungskräfte, die Selbstführungsdefizite kompensieren. Kontrollieren ist daher eine wichtige Facette der FührungstätigkeitXII, und sie findet in den normalen Führungsroutinen statt. Im vorherigen Abschnitt hatten wir das Arbeitsverhalten ja als einen wesentlichen Aspekt der Arbeitsleistung definiert, und Regeleinhaltung gehört natürlich dazu. Die viel beschworene „Vertrauenskultur“ ohne Kontrollen ist, wie diverse Skandale über die Jahre immer wieder zeigen, eine ziemlich naive Idee. Die Erfahrung zeigt: Wo immer es an Kontrolle fehlt, nutzen einige wenige Mitarbeitende diese Spielräume zur Schädigung des Unternehmens, sei es hinsichtlich der Arbeitszeiten, der Kassenbestände oder der Außenreputation. Finden keine Kontrollen statt, bleiben nicht nur die (statistisch immer existenten) Übeltäter unbehelligt, sondern Regeltreue kommen auch in Versuchung, es ihnen nachzutun. Eine gewisse kriminelle Grundlast als tolerabel anzusehen, wie es manche empfehlenXIII, wäre daher fatal. Kontrollen induzieren auch keineswegs automatisch ein generelles Klima der Feindseligkeit und Bespitzelung. Wo Menschen in sozialen Austausch treten, findet ja auf ganz natürliche Weise immer auch eine soziale Kontrolle statt. Die meisten betrachten Kontrollen als selbstverständliche Alltagsangelegenheit, ob in Schulklausuren, an Flughäfen, im Straßenverkehr oder eben am Arbeitsplatz. Totalüberwachung ist natürlich weder wünschenswert noch zulässig, aber ein völlig überwachungs- und damit rechtsfreier Raum eben auch nicht. Als Führungskraft müssen Sie für eine funktionierende Kontrolle sorgen, diese aber nicht zwingend selbst durchführen. Schon unter
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Datenschutz- und Akzeptanzgesichtspunkten ist es sinnvoll, elaborierte Überwachungsverfahren und -systeme besonderen Vertrauenspersonen oder Compliance-Kontrollgremien vorzubehalten (z. B. unter Beteiligung des Betriebsrats/Personalrats). Sie selbst müssen eigentlich nur mit offenen Augen und Ohren Ihre Führungsroutinen wahrnehmen und die ein oder andere Stichprobe machen. Schon auf diese Weise werden Sie im Laufe der Jahre mehr Regelwidrigkeiten aufdecken, als Ihnen lieb ist. Aber, um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Verhaltenskontrolle ist nur einer von vielen Aspekten der Führung, nicht ihr Sinn oder hauptsächlicher Gegenstand. Führungskräfte, die sich in allen Gesprächen und Veranstaltungen primär als Kontrolleure gebärden, zerstören damit die Führungsbeziehung und vernachlässigen andere Aspekte ihres Jobs.
Verhaltenskontrollen sind » Maßvolle unerlässlich.
8.8 Kritikgespräche Ein Kritikgespräch kann entweder im Rahmen der sonstigen Routinen, insb. der regelmäßigen individuellen Arbeitsbesprechung, stattfinden oder – dann als Bedarfsroutine – eine eigenständige Aktivität anlässlich von Fehlverhalten darstellen. Idealerweise wird sie möglichst selten durchgeführt, bei Bedarf aber ist sie wichtig: „Kritik mag unangenehm sein, aber sie ist notwendig. Sie hat dieselbe Aufgabe wie der Schmerz im menschlichen Körper – die Aufmerksamkeit auf einen ungesunden Zustand zu lenken.“XIV
» Gelegentliche Kritik ist unvermeidbar.
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Damit ist nicht gemeint, dass Sie bei Fehlverhalten ordentlich Dampf ablassen sollen, denn es geht weder um eine vermeintlich gerechte Strafe noch um Ihre eigene Psychohygiene. Die Führungsaufgabe besteht vielmehr darin, dafür zu sorgen, dass Ihre Mitarbeitenden ihre Leistung richtig einschätzen. Gerade bei schweren Fehlern und Fehltritten ist den Handelnden aber ja fast immer völlig klar, was schiefgelaufen ist und welchen Anteil sie daran haben – und Nachhilfe entsprechend unnötig. Außerdem, und eben deshalb, plagen sie in der Regel Schuldgefühle und Angst vor Konsequenzen, was die Handlungsfähigkeit stark beeinträchtigen kann. Entweder Sie unterstützen hier oder Sie stellen den Betreffenden von der Arbeit frei. Auch bei weniger schweren Fehlern im Alltagsgeschäft ist es nicht zielführend, den Verursacher primär zu tadeln oder zu strafen. Vielmehr muss gemeinsam nach einer Lösung gesucht werden, um solche Fehler für die Zukunft zu vermeiden. Sehr häufig stellt sich dabei heraus, dass die Hauptursache gar nicht in personellem Versagen, sondern in der Arbeitsorganisation liegt und sich mit organisatorischen Mitteln, z. B. Checklisten, recht einfach abstellen lässt.
» Kritisieren Sie lösungsorientiert … Dabei sollten Sie auch beachten, dass das Selbstwertgefühl für uns alle viel wichtiger ist, als gemeinhin angenommen oder zugegeben wird.XV Seien wir doch mal ehrlich: Die meisten von uns wünschen sich zwar von anderen Sportsgeist und Nehmerqualitäten, sind aber selbst ausgesprochene Mimosen. Jedes falsche Wort und jede vermeintliche Grenzüberschreitung betrachten wir als Kränkung und antworten darauf mit Rückzug oder Gegenangriff. Achten Sie daher bei Ihrer Kritik auf eine selbstwertschonende Form. Dabei helfen Ihnen die klassischen Feedbackregeln6: Bleiben Sie ruhig und respekt-
6 Zu den klassischen Feedbackregeln gehört eigentlich auch, anderen kein Feedback aufzudrängen und auf Bewertungen zu verzichten (zugunsten von reinen Beschreibungen). Im Arbeitskontext und in der Führungskräfterolle sind hier Ausnahmen angezeigt.
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voll. Trennen Sie Person und Sache. Bennen Sie Sachverhalte konkret und mit Beispielen. Würdigen Sie immer auch Positives. Und, ganz wichtig: Kritik immer nur unter vier Augen! Weniger hilfreich sind das sog. „Sandwichen“ (von Kritik mit vorangehendem und nachfolgendem Lob) und ähnliche rhetorische Verrenkungen, denn sie werden natürlich als solche erkannt. Im Übrigen könne Sie sich entspannen, denn es ist keineswegs erforderlich, einen Konsens zu erzielen. Gestehen Sie Ihrem Mitarbeiter seine eigene Meinung zu, selbst wenn diese fehlgeht. Ihr Job besteht darin, Ihre Einschätzung und deren Maßgeblichkeit zu verdeutlichen und Selbstbeurteilungsdefizite solchermaßen zu korrigieren. In Checkliste 7 finden Sie dies Praxistipps für Kritikgespräche noch einmal als Überblick.
» … und selbstwertschonend. Checkliste 7: Empfehlungen für Kritikgespräche. (© Boris Kaehler 2019. All Rights Reserved.) • Negatives und positives Feedback balancieren: Beschränken Sie Ihre Rückmeldung nicht nur auf Fehler und negative Aspekte mit Handlungsbedarf, sondern würdigen Sie auch alles, was gut gelaufen ist. Reine Kritikgespräche gibt es auch, aber sie gehören (als Warnung und vorbereitende Maßnahme) eher in den Kontext der Einzelfalltrennung. • Selbstwertschonendes Vorgehen: Es gibt Zeitgenossen, zu denen man nur mit harten Ansagen durchdringt. In den meisten Fällen aber sind Sie gut beraten, Ihre Kritik so sanft wie möglich vorzutragen. Beachten Sie die klassischen Feedbackregeln; unterscheiden Sie vor allem penibel zwischen der Person und ihrem Verhalten. • Erzwingen Sie keinen Konsens: Gestehen Sie dem Mitarbeitenden seine eigene Meinung zu. Ein Konsens ist überhaupt nicht erforderlich, es reicht, wenn Ihre Einschätzung als Führungskraft und deren Maßgeblichkeit deutlich werden. • Fehler konstruktiv angehen: Die Funktion der Leistungsrückmeldung besteht weder darin, Dampf abzulassen, noch darin, durch Kritik zu strafen – beides wäre dysfunktional. Fehler sind den Handelnden i. d. R. bereits bewusst, und falls nicht, reicht meist ein Hinweis. Bei schweren Vergehen stellen Sie den Betroffenen von der Arbeit frei;
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in allen anderen Fällen geht es darum, zu unterstützen und die ggf. beeinträchtigte Handlungsfähigkeit wiederherzustellen. Es muss gemeinsam nach einer Lösung gesucht werden (die oft gar nicht in der Person, sondern in der Arbeitsorganisation zu suchen ist; die meisten Fehler lassen sich z. B. durch Checklisten abstellen). • Grundsatz Nr. 1: Kritik immer nur unter vier Augen!
An dieser Stelle mag noch ein Hinweis zum Umgang mit Fehlern im Allgemeinen angezeigt sein, wird doch unter dem Begriff „Fehlerkultur“ oft propagiert, Arbeitsfehler gar nicht mehr negativ zu sanktionieren. Und in der Tat wird in besonders risikokritischen Berufen – z. B. bei Piloten und Ärzten – größter Wert darauf gelegt, die offene und ehrliche Mitwirkung an der Aufarbeitung von Fehlerursachen nicht durch Kritik, Strafen o. Ä. zu konterkarieren.XVI Auch überall sonst sollte man aus ebendiesem Grunde gut überlegen, ob Strafanreize bei Fehlern wirklich angezeigt sind.7 Zum einen aber muss dann unbedingt eine sachliche Untersuchung von Fehlerursachen gemeinsam mit dem daran beteiligten Mitarbeitenden stattfinden, im Sinne einer Behebung struktureller Ursachen. Dies kann u. a. Gegenstand des Kritikgesprächs sein, was guten Mitarbeitenden i. d. R. unangenehm genug ist. Zum anderen ist Verhältnismäßigkeit gefragt, wobei eine ganzheitliche Würdigung der Gesamtsituation und der Person gefragt sind. Natürlich entstehen beim innovationsorientierten Herumexperimentieren und Ausprobieren Fehler, das liegt in der Natur der Sache. Bei Routinetätigkeiten gilt es sie zu vermeiden, und trotzdem unterlaufen uns allen immer wieder mal welche – die Frage ist, wie oft. Manchmal sind sie auch Ausgangspunkt für Neuerungen. Dann gibt es noch Fehler, die aus bewusster Regelüberschreitung und Nichtbeachtung von Arbeitsvorgaben entstehen. Diese Sachverhalte werden in der Literatur leider allzu oft vermischt. Auf jeden Fall, dürfen Fehler nicht einfach ignoriert werden. Wo gearbeitet wird, passieren zwar welche. Durch allgemeine Fehlermaximierung wird eine Organisation aber nicht erfolgreich.
7 Eine Besonderheit sind Abmahnungen, die im Vorfeld von Trennungen arbeitsrechtlich erforderlich sind und daher schweren Pflichtverstößen vorbehalten sein sollten.
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Anmerkungen I. Diese Idee der „linking pins“ geht auf Rensis Likert zurück. II. Mintzberg 2009, S. 175; eigene Übersetzung. III. Merkle 1983, S. 271. IV. Tab. 8.1: Aus Kaehler 2020, S. 449. © Boris Kaehler. V. Ulrich/Smallwood/Sweetman 2008, S. 86; eigene Übersetzung. VI. Dieter Zetsche, ehemaliger Vorstandvorsitzender der Daimler AG; zitiert aus Handelsblatt 24.‒26.10.2014; S. 26. VII. Drucker 1954, S. 130; eigene Übersetzung. VIII. Rüdiger Grube, ehemaliger Vorstandsvorsitzender der Deutsche Bahn AG; zitiert aus Handelsblatt 9.‒11.5.2014, S. 74. IX. Tab. 8.2: Nach Kaehler 2024; dort aus Kaehler 2020, S. 249; dort modifiziert nach Kaehler 2017, S. 421. © Boris Kaehler. X. Eine sehr zutreffende Feststellung von Malik 2000, S. 348 ff. XI. BAG 11.12.2003; 2 AZR 667/02. XII. Vgl. Malik 2000, S. 227. XIII. Sprenger 2012, S. 143. XIV. Oft Sir Winston L. Spencer-Churchill zugeschrieben; möglicherweise zu Unrecht. XV. Vgl. z. B. Birkenbiel 2006, S. 21 ff. XVI. Dies wird in der Literatur unter dem Begriff „Human Factors“ thematisiert (vgl. z. B. Badke-Schaub et al. 2012), womit menschliche Ursachenfaktoren für Unfälle gemeint sind.
Literatur Badke-Schaub Petra/Hofinger, Gesine/Lauche, Kristina (2012): „Human Factors: Psychologie sicheren Handelns in Risikobranchen“; 2. Auflage Springer 2012. Birkenbiel, Vera F. (2006): „Kommunikationstraining“; 27. Auflage MVG Verlag 2006. Drucker; Peter F. (1954): „The Practice of Management“; Neuauflage Harper Collins 2006 (Erstauflage 1954). Kaehler, Boris (2017): „Komplementäre Führung – Ein praxiserprobtes Modell der Personalführung in Organisationen“; 2. Auflage Springer Gabler 2017.
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Kaehler, Boris (2020): „Komplementäre Führung – Ein praxiserprobtes Modell der Personalführung in Organisationen“; 3. Auflage Springer Gabler 2020. Kaehler, Boris (2024): „Komplementäre Führung – Ein praxiserprobtes Modell der Personalführung in Organisationen“; 4. Auflage Springer Gabler 2024 (noch unveröffentlichtes Manuskript). Malik, Fredmund (2000): „Führen, Leisten, Leben“; Neuauflage Campus 2006 (Erstauflage 2000). Merkle, Hans L. (1983): „Führung durch Manager – Demokratie im Unternehmen?“; in Merkle, Hans L.: „Dienen und Führen – Erkenntnisse eines Unternehmers“; 2001 Hohenheim Verlag; S. 267–279. Mintzberg, Henry (2009): „Managing“; Berret-Koehler Publishers 2009. Sprenger, Reinhard K. (2012): „Radikal führen“; Campus 2012. Ulrich, Dave/Smallwood, Norm/Sweetman, Kate (2008): Leadership Code; Harvard Business Press 2008.
9 Kompetenz und Entwicklung fördern
In diesem Kapitel geht es um die Förderung von Kompetenz, eine wichtige Facette der Führungsarbeit. Ich gewinne dem Thema drei unterschiedliche Perspektiven ab, die sich als einzelne Führungsaufgaben verstehen lassen, nämlich die Entwicklung in weiterführende Positionen, die Anpassungsqualifizierung und die Förderung von Innovationen. Diese Aspekte werden im folgenden Kapitel aus Sicht der Führungskraft beleuchtet und mit praktischen Hinweisen hinterlegt, u. a. zu Anleitungen am Arbeitsplatz und Qualifizierungs- bzw. Entwicklungsprojekten.1
1 Da
die Kapitel in der E-Book-Version einzeln abrufbar sind, wiederhole ich den folgenden Hinweis aus dem Vorwort: Dieses Buch beruht auf dem Theoriemodell der Komplementären Führung, das ich für führungskonzeptionell Interessierte in meinem wissenschaftlichen Grundlagenwerk gleichen Titels dargelegt habe (Kaehler 2020). „Führen als Beruf“ soll dieses Wissen für Führungskräfte als Anwenderinnen und Anwender aufbereiten, gut verständlich und streng praxisorientiert. Fast alle Ideen und auch manche Formulierungen, die Sie hier finden, stammen aber aus dem ersten Buch, das lässt sich nicht vermeiden. Aus Gründen der Lesbarkeit – dies ist kein wissenschaftliches Werk – sind dabei nicht alle Selbstzitate explizit als solche gekennzeichnet. Andere Autoren und Quellen werden aber natürlich nach bestem Wissen und Gewissen korrekt und vollständig zitiert.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Kaehler, Führen als Beruf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67567-0_9
193
194 B. Kaehler
9.1 Entwicklung in weiterführende Positionen Das Entwickeln von Mitarbeitenden ist eine Aufgabe, die in kaum einem Führungsmodell fehlt. Zwar liebäugelt nicht jede und jeder mit weiterführenden Positionen, aber für diejenigen, die es tun, ist dies ein großer Treiber und wichtiger Sinngeber. Hin und wieder bitten mich Unternehmen, doch ihren Führungskräften zu erklären, dass sie die ersten Personalentwickler sind – und nicht etwa die Personalabteilung. Das tue ich gern und ergänze, dass auch diese Führungsaufgabe primär eine Selbstführungsaufgabe ist. Wer darauf wartet, fremdentwickelt zu werden, hat selten großes Entwicklungspotenzial. Vereinzelt gibt es aber auch solche Fälle, und hier muss die Führungskraft eben kompensatorisch eingreifen. Welcher Mitarbeiter Potenzial für welche Position hat, ist letztlich eine eignungsdiagnostische Frage, d. h., es gibt Überschneidungen mit der Personalauswahl. Besondere Aktualität erhält das Thema durch die großen Umwälzungen unseres Wirtschaftslebens. Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden sich in den kommenden Jahren in neue, zukunftsgerichtete Jobs entwickeln müssen, weil ihre alten nicht mehr gebraucht werden.2
erste Personalentwickler ist der Mit» Der arbeiter selbst. Dabei spielen die individuellen Stärken eine wichtige Rolle, also die Frage, was jemand bereits gut kann oder aufgrund seiner Begabungen und Vorkenntnisse in absehbarer Weise in Zukunft gut können wird. Entwicklung setzt aber auch voraus, Schwächen zu erkennen. Manche Trainer und Autoren bedienen den Wunsch nach Positivem, indem sie Stärken und Potenziale als allein maßgeblich darstellen („Stärken stärken!“). In Wirklichkeit geht es aber primär um hand-
2 Personaler
diskutieren dies unter den Begiffen „Reskilling“ und „Upskilling“.
9 Kompetenz und Entwicklung fördern 195
lungsleitende Selbsterkenntnis, und diese muss beides thematisieren. Schwächen mögen jemanden trotz aller Stärken untauglich für eine Position machen oder jedenfalls Qualifizierungsbedarf begründen. Sie für irrelevant zu erklären, beschränkt unnötig den Handlungsraum und, schlimmer, macht uns möglicherweise zu Opfern von Selbstdiskriminierung. Wer aus Einzelerlebnissen schließt, bestimmte Dinge nicht zu können, und diese vermeintlichen Schwächen dann nicht mehr hinterfragt, hat zeitlebens ein völlig falsches Bild von den eigenen Fähigkeiten.I
» Relevant sind Stärken und Schwächen. Auf dem Feld der Entwicklung sind die konkreten Möglichkeiten oft durchaus begrenzt. Aus der Schülerpraktikantin soll eine Azubine werden, aus ihr eine Studentin/Hochschulpraktikantin, aus dieser eine Hochschulabsolventin und aus ihr eine Junior-Expertin. Natürlich ist das nur ein grobes Schema, tatsächliche Entwicklungsverläufe können anders aussehen. Im Wesentlichen geht es aber darum, Potenzialträgerinnen und -träger auf die nächste Entwicklungsstufe zu heben. Leider ist es vielen Organisationen bis heute nicht gelungen, neben der Führungslaufbahn gleichwertige Fach- oder Projektlaufbahnen zu schaffen. Dort streben dann alle, die gern Autonomie, Status und Geld hätten, zwangsläufig in die Führungslaufbahn, ohne zwingend dafür geeignet zu sein. Gute Entwicklungsarbeit sollte dies zu verhindern suchen.
heißt nicht immer Führungs» Entwicklung laufbahn. Da die allermeisten Entwicklungsstufen irgendeine Art von Abschluss oder Kompetenzniveau erfordern, findet Entwicklung oft durch Programme statt (Tab. 9.1). Erstausbildung, berufsbegleitende Aus- und
196 B. Kaehler Tab. 9.1 Typische Entwicklungsprogramme (© Boris Kaehler 2019. All Rights Reserved.)II Erstausbildungen
Berufsausbildung i. S. d. § 1 BBiG; duale Hochschulausbildung; Ausbildungen in öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnissen; reine Anlernausbildungen
Berufsbegleitende Aus- und Fortbildungen
Erwerb höherer Formalqualifikationen (z. B. Fachwirtausbildung, berufsbegleitendes Studium)
Nachwuchsprogramme
Traineeprogramme; sonstige Nachwuchsprogramme (z. B. für künftige Führungskräfte)
Studentenprogramme
Praktikanten- und Werkstudentenprogramme
Förderprogramme
Spezialprogramme für bestimmte Zielgruppen, meist solche mit Aufstiegserschwernissen (z. B. Frauen oder Geflüchtete)
Fortbildungen, Trainee-/Nachwuchsprogramme oder Praktikantenprogramme dienen allesamt dem Zweck, (potenzielle) Mitarbeitende zu entwickeln.3 Damit füllen Sie dann auch gleich die Kandidatenpools für weiterführende Positionen – Ihre eigenen oder die anderer Organisationseinheiten (was dann hoffentlich anerkannt wird). Wie alle formalisierten Instrumente können sie helfen, aber durchaus auch dysfunktional wirken, z. B. wenn sie bei den Teilnehmenden unrealistische Erwartungen aufbauen, die später enttäuscht werden. Auch hier sind Sie also als Führungskraft gefordert, die Effekte der Maßnahme einzuschätzen und ggf. zu korrigieren. Und natürlich obliegt es in der Regel Ihnen, das Potenzial des Mitarbeiters oder der Mitarbeiterin zu beurteilen und entsprechende Maßnahmen freizugeben. 3 Diese sinnvolle Verknüpfung von Rekrutierung, Entwicklung und Bindung wird in den letzten Jahren unter dem Begriff „Talentmanagement“ praktiziert. Das Problem dabei ist der Begriff des „Talents“. Damit sind entweder alle Mitarbeitenden gemeint, dann ist er irreführend und verzichtbar. Oder er meint nur Potenzialträger für zukünftig besonders wichtige Positionen, was unlösbare Abgrenzungsprobleme aufwirft und dazu führt, dass Teile der Belegschaft unsinnigerweise besser geführt werden als andere.
9 Kompetenz und Entwicklung fördern 197
9.2 Anpassungsqualifizierung Was die reine Anpassungsqualifizierung angeht, ist die Gefahr durch dysfunktionale Personalinstrumente noch größer. Manch einer glaubt, Qualifizierung bestünde im regelmäßigen Besuch von Weiterbildungsveranstaltungen. Echtes Lernen findet indes größtenteils informell statt. Die Führungsroutine (= Aktivität) der Anleitung am Arbeitsplatz (Abschn. 9.3) spielt dabei eine wichtige Rolle und lässt sich durchaus in Teilen delegieren. Ganz generell gilt aber auch hier zunächst das Primat der Selbstführung. Der ideale Mitarbeitende hat gelernt zu lernen – das ultimative Ziel von Ausbildung und Studium. Diese Lernfähigkeit umfasst die regelmäßige Selbstvergewisserung, welche Qualifizierungslücken entstanden sein könnten, aber auch das selbstständige Schließen dieser Lücken. Heutzutage gibt es eine solche Fülle insbesondere elektronischer Selbstlernmaterialien, sodass hier wenige Wünsche offenbleiben. Schon in vordigitalen Zeiten war es freilich für viele selbstverständlich, an der eigenen Aufgabe zu lernen und sich fehlende Kenntnisse selbst anzueignen, z. B. durch Befragung von Kollegen oder Studium von Büchern. Ohnehin leben natürlich auch die sonstigen Qualifizierungsformate (Tab. 9.2) vom informellen, selbstgetriebenen Lernen der Teilnehmenden. Entscheidend ist daher die bedarfsgerechte, arbeitsplatznahe und auf Eigeninitiative setzende Mischung. Ein Beispiel: „[…] eine Weiterbildung sollte dann stattfinden, wenn ein Mitarbeiter gerade Bedarf hat. […] Wenn jemand am nächsten Tag ein Strategieseminar abhalten muss, dann konnte er sich im Internet mehrere Videos anschauen, ein Onlinetool nutzen und mit drei, vier Leuten Kontakt aufnehmen, die einen Monat zuvor eine Strategiesitzung geplant haben“ (Dave UlrichIII). Die komplementäre Rolle der Führungskraft besteht hier insbesondere darin, dafür zu sorgen, dass das Angebot, die Nachfrage und der Bedarf möglichst weit in Deckung gebracht werden. Nur was in der Schnittmenge dieser drei liegt, ist wirklich qualifikationswirksam.
» Lernen ist bekanntlich immer Selbstlernen.
198 B. Kaehler Tab. 9.2 Beispielhafte Bildungsmaßnahmen (© Boris Kaehler 2019. All Rights Reserved.)IV Weiterbildung (unternehmensintern oder extern)
Moderation; Vorlesung; Lehrgespräch; Gruppenarbeit; Fallstudien; Rollenspiele; „Action Learning“; Planspiele; Simulationen; „Code Katas“ (aus der Softwareprogrammierung entlehnt) – alles ggf. als „e-learning“/„blended learning“/„MOOC“, d. h. unterstützt durch elektronische Medien
Freies Lernen
Innerbetriebliche Medien (z. B. Handbücher, Prozessbeschreibungen, Mitarbeiterzeitschriften); Fachzeitschriften; unternehmensinterne und -externe Internetseiten und Web 2.0-Anwendungen; Fachbücher; Hörbücher; Selbstlernprogramme (jeweils in gedruckter oder digitaler Form); digitale Bibliotheken
Experimentelles Lernen an der eigenen Herumexperimentieren, oft ergänzt Aufgabe durch Eigenrecherchen, Kollegenbefragungen, oder Abwesenheitsvertretungen Stellenrotation (engl. „job rotation“)
Systematischer Arbeitsplatztausch; mindestens einmal hin und zurück, z. B. auch in Form interner Hospitationen
Beratung/Reflexion
Kollegiale Fallberatung (Mitarbeitende der gleichen hierarchischer Ebene beraten sich untereinander zu Schlüsselthemen ihres beruflichen Alltags); Coaching; Mentoring; Supervision
Im Kontext der selbstverantworteten Qualifizierung kann auch das uralte Konzept der Meisterschaft eine Rolle spielen. Wo dieses wirklich gelebt und ernst genommen wird, steht die Selbstverantwortung bei der Qualifizierung automatisch im Mittelpunkt. In der populären Ratgeber- und Managementliteratur wird die Idee der Meisterschaft immer wieder einmal aufgegriffen, dann zumeist mit künstlerischesoterischem Einschlag.V Ich verstehe darunter eher die professionelle Beherrschung einer Disziplin, im Sinne eines langfristig ausgerichteten
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Strebens nach Perfektion und der Würde eines an optimaler Arbeitserledigung orientierten beruflichen Tuns im Alltag. Meisterin oder Meister ihres jeweiligen Faches sollten alle Mitarbeitenden sein bzw. werden, unabhängig davon, ob sie eine hochqualifizierte oder einfache Tätigkeit ausüben. Auch den Arbeitgeber nimmt das Konzept in die Pflicht, denn Meisterschaft muss schließlich erreichbar sein. Dafür müssen nicht nur Qualifizierungsbemühungen unternommen werden, sondern auch die Arbeitsbedingungen stimmen. Wer zu wenig Zeit hat, muss Pfusch betreiben und wer nicht lange genug auf einer Stelle verbleibt, wird seine Fähigkeiten hinsichtlich dieses Aufgabengebietes auch nicht vervollkommnen können.
» Kultivieren Sie Meisterschaft. 9.3 Anleitung/Coaching am Arbeitsplatz Eine sehr häufige Form organisationalen Lernens sind informelle Unterweisungen und Beratungen am Arbeitsplatz. Da sie von den Beteiligten normalerweise nicht als echtes Qualifizierungsprojekt, sondern eher als niederschwelliges Mikro-Lernen begriffen werden, ergibt es Sinn, sie als gesonderte Bedarfsroutine (= Führungsaktivität) zu verstehen. Grundsätzlich können Anleitungen zwar auch im Rahmen der regelmäßigen individuellen Arbeitsbesprechung stattfinden. Dort gehen sie aber zulasten der sonstigen Inhalte, weshalb es sich meist lohnt, sie auf separate zusätzliche Gespräche zu vertagen. Dabei wird anlässlich von Qualifizierungsbedarfen von Ihnen oder anderen Führungsakteuren direkt am Arbeitsplatz in konkreten Arbeitsanwendungen angeleitet und unterwiesen bzw. gecoacht und beraten. Praxistipps dafür finden Sie in Checkliste 8.
klingt altmodisch, ist aber » Anleitung wichtig.
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Checkliste 8: Empfehlungen für Anleitungen am Arbeitsplatz (© Boris Kaehler 2023. All Rights Reserved.) • Vorbereitung: Überlegen Sie vorab, worum es Ihnen bei der Anleitung konkret geht (z. B. Fach-/Methodenkenntnis, Anwendungsfähigkeit und/oder Geisteshaltung) und geben Sie dem Mitarbeiter bzw. der Mitarbeiterin vorbereitendes Material an die Hand. • Delegieren: Überlassen Sie das Anleitungsgespräch dem Teammitglied, dass das jeweilige Thema inhaltlich und didaktisch am besten vermitteln kann. Nicht immer sind Sie es selbst. • Separates Gespräch: Längere Anleitungen sprengen den Rahmen der regelmäßigen Arbeitsbesprechung und sollten daher als separate Gespräche geplant werden. • Strukturfokus: Helfen Sie nicht nur beim Finden der konkreten Lösung, sondern vermitteln Sie vor allem auch das Vorgehen beim Strukturieren von Aufgaben und Inhalten. • Selbstlernen anregen: Referieren Sie nicht zu lange, bei vielen führt das zu Blockaden. Fragen Sie vielmehr kleinschrittig ab, wie der oder die Angeleitete selbst vorgehen würde, und ermöglichen Sie immer mal wieder ungestörte Einzelarbeit an Teilschritten. • Mitschrift: Bestehen Sie darauf, dass der Mitarbeiter mitschreibt und sich damit Unterlagen schafft, in denen er später bei Bedarf nachblättern kann. Geben Sie während der Anleitung bewusst Zeit dafür. • Gemeinsames Lernen: Eine subtile Art der Anleitung besteht darin, sich gemeinsam Gedanken über neue Geschäftsentwicklungen, Technologien oder Herausforderungen zu machen. Der oder die Anleitende kann dabei zwar von Neuerungen berichten, im Wesentlichen ist es aber ein Fachgespräch unter Lernenden.
Sofern Sie bei diesen Anleitungen eigene Lösungen erarbeiten lassen, kann das Ganze auch einmal Coaching-ähnlichen Charakter annehmen. Es ist aber kein Coaching, denn als Führungskraft sind Sie kein professioneller Coach, sondern haben, wie wir gesehen haben, als Arbeitgebervertreter eine viel komplexere Rolle. Zwar gräbt alle paar Jahre wieder ein Managementschreiber die alte Idee von der coachingorientierten Führung und vom Manager als Coach aus. Das lebt aber immer sehr von der plumpen Analogie zum Sport (Trainer = engl. „coach“) und einer simplifizierten Idee von Selbstführung. Es schadet nicht, wenn Sie den Begriff hin und wieder nutzen, und es ist eine gute Sache, wenn Sie „entwicklungsorientierte Fremdführung“ mit dem Ziel maximaler Selbstführung betreiben. Anleitungen sind aber zunächst
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einfach Qualifizierungsmaßnahmen, und Sie sind und bleiben dabei aber immer Führungskraft.
9.4 Qualifizierungs- und Entwicklungsprojekte Wie alle Führungsaufgaben bedürfen auch Qualifizierung und Entwicklung der Umsetzung im Rahmen konkreter Aktivitäten. Ich fasse diese in der Bedarfsroutine des Qualifizierungs- und Entwicklungsprojekts zusammen, wobei solche je nach Inhalt naturgemäß sehr unterschiedlich ausfallen können. Wie bereits angesprochen, wird in der Regel auf fertige Angebote bzw. Instrumente zurückgegriffen, sodass ein solches Projekt Ihnen und Ihren Mitarbeite nicht wirklich projekthaft erscheinen mag. Der Projektgedanke soll aber verdeutlichen, dass es sich um eine bei Bedarf wahrzunehmende Aktivität handelt, die Zeit kostet. Insbesondere die präzise Abstimmung der Maßnahmen auf den tatsächlichen Bedarf sowie der Transfer von Erlerntem in den Arbeitsalltag fallen nicht vom Himmel und bedürfen besonderer Selbstführungsbemühungen der Mitarbeitenden, welche Sie als Führungskraft oft komplementär unterstützen müssen. Praxistipps dafür finden Sie in Checkliste 9.
und Qualifizieren erfordert Ein» Entwickeln satz. Checkliste 9: Empfehlungen für Qualifizierungs- und Entwicklungsprojekte (© Boris Kaehler 2023. All Rights Reserved.) • Bedarfsanalyse und Evaluation: Investieren Sie weder Geld noch Zeit, ohne den tatsächlichen Bedarf zu analysieren und später eine Evaluation der Ergebnisse durchzuführen (vgl. auch Abschn. 14.5). • Alternativen prüfen: Von Dritten angebotene Maßnahmen und Programme können sehr sinnvoll sein. Prüfen Sie aber, inwieweit Sie diese durch eigene Maßnahmen „on-the-job“ ersetzen oder flankieren können. Denn in erster Linie gilt: „Menschen entwickeln sich mit und an Ihren Aufgaben“ (Fredmund MalikVI).
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• Arbeitsnähe: Setzen Sie auf selbstgesteuertes, arbeitsnahes Lernen an möglichst realistischen Sachverhalten. • Gamification: Nutzen Sie moderne Möglichkeiten des spielerischen Lernens, z. B. in Form von „Serious Games“. • Anbieter gut auswählen: In der Trainings- und Coaching-Szene gibt es viele gute, aber auch problematische Anbieter und echte Scharlatane. Etliche maximieren die Teilnehmerzufriedenheit zulasten des Lernerfolgs oder nutzen unseriöse Methoden. Wenn Sie sich nicht selbst auskennen, fragen Sie Expertinnen und Experten um Rat. • Bewusster Transfer: Binden Sie die Maßnahmen explizit in den Arbeitskontext ein, indem Sie sie in den gemeinsamen Arbeitsbesprechungen vor- und nachbereiten. Nehmen Sie den Mitarbeiter bzw. die Mitarbeiterin in die Pflicht, z. B. durch gemeinsam erarbeitete Ziele. • Rückzahlung: Bei sehr teuren Maßnahmen können Sie Rückzahlungsvereinbarungen für den Fall einer Kündigung schließen.VII
9.5 Innovation kultivieren Innovationen erwachsen in den allermeisten Fällen entweder als Nebenergebnis aus der normalen Arbeit der Mitarbeitenden oder als Hauptergebnis aus der normalen Arbeit spezialisierter Forschungs- und Entwicklungseinheiten. Ihre besondere Bedeutung sowie die Tatsache, dass Neuerungen häufig vernachlässigt werden, macht ihre Förderung dennoch zu einer Führungsaufgabe. Sie obliegt wie immer zunächst den Mitarbeitenden als Selbstführenden. Innovationen sind Lösungen, die ihrer Art oder ihrem Nutzen nach neu sind. Dabei geht es nicht nur um das Generieren kreativer Ideen, sondern auch um deren Erprobung und Verwertung. Die Innovationsstärke einer Organisation entscheidet schließlich sowohl über ihre aktuelle Leistungsfähigkeit als auch über ihre künftige Wettbewerbsfähigkeit. Insofern ist es für Organisationen hochgradig erfolgskritisch, Markt und Umfeld ständig auf Innovationsmöglichkeiten hin zu prüfen und daraus entstehende Ideen systematisch zu entwickeln, zu testen und zur Reife zu bringen.VIII Wer nicht mit der Zeit geht, der geht bekanntlich mit der Zeit. Inhaltlich ist dies natürlich eine Sachgeschäftsaufgabe;
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Mitarbeitende innovativ zu halten, lässt sich allerdings als Leistungsbedingung und mithin als Personalführungsaufgabe verstehen. Als Führungskraft müssen Sie meist weniger in Bezug auf die Ideenentwicklung als vielmehr in Bezug auf die Realisierung unterstützen. Viele nehmen sich nicht von sich aus die erforderliche Arbeitszeit dafür und müssen erst aktiv dazu ermutigt werden. Allerdings sind – Beiträge zum Thema erwecken hier oft einen falschen Eindruck – nicht alle Organisationsangehörigen permanent mit Innovationen beschäftigt, und sollten es auch gar nicht sein.4 Den Großteil der Neuerungen leisten in der Regel spezielle, intern oder extern angesiedelte Einheiten für Innovationsleistungen, seien es klassische Forschungs- und Entwicklungsabteilungen oder neuartige Formate mit hübschen Namen wie „Lab“, „Hub“ oder „Space“. Auch sind Führungskräfte ab einer bestimmten Verantwortungsstufe verstärkt mit innovativen Veränderungen befasst. Nicht umsonst soll sich Jack Welch als Chef von General Electric eine Stunde am Tag reserviert haben, um aus dem Fenster zu schauen („looking out the window time“), und Bill Gates verbrachte zwei „Denkwochen“ jährlich in einem abgelegenen Landhaus.IX Grundsätzlich sollten aber alle Mitarbeitenden im Alltag laufend mitdenken und Neues anstoßen. Formalisierte Programme des Ideenmanagements können hier hilfreich sein. Ein guter Ansatzpunkt ist oft das Konzept der kontinuierlichen Verbesserung. Wenn alle Mitarbeitenden ihre Arbeit und ihr Arbeitsumfeld laufend auf Optimierungsmöglichkeiten hin prüfen und sowohl Probleme als auch mögliche Chancen festhalten, ergeben sich daraus oft ganz neue Ansätze. So liegt der Ursprung vieler disruptiver Produkte in der Analyse von Ineffizienzen. Zu erkennen, was Kunden und Mitarbeitende an Produkten, Prozessen und Geschäftsmodellen nervt, kann der Ausgangspunkt radikaler Neuerungen sein.X Entscheidend ist dabei, dass die geäußerten Ideen und Vorschläge auch konsequent geprüft und
4 Z. B.
ist das berühmte Google-Modell, nachdem die gesamte Belegschaft einen Tag in der Woche eigene, frei gewählte Vorhaben verfolgen darf, wohl ein reiner Mythos. Tatsächlich gilt diese Regelung nur für Ingenieure und wird ansonsten fallweise gehandhabt (vgl. Bock 2015, S. 135 f.).
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weiterverfolgt werden. Nicht jede Idee ist Gold wert und umsetzungswürdig. Die Art und Weise, wie damit umgegangen wird, beeinflusst aber maßgeblich die zukünftige Bereitschaft, weiter am Ball zu bleiben. In vielen Organisationen werden innovative Ansätze so lange ignoriert oder sogar abgewehrt, bis keiner mehr Lust hat, irgendwelche Vorschläge beizusteuern. Dem gilt es entgegenzuwirken, was konkret bedeutet, dass Sie in allen Führungsroutinen immer auch über Verbesserungspotenziale und mögliche Innovationen sprechen sollten.
» Verankern Sie Innovationen im Alltag. Anmerkungen I. Kasparow 2008, S. 103. II. Tab. 9.1: Aus Kaehler 2020, S. 477, und Kaehler 2017, S. 367; dort nach Kaehler 2014a, S. 147; © Boris Kaehler. III. Dave Ulrich, HR-Vordenker; zitiert nach Höhmann 2016, S. 74. IV. Tab. 9.2: Nach Kaehler 2020, S. 473; dort nach Kaehler 2017, S. 366; dort nach Kaehler 2014a, S. 143; © Boris Kaehler. V. Vgl. Senge 1990, S. 129 ff.; Leonard 1991; Greene 2012 VI. Malik 2000, S. 245. VII. Vgl. z. B. Stück 2022. VIII. Vgl. z. B. Drucker 1973, S. 782 ff.; Malik 2007, S. 276. IX. Jahn 2013. X. So Digitalexperte Christoph Keese, zitiert nach o. V. 2016.
Literatur Bock, Laszlo (2015): „Work Rules – Insights from Inside Google That Will Transform How You Live and Lead“; John Murray Publishers 2015. Drucker; Peter F. (1973): „Management – Tasks, Responsibilities, Practices“; Neuauflage Harper Business 1993 (Erstauflage 1973). Greene, Robert (2012): „Mastery“; Profile Books 2012.
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Höhmann, Ingmar (2016): „Fast niemand kann die Qualität von Führung bewerten“ (Interview mit Dave Ulrich); Harvard Business Manager 2/2016; S. 70–75. Jahn, Thomas (2013): „Denkwochen im Landhaus“; Handelsblatt 21.8.2013; S. 26. Kaehler, Boris (2014a): „Komplementäre Führung – Ein praxiserprobtes Modell der organisationalen Führung“; 1. Auflage Springer Gabler 2014. Kaehler, Boris (2017): „Komplementäre Führung – Ein praxiserprobtes Modell der Personalführung in Organisationen“; 2. Auflage Springer Gabler 2017. Kaehler, Boris (2020): „Komplementäre Führung – Ein praxiserprobtes Modell der Personalführung in Organisationen“; 3. Auflage Springer Gabler 2020. Kasparow, Garri (2008): „Strategie und die Kunst zu leben“; Piper 2008. Leonard, George (1991): „Mastery – The Keys to Success and Long-term Fulfillment“; Plume 1991. Malik, Fredmund (2000): „Führen, Leisten, Leben“; Neuauflage Campus 2006 (Erstauflage 2000). Malik, Fredmund (2007): „Management – das A und O des Handwerks“ (Band 1 der Serie „Management – Komplexität meistern“); Neuauflage Campus 2007. O. V. (2016): „Genervt sein ist etwas Gutes“; https://www.humanre sourcesmanager.de/news/genervt-sein-ist-etwas-gutes.html (Zugriff am 7.3.2023). Senge, Peter M. (1990): „The Fifth Discipline – The Art and Practice of the Learning Organization“; Neuauflage Currency Doubleday 2006 (Erstveröffentlichung 1990). Stück, Volker (2022): Fortbildungsrecht und Rückzahlungsvereinbarungen; Arbeit und Arbeitsrecht 12/22; S. 18‒23.
10 Zusammenarbeit gestalten
Anders als viele glauben, lässt sich Mitarbeiterführung nicht sinnvoll auf der Teamebene betreiben. Vielmehr resultieren die relevanten Aspekte von Teamarbeit aus der richtigen Führung einzelner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Dies gilt für die Abstimmungskommunikation untereinander ebenso wie für die internen Beziehungen, Konflikte und persönlichen Netzwerke und auch für die Themen Kultur, Vielfalt und Teamgeist. Diese Führungsaufgaben will ich im folgenden Kapitel praxisnah vertiefen, wobei auch auf die Leitung von Teamsitzungen und den Umgang mit Interessenvertretungen einzugehen ist.1
1 Da
die Kapitel in der E-Book-Version einzeln abrufbar sind, wiederhole ich den folgenden Hinweis aus dem Vorwort: Dieses Buch beruht auf dem Theoriemodell der Komplementären Führung, das ich für führungskonzeptionell Interessierte in meinem wissenschaftlichen Grundlagenwerk gleichen Titels dargelegt habe (Kaehler 2020). „Führen als Beruf“ soll dieses Wissen für Führungskräfte als Anwenderinnen und Anwender aufbereiten, gut verständlich und streng praxisorientiert. Fast alle Ideen und auch manche Formulierungen, die Sie hier finden, stammen aber aus dem ersten Buch, das lässt sich nicht vermeiden. Aus Gründen der Lesbarkeit – dies ist kein wissenschaftliches Werk – sind dabei nicht alle Selbstzitate explizit als solche gekennzeichnet. Andere Autoren und Quellen werden aber natürlich nach bestem Wissen und Gewissen korrekt und vollständig zitiert.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Kaehler, Führen als Beruf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67567-0_10
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10.1 Mitarbeiter- oder Teamebene? Der Wesenskern von Organisationen ist die Arbeitsteilung. Könnte man alle Aufgaben in Wirtschaft und Gesellschaft als einzelne Person bewältigen, bräuchte man weder Unternehmen noch Behörden oder Vereine. Der Regelfall ist aber eben gerade, dass der Zweck eines Unternehmens, einer Behörde usw. der gemeinsamen Anstrengung vieler Menschen bedarf. Entsprechend stehen Führende vor der Herausforderung, die unterschiedlichen Einzelbeiträge wieder zu einer Gesamtleistung zusammenzubringen. Dazu tragen grundsätzlich alle Personalführungsaufgaben bei. So wird die Gestaltung von Aufbau- und Prozessstrukturen von manchen eben genau als „Arbeitsteilung und Koordination“ definiert.I Aber natürlich haben z. B. auch die Vergabe von Arbeitsaufgaben, das Lösen von Konflikten, die Qualifizierung oder die Rekrutierung – letztlich wirklich die gesamte Personalarbeit – mit diesem universellen Puzzlespiel zu tun. Viele Führungsansätze machen es sich einfach und setzen gleich an der Teamebene an. Dahinter steht implizit die Hoffnung, sich die Zusammenführung von Einzelleistungen sparen zu können. Wenn das Team sich bildet, das Team entscheidet, das Team Leistung erbringt etc., braucht man sich keine Gedanken um die Einzelnen zu machen, sie werden ja durch das Kollektiv gesteuert. Das aber ist ein großer Irrtum. De facto bedeutet es immer, die Augen vor der individuellen Ebene und dem Zustandekommen von Ergebnissen zu verschließen. Dabei ist die Entscheidungsfindung in Gruppen höchst problematisch. Oft setzen sich dominante und übermotivierte Teammitglieder auf Kosten anderer durch, die viel bessere Lösungen hätten; auch fährt mancher seine eigenen Beiträge zurück, weil es in der Gruppe nicht auffällt. Wer nur an der Teamebene ansetzt, blendet solche Phänomene aus. Das aber ist das Gegenteil von systematischem Management und kommt in meinen Augen einer Kapitulationserklärung gleich. Es kann eine Überlebensstrategie überforderter Führungskräfte in der Probezeit sein. Dem Zweck von Personalführung, nämlich mit einer Einheit optimale Leistungsergebnisse zu erzeugen, wird es aber nicht gerecht. Bezugspunkt von Personalführung muss daher immer der oder die
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einzelne Mitarbeitende sein. Dies gilt gerade auch für Führungsaufgaben, die kollektive Tatbestände thematisieren, insbesondere hinsichtlich Abstimmungskommunikation, Beziehungspflege/Konflikte und Gruppenzusammenhalt. Wenn jeder Einzelne dazu beiträgt, ergeben sich diese Kollektivtatbestände von selbst. Außerdem erschließt sich die Gruppen- und Organisationsebene ja automatisch über das Prinzip der verschachtelten Organisationseinheiten (Abb. 2.1 in Kap. 2).2 Das bedeutet: Wer eine optimale Teamleistung will, muss an den Einzelbeiträgen ansetzen.
Teamebene ist der falsche Ansatz» Die punkt.
10.2 Abstimmungskommunikation im Team Ganz besonders augenfällig wird das Prinzip „Arbeitsteilung und Koordination“ bei der Abstimmungskommunikation. Wie immer man sich Arbeit aufteilt, es entstehen Schnittstellen. Diese Schnittstellen wiederum bringen Interdependenzen (Abhängigkeiten) mit sich, die Abstimmungsbedarfe verursachen. Sind an einem Prozess mehrere Stellen beteiligt, muss man sich darüber abstimmen, wann welche erforderlichen Vorleistungen (Informationen/Gegenstände) in welcher Qualität zu erbringen sind. Bedient man sich gemeinsamer Ressourcen (z. B. Geld, Maschinen, Arbeitskräfte), ist abzustimmen, wann und in welchem Umfang diese genutzt werden können. Bearbeitet man denselben Markt, stimmt man sinnvollerweise ab, wann wer welche Aktivität entfalten kann. All diese Schnittstellen lassen sich organisatorisch, also durch dauerhafte Regelung, vorstrukturieren. Manche kann
2 Systematisch
stellt sich das so dar: Die übergeordnete Einheit ist Rahmen und Bezugspunkt aller Einzelleistungen, und die Führungskraft ist Sachwalterin dieses Kollektivs. Die Führungsaufgaben beinhalten die Zusammenführung der Einzelbeiträge und das komplementäre Prinzip stellt sicher, dass sie auch erfüllt werden.
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man ganz abschaffen, z. B. indem allen Beteiligten eigene Ressourcen zugewiesen, sinnlose Überschneidungen aufgelöst und unnötige Bearbeitungswechsel vermieden werden. Bei anderen können für einen bestimmten Prozess dauerhafte Festlegungen dahingehend getroffen werden, was wer von wem zu erwarten hat; dies geschieht üblicherweise in Prozessanweisungen. Beides ist Gegenstand der Aufbau- und Prozessorganisation (siehe Abschn. 6.5). Freilich ist es kaum je möglich und sinnvoll, den laufenden Abstimmungsbedarf auf null zu reduzieren, weil dies viel zu unflexibel wäre. Es verbleibt also ein Restbedarf an Adhoc-Koordination, der durch laufende Kommunikation gedeckt werden muss. Die Führungsaufgabe – die wie immer primär Selbstführungsaufgabe ist und nur im Bedarfsfall der Führungskraft zufällt – besteht hier darin, die erforderlichen Abstimmungsbedarfe zu erkennen und dafür zu sorgen, dass die Abstimmung dann auch erfolgt.
» Wer braucht welche Informationen? Wo gemeinsam gearbeitet wird, müssen die Aktivitäten und Beiträge aufeinander abgestimmt werden. Die Teammitglieder sollten nicht nur gut informiert sein, sondern sich auch laufend miteinander austauschen, Stände abgleichen und über aktuelle Änderungen verständigen. Arbeit ist ja ein dynamischer Prozess in einem variablen Kontext. Letztlich geht es auch hier – wie schon bei den Ressourcen in Abschn. 8.4 – um Informationen, aber eher im Sinne von Feedbackschleifen und situativer Koordination. Nicht wenige Führungsexperten predigen die Verherrlichung dieser operativen Kommunikation dergestalt, dass alle ständig mit allen reden sollen, um die gebotene Flexibilität zu erreichen und das Wohlbefinden zu steigern. Nur leider erhöht ein Übermaß an Informationen weder das eine noch das andere, sondern ist schlicht ineffizient. Sicherlich gibt es Fälle, in denen mehr gesprochen werden müsste. Das Hauptproblem heutiger Abstimmungskommunikation dürfte freilich eher in der Informationsüberflutung und permanenten Ablenkung liegen. Schon mit Telefon und Flurfunk
10 Zusammenarbeit gestalten 211
hat man es mitunter übertrieben und Sitzungen sind, soviel auch dazu geschrieben wurde, unverändert die schlimmsten Produktivitäts- und Sinnvernichter des Büroalltags. Das allgegenwärtige Rauschen der digitalen Kommunikationsmedien aber droht die Arbeit der Menschen nun endgültig unter sich zu begraben. Vor einigen Jahren erzählte mir ein Bahnmanager, man sei dabei, die Lokführer mit Tablet-Computern auszustatten; dies dürfe aber nicht so ungeordnet geschehen wie in den Büroberufen, da sonst kein Zug mehr führe. Und tatsächlich: In manchen Zentralabteilungen wird mehr intern herumkommuniziert, als auf äußere Ergebnisse hingearbeitet. Man hat versäumt, mit den neuen Kommunikationsmitteln auch sinnvolle Umgangsweisen einzuführen. Durch die neuen Medien wird es nicht unbedingt automatisch besser. In fast allen Organisationen werden bald zwar integrierte „Social Collaboration Tools“, also betriebliche digitale Netzwerke im Stil von Facebook oder LinkedIn, die traditionellen E-Mails, Telefonate und Rundschreiben ersetzen. Auch und gerade hier stellt sich aber die Frage, welche Abstimmung mit welcher Unterfunktion zu bewerkstelligen ist und in welchen Fällen eher ein Präsenzgespräch oder ein Anruf angezeigt ist. Die Aufgabe besteht also künftig wie heute darin, die Kommunikation zwischen den Teammitgliedern so zu gestalten, dass weder ein Abstimmungsdefizit noch ein Abstimmungsüberfluss bestehen.
Sie für das richtige Maß an » Sorgen Abstimmung. Dies gelingt am ehesten, wenn man sich im Team auf gemeinsame Regelungen einigt. Diese lassen sich als Personalinstrument verstehen, also als ein formalisiertes Werkzeug (Abschn. 14.5). Hinsichtlich Erforderlichkeit und Zielgruppenbezug mag man z. B. festlegen, dass alle Mitarbeitenden die von eigenen Maßnahmen betroffenen Teammitglieder – aber auch nur diese – proaktiv über für deren Arbeitsbereich relevante Entwicklungen – und nur diese – zu informieren
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haben. Oft genug werden sonst entweder zu viele Personen einbezogen (also auch solche, die gar nicht betroffen sind) oder aber zu wenige (also solche ausgeschlossen, die sehr wohl betroffen sind). Sinnvoll ist auch, Kommunikation wo möglich zu bündeln: Kollektive Kommunikation kann individuelle Kommunikation ersetzen, wenn tatsächlich mehrere oder viele Personen betroffen sind und der Inhalt keine 1:1-Kommunikation erfordert. Auf alltägliche Doppelkommunikation (z. B. auf Doppelbestätigung von Terminen) sollte verzichtet werden. Schaffen Sie zudem Rückzugsmöglichkeiten wie Ruheräume für ungestörtes Arbeiten und sichern Sie Abwesenheitsmöglichkeiten ab (z. B. durch Präsenz-/Internet-/Telefonpausen mit festgelegten Sprechzeiten oder Urlaub mit Stellvertretung). Ein weiterer Ansatzpunkt ist die Standardisierung unter Zeitersparnisgesichtspunkten: Lassen Sie Anwendungsvorgaben für alle Kommunikationskanäle erarbeiten. Einige Unternehmen verbieten z. B. lange E-Mails, große Anhänge (die dann stattdessen auf Plattformen gestellt werden müssen), die BCC-Funktion oder allgemeine Grußmails zu Feiertagen. Durch Beschränkung der Sitzungsfrequenz (z. B. monatlich statt wöchentlich) und Sitzungsdauer (z. B. subtil über Stehtische und die entsprechende Ermüdung) lässt sich die Effizienz steigern. Erarbeiten Sie Vorgaben für eine effektive und effiziente Sitzungsleitung und ersetzen Sie Präsenzmeetings durch Videokonferenzen. Die meisten dieser Ansatzpunkte entstammen echten Praxisbeispielen. Wirklich angemessene Lösungen sind aber auch hier wieder nur auf Ebene der einzelnen Organisationseinheit zu erreichen.
10.3 Teamsitzung – Die überschätzte Routine Zumindest in klassischen Büroberufen werden fast ausnahmslos regelmäßige Teamsitzungen durchgeführt. Leider finden sie vielerorts so häufig und lange statt, dass sie sich zu einer Plage des modernen Geschäftslebens entwickelt haben. Oft steht dahinter der Versuch, individuelle Führungsarbeit durch Führungsarbeit auf der Gruppenebene zu ersetzen. Das aber ist zum Scheitern verurteilt. Die Führungskraft mag der Illusion anhängen, alle Mitarbeiter und Mit-
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arbeiterinnen gesehen und damit auch geführt zu haben, das ist aber nicht der Fall. Einzelgespräche haben eine völlig andere Qualität und andere Inhalte. Auch ist die Kommunikationsform Gruppengespräch für die wenigsten Themen wirklich das optimale Medium. Jede Wette: Wenn Sie erst einmal anfangen, Ihre Agenda-Punkte daraufhin zu prüfen, ob man sie nicht anders besser bearbeiten könnte, bleibt am Ende nicht mehr viel für die Sitzung übrig. Es gibt durchaus Fälle, Projekte und Unternehmen, in denen Sitzungen in kurzer Frequenz notwendig sind. Im Allgemeinen aber ist es hinreichend, Teamsitzungen etwa monatlich zu veranstalten und so kurz wie möglich zu halten. Einige Unternehmen veranstalten Zusammenkünfte an Stehtischen, um die Debattierfreude zu zügeln, das scheint auch gut zu funktionieren. Natürlich haben Sitzungen auch einen sozialen Charakter, man trinkt Kaffee und tauscht sich miteinander aus. Dafür aber könnte man dem Ganzen vielleicht gleich einen anderen Rahmen geben und z. B. gemeinsam frühstücken oder einen Abendumtrunk veranstalten.3 In jedem Falle gilt auch hier: Man muss wissen, was man tut und warum. Die Praxistipps in Checkliste 10 können dabei helfen. Zusätzlich sollten bestimmte Teamveranstaltungen bei Bedarf durchgeführt werden (Abschn. 10.8).
» Setzen Sie Sitzungen sparsam ein. Checkliste 10: Empfehlungen für Teamsitzungen (© Boris Kaehler 2019. All Rights Reserved.) • Dabei sein: Die Teilnahme an den Sitzungen der eigenen Mitarbeitenden ist für Führungskräfte unabdingbar. Die Sitzungsleitung lässt sich aber durchaus delegieren.
3 Aber
bitte nicht übertreiben: Böse Zungen behaupten nämlich, es ginge bei solchen und ähnliche Veranstaltungen oft weniger um die Mitarbeitenden als vielmehr um den Versuch des Chefs oder Chefin, fehlendes eigenes Sozialleben zu substituieren.
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• Keine Einbahnstraße: Das Leiten von Sitzungen ist als Moderation zu verstehen. Für Anweisungen und einseitige Informationsweitergabe ist die Sitzung in aller Regel das falsche Medium. • Klare Regeln: Hilfreich ist ein Verhaltenskodex für die Teilnehmenden: Pünktlich und vorbereitet kommen, Handys aus, konstruktive Kritik willkommen, Ergebnisorientierung, ausreden lassen. • Agenda: Für geplante Sitzungen sollte es immer eine Agenda geben, die den Teilnehmern und Teilnehmerinnen im Vorfeld zugeht. Für jeden Agenda-Punkt ist einzeln zu prüfen, ob hierfür wirklich eine Sitzung erforderlich ist und, wenn ja, welches Ergebnis angestrebt wird (z. B. Einbinden der Mitarbeitenden zu Akzeptanzzwecken, Sammeln von Ideen). • Protokoll: Ein stichwortartiges Ergebnisprotokoll ist obligatorisch, die Festlegung des Protokollführers im Vorfeld erspart unwürdige Auftaktszenen. • Vorbereiten: Im Vorfeld erarbeitete Diskussionsvorlagen kürzen die Sitzungslänge dramatisch. Es empfiehlt sich, wichtige Entscheidungen bereits vor der Sitzung mit einzelnen Teilnehmenden durchzusprechen und so ihre Unterstützung zu mobilisieren. • Begegnungen ermöglichen: Eine wesentliche Funktion von Sitzungen ist die Teambildung. Lassen Sie genug Zeit für Smalltalk zu Beginn der Sitzung. Stellen Sie Getränke bereit. • Rollenverteilung: Verbessern Sie die Qualität der Diskussion und der Entscheidungen durch klare Vorgaben. Expertenrollen zuzuweisen verhindert, dass sich primär die Inkompetenten mit Sendungsbewusstsein einbringen. Ein „Advocatus Diaboli“ hat die Aufgabe, Gegenpositionen zum Gruppenkonsens zu formulieren. Die Führungskraft hält sich zunächst zurück, um nicht zu beeinflussen. Alle erhalten die explizite Aufgabe, kritisch zu denken und die Ergebnisqualität vor die Gruppenharmonie zu stellen. • Konflikte: Gehen Sie konstruktiv mit etwaigen Konflikten um. Als Grundsatz gilt: Je besser das Verhältnis, desto offener kann Kritik geübt werden. Bedenken Sie jedoch, dass Kritik, die geeignet ist, das Selbstwertgefühl zu beeinträchtigen, grundsätzlich nur in ein VierAugen-Gespräch gehört. Falls offene Konflikte zutage treten, unterbrechen Sie das Redegefecht und sprechen Sie das Problem an (z. B. „Wenn ich zwei Regeln formulieren darf: Wir behandeln einander mit Respekt, und wir lassen einander ausreden.“; „Wenn ich das jetzt von außen auf Video gesehen hätte …“). Machen Sie eine Pause und klären Sie den Konflikt in geeigneter Form außerhalb der Sitzung. • Vorwürfe: Falls Sie als Sitzungsleitung unfair angegriffen werden, wehren Sie sich nicht mit einem argumentativen Gegenangriff, sondern lassen Sie die Gruppe reagieren. „Vielen Dank für Ihre Meinung ‒ was sagen die anderen dazu?“ führt oft dazu, dass die Meinung von Dritten relativiert wird.
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10.4 Beziehungsverantwortung und persönliche Netzwerke Inhaltliche Arbeit ist nicht alles. Die Erkenntnis, dass alle Kommunikation neben inhaltlichen Aspekten auch Beziehungsaspekte aufweistII, gilt natürlich auch für das Arbeitsleben. Jede Aufgabe, sei sie fachlicher, sei sie steuernder Natur, muss gleichzeitig sowohl inhaltlich als auch beziehungsmäßig betrieben werden. Sacharbeit und Beziehungsarbeit gehen also Hand in Hand. Es nützt nichts, eine optimale Lösung gefunden zu haben, wenn die anderen Beteiligten sie nicht mittragen und sie sich deshalb nicht verwirklichen lässt. Letztlich lässt sich kaum ein Geschäftsvorgang ohne Kommunikation abwickeln, und diese wird umso besser und angenehmer, je funktionaler die Beziehung ist. Und wenn es einmal konfliktär wird, hängt der Verlauf ganz maßgeblich von den zuvor aufgebauten Beziehungen zu potenziellen Unterstützern und Gegnern ab. Dass deshalb Mikropolitik für Führungskräfte einen wichtigen Aspekt ihrer Arbeit darstellt, hatten wir in Abschn. 5.4 bereits festgestellt. Gleiches gilt aber natürlich auch für alle Mitarbeitenden. Zu diesem mikropolitischen Betätigungsfeld gehören auch allerlei Machttaktiken, die sich eher dem folgenden Abschnitt zur Konfliktbewältigung zurechnen lassen. Die Basis besteht aber immer darin, tragfähige zwischenmenschliche Beziehungen aufzubauen. Peter Drucker spricht diesbezüglich von „Beziehungsverantwortung“III. Sie zu übernehmen, ist eine Führungsaufgabe, und wie alle Führungsaufgaben sollten Mitarbeitende sie vorzugsweise selbst erfüllen.4 Als Führungskraft stehen Sie aber wie immer in der kompensatorischen Verantwortung.
» Beziehungsarbeit ist wichtig. 4 Streng
genommen besteht die Führungsaufgabe hier darin, zur Beziehungsverantwortung anzuhalten. Der eigentliche Beziehungsaufbau ist hingegen systematisch keine Führungs-, sondern Ausführungsarbeit. Das Gleiche gilt für den im Folgeabschnitt thematisierten Aufbau von Netzwerken.
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Es geht also darum, tragfähige Beziehungen zu Kollegen, Chefs, Mitarbeitern und Kunden proaktiv aufzubauen, zu pflegen und zu erhalten. In einigen Organisationen interpretiert man dies so, dass alle Mitarbeitenden qua Organisationsmitgliedschaft zu freundschaftlicher Nähe verpflichtet sind. Das ist aber natürlich ebenso übergriffig wie unrealistisch, denn Freundschaft und Sympathie sind nicht zu erzwingen. Jeder diesbezügliche Versuch ist anmaßend und muss scheitern. Unter vielen Menschen gibt es immer einige, die sich nicht mögen, und selbst enge Freundschaften fürs Leben entstehen in der Regel nicht aus dem Nichts, sondern reifen über den Umweg erfolgreich bewältigter Streitigkeiten und Abneigungen. Dies wiederum setzt aber voraus, dass es auch Phasen der Distanziertheit geben darf. Was freilich von jedem Mitglied einer Organisation verlangt werden kann, ist, die Arbeitsebene freizuhalten und ein Mindestmaß an Kooperation zu zeigen. Das beinhaltet den täglichen Gruß am Morgen und zum Feierabend ebenso wie die anstandslose Weitergabe der von Kollegen benötigten Materialien und Informationen. Dass einzelne Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter sich gegenseitig nicht mögen oder sogar hassen, lässt sich nicht unterbinden – die Gedanken sind frei. Wenn sie hingegen gar nicht mehr miteinander sprechen oder kooperieren, ist dies im Arbeitsverhältnis schlicht inakzeptabel und arbeitsrechtlich durchaus sanktionierbar.
Arbeitsebene freizuhalten, ist das » Die Minimum. Bei der Beziehungsverantwortung geht es aber nicht nur um einen Mindeststandard im Hinblick auf alle Kolleginnen und Kollegen, sondern auch um möglichst gute Beziehungen zu möglichst vielen. Wo alle Akteure die Beziehungsebene im Umgang mit anderen berücksichtigen und systematisch optimieren, entsteht ein positiv geprägtes Kollaborationsumfeld, von dem jeder Einzelne ebenso profitiert wie das Team als Ganzes. Das Ziel besteht aber auch nicht in maximaler Nähe. Denn, wie jeder weiß, kann man es auch übertreiben: „Durch
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nichts entfernen wir uns so sehr von unseren Mitmenschen, als wenn wir ihnen zu nahe treten“. (Ron KritzfeldIV) Man erinnere sich an die Parabel von den Stachelschweinen, die sich weder piken noch erfrieren wollen und daher einen Abstand finden, der beides in Einklang bringt.V Es geht also um die richtige Distanz, und diese ist individuell und situativ höchst unterschiedlich. Nicht jede Arbeitsbeziehung verträgt Geschenke und intime Gespräche. Alle, mit denen man zusammenarbeitet, gelegentlich auch einmal unter reinen Beziehungsaspekten zu treffen und zu versuchen, Wertschätzung, Respekt und gegenseitiges Verständnis aufzubauen, ist indes sehr hilfreich und kann nicht schaden. Leider neigen die meisten von uns dazu, diese Aufgabe zu vernachlässigen, und ebendies spricht dafür, sie explizit als solche zu verstehen.
Beziehungen ermöglichen gute » Gute Arbeit. Durch „Netzwerken“ (engl. „networking“) informelle, persönliche Verbindungen aufzubauen, ist im Prinzip eine besondere Form der Beziehungspflege. Allerdings sind hier durchaus auch solche Kontakte gemeint, die eher rudimentären Charakter haben. Es kann schon reichen, überhaupt einen Ansprechpartner zu kennen oder sich Leute warmzuhalten, die man ein einziges Mal auf einer Veranstaltung getroffen hat. Auch geht es hier nicht zwingend nur um Beziehungen innerhalb der Organisation, sondern um alle geschäftlichen und privaten Kontakte, die in irgendeiner Weise relevant für die Erbringung von Arbeitsleistungen werden können. Dazu gehören z. B. auch Freunde, die Krisen abfedern, Dienstleister, die Arbeitspakete übernehmen, oder Vorbilder, die zur professionellen Weiterentwicklung anregen. Netzwerkkontakte zu Kunden sind dagegen i. d. R. eher der Sachgeschäftssteuerung als der Personalführung zuzurechnen. Diese Abgrenzung ist freilich alles andere als exakt und spielt letztlich auch keine Rolle. Ohnehin ist beim Erstkontakt keineswegs immer von
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vornherein klar, was später einmal mit den Netzwerkpartnern anzufangen ist. Ohne Netzwerkkontakte geht es jedenfalls nicht. Jede Arbeit erfordert ein gewisses Maß an persönlichen Kontakten, sei es, um z. B. an relevante Informationen zu gelangen, Zugang zu Schlüsselpersonen zu bekommen oder bei Bedarf Unterstützung mobilisieren zu können. Das Netzwerken zu vernachlässigen, um sich mehr um die Sacharbeit kümmern zu können, ist ein klassischer und insb. unter Teilzeitkräften verbreiteter Fehler.
» Netzwerke sind oft erfolgsentscheidend. Besondere Relevanz erhält das Netzwerken durch die neuen sozialen Medien. LinkedIn, Xing, X (Twitter) oder Facebook sowie organisationseigene soziale Netzwerke („social collaboration tools“) verbinden uns heute auf einen Klick mit Menschen, die wir zwar vielleicht gar nicht persönlich kennen, auf diese Weise aber viel leichter kennenlernen und auf dem Laufenden halten können. Manch einer unterhält dort tausende Kontakte und kann bei Bedarf darauf zurückgreifen. Auch die Bedeutung von Weblogs, Websites, Foren, Webinaren, Wikis, Podcasts und Instant Messengers etc. ist nicht zu unterschätzen. Zwar handelt es sich letztlich einfach um spezifische Kommunikationsinstrumente, sie bieten jedoch ganz neue Vernetzungs- und Austauschmöglichkeiten mit niederschwelliger Kontaktmöglichkeit. Dass digitale Medien hingegen eine Art von Schwarmintelligenz begründen, die Führungseinfluss ersetzen oder erübrigen würde, ist in meinen Augen reiner Unsinn. Sicher entstehen auch hier Einflussphänomene; Führung im Sinne unserer Eingangsdefinition (Abschn. 2.3) ist aber etwas anderes.
Medien sind Netzwerk» Digitale beschleuniger.
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10.5 Konflikte fördern und lösen Konflikte sind vielen Führungskräften ein Dorn im Auge. Die verbreitete Erwartungshaltung ist, die Mitarbeitenden mögen sich bitte friedlich verhalten und keinen Ärger machen. Nun sind Konflikte aber keine sozialen Fehlfunktionen, sondern gehören unvermeidlich zum täglichen Leben. Sie kosten alle Beteiligten Energie und Zeit, bergen jedoch auch große Potenziale. So kommen versteckte Interessenkollisionen und Missstände ans Licht, der Status quo wird hinterfragt und Änderungen werden angestoßen. Insbesondere soziale Durchlässigkeit, also der Aufstieg von Neulingen in die Bedeutsamkeit, ist ohne Konflikte kaum zu haben. Ein gewisses Konfliktniveau wirkt auch stimulierend auf eine Gruppe und ihre Mitglieder. Des Weiteren wissen wir aus dem Privatleben: Freundschaft und Vertrauen wachsen und reifen erst mit erfolgreich beigelegten Konflikten. Konflikte sollten daher nicht unterdrückt, sondern grundsätzlich begrüßt und offen thematisiert werden.
» Konflikte gehören dazu. Wichtig ist freilich, dass manifeste Konflikte bearbeitet und möglichst rückstandsfrei beigelegt werden. Dabei gibt es im Wesentlichen drei Lösungsoptionen. Die erste besteht darin, dass sich eine Seite auf Kosten der anderen durchsetzt. Damit ist der Konflikt zwar gelöst, bietet aber meist gleich den Ansatzpunkt für den nächsten. Die zweite Möglichkeit besteht darin, eine Verhandlungslösung zu finden, d. h. durch Kommunikation eine Einigung über die strittigen Sachverhalte herbeizuführen. Dies setzt soziale Fähigkeiten und entsprechende Verhandlungskompetenzen voraus.5 Das Instrument der Mediation
5 Ich
empfehle u. a. die Prinzipien des Verhandlungsklassikers „Harvard-Konzept“ (Fisher/Ury/ Patton 2018): 1) Trennung von Mensch und Problem; 2) Thematisierung von Interessen, nicht Positionen; 3) Ziel des „Win–win“; 4) Weg über objektive Beurteilungskriterien.
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– der Vermittlung durch unabhängige Dritte nach dem Prinzip der „Allparteilichkeit“ – kann dabei helfen, zu einer gemeinsamen Verhandlungslösung zu gelangen. Eine dritte Option ist das Beschreiten des Eskalationsweges, d. h., dazu berechtigte Autoritäten (Chef, Richter etc.) werden um Entscheidung angerufen. Auch diese Führungsaufgabe ist natürlich primär eine Selbstmanagementaufgabe, d. h., Mitarbeitende sollten ihre Konflikte bitte nach Möglichkeit selbst lösen. Nur dann, wenn dies unterbleibt bzw. nicht gelingt, müssen Sie als Führungskraft eingreifen. Dies geschieht meist im Rahmen eines Konfliktgesprächs. In der Systematik des Komplementären Führungsmodells handelt es sich dabei um eine Bedarfsroutine, die Sie beherrschen sollten, auch wenn sie in Ihrem konkreten Fall vielleicht nie oder nur selten vorkommt. Praxistipps dafür finden Sie in Checkliste 11. Vermeiden Sie dabei vor allem jedwedes Psychologisieren. Es unterliegt nicht Ihrem Mandat als Führungskraft und führt in der Regel eher zu noch mehr Reibung und unnötig hohem Zeitaufwand. Viele Probleme und Konflikte sind mit psychosozialen Methoden auch gar nicht zu lösen, weil ihr Ursprung nicht im zwischenmenschlich-persönlichen Bereich, sondern in organisatorisch-technischen Rollenkonflikten oder mangelhaftem Einsatz von Kommunikationsmedien begründet liegt. Selbst bei persönlichen Fehden hilft der Appell an das arbeitsvertraglich geschuldete Verhalten in aller Regel eher als eine Befindlichkeitsdiskussion. Erfahrungsgemäß führt eine auf sanften (oder auch unsanften) Druck gezeigte Mindestkooperation sogar oft dazu, dass die Parteien sich mittelfristig wieder vertragen oder sogar Freundschaft schließen. Interventionen müssen also nicht psychologisch ausgerichtet sein, um psychologisch zu wirken. Checkliste 11: Empfehlungen für Konfliktgespräche (© Boris Kaehler 2019. All Rights Reserved.)VI • Gestalten Sie das Gespräch als Einzelgespräch: Mit mehreren Parteien an einem Tisch werden Sie bei manifesten Konflikten nur selten alle Informationen bekommen und eine gute Lösung finden. Die Gefahr ist groß, dass es anschließend unter der Oberfläche weiterschwelt.
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• Nehmen Sie beide Seiten in die Verantwortung: Wer einen Streit verursacht hat oder nach absoluten Maßstäben im Recht ist, lässt sich in den seltensten Fällen ermitteln. Hören Sie jeder einzelnen Partei gut zu, signalisieren Sie Verständnis für ihre Perspektive und billigen Sie jedem zu, dass möglicherweise die jeweils andere Seite die Schuld an der Eskalation trägt. Fordern Sie dann aber nachdrücklich dazu auf, die Verantwortung für immer auch vorhandenes eigenes Zutun zu übernehmen. • Sorgen Sie (vor oder anlässlich des Gesprächs) für gute Organisation: Die Ausrichtung auf gemeinsame Ziele, eine faire Ressourcenverteilung und die klare Definition von Schnittstellen beugen unnötigen Konflikten vor und besänftigt auch noch im Nachhinein. • Wertschätzen Sie fachlich-sachliche Konflikte: Dies geschieht durch explizites Hervorheben der positiven Aspekte von Konflikten und Förderung eines pluralistischen Verständnisses für Perspektivunterschiede. Das entsprechende Motto lässt sich bei Shakespeare nachlesen: „Macht es wie Gegner vor Gericht – heftig kämpfen, doch als Freunde essen und trinken.“ • Ächten Sie persönlich-emotionale Beziehungskonflikte: Dies bezieht sich zum einen auf rein persönlich-emotionale Beziehungskonflikte inkl. Intrigen, Diskriminierung und Mobbing. Aber auch fachlich-sachliche Inhaltskonflikte bekommen im Laufe der Zeit oft eine solche Einfärbung. Diese müssen als solche angesprochen werden. Die Weigerung eines Mitarbeiters, konstruktive Beziehungen zu pflegen und „die Arbeitsebene freizuhalten“, muss negative Sanktionen nach sich ziehen. • Verzichten Sie auf übermäßiges Psychologisieren: Setzen Sie stattdessen auf das in Abschnitt 10.4 eingeführte Konstrukt der Arbeitsebene. Die Gedanken sind frei, ein Mindestmaß an Kooperation und Kompromissbereitschaft aber lässt sich arbeitsrechtlich erzwingen. Verlangen Sie ein bedingungsloses Freihalten der Arbeitsebene (insb. Grüßen, Weitergeben von Informationen sowie Verzicht auf Beleidigungen, persönlich-emotionale Streitgespräche vor Kunden/ Kollegen oder politische Intrigen/Diskriminierung/Mobbing). Verdeutlichen Sie, dass niemand seine Kollegen mögen muss, aber professionelles Verhalten Voraussetzung für den langfristigen Verbleib in der Organisation ist. • Nutzen Sie formalisierte Konfliktlösungsinstrumente: Zu denken ist hier vor allem an Mediationsangebote sowie ein explizites Eskalationsmodell. • Fördern Sie Verhandlungskompetenzen: Verhandlungsführung lässt sich trainieren und reglementieren.
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10.6 Umgang mit den Interessenvertretungen Eine besondere Konfliktarena ist die Betreuung der Interessenvertretungen. Dies sind insb. der Betriebsrat bzw. Personalrat und die Gewerkschaften. Ich behandele sie hier im Kontext des Konfliktmanagements, weil das Verhältnis der Betriebsparteien zueinander beiden Seiten oft genug ein Ärgernis ist. Vor dem Hintergrund einer starken, gesetzlich abgesicherten Rechtsposition haben die Interessenvertretungen in Deutschland erheblichen Einfluss auf die allermeisten Personalmaßnahmen.6 Natürlich gibt es auch Betriebe, in denen sie keine Rolle spielen. Da sich dies aber von einem auf den anderen Tag ändern kann, müssen Sie sich unbedingt mit dem Thema auskennen. Zwar bekommen Sie in aller Regel Unterstützung von Personalspezialisten, werden aber vermutlich dennoch oft genug Gelegenheit haben, in direkten Kontakt mit den Interessenvertretungen zu treten. Kontakt heißt hier, die vorgeschriebenen Informationen und Beratungen durchzuführen und durch Aufbau einer funktionalen Beziehung dafür zu sorgen, dass der Einfluss sich nicht destruktiv auf Ihre Organisationseinheit auswirkt. Entscheidend ist hier die Erkenntnis, dass die Aktivitäten der Interessenvertretungen aus Arbeitgebersicht keineswegs nur Nachteile haben. Natürlich kosten sie Geld, und unter dem Strich verlangsamen und verteuert sich die Personalführung. Aber sie bilden z. B. auch zusätzliche Kommunikationskanäle und können Ihnen als Medium der Informationsverbreitung sowie der Belegschaft als Sprachrohr dienen. Im vertraulichen Gespräch mit ihren Repräsentanten äußern sich Mitarbeitenden in der Regel offener als dem Chef oder der Chefin gegenüber. Wenn Sie sich einmal einig sind, sind Ihre Vorhaben zudem besonders legitimiert und es herrscht ein stabilerer Betriebsfrieden.
6 Die Rechte des Betriebsrates ergeben sich vor allem aus dem Betriebsverfassungsgesetz, die des Personalrates im öffentlichen Dienst aus den Personalvertretungsgesetzen (PersVG). Die Stellung der Gewerkschaften resultiert vor allem aus dem Tarifvertragsgesetz.
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haben auch ihr » Mitarbeitervertretungen Gutes. Ihr Ziel als Führungskraft sollte daher sein, ein konstruktives Verhältnis mit den Vertretungen aufzubauen und partnerschaftlich zusammenzuarbeiten. Diese Zusammenarbeit muss keineswegs spannungsfrei sein, und kann es auch kaum. Die Betriebs- und Tarifparteien vertreten ja unterschiedliche Perspektiven und Interessen, ebendies ist ja der Sinn der Sache. Auch würden Sie Ihre Verhandlungspartner auf die Dauer zu unmäßigen Forderungen verleiten, wenn Sie vorrangig auf Harmonie setzen wollten. Ab und zu trifft man sich eben vor Gericht oder in der Einigungsstelle, und nicht jedes Gespräch muss einvernehmlich enden. Ein fataler Fehler vieler Führungskräfte, speziell in kleineren und mittleren Betrieben, ist aber, eine Eskalationsspirale zu eröffnen, an deren Ende vergiftete Arbeitsbeziehungen stehen. Das ist immer falsch, denn zum einen sind die genannten Vorteile nicht mehr zu realisieren, zum anderen drohen erhebliche Aufwendungen. Der Arbeitgeber trägt ja alle Arbeits- und Gerichtskosten der Betriebsratsbzw. Personalratsarbeit und kommt auch in Auseinandersetzungen mit den Gewerkschaften nicht ohne finanzielle Belastung davon. Überlegen Sie sich also gut, was Sie wollen, und lassen Sie sich von tatsächlichen oder vermeintlichen Provokationen nicht dazu verleiten, ins Destruktive abzugleiten. Eine gute Richtschnur dafür sind Recht und Gesetz. Wenn Sie Positionen freiwillig aufgeben, die sich bei näherer Prüfung als rechtswidrig erwiesen haben, können Sie dies von der Gegenseite auch verlangen. Diese Linie lässt sich recht gut halten, und sei es mit richterlicher Hilfe. Mittelfristig dient sie Ihnen dann als Maßstab zur internen Lösung anfallender Fragen.
gehören dazu, Eskalations» Konflikte spiralen nicht.
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10.7 Kultur und Vielfalt Zur Zusammenarbeit gehört es auch, eine Organisationskultur aufzubauen und personelle Vielfalt zu pflegen. Beides ist aber bei Weitem nicht so bedeutsam, wie manche behaupten. Es handelt sich um Führungsaufgaben, gewiss. Die konkreten Maßnahmen, die es zu ergreifen gilt, ergeben sich indes schon aus anderen Führungsaufgaben, sodass es sich eher um eine zusätzliche Querschnittsperspektive handelt. Wir kommen gleich noch darauf zurück. Interessanterweise – man liest kaum irgendwo davon – stehen beide Aufgaben auch in einem Spannungsverhältnis. Kultur, das sind Gemeinsamkeiten, in diesem Falle der Mitglieder einer Organisation oder Organisationseinheit. Es können gemeinsame Äußerlichkeiten und Verhaltensmuster sein, vor allem aber auch übereinstimmende Werte und Einstellungen. Diversität, also Vielfalt, ergibt sich hingegen aus Unterschieden.7 Die Führungsaufgabe kann also nicht darin bestehen, beide gleichzeitig zu maximieren, das ist unmöglich. Vielmehr geht es darum, Gemeinsamkeiten und Unterschiede bewusst zu etablieren und angemessen damit umzugehen, d. h. beide Aspekte richtig auszutarieren. Die Mitarbeitenden müssen also bestimmte Werte, Einstellungen, Verhaltensmuster und Äußerlichkeiten gemeinsam haben und als verbindlich akzeptieren. Zugleich müssen sie sich hinsichtlich bestimmter anderer Werte, Einstellungen, Verhaltensmuster und Äußerlichkeiten unterscheiden und diese Andersartigkeit ihrer Kollegen respektieren.
und Kultur stehen in einem » Diversität Spannungsverhältnis.
7 In der Theorie umfasst Kultur nur Erlerntes, während unter dem Vielfaltsbegriff auch unveränderliche Unterschiede diskutiert werden. Bei der praktischen Umsetzung spielt dies aber kaum eine Rolle.
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Ein Grund dafür, dass die Themen Kultur und Vielfalt in der Praxis fast immer als reine PR-Veranstaltung und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für Spezialeinheiten enden, ist wieder einmal der Glaube an zentrale, instrumentengestützte Lösungen. Wie alles in der Personalführung müssen auch Kultur- und Vielfaltsstandards in jede einzelne Einheit herunterkaskadiert werden. Zum einen beschränken sich die Gemeinsamkeiten hunderttausender Mitarbeitender eines Großkonzerns zwangsläufig auf Eckpunkte wie Markenstolz, evtl. unternehmensweite Arbeitsstandards und die allgemeinen Bürgerrechte und -pflichten. In einer kleinen Vertriebseinheit dieses Konzerns finden sich, bedingt durch vergleichbare Tätigkeiten und zufällige Übereinstimmungen, eher sinnhafte Gemeinsamkeiten. Zum anderen lassen sich angemessene Standards, wie es auch bei allen anderen Führungsaufgaben der Fall ist, nur dezentral über Selbstführung und komplementär agierende Führungskräfte auf Ebene der einzelnen Organisationseinheit durchsetzen. Anders ist weder ein konkreter Arbeits- und Verhaltensbezug noch eine Passung zu den Gegebenheiten der jeweiligen Einheit herzustellen. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede sollen ja nicht mit der produktiven Arbeit der Mitarbeitenden kollidieren, sondern diese systematisch unterstützen. Erinnert sei erneut an das Modell der Matrjoschka-Puppen aus Abb. 2.1. Jede Organisationseinheit verfügt über eine eigene Kultur und Diversität. Erst aus der Summe der Teile ergeben sich dann die Kultur und Diversität der übergeordneten Einheiten. Dabei hat eine einzelne Stelle natürlich keine Kultur oder Vielfalt, denn diese bezieht sich immer auf ein Kollektiv. Jede Stelle leistet aber ihren Beitrag zu den kulturellen Gemeinsamkeiten und den personellen Unterschieden in den übergeordneten Einheiten. Und idealerweise ist es wieder der Mitarbeiter als Selbstmanager, der diese Führungsaufgaben proaktiv erfüllt.
Gemeinsamkeiten und Unter» Welche schiede prägen Ihre Organisationseinheit?
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Der Lösungsraum ist im Übrigen außerordentlich begrenzt. Vereine oder Kirchen, deren Anhänger sich freiwillig für eine Mitgliedschaft entscheiden, sind relativ frei in der Definition ihrer Kulturmerkmale. Arbeitgeber im Geltungsbereich des deutschen und europäischen Arbeitsrechts sind es nicht. Als Führungskraft könnten Sie daher z. B. von Ihren Leuten nicht verlangen, ihren Glauben zu wechseln oder einem bestimmten Fußballverein anzuhängen.8 Einzufordern ist nur das Arbeitsverhalten, z. B. im Hinblick auf Arbeitseinsatz oder Regeleinhaltung. Das ist auch der Grund dafür, weshalb die Wertedeklarationen, die in praktisch allen größeren Unternehmen als sog. Leitbilder an der Wand hängen, fast immer nur Ansammlungen von Selbstverständlichkeiten und Worthülsen sind, unter denen sich jeder alles vorstellen darf. Wirklich spezifische persönliche Wertevorgaben wären nämlich gar nicht zulässig.9 Einen gewissen Spielraum gibt es; z. B. schreiben manche Arbeitgeber ihren Bediensteten einheitliche Arbeitskleidung oder die persönliche Anrede „Du“ vor. Viel mehr geht aber nicht, und selbst solche Kulturstandards lassen sich nicht in allen Unternehmen durchsetzen. Auch aus juristischen Gründen ist eine Politik der Uniformität nicht lange durchzuhalten. Zwar gibt es in der Realität durchaus noch faktische und strukturelle Diskriminierungen, aber die Möglichkeiten dazu sind doch jedenfalls rechtlich eingeschränkt. Unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten verbieten sich allzu homogene Kulturen ohnehin. Sie kippen zu schnell ins Totalitäre, Sektenartige und sind kaum geeignet, jene strategische Kontextpassung mit der Außenwelt zu befördern, derer ein Unternehmen, eine Behörde oder ein Verein als offenes System bedarf. Eine starke Kultur ist auch sonst nicht immer und überall gut. Sie führt z. B. oft zur destruktiven Ausgrenzung Andersartiger und begünstigt fehlerhaftes Gruppendenken, kollektive Kompetenzlücken sowie Innovationsschwäche. Diesen Nach-
8 Sehr begrenzte Ausnahmen gelten für sog „Tendenzträger“ in „Tendenzbetrieben“ (z. B. Pfarrer/ Priester in Kirchen). 9 Viele Organisationen haben das erkannt und versuchen ihre Werte durch entsprechende Verhaltensbeispiele zu konkretisieren. Das löst das Problem aber nicht wirklich, denn entweder bleiben diese a) ebenfalls abstrakt, kommt es b) zu Redundanzen mit der Prozessorganisation oder wird c) unmäßig weit in die Verhaltensspielräume eingegriffen (vgl. Abschn. 10.7).
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teilen bzw. Gefahren stehen aber natürlich die Vorteile und positiven Auswirkungen eines starken kulturellen Fundaments gegenüber. So befördern Gemeinsamkeiten nicht nur den Zusammenhalt eines Teams und die Effizienz der Kommunikation und Kollaboration, sondern auch (z. B. im Falle gemeinsamer hoher Leistungsstandards) die Produktivität. Zumindest eine gemeinsame Sprache, gesetzestreues Verhalten und engagierten Arbeitseinsatz wird man von allen Organisationsmitgliedern verlangen müssen. Ähnlich steht es um die personelle Vielfalt. Maximale Diversität ist zwar rechtlich erlaubt, aber betriebswirtschaftlich nicht sinnvoll, denn die Abwesenheit einer kollektiven Basis konterkariert die Organisationsidee. Eine hohe personelle Diversität ist auch nicht immer und überall gut. Zwar wird oft behauptet, bunt gemischte Teams seien generell erfolgreicher. Das ist aber natürlich Unsinn, sonst würden in der Fußballnationalmannschaft Greise mitspielen und Blinde im Cockpit von Verkehrsflugzeugen sitzen. Vielfalt auf Kosten der Arbeitsanforderungen zu maximieren, ist schlichtweg nicht funktional. Auch bringt Vielfalt zunächst meist ein Mehr an Konflikten und Kommunikationsschwierigkeiten mit sich, die adressiert werden müssen und Arbeit kosten. Andererseits hilft sie natürlich, die genannten Nachteile einer zu starken Kultur zu vermeiden, und wirkt sich solchermaßen positiv aus. Außerdem ist jede Belegschaft faktisch divers. Standards bezüglich Akzeptanz und Schutz vor Diskriminierung braucht man daher ohnehin. Diese sind aber streng genommen eher Teil der in Abschn. 6.6 thematisierten allgemeinen Verhaltensvorschriften, denn es handelt sich ja im Wesentlichen um Rechtspflichten. Diesbezüglich stehen Kultur und Diversität auch nicht im Widerspruch, denn der angemessene Umgang mit Vielfalt kann ein gemeinsames Kulturmerkmal und der Schutz von Subkulturen eine Vielfaltsmaßnahme sein.
» Der Gestaltungsspielraum ist begrenzt.
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Als Führungskraft haben Sie daher ein begrenztes, aber dennoch wichtiges Handlungsmandat. Sie müssen eine gemeinsame Kultur und einen Umgang mit Vielfalt fördern, die dem Zweck Ihrer Einheit und den gewählten Strategien entsprechen. Besteht eine Kultur der Leistung und Professionalität oder duldet man „freizeitorientierte Schonhaltungen“VII? Werden Neuerungen und Ideen kritisch geprüft oder pauschal abgelehnt? Werden die Mitarbeitenden vor Überlastung geschützt und, wenn ja, nur durch Einhaltung zwingender Arbeitsschutz- und Arbeitszeitvorschriften oder durch welche Maßnahmen darüber hinaus? Wie wird mit unverschuldet in Not geratenen Mitarbeitenden umgegangen, wenn sie vorübergehend oder dauerhaft keine volle Leistung erbringen können? Ist Vielfalt ein positiv belegter gemeinsamer Wert? Welchen Status haben Minderheiten im Team und wie geht man mit ihnen um? Wird die Gleichstellung bestimmter Gruppen aktiv betrieben und wenn ja, wie? Werden Konflikte als unvermeidbar angesehen und geht man offen an sie heran oder pflegt man eine Kultur äußerer Harmonie und unterschwelliger Intrigen? Werden bestimmte Äußerlichkeiten verlangt – Symbole, Sprachregelungen, Kleidung etc. –, die gemeinsame arbeitsbezogene Werte verkörpern? Gilt es, alle gewachsenen Gemeinsamkeiten zu bewahren, oder handelt es sich unter strategischen Gesichtspunkten um dysfunktionale Monokulturen, die aufgegeben werden können? Alles dies sind Dinge, die andere Führungsaufgaben berühren und im Rahmen der normalen Führungsroutinen besprochen werden. Irgendwelche Muster sind immer auch bereits vorhanden. Es geht also lediglich darum, die faktisch existierende Kultur und Diversität sowie den Umgang damit konsistent und strategiekonform weiterzuentwickeln und die angestrebten Änderungen auch tatsächlich umzusetzen.
Sie eine leistungsorientierte und » Prägen menschliche Kultur.
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10.8 Teamgeist Gruppenzusammenhalt und Identifikation zu schaffen, ist ebenfalls eine Führungsaufgabe. Ganz trennscharf abgrenzen von den in Abschn. 10.7 thematisierten Aufgaben der Pflege von Kultur und Vielfalt lässt sie sich nicht, es ergeben sich etliche Überschneidungen.10 Hier kommen jedoch noch einige zusätzliche Aspekte ins Spiel. Der Zusammenhalt einer Gruppe kann je nach Größe, Zusammensetzung, Tätigkeiten und Arbeitsort etc. sehr unterschiedlich sein. Ihn zu fördern – sozusagen als Gemeinschaftsbildner („community builder“)VIII –, ist wie immer zunächst eine Aufgabe des Selbstmanagements, die nur bei Bedarf kompensatorisch Ihnen als Führungskraft zufällt. Letztlich handelt es sich um eine Form des kollektiven Beziehungsaufbaus. Insbesondere bei der Neugründung von Teams sowie nach Konflikten sollten Sie dieser Beziehungsebene zunächst absolute Priorität einräumen. Im Zuge der weiteren Teamentwicklung kann der diesbezügliche Aufwand langsam zurückgefahren werden und die Sachebene und -arbeit tritt in den Vordergrund (Abb. 10.1). Die Förderung des Gruppenzusammenhalts ist, einmal als Aufgabe erkannt, meist relativ einfach. Fast alle Menschen haben ein gewisses Bedürfnis nach sozialen Kontakten sowie sozialer Anerkennung und bringen sich daher aktiv in die Gruppe ein. Mit Teamveranstaltungen, auf die wir im Folgenden noch näher eingehen, lässt sich der Teamgeist unterstützen. Ein weiterer Faktor, der in diesem Zusammenhang Beachtung verdient, ist die Identifikation der Gruppenmitglieder mit dem Team. Tatsächlich gehört das Aufgehen in sozialen Gruppen so sehr zum Naturell des Menschen, dass Führung es ermöglichen und fördern sollte. Übertreiben Sie aber auch hier nicht. Die Geschichte der Nationen und Organisationen ist voller Beispiele für den Missbrauch und die Gefahren übersteigerter kollektiver Identität. Es ist leider noch
10 Wie
wir bereits festgestellt hatten, ist eine exakte Abgrenzung der 21 Führungsaufgaben ohnehin nicht möglich, alle haben mit allen zu tun. Insofern lassen sie sich auch recht beliebig zusammenfassen oder aufteilen. Wichtig ist nur, dass der Katalog am Ende ausnahmslos alle Leistungsbedingungen produktiver Arbeit abbildet (vgl. Abschn. 3.2).
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Abb. 10.1 Aufwand für Beziehungs- und Sacharbeit im Zeitverlauf. (© Boris Kaehler 2020. All Rights Reserved.)IX
heute keine Seltenheit, dass Organisationen ihre Mitglieder (speziell ihre Mittelmanager) dazu nötigen, sich erniedrigenden Ritualen, gemeinsamen Albernheiten und gleichmacherischen Verhaltensvorschriften zu unterziehen und dies durch psychologisierende Gespräche zu begleiten. Das entspricht dem Muster von Gehirnwäschepraktiken: Schwächung der individuellen Identität bei gleichzeitigem Aufzwingen einer kollektiven Identität. Widersetzen Sie sich solchen Praktiken und ersparen Sie sie Ihren Mitarbeitenden. Um positive Effekte zu erzielen, reicht es völlig aus, die Organisationseinheit als einen arbeitsbezogenen Teilaspekt der Identität aufzubauen. Mögliche Maßnahmen zur Stärkung der kollektiven Identifikation finden Sie in Tab. 10.1. Aspekte des Zusammenhalts und der Identifikation können in allen Führungsroutinen eine Rolle spielen. Besonders im Vordergrund stehen sie aber im Teambildungsworkshop und in Gemeinschaftsveranstaltungen. Ein Teambildungsworkshop ist eine Bedarfsroutine und sollte durchgeführt werden, wenn dies in einer Organisationseinheit geboten scheint. Praxistipps dafür finden sich in Checkliste 12. Ähnlich wie bei Qualifizierungsmaßnahmen sollte man aber nicht abwarten, bis Gefahr im Verzug ist, sondern ruhig prophylaktisch und etwas überschießend vorgehen. Anders als im Strategieworkshop stehen hier nicht die inhalt-
10 Zusammenarbeit gestalten 231 Tab. 10.1 Mögliche Maßnahmen zur Stärkung der kollektiven Identifikation (© Boris Kaehler 2019. All Rights Reserved.)X Systematische Kommunikation
Gemeinsame Mission und Fokussierung auf die gemeinsam zu verrichtende Arbeit. Firmenveröffentlichungen und Ansprachen. Teamentwicklungsmaßnahmen
Symbole
Äußerliche Gemeinsamkeiten und Symbole (z. B. Firmenkleidung, Anstecknadeln, Unternehmshymnen)
Steigerung und Vermittlung der Gruppenattraktivität
Abgrenzung des Unternehmens oder der Organisationseinheit nach außen („äußerer Feind“); starke Organisations- und Arbeitgebermarke, bestehend aus interner Organisationsidentität (engl. „corporate identity“) und externem Unternehmensimage
Führungskraft voran
Führungskraft als positiv besetzte „Gallionsfigur“ (möglichst uneitel); hoch identifizierte Führungskräfte übertragen ihre Identifikation auf die Mitarbeiter
liche Ausrichtung der Einheit und die Erarbeitung von Strategien im Vordergrund, sondern soziale Prozesse. Primär geht es dabei um die Zusammenarbeit im Team, insb. die Rollenverteilung, den Informationsaustausch und die Kooperation sowie entsprechende Optimierungsmöglichkeiten. Als Anknüpfungspunkte dienen dabei unterschiedlichste Methoden, wobei sehr zu empfehlen ist, einem erfahrenden Moderator den inhaltlichen Brückenschlag zu den Teamprozessen zu überlassen. In Frage kommen vor allem Aktivitäten mit gemeinsam zu bearbeitender Zielstellung (z. B. Planspiele oder soziale Arbeitseinsätze) und Übungen mit Kooperationsnotwendigkeit (z. B. gegenseitige Sicherung an Seilen oder Konstruktion von Bauwerken/Fahrzeugen). Meist werden sie in erlebnisorientierte Events eingebettet. Grundsätzlich lassen sich Teamübungen zwar auch in klassischen Workshops mit Einzel-, Gruppenund Plenumsarbeit durchführen. Die Erlebnisformate werden aber meist besser angenommen und bieten gleich einen emotionalen Anker.
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Aber Vorsicht: Erfahrungsgemäß sind Teambildungsveranstaltungen nur zu empfehlen, wenn gesunde Teambeziehungen bestehen. In dysfunktionalen und unharmonischen Teams verstärken sie so gut wie immer die bestehenden Probleme. Hier müssen also zunächst die Konflikte gelöst werden. Liegen deren Ursachen, wie so häufig, im organisatorischen Bereich – z. B. in unklaren Rollen/Verantwortlichkeiten oder dysfunktionalen Prozessen –, sollten Sie sich als Führungskraft prioritär um die Aufbau- und Prozessorganisation kümmern. Geht es um emotionalpersönliche Konflikte zwischen einzelnen Mitarbeitern, so gilt es, diese mit den Mitteln des Konfliktmanagements anzugehen (Abschn. 10.5). Wenn die Arbeitsebene wieder frei ist, kann der Workshop das Team dann aufs Neue richtig zusammenbringen.
befördern » Teambildungsveranstaltungen die Zusammenarbeit.
Checkliste 12: Empfehlungen für Teambildungsworkshops (© Boris Kaehler 2023. All Rights Reserved.) • Ausreichend Zeit: Setzen Sie ein bis zwei volle Tage an. • Teilnehmerkreis: Teilnehmen sollten das gesamte Team und die Führungskraft sowie ggf. die obere Führungskraft und der zuständige Personalbetreuer. • Moderation: Suchen Sie sich einen professionellen Moderator mit hinreichend Erfahrung im Bereich der Teambildung. • Erlebnischarakter: Betten Sie die Teambildung in erlebnisorientierte Formate mit Incentive-Charakter ein. Beispiele sind Rafting, GokartRennen, Kochen, Malen, Tierdressur, Flöße, Murmelbahnen, EscapeGames, Samurai- oder Ritterschwertkämpfe, Kurzfilme, Komponieren, Singen und Trommeln, Feuerlauf, Action Painting, Höhlen- und Bergtouren sowie Olivenernte, Trüffelsuche oder diverse Onlineformate. Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt, die einschlägigen Dienstleister kommen immer wieder mit neuen Ideen auf den Markt. Vergessen Sie aber über das Amüsement nicht das eigentliche Anliegen. • Umgang mit Konflikten: Idealerweise sollten Sie größere Konflikte zunächst klären, bevor sie eine Teambildungsmaßnahme beginnen.
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Zeigen sich solche allerdings erst in der Veranstaltung, lassen Sie sie nicht diskutieren, sondern sammeln Sie zunächst nur die Perspektiven aller Beteiligten und schaffen Sie ein Bewusstsein dafür, dass der Wert von Konflikten eben darin liegt, dass Unstimmigkeiten zutage treten. Der Druck der Gruppendiskussion kann die Teilnehmenden sonst zu vorschnellem Gegeneinander oder unehrlichen Versöhnungsgesten verleiten, was die Fronten mittelfristig eher noch verhärtet. Brauchbare Lösungen entstehen eher, wen Sie die Lösungsfindung als „Hausaufgabe“ mitnehmen und durch „Pendeldiplomatie“ mit den einzelnen Betroffenen angehen.
Auch Gemeinschaftsveranstaltungen dienen der Stärkung des Gruppenzusammenhalts. Dies sind insbesondere regelmäßige gemeinsame Essen sowie Ausflüge und Feiern. Zusammenarbeit und Zusammengehörigkeit werden hier nicht explizit analysiert und thematisiert, das Ganze hat eher emotional verbindenden Charakter. Gemeinschaftsveranstaltungen und Teambildungsworkshops lassen sich aber durchaus kombinieren. Auch hier gilt es, Probleme dysfunktionaler Teams im Vorfeld zu lösen, da sie sich in der Veranstaltung selbst manifestieren und dort meist verhärten. Gemeinschaftsveranstaltungen sind eine sehr wichtige Ergänzung zum alltäglichen sozialen Austausch mit und ohne direkten Arbeitsbezug, z. B. beim gemeinsamen Frühstück in der Teamsitzung oder bei Gesprächen in der Kaffee-Ecke. Sie sollten es aber nicht übertreiben, denn solche gemeinsamen Aktivitäten finden entweder in der Freizeit statt oder binden Arbeitszeit. Es ergibt natürlich keinen Sinn, wenn Sie den Teamgeist Ihrer Mitarbeitenden auf Kosten ihrer Arbeitsergebnisse und Gesundheit stärken. So ist dies am Ende ein schönes Beispiel dafür, wie in der Systematik des Komplementären Führungsmodells alle Führungsroutinen der Umsetzung aller Führungsaufgaben dienen. Wenn Sie die Gemeinschaftsveranstaltung richtig angehen, wird sie den Schutz von Balance und Gesundheit nicht beeinträchtigen und z. B. auch gleich als Motivationsanreiz und zur Kulturprägung dienen. Wie bei allen Führungsaufgaben besteht Ihre Rolle auch hier nur darin, Selbstführungsdefizite zu kompensieren. Teamgeist zu entwickeln, ist zunächst einmal die Pflicht jedes einzelnen Mitarbeiters. Die Führungskraft ist aber Sachwalter der Organisations-
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einheit, und wo Teammitglieder dieser Aufgabe nicht nachkommen, sind Sie als komplementäre Akteurin oder komplementärer Akteur gefordert.
Sie sozialen Austausch durch » Fördern zusätzliche Veranstaltungen. Anmerkungen I. Vgl. z. B. Schewe 2019. II. Watzlawick/Beavin Bavelas/Jackson 1967, S. 35. III. Drucker 2009, S. 47 ff. IV. Zitiert nach Seidenstricker 2008, S. 215. V. Schopenhauer 1851, S. 524. VI. Checkliste 11: Angelehnt an Kaehler 2020, S. 458. © Boris Kaehler. VII. Der Ausdruck geht zurück auf Rosenstiel 1984, S. 230. VIII. Ein Ausdruck von Conger 1993, S. 56. IX. Abb. 10.1: Aus Kaehler 2020, S. 460; dort nach unbekannter Quelle. © Boris Kaehler. X. Tab. 10.1 Nach Kaehler 2020; dort nach Kaehler 2017, S. 247. © Boris Kaehler.
Literatur Conger, Jay A. (1993): „The Brave New Word of Leadership Training“; Organizational Dynamics Winter 1993; S. 46–58. Drucker, Peter F. (2009): „Die Kunst, sich selbst zu managen“; Harvard Business Manager November 2009; S. 38‒50. Fisher, Roger / Ury, William / Patton, Bruce M. (2018): „Das HarvardKonzept: Die unschlagbare Methode für beste Verhandlungsergebnisse“; Neuauflage DVA 2018. Kaehler, Boris (2017): „Komplementäre Führung – Ein praxiserprobtes Modell der Personalführung in Organisationen“; 2. Auflage Springer Gabler 2017.
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Kaehler, Boris (2020): „Komplementäre Führung – Ein praxiserprobtes Modell der Personalführung in Organisationen“; 3. Auflage Springer Gabler 2020. Rosenstiel, Lutz von (1984): „Wandel der Werte – Zielkonflikte bei Führungskräften?“; in Blum, Reinhard/Steiner, Manfred (Hrsg.): „Aktuelle Probleme der Marktwirtschaft in gesamt- und einzelwirtschaftlicher Sicht“; Duncker und Humblot 1984; S. 203–234. Schewe, Gerhard (2019): „Organisation“; Gabler Wirtschaftslexikon; https:// wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/organisation-45094 (Zugriff am 7.3.2023). Schopenhauer, Arthur (1851): „Parerga und Paralipomena: kleine philosophische Schriften – Band 2“; Hahn 1851; Download unter https://books. google.de/books?id=_nERAAAAYAAJ&pg=RA2-PA524&dq=&hl=de#v =onepage&q&f=false (Zugriff am 7.3.2023). Seidenstricker, Iris (Hrsg.): „Das große Buch der Lebensweisheiten: 2222 humorvolle und geistreiche Sprüche“; Reader’s Digest 2008. Watzlawick, Paul/Beavin Bavelas, Janet/Jackson, Don D. (1967): „Pragmatics of Human Communication“; Norton 2011 (Erstveröffentlichung 1967).
11 Fürsorge gewähren
Das Arbeitsrecht kennt die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers; insofern wird niemand behaupten wollen, es handele sich nicht um eine Führungsaufgabe. Sie lässt sich aber durchaus unterschiedlich interpretieren. Recht eindeutig gehört der Arbeits- und Gesundheitsschutz dazu, der freilich in vielen Organisationen merkwürdige Blüten treibt. Welche das sind und wie echter Gesundheits- und Balanceprobleme in den Griff zu bekommen sind, erfahren Sie in diesem Kapitel. Auch richtig verstandene Veränderungsbegleitung – den viel missbrauchten Begriff „Change Management“ mag wohl keiner mehr hören – ordne ich hier ein. Außerdem geht es darum, wie Mitarbeitende in den „Flow“, den Schaffensfluss, kommen, denn dies ist nicht nur die gesündeste, sondern auch die produktivste Art zu arbeiten.1
1 Da
die Kapitel in der E-Book-Version einzeln abrufbar sind, wiederhole ich den folgenden Hinweis aus dem Vorwort: Dieses Buch beruht auf dem Theoriemodell der Komplementären Führung, das ich für führungskonzeptionell Interessierte in meinem wissenschaftlichen Grundlagenwerk gleichen Titels dargelegt habe (Kaehler 2020). „Führen als Beruf“ soll dieses Wissen für Führungskräfte als Anwenderinnen und Anwender aufbereiten, gut verständlich und streng praxisorientiert. Fast alle Ideen und auch manche Formulierungen, die Sie hier finden, stammen aber aus dem ersten Buch, das lässt sich nicht vermeiden. Aus Gründen der Lesbarkeit – dies ist kein wissenschaftliches Werk – sind dabei nicht alle Selbstzitate explizit als solche gekennzeichnet. Andere Autoren und Quellen werden aber natürlich nach bestem Wissen und Gewissen korrekt und vollständig zitiert. © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Kaehler, Führen als Beruf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67567-0_11
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11.1 Gesundheit und Balance als Führungsmandat Die Gesundheit und Lebensbalance der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu schützen, ist eindeutig eine Führungsaufgabe. Dies folgt schon allein aus den Vorgaben des zwingenden Arbeitsrechts und ist damit nicht ins betriebliche Ermessen gestellt. Es ergibt aber auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten Sinn. Kurzfristig mögen ständig überlange Arbeitszeiten, hohe Stresspegel und mangelnde Gesundheitsvorsorge sich rechnen. Nachhaltig aber ist dies nicht, denn Arbeitsausfälle, Reputationsverluste, Bußgelder, Betriebsrats-/Personalratsstreitigkeiten und Abwanderung sorgen dafür, dass die Produktivität mittelfristig sinkt. Es stimmt zwar, dass in bestimmten Branchen von jeher genau so gearbeitet wird. Als Führungsprinzip aber taugt ein solches Vorgehen nicht, und zwar deshalb nicht, weil die Organisationseinheit damit ihren eigentlichen Zweck verfehlt. Wenn übermüdete Ärzte im Operationssaal Kunstfehler machen oder angetrunkene Arbeiter Unfälle bauen, ist dies die Negation der eigentlich zu erbringenden Leistungen. Zudem geht es nicht nur mit menschlichem Leid, sondern auch mit finanziellen Risiken einher. Selbst wenn man also, wie es manch einer tut, den Erfolg einer Organisation nur an finanziellen Maßstäben misst und versucht, Fehler nach Möglichkeit unter den Teppich zu kehren, ist der ökonomische Effekt durchaus zweifelhaft. Nur nachhaltige Führung ist gute Führung. Nun können viele Führungskräfte die Begriffe Gesundheit und Balance verständlicherweise nicht mehr hören. Seit knapp 20 Jahren quält man sie mit fragwürdigen Konzepten, und die meisten sind schlicht dysfunktional. Was das „Betriebliche Gesundheitsmanagement“ angeht, so handelt es sich meist um ein unstrukturiertes Potpourri aus allen nur denkbaren Maßnahmen zum Thema Gesundheit. Arbeitsplatzergonomie, Weiterbildung, Unfallschutz, Ernährungsoptimierung, Suchtbekämpfung, Krisenberatung, Pandemievorkehrungen, Stressreduktion, Absentismus-Senkung und Vorsorge ergeben ein beeindruckendes Gesamtpaket und unterstreichen, wie wichtig der Firma die
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Gesundheit ihrer Angestellten ist. Das alles schadet nicht, rechtfertigt aber auch nicht den riesigen Aufwand, der oft hineingesteckt wird. Viele Einzelmaßnahmen, insb. des Arbeitsschutzes, sind zwar durchaus komplex und erfordern Expertise. Ihre konzeptionelle Bündelung ist indes so trivial, dass es eher eine Aufgabe für Praktikanten als für akademisch besetzte Stäbe darstellt, zumal die Krankenkassen solche Projekte nur zu bereitwillig mit Material und Know-how unterstützen. Ganz ähnlich verhält es sich mit Paketen zum Thema „Work-LifeBalance“, in denen alles zusammengestellt wird, was den Ausgleich von Berufs- und Privatleben erleichtert. Betriebliche Programme zur Gesundheit oder Balance stellen oft den Versuch dar, zentrale Formallösungen auf Angebotsbasis zur Verfügung zu stellen. Dies kann nicht funktionieren und hat häufig die Fehlallokation von Ressourcen zur Folge. Während überlastete und gesundheitsgefährdete Mitarbeitende Beratungs- und Entlastungsangebote aus Zeitmangel und Pflichtgefühl kaum je nutzen, sind es vor allem die bereits Überentspannten, die sie begeistert annehmen. Hinzu kommt, dass die Konzepte oft kampagnenartig und sehr rigide eingeführt werden, sodass auch diejenigen, die eigentlich gerade ganz andere Prioritäten haben sollten, sich plötzlich in ganztägigen Ernährungsworkshops wiederfinden. Nicht alle Gesundheitsmanagement- und Balancekonzepte sind so, aber falls Ihnen die Begriffe eingangs ein Stirnrunzeln ins Gesicht gebracht haben, dürfte es an derartigen Ausgestaltungen liegen.
ist als Mode» Gesundheitsmanagement thema abgenutzt … Richtig verstanden handelt es sich auch beim Schutz von Balance und Gesundheit wieder um eine Führungsaufgabe, die primär den Mitarbeitenden als Selbstführenden obliegt. Die Führungskraft als komplementäre Instanz greift nur im Falle von Selbstführungsdefiziten ein. Wie heißt es so schön in den Sanitärräumen vieler Produktionsbetriebe über den Waschbeckenspiegeln?: „Diese Person ist für Ihre
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Sicherheit verantwortlich.“I Anders geht es auch deshalb nicht, weil Balancekrisen und Gesundheitsprobleme i. d. R. unvermittelt auftreten und einer situativen Intervention bedürfen, die nur dezentral und individuell erfolgen kann. Zentrale Instrumente und Regeln können dies vorstrukturieren und unterstützen, aber nicht ersetzen. Zudem haben beide Themen so hohe private Anteile, dass sie der sensiblen Behandlung im persönlichen Gespräch bedürfen. Nur auf diese Weise entfällt auch die vielen Gesundheitsprogrammen anhaftende Übergriffigkeit.2
als Führungsaufgabe aber unverzicht» …, bar.
11.2 Arbeits- und Gesundheitsschutz Arbeitgeber sind rechtlich verpflichtet, die Gesundheit ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter umfassend zu schützen. Dies folgt nicht nur aus diversen Spezialvorschriften des deutschen und europäischen Arbeitsrechts wie z. B. dem Arbeitsschutzgesetz oder der Arbeitsstättenverordnung. Vielmehr gebietet schon die sog. Fürsorgepflicht, eine rechtliche Nebenpflicht aus dem Arbeitsverhältnis, ganz allgemein einen umfassenden Schutz der Beschäftigten in jeder Hinsicht. Was genau zu tun ist, hängt u. a. von der jeweiligen Branche und Tätigkeit ab. Ins Detail zu gehen, würde hier den Rahmen sprengen, da der ganze Bereich rechtlich hoch reguliert ist und eine Vielzahl unterschiedlichster Vorschriften umfasst. In vielen Organisationen kommen noch DIN ISO 45001 zu Arbeitsschutzsystemen und zwingende interne Regelungen z. B. aus Betriebsvereinbarungen hinzu. Sich über diese Rechtspflichten im eigenen Verantwortungsbereich zu informieren, ist für Führungskräfte
2 Bei einem früheren Arbeitgeber erhielt ich eine E-Mail mit der Ankündigung, ein Krankenkassenvertreter wolle alle Beschäftigte einzeln mit einem Besuch am Arbeitsplatz beehren und über gesunde Ernährung sprechen. Geht’s noch?
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unabdingbar, zumal sie haftungs- und strafrechtliche Implikationen haben können. Ganz grundsätzlich werden Sie aber hoffentlich auch von sich aus alles tun, um die Gesundheit Ihrer Mitarbeitenden zu schützen. Hierbei unterstützen Sie u. a. Betriebsärzte, Beauftragte für Arbeitssicherheit sowie die zuständige Berufsgenossenschaft.
» Es handelt sich um harte Rechtspflichten. In der Praxis bringt der Arbeits- und Gesundheitsschutz eine Reihe besonderer Bedarfsroutinen mit sich, z. B. das sog. Betriebliche Eingliederungsmanagement (§ 167 II SGB IX) nach längerer Krankheit, die Gefährdungsbeurteilung (§ 5 Arbeitsschutzgesetz) oder die Ansprache von Suchtmittelverdachtsfällen. Checkliste 13 bietet Ihnen einige Praxistipps für typische Bedarfsroutinen im Krankheits- und Krisenfall. Vor allem aber geht es darum, in den wöchentlichen Arbeitsbesprechungen und bei Kurzbesuchen am Arbeitsplatz Hinweise auf mögliche Gesundheitsgefährdungen aufzunehmen. Als Führungskraft müssen Ihnen z. B. sowohl freiliegende Kabel (Stolperfalle?) als auch tiefe Augenringe (Überarbeitung?) auffallen. Bei Anzeichen für Überlastung und/oder familiäre Probleme (Trennung, Pflegefall, Überschuldung usw.) ist dann die Bedarfsroutine „Krankheits- und Krisengespräch“ angezeigt. Soweit die Ursachen im betrieblichen Bereich liegen, lassen sie sich direkt abstellen. Freilich hat das, was eine Führungskraft tun kann, seine Grenzen. Für echte psychische Probleme, Selbstmordabsichten und Suchtproblematiken müssen Sie die Kontaktdaten entsprechender Ansprechpartner zur Hand haben. Sehr sinnvoll sind für solche Fälle sog. „Employee AssistanceProgramme“; diese funktionieren wie eine Art Versicherung und bieten allen Mitarbeitenden im Bedarfsfall eine Telefon-Hotline und exklusive psychologische Beratung.II Punktuelle Unterstützungsangebote für Arbeitnehmer finden sich z. B. bei den Wohlfahrtsverbänden. Neben den üblichen Gesundheitsgefahren lohnt es sich, beizeiten auch einmal in Ruhe die Sonderfälle Pandemie- und Bedrohungsvorsorge zu durch-
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denken, statt irgendwann – wie häufig zu beobachten – panikartig auf konkrete Vorkommnisse oder Medienrummel zu reagieren. Checkliste 13: Bedarfsroutinen im Krankheits- und Krisenfall (© Boris Kaehler 2023. All Rights Reserved.) • Bei Anzeichen für Überlastung und/oder familiäre Probleme (Trennung, Pflegefall, Überschuldung usw.): Setzen Sie ein Gespräch an oder nutzen Sie die reguläre Arbeitsbesprechung, um ein genaueres Verständnis des Sachverhalts zu erreichen und die Arbeitsfähigkeit einzuschätzen. Bieten Sie im Bedarfsfall einschlägige Beratungs- und Unterstützungsangebote und/oder Entlastungsmaßnahmen an. Seien Sie sich bewusst, dass Sie persönliche Befindlichkeiten dieser Art nicht einfach abfragen können, sondern subtil vorgehen müssen, z. B. mit Aufbau einer entspannten Gesprächsatmosphäre, Verweis auf das eigene Beispiel („ich habe die Erfahrung gemacht“), Geschichten/ Beispielen („in einem anderen Fall haben wir folgende Lösung gefunden“), „sokratischen Fragen“ (das Vermitteln von Erkenntnis durch gezieltes Fragen), indirekter Kommunikation oder „Wunschkonzert“ („Was wünschen Sie sich von mir?“, „Ich wünsche mir von Ihnen gelegentlich …“). • Wiedereingliederung: Nach Langzeitkrankheit haben Arbeitnehmende nach § 167 II SGB IX ein Recht auf formale Wiedereingliederung, die im Wesentlichen aus Gesprächs- und temporären Erleichterungsangeboten besteht. • Im Suchtmittelverdachtsfall: Rufen Sie sich eine andere Führungskraft als Zeugen und sprechen Sie den Mitarbeiter bzw. die Mitarbeiterin auf das auffällige Verhalten an. Bitte Sie um Verständnis dafür, dass unklar ist, ob sicher gearbeitet werden kann, und bieten Sie einen freiwilligen Atem- oder Bluttest (meist beim Betriebsarzt) an, um den Verdacht aus der Welt zu schaffen. Wird dieser nicht angenommen, stellen Sie für den Tag unbezahlt frei. Offerieren Sie im Wiederholungsfall einschlägige Unterstützungsmaßnahmen und dokumentieren Sie dies. • Trauerfall im engeren Kreis: Sprechen Sie im persönlichen Gespräch explizit Ihr Beileid aus und machen Sie Unterstützungsangebote.
11.3 Arbeitsüberlastung und Lebensbalance Ein wesentlicher Aspekt im Kontext von Gesundheit und Balance ist der Schutz vor Arbeitsüberlastung. In den letzten Jahren hat sie sich zum Massenphänomen entwickelt. Viele Menschen leiden unter dauer-
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hafter Überarbeitung, fallen mit Burn-out oder einem anderen überlastungsbedingten Krankheitsbild plötzlich vom einen auf den anderen Tag aus und erreichen dann üblicherweise auch nach ihrer Rückkehr nie wieder ihre alte Leistungsfähigkeit. Dies gilt es zu verhindern. Experten orientieren sich hier – ebenso wie beim physischen Arbeitsschutz – am sog. Belastungs-Beanspruchungs-KonzeptIII. Demnach sind Belastungen die mit der Arbeit verbundenen Einflussfaktoren, insb. die Menge, Vielseitigkeit, Ganzheitlichkeit und Einteilung der Arbeit, sowie die sozialen und materiellen Umgebungseinwirkungen. Beanspruchungen sind hingegen die Auswirkungen dieser Belastungen auf den Menschen, z. B. in Form von Müdigkeit, Gereiztheit, psychosomatischen Beschwerden, aus denen dann z. B. Fehlzeiten oder Arbeitsfehler entstehen. Den Zusammenhang zwischen beiden beeinflussen sog. Ressourcen, z. B. soziale Unterstützung, zusätzliche Hilfsmittel oder Entlastungen. Die entscheidende Erkenntnis besteht dabei darin, dass jede Tätigkeit mit Belastungen einhergeht und das Ziel nicht etwa darin bestehen kann, alle Belastungen maximal abzusenken. Vielmehr geht es darum, durch Anpassung der Belastungen und Ressourcen an die individuelle Konstitution negative Beanspruchungen zu vermeiden.
sind noch keine » Belastungen Beanspruchungen. Dafür bieten sich drei wesentliche inhaltliche Ansatzpunkte, die jeweils als Belastungsreduzierung oder als Ressourcenaufbau umsetzbar sind. Der erste Ansatzpunkt besteht in der Entlastung durch Reduzierung der Arbeitsmenge. Die einer Stelle zugewiesenen Arbeitsaufgaben und -aktivitäten sollten bei Bedarf auch wieder abgegeben werden können. Auch Prozessoptimierung kann das Arbeitsvolumen verringern, z. B. indem unnötige Arbeiten vermieden werden, Dienstreiseprivilegien zusätzliche Arbeit in ungenutzten Reisezeiten erlauben oder Heimarbeit Wegezeiten minimiert. Arbeitsreduzierung und -entlastung kann zudem
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nicht nur in der beruflichen, sondern auch in der privaten Sphäre erfolgen. Private Arbeit ist schließlich auch Arbeit und professionelle Belastungen lassen sich, insbesondere in Stoßzeiten, durch gezielte private Entlastung oft sehr effektiv abmildern. So gelten die Prinzipien der Prozessoptimierung natürlich auch hier und sind häufig viel weniger ausgereizt. Viele Menschen, die über Überlastung klagen, bemerken gar nicht, wie sie diese durch unnötige Aktivitäten und schlechtes Zeitmanagement in der Freizeit selbst herbeiführen. Der Verzicht auf Internetexzesse und Mehrfachtelefonate oder eine effizientere Einkaufs- und Wegeplanung, um nur einige Beispiele zu nennen, können hier Zeitressourcen freisetzen. Für die Führungskraft sind diese Privatsachen normalerweise Tabu, aber Mitarbeitende als Selbstführende sind durchaus in der Lage, sich auf diese Weise Luft zu verschaffen. Maßnahmen, die auch der Arbeitgeber problemlos anbieten kann, sind z. B. Taxi oder Mietwagen für die An-/Abfahrt in Sondersituationen, Haushaltskräfte, Reinigungsservice und Heimcatering im Privathaushalt, Wohnungsvermittlung bei privatem Umzug oder zusätzliche Kinder- und Altenbetreuung. Manche Unternehmen halten gar einen umfassenden „Concierge-Service“ vor, der z. B. Friseurtermine bucht und kleinere Besorgungen übernimmt. Vorreiter der ganzheitlichen Unterstützung sind US-amerikanische Internetunternehmen, bei denen die RundumVersorgung der Mitarbeitenden kaum Grenzen kennt. Dabei muss es keineswegs darum gehen, Arbeitsvolumen dauerhaft aus der privaten Sphäre in die berufliche zu verlagern. Viel wichtiger sind solche Dinge als Notbehelf in vorübergehenden Überlastungsphasen, die durchaus familiär o. Ä. verursacht sein können.
Sie berufliche und private Ent» Schaffen lastungsmöglichkeiten. Der zweite Ansatzpunkt zur Vermeidung von Überbeanspruchung besteht in der Reduzierung sozialer Reibung und Mobilisierung sozialer Unterstützung. Stress ist ja keineswegs nur eine Frage der Arbeitsmenge,
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also von Zeitaufwand und Arbeitsverdichtung, sondern insbesondere auch der sozialen Stressoren. Ständige Kritik und Anfeindungen stellen enorme Zusatzbelastungen dar. Freundliche und unaufdringliche Kollegen können als Unterstützer hingegen Ressourcen sein. Man denke an Mobbing-Situationen, in denen nichts wichtiger ist, als sich bei anderen Rat und emotionale Hilfe zu holen. Besonders kontraproduktiv ist es natürlich, wenn sozialer Stress von der Führungskraft ausgeht: „Viele Mitarbeiter fühlen sich von ihrem Chef erniedrigt, gedemütigt, entwertet. Das lähmt und erzeugt ohnmächtige Wut. Diese ohnmächtige Wut blockiert aber die Zusammenarbeit und bindet unnötig Kräfte“ (Anselm GrünIV). Derartiges fällt schon unter die Rubrik „destruktive Führung“ und ist sicherlich kein akzeptables Führungsverhalten.
» Reduzieren Sie unnötige Reibung. Den dritten Ansatzpunkt schließlich bilden Erholung und Ausgleich: „Die Kunst des Ausruhens ist ein Teil der Kunst des Arbeitens“ (John SteinbeckV). In der beruflichen Sphäre sind dies Pausen. Ob sie mit Ruhe bzw. Schlaf, Wellnessangeboten oder körperlicher Bewegung gefüllt werden, ist Geschmackssache. Jeder sollte seinen Modus finden. Nicht wenige Organisationen bieten daher mittlerweile entsprechende Angebote am Arbeitsplatz; viele Arbeitnehmer organisieren sich auch ihre eigenen. Wesentliche Erholungszone bleibt aber selbstredend die Freizeit – nicht umsonst schreibt der Gesetzgeber angemessene Ruhezeiten und Erholungsurlaub vor. Ob dabei eine aktive Erholung in Gesellschaft bzw. beim Sport oder eher die stille Rückzugsvariante als Gegengewicht und Ressource helfen, hängt von den individuellen und situativen Bedürfnissen ab. Immer populärer und üblicher werden Praktiken der Achtsamkeit und Meditation. VI Alle drei Möglichkeiten zusammen bieten ein erhebliches Entlastungspotenzial.
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» Erholung muss sein. Freilich wird unter dem Begriff der Balance nicht nur der Ausgleich von Anspannung und Entspannung diskutiert. Vielmehr geht es vielfach auch um die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. Im Zuge eines gesellschaftlichen Wertewandels fordern z. B. viele Mütter eine Teilhabe am Arbeitsleben, und viele Väter akzeptieren die Prämisse früherer Generationen nicht mehr, die Kindererziehung sei nichts für sie. In anderen Fällen stehen Hobbys im Vordergrund, in wieder anderen die Möglichkeit, auch einmal länger und härter arbeiten zu können und dabei vielleicht mehr zu verdienen. Lebensbalance (engl. „work-life balance“) ist ja kein allgemeingültiges Lösungsschema, das immer und überall gleich aussieht. Vielmehr präferieren unterschiedliche Menschen in unterschiedlichen Lebensphasen unterschiedliche Aufteilungen. Letztlich handelt es sich hier primär um ein Thema der Arbeitszeitgestaltung, das im Kontext der Vergabe von Arbeit und Ressourcen zu sehen ist (Kap. 6 und Kap. 8). Dabei geht es vor allem um die Flexibilität in der Zusteuerung: Wo Arbeitspakete leicht umgeschichtet werden können und Arbeitszeitsysteme flexibel genug sind, ist auch die situative Balance kein Problem. Dies sollte im Rahmen der normalen Führungsroutinen, speziell der regelmäßigen Arbeitsbesprechungen, thematisiert werden. So ist sichergestellt, dass keine maßlose Optimierung von Privatinteressen erfolgt, sondern auch die legitimen Leistungserfordernisse der Organisationseinheit berücksichtigt werden. Balance ist für beide Seiten ein Geben und Nehmen.
» Balance ist individuell.
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11.4 Flow: Gesund und produktiv im Schaffensfluss Das Phänomen des „Flow“ – gemeint als Schaffensfluss, als Zustand des subjektiv empfundenen Aufgehens in einer Tätigkeit – verdient viel mehr Aufmerksamkeit, als ihm gemeinhin zukommt. Das menschliche Nervensystem funktioniert schlicht am besten, wenn es gefordert und auf eine Aufgabe gerichtet ist. Flow ist eine Quelle besonderen Wohlbefindens, die Präsenzerfahrung als solche ist beglückend und befriedigend. Dies führt dazu, dass Menschen die entsprechende Aktivität um ihrer selbst willen tun und bereit sind, sehr viel Energie in sie zu investieren. Dieser Zustand ist auch die gesündeste Art zu arbeiten, denn genau dafür sind wir evolutionär gebaut. Eins zu sein mit seinem Tun entspricht der Funktionsweise von Körper und Geist als Einheit, gibt positive Energie und ist inkompatibel mit negativem Stress. Insbesondere aber ist der Schaffensfluss auch der Schlüssel zu außerordentlicher Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit. Echte Höchstleistungen sind anders überhaupt nicht zu erreichen: „Ich bin so konzentriert, dass ich mit meinem Tun eins werde. Klettern ohne Flow funktioniert nicht. Ich kann mich nicht am Fels behaupten, wenn meine Gedanken abschweifen. Ich bin gezwungen, mich ganz auf die Tritte und Griffe einzulassen“ (Reinhold MessnerVII).
ist eine Formel für gesunde Höchst» Flow leistung. Der Zustand des Flow hat drei wesentliche Kennzeichen: Erstens verschmelzen Handlung und Bewusstsein, der Mensch wird eins mit seinem Tun. Zweitens löst sich das Ich-Bewusstsein einschließlich aller selbstbezogenen Gedanken zeitweilig auf, wenngleich die Person mit gestärktem Selbstkonzept aus dieser Erfahrung hervorgeht. Und drittens schließlich vergessen wir die Zeit, d. h., das Zeitempfinden wird nivelliert. Mihaly Csikszentmihalyi, der dem
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Phänomen des Flow wissenschaftliche Geltung verschaffte und den ich hier zusammenfasseVIII, fand es zunächst bei Sportlern, Musikern und bildenden Künstlern. Grundsätzlich bietet aber jede Tätigkeit potenziellen Schaffensfluss. Als Führungskraft kennen Sie den Zustand vermutlich selbst ganz gut: Sie stürzen sich in Ihre tägliche Arbeit, sind durchgehend in Aktion, kommen ordentlich voran – und plötzlich ist es Abend. Ob es Ihren Mitarbeitenden genauso geht, steht auf einem anderen Blatt. Natürlich ist Flow keine Frage der hierarchischen Position oder Personalverantwortung. Ausnahmslos jede Tätigkeit sollte ganz überwiegend im Fluss erledigt werden. Die Erfahrung zeigt aber: Viele haben keine Ahnung davon. Sie kennen das Phänomen vielleicht als etwas, das ihr liebstes Hobby bietet, wissen es aber nicht in den betrieblichen Kontext zu übertragen. Einer der Gründe liegt in den Arbeitsbedingungen, die vielerorts so gestaltet sind, dass von vornherein tatsächlich keinerlei Flow aufkommen kann. Schaffensfluss bei der Arbeit zu ermöglichen, ist daher eine Führungsaufgabe. Wie immer ist hier Selbstführung gefragt; nur wo es dem einzelnen Mitarbeitenden nicht gelingt, sind Sie als komplementärer Akteur oder komplementäre Akteurin gefragt. Dabei bieten sich zwei unterschiedliche Ansatzpunkte: Zum einen muss der Wert des Zustands erkannt und die Fähigkeit entwickelt werden, ein ums andere Mal darin einzutauchen. Zum anderen müssen stets aufs Neue die Voraussetzungen für den Schaffensfluss hergestellt werden.
» Flow bedeutet eins sein mit dem Tun. Wie findet man nun also in den Flow? Csikszentmihalyi nennt dafür fünf Voraussetzungen, die es nur leicht zu modifizieren gilt: Zielklarheit, Anforderungsbalance, Kontrollbewusstsein, Konzentration und Feedback. Was den ersten Punkt, die Ziele bzw. Aufgabenstellungen, angeht, so sind die Forderungen kompatibel mit den in Kap. 6 im Zusammenhang mit der Festlegung der Arbeitsinhalte angestellten Überlegungen. Jede Einzeltätigkeit muss klare Zielstellungen haben,
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was voraussetzt, dass irgendjemand den tendenziell unüberschaubaren Berg des zu Erledigenden in Arbeitspakete mit verständlichen Teilzielen zergliedert. Zudem muss klar sein, welche Vorgaben auf dem Weg zum Ziel gelten, also was genau an Rahmenbedingungen zu beachten ist. Das alles ist nicht spezifisch für Flow, sondern ohnehin eine Notwendigkeit im Rahmen der Arbeitsvergabe. Insofern stellt diese Anforderung keine besondere Herausforderung dar. Auch die zweite Flow-Bedingung, die Schaffung einer Anforderungsbalance, betrifft das Thema Arbeitsinhalte. Die Mitarbeitenden müssen Arbeitsaufgaben erhalten, die dem Schwierigkeitsgrad nach ihren Fähigkeiten entsprechen. Das bedeutet: Die Aufgaben müssen einerseits herausfordernd und andererseits zu bewältigen sein, ansonsten drohen Überforderung oder Langeweile. Da nun aber Menschen keine Maschinen sind, schwanken ihre Fähigkeiten und Präferenzen im Zeitverlauf. Das denkintensive Erstellen eines komplexen Konzeptes mag zuweilen überfordern, zu anderen Zeiten hingegen locker von der Hand gehen; das stumpfsinnige Befüllen einer Excel-Tabelle ödet mitunter an, ist in öffentlichen Verkehrsmitteln oder spät am Abend aber vielleicht gerade die richtige Beschäftigung. Wer also in den Flow kommen soll, muss unterschiedliche Anforderungen haben und diese laufend seinem aktuellen Zustand anpassen. Dies geschieht zunächst einmal durch den Wechsel der Arbeitsaufgaben, also die Wahl ihrer Reihenfolge, und zeitliche Lage. Alternativ kann eine Aufgabe durch Multitasking, Musik, Gespräche angereichert oder durch Verzicht auf solche zusätzlichen Aktivitäten vereinfacht werden. Voraussetzung dafür ist eine gewisse Autonomie in dieser Hinsicht. Das dürfte der Grund dafür sein, weshalb hochqualifizierte Kräfte eher in den Flow geraten, denn sie haben eben in aller Regel nicht nur vielschichtige Aufgaben, sondern auch größere Freiheiten als Hilfskräfte. In gewissen Grenzen lässt sich umgekehrt durchaus auch der Zustand den Aufgaben anpassen, was manchmal unausweichlich ist, weil bestimmte Aufgaben sich nun einmal nicht schieben lassen. Wer von Kunden angerufen wird, bringt sich meist automatisch dafür in die richtige Schwingung, durch Aufmerksamkeit, Empathie und einen gewissen inneren Ruck.
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Sie für Zielklarheit und » Sorgen Anforderungsbalance … Damit verbunden und von besonderer Bedeutung ist die dritte FlowBedingung, das Kontrollbewusstsein, als menschliches Fundamentalbedürfnis. Im Kern geht es darum, ob jemand glaubt, in einer bestimmten Situation Kontrolle über sein Verhalten und seine Umwelt zu haben. Ist dies nicht der Fall, wirkt sich dies nicht nur negativ auf die Handlungsbereitschaft aus, sondern auch auf das Befinden. Ungewollter Kontrollverlust ist psychisch hoch ungesund, es negiert die Conditio humana. In der Tat lassen sich fast alle menschlichen Handlungen als Bestreben interpretieren, äußere Wirkung zu erzielen und Hilflosigkeit zu vermeiden.3 Schon Babys freuen sich am selbst verursachten Wackeln des Bettchens, und wo Erwachsene hilfsbereit oder gewalttätig sind, geht es möglicherweise oft ebenfalls vor allem um das Erleben der eigenen Wirksamkeit. Dabei reicht bereits der Glaube daran, Dinge ändern zu können, um sie besser zu ertragen. Im Arbeitskontext sind hier neben der Arbeitsmenge und -schwierigkeit vor allem die Arbeitsumgebung und -ressourcen relevant. Auch einmal unwichtige Aufgaben vorziehen, einen Tee kochen oder das Fenster öffnen zu können, mag banal erscheinen, hat aber massive Auswirkungen auf Befindlichkeit und Produktivität. Wer Leistung hingegen nachhaltig sabotieren möchte, braucht den Leuten nur alle Möglichkeiten der Einflussnahme zu nehmen und sie im Unklaren über Einflussfaktoren und anstehende Veränderungen zu lassen. Schon allein deshalb muss dafür gesorgt werden, dass im Arbeitsalltag Kontrollbewusstsein entsteht und nicht verloren geht. Kontrollbewusstsein ist also per se wichtig. Dass es gleichzeitig eine Voraussetzung des Flow-Erlebens ist, kommt noch einmal verschärfend hinzu.
3 In
der Psychologie werden diese Phänomene u. a. auch mit den Konstrukten der „Selbstwirksamkeit“ und „erlernten Hilflosigkeit“ thematisiert.
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» …, ermöglichen Sie Kontrollbewusstsein … Die vierte Flow-Bedingung ist Konzentration. Im Schaffensfluss ist die Aufmerksamkeit ganz automatisch fokussiert, anderweitige Gedanken, Ängste oder Unsicherheiten sind ausgeblendet. Ein wenig Konzentration ist aber erforderlich, um überhaupt in diesen Zustand zu kommen. Und wenn er einmal da ist, darf diese Konzentration nicht gestört werden, sonst währt er nicht lange. Entsprechend sollte gesichert sein, dass längere Zeit am Stück ungestört gearbeitet werden kann. Was dabei unter Flow-Gesichtspunkten als Störung anzusehen ist, hängt wiederum mit der Anforderungsbalance zusammen. Multitasking zu betreiben oder zwischen Aufgaben hin- und herzuspringen, kann selbstverursachte Störung sein oder jemanden überhaupt erst auf das notwendige Anforderungslevel bringen. Es geht also wieder um bedarfsgerechte Kontrolle dieser Außenreize, z. B. durch das Aufsuchen von Ruhezonen oder zeitweilige Umstellung des Telefons: „Die Kontrolle über die eigene Unterbrechbarkeit zu übernehmen, ist entscheidend für die Produktivität, und Führungskräfte sollten ihre Mitarbeiter dazu ermutigen“ (Larry D. RosenIX). Verkneifen Sie sich also ständige überfallartige Chefansprachen („boss attacks“) und praktizieren Sie lieber die Leitidee des „Chefs als Schutzschild“, dergestalt, dass Sie Ihren Mitarbeitenden den Rücken für ungestörtes Arbeiten freihalten.X Die fünfte und letzte Flow-Bedingung ist Feedback. Im Zuge der Tätigkeit muss eine unmittelbare Rückmeldung über den Handlungserfolg erfolgen. Es geht hier nicht primär um Leistungsfeedback, auch wenn dieses – ob als Selbsteinschätzung oder Fremdbeurteilung – eine Rolle spielt. Auch muss es kein als solches intendiertes Feedback anderer Personen sein. Gemeint ist vielmehr der interaktive Informationsfluss aus der Aktivität heraus, dergestalt, dass Reaktionen auf die eigenen Einwirkungen unmittelbar erkennbar werden. Dabei können Arbeitsgeräte hilfreich sein, die z. B. visuelle oder akustische Signale abgeben. Vor allem aber bedarf es einer bewussten Wahrnehmung, z. B. der emotionalen Reaktionen des Kunden am Schalter oder des Verfärbens eines Produkts bei der Fertigung.
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und fördern Sie Konzentration sowie » …Feedback. Das alles klingt vielleicht etwas unübersichtlich und theoretisch, ist aber erforderlich, um Arbeitende in einen Schaffensfluss zu bringen. Auch muss man sich ja nicht jeden Tag Gedanken darüber machen. Wer das Prinzip einmal verstanden hat, praktiziert es meist ganz intuitiv. Schauen Sie begeisterten Gamern oder Golfern bei ihrem Zeitvertreib zu, und Sie werden alle fünf Voraussetzungen des Flow dort wie selbstverständlich wiederfinden. Und Arbeit lässt sich in der Tat genauso gestalten: „Ich bin bisher jeden Tag gerne zur Arbeit gegangen, aber diesen inneren Antrieb, das Interesse und damit auch die Leichtigkeit habe ich in der Schule nie verspürt“ (Ulrich WeberXI). Eine solche Leichtigkeit in die Tätigkeit der Mitarbeitenden zu bringen, kann die Produktivität und Zufriedenheit in Ihrer Einheit ganz enorm erhöhen. Denken Sie noch einmal daran, wie es Ihnen selbst geht. Wenn Sie, was ich vermute, beinahe den ganzen Tag im Schaffensfluss verbringen und u. a. daraus Ihre Leistungskraft schöpfen: Warum sollten Sie dieses Potenzial nicht auch bei Ihren Mitarbeitenden heben?
» Flow ist ein echter Produktivitätshebel. 11.5 Veränderungsbegleitung Ein schönes Beispiel für eine Führungsaufgabe, die fast überall hoch priorisiert und trotzdem fast immer falsch angegangen wird, ist das Veränderungsmanagement. Bei diesem Themenkomplex geht es nur selten um sachliche Veränderungsbedarfe im eigentlichen Geschäft, dieser Aspekt wird sinnvollerweise eher unter den Schlagworten „Innovation“ oder „Digitalisierung“ diskutiert. Vielmehr stehen die menschlichen Anpassungsleistungen anlässlich von Neuausrichtungen,
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Fusionen und Umstrukturierungen etc. im Fokus. Auf diesem Feld wurde in den letzten Jahrzehnten viel Schindluder getrieben. Der früher gängige Anglizismus „Change“ ist mittlerweile so diskreditiert, dass viele lieber von „Transformation“ sprechen oder Änderungsbedarfe mit wechselnden Kampagnentiteln adressieren. Der wesentliche Grund für die verbreitete Aversion ist, dass fast immer versucht wird, Veränderungsmanagement zentral zu betreiben – statt dezentral über Führungskräfte und Selbststeuerung. Projekte auf Ebene der Gesamtorganisation können die individuelle Ansprache aber bestenfalls begleiten, nie ersetzen. Die Millionenbudgets, mit denen spezialisierte Agenturen Kampagnen des Typs „Change is beautiful“ einschließlich mehrsprachiger Motivations-Filmchen und prominent bespielter LiveEvents produzieren, nützen meist wenig und schaden mitunter sogar. Bei den Betroffenen lösen sie oft blanken Zynismus aus. Mit solchen Mobilisierungsaktionen werden die Mitarbeitenden zum reinen Objekt degradiert. Die Botschaft lautet: Wer nicht mitmacht, ist veränderungsresistent, sprich dumm, und verhält sich irrational. Nicht umsonst geht es bei den typischen Change-Modellen, wie den acht Stufen von Kotter oder den als Normalverteilung dargestellten Reaktionstypen, in erster Linie um die Reduzierung von Widerstand bei der Durchsetzung bereits getroffener Entscheidungen.XII Nun ergeben jedoch manche Veränderungsprojekte objektiv weder geschäftlich noch finanzmarktbezogen Sinn, sondern basieren schlicht auf falschen Annahmen. In solchen Fällen sind die Bedenkenträger also eher die Schlaueren und man täte gut daran, ihre kritischen Beiträge rechtzeitig aufzunehmen. Überhaupt wäre es angezeigt, Veränderungen iterativ, also in kleinen, aufeinander aufbauenden Schritten, zu betreiben. Wo, wie derzeit in der Automobilindustrie, im Hauruck-Verfahren massive Veränderungen durchgezogen werden müssen, haben die Verantwortlichen offenbar lange Zeit fest geschlafen. Die Chancen, eine Belegschaft vom Wandel zu überzeugen und auf die Reise in die Zukunft wirklich mitzunehmen, steigen erheblich, wenn alle ihre Hausaufgaben in Sachen kontinuierlicher Verbesserung und iterativer Innovation machen (Abschn. 9.5), sodass die Anpassung sukzessive erfolgt: „Wie können Sie Ihrem Unternehmen die Quälerei einer massiven Restrukturierung ersparen? Ganz einfach: Stellen Sie sicher, dass es nie eine braucht“
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(John HumphreysXIII). Wenn viele Change-Projekte scheitern – die gern genannte Quote von 70 % ist übrigens ein reiner MythosXIV –, so liegt dies nicht in erster Linie an den betroffenen Menschen, sondern daran, dass Anpassungsbedarfe zu abrupt und zu unsystematisch abgearbeitet werden.
» Das Wort „Change“ ist diskreditiert. All dies mag Sie überzeugen, es hilft Ihnen als Führungskraft aber nicht unbedingt weiter. Vielfach werden Sie ja selbst vor vollendete Tatsachen gestellt und müssen mit Ihrer Organisationseinheit eine radikale Richtungs- und Strukturänderung bewältigen. Hier sind Sie als Selbstmanager gefragt, aber natürlich auch als komplementär Führende oder Führender. Es gilt, die Mitarbeitenden so zu begleiten, dass die Änderungsbedarfe angemessen adressiert werden und sie unbeschadet durch den Wandel kommen. Aus diesem Grunde wird das Thema hier unter „Fürsorge“ behandelt. Was also ist im Rahmen dieser Veränderungsbegleitung konkret zu tun? Bei genauer Betrachtung eigentlich nicht viel, denn einmal mehr ist diese Aufgabe eher eine besondere Perspektive auf die Personalführung als ein gesondertes Handlungsfeld. Alle anderen Führungsaufgaben und Aktivitäten sind schließlich keineswegs auf statische Verhältnisse ausgelegt, sondern beinhalten schon eine dynamische Anpassung. So zielen z. B. Qualifizierung und Entwicklung grundsätzlich immer auf Neues. Auch Rekrutierung und Trennung stellen Veränderungsvorgänge dar. Nichts anderes gilt z. B. für die Informationsversorgung, die Abstimmungskommunikation, die Aufrechterhaltung der Arbeitsmotivation oder das Kontrollbewusstsein als Flow-Bedingung. Die besondere Bedeutung des Wandels rechtfertigt es jedoch, sich damit in besonderer Weise auseinanderzusetzen. Je umfassender und plötzlicher der Wandel, desto größer die Gefahr, dass die Betroffenen die Veränderungen nicht verstehen, nicht mittragen oder nicht umsetzen können. Bei Ihnen als Führungskraft müssen in solchen Fällen die Warnlampen angehen, und alle Gespräche, Sitzungen
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und sonstigen Routinen sollten dazu genutzt werden, die personellen Auswirkungen des Wandels festzustellen und bei Bedarf nachzusteuern. Natürlich spielen Veränderungsmotivation und Veränderungswiderstand auch eine Rolle und sind einer von zwei wichtigen Aspekten der Veränderungsbegleitung. Selbst wenn ein Projekt sinnvoll und notwendig ist, bedeutet dies nicht, dass sich Verständnis und Akzeptanz wie von Zauberhand über die Belegschaft legen würden. Manche Menschen sind in der Lage, sich mit Leichtigkeit auf Neuerungen aller Art einzustellen. Viele aber sind es nicht, zu stark ist die uns innewohnende Macht der Gewohnheit. Hier sind kompensatorische Eingriffe gefragt, die wie immer möglichst sanft ausfallen sollten. Es empfiehlt sich, die Mitarbeitenden nicht vor vollendete Tatsachen zu stellen, sondern sie möglichst früh über den Prozess der Neuausrichtung zu informieren und in Entscheidungen einzubeziehen. Wer das Thema Veränderungen nicht nur anlässlich von Großprojekten diskutiert, hat es hier viel leichter. Wenn die Entwicklung der Märkte und des gesellschaftlichen Umfelds in den Führungsroutinen auf Basis umfassender Information laufend thematisiert werden, entsteht am ehesten ein dauerhafter Konsens über die grundsätzliche Notwendigkeit regelmäßiger Anpassungen. Dazu gehört auch, die Entscheidungsmechanismen und faktischen Handlungszwänge darzulegen, die zu Änderungen führen und ggf. außerhalb der Einflusszone der Betroffenen angesiedelt sind. Organisationsmitglieder sind eben Teil eines Ganzen und müssen sich damit abfinden, wenn ihre Organisation in eine andere Richtung steuert, als sie selbst es gern hätten. Wer gar nicht in der Lage ist, sich auf eine veränderte Realität einzustellen, muss vielleicht auch erkennen, dass er anderswo besser aufgehoben ist. All dies erfordert geistige Auseinandersetzung und interaktive Diskurse. Nur passive Befehlsempfänger akzeptieren fremdinitiierte Änderungen sofort. Wer eine bestimmte Linie bis dato aktiv mitgetragen und sich damit identifiziert hat, braucht ein wenig Zeit, sich auf Neues einzustellen. Zentrale Maßnahmen, insb. die hierarchieüberspannende Kommunikation oberer Führungskräfte (Abschn. 8.5), können dabei helfen. Um Veränderungsmotivation zu erzeugen und Widerstände aufzulösen, sind aber die regelmäßigene Arbeitsbesprechungen und Teamsitzungen fast immer der eigentlich wirksame Weg.
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» Es gilt, die Mitarbeitenden mitzunehmen. Dies trifft auch auf den zweiten wesentlichen Punkt der Veränderungsbegleitung zu, die Bewältigung individueller Anforderungen. Hier gilt es, die aus den Entwicklungen resultierenden Anpassungsbedarfe und Bedürfnisse jedes einzelnen Mitarbeiters frühzeitig zu erkennen und umzusetzen. Dabei geht es vor allem um die Änderung der Arbeitsinhalte und -bedingungen, Fragen der Zusammenarbeit sowie Qualifizierung und Entwicklung. So mag in der wöchentlichen Arbeitsbesprechung auffallen, dass ein Mitarbeiter für das Arbeiten mit einem neuen digitalen Vertriebskonzept nicht hinreichend qualifiziert und ausgestattet ist. Dies zu ändern, erscheint dann zwar selbstverständlich und trivial, wäre ohne solche Gesprächsanlässe aber erfahrungsgemäß in aller Regel unterblieben.
» Veränderung bedingt Anpassungsbedarfe. Ein dritter Punkt sei hier ebenfalls erwähnt, wird aber eigentlich in Kap. 14 behandelt, nämlich die Anpassung der Personalführungsinstrumente und -prozesse. Die bisherigen Vorstellungen der Organisation manifestieren sich ja schließlich auch in den derzeitigen Personalführungsstrukturen. Es ergibt wenig Sinn, im Rahmen von Veränderungsprojekten eine Art Gegenrealität zu schaffen, also Visionen, Leitgedanken, Prioritäten etc. zu propagieren, die den bestehenden Strukturen widersprechen. Man wird also – ein allgemeines Führungsprinzip, auf das wir noch eingehen werden – zuerst hier ansetzen müssen. So bleibt z. B. eine mitreißende Rede wirkungslos, wenn der Appell sich mangels struktureller Möglichkeit, z. B. ausreichend flexibler Arbeitszeit, gar nicht umsetzen lässt. Verhaltensänderungen werden kaum erfolgen, wenn das bestehende Anreizsystem sowie geltende Jahresziele das gegenteilige Verhalten fordern.
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All dies ist Teil des konstitutiven Managements, das naturgemäß nicht nur Instrumentenentwicklung, sondern auch Instrumentenanpassung beinhaltet.
» Alte Führungsstrukturen können bremsen. Veränderungsbegleitung ist also eine wichtige Führungsaufgabe, läuft in der Praxis aber im Rahmen der normalen Führungsroutinen mehr oder weniger automatisch ab. Wo es regelmäßige individuelle Arbeitsbesprechungen gibt, werden Veränderungsbedarfe frühzeitig erkannt und umgesetzt. Nur im Falle wirklich massiver Änderungen empfiehlt es sich, ein gesondertes Veränderungsprojekt als Bedarfsroutine ins Leben zu rufen, um den Überblick über die vielen Einzelbedarfe und -maßnahmen nicht zu verlieren. Anmerkungen I. Siehe z. B. BGRCI 2002. II. Vgl. z. B. das Angebot des EAP-Anbieters Prevent.on (www. preventon-eap.de, Zugriff am 7.3.2023). III. Vgl. z. B. DIN e. V./Demerouti 2011. IV. Grün 1998, S. 83. V. Zitiert nach Seidenstricker 2008, S. 284. VI. Im Zusammenhang mit derpersönlichen Gesunderhaltung besonders empfehlenswert ist die achtsamkeitsbasierteStressreduk tion nach Kabat-Zinn 2011. VII. Reinhold Messner, Extrembergsteiger; zitiert nach Stehr 2012, S. 42. VIII. Csikszentmihalyi 1990 . Er schildert auf den S. 49 ff. acht Elemente des Flow, die ich hier um des besseren Verständnisses willen in drei Kennzeichen und fünf Voraussetzungen aufteile. Die beiden Ansatzpunkte finden sich andeutungsweise auf S. 157. IX. Larry D. Rosen, US-amerikanischer Hochschullehrer und Autor, zitiert nach Klotz 2017, S. 9; eigene Übersetzung.
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X. Sutton 2010. XI. Ulrich Weber, Ex-Personalvorstand der Deutschen Bahn; zitiert nach Ludwig 2009, S. 6. XII. Vgl. Kotter 2011 und zur Normalverteilung z. B. Vahs 2015, S. 327. XIII. Humphreys/Langford 2008, S. 25; eigene Übersetzung. XIV. Ausführlich dazu Hughes 2011.
Literatur BGRCI (2002): „Spieglein, Spieglein an der Wand“ (Website); https:// www.bgrci-foerderpreis.de/foerderpreis/beitrag.aspx?nr=797 (Zugriff am 7.3.2023). Csikszentmihalyi, Mihaly (1990): „Flow – The Psychology of Optimal Experience“; Harper Perennial 2008 (Erstveröffentlichung 1990). DIN e. V. (Herausgeber)/Demerouti, Evangelia (2011): „Psychische Belastung und Beanspruchung am Arbeitsplatz – Inklusive DIN EN ISO 10075–1 bis -3“; Beuth 2011. Grün, Anselm (1998): „Menschen führen, Leben wecken – Anregungen aus der Regel Benedikts von Nursia“; 6. Auflage dtv 2010 (Erstauflage VierTürme Verlag 1998). Hughes, Mark (2011): „Do 70 Per Cent of All Organizational Change Initiatives Really Fail?“; Journal of Change Management 4/2011 (Vol. 11), S. 451‒464. Humphreys, John/Langford, Hal: „Managing a Corporate Culture Slide“, MIT Sloan Management Review Spring 2008; S. 25‒27. Kabat-Zinn, Jon (2011): „Gesund durch Meditation – Das vollständige Grundlagenwerk zu MBSR“; Neuauflage OW Barth 2011 (Originaltitel: „Full Catastrophe Living“). Kaehler, Boris (2020): „Komplementäre Führung – Ein praxiserprobtes Modell der Personalführung in Organisationen“; 3. Auflage Springer Gabler 2020. Klotz, Frieda (2017): „The Heavy Toll of Always On Technology“ (Interview mit Larry D. Rosen); MIT Sloan Management Review Spring 2017; S. 7‒9. Kotter, John P. (2011): „Leading Change: Wie Sie Ihr Unternehmen in acht Schritten erfolgreich verändern“; Vahlen 2011.
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Ludwig, Kirsten (2009): „Ich wollte was finden, das mich 40 Jahre unterhält.“ (Interview mit Ulrich Weber); Handelsblatt Perspektiven 12.6.2009, S. 6‒7. Seidenstricker, Iris (Hrsg.): „Das große Buch der Lebensweisheiten: 2222 humorvolle und geistreiche Sprüche“; Reader’s Digest 2008. Stehr, Christoph (2012): „Nur die Leidenschaft ernährt den Menschen – Motivation am Limit“ (Interview mit Reinhold Messner); Personalführung 9/2012; S. 40‒47. Sutton, Robert I. (2010): „Der Chef als Schutzschild“; Harvard Business Manager November 2010; S. 43‒50. Vahs, Dietmar (2015): „Organisation – Ein Lehr- und Managementbuch“; 9. Auflage Schäffer-Poeschel 2015.
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Entgegen anderslautenden Lehrmeinungen ist Motivation durchaus eine wichtige Führungsaufgabe. Ohne Verhaltensantrieb gibt es schließlich auch keine Arbeitsleistung. Um erfolgreich damit umzugehen, muss man neben dem Prinzip der Selbstführung aber auch die Wirkzusammenhänge verstehen. Dieses Kapitel zeigt Ihnen daher die einzelnen Aspekte des Phänomens Motivation auf, von den persönlichen Motiven über die Anreizgestaltung bis hin zu Erwartungen, Absichten und Verhaltensimpulsen. Auch auf Kurzbesuche am Arbeitsplatz gehe ich hier näher ein und gebe Tipps dazu.1
1 Da
die Kapitel in der E-Book-Version einzeln abrufbar sind, wiederhole ich den folgenden Hinweis aus dem Vorwort: Dieses Buch beruht auf dem Theoriemodell der Komplementären Führung, das ich für führungskonzeptionell Interessierte in meinem wissenschaftlichen Grundlagenwerk gleichen Titels dargelegt habe (Kaehler 2020). „Führen als Beruf“ soll dieses Wissen für Führungskräfte als Anwenderinnen und Anwender aufbereiten, gut verständlich und streng praxisorientiert. Fast alle Ideen und auch manche Formulierungen, die Sie hier finden, stammen aber aus dem ersten Buch, das lässt sich nicht vermeiden. Aus Gründen der Lesbarkeit – dies ist kein wissenschaftliches Werk – sind dabei nicht alle Selbstzitate explizit als solche gekennzeichnet. Andere Autoren und Quellen werden aber natürlich nach bestem Wissen und Gewissen korrekt und vollständig zitiert.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Kaehler, Führen als Beruf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67567-0_12
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12.1 Aber ja doch: Motivieren ist eine Führungsaufgabe In seinem viel beachteten Management-Bestseller „Mythos Motivation“I unterzog Reinhard K. Sprenger vor drei Jahrzehnten die in vielen Unternehmen übliche Motivationspraxis einer Grundlagenkritik, die bis heute nachwirkt. Alle Motivierung durch Führungskräfte sei schädlich und verursache letztlich Demotivation und Fehlsteuerungen, sie solle besser ganz unterbleiben. Entsprechend negativ ist die Einstellung seiner zahlreichen Leserinnen und Leser zu dieser Führungsaufgabe. Das Ganze ist im Ansatz gut gemeint, geht aber dennoch fehl. Ja, es gibt jede Menge dysfunktionale Motivationsinstrumente, so wie es auch sonst jede Menge formalisierte Personalinstrumente gibt, die ihren Zweck verfehlen. Das bedeutet aber nicht, dass sich keine wirksamen Werkzeuge konstruieren ließen. Ja, die klassischen Motivationsmaßnahmen haben problematische Begleiterscheinungen. Diese lassen sich aber konzeptionell ausgleichen. Motivation ist ein komplexes Phänomen und erfordert eine ganzheitliche Herangehensweise. Man kann schon deshalb nicht auf die Beschäftigung damit verzichten, weil fast alles, was getan wird, tatsächlich auch Auswirkungen auf die Motivation hat. Und ja, Fremdsteuerung ist kein wünschenswertes Führungsprinzip, Mitarbeitende sollten selbstmotiviert agieren. Das gilt aber für alle Führungsaufgaben, z. B. auch für das Lösen von Konflikten oder das Setzen von Arbeitszielen. Führungskräfte müssen allerdings als komplementäre Akteure evtl. Selbstführungsdefizite kompensieren. Und wer behauptet, Motivationsmangel käme generell nie vor, hat eine ziemlich unrealistische Vorstellung von der Arbeitswelt. Bei näherer Betrachtung bleibt von der These, Motivierung sei immer schlecht, also herzlich wenig über. Ebenso falsch wäre freilich die Annahme, Chefinnen und Chefs seien als eine Art Büroanimateur für die Dauerbespaßung ihrer Mitarbeitenden zuständig. Motivation, verstanden als Verhaltensantrieb, ist offensichtlich eine Leistungsbedingung und damit auch eine Aufgabenstellung der Führung. Motivation bei der Personalführung auszuklammern, wäre fatal, denn da fast alle Führungsaufgaben und -aktivitäten motivationale
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Abb 12.1 Prozessmodell der Arbeitsmotivation. (© Boris Kaehler 2014. All Rights Reserved.)III
Folgen zeitigen, ist diese Perspektive sogar von besonderer Bedeutung: „Im Kern besteht jede Theorie des Personalmanagements aus Annahmen über die menschliche Motivation“ (Douglas McGregorII). Motivation ist zwar nicht alles, weil menschliches Verhalten neben dem Antrieb auch noch die Fähigkeit und die Möglichkeit voraussetzt. Ohne Arbeitsmotivation entsteht aber auch keine Arbeitsleistung. Wer sich und andere führt, muss also auch für Motivation sorgen und die entsprechenden Wirkmechanismen verstehen. Dabei sind drei wesentliche Aspekte zu unterscheiden, die im komplementären Führungsmodell als einzelne Führungsaufgaben ausdifferenziert werden. Es sind dies die Bedürfnisberücksichtigung, die Abrundung des Anreizfeldes sowie die Steuerung von Erwartungen, Absichten und Impulsen (Abb. 12.1). All
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dies mag auf den ersten Blick verwirrend erscheinen, wird sich Ihnen aber im Folgenden erschließen.
12.2 Bedürfnisse berücksichtigen Die Menschen begehren Unterschiedliches, ihre individuellen Bedürfnisse sind verschieden. Man spricht hier von Motiven, psychologischen Triebfedern. Es gibt sehr viele davon und diverse Modelle, die sie zu kategorisieren suchen. Manch einem ist aus Schulzeiten noch die berühmte Bedürfnispyramide von Maslow im Gedächtnis, andere erinnern sich vielleicht an die Unterscheidung von „Hygienefaktoren“ und „Motivatoren“ bei Herzberg oder an die Dreiteilung in Leistungs-/ Macht-/Anschlussmotive von McClelland.IV Eine Vielzahl neuerer, meist kommerziell inspirierter Modelle schlägt andere Motivkategorien vor. In der Regel geht es dabei darum, sich selbst und andere besser zu verstehen und bedürfnisgerecht handeln zu können. Ob man dazu solche Modelle braucht, deren Kategorien immer in gewisser Hinsicht willkürlich sind, sei dahingestellt. Offenbar macht es vielen Freude, sich mit ihren eigenen Besonderheiten zu beschäftigen und andere in vorgegebenen Rastern zu verorten. Ob das nützt oder schadet, hängt davon ab, wie in Gesprächen oder Trainings mit den Erkenntnissen gearbeitet wird. Wenn daraus produktive Reflexionen und sinnhafte Interaktionen entspringen – gut. Entsteht stattdessen die Illusion, andere zu durchschauen und durch primitive Manipulationen steuern zu können – schlecht. Welches Modell dabei genutzt wird, spielt freilich kaum eine Rolle; genauso gut ließe sich über Sternzeichen sprechen. Ganz wesentlich ist zudem die Erkenntnis, dass Motive nur ein kleiner Teil des Puzzles der Motivation sind und dass diese wiederum nur eine beschränkte Perspektive auf das gesamte Führungsgeschehen darstellt. Zu glauben, eine bunte Liste von 16 oder 137 Motiven brächte einen auf dem Weg zu wirksamer Führung maßgeblich voran, wäre jedenfalls zu hoch gegriffen. In Wirklichkeit braucht man überhaupt keine Motivkategorien, um die beiden tatsächlichen Führungsaufgaben im Zusammenhang mit Bedürfnissen zu erfüllen. Eine davon besteht darin, die richtigen Motiv-
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träger für eine Tätigkeit auszuwählen, und lässt sich also als eine Querschnittsperspektive auf die Personalauswahl verstehen. Wer regelmäßige Arbeit scheut, wird als Bäcker oder Buchhalter kaum erfolgreich und glücklich; wer Kinder hasst, kann kein guter Lehrer sein; wer auf Geldverdienen aus ist, wäre im Niedriglohnsektor falsch. All dies ist eigentlich banal und in der Praxis wenig bedeutsam. Mit eignungsdiagnostischen Methoden (Abschn. 7.4) lässt sich i. d. R. verhindern, dass jemand im unpassenden Beruf und Arbeitsumfeld landet. Und wenn es doch geschieht, wird er oder sie sich – aus eigener Kraft oder durch kompensatorische Maßnahmen der Führungskraft – i. d. R. in eine andere Richtung entwickeln. Die andere Aufgabe im Zusammenhang mit Bedürfnissen besteht darin, die jeweils aktuellen Motive zu erkennen. Unsere permanente Motivstruktur ist ja nicht gleich der situativen.2 Bedürfnisse werden zwar durch dauerhafte Präferenzen mitbestimmt, wechseln aber ständig, je nach den situativen Umständen. Die Tatsache, dass jemand im Allgemeinen gesprächig, verfressen oder ehrgeizig ist, bedeutet nicht, dass dies jetzt gerade, in diesem Moment, die vorherrschende Motivlage ist. Auch diese Führungsaufgabe lässt sich als Querschnittsperspektive verstehen, nämlich auf jedwede Führungsinteraktion, auf alle Aktivitäten der Führung. Wer nicht mitbekommt, welche aktuellen Bedürfnisse und Wünsche sein Gegenüber gerade hegt, kann nie und nimmer angemessen intervenieren. Nicht wenige Assessment Center-Übungen enthalten solche aus dem echten Leben abgeschauten Fallkonstellationen. Als Chefin oder Chef sollen Sie z. B. einen Mitarbeiter auf Leistungsmängel hinweisen, müssen aber erkennen, dass brennende private Probleme im Wege stehen, anders ist keine Lösung zu erreichen. Das geht aber nur, wenn Sie mitbekommen, was Ihren Mitarbeitenden gerade antreibt. In der Praxis ist auch diese situative Bedürfnisberücksichtigung unproblematisch, vorausgesetzt, Sie verfügen über ein Minimum an Empathie und praktizieren, wie hier empfohlen, regelmäßige Arbeitsbesprechungen, in denen Sie sich Zeit zum Zuhören nehmen. Zu erwarten, dass Mitarbeitende sich in einem
2 Dies
ist übrigens ein Konstruktionsfehler vieler Motivationsmodelle.
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nur jährlich stattfindenden Gespräch in vergleichbarer Weise öffnen, erscheint hingegen weltfremd.
gilt, sowohl dauerhafte als auch » Essituative Bedürfnisse zu erkennen.
12.3 Anreizfelder abrunden Beim Thema Anreize werden sich viele an Schulstoff erinnert fühlen. Das Prinzip des operanten Konditionierens, also der Verhaltensverstärkung durch Anreize, wird schließlich im Biologieunterricht ausführlich behandelt. Uns Menschen geht es dabei zunächst einmal nicht anders als den Ratten und Tauben in der Box: Durch Anreize und das damit einhergehende Belohnungs- oder Bestrafungsempfinden lernen wir, ein Verhalten häufiger zu zeigen. Das klappt natürlich nur, wenn die Anreize auch der Motivstruktur entsprechen: Wer keine Schokolade mag, tut dafür auch nichts. Um durch Anreize Verhalten zu motivieren, müssen diese einer ausgeführten Handlung zeitnah folgen. In der Tierdressur wird dieses Prinzip genutzt, indem z. B. ein Hund zunächst lernt, den Ton eines „Clickers“ mit späterer Futterbelohnung zu assoziieren, und dieser dann als Zwischenbelohnung für Einzelschritte einer komplexen Verhaltensfigur dient. Wichtig dabei: Nicht die perfekte Ausführung, sondern die Annäherung ans Ziel wird belohnt und die Schwelle dabei sukzessive erhöht. Ein führungsbezogenes Anwendungsbeispiel hierfür, wenngleich ein problematisches, bietet das „Ein-Minuten-Lob“ aus dem über 10 Mio. Mal verkauften Buch „Der Minuten Manager“V. Demnach sollen Führungskräfte ihre Mitarbeitenden dabei erwischen, wie sie etwas richtig machen, und dann sofort loben, bedeutungsschwanger berühren und dem Ganzen durch einen Moment der Stille Bedeutung verleihen. Ganz so einfach liegt die Sache aber nun auch wieder nicht, und das hat drei Gründe. Erstens ist die Wirksamkeit eines einzelnen Anreizes natürlich arg begrenzt. Wir alle bewegen uns in Anreizfeldern aus unterschied-
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Abb. 12.2 Anreizfelder als Fishbone-Diagramm. (© Boris Kaehler 2014. All Rights Reserved.)VI
lichsten Einflüssen, die jeweils ein Belohnungs- oder Bestrafungsempfinden erzeugen. Eine als langweilig empfundene Arbeit, unzureichende Vergütung oder die abfällige Bemerkung eines Kollegen können die Anreizwirkung eines Lobes ganz erheblich konterkarieren. Anreizfreie Arbeit gibt es ohnehin nicht, immer wirken irgendwelche Verstärker. De facto existiert immer ein ganzes Set unterschiedlichster negativer und positiver Anreize. Vor diesem Hintergrund besteht die Führungsaufgabe hier darin, sich ein zutreffendes Bild von den faktisch wirkenden Verstärkungsfaktoren zu machen und das Anreizfeld gezielt abzurunden. Dabei geht es keineswegs nur um Geld und Lob, sondern um Dutzende von Anreizen, die sich vier groben Kategorien zuordnen lassen (Abb. 12.2).
268 B. Kaehler
» Es wirken viele Anreize gleichzeitig. Dabei zeigt sich, dass die viel beschworene „intrinsische“ Motivation, also die Motivation aus dem persönlichen Tätigkeitserleben heraus3, eigentlich nur eine dieser Anreizkategorien darstellt: Je positiver die Tätigkeit erlebt wird, umso weniger andere Anreize braucht es. Andererseits lässt sich fehlende Freude an der Tätigkeit durchaus z. B. durch massive Geldanreize ersetzen.4 Um das Anreizfeld abzurunden, müssen also dort, wo Motivation entstehen soll, die Bestrafungsanreize zurückgefahren und die Belohnungsanreize erhöht werden. Soll ein Verhalten unterbleiben, ist das umgekehrte Vorgehen angezeigt. Dabei muss der Schwerpunkt nicht unbedingt auf monetären Anreizen liegen: „Berufstätige sind durchaus erpicht auf hohe Einkommen; aber sie haben auch andere Motive, und sie sind oft bereit, für diese anderen Dinge ein gutes Stück Einkommen zu opfern“ (Mary Parker FollettVII). Der zweite Grund für die beträchtliche Komplexität dieser Führungsaufgabe liegt darin, dass das faktische Anreizfeld typischerweise in jedem Teilbereich einer Arbeitstätigkeit anders gelagert ist. Das resultiert nicht nur daraus, dass unterschiedliche Handlungen unterschiedlich viel Spaß machen und oft in wechselnden sozialen Konstellationen ausgeführt werden. Insbesondere ergeben sich auch aus den formalisierten Personalinstrumenten einer Organisation starke Anreizeffekte, die typischerweise nur einen Teil der geschuldeten Tätigkeit abdecken. So belohnen z. B. manche Bonussysteme nur die erzielten Umsätze, während ebenfalls erfolgsrelevante Dinge wie Dokumentation und
3 Es gibt auch Quellen, die „intrinsisch“ anders interpretieren, nämlich im Sinne einer der Person innewohnenden Eigenmotivation. Soweit damit gemeint ist, dass die Person unabhängig von ihrer Umwelt agiert, ist dies erkennbar unrealistisch, es kommt einfach nicht vor. Anderenfalls ist gemeint, dass jemand sich selbst motiviert, was dann auf den hier beschriebenen Motivationsmechanismen beruht. Diese haben allerdings große Außenweltanteile, der Begriff „intrinsisch“ passt darauf gar nicht. 4 Ob monetäre Anreize die „intrinsische“ Motivation schädigen (der sog. „Verdrängungs-“ oder „Korrumpierungseffekt“), ist wissenschaftlich umstritten. Ich bezweifle dies und sehe etwaige negative Effekte von Boni etc. eher in den hier dargelegten Mechanismen begründet.
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nachhaltiger Umgang mit Risiken oder Kunden nicht monetär relevant sind. Werden hier keine ergänzenden Anreize gesetzt, können daraus massive Fehlsteuerungen resultieren – man denke z. B. an die Bankbranche mit ihren hohen Boni für letztlich geschäftsschädigendes Verhalten. Auch dies ist eigentlich eine Binsenwahrheit: Wer nur bestimmte Aspekte der Arbeit belohnt, braucht sich nicht zu wundern, wenn andere Aspekte dafür vernachlässigt werden. Steven KerrVIII bezeichnete dies treffend als „die Torheit, A zu belohnen, aber auf B zu hoffen“, und empfahl Managern, ihre Anreizsysteme zu überprüfen. Denn: „Die Organisation bekommt nicht das, was sie möchte, sondern das, was sie belohnt“ (Ansfried WeinertIX).
Sie Anreizfeld und Tätigkeit in » Bringen Kongruenz. Die dritte Schwierigkeit beim Setzen von Anreizen betrifft das, was viele intuitiv an dieser Führungsaufgabe stört und was Ihnen vielleicht auch am oben erwähnten „Ein-Minuten-Lob“ aufstieß, nämlich die vermeintlich manipulative Fremdeinwirkung. Nun hatten wir schon verschiedentlich festgestellt, dass alle Führungsaufgaben zunächst Selbstführungsaufgaben sein sollten. So auch hier: Wer selbstgesteuert unterwegs ist, gestaltet sich – im Rahmen der Möglichkeiten – seine Arbeit so, dass sie Freude bereitet, lobt sich selbst, verbittet sich Nörgelei von Kollegen und verschafft sich materielle Belohnungen z. B. durch Bestehen auf Gehaltserhöhung. Ganz autark ist dies nie, denn die Umwelt beinhaltet ja immer eine gewisse Struktur und damit bestimmte faktische Anreize. Die entsprechende Führungsaufgabe besteht aber ja auch nicht in der Neuerschaffung eines Anreizfeldes, sondern in dessen Abrundung im Hinblick auf die Ziele der Organisationseinheit. Und dies übernehmen viele Mitarbeitende durchaus selbst. Nur im Falle von Defiziten greift die Führungskraft als komplementär-kompensatorische Instanz ein. Und diese Einflussnahme sollte, wie in Abschn. 3.8 und Abschn. 13.3 dargelegt, vor-
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zugsweise sanft erfolgen. Gönnerisch ausgereichte Minibelohnungen für willkürlich und selektiv definiertes Wohlverhalten haben nicht nur etwas Erniedrigendes, sondern verfehlen i. d. R. auch ihren Zweck. Was Führungskräfte hingegen unbedingt tun müssen, ist, die Ziele ihrer Einheit mit den faktischen Anreizen zu vergleichen, die mit der Arbeit und Führung jedes einzelnen Mitarbeitenden einhergehen. Bei Bedarf müssen Sie dieses Anreizfeld dauerhaft oder situativ anpassen. Die vielen Dutzend relevanten Anreize mögen zunächst unübersichtlich sein. Da es sich aber durchweg um ziemlich selbstverständliche Dinge handelt, die in den Führungsroutinen fast automatisch zur Sprache kommen, ist die praktische Umsetzung meist einfacher als gedacht.
Abrundung statt » Komplementäre penetranter Fremdsteuerung.
12.4 Erwartungen, Absichten und Verhaltensimpulse Nun sind Menschen keine Hunde – diesen Hinweis haben Sie im Bisherigen hoffentlich vermisst. Was uns unterscheidet, sind vor allem unsere kognitiven Fähigkeiten, das Denken. Im Hinblick auf die Arbeitsmotivation sind zunächst die Erwartungen relevant, die wir bilden, und von ihnen gibt es jede Menge. Da wären erstens die Anreizerwartungen. Wer davon ausgeht, am Jahresende 10.000 € und eine Lobeshymne zu bekommen, wird von 5000 € und einem warmen Händedruck enttäuscht sein. Wenn dies dazu führt, dass seine Motivation schwindet, wäre es besser gewesen, gar keine solchen Zusatzanreize zu setzen. Ein weiteres Beispiel sind zweitens Rollen- und Leistungserwartungen. Wenn jemand eine bestimmte Anforderung als kongruent mit seiner beruflichen Rolle wahrnimmt, wird er oder sie eher motiviert sein, entsprechende Handlungen zu zeigen. Erwartet jemand nichts von sich und nimmt auch keine Außenerwartungen wahr, wird er oder sie kaum eine besondere Arbeitsleistung zeigen. Das
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Gegenmittel hat Peter F. Drucker mit dem Prinzip der „Konzentration auf die eigenen Beiträge“ benanntX: Arbeitende Menschen sollten nicht zu sehr auf die eigene Person, Position und Belohnung schauen, sondern vor allem auf ihre äußeren Handlungen. Sie sollten sich als Unterstützer von Menschen, Projekten und Zielen sehen. Diese Beitragsorientierung macht nicht nur produktiv, sondern auch glücklicher, denn wir Menschen sind psychologisch ebenso wenig für Egoismus wie für dauerhaften Müßiggang konstruiert. Drittens hegen wir alle Gerechtigkeitserwartungen, die unser Verhalten und unsere Reaktionen erheblich beeinflussen. Dabei macht man sich selten klar, dass die Basis dessen, was jemand für gerecht hält, von individuellen und kulturellen Präferenzen abhängt und keine generelle Gültigkeit hat. Es gibt nun einmal völlig unterschiedliche Gerechtigkeitsformen: Ergebnisgerechtigkeit ist etwas ganz anderes als Leistungsgerechtigkeit, Bedürfnisgerechtigkeit oder Prozessgerechtigkeit. Sich ungerecht behandelt zu fühlen, demotiviert trotzdem enorm. Viertens ist an Kontrollerwartungen zu denken, im Sinne der Überzeugung, die Kontrolle über die eigenen Handlungen und Handlungsergebnisse zu haben. Wer glaubt, etwas nicht erreichen zu können, fängt eben selten überhaupt damit an. Fünftens ist das Sinnempfinden relevant. Die Erkenntnis und Erwartung, dass eine Tätigkeit einen höheren Sinn ergibt, kann erhebliche Kräfte freisetzen. Diese Sinnerwartung ist häufig mit einer hohen Beitragsorientierung gekoppelt, denn die Quelle des Sinns ist ja i. d. R. zugleich der Bezugspunkt konkreter Leistungen (z. B. im Falle anderer Menschen oder gesellschaftlicher Belange). Was alle diese Erwartungen gemeinsam haben, ist einerseits die Tatsache, dass sie die Wirkung von Anreizen und Motiven modifizieren. Das beste und funktionalste Anreizfeld und alle damit verbundenen Personalkosten nützen wenig, wenn sie durch die individuellen Erwartungen konterkariert werden. Für einen ungerechten oder unbekannten Bonus wird sich niemand bewegen, und ohne zu wissen, dass eine Handlung sich beherrschen lässt und Spaß macht, wird man sie in aller Regel auch nicht ausführen. Andererseits haben alle Erwartungen aber auch gemeinsam, dass man sie kommunikativ prägen kann, und eben darin besteht hier die Führungsaufgabe. Ohne Erwartungsmanagement gibt es keine optimale Anreizwirkung. Was
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wer zu erwarten hat, muss ständig neu justiert und kommuniziert werden. Der ideale Mitarbeiter tut dies auch hier wieder selbst. Aber so perfekt, dass sie ihre Erwartungen vollumfänglich selbst regulieren, sind die wenigsten von uns. In der Praxis kommen Führungskräfte daher selten umhin, den Sinn, die Anforderungen, die Gerechtigkeit etc. aller Maßnahmen in irgendeiner Form zu thematisieren. In jedem Falle aber müssen Sie sich anlässlich der Führungsroutinen vergewissern, inwieweit die vom Mitarbeiter gehegten Erwartungen den Realitäten der jeweiligen Einheit entsprechen.
Anreizwirkung ohne Erwartungs» Keine management. Erwartungen sind allerdings noch kein Verhalten. Vielmehr müssen Absichten und Verhaltensimpulse gebildet werden. Die Absichten lassen sich dabei als Resultat von Zielfindungsprozessen begreifen, einem der bedeutsamsten Motivationsmechanismen überhaupt. Für diejenigen, die gelernt haben, sich selbst Ziele zu setzen und diese auch zu erreichen, stellt die Zielerreichung mitunter fast schon einen Selbstzweck dar. Die meisten Jogger laufen ihre Runde einfach deshalb, weil sie es sich vorgenommen haben, und genießen obendrein die Bewegung und die Ergebniszufriedenheit – nicht umgekehrt. Die Zielsetzung baut einen Spannungszustand auf, der motivationale Energie freisetzt. Das Schöne für Sie als Praktikerin oder Praktiker: Ziele sind bereits Gegenstand der Arbeitsvergabe (Abschn. 6.2), die Motivationseffekte bekommen Sie also ganz nebenbei, ohne sich näher damit auseinandersetzen zu müssen. Freilich hegen wir nicht selten durchaus unterschiedliche und ggf. widersprüchliche Absichten, teils bewusster, teils unbewusster Natur. Hier kommt die Willenskraft ins Spiel, mit Hilfe derer der eigentliche Verhaltensimpuls gebildet wird. Dabei ist umso weniger Willenskraft erforderlich, je mehr Verhaltensimpulse bereits zur Gewohnheit geworden sind und je stärker die Sogwirkung des Anreizfeldes ist. Auch bei dieser Führungsaufgabe gilt natürlich das
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komplementäre Prinzip: Mitarbeitende sollten sich selbst antreiben; nur bei entsprechenden Defiziten helfen Führungskräfte kompensatorisch nach. Interessant ist die Sache auch für die Personalauswahl: Ist jemand in der Lage, sich selbst Ziele zu setzen und den Willen aufzubringen, sie zu erreichen?
» Ziele sind der Motivationsfaktor Nr. 1. 12.5 Kurzbesuche am Arbeitsplatz Eine wichtige Dauerroutine, von der bislang noch nicht die Rede war, sind Kurzbesuche am Arbeitsplatz. In der US-amerikanischen Managementliteratur sind sie unter dem Begriff „management by walking around“ bekannt.XI Im japanischen Managementdenken hat der regelmäßige Besuch des „gemba“, des Ortes des Geschehens, sogar eine noch längere Tradition.XII Die Bedeutung dieser Führungsaktivität ist nicht zu unterschätzen, denn es handelt sich um eine wichtige Ergänzung der anderen Routinen. Momentaufnahmen im realen Arbeitsumfeld ergeben noch einmal eine ganz andere Perspektive als z. B. Arbeitsbesprechungen oder Teamsitzungen. Manches, was im Gespräch plausibel klingt, erweist sich „im Feld“ als wenig überzeugend. Die Kurzbesuche erfüllen diverse Funktionen, letztlich dienen sie der Erfüllung fast aller Führungsaufgaben. Ich führe Sie hier unter Motivation auf, weil der persönliche Kontakt zunächst einmal Wertschätzung für die Menschen und ihre Arbeit signalisiert. Es lässt sich aber auch viel über die konkreten Abläufe und Erfordernisse an ebendiesem Arbeitsplatz, über die Zusammenarbeit im Team sowie über die Befindlichkeiten, Bedürfnisse und Ansichten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erfahren. Ganz nebenbei erhält man wertvolle Randinformationen. Um wirksam führen zu können, müssen Führungskräfte die Arbeit der Mitarbeitenden und ihr soziales Umfeld aus eigener Anschauung kennen. Kurzbesuche sind dafür ideal. In Checkliste 14 finden Sie Praxistipps dafür.
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bietet sich eine unverzichtbare Zusatz» Hier perspektive. Besuchen Sie daher jeden Mitarbeiter und jede Mitarbeiterin möglichst täglich für einige Minuten am Arbeitsplatz, in der Kaffeeküche o. Ä. Zu Beginn mag dies für alle Beteiligten ungewohnt sein, dann starten Sie besser mit wöchentlichen Besuchen und kommen nach und nach immer öfter. Es geht darum, dass Sie Interesse an allen beruflichen und persönlichen Themen signalisieren und aktiv zuhören, denn sonst erfahren Sie ja nichts. Auch sollten Sie zwischendurch ein Auge auf die Dinge und Personen um Sie herum werfen. Meist hat irgendjemand auch Fragen oder Anleitungsbedarfe, und darauf sollten Sie unbedingt eingehen. Idealerweise haben Mitarbeitende und Führungskraft in diesen Gesprächen etwa gleiche Redeanteile. Allerdings sollten die Kurzbesuche auch wirklich kurz bleiben, um die Arbeitenden nicht unnötig von ihrer Arbeit abzuhalten. Fast immer muss man daher bei bestimmten Fragen oder Problemen auf die Arbeitsbesprechung oder separate Anleitungen am Arbeitsplatz verweisen. Entscheidend ist der informelle Charakter der Gespräche, und den gilt es zu wahren. Jede Führungskraft macht dies auf ihre eigene Weise. Für die eine mag Smalltalk über Fußball ein guter Einstieg sein, der andere lässt sich lieber die Funktionsweise einer Maschine erklären. Wo Kurzbesuche neu eingeführt werden, herrscht bei den Mitarbeitenden oft das Gefühl vor, kontrolliert zu werden, und in gewisser Weise ist dies ja auch der Fall. Nach kurzer Gewöhnung dominiert aber der Austauschcharakter der Gespräche, und der negative Beigeschmack legt sich. Schließlich sind wir soziale Wesen, und die Tatsache, dass andere dabei etwas über uns und unser Tun erfahren, hindert uns ja auch sonst nicht, mit ihnen in Kontakt zu treten. Wenn Sie den Kontrollcharakter nicht in den Vordergrund stellen, spielt er erfahrungsgemäß auch nur eine untergeordnete Rolle. Allein die Tatsache, dass Sie sich zu ihnen bemühen und sich für ihre Arbeitswirklichkeit interessieren, werden Ihre Mitarbeitenden Ihnen hoch anrechnen.
12 Motivation stiften 275
» Es geht um Begegnung, nicht um Inspektion. Checkliste 14: Empfehlungen für Kurzbesuche am Arbeitsplatz (© Boris Kaehler 2019. All Rights Reserved.) • Oft, aber kurz: Wenige Minuten pro Person reichen, aber lassen Sie sich – ggf. nach einer Gewöhnungsphase mit längeren Abständen – nach Möglichkeit täglich bei jedem bzw. jeder Ihnen direkt unterstellten Mitarbeitenden sehen. Vertagen Sie evtl. längere Gesprächsbedarfe auf separate Termine. • Keine Gruppenbesuche: Kommen Sie allein und vermeiden Sie den Eindruck einer Chefarztvisite mit Gefolge. Dass andere Mitarbeitende dabei sind, lässt sich oft nicht vermeiden und schadet auch nicht. • Aktives Zuhören: Signalisieren Sie Interesse, praktizieren Sie „Aktives Zuhören“ (verstehen wollen; in den anderen hineinversetzen; Blickkontakt und Verstehenssignale; paraphrasieren und nachfragen). Fragen Sie explizit nach Ideen und Vorschlägen. Überlassen Sie dem Mitarbeiter bzw. der Mitarbeiterin mindestens 50 % Redeanteil. • Kritik vermeiden: Kritik gehört in die Arbeitsbesprechung, dort können Sie sie besser einbetten und bleibt unter vier Augen. • Offener Blick: Welche Fragen und Bedarfe fallen Ihnen nebenbei auf? • Informeller Charakter: Legen Sie den Schwerpunkt zu Beginn auf Smalltalk, Sachdinge o. Ä. und dann auf ehrliches Interesse an der Arbeit des anderen und vermeiden Sie weitestmöglich die Anmutung von Kontrolle. • Ergebnisse liefern: Arbeiten Sie Dinge, die Sie aus Gesprächen mitgenommen haben, auch wirklich ab. Nicht jeder Wunsch kann erfüllt und nicht jedes Problem gelöst werden, aber es muss Rückmeldungen geben, sonst lässt sich irgendwann niemand mehr ernsthaft auf Gespräche ein.
Damit liegt nun schon der zweite Buchteil hinter Ihnen. Was hier über den Führungsalltag ausgeführt wurde, hat sicher eine Vielzahl von Aspekten Ihrer täglichen Arbeit berührt. Ich hoffe, Sie haben dennoch – oder gerade deswegen – viele Anregungen und Optimierungstipps bekommen und setzen sie in der Praxis um. Auf jeden Fall konnten Sie einen vollständigen Überblick über die Führungsaufgaben (= Aufgabenstellungen) der Personalführung gewinnen und haben die wesent-
276 B. Kaehler
lichen operativen Führungsroutinen (= Aktivitäten) kennengelernt. Zugegeben, es reicht noch nicht ganz, denn ein wesentlicher Teil fehlt noch: Ohne Strategie und Instrumente lässt sich nämlich nichts in der Personalführung wirksam angehen. Diese Erkenntnis und die darauf bezogenen Führungsaufgaben habe ich uns für den dritten Teil aufgespart. Anmerkungen I. Sprenger 1991. II. McGregor 1960, S. 47; eigene Übersetzung. III. Abb. 12.1: Aus Kaehler 2020, S. 516; dort aus Kaehler 2017, S. 273, Kaehler 2014a, S. 163; dort nach Kaehler 2014c, S. 288. © Boris Kaehler. IV. Maslow 1943; Herzberg et al. 1959, S. 113 ff.; McClelland 1987, S. 221 ff. V. Blanchard/Johnson 1983, S. 43. VI. Abb. 12.2: Aus Kaehler 2020, S. 520; dort aus Kaehler 2017, S. 279 und Kaehler 2014a, S. 169; dort nach Kaehler 2014b, S. 289. © Boris Kaehler. VII. Parker Follett 1927, S. 145. VIII. Kerr 1975. IX. Weinert 2004, S. 225. X. Drucker 1967, S. 52 ff. XI. Vgl. z. B. Peters/Waterman 1984 oder Tucker 2015. XII. Imai 1997.
Literatur Blanchard, Ken/Johnson, Spencer (1983): „The One Minute Manager“; HarperCollins 2011 (Erstveröffentlichung 1983). Drucker, Peter F. (1967): „The Effective Executive“; 5. Auflage Harper Business 2006 (Erstveröffentlichung 1967). Herzberg, Frederick/Mausner, Bernard/Bloch Snyderman, Barbara (1959): „The Motivation to Work“; Transaction Publishers 2010 (Erstveröffentlichung 1959).
12 Motivation stiften 277
Imai, Masaaki (1997): „Gemba Kaizen – A Commonsense, Low-Cost Approach to Management“; McGrawHill 1997. Kaehler, Boris (2014a): „Komplementäre Führung – Ein praxiserprobtes Modell der organisationalen Führung“; 1. Auflage Springer Gabler 2014. Kaehler, Boris (2014b): „Arbeitsmotivation – Ein integratives Prozessmodell“; Arbeit und Arbeitsrecht Heft 5/2014; S. 288‒291. Kaehler, Boris (2017): „Komplementäre Führung – Ein praxiserprobtes Modell der Personalführung in Organisationen“; 2. Auflage Springer Gabler 2017. Kaehler, Boris (2020): „Komplementäre Führung – Ein praxiserprobtes Modell der Personalführung in Organisationen“; 3. Auflage Springer Gabler 2020. Kerr, Steven (1975): „On the Folly of Rewarding A, While Hoping for B“; Academy of Management Journal December 4/1975 (18); S. 769‒783. Maslow, Abraham H. (1943): „A Theory of Human Motivation“; Psychological Review 1943 (50), S. 370–396. McClelland, David C. (1987): „Human Motivation“; Cambridge University Press 1987. McGregor, Douglas(1960): „The Human Side of Enterprise“; McGraw-Hill Annotated Edition 2006 (Erstveröffentlichung 1960). Parker Follett, Mary (1927): „How must Business Management Develop in Order to Become a Profession“; in Metcalf, Henry C./Urwick, L.: „Dynamic administration – The Collected Papers of Mary Parker Follett“; Harper & Brothers 1942 (Erstveröffentlichung 1927); S. 132‒145. Peters, Thomas J./Waterman, Robert H. (1984): „In Search of Excellence“; HarperCollins 1984. Sprenger, Reinhard K. (1991): „Mythos Motivation – Wege aus einer Sackgasse“; 18. Auflage Campus 2007 (Erstauflage 1991). Tucker, Anita L./Singer, Sara J. (2015): „The Effectiveness of Management-ByWalking-Around: A Randomized Field Study“; Production and Operations Management Heft February 2015 (Jahrgang 24); S. 253‒271. Weinert, Ansfried. B. (2004): „Organisations- und Personalpsychologie“; 5. Auflage Beltz PVU 2004.
Teil III Führungsstrategie
Strategisches Denken ist die Essenz guter Führung. Interventionen sind Teil der Führungsarbeit, ersetzen aber kein vorausschauendes Planen und Regeln.
Zwei Buchteile haben Sie nun gelesen, und es war hoffentlich manche neue Erkenntnis und nützliche Anregung für Sie dabei. Genau das, nämlich der Wunsch und die Bereitschaft, sich mit dem eigenen Beruf auseinanderzusetzen und dabei immer besser zu werden, unterscheidet die echten Profis von den Amateuren. Eines werden Sie im Bisherigen aber hoffentlich vermisst haben: das Prinzip der Planung. Tatsächlich lässt sich keine der Teil II thematisierten 21 Führungsaufgaben wirklich gut aus dem Stegreif erfüllen. Dies deshalb, weil alle personellen Maßnahmen größeren zeitlichen Vorlauf haben und strukturierter Lösungen bedürfen. Um jemanden einzustellen, produktiv zu machen, zu schützen oder zu qualifizieren, muss vorausschauend gehandelt werden. Die Wahrheit ist: In der Personalführung geht nichts sofort. Führende müssenzwangsläufig strategisch denken, denn in puncto Geschäft und Personal braucht alles Vorlaufzeit und muss also geplantwerden. Planung im hier relevanten Sinne bedeutet nichts anderes als antizipierende Regelung, und genau darum geht es im Folgenden. Die meisten Praktikerinnen und Praktiker diskutieren
280 Teil III: Führungsstrategie
dies unter dem Begriff der Strategie, weshalb ich den dritten Buchteil auch so überschreibe. Ganz präzise ist das freilich nicht, denn behandelt wird hier nicht nur Strategisches, sondern auch Konstitutives. Ich werde Ihnen den Unterschied noch genauer herausarbeiten. An dieser Stelle mag der Hinweis genügen, dass der letzte Buchteil der mit Abstand wichtigste ist. Wirksame Führung bedarf vorausschauender Normsetzung. Eine Organisationseinheit allein durch situative Einwirkung zu leiten, funktioniert nicht. Wer sich nicht rechtzeitig in Position bringt, rennt immer nur vergeblich dem verpassten Ball hinterher. Wie lautet doch das alte Bonmot?: „Wenn Sie bei Ihrer Vorbereitung versagen, bereiten Sie Ihr Versagen vor.“I Das bedeutet: Führungskräfte sind nicht nur als Feuerwehrleute gefragt, sondern vor allem als Architekten bzw. Architektinnen.
» Gute Führung erfordert Strategien.
13 Das Prinzip Normsetzung
Im folgenden Kapitel geht es um das grundlegende Prinzip der vorrausschauenden Regelung, ein unverzichtbares Element wirksamer Führung. Wer sich im Klein-Klein täglicher Interventionen verliert, reibt sich als Führungskraft auf. Bevor Sie sich aber mit den Einzelheiten des konstitutiven und strategischen Managements beschäftigen, sollten Sie die dahinter stehende Grundlogik verstehen. Diese wird hier dargelegt, wobei zunächst kurz auf das viel geschmähte Paradigma der Planung einzugehen ist. Auch wird die praktisch sehr bedeutsame Frage beantwortet, wie sich das Führen von Personal vom Führen des Sachgeschäfts abgrenzen lässt. Zudem lernen Sie, was sanfte Normen sind und warum sich vor allem darin die hohe Kunst der vorausschauenden Führung zeigt.1 1 Da
die Kapitel in der E-Book-Version einzeln abrufbar sind, wiederhole ich den folgenden Hinweis aus dem Vorwort: Dieses Buch beruht auf dem Theoriemodell der Komplementären Führung, das ich für führungskonzeptionell Interessierte in meinem wissenschaftlichen Grundlagenwerk gleichen Titels dargelegt habe (Kaehler 2020). „Führen als Beruf“ soll dieses Wissen für Führungskräfte als Anwenderinnen und Anwender aufbereiten, gut verständlich und streng praxisorientiert. Fast alle Ideen und auch manche Formulierungen, die Sie hier finden, stammen aber aus dem ersten Buch, das lässt sich nicht vermeiden. Aus Gründen der Lesbarkeit – dies ist kein wissenschaftliches Werk – sind dabei nicht alle Selbstzitate explizit als solche gekennzeichnet. Andere Autoren und Quellen werden aber natürlich nach bestem Wissen und Gewissen korrekt und vollständig zitiert.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Kaehler, Führen als Beruf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67567-0_13
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282 B. Kaehler
13.1 Lassen Sie sich nichts erzählen Das Prinzip des Regelns, Planens, Normierens und Organisierens – alles übrigens Synonyme – wird gern lächerlich gemacht. Illustre Gestalten des Schrifttums, von Brecht bis Luhmann, erklären es von jeher zur Farce.I Und seit ständig behauptet wird, die Welt sei neuerdings VUCA2, scheint es ohnehin nicht mehr in die Zeit zu passen. Die allermeisten neueren Managementansätze sind offen regelungsfeindlich. Es ist dann von Bürokratie die Rede, von den vielen Nachteilen der Fremdsteuerung und der Freiheitsbeschränkung, vom ständigen Wandel der Umwelt, der Flexibilität erfordert, sowie von der Widersinnigkeit bedingungsloser Regelanwendung. Einer der Kulturgrundsätze des Streaming-Anbieters Netflix lautet allen Ernstes „Regeln vermeiden“ („avoid rules“).II Das alles ist grober Unfug. Ich zitiere hier immer gern wissenschaftliche Erkenntnisse, wonach wilde Schimpansen in der Lage sind, Zeit, Art und Ort ihres Frühstücks zu planen und schon am Vorabend entsprechende Vorkehrungen zu treffen.III Wetten, wir schaffen das auch? Die unbestrittene Tatsache, dass Regeln oft schlecht gemacht und angewendet werden, ist kein Beweis für die Untauglichkeit des Regelungsprinzips. Das wäre so, als wolle man den Sinn des Kochens in Zweifel stellen, weil es ungesundes und wenig schmackhaftes Essen gibt. Wir müssen uns aber nun einmal ernähren, und wer es richtig macht, bekommt auch leckeres Essen auf den Tisch. Nicht anders steht es um Regelungen. Zum einen sind Wirtschaft und Gesellschaft hoch reguliert und auch die Wirkprinzipien des Wirtschaftens folgen regelhaften Grundsätzen. Mehr noch: Unternehmen, Behörden und Vereine bestehen aus Regelungen, sie bilden diese „Organisationen“ überhaupt erst – daher der Name. Ohne Regeln gäbe es weder Staat noch Wirtschaft und keinerlei Know-how, um es z. B. an Hochschulen zu vermitteln. Eine ohne Regeln geführte Pommesbude würden Ihnen
2 Also
volatil, unsicher, komplex und ambiguos, siehe Abschn. 2.5. Seit das VUCA-Akronym abgenutzt ist, bemühen manche lieber den Kunstbegriff „Dynaxität“ aus Dynamik und Komplexität.
13 Das Prinzip Normsetzung 283
Steuerprüfer und Gesundheitsamt binnen kürzester Zeit schließen. Normen konstituieren unsere Welt, und sie grundsätzlich zu negieren, ist realitätsfremd. Die Forderung nach der Abschaffung von Regeln ist im Übrigen schon deshalb absurd, weil sie selbst eine Regel darstellt. Regeln sind eine Tatsache des Lebens, und Ihr machtvollstes Werkzeug als Führungskraft.
» Organisationen basieren auf Regeln … Natürlich kann man gut und schlecht normieren. Falsch ist nicht das Prinzip der Regelung als solches, sondern die Ignoranz, mit der Regelungen oft gestaltet werden: „Dass man mit Dienst nach Vorschrift die Urheber der Vorschriften lächerlich machen kann, ist eine herrliche Pointe der Bürokratie“ (Cyril Northcote ParkinsonIV). Abgesehen davon, das Regeln inhaltlich sinnvoll sein sollten, muss von allem der sog. Regelungsgrad stimmen. Nicht alles darf geregelt werden, schon gar nicht alles im Detail und für alle Zeiten, zudem muss es kluge Ausnahmetatbestände geben. In der Gusstechnik verwendet man eine Negativform, die sog. „Matrize“, um das positive Relief der zu gießenden Form zu erzeugen. In ebendieser Weise prägen Regeln automatisch die verbleibenden Verhaltensfreiräume. Und diese Freiräume gilt es im Interesse der persönlichen Freiheit und situativen Flexibilität zu maximieren. Niemand hat das besser erkannt und in praktische Konzepte umgesetzt als Peter F. Drucker, der seinen Ansatz des Führens mit Selbstkontrolle (Abschn. 6.2) als Managementphilosophie und „Freiheit im Rahmen des Gesetzes“ beschrieb.V Wo Regeln gesetzt werden, ist also immer auch auf die dadurch gestalteten Freiheiten, d. h. auf die verbleibenden Verhaltensspielräume, zu achten.
und den spiegelbildlichen Regelungs» …freiräumen.
284 B. Kaehler
13.2 Normative Unternehmensführung: Der Schlüssel zum Erfolg Management i. S. v. Unternehmensführung wurde zu Beginn dieses Buches definiert als ein Steuerungseinfluss auf den markt-, produktionsund ressourcenbezogenen Geschäftsbetrieb einer Organisationseinheit zum Zweck der Erreichung der Ziele der Einheit. Ein ganz wesentlicher Aspekt fehlte dabei allerdings noch, und zwar die Form dieser Einflussnahme. Tatsächlich kann man Menschen und Sachgeschäfte nämlich auf zwei ganz unterschiedliche Arten führen. Beide sind notwendig, haben aber verschiedene Anwendungsbereiche. In der Managementliteratur, auch der wissenschaftlichen, wurde diese Dualität lange Zeit nur am Rande und unter sehr unterschiedlichen Bezeichnungen thematisiert.VI Für das Verständnis und die Praxis der Führung ist sie aber von höchster Bedeutung. Die eine Art der Führung besteht darin, situativ zu intervenieren. Sie ist charakteristisch für das Handlungsfeld des operativen Managements (Abb. 2.2). Hier ist jede Einflussnahme eine Einflussnahme auf Menschen, denn der laufende Geschäftsbetrieb wird ja durch sie bewerkstelligt. Sachgeschäftsführung und Personalführung sind im Operativen eins. Den laufenden Geschäftsbetrieb zu managen, bedeutet, situativ auf Menschen einzuwirken, es bleibt einem gar nichts anderes übrig. Um zu bewirken, dass ein Kunde bedient, ein Maschinenteil montiert oder eine Rechnung gestellt wird, muss Einfluss auf jemanden genommen werden, der dies tut. Das kann im Wege der Fremdsteuerung geschehen, aber durchaus auch in Form von Selbstführung.3 Solche intervenierende Führung ist unverzichtbar, denn je nach Lage und Bedarf müssen unterschiedliche Lösungen gefunden werden. Ohne operative Führung gäbe es keine situative Flexibilität, keine Möglichkeit zur Anpassung des Führungseinflusses an die sachlichen und personellen Gegebenheiten. Intervention ist aber nicht alles.
3 Darunter fallen Mitarbeitende, die ihre Ausführungsarbeit selbst steuern, aber auch für Führungskräfte, wenn sie einmal nicht Führungs-, sondern Ausführungsarbeiten erledigen.
13 Das Prinzip Normsetzung 285
» Intervention erzeugt situative Passung. Die zweite Möglichkeit der Einflussnahme ist nämlich die wichtigere. Es handelt sich um vorausschauendes Regeln, also das Setzen von generellen Normen für zukünftige Fälle. Synonyme dafür sind wie gesagt „planen“ und „organisieren“; auch damit ist nichts anderes gemeint als antizipierende Normsetzung. Solche Normen sind in aller Regel formalisiert, also entweder schriftlich oder faktisch festgelegt. Ein Beispiel für schriftliche Festlegung ist die Aufbau- und Prozessorganisation (Abschn. 6.5): Statt jemandem zu sagen, was zu tun ist, wird im Vorhinein niedergelegt, wie man sich in bestimmten Situationen zu verhalten hat. Ein Beispiel für faktische Festlegung sind gestaltete Strukturmerkmale des physischen und digitalen Arbeitsumfeldes: Was schwer ist oder gar nicht geht, wird unterlassen; was einfach ist, wird meist auch getan. In beiden diesen Fällen wird menschliches Verhalten durch vorausschauende Regelung beeinflusst.4 Denn: „Das System von Regeln und Regelungen, in denen sie sich vollziehen, verhilft den sachbezogenen Arbeitsverrichtungen erst zu ihrer betrieblichen Wirksamkeit und Erfüllung“ (Erich GutenbergVII).
Normsetzung schafft » Vorausschauende Strukturen. Tatsächlich reduzieren manche Experten Führung auf die erstgenannte Form der Führung, also die Einflussnahme in schlecht strukturierten, nicht routinemäßig zu lösenden Situationen, und grenzen sie von den Strukturen ab, innerhalb derer Führung stattfindet.VIII Das ist ein fundamentaler Fehler, denn die vermeintlich unpersönlichen Strukturen 4 Ein
spontan ausgesprochenes Verbot fällt hingegen nicht unter diese zweite Führungsart, denn es handelt sich nicht um vorausschauende, sondern um situativ intervenierende Normsetzung.
286 B. Kaehler
sind ja nicht unabhängig von der Führungsperson und ihrem Führungshandeln, sondern wesentliche Führungsergebnisse. Die hohe Schule des Managens besteht eben darin, wiederkehrende Interventionsbedarfe nach und nach durch vorausschauende Regelungen zu ersetzen – das gute alte SubstitutionsprinzipIX. Wo z. B. immer wieder Konflikte schwelen, Leute fehlen oder sich Qualifikationslücken zeigen, kann die Führungskraft natürlich pausenlos ein Loch nach dem anderen stopfen. Sie kann aber auch Strukturen erarbeiten, die vorbeugende Lösungen beinhalten. Diese zweite Einflussart der antizipierenden Normsetzung ist charakteristisch für die nicht-operativen Handlungsfelder des Managements (Abb. 2.2)5: Konstitutives Management bedeutet, dauerhafte Regelungen zu schaffen, die das Verhalten des Personals in einer Organisationseinheit zielgerichtet beeinflussen; strategisches Management ist das Gleiche, nur werden keine dauerhaften, sondern geschäftsperiodenbezogene Normen geschaffen. Auf beiden Feldern reduzieren vorausschauende Regelungen den Bedarf an Einzelfallentscheidungen, was die Geschwindigkeit, den Aufwand und die Qualität der Steuerung optimiert. Gutes Management reibt sich nicht in täglichen Eingriffen auf, sondern erkennt die Eingriffserfordernisse und beugt ihnen konstitutiv und strategisch vor. Darin liegt der entscheidende Schlüssel zu guter und wirksamer Führung.X Um wirksam zu führen, müssen Sie also die Kunst der Normsetzung beherrschen. Der altchinesische Philosoph Lao Tse bringt es gut zum AusdruckXI: „Plane das Schwierige da, wo es noch leicht ist! Tue das Große da, wo es noch klein ist! […] Man muss wirken auf das, was noch nicht da ist. Man muss ordnen, was noch nicht in Verwirrung ist.“ Um welche vorausschauenden Normen es dabei genau geht, wird im Folgenden noch deutlich werden. Zunächst aber müssen Sie das Prinzip der
5 Zum theoretischen Hintergrund: Den Dreiklang aus konstitutivem, strategischem und operativem Management haben wir (Kaehler/Grundei 2019, S. 16) dem St. Galler Managementmodell entlehnt (vgl. Bleicher 1991, S. 50‒55; Rüegg-Stürm und Grand 2015, S. 160‒171). Dort heißt das „konstitutive“ „normatives“ Management. Wir hingegen verstehen unter normativem Management jedwede normsetzende Führung und damit sowohl das konstitutive als auch das strategische Management.
13 Das Prinzip Normsetzung 287
Regelung als solches verstehen, sonst verlieren Sie sich in Einzelvorschriften und enden als Bürokratin oder Bürokrat.
» Gutes Management schafft Strukturen. 13.3 Sanfte Normsetzung jenseits von Geboten und Verboten In Abschn. 3.8 wurde zwischen sanfter und harter Intervention unterschieden. Der gleichen Logik folgend gibt es auch harte und sanfte Normsetzung, und hier sind die sanften Formen i. d. R. ebenfalls vorzuziehen. In manchen Fällen kommt man nicht umhin, mit klassischen Ge- und Verboten zu arbeiten. Das betrifft aber vor allem grobe Leitplanken im Hinblick auf Verhalten von rechtlicher und regulatorischer Relevanz, wie sie insb. in einem Verhaltenskodex enthalten sind. Den gesamten betrieblichen Alltag so zu regeln, wäre plump und wenig wirksam. Führungskräfte sollten also keineswegs immer hart normieren, indem sie die Regeln fremdbestimmen und formell niederlegen, mit appellativen Anweisungen bzw. Ge- und Verboten arbeiten und alle Aspekte des Gegenstandsbereichs durchregulieren. Wie die harte Intervention begünstigt eine solche harte Normierung nämlich Widerstand und Passivität, woraus sich vielerlei negative Folgen für Mensch und Produktivität ergeben. Normsetzung kann indes auch anders erfolgen, nämlich sanft – Tab. 13.1 stellt alternative Möglichkeiten dar.6
Normen sind harten i. d. R. vorzu» Sanfte ziehen.
6 Angesichts
faktischer Schnittmengen und Teilkombinationen geht es dabei nicht um eine präzise Abgrenzung, sondern darum, Gestaltungsmöglichkeiten aufzuzeigen.
288 B. Kaehler Tab. 13.1 Sanfte und harte Normsetzung (© Boris Kaehler 2023. All Rights Reserved.)XII Rollenverteilung
Regelgestaltung
Kommunikation
Harte Normsetzung
Sanfte Normsetzung
Durch die Führungskräfte fremdbestimmte Normen
Von den Mitarbeitenden ganz oder teilweise selbstgesetzte Normen („Partizipation“)
Appellative Anweisung
Verhaltensverstärkung durch Anreizsysteme („operante Konditionierung“)
Explizite Ge-/Verbote ohne Wahlfreiheit
Gestaltung von Entscheidungsarchitekturen („Nudging“)
Hoher Regelungsgrad (alle/ viele Aspekte des Gegenstandsbereichs)
Niedriger Regelungsgrad (wenige Aspekte des Gegenstandsbereichs, Ausnahmen)
Explizite Kommunikation der Implizite Vermittlung durch konsistente Muster und Regeln faktische Gegebenheiten
Die meisten harten Normen sind nämlich gleich in mehrfacher Hinsicht hart, die meisten sanften Normen in mehrfacher Hinsicht sanft. Wenn Sie als Führungskraft also das Verhalten Ihrer Mitarbeitenden vorausschauend beeinflussen wollen, empfiehlt es sich, die entsprechenden Normen so sanft wie möglich zu gestalten. Mit dem Thema „Nudging“, der Konstruktion von Entscheidungsarchitekturen, sollten Sie sich einmal gesondert auseinandersetzen. Das Standardwerk von Nobelpreisträger Thaler und seinem Koautor Sunstein ist schnell gelesen und auch in gesellschaftlicher Hinsicht interessant.XIII Dabei werden bestimmte Parameter der Situation im Vorhinein so gestaltet, dass sie es den Mitarbeitenden leicht machen oder unterschwellig suggerieren, bestimmte Entscheidungen zu treffen. Die Adressaten können sich zwar frei entscheiden, wählen in aller Regel aber dennoch die Option, die ihnen nahegelegt wird. „Libertärer Paternalismus“ nennen das Thaler und Sunstein. Klassisch ist die Organspende, zu der sich viel mehr Menschen entschließen, wenn das Gesetz dafür keine aktive Einwilligung, sondern nur die unterbliebene Verweigerung erfordert. Ein weiteres Beispiel ist die Darbietung von
13 Das Prinzip Normsetzung 289
Essen in der Kantine, wo besonders ansprechend präsentierte Salate eher gewählt werden als unattraktiv dargebotene Würstchen. Es lohnt sich, diese und andere Arten der sanften Normsetzung einmal genauer zu durchdenken. Dafür ist in der Praxis durchaus genug Zeit, denn es geht ja um vorausschauende Regelungen. Wenn der Regelungsbedarf einmal erkannt ist, lässt sich in Ruhe überlegen, welche Form der Normierung in diesem Fall am ehesten geeignet ist.
ist der Königsweg sanfter » Nudging Normierung.
13.4 Personalführung und Sachgeschäftsführung Als Führungskraft leiten Sie nicht in erster Linie Personal, sondern eine Organisationseinheit (Abschn. 2.2). Entsprechend sind Sie keineswegs nur mit Personaldingen, sondern in erster Linie mit allerlei Sachfragen befasst. Personalführung muss also rein logisch eine Teilmenge der Unternehmensführung sein. Was bitte aber ist die Restmenge? Diese Frage wird in der etablierten Literatur nirgends sinnvoll beantwortet, und sie ist managementtheoretisch auch alles andere als trivial.XIV Ich erspare Ihnen an dieser Stelle eine lange Herleitung und beschränke mich auf die Auflösung, die eben auch schon anklang: Im operativen Management, das reine Intervention beinhaltet, gibt es keine solche Restmenge (Abschn. 2.4). Jede Intervention im laufenden Geschäftsbetrieb besteht in einer Einflussnahme auf die Mitarbeitenden, deren Arbeit den Geschäftsbetrieb bildet. Was immer Sie im Tagesgeschäft bewegen, Sie bewegen es durch Einflussnahme auf Ihre Mitarbeitenden. Wenn Sie wollen, dass ein Kunde bedient, eine Finanzierung angefragt oder eine Maschine gewartet wird, bitten Sie Ihre Leute darum (sofern sie es nicht schon von selbst tun).
290 B. Kaehler
Management ist 100 % » Operatives Personalführung. Sachgeschäftsführung – ein besserer Begriff für die Restmenge fällt uns nicht einXV – kann es also nur im normativen Management geben, d. h. im Konstitutiven und Strategischen. Tatsächlich dominieren auf diesen beiden Handlungsfeldern die Sachfragen sogar.7 Bei den konstitutiven (= dauerhaften) Normen sind dies insbesondere der Organisationszweck, das Geschäfts- und Stakeholdermodell sowie die Funktionsmodelle und Instrumente der Absatz-, Produktionsund Ressourcenwirtschaft (z. B. das Steuer-/Finanzmodell). Bei den strategischen (= geschäftsperiodenbezogenen) Normen sind es die Markt-, Produktions- und Ressourcenstrategien. Alle diese Normen haben mit dem Personal zunächst einmal wenig zu tun, sie betreffen ausschließlich Sachfragen, auch wenn diese Menschen obliegen und Menschen betreffen. Die Personalführungsnormen – Personalinstrumente und Personalstrategien – sind ihnen in aller Regel nachgelagert. Sicher gibt es Querbeziehungen zwischen den Sachgeschäfts- und Personalführungsnormen, aber im Großen und Ganzen folgt die Personalführung der Sachgeschäftsführung und nicht umgekehrt. Auf jeden Fall sind es, auch wenn es gewisse Unschärfen geben mag, zwei unterschiedliche Normierungsbereiche. Da die Sachgeschäftsführung je nach Branche und Einheit naturgemäß sehr unterschiedliche Fragen aufwirft, können die entsprechenden Normsetzungsbedarfe in den folgenden beiden Kapiteln nur angerissen werden. Immerhin wird aber erkennbar, mit welchen Fragen Sie sich dabei zu beschäftigen haben. Auf die Personalführungsnormen gehen wir hingegen detaillierter ein, denn sie sind ihrer Struktur nach überall gleich. 7 Wohlbemerkt: Es geht bei dieser Differenzierung um Steuerungsaufgaben, nicht um Ausführungsaufgaben. Wenn Sie selbst im Tagesgeschäft Hand anlegen und z. B. Kunden beraten, ist dies keine Sachgeschäftsführung, sondern ausführende Sacharbeit, Sie sind dabei in der Mitarbeiterrolle unterwegs.
13 Das Prinzip Normsetzung 291
Management ist überwiegend » Normatives Sachgeschäftsführung. Anmerkungen I. Niklas Luhmann: Diverse Werke, beispielhaft Luhmann (2000, S. 231): „Aber die Zukunft ist und bleibt, auch wenn verplant, unbekannt. In der Komplexität der Planungen sucht man eine Art Sicherheit, die die Zukunft nicht bieten kann.“ Berthold Brecht (2022, S. 77): „Ja, mach nur einen Plan/Sei nur ein großes Licht!/Und mach dann noch’nen zweiten Plan/Gehn tun sie beide nicht.“ [Letzterer wird damit vermutlich fehlinterpretiert, denn es geht in dem Lied nicht um das Prinzip der Planung, sondern um die Unzulänglichkeit menschlichen Strebens nach höherem Glück]. II. „Netflix Culture“ (Website); https://jobs.netflix.com/culture (Zugriff am 7.3.2023). III. Janmaat et al. 2014. IV. Zitiert nach www.brandeins.de/corporate-services/mck-wissen/ mck-wissen-public-sector/definitionen-amp-zitate (Zugriff am 17.5.2023). V. Drucker 1954, S. 135 f. (eigene Übersetzung). VI. Kaehler/Grundei 2019, S. 15. VII. Gutenberg 1979, S. 243. VIII. So z. B. Neuberger 2002, S. 47 und Blessin/Wick 2021, S. 44/243 f., die Strukturen allerdings an anderer Stelle durchaus als Führungsresultate ansehen. IX. Nach dem Substitutionsprinzip der Organisation (Gutenberg 1962, S. 44/45) werden fallweise Regelungen durch generelle Regelungen ersetzt. X. Kaehler/Grundei 2018, S. 206; Kaehler/Grundei 2019, S. 15. XI. Zitiert nach Lao Tse 1996, S. 63/64. XII. Tab. 13.1: Aus Kaehler 2024; dort nach Kaehler 2020, S. 55. © Boris Kaehler.
292 B. Kaehler
XIII. Thaler/Sunstein 2008; vgl. z. B. auch Bock 2015, S. 283 ff. und Freibichler/Ebert/Schubert 2018. XIV. Vgl. Kaehler/Grundei 2018, S. 207; Kaehler/Grundei 2019, S. 32 ff. XV. Kaehler/Grundei 2018, S. 207.
Literatur Bock, Laszlo (2015): „Work Rules – Insights from Inside Google That Will Transform How You Live and Lead“; John Murray Publishers 2015. Bleicher, Knut (1991): „Das Konzept Integriertes Management“; Campus 1991. Blessin, Bernd/Wick, Alexander (2021): „Führen und Führen lassen – Ergebnisse, Kritik und Anwendungen der Führungsforschung“; 9. Auflage UVK Verlag/utb 2021. Brecht, Bertold (2022): „Die Dreigroschenoper“; 47. Auflage Suhrkamp 2022. Drucker; Peter F. (1954): „The Practice of Management“; Neuauflage Harper Collins 2006 (Erstauflage 1954). Freibichler, Wolfgang/Ebert, Philip/Schubert, Tilman (2018): „Nudge Management – Wie Führungskräfte kluges Selbstmanagement anstoßen“; zfo 2/2017; S. 84‒88. Gutenberg, Erich (1962): „Unternehmensführung – Organisation und Entscheidungen“; Gabler 1962. Gutenberg, Erich (1979): „Grundlagen der Betriebswirtschaftslehre – Erster Band: Die Produktion“; 23. Auflage Springer. Janmaat, Karline R. L./Polansky, Leo/Dagui Ban, Simone/Boesch, Christophe (2014): „Wild Chimpanzees Plan Their Breakfast Time, Type, and Location“; Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America 46/2014 (111); S. 16343‒16348. Kaehler, Boris (2020): „Komplementäre Führung – Ein praxiserprobtes Modell der Personalführung in Organisationen“; 3. Auflage Springer Gabler 2020. Kaehler, Boris (2024): „Komplementäre Führung – Ein praxiserprobtes Modell der Personalführung in Organisationen“; 4. Auflage Springer Gabler 2024 (noch unveröffentlichtes Manuskript). Kaehler, Boris/Grundei, Jens (2018): „HR-Governance im Führungs-Kontext: Der normative Rahmen des Personalmanagements“; ZCG Zeitschrift für Corporate Governance 5/2018, S. 205‒210.
13 Das Prinzip Normsetzung 293
Kaehler, Boris/Grundei, Jens (2019): „HR Governance – A Theoretical Introduction“; Springer 2019. Lao Tse (1996): „Tao-Te-King“; Kleines Diogenes Taschenbuch 1996. Luhmann, Niklas (2000): Organisation und Entscheidung; Westdeutscher Verlag 2000. Neuberger, Oswald (2002): „Führen und führen lassen“; 6. Auflage UTB Lucius & Lucius 2002. Rüegg-Stürm, Johannes/Grand, Simon (2015): „Das St. Galler ManagementModell“; 2. Auflage Haupt Verlag 2015. Thaler, Richard H./Sunstein, Cass R. (2008): „Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt“; 7. Auflage Ullstein 2017 (englische Erstausgabe 2008).
14 Konstitutives Management
In diesem Kapitel erfahren Sie, wie konstitutive Führung, also das Führen über Managementinstrumente, gelingt. Eigentlich handelt es sich hierbei um die wichtigste und effektivste Form des Managements. In der Praxis behindern viele Werkzeuge die Arbeit aber eher, als dass sie sie befördern – was Führungskräfte in dieser Hinsicht erleben, ist teils haarsträubend. Aus diesem Grund will ich hier genauer darauf eingehen, was bei der Konzeption und Administration solcher Instrumente zu beachten ist. Zuvor wird aufgezeigt, worum es bei Sachgeschäftsund Personalinstrumenten überhaupt geht.1
1 Da
die Kapitel in der E-Book-Version einzeln abrufbar sind, wiederhole ich den folgenden Hinweis aus dem Vorwort: Dieses Buch beruht auf dem Theoriemodell der Komplementären Führung, das ich für führungskonzeptionell Interessierte in meinem wissenschaftlichen Grundlagenwerk gleichen Titels dargelegt habe (Kaehler 2020). „Führen als Beruf“ soll dieses Wissen für Führungskräfte als Anwenderinnen und Anwender aufbereiten, gut verständlich und streng praxisorientiert. Fast alle Ideen und auch manche Formulierungen, die Sie hier finden, stammen aber aus dem ersten Buch, das lässt sich nicht vermeiden. Aus Gründen der Lesbarkeit – dies ist kein wissenschaftliches Werk – sind dabei nicht alle Selbstzitate explizit als solche gekennzeichnet. Andere Autoren und Quellen werden aber natürlich nach bestem Wissen und Gewissen korrekt und vollständig zitiert.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Kaehler, Führen als Beruf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67567-0_14
295
296 B. Kaehler
14.1 Führen mit Instrumenten Gegenstand des Konstitutiven Managements ist die Steuerung des Geschäftsbetriebs und des Personals über dauerhafte, im Voraus festgesetzte Normen (Abb. 2.2). Diese lassen sich auch als Führungsinstrumente verstehen, denn es handelt sich um formalisierte Werkzeuge. Das normsetzende Prinzip dahinter wurde in Kap. 13 ausführlich erläutert. Systematisch handelt es sich bei den Instrumenten um eines der beiden Umsetzungselemente der Komplementären Führung (das zweite sind die Routinen; siehe Abb. 3.4). Erst durch diese Umsetzungselemente lassen sich die 21 Führungsaufgaben tatsächlich realisieren. Dabei unterstützen die dauerhaften Instrumente die operativen Führungsroutinen (= Aktivitäten). Um ein einfaches Beispiel zu geben: Die Vergabe neuer Arbeitsaufträge findet auch, aber nicht nur, in der regelmäßigen Arbeitsbesprechung als operativer Aktivität statt; in großen Teilen wird sie schon im Vorhinein durch die Aufbau- und Prozessorganisation normiert. Auch Ihre Mitarbeitenden, die ja schließlich an derselben Gesprächsroutine mitwirken, orientiert sich daran. Ein Teil der Führungsaufgabe „Arbeitsinhalte bestimmen“ wird solchermaßen durch Werkzeuge erfüllt, die die operativen Routinen mehr oder weniger weit vorstrukturieren. Oder, noch einmal anders betrachtet: Sie und Ihr Mitarbeiter oder Ihre Mitarbeiterin können die Führungsaufgabe konstitutiv (durch dauerhafte Regelung) oder operativ (durch Intervention) umsetzen. Dieser Hebel ist ein langer und unverzichtbarer. Man darf nur nicht den Fehler machen, ausschließlich auf dauerhafte Formalinstrumente zu setzen, denn ohne operative Umsetzung bleiben sie starr und lebensfremd.
unterstützen » Führungsinstrumente Führungsroutinen. Ein wenig verwirrend wird es dadurch, dass die Instrumente ihrerseits das Ergebnis von Routinen sind, nämlich von Konzeptionsprojekten
14 Konstitutives Management 297
(Abschn. 14.6). Wie sollte es aber auch anders sein, denn die Routinen sind eben Aktivitäten, d. h. ein mit Arbeitszeit zu hinterlegendes Tun. Instrumente sind hingegen Normen, also abstrakte Regelwerke, und diese fallen natürlich nicht vom Himmel. Aus diesem Grunde wird zwischen operativen, strategischen und konstitutiven Routinen unterschieden (Tab. 3.3). Es gibt nicht wenige Autoren und Trainer, die den Begriff „Instrument“ stattdessen für konkrete Tätigkeiten wie Gespräche undSitzungen nutzen. Dies widerspricht aber nicht nur dem allgemeinen Sprachgebrauch, sondern verschleift auch eine wichtige Differenzierung.Führungsinstrumente unterstützen nämlich Führungsaktivitäten, die ihrerseits Führungsaufgaben erfüllen. So sind z. B. Beurteilungsformularedafür gedacht, Mitarbeitergespräche zu erleichtern, die der Leistungsbeurteilung dienen. Aus diesem Grunde werden die Führungsinstrumenteim Theoriemodell der Komplementären Führung von den Führungsroutinen und Führungsaufgaben abgegrenzt (Abschn. 3.5). Es mag hier Unschärfen geben, z. B. bezüglich der Frage, ob ein externesCoaching oder Outplacement eher den Instrumenten oder eher den Aktivitäten zuzählt. Auch fallen völlig unterschiedliche Formalia unter den Instrumentenbegriff, die von Programmen und Formularen überRichtlinien bis hin zu EDV-Systemen und faktischen Arbeitsplatzmerkmalen gehen. Letztlich spielt dies aber keine Rolle. Hauptsache, die Führenden wissen, welche Hilfsmittel sie nutzenkönnen und sollen. Führungsinstrumente sind also dauerhafte Regelwerke, die das Sachgeschäft oder die Personalarbeit reglementieren. Sie haben oft kollektiven Charakter dergestalt, dass ein Instrument zentral zur Verfügung gestellt und von vielen Organisationseinheiten genutzt wird. Sie können aber auch individuell sein, z. B. wenn Sie sich eine persönliche Checkliste für den Eigengebrauch erstellen. Fast immer werden Instrumente verschriftlicht (wie im Falle eines Vergütungssystems oder Formulars) oder verdinglicht (wie im Falle der Arbeitsplatzgestaltung), weshalb ich sie auch als formalisierte Werkzeuge bezeichne. Prinzipiell sind zwar auch informelle Instrumente denkbar. So habe ich lange Jahre in Bewerbungsgesprächen ein bestimmtes Ablaufschema immer neu auf einem weißen Blatt Papier reproduziert.
298 B. Kaehler
Dies ist aber ein seltener Ausnahmefall und spielt daher letztlich keine Rolle. Was es hingegen prinzipiell und schon rein theoretisch nicht geben kann, sind emergente, ungeplante Instrumente. Es gibt zwar rein faktische Muster, und diese prägen den Geschäftsbetrieb ganz ähnlich wie Instrumente. Zum Beispiel mag ein Kellner aus reiner Vorliebe und später aus Gewohnheit die Tische abwischen, und vielleicht schauen sich seine Kollegen dies sogar ab und erzeugen so ein kulturelles Muster, das ähnlich wirkt wie eine Stellen- oder Prozessvorgabe. Hier handelt es sich aber nicht um eine bewusste Steuerung und damit auch nicht um Führung im Sinne unserer Definition aus Abschn. 2.3.2 Führungsinstrumente sind also immer gewollt und geplant. All dies waren übrigens systematische Hinweise aus dem Bedürfnis heraus, Ihnen das Konstrukt „Instrument“ zunächst einmal widerspruchsfrei darzulegen und einzuordnen. Rein praktisch sind sie nicht wichtig und wenn Sie möchten, vergessen Sie sie gleich wieder. Entscheidend für Sie als Führungskraft ist, dass Sie die Möglichkeiten des Führens über Führungsinstrumente kennen und nutzen.
14.2 Organisationszweck und Geschäftsmodelle/-instrumente Jede Organisation und jede Organisationseinheit hat einen Zweck (engl. „purpose“), also eine Daseinsberechtigung. Er lässt sich instrumentell, d. h. als dauerhafte Regelung, herausarbeiten und ist der Ausgangspunkt für das gesamte konstitutive Management. In Literatur und Praxis wird in diesem Zusammenhang häufig differenziert zwischen der Mission, der Vision und den Grundwerten. Die Mission (engl.
2 Man könnte diese Muster als das Ergebnis von Steuerung ansehen, denn schließlich wurden Kellner einer bestimmten Handlungspräferenz eingestellt, erfahren eine bestimmte Behandlung und agieren in einem gestalteten Arbeitsumfeld. Solchermaßen wäre Kultur dann ein informelles Instrument, und manchmal wird sie auch so dargestellt. Dann wären aber auch die anderen Leistungsbedingungen, die es durch die 21 komplementären Führungsaufgaben zu schaffen gilt, Instrumente (z. B. Gesundheit und Kompetenz). Das aber würde den Instrumentenbegriff doch sehr verwässern.
14 Konstitutives Management 299
„mission“) wird dann meist als äußerer Auftrag, als Bestimmung zur Erbringung bestimmter Beiträge für bestimmte Stakeholder verstanden. Demgegenüber ist die Vision ein erstrebenswerter eigener Zustand in der fernen Zukunft. Die Grundwerte schließlich bringen zum Ausdruck, welche Wertentscheidungen das Unternehmen ausmachen. Üblicherweise werden diese drei Festlegungen in aufwendigen Workshopkaskaden erarbeitet und jeweils in einer entsprechenden Erklärung (engl. „statement“) niedergelegt. Tatsächlich verfügen fast alle größeren und neugegründeten Organisationen über solche Erklärungen. Dagegen spricht auch nichts. Schaut man sich Praxisbeispiele anI, so wird allerdings schnell deutlich, dass sich die drei Aspekte kaum sinnvoll trennen lassen. Dies zeigt sich im deutschen Sprachraum auch an der Verwendung des Begriffs „Leitbild“, der wahlweise irgendeinen oder alle drei davon bezeichnet. Zudem läuft das Bemühen um Vision und Werte fast immer ins Leere. Das Konzept der visionären Führung, wonach es die Organisationsmitglieder durch eine emotionalisierende Zukunftsidee zu begeistern und zu motivieren gilt, trägt ganz einfach nicht. Es handelt sich um ein Phänomen des politischen Anführertums, das sich nur sehr begrenzt auf die organisationale Führung übertragen lässt (Abschn. 2.6). Ähnlich steht es mit den Grundwerten. Sie können bei freiwilligen Zusammenschlüssen in Vereinen, Kirchen oder Parteien für sehr distinguierte Profile sorgen, nicht aber bei größeren Arbeitgebern mit hoch diversen Belegschaften unter den Bedingungen des deutschen Arbeitsrechts. Entsprechend kommen als kleinster gemeinsamer Nenner fast immer nur Worthülsen dabei heraus (vgl. Abschn. 10.7). Was bleibt, ist also der Organisationszweck, und ihn gilt es herauszuarbeiten. Letztlich geht es dabei um äußere und innere Beiträge und damit um das grundlegende Stakeholdermodell der Organisation. Für wen ist Ihre Organisationseinheit da und welchen Nutzen schafft sie für jeden dieser Stakeholder?
besteht der Organisationszweck der » Worin von Ihnen geleiteten Einheit?
300 B. Kaehler
Von diesem grundlegenden Organisationszweck her sind die dauerhaften Modelle festzulegen, nach denen das Unternehmen, der Verein oder die Behörde bzw. deren einzelne Organisationseinheiten funktionieren. Dies betrifft zunächst einmal das Geschäftsmodell, also die Grundprinzipien, nach denen die Organisation sich richten und ihren Zweck erfüllen soll. Dabei geht es vor allem um Geld, nicht nur bei Wirtschaftsunternehmen, die profitabel sein müssen, sondern auch bei allen öffentlichen Institutionen, Vereinen etc., die schließlich mit den Beiträgen der Mitglieder oder Steuerzahler zu wirtschaften haben. Auf den Organisationszweck abgestimmt ist die Grundlogik aller Teilfunktionen der jeweiligen Einheit zu bestimmen. Es geht dabei um dauerhafte Festlegungen in Bezug auf alle Teilbereiche der Absatz-, Produktions- und Ressourcenwirtschaft (siehe Abb. 2.2).3 Beispiele sind z. B. das Steuer- und Finanzierungsmodell oder das Produktions- und Emissionsmodell einer Einheit, wobei z. B. jeweils mehr oder weniger nachhaltige Festlegungen getroffen werden können. Ergänzend zu diesen Funktionsmodellen sind die einzelnen Instrumente – Systeme, Programme, Formulare etc. – zu schaffen bzw. anzupassen, mit denen die Umsetzung unterstützt werden soll. Zu guter Letzt gehört auch die sog. Governance der Organisation oder Einheit, also ihr Steuerungssystem, dazu. Als Führungskraft müssen Sie daher dafür sorgen, dass Ihre Einheit richtig aufgestellt und ausgerichtet ist. Die Führungsroutine dafür sind die in Abschn. 14.6 behandelten Konzeptionsprojekte.
nach welchen Grundprinzipien » Und betreibt die Einheit ihr Geschäft?
3 Zwar hat nicht jede Organisation oder Organisationseinheit einen Absatzmarkt, eine Produktion usw. Irgendwelche analogen Aufgabenbereiche gibt es aber immer.
14 Konstitutives Management 301
14.3 Governance: Das normative Steuerungssystem Auf die Governance (auch: „Corporate Governance“) einer Organisation lohnt es sich hier noch einmal genauer einzugehen, um das meist etwas schwammig daherkommende Konstrukt präzise zu verorten. Ich verstehe darunter den aus formalisierten Normen bestehenden Verhaltensrahmen für Leitung (= Führung, Management) und Überwachung (= Aufsicht).II Jede Organisationseinheit – erinnert sei an das Matrjoschka-Modell aus Abb. 2.1 – hat und braucht einen solchen Steuerungsrahmen. Ein Teil seiner Normen kommt, in Form von Gesetzen etc., von außen; andere resultieren aus Vorgaben übergeordneter Organisationseinheiten. Das allein reicht aber nicht, ein solches Steuerungssystem wäre zu lückenhaft. Es ist also an Ihnen, zusammen mit den anderen Führungsakteuren (insb. der oberen Führungskraft und den Mitarbeitenden) ergänzende Governancenormen für Ihre Organisationseinheit zu schaffen. Dabei gibt es Sachanteile und Personalanteile. Die sachbezogene Governance im engeren Sinne ist eigentlich überschaubar, denn streng genommen umfasst sie nur Vorgaben für die reine Unternehmenssteuerung, z. B. Berichtspflichten der Leitungsorgane oder Regeln der Gremienorganisation sowie das Controllingsystem. Diese Vorgaben für die Steuerung des Sachgeschäfts sind aber natürlich dennoch bedeutsam und müssen sorgfältig erarbeitet und regelmäßig angepasst werden. Auch dafür bieten sich Konzeptionsprojekte als Führungsroutine an (Abschn. 14.6).
Regeln folgt die Steuerung des » Welchen Sachgeschäfts? Was die personalbezogene Governance (= HR-Governance) angeht, so besteht diese aus dem Personalführungsmodell (als Metastruktur) einerseits und den Detailregelungen der Personalinstrumente (als
302 B. Kaehler
Infrastruktur) andererseits. Idealerweise, davon war bereits die Rede, sollte eine Organisation sich ein detailliertes Führungsmodell geben, das für alle Organisationseinheiten und Führungsakteure gilt und konkret festlegt, was wer wie warum zu tun hat. Eben dafür, nämlich als theoretische Grundlage für betriebliche Führungsmodelle, habe ich das Komplementäre Führungsmodell entwickelt.4 Tatsächlich sind die Führungsmodelle der allermeisten Unternehmen und Behörden aber denkbar unkonkret. Es wimmelt nur so von Worthülsen und Marketingsprech, echte Vorgaben für Führende lassen sich daraus kaum entnehmen. Wenn dies in Ihrer Organisation der Fall ist, sollten Sie als Führungskraft zumindest für Klarheit darüber sorgen, wie Sie Ihre eigene Einheit führen. Wenn Sie mir z. B. dahingehend folgen, dass Mitarbeitende sich selbst führen sollen, Sie als Führungskraft aber bei Bedarf kompensierend eingreifen, müssen Ihre Leute das auch wissen. Andernfalls werden Sie kaum Verständnis für Ihre Erwartungen und Ihr Vorgehen finden. Es sollte also festgelegt werden, welche Funktionen Führung hat, welche Rollen die Akteure spielen und welche Aufgabenstellungen es zu erfüllen gilt (Kernmodell der Komplementären Führung). Ferner ist zu spezifizieren, welche Vorgaben es bezüglich Personalführungsroutinen und -instrumenten gibt (Umsetzungselemente der Komplementären Führung). Auch dies kann in einem Konzeptionsworkshop geschehen.
Regeln folgt die Personal» Welchen führung?
4 Detaillierte Hinweise zum Vorgehen bei der Entwicklung und Einführung betrieblicher Führungsmodelle finden Sie in meinem Buch „Komplementäre Führung“ (Kaehler 2020; Kaehler 2024).
14 Konstitutives Management 303 Tab. 14.1 Die wesentlichen Personalführungsinstrumente (formalisiert z. B. in Programmen, Richtlinien, Betriebsvereinbarungen, Tarifverträgen, Gesetzen). (© Boris Kaehler 2019. All Rights Reserved.)III
Kategorie
Beispiele
Informations- und Controllingsystem
u. a. Personalinformationssystem; Personalakten; Personalcontrollingsystem inkl. Mitarbeiterbefragung
Organisationshandbuch
u. a. Aufbau- und Prozessdokumentationen; Qualitätssysteme; Verhaltenskodex und Kontrollsystem
Vergütungs- und Anreizsystem
u. a. Gehaltssystem; Prämien-/ Bonussysteme; Formaltitel- oder Belobigungssysteme (z. B. „peer recognition“)
Arbeitszeitsystem
u. a. Gleitzeitregeln oder Schichtpläne; Arbeitszeitkonten
Rekrutierungsinstrumente
u. a. Stellenbesetzungsplan, Bewerbermanagementsystem/Karriereportal; Personalmarketing-Mix; Kandidatenpools
Personalauswahlinstrumente
u. a. Fragebögen; Assessment Center; Testverfahren
Personalentwicklungsinstrumente
u. a. Weiterbildungsprogramme und externe Schulungen; Entwicklungs-/ Förderprogramme; Wissensmanagementsysteme
Trennungsinstrumente
u. a. Personalabbauinstrumente; Outplacement; Altersteilzeit
Zielvereinbarungs- und Beurteilungssysteme
u. a. Zielvereinbarungen; Leistungsbeurteilungssysteme
Meta-Instrumente
u. a. Führungsmodell; Leitbild; Strategiepapiere
14.4 Personalinstrumente als Hilfsmittel und Ärgernis Neben dem Führungsmodell und der HR-Governance gibt es noch viele weitere Personalinstrumente. Diese formalisierten Hilfsmittel bilden sozusagen die Infrastruktur („intra“ = lat. „unter“). Eine Vielzahl unterschiedlicher Regelwerke und Formulare fällt darunter (Tab. 14.1
304 B. Kaehler
gibt einen Überblick). Wenn Sie als Führungskraft selbst Gesprächsleitfäden oder Kennzifferntabellen erstellen, schaffen Sie sich damit eigene Führungsinstrumente. Diese sind jedoch meist punktuell angelegt und von eher untergeordneter Bedeutung. Am anderen Ende des Spektrums stehen Hilfsmittel, die durch Gesetze, Flächentarifverträge o. Ä. normiert werden und für viele Unternehmen maßgeblich sind (z. B. Vorruhestands- oder Arbeitszeitregeln). Die typischen Personalinstrumente werden dagegen durch Personalspezialisten entworfen und gelten nur im jeweiligen Unternehmen. Sie strukturieren die Führungsaktivitäten sehr weit vor. Mancherorts herrscht eine regelrechte Diktatur der Instrumente, dergestalt, dass Führung mit der braven Nutzung von Personalinstrumenten gleichgesetzt wird. Dies aber liefe, wollte man es zum Ideal erklären, auf eine völlige Standardisierung von Führung hinaus, die keinesfalls gelingen kann. Operativ wird immer durch Aktivitäten geführt, nicht durch Formalismen. Führung bedarf situativer und individueller Einflussnahme auf den Geführten, und diese kann nur ein Mensch leisten. Eben hierin liegt, wie wir festgestellt hatten, die wesentliche Existenzberechtigung von Führungskräften. Umgekehrt kann ein mangelhafter Einsatz gute Instrumente auch entwerten. Die Anwender sollten also entsprechend geschult werden. In Großunternehmen beschäftigen sich ganze Abteilungen akademisch ausgebildeter Spezialisten mit der Konstruktion von Führungsinstrumenten, in der Regel unter Einbindung externer Unternehmensberater. Dennoch (oder eben deswegen?) sind die allermeisten Führungsinstrumente zwar hoch komplex und elaboriert, aber von unfassbar schlechter Qualität. Es herrschen Bürokratismen vor, die gute Personalführung behindern, statt sie zu befördern, und allzu oft in unproduktive Selbstbeschäftigung ausarten. Dies gilt für Beurteilungssysteme, deren Fragebogenskalen oft wenig mit der zu beurteilenden Arbeit zu tun haben. Es gilt für Bonussysteme, die häufig einseitig auf Vertriebsziele abstellen und dazu anhalten, Risiko, Innovation und Sozialverhalten zu vernachlässigen. Es gilt für nutzerunfreundliche Rekrutierungsportale, die die besten Bewerber – die es nämlich nicht nötig haben – verschrecken. Und es gilt, um ein letztes von unzähligen Beispielen zu nennen, für all jene kunstvollen Flussdiagramme, die zwar den Anforderungen der einschlägigen Qualitätsnormen genügen, aber
14 Konstitutives Management 305
für die Mitarbeitenden unverständlich sind und folglich unbeachtet bleiben.
meisten Hilfsmittel helfen de facto » Die nicht. Die Gegenmittel sind schnell benannt: Eine stringente Ausrichtung an den Führungsaufgaben und -routinen, die systematische Festlegung von Entscheidungsspielräumen und Ausnahmen sowie eine ständige Überprüfung und Anpassung auf Basis von Anwenderfeedback würden die Brauchbarkeit der Instrumente so gut wie garantieren. Trotz aller Kritik – über nichts wird in den Unternehmen so viel geklagt wie über verkorkste Führungsinstrumente – scheinen die Personalabteilungen aber hier kaum nennenswerte Fortschritte zu machen. Unter solchen Umständen bleibt nur eins: Die Führungskraft muss, so unbefriedigend es auch sein mag, die Hilfsmittel im Zuge der operativen Anwendung relativieren und so einsetzen, wie es ihrem eigentlichen Sinn entspricht. Beispielsweise lassen sich Fehlsteuerungen durch einseitige Bonussysteme vermeiden, indem zusätzliche Anreize gesetzt werden (z. B. Lob, Tadel, Karriereförderung oder Kündigungsandrohung). All dies ist übrigens auch die Grundlage für eine sinnvolle Digitalisierung der Instrumente. Diese ist zwar heutzutage unabdingbar und kann durchaus kniffelige Fragen aufwerfen, ist mit hinreichenden Budgets und ein wenig Projektmanagement-Know-how aber eigentlich gut zu bewerkstelligen. Wenn dennoch häufig Schwierigkeiten auftreten, so liegt dies eben genau in der inhaltlichen Qualität der Instrumente begründet. Es handelt sich also um das das gute alte „garbage in, garbage out“Problem: Analoger Unsinn lässt sich nicht sinnvoll digitalisieren.
für Instrumente ist ihre » Maßstab Anwendung.
306 B. Kaehler
Angebot
Nachfrage Wirksamkeit
Bedarf
Abb 14.1 Angebot, Nachfrage und Bedarf an Personalinstrumenten. (© Boris Kaehler 2023. All Rights Reserved.)VIII
14.5 Konzeptionsprojekte Die Bedarfsroutine zur Entwicklung von Führungsinstrumenten nenne ich Konzeptionsprojekt. Werkzeuge müssen ja erst einmal hergestellt werden. Sie sind das Ergebnis eines konkreten Tuns, das professionellen Standards folgen sollte. Hinsichtlich der Entwicklung von Sachgeschäftsinstrumenten, also fachlichen Werkzeugen, haben Sie vielleicht schon eigene Erfahrung und Expertise. In diesem Fall werden Sie hier hoffentlich allerlei Bekanntes wiederfinden, denn das konzeptionelle Vorgehen bei Personalinstrumenten ist eigentlich das gleiche. Für Letztere haben Sie als Führungskraft allerdings seltener „den Hut auf“; meist liegen die Initiative und Verantwortung bei den Personalspezialisten. Um Zustände wie die eben beschriebenen zu vermeiden, sollten Sie sich aber wenn irgend möglich auch in die Entwicklung von
14 Konstitutives Management 307
HR-Werkzeugen aktiv einbringen. Damit Sie dann auch wissen, was Sie tun, und die Personaler ggf. korrigieren können, gebe ich Ihnen hier einen Überblick über die wichtigsten Aspekte.IV Um zu verhindern, dass dysfunktionale Instrumente konzipiert werden, lassen sich drei wesentliche Ansatzpunkte benennen: Erstens darf die Planung nicht „vom grünen Tisch aus“ erfolgen. Viel zu oft stehen Angebot und/oder Nachfrage im Fokus, dergestalt, dass Personaler sich mit einem schönen Portfolio schmücken möchten oder die Belegschaft sich Dinge wünschen, die de facto gar nicht erfolgskritisch sind. Hier muss es daher darum gehen, im Rahmen einer ordentlichen Bedarfsanalyse die realen Anforderungen aufzunehmen und zu adressieren. Angebot und Nachfrage gilt es dann später dem Bedarf anzunähern (Abb. 14.1). Zweitens muss die Nutzerfreundlichkeit der neuen Personalinstrumente viel stärker im Vordergrund stehen, als es in den meisten Organisationen üblich ist. Und drittens müssen die Instrumente laufend evaluiert und durch Feedbackschleifen verbessert werden. Letztlich ist dies nichts anderes als der gute alte „Deming-Circle“ der Qualitätssicherung durch kontinuierliche Verbesserung.V Allerdings wird die Entwicklung von Personalinstrumenten dadurch, dass heute viele Prozesse digitalisiert sind und damit Datenpunkte bieten, immer mehr zur Datenwirtschaft – jedenfalls wenn sie auf dem Stand der professionellen Kunst bleiben will. Moderne Konzeptionsarbeit setzt auf enge Feedbackschleifen mit den wesentlichen Stakeholdern, um der klassischen Gefahr vorzubeugen, sich im Verlauf des Konzeptionsprojektes von den realen, häufig nicht stabilen Bedarfen abzukoppeln. Man kann dabei bewusste Anleihen beim „Agilen Projektmanagement“VI oder „Design ThinkingVII“ machen, muss es aber nicht. Meist reicht es schon, einzelne Auftraggeber und Adressaten partizipativ einzubinden und anderen ab und zu Zwischenergebnisse vorzustellen. Ganz entscheidend ist auch, bei der Konzeptionsarbeit die verschiedenen Ebenen nicht zu verwechseln. Ebene 1 ist das betriebliche Gesamtkonzept (z. B. „Vertriebsqualifizierungsprogramm für die Kaufschön AG“). Ebene 2 ist das personenbezogene Konzept (z. B. „Verbesserung der Vertriebsleistung von Stefan Schick durch Vertriebstraining, kollegiale Fallberatung und Coaching“) und Ebene 3 ist das
308 B. Kaehler
maßnahmenbezogene Konzept („Durchführung eines Vertriebstrainings für 12 Vertriebsmitarbeitende am 12./13. März“).5 Alle drei Konzepte bedürfen jeweils einer Bedarfsanalyse, Umsetzungsplanung und Evaluation und mithin eines eigenen Konzeptionsprojekts. In Checkliste 15 finden Sie Praxistipps dazu. Checkliste 15: Empfehlungen für KonzeptionsprojekteIX (© Boris Kaehler 2023. All Rights Reserved.) • Bedarfsanalyse: Nehmen Sie möglichst viele Stakeholderperspektiven auf (Geschäfts- und Personalleitung; Führungskräfte; obere Führungskräfte; zuständige Personalbetreuer, Mitarbeitende; Interessenvertretungen; externe Stelleninteressierte; gesellschaftliche Stakeholder) und eruieren Sie sie mittels multipler Datenquellen (schriftliche Fragebögen; Beobachtungen; informellen/mündlichen Befragungen; Kennziffernanalysen; Dokumentenauswertungen; „Shadowing“; „Mystery Shopper“) den Ist- und Sollzustand. Führen Sie Kontextanalysen durch (insb. Arbeitsrecht/Datenschutz; Arbeitsmarktsituation; wissenschaftlichen Grundlagen; „Good Practices“; Erfahrungen anderer Unternehmen; Expertenmeinungen). Prüfen Sie die Anforderungen aus der Unternehmens- und Personalstrategie sowie dem betrieblichen Führungsmodell. Eine vollumfängliche Bedarfsanalyse ist nicht immer möglich, aber je vollständiger, umso besser. • Zielklärung: Aufbauend auf den erhobenen Bedarfen definieren Sie die gewünschten Funktionen des Instruments: Welche Führungsaufgaben und -routinen soll es auf welche Weise unterstützen? Welche Nebenziele, insb. Stakeholderzufriedenheiten und Budget- und Effizienzvorgaben, gilt es zu erreichen? • Instrumentenkonzept: Entwerfen Sie das Personalinstrument und achten Sie dabei auf die inhaltliche Orientierung an den angestrebten Funktionen und auf die nutzerfreundliche Gestaltung. Gehen Sie iterativ vor, d. h., entwerfen Sie zunächst einen Grobentwurf und dann weitere Entwürfe, die Sie jeweils mit den wesentlichen Stakeholdern abstimmen. • Umsetzungsplanung: Wie wird die Umsetzung und Einführung organisiert (Verantwortliche, Raum/Medium, Zeitplan, Kommunikation)? Wie lassen sich Bewusstsein und Akzeptanz schaffen und welche Handreichungen benötigen die Zielgruppe und andere
5 Auch die beiden Letzteren lassen sich als Personalinstrumente verstehen, sofern es sich um dauerhafte Schemata handelt, die immer wieder zum Einsatz kommen.
14 Konstitutives Management 309 Tab. 14.2 Beispiele für Administrationsroutinen im Zusammenhang Führungsinstrumenten. (© Boris Kaehler 2023. All Rights Reserved.)X
Beispielhaftes Instrument
mit
Beispielhafte Verwaltungsaufgaben
Bewerbermanagementsystem/Karriere- Schalten von Anzeigen; Ausfertigung portal von Intervieweinladungen und Bewerberabsagen; Content-Pflege; technischer Support Vergütungssystem
Ausfertigung von Gehaltserhöhungsschreiben oder Gehaltsabrechnung/auszahlung; technischer Support
Personalinformationssystem/ (elektronische) Personalakte
Erhebung und Einpflegen von Daten; technischer Support
Weiterbildungsprogramm
Bereitstellung von Räumen und Material für Trainings; Ausfertigung von Teilnahmebestätigungen; technischer Support
Arbeitszeitsystem
Arbeitszeiterfassung und -auswertung; technischer Support
Stakeholder? Wie verläuft der Genehmigungsprozess und womit lassen sich welche Entscheidungsträger überzeugen? Auch diese Planung sollte iterativ geschehen, denn naturgemäß gibt es Querbezüge zum erst nach und nach entstehenden Instrumentenkonzept. • Evaluation: Konzept und Durchführung sollten umfassend evaluiert werden, und zwar nicht nur hinsichtlich der verfolgten Haupt- und Nebenziele, sondern auch hinsichtlich erwünschter und unerwünschter Nebenwirkungen. Idealerweise sollte das gesamte Datenspektrum der Bedarfsanalyse nicht nur vor, sondern auch während und am Ende des Projekts abgerufen werden, im Sinne einer Datenunterstützung der iterativen Verbesserungsschleifen. Auch hier gilt aber: Lieber näherungsweise als gar nicht.
14.6 Administration von Instrumenten Sind Führungsinstrumente einmal entwickelt, werden sie genutzt. Damit geht zwangsläufig administrativer Aufwand einher. Dieser ergibt sich teils aus Anforderungen der internen Zweckmäßigkeit und Aufgabenteilung (z. B. Auswertbarkeit), teils aus steuer- und arbeitsrechtlichen Anforderungen (z. B. Meldepflichten).
310 B. Kaehler
Inhaltlich lassen sich drei wesentliche Felder bestimmen. Zum einen sind im Zuge der Nutzung des Instruments steuerungsrelevante Daten zu erheben und auszuwerten (vgl. auch Abschn. 15.4). Das zweite Feld bildet der Informationsaustausch mit allen Beteiligten, insb. zwischen den Mitarbeitenden, Ihnen als Führungskraft, den evtl. eingebundenen Zentralabteilungen, den externen Dienstleistern und den Behörden/ Sozialversicherungsträgern. Wer im Einzelnen einzubeziehen ist, ist natürlich je nach Instrument unterschiedlich. Das dritte Feld ist die schlichte Dokumentation von Maßnahmen und Kommunikationsverläufen. Fast alle Instrumente bringen solche administrativen Handlungsbedarfe mit sich, und so gibt es allerhand zu tun (Tab. 14.2). Umgesetzt wird dies im Rahmen der diversen operativen Führungsroutinen. Als Führungskraft sind sie eher weniger daran beteiligt, denn jedenfalls in größeren Organisationen gibt es eigene Einheiten von Personalverwaltungsspezialisten, die Ihnen den größten Teil davon abnehmen.6 Auch die Mitarbeitenden können Teile übernehmen (z. B. über sog. „Self-Service-Systeme“). Wie Sie sicher aus Erfahrung wissen, bleibt am Ende aber doch immer einiges an Ihnen hängen, denn Sie sind als Leitung der Organisationseinheit eben auch für die ordnungsgemäße Administration verantwortlich. Anmerkungen I. Vgl. z. B. die Beispiele unter https://www.ionos.de/startupguide/ gruendung/vision-vs-mission/oder, https://www.wix.com/ blog/2020/12/mission-statement-examples/ (Zugriff am 7.3.2023). II. Grundei/Kaehler 2018, S. 589. Ausführlich: „Corporate Governance wird hier definiert als der durch konstitutiven Einfluss multipler Akteure geschaffene, aus formalisierten Normen bestehende interne und externe Verhaltensrahmen für die eben-
6 Die Arbeit von Personalabteilungen lässt sich grob in die zwei Bereiche „Betreuungsbezogene Routinen“ und „Instrumentenbezogene Routinen“ unterteilen, wobei Letztere wiederum aus Konzeptionsroutinen und Administrationsroutinen bestehen.
14 Konstitutives Management 311
falls multiplen Akteuren obliegende Leitung (= Führung, Management) und Überwachung (= Aufsicht) eines Unternehmens und seiner Einheiten.“ III. Tab. 14.1: aus Kaehler 2024; dort nach Kaehler 2020, S. 222. © Boris Kaehler. IV. Nach Kaehler 2024; dort nach Kaehler 2022 und Kaehler 2019. V. Deming 1982, S. 88; Imai 1997, S. 10. VI. Vgl. z. B. Preußig 2020. VII. Vgl. z. B. Kolko 2015. VIII. Abb. 14.1: Nach Kaehler 2020, S. 471, Kaehler 2017, S. 249 und Kaehler 2014a, S. 141. Dort in Anlehnung an Picot et al. © Boris Kaehler. IX. Nach Kaehler 2024; dort nach Kaehler 2022. X. Tab. 14.2: Nach Kaehler 2024. © Boris Kaehler.
Literatur Deming, W. Edwards (1982): „Out of the Crisis“; MIT Press 2000 (Erstauflage 1982). Imai, Masaaki (1997): „Gemba Kaizen – A Commonsense, Low-Cost Approach to Management“; McGrawHill 1997. Kaehler, Boris (2014a): „Komplementäre Führung – Ein praxiserprobtes Modell der organisationalen Führung“; 1. Auflage Springer Gabler 2014. Kaehler, Boris (2017): „Komplementäre Führung – Ein praxiserprobtes Modell der Personalführung in Organisationen“; 2. Auflage Springer Gabler 2017. Kaehler, Boris (2019): „Runter von der Wolke“ (Kommentar); Harvard Business Manager 11/2019, S. 70/71 Kaehler, Boris (2020): „Komplementäre Führung – Ein praxiserprobtes Modell der Personalführung in Organisationen“; 3. Auflage Springer Gabler 2020. Kaehler, Boris (2022): „Führungskräfteentwicklung“; in Müller-Vorbrüggen, Michael/Radel, Jürgen (Hrsg.): „Handbuch Personalentwicklung“; 5. Auflage Schäffer-Poeschel 2022; S. 489‒510. Kaehler, Boris (2024): „Komplementäre Führung – Ein praxiserprobtes Modell der Personalführung in Organisationen“; 4. Auflage Springer Gabler 2024 (noch unveröffentlichtes Manuskript).
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Kaehler, Boris/Grundei, Jens (2018): „HR-Governance im Führungs-Kontext: Der normative Rahmen des Personalmanagements“; ZCG Zeitschrift für Corporate Governance 5/2018, S. 205‒210. Kolko, Jon (2015): „Wie Design Thinking Unternehmen revolutioniert“; in: Harvard Business Manager, 11/2015; S. 30‒36 Preußig, Jörg (2020): „Agiles Projektmanagement“; 2. Auflage Haufe 2020.
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In diesem letzten Kapitel des Buches geht es um das Führen mit geschäftsperiodenbezogenen Strategien. Sie erfahren, an welchen drei wesentlichen Ergebnisdimensionen sich der Erfolg Ihrer Organisationseinheit messen lässt, was datenbasiertes Management bedeutet und wie eine optimale Kontextpassung Ihrer Strategien zu bewerkstelligen ist. Außerdem stelle ich Ihnen das Prinzip der prognosefreien Vorsorgeplanung vor und erkläre, warum es im Komplementären Führungsmodell bereits inkludiert ist. Und natürlich gibt es auch hier noch einmal Praxistipps, konkret für Strategieworkshops und MitarbeiterJahresgespräche.1
1 Da
die Kapitel in der E-Book-Version einzeln abrufbar sind, wiederhole ich den folgenden Hinweis aus dem Vorwort: Dieses Buch beruht auf dem Theoriemodell der Komplementären Führung, das ich für führungskonzeptionell Interessierte in meinem wissenschaftlichen Grundlagenwerk gleichen Titels dargelegt habe (Kaehler 2020). „Führen als Beruf“ soll dieses Wissen für Führungskräfte als Anwenderinnen und Anwender aufbereiten, gut verständlich und streng praxisorientiert. Fast alle Ideen und auch manche Formulierungen, die Sie hier finden, stammen aber aus dem ersten Buch, das lässt sich nicht vermeiden. Aus Gründen der Lesbarkeit – dies ist kein wissenschaftliches Werk – sind dabei nicht alle Selbstzitate explizit als solche gekennzeichnet. Andere Autoren und Quellen werden aber natürlich nach bestem Wissen und Gewissen korrekt und vollständig zitiert.
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Kaehler, Führen als Beruf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67567-0_15
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15.1 Führen mit Strategien Strategie ist einer jener schillernden Managementbegriffe, die für alles Mögliche benutzt werden. Ich verstehe darunter normative Vorgaben für eine Geschäftsperiode, die zum Gegenstand haben, wie bestimmte Ziele unter Berücksichtigung der spezifischen Rahmenbedingungen und möglichen Hindernisse zu erreichen sind.I Die Strategie ist also kein schlichter Umsetzungsplan, sondern einer, der auf Kontextpassung und Unsicherheiten abstellt. Damit sind dann auch schon zwei wesentliche Vorteile eines strategischen Vorgehens benannt. Zum einen lassen sich die Beiträge einzelner Organisationseinheiten in solch einer periodenbezogenen Planung gut zu einer Gesamtleistung koordinieren und auf die Außenbedingungen abstimmen. Zum anderen muss nicht immer neu und spontan auf Änderungen reagiert werden, da viele Eventualitäten bereits im Vorfeld bedacht und vorbereitet werden. Beide Aspekte werden wir im Folgenden noch vertiefen. Strategien sind immer geplant und normativ2, müssen aber nicht schriftlich niedergelegt sein. Jede Organisation und Organisationseinheit verfügt über eine Strategie und sei es eine informelle, lückenhafte oder dysfunktionale. Strategiearbeit kann also auch nicht, wie viele annehmen, alleinige Sache des Top-Managements sein. Alle Einheiten auf allen Ebenen benötigen eine Strategie, und natürlich kann diese auch partizipativ, also unter Beteiligung ihrer Teileinheiten erarbeitet werden, sie sollte es sogar. Ihr Job als Führungskraft ist es, sicherzustellen, dass sie so gut und ganzheitlich wie möglich wird. Die Führungsroutine dafür ist der Strategieworkshop (Abschn. 15.5). Wohlgemerkt: De facto erarbeiten Sie gleich mehrere Strategien. Die Ihrer eigenen Stelle und der von Ihnen geleiteten Abteilung o. Ä. werden Sie i. d. R. sehr weitgehend mitbestimmen; zusätzlich wirken Sie aber in aller Regel auch an den Strategien der ggf. über- und untergeordneten Einheiten mit.
2 Der populären Ansicht von Mintzberg (1978), wonach es auch „emergente“, also ungeplante, Strategien gibt, folge ich hier ausdrücklich nicht. Das von ihm beschriebene Phänomen faktischer Muster in einem Strom von Entscheidungen gibt es durchaus; Strategie ist aber das falsche Wort dafür.
15 Strategisches Management 315
Ebenso wie das konstitutive Management beinhaltet auch das strategische Management die Steuerung durch vorausschauende Normen, anders als das operative Management, welches die Steuerung durch situative Interventionen zum Gegenstand hat (siehe Abschn. 2.4 und 13.2). Das strategische Management wiederum unterscheidet sich vom konstitutiven Management durch die Geltungsdauer dieser Regelungen. Strategische Normen beziehen sich nämlich auf die Geschäftsperiode (i.d.R. 1-2 Jahre), konstitutive Normen sind auf Dauer angelegt (auch wenn sie natürlich irgendwann wieder geändert werden). Sowohl die Unternehmens- als auch die Personalführung umfasst alle drei Felder, oder sollte es zumindest. Strategien werden üblicherweise turnusmäßig im Rahmen von jährlichen Planungsrunden o. Ä. aufgestellt.3
erleichtern Koordination und » Strategien Reaktion.
15.2 Kontextpassung und Ergebnisdimensionen Die Idee der externen und internen Kontextpassung („strategic fit“) verdient eine genauere Betrachtung, denn letztlich geht es beim Management um nichts anderes. Der Zweck einer Organisation liegt
3 Für
Interessierte hier einmal mehr ein kurzer modelltheoretischer Exkurs, der Sie in der Praxis nicht interessieren braucht: Eigentlich müsste das Komplementäre Führungsmodell nicht zwei, sondern drei Umsetzungselemente haben. Zwischen den Führungsroutinen und den Führungsinstrumenten wären dann in Abb. 3.4 noch Führungsstrategien zu platzieren und ergäben den Dreiklang aus Abb. 2.2. Praktisch bedeutsam sind Strategien aber nur insofern, als sie entwickelt werden müssen (das ist Gegenstand strategischer Routinen), als sie Normen enthalten, die eine Geschäftsperiode lang angewendet werden (dann sind sie für diese Zeit letztlich auch nur Instrumente) oder als sie Änderungsbedarfe bei dauerhaften Instrumenten adressieren (die ihrerseits keine Strategien sind). Mir schien es hier sinnvoll, die Übersichtlichkeit und Anwendbarkeit des Modells vor die reintheoretische Schlüssigkeit zu stellen. Das strategische Management fällt also nicht unter den Tisch, sondern ist in den Umsetzungselementen der Führungsroutinen und der Führungsinstrumente mit enthalten.
Erfüllung sonstiger Vorgaben
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Belegschaft
StakeholderInteressen
Rechtsnormen
(intern/extern)
Personalmaßnahmen
Absatz- und RessourcenMärkte
Verfassung der OE
Verfassung des Gesamtunternehmens
Geschäftsstrategie der OE
GesamtGeschäftsstrategie
Personalstrategie der OE
GesamtPersonalstrategie
Geschäftssituation
Charakteristika Aktivitäten Befindlichkeiten
Personalkosten: a) periodenbezogen; b) dauerhaft Arbeitsergebnisse: a) periodenbezogen; b) dauerhaft
Abb 15.1 Personalstrategie im strategischen Kontext. (Boris Kaehler 2023. All Rights Reserved.)IV
ja immer in der Außenwelt, in ihrer Nützlichkeit für Märkte und Stakeholder. Die konstitutiven Normen der Organisation und ihrer Einheiten müssen dies abbilden. Daraus leiten sich die sachgeschäftsbezogenen Markt-, Produktions- und Ressourcenstrategien ab, ebenfalls auf Ebene der Gesamtorganisation und jeder ihrer Einheiten. Diese Sachgeschäftsstrategien werden dann in Personalstrategien überführt, welche die personellen Anforderungen der Geschäftsstrategie in Arbeitsleistung umsetzen.4 Die Personalstrategie dient dann als Klammer
4 Der besseren Lesbarkeit wegen ist dieser Zusammenhang ein wenig simplifiziert. Natürlich sollte die Gesamtstrategie umgekehrt auch personalstrategische Erkenntnisse aufnehmen, z. B. Vorteile oder Limitationen, die aus Besonderheiten des Personals resultieren. Die Personalstrategie wiederum muss auch die Personalstrategien der ggf. übergeordneten Organisationseinheiten sowie die bisherigen/derzeitigen Personalmaßnahmen und die Spezifika der Belegschaft berücksichtigen.
15 Strategisches Management 317
und Richtschnur für alle Personalmaßnahmen, die ihrerseits die Charakteristika, Befindlichkeiten und Aktivitäten der Belegschaft (auch: Personalkörper, Personalportfolio, Faktor Personal) prägen. Die ebenso einfache wie spektakuläre Grunderkenntnis lautet daher – Trommelwirbel! –, dass die Belegschaft und ihre Arbeit nichts anderes sind als das Ergebnis der Personalaktivitäten und -strategien, „geronnene Personalpolitik“ sozusagen.II Das bedeutet: „Langfristig hat jedes Unternehmen die Mitarbeiter, die es verdient.“III Und diese – zweiter Trommelwirbel! – erzeugen ebenjene Resultate, die die Außenwelt von der Organisation fordert. Solchermaßen wird deutlich, weshalb die Personalführung keineswegs ein neutraler Hygienefaktor, sondern vielmehr ein wesentlicher Wettbewerbs- und Qualitätshebel ist, denn sie beeinflusst nicht nur die Kostenstruktur, sondern auch die Ergebnisse der Organisation massiv. Abb. 15.1 stellt all diese Aspekte der Kontextpassung im Zusammenhang dar.
erzeugen die Belegschaft; die » Strategien Belegschaft erzeugt die Ergebnisse. Was den Inhalt von Strategien angeht, so ist wieder zwischen Sachgeschäfts- und Personalstrategien zu unterscheiden. Das Sachgeschäft von Organisationseinheiten ist natürlich ganz unterschiedlich, sodass sich hier keine allgemeingültigen Inhalte benennen lassen. Grundsätzlich sind aber alle Felder des Geschäftsbetriebs mit Strategien zu hinterlegen. Es sind dies die Absatzwirtschaft (Marketing; Vertrieb inkl. Absatzlogistik), die Produktionswirtschaft (Fertigung bzw. Dienstleistung inkl. Logistik; Forschung und Entwicklung) sowie die Ressourcenwirtschaft (Finanzierung/Investition/Buchhaltung; Informations-/Datenwirtschaft; Materialbeschaffung/Lagerhaltung/Entsorgung inkl. Logistik). Die Ressource Personal wird dabei nicht als Teil der Ressourcenwirtschaft begriffen, sondern als Teil der Steuerungsfunktion (vgl. Abb. 2.2). Personalstrategien sind hingegen in ihrer Grundstruktur in allen Organisationen, Bereichen und Branchen gleich bzw. sollten es sein.
318 B. Kaehler
Sie sind auch keinesfalls alleinige Sache der HR-Spezialisten. Denn, wie es einmal im Vorstandsumfeld eines DAX-30-Unternehmens hieß: „Die Personalstrategie ist zu wichtig, als dass man sie dem Personalressort überlassen könnte.“V Diese normative Personalführungsaufgabe obliegt den komplementären Führungsakteuren wie immer gemeinsam, mit Priorität auf der Selbstführung der Mitarbeitenden und kompensierenden Eingriffen der Führungskraft. Außerdem geht es ja keineswegs nur um Personal, sondern um die sachlichen Ergebnisse der Organisationseinheit. Wie Abb. 15.1 verdeutlicht, müssen Personalstrategien drei Zieldimensionen abdecken, nämlich die Arbeitsleistungen, die Personalkosten und die sonstigen Stakeholderanforderungen. In der Regel wissen Organisationen recht genau, welche strategischen Ergebnis- und Kostenziele sie in der nächsten Geschäftsperiode erreichen wollen. In der Personalstrategie gilt es, den Weg zur Zielerreichung festzulegen, d. h. die erforderlichen Arbeitsleistungen und das zur Verfügung stehende Personalbudget. Es geht also darum, die für das Sachgeschäft festgelegten Ziele und Strategien in eine Personalstrategie zu überführen. Es sind ja die Mitarbeitenden, die die Ergebnisse erarbeiten und einen guten Teil der Kosten verursachen. Zu berücksichtigen sind auch nicht-leistungsbezogene normative Vorgaben als dritte Zieldimension. Manche strategischen Ziele haben eben weder mit den kurzfristigen noch mit den langfristigen Leistungen und Kosten zu tun, sondern zum Beispiel mit der Rechtslage oder Stakeholderinteressen. Beispiele hierfür sind Regulierungsvorgaben, Frauenquote oder Mitarbeiterzufriedenheit. All diese führen nicht zwingend zu höheren Arbeitsleistungen oder niedrigeren Personalkosten, werden aber legitimerweise von den Aufsichtsbehörden, Interessenvertretungen und/oder Märkten durchgesetzt und sind damit nicht weniger maßgeblich für die Unternehmensführung.
Personalstrategien berück» Wirksame sichtigen alle drei Zieldimensionen.
15 Strategisches Management 319
Wichtig bei alldem: Die Strategie selbst bezieht sich zwar auf die Geschäftsperiode, muss aber auch die dauerhaft-strukturellen Auswirkungen über die Geschäftsperiode hinaus berücksichtigen. Jede einzelne Personalmaßnahme hat neben kurzfristigen auch langfristige Auswirkungen. Wollte man z. B. die Arbeitsleistungen steigern oder die Kosten senken, indem unmäßiger Druck auf die Mitarbeitenden ausgeübt wird, so könnte dies binnen Jahresfrist durchaus funktionieren. Zugleich aber handelte man sich damit große Probleme ein, nämlich im Hinblick auf die dauerhaft-strukturelle Leistungsfähigkeit/bereitschaft und das Kostengefüge (z. B. durch Abgänge, Ausfälle und Rechtskosten). Brauchbare Personalstrategien müssen also kurz- und langfristig Effekte auf allen drei Zieldimensionen berücksichtigen. Welche Maßnahmen und Vorgaben daraus abzuleiten sind, ist letztlich eine Frage des Führungsmodells. Legt man das Komplementäre Führungsmodell zugrunde, gilt es, die 21 Führungsaufgaben abzuarbeiten. Im Folgenden wird deutlich werden, worum es dabei im Einzelnen geht. Auf jeden Fall muss es für jede Einheit geschehen, d. h., der strategische Beitrag jeder einzelnen Stelle, Gruppe und Abteilung ist mit einer Strategie zu hinterlegen und in einer übergeordneten Strategie zusammenzuführen.
Sie über die Geschäftsperiode » Denken hinaus.
15.3 Szenario-Vorsorgeplanung Nun müssen wir aber unbedingt noch auf den Aspekt der Flexibilität eingehen. Es gibt ja nicht wenige, die behaupten, strategische Pläne passten nicht in eine Welt (vermeintlich) gestiegener Komplexität und Veränderungsgeschwindigkeit. Das ist reiner Unsinn, denn wie eingangs dargelegt, macht die Berücksichtigung von Unsicherheiten und Eventualitäten einen Plan überhaupt erst zur Strategie. Auch bezieht sich die Idee der Kontextpassung natürlich keineswegs auf statische
320 B. Kaehler
Verhältnisse, sondern auf laufende Anpassung an wechselnde Umfeldfaktoren. Im Schach, bekanntlich einem Spiel von großer Komplexität und Dynamik, setzt man bei der zukünftig angestrebten Stellung an und arbeitet sich über zu erreichende Zwischenziele in die Gegenwart zurück.VI Nicht einmal Anfänger kämen aber auf die Idee, zu Beginn des Spiels einen festen Plan zu entwickeln. Stattdessen wirken die Zwischenziele dynamisierend, ihre iterative Anpassung ermöglicht ein Abfedern gegenläufiger Einflüsse: „[Es ist] wie beim Segeln: Sie müssen Ihr Ziel kennen, aber der Wind entscheidet über den exakten Weg“ (Jean-Paul AgonVII). Brauchbare Strategien müssen also flexibilisierende Elemente enthalten, die den Veränderungen der realen Welt Rechnung tragen und eine dynamische Anpassung an Kontextveränderungen aller Art möglich machen. Die im Managementbereich üblicherweise eingesetzten SzenariotechnikenVIII sind dabei aber nur bedingt hilfreich. Dies deshalb, weil sie aus der potenziell unendlichen Menge möglicher Zukunftsbilder einige wenige Alternativszenarien von besonderer Relevanz herausfiltern. Dieses Vorgehen ist – der Berater dankt – zwar höchst aufwendig, läuft aber am Ende auf eine unzulässige Reduzierung des Ereignisraums hinaus und beinhaltet trotzdem noch höchst unsichere Prognosen. Als Alternative empfehle ich Ihnen meine „prognosefreie Szenario-Vorsorgeplanung“IX. Diese Methode löst das Problem der Planungsunsicherheit durch drei aufeinander aufbauende Bausteine: Szenarioplanung, Indikatorenplanung und Vorsorgeplanung. Denn: „Es kommt nicht darauf an, die Zukunft vorherzusagen, sondern auf die Zukunft vorbereitet zu sein.“X Ihnen kann letztlich egal sein, aus welchen zukünftigen Entwicklungen sich Handlungsbedarfe ergeben – Hauptsache, Sie sind darauf vorbereitet. Das Prinzip ist also, die Vielzahl an möglichen Bedarfsszenarien in ganzer Breite zu antizipieren und vorausschauende Lösungen dafür zu finden, statt sie der operativen (und damit reaktiven) Bearbeitung im Alltag zu überantworten.
Trick besteht darin, nur auf Hand» Der lungsbedarfe abzustellen …
15 Strategisches Management 321
Der erste Baustein besteht dabei in einer Szenarioplanung mit strengem Bedarfsfokus. Dabei gehe ich von der Überlegung aus, dass zwar die Zahl möglicher Zukunftsszenarien unendlich ist, nicht aber jene der daraus resultierenden Handlungsbedarfe. Zum Beispiel könnte es, warum auch immer, in der Zukunft einen erhöhten Liquiditätsbedarf geben. Solche möglichen Bedarfsszenarien gilt es systematisch zu erkennen. Der zweite Baustein, die Indikatorenplanung, besteht darin, für alle Handlungsfelder Indikatoren festzulegen, anhand derer Bedarfe bei Auftreten auch tatsächlich erkannt werden können. Im Falle der Liquidität muss dies zweifellos das laufende Finanzcontrolling leisten. Wichtig ist dieser Baustein darum, weil fast alle Maßnahmen zur Bedarfsdeckung einen gewissen Vorlauf haben und dieser im Fall der Fälle nur bei rechtzeitigem Start gegeben ist. Der dritte Baustein ist dann schließlich die Vorsorgeplanung. Sie beinhaltet, sich so aufzustellen, dass alle identifizierten Bedarfsszenarien jederzeit befriedigt werden können. Dies geschieht durch vordefinierte Routinen und Werkzeuge; im beispielhaft genannten Falle der Liquidität sind dies Finanzierungsrunden und -instrumente. Alle drei Bausteine sind letztlich instrumenteller Natur, d. h., sie stellen Strukturen im Sinne formalisierter Werkzeuge dar. Hier schließt sich also der Kreis vom Strategischen zum Konstitutiven. Gebraucht werden Dauerstrukturen, die Vorsorge gewährleisten, und diese sind Ergebnis konstitutiver Konzeption (Abschn. 14.6)
und strategische Lösungen für sie zu » …finden. All dies mag erst einmal etwas ungewohnt klingen. Lassen Sie es ruhig noch einmal sacken, bevor Sie überlegen, ob und wie das Prinzip der prognosefreien Szenariovorsorge in Ihrem Sachgeschäft umzusetzen ist. Die gute Nachricht ist: Was die Personalführung angeht, so ist es im Komplementären Führungsmodell bereits „eingebaut“. Der erste Baustein, die Szenarioplanung, ist Gegenstand des Aufgabenkatalogs,
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dessen Grundlogik ja darin besteht, einen vollständigen Katalog von Leistungsbedingungen aufzuzeigen (Abschn. 3.2). Entsprechend sind alle personalrelevanten Bedarfsszenarien damit abgedeckt. Mehr, als dass z. B. Qualifikationslücken entstehen, Konflikte aufkommen oder Mitarbeitende krank werden, kann Ihnen auf diesem Gebiet nicht passieren. So braucht man z. B. bei der Kapazitätsplanung überhaupt nicht die genaue Geschäfts- und Arbeitsmarktentwicklung vorauszusagen; es reicht vielmehr aus, die beiden relevanten Bedarfsszenarien Über- und Unterdeckung zu fokussieren, die Gegenstand der Aufgaben „Einstellen“ und „Trennen“ sind. Der zweite Baustein, die Indikatorenplanung, wird mit den Führungsroutinen abgebildet, die ja dem Erkennen und Decken aufgabenbezogener Bedarfen dienen (Abschn. 3.6). Dass etwas zu tun ist, merken Sie als Führungskraft also im Rahmen Ihrer Tätigkeit. Beispielsweise kann eine Teamsitzung oder Arbeitsbesprechung Hinweise auf erhöhte Abwanderungsgefahr ergeben. Wenn Sie alle Führungsroutinen wirklich wahrnehmen, werden Sie personalbezogene Handlungsbedarfe auch als solche erkennen. Der dritte Baustein, die Vorsorgeplanung, ist im Katalog der Führungsinstrumente inkludiert (Abschn. 14.5).5 Diese gilt es unter Geschwindigkeits- und Wirksamkeitsgesichtspunkten zu optimieren. Beispielsweise lassen sich Anzeigenkampagnen oder Trainingsmaßnahmen so vorstrukturieren, dass sie im Bedarfsfall schnell und treffsicher greifen. So erleichtern ein multipler Marketing-Mix die Rekrutierung und unterschiedliche Lernformate die Weiterbildung – ist ein Ansatz gerade unbrauchbar oder nicht verfügbar, kann sofort auf andere ausgewichen werden. Alle drei Bausteine haben also eine Entsprechung in Elementen des Komplementären Führungsmodell. Das bedeutet: Wenn Sie das Modell praktizieren, können Sie sich eine personalstrategische Szenarioplanung schenken.
5 Der Instrumentenkatalog schließt auch das Führungsmodell ein und dieses wiederum die inhaltliche Gestaltung der Führungsroutinen. Dies ist praktisch bedeutsam, weil in vielen Fällen nur auf Bedarfe reagiert werden kann, wenn es entsprechende Bedarfsroutinen gibt.
15 Strategisches Management 323
Komplementäre Führungsmodell » Das erübrigt eine personalstrategische Szenarioplanung.
15.4 Datenbasiertes Management In Abschn. 14.6 über die Konzeption von Führungsinstrumenten sollte deutlich geworden sein, dass konstitutives Management ohne Daten und Rückmeldeschleifen nicht gelingen kann. Genauso sieht es beim operativen Management aus, denn auch dieses basiert letztlich auf datenbasierter Steuerung. Wenn Sie z. B. eine Teamsitzung leiten, tun Sie gut daran, die Befindlichkeiten und Vorschläge der Teilnehmenden aufzunehmen. Und für das strategische Management gilt natürlich nichts anderes: Ohne umfassende Eingangsanalysen und laufende Evaluation enden Strategieentwicklung und Strategieumsetzung in sinnentleertem bürokratischem Stumpfsinn. So wie jeder Hobbysportler, der sich verbessern möchte, seine Streckenzeiten misst und seine Trainingstage erfasst, brauchen Führungskräfte – und übrigens auch die Mitarbeitenden als Selbstführende – eine hinreichende Informationsbasis. Belassen Sie es also nicht bei der Strategiefindung, sondern verfolgen Sie Zwischenstände, Ergebnisse und Kontextpassung laufend und systematisch: „Wie schön die Strategie auch sein mag, gelegentlich sollten Sie sich die Resultate anschauen.“XI Systematisch ordne ich die strategische Datenbasis übrigens als Managementinstrument ein, da es größtenteils Konzeptcharakter hat und damit ein formalisiertes Werkzeug darstellt (Abschn. 14.5).
ohne Strategie» Strategieentwicklung controlling ist sinnlos.
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Dass Strategien von Ihrer Umsetzung und dessen Controlling leben, galt immer schon. Systematisches Management funktioniert eben nicht ohne Daten. In einer zunehmend datengetriebenen Welt mit immer weitreichenderer Digitalisierung des Arbeitslebens ergeben sich jedoch noch einmal ganz neue Möglichkeiten. Einer der wesentlichen Vorteile digitaler Geschäftsprozesse ist ja, dass dabei Unmengen potenziell steuerungsrelevanter Daten anfallen. So bieten z. B. interne soziale Netzwerke („social collaboration tools“) nicht nur die Möglichkeit, die Kommunikationsströme zu analysieren, sondern erleichtern auch den Wissensaustausch und die Einschätzung der Produktivität und Befindlichkeit der Belegschaften. Bewerbermanagementsysteme ermöglichen es, unzählige Kennziffern zu generieren und damit gleichermaßen die Bewerberzufriedenheit („candidate experience“) und die Effizienz zu optimieren. Auch Personalkosten lassen sich heute viel einfacher und umfassender erheben und im Blick behalten. Unter datenschutzrechtlichen Gesichtspunkten darf zwar nicht alles genutzt werden, und das ist auch gut so. Auch so ergeben sich aber große Erkenntnisgewinne.6 Leider sind die Personalcontrollingsysteme, mit denen die Personalabteilungen Führungskräfte unterstützen, in aller Regel völlig unterentwickelt und untauglich. Als Führungskraft ist es zwar Ihr tägliches Brot, Daten aus Formalsystemen zu studieren. Die Erneuerung der Personalprozesse ist in den allermeisten Unternehmen allerdings einfach noch nicht weit genug fortgeschritten, um Ihnen eine hinreichende Datenbasis zu bieten. Umso wichtiger ist es, dass Sie sie systematisch ergänzen. Um sich eine umfassende Innen- und Außenperspektive zu verschaffen, müssen Sie nicht warten, bis Ihnen perfekte Controllingberichte vorliegen. Daten über die Märkte, speziell auch die Arbeitsmärkte, finden Sie in der Fachpresse und im Internet, vieles lässt sich z. B. auch in Bewerbergesprächen erfahren. Daten über Ihre Mitarbeitenden bekommen Sie reichlich im Rahmen der diversen Führungsroutinen. In Arbeitsbesprechungen, Teamsitzungen, Kurz6 Eine interessante Ergänzung können käuflich zu erwerbende Auswertungen beruflicher sozialer Netzwerke wie LinkedIn und Xing sein. Wenn große Teile der Belegschaft dort Mitglied sind, können diese Anbieter Demotivationseffekte oder drohende Kündigungswellen i. d. R. besser diagnostizieren als das Arbeitgeberunternehmen.
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besuchen, Jahresgesprächen und Austrittsinterviews erfahren Sie eigentlich fast alles, was Sie brauchen. Wer das verstanden hat, kann sich recht einfach ein Konzept zurechtlegen, das zugelieferte Auswertungen und eigene Daten verknüpft und so ein permanentes Strategiecontrolling gewährleistet.
Sie sich eine ausreichende » Verschaffen Datenbasis.
15.5 Strategieworkshop Der Strategieworkshop ist die Führungsroutine, in der das strategische Management zum Leben erwacht. Er wird i. d. R. alle ein bis zwei Jahre durchgeführt. Im Fokus steht die Entwicklung von Geschäftsund Personalstrategien für die kommende Geschäftsperiode. Es ergibt allerdings wenig Sinn, den Workshop ausschließlich für Strategisches zu reservieren. Wegen der in Abschn. 15.1 dargelegten Überschneidungen und der ähnlichen Herangehensweise sollte er vielmehr gleich auch für die Überprüfung der dauerhaften Aufstellung, d. h. der konstitutiven Normen (Instrumente), genutzt werden. Wenn sich daraus Änderungsoder Neuentwicklungsbedarfe ergeben, ist ein gesondertes Konzeptionsprojekt angezeigt (Abschn. 14.6). Da jede einzelne Organisationseinheit über eine eigene Strategie verfügt, muss auch für jede Einheit ein separater Strategieworkshop durchgeführt werden. Die Strategie jeder einzelnen Stelle als kleinster Organisationseinheit wird sinnvollerweise nicht in einem Workshop, sondern im Mitarbeiterjahresgespräch (Abschn. 15.6) besprochen. Sicher haben Sie bereits Erfahrung mit der Durchführung von Workshops gesammelt.XII Für diese sehr besondere Veranstaltung möchte ich Ihnen dennoch einige Praxistipps mitgeben (Checkliste 16). Einer der wichtigsten ist, mit der Zeit nicht allzu knauserig zu sein. Um Ihre Einheit erfolgreich zu machen, gibt es nichts Wichtigeres, als sie richtig aufzustellen und auszurichten. Das gelingt nicht in
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ein paar Stunden, so schnell gewinnen die Teilnehmenden auch die nötige „Flughöhe“ nicht. Zwei bis vier Tage reichen aber meist aus – es müssen nicht zwei volle „Denkwochen“ sein, wie sie Bill Gates in einem abgelegenen Landhaus zu verbringen pflegte.XIII Ein zweiter besonders erfolgskritischer Punkt bezieht sich auf die Verzahnung der Organisationsebenen. Zu empfehlen ist, jedem Workshop einen Vorbereitungsteil in Arbeitsplatznähe vorzuschalten und diese aufsteigend zu organisieren. Beginnend mit jeder einzelnen Stelle sind die Teams, die Abteilungen, die Bereiche und schließlich die Gesamtorganisation aufgefordert, Erfahrungen und Vorschläge bezüglich Strategien und dauerhaften Normen sowie der in der nächsten Geschäftsperiode anzustrebenden Beiträge zu erarbeiten. Auf diese Weise kann die jeweils übergeordnete Einheit an den Ergebnissen der untergeordneten Einheiten ansetzen. Diese Vorarbeit kann in den regulären Teamsitzungen der jeweiligen Einheit geschehen, im Falle der einzelnen Stellen in den individuellen Arbeitsbesprechungen. Die eigentlichen Strategieworkshops sollten dann klassisch kaskadierend stattfinden, d. h., zunächst wird der Workshop für die Gesamtorganisation durchgeführt, dann der für die Bereiche, dann für deren Abteilungen etc., bis hinunter zum Jahresgespräch der einzelnen Stelle. So wird spiegelbildlich sichergestellt, dass die Normen der untergeordneten Einheiten sich aus jenen der jeweils übergeordneten ableiten und ein Ganzes ergeben. Der dritte Tipp schließlich betrifft den Teilnehmerkreis. Die inhaltliche Verantwortung für die Veranstaltung liegt bei der Führungskraft der betreffenden Organisationseinheit, sie muss zwingend auch teilnehmen. Gleiches gilt für die Mitglieder der Einheit, denn nirgends in der Führung ist fehlende Partizipation schädlicher als bei den strategischen und konstitutiven Normen. Unbedingt teilnehmen sollten auch die obere Führungskraft sowie die zuständige Personalbetreuung und Personalleitung. Diese illustre Runde ist deshalb erforderlich, weil nur so eine inhaltliche Verknüpfung und Modifikation der Vorschläge und Vorgaben erfolgen kann. Das „Hochreichen“ von Vorschlägen und „Herunterreichen“ von Vorgaben reicht für sich genommen nicht aus, um zu angemessenen Lösungen zu kommen. Vielmehr bedarf es einer echten Auseinandersetzung und persönlichen Bezugnahme. Wer, anders als bei der Entwicklung von Leitbildern oder Führungsmodellen, nicht
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teilnehmen sollte, ist der Betriebsrat bzw. Personalrat. Die Strategie ist zunächst einmal eine vertrauliche Angelegenheit der jeweiligen Einheit. Mitbestimmungspflichtige Planungselemente müssen nur als solche erkannt und nachfolgend abgestimmt werden. Auch dafür sind die Personalspezialisten mit dabei, denn sie können die Erfolgsaussichten gut einschätzen. Zu einem ordentlichen Strategieworkshop gehört schließlich auch noch ein Moderator oder eine Moderatorin. Ich übe diese Funktion auch selbst immer wieder einmal aus und weiß, wie anspruchsvoll und anstrengend eine gute Moderation ist. Es gilt, alle Beiträge laufend zu verknüpfen, diverse Formate anzuleiten, das Ziel im Auge zu behalten und den Zeitplan einzuhalten. Als Führungskraft zu moderieren und gleichzeitig inhaltlich mitzuarbeiten, ist eine Überforderung und geht eigentlich immer zu Lasten der Ergebnisse. Sie sollten sich das ersparen.
Sie Zeit und Mühe – es ist die » Investieren wichtigste Führungsroutine. Was Inhalte und Ablauf angeht, so rate ich dazu, mit einer Lageanalyse zu starten. Dabei sollten Sie sich an den in Abschn. 15.2 erläuterten Elementen der Kontextpassung orientieren und diese nacheinander abarbeiten. Das beginnt mit den Anforderungen der Außenwelt und den daraus abgeleiteten konstitutiven Normen, insb. dem Organisationszweck, den Funktionsmodellen und der Governance. Denn: „Wenn über das Grundsätzliche keine Einigkeit besteht, ist es sinnlos, miteinander Pläne zu schmieden.“XIV Management-Vordenker wie Peter F. Drucker, R. Edward Freeman und Clayton Christensen raten von jeher dazu, das scheinbar Selbstverständliche regelmäßig radikal zu überprüfenXV: Was ist unser Geschäft? Wer ist unser Kunde? Was ist für den Kunden von Wert? Welche tieferliegenden Bedürfnisse werden mit unseren Produkten befriedigt? Wer sind unsere sonstigen Stakeholder und was erwarten sie? Wer sind unsere Wettbewerber? Mit welchen disruptiven Innovationen könnten Außenseiter unser Geschäft zerstören? Wie müssen wir uns aufstellen, um dem zuvorzukommen?
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Darauf aufbauend gilt es, eine systematische Ziel- und Strategiefindung zu durchlaufen und deren Umsetzung zu planen. Beschäftigen Sie sich dabei bitte nicht nur mit dem, was getan werden soll, sondern auch mit dem, was weggelassen wird: „Die Essenz von Strategie ist, auszuwählen, was nicht getan wird“ (Michael PorterXVI). Das Ergebnis sollten Sie schriftlich niederlegen. Ob der Workshop erfolgreich war und Ihre Strategien etwas taugen, merken Sie daran, als wie vertraulich Sie das Papier einstufen müssen. Wenn Ihre Wettbewerber es ruhig in die Hände bekommen könnten, haben Sie strategisch nicht gut gearbeitet.XVII
» Die Strategie Ihrer Einheit muss Biss haben. Checkliste 16: Empfehlungen für Strategieworkshops (© Boris Kaehler 2023. All Rights Reserved.)XVIII • Umgebung: Verabschieden Sie sich komplett aus dem Tagesgeschäft und wählen Sie einen Veranstaltungsort in schöner Umgebung, der Ruhe und geistigen Abstand gewährleistet. • Hinreichend Zeit: Zwei bis vier Tage sollten Sie in der Regel ansetzen. • Verzahnung der Ebenen: Zu empfehlen ist, jedem Workshop einen Vorbereitungsteil in Arbeitsplatznähe vorzuschalten und diese aufsteigend zu organisieren. Beginnend mit jeder einzelnen Stelle sind die Teams, die Abteilungen, die Bereiche und schließlich die Gesamtorganisation aufgefordert, Erfahrungen und Vorschläge bezüglich Strategien und dauerhaften Normen sowie der in der nächsten Geschäftsperiode anzustrebenden Beiträge zu erarbeiten. Auf diese Weise kann die jeweils übergeordnete Einheit an den Ergebnissen der untergeordneten Einheiten ansetzen. Diese Vorarbeit kann in den regulären Teamsitzungen der jeweiligen Einheit geschehen, im Falle der einzelnen Stellen in den individuellen Arbeitsbesprechungen. Die eigentlichen Strategieworkshops sollten dann klassisch kaskadierend stattfinden, d. h., zunächst wird der Workshop für die Gesamtorganisation durchgeführt, dann der für die Bereiche, dann für deren Abteilungen etc., bis hinunter zum Jahresgespräch der einzelnen Stelle. So wird spiegelbildlich sichergestellt, dass die Normen der untergeordneten Einheiten sich aus jenen der jeweils übergeordneten ableiten und ein Ganzes ergeben.
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• Methodenvielfalt: Workshops müssen nicht darin bestehen, im eigenen Saft zu schmoren und bunte Kärtchen auszufüllen. Wenn alle ganztägig nur aufeinanderhocken, entstehen zu viele negative Beeinflussungseffekte, speziell durch die Führungskräfte und Personaler. Mit unterschiedlichen, teils parallel geführten Diskussions- und Einzelarbeitsformaten, Impulselementen und simultanen Recherchen wird die Zeit erheblich effektiver genutzt. Schwachstellen lassen sich so besser herausarbeiten und Kosten- wie Ergebnispotenziale wirksamer heben. • Erweiterter Teilnehmerkreis: Dabei sein sollten die Führungskraft, die Mitglieder der Einheit, die obere Führungskraft sowie die Personalbetreuung und Personalleitung, nicht aber der Betriebsrat/Personalrat. • Struktur: Schritt I ist die Zielfindung durch 1. Lageanalyse (Markt- und Stakeholderanforderungen; bisherige Maßnahmen; übergeordnete Strategievorgaben) sowie 2. Zieldefinition hinsichtlich der Ergebnisdimensionen (Arbeitsergebnisse quantitativ/qualitativ, Personalkosten, Stakeholder-Ziele), sowohl für die Geschäftsperiode als auch langfristig-strukturell. Schritt II besteht aus der Strategiefindung für alle Felder des Geschäftsbetriebs sowie für die Personalführung hinsichtlich 1. absehbarer Handlungsbedarfe und 2. aktueller Schwerpunktund Querschnittsthemen. Strategien für mögliche Bedarfsszenarien sollten – wie in Abschn. 15.3 dargelegt – idealerweise nicht (geschäftsperiodenbezogen) hier, sondern (dauerhaft) instrumentell festgelegt werden. Schritt III beinhaltet die Umsetzungsplanung hinsichtlich 1. erforderlicher Aktivitäten, 2. Kosten, 3. Kommunikationsmaßnahmen und 4. Evaluation.
15.6 Mitarbeiterjahresgespräche Einzel-Jahresgespräche zwischen Führungskraft und Mitarbeiter gibt es in den allermeisten Organisationen. Leider steht diese Führungsroutine meist ganz im Zeichen formaler Zielvereinbarungs- und Beurteilungssysteme, die zu allem Übel oft auch noch völlig falsch gestaltet sind (Abschn. 6.2). Solchermaßen verkommen sie zur sinnlosen Pflichtübung; den meisten Führungskräften und Mitarbeitenden graut davor. Viele Organisationen haben dies erkannt und so geht der Trend in den letzten Jahren dahin, unterjährige Zyklen vorzuschreiben. Solange sich aber keine inhaltlichen Änderungen verbinden, hilft dies wenig – lediglich der zeitliche und administrative Aufwand wird größer.
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Um dieser trotz alledem überaus wichtigen Jahresroutine echtes Leben einzuhauchen, sind zwei Erkenntnisse umzusetzen. Die erste besteht darin, dass Mitarbeiterjahresgespräche kein Ersatz für regelmäßige informelle Arbeitsbesprechungen (Abschn. 6.4) sind, sondern deren zusammenfassende Klammer. Nur wenn regelmäßige Einzelgespräche stattfinden, fällt es beiden Beteiligten leicht, die Leistungen des abgelaufenen Jahres zu bewerten, Schwachstellen und Potenziale zu analysieren und Vorschläge für neue Ziele zu entwickeln. Es spricht nichts dagegen, gleichzeitig auch Formalbeurteilungen durchzuführen, sofern sie funktional gestaltet sind und eine summative Gesamtschau der Arbeitsbesprechungen darstellen. Die Beurteilung ist aber nicht die Hauptsache bei dem Gespräch. Die zweite Erkenntnis ist, dass das Jahresgespräch nichts anderes ist als ein individuelles Äquivalent zu den kollektiven Strategieworkshops. Die Stelle, definiert als kleinste Organisationseinheit, bedarf ebensolcher strategischer Normen wie die ihr übergeordneten Einheiten und muss in Beziehung zu ihnen gesetzt werden. Oben wurde ja empfohlen, bei der Strategievorbereitung aufsteigend und bei der Strategieentwicklung absteigend vorzugehen (Checkliste 16). Die Sammlung von strategischen Ideen und Zielbeiträgen nimmt dann ihren Ausgang in den individuellen Arbeitsbesprechungen und wird in Teamsitzungen etc. zusammengeführt, im Sinne einer Zuarbeit zum Strategieworkshop auf Geschäftsführungsebene. Die Funktion des Mitarbeiterjahresgesprächs besteht hier also darin, die Umsetzung der beschlossenen Strategien zu diskutieren. Anknüpfend an den Strategieworkshop auf Teamebene wird besprochen, wie die einzelne Stelle ihre Beiträge zur Zielerreichung leisten kann. Insofern gelten alle Ausführungen zum Strategieworkshop in Abschn. 15.5 hier entsprechend. In Checkliste 17 finden Sie Praxistipps für gelungene Mitarbeiterjahresgespräche.
Jahresgespräch ist ein Strategiework» Das shop zu zweit.
15 Strategisches Management 331
Checkliste 17: Empfehlungen für Mitarbeiterjahresgespräche (© Boris Kaehler 2023. All Rights Reserved.) • Zusammenfassung: Nehmen Sie Bezug auf die Ergebnisse der regelmäßigen Arbeitsbesprechungen und ziehen Sie zukunftsbezogene Schlüsse daraus. Falls Sie keine solchen geführt haben, ist das Jahresgespräch sinnlos. • Strategiefokus: Terminieren Sie das Gesprächs so, dass bereits strategische Vorgaben auf Teamebene vorliegen. Besprechen Sie im Detail, welche dies sind und welche Beiträge der oder die Mitarbeitende zum Ganzen leistet; entwickeln Sie gemeinsam die Strategien dieser einzelnen Stelle für die kommende Geschäftsperiode. • Ggf. Formalbeurteilung/-ziele: Falls Formalbeurteilungen und/oder Formalziele vorgesehen sind, besprechen und fixieren Sie diese. • Loben: Sofern es sich nicht um einen Trennungskandidaten handelt, ist das Gespräch eine tolle Gelegenheit, die Jahresleistung des Mitarbeiters oder der Mitarbeiterin abseits des Tagesgeschäfts einmal ausgiebig anerkennend zu würdigen. • Gesprächsführung: Alle Praxistipps für regelmäßige Arbeitsbesprechungen (Checkliste 1) gelten hier entsprechend. Achten Sie insbesondere darauf, dass Ihr Redeanteil nicht zu hoch wird. Im Mitarbeitergespräch redet vor allem der Mitarbeiter! Lassen Sie ihn selbst seine Leistungen reflektieren und strategische Überlegungen anstellen; fragen Sie nach, hören Sie zu und ergänzen Sie lediglich.
Damit liegt der dritte und letzte Buchteil hinter Ihnen. Sie wissen nun, wie konstitutive und strategische Normsetzung Ihnen Ihren Führungsalltag vereinfacht und wirksame Führung überhaupt erst möglich macht. Zugegeben: Es wimmelte von ungewohnten Begriffen, feinen Differenzierungen und vertrackten Querbezügen. Es kann aber nicht der Sinn eines Buches über den Führungsberuf sein, schwierige Zusammenhänge im Interesse der gefälligen Lesbarkeit übermäßig zu simplifizieren. Ich hatte in der Einleitung das Beispiel des Kaffeekochens gewählt, um zu verdeutlichen, wie viele Aspekte und Wirkbeziehungen banale Alltagsvorgänge aufweisen. Führung ist mindestens ebenso komplex. Wer ernsthaftes Interesse an seinem Beruf hat, wird sich dieser Komplexität stellen müssen. Vieles werden Sie beim ersten Lesen verstanden und behalten haben. Den Rest lesen Sie eben bei Gelegenheit nochmal. Selbst wenn Sie nicht alles auf Punkt und Komma umsetzen, erweitert ein solides konstitutives und
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strategisches Verständnis auf jeden Fall Ihre Handlungsoptionen. Erfolgreiche Führungskräfte sind zwangsläufig Strateginnen und Strategen. Anmerkungen I. Vgl. Kaehler/Grundei 2019, S. 16 ff. II. Den treffenden Ausdruck „geronnene Personalpolitik“ habe ich vor langer Zeit irgendwo gelesen. III. Unbekannte Quelle; mitunter J. Paul Getty oder W. Gilbey zugeschrieben, wohl zu Unrecht. IV. Abb. 15.1: Aus Kaehler 2024; dort nach Kaehler 2020, S. 71 und Kaehler 2017, S. 329; dort modifiziert nach Kaehler 2015, S. 73. © Boris Kaehler. V. Scholz 2014, S. 35. VI. So Garri Kasparow, Rekord-Schachweltmeister; zitiert nach Kasparow 2008, S. 40. VII. Jean-Paul Agon, CEO von L’Oréal; zitiert nach Jakobs/ Kapalschinski 2013, S. 18. VIII. Vgl. z. B. Künzli 2013; Schwenker/Wulf 2013. IX. Kaehler 2015, S. 74; Kaehler 2017, S. 332 ff.; Kaehler 2020; Kaehler 2024. X. Unbekannte Quelle; oft und wohl zu Unrecht dem altgriechischen Staatsmann Perikles zugeschrieben. XI. Unbekannte Quelle; oft Winston Churchill zugeschrieben, aber wohl zu Unrecht, siehe https://richardlangworth.com/ quotatioins (Zugriff am 17.5.2023). XII. Vgl. z. B. Haake et al. 2020. XIII. Jahn 2013. XIV. Unbekannte Quelle; oft und wohl zu Unrecht Konfuzius zugeschrieben. XV. Vgl. insb. Drucker 1954, S. 74‒94; Freeman 1984; Christensen 1997; Christensen/Raynor/McDonald 2016. XVI. Porter 1996, S. 70; eigene Übersetzung. XVII. Diese Idee ist nicht von mir; ich weiß aber nicht mehr, wo ich sie gelesen habe.
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XVIII. Checkliste 16: Nach Kaehler 2024; dort nach Kaehler 2020, Kaehler 2017, S. 337, und Kaehler 2015, S. 74. © Boris Kaehler.
Literatur Christensen, Clayton (1997): „The Innovator’s Dilemma: When New Technologies Cause Great Firms to Fail“; Neuveröffentlichung Harvard Business Review Press 2016 (Erstveröffentlichung 1997). Christensen, Clayton M./Raynor, Michael/McDonald, Rory (2016): „Was ist disruptive Innovation?“; Harvard Business Manager 2016; S. 64‒74. Drucker; Peter F. (1954): „The Practice of Management“; Neuauflage Harper Collins 2006 (Erstauflage 1954). Freeman, R. Edward (1984): „Strategic Management – A Stakeholder Approach“; Pitman 1984. Haake, Klaus/Rusch, Josef/Seiler, Willi/Seliner, Patrick (2020): StrategieWorkshop; 4 Auflage Schäffer Poeschel 2020. Jahn, Thomas (2013): „Denkwochen im Landhaus“; Handelsblatt 21.8.2013; S. 26. Jakobs, Hans-Jürgen/Kapalschinski, Christoph (2013): „Bis auf Europa ist die Lage gut“ (Interview mit Jean-Paul Agon); Handelsblatt 10.6.2013. Kaehler, Boris (2015): „Personalstrategie als Erfolgsfaktor – HR-Management der langen Linien“; Arbeit und Arbeitsrecht Heft 2/2015; S. 72‒74. Kaehler, Boris (2017): „Komplementäre Führung – Ein praxiserprobtes Modell der Personalführung in Organisationen“; 2. Auflage Springer Gabler 2017. Kaehler, Boris (2020): „Komplementäre Führung – Ein praxiserprobtes Modell der Personalführung in Organisationen“; 3. Auflage Springer Gabler 2020. Kaehler, Boris (2024): „Komplementäre Führung – Ein praxiserprobtes Modell der Personalführung in Organisationen“; 4. Auflage Springer Gabler 2024 (noch unveröffentlichtes Manuskript). Kaehler, Boris/Grundei, Jens (2019): „HR Governance – A Theoretical Introduction“; Springer 2019. Kasparow, Garri (2008): „Strategie und die Kunst zu leben“; Piper 2008. Künzli, Benjamin (2013): „Szenariotechnik – Zukunftsbilder entwickeln und für strategische Vorhaben nutzen“; zfo 1/2013; S. 46‒48. Mintzberg, Henry (1978): „Patterns in Strategy Formation“; Management Science May 1978 (24); S. 934–948.
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Porter, Michael (1996): „What is Strategy?“; Harvard Business Review November/December 1996; S. 61‒78. Scholz, Christian (2014): „Strategielosigkeit als zukünftige Strategie?“; Personalwirtschaft 8/2014; S. 33–35. Schwenker, Burkhard/Wulf, Torsten (2013) (Hrsg.): „Scenario-based Strategic Planning – Developing Strategies in an Uncertain World“; Springer Gabler 2013.
Nachwort
Gute Führung basiert auf dem richtigen Verständnis, aber sie lebt von der tatsächlichen Umsetzung im Alltag. Gratulation, Sie haben es geschafft. Hunderte von Seiten Führungswissen arbeitet nicht jeder durch. Ich hoffe, es hat Ihnen ein wenig Freude gemacht, sich selbst von oben zu betrachten und Ihre Führungstätigkeit einmal gründlich zu durchdenken. Und ich hoffe, Sie haben etwas mitgenommen. Ein grundlegendes Verständnis Ihrer Rolle als Führungskraft habe ich Ihnen sicher vermitteln können. In meinen Augen muss dies eine dienstleistende Rolle sein, mit unterstützender und ordnender Funktion. Als komplementäre Akteurin oder komplementärer Akteur sollten Sie primär auf die Selbstführung Ihrer Mitarbeitenden setzen, aber bei Bedarf – und nur dann – intervenieren. Die diversen Aufgaben, Aktivitäten und Instrumente werden Ihnen nicht alle lückenlos in Erinnerung geblieben sein, aber den Unterschied zwischen diesen drei Modellelementen sowie deren praktische Bedeutung ist Ihnen sicher deutlich geworden. Im Notfall haben Sie ja noch das Register und können nachschlagen. Bestimmt wird es Situationen geben, in denen Sie das eine oder andere noch einmal genau wissen wollen. So richtig lernt man Führen ja erst durch ständige Anwendung in der Praxis, und selbst für mit allen Wassern gewaschene © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Kaehler, Führen als Beruf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67567-0
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336 Nachwort
Führungsprofis kann es hilfreich sein, erworbenes Wissen immer mal wieder aufzufrischen.
Führung ist ein » Komplementäre bestimmtes Berufsverständnis. Die Gefahr beim Lesen von Büchern ist natürlich immer, dass es dabei bleibt. Im Alltag greifen die eingefahrenen Muster, und im Nu ist alles vergessen, was bei der Lektüre an guten Vorsätzen entstand. Deshalb nutze ich hier die Gelegenheit, Sie noch einmal freundlich, aber nachdrücklich an Ihre Arbeit zu erinnern. Also frisch ans Werk! Sie wissen ja: Führung wird konkret, wenn man auf die Führungsroutinen schaut. Legen Sie gleich einen Termin für einen Strategieworkshop fest (Abschn. 15.5). Sofern Sie noch keine regelmäßigen Arbeitsbesprechungen mit jedem Mitarbeiter und jeder Mitarbeiterin durchführen, fangen Sie jetzt damit an und machen Sie Termine für nächste Woche. Falls Sie es bereits tun, blättern Sie noch einmal durch und schauen Sie, ob Sie zusätzliche Anregungen finden (Abschn. 6.4). Das Gleiche gilt für Sitzungen und Kurzbesuche am Arbeitsplatz (ebenfalls Abschn. 10.3 und 12.5). Nehmen Sie jetzt gleich ein Blatt Papier und machen Sie sich eine Liste aller Bedarfsroutinen (Abschn. 3.6). Planen Sie, wann Sie sich in den nächsten Wochen vorsorglich einmal näher mit ihnen beschäftigen wollen. Wenn der Bedarf erst da ist, ist es zu spät für Vorbereitungen. Und wo Sie gerade dabei sind, überlegen Sie sich doch im Vorfeld des Strategieworkshops schon einmal Aktivitäten, die Ihnen die Zeit stehlen und die Sie weglassen können. (Kleiner Tipp: Als Führungskraft werden Sie nicht primär für ausführende Arbeit bezahlt und auch nicht für permanente Fremdsteuerung Ihrer Mitarbeitenden, vgl. Abschn. 3.7.) Das alles sind Dinge, die schnell geplant sind und die Sie jetzt gleich angehen sollten. Es geht darum, Ihren eigenen Job so umzugestalten, dass Sie als Führungskraft hundertprozentig wirksam werden. Das macht keiner für Sie, und wenn Sie selbst es nicht gleich tun, machen Sie es später vermutlich auch nicht.
Nachwort 337
» Ärmel hochkrempeln und los geht’s … Sollten Sie Lob, Kritik und Anregungen haben, so freue ich mich über Ihre Zuschrift, klassisch oder in den sozialen Medien. Sie finden meine Kontaktdaten überall im Netz, z. B. auch auf www. komplementäreführung.de, der Informationswebsite zu meinem Theoriemodell und aktuellen Terminen. Vielleicht sehen wir uns aber ja auch in einer meiner Veranstaltungen und können uns persönlich austauschen. Ich halte regelmäßig öffentliche Vorträge und übernehme als Trainer auch Teile des von mir entwickelten Führungskräfteentwicklungsprogramms „Führen als Beruf“. In drei Zweitagesseminaren, über ein Jahr verteilt, wird Führungsverhalten geübt, Erfahrungen werden ausgetauscht und reales Führungshandeln wird reflektiert. Als Parallelspur zur täglichen Praxis entsteht so ein geschützter Raum des Austausches und der Selbsterprobung. Die Inhalte sind natürlich die gleichen wie hier im Buch, aber mit großen Übungs-, Diskussions- und Beratungsteilen. Vielen hilft es, dieses Wissen noch einmal didaktisch anders aufbereitet zu bekommen. Letztlich müssen Sie aber ohnehin Ihre eigenen Lösungen finden: „Entscheidend is auf ’m Platz“ (Adi Preißler1). Professionelle Kompetenz und ein professionelles Selbstverständnis muss man sich immer wieder neu erarbeiten, gerade auch als Führungskraft. Wie auch immer Sie es angehen, denken Sie daran: Ihr Beruf besteht darin, Ihre Organisationseinheit und deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erfolgreich zu machen.
Erfolg dabei, andere erfolgreich zu » Viel machen!
338 Nachwort
Anmerkungen 1. Adi Preißler, Fußballer; zitiert nach https://www.faz.net/aktuell/sport/fussball/fussball-alfred-adi-preissler-waere-100-geworden-17283737.html (Zugriff 17.5.2023).
Stichwortverzeichnis
360∞-Beurteilungen 184 A
Ablauforganisation 129 Abstimmungsbedarfe 210 Abstimmungskommunikation 209, 210 Achtsamkeit 245 Allgemeingültigkeit 6 Alumninetzwerk 148 Anleitung am Arbeitsplatz 199 Anreize 266 Anreizerwartungen 270 Anreizsysteme 269 Arbeitsaufgabe 115 Arbeitsbesprechung 120 Arbeitsebene 216 Arbeitsinhalt 113
Arbeitsmittelausstattung 172 Arbeitsort 172 Arbeitsplatz 174 Arbeitsrecht 105, 154 Arbeitsschutz 240 Arbeitsteilung 114, 208 Arbeitsüberlastung 242 Arbeitsvergabe 115 Arbeitsvorgaben 118 Arbeitszeit 79, 172 Arbeitszeitausstattung 172 Arbeitszeitreduzierung 155 Aufbauorganisation 126 Auftragstaktik 119 Austauschverhältnis 161 Austrittsbegleitung 163 Auswahlinterviews 150 Autorität 50
© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 B. Kaehler, Führen als Beruf, https://doi.org/10.1007/978-3-662-67567-0
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340 Stichwortverzeichnis B
E
Balance 246 Bedürfnisse 264 Belastungs-Beanspruchungs-Konzept 243 Bericht 121 betriebliche Führungsmodelle 302 Betriebliches Gesundheitsmanagement 238 Betriebsrat 105, 222, 327 Bewerbergespräche 150 Beziehungsmarketing 146 Beziehungsverantwortung 215 Bindung 145, 146 Burn-out 243
Effektivität 5 Effizienz 5 Ehemalige 147 Eignungsdiagnostik 148 Eingliederung 152 Einzelfalltrennung 159 Elementaraktivitäten 59 Elementaraufgaben 43 Elementarkompetenzen 87 Empathie 265 Empfehlungen für Anleitungen am Arbeitsplatz 199, 220 für Auswahlinterviews 150 für Bedarfsroutinen im Krankheits- und Krisenfall 241 für die Aufbauorganisation 127 für die Eingliederung neuer Mitarbeitender 152 für die Prozessorganisation 130 für Konfliktgespräche 220 für Konzeptionsprojekte 308 für Kritikgespräche 189 für Kurzbesuche am Arbeitsplatz 273 für Mitarbeiterjahresgespräche 330 für Qualifizierungs- und Entwicklungsprojekte 201 für regelmäige Arbeitsbesprechungen 122 für Strategieworkshops 325 für Teambildungsworkshops 230 für Teamsitzungen 213 für Trennungsgespräche 167 Employee Assistance-Programme 241
C
Change 253 Coaching 198 Code of conduct 135 Compliance 186 Corporate Governance 301 D
Dauerkrankheit 160 Design Thinking 307 Dienstleistung 40 Diese Beitragsorientierung 271 Digitale Transformation 28 Digitalisierung von Personalinstrumenten 305 Diskriminierung 227 Diversität 224, 227 Dynaxität 282
Stichwortverzeichnis 341
Entlastung 243 Entscheidungskompetenz 87 Entwicklung 194 Entwicklungsorientiertes Aufgabenmanagement 116 Erwartungen 270 Erwartungsmanagement 271 Eskalationsweg 220 Ethik 106 Europäische Führungsphilosophie 28 Evidenzbasierung 33 F
Feedback 78, 180 Fehlerkultur 190 Flache Hierarchien 72 Flexibilität 319 Flow 247 Freundschaft 216 Führen als Dienstleistung 40 Führen mit Zielen und Selbstkontrolle 115, 119 Führung agile 30 ambidextre 31 coachingorientierte 200 Definition Personalführung 22 Definition Unternehmensführung 19 demokratische 30 ethische 31 situative 30 systemische 30 transformationale 31 virtuelle 31 visionäre 31 werteorientierte 31 Führungsakteure 48
Führungsarbeitszeit 80 Führungsaufgaben 42, 44 Führungseinsatz 83 Führungsfeedback 78 Führungsfunktionen 41 Führungsinformationen 77 Führungsinstrument 296 Führungskompetenz 87 Führungskraft Beruf 1 Definition 2 Unverzichtbarkeit 3 Führungskräfte als Arbeitgebervertreter 105 Führungskräfteentwicklungsprogramm 337 Führungslaufbahn 94, 195 Führungsleistung 82 Führungsresultate 84 Führungsstil 85 Führungsverhalten 84 G
Gemeinschaftsveranstaltungen 233 Gerechtigkeitserwartungen 271 Geschäftsstrategie 316 Gesundheit 238 Geteilte Führung 48 Gewerkschaften 105 Governance 301 Grundwerte 299 Gruppenzusammenhalt 229 H
Harzburger Modell 46 Hierarchie 21, 72, 175 Hospitationen 88
342 Stichwortverzeichnis
HR-Governance 301 Human Resources 24, 104 I
Identifikation 229 Information 77 Informationsweitergabe 175 Innovation 202 Instrumente 296 Intervention 51, 284 Interventionen Harte und sanfte 62 Intrinsische Motivation 268 J
Jahresgespräche 329 Job Crafting 75 K
Kaffeekochen 8 Kandidatenpools 145 Kommunikation Abstimmung im Team 210 Mindeststandards 86 Kommunikationskompetenz 87 Kompensierende Intervention 51 Kompetenz 87, 193 Komplementäre Führung Begriff 4 Konditionieren 266 Konflikte 219 der Führungskraft 103 Konfliktgespräch 220 Konstitutives Management 296 Kontinuierlichen Verbesserung 203
Kontrollbewusstsein 119, 250 Kontrolle 135, 186 Kontrollerwartungen 271 Kontrollverlust 95 Konzentration 251 Kultur 224 Kulturabhängigkeit 27 Kündigungen 154 Kurz-Arbeitsbesprechung 123 Kurzbesuche am Arbeitsplatz 273 L
Leadership als Anführertum 34 versus Management 32 Lebensbalance 246 Leistungsbeurteilung Beurteilungszeitraum 181 Drei Schritte der 184 Funktionen 180 Gegenstand 182 Systeme 181 Leistungseinsatz 182 Leistungsergebnisse 182 Leitbild 299 Leitbilder 226 Leitungsspanne 72 Lernen 197, 198 M
Management by walking around 273 Management Definition 19 versus Leadership 32 Mediation 219 Meisterschaft 198
Stichwortverzeichnis 343
Mikropolitik 101 Minderleistung 161 Mission 298 Mitarbeiterempfehlungen 141 Mitarbeiterführung 35 Mitarbeiterjahresgespräch 330 Moderation 327 Motivation 262 Motive 264 N
Nachhaltigkeit 105, 238 Netzwerken 217 Normieren 282 Normsetzung 285 Harte und sanfte 287 Nudging 288
Personalcontrollingsystem 324 Personalführung 22 Personalinstrument 303 Personalkosten 158, 318 Personalmanagement 35 Personalrat 105, 222 Personalstrategie 316 Persönlichkeitsorientierung 30 Planen 282 Politische Führung 34 Positionsmacht 50, 98 Probezeit 152 Prognosefreie Szenario-Vorsorgeplanung 320 Prozessorganisation 129 Q
Qualifizierung 197 Quereinsteiger 87
O
OKR-Methode 118 Onboarding 152 One HR 36 Organisationseinheiten 20 Organisationskultur 224 Organisationszweck 299 Organisieren 282 P
Partizipation 116 Peer Feedback 184 Personalabbau 153 Personalabteilung 35 Personalauswahl 148 Personalbeschaffung 140
R
Randbelegschaften 155 Regeln 6, 282 Regelungsfreiräume 6 Regelverstöße 160 Rekrutierung 140 Reskilling 194 Respekt 217 Ressourcen zur Belastungsminderung 243 Zuweisung 172 Results only 182 Rollen- und Leistungserwartungen 270 Ruhezonen 251
344 Stichwortverzeichnis S
T
Sachgeschäftsführung 290 Sachmittel 174 Schaffensfluss 247 Schlechtleistung 160 Schwächen 194 Selbstführung 46, 60 Selbstführungsdefizite 48 Selbstselektion 151 Selbstverpflichtung 116 Servant Leadership 40 Shared Leadership 48 Sinnempfinden 271 SMART-Formel 118 Social Collaboration Tools 211, 218 Soziale Medien 218 Soziale Netzwerke organisationseigene 218 Soziale Standards 105 Stakeholder 299 Anforderungen der 318 externe 97 Mitarbeiter als 105 Standardisierung 7, 304 Stärken 194 Strategic fit 315 Strategie 314 Strategien Personalstrategien 317 Sachgeschäftsführungsstrategien 317 Strategieworkshop 325 Stress 102 Szenario-Vorsorgeplanung 320
Talentmanagement 196 Teambildung 230 Teambildungsworkshop 230 Teamebene 208 Teamgeist 229 Teamsitzung 212 Teilzeitführung 56, 101 Trennungen 156 Trennungsgespräch 167 Trennungsprojekt 163 U
Umsetzungselemente 53 Upskilling 194 US-amerikanische Führungsphilosophie 27 V
Veränderungsmanagement 252 Verhaltenskodex 135 Verhaltensverstärkung 266 Verhandlung 219 Vielfalt 224, 227 Vision 299 Vorbildwirkung 30 VUCA 28, 282 W
Wegfreiheit 119 Weglassen 133 Weiterbildung 198
Stichwortverzeichnis 345
Werte 226, 299 Wertschätzung 217 Work-Life-Balance 239, 246 Workshop 325 Worthülsen 34 und Ethik 107
Z
Zeitmanagement 103, 121 Ziele 115, 116 als Flow-Bedingung 248 Konstitutive, strategische und operative 117 Motivationswirkung 272 Zielvereinbarungssysteme 117