Feynman-Vorlesungen über Physik. Band 6 Tipps zur Physik: Eine Ergänzung [2 ed.] 9783110349504, 9783110347654

This supplemental volume contains lectures long thought lost, which Richard Feynman used to prepare his students for the

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German Pages 180 [200] Year 2015

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Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Interview mit Richard Feynman
Interview mit Robert Leighton
Interview mit Rochus Vogt
1. Grundlagen
1.1 Einführung in die Wiederholungsvorlesungen
1.2 Caltech von unten
1.3 Mathematik für Physik
1.4 Differentiation
1.5 Integration
1.6 Vektoren
1.7 Differentiation von Vektoren
1.8 Linienintegrale
1.9 Ein einfaches Beispiel
1.10 Triangulation
2. Naturgesetze und Intuition
2.1 Die physikalischen Gesetze
2.2 Die nichtrelativistische Näherung
2.3 Bewegung mit Kräften
2.4 Kräfte und ihre Potentiale
2.5 Physik lernen durch Beispiele
2.6 Physik physikalisch verstehen
2.7 Eine Aufgabe bei der Konstruktion vonMaschinen
2.8 Fluchtgeschwindigkeit der Erde
2.9 Alternative Lösungen
3. Aufgaben und Lösungen
3.1 Satellitenbewegungen
3.2 Entdeckung des Atomkerns
3.3 Die grundlegende Raketengleichung
3.4 Eine numerische Integration
3.5 Chemische Raketentriebwerke
3.6 Raketenmit Ionenantrieb
3.7 Raketenmit Photonenantrieb
3.8 Eine elektrostatische Protonenstrahlablenkvorrichtung
3.9 Bestimmung derMasse des Pions
4. Dynamik und ihre Anwendungen
4.1 Ein Gyroskop
4.2 Der Kurskreisel
4.3 Der künstliche Horizont
4.4 Ein Gyroskop zur Schiffsstabilisierung
4.5 Der Kreiselkompass
4.6 Verbesserungen am Entwurf und der Konstruktion von Gyroskopen
4.7 Beschleunigungsmesser
4.8 Ein vollständiges Navigationssystem
4.9 Auswirkungen der Erdrotation
4.10 Die rotierende Scheibe
4.11 Nutation der Erde
4.12 Drehimpuls in der Astronomie
4.13 Drehimpuls in der Quantenmechanik
4.14 Nach der Vorlesung
5. Ausgewählte Aufgaben
5.1 Energieerhaltung, Statik
5.2 Die keplerschen Gesetze und die Gravitation(Bd. I, Kap. 7)
5.3 Bewegung
5.4 Die newtonschen Gesetze
5.5 Die Impulserhaltung
5.6 Vektoren
5.7 Nichtrelativistische Stöße zwischen zwei Körpern in drei Dimensionen
5.8 Kräfte
5.9 Potentiale und Felder
5.10 Einheiten undMaße
5.11 Relativistische Energie und relativistischer Impuls
5.12 Drehungen in zwei Dimensionen und Massenmittelpunkt
5.13 Drehimpuls und Trägheitsmoment
5.14 Drehbewegung in drei Dimensionen
Lösungen zu den Aufgaben
Bildnachweis
Index
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Feynman-Vorlesungen über Physik. Band 6 Tipps zur Physik: Eine Ergänzung [2 ed.]
 9783110349504, 9783110347654

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Richard P. Feynman, Michael A. Gottlieb, Ralph Leighton Tipps zur Physik

Richard P. Feynman, Michael A. Gottlieb, Ralph Leighton

Tipps zur Physik

Eine Ergänzung New Millennium-Edition

DE GRUYTER

Autoren Richard P. Feynman Michael A. Gottlieb Ralph Leighton Deutsche Übersetzung: Dr. Henner Wessel, Dr. Karen Lippert Wissenschaftliche Beratung der Übersetzung: Prof. Dr. Peter Beckmann, Prof. Dr. Helmut Jarosch

ISBN 978-3-11-034765-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-034950-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039684-3 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: Hubert und Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort zur zweiten Auflage In den sechs Jahren seit der Erstveröffentlichung von Feynman’s Tips on Physics (Addison-Wesley, 2006) hält das Interesse an diesem Ergänzungsband zu den Feynman Lectures on Physics unvermindert an, wie wir an den ständig steigenden Besucherzahlen der Website zu den Feynman Lectures (www.feynmanlectures.info) sehen können. Die Website wurde im Zusammenhang mit diesem Projekt eingerichtet: es gab Tausende von Anfragen, viele davon enthielten vermutete Errata und in vielen anderen ging es um Fragen und Kommentare zu physikalischen Übungsaufgaben. Es ist uns daher ein Vergnügen, die vorliegende zweite Auflage von Feynman’s Tips on Physics vorzustellen, die bei Basic Books im Rahmen einer Gesamtausgabe von Text-, Audio- und Bildmaterial zu den Feynman Lectures on Physics erschienen ist. Über die Jahre hatte es sich ergeben, dass die Rechte an den unterschiedlichen Materialien auf mehrere Verlage verteilt waren. Um die Zusammenführung zu würdigen, wurden die Feynman Lectures on Physics (New Millennium Edition) erstmals in LATEX gesetzt. Dadurch ist es nun möglich, Errata viel schneller zu korrigieren und die elektronischen Ausgaben der Lectures herzustellen. Mit der zweiten Auflage erscheinen die Tips on Physics erstmals auch als Taschenbuch. Außerdem wurde der Band um drei Interviews erweitert, die interessante Einblicke in die Geschichte der Lectures geben: • mit Richard Feynman, geführt 1966, kurz nachdem seine Schlüsselrolle in dem Projekt beendet war • mit Robert Leighton, geführt 1986, über Feynmans Talent als Vorlesender – und die Herausforderung, sein „Feynmansch“ ins Englische zu übersetzen • mit Rochus Vogt, geführt 2009, über die Gemeinschaft der Professoren, die in der Nachfolge Feynmans dessen Kurse am Caltech gehalten haben. Allen Lesern, die uns per E-Mail oder Post Fragen und Kommentare zu den Feynman Lectures und Feynman’s Tips geschickt haben, möchten wir an dieser Stelle herzlich danken; Ihre Beiträge und Unterstützung haben uns sehr dabei geholfen, die Bücher noch besser zu machen – zukünftigen Lesern wird dies zugute kommen. Bei denjenigen, die uns um noch mehr Aufgaben gebeten haben, müssen wir uns entschuldigen, da es nicht möglich war, weiteres Material in diesen Band aufzunehmen. Jedoch hat uns Ihr Zuspruch dazu inspiriert, ein neues, umfangreiches (und demnächst erscheinendes) Buch, Exercises for The Feynman Lectures on Physics, in Angriff zu nehmen. Michael A. Gottlieb und Ralph Leighton, November 2012

Vorwort Von seinem einsamen Grenzposten hoch oben im Himalaya schaute Ramaswamy Balasubramanian durch sein Fernglas auf die in Tibet stationierten Soldaten der Volksbefreiungsarmee (VBA) – die ihrerseits durch ihre Fernrohre zu ihm zurückblickten. Zwischen Indien und China hatte es seit 1962 immer wieder große Spannungen gegeben, als es zwischen beiden Ländern an der umstrittenen Grenze zu Schusswechseln kam. Die VBA-Soldaten, die wussten, dass sie beobachtet wurden, verspotteten Balasubramanian und seine indischen Kameraden, indem sie trotzig ihre tiefroten Taschenbuchausgaben der „Worte des Vorsitzenden Mao Tsetung“ – im Westen besser bekannt als die „rote Mao-Bibel“ – schwenkten. Balasubramanian, der damals als Wehrpflichtiger in seiner Freizeit Physik studierte, war diese Sticheleien leid. Deshalb kam er eines Tages mit einer passenden Erwiderung zu seinem Beobachtungsposten. Sobald die VBA-Soldaten begannen, mit ihren roten Mao-Bibeln zu winken, nahmen er und zwei indische Kameraden die drei großen ebenso roten Bände der Feynman Lectures on Physics und hielten sie hoch. Eines Tages bekam ich einen Brief von Herrn Balasubramanian. Einer von Hunderten von Briefen, die ich im Laufe der Jahre erhalten habe und die den bleibenden Einfluss von Richard Feynman auf das Leben der Menschen beschreiben. Nachdem er den Zwischenfall mit den „roten Büchern“ an der chinesisch-indischen Grenze ausführlich erzählt hatte, schrieb er: „Welche roten Bücher werden jetzt, zwanzig Jahre später, immer noch gelesen?“ In der Tat. Heute, mehr als vierzig Jahre nach ihrem Erscheinen, werden die FeynmanVorlesungen über Physik immer noch gelesen – und sie begeistern nach wie vor, auch in Tibet, nehme ich an. Ein besonderes Beispiel: Vor ein paar Jahren habe ich Michael Gottlieb auf einer Party getroffen, deren Gastgeber auf einem Computer-Bildschirm die harmonischen Obertöne eines Live-Obertonsängers darstellte – eines jener Ereignisse, durch die das Leben in der Nähe von San Francisco solchen Spaß macht. Gottlieb hatte Mathematik studiert und war sehr an der Physik interessiert, so dass ich ihm vorschlug, die FeynmanVorlesungen über Physik zu lesen – und etwa ein Jahr später nahm er sich sechs Monate seines Lebens dafür Zeit, die Feynman Lectures sehr genau von Anfang bis Ende zu studieren. Wie Gottlieb in seiner Einführung beschreibt, führte dies letztlich zu dem Buch, das Sie jetzt in der Hand halten, und auch zu einer neuen „Definitiven Edition“ der Feynman-Vorlesungen über Physik.

VIII

Vorwort

Daher freut es mich, dass Physikinteressierte in der ganzen Welt jetzt mit diesem zusätzlichen Band neue Feynman-Vorlesungen studieren können – Vorlesungen, die Studenten, ob mitten in München oder hoch oben im Himalaya, auch in den kommenden Jahrzehnten informieren und inspirieren werden. Ralph Leighton, Mai 2005

Einführung 1986 habe ich zum ersten Mal von Richard Feynman und Ralph Leighton gehört, und zwar durch ihr unterhaltsames Buch Sie belieben wohl zu scherzen, Mr. Feynman! Dreizehn Jahre später habe ich Ralph auf einer Party getroffen. Wir wurden Freunde und während des nächsten Jahres arbeiteten wir zusammen an dem Entwurf für eine Fantasiebriefmarke zu Ehren Feynmans.1 Die ganze Zeit gab Ralph mir Bücher von oder über Feynman zu lesen, auch (da ich Programmierer bin) die Feynman Lectures on Computation2 . Die Diskussionen von quantenmechanischen Berechnungen in diesem faszinierenden Buch haben mich gefesselt, aber ohne die Quantenmechanik gelernt zu haben, hatte ich Schwierigkeiten, der Argumentation zu folgen. Ralph empfahl mir, die Feynman-Vorlesungen über Physik, Band III: Quantenmechanik zu lesen. Ich fing damit an, aber die Kapitel 1 und 2 des dritten Bandes sind Wiederholungen der Kapitel 37 und 38 des ersten Bandes, und so war ich mehr damit beschäftigt, Querverweise aus dem ersten Band zurückzuverfolgen, als im dritten Band voranzukommen. Deshalb beschloss ich, alle Feynman-Vorlesungen von Anfang bis Ende zu lesen – ich wollte unbedingt etwas über Quantenmechanik lernen! Dieses Ziel wurde jedoch mit der Zeit, als ich immer tiefer in die faszinierende Welt Feynmans eindrang, zweitrangig. Die reine Freude am Lernen von physikalischen Zusammenhängen bekam für mich oberste Priorität. Ich war süchtig! Als ich etwa die Hälfte des ersten Bandes durchgelesen hatte, nahm ich eine Auszeit vom Programmieren und verbrachte sechs Monate in Costa Rica auf dem Land, um nur The Lectures zu lesen. Jeden Nachmittag nahm ich mir eine neue Vorlesung vor und arbeitete an Physikaufgaben. Morgens wiederholte ich und las die Vorlesung vom Vortag Korrektur. Ich hatte mit Ralph E-Mail-Kontakt und er ermutigte mich, Fehler im Auge zu behalten, auf die ich im ersten Band gestoßen war. Das war keine große Belastung, weil es sehr wenige Fehler in dem Band gab. Als ich mich allerdings durch den zweiten und dritten Band durcharbeitete, war ich bestürzt, immer mehr Fehler zu finden. Am Ende hatte ich insgesamt über 170 Fehler in den Feynman-Vorlesungen zusammengetragen. Ralph und ich waren überrascht: Wie konnten so viele Fehler so lange übersehen werden? Wir beschlossen zu schauen, was wir tun konnten, um sie bis zur nächsten Auflage zu korrigieren. Dann entdeckte ich einige interessante Sätze in Feynmans Vorwort: „Der Grund, warum es keine Wiederholungsvorlesungen gibt, ist der, dass es Vortrags1 2

Die Briefmarke erscheint im Begleittext zu Back TUVA Future (Warner Bros.), einer CD über den Obertonsingmeister Ondar mit Richard Feynman in einer kleinen Nebenrolle, die im Jahre 1999 veröffentlicht wurde. Feynman Lectures on Computation, von Richard P. Feynman, herausgegeben von Anthony J.G. Hey und Robin W. Allen, Addison-Wesley 1996, ISBN 0-201-48991-0.

X

Einführung

reihen gab. Obwohl ich drei Wiederholungsvorlesungen im ersten Jahr gehalten habe, sind sie hier nicht enthalten. Es gab auch eine Vorlesung über Trägheitsnavigation, die sicher hinter die Vorlesung über rotierende Systeme gehört, aber leider wurde sie weggelassen.“ Das brachte uns auf die Idee, die fehlenden Vorlesungen zusammenzustellen und sie, falls sie sich als interessant erweisen würden, Caltech3 und Addison-Wesley anzubieten, damit sie in eine vollständigere und korrigierte Ausgabe der Lectures aufgenommen werden konnten. Aber zunächst musste ich die fehlenden Vorlesungen finden, und ich war immer noch in Costa Rica! Mithilfe von etwas Spürsinn und einigen Nachforschungen konnte Ralph die Aufzeichnungen zu den Vorlesungen ausfindig machen. Sie waren zu einem früheren Zeitpunkt irgendwo zwischen dem Büro seines Vaters und den Caltech-Archiven weggeräumt worden. Ralph fand auch Tonbandaufzeichnungen der fehlenden Vorlesungen und während ich nach meiner Rückkehr nach Kalifornien das Fehlerverzeichnis in den Archiven recherchierte, entdeckte ich in einer Schachtel mit verschiedenen Negativen zufällig die (lange verloren geglaubten) Tafelfotos. Die Erben Feynmans erlaubten uns großzügigerweise, dieses Material zu verwenden, und so stellten Ralph und ich, begleitet von einigen kritischen Anmerkungen von Matt Sands, dem einzigen noch lebenden Mitglied des Feynman-Leighton-Sands-Trios, den Wiederholungskurs B als Muster zusammen und legten ihn mit dem Fehlerverzeichnis für die Feynman-Vorlesungen Caltech und Addison-Wesley vor. Addison-Wesley war begeistert von unserer Idee, Caltech dagegen anfangs skeptisch. Deshalb wandte Ralph sich an Kip Thorne, den Richard-Feynman-Professor für Theoretische Physik am Caltech, der es schließlich schaffte, eine Übereinkunft zwischen allen Beteiligten zu erreichen, und sich dankenswerterweise zur Verfügung stellte, unsere Arbeit zu begutachten. Da Caltech aus historischen Gründen die drei existierenden Bände der Lectures nicht verändern wollte, schlug Ralph vor, die fehlenden Vorlesungen in einem separaten Buch zusammenzustellen. Das war die Geburtsstunde dieses zusätzlichen Bandes. Er wird parallel mit einer neuen Definitiven Edition der Feynman-Vorlesungen über Physik herausgebracht, in der die Fehler, die ich gefunden habe, sowie Fehler, auf die einige andere Leser aufmerksam geworden sind, korrigiert sind.

Erinnerungen von Matt Sands Bei unseren Bemühungen, die vier neu gefundenen Vorlesungen zusammenzutragen, taten sich für Ralph und mich viele Fragen auf. Wir empfanden es als Glücksfall, dass Professor Matt Sands, der Mann, dessen Idee es war, das ehrgeizige Projekt der Feynman-Vorlesungen über Physik in Angriff zu nehmen, uns Fragen beantworten konnte. Wir waren überrascht, dass die Geschichte ihrer Entstehung nicht allgemein bekannt war, und als Professor Sands erkannte, dass dieses Projekt eine Gelegenheit 3

California Institute of Technology

Einführung

XI

bot, dieses Defizit zu beseitigen, erklärte er sich freundlicherweise bereit, eine Erinnerung über die Ursprünge der Feynman Lectures für diesen zusätzlichen Band zu schreiben.

Die vier Vorlesungen Von Matt Sands erfuhren wir, dass im Dezember 1961 gegen Ende des ersten Trimesters4 von Feynmans Einführungsvorlesung am Caltech entschieden wurde, dass es unfair sei, die Studenten so kurz vor der Abschlussprüfung noch mit neuem Stoff zu konfrontieren. Deshalb hielt Feynman in der Woche vor der Prüfung drei wahlfreie Wiederholungsvorlesungen, in denen kein neuer Stoff durchgenommen wurde. Die Wiederholungsvorlesungen waren für Studenten gedacht, die im Kurs Schwierigkeiten hatten, und Feynman legte besonderen Wert auf Techniken für das Verstehen und Lösen von Physikaufgaben. Einige der Beispielaufgaben waren von historischem Interesse, einschließlich der Entdeckung des Atomkerns durch Rutherford und der Bestimmung der Masse des Pions. Mit bezeichnendem Einfühlungsvermögen erörterte Feynman auch die Lösung für eine andere Art von Problem, das für mindestens die Hälfte der Studenten in seinem Anfängerkurs ebenso wichtig war, und zwar das emotionale Problem, sich unterhalb des Durchschnitts wiederzufinden. Die vierte Vorlesung, Dynamik und ihre Anwendungen, wurde zu Beginn des zweiten Trimesters des Anfängerkurses gehalten, kurz nachdem die Studenten aus der Winterpause zurückgekehrt waren. Ursprünglich war sie als Vorlesung 21 konzipiert worden und der Gedanke, der dahinter steckte, war, eine Pause von der schwierigen theoretischen Erörterung von Drehbewegungen in Kapitel 18 bis einschließlich 20 zu machen und „just for fun“ den Studenten einige interessante, aus Drehbewegungen entstehende Anwendungen und Phänomene zu zeigen. Der größte Teil der Vorlesung war einer Diskussion über eine Technologie gewidmet, die 1962 relativ neu war, nämlich der praktischen Trägheitsnavigation. Der Rest der Vorlesung erörterte natürliche Phänomene, die sich aus Drehbewegungen ergeben, und bot außerdem einen Hinweis darauf, warum Feynman das Weglassen dieser Vorlesung in den Feynman-Vorlesungen über Physik als „unglücklich“ beschrieb.

Nach der Vorlesung Nach dem Ende einer Vorlesung ließ Feynman oft sein Mikrofon an. Dadurch hatten wir die einzigartige Möglichkeit, Zeuge zu sein, wie Feynman mit seinen Studenten kommunizierte. Das hier angeführte Beispiel, das nach Dynamik und ihre Anwendungen aufgenommen wurde, ist besonders beachtenswert wegen seiner Erörterung des beginnenden Übergangs in der Echtzeitberechnung von analogen zu digitalen Verfahren im Jahre 1962. 4

Das akademische Jahr am Caltech ist in drei Trimester aufgeteilt: Das erste läuft von Ende September bis Anfang Dezember, das zweite von Anfang Januar bis Anfang März und das dritte von Ende März bis Anfang Juni.

XII

Einführung

Übungsaufgaben Im Laufe des Projektes nahm Ralph wieder Kontakt zu dem guten Freund und Kollegen seines Vaters, Rochus Vogt, auf, der liebenswürdigerweise seine Erlaubnis gab, Übungen und Lösungen aus den Exercises in Introductory Physics erneut zu veröffentlichen, jener Sammlung, die Robert Leighton und er speziell für die Lectures in den 1960er Jahren geschaffen hatten. Aus Platzgründen habe ich nur die Übungen für Band I, Kapitel 1 bis 20 (das Material, das vor Dynamische Effekte und ihre Anwendungen behandelt wird) ausgewählt und dabei vorzugsweise jene Aufgaben genommen, die, um Robert Leighton zu zitieren, „numerisch bzw. analytisch einfach, aber doch prägnant und inhaltlich aufschlussreich sind“.

Website Weitere Informationen zu diesem Band und den Feynman-Vorlesungen über Physik sind auf der (englischsprachigen) Website www.feynmanlectures.info zu finden. Mike Gottlieb Playa Tamarindo, Costa Rica [email protected]

Danksagungen Wir möchten allen, die dieses Buch möglich gemacht haben, unseren tief empfundenen Dank aussprechen, insbesondere: Thomas Tombrello, Vorsitzender der Abteilung für Physik, Mathematik und Astronomie, für seine Billigung dieses Projektes im Namen von Caltech Carl Feynman und Michelle Feynman, den Erben Richard Feynmans, für ihre Erlaubnis, die Vorlesungen ihres Vaters in diesem Buch zu veröffentlichen. Marge L. Leighton für ihre Erlaubnis, Auszüge aus Oral History of Robert B. Leighton sowie Aufgaben aus Exercises in Introductory Physics zu veröffentlichen. Matthew Sands für seine Weisheit, sein Wissen, seine konstruktiven Kommentare und Vorschläge. Rochus E. Vogt für die genialen Aufgaben und Lösungen in den Exercises in Introductory Physics, für das Interview, das er uns gab, und für die Erlaubnis, sein Material für dieses Projekt zu verwenden. Michael Hartl für sein akribisches Korrekturlesen des Manuskripts und seine gewissenhafte Bearbeitung des Fehlerverzeichnisses der Feynman Lectures on Physics. John Neer für seine sorgfältige Dokumentation der Feynman-Vorlesungen bei der Hughes Aircraft Corporation und dafür, dass er uns diese Aufzeichnungen zur Verfügung gestellt hat. Helen Tuck, Feynmans langjährige Sekretärin, für ihre Ermutigung und Unterstützung. Adam Cochran für seine großartigen Fähigkeiten beim Navigieren durch das Gestrüpp an unterschiedlichen Buchverträgen und Urheberrechten, sodass wir für dieses Buch wie auch für die Feynman Lectures on Physics eine neue Heimat finden konnten. Kip Thorne für seine bereitwillige und unermüdliche Arbeit, die allen Beteiligten Vertrauen und Unterstützung sicherte, sowie für die Betreuung unserer Arbeit.

Über die Ursprünge der Feynman-Vorlesungen über Physik Eine Erinnerung von Matthew Sands

Die Bildungsreform in den 1950er Jahren Als ich 1953 ein ordentliches Fakultätsmitglied am Caltech wurde, wurde ich gebeten, einige Aufbaukurse zu unterrichten. Ich war ziemlich entsetzt über das Kursprogramm für die Studenten im Aufbaustudium. Während des ersten Jahres wurden sie nur in klassischer Physik unterrichtet – Mechanik, Elektrizität und Magnetismus. (Und sogar in den Fortgeschrittenen-Kursen wurde überhaupt keine Strahlungstheorie, sondern nur Statik behandelt.) Ich hielt es für skandalös, dass diese Überflieger-Studenten erst im zweiten oder dritten des Jahr Aufbaustudiums mit den Ideen der modernen Physik (von denen viele bereits seit 20–50 Jahren oder mehr bekannt waren) konfrontiert würden. Deshalb begann ich eine Kampagne zur Reformierung des Curriculums. Ich kannte Richard Feynman seit unserer Zeit in Los Alamos und wir waren beide einige Jahre zuvor zum Caltech gekommen. Ich bat Feynman, die Kampagne zu unterstützen, und wir entwarfen ein neues Programm und überzeugten schließlich die Physik-Fakultät, es zu übernehmen. Das Programm für das erste Jahr sah einen Kurs in Elektrodynamik und Elektronentheorie (von mir unterrichtet), eine Einführung in die Quantenmechanik (von Feynman unterrichtet) und, soweit ich mich erinnern kann, einen Kurs in Mathematischen Methoden, unterrichtet von Robert Walker, vor. Ich denke, dass das neue Programm ziemlich erfolgreich war. Ungefähr zu der Zeit war der Sputnik-Schock für Jerrolf Zacharias vom MIT5 Ansporn genug, um auf ein Programm zur Wiederbelebung des Physikunterrichtes in den amerikanischen High Schools zu drängen. Ergebnis waren die Gründung des PSSCProgramms (PSSC = Physical Science Study Committee) und die Entstehung vieler neuer Materialien und Ideen sowie auch einige Kontroversen. Als das PSSC-Programm fast fertig gestellt war, beschlossen Zacharias und einige Kollegen (ich glaube, unter ihnen auch Francis Friedman und Philip Morrison), dass es Zeit sei, auch eine Überarbeitung der Physikkurse an den Universitäten in Angriff zu nehmen. Sie organisierten eine Reihe von großen Zusammenkünften von Physikdozenten, was schließlich zur Gründung des Committee on College Physics führte, 5

Massachusetts Institute of Technology.

XVI

Über die Ursprünge der Feynman-Vorlesungen über Physik

eines nationalen Komitees mit einem Dutzend Universitätsdozenten für Physik, das von der National Science Foundation unterstützt wurde und den Auftrag erhielt, einige Anstrengungen zur Modernisierung des Physikunterrichtes an Hochschulen und Universitäten zu unternehmen. Zacharias lud mich zu diesem ersten Treffen ein, ich arbeitete bei dem Komitee mit und wurde schließlich der Vorsitzende.

Das Caltech-Programm Diese Aktivitäten veranlassten mich dazu, darüber nachzudenken, was man mit dem Caltech-Programm für das Grundstudium machen könnte, mit dem ich seit langem ziemlich unglücklich war. Der Einführungskurs in Physik basierte auf dem Buch von Millikan, Roller und Watson, einem sehr schönen Buch, das, glaube ich, in den 1930er Jahren geschrieben worden war und das, obwohl es später von Roller überarbeitet wurde, sehr wenig oder gar keine moderne Physik enthielt. Außerdem wurde der Kurs ohne Vorlesungen unterrichtet, so dass es sehr wenige Gelegenheiten gab, neuen Stoff einzuführen. Die Stärke des Kurses war eine Reihe verzwickter „Aufgaben“, die von Foster Strong6 zusammengestellt worden waren und als wöchentliche Aufgaben für die Bearbeitung zu Hause benutzt wurden, sowie zwei wöchentliche Vortragsveranstaltungen, in denen die Studenten die gestellten Aufgaben besprachen. Wie andere Lehrkräfte für Physik wurde ich jedes Jahr zum Mentor für eine Handvoll von Studenten mit Physik als Hauptfach bestimmt. Im Gespräch mit den Studenten war ich häufig bestürzt darüber, dass sie vor ihrem dritten Studienjahr den Mut verloren, weiter Physik zu studieren – zumindest schien es teilweise so, weil sie schon zwei Jahre lang Physik studiert hatten, ohne mit irgendeinem Thema aus der modernen Physik in Berührung gekommen zu sein. Deshalb beschloss ich, nicht zu warten, bis das nationale Programm ausgereift war, sondern am Caltech direkt etwas zu tun. Vor allem wollte ich, dass etwas von den Inhalten aus der modernen Physik – Atome, Atomkerne, Quantenphysik und Relativität – mit in den Einführungskurs übernommen wurde. Nach einigen Diskussionen mit ein paar Kollegen – insbesondere Thomas Lauritsen und Feynman – schlug ich Robert Bacher, dem damaligen Dekan der Fakultät für Physik, vor, ein Programm zur Reformierung des Einführungskurses zu starten. Seine erste Antwort war nicht sehr ermutigend. Er sagte: „Ich habe den Leuten erzählt, dass wir ein sehr schönes Programm haben, auf das ich stolz bin. Unsere Tutorien sind mit einigen unserer leitenden Lehrkräfte besetzt. Warum sollten wir das ändern?“ Ich blieb hartnäckig und wurde von einigen anderen unterstützt. Schließlich gab Bacher nach, akzeptierte die Idee und hatte bald Fördermittel von der Ford Foundation beschafft (wenn ich mich richtig erinnere, mehr als eine Million Dollar). Die Fördermittel wurden zur Deckung der Kosten für die Entwicklung neuer Geräte für das Einführungslabor und neuer Kursinhalte verwendet – insbesondere auch für einige neue befristete 6

Die Übungen in Kapital 5 enthalten über ein Dutzend Aufgaben aus Foster Strongs Sammlung, die mit Genehmigung in Exercises in Introductory Physics von Robert B. Leighton und Rochus E. Vogt wieder verwendet wurden.

Über die Ursprünge der Feynman-Vorlesungen über Physik

XVII

Mitglieder im Lehrkörper, die die Aufgaben jener Mitglieder übernehmen konnten, die ihre Zeit dem Projekt widmeten. Als die Fördermittel eintrafen, ernannte Bacher eine kleine Projektgruppe, die das Programm leiten sollte: Robert Leighton als Vorsitzenden, Victor Neher und mich. Leighton war schon lange an dem Programm für die höheren Semester beteiligt – dessen Hauptstütze sein Buch Principles of Modern Physics7 war – und Neher war als exzellenter Techniker bekannt. Ich war damals verärgert darüber, dass Bacher nicht mich gebeten hatte, die Gruppe zu leiten. Ich vermutete, dass die Ursache teilweise darin lag, dass ich bereits reichlich mit der Leitung des Synchrotron-Labors beschäftigt war, aber ich hatte immer das Gefühl, dass er auch besorgt war, dass ich zu „radikal“ sein könnte und dass er das Projekt mithilfe Leightons konservativer Einstellung in der Waage halten wollte. Das Komitee erklärte sich gleich zu Beginn damit einverstanden, dass Neher sich auf die Entwicklung neuer Labore konzentrieren sollte – ein Thema, zu dem er sehr viele Ideen hatte – und dass wir daran arbeiten sollten, im folgenden Jahr einen Vorlesungskurs vorzustellen – weil wir glaubten, dass Vorlesungen die beste Veranstaltungsart für die Entwicklung neuer Kursinhalte seien. Leighton und ich mussten einen Lehrplan für die Vorlesungen entwerfen. Wir begannen unabhängig voneinander, an einem Konzept für den Kurs zu arbeiten, trafen uns aber jede Woche, um unsere Fortschritte zu vergleichen und zu versuchen, eine gemeinsame Basis zu finden.

Immobilität und Inspiration Es wurde bald klar, dass es nicht leicht sein würde, eine gemeinsame Basis zu finden. Ich sah Leightons Ansatz normalerweise mehr als Aufguss der Inhalte der Physikkurse, wie sie seit 60 Jahren in Mode gewesen waren. Leighton meinte, ich würde auf praktisch nicht durchführbare Vorstellungen drängen – dass Studienanfänger nicht bereit seien für die Aufnahme „moderner“ Inhalte, wie ich sie einführen wollte. Glücklicherweise wurde ich durch häufige Gespräche mit Feynman in meiner Entschlossenheit bestärkt. Feynman war bereits als eindrucksvoller Dozent bekannt und konnte besonders gut die Vorstellungen der modernen Physik einem breiten Publikum darlegen. Auf meinem Heimweg vom Institut habe ich oft bei ihm angehalten, um ihn zu fragen, was er von meinen Ideen hält, woraufhin er häufig Vorschläge machte, was man tun könnte, und insgesamt eine große Stütze war. Nach einigen Monaten dieser Bemühungen war ich ziemlich entmutigt. Ich konnte nicht erkennen, wie Leighton und ich jemals bezüglich des Lehrplans auf einen Nenner kommen sollten. Unsere Kurskonzepte waren völlig verschieden. Dann hatte ich eines Tages eine Inspiration: Warum nicht Feynman bitten, die Vorlesungen zu dem Kurs zu halten? Wir konnten ihm sowohl Leightons, als auch mein Konzept vorlegen und ihn 7

Principles of Modern Physics von Robert B. Leighton, McGraw-Hill, 1959.

XVIII

Über die Ursprünge der Feynman-Vorlesungen über Physik

entscheiden lassen. Sofort machte ich Feynman diesen Vorschlag: „Schau, Dick, Du hast jetzt vierzig Jahre deines Lebens damit verbracht, nach Wegen für ein Verständnis der Welt der Physik zu suchen. Hier ist die Gelegenheit für Dich, alles zusammenzubringen und es einer neuen Generation von Wissenschaftlern zu präsentieren. Warum hältst nicht Du die Anfängervorlesungen im nächsten Jahr?“ Anfangs war er nicht begeistert, aber während der nächsten paar Wochen diskutierten wir die Idee weiter und bald hatte er sich mit dem Gedanken angefreundet. Er sagte, man könnte dies oder jenes machen. Oder das würde hier passen, und so weiter. Nach ein paar Wochen mit solchen Diskussionen fragte er mich: „Hat es jemals einen bedeutenden Physiker gegeben, der einen Anfängerkurs unterrichtet hat?“ Ich sagte ihm, ich glaubte nicht. Darauf meinte er: „Ich mach’s!“

Feynman hält die Vorlesungen Beim nächsten Treffen unseres Komitees legte ich begeistert meinen Vorschlag vor – und war prompt entsetzt über Leightons zurückhaltende Reaktion. „Das ist keine gute Idee. Feynman hat noch nie einen Kurs im Grundstudium gegeben. Er weiß nicht, wie man mit Anfängern spricht oder was sie lernen können.“ Aber Neher rettete die Situation. Seine Augen leuchteten vor Aufregung und er sagte: „Das wäre super. Dick weiß so viel über Physik und er weiß, wie man die Physik interessant macht. Es wäre fantastisch, wenn er es wirklich machen würde.“ Leighton wurde überzeugt und nachdem er einmal überzeugt war, unterstützte er die Idee mit ganzem Herzen. Einige Tage später stand ich vor der nächsten Hürde. Ich legte Bacher die Idee vor. Er hielt nicht sehr viel von ihr. Er meinte, Feynman sei zu wichtig für das Aufbaustudium und sei nicht zu ersetzen. Wer würde Quantenelektrodynamik unterrichten? Wer würde mit den Studenten im Aufbaustudium theoretisch arbeiten? Und außerdem, könnte er sich wirklich auf das Niveau der Studienanfänger herabbegeben? An diesem Punkt warb ich bei einigen der leitenden Mitglieder der Physikabteilung um Unterstützung, die sich bei Bacher für Feynman einsetzten. Und schließlich verwendete ich das bei Akademikern beliebte Argument: Wenn Feynman es wirklich machen will, wollen Sie ihm dann sagen, er sollte es nicht tun? Die Entscheidung war gefallen. Sechs Monate blieben uns noch bis zur ersten Vorlesung und Leighton und ich sprachen mit Feynman darüber, was wir uns vorgestellt hatten. Er begann, intensiv an der Entwicklung eigener Ideen zu arbeiten. Mindestens einmal in der Woche war ich bei ihm und diskutierte mit ihm seine Vorstellungen. Manchmal fragte er mich, ob ich eine bestimmte Herangehensweise für verständlich für die Studenten hielt oder ob ich meinte, dass diese oder jene Stofffolge am besten „funktionieren“ würde. Ich will ein spezielles Beispiel anführen. Feynman hatte an der Frage gearbeitet, wie man die Interferenz und Beugung von Wellen präsentieren könnte, und hatte Schwierigkeiten, einen passenden mathematischen Ansatz zu finden – einen direkten und gleichzeitig überzeugenden. Es gelang ihm nicht, einen ohne die Verwendung komplexer Zahlen

Über die Ursprünge der Feynman-Vorlesungen über Physik

XIX

zu finden. Er fragte mich, ob die Studienanfänger meiner Meinung nach in der Lage seien, mit der Algebra komplexer Zahlen zu arbeiten. Ich erinnerte ihn daran, dass die Studenten in erster Linie auf Grund ihrer Fähigkeiten im Fach Mathematik am Caltech zugelassen worden seien und dass ich zuversichtlich sei, dass sie keine Probleme mit komplexer Algebra haben würden, wenn sie eine kurze Einführung in das Thema erhielten. Seine 22. Vorlesung enthält eine wunderbare Einführung in die Algebra komplexer Größen, die er dann später immer wieder in vielen Vorlesungen bei der Beschreibung von Schwingungssystemen, bei Aufgaben aus der Wellenoptik und so weiter verwenden konnte. Bald tauchte ein kleines Problem auf. Feynman hatte in der dritten Woche des Herbsttrimesters einen langfristigen Termin, an dem er nicht am Caltech sein würde, so dass er zwei Vorlesungen nicht würde halten können. Wir kamen überein, dass das Problem leicht zu lösen sei. Ich würde ihn an diesen Tagen ersetzen. Aber damit die Kontinuität seiner Präsentation nicht unterbrochen würde, würde ich zwei Vorlesungen über ein paar untergeordnete Themen halten, die für die Studenten nützlich sein könnten, aber keine Beziehung zu seinem roten Faden hätten. Das erklärt, warum Kapitel 5 und 6 des ersten Bandes etwas ungewöhnlich sind. Meistens arbeitete Feynman jedoch allein an der Entwicklung des kompletten Konzeptes für das ganze Jahr – und nahm genug Details in sein Konzept auf um sicherzugehen, dass es keine unvorhergesehenen Schwierigkeiten gab. Den Rest des akademischen Jahres arbeitete er intensiv weiter und war im September (1961) so weit, dass er sein erstes Vorlesungsjahr beginnen konnte.

Der neue Physikkurs Unsere ursprüngliche Überlegung war, dass die Vorlesungen von Feynman den Beginn eines überarbeiteten Programms für den zweijährigen Einführungskurs darstellen sollten – ein Kurs, der für alle neuen Studenten am Caltech obligatorisch war. In den folgenden Jahren sollten andere Mitglieder des Lehrkörpers Verantwortung für jedes der beiden Jahre übernehmen und so schließlich einen „Kurs“ entwickeln – mit einem Lehrbuch, Übungen, einer Laborphase und so weiter. Für die ersten Jahre der Vorlesungen brauchte man allerdings ein anderes Konzept. Es gab keine Kursmaterialien, sie mussten im Verlauf des Kurses erst entstehen. Es wurden zwei einstündige Vorlesungen in den Stundenplan aufgenommen – jeweils eine dienstags und donnerstags um 11 Uhr. Die Studenten mussten jede Woche ein einstündiges Tutorium besuchen, das von einem Mitglied des Lehrkörpers oder einer wissenschaftlichen Hilfskraft geleitet wurde. Außerdem fand unter der Leitung von Neher jede Woche eine dreistündige Unterrichtseinheit im Labor statt. Während der Vorlesungen trug Feynman ein Mikrofon um den Hals, das an ein Tonbandgerät in einem anderen Raum angeschlossen war. In regelmäßigen Abständen

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Über die Ursprünge der Feynman-Vorlesungen über Physik

wurden von den Inhalten auf den Tafeln Fotos gemacht. Beides lag in der Verantwortung von Tom Harvey, dem technischen Assistenten, der für den Hörsaal verantwortlich war. Harvey half Feynman auch bei der Konzipierung gelegentlicher Experimente für die Vorlesungen. Die aufgezeichneten Vorlesungen wurden von Julie Cursio, einer Schreibkraft, in eine lesbare Form gebracht. In diesem ersten Jahr übernahm Leighton die Verantwortung dafür, dass die Niederschriften so schnell wie möglich unter dem Gesichtspunkt der Klarheit bearbeitet wurden, so dass die Studenten die gedruckten Skripte schon kurz nach den Vorlesungen zum Lernen zur Verfügung hatten. Wir dachten zu Anfang, dass die Studenten im Aufbaustudium, die die Tutorien und die Laboreinheiten leiteten, diese Aufgabe übernehmen könnten, indem wir jeweils einem von ihnen eine Vorlesung zuwiesen. Das funktionierte aber nicht, weil es die Studenten viel zu lange in Anspruch nahm und das Ergebnis mehr die Vorstellungen der Studenten als die Feynmans widerspiegelte. Leighton änderte das umgehend, übernahm sehr viel Arbeit selbst und konnte außerdem verschiedene Lehrkräfte (von der Physik und vom Maschinenbau) dafür gewinnen, eine oder mehrere Vorlesungen zu überarbeiten. Nach diesem Muster bearbeitete auch ich mehrere Vorlesungen in diesem ersten Jahr. Für das zweite Jahr des Kurses wurden einige Änderungen vorgenommen. Leighton übernahm die Verantwortung für die Studenten im ersten Studienjahr – er hielt die Vorlesungen und managte allgemein den Kurs. Glücklicherweise hatten die Studenten jetzt von Anfang an die Skripten der Vorlesungen Feynmans aus dem vorhergehenden Jahr zur Verfügung. Ich bekam die Verantwortung für die Details des Kurses für das zweite Studienjahr, für das Feynman jetzt die Vorlesungen hielt. Und ich hatte auch die Verantwortung dafür, dass die überarbeiteten Niederschriften rechtzeitig fertig wurden. Auf Grund der Beschaffenheit des Stoffes im zweiten Jahr kam ich zu dem Schluss, dass es am besten sei, die Aufgabe selbst zu übernehmen. Ich war bei fast allen Vorlesungen selbst dabei – wie übrigens auch während des ersten Jahres – und übernahm eine der Diskussionsveranstaltungen selbst, so dass ich mir ein Bild davon machen konnte, wie der Kurs für die Studenten lief. Nach jeder Vorlesung gingen normalerweise Feynman, Gerry Neugebauer und ich, gelegentlich auch noch ein oder zwei andere, zum Mittagessen in die Studenten-Cafeteria und sprachen dort darüber, welche zu Hause zu lösenden Aufgaben für die Studenten zum Thema der Vorlesung passend seien. Feynman hatte im Allgemeinen mehrere Ideen für diese Übungen, andere ergaben sich während des Gespräches. Neugebauer war dafür verantwortlich, diese Übungen zu sammeln und jede Woche einen „Satz Übungen“ zu erstellen.

Wie waren die Vorlesungen? Es war ein großes Vergnügen, bei den Vorlesungen dabei zu sein. Feynman erschien etwa fünf Minuten vor dem planmäßigen Beginn der Vorlesung. Er nahm ein oder zwei

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kleine Stücke Papier – vielleicht 10 mal 20 cm groß – aus seiner Hemdtasche, faltete sie auseinander und strich sie mitten auf dem Pult vorne im Hörsaal glatt. Das waren seine Notizen für die Vorlesung, obwohl er selten auf sie zurückgriff. (Ein Foto, das zu Beginn von Kapitel 19 im zweiten Band abgedruckt ist, zeigt Feynman während einer seiner Vorlesungen, wie er hinter dem Pult steht. Dabei sind zwei solche Blätter mit Notizen auf dem Pult zu erkennen.) Sobald die Klingel als Zeichen des offiziellen Vorlesungsbeginns ertönte, begann er mit seiner Vorlesung. Jede Vorlesung war eine Inszenierung mit einem sorgfältig erdachten Drehbuch, das er klar und deutlich bis ins Detail geplant hatte – normalerweise mit einer Einführung, einer Entwicklung, einem Höhepunkt und einer Auflösung. Und sein Timing war äußerst beeindruckend. Nur sehr selten war er mehr als den Bruchteil einer Minute vor oder nach dem Ende der Stunde fertig. Selbst der Gebrauch der Tafeln vorne im Hörsaal schien sorgfältig choreografiert zu sein. Er begann oben links auf Tafel Nummer eins und am Ende der Vorlesung hatte er genau Tafel Nummer zwei ganz rechts voll geschrieben. Aber das größte Vergnügen war natürlich, die Entwicklung seiner Gedanken – die mit Klarheit und Stil dargelegt wurden – zu beobachten.

Die Entscheidung für ein Buch Anfangs hatten wir nicht daran gedacht, aus den Vorlesungsskripten ein Buch zu machen, doch etwa ab Mitte des zweiten Vorlesungsjahres – im Frühjahr 1963 – wurde dies ernsthaft in Betracht gezogen. Die Idee wurde zum Teil durch Anfragen von Physikern anderer Hochschulen angeregt, die uns um Skripten baten, und zum Teil durch Vorschläge mehrerer Verleger – die natürlich Wind davon bekommen hatten, dass die Vorlesungen liefen, und möglicherweise auch Kopien der Skripte gesehen hatten. Nach einigen Diskussionen beschlossen wir, dass man aus den Skripten nach ein wenig Bearbeitung ein Buch machen könnte, und wir baten die interessierten Verleger, uns entsprechende Vorschläge zu unterbreiten. Der attraktivste Vorschlag kam von Vertretern der Addison-Wesley Publishing Company, die uns anboten, dass sie uns rechtzeitig für den Septemberkurs 1963 gebundene Bücher liefern könnten – nur sechs Monate nach der Entscheidung für die Veröffentlichung. Außerdem boten sie angesichts der Tatsache, dass wir keine Autorenhonorare verlangten, an, die Bücher zu einem recht niedrigen Preis zu verkaufen. Ein solch schneller Zeitplan für die Veröffentlichung war möglich, weil sie alle Vorrichtungen und Mitarbeiter für die Bearbeitung, das Setzen bis hin zum Foto-Offsetdruck im Haus hatten. Und durch die Übernahme eines (zu dieser Zeit) neuen Formates, bestehend aus einer einzigen breiten Textspalte und einem sehr breiten Seitenrand, konnten sie Gleichungen und Zusatzmaterial unterbringen. Dieses Format bedeutete, dass das, was normalerweise die Druckfahnen gewesen wären, direkt für die endgültigen Seitenlayouts verwendet werden konnte, ohne dass der Text, um Gleichungen und Ähnliches unterzubringen, neu gesetzt werden musste.

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Der Vorschlag von Addison-Wesley setzte sich durch. Ich übernahm die Aufgabe, alle notwendigen Überarbeitungen und Anmerkungen in den Vorlesungsskripten vorzunehmen und allgemein mit dem Verlag zusammenzuarbeiten – Lektorierung des gesetzten Materials und so weiter. (Leighton war zu dieser Zeit sehr damit beschäftigt, die zweite Runde des Anfängerkurses zu unterrichten.) Ich arbeitete jedes Vorlesungsskript hinsichtlich Klarheit und Genauigkeit durch, gab es dann Feynman für eine letzte Überprüfung und sobald ein paar Vorlesungen fertig waren, wurden sie an Addison-Wesley geschickt. Die ersten paar Vorlesungen schickte ich ziemlich schnell ab und erhielt auch sehr bald die Druckfahnen zum Korrekturlesen. Es war ein Desaster! Die Lektorin bei AddisonWesley hatte praktisch eine Neuformulierung vorgenommen und den lockeren Stil der Skripte in einen traditionellen, formellen Lehrbuchstil geändert – sie hatte z. B. „Sie“ durch „man“ ersetzt und so weiter. Ich hatte Angst, dass es deswegen Ärger geben würde, und rief die Lektorin an. Nachdem ich ihr erklärt hatte, dass wir der Ansicht seien, dass der ungezwungene Plauderton wesentlicher Bestandteil der Vorlesungen sei und dass wir persönliche Pronomen den unpersönlichen vorzögen und so weiter, erkannte sie, was wir wollten, und machte ihre Sache anschließend großartig – die meisten Sachen ließ sie so, wie sie waren. (Ich habe gern mit ihr zusammengearbeitet und ich wünschte, ich könnte mich an ihren Namen erinnern.) Der nächste Stolperstein war größer: Die Wahl eines Buchtitels. Ich erinnere mich an einen Besuch in Feynmans Büro, bei dem wir dieses Thema diskutierten. Ich schlug vor, einen einfachen Namen wie „Physics“ oder „Physics One“ zu wählen und dass als Autoren Feynman, Leighton und Sands erscheinen sollten. Feynman mochte aber den vorgeschlagenen Titel nicht besonders und reagierte ziemlich heftig auf die vorgeschlagene Erwähnung der beiden weiteren Autoren: „Warum sollten Ihre Namen dort auftauchen – Sie machen nur Stenografenarbeit!“ Ich war anderer Meinung und wies ihn darauf hin, dass aus den Vorlesungen ohne die Bemühungen von Leighton und mir niemals ein Buch entstanden wäre. Die Meinungsverschiedenheit wurde nicht sofort beigelegt. Ich kam einige Tage später auf die Diskussion zurück und zusammen fanden wir einen Kompromiss: „The Feynman Lectures on Physics von Feynman, Leighton und Sands.“

Das Vorwort Feynmans Nach Abschluss des zweiten Vorlesungsjahres – etwa Anfang Juni 1963 – war ich in meinem Büro dabei, die Noten für die Abschlussprüfungen zu vergeben, als Feynman hereinkam, um sich zu verabschieden, bevor er die Stadt verließ (vielleicht um nach Brasilien zu reisen). Er fragte, wie die Studenten in der Prüfung abgeschnitten hätten. Ich sagte, ich glaubte, recht gut. Er fragte nach der Durchschnittsnote und ich sagte sie ihm – wenn ich mich richtig erinnere, 65 % oder so. Seine Antwort war: „Oh, so schlecht. Sie hätten es besser schaffen müssen. Ich bin ein Versager.“ Ich versuchte,

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ihm das auszureden, indem ich darauf hinwies, dass die Durchschnittsnote sehr willkürlich sei und von vielen Faktoren wie z. B. dem Schwierigkeitsgrad der gestellten Aufgaben, dem verwendeten Bewertungsverfahren und so weiter abhinge – und dass wir normalerweise versuchten, den Durchschnitt so niedrig anzusetzen, dass es eine gewisse Spanne innerhalb der Notenstufen gab, um eine vernünftige „Kurve“ für die Verteilung der Noten zu bekommen. (Das ist übrigens ein Verfahren, das ich heute nicht mehr gutheißen würde.) Ich sagte, dass ich glaubte, dass viele Studenten sehr viel aus dem Kurs mitgenommen hätten. Er war nicht überzeugt. Dann erzählte ich ihm, dass die Veröffentlichung der Lectures zügig voranging, und fragte ihn, ob er ein Vorwort dafür schreiben wollte. Die Idee fand er interessant, aber er hatte wenig Zeit. Ich schlug vor, dass ich das Diktiergerät auf meinem Schreibtisch anstellen und er sein Vorwort diktieren könnte. So diktierte er, während er noch über seine Niedergeschlagenheit wegen der Durchschnittsnote bei der Abschlussprüfung der Studenten aus dem zweiten Studienjahr nachdachte, den ersten Entwurf des Feynmans Vorwort, das sie vorne in jedem Band der Lectures finden. Darin sagt er: „Ich glaube, ich hab bei den Studenten keinen guten Job gemacht.“ Ich habe es oft bedauert, dass ich ihn sein Vorwort auf diese Weise verfassen ließ, weil ich nicht glaube, dass das eine sehr durchdachte Beurteilung war. Und ich fürchte, dass sie von vielen Lehrern als Ausrede dafür benutzt wurde, um die Feynman-Vorlesungen nicht mit ihren Studenten auszuprobieren.

Der zweite und der dritte Band Die Geschichte der Veröffentlichung des zweiten Vorlesungsjahres ist ein bisschen anders als die des ersten Jahres. Zunächst einmal wurde am Ende des zweiten Jahres (etwa Juni 1963) beschlossen, die Skripten in zwei Teile für zwei einzelne Bände aufzuteilen: Elektromagnetismus und Struktur der Materie und Quantenmechanik. Zweitens meinte man, dass die Skripten über Quantenphysik durch einige Zusätze und intensives Überarbeiten wesentlich verbessert werden könnten. Zu diesem Zweck schlug Feynman vor, am Ende des folgenden Jahres einige zusätzliche Vorlesungen über Quantenphysik zu halten, die dann zusammen mit dem Originalskript einen dritten Band mit gedruckten Vorlesungen bilden könnten. Es gab eine zusätzliche Komplikation. Die Bundesregierung hatte etwa ein Jahr zuvor den Bau eines zwei Meilen langen Linearbeschleunigers an der Stanford University zur Herstellung von 20 GeV Elektronen für Forschungszwecke in der Elementarteilchenphysik genehmigt. Es sollte der größte und teuerste bis dahin gebaute Beschleuniger sein, mit Elektronenenergien und -intensitäten, die um ein Vielfaches über denen existierender Anlagen liegen sollten – ein aufregendes Projekt. Mehr als ein Jahr lang hatte W. K. H. Panofsky, der zum Direktor des neu geschaffenen Labors – dem Stanford Linear Accelerator Center – ernannt worden war, versucht, mich zu überreden, als sein Stellvertreter am Bau des neuen Beschleunigers mitzuarbeiten. Im Frühling

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des Jahres hatte er mich so weit und ich erklärte mich einverstanden, Anfang Juli nach Stanford zu kommen. Ich musste allerdings The Lectures bis zur Fertigstellung weiter betreuen, so dass ein Teil der Abmachung war, dass ich diese Arbeit mitnehmen würde. Als ich dann in Stanford war, zeigte sich, dass meine neuen Verantwortlichkeiten mich mehr in Anspruch nahmen, als ich erwartet hatte, so dass ich die Arbeit an den Lectures vorwiegend abends machen musste, wenn ich vorankommen wollte. Ich schaffte es, bis März 1964 mit der endgültigen Bearbeitung des zweiten Bandes fertig zu sein. Glücklicherweise war mir meine neue Sekretärin, Patricia Preuss, eine sehr kompetente Unterstützung. Bis Mai des Jahres hatte Feynman die zusätzlichen Vorlesungen über Quantenphysik gehalten und wir begannen mit der Arbeit am dritten Band. Da einige größere Umstrukturierungen und Überarbeitungen erforderlich waren, reiste ich einige Male nach Pasadena und beriet mich lange mit Feynman. Wir überwanden die Probleme leicht und das Material für den dritten Band war im Dezember fertig.

Die Reaktion der Studenten Durch meinen Kontakt mit den Studenten während meiner Tutorien konnte ich einen guten Eindruck davon bekommen, wie sie auf die Vorlesungen reagierten. Ich denke, dass viele, wenn nicht sogar die meisten von ihnen erkannten, dass sie eine besondere Erfahrung machen durften. Ich sah auch, dass sie von den aufregenden Ideen und dem Lernen vieler Aspekte der Physik begeistert waren. Das galt natürlich nicht für alle Studenten. Bedenken Sie, dass der Kurs für alle Studienanfänger obligatorisch war, obwohl weniger als die Hälfte Physik als Hauptfach hatten. Und so waren die anderen in der Tat ein unfreiwilliges Publikum. Auch einige Mängel des Kurses wurden offensichtlich. Die Studenten hatten z. B. häufig Schwierigkeiten, die Hauptgedanken in den Vorlesungen von nebensächlichem Stoff zu trennen, der zur Veranschaulichung gedacht war. Sie fanden das besonders bei der Prüfungsvorbereitung frustrierend. In einem speziellen Vorwort zu den Feynman-Vorlesungen über Physik haben David Goodstein und Gerry Neugebauer geschrieben, dass „. . . im Verlauf des Kurses die Zahl der anwesenden eingeschriebenen Studenten alarmierend sank.“ Ich weiß nicht, woher sie diese Information haben. Und ich frage mich, welchen Beleg sie dafür haben, dass „viele der Studenten den Kurs fürchteten . . . “. Goodstein war zu der Zeit nicht am Caltech. Neugebauer gehörte zu dem Team, das an dem Kurs mitarbeitete, und sagte manchmal im Scherz, dass im Hörsaal keine Studenten aus dem Grundstudium mehr sitzen würden – nur Studenten aus höheren Semestern. Kann sein, dass ihnen das in der Erinnerung so scheint. Ich habe aber in den meisten Vorlesungen hinten im Hörsaal gesessen und nach meiner Erinnerung – die natürlich durch die Jahre etwas getrübt sein kann – machten sich vielleicht 20 % der Studenten nicht die Mühe, die Vorlesung zu besuchen. Eine solche Zahl war nicht ungewöhnlich für einen großen Vorlesungskurs und ich kann mich nicht erinnern, dass irgendjemand deswegen „alarmiert“ war. Und

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obwohl es in meiner Vortragsveranstaltung vielleicht ein paar Studenten gegeben hat, die den Kurs fürchteten, waren die meisten engagiert und von den Vorlesungen begeistert – wenngleich einige von ihnen höchstwahrscheinlich Angst vor den Aufgaben hatten, die zu Hause bearbeitet werden mussten. Ich möchte drei Beispiele anführen, die den Einfluss der Vorlesungen in diesen beiden ersten Jahren auf die Studenten illustrieren. Das erste datiert aus der Zeit, als der Kurs lief, und obwohl es mehr als 40 Jahre zurückliegt, hat es auf mich einen solchen Eindruck gemacht, dass ich mich deutlich daran erinnern kann. Es war ganz am Anfang des zweiten Jahres und durch einen Fehler im Stundenplan traf sich mein Tutorium zum ersten Mal vor der ersten Vorlesung von Feynman in dem Jahr. Alldieweil wir keine Vorlesung hatten, über die wir diskutieren konnten, und auch noch keine Hausaufgaben verteilt worden waren, war nicht klar, über was wir sprechen sollten. Ich begann den Unterricht und bat die Studenten, ihre Eindrücke von den Vorlesungen aus dem vorhergehenden Jahr zu schildern – das etwa drei Monate zuvor zu Ende gegangen war. Nach einigen Reaktionen sagte ein Student, dass er fasziniert war von der Erörterung des Aufbaus des Auges der Biene und davon, wie es durch eine Balance zwischen den Auswirkungen geometrischer Optik und den Beschränkungen auf Grund der Wellennatur des Lichtes (siehe Abschnitt 36.4 in Band I) optimiert worden war. Ich fragte ihn, ob er die Argumente rekonstruieren könne. Er ging zur Tafel und war, ohne dass ich viel helfen musste, in der Lage, die wesentlichen Elemente der Argumentation zu wiederholen. Und das etwa sechs Monate nach der Vorlesung und ohne Wiederholung. Das zweite Beispiel ist ein Brief, den ich 1997 – etwa 34 Jahre nach den Vorlesungen – von einem Studenten, Bill Satterthwaite, erhielt, der die Vorlesungen und auch meine Vortragsveranstaltung besucht hatte. Der Brief kam aus heiterem Himmel. Er war durch die Begegnung von Bill Satterthwaite mit einem meiner alten Freunde am MIT angeregt worden. Er schrieb: „Mit diesem Brief möchte ich Ihnen und jedem anderen für die Feynmansche Physik danken. . . . In seiner Einführung sagt Dr. Feynman, dass er glaubt, dass er für seine Studenten keine große Hilfe war . . . Ich kann dem nicht zustimmen. Meine Freunde und ich sind immer gern dorthin gegangen und haben erkannt, welch einzigartige und wunderbare Erfahrung sie waren. Und wir haben viel gelernt. Als objektiven Beweis für unseren Eindruck sei erwähnt, dass ich mich an keine andere ordentliche Vorlesung während meines Werdegangs am Caltech erinnern kann, bei der applaudiert wurde, und meine Erinnerung sagt mir, dass das häufig am Ende einer Vorlesung von Dr. Feynman passierte . . . “ Das letzte Beispiel liegt ein paar Wochen zurück. Ich las zufällig den autobiographischen Text von Douglas Osheroff, der 1996 (zusammen mit David Lee und Robert Richardson) den Nobelpreis für Physik für die Entdeckung der Suprafluidität in Helium-3 erhielt. Osheroff schrieb:

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Über die Ursprünge der Feynman-Vorlesungen über Physik

„Es war eine gute Zeit am Caltech, als Feynman seinen berühmten Kurs für Studenten im Grundstudium hielt. Diese zweijährige Reihe war ein äußerst wichtiger Teil meiner Ausbildung. Auch wenn ich nicht sagen kann, dass ich alles verstanden habe, denke ich, dass sie den größten Teil zur Entwicklung meiner physikalischen Intuition beigetragen hat.“

Epilog Mein ziemlich plötzlicher Weggang vom Caltech direkt nach dem zweiten Vorlesungsjahr bedeutete, dass ich keine Gelegenheit hatte, die weitere Entwicklung des Einführungskurses in die Physik zu verfolgen. Deshalb weiß ich nur sehr wenig über die Wirkung der veröffentlichten Vorlesungen auf spätere Studenten. Es war immer klar, dass The Lectures für sich nicht als Lehrbuch dienen konnten. Es fehlt zu viel von der Aufmachung eines Lehrbuches: Kapitelzusammenfassungen mit veranschaulichenden Beispielen, Übungen für das Selbststudium zu Hause und so weiter. Diese Dinge hätten von fleißigen Dozenten ausgearbeitet werden müssen. Leighton und Rochus Vogt, die nach 1963 die Verantwortung für den Kurs übernahmen, haben einige bereitgestellt. Es gab eine Zeit, als ich in Erwägung zog, sie in einem zusätzlichen Band zur Verfügung zu stellen, aber dieser Gedanke ist nie in die Tat umgesetzt worden. Auf meinen Reisen im Zusammenhang mit der Commission on College Physics traf ich oft Physiklehrkräfte an verschiedenen Universitäten. Ich bekam zu hören, dass die meisten Dozenten The Lectures für ungeeignet zur Verwendung in ihrem Unterricht hielten – obwohl ich auch von einigen hörte, die das eine oder andere Buch in einer so genannten „Honors Class“ oder als zusätzlichen Text zu einem normalen Lehrbuch benutzten. (Ich muss sagen, ich hatte oft den Eindruck, dass einige Dozenten die Feynman-Vorlesungen nicht ausprobieren wollten, weil sie Angst hatten, dass die Studenten Fragen stellen könnten, die sie nicht beantworten konnten.) Am häufigsten hörte ich, dass Studenten im Aufbaustudium die Feynman-Vorlesungen für eine ausgezeichnete Hilfe bei der Vorbereitung auf qualifizierende Prüfungen hielten. Es schien, dass die Feynman-Vorlesungen im Ausland mehr Wirkung zeigten als in den USA. Der Verlag hatte dafür gesorgt, dass The Lectures in viele Sprachen – zwölf, wenn ich mich richtig erinnere – übersetzt wurden. Und wenn ich zu Konferenzen über Hochenergiephysik ins Ausland fuhr, wurde ich oft gefragt, ob ich der Sands aus den roten Büchern sei. Und ich hörte häufig, dass The Lectures für Einführungskurse in die Physik benutzt wurden. Eine andere bedauerliche Konsequenz meines Weggangs vom Caltech war, dass ich meinen Kontakt mit Feynman und seiner Frau Gweneth nicht weiter fortführen konnte. Er und ich pflegten seit den Tagen von Los Alamos eine herzliche Kollegialität und Mitte der 1950er Jahre war ich Gast bei ihrer Hochzeit gewesen. Bei den seltenen Gelegenheiten, zu denen ich nach 1963 nach Pasadena kam, wohnte ich bei ihnen, oder wenn ich mit meiner Familie kam, verbrachten wir immer einen Abend zusammen.

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Beim letzten Besuch erzählte er uns von seiner kürzlichen Krebsoperation. Nicht lange danach besiegte ihn der Krebs. Für mich ist es eine große Freude, dass jetzt nach etwa vierzig Jahren die FeynmanVorlesungen über Physik immer noch gedruckt, gekauft, gelesen und, das wage ich zu behaupten, geschätzt werden. Matthew Sands Santa Cruz, Kalifornien Dezember 2004

Inhaltsverzeichnis Interview mit Richard Feynman

1

Interview mit Robert Leighton

9

Interview mit Rochus Vogt

15

1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 1.8 1.9 1.10

Grundlagen Einführung in die Wiederholungsvorlesungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Caltech von unten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mathematik für Physik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Differentiation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vektoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Differentiation von Vektoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Linienintegrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein einfaches Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Triangulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21 21 22 24 25 28 29 34 36 38 42

2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 2.9

Naturgesetze und Intuition Die physikalischen Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die nichtrelativistische Näherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewegung mit Kräften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kräfte und ihre Potentiale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Physik lernen durch Beispiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Physik physikalisch verstehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Aufgabe bei der Konstruktion von Maschinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fluchtgeschwindigkeit der Erde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alternative Lösungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47 47 49 50 53 55 57 60 70 73

3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7

Aufgaben und Lösungen Satellitenbewegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Entdeckung des Atomkerns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die grundlegende Raketengleichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine numerische Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Chemische Raketentriebwerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Raketen mit Ionenantrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Raketen mit Photonenantrieb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77 77 81 85 88 90 91 93

XXX

Inhaltsverzeichnis

3.8 3.9

Eine elektrostatische Protonenstrahlablenkvorrichtung . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Bestimmung der Masse des Pions . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97

4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7 4.8 4.9 4.10 4.11 4.12 4.13 4.14

Dynamik und ihre Anwendungen Ein Gyroskop . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Kurskreisel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der künstliche Horizont . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein Gyroskop zur Schiffsstabilisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Kreiselkompass . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verbesserungen am Entwurf und der Konstruktion von Gyroskopen . . . Beschleunigungsmesser . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ein vollständiges Navigationssystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auswirkungen der Erdrotation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die rotierende Scheibe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nutation der Erde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Drehimpuls in der Astronomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Drehimpuls in der Quantenmechanik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nach der Vorlesung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

101 102 103 104 105 106 110 116 121 124 127 130 130 132 133

5 5.1 5.2

Ausgewählte Aufgaben Energieerhaltung, Statik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die keplerschen Gesetze und die Gravitation (Bd. I, Kap. 7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die newtonschen Gesetze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Impulserhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vektoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nichtrelativistische Stöße zwischen zwei Körpern in drei Dimensionen Kräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Potentiale und Felder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einheiten und Maße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Relativistische Energie und relativistischer Impuls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Drehungen in zwei Dimensionen und Massenmittelpunkt . . . . . . . . . . . . . Drehimpuls und Trägheitsmoment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Drehbewegung in drei Dimensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

139 139

5.3 5.4 5.5 5.6 5.7 5.8 5.9 5.10 5.11 5.12 5.13 5.14

143 143 145 147 148 149 150 151 153 153 154 156 158

Lösungen zu den Aufgaben

163

Bildnachweis

168

Index

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Interview mit Richard Feynman Aus Interview mit Richard Feynman, geführt von Charles Weiner am 4. März 1966 in Altadena (Kalifornien). Mit freundlicher Genehmigung der Niels Bohr Library & Archives, American Institute of Physics, College Park, Maryland, USA. Feynman: Die Feynman-Vorlesungen über Physik. Wollen Sie darüber reden? Weiner: Ich denke, das wäre angebracht, denn die Vorlesungen waren eine Ihrer wichtigsten Aktivitäten in dieser Zeit. Feynman: Ja. Es ist interessant, wenn ich heute darüber nachdenke, dass ich damals darüber geklagt habe, dass ich wegen der hohen Arbeitsbelastung durch die Vorlesungen überhaupt nicht zum Forschen kommen würde – ich muss verrückt gewesen sein! Die Leute haben mir inzwischen versichert, dass es ziemlich albern von mir ist zu meinen, ich hätte in diesen Jahren nichts getan, denn dieses Ding (die FeynmanVorlesungen) ist etwas. Aber ich kann es immer noch nicht auf diese Weise betrachten, denn als junger Physiker verschreibt man sich einem Ideal – dass man etwas Neues in der Physik entdecken möchte – und wenn man dann etwas anderes tut, dann fällt es schwer sich vorzustellen, dass dieses Andere irgendwie erfüllend sein könnte – es war einfach so, dass ich Studenten unterrichtet habe. Also, die Geschichte dieser Vorlesungen ist folgende. Es gab eine Diskussion innerhalb einer Gruppe, der ich angehörte. Es ging darum, ob man die Physikvorlesung neu organisieren sollte, da sich viele Studenten, die eigentlich ziemlich gut waren, darüber beklagten, dass alles, was sie nach ein, zwei Jahren Physikunterricht tun würden, Versuche mit geneigten Ebenen und Spannungsmessungen wären. An der High School hatten sie bereits so viel über Relativität, über seltsame Teilchen und die Wunder der Welt gehört, aber von all diesen Wundern bekamen sie nichts zu sehen, bis sie graduierte Studenten waren. Und das war ein Problem; also machte man sich daran, die Physikvorlesungen umzustrukturieren. Die Gruppe hatte bereits eine Art Plan dafür ausgearbeitet, und nun war die Frage: Wer soll die Vorlesungen halten? Ich weiß nicht, was genau sie miteinander besprochen hatten, aber wie auch immer – Sands kam zu mir und brachte mich dazu, den Kurs zu halten. Allerdings verwarf ich den Vorlesungsplan. Wissen Sie, ich hatte beschlossen, den Kurs auf meine Art zu halten. Aber zumindest gab der Plan mir eine grundsätzliche Vorstellung davon, was an Stoff enthalten sein sollte. Sie wollten, dass ich einen Kurs für Studienanfänger halte. Sie wollten den Kurs umstrukturieren. Er hatte ursprünglich keinerlei Hauptvorlesungen, die durch einen Hauptvorlesenden gegeben wurden, sondern sie waren üblicherweise in Sektionen unterteilt, wobei graduierte Studenten in

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den einzelnen Sektionen unterrichteten. Das einzige Treffen, bei dem sie alle zusammenkamen war eine fakultative informelle Lehrveranstaltung, die nicht direkt mit dem Physikkurs zusammenhing, und die einmal in der Woche, immer freitags, oder auch jeden zweiten Freitag stattfand. Weiner: Etwas Historisches, nehme ich an? Feynman: Nun ja, das war unterschiedlich. Ich wurde oft eingeladen, um dort vorzutragen, und ich konnte über Relativität reden. Das war nicht Bestandteil ihres Kurses. Manchmal trug jemand über etwas vor, das unmittelbarer Bestandteil des Kurses war, aber es gab keine übergreifende Organisation. Nun aber machten sie sich daran, alles neu zu ordnen. Sie bauten ein neues Labor, und sie dachten sich neue Versuche aus, die dort durchgeführt werden sollten. Sie entwarfen einen neuen Plan, nach dem es mindestens zwei Vorlesungen pro Woche geben sollte. Diese sollten von einem Hauptvorlesenden gehalten werden, und dann sollte es einige Übungsseminare geben, um die sich graduierte Studenten kümmern sollten. Mich fragten sie, ob ich die Vorlesungen halten könnte. Sie hatten Geld von der Ford Foundation für diese Umstrukturierung. Es war damals eine Menge Geld im Umlauf, um die Welt zu verändern. Also sagte ich: okay. Ich nahm die Herausforderung an, für ein Jahr, und ich versuchte, den Kurs so aufzubauen, dass es zwei Vorlesungen pro Woche gab. Weiner: Mussten Sie dazu nicht alle anderen Arbeiten liegenlassen, auch andere Lehrveranstaltungen? Feynman: Ja, das war so. Ich kann es kaum glauben, aber meine Frau sagte mir, dass ich im Grunde genommen Tag und Nacht arbeitete, sechzehn Stunden am Tag, die ganze Zeit. Ich war die ganze Zeit über hier unten, machte mir Gedanken wegen dieser. . . arbeitete an diesen Vorlesungen, denn ich musste nicht nur das Material vorbereiten, sondern ich wollte den Kurs auch so aufbauen, dass es ein guter Kurs wird, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich hatte die Idee oder vielmehr so etwas wie ein Prinzip, eine ganze Reihe von Prinzipien. Das erste Prinzip war, dass ich den Studenten nichts beibringen wollte, was ich später würde revidieren müssen, weil es falsch ist. Es sei denn, ich weise von vornherein darauf hin, dass es falsch ist. Wenn zum Beispiel die newtonschen Gesetze nur näherungsweise gelten und in der Quantenmechanik nicht gut sind, in der Relativitätstheorie auch nicht, dann sage ich den Studenten gleich am Anfang, dass es so ist. Dann wissen sie, wie sie die Dinge einzuordnen haben. Mit anderen Worten, es sollte immer eine Art Landkarte geben. Tatsächlich habe ich daran gedacht, eine große Landkarte zu zeichnen, in der alle Themen und die Beziehungen zwischen ihnen eingetragen sind. Dann könnten wir immer sehen, wo wir uns gerade befinden. Ich dachte, dass eines der Probleme bei all den früheren Physikvorlesungen darin bestand, dass einfach gesagt wurde: Lernen Sie dies, lernen Sie das, und wenn Sie mit allem fertig sind, werden Sie auch die Verbindungen verstehen. Aber es fehlt eine Karte, eine „Orientierungshil-

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fe für die Verwirrten“, verstehen Sie? Also wollte ich eine solche Karte machen. Aber es zeigte sich, dass diese Idee nicht realisierbar ist. Jedenfalls habe ich nie eine solche Karte gemacht. Eine andere Sache war die, dass ich in meinem Kurs ein paar Dinge unterbringen wollte, an denen ein guter Student ordentlich zu knabbern hat. Und gleichzeitig sollte der Stoff für die durchschnittlich begabten Leute verständlich sein. Also versuchte ich, mir einen Plan auszudenken. Lassen Sie mich über die Prinzipien sprechen. Das erste war wie gesagt, dass ich niemals etwas einführen wollte, was nicht exakt richtig ist; jedenfalls nicht, ohne gleichzeitig zu erklären, was daran falsch ist und was später geändert werden muss. (Eine andere Sache war die, dass ich in Büchern nachschaute und mir eine große Schwachstelle bewusst wurde: beispielsweise wurde in ein und demselben Buch die Beziehung F = ma eingeführt, und ein paar Seiten später erfuhr man, dass die Reibungskraft die Reibungskonstante mal der Normalkraft ist – so als wären die beiden Gesetze vom gleichen Kaliber und hätten den gleichen Stellenwert. Dabei sind sie von ihrem Stellenwert her so verschieden, wie Sie wissen, und das wird überhaupt nicht deutlich.) Das war also das erste Prinzip. Das zweite Prinzip war das folgende: es muss jederzeit klar sein, was auf der Basis des bisher Gesagten zu verstehen sein sollte und was nicht. Denn in Büchern erfahre ich alles auf einmal, zum Beispiel die Formel für die Frequenz in einem Wechselstromkreis. Es wird angenommen, das diese Beziehung ein tieferes Verständnis erfordert ist. Die Autoren können die Formel im Moment nicht herleiten, doch sie wollen dem Leser nicht sagen: „Sie werden nicht in der Lage sein, dieses Formel auf dem bis jetzt erreichten Niveau und auf Grundlage der vorherigen Argumentation zu verstehen, doch wir geben sie hier einfach an.“ Mit anderen Worten: Was wird einfach angegeben und was lässt sich aus dem bisher Gesagten herleiten? Selbst wenn sich eine Aussage aus einer anderen herleiten lässt, Sie aber die Herleitung nicht ausführen, sollten Sie das so sagen. Ich sage immer: „Dies ist eine mögliche Schlussfolgerung, wir können sie ungefähr wie folgt herleiten, doch wir haben die Herleitung nicht wirklich versucht.“ Oder: „Dies ist eine unabhängige Idee, die aus einem anderen Zusammenhang stammt. Wir können Sie nicht aus dem bisher Gesagten herleiten, also grübeln Sie deswegen nicht weiter.“ Es gibt ein paar solcher Grundprinzipien. Das Problem war nun, die Vorlesungen so zu gestalten, dass der durchschnittliche Student damit zurecht kommt und dass sie dennoch Futter für die Begabteren bieten. Ich hatte dann eine Idee, als ich die Vorlesungen plante. Ich wollte vorn im Hörsaal einen Farbwürfel aufstellen, sodass zum Beispiel eine bestimmte Farbe signalisieren würde, dass das aktuelle Thema als Herausforderung und besonderes Vergnügen für die sehr guten Studenten gedacht ist, aber für das weitere Verständnis nicht unbedingt notwendig. Verstehen Sie, was ich meine? Wenn eine Sache so grundlegend ist, dass sie absolut notwendig für das Verständnis der gesamten Physik ist, dann sollte jeder Student sein Bestes geben, um diese Sache

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zu verstehen. Für solche Sachen gibt es wieder eine bestimmte Farbe und so weiter. Jede Farbe sollte die Wichtigkeit und den Stellenwert signalisieren, den ein bestimmtes Thema innerhalb der Physik einnimmt. Worüber ich mir Gedanken machte war, ob wohl alle Studenten versuchen würden, all das Zeug zu lernen, und ich dachte mir: wenn sie das tun, dann habe ich nichts Interessantes für die besonders Begabten. Das bekommen Sie nicht hin. Es ist einfach unmöglich, den besonders begabten Studenten interessanten Stoff zu bieten, ohne die am wenigsten begabten oder die am weitesten zurückliegenden zu verwirren. Ich hatte also diese Idee mit dem Würfel. Aber ich habe sie schließlich als Spielerei verworfen. Stattdessen wollte ich für jede Vorlesung eine Zusammenfassung an die Tafel schreiben, in denen die zentralen Punkte stehen, die jeder verstanden haben muss. Alles andere, was nicht in den Zusammenfassungen steht, war sozusagen die Kür. Aber diese Zusammenfassungen existieren nicht mehr.1 Schließlich, warten Sie. . . mir war noch etwas anderes eingefallen, während ich sprach. Ich weiß es nicht mehr. Jedenfalls fing ich an, die Vorlesungen zu halten. Und ganz am Anfang, das erste, was ich vorhatte, war, die Studenten alle zusammenzubringen. Bei vielen Vorlesungen verstehen die Leute die Bedeutung des richtigen Anfangs nicht. Die wahre Bedeutung ist die, dass all die jungen Leute, die von der High School kommen, zuerst einmal ungefähr auf ein gleiches Ausgangsniveau gebracht werden müssen. Beispielsweise spreche ich davon, dass alles aus Atomen aufgebaut ist – nicht weil ich glaube, dass sie das nicht wissen, sondern weil ich will, dass diejenigen, die es nicht wissen, zumindest wissen, dass sie es nicht wissen. Ich kann das so nicht sagen, wie Sie verstehen werden, also sage ich es auf eine Weise, die für diejenigen, die es bereits wissen, anregend ist, weil es eine neue Art ist, die Sache zu betrachten; diejenigen aber, die es nicht wissen, haben dadurch die Möglichkeit zu dem Niveau aufzuschließen, das ich brauche. Und so weiter. Die ersten paar Vorlesungen haben also denn Zweck, alle zusammenzubringen. Außerdem muss ich erwähnen, dass ich diese Vorlesungen, besonders die Anfangsvorlesungen, zuvor bereits an anderen Orten gehalten habe. Dadurch hatte ich Zeit, die späteren vorzubereiten, verstehen Sie. Und schließlich – oh, das ist ein weiteres Prinzip, und zwar ein sehr wichtiges: Ich wollte, dass jede Vorlesung für sich selbst stehen kann. Ich hielt es nicht für eine gute Idee, eine Vorlesung zu halten, und am Ende zu sagen: „Die Zeit ist um, wir werden diese Diskussion das nächste Mal fortsetzen“, oder: „Als wir uns das letzte Mal verabschiedet haben, waren wir gerade dabei, dieses oder jenes oder was auch immer zu tun. Fahren wir nun damit fort.“ Was mir stattdessen vorschwebte war, dass jede einzelne Vorlesung irgendwie als ein in sich geschlossenes kleines Meisterwerk angesehen werden kann, verstehen Sie? Ein Meisterwerk der Didaktik, in dem es einen Anfang, eine Einführung gibt, und am Ende hat man ein Fazit. Dazwischen spielt sich eine Art Drama ab. So sollte jede einzelne 1

Die Zusammenfassungen von Feynmans Vorlesungen sind in Form von Fotos der Tafelbilder in den Archiven des Caltech erhalten geblieben und wurden in der Enhanced Electronic Version der Feynman Lectures on Physics (amerik. Originalausgabe) veröffentlicht. Siehe http://www.basicfeynman.com/enhanced.html.

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Vorlesung sein, bis auf wenige Ausnahmen. An ein oder zwei Stellen konnte ich das nicht durchhalten und musste zwei Vorlesungen als zusammenhängend halten, aber das ist ein anderes Prinzip. Ich will Ihnen nur von den Richtlinien erzählen, nach denen ich vorgegangen bin. Letzten Endes gilt mein Hauptinteresse der Physik, und ich strukturiere das Material. Ich liebe es, das Material zu strukturieren, darüber nachzudenken, wie alles zusammenhängt, neue Sichtweisen auf bestimmte Dinge zu entdecken und dabei auch neue Wege zu finden, wie ich etwas erklären kann. Und ich bin keiner von diesen Lehrern, die wirklich an dem Studenten als Individuum interessiert sind. Ich meine, ich mache mir keine Gedanken wie: Dieser junge Mann ist verheiratet und er versucht, seinen Abschluss zu machen. . . solche Komplikationen interessieren mich nicht. Ich gebe einfach mein Bestes, dem Studenten etwas beizubringen. Der Student ist für mich in gewissem Sinne ein abstrakter Student mit irgendwelchen imaginären Eigenschaften – eine Mischung sozusagen, wobei es viele Arten von abstrakten Studenten gibt – aber kein spezielles Individuum. Das Fach steht in jedem Fall im Mittelpunkt meines Interesses – das Fach, nicht der Student, sondern immer das Fach. Sie wollen also wissen, mit welchen Gefühlen ich an sie (die Vorlesungen) denke. Was kann ich anderes über sie sagen? Sie sind alle veröffentlicht. Aber ich versuche, Ihnen zu erklären, wie ich selbst mich fühle, was die Vorlesungen betrifft, und was meine Intentionen waren. Weiner: Gab es irgendeine Art von Feedback, während Sie die Vorlesungen hielten? Feynman: Nein. Nichts dergleichen, es gab für mich keine Möglichkeit zu erfahren, wie die Vorlesung ankam. Weil ich keines der Übungsseminare hielt, und es gab auch keine Fragen am Ende der Vorlesung. Es war so gedacht, dass alle auftretenden Fragen in den Übungsseminaren besprochen werden sollten. Es gab also keinerlei Feedback, außer dass es ein paar Prüfungen gab, bei denen Probleme offenbar wurden. Sie müssen wissen, den Studenten wurden in den Prüfungswochen Aufgaben vorgelegt, die sie lösen sollten. Und die Ergebnisse waren so furchtbar – jedenfalls meiner Ansicht nach, sie waren dermaßen schlecht, dass ich mich tatsächlich in gewissem Sinne entmutigt fühlte, was das ganze Vorhaben angeht. Nicht bis zu dem Punkt entmutigt, dass ich die Sache aufgeben wollte, aber ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, dass es nicht so funktioniert, wie ich gedacht hatte, dass es nutzlos ist – aber egal, ich würde es trotzdem durchziehen. Ich meine, es gab für mich nur diesen einen Weg es zu tun, verdammt noch mal. Aber es funktionierte nicht. Weiner: Was war mit den Leuten, die direkten Kontakt hatten, in den Übungsseminaren? Feynman: Die Leute, die direkten Kontakt hatten, sagten mir, dass ich die Studenten unterschätzen würde und dass es nicht so schlimm wäre, wie ich meinte. Aber ich habe ihnen nie geglaubt und ich tue es noch immer nicht. Weiner: Glauben Sie nicht, dass diese Form der Darstellung, ihre Effizienz, in einer traditionellen Prüfung sehr schwer zu messen ist?

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Feynman: Natürlich ist das so. Aber was soll man sonst machen? Ich meine, Sie fragen mich nach meiner Reaktion. Es mag problematisch sein, aber ich erwartete von ihnen, dass sie bei den einfachen Fragen besser wären als es tatsächlich waren. Mit anderen Worten, jemand, der das nicht kann, was sie offensichtlich nicht konnten, der konnte einfach nicht verstanden haben, wovon ich gesprochen hatte. Das ist es, was ich fühlte. Weiner: Wie lange haben Sie das gemacht? Drei Jahre? Feynman: Ich habe es zunächst ein Jahr lang gemacht, und dann fingen sie an, mich wegen des zweiten Jahres zu bearbeiten. Und ich sagte: „Ich würde lieber noch einmal das erste Jahr wiederholen. Diesmal möchte ich zusätzlich Probleme diskutieren, die zum Stoff passen, und ein paar Verbesserungen vornehmen, aber vor allem sind mir die Aufgaben wichtig, sodass es echtes Unterrichten wäre.“ Außerdem waren mir ein paar Feinheiten aufgefallen, um die ich mich vorher nicht gekümmert hatte. Dann bearbeiteten sie mich, und ich bin froh, dass sie das taten – in gewisser Weise jedenfalls. Sie sagten: „Schauen Sie, niemand wird das je wieder machen. Wir brauchen dieses zweite Jahr.“ Ich wollte dieses zweite Vorlesungsjahr nicht halten, weil ich nicht glaubte, dass ich großartige Ideen hätte, wie man dieses zweite Jahr präsentieren könnte. Ich hatte das Gefühl, dass ich keine gute Idee habe, wie man Vorlesungen über Elektrodynamik halten kann. Schauen Sie, bei diesen Lehrproben, die es zuvor gab, hatten sie mich aufgefordert, das Problem der Relativität zu erklären, die Quantenmechanik, die Beziehung zwischen Mathematik und Physik, den Energieerhaltungssatz. Ich habe jede dieser Proben bestanden. Aber es gab eine Probe, die mir niemand abverlangte, eine Aufgabe, die ich mir selber stellte, weil ich nicht wusste, wie man sie lösen soll. Ich habe sie immer noch nicht gelöst. Aber ich glaube, ich weiß jetzt, wie man es machen muss. Ich habe es noch nicht getan, aber eines Tages werde ich es tun. Und darum geht es: Wie erklärt man die maxwellschen Gleichungen? Wie erklärt man einem Laien, einem gebildeten Laien, einer sehr intelligenten Person, in einer einstündigen Vorlesung die Gesetze der Elektrodynamik und des Magnetismus? Wie macht man das? Ich habe es nie geschafft. Okay, geben Sie mir eine zweistündige Vorlesung. Es sollte aber in einer Stunde zu schaffen sein – oder in zwei. Irgendwie habe ich mir inzwischen eine viel bessere Form der Darstellung für die Elektrodynamik überlegt, einen viel originelleren und mächtigeren Weg als im Buch. Aber damals hatte ich diesen neuen Weg nicht und ich gab deshalb zu bedenken, dass ich nichts eigenes zu dem Thema beitragen könne. Doch sie sagten: „Machen Sie es trotzdem,“ und redeten auf mich ein. Also machte ich es schließlich. Als ich den Kurs plante, wurde von mir erwartet, dass ich Elektrodynamik lehre und anschließend ein Thema, das wirklich all die verschiedenen Zweige der Physik berührt, weil dieselbe Gleichung verwendet wird – ganz so, wie die Diffusionsgleichung für die Diffusion, für die Temperatur und für viele andere Dinge benutzt wird, oder die Wellengleichung, die zur Beschreibung des Schalls, beim Licht usw. auftritt. Mit anderen Worten, die zweite Hälfte sollte so etwas sein wie „Mathematische Methoden

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der Physik“, aber mit vielen physikalischen Beispielen. Ich würde also gleichzeitig mit der Physik auch Mathematik unterrichten. Ich würde über Fourier-Transformation, über Differentialgleichungen usw. sprechen. Es würde allerdings nicht so aussehen. Der Stoff wäre nicht in der sonst üblichen Weise organisiert. Die Struktur wäre durch die Themen vorgegeben; der Punkt ist, dass die Gleichungen in so vielen verschiedenen Gebieten dieselben sind. Wenn Sie also eine bestimmte Gleichung behandeln, dann sollten Sie auf alle Gebiete hinweisen, in denen sie auftritt, anstatt einfach nur über die Gleichung zu sprechen. Das würde ich also tun. Doch dann ergab sich eine andere Möglichkeit. Vielleicht könnte ich Quantenmechanik für die Studenten des zweiten Studienjahres lesen. Niemand erwartete etwas derartiges – es wäre ein Wunder, das zu tun. Und ich hatte einen verrückten Einfall, wie man die Quantenmechanik sozusagen verkehrt herum einführt, das Innere nach außen gestülpt, sodass alle fortgeschrittenen Themen am Anfang kommen und alles, was im konventionellen Sinn elementar ist, zum Schluss. Und das sagte ich den Leuten, und sie ließen mich machen. Sie sagten, dass die Mathematik, über die ich sprechen würde, eines Tages auch von anderen Leuten so benutzt werden wird, aber dass diese Sache etwas ganz Einzigartiges sein würde. Und sie wussten, dass ich mich nicht für ein weiteres Jahr entscheiden würde. Ich musste dieses einzigartige Ding durchziehen, verstehen Sie – selbst wenn es die jungen Leute umbringen würde, wenn sie nichts dabei lernen und alles nutzlos ist. Ich weiß nicht, wie die Situation tatsächlich ist, ob es wertvoll ist, was ich gemacht habe, oder nicht. Ich musste es versuchen. Also tat ich es. Und das ist Band III, der Band über Quantenmechanik. Aber die Bände II und III enthalten in Wirklichkeit den Stoff von einem Jahr, so wie Band I. Weiner: Es sind also zwei ganze Jahre, die Sie in die Sache gesteckt haben. Feynman: Richtig. Das eine war das akademische Jahr 61/62, das andere 62/63. Weiner: Und inzwischen haben Sie natürlich, wie Sie mir gestern gesagt haben, eine etwas bessere Meinung über die Vorlesungen. Feynman: Etwas. Weiner: Wegen ihrer Verbreitung außerhalb des Caltech. Feynman: Na ja, eigentlich hat sich meine Meinung nicht gebessert, aber es gibt Leute, die meinen, dass es so sein sollte. Und allmählich beginne ich zu verstehen, warum. Aber ich bin immer bei meinem Standpunkt geblieben, dass das, was ich tue, das Unterrichten von dieser speziellen Gruppe von Studenten ist, und das dies alles ist, was ich tun kann. Ich blieb dabei zu sagen: „Man kann nicht über den Tod hinaus leben. Man unterrichtet diese Studenten; das ist alles, was es zu sein hat, und es gibt keine Möglichkeit, es auf irgendjemand anderes zu übertragen.“ Ich glaube, dass das im Wesentlichen stimmt. Wenn ich mir Vorlesungen anhöre, die Andere auf der Basis meiner Bücher halten, dann sehe ich alle Arten von Mängeln, Fehlern, Schwachstellen und Entstellungen. Und es ist auch wahr, dass man nicht über den Tod hinaus leben kann.

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Aber es gibt offensichtlich Leute, die nicht den Vorlesungen irgendeines Professors lauschen, die sich einfach hinsetzen, das Buch lesen und selber denken. Sie müssen irgendeinen Nutzen daraus ziehen. Wenn ich mir also eine gewisse Hoffnung bewahre, dass es zumindest für sie etwas wert ist, dann gelingt es mir vielleicht, über die ganze Sache etwas besser zu denken. Ich glaube, was die speziellen Studenten betrifft, denen die Vorlesungen tatsächlich galten, und das war erklärtermaßen der Zweck meiner Bemühungen – es ging mir nicht um die Bücher oder irgendetwas anderes, es ging mir nur um die Studenten – ich glaube, das Ergebnis war in keinerlei Hinsicht den Aufwand wert.2

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Als Feynman zwei Jahrzehnte später über die Feynman Lectures on Physis sprach, sagte er: Es sind alle Arten von Stoff darin enthalten, eher grundlegende physikalische Gesichtspunkte, und sie scheinen von Nutzen zu sein. Ich muss heute zugeben, dass ich es nicht leugnen kann: sie sind tatsächlich ein Beitrag zur Physik. – aus J. Mehra, The Beat of a Different Drum (1994)

Interview mit Robert Leighton Aus einem Interview, das Heidi Asparturian am 8. Oktober 1986 in Pasadena mit Robert Leighton führte. Mit freundlicher Genehmigung des Caltech-Archivs, Pasadena, California, USA. Leighton: Der Feynman-Kurs war wichtig, und ich spielte damals eine Rolle beim Editieren und auch beim Übersetzen aus dem „Feynmanschen“ ins Englische. Das war eine sehr interessante und aufregende Zeit. In den 1960ern, als [Gerry] Neugebauer und ich über Infrarotastronomie sprachen, und ich mich dem Mariner-Programm zuwandte, kamen die Feynman Lectures dazu. Sie waren das Ergebnis eines Projekts – in dem ich eine führende Rolle spielte – nämlich, den Anfängerkurs in Physik neu zu organisieren. Ich hatte gewisse Vorstellungen, wie das geschehen sollte, und ein paar andere Leute aus der Kommission, die für den Anfängerkurs zuständig war, hatten ebenfalls ihre Vorstellungen. Aber mitten in der Diskussion sagte Matt Sands: Also im Ernst, wir sollten Dick Feynman die Vorlesungen halten lassen, und wir sollten Tonbandaufnahmen davon machen. Sands war damals Physikprofessor am Caltech. Er war ein Typ, der immer voranpreschte. Er hatte als junger Mann am Los Alamos Projekt mitgearbeitet, und von daher kannte er Feynman gut genug, dass er zu ihm hingehen und direkt mit ihm reden konnte. Aber Feynman sträubte sich. Asparturian: Was genau war an den Vorlesungen von Feynman dran, das ihn zum Favoriten für das Vorhaben machte? Leighton: Feynman hat eine besondere Gabe, und zwar die, dass in dem Moment, wo er etwas erklärt, die Sache völlig klar und transparent erscheint – Sie sehen, wie alles zusammenpasst, und Sie verlassen die Vorlesung mit einem sehr guten Gefühl, Sie denken: „Hm, es gibt eine Menge lose Enden, die ich weiterverfolgen muss; aber Mann, das war großartig!“ Und ungefähr zwei Stunden später tritt das ein, was manche über chinesisches Essen sagen: es ist alles weg und Sie sind schon wieder hungrig. Und Sie können sich nicht richtig erinnern, was passiert ist. Ich habe das selbst erlebt. In den späten 50ern hielt Feynman in 201 East Bridge einen Vortrag vor Laien über die grundlegenden Ideen von Einsteins spezieller Relativitätstheorie. Der Vorlesungssaal war natürlich schrecklich überfüllt. In seiner charakteristischen Art reduzierte er das ganze Thema auf die knappste Formulierung, die überhaupt möglich ist, auf den Ausdruck 1 − v2 /c2 – „alles, was Sie hierüber lernen müssen ist diese Wurzel aus 1 − v2 /c2 “. Nach der Vorlesung, auf dem Weg nach draußen, hörte ich eine junge Frau zu ihrem Begleiter sagen: „Ich habe nicht viel von dem verstanden,

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was er gesagt hat, aber es war sicher interessant!“ Feynman hatte so eine Art, das zu erreichen. Asparturian: Das klingt, als hätte er virtuelle Vorlesungen gehalten, so wie man von virtuellen Teilchen spricht. Leighton: [lacht] Ja, das stimmt. Es war, als würde er die Sache für begrenzte Zeit in die Realität holen und dann zusehen, wie sie wieder im Meer versinkt. Asparturian: Die Idee war, ihn dauerhaft aus dem Vakuum herauszuholen. Leighton: Ja. Matt Sands ging also zu ihm hin und Feynman wollte nicht, aber schließlich sagte er doch zu. Und das war der Ursprung der Feynman Lectures. Leighton: Bei seinen Lehrveranstaltungen versuchte Feynman den Stoff des PhysikGrundstudiums in einem Zweijahreskurs zu organisieren, was sich aber als eine Dreijahresveranstaltung erwies, weil er in den ersten beiden Jahren nicht wirklich bis zur Quantenmechanik kam – auch wenn er hier und da isolierte Themen daraus behandelte. Er startete direkt mit den Atomen – er überließ sie nicht einfach den Chemikern, um vor den Erstsemestern nur über Rollen und Flaschenzüge zu sprechen! Er drückte sie mit ihren Nasen direkt in das, was die Physik wirklich ausmacht: die Eigenschaften der Atome. Nach diesem Ordnungsprinzip versuchte er, jede Vorlesung als unabhänge, für sich selbst stehende Einheit zu halten. Sie können das aber nur bis zu einem gewissen Grad tun, denn Sie müssen den Stoff auf einem bestimmten mathematischen Niveau aufbauen, Sie brauchen bestimmte Feinheiten bei der Anwendung der Mathematik in der Physik, und solche Sachen. Aber wie auch immer, es schien zunächst eine großartige Idee, Feynman das machen zu lassen. Doch es war nicht zu bestreiten, dass das Ergebnis eher für ausgebildete Physiker als für Studienanfänger geeignet war. Feynmans Kurs bot für die meisten unserer Studienanfänger ein bisschen zu viel: für ungefähr 20 % war er ideal, absolut großartig; für ungefähr 60 % war er es überhaupt nicht. Ihre Reaktion war eher die: „Was genau erwartet man eigentlich von uns, was wir von alldem lernen sollen?“ Ich war verantwortlich für das Labor und die Koordination der Vorlesungen im ersten Jahr. Ich war auch verantwortlich für die Übertragung der Vorlesungen in eine schriftliche Form. Im Vorwort des Buches erläutere ich unsere Erwartung, dass das Editieren ein Job für einen graduierten Studenten werden würde – ein paar i-Punkte ergänzen und ein paar t’s wegstreichen, hier und da ein Wort ändern, wo bei der Übertragung vielleicht etwas schiefgegangen war. Asparturian: Wie kam es, dass Ihnen die Aufsicht über das Editieren übertragen wurde? Leighton: Ich war der Leiter der Gruppe, die sich die Umstrukturierung des Kurses zum Ziel gesetzt hatte. Wir wollten nicht, dass Feynman das alles selber machen muss; er sollte die Vorlesungen halten, und diese Aufgabe nahm seine gesamte Zeit in Anspruch. Es musste auch Laborexperimente zu den Vorlesungen geben, und das neue

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Material war so anders, dass für die Studienanfänger ganz andere Experimente aufgebaut werden mussten. Dr. [H. Victor] Neher, der inzwischen pensioniert ist, war der eigentliche Verantwortliche für den experimentellen Teil. Aber ich war der Koordinator. Die Vorlesung wurden auf Tonband aufgenommen. Feynman verwendete eines dieser schnurlosen Ansteckmikrofone, und wir beauftragten eine junge Frau mit der Transkription. Sie war ausgesprochen erfreut über den Auftrag. Sie machte ihren Job großartig. Aber es vergingen sechs oder acht Vorlesungen, ohne dass irgendetwas Verwertbares herausgekommen wäre. Das Transkript war wortgetreu, und in diesem Fall war die wortgetreue Wiedergabe schlecht – denn Feynman sagte nie etwas nur ein einziges Mal, er sagte alles mindestens zweieinhalb Mal, wenn nicht dreieinhalb- oder vier Mal – und jedes Mal auf eine etwas andere Weise. Dann ging er für ein paar Minuten zum nächsten Thema über und dachte dabei immer noch darüber nach, ob er das vorherige Thema eventuell besser erklären könnte, und dann sprang er wieder zurück. Die Ergebnisse waren dementsprechend lose strukturiert oder sogar etwas desorganisiert. Ich raffte mich dazu auf, persönlich das Editieren des ersten Bandes zu übernehmen. Es war ein Vollzeitjob; man hätte das Material nicht erfolgreich präsentieren können, ohne größte Sorgfalt darauf zu verwenden. Es gibt eine bestimmte Passage, ich bin sicher, dass ich sie finden würde, wenn ich im Buch nachschaue. Ich wünschte, Sie könnten sehen, in welchem Zustand sie ursprünglich war. (lacht) Es hatte zu tun mit der Physik vor Newton und der Physik nach Newton. Feynmans Punkt war der, dass die Welt vorher nichts als Konfusion, Dunkelheit und Aberglaube war – und danach war sie erleuchtet und strukturiert und zu verstehen. Es war absolut richtig, aber er versuchte es in einer Weise auszudrücken, die einfach keine Gestalt annehmen wollte. In einem seiner Sätze kam überhaupt kein Verb vor! (lacht) Asparturian: Wie gut kannten Sie Feynman als Sie anfingen? Leighton: Oh, ungefähr genauso gut, wie ich ihn heute kenne. Ich glaube, er und ich, wir beide haben eine bestimmte Form von sozialem Handicap gemeinsam: Ich kann mich nicht an die Namen von Personen erinnern, solange ich sie nicht sehr genau und über eine längere Zeit hinweg studiert habe. Wenn ich einen Namen in meinem Kopf so archivieren will, dass ich ihn später wiederfinde, dann muss ich es genau in dieser Phase tun. Aber das Ärgerliche ist, wenn mir jemand während einer Unterhaltung vorgestellt wird und dann geht die Unterhaltung weiter – dann entfällt mir sein oder ihr Name leider sofort wieder. Das ist eines dieser Handicaps; und Feynman hat es auch. Er hatte sich am MIT mindestens ein Semester lang mit jemandem das Zimmer geteilt, der später am Caltech war, und er konnte sich nicht an seinen Namen erinnern! (lacht) Asparturian: Wie war es, zusammen mit ihm an den Lectures zu arbeiten? Leighton: Das, was anfangs im Transkript herauskam, war eine absolute Rohfassung auf „Feynmansch“, die zunächst auf den Originalblättern grob editiert werden musste. Nachdem ich des Material jeder seiner Vorlesung in eine Form gebracht hatte, aus

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der man meiner Ansicht nach die Druckvorlage setzen konnte, ging das Manuskript an die erwähnte junge Dame zurück, die es so zurecht machte, dass wir es Feynman vorlegen konnten. Er sah sich die Sachen hier und da an, hatte aber gewöhnlich keine Kommentare – das heißt wohl, dass er einigermaßen zufrieden damit war. Eine andere Sache war, dass der Vorlesungsbeginn um elf Uhr war, danach folgte die Mittagspause. Wir gingen zusammen zum Essen, und wenn er unzufrieden mit der Art und Weise war, wie er etwas erklärt hatte, dann gab es Fragen oder Kommentare, wie man es besser machen kann. Es gab Vorschläge und wir diskutierten darüber. Es saßen auch andere Leute in der Vorlesung, Professoren und Lehrassistenten, sodass die Mittagspause immer zu einem guten Teil der Diskussion über die vorangegangene Vorlesung gewidmet war. Es war nicht bewusst so organisiert worden, aber es war eine Möglichkeit, Ideen zu entwickeln. Asparturian: War das alles ursprünglich so entworfen worden, dass es vor allem den Caltech-Studenten zugute kommen sollte? Leighton: Oh, ja. Asparturian: Aber dann verbreitete es sich irgendwie, nicht wahr? Leighton: Nun, kein Physikdozent, der Studienanfänger der Physik unterrichtete, konnte der Versuchung widerstehen, sich eine Kopie der Feynman Lectures zu beschaffen, egal ob er sie in seinem Kurs tatsächlich verwendete oder nicht. Dieses Projekt wurde durch ein Ford-Programm finanziert. Es gab eine Übereinkunft, in der sich das Institut bereit erklärte, sämtliche Lizenzeinnahmen aus den Texten in die Unterstützung ähnlicher Aktivitäten am Caltech zu stecken. Nichts von den Lizenzeinnahmen ging an irgendeine der Personen, die mit den Vorlesungen selbst befasst waren. Das waren normale akademische Aufgaben, das heißt, bei dem Projekt stand nicht im Vordergrund, dass dabei etwas herauskommt, was urheberrechtlich geschützt ist. Das war gut so. In dieser Zeit sagte Feynman: „Wir werden sehen, ob es sich gut verkauft, wenn wir uns anschauen, wie sich unsere Gehälter in den nächsten vier, fünf Jahren entwickeln.“ (lacht) Und er hatte Recht. Unsere Gehälter stiegen – seines aus offensichtlichen Gründen und die von uns anderen zum großen Teil auch, weil wir nahe dran waren, nehme ich an. Asparturian: Ihr Sohn Ralph war bei einer ähnlichen Sache dabei.1 Wie kam es dazu? Ist das so eine Art Familienprivileg geworden? Leighton: Ich kann mich nicht mehr genau an die Reihenfolge erinnern, in der sich die Dinge zutrugen. Jedenfalls gaben meine Frau und ich ab und zu Dinnerpartys, und Feynman war bei einer oder mehreren unser Gast. Mein Sohn Ralph war zu der Zeit auf der High School und zu seinen Hobbys gehörte das Trommeln. Er war mit einer sehr musikalischen Familie befreundet; die Eltern und viele Geschwister spielten 1

Ralph Leighton schrieb zusammen mit Feynman zwei Bände mit Erinnerungen, Surely You’re Joking, Mr. Feynman! (Norton, 1985) und What Do You Care What Other People Think? (Norton, 1988). Beide Bände erschienen 2005 in einem gemeinsamen Band mit dem Titel Classic Feynman.

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verschiedene Instrumente, und dadurch hatten wir noch eine ganz andere Gruppe von Gästen in unserem Haus. Bei einer dieser Gelegenheiten hörte Feynman Ralph und seine Freunde am anderen Ende des Hauses trommeln. Und natürlich ging er zu ihnen hin – er fühlte sich in Gesellschaft von Jugendlichen überhaupt sehr wohl. Er stellte sich ihnen vor und sie luden ihn ein, mit ihm zu trommeln. Und das führte zu ziemlich regelmäßigen Trommel-Sessions von Feynman, Ralph und einigen seiner Freunde. Ich selbst war neugierig, was Feynmans Fähigkeiten als Trommler betraf, also fragte ich eines Tages Ralph: „Sag mal, wie gut ist Feynman als Trommler?“ Er sagte: „Na ja, er hält den Rhythmus ganz gut und er ist sehr schnell, aber manchmal fällt es ihm schwer, in die Gänge zu kommen – aber für einen alten Knaben ist er ziemlich gut.“ (lacht) Ich sagte Ralph, dass er gerade über die Fähigkeiten jenes Menschen gesprochen hatte, der wahrscheinlich mehr darüber weiß, wie das gesamte Universum funktioniert, als irgendjemand sonst auf der Welt. (lacht) Aber wie auch immer, Ralphs Freunde verließen nach und nach ihr Zuhause und gingen an irgendein College, und nur Feynman und Ralph trommelten zusammen weiter. Wenn Sie lange genug mit Feynman zusammen sind, dann hören Sie unweigerlich all diese amüsanten Geschichten, in zufälliger Reihenfolge. Zweifellos gewannen diese Anekdoten durch das Erzählen, aber sie sind alle ganz real. Es gibt einen großen Topf, aus dem er gelegentlich eine dieser Anekdoten herausfischt. Das heißt, dass sich während der Unterhaltung manches so oder so wiederholte. Wenn Sie zufällig während einer früheren Unterhaltung in seiner Nähe gewesen waren, dann konnte es vorkommen, dass sie die eine oder andere Story schon kannten – zum Beispiel wie Feynman als Junge Radios repariert hat oder wie er in Los Alamos mit Generälen zu tun hatte. Und Feynman konnte ewig so weitermachen: er kam vom Hundertsten ins Tausendste – es war unglaublich. Der Mann ist absolut phantastisch. Asparturian: Er war, wie’s aussieht eine unerschöpfliche Quelle von Anekdoten. Leighton: Oder, wie manche Leute vielleicht sagen würde, eine unverzeihliche! (lacht) Während ihrer Trommel-Sessions machte Ralph Tonbandaufnahmen. Dann transkribierte er sie, zuerst auf der Schreibmaschine und später auf meinem Computer. Feynman fand Gefallen daran, das war also nichts Heimliches. Es war einfach so, dass Ralph sagte: „Diese Geschichten sind so großartig, aber sie gleiten mir wie Juwelen durch die Finger – darf ich sie aufnehmen?“ Dann sagte ich irgendwann zu Ralph: „Was hältst du davon, wenn ich mir die Niederschriften anschaue? Ich würde gern meine Erinnerungen auffrischen.“ Und so las ich das meiste davon. Ab und zu fiel mir ein Wort auf, dass wohl missverstanden worden war. Asparturian: Sie sind also vertraut mit den meisten dieser Geschichten? Leighton: Aber ja. Nur ungefähr 20 % waren neu für mich. Wir haben zwar nie darüber gesprochen, aber ich glaube, Ralph und ich haben bei unseren sehr verschiedenen Projekten die gleiche Erfahrung mit Dick gemacht: nämlich, dass man ein Minimum

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Interview mit Robert Leighton

an Bearbeitung in das stecken muss, was er gesagt hat. Man sollte den Text so nahe am Original belassen, wie es nur möglich ist, einschließlich seiner Manierismen – aber nicht die Wiederholungen. Bei den Physikvorlesungen fand ich es absolut notwendig, die Wiederholungen etwas einzudampfen. Ralph hat ein großes Talent für solche Sachen. Allerdings, dieser spezielle Job war das erste Mal überhaupt, dass er versucht hat, etwas zu schreiben, das publiziert wird, also hatte er ein paar wertvolle Lektionen bei Ed Hutchings (Lektor für Technik und Naturwissenschaften). Asparturian: Ist eine Serie geplant? Leighton: Na ja, es gibt durchaus noch mehr Geschichten. Und außerdem gibt es QED [QED: The Strange Theory of Light and Matter2 von Richard Feynman], das vor kurzem erschienen ist und das ziemlich gute Übersichtsartikel enthält. Und ich glaube, dass Ralph immer noch seinen Kassettenrecorder laufen lässt. Asparturian: Es gab einige wenige Stellen in diesem Buch [Surely You’re Joking, Mr. Feynman!3 ], bei denen Feynman meiner Meinung nach nicht besonders gut wegkam. Gab es irgendwelche Diskussionen, einige davon zu streichen? Leighton: Nein. So ist der Mann eben.

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Auf Deutsch erschienen unter dem Titel Die seltsame Theorie des Lichts und der Materie Auf Deutsch erschienen unter dem Titel Sie belieben wohl zu scherzen, Mr. Feynman!

Interview mit Rochus Vogt Das Material in diesem Abschnitt wurde am 15. Mai 2009 am California Institute of Technology von Ralph Leighton aufgenommen. Leighton und Michael Gottlieb interviewten Rochus E. (Robbie) Vogt über das Caltech in den 1960er-Jahren, und darüber, wie es war, Feynmans Physik zu unterrichten. (Ausrufezeichen zeigen zumeist an, dass Vogt über das lachen musste, was er gerade sagte.) Leighton: Ich möchte Sie nach Ihrer Rolle bei den Feynman Lectures on Physics fragen. Lassen Sie uns in diese Zeit zurückblicken. Vogt: Ich kam 1962 ans Caltech, und die Erstsemestervorlesung war 1961 gehalten worden – ich kam also in dem ersten Jahr, in dem Feynmans Vorlesung in etwas übersetzt werden musste, was normale Menschen machen konnten – und das war eine große Herausforderung! Als das Caltech mich einstellte, sagte ich zu Carl Anderson, dem Leiter der Physikfakultät: „Ich habe in Chicago eine wichtige Arbeit zu Ende zu bringen, deshalb kann ich vor Mitte Oktober nicht weg.“ Und darauf er: „Kein Problem; jemand wird Ihren Kurs bis Mitte Oktober übernehmen, aber sobald Sie hier aufkreuzen, beginnen Sie zu unterrichten!“ Ich erinnere mich, dass ich mit meiner Frau Micheline an einem Samstagnachmittag in Pasadena ankam, und am Montagmorgen stand ich im Hörsaal – ich wusste überhaupt nicht, was ich da tat! Es war das zweite Jahr des Kurses, Feynman hielt die Vorlesung für das zweite Studienjahr, und Ihr Vater [Robert Leighton] hatte die Vorlesung für die Studienanfänger übernommen. Leighton hielt sehr gute Vorlesungen und es war ein Vergnügen, in diesem Team mitzuarbeiten – und es war auch spannend zu sehen, ob wir Normalsterblichen Feynmans Physik lehren konnten, etwas, wovon viele Leute bezweifelten, dass es möglich ist! Unter Bob Leighton war ich einer der Lehrassistenten und gab zwei Übungsseminare, ein gewöhnliches und eines für die ambitionierteren Studenten. Das für die Ambitionierten war ganz ordentlich; das Gewöhnliche eher nicht, denn da waren zum Beispiel Biologen dabei, die gar keine Lust hatten, Physik zu lernen! Aber trotzdem, es funktionierte irgendwie. Es war eine größere Herausforderung als das andere Seminar – es war viel einfacher, die ambitionierten Studenten zu unterrichten: sie machten alles von allein, sie brauchten mich gar nicht. Leighton: Es ist lustig, wie man glauben kann, ein guter Lehrer zu sein – wenn man gute Studenten hat! Vogt: Das ist wahr. Damals gab es an der gesamten Fakultät Reports zur Überprüfung der Lehrqualität, und ich las meinen eigenen. Da stand: „Er macht einen sehr guten Job, aber das kann natürlich jeder mit einem so guten Vorlesungsskript wie dem von

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Interview mit Rochus Vogt

Feynman.“ Sie hielten das damals also für ein sehr gutes Vorlesungsskript. Später sagten Leute am Caltech, dass die Feynman Lectures nicht wirklich als Lehrbuch geeignet sind – aber es ist interessant, dass viele sie parallel zu irgendetwas anderem lesen, was ihnen aufgetragen wurde. Und das heißt, dass die Lectures nicht verloren gegangen sind. Aber am Caltech sollten sie noch immer die maßgebliche Lektüre sein, Punkt! Es war nicht einfach, denn keiner von uns hatte den Charme oder die Allüren von Feynman – niemand kann das nachahmen. Aber in meinem zweiten Jahr, als ich die Vorlesung für Studienanfänger hielt (als Nachfolger von Bob Leighton), gab ich immer den folgenden Hinweis: Lesen Sie das folgende Kapitel der Feynman Lectures, und dann erkläre ich Ihnen, was sie damit anfangen können. Das funktionierte, weil ich nicht versuchte nachzuplappern, was Feynman gesagt hat. Tatsächlich sagte ich ihnen: „Es macht keinen Sinn, wenn ich versuche, die Bibel nachzuplappern – sie steht für sich – aber ich kann Ihnen erzählen, wie Sie damit arbeiten können.“ Ich gab ihnen Beispiele, Anwendungen und Weiterführungen, manchmal auch Interpretationen – denn Feynmans Ausführungen waren manchmal auf einem ziemlich hohen Niveau – und das schien zu funktionieren. Sie werden lachen, wie ich dazu kam, in meinem zweiten Jahr am Caltech die Feynman Lectures zu übernehmen. Eines Tages, Anfang Oktober, lief ich Bob Leighton über den Weg, und er sagte aus heiterem Himmel: „Robbie, ich möchte, dass du den Kurs übernimmst.“ „Was ist denn los, Bob?“, fragte ich beunruhigt. Er sagte: „Ich brauche ein Sabbatical, und ich habe beschlossen, nach Kitt Peak in Arizona zu gehen, und außerdem habe ich beschlossen, dass du den Feynman-Kurs übernehmen wirst.“ Und damit war es raus, dass Bob Leighton plante, die Feynman Lectures an mich abzugeben. Matt Sands ging durch die Decke, als er davon hörte! Ich erinnere mich, wie ich mit Bob Leighton in dessen Büro darüber sprach, und draußen schrie Matt Sands mit lauter Stimme und ohne jemand spezielles zu adressieren. Soweit ich mich erinnere, schrie er: „Bob Leighton ist verrückt geworden! Er ist irre! Er lässt diesen unerfahrenen Grünschnabel von Assistenzprofessor Feynmans Vorlesung halten! Das ist ein Verbrechen! Ich protestiere!“ Er war wirklich sehr aufgebracht, weil ihm die Sache so wichtig war. Er vertraute Bob Leighton, aber von mir hatte er noch nie gehört. Aber egal, ich hielt am 21. Oktober 1963 meine erste Feynman-Vorlesung. Mehrere Dinge waren geschehen: Ich hatte vor, in der Vorlesungspause im Dezember eine Konferenz in Indien zu besuchen und hatte mich deshalb gegen Gelbfieber und Thyphus impfen lassen – und nach der Thyphusimpfung bekam ich hohes Fieber. Das war am 20. Oktober. Und das i-Tüpfelchen war, dass meine Frau Micheline an diesem Tag unsere erste Tochter zur Welt brachte. Ich verbrachte also die Nacht vom 20. auf den 21. Oktober in der Klinik und harrte der Dinge, die da kommen würden! Ich fand nur ein paar Stunden Schlaf, hatte hohes Fieber und hielt so meine erste FeynmanVorlesung – es war ein toller Start.

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Übrigens tat Ihre Mutter, Alice Leighton, in dieser Situation etwas Wunderbares. Sie rief uns an und sagte: „Ich habe ein schlechtes Gewissen, dass Bob Ihnen die FeynmanVorlesungen aufgehalst hat, und ich weiß, dass junge Leute wie Sie erst mal auf die Beine kommen müssen. Deshalb habe ich für Sie einen Windelservice beauftragt – das wird Ihnen eine kleine Hilfe sein.“ Und das war in der Tat so. Jedenfalls, wie ich schon sagte, fühlte ich mich sehr gut dabei, Feynmans Physik zu unterrichten, denn meine Studenten waren sehr helle Köpfe. Wenn man ihnen eine Pause gab, dann fingen sie damit etwas Vernünftiges an. Ich glaube, sie waren in meinem Kurs sogar besser in der Lage, vernünftige Dinge zu tun, als es die Studenten von Feynmans Kurs waren, weil sie im Unterschied zu ihren Vorgängern jemanden hatten, der ihnen zusätzlich Anwendungen von Feynmans Stoff vorlegte. Wie Sie vielleicht wissen, waren mehr als die Hälfte der Lehrassistenten Professoren, als Feynman selbst die Vorlesung hielt. Aber auch noch als ich der Vorlesende war, gab es mehrere Professoren, die die Übungsseminare hielten – einer meiner Lehrassistenten war Tommy Lauritsen. Tommy war eine große Hilfe. Er setzte sich in jede Vorlesung und sagte mir, ob sie gut war oder ob ich irgendetwas verbessern könnte. Lehrassistent bei den Feynman-Vorlesungen zu sein wurde als eine notwendige Vorbereitung betrachtet, um später selbst die Feynman Lectures halten zu können; nachdem ich die Feynman Lectures zwei Jahre gehalten hatte, übernahm sie Tommy von mir – er war der nächste, der die Feynman Lectures hielt. Als ich selbst unter Bob Leighton Übungsseminare geleitet hatte, war ich mit Feynmans Kurs sehr vertraut geworden. Ohne diesen Hintergrund, aus der Kalten heraus, hätte ich sicher keine gute Vorlesung halten können. Als Lehrassistent hatte ich gesehen, was die Studenten brauchen – was bei ihnen funktionierte und was nicht; und auch als ich dann selbst die Vorlesung hielt, übernahm ich parallel dazu eines der Übungsseminare, denn ich wollte wissen, was die Studenten machen und was ich selbst besser machen könnte. Wenn Sie eine kleine Gruppe von zehn oder zwanzig Studenten unterrichten, dann bekommen Sie ein sehr gutes Feedback; dagegen haben Sie als Vorlesender fast gar kein Feedback, weil die Studenten die ganze Zeit mit ihren Mitschriften und mit Zuhören beschäftigt sind. Manchmal bleibt man nach der Vorlesung eine Weile im Hörsaal, aber das ist nicht das gleiche. Aber wenn Sie ihnen Hausaufgaben aufgeben und diese dann mit ihnen diskutieren, dann sehen Sie, ob die Studenten tatsächlich mit der Physik zurechtkommen. Ich hatte meine eigene Philosophie zum Thema Hausaufgaben, die sich stark von der unterscheidet, die heute üblich ist. Heute werden die Lösungen ausgedruckt und den Studenten ausgehändigt, oder man gibt ihnen die Blätter vom letzten Jahr, weil oft die gleichen Aufgaben verwendet werden. Ich bin total dagegen, das so zu machen. Es ist eine Frage der Psychologie: Wenn Sie nicht weiterkommen und absolut keine Ahnung haben, was als nächstes zu tun ist, dann sind Sie natürlich versucht, auf den Lösungszettel zu schauen, um über den Berg zu kommen. Aber sehr bald werden Sie dazu übergehen, immer früher auf den Zettel zu schauen. Also habe ich den Studen-

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ten meine Philosophie sehr deutlich gemacht. Ich sagte: „Ich erwarte von Ihnen, dass Sie zuerst versuchen, die Hausaufgaben ganz allein zu lösen. Aber wenn Sie zwanzig Minuten über einer Aufgabe gebrütet haben und noch immer keine Ahnung haben, was Sie damit machen sollen, dann gehen Sie los und sprechen Sie mit anderen darüber. Das braucht Ihnen nicht peinlich zu sein. Manchmal kriegt man es einfach nicht hin; vielleicht haben Sie etwas Wichtiges übersehen. Wenn Ihnen jemand das richtige Stichwort gibt, dann wissen Sie, was zu tun ist. Aber sobald Sie das Problem verstanden haben, gehen Sie zurück in Ihr Zimmer und schreiben Sie die Lösung ganz für sich alleine auf – kopieren Sie nie die Lösung von jemand anderem.“ Es gab noch eine dritte Phase. Ich sagte: „Wenn Sie als Gruppe nach dreißig Minuten keinen Lösungsweg für das Problem gefunden haben, dann rufen Sie mich an.“ Ich hatte vergessen, wann Studenten üblicherweise ihre Hausaufgaben machen – also bekam ich Anrufe um zwei oder drei Uhr morgens: „Wir kommen nicht weiter! Wir haben die ganze letzte Stunde damit verbracht und wir haben nichts herausbekommen!“ Gottlieb: Ich hätte ihnen noch ein weiteres Problem aufgegeben: „Was ist die spätest mögliche Uhrzeit, um die es sich schickt, einen Professor anzurufen?“ [lacht] Vogt: Um ehrlich zu sein, war ich froh, dass sie sich ernsthaft daran versuchten. Und wenn man jung ist, ist es keine große Sache, um drei Uhr morgens aufzustehen, fünfzehn Minuten mit ein paar Studenten zu sprechen und sich dann wieder schlafen zu legen – besonders, wenn nebenan sowieso ein Baby schreit! Was ich gegen die Probleme der Studenten tun konnte, wusste ich wenigstens; was dagegen das Baby betrifft, da hatte ich keine Ahnung! Um auf Ihre erste Frage zurückzukommen, Ralph, zu meiner Rolle bei den FeynmanVorlesungen: Ich sah mich selbst als eine Art Gefolgsmann, jemand, der den Meister interpretiert, ein Vermittler zwischen Feynman und den Studenten. Eine andere Rolle, die ich zusammen mit Bob Leighton spielte, ergab sich aus den Übungsaufgaben. Bob hatte großen Einfluss auf mich, ich meine – er war derjenige, der mich überhaupt dazu gebracht hat, das zu machen, was ich da tat! Er sagte oft, wenn wir uns Aufgaben vom Schwierigkeitsgrad A, B und C ausdachten: „Wir brauchen noch ein paar A’s oder noch ein paar B’s.“ Meistens hatten wir jede Menge C’s, was die schwierigsten Aufgaben waren! Er wusste immer, was fehlte. Manchmal kam er selbst mit einer Aufgabe an, aber sehr oft sagte er: „Robbie, komm, denk dir noch ein paar Aufgaben aus – ich weiß, du kannst das.“ Das war sein Stil: Er spürte, dass Leute das Zeug dazu haben, bestimmte Dinge zu tun, sie brauchten nur etwas Motivation, um es tatsächlich zu tun. Ich glaube nicht, dass er mir irgendetwas aufdrängen wollte; er dachte einfach, dass er mir auf diese Weise helfen würde, das Richtige zu tun. Irgendwann, Jahre später, habe ich „geschummelt“ und eine Problemlösung von jemand anderem benutzt. Es gibt einen wichtigen Fachartikel von einem meiner Helden, Val Telegdi, über die Berechnung des g-Faktors des Elektrons. Er steht in Nuovo Cimento (einer italienischen Fachzeitschrift für Physik), fünfundsechzig Seiten, wenn ich mich recht entsinne, voller Mathematik, die für mich zu hoch ist. Ich blätterte durch

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den verfluchten Artikel und dachte mir: Das ist verdammt harte Arbeit, da durchzusteigen. Da erinnerte ich mich an Feynmans Vorlesungen für das zweite Studienjahr über Quantenmechanik. Ich wusste, dass es möglich ist, das gleiche Problem mit der Physik aus den Feynman Lectures zu lösen. Also stellte ich meinen Studenten folgendes Problem als Hausaufgabe: „Berechnen Sie den g-Faktor des Elektrons.“ Mehr als die Hälfte der Studenten waren dazu in der Lage. Das war natürlich ein bisschen gemein von mir, und es ist auch nicht möglich, die Form der Quantenmechanik, wie sie Feynman lehrte, überall zu verwenden. Aber sie hat doch eine große Anwendbarkeit bei Problemen wie diesem. Sie können sich nicht vorstellen, wie stolz die Studenten waren: auf anderthalb Seiten konnten sie ein Stück Physik abhandeln, für das Telegdi fünfundsechzig Seiten und eine Menge Mathematik gebraucht hatte! Und deshalb waren sie der Meinung, das Feynmans Quantenmechanik sehr elegant ist, und das ist sie tatsächlich. *** Ich erinnere mich noch an eine andere Sache, um auf meine Anfangsjahre zurückzukommen, damals, als ich den Feynman-Kurs las: Jede Woche, immer mittwochs, trafen sich zwischen sechs und zehn Physiker zum Mittagessen. Wir brachten unser Essen von zu Hause mit oder gingen zu Mijares, einem mexikanischen Restaurant in Pasadena. Zu der Gruppe gehörten Bob Leighton, Gerry Neugebauer, Tommy Lauritsen und noch ein paar andere. Bei diesen Treffen sprachen wir über die Lehre: was funktionierte, was funktionierte nicht, was kann man besser machen. Es gab so viel gegenseitige Unterstützung, dass man dank all der Hilfe ein besserer Lehrer werden konnte. Und auch bei den Treffen am Freitagabend bei den Lauritsens, wo sich viele von uns bei ein paar Martinis ins Wochenende verabschiedeten. Meistens sprachen wir über die Studenten und über die Lehre. Über unsere Forschung sprachen wir bei anderen Gelegenheiten, weil jeder von uns andere Forschungsschwerpunkte hatte, und wir hatten außerdem unterschiedliche Ansichten, wie spannend die Dinge sind, die andere machten – jeder von uns dachte natürlich, dass seine eigene Forschung am spannendsten ist – aber wenn wir auf die Lehre zu sprechen kamen, dann interessierte sich jeder von uns für das, was die anderen machten, weil da jeder von dem anderen lernen konnte. Niemand trieb uns an, das zu tun; es ergab sich ganz spontan in dem Klima, das in den frühen 1960ern am Caltech herrschte. Das war, so wie ich es verstanden habe, der Ursprung der Feynman-Vorlesungen – die Idee entstand bei den Lauritsens bei ein paar Drinks. Die Leute sprachen darüber, wie man Sachen besser machen kann, und Matt Sands kam mit seiner Idee heraus, dass man Feynman gewinnen müsste. Es war bei diesen Zusammenkünften, als mir klar wurde, wie eine Universität zu einem sehr fruchtbaren und warmen Ort werden kann – wegen den Studenten: sie sind es, die die Fakultät zusammenhalten. Wir gehören zusammen wegen unserer Studenten, nicht

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wegen unserer Forschung. Natürlich halten wir auch als Individuen zusammen – Tommy kam oft in mein Labor und sagte: „Erzähl mir, was du da machst“, und er machte gute Vorschläge, aber das waren in der Regel Verbindungen zwischen genau zwei Leuten. Die Arbeit mit den Studenten dagegen war wirklich eine kollektive Angelegenheit. Wenn ich meine Vorlesungen hielt, dann saßen gewöhnlich drei, vier Professoren in der letzten Reihe in 201 East Bridge, dem großen Vorlesungssaal – nicht, weil sie mir nicht vertraut hätten oder weil sie mich ausspionieren wollten, sondern weil sie neugierig waren, wie ich es machen würde und was sie selbst dabei lernen könnten. Sogar Carl Anderson, der Fakultätsleiter, besuchte jede zweite meiner Vorlesungen, und ich bekam Feedback von allen. Das war der Feynman-Geist, wissen Sie: als Feynman den Kurs hielt, war die letzte Reihe voller Professoren. Sie waren total fasziniert. Und deshalb wurde es zu einer Gewohnheit, an der sie festhielten, als die Vorlesung später von einer gewöhnlichen Person gehalten wurde – einer langweiligen Person wie mir – denn es war zu einem Ritual geworden. So etwas ist wichtig. Und das ist es, was ich bedauere: Ich sehe diesen Geist heute nicht mehr. Eine letzte Sache noch: ich war damals für meine Vorlesungen verantwortlich. Ich überlegte mir die Übungsaufgaben, die Test und die Fragen für die Abschlussprüfungen – ich höchstpersönlich. Niemand anders machte all diese Dinge für mich. Ich hätte auch niemanden darum bitten wollen, denn ich wusste schließlich am besten, was man fragen sollte! Neben der Vorlesung hielt ich auch noch eines der Übungsseminare für die besseren Studenten, und ich leitete das Labor für die Studienanfänger – das war damals das übliche Lehrpensum. Heute, glaube ich, beträgt es nur noch ein Viertel davon. Die meisten Professoren geben heute einen Kurs in jedem zweiten Semester. Aber ich will fair sein: Mir ist klar, dass es heute gar nicht mehr möglich wäre, das zu tun, was wir damals taten, denn heute verbringen Professoren sehr viel Zeit mit dem Einwerben von Forschungsgeldern und mit der Verteidigung ihrer Forschungsergebnisse – aber das ist wieder eine andere Geschichte.

1

Grundlagen

Wiederholungsvorlesung A 1.1

Einführung in die Wiederholungsvorlesungen

Diese drei zusätzlichen Vorlesungen werden ziemlich langweilig: Wir behandeln denselben Stoff wie vorher und absolut nichts Neues. Deshalb bin ich sehr überrascht, dass Sie so zahlreich erschienen sind. Ehrlich gesagt, ich hatte eigentlich gehofft, dass nicht so viele von Ihnen hier auftauchen würden und dass diese Vorlesungen überflüssig sein würden. Sie sollen hier Gelegenheit bekommen, sich zu entspannen, Zeit zum Nachdenken haben und mit den Dingen, von denen Sie gehört haben, etwas herumspielen können. Das ist wahrscheinlich der effektivste Weg, um Physik zu lernen. Einfach hereinzukommen und sich eine Vorlesung zur Wiederholung anzuhören ist dagegen keine gute Idee. Besser ist es, wenn Sie selbst die Vorlesungen nacharbeiten. Deshalb rate ich Ihnen – sofern Sie nicht völlig ahnungslos, verwirrt und durcheinander sind –, dass Sie diese Vorlesungen sausen lassen und einfach selbst ein wenig ausprobieren und versuchen herauszufinden, was für Sie interessant ist, ohne sich allerdings an irgendeinem speziellen Thema festzubeißen. Sie werden sehr viel besser und leichter und vollständiger lernen, wenn Sie sich ein Problem herauspicken, das Sie interessant finden und an dem Sie gern herumspielen möchten – irgendetwas, das Sie gehört haben und nicht verstehen, oder das Sie näher analysieren oder mit dem Sie mal etwas Kniffliges ausprobieren möchten – das ist die beste Art und Weise Dinge zu begreifen. Die bisherigen Vorlesungen sind ein neuer Kurs und konzipiert worden, um ein bekanntes Problem zu lösen: Kein Mensch weiß, wie man den Leuten Physik beibringen und sie unterrichten soll. Das ist eine Tatsache, und wenn Sie die Art und Weise, wie das hier geschieht, nicht mögen, dann ist das völlig normal. Man kann einfach nicht zufrieden stellend unterrichten: Seit Jahrhunderten oder noch länger versuchen die Menschen herauszufinden, wie man lehrt, aber niemand hat es bisher geschafft. Wenn Sie also dieser neue Kurs nicht zufrieden stellt, dann ist das nichts Besonderes. Am Caltech ändern wir immer wieder die Kurse in der Hoffnung, dass wir sie dadurch verbessern. So haben wir dieses Jahr den Physikkurs wieder verändert. Eine der Beschwerden in den letzten Jahren war, dass die leistungsstärkeren Studenten die gesamte Mechanik langweilig fanden: Sie büffelten, machten Aufgaben, beschäftigten sich mit Wiederholungen und legten Prüfungen ab und es war keine Zeit, sich Gedanken über

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1 Grundlagen

irgendetwas zu machen. Es gab nichts Aufregendes, keinen Bezug zur modernen Physik oder Ähnliches. Und deshalb sollte die Vorlesungsreihe in dieser Hinsicht besser sein und diesen Studenten helfen, indem wir die Verbindung zum Rest des Universums herstellen und das Thema auf diese Weise möglichst etwas interessanter gestalten. Andererseits hat eine solche Herangehensweise den Nachteil, dass sie viele Leute verwirrt, weil sie nicht wissen, was sie lernen sollen – oder besser gesagt, es gibt so viel Stoff, dass sie nicht alles lernen können, und es fehlt ihnen an der erforderlichen Intelligenz um herauszufinden, was sie interessant finden, und sich dann nur auf diese Sache zu konzentrieren. Deshalb wende ich mich an jene von Ihnen, die die Vorlesungen sehr verwirrend, lästig und irritierend fanden, die nicht wissen, was sie lernen sollen, und die sich etwas verloren fühlen. Die anderen, die sich nicht verloren fühlen, sollten nicht hier sein und ihnen gebe ich jetzt die Gelegenheit zu gehen . . .1 Ich sehe schon, keiner traut sich. Oder ich bin hier die Fehlbesetzung, wenn jeder sich verloren fühlt! (Vielleicht sind Sie auch nur zur Unterhaltung hier.)

1.2

Caltech von unten

So, jetzt stelle ich mir vor, dass einer von Ihnen in mein Büro kommt und sagt: „Feynman, ich habe alle Ihre Vorlesungen gehört und meine Zwischenprüfung abgelegt. Ich versuche, die Aufgaben zu lösen, und ich kann nichts. Ich glaube, ich bin der Schwächste in der Gruppe. Ich weiß nicht, was ich machen soll.“ Was würde ich Ihnen sagen? Als Erstes würde ich Sie auf Folgendes hinweisen: Die Aufnahme am Caltech hat Vorund Nachteile. Die Vorteile haben Sie mal gekannt, aber mittlerweile vergessen, und sie haben damit zu tun, dass diese Universität einen ausgezeichneten Ruf hat. Der gute Ruf ist zweifellos gerechtfertigt. Es gibt sehr gute Kurse. (Was diesen Physikkurs angeht, weiß ich nicht so recht . . . natürlich habe ich meine eigene Meinung dazu.) Diejenigen, die das Caltech geschafft haben, sagen, wenn sie in die Industrie oder in die Forschung gehen, dass sie hier eine sehr gute Ausbildung bekommen haben, und wenn sie sich mit Leuten vergleichen, die eine andere Lehranstalt besucht haben (obwohl es viele andere sehr gute solcher Anstalten gibt), stellen sie fest, dass sie eigentlich immer mit denen mithalten können. Sie glauben immer, dass sie die beste Lehranstalt von allen besucht haben. Das ist ein Vorteil. Aber es gibt auch einen gewissen Nachteil: Weil das Caltech einen so guten Ruf hat, bewirbt sich fast jeder hier, der in seiner High-School-Klasse der Beste oder Zweitbeste ist. Es gibt ziemlich viele High Schools und von allen bewerben sich die besten 1

Niemand ging hinaus.

1.2 Caltech von unten

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Schüler2 . Wir haben ein Auswahlsystem ausgearbeitet mit allen Arten von Tests, sodass wir die Besten der Besten bekommen. Und so sind Sie sehr sorgfältig aus all diesen Schulen ausgesucht worden und hierher gekommen. Aber wir arbeiten immer noch an diesem System, denn wir haben ein sehr ernstes Problem festgestellt: Egal wie sorgfältig wir die Studenten auswählen, egal wie geduldig wir analysieren – wenn sie hierher kommen, passiert etwas: Es stellt sich immer heraus, dass ungefähr die Hälfte von ihnen unter dem Durchschnitt liegt! Natürlich lachen Sie darüber, denn rational gesehen ist das selbstverständlich, aber emotional gesehen nicht. Emotional gesehen kann man darüber nicht lachen. Wenn Sie in den naturwissenschaftlichen Fächern an der High School lange Zeit die Nummer eins oder Nummer zwei (oder möglicherweise noch die Nummer drei) waren und Sie wissen, dass jeder, der in den naturwissenschaftlichen Fächern unter dem Durchschnitt war, ein kompletter Idiot war, und Sie jetzt plötzlich feststellen, dass Sie unter dem Durchschnitt sind – und die Hälfte von Ihnen ist unter dem Durchschnitt –, ist das ein heftiger Schlag, denn in Ihrer Vorstellung bedeutet das, dass Sie, relativ gesehen, genau so dumm sind wie diese Typen in der High School. Das ist der große Nachteil hier am Caltech: Dass dieser psychologische Schlag so schwer wegzustecken ist. Ich bin natürlich kein Psychologe. Ich stelle mir das alles nur vor. Ich weiß natürlich nicht, wie es wirklich wäre! Die Frage ist, was zu tun ist, wenn Sie feststellen, dass Sie unter dem Durchschnitt liegen. Es gibt zwei Möglichkeiten. Erstens könnten Sie zu dem Schluss kommen, dass es so schwierig und ärgerlich ist, dass sie aussteigen müssen – das ist ein emotionales Problem. Sie können Ihren Verstand bemühen und sich selbst klar machen, was ich Ihnen gerade aufgezeigt habe: Dass die Hälfte der Leute hier unter dem Durchschnitt liegt, obwohl sie alle spitze sind, deshalb bedeutet es absolut nichts. Sehen sie, wenn Sie diesen Quatsch, dieses merkwürdige Gefühl vier Jahre lang durchstehen, dann gehen Sie wieder in die Welt hinaus und werden entdecken, dass die Welt ist, wie sie immer war und dass Sie z. B., wenn Sie irgendwo einen Job bekommen, wieder die Nummer eins sind. Dann werden Sie mit großem Vergnügen der Experte sein, zu dem alle in diesem bestimmten Betrieb immer dann gelaufen kommen, wenn sie Inches nicht in Zentimeter umrechnen können! Es stimmt: Die Leute, die in die Industrie gehen oder an eine kleine Lehranstalt, die keinen ausgezeichneten Ruf im Bereich Physik hat, sind sehr gefragt, selbst wenn sie im unteren Drittel, im unteren Fünftel, im unteren Zehntel der Klasse waren – wenn sie nicht versuchen, sich selbst unter Druck zu setzen (ich erkläre das gleich). Sie stellen fest, dass das, was sie gelernt haben, sehr nützlich ist, und dass sie wieder das sind, was sie waren: glücklich, die Nummer eins. Andererseits kann Ihnen ein Fehler unterlaufen: Einige Leute treiben sich möglicherweise selbst bis zu einem Punkt, an dem sie darauf bestehen, die Nummer eins werden zu müssen, und trotz allem wollen sie zu einer weiterführenden Hochschule gehen und der beste Doktor in der besten Hochschule werden, obwohl sie hier der Schwächs2

1961 waren am Caltech nur Männer zugelassen.

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1 Grundlagen

te in der Klasse sind. Na ja, die werden wahrscheinlich enttäuscht und für den Rest ihres Lebens unglücklich sein, weil sie immer die Schwächsten in einer Spitzengruppe sein werden, weil sie sich diese Gruppe ausgesucht haben. Das ist ein Problem, und es liegt an Ihnen – es hängt von Ihrer Persönlichkeit ab. (Denken Sie daran, ich spreche mit dem Typ, der in mein Büro gekommen ist, weil er zum unteren Zehntel gehört. Ich spreche nicht zu den anderen, die glücklich sind, weil sie im oberen Zehntel liegen – das ist sowieso eine Minderheit!) Also, wenn Sie diesen psychologischen Schlag verkraften, wenn Sie sich selbst sagen können: „Ich bin im unteren Drittel der Klasse, aber ein Drittel von uns sind im unteren Drittel der Klasse, weil es so sein muss! Ich war in der High School der Beste und ich bin nach wie vor ein toller Kerl! Wir brauchen Wissenschaftler in diesem Land und ich werde ein Wissenschaftler sein und wenn ich mit dem Studium fertig bin, dann werde ich super sein, verdammt! Und ich werde ein guter Wissenschaftler sein!“, dann wird es so kommen. Sie werden ein guter Wissenschaftler sein. Trotz der rationalen Argumente besteht das einzige Problem darin, vier Jahre lang dieses merkwürdige Gefühl zu ertragen. Wenn Sie der Meinung sind, dass Sie dieses merkwürdige Gefühl nicht ertragen können, denke ich, dass es das Beste ist zu versuchen, woanders hinzugehen. Das ist kein Versagen. Es ist einfach eine emotionale Sache. Selbst wenn Sie zu den beiden Schwächsten in der Klasse gehören, bedeutet das nicht, dass Sie nicht gut sind. Sie müssen sich nur mit einer passenden Gruppe vergleichen anstatt mit dieser wahnsinnigen Auslese, die wir hier am Caltech haben. Deshalb mache ich diese Wiederholung mit Absicht für die, die sich verloren fühlen, sodass sie noch eine Chance haben, etwas länger hier zu bleiben um herauszufinden, ob sie es aushalten können oder nicht, okay? Noch etwas: dies ist keine Examensvorbereitung oder so etwas. Ich weiß gar nichts über die Prüfungen – ich meine, ich habe nichts mit ihrer Vorbereitung zu tun und ich weiß nicht, was darin vorkommt. Also gibt es überhaupt keine Garantie, dass das, was in der Prüfung vorkommt, nur mit dem Stoff zu tun hat, der in diesen Vorlesungen wiederholt wird, oder ähnlichem Quatsch.

1.3

Mathematik für Physik

Also, dieser Typ kommt in mein Büro und bittet mich, alles das, was ich ihn gelehrt habe, zu erklären. Und das ist das Beste, was ich tun kann. Das Problem besteht darin zu versuchen, den Stoff, der gelehrt wurde, zu erklären. Also beginne ich jetzt mit der Wiederholung. Ich würde diesem Studenten erklären: „Zuerst müssen Sie die Mathematik lernen. Und das heißt zunächst Integralrechnung. Und nach der Integralrechnung die Differentialrechnung.“

1.4 Differentiation

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Die Mathematik ist ein schönes Thema. Sie hat zwar auch ihre vielen kleinen Tücken, aber wir versuchen herauszufinden, wie groß der Mindestumfang ist, den wir für die Zwecke der Physik lernen müssen. Deshalb kann man die Haltung, die wir hier der Mathematik gegenüber zeigen, getrost als „respektlos“ bezeichnen. Sie ist rein nach Gesichtspunkten der Effizienz ausgerichtet. Ich werde nicht versuchen, die Mathematik zu Grunde zu richten. Wir müssen uns damit beschäftigen, das Differenzieren zu lernen wie wir gelernt haben, wie viel 3 plus 5 oder 5 mal 7 ist, weil diese Art von Arbeit so häufig vorkommt, dass es gut ist, wenn man dadurch nicht mehr verwirrt wird. Wenn Sie etwas aufschreiben, sollten Sie in der Lage sein, es sofort ohne Nachdenken und ohne Fehler zu differenzieren. Sie werden sehen, dass Ihnen diese Rechenoperation ständig begegnet – nicht nur in der Physik, sondern in allen Naturwissenschaften. Deshalb verhält es sich mit der Differentiation wie mit der Arithmetik, die Sie lernen mussten, bevor Sie Algebra lernen konnten. Übrigens gilt dasselbe auch für die Algebra: Sie brauchen in der Physik sehr viel Algebra. Wir gehen davon aus, dass Sie Algebra im Schlaf beherrschen, ohne einen Fehler zu machen. Wir wissen, dass das nicht stimmt, also sollten Sie Algebra üben: Schreiben Sie sich viele Ausdrücke auf, üben Sie sie und machen Sie keine Fehler. Fehler in Algebra, Differentiation und Integration sind einfach lästig. Sie bringen die Physik durcheinander und lenken Sie ab, während Sie versuchen, etwas zu analysieren. Sie sollten in der Lage sein, Berechnungen so schnell wie möglich und mit möglichst wenigen Fehlern durchzuführen. Dazu muss man einfach auswendig lernen – nur damit klappt es! Es ist, als ob man sich selbst eine Multiplikationstabelle macht wie in der Grundschule. Sie haben einen Haufen Zahlen an die Tafel geschrieben und dann ging’s los: „Dies mal das, dies mal das“ und so weiter. Zack! Zack! Zack!

1.4

Differentiation

Genauso müssen Sie die Differentiation lernen. Nehmen Sie eine Karte und schreiben Sie eine Reihe von Ausdrücken vom folgenden allgemeinen Typ darauf. Zum Beispiel: 1 + 6t 4t2 + 2t3 (1 + 2t)3 √ 1 + 5t

(1.1)

(t + 7t2 )1/3 und so weiter. Schreiben Sie, sagen wir, ein Dutzend solcher Ausdrücke auf. Ab und zu nehmen Sie dann einfach die Karte aus Ihrer Tasche, legen Ihren Finger auf irgendeinen Ausdruck und sagen die Ableitung laut vor sich hin.

26

1 Grundlagen

Mit anderen Worten, Sie sollten in der Lage sein, sofort zu erkennen, dass d (1 + 6t) = 6 ist (Zack!), dt oder dass

oder dass

 d  2 4t + 2t3 = 8t + 6t2 ist (Zack!), dt

(1.2)

d (1 + 2t)3 = 6 (1 + 2t)2 ist (Zack!). dt Alles klar? Also, zuerst einmal muss man sich einprägen, wie man ableitet – ganz einfach. Das ist eine notwendige Übung. Für das Differenzieren komplizierterer Ausdrücke ist die Ableitung einer Summe einfach: Sie ist einfach die Summe der Ableitungen jedes einzelnen Summanden. In dieser Phase unseres Physikkurses müssen wir nicht wissen, wie man kompliziertere Ausdrücke als die obigen oder deren Summen differenziert. Deshalb sollte ich Ihnen im Sinne dieser Wiederholung auch nicht mehr darüber erzählen. Aber es gibt eine Formel für das Differenzieren von komplizierten Ausdrücken, die in Kursen über die Integralrechnung normalerweise nicht in der Form angegeben wird, in der ich sie Ihnen gebe. Sie ist äußerst nützlich. Sie werden diese Formel später nicht lernen, weil niemand sie Ihnen sagen wird, aber es kann nicht schaden zu wissen, wie man sie anwendet. Nehmen wir an, ich möchte Folgendes differenzieren: 2   √ 6 1 + 2t2 t3 − t 1 + 2t + . √ √ t + 5t2 (4t)3/2 t + 1 + t2

(1.3)

Jetzt ist die Frage, wie wir das schnell erledigen. Das zeige ich Ihnen jetzt. (Dies sind nur Regeln. Es ist das Niveau, auf das ich die Mathematik reduziert habe, weil wir ja hier mit den Leuten arbeiten, die mal gerade so durchhalten.) Also: Sie schreiben den Ausdruck ein weiteres Mal auf und setzen hinter jeden Summanden eine Klammer:  6(1 + 2t2 )(t3 − t)2 · √ t + 5t2 (4t)3/2 (1.4) √  1 + 2t + · √ t + 1 + t2 Dann schreiben Sie etwas in die Klammern, sodass Sie, wenn Sie fertig sind, die Ableitung des Originalausdrucks haben. (Deshalb schreiben Sie den Ausdruck noch mal auf, falls Sie ihn nicht verlieren möchten.)

1.4 Differentiation

27

Nun schauen Sie sich jeden Term an und ziehen einen Strich – einen Teiler – und setzen den Term in den Nenner: Der erste Term ist 1 + 2t2 , er wird in den Nenner gesetzt. Die Potenz des Terms wird nach vorn gestellt (es ist die erste Potenz, 1) und die Ableitung des Terms (nach unserem Übungsspiel), 4t, kommt in den Zähler. Das ist der eine Term: � 4t 6(1 + 2t2 )(t3 − t)2 · 1 √ 2 3/2 1 + 2t2 t + 5t (4t) (1.5) √ � 1 + 2t + · √ t + 1 + t2 (Was ist mit der 6? Vergessen Sie sie! Es ist egal, welche Zahl davor steht: Wenn Sie wollten, könnten Sie folgendermaßen beginnen: „Die 6 geht in den Nenner, ihre Potenz, 1, wird nach vorn gestellt und ihre Ableitung, 0, kommt in den Zähler.“) Nächster Term: t3 − t geht in den Nenner, die Potenz, +2, wird nach vorn gestellt, die Ableitung, 3t2 − 1, kommt in den Zähler. Der nächste Term, t + 5t2 , geht in den Nenner, die Potenz, −1/2 (die umgekehrte Quadratwurzel ist eine negative halbe Potenz), wird nach vorn gesetzt, die Ableitung, 1 + 10t, geht in den Zähler. Der nächste Term, 4t, wird in den Nenner gesetzt, seine Potenz, −3/2, nach vorn, seine Ableitung, 4, kommt in den Zähler. Schließen Sie die Klammer. Das ist der eine Summand: � � 4t 3t2 − 1 1 1 + 10t 3 4 6(1 + 2t2 )(t3 − t)2 − · 1 +2 3 − √ 2 t + 5t2 2 4t 1 + 2t2 t −t t + 5t2 (4t)3/2 (1.6) √ 1 + 2t � · + √ t + 1 + t2 Nächster Summand, erster Term: Die Potenz ist +1/2. Wir nehmen die Potenz von √ 1 + 2t, die Ableitung ist 2. Die Potenz des nächsten Terms, t + 1 + t2 , ist −1. (Wie Sie sehen, ist es ein Kehrwert.) Der Term kommt in den Nenner und seine Ableitung (dies ist die einzig schwierige, relativ gesehen) hat zwei Teile, weil sie eine Summe ist: 1 2t 1+ √ . Schließen Sie die Klammer: 2 1 + t2 � � 6(1 + 2t2 )(t3 − t)2 4t 3t2 − 1 1 1 + 10t 3 4 − · 1 +2 3 − √ 1 + 2t2 t −t 2 t + 5t2 2 4t t + 5t2 (4t)3/2 (1.7) ⎡ √ 1 √ 2t ⎤ 1 + ⎥ ⎢ 1 + 2t ⎢⎢⎢ 1 2 2 1+t2 ⎥ ⎥⎥⎥ −1 · ⎢⎢⎣ + √ √ ⎥⎦ . 2 2 2 (1 + 2t) t+ 1+t t+ 1+t

Das ist die Ableitung des Originalausdrucks. Sehen Sie, durch das Einprägen dieser Vorgehensweise können Sie alles differenzieren – außer Sinus, Kosinus, Logarithmen

28

1 Grundlagen

etc. Aber Sie können die Regeln für diese Funktionen leicht lernen. Sie sind sehr einfach. Und dann können Sie diese Vorgehensweise anwenden, selbst wenn die Terme Tangensfunktionen oder so etwas enthalten. Als ich den Ausdruck aufgeschrieben habe, habe ich bemerkt, dass Sie besorgt aussahen, weil er so kompliziert ist. Aber ich denke, jetzt verstehen Sie, dass es sich um ein wirklich überzeugendes Verfahren für die Differentiation handelt, weil es – zack! – die Antwort ohne Verzögerung liefert, egal, wie kompliziert die Sache ist. Der Gedanke hier ist, dass die Ableitung einer Funktion f = k · ua · vb · wc . . . nach t   du/dt dv/dt dw/dt df = f· a +b +c + ··· (1.8) dt u v w ist (wobei k und a, b, c . . . Konstanten sind). Allerdings glaube ich nicht, dass die Aufgaben in diesem Physikkurs so kompliziert sind, sodass wir wahrscheinlich gar keine Gelegenheit haben werden, dieses Verfahren anzuwenden. Aber was soll’s, das ist die Art und Weise, mit deren Hilfe ich differenziere, und ich bin mittlerweile ganz gut darin.

1.5

Integration

Der umgekehrte Prozess ist die Integration. Sie sollten ebenso gut lernen, so schnell wie möglich zu integrieren. Die Integration ist nicht so einfach wie die Differentiation, aber Sie sollten in der Lage sein, einfache Ausdrücke im Kopf zu integrieren. Sie müssen nicht jeden Ausdruck integrieren können, (t + 7t2 )1/3 kann man z. B. nicht auf einfache Weise integrieren, die folgenden Ausdrücke allerdings schon. Wenn Sie also Ausdrücke zum Üben der Integration auswählen, achten Sie darauf, dass sie leicht zu integrieren sind:  (1 + 6t) dt = t + 3t2 

(4t2 + 2t3 ) dt =



(1 + 2t)3 dt =

4t3 t4 + 3 2

(1 + 2t)4 8

 √ 2(1 + 5t)3/2 1 + 5t dt = 15  (t + 7t2 )1/3 dt =???

(1.9)

1.6 Vektoren

29

Mehr habe ich Ihnen über die Differential- und Integralrechnung nicht zu sagen. Alles Weitere liegt bei Ihnen: Sie müssen die Differentiation und die Integration üben – und natürlich auch die erforderliche Algebra, um Horrorszenarien wie in Gleichung (1.7) zu reduzieren. Das Üben von Algebra sowie Differential- und Integralrechnung auf diese stumpfsinnige Art und Weise – das ist die erste Sache.

1.6

Vektoren

Das andere Gebiet der Mathematik, mit dem wir es als rein mathematisches Thema zu tun haben, sind Vektoren. Zunächst müssen Sie wissen, was Vektoren sind, und wenn Sie kein Gespür dafür haben, weiß ich nicht, was wir machen sollen. Wir müssten uns eine Weile unterhalten, damit ich Ihre Schwierigkeiten einschätzen kann – anders könnte ich es nicht erklären. Ein Vektor ist wie ein Stoß, der eine bestimmte Richtung hat, oder eine Geschwindigkeit, die eine bestimmte Richtung hat, oder eine Bewegung, die eine bestimmte Richtung hat – und er wird auf einem Stück Papier mithilfe eines Pfeils dargestellt, der in die Richtung des Massenpunktes zeigt. Wir stellen z. B. eine Kraft, die auf etwas einwirkt, durch einen Pfeil dar, der in die Richtung der Kraft zeigt. Die Länge des Pfeils ist ein Maß für den Betrag der Kraft auf einer beliebigen Messskala – einer Skala, die allerdings für alle Kräfte in der Aufgabe beibehalten werden muss. Wenn Sie eine andere Kraft doppelt so stark machen, stellen Sie diese Kraft durch einen doppelt so langen Pfeil dar (siehe Abbildung 1.1).

Abbildung 1.1: Zwei Vektoren, durch Pfeile dargestellt.

Nun, es gibt Operationen, die mit diesen Vektoren durchgeführt werden können. Wenn z. B. zwei Kräfte gleichzeitig auf einen Körper einwirken – wenn etwa zwei Menschen einen Gegenstand schieben –, dann können die beiden Kräfte durch zwei Pfeile F und F dargestellt werden. Wenn wir eine Zeichnung von einer solchen Situation anfertigen, ist es häufig zweckmäßig, die Pfeile im Angriffspunkt der Kräfte anfangen zu lassen, obwohl die Lage der Vektoren eigentlich ohne Bedeutung ist (siehe Abbildung 1.2). Wenn wir die resultierende Nettokraft oder die Gesamtkraft bestimmen wollen, addieren wir die Vektoren. Das können wir zeichnerisch darstellen, indem wir den Anfang des einen Vektors auf die Spitze des anderen verschieben. (Es sind immer noch dieselben Vektoren, wenn Sie sie verschoben haben, weil sie dieselbe Richtung und dieselbe Länge haben.) Dann ist F + F der Vektor, der vom Anfang von F zur Spitze von F

30

1 Grundlagen

Angriffspunkt der Kräfte

F

F

Abbildung 1.2: Darstellung zweier Kräfte, die in demselben Punkt ausgeübt werden.

(oder vom Anfang von F� zur Spitze von F) gezeichnet wurde, wie in Abbildung 1.3 dargestellt. Diese Methode zur Addition von Vektoren wird manchmal auch als „Vektoraddition mittels Parallelogramm“ bezeichnet. F

F  F F F

F

Abbildung 1.3: Vektoraddition mittels Parallelogramm.

Nehmen wir dagegen an, dass zwei Kräfte auf einen Körper einwirken, wir aber nur wissen, dass die eine Kraft F� ist. Die unbekannte andere Kraft nennen wir X. Wenn die auf den Körper ausgeübte gesamte Kraft F ist, dann gilt F� + X = F. Also gilt X = F−F� . Um X zu ermitteln, müssen Sie somit die Differenz zweier Vektoren bilden. Das können Sie auf zwei unterschiedliche Weisen tun: Sie können −F� , einen Vektor, der in die entgegengesetzte Richtung wie F� zeigt, zu F addieren (siehe Abbildung 1.4). Andererseits ist F − F� einfach der Vektor, der von der Spitze von F� zur Spitze von F gezeichnet wird. Der Nachteil der zweiten Methode ist allerdings, dass Sie vielleicht den Pfeil, wie in Abbildung 1.5 dargestellt, zeichnen möchten. Obwohl die Richtung und die Länge der Differenz richtig sind, befindet sich der Angriffspunkt der Kraft nicht am Anfang des Pfeils – also, passen Sie auf. Wenn Sie Angst haben oder wenn etwas unklar ist, benutzen Sie die erste Methode (siehe Abbildung 1.6). Wir können Vektoren auch in bestimmte Richtungen projizieren. Wenn wir z. B. wissen möchten, wie groß die Kraft ist, die in x-Richtung wirkt (sie wird Komponente der

1.6 Vektoren

31

F

�F�

�F� � F

F F�

Abbildung 1.4: Vektorsubtraktion, erste Methode.

Kraft in dieser Richtung genannt), projizieren wir einfach F im rechten Winkel hinunter auf die x-Achse und das ergibt dann die Komponente der Kraft in dieser Richtung, die wir F x nennen. Mathematisch ist F x der Betrag von F (geschrieben |F|) multipliziert mit dem Kosinus des Winkels, den F mit der x-Achse bildet. Das liegt an den Eigenschaften des rechtwinkligen Dreiecks (siehe Abbildung 1.7). F x = |F| cos θ

(1.10)

Wenn nun A und B zu C addiert werden, dann addieren sich offensichtlich die Projektionen, die in einer gegebenen Richtung x einen rechten Winkel bilden. Die KompoF

F�

F � F�

Abbildung 1.5: Vektorsubtraktion, zweite Methode. F

�F�

�F� � F F

Kraft wird hier ausgeübt,

F

F�

F� F � F�

nicht hier.

Abbildung 1.6: Subtraktion zweier Kräfte, die in demselben Punkt ausgeübt werden.

32

1 Grundlagen

x

F θ Fx

Abbildung 1.7: Die Komponente des Vektors F in x-Richtung.

nenten der Vektorsumme sind also die Summe der Vektorkomponenten, und das gilt für Komponenten in jeder Richtung (siehe Abbildung 1.8).

A + B = C ⇒ Ax + Bx = C x

(1.11)

Besonders zweckmäßig ist die Beschreibung von Vektoren in ihren Komponenten auf den senkrechten Achsen x und y (und z – die Welt ist schließlich dreidimensional; meistens vergesse ich das, weil ich immer auf einer Tafel zeichne!). Wenn wir einen Vektor F in der x-y-Ebene haben und wir seine Komponente in x-Richtung kennen, definiert das F noch nicht vollständig, weil es viele Vektoren in der x-y-Ebene gibt, die dieselbe Komponente in x-Richtung haben. Aber wenn wir auch die Komponente von F in der y-Richtung kennen, dann ist F vollständig definiert (siehe Abbildung 1.9).

A

C

Bx

x B C

B

Ax

Bx x

A Bx

Cx Ax

Ax Cx

Abbildung 1.8: Eine Komponente einer Vektorsumme ist gleich der Summe der entsprechenden Vektorkomponenten.

1.6 Vektoren

33

y

F

Fy

x

Fx

Abbildung 1.9: Ein Vektor in der x-y-Ebene ist durch zwei Komponenten vollständig definiert.

Die Komponenten von F entlang der x-, y- und z-Achse schreibt man als F x , Fy und Fz . Das Addieren von Vektoren ist äquivalent zur Addition ihrer Komponenten. Wenn die Komponenten eines weiteren Vektors F� F �x , Fy� und Fz� sind, dann hat F + F� somit die Komponenten F x + F �x , Fy + Fy� und Fz + Fz� . Das war der leichte Teil. Jetzt wird es etwas schwieriger. Es gibt einen Weg, zwei Vektoren zu einem Skalar zu multiplizieren – zu einer Zahl, die in jedem beliebigen Koordinatensystem dieselbe ist. (Genau genommen kann man aus einem Vektor einen Skalar machen, ich komme später darauf zurück.) Sehen Sie, wenn die Koordinatenachsen sich ändern, ändern sich die Komponenten – aber der Winkel zwischen den Vektoren und ihren Beträgen bleibt derselbe. Wenn A und B Vektoren sind und der Winkel zwischen ihnen θ ist, kann ich den Betrag von A mit dem Betrag von B und dann mit dem Kosinus von θ multiplizieren und diese Zahl A · B („A mal B“) nennen (siehe Abbildung 1.10). Diese Zahl, das so genannte „Skalarprodukt“, ist in allen Koordinatensystemen gleich: A · B = |A||B| cos θ

(1.12)

Es ist offensichtlich, dass, da |A| cos θ die Projektion von A auf B ist, A · B gleich dem Produkt aus der Projektion von A auf B und dem Betrag von B ist. Genauso ist, da |B| cos θ die Projektion von B auf A ist, A · B auch gleich dem Produkt aus der Projektion von B auf A und dem Betrag von A. Ich persönlich meine, dass A · B = |A||B| cos θ der einfachste Weg ist zu behalten, was das Skalarprodukt ist. Dann kann ich immer sofort die anderen Beziehungen erkennen. Das Problem ist natürlich, dass es so viele Wege gibt, dasselbe auszudrücken, dass es nicht gut ist zu versuchen, sie alle zu behalten – ein Punkt, auf den ich in ein paar Minuten näher eingehen werde. A u B

Abbildung 1.10: Das Skalarprodukt |A||B| cos θ ist in allen Koordinatensystemen gleich.

34

1 Grundlagen

Wir können A · B auch als Komponenten von A und B auf einem beliebigen Achsensystem definieren. Bei drei senkrecht zueinander stehenden Achsen x, y und z mit beliebiger Ausrichtung ergibt sich für A · B A · B = A x B x + Ay By + Az Bz

(1.13)

Es ist nicht sofort ersichtlich, wie man von |A||B| cos θ nach A x B x +Ay By +Az Bz kommt. Obwohl ich es beweisen kann, wenn ich will,3 dauert mir das zu lange und ich behalte beide im Gedächtnis. Wenn wir das Skalarprodukt eines Vektors mit sich selbst bilden, ist θ gleich 0 und der Kosinus von 0 ist 1, sodass A · A = |A||A| cos θ = |A|2 . In Komponentenschreibweise gilt A · A = A2x + A2y + A2z . Die positive Quadratwurzel dieser Zahl ist der Betrag des Vektors.

1.7

Differentiation von Vektoren

Jetzt können wir Vektoren differenzieren. Die Ableitung eines Vektors nach der Zeit ist ohne Bedeutung, es sei denn, der Vektor hängt von der Zeit ab. Das heißt, wir müssen uns einen Vektor vorstellen, der sich ständig ändert: Der Vektor ändert sich mit der Zeit und wir wollen das Maß der Änderung bestimmen. Der Vektor A(t) könnte z. B. der Ort eines herumfliegenden Körpers zum Zeitpunkt t sein. Zum nächsten Zeitpunkt t� hat sich der Körper von A(t) nach A(t� ) bewegt. Wir möchten das Maß der Änderung von A zum Zeitpunkt t berechnen. A  A(t)  A(t)

A(t) A(t) t  t  t

Abbildung 1.11: Ortsvektor A und Verschiebung ΔA während des Zeitintervalls Δt.

Die Regel ist folgende: In dem Intervall Δt = t� − t hat sich der Körper von A(t) nach A(t� ) bewegt, sodass die Verschiebung ΔA = A(t� ) − A(t) beträgt, ein Differenzvektor vom alten zum neuen Ort (siehe Abbildung 1.11). Je kürzer das Intervall Δt ist, desto näher befindet sich natürlich A(t� ) an A(t). Wenn Sie ΔA durch Δt dividieren und dann den Grenzwert bilden, wenn beide gegen null gehen, dann erhalten Sie die Ableitung. In diesem Fall, in dem A ein Ort ist, ist seine 3

Siehe Band I der Feynman-Vorlesungen über Physik, Abschnitt 11.7.

1.7 Differentiation von Vektoren

35

Ableitung ein Geschwindigkeitsvektor. Der Geschwindigkeitsvektor ist in einer Richtung Tangente an die Kurve, weil das die Richtung der Verschiebungen ist. Seinen Betrag können Sie nicht durch das Betrachten dieses Bildes herausfinden, weil er davon abhängt, wie schnell sich das Teil entlang der Kurve bewegt. Der Betrag des Geschwindigkeitsvektors ist die Geschwindigkeit. Sie gibt an, wie schnell sich der Körper pro Zeiteinheit bewegt. Damit hätten wir die Definition des Geschwindigkeitsvektors: Er ist eine Tangente an die Bahn und sein Betrag ist gleich der Geschwindigkeit der Bewegung auf dieser Bahn (siehe Abbildung 1.12). v(t)

A(t)

Abbildung 1.12: Ortsvektor A und seine Ableitung v zum Zeitpunkt t.

v(t) =

dA ΔA = lim Δt→0 Δt dt

(1.14)

Übrigens ist es gefährlich, den Ortsvektor und den Geschwindigkeitsvektor in demselben Diagramm zu zeichnen – es sei denn, Sie sind äußerst vorsichtig. Und da wir einige Schwierigkeiten haben, diese Dinge zu verstehen, weise ich auf alle möglichen Fallen hin, die mir in den Sinn kommen, weil Sie als Nächstes möglicherweise A zu v addieren möchten. Das ist nicht erlaubt, denn damit Sie den Geschwindigkeitsvektor wirklich zeichnen können, müssen Sie den Maßstab der Zeit kennen. Der Geschwindigkeitsvektor hat einen anderen Maßstab als der Ortsvektor, sie haben unterschiedliche Einheiten. Man kann generell Orte und Geschwindigkeiten nicht addieren – auch nicht in diesem Fall. Um tatsächlich einen Vektor zeichnerisch darstellen zu können, muss ich eine Entscheidung bezüglich des Maßstabes treffen. Als wir über Kräfte gesprochen haben, haben wir gesagt, dass soundso viele Newton durch 1 Meter (oder 1 Zentimeter oder was auch immer) dargestellt würden. Und in diesem Fall müssen wir festlegen, dass soundso viele Meter pro Sekunde durch 1 Zentimeter dargestellt werden. Jemand könnte das Diagramm mit Ortsvektoren, die dieselbe Länge wie unsere haben, zeichnen, aber mit einem Geschwindigkeitsvektor, der nur ein Drittel so lang wie unserer ist – dieser Jemand benutzt einfach einen anderen Maßstab für seinen Geschwindigkeitsvektor. Es gibt nicht einen bestimmten Weg, die Länge eines Vektors zu zeichnen, weil die Wahl des Maßstabes beliebig ist.

36

1 Grundlagen

Nun, die Komponentenschreibweise für die Geschwindigkeit ist sehr einfach, weil z. B. das Maß der Änderung der x-Komponente des Ortes gleich der x-Komponente der Geschwindigkeit ist, und so weiter. Das liegt einfach daran, dass die Ableitung tatsächlich eine Differenz ist, und da die Komponenten eines Differenzvektors mit den Differenzen der entsprechenden Komponenten identisch sind, ergibt sich       ΔAy ΔA ΔA ΔA x ΔAz ΔA , , . (1.15) = = = Δt x Δt Δt y Δt Δt z Δt Die Bildung der Grenzwerte liefert dann die Komponenten der Ableitung:

dAy dA x dAz , vy = , vz = . (1.16) dt dt dt Das gilt für jede Richtung: Wenn ich die Komponente von A(t) in einer beliebigen Richtung bilde, dann ist die Komponente des Geschwindigkeitsvektors in dieser Richtung die Ableitung der Komponente von A(t) in dieser Richtung. Allerdings muss ich eine ernste Warnung aussprechen: Die Richtung darf sich nicht in Abhängigkeit der Zeit ändern. Sie können nicht sagen: „Ich nehme die Komponente von A in der Richtung von v“ oder so etwas, weil v sich bewegt. Die Aussage, dass die Ableitung der Ortskomponente gleich der Geschwindigkeitskomponente ist, ist nur wahr, wenn die Richtung, in der Sie die Komponente bilden, selbst fest ist. So gelten die Gleichungen (1.15) und (1.16) nur für die x-, y- und z-Achse sowie andere feststehende Achsen. Wenn sich die Achsen drehen, während Sie versuchen, die Ableitung zu bilden, ist die Formel wesentlich komplizierter. vx =

So viel zu den Ausnahmen und Schwierigkeiten beim Differenzieren von Vektoren. Natürlich kann man die Ableitung eines Vektors differenzieren, dann das Ergebnis differenzieren und so weiter. Ich habe die Ableitung von A „Geschwindigkeit“ genannt, aber nur, weil A der Ort ist. Wenn A etwas anderes ist, ist die Ableitung etwas anderes als die Geschwindigkeit. Wenn A z. B. der Impuls ist, entspricht die Ableitung des Impulses nach der Zeit der Kraft, sodass die Ableitung von A die Kraft wäre. Und wenn A die Geschwindigkeit wäre, wäre die Ableitung der Geschwindigkeit nach der Zeit die Beschleunigung und so weiter. Was ich Ihnen erzählt habe, ist allgemeingültig für das Differenzieren von Vektoren, aber hier habe ich nur das Beispiel von Orten und Geschwindigkeiten gegeben.

1.8

Linienintegrale

Zum Schluss muss ich nur noch eine Sache über Vektoren besprechen. Das ist allerdings um ein schreckliches, kompliziertes Ding, das so genannte „Linienintegral“: z a

F · ds.

(1.17)

1.8 Linienintegrale

37 z

F s a

Abbildung 1.13: Eine konstante Kraft F, die entlang der geradlinigen Bahn a − z definiert ist.

Als Beispiel stellen wir uns ein bestimmtes Vektorfeld F vor, das Sie entlang einer Kurve S vom Punkt a zum Punkt z integrieren wollen. Damit nun dieses Linienintegral irgendeine Bedeutung hat, müssen wir den Wert von F in jedem Punkt auf S zwischen a und z irgendwie definieren. Wenn F als die Kraft definiert ist, die auf einen Körper im Punkt a ausgeübt wird, Sie mir aber nicht sagen können, wie sich die Kraft ändert, wenn Sie sich entlang S bewegen, zumindest zwischen a und z, dann macht „das Integral von F entlang S von a nach z“ keinen Sinn. (Ich sagte „zumindest“, weil F auch irgendwo anders definiert werden könnte, aber Sie müssen sie zumindest auf dem Teil der Kurve definieren, entlang dessen Sie integrieren.) Gleich werde ich das Linienintegral eines beliebigen Vektorfeldes entlang einer beliebigen Kurve definieren, aber lassen Sie uns zunächst den Fall betrachten, in dem F konstant und S eine geradlinige Bahn von a nach z ist – ein Verschiebungsvektor, den ich s nenne (siehe Abbildung 1.13). Da F konstant ist, können wir sie dann aus dem Integral herausnehmen (genau wie eine normale Integration), und das Integral von ds zwischen a und z ist einfach s. Die Lösung ist also F · s. Das ist das Linienintegral für eine konstante Kraft und eine geradlinige Bahn – der einfache Fall: z a

F · ds = F ·

z a

ds = F · s.

(1.18)

(Denken Sie daran, dass F · s die Komponente der Kraft in Richtung der Verschiebung multipliziert mit dem Betrag der Verschiebung ist. Mit anderen Worten, es ist einfach der Weg entlang der Linie multipliziert mit der Komponente der Kraft in dieser Richtung. Es gibt viele andere Betrachtungsweisen: Es ist die Komponente der Verschiebung in Richtung der Kraft multipliziert mit dem Betrag der Kraft. Es ist der Betrag der Kraft multipliziert mit dem Betrag der Verschiebung multipliziert mit dem Kosinus des Winkels, den sie miteinander bilden. Diese Betrachtungsweisen sind alle äquivalent.) Allgemeiner ist das Linienintegral folgendermaßen definiert. Zunächst zerlegen wir das Integral, indem wir S zwischen a und z in n gleiche Abschnitte aufteilen: ΔS 1 , ΔS 2 . . . ΔS n . Dann ist das Integral entlang S das Integral entlang ΔS 1 plus das Integral entlang ΔS 2 plus das Integral entlang ΔS 3 und so weiter. Wir wählen n groß, so dass wir jedes ΔS i mithilfe eines kleinen Verschiebungsvektors, Δsi , über dem F einen

38

1 Grundlagen FN

Fi F2

z sN

F3

F1

si S a

s1

s3

s2

Abbildung 1.14: Eine veränderliche Kraft F, definiert entlang der Kurve S.

annähernd konstanten Wert, Fi , hat, näherungsweise bestimmen können (siehe Abbildung 1.14). Dann liefert der Abschnitt ΔS i gemäß der „Konstante-Kraft-GeradlinigeBahn-Regel“ näherungsweise Fi ·Δsi zu dem Integral. Wenn Sie dann Fi ·Δsi für i gleich 1 bis n addieren, ist das eine ausgezeichnete Näherung für das Integral. Das Integral ist nur dann genau gleich dieser Summe, wenn wir den Grenzwert für n gegen unendlich bilden: Sie wählen die Abschnitte so klein wie möglich und noch etwas kleiner und dann erhalten Sie das korrekte Integral: z a

F · ds = lim

n→∞

n  i=1

Fi · Δsi .

(1.19)

(Dieses Integral hängt natürlich von der Kurve ab – im Allgemeinen –, in der Physik manchmal auch wieder nicht.) Nun, das ist alles an Mathematik, was Sie für die Physik wissen müssen – so weit zumindest – und diese Dinge, insbesondere die Differential- und Integralrechnung sowie die ersten Teile der Vektortheorie, sollten Ihnen in Fleisch und Blut übergehen. Manche Dinge, wie das Linienintegral, sind jetzt noch nicht so wichtig. Aber sie werden irgendwann wichtiger werden, je mehr Sie sie anwenden. Die Dinge, die Sie jetzt „in Ihren Kopf reinkriegen müssen“, sind die Differential- und Integralrechnung und die Kleinigkeiten über die Zerlegung von Vektoren in ihre Komponenten in verschiedenen Richtungen.

1.9

Ein einfaches Beispiel

Ich gebe Ihnen ein Beispiel – ein sehr einfaches –, um Ihnen zu zeigen, wie man die Komponenten von Vektoren ermittelt. Nehmen wir an, wir haben eine bestimmte Maschine, wie in Abbildung 1.15 dargestellt: Sie besteht aus zwei Stangen, die durch ein Gelenk (ähnlich dem Ellbogengelenk) miteinander verbunden sind, auf dem ein großes Gewicht liegt. Das Ende der einen Stange ist durch ein festes Gelenk mit dem Boden

1.9 Ein einfaches Beispiel

39

Abbildung 1.15: Eine einfache Maschine.

verbunden und das Ende der anderen Stange hat eine Rolle, die in einer Rille den Boden entlang rollt – sehen Sie, sie ist Teil der Maschine und sie macht tschu-tschuck, tschu-tschuck – die Rolle bewegt sich vor und zurück und das Gewicht bewegt sich auf und ab und so weiter. Nehmen wir an, das Gewicht beträgt 2 kg, die Stangen sind 0,5 m lang und zu einem bestimmten Zeitpunkt, wenn die Maschine still steht, beträgt der Weg zwischen dem Gewicht und dem Boden glücklicherweise genau 0,4 m, sodass wir ein 3-4-5-Dreieck haben und das Rechnen damit einfacher wird (siehe Abbildung 1.16). (Das Rechnen sollte keinen Unterschied machen, die eigentliche Schwierigkeit besteht darin, gedanklich den richtigen Weg zu finden.) 2 kg

Gewicht

0.5 m 0.4 m Rolle

P

Gelenk

0.3 m

Abbildung 1.16: Welche Kraft P ist erforderlich, um das Gewicht oben zu halten?

Das Problem ist herauszufinden, wie groß der horizontale Druck P ist, der auf die Rolle ausgeübt werden muss, um das Gewicht oben zu halten. Jetzt gehe ich von einer Annahme aus, die wir brauchen, um die Aufgabe zu lösen. Wir nehmen an, dass die Nettokraft immer entlang der Stange gerichtet ist, wenn eine Stange an beiden Enden Gelenke hat. (Es zeigt sich, dass das zutrifft; Ihnen erscheint es möglicherweise selbstverständlich.) Es wäre nicht unbedingt wahr, wenn nur an einem Ende der Stange ein Gelenk vorhanden wäre, weil ich dann die Stange seitwärts schieben könnte.

40

1 Grundlagen

Aber wenn an beiden Enden ein Gelenk vorhanden ist, kann ich nur entlang der Stange schieben. Lassen Sie uns also annehmen, dass wir das wissen – dass die Kräfte in die Richtungen der Stangen wirken müssen. Aus der Physik wissen wir auch noch etwas anderes: Dass die Kräfte an den Enden der Stangen identisch und entgegengerichtet sind. Die Kraft, die die Stange auf die Rolle ausübt, muss z. B. von dieser Stange auch in die entgegengesetzte Richtung auf das Gewicht ausgeübt werden. Das ist somit die Aufgabenstellung: Mit diesem Wissen über die Eigenschaften von Stangen im Kopf versuchen wir herauszufinden, wie groß die horizontale Kraft ist, die auf die Rolle ausgeübt wird. Ich möchte versuchen, die Aufgabe folgendermaßen zu lösen: Die horizontale Kraft, die von der Stange auf die Rolle ausgeübt wird, ist eine bestimmte Komponente der auf sie einwirkenden Nettokraft. (Natürlich gibt es auf Grund der „einengenden Rille“ auch eine vertikale Komponente, die aber unbekannt und uninteressant ist. Sie ist Teil der auf die Rolle ausgeübten Nettokraft, die der auf das Gewicht ausgeübten Nettokraft genau entgegengerichtet ist.) Deshalb kann ich die Komponenten der von der Stange auf die Rolle ausgeübten Kraft – insbesondere die horizontale Komponente, die ich bestimmen möchte – ermitteln, wenn ich die Komponenten der von der Stange auf das Gewicht ausgeübten Kraft ermitteln kann. Wenn ich die auf das Gewicht ausgeübte horizontale Kraft F x nenne, dann ist die auf die Rolle ausgeübte horizontale Kraft −F x und die Kraft, die erforderlich ist, um das Gewicht oben zu halten, ist gleich groß und entgegengerichtet, sodass |P| = F x ist.

Die von der Stange auf das Gewicht ausgeübte vertikale Kraft Fy ist sehr leicht zu ermitteln: Sie ist einfach gleich dem Gewicht des Teils, das 2 kg beträgt, multipliziert mit g, der Gravitationskonstanten. (Das ist auch noch etwas, das Sie aus der Physik wissen müssen – g ist 9,8 im MKS-System.) Fy ist 2 mal g oder 19,6 Newton, sodass die auf die Rolle einwirkende vertikale Kraft –19,6 Newton beträgt. Wie kann ich nun die horizontale Kraft bestimmen? Antwort: Ich erhalte sie, weil ich weiß, dass die Nettokraft entlang der Stange gerichtet sein muss. Wenn Fy 19,6 beträgt und die Nettokraft entlang der Stange gerichtet ist, muss F x wie groß sein (siehe Abbildung 1.17)?

Nun, wir haben die Projektionen der Dreiecke, die sehr hübsch konstruiert wurden, sodass das Verhältnis der horizontalen zu den vertikalen Seiten 3 zu 4 ist. Das ist dasselbe Verhältnis wie F x zu Fy , (die Nettokraft F interessiert mich hier nicht, ich brauche nur die Kraft in horizontaler Richtung) und die vertikale Kraft kenne ich bereits. Der Betrag der horizontalen Kraft – unbekannt – verhält sich zu 19,6 wie 0,3 zu 0,4. Deshalb multipliziere ich 3/4 mit 19,6 und erhalte: 0,3 Fx = 19,6 0,4 0,3 ∴ Fx = · 19,6 = 14,7 Newton. 0,4

(1.20)

1.9 Ein einfaches Beispiel Fy  19.6

41 F

Fx

Fx

F

Fy

Abbildung 1.17: Die von einer Stange auf das Gewicht und auf die Rolle ausgeübte Kraft.

Wir schließen daraus, dass |P|, die auf die Rolle ausgeübte horizontale Kraft, die erforderlich ist, um das Gewicht oben zu halten, 14,7 Newton beträgt. Das ist die Lösung für diese Aufgabe. Oder nicht? Sehen Sie, Physik besteht nicht aus dem einfachen Einsetzen in Formeln: Sie erreichen gar nichts, wenn Sie nicht neben dem Wissen der Regeln, der Formeln für Projektionen und dem ganzen Kram noch etwas anderes besitzen: Sie müssen ein gewisses Gefühl für die reale Situation haben! Darüber werde ich gleich noch einige Bemerkungen machen, aber hier in dieser speziellen Aufgabenstellung ist die Schwierigkeit folgende: Die auf das Gewicht einwirkende Nettokraft rührt nicht nur von einer Stange her, sondern es gibt auch eine Kraft, die von der anderen Stange in einer Richtung auf sie ausgeübt wird, und das habe ich bei meiner Analyse außer Acht gelassen – also ist alles falsch! Außerdem muss ich die Kraft berücksichtigen, die die Stange mit dem festen Gelenk auf das Gewicht ausübt. Jetzt wird es kompliziert: Wie kann ich herausfinden, wie groß diese Kraft ist? Nun, wie groß ist die gesamte Nettokraft, die auf das Gewicht ausgeübt wird? Genau gleich der Gravitationskraft – sie gleicht die Gravitationskraft genau aus. Es gibt keine horizontal auf das Gewicht ausgeübte Kraft. Somit liegt der Schlüssel, mit dessen Hilfe ich herausfinden kann, wie viel „Power“ entlang der Stange mit dem festen Gelenk fließt, in der Beachtung der Tatsache, dass sie horizontal gerade eine so große Kraft ausüben muss, dass die horizontale Kraft, die die andere Stange ausübt, ausgeglichen wird. Wenn ich die Kraft, die die Stange mit dem festen Gelenk ausübt, zeichnen müsste, wäre ihre horizontale Komponente folglich der horizontalen Komponente, die die

42

1 Grundlagen

Stange mit der Rolle ausübt, genau entgegengerichtet. Die vertikalen Komponenten wären auf Grund der identischen 3-4-5-Dreiecke, die die Stangen bilden, gleich: Beide Stangen drücken denselben Betrag nach oben, weil ihre horizontalen Komponenten sich ausgleichen müssen – wenn die Stangen unterschiedlich lang wären, müssten Sie etwas mehr rechnen, aber der Gedanke ist derselbe. Beginnen wir noch einmal mit dem Gewicht: Die Kräfte, die von den Stangen auf das Gewicht ausgeübt werden, müssen wir zuerst klären. Also schauen wir uns die Kräfte an, die von den Stangen auf das Gewicht ausgeübt werden. Der Grund, warum ich das für mich selbst wiederhole, ist der, dass ich sonst alle Vorzeichen durcheinander bringen würde: Die Kraft, die von dem Gewicht auf die Stangen ausgeübt wird, ist das Gegenteil der Kraft, die von den Stangen auf das Gewicht ausgeübt wird. Ich muss immer wieder von neuem anfangen, nachdem ich alles durcheinander gebracht habe. Ich muss es mir wieder durch den Kopf gehen lassen und mich entscheiden, über was ich sprechen will. Also sage ich: „Schauen Sie sich die Kräfte an, die von den Stangen auf das Gewicht ausgeübt werden: Es gibt eine Kraft F, die in die Richtung einer Stange gerichtet ist. Dann gibt es eine Kraft F� , die in die Richtung der anderen Stange verläuft. Das sind die beiden einzigen Kräfte und sie verlaufen in die Richtungen der Stangen.“ Die Nettokraft dieser beiden Kräfte – ahhhh! Jetzt geht mir ein Licht auf! Die Nettokraft dieser beiden Kräfte hat keine horizontale Komponente und eine vertikale Komponente von 19,6 Newton. Aha! Lassen Sie mich die Zeichnung noch einmal machen, denn vorhin habe ich sie falsch gezeichnet (siehe Abbildung 1.18). Die horizontalen Kräfte gleichen sich aus, deshalb addieren sich die vertikalen Komponenten und die 19,6 Newton sind nicht nur die vertikale Komponente der von einer Stange ausgeübten Kraft, sondern die von beiden Stangen ausgeübte Gesamtkraft. Da beide Stangen jeweils die Hälfte dazu beitragen, beträgt die von der Stange mit der Rolle ausgeübte vertikale Komponente nur 9,8 Newton. Wenn wir jetzt die horizontale Projektion dieser Kraft nehmen und sie wie zuvor mit 3/4 multiplizieren, erhalten wir die horizontale Komponente der von der Stange mit der Rolle auf das Gewicht ausgeübten Kraft und somit haben wir alles berücksichtigt: 0,3 Fx = 9,8 0,4 0,3 · 9,8 = 7,35 Newton. ∴ Fx = 0,4

1.10

(1.21)

Triangulation

Mir bleiben noch ein paar Augenblicke, deshalb möchte ich ein paar Sätze zum Verhältnis der Mathematik zur Physik sagen – das in der Tat durch dieses kleine Beispiel gut veranschaulicht wurde. Es geht nicht darum, sich die Formeln einzuprägen und sich

1.10 Triangulation

43 Fy  Fy  19.6

F

Fx

F

Fx

Fx

F

Fx

Fy

Fy

F

Abbildung 1.18: Die von beiden Stangen auf das Gewicht ausgeübte Kraft und die auf die Rolle und das Gelenk ausgeübten Kräfte.

selbst zu sagen: „Ich kenne alle Formeln. Jetzt brauche ich nur noch herauszufinden, wie ich sie in die Aufgabe einsetzen muss!“ Nun, eine Zeit lang haben Sie damit vielleicht Erfolg und je besser Sie sich die Formeln einprägen, desto länger werden Sie mit dieser Methode arbeiten – aber irgendwann wird es damit nicht mehr klappen. Sie könnten sagen: „Ich glaube ihm nicht, denn es hat bei mir immer geklappt: Ich hab das immer so gemacht, ich werde es weiter so machen.“ Sie werden nicht immer so weitermachen, sie werden Misserfolge haben – nicht dieses Jahr, nicht nächstes Jahr, aber eines Tages, wenn Sie einen Job bekommen oder so etwas, werden Sie aufgeben, denn die Physik ist ein enorm umfassendes Thema: Es gibt Millionen von Formeln! Es ist unmöglich, alle Formeln zu behalten – es ist unmöglich! Und die große Sache, die Sie ignorieren, die mächtige Maschine, die Sie nicht nutzen, ist Folgende: Nehmen wir an, Abbildung 1.19 ist eine Karte aller Physikformeln, aller Relationen in der Physik. (Sie sollte eigentlich mehr als zwei Dimensionen haben, aber nehmen wir an, sie sieht so aus.) Nehmen wir nun an, etwas ist mit Ihrem Verstand geschehen, irgendwie wurde das gesamte Material in einer bestimmten Hirnregion gelöscht und an einer Stelle fehlt et-

44

1 Grundlagen

Abbildung 1.19: Imaginäre Karte aller Physikformeln.

was „Masse“. Die Zusammenhänge in der Natur sind so schön, dass es durch Logik möglich ist, aus dem Bekannten „durch Dreiecke zusammenzusetzen“ oder zu „triangulieren“, was sich in dem Loch befindet (siehe Abbildung 1.20).

Abbildung 1.20: Vergessene Fakten können wieder rekonstruiert werden, indem man aus bekannten Fakten Dreiecke zusammensetzt oder „trianguliert“.

Und Sie können die Dinge, die Sie vergessen haben, für immer rekonstruieren – wenn Sie nicht zu viele vergessen haben und wenn Sie genug wissen. Mit anderen Worten, es wird eine Zeit kommen – dieses Stadium haben Sie jetzt noch nicht erreicht –, in der Sie so viele Dinge wissen, dass Sie sie, wenn Sie sie vergessen, aus den Stücken, die Sie noch im Gedächtnis haben, rekonstruieren können. Es ist daher äußerst wichtig, dass Sie wissen, wie man Dinge „trianguliert“ – d. h. zu wissen, wie man etwas aus Fakten, die man bereits kennt, herausfindet. Das ist absolut notwendig. Sie könnten sagen: „Ach, das interessiert mich nicht. Ich kann mir Dinge gut merken! Ich weiß, wie man sich etwas wirklich einprägt! Ich habe sogar einen Kurs in Gedächtnistraining gemacht!“

1.10 Triangulation

45

Das wird auch nicht funktionieren! Denn Physiker sind – sowohl für die Entdeckung neuer Naturgesetze, als auch für die Entwicklung neuer Dinge in der Industrie und so weiter – nicht dazu da, über bereits bekannte Dinge zu reden, sondern etwas Neues zu tun. Und deshalb triangulieren sie aus bekannten Tatsachen: Sie führen „Triangulationen“ durch, die niemand jemals zuvor gemacht hat (siehe Abbildung 1.21).

Abbildung 1.21: Neue Entdeckungen werden von Physikern gemacht, die aus bekannten Tatsachen zu bis dahin unbekannten Fakten „triangulieren“.

Um das zu lernen, müssen Sie das Einprägen von Formeln vergessen und versuchen zu lernen, die Wechselbeziehungen in der Natur zu verstehen. Das ist am Anfang ziemlich schwierig, aber es ist der einzig erfolgreiche Weg.

2

Naturgesetze und Intuition

Wiederholungsvorlesung B Letztes Mal haben wir über die Mathematik gesprochen, die Sie für die Physik brauchen, und ich habe darauf hingewiesen, dass man sich Gleichungen als Werkzeug merken sollte, dass es aber keine gute Idee ist, sich alles merken zu wollen. Auf lange Sicht gesehen ist es unmöglich, alles auswendig zu lernen. Das heißt nicht, dass man gar nichts auswendig wissen sollte – an je mehr Sie sich erinnern, desto besser in gewisser Hinsicht –, aber Sie sollten alles, was Sie vergessen haben, rekonstruieren können. Was übrigens die Tatsache angeht, dass Sie sich plötzlich unter dem Durchschnitt wieder fanden, als Sie ans Caltech kamen (wir haben letztes Mal darüber gesprochen), ist Folgendes zu sagen: Wenn Sie es irgendwie schaffen, aus der unteren Hälfte des Kurses hinauszukommen, dann ist jemand anderer der Unglückliche, weil Sie damit jemand anderen in die untere Hälfte zwingen! Es gibt allerdings einen Weg, wie Sie niemanden belästigen: Finden und verfolgen Sie etwas Interessantes, das Ihnen Freude macht. Auf diese Weise werden Sie ein vorübergehender Experte für irgendein Phänomen, über das Sie mal etwas gehört haben. Damit können Sie sich vor dem Untergang retten – und Sie können immer sagen: „Na ja, wenigstens wissen die anderen gar nichts über dieses Thema!“

2.1

Die physikalischen Gesetze

So, in dieser Wiederholungsvorlesung werde ich über die physikalischen Gesetze sprechen. Dazu müssen wir erst einmal erklären, was das ist. Wir haben sie bis jetzt in den Vorlesungen oft in Worten ausgedrückt und es ist schwierig, alles noch einmal ohne denselben Zeitaufwand zu wiederholen. Aber man kann die physikalischen Gesetze auch mithilfe einiger Gleichungen zusammenfassen und die werde ich jetzt anschreiben. (Ich nehme an, dass sich Ihre Mathematikkenntnisse inzwischen so weit entwickelt haben, dass Sie die Schreibweise auf Anhieb verstehen können.) Die folgenden Gleichungen beinhalten alle physikalischen Gesetze, die Sie kennen sollten. Als Erstes: F=

dp . dt

(2.1)

48

2 Naturgesetze und Intuition

Das bedeutet, dass die Kraft F identisch ist mit dem Maß der Änderung des Impulses p in Abhängigkeit der Zeit. (F und p sind Vektoren. Die Bedeutung der Symbole müssten Sie mittlerweile kennen.) Ich möchte darauf hinweisen, dass man bei jeder physikalischen Gleichung wissen muss, für was die Buchstaben stehen. Sie sollen aber nicht sagen: „Ach ja, p kenne ich, das steht für das Produkt aus Masse in Bewegung und Geschwindigkeit oder aus ruhender Masse und Geschwindigkeit geteilt durch die Quadratwurzel von 1 minus v geteilt durch c zum Quadrat“:1 p= 

mv 1 − v2 /c2

(2.2)

.

Stattdessen sollten Sie physikalisch verstehen, wofür p steht, und dafür müssen Sie wissen, dass p nicht einfach „der Impuls“ ist, sondern der Impuls von etwas – der Impuls eines Massenpunktes, dessen Masse m und dessen Geschwindigkeit v ist. Und in Gleichung (2.1) ist F die Gesamtkraft – die Vektorsumme aller Kräfte, die auf diesen Massenpunkt ausgeübt werden. Nur dann können Sie diese Gleichungen wirklich verstehen. Hier nun ein weiteres physikalisches Gesetz, das Sie kennen sollten, und zwar der Impulserhaltungssatz: 

Massenpunkte

pnachher =



pvorher .

(2.3)

Massenpunkte

Der Impulserhaltungssatz besagt, dass der Gesamtimpuls immer eine Konstante ist. Was bedeutet das physikalisch? Bei einem Stoß heißt das z. B., dass die Summe der Impulse aller Massenpunkte vor einem Stoß mit der Summe der Impulse aller Massenpunkte nach dem Stoß identisch ist. In der relativistischen Welt können sich die Massenpunkte nach dem Stoß verändert haben – Sie können neue Massenpunkte schaffen und alte zerstören –, aber die Aussage, dass die Vektorsumme der Gesamtimpulse aller Massenpunkte vorher und nachher gleich ist, gilt nach wie vor. Das nächste physikalische Gesetz, das Sie kennen sollten, der Energieerhaltungssatz, hat dieselbe Form:   Enachher = Evorher . (2.4) Massenpunkte

Massenpunkte

Das bedeutet, dass die Summe der Energien aller Massenpunkte vor einem Stoß identisch mit der Summe der Energien aller Massenpunkte nach dem Stoß ist. Damit Sie 1

v = |v| ist die Geschwindigkeit des Massenpunktes und c ist die Lichtgeschwindigkeit.

2.2 Die nichtrelativistische Näherung

49

diese Formel anwenden können, müssen Sie wissen, wie groß die Energie eines Massenpunktes ist. Die Energie eines Massenpunktes mit der ruhenden Masse m und der Geschwindigkeit v ist E= 

2.2

mc2 1 − v2 /c2

(2.5)

.

Die nichtrelativistische Näherung

So, das sind die in der relativistischen Welt geltenden Gesetze. In der nichtrelativistischen Näherung – d. h. wenn wir Massenpunkte bei im Verhältnis zur Lichtgeschwindigkeit kleiner Geschwindigkeit betrachten – gibt es einige Spezialfälle der Gesetze, die ich eben genannt habe. Beginnen  wir mit dem Impuls bei kleinen Geschwindigkeiten. Das ist einfach: die Wurzel 1 − v2 /c2 ist näherungsweise 1, sodass die Gleichung (2.2) zu p = mv

(2.6)

wird. Das heißt, dass man die Formel für die Kraft, F = dp/dt, auch als F = d(mv)/dt schreiben kann. Wenn wir dann die Konstante m voran stellen, sehen wir, dass die Kraft bei kleinen Geschwindigkeiten gleich dem Produkt aus Masse und Beschleunigung ist: F=

dv dp d (mv) = =m = ma. dt dt dt

(2.7)

Der Impulserhaltungssatz für Massenpunkte bei kleinen Geschwindigkeiten hat dieselbe Form wie die Gleichung (2.3), außer dass die Formel für den Impuls p = mv ist (und alle Massen konstant sind): 

Massenpunkte

(mv)nachher =



(mv)vorher .

(2.8)

Massenpunkte

Der Energieerhaltungssatz bei kleinen Geschwindigkeiten besteht jedoch aus zwei Gesetzen: Erstens ist die Masse jedes Massenpunktes konstant – man kann kein Material

50

2 Naturgesetze und Intuition

erschaffen oder zerstören – und zweitens ist die Summe der 1/2 mv2 ’s (die gesamte kinetische Energie Ekin ) aller Massenpunkte konstant:2



Massenpunkte



mnachher = mvorher    1 1 2 2 mv mv = . 2 2 nachher vorher Massenpunkte

(2.9)

Wenn wir uns große Alltagsgegenstände als Massenpunkte mit kleinen Geschwindigkeiten vorstellen – wie z. B. einen Aschenbecher –, dann ist der Satz, dass die Summe der kinetischen Energien vorher  gleich  der Summe nachher ist, nicht wahr, 2 1 weil einige der kinetischen Energien /2 mv der Massenpunkte im Inneren der Gegenstände in Form von innerer Bewegung – z. B. Wärme – vermischt sein können. Somit scheint dieses Gesetz beim Stoß zwischen großen Körpern zu versagen. Es gilt nur für Elementarteilchen. Natürlich kann es bei großen Körpern passieren, dass nicht viel Energie in die innere Bewegung geht, sodass der Energieerhaltungssatz näherungsweise gilt. Das nennt man dann einen näherungsweise elastischen Stoß – manchmal idealisiert als ideal elastischer Stoß. Energie ist also viel schwieriger im Auge zu behalten als der Impuls, weil die kinetische Energie beim unelastischen Stoß großer Körper, wie Gewichte und Ähnliches, nicht erhalten bleiben muss.

2.3

Bewegung mit Kräften

Wenn wir jetzt einmal nicht einen Stoß, sondern eine Bewegung betrachten, bei der Kräfte wirken, dann erhalten wir als Erstes einen Satz, der besagt, dass die Änderung der kinetischen Energie eines Massenpunktes identisch mit der an ihm von den Kräften verrichteten Arbeit ist: ΔEkin = ΔW.

(2.10)

Denken Sie daran, dass das etwas bedeutet – Sie müssen wissen, was die Buchstaben bedeuten. Es bedeutet: Wenn sich ein Massenpunkt unter Einwirkung einer Kraft F auf einer Kurve S von A nach B bewegt, wobei F die auf den Massenpunkt ausgeübte Gesamtkraft ist, und Sie wissen, wie groß 1/2 mv2 des Massenpunktes im Punkt A und 2

Die Beziehung zwischen der kinetischen Energie eines Massenpunktes und seiner (relativistischen)Gesamtenergie kann man leicht erkennen, wenn man die ersten beiden Terme der Taylor-Entwicklung von 1/ 1 − v2 /c2 in die Gleichung (2.5) einsetzt:   1 1 1·3 4 1·3·5 6 mc2 = 1 + x2 + = mc2 1 + v2 /2c2 + . . . x + x +...E =  √ 2 2 2·4 2·4·6 1−x 1 − v2 /c2 1 2 2 ≈ mc + mv = Ruheenergie + Ekin (für v � c). 2

2.3 Bewegung mit Kräften

51

vA B A S

vB

F

ds

B

1 1 Abbildung 2.1: mv2B − mv2A = 2 2

A S

B A

F · ds .

im Punkt B ist, dann unterscheiden sich die kinetischen Energien durch das Integral von F · ds von A nach B, wobei ds ein Inkrement des Weges entlang S ist (siehe Abbildung 2.1). ΔEkin =

1 2 1 2 mv − mv 2 B 2 A

(2.11)

und ΔW =

B A

F · ds.

(2.12)

In bestimmten Fällen kann dieses Integral ganz leicht und schnell berechnet werden, weil die auf den Massenpunkt ausgeübte Kraft nur einfach vom Ort des Massenpunktes abhängt. Unter solchen Umständen können wir schreiben, dass die an dem Massenpunkt verrichtete Arbeit den gleichen Betrag und die entgegengesetzte Richtung der Änderung einer anderen Größe hat, die wir potentielle Energie, Epot , nennen. Solche Kräfte bezeichnet man als „konservativ“: ΔW = −ΔEpot

(bei einer konservativen Kraft F) .

(2.13)

Die Worte, die wir in der Physik benutzen, sind übrigens schrecklich: „konservative Kräfte“ bedeutet nicht, dass die Kräfte konserviert werden oder erhalten bleiben, sondern dass die Kräfte so beschaffen sind, dass die Energie der Körper, an denen die Kräfte Arbeit verrichten, erhalten bleiben kann.3 Es ist sehr verwirrend, das gebe ich zu, aber ich kann es nicht ändern. 3

Eine Kraft heißt konservativ, wenn die gesamte Arbeit, die sie an einem Massenpunkt verrichtet, der sich von einem Ort zu einem anderen bewegt, gleich ist, und zwar unabhängig von der Bahn des Massenpunkts – die gesamte verrichtete Arbeit hängt nur von den Endpunkten der Bahn ab. Die von einer konservativen Kraft verrichtete Arbeit an einem Massenpunkt, der sich auf einer geschlossenen Bahn bewegt (also einer Bahn, die in ihrem Anfangspunkt endet), ist immer null. Siehe Band I der Feynman-Vorlesungen über Physik, Abschnitt 14.3.

52

2 Naturgesetze und Intuition v a

r

Abbildung 2.2: Geschwindigkeits- und Beschleunigungsvektor bei einer Kreisbewegung mit konstanter Geschwindigkeit.

Die Gesamtenergie eines Massenpunktes ist die Summe aus seiner kinetischen und seiner potentiellen Energie: E = Ekin + Epot

(2.14)

Wenn nur konservative Kräfte wirken, ändert sich die Gesamtenergie eines Massenpunktes nicht: ΔE = ΔEkin + ΔEpot = 0

(bei konservativen Kräften).

(2.15)

Wenn aber nichtkonservative Kräfte wirken – Kräfte, die in keinem Potential enthalten sind –, dann ist die Änderung der Energie eines Massenpunktes gleich der von diesen Kräften an ihm verrichteten Arbeit: ΔE = ΔW

(bei nichtkonservativen Kräften).

(2.16)

So, diesen Teil der Wiederholung werden wir mit der Angabe aller bekannten Regeln für die verschiedenen Kräfte beenden. Aber zuvor gibt es noch eine sehr nützliche Formel für die Beschleunigung: Wenn sich zu einem gegebenen Zeitpunkt ein Körper auf einer Kreisbahn mit dem Radius r mit der konstanten Geschwindigkeit v bewegt, ist seine Beschleunigung zum Mittelpunkt hin gerichtet und ihr Betrag ist identisch mit v2 /r (siehe Abbildung 2.2). Das hat eigentlich nichts mit dem zu tun, worüber ich gerade gesprochen habe, aber diese Formel prägt man sich besser ein, weil es mühsam ist, sie herzuleiten:4 |a| = 4

v2 . r

Siehe Band I der Feynman-Vorlesungen über Physik, Abschnitt 11.6.

(2.17)

2.4 Kräfte und ihre Potentiale

53

Tabelle 2.1

Im Allgemeinen falsch (nur bei kleinen Geschwindigkeiten wahr)

Immer wahr F=

Kraft

p= 

Impuls

F = ma p = mv

1 − v2 /c2

E= 

Energie

dp dt mv mc2

  1 E = mv2 +mc2 2

1 − v2 /c2

Tabelle 2.2

Wahr bei konservativen Kräften

Wahr bei nichtkonservativen Kräften

ΔEpot = −ΔW ΔE = ΔEkin + ΔEpot = 0

Epot ist nicht definiert ΔE = ΔW

Definitionen: Kinetische Energie Ekin =

2.4

1 2 mv ; 2

Arbeit W =



F · ds .

Kräfte und ihre Potentiale

Jetzt zurück zum eigentlichen Thema: Ich werde eine Reihe von Gesetzen über verschiedene Kräfte und die Formeln für ihre Potentiale auflisten. Bei der ersten Kraft handelt es sich um die Gravitationskraft nahe der Erdoberfläche. Die Kraft ist nach unten gerichtet, dabei spielt das Vorzeichen keine Rolle. Passen Sie nur auf, welche Richtung die Kraft hat, denn wer weiß, wie Ihre Achsen verlaufen – vielleicht wählen Sie die z-Achse nach unten gerichtet! (Das dürfen Sie!) Also ist die Tabelle 2.3

Kraft

Potential

Gravitationskraft nahe der Erdoberfläche Gravitationskraft zwischen Massenpunkten Elektrische Ladung Elektrisches Feld

−mg −Gm1 m2 /r2 q1 q2 /4πε0 r2 qE

Ideale Feder

−kx

mgz −Gm1 m2 /r q1 q2 /4πε0 r qφ 1 2 kx 2 Nein!

Reibung

−μN

54

2 Naturgesetze und Intuition

Kraft –mg und die potentielle Energie ist mgz, wobei m die Masse eines Körpers, g eine Konstante (die Fallbeschleunigung an der Erdoberfläche – sonst wäre die Formel nicht so gut!) und z die Höhe über dem Boden oder einem anderen Niveau ist. Das heißt, dass der Wert der potentiellen Energie an jedem beliebigen Ort null sein kann. Wir werden uns hier mit den Änderungen der potentiellen Energie beschäftigen – und dann macht es natürlich keinen Unterschied, ob man eine Konstante addiert. Die nächste Kraft ist die Gravitationskraft im Raum zwischen Massenpunkten. Diese Kraft ist zentral gerichtet und proportional zu dem Produkt aus der einen Masse und der anderen Masse, dividiert durch den Abstand zwischen den beiden zum Quadrat, −mm� /r2 oder −m1 m2 /r2 oder wie Sie es auch immer schreiben wollen. Es ist besser, sich einfach die Richtung der Kraft einzuprägen anstatt sich Gedanken über das Vorzeichen zu machen. Aber eines müssen Sie sich merken: Die Gravitationskraft nimmt mit dem umgekehrten Quadrat des Abstandes zwischen den Massenpunkten ab. (Aber wie sieht das Vorzeichen aus? Nun, gleiche Vorzeichen ziehen sich unter dem Einfluss der Gravitation an, also ist die Kraft dem Radiusvektor entgegen gerichtet. Das zeigt, dass ich mich nicht an das Vorzeichen erinnern kann, ich weiß nur physikalisch, um welches Vorzeichen es sich handelt: Die Massenpunkte ziehen sich an – das ist alles, was ich wissen muss.) Die potentielle Energie zwischen zwei Massenpunkten ist −Gm1 m2 /r. Ich tue mich schwer damit, mir zu merken, in welche Richtung die potentielle Energie gerichtet ist. Mal sehen: Die Massenpunkte verlieren potentielle Energie, wenn sie zusammen kommen. Das bedeutet, wenn r kleiner ist, sollte die potentielle Energie geringer sein, also ist sie negativ – ich hoffe, das stimmt! Ich habe so meine Schwierigkeiten mit den Vorzeichen. Bei der Elektrizität ist die Kraft proportional zum Produkt der Ladungen q1 und q2 , dividiert durch das Quadrat des Abstandes zwischen ihnen. Die Proportionalitätskonstante wird allerdings nicht (wie bei der Gravitationskraft) in den Zähler geschrieben, sondern als 4πε0 in den Nenner. Die elektrische Kraft ist radial ausgerichtet wie die Gravitationskraft, sie verhält sich aber nach dem entgegengesetzten Vorzeichengesetz: Gleiche Vorzeichen stoßen sich elektrisch ab und deshalb hat die elektrische potentielle Energie das entgegengesetzte Vorzeichen der potentiellen Energie als Folge der Gravitation. Dann ist allerdings die Proportionalitätskonstante nicht gleich: 1/4πε0 anstatt G. Einige fachliche Punkte aus den Gesetzen der Elektrizität: Die auf q Ladungseinheiten ausgeübte Kraft kann als Produkt aus q und dem elektrischen Feld, qE, geschrieben werden. Die Energie kann man als Produkt aus q und dem elektrischen Potential, qφ, schreiben. Hier ist E ein Vektorfeld und φ ein Skalarfeld. q wird in Coulomb gemessen, φ in Volt, wenn die Energie, wie normalerweise üblich, in Joule angegeben ist. Wenn wir nach der Formeltabelle weitergehen, haben wir als Nächstes eine ideale Feder. Die Kraft, um eine ideale Feder bis zu einer Auslenkung x auseinander zu ziehen, ist eine Konstante k mal x. Jetzt müssen Sie natürlich wieder einmal wissen, was die

2.5 Physik lernen durch Beispiele

55

Buchstaben bedeuten: x ist der Weg, um den Sie die Feder aus ihrer Gleichgewichtslage ziehen, und die Kraft zieht sie einen Weg −kx zurück. Ich habe das Vorzeichen dazugesetzt, weil ich damit ausdrücken will, dass die Feder zurückzieht. Sie wissen verdammt genau, dass eine Feder einen Körper zurückzieht und nicht noch weiter wegschiebt, wenn Sie daran ziehen. So, die potentielle Energie ist 1/2 kx2. Wenn Sie eine Feder auseinanderziehen, verrichten Sie Arbeit an ihr. Deshalb ist, wenn die Feder auseinandergezogen ist, die potentielle Energie positiv. Also ist die Sache mit dem Vorzeichen einfach – wenigstens bei der Feder. Sehen Sie, Einzelheiten wie die Sache mit den Vorzeichen, die ich vergessen habe, versuche ich, durch Argumente zu rekonstruieren. So erinnere ich mich an all die Dinge, an die ich mich nicht erinnere. Reibung: Die Reibungskraft auf einer trockenen Oberfläche beträgt −μN. Und wieder müssen Sie wissen, was die Symbole bedeuten: Wenn man einen Körper auf einer Fläche schiebt, und zwar mit einer Kraft, deren Komponente senkrecht zu der Fläche N gerichtet ist, dann ist die Kraft, die erforderlich ist, damit der Körper weiter entlang der Fläche gleitet, μ mal N. Sie können leicht herausfinden, welche Richtung die Kraft hat. Sie ist der Richtung, in der Sie schieben, entgegen gerichtet. Nun steht in der Spalte „Potential“ bei der Reibung in Tabelle 2.3 ein Nein. Bei der Reibung bleibt die Energie nicht erhalten und deshalb gibt es bei der Reibung keine Formel für die potentielle Energie. Wenn Sie einen Körper entlang einer Fläche in eine Richtung schieben, verrichten Sie Arbeit. Wenn Sie ihn dann zurückziehen, verrichten Sie wieder Arbeit. Wenn Sie einmal durch sind, stellen Sie fest, dass Sie nicht ohne Änderung der Energie durchgekommen sind. Sie haben Arbeit verrichtet – und deshalb hat die Reibung keine potentielle Energie.

2.5

Physik lernen durch Beispiele

Das sind alle Regeln, die ich als notwendig in Erinnerung habe. So, nun sagen Sie: „Das ist ja einfach: Ich präge mir einfach die verdammte Tabelle ein und dann bin ich perfekt in Physik.“ So funktioniert es nicht. Am Anfang kann es tatsächlich ganz gut funktionieren, aber es wird immer schwieriger, wie ich in Kapitel 1 schon erklärt habe. Deshalb müssen wir als Nächstes lernen, wie man die Mathematik auf physikalische Aufgaben anwendet, damit wir die Welt verstehen. Die Gleichungen behalten für uns die Übersicht, deshalb benutzen wir sie als Werkzeuge. Aber damit wir das können, müssen wir wissen, wovon die Gleichungen handeln. Es ist wirklich sehr schwierig, jemandem beizubringen, wie man neue Dinge aus alten herleitet und wie man Aufgaben löst. Ich weiß nicht, wie man das macht. Ich weiß nicht, wie ich Ihnen etwas erzählen soll, das aus Ihnen, einem Menschen, der neue

56

2 Naturgesetze und Intuition

Situationen nicht analysieren oder Probleme nicht lösen kann, einen Menschen macht, der das alles kann. In der Mathematik kann ich aus Ihnen, der Sie nicht differenzieren können, jemanden machen, der das kann, indem ich Ihnen alle Regeln nenne. Aber was die Physik betrifft, da kann ich aus Ihnen, der etwas nicht kann, nicht jemanden machen, der etwas kann. Daher weiß ich nicht, was wir machen sollen. Denn ich verstehe intuitiv, was physikalisch vor sich geht, ich finde es allerdings schwierig, das zu vermitteln: Ich kann Ihnen höchstens Beispiele zeigen. Deshalb werden der Rest dieser Vorlesung und die nächste aus dem Durchführen von vielen kleinen Beispielen bestehen – Anwendungsbeispiele, Phänomene aus der physikalischen oder industriellen Welt, physikalische Anwendungsbeispiele an verschiedenen Stellen –, um Ihnen zu zeigen, wie das, was Sie schon wissen, Ihnen das Verstehen oder die Analyse der Vorgänge ermöglicht. Nur durch die Beispiele werden Sie es kapieren. Wir haben viele alte Texte mit alter Babylonischer Mathematik gefunden, unter anderem auch eine große Bibliothek voll mit Mathematik-Arbeitsbüchern für Studenten. Und das ist sehr interessant: Die Babylonier konnten quadratische Gleichungen lösen. Sie hatten sogar Tabellen zum Lösen von Gleichungen dritten Grades. Sie konnten Dreiecke bearbeiten (siehe Abbildung 2.3), sie konnten alle möglichen Dinge machen, aber sie haben nie eine algebraische Formel aufgeschrieben. Die alten Babylonier kannten keine Methode für das Aufschreiben von Formeln. Stattdessen machten sie ein Beispiel nach dem anderen – das ist alles. Man meinte, dass man sich Beispiele anschauen sollte, bis man es kapiert hatte. Deshalb besaßen die alten Babylonier nicht die Fähigkeit, das in mathematischer Form auszudrücken. Heute besitzen wir nicht die Fähigkeit, einem Studenten zu zeigen, wie er Physik physikalisch verstehen kann! Wir können die Gesetze aufschreiben, aber wir können immer noch nicht sagen, wie man sie physikalisch versteht. Mangels einer Ausdrucksmöglichkeit ist der einzige Weg, Physik physikalisch zu verstehen, auch heute noch der langweilige, Babylonische Weg, viele Beispiele zu machen, bis man es kapiert hat. Das ist alles, was ich für Sie tun kann. Die Studenten, die es in Babylonien nicht ka-

Abbildung 2.3: Pythagoreische Tripel auf der Tafel Plimpton 322, etwa 1700 v. Chr.

2.6 Physik physikalisch verstehen

57

piert haben, sind durchgefallen, und die Typen, die es kapiert haben, sind gestorben. Also kommt alles auf’s Gleiche heraus! So, nun versuchen wir es.

2.6

Physik physikalisch verstehen

Die erste Aufgabe aus Kapitel 1 hatte viel mit physikalischen Dingen zu tun. Wir hatten zwei Stangen, eine Rolle, ein Gelenk und ein Gewicht −2 kg, glaube ich. Das geometrische Verhältnis der Stangen war 0,3, 0,4 und 0,5 und die Aufgabe war herauszufinden, wie groß die horizontale Kraft P an der Rolle sein muss, um das Gewicht oben zu halten, wie in Abbildung 2.4 dargestellt. Wir mussten etwas herumprobieren (tatsächlich musste ich die Aufgabe zweimal machen, bevor sie richtig gelöst war), aber wir fanden heraus, dass die auf die Rolle ausgeübte horizontale Kraft einem Gewicht von 3/4 kg entsprach, wie in Abbildung 2.5 dargestellt. Nun lösen Sie sich mal von den Gleichungen und denken Sie etwas darüber nach, krempeln Ihre Ärmel hoch und schütteln Ihre Arme aus und dann können Sie beinahe verstehen, wie die Antwort lauten wird – ich kann es zumindest. Und jetzt muss ich Ihnen beibringen, wie das geht. Sie könnten sagen: „Die von dem Gewicht ausgeübte Kraft verläuft direkt nach unten und entspricht 2 kg und das Gewicht wird gleichmäßig auf zwei Beine verteilt. Deshalb muss die von jedem Bein ausgeübte vertikale Kraft so groß sein, dass sie 1 kg oben halten kann. Die entsprechende auf jedes Bein ausgeübte horizontale Kraft muss der Anteil der vertikalen Kraft sein, der nur dem Verhältnis horizontal zu vertikal in diesem rechtwinkligen Dreieck – 3 zu 4 – entspricht. Deshalb entspricht die auf die Rolle ausgeübte horizontale Kraft 3/4 kg Gewicht – Punkt.“

2 kg

Gewicht

0.5 m 0.4 m Rolle

P

0.3 m

Abbildung 2.4: Die einfache Maschine aus Kapitel 1.

Gelenk

58

2 Naturgesetze und Intuition

2 kg 3 kg 4

3 kg 4

1 kg

1 kg

5 kg 4

5 kg 4

Abbildung 2.5: Verteilung der Kraft vom Gewicht durch die Stangen auf die Rolle und das Gelenk.

Nun, lassen Sie uns mal sehen, ob das Sinn macht: Wenn die Rolle wesentlich näher an das Gelenk herangeschoben würde, sodass der Abstand zwischen den Beinen wesentlich kleiner wäre, würde ich entsprechend dieser Idee erwarten, dass eine wesentlich geringere Kraft auf die Rolle ausgeübt würde. Stimmt es, dass die auf die Rolle ausgeübte Kraft gering ist, wenn sich das Gewicht gaaaanz weit oben befindet? Jawohl! (Siehe Abbildung 2.6). Wenn Sie es nicht erkennen können, ist es schwer zu erklären, warum das so ist. Aber wenn Sie z. B. versuchen, etwas mit einer Leiter hoch zu halten, und Sie die Leiter direkt unter dieses Etwas stellen, ist es kein Problem, die Leiter am Wegrutschen zu hindern. Aber wenn die Leiter ein Stück weiter weg in einem bestimmten Winkel angelehnt wird, ist es verdammt schwierig, das Etwas oben zu halten! Wenn Sie sich gaaanz weit nach außen bewegen, sodass der Abstand zwischen dem oberen Ende der Leiter und dem Boden ganz klein ist, werden Sie in der Tat herausfinden, dass eine nahezu unendliche horizontale Kraft erforderlich ist, um das Etwas in einem sehr flachen Winkel oben zu halten.

F

F

Abbildung 2.6: Die auf die Rolle ausgeübte Kraft ändert sich mit der Höhe des Gewichtes.

2.6 Physik physikalisch verstehen

59

Alle diese Dinge können Sie fühlen. Sie müssen sie nicht fühlen. Sie können sie durch das Anfertigen von Zeichnungen und durch Berechnungen erarbeiten. Aber da die Aufgaben immer schwieriger werden und da Sie versuchen, die Natur in immer komplizierteren Situationen zu verstehen, sind Sie wesentlich besser dran, je mehr Sie vermuten, fühlen und verstehen können, ohne tatsächlich zu rechnen! Das sollten Sie beim Bearbeiten der verschiedenen Aufgaben versuchen zu üben: Wenn Sie irgendwie Zeit haben und Sie die Antwort nicht für ein Quiz oder so etwas finden müssen, schauen Sie sich die Aufgabe an und versuchen Sie, ob Sie die Art und Weise verstehen, wie sich die Aufgabe schätzungsweise verhält, wenn Sie einige der Zahlen ändern. Nur weiß ich nicht, wie man erklärt, wie man das machen soll. Ich erinnere mich an einen Fall, als ich versucht habe, jemanden zu unterrichten, der sehr viele Probleme im Physikkurs hatte, obwohl er gut in Mathematik war. Ein gutes Beispiel war folgende Aufgabe, die er nicht lösen konnte: „Ein runder Tisch hat drei Beine. An welcher Stelle sollte man sich auf den Tisch lehnen, damit dieser seine instabilste Position einnimmt?“ Die Lösung des Studenten lautete: „Wahrscheinlich oben auf eines der drei Beine, aber mal sehen: Ich berechne, welche Kraft welche Hubkraft an verschiedenen Stellen erzeugt und so weiter.“ Dann habe ich gesagt: „Lassen Sie mal das Rechnen beiseite. Können Sie sich einen realen Tisch vorstellen?“ „Aber so soll man es doch nicht machen!“ „Egal, wie man es machen soll. Sie haben hier einen realen Tisch mit verschiedenen Beinen, sehen Sie? Nun, wo, glauben Sie, würden Sie sich auflehnen? Was würde passieren, wenn Sie direkt über einem Bein nach unten drücken würden?“ „Nichts!“ Ich sage: „Das stimmt. Und was passiert, wenn Sie nahe der Kante mitten zwischen zwei Beinen nach unten drücken?“ „Er kippt um!“ Ich sage: „Gut! Das hört sich besser an!“ Der Punkt ist, dass der Student nicht erkannt hatte, dass das nicht einfach mathematische Aufgabenstellungen waren. Es wurde ein realer Tisch mit Beinen beschrieben. Tatsächlich war es kein realer Tisch, weil er vollkommen rund war, die Beine gerade waren und so weiter. Aber er beschrieb näherungsweise, grob gesagt, einen realen Tisch. Und wenn man weiß, wie sich ein realer Tisch verhält, kann man sich sehr gut vorstellen, wie sich dieser Tisch verhält, ohne dass man irgendwelche Rechnungen anstellen muss – Sie wissen verdammt gut, an welcher Stelle Sie sich auflehnen müssen, damit der Tisch umkippt. Ich habe keine Ahnung, wie man das erklärt. Aber wenn Sie einmal kapiert haben, dass es keine mathematischen, sondern physikalische Aufgabenstellungen sind, ist das schon sehr hilfreich.

60

2 Naturgesetze und Intuition

Jetzt werde ich diese Herangehensweise bei einer Reihe von Aufgaben anwenden: Zuerst bei der Konstruktion von Maschinen, zweitens bei Bewegungen von Satelliten, drittens beim Raketenantrieb, viertens bei Strahlenanalysatoren und dann, wenn noch Zeit ist, beim Zerfall von Pionen und bei ein paar anderen Dingen. Alle diese Aufgaben sind ziemlich schwierig, aber sie veranschaulichen im weiteren Verlauf verschiedene Punkte. So, nun schauen wir mal, was passiert.

2.7

Eine Aufgabe bei der Konstruktion von Maschinen

Beginnen wir mit der Konstruktion von Maschinen. Hier ist die Aufgabe: Zwei drehbare Stangen, jeweils einen halben Meter lang, tragen ein Gewicht von 2 kg – kommt Ihnen bekannt vor, oder? – und auf der linken Seite wird eine Rolle durch einen Mechanismus mit einer konstanten Geschwindigkeit von 2 m pro Sekunde vor- und zurückbewegt. OK? Die Frage für Sie lautet: „Wie groß ist die dafür erforderliche Kraft, wenn sich das Gewicht in einer Höhe von 0,4 m befindet?“ (Siehe Abbildung 2.7.) 2 kg

0.5 m 0.4 m FRolle

2 m/s

0.3 m

Abbildung 2.7: Die einfache Maschine in Bewegung.

Sie könnten denken: „Das haben wir schon gemacht! Die horizontale Kraft, die erforderlich ist, um das Gewicht auszugleichen, beträgt 3/4 von 1 kg Gewicht.“ Aber ich sage: „Die Kraft beträgt nicht 3/4 kg, weil sich das Gewicht bewegt.“ Sie könnten entgegnen: „Wenn sich ein Körper bewegt, ist dann eine Kraft erforderlich, um ihn in Bewegung zu halten? Nein!“ „Aber es ist eine Kraft erforderlich, um die Bewegung des Körpers zu ändern.“ „Ja, aber die Rolle bewegt sich mit konstanter Geschwindigkeit!“ „Ah ja, stimmt: Die Rolle bewegt sich mit einer konstanten Geschwindigkeit von 2 m pro Sekunde. Aber wie steht’s mit dem Gewicht: Bewegt sich das mit konstanter Geschwindigkeit? Stellen wir es uns vor: Bewegt sich das Gewicht manchmal langsam und manchmal schnell?“ „Ja . . . “

2.7 Eine Aufgabe bei der Konstruktion von Maschinen

61

„Dann ändert sich seine Bewegung – und das ist unsere Aufgabe: Wir müssen die Kraft herausfinden, die erforderlich ist, damit sich die Rolle konstant mit 2 m pro Sekunde bewegt, wenn sich das Gewicht in einer Höhe von 0,4 m befindet.“ Schauen wir mal, ob wir verstehen können, wie sich die Bewegung des Gewichtes ändert. Nun, wenn sich das Gewicht nahe der obersten Position befindet und die Rolle fast direkt darunter ist, bewegt sich das Gewicht kaum auf und ab. In dieser Position bewegt sich das Gewicht nicht sehr schnell. Aber wenn sich das Gewicht unten befindet, wie vorhin, und Sie die Rolle nur etwas nach rechts schieben – mein lieber Mann, dann muss sich das Gewicht ganz schön nach oben bewegen, um nicht im Weg zu sein! Also, wenn wir beginnen, die Rolle zu schieben, beginnt das Gewicht, sich sehr schnell nach oben zu bewegen und wird dann langsamer, richtig? Wenn es sich sehr schnell nach oben bewegt und langsamer wird, in welche Richtung ist dann die Beschleunigung gerichtet? Die Beschleunigung muss nach unten gerichtet sein: Es ist so, als ob ich es schnell nach oben werfe und es dann langsamer wird – als ob es fällt, sodass die Kraft reduziert werden muss. Das heißt, die horizontale Kraft, die ich auf die Rolle ausübe, ist kleiner, als wenn sie sich nicht bewegen würde. Also müssen wir herausfinden, wie viel kleiner. (Der Grund, warum ich das alles durchgehe, ist, dass ich die Vorzeichen in den Gleichungen nicht richtig behalten kann. So muss ich am Ende durch dieses physikalische Argument herausfinden, wie die Vorzeichen aussehen.) Übrigens habe ich diese Aufgabe ungefähr viermal gemacht – jedes Mal mit einem Fehler –, aber schließlich habe ich sie hinbekommen. Ich schätze, dass, wenn Sie eine Aufgabe das erste Mal in Angriff nehmen, viele, viele Dinge durcheinander geraten: Ich habe die Zahlen verwechselt, ich habe das Quadrieren vergessen, ich habe das falsche Vorzeichen für die Zeit genommen und viele andere Dinge falsch gemacht, aber immerhin, jetzt habe ich es geschafft und ich kann Ihnen zeigen, wie man es richtig machen kann – ich muss allerdings zugeben, offen gesagt, dass ich ziemlich lange gebraucht habe, bis ich es geschafft hatte. (Mann, bin ich froh, dass ich meine Notizen noch habe!) Nun, um die Kraft zu berechnen, brauchen wir die Beschleunigung. Nur durch Anschauen der Zeichnung kann man die Beschleunigung unmöglich herausfinden, denn in der Zeichnung sind alle Maße zum betreffenden Zeitpunkt fest. Um das Maß der Änderung zu bestimmen, können wir nicht alles fest lassen – ich meine, wir können nicht sagen: „Das ist 0,3, das ist 0,4, das ist 0,5, das sind 2 m pro Sekunde, wie groß ist die Beschleunigung?“ Es ist nicht einfach, dorthin zu kommen. Die einzige Möglichkeit, die Beschleunigung herauszufinden, ist, die allgemeine Bewegung zu bestimmen und sie nach der Zeit zu differenzieren.5 Dann können wir den Betrag für die Zeit einsetzen, der dieser bestimmten Zeichnung entspricht. 5

Eine Möglichkeit, die Beschleunigung des Gewichtes ohne Differentiation zu bestimmen, finden Sie in den Alternativen Lösungen am Ende dieses Kapitels.

62

2 Naturgesetze und Intuition

Deshalb muss ich dieses Ding in einer allgemeineren Situation analysieren, in der sich das Gewicht an einem beliebigen Ort befindet. Sagen wir, das Gelenk und die Rolle befinden sich zum Zeitpunkt t = 0 zusammen und der Abstand zwischen ihnen beträgt 2t, weil sich die Rolle mit 2 Metern pro Sekunde bewegt. Der Zeitpunkt, für den wir die Analyse durchführen wollen, liegt 0,3 Sekunden, bevor die Rolle und das Gelenk zusammen sind, d. h. t = −0,3, und der Abstand zwischen ihnen beträgt tatsächlich minus 2t – aber es ist OK, wenn wir t = 0,3 und für den Abstand 2t wählen. Zum Schluss werden eine Menge Vorzeichen falsch sein, aber weil ich am Anfang etwas herumprobiert habe, welches Vorzeichen die Kraft hat, wird es passen – ich lasse die Mathematik lieber ruhen und nehme das Vorzeichen direkt aus der Physik, das klappt besser als umgekehrt. Wie dem auch sei, da haben wir es. (Tun Sie das nicht, es ist zu schwierig – man muss erst üben!) (Denken Sie daran, was das t bedeutet: t ist die Zeit, bevor die Gelenke zusammen sind, eine Art negative Zeit, die jeden verrückt macht, aber ich kann es nicht ändern – so habe ich die Aufgabe nun mal gelöst.) Nun, geometrisch sieht es so aus, dass sich das Gewicht immer (horizontal) in der Mitte zwischen der Rolle und dem Gelenk befindet. Wenn wir also den Ursprung unseres Koordinatensystems am Gelenk wählen, ist die x-Koordinate des Gewichtes 1 x = (2t) = t . 2 Die Länge der Stangen beträgt 0,5, somit erhalte ich nach dem Satz des Pythagoras für die Höhe des Gewichtes, d. h. seine y-Koordinate,  y = 0,25 − t2

(siehe Abbildung 2.8). Können Sie sich vorstellen, dass ich, als ich diese Aufgabe das erste Mal gemacht habe, übrigens sehr sorgfältig,  y = 0,25 + t2 herausbekommen habe?

Jetzt brauchen wir die Beschleunigung und die Beschleunigung hat zwei Komponenten: Eine ist die horizontale Beschleunigung und die andere die vertikale Beschleunigung. Wenn es eine horizontale Beschleunigung gibt, gibt es eine horizontale Kraft und die müssen wir durch die Stange hinunter verfolgen und herausfinden, wie groß die auf die Rolle ausgeübte Kraft ist. Diese Aufgabe ist etwas einfacher, als sie aussieht, denn es gibt keine horizontale Beschleunigung – die x-Koordinate des Gewichtes ist immer die Hälfte der x-Koordinate der Rolle. Es bewegt sich in dieselbe Richtung, aber mit halb so großer Geschwindigkeit. Also bewegt sich das Gewicht horizontal konstant mit 1 m pro Sekunde. Es gibt, Gott sei Dank, keine seitliche Beschleunigung! Das macht die Aufgabe etwas einfacher. Wir müssen uns nur mit der Beschleunigung nach oben und unten beschäftigen.

2.7 Eine Aufgabe bei der Konstruktion von Maschinen

63

2 kg

0.5 m y t y

x

0.25  t 2

xt

Abbildung 2.8: Mithilfe des Satzes des Pythagoras wird die Höhe des Gewichtes bestimmt.

Deshalb muss ich, um die Beschleunigung zu erhalten, die Höhe des Gewichtes zweimal differenzieren: Einmal, um die Geschwindigkeit in y-Richtung zu bestimmen, und noch einmal, um die Beschleunigung zu erhalten. Die Höhe ist  y = 0,25 − t2 . Das sollten sie schnell differenzieren können. Die Antwort lautet: y� = 

−t

0,25 − t2

.

(2.18)

Sie ist negativ, obwohl sich das Gewicht nach oben bewegt. Aber ich habe mit meinen Vorzeichen Mist gebaut, also lasse ich es so. Ich weiß sowieso, dass die Geschwindigkeit nach oben gerichtet ist, und dies wäre falsch, wenn t positiv wäre, also sollte t tatsächlich negativ sein – folglich ist es doch richtig. Jetzt berechnen wir die Beschleunigung. Es gibt mehrere Möglichkeiten. Sie können es auf herkömmliche Weise machen, aber ich werde die neue „Supermethode“ anwenden, die ich Ihnen in Kapitel 1 gezeigt habe: Sie schreiben noch einmal y� auf. Dann sagen Sie: „Der erste Term, den ich differenzieren will, gehört zur ersten Potenz, −t. Die Ableitung von −t ist −1. Der nächste Term, den ich differenzieren will, gehört zur negativen halben Potenz. Der Term ist 0,25 − t2 . Die Ableitung ist −2t. Fertig!“ y� = −t(0,25 − t2 )−1/2

  1 −2t −1 − · y�� = −t(0,25 − t2 )−1/2 1 · (−t) 2 (0,25 − t2 )

(2.19)

Jetzt haben wir die Beschleunigung zu jedem beliebigen Zeitpunkt. Um die Kraft zu bestimmen, müssen wir sie mit der Masse multiplizieren. Die Kraft – d. h. die zusätzliche Kraft neben der Gravitationskraft, die aus der Beschleunigung resultiert – ist das Produkt aus der Masse, 2 kg in diesem Fall, und dieser Beschleunigung. Nun setzen wir die Zahlen in dieses Ding ein: t ist 0,3. Die Quadratwurzel von 0,25 − t2 ist die

64

2 Naturgesetze und Intuition

Quadratwurzel von 0,25 minus 0,09, also von 0,16, und die Quadratwurzel davon ist 0,4 – wie praktisch! Stimmt das? Jawohl, meine Herren: Diese Quadratwurzel ist mit y selbst identisch und wenn t 0,3 ist, ist y nach unserer Zeichnung 0,4. OK, kein Fehler. (Beim Rechnen prüfe ich immer nach, weil ich so viele Fehler mache. Eine Möglichkeit zur Überprüfung ist, dass man die Mathematik sehr sorgfältig anwendet. Die andere Möglichkeit ist, dass man immer wieder schaut, ob die Zahlen, die herauskommen, plausibel sind, ob sie beschreiben, was wirklich passiert.) Jetzt rechnen wir. (Das erste Mal, als ich diese Aufgabe gerechnet habe, habe ich versehentlich 0,25 − t2 = 0,4 anstatt 0,16 geschrieben. Das hat vielleicht gedauert, bis ich diesen Fehler gefunden hatte!) Wir erhalten irgendeine Zahl6 , die ich ausgerechnet habe: ungefähr 3,9. Also beträgt die Beschleunigung 3,9. Und jetzt die Kraft: Die vertikale Kraft, zu der diese Beschleunigung passt, ist das Produkt aus 3,9, 2 kg und g. Nein, das stimmt nicht! Ich habe vergessen, dass es jetzt kein g gibt. 3,9 ist die tatsächliche Beschleunigung. Die vertikale Gravitationskraft ist das Produkt aus 2 kg und der Fallbeschleunigung, 9,8 – das ist g – und die vertikale Komponente der von der Stange auf das Gewicht ausgeübten Kraft ist die Summe dieser beiden, wobei eine ein negatives Vorzeichen hat. Die relativen Vorzeichen sind entgegengesetzt gerichtet. Sie subtrahieren also und erhalten FGewicht = ma − mg = 7,8 − 19,6 = −11,8 Newton .

(2.20)

Aber denken Sie daran, das ist die auf das Gewicht ausgeübte vertikale Kraft. Wie groß ist die auf die Rolle ausgeübte horizontale Kraft? Die Antwort ist: Die auf die Rolle ausgeübte horizontale Kraft beträgt drei Viertel einer Hälfte der auf das Gewicht ausgeübten vertikalen Kraft. Das haben wir vorhin schon bemerkt: Die nach unten gerichtete Kraft wird durch zwei Beine ausgeglichen, dadurch wird sie durch zwei dividiert. Die Geometrie ist so beschaffen, dass das Verhältnis der horizontalen zur vertikalen Komponente 3/4 ist – und deshalb lautet die Antwort, dass die auf die Rolle ausgeübte horizontale Kraft drei Achtel der auf das Gewicht ausgeübten vertikalen Kraft beträgt. Ich habe die drei Achtel für jedes der Teile ausgerechnet und habe für die Gravitationskraft 7,35, 2,925 für den Term, der sich aufgrund der Beschleunigung ergibt, und für die Differenz 4,425 Newton erhalten – ungefähr 3 Newton weniger als die Kraft, die erforderlich ist, um das Gewicht in derselben Position zu halten, wenn es sich nicht bewegt (siehe Abbildung 2.9). So konstruiert man jedenfalls Maschinen. Sie wissen, wie viel Kraft Sie brauchen, um das Ding vorwärts zu bewegen. Jetzt werden Sie sagen: „Ist das denn der richtige Weg, so etwas anzugehen?“ So etwas gibt es gar nicht! Es gibt keinen „richtigen“ Weg, etwas zu tun. Ein bestimmter Weg, etwas zu tun, ist möglicherweise richtig, aber es ist nicht der richtige Weg. Sie 6

3,90625.

2.7 Eine Aufgabe bei der Konstruktion von Maschinen

65

FGewicht

0.4 m FRolle

FRolle 0.3 m

0.3 m

0.3 F  4.425 Newton FRolle  Gewicht  0.4 2

Abbildung 2.9: Verwendung gleicher Dreiecke, um die auf die Rolle ausgeübte Kraft zu bestimmen.

können es, verdammt noch mal, so tun, wie Sie es möchten. (Na ja, Entschuldigung: Es gibt natürlich falsche Wege, etwas zu tun . . . ) Wenn ich clever genug wäre, könnte ich eben mal einen Blick auf die ganze Sache werfen und Ihnen dann sagen, wie groß die Kraft ist, aber ich bin eben nicht clever genug. Also muss ich es auf irgendeine andere Weise angehen – aber es gibt viele Wege. Ich werde einen anderen Weg aufzeigen, der sehr nützlich ist, insbesondere wenn Sie im Konstruktionsbereich für reale Maschinen tätig sind. Diese Aufgabenstellung ist etwas vereinfacht dadurch, dass die Beine identisch sind und so weiter, weil ich die Arithmetik nicht verkomplizieren wollte. Aber die physikalischen Vorstellungen sind so beschaffen, dass Sie die ganze Sache auf andere Art und Weise ausrechnen können, auch wenn die Geometrie nicht so einfach ist. Dieser andere interessante Weg sieht folgendermaßen aus. Stellen Sie sich vor, Sie haben eine Menge Hebel, die viele Gewichte bewegen. Dann können Sie Folgendes tun: Wenn Sie das Ding vorwärts bewegen und alle Gewichte auf Grund aller Hebel beginnen, sich zu bewegen, verrichten Sie eine bestimmte Arbeit, W. Zu jedem beliebigen Zeitpunkt wird eine bestimmte Leistung zugeführt, und zwar das Maß, in dem Sie arbeiten, dW/dt. Gleichzeitig ändert sich die Energie aller Gewichte, E, in einem bestimmten Maß, dE/dt, und diese beiden Maße sollten zueinander passen, d. h. das Maß, in dem Sie Arbeit verrichten, sollte dem Maß der Änderung der Gesamtenergie aller Gewichte entsprechen: dE dW = . dt dt

(2.21)

66

2 Naturgesetze und Intuition

Vielleicht erinnern Sie sich aus den Vorlesungen daran, dass die Leistung das Produkt aus Kraft und Geschwindigkeit ist:7 ds dW F · ds = =F· = F · v. dt dt dt Und so ergibt sich

(2.22)

dE = F · v. (2.23) dt Folgender Gedanke steckt dahinter: Die Gewichte haben zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Geschwindigkeit und somit auch eine kinetische Energie. Sie befinden sich in einer bestimmten Höhe über dem Boden und haben deshalb auch eine potentielle Energie. Wenn wir nun herausfinden können, wie schnell sich die Gewichte bewegen und wo sie sich befinden, um ihre Gesamtenergie zu erhalten, und wir dann das nach der Zeit differenzieren, entspricht das dem Produkt aus der Kraftkomponente in der Richtung, in die sich das betreffende Teil bewegt, und seiner Geschwindigkeit. Schauen wir mal, ob wir das auf unsere Aufgabenstellung anwenden können. Nun, wenn ich die Rolle mit einer Kraft P = −FRolle schiebe und sie dabei mit einer Geschwindigkeit vRolle bewege, sollte das Maß der Änderung der Energie des gesamten Teils in Abhängigkeit der Zeit mit dem Produkt aus dem Betrag der Kraft und der Geschwindigkeit, FRolle vRolle, identisch sein, weil in diesem Fall Kraft und Geschwindigkeit in dieselbe Richtung verlaufen. Das ist keine allgemeine Formel. Wenn ich Sie nach der Kraft in einer anderen Richtung gefragt hätte, hätte ich diese nicht direkt mit dieser Argumentation bestimmen können, weil diese Methode Ihnen nur die Komponente der Kraft liefert, die die Arbeit verrichtet! (Natürlich können Sie sie indirekt bestimmen, weil Sie wissen können, dass die Kraft entlang der Stange gerichtet ist. Wenn es einige miteinander verbundene Stangen mehr gäbe, würde diese Methode immer noch funktionieren, vorausgesetzt, Sie würden die Kraft in einer Bewegungsrichtung nehmen.) Was ist mit all der Arbeit, die von den Kräften der Rolle, den Gelenken und all den anderen Mechanismen verrichtet wird, die den ganzen Kram richtig in Bewegung halten? Sie verrichten keine Arbeit, vorausgesetzt, dass an ihnen nicht von anderen Kräften Arbeit verrichtet wird, wenn sie sich mitbewegen. Wenn z. B. jemand dort sitzt und ein Bein ausstreckt, während ich das andere zurückdrücke, muss ich die Arbeit, die mein Gegenüber verrichtet, berücksichtigen! Aber das macht hier keiner und deshalb ergibt sich bei vRolle = 2 dE = 2FRolle (2.24) dt Also bin ich startklar, wenn ich dE/dt berechnen kann – dividiert durch zwei, und siehe da: die Kraft! Alles klar? Auf geht’s! 7

Siehe Band I der Feynman-Vorlesungen über Physik, Kapitel 13.

2.7 Eine Aufgabe bei der Konstruktion von Maschinen

67

Wir haben die Gesamtenergie des Gewichtes in zwei Teilen: Kinetische plus potentieller Energie. Nun, die potentielle Energie ist einfach: mgy (siehe Tabelle 2.3). Wir wissen schon, dass y 0,4 = m, m = 2 kg und g 9,8 = m pro Sekunde zum Quadrat ist. Also beträgt die potentielle Energie 2 · 9,8 · 0,4 = 7,84 J. Jetzt zur kinetischen Energie: Nach ziemlich viel Herumprobieren erhalte ich die Geschwindigkeit des Gewichtes und füge die kinetische Energie dafür ein. Das machen wir gleich. Dann bin ich bereit, weil ich die Gesamtenergie habe. Stimmt nicht, ich bin nicht bereit, denn leider will ich die Energie nicht! Ich brauche die Ableitung der Energie nach der Zeit und Sie können nicht herausfinden, wie schnell sich etwas ändert, indem Sie ausrechnen, wie groß es jetzt ist! Sie müssen es entweder zu zwei direkt hintereinander liegenden Zeitpunkten – jetzt und einen Augenblick später – berechnen oder es, wenn Sie die mathematische Form benutzen wollen, für einen beliebigen Zeitpunkt t ausrechnen und nach t differenzieren. Es hängt davon ab, was am einfachsten ist: Es ist möglicherweise numerisch viel einfacher, die Geometrie für zwei Orte zu berechnen, als die Geometrie allgemein auszurechnen und zu differenzieren. (Die meisten Leute versuchen sofort, eine Aufgabe in mathematische Form zu bringen und zu differenzieren, weil sie mit der Arithmetik nicht genug Erfahrung haben, um die ungeheure Macht und Leichtigkeit beim Rechnen mit Zahlen anstatt mit Buchstaben zu schätzen. Trotzdem mache ich es mit Buchstaben.)  Wieder haben wir diese Aufgabe zu lösen, in der x = t und y = 0,25 − t2 ist, sodass wir die Ableitung berechnen können. Jetzt brauchen wir die potentielle Energie. Die können wir sehr leicht bestimmen: Sie ist das Produkt aus mg und der Höhe y, und das ergibt  Epot = mgy = 2 kg · 9,8 m/s2 · 0,25 − t2 m  (2.25) = 19,6 Newton · 0,25 − t2 m  = 19,6 0,25 − t2 J.

Aber interessanter und schwieriger auszurechnen ist die kinetische Energie. Die kinetische Energie ist 1/2 mv2 . Um die kinetische Energie zu bestimmen, muss ich das Quadrat der Geschwindigkeit berechnen, und dafür ist viel Herumprobieren nötig: Die Geschwindigkeit zum Quadrat ist ihre x-Komponente zum Quadrat plus ihrer yKomponente zum Quadrat. Ich könnte die y-Komponente wie zuvor bestimmen. Die x-Komponente, darauf habe ich schon hingewiesen, ist 1. Diese beiden hätte ich quadrieren und addieren können. Aber nehmen wir an, ich hätte das noch nicht getan und möchte über einen anderen Weg zur Bestimmung der Geschwindigkeit nachdenken. Nun, ein guter Maschinenkonstrukteur kann das, nachdem er darüber nachgedacht hat, auf Grundlage der geometrischen Prinzipien und der Konstruktion der Maschine normalerweise ausrechnen. Da das Gelenk stationär ist, muss sich z. B. das Gewicht auf ei-

68

2 Naturgesetze und Intuition v

Abbildung 2.10: Das Gewicht bewegt sich auf einer Kreisbahn, deshalb ist seine Geschwindigkeit senkrecht zur Stange gerichtet.

ner Kreisbahn um das Gelenk bewegen. Und in welcher Richtung muss die Geschwindigkeit des Gewichtes verlaufen? Es kann keine Geschwindigkeitskomponente parallel zur Stange besitzen, weil dann die Länge der Stange verändert würde, richtig? Deshalb ist der Geschwindigkeitsvektor senkrecht zur Stange gerichtet (siehe Abbildung 2.10). Sie könnten sich sagen: „Oh! Den Trick muss ich lernen!“ Nein. Dieser Trick ist nur für eine ganz bestimmte Aufgabenstellung gut. Meistens funktioniert er nicht. Sie werden sehen, dass Sie die Geschwindigkeit eines Körpers, der um einen festen Punkt rotiert, äußerst selten benötigen. Es gibt keine Regel, die besagt: „Geschwindigkeiten sind senkrecht zu Stangen gerichtet!“ oder so etwas. Sie müssen Ihren gesunden Menschenverstand so oft wie möglich benutzen. Hier in diesem Fall ist die allgemeine Idee, die Maschine geometrisch zu analysieren, wichtig – nicht irgendeine spezielle Regel. So, jetzt kennen wir die Richtung der Geschwindigkeit. Die horizontale Geschwindigkeitskomponente, das wissen wir schon, ist 1, weil sie halb so groß wie die Geschwindigkeit der Rolle ist. Aber schauen Sie! Die Geschwindigkeit ist die Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks, das einem Dreieck gleicht, das die Stange als Hypotenuse hat! Um den Betrag der Geschwindigkeit zu bestimmen, müssen wir nur ihr Verhältnis zu ihrer horizontalen Komponente herausfinden. Dieses Verhältnis erhalten wir aus dem anderen Dreieck, das wir bereits genau kennen (siehe Abbildung 2.11). Schließlich erhalten wir für die kinetische Energie: ⎛ ⎞2 ⎜⎜⎜ ⎟⎟ 0,5 1 2 1 1 m/s⎟⎟⎟⎠ = J. Ekin = mv = · 2 kg · ⎜⎜⎝ � 2 2 2 1 − 4t2 0,25 − t

(2.26)

Nun zu den Vorzeichen: Die kinetische Energie ist sicher positiv und die potentielle Energie ist positiv, weil ich den Abstand vom Boden gemessen habe. Also sind die Vorzeichen OK. Das bedeutet, dass die Energie zu jedem Zeitpunkt � 1 + 19,6 0,25 − t2 (2.27) E = Ekin + Epot = 1 − 4t2

beträgt.

2.7 Eine Aufgabe bei der Konstruktion von Maschinen

69

v

1 m/s

0.5 m

0.25  t 2

v  1

0.5 0.25  t 2

Abbildung 2.11: Man verwendet gleiche Dreiecke, um die Geschwindigkeit des Gewichtes zu bestimmen.

Um die Kraft mit diesem Trick herauszufinden, müssen wir jetzt die Energie differenzieren. Dann können wir durch zwei dividieren und alles wird bestens sein. (Die scheinbare Mühelosigkeit, mit der ich das hier mache, ist aufgesetzt: Ich schwöre, ich hab das mehr als einmal gemacht, bevor es richtig war!) Jetzt differenzieren wir die Energie nach der Zeit. Damit werde ich hier keine Zeit verschwenden. Ich gehe davon aus, dass Sie mittlerweile differenzieren können. Also, die Antwort für dE/dt (was übrigens zweimal die erforderliche Kraft ist) lautet: 8t 19,6t dE = − . 2 2 dt (1 − 4t ) (0,25 − t2 )1/2

(2.28)

2,4 0,3 dE (−0,3) = − + 19,6 · ≈ 8,84 Watt. dt 0,4096 0,4

(2.29)

Das war’s. Ich brauche nur 0,3 für t einzusetzen und bin fertig. Nun, nicht ganz – damit sich das richtige Vorzeichen ergibt, muss ich t = −0,3 setzen:

Jetzt schauen wir mal, ob das Sinn macht. Wenn es keine Bewegung gäbe und ich mich nicht mit der kinetischen Energie beschäftigen müsste, wäre die Gesamtenergie des Gewichtes gleich seiner potentiellen Energie und ihre Ableitung wäre die Kraft als Folge des Gewichtes.8 Und ganz sicher kommt hier das gleiche Ergebnis heraus wie in Kapitel 1, 2 mal 9,8 mal 3/4. Der erste Term auf der rechten Seite von Gleichung (2.29) ist negativ, weil das Gewicht abnimmt und damit kinetische Energie verloren geht; der zweite Term ist positiv, weil das Gewicht zunimmt, er also potentielle Energie gewinnt. Beide Terme sind jedenfalls 8

Die Ableitung der Gesamtenergie nach der Lage der Rolle ist der Betrag der Kraft, die auf die Rolle ausgeübt wird. Da die Lage der Rolle jedoch in diesem speziellen Fall gleich 2t ist, ist die Ableitung der Energie nach t gleich zweimal der Kraft auf die Rolle.

70

2 Naturgesetze und Intuition

einander entgegengesetzt gerichtet, und das ist alles, was ich wissen will. Sie können die Zahlen einsetzen und ganz bestimmt wird die Kraft dieselbe sein wie vorher: 2FRolle =

dE ≈ 8,84 dt

(2.30)

FRolle ≈ 4,42 Newton. Das ist eigentlich der Grund, warum ich es so oft machen musste: Nachdem ich es zum ersten Mal gemacht hatte und völlig zufrieden mit meiner falschen Antwort war, beschloss ich, es auf eine ganz andere Weise zu versuchen. Nachdem ich es mit dem anderen Weg probiert hatte, war ich mit einer völlig anderen Antwort zufrieden! Wenn Sie viel arbeiten, gibt es Momente, in denen Sie denken: „Endlich habe ich herausgefunden, dass die Mathematik inkonsequent ist!“ Aber schon bald werden Sie den Fehler entdecken, wie ich schließlich auch. Das sind jedenfalls zwei Lösungsmöglichkeiten für diese Aufgabe. Es gibt nicht den einen Lösungsweg für eine bestimmte Aufgabe. Wenn Sie immer einfallsreicher werden, können Sie Wege finden, die immer weniger Arbeit erfordern, aber dazu braucht man Erfahrung.9

2.8

Fluchtgeschwindigkeit der Erde

Ich habe nicht mehr viel Zeit, aber das nächste Problem, über das wir sprechen werden, hat mit den Planetenbewegungen zu tun. Ich werde noch darauf zurückkommen, denn ich kann Ihnen dieses Mal bestimmt nicht alles erzählen. Die erste Frage ist, wie groß die für das Verlassen der Erdoberfläche erforderliche Geschwindigkeit ist. Wie schnell muss sich ein Körper bewegen, um gerade aus dem Gravitationsfeld der Erde entweichen zu können? Nun, eine Möglichkeit, um das auszurechnen, wäre, die Bewegung unter dem Einfluss der Gravitationskraft zu berechnen. Eine andere Möglichkeit ist der Energieerhaltungssatz. Wenn der Körper die Bindung an die Erde überwindet und unendlich weit weg ist, ist die kinetische Energie null und die potentielle Energie ist das, was für unendliche Entfernungen herauskommt. Die Formel für das Potential als Folge der Gravitation finden Sie in Tabelle 2.3. Sie besagt, dass die potentielle Energie bei Massenpunkten, die unendlich weit entfernt sind, gleich null ist. Somit muss, wenn ein Körper die Erde mit Fluchtgeschwindigkeit verlässt, die Gesamtenergie dieses Körpers dieselbe sein, wenn der Körper einen unendlichen Weg zurückgelegt hat und die Erdanziehungskraft ihn auf Geschwindigkeit null abgebremst hat (vorausgesetzt, dass keine anderen Kräfte beteiligt sind). Wenn M die Erdmasse, 9

Drei weitere Lösungsmöglichkeiten für diese Aufgabenstellung finden Sie in den Alternativen Lösungen am Ende dieses Kapitels.

2.8 Fluchtgeschwindigkeit der Erde

71

R der Erdradius und G die universelle Gravitationskonstante ist, ergibt sich, dass das Quadrat der Fluchtgeschwindigkeit 2GM/R sein muss. (Ekin + Epot ) für ∞, v = 0

= (Ekin + Epot ) für R, v = vF (Energieerhaltungssatz) GMm GMm =0 Epot bei R = − Epot im Unendlichen = − ∞ R 2 mv m02 =0 Ekin bei v = vF = F Ekin bei v = 0 = 2 2 + + ⎞ ⎛ ⎜⎜⎜ GMm mv2F ⎟⎟⎟ + 0 = ⎠⎟ ⎝⎜− R 2 2GM (2.31) ∴ v2F = R Übrigens ist die Gravitationskonstante g (die Fallbeschleunigung nahe der Erdoberfläche) GM/R2 , weil das Gesetz der Kraft für eine Masse m lautet: mg = GMm/R2 . In der einfacheren Schreibweise mit der Gravitationskonstanten kann ich schreiben: v2 = 2gR. g ist 9,8 m/s2 und der Erdradius beträgt 6400 km, sodass die Fluchtgeschwindigkeit der Erde � � (2.32) vF = 2gR = 2 · 9,8 · 6400 · 1000 = 11 200 m/s

beträgt. Das heißt, Sie müssen sich mit 11 km pro Sekunde bewegen, um die Bindung an die Erde zu überwinden – das ist ziemlich schnell. Als Nächstes möchte ich darüber sprechen, was passiert, wenn Sie sich mit 15 km pro Sekunde bewegen und einen bestimmten Abstand über die Erde hinausschießen.

Nun, mit 15 km in der Sekunde hat der Körper genug Energie, um aus dem Gravitationsfeld der Erde zu fliehen, wenn er sich direkt nach oben bewegt. Aber verlässt er zwangsläufig das Gravitationsfeld der Erde, auch wenn er sich nicht direkt nach oben bewegt? Ist es möglich, dass der Körper die Erde umrundet und zurückkommt? Das ist nicht selbstverständlich. Wir müssen darüber nachdenken. Sie sagen: „Er hat genug Energie um zu fliehen.“ Aber woher wissen Sie das? Wir haben die Fluchtgeschwindigkeit für diese Richtung gar nicht berechnet. Könnte es sein, dass die seitliche Fallbeschleunigung so groß ist, dass der Körper umkehrt (siehe Abbildung 2.12)? Im Prinzip ist es möglich. Sie kennen das Gesetz, nach dem in gleichen Zeiten gleiche Flächen überstrichen werden. Also wissen Sie, dass, wenn Sie sich weit nach draußen bewegen, Sie sich irgendwie seitwärts bewegen müssen. Es ist nicht klar, dass die Bewegung, die Sie zum Überwinden der Bindung an die Erde brauchen, nicht seitlich gerichtet ist, sodass sie selbst bei 15 km pro Sekunde nicht aus dem Gravitationsfeld der Erde fliehen.

72

2 Naturgesetze und Intuition

15 km/s

15 km/s

Dieser Körper entweicht aus dem Gravitationsfeld der Erde!

Und dieser? ???

Abbildung 2.12: Garantiert die Fluchtgeschwindigkeit ein Entkommen aus dem Gravitationsfeld?

Tatsächlich stellt sich heraus, dass der Körper bei 15 km in der Sekunde die Bindung an die Erde überwindet – das geschieht, solange die Geschwindigkeit größer als die Fluchtgeschwindigkeit ist, die wir vorhin ausgerechnet haben. Solange der Körper fliehen kann, flieht er – obwohl das nicht selbstverständlich ist – und das nächste Mal werde ich versuchen, es Ihnen zu zeigen. Aber ich gebe Ihnen noch einen Tipp, wie ich es Ihnen zeigen werde, damit Sie schon mal selbst etwas herumprobieren können.

vb

a

A

b

B

va

Abbildung 2.13: Abstand und Geschwindigkeit eines Satelliten im Perihel (sonnennächster Punkt) und im Aphel (sonnenfernster Punkt).

2.9 Alternative Lösungen

73

Wir werden den Energieerhaltungssatz in zwei Punkten, A und B, im kleinsten Abstand von der Erde, a, und im größten Abstand von der Erde, b, verwenden, wie in Abbildung 2.13 dargestellt. Die Aufgabe besteht darin, b zu berechnen. Wir kennen die Gesamtenergie des Körpers im Punkt A. Im Punkt B ist sie auf Grund der Energieerhaltung gleich groß. Wenn wir die Geschwindigkeit im Punkt B kennen würden, könnten wir also die potentielle Energie des Körpers und damit b ausrechnen. Aber wir kennen die Geschwindigkeit im Punkt B nicht! Doch: Von dem Gesetz, das besagt, dass in gleichen Zeiten gleiche Flächen überstrichen werden, wissen wir, dass die Geschwindigkeit im Punkt B geringer sein muss als die Geschwindigkeit im Punkt A, und zwar in einem bestimmten Verhältnis – nämlich im Verhältnis a zu b. Wenn wir diese Tatsache nutzen, um die Geschwindigkeit im Punkt B zu bestimmen, können wir diesen Abstand b als Funktion von a berechnen. Das werden wir nächstes Mal tun.

2.9

Alternative Lösungen

Von Michael Gottlieb Hier sind drei weitere Lösungsmöglichkeiten für die Aufgabe aus dem Maschinenkonstruktionsbereich in Abschnitt 2.7.

a)

Geometrische Bestimmung der Beschleunigung des Gewichtes

Das Gewicht befindet sich immer horizontal in der Mitte zwischen der Rolle und dem Gelenk. Deshalb beträgt seine horizontale Geschwindigkeit 1 m/s. Das entspricht der halben Geschwindigkeit der Rolle. Das Gewicht bewegt sich auf einer Kreisbahn (mit dem Gelenk als Mittelpunkt), sodass seine Geschwindigkeit senkrecht zu der Stange gerichtet ist. Mithilfe von gleichen Dreiecken erhalten wir die Geschwindigkeit des Gewichtes (siehe Abbildung 2.14a). Da sich das Gewicht auf einer Kreisbahn bewegt, ist die radiale Komponente seiner Beschleunigung laut Gleichung (2.17) arad =

v2 (1,25)2 = = 3,125. r 0,5

Die vertikale Beschleunigung des Gewichtes ist die Summe seiner radialen und seiner transversalen Komponente (siehe Abbildung 2.14b). Auch die vertikale Beschleunigung erhalten wir mithilfe gleicher Dreiecke: ay =

ay 0,5 · 3,125 = 3,90625 · arad = arad 0,4

74

2 Naturgesetze und Intuition v

a)

b) 1 m/s a rad

ay

0.5 m 0.4 m

0.4 m

0.5 m a trans

ay 0.5 arad  0.4

v 0.5  1 0.4

Abbildung 2.14: Geometrische Bestimmung der Beschleunigung

b)

Trigonometrische Bestimmung der Beschleunigung des Gewichtes

Das Gewicht bewegt sich auf einem Kreisbogen mit dem Radius 1/2, sodass seine Bewegungsgleichungen als Funktion des Winkels, den die Stangen mit dem Boden bilden, ausgedrückt werden können (siehe Abbildung 2.15). 1 cos θ 2 1 y = sin θ 2 x=

Die horizontale Geschwindigkeit des Gewichtes beträgt 1 m/s (die Hälfte der Geschwindigkeit der Rolle). Deshalb gilt: x = t, dx/dt = 1 und d2 x/dt2 = 0. Die vertikale

1 2

m

y 2 m/s

u x

Abbildung 2.15: Trigonometrische Bestimmung der Beschleunigung

2.9 Alternative Lösungen

75

Beschleunigung erhält man, wenn man y zweimal nach t differenziert. Da t = 1/2 cos θ, gilt aber zunächst: 2 dθ =− . dt sin θ Folglich ist � � dθ 1 2 dy 1 = cos θ · = cos θ · − = − cot θ dt 2 dt 2 sin θ � � 1 1 dθ 2 d2 y 2 = = · · − =− 3 . 2 2 2 sin θ dt sin θ dt sin θ sin θ

Wenn x = t = 0,3, ist y = 0,4 und sin = 0,8 (da y = 1/2 sin θ). Der Betrag der vertikalen Beschleunigung ist somit �� 2 �� �d y� 2 ay = �� 2 �� = = 3,90625. � dt � (0,8)3

c)

Bestimmung der auf das Gewicht ausgeübten Kraft mittels Drehmoment und Drehimpuls

Das auf das Gewicht ausgeübte Drehmoment ist M = xFy – yF x . Das Gewicht bewegt sich horizontal mit 1 m/s, sodass keine horizontale Kraft auf dieses ausgeübt wird: F x = 0. Wenn wir x = t nehmen, reduziert sich das Drehmoment auf M = tFy . Das Drehmoment ist die Ableitung des Drehimpulses nach der Zeit. Wenn wir also den Drehimpuls L des Gewichtes bestimmen können, können wir ihn differenzieren und durch t dividieren, um Fy zu erhalten: M 1 dL = . t t dt Der Drehimpuls des Gewichtes ist leicht zu bestimmen, weil sich das Gewicht auf einer Kreisbahn bewegt. Sein Drehimpuls ist einfach das Produkt aus der Länge der Stange, r, und dem Impuls des Gewichtes, der wiederum das Produkt aus der Masse m des Gewichtes und seiner Geschwindigkeit v ist. Die Geschwindigkeit können wir mithilfe der geometrischen Methode nach Feynman (siehe Abbildung 2.16) oder durch Differentiation der Bewegungsgleichungen des Gewichtes ermitteln. Fy =

Alles das zusammen liefert: ⎛ ⎞ ⎟⎟⎟ rm d ⎜⎜⎜⎜ 0,5 1 dL 1 d ⎟⎟⎠ (rmv) = = · ⎜⎝ � Fy = t dt t dt t dt 0,25 − t2 =

0,5t 4 0,5 · 2 ·� =� � � . 3/2 t 0,25 − t2 1 − 4t2 3/2

76

2 Naturgesetze und Intuition v

1 m/s

0.5 m

0.25  t 2

v  1

0.5 0.25  t 2

Abbildung 2.16: Bestimmung der Kraft mittels Drehmoment und Drehimpuls

Zum Zeitpunkt t = 0,3, ist Fy = 7,8125. Wenn wir das durch 2 kg dividieren, erhalten wir die vertikale Beschleunigung, die wir auch schon vorhin ausgerechnet haben: 3,90625.

3

Aufgaben und Lösungen

Wiederholungsvorlesung C Wir machen weiter mit diesem Wiederholungskurs und fragen uns, wie man Physik lernen kann, indem man eine Reihe von Aufgaben löst. Alle Aufgaben, die ich ausgewählt habe, sind ausgetüftelt, kompliziert und schwierig. Ich überlasse Ihnen die leichten Aufgaben. Außerdem leide ich unter der Krankheit, unter der alle Professoren leiden – es scheint nie genug Zeit zu geben und ich habe mir zweifellos mehr Aufgaben ausgedacht, als wir schaffen können. Deshalb habe ich versucht, Zeit zu gewinnen, indem ich einige Dinge im Voraus an die Tafel geschrieben habe, und zwar mit der Illusion, die jeder Professor hat: Wenn ich mehr rede, lehre ich auch mehr. Natürlich gibt es nur ein begrenztes Maß an Stoff, das der menschliche Verstand aufnehmen kann, trotzdem missachten wir oft diesen Sachverhalt und gehen zu schnell voran. Ich denke, wir sollten deshalb heute langsam machen und sehen, wie weit wir kommen.

3.1

Satellitenbewegungen

Zuletzt haben wir über Satellitenbewegungen gesprochen. Wir haben uns mit der Frage beschäftigt, ob ein Massenpunkt, der sich in einem Abstand a senkrecht zum Radius der Sonne, eines Planeten oder einer anderen Masse M mit Fluchtgeschwindigkeit bewegt, auch tatsächlich die Bindung überwinden würde – das ist nicht selbstverständlich. Das wäre es, wenn er direkt radial nach außen gerichtet wäre. Aber ob er es tun würde oder nicht, wenn er senkrecht zum Radius gerichtet ist, das ist eine andere Frage (siehe Abbildung 3.1). vF vF a M

a M

Abbildung 3.1: Fluchtgeschwindigkeit radial gerichtet und senkrecht zum Radius gerichtet.

Es stellt sich heraus, dass wir – wenn wir uns an einige der keplerschen Gesetze erinnern und einige andere Gesetze wie den Energieerhaltungssatz dazunehmen – Folgendes ausrechnen können: Wenn der Massenpunkt nicht entweichen würde, so würde er

78

3 Aufgaben und Lösungen

vb b

a

va

Abbildung 3.2: Geschwindigkeit und Abstand im Perihel und Aphel eines Satelliten, der sich auf einer elliptischen Bahn bewegt.

sich auf einer ellipsenförmigen Bahn bewegen, und wir können berechnen, wie weit weg er sich bewegen würde. Und das werden wir jetzt tun. Wenn a das Perihel der Ellipse ist, wie weit ist dann das Aphel b entfernt? (Übrigens habe ich versucht, diese Aufgabe an die Tafel zu schreiben, aber ich wusste nicht, wie man „Perihel“ schreibt!) (siehe Abbildung 3.2). Letztes Mal haben wir die Fluchtgeschwindigkeit mithilfe des Energieerhaltungssatzes berechnet (siehe Abbildung 3.3). Ekin + Epot bei a = Ekin + Epot für ∞ mv2F GmM − = 0+0 2 a

v2F GM = 2 a  2GM . vF = a

(3.1)

Nun, das ist die Formel für die Fluchtgeschwindigkeit im Radius a, aber nehmen wir an, die Geschwindigkeit va ist beliebig und wir versuchen, b als Funktion von va zu bestimmen. Der Energieerhaltungssatz besagt, dass die kinetische Energie plus der potentiellen Energie des Massenpunktes im Perihel gleich der kinetischen Energie plus

3.1 Satellitenbewegungen

79

vF

m a M

Abbildung 3.3: Fluchtgeschwindigkeit von einer Masse M im Abstand a.

der potentiellen Energie im Aphel sein muss – und das können wir verwenden, um b zu bestimmen – jedenfalls auf den ersten Blick: mv2a GmM mv2b GmM − = − . 2 a 2 b

(3.2)

Infelizmente1 haben wir vb jedoch nicht, sodass wir die Gleichung (3.2) nie nach b auflösen können, es sei denn, es gibt irgendeine externe Vorrichtung oder Analyse, um vb zu erhalten. Aber wenn wir uns an das keplersche Gesetz über gleiche Flächen erinnern, wissen wir, dass in einem gegebenen Zeitintervall im Aphel die gleiche Fläche überstrichen wird wie im Perihel: In einem kurzen Zeitintervall Δt bewegt sich der Massenpunkt im Perihel um den Weg va Δt, sodass die überstrichene Fläche ungefähr ava Δt/2 beträgt, während im Aphel, wo sich der Massenpunkt mit vb Δt bewegt, die überstrichene Fläche ungefähr bvb Δt/2 beträgt. Und somit bedeutet „gleiche Flächen“, dass ava Δt/2 gleich bvb Δt/2 ist – und das bedeutet, dass die Geschwindigkeiten sich umgekehrt zu den Radien ändern (siehe Abbildung 3.4). ava Δt/2 = bvb Δt/2 a vb = v a . b

(3.3)

Das liefert uns eine Formel für vb als Funktion von va , die wir in die Gleichung (3.2) einsetzen können. Und damit haben wir eine Gleichung, um b zu bestimmen:  a 2 m va 2 mva GmM GmM b − = − . (3.4) 2 a 2 b Die Division durch m und die Umstellung liefern:       a2 v2a 1 2 1 GM v2a − − GM + = 0. 2 b b a 2 1

„Unglücklicherweise“ in brasilianischem Portugiesisch.

(3.5)

80

3 Aufgaben und Lösungen

vb a

vb t b

va t

va

Abbildung 3.4: Anwendung des keplerschen Gesetzes über gleiche Flächen, um die Geschwindigkeit eines Satelliten im Aphel zu bestimmen.

Wenn Sie Gleichung (3.5) eine Weile betrachten, könnten Sie sagen: „Na ja, ich kann mit b2 multiplizieren und dann habe ich eine quadratische Gleichung mit b.“ Oder Sie könnten, wenn Ihnen das besser gefällt, die Gleichung so nehmen wie sie ist und die quadratische Gleichung nach 1/b lösen – wie Sie wollen. Die Lösung für 1/b lautet:   2 v2a /2 − GM/a GM 1 GM = 2 2± + b a va a2 v2a a2 v2a /2 (3.6)   GM 1 GM = 2 2± 2 2− . a va a va a

Ich werde jetzt nicht die Algebra erörtern, Sie wissen, wie man eine quadratische Gleichung löst, und es gibt zwei Lösungen für b: Wie sich zeigt, lautet eine b gleich a – und das kommt gut hin, denn wenn Sie sich die Gleichung (3.2) anschauen, sehen Sie, dass es offensichtlich ist, dass die Gleichung passt, wenn b gleich a ist. (Das heißt natürlich nicht, dass b a ist.) Die andere Lösung liefert eine Formel für b als Funktion von a: a . (3.7) b= 2GM −1 av2a Die Frage ist, ob wir die Formel so schreiben können, dass die Beziehung von va zur Fluchtgeschwindigkeit im Abstand a ohne weiteres zu erkennen ist. Beachten Sie, dass laut Gleichung (3.1) 2GM/a das Quadrat der Fluchtgeschwindigkeit ist. Deshalb können wir die Formel folgendermaßen schreiben: a . (3.8) b= (vF /va )2 − 1

3.2 Entdeckung des Atomkerns

81

Das ist das Endergebnis und es ist ziemlich interessant. Nehmen wir zunächst an, dass va kleiner als die Fluchtgeschwindigkeit ist. Unter diesen Voraussetzungen würden wir erwarten, dass der Massenpunkt nicht entweicht, und deshalb sollten wir für b einen plausiblen Wert erhalten. Und ganz bestimmt ist, wenn va kleiner als vF ist, vF /va größer als 1 und das Quadrat ist ebenfalls größer als 1. Wenn wir die 1 abziehen, erhalten wir eine schöne positive Zahl, und wenn wir a durch diese Zahl dividieren, erhalten wir b. Um die Genauigkeit unserer Analyse grob zu überprüfen, können wir gut die numerische Berechnung für die Umlaufbahn ausprobieren, die wir in der neunten Vorlesung2 angestellt haben. Dann können wir sehen, wie genau das b, das wir damals berechnet haben, mit dem b, das die Gleichung (3.8) liefert, übereinstimmt. Warum sollten die beiden nicht genau übereinstimmen? Weil die numerische Methode der Integration natürlich Zeit als kleine Kleckse und nicht als etwas Stetiges betrachtet. Deshalb ist die Übereinstimmung nicht perfekt. Auf jeden Fall bekommen wir b auf diese Weise, wenn va kleiner als vF ist. (Übrigens, wenn wir b und a kennen, kennen wir auch die große Halbachse der Ellipse und könnten so, wenn wir es wollten, die Periode der Umlaufbahn mithilfe der Gleichung (3.2) berechnen.) Aber interessant ist Folgendes: Nehmen wir zunächst an, dass va genau gleich der Fluchtgeschwindigkeit ist. Dann ist vF /va gleich 1 und die Gleichung (3.8) besagt, dass in diesem Fall b unendlich ist. Das bedeutet, dass die Umlaufbahn keine Ellipse ist. Es bedeutet vielmehr, dass die Umlaufbahn gegen Unendlich geht. (Man kann zeigen, dass es sich in diesem speziellen Fall um eine Parabel handelt.) Somit stellt sich heraus: Wenn Sie sich irgendwo in der Nähe eines Sterns oder Planeten befinden und Sie sich mit Fluchtgeschwindigkeit bewegen (ganz gleich, in welche Richtung!), dann werden Sie entkommen – Sie werden nicht eingefangen, obwohl Sie nicht in die richtige Richtung gerichtet sind. Eine weitere Frage ist, was passiert, wenn va größer als die Fluchtgeschwindigkeit ist. Dann ist vF /va kleiner als 1 und b wird negativ – und das bedeutet gar nichts. Es gibt kein reales b. Physikalisch sieht die Lösung so aus: Mit sehr großer Geschwindigkeit, wesentlich größer als die Fluchtgeschwindigkeit, wird ein ankommender Massenpunkt abgelenkt – aber seine Umlaufbahn ist keine Ellipse. Tatsächlich ist sie eine Hyperbel. Somit sind die Umlaufbahnen von Körpern, die sich um die Sonne bewegen, nicht nur Ellipsen, wie Kepler dachte, sondern die Verallgemeinerung auf größere Geschwindigkeiten schließt Ellipsen, Parabeln und Hyperbeln ein. (Wir haben nicht bewiesen, dass es Ellipsen, Parabeln oder Hyperbeln sind, aber das ist die Lösung der Aufgabe.)

3.2

Entdeckung des Atomkerns

Diese Sache mit der hyperbolischen Umlaufbahn ist interessant und hat eine sehr interessante historische Anwendung, die ich Ihnen zeigen möchte. Sie ist in Abbildung 3.5 2

Siehe Band I der Feynman-Vorlesungen über Physik, Abschnitt 9.7.

82

3 Aufgaben und Lösungen u Proton q el

mv b Zq el Kern

Abbildung 3.5: Ein schnelles Proton wird vom elektrischen Feld abgelenkt, während es sich nahe am Atomkern vorbeibewegt.

dargestellt. Wir nehmen den Grenzfall einer extrem hohen Geschwindigkeit und einer relativ kleinen Kraft. Das heißt, der Körper bewegt sich so schnell vorbei, dass er sich in der ersten Näherung auf einer geraden Bahn bewegt (siehe Abbildung 3.5). Nehmen wir an, wir haben einen Atomkern mit der Ladung +Zqel (wobei −qel die Elementarladung ist) und einen geladenen Massenpunkt, der sich im Abstand b am Kern vorbeibewegt – irgendein Ion (ursprünglich war es ein Alphateilchen), es spielt keine Rolle, Sie können nehmen, was Sie wollen. Entscheiden wir uns für ein Proton mit der Masse m, der Geschwindigkeit v und der Ladung +qel (bei einem Alphateilchen wäre die Ladung +2qel ). Das Proton bewegt sich nicht genau auf einer geraden Bahn, sondern wird in einem sehr kleinen Winkel abgelenkt. Die Frage ist, wie groß dieser Winkel ist. Nun, ich werde das nicht genau ausrechnen, aber grob überschlagen – um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie sich der Winkel in Abhängigkeit von b ändert. (Ich mache es nichtrelativistisch, obwohl es genauso einfach ist, wenn man die Relativität berücksichtigt – nur eine klitzekleine Änderung, die Sie selbst herausfinden können.) Je größer b ist, desto kleiner muss natürlich der Winkel sein. Und die Frage ist, wird der Winkel im Verhältnis zu b2 , zu b3 , zu b oder wie kleiner? Davon möchten wir eine Vorstellung bekommen. (So gehen Sie jedes komplizierte oder unbekannte Problem an: Zuerst verschaffen Sie sich eine grobe Vorstellung, dann, wenn Sie es besser verstehen, gehen Sie noch einmal an den Anfang zurück und nehmen das Problem genauer in Angriff.) Die erste grobe Analyse läuft dann ungefähr so ab: Wenn das Proton vorbeifliegt, wirken darauf seitliche, vom Kern ausgehende Kräfte – natürlich gibt es auch Kräfte, die in anderen Richtungen wirken, aber die seitliche Kraft bewirkt, dass das Proton abgelenkt wird anstatt sich weiter auf einer geraden Bahn zu bewegen. Jetzt hat es eine nach oben gerichtete Geschwindigkeitskomponente. Mit anderen Worten, es hat einen nach oben gerichteten Impuls als Folge der in dieser Richtung wirkenden Kräfte erhalten. Wie groß ist nun die nach oben gerichtete Kraft? Na ja, sie ändert sich, wenn das Proton weiterfliegt, aber sie muss mehr oder weniger von b abhängen. Die maximale

3.2 Entdeckung des Atomkerns

83

b

Kern

Abbildung 3.6: Die elektrische Kraft des Kerns wirkt während eines Zeitintervalls auf das Proton, das proportional zu dem kleinsten Abstand zwischen Kern und Proton ist.

Kraft (wenn das Proton die zentrale Position durchläuft) beträgt vertikale Kraft ≈

Zq2el Ze2 = . 4πε0 b2 b2

(3.9)

q2el eingesetzt, so kann ich die Gleichungen schneller schreiben.3 4πε0 Wenn ich wüsste, wie lange diese Kraft wirkt, könnte ich den abgegebenen Impuls schätzen. Wie lange wirkt die Kraft? Nun, sie wirkt nicht, wenn das Proton einen Kilometer entfernt ist, aber, ganz allgemein gesagt, wirkt eine Kraft in dieser normalen Größenordnung so lange, wie sich das Proton in normaler Nähe befindet. Wie weit entfernt? Mehr oder weniger, wenn es sich innerhalb eines Abstandes b vom Kern bewegt. Somit liegt die Zeit, in der die Kraft wirkt, in einer Größenordnung des Quotienten aus dem Abstand b dividiert durch die Geschwindigkeit v (siehe Abbildung 3.6).

(Ich habe e2 für

b Zeit ≈ . v

(3.10)

Das newtonsche Axiom besagt, dass Kraft gleich dem Maß der Impulsänderung ist – wenn wir also die Kraft mit der Zeit multiplizieren, während der die Kraft wirkt, erhalten wir die Impulsänderung. Deshalb beträgt der von dem Proton aufgenommene vertikale Impuls vertikaler Impuls = vertikale Kraft · Zeit ≈

Ze2 b Ze2 . · = bv b2 v

(3.11)

Das stimmt nicht genau. Wenn wir dieses Ding genau integrieren, kommt vielleicht letzten Endes ein numerischer Faktor von 2,716 oder so heraus – aber bis jetzt versuchen wir nur, die Größenordnung, wie sie von den verschiedenen Variablen abhängt, herauszufinden. 3

Diese historische Schreibweise wird in Band II der Feynman-Vorlesungen über Physik, Abschnitt 7.2, eingeführt. Heute wäre die Variable e in diesem Zusammenhang typischerweise für die Elementarladung reserviert.

84

3 Aufgaben und Lösungen

u

Ze 2 bv

mv

Abbildung 3.7: Die horizontale und vertikale Komponente des Impulses des Protons bestimmen den Ablenkungswinkel.

Der horizontale Impuls des Massenpunktes ist im Grunde bei seinem Auftauchen und bei seinem Verschwinden gleich, nämlich mv: horizontaler Impuls = mv.

(3.12)

(Das ist die einzige Sache, die Sie ändern müssen, wenn Sie die Relativität mit einbeziehen.) Wie groß ist nun der Ablenkungswinkel? Nun, wir wissen, dass der nach oben gerichtete Impuls Ze2 /bv und der „seitliche“ Impuls mv ist. Und das Verhältnis von „nach oben“ zu „seitlich“ ist der Tangens des Winkels – oder praktisch der Winkel selbst, weil er so klein ist (siehe Abbildung 3.7). Ze2 Ze2 /mv = . (3.13) bv bmv2 Die Gleichung (3.13) zeigt, wie der Winkel von der Geschwindigkeit, der Masse, der Ladung und dem so genannten „Stoßparameter“ – dem Abstand b – abhängt. Wenn Sie tatsächlich θ ausrechnen, indem Sie die Kraft integrieren, anstatt sie nur zu schätzen, stellt sich heraus, dass wirklich ein numerischer Faktor fehlt, und der Faktor ist genau 2. Ich weiß nicht, ob Sie schon so weit fortgeschritten in der Integralrechnung sind: Wenn Sie das nicht können, ist es OK. Es ist nicht wichtig, aber der korrekte Winkel ist θ≈

θ=

2Ze2 . bmv2

(3.14)

(Tatsächlich können Sie die Formel für eine beliebige hyperbolische Umlaufbahn genau berechnen, aber es ist egal: Für diesen Fall, für kleine Winkel, können Sie alles verstehen. Natürlich ist die Gleichung (3.14) nicht wahr, wenn die Winkel 30 oder 50 Grad groß werden. Dann haben wir eine zu grobe Näherung gemacht.) Nun, diese Sache hat eine sehr interessante Anwendung in der Geschichte der Physik. Auf diese Weise entdeckte Rutherford, dass das Atom einen Kern hat. Er hatte eine sehr einfache Idee: Er baute eine Anordnung auf, in der sich Alphateilchen von einer radioaktiven Quelle durch einen Schlitz bewegten – so wusste er, dass sie sich in eine bestimmte Richtung bewegten –, und ließ sie auf einem Zinksulfidschirm aufprallen. Dabei konnte er an einer einzigen Stelle direkt hinter dem Schlitz Szintillationen sehen. Wenn er aber eine Goldfolie zwischen den Schlitz und den Schirm setzte, tauchten die Szintillationen manchmal woanders auf (siehe Abbildung 3.8)!

3.3 Die grundlegende Raketengleichung

85

Szintillationsschirm

Szintillationsschirm Goldfolie

Quelle des a-Teilchens

Quelle des a-Teilchens Schlitz

Schlitz

Abbildung 3.8: Das Experiment von Rutherford, bei dem Alphateilchen abgelenkt werden, führte zur Entdeckung des Atomkerns.

Natürlich war der Grund, dass die Alphateilchen, die an den kleinen Kernen in der Goldfolie vorbeikamen, abgelenkt wurden. Durch Messen der Ablenkungswinkel und Anwendung der Gleichung (3.14) in umgekehrter Form konnte Rutherford die Abstände, b, erhalten, die erforderlich waren, um ein so großes Maß an Ablenkung zu erzeugen. Die große Überraschung war, dass diese Abstände sehr viel kleiner als ein Atom waren. Bevor Rutherford sein Experiment machte, glaubte man, dass die positive Ladung des Atoms nicht in einem Punkt in der Mitte konzentriert, sondern gleichmäßig verteilt sei. Unter solchen Umständen konnte das Alphateilchen niemals die große Kraft erfahren, um die beobachteten Ablenkungen zu erzeugen, denn wenn es sich außerhalb des Atoms befände, wäre es nicht nah genug an der Ladung, und wenn es sich innerhalb des Atoms befände, wäre über und unter ihm eine identische Menge an Ladung, und das würde nicht genügend Kraft erzeugen. Durch die starken Ablenkungen wurde also demonstriert, dass es Quellen mit starker elektrischer Kraft innerhalb des Atoms gibt. Und dann wurde vermutet, dass es einen zentralen Punkt geben muss, an dem sich alle positiven Ladungen befinden. Durch Beobachten der Ablenkungen so weit nach außen wie möglich sowie ihrer Häufigkeit konnte man einen Schätzwert erhalten, wie klein b sein müsste, und letzten Endes erhielt man die Größe des Kerns – und die erwies sich als 10−5 -mal kleiner als das Atom! So wurden die Atomkerne entdeckt.

3.3

Die grundlegende Raketengleichung

Das nächste Problem, über das ich sprechen möchte, ist ein völlig anderes: Es hat mit dem Raketenantrieb zu tun. Zuerst nehme ich mal eine Rakete, die im leeren Raum herumfliegt – die Gravitationskraft und all das lasse ich außer Acht. Die Rakete wird gebaut, damit sie eine Menge Treibstoff aufnehmen kann. Sie hat eine Art Kraftmaschine, durch die sie an ihrem hinteren Ende Treibstoff ausstößt – und aus Sicht der Rakete wird dieser Treibstoff immer mit derselben Geschwindigkeit ausgestoßen. Sie wird zwischendurch nicht aus- oder eingeschaltet, sondern wir starten sie und dann stößt sie konstant am hinteren Ende Treibstoff aus, bis keiner mehr da ist. Wir nehmen

86

3 Aufgaben und Lösungen u m

dm dt

m

Abbildung 3.9: Rakete mit der Masse m, die mit einer Rate μ = dm/dt und einer Geschwindigkeit u Treibstoff ausstößt.

an, dass das Zeug mit einer Rate μ (das bedeutet Masse pro Sekunde) ausgestoßen wird und dass es mit der Geschwindigkeit u herausströmt (siehe Abbildung 3.9). Sie könnten sagen: „Ist das nicht dasselbe? Sie kennen die Masse pro Sekunde. Ist das nicht die Geschwindigkeit?“ Nein. Ich kann eine bestimmte Menge von Masse pro Sekunde herausschleudern, indem ich einen riesengroßen Haufen von dem Zeug nehme und es jedes Mal langsam nach draußen befördere, oder ich kann dieselbe Masse nehmen und jedes Mal nach draußen werfen. Wie Sie sehen, sind das zwei ganz unterschiedliche Vorstellungen. Nun, die Frage ist, wie groß die Geschwindigkeit ist, die die Rakete nach einer Zeit hat. Nehmen wir z. B. an, dass sie 90 % ihres Gewichtes verbraucht: Das bedeutet, dass, wenn der gesamte Treibstoff verbraucht ist, die Masse der verbleibenden Hülle ein Zehntel so groß ist wie die Masse des ganzen beladenen Dings vor dem Start. Wie groß ist die Geschwindigkeit, die die Rakete erreicht? Jeder mit gesundem Menschenverstand würde sagen, dass es unmöglich ist, eine größere Geschwindigkeit als u zu erreichen, aber das stimmt nicht, wie Sie gleich sehen werden. (Vielleicht sagen Sie auch, das ist ja ganz klar. Mal sehen. Aber es stimmt tatsächlich, und zwar aus folgendem Grund.) Betrachten wir die Rakete zu jedem beliebigen Zeitpunkt, wie sie sich mit irgendeiner beliebigen Geschwindigkeit bewegt. Wenn wir uns mit der Rakete bewegen und sie über einen Zeitraum Δt beobachten, was sehen wir dann? Nun, da ist eine bestimmte Masse Δm, die ausströmt – natürlich ist das das Produkt aus der Verlustrate μ der Rakete und der Zeit Δt. Und die Geschwindigkeit, mit der diese Masse ausströmt, ist u (siehe Abbildung 3.10). u v m  mt m

Abbildung 3.10: Die Rakete gewinnt an Geschwindigkeit Δv während des Zeitintervalls Δt, indem sie die Masse Δm mit der Geschwindigkeit u ausstößt.

Wie schnell bewegt sich nun die Rakete zu dem Zeitpunkt vorwärts, nachdem diese Masse nach hinten geworfen wurde? Die Geschwindigkeit, mit der sie sich vorwärts

3.3 Die grundlegende Raketengleichung

87

bewegt, muss so groß sein, dass der Gesamtimpuls erhalten bleibt. Das heißt, sie legt etwas an Geschwindigkeit, Δv, zu, und zwar so: Wenn die Masse der Raketenhülle und des restlichen Treibstoffes zu diesem Zeitpunkt m ist, dann entspricht m mal Δv dem während dieser Zeit abgegebenen Impuls, der wiederum Δm mal u beträgt. Und mehr gibt es zur Raketentheorie auch nicht zu sagen, denn das ist die grundlegende Raketengleichung: mΔv = uΔm.

(3.15)

Wir könnten μΔt für Δm einsetzen und mit ein bisschen Herumprobieren herausfinden, wie lange es dauert, bis eine bestimmte Geschwindigkeit erreicht ist,4 aber unsere Aufgabe ist es ja, die Endgeschwindigkeit zu bestimmen, und das können wir direkt mithilfe der Gleichung (3.15) tun: u Δv = Δm m dm dv = u . m

(3.16)

Um die Geschwindigkeit herauszufinden, die die Rakete erreicht, wenn sie aus der Ruhelage startet, integrieren Sie u(dm/m) von der Anfangsmasse zur Endmasse. u hatten wir als konstant angenommen und deshalb kann es aus dem Integral herausgenommen werden. So ergibt sich: v=u

m Ende

mAnfang

dm . m

(3.17)

Das Integral vom dm/m ist Ihnen möglicherweise bekannt oder auch nicht. Nehmen wir an, Sie kennen es nicht. Sie sagen: „1/m ist so eine einfache Funktion, ich muss die Ableitung kennen: Ich probiere ein bisschen mit dem Differenzieren herum, bis ich sie herausgefunden habe.“ Aber es stellt sich heraus, dass Sie nichts Einfaches finden können – als Funktion von m, Potenzen von m oder so etwas –, das beim Differenzieren 1/m ergibt. Wenn Sie jetzt nicht wissen, was Sie tun sollen, machen wir es anders. Wir wählen die numerische Integration. Denken Sie daran: Wenn Sie bei einer mathematischen Analyse nicht weiter wissen, können Sie die Aufgabe immer arithmetisch lösen! 4

Wenn die Rakete zur Zeit t = 0 mit einer Masse m = m0 startet und μ = dm/dt konstant ist, dann ist m = m0 − μt und Gleichung (3.16) wird zu dv = uμdt/(m0 −μt). Die Integration liefert v = −u ln[1−(μt/m0 )] und die Auflösung nach t liefert die für das Erreichen der Geschwindigkeit v erforderliche Zeit: t(v) = (m0 /μ)(1 − e−v/u ).

88

3.4

3 Aufgaben und Lösungen

Eine numerische Integration

Gehen wir davon aus, dass die Anfangsmasse 10 beträgt, und nehmen wir als einfache Näherung, dass wir jeweils eine Masseeinheit ausstoßen. Lassen Sie uns außerdem alle Geschwindigkeiten in der Einheit u messen, denn dann haben wir einfach Δv = Δm/m. Wir wollen die Endgeschwindigkeit bestimmen. Schauen wir mal: Wie groß ist die Geschwindigkeit, die erreicht wird, während wir das erste Mal eine Einheit Masse ausstoßen? Nun, das ist einfach: 1 Δm = . m 10 Aber das ist nicht ganz richtig, denn während Sie eine Einheit Masse ausstoßen, ist die Masse, die reagiert, nicht 10. Wenn Sie die ganze Einheit ausgestoßen haben, dann beträgt sie 9. Sehen Sie, nachdem Δm ausgestoßen wurde, beträgt die Masse der Rakete m − Δm. Also wäre es besser zu schreiben: 1 Δm = . Δv = m − Δm 9 Aber das stimmt auch nicht ganz. Es wäre wahr, wenn die Rakete wirklich Klumpen ausstoßen würde, aber das tut sie nicht – sie wirft kontinuierlich Masse aus. Zu Beginn ist die Masse der Rakete 10. Am Ende der einen ausgestoßenen Einheit beträgt die Masse nur 9 – sodass sie im Durchschnitt etwa 9,5 beträgt. Für das Zeitintervall, in dem die erste Einheit ausgestoßen wird, sagen wir, dass m = 9,5 die effektive durchschnittliche Trägheit ist, die gegen Δm = 1 reagiert, sodass die Rakete einen Kraftstoß Δv erhält, der mit 1/9,5 identisch ist: Δv =

Δv ≈

1 Δm = . m − Δm/2 9,5

Es ist hilfreich, diese Hälften einzusetzen, weil Sie dann weniger Schritte brauchen, um eine hohe Genauigkeit zu erreichen. Natürlich ist es immer noch nicht ganz genau. Wenn wir es genauer machen wollten, könnten wir kleinere Masseklumpen, wie z. B. Δm = 1/10, nehmen und wesentlich mehr analysieren. Aber wir nehmen die grobe Variante mit Δm = 1 und machen weiter. Jetzt beträgt die Masse der Rakete nur noch 9. Wir stoßen eine weitere Einheit hinten aus der Rakete aus und finden als Nächstes heraus, dass Δv . . . 1/9 ist? Nein . . . 1/8? Nein! Es gilt Δv = 1/8,5, weil die Masse sich kontinuierlich von 9 auf 8 geändert hat und durchschnittlich näherungsweise 8,5 betrug. Für die nächste Einheit erhalten wir Δv = 1/7,5, und so entdecken wir, dass die Antwort die Summe von 1/9,5, 1/8,5, 1/7,5, 1/6,5 – tatatatam, bis zum Ende – ist. Mit dem letzten Schritt gehen wir von 2 Masseeinheiten auf 1, die Masse beträgt durchschnittlich 1,5 und uns bleibt eine Masseeinheit übrig. Schließlich berechnen wir alle diese Verhältnisse (das dauert nur einen Moment, diese Zahlen sind alle OK, man kann sie leicht ausrechnen), addieren sie und erhalten

3.4 Eine numerische Integration

89

die Antwort, 2,268. Das bedeutet, dass die Endgeschwindigkeit v 2,268-mal höher ist als die Ausströmgeschwindigkeit u. Das ist hier die Antwort – und es ist dem nichts hinzuzufügen! 1/9,50,106 1/8,50,118 1/7,50,133 1/6,50,154 1/5,50,182 1/4,50,222 1/3,50,286 1/2,50,400 1/1,50, 667

v ≈ 2,268 u

(3.18)

2,268 Jetzt könnten Sie sagen: „Das gefällt mir in puncto Genauigkeit nicht – es ist ein bisschen schlampig. Es ist gut und schön zu sagen ‚Im ersten Schritt ändert sich die Masse von 10 auf 9, also beträgt sie etwa 9,5‘. Aber im letzten Schritt ändert sie sich von 2 auf 1 und Sie haben dafür den Durchschnittswert 1,5 angenommen. Wäre es nicht besser, den letzten Schritt aufzuteilen und jeweils nur eine halbe Einheit auszustoßen, damit man ein etwas genaueres Ergebnis erhält?“ (Das ist ein fachlicher arithmetischer Punkt.) Schauen wir mal. Während der ersten Hälfte des Zeitintervalls, in dem eine Einheit ausgestoßen wird, reduziert sich die Masse von 2 auf 1,5, im Durchschnitt sind das 1,75, sodass ich 1/1,75 mal eine halbe Einheit für mein Δm/m nehme. Dann mache ich das Gleiche für die zweite Hälfte einer Einheit. Die Masse fällt von 1,5 auf 1, beträgt also durchschnittlich 1,25: Δv ≈

0,5 0,5 0,5 0,5 + = + = 0,686. (2 + 1,5)/2 (1,5 + 1)/2 1,75 1,25

Sie können also im letzten Schritt eine Verbesserung vornehmen – auf dieselbe Weise können Sie auch den Rest verbessern, wenn Sie sich die Mühe machen wollen – und es kommt 0,686 anstatt 0,667 heraus. Das bedeutet, dass unsere Antwort etwas zu niedrig war. Wenn Sie es genauer ausrechnen, kommt v ≈ 2,287 u heraus. Die letzte Ziffer ist wirklich nicht zuverlässig, aber unsere Schätzung ist sehr gut und das genaue Ergebnis wird nicht weit von 2,3 entfernt liegen. x dm/m solch eine einfache Jetzt muss ich Ihnen sagen, dass man, da das Integral 1

Funktion ist und in so vielen Aufgaben vorkommt, dafür Tabellen angefertigt und ihm

90

3 Aufgaben und Lösungen

einen Namen gegeben hat: Man nennt es den natürlichen Logarithmus, ln(x). Und wenn Sie mal ln(10) in einer Tabelle für natürliche Logarithmen nachschauen, dann werden Sie sehen, dass er 2,302585 beträgt: v=u

10 1

dm = ln(10)u = 2,302585 u. m

(3.19)

Mit dem Verfahren, das wir oben angewendet haben, können Sie den gleichen Grad an Genauigkeit erreichen, vorausgesetzt, dass Sie wesentlich kleinere Abstände, wie z. B. Δm = 1/1000, anstatt 1 benutzen – und genau das wurde hier gemacht. Wie dem auch sei, wir haben uns in kurzer Zeit gut geschlagen, ohne dass wir vorher irgendetwas wussten und ohne in Tabellen nachzuschauen. Also, ich kann nur noch einmal betonen, dass Sie im Notfall immer auf die Arithmetik zugreifen können.

3.5

Chemische Raketentriebwerke

Nun, diese Frage des Raketenantriebs ist interessant. Sie werden zunächst einmal feststellen, dass die Geschwindigkeit, die schließlich erreicht wird, proportional zu u, der Ausströmgeschwindigkeit, ist. Deshalb sind alle möglichen Anstrengungen unternommen worden, um die Verbrennungsgase so schnell wie möglich auszustoßen. Wenn Sie Wasserstoffperoxid mit diesem oder jenem oder Sauerstoff mit Wasserstoff oder Ähnlichem verbrennen, dann wird eine bestimmte chemische Energie pro Gramm Treibstoff erzeugt. Und wenn Sie die Düsen und was weiß ich noch alles richtig konstruieren, dann können Sie erreichen, dass ein hoher Anteil dieser chemischen Energie in die Ausströmgeschwindigkeit übergeht. Aber natürlich können Sie nicht mehr als 100 % erreichen und so gibt es eine Obergrenze für einen bestimmten Treibstoff bezüglich der Geschwindigkeit, die durch eine ideale Konstruktion bei einem gegebenen Massenverhältnis erreicht werden kann, weil es eine Obergrenze für den u-Wert gibt, der durch eine bestimmte chemische Reaktion erreicht werden kann. Betrachten wir zwei Reaktionen, a und b, die dieselbe Energie pro freigesetztem Atom, aber Atome mit unterschiedlichen Massen, ma und mb , haben. Wenn ua und ub die Ausströmgeschwindigkeiten sind, ergibt sich dann ma u2a mb u2b = . 2 2

(3.20)

Die Geschwindigkeiten werden also bei der Reaktion mit dem leichteren Atom größer sein, weil die Gleichung (3.20) besagt, dass für ma < mb gilt: ua > ub . Deshalb sind die meisten für Raketen verwendeten Treibstoffe leicht. Die Ingenieure würden gern Helium mit Wasserstoff verbrennen, aber leider brennt dieses Gemisch nicht, deshalb müssen sie z. B. auf Sauerstoff und Wasserstoff zurückgreifen.

3.6 Raketen mit Ionenantrieb

3.6

91

Raketen mit Ionenantrieb

Statt der Nutzung chemischer Reaktionen sieht ein anderer Vorschlag die Herstellung eines Mechanismus, durch den Atome ionisiert werden, und deren anschließende elektrische Beschleunigung vor. Damit kann man eine irre Geschwindigkeit erreichen, weil man die Ionen so stark beschleunigen kann wie man möchte. Und hier habe ich eine weitere Aufgabe für Sie. Nehmen wir an, wir haben eine so genannte Ionenantriebsrakete. Am hinteren Ende stoßen wir Cäsiumionen aus, die durch einen elektrostatischen Beschleuniger beschleunigt werden. Die Ionen starten vorne an der Rakete und zwischen dem vorderen und dem hinteren Ende wird eine Spannung V0 angelegt – in unserem speziellen Fall eine ziemlich große Spannung – ich habe V0 = 200 000 V gewählt. Die Frage ist jetzt, wie groß der Schub ist, den dieses erzeugt. Das ist eine andere Aufgabe als die, die wir vorhin hatten, als wir herausfinden mussten, wie schnell die Rakete war. Dieses Mal möchten wir wissen, wie groß die Kraft ist, die erzeugt wird, wenn die Rakete auf einem Versuchsstand gehalten wird (siehe Abbildung 3.11). 0V

200 kV

Cs

Abbildung 3.11: Rakete mit Ionenantrieb auf einem Versuchsstand.

Die Lösungsmethode sieht so aus: Nehmen wir an, dass die Rakete in einem Zeitintervall Δt eine Menge an Masse Δm = μΔt mit der Geschwindigkeit u ausstoßen soll. Dann ist der abgegebene Impuls (μΔt)u. Da Aktion und Reaktion identisch sind, geht ein ebenso großer Impuls in die Rakete hinein. In der anderen Aufgabe befand sich die Rakete im Raum und hob deshalb ab. Dieses Mal wird sie durch den Versuchsstand festgehalten und der durch die Ionen erreichte Impuls pro Sekunde ist die Kraft, die ausgeübt werden muss, um die Rakete an Ort und Stelle zu halten. Der von den Ionen erzeugte Gesamtimpuls pro Sekunde ist (μΔt)u/Δt. Somit ist die Schubkraft der Rakete einfach μu, die Masse pro Sekunde, die freigesetzt wird, multipliziert mit der Ausströmgeschwindigkeit. Und deshalb muss ich für mein Cäsiumion nur ausrechnen,

92

3 Aufgaben und Lösungen

wie groß die ausströmende Masse pro Sekunde ist und mit welcher Geschwindigkeit sie ausströmt: Schub =

Δ(Impuls aus) Δt

= (μΔt)u/Δt

(3.21)

= μu . Zuerst berechnen wir die Geschwindigkeit der Ionen, und zwar so: Die kinetische Energie eines Cäsiumions, das aus der Rakete austritt, ist gleich dem Produkt aus seiner Ladung und der Spannungsdifferenz im Beschleuniger. Das ist Spannung: Sie ist wie potentielle Energie, so wie Feld wie Kraft ist – Sie müssen nur mit der Ladung multiplizieren, um die Differenz in der potentiellen Energie zu erhalten. Das Cäsiumion ist einwertig – es hat eine Elektronenladung –, sodass gilt: mCs+ u2 = qel V0 2 qel u = 2 V0 . mCs+

(3.22)

So, nun lassen Sie uns dieses qel /mCs+ ausrechnen. Die Ladung pro Mol5 ist diese berühmte Zahl 96 500 Coulomb pro Mol. Die Masse pro Mol nennen wir das Atomgewicht oder die Atommasse und wenn Sie im Periodensystem nachschauen, finden Sie für Cäsium 0,133 kg pro Mol. Sie sagen: „Was soll das mit diesen Molen? Ich will die loswerden!“ Wir sind sie schon los: Alles, was wir brauchen, ist das Verhältnis zwischen Ladung und Masse. Das kann ich in einem Atom oder in einem Mol von Atomen messen, es ist dasselbe Verhältnis. So erhalten wir für die Ausströmgeschwindigkeit   96 500 qel = 400 000 · u = 2 V0 + mCs 0,133 (3.23) ≈ 5,387 · 105 m/s .

Übrigens, 5 · 105 m/s ist wesentlich schneller als das, was Sie jemals durch eine chemische Reaktion erreichen können. Chemische Reaktionen entsprechen Spannungen in der Größenordnung von einem Volt. Das heißt, dass diese Rakete mit Ionenantrieb 200 000-mal mehr Energie liefert als eine chemische Rakete. Das ist schön, aber wir wollen nicht nur die Geschwindigkeit. Wir wollen den Schub. Und deshalb müssen wir die Geschwindigkeit mit der Masse pro Sekunde, μ, multiplizieren. Ich will die Antwort als Funktion des Elektrizitätsstromes geben, der aus der 5

Ein Mol ist gleich 6,02 × 1023 Atome.

3.7 Raketen mit Photonenantrieb

93

Rakete ausströmt – weil der natürlich proportional zu der Masse pro Sekunde ist. Also will ich herausfinden, wie viel Schub pro Ampere Strom vorhanden ist. Nehmen wir an, dass ein Ampere ausströmt: Wie viel Masse ist das? Das ist ein Coulomb pro Sekunde oder 1/96 500 Mol pro Sekunde, weil so viele Coulomb in einem Mol enthalten sind. Aber ein Mol wiegt 0,133 kg, das liefert 0,133/96 500 kg pro Sekunde und das ist der Massendurchsatz: 1 Mol/s 1Ampere = 1 Coulomb/s →   96 500 1 μ= Mol/s · (0,133 kg/Mol) (3.24) 96 500 = 1,378 · 10−6 kg/s .

Ich multipliziere μ mit der Geschwindigkeit u, um den Schub pro Ampere zu bekommen. Das Ergebnis ist: Schub pro Ampere = μu = (1,378 × 10−6 ) · (5,387 × 105 ) ≈ 0,74 Newton/Ampere .

(3.25)

Wir erhalten also weniger als drei Viertel eines Newtons pro Ampere – das ist schlecht, miserabel, schwach. Ein Ampere ist verdammt wenig Strom, 100 oder 1000 Ampere sind schon ganz ordentlich, aber selbst das liefert kaum Schub. Es ist schwierig, eine ordentliche Menge Ionen zu bekommen. Jetzt rechnen wir aus, wie viel Energie verbraucht wird. Bei einem Strom von 1 Ampere wird 1 Coulomb an Ladung pro Sekunde über ein Potential von 200 000 V ausgestoßen. Um die Energie (in Joule) zu bestimmen, multipliziere ich die Ladung mit der Spannung, weil Volt eigentlich nichts anderes als Energie pro Ladungseinheit (Joule/Coulomb) ist. Deshalb werden 1 × 200 000 Joule pro Sekunde verbraucht und das entspricht 200 000 Watt: 1 Coulomb/s × 200 000 V = 200 000 Watt.

(3.26)

Aus 200 000 Watt erhalten wir nur 0,74 Newton und das ist vom energetischen Standpunkt aus gesehen grausig. Das Verhältnis Schub/Leistung beträgt nur 3,7 × 10−6 Newton pro Watt – das ist äußerst schwach: 0,74 = 3,7 · 10−6 Newton/Watt. Schub/Leistung ≈ (3.27) 200 000 Auch wenn es eine nette Idee ist, bedeutet das, dass man eine ungeheure Menge an Energie braucht, um in diesem Ding irgendwohin zu kommen!

3.7

Raketen mit Photonenantrieb

Eine andere Raketenkonstruktion ist vorgeschlagen worden, und zwar nach dem Motto „Je schneller man ausstoßen kann, desto besser“. Also, warum nicht Photonen aussto-

94

3 Aufgaben und Lösungen

ßen – sie sind das Schnellste, was es auf der Erde gibt – Licht hinten aus der Rakete schießen! Die Photonen stoßen hinten an der Rakete aus, schalten ein Blitzlicht ein und erhalten einen Schub! Sie können sich allerdings sicher vorstellen, dass man eine wahnsinnige Menge Licht ausstoßen kann, ohne dass man einen spürbaren Schub erhält: Sie wissen aus Erfahrung selbst, dass es Sie nicht von den Füßen haut, wenn Sie ein Blitzlicht einschalten. Selbst wenn Sie eine 100-Watt-Birne einschalten und eine Fokussiervorrichtung daraufsetzen, spüren Sie gar nichts! Somit ist es sehr unwahrscheinlich, dass wir sehr viel Schub pro Watt erhalten. Rechnen wir aber trotzdem mal das Verhältnis Schub/Leistung für eine Rakete mit Photonenantrieb aus. Jedes Photon, das wir am hinteren Ende der Rakete ausstoßen, trägt einen bestimmten Impuls p und eine bestimmte Energie E und bei Photonen ist die Energie das Produkt aus dem Impuls und der Lichtgeschwindigkeit: E = pc.

(3.28)

Also ist bei einem Photon der Impuls pro Energie gleich 1/c. Das bedeutet: Egal, wie viele Photonen wir verwenden, der Impuls, den wir pro Sekunde ausstoßen, hat ein bestimmtes Verhältnis zu der Energie, die wir pro Sekunde ausstoßen – und dieses Verhältnis ist eindeutig und festgelegt: 1 dividiert durch die Lichtgeschwindigkeit. Der pro Sekunde ausgestoßene Impuls ist jedoch die Kraft, die benötigt wird, um die Rakete an Ort und Stelle zu halten, während die pro Sekunde ausgestoßene Energie die Leistung der Maschine ist, die die Photonen erzeugt. Folglich beträgt das Verhältnis Schub/Leistung auch 1/c (dabei ist c = 3 × 108 ) oder 3,3 × 10−9 Newton pro Watt, und das ist tausendmal schlechter als der Cäsiumionen-Beschleuniger und eine Million Mal schlechter als eine chemische Rakete! Das sind einige Punkte der Raketenkonstruktion. (Ich zeige Ihnen alle diese komplizierten halbneuen Dinge, damit Sie sehen können, dass Sie etwas gelernt haben und dass Sie jetzt in der Lage sind, einen großen Teil von dem, was in der Welt so vor sich geht, zu verstehen.)

3.8

Eine elektrostatische Protonenstrahlablenkvorrichtung

Die nächste Aufgabe, die ich mir ausgedacht habe, um Ihnen zu zeigen, wie man Dinge anpacken kann, ist folgende. Im Kellogg Laboratory6 haben wir einen Van-de-GraaffGenerator, der Protonen mit 2 Millionen Volt erzeugt. Die Potentialdifferenz wird elektrostatisch durch ein Band erzeugt, das sich bewegt. Die Protonen fallen durch dieses Potential, nehmen eine Menge Energie auf und kommen in Form eines Strahls heraus. Nehmen wir an, wir möchten für bestimmte Versuchszwecke, dass die Protonen in verschiedenen Winkeln austreten, sodass wir sie ablenken müssen. Das geht am Besten 6

Das Kellogg Radiation Laboratory am Caltech führt Experimente in der Kernphysik, Elementarteilchenphysik und der Astrophysik durch.

3.8 Eine elektrostatische Protonenstrahlablenkvorrichtung

95

v V0  2 MV d  1 cm Vp  20 kV

R

Abbildung 3.12: Elektrostatische Protonenstrahlablenkvorrichtung.

mit einem Magneten. Trotzdem können wir auch berechnen, wie man das elektrisch machen kann – sie wurden ja so erzeugt – und das machen wir jetzt. Wir nehmen ein Paar gebogener Platten, die sich im Vergleich zum Radius ihrer Krümmung sehr dicht beieinander befinden – z. B. näherungsweise d = 1 cm voneinander entfernt – und durch Isolatoren voneinander getrennt sind. Die Platten sind kreisförmig gebogen und wir legen eine möglichst große Spannung von einer Spannungsquelle durch die Platten hindurch, so dass wir zwischen ihnen ein elektrisches Feld erzeugen, das den Strahl radial um den Kreis herum ablenkt (siehe Abbildung 3.12). Tatsächlich hat man, wenn man erheblich mehr als 20 kV über einen Abstand von 1 cm im Vakuum legt, Probleme mit Durchschlägen – sobald es eine kleine undichte Stelle gibt, gelangt Schmutz hinein und es ist sehr schwierig, ein Überschlagen zu verhindern – also legen wir 20 kV durch die Platten. (Ich mache diese Aufgabe allerdings nicht mit Zahlen. Ich erkläre nur alles mit Zahlen. Deshalb nenne ich die Spannung durch die Platten VP .) Jetzt möchten wir wissen: Bis zu welchem Krümmungsradius müssen wir die Platten biegen, damit 2 MeV-Protonen zwischen ihnen abgelenkt werden? Das hängt einfach von der Zentripetalkraft ab. Wenn m die Masse eines Protons ist, dann besagt die Gleichung (2.17), dass mv2 /R gleich der Kraft ist, die erforderlich ist, um das Proton hineinzuziehen. Und die Kraft, die das Proton hineinzieht, ist die Ladung des Protons – wieder unser berühmtes qel – multipliziert mit dem elektrischen Feld, das sich zwischen den Platten befindet: qel ε = m

v2 . R

(3.29)

Diese Gleichung ist das newtonsche Axiom: Kraft ist gleich Masse mal Beschleunigung. Damit Sie es anwenden können, müssen Sie allerdings die Geschwindigkeit des Protons, das aus dem Van-de-Graaff-Generator herauskommt, kennen.

96

3 Aufgaben und Lösungen

Nun, Informationen über die Geschwindigkeit der Protonen haben wir dadurch, dass wir wissen, wie groß das Potential ist, durch das sie gefallen sind – 2 Millionen Volt. Diesen Wert nenne ich V0 . Der Energieerhaltungssatz besagt, dass die kinetische Energie des Protons, mv2 /2, gleich dem Produkt aus der Ladung des Protons und der Spannung ist, durch die es gefallen ist. v2 können wir daraus direkt berechnen: mv2 = qel V0 2 2qel V0 . v2 = m

(3.30)

Wenn ich v2 aus der Gleichung (3.30) in die Gleichung (3.29) einsetze, erhalte ich   2qel V0 m 2qel V0 = qel ε = m (3.31) R R 2 V0 R= .

ε

Wenn ich also wüsste, wie groß das elektrische Feld zwischen den Platten ist, könnte ich den Radius leicht bestimmen – auf Grund dieser einfachen Beziehung zwischen dem elektrischen Feld, der Spannung, bei der die Protonen gestartet sind, und der Krümmung der Platten. Nun, was ist das elektrische Feld? Wenn die Platten nicht zu stark gebogen sind, ist das elektrische Feld überall zwischen ihnen ungefähr gleich groß. Und wenn ich eine Spannung durch die Platten lege, gibt es eine Energiedifferenz zwischen einer Ladung auf der einen Platte und einer Ladung auf der anderen. Die Energiedifferenz pro Ladungseinheit ist die Spannungsdifferenz – das bedeutet Spannung. Wenn ich nun eine Ladung q durch ein konstantes elektrisches Feld ε von der einen Platte zur anderen transportieren würde, wäre die auf die Ladung ausgeübte Kraft qε und die Energiedifferenz qεd, wobei d der Abstand zwischen den Platten ist. Durch Multiplizieren von Kraft und Abstand erhalte ich die Energie – oder durch Multiplizieren von Feld und Abstand erhalte ich das Potential. Also beträgt die Spannung an den Platten εd: VP =

Energiedifferenz qεd = = εd Ladung q

(3.32)

ε = VP /d . Deshalb habe ich das ε aus (3.32) in Gleichung (3.31) für den Radius substituiert – er ist 2V0 /VP mal dem Abstand zwischen den Platten: R=

2 V0 V0 =2 d. (VP /d) VP

(3.33)

3.9 Bestimmung der Masse des Pions

97

In unserer speziellen Aufgabe ist das Verhältnis von V0 zu VP – 2 Millionen Volt zu 20 kV – 100 zu 1 und d = 1 cm. Deshalb sollte der Krümmungsradius 200 cm oder 2 m betragen. Eine Voraussetzung, von der wir hier ausgegangen sind, ist, dass das elektrische Feld zwischen den Platten konstant ist. Wie gut ist unsere Ablenkvorrichtung, wenn das elektrische Feld nicht konstant ist? Immer noch ziemlich gut, weil die Platten bei einem Radius von 2 m fast flach sind, sodass das Feld näherungsweise konstant ist. Und wenn wir den Strahl direkt in der Mitte haben, ist das OK. Aber selbst wenn das nicht der Fall ist, ist sie sehr gut, denn wenn das Feld auf einer Seite zu stark ist, ist es auf der anderen Seite zu schwach. Diese Dinge gleichen sich fast aus. Mit anderen Worten, wenn wir das Feld nahe der Mitte verwenden, erhalten wir einen ausgezeichneten Schätzwert: Selbst wenn er nicht perfekt ist, ist er bei solchen Dimensionen ein verdammt guter Näherungswert. Bei R/d = 200 zu 1 ist er fast genau.

3.9

Bestimmung der Masse des Pions

Ich habe eigentlich keine Zeit mehr, aber ich bitte Sie, noch eine Minute zu bleiben, damit ich Ihnen über ein weiteres Problem berichten kann: Die historische Art und Weise, wie die Masse des Pions (π) bestimmt wurde. Tatsächlich wurde das Pion zuerst auf fotografischen Platten entdeckt, auf denen Spuren von My-Mesonen7 (μ) vorhanden waren: Ein unbekanntes Teilchen war darauf gelangt und hatte gestoppt und dort, wo es sich nicht weiter bewegt hatte, gab es eine kleine abgehende Spur, deren Eigenschaften, so fand man heraus, die eines Myons waren. (Myonen waren vorher bereits bekannt, aber das Pion wurde anhand dieser Bilder entdeckt.) Man nahm an, dass ein Neutrino (ν) in die entgegengesetzte Richtung flog (und dabei keine Spur hinterließ, weil es keine Ladung besitzt) (siehe Abbildung 3.13).

Abbildung 3.13: Spuren eines Pions, das in ein Myon und ein unsichtbares (elektrisch neutrales) Teilchen zerfällt.

Die Ruheenergie des Myons ist bekanntlich 105 MeV und man fand anhand der Eigenschaften der Spur heraus, dass seine kinetische Energie 4,5 MeV ist. Wie können wir daraus die Masse des Pions bestimmen (siehe Abbildung 3.14)? Nehmen wir an, dass sich das Pion in Ruhe befindet und in ein Myon und ein Neutrino zerfällt. Wir kennen die Ruheenergie sowie die kinetische Energie und damit auch die Gesamtenergie des Myons. Aber wir müssen außerdem die Energie des Neutrinos 7

„My-Meson“ ist ein veralteter Begriff für ein Myon, ein Elementarteilchen mit derselben Ladung wie ein Elektron, aber einer näherungsweise 207-mal so großen Masse (tatsächlich ist es in der modernen Bedeutung des Wortes „Meson“ gar kein Meson).

98

3 Aufgaben und Lösungen

v p m

Abbildung 3.14: Zerfall eines Pions in Ruhe in ein Myon und ein Neutrino mit identischen und entgegengesetzt gerichteten Impulsen. Die Gesamtenergie des Myons und Neutrinos ist identisch mit der Ruheenergie des Pions.

kennen, weil auf Grund der Relativität die Masse des Pions mal c zum Quadrat seine Energie ist, und diese gesamte Energie geht in das Myon und das Neutrino über. Sehen Sie, das Pion verschwindet und das Myon und das Neutrino bleiben übrig. Nach dem Energieerhaltungssatz muss die Energie des Pions die Summe der Energie des Myons und der Energie des Neutrinos sein: Eπ = Eμ + Eυ .

(3.34)

Also müssen wir die Energie des Myons und die Energie des Neutrinos berechnen. Die Energie des Myons ist einfach, sie ist praktisch gegeben: 4,5 MeV ist die kinetische Energie, addiert zur Ruheenergie – und wir erhalten Eμ = 109,5 MeV . Und wie groß ist die Energie des Neutrinos? Das ist schwieriger. Aber laut dem Impulserhaltungssatz kennen wir den Impuls des Neutrinos, weil er den gleichen Betrag wie der Impuls des Myons hat und ihm entgegengesetzt gerichtet ist – und das ist der Schlüssel. Sie sehen, ich ziehe das Ganze von hinten auf: Wenn wir den Impuls des Neutrinos kennen, können wir wahrscheinlich seine Energie ausrechnen. Also versuchen wir’s. Wir berechnen den Impuls des Myons mit der Formel E 2 = m2 c4 + p2 c2 und wählen ein Einheitensystem, in dem c = 1 ist, sodass E 2 = m2 + p2 ist. Das liefert für den Impuls des Myons:   pμ = Eμ2 − m2μ = (109,5)2 − (105)2 ≈ 31 MeV. (3.35) Aber der Impuls des Neutrinos ist vom gleichen Betrag und entgegengesetzt gerichtet, d. h. der Impuls des Neutrinos ist, abgesehen vom Vorzeichen, ebenfalls 31 MeV. Wie sieht’s mit seiner Energie aus? Da die Ruhemasse des Neutrinos null ist, ist seine Energie gleich dem Produkt aus seinem Impuls und c. Darüber haben wir bei der Rakete mit Photonenantrieb gesprochen. Bei dieser Aufgabe lassen wir c = 1, sodass die Energie des Neutrinos gleich groß ist wie sein Impuls, 31 MeV. So, das wär’s: Die Energie des Myons beträgt 109,5 MeV, die Energie des Neutrinos ist 31 MeV, sodass die in der Reaktion freigesetzte Gesamtenergie 140,5 MeV beträgt – alles gegeben durch die Ruhemasse des Pions: mπ = Eμ + Eυ ≈ 109,5 + 31 = 140,5 MeV.

(3.36)

3.9 Bestimmung der Masse des Pions Und so wurde die Masse des Pions ursprünglich bestimmt. Für mehr reicht die Zeit jetzt nicht. Danke. Bis zum nächsten Mal. Alles Gute!

99

4

Dynamik und ihre Anwendungen

Ich möchte ankündigen, dass die heutige Vorlesung sich von den anderen dadurch unterscheiden wird, dass ich über eine Vielzahl von Themen sprechen werde, die nur zu Ihrer Unterhaltung dienen und die Physik für Sie interessant machen sollen. Wenn Sie etwas nicht verstehen, weil es zu kompliziert ist, können Sie es einfach vergessen, es ist völlig unwichtig. Wir könnten jedes Thema, das wir behandeln, natürlich noch mehr im Detail behandeln – ganz sicher viel detaillierter als bei einer ersten Annäherung – und wir könnten die Probleme der Drehdynamik fast endlos weiterverfolgen, aber dann hätten wir keine Zeit, etwas anderes aus der Physik zu lernen. Also werden wir uns hier von dem Thema verabschieden. Eines Tages werden Sie vielleicht auf Ihrem eigenen Weg zur Drehdynamik zurückkehren wollen, ob als Maschinenbauer oder als Astronom, der sich Gedanken über die rotierenden Sterne oder die Quantenmechanik macht (in der Quantenmechanik gibt es Drehbewegungen) – wie auch immer Sie sich wieder damit beschäftigen, das hängt von Ihnen ab. Es ist allerdings das erste Mal, dass wir ein Thema verlassen, das wir nicht abgeschlossen haben. Wir haben eine Menge unterbrochener Gedanken oder Gedankengänge, die irgendwo hingehen und nicht weitergedacht werden, und ich möchte Ihnen erzählen, wohin sie gehen, damit Sie eine bessere Einschätzung davon bekommen, was Sie wissen. Die meisten Vorlesungen bis jetzt waren zu einem großen Teil theoretisch – voller Gleichungen und so weiter – und viele von Ihnen mit einem Interesse an praktischem Maschinenbau möchten liebend gerne ein paar Beispiele für die „menschliche Cleverness“ bei der Anwendung dieser Theorien sehen. Wenn dem so ist, dann ist unser heutiges Thema bestens geeignet, Sie zu erfreuen, weil es nichts Erleseneres im Maschinenbau gibt als die praktische Entwicklung der Trägheitsnavigation in den letzten Jahren. Das wurde eindrucksvoll durch die Fahrt des U-Bootes Nautilus unter dem Polareis veranschaulicht: Es konnten keine Sterne beobachtet werden, Karten vom Meeresboden unter dem Polareis gab es praktisch nicht, im Schiff gab es keine Möglichkeit zu sehen, wo man sich befand – und trotzdem wusste die Besatzung immer, wo sie war.1 Die Fahrt wäre ohne die Entwicklung der Trägheitsnavigation unmöglich gewesen und ich möchte Ihnen heute erklären, wie sie funktioniert. Aber vorher möchte ich Ihnen 1

1958 fuhr die USS Nautilus, das erste atomgetriebene U-Boot der Welt, von Hawaii nach England und passierte am 3. August den Nordpol. Es befand sich insgesamt 95 Stunden unter dem Polareis.

102

4 Dynamik und ihre Anwendungen

ein paar ältere, weniger empfindliche Geräte erklären, damit Sie die Grundlagen und Aufgabenstellungen, die die schwierigen und wunderbaren Entwicklungen der späteren Jahre betreffen, besser verstehen können.

4.1

Ein Gyroskop

Falls Sie noch kein solches Teil gesehen haben, zeigt Ihnen Abbildung 4.1 ein Gyroskop in kardanischer Aufhängung.

X B

A Y

Abbildung 4.1: Ein Gyroskop.

Wenn das Rad einmal in Drehbewegung gesetzt ist, behält es seine Ausrichtung, selbst wenn die Basis aufgenommen und in einer beliebigen Richtung bewegt wird – das Gyroskop bleibt mit seiner Drehachse AB im Raum fest. Bei praktischen Anwendungen, bei denen das Gyroskop sich weiterdrehen muss, wird ein kleiner Motor eingesetzt, um die Reibung in den Achszapfen des Gyroskops auszugleichen. Wenn Sie versuchen, die Richtung der Achse AB zu ändern, indem Sie im Punkt A nach unten drücken (und so ein auf das Gyroskop einwirkendes Drehmoment um die Achse XY erzeugen), bewegt sich Punkt A nicht nach unten, sondern seitlich Richtung Y in Abbildung 4.1. Das Ausüben eines Drehmomentes auf das Gyroskop um eine beliebige Achse (außer der Drehachse) erzeugt eine Drehbewegung des Gyroskops um eine Achse, die jeweils senkrecht zu dem ausgeübten Drehmoment und zur Drehachse des Gyroskops verläuft.

4.2 Der Kurskreisel

4.2

103

Der Kurskreisel

Ich beginne mit der einfachsten möglichen Anwendung eines Gyroskops: Wenn es sich in einem Flugzeug befindet, das seine Richtung ändert, zeigt die Drehachse des Gyroskops – z. B. horizontal ausgerichtet – weiter in dieselbe Richtung. Das ist sehr nützlich: Da das Flugzeug mehrere unterschiedliche Bewegungen macht, können Sie eine Richtung beibehalten – dieses Gyroskop nennt man Kurskreisel (siehe Abbildung 4.2). N

Abbildung 4.2: Ein Kurskreisel behält seine Ausrichtung in einem Flugzeug, das seine Richtung ändert.

Sie sagen: „Das ist das Gleiche wie ein Kompass.“ Ist es nicht, weil der Kurskreisel nicht Norden sucht. Er wird so benutzt: Wenn sich das Flugzeug am Boden befindet, stellen Sie den magnetischen Kompass ein und verwenden ihn, um die Achse des Gyroskops in einer Richtung, z. B. Norden, einzustellen. Wenn Sie dann herumfliegen, behält das Gyroskop seine Ausrichtung bei und Sie können es immer benutzen, um Norden zu finden. „Warum benutzt man denn nicht einfach den magnetischen Kompass?“ Es ist sehr schwierig, einen magnetischen Kompass in einem Flugzeug zu benutzen, weil die Nadel auf Grund der Bewegung schwingt oder abfällt und es Eisen und andere Quellen magnetischer Felder im Flugzeug gibt. Andererseits werden Sie feststellen, dass das Gyroskop, wenn das Flugzeug ruhiger fliegt und sich eine Zeitlang auf einer geraden Linie bewegt, auf Grund der Reibung in der kardanischen Aufhängung nicht mehr nach Norden zeigt. Das Flugzeug hat sich langsam in eine andere Richtung bewegt und es war Reibung vorhanden, kleine Drehmomente wurden erzeugt, das Gyroskop hat Präzessionsbewegungen gemacht und es zeigt nicht mehr genau in dieselbe Richtung. Deshalb muss der Pilot von Zeit zu Zeit seinen Kurskreisel nach dem Kompass neu einstellen – jede Stunde oder vielleicht auch häufiger, je nachdem, wie perfekt reibungslos das Ding hergestellt wurde.

104

4.3

4 Dynamik und ihre Anwendungen

Der künstliche Horizont

Der künstliche Horizont, eine Vorrichtung zur Bestimmung der Aufwärtsrichtung, funktioniert nach demselben Muster. Wenn Sie sich am Boden befinden, stellen Sie ein Gyroskop so ein, dass seine Achse vertikal ausgerichtet ist. Dann gehen Sie in die Luft und das Flugzeug schaukelt und wackelt hin und her. Das Gyroskop behält seine vertikale Ausrichtung, aber es muss auch gelegentlich neu eingestellt werden. Wie können wir den künstlichen Horizont abgleichen? Wir könnten die Schwerkraft benutzen, um die Aufwärtsrichtung zu bestimmen, aber Sie können sich sicher gut vorstellen, dass bei einem Kurvenflug die scheinbare Schwerkraft in einem bestimmten Winkel abweicht und dass das Abgleichen nicht so einfach ist. Aber auf Dauer und im Durchschnitt gesehen ist die Schwerkraft in eine bestimmte Richtung gerichtet – es sei denn, das Flugzeug fliegt letzten Endes mit der Unterseite nach oben (siehe Abbildung 4.3)!

Abbildung 4.3: Scheinbare Schwerkraft in einem Flugzeug, das die Richtung ändert.

Überlegen Sie deshalb mal, was passieren würde, wenn wir ein Gewicht in die kardanische Aufhängung im Punkt A des in Abbildung 4.1 dargestellten Gyroskops einfügen und dann das Gyroskop mit vertikal ausgerichteter Achse und Punkt A in unterer Position in Drehbewegungen versetzen würden. Wenn das Flugzeug geradeaus und eben fliegt, zieht das Gewicht direkt nach unten und hält dadurch die Drehachse in vertikaler Ausrichtung. Fliegt das Flugzeug eine Kurve, versucht das Gewicht, die Achse vertikal wegzuziehen, aber durch die Präzession setzt das Gyroskop dem einen Widerstand entgegen und die Achse bewegt sich nur sehr langsam weg von der vertikalen Ausrichtung. Schließlich beendet das Flugzeug sein Manöver und das Gewicht zieht wieder gerade nach unten. Auf Dauer und im Durchschnitt richtet das Gewicht die Achse des Gyroskops in Richtung der Schwerkraft aus. Das ist fast so wie der Abgleich zwischen dem Kurskreisel und dem Magnetkompass, außer dass dieser Abgleich nicht stündlich

4.4 Ein Gyroskop zur Schiffsstabilisierung

105

oder so erfolgt, sondern ständig während des Fluges, so dass trotz der Tendenz des Gyroskops, sehr langsam abzuweichen, seine Ausrichtung durch die durchschnittliche Auswirkung der Schwerkraft über lange Zeiträume beibehalten wird. Je langsamer das Gyroskop abweicht, desto länger ist natürlich der Zeitraum, über den dieser Durchschnittswert tatsächlich genommen wird, und desto besser eignet sich das Instrument für kompliziertere Manöver. Es ist nicht ungewöhnlich, Flugmanöver zu machen, bei denen die Schwerkraft eine halbe Minute lang ausgeschaltet ist. Wenn also der Zeitraum für die Durchschnittberechnung nur eine halbe Minute wäre, würde der künstliche Horizont nicht richtig funktionieren. Die Geräte, die ich gerade beschrieben habe – der künstliche Horizont und der Kurskreisel – sind die Instrumente, die als Leitvorrichtung für die Autopilotfunktion in Flugzeugen benutzt werden. Das heißt, dass man Informationen, die man von diesen Instrumenten erhält, verwendet, um das Flugzeug in eine bestimmte Richtung zu lenken. Wenn sich ein Flugzeug z. B. von der Achse des Kurskreisels weg bewegt, werden elektrische Kontakte hergestellt, die über eine Reihe von Teilen dazu führen, dass ein paar Klappen bewegt werden und das Flugzeug so wieder auf Kurs gebracht wird. Solche Gyroskope bilden das Herzstück von Autopiloten.

4.4

Ein Gyroskop zur Schiffsstabilisierung

Eine weitere interessante Anwendung von Gyroskopen, die heute nicht mehr eingesetzt wird, früher aber vorgeschlagen und gebaut wurde, ist die Stabilisierung von Schiffen. Jeder glaubt natürlich, man dreht einfach ein großes Rad auf einer am Schiff befestigten Achse, aber das stimmt nicht. Wenn Sie das wirklich auf diese Weise z. B. mit vertikal ausgerichteter Drehachse machen würden und eine Kraft das Schiff vorne hochschleudern würde, wäre das Endresultat, dass das Gyroskop eine Präzessionsbewegung zu einer Seite machen und das Schiff umkippen würde – das funktioniert also nicht! Ein Gyroskop stabilisiert nichts durch sich selbst. Was stattdessen passiert, veranschaulicht ein Prinzip, das bei der Trägheitsnavigation verwendet wird. Der Trick sieht so aus: Irgendwo in dem Schiff gibt es ein sehr kleines, aber wunderbar gebautes Master-Gyroskop, dessen Achse z. B. vertikal ausgerichtet ist. In dem Moment, in dem das Schiff etwas aus der vertikalen Ausrichtung rollt, steuern elektrische Kontakte in dem Master-Gyroskop ein riesiges Slave-Gyroskop, das zur Stabilisierung des Schiffes verwendet wird – das waren wahrscheinlich die größten Gyroskope, die jemals gebaut wurden (siehe Abbildung 4.4)! Normalerweise wird die Achse des Slave-Gyroskops in vertikaler Ausrichtung gehalten, aber da es sich in einer kardanischen Aufhängung befindet, kann es um die Nickachse des Schiffes gedreht werden. Wenn das Schiff beginnt, nach rechts oder links zu rollen, wird das Slave-Gyroskop zwecks Korrektur vor- oder rückwärts gerissen – Sie wissen, wie eigensinnig Gyroskope immer sind und sich einfach nicht in die richtige Richtung be-

106

4 Dynamik und ihre Anwendungen

Abbildung 4.4: Ein Gyroskop zur Schiffsstabilisierung: Wird das Gyroskop vorwärts getrieben, wird ein Drehmoment erzeugt, das das Schiff nach rechts rollt.

wegen wollen. Die plötzliche Drehung um die Nickachse erzeugt ein Drehmoment um die Rollachse, das der Rollbewegung des Schiffes entgegengerichtet ist. Die Neigung des Schiffes wird durch dieses Gyroskop nicht korrigiert, aber natürlich ist die Neigung eines großen Schiffes relativ klein.

4.5

Der Kreiselkompass

Jetzt möchte ich ein anderes Instrument beschreiben, das auf Schiffen verwendet wird, den „Kreiselkompass“. Im Unterschied zum Kurskreisel, der immer von der Nordrichtung abweicht und regelmäßig neu eingestellt werden muss, sucht ein Kreiselkompass selbst die Nordrichtung – er ist sogar besser als der Magnetkompass, weil er die echte Nordrichtung im Sinne der Erdrotationsachse sucht. Er funktioniert folgendermaßen: Nehmen wir an, wir schauen von oberhalb des Nordpols auf die Erde und bewegen uns gegen den Uhrzeigersinn. Irgendwo haben wir ein Gyroskop aufgestellt, z. B. am Äquator, und die Achse des Gyroskops verläuft in Ost-West-Richtung parallel zum Äquator, wie in Abbildung 4.5(a) dargestellt. Für den Moment lassen Sie uns das Beispiel eines idealen, freien Gyroskops mit vielen kardanischen Ringen und was weiß ich nicht noch allem nehmen. (Es könnte sich in einem Ball, der in Öl schwimmt, befinden oder wo immer Sie wollen, sodass keine Reibung vorhanden ist.) Sechs Stunden später würde das Gyroskop immer noch in dieselbe absolute Richtung zeigen (weil keine Drehmomente als Folge von Reibung auf es einwirken), aber wenn wir in der Nähe des Äquators stehen würden, könnten wir beobachten, wie es sich langsam umdreht: Sechs Stunden später würde es direkt nach oben zeigen, wie in Abbildung 4.5(c).

4.5 Der Kreiselkompass

107

Blick von oberhalb des Nordpols: a

b

c

N

N

N

Blick von direkt oberhalb des Gyroskops am Äquator: a b N

c

Abbildung 4.5: Ein freies Gyroskop, das sich mit der Erde dreht, behält seine Ausrichtung im Raum bei.

Aber jetzt stellen Sie sich vor, was passieren würde, wenn wir ein Gewicht an das Gyroskop hängen würden, wie in Abbildung 4.6 dargestellt. Das Gewicht würde die Drehachse des Gyroskops senkrecht zur Schwerkraft halten. Auf Grund der Erdrotation wird das Gewicht hochgehoben und das hochgehobene Gewicht will natürlich wieder nach unten. Das erzeugt ein Drehmoment parallel zur Erdrotation, wodurch das Gyroskop sich im rechten Winkel zu allem dreht. In diesem speziellen Fall bedeutet das, dass das Gewicht nicht hochgehoben wird, sondern statt-

Gewicht

Abbildung 4.6: Das Gyroskop mit Gewichten, die die Drehachse senkrecht zur Schwerkraft halten.

108

4 Dynamik und ihre Anwendungen

Blick von oberhalb des Nordpols: a

b

c

N

N

N

Blick von direkt oberhalb des Gyroskops am Äquator: a b N

c

Abbildung 4.7: Ein beschwerter Kreiselkompass richtet seine Drehachse parallel zur Rotationsachse der Erde aus.

dessen das Gyroskop umkippt. Und so dreht es seine Achse um in Richtung Norden, wie in Abbildung 4.7 dargestellt. Jetzt nehmen wir an, dass die Achse des Gyroskops schließlich nach Norden zeigt: Bleibt sie so? Wenn wir dasselbe Bild mit der nach Norden ausgerichteten Achse zeichnen, wie in Abbildung 4.8 dargestellt, schwingt der Arm, da die Erde sich dreht, um die Achse des Gyroskops herum und das Gewicht bleibt unten. Es wirken keine Drehmomente von dem hochgehobenen Gewicht auf die Achse ein und die Achse zeigt auch später in Richtung Norden. Wenn also die Achse des Kreiselkompasses nach Norden zeigt, gibt es keinen Grund, warum das nicht so bleiben sollte; wenn aber seine Achse nur leicht in Ost-WestBlick von oberhalb des Nordpols: c

N

d

e

N

N

Blick von direkt oberhalb des Gyroskops am Äquator: c d N

e

Abbildung 4.8: Ein Kreiselkompass mit parallel zur Rotationsachse der Erde ausgerichteter Drehachse behält seine Lage bei.

4.5 Der Kreiselkompass

109

Richtung zeigt, dann dreht das Gewicht die Achse in Richtung Norden, da die Erde sich dreht. Der Kreiselkompass ist deshalb ein nordsuchendes Instrument. (Wenn ich ihn genau so bauen würde, würde er Norden suchen und sich vorbeibewegen, auf der anderen Seite ausrollen und sich eigentlich hin- und herbewegen – deshalb muss etwas Dämpfung eingebaut werden.) Jetzt haben wir eine Art künstlichen Kreiselkompass, der in Abbildung 4.9 dargestellt ist. Leider sind nicht alle Achsen des Gyroskops frei. Nur zwei sind frei und Sie müssen ein bisschen nachdenken um herauszufinden, dass das fast das Gleiche ist. Sie drehen das Ding, um die Bewegung der Erde zu simulieren, und die Schwerkraft wird durch ein Gummiband nachgeahmt, das analog zu dem Gewicht am Ende des Arms am Gyroskop befestigt ist. Wenn Sie beginnen, das Ding zu drehen, macht das Gyroskop eine Zeit lang eine Präzessionsbewegung, aber wenn Sie geduldig genug sind und das Ding immer weiter drehen, beruhigt es sich. Der einzige Ort, an dem es bleiben kann, ohne zu versuchen, sich in eine andere Richtung zu drehen, ist parallel zur Rotationsachse seines Rahmens – in diesem Fall der imaginären Erde – und daher pendelt es sich sehr hübsch ein und zeigt in Richtung Norden. Wenn ich die Drehbewegung stoppe, driftet die Achse ab, weil in den Lagern verschiedene Reibungskräfte und andere Kräfte wirken. Reale Gyroskope weichen immer ab. Sie verhalten sich nicht ideal.

Abbildung 4.9: Feynman demonstriert einen künstlichen Kreiselkompass.

110

4.6

4 Dynamik und ihre Anwendungen

Verbesserungen am Entwurf und der Konstruktion von Gyroskopen

Die besten Gyroskope, die vor ungefähr zehn Jahren gebaut werden konnten, hatten eine Abweichung zwischen zwei und drei Grad in der Stunde – das war die Beschränkung der Trägheitsnavigation: Es war unmöglich, die Richtung im Raum genauer zu bestimmen. Wenn Sie z. B. eine zehnstündige Fahrt in einem U-Boot gemacht hätten, hätte die Abweichung der Achse Ihres Kurskreisels bis zu 30 Grad betragen können! (Der Kreiselkompass und der künstliche Horizont würden richtig arbeiten, weil sie durch die Schwerkraft „überprüft“ werden, aber die frei drehenden Kurskreisel wären nicht genau.) Die Entwicklung der Trägheitsnavigation verlangte die Entwicklung wesentlich besserer Gyroskope – Gyroskope, in denen die unkontrollierbaren Reibungskräfte, die zur Präzessionsbewegung der Gysroskope führen, auf ein absolutes Minimum reduziert sind. Es sind eine Reihe von Erfindungen gemacht worden, um dies zu ermöglichen, und ich möchte die daran beteiligten allgemeinen Prinzipien veranschaulichen. Zunächst einmal sind die Gyroskope, über die wir bisher gesprochen haben, Gyroskope „mit zwei Freiheitsgraden“, weil es zwei Möglichkeiten für die Drehachse gibt, sich zu drehen. Es zeigt sich, dass es besser ist, wenn Sie sich nur mit jeweils einer Möglichkeit beschäftigen müssen – das heißt, es ist besser, wenn Sie Ihre Gyroskope so anordnen, dass Sie nur die Rotationen jedes Gyroskops um eine einzige Achse betrachten müssen. Abbildung 4.10 zeigt ein Gyroskop „mit einem Freiheitsgrad“. (Ich muss Herrn Skull vom Jet Propulsion Laboratory dafür danken, dass er mir diese Folien geliehen und mir alles erklärt hat, was in den letzten Jahren so los war.) Das Kreiselrad dreht sich um eine horizontale Achse („Drehachse“ in der Abbildung), die sich nur um eine Achse (EA) und nicht um zwei frei drehen kann. Dennoch ist dies eine nützliche Vorrichtung, und zwar aus folgendem Grund: Stellen Sie sich vor, dass das Gyroskop um die vertikale Eingangsache (EA) gedreht wird, weil es sich in einem Auto oder in einem Schiff befindet, das seine Richtung ändert. Dann versucht das Kreiselrad, um die horizontale Ausgangsachse (AA) eine Präzessionsbewegung zu machen. Genauer gesagt, es wird ein Drehmoment um die Ausgangsachse erzeugt und wenn diesem Drehmoment nichts entgegengesetzt wird, macht das Gyroskop eine Präzessionsbewegung um diese Achse. Wenn wir also einen Messgenerator (MG) haben, der den Winkel der Präzessionsbewegung des Rades erfassen kann, können wir diesen benutzen um herauszufinden, dass das Schiff seine Richtung ändert. Nun muss man hier einige Eigenschaften berücksichtigen: Das Schwierige ist, dass das Drehmoment um die Ausgangsachse absolut genau das Ergebnis der Drehbewegung um die Eingangsachse darstellen muss. Alle anderen Drehmomente um die Ausgangsachse bedeuten Störungen und wir müssen sie loswerden, um nichts durcheinander zu bringen. Die Schwierigkeit ist, dass das Kreiselrad selbst ein gewisses Gewicht hat, das gegen das Gewicht der Zapfen an der Ausgangsachse gestützt werden

4.6 Verbesserungen am Entwurf und der Konstruktion von Gyroskopen

111

MG

EA w1 Drehachse kardanische Aufhängung

H

DE

AA C

Gyroskopgehäuse

Abbildung 4.10: Vereinfachte schematische Darstellung eines Gyroskops mit einem Freiheitsgrad, basierend auf einer Originalfolie aus der Vorlesung.

muss – und die sind das wirkliche Problem, weil sie eine Reibung erzeugen, die unsicher und unbestimmt ist. Der erste und wichtigste Trick, mit dem man das Gyroskop verbesserte, bestand darin, dass man das Kreiselrad in einen Behälter packte und den Behälter in Öl schwimmen ließ. Der Behälter ist ein Zylinder, der vollständig von Öl umgeben ist und sich um seine Achse („Ausgangsachse“ in Abbildung 4.11) frei drehen kann. Das Gewicht des Behälters einschließlich des darin befindlichen Rades und der Luft im Inneren ist genau gleich (oder so nah wie möglich) dem Gewicht des Öls, das er verdrängt, sodass sich der Behälter im neutralen Gleichgewicht befindet. Auf diese Weise ist das Gewicht, das an den Zapfen gestützt werden muss, sehr gering und damit können sehr feine Lagersteine wie bei Uhrwerken verwendet werden, die aus einem Stift und einem Edelstein bestehen. Lagersteine können sehr wenig seitliche Kraft aufnehmen, aber das müssen sie in diesem Fall auch nicht – und sie sind ausgesprochen reibungsarm. Das war also die erste große Verbesserung: Das Schwimmen des Kreiselrades und die Verwendung von Lagersteinen an den Zapfen, die das Rad tragen. Die nächste bedeutende Verbesserung war, dass man das Gyroskop nie wirklich benutzte, um irgendwelche Kräfte – oder sehr große Kräfte – zu erzeugen. Bisher haben wir darüber gesprochen, dass das Kreiselrad um die Ausgangsachse eine Präzessionsbewegung macht und wir messen, wie weit die Präzessionsbewegung geht. Aber ein anderes interessantes Verfahren, um die Auswirkung der Drehbewegung um die Ein-

112

4 Dynamik und ihre Anwendungen Schwimmende Aufhängung Kreiselelement

Drehmomenterzeuger

Dämpfer

Ausgangsachse

Messgenerator

Drehreferenzachse Zapfen

Drehachse

Drehwinkel der Aufhängung

Eingangsachse

Abbildung 4.11: Detaillierte schematische Darstellung eines integrierenden Gyroskops mit einem Freiheitsgrad, basierend auf einer Originalfolie aus der Vorlesung.

gangsachse zu messen, basiert auf dem folgenden Gedanken (siehe Abbildung 4.10 und Abbildung 4.11): Nehmen wir an, wir haben ein sehr genau gebautes Gerät, sodass wir, indem wir es mit einer bestimmten Menge Strom versorgen, sehr genau ein bestimmtes Drehmoment um die Ausgangsachse erzeugen können – ein elektromagnetischer Drehmomenterzeuger. Dann können wir einen Messwertgeber mit enormer Verstärkung zwischen den Messgenerator und den Drehmomenterzeuger setzen, sodass, wenn sich das Schiff um die Eingangsachse dreht, das Kreiselrad mit einer Präzessionsbewegung um die Ausgangsachse beginnt, der Messgenerator aber, sobald sich das Schiff um einen Hauch, eine Haaresbreite – wirklich eine Haaresbreite – bewegt, sagt: „Hey! Es bewegt sich!“ und der Drehmomenterzeuger sofort ein Drehmoment um die Ausgangsachse legt, das dem Drehmoment, das für die Präzessionsbewegung des Kreiselrades verantwortlich ist, entgegenwirkt und das Schiff in Position hält. Und dann fragen wir: „Wie kräftig müssen wir es halten?“ Mit anderen Worten, wir messen die Menge an Saft, die in den Drehmomenterzeuger geht. Im Grunde messen wir das Drehmoment, das zur Präzessionsbewegung des Kreiselrades führt, indem wir messen, wie groß das Drehmoment ist, das erforderlich ist, um es auszugleichen. Dieses Feedback- oder Rückführungsprinzip ist für die Konstruktion und Entwicklung von Gyroskopen von großer Bedeutung. Ein weiteres interessantes Feedback-Verfahren, das noch häufiger eingesetzt wird, ist in Abbildung 4.12 dargestellt. Das Gyroskop ist der kleine Behälter („Gyroskop“ in Abbildung 4.12) auf der horizontalen Plattform (Plattform) im Mittelpunkt des Tragrahmens. (Für den Moment können Sie den Beschleunigungsmesser (Beschl.) vernachlässigen. Wir kümmern uns nur um das Gyroskop.) Im Unterschied zu dem vorhergehenden Beispiel ist die Drehachse des

4.6 Verbesserungen am Entwurf und der Konstruktion von Gyroskopen

113

Gyroskop GDA Plattform

EA

Motor

AA Verstärker

Beschl.

Vorwärtsbewegung

Abbildung 4.12: Schematische Darstellung einer stabilisierten Plattform mit einem Freiheitsgrad, basierend auf einer Originalfolie aus der Vorlesung.

Gyroskops (GDA) vertikal. Die Ausgangsachse (AA) ist allerdings nach wie vor horizontal. Wenn wir uns vorstellen, dass der Rahmen in einem Flugzeug angebracht ist, das sich in die angezeigte Richtung („Vorwärtsrichtung“ in Abbildung 4.12) bewegt, dann ist die Eingangsachse die Nickachse des Flugzeugs. Wenn sich das Flugzeug nach oben oder unten neigt, beginnt das Kreiselrad eine Präzessionsbewegung um die Ausgangsachse und der Messgenerator gibt ein Signal aus, aber anstatt dies durch ein Drehmoment auszugleichen, arbeitet dieses Feedback-System folgendermaßen: Sobald das Flugzeug beginnt, sich um die Nickachse zu drehen, wird der Rahmen, der das Gyroskop in Bezug auf das Flugzeug trägt, in die entgegengesetzte Richtung gedreht, damit die Bewegung rückgängig gemacht wird. Wir drehen es zurück, sodass wir kein Signal mehr erhalten. Mit anderen Worten, wir halten die Plattform mittels Feedback oder Rückführung stabil und in Wirklichkeit bewegen wir das Gyroskop nie! Das ist verdammt viel besser als es zu schwingen und zu drehen und zu versuchen, die Neigung des Flugzeugs durch Messen des Ausgangssignals des Messgenerators herauszufinden! Es ist viel einfacher, das Signal auf diese Weise zurückzuführen, so dass die Plattform sich überhaupt nicht dreht und das Gyroskop seine Achse beibehält – dann können wir den Nickwinkel einfach sehen, indem wir die Plattform mit dem Flugzeugboden vergleichen. Abbildung 4.13 zeigt eine Schnittzeichnung, die darstellt, wie ein wirkliches Gyroskop mit einem Freiheitsgrad aufgebaut ist. Das Kreiselrad sieht in dieser Zeichnung sehr groß aus, aber der ganze Apparat passt in meine Handfläche. Das Kreiselrad befindet sich in einem Behälter, der in einer ganz kleinen Menge Öl schwimmt – alles in einer kleinen Spalte um den Behälter herum –, aber es ist genug, dass die winzigen Lagersteine an jedem Ende kein Gewicht tragen müssen. Das Kreiselrad dreht sich ständig.

114

4 Dynamik und ihre Anwendungen

kombinierter Messgenerator u. Drehmomenterzeuger Heizung und Sensor Anschlussleitung AnschlussAblenkplatten- klemme heizung

schwimmende Aufhängung

Kreiselrad Federbalg Lagerstein

Gehäuse

Abbildung 4.13: Schnittansicht eines wirklichen integrierenden Gyroskops mit einem Freiheitsgrad, basierend auf einer Originalfolie aus der Vorlesung.

Die Lager, auf denen es sich dreht, brauchen nicht reibungsfrei zu sein, denn es wird ihnen etwas entgegengesetzt – der Reibung wird die Maschine entgegengesetzt, die einen kleinen Motor dreht, der wiederum das Kreiselrad dreht. Es gibt elektromagnetische Wicklungen („kombinierter Messgenerator und Drehmomenterzeuger“ in Abbildung 4.13), die die minimalen Bewegungen des Behälters erfassen und die Feedbacksignale liefern, die entweder zur Erzeugung eines auf den Behälter ausgeübten Drehmomentes um die Ausgangsachse oder zur Drehung der Plattform, auf der sich das Gyroskop befindet, um die Eingangsachse benutzt werden. Hier gibt es ein technisches Problem: Um den Motor, der das Gyroskop dreht, mit Energie zu versorgen, müssen wir von einem festen Teil der Vorrichtung Strom in den drehenden Behälter leiten. Das bedeutet, dass Leitungen mit dem Behälter in Kontakt kommen müssen, die Kontakte aber müssen ihrerseits praktisch reibungsfrei sein, und das ist sehr schwierig. Das Problem wird folgendermaßen gelöst: Vier sorgfältig hergestellte, halbrunde Federn werden an Leiter an dem Behälter angeschlossen, wie in Abbildung 4.14 dargestellt. Die Federn sind aus sehr gutem und feinem Material, wie Uhrenfedern. Sie werden ausbalanciert, sodass sie kein Drehmoment erzeugen, wenn sich der Behälter genau in der Nullstellung befindet. Wird der Behälter nur leicht gedreht, erzeugen sie ein kleines Drehmoment – da die Federn so perfekt hergestellt sind, ist dieses Drehmoment allerdings genau bekannt (wir kennen die passenden Gleichungen dafür), sodass es in den Stromkreisen der Feedback-Vorrichtungen korrigiert werden kann.

4.6 Verbesserungen am Entwurf und der Konstruktion von Gyroskopen leitende Feder

115

schwimmende Aufhängung ("Behälter")

Öl elektrische Kontakte Gehäuse

Abbildung 4.14: Elektrische Verbindungen vom Gehäuse zu der schwimmenden Aufhängung in einem Gyroskop mit einem Freiheitsgrad.

Außerdem übt das Öl eine Menge Reibung auf den Behälter aus und dadurch wird ein Drehmoment um die Ausgangsachse erzeugt, wenn der Behälter sich dreht. Aber das Reibungsgesetz für flüssiges Öl ist sehr genau bekannt: Das Drehmoment ist genau proportional zur Drehgeschwindigkeit des Behälters. Und so kann es in den Rechenelementen des Kreises, die für die Rückführung zuständig sind, ebenso wie die Federn, vollständig korrigiert werden. Das grundlegende Prinzip all dieser genauen Vorrichtungen ist nicht so sehr, alles perfekt zu machen, sondern vielmehr alles sehr eindeutig und präzise zu machen. Diese Vorrichtung ist wie die wunderbare „one-horse shay“2: Bei der Herstellung eines beliebigen Gegenstandes geht man bis an die absolute Grenze der mechanischen Möglichkeiten zu der jeweiligen Zeit und versucht immer noch, es besser zu machen. Aber das größte Problem ist folgendes: Was passiert, wenn sich die Achse des Kreiselrades nicht mittig im Behälter befindet, wie in Abbildung 4.15 dargestellt? Der Schwerpunkt des Behälters fällt dann nicht mit der Ausgangsachse zusammen und das Gewicht des Rades dreht sich um den Behälter und erzeugt so eine große Menge an unerwünschtem Drehmoment. Zur Befestigung bohren Sie als Erstes kleine Löcher oder befestigen Gewichte an dem Behälter, damit er so weit wie möglich ausbalanciert wird. Dann messen Sie sehr genau, wie groß die restliche Abweichung ist, und verwenden diesen Messwert zum Justieren. Wenn sie eine bestimmte Vorrichtung, die Sie gebaut haben, messen und feststellen, dass sich die Abweichung nicht auf null reduzieren lässt, können Sie das immer in der Feedback-Schaltung korrigieren. Das Problem in diesem Fall ist jedoch, dass die Abweichung nicht eindeutig ist: Nachdem das Gyroskop zwei oder drei Stunden gelaufen ist, verändert sich der Ort des Schwerpunktes auf Grund von Abnutzung in den Achslagern leicht. 2

The Deacon’s Masterpiece or The Wonderful „One-Hoss Shay“: A Logical Story ist das Gedicht von Oliver Wendel Holmes über einen Einspänner, der so perfekt konstruiert war, dass er hundert Jahre hielt und dann plötzlich auseinanderbrach.

116

4 Dynamik und ihre Anwendungen

Abbildung 4.15: Eine nicht im Gleichgewicht befindliche schwimmende Aufhängung erzeugt ein unerwünschtes Drehmoment um die Ausgangsachse in einem Gyroskop mit einem Freiheitsgrad.

Heute sind Gyroskope dieser Art über hundert Mal besser als jene, die vor 10 Jahren gebaut wurden. Die Allerbesten haben nur noch eine Abweichung von 1/100 eines Grades pro Stunde. Für die in Abbildung 4.13 dargestellte Vorrichtung bedeutet das, dass sich der Schwerpunkt des Kreiselrades nicht mehr als 1/10 eines Millionstel Inches3 vom Mittelpunkt des Behälters weg bewegen kann! Gute mechanische Praxis liegt bei 100 Millionstel eines Inches, das heißt, dass dieses Gyroskop noch tausend Mal besser sein muss als gute mechanische Praxis. Das ist tatsächlich eines der größten Probleme – eine Abnutzung der Achslager zu vermeiden, damit sich das Gyroskop nicht mehr als 20 Atome zu jeder Seite vom Mittelpunkt weg bewegen kann.

4.7

Beschleunigungsmesser

Die Vorrichtungen, über die wir gesprochen haben, können uns die Aufwärtsrichtung anzeigen oder verhindern, dass sich etwas um eine Achse dreht. Wenn wir drei solcher Vorrichtungen mit allen Sorten von kardanischer Aufhängung und so weiter an drei Achsen befestigen, können wir eine Sache absolut stationär halten. Während das Flugzeug eine Kurve fliegt, bleibt die Plattform innen drin horizontal und bewegt sich nie nach rechts oder links. Sie macht gar nichts. Auf diese Weise können wir unseren Norden oder Osten oder unsere Auf- und Abwärtsrichtung oder jede andere Richtung beibehalten. Aber das nächste Problem ist herauszufinden, wo wir sind: Wie weit haben wir uns bewegt? Nun, Sie wissen, dass Sie in einem Flugzeug nicht messen können, wie schnell es sich bewegt, also können Sie sicherlich auch nicht messen, wie weit es geflogen ist, aber Sie können messen, wie stark es beschleunigt. Wenn wir anfangs keine Beschleunigung messen, sagen wir: „Wir sind in Nullposition und haben keine Beschleunigung.“ Wenn wir starten, müssen wir beschleunigen. Wenn wir beschleunigen, können wir das messen. Und wenn wir dann die Beschleunigung mit einer Rechenmaschine integrieren, können wir die Geschwindigkeit des Flugzeugs berechnen, und wenn wir auch die integrieren, können wir die Position des Flugzeugs bestimmen. Um herauszufinden, 3

1 Inch = 2,54 cm

4.7 Beschleunigungsmesser

117

Skala mit den angezeigten Beschleunigungswerten

Dämpfer sensitive Achse

seismische Masse elastische Rückhaltevorrichtung Gehäuse

Abbildung 4.16: Schematische Darstellung eines einfachen Beschleunigungsmessers, basierend auf einer Originalfolie aus der Vorlesung.

wie weit sich etwas bewegt hat, müssen wir deshalb die Beschleunigung dieses Etwas messen und dann zweimal integrieren. Wie misst man die Beschleunigung? Abbildung 4.16 zeigt die schematische Darstellung einer Vorrichtung zur Beschleunigungsmessung. Der wichtigste Bestandteil ist einfach ein Gewicht („seismische Masse“ in der Abbildung). Außerdem gibt es eine Art schwache Feder (elastische Rückhaltevorrichtung), um das Gewicht mehr oder weniger in Position zu halten, und einen Dämpfer, um Schwingungen des Gewichtes zu verhindern. Aber diese Details sind unwichtig. Jetzt nehmen wir an, diese ganze Vorrichtung wird in Vorwärtsrichtung beschleunigt, das heißt in die Richtung, in die der Pfeil zeigt (sensitive Achse). Dann beginnt das Gewicht natürlich, sich zurückzubewegen, und wir benutzen die Skala (Skala mit den angezeigten Beschleunigungswerten) um zu messen, wie weit sich das Gewicht zurückbewegt. Damit können wir die Beschleunigung bestimmen und wenn wir die zweimal integrieren, erhalten wir die Entfernung. Wenn wir beim Messen der Position des Gewichtes einen kleinen Fehler machen, so dass die Beschleunigung, die wir damit berechnen, an einer Stelle leicht abweicht, dann weicht nach langer Zeit, über die wir zweimal integriert haben, die Entfernung natürlich schon erheblich ab. Also müssen wir die Vorrichtung verbessern. Die nächste Stufe der Verbesserung, schematisch dargestellt in Abbildung 4.17, verwendet unser bekanntes Feedback-Prinzip: Wenn diese Vorrichtung beschleunigt, bewegt sich die Masse, und die Bewegung führt dazu, dass ein Messgenerator eine Spannung ausgibt, die proportional zur Entfernung ist. Der Trick ist jetzt folgender: Anstatt einfach die Spannung zu messen, wird sie über einen Verstärker an eine Vorrichtung zurückgeführt, die das Gewicht zurückzieht. So können wir herausfinden, wie groß die Kraft ist, die erforderlich ist, um eine Bewegung des Gewichtes zu verhindern.

118

4 Dynamik und ihre Anwendungen

-

Abbildung 4.17: Schematische Darstellung eines Unwucht-Beschleunigungsmessers mit Kraftrückführung, basierend auf einer Originalfolie aus der Vorlesung.

Mit anderen Worten, anstatt Bewegungen des Gewichtes zuzulassen und zu messen, wie weit es sich bewegt, messen wir die Reaktionskraft, die erforderlich ist, um es im Gleichgewicht zu halten, und dann bestimmen wir mit F = ma die Beschleunigung. Eine Ausführungsart dieser Vorrichtung ist schematisch in Abbildung 4.18 dargestellt. Abbildung 4.19 ist eine Schnittzeichnung, die zeigt, wie die wirkliche Vorrichtung aufgebaut ist. Sie sieht dem Gyroskop aus Abbildung 4.11 und Abbildung 4.13 sehr schwimmende Aufhängung

Drehmomenterzeuger

Dämpfer

Ausgangsachse

Messgenerator

Eingangsachse Zapfen Gewicht

Abbildung 4.18: Schematische Darstellung eines Beschleunigungsmessers mit schwimmender Aufhängung mit Drehmomentrückführung, basierend auf einer Originalfolie aus der Vorlesung.

4.7 Beschleunigungsmesser

119

Signalgenerator Anschlussleitung Ablenkplattenheizung

schwimmende Aufhängung

Anschlussklemme

Drehmomenterzeuger

Federbalg Lagerstein

Gehäuse

Abbildung 4.19: Schnittansicht eines wirklichen Beschleunigungsmessers mit schwimmender Aufhängung, basierend auf einer Originalfolie aus der Vorlesung.

ähnlich, außer dass der Behälter leer aussieht: Anstelle eines Gyroskops gibt es nur ein an der einen Seite nahe dem Boden angebrachtes Gewicht. Der gesamte Behälter schwimmt, sodass er insgesamt von flüssigem Öl getragen und im Gleichgewicht gehalten wird (er bewegt sich auf wunderschönen, feinen Lagersteinen) und die beschwerte Seite des Behälters bleibt natürlich als Folge der Schwerkraft unten. Diese Vorrichtung wird benutzt, um die horizontale Beschleunigung in der zur Achse des Behälters senkrechten Richtung zu messen. Sobald die Vorrichtung in dieser Richtung beschleunigt, bewegt sich das Gewicht verzögert und verschiebt die Seite des Behälters, der sich auf seinen Zapfen dreht, über ihre normale Position hinaus. Der Messgenerator gibt sofort ein Signal aus, und dieses Signal wird an die Wicklungen des Drehmomenterzeugers weitergegeben, um den Behälter in seine ursprüngliche Position zurückzuziehen. Wie vorhin führen wir ein Drehmoment zurück, um Dinge wieder in ihre korrekte Position zu bringen, und wir messen, wie groß das erforderliche Drehmoment ist, um das Ding am Schütteln zu hindern. Dieses Drehmoment gibt uns an, wie groß die Beschleunigung ist.

120

4 Dynamik und ihre Anwendungen

Eine andere interessante Vorrichtung zum Messen der Beschleunigung, die genau genommen eine der beiden nötigen Integrationen automatisch durchführt, ist in Abbildung 4.20 schematisch dargestellt. Die Anordnung ist die gleiche wie die Vorrichtung in Abbildung 4.11, außer dass sich auf der einen Seite der Drehachse ein Gewicht („Pendelmasse“ in Abbildung 4.20) befindet. Wenn diese Vorrichtung nach oben beschleunigt wird, wird ein Drehmoment auf das Gyroskop ausgeübt, und dann gilt das Gleiche wie für unsere andere Vorrichtung – das Drehmoment wird nur durch eine Beschleunigung verursacht und nicht durch das Drehen des Behälters. Der Messgenerator, der Drehmomenterzeuger und der ganze Kram, das ist alles gleich. Die Rückführung wird benutzt, um den Behälter um die Ausgangsachse zurückzudrehen. Um den Behälter im Gleichgewicht zu halten, muss die nach oben gerichtete, auf das Gewicht ausgeübte Kraft proportional zur Beschleunigung sein, aber die nach oben gerichtete, auf das Gewicht ausgeübte Kraft ist proportional zur Winkelgeschwindigkeit, mit der der Behälter gedreht wird, sodass die Winkelgeschwindigkeit des Behälters proportional zur Beschleunigung ist. Das bedeutet, dass der Winkel des Behälters proportional zur Geschwindigkeit ist. Wenn Sie messen, wie weit sich der Behälter gedreht hat, erhalten Sie die Geschwindigkeit – und somit ist die eine Integration schon erledigt. (Das heißt nicht, dass dieser Beschleunigungsmesser besser ist als der andere. Was in einer bestimmten Anwendung am besten funktioniert, hängt von einer Reihe technischer Details ab, und das ist eine Frage der Konstruktion.)

Pendelmasse Kreiselement

Drehmomenterzeuger

Dämpfer

Ausgangsachse

Messgenerator

Drehreferenzachse Zapfen schwimmende Aufhängung

Drehachse Drehwinkel der Aufhängung

Eingangsachse

Abbildung 4.20: Schematische Darstellung eines integrierenden Pendelkreisels mit einem Freiheitsgrad, der als Beschleunigungsmesser verwendet wird. Der Drehwinkel der Aufhängung zeigt die Geschwindigkeit an. Basierend auf einer Originalfolie aus der Vorlesung.

4.8 Ein vollständiges Navigationssystem

4.8

121

Ein vollständiges Navigationssystem

So, wenn wir einige solcher Vorrichtungen bauen, können wir sie auf einer Plattform zusammen anordnen, wie in Abbildung 4.21 dargestellt, und so ein vollständiges Navigationssystem zusammenstellen. Die drei kleinen Zylinder (G x , Gy , Gz ) sind Gyroskope mit drei jeweils zueinander senkrecht stehenden Achsen und die drei rechteckigen Kästchen (B x , By , Bz ) sind Beschleunigungsmesser, jeweils einer für jede Achse. Diese Gyroskope mit ihren Feedback-Systemen halten die Plattform im absoluten Raum, ohne in irgendeine Richtung zu drehen – es gibt weder Gieren noch Stampfen noch Rollen –, während das Flugzeug (oder Schiff oder wo immer es auch angebracht ist) seine Richtung ändert, sodass die Plattformebene immer sehr genau fixiert ist. Das ist sehr wichtig für die Beschleunigungsmesser, denn Sie müssen genau wissen, in welcher Richtung die messen: Wenn sie schief und krumm sind, sodass das Navigationssystem denkt, sie sind in die eine Richtung gedreht worden, sie aber tatsächlich in eine andere Richtung gedreht worden sind, dann spielt das System verrückt. Der Trick ist, dass man die Beschleunigungsmesser in einer festen Ausrichtung im Raum hält, sodass es einfach ist, die Wegberechnungen zu machen. Die Ausgangsgrößen des x-, y- und z-Beschleunigungsmessers gehen in Integrationsverstärker, die den Weg durch zweimaliges Integrieren in jeder Richtung berechnen. Nehmen wir an, wir starten aus der Ruhelage von einem bekannten Ort aus, dann können wir auf diese Weise jederzeit wissen, wo wir uns befinden. Und wir wissen auch, in welche Richtung wir uns bewegen, weil die Plattform sich immer noch in derselben Richtung wie bei unserem Start befindet (im Idealfall). Das ist die allgemeine Idee. Ich muss allerdings ein paar Anmerkungen dazu machen.

Gy

Gz Oz Gx Az

Stampfen

Ax

Ay

Rollen Oy

Ox Azimut

Abbildung 4.21: Ein vollständiges Navigationssystem mit drei Gyroskopen und drei Beschleunigungsmessern, montiert auf einer stabilisierten Plattform, basierend auf einer Originalfolie aus der Vorlesung.

122

4 Dynamik und ihre Anwendungen

Überlegen Sie beim Messen der Beschleunigung zuerst, was passiert, wenn die Vorrichtung einen Fehler von z. B. einem Millionstel erzeugt. Nehmen wir an, die Vorrichtung befindet sich in einer Rakete und muss Beschleunigungen von bis zu 10 g messen. Es wäre schwierig, weniger als 10−5 g mithilfe einer Vorrichtung aufzulösen, die bis zu 10 g messen kann (ich bezweifle in der Tat, ob Sie das könnten). Aber es zeigt sich, dass ein Fehler von 10−5 g in der Beschleunigung nach zweimaliger Integration über eine Stunde eine Ortsabweichung von mehr als einem halben Kilometer bedeutet – nach 10 Stunden sind das mehr als 5,0 Kilometer und das ist eine erhebliche Abweichung. Dieses System arbeitet also nicht einfach weiter. Bei Raketen spielt das keine Rolle, weil die gesamte Beschleunigung ganz am Anfang passiert und die Raketen danach frei herumfliegen. Aber bei einem Flugzeug oder Schiff muss man das System genauso wie einen normalen Kurskreisel von Zeit zu Zeit neu einstellen um sicherzustellen, dass es immer noch gleich ausgerichtet ist. Das kann man nach der Position eines Sterns oder nach dem Stand der Sonne machen. Aber wie überprüft man das in einem U-Boot? Nun, wenn wir eine Meereskarte haben, können wir sehen, ob wir über einen Berggipfel oder so etwas gefahren sind, der unter uns liegen musste. Aber nehmen wir an, wir haben keine Karte – auch dann gibt es eine Überprüfungsmöglichkeit! Hier die Idee: Die Erde ist rund und wenn wir bestimmt haben, dass wir z. B. 100 Kilometer in eine Richtung gefahren sind, dann sollte die Gravitationskraft nicht mehr in dieselbe Richtung zeigen wie zuvor. Wenn wir die Plattform nicht senkrecht zur Gravitationskraft halten, dann sind die Ausgangsgrößen der Beschleunigungsmessvorrichtungen alle falsch. Deshalb machen wir Folgendes: Wir starten mit der Plattform in horizontaler Position und verwenden die Beschleunigungsmessvorrichtungen, um unseren Ort zu berechnen. Entsprechend dem Ort rechnen wir aus, wie wir die Plattform drehen sollten, damit sie in horizontaler Position bleibt, und wir drehen sie mit einer für das Halten in horizontaler Position vorausberechneten Geschwindigkeit. Das ist einerseits sehr praktisch – andererseits ist es genau das, was unser Problem löst! Überlegen wir, was passieren würde, wenn es einen Fehler gäbe. Nehmen wir an, die Maschine stände einfach in einem Raum, ohne sich zu bewegen, und nach einiger Zeit wäre die Plattform auf Grund eines Konstruktionsfehlers nicht mehr horizontal, sondern hätte sich leicht gedreht, wie in Abbildung 4.22(a) dargestellt. Dann wären die Gewichte in den Beschleunigungsmessern entsprechend einer Beschleunigung verschoben und die von dem Mechanismus berechneten Orte würden Bewegung nach rechts, Richtung (b), anzeigen. Das System, das versucht, die Plattform in horizontaler Position zu halten, würde sie leicht drehen und schließlich, wenn die Plattform wieder in horizontaler Position wäre, würde das System nicht mehr merken, dass es beschleunigt. Auf Grund der scheinbaren Beschleunigung würde das System allerdings immer noch denken, dass es eine Geschwindigkeit in derselben Richtung hat, und so würde der Mechanismus, der versucht, die Plattform in horizontaler Position zu halten, die Plattform weiter sehr langsam drehen, bis sie sich, wie in Abbildung 4.22(c) dargestellt, nicht mehr in der horizontalen Position befände. Tatsächlich würde das System

4.8 Ein vollständiges Navigationssystem

123

b a

c

Abbildung 4.22: Die Erdanziehungskraft wird benutzt um zu überprüfen, dass die stabilisierte Plattform in horizontaler Position bleibt.

den Nullpunkt der Beschleunigung durchlaufen und dann denken, dass es in der entgegengesetzten Richtung beschleunigt. So hätten wir eine sehr kleine schwingende Bewegung und die Fehler würden sich nur über eine dieser Schwingungen summieren. Wenn Sie alle Winkel, Drehungen und was weiß ich noch alles berechnen, braucht man für eine dieser Schwingungen 84 Minuten. So muss man die Vorrichtung nur so gut machen, dass sie innerhalb eines Zeitraums von 84 Minuten die passende Genauigkeit hat, weil sie sich in dieser Zeit selbst korrigiert. Das ist wie bei einem Flugzeug, in dem der Kreiselkompass von Zeit zu Zeit mit einem magnetischen Kompass abgeglichen wird, aber in diesem Fall wird der Mechanismus wie beim künstlichen Horizont mit der Schwerkraft abgeglichen. In ungefähr derselben Weise wird das Azimutsystem in einem U-Boot (das angibt, wo Norden ist) von Zeit zu Zeit mit einem Kreiselkompass abgeglichen, der über große Zeitspannen mittelt, sodass die Bewegungen des Schiffes keinen Unterschied machen. So können Sie den Azimut mit dem Kreiselkompass abgleichen und die Beschleunigungsmesser mit der Schwerkraft. Auf diese Weise summieren sich die Fehler nicht ständig, sondern nur etwa über anderthalb Stunden. In der Nautilus gab es drei ungeheuer große Plattformen dieser Art, jede in einem riesengroßen Ball, wobei alle Bälle direkt nebeneinander an der Decke des Navigationsraums aufgehängt waren. Die Plattformen waren völlig unabhängig voneinander, falls eine von ihnen ausfallen sollte (oder falls sie keine übereinstimmenden Messwerte anzeigen sollten), würde der Navigator die beiden besten von den dreien nehmen (das dürfte ihn ziemlich nervös gemacht haben!). Diese Plattformen waren alle unterschiedlich, als sie gebaut waren, denn man kann nicht alles perfekt machen. Die durch leichte Ungenauigkeiten verursachte Abweichung musste in jeder Vorrichtung gemessen werden und die Vorrichtungen mussten zum Ausgleich kalibriert werden. Es gibt am Jet Propulsion Laboratory ein Labor, in dem einige dieser neuen Vorrichtungen getestet werden. Es ist ein interessantes Labor, wenn Sie überlegen, wie Sie eine solche Vorrichtung überprüfen würden: Sie möchten nicht in ein Schiff steigen und herumfahren. Nein, in diesem Labor wird die Vorrichtung mit der Erdrotation abgeglichen! Wenn die Vorrichtung empfindlich ist, dreht sie sich auf Grund der Erdrotation und weicht ab. Durch das Messen der Abweichung können Korrekturen innerhalb

124

4 Dynamik und ihre Anwendungen

sehr kurzer Zeit bestimmt werden. Dieses Labor ist wahrscheinlich das einzige auf der Welt, dessen Hauptmerkmal – das, was das Labor am Leben erhält – die Tatsache ist, dass die Erde sich dreht. Für das Abgleichen wäre es recht unpraktisch, wenn die Erde sich nicht drehen würde!

4.9

Auswirkungen der Erdrotation

Die nächste Sache, über die ich sprechen möchte, sind die Auswirkungen der Erdrotation (neben den Auswirkungen auf das Abgleichen von Vorrichtungen mit Trägheitsnavigation). Eine der deutlichsten Auswirkungen der Erdrotation findet man bei den großen Bewegungen der Winde. Es gibt eine berühmte Geschichte, die man immer wieder hört: Wenn Sie bei einer Badewanne den Stöpsel herausziehen, läuft das Wasser auf der Nordhalbkugel in die eine Richtung ab und auf der Südhalbkugel in die andere – aber wenn Sie es versuchen, funktioniert es nicht. Der Grund, warum man annimmt, dass es in die eine Richtung abfließt, muss ungefähr so lauten: Gehen wir davon aus, dass wir einen Stöpsel in einem Abfluss auf dem Meeresboden unter dem Nordpol haben. Dann ziehen wir den Stöpsel heraus und das Wasser beginnt, im Abflussrohr hinunterzufließen (siehe Abbildung 4.23).

N

Abbildung 4.23: Wasser fließt in einem imaginären Abflussrohr am Nordpol hinunter.

Das Meer hat einen großen Radius und das Wasser dreht sich auf Grund der Erdrotation langsam um den Abfluss herum. Wenn das Wasser in den Abfluss hineinläuft, fließt es von einem größeren Radius in einen kleineren Radius und deshalb muss es sich schneller drehen, damit es seinen Drehimpuls behält (wie wenn eine sich drehende Eisläuferin ihre Arme einzieht). Das Wasser bewegt sich in dieselbe Richtung wie die Erde, aber es muss sich schneller drehen, sodass jemand, der auf der Erde steht, das Wasser um den Abfluss herumwirbeln sehen würde. Das ist richtig so und so sollte es funktionieren. Und so funktioniert es tatsächlich mit den Winden: Wenn an einem Ort ein Tiefdruckgebiet vorhanden ist und die umgebende Luft versucht, sich dort hineinzubewegen, erfährt diese umgebende Luft eine seitliche Bewegung, anstatt sich direkt

4.9 Auswirkungen der Erdrotation

125

geradeaus hineinzubewegen – in der Tat wird die seitliche Bewegung schließlich so groß, dass die Luft, anstatt sich hineinzubewegen, praktisch um das Tiefdruckgebiet rotiert. Das ist also eines der Wettergesetze: Wenn Sie auf der Nordhalbkugel in Windrichtung blicken, befindet sich der Tiefdruck immer auf der linken und der Hochdruck auf der rechten Seite (siehe Abbildung 4.24) und der Grund dafür hat mit der Erdrotation zu tun. (Das stimmt fast immer. Unter bestimmten verrückten Umständen passt es gelegentlich nicht, weil neben der Erdrotation andere Kräfte beteiligt sind.)

Tief

Abbildung 4.24: Hochdruckluft läuft in einem Tiefdruckgebiet auf der Nordhalbkugel zusammen.

Der Grund, warum das in Ihrer Badewanne nicht funktioniert, ist folgender: Was dieses Phänomen verursacht, ist die anfängliche Rotation des Wassers – und das Wasser in Ihrer Badewanne rotiert tatsächlich. Aber wie schnell ist die Rotation der Erde? Die Erde dreht sich einmal pro Tag. Können Sie garantieren, dass das Wasser in Ihrer Badewanne sich nur so viel bewegt, wie es einem Umlauf in der Badewanne pro Tag entsprechen würde? Nein. Normalerweise gibt es viel Gezische und Geplätscher in der Wanne! Das funktioniert also nur in einem genügend großen Maßstab, wie bei einem riesengroßen See, wo das Wasser schön ruhig ist und Sie leicht demonstrieren können, dass die Zirkulation nicht so groß ist, dass sie einer Drehung im See pro Tag entsprechen würde. Wenn Sie dann ein Loch in den Boden des Sees machen und das Wasser abfließen lassen, wird es sich, wie angekündigt, in die richtige Richtung drehen. Es gibt einige andere interessante Punkte bezüglich der Erdrotation. Einer von ihnen ist die Tatsache, dass die Erde keine vollkommene Kugel ist. Als Folge ihrer Rotation weicht sie etwas davon ab – die Zentrifugalkräfte, die die Schwerkraft ausgleichen, flachen sie an den Polen etwas ab. Und Sie können berechnen, wie groß die Abflachung ist, wenn Sie wissen, wie groß die Rotationsgeschwindigkeit der Erde ist. Wenn Sie annehmen, dass sie sich wie eine ideale Flüssigkeit verhält, die in ihre Endposition tropft, und fragen, wie groß die Abflachung sein soll, werden Sie feststellen, dass sie mit der tatsächlichen Abflachung der Erde innerhalb der Genauigkeit der Berechnungen und Messungen übereinstimmt (eine Genauigkeit von ungefähr 1 %). Das gilt nicht für den Mond. Der Mond ist schiefer als er – gemessen an seiner Drehgeschwindigkeit – sein sollte. Mit anderen Worten, entweder hat der Mond sich schneller gedreht, als er verflüssigt war, und ist dann stark genug gefroren, um der Tendenz, die richtige Form anzunehmen, zu widerstehen, oder er war nie geschmolzen, sondern ist durch das Zusammenwerfen eines Haufens von Meteoriten entstanden – und der Gott,

126

4 Dynamik und ihre Anwendungen

der das gemacht hat, hat es nicht ganz genau und ausgewogen getan, und deshalb hängt der Mond etwas zu einer Seite über. Ich möchte auch über die Tatsache sprechen, dass die abgeflachte Erde sich um eine Achse dreht, die nicht senkrecht zu der Ebene der Erdrotation um die Sonne (oder der Rotation des Mondes um die Erde, denn das ist nahezu dieselbe Ebene) verläuft. Wenn die Erde eine Kugel wäre, würden die auf sie wirkenden Gravitations- und Zentrifugalkräfte in Bezug auf ihren Mittelpunkt ausgeglichen, aber da sie etwas schief ist, werden die Kräfte nicht ausgeglichen. Es gibt als Folge der Gravitation ein Drehmoment, das dazu neigt, die Erdachse senkrecht zu der Kraftlinie zu drehen, und deshalb macht die Erde, wie ein großes Gyroskop, eine Präzessionsbewegung im Raum (siehe Abb. 4.25). Die Erdachse, die heute in Richtung des Polarsterns zeigt, treibt praktisch langsam herum und wird mit der Zeit auf alle Sterne am Himmel auf einem großen Kegel, der einen Winkel von 231/2 Grad begrenzt, gerichtet sein. Sie braucht 26 000 Jahre, um zum Polarstern zurückzukehren. Also wenn Sie in 26 000 Jahren von jetzt an gerechnet wiedergeboren werden, brauchen Sie vielleicht nichts Neues zu lernen. Aber wenn Sie zu einer anderen Zeit wieder auf die Erde zurückkehren, müssen Sie eine andere Position (und vielleicht auch eine andere Bezeichnung) für den Polarstern lernen.

Abbildung 4.25: Die an den Polen abgeflachte Erde macht eine Präzessionsbewegung auf Grund von Drehmomenten, die durch die Gravitation bewirkt werden.

4.10 Die rotierende Scheibe

4.10

127

Die rotierende Scheibe

Am Ende der letzten Vorlesung4 haben wir die interessante Tatsache erörtert, dass der Drehimpuls eines starren Körpers nicht zwangsläufig in dieselbe Richtung gerichtet ist wie seine Winkelgeschwindigkeit. Als Beispiel haben wir eine Scheibe genommen, die an einer rotierenden Welle schief angebracht wird, wie in Abbildung 4.26 dargestellt. Dieses Beispiel möchte ich genauer untersuchen.

Abbildung 4.26: Eine Scheibe wird schief an einer rotierenden Welle angebracht.

Zunächst möchte ich Sie an eine interessante Sache erinnern, über die wir schon gesprochen haben: Bei jedem starren Körper gibt es eine Achse durch den Massenmittelpunkt des Körpers, um die das Trägheitsmoment maximal ist, und eine andere Achse durch den Massenmittelpunkt des Körpers, um die das Trägheitsmoment minimal ist. Diese Achsen verlaufen immer im rechten Winkel zueinander. Bei einem rechteckigen Block wie in Abbildung 4.27 ist das leicht zu erkennen, aber erstaunlicherweise gilt das für alle starren Körper.

Abbildung 4.27: Rechteckige Blöcke und ihre Hauptachsen mit minimalem und maximalem Trägheitsmoment.

Diese beiden Achsen und die Achse, die zu beiden senkrecht verläuft, nennt man die Hauptachsen des Körpers. Die Hauptachsen eines Körpers haben folgende besondere Eigenschaft: Die Komponente des Drehimpulses des Körpers in Richtung einer Hauptachse ist gleich dem Produkt aus der Komponente seiner Winkelgeschwindigkeit in dieser Richtung und dem Trägheitsmoment des Körpers um diese Achse. Wenn i, j 4

Siehe Band I der Feynman-Vorlesungen über Physik, Kapitel 20.

128

4 Dynamik und ihre Anwendungen

und k Einheitsvektoren entlang der Hauptachsen eines Körpers und A, B und C die jeweiligen Hauptträgheitsmomente sind, dann ist der Drehimpuls des Körpers, wenn sich der Körper mit der Winkelgeschwindigkeit ω = (ωi , ω j , ωk ) um seinen Massenmittelpunkt dreht, L = Aωi i + Bω j j + Cωk k.

(4.1)

Eine dünne Scheibe mit der Masse m und dem Radius r hat folgende Hauptachsen: Die Hauptachse verläuft senkrecht zu der Scheibe und hat ein maximales Trägheitsmoment von 1 A = mr2 . 2 Jede Achse, die senkrecht zu der Hauptachse verläuft, hat ein minimales Trägheitsmoment von 1 B = C = mr2 . 4 Die Hauptträgheitsmomente sind nicht identisch. Tatsächlich ist A = 2B = 2C. Wenn die Welle in Abbildung 4.26 gedreht wird, ist also der Drehimpuls der Scheibe nicht parallel zu ihrer Winkelgeschwindigkeit. Die Scheibe befindet sich im statischen Gleichgewicht, weil sie in ihrem Massenmittelpunkt an der Welle befestigt ist. Aber sie befindet sich nicht im dynamischen Gleichgewicht. Wenn wir die Welle drehen, müssen wir den Drehimpuls der Scheibe drehen und daher ein Drehmoment ausüben. Abbildung 4.28 zeigt die Winkelgeschwindigkeit ω der Scheibe und ihren Drehimpuls L sowie deren Komponenten entlang der Hauptachsen der Scheibe. 2Bvi i vi i L  Bvj j vj j

Abbildung 4.28: Die Winkelgeschwindigkeit ω und der Drehimpuls L der Scheibe, die durch eine Welle gedreht wird, und ihre Komponenten entlang der Hauptachsen der Scheibe.

Aber jetzt schauen wir uns mal folgenden interessanten Aspekt an: Nehmen wir an, wir montieren ein Lager an der Scheibe, sodass wir die Scheibe auch um ihre Hauptachse mit der Winkelgeschwindigkeit Ω drehen können, wie in Abbildung 4.29 dargestellt. Während die Welle sich dreht, würde die Scheibe einen tatsächlichen Drehimpuls als Folge der drehenden Welle und der drehenden Scheibe haben. Wenn wir die Scheibe

4.10 Die rotierende Scheibe

129



Abbildung 4.29: Drehen der Scheibe um ihre Hauptachse mit der Winkelgeschwindigkeit Ω, während die Welle ruhig gehalten wird.

in die Richtung drehen, die der Richtung entgegengesetzt ist, in die die Welle sie dreht, wie in der Abbildung gezeigt, reduzieren wir die Komponente der Winkelgeschwindigkeit der Scheibe entlang ihrer Hauptachse. Da das Verhältnis der Hauptträgheitsmomente der Scheibe genau 2:1 ist, besagt die Gleichung (4.1) in der Tat, dass wir, wenn wir die Scheibe genau mit der halben Geschwindigkeit rückwärts drehen, mit der die Welle die Scheibe herumdreht (sodass Ω = −(ωi /2)i), dieses Ding auf so wunderbare Weise zusammenpacken können, dass der Gesamtdrehimpuls genau entlang der Welle gerichtet ist – und dann können wir die Welle wegnehmen, weil keine Kräfte wirken (siehe Abbildung 4.30)! 2Bvi i Bvi i L Bvj j Bvi i

Abbildung 4.30: Drehen der Welle und gleichzeitiges Drehen der Scheibe um ihre Hauptachse in die entgegengesetzte Richtung, sodass der Gesamtdrehimpuls parallel zur Welle verläuft.

Und so dreht sich ein freier Körper: Wenn Sie einen Körper allein in den Raum werfen, z. B. eine Scheibe5 oder Münze, werden Sie sehen, dass sie sich nicht einfach um eine Achse dreht. Was sie macht, ist eine Kombination aus Drehen um ihre Hauptachse und Drehen um irgendeine andere schiefe Achse, und zwar in solch einem netten Gleichgewicht, dass das Nettoresultat ein konstanter Drehimpuls ist. Dadurch taumelt sie – und die Erde taumelt auch. 5

Die rotierende/taumelnde Scheibe hatte eine besondere Bedeutung für Dr. Feynman, wie er in „The Dignified Professor“ in Surely You’re Joking, Mr. Feynman! schreibt: „Die Diagramme und der ganze Kram, für den ich den Nobelpreis bekommen habe, sind aus dem Herumspielen mit der taumelnden Scheibe entstanden.“

130

4.11

4 Dynamik und ihre Anwendungen

Nutation der Erde

Von der Periode der Präzession der Erde – 26 000 Jahre – wissen wir, dass das maximale Trägheitsmoment (um den Pol) und das minimale Trägheitsmoment (um eine Achse im Äquator) sich nur um 1/306 voneinander unterscheiden – die Erde ist fast eine Kugel. Da sich die beiden Trägheitsmomente aber unterscheiden, könnte jegliche Störung der Erde zu einer leichten Rotation um eine andere Achse führen oder, was auf dasselbe herauskommt: Die Erde schwankt (nutiert) und macht eine Präzessionsbewegung. Sie können die Nutationsfrequenz der Erde berechnen: Es stellt sich tatsächlich heraus, dass sie 306 Tage beträgt. Und Sie können sie sehr genau messen: Der Pol taumelt im Raum um ca. 15 m, gemessen an der Erdoberfläche. Er taumelt herum, hin und her, ziemlich unregelmäßig, aber die Hauptbewegung hat eine Periode von 439 und nicht 306 Tagen. Und darin liegt ein Geheimnis. Aber dieses Geheimnis ist leicht aufzuklären: Die Analyse wurde für starre Körper gemacht, aber die Erde ist nicht starr. Sie hat eine schmierige Pampe im Inneren und somit ist erstens ihre Periode nicht die eines starren Körpers. Zweitens wird die Bewegung gedämpft, sodass sie schließlich ganz zum Stillstand kommen sollte – deshalb ist sie so klein. Was die Erde trotz der Dämpfung überhaupt zum Taumeln bringt, das sind verschiedene unregelmäßige Einflüsse, die an der Erde rütteln, wie z. B. plötzliche Windbewegungen und Meeresströme.

4.12

Drehimpuls in der Astronomie

Eine der bemerkenswertesten Eigenschaften des Sonnensystems, die von Kepler entdeckt wurde, ist die Tatsache, dass sich alles auf ellipsenförmigen Bahnen bewegt. Das wurde schließlich durch das Gravitationsgesetz erklärt. Aber es gibt eine Menge anderer Dinge über das Sonnensystem – seltsame Vereinfachungen –, die schwieriger zu erklären sind. Alle Planeten scheinen sich z. B. ungefähr in derselben Ebene um die Sonne zu drehen und bis auf einen oder zwei rotieren sie alle in derselben Weise um ihre Pole – von West nach Ost, wie die Erde. Fast alle Planetenmonde drehen sich in dieselbe Richtung und somit dreht sich alles, bis auf wenige Ausnahmen, in dieselbe Richtung. Eine interessante Frage ist: Warum ist das im Sonnensystem so? Bei der Untersuchung des Ursprungs des Sonnensystems betrifft eine der wichtigsten Überlegungen den Drehimpuls. Wenn Sie sich eine Menge Staub oder Gas vorstellen, die sich als Folge der Gravitation konzentriert, selbst wenn nur eine geringe Menge an innerer Bewegung darin vorhanden ist, muss der Drehimpuls konstant bleiben. Diese „Spiralarme“ bewegen sich weiter nach innen und das Trägheitsmoment nimmt ab, also muss die Winkelgeschwindigkeit zunehmen. Vielleicht sind die Planeten einfach nur das Ergebnis einer Notwendigkeit, dass das Sonnensystem von Zeit zu Zeit seinen Drehimpuls wegschleudern muss, damit es sich noch weiter konzentrieren kann – wir wissen es nicht. Aber es stimmt, dass 95 % des Drehimpulses im Sonnensystem in den Planeten und nicht in der Sonne vorhanden sind. (Die Sonne dreht sich, OK, aber sie

4.12 Drehimpuls in der Astronomie

131

Abbildung 4.31: Verschiedene Arten von Nebeln: Spiralnebel, Balkenspiralnebel und elliptische Nebel.

hat nur 5 % des Gesamtdrehimpulses.) Dieses Problem ist schon oft diskutiert worden, aber man versteht immer noch nicht, wie sich ein Gas konzentriert oder wie ein Haufen Staub zusammenfällt, wenn er leicht rotiert. Die meisten Diskussionen legen anfangs ein Lippenbekenntnis zum Drehimpuls ab. Wenn sie dann die Analyse machen, ignorieren sie ihn. Ein anderes schwieriges Problem in der Astronomie hat mit der Entwicklung der Galaxien zu tun – die Nebel. Was bestimmt ihre Form? Abbildung 4.31 zeigt verschiedene Arten von Nebeln: Den berühmten normalen Spiralnebel (unserer eigenen Galaxie sehr ähnlich), Balkenspiralnebel (deren lange Spiralarme von einem langen Balken ausgehen) und elliptische Nebel (die nicht einmal Spiralarme haben). Und die Frage ist: Warum unterscheiden sie sich voneinander? Es könnte natürlich sein, dass die Massen verschiedener Nebel unterschiedlich groß sind und dass, wenn man am Anfang unterschiedlich große Massen hat, schließlich unterschiedliche Resultate herauskommen. Das ist möglich, aber da der Spiralcharakter der Nebel mit ziemlicher Sicherheit etwas mit dem Drehimpuls zu tun hat, scheint es wahrscheinlicher, dass die Unterschiede zwischen den Nebeln durch Unterschiede im Anfangsdrehimpuls der ursprünglichen Massen von Gas und Staub (oder was Sie auch immer als ihren Ursprung annehmen) zu erklären sind. Eine weitere Möglichkeit, die einige Leute ins Gespräch gebracht haben, ist, dass die verschiedenen Nebelarten unterschiedliche Entwicklungsstadien darstellen. Das würde bedeuten, dass sie alle verschieden alt sind – was natürlich dramatische Folgen für unsere Theorie des Universums hätte: Ist alles gleichzeitig explodiert und ist das Gas anschließend kondensiert und hat so verschiedene Nebelarten gebildet? Dann müssten sie alle gleich alt sein. Oder bilden sich die Nebel ständig aus Trümmern im Raum? Dann könnten sie unterschiedlich alt sein.

132

4 Dynamik und ihre Anwendungen

Die Bildung dieser Nebel wirklich zu verstehen, ist ein mechanisches Problem, das mit dem Drehimpuls zu tun hat und noch nicht gelöst ist. Die Physiker sollten sich schämen: Astronomen fragen immer wieder: „Warum rechnet ihr nicht für uns aus, was passiert, wenn eine große Masse Gerümpel durch die Gravitationskraft zusammengezogen wird und rotiert? Könnt ihr die Formen dieser Nebel verstehen?“ Und keiner antwortet ihnen.

4.13

Drehimpuls in der Quantenmechanik

In der Quantenmechanik versagt das grundlegende Gesetz F = ma. Aber einige Dinge bleiben bestehen: Der Energieerhaltungssatz bleibt bestehen, der Impulserhaltungssatz bleibt bestehen und der Drehimpulserhaltungssatz bleibt ebenfalls bestehen – er bleibt in einer sehr schönen Form bestehen, sehr tief im Herzen der Quantenmechanik. Der Drehimpuls ist ein zentrales Merkmal in den Analysen der Quantenmechanik, und das ist tatsächlich einer der Hauptgründe, warum wir so weit in die Mechanik hineingehen – um die Phänomene in Atomen verstehen zu können. Ein interessanter Unterschied zwischen der klassischen Mechanik und der Quantenmechanik ist folgender: In der klassischen Mechanik kann ein bestimmter Körper eine beliebige Menge an Drehimpuls durch Drehen bei verschiedenen Geschwindigkeiten erfahren. In der Quantenmechanik kann der Drehimpuls entlang einer gegebenen Achse nicht beliebig sein – er kann nur Werte haben, die ganz- oder halbzahlige Vielfache der planckschen Konstante dividiert durch zwei π (h/2π oder ) sind, und diese Vielfachen müssen in Stufen von  von einem Wert zum anderen ansteigen. Dies ist eines der tiefgreifenderen Prinzipien der Quantenmechanik in Bezug auf den Drehimpuls. Schließlich ein interessanter Punkt: Wir stellen uns das Elektron als Elementarteilchen, so einfach wie nur möglich vor. Trotzdem hat es einen eigenen Drehimpuls. Wir stellen das Elektron nicht einfach als Punktladung dar, sondern als Punktladung, die eine Art Begrenzung eines realen Körpers ist, der einen Drehimpuls hat. Es ist so etwas wie ein Körper, der sich in der klassischen Theorie um seine Achse dreht, aber nicht genauso: Es zeigt sich, dass sich das Elektron analog zu der einfachsten Art eines Gyroskops verhält, für das wir uns ein sehr kleines Trägheitsmoment vorstellen und das sich extrem schnell um seine Hauptachse dreht. Und interessanterweise scheint das, was wir in der klassischen Mechanik immer in der ersten Näherung tun, nämlich die Trägheitsmomente um die Präzessionsachse zu vernachlässigen, genau das Richtige zu sein für das Elektron! Mit anderen Worten, das Elektron scheint wie ein Gyroskop mit einem unendlich kleinen Trägheitsmoment zu sein, das sich mit unendlicher Winkelgeschwindigkeit dreht, sodass wir einen begrenzten Drehimpuls haben. Es ist ein Grenzfall. Es ist nicht genau das Gleiche wie ein Gyroskop – es ist sogar noch einfacher. Aber es ist immer noch eine Kuriosität. Ich habe hier das Innenleben des Gyroskops aus der Abbildung 4.13, wenn Sie sich das mal anschauen möchten. Das war’s für heute.

4.14 Nach der Vorlesung

4.14

133

Nach der Vorlesung

Feynman: Wenn Sie sehr genau durch die Lupe schauen, dann können Sie die seeeehr feinen, halbrunden Drähte sehen, die den Behälter mit Strom vesorgen und mit diesen kleinen Pins hier an der Außenseite verbunden sind. Student: Wie viel kostet eins von diesen Teilen? Feynman: Oh, das weiß nur Gott allein. Da steckt so viel Feinarbeit drin, nicht so sehr, um das Teil herzustellen, sondern um die ganzen Kalibrierungen und Messungen zu machen. Sehen Sie die winzigen Löcher und die vier goldenen Pins, die so aussehen, als ob jemand sie verbogen hätte? Man hat diese Pins extra so gebogen, damit sich der Behälter im vollständigen Gleichgewicht befindet. Wenn sich die Dichte des Öls ändert, schwimmt der Behälter allerdings nicht: Er sinkt im Öl ab oder steigt im Öl und auf die Zapfen wirken Kräfte. Damit die Öldichte immer den richtigen Wert hat, sodass der Behälter gerade schwimmt, muss man die Temperatur mithilfe einer Heizschlange innerhalb eines Bereiches von ein paar Tausendstel Grad auf dem richtigen Wert halten. Und dann ist da das Steinlager, der Punkt, der in den Edelstein führt, wie in einer Uhr. Also, Sie sehen, es muss sehr teuer sein – aber ich weiß nicht, wie teuer. Student: Hat es schon irgendwelche Arbeiten über eine Art Gyroskop als Gewicht am Ende einer biegsamen Stange gegeben? Feynman: Oh ja. Man hat versucht, andere Wege, andere Verfahren zu entwerfen. Student: Würde das nicht das Problem der Lagerung reduzieren? Feynman: Nun, es reduziert eine Sache und bringt irgendetwas anderes hervor. Student: Wird es eingesetzt? Feynman: Nicht, dass ich wüsste. Die Gyroskope, über die wir gesprochen haben, sind die einzigen, die bisher tatsächlich eingesetzt werden, und ich denke nicht, dass die anderen ihnen jetzt schon das Wasser reichen können, aber sie sind nahe dran. Es ist ein Grenzthema. Man konstruiert immer noch neue Gyroskope, neue Vorrichtungen, neue Wege und es kann gut sein, dass eins von ihnen die Probleme lösen wird, z. B. diesen Wahnsinn, dass die Achslager so genau sein müssen. Wenn Sie eine Zeitlang mit dem Gyroskop herumspielen, werden Sie sehen, dass die auf seine Achse ausgeübte Reibungskraft nicht klein ist. Der Grund dafür ist, dass, wenn die Lager zu reibungsfrei gemacht würden, die Achse taumeln würde und Sie sich um dieses Zehntel eines Millionstel Zentimeters Gedanken machen müssten – und das ist lächerlich. Es muss einen besseren Weg geben. Student: Ich habe in einer Maschinenwerkstatt gearbeitet. Feynman: Dann wissen Sie, was ein Zehntel eines Millionstel Zentimeters heißt: Das ist unmöglich! Anderer Student: Was ist mit der Eisenkeramik?

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4 Dynamik und ihre Anwendungen

Feynman: Diese Sache mit der Abstützung eines Supraleiters in einem Magnetfeld? Wenn es einen Fingerabdruck auf der Kugel gibt, geht von den Strömen, die durch das wechselnde Feld erzeugt werden, anscheinend ein geringer Teil verloren. Man versucht, das in den Griff zu bekommen, bis jetzt hat es aber noch nicht geklappt. Es gibt eine Menge schlauer Ideen, aber ich wollte nur eine in ihrer endgültigen, technischen Form mit allen Details zeigen. Student: Die Federn an diesem Teil sind furchtbar fein. Feynman: Und ob. Sie sind nicht nur fein in dem Sinne, dass sie klein sind, sondern sie sind auch fein in dem Sinne, wie sie hergestellt sind: Wissen Sie, sie sind aus sehr gutem Stahl, Federstahl, gemacht, alles bestens. Diese Art von Gyroskop ist wirklich unpraktisch. Es ist so schwierig, es so genau hinzubekommen, wie es sein muss. Es muss in Räumen hergestellt werden, die absolut staubfrei sind – die Leute tragen spezielle Kittel, Handschuhe, Überziehschuhe und Masken, denn wenn sich auch nur ein Staubkörnchen in diesen Teilen befindet, wird die Reibung verfälscht. Ich wette, sie werfen mehr weg als sie erfolgreich herstellen, weil alles so genau gebaut werden muss. Es ist nicht nur einfach ein kleines Teil, das man zusammenbaut. Es ist schon ziemlich schwierig. Diese bemerkenswerte Präzision bewegt sich am Rande unserer derzeitigen Fähigkeiten, deshalb ist es interessant und jede Verbesserung, die Sie dafür erfinden oder entwerfen können, wäre eine große Sache. Eines der Hauptprobleme tritt auf, wenn die Achse des Behälters nicht mehr mittig ist und das Ding sich dreht. Dann messen Sie die Drehung um die falsche Achse und können deshalb eine komische Antwort erhalten. Aber mir scheint es offensichtlich (oder fast – vielleicht liege ich aber auch falsch), dass das nicht wesentlich ist. Es muss einen Weg geben, um ein rotierendes Teil abzustützen, sodass die Stütze dem Schwerpunkt folgt. Gleichzeitig können Sie messen, dass es gedreht wird, weil Drehen etwas anderes ist, als den Schwerpunkt nicht mehr mittig zu haben. Wir möchten eine Vorrichtung haben, die die Drehung um den Schwerpunkt direkt misst. Wenn wir einen Weg finden könnten, dass das Teil, das die Drehung misst, sie sicher um den Schwerpunkt misst, wäre es egal, ob der Schwerpunkt taumelt. Wenn die ganze Plattform immer dieselbe Taumelbewegung wie das Teil, das Sie zu messen versuchen, machen würde, dann gäbe es keinen Ausweg. Aber dieses außermittige Rad ist nicht genau das gleiche wie das Teil, das Sie messen wollen, also muss es einen Ausweg geben. Student: Sind mechanische/analoge Integrierer generell Auslaufmodelle im Vergleich zu elektrischen bzw. digitalen? Feynman: Ja. Die meisten Integrierer sind elektrisch, aber es gibt zwei allgemeine Modelle. Das eine, als „analog“ bezeichnete Modell: Diese Vorrichtungen verwenden eine physika-

4.14 Nach der Vorlesung

135

lische Methode, eine, für die die Messergebnisse ein Integral von etwas sind. Wenn Sie z. B. einen Widerstand haben und eine bestimmte Spannung erzeugen, erhalten Sie einen bestimmten Strom durch den Widerstand, der proportional zu der Spannung ist. Wenn Sie aber die gesamte Ladung und nicht den Strom messen, ist das das Integral des Stroms, sehen Sie. Als wir eine Beschleunigung durch das Messen eines Winkels integriert haben, war das ein Beispiel aus der Mechanik. Sie können auf verschiedene Weise so integrieren und es macht keinen Unterschied, ob es sich dabei um eine mechanische oder elektrische Methode handelt – normalerweise ist es ein elektrisches Verfahren –, aber es ist immer noch eine analoge Methode. Dann gibt es ein anderes Verfahren, und zwar erhält man das Ausgangssignal und wandelt es z. B. in eine Frequenz um: Das Ding löst eine Menge Impulse aus und wenn das Signal stärker ist, folgen die Impulse schneller aufeinander. Und dann zählen Sie die Impulse, sehen Sie? Student: Und integrieren die Anzahl der Impulse? Feynman: Sie zählen die Impulse nur. Sie könnten sie mit einer Vorrichtung wie diese kleinen Schrittzähler zählen, wo Sie einmal pro Impuls drücken, oder Sie könnten das auch elektrisch mit Schläuchen machen, die hin und her schlagen. Wenn Sie das dann wieder integrieren wollen, können Sie es numerisch tun – wie wir unsere numerische Integration an der Tafel gemacht haben. Sie können im Grunde genommen eine Addiermaschine konstruieren – keinen Integrierer, sondern eine Addiermaschine – und wir verwenden die Addiermaschine, um die Zahlen zu addieren, und diese Zahlen haben keine nennenswerten Abweichungen, wenn Sie die Maschine richtig konstruieren. So können die Fehler, die auf die integrierenden Vorrichtungen zurückzuführen sind, auf null reduziert werden, obwohl die Fehler in den Messeinrichtungen auf Grund von Reibung und so weiter immer noch vorhanden sind. Man verwendet noch nicht sehr häufig digitale Integrierer in Raketen und U-Booten. Aber sie sind im Kommen. Vielleicht werden sie die Fehler los, die durch die Ungenauigkeiten der Integriermechanismen entstehen – und man kann sie loswerden, wenn man einmal das Signal in, wie sie es nennen, digitale Informationen – Punkte – zählbare Dinge – umgewandelt hat. Student: Und dann hat man einfach einen digitalen Rechner? Feynman: Dann haben Sie einfach eine Art kleinen digitalen Rechner, der zwei Integrationen numerisch macht. Langfristig ist das besser, als es auf analoge Weise zu machen. Im Moment ist der Rechnerbereich meistens analog, aber sehr wahrscheinlich wird er auf digital umgestellt – wahrscheinlich in ein oder zwei Jahren –, weil im digitalen Bereich keine Fehler entstehen. Student: Man könnte eine 100-MHz-Logik verwenden. Feynman: Die Geschwindigkeit ist nicht entscheidend. Es ist einfach eine Frage der Konstruktion. Analoge Integrierer erweisen sich heutzutage als nicht genau genug und

136

4 Dynamik und ihre Anwendungen

so ist es das Einfachste, zu digital zu wechseln. Das ist wahrscheinlich der nächste Schritt, nehme ich an. Aber das eigentliche Problem ist natürlich das Gyroskop selbst. Das muss immer weiter verbessert werden. Student: Vielen Dank für die Vorlesung über die Anwendungen. Denken Sie, dass Sie vielleicht später im Trimester noch mehr machen? Feynman: Sie mögen diese Anwendungen? Student: Ich überlege, ob ich in den Maschinenbau gehe. Feynman: OK. Dies ist natürlich wirklich eines der schönsten Dinge im Maschinenbau. Versuchen wir es mal . . . – Ist es an? Student: Nein. Ich glaube, der Stecker ist nicht drin. Feynman: Oh, Entschuldigung. So. Jetzt. Schalten Sie jetzt mal ein. Student: Es zeigt „OFF“ an, wenn ich das tue. Feynman: Was? Ich weiß nicht, was passiert ist. Egal. Tut mir leid. Anderer Student: Könnten Sie noch mal erklären, wie die Coriolis-Kraft auf ein Gyroskop wirkt? Feynman: Ja. Student: Mir ist schon klar, wie sie auf ein Karussell wirkt. Feynman: Gut. Hier ist ein Rad, das sich um seine Achse dreht – wie ein Karussell, das sich dreht. Ich möchte zeigen, dass ich der Präzessionsbewegung Widerstand entgegensetzen muss, damit die Achse rotiert . . . oder es wird Dehnungsbelastungen in den Stangen geben, die die Achse tragen, OK? Student: OK. Feynman: Nun, jetzt versuchen wir, den Weg zu beobachten, auf dem sich ein bestimmter Massenpunkt auf dem Kreiselrad tatsächlich bewegt, wenn wir die Achse drehen. Wenn sich das Rad nicht drehen würde, wäre die Antwort, dass der Massenpunkt sich auf einer Kreisbahn bewegt. Es wirkt eine Zentrifugalkraft auf ihn, die durch die Dehnungsbelastungen, die auf die Speichen des Rades wirken, ausgeglichen wird. Aber das Rad dreht sich sehr schnell. Wenn wir also die Achse drehen, bewegt sich der Massenpunkt, und das Rad hat sich auch gedreht, sehen Sie? Zuerst ist er hier, jetzt ist er hier: Wir haben uns nach hier oben bewegt, aber das Gyroskop hat sich gedreht. Also bewegt sich der kleine Massenpunkt auf einer Kurve. Wenn wir um eine Kurve fahren, wirkt eine Zugkraft – die Zentrifugalkraft, wenn der Massenpunkt sich auf einer

4.14 Nach der Vorlesung

137

Kurve bewegt. Diese Kraft wird nicht durch die Speichen ausgeglichen, die radial ausgerichtet sind. Sie muss durch irgendeinen seitlichen Schub auf das Rad ausgeglichen werden. Student: Ah ja! Klar! Feynman: Deshalb muss ich einen seitlichen Schub auf das Rad ausüben, um diese Achse zu halten, während das Rad sich dreht. Soweit klar? Student: Klar. Feynman: Aber da ist noch eine Sache. Sie könnten fragen: „Wenn es eine seitliche Kraft gibt, warum bewegt sich dann nicht das ganze Gyroskop? Und die Antwort ist natürlich, dass sich die andere Seite des Rades in die entgegengesetzte Richtung bewegt. Und wenn Sie das gleiche Spielchen mit einem Massenpunkt auf der anderen Seite des Rades machen, wenn das Rad sich dreht, übt er eine entgegengesetzt gerichtete Kraft auf die Seite aus. Also wirkt keine Nettokraft auf das Gyroskop. Student: Ich fange an, das zu verstehen, aber ich verstehe nicht, welchen Unterschied die Drehung des Rades ausmacht. Feynman: Schauen Sie, es macht einen riesengroßen Unterschied aus. Und je schneller es sich dreht, desto größer ist der Effekt – obwohl man etwas herumprobieren muss, um zu erkennen, warum. Denn wenn es sich schneller dreht, ist die Kurve, die der Massenpunkt macht, nicht so scharf. Andererseits dreht es sich schneller und wahrscheinlich muss man eines gegen das andere abwägen. Auf jeden Fall stellt sich heraus, dass die Kraft größer ist, wenn es sich schneller dreht – tatsächlich proportional zur Geschwindigkeit. Anderer Student: Dr. Feynman, . . . Feynman: Jawohl. Student: Stimmt es, dass Sie siebenstellige Zahlen im Kopf multiplizieren können? Feynman: Nein. Das stimmt nicht. Es stimmt nicht einmal, dass ich zweistellige Zahlen im Kopf multiplizieren kann. Ich kann das nur mit einstelligen Zahlen. Student: Kennen Sie irgendwelche Philosophie-Dozenten am Central College in Washington? Feynman: Warum? Student: Ich habe einen Freund dort. Ich hatte ihn eine Zeitlang nicht gesehen und in den Weihnachtsferien hat er mich gefragt, was ich so mache. Ich habe ihm erzählt, dass ich am Caltech bin. Und dann fragte er: „Hast du dort einen Dozenten, der Feynman heißt?“. Denn sein Philosophie-Dozent hatte ihm erzählt, dass ein gewisser Feynman am Caltech siebenstellige Zahlen im Kopf multiplizieren könnte. Feynman: Stimmt nicht. Aber ich kann andere Dinge. Student: Kann ich ein paar Fotos von dem Apparat machen?

138

4 Dynamik und ihre Anwendungen

Feynman: Sicher! Möchten Sie eine Nahaufnahme, oder was? Student: Das ist schon OK so. Aber erst möchte ich ein Bild zur Erinnerung an Sie. Feynman: Und ich behalte Sie in Erinnerung.

Ausgewählte Aufgaben2

5

Die folgenden Aufgaben sind nach den Kapiteln der Exercises in Introductory Physics in Abschnitte aufgeteilt. In Klammern ist der entsprechende Querverweis zu dem Thema in den Feynman-Vorlesungen über Physik, Bände I–V, angegeben. Das Thema der Übungen in Abschnitt 5.1 „Energieerhaltung, Statik (Bd. I, Kap. 4)“ wird z. B. in den Feynman-Vorlesungen über Physik, Bd. I, Kap. 4 behandelt. In jedem Abschnitt sind die Aufgaben nach ihrem Schwierigkeitsgrad unterteilt. In der Reihenfolge, in der sie in den einzelnen Abschnitten erscheinen, gibt es: leichte Aufgaben (∗ ), Aufgaben für Fortgeschrittene (∗∗ ) und schwierigere und komplizierte Aufgaben (∗∗∗ ). Der durchschnittliche Student sollte die einfachen Aufgaben ohne große Probleme und die meisten Aufgaben für Fortgeschrittene innerhalb einer angemessenen Zeit – vielleicht zehn oder zwanzig Minuten pro Aufgabe – lösen können. Die schwierigeren Aufgaben erfordern im Allgemeinen ein tieferes physikalisches Verständnis oder komplexere Überlegungen und werden hauptsächlich für den leistungsstärkeren Studenten von Interesse sein.

5.1 1∗

Energieerhaltung, Statik (Bd. I, Kap. 4) Ein Ball mit einem Radius von 3 cm und einem Gewicht von 100 kg ruht auf einer schiefen Ebene, die mit der Horizontalen einen Winkel α bildet, und berührt außerdem eine vertikale Wand. Beide Flächen haben eine vernachlässigbare Reibung. Bestimmen Sie die Kraft, mit der der Ball auf jede der Flächen drückt.

a

2

Aus den Exercises in Introductory Physics von Robert B. Leighton und Rochus E. Vogt, Addison-Wesley 1969. Siehe auch den Abschnitt Übungsaufgaben in der Einführung von Michael Gottlieb, Seite X.

140 2∗

5 Ausgewählte Aufgaben Das abgebildete System befindet sich im statischen Gleichgewicht. Wenden Sie das Prinzip der virtuellen Arbeit an und ermitteln Sie die Gewichte A und B. Vernachlässigen Sie das Gewicht der Seile und die Reibung in den Rollen.

45°

30°

1 kg

A B

3∗

Wie groß muss die (an der Achse ausgeübte) horizontale Kraft F sein, um ein Rad mit dem Gewicht W und dem Radius R über einen Block mit der Höhe h zu schieben?

F R h

4 ∗∗

Eine Masse M1 gleitet, wie dargestellt, auf einer schiefen Ebene mit einem Neigungswinkel von 45◦ und der Höhe H. Sie ist durch ein flexibles Seil mit vernachlässigbarer Masse, das über eine kleine Rolle (vernachlässigen Sie ihre Masse) läuft, mit einer identischen Masse M2 verbunden, die, wie dargestellt, senkrecht nach unten hängt. Die Länge des Seils ist so beschaffen, dass die Massen in der Höhe H/2 beide in der Ruhelage gehalten werden können. Die Abmessungen der Massen und der Rolle sind im Vergleich zu H vernachlässigbar. Zum Zeitpunkt t = 0 werden die beiden Massen losgelassen.

H M2 M1 H/2 45

g

5.1 Energieerhaltung, Statik

141

a) Berechnen Sie für t > 0 die vertikale Beschleunigung von M2 . b) Welche Masse bewegt sich nach unten? Zu welchem Zeitpunkt t1 trifft sie auf dem Boden auf? c) Zeigen Sie, ob die andere Masse auf die Rolle trifft, wenn die Masse in (b) zum Stillstand kommt, wenn sie auf dem Boden auftrifft, und die andere Masse sich weiterbewegt. 5 ∗∗

√ Ein Brett mit dem Gewicht W und der Länge 3R liegt in einer glatten, kreisförmigen Mulde mit dem Radius R. An dem einen Ende des Brettes befindet sich ein Gewicht W/2. Berechnen Sie den Winkel θ, in dem das Brett liegt, wenn es sich im Gleichgewicht befindet. R



6 ∗∗

Ein Ornament für einen Innenhof bei einer Weltausstellung soll aus vier identischen, reibungsfreien Metallkugeln hergestellt werden, von denen jede ein Ge√ wicht von 2 6t hat. Die Kugeln sind wie dargestellt anzuordnen: Drei Kugeln ruhen auf einer horizontalen Fläche und berühren einander, die vierte Kugel ruht frei auf den drei anderen. Schweißpunkte an den jeweiligen Kontaktstellen verhindern, dass die unteren drei auseinander rollen. Wie groß ist die Zugkraft, der die Schweißpunkte standhalten müssen, wenn Sie von einem Sicherheitsfaktor von 3 ausgehen?

Ansicht von oben

7 ∗∗

Ansicht von der Seite

Eine Spule mit der Masse M = 3 kg besteht aus einem zentralen Zylinder mit dem Radius r = 5 cm und zwei Endplatten mit dem Radius R = 6 cm. Sie liegt auf einer schiefen Ebene mit Schlitz, auf der sie rollt, aber nicht rutscht, und eine Masse m = 4,5 kg hängt an einer Schnur, die um die Spule gewickelt ist.

142

5 Ausgewählte Aufgaben Man beobachtet, dass sich das System im statischen Gleichgewicht befindet. Wie groß ist der Neigungswinkel θ der schiefen Ebene?

r M R



m

8 ∗∗

Ein Wagen auf einer schiefen Ebene wird durch das Gewicht w im Gleichgewicht gehalten. Die Reibung aller Teile kann vernachlässigt werden. Bestimmen Sie das Gewicht W des Wagens.

W 

w

9 ∗∗

Ein Behälter mit der Querschnittsfläche A enthält eine Flüssigkeit mit der Dichte �. Die Flüssigkeit spritzt frei aus einem kleinen Loch mit der Fläche a in einem Abstand H unter der freien Oberfläche der Flüssigkeit heraus. Wie groß ist die Geschwindigkeit, mit der die Flüssigkeit austritt, wenn sie keine innere Reibung (Viskosität) hat?

H

5.3 Bewegung

5.2

143

Die keplerschen Gesetze und die Gravitation (Bd. I, Kap. 7)

1∗

Die Exzentrizität der Erdumlaufbahn beträgt 0,0167. Bestimmen Sie das Verhältnis ihrer maximalen Geschwindigkeit auf ihrer Umlaufbahn zu ihrer minimalen Geschwindigkeit.

2 ∗∗

Ein wirklicher (geostationärer) „Syncom“-Satellit bewegt sich synchron mit der Erde auf seiner Umlaufbahn. Er bleibt immer in einer festen Position in Bezug auf einen Punkt P auf der Erdoberfläche. a) Betrachten Sie die Gerade, die den Erdmittelpunkt mit dem Satelliten verbindet. Kann P, wenn er sich im Schnittpunkt dieser Geraden mit der Erdoberfläche befindet, eine geografische Breite besitzen oder welche Beschränkungen gibt es? Erklären Sie. b) Wie groß ist der Abstand rS eines Syncom-Satelliten mit der Masse m vom Erdmittelpunkt? Geben Sie rS in Einheiten des Erde-Mond-Abstandes rEM an. Anmerkung: Betrachten Sie die Erde als eine gleichförmige Kugel. Für die Periode des Mondes können Sie T M = 27 Tage verwenden.

5.3 1∗

Bewegung (Bd. I, Kap. 8) Ein Skyhook-Forschungsballon mit einer wissenschaftlichen Nutzlast steigt mit einer Geschwindigkeit von 305 m in der Minute. In einer Höhe von 9,14 km explodiert der Ballon und die Last fällt im freien Fall. (Solche Katastrophen passieren!) a) Wie lange war die Nutzlast in der Luft? b) Wie groß war die Geschwindigkeit der Nutzlast beim Aufprall? Vernachlässigen Sie den Luftwiderstand.

2∗

Betrachten Sie einen Zug, der mit einer Beschleunigung von 20 cm s−2 beschleunigen und mit einer Verzögerung von 100 cm s−2 abbremsen kann. Bestimmen Sie die Mindestzeit, die der Zug für die Fahrt zwischen zwei Stationen, die 2 km voneinander entfernt liegen, braucht.

3∗

Wenn Sie einen kleinen Ball in realer Luft mit Luftwiderstand senkrecht nach oben werfen, braucht er dann länger, um nach oben oder nach unten zu kommen?

144

5 Ausgewählte Aufgaben

4 ∗∗

Bei einem Versuch während einer Vorlesung hüpft eine kleine Stahlkugel auf einer Stahlplatte. Bei jedem Hüpfer wird die nach unten gerichtete Geschwindigkeit der Kugel, die auf der Platte aufprallt, um einen Faktor e beim Zurückprallen reduziert, d. h. vnach oben = e · vnach unten . Wie groß ist der Betrag von e, wenn die Kugel anfangs zum Zeitpunkt t = 0 aus einer Höhe von 50 cm über der Platte fallen gelassen wird und 30 Sekunden später das Verstummen des Mikrofons anzeigt, dass die Hüpfbewegungen aufgehört haben?

5 ∗∗

Ein Autofahrer fährt mit seinem Auto hinter einem Lkw her und bemerkt plötzlich, dass zwischen zwei der Hinterreifen des Lkws ein Stein festsitzt. Da er ein vorsichtiger Fahrer (und außerdem Physiker) ist, erhöht er sofort seinen Abstand zu dem Lkw auf 22,5 m, damit er nicht von dem Stein getroffen wird, falls dieser sich löst. Wie groß ist die Geschwindigkeit des Lkws? (Nehmen Sie an, dass der Stein nach dem Aufprall auf dem Boden nicht hüpft.)

6 ∗∗∗ Ein Studienanfänger am Caltech, der sich mit den Verkehrspolizisten in den Vororten nicht auskennt, hat gerade einen Strafzettel wegen zu schnellen Fahrens erhalten. Als er danach zufällig an einem der „Tachometertest“-Abschnitte auf gerader Strecke auf einem Highway vorbeikommt, beschließt er, seine Tachoanzeige zu überprüfen. Als er den „Start“ des markierten Abschnittes passiert, tritt er auf das Gaspedal und hält sein Fahrzeug während der gesamten Testzeit auf konstanter Beschleunigung. Er beobachtet, dass er die 0,10-Meilen-Markierung 16 Sekunden nach dem Start und 8,0 Sekunden später die 0,20-Meilen-Markierung passiert. a) Was hätte sein Tacho an der 0,20-Meilen-Markierung anzeigen müssen? b) Wie groß war seine Beschleunigung? 7 ∗∗∗ Auf der langen horizontalen Versuchsstrecke auf der Edwards Air Force Base können sowohl Raketen, als auch Düsentriebwerke getestet werden. An einem bestimmten Tag beschleunigte ein Raketentriebwerk, das aus der Ruhelage gestartet wurde, konstant, bis der Treibstoff aufgebraucht war. Danach bewegte es sich mit konstanter Geschwindigkeit. Man beobachtete, dass der Raketentreibstoff ausging, als sich die Rakete mitten auf der gemessenen Teststrecke befand. Dann wurde ein Düsentriebwerk aus der Ruhelage auf der Teststrecke gestartet, das auf der gesamten Entfernung konstant beschleunigte. Man beobachtete jetzt, dass das Raketentriebwerk und das Düsentriebwerk die Teststrecke in genau der gleichen Zeit zurücklegten. Wie war das Verhältnis der Beschleunigung des Düsentriebwerkes zu der des Raketentriebwerkes?

5.4 Die newtonschen Gesetze

5.4 1∗

145

Die newtonschen Gesetze (Bd. I, Kap. 9) Zwei Körper, die jeweils eine Masse m = 1 kg haben und über eine straff gespannte Schnur mit der Länge L = 2 m miteinander verbunden sind, bewegen sich auf einer kreisförmigen Bahn mit konstanter Geschwindigkeit V = 5 m/s um ihren gemeinsamen Mittelpunkt C in einer schwerelosen Umgebung. Wie groß ist die Zugkraft in der Schnur in Newton?

V C

V

2 ∗∗

Wie groß muss die horizontale Kraft F sein, die ständig auf M ausgeübt werden muss, damit sich M1 und M2 relativ zu M nicht bewegen? Vernachlässigen Sie die Reibung. T

P C

m M h

M1 F M

M2

M M

3 ∗∗

Eine frühe Anordnung zum Messen der Fallbeschleunigung, die so genannte atwoodsche Fallmaschine, ist in der Abbildung dargestellt. Die Masse und die Reibung der Rolle P und des Seils C können vernachlässigt werden. Das System wird durch gleich große Massen M auf jeder Seite, wie dargestellt (durchgezogene Linie), im Gleichgewicht gehalten. Dann wird auf einer Seite ein kleines Aufsetzgewicht m hinzugefügt. Die zusammengefügten Massen beschleunigen über einen bestimmten Weg h, das Aufsetzgewicht wird auf einem Ring aufgefangen und die beiden gleich großen Massen bewegen sich weiter mit konstanter

146

5 Ausgewählte Aufgaben Geschwindigkeit v. Bestimmen Sie den Wert von g, der den Messwerten von m, M, h und v entspricht.

4 ∗∗∗ Ein Maler mit einem Gewicht von 180 lb (ca. 81 kg), der von einem so genannten „Bootsmanns-Stuhl“ aus arbeitet, der an der Seite eines hohen Gebäudes herunterhängt, möchte sich schnell bewegen. Er zieht mit einer solchen Kraft an dem Fallseil nach unten, dass er mit einer Kraft von 100 lb (ca. 45 kg) gegen den Stuhl drückt. Der Stuhl selbst hat ein Gewicht von 30,0 lb (ca. 13,5 kg) a) Wie groß ist die Beschleunigung des Malers und des Stuhls? b) Wie groß ist die Gesamtkraft, die von der Rolle gehalten wird?

A B

5 ∗∗∗ Ein Astronaut, der den Mond betreten soll, hat eine Federwaage und eine Masse A von 1,0 kg bei sich. Wenn die Masse auf der Erde an der Waage hängt, zeigt die Waage 9,8 Newton an. Als der Astronaut den Mond an einer Stelle betritt, an der die Fallbeschleunigung nicht genau bekannt ist, aber einen Wert von etwa 1/6 der Fallbeschleunigung an der Erdoberfläche hat, hebt er einen Stein B auf, der beim Wiegen auf der Federwaage einen Anzeigewert von 9,8 Newton aufweist. Dann hängt der Astronaut A und B über eine Rolle, wie in der Abbildung gezeigt, und beobachtet, dass B mit einer Beschleunigung von 1,2 m s−2 fällt. Wie groß ist die Masse von Stein B?

5.5 Die Impulserhaltung

5.5

147

Die Impulserhaltung (Bd. I, Kap. 10)

1∗

Zwei Segelflugmodelle können sich frei auf einem horizontalen Luftkissen bewegen. Das eine ist stationär und das andere kollidiert mit ihm in einem ideal elastischen Stoß. Sie prallen beide mit identischer und entgegengesetzt gerichteter Geschwindigkeit zurück. Welches Verhältnis haben ihre Massen zueinander?

2 ∗∗

Ein Maschinengewehr, das am nördlichen Ende einer Plattform mit einer Masse von 10 000 kg und einer Länge von 5 m montiert ist, die sich frei auf einem horizontalen Luftlager bewegen kann, feuert Kugeln in eine dicke Zielscheibe, die am südlichen Ende der Plattform angebracht ist. Das Gewehr feuert pro Sekunde 10 Kugeln mit einer Masse von jeweils 100 g mit einer Mündungsgeschwindigkeit von 500 m s−1 ab. a) Bewegt sich die Plattform? b) In welche Richtung? c) Wie schnell?

3 ∗∗

Das Ende einer Kette mit einer Masse μ pro Längeneinheit befindet sich zum Zeitpunkt t = 0 auf einer Tischplatte in der Ruhelage und wird dann mit konstanter Geschwindigkeit v vertikal nach oben gehoben. Berechnen Sie die nach oben gerichtete Hubkraft in Abhängigkeit der Zeit.

v

L V M

m x

4 ∗∗∗ Die Geschwindigkeit einer Gewehrkugel kann mithilfe eines ballistischen Pendels gemessen werden. Die Kugel, deren Masse m bekannt und deren Geschwindigkeit V unbekannt ist, dringt in einen stationären Holzblock mit der Masse M ein, der als Pendel mit der Länge L aufgehängt ist. Dadurch beginnt der Block zu schwingen. Die Schwingungsamplitude x kann gemessen werden und unter Anwendung des Energieerhaltungssatzes kann man die Geschwindigkeit des Blockes direkt nach dem Aufprall bestimmen. Leiten Sie einen Ausdruck für die Geschwindigkeit der Kugel als Funktion von m, M, L und x her. 5 ∗∗∗ Zwei Segelflugmodelle mit identischen Massen, die sich auf einem ebenen Luftkissen mit gleich großen und entgegengesetzt gerichteten Geschwindigkeiten v und –v bewegen, stoßen näherungsweise elastisch zusammen und prallen mit

148

5 Ausgewählte Aufgaben etwas kleineren Geschwindigkeiten zurück. In dem Stoß verlieren sie einen Bruchteil f � 1 ihrer kinetischen Energie. Wie groß ist die Geschwindigkeit, mit der sich das zweite Segelflugmodell nach dem Stoß bewegt, wenn dieselben Segelflugmodelle einen Stoß ausführen und sich dabei eines anfangs in der Ruhelage befindet? (Diese kleine Restgeschwindigkeit Δv kann leicht als Funktion der Endgeschwindigkeit v des ursprünglich stationären Segelflugmodells gemessen und so die Elastizität der Stoßfänger bestimmt werden.) √ 1 Anmerkung: Wenn x � 1, dann gilt 1 − x ≈ 1 − x. 2

6 ∗∗∗ Ein Erdsatellit mit einer Masse von 10 kg und einer durchschnittlichen Querschnittsfläche von 0,50 m2 bewegt sich auf einer kreisförmigen Umlaufbahn in einer Höhe von 200 km, wo die mittlere freie Weglänge der Moleküle viele Meter und die Luftdichte ca. 1,6 × 10−10 kgm−3 beträgt. Berechnen Sie unter der simplen Annahme, dass die Stöße zwischen den Molekülen und dem Satelliten tatsächlich inelastisch sind (aber dass die Moleküle nicht wirklich an dem Satelliten haften bleiben, sondern mit kleiner Relativgeschwindigkeit abfallen), die Verzögerungskraft, die der Satellit auf Grund der Luftreibung erfahren würde. Wie müsste sich eine solche Reibungskraft in Abhängigkeit der Geschwindigkeit verändern? Würde die Geschwindigkeit des Satelliten infolge der auf ihn wirkenden Nettokraft abnehmen? (Überprüfen Sie die Geschwindigkeit auf einer kreisförmigen Satellitenumlaufbahn im Vergleich zu der Höhe.)

5.6

Vektoren (Bd. I, Kap. 11)

1 ∗∗

Ein Mann, der am Ufer eines 1,0 Meilen breiten Flusses steht, möchte an einen direkt gegenüberliegenden Punkt am anderen Ufer gelangen. Er hat zwei Möglichkeiten, den Fluss zu überqueren: (1) Er bewegt sich etwas stromaufwärts, sodass seine resultierende Bewegung gerade über den Fluss führt, (2) er bewegt sich direkt auf das gegenüberliegende Ufer zu und geht dann am Ufer von dem Punkt, an den ihn die Strömung stromabwärts getrieben hat, stromaufwärts. Welche Möglichkeit ist die schnellere und um wie viel ist sie schneller, wenn er 2,5 Meilen h−1 schwimmen und 4,0 Meilen h−1 gehen kann und die Strömung 2,0 Meilen h−1 beträgt?

2 ∗∗

Ein Motorboot, das mit konstanter Geschwindigkeit V relativ zum Wasser fährt, wird in einem geraden Flussbett gesteuert, in dem das Wasser ruhig mit konstanter Geschwindigkeit R fließt. Zunächst wird das Boot auf eine Rundfahrt von seiner Ankerstelle zu einem Punkt in einer Entfernung d direkt stromaufwärts geschickt. Dann wird es auf eine Rundfahrt von seiner Ankerstelle zu einem Punkt in einer Entfernung d direkt über den Fluss geschickt. Nehmen Sie der Einfachheit halber an, dass das Boot jedes Mal den ganzen Weg mit voller Geschwindigkeit fährt und dass keine Zeit für das Umdrehen am Ende der Hin-

5.7 Nichtrelativistische Stöße zwischen zwei Körpern in drei Dimensionen

149

fahrt verloren geht. tV ist die Zeit, die das Boot für die Rundfahrt stromaufwärts braucht, tA ist die Zeit, die das Boot für die Rundfahrt über den Fluss braucht, und tL ist die Zeit, die das Boot für einen Weg 2d auf einem See brauchen würde. a) Wie ist das Verhältnis tV /tA ? b) Wie ist das Verhältnis tA /tL ? 3 ∗∗

Eine Masse m hängt am Ende einer Schnur mit beliebiger Länge von einem reibungsfreien Drehzapfen herunter und wird dazu gebracht, auf einer horizontalen Kreisbahn, deren Ebene in einem Abstand H unter dem Drehpunkt liegt, herumzuwirbeln. Bestimmen Sie die Umlaufdauer der Masse auf ihrer Umlaufbahn.

H

m

4 ∗∗∗ Sie befinden sich an Bord eines Schiffes, das kontinuierlich mit einer Geschwindigkeit von 15 Knoten nach Osten fährt. Ein Schiff auf einem konstanten Kurs, dessen Geschwindigkeit 26 Knoten beträgt, wird 6,0 Meilen genau südlich von Ihnen beobachtet. Später wird beobachtet, wie es hinter Ihnen vorbeifährt. Dabei beträgt der geringste Abstand zu Ihrem Schiff 3,0 Meilen. a) Welchen Kurs fährt das andere Schiff? b) Wie groß war die Zeitspanne zwischen seiner Position südlich von Ihnen und seiner Position mit dem geringsten Abstand zu Ihnen?

5.7

Nichtrelativistische Stöße zwischen zwei Körpern in drei Dimensionen (Bd. I, Kap. 10 und 11)

1 ∗∗

Ein sich bewegender Massenpunkt mit der Masse M führt einen ideal elastischen Stoß mit einem stationären Massenpunkt mit der Masse m < M aus. Bestimmen Sie den maximal möglichen Winkel, um den der einfallende Massenpunkt abgelenkt werden kann.

2 ∗∗

Ein Körper mit der Masse m1 , der sich mit der linearen Geschwindigkeit v in einem Laborsystem bewegt, stößt mit einem Körper mit der Masse m2 zusammen, der sich in dem Labor in Ruhelage befindet. Nach dem Stoß wird beobachtet,

150

5 Ausgewählte Aufgaben dass (1−α2 ) der kinetischen Energie im Schwerpunktsystem bei dem Stoß verloren gegangen ist. Wie groß ist der prozentuale Energieverlust im Laborsystem?

3 ∗∗

Ein Proton mit einer kinetischen Energie von 1 MeV stößt elastisch mit einem stationären Kern zusammen und wird um einen Winkel von 90◦ abgelenkt. Wie groß ist die Masse des Zielkerns in Einheiten der Protonenmasse, wenn die Energie des Protons jetzt 0,80 MeV beträgt?

5.8 1∗

Kräfte (Bd. I, Kap. 12) Zwei Massen, m1 = 4 kg und m3 = 2 kg, sind mit Seilen, deren Gewicht vernachlässigt werden kann, über im Prinzip reibungsfreie Rollen mit einer dritten Masse m2 = 2 kg verbunden. Die Masse m2 bewegt sich auf einem langen Tisch mit einer Reibungszahl μ = 1/2. Wie groß ist die Beschleunigung der Masse m1 , nachdem das System aus der Ruhelage losgelassen wurde? m2

m3

m1

2 ∗∗

Eine Kugel mit einer Masse von 5 g wird horizontal in einen Holzblock mit einer Masse von 3 kg geschossen, der auf einer horizontalen Fläche ruht. Die Gleitreibungszahl zwischen dem Block und der Oberfläche beträgt 0,2. Die Kugel bleibt in dem Block stecken, der 25 cm, so wird beobachtet, über die Fläche rutscht. Wie groß war die Geschwindigkeit der Kugel?

3 ∗∗

Bei der Untersuchung eines Unfallortes nach einem Autounfall hat die Polizei durch Messungen ermittelt, dass Auto A 45,7 m lange Bremsspuren hinterlassen hat, bevor es mit Auto B zusammengestoßen ist. Es ist außerdem bekannt, dass die Reibungszahl zwischen dem Gummi und dem Straßenbelag am Unfallort mindestens 0,6 beträgt. Zeigen Sie, dass Auto A die angezeigte Geschwindigkeitsbegrenzung von 70 km/h direkt vor dem Unfall überschritten haben muss.

4 ∗∗

Ein Schulbus mit Klimaanlage nähert sich einem Bahnübergang. Eines der Kinder hat einen mit Wasserstoff gefüllten Ballon an einem Sitz festgebunden. Sie beobachten, dass die Befestigungsschnur des Ballons einen Winkel von 30◦ mit der Vertikalen in Bewegungsrichtung bildet. Bremst der Fahrer den Bus ab oder beschleunigt er den Bus und wie groß ist die Abbremsung oder Beschleunigung?

5.9 Potentiale und Felder

151

30°

(Würde ein Verkehrspolizist den Fahrer auf Grund seiner Fähigkeiten empfehlen?) 5 ∗∗∗ Ein Teilchen mit dem Gewicht W ruht auf einer rauen schiefen Ebene, die einen Winkel α mit der Horizontalen bildet. a) Bestimmen Sie unter der Voraussetzung, dass die Haftreibungszahl μ = 2 tan α ist, die geringste quer zur Neigung der Ebene wirkende, horizontale Kraft Hmin , die das Teilchen in Bewegung setzt. b) In welche Richtung bewegt es sich?

H

5.9 1∗

a

Potentiale und Felder (Bd. I, Kap. 13 und 14) Eine Masse m kollidiert mit einer Feder mit der Federkonstanten k. An welchem Ort kommt sie zuerst zur Ruhe? Vernachlässigen Sie die Masse der Feder.

k

v0

m x

x0

2∗

glatt

Ein hohler, kugelförmiger Asteroid bewegt sich frei im Raum. In seinem Inneren befindet sich ein kleiner Massenpunkt mit der Masse m. An welchem Ort im Inneren befindet sich der Massenpunkt in der Gleichgewichtslage?

152

5 Ausgewählte Aufgaben

3∗

Die Geschwindigkeit, die ein Körper braucht, um das Gravitationsfeld der Erde zu verlassen, beträgt (näherungsweise) 7,0 Meilen s−1 . Wie groß ist die Geschwindigkeit relativ zur Erde, mit der eine interplanetare Sonde fliegt, die direkt oberhalb der Erdatmosphäre eine Geschwindigkeit von 8,0 Meilen s−1 erfährt, wenn sie einen Abstand von 106 Meilen von der Erde hat?

4 ∗∗

Ein kleiner, reibungsfreier Wagen rollt auf einer geneigten Spur mit einem kreisförmigen Looping mit dem Radius R an ihrem unteren Ende. Aus welcher Höhe H über dem oberen Ende des Loopings muss der Wagen starten, damit er den Looping durchfährt, ohne die Spur zu verlassen?

5 ∗∗

Ein biegsames Kabel mit der Länge L und einem Gewicht von M kgm−1 hängt über einer Rolle, deren Masse, Radius und Reibung vernachlässigt werden können. Anfangs befindet sich das Kabel gerade im Gleichgewicht. Das Kabel wird leicht angestoßen, um es aus dem Gleichgewicht zu bringen, und es beschleunigt weiter. Bestimmen Sie seine Geschwindigkeit zu dem Zeitpunkt, an dem das Ende von der Rolle wegfliegt.

6 ∗∗

Ein Massenpunkt startet aus der Ruhelage oben auf einer reibungsfreien Kugel mit dem Radius R und gleitet auf der Kugel unter dem Einfluss der Schwerkraft. Wie weit unter seinen Ausgangspunkt rutscht er, bevor er von der Kugel wegfliegt?

7 ∗∗

Ein Auto mit einer Masse von 1000 kg wird von einem Motor mit einer Nennleistung von 120 kW angetrieben. Wie groß ist die maximale Beschleunigung, die das Auto bei einer Geschwindigkeit von 60 km/h−1 haben kann, wenn der Motor diese Nennleistung bei dieser Geschwindigkeit abgibt?

8 ∗∗

19,30 m, 59,87 m und 86,09 m waren (1960) Weltrekorde im Kugelstoßen, Diskuswerfen und Speerwerfen. Die Massen der betreffenden Wurfgeräte waren 7,25 kg, 2 kg und 0,8 kg. Vergleichen Sie die von jedem Rekordhalter bei seinem Rekordwurf verrichtete Arbeit und nehmen Sie dabei an, dass jede Flugbahn in einer Höhe von 1,80 m über dem Boden beginnt und anfangs um 45◦ nach oben geneigt ist. Vernachlässigen Sie den Luftwiderstand.

9 ∗∗∗ Ein Satellit mit der Masse m bewegt sich auf einer kreisförmigen Umlaufbahn um einen Asteroiden mit der Masse M (M � m). Was würde mit dem Satelliten passieren, wenn die Masse des Asteroiden plötzlich um die Hälfte schrumpfen würde?2 Beschreiben Sie seine neue Umlaufbahn.

2

Wie das passieren könnte: Der Satellit befindet sich auf einer Umlaufbahn in großem Abstand zu dem Asteroiden, um einen Atomtest auf dem Asteroiden zu beobachten. Die Explosion stößt die Hälfte der Masse des Asteroiden ab, ohne dass dies direkte Auswirkungen auf den entfernten Satelliten hat.

5.11 Relativistische Energie und relativistischer Impuls

5.10 1∗

153

Einheiten und Maße (Bd. I, Kap. 5) Moe und Joe, zwei kosmische Physiker, die auf verschiedenen Planeten aufgewachsen sind, treffen sich auf einem interplanetaren Symposium über Maße und Gewichte, um die Einführung eines allgemeinen Einheitensystems zu diskutieren. Moe beschreibt stolz die Vorzüge des MKSA-Systems, das in jeder zivilisierten Region der Erde benutzt wird. Joe beschreibt ebenso stolz die wunderbaren Eigenschaften des M� K� S� A� -Systems, das überall sonst im Sonnensystem verwendet wird. Welche Faktoren werden für die Umrechnung der Einheiten von Geschwindigkeit, Beschleunigung, Kraft und Energie von einem System in das andere benötigt, wenn die konstanten Faktoren, die sich auf die Basisgrößen der beiden Systeme für Masse, Länge und Zeit beziehen, μ, λ und τ sind, sodass m� = μm, l� = λl

und t� = τt

sind? 2 ∗∗

5.11 1∗

Es wird ein maßstäbliches Modell des Sonnensystems hergestellt, bei dem Materialien verwendet werden, die jeweils dieselbe durchschnittliche Dichte wie die Sonne bzw. die Planeten haben. Alle linearen Maße werden allerdings um einen Maßstabfaktor k reduziert. Wie hängt die Umlaufdauer der Planeten von k ab?

Relativistische Energie und relativistischer Impuls (Bd. I, Kap. 16 und 17) a) Drücken Sie den Impuls eines Massenpunktes als Funktion seiner kinetischen Energie Ekin und der Ruheenergie m0 c2 aus. b) Wie groß ist die Geschwindigkeit eines Massenpunktes, dessen kinetische Energie gleich seiner Ruheenergie ist?

2 ∗∗

Ein Pion (mπ = 273 me ) in der Ruhelage zerfällt in ein Myon (mμ = 207 me ) und ein Neutrino (mυ = 0). Bestimmen Sie die kinetische Energie und den Impuls des Myons und des Neutrinos in MeV.

3 ∗∗

Ein Massenpunkt mit der Ruhemasse m, der sich mit der Geschwindigkeit v = 4c/5 bewegt, führt einen inelastischen Stoß mit einem gleichen Massenpunkt in Ruhelage aus. a) Wie groß ist die Geschwindigkeit des zusammengesetzten Massenpunktes? b) Wie groß ist seine Ruhemasse?

154

5 Ausgewählte Aufgaben

4 ∗∗

Ein Proton-Antiproton-Paar kann bei der Absorption eines Photons (γ) durch ein Proton in der Ruhelage entstehen. ¯ γ + P → P + (P + P) Wie groß ist die Mindestenergie Eγ , die das Photon haben muss? (Drücken Sie Eγ als Funktion der Ruheenergie des Photons mP c2 aus.)

5.12 1 ∗∗

Drehungen in zwei Dimensionen und Massenmittelpunkt (Bd. I, Kap. 18 und 19) Aus einer Scheibe mit homogener Dichte wird, wie abgebildet, ein Loch herausgeschnitten. Bestimmen Sie den Massenmittelpunkt. y 10 cm. 20 cm. x

2 ∗∗

Ein massiver Zylinder hat eine Dichte, die, wie abgebildet, nach Quadranten variiert. Die Zahlen geben jeweils die relative Dichte an. Wie lautet die Gleichung der Geraden durch den Ursprung und durch den Massenmittelpunkt, wenn die x- und y-Achse so verlaufen, wie angegeben? y

3

1

4

2

x

3 ∗∗

a P

Aus einem quadratischen Stück aus homogenem Blech soll ein gleichschenkliges Dreieck auf einer Seite, wie abgebildet, herausgeschnitten werden, sodass das restliche Metall, wenn es im Scheitelpunkt P des Schnittes aufgehängt wird, in jeder Position in der Gleichgewichtslage bleibt. Wie groß ist die Höhe des ausgeschnittenen Dreiecks?

5.12 Drehungen in zwei Dimensionen und Massenmittelpunkt 4 ∗∗

155

Die Massen M1 und M2 befinden sich an den entgegengesetzten Enden einer starren Stange mit der Länge L und vernachlässigbarer Masse. Die Abmessungen von M1 und M2 können im Vergleich zu L vernachlässigt werden. Die Stange soll in Drehbewegungen um eine zu ihr senkrecht stehende Achse versetzt werden. Durch welchen Punkt auf dieser Stange sollte diese Achse verlaufen, damit die Arbeit, die erforderlich ist, um die Stange in eine Drehbewegung mit einer Winkelgeschwindigkeit ω0 zu versetzen, auf ein Minimum begrenzt wird?

5 ∗∗∗ Ein homogener Ziegelstein mit der Länge L wird auf eine glatte, horizontale Fläche gelegt. Andere gleich große Ziegelsteine werden jetzt, wie abgebildet, aufeinander gestapelt, sodass die Seiten durchgehende Flächen bilden, die Stirnseiten aber jeweils von einem Ziegelstein zum nächsten um einen Abstand L/a versetzt sind, wobei a eine ganze Zahl ist. Wie viele Ziegelsteine kann man so aufeinander stapeln, bevor der Stapel umkippt?

6 ∗∗∗ Ein rotierender Drehzahlregler soll, wie abgebildet, so konstruiert sein, dass er die Energiezufuhr abschaltet, wenn die Maschine, an die der Regler direkt angeschlossen ist, eine Drehzahl von 120 U/min. erreicht. Der Schaltring C hat ein Gewicht von 4,5 kg und gleitet reibungsfrei auf der vertikalen Welle AB. C ist so ausgelegt, dass er die Energiezufuhr abschaltet, wenn der Abstand AC sich auf 0,43 m verringert. Wie groß sollten die Massen M sein, damit der Regler planmäßig funktioniert, wenn die vier Verbindungsstücke des Reglerrahmens zwischen reibungsfreien Gelenken jeweils 0,30 m lang und relativ masselos sind? A

M

M

C B

156

5 Ausgewählte Aufgaben

5.13 1∗

Drehimpuls und Trägheitsmoment (Bd. I, Kap. 18 und 19) Ein gerader, homogener Draht mit der Länge L und der Masse M wird in seinem Mittelpunkt gebogen und bildet so den Winkel θ. Wie groß ist sein Trägheitsmoment um eine Achse, die durch den Punkt A senkrecht zu der von dem gebogenen Draht bestimmten Ebene verläuft? A 

2∗

Eine Masse m hängt an einer Schnur, die um einen massiven runden Zylinder mit der Masse M und dem Radius r gewickelt ist, der sich, wie dargestellt, auf Lagern dreht, deren Reibung vernachlässigt werden kann. Bestimmen Sie die Beschleunigung von m.

M r m

3 ∗∗

Eine dünne, horizontale Stange mit der Masse M und der Länge L ruht an einem Ende auf einer Stütze und ist am anderen Ende an einer Schnur aufgehängt. Wie groß ist die Kraft, die von der Stange auf die Stütze direkt nach dem Durchbrennen der Schnur ausgeübt wird?

4 ∗∗

Aus der Ruhelage rollt ein symmetrischer Körper (ohne Gleiten) eine schiefe Ebene mit der Höhe h hinunter. Das Trägheitsmoment des Körpers um seinen Massenmittelpunkt ist J, die Masse M und der Radius der rollenden Fläche,

5.13 Drehimpuls und Trägheitsmoment

157

die mit der schiefen Ebene in Kontakt ist, ist r. Bestimmen Sie die lineare Geschwindigkeit des Massenmittelpunktes am Fuß der schiefen Ebene. 5 ∗∗

Ein homogener Zylinder wird so auf einem Endlosband, das in einem Winkel θ zur Horizontalen geneigt ist, platziert, dass seine Achse horizontal und senkrecht zum Rand des Bandes gerichtet ist. Die Oberflächen sind so beschaffen, dass der Zylinder auf dem Band ohne Gleiten rollen kann. Wie müsste das Band in Bewegung gesetzt werden, damit sich die Achse des Zylinders beim Loslassen nicht bewegt?

6 ∗∗

Der Reifen H mit dem Radius r rollt ohne Gleiten die schiefe Ebene hinunter. Die Ausgangshöhe h bewirkt, dass der Reifen eine Geschwindigkeit erreicht, die gerade ausreicht, um „einen Looping zu machen“– d. h. der Reifen bleibt im Punkt P gerade in Kontakt mit der runden Spur. Wie groß ist h? H

P h

d

7 ∗∗∗ Eine homogene Bowling-Kugel mit dem Radius R und der Masse M wird anfangs so losgeworfen, dass sie mit der Geschwindigkeit V0 ohne Rollen auf einer Bahn mit der Reibungszahl μ gleitet. Wie weit bewegt sich die Kugel, bevor sie beginnt, ohne Gleiten zu rollen, und wie groß ist ihre Geschwindigkeit zu dem Zeitpunkt? 8 ∗∗∗ Es ist ganz lustig, eine Murmel auf einer horizontalen Tischplatte mit einem Finger so hinunterzudrücken, dass sie mit einer linearen Anfangsgeschwindigkeit V0 und einer rückwärts gerichteten Anfangsdrehgeschwindigkeit ω0 über den Tisch schießt, wobei ω0 um eine horizontale Achse senkrecht zu V0 gerichtet ist. Die Gleitreibungszahl zwischen Murmel und Tischplatte ist konstant. Die Murmel hat den Radius R.

V0 0

158

5 Ausgewählte Aufgaben a) Welches Verhältnis muss zwischen V0 , R und ω0 bestehen, damit die Gleitbewegung der Murmel ganz zum Stillstand kommt? b) Welches Verhältnis muss zwischen V0 , R und ω0 bestehen, damit die Murmel in ihrer Gleitbewegung anhält und dann beginnt, sich in Richtung ihrer Anfangsposition mit einer konstanten linearen Endgeschwindigkeit von 3/7 V0 zurückzubewegen?

5.14 1∗

Drehbewegung in drei Dimensionen (Bd. I, Kap. 20) Ein Düsenflugzeug, in dem sich alle Triebwerke in Richtung einer Schraube mit Rechtsgewinde in Flugrichtung drehen, fliegt eine Linkskurve. Bewirkt die Kreiselwirkung der Triebwerke, dass a) das Flugzeug nach rechts rollt b) das Flugzeug nach links rollt c) das Flugzeug nach rechts giert d) das Flugzeug nach links giert e) sich das Flugzeug schräg nach oben stellt f) sich das Flugzeug nach unten neigt?

2 ∗∗

Zwei gleich große Massen sind durch eine biegsame Schnur miteinander verbunden. Ein Experimentator hält eine Masse in seiner Hand, während er die andere Masse dazu bewegt, dass sie auf einer horizontalen Kreisbahn um die in der Hand gehaltenen Masse herumwirbelt. Dann lässt er die Masse in der Hand los. a) Wenn die Schnur während des Experimentes reißt, reißt sie vor oder nach dem Loslassen der Massen? b) Beschreiben Sie die Bewegung der Massen nach ihrem Loslassen, falls die Schnur nicht reißt.

3 ∗∗

Ein dünner, runder Holzreifen mit der Masse m und dem Radius R ruht auf einer horizontalen, reibungsfreien Ebene. Eine Kugel, ebenfalls mit der Masse m, die sich mit der horizontalen Geschwindigkeit v bewegt, trifft den Reifen und bleibt, wie in der Abbildung gezeigt, darin stecken. Berechnen Sie die Geschwindigkeit des Massenmittelpunktes, den Drehimpuls des Systems um den Massenmittelpunkt, die Winkelgeschwindigkeit ω des Reifens und die kinetische Energie des Systems vor und nach dem Stoß.

5.14 Drehbewegung in drei Dimensionen

159

v m

4 ∗∗

Eine dünne Stange mit der Masse M und der Länge L ruht auf einer horizontalen, reibungsfreien Fläche. Ein kleines Stück Kitt, ebenfalls mit der Masse M, das sich mit der Geschwindigkeit v senkrecht zu der Stange bewegt, trifft ein Ende und bleibt haften und führt so einen inelastischen Stoß von kurzer Dauer aus. a) Wie groß ist die Geschwindigkeit des Massenmittelpunktes des Systems vor und nach dem Stoß? b) Wie groß ist der Drehimpuls des Systems um seinen Massenmittelpunkt direkt vor dem Stoß? c) Wie groß ist die Winkelgeschwindigkeit (um den Massenmittelpunkt) direkt nach dem Stoß? d) Wie viel kinetische Energie geht bei dem Stoß verloren? A M

M

g L M

M v

L

v B

5 ∗∗

Eine dünne, homogene Stange AB mit der Masse M und der Länge L dreht sich an ihrem Ende A in einer vertikalen Ebene frei um eine horizontale Achse. Ein kleines Stück Kitt, ebenfalls mit der Masse M, wird mit der Geschwindigkeit V horizontal an das untere Ende B geworfen, während die Stange sich in der Ruhelage befindet. Der Kitt bleibt an der Stange haften. Wie groß ist die Mindestgeschwindigkeit des Kitts vor dem Aufprall, die dazu führt, dass sich die Stange ganz um A herum dreht?

6 ∗∗

Auf einer ruhenden Drehscheibe T 1 ist eine Drehscheibe T 2 angebracht, die sich mit der Winkelgeschwindigkeit ω dreht. Zu einem bestimmten Zeitpunkt bewirkt eine interne Kupplung, dass die Achse von T 2 in Bezug auf T 1 zum Stillstand kommt, T 1 sich aber frei drehen kann. T 1 allein hat eine Masse M1 und ein Trägheitsmoment J1 um eine Achse A1 , die durch ihren Mittelpunkt senkrecht zu ihrer Ebene verläuft. T 2 hat eine Masse M2 und ein Trägheitsmoment J2 um eine ebenso gelegene Achse A2 . Der Abstand zwischen A1 und A2 ist r.

160

5 Ausgewählte Aufgaben Bestimmen Sie Ω für T 1 , nachdem T 2 aufgehört hat, sich zu drehen. (Ω ist die Winkelgeschwindigkeit von T 1 .) r

7 ∗∗∗ Auf eine senkrecht stehende Stange mit der Masse M und der Länge L wird ˜ ausgeübt, der in einem Winkel von 45◦ von an ihrer Basis ein Kraftstoß FΔt der Horizontalen nach oben gerichtet ist und der die Stange umwirft. Welche(n) ˜ annehmen, damit die Stange wieder senkrecht landet (d. h. Wert(e) müsste FΔt ˜ ausgeübt wurde)? senkrecht stehend auf dem Ende, an dem FΔt

L

� FΔt

8 ∗∗∗ Eine Drehscheibe mit einem Trägheitsmoment J0 dreht sich frei um eine hohle, senkrechte Achse. Auf einer geraden, radialen Bahn auf der Drehscheibe läuft ein Wagen mit der Masse m reibungsfrei. Ein Seil, das an dem Wagen befestigt ist, läuft über eine kleine Rolle und dann durch die hohle Achse nach unten. Anfangs dreht sich das gesamte System mit der Winkelgeschwindigkeit ω0 und der Wagen befindet sich in einem festen Radius R von der Achse entfernt. Dann wird eine übermäßige Kraft auf das Seil ausgeübt und der Wagen so nach innen gezogen. Schließlich erreicht er den Radius r und verharrt dort.

R 0

5.14 Drehbewegung in drei Dimensionen

161

a) Wie groß ist die neue Winkelgeschwindigkeit des Systems? b) Zeigen Sie genau auf, dass die Energiedifferenz des Systems zwischen den beiden Zuständen gleich der durch die Zentripetalkraft verrichteten Arbeit ist. c) Wie groß ist die Radialgeschwindigkeit dr/dt, mit der der Wagen den Radius R durchläuft, wenn das Seil losgelassen wird? 9 ∗∗∗ Ein Schwungrad, das die Form einer homogenen, dünnen, runden Platte mit einer Masse von 10,0 kg und einem Radius von 1,00 m hat, wird auf einer Welle angebracht, die durch ihren Massenmittelpunkt verläuft, aber mit ihrer Ebene einen Winkel von 1◦ 0� bildet. Wie groß ist das Drehmoment, das die Lager liefern müssen, wenn das Rad sich mit einer Winkelgeschwindigkeit von 25,0 Radianten s−1 um diese Achse dreht?

Lösungen zu den Aufgaben 5.1 Energieerhaltung

1 N 1. FF = cos α √ ⎞ ⎛ ⎜⎜⎜ 1 3 ⎟⎟⎟ ⎟⎠ kg 2. A = ⎝⎜ + 2 2 � h(2R − h) 3. F = W R−h � � 1 1 4. a) a = 1− √ g 2 2 5. θ = 30◦ 6. 2t 7. θ = 30◦ 4w 8. W = sin θ � 9. v = 2gH

FW = tan α N � 3 kg B= 2

� � � � � 2H � b) M2 , t1 = � � 1 g 1− √ 2

c) Nein.

5.2 Die keplerschen Gesetze und die Gravitation 1. 1,033 2. a) λ = 0

b) rS =

1 rEM 9

5.3 Bewegung 1. 2. 3. 4. 5.

a) t = 1843,8 s ≈ 155 s Nach unten. e ≈ 0,98 14,8 m/s

b) v ≈ 422 m/s

164

Lösungen zu den Aufgaben

6. a) 84,5 km/h 8 7. aD = aR 9

5.4

b) 0,84 m/s2

Die newtonschen Gesetze

1. T = 25 N 2. F =

M2 (M + M1 + M2 )g M1

3. g =

v2 (2M + m) 2mh

4. a) anach oben = g/3

b) 126 kg

5. mB ≈ 5,8 kg

5.5

Die Impulserhaltung

1. m2 /m1 = 3 2. a) Ja.

b) Nach Norden.

3. F = μv(v + gt)  m+ M g 4. V = x m L f 5. Δv ≈ v 4 6. FR = 5,1 × 10−3 N

FR ∝ −v2

5.6

Vektoren

1. Möglichkeit 2, um 4,0 min tV V tA tV 2. a) = √ b) = 2 − R2 tA tL tA V  H 3. T = 2π g 4. a) Direkt nach Norden. b) 0,17 h

c) V = 5 × 10−4 m/s

Lösungen zu den Aufgaben

165

5.7 Nichtrelativistische Stöße zwischen zwei Körpern in drei Dimensionen m 1. θmax = sin−1  M   1 − α2 m2 ΔT   = 2. T lab m1 + m2 M 3. =9 mP

5.8 Kräfte

g 8 2. v0 = 595 m/s 3. 83,3 km/h

1. a = −

g a = √ m/s2 3 b) φ = 60◦

4. Er beschleunigt. √ 5. a) 3W sin α

5.9 Potentialeund Felder 1. x0 − x = x0 − v0

m k

2. Überall.

3. v∞ ≈ 6,3 km/s 1 4. H = R 2  gL 5. v = 2 R 6. 3 7. 7, 2 m/s2 8. ≈ 625 J, ≈ 570 J, ≈ 330 J 9. Der Satellit würde auf einer parabelförmigen Umlaufbahn entweichen.

5.10 Einheiten und Maße λ v τ μλ F� = 2 F τ 2. T ist unabhängig von k.

1. v� =

λ a τ2 2 μλ E� = 2 E τ

a� =

166

5.11

Lösungen zu den Aufgaben

Relativistische Energie und relativistischer Impuls

1. a) pc = Ekin



2. T μ = 4,1 MeV

2mc2 1+ Ekin

3. a) c/2 4. Eγ = 4mP c2 (3,8 GeV)

5.12

1/2

√ v 3 = b) c 2 T υ = 29,7 MeV 4 b) √ m 3

Drehungen in zwei Dimensionen und Massenmittelpunkt

1. x = 1,7 cm 1 2. y = x 2 √ a 3. h = (3 − 3) 2 m1 L (von m2 ) 4. x = m1 + m2 5. n = a 6. M = 1,8 kg

5.13

pμ = pυ = 29,7 MeV/c

Drehimpuls und Trägheitsmoment

mL2 12 mg 2. a = m + M2 Mg 3. F = 4 2Mgh 4. v0 = r J + Mr2 1. J =

5. a = 2g sin θ

3d − 3r 2 12V02 7. S = 49μg 2 8. a) v0 = Rω0 5 6. h =

5 v = v0 7 b) v0 =

1 Rω0 4

Lösungen zu den Aufgaben

167

5.14 Drehbewegung in drei Dimensionen 1. e. 2. a) Vor dem Loslassen.

b) vS =

l ω0 2

ω = ω0

(wobei l die Länge der Schnur ist) 3. vS =

v 2

 mv2 Ekin  = 1 2

4. a)

v 2

6 v 5 L  5. v = 8g L c)

L=

mvR 2

 mv2 Ekin  = 2 3

b) Mv

L 4

d) 20 %

J2 ω J1 + J2 + M2 r2  πgLn � (n = ganze Zahl) 7. FΔt = M 3

6. Ω =

J0 + mR2 ω0 b) (Keine Lösung angegeben.) J0 + mr2  J0 + mR2 2 c) v = ω0 (R − r2 ) J0 + mr2

8. a) ω =

9. T ∼ 27 Nm

ω=

v 3R

168

Bildnachweis

Bildnachweis Seite V, Feynman etwa um 1962, (Fotograf unbekannt) mit freundlicher Genehmigung von Ralph Leighton Seite 50, Jean Ashton Rare Book and Manuscript Library, Butler Library, Sixth Floor Columbia University, 535 West 114th Street, New York, NY 10027 Seite 92, Fakultät für Physik, Universität Bristol Seite 104, California Institute of Technology

Index Abflachung der Erde, 125 des Mondes, 125 Arbeit, 50 Atomkern, Entdeckung des, 81 babylonische Mathematik, 56 Badewanne, 124 Beschleunigung, 49, 52 Beschleunigungsmesser, 116 Caltech, 22 Differentiation, 25 von Vektoren, 34 Drehimpuls, 75, 127 in der Astronomie, 130 in der Quantenmechanik, 132 tatsächlicher, 128 Drehmomenterzeuger, 112 Einprägen, 55 von Formeln, 45 Elektrizität, 54 Elektron, 132 Energie, 48, 65 eines Neutrinos, 98 eines Photons, 94 Gesamtenergie, 52 kinetische, 50 potentielle, 51, 54 Energieerhaltungssatz, 78 Erde Abflachung, 125 Nutation, 130 Präzession, 126 Rotation, 124

Feder, ideale, 54 Feedback (Rückführungsprinzip), 112 Fluchtgeschwindigkeit, 70 Freiheitsgrad, 110 Gesamtenergie, 52 Geschwindigkeitsvektor, 34 Gravitation, 54 Gravitationskraft nahe der Erdoberfläche, 53 zwischen Massenpunkten, 53 Gyroskop, 102 Einstellung eines, 103 Verbesserungen am, 110 zur Schiffsstabilisierung, 105 Hauptachse, 127 Impuls bei kleinen Geschwindigkeiten, 49 eines Neutrinos, 98 eines Photons, 94 und Kraft, 48 Impulserhaltung, 48, 98 Integration, 28 Linienintegrale, 36 numerische, 88 keplersche Gesetze, 77 Komponenten, 32 Kraft, 48, 53 bei kleinen Geschwindigkeiten, 49 konversative, 51 Kreiselkompass, 106 Lagersteine, 111 Linienintegrale, 36

170 Logarithmus, natürlicher, 90 Messgenerator, 110 Mond, Abflachung des, 125 Nautilus, 101, 123 Navigationssystem, vollyständiges, 121 nichtrelativistische Näherung, 49 numerische Integration, 88 Nutation der Erde, 130 Ortsvektor, 35 Physik physikalisch verstehen, 57 physikalische Gesetze, 47 Pion, 97 Präzession der Erde, 126 Protonenstrahlablenkvorrichtung, 94 Raketen, 85 mit Ionenantrieb, 91 mit Photonenantrieb, 93 Raketengleichung, grundlegende, 85 Raketentriebwerke, chemische, 90 Reibung, 55 Rutherford, 84

Index Satellitenbewegungen, 77 Scheibe, rotierende, 127 Schub, 91 Verhältnis Schub/Leistung, 93 Skalarprodukt, 33 Stoß zwischen Massepunkten, 48 Trägheitsmoment, 127 Trägheitsnavigation, 101 Umlaufbahn elliptische, 78 hyperbolische, 81 Vektoren, 29 Addition, 30 Geschwindigkeitsvektor, 34 Komponenten, 30, 32, 36, 40 Lage der, 29 Ortsvektor, 35 Skalarprodukt, 33 Subtraktion, 31 Wind, 124 Winkelgeschwindigkeit, 127