Festschrift für Godehard Kayser 9783814558387

Godehard Kayser ist seit 2010 Vorsitzender des IX. Zivilsenats des BGH. In der Festschrift würdigen Ihn Weggefährten und

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German Pages 1208 [1206] Year 2019

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Festschrift für Godehard Kayser
 9783814558387

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Festschrift zu Ehren von Godehard Kayser

Festschrift zu Ehren von Godehard Kayser

herausgegeben von Reinhard Bork, Dietmar Grupp, Bruno M. Kübler

RWS Verlag Kommunikationsforum GmbH ˜ Köln

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Grußwort der Präsidentin des Bundesgerichtshofs Von Erfüllungswahl, der Schlacht um die Bastille und einem Heidetraum Wenn Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof Professor Dr. Godehard Kayser am 6. Oktober dieses Jahres seinen 65. Geburtstag feiern darf und im Juni des kommenden Jahres in den Ruhestand treten muss, dann hat sich ein über 40jähriges Berufsleben im Dienste am Recht erfüllt, das in beeindruckender Weise richterliche Tugenden, wissenschaftliches Profil und persönliche Stärken vereinen konnte. Neben den auch im vorliegenden Werk ersichtlichen insolvenzrechtlichen Schwerpunkten sind auch ein überaus erfolgreiches Wirken für das anwaltliche Berufsrecht sowie die Persönlichkeit eines Richterkollegen zu würdigen, die durch humorvolle, leise Töne ebenso geprägt ist wie durch die Fähigkeit zu Führung und Gestaltung. Die deutschen Rechtswissenschaften zeichnen sich in besonderer Weise durch einen offenen und auf hohem Niveau ausgetragenen Diskurs der verschiedenen an ihr beteiligten Professionen aus. Gerade akademische Wissenschaft und richterliches Wirken sind in vielfacher Weise auf diesen sich gegenseitig befruchtenden und auf der Basis derselben Ausbildung gelingenden Austausch angewiesen. Die außerordentlich erfolgreiche Synthese von akademischem und richterlichem Wirken erweist sich als Garant für in besonderer Weise belastbare, nachhaltige und erfolgreiche Rechtanwendung gerade auch bei sich immer wieder stellenden neuen Rechtsfragen, seien sie durch den Gesetzgeber oder die Praxis aufgeworfen. Der eingespielt offene Diskurs von Wissenschaft und richterlicher Praxis bewahrt die einen vor grauer Theorie, die anderen vor unverbundenen Entscheidungen des Einzelfalls. Die Mitglieder des Bundesgerichtshofs haben sich diesem Diskurs für die jeweiligen Senatsmaterien von jeher gerne gestellt und diesen wo möglich maßgeblich mitgestaltet. Dieses allen Beteiligten dienende Element höchster Fachlichkeit repräsentiert der Jubilar der vorliegenden Festschrift in vorbildlicher Weise. Langjährig in den wissenschaftlichen Dialog als Richter, Autor, Kommentator, Lehrender und Vortragender eingebunden, vertritt er vor allem die Kernmaterie „seines“ IX. Zivilsenates in paradigmatischer Weise.

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Grußwort der Präsidentin des Bundesgerichtshofs

Godehard Kayser, in Berlin geboren, wurde am 3. Dezember 1981 in den richterlichen Dienst des Landes Nordrhein-Westfalen aufgenommen, nachdem er die erste und zweite juristische Staatsprüfung in Hamm und Düsseldorf sehr erfolgreich abgelegt hatte. Den jungen Richter erwarteten die üblichen Stationen an verschiedenen Amts- und Landgerichten sowie dem Oberlandesgericht Hamm, die ihn als Proberichter und Richter am Landgericht 10jährige Erfahrungen in vielen Bereichen des Zivilrechts sowie der Freiwilligen Gerichtsbarkeit sammeln ließen. Es sind Jahre, die neben der Fachlichkeit auch der Entwicklung einer Richterpersönlichkeit zugeordnet werden können, die sich als überaus leistungsstark, verantwortungsbewusst und mit allen Anlagen wissenschaftlicher Befähigung empfahl. Zugleich wurde auch schon in diesen frühen Berufsjahren ein Faible für die Ausbildung des juristischen Nachwuchses durch Nebentätigkeiten als Korrekturassistent an der Westfälischen Wilhelms-Universität, in Referendararbeitsgemeinschaften, als Prüfer und später als Mitglied des Justizprüfungsamtes sowie Lehrbeauftragter an der Wilhelms-Universität ersichtlich. Entscheidenden Anteil an den – aus der Rückschau so stimmig und konsequent verfolgt erscheinenden – beruflichen Wegen dürfte eine erste Abordnung an den Bundesgerichtshof als junger Familienvater zur wissenschaftlichen Mitarbeit in den IX. Zivilsenat gehabt haben. Ausgestattet mit der hier sehr erfolgreich erworbenen weiteren Kompetenz als wissenschaftlicher Mitarbeiter empfahl sich Godehard Kayser zur Abordnung auch an das Bundesverfassungsgericht, wo er Herrn Richter des Bundesverfassungsgerichts Winter einer ebenso erfahrenen wie prägenden Persönlichkeit u. a. bei bedeutenden Senatsentscheidungen zuarbeiten durfte. Ausgestattet nun auch mit dem Werkzeug des verfassungsrechtlichen Floretts diente Godehard Kayser weitere erfolgreiche Jahre dem Oberlandesgericht Hamm, u. a. in dem für das Konkurs-, Vergleichs-, Zwangsversteigerungsund Zwangsverwaltungsrecht zuständigen 15. Zivilsenat. Im Jahr der Jahrtausendwende wurde er auf Vorschlag des Justizministers des Landes Nordrhein-Westfalen zur Wahl als Richter am Bundesgerichtshof vorgeschlagen und bereits bei der unmittelbar darauffolgenden Wahl im Jahr 2001 zum Richter am Bundesgerichtshof gewählt, wo er seither dem IX. Zivilsenat mit den Schwerpunkten Insolvenzrecht, Zwangsvollstreckungsrecht, aber auch dem Recht der Rechtanwalts- und Steuerberaterhaftung zugewiesen ist. Mit einer Promotion zur „Lebensversicherung in der Insolvenz des Arbeitgebers – Zugleich ein Beitrag zur Erfüllungswahl und Erfüllungsablehnung“ sowie weiterer Lehrtätigkeit an „seiner“ Universität widmete

Grußwort der Präsidentin des Bundesgerichtshofs

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Godehard Kayser seine wissenschaftlichen Leistungen nunmehr ganz dem Bereich des Insolvenzrechts, dem neben seiner Familie seine zweite große Leidenschaft gilt. Die Verleihung des Titels eines Honorarprofessors 2008 würdigte die jahrelangen Verdienste in Lehre und Forschung und manifestierte die Brücke, die zwischen praktischer Fragestellung und wissenschaftlicher Analyse zu schlagen ist. Mit seiner Ernennung zum Vorsitzenden Richter am Bundesgerichtshof und der Bestellung zum Vorsitzenden Richter des IX. Zivilsenats im Jahr 2010 konnte das vorbezeichnete überaus erfolgreiche Wirken auch dienstrechtlich nachvollzogen werden. Godehard Kayser steht aber auch wie wenige andere für das in besonderer Weise verfassungsrechtlich geprägte anwaltliche Berufsrecht. Neben seiner Tätigkeit im IX. Zivilsenat hat Godehard Kayser auch beim Anwaltssenat des Bundesgerichtshofs seit vielen Jahren, ab dem 1. Januar 2012 zugleich als dessen stellvertretender Vorsitzender mit eigenständiger Zuständigkeit neben den von Gesetzes wegen zu Vorsitzenden dieses Senats berufenen Präsidenten des Bundesgerichtshofs, Herausragendes geleistet. Mit einer wegweisenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juli 1987, der sog. „Bastilleentscheidung“ in Anlehnung an den Kampf um die Bastille am 14. Juli 1789, hatte das Bundesverfassungsgericht eine Doppelstrategie der Verantwortlichkeit einerseits des Gesetzgebers für grundlegende Abwägungen des Berufsrechts und andererseits die ausfüllende Verantwortung der satzungsgebenden Selbstverwaltungsorgane der Rechtsanwaltschaft festgelegt, die einer berufsrechtlichen Wesentlichkeitstheorie entspricht. Die Ablösung der seinerzeitigen Standesrichtlinien als verbindlichen Entscheidungsgrundlagen des anwaltlichen Berufsrechts zugunsten einer dem Sachlichkeitsgebot verpflichteten Berufsausübung in gesetzlichem Rahmen hat in der Folge eine Vielzahl grundlegender Entscheidungen der anwaltlichen Berufsgerichte und des Anwaltssenats beim Bundesgerichtshof ausgelöst. Unter dem Vorsitz von Godehard Kayser sind ungezählte, nicht mehr hinweg zu denkende Entscheidungen zu Grundlagen des anwaltlichen Berufsrechts getroffen worden, darunter zuletzt auch solche zu der das anwaltliche Selbstverständnis revolutionierenden jungen Profession der Syndikusrechtsanwälte. Dabei hat sich Godehard Kayser einerseits als wertkonservativer Bewahrer der – besonderen Bindungen an die Belange der rechtssuchenden Allgemeinheit unterliegenden – traditionellen Anwaltschaft ebenso verpflichtet gesehen wie der moderaten Öffnung des Berufsstandes

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Grußwort der Präsidentin des Bundesgerichtshofs

für neue Anforderungen und nicht zuletzt europarechtlichen Bindungen folgenden Erwägungen zur Liberalisierung des Berufsbildes. Neben der Grundsätzliches klärenden und zugleich unmittelbar rechtsgestaltend wirkenden Rechtsprechung des Anwaltssenats selbst war und ist es Godehard Kayser dabei ein besonderes Anliegen und eine ganz besondere Freude, auch mit den anwaltlichen Beisitzern des Senats, regelmäßig besonders engagierten und fachlich ausgewiesenen Vertreterinnen und Vertretern ihres Fachs, den kollegialen Kontakt zu fördern und auszubauen. Bei einer diesem Anliegen dienenden Zusammenkunft aller richterlichen und anwaltlichen Mitglieder des Anwaltssenats gab Godehard Kayser der Autorin dieser Zeilen den entscheidenden Hinweis auf die Notwendigkeit der Bepflanzung einer Brachfläche auf dem Gelände des Bundegerichtshofs, der – wesenstypisch für diesen vorzüglichen Kollegen – sogleich mit einem konkreten Vorschlag versehen wurde. Seither ist mit der Bodendeckerrose Heidetraum neben allem Fachlichen auch ein bleibendes botanisches „Kayserdenkmal“ geschaffen, das in seiner blühenden Dimension auch sinnbildlich für einen in jeder Hinsicht Großen seiner Zunft steht. Im August 2019

Bettina Limperg

Geleitwort Diese Festschrift ist anlässlich seines 65. Geburtstages einem Mann gewidmet, der sich durch sein Wirken als Richter, zuletzt in besonderem Maße als Vorsitzender des unter anderem für das Insolvenzrecht zuständigen IX. Senats des Bundesgerichtshofes, aber auch durch sein wissenschaftliches Werk um die Gestaltung und Fortbildung des Rechts verdient gemacht hat. Godehard Kayser wurde am 6. Oktober 1954 in Berlin geboren. Er entstammt einer Juristenfamilie, die sich über Generationen zurückverfolgen lässt. Sein Vater, eine Richterpersönlichkeit im Berliner Justizdienst, riet ihm vom Studium der Rechte dringend ab. Dafür waren der Berufsverlust seines Vaters in der NS-Zeit, der in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts in der Familie noch sehr präsent war, und die für einen im freien Teil Berlins lebenden Juristen latent bestehende Gefahr ausschlaggebend, unter einem totalitären Regime seine Arbeit zu verlieren. Es war ein geflügeltes Wort am Mittagstisch, dass jeder Unrechtsstaat Ärzte, aber keine Juristen benötige. In Berlin besuchte Kayser bis zum Abitur die Schule. Anschließend entschied er sich doch für das Jurastudium, das er aber nicht in seiner Heimatstadt Berlin, sondern in Münster/Westfalen aufnahm. Hier lebte einige Verwandtschaft, die an den Wochenenden besucht werden konnte. Das Erste juristische Staatsexamen legte er am 3. Februar 1979 in Hamm/ Westfalen ab. Dort hatte im Jahre 1906 schon sein Großvater, der „lange Kayser“ aus Hamm-Rhynern, die Referendarprüfung bestanden. Während des Referendariats in Münster war Kayser wissenschaftlicher Mitarbeiter an dem von Werner Hoppe geleiteten Institut für Raumplanung. Am 3. November 1981 legte er die Zweite juristische Staatsprüfung in Düsseldorf ab. Für Kayser stand fest, dass er den Richterberuf ergreifen wollte, wobei ihm nach eigenem Bekunden schon in den frühen Morgenstunden nach dem Prüfungstag der Personaldezernent des Oberlandesgerichtes telefonisch die Einstellung in den ordentlichen Justizdienst anbot. Die Konkurrenz von der Verwaltungsgerichtsbarkeit hatte da das Nachsehen. Angesichts des sich seinerzeit im Rahmen erster Einsparbemühungen der Länder schon abzeichnenden Einstellungsstopps gab Godehard Kayser sein

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Geleitwort

Promotionsvorhaben auf und trat noch im Dezember 1981 in den höheren Justizdienst des Landes Nordrhein-Westfalen ein. Im Jahr 1982 heiratet er seine Frau Ulrike, die er während des Jurastudiums kennengelernt hatte. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor. Als Gerichtsassessor war Godehard Kayser an Zivilkammern der Landgerichte Dortmund und Münster, an den Amtsgerichten Unna und Lünen sowie im Justizprüfungsamt an dem Oberlandesgericht Hamm tätig. Im Jahr 1986 wurde er in eine Planstelle am Landgericht Münster eingewiesen. Dort versah er seinen Dienst in einer Straf- und in einer Zivilkammer, war als Referendararbeitsgemeinschaftsleiter tätig und prüfte in der Ersten juristischen Staatsprüfung, bis ihn im Sommer 1988 die Anfrage erreichte, ob er sich an den Bundesgerichtshof in Karlsruhe abordnen lassen wolle. Die junge Familie ließ sich darauf ein. An die Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter im IX. Zivilsenat unter dem Senatsvorsitzenden Franz Merz bis Ende 1990 schloss sich eine mehrjährige Abordnung an das Bundesverfassungsgericht an. „Sein“ Verfassungsrichter, Klaus Winter, vertraute Kayser alsbald die Vorbereitung mehrerer umfangreicher Senatssachen an, die sich unter die Überschrift „Verfassungsrechtliche Überprüfung des Abtreibungsstrafrechts“ fassen lassen. Während der Abordnungszeit wurde Godehard Kayser am 16. Dezember 1991 zum Richter am Oberlandesgericht befördert. Im Sommer 1993 trat er in Hamm seinen Dienst an. Nach einem kurzen Einsatz in einem Familiensenat wechselte er in den für die gesamte Freiwillige Gerichtsbarkeit, das Zwangsvollstreckungs- und Konkursrecht zuständigen 15. Zivilsenat, dem er bis zum Jahresende 2000 angehörte. Während der Zeit am Oberlandesgericht nahm Godehard Kayser seine nebenamtliche Prüfertätigkeit im Justizprüfungsamt wieder auf. Am 25. Mai 1994 wurde Kayser zum Berufsrichter des Disziplinarsenats des Oberverwaltungsgerichtes für das Land Nordrhein-Westfalen ernannt. Dieses zusätzliche Richteramt übte Godehard Kayser sechs Jahre lang aus. Dies war für ihn insoweit eine große Bereicherung, als der damalige Disziplinarsenat im Wesentlichen aus Berufsrichtern einer anderen Gerichtsbarkeit, nämlich aus Kollegen des Oberverwaltungsgerichtes, gebildet wurde und unter Beteiligung von Beamtenbeisitzern verhandelte. Im Januar 2001 wechselte Godehard Kayser in einen der Bausenate des Oberlandesgerichtes und übernahm dort den stellvertretenden Vorsitz.

Geleitwort

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Seit 1996 nahm Kayser an der Westfälischen Wilhelms-Universität zu Münster Lehraufträge wahr. Er hielt 13 Jahre lang die Vorlesung zum Zivilprozessrecht für Endsemester, bis zum Jahre 2002 auch die zum Zwangsvollstreckungsrecht. Mit Ingo Saenger entstand daraus ein gemeinsames Kommentarprojekt zur Zivilprozessordnung. Am 4. Juli 2001 wurde Kayser zum Richter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe ernannt. Er kehrte gleichsam in seinen „Ausbildungssenat“, den IX. Zivilsenat, zurück, der damals von Gerhart Kreft geleitet wurde. Der Arbeitsschwerpunkt des Senats hatte sich in der Zwischenzeit verschoben. Für die Bürgschaft war nun der XI. Zivilsenat zuständig. Die letzten unerledigten Bürgschaftsfälle des Dezernats übernahm Gero Fischer im Tausch gegen die von ihm nicht so geliebten Steuerberaterhaftungssachen. Die Zuständigkeit für die Notarhaftung verlor der Senat ebenfalls zum Bedauern von Gerhard Ganter, der damit seiner Lieblingsmaterie verlustig ging. Bei der Bearbeitung von Zwangsvollstreckungsbeschwerden, mit denen der IX. Zivilsenat nach der reformierten Zivilprozessordnung urplötzlich überschüttet wurde, konnte Godehard Kayser nahtlos an seine Tätigkeit am Oberlandesgericht anknüpfen. Die vorrangige Bearbeitung dieser Sachen erwies sich dann aber als grober taktischer Fehler, weil die Senatszuständigkeit hierfür ein gutes Jahr später sein Ende fand und im Jahr 2003 auch die Bestände in den IXa Hilfszivilsenat wechselten, dem Godehard Kayser nicht angehörte. Unter den Vorsitzenden Gero Fischer und Gerhard Ganter folgten für den Senat sehr harte Zeiten, in denen es nicht nur darum ging, die viel zu hohen Rückstände auf ein erträgliches Maß zurückzuführen, sondern vor allem der Aufgabe gerecht zu werden, das Insolvenzrecht auf der Grundlage der am 1. Januar 1999 in Kraft getretenen Insolvenzordnung auszuformen. Daneben standen immer wieder neue Rechtsfragen zum Anwaltshaftungs- und Vergütungsrecht auf der Tagesordnung. Seit April 2008 stellvertretender Vorsitzender des IX. Zivilsenats übernahm Godehard Kayser am 28. Oktober 2010 dessen Vorsitz. Mit Wirkung vom 1. Januar 2012 vertraute das Präsidium Godehard Kayser zusätzlich den stellvertretenden Vorsitz im Senat für Anwaltssachen des Bundesgerichtshofes an. Dieses Amt übt er bis zum heutigen Tage aus. Dazu gehört es, in Vertretung der gesetzlichen Vorsitzenden des Senats, der Präsidentin des Bundesgerichtshofes, in jeder zweiten Sache den Vorsitz zu führen. Im Jahr 2010 gehörte Godehard Kayser überdies dem Präsidium des Bundesgerichtshofes an.

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Geleitwort

Am 14. Juni 2006 promovierte Godehard Kayser mit dem Thema „Die Lebensversicherung in der Insolvenz des Arbeitgebers – Zugleich ein Beitrag zur Erfüllungswahl und Erfüllungsablehnung“. Am 14. Mai 2008 verlieh die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Westfälischen WilhelmsUniversität zu Münster Godehard Kayser die Bezeichnung eines Honorarprofessors. Die Arbeitsschwerpunkte des IX. Zivilsenats spiegeln sich in den Berichterstattungen von Godehard Kayser wider. In allen Bereichen der Senatszuständigkeit hat er zahlreiche und für die Rechtsentwicklung bedeutsame Entscheidungen verfasst. Dabei war es für Godehard Kayser stets ein Anliegen, nicht nur juristisch überzeugende, sondern auch praxistaugliche Lösungen zu entwickeln und diese präzise und zugleich verständlich darzustellen. Allein in der amtlichen Sammlung sind 21 aus seiner Feder stammende Entscheidungen veröffentlicht. Godehard Kaysers in der Instanz geschultes und im Senat herausragendes Verständnis für das Zwangsvollstreckungsrecht zeigt sich in einer ganzen Reihe von Entscheidungen zu dieser Materie. Beginnend mit dem Bereicherungsausgleich nach Pfändung einer nicht bestehenden Forderung (BGHZ 151, 127) reicht das Spektrum hier über die Anwendbarkeit des § 803 Abs. 2 ZPO in der Zwangsverwaltung (BGHZ 151, 384), die Pfändung eines Nießbrauchs (BGHZ 166,1), den Schadensersatzanspruch nach § 945 ZPO (BGHZ 168, 352), die (Nicht)Anwendbarkeit des § 1362 BGB auf nichteheliche Lebensgemeinschaften (BGHZ 170, 187) bis hin zu Rangfragen in der Zwangsversteigerung (BGHZ 154, 387; BGHZ 166, 319). Von den zahlreichen Entscheidungen zur Rechtsanwalts- und Steuerberaterhaftung sei das Urteil zu den Pflichten eines Steuerberaters bei Anhaltspunkten für eine Verfassungswidrigkeit des Steuergesetzes erwähnt (BGHZ 178, 258). In noch größerem Maß haben die von Godehard Kayser vorbereiteten Entscheidungen das weite Feld des Insolvenzrechts geprägt. Hervorgehoben seien die Urteile zur eingeschränkten Anwendbarkeit der Saldotheorie (BGHZ 161, 241), das zum Recht der Masseunzulänglichkeit wegweisende Urteil BGHZ 167, 178 und die grundsätzlichen, sich mit dem Verordnungsgeber auseinandersetzenden Ausführungen zur Vergütung des vorläufigen Insolvenzverwalters bei der Befassung mit Gegenständen, die mit Aus- oder Absonderungsrechten belastet sind (BGHZ 168, 321). Einen besonderen Schwerpunkt bilden die Entscheidungen zum Anfechtungsrecht, darunter die Urteile zur Inkongruenz von Leistungen zur Abwendung eines angedrohten Insolvenzantrags (BGHZ 157, 242), zur Anfecht-

Geleitwort

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barkeit von Leistungen, die der Schuldner mit Zustimmung des mitbestimmenden vorläufigen Insolvenzverwalters erbracht hat (BGHZ 161, 315), zur Anfechtungsberechtigung in der Doppelinsolvenz von Gesellschaft und Gesellschafter (BGHZ 178, 171), zum maßgeblichen Zeitpunkt für die Anfechtbarkeit des Pfändungspfandrechts an einer Mietforderung (BGHZ 182, 264) sowie die von der früheren Rechtsprechung abweichenden Urteile zur Bedeutung einer Vorpfändung bei Anfechtung der Hauptpfändung im Drei-Monats-Zeitraum vor dem Insolvenzantrag (BGHZ 167, 11) und zur Bedeutung des § 814 BGB für die Aufrechnung des Empfängers von Scheingewinnen mit einem Schadensersatzanspruch (BGHZ 179, 137). Wesentliche Beiträge leistete Godehard Kayser schließlich im Zuge der Auseinandersetzung des IX. Zivilsenats mit dem Bundesarbeitsgericht betreffend die Anfechtbarkeit von Lohnzahlungen. Inhaltlich näherten sich die Standpunkte nicht zuletzt aufgrund eines von ihm vorbereiteten Urteils an (BGHZ 180, 63). Den Kampf um die Zuständigkeit für diesen Bereich der Insolvenzanfechtung entschied der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes allerdings ungeachtet des von Godehard Kayser ausgearbeiteten tiefschürfenden Vorlagebeschlusses (NJW 2009, 1968) zugunsten des Bundesarbeitsgerichtes (BGHZ 187, 105). Als Vorsitzender des IX. Zivilsenats leistet Godehard Kayser seit mehr als zehn Jahren ein immenses Arbeitspensum. Die tägliche Präsenz am Gericht vom Morgen bis in den späten Abend und oftmals auch am Wochenende ist ihm trotz seines ausgeprägten Familiensinns eine Selbstverständlichkeit. Den Senat in seiner sich immer wieder erneuernden Besetzung im Spannungsfeld zwischen Kontinuität und Fortentwicklung verantwortungsvoll zu führen, betrachtet er stets als seine oberste Pflicht. Dazu gehört für Godehard Kayser – der Tradition des Senats entsprechend – immer auch, die aktiven und ehemaligen Mitglieder des Senats, die wissenschaftlichen Mitarbeiter und ihre Partner außerhalb des Dienstes bei gesellschaftlichen Veranstaltungen verschiedenster Art zusammenzuführen. Godehard Kayser ist neben seinen richterlichen Aufgaben in vielfacher Hinsicht ehrenamtlich tätig. Er hält an der Westfälischen Wilhelms-Universität Vorlesungen zum Thema Insolvenz- und Sanierungsrecht, engagiert sich im „Zentrum für Insolvenz und Sanierung an der Universität Mannheim e. V.“, dessen wissenschaftlichem Beirat er seit vielen Jahren angehört, und arbeitete in der von Roman Seer geleiteten Kommission

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Geleitwort

mit, die sich die Aufgabe gestellt hatte, das Steuer- und das Insolvenzrecht zu harmonisieren. Dieser Aufgabe hat sich auch der von Günter Kahlert geleitete Hamburger Kreis für Sanierungs- und Insolvenz-Steuerrecht verschrieben, an dessen Arbeitssitzungen Godehard Kayser seit Jahren teilnimmt. Vor Eintritt in den Ruhestand kann Godehard Kayser als Autor und Herausgeber auf ein vielfältiges Veröffentlichungswerk zurückblicken. Es umfasst mittlerweile 46 Titel und belegt eindrucksvoll, in welcher Breite der Jubilar wissenschaftlich interessiert ist. Das Spektrum reicht – um nur einige Titel zu erwähnen – von den wegweisenden Kommentierungen zum FGG in den Kommentaren von Keidel/Kuntze/Winkler, zur ZPO in dem von Saenger herausgegebenen Kommentar, zur InsO in dem mittlerweile von ihm auch herausgegebenen Heidelberger Kommentar und vor allem zum Anfechtungsrecht im Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung über seine grundlegende Dissertation „Die Lebensversicherung in der Insolvenz des Arbeitgebers“ bis hin zu nicht weniger als 40 Aufsätzen, die in ihrer thematischen Bandbreite von der Abschiebehaft in der freiwilligen Gerichtsbarkeit und dem Betreuungs- und Unterbringungsrecht über das Revisions- und Beschwerderecht, die Vollstreckung nach der Brüssel Ia-VO und die Verjährung bis hin natürlich zum Insolvenzrecht in all seinen Facetten reichen. Godehard Kayser hat in seinem beruflichen und wissenschaftlichen Wirken eine beeindruckende Produktivität unter Beweis gestellt. Man kann sich kaum vorstellen, dass sich das nach dem Eintritt in den bevorstehenden Ruhestand ändern wird. Autoren, Herausgeber und Verlag freuen sich deshalb auf die Fortsetzung des fachlichen Dialogs, wünschen dem Jubilar aber auch, dass er mehr Zeit für andere schöne Dinge haben wird, die das Leben außerhalb der heiligen Hallen des Bundesgerichtshofes zu bieten hat. Hamburg/Karlsruhe/Dresden, im Juni 2019

Reinhard Bork Dietmar Grupp Bruno M. Kübler

Inhaltsverzeichnis Grußwort ...................................................................................................... V Geleitwort .................................................................................................... IX Verzeichnis der wissenschaftlichen Veröffentlichungen ...................... XXI Autorenverzeichnis ............................................................................. XXVII MARTIN AHRENS Verewigte Insolvenzverfahren reloaded – ein Problem asymmetrischer Verfahren – .......................................... 1 CHRISTIAN BERGER Wegfall des Anfechtungsanspruchs bei „Massezulänglichkeit“ ......... 17 GEORG BITTER Die Doppelsicherung durch Gesellschaft und Gesellschafter als Lackmustest für den Normzweck des Gesellschafterdarlehensrechts .......................................................................................... 41 REINHARD BORK Heilung der Anfechtbarkeit? ................................................................ 65 MAX BRAEUER Rechtsanwälte vor dem Bundesgerichtshof ........................................ 77 MORITZ BRINKMANN Der Insolvenzexperte in der Eigenverwaltung – Notwendigkeit, Bestellung, Haftung – ............................................. 99 PETER DEPRÉ Rechtsetzung oder noch Rechtsfortbildung – Reflexion über den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 14. Juli 2016 – IX ZB 31/14 – ............................................................. 117 SUSANNE DORNBLÜTH Mediation als Haftungsfalle? – Besondere Pflichten von juristisch ausgebildeten Mediatoren – ...... 135

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Inhaltsverzeichnis

INGO DRESCHER Die Geschäftsführerhaftung nach § 64 Satz 1 GmbHG und die Insolvenzanfechtung .......................................................................... 149 JÜRGEN ELLENBERGER Lastschrift in der Insolvenz ............................................................... 165 DETLEV FISCHER Maklerrechtliche Spuren und Impulse in der Judikatur des IX. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs ............................................. 183 GERO FISCHER Können Massegläubiger eine Umqualifizierung ihrer Forderung in eine Insolvenzforderung erreichen? .............................................. 203 LUCAS F. FLÖTHER Die Ziele des präventiven Restrukturierungsrahmens – Kontinuität und Wandel – ............................................................... 215 HANS GERHARD GANTER Das Vermieterpfandrecht an volatilen Gegenständen in der Mieterinsolvenz ................................................................................... 231 MARKUS GEHRLEIN Vorvertrag und Option in der Insolvenz .......................................... 249 ARNDT GEIWITZ Die Besteuerung im Rahmen von Insolvenz und Restrukturierung – Anspruch und Wirklichkeit – ......................................................... 269 THORSTEN GRAEBER Vergütung von Insolvenzverwaltern – eine Sonderrechtszone? ..... 287 DIETMAR GRUPP Präklusion im Wandel der Zeit .......................................................... 299 ULRICH HAAS Umsetzung des präventiven Restrukturierungsrahmens an der Schnittstelle zwischen Insolvenz- und Gesellschaftsrecht .............. 309 PETRA HEIDENFELDER Was hat sich an der Rechtspersönlichkeit, der die Insolvenz droht, im Verlauf der gesetzlichen Entwicklung verändert? ....................... 337

Inhaltsverzeichnis

XVII

HERIBERT HIRTE Die Reform des Insolvenzanfechtungsrechts in der politischen Diskussion ........................................................................................... 351 JOST HÜTTENBRINK Die Verschwiegenheitspflicht der Vorstandsmitglieder einer Rechtsanwaltskammer im Spannungsfeld zur Informationsfreiheit .................................................................................................. 367 FLORIAN JACOBY Masseverbindlichkeiten und anfechtungsfeste Deckungen aus dem Eröffnungsverfahren ........................................................................... 385 GÜNTER KAHLERT Der Ertragsteueranspruch als Insolvenzforderung im Wandel der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes ........................................... 405 FRANK KEBEKUS UND DAVID GEORG Eigenständiger Vergütungsantrag des „nur“ vorläufigen Sachwalters ........................................................................................... 421 DETLEF KLEINDIEK Geschäftsführung und Ressortaufteilung in der Unternehmenskrise ...................................................................................................... 435 BRUNO M. KÜBLER UND DIETMAR RENDELS Insolvenzplan: Kein Obstruktionsverbot bei Schuldner-/ Gesellschaftervorteilen? ...................................................................... 465 KAREN KUDER UND KATRIN STOHRER Aktuelles zur Rechtshandlung des Schuldners nach § 133 Abs. 1 InsO ......................................................................................... 481 PETER LAROCHE Die Insolvenz natürlicher Personen als Herausforderung des Internationalen Insolvenzrechts .................................................. 497 ILSE LOHMANN Die Festschrift – Risiken und Nebenwirkungen .............................. 517 STEPHAN MADAUS Roma locuta, causa finita? – Folgefragen aus dem Urteil des Bundesgerichtshofes zur Haftung der Geschäftsleiter in der Eigenverwaltung – .................... 533

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Inhaltsverzeichnis

WOLFGANG MAROTZKE Fluch der bösen Tat – Zum richtigen Umgang mit § 14 Abs. 3 InsO – ............................ 553 THOMAS MEHRING Objektive Gläubigerbenachteiligung und Saldierung mit Vorteilen der Masse ............................................................................................. 581 PRAXEDIS MÖHRING Fortführung des Geschäftsbetriebs im Eröffnungsverfahren durch den schwachen vorläufigen Insolvenzverwalter? ................... 603 CHRISTOPH NIERING UND DANIEL BERGNER „Insolvenzverfahren 4.0“ – Gestaltungselemente einer Modernisierung des Insolvenzverfahrens – ......................................................................................... 613 DIETMAR ONUSSEIT Quotenzahlung und Vorsteuerberichtigung ..................................... 627 KLAUS PANNEN Die Bank als Beteiligte im vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahren des Schuldners – Chancen und Risiken für Kreditinstitute im vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahren – ............................................................ 639 GERHARD PAPE Hoffnungsschimmer Restrukturierungsrichtlinie – neue Impulse für die Entschuldung aus Europa – ......................... 681 ANDREAS PIEKENBROCK Zahlungen aus debitorischen Konten im Insolvenzanfechtungsrecht ..................................................................................... 707 MICHAEL PLUTA UND GRIT HEIDRICH Die Rückforderung festgesetzter, im Nachhinein als verwirkt erkannter Verwaltervergütungen ....................................................... 723 HANNS PRÜTTING Die Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit ............................................................................................ 741 BERND RAEBEL Gemeinnützigkeit, Vereinigungsfreiheit und Gleichheitssätze ....... 751

Inhaltsverzeichnis

XIX

ANDREAS REMMERT Anwaltliches Berufsrecht und Insolvenzrecht: Verbindungslinien ............................................................................... 773 ALEXANDER RIEDEL Schenkungsanfechtung gemäß § 134 InsO ....................................... 787 SUSANNE RIEDEMANN Die Kontenführung im Insolvenzverfahren ...................................... 799 STEPHAN RIES Der Bundesfinanzhof und die Bindung seiner Richter an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) – auch gegenüber der spezialgesetzlichen „Rangordnung“ bei Insolvenz – ..................................................................................... 817 INGO SAENGER Der unparteiliche Richter in der juristischen Fachwelt .................... 837 CARSTEN SCHÄFER Einbeziehung der Gesellschafter in ein vorinsolvenzliches Restrukturierungsverfahren? – Empfehlungen zur Umsetzung der EU-Restrukturierungsrichtlinie – ...................................................... 853 JENS M. SCHMITTMANN Insolvenzverwalter und Berufsgerichtsbarkeit .................................. 875 HEINRICH SCHOPPMEYER Schenkungsanfechtung bei Restschuldversicherungen .................... 897 VOLKER SCHULTZ Der Restschuldbefreiungstourismus im Lichte der neuen EuInsVO .............................................................................................. 917 WERNER STERNAL Anfechtbarkeit von Honorarzahlungen an Sanierungsberater im Lichte der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ................. 931 CHRISTOPH THOLE Auskunftsansprüche des Insolvenzverwalters gegen (mögliche) Anfechtungsgegner in der höchstrichterlichen Rechtsprechung .... 963

XX

Inhaltsverzeichnis

SVEN-HOLGER UNDRITZ Die Patronatserklärung als unentgeltliche Leistung in der Insolvenz des Patrons (§§ 39 Abs. 1 Nr. 4, 134 InsO) ...................................... 977 HEINZ VALLENDER Restrukturierung im Land der Pharaonen – Das neue ägyptische Insolvenzrecht auf dem Prüfstand – ......... 1023 GERHARD VILL Die Vergütung von Verwalter oder Sachwalter in Insolvenzverfahren mit hoher Gläubigerzahl .................................................. 1043 ERICH WACLAWIK Das Mitverschulden des Mandanten bei beschränktem Mandat des steuerlichen Beraters .................................................................. 1073 ALEXANDER WEINLAND Insolvenzrechtliche Betrachtungen zur neuen Musterfeststellungsklage .................................................................. 1093 LARS WESTPFAHL Der Überschuldungstatbestand aus der Sicht eines Praktikers – Plädoyer für die Abschaffung der Überschuldung als Insolvenzauslöser – ........................................................................... 1109 THOMAS WINTER Drittschutzwille und Vertrauen bei Beratungsverträgen ............... 1145 HELMUT ZIPPERER Auf Erkundung zu gemeinsamen europäischen Rechtsüberzeugungen .................................................................................. 1159

Verzeichnis der wissenschaftlichen Veröffentlichungen I. Monographien Die Lebensversicherung in der Insolvenz des Arbeitgebers, in: KTS Schriften zum Insolvenzrecht, Bd. 30, 2006 Höchstrichterliche Rechtsprechung zur Insolvenzanfechtung und zur Unternehmensinsolvenz, 2006, Fortführung des Werkes unter dem Titel Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Insolvenzrecht in der 2. bis 6. Auflage, 2012 II. Kommentierungen Freiwillige Gerichtsbarkeit, hrsg. v. Keidel/Kuntze/Winkler, 15. Auflage 2003 Kommentierung der Abschnitte über die Amtsermittlung, das rechtliche Gehör (nur 14. Auflage), die Betreuungs- und Unterbringungssachen Zivilprozessordnung, Handkommentar, hrsg. v. Saenger, 2005 Kommentierung von Abschnitten des Ersten Buches sowie des Revisionsrechts, des Beschwerde- und des Rechtsbeschwerderechts; Fortführung der Kommentierung bis zur 4. Auflage, 2011 Münchener Kommentar zur Insolvenzordnung, Bd. II, hrsg. v. Stürner/ Eidenmüller/Schoppmeyer, 3. Auflage, 2013 Kommentierung der Insolvenzanfechtung nach §§ 129 bis 134 Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, hrsg. v. Kayser/ Thole, 9. Auflage, 2018 ab 5. Auflage (2008) Kommentierung der §§ 80–102; ab 8. Auflage, 2016 Mitherausgeber und Kommentierung der §§ 80 – 91 III. Beiträge in Festschriften, Festgaben Der Geschäftsführer der GmbH in der Insolvenz – Prinzipal oder Arbeitnehmer?, in: Festschrift für Hans-Peter Kirchhof zum 65. Geburtstag, 2003, S. 259

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Verzeichnis der wissenschaftlichen Veröffentlichungen

Das Vorlageverfahren nach § 28 Abs. 2 FGG – Vorbild oder Auslaufmodell, in: Praxis der Freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGPrax), 2004, Sonderheft 4/5 zum 80. Geburtstag von Joachim Kuntze, S. 166 Die Lebensversicherung im Spannungsfeld der Interessen von Insolvenzmasse, Bezugsberechtigtem und Sicherungsnehmer – eine Zwischenbilanz, in: Festschrift für Gerhart Kreft zum 65. Geburtstag, 2004, S. 341 Der Rechtsgedanke des Bargeschäfts, in: Festschrift für Gero Fischer zum 65. Geburtstag, 2008, S. 267 Von mittelbaren Zuwendungen, Leistungsketten und Empfangsberechtigten, in: Festschrift für Hans Gerhard Ganter zum 65. Geburtstag, 2010, S. 221 Leistungen Dritter an den Schuldner nach Insolvenzeröffnung, in: Festschrift für Jobst Wellensiek zum 80. Geburtstag, 2011, S. 211 Insolvenzanfechtung im Lichte des ESUG, in: Festschrift für Klaus Tolksdorf zum 65. Geburtstag, 2014, S. 57 Gleichlauf des Verjährungsbeginns in der Beraterhaftung, in: Festschrift für Wolfgang Schlick zum 65. Geburtstag, 2015, S. 207 Anfechtungsrisiken für Banken und andere Zahlungsmittler, in: Festschrift für Bruno M. Kübler zum 70. Geburtstag, 2015, S. 321 Rechtzeitige Insolvenzantragstellung vor dem Hintergrund des Brüsseler Aktionsplans für ein vorinsolvenzliches Restrukturierungsverfahren, in: Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (ZIP), 2016, Festheft zu Ehren von Katherine Knauth, Beilage zu Heft 22, S. 40 Vorsatzanfechtung von Zahlungen nach Stundungsbitte, Quotenvergleich und Sanierungsplan, in: Zeitschrift für das gesamte Insolvenzrecht (ZInsO), Sonderausgabe anlässlich des Ausscheidens von Gerhard Vill aus dem aktiven Dienst, 2016, S. 2134 Vorinsolvenzliche Sanierung als Pflichtaufgabe des Gesetzgebers? – Ein Plädoyer für die Schaffung eines neuen Rechtsrahmens, in: Festschrift für Klaus Pannen zum 65. Geburtstag, 2017, S. 273 Vorinsolvenzliche Sanierung in Europa – Bestandsaufnahme und Ausblick, in: Festschrift für Detlev Fischer, 2018, S. 263

Verzeichnis der wissenschaftlichen Veröffentlichungen

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Die Anfechtung als unentgeltliche Leistung – eine Allzweckwaffe des Insolvenzverwalters zur Massegenerierung?, in: Festschrift für Alfred Bergmann zum 65. Geburtstag, 2018, S. 339 Zur Eigendynamik europäischer Gesetzgebungsverfahren am Beispiel der Restrukturierungsrichtlinie, in: Festschrift für Gerhard Pape zum 65. Geburtstag, 2019, S. 183 IV. Aufsätze in Zeitschriften Rechtsprechungsübersicht zum Betreuungsrecht, in: Praxis der Freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGPrax)1995, S. 173 Rechtsprechungsübersicht zur Abschiebungshaft, in: Praxis der Freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGPrax) 1996, S. 81 Rechtsprechungsübersicht zum Betreuungs- und Unterbringungsrecht (Teil I), in: Praxis der Freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGPrax) 2001, S. 1 Rechtsprechungsübersicht zum Betreuungs- und Unterbringungsrecht (Teil II), in: Praxis der Freiwilligen Gerichtsbarkeit (FGPrax) 2001, S. 49 Die Gläubigerversammlung nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit (zusammen mit Martin Heck), in: Neue Zeitschrift für das Recht der Insolvenz und Sanierung (NZI) 2005, S. 65 Die Insolvenzanfechtung nach § 134 InsO – Ausweitung der Anfechtbarkeit von Drittleistungen?, in: Wertpapiermitteilungen (WM) 2007, S. 1 Insolvenzrechtliche Bargeschäfte (§ 142 InsO) bei der Erfüllung gesetzlicher Ansprüche?, in: Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (ZIP) 2007, S. 49 Anerkennung und Vollstreckbarerklärung italienischer Zahlungsbefehle nach der EuGVVO (zusammen mit Susanne Dornblüth), in: Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (ZIP) 2013, S. 57 Die Entkräftung der die Insolvenzanfechtung begründenden Vermutungen und Indizien, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht (WM) 2013, S. 293

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Verzeichnis der wissenschaftlichen Veröffentlichungen

Aktuelle Rechtsprechung des BGH zum Insolvenzrecht außerhalb der Insolvenzanfechtung, in: Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (ZIP) 2013, S. 1353 Vorsatzanfechtung im Spannungsverhältnis von Gläubigergleichbehandlung und Sanierungschancen, in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2014, S. 422 Beraterhaftung für falsche oder unterlassene Auskünfte zur Insolvenzreife, in: Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (ZIP) 2014, S. 597 Beraterhaftung: Schlussstein zur Reform der Verjährung von 2004, in: Anwaltsblatt (AnwBl.) 2014, S. 802 Urteilsanmerkung zu BSG, Urt. v. 10. Dezember 2014 – B 6 KA 45/13, in: Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (ZIP) 2015, S. 1083 Schlaglicht Insolvenzanfechtung – notwendige Korrekturen bei der Anfechtung kongruenter Leistungen?, in: Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (ZIP) 2014, S. 1966 Rechtsfolgen der Insolvenzanfechtung, in: Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (ZIP) 2015, S. 449 Aktuelle insolvenzrechtliche Entscheidungen des Bundesgerichtshofs außerhalb des Anfechtungsrechts, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht (WM), Sonderbeilage 1/2015 zu Heft 27 Gesellschafterfinanzierung in der Insolvenz – Tilgung, Besicherung, Abtretung, Rangrücktritt, Nutzungsüberlassung, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht (WM) 2015, S. 1973 Vom Konkurs des Konkurses zur Insolvenz der Insolvenz (zusammen mit Petra Heidenfelder), in: Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (ZIP) 2016, S. 447 Aktuelle insolvenzrechtliche Entscheidungen des Bundesgerichtshofs außerhalb des Anfechtungsrechts, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht (WM), Sonderbeilage 1/2017 zu Heft 30 Die Rechtsprechung des IX. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs zum europäischen Insolvenzrecht, in: Zeitschrift für Wirtschafts- und Bankrecht (WM) 2017, S. 505

Verzeichnis der wissenschaftlichen Veröffentlichungen

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Konsequenzen des neuen Anfechtungsrechts für die Rechtsprechung des BGH – Viel Lärm um nichts?, in: Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (ZIP) 2018, S. 1153 Der Sanierungsgedanke in der jüngeren Rechtsprechung des IX. Zivilsenats, in: Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (ZIP) 2018, S. 2189 Die Anfechtung als unentgeltliche Leistung – eine Allzweckwaffe des Insolvenzverwalters zur Massegenerierung?, in: Zeitschrift für Wirtschaftsrecht (ZIP) 2019, S. 293 Globalsicherheiten als Anfechtungssperre bei der Kontokorrentanfechtung?, in: Zeitschrift für das gesamte Insolvenz- und Sanierungsrecht (ZInsO), 2019, Sonderheft 31/32

Autorenverzeichnis Prof. Dr. Martin Ahrens Professor an der Georg-August-Universität Göttingen Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Anwaltsrecht und Zivilprozessrecht Prof. Dr. Christian Berger Professor an der Universität Leipzig Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht und Urheberrecht Dr. Daniel Bergner Geschäftsführer Verband Insolvenzverwalter Deutschlands e. V. (VID), Berlin Prof. Dr. Georg Bitter Professor an der Universität Mannheim Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Bank- und Kapitalmarktrecht, Insolvenzrecht Prof. Dr. Reinhard Bork Professor an der Universität Hamburg Lehrstuhl für Zivilprozess- und Allgemeines Prozessrecht Richter am Hanseatischen Oberlandesgericht a. D. Dr. Max Braeuer Rechtsanwalt, Notar Kanzlei Raue, Berlin Anwaltlicher Beisitzer beim Bundesgerichtshof a. D. Prof. Dr. Moritz Brinkmann, LL.M. (McGill) Professor an der Rheinischen Friedrichs-Wilhelm-Universität Bonn Geschäftsführender Direktor des Instituts für deutsches und internationales Zivilverfahrensrecht Peter Depré Rechtsanwalt, Fachanwalt für Insolvenzrecht, Fachanwalt für Bankund Kapitalmarktrecht, Wirtschaftsmediator (cvm) Lehrbeauftragter an der Universität Mannheim Depré RECHTSANWALTS AG, Mannheim Dr. Susanne Dornblüth Richterin am Oberlandesgericht Celle

XXVIII

Autorenverzeichnis

Prof. Dr. Ingo Drescher Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe Honorarprofessor an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen Prof. Dr. Jürgen Ellenberger Vizepräsident des Bundesgerichtshofes, Karlsruhe Dr. Detlev Fischer Richter am Bundesgerichtshof a. D., Karlsruhe Dr. Gero Fischer Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof a. D., Freiburg Prof. Dr. Lucas F. Flöther Rechtsanwalt, Fachanwalt für Insolvenzrecht Flöther & Wissing, Halle Honorarprofessor an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Dr. Hans Gerhard Ganter Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof a. D., Weil der Stadt Prof. Dr. Markus Gehrlein Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe Honorarprofessor an der Universität Mannheim Dipl.-Kfm. Arndt Geiwitz Wirtschaftsprüfer, Steuerberater SGP Schneider Geiwitz & Partner, Neu-Ulm Dr. David Georg, LL.M. (Chicago-Kent) Rechtsanwalt, Betriebswirt Kebekus et Zimmermann, Düsseldorf/Aachen Dr. Thorsten Graeber Richter am Amtsgericht Potsdam Dietmar Grupp Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe Prof. Dr. Ulrich Haas Professor an der Universität Zürich Lehrstuhl für Zivilverfahrens- und Privatrecht Petra Heidenfelder Rechtsanwältin SGP Schneider Geiwitz & Partner, Frankfurt a. M.

Autorenverzeichnis

XXIX

Grit Heidrich Rechtsanwältin PLUTA Rechtsanwalts GmbH, Ulm Prof. Dr. Heribert Hirte, LL.M. (Berkeley) Mitglied des Deutschen Bundestages, stv. Vorsitzender des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz, Vorsitzender des Unterausschusses Europarecht Professor an der Universität Hamburg, Geschäftsführender Direktor des Seminars für Handels-, Schifffahrts- und Wirtschaftsrecht Prof. Dr. Jost Hüttenbrink Rechtsanwalt, Fachanwalt für Verwaltungsrecht, Notar a. D. Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen (em.) Prof. Dr. Florian Jacoby Professor an der Universität Bielefeld Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Zivilverfahrens-, Insolvenz- und Gesellschaftsrecht Dr. Günter Kahlert Rechtsanwalt, Steuerberater Flick Gocke Schaumburg, Hamburg Dr. Frank Kebekus Rechtsanwalt, Fachanwalt für Insolvenzrecht Kebekus et Zimmermann, Düsseldorf Prof. Dr. Detlef Kleindiek Professor an der Universität Bielefeld Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handelsrecht, deutsches und europäisches Wirtschaftsrecht Dr. Bruno M. Kübler Rechtsanwalt, Fachanwalt für Insolvenzrecht, Fachanwalt für Steuerrecht Kübler Rechtsanwälte Insolvenzverwalter Steuerberater, Dresden Dr. Karen Kuder Rechtsanwältin Deutsche Bank, Frankfurt a. M. Dr. Peter Laroche Richter am Amtsgericht Köln Vorsitzender des Arbeitskreises für Insolvenzwesen Köln e. V.

XXX

Autorenverzeichnis

Ilse Lohmann Richterin am Bundesgerichtshof, Karlsruhe Prof. Dr. Stephan Madaus Professor an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Zivilprozess- und Insolvenzrecht Prof. Dr. Wolfgang Marotzke Professor (i. R.) an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen Ehemals Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht, Freiwillige Gerichtsbarkeit und Insolvenzrecht Dr. Thomas Mehring Vorsitzender Richter am Landesgericht Stuttgart Praxedis Möhring Richterin am Bundesgerichtshof, Karlsruhe Dr. Christoph Niering Rechtsanwalt, Fachanwalt für Insolvenzrecht Niering Stock Tömp Rechtsanwälte, Krefeld Dr. Dietmar Onusseit Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Dresden Prof. Dr. Klaus Pannen Rechtsanwalt, Fachanwalt für Insolvenzrecht Prof. Dr. Pannen Rechtsanwälte, Hamburg Prof. Dr. Gerhard Pape Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe Honorarprofessor an der Georg-August-Universität Göttingen Prof. Dr. Andreas Piekenbrock Professor an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Lehrstuhl für Bürgerliches Recht und Insolvenzrecht Michael Pluta Rechtsanwalt, vereidigter Buchprüfer, Fachanwalt für Insolvenzrecht Pluta Rechtsanwälte, Ulm Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Hanns Prütting Professor an der Universität zu Köln (em.) Institut für Verfahrensrecht, Mitdirektor des Instituts für Anwaltsrecht

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XXXI

Bernd Raebel Richter am Bundesgerichtshof a. D., Buxtehude Dr. Andreas Remmert Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe Dr. Dietmar Rendels Rechtsanwalt Kübler Rechtsanwälte Insolvenzverwalter Steuerberater, Köln Alexander Riedel Präsident des Oberlandesgerichtes Karlsruhe Dr. Susanne Riedemann Rechtsanwältin Prof. Dr. Pannen Rechtsanwälte, Hamburg/Berlin Stephan Ries Rechtsanwalt CURATOR AG Insolvenzverwaltungen, Wuppertal Prof. Dr. Ingo Saenger Professor an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Institut für Internationales Wirtschaftsrecht, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht und Gesellschaftsrecht Prof. Dr. Carsten Schäfer Professor an der Universität Mannheim Institut für Unternehmensrecht (IURUM), Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Gesellschaftsrecht Prof. Dr. Jens M. Schmittmann Rechtsanwalt, Steuerberater, Fachanwalt für Insolvenzrecht, Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht, Fachanwalt für Steuerrecht Mitglied des Senats für Anwaltssachen des Bundesgerichtshofes Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre, Wirtschafts- und Steuerrecht an der FOM Hochschule für Oekonomie und Management, Essen Dr. Heinrich Schoppmeyer Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe Dr. Volker Schultz Richter am Schleswig-Holsteinischen Oberlandesgericht

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Autorenverzeichnis

Werner Sternal Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht Köln Dr. Katrin Stohrer Rechtsanwältin Deutsche Bank, Frankfurt a. M. Prof. Dr. Christoph Thole Professor an der Universität zu Köln Institut für Verfahrensrecht und Insolvenzrecht Dr. Sven-Holger Undritz Rechtsanwalt, Fachanwalt für Insolvenzrecht White & Case Insolvenz GbR, Hamburg Prof. Dr. Heinz Vallender Honorarprofessor an der Universität zu Köln Richter am Amtsgericht Köln a. D. Gerhard Vill Richter am Bundesgerichtshof a. D., München Dr. Erich Waclawik Rechtsanwalt bei dem Bundesgerichtshof, Karlsruhe Alexander Weinland Richter am Oberlandesgericht Saarbrücken Dr. Lars Westpfahl Rechtsanwalt Freshfields Bruckhaus Deringer, Hamburg Dr. Thomas Winter Rechtsanwalt bei dem Bundesgerichtshof Rohnke Winter Rechtsanwälte, Karlsruhe Dr. Helmut Zipperer Richter am Amtsgericht Mannheim a. D.

Verewigte Insolvenzverfahren reloaded – ein Problem asymmetrischer Verfahren – MARTIN AHRENS Inhaltsübersicht I. II.

Zwischen gestern und heute Themenstellung 1. Perpetuierte Insolvenzverfahren 2. Laufende Einnahmen III. Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 27. September 2018 1. Wesentlicher Inhalt 2. Dauerhafter Beschlag für laufende Einkünfte

IV. Altvermögen und Neuerwerb 1. Altrecht 2. Neuregelung des § 300a Abs. 1 Satz 2 InsO V. Die Schranke aus § 196 Abs. 1 InsO 1. Verwertungsschranke 2. Laufendes Einkommen VI. Überlange Insolvenzverfahren VII. Fazit: Kein verewigtes Insolvenzverfahren

I. Zwischen gestern und heute Kurz nach dem Inkrafttreten der Insolvenzordnung ging in den deutschen Landen ein Gespenst um, das verewigte Insolvenzverfahren über das Vermögen natürlicher Personen. Verantwortlich für diese Geistersichtung war die seinerzeit neue Regelung des § 35 InsO, damals noch ohne die Absätze 2 und 3. Im Gegensatz zu § 1 Abs. 1 KO wird nach der insolvenzrechtlichen Bestimmung auch der Neuerwerb zur Insolvenzmasse gezogen. Dieser neue Grundsatz schürte manche Ängste. Teilweise wurde die Befürchtung geäußert, Insolvenzverfahren über das Vermögen natürlicher Personen mit laufendem Arbeitseinkommen könnten nicht beendet werden.1) Ausdrücklich wurde sogar von einem lebenslangen Insolvenzverfahren gesprochen.2) Dieses Attribut lehnte sich wohl nicht zufällig an 1)

2)

Grub/Smid, Verbraucherinsolvenz als Ruin des Schuldners – Strukturprobleme des neuen Insolvenzrechts, DZWIR 1999, 2, 3; Smid, Bemerkungen zur Beschlagnahme künftigen Arbeitseinkommens des Schuldners durch den Eröffnungsbeschluss im Regel- und im Kleininsolvenzverfahren, in: FS Rolland, 1999, S. 355, 357 ff.; außerdem AG Düsseldorf, Beschl. v. 28.5.2001 – 502 IK 72/99, ZInsO 2001, 572, m. krit. Anm. Haarmeyer; Henning, Insolvenzverfahren ohne Ende? Zum Problem fortlaufender Massemehrung im Insolvenzverfahren, ZInsO 1999, 333; Runkel, Probleme bei Neuerwerb in der Insolvenz, in: FS Uhlenbruck, 2000, S. 315, 324 ff. Smid in: Smid, InsO, 1999, § 35 Rz. 3; Grub/Smid, DZWIR 1999, 2, 4.

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die Bezeichnung als lebenslange Freiheitsstrafe in § 38 Abs. 1 StGB an, wodurch ein entsprechend düsteres Szenario gemalt wurde. Wie es sich aber so mit Gespenstern verhält – bei Licht betrachtet, verlieren sie dann doch viel von ihren Schrecken. Sicherlich hätte den Befürchtungen auch mit hermeneutischen Mitteln begegnet werden können.3) Allerdings wäre in diesem Fall eine längere Periode der Unsicherheit bis zu einer endgültigen Klärung eingetreten. Jedenfalls hat damals der Gesetzgeber sehr schnell reagiert und im Gesetz zur Änderung der Insolvenzordnung und anderer Gesetze vom 26. Oktober 20014) die inkriminierte Gestaltung beseitigt, indem er die Anordnung des § 196 InsO geändert hat. Aufgrund der seitdem geltenden Fassung von § 196 Abs. 1 InsO erfolgt die Schlussverteilung, sobald die Verwertung der Insolvenzmasse mit Ausnahme eines laufenden Einkommens beendet ist. Damit scheint die latent drohende Gefahr eines perpetuierten Insolvenzverfahrens aufgrund laufender Arbeitseinkünfte gebannt zu sein. Auch wenn mit dieser Gesetzesänderung eine Antwort auf die seinerzeit drängendste Frage in diesem Zusammenhang gegeben und eine zentrale Fallgruppe geklärt worden ist, löste die damalige gesetzliche Novellierung längst nicht alle Probleme eines verewigten Insolvenzverfahrens. Eine andere notwendige Einhegung der Beschlagswirkung des Insolvenzverfahrens hat der Gesetzgeber daher in § 300a InsO geschaffen. Diese Vorschrift limitiert in Absatz 1 Satz 1 den Insolvenzbeschlag des Neuerwerbs, eröffnet aber zugleich in Absatz 1 Satz 2 einen Zugriff auf einen aus bestimmten Verwalterhandlungen resultierenden Neuerwerb.5) Eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Inhalt dieser Regelung fehlt bislang. Deswegen ist die dogmatische Analyse der Reichweite dieser Vorschrift längst noch nicht abgeschlossen. Zugleich fehlt damit insgesamt eine eingehendere Flächenbestimmung des insolvenzbefangenen Neuerwerbs. Offen ist insbesondere, ob § 300a Abs. 1 Satz 2 InsO lediglich einzelne Gegenstände erfasst oder auch einen dauerhaften Erwerb ermöglicht. Dann könnte – vielleicht gerade auch durch diese Vorschrift ermöglicht – erneut die Tür zu einem fortwährenden Insolvenzverfahren geöffnet worden sein. 3)

4) 5)

Vgl. AG Duisburg, Beschl. v. 6.11.2000 – 43 IK 16/99, NZI 2001, 106; siehe außerdem die teleologischen Ausführungen in BGH, Beschl. v. 3.12.2009 – IX ZB 247/08, Rz. 36, BGHZ 183, 258. Gesetz zur Änderung der Insolvenzordnung und anderer Gesetze, v. 26.10.2001, BGBl. I 2001, 2710. Ahrens in: FK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 300a Rz. 7 ff.

Verewigte Insolvenzverfahren reloaded

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II. Themenstellung 1. Perpetuierte Insolvenzverfahren Unter der schlagwortartigen Bezeichnung des verewigten Insolvenzverfahrens lassen sich verschiedene Problemlagen zusammenfassen. In den einleitenden Bemerkungen sind einige Beispiele einer möglicherweise dauerhaften Verfahrensgestaltung angeführt worden, die zu einer gesetzgeberischen Reaktion geführt haben. Dabei handelt es sich um Facetten der umfassenderen Frage, wann in den Insolvenz- und Restschuldbefreiungsverfahren natürlicher Personen eine vollständige und endgültige Insolvenzfreiheit des Schuldnervermögens eintritt. Letztlich ist zu untersuchen, ob und inwieweit Fallgestaltungen existieren, in denen die bislang normierten bzw. entwickelten Grenzziehungen keinen Abschluss des Insolvenzverfahrens gewährleisten. Dann könnte ein perpetuiertes Insolvenzverfahren mit einem fortwährenden Insolvenzbeschlag jedenfalls für bestimmte Einnahmequellen drohen. Um auf diese Problemstellung eine Antwort geben zu können, ist die sachliche Reichweite des Insolvenzverfahrens und damit der Umfang des Insolvenzbeschlags zu analysieren. Der Gehalt der Insolvenzmasse wird nach § 35 Abs. 1 Alt. 2 InsO auch von der Dauer des Insolvenzverfahrens bestimmt. Soweit das Insolvenzverfahren vor Erteilung der Restschuldbefreiung abgeschlossen wurde, existieren keine hier weiter zu berücksichtigenden Konstellationen. Im Übrigen ist für die Dauer des Insolvenzverfahrens einer natürlichen Person regelmäßig die Zeitspanne des Restschuldbefreiungsverfahrens maßgebend. Im Mittelpunkt der zu analysierenden Problemlagen stehen dabei die sog. asymmetrischen Verfahren. In diesen Verfahren ist die Verwertung des Schuldnervermögens und damit das Insolvenzverfahren bei Abschluss des Restschuldbefreiungsverfahrens noch nicht beendet.6) Deswegen ist zu entscheiden, welchen Einfluss die abgelaufene Abtretungsfrist im Restschuldbefreiungsverfahren und infolgedessen die Erteilung der

6)

BGH, Beschl. v. 8.9.2016 – IX ZB 72/15, Rz. 5, NZI 2016, 922; Ahrens, Asymmetrische Verfahren, in: FS Görg, 2010, S. 1; Ahrens in: Gottwald, InsR-Hdb., 5. Aufl. 2015, § 77 InsO Rz. 44a; Henning in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 300 n. F. Rz. 7 f.; Stephan in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2014, § 300 Rz. 18b ff.; Riedel in: BeckOK-InsO, 12. Ed. 26.10.2018, § 300 Rz. 8; Frind, Praxishandbuch Privatinsolvenz, 2. Aufl. 2017, Rz. 1191; Voß, Neuerwerb in asymmetrischen Verfahren, VIA 2015, 33.

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Restschuldbefreiung auf die Vermögensverwertung und das Insolvenzverfahren hat. Hierfür existiert inzwischen ein normativer Mechanismus. Wie § 300a Abs. 1 Satz 1 InsO klarstellt, gehört das vom Schuldner nach dem Ende der Abtretungsfrist oder nach Eintritt der Voraussetzungen des § 300 Abs. 1 Satz 2 InsO erworbene Vermögen nicht mehr zur Insolvenzmasse. Bekanntlich7) beruht jene Norm über den Insolvenzbeschlag auf der grundlegenden Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 3. Dezember 2009.8) Von dieser über die Dauer des Restschuldbefreiungsverfahrens gesteuerten zeitlichen Begrenzung des Insolvenzverfahrens ist die Reichweite des Insolvenzverfahrens zu unterscheiden. Während die zeitliche Bestimmung weitgehend konsentiert erscheint, denn es sind keine nachhaltigen Einwendungen ersichtlich, hat die gegenständliche Begrenzung bislang nur wenig Aufmerksamkeit erfahren. 2. Laufende Einnahmen Wesentlicher Inhalt der sachlichen Anknüpfung ist, welche Konsequenzen das generelle Verfahrensende für die Insolvenzmasse und für spezielle Massebestandteile hat. Zu Letzteren trifft § 300a Abs. 1 Satz 2 InsO in den ab dem 1. Juli 2014 beantragten Insolvenzverfahren die Aussage, wonach – trotz der zeitlichen Limitierung – bestimmter tatbestandlich aufgeführter Neuerwerb weiterhin in die Masse fällt. In einzelner Hinsicht können deswegen Maßnahmen der Massegenerierung über den zeitlich fixierten sonstigen Korpus der Masse eines Insolvenzverfahrens hinausreichen. Zu der Regel des nach § 300a Abs. 1 Satz 1 InsO beendeten Insolvenzbeschlags bildet bislang die darüber hinausreichende Massegenerierung aufgrund gewisser Verwalterhandlungen gemäß § 300a Abs. 1 Satz 2 InsO die Ausnahme. Vollkommen offen bleibt, ob die dort bestimmte Einbeziehung in die Masse in manchen Fällen eine zusätzliche Begrenzung benötigt. Zu entscheiden ist, ob es gegenüber der Öffnungsvorschrift einer Rückausnahme

7)

8)

Sternal in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 300a Rz. 1; Stephan in: MünchKommInsO, 3. Aufl. 2014, § 300a Rz. 1; Weinland in: Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier, InsO, 3. Aufl. 2017, § 300a Rz. 1; Waltenberger in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 300a Rz. 1; Andres in: Andres/Leithaus, InsO, 4. Aufl. 2018, § 300a Rz. 1; Henning in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 300a Rz. 1; Ahrens, Aktuelles Privatinsolvenzrecht, 3. Aufl. 2019, Rz. 1098; Frind, Praxishandbuch Privatinsolvenz, 2. Aufl. 2017, Rz. 1198. BGH, Beschl. v. 3.12.2009 – IX ZB 247/08, Rz. 30, BGHZ 183, 258.

Verewigte Insolvenzverfahren reloaded

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im Fall einer nicht nur limitierten, sondern gerade fortwährenden Massegenerierung bedarf. In der Konsequenz hieße das, ob der zugelassene Insolvenzbeschlag des § 300a Abs. 1 Satz 2 InsO durch andere insolvenzrechtliche Instrumente zu begrenzen ist, wie etwa die Beschränkung bei laufendem Einkommen nach dem Gedanken aus § 196 Abs. 1 InsO. Umgekehrt könnte aber auch § 300a Abs. 1 Satz 2 InsO die Wirkungen des § 196 Abs. 1 InsO modifizieren. Dann wäre eine Rückausnahme abzulehnen. Bei einem vieljährigen Restschuldbefreiungsverfahren werden bereits für die sachlichen Modifikationen nach § 300a Abs. 1 Satz 2 InsO nur wenige Ausnahmekonstellationen in Betracht kommen. Je kürzer die Zeitspanne bis zur Erteilung der Restschuldbefreiung ist, desto wahrscheinlicher werden indessen über das Ende des Restschuldbefreiungsverfahrens hinausdauernde Wirkungen des Insolvenzverfahrens. Infolge der Verkürzungsmöglichkeiten aus § 300 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 und 3 InsO sind vermehrt asymmetrische Verfahren mit den entsprechenden Fragestellungen zu erwarten. Verstärkt werden diese Entwicklungen noch durch die europäischen Vorgaben für ein regelmäßig dreijähriges Entschuldungsverfahren nach Art. 21 Abs. 1 der Restrukturierungsrichtlinie.9) Häufigere asymmetrische Verfahren werden sicherlich zu einer intensiveren Wahrnehmung der Kollisionsfälle führen. Deswegen wird auch im wachsenden Umfang darüber zu entscheiden sein, ob Vermögensbestandteile i. S. des § 300a Abs. 1 Satz 2 InsO zur Insolvenzmasse gehören. Mit diesem Instrumentarium lassen sich zeitlich begrenzte Erwerbsformen einordnen. Schwieriger zu erfassen ist dagegen ein fortlaufender Erwerb, bei dem kein Endtermin bestimmt ist. In diesen Konstellationen scheinen die Beendigungsmechanismen nicht zu greifen, wodurch permanente Insolvenzverfahren drohen. Die Zahl dieser möglicherweise verewigten Insolvenzverfahren wird freilich von einer Verfahrensverkürzung weitestgehend unberührt bleiben. Auf derartige Dauerverfahren hat es keinen Einfluss, ob das Insolvenzverfahren früher oder später endet, denn die Masse entsteht fortlaufend weiter. Die Frage nach einem perpetuierten Insolvenzverfahren bildet deswegen ein allgemeines Thema. 9)

Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierung-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) – Restrukturierungsrichtlinie, ABl. (EU) L 172/18 v. 26.6.2019.

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Um zu klären, wie lange ein Insolvenzverfahren bei fortbestehenden Einnahmen trotz Erteilung der Restschuldbefreiung wirken kann, sind mehrere einander überschneidende Themenkreise zu unterscheiden. Zunächst sind das Altvermögen bzw. der Alterwerb vom Neuerwerb abzugrenzen. Wegen der höchstrichterlichen Rechtsprechung in den vor dem 1. Juli 2014 beantragten Altverfahren und der gesetzlichen Regelung in § 300a Abs. 1 Satz 2 InsO für die seitdem eröffneten Neuverfahren sind zudem Altund Neuverfahren zu differenzieren. Darauf aufbauend ist zu analysieren, welche insolvenzrechtlichen Instrumente existieren, um die Beschlagswirkung des Insolvenzverfahrens nach dem Ende der Abtretungsfrist zu beenden. Bei diesen Konstellationen soll der mehr oder weniger kontinuierliche, aber jedenfalls laufende Vermögenserwerb aus anderem als Arbeitseinkommen behandelt werden. Gerade bei laufenden, nicht mit einem Endtermin versehenen Einkünften droht ein dauerhaftes Insolvenzverfahren. Für Arbeitseinkommen schafft bereits § 196 Abs. 1 InsO eine hinreichende Einschränkung. Nicht im Zentrum der Analyse steht infolgedessen der nach dem Ende der Abtretungsfrist eingetretene einmalige Vermögenserwerb, etwa bei Schadensersatzansprüchen gegen den Insolvenzverwalter oder aus einer Immobilienverwertung. III. Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 27. September 2018 1. Wesentlicher Inhalt Ein helles Schlaglicht auf die bestehenden Problemlagen wirft die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 27. September 2018.10) Am 20. Januar 2009 wurde auf einen Eigenantrag das Verbraucherinsolvenzverfahren über das Vermögen des Schuldners eröffnet und ihm am 25. Februar 2015 die Restschuldbefreiung erteilt. Vor Insolvenzeröffnung hat der Schuldner ein Grundstück zu Alleineigentum und mehrere Grundstücke in Miteigentum geerbt. Die aus dem vorinsolvenzlichen Verkauf des in seinem Alleineigentum stehenden Grundstücks erzielte lebenslange Rente i. H. von zuletzt monatlich 232,34 € hat das Beschwerdegericht für unpfändbar erklärt. Die ererbten Miteigentumsanteile waren mit Erbbaurechten belastet, aus denen der Schuldner anteilige Erbbauzinsen

10)

BGH, Beschl. v. 27.9.2018 – IX ZB 19/18, ZIP 2018, 2176 = NZI 2018, 889.

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i. H. von zuletzt 698,16 € monatlich und 894,26 € quartalsweise erzielt. In der Rechtsbeschwerdeinstanz war zuletzt noch der Antrag des Schuldners rechtshängig, die Erbbauzinsen in dem weitergeführten asymmetrischen Insolvenzverfahren gemäß § 850i Abs. 1 ZPO pfändungsfrei zu stellen. Eingebettet in die Entscheidung zum Pfändungsschutzrecht hat der IX. Zivilsenat seine für die Reichweite des Insolvenzverfahrens entscheidenden Ausführungen getätigt. In dem Verfahren war aufgrund der Insolvenzeröffnung vor dem 30. Juni 2014 nach Art. 103h Satz 1 EGInsO weiterhin Altrecht anzuwenden. Für dessen Ausgestaltung konnte sich der Senat auf die Grundlagen der inzwischen seit zehn Jahren bestehenden höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Behandlung asymmetrischer Verfahren stützen, in denen das Restschuldbefreiungsverfahren endet, bevor eine Schlussverteilung vorgenommen und das Insolvenzverfahren aufgehoben wurde.11) Allein für das Neuvermögen entfällt aufgrund dieser Judikatur nach Rechtskraft der Entscheidung über die Restschuldbefreiung der Insolvenzbeschlag mit Ablauf der Abtretungsfrist.12) Altvermögen, wie hier die Eigentumsanteile an den mit Erbbaurechten belasteten Grundstücken, unterliegt auch danach weiterhin dem Insolvenzbeschlag. Dies gilt ebenfalls für die Einnahmen aus der Verwaltung und Verwertung des Altvermögens durch den Insolvenzverwalter, selbst wenn die Vermögenszuflüsse erst nach Ablauf der sechsjährigen Abtretungsfrist zur Masse gelangen. Nach Ansicht des Senats bildeten deswegen die trotz der beendeten sechsjährigen Abtretungsfrist gezahlten anteiligen Erbbauzinsen keinen Neuerwerb und fielen daher in die Masse.13) Als Konsequenz aus diesen grundlegenden Feststellungen war die Entscheidungszuständigkeit des Insolvenzgerichts als Vollstreckungsgericht gemäß § 36 Abs. 1 Satz 2, Abs. 4 InsO i. V. m. § 850i ZPO eröffnet. Wegen der Massezugehörigkeit der Erbbauzinsen musste der Senat über den Pfändungsschutz nach § 850i ZPO entscheiden. Dafür war nach seiner Ansicht unerheblich, ob der Schuldner die Erbbaurechtsverträge selbst geschlossen habe. Um die für den Pfändungsschutz maßgebenden selbst erzielten Einkünfte annehmen zu können, genüge es, die Rechte innezu11) 12) 13)

BGH, Beschl. v. 3.12.2009 – IX ZB 247/08, BGHZ 183, 258; dazu Ahrens in: FS Görg, S. 1, 4 ff. BGH, Beschl. v. 3.12.2009 – IX ZB 247/08, Rz. 30, BGHZ 183, 258. BGH, Beschl. v. 27.9.2018 – IX ZB 19/18, Rz. 7, ZIP 2018, 2176 = NZI 2018, 889.

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haben und die wirtschaftlichen Früchte aus der Nutzung der Miteigentumsanteile zu ziehen. Deswegen hat der Senat den Pfändungsschutz für die entrichteten Erbbauzinsen prinzipiell bejaht.14) 2. Dauerhafter Beschlag für laufende Einkünfte Die anschließende Diskussion der Entscheidung konzentrierte sich weitestgehend auf die vollstreckungsrechtlichen Konsequenzen.15) Der dauerhafte Insolvenzbeschlag für die Erbbauzinsen ist in der Zwischenzeit von der Literatur nicht eingehender thematisiert worden. Gleiches hat im Übrigen für die in der Rechtsbeschwerdeinstanz nicht mehr streitgegenständliche lebenslange Rente aus dem vorinsolvenzlichen Verkauf der Grundstücke zu gelten. Überhaupt spricht lediglich eine Anmerkung das Problem des fortdauernden Insolvenzbeschlags an,16) ohne indessen weitergehende inhaltliche Folgerungen daraus zu entwickeln. Dabei ist das entscheidende Thema des Beschlusses weniger in seinen vollstreckungsrechtlichen Ausführungen zu sehen. Diese folgen im Kern der bisherigen Rechtsprechungspraxis.17) Ausschlaggebend sind vielmehr die aus dem fortbestehenden Insolvenzbeschlag eines noch nicht beendeten Insolvenzverfahrens nach einer abgelaufenen Abtretungsfrist resultierenden Konsequenzen. Bislang wurden in diesem Zusammenhang zuvor noch nicht realisierte einmalige Vermögenszuflüsse, etwa aus Anfechtungsprozessen, einer Immobilienverwertung oder Schadensersatzansprüchen gegen den Insolvenzverwalter diskutiert. Die aktuelle Entscheidung erweitert, soweit ersichtlich, erstmals den dauerhaften Insolvenzbeschlag

14) 15)

16) 17)

BGH, Beschl. v. 27.9.2018 – IX ZB 19/18, Rz. 12, ZIP 2018, 2176 = NZI 2018, 889. Gelbrich, EWiR 2019, 21 (Urteilsanm.); Strüder, VIA 2019, 3 (Urteilsanm.); Fehl-Weileder, FD-InsR 2018, 412020 (Urteilsanm.); Cranshaw, jurisPR-InsR 25/2018 Anm. 1 (Urteilsanm.); Pape, Aktuelles Insolvenzrecht im Jahr 2018, ZInsO 2019, 405, 423; Ganter, Die Rechtsprechung des BGH zum Insolvenzrecht im Jahr 2018, NZI 2019, 193, 196; Sternal, Die Rechtsprechung zum Verbraucherinsolvenz- und Restschuldbefreiungsverfahren im Jahre 2018, NZI 2019, 313, 316, sowie Dahl/Schmitz, Zahlungen nach Insolvenzreife gem. § 64 GmbHG in der Eigenverwaltung, NJW-Spezial 2019, 22. Henning, InsbürO 2019, 49 (Urteilsanm.). Zur Anwendbarkeit von § 850i ZPO bei Einnahmen aus Nießbrauch BGH, Beschl. v. 26.6.2014 – IX ZB 88/13, Rz. 9, ZIP 2014, 1542 = NZI 2014, 772; bei Mieteinnahmen BGH, Beschl. v. 1.3.2018 – IX ZB 95/15, Rz. 7, ZIP 2018, 737 = NZI 2018, 326; und bei Einkünften aus Untervermietung BGH, Beschl. v. 23.4.2015 – VII ZB 65/12, Rz. 9, NZI 2015, 661.

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auf laufende Einkünfte aus anderen Quellen als Arbeitsentgelt oder Sozialleistungen. Die Entscheidung eröffnet damit eine gänzlich neue Perspektive auf den Insolvenzbeschlag, indem sie die möglichen Konsequenzen eines solchen Dauerbeschlags sichtbar macht. Ob und ggf. wie die Limitierung eines dauerhaften Insolvenzbeschlags erfolgen kann, musste vom Bundesgerichtshof allerdings nicht beantwortet werden. Der Senat hatte lediglich die Geltung des Pfändungsschutzes zu überprüfen, ohne weiterführende Aussagen über eine mögliche Schrankenziehung tätigen zu müssen. So sind dann wesentliche Folgerungen aus dieser Entscheidung noch weitgehend ungeklärt. Da der Beschluss zu dem für einen Insolvenzantrag bis zum 30. Juni 2014 geltenden Altrecht ergangen ist, muss zunächst die Reichweite des Insolvenzbeschlags unter dem früheren Recht bestimmt werden. Sodann ist zu klären, wieweit die Massewirkung nach § 300a Abs. 1 Satz 2 InsO reicht. IV. Altvermögen und Neuerwerb 1. Altrecht Die Insolvenzmasse umfasst nach § 35 Abs. 1 InsO das dem Schuldner bei Verfahrenseröffnung gehörende und das während des Verfahrens erlangte Vermögen und damit das Altvermögen sowie den Neuerwerb. In dieser Definitionsnorm ist eine Grenzverschiebung der Masse gegenüber § 1 KO hin zum Ende des Insolvenzverfahrens angelegt. Ebenso deutlich wird aber auch, dass die Masse nicht unendlich, sondern eben befristet allein während der Verfahrensdauer generiert werden darf. In dem Massebegriff wird damit notwendig auch das Ende des Masseerwerbs mitgedacht. So erhält der Begriff des Neuerwerbs eine wesentliche Bedeutung gerade aus seinem zeitlich endlichen Charakter. Weder dauern das Insolvenzverfahren noch der Insolvenzbeschlag unendlich. Als folgerichtige Konsequenz dieser sachlichen Einfriedung bedarf jede Erweiterung über den zeitlichen Rahmen des Insolvenzverfahrens hinaus einer besonderen Legitimation. Bei einem gestreckten Vermögenserwerb ist deswegen ein Kriterium zu formulieren, wann der Erwerb noch während des Insolvenzverfahrens und damit insolvenzbefangen oder nach dem Verfahren und deswegen insolvenzfrei erfolgt ist. Ein entsprechendes Problem existiert, wenn Insolvenzforderungen zu bestimmen und damit von Masse- bzw. Neuforderungen

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abzugrenzen sind.18) Kriterium für die Einordnung des Vermögenserwerbs soll nach allgemeinen Maßstäben sein, ob der Rechtsgrund noch vor dem Beendigungstermin gelegt wurde.19) Die schuldrechtliche Grundlage des Anspruchs muss schon vor Aufhebung des Insolvenzverfahrens entstanden sein. Entscheidend ist, ob der Schuldner den Anspruch bereits vor Aufhebung des Insolvenzverfahrens hätte geltend machen können. Ob die Forderung selbst schon entstanden oder fällig ist, ist dagegen unerheblich.20) Sowohl der Rechtsgrund für die lebenslange Rentenzahlung als auch für die Erbbaurechtszinsen waren in der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 27. September 2018 vor der Insolvenzeröffnung gelegt. Die Ansprüche hätten deswegen bereits vor Aufhebung des Insolvenzverfahrens geltend gemacht werden können. Nach diesen Maßstäben unterlagen die Einnahmen dem Insolvenzbeschlag. Bislang war offen, ob § 300a InsO und damit auch dessen Absatz 1 Satz 2 im Wege einer Voranwendung entsprechend auf das Altrecht bezogen werden kann. Dies wird von der Literatur vielfach angenommen.21) Sollte eine solche Voranwendung zulässig sein, bestehen insoweit keine Unterschiede zwischen Alt- und Neurecht. Infolgedessen wäre der Insolvenzbeschlag der laufenden Einnahmen aus der Rentenzahlungsvereinbarung und dem Erbbaurecht einheitlich zu bestimmen. In seiner Entscheidung hat der IX. Zivilsenat auch darauf abgestellt, dass die Einnahmen aus der Verwaltung und Verwertung des Vermögens durch den Insolvenzverwalter erst nach Ablauf der Abtretungsfrist zur Masse gelangen.22) Darin ist ein deutlicher Hinweis auf eine entsprechende Anwendung von § 300a Abs. 1 Satz 2 InsO auf das Altrecht zu sehen, weswegen von einheitlichen Grundsätzen auszugehen ist. Sollte diese entsprechende Berücksichtigung abgelehnt werden, gilt nicht der nach § 300a Abs. 1 Satz 2 InsO erweiterte Insolvenzbeschlag. Unter 18) 19)

20) 21)

22)

BGH, Beschl. v. 22.5.2014 – IX ZB 72/12, Rz. 11, ZIP 2014, 1235 = NZI 2014, 656, m. Anm. Madaus. BGH, Beschl. v. 13.2.2014 – IX ZB 23/13, Rz. 6, ZIP 2014, 25 = NZI 2014, 312; Ahrens in: Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier, 3. Aufl. 2017, § 35 Rz. 128; Peters in: MünchKommInsO, 4. Aufl. 2019, § 35 Rz. 82. BGH, Beschl. v. 22.5.2014 – IX ZB 72/12, Rz. 11, ZIP 2014, 1235 = NZI 2014, 656, m. Anm. Madaus; BGH, Beschl. v. 18.10.2012 – IX ZB 263/10, Rz. 5, BeckRS 2012, 22301. Sternal in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 300a Rz. 1; Waltenberger in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 300a Rz. 1; Wenzel in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, 72. EL 6/2017, § 300a Rz. 8; Knop in: Rattunde/Smid/Zeuner, InsO, 4. Aufl. 2018, § 300a Rz. 1; a. A. Ahrens, Aktuelles Privatinsolvenzrecht, 3. Aufl. 2019, Rz. 1098. BGH, Beschl. v. 27.9.2018 – IX ZB 19/18, Rz. 7, ZIP 2018, 2176 = NZI 2018, 889.

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diesen Umständen würden noch strengere Grenzziehungen gegenüber einem verewigten Insolvenzverfahren anzuwenden sein. Jedenfalls könnte kein gegenüber dem neuen Recht größerer Freiraum und damit eine weitergehende Insolvenzbefangenheit eintreten. 2. Neuregelung des § 300a Abs. 1 Satz 2 InsO Die neue Bestimmung des § 300a Abs. 1 Satz 2 InsO bezieht Vermögensbestandteile in die Verteilungsmasse ein, die aufgrund einer Anfechtung des Insolvenzverwalters zur Insolvenzmasse zurückgewährt werden oder infolge eines vom Insolvenzverwalter geführten Rechtsstreits oder aufgrund von Verwertungshandlungen des Insolvenzverwalters zur Masse gehören. Sehr schnell wird ein gemeinsames Merkmal der Fallgruppen sichtbar. In zwei der drei Tatbestände ist der Schuldgrund bereits vor Beendigung des Insolvenzverfahrens gelegt, aber erst danach abgeschlossen. Das Anfechtungsrecht entsteht ohne weitere Umstände, sobald der Anfechtungstatbestand verwirklicht und das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist.23) Bei einem vom Insolvenzverwalter geführten Rechtsstreit ist der Sachverhalt typischerweise vor oder während des Insolvenzverfahrens verwirklicht worden.24) Der prozessuale Kostenerstattungsanspruch entsteht sodann aufschiebend bedingt mit der Begründung des Prozessrechtsverhältnisses, also mit der Rechtshängigkeit des Anspruchs.25) In diesen Konstellationen ist der Schuldgrund vor der Beendigung des Insolvenzverfahrens geschaffen. Anders verhält es sich freilich bei den Verwertungshandlungen des Insolvenzverwalters, bei denen der Schuldgrund nicht in jedem Fall gelegt sein muss. Vielfach wird es sich dabei um eine Massesurrogation handeln, die sachlich vom Neuerwerb zu unterscheiden ist. Danach gehören vom Insolvenzverwalter mit Mitteln der Masse durch Verwaltung oder Verwertung erlangte Rechte bereits kraft Surrogationsprinzips zur Masse.

23)

24) 25)

RGZ 133, 46, 48; BGH, Urt. v. 3.12.1954 – V ZR 96/53, BGHZ 15, 333, 337; BGH, Urt. v. 29.4.1986 – IX ZR 163/85, BGHZ 98, 6, 9 = ZIP 1986, 928; BGH, Urt. v. 29.11.1990 – IX ZR 29/90, BGHZ 113, 98, 105 = ZIP 1991, 35; Kayser in: MünchKommInsO, 3. Aufl. 2013, § 129 Rz. 186; K. Schmidt in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 129 Rz. 3; Thole in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 129 Rz. 101. Vgl. BGH, Urt. v. 1.2.2007 – IX ZR 178/05, Rz. 10 f., ZIP 2007, 1020 = NZI 2007, 407. BGH, Urt. v. 22.5.1992 – V ZR 108/91, NJW 1992, 2575; BGH, Beschl. v. 17.3.2005 – IX ZB 247/03, NZI 2005, 328, 329 = ZIP 2005, 817.

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Damit besitzt § 300a Abs. 1 Satz 2 InsO eine differenzierte Aufgabenstellung. Nur bei wenigen Fällen aus dem dritten Tatbestand wird der Insolvenzbeschlag originär erweitert. Im Übrigen werden dagegen die Konsequenzen aus dem bereits bestehenden Schuldgrund gezogen. Hierin kann auch eine gesetzliche Klarstellung gesehen werden, die präzisiert, in welchen Fallgestaltungen überhaupt eine vor der Beendigung des Insolvenzverfahrens gelegte, aber noch nicht vollendete Grundlage für den Insolvenzbeschlag in Betracht kommt. Aus diesem Regelungsinhalt ist dann abzuleiten, dass überhaupt nur in einem Fall der Schuldgrund am Ende der Abtretungsfrist noch nicht gelegt sein muss und allein in den beiden anderen Tatbeständen eine entstandene, aber noch nicht abgeschlossene Rechtsgrundlage genügt. In allen übrigen Fällen muss am Verfahrensende der Anspruch bereits vollständig verwirklicht und die Masse generiert worden sein. Damit kehrt sich das Verständnis von § 300a Abs. 1 Satz 2 InsO zumindest in wesentlichen Teilen um. Die Vorschrift schafft nur eine punktuelle Erweiterung des Insolvenzbeschlags, den sie in den nicht normierten Gestaltungen einschränkt. Dies fügt sich auch in den Zusammenhang der Schrankenbestimmung des § 300a Abs. 1 Satz 1 InsO. Insgesamt besitzt § 300a Abs. 1 Satz 2 InsO eine ersichtlich restriktive Tendenz. Ein weitgefasstes Modell ist in der Norm nicht angelegt. Bereits die oben aufgezeigte Auslegung von § 35 Abs. 1 InsO sowie die Teleologie von § 300a Abs. 1 InsO legen eine Engführung des Insolvenzbeschlags am Ende des Insolvenzverfahrens nahe. Damit ist ein dauerhafter Insolvenzbeschlag für laufende Einnahmen jedoch noch nicht ausgeschlossen. Festzustellen bleibt, ob aus anderen Normen oder Instrumenten eine Einschränkung positiv abzuleiten ist. V. Die Schranke aus § 196 Abs. 1 InsO 1. Verwertungsschranke Eine erste sichtbare Limitierung des Insolvenzverfahrens enthält § 196 Abs. 1 InsO. Nach dieser Norm erfolgt die Schlussverteilung, sobald die Verwertung der Insolvenzmasse mit Ausnahme eines laufenden Einkommens beendet ist. Ausdrücklich wird damit lediglich eine Aussage über die Schlussverteilung getroffen. Bei einem derart strikten Verständnis hätte der Gesetzgeber lediglich eine organisatorische Regelung getroffen und es wäre bei einer hinreichenden Masse eine Nachtragsverteilung durchzufüh-

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ren.26) Für den Schuldner hätte sich dann allerdings nur wenig geändert, weil sein Einkommen weiterhin verwertet werden müsste. Über diese enge Interpretation reicht der sachliche Gehalt der Regelung jedoch weit hinaus. Ausstehender Neuerwerb des Insolvenzschuldners während des Insolvenzverfahrens soll danach eine Schlussverteilung nicht ausschließen.27) Damit ist die Richtung auf eine Begrenzung des Insolvenzbeschlags gewiesen. Allerdings stellt die Vorschrift auf laufendes Einkommen ab, ohne dieses als Neuerwerb zu qualifizieren. Damit wird auf die Art des Massegegenstands und nicht seine Einordnung Bezug genommen. Ob es sich um Altvermögen oder Neuerwerb handelt, dürfte demnach unerheblich sein. In der Konsequenz steht § 196 Abs. 1 InsO jeder weiteren Verwertung von Gegenständen zugunsten der Masse entgegen, die als laufendes Einkommen i. S. der Vorschrift zu verstehen sind. Wenn die Rentenzahlungen und die Erbbauzinsen als laufende Einnahmen anzusehen sind, müsste ihre Verwertung beendet werden. Die Gefahr eines verewigten Insolvenzverfahrens wäre weitestgehend gebannt. 2. Laufendes Einkommen Die Novellierung von § 196 InsO wird in den Gesetzesmaterialien mit Auslegungsschwierigkeiten der alten Fassung wegen der Einbeziehung des Neuerwerbs bei einem laufenden Einkommen des Schuldners begründet. § 196 Abs. 1 InsO sollte deshalb in dem Sinne präzisiert werden, dass die Schlussverteilung erfolgen könne, sobald die Insolvenzmasse ohne Berücksichtigung des laufenden Einkommens verwertet sei.28) Auch wenn die Verständnisschwierigkeiten vor allem bei einem Arbeitseinkommen des Schuldners entstanden sein mögen, schränkt die Gesetzesbegründung den Anwendungsbereich doch in keiner Weise ein. Die Novelle ist nach den Materialien auf sämtliche laufenden Einkommen bezogen. Der Terminus des laufenden Einkommens schließt wiederkehrende Einkünfte des Schuldners ein. Einerseits ist er schon sprachlich weiter gefasst 26) 27)

28)

So Holzer in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, 79. EL 3/2019, § 196 Rz. 5c. Jungmann in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 196 Rz. 3; Wegener in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 196 Rz. 4; Kießner in: FK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 196 Rz. 8; Pehl in: KölnKomm-InsO, 2017, § 196 Rz. 1; Kirchner in: Rattunde/Smid/Zeuner, InsO, 4. Aufl. 2018, § 196 Rz. 3; Preß in: HambKomm-InsO, 7. Aufl. 2019, § 196 Rz. 7. Begr. RegE InsOÄndG, BT-Drucks. 14/5680, S. 28.

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als der Begriff des Arbeitseinkommens aus den §§ 850, 850a Nr. 1 und 2, 850c, 850e, 850f Abs. 1, 850g, 850h ZPO, die über § 36 Abs. 1 Satz 2 InsO insolvenzrechtlich in Bezug genommen werden. Das Einkommen muss deswegen nicht aus abhängiger Arbeit oder aus Sozialleistungen resultieren, um dem Anwendungsbereich des § 196 Abs. 1 InsO zu unterliegen. Andererseits entspricht der Tatbestand nicht ausdrücklich dem der Einkünfte, wie er in § 850i ZPO und der Verweisung in § 36 Abs. 1 Satz 2 InsO zugrunde gelegt wird. Hierbei handelt es sich um die Erwerbseinkünfte und sonstige selbst erwirtschaftete Einkünfte.29) Der bewusst offen gestaltete Auffangtatbestand der sonstigen Einkünfte in § 850i Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 ZPO30) weist jedenfalls über das Arbeitseinkommen und wohl auch über das Einkommen als solches hinaus. Als ein Unterschied stellt § 850i Abs. 1 Satz 1 ZPO auf nicht wiederkehrend gezahlte Vergütungen ab. In den Tatbestand einzubeziehen sind aber auch Einkünfte durch den Einsatz von Personal.31) Der Begriff des laufenden Einkommens ist damit weiter als der des Arbeitseinkommens und enger als der der Einkünfte aus § 850i Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 ZPO gefasst. Zu ergänzen sind nicht aus abhängiger Arbeit resultierende Einkommen, sei es aus selbständiger Erwerbstätigkeit, sei es aus einer anderen Quelle. Herauszulösen sind dagegen einmalige und aus Personaleinsatz resultierende Einkünfte. Mit dem Tatbestand der laufenden Einkommen wird daher der wiederkehrende Charakter der Einnahmen unabhängig von der Einkommensquelle betont. Dieses umfassende Verständnis, bei dem jegliches selbst ohne Personaleinsatz erzieltes wiederkehrendes Einkommen erfasst ist, stimmt mit der Teleologie der Norm überein. Verhindert werden sollten dauerhafte Insolvenzverfahren. Diskutiert wurden dabei die Konsequenzen laufender Arbeitseinkommen und Sozialleistungen. Andere laufende Einnahmen 29)

30)

31)

BGH, Beschl. v. 26.6.2014 – IX ZB 88/13, Rz. 10, ZIP 2014, 1542 = NZI 2014, 772; BGH, Beschl. v. 23.4.2015 – VII ZB 65/12, Rz. 9, NZI 2015, 661; BGH, Beschl. v. 7.4.2016 – IX ZB 69/15, Rz. 14, 23 ff., ZIP 2016, 1078 = NZI 2016, 457; Ahrens in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 10. Aufl. 2018, § 850i Rz. 20 ff. Ahrens in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 10. Aufl. 2018, § 850i Rz. 19; siehe auch MellerHannich in: Kindl/Meller-Hannich/Wolf, Zwangsvollstreckung, 3. Aufl. 2016, § 850i ZPO Rz. 3. Kessal-Wulf/Lorenz in: Schuschke/Walker, Vollstreckung und Vorläufiger Rechtsschutz, 6. Aufl. 2016, § 850i Rz. 2; Herget in: Zöller, ZPO, 32. Aufl. 2018, § 850i Rz. 1b; MellerHannich in: Kindl/Meller-Hannich/Wolf, Zwangsvollstreckung, 3. Aufl. 2016, § 850i ZPO Rz. 2, 7.

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wurden nicht gesehen, was nicht sonderlich überraschen kann, weil bei der Novellierung von § 196 InsO noch die engere Fassung von § 850i ZPO galt. Ziel war und ist, durch § 196 Abs. 1 InsO dauerhafte Insolvenzverfahren zu verhindern. Selbst wenn dieses Verständnis von § 196 Abs. 1 InsO nicht geteilt wird, wäre eine teleologische Extension der Regelung oder vielleicht auch Analogie dazu angezeigt. Das Schutzbedürfnis für den Schuldner bei einer bestehenden vergleichbaren Interessenlage und die mit der Bestimmung verfolgte gesetzgeberische Intention erscheinen hierfür vollkommen eindeutig. § 196 Abs. 1 InsO steht damit in unmittelbarer oder jedenfalls entsprechender Anwendung einem perpetuierten Insolvenzverfahren auch durch Erbbauzinseinnahmen oder Einkommen aus einer lebenslänglichen Rente aus einem Grundstücksverkauf entgegen. Das Insolvenzverfahren ist deswegen spätestens mit der abgelaufenen Abtretungsfrist zu beenden, selbst wenn noch weitere Einkünfte generiert werden können. VI. Überlange Insolvenzverfahren Obwohl bereits eine klare Aussage gewonnen ist, soll noch ein kurzer Blick auf die Rechtsprechung zu den überlangen Insolvenzverfahren geworfen werden. In den vor dem 1. Dezember 2001 eröffneten Insolvenzverfahren konnte das Restschuldbefreiungsverfahren gemäß § 287 Abs. 2 InsO a. F. erst nach Beendigung des Insolvenzverfahrens eingeleitet werden. Dazu hat der Bundesgerichtshof ausgeführt, dass für den Gesetzgeber ein vierzehnjähriges Insolvenzverfahren, wie es in der Leitentscheidung bestand, außerhalb jeder Vorstellung lag. Deswegen sei einem Altschuldner in verfassungskonformer Auslegung zwölf Jahre nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens Restschuldbefreiung zu erteilen.32) Ausdrücklich wird damit nur eine äußerste Frist für die Erteilung der Restschuldbefreiung aufgestellt. Als Rechtsfolgen enden damit zugleich die Laufzeit der Abtretungserklärung und die Berechtigung des Treuhänders an den abgetretenen Bezügen.33) Auch wenn nicht unmittelbar die Reichweite des Insolvenzbeschlags begrenzt wird, scheint dies doch eine wesentliche Konsequenz der Beschlüsse zu sein. Über die Zeitspanne von zwölf 32) 33)

BGH, Beschl. v. 18.7.2013 – IX ZB 11/13, Rz. 15, 17, NZI 2013, 849; BGH, Beschl. v. 1.6.2017 – IX ZB 87/16, Rz. 9, NZI 2017, 721. BGH, Beschl. v. 1.6.2017 – IX ZB 87/16, Rz. 13, NZI 2017, 721.

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Jahren nach der Eröffnung hinausreichende Wirkungen des Insolvenzbeschlags sollen ausgeschlossen sein. Damit ist auch in der Judikatur zu den überlangen Insolvenzverfahren eine Schrankenziehung für den Insolvenzbeschlag angelegt. VII. Fazit: Kein verewigtes Insolvenzverfahren Die Folgerungen aus den vorstehenden Überlegungen sind eindeutig. Ein perpetuiertes Insolvenzverfahren ist sowohl bei dauerhaften Renteneinkommen als auch Erbbauzinseinnahmen oder anderem laufenden Einkommen ausgeschlossen. Bereits die gesetzliche Gestaltung des § 35 Abs. 1 InsO zielt auf ein befristetes Insolvenzverfahren. Verstärkt wird diese Ausrichtung durch § 300a Abs. 1 Satz 2 InsO, der gerade nicht als umfassende Erweiterung, sondern beinah konträr als Limitierung des Neuerwerbs zu verstehen ist. Eine sachliche Begrenzung erfolgt durch § 196 Abs. 1 InsO, der für sämtliche laufende Einkommen den Insolvenzbeschlag auf die Länge des Restschuldbefreiungsverfahrens befristet. Selbst wenn diese unmittelbare oder mittelbare Anwendung von § 196 Abs. 1 InsO nicht geteilt wird, existiert eine äußerste Grenze. Dabei ist an die zwölfjährige Frist nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu denken, wie sie der Rechtsprechung zu den überlangen Insolvenzverfahren zugrunde liegt.

Wegfall des Anfechtungsanspruchs bei „Massezulänglichkeit“ CHRISTIAN BERGER Inhaltsübersicht I. II.

Einführung Entwicklung der Rechtsprechung zur Massezulänglichkeit 1. Rechtsprechung des Reichsgerichts 2. Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Massezulänglichkeit 3. Fazit III. Einwendung der Massezulänglichkeit 1. Gläubigerbenachteiligung und Massezulänglichkeit 2. Voraussetzungen der Massezulänglichkeit a) Maßgeblicher zeitlicher Bezugspunkt b) Aus der Masse zu berichtigende Forderungen c) Relevante Aktivmasse

IV. Darlegungs- und Beweislast 1. Entwicklung der Rechtsprechung 2. Kritik und Stellungnahme a) Keine Differenzierung nach Eröffnungsgründen b) Beweis der Massezulänglichkeit obliegt dem Anfechtungsgegner V. Ausgleichsansprüche gegen die Insolvenzmasse bei nachträglicher Massezulänglichkeit VI. Ausgleichsansprüche zwischen Anfechtungsschuldnern? 1. Fragestellung 2. Gesamtschuldnerhaftung der Anfechtungsgegner 3. Rangverhältnis der ausgleichspflichtigen Anfechtungsgegner? VII. Zusammenfassung der Ergebnisse

I. Einführung In Rechtsprechung1) und Literatur2) ist anerkannt, dass ein Anfechtungsanspruch ausscheidet, soweit die Insolvenzmasse ausreicht, alle Insolvenz1) 2)

Zuletzt BGH, Urt. v. 20.2.2014 – IX ZR 164/13, Rz. 20 ff., BGHZ 200, 210 = ZIP 2014, 584; weitere Entscheidungen unter II. 1., 2. Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 129 Rz. 107; Henckel in: Jaeger, InsO, 2008, § 129 Rz. 85; K. Schmidt in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 129 Rz. 46; Thole in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 129 Rz. 80; Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 129 Rz. 165; de Bra in: Braun, InsO, 7. Aufl. 2017, § 129 Rz. 30; Dauernheim in: FK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 129 Rz. 45; Gehrlein in: Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier, InsO, 3. Aufl. 2017, § 129 Rz. 115; Rogge/Leptien in: HambKomm-InsO, 6. Aufl. 2017, § 129 Rz. 39; Huber in: Gottwald, InsR-Hdb., 5. Aufl. 2015, § 46 Rz. 51; Schäfer in: Kummer/Schäfer/Wagner, Insolvenzanfechtung, 3. Aufl. 2017, Kap. B Rz. 306; Kirstein in: Haarmeyer/Huber/Schmittmann, Praxis der Insolvenzanfechtung, 3. Aufl. 2018, § 129 Rz. 20; Baur/Stürner, Bd. II, Insolvenzrecht, 12. Aufl. 1990, Rz. 18.37; Exner/ Gempel in: Beck/Depré, Praxis der Insolvenz, 3. Aufl. 2017, § 16 Rz. 64; Reischl, Insolvenzrecht, 4. Aufl. 2016, Rz. 615.

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gläubiger zu befriedigen. Man spricht von „Massezulänglichkeit“.3) Der Begriff führt heute eher ein Schattendasein.4) Massezulänglichkeit ist in der Insolvenzpraxis ein Sonderfall, der eintritt, wenn Vermögensgegenstände vom Verwalter aufgedeckt oder neu erworben werden, sich Vermögensgegenstände als werthaltiger erweisen als zunächst angenommen oder angemeldete Insolvenzforderungen erfolgreich bestritten werden und dadurch die Aktivmasse die Summe der daraus zu berichtigenden Forderungen übersteigt. Dogmatisch begründet man den Wegfall des Anfechtungsanspruchs bei Massezulänglichkeit regelmäßig mit der fehlenden Gläubigerbenachteiligung:5) Da die Insolvenzanfechtung allein den Gläubigern diene, dürfen Rechtshandlungen des Schuldners nur für deren Befriedigung haftungsrechtlich rückgängig gemacht werden. Wird Vermögen, das der Schuldner weggegeben hatte, zur Gläubigerbefriedigung nicht benötigt, ist eine Anfechtung auch bei Vorliegen eines Anfechtungsgrunds ausgeschlossen. Um einen Überschuss zu erzielen, der allein dem Schuldner zugutekäme (§ 199 InsO), darf hingegen nicht angefochten werden. Trotz der Einigkeit im Grundsätzlichen ist das Merkmal der Massezulänglichkeit in den Details nicht abschließend geklärt. Zunächst erscheint zweifelhaft, ob Massezulänglichkeit mit der Frage der Gläubigerbenachteiligung verknüpft ist, wie durchweg angenommen wird. Es ist nämlich ein Unterschied, ob eine Rechtshandlung gläubigerbenachteiligende Wirkung entfaltet oder ob diese entfällt, wenn die Masse zur Gläubigerbefriedigung ausreicht. Einmal geht es um eine Einzelbetrachtung der Rechtshandlung, bei der Massezulänglichkeit um eine Gesamtbewertung des Verhältnisses von Aktivmasse zu den daraus zu berichtigenden Verbindlichkeiten. Dem wird eine Loslösung der Massezulänglichkeit vom Tatbestandsmerkmal der Gläubigerbenachteiligung gerecht, die in eine Deutung der Massezulänglichkeit als Einwendung gegen den Anfechtungsanspruch mündet (unter III. 1.). Daraus erwachsen darlegungs- und beweisrechtliche 3)

4)

5)

RG, Urt. v. 5.1.1940 – VII 125/39, RGZ 162, 292, 293 („Beweis der Massezulänglichkeit“). Der von RG, Urt. v. 5.1.1940 – VII 125/39, RGZ 162, 292, 293, im kontradiktorischen Sinn verwendete Begriff „Masseunzulänglichkeit“ i. S. einer Unzulänglichkeit der Konkursmasse zur Befriedigung aller Konkursgläubiger (vgl. BGH, Urt. v. 12.11.1992 – IX ZR 237/91, juris Rz. 27, ZIP 1993, 271, 273 = KTS 1993, 248, 252) unterscheidet sich von dem heutigen Begriffsverständnis in § 208 InsO. Er wird heute in den gängigen Kommentaren und Lehrbüchern kaum mehr aufgeführt. Hingegen spricht BGH, Urt. v. 19.9.1988 – II ZR 255/87, BGHZ 105, 168, 187 = ZIP 1988, 1248, 1254, von „Zulänglichkeit der Masse“. Grundlegend RG, Urt. v. 19.9.1922 – VII 299/21, Recht 1923, Nr. 230, Sp. 62, 63; dazu unter II. 1. b).

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Folgen: Ist die Massezulänglichkeit nicht zusammen mit der Gläubigerbenachteiligung Voraussetzung der Anfechtung, sondern begründet eine Einwendung gegen den Anfechtungsanspruch, liegt die Darlegungs- und Beweislast für Massezulänglichkeit durchweg beim Anfechtungsgegner, ohne dass es auf den Insolvenzeröffnungsgrund ankommt (unter IV. 2.). Das Merkmal der Massezulänglichkeit ist getragen von Prognosen, insbesondere hinsichtlich des Bestehens zunächst nur angemeldeter Forderungen und der realisierbaren Verwertungserlöse. Erweist sich erst nach der Anfechtung, dass Massezulänglichkeit vorliegt, kann ein Anfechtungsgegner, der gleichwohl eine Leistung zurückgewährt hatte, Bereicherungsausgleich aus der Masse verlangen (unter V.). Ausgleichsansprüche bestehen auch im Verhältnis der Anfechtungsschuldner untereinander, soweit die anfechtungsrechtliche Rückgewähr eines Anfechtungsgegners zur Massezulänglichkeit führt und demzufolge weitere Empfänger anfechtbarer Leistungen nicht mehr in Anspruch genommen werden müssen (unter VI. 2.). Diese Gedanken sind zu entfalten vor dem Hintergrund der Entwicklung der Rechtsprechung zur Massezulänglichkeit, aus der sich zugleich die relevanten Fallgestaltungen ersehen lassen (unter II.). II. Entwicklung der Rechtsprechung zur Massezulänglichkeit 1. Rechtsprechung des Reichsgerichts Das Reichsgericht hatte eine Massezulänglichkeit zunächst für unerheblich gehalten und dementsprechend seinem Urteil vom 31. Mai 1904 folgenden Leitsatz voran gestellt:6) „Das Anfechtungsrecht des Konkurs-Verwalters ist nicht durch die Höhe der KonkursForderungen beschränkt.“7)

Die Anfechtung diene „allen Konkursgläubigern“, auch solchen, die Forderungen noch nicht angemeldet haben. „Hiernach muss alles, was durch den angefochtenen Akt aus dem Vermögen des Gemeinschuldners herausgekommen ist, zur Konkurs-Masse zurückgewährt werden (…)“.

Getragen ist dieser Standpunkt mithin von dem Gedanken, dass die Anfechtung allen Gläubigern diene, diese aber zum Zeitpunkt des Anfechtungsprozesses mangels Anmeldung ihrer Forderungen noch nicht bekannt 6) 7)

RG, Urt. v. 31.5.1904 – VII 169/04, SeuffArchiv 60, Nr. 47, S. 87. Der besseren Lesbarkeit wegen sind die Abkürzungen nicht in das folgende Zitat übernommen worden. Unklar ist deshalb, weshalb die Entscheidung als Beleg für die Gegenauffassung dient bei Jaeger, KO, 6. und 7. Aufl. 1931, § 29 Anm. 40, S. 515.

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sein müssen. Das Interesse an beschleunigter Abwicklung des Verfahrens verbiete ein Abwarten bis zur Feststellung der Forderungen. Ergänzend findet sich der Hinweis, dass der Anfechtungsgegner die Ergebnisse der Feststellungsprozesse hinnehmen müsse und daher nicht mit dem Einwand gehört werden könne, die angemeldeten Forderungen bestehen nicht8). Erst das Urteil des Reichsgerichts vom 19. September 1922 hatte die Frage der Massezulänglichkeit mit der Gläubigerbenachteiligung verknüpft und damit auf eine Grundlage gestellt, die bis heute fortbesteht: „Dadurch, dass ein Vermögensgegenstand veräußert und damit dem Zugriffe der Gläubiger entzogen wird, tritt eine unmittelbare Gläubigerbenachteiligung zu diesem Zeitpunkte nicht ein, wenn zu dieser Zeit der Gemeinschuldner noch über hinreichende Mittel verfügt, um sämtliche vorhandene Gläubiger zu befriedigen.“9)

Zwei Merkmale konstituieren danach die Gläubigerbenachteiligung: Die Weggabe eines Vermögensobjekts (gegenstandsbezogene Betrachtung) und das Fehlen hinreichender Mittel zur Befriedigung aller Gläubiger (gesamtvermögensbezogene Betrachtung). Dabei ist zu beachten, dass dem Urteil vom 19. September 1922 ein auf § 31 Nr. 2 KO gestützter Anfechtungsanspruch zugrunde lag, der unmittelbare Gläubigerbenachteiligung voraussetzt. Bei unmittelbarer Gläubigerbenachteiligung spielen aber spätere Entwicklungen (wie das Ergebnis von Feststellungsprozessen oder die Anmeldung weiterer Forderungen) keine Rolle. Die vielfach in Bezug genommene Entscheidung RGZ 162, 29210) befasst sich mit § 31 Nr. 1 KO, der mittelbare Gläubigerbenachteiligung ausreichen lässt. Nach dem zugrundeliegenden Sachverhalt hätte die Masse wohl zur Befriedigung aller Gläubiger mit unbestrittenen Forderungen ausgereicht. Das Berufungsgericht hatte gleichwohl eine gläubigerbenachteiligende Wirkung der Rechtshandlung angenommen, denn es müsse mit der Verfolgung der bestrittenen Forderungen durch die Konkursgläubiger gerechnet werden. Revisionsgerichtlich verankert RGZ 162, 292 die Frage der Massezulänglichkeit damit ebenfalls bei der Gläubigerbenachteiligung, befasst sich aber vornehmlich mit der Beweislast, die in eine Abhängigkeit zum Konkursgrund gerückt wird.11) Angesichts der Tatsache der Konkurs-

8) 9) 10) 11)

RG, Urt. v. 31.5.1904 – VII 169/04, SeuffArchiv 60, Nr. 47, S. 88; in diese Richtung auch schon RG, Urt. v. 13.10.1899, JW 1899, 728, Nr. 6. RG, Urt. v. 19.9.1922 – VII 299/21, Recht 1923, Nr. 230, Sp. 62, 63. RG, Urt. v. 5.1.1940 – VII 125/39, RGZ 162, 292. RG, Urt. v. 5.1.1940 – VII 125/39, RGZ 162, 292, 293 f.; zur Beweislast bei Massezulänglichkeit eingehend unter IV.

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eröffnung wegen Überschuldung, also „der Masseunzulänglichkeit“, habe den Beweis der Massezulänglichkeit der Anfechtungsgegner zu führen.12) Dass der Verwalter die Forderung bestritten habe, genüge zur Beweisführung nicht. Der Verwalter handele auch nicht treuwidrig, wenn er zwar die Forderung bestreite, gegenüber dem Anfechtungsgegner aber „Masseunzulänglichkeit“ geltend mache, da er den Erfolg der Feststellungsklagen nicht kennen könne.13) Diese Ausführungen sind bemerkenswert. RGZ 162, 292 stützt die Beweislast des Anfechtungsgegners auf die Tatsache der Konkurseröffnung, allerdings einschränkend auf den Eröffnungsgrund „Überschuldung“. Die Bezugnahme auf die Kommentierung von „Jaeger KO. Bem. 40 zu § 29“ ist insofern freilich nicht zutreffend, da Jaeger seine Auffassung nicht am Eröffnungsgrund ausrichtet, sondern vielmehr auf RG, SeuffArchiv 60, Nr. 47 verweist, obgleich diese Entscheidung zur Beweislast gerade nichts aussagt.14) Bemerkenswert ist ferner, dass RGZ 162, 292 späterhin als Grundsatzurteil verstanden wird,15) nicht aber die Entscheidung vom 19. September 1922, die die Verknüpfung von Gläubigerbenachteiligung und Massezulänglichkeit erstmals hergestellt hatte. 2. Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Massezulänglichkeit Der Bundesgerichtshof hatte sich erstmals im Urteil vom 29. April 1986 mit der Massezulänglichkeit zu befassen.16) Der spätere Gemeinschuldner hatte seiner Tochter ein Grundstück deutlich unter dem Verkehrswert übereignet. Nach Eröffnung des Konkursverfahrens wegen Überschuldung17) focht der Verwalter die Veräußerung gemäß § 31 Nr. 2 KO an, ohne allerdings ausdrücklich vorzutragen, dass die Masse für die Gläubiger 12) 13) 14) 15)

16) 17)

RG, Urt. v. 5.1.1940 – VII 125/39, RGZ 162, 292, 293. RG, Urt. v. 5.1.1940 – VII 125/39, RGZ 162, 292, 294. Jaeger, KO, 6. und 7. Aufl. 1931, § 29 Anm. 40, S. 514 unten; RG, Urt. v. 31.5.1904 – VII 169/04, SeuffArchiv 60, Nr. 47. Vgl. Henckel in: Jaeger, InsO, 2008, § 129 Rz. 85, Fn. 202; Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 129 Rz. 107, Fn. 496; aus der Rechtsprechung zuletzt BGH, Urt. v. 12.11.1992 – IX ZR 237/91, juris Rz. 30, ZIP 1993, 271, 273 = KTS 1993, 248, 252. BGH, Urt. v. 29.4.1986 – IX ZR 145/85, juris Rz. 12 – 14, ZIP 1986, 787, 788 = NJW-RR 1986, 991, dazu EWiR 1986, 707 (Gerhardt). Ausdrücklich wird der die Konkurseröffnung tragende Grund im Tatbestand nicht mitgeteilt; unklar sind zudem die Ausführungen BGH, Urt. v. 29.4.1986 – IX ZR 145/85, juris Rz. 14, ZIP 1986, 787, 788 re. Sp. oben: „wurde zahlungsunfähig, weil er (…) überschuldet war.“

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nicht ausreiche. Der IX. Zivilsenat unterstellte indes einen entsprechenden „stillschweigenden“ Klägervortrag und ging unter Bezugnahme auf RGZ 162, 292 vom Vorliegen einer Unzulänglichkeit der Masse aus, da die Beklagte das Gegenteil nicht behauptet oder unter Beweis gestellt habe.18) Folgerichtig ist das nicht: Wenn die Darlegungs- und Beweislast für Massezulänglichkeit ohnehin beim beklagten Anfechtungsgegner liegt, muss der Verwalter zur Unzulänglichkeit der Masse überhaupt nichts vortragen; auf einen stillschweigenden Klagevortrag kommt es dann nicht an.19) Bemerkenswert ist ferner, dass die in Bezug genommene Entscheidung RGZ 162, 292 eine auf § 31 Nr. 1 KO gestützte Anfechtung betraf, für die eine mittelbare Gläubigerbenachteiligung ausreicht, das Urteil des Bundesgerichtshof vom 29. April 1986 – wie schon die Entscheidung des Reichsgerichts vom 19. September 1922 – aber die Massezulänglichkeit bei § 31 Nr. 2 KO behandelt, der eine unmittelbare Gläubigerbenachteiligung verlangt.20) Dementsprechend hat der Bundesgerichtshof die Vermögensunzulänglichkeit auch als Merkmal des Anfechtungstatbestands des § 31 Nr. 2 KO (und nicht nur als allgemeine Grundvoraussetzung der Anfechtung) geprüft. Dann aber hätte sich das Urteil auch mit dem Zeitpunkt des (Nicht-)Vorliegens der Massezulänglichkeit befassen müssen, denn für die unmittelbarere Gläubigerbenachteiligung ist auf den Zeitpunkt des Vertragsschlusses abzustellen,21) bei der mittelbaren Gläubigerbenachteiligung aber auf den Zeitpunkt des Anfechtungsprozesses.22) Aus den abweichenden relevanten Zeitpunkten für Massezulänglichkeit bei mittelbarer und unmittelbarer Gläubigerbenachteiligung ergibt sich denn auch ein tragendes Argument gegen die Einbeziehung der Massezulänglichkeit in das Merkmal der Gläubigerbenachteiligung (dazu unter III.1.).

18) 19)

20) 21) 22)

BGH, Urt. v. 29.4.1986 – IX ZR 145/85, juris Rz. 14, ZIP 1986, 787, 788 = NJW-RR 1986, 991 (unter I. 1. a)). Zu diesen Fragen Rosenberg, Beweislast, 4. Aufl. 1956, S. 275 (zur Darlegungs- und Beweislast bei bedingten Verträgen): „Unrichtig ist die Annahme, daß der Kläger, der die Bedingung nicht erwähnt, damit implicite die Unbedingtheit behaupte. Denn den Kläger trifft überhaupt keine Behauptungs- oder Beweislast bezüglich der Unbedingtheit (…)“. Lent in: Jaeger, KO, 8. Aufl. 1958, § 31 Rz. 34. Lent in: Jaeger, KO, 8. Aufl. 1958, § 29 Rz. 27 („[…] die Zeit der Vornahme gibt den Ausschlag“). BGH, Urt. v. 12.11.1992 – IX ZR 237/91, juris Rz. 26 – 28, ZIP 1993, 271, 273 = KTS 1993, 248, 252. Dementsprechend stellte RG, Urt. v. 5.1.1940 – VII 125/39, RGZ 162, 292, 294, für den „Gegenbeweis der Massezulänglichkeit“ auf angemeldete und bestrittene Forderungen ab, die bei der unmittelbaren Gläubigerbenachteiligung mangels Verfahrenseröffnung noch gar nicht vorliegen.

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Die Schwelle zur Massezulänglichkeit deutlich angehoben hat BGHZ 105, 168. Der II. Zivilsenat bejahte die Massezulänglichkeit für einen Fall der Anfechtung der Besicherung eigenkapitalersetzender Darlehen nach § 32a Satz 1 KO schlicht mit der Aussage, es stehe nicht fest, ob die vorhandene Masse ausreiche. Diese Ungewissheit gehe zulasten des Beklagten, ohne dass es auf die Frage der Beweislast ankäme, wenn nicht Überschuldung, sondern Zahlungsunfähigkeit Konkursgrund sei.23) Vor dem Hintergrund der Frist des § 41 KO könne der Verwalter mit der Anfechtungsklage nicht bis zur Feststellung streitig gebliebener Forderungen zuwarten. Verschärft wird die Lage des Anfechtungsgegners überdies dadurch, dass bei den für die Bestimmung der Massezulänglichkeit maßgeblichen Verbindlichkeiten auch seine eigene Forderung in die Vergleichsrechnung einzubeziehen ist.24) Der Verwalter kann sich danach nicht nur auf Forderungen berufen, deren Bestand er selbst bestritten hatte (das hatte bereits RGZ 162, 29225) entschieden), sondern auch auf Forderungen stützen, die gerade von den Anfechtungsgegnern angemeldet worden waren. Das kann dazu führen, dass der Anfechtungsgegner mit seiner eigenen Anmeldung der Anfechtungsklage zum Erfolg verhilft. Der IX. Zivilsenat hatte anschließend in drei Entscheidungen die Gelegenheit, das Merkmal der Massezulänglichkeit weiter zu konsolidieren. Im Urteil vom 12. November 1992 hatte sich der Senat mit der Frage des maßgeblichen Zeitpunkts der Massezulänglichkeit zu befassen.26) Der Kläger focht die Bestellung von Sicherheiten nach §§ 30 Nr. 2, 31 Nr. 1 KO an. Eröffnungsgrund war Zahlungsunfähigkeit. Das Urteil behandelt die „Unzulänglichkeit der Konkursmasse“ unter dem Tatbestandsmerkmal der objektiven Gläubigerbenachteiligung und betont, dass es bei der für § 30 Nr. 2 KO genügenden mittelbaren Gläubigerbenachteiligung für die Massezulänglichkeit auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz ankomme.27) Das Urteil vom 13. März 1997 zur Anfechtung nach § 10 Abs. 1 Nr. 1 GesO hebt die bloße Notwendigkeit mittelbarer Gläubigerbenachteiligung hervor und spricht sogleich vom 23) 24) 25) 26) 27)

BGH, Urt. v. 19.9.1988 – II ZR 255/87, juris Rz. 44, BGHZ 105, 168, 187 = ZIP 1988, 1248, 1254. BGH, Urt. v. 19.9.1988 – II ZR 255/87, juris Rz. 45, BGHZ 105, 168, 188 = ZIP 1988, 1248, 1254. Zu dem Urteil unter II. 1. c). BGH, Urt. v. 12.11.1992 – IX ZR 237/91, ZIP 1993, 271 = KTS 1993, 248. BGH, Urt. v. 12.11.1992 – IX ZR 237/91, juris Rz. 26 – 28, ZIP 1993, 271, 273 = KTS 1993, 248, 252.

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Anscheinsbeweis dafür, dass im eröffneten Verfahren die Masse nicht ausreiche, alle Gläubiger zu befriedigen.28) Zuletzt bekräftigt der IX. Zivilsenat im Urteil vom 20. Februar 2014 für die InsO erneut die Verknüpfung von Gläubigerbenachteiligung und Massezulänglichkeit: Eine Gläubigerbenachteiligung entfalle „ausnahmsweise“, wenn die Masse ohne Anfechtung ausreiche, alle Gläubiger zu befriedigen.29) 3. Fazit Abgesehen von dem frühen Urteil des Reichsgerichts vom 31. Mai 1904 hat die Rechtsprechung, beginnend mit der Grundsatzentscheidung des Reichsgerichts vom 19 September 1922, für alle drei einschlägigen Konkursgesetze (KO, GesO, InsO) das Fehlen einer ausreichenden Masse zur Befriedigung aller Gläubiger als (negative) Voraussetzung einer erfolgreichen Anfechtungsklage angesehen. Dogmatisch ist dieses Merkmal durchweg bei der Gläubigerbenachteiligung verankert worden. Bei der Bildung der Vergleichsmassen sind alle angemeldeten Forderungen einzubeziehen, auch wenn sie noch nicht festgestellt sind und ihre Berücksichtigung bei der Verteilung daher ungewiss ist. Unerheblich ist auch, dass der klagende Verwalter selbst einer Forderung widersprochen hat und im Anfechtungsprozess gleichwohl für das Merkmal einer nicht hinreichenden Masse vom Bestehen dieser Forderung ausgeht. Das gilt sogar dann, wenn die Forderungen, die die Massezulänglichkeit aufheben, vom Anfechtungsgegner selbst angemeldet worden waren. III. Einwendung der Massezulänglichkeit Vorbehaltlos zuzustimmen ist der Rechtsprechung hinsichtlich der grundsätzlichen Relevanz der Massezulänglichkeit im Anfechtungsprozess. Die Anfechtung dient allein dem Gläubigerschutz. Genügt die Masse, um alle Gläubiger zu befriedigen, scheidet Anfechtung aus. Andernfalls würden im Wege der Anfechtung zurückgewährte Leistungen dem Schuldner zugutekommen (§ 199 InsO).

28)

29)

BGH, Urt. v. 13.3.1997 – IX ZR 93/96, juris Rz. 19, ZIP 1997, 853, 854 = KTS 1997, 505, 507 (unter III. 1.). – Unzutreffend ist denn auch die Bezugnahme auf die Entscheidung BGH, Urt. v. 29.4.1986 – IX ZR 145/85, ZIP 1986, 787 = NJW-RR 1986, 991, der sich Ausführungen zum Anscheinsbeweis nicht entnehmen lassen. BGH, Urt. v. 20.2.2014 – IX ZR 164/13, Rz. 20, BGHZ 200, 210 = ZIP 2014, 584.

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Dogmatisch sollte das Merkmal der Massezulänglichkeit aber von der Gläubigerbenachteiligung als allgemeiner Voraussetzung der Anfechtung entkoppelt werden; Massezulänglichkeit ist eine (ungeschriebene) Einwendung gegen den Anfechtungsanspruch (unter III. 1.). Für die Frage, ob Vermögens(un)zulänglichkeit gegeben ist, sind alle Aktivpositionen und die aus der Masse zu berichtigenden Verbindlichkeiten maßgeblich (unter III. 2.). 1. Gläubigerbenachteiligung und Massezulänglichkeit Gläubigerbenachteiligung tritt ein, wenn infolge der Rechtshandlung die Gläubigerbefriedigung vereitelt, beeinträchtigt oder erschwert wird, insbesondere weil die Aktivmasse verkürzt oder die Schuldenmasse vermehrt wird.30) Vor diesem Hintergrund bewirkt eine Rechtshandlung in der Tat keine Beeinträchtigung der Gläubiger, falls – trotz der durch die Rechtshandlung ausgelösten Verkürzung der Aktivmasse bzw. der Erhöhung der Verbindlichkeiten – alle Gläubiger aus Mitteln der Masse vollständig befriedigt werden können. Gleichwohl ist die Vermögensunzulänglichkeit (als Voraussetzung für den Erfolg einer Anfechtungsklage) von der (aufgrund der angefochtenen Rechtshandlung entstehenden) allgemeinen Gläubigerbenachteiligung zu unterscheiden. Die Gläubigerbenachteiligung betrifft den Abfluss von Haftungsgut aus dem Vermögen des Schuldners (bzw. die Erhöhung seiner Verbindlichkeiten), die Massezulänglichkeit hingegen die Frage, ob ein durch Anfechtung erzielbarer kompensatorischer Vermögenszufluss zur Masse (bzw. ein Wegfall anfechtbar begründeter Forderungen) zur Berichtigung der Insolvenzforderungen erforderlich ist. Die Frage, ob die Teilungsmasse verkürzt bzw. die Schuldenmasse erweitert wird, ist von der Frage, ob entzogene Massegegenstände für die Gläubiger benötigt werden, zu trennen. Zwar ist die gläubigerbenachteiligende Wirkung einer Rechtshandlung notwendige Voraussetzung der Anfechtung. Hinreichende Voraussetzung ist aber die Erforderlichkeit der Rückführung des Erwerbs in die Masse, die entfällt, wenn schon ohne Anfechtung alle Gläubiger befriedigt werden können. Das Merkmal der Massezulänglichkeit ist damit eine Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Die Anfechtung von Rechtshandlungen greift in die privatautonome Gestaltung der Vermö-

30)

Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 129 Rz. 77; Henckel in: Jaeger, InsO, 2008, § 129 Rz. 77.

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gensrechtsverhältnisse des Schuldners und des Anfechtungsgegners ein.31) Dieser Eingriff ist dem rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsprinzip unterworfen, woraus sich insbesondere die Erforderlichkeit des Eingriffs durch Anfechtung ergibt. Bei Massezulänglichkeit ist Anfechtung nicht erforderlich und darf haftungsrechtlich auch nicht erfolgen. Für die Einzelanfechtung hebt § 11 Abs. 1 Satz 1 AnfG das Merkmal der „Erforderlichkeit“ ausdrücklich hervor. Überdies bildet die hier vertretene insolvenzrechtliche Trennung von Massezulänglichkeit und Gläubigerbenachteiligung das Gegenstück zur dogmatischen Einordnung der entsprechenden Merkmale bei der Einzelanfechtung. In § 1 AnfG ist das Merkmal der Gläubigerbenachteiligung verankert und § 2 AnfG wird das Erfordernis der Unzulänglichkeit des Schuldnervermögens entnommen; beide Voraussetzungen sind einzelanfechtungsrechtlich allerdings getrennt zu betrachten.32) Gläubigerbenachteiligung als Folge einer Rechtshandlung des Schuldners und Vermögensunzulänglichkeit sind daher auseinanderzuhalten. Besonders deutlich wird die Divergenz bei Anfechtungstatbeständen, die eine unmittelbare Gläubigerbenachteiligung voraussetzen (§§ 132 Abs. 1, 133 Abs. 4 InsO). Unmittelbar ist eine Benachteiligung, die schon mit der Vornahme der angefochtenen Rechtshandlung, also zum durch § 140 InsO bestimmten Zeitpunkt, und daher ohne Hinzutreten späterer Umstände eintritt.33) Würde man die Massezulänglichkeit als Merkmal einer unmittelbaren Gläubigerbenachteiligung verstehen, entfiele die Anfechtung, wenn der spätere Insolvenzschuldner zum Zeitpunkt der Rechtshandlung noch über hinreichend andere Mittel verfügte, seine übrigen Gläubiger zu befriedigen.34) Das lässt erkennen, dass zwischen einer über die Massebeeinträchtigung vermittelten unmittelbaren Gläubigerbenachteiligung zum Zeitpunkt der Vornahme der Rechtshandlung und der zum Zeitpunkt des An31)

32)

33) 34)

Zum Zusammenhang zwischen Anfechtung und eigenverantwortlicher Steuerung der Haftungsverhältnisse Häsemeyer, Insolvenzrecht, 4. Aufl. 2007, Rz. 21.03, der die Privatautonomie des Schuldners in den Mittelpunkt rückt. Anfechtungsregeln müssen sich auch vor dem Hintergrund der Privatautonomie des Anfechtungsgegners rechtfertigen. Vgl. Kirchhof in: MünchKomm-AnfG, 2012, § 1 Rz. 67 ff. (Gläubigerbenachteiligung) und § 2 Rz. 56 (Unzulänglichkeit des Schuldnervermögens); ähnlich auch Huber, Anfechtungsgesetz, 11. Aufl. 2016, § 1 Rz. 32 und § 2 Rz. 21; nach Gaul in: Gaul/Schilken/ Becker-Eberhard, Zwangsvollstreckungsrecht, 12. Aufl. 2010, § 35 Rz. 53, manifestiert sich die Unzulänglichkeit des Schuldnervermögens in beiden Aspekten (Gläubigerbenachteiligung und nur subsidiär eingreifendes Gläubigerbefriedigungsinstrument). Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 129 Rz. 113. Vgl. Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 129 Rz. 120.

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fechtungsprozesses festzustellenden Vermögensunzulänglichkeit zu trennen ist. Beides sollte dogmatisch auch bei der mittelbaren Gläubigerbenachteiligung unterschieden werden. Der Frage gläubigerbenachteiligender Effekte einer Rechtshandlung liegt eine Einzelbetrachtung der Wirkungen der angefochtenen Rechtshandlung zugrunde,35) dem Merkmal der Massezulänglichkeit eine Gesamtvermögensbetrachtung. Massezulänglichkeit bildet nicht eine (negative) Voraussetzung der Gläubigerbenachteiligung, sondern eine Einwendung gegen den Anfechtungsanspruch. Bei Massezulänglichkeit entfällt der Anfechtungsanspruch. Es ist derselbe Grundgedanke, der zur „Subsidiarität“ der Einzelanfechtung nach dem AnfG führt. Darauf, ob der Anfechtungsanspruch an mittelbare oder unmittelbare Gläubigerbenachteiligung anknüpft, kommt es nicht an. Die Einwendung der Massezulänglichkeit trägt dem Grundgedanken Rechnung, dass die Anfechtung nicht geboten ist, wenn für die Gläubigerbefriedigung hinreichend andere Masse zur Verfügung steht. 2. Voraussetzungen der Massezulänglichkeit a) Maßgeblicher zeitlicher Bezugspunkt Die Feststellung der Massezulänglichkeit im konkreten Fall erfolgt aufgrund einer Gesamtbetrachtung der Insolvenzmasse hinsichtlich ihrer Aktiv- und Passivbestandteile. Grundlage ist eine „Massezulänglichkeitsbilanz“. Abzustellen ist auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung.36) Das gilt auch bei Anfechtungstatbeständen, die eine unmittelbare Gläubigerbeeinträchtigung verlangen, da die Gläubigerbenachteiligung von der Einwendung der Massezulänglichkeit zu unterscheiden ist.37) Der Zeitpunkt der anfechtbaren Rechtshandlung ist bedeutungslos, da bei ihrer Vornahme noch keine Insolvenzmasse besteht, sieht man von dem Sonderfall des § 147 InsO ab. Auch der Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung ist irrelevant. Es ist durchaus möglich, dass die Einwendung der Massezulänglichkeit während des Insolvenzverfahrens wegfällt, wenn sich

35) 36) 37)

Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 129 Rz. 120 („[…] isoliert mit Bezug auf die jeweilige Rechtshandlung […]“). BGH, Urt. v. 12.11.1992 – IX ZR 237/91, juris Rz. 28, ZIP 1993, 271, 273 = KTS 1993, 248, 252. Dazu unter III. 1.

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die Aktivmasse (etwa infolge Wertverfalls) mindert, oder erst später entsteht (weil angemeldete Forderungen nicht festgestellt werden). b) Aus der Masse zu berichtigende Forderungen Bei der Bestimmung der Massezulänglichkeit sind alle Forderungen zu berücksichtigen, die aus der Insolvenzmasse zu berichtigen sind. Dazu zählen neben den (infolge Nichteinlegung eines Widerspruchs [§ 178 InsO] oder durch Feststellungsurteil [§ 183 InsO]) festgestellten Forderungen die angemeldeten und die bestrittenen Forderungen (bei denen über einen Widerspruch noch nicht entschieden ist). Da die Anmeldefrist keine Ausschlussfrist ist (§ 177 InsO), sind schließlich auch Forderungen zu berücksichtigen, die noch nicht angemeldet worden sind. Auf die Wahrscheinlichkeit der Feststellung einer Forderung kommt es nicht an. Stellt sich später heraus, dass im Anfechtungsprozess bei der Bestimmung der Vermögensunzulänglichkeit eine Forderung zu Unrecht berücksichtigt worden war, so dass in Wahrheit Massezulänglichkeit bestand, kann der Anfechtungsgegner das an die Masse Zurückgewährte kondizieren.38) Bei der Bestimmung der Massezulänglichkeit zu berücksichtigen sind ferner die Masseverbindlichkeiten (§ 53 InsO). Der Anfechtungsgegner kann also nicht einwenden, die Insolvenzmasse decke alle Insolvenzforderungen (§§ 38, 39 InsO), wenn zudem Masseverbindlichkeiten zu berücksichtigen sind. Dass dann die Anfechtung allein der Berichtigung der Masseverbindlichkeiten dient, ist, ebenso wie bei der Anfechtung bei Masseunzulänglichkeit nach § 208 InsO,39) irrelevant. In die Kalkulation der Massezulänglichkeit einzubeziehen sind grundsätzlich auch nachrangige Forderungen (§ 39 InsO). Nur in dem Sonderfall, dass mit der anfechtbar erworbenen Leistung ausschließlich nicht-nachrangige („vollrangige“)40) Gläubiger, nicht aber nachrangige Gläubiger, zu befriedigen sind, scheidet eine Anfechtung gegen einen „vollrangigen“ Anfechtungsgegner aus, dem die zurückgewährte Leistung bei der Verteilung ohnehin wieder zugewiesen werden müsste. Das setzt aber voraus, dass keine weiteren vollrangigen Insolvenzgläubiger Forderungen angemeldet 38) 39)

40)

Dazu unter V. BGH, Urt. v. 19.7.2001 – IX ZR 36/99, juris Rz. 25, ZIP 2001, 1641, 1643 = KTS 2002, 81, 85 (unter II. 1. a)); zur Frage Foerste, Insolvenzanfechtung zugunsten von Massegläubiger, ZInsO 2013, 659. Zum Begriff Häsemeyer, Insolvenzrecht, 4. Aufl. 2007, Rz. 17.09.

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haben oder dass alle vollrangigen Insolvenzgläubiger, nicht aber die nachrangigen, befriedigt werden können.41) Grundsätzlich sind auch Forderungen des Anfechtungsgegners in die Berechnung der Massezulänglichkeit einzubeziehen.42) Allerdings können Forderungen, die nach § 144 Abs. 1 InsO wieder aufleben würden, wenn der Empfänger das anfechtbar Erlangte zurückgewährt, für die Massezulänglichkeit unerheblich sein.43) Liegt Massezulänglichkeit vor, weil die Insolvenzaktivmasse (nach Berichtigung der Masseverbindlichkeiten) 1.000 € und die Summe der relevanten Insolvenzforderungen ebenfalls 1.000 € beträgt, so würde eine mit der Rückgewähr im Wert von 100 € nach § 144 Abs. 1 InsO entstehende Insolvenzforderung44) des Anfechtungsgegners über 100 € die Massezulänglichkeit nicht aufheben. Im Bereich der Massezulänglichkeit neutralisieren sich Rückgewähr und Wiederaufleben. Vergleichbares gilt, wenn eine Forderung besichert war und die Sicherheit erfolgreich angefochten wird. Die Masse erlangt durch die Rückgewähr der Sicherheit deren Wert,45) der Gläubiger ist aber wegen der vormals gesicherten Forderung aus der Masse als Insolvenzgläubiger zu befriedigen (§ 52 Satz 2 InsO). c) Relevante Aktivmasse Die für die Bestimmung der Massezulänglichkeit maßgebliche Aktivmasse umfasst das gesamte verwertbare Vermögen. Massezulänglichkeit liegt vor, soweit die Aktivmasse die Schuldenmasse (Masseverbindlichkeiten plus Insolvenzforderungen) übersteigt. Wegen der Risiken einer Durchsetzung der Anfechtungsansprüche und ihrer möglichen Verjährung (§ 146 InsO) darf und muss der Verwalter mit der Anfechtung nicht zuwarten,

41)

42) 43) 44) 45)

Vgl. BGH, Beschl. v. 7.2.2013 – IX ZR 146/12, Rz. 3, ZIP 2013, 637 = NZI 2013, 399; grundlegend zur vergleichbaren Frage bei vorrangigen Forderungen unter der KO BGH, Urt. v. 7.5.1991 – IX ZR 30/90, BGHZ 114, 315, 322 = ZIP 1991, 737, 739 f., zuvor bereits BGH, Urt. v. 24.10.1962 – VIII ZR 126/61, WM 1962, 1316, 1317 f.; zum Thema auch Thole in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 129 Rz. 81. BGH, Urt. v. 19.9.1988 – II ZR 255/87, juris Rz. 45, BGHZ 105, 168, 188 = ZIP 1988, 1248, 1254 (zu der Entscheidung bereits unter II. 5.). Die Forderung kann grundsätzlich schon vor der Rückgewähr als bedingte angemeldet werden, dazu Jacoby in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, 11/2016, § 144 Rz. 13. Kirchhof in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 144 Rz. 9. Genauer: den Wert der Sicherheit abzgl. der Kostenbeiträge (§ 171 InsO), die ohnehin der Masse zugutekämen.

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bis feststeht, dass die liquide Masse nicht ausreichen wird, um alle Gläubiger zu befriedigen. Grundlage der Bestimmung der Massezulänglichkeit ist eine Verwertungsprognose. Ausgangspunkt ist der voraussichtlich erzielbare Verwertungserlös, also der Marktpreis zum Zeitpunkt der Verwertung. Solange offen ist, ob das Schuldnerunternehmen fortgeführt oder stillgelegt wird, sind Liquidationswerte anzusetzen; ist eine Fortführung und übertragende Sanierung geplant, sind Fortführungswerte zugrunde zu legen. Bei Forderungen ist ein Abschlag vom Nennbetrag vorzunehmen, der das Durchsetzungsrisiko wiederspiegelt.46) Sicherheiten für Forderungen des Insolvenzschuldners sind vorrangig zu verwerten. Ist ein Massegegenstand mit Absonderungsrechten belastet, kommen nur die Kostenbeiträge (§ 171 InsO) und ein eventueller Verwertungsübererlös in Betracht. Freigegebenes Vermögen ist nicht mehr zu berücksichtigen; der Anfechtungsgegner kann auch nicht einwenden, der Verwalter habe zu Unrecht freigegeben. Anders als bei der Einzelanfechtung nach dem AnfG47) kann der Anfechtungsgegner den Verwalter nicht auf eine Aufrechnungsmöglichkeit verweisen. Auslandsvermögen ist einzubeziehen, wenn der Verwertungserlös allen Gläubigern gleichmäßig zugutekommt.48) Nicht zu berücksichtigen sind allerdings Anfechtungsansprüche gegen dritte Anfechtungsgegner. Anfechtungsschuldner können den Verwalter nicht auf jeweils andere Anfechtungsmöglichkeiten verweisen. Erst wenn die anfechtbar erlangte Leistung tatsächlich in die Insolvenzmasse zurückgewährt worden ist, ist sie für die Bestimmung der Massezulänglichkeit relevant.49) Diese Leitlinien gelten grundsätzlich auch nachdem der Verwalter einen Anfechtungsanspruch abgetreten hatte.50) Eine vom Zessionar in die Masse erbrachte Gegenleistung ist allerdings für die Massezulänglichkeitsbilanz unerheblich; die Verwertung des Anfechtungsanspruchs durch Abtretung kann ihn nicht zum Erlöschen bringen und käme nur dem Anfechtungsgegner zugute. 46) 47) 48) 49) 50)

Nach Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 129 Rz. 107, ist jede Forderung außer Betracht zu lassen, deren Durchsetzung nicht gewiss ist. BGH, Urt. v. 16.8.2007 – IX ZR 63/06, Rz. 45, BGHZ 173, 328 = ZIP 2007, 1717. Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 129 Rz. 107. Der zurückgewährende Anfechtungsschuldner kann allerdings Ausgleichsansprüche gegen andere Anfechtungsschuldner haben, dazu unter VI. Zur Abtretbarkeit des Anfechtungsanspruchs BGH, Versäumnisurt. v. 17.2.2011 – IX ZR 91/10, Rz. 8 ff., ZIP 2011, 1114 = NZI 2011, 486.

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IV. Darlegungs- und Beweislast 1. Entwicklung der Rechtsprechung Der Beweislast kommt für die Frage der Massezulänglichkeit besondere Bedeutung zu. Träfen den Verwalter entsprechende Obliegenheiten, müsste er in jedem Anfechtungsprozess zum Nichtvorliegen von Massezulänglichkeit vortragen. Die Rechtsprechung verfolgt insofern indes keine ganz transparente Linie. Allerdings hatte bereits RGZ 162, 29251) unter Hinweis auf die „Tatsache der Konkurseröffnung aus dem Konkursgrunde der Überschuldung“ dem Anfechtungsgegner die Beweislast hinsichtlich der Massezulänglichkeit zugewiesen.52) Dem hatte sich der IX. Zivilsenat des BGH angeschlossen,53) während der II. Zivilsenat die Frage für den Konkursgrund der Zahlungsunfähigkeit offengelassen hatte.54) Im Urteil vom 12. November 1991 hatte wiederum der IX. Zivilsenat die Beweislast differenzierend nach dem Eröffnungsgrund ausgerichtet: Beim Eröffnungsgrund der Überschuldung trage der Anfechtungsgegner die Beweislast, bei der Zahlungsunfähigkeit spreche hingegen ein Anscheinsbeweis für die Unzulänglichkeit des Aktivvermögens.55) Diese nach Eröffnungsgründen differenzierende Verteilung der Beweislast hatte derselbe Senat für die GesO56) allerdings eingeebnet.57) Wenn freilich kumulativ wegen Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung eröffnet werde, spräche eine „tatsächliche Vermutung“ gegen die Massezulänglichkeit.58) 51) 52)

53) 54) 55) 56)

57)

58)

Zu dem Urteil unter II. 1. RG, Urt. v. 5.1.1940 – VII 125/39, RGZ 162, 292, 293 – 294, spricht das Urteil dann aber von „Gegenbeweis“ des Anfechtungsgegners; gemeint dürfte „Beweis des Gegenteils sein“, also Hauptbeweis. BGH, Urt. v. 29.4.1986 – IX ZR 145/85, juris Rz. 14, ZIP 1986, 787, 788 = NJW-RR 1986, 991 (unter I. 1. a)). BGH, Urt. v. 19.9.1988 – II ZR 255/87, juris Rz. 44, BGHZ 105, 168, 187 = ZIP 1988, 1248, 1254. BGH, Urt. v. 12.11.1992 – IX ZR 237/91, juris Rz. 30, ZIP 1993, 271, 273 = KTS 1993, 248, 252. BGH, Urt. v. 13.3.1997 – IX ZR 93/96, juris Rz. 19, ZIP 1997, 853, 854 = KTS 1997, 505, 507 (unter III. 1.). Unzutreffend ist denn auch die Bezugnahme auf die Entscheidung BGH, Urt. v. 29.4.1986 – IX ZR 145/85, ZIP 1986, 787 = NJW-RR 1986, 991, der sich Ausführungen zum Anscheinsbeweis nicht entnehmen lassen. Ohne den maßgeblichen Eröffnungsgrund mitzuteilen; nach § 1 Abs. 1 Satz 1 GesO waren bei juristischen Personen Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung Eröffnungsgründe. BGH, Urt. v. 22.3.2001 – IX ZR 407/98, juris Rz. 34, ZIP 2001, 893, 896 = NZI 2001, 414, 416 (unter IV.); BGH, Urt. v. 7.2.2002 – IX ZR 115/99, juris Rz. 13, ZIP 2002, 489, 490 = KTS 2002, 349, 350. f. (unter II. 1. b)).

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Zuletzt hatte BGHZ 200, 21059) einen Anscheinsbeweis dafür angenommen, dass in einem eröffneten Verfahren die Insolvenzmasse nicht ausreiche, um alle Gläubigeransprüche zu befriedigen, ohne allerdings auf die Eröffnungsgründe abzustellen.60) Da ein Anscheinsbeweis die Beweislast nicht ändert, führt das in der Praxis dazu, dass der Verwalter in jedem Anfechtungsprozess jedenfalls zum „typischen Geschehensablauf“ des Nichtvorliegens von Massezulänglichkeit vortragen müsste. 2. Kritik und Stellungnahme Der Rechtsprechung ist insofern zu folgen, als sie eine Zuordnung der Beweislast in Abhängigkeit vom Eröffnungsgrund aufgegeben hat (unter a)), nicht aber hinsichtlich der Annahme eines Anscheinsbeweises; vielmehr trägt der Anfechtungsgegner unabhängig vom Eröffnungsgrund die Beweislast für das Vorliegen der Voraussetzungen Massezulänglichkeit (unter b)). a) Keine Differenzierung nach Eröffnungsgründen Der Ausrichtung der Darlegungs- und Beweislast nach dem Eröffnungsgrund, die RGZ 162, 292 eingeleitet und die der Bundesgerichtshof im Urteil vom 13. März 199761) aufgegeben hatte, lag die Überlegung zugrunde, dass bei Überschuldung die Masse in jedem Falle nicht ausreichen wird, alle Gläubiger zu befriedigen. RGZ 162, 292 hatte dementsprechend sogar Überschuldung mit Masseunzulänglichkeit gleichgesetzt.62) Bei der Zahlungsunfähigkeit hingegen ist nicht auszuschließen, dass ein ausreichender (bei Eröffnung allerdings nicht liquider) Aktivbestand vorliegt.63) Beim Insolvenzgrund der „drohenden Zahlungsunfähigkeit“ wäre dann nicht anders zu entscheiden.64) Liegen die Insolvenzgründe kumulativ vor oder ändern sie sich während des Verfahrens, müsste es freilich bei der Beweislast des An-

59) 60) 61) 62) 63) 64)

BGH, Urt. v. 20.2.2014 – IX ZR 164/13, Rz. 20, BGHZ 200, 210 = ZIP 2014, 584. Der maßgebliche Eröffnungsgrund ist im Tatbestand nicht festgestellt. BGH, Urt. v. 13.3.1997 – IX ZR 93/96, juris Rz. 19, ZIP 1997, 853, 854 = KTS 1997, 505, 507 (unter III. 1.). RG, Urt. v. 5.1.1940 – VII 125/39, RGZ 162, 292, 293: „(…) Überschuldung, also der Masseunzulänglichkeit (…)“. Lent in: Jaeger, KO, 8. Aufl. 1958, § 29 Rz. 18. Vgl. Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 129 Rz. 107, da der Prognosezeitraum bis zur Entscheidung über die Anfechtungsklage durchweg abgelaufen sei.

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fechtungsgegners verbleiben,65) denn ein zusätzlicher oder geänderter Insolvenzgrund kann die Beweislast nicht zulasten des Verwalters verlagern. Richtig ist die Abkehr von einer nach Eröffnungsgründen differenzierenden Beweislast auch deshalb, weil andernfalls dem Eröffnungsbeschluss eine Bedeutung für den Anfechtungsprozess zukommt, die nicht intendiert ist. Der Eröffnungsgrund muss im Eröffnungsbeschluss nicht einmal genannt werden.66) Niemals klar beantwortet wurde auch die Frage, auf welcher rechtlichen Grundlage der Eröffnungsbeschluss im Anfechtungsprozess hinsichtlich des Eröffnungsgrundes Bindungswirkung entfaltet. § 318 ZPO kommt nicht in Betracht,67) da das Prozessgericht nicht mit dem Insolvenzgericht identisch ist und auch eine Rechtskraftwirkung scheidet aus,68) zumal § 322 Abs. 1 ZPO ohnehin gegen die Bindung an die Eröffnungsgründe spräche. Hinzu kommt, dass der Anfechtungsgegner am Eröffnungsverfahren nicht beteiligt ist. Bei einer an den jeweiligen Eröffnungsgründen ausgerichteten Beweislast müsste das Gericht im Anfechtungsprozess den oder die Insolvenzgründe daher zunächst feststellen. b) Beweis der Massezulänglichkeit obliegt dem Anfechtungsgegner Zutreffend ist es daher, die Beweislast für Massezulänglichkeit nicht nach dem Eröffnungsgrund zuzuweisen. Unter der Prämisse, dass Vermögensunzulänglichkeit kein mit der Gläubigerbenachteiligung verknüpftes anspruchsbegründendes Merkmal ist, sondern Massezulänglichkeit eine Einwendung gegen den Anfechtungsanspruch begründet,69) trifft den Anfechtungsgegner dafür die Beweislast.70) Massezulänglichkeit ist, wenn sie bereits bei Insolvenzeröffnung und damit zum Zeitpunkt des Entstehens potentieller Anfechtungsansprüche vorliegt, eine rechtshindernde, falls die Voraussetzungen erst nach Insolvenzeröffnung eintreten, eine rechtsvernichtende Tatsache. In beiden Fällen hat der Anfechtungsgegner zu behaupten und bei Bestreiten zu beweisen, dass die Insolvenzmasse einen 65)

66) 67) 68) 69) 70)

Abweichend (siehe oben Fn. 58) BGH, Urt. v. 22.3.2001 – IX ZR 407/98, juris Rz. 34, ZIP 2001, 893, 896 = NZI 2001, 414, 416 (unter IV.); BGH Urt. v. 7.2.2002 – IX ZR 115/99, juris Rz. 13, ZIP 2002, 489, 490 = KTS 2002, 349, 350 f. (unter II. 1. b)). Keller in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 27 Rz. 41. Eingehend zur Reichweite der Bindung an Beschlüsse nach § 318 ZPO Roth in: Stein/ Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2015, § 329 Rz. 18 ff. A. A. wohl Schilken in: Jaeger, InsO, § 27 Rz. 47. Dazu unter III. 1. Zur Grundregel der Beweislast Thole in: Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2018, § 286 Rz. 106.

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vollständigen Schuldendeckungsgrad aufweist, weil die Aktiva mindestens die daraus zu berichtigenden Forderungen tragen. Dazu muss sich der Anfechtungsgegner nicht mit „allen“ zum Vermögen des Schuldners gehörenden Positionen befassen.71) Es genügt vielmehr der Beweis, dass einzelne Aktivpositionen in der Summe ausreichen, um die Verbindlichkeiten vollständig zu erfüllen. Der Verwalter muss in der Anfechtungsklageschrift zur Massezulänglichkeit hingegen nichts vortragen. Ihn trifft allenfalls eine sekundäre Darlegungslast:72) Wenn der Anfechtungsgegner keine nähere Kenntnis über die Aktiv- und Passivpositionen der Masse hat, können dem Verwalter entsprechende Angaben zuzumuten sein. In diesem Rahmen ist zu beachten, dass der Anfechtungsgegner das Nichtbestehen von Insolvenzforderungen nur eingeschränkt geltend machen kann. Ist eine Forderung festgestellt, ist auch der Anfechtungsgegner daran gebunden. Zwar wirkt die Tabelleneintragung festgestellter Forderungen nach § 178 Abs. 3 InsO Rechtskraft nur gegenüber dem Insolvenzverwalter und den -gläubigern. Gleichwohl kann auch der Anfechtungsgegner das Ergebnis der Forderungsfeststellung nicht in Frage stellen,73) was man mit einer Analogie zu § 178 Abs. 3 InsO begründen mag. Umgekehrt kann der Verwalter nicht geltend machen, eine Forderung bestehe, wenn ein Widerspruch dagegen beseitigt worden ist. Dieselbe Wirkung entfaltet ein Urteil im Feststellungsprozess, woran sich die Frage knüpft, ob der Anfechtungsgegner im Feststellungsprozess als einfacher Nebenintervenient zuzulassen ist. Der Anfechtungsgegner kann ferner das Nichtbestehen auch einer nur angemeldeten Forderung nicht geltend machen,74) und zwar auch dann nicht, wenn ihr vom Verwalter widersprochen worden war.75) Mit dem Widerspruch bringt der Verwalter nicht seine Überzeugung zum Ausdruck, dass die angemeldete Forderung nicht besteht, sondern erstrebt eine Klärung dieser offenen Frage. Da stets mit der Beseitigung eines Widerspruchs und damit mit

71)

72) 73) 74) 75)

So aber BGH, Urt. v. 13.3.1997 – IX ZR 93/96, juris Rz. 19, ZIP 1997, 853, 854 = KTS 1997, 505, 507 (unter III. 1.); ebenso BGH, Urt. v. 20.2.2014 – IX ZR 164/13, Rz. 20, BGHZ 200, 210 = ZIP 2014, 584 (jeweils i. R. des Anscheinsbeweises). Dazu allgemein Kern in: Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2016, § 138 Rz. 31. Vgl. bereits RG, Urt. v. 31.5.1904 – VII 169/04, SeuffArchiv 60, Nr. 47, S. 87, 88 (zu dem Urteil siehe unter II. 1.). BGH, Urt. v. 19.9.1988 – II ZR 255/87, juris Rz. 45, BGHZ 105, 168, 187 f. = ZIP 1988, 1248, 1254; Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 129 Rz. 107. Vgl. bereits RG, Urt. v. 5.1.1940 – VII 125/39, RGZ 162, 292, 294 (Verwalter handele vor dem Hintergrund der Ungewissheit über den Ausgang der Feststellungsprozesse nicht treuwidrig).

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der Feststellung der Forderung gerechnet werden muss, ist die Forderung so lange bei der Bestimmung der Voraussetzungen der Massezulänglichkeit zugrunde zu legen, bis der Widerspruch für begründet erklärt ist. V. Ausgleichsansprüche gegen die Insolvenzmasse bei nachträglicher Massezulänglichkeit Massezulänglichkeit kann erst nach Abschluss des Anfechtungsprozesses eintreten, bspw. wenn sich erst jetzt erweist, dass eine angemeldete Forderung nicht besteht (ein Widerspruch wird im Feststellungsprozess für begründet erklärt) oder weil der Verwalter nach Abschluss des Anfechtungsprozesses noch Aktivvermögen des Schuldners aufdeckt oder neu erwirbt. In diesen Fällen einer nachträglichen Massezulänglichkeit fällt der Anfechtungsanspruch weg. Der Anfechtungsgegner kann eine darauf erbrachte Leistung wegen Wegfalls des Rechtsgrunds gemäß § 812 Abs. 1 Satz 2 Fall 1 BGB kondizieren; der Anspruch ist Masseverbindlichkeit nach § 55 Abs. 1 Nr. 3 InsO. Ist das Insolvenzverfahren wegen Wegfalls des Eröffnungsgrundes einzustellen (§ 212 InsO), muss der Anfechtungsgegner die erbrachte Leistung erstattet bekommen (§ 214 Abs. 3 InsO). Der Ausgleichsanspruch besteht unabhängig von dem verwirklichten Anfechtungstatbestand; insbesondere ist es nicht gerechtfertigt, dem Anfechtungsgegner bei der Vorsatzanfechtung die Rückforderung mit dem Argument zu versagen, er habe die „böse Absicht“ des Schuldners gekannt. War der Anfechtungsgegner zur Rückgewähr in die Masse rechtskräftig verurteilt worden, kann er der Vollstreckung nach § 767 Abs. 1 ZPO widersprechen. § 767 Abs. 2 ZPO steht der Geltendmachung der Massezulänglichkeit und auch der Rückforderung der vom Anfechtungsgegner erbrachten Leistung aus der Masse nicht entgegen. Im Anfechtungsprozess ist die Grundlage der Feststellung der Vermögensunzulänglichkeit allein die Anmeldung einer Insolvenzforderung, nicht ihr Bestehen.76) Die spätere Nichtfeststellung der Forderung (insbesondere bei Begründetheit eines Widerspruchs) ist eine neue Tatsache, die durch die Rechtskraft des Anfechtungsurteils nicht präkludiert ist.

76)

Dazu unter IV. 2. b).

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VI. Ausgleichsansprüche zwischen Anfechtungsschuldnern? 1. Fragestellung Hat ein Schuldner an mehrere Anfechtungsgegner anfechtbar Leistungen erbracht, kann der Verwalter selbstredend sämtliche Empfänger in Anspruch nehmen. Ist infolge erfolgreicher Durchsetzung einzelner Anfechtungsansprüche Massezulänglichkeit eingetreten, entfallen die Anfechtungsansprüche gegen die übrigen Anfechtungsschuldner. Dies wirft die Frage auf, ob ein Anfechtungsgegner, dessen Rückgewähr die Massezulänglichkeit bewirkt hat, von den übrigen Anfechtungsschuldnern einen Ausgleich verlangen kann. Um ein einfaches Beispiel zu bilden: Im Insolvenzverfahren über das Vermögen des S stehen einer Aktivmasse von 9.000 € Verbindlichkeiten von 10.000 € gegenüber. S hatte vorinsolvenzlich an A und B jeweils 1.000 € verschenkt. Der Verwalter nimmt A erfolgreich nach § 134 InsO auf Rückgewähr i. H. von 1.000 € in Anspruch. Kann A bei B Regress nehmen oder muss A die Last der Anfechtung dauerhaft alleine tragen? Im Ausgangspunkt ist festzuhalten, dass der Verwalter sämtliche Empfänger anfechtbarer Leistungen in Anspruch nehmen kann (und muss); es gibt keine insolvenzrechtliche Bestimmung, die ihn insofern einschränkt. Überdies kann der in Anspruch genommene Anfechtungsgegner den Verwalter i. R. der Frage der Bemessung der Massezulänglichkeit nicht auf andere Anfechtungsansprüche verweisen, da bloße Anfechtungsansprüche die Massezulänglichkeit nicht herstellen.77) Wenn aber der Verwalter von einem oder mehreren Anfechtungsschuldnern Leistungen tatsächlich zurückerhalten hat und infolge dieser Rückgewähr Massezulänglichkeit eintritt, entfallen die vormals bestehenden weiteren Anfechtungsansprüche. Allerdings fehlt eine innere Rechtfertigung, der Inanspruchnahmeentscheidung des Verwalters auch im Verhältnis mehrerer Anfechtungsschuldner zueinander eine endgültige Wirkung zuzumessen. 2. Gesamtschuldnerhaftung der Anfechtungsgegner Grundlage für Ausgleichsansprüche der Anfechtungsgegner untereinander ist ein Gesamtschuldnerausgleich nach § 426 BGB. Mehrere Anfechtungsgegner stehen – so die These – im Bereich der Massezulänglichkeit in einem Gesamtschuldverhältnis nach § 421 BGB. Leistet ein Anfechtungs77)

Dazu unter III. 2. c).

Wegfall des Anfechtungsanspruchs bei „Massezulänglichkeit“

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schuldner in die Masse, werden alle anderen Empfänger anfechtbar erlangter Leistungen frei, wenn durch die Rückgewähr Massezulänglichkeit eingetreten ist. Insofern entfaltet die Zahlung Gesamtwirkung. Mehrere Anfechtungsschuldner sind daher zu einer „Erfüllungs- und Tilgungsgemeinschaft“78) verbunden, soweit die Leistung eines von ihnen zur Massezulänglichkeit führt. Die Verpflichtungen mehrerer Empfänger anfechtbarer Leistungen sind überdies gleichstufig.79) Verlangt wird dafür ein „inhaltsgleiches Gläubigerinteresse“, ohne dass einer der Schuldner nur subsidiär oder vorläufig für die andere Verpflichtung einstehen muss.80) Ein Anfechtungsschuldner haftet nicht nur subsidiär, da der Verwalter nach Belieben jeden Anfechtungsgegner bis zur Grenze der Massezulänglichkeit in Anspruch nehmen kann. Demzufolge kann im obigen Beispiel81) A bei B nach § 426 Abs. 1 BGB Ausgleich i. H. von 500 € verlangen, und der Anfechtungsanspruch des Verwalters gegen B geht insoweit gemäß § 426 Abs. 2 BGB auf A über. 3. Rangverhältnis der ausgleichspflichtigen Anfechtungsgegner? Allerdings stellt sich die Frage, ob die Ausgleichshaftung der Gesamtschuldner nicht zudem an den jeweils erfüllten Anfechtungstatbeständen und dem Rangverhältnis der Forderungen (§§ 38, 39 InsO) auszurichten ist. Angenommen, der Schuldner S hatte seinem Gläubiger C eine Deckung nach § 130 InsO gewährt und zudem durch eine Zahlung an D die Gesamtheit der Gläubiger i. S. des § 133 InsO vorsätzlich benachteiligt. Die Rückgewähr durch D bewirkt Massezulänglichkeit. Kann D von C hälftigen Ausgleich nach § 426 BGB verlangen?82) Gegen einen Ausgleichsanspruch mag man einwenden, dass der Anfechtungstatbestand der vorsätzlichen Gläubigerbenachteiligung nach § 133 InsO eine „intensivere“ gläubigerschädigende Wirkung entfalte als beispielsweise eine der Deckungsanfechtung nach § 130 InsO unterliegende Rechtshandlung. Allerdings lässt sich der haftungsrechtliche „Unwert“ verschiedener Anfechtungstatbestände nur schwer bestim-

78) 79) 80) 81) 82)

Zu diesem Merkmal der Gesamtschuld Heinemeyer in: MünchKomm-BGB, 8. Aufl. 2019, § 421 Rz. 8. Zum Merkmal der Gleichstufigkeit Heinemeyer in: MünchKomm-BGB, 8. Aufl. 2019, § 421 Rz. 12 ff. BGH, Urt. v. 22.12.2011 – VII ZR 7/11, Rz. 18, BGHZ 192, 182 = NJW 2012, 1071. Unter VI. 1. Dazu im Grundsatz soeben unter VI. 2.

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Christian Berger

men und kaum vergleichen.83) Daher sollte darauf kein Einwand gegen die Ausgleichspflicht gestützt werden können. Für den Ausgleichsanspruch kommt es nicht auf den verwirklichten Anfechtungstatbestand an. Anders kann hingegen bei Rechtshandlungen zu entscheiden sein, die Gläubiger mit nachrangigen Forderungen (§ 39 InsO) begünstigen. Hier gilt: Anfechtungsgegner, die vom Schuldner Deckung auf (hypothetisch) nachrangige Forderungen empfangen haben, können, wenn sie vom Verwalter in Anspruch genommen werden und die Rückgewähr die Befriedigung nur der vollrangigen Gläubiger ermöglicht (Massezulänglichkeit für vollrangige Gläubiger), von Empfängern anfechtbarer Leistungen mit (hypothetisch) vollrangigen Forderungen (§ 38 InsO) keinen Ausgleich verlangen. Folgendes Beispiel mag dies illustrieren: Schuldner S hatte unmittelbar vor Verfahrenseröffnung seinem Gläubiger E eine nach § 130 InsO anfechtbare Deckung über 1.000 € ermöglicht und zudem F 1.000 € geschenkt. Die Aktivmasse beträgt ohne Anfechtung 9.000 €, die Summe der vollrangigen Forderungen 10.000 € (Masseverbindlichkeiten sollen außer Betracht bleiben). Leistet F wegen § 134 InsO 1.000 € in die Masse zurück, können alle vollrangigen, nicht aber nachrangige Insolvenzgläubiger befriedigt werden. F steht aber kein Ausgleichsanspruch gegen E zu. Hätte S nämlich vor Insolvenzeröffnung keine Zahlungen geleistet, müsste F mit seiner Insolvenzforderung aus der Schenkungsabrede (§ 39 Abs. 1 Nr. 4 InsO) hinter die Befriedigung des E (Insolvenzgläubiger nach § 38 InsO) vollständig zurücktreten.84) Diese Wertung lässt sich schließlich auch in das Gesamtschuldnerausgleichsverhältnis innerhalb der Rangklassen des § 39 InsO übertragen: Der nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO auf Rückgewähr in Anspruch genommene Gesellschafter (Rangklasse § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO) kann vom Beschenkten (Rangklasse § 39 Abs. 1 Nr. 4 InsO) keinen Gesamtschuldnerausgleich verlangen, wenn nur die vorrangige Rangklasse voll befriedigt werden kann.

83) 84)

Zu den Wertungsgrundlagen der Anfechtungstatbestände eingehend Thole, Gläubigerschutz durch Insolvenzrecht, 2010, S. 279 ff. Es ist letztlich dieselbe Überlegung, die BGH, Beschl. v. 7.2.2013 – IX ZR 146/12, Rz. 3, ZIP 2013, 637 = NZI 2013, 399, zugrunde liegt, wonach eine Anfechtung gegenüber einem „vollrangigen“ Anfechtungsgegner ausscheidet, wenn die Masse nur zur Befriedigung aller vollrangigen, aber nicht auch zur Befriedigung der nachrangigen Forderungen ausreicht; dazu bereits unter III. 2. b).

Wegfall des Anfechtungsanspruchs bei „Massezulänglichkeit“

39

VII. Zusammenfassung der Ergebnisse 1.

Massezulänglichkeit begründet eine Einwendung gegen den Anfechtungsanspruch. Massezulänglichkeit ist daher von der Gläubigerbenachteiligung als allgemeine Voraussetzung der Anfechtung zu unterscheiden. Darauf, ob der Anfechtungstatbestand mittelbare oder unmittelbare Gläubigerbenachteiligung verlangt, kommt es nicht an (unter III. 1.).

2.

Im Rahmen der Massezulänglichkeitsberechnung sind alle aus der Masse zu berichtigenden Verbindlichkeiten einschließlich der Masseverbindlichkeiten und der nachrangigen Insolvenzforderungen zu berücksichtigen (unter III. 2. b)). Auf der Aktivseite ist das gesamte verwertbare Vermögen relevant, nicht aber andere Anfechtungsansprüche (unter III. 2. c)).

3.

Die Darlegung- und Beweislast für Massezulänglichkeit trifft unabhängig vom Insolvenzeröffnungsgrund den Anfechtungsgegner, den Verwalter allenfalls eine sekundäre Darlegungslast (unter IV. 2.).

4.

Stellt sich nachträglich Massezulänglichkeit ein, kann der zuvor in Anspruch genommene Anfechtungsschuldner eine auf den Anfechtungsanspruch erbrachte Leistung als Masseverbindlichkeit kondizieren (unter V.).

5.

Mehrere Anfechtungsschuldner können Gesamtschuldnerausgleich nach § 426 BGB verlangen, soweit die Rückgewähr durch einzelne Anfechtungsschuldner Massezulänglichkeit bewirkt (unter VI. 1., 2.). Beim Ausgleich ist die Rangordnung der §§ 38, 39 InsO zu berücksichtigen (unter VI. 3.).

Die Doppelsicherung durch Gesellschaft und Gesellschafter als Lackmustest für den Normzweck des Gesellschafterdarlehensrechts GEORG BITTER Inhaltsübersicht I. II.

Thematische Einführung Die Doppelsicherung im Recht der gesellschafterbesicherten Drittdarlehen (§§ 44a, 135 Abs. 2, 143 Abs. 3 InsO) 1. Der Normalfall des gesellschafterbesicherten Drittdarlehens a) Verfahrensmäßige Verweisung des Drittdarlehensgebers auf die Gesellschaftersicherheit (§ 44a InsO) b) Anfechtung gegenüber dem Gesellschafter bei Rückführung des Kredits an den Dritten (§§ 135 Abs. 2, 143 Abs. 3 InsO) 2. Spezialfall der Doppelsicherung 3. Wirtschaftliche Vergleichbarkeit von Doppelsicherung und Besicherung eines Gesellschafterdarlehens aus dem Vermögen der Gesellschaft III. Anfechtbarkeit von Sicherheiten für Gesellschafterdarlehen

IV. Normzweckbetrachtung 1. Der Streit um den (vorhandenen oder fehlenden) Normzweck des Gesellschafterdarlehensrechts 2. Bindung des tatsächlich erbrachten Finanzierungsbeitrags als Sanktionierung einer (vermuteten) nominellen Unterkapitalisierung 3. Fehlende nominelle Unterkapitalisierung im Umfang der Gesellschaftssicherheit V. Alternative Lösungen auf der Basis der (bisherigen) Rechtsprechung 1. Begrenzung des Sicherungszwecks 2. Höchstbetragsbürgschaft 3. Aufspaltung in Teilkredite 4. Die Betriebsaufspaltung als „Radikallösung“ VI. Zusammenfassende Thesen

Der Titel dieses Festschriftbeitrags wird dem Jubilar vertraut sein, liegt ihm doch ein Vortrag zugrunde, den der Verfasser in Anwesenheit des Jubilars auf dem 14. Mannheimer Insolvenzrechtstag am 15. Juni 2018 gehalten hat. Da die Insolvenzrechtstage in der Metropolregion Rhein-Neckar – nicht weit vom Bundesgerichtshof in Karlsruhe entfernt – vom Zentrum für Insolvenz und Sanierung an der Universität Mannheim e. V. (ZIS) veranstaltet werden, möge in der thematischen Auswahl die Verbindungslinie zum Jubilar zum Ausdruck kommen. Seit vielen Jahren engagiert er sich ehrenamtlich im Wissenschaftlichen Beirat jenes Zentrums und gestaltet dabei insbesondere auch das Programm der Mannheimer Insolvenzrechtstage mit. Ihm diesen Beitrag zu widmen, möge daher nicht nur Respekt vor seiner (juristischen) Lebensleistung, sondern insbesondere auch Dank zum Ausdruck bringen für dieses langjährige, fruchtbringende und beherzte Engagement im ZIS mit dem Ziel,

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Georg Bitter

Wissenschaft und Praxis im Bereich Insolvenz und Sanierung zum Austausch zu bringen. Die Begegnungen im Wissenschaftlichen Beirat und auf den Veranstaltungen des ZIS waren stets von Offenheit und Respekt geprägt, gerade auch dann, wenn die juristischen Ansichten bisweilen auseinandergingen. Vor diesem Hintergrund hegt der Verfasser die Hoffnung, dass die hier dargelegten Gedanken das Interesse des Jubilars finden, auch wenn darin die für die Rechtspraxis entscheidende, von ihm mehrfach publizistisch aufbereitete Rechtsprechung „seines Senats“1) kritisch beleuchtet und aus wissenschaftlicher Perspektive „wider den Stachel gelöckt wird“. I. Thematische Einführung Als Doppelsicherung wird bekanntlich eine Konstellation bezeichnet, in der das von einem unabhängigen Dritten – etwa einer Bank – an eine haftungsbeschränkte Gesellschaft gewährte Darlehen sowohl aus dem Vermögen der Gesellschaft als auch vom Gesellschafter besichert wird. Eine derartige Doppelsicherung hat in der Praxis eine enorme wirtschaftliche Bedeutung, weil Banken standardmäßig trotz einer (dinglichen) Sicherheit der Gesellschaft – etwa einer Grundschuld auf dem Betriebsgrundstück – zusätzlich auch vom Gesellschafter eine Sicherheit – meist eine Bürgschaft – fordern. Diese Sicherheit gibt der Gesellschafter oft arglos in dem Vertrauen, die Bank werde sich ganz oder doch jedenfalls überwiegend aus jener Sicherheit befriedigen, welche die Gesellschaft als unmittelbare Haftungsschuldnerin hingegeben hat, weshalb er selbst nur für den (ggf. geringen) Restbetrag aufzukommen habe. Doch kommt diese vom Normalfall der Kreditsicherung geprägte Arglosigkeit den Gesellschafter in der Insolvenz „seiner“ Gesellschaft auf der Basis der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs teuer zu stehen, soll er doch nach Verwertung der Gesellschaftssicherheit durch die Bank vom Insolvenzverwalter gemäß oder analog §§ 135 Abs. 2, 143 Abs. 3 InsO auch insoweit in Regress genommen werden können (siehe unten II. 2.). Damit haftet er letztlich auf die ganze Kreditsumme, obwohl die Gesellschaft durch ihre Sicherheitenbestellung zu einem guten Teil selbst für ihre Kreditierung gesorgt hat und der Gesellschafter durch seine zusätzliche Sicherheit die Kreditgewährung nur (sehr) partiell gefördert hat. 1)

Vgl. zum Gesellschafterdarlehensrecht, namentlich zur hier diskutierten Doppelsicherung vor allem Kayser, Gesellschafterfinanzierung in der Insolvenz, WM 2015, 1973 ff., insbesondere S. 1977 ff.; Kayser, Rechtsfolgen der Insolvenzanfechtung, ZIP 2015, 449, 455 f.

Die Doppelsicherung durch Gesellschaft und Gesellschafter

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Wie nachfolgend dargelegt werden soll, ist die so beurteilte Doppelsicherung nur ein Teilausschnitt aus einem größeren Themenkomplex der Besicherung von Gesellschafterdarlehen. Dieser erfordert zur Vermeidung widersprüchlicher Ergebnisse eine einheitliche Handhabung, die sich auf die Grundlagen des Gesellschafterdarlehensrechts und damit auf dessen durchaus streitigen Normzweck rückbeziehen muss. Um dies und die sich daraus ergebenden Konsequenzen darlegen zu können, soll nachfolgend in vier Schritten vorgegangen werden: Im ersten Schritt wird die Doppelsicherung in das in §§ 44a, 135 Abs. 2, 143 Abs. 3 InsO geregelte Recht der gesellschafterbesicherten Drittdarlehen eingeordnet. Dabei wird sich zeigen, dass die wirtschaftliche Lage bei der Doppelsicherung derjenigen bei der Besicherung eines unmittelbar vom Gesellschafter gewährten Darlehens aus dem Vermögen der Gesellschaft ähnelt. In beiden Fällen sorgt nämlich die Gesellschaft durch die von ihr gestellte Sicherheit zu einem guten Teil selbst für ihre Kreditversorgung und der Finanzierungsbeitrag des Gesellschafters ist begrenzt (siehe unten II.). Aus diesem Grund wird im zweiten Schritt die Anfechtbarkeit derartiger Sicherheiten für (unmittelbare) Gesellschafterdarlehen in den Blick genommen. Dieser Teil der Problematik hat durch das Urteil des IX. Zivilsenats vom 14. Februar 20192) besondere Aktualität erlangt, in welchem sich der Senat – aus Sicht des Verfassers zu Unrecht3) – für eine Anfechtbarkeit auch der ursprünglichen Sicherheiten für Gesellschafterdarlehen ausgesprochen hat (siehe unten III.). Die einheitliche Lösung sowohl der Doppelsicherungsfälle als auch jener Konstellationen, in denen die Gesellschaft direkt ein Darlehen des Gesellschafters besichert, erfordert im dritten Schritt eine Normzweckbetrachtung. Nur wer sich nämlich der Zielrichtung des Gesellschafterdarlehensrechts als einer Reaktion der Rechtsordnung auf das Phänomen der nominellen Unterkapitalisierung vergewissert, kann beide Sicherungsfälle einer konsequenten Lösung zuführen, die – wie zu zeigen sein wird – jeweils von der Sichtweise des IX. Zivilsenats abweicht (siehe unten IV.). Da auf der Basis der bisherigen, bereits stark verfestigten Rechtsprechung kaum zu erwarten ist, dass der Bundesgerichtshof in naher Zukunft der 2) 3)

BGH, Urt. v. 14.2.2019 – IX ZR 149/16, ZIP 2019, 666 (für BGHZ vorgesehen). Bitter, Anfechtbarkeit ursprünglicher Sicherheiten für Gesellschafterdarlehen: Es lebe die Betriebsaufspaltung!, ZIP 2019, 737 ff.; zuvor schon Bitter in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2015, Anh. § 64 Rz. 134 ff., jeweils m. w. N.

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Georg Bitter

hier vertretenen Position folgen wird, sollen abschließend in einem vierten Schritt alternative Lösungen aufgezeigt werden, um aus Gesellschaftersicht den Konsequenzen jener Rechtsprechung zu entgehen (siehe unten V.). II. Die Doppelsicherung im Recht der gesellschafterbesicherten Drittdarlehen (§§ 44a, 135 Abs. 2, 143 Abs. 3 InsO) Was für den Jubilar und jeden Experten des Gesellschafterdarlehensrechts eine bekannte Rechtsfigur ist – die Doppelsicherung –, mag sich manchem nicht ständig mit dieser Materie befassten Insolvenzpraktiker erst auf den zweiten Blick erschließen. Deshalb sei hier zunächst noch einmal der Normalfall des in §§ 44a, 135 Abs. 2, 143 Abs. 3 InsO geregelten gesellschafterbesicherten Drittdarlehens in Erinnerung gerufen (unten II. 1.), ehe auf den Spezialfall der Doppelsicherung einzugehen ist (unten II. 2.). Jener Fall der doppelten Besicherung eines Drittdarlehens soll anschließend mit der Besicherung eines unmittelbar vom Gesellschafter gewährten Darlehens verglichen werden (unten II. 3.). 1. Der Normalfall des gesellschafterbesicherten Drittdarlehens Die vom Gesellschafter besicherten Drittdarlehen sind ein Anwendungsfall der in § 39 Abs. 1 Nr. 5 Alt. 2 InsO erwähnten Rechtshandlungen, die einem Gesellschafterdarlehen wirtschaftlich entsprechen.4) Aus Sicht der haftungsbeschränkten Gesellschaft macht es nämlich keinen Unterschied, ob der Gesellschafter sie selbst durch die Hingabe von Gesellschafterdarlehen finanziert oder die Gesellschaft von einem Dritten Kredit erhält, weil sich der Gesellschafter jenem Dritten gegenüber für seine Gesellschaft stark gemacht hat. Die Besicherung durch den Gesellschafter kann dabei durch die Gewährung einer Sachsicherheit aus seinem Privatvermögen erfolgen oder auch durch eine persönliche Haftungsübernahme gegenüber dem Dritten, beispielsweise im Wege der Bürgschaft. Durch eine solche nur mittelbare Finanzierung seiner Gesellschaft kann sich der Gesellschafter den Konsequenzen des Gesellschafterdarlehensrechts nicht entziehen.

4)

BGH, Urt. v. 20.2.2014 – IX ZR 164/13, Rz. 18, BGHZ 200, 210, 217 f. = ZIP 2014, 584, 586; K. Schmidt in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 135 Rz. 24; Altmeppen in: Roth/ Altmeppen, GmbHG, 9. Aufl. 2019, Anh. § 30 Rz. 37, 189; Bornemann in: FK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 44a Rz. 2 m. w. N.

Die Doppelsicherung durch Gesellschaft und Gesellschafter

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a) Verfahrensmäßige Verweisung des Drittdarlehensgebers auf die Gesellschaftersicherheit (§ 44a InsO) Besichert der Gesellschafter allerdings den von einem unabhängigen Dritten gewährten Kredit, entsteht durch dessen Einbindung eine besondere Problematik in der rechtstechnischen Abwicklung: Das Recht der Gesellschafterdarlehen wendet sich in seiner Zielrichtung auch im Sonderfall des gesellschafterbesicherten Drittdarlehens allein gegen den Gesellschafter, nicht aber gegen den darlehensgewährenden Dritten.5) Deshalb ginge es keinesfalls an, etwa den Kredit einer Bank demjenigen Nachrang des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO zu unterwerfen, welcher für ein direkt vom Gesellschafter gewährtes Darlehen gilt. Könnte die Bank andererseits wie jeder andere, nicht vom Gesellschafter besicherte Darlehensgeber ihre Darlehensforderung direkt in der Insolvenz der Gesellschaft verfolgen, wäre umgekehrt die vorrangige Haftung des Gesellschafters nicht sichergestellt. Deshalb nimmt § 44a InsO – gleichsam notgedrungen – den eigentlich unbeteiligten Drittdarlehensgeber verfahrensmäßig mit in die Pflicht, indem er primär auf die Gesellschaftersicherheit verwiesen wird, ehe er an der Verteilung der Insolvenzmasse teilnehmen kann.6) Diese verfahrensmäßige Belastung trifft den Gläubiger ohnehin nicht besonders hart, weil er bei einer Gesellschaftsinsolvenz regelmäßig selbst daran interessiert ist, auf die Gesellschaftersicherung Zugriff zu nehmen, um volle Befriedigung zu erlangen.7)

5)

6) 7)

Deutlich BGH, Urt. v. 13.7.2017 – IX ZR 173/16, Rz. 16, 20, BGHZ 215, 262, 267 ff. = ZIP 2017, 1632, 1633 f.; ferner K. Schmidt in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 44a Rz. 4, 6, § 135 Rz. 24; Bitter in: MünchKomm-InsO, 4. Aufl. 2019, § 44a Rz. 5; näher Bitter in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2015, Anh. § 64 Rz. 268 ff. Dazu Bitter in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2015, Anh. § 64 Rz. 268, 282; Bitter in: MünchKomm-InsO, 4. Aufl. 2019, § 44a Rz. 1, 5, 20 ff. So bereits zutreffend BGH, Urt. v. 19.11.1984 – II ZR 84/84, juris Rz. 10, ZIP 1985, 158, 159; im Anschluss daran Bitter in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2015, Anh. § 64 Rz. 269. Nicht gerechtfertigt wäre es hingegen, den unbeteiligten Drittdarlehensgeber auch materiell zu benachteiligen, weshalb die h. M. – vom IX. Zivilsenat zweifach übersehen (BGH, Urt. v. 1.12.2011 – IX ZR 11/11, Rz. 10, BGHZ 192, 9, 12 = ZIP 2011, 2418, 2419; BGH, Urt. v. 28.6.2012 – IX ZR 191/11, Rz. 13, BGHZ 193, 378, 383 = ZIP 2012, 1869, 1870) – zur Berechnung der Insolvenzquote trotz des unglücklichen, an § 52 InsO erinnernden Wortlauts nicht das Ausfallprinzip heranzieht, sondern den in § 43 InsO verankerten Grundsatz der Doppelberücksichtigung; vgl. eingehend K. Schmidt/Bitter, Doppelberücksichtigung, Ausfallprinzip und Gesellschafterhaftung in der Insolvenz, ZIP 2000, 1077 ff., dort insbesondere S. 1087 f.; ferner Bitter in: MünchKomm-InsO, 4. Aufl. 2019, § 44a Rz. 20 ff. und Bitter in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2015, Anh. § 64 Rz. 282 f., jeweils m. w. N.; in der Konsequenz wird die Insolvenzquote auf den ursprünglichen Forderungsbetrag vor Verwertung der Sicherheit berechnet.

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Georg Bitter

b) Anfechtung gegenüber dem Gesellschafter bei Rückführung des Kredits an den Dritten (§§ 135 Abs. 2, 143 Abs. 3 InsO) Ist die Forderung des Drittkreditgebers auf Rückzahlung des Darlehens im letzten Jahr vor dem Insolvenzantrag oder nach diesem Antrag durch Zahlung oder in sonstiger Weise befriedigt und dadurch der Gesellschafter von der (vorrangigen) Inanspruchnahme aus der von ihm bestellten Sicherheit befreit worden, ermöglichen es die §§ 135 Abs. 2, 143 Abs. 3 InsO, diese vorrangige Haftung des Gesellschafters noch nachträglich im Wege der Insolvenzanfechtung herzustellen: Der Gesellschafter, der die Kreditgewährung des Dritten durch seine Sicherheit ermöglicht hatte, muss den innerhalb der Jahresfrist vor dem Insolvenzantrag oder danach an den Drittkreditgeber geflossenen oder sonst von diesem vereinnahmten Betrag zur Insolvenzmasse erstatten.8) Wirtschaftlich steht der Gesellschafter damit ebenso, wie wenn er selbst das Darlehen hingegeben hätte. Dann nämlich hätte er eine im letzten Jahr vor dem Insolvenzantrag durch Rückführung des Gesellschafterdarlehens erfolgte Befreiung von dem eingegangenen Insolvenzrisiko gemäß § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO zur Insolvenzmasse erstatten müssen. 2. Spezialfall der Doppelsicherung Schwieriger liegen die Dinge, wenn der Drittdarlehensgeber nicht allein vom Gesellschafter besichert wird, sondern die Gesellschaft zusätzlich eine Sachsicherheit aus ihrem Vermögen gewährt, beispielsweise eine Grundschuld auf dem ihr gehörenden Betriebsgrundstück bestellt.9) Hierzu hatte der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs – im Anschluss an die Praxis des II. Zivilsenats zum Eigenkapitalersatzrecht10) – schon 2011 im

8)

9)

10)

BGH, Urt. v. 20.2.2014 – IX ZR 164/13, Rz. 13, BGHZ 200, 210, 215 = ZIP 2014, 584, 585: Gegenstand der Anfechtung ist die Befreiung des Gesellschafters von der Sicherung; vgl. dazu auch Bitter in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2015, Anh. § 64 Rz. 270, 286. S. zur Doppelsicherung Kayser, ZIP 2015, 449, 455 f.; Bitter in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2015, Anh. § 64 Rz. 298 ff.; die dort schon bestehenden Bedenken (Rz. 298) nun ausdrücklich zum Anlass für eine partielle Korrektur nehmend Bitter in: MünchKomm-InsO, 4. Aufl. 2019, § 44a Rz. 30a; dazu unten bei Fn. 22 ff. BGH, Urt. v. 19.11.1984 – II ZR 84/84, NJW 1985, 858 = ZIP 1985, 158; BGH, Urt. v. 19.12.1991 – II ZR 43/91, NJW 1992, 1166 = ZIP 1992, 108; dem folgend die h. M., vgl. die Nachweise bei Bork, Doppelbesicherung eines Gesellschaftsdarlehens durch Gesellschaft und Gesellschafter, in: FS Ganter, 2010, S. 135, 136 (dort Fn. 3); Mikolajczak, Die Haftung des Gesellschafters für doppelbesicherte Drittdarlehen – Was folgt aus dem Nachrang des Freistellungsanspruchs?, ZIP 2011, 1285 f. (dort Fn. 2).

Die Doppelsicherung durch Gesellschaft und Gesellschafter

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Urteil BGHZ 192, 9 mit Recht entschieden, dass § 44a InsO nicht für die Sicherheit der Gesellschaft gilt, die Bank also direkt auf jene Sicherheit zugreifen kann, ohne vorher den Gesellschafter in Anspruch nehmen zu müssen.11) § 44a InsO gilt insoweit nur für die Sicherheit des Gesellschafters, die vom Drittkreditgeber in Anspruch genommen werden muss, ehe er mit seiner nach Verwertung der Gesellschaftssicherheit ggf. verbleibenden Restforderung an der quotalen Verteilung der Gesellschaftsmasse teilnehmen kann.12) Soweit der Drittkreditgeber die Gesellschaftssicherheit wegen der Unanwendbarkeit des § 44a InsO verwertet hat, soll der Gesellschafter nach Ansicht des Bundesgerichtshofs zur Erstattung des ausgekehrten Betrags zur Insolvenzmasse verpflichtet sein, und dies auch in Fällen, in denen die Verwertung erst nach der Verfahrenseröffnung erfolgt (Analogie zu § 143 Abs. 3 InsO).13) Diese teilweise schon vor dem Urteil BGHZ 192, 9 in der Literatur vertretene14) und seither herrschende Position15) hat der IX. Zivilsenat in der Entscheidung BGHZ 215, 262 aus dem Jahr 2017 noch einmal bestätigt16) und dabei detailliert begründet, worin die Gläubigerbenachteiligung i. S. von § 129 InsO liegen soll. Der Leitsatz jenes Urteils lautet: „Tilgt eine Gesellschaft ein von ihr selbst und ihrem Gesellschafter besichertes Darlehen gegenüber dem Darlehensgeber, liegt die Gläubigerbenachteiligung bei der Anfechtung der Befreiung des Gesellschafters von seiner Sicherung in dem Abfluss der Mittel aus dem Gesellschaftsvermögen, weil der Gesellschafter im Verhältnis zur Gesellschaft zur vorrangigen Befriedigung der von ihm besicherten Verbindlichkeit verpflichtet ist (im Anschluss an BGHZ 192, 9 = ZIP 2011, 2417).“17)

11)

12)

13)

14) 15) 16) 17)

BGH, Urt. v. 1.12.2011 – IX ZR 11/11, Rz. 11 ff., BGHZ 192, 9, 13 ff. = ZIP 2011, 2418, 2419 f.; zustimmend die h. M., vgl. die Nachweise bei Altmeppen in: Roth/Altmeppen, GmbHG, 9. Aufl. 2019, Anh. § 30 Rz. 207; Bitter in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2015, Anh. § 64 Rz. 299; Bitter in: MünchKomm-InsO, 4. Aufl. 2019, § 44a Rz. 30. BGH, Urt. v. 1.12.2011 – IX ZR 11/11, Rz. 10, BGHZ 192, 9, 12 f. = ZIP 2011, 2418, 2419; Altmeppen in: Roth/Altmeppen, GmbHG, 9. Aufl. 2019, Anh. § 30 Rz. 210; Altmeppen, Zur Insolvenzanfechtung einer Gesellschaftersicherheit bei Doppelsicherung, ZIP 2011, 741, 748; Bitter in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2015, Anh. § 64 Rz. 300; näher Bitter in: MünchKomm-InsO, 4. Aufl. 2019, § 44a Rz. 31 f., dort auch zur Abgrenzung vom Fall der Doppelsicherung durch den Gesellschafter und eine gesellschaftsfremde Person. BGH, Urt. v. 1.12.2011 – IX ZR 11/11, Rz. 12 ff., BGHZ 192, 9, 14 ff. = ZIP 2011, 2418, 2419 f. (zur Verwertung nach Verfahrenseröffnung insbesondere Rz. 20); erläuternd Kayser, ZIP 2015, 449, 455 und insbesondere Kayser, WM 2015, 1973, 1978 f.: Der BGH habe „tief in die Trickkiste greifen“ müssen. Vgl. die Nachweise bei Altmeppen, ZIP 2011, 741, 742 (dort Fn. 13). Vgl. die Nachweise bei Bitter in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2015, Anh. § 64 Rz. 299 (dort Fn. 2 und 3). Zur entsprechenden Anwendung des § 143 Abs. 3 InsO BGH, Urt. v. 13.7.2017 – IX ZR 173/16, Rz. 15, BGHZ 215, 262, 267 = ZIP 2017, 1632, 1633. BGH, Urt. v. 13.7.2017 – IX ZR 173/16, BGHZ 215, 262 = ZIP 2017, 1632.

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Im Hinblick auf den auch in den Entscheidungsgründen mehrfach betonten „Haftungsvorrang des Gesellschafters (§ 44a InsO)“18) stehe es dem Eintritt einer Gläubigerbenachteiligung nicht entgegen, dass der Drittkreditgeber seinerseits insolvenzfest gesichert gewesen sei.19) Zur Begründung wird u. a. auf den oben (unter II. 1. bei Fn. 4) bereits allgemein herausgestellten Umstand hingewiesen, dass die gesellschafterbesicherten Drittdarlehen nicht anders behandelt werden dürfen als die Fälle der unmittelbaren Darlehensvergabe durch den Gesellschafter.20) 3. Wirtschaftliche Vergleichbarkeit von Doppelsicherung und Besicherung eines Gesellschafterdarlehens aus dem Vermögen der Gesellschaft Dieser Hinweis auf die Gleichbehandlung beider Fälle erscheint zwar zutreffend, gibt dem Verfasser jedoch Anlass, seine bislang mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und h. M. übereinstimmende Position zur Doppelsicherung21) aufzugeben.22) Richtigerweise muss der Gleichlauf – wovon der Bundesgerichtshof wohl ebenfalls inzident ausgeht – im Hinblick auf eine von der Gesellschaft gewährte Sicherheit ebenfalls gelten, wie sogleich erläutert sei. Aber das Ergebnis hat jeweils gegenteilig zur Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auszusehen (siehe unten III. und IV.). Zunächst zum Gleichlauf bei der Gesellschaftssicherheit: Der Fall einer Doppelsicherung erscheint insoweit wirtschaftlich vergleichbar mit der Konstellation, in welcher der Gesellschafter selbst ein Darlehen hingibt und hierfür auch selbst eine Gesellschaftssicherheit erhält. Dies lässt sich rasch erkennen, wenn man die Doppelsicherungsfälle weiterspinnt: Aus der Praxis wurde dem Verfasser von einem Fall berichtet, in welchem eine Bank mit einer Grundschuld an einem der Gesellschaft gehörenden Grundstück besichert war und sich der Gesellschafter zusätzlich für den Kredit verbürgt hatte. Der Gesellschafter wartete nun nicht die Verwertung der Grundschuld durch die Bank ab, sondern zahlte den Kreditbetrag aufgrund seiner Bürgschaft an die Bank und ließ sich im Gegenzug die Dar18) 19) 20) 21) 22)

So wörtlich BGH, Urt. v. 13.7.2017 – IX ZR 173/16, Rz. 21, BGHZ 215, 262, 269 = ZIP 2017, 1632, 1634, ähnlich ferner in Rz. 12. BGH, Urt. v. 13.7.2017 – IX ZR 173/16, Rz. 12, BGHZ 215, 262, 266 = ZIP 2017, 1632 f. Vgl. die komplette Rz. 14 in BGH, Urt. v. 13.7.2017 – IX ZR 173/16, BGHZ 215, 262, 266 f. = ZIP 2017, 1632, 1633. Bitter in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2015, Anh. § 64 Rz. 299 f.; s. aber auch schon die dort in Rz. 298 geäußerten grundsätzlichen Bedenken. S. bereits Bitter in: MünchKomm-InsO, 4. Aufl. 2019, § 44a Rz. 30a.

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lehensforderung der Bank mitsamt der Grundschuld abtreten. Anschließend verlangte er selbst im Insolvenzverfahren über das Vermögen der Gesellschaft abgesonderte Befriedigung aus der Grundschuld. Diese Konstellation eines auf den Gesellschafter übergegangenen, von der Gesellschaft besicherten Drittdarlehens kann schwerlich anders beurteilt werden als Fälle, in denen der Gesellschafter gleich von Beginn an das Darlehen selbst gegeben und sich dafür von der Gesellschaft die Grundschuld bestellen lässt. Denn seine Besicherung des Drittdarlehens steht ja – wie dargelegt – wirtschaftlich einer direkten Darlehensvergabe durch den Gesellschafter gleich. Noch deutlicher wird dies, wenn man den Fall noch ein wenig abwandelt und annimmt, der Gesellschafter habe sich gegenüber der Bank für deren Kreditvergabe an die Gesellschaft verbürgt, letztere habe jedoch die Grundschuld nicht der Bank zur Sicherung von deren Darlehensforderung, sondern dem Gesellschafter zur Sicherung seiner Regressforderung gegen die Gesellschaft bestellt. Diese Besicherung des (allenfalls nachrangig in der Insolvenz der Gesellschaft verfolgbaren)23) Regressanspruchs ist unmittelbar vergleichbar mit der Besicherung eines vom Gesellschafter selbst hingegebenen Darlehens und kann daher nicht abweichend beurteilt werden.24) Dann aber kann es auch keinen Unterschied machen, wenn die Sicherheit – wie in dem erstgenannten, mir aus der Praxis zugetragenen Fall – erst nachträglich zur Sicherung des Regressanspruchs auf den Gesellschafter übertragen wird bzw. bei akzessorischen Sicherheiten sogar automatisch mit übergeht (vgl. § 401 BGB). Im Ergebnis müssen daher die Fälle der Doppelsicherung ebenso behandelt werden wie die Fälle einer Besicherung des Regressanspruchs des Gesellschafters und diese wiederum ebenso wie Konstellationen, in denen der Gesellschafter selbst das Darlehen hingibt und die Gesellschaft ihm dafür 23)

24)

Den Nachrang des Regressanspruchs betonend BGH, Urt. v. 1.12.2011 – IX ZR 11/11, Rz. 10, BGHZ 192, 9, 12 = ZIP 2011, 2418, 2419; BGH, Urt. v. 13.7.2017 – IX ZR 173/16, Rz. 17, BGHZ 215, 262, 268 = ZIP 2017, 1632, 1633; K. Schmidt in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 44a Rz. 4; Hirte in: Uhlenbruck, 14. Aufl. 2015, § 44a Rz. 1; ausführlich Bitter in: MünchKomm-InsO, 4. Aufl. 2019, § 44a Rz. 25 ff. mit der gegenüber der h. M. erforderlichen Klarstellung, dass der Regressanspruch bei einer Teilbefriedigung des Drittkreditgebers während des laufenden Verfahrens nicht einmal nachrangig, sondern gar nicht verfolgt werden darf (§ 44 InsO); vgl. auch Bitter in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2015, Anh. § 64 Rz. 284; zust. Lüdtke in: HambKomm-InsO, 7. Aufl. 2019, § 44a Rz. 15. Ebenso Holzmann, Das Regressrisiko des Befreiungsgläubigers, 2016, S. 112 ff., jedoch mit dem exakt gegenteiligen Ergebnis wie hier nachfolgend noch dargestellt.

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aus ihrem Vermögen eine Sicherheit bestellt: Die vom Bundesgerichtshof mit Recht betonte Gleichbehandlung des gesellschafterbesicherten Drittdarlehens mit der direkten Darlehensgewährung durch den Gesellschafter25) gilt folglich auch bei einer Besicherung aus dem Gesellschaftsvermögen. III. Anfechtbarkeit von Sicherheiten für Gesellschafterdarlehen Vor diesem Hintergrund erscheint die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Doppelsicherung immerhin konsequent im Hinblick auf die jüngst von ihm eingenommene Position zu den anfänglichen Sicherheiten für Gesellschafterdarlehen. Insoweit hat der IX. Zivilsenat am 14. Februar 2019 entschieden, dass auch eine derartige, schon ursprünglich Zug um Zug gegen Darlehensgewährung bestellte Sicherheit aus dem Vermögen der Gesellschaft gemäß § 135 Abs. 1 Nr. 1 InsO anfechtbar sei; die Regelung über das Bargeschäft gemäß § 142 InsO soll in diesem Fall – anders als gewöhnlich bei der Sicherheitenbestellung Zug um Zug gegen Darlehensgewährung26) – nicht anwendbar sein, weil der Sinn und Zweck jener Vorschrift auf das Verhältnis zwischen der Gesellschaft und ihrem Gesellschafter (angeblich) nicht passe.27) In jenem Urteil geht der Bundesgerichtshof – wie schon zuvor im Urteil BGHZ 198, 64 aus dem Jahr 201328) – davon aus, dass die Gewährung von Gesellschafterdarlehen, die durch das Gesellschaftsvermögen gesichert werden, per se mit einer ordnungsgemäßen Unternehmensfinanzierung nicht vereinbar sei.29) Dann aber erscheint es nicht fernliegend, die Dinge im Ergebnis ähnlich zu sehen, wenn die Gesellschaft nicht das Darlehen 25) 26)

27) 28) 29)

BGH, Urt. v. 13.7.2017 – IX ZR 173/16, Rz. 14, BGHZ 215, 262, 266 f. = ZIP 2017, 1632, 1633. S. z. B. BGH, Urt. v. 21.12.1977 – VIII ZR 255/76, BGHZ 70, 177, 184 f. und 186 = NJW 1978, 758, 759 f.; BGH, Urt. v. 19.3.1998 – IX ZR 22/97, juris Rz. 58 (insoweit nicht in BGHZ 138, 291 abgedruckt), NJW 1998, 2592, 2597 = ZIP 1998, 793, 798; Rogge/ Leptien in: HambKomm-InsO, 7. Aufl. 2019, § 142 Rz. 27; Gehrlein, Verbindungslinien zwischen Eigenkapitalersatz, Insolvenzanfechtung und Deliktshaftung, in: FS Kübler, 2015, S. 181, 186 m. w. N. BGH, Urt. v. 14.2.2019 – IX ZR 149/16, ZIP 2019, 666, 672 f. (zu dem zuletzt genannten Aspekt insbesondere Rz. 53). BGH, Urt. v. 18.7.2013 – IX ZR 219/11, Rz. 19, BGHZ 198, 64, 71 = ZIP 2013, 1579, 1581, m. krit. Anm. Bitter. BGH, Urt. v. 14.2.2019 – IX ZR 149/16, Rz. 50, ZIP 2019, 666, 672; ebenso Brinkmann, Zwei Brennpunkte im Recht der Gesellschafterdarlehen, ZGR 2017, 708, 721; Köth, Die Verwertbarkeit von Sicherheiten für Gesellschafterdarlehen in der Insolvenz, ZGR 2016, 541, 572.

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des Gesellschafters sichert, sondern das Darlehen eines Dritten, für das zugleich der Gesellschafter persönlich oder dinglich haftet. Jenes Urteil des Bundesgerichtshofs zur anfänglichen Besicherung von Gesellschafterdarlehen kann nun allerdings nicht überzeugen, wie der Verfasser jüngst an anderer Stelle näher dargelegt hat.30) Es ist hier nicht der Ort und Raum, um die dort dargelegten Argumente zu wiederholen. Es seien daher nur die Kernthesen in Erinnerung gerufen, soweit sie auch für die hier behandelte, parallele Problematik der Doppelsicherung Relevanz haben:31) 1.

Das Gesellschafterdarlehensrecht will den Gesellschafter durch die Anordnung des Nachrangs in § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO und die Anfechtbarkeit gemäß § 135 Abs. 1 InsO nur an einem Insolvenzrisiko festhalten, welches er zuvor im Verhältnis zu „seiner“ Gesellschaft eingegangen ist (Abzugsverbot); ihm soll aber keine Pflicht zur Zuführung von Finanzmitteln auferlegt werden (kein Zuführungsgebot). Von dieser bislang in der Rechtsprechung des II. und IX. Zivilsenats anerkannten Grundlinie weicht der IX. Zivilsenat ab, indem er auch die anfängliche Besicherung von Gesellschafterdarlehen für gemäß § 135 Abs. 1 Nr. 1 InsO anfechtbar erklärt. Dem Gesellschafter, der nur eine begrenzte Finanzierungsentscheidung getroffen hat (Darlehensvergabe gegen Sicherheit), wird eine weitergehende Finanzierungsleistung – die ungesicherte Kreditgewährung – vom Bundesgerichtshof aufgedrängt und damit systemwidrig ein Zuführungsgebot begründet.

2.

Dieser Einbruch in das gesetzliche Konzept des Gesellschafterdarlehensrechts, welches richtigerweise nur die nominelle und nicht auch die materielle Unterkapitalisierung im Blick hat, wird allgemein die Rechtsanwendung im Gesellschafterdarlehensrecht erschweren. Insbesondere aber führt er zu einem Wertungswiderspruch mit dem gesetzlichen Konzept der Nutzungsüberlassung in § 135 Abs. 3 InsO. Wirtschaftlich vergleichbare Tatbestände – die besicherte Kreditvergabe einerseits und die Nutzungsüberlassung andererseits – werden nun deutlich unterschiedlich behandelt, obwohl es dafür keinen sachlichen Grund gibt. Die Praxis wird darauf mit der Ausweitung der Nutzungsüberlassung reagieren, insbesondere mit der Betriebsaufspaltung, weil der Gegenstand (nur) dann nicht in die Insolvenzmasse der Gesellschaft fällt. Im Ergebnis wird die Insolvenzmasse damit – insbesondere wegen

30) 31)

Bitter, ZIP 2019, 737 ff. Vgl. die zusammenfassenden Thesen bei Bitter, ZIP 2019, 737, 748 f.

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des Verlusts der Kostenbeiträge (§§ 170, 171 InsO) – schlechterstehen als zuvor, wodurch sich der vom Bundesgerichtshof bezweckte Gläubigerschutz in sein Gegenteil verkehrt. Vergleichbare Effekte ergeben sich auch aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Doppelsicherung. Auch sie begründet ein systemwidriges Zuführungsgebot, weil der Gesellschafter den aus der Gesellschaftssicherheit bereits zurückgeführten Drittkredit bei einer zu offenen Gestaltung seines Sicherungsversprechens noch ein zweites Mal aus seinem Privatvermögen bezahlen muss. Dies mag folgender, in der Praxis häufig anzutreffender Fall zeigen: Die Bank gewährt einer GmbH ein Darlehen i. H. von 1 Mio. € und erhält von dieser im Gegenzug eine Grundschuld auf deren Betriebsgrundstück. Da die Bank den Wert des Grundstücks bei konservativer Schätzung nur auf 900.000 € taxiert, verlangt sie vom Gesellschafter ergänzend die Übernahme einer Bürgschaft. Diese hält sie aufgrund eines vorhandenen Privatvermögens von ca. 100.000 € insoweit für werthaltig. Wird jene Bank in der Insolvenz der GmbH durch die Grundstücksverwertung i. H. von 900.000 € befriedigt, kann der Insolvenzverwalter den Gesellschafter nach Ansicht des Bundesgerichtshofs in diesem Umfang analog §§ 135 Abs. 2, 143 Abs. 3 InsO in Anspruch nehmen und zusätzlich haftet der Gesellschafter der Bank aus der Bürgschaft auf den Fehlbetrag von 100.000 €. Doch fragt man sich, warum der Gesellschafter im Ergebnis den vollen Kreditbetrag i. H. von 1 Mio. € zahlen soll, obwohl er die Kreditierung „seiner“ GmbH aufgrund der vorhandenen Gesellschaftssicherheit nur i. H. von 100.000 € gefördert hat. IV. Normzweckbetrachtung Aus diesem Grund soll nun eine Normzweckbetrachtung belegen, warum die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auch in Bezug auf die Doppelsicherung fehlgeht. 1. Der Streit um den (vorhandenen oder fehlenden) Normzweck des Gesellschafterdarlehensrechts Dabei ist nicht auf sämtliche Details des insbesondere in der Literatur breit geführten Streits um den Normzweck des Gesellschafterdarlehensrechts

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nach dem MoMiG32) einzugehen.33) Bei allen Unterschieden im Detail geht die ganz h. L. jedenfalls im Ergebnis einheitlich davon aus, dass der Nachrang in der Insolvenz gemäß § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO Konsequenz einer wie auch immer gearteten sog. Finanzierungsfolgenverantwortung34) sei, um Missbräuche der Haftungsbeschränkung zu vermeiden. Dabei wird teils vermutet, dass sich die Gesellschaft bei der Kreditgewährung in der Krise befunden habe, teils wird die Insolvenzreife und teils eine Unterkapitalisierung bei Darlehensgewährung vermutet.35) Die Gegenthese hat Schilpp in seiner Dissertation aus dem Jahr 2017 formuliert. Nach seiner Ansicht haben alle Konzepte, die von einer (abgewandelten) Finanzierungsfolgenverantwortung ausgehen, keine Grundlage im positiven Recht.36) Mit dem Gesellschafterdarlehensrecht werde schlicht ein Risikobeitrag des Gesellschafters i. H. des bereitgestellten Kapitals gesetzlich angeordnet als Ausgleich des Haftungsprivilegs bei nochmals durch das MoMiG reduziertem Mindestkapital (Einführung der UG).37) In eine ähnliche Richtung gehen wohl auch die Überlegungen des Bundesgerichtshofs, wenn er zwar einerseits die Finanzierungsfolgenverantwortung38) und die „Harmonie“ mit der Legitimationsgrundlage des früheren Rechts betont39), andererseits in jüngerer Zeit mehrfach herausgestellt hat, die Insolvenzanfechtung nach dem neuen Recht setze eine Krise nicht mehr voraus40) und es sei auch keine gesetzliche Vermutung dahingehend anzu32) 33)

34) 35)

36) 37) 38)

39) 40)

Gesetz zur Modernisierung des GmbH-Rechts und zur Bekämpfung von Missbräuchen – MoMiG, v. 23.10.2008, BGBl. I 2008, 2026. S. zum Normzweck die Darstellung und Diskussion bei Bitter in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2015, Anh. § 64 Rz. 14 ff.; sehr ausführlich Herwig, Das Gesellschafterdarlehensrecht im Unternehmensverbund, 2015, S. 40 – 184; ferner Schilpp, Gesellschafterfremdfinanzierte Auslandsgesellschaften, 2017, S. 20 – 74. Kritisch zu diesem Begriff Bitter in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2015, Anh. § 64 Rz. 16 ff. Gute Zusammenstellung der verschiedenen Ansichten bei Schilpp, Gesellschafterfremdfinanzierte Auslandsgesellschaften, 2017, S. 27 – 34; der zuletzt genannte Ansatz (Vermutung einer nominellen Unterkapitalisierung) wird u. a. vom Verfasser vertreten; vgl. die Nachweise unten in Fn. 53. Schilp, Gesellschafterfremdfinanzierte Auslandsgesellschaften, 2017, S. 50 ff., 56 ff. S. Schilpp, Gesellschafterfremdfinanzierte Auslandsgesellschaften, 2017, S. 65 ff., und das Zwischenergebnis S. 74. BGH, Urt. v. 21.2.2013 – IX ZR 32/12, Rz. 18, BGHZ 196, 220, 226 = ZIP 2013, 582, 584; BGH, Urt. v. 7.3.2013 – IX ZR 7/12, Rz. 9, ZIP 2013, 734, 735; BGH, Urt. v. 14.2.2019 – IX ZR 149/16, Rz. 50, ZIP 2019, 666, 672. BGH, Urt. v. 21.2.2013 – IX ZR 32/12, Rz. 18, BGHZ 196, 220, 226 = ZIP 2013, 582, 584. BGH, Urt. v. 30.4.2015 – IX ZR 196/13, ZIP 2015, 1130; vgl. auch schon Kayser, WM 2015, 1973, mit Hinweis auf BGH, Urt. v. 17.2.2011 – IX ZR 131/10, Rz. 25, BGHZ 188, 363, 372 = ZIP 2011, 575, 578.

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erkennen, dass sich die Gesellschaft im Jahr vor der Antragstellung zumindest im Stadium der drohenden Zahlungsunfähigkeit befunden habe.41) Ob derartigen Überlegungen beigetreten werden kann, erscheint zweifelhaft. Weder die These von Schilpp noch der Ansatz des Bundesgerichtshofs vermögen nämlich zu erklären, warum das Darlehen eines Gesellschafters in der Insolvenz der Gesellschaft anders behandelt wird als der Kredit eines unabhängigen Dritten. Der Hinweis von Schilpp auf die gesetzliche Anordnung eines Risikobeitrags oder der vom Bundesgerichtshof betonte Umstand, dass jedes Gesellschafterdarlehen bei Eintritt der Gesellschaftsinsolvenz in den Nachrang verwiesen,42) also ohne Rücksicht auf einen Eigenkapitalcharakter einer insolvenzrechtlichen Sonderbehandlung unterworfen und auf diese Weise der Zuführung haftenden Eigenkapitals weitgehend gleichgestellt wird,43) sind ja nichts als Beschreibungen der gesetzlichen Rechtsfolge, also des Norminhalts, ohne einen Grund für diese Sonderbehandlung zu nennen, also den Normzweck. Allerdings muss dem hier nicht weiter nachgegangen werden, weil jedenfalls Einigkeit darüber herrscht, dass über das Gesellschafterdarlehensrecht nur ein tatsächlich vom Gesellschafter hingegebener Finanzierungsbeitrag gebunden werden kann. Schilpp spricht insoweit von einer Haftung „mit dem gesamten zur Verfügung gestellten Kapital“44) und der Bundesgerichtshof davon, dass den Gesellschaftern die Möglichkeit versagt werde, „der Gesellschaft zur Verfügung gestellte Kreditmittel zu Lasten der Gläubigergesamtheit zu entziehen“.45) Unabhängig vom vorhandenen oder fehlenden Normzweck geht es also allenfalls um die Bindung jenes erbrachten Finanzierungsbeitrags (Abzugsverbot), nicht hingegen um eine Pflicht, einen erforderlichen Finanzierungsbeitrag erstmals zu leisten (kein Zuführungsgebot).46) 41) 42) 43) 44) 45)

46)

BGH, Urt. v. 13.10.2016 – IX ZR 184/14, Rz. 26, BGHZ 212, 272, 285 = ZIP 2016, 2483, 2486. BGH, Urt. v. 30.4.2015 – IX ZR 196/13, Rz. 5, ZIP 2015, 1130. BGH, Urt. v. 13.10.2016 – IX ZR 184/14, Rz. 22, BGHZ 212, 272, 282 = ZIP 2016, 2483, 2486. Schilpp, Gesellschafterfremdfinanzierte Auslandsgesellschaften, 2017, S. 65. BGH, Urt. v. 21.2.2013 – IX ZR 32/12, Rz. 18, BGHZ 196, 220, 226 = ZIP 2013, 582, 584; Hervorhebung durch Kursivdruck vom Verfasser. Soweit der BGH dabei zusätzlich auf den Insidergedanken anspielt („über die finanzielle Lage ihres Betriebs regelmäßig wohlinformierte Gesellschafter“), ist dieser im Gesellschafterdarlehensrecht richtigerweise irrelevant; vgl. Bitter in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2015, Anh. § 64 Rz. 32 f. So ausdrücklich auch BGH, Urt. v. 20.9.2010 – II ZR 296/08 (Star 21), Rz. 24 ff., BGHZ 187, 69, 75 f. = ZIP 2010, 2092, 2094, und BGH, Urt. v. 19.9.1996 – IX ZR 249/95, juris Rz. 13, BGHZ 133, 298, 303 = ZIP 1996, 1829, 1830, und dazu eingehend Bitter, ZIP 2019, 737 ff. (m. w. N. dort Fn. 5).

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2. Bindung des tatsächlich erbrachten Finanzierungsbeitrags als Sanktionierung einer (vermuteten) nominellen Unterkapitalisierung Der Grund für diese Bindung an den erbrachten Finanzierungsbeitrag liegt in dem Wunsch des Gesetzgebers begründet, den Gesellschafter angemessen an den Risiken der Gesellschaft zu beteiligen, um Risikoerhöhungsstrategien der Gesellschafter entgegenzuwirken.47) Die Haftungsbeschränkung soll zwar die Risikoaversität der Gesellschafter mindern, damit riskante Projekte mit positivem Erwartungswert im Interesse der Gesamtwohlfahrt unternommen werden (Investitionsanreiz).48) Gesellschafter, deren Haftung beschränkt ist, können allerdings Kosten auf die Gläubiger externalisieren, wenn die Verlagerung ökonomischer Risiken von der Gesellschafter- auf die Gläubigerebene nicht kompensiert wird.49) Diese Gefahr der Risikoverlagerung sinkt, wenn die Gesellschafter angemessen mit Eigenkapital beteiligt sind.50) Finanziert der Gesellschafter seine Gesellschaft nun nicht mit Eigen-, sondern stattdessen mit Fremdkapital und beteiligt sich damit nicht angemessen am Risiko (nominelle Unterkapitalisierung), bindet das Gesetz die hingegebenen Mittel durch den Nachrang des § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO und erzielt damit aus Sicht der „gewöhnlichen“ Insolvenzgläubiger (§ 38 InsO) den gleichen Effekt wie der vollständige Nachrang des Eigenkapitals (§ 199 InsO).51) Diese Rückstufung der Gesellschafterkreditgeber rechtfertigt sich daraus, dass der Gesellschafter ganz anders als ein gewöhnlicher Gläubiger von den hingegebenen Finanzmitteln profitiert:52) Der Gesellschafter kann nämlich 47)

48)

49)

50) 51) 52)

Bitter/Heim, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2018, § 4 Rz. 267 ff.; Bitter in: MünchKommInsO, 4. Aufl. 2019, § 44a Rz. 3 f.; Bitter in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2015, Anh. § 64 Rz. 25 ff.; ausführlich Laspeyres, Hybridkapital in Insolvenz und Liquidation der Kapitalgesellschaft, 2014, S. 148 ff., 165 ff.; Herwig, Das Gesellschafterdarlehensrecht im Unternehmensverbund, 2015, S. 141 ff. Bitter in: Scholz, GmbHG, 12. Aufl. 2018, § 13 Rz. 60 ff., insbesondere Rz. 65; ausführlich zu den ökonomischen Vorteilen der Haftungsbeschränkung Bitter, Konzernrechtliche Durchgriffshaftung bei Personengesellschaften, 2000, S. 159 ff., zur Ausschaltung der Risikoaversität insbesondere S. 165 f., 168 ff. S. die Nachweise bei Bitter in: Scholz, GmbHG, 12. Aufl. 2018, § 13 Rz. 66, und Bitter, ZIP 2019, 737, 738 (dort Fn. 8 f.); ausführlich Bitter, Konzernrechtliche Durchgriffshaftung bei Personengesellschaften, 2000, S. 182 ff. Bitter in: Scholz, GmbHG, 12. Aufl. 2018, § 13 Rz. 67 m. w. N.; ausführlich Bitter, Konzernrechtliche Durchgriffshaftung bei Personengesellschaften, 2000, S. 190 ff. Bitter in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2015, Anh. § 64 Rz. 31. S. zum Folgenden Bitter/Heim, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2018, § 4 Rz. 269 ff.; Bitter in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2015, Anh. § 64 Rz. 29 ff.; Bitter in: MünchKomm-InsO, 4. Aufl. 2019, § 44a Rz. 3 f.

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auch in Bezug auf sein Darlehensengagement variabel am Erfolg teilhaben, weil er die Rendite stets über seine Eigenkapitalposition abschöpfen kann. Dadurch entsteht ein Ungleichgewicht zwischen einem stets auf den Festbetragsanspruch beschränkten gewöhnlichen Gläubiger und dem nur scheinbar auf den Festbetragsanspruch beschränkten, in Wahrheit aber vollumfänglich variabel am Gewinn beteiligten Gesellschafter. Um dieses Ungleichgewicht aufzuwiegen, ist es gerechtfertigt, die Darlehen derjenigen Personen, die zugleich Gesellschafter sind, im Rang hinter den Forderungen der gewöhnlichen Gläubiger gemäß § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO zurückzustufen. Damit reagiert das Gesellschafterdarlehensrecht der Sache nach auf eine (vermutete) nominelle Unterkapitalisierung der haftungsbeschränkten Gesellschaft,53) indem es die vom Gesellschafter tatsächlich bereitgestellten Finanzmittel in der Gesellschaft bindet. Der Gesellschafter soll sich von dem einmal eingegangenen Insolvenzrisiko nicht zulasten der (anderen) Gläubiger lösen können, wie er es bei hingegebenem Eigenkapital auch nicht hätte tun können. 3. Fehlende nominelle Unterkapitalisierung im Umfang der Gesellschaftssicherheit Soweit aber die Gesellschaft durch Bereitstellung von Sicherheiten aus ihrem Vermögen selbst für ihre Finanzierung sorgen kann, liegt überhaupt keine nominelle Unterkapitalisierung vor, auf die durch eine Subordination und Anfechtbarkeit zu reagieren wäre. Vielmehr hält die Darlehensgewährung gegen Kreditsicherheit schon bei der unmittelbaren Darlehensgewährung durch den Gesellschafter im Umfang des Wertes der Gesellschaftssicherheit einem Drittvergleich stand.54) Und dasselbe gilt umso mehr, wenn der Kredit – wie beim gesellschafterbesicherten Drittdarlehen – tatsächlich 53)

54)

Vgl. Bitter/Heim, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2018, § 4 Rz. 272; Bitter in: MünchKommInsO, 4. Aufl. 2019, § 44a Rz. 3 f.; Bitter in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2015, Anh. § 64 Rz. 25 ff.; zustimmend Saenger/Inhester-Kolmann, GmbHG, 3. Aufl. 2016, Anh. § 30 Rz. 25, 29, 134; ähnliche Überlegungen bei Huber, Gesellschafterdarlehen im GmbH- und Insolvenzrecht nach der MoMiG-Reform, in: Liber amicorum M. Winter, S. 261, 275 ff. (= Beilage ZIP 39/2010, S. 7, 13 f.); Habersack in: Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl. 2014, Anh. § 30 Rz. 21 m. w. N.; ausführlich Schaumann, Reform des Eigenkapitalersatzrechts im System der Gesellschafterhaftung, 2009, S. 163 ff.; kritisch zu der Vermutung Herwig, Das Gesellschafterdarlehensrecht im Unternehmensverbund, 2015, S. 139 ff., 148 ff.; Schilpp, Gesellschafterfremdfinanzierte Auslandsgesellschaften, 2017, S. 58 f. und dazu oben im Text bei Fn. 42 f. S. dazu Bitter, ZIP 2019, 737 ff., insbesondere S. 743 f. mit Fn. 84 f.

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von einem unabhängigen Dritten gewährt wird. Soweit die Gesellschaft den Kredit durch Bestellung einer Sicherheit selbst besichern kann, war es gar nicht der Gesellschafter, welcher die Finanzierung „seiner“ Gesellschaft ermöglicht hat.55) Entsprechend ist es auch nicht gerechtfertigt, ihn nach der Verwertung der Kreditsicherheit in Anspruch zu nehmen, weil darin ein dem Gesellschafterdarlehensrecht fremdes Zuführungsgebot läge. Dies zeigt der obige Beispielsfall, in welchem der Gesellschafter auf 1 Mio. € haften soll, obwohl er die Kreditgewährung an „seine“ GmbH nur i. H. von 100.000 € gefördert hat (siehe oben III. a. E.). Richtigerweise beruht die Finanzierungsentscheidung des Drittkreditgebers nur insoweit auf dem Engagement des Gesellschafters, wie der Wert der von der Gesellschaft gewährten Sicherheit zur Absicherung des Darlehensrisikos des Drittkreditgebers nicht ausreicht. Nur in diesem Umfang hat der Gesellschafter folglich – wie bei der eigenen (ungesicherten) Kreditvergabe – die Finanzierung der Gesellschaft ermöglicht und muss sich entsprechend dem Abzugsverbot an diesem Engagement festhalten lassen. Im Ergebnis ist damit unerheblich, ob der Darlehensrückzahlungsanspruch des Gesellschafters oder eines Dritten von der Gesellschaft besichert wird. Jeweils gibt es im Umfang des Wertes der Gesellschaftssicherheit keine nominelle Unterkapitalisierung und damit auch keine dogmatische Basis für das Eingreifen des Gesellschafterdarlehensrechts. Die Gewährung von Darlehen und die Besicherung von Drittdarlehen ist folglich auch im Hinblick auf Sicherheiten der Gesellschaft gleich zu behandeln, dies jedoch nicht in dem vom Bundesgerichtshof verfolgten Sinne, sondern exakt umgekehrt: Ebenso wie die anfängliche Besicherung eines vom Gesellschafter selbst hingegebenen Darlehens anfechtungsfest und durchsetzbar ist, weil sich die Gesellschaft im Umfang der Sicherheit selbst finanziert hat und der Gesellschafter entsprechend kein Insolvenzrisiko im Verhältnis zur Gesellschaft eingegangen ist,56) kann bei einer Doppelsicherung die Rückführung des Drittdarlehens insoweit nicht gemäß oder analog §§ 135 Abs. 2, 143 Abs. 3 InsO anfechtbar sein, wie die Gesellschaftssicherheit von Beginn an und durchgängig parallel zur

55)

56)

Bitter in: MünchKomm-InsO, 4. Aufl. 2019, § 44a Rz. 30a; in Bezug auf mittelbar gesellschafterbesicherte Drittdarlehen zuvor deutlich schon Bitter in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2015, Anh. § 64 Rz. 277, ferner in Bezug auf die Doppelsicherung die allgemeinen Bedenken in Rz. 288 i. V. m. Rz. 34 f. Bitter, ZIP 2019, 737, 739.

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Sicherheit des Gesellschafters bestanden hat. Nur soweit die Gesellschaftssicherheit erst nachträglich bestellt oder werthaltig gemacht worden ist, hatte zunächst der Gesellschafter für die Finanzierung „seiner“ Gesellschaft gesorgt. Er ist dann von einem ursprünglich eingegangenen Insolvenzrisiko befreit worden und diese Befreiung ist – ebenso wie die nachträgliche Besicherung eines von ihm selbst hingegebenen Darlehens57) – anfechtbar. Der bisherigen Rechtsprechung, welche nicht danach differenziert, ob und in welchem Umfang der Gesellschafter oder die Gesellschaft selbst für die Finanzierung sorgen, fehlt hingegen das dogmatische Fundament. V. Alternative Lösungen auf der Basis der (bisherigen) Rechtsprechung Da der Verfasser – wie eingangs schon angedeutet – insbesondere seit dem jüngsten Urteil des IX. Zivilsenats vom 14.2.2019 keine große Hoffnung hegt, dass sich der Bundesgerichtshof dem hier dargelegten, diametral zur bisherigen Rechtsprechung liegenden Konzept anschließen wird, soll nun im letzten Schritt aufgezeigt werden, wie sich die misslichen Konsequenzen der Rechtsprechung für die Praxis vermeiden lassen. Ehe insoweit auf die „Radikallösung“ der Betriebsaufspaltung und Nutzungsüberlassung eingegangen wird (siehe unten V. 4.), welche zugleich durch die Rechtsprechung zur (angeblichen) Anfechtbarkeit ursprünglicher Sicherheiten befördert wird,58) sollen zuvor noch weitere, speziell bei der Doppelsicherung in Betracht kommende Alternativen zur Begrenzung des Gesellschafterrisikos aufgezeigt werden. 1. Begrenzung des Sicherungszwecks Oft liegen die Dinge in der Praxis so, dass die Bank – insbesondere bei der Immobilienfinanzierung – durch die Sicherheit der Gesellschaft – etwa eine Grundschuld – bereits hinreichend für ihr Kreditengagement abgesichert ist. Gleichwohl wird standardmäßig auch noch eine Bürgschaft des Gesellschafters hereingenommen, deren Werthaltigkeit jedoch gar nicht näher durch eine Bonitätsprüfung des Gesellschafters betrachtet wird. Die Bürgschaft dient in derartigen Fällen oft nur einer Absicherung der Bank gegen Vermögensverlagerungen von der Gesellschaft ins Privatvermögen des Gesellschafters, ebenso wie jedenfalls früher regelmäßig bei der Finanzierung 57) 58)

Bitter, ZIP 2019, 737, 745 (m. w. N. dort Fn. 106). Dazu Bitter, ZIP 2019, 737, 740 f.

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eines Ehemanns die Bürgschaft der Ehefrau hereingenommen wurde, um Vermögensverlagerungen zwischen beiden einen Riegel vorzuschieben.59) In derartigen Fällen, in denen die Sicherheit nur dazu dient, Vermögensverlagerungen ins Privatvermögen zu verhindern (und ggf. zusätzlich zukünftigen Vermögenserwerb des Sicherungsgebers zu erfassen)60), kann den Parteien nur dringend angeraten werden, diesen begrenzten Bürgschafts-/Sicherungszweck auch aktenkundig zu machen. Auf diese Weise lässt sich – wie das OLG Frankfurt a. M. im Jahr 2015 zutreffend erkannt hat – verhindern, dass der Gesellschafter später nach Verwertung der Gesellschaftssicherheit vom Insolvenzverwalter gemäß oder analog §§ 135 Abs. 2, 143 Abs. 3 InsO in Anspruch genommen werden kann. Die Anfechtbarkeit nach diesen Vorschriften setzt nämlich voraus, dass der Kreditgeber gemäß § 44a InsO auf die Sicherheit hätte verwiesen werden können, wenn es noch nicht zur Rückzahlung des Darlehens gekommen wäre.61) Zu verneinen ist dies aber bei der Vereinbarung eines besonderen Sicherungszwecks, wenn der genannte Fall nicht eingetreten ist, also Vermögensverlagerungen und/oder ein zukünftiger Vermögenserwerb nicht stattgefunden haben.62) 2. Höchstbetragsbürgschaft In anderen Fällen geht es der Bank darum, den Gesellschafter in einem gewissen Umfang seines Privatvermögens neben der Gesellschaft mit in die Haftung zu nehmen. Obwohl der Gesellschafter zur Zeit der Kreditvergabe an die Gesellschaft oft nur über begrenzte Finanzmittel verfügt und die Bank entsprechend auch nur von einem begrenzten Sicherungswert ausgeht, werden in der Praxis oft unlimitierte Bürgschaften herein-

59)

60)

61) 62)

Vgl. dazu in der Diskussion um die sittenwidrige Angehörigenbürgschaft BGH, Urt. v. 8.10.1998 – IX ZR 257/97, ZIP 1998, 1999 = NJW 1999, 58; BGH, Urt. v. 11.2.2003 – XI ZR 214/01, juris Rz. 21, ZIP 2003, 796, 798, mit Anerkennung eines solchen (beschränkten) Sicherungsinteresses der Bank bei ausdrücklicher Vereinbarung im Bürgschaftsvertrag. Vgl. z. B. die Formulierung im Fall des OLG Frankfurt, Urt. v. 11.11.2015 – 17 U 121/14, juris Rz. 2, ZIP 2016, 733 = ZInsO 2016, 580: „Die Bürgschaft dient lediglich der Erfassung zukünftiger Vermögensverlagerungen des Hauptschuldners auf den Bürgern und/ oder zukünftigen Vermögenserwerb aus Erbschaft, aus Lebensversicherungen oder aus Vermögensauseinandersetzungsansprüchen mit dem Hauptschuldner.“; auch dieses Interesse in der Diskussion um die sittenwidrige Angehörigenbürgschaft bei ausdrücklicher Vereinbarung anerkennend BGH, Urt. v. 8.10.1998 – IX ZR 257/97, ZIP 1998, 1999 = NJW 1999, 58. OLG Frankfurt, Urt. v. 11.11.2015 – 17 U 121/14, juris Rz. 29, ZIP 2016, 733, 734 f. OLG Frankfurt, Urt. v. 11.11.2015 – 17 U 121/14, juris Rz. 30, ZIP 2016, 733, 735.

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genommen. Die Gesellschafter denken sich dabei oft nicht viel, weil sie das Kreditrisiko durch die von der Gesellschaft bestellte Sicherheit weitgehend abgesichert und sich selbst damit – wie bei einer normalen Kreditbesicherung – nur für den Restbetrag in der Haftung sehen (siehe bereits oben unter I.). Ein solches Denken entpuppt sich dann jedoch in der Insolvenz der Gesellschaft auf Basis der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs als Haftungsfalle: Obwohl der Gesellschafter mit einem beispielsweise nur 100.000 € betragenden Privatvermögen die betragsmäßig weit darüber hinausgehende Kreditvergabe durch die Bank – beispielsweise in Millionenhöhe – nur ganz begrenzt gefördert hat und jene Kreditvergabe im Wesentlichen auf der Sicherheitenbestellung durch die Gesellschaft beruht, soll der Gesellschafter – wie dargelegt – nach Rückführung des Kredits nicht allein im Umfang seines Finanzierungsbeitrags von 100.000 €, sondern in Millionenhöhe in Anspruch genommen werden können, weil die Gesellschaft(!) den Kredit in dieser Höhe besichert hatte. Um derartige, mit dem Sinn und Zweck des Gesellschafterdarlehensrechts nicht in Einklang zu bringende Ergebnisse auf der Basis der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu vermeiden, kann den Gesellschaftern nur dringend angeraten werden, bei der Bank auf eine Höchstbetragsbürgschaft im Umfang des bei Kreditvergabe vorhandenen Privatvermögens zu bestehen. Die Bank sollte sich darauf problemlos einlassen, weil sie von einem höheren Sicherungswert ohnehin nicht ausgehen kann. Und der Gesellschafter wird durch den Höchstbetrag haftungsmäßig auf dasjenige Risiko reduziert, welches er bei Eingehung der Bürgschaft übernehmen wollte. Nur der rechtlich nicht versierte Gesellschafter gerät folglich mit seiner unlimitierten Bürgschaft63) in die Haftungsfalle des Bundesgerichtshofs und muss einen Betrag zahlen, der deutlich über das hinausgeht, was er zur Finanzierung „seiner“ Gesellschaft beigetragen hat (Zuführungsgebot). 3. Aufspaltung in Teilkredite Reicht die von der Gesellschaft zu bestellende Kreditsicherheit nicht vollständig aus, um das Sicherungsinteresse der Bank zu befriedigen, lässt sich auch über die Aufspaltung der Kreditmittel in zwei Teilkredite nachdenken. Den ersten Teilkredit kann sodann allein die Gesellschaft besichern und für den zweiten Teilkredit verbürgt sich der Gesellschafter oder be63)

Auf deren Relevanz explizit hinweisend Kayser, ZIP 2015, 449, 455.

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stellt eine sonstige Sicherheit. Auch in diesem Fall kann der Gesellschafter – wie bei der Höchstbetragsbürgschaft – allenfalls im Umfang seines eigenen Finanzierungsbeitrags (hier bezogen auf den zweiten Teilkredit) in Anspruch genommen werden, nicht aber auch im Umfang der von der Gesellschaft bestellten Sicherheit und der insoweit von ihr selbst ermöglichten Finanzierung im ersten Teilkredit. In der Praxis sollte man bei einer derartigen Aufteilung der Kreditsumme noch zusätzlich darauf achten, dass der zweite vom Gesellschafter besicherte Teilkredit vor dem von der Gesellschaft besicherten ersten Teilkredit zurückgeführt wird. Dadurch wird nämlich die Chance deutlich erhöht, dass die Jahresfrist bis zum Insolvenzantrag für den vom Gesellschafter besicherten Kreditteil abgelaufen ist. 4. Die Betriebsaufspaltung als „Radikallösung“ Jegliches Risiko, im Umfang der Sicherheit vom Insolvenzverwalter (noch einmal) persönlich in Anspruch genommen zu werden, kann der Gesellschafter vermeiden, indem er das der Besicherung des Bankkredits dienende Vermögen – beispielsweise ein Betriebsgrundstück – überhaupt nicht der Gesellschaft als Kreditgrundlage zur Verfügung stellt, sondern es in seinem Privatvermögen hält. Die Grundschuld am Betriebsgrundstück für den der Gesellschaft von der Bank gewährten Kredit bestellt dann nicht die Gesellschaft, sondern der Gesellschafter selbst und verpflichtet sich – soweit diese Sicherheit zur Abdeckung des Kreditrisikos der Bank nicht ausreicht – ggf. daneben noch persönlich über eine Bürgschaft. In diesem Fall haftet der Gesellschafter maximal einfach auf den Kreditbetrag unter Anrechnung des Wertes der Grundschuld(!) und damit deutlich geringer, als wenn er das Grundstück in die Gesellschaft eingebracht und diese sodann die Grundschuld bestellt hätte. In letzterem Fall verliert er nämlich das in die Gesellschaft eingebrachte Grundstück und muss nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs noch einmal zusätzlich den gleichen Wert über seine Bürgschaft erstatten. Wirtschaftlich zahlt er damit den Kreditbetrag gleich doppelt zurück. Die Rechtsprechung zur Doppelsicherung drängt damit die Praxis – nicht anders als die gleichgerichtete Rechtsprechung zur (angeblichen) Anfechtbarkeit der anfänglichen Sicherheiten – in die Betriebsaufspaltung. Dadurch aber stehen die Gläubiger, wie der Verfasser bereits im Hinblick auf die zweitgenannte Rechtsprechung dargelegt hat, im Ergebnis in doppelter

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Hinsicht schlechter:64) Erstens befindet sich der Gegenstand nun vollständig außerhalb des Gesellschaftsvermögens und nicht nur im Umfang der Sicherheit, weshalb auch kein Rückgewähranspruch mehr bei Fortfall des Sicherungszwecks besteht. Und zweitens entgehen der Masse die Kostenbeiträge der §§ 170, 171 InsO, weil der Gesellschafter bei der Nutzungsüberlassung ein Aussonderungsrecht hat. Der Bundesgerichtshof erreicht also auch bei der Doppelsicherung mit seiner dem Normzweck des Gesellschafterdarlehensrechts widersprechenden Rechtsprechung das Gegenteil dessen, was er erreichen möchte: weniger und nicht mehr Gläubigerschutz. VI. Zusammenfassende Thesen 1.

Das Gesellschafterdarlehensrecht reagiert auf eine (vermutete) nominelle Unterkapitalisierung der haftungsbeschränkten Gesellschaft, indem es die vom Gesellschafter tatsächlich bereitgestellten Finanzmittel in der Gesellschaft bindet. Der Gesellschafter soll sich von dem einmal eingegangenen Insolvenzrisiko nicht zulasten der (anderen) Gläubiger lösen können (Abzugsverbot).

2.

Soweit die Gesellschaft durch Bereitstellung von Sicherheiten selbst für ihre Finanzierung sorgen kann, liegt keine nominelle Unterkapitalisierung vor, auf die durch eine Subordination und Anfechtbarkeit zu reagieren wäre. Unerheblich ist dabei, ob der Darlehensrückzahlungsanspruch des Gesellschafters oder eines Dritten besichert wird. Die Gewährung von Darlehen und die Besicherung von Drittdarlehen sind folglich auch im Hinblick auf Sicherheiten der Gesellschaft gleichzubehandeln.

3.

Bei einer Doppelsicherung ist die Rückführung des Drittdarlehens insoweit nicht gemäß oder analog §§ 135 Abs. 2, 143 Abs. 3 InsO anfechtbar, wie die Gesellschaftssicherheit von Beginn an und durchgängig parallel zur Sicherheit des Gesellschafters bestanden hat. In diesem Umfang hat nicht der Gesellschafter, sondern die Gesellschaft selbst für ihre Kreditierung gesorgt und der Gesellschafter ist folglich auch nicht von einem früher im Verhältnis zur Gesellschaft eingegangenen Insolvenzrisiko befreit worden. Deshalb besteht insoweit kein Anlass für die Anwendung der Sonderregeln des Gesellschafterdarlehensrechts.

64)

S. Bitter, ZIP 2019, 737, 740 f.

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4.

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Der bisherigen Rechtsprechung, welche nicht danach differenziert, ob und in welchem Umfang der Gesellschafter oder die Gesellschaft selbst für die Finanzierung sorgen, fehlt das dogmatische Fundament. Sie begründet ein im Gesellschafterdarlehensrecht nicht angelegtes Zuführungsgebot, weil der Gesellschafter über seinen eigenen Beitrag zur Finanzierung der Gesellschaft hinaus auch im Umfang der von der Gesellschaft durch ihre Sicherheit selbst bewirkten Finanzierung in Anspruch genommen werden kann. Diese Rechtsprechung wird Ausweichstrategien der Gesellschafter hervorbringen, insbesondere die Betriebsaufspaltung fördern, bei der die Insolvenzmasse – insbesondere wegen des Verlusts der Kostenbeiträge (§§ 170, 171 InsO) – schlechtersteht als zuvor. Der vom Bundesgerichtshof bezweckte Gläubigerschutz wird damit – wie schon bei seiner Rechtsprechung zur (angeblichen) Anfechtbarkeit ursprünglicher Sicherheiten für ein vom Gesellschafter selbst gewährtes Darlehen – in sein Gegenteil verkehrt.

Heilung der Anfechtbarkeit? REINHARD BORK Inhaltsübersicht I. Ausgangslage II. Hypothetische Kausalverläufe III. Rechtliche Relevanz nachträglicher Umstände 1. Bestätigung (§ 141 BGB) 2. Wegfall des Anfechtungsgrundes

a) Nachträgliche Beseitigung der Gläubigerbenachteiligung b) BGH, Urt. v. 29.6.2004 – IX ZR 258/02, BGHZ 159, 397 c) Gesamtschau IV. Ergebnis

Godehard Kayser hat in beeindruckender Weise einen beträchtlichen Teil seines Berufslebens dem Insolvenzanfechtungsrecht gewidmet. Sowohl als Berichterstatter als auch später als Vorsitzender des IX. Senats hat er dieses Rechtsgebiet wie kein anderer geprägt und ihm in vielfältiger Weise Kontur verliehen. Schon in seiner 2006 veröffentlichten Dissertation „Die Lebensversicherung in der Insolvenz des Arbeitgebers“1) hat er Eckpfeiler eingeschlagen, die sich später in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (u. a.) zur Anfechtung der Zuwendung von Versicherungsleistungen und -beitragszahlungen ausgewirkt haben.2) Seine Kommentierung der §§ 129 ff. InsO im Münchener Kommentar3) gehört zu den wichtigsten Quellen für Wissenschaft und Praxis, wenn es um das Insolvenzanfechtungsrecht geht. In zahlreichen Vorträgen und Publikationen hat er die von ihm maßgeblich mit beeinflusste Rechtsprechung des IX. Senats erläutert und gegen manche – mitunter durchaus irrationale und emotionale – Kritik verteidigt. Man darf daher hoffen, dass der nachfolgende Beitrag – eher eine Miniatur als eine Grundlegung – auf das Interesse des Jubilars stoßen wird. I. Ausgangslage In der Praxis ergeben sich immer wieder Fallkonstellationen, in denen sich die Frage stellt, ob die ursprünglich begründete Anfechtbarkeit einer 1) 2) 3)

Kayser, Die Lebensversicherung in der Insolvenz des Arbeitgebers, Köln/Berlin/München, 2006. Zuletzt BGH, Beschl. v. 14.2.2019 – IX ZB 25/17, Rz. 8 ff., WM 2019, 691. Kirchhof/Stürner/Eidenmüller, MünchKomm-InsO, Bd. 2, 3. Aufl. 2013.

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Rechtshandlung nachträglich – also nach der Rechtshandlung, aber vor der Insolvenzeröffnung – wieder entfallen ist. Der IX. Senat hat sich mit dieser Frage verschiedentlich unter dem Aspekts des Wegfalls der Gläubigerbenachteiligung, auf den unten (siehe III. 2. a)) näher zurückzukommen sein wird, beschäftigt. Es gibt aber auch andere Fallgestaltungen, in denen an eine „Heilung“ der Anfechtbarkeit gedacht werden kann. Als Beispiel diene der folgende Fall: Eine Bank hat dem Schuldner einen zunächst ungesicherten Kredit gegeben und sich den später in allseitiger Kenntnis der mindestens drohenden Zahlungsunfähigkeit in inkongruenter Weise (also ohne aus dem ursprünglichen Darlehensvertrag einen Anspruch auf gerade dieses Sicherungsgut zu haben) besichern lassen. Wenn weiter nichts geschieht als die Beantragung und Eröffnung des Insolvenzverfahrens, dann ist diese Sicherheitenbestellung nach § 133 Abs. 1 InsO und – je nach Zeitpunkt – nach § 131 Abs. 1 InsO anfechtbar.4) Die Bank beruft sich zwar darauf, dass die Besicherung dem Sanierungszweck gedient habe, aber das hilft ihr nicht, weil kein hinreichendes Sanierungskonzept erarbeitet wurde.5) Nun mag sich aber unser Fall nach der Besicherung so entwickelt haben, dass die Bank, nachdem ein den Anforderungen der Rechtsprechung in jeder Hinsicht genügendes Sanierungskonzept vorliegt, mit dem Schuldner einen in dem Sanierungskonzept vorgesehenen neuen Kreditvertrag schließt, in dem der ursprüngliche aufgeht und in dem unter Gewährung zusätzlicher Mittel in einem neuen Sicherungsvertrag vereinbart wird, dass die neue Gesamtkreditlinie durch die bereits bestellten sowie neue Sicherheiten abgesichert sein soll. In diesem Fall darf man unterstellen, dass jedenfalls der zusätzlich gewährte Kredit durch die zusätzlich bestellten Sicherheiten anfechtungsfest abgesichert ist. Aber kann man sich auch auf den Standpunkt stellen, dass die Anfechtbarkeit der ursprünglichen Sicherheitenbestellungen durch die neue Sicherungsabrede nachträglich beseitigt ist? Trägt hier das Argument, die Parteien hätten genauso gut die Sicherheiten zurückgewähren (und dadurch die Gläubigerbenachteiligung rückgängig machen) können und sie dann 4)

5)

Beispiele für die Inkongruenz nachträglicher Sicherheitengewährung: BGH, Urt. v. 9.6.2016 – IX ZR 153/15, Rz. 18, ZIP 2016, 1491; BGH, Urt. v. 7.11.2013 – IX ZR 248/12, Rz. 10, ZIP 2013, 2368. Grundlegend dazu BGH, Urt. v. 12.5.2016 – IX ZR 65/14, Rz. 14 ff., BGHZ 210, 249 = ZIP 2016, 1235; zuletzt BGH, Urt. v. 14.6.2018 – IX ZR 22/15, Rz. 8 ff., ZIP 2018, 1794.

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für die Absicherung der neu verhandelten Kreditlinie neu bestellen können? Oder ist dem mit einer beliebten (aber noch nicht hinreichend erforschten) Wendung des IX. Senats entgegenzuhalten, hypothetische Kausalverläufe spielten bei der Insolvenzanfechtung keine Rolle?6) In Rechtsprechung und Literatur findet sich dazu nichts. Es erscheint daher reizvoll, der Frage an dieser Stelle einmal etwas gründlicher nachzuspüren. II. Hypothetische Kausalverläufe Möglicherweise kann diesem Ansatz von vornherein entgegengehalten werden, dass der Rückgriff auf hypothetische Kausalverläufe im Insolvenzanfechtungsrecht unzulässig sei. In der Tat entspricht es ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dass hypothetische Kausalverläufe im Insolvenzanfechtungsrecht unbeachtlich seien.7) Schaut man freilich genauer hin, trifft dieser Satz allenfalls für die Verteidigung des Anfechtungsgegners zu, die Gläubigerbenachteiligung wäre auch ohne die anfechtbare Rechtshandlung eingetreten. Der IX. Senat greift nämlich selbst in ständiger Rechtsprechung auf hypothetische Kausalverläufe zurück, wenn es nicht um den Wegfall oder die Vermeidung, sondern um die Begründung der Gläubigerbenachteiligung geht. So ist etwa jüngst in einer Entscheidung vom 15. November 2018 für die Gewährung eines unentgeltlichen Darlehens durch den Schuldner danach gefragt worden, ob der Schuldner das verliehene Geld anderenfalls zinsgünstig angelegt hätte oder ob es auch ohne den Darlehensvertrag keine Zinsen gebracht hätte.8) Damit wird für den Fall, dass die anfechtbare Rechtshandlung unterblieben wäre, nach dem hypothetischen Kausalverlauf gefragt. In der genannten Entscheidung führt der Senat dazu bei Rz. 17 aus: „Die Frage des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Rechtshandlung und der Gläubigerbenachteiligung ist aufgrund des realen Geschehens zu beurteilen. Für hypothetische, nur gedachte Kausalverläufe ist insoweit kein Raum. Sie können die Ursächlichkeit einer Rechtshandlung für die Gläubigerbenachteiligung nicht ausschließen und im Regelfall auch nicht begründen. Hiervon ist jedoch die Feststellung der Gläubiger-

6) 7)

8)

Nachweise siehe nächste Fußnote. Exemplarisch BGH, Urt. v. 4.2.2016 – IX ZR 77/15, Rz. 17, BGHZ 209, 8 = ZIP 2016, 583; BGH, Urt. v. 9.6.2016 – IX ZR 153/15, Rz. 29 ff., ZIP 2016, 1491; BGH, Urt. v. 17.7.2014 – IX ZR 240/13, Rz. 13, ZIP 2014, 1595; ausführlich Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 129 Rz. 181 ff. BGH, Urt. v. 15.11.2018 – IX ZR 229/17, Rz. 22, ZIP 2019, 233.

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Reinhard Bork benachteiligung zu unterscheiden. Hierzu ist zu vergleichen, wie sich das schuldnerische Vermögen mit und ohne die angefochtene Rechtshandlung darstellt.“

Ganz ähnlich ging es in der Entscheidung vom 19. Juli 2018 um die unentgeltliche Nutzungsüberlassung eines mit einem Krankenhaus bebauten Grundstücks, bei dem der IX. Senat die Frage aufwirft, ob dem Schuldner die Nutzung des Krankenhauses rechtlich und tatsächlich möglich gewesen wäre, wenn er den Nutzungsvertrag mit dem Anfechtungsgegner nicht geschlossen hätte.9) Ganz allgemein kommt das auch in der vom Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung wiederholten Definition der Gläubigerbenachteiligung zum Ausdruck, in der es heißt: „Eine Gläubigerbenachteiligung liegt grundsätzlich vor, wenn die angefochtene Rechtshandlung entweder die Schuldenmasse vermehrt oder die Aktivmasse verkürzt hat, wenn sich also mit anderen Worten die Befriedigungsmöglichkeiten der Insolvenzgläubiger ohne die Handlung bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise günstiger gestaltet hätten.“10)

Die den Rückgriff auf hypothetische Kausalverläufe ablehnende Rechtsprechung betrifft bei Licht besehen im Kern die Frage der Ursächlichkeit der Rechtshandlung für eine bereits festgestellte Gläubigerbenachteiligung, für die auf das reale Geschehen und nicht auf Kausalverläufe abgestellt werden soll, die nicht stattgefunden haben, sondern nur möglich gewesen wären. Wenn es aber um die Frage geht, ob sich eine Gläubigerbenachteiligung überhaupt feststellen lässt, wird man an dem Rückgriff auf hypothetische Kausalverläufe nicht vorbeikommen. Ob hingegen eine tatsächlich eingetretene Gläubigerbenachteiligung bei anderer rechtlicher Gestaltung vermieden worden wäre, ist ohne Belang. Um diese Frage geht es indessen in der hier zu behandelnden Konstellation aus zwei Gründen nicht. Zum einen wird für den oben beschriebenen Beispielsfall nicht auf hypothetische Vorgänge abgestellt, sondern an ein reales Geschehen angeknüpft: Die Bank hat nach Bestellung der Sicherheit tatsächlich weitere Kredite ausgereicht und dafür neue Sicherungsvereinbarungen geschlossen. Daher darf die rechtliche Relevanz dieses tatsächlichen Vorgangs für die Anfechtbarkeit der Sicherheitenbestellung untersucht werden und kann nicht unter Hinweis auf die Unbeachtlichkeit hypothetischer Kausalverläufe von vornherein bestritten werden. Zum anderen geht es dabei nicht um die Gläubigerbenachteiligung i. S. von § 129 InsO, sondern um den Wegfall des Anfechtungsgrundes i. S. von 9) 10)

BGH, Urt. v. 19.7.2018 – IX ZR 307/16, Rz. 20 ff., ZIP 2018, 1601. Zuletzt BGH, Urt. v. 15.11.2018 – IX ZR 229/17, Rz. 11, ZIP 2019, 233.

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§§ 130 ff. InsO. An der Gläubigerbenachteiligung hat sich durch das spätere Geschehen nichts geändert. Das folgt u. a. daraus, dass sie auch bei einer Neubestellung zu bejahen gewesen wäre. Hätte es die Kreditsicherheiten bei der nachträglichen Kreditausweitung noch nicht gegeben und wären sie dann erst bestellt worden, dann hätte auch das die Gläubiger benachteiligt.11) Diese Sicherheitenbestellung wäre aber – was nachfolgend noch zu erörtern ist – möglicherweise deshalb nicht anfechtbar gewesen, weil es dann keinen Anfechtungsgrund (mehr) gegeben hätte, also keiner der Tatbestände der §§ 130 ff. InsO verwirklich worden wäre. Auch dies ist aber keine Frage von hypothetischen Kausalverläufen, sondern eine Frage der rechtlichen Wirkungen eines nachträglichen realen Geschehens. Insgesamt lässt sich daher aus dem Hinweis auf die Unbeachtlichkeit hypothetischer Kausalverläufe wenig herleiten. Es geht hier weder um die Leugnung der Gläubigerbenachteiligung noch um die Berücksichtigung eines hypothetischen Geschehens. Vielmehr stellt sich die Frage, ob ein späteres reales Geschehen den Anfechtungsgrund entfallen lassen kann. III. Rechtliche Relevanz nachträglicher Umstände Damit spitzen sich die Überlegungen auf die Frage zu, ob ein tatsächliches nachträgliches Geschehen, das seinerseits nicht anfechtbar ist, eine bislang vorliegende Anfechtbarkeit entfallen lassen kann, ob also gleichsam eine anfechtbare Rechtshandlung nachträglich „geheilt“ werden kann. 1. Bestätigung (§ 141 BGB) Eine solche „Heilung“ ist unserem Recht nicht fremd. Im Zivilrecht findet sie ihren Ausdruck vor allem in § 141 BGB, der die „Heilung“ eines nichtigen Rechtsgeschäfts zulässt, wenn sich die Parteien nachträglich erneut auf den Boden des nichtigen Rechtsgeschäfts stellen und dabei den bisherigen Nichtigkeitsgrund vermeiden.12) Das Gesetz verzichtet dann auf die Neuvornahme des bislang nichtigen Rechtsgeschäfts und lässt genü11)

12)

Nur zu Klarstellung: Selbst bei einem Bargeschäft i. S. von § 142 InsO bedarf es einer Gläubigerbenachteiligung, die regelmäßig in Form einer mittelbaren Gläubigerbenachteiligung vorliegt. Vgl. nur Bork, Einführung in das Insolvenzrecht, 9. Aufl. 2019, Rz. 253. Vgl. zu den Einzelheiten etwa BGH, Urt. v. 10.2.2012 – V ZR 51/11, Rz. 20 ff., NJW 2012, 1570; BGH, Urt. v. 1.10.1999 – V ZR 168/98, NJW 1999, 3704, 3705; Bork, Allgemeiner Teil des BGB, 4. Aufl. 2016, Rz. 1236 ff.; Roth in: Staudinger, BGB, Neubearb. 2015, § 141 Rz. 1 ff., alle m. w. N.

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gen, dass sich die Parteien – nunmehr ohne Verwirklichung eines Nichtigkeitstatbestandes – zu ihrem Rechtsgeschäft bekennen, daran also festhalten wollen. Ob man freilich § 141 BGB auf anfechtbare Rechtsgeschäfte überhaupt anwenden kann, ist fraglich. Denn Rechtsfolge der Anfechtbarkeit ist, wie heute allgemein aus § 143 Abs. 1 Satz 1 InsO abgeleitet wird, gerade nicht die Unwirksamkeit des Rechtsgeschäfts, sondern nur die Entstehung eines zum Schuldnervermögen (Insolvenzmasse) gehörenden, gemäß § 80 InsO der Verfügungsmacht des Insolvenzverwalters unterliegenden schuldrechtlichen Rückgewähranspruchs, der inhaltlich auf Beseitigung der Gläubigerbenachteiligung gerichtet ist.13) Das liegt außerhalb des Anwendungsbereichs des § 141 BGB und passt daher allenfalls dem Rechtsgedanken nach. Jedenfalls setzt aber eine solche „Heilung“ durch Bestätigung voraus, dass die Parteien den Grund der Nichtigkeit kennen oder zumindest Zweifel an dessen Rechtsbeständigkeit haben.14) Dafür wird es in Konstellationen wie der hier behandelten regelmäßig keine Anhaltspunkte geben und deshalb kann eine die Anfechtbarkeit nachträglich entfallen lassende Wirkung der späteren Geschehnisse auch nicht aus § 141 BGB direkt abgeleitet werden. Damit ist aber noch nicht entschieden, dass eine solche Wirkung ausscheiden muss. Denn dass die Rechtsprechung bei § 141 BGB Kenntnis der Parteien von der Nichtigkeit oder Zweifel an der Wirksamkeit verlangt, liegt daran, dass dort die „heilende“ Wirkung aus dem rechtsgeschäftlichen Parteiwillen abgeleitet wird. Die Parteien retten ihren Vertrag dadurch, dass sie in Kenntnis der Nichtigkeit daran festhalten wollen. Ein solcher Bestätigungswille ist aber nicht denkbar, wenn die Parteien gar nicht wissen, dass es einer „Heilung“ durch Bestätigung bedarf. In der vorliegenden Konstellation geht es indessen nicht um die Beseitigung der Anfechtbarkeit durch Willenserklärungen der Parteien, sondern um die Beseitigung der Anfechtbarkeit ex lege durch Wegfall des Anfechtungsgrundes.

13)

14)

Besonders deutlich BGH, Urt. v. 16.10.2014 – IX ZR 282/13, Rz. 10, ZIP 2014, 2303; vgl. ferner BGH, Urt. v. 10.1.2013 – IX ZR 172/11, Rz. 10, ZIP 2013, 531; BGH, Urt. v. 17.2.2011 – IX ZR 91/10, Rz. 7, ZIP 2011, 1114. BGH, Urt. v. 10.5.1995 – VIII ZR 264/94, juris Rz. 24, BGHZ 129, 371, 377; BGH, Urt. v. 10.2.2012 – V ZR 51/11, Rz. 21, NJW 2012, 1570; BGH, Beschl. v. 28.11.2008 – BLw 4/08, juris Rz. 37, ZIP 2009, 264, 267, alle m. w. N.

Heilung der Anfechtbarkeit?

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2. Wegfall des Anfechtungsgrundes Damit ist zu diskutieren, ob das Anfechtungsrecht die Berücksichtigung eines solchen nachträglichen Wegfalls des Anfechtungsgrundes zulässt. a) Nachträgliche Beseitigung der Gläubigerbenachteiligung Dass nachträgliche Vorgänge die Anfechtbarkeit entfallen lassen können, ist auch dem Insolvenzanfechtungsrecht nicht fremd. Der IX. Senat hat sich z. B. unter dem Vorsitz von Godehard Kayser wiederholt mit der Frage befasst, ob die einmal eingetretene Gläubigerbenachteiligung nachträglich wieder beseitigt werden kann, und er hat dies unter strengen Voraussetzungen bejaht. In der ersten Entscheidung ging es darum, dass der Schuldner seiner Frau Geld überwiesen und ihr fällige Ansprüche abgetreten hatte. Die Ehefrau zog die Forderungen ein, hob das ihr überwiesene Geld ab und gab dem Schuldner beides in bar zurück. Hier hat der Senat die Beseitigung der Gläubigerbenachteiligung mit der Begründung verneint, der Zugriff der Gläubiger sei dadurch noch weiter erschwert worden, weil Bargeld schwerer aufzufinden und zu pfänden sei als Forderungen.15) Hingegen wurde die Beseitigung im zweiten Fall bejaht. Hier hatte der Schuldner seiner Schwester ein Darlehen zurückgezahlt, das diese dann aber zu gleichen Konditionen wieder gewährt hatte, so dass den Gläubigern derselbe Betrag in derselben Weise zum Zugriff zur Verfügung stand.16) Auch in einer neueren Entscheidung zu § 3 AnfG wurde die Frage unter dem Gesichtspunkt angesprochen (aber nicht entschieden), ob die in der Veräußerung eines grundschuldbelasteten Grundstücks liegende Gläubigerbenachteiligung dadurch beseitigt werden konnte, dass die mit den Grundschulden gesicherten Forderungen zwischenzeitlich getilgt wurden. Unsicherheit bestand in diesen Fällen einige Zeit deshalb, weil der Bundesgerichtshof für die Beseitigung der Gläubigerbenachteiligung verlangt, dass „(…) die entsprechende ‚Rückgewähr‘ des Anfechtungsgegners eindeutig zu dem Zweck erfolgt, dem Schuldner den entzogenen Vermögenswert wieder zu geben und damit die Verkürzung der Haftungsmasse ungeschehen zu machen. Von der Zweckbestim-

15) 16)

BGH, Urt. v. 10.9.2015 – IX ZR 215/13, Rz. 15 f., ZIP 2015, 2083. BGH, Urt. v. 25.1.2018 – IX ZR 299/16, Rz. 10 ff., ZIP 2018, 385.

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Reinhard Bork mung her muss es sich um eine vorweggenommene Befriedigung des individuellen Rückgewähranspruchs handeln.“17)

Das Erfordernis eines Zwecks wirft die Frage auf, ob es insoweit subjektiver Voraussetzungen bedarf. Der Senat hat dazu aber nun ausdrücklich festgehalten, dass es für die Beseitigung der Gläubigerbenachteiligung nicht erforderlich sei, dass auch nur eine der beiden Parteien die Anfechtbarkeit kannte oder mit ihr rechnete.18) Entscheidend ist also nicht, ob die Parteien mit der Gläubigerbenachteiligung gerechnet haben und sie beseitigen wollten, sondern entscheidend ist nur, ob sie tatsächlich wieder beseitigt worden ist. Damit ist freilich noch nicht entschieden, ob man für den späteren Wegfall des Anfechtungsgrundes ebenso entscheiden kann. b) BGH, Urt. v. 29.6.2004 – IX ZR 258/02, BGHZ 159, 397 Einem solchen Ansatz scheint eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 29. Juni 200419) entgegenzustehen, die noch unter dem Vorsitz von Gerhart Kreft ergangen ist und an der Godehard Kayser als Beisitzer beteiligt war.20) Im zu entscheidenden Fall hatte der Schuldner seiner Ehefrau unter die Vorsatzanfechtung nach § 3 AnfG begründenden Umständen ein Grundstück übertragen. Das Grundstück war kurz darauf zwangsversteigert worden und die Ehefrau hatte dafür den Zuschlag bekommen. Der Anfechtungsklage des Gläubigers hielt sie entgegen, sie habe ihr jetziges Eigentum nicht, wie nach § 3 AnfG erforderlich, durch eine Rechtshandlung des Schuldners, sondern durch Zwangsvollstreckung erworben. Das ließ der Bundesgerichtshof nicht gelten. Zur Begründung hat er u. a. ausgeführt, der einmal entstandene Anfechtungsanspruch aus § 11 AnfG sei „(…) nicht dadurch erloschen, dass das Eigentum der Beklagten sich aufgrund eines zeitlich nachfolgenden Geschehens nunmehr auf den Zuschlagsbeschluß gründet.“21)

Weiter heißt es, dass ein nachfolgendes Geschehen der Anfechtung selbst dann nicht entgegenstehe, wenn der Empfänger nicht mehr in der Lage ist, dem Gläubiger den erhaltenen Gegenstand zur Verfügung zu stellen, denn in diesem Fall sei Wertersatz zu leisten. Das die Gläubigeranfech17) 18) 19) 20) 21)

BGH, Urt. v. 10.9.2015 – IX ZR 215/13, Rz. 15, ZIP 2015, 2083. BGH, Urt. v. 25.1.2018 – IX ZR 299/16, Rz. 12 ff., ZIP 2018, 385. BGH, Urt. v. 29.6.2004 – IX ZR 258/02, BGHZ 159, 397 = ZIP 2004, 1619. Berichterstatter war der spätere Vorsitzende und Vorgänger von Godehard Kayser, Gero Fischer. BGH, Urt. v. 29.6.2004 – IX ZR 258/02, BGHZ 159, 397, 400.

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tung begründende Handeln könne daher durch nachfolgende Geschehnisse in seiner Wirkung grundsätzlich nicht beeinträchtigt werden, solange die Beeinträchtigung des Gläubigerzugriffs auf das Schuldnervermögen fortdauert.22) Die Formulierung des Urteils scheint darauf hinzudeuten, dass der Bundesgerichtshof hier tatsächlich nur die Beseitigung der Gläubigerbenachteiligung geprüft hat. Darauf weist etwa hin, dass auf die Unbeachtlichkeit hypothetischer Geschehensabläufe hingewiesen wird und von der Beseitigung der Wirkungen der Rechtshandlung die Rede ist.23) Auch in der Literatur wird die Entscheidung unter diesem Gesichtspunkt zitiert.24) Das trägt aber nicht darüber hinweg, dass der Senat hier im Ergebnis nicht hat gelten lassen, dass einem zunächst nach § 3 AnfG anfechtbaren Erwerb ein reales Geschehen nachgefolgt ist, das seinerseits (mangels Schuldnerhandlung) nicht anfechtbar war. Auf der anderen Seite hat er aber diese Frage auch nicht ausdrücklich thematisiert. Gegenstand des Urteils war nämlich letztlich weder § 3 AnfG (Schuldnerhandlung) noch § 1 AnfG (Gläubigerbenachteiligung), sondern § 11 AnfG (Herausgabe des Erlangten),25) und (nur) dazu hat der Senat ausgeführt, der Herausgabeanspruch scheitere nicht daran, dass das vom Schuldner Erlangte später auf anderem Wege noch einmal erlangt worden war, weil es letztlich nicht darauf ankomme, wie die Ehefrau das Grundstück erworben habe, sondern nur darauf, wie es der Schuldner verloren habe.26) Man wird daher sagen können, dass BGHZ 159, 397 der Berücksichtigung eines Wegfalls des Anfechtungsgrundes wegen nachträglicher realer Geschehensabläufe nicht per se entgegensteht, aber doch Zweifel an der Zulässigkeit untermauert. c) Gesamtschau Es ist indessen fraglich, ob solche Zweifel Bestand haben können. Wenn die Parteien eine anfechtbare Rechtshandlung in unanfechtbarer Weise wiederholen, dann wirkt sich die ursprüngliche Anfechtbarkeit nicht mehr 22) 23) 24) 25) 26)

BGH, Urt. v. 29.6.2004 – IX ZR 258/02, BGHZ 159, 397, 401. BGH, Urt. v. 29.6.2004 – IX ZR 258/02, BGHZ 159, 397, 401. Vgl. etwa Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 129 Rz. 179. Vgl. auch die Interpretation in BFH, Urt. v. 30.3.2010 – VII R 22/09, Rz. 38, BFHE 229, 29 = ZIP 2010, 1356. In diesem Sinne auch Kunze, LMK 2004, 199 (Urteilsanm.).

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aus. Die unangreifbare Wiederholung der Rechtshandlung beseitigt zwar nicht die Gläubigerbenachteiligung – diese ist nach wie vor vorhanden –, wohl aber den Anfechtungsgrund und damit den Zurechnungszusammenhang zwischen der ersten (anfechtbaren) Rechtshandlung und der Gläubigerbenachteiligung. Deshalb entfällt die aus den ursprünglich vorhandenen Umständen abgeleitete Anfechtbarkeit und der Mangel der Rechtshandlung wird durch ihre – dieses Mal unanfechtbare – Wiederholung „geheilt“. Das muss auch dann gelten, wenn mit der ersten (anfechtbaren) Rechtshandlung eine Kreditsicherheit bestellt wurde und die Parteien für diese Kreditsicherheit später in nunmehr unanfechtbarer Weise eine neue Sicherungsvereinbarung schließen. Insoweit kann nichts anderes gelten, als wenn für eine rechtsgrundlos erlangte und deshalb kondizierbare Sicherheit ein neuer Rechtsgrund geschaffen wird. Für eine solche „Heilung“ des Mangels der Anfechtbarkeit kann dann in beiden Fällen nicht erforderlich sein, dass die anfechtbar bestellte Kreditsicherheit beseitigt (oder auf den Sicherungsgeber zurückübertragen) und dann neu bestellt (oder abermals an den Gläubiger zurückgegeben) wird, sondern es muss genügen, dass die Parteien an der ursprünglichen Sicherungsvereinbarung nicht mehr festhalten und stattdessen eine neue schließen, also das Sicherungsrecht auf eine neue Grundlage stellen. Wollte man entweder Löschung und Neubestellung oder eine Hin- und Herübertragung verlangen, so liefe das auf eine rein formalisierte Betrachtungsweise hinaus, die dem tatsächlichen Geschehen nicht gerecht wird. Eigentlich könnte man auch formulieren: Es kann für die „Heilung“ keinen Unterschied machen, ob die Parteien die Sicherheit zurückgeben und neu bestellen oder ob nur die Sicherungsabrede ausgetauscht wird. Diese Formulierung liefe aber Gefahr, dann doch als „hypothetische Betrachtungsweise“ diskreditiert zu werden, und wird deshalb hier nicht verwendet. Gleichwohl muss noch einmal betont werden, dass es sich nicht um eine „hypothetische Betrachtungsweise“ handelt, sondern um normative – wertende – Überlegungen zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen der Zurechnungszusammenhang mit einem früheren Anfechtungstatbestand entfällt. Wichtig ist natürlich, dass bei der neuen Sicherungsvereinbarung kein Anfechtungsgrund mehr vorliegt. War also beispielsweise die ursprüngliche Besicherung nach § 133 InsO anfechtbar, weil beide Seiten die (drohende)

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Zahlungsunfähigkeit des Schuldners kannten und dieses Indiz für den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz und die Kenntnis des Anfechtungsgegners von diesem Vorsatz mangels eines hinreichenden Sanierungskonzepts nicht durch das Gegenindiz des ernsthaften Sanierungsversuchs entkräftet war,27) dann kommt die hier befürwortete „Heilung“ natürlich nur in Betracht, wenn bei Abschluss der neuen Sicherungsvereinbarung nunmehr ein den Anforderungen der Rechtsprechung genügendes Sanierungskonzept vorlag. IV. Ergebnis Damit kann festgehalten werden, dass spätere Umstände die Anfechtbarkeit dann entfallen lassen können, wenn die ursprünglich anfechtbare Rechtshandlung in nunmehr unanfechtbarer Weise wiederholt wird. Nachträgliche Umstände können also relevant werden, wenn sich aus ihnen der Wegfall des Anfechtungsgrundes ergibt. Unter diesen Voraussetzungen kann dann auch die Anfechtbarkeit der (ursprünglich inkongruenten) Absicherung von Altkrediten „geheilt“ werden.

27)

Vgl. zu diesen Zusammenhängen bei der Ermittlung des subjektiven Tatbestandes nur Kayser, Der Sanierungsgedanke in der jüngeren Rechtsprechung des IX. Zivilsenats, ZIP 2018, 2189 ff.; Kayser, Vorsatzanfechtung von Zahlungen nach Stundungsbitte, Quotenvergleich und Sanierungsplan, ZInsO, 2016, 2134 ff.; Kayser, Vorsatzanfechtung im Spannungsverhältnis von Gläubigergleichbehandlung und Sanierungschancen, NJW 2014, 422 ff.

Rechtsanwälte vor dem Bundesgerichtshof MAX BRAEUER Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Die bestehende Rechtslage III. Reformbedarf 1. Beschränkte Zulassungszahl a) Zuständigkeit des Wahlausschusses b) Welche Zulassungszahl ist angemessen? aa) Sicherstellung einer geordneten Rechtspflege bb) Sicherung eines angemessenen wirtschaftlichen Auskommens

cc) Konsequenz 2. Die Singularzulassung a) Bestenauslese b) Unzureichende Erkenntnisgrundlagen des Wahlausschusses c) Alternative Auswahlverfahren aa) Anwaltsnotare bb) Fachanwaltsbestellung IV. Fazit

I. Einleitung Rechtsanwälte vor dem Bundegerichtshof sind heute immer auch Rechtsanwälte bei dem Bundesgerichtshof. Nur Rechtsanwälte, die bei dem Bundesgerichtshof zugelassen sind, dürfen Parteien vor dem Bundesgerichtshof in Revisions- oder Rechtsbeschwerdesachen vertreten. Das war bis zur deutschen Wiedervereinigung nichts Besonderes im deutschen Justizsystem. Auch vor den Landgerichten und den Oberlandesgerichten konnten nur Rechtsanwälte auftreten, die speziell bei diesem Gericht zugelassen waren. Dieses Prinzip ist für die Instanzgerichte nach und nach gelockert worden. Zunächst ist die Beschränkung der Anwaltszulassung auf einen Gerichtszug beendet worden. Seitdem konnten Rechtsanwälte sowohl beim Landgericht wie auch dem Oberlandesgericht zugelassen werden. Durch das Gesetz zur Stärkung der Selbstverwaltung der Rechtsanwaltschaft1) wurde die Bindung eines jeden Rechtsanwalts an ein bestimmtes Gericht ganz beendet. Seitdem werden Rechtsanwälte von den örtlichen Rechtsanwaltskammern zugelassen und sind dadurch bei allen deutschen Gerichten postulationsfähig – allerdings mit Ausnahme des Bundesgerichtshofs. Am Bundesgerichtshof gibt es eine eigene Rechtsanwaltskammer, der derzeit 42 Rechtsanwälte angehören. 1)

Gesetz zur Stärkung der Selbstverwaltung der Rechtsanwaltschaft – RASvStG, v. 26.3.2007, BGBl. 2007, 3558.

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Sie sind allesamt bei dem Bundesgerichtshof zugelassen. Zur gerichtlichen Vertretung sind sie nur dort und an den anderen obersten Bundesgerichten zugelassen. Die Tätigkeit an den Instanzgerichten ist ihnen verwehrt. Sie dürfen sich auch nicht mit anderen Rechtsanwälten zusammenschließen, außer mit jeweils einem anderen Mitglied ihrer Kammer (§ 172a BRAO). Im heutigen Umfeld eines stark liberalisierten Anwaltsrechts und einer gewaltigen Zahl von 166.000 zugelassenen Anwälten,2) die in immer größeren Anwaltssozietäten zusammengeschlossen sind, erscheint die Rechtsanwaltschaft bei dem Bundesgerichtshof wie ein Anachronismus. Auf Vorschlag des Präsidenten des Bundesgerichtshofs wird gelegentlich, meist im Abstand von etwa zehn Jahren, ein Verfahren zur Bestellung neuer Rechtsanwälte bei dem Bundesgerichtshof in Gang gesetzt. Die beiden jüngsten Kampagnen wurden durch Schreiben des Präsidenten des Bundesgerichtshofs an den Präsidenten der Bundesrechtsanwaltskammer 2004 und 2011 eingeleitet. Beide Verfahren wurden von der Fachöffentlichkeit stark beachtet und die Entscheidungen in beiden Verfahren wurden von unterlegenen Bewerbern bis hin zum Bundesverfassungsgericht angegriffen. Zuletzt hat der Anwaltssenat des Bundesgerichtshofs, dem der Jubilar stellvertretend vorsitzt – allerdings in diesem Fall ohne seine Mitwirkung –, die Auswahl der BGH-Anwälte und deren besondere Stellung gebilligt.3) Das Bundesverfassungsgericht ist dem gefolgt.4) Das Berufsbild der Rechtsanwälte hat sich seither weiterentwickelt und wird bei der erneuten Bestellung von Rechtsanwälten bei dem Bundesgerichtshof wieder zu neuen Diskussionen führen. Die Präsidentin des Bundesgerichtshofs wird zur gegebenen Zeit eine weitere Kampagne zur Bestellung von BGH-Anwälten einleiten, und erneute gerichtliche Verfahren darüber sind abzusehen. Die Diskussion erscheint deshalb sinnvoll, ob nicht durch gesetzgeberische Entscheidung das bisherige Verfahren zu ändern ist. Es geht hier deshalb nicht um eine kritische Betrachtung der vorliegenden Rechtsprechung, sondern um die Frage, was rechtspolitisch anzustreben wäre. Die bisherige Rechtsprechung hat die gesetzlichen Regelungen zur Anwaltschaft beim Bundesgerichtshof und deren Anwendung durch den Wahlausschuss und das Justizministerium für verfassungsgemäß gehalten. Das ist in der Literatur hoch umstritten. Es soll hier nicht darum gehen zu untersuchen,

2) 3) 4)

Quelle: Bundesrechtsanwaltskammer, Stand: 1.1.2019. BGH, Urt. v. 2.5.2016 – AnwZ 1/14, AnwBl. 2016, 600. BVerfG, Nichtannahmebeschl. v. 13.6.2017 – 1 BvR 1370/16, NJW 2017, 1088.

Rechtsanwälte vor dem Bundesgerichtshof

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ob die Regelungen auch heute noch mit der Verfassung in Einklang stehen. Eine gesetzliche Regelung sollte nicht erst dann überprüft werden, wenn ihr das Verdikt der Verfassungswidrigkeit droht, sondern wenn überwiegende wichtige Gründe dafür sprechen, weil sich die Wirklichkeit gewandelt hat, woran die Rechtslage anzupassen ist. II. Die bestehende Rechtslage Für Verfahren vor dem Bundesgerichtshof gilt eine besondere Postulationsbeschränkung: Parteien und Beteiligte können sich nur durch einen beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwalt vertreten lassen (§ 78 Abs. 1 Satz 3 ZPO). Diese Rechtsanwälte ihrerseits dürfen nicht vor Land- und Oberlandesgerichten auftreten, sondern nur vor den obersten Gerichten des Bundes und dem Bundesverfassungsgericht (§ 172 BRAO). Sie dürfen nur untereinander Sozietäten bilden, beschränkt auf zwei Partner (§ 172a BRAO). Die Zahl der beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwälte ist eng beschränkt. Derzeit sind es 42. Allerdings ist das eine schon deutlich ausgeweitete Zahl. Bis in die neunziger Jahre waren jeweils nur um 25 Rechtsanwälte beim Bundesgerichtshof zugelassen.5) Grundsätzlich kann zwar jeder Rechtsanwalt, der mindestens 35 Jahre alt und mindestens fünf Jahre im Beruf ist, die Zulassung erhalten. Eine einfache Bewerbung ist jedoch nicht möglich. Die Bestellung geschieht durch ein kompliziertes Auswahlverfahren, an dem Richter des Bundesgerichtshofs, Rechtsanwälte und das Bundesministerium der Justiz beteiligt sind. Das Auswahlverfahren wird durch den Präsidenten des Bundesgerichtshofs eingeleitet, wenn er das Erfordernis feststellt, neue Rechtsanwälte beim Bundesgerichtshof zuzulassen. Er fordert dann die Bundesrechtsanwaltskammer auf, Kandidaten zu benennen. Diese Aufforderung wird an die örtlichen Rechtsanwaltskammern weitergegeben, deren Mitglieder dann die Möglichkeit haben, sich zu bewerben. Die Liste dieser Bewerber wird von den Kammervorständen vorsortiert und an die Bundesrechtsanwaltskammer weitergeleitet. Diese erarbeitet daraus eine Vorschlagsliste, die sie dem Wahlausschuss vorlegt. Dasselbe Vorschlagsrecht hat unmittelbar die Rechtsanwaltskammer bei dem Bundesgerichtshof, obwohl sie wie alle anderen Kammern auch der Bundesrechtsanwaltskammer angehört (§ 175 BRAO). Ob die Kammern die bei ihnen eingegangen Be5)

Hartung, Die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft bei dem Bundesgerichtshof, JZ 1994, 117.

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werbungen nur auf das Vorliegen der formellen Zulassungsvoraussetzungen prüfen dürfen oder ob sie darüber hinaus eine Auswahl nach sonstigen Kriterien treffen dürfen, ist im Gesetz nicht geregelt.6) Eine einheitliche Praxis dazu ist auch nicht bekannt. Tatsächlich stellt sich Frage wohl auch kaum, weil die Bewerberzahl ohnehin meist gering sein soll.7) Der Wahlausschuss besteht aus dem Chefpräsidenten des Bundesgerichtshofs als Vorsitzendem, allen Senatspräidenten der Zivilsenate beim Bundesgerichtshof (zurzeit 12) und den Präsidiumsmitgliedern der Bundesrechtsanwaltskammer und der Rechtsanwaltskammer beim Bundesgerichtshof; das sind zurzeit 11 Rechtsanwälte (§ 165 Abs. 1 BRAO).8) Der Vorsitzende bestimmt für jeden Kandidaten aus den Vorschlagslisten der Kammer je einen Richter und einen Anwalt als Berichterstatter. Diese laden jeden Kandidaten zu einem persönlichen Gespräch ein, zu dem er Arbeitsproben vorlegen kann. Den Berichterstattern liegt auch die bei den Kammern geführte Personalakte des Kandidaten mit den Ergebnissen seiner Staatsprüfungen vor. Zumindest in der letzten Kampagne hat auch der Präsident des Bundesgerichtshofs selbst noch zu einem weiteren Gespräch mit jeden Kandidaten eingeladen. Zu jedem Kandidaten wird ein Votum erstellt, das seine persönliche und fachliche Eignung beurteilt. Der Wahlausschuss tagt nicht öffentlich und entscheidet in geheimer Wahl. Das Ergebnis ist eine Liste von Kandidaten, aus denen das Bundesministerium der Justiz dann die endgültig Zuzulassenden bestimmt. Bei seiner Wahlentscheidung legt der Ausschuss gleichzeitig fest, wie viele neue Rechtsanwälte bei dem Bundesgerichtshof er für angemessen hält. Die doppelte Anzahl davon soll in die Liste aufgenommen werden. Nach welchen Kriterien die Anzahl neuer Rechtsanwälte beim Bundesgerichtshof zu ermitteln ist, sagt das Gesetz nicht. Der Ausschuss legt unter den Kandidaten auf seiner Liste zugleich eine Rangfolge fest. Diese Rangfolge ist im Gesetz zwar nicht vorgesehen, aber üblich. Das Justizministerium darf nur solche Rechtsanwälte ernennen, die auf die Liste des Wahlausschusses aufgenommen sind (§ 164 BRAO). An die Rangfolge auf der

6)

7)

8)

Irreführend deshalb die Darstellung von Droege, Die Rechtsanwaltschaft bei dem BGH im verfassungsrechtlichen Gegenwind, NJW 2002, 175, 176, wonach die Kammer die sachlichen und persönlichen Voraussetzungen der Bewerber zu prüfen habe. Bei der Kampagne 2004 sollen sich von den über 18.000 Anwälten des Kammerbezirks München nur drei Kandidaten beworben haben (Reinelt, Entwicklungen im anwaltlichen Berufsrecht und Singularzulassung beim BGH, ZAP 2009, 805). Reinelt, ZAP 2009, 805 ff.

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Liste ist das Ministerium ebenso wenig gebunden wie an die für angemessen gehaltene Zahl. Tatsächlich hat es sich bis zur Jahrtausendwende aber immer – mit einer einzigen Ausnahme – an Zahl und Reihenfolge gehalten.9) Erst bei den Kampagnen 2004 und 2011 hat es, wie noch darzustellen sein wird, wesentlich mehr Anwälte zum Bundesgerichtshof zugelassen. Das Verfahren der Zulassung ist seit der Jahrtausendwende hoch streitig geworden.10) Unterlegene Bewerber haben das Auswahlverfahren gerichtlich angefochten. Dabei sind die Singularzulassung als solche, das Wahlverfahren und die zahlenmäßige Begrenzung angegriffen worden. Begleitet wurden die Streite durch eine umfangreiche Diskussion in den Fachmedien. In beiden Kampagnen 2004 und 2011 hat der Anwaltssenat des Bundesgerichtshofs, der dort erstinstanzlich zuständig ist, Verfahren und Auswahl gebilligt,11) insbesondere die gesetzliche Regelung für verfassungsgemäß gehalten. Verfassungsbeschwerden dagegen waren jeweils nicht erfolgreich.12) III. Reformbedarf 1. Beschränkte Zulassungszahl Die Rechtsanwälte bei dem Bundesgerichtshof sollen gegenüber allen anderen Rechtsanwälten besonders herausgehoben sein. Dafür werden nur ganz besonders qualifiziert Anwälte zum Bundesgerichtshofe berufen und nur sie dürfen dort auftreten, sind aber gleichzeitig auch darauf beschränkt. Die Auswahl und die besondere Postulationsfähigkeit heben die die BGH-Anwälte tatsächlich heraus. Dafür wäre es aber nicht erforderlich, dass auch deren Zahl beschränkt wird auf ein Maß, das von der Zulassungsbehörde für angemessen gehalten wird. Die zahlenmäßige Beschränkung der BGH-Anwälte ist es nicht, was ihre besondere Stellung ausmacht; diese Beschränkung ist ein zusätzliches, nicht zwingend notwendiges Merkmal. Der Blick in die Vergangenheit zeigt, dass mit der besonderen Stellung der Revisionsanwälte nicht immer deren begrenzte Zahl verbunden war. Schon beim Reichsgericht war die Rechtsanwaltschaft ähnlich organisiert wie heute

9) 10) 11) 12)

Reinelt, ZAP 2009, 805. Zusammenfassend: Droege, NJW 2002, 175. BGH, Beschl. v. 5.12.2006 – AnwZ 2/06, ZIP 2007, 450; BGH, Urt. v. 2.5.2016 – AnwZ 1/14, AnwBl. 2016, 600. BVerfG, Nichtannahmebeschl. v. 27.2.2008 – 1 BvR 1295/07, BVerfGK 13, 354; BVerfG, Nichtannahmebeschl. v. 13.6.2017 – 1 BvR 1370/16, NJW 2017, 1088.

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beim Bundesgerichtshof. Postulationsfähig waren nur beim Reichsgericht zugelassene Anwälte, die vom Reichsgerichtspräsidenten nach freiem Ermessen bestellt wurden. Zu diesem Ermessen gehörte aber gemäß § 99 RAO vom 1. Juli 1878 nicht die Festlegung einer Höchstzahl von Anwälten.13) Die Praxis sah dennoch so aus, dass beim Reichsgericht auch immer nur 20 bis 25 Anwälte zugelassen waren. Das führte schon in der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts zu deutlichen Kontroversen.14) Bei Gründung des Bundesgerichtshofs 1950 war die Rechtslage nicht anders. Bis zum Erlass der BRAO 1959 gab es überhaupt keine gesetzliche Regelung der Rechtsanwaltschaft beim Bundesgerichtshof. Da aber in der ordentlichen Gerichtsbarkeit die Singularzulassung für alle Instanzen galt, wurde am Bundesgerichtshof wie in den Unterinstanzen verfahren.15) Erst mit der BRAO ist das bis heute weitgehend unveränderte Wahlverfahren eingeführt worden. Auch die BRAO bestimmt nicht ausdrücklich, dass die Zahl der beim Bundesgerichtshof zu bestellenden Rechtsanwälte zu begrenzen sei. In § 168 BRAO heißt es lediglich, dass der Wahlausschuss doppelt so viel Bewerber vorschlagen müsse, wie er Rechtsanwälte für angemessen hält. Die Zahlenbeschränkung ergibt sich erst faktisch daraus, dass das Justizministerium nur Bewerber von der Liste des Wahlausschusses berufen darf (§ 164 BRAO) und sich daraus eine Obergrenze ergibt. In den gerichtlichen Entscheidungen zu den Kampagnen 2004 und 2011 lag das Schwergewicht der Erörterungen auf der zahlenmäßigen Begrenzung. Aus diesen Verfahren ergeben sich Anknüpfungspunkte, die für eine Reform des Verfahrens sprechen können. a) Zuständigkeit des Wahlausschusses Der Wahlausschuss ist sehr eng mit dem Bundesgerichtshof verbunden. Im gerichtlichen Verfahren wird deutlich: zu eng. Vorsitzender des Wahlausschusses ist der Präsident des Bundesgerichtshofs (§ 165 Abs. 2 BRAO). Für gerichtliche Verfahren, die sich gegen dessen Entscheidungen richten, ist erstinstanzlich der Anwaltssenat des Bundesgerichtshofs zuständig (§ 112a

13) 14) 15)

Dazu ausführlich Hartung, JZ 1994, 117, 118. Hartung, JZ 1994, 117. Schimansky, Die Zulassung als Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof, in: FS Odersky, 1996, S. 1083, 1089.

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BRAO).16) Dem Anwaltssenat sitzt kraft Gesetzes ebenfalls der Präsident des Bundesgerichtshofs vor (§ 106 Abs. 2 BRAO). In dem gerichtlichen Verfahren ist der Wahlausschuss Partei.17) Der Präsident ist deshalb in derartigen Verfahren als Vorsitzender des Senats immer ausgeschlossen, weil er eine der Prozessparteien vertritt. Der Anwaltssenat kann natürlich trotzdem mit dem stellvertretenden Vorsitzenden verhandeln. Die Parteien müssen auf die Objektivität des Senats vertrauen können, was sicher eine erhebliche Herausforderung ist, wenn der Senat gegen seinen eigenen Vorsitzenden verhandelt. Diese prozessuale Eigenart wird sicher nicht entscheidend sein bei der Frage, ob das Wahlverfahren zu reformieren sei. Von größerer Bedeutung ist aber, dass der Wahlausschuss gar keine Wahl ausübt, wenn er die für angemessen gehaltene Zahl der Rechtsanwälte feststellt. Der Wahlausschuss, der aus 24 Mitgliedern besteht, entscheidet in geheimer Abstimmung darüber, welche Zahl an weiteren Rechtsanwälten er für angemessen hält. Als Entscheidungsgrundlage erhalten die Mitglieder eine Zusammenfassung statistischer Daten über die Zahl der Verfahren beim Bundesgerichtshof, der dortigen Richter und Rechtsanwälte.18) Da die Wahl geheim ist, enthält die Entscheidung zwangsläufig keine Begründung. Die Entscheidungsmotivation der Abstimmenden soll, Wesen der geheimen Abstimmung, unbekannt bleiben. Die Wahlentscheidung als solche, also die Benennung der Kandidaten, „(…) entzieht sich als Entscheidung eines vielköpfigen Gremiums, in die unterschiedlichste Bewertungen der einzelnen Mitglieder einfließen, von der Natur der Sache her einer näheren Begründung.“19)

Das Wahlergebnis kann deshalb nur eingeschränkt überprüft werden. Letztlich kommt es nur darauf an, ob das gesetzliche Verfahren eingehalten und keine erheblichen Ermessensfehler festgestellt worden sind. Wenn einzelne Rechtsanwälte nach der gesetzgeberischen Entscheidung aus einer Vorschlagsliste gewählt werden sollen, dann ist das die notwenige und richtige Konsequenz. Die Entschließung über die Zahl der zu bestellenden Rechtsanwälte ist aber keine Wahl. Es handelt sich um die Feststellung eines Sachverhalts, die grundsätzlich überprüfbar sein muss. Bei der Feststellung

16) 17) 18) 19)

BGH, Urt. v. 2.5.2016 – AnwZ 1/14, Rz. 9, AnwBl. 2016, 600. BGH, Urt. v. 2.5.2016 – AnwZ 1/14, Rz. 10, AnwBl. 2016, 600. Sachverhalt nach BGH, Urt. v. 2.5.2016 – AnwZ 1/14, AnwBl. 2016, 600. BGH, Urt. v. 2.5.2016 – AnwZ 1/14, Rz. 41, AnwBl. 2016, 600.

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hat das Entscheidungsgremium einen Beurteilungsspielraum, der umso stärker eingegrenzt ist, je weniger Entscheidungsvorgaben das Gesetz macht. In der BRAO finden sich keinerlei Vorgaben, wie die Zahl der erforderlichen Rechtsanwälte zu ermitteln sei. Deshalb beschränkt sich die Rechtsprechung im Wesentlichen darauf zu prüfen, ob sich aus dem Verfahrensablauf Hinweise auf sachwidrige Entscheidungsgrundlagen ergeben. Dass das Gesetz keine näheren Bestimmungen enthält, werde dadurch ausgeglichen, dass der Wahlausschuss Sachverstand und Objektivität vereine.20) Dass die Auswahl der Kandidaten durch den Wahlausschuss nur sehr eingeschränkt überprüfbar ist, liegt in der Natur der Sache. Zu Recht stützt das Bundesverfassungsgericht seine Zustimmung zum Auswahlverfahren der BRAO auf die Feststellung, dass Personalentscheidungen im demokratischen System durch Wahlen getroffen werden könnten.21) Allerdings kann die Feststellung nur dort gelten, wo es sich bei der Entscheidung wirklich um die Wahl von Personen handelt. Die Feststellung einer Bedarfsmenge ist keine Wahl. Es ist deshalb bedenklich, die Bestimmung des Bedarfs demselben Gremium anzuvertrauen und dieses nach demselben Verfahren entscheiden zu lassen, das auch für die Wahl anzuwenden ist. Näher liegt es, die Entscheidung, wann und in welchem Umfang Bedarf an neu zu bestellenden BGH-Anwälten besteht, einer anderen Behörde oder einem anderen Gremium zu übertragen, dessen Entscheidung in größerem Umfang nachvollziehbar und deshalb auch überprüfbar ist. b) Welche Zulassungszahl ist angemessen? Ob es angemessen ist, die Zahl der beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwälte zu beschränken, ist Gegenstand einer seit langem geführten Diskussion.22) Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, auch diesen Streit hier grundsätzlich zu erörtern. Es soll nur der Frage nachgegangen werden, ob und wie ermittelt werden kann, welche Zahl angemessen ist.

20) 21) 22)

BVerfG, Beschl. v. 24.3.1982 – 1 BvR 278/75, juris. BVerfG, Beschl. v. 24.3.1982 – 1 BvR 278/75, juris. Hartung, JZ 1994, 117; Henssler, Anwaltszulassung in der Rechtsmittelinstanz, JZ 2001, 337; Schimansky in: FS Odersky, 1996, S. 1083; Droege, NJW 2002, 175; Nirk, Weiterhin Singularzulassung beim BGH, NJW 2007, 3184; Römermann/Nirk, Pro & Contra – Freigabe der Zulassung als BGH-Anwalt?, ZRP 2007, 207; Schneider, Singularzulassung bei obersten Bundesgerichten, ZAP 2007, 1187.

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aa) Sicherstellung einer geordneten Rechtspflege Über die Zahl der Rechtsanwälte, die neu bei Bundesgerichtshof zugelassen werden sollen, entscheidet nicht nur der Wahlausschuss. Über die Zulassungen entscheidet endgültig das Bundesministerium der Justiz (§ 170 BRAO). Nach allgemeiner Ansicht ist das Ministerium dabei nicht an die Entschließung des Wahlausschusses gebunden.23) Es kann ganz von der Ernennung neuer Anwälte absehen oder auch mehr bestellen, als der Wahlausschuss für angemessen gehalten hatte. Obergrenze ist nur die Zahl in der Liste gemäß § 168 Abs. 2 BRAO. Woran die Entscheidung des Ministeriums zu orientieren ist und ob auch hierbei der festgestellte Bedarf eine Rolle spielt, sagt das Gesetz nicht. Der tatsächliche Verlauf nach den Ausschreibungen 2004 und 2011 zeigt, wie schwierig offenbar die Feststellung des angemessenen Bedarfs ist. Aufgrund seiner Sitzung am 21. Juni 2006 hatte der Wahlausschuss die Bestellung von sieben neuen Rechtsanwälten beim Bundgerichtshof für angemessen erachtet und eine Liste mit 14 Kandidaten erstellt. Wie bis dahin üblich, ließ das Bundesministerium der Justiz die ersten sieben von der Liste zu. Von den Unterlegenen beschritten einige den Rechtsweg. Unmittelbar vor der vom Anwaltssenat anberaumten mündlichen Verhandlung stellte das Ministerium die Beschwerdeführer klaglos, indem es sie zuließ. Gleichzeitig wurden auch alle andern auf der Liste, soweit sie den Antrag nicht zurückgenommen hatten, zugelassen. In der Ausschreibung 2011 hatte die Rechtsanwaltskammer bei dem Bundesgerichtshof zuvor erklärt, dass derzeit die Einleitung eines Wahlverfahrens nicht veranlasst sei.24) Maßgeblich war offenbar, dass nicht lange zuvor doppelt so viele Anwälte zugelassen worden waren, wie der Ausschuss für angemessen gehalten hatte. Bei der Wahl am 29. Juli 2013 wurde jedoch einstimmig, offensichtlich also auch mit Zustimmung des Präsidiums der Rechtsanwaltskammer beim Bundesgerichtshof, ein Bedarf von acht Rechtsanwälten festgestellt. Das Bundesministerium der Justiz ist bei der Entscheidung über die Zulassung dann ähnlich verfahren wie in der Kampagne davor; es hat alle Bewerber, die gegen die Abweisung geklagt hatten, vor der mündlichen Verhandlung beim Anwaltssenat zugelassen.

23) 24)

Reinelt, ZAP 2009, 805. Aus den Entscheidungsgründen BGH, Urt. v. 2.5.2016 – AnwZ 1/14, Rz. 13, AnwBl. 2016, 600.

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Das Gesetz gibt keine Kriterien vor, an denen gemessen werden könnte, welcher Bedarf an neuen Rechtsanwälten bei dem Bundesgerichtshof besteht. Dennoch sei der Ausschuss in seiner Entscheidung nicht völlig frei. Der Ausschuss müsse sich bei der Bestimmung der Zahl an den Erfordernissen einer geordneten Rechtspflege ausrichten.25) Das so formulierte Kriterium ist nun allerdings derart unbestimmt oder bringt eine Selbstverständlichkeit zum Ausdruck, dass es die Entscheidung des Ausschusses zu leiten kaum geeignet erscheint. Das spiegeln auch die Ausschläge bei den Zulassungskampagnen 2004 und 2011 wieder, die vorstehend geschildert wurden. bb) Sicherung eines angemessenen wirtschaftlichen Auskommens Der Anwaltssenat des Bundesgerichtshofs hat die Entscheidungskriterien weiter konkretisiert. Es solle eine angemessene Altersstruktur unter allen beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwälten geschaffen werden, und der Anteil von Frauen in der Anwaltschaft solle gestärkt werden. Vor allem aber sei sicherzustellen, dass zwischen den BGH-Anwälten kein ruinöser Wettbewerb entstehe und ihnen „(…) ein Geschäftsanfall verbleibt, der eine ihrer besonderen Qualifikation entsprechende auskömmliche Lebensgrundlage bietet.“26) Es muss bezweifelt werden, ob die Sicherung eines angemessenen wirtschaftlichen Auskommens die Entscheidungen bei den letzten Zulassungskampagnen tatsächlich geprägt hat. Das ergibt sich aus dem Umstand, dass die Rechtsanwaltskammer im Jahre 2011 überhaupt keinen Anlass sah, neue Rechtsanwälte zu bestellen. Die Gruppe der am Bundesgerichtshof zugelassenen Anwälte kann sicher am besten beurteilen, wie es um ihre wirtschaftliche Lage steht. Trotzdem haben alle Wahlausschussmitglieder in ihrer Wahlentscheidung acht neue Rechtsanwälte für angemessen gehalten. Das Justizministerium hat anschließend zusätzlich die Rechtsanwälte zugelassen, die den Rechtsweg beschritten hatten. Dabei hat es sich wohl nicht von den Erfordernissen einer geordneten Rechtspflege leiten lassen, sondern wollte Prozessrisiken vermeiden. Es hat den Anschein, dass weder der Wahlausschuss noch das Justizministerium das wirtschaftliche Auskommen der BGH-Anwälte zum Maßstab 25) 26)

BVerfG, Nichtannahmebeschl. v. 27.2.2008 – 1 BvR 1295/07, Rz. 35, BVerfGK 13, 354. BGH, Urt. v. 2.5.2016 – AnwZ 1/14, Rz. 25, AnwBl. 2016, 600.

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nehmen, um deren angemessene Zahl zu bestimmen. Die Gründe dafür sind nachvollziehbar und auch keineswegs vorwerfbar. Der Bundesgerichtshof rechtfertigt die gesetzliche Regelung dadurch, „(…) dass darüber ein sachkundiges und gemischt zusammengesetztes Gremium entscheidet, dessen Besetzung sicherstellt, dass partikulare Motivationen und Interessen nicht zulasten der Objektivität der Entscheidung gehen.“27)

Tatsächlich können aber weder der Wahlausschuss noch das Justizministerium über hinreichende Informationen verfügen, um die wirtschaftliche Situation der Rechtsanwälte beim Bundesgerichtshof beurteilen zu können. Kein BGH-Anwalt muss seine wirtschaftlichen Verhältnisse offenlegen, und keiner tut das. Den Mitgliedern des Wahlausschusses stehen lediglich die statistischen Auswertungen zur Verfügung, die der Präsident des Bundesgerichtshofs zur Vorbereitung der Entscheidung ausarbeiten lässt. Sie betreffen die Entwicklung der Eingänge an Revisionen, Rechtsbeschwerden und Nichtzulassungsbeschwerden, deren Streitwerte und die Zahl der Richter und Rechtsanwälte beim Bundesgerichtshof.28) Daraus lässt sich jedoch kein zutreffendes Bild gewinnen. Am ehesten werden noch die fünf Rechtsanwälte beim Bundesgerichtshof, die dem Wahlausschuss angehören, über die wirtschaftliche Lage der Anwaltschaft beim Bundesgerichtshof informiert sein. Indes ist der wirtschaftliche Erfolg jedes einzelnen von ihnen durch die Entscheidung des Wahlausschusses unmittelbar betroffen, so dass sie am wenigsten zu einer objektiven Beurteilung in der Lage sein sollten. Viele Revisions- oder Beschwerdeverfahren lassen sich zu den gesetzlichen Gebühren nicht kostendeckend führen. BGH-Anwälte sind nicht gehindert Vergütungsvereinbarungen zu schließen, die die gesetzlichen Gebühren übersteigen. Viele tun das auch. In welchem Umfang, ist nicht bekannt. BGH-Anwälte können nicht vor den Instanzgerichten auftreten. Alle anderen anwaltlichen Aufgabengebiete stehen ihnen aber offen. Die Anwaltschaft insgesamt erwirtschaftet einen erheblichen, wenn nicht überwiegenden Teil ihrer Erträge außerhalb gerichtlicher Verfahren. In welchem Umfang das bei BGH-Anwälten der Fall ist, ist nicht ermittelt. Bekannt ist aber, dass viele BGH-Anwälte Aufträge als Schiedsrichter oder Gutachter annehmen oder große Verfahren schon in der Tatsacheninstanz zur Vorbereitung einer späteren Revision mitbegleiten. Ebenso ist davon auszugehen, 27) 28)

BGH, Urt. v. 2.5.2016 – AnwZ 1/14, Rz. 21, AnwBl. 2016, 600. BGH, Beschl. v. 5.12.2006 – AnwZ 2/06, Rz. 30, ZIP 2007, 450.

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dass BGH-Anwälte auch außerhalb von förmlichen Verfahren Beratungsleitungen erbringen, wie das andere Rechtsanwälte auch tun. Die anfallenden BGH-Verfahren verteilen sich nicht gleichmäßig auf die vorhandenen BGH-Anwälte. Der Ruf der BGH-Anwälte ist sehr unterschiedlich, und es gab immer schon bevorzugte Kanzleien, auf die sich die Mandate vornehmlich konzentrierten. Der Wettbewerb zwischen ihnen hat sich durch das Internet noch einmal verschärft. So veröffentlicht das Anwaltsmagazin Juve regelmäßig Ranglisten der beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwälte,29) an denen kaum ein Instanzanwalt bei der Auswahl des Revisionsanwalts mehr vorbeigehen kann. Das wirkt zusammen mit dem Umstand, dass die Zahl der BGH-Anwälte seit 2006 stark ausgeweitet worden ist. Daraus ergibt sich die Annahme, dass es derzeit schon BGHAnwälte gibt, die wirtschaftlich überaus erfolgreich sind, und solche, denen es eher nicht gut geht.30) Welchen von diesen eine Veränderung der Zahl der zugelassenen Anwälte zugutekommen wird, lässt sich nicht vorhersagen. cc) Konsequenz Die Entscheidung über die Zahl zuzulassender neuer BGH-Anwälte muss überprüfbar sein. Die Zusammensetzung des Wahlausschusses sichert die Annahme einer objektiv richtigen Entscheidung nicht, weil es sich bei der Festlegung einer Zahl nicht um einen Wahlvorgang handelt. Das Ziel einer geordneten Rechtspflege ist zu wenig aussagekräftig, um als Maßstab geeignet zu sein. Ein gesichertes Auskommen der Rechtsanwälte beim Bundesgerichtshof könnte ein Kriterium sein, es lässt sich aber nicht hinreichend sicher feststellen. Als wesentliche Rechtfertigung für eine Begrenzung der Anzahl der Anwälte beim Bundesgerichtshof wird die Filterfunktion genannt, die ihnen zukomme.31) Für die Arbeitsfähigkeit des Bundesgerichtshofs sei unerlässlich, dass beabsichtigte Revisionen und Nichtzulassungsbeschwerden von den erfahren Revisionsanwälten gefiltert würden, damit offensichtlich aussichtslose Verfahren gar nicht erst an den Bundesgerichtshof gelangen, wo sie die Arbeitskraft der Richter unnötig binden würden. Der Bundesgerichtshof hält es deshalb für erforderlich, die Zahl der Revisionsanwälte zu begrenzen, 29) 30) 31)

JUVE Rechtsmarkt 2018, Heft 11, S. 18. Das wird bestätigt von einzelnen BGH-Anwälten, deren Namen als Quelle nicht offengelegt werden können. Schneider, ZAP 2007, 1187; Droege, NJW 2002, 175, 176, m. v. N. in Fn. 22.

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damit jeder von ihnen hinreichende Erfahrung sammeln könne, um die Filterfunktion wirksam ausüben zu können. Ob diese Gründe überzeugen und eine beschränkte Zahl an singular zugelassenen Rechtsanwälten beim Bundesgerichtshof rechtfertigen, ist stark umstritten. Aus der Sicht des Bundesgerichtshofs ist das Interesse an einer überschaubaren Zahl von Revisionsanwälten nachvollziehbar Für die Anwälte, die am Bundesgerichtshof tätig werden wollen und ausgeschlossen sind, muss dieses Interesse der Revisionsrichter nicht überzeugend sein. Dass das bisherige Zulassungssystem für eine geordnete Rechtspflege notwendig sei, ist eine nicht bewiesene These. Wenn die Begrenzung der Zahl der BGH-Anwälte aufrechterhalten bleiben soll, wird es bei dem bisherigen Verfahren nicht bleiben können. In eine gesetzliche Neuregelung werden klare Vorgaben für die Bestimmung dieser Zahl gesetzlich aufgenommen werden müssen,32) um die Entscheidung anhand objektiver Kriterien effektiv gerichtlich überprüfen zu können. Welche Kriterien gefunden werden sollen, muss der Gesetzgebungsdiskussion vorbehalten sein. Ob es möglich sein wird, Kriterien zu finden, die mit dem Grundrecht auf freie Berufsausübung vereinbar sind, erscheint aber zweifelhaft. Möglicherweise wird sich ein angemessener und überprüfbarer Weg, die angemessene Zahl der Rechtsanwälte bei dem Bundesgerichtshof zu bestimmen, nicht finden lassen. Unter Beibehaltung der Singularzulassung würde dann der Zugang zum Bundesgerichtshof für jeden Anwalt geöffnet werden, der das anstrebt und der aufgrund persönlicher Qualifikation am Bundesgerichtshof bestellt wird. Eine Beeinträchtigung der Arbeitsqualität oder der Filterfunktion müsste es nicht bedeuten, wenn die amtliche festgestellte Höchstzahl entfiele.33) Schon jetzt nehmen BGH-Anwälte Aufträge auch außerhalb von Revisionsverfahren an, ohne dass über Mängel in der Bearbeitung von Revisionssachen etwas bekannt geworden wären. Auch die sprunghafte Zunahme von BGHAnwälten 2006, als doppelt so viele zugelassen wurden wie eigentlich für angemessen gehalten worden war, hat daran nichts geändert. Es mag also auch derzeit schon mehr zugelassene Anwälte beim Bundesgerichtshof geben, als für die Revisionssachen allein erforderlich wären. Die Zahl der BGH-Anwälte zu begrenzen, ist von der Rechtsprechung regelmäßig auch 32) 33)

So auch Droege, NJW 2002, 175, 181. So auch Hartung in: Henssler/Prütting, BRAO, 1997, § 168 Rz. 11.

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damit begründet worden. Es müsse ein ruinöser Wettbewerb zwischen zu zahlreichen BGH-Anwälten verhindert werden, weil sonst die Qualität von deren Arbeit gefährdet wäre. Dass der Wettbewerb ruinös sein muss, ist nicht festgestellt und eher unwahrscheinlich. BGH-Anwälte können wie schon bisher auch auf andere Anwaltstätigkeiten ausweichen, wenn sie die reine Revisionstätigkeit nicht hinreichend ernährt. Schließlich kann ein BGH-Anwalt, der nicht genügend Aufträge findet, auch wieder in die Instanztätigkeit zurückkehren, ohne dass ihn das ruinieren müsste. Es spricht also viel dafür, dass die Singularzulassung bei dem Bundegerichtshof auch beibehalten werden kann, ohne dass die Zahl der Rechtsanwälte förmlich begrenzt würde. 2. Die Singularzulassung Nur bei dem Bundesgerichtshof zugelassene Rechtsanwälte dürfen dort auftreten, allen anderen ist es versagt. Verbunden mit diesem Privileg ist das Verbot für BGH-Anwälte, an den Instanzgerichten aufzutreten und eine Beschränkung bei der Bildung von Sozietäten. Diese besondere Stellung der BGH-Anwälte, die Singularzulassung, ist mit der Beschränkung ihrer Anzahl nicht notwendig verknüpft. Auch wenn zukünftig die Zahl der beim Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwälte stark steigen oder die Begrenzung ihrer Zahl ganz aufgehoben würde, wäre es möglich, an der Singularzulassung festzuhalten. Eine solche Singularzulassung gab es bei den Oberlandesgerichten (§ 25 BRAO a. F.) bis zum Jahr 2000. Die Singularzulassung galt nicht in allen Oberlandesgerichts-Bezirken. Wo es sie gab, vor allem in Städten wie Hamm und Celle, wo kein Landgericht angesiedelt war, hatte sich eine ausgeprägte Anwaltschaft entwickelt, die nur Berufungsverfahren führte und der das Landgericht verschlossen war. Die Gründe, die hier für die Singularzulassung sprachen, waren vergleichbar mit der Begründung beim Bundesgerichtshof: Vieraugenprinzip, Filterfunktion und vertrauensvolle Nähe zu den Richtern des Oberlandesgerichtes.34) Trotzdem gab es bei den Oberlandesgerichten keine zahlenmäßige Begrenzung. Wer als Rechtsanwalt mindestens fünf Jahre tätig gewesen war, wurde auf seinen Antrag bei dem Oberlandesgericht zugelassen. Das Prinzip der Singularzulassung hat das Bundesverfassungsgericht für nicht verfassungsgemäß befunden.35) Die tragenden Gründe lassen sich auf die Singularzulassung beim 34) 35)

In Einzelnen dazu Henssler, JZ 2001, 337. BVerfG, Urt. v. 13.12.2000 – 1 BvR 335/97, BVerfGE 103, 1.

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Bundesgerichtshof nicht unmittelbar übertragen. Gleichwohl ist die Fortdauer der Singularzulassung weiterhin hoch umstritten. Es würde wiederum den Rahmen dieser Abhandlung sprengen, sollte in der Diskussion umfassend Stellung bezogen werden. Besonders nach den Erfahrungen, die sich aus den beiden Zulassungskampagnen 2004 und 2011 ergeben, soll hier nur der Frage nachgegangen werden, ob das Verfahren, mit dem neu zu bestellende Rechtsanwälte bei dem Bundesgerichtshof ausgewählt werden, so erheblichen Bedenken begegnet, dass eine Änderung durch den Gesetzgeber zu empfehlen ist. a) Bestenauslese Für eine Zulassung bei dem Bundesgerichtshof müssen hohe Hürden überwunden werden. Dadurch soll sichergestellt werden, dass nur ganz besonders qualifizierte Rechtsanwälte dort zugelassen werden. Die Rechtsanwälte sollen auf Augenhöhe mit den Richtern am Bundesgerichtshof verhandeln können. So wie nur ganz besonders qualifizierte Richter an den Bundesgerichtshof berufen werden, soll eine vergleichbare Bestenauslese bei den Rechtsanwälten stattfinden. Das mehrstufige Verfahren bei der Auswahl, das weiter oben ausführlich beschrieben worden ist, soll die besonders hohe Qualifikation der Ausgewählten garantieren. Die in dieser Schrift erwähnten Urteile und Beschlüsse des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts heben übereinstimmend hervor, dass die Auswahl der am besten geeigneten Rechtsanwälte durch den Umfang des Auswahlverfahrens und der daran Beteiligten gewährleistet sei. Die Vorschläge werden von dem Vorstand der jeweiligen örtlichen Rechtsanwaltskammer erarbeitet. Die Kammer holt Stellungnahmen der Präsidenten der Oberlandes- und Landgerichte ein. Die Bundesrechtsanwaltskammer sortiert und prüft die bei ihr eingehenden Vorschläge erneut. Der Wahlausschuss bestellt für jeden Bewerber zwei Berichterstatter, die persönliche Gespräche führen, wobei jeder Bewerber die Möglichkeit hat, Arbeitsproben vorzulegen. Der Wahlausschuss besteht aus dem Chefpräsidenten und den Senatspräsidenten aller Zivilsenate sowie den Präsidiumsmitgliedern der Bundesrechtsanwaltskammer und der Rechtsanwaltskammer bei dem Bundesgerichtshof. Er entscheidet aufgrund der persönlichen Daten der Bewerber, ihrer Examensergebnisse und der Voten der Berichterstatter. Schließlich prüft das Bundesjustizministerium ein weiteres Mal, bevor die Zulassung ausgesprochen wird. Dieses überaus aufwendige Verfahren mag in seinem

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Ursprung geeignet gewesen sein, die besten Kandidaten zu finden. Im Blick auf die in den in letzten Jahren eingetretenen Entwicklungen erscheint das indes zweifelhaft. b) Unzureichende Erkenntnisgrundlagen des Wahlausschusses Zur Wahl als Rechtsanwälte bei dem Bundesgerichtshof stehen Kandidaten, die von Rechtsanwaltskammern auf die Vorschlagsliste gemäß § 166 BRAO gesetzt worden sind. Für die Annahme, dass auf diese Vorschlagslisten besonders qualifizierte, juristisch herausragende Kandidaten gesetzt worden sind, kann es keinen Grund (mehr) geben. 1959, als die BRAO mit dem bis heute gültigen Wahlverfahren in Kraft trat, gab es in der Bundesrepublik Deutschland etwa 18.000 Rechtsanwälte. Im Jahre 2018 waren es im wiedervereinigten Deutschland circa 164.000 Anwälte, also fast zehnmal so viele. Die Zahl der Rechtsanwaltskammern hat sich nicht verändert. Bei Inkrafttreten der BRAO war die Annahme noch begründet, die Kammervorstände würden einen Großteil ihrer Kammermitglieder persönlich kennen. Diese Annahme wäre bei der zehnfachen Zahl nicht mehr zu rechtfertigen. Wichtiger noch ist die Justizreform von 2007. Bis dahin war jeder Rechtsanwalt bei einem bestimmten Gericht zugelassen und konnte überwiegend auch nur bei diesem Auftreten. Dort begegneten sich die Anwaltskollegen regelmäßig und konnten auch einen fachlichen Eindruck voneinander gewinnen. Die Justizreform hat die Lokalisation vollständig beendet. Es gibt – außer beim Bundesgerichtshof – keine Zulassung bei einem Gericht mehr. Infolgedessen ist die Berechtigung jedes Rechtsanwalts vor Gericht aufzutreten nicht mehr eingeschränkt Von der Freiheit wird umfangreich Gebrauch gemacht. Kein Anwalt hat sein Gericht. Es kommt nur noch selten vor, dass dieselben Anwälte sich vor Gericht mehrfach begegnen. Damit haben die Mitglieder eines Kammervorstandes nur noch im Ausnahmefall einen persönlichen Eindruck von der beruflichen Qualität eines Bewerbers. Die Kammern holen bis heute über jeden Bewerber auf der Vorschlagsliste auch eine Stellungnahme der Präsidenten des Oberlandesgerichts und der örtlichen Landgerichte ein. Für diese gilt aber dieselbe Entwicklung. In der Anfangszeit der BRAO waren namentlich die Rechtsanwälte bei den Oberlandesgerichten ein kleiner elitärer Kreis. Die Richter der Oberlandesgerichte kannten ihre Anwälte und konnten sie einschätzen. Das ist

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seit dem Ende der Oberlandesgerichtszulassung vorbei. Die Zahl der vor einem Senat auftretenden Anwälte ist unüberschaubar geworden, die Personen demnach nicht bekannt. Die Rechtsanwaltskammern können beim Aufstellen der Vorschlagsliste im Wesentlichen nur noch darauf achten, dass die formellen Voraussetzungen für eine Bewerbung erfüllt sind.36) Da sie über mangelnde oder überragende berufliche Fähigkeiten keine konkreten Informationen haben, sagt eine Aufnahme auf die Liste eben auch nichts darüber aus, wie geeignet ein Kandidat ist. Dieselbe eingeschränkte Beurteilungsmöglichkeit findet sich am Ende des Zulassungsverfahrens. Das Bundesministerium der Justiz, das letztlich entscheidet, weiß über die persönlichen Qualitäten eines Bewerbers noch weniger als die Kammern und kann deshalb keinen Beitrag dazu leisten, dass die Besten ausgewählt werden. Es kann davon ausgegangen werden, dass der Wahlausschuss und besonders Berichterstatter sorgfältig arbeiten, um Objektivität bemüht sind und nach ihren Maßstäben die besten Bewerber aussuchen. Allerdings sind die Erkenntnisquellen, die ihnen zu Gebote stehen, sehr beschränkt. Grundlage kann letztlich nur der persönliche Eindruck sein, den ein Bewerber bei den Gesprächen mit den Berichterstattern, in manchen Fällen auch mit dem Präsidenten bietet. Arbeitsproben können, müssen aber nicht vorgelegt werden. Woher diese Proben stammen, ob sie etwa speziell für den Zweck der Bewerbung und gar mit fremder Hilfe erstellt worden sind, kann niemand prüfen. Herangezogen werden wohl mangels besserer Erkenntnisquellen als wesentliche Grundlagen die Examenszeugnisse und ggf. akademischen Grade. Trotz der großen Zahl von Ausschussmitgliedern hängt die Entscheidung, wer von den Kandidaten der Beste sei, von dem persönlichen Eindruck ganz weniger Personen ab. Im Ergebnis kann deshalb nicht mehr angenommen werden, dass die Größe des Wahlausschusses und dessen Verfahren die angestrebte Bestenauslese leisten könnte. c) Alternative Auswahlverfahren Bei der Auswahlentscheidung des Wahlausschusses findet keine Prüfung der Kandidaten statt. Eine Prüfung wird sogar für nicht angemessen gehalten. Für die Entscheidung spielen die Noten, also die Ergebnisse von 36)

So schon die Feststellung von Schimansky in: FS Odersky, 1996, S. 1083, 1084.

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zeitlich weit zurückliegenden Examina, eine erhebliche Rolle. Weil eine echte Wahl stattfindet, unterliegen die Entscheidungen des Ausschusses nur einer stark eingeschränkten Kontrolle. Es werden die Grundsätze einer Wahlprüfung angewandt, bei der nur auf das Einhalten des richtigen Verfahrens geachtet wird. Diese Grundlagen der Wahlentscheidung passten beim Entstehen der BRAO sicher noch in das rechtliche Umfeld. Die Auffassungen haben sich seither gewandelt. Diese Wandelung hat in anderen, vergleichbaren Bereichen, bei denen es auch um die Auswahl von Rechtsanwälten geht, zu tiefgreifenden Veränderungen der Verfahren geführt. Eine vergleichende Betrachtung hilft bei der Einschätzung des Wahlverfahrens für die Zulassung von Rechtsanwälten bei dem Bundesgerichtshof.37) Zum Vergleich heranzuziehen sind insbesondere das völlig erneuerte Verfahren zur Bestellung von Anwaltsnotaren und das immer aufwendiger gewordene Verfahren zur Bestellung von Fachanwälten und deren gerichtliche Überprüfung. Die dortige Rechtsentwicklung kann auf die Zulassung von Rechtsanwälten beim Bundesgerichtshof nicht ohne Einfluss bleiben. aa) Anwaltsnotare Nach der BNotO können Notare zu hauptamtlicher Tätigkeit oder im Nebenamt neben der Tätigkeit als Rechtsanwalt als Anwaltsnotar tätig werden. In der Vergangenheit war für die Zulassung als Anwaltsnotar genügend eine vorangegangene zehnjährige Tätigkeit als Rechtsanwalt. Weil die Zahl der Anwaltsnotare im Verlaufe der Zeit als zu groß empfunden wurde, sind die Zulassungsvoraussetzungen in mehreren Stufen verschärft worden. Es wurden Kriterien aufgestellt, mit denen ermittelt werden sollte, welche Bewerber als besonders geeignet angesehen werden konnten. Neben der Dauer der anwaltlichen Berufserfahrung spielten absolvierte Ausbildungskurse, die nicht bewertet wurden, eine Rolle. Die Ergebnisse des zweiten Staatsexamens waren ausschlaggebend und konnten durch andere Leistungen nicht ausgeglichen werden. Diese Zulassungsregel hat das Bundesverfassungsgericht verworfen.38) Die Examensnoten liegen bei der Bewerbung meist schon lange zurück und

37) 38)

Siehe dazu auch Reinelt, ZAP 2009, 805. BVerfG, Beschl. v. 20.4.2004 – 1 BvR 838/01, 1 BvR 1303/01, 1 BvR 340/02, 1 BvR 1436/01, 1 BvR 1450/01, BVerfGE 110, 304.

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haben dadurch an Aussagekraft verloren. Die Examina bewerten zudem nicht die spezifische Leistung, die von einem Notar erwartet wird. Im Interesse der Auswahlgerechtigkeit muss die Möglichkeit bestehen, besondere Fähigkeiten für das angestrebte Amt nachzuweisen und damit etwa schwächere Leistungen in der Staatsprüfung auszugleichen. Als Folge dieser Entscheidung ist § 7a in die BNotO eingefügt worden. Seither hat jeder Bewerber um eine Anwaltsnotarstelle eine schriftliche und mündliche Prüfung zu bestehen, die unter der Aufsicht des Bundesministeriums der Justiz abgehalten wird. Die Prüfung dient, wie § 7a Abs. 3 Satz 1 BNotO ausdrücklich bestimmt, der Bestenauslese. Bei der Zulassung spielen neben dem Ergebnis dieser Prüfung die Ergebnisse des zweiten Staatsexamens nur noch eine geringe Rolle. Bei Betrachtung dieser Rechtsentwicklung ist festzustellen, dass die Bewerbung um ein Notaramt und um die Zulassung als Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof erstaunliche Parallelen aufweist. In beiden Fällen bewerben sich Rechtsanwälte um eine zusätzliche, höhere Qualifikation. Im Interesse der Rechtspflege soll die Zahl der Amtsinhaber begrenzt werden, und in beiden Fällen wird eine Bestenauslese angestrebt. Deshalb werden bei einer Reform des Zulassungsverfahrens beim Bundesgerichtshof die Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts zum Anwaltsnotariat nicht außer Betracht bleiben können. bb) Fachanwaltsbestellung Rechtsanwälten kann von ihrer Rechtsanwaltskammer die Befugnis verliehen werden, eine Fachanwaltsbezeichnung zu führen. Diese Gestattung lag bis in die achtziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts in den Händen des Kammervorstands. Die Regelung einer Fachanwaltsbezeichnung wurde als Teil der Standesrichtlinien angesehen, über die die Rechtsanwaltskammern nach eigenem Ermessen entscheiden durften, ohne auf eine gesetzliche Grundlage angewiesen zu sein. Die Rechtsanwaltskammern gestatteten auf Antrag die Fachanwaltsbezeichnung für Steuerrecht – und nur diese. Das geschah ohne jede Vorgabe nach reinem Ermessen. Erst 1986 wurden durch Beschluss der Bundesrechtsanwaltskammer weitere Fachanwaltschaften eingeführt. Es folgte eine langjährige komplizierte Rechtsentwicklung.39) 39)

Eine ausführliche Darstellung der geschichtlichen Entwicklung findet sich bei Feurig/ Weyland, BRAO, 9. Aufl. 2016, Rz. 6 – 26.

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Als Folge einer Entscheidung des Anwaltssenats bei dem Bundesgerichtshof musste die Verleihung von Fachanwaltsbezeichnungen insgesamt als rechtswidrig angesehen werden, weil es an der erforderlichen gesetzlichen Grundentscheidung dazu fehlte.40) Obwohl die Bestellung zum Fachanwalt keine statusbegründende Entscheidung sei, müßten als Regelung der Berufsausübung die wesentlichen Merkmale durch Gesetz geregelt sein. Die Fachanwaltsbezeichnung und deren Verleihung ist heute in § 43c BRAO und einer von der Satzungsversammlung der Bundesrechtsanwaltskammer beschlossenen Fachanwaltsordnung geregelt. Danach haben die Rechtsanwaltskammern für jedes Fachgebiet Ausschüsse zu bilden, die aus mindestens drei Rechtsanwälten bestehen müssen. Diese Ausschüsse prüfen, ob der jeweilige Bewerber seine Befähigung vollständig nachgewiesen hat. Dazu gehört insbesondere der Nachweis einer hinreichenden Zahl von Ausbildungsstunden und des Bestehens einer Prüfung. Aufgrund eines Votums, das der Ausschuss erteilt, entscheidet der Vorstand der Rechtsanwaltskammer durch Bescheid, der der gerichtlichen Nachprüfung unterliegt. Die BRAO hat für die Bestellung von Fachanwälten einen Prüfungsausschuss vorgesehen, der zwar nicht den Bedarf an Fachanwälten, wohl aber die fachliche Eignung der Bewerber zu prüfen hat. Die Rechtsprechung wendet auf die Voten des Ausschusses nicht den Maßstab an, wie er etwa für Prüfungsergebnisse gilt. Der Ausschuss hat keinen Beurteilungsspielraum, sondern der Bescheid der Rechtsanwaltskammer, der auf dem Votum beruht, unterliegt der uneingeschränkten gerichtlichen Überprüfung.41) Die umfangreiche rechtliche Gestaltung der Fachanwaltschaft hat zu einer wesentlichen Bedeutungssteigerung geführt. Mittlerweile sind 23 verschiedene Fachrichtungen zugelassen. Für jede einzelne gibt es in der Fachanwaltsordnung eine genaue Definition des Gebiets. Von den rund 160.000 in Deutschland zurzeit zugelassenen Rechtsanwälten sind etwa 45.000 zugleich Fachanwälte. Die Fachanwaltsbestellung ist durch die Praxis der letzten Jahre ein ausgefeiltes und bewährtes Verfahren geworden. Indem im Rechtsverkehr der Fachanwaltstitel ein anerkanntes Qualitätsmerkmal geworden ist, wird auch die Qualität des Bestellungsverfahrens belegt. Dieses eingeführte Verfahren könnte grundsätzlich auch geeignet sein, fachlich herausragende Bewerber um die Bestellung zum BGH-Anwalt zu ermitteln.

40) 41)

BGH, Beschl. v. 14.5.1990 – AnwZ (B) 4/90, ZIP 1990, 739 = NJW 1990, 1719, m. Anm. Kewenig. BGH, Beschl. v. 9.6.2000 – AnwZ(B) 59/99, NJW 2000, 3648.

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Die Auffassung zur Bedeutung des Gesetzesvorbehalts hat seit Einführung der BRAO im Jahre 1959 offensichtlich einem erheblichen Wandel unterlegen. Waren damals nach allgemeiner Ansicht von Rechtsanwaltskammern ohne jede gesetzliche Grundalge erlassene Richtlinien genügend, um Fachanwälte für Steuerecht (und sonst keine) zu bestellen, so wäre das heute eindeutig unzulässig. Die Eignungsprüfung muss umfassender gerichtlicher Kontrolle unterliegen, ohne dass sich der Ausschuss auf einen Beurteilungsspielraum berufen kann. Das Verfahren zur Zulassung von BGH-Anwälten beruhte 1959 auf ähnlichen Vorstellungen, die auch Standesrichtlinien für eine geeignete Grundlage hielten, Berufsausübung zu regeln. Das Verfahren ist bis heute unverändert. Eine Anpassung an die heutigen Vorstellungen von einem Vorbehalt des Gesetzes erscheint wünschenswert. IV. Fazit 1.

Bei der Bestellung von neu bei dem Bundesgerichtshof zuzulassenden Rechtsanwälten wird durch Wahlausschuss gleichzeitig der Bedarf an weiteren Rechtsanwälten festgestellt und die Auswahl unter den Bewerbern getroffen Bei der Bedarfsfeststellung handelt es sich nicht um einen Wahlvorgang, so dass die gerichtliche Überprüfung nicht auf ein Wahlprüfungsverfahren beschränkt werden darf, sondern keinen Beschränkungen unterliegen darf. Die Feststellung eines Bedarfs sollte von der Auswahl der Bewerber getrennt sein und einer dafür geeigneten Behörde übertragen werden.

2.

In dem nach derzeitiger Gesetzeslage durchgeführten Verfahren hat der Wahlausschuss keine hinreichenden Erkenntnismöglichkeiten, um den Umfang des Bedarfs nachvollziehbar festzustellen. Wenn auch weiterhin die Zahl der bei dem Bundesgerichtshof zugelassenen Rechtsanwälte beschränkt sein soll, ist als Regelung der Berufsausübung eine gesetzliche Grundentscheidung erforderlich, wonach sich der Bedarf richten soll. Ob es möglich sein wird, die Bedarfszahl allgemein so zu definieren, dass sie verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt, scheint zweifelhaft. Die Singularzulassung bei dem Bundesgerichtshof benötigt eine förmliche Begrenzung der Zulassungszahl auch nicht. Die besondere Qualität der Revisionsanwälte im Revisionsverfahren ist durch deren sorgfältige Auswahl hinreichend gesichert.

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3.

Die Singularzulassung bei dem Bundesgerichtshof steht nicht notwendig in Frage. Das derzeitige Auswahlverfahren ist aber unzureichend. Der Wahlausschuss für die Bestellung von Rechtsanwälten bei dem Bundesgerichtshof soll im Wege der Bestenauslese geeignete Kandidaten unter den Bewerbern auswählen. Für die Auswahl verfügt der Ausschuss nicht über die erforderlichen Informationen, um die Auswahl richtig zu treffen. Die Rechtsanwaltskammern und die hinzugezogenen Gerichtspräsidenten kennen in der Regel die Bewerber, die sie auf die Vorschlagsliste setzen, gar nicht mehr persönlich und auch nicht deren berufliche Leistungen. Die Kammern treffen also keine qualitätsbezogene Auswahl. Der Wahlausschuss stützt sich auf veraltete und nicht spezifisch aussagefähige Examensnoten. Der Bewerber hat keine Möglichkeit, mangelnde Examensergebnisse durch Fortbildung und Eignungsprüfung auszugleichen.

4.

Das Wahlverfahren gemäß §§ 165 ff. BRAO hat die Wandlungen in der allgemeinen Rechtsauffassung, insbesondere zum Vorbehalt des Gesetzes bei der Berufsausübungsregelung, noch nicht nachvollzogen. Es bleibt hinter den moderneren Verfahren zur Bestellung von Anwaltsnotaren und Fachanwälten zurück. Es besteht also Reformbedarf. Auch wenn grundsätzlich die Singularzulassung beibehalten werden soll, erscheint ein Auswahlverfahren geeigneter, das an dem Verfahren der Bestellung von Anwaltsnotaren und an der Fachkundeprüfung für die Fachanwaltsbestellung orientiert ist.

Der Insolvenzexperte in der Eigenverwaltung – Notwendigkeit, Bestellung, Haftung – MORITZ BRINKMANN Inhaltsübersicht I. II.

Der Grundwiderspruch des ESUG Die Person des Insolvenzexperten 1. Erforderlichkeit insolvenzrechtlichen Sachverstands in der Geschäftsführung bei Anordnung der Eigenverwaltung 2. CRO versus Generalbevollmächtigter 3. Die Zuständigkeit für den Abschluss des Anstellungsvertrags

4. Zur Höhe der Vergütung des CRO III. Die Haftung des Insolvenzexperten 1. Die anwendbaren Haftungstatbestände 2. Die Haftung von Generalbevollmächtigten und Prokuristen 3. Einzel- oder Gesamtverantwortlichkeit IV. Zusammenfassung in Thesen

In einem in der ZIP im Jahr 2018 veröffentlichten Aufsatz schreibt Godehard Kayser, dass das Insolvenzrecht nicht verhindern soll, dass sanierungsunwürdige Unternehmen aus dem Markt ausscheiden und „dass die Insolvenzordnung weder der Sanierung noch der Liquidierung generell den Vorrang einräumt.“1) Gerade weil diese Worte nicht dem Zeitgeist entsprechen, verdienen sie Gehör und Unterstützung. Sanierung im Insolvenzverfahren ist kein Selbstzweck, wie der Jubilar treffend formuliert, sondern muss der Gläubigerbefriedigung zu den Bedingungen des Insolvenzrechts dienen. Vor allem in der Eigenverwaltung droht aber in der Praxis die insolvenzrechtliche Haftungsordnung zugunsten insolvenzrechtsfremder Zwecke beiseite geschoben zu werden. Die folgenden Ausführungen sollen einen Beitrag zur Eindämmung dieser Gefahr leisten. Ich hoffe daher, dass die Stoßrichtung der hier angestellten Überlegungen die Zustimmung des Jubilars findet, und möchte mich mit diesem Beitrag zugleich für viele Gespräche bedanken, die ich mit ihm in den letzten rund zehn Jahren auf und am Rande zahlreicher Tagungen führen konnte. Mögen diese fruchtbaren Diskussionen noch lange Fortsetzung finden.

1)

Kayser, Der Sanierungsgedanke in der jüngeren Rechtsprechung des IX. Zivilsenats, ZIP 2018, 2189.

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I. Der Grundwiderspruch des ESUG Die Erfahrungen mit der Eigenverwaltung gerade bei größeren Unternehmen haben gezeigt, dass in der Praxis oftmals Unsicherheit hinsichtlich des Zusammenspiels zwischen den Organen des Schuldners und seinen Beratern, dem Sachwalter, dem Gläubigerausschuss und schließlich dem Insolvenzgericht herrscht. Diese Unsicherheit rührt oberflächlich gesehen daraus, dass das Gesetz zu vielen Fragen und Phänomenen der Eigenverwaltung schweigt. Schaut man tiefer, so stellt man fest, dass die Fragen der Praxis Ausdruck eines Grundwiderspruchs der gesetzlichen Regelung sind, der durch das ESUG2) eher noch verstärkt als gelindert wurde. Es geht um die Frage, ob die Eigenverwaltung ein Angebot an den Schuldner sein soll, frühzeitig einen Sanierungsversuch zu unternehmen, bei dem er selbst die Zügel in der Hand behält, oder ob die Eigenverwaltung ein „Insolvenzverfahren light“ sein soll, das der Gläubigerbefriedigung dient, bei dem aber insolvenzbedingte Verluste dadurch eingedämmt werden können, dass der Schuldner weiterhin selbst die Geschäfte führt. Während Vorschriften wie § 18 InsO und § 270a Abs. 3 InsO – also die Gelegenheit zur Rücknahme des Insolvenzantrags bei absehbarer Ablehnung des Eigenverwaltungsantrags – nahelegen, dass es sich um ein Verfahren handelt, das den Schuldnerinteressen dient, sprechen Normen wie § 276a InsO und insbesondere § 225a InsO eine ganz andere Sprache. Diese Vorschriften entlarven die freundliche Einladung des Gesetzgebers an den Schuldner, früh in das Verfahren zu gehen, als vergifteten Apfel.3) Es geht auch in Eigenverwaltungsverfahren nicht um den Erhalt des Schuldners als Selbstzweck oder gar um den Schutz der Interessen des Schuldners, sondern um die Interessen der Gläubiger. Das insolvente Unternehmen gehört den Gläubigern und nicht mehr den Gesellschaftern. Der Schuldner bzw. seine Organe sollen nur noch insoweit mitwirken können, wie dies im Interesse der Gläubiger sinnvoll ist. Dass dieser Gedanke in der gesetzlichen Regelung nicht konsequent verwirklicht wurde, beruht auch darauf, dass der Gesetzgeber versucht hat, mit dem ESUG „zwei Fliegen mit einer Klappe“ zu schlagen. Man wollte einer-

2) 3)

Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen – ESUG, v. 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2582. K. Schmidt, Schöne neue Sanierungswelt: Die Gläubiger okkupieren die Burg!, ZIP 2012, 2085, 2088: „rechtspolitisches Gesäusel“.

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seits die Sanierung von Unternehmen im Insolvenzverfahren effektivieren, andererseits wollte man Rufen nach der Einführung eines vorinsolvenzlichen Sanierungsverfahrens Rechnung tragen.4) Beides gleichzeitig konnte kaum befriedigend gelingen, denn die Vorzeichen eines präventiven Sanierungsverfahrens sind eben wegen der noch nicht eingetretenen Insolvenz ganz andere. In dieser Phase gehört das Unternehmen noch nicht den Gläubigern – jedenfalls noch nicht vollständig –, so dass der Schuldner völlig zu Recht noch am Ruder des Unternehmens steht. Die Restrukturierungsrichtlinie5) bietet nun die Chance, den zum Scheitern verurteilten Spagatversuch des Gesetzgebers zu beenden: Einerseits ist das ESUG und insbesondere die Eigenverwaltung konsequent zu einem „Insolvenzverfahren light“ fortzuentwickeln, andererseits ist das präventive Restrukturierungsverfahren als Angebot an den Schuldner auszugestalten, rechtzeitig das Ruder umzulegen, so dass die Gefahr der Insolvenz abgewendet wird. Diese funktionale Ausrichtung des Eigenverwaltungsverfahrens als ein „Insolvenzverfahren light“, in dem wie im Regelverfahren nur die Interessen der Gläubiger maßgeblich sind, soll die Basis für die Erörterung der folgenden Fragen sein, die vor allem den „elephant in the room“ betreffen, nämlich die Figur des sanierungs- und insolvenzrechtlichen Beraters des Schuldners, der zuweilen als Chief Restructuring Officer (CRO) oder auch Chief Insolvency Officer (CIO) in das Organ des Schuldners wechselt, in anderen Fällen „nur“ als Generalbevollmächtigter auftritt. Die Rechtsstellung dieser im Folgenden ganz untechnisch als „Insolvenzexperten“ bezeichneten Person hat das ESUG – vermutlich klugerweise – gar nicht geregelt, so dass die Unsicherheit hier gerade wegen der Bedeutung dieser Figur in der Praxis besonders groß ist.

4) 5)

Begr. RegE ESUG, BT-Drucks. 17/5712, S. 17 ff. Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) – Restrukturierungsrichtlinie, ABl. (EU) L 172/18 v. 26.6.2019.

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II. Die Person des Insolvenzexperten 1. Erforderlichkeit insolvenzrechtlichen Sachverstands in der Geschäftsführung bei Anordnung der Eigenverwaltung Die erste Frage, die sich im Zusammenhang mit einem Insolvenzexperten stellt, lautet, ob ein solcher grundsätzlich zwingend oder grundsätzlich optional i. R. eines Eigenverwaltungsverfahrens ist. Dass auch für die ordnungsgemäße Durchführung eines Eigenverwaltungsverfahrens insolvenzrechtlicher Sachverstand erforderlich ist, lässt sich nicht bestreiten und bedarf keiner näheren Begründung. Fraglich ist nur, ob es für die Anordnung der Eigenverwaltung genügt, wenn die insolvenzrechtliche Expertise durch den Sachwalter eingebracht wird, oder ob es erforderlich ist, dass diese Expertise auf Seiten des Schuldners selbst vorhanden ist. Insofern lässt sich die Frage nach der Stellung des Insolvenzexperten nicht beantworten, ohne die Rolle des Sachwalters näher zu beleuchten. De lege lata ist dessen Funktion auf die Prüfung der wirtschaftlichen Lage des Schuldners, die Überwachung von dessen Geschäftsführung sowie die Geltendmachung der Insolvenzanfechtung und der Haftung nach §§ 92, 93 InsO beschränkt. Zur Effektivierung der Überwachung hat der Sachwalter ferner Mitwirkungsbefugnisse in Form von Zustimmungs- und Widerspruchsrechten sowie die Möglichkeit, die Kassenführung an sich zu ziehen (§ 275 InsO). Insgesamt ist die Rolle des Sachwalters damit eher passiv ausgestaltet. Zahlreiche originär insolvenzrechtliche Themen – z. B. Führung der Tabelle, Verwertung von mit Absonderungsrechten belasteten Gegenständen, Ausübung des Wahlrechts bei gegenseitigen Verträgen, die Führung von Sanierungsverhandlungen – liegen in der primären Verantwortung des Schuldners. Ohne entsprechende Expertise wird es diesem kaum gelingen, die sich hier stellenden Aufgaben zu bewältigen. Verfügt der Schuldner über keinen insolvenzrechtlichen Sachverstand, so wäre der Sachwalter vor dem Hintergrund der ihm drohenden Haftung mehr oder weniger gezwungen, seine Rolle als Überwacher zu verlassen und in die Rolle des aktiven Beraters und Gestalters zu wechseln. Dagegen wäre nichts zu sagen, wenn er hierfür auch entsprechend vergütet würde. Allerdings kann der Sachwalter nach den Entscheidungen des Bundesgerichtshofs vom 21. Juli 2016 und vom 22. September 2016 nur für solche Tätigkeiten Vergütung beanspruchen, „(…) die ihm vom Gesetz oder vom Insolvenzgericht und den Verfahrensbeteiligten in wirksamer

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Weise übertragen worden sind“.6) Nach dem Bundesgerichtshof ist es insbesondere „(…) nicht Aufgabe des vorläufigen Sachwalters, aus eigener Zuständigkeit als Alternative zum M&A-Prozess einen Insolvenzplan zu erarbeiten.“7) Da der Schuldner angesichts dieser Entscheidungslage vom Sachwalter keine Unterstützung bei Tätigkeiten erwarten darf, die außerhalb der durch das Gesetz recht eng gesteckten Grenzen liegen, ist es de lege lata abgesehen von extrem einfachen Fällen unverzichtbar, dass der Schuldner selbst die notwendige Expertise mitbringt. De lege ferenda mag man darüber nachdenken, ob es sinnvoll ist, i. R. einer nach der abgeschlossenen ESUG-Evaluation nunmehr anstehenden Reform, dem Sachwalter eine aktivere Rolle zu geben, so dass er nicht länger nur Überwacher, sondern auch Berater des Schuldners ist.8) Eine stärkere Konturierung der Überwachungsaufgaben des Sachwalters ist gewiss sinnvoll, ihn aber mit einer Beratungsfunktion und eigenen Gestaltungsmöglichkeiten auszustatten, würde die Grenze zur Rolle des Insolvenzverwalters zu sehr verwischen. Wenn der Schuldner nur noch der verlängerte Arm des Sachwalters ist, dann führt das zu einem „synthetischen Regelverfahren“, das kaum Sinn der Sache sein kann. Der Vorteil der bisherigen Praxis, bei der sich der Schuldner den insolvenzrechtlichen Sachverstand hinzuholt, liegt vor allem darin, dass der Schuldner sich den Insolvenzexperten selbst aussuchen kann, so dass der Schuldner auch insolvenzrechtlich jedenfalls mittelbar noch die Zügel in der Hand hält. Es sind bei dieser Lösung eben immer noch dem Schuldner zuzurechnende Personen, die die insolvenzrechtlichen Entscheidungen treffen und verantworten, so dass die Abgrenzung gegenüber dem Regelverfahren gewahrt bleibt. Festzuhalten ist somit: Stellt das Gericht, das über den Antrag auf Anordnung der Eigenverwaltung zu entscheiden hat, fest, dass der Schuldner nicht auf hinreichenden insolvenzrechtlichen Sachverstand zugreifen kann, dann ist grundsätzlich zu erwarten, dass die Eigenverwaltung zu Nachteilen für die Gläubiger führen wird, so dass der Antrag gemäß § 270 Abs. 2 Nr. 2 InsO abzulehnen ist. Entsprechend ist dann auch ein Antrag nach § 270a InsO nicht aussichtsreich.

6)

7) 8)

BGH, Beschl. v. 21.7.2016 – IX ZB 70/14, LS 1, BGHZ 211, 225 = ZIP 2016, 1592, dazu EWiR 2016, 499 (Beck); BGH, Beschl. v. 22.9.2016 – IX ZB 71/14, LS 1, ZIP 2016, 1981 = NZI 2016, 963, dazu EWiR 2016, 763 (Körner/Rendels). BGH, Beschl. v. 22.9.2016 – IX ZB 71/14, Rz. 62, ZIP 2016, 1981 = NZI 2016, 963. Dies fordert Hedaiat-Rad, Der Sachwalter in der Eigenverwaltung, 2018, Rz. 585 ff.

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Über Ausnahmen kann man dann nachdenken, wenn der Schuldner plausibel macht, wie er sich unmittelbar nach der Anordnung der vorläufigen Eigenverwaltung insolvenzrechtlichen Sachverstand beschaffen wird. 2. CRO versus Generalbevollmächtigter Mit der Aussage, dass insolvenzrechtliche Expertise grundsätzlich beim Schuldner selbst vorhanden sein muss, ist aber noch nicht entschieden, ob der Insolvenzexperte Mitglied des Geschäftsführungsorgans des Schuldners sein muss, oder ob es genügt, wenn er umfassend bevollmächtigter, rechtsgeschäftlicher Vertreter des Schuldners ist, oder ob sogar ein Beratungsvertrag ausreicht, so dass der Insolvenzexperte im Außenverhältnis gar nicht in Erscheinung tritt. Diesbezüglich hat Hölzle die Auffassung vertreten, dass das Gericht die Eigenverwaltung grundsätzlich nur anordnen dürfe, wenn wenigstens einer der Organträger der schuldnerischen Gesellschaft den Voraussetzungen des § 56 Abs. 1 Satz 1 InsO genügt, also über die erforderliche insolvenzrechtliche „Geschäftskunde“ verfügt.9) Hölzle leitet dieses Ergebnis maßgeblich aus seiner (auch hier vertretenen, siehe III. 2.) Auffassung her, dass die für den Schuldner tätigen Personen, die nicht Organmitglieder sind, auch nicht von der vom Bundesgerichtshof entwickelten Haftung analog §§ 60, 61 InsO erfasst werden, so dass sich ein Haftungsdefizit ergäbe, wenn der Insolvenzexperte nicht Teil des Organs ist. Auch wenn das Ergebnis durchaus vertretbar ist, könnte man doch einwenden, dass Hölzle mit dieser Argumentation das Pferd von hinten aufzäumt. Allerdings gibt es auch unabhängig von der Haftungsfrage Argumente, die es notwendig erscheinen lassen, dass der insolvenzrechtliche Sachverstand im Organ des Schuldners vorhanden ist. Entscheidend ist folgender Gedanke: Sieht man insolvenzrechtliche Expertise beim Schuldner als Anordnungsvoraussetzung für einen Eigenverwaltungsantrag, dann muss gesichert sein, dass diese nicht nur im Moment der Entscheidung über den Antrag besteht, sondern auch während des Verfahrens verfügbar bleibt. Einerseits muss also die Kontinuität der insolvenzrechtlichen Beratung gewährleistet sein. Andererseits muss auch die Orien-

9)

Hölzle, Folgen der „faktischen Verwalterhaftung“ für die Grundsätze ordnungsmäßiger Eigenverwaltung und den Nachteilsbegriff i. S. d. § 270 Abs. 2 Nr. 2 InsO, ZIP 2018, 1669, 1675.

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tierung des insolvenzrechtlichen Beraters an den Gläubigerinteressen gesichert sein. Zwar soll sich der Schuldner i. R. der Eigenverwaltung aussuchen können, von wem er sich in insolvenzrechtlichen Fragen beraten lässt. Unerlässlich ist aber, dass diese Person in der Bearbeitung der sanierungs- und insolvenzrechtlichen Themen an die Zwecke des Insolvenzverfahrens gebunden ist und eben nicht in erster Linie die Interessen des Schuldners im Blick haben darf. Der Schuldner unterliegt in der Eigenverwaltung mit anderen Worten einer insolvenzrechtlichen Verpflichtung auf den Zweck des Insolvenzverfahrens, die sich daraus ergibt, dass er anstelle eines Amtsträgers, nämlich eines Insolvenzverwalters, sein Vermögen verwalten und darüber verfügen darf. Es ist sinnvoll, diese Bindung auch verfahrensmäßig in der Form abzusichern, dass einer konkreten Person, die nach außen in Erscheinung tritt und die nicht ohne Weiteres ausgetauscht werden kann, die Wahrnehmung der insolvenzrechtlichen Aufgaben anvertraut wird. Im Regelverfahren ist die Auswahl des Insolvenzverwalters bekanntlich „die Schicksalsfrage des Insolvenzverfahrens“. Nicht anders ist es in der Eigenverwaltung. Auch hier ist entscheidend, ob die Interessen der Gläubiger bei den für den Schuldner handelnden Personen in guten Händen sind. Hierüber entscheidet das Gericht i. R. der Anordnung der Eigenverwaltung. Um einer Veränderung der Geschäftsgrundlage dieser Entscheidung vorzubeugen, macht § 276a Satz 2 InsO Veränderungen „in der Geschäftsleitung“ von der Zustimmung des Sachwalters abhängig. Der vom Gesetzgeber intendierte Schutz des Vorrangs des Insolvenzrechts wäre nicht gewährleistet, wenn eine Person mit der Wahrnehmung der Bearbeitung der insolvenzrechtlichen Themen betraut wäre, auf die § 276a InsO nicht anwendbar wäre. Daher ist es jedenfalls grundsätzlich ungenügend, wenn die insolvenzrechtliche Expertise beim Schuldner nur in Person von Beratern, die auf der Grundlage eines Geschäftsbesorgungsvertrags tätig werden, vorhanden ist. Denn auf solche Personen ist § 276a InsO nicht anwendbar, so dass sich deren Pflichten allein nach ihrem – weitgehend frei ausgestaltbaren – vertraglichen Verhältnis zum Schuldner richten. Ein wenig komplizierter ist die Antwort im Hinblick auf Personen, die mit umfassenden Vertretungsbefugnissen ausgestattet sind, also im Hinblick auf Generalbevollmächtigte und Prokuristen. Hier ist zu klären, ob diese Personen unter den Begriff „Geschäftsleitung“ fallen, der in § 276a InsO verwendet wird.

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Festzustellen ist zunächst, dass der Ausdruck „Geschäftsleitung“ im Gesellschaftsrecht nicht definiert ist. Er findet sich beispielsweise in § 92 AktG und anderen Haftungsvorschriften und wird dort benutzt, um einen allgemeinen Verhaltensmaßstab nach Art des bonus pater familias zu beschreiben. Allerdings wird der Begriff stets im Zusammenhang mit der Haftung von Organmitgliedern verwendet. Gesetzlich definiert wird der Begriff in § 1 Abs. 2 KWG – allerdings nur für die Zwecke dieses Gesetzes. Nach § 1 Abs. 2 KWG sind Geschäftsleiter „diejenigen natürlichen Personen, die nach Gesetz, Satzung oder Gesellschaftsvertrag zur Führung der Geschäfte und zur Vertretung eines Instituts oder eines Unternehmens in der Rechtsform einer juristischen Person oder einer Personenhandelsgesellschaft berufen sind.“ Dadurch erfasst der Begriff im KWG bei juristischen Personen nur die Mitglieder der Geschäftsführungsorgane, also Vorstände einer AG und Geschäftsführer einer GmbH. Diese Beschränkung auf Organmitglieder dürfte schließlich auch dem Willen des ESUG-Gesetzgebers entsprechen, wie sich aus der Gesetzesbegründung ergibt, die sich nur mit „Vorstandsmitgliedern bzw. Geschäftsführern“10) befasst. Im Ergebnis wird man also annehmen müssen, dass § 276a InsO weder direkt noch analog auf Personen anwendbar ist, die nicht organschaftliche Vertreter des Schuldners sind. Aufgrund der Bedeutung des § 276a InsO für die Sicherung der insolvenzrechtlichen Ausrichtung des Eigenverwaltungsverfahrens sollte das Insolvenzgericht somit regelmäßig von der Anordnung der Eigenverwaltung absehen, wenn kein Mitglied des Geschäftsführungsorgans des Schuldners über hinreichende insolvenzrechtliche Expertise verfügt.11) Zugunsten der Zulässigkeit des „Generalbevollmächtigten-Modells“ wird allerdings aus praktischer Sicht angeführt, dass die Bestellung eines CRO als Geschäftsführer dann impraktikabel sein könne, wenn die Satzung des schuldnerischen Unternehmens keine Ausnahme vom Grundsatz der Gesamtvertretung (§ 78 Abs. 2 Satz 1 AktG, § 35 Abs. 2 Satz 1 GmbHG) der Geschäftsleiter vorsieht. In diesen Fällen kann der CRO nur zusammen mit anderen Geschäftsführern handeln, solange kein satzungsändernder Beschluss gefasst wird. Letzteres kann in der Praxis schwierig sein, weil die Einberufung einer Gesellschafterversammlung wegen der Größe der 10) 11)

Begr. RegE ESUG, BT-Drucks. 17/5712, S. 42. Auch Hofmann in: Kübler, HRI, 3. Aufl. 2018, § 7 Rz. 139, hält die Bestellung als CRO gerade vor dem Hintergrund des § 276a Satz 2 InsO für vorzugswürdig.

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Gesellschaft zu (zeit-)aufwändig oder zu teuer sein kann. Hieraus ergeben sich aber nur dann echte Probleme, wenn die anderen Mitglieder des Geschäftsführungsorgans nicht kooperativ sind und die obstruierenden Organmitglieder auch nicht zeitnah abberufen werden können. In einem solchen Fall wird man allerdings bezweifeln dürfen, dass sich die Gesellschaft überhaupt für ein Eigenverwaltungsverfahren eignet. Bei so gravierenden Spannungen innerhalb der Geschäftsführung ist das Regelverfahren im Zweifel doch die effizientere Verfahrensform. Ein anderes Praktikabilitätsargument lässt sich allerdings nicht vollständig von der Hand weisen: Legt die Satzung die Zahl der Vorstandsmitglieder abschließend fest (vgl. § 23 Abs. 3 Nr. 6 AktG), so kann ein CRO als weiteres Vorstandsmitglied nur nach Satzungsänderung aufgenommen werden. Die Satzung zu ändern, kann aber aus den eben genannten Gründen schwierig oder wegen der meist gebotenen Eile sogar unmöglich sein. In solchen Fällen sollte das Insolvenzgericht auch die Bestellung eines Insolvenzexperten als Generalbevollmächtigten ausreichen lassen. Ausnahmen von der skizzierten Grundregel dürften ferner in Konzernstrukturen sinnvoll sein. Hier ist es kaum praktikabel und auch nicht notwendig, bei jeder gruppenzugehörigen Gesellschaft einen insolvenzrechtlichen Experten in das Geschäftsführungsorgan aufzunehmen. Daher wird man es in solchen Fällen oft genügen lassen können, dass nur die Konzernmutter ihr Geschäftsführungsorgan um einen CRO erweitert. Selbstverständlich ist schließlich, dass man die Dinge in der Insolvenz von selbständigen natürlichen Personen anders beurteilen muss. Als Zwischenergebnis bleibt festzuhalten, dass der Generalbevollmächtigte, den man in einigen großen Eigenverwaltungsverfahren in der letzten Zeit erlebt hat, künftig die Ausnahme sein sollte. Das Insolvenzgericht sollte die Eigenverwaltung jedenfalls bei mittleren und größeren Unternehmen regelmäßig nur dann anordnen, wenn ein Mitglied des Geschäftsführungsorgans über hinreichende insolvenzrechtliche Expertise verfügt. 3. Die Zuständigkeit für den Abschluss des Anstellungsvertrags Nach dieser Weichenstellung zugunsten des CRO fällt auch die Entscheidung relativ leicht, wer über dessen Bestellung zu entscheiden hat: Vor Antragstellung gelten hier die allgemeinen gesellschaftsrechtlichen Vorschriften. In der GmbH entscheiden also die Gesellschafter über die Bestellung, in der AG der Aufsichtsrat.

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Es ist allerdings auch deutlich geworden, dass in Einzelfällen die vorläufige Eigenverwaltung auch dann angeordnet werden kann, wenn es beispielsweise wegen besonderen Zeitdrucks nicht mehr möglich war, den CRO vor Antragsstellung in das Geschäftsführungsorgan aufzunehmen. In diesen Fällen stellt sich die Frage, ob nach der Anordnung der vorläufigen Eigenverwaltung der vorläufige Sachwalter über die nachträgliche Bestellung des CRO mitzuentscheiden hat. Wer der (vorzugswürdigen) Auffassung ist, dass § 276a InsO im Eröffnungsverfahren analog anwendbar ist,12) muss das ohne Weiteres bejahen. Die Zustimmung des vorläufigen Sachwalters zu fordern, dürfte auch in der Sache angemessen sein. Denn nach den obigen Überlegungen sollte es die Ausnahme sein, dass die Gesellschaft den Insolvenzantrag stellt, ohne dass der Insolvenzexperte bereits an Bord ist. Das Gericht sollte die Eigenverwaltung in solchen Fällen nur dann anordnen, wenn die Aussicht dafür besteht, dass die entsprechende Ergänzung schnellstmöglich nachgeholt wird. Muss der Sachwalter an der Bestellung mitwirken, so ist gewährleistet, dass er leicht überwachen kann, ob sich der Schuldner erwartungsgemäß verhält und durch die Aufnahme des CRO in das Geschäftsführungsorgan die Anordnungsvoraussetzungen gewissermaßen nachträglich erfüllt. Eine Zustimmung des vorläufigen Gläubigerausschusses ist dagegen nicht erforderlich, selbst wenn man § 276 InsO im Eröffnungsverfahren analog anwendet. Denn der Gesetzgeber hat die Frage, wer an Veränderungen im Geschäftsführungsorgan mitzuwirken hat, in § 276a Satz 2 InsO abschließend geregelt, so dass hier nur der vorläufige Sachwalter beteiligt werden muss. 4. Zur Höhe der Vergütung des CRO Die Hoffnung, die der InsO-Gesetzgeber hegte, dass nämlich durch die Eigenverwaltung Kosten eingespart werden,13) hat sich nicht erfüllt. Die Eigenverwaltung ist nach den Ergebnissen der ESUG-Evaluation im Gegenteil „tendenziell stets teurer als ein Regelverfahren“, jedenfalls bestehe eine

12)

13)

Brinkmann, Haftungsrisiken im Schutzschirmverfahren und in der Eigenverwaltung (Teil 2), DB 2012, 1369 (dort Fn. 50); Hammes, Keine Eigenverwaltung ohne Berater?, NZI 2017, 233, 238; Thole, Gesellschaftsrechtliche Maßnahmen in der Insolvenz, 2. Aufl. 2015, Rz. 199 ff.; Ströhmann/Längsfeld, Die Geschäftsführungsbefugnis in der GmbH im Rahmen der Eigenverwaltung, NZI 2013, 271, 273 f. Begr. RegE InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 223.

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Neigung dazu.14) Der größte Kostentreiber dürften die erheblichen Beraterhonorare sein, die in solchen Verfahren gezahlt werden. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob das Gericht die Höhe der Vergütung des CRO bei der Prüfung berücksichtigen sollte, ob die Anordnung der Eigenverwaltung voraussichtlich zu Nachteilen für die Gläubiger führen wird. Dies ist schon deshalb zu verneinen, weil eine solche Prüfung praktisch kaum sinnvoll durchführbar ist, wie auch in der ESUG-Evaluation festgestellt wird.15) Ob die Höhe der Vergütung angemessen ist, kann das Gericht im Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag nach § 270a InsO in keiner Weise sinnvoll beurteilen. Allenfalls kann es abschätzen, ob das Honorar die Differenz zwischen Sachwalter- und Insolvenzverwaltervergütung überschreitet, so dass wenigstens keine Mehrkosten gegenüber dem Regelverfahren zu erwarten sind. Diese Aussage ist aber für sich ohne jeden Wert. Denn wenn die Eigenverwaltung trotz der höheren Kosten die Befriedigungsaussichten der Gläubiger verbessert, dann dürfen die erhöhten Kosten einer Eigenverwaltung selbstverständlich nicht im Weg stehen. Das Problem der überhöhten Vergütung ist richtigerweise auf der Ebene des Anfechtungsrechts zu lösen. Verträge, aus denen sich deutlich übersetzte Honoraransprüche für den Insolvenzgeschäftsführer ergeben, sind unmittelbar nachteilig und daher anfechtbar nach § 132 Abs. 1 InsO, dessen weitere Voraussetzungen bei den Abschlüssen entsprechender Verträge regelmäßig erfüllt sein werden. § 132 InsO eignet sich allerdings nur dazu, gegen eindeutig überhöhte Vergütungen vorzugehen. Gerade bei Geschäftsbesorgungsverträgen ist hinsichtlich der Angemessenheit von Leistung und Gegenleistung ein Bewertungsspielraum der Parteien anzuerkennen, der grundsätzlich auch im Vorfeld der Antragstellung existiert. Jedenfalls indizielle Bedeutung im Hinblick auf die Angemessenheit sollte es schließlich haben, wenn die Vergütung im Vorhinein von Vertretern der wesentlichen Gläubigergruppen „abgesegnet“ wurde. Wurde die Bestellung ausnahmsweise erst nach Antragstellung vorgenommen, so hat an ihr wie bereits dargelegt nach § 276a InsO der vorläufige Sachwalter mitzuwirken. Diese Mitwirkung hat wiederum Bedeutung für die Frage der Anfechtbarkeit des Honorars nach § 132 InsO. Denn hier stellt

14) 15)

ESUG-Evaluation Gesamtbericht, S. 80. ESUG-Evaluation Gesamtbericht, S. 80.

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sich die Frage, ob die für das Regelverfahren entwickelten Grundsätze zum Vertrauensschutz im Hinblick auf die Unanfechtbarkeit von Rechtshandlungen, die mit Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters entwickelt wurden, auf die vorläufige Eigenverwaltung zu übertragen sind. Handlungen des Schuldners, die mit Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters erfolgt sind, sind nach dieser Rechtsprechung dann anfechtungsfest, „(…) wenn der vorläufige Insolvenzverwalter durch sein Handeln einen schutzwürdigen Vertrauenstatbestand beim Empfänger begründet hat und dieser infolgedessen nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) damit rechnen durfte, ein nicht mehr entziehbares Recht errungen zu haben. (…)“16)

Dass der CRO auf die Unentziehbarkeit seines Rechts vertrauen durfte, lässt sich für den Anstellungsvertrag vor allem mit dem Argument begründen, dass die Mitwirkung des CRO für die ordnungsgemäße Durchführung des Eigenverwaltungsverfahren notwendig war. Insofern dürfte sich der CRO oft mit Erfolg auf schützenswertes Vertrauen im Hinblick auf die Unanfechtbarkeit seiner Anstellung berufen, wenn der vorläufige Sachwalter daran mitgewirkt hat. III. Die Haftung des Insolvenzexperten 1. Die anwendbaren Haftungstatbestände Besondere Praxisrelevanz besitzt die Frage nach der Haftung des Insolvenzexperten. Geklärt ist, dass dieser analog §§ 60, 61 InsO haftet, jedenfalls sofern er als Organ der schuldnerischen Gesellschaft handelt. Zweifellos sollte diese Haftung auch schon während des Eröffnungsverfahrens greifen.17) Dass zu dieser Phase das Verfahren noch nicht eröffnet ist, ist in erster Linie auf die Insolvenzgeldvorfinanzierung zurückzuführen.18) Solange die Eröffnung 16)

17)

18)

BGH, Urt. v. 9.12.2004 – IX ZR 108/04, BGHZ 161, 315, 319 = ZIP 2005, 314, dazu EWiR 2005, 511 (Marotzke); BGH, Urt. v. 11.6.1992 – IX ZR 255/91, BGHZ 118, 374, 381 f. = ZIP 1992, 1005; BGH, Urt. v. 29.11.2007 – IX ZR 165/05, Rz. 30, ZIP 2008, 372 = NZI 2008, 236, dazu EWiR 2008, 505 (Homann/Junghans). Zustimmend Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 129 Rz. 45; Thole in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 129 Rz. 35. Zur Übertragbarkeit dieser Rechtsprechung auf Eigenverwaltungsverfahren siehe den Beitrag in dieser Festschrift von Jacoby, Masseverbindlichkeiten und anfechtungsfeste Deckungen aus dem Eröffnungsverfahren, S. 385. Gehrlein, Haftung des Insolvenzverwalters und eigenverwaltender Organe, ZInsO 2018, 2234, 2240; Bitter, Haftung der Geschäftsleitung in der Eigenverwaltung, ZIP 2018, 977, 988 (Urteilsanm.); Swierczok/v. Hahn, BGH: Haftung von Geschäftsführern im Eigenverwaltungsverfahren analog §§ 60, 61 InsO, BB 2018, 1350, 1358 (Urteilsanm.). Hierzu grundsätzlich Richter, Verschleppte Eröffnung von Insolvenzverfahren, 2018, S. 45 ff.

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eines Insolvenzverfahrens wegen der Vorfinanzierung verschleppt wird, muss alles getan werden, um die Wirkungen des eröffneten Verfahrens so weit wie möglich in das Eröffnungsverfahren zu erstrecken. Konsequenterweise sollte daher auch die Haftung der Beteiligten im Eröffnungsverfahren so weit wie möglich der Haftung im eröffneten Verfahren angeglichen werden. Dagegen scheidet eine Haftung aus § 64 GmbHG bzw. §§ 92 Abs. 2, 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG während des Eröffnungsverfahrens aufgrund des zeitlichen Anwendungsbereichs der Norm aus. Schon vor der Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur analogen Anwendbarkeit der §§ 60, 61 InsO musste gelten, dass die Haftung wegen Verletzung der Zahlungsverbote nach Antragstellung endet. Nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 26. April 2018 ist dies erst recht geboten. Das Urteil lässt sich auf die Aussage reduzieren, dass die Organmitglieder der schuldnerischen Gesellschaft im Eigenverwaltungsverfahren so haften wie der Verwalter im Regelverfahren. Das bedeutet aber auch, dass sie nicht schärfer als ein Insolvenzverwalter haften sollen, für den die Zahlungsverbote eben nicht gelten. Daher sollte mit Antragstellung und Anordnung der vorläufigen Eigenverwaltung auch die Haftung nach § 64 GmbHG bzw. §§ 92 Abs. 2, 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG enden. 2. Die Haftung von Generalbevollmächtigten und Prokuristen Schon in den ersten Besprechungen der Entscheidung vom 26. April 2018 wurde die Frage thematisiert, ob auch Generalbevollmächtigte analog §§ 60, 61 InsO haften.19) Folgt man der hier vertretenen Auffassung, nach der der Insolvenzexperte grundsätzlich Mitglied des Geschäftsführungsorgans sein muss, ist die praktische Relevanz dieser Frage erheblich reduziert. Allerdings ist auch das Bedürfnis für Ausnahmen von der grundsätzlichen Erforderlichkeit der Bestellung eines CRO deutlich geworden, so dass die Frage nach der Haftung von Generalbevollmächtigten auch auf der Basis der hier vertretenen Auffassung relevant werden kann. Es dürfte schwerfallen, eine überzeugende normative Begründung dafür zu finden, dass der Insolvenzexperte einem gemilderten Haftungsregime unterliegt, nur weil er nicht ins Organ gegangen ist. In dem einen wie in dem

19)

Bitter, ZIP 2018, 977, 988 (Urteilsanm.); Thole, EWiR 2018, 339, 340 (Urteilsanm.); Hölzle, ZIP 2018, 1669, 1671 f.; Gehrlein, ZInsO 2018, 2234, 2240; Cranshaw, jurisPRInsR 13/2018, Anm. 1 (Urteilsanm.).

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anderen Fall sollte er für schuldhafte Verletzungen der insolvenzspezifischen Pflichten haften müssen. Die Frage ist nur, ob dies zwingend als Außenhaftung gegenüber den Gläubigern analog §§ 60, 61 InsO ausgestaltet sein muss oder ob auch eine Innenhaftung gegenüber der Gesellschaft oder gegenüber in Anspruch genommenen Organmitgliedern zu angemessenen Ergebnissen führt. Horstkotte hat geltend gemacht, dass eine nur vertragliche Innenhaftung des Insolvenzexperten ungenügend sei, weil dieser sich gegenüber der Gesellschaft oder dem Organ, dem er aus Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten eines Dritten haftet, auf Haftungsbeschränkungen und Haftungsausschlüsse berufen könne.20) Richtig ist daran zunächst, dass solche Haftungsmilderungen theoretisch denkbar sind und grundsätzlich gemäß § 334 BGB auch die Haftung gegenüber den Organmitgliedern berühren würden.21) Daraus ergibt sich aber kein Argument für die Notwendigkeit einer Haftung des Sanierungsexperten analog §§ 60, 61 InsO. Denn darüber, ob in den Vertrag Haftungserleichterungen aufgenommen werden, entscheidet das Organmitglied selbst, das i. R. des Vertragsschlusses für die Gesellschaft handelt. Eine Schutzbedürftigkeit der Organmitglieder lässt sich daher nicht erkennen, so dass auch über das Innenverhältnis eine angemessene Haftung erreicht werden kann. Dass die Organmitglieder bei dieser Lösung im Außenverhältnis unmittelbar haften und im Innenverhältnis Freistellung oder Ausgleich suchen müssen, ist gleichsam der Preis dafür, dass sie sich dagegen entschieden haben, den Insolvenzexperten in das Organ aufzunehmen. 3. Einzel- oder Gesamtverantwortlichkeit Ungeklärt ist auch, ob die Haftung analog §§ 60, 61 InsO immer alle Organmitglieder betrifft oder ob die Haftung auf die Person des CRO beschränkt oder zumindest beschränkbar ist. Nach Auffassung von Hölzle können die Mitglieder des Geschäftsführungsorgans die Erfüllung der insolvenzspezifischen Pflichten dem CRO mit befreiender Wirkung übertragen und so nicht nur dessen Alleinzuständigkeit, sondern auch dessen Alleinverantwortung und damit auch Alleinhaftung

20) 21)

Horstkotte, Was ist eigentlich ein „Geschäftsleiter“?, ZInsO 2018, 2329, 2332. BGH, Urt. v. 10.11.1994 – III ZR 50/94, BGHZ 127, 378, 384 = ZIP 1994, 1954; OLG Stuttgart, Beschl. v. 17.11.2009 – 3 W 50/09, NJW-RR 2010, 883; Gottwald in: MünchKomm-BGB, 8. Aufl. 2019, § 328 Rz. 197.

Der Insolvenzexperte in der Eigenverwaltung

113

begründen.22) Gehrlein23) führt für seine gegenteilige Ansicht, nach der eine haftungsmäßige Wirkung der Ressortabgrenzung nicht anzuerkennen ist, vor allem an, dass § 279 und § 282 InsO den Geschäftsleitern „originäre Aufgaben“ übertrügen. Die von Gehrlein vorgenommene Unterscheidung zwischen originären und derivativen Geschäftsleiterpflichten ist grundsätzlich überzeugend, allerdings dürfte es vorzugswürdig sein, die Pflichten der Geschäftsleiter in der Eigenverwaltung gerade nicht als „originäre“ Pflichten zu bezeichnen. Die Bezeichnung als „originäre Pflichten“ sollte nur für solche Pflichten eines Geschäftsleiters verwendet werden, die sich unmittelbar aus der Organstellung ergeben und den Geschäftsleiter unmittelbar und persönlich treffen. Zu diesen gehören beispielsweise die Beachtung der Zahlungsverbote nach § 64 Satz 1 GmbHG, §§ 92 Abs. 2, 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG und die Insolvenzantragspflicht. Adressat der Zahlungsverbote wie auch der Insolvenzantragspflicht ist der einzelne Geschäftsleiter, nicht die Gesellschaft. Zwar ist es möglich, einem einzelnen Mitglied des Gremiums die Wahrnehmung dieser Pflichten durch (nicht formbedürftige) Aufgabenzuweisung zuzuweisen,24) hierdurch werden die übrigen Organmitglieder jedoch nicht von jeglicher Haftung für die Erfüllung der originären Organpflichten frei. Der Adressat der Pflicht ist vielmehr auch nach (zulässiger) Delegation verpflichtet, den Übernehmer sorgfältig auszuwählen und zu überwachen. Die Lage hinsichtlich der originären Pflichten ist insofern der Delegation von Verkehrssicherungspflichten vergleichbar.25) Von den originären Geschäftsleiterpflichten sind solche Pflichten zu unterscheiden, die primär die Gesellschaft selbst treffen. Diese Pflichten sind aus der Sicht der Geschäftsleiter „derivativ“, weil Adressat der Pflichten die Gesellschaft ist. Die Geschäftsleiter erfüllen diese Pflichten nicht als eigene, sondern als Organe der Gesellschaft. Auch für diese Pflichten gilt gesellschaftsrechtlich grundsätzlich eine Gesamtverantwortung der Geschäftsleiter, so dass auch hier Ressortabgrenzungsbeschlüsse grundsätzlich nicht die 22)

23) 24)

25)

Die anderen Geschäftsführer trifft dann allenfalls noch eine abgeschwächte „Überwachungspflicht“ (vgl. Koch in: Hüffer/Koch, AktG, 13. Aufl. 2018, § 93 Rz. 42, § 77 Rz. 15 m. w. N.), die durch die Überwachungspflicht des Sachwalters ergänzt wird. Gehrlein, ZInsO 2018, 2234, 2240 f. RG, Urt. v. 3.2.1920 – II 272/19, RGZ 98, 100; BGH, Urt. v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, BGHZ 133, 370, 378 = ZIP 1996, 2017; BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, ZIP 2019, 135, dazu EWiR 2019, 135 (Kleindiek). Zu den Folgen der Delegation von Verkehrspflichten ausführlich Wagner in: MünchKommBGB, 7. Aufl. 2017, § 823 Rz. 469.

114

Moritz Brinkmann

Pflicht zur Kontrolle der zuständigen Organmitglieder beseitigen. Allerdings ist hinsichtlich der Intensität der Kontrolle eine differenzierende Betrachtung im Hinblick auf die einzelnen Pflichten möglich und erforderlich, die bei den originären Pflichten in dieser Form nicht Platz greift. Je spezieller die derivativen Pflichten sind, umso näher liegt eine Ressortaufteilung und umso maßvoller müssen die Anforderungen an die Kontrolle und Überwachung sein. Zu den derivativen Pflichten sind auch die Pflichten der schuldnerischen Gesellschaft zu zählen, die durch die Anordnung der (vorläufigen) Eigenverwaltung begründet werden. Gerade für diese Pflichten spricht viel dafür, die nach Einsetzung eines CRO bei den übrigen Geschäftsleitern verbleibenden Überwachungspflichten sehr stark (im Einzelfall auf null) zu reduzieren, so dass die sonstigen Geschäftsleiter nur bei offensichtlichen Pflichtverletzungen des CRO, gegen die sie nicht vorgegangen sind, haften. Für eine weitgehende Haftungsbefreiung lassen sich folgende Gesichtspunkte anführen: –

Zunächst werden die mit der Eigenverwaltung verbundenen Pflichten den normalen Organmitgliedern nachträglich aufgebürdet und gehören nicht per se zu der von ihnen übernommenen Organstellung.



Gerade wenn man die Aufnahme eines Insolvenzexperten in das Organ für nötig hält, weil die übrigen Organmitglieder die insolvenzspezifischen Aufgaben mangels Kompetenz nicht sachgerecht wahrnehmen können, dann sollten sie auch nicht für die Verletzung dieser Pflichten haften müssen, die sie weder wahrzunehmen haben noch wahrnehmen können.



Gegen eine Pflicht zur Überwachung spricht auch, dass es in der Eigenverwaltung Aufgabe des Sachwalters ist, den CRO zu überwachen. Eine (zusätzliche) Überwachung durch die Mitgeschäftsleiter ist weder erforderlich noch (mangels Kompetenz) sinnvoll.

Ließe man keine haftungsbefreiende Ressortabgrenzung zu, würde das Haftungsrisiko der „normalen Geschäftsleiter“ im Moment der Anordnung der vorläufigen Eigenverwaltung erheblich wachsen, ohne dass sie hierfür in irgendeiner Form kompensiert werden und vor allem ohne dass geklärt wäre, ob die D&O-Versicherung auch die Haftung analog §§ 60, 61 InsO erfasst. Einen Zwang zur nachträglichen, kompensationslosen Übernahme schwer beherrschbarer Risiken, die obendrein noch möglicherweise unversichert sind, erscheint unzumutbar. Sollte sich die Auffassung durchsetzen, dass eine Ressortabgrenzung mit haftungsbegrenzender Wirkung nicht

Der Insolvenzexperte in der Eigenverwaltung

115

zulässig ist, dürfte man den Organen nicht zur Stellung eines Antrags auf Anordnung der Eigenverwaltung raten. Der erforderliche Geschäftsverteilungsbeschluss bedarf allerdings analog § 276a InsO der Zustimmung des vorläufigen Sachwalters,26) denn er kommt einer Teilabberufung der anderen Organmitglieder gleich, die damit aus ihren grundsätzlich bestehenden insolvenzrechtlichen Pflichten entlassen werden. Zu Recht weist Hölzle darauf hin, dass der Kompetenzabgrenzungsbeschluss sehr sorgfältig formuliert werden sollte.27) Bei einer Bezugnahme ganz allgemein auf „insolvenzspezifische Pflichten und Befugnisse“ besteht die Gefahr, dass es ex post zum Streit darüber kommt, ob eine bestimmte Handlung hierunter fällt. Bei einem Katalog einzelner Maßnahmen und Themen läuft man umgekehrt das Risiko, dass einzelne Fragen vergessen oder übersehen werden. Den größten Schutz dürfte daher eine Kombination aus Generalklausel und Regelbeispielen versprechen. IV. Zusammenfassung in Thesen –

Die Eigenverwaltung darf grundsätzlich nur angeordnet werden, wenn ein Organmitglied des Schuldners über insolvenzrechtliche Expertise verfügt. Ausnahmen sind u. a. dann angezeigt, wenn die Bestellung eines weiteren Organmitglieds aus praktischen Gründen unmöglich ist.



Die Neubestellung eines CRO bedarf nach Antragstellung der Zustimmung des vorläufigen Sachwalters.



Die Höhe der Vergütung des Insolvenzexperten spielt keine Rolle für die Frage, ob die Eigenverwaltung anzuordnen ist. Anstellungsverträge, die überhöhte Honoraransprüche begründen, können anfechtbar sein.



Die Mitglieder der Geschäftsführungsorgane haften im (vorläufigen) Eigenverwaltungsverfahren analog §§ 60, 61 InsO. Durch Kompetenzabgrenzungsbeschluss ist eine Konzentration der Haftung auf den CRO möglich. § 64 GmbHG und §§ 92 Abs. 2, 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG finden nach Antragstellung keine Anwendung.



Generalbevollmächtigte und Prokuristen haften nur im Innenverhältnis nach Maßgabe des ihrer Tätigkeit zugrunde liegenden Vertrags.

26)

Hölzle, ZIP 2018, 1669, 1673, lässt insoweit die bloße Information des Sachwalters genügen. Hölzle, ZIP 2018, 1669, 1673.

27)

Rechtsetzung oder noch Rechtsfortbildung – Reflexion über den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 14. Juli 2016 – IX ZB 31/14 – PETER DEPRÉ Inhaltsübersicht I.

II.

Einleitung 1. Der „Insolvenzrechtssenat“ des Bundesgerichtshofs und die stille Zwangsverwaltung 2. Begriffspaar „stille Zwangsverwaltung“ und „Verwertungsvereinbarung“ 3. Nichtigkeitsverdikte in dem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 14. Juli 2016 Das anwaltliche Berufsrecht als tragender Entscheidungsgrund? 1. BRAO versus Insolvenzzweckwidrigkeit, Rechtsfortbildung versus Gesetzesvorbehalt

2. Begründung mit § 45 BRAO oder mit Insolvenzzweckwidrigkeit als ratio decidendi oder obiter dictum? 3. Richterliche Rechtsfortbildung – Grenz- oder Grauzone zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung 4. Fehlen einer § 45 BRAO vergleichbaren berufsrechtlichen Regelung für Insolvenzverwalter 5. Keine Rechtsfortbildung des Berufsrechts der Insolvenzverwalter durch die BRAO bei fehlendem berufsrechtlichem Regelwerk der Verwalter III. Schlussbetrachtung

I. Einleitung 1. Der „Insolvenzrechtssenat“ des Bundesgerichtshofs und die stille Zwangsverwaltung Der mit dieser Festschrift zu Ehrende war 2016 Vorsitzender des für Insolvenzsachen zuständigen IX. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs, der die Entscheidung (zu IX ZB 31/14) gefällt hat, die begrüßenswert erstmals höchstrichterlich die sog. stille (kalte) Zwangsverwaltung ausdrücklich anerkennt.1) Danach ist es zulässig, außerhalb eines formellen Zwangsverwaltungsverfahrens (§ 49 InsO i. V. m. §§ 146 ff. ZVG) eine Vereinbarung zwischen dem absonderungsberechtigten Gläubiger und dem für die Insolvenzmasse handelnden Insolvenzverwalter abzuschließen.2) In diesem Falle bedarf es keines 1) 2)

BGH, Beschl. v. 14.7.2016 – IX ZB 31/14, ZIP 2016, 1543 = ZInsO 2016, 1693. Siehe zu der Thematik Depré, Die stille Zwangsverwaltung – Zweckmäßigkeit und Grenzen, ZfIR 2017, 1 – 5, sowie den Überblick bei Cranshaw/Welsch, Kalte bzw. stille Zwangsverwaltung – Vorteile und Zweifelsfragen, DZWiR 2017, 101, 122 f., 133.

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Peter Depré

formellen Zwangsverwaltungsverfahrens. Für unwirksam hält der Bundesgerichtshof eine Vereinbarung zwischen dem dinglich gesicherten Gläubiger (§ 1191 BGB i. V. m. §§ 1123, 1124, 1192 BGB) und dem Insolvenzverwalter persönlich. § 49 InsO verweist aus der InsO heraus auf die Regelungen des Gesetzes über die Zwangsversteigerung und die Zwangsverwaltung (ZVG). Dort ist geregelt, dass der Zwangsverwalter gemäß § 152a ZVG i. V. m. § 18 ZwVwV eine Vergütung erhält. So erscheint es zumindest vertretbar, wenn man, wie Eickmann es gesehen3) und wie auch in der Rechtsprechung das LG Leipzig schon im Jahr 2007 entschieden hat,4) eine Vereinbarung zwischen dinglicher Gläubigerin und Insolvenzverwalter in persona als zulässig erachtet. Die Sichtweise des Bundesgerichtshofs ist eine andere und ergibt sich aus den folgenden amtlichen Leitsätzen5) des zitierten Beschlusses vom 14. Juli 2016, beginnend mit dem Leitsatz zur grundlegenden Voraussetzung der stillen Zwangsverwaltung (Kursivsetzung in den Leitsätzen durch d. Verf.): „InsO § 49 Die Vereinbarung einer stillen Zwangsverwaltung, die zwischen den Absonderungsberechtigten einerseits und dem Insolvenzverwalter für die Masse andererseits abgeschlossen wird, begegnet keinen rechtlichen Bedenken, wenn die Masse keine Nachteile erleidet. BRAO § 45 Abs. 1 Nr. 1; BGB § 134; InsO § 56 Ein Vertrag, in dem sich ein Insolvenzverwalter persönlich gegen Entgelt verpflichtet, für die Absonderungsberechtigten im Rahmen des Insolvenzverfahrens eine stille Zwangsverwaltung durchzuführen, ist nichtig. InsO §§ 63 f; InsVV § 1 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 4 Satz 2 Buchst. b, § 3 Abs. 1 a) Die Durchführung der stillen Zwangsverwaltung ist im Rahmen der Festsetzung der Vergütung für die Tätigkeit des Insolvenzverwalters zu berücksichtigen. [b) Bei der Berechnungsgrundlage für die Vergütung des Verwalters ist hinsichtlich der Durchführung der stillen Zwangsverwaltung nur der Überschuss zu berücksichtigen, der hierbei zugunsten der Masse erzielt worden ist.] [c) …]“

2. Begriffspaar „stille Zwangsverwaltung“ und „Verwertungsvereinbarung“ Der Verfasser des vorliegenden Beitrags hat sich an anderer Stelle bereits mit dem Beschluss des Bundesgerichtshofs auseinandergesetzt6) und die Zu3) 4)

5) 6)

Eickmann In: Kübler/Prütting, InsO, Vergütungsrecht, 2. Aufl. 2001, Sonderband 5, § 4 Rz. 25. LG Leipzig Beschl. v. 23.1.2007 – 12 T 763/06, ZInsO 2007, 148 f. Auch die Vorinstanz, das AG Leipzig, hatte eine Sondervereinbarung mit der Volksbank Leipzig eG akzeptiert, die dortige Vergütung aber von der in der Gesamtvollstreckung abgezogen. Nach der Darstellung auf der Internetseite des BGH, siehe www.bundesgerichtshof.de (Abrufdatum: 15.6.2019). Depré, ZfIR 2017, 1 ff.

Rechtsetzung oder noch Rechtsfortbildung

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lässigkeit der stillen (kalten) Zwangsverwaltung damit begründet, dass der Insolvenzverwalter mit dem absonderungsberechtigten dinglichen Gläubiger, soweit es um die Nutzungsziehung aus der Immobilie als stiller Zwangsverwalter geht, eine Verwaltungsvereinbarung schließen kann und soweit es zur Vermeidung einer Zwangsversteigerung geht, mit der absonderungsberechtigten Gläubigerin eine Verwertungsvereinbarung abschließen kann, durch welche die gesetzlichen Vollstreckungsmöglichkeiten, nämlich im Wege eines Zwangsverwaltungsverfahren bzw. eines Zwangsversteigerungsverfahrens vorzugehen, modifiziert oder suspendiert werden.7) Die Verwertungsvereinbarung und die Abrede über die stille Zwangsverwaltung sind strikt zu trennen, verfolgen sie doch im Ergebnis systematisch grundlegend unterschiedliche Ziele. 3. Nichtigkeitsverdikte in dem Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 14. Juli 2016 Der Bundesgerichtshof lässt eine Gestaltung der stillen Zwangsverwaltung zu, solange die Masse im Verhältnis zu einem gesetzlichen Zwangsverwaltungsverfahren nicht schlechter gestellt wird. Andernfalls könne die Vereinbarung über die stille Zwangsverwaltung wegen Insolvenzzweckwidrigkeit nichtig und der Verwalter zum Schadensersatz verpflichtet sein. Die Nichtigkeit im entschiedenen Fall leitet der Bundesgerichtshof bei Insolvenzverwaltern, die Rechtsanwälte sind, „schon“ aus § 45 Abs. 1 Nr. 1 BRAO her, mit der Begründung, der „Rechtsanwaltsinsolvenzverwalter“ sei i. S. dieser Vorschrift Angehöriger des öffentlichen Dienstes.8) Ohne Not bemüht der Bundesgerichtshof die BRAO, was zumindest zweifelhaft erscheint und hier diskutiert werden soll. Der Hinweis auf das Berufsrecht der Rechtsanwälte erscheint überflüssig, denn nach seiner eigenen weiteren Begründung wäre auch eine Vereinbarung eines „NichtRechtsanwaltinsolvenzverwalters“ wegen Insolvenzzweckwidrigkeit nichtig. „Der Abschluss von Dienstverträgen mit einzelnen Verfahrensbeteiligten, die den Insolvenzverwalter nur diesen gegenüber verpflichteten und berechtigten, [beseitige] die für die Amtsführung erforderliche Unabhängigkeit des Verwalters, was sich den Absonderungsberechtigten nach den Umständen auch aufdrängen“ müsse.9)

7) 8) 9)

Depré, ZfIR 2017, 1 ff. BGH, Beschl. v. 14.7.2016 – IX ZB 31/14, Rz. 27, ZIP 2016, 1543 = ZInsO 2016, 1693. BGH, Beschl. v. 14.7.2016 – IX ZB 31/14, Rz. 28, ZIP 2016, 1543 = ZInsO 2016, 1693.

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Peter Depré

Ob das so ist, erscheint nicht zwingend, aber ohne das Moment des „sich aufdrängen Müssens“ bei dem „Geschäftspartner“ des Verwalters kann von (evidenter) Insolvenzzweckwidrigkeit nicht gesprochen werden, denn diese knüpft an die „Regeln zum Mißbrauch der Vertretungsmacht“ an.10) II. Das anwaltliche Berufsrecht als tragender Entscheidungsgrund? 1. BRAO versus Insolvenzzweckwidrigkeit, Rechtsfortbildung versus Gesetzesvorbehalt In diesem Beitrag soll ausschließlich der vorstehend skizzerten Frage nachgegangen werden, ob der Verweis auf das Berufsrecht der Rechtsanwälte als taugliche Begründung des Verbots einer Vereinbarung zwischen Gläubiger und Insolvenzverwalter „persönlich“ dienen kann. Die Unwirksamkeit einer Vergütungsvereinbarung zwischen dem Insolvenzverwalter einerseits und dem absonderungsberechtigten Gläubiger andererseits i. R. einer stillen Zwangsverwaltung will der Bundesgerichtshof, wie oben erwähnt, an § 45 Abs. 1 Nr. 1 BRAO scheitern lassen. Die entscheidende Passage in Rz. 27 der Entscheidung11) unter Hinweis auf Fundstellen in Kommentarliteratur und Judikatur lautet: „[27] Die Nichtigkeit ergibt sich bei Rechtsanwälten schon aus § 45 Abs. 1 Nr. 1 BRAO. Der Insolvenzverwalter ist im Sinne dieser Vorschrift Angehöriger des öffentlichen Dienstes. Hierzu gehören nicht nur Beamte oder Angestellte im öffentlichen Dienst, sondern alle Personen, die hoheitlich tätig werden (BGH, Senat für Anwaltssachen, Urteil vom 26. November 2007 – AnwSt(R) 10/06, NJW-RR 2008, 795 Rn. 6; vom 3. November 2014 – AnwSt(R) 4/14, NJW 2015, 567 Rn. 10; OVG Bautzen, NJW 2003, 3504, 3505; Henssler/Prütting/Kilian, BRAO, 4. Aufl., § 45 Rn. 17). Das ist beim Insolvenzverwalter im Hinblick auf die ihm verliehenen hoheitlichen Befugnisse zweifellos der Fall. Der Verwalter wird bei einer stillen Zwangsverwaltung auch in derselben Rechtssache tätig, in der er als Verwalter tätig ist. Mit seinen Pflichten als Verwalter, insbesondere seiner Neutralitätspflicht, die eine Bestellungsvoraussetzung nach § 56 InsO ist, wäre es unvereinbar, wenn er sich vertraglich einseitig zur Wahrnehmung der Interessen der Absonderungsberechtigten gegen Vergütung durch diese verpflichten würde (vgl. Vill, ZInsO 2015, 2245 ff).“

Die in Rz. 28 folgende etwas eigentümliche Passage ist bei genauer Betrachtung eine Art Antagonismus zu den Ausführungen in Rz. 27, wenn

10)

11)

Grundlegend BGH, Urt. v. 25.4.2002 – IX ZR 313/99, LS d), BGHZ 150, 353 ff., 360 f. = ZIP 2002, 1093 m. w. N., auch zu einem weiten Spielraum des Verwalters i. R. seiner Aufgabenerledigung. BGH, Beschl. v. 14.7.2016 – IX ZB 31/14, Rz. 27, ZIP 2016, 1543 = ZInsO 2016, 1693.

Rechtsetzung oder noch Rechtsfortbildung

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man – wiederum mit Fundstellen aus Literatur und Judikatur – lesen kann: „[28] Im Übrigen wäre eine derartige Vereinbarung, auch mit anderen Verwaltern als Rechtsanwälten, wegen Insolvenzzweckwidrigkeit nichtig. Der Abschluss von Dienstverträgen mit einzelnen Verfahrensbeteiligten, die den Verwalter nur diesen gegenüber verpflichteten und berechtigten, beseitigt die erforderliche Unabhängigkeit des Verwalters, was sich den Absonderungsberechtigten nach den Umständen auch aufdrängen muss (zu diesem Erfordernis vgl. BGH, Urteil vom 10. Januar 2013 – IX ZR 172/11, ZInsO 2013, 441 Rn. 9). Deshalb wären derartige Verträge nichtig (vgl. OLG Dresden, ZInsO 2015, 2273; Vill, aaO S. 2247 f; Graeber/Graeber, InsVV, 2. Aufl., § 3 Rn. 299a; Zimmer, InsBüro 2015, 510, 515; Haarmeyer/Mock, InsVV, 5. Aufl., § 1 Rn. 62; Mitlehner, ZIP 2012, 649, 652; Becker, ZInsO 2013, 2532, 2535 f).“

Mit anderen Worten, gleichgültig, welchem Beruf der Insolvenzverwalter angehört – eine „persönliche“ (vertragliche) Bindung zwischen ihm und dem Grundpfandgläubiger i. R. einer stillen Zwangsverwaltung ist aus dem Blick des Senats nichtig. Mit den Erwägungen in Rz. 28 ist Rz. 27 im vorliegenden Kontext überflüssig, wenn man nicht an die spezifische berufsrechtliche Ausrichtung über § 45 BRAO disziplinarische Folgen knüpft, wie dies in dem Berufungsurteil des Anwaltssenats in der im Folgenden ebenfalls zitierten Entscheidung zu § 12 BORA der Fall ist.12) Die Nichtigkeit unter dem Aspekt der „Insolvenzzweckwidrigkeit“ soll hier nicht weiter vertieft werden, sondern allein die Frage, ob § 45 Abs. 1 Nr. 1 BRAO als taugliche Begründung für fehlerhaftes Handeln durch einen „Rechtsanwaltsinsolvenzverwalter“ herangezogen werden kann, der eine solche „Privatvereinbarung“ mit einem Grundpfandgläubiger schließt. Unterstellt man aber einen Fall der Insolvenzzweckwidrigkeit, so fragt sich der kritische Leser der Entscheidung bereits hier, weshalb sich der Bundesgerichtshof beim Handeln eines „Rechtsanwaltsinsolvenzverwalters“ auf die Bundesrechtsanwaltsordnung beruft, wenn nach seiner Auffassung außerdem ein Fall der Insolvenzzweckwidrigkeit gegeben ist. Die Notwendigkeit auf die BRAO zu verweisen, war nicht erforderlich. Die Gründe, die den Bundesgerichtshof veranlasst haben, zusätzlich, vor der Bejahung der Insolvenzzweckwidrigkeit und der von ihm daraus hergeleiteten Nichtigkeit im Falle eines „Rechtsanwaltsinsolvenzverwalters“, die BRAO heranzuziehen, können der Entscheidung selbst nicht entnommen werden. Rechtlich 12)

BGH, Urt. v. 6.7.2015 – AnwZ (Brfg) 24/14, juris Rz. 17, ZIP 2015, 1546 ff. = ZInsO 2015, 1609 ff.; kritisch Ries, EWiR 2015, 545 f. (Urteilsanm.); Deckenbrock, Grenzenlose Reichweite des anwaltlichen Berufsrechts?, AnwBl. 2016, 316 ff.; Prütting, Der Rechtsanwalt als Insolvenzverwalter, Beilage ZIP 22/2016, S. 61 ff.; zust. Sommerwerk, BRAKMitt. 2015, 242 (Urteilsanm.).

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Peter Depré

ist die Entscheidung in diesem Punkt jedoch zu kritisieren. Aufgabe der Richter und somit des Bundesgerichtshofs ist es, Entscheidungen zu treffen, gebunden nur an Gesetz und Recht. Dagegen ist neues Recht zu setzen nicht die Aufgabe der Rechtsprechung, wobei hier die Grenzen zur ausdrücklich zugelassenen, wenn nicht geforderten Rechtsfortbildung in § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 1 ZPO (Revisionsverfahren) bzw. § 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 ZPO (Rechtsbeschwerde), fließend sind. Die Thematik spielt natürlich auch in den anderen Gerichtsbarkeiten eine Rolle. Das Bundesverwaltungsgericht13) hat etwa die Voraussetzung der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache als Zulassungsgrund der Revision in Verwaltungstreitverfahren nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO dahingehend interpretiert, dass damit auch die richterliche Rechtsfortbildung umfasst wird, wenngleich die Norm dies in ihrem Wortlaut nicht zum Ausdruck bringt. 2. Begründung mit § 45 BRAO oder mit Insolvenzzweckwidrigkeit als ratio decidendi oder obiter dictum? Vorweg soll untersucht werden, welchen Charakter die Begründung des Senats in den Rz. 27, 28 des Urteils beansprucht bzw. beanspruchen darf. Betrachtet man dazu den Leitsatz zu § 45 BRAO (siehe oben), so soll das durch die Entscheidung unter § 134 BGB subsumierte Verbot der persönlichen Abrede zwischen Insolvenzverwalter und Gläubiger mit der Nichtigkeitsfolge anscheinend eine zentrale Position in dem Beschluss einnehmen. Umfasst wird nach dem Wortlaut nicht nur die Honorarabrede mit „persönlicher Wirkung“, sondern nach dem Leitsatz zu § 45 Abs. 1 Nr. 1 BRAO, § 134 BGB und § 56 InsO der gesamte Vertrag mit dem Gläubiger. Nachvollziehbar ist dieses Detail nur unter dem Aspekt der Wahrung der Unabhängigkeit des Insolvenzverwalters (§ 56 InsO). Das tatsächliche Ziel ist aber selbstredend die Verhinderung „privater“ Honorarabsprachen. Die Gründe des Beschlusses in den zitierten Rz. 27 und 28 erscheinen, jedenfalls im Kontext mit dem Leitsatz (siehe oben), als ratio decidendi des Beschlusses. Sie beanspruchen mittels des plakativen Leitsatzes mit diesem Inhalt auch den Charakter eines Präjudiz, das „Maßstabwirkung“ für künftige Entscheidungen mit derselben Rechtsfrage entfaltet und somit zur „faktische[n] Verbindlichkeit“ für Folgeentschei-

13)

BVerwG, Beschl. v. 10.8.2016 – 1 B 82.16, Rz. 3, ECLI: DE: BVerwG: 2016: 100816B1B82. 16. 0.

Rechtsetzung oder noch Rechtsfortbildung

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dungen in anderen Fällen mit derselben Rechtsfrage führt,14) ein Aspekt richterlicher Rechtsfortbildung. Vorliegend stellen aber die Ausführungen in den Rz. 27 f. der Entscheidung keineswegs eine ratio decidendi dar. Eine solche bezieht sich auf die konkret zu entscheidende Rechtsfrage. Diese wiederum leitet sich aus dem Verfahrensgegenstand ab, der wiederum, auch hier in einer Kostenfestsetzungssache nach der InsVV, aus dem Antrag nebst Begründung besteht.15) Der Umstand, dass die Dispositionsmaxime im Insolvenzverfahren als einem Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit als Folge der Amtsermittlung nach § 5 Abs. 1 InsO16) zutreffend nur eingeschränkt Geltung beanspruchen darf, spielt hier keine Rolle. Das Vergütungsfestsetzungverfahren ist gleichwohl nach § 4 InsO, § 308 ZPO an den Grundsatz des „ne ultra petita“ gebunden,17) die Entscheidung ist der formellen und materiellen Rechtskraft fähig.18) Es handelt sich allerdings nicht um ein Streitverfahren zweier Parteien, sondern mit dem Bundesgerichtshof um ein „besonderes Rechtspflegeverfahren“.19) Eine der weiteren Folgen hiervon ist, dass nur die Antworten auf die mit dem Verfahrensgegenstand unmittelbar zusammenhängenden Rechtsfragen ratio decidendi und präjudizbildend sein können. Das ist hier offenkundig nicht der Fall, denn die Insolvenzverwalterin in dem Beschluss zu IX ZB 31/14 beantragte i. R. ihres Vergütungsantrages (vgl. § 8 InsVV) die Berücksichtigung ihrer Leistungen für die Durchführung der stillen Zwangsverwaltung.20) Das war der Verfahrensgegenstand. Verfahrensfrage war als Folge der amtsgerichtlichen Entscheidung allein, ob in die für die Vergütung maßgebliche Bemessungsgrundlage die „(…) Einnahmen aus der stillen Zwangsverwaltung (…) abzüglich der an die Absonderungsberechtigten ausgekehrten Mieten“ eingehen (so der Antrag der Antrag-

14) 15) 16) 17) 18)

19) 20)

Vgl. in diesem Sinne zu Präjudizien Jachmann in: Maunz/Dürig, GG, Bd. VI, 86. EL 1/2019, Art. 95 Rz. 13 ff., 19 – 21. S. den Verfahrensgegenstand in dem Beschluss zu IX ZB 31/14 (BGH, Beschl. v. 14.7.2016 – IX ZB 31/14, Rz. 3, ZIP 2016, 1543 = ZInsO 2016, 1693). Vgl. statt aller Ganter/Lohmann in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 5 Rz. 5 ff., 7; BGH, Beschl. v. 28.9.2006 – IX ZB 108/05, ZIP 2006, 2186 ff. = NZI 2007, 45 ff. Beschl. v. 28.9.2006 – IX ZB 108/05, juris Rz. 13, ZIP 2006, 2186 ff. = NZI 2007, 45 ff., m. w. N. Vgl. Keller in: HK-InsO, 8. Aufl., 2016, § 64 Rz. 37 m. w. N., wenn auch Zu- und Abschläge nicht rechtskraftfähig sind, vgl. BGH, Beschl. v. 20.5.2010 – IX ZB 11/07, LS a) Halbs. 2 und Rz. 10, BGHZ 185, 353 ff. = ZIP 2010, 1403. BGH, Beschl. v. 20.5.2010 – IX ZB 11/07, Rz. 6, BGHZ 185, 353 ff., 356 = ZIP 2010, 1403. Vgl. BGH, Beschl. v. 14.7.2016 – IX ZB 31/14, Rz. 2 – 4, ZIP 2016, 1543 = ZInsO 2016, 1693.

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stellerin) oder nur der Überschuss aus der stillen Zwangsverwaltung (AG Frankfurt a. d. Oder, LG Frankfurt a. d. Oder als Beschwerdegericht, Bundesgerichtshof).21) Die gesamten Ausführungen des Bundesgerichtshofs in den zitierten Rz. 27, 28 sind damit als obiter dicta22) zu beurteilen, deren Aufnahme in einen Leitsatz – sieht man einmal von praktischen Erwägungen der Steuerung künftiger Fälle ab – methodisch hinterfragt werden darf. Obiter dicta entfalten, folgt man zutreffend einer Literaturstimme, „(…) nicht die mit dem Rechtsfortbildungsauftrag grundsätzlich angestrebte und befriedende Wirkung“. Sie nehmen nicht an der Rechtskraftwirkung zum Verfahrensgegenstand teil.23) Die Beantwortung der Frage, ob die BRAO auf einen „persönlichen“ Vertrag zwischen Insolvenzverwalter und Grundpfandgläubiger anzuwenden ist oder über das Argument der Insolvenzzweckwidrigkeit § 134 BGB, war für das konkrete Verfahren somit gänzlich unerheblich, für die künftiger Positionierung der Protagonisten in anderen Fällen eben nur von praktischer Bedeutung. 3. Richterliche Rechtsfortbildung – Grenz- oder Grauzone zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung In einem sehr lesenswerten Beitrag mit dem Titel „Zum Verhältnis von Judikative und Legislative am Beispiel des Insolvenzrechts“24) hat der damalige Vorsitzende Richter am Bundesgerichtshof des IX. Zivilsenats, Gerhart Kreft, sich eindrucksvoll mit der Thematik beschäftigt. Im Rahmen seiner Schlussbemerkungen25) weist Kreft darauf hin, dass zu den Grundlagen der Demokratie eine funktionierende Gewaltenteilung gehört: „Anders als der gestaltende Politiker und damit auch der Gesetzgeber, ist der Richter mit seiner Gewalt ausschließlich dem Recht und damit der Gerechtigkeit verpflichtet“.26)

21) 22)

23) 24) 25) 26)

BGH, Beschl. v. 14.7.2016 – IX ZB 31/14, juris Rz. 3 f., ZIP 2016, 1543 = ZInsO 2016, 1693. Kritisch dazu Lamprecht, Obiter dictum, Arabeske oder Ballast, NJW 1998, 1039 ff.; vgl. auch Scholz-Fröhling, Grenzen des Rechtsfortbildungsauftrags des BGH – Am Beispiel der Kick-Back-Rechtsprechung im Zusammenhang mit der Lehman-Insolvenz, in: FS Landwehr, 2015, S. 375 ff. S. zu beidem Scholz-Fröhling in: FS Landwehr, 2015, S. 375 ff., wenn auch vor dem Hintergrund der Dispsitionsmaxime. Kreft, Zum Verhältnis von Judikative und Legislative am Beispiel des Insolvenzrechts, KTS 2004, 205 ff. Kreft, KTS 2004, 205 ff., 226 ff. Kreft, KTS 2004, 205 ff., 228 ff.

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Hier stellt sich die Frage, ob es sich bei der Heranziehung des § 45 Abs. 1 Nr. 1 BRAO noch um eine Auslegung handelt, welche ggf. dem Bundesgerichtshof als rechtsprechende Gewalt obliegt, oder durch den Bundesgerichtshof die Rolle als „Quasi-Gesetzgeber“ wahrgenommen und die Schranke der richterlichen Rechtsfortbildung überschritten wird. Der durch den Bundesgerichtshof vorgenommenen „Auslegung“ könnte das Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG entgegenstehen. Dort ist geregelt, dass die „Gesetzgebung“ an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden ist und die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung an Gesetz und Recht. Dieser Kernbereich der Staatsgewalt ist den besonderen Organen zugewiesen, der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) und die Bindung dieser Organe ist in Art. 1 Abs. 3 GG normiert. Die Gesetzgebungskompetenz gemäß Art. 70 ff. GG ergibt sich aus Art. 77 Abs. 1 Satz 1 GG, wonach Bundesgesetze vom Bundestag beschlossen werden und zwar nach den Regeln der Art. 76 ff. GG. Demgegenüber ist die Rechtsprechung gemäß Art. 92 ff. GG den Richtern anvertraut. Art. 97 Abs. 1 GG normiert ausdrücklich, dass die Richter unabhängig und nur den Gesetzen unterworfen sind. Art. 20 Abs. 3 GG bindet somit die rechtsprechende Gewalt an die Gesetze. In Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG wird die Gesetzgebung ausdrücklich der Legislative zugewiesen, die allein „(…) abstrakt-generelle Regelungen mit allgemeinem Geltungsanspruch (…)“27) erlassen kann. Die Grenzen sind umstritten und sie werden auch in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts nicht einhellig beurteilt, da jeweils methodische wie Wertungsfragen in der Judikatur der Fachgerichte wie des Verfassungsgerichts eine bedeutende Rolle spielen.28)

27) 28)

Jachmann in: Maunz/Dürig, GG, Bd. VI, 10/2011, Art. 95 Rz. 15 – zur „Normativität richterlicher Rechtsfortbildung“. Vgl. BVerfG, Beschl. v. 15.1.2009 – 2 BvR 2044/07, juris Rz. 106 ff., BVerfGE 122, 248 ff. – „Rügeverkümmerung im Strafverfahren“, zu BGH, Beschl. v. 23.4.2007 – GSSt 1/06, BGHSt 51, 298 – Sondervoten des Vorsitzenden Präsidenten des BVerfG Voßkuhle, der Richterin Osterloh und des Richters di Fabio, die die Überschreitung der Rechtsfortbildungsbefugnis durch den BGH beanstanden.

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4. Fehlen einer § 45 BRAO vergleichbaren berufsrechtlichen Regelung für Insolvenzverwalter Eine gesetzliche Regelung, wie sie für Rechtsanwälte in § 45 Abs. 1 Nr. 1 BRAO normiert ist, existiert für Insolvenzverwalter nicht. Methodisch wählt der Bundesgerichtshof keine Gesetzesanalogie indem er nur an die Rechtsfolge des § 45 Abs. 1 Nr. 1 BRAO für seine Entscheidung anknüpft. Voraussetzung einer Analogie wäre einmal eine planwidrige Regelungslücke. Zum Weiteren bedürfte es der Annahme, der Gesetzgeber hätte diese Lücke, wenn er sie erkannt und bedacht hätte, nach Interessenabwägung durch eine mit der analog heranzuziehenden Norm vergleichbaren Vorschrift geschlossen.29) Vorliegend ist bereits eine solche Regelungslücke nicht zu erkennen. Stattdessen, d. h. alternativ zur nicht begründbaren Analogie, subsumiert der Bundesgerichtshof den „Rechtsanwaltsinsolvenzverwalter“ in Rz. 27 auf der Tatbestandsseite des § 45 Abs. 1 Nr. 1 BRAO unter den Begriff „Angehöriger des öffentlichen Dienstes“, um zur Rechtsfolge des in § 45 BRAO normierten Tätigkeitsverbots zu gelangen. Gemäß der herrschenden und zutreffenden Amtstheorie der Judikatur und Literatur30) handelt der Insolvenzverwalter in Ausübung eines privaten, ihm vom Staat durch das Insolvenzgericht verliehenen Amtes kraft eigenen Rechts im eigenen Namen. Man wird zudem Smid zustimmen dürfen, wenn man die Befugnis des Verwalters zur Freigabe von Massegegenständen aus dem Insolvenzbeschlag (im Unternehmensinsolvenzverfahren) als Indiz wertet, dass auch der Gesetzgeber die Amtstheorie vertritt.31) Das Handeln des Verwalters entfaltet unmittelbare Wirkung für und gegen den Schuldner als Träger der den Gläubigern als Haftungsobjekt zugewiesenen Insolvenzmasse (Folge des § 80 InsO sowie des Verfahrensziels nach § 1 InsO). Diese Aufgabe nimmt er als externer Funktionsträger in eigener Verantwortung wahr. Bei Fehlleistungen haftet er nicht dem Staat gegenüber, sondern nach §§ 60, 61 InsO persönlich gegenüber den durch diese Normen geschützten Beteiligten, ohne bei einfacher Fahrlässigkeit für sich eine Fürsorgepflicht des Staates einfordern zu können (vgl. die Beschränkung des Rück29)

30)

31)

So z. B. die st. Rspr. des BGH zu den Voraussetzungen der Analogie, vgl. jüngst BGH, Beschl. v. 15.1.2019 – II ZB 2/16, juris Rz. 26 ff., ZIP 2019, 722 m. w. N. – keine Unterbrechung des aktienrechtlichen Spruchverfahrens nach § 240 ZPO. Vgl. Smid in: Rattunde/Smid/Zeuner, InsO, 4. Aufl. 2018, § 80 Rz. 19, 29 m. w. N. dort in Fn. 52; seit RG, Urt. v. 30.3.1892 – V 255/91, RGZ 29, 29 ff., 36 – zum Konkursverwalter; siehe auch BGH, Urt. v. 30.10.1967 – VIII ZR 176/65, BGHZ 49, 11 ff., 16. Smid in: Rattunde/Smid/Zeuner, InsO, 4. Aufl. 2018, § 80 Rz. 19.

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griffs auf den Beamten bei Verletzung der Dienstpflichten auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit, siehe § 75 BBG und § 48 BeamtStG). Art. 34 GG, § 839 BGB sind auf den Insolvenzverwalter nicht anzuwenden, allein die fehlerhafte Bestellung durch das Insolvenzgericht mag auf dessen Handlungsebene zu einem Staatshaftungsanspruch gegen das Bundesland führen.32) Die staatliche Kontrolle über den Verwalter beschränkt sich auf die Verfahrensaufsicht des Insolvenzgerichts (§ 58 InsO) im konkreten Verfahren. Die Gläubiger haben gemäß § 57 Sätze 1, 2 InsO die Möglichkeit, in der ersten Gläubigerversammlung (im Allgemeinen ist das der Berichtstermin) einen anderen Insolvenzverwalter zu wählen, der außer im Falle der mangelnden Eignung (§ 57 Satz 3 InsO) zu ernennen ist. Man könnte deshalb versucht sein, den Insolvenzverwalter als Teil der Gläubigerorganisation zu betrachten,33) wofür seit dem ESUG § 56a Abs. 2 InsO, aber auch § 270b Abs. 2 Satz 2 InsO (für den Sachwalter) sprechen mag. Zur Verfolgung der Zielbestimmung in § 1 InsO stellt der Staat ein geordnetes Verfahren zur Verfügung, das aus Gründen des Rechtsstaatsprinzips geboten ist, da die Abwicklung der Insolvenz als Folge der Vermögensinsuffizienz des Schuldners nicht anders als durch Eingriff auch in Grundrechtspositionen der Beteiligten bewältigt werden kann. So wie Richter als Funktionsträger der Justiz sachlich unabhängig sind, d. h. keinen Weisungen unterworfen (vgl. Art. 97 Abs. 1 GG), so ist auch dem Insolvenzverwalter i. R. seiner Aufgaben entsprechend ein Gestaltungsraum zuzubilligen.34) Die Kontrolle des Insolvenzverwalters erfolgt ausschließlich nach den Vorschriften der InsO, also insbesondere nach § 58 Abs. 1 InsO i. V. m. den der Gläubigergemeinschaft (§§ 74 ff. InsO) bzw. einem Gläubigerausschuss (§§ 67 ff. InsO) eingeräumten Rechten. Bei dem IX. Senat handelt es sich zudem nicht um den Senat für Anwaltssachen. Es erscheint fraglich, ob es zulässig ist, ein Gesetz, nämlich die BRAO heranzuziehen, das ausschließlich für Rechtsanwälte gilt. Scheint schon die Unterwerfung eines „Rechtsanwaltsinsolvenzverwalters“, soweit er in der Funktion als Insolvenzverwalter tätig wird, unter die BRAO bedenklich,

32)

33) 34)

Vgl. BGH, Beschl. v. 31.1.2008 – III ZR 161/07, ZIP 2008, 466 f. = BRAK-Mitt. 2008, 79 f. – die Haftung des Landes für fehlerhafte Bestellung eines persönlich nicht geeigneten Anwalts durch das Insolvenzgericht wurde mangels Kenntnis von dessen fehlender Eignung beim Insolvenzgericht aber verneint, Rz. 5 f. des Beschlusses. So Kesseler, Rechtsschutz des „übergangenen“ Insolvenzverwalters, ZIP 2000, 1565 ff. BGH, Urt. v. 25.4.2002 – IX ZR 313/99, BGHZ 150, 353 ff. = ZIP 2002, 1093, spricht von einem weiten Spielraum des Verwalters i. R. seiner Aufgabenerledigung.

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so handelt doch derjenige, der mit einem Absonderungsberechtigten eine besondere Hausverwaltung in Form einer „stillen“ Zwangsverwaltung vereinbart, genau genommen weder als Insolvenzverwalter noch als Rechtsanwalt; sein Leistungsbild entspricht inhaltlich dem eines Zwangsverwalters, der ebenso einen besonderen Beruf darstellt, mag dieser auch (zufällig) von einem Rechtsanwalt als „Nebenberuf“ ausgeübt werden.35) Auch deshalb kann die BRAO keine Geltung beanspruchen. Der IX. Senat zieht zur Begründung der Nichtigkeit die berufsrechtliche Regelung in § 45 Abs. 1 Nr. 1 BRAO zur Nichtigkeitsfeststellung (auch) der „persönlichen Vereinbarung“ der stillen Zwangsverwaltung mit dem Grundpfandgläubiger heran und unterstellt dem Insolvenzverwalter „zweifellos hoheitliche Befugnisse“, ohne diese jedoch zu nennen. Ein Verstoß gegen das anwaltliche Berufsrecht, hier des § 45 Abs. 1 Nr. 1 BRAO, müsste indes mindestens primär im Interesse der Einhaltung von anwaltlichen Pflichten durchgesetzt werden, wenn man die Anwendbarkeit im vorliegenden Fall bejahen würde. Da der Insolvenzverwalter hier nicht als Rechtsanwalt tätig wurde, greift § 45 Abs. 1 Nr. 1 BRAO jedoch nicht. 5. Keine Rechtsfortbildung des Berufsrechts der Insolvenzverwalter durch die BRAO bei fehlendem berufsrechtlichem Regelwerk der Verwalter Zwar hat der Bundesgerichtshof nicht nur die Aufgabe, Recht zu sprechen, sondern auch, wie oben umrissen, das Recht fortzubilden, aber nur dann, wenn es sich um methodisch nachvollziehbare Auslegungen oder um eine sinngemäße Weiterentwicklung des geschriebenen Rechts handelt, also ein Gesetz als Anknüpfungspunkt vorhanden ist. Eine Berufsordnung für Insolvenzverwalter ist durch den Gesetzgeber nicht verabschiedet worden, sodass es an einem formellen Gesetz, das nach Art. 76 ff. GG zustande gekommen wäre, fehlt. Der Gesetzgeber hat auch nicht unter Berücksichtigung von verfassungsrechtlichen Vorschriften gemäß Art. 80 Abs. 1 GG delegiert, wobei nach der sog. Wesentlichkeitstheorie die grundlegenden Entscheidungen von dem Gesetzgeber selbst getroffen werden müssen. Basis ist

35)

Vgl. dazu BGH, Beschl. v. 15.3.2018 – V ZB 149/17, juris Rz. 14, ZfIR 2018, 499 ff., m. Anm. Cranshaw, ZfIR 2018, 501 f. – keine Vergütungserhöhung, weil der Zwangsverwalter Rechtsanwalt ist.

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die Reichweite des Vorbehalts des Gesetzes, wobei die Einzelheiten zum „Bestimmungsgebot“ einzelfallabhängig und umstritten sind.36) Der Bundesgesetzgeber hat u. a. in §§ 56, 56a InsO von seiner Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht und dort die Voraussetzungen für die Bestellung zum Insolvenzverwalter und in § 58 InsO die Aufsicht geregelt. Diese Vorschriften der InsO sind abschließend und sie lassen keine Lücke erkennen die durch die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu schließen wäre. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 3. August 200437) zur Vorauswahl von Insolvenzverwaltern die Tätigkeit als Insolvenzverwalter als eigenen Beruf i. S. von Art. 12 Abs. 1 GG definiert, was eher dafür spricht, dass die Berufsordnung für Rechtsanwälte gerade nicht herangezogen werden kann. Das Bundesverfassungsgericht hat weder für die Insolvenzverwalter noch für viele andere Berufe eine Berufsordnung gefordert. Es stellt sich daher die Frage, ob im vorliegenden Fall die verfassungsrechtlichen Grenzen i. R. der Entscheidungsfindung überschritten sind.38) Eine durch Auslegung zu schließende Lücke im Gesetz ist nicht vorhanden, auch wenn sie an anderer Stelle durch den Bundesgerichtshof in dem bereits zitierten Berufungsurteil des Anwaltssenats zu § 12 BORA bejaht wurde (siehe oben Fn. 12). Unabhängig von der Frage, ob der dortige Berufungskläger und anschließende Beschwerdeführer in seinen Grundrechten verletzt wurde,39) ist zumindest über Art. 2 Abs. 1 GG die Entscheidung des Bundesgerichtshofs an Art. 20 Abs. 2 und Abs. 3 GG zu messen.40) In dieser Entscheidung ist u. a. zu lesen: „Art. 20 Abs. 2 GG verleiht dem Grundsatz der Gewaltenteilung Ausdruck. Auch wenn dieses Prinzip im Grundgesetz nicht im Sinn strikter Trennung der Funktionen und Monopolisierung jeder einzelnen bei einem bestimmten Organ ausgestaltet worden ist (…), so schließt es doch jedenfalls aus, daß die Gerichte Befugnisse beanspruchen, 36) 37) 38) 39)

40)

Vgl. den Überblick bei Remmert in: Maunz/Dürig, GG, Bd. V, 86. EL 1/2019, Art. 80 Rz. 49 – 117, 63, 64 – 68, 69. BVerfG, Beschl. v. 3.8.2004 – 1 BvR 135/00, 1 BvR 1086/01 („Insolvenzverwalter“), ZIP 2004, 1649 ff. = ZInsO 2004, 913 ff., zum eigenständigen Beruf siehe juris Rz. 28. Vgl. dazu Pieroth/Aubel, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Grenzen richterlicher Entscheidungsfindung, JZ 2003, 504 ff. BGH, Urt. v. 6.7.2015 – AnwZ (Brfg) 24/14, juris Rz. 17, ZIP 2015, 1546 = ZfIR 2015, 728 ff.; „nachgehend“ BVerfG (2. Kammer), Nichtannahmebeschl. v. 28.10.2015 – 1 BvR 2400/15, ZIP 2015, 2328 = BRAK-Mitt. 2016, 33 f. – Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde aufgrund unzureichender Erfüllung der „Begründungserfordernisse“. Vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.11.1997 – 1 BvR 479/92, 1 BvR 307/94 („Arzthaftung bei fehlgeschlagener Sterilisation“), juris Orientierungs. 1 a) – 1 d), BVerfGE 96, 375 ff. = MedR 1998, 1998, 176 ff.

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Peter Depré die von der Verfassung eindeutig dem Gesetzgeber übertragen worden sind (…). Art. 20 Abs. 3 GG bindet die Rechtsprechung an Gesetz und Recht. Damit wäre es unverträglich, wenn sich die Gerichte aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben, also objektiv betrachtet sich der Bindung an Recht und Gesetz entziehen würden (…)“.41)

Der Senat bemerkt ferner, der Richter sei dadurch nicht etwa gehindert, das Recht fortzubilden. Im Gegenteil gehöre die Weiterentwicklung des Rechts zu den Aufgaben der Rechtsprechung angesichts des „beschleunigten Wandels der gesellschaftlichen Verhältnisse“ und offener Normen sowie als Folge „begrenzter Reaktionsmöglichkeiten des Gesetzgebers“, insbesondere wenn zwischen Gesetz und Entscheidung längere Zeit verstrichen ist.42) Warnend fügt der Senat aber hinzu, der Richter dürfe sich „nicht dem vom Gesetzgeber festgelegten Sinn und Zweck des Gesetzes entziehen“.43) Diese Rechtsprechung entspricht auch der Entscheidung im Facharzt-Beschluss des Bundesverfassunsgerichts;44) dort heißt es bereits, die „statusbildenden Normen“ seien durch „förmliches Gesetz festzulegen“. Damit meinte das Bundesverfassungsgericht damals u. a. die Vorschriften über die „Voraussetzungen der Facharztanerkennung, die zugelassenen Facharztrichtungen, die Mindestdauer der Ausbildung“ sowie weitere Details einschließlich des Verfahrens. Die Darstellung der Voraussetzungen in der Entscheidung sind beispielhaft und nicht abschließend, wenn auch nur die „Grundzüge“ im Gesetz selbst abzubilden sind.45) Die Heranziehung des § 45 Abs. 1 Nr. 1 BRAO steht daher vorliegend nicht im Einklang mit dem Gewaltenteilungsprinzip und Rechtsstaatprinzip und stellt einen Verstoß gegen das materielle Verfassungsrecht dar.

41) 42) 43) 44) 45)

BVerfG, Beschl. v. 12.11.1997 – 1 BvR 479/92, 1 BvR 307/94, juris Rz. 52, BVerfGE 96, 375 ff. = MedR 1998, 1998, 176 ff. BVerfG, Beschl. v. 12.11.1997 – 1 BvR 479/92, 1 BvR 307/94, juris Rz. 53, BVerfGE 96, 375 ff. = MedR 1998, 1998, 176 ff. BVerfG, Beschl. v. 12.11.1997 – 1 BvR 479/92, 1 BvR 307/94, juris Rz. 54, BVerfGE 96, 375 ff. = MedR 1998, 1998, 176 ff. BVerfG, Beschl. v. 9.5.1972 – 1 BvR 518/62, 1 BvR 308/64 („Facharzt-Beschluß“), juris Rz. 113, BVerfGE 33, 125 ff. BVerfG, Beschl. v. 9.5.1972 – 1 BvR 518/62, 1 BvR 308/64, juris Rz. 113, BVerfGE 33, 125 ff.

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III. Schlussbetrachtung –

Im Hinblick darauf, dass die gegenwärtige Regierungskoalition im Koalitionsvertrag46) in Zeile 6195 ff. (unter „Rechtsfolgen der Digitalisierung“, S. 131) vereinbart hat, den Berufszugang und die Berufsausübung der Insolvenzverwalter bzw. Sachverwalter näher zu regeln, ist gegenwärtig die Diskussion über ergänzende berufsrechtliche Regelungen im Gange.



Vor diesem Hintergrund finden sich derzeit verschiedene Vorschläge, ob und ggf. wie die Rahmenbedingungen für Insolvenzverwalter, insbesondere was deren Bestellung und Berufsausübung betrifft, unter Berücksichtigung der Interessen der Verfahrensbeteiligten geregelt werden können. Erwähnenswert scheint hier wegen der berücksichtigten verfassungsrechtlichen Implikationen der Beitrag von Winfried Kluth mit dem Titel „Überlegungen zu Sinn und Zweck sowie Umfang und Form der Verkammerung eines neu verfassten Berufs der Insolvenzverwalter“ veröffentlicht bei iFK.47) Im Koalitionsvertrag heißt es: „Wir werden gesetzliche Rahmenbedingungen für die Berufszulassung und -ausübung von Insolvenzverwalterinnen und Insolvenzverwaltern sowie Sachwalterinnen und Sachwaltern regeln, um im Interesse der Verfahrensbeteiligten eine qualifizierte und zuverlässige Wahrnehmung der Aufgaben sowie effektive Aufsicht zu gewährleisten.“ (Zeile 6195 ff.)



Im Rahmen der rechtspolitischen Diskussion meldeten sich bereits mit Eckpunktepapieren der BAKinso48) sowie der VID49). All diese Überlegungen dienen mit ihren diskutablen Beiträgen letztlich dazu, ob und ggf. wie der Gesetzgeber als demokratisch legitimierter Entscheidungsträger eine gesetzliche Regelung gestaltet.

46)

Koalitionsvertrag zur 19. Legislaturperiode v. 12.3.2018, S. 131 f., abrufbar unter https://www.bundesregierung.de/resource/blob/975226/847984/5b8bc23590d4cb2892b31c 987ad672b7/2018-03-14-koalitionsvertrag-data.pdf?download=1 (Abrufdatum: 15.6.2019). iFK Institut für Kammerrecht e. V., Aktuelle Stellungnahme 4/18 v. 25.9.2018, abrufbar unter http://www.kammerrecht.de/ (Abrufdatum: 15.6.2019). Eckpunktepapier des Bundesarbeitskreis Insolvenzgerichte e. V. „Notwendige und ausreichende Regelungen im insolvenzrechtlichen Berufsbereich von Insolvenzverwalter*innen/Sachwalter*innen/PIFOR“ v. 12.2.2019, aufrufbar unter http://www.bakinso.de/index.php?option=com_phocadownload&view=category&id=2&Itemid=62 (Abrufdatum: 15.6.2019). Eckpunktepapier zum Berufsrecht des Verband Insolvenzverwalter Deutschlands e. V. v. 18.12.2018, abrufbar unter https://www.vid.de/initiativen/eckpunktepapier-berufsrecht/ (Abrufdatum: 15.6.2019).

47) 48)

49)

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Dabei sind auch europarechtliche Einflüsse zu beachten. Das Europäische Parlament hat in erster Lesung am 28. März 2019 den Vorschlag einer „Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juni 2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtinie über Restrukturierung und Insolvenz)“ angenommen.50) Die Restrukturierungsrichtlinie hat in ihrem Titel IV, der sich mit Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz der im Gesamttitel der Restrukturierungsrichtlinie bereits genannten Verfahren der Mitgliedstaaten befasst, zu den Verwaltern folgendes festgelegt. Art. 26 Abs. 1 lit. b: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Zulassungsvoraussetzungen sowie das Verfahren für die Bestellung, die Abberufung und den Rücktritt von Verwaltern klar, transparent und fair sind“. Art. 27 Abs. 1 zur „Beaufsichtigung und Vergütung von Verwaltern“ lautet: „Die Mitgliedstaaten richten geeignete Aufsichts- und Regulierungsmechanismen ein, um sicherzustellen, dass die Arbeit von Verwaltern wirksam überwacht wird, damit gewährleistet ist, dass ihre Dienste wirksam und sachkundig und gegenüber den beteiligten Parteien unparteiisch und unabhängig erbracht werden. Derartige Mechanismen umfassen auch Maßnahmen für die Verantwortlichkeit der Verwalter, die ihren Pflichten nicht nachkommen.“ In dem hier relevanten ErwG 87 Satz 1 heißt es zur Begründung: „Die Mitgliedstaaten sollten auch sicherstellen, dass von Justiz- oder Verwaltungsbehörden bestellte Verwalter (im Folgenden „Verwalter“) im Bereich Restrukturierung, Insolvenz und Entschuldung angemessen ausgebildet sind, in transparenter Weise unter gebührender Berücksichtigung der Notwendigkeit effizienter Verfahren bestellt werden, bei der Erfüllung ihrer Aufgaben beaufsichtigt werden und dass sie ihre Aufgaben integer erfüllen (…).“

Die Sätze 3 und 4 desselben ErwG befassen sich damit, dass die Ausbildung, Befähigung und Sachkunde auch parallel zur Berufstätigkeit erworben werden können. Berufsverbände oder andere Institutionen könnten an die Stelle der Mitgliedstaaten selbst treten. 50)

Zitate der Richtlinie in deutscher Sprache sind dem Dokument des Rechtsausschusses v. 21.3.2019, Dokument A-8-0269/109, entnommen, abrufbar unter http:// www.europarl.europa.eu/doceo/document/A-8-2018-0269-AM-109-109_DE.pdf. Die Entschließung selbst v. 28.3.2019 ist als Dokument P8_TA-Prov(2019)0321, abrufbar unter http://www.europarl.europa.eu/doceo/document/TA-8-2019-0321_DE.html#title1 (Abrufdatum: 15.6.2019).

Rechtsetzung oder noch Rechtsfortbildung



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Dass die BRAO nicht einfach auf die Insolvenzverwalter übertragen werden kann, zeigt sich schon unter dem Aspekt der Interessenwahrnehmung. Der Rechtsanwalt ist ausschließlich seiner Partei verpflichtet und dient deren Interessen, während der Insolvenzverwalter primär den Gläubigern verpflichtet ist (vgl. das Ziel des Insolvenzverfahrens in § 1 InsO). Der Insolvenzverwalter muss mit einer Vielzahl von Verfahrensbeteiligten verhandeln, für die Interessen von Sicherungsgläubigern (u. a. Kreditinstitute, Lieferanten), Massegläubigern, Insolvenzgläubigern und sonstigen Stakeholdern Lösungen erarbeiten. Dabei ist z. B. häufig die doppelnützige Treuhand eine Option oder gar geboten, aber gemäß § 3 Abs. 1 BORA untersagt. Auch ist es nicht hilfreich, wenn der Bundesgerichtshof in der bereits mehrfach zitierten Berufungsentscheidung des Anwaltssenats § 12 BORA auf den „Rechtsanwaltsinsolvenzverwalter“ anwendet und ihm ein Umgehungsverbot auferlegt.51) Stattdessen hätte eine am objektiven Erklärungsinhalt anknüpfende Auslegung unter Heranziehung der Umstände das Handeln in der Funktion als Insolvenzverwalter ergeben und nicht zur Anwendung von § 12 BORA geführt.52)

Es bleibt daher zu wünschen, dass die Reformdiskussionen zu vernunft- und sachorientierten Lösungen sowie entsprechenden Gesetzesanpassungen führen.

51) 52)

BGH, Urt. v. 6.7.2015 – AnwZ (Brfg) 24/14, juris Rz. 17, ZIP 2015, 1546 = ZfIR 2015, 728 ff. BFH, Urt. v. 11.4.2018 – X R 39/16, BFH/NV 2018, 1075 = ZIP 2018, 1833.

Mediation als Haftungsfalle? – Besondere Pflichten von juristisch ausgebildeten Mediatoren – SUSANNE DORNBLÜTH Inhaltsübersicht I. II.

Einführung Mögliche Pflichtverletzungen der Mediatoren 1. Leistungspflichten

2. Nebenpflichten der Mediatoren im Allgemeinen 3. Erweiterte Schutzpflichten „von Berufs wegen“? III. Fazit

Während meiner Zeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin im IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs, an welche ich mich gerne zurückerinnere, wurden zahlreiche Haftungsfälle von Rechtsanwälten unter dem Vorsitz des Jubilars behandelt. Dieses Rechtsgebiet zeichnet sich durch eine spannende Bandbreite an Rechtsstreitigkeiten aus, welche den Haftungsfällen zugrunde liegen und welche häufig die Einarbeitung in fremde Rechtsmaterien von den entscheidenden Richtern erfordern. Trotz dieses Wissens überraschte mich eine Entscheidung des IX. Zivilsenats vom 21. September 2017 zur Haftung einer Anwaltsmediatorin. Es schienen mir in dieser Konstellation zwei mir bekannte, aber äußerst unterschiedliche Welten aufeinander zu treffen: Einerseits die rechtlich hoch anspruchsvolle Bearbeitung von Rechtsstreitigkeiten durch den Bundesgerichtshof und andererseits die vom rechtlichen Anspruchsdenken losgelöste Konfliktbeilegung durch eine Mediation. Ich fragte mich zugleich, inwieweit dem IX. Zivilsenat bewusst gewesen ist, in welchen absoluten Graubereich der Mediation er mit seiner Entscheidung vorgedrungen ist: Aufgrund meiner beim OLG Celle ausgeübten Tätigkeit als Güterichterin sind mir die Unsicherheiten der Kollegen über Informations- und Hinweispflichten in der Mediation ebenso vertraut wie die teilweise dogmatischen Grabenkämpfe zwischen verschiedenen Mediationsstilen, die zum Teil auch unter Güterichtern ausgetragen werden. Damit erschien es mir lohnenswert, diesen Beitrag zum Anlass zu nehmen, die Entscheidung des IX. Zivilsenats zur Haftung der Anwaltsmediatorin näher zu betrachten und darauf zu untersuchen, ob sich hieraus mehr über Sorgfalts- und

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Hinweispflichten von Mediatoren – insbesondere bei juristisch ausgebildeten Mediatoren – lernen lässt. Sind hier Unterschiede je nach beruflicher Qualifikation des Mediators angezeigt? Unabhängig von möglichen haftungsrechtlichen Konsequenzen bei Verstößen könnte eine stärkere Konturierung der gebotenen Pflichten des juristisch ausgebildeten Mediators bei vielen Kollegen für Klarheit sorgen. Für den Jubilar erhoffe ich mir, einen abwechslungsreichen Einblick in die bunte Welt der alternativen Konfliktbeilegungsmethoden zu liefern. I. Einführung Der Sachverhalt, welcher dem Urteil des IX. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs vom 21. September 20171) über die Haftung einer Anwaltsmediatorin zugrunde lag, ist leider keine gute Werbung für die Mediation, die im Grunde eine sinnvolle Methode zur einvernehmlichen Klärung der vielfältigen, komplexen Streitpunkte unter Eheleuten nach einer Trennung darstellt. Die meisten getrennt lebenden Eheleute haben den nachvollziehbaren Wunsch, schnell und kostengünstig alle Scheidungsfolgen zu regeln. Dieses Bedürfnis kann aber von fragwürdigen Geschäftsmodellen wie im Streitfall ausgenutzt werden und zu voreiligen Vereinbarungen führen: Die dort verklagte Rechtsanwältin hat neben ihrer Anwaltskanzlei zugleich eine als „Schlichtungsstelle“ bezeichnete Anlaufstelle als Mediatorin betrieben. Im Rahmen dieser Tätigkeit schloss sie mit scheidungswilligen Eheleuten einen Vertrag zur Erarbeitung einer einvernehmlichen, kostengünstigen und schnellen Ehescheidung. Sie ließ sich zugleich Vollmachten zur Einholung von Rentenauskünften bei den Rentenversicherungsträgern von den Eheleuten erteilen. Schließlich holte sie die für den Scheidungsantrag notwendigen Daten und Angaben der Eheleute ein, die sie an die Rechtsanwältin des Ehemannes weiterleitete. Während der laufenden Mediationsverhandlungen korrespondierte sie knapp mit den Rechtsanwälten der Eheleute, die für den Scheidungstermin gesondert beauftragt waren. Im Anhörungstermin zur Scheidung erklärten die Eheleute ohne Kenntnis der möglicherweise auszugleichenden Rentenanrechte einen Verzicht auf die Durchführung des Versorgungsausgleichs, welchen das Familiengericht seiner Entscheidung zugrunde legte. Erst im Anschluss wurden die Auskünfte der Versorgungsträger über die Rentenanrechte der Eheleute bekannt, wonach sich ein Saldo der Kapitalwerte von über 94.000 € zuguns1)

BGH, Beschl. v. 21.9.2017 – IX ZR 34/17, ZIP 2017, 2206 = NJW 2017, 3442.

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ten der Ehefrau ergab. Die geschiedene Ehefrau bereute daher nachträglich ihren Verzicht auf die Durchführung des Versorgungsausgleichs und nahm ihren damaligen Terminbevollmächtigten erfolgreich auf Schadenersatz in Anspruch. Dieser verlangte in dem sich hieran anschließenden, den IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs beschäftigenden Haftungsprozess, einen hälftigen Ausgleichsanspruch von der Anwaltsmediatorin. Der Bundesgerichtshof hat bei der geschilderten Sachlage eine Mithaftung der Anwaltsmediatorin für den Schaden der geschiedenen Ehefrau bejaht. Die Anwaltsmediatorin sollte nach der vertraglichen Abrede in vielfältiger Weise als „Scheidungsmanagerin“ für die Eheleute tätig werden, sodass verschiedene Pflichtenkreise als Rechtsanwältin und Mediatorin aufeinandertrafen. Angesichts der Vielseitigkeit der von dieser Mediatorin übernommenen Aufgaben hat der IX. Zivilsenat diesen Vertrag als einen mehrseitigen Anwaltsdienstvertrag i. S. von § 611 Abs. 1, § 675 Abs. 1 BGB bewertet und hierauf grundsätzlich die Maßstäbe der Anwaltshaftung für anwendbar erklärt.2) Bei einer von Rechtsanwälten durchgeführten Mediation sollten sogar allgemein die anwaltlichen Haftungsmaßstäbe gelten,3) wobei die Besonderheiten der Schlichtungstätigkeit zu beachten seien.4) Der vertraglich zugesagte Leistungskatalog der Mediatorin habe eine sachverhaltsaufklärende Tätigkeit vorgesehen, weil sie auch die Auskünfte über die von den Beteiligten erworbenen Rentenanrechte einzuholen gehabt hätte.5) Aufgrund des Unterlassens einer rechtzeitigen Aufklärung vor dem Scheidungstermin lag die vom IX. Zivilsenat angenommene Pflichtverletzung i. S. von § 280 Abs. 1 BGB auf der Hand. Darüber hinaus wären Belehrungen und Hinweise zu erteilen gewesen, wie sie in der konkreten Situation einem Anwalt obliegen, etwa die Unterrichtung über drohende Rechtsverluste. So hätte die Anwaltsmediatorin die Eheleute oder deren Terminbevollmächtigte vor dem Scheidungstermin darüber informieren 2)

3)

4) 5)

BGH, Beschl. v. 21.9.2017 – IX ZR 34/17, Rz. 18, 20, ZIP 2017, 2206 = NJW 2017, 3442; vgl. Rinkler in: D. Fischer/Vill/G. Fischer/Rinkler/Chab, Hdb. der Anwaltshaftung, 4. Aufl. 2015, § 1 Rz. 181; Heinemann in: Vollkommer/Greger/Heinemann, Anwaltshaftungsrecht, 4. Aufl. 2014, § 2 Rz. 9; Ch. Fischer in: Haft/Schlieffen, Hdb. Mediation, 3. Aufl. 2016, § 25 Rz. 67; Fahrendorf in: Fahrendorf/Mennemeyer/Terbille, Die Haftung des Rechtsanwalts, 8. Aufl. 2010, Rz. 1772. Kritisch zur Verallgemeinerung des Maßstabs bei Anwaltsmediatoren Gläßer, Die Haftung des Mediators – Damoklesschwert oder Chimäre?, ZKM 2018, 81, 85; Greger, BRAK-Mitt. 6/2017, 289, 295 (Urteilsanm.); Hartung, Haftung eines anwaltlichen Mediators, ZKM 2018, 29, 33 (Urteilsanm.). BGH, Beschl. v. 21.9.2017 – IX ZR 34/17, Rz. 20, ZIP 2017, 2206 = NJW 2017, 3442. BGH, Beschl. v. 21.9.2017 – IX ZR 34/17, Rz. 22, ZIP 2017, 2206 = NJW 2017, 3442.

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müssen, bislang keine Feststellungen zum etwaigen Versorgungsausgleich getroffen zu haben.6) Die Entscheidung macht deutlich, dass eine Haftung von Mediatoren besonders bei Verstößen gegen ausdrücklich vereinbarte vertragliche Pflichten gemäß § 280 Abs. 1 BGB i. V. m. § 611 Abs. 1, § 675 Abs. 1 BGB in Betracht kommt. Darüber hinaus ist bei beauftragten Mediatoren die Verletzung von allgemeingültigen Pflichten, die sich teilweise aus dem Mediationsgesetz7) ergeben können, denkbar und kann ihre Haftung begründen.8) Auch Güterichter können sich bei Fehlern im Zusammenhang mit einer Mediation haftbar machen, wobei mangels Vertragsbeziehungen zum Güterichter nur deliktische Haftungstatbestände herangezogen werden können. Der Güterichter handelt nach Verweisung des Rechtsstreits an ihn gemäß § 278 Abs. 5 Satz 1 ZPO, § 36 Abs. 5 Satz 1 FamFG aufgrund einer ihm im Geschäftsverteilungsplan des jeweiligen Gerichts zugewiesenen Zuständigkeit9) und er übernimmt in richterlicher Funktion einen Teil des gerichtlichen Verfahrens. Es ist selbstverständlich, dass sich ein Richter als Amtsträger bei der Wahrnehmung der ihm übertragenen Aufgaben im Einklang mit dem objektiven Recht zu bewegen hat.10) Vom Umfang der Amtspflichten hängt ein möglicher Schadenersatzanspruch gegen den Güterichter ab, der vorrangig auf § 839 Abs. 1 BGB gestützt werden muss.11) Welche Amtspflichten den Güterichter aber im Einzelnen treffen, lässt sich nicht unmittelbar aus dem Mediationsgesetz mit seinen berufsrechtlichen Regelungen entnehmen, weil es auf Güterichter nicht anwendbar ist.12) Unzweifelhaft unterliegt der Güterichter aufgrund der richterlichen Tätigkeit dem

6) 7) 8) 9) 10) 11)

12)

BGH, Beschl. v. 21.9.2017 – IX ZR 34/17, Rz. 25, ZIP 2017, 2206 = NJW 2017, 3442. Gesetz zur Förderung der Mediation und anderer Verfahren der außergerichtlichen Konfliktbeilegung – Mediationsgesetz, v. 21.7.2012, BGBl. I 2012, 1577. Vgl. Begründung des Entwurfs des Mediationsförderungsgesetzes, BT-Drucks. 17/5335, S. 16. Greger in: Zöller, ZPO, 31. Aufl. 2016, § 278 Rz. 26. Papier/Shirvani in: MünchKomm-BGB, 7. Aufl. 2015, § 839 Rz. 193. BGH, Urt. v. 9.10.2014 – III ZR 68/14, Rz. 8, NJW 2014, 3580 = MDR 2014, 1387; zur Haftungsverlagerung auf den Staat nach Art. 34 Abs. 1 GG vgl. etwa Greger in: Greger/ Unberath/Steffek, Recht der alternativen Konfliktlösung, 2. Aufl. 2016, Teil E Rz. 138; Sprau in: Palandt, BGB, 77. Aufl. 2018, § 839 Rz. 12 ff. Vgl. Greger in: Greger/Unberath/Steffek, Recht der alternativen Konfliktlösung, 2. Aufl. 2016, § 2 Rz. 127; Löer in: Klowait/Gläßer, MediationsG, 2. Aufl. 2018, § 2 Rz. 33; Ulrici in MünchKomm-FamFG, 3. Aufl. 2019, Vorb. 11 zu § 1 MedG; M. Fischer, Die Mediation durch den Güterichter: Win-Win-Ergebnis statt „fauler“ Kompromiss, FuR 2018, 461, 462.

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Richterdienstrecht.13) Ferner ist es selbstverständlich, dass der Güterichter, sofern er im Einvernehmen mit den Parteien im Güterichterverfahren die Methode der Mediation wählt (vgl. § 278 Abs. 5 Satz 2 ZPO, § 36 Abs. 5 Satz 2 FamFG), nach den allgemein für die Mediation geltenden Verfahrensgrundsätzen zu handeln hat. In diesem Fall gelten für Güterichter dieselben Mindeststandards14) wie für andere Mediatoren. II. Mögliche Pflichtverletzungen der Mediatoren Die zentrale Frage bei der Beurteilung einer möglichen Haftung des Mediators oder Güterichters ist somit die Frage einer (Amts)Pflichtverletzung. Aufgrund der einführend erwähnten Methodenvielfalt, die im Bereich der Mediation herrscht, sowie der situationsabhängig notwendigen Flexibilität ist ein klar umrissener Leistungs- und Pflichtenkatalog, dessen Einhaltung vom Mediator oder Güterichter erwartet werden kann, nicht leicht aufzustellen.15) Insbesondere die Nebenpflichten des Mediators, zu denen auch Hinweis- und Schutzpflichten zählen, werden unterschiedlich weit verstanden. Bevor hierauf im Einzelnen näher eingegangen wird, sollen zunächst die klarer umrissenen Leistungspflichten des Mediators betrachtet werden. 1. Leistungspflichten Als essentielle Vertragspflicht, also als Hauptleistungspflicht des Mediators i. S. von § 241 Abs. 1 Satz 1 BGB, ist die persönliche und neutrale Vermittlung und Verfahrensleitung im Mediationsprozess anzusehen.16) Die Pflicht zur Durchführung der Mediation lege artis beinhaltet eine Verfahrenssteuerung und Gesprächleitung, welche die Parteien bei der „eigenverantwortlichen“ Konfliktbeilegung unterstützt.17) So hat der Mediator beim Gespräch 13)

14)

15) 16) 17)

So gilt etwa die Verschwiegenheitspflicht nach § 46 DRiG i. V. m. § 67 BBBG, § 37 Abs. 1 BeamtStG; vgl. Greger in: Greger/Unberath/Steffek, Recht der alternativen Konfliktlösung, 2. Aufl. 2016, Teil E Rz. 126. Vgl. Gläßer in: Klowait/Gläßer, MediationsG, 2. Aufl. 2018, § 2 Rz. 33; Gläßer, ZKM 2018, 81, 82; Jost in: Haft/Schlieffen, Hdb. Mediation, 3. Aufl. 2016, § 29 Rz. 8 ff.; Jost, Das Mediationsgesetz und die Haftungsfrage, ZKM 2011, 168, 169. Greger in: Greger/Unberath/Steffek, Recht der alternativen Konfliktlösung, 2. Aufl. 2016, § 2 Rz. 94. Ch. Fischer in: Haft/Schlieffen, Hdb. Mediation, 3. Aufl. 2016, § 25 Rz. 78. Greger in: Greger/Unberath/Steffek, Recht der alternativen Konfliktlösung, 2. Aufl. 2016, § 2 Rz. 56.

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der Parteien darauf zu achten, dass beide aktiv eingebunden sind und eine angemessene Kommunikation stattfindet (§ 2 Abs. 3 Satz 2 MediationsG). Sofern nach seinem Eindruck eine eigenverantwortliche Kommunikation oder Einigung der Parteien nicht zu erwarten ist, kann er die Mediation jederzeit beenden (§ 2 Abs. 5 MediationsG). Diese gesetzlichen Vorgaben sollen gewährleisten, dass der Mediator den Parteien eine selbstbestimmte Entscheidung über den Umgang ihres Konflikts ermöglicht, indem er für ein faires Verfahren sorgt. Demgegenüber besteht keine Pflicht, eine Einigung oder Abschlussvereinbarung der Parteien herbeizuführen. Diese Steuerungs-, nicht aber Einigungspflicht gilt für alle Mediatoren gleichermaßen.18) Weitergehende Leistungspflichten können sich (außerhalb des Güterichterverfahrens) aus vertraglichen Abreden zwischen dem Mediator und den Parteien ergeben. Ein Beispiel ist die besondere Abrede in der dem IX. Zivilsenat vorliegenden Konstellation,19) in welcher sich die Anwaltsmediatorin verpflichtet hatte, vor der Erarbeitung einer Scheidungsfolgenvereinbarung die notwendigen Auskünfte über deren Rentenanrechte bei den Versorgungsträgern einzuholen. Solche Aufklärungsarbeiten obliegen üblicherweise nicht den Mediatoren, weil sie den Sachverhalt in der Regel nicht selbst ermitteln müssen, sondern die notwendigen Informationen von den Parteien beigebracht werden.20) Wenn sich ein Mediator jedoch nach dem konkreten Vertragsinhalt zu Ermittlungstätigkeiten verpflichtet, hat er diese selbstverständlich vertragsgemäß zu erbringen. Solche weitergehenden Vertragspflichten können in vielfältiger Weise vorkommen: So kann der Auftrag für eine Baumediation bewusst an einen Mediator mit besonderem Fachwissen erteilt worden sein, damit dieser baurechtliche und bautechnische Kenntnisse bei der Sachverhaltsaufklärung oder bei der späteren Lösungssuche einbringen kann.21) Ein Wirtschaftsberater mag für eine gesellschaftsrechtliche Mediation herangezogen worden sein, um dessen Sachverstand zur Aufklärung der Verhandlungsgrundlagen und Erarbeitung von Gestaltungsmöglichkeiten nutzen zu können. Sofern eine solche Expertise bewusst für die Mediation angefordert wird, sind häufig weitergehende Leistungspflichten vertraglich vereinbart, die vom Mediator einzuhalten sind.

18) 19) 20) 21)

Auch für Güterichter, vgl. Greger in: Greger/Unberath/Steffek, Recht der alternativen Konfliktlösung, 2. Aufl. 2016, Teil E Rz. 136. BGH, Beschl. v. 21.9.2017 – IX ZR 34/17, ZIP 2017, 2206 = NJW 2017, 3442. Jost in: Haft/Schlieffen, Hdb. Mediation, 3. Aufl. 2016; ähnlich Greger in: Greger/ Unberath/Steffek, Recht der alternativen Konfliktlösung, 2. Aufl. 2016, § 2 Rz. 109. Vgl. Wagner in: Haft/Schlieffen, Hdb. Mediation, 3. Aufl. 2016, § 34 Rz. 37.

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2. Nebenpflichten der Mediatoren im Allgemeinen Den Mediator treffen neben den Leistungspflichten diverse Nebenpflichten i. S. von § 241 Abs. 2 BGB, die vornehmlich dem Integritäts- oder Erhaltungsinteresse der Parteien dienen. Solche Rücksichtnahmepflichten bestehen in vielfältiger Hinsicht,22) wobei sich die nachfolgenden Ausführungen auf die möglichen Aufklärungs- und Schutzpflichten des Mediators konzentrieren sollen, wie sie gerade bei juristisch ausgebildeten Mediatoren von Interesse sind. Wie bereits ausgeführt, gilt allgemein, dass der Mediator für die Herstellung und Sicherung eines gerechten Verfahrens sorgen muss, auch wenn er für das Verfahrensergebnis nicht verantwortlich ist. Mit dieser Leistungspflicht sind bestimmte Aufklärungspflichten verbunden: Ein faires Mediationsverfahren beginnt bereits im Vorgespräch oder in der Einführungsphase, indem der Mediator über das Verfahren sowie die geltenden Prinzipien aufklärt und den Parteien das Wesen der Mediation, seine Rolle als Mediator und die Grenzen der Methode erklärt. Damit kann der Mediator bei den Parteien unberechtigte Erwartungen in die Methode ausräumen.23) Ferner sollte er darüber aufklären, wenn er den Konflikt nicht für mediationsgeeignet hält, etwa weil den Parteien die Gestaltungsfreiheit oder Dispositionsbefugnis über den Streitgegenstand fehlt, wie dies bei abgetretenen Ansprüchen der Fall sein kann.24) Ebenso hat er darauf aufmerksam zu machen, wenn er bei einer Partei möglicherweise keine hinreichenden Voraussetzungen dafür sieht, ein eigenverantwortliches Ergebnis auszuhandeln, etwa bei einer psychisch stark belastet oder sogar geschäftsunfähig erscheinenden Partei. Nicht ohne Grund sieht § 2 Abs. 6 MediationsG den möglichen Abbruch der Mediation vor, wenn der Mediator Zweifel an einer eigenverantwortlichen Kommunikation der Parteien hat. Die Mediation ist kein Allheilmittel zur Lösung eines jeden Konflikts und manchen Parteien dient eine gerichtliche Entscheidung eher als ein nicht mit der notwendigen Überzeugung eingegangener Kompromiss. Ein entsprechender Abbruch der Mediation hat im gerichtlichen Verfahren

22) 23) 24)

Vgl. Ch. Fischer in: Haft/Schlieffen, Hdb. Mediation, 3. Aufl. 2016, § 25 Rz. 78 f. Greger in: Greger/Unberath/Steffek, Recht der alternativen Konfliktlösung, 2. Aufl. 2016, § 2 Rz. 94. Greger in: Greger/Unberath/Steffek, Recht der alternativen Konfliktlösung, 2. Aufl. 2016, § 2 Rz. 193; vgl. Habersack in: MünchKomm-BGB, 7. Aufl. 2015, § 779 Rz. 5.

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keine nachteiligen Folgen für die Parteien,25) worauf viele Güterichter in der Einführung zur Mediation hinweisen, um entsprechenden Befürchtungen der Parteien entgegenzuwirken. Weitergehende Aufklärungspflichten gelten üblicherweise nicht. Wie bereits erwähnt, sind die Mediatoren an sich nicht gehalten, selbst den zur Konfliktbeilegung relevanten Sachverhalt durch eigene Ermittlungsarbeiten aufzuklären. Der Mediator darf sich vielmehr auf die Angaben der Parteien in der Mediation verlassen.26) Nur ausnahmsweise kann der Mediator aufgrund seiner Schutzpflichten gegenüber den Parteien gemäß § 241 Abs. 2 BGB verpflichtet sein, die Parteien zur weiteren Sachverhaltsaufklärung anzuhalten: Es besteht immer die Gefahr, dass die Parteien gewisse Aspekte in der Mediation nicht erwähnen, weil sie deren Relevanz nicht erkennen. Außerdem ist es denkbar, dass eine Partei bewusst Informationen zurückhält, um hieraus Vorteile für sich zu ziehen. Jedenfalls dann, wenn ein Mediator erkennt, dass relevante Fakten fehlen oder bewusst verschwiegen werden, hat er für die Beibringung oder Offenbarung dieser Angaben in der Mediation zur Wahrung der Verfahrensfairness zu sorgen.27) So kann es erforderlich sein, dass die Parteien sich vorab über ihre Einkünfte oder ihr Vermögen umfassende Auskünfte erteilen, bevor sie auf Unterhalts- oder Zugewinnausgleichsansprüche verzichten. Sofern diese Angaben ohne erkennbaren Grund von einer Seite verweigert werden und Anhaltspunkte für einen Missbrauch der Mediation zum Nachteil der anderen Partei bestehen, sollte der Mediator über eine Beendigung der Mediation nachdenken. Ob tatsächlich eine Beendigungspflicht besteht, kann nicht verallgemeinernd beantwortet werden. Diese Beurteilung hängt letztlich auch davon ab, ob die denkbaren nachteiligen Folgen überschaubar erscheinen oder ob sie von der anderen Partei aus anderen Gründen selbst (etwa aufgrund eigener hinreichender Kenntnisse zur Sachlage) hinreichend abgeschätzt werden können.

25)

26) 27)

Vgl. EuGH, Urt. v. 14.6.2017 – Rs. C-75/16 (Menini und Rampanelli), ZIP 2017, 1880 (LS) = EuZW 2017, 736, unter Hinweis auf die Richtlinie 2013/11/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 21.5.2013 über die alternative Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 und der Richtlinie 2009/22/EG – Richtlinie über alternative Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten, ABl. (EU) L 165/63 v. 18.6.2013. Jost in: Haft/Schlieffen, Hdb. Mediation, 3. Aufl. 2016, § 29 Rz. 13; ähnlich Greger in: Greger/Unberath/Steffek, Recht der alternativen Konfliktlösung, 2. Aufl. 2016, § 2 Rz. 109. Vgl. Friedrichsmeier/Hammann in: Haft/Schlieffen, Hdb. Mediation, 3. Aufl. 2016, § 48 Rz. 38.

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Es gibt nur in engen Grenzen bestimmte Hinweis- und Warnpflichten von Mediatoren: Sofern der Mediator erkennen muss, dass den Parteien oder einer von ihnen mögliche Rechtsverluste durch die fortschreitende Zeit während der Mediation drohen, etwa Beweismittel verloren gehen können, muss er hierüber warnen.28) Bevor ein endgültiger Verzicht auf Ansprüche erklärt wird, muss der Mediator ggf. über noch fehlende Feststellungen für die Abschätzung der eigentlichen Anspruchshöhe unterrichten.29) Sofern es um komplexe Angelegenheiten geht, ist von Gesetzes wegen eine Hinweispflicht des Mediators in der Weise vorgesehen, dass er den Parteien die Einholung einer fachlichen Expertise anraten soll (§ 2 Abs. 6 Satz 2 MediationsG). Diese Hinweispflicht ist zwingend,30) auch wenn es den Parteien freigestellt ist, ob sie diesem Rat folgen. Neben juristischem Rat kann es z. B. sinnvoll erscheinen, den Sachverstand anderer Fachrichtungen einzuholen, etwa denjenigen eines Architekten zur Kalkulation von Mängelbeseitigungskosten an einer Immobilie oder eines Unternehmensberaters zur Bewertung von Gesellschaftsanteilen. Sofern die Parteien diese Expertise trotz des Hinweises des Mediators nicht für notwendig erachten, ist der Mediator nicht gehalten, seinerseits entsprechenden Fachrat einzuholen oder die Parteien zur Einholung eines Gutachtens zu drängen. Eine Beratungspflicht des Mediators gegenüber einer oder alternierend sogar beiden Parteien in deren Interesse besteht grundsätzlich nicht.31) Hiermit wäre stets die Gefahr eines Neutralitätsverlusts des Mediators verbunden,32) der „(…) allen Parteien gleichermaßen zur Verfügung stehen und ihnen allen gleichermaßen dienen (…)“33) soll. Es muss daher als entscheidend angesehen werden, dass der Mediator seiner Hinweispflicht genügt, den Parteien in komplexen Angelegenheiten die Einholung einer fachlichen Expertise mit der notwendigen Deutlichkeit anzuraten (vgl. § 2 Abs. 6 Satz 2 MediationsG). Um dem Vorwurf einer Pflichtverletzung in diesem Zusammenhang sicher begegnen zu können, ist es zu empfehlen, dass ein 28) 29) 30) 31)

32)

33)

Jost in: Haft/Schlieffen, Hdb. Mediation, 3. Aufl. 2016, § 29 Rz. 11; Joost, ZKM 2011, 168, 169. BGH, Beschl. v. 21.9.2017 – IX ZR 34/17, Rz. 25, ZIP 2017, 2206 = NJW 2017, 3442. Gläßer in: Klowait/Gläßer, MediationsG, 2. Aufl. 2018, § 2 Rz. 288. Greger in: Greger/Unberath/Steffek, Recht der alternativen Konfliktlösung, 2. Aufl. 2016, § 2 Rz. 23, 185; Jost in: Haft/Schlieffen, Hdb. Mediation, 3. Aufl. 2016, § 29 Rz. 21; Gläßer in: Klowait/Gläßer, MediationsG, 2. Aufl. 2018, § 2 Rz. 288. Greger in: Greger/Unberath/Steffek, Recht der alternativen Konfliktlösung, 2. Aufl. 2016, § 2 Rz. 23, 140; Gläßer in: Klowait/Gläßer, MediationsG, 2. Aufl. 2018, § 2 Rz. 33. Begr. RegE MediationsG, BT-Drucks. 17/5335, S. 15.

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Mediator die Erteilung solcher Hinweise schriftlich in einem Protokoll oder einer Erklärung der Parteien dokumentiert.34) 3. Erweiterte Schutzpflichten „von Berufs wegen“? Vorstehende Ausführungen machen deutlich, dass der Mediator vorrangig für Transparenz im Verfahren sorgen muss, ohne in der Regel selbst Aufklärungs- oder Beratungsleistungen gegenüber den Parteien erbringen zu müssen. Fraglich ist, ob für juristisch geschulte Mediatoren besondere Schutzpflichten gegenüber den Parteien gelten, welche ihnen weitergehende rechtliche Beratungspflichten als anderen Mediatoren auferlegen und zu höheren Anforderungen bei der Umsetzung von Lösungen führen könnten. Bereits angesprochen wurden die eigenen Unsicherheiten von Güterichtern über Beratungspflichten gegenüber den Parteien, weil sie aufgrund ihrer richterlichen Prägung mit vertrauten Hinweispflichten oft ein entsprechendes Rollenverständnis auch in die Mediation miteinbringen. Zudem bringen die Parteien einem Richter oft großes Vertrauen entgegen und nehmen dessen Äußerungen sehr ernst. Die hohe Erwartungshaltung von Parteien an richterliche Mediatoren bestätigte sich bei der Evaluation von Modellversuchen der gerichtlichen Mediation in Bayern: Danach bekunden die Parteien hohes Vertrauen in die Fähigkeiten von Richtern als Konfliktmittlern, welche als kompetente und neutrale Respekts- und Autoritätspersonen wahrgenommen werden; dies wird als besonderer Vorteil der gerichtlichen Mediation beurteilt.35) Nicht selten ist dieses Vertrauen mit der Hoffnung von Parteien verknüpft, vom Güterichter eine rechtliche Einschätzung in der Sache zu erhalten. Diese Hoffnung wird allerdings von den meisten Kollegen regelmäßig enttäuscht, um nicht das Risiko eines Neutralitätsverlusts einzugehen. Viele befürchten zudem, dass sich die Parteien an Äußerungen des Güterichters ausrichten und hieran nach einer erfolglosen Mediation im fortgesetzten Gerichtsverfahren festhalten könnten. Abweichende Auffassungen des an sich zuständigen Richters werden eventuell schlechter akzeptiert, und zwar unabhängig davon, dass dies allein aufgrund von neu vorgetragenen Tatsachen oder nach Beweiserhebungen immer drohen kann.

34) 35)

Greger in: Greger/Unberath/Steffek, Recht der alternativen Konfliktlösung, 2. Aufl. 2016, § 2 Rz. 155. Greger, Abschlussbericht zur Evaluation des Modellversuchs Güterichter, 2007, S. 61.

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Diese Gefahren sprechen dagegen, dem Güterichter weitergehende Hinweis- oder Beratungspflichten aufzuerlegen als anderen Mediatoren,36) zumal hierfür auch keine Notwendigkeit besteht: Das Recht mit seiner rahmenbildenden und kontrollierenden Funktion37) findet während des Güterichterverfahrens bereits durch begleitende Rechtsanwälte ausreichende Beachtung. Sofern ausnahmsweise keine Rechtsanwälte in der Güterichterverhandlung anwesend sind, kann den Parteien ggf. eine externe Beratung durch Rechtsanwälte vom Güterichter angeraten werden. Schwierig wird es für einen Güterichter allerdings, wenn gewisse Beratungsdefizite durch den begleitenden Rechtsanwalt deutlich werden: In solchen Situationen handeln die Güterichter auch abhängig vom eigenen Rollenverständnis unterschiedlich. Es kann aber kein genereller Grundsatz aufgestellt werden, dass in solchen Fällen eine Verlagerung der Beratungspflichten auf den Güterichter stattfinden müsste und dieser verpflichtet ist, ein solches Defizit des Rechtsanwalts durch seine Intervention auszugleichen. Allenfalls bei offenkundigen Irrtümern wie evidenten Rechenfehlern oder übersehenen Positionen wird der Güterichter in der Verhandlung hierauf aufmerksam machen müssen. Eine allgemeingültige Beratungspflicht gibt es hingegen nicht. In bestimmten Konstellationen kann es dem Güterichter sogar untersagt sein, belehrend einzugreifen, etwa wenn es um bislang im Verfahren von einer Partei übersehene und nicht eingebrachte, entscheidungserhebliche Aspekte geht. Es ist selbstverständlich, dass der Güterichter den Parteien keine Vorteile im weiteren Verfahren durch seine Intervention verschaffen darf. Soweit die Parteien außergerichtlich einen Mediator mit einem anderen juristischen Beruf wählen, etwa einen Rechtsanwalt oder Notar, wird die Erwartung an dessen Leistung ebenfalls durch die berufliche Qualifikation beeinflusst sein. Gleichwohl kann es allein diese verständliche Erwartungshaltung der Parteien ebenso wenig wie bei Güterichtern rechtfertigen, generell berufsrechtliche Haftungsgrundsätze bei ihrer Mediatorentätigkeit aufzustellen und etwa Anwaltsmediatoren pauschal die gleichen Belehrungsund Hinweispflichten im Falle einer Mediation wie im Falle einer einseitigen Mandatierung in Rechtsangelegenheiten aufzuerlegen. Neben dem möglichen Neutralitätsverlust als Mediator würde dies aus der Anwaltsperspektive zugleich die Gefahr mit sich bringen, gegen das Verbot widerstreitender 36) 37)

Greger in: Greger/Unberath/Steffek, Recht der alternativen Konfliktlösung, 2. Aufl. 2016, Teil E Rz. 136; vgl. aber Wendland, Mediation und Zivilprozess, 2018, S. 515 f. Ade/Gläßer, Lehrmodul 18: Das Recht in der Mediation, ZKM 2013, 57; eingehend Wendland, Mediation und Zivilprozess, 2018, S. 192 ff.

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Interessen (§˺43a Abs.˺4 BRAO) zu verstoßen.38) Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs zieht bei seinem Urteil zur Haftung der Anwaltsmediatorin zwar anwaltsrechtliche Haftungsmaßstäbe heran, weist aber zugleich darauf hin, dass die Besonderheiten der anwaltlichen Schlichtungstätigkeit zu beachten seien und im konkreten Fall der Inhalt des konkret geschlossenen Mediationsvertrages entscheidend sei.39) Damit sprechen die Ausführungen des Bundesgerichtshofs ebenso wenig für einen automatischen Gleichlauf von allgemeinen anwaltlichen Pflichten und dem Pflichtenkatalog eines mit einer Mediation beauftragten Rechtsanwalts. Für Anwaltsmediatoren wird zur Vermeidung von Unklarheiten über den Umfang der vertraglichen Pflichten aber zu Recht angeraten, bei der Auftragsklärung auf eine klare Rollentrennung zu achten und diese den Parteien schon bei der Einführung in die Mediation deutlich zu machen.40) Bei allen juristisch gebildeten Mediatoren sind aber die Standards zu wahren, die für Güterichter, Rechtsanwälte und Notare bei der Abfassung von Abschlussvereinbarungen gelten, weil die Parteien insoweit zu Recht eine besondere Kompetenz des gewählten Mediators erwarten dürfen.41) Der Güterichter ist bei einer Einigung der Parteien dazu befugt, wenn auch nicht verpflichtet, durch die Protokollierung eines Vergleichs unmittelbar für einen Vollstreckungstitel i. S. von § 794 ZPO im Anschluss an die Mediation zu sorgen.42) Der Prozessvergleich kann gemäß § 278 Abs. 6 ZPO, § 36 Abs. 3 FamFG auch im Güterichterverfahren im schriftlichen Wege geschlossen werden.43) Bei der Abfassung oder Protokollierung des Vergleichs handelt der Güterichter in richterlicher Funktion und ihn treffen, sofern er die Beurkundung übernimmt, dieselben Rechtspflichten wie den Prozessrichter.44) So hat er im gewünschten Umfang für die Durchsetzbarkeit des Titels zu sorgen, indem er die Regelungen hinreichend bestimmt formuliert. Bei der Vergleichsprotokollierung sind ferner die Grenzen der guten Sitten, 38) 39) 40) 41) 42) 43) 44)

Gläßer in: Klowait/Gläßer, MediationsG, 2. Aufl. 2018, § 2 Rz. 33a. BGH, Beschl. v. 21.9.2017 – IX ZR 34/17, Rz. 20 ff., ZIP 2017, 2206 = NJW 2017, 3442; vgl. Gläßer, ZKM 2018, 81, 85. Greger, BRAK-Mitteilungen 6/2017, 289, 294 f. (Urteilsanm.); Hartung, ZKM 2018, 29, 33 (Urteilsanm.), zustimmend Gläßer, ZKM 2018, 81, 85. Vgl. Greger in: Greger/Unberath/Steffek, Recht der alternativen Konfliktlösung, 2. Aufl. 2016, § 2 Rz. 44, 94. Vgl. Windau, Das Güterichterverfahren im prozessualen Kontext – sinnvolle Ergänzung oder Fremdkörper? jM 2019, 52, 55. Löer in: Klowait/Gläßer, MediationsG, 2. Aufl. 2018, § 278 Rz. 17. Greger in: Greger/Unberath/Steffek, Recht der alternativen Konfliktlösung, 2. Aufl. 2016, Teil E Rz. 178.

Mediation als Haftungsfalle?

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gesetzliche Verbote oder die öffentliche Ordnung zu beachten.45) So ist darauf zu achten, dass Vereinbarungen nicht zulasten Dritter gehen, indem etwa auf Unterhalt zulasten eines eintrittspflichtigen Sozialhilfeträgers verzichtet wird oder Abfindungszahlungen in dem Bewusstsein der Gläubigerbenachteiligung abgeschlossen werden. Sofern der protokollierte Vergleich eine notarielle Beurkundung gemäß § 127a BGB ersetzen soll, treffen den Güterichter die besonderen Belehrungs- und Hinweispflichten eines Notars, sofern der Vergleich über den Streitgegenstand hinausgeht.46) Anders ist dies bei streitgegenständlichen Vergleichen i. S. von § 127a BGB, bei denen keine besonderen notariellen Belehrungspflichten des Güterichters zu beachten sind.47) Schließlich kann ein Güterichter neben einem Vergleich auch andere Prozesshandlungen wie übereinstimmende Erledigungserklärungen, Klagerücknahmen oder Anerkenntnisse aufnehmen, bei denen etwa die Protokollierungsvorgaben des § 162 ZPO einzuhalten sind.48) Vom anwaltlichen Mediator kann ebenfalls verlangt werden, dass er dafür Sorge trägt, dass die von den Parteien avisierte Lösung vollständig und in rechtlich wirksamer Form umgesetzt wird.49) Er wird also ebenso auf die Einhaltung von Formerfordernissen und die rechtliche Möglichkeit der vereinbarten Regelung sowie die Einhaltung von gesetzlichen Grenzen achten müssen. Für notarielle Mediatoren bestehen nach besonderen gesetzlichen Vorgaben wie § 17 Abs. 1 BeurkG erhöhte Belehrungs- und Hinweispflichten, die je nach rechtlichen und wirtschaftlichen Kenntnissen eines Beteiligten unterschiedlich ausfallen können.50) Allerdings sind auch notarielle Mediatoren nur verpflichtet, ihre Bedenken gegen eine beabsichtigte Vereinbarung deutlich zu machen und können deren Abschluss letztlich nicht verhindern, solange sie sich diese i. R. der Gesetze bewegt.51) Damit treffen die juristisch ausgebildeten Mediatoren bei der Abfassung der von den Parteien eigenverantwortlich erarbeiteten Lösung bestimmte 45) 46) 47) 48)

49) 50)

51)

BGH, Beschl. v. 1.2.2017 – XII ZB 71/16, Rz. 39, BGHZ 214, 45 = NJW 2017, 1946. BGH, Beschl. v. 3.8.2011 – XII ZB 153/10, Rz. 20 ff., BGHZ 191, 1 = NJW 2011, 3451. BGH, Beschl. v. 1.2.2017 – XII ZB 71/16, Rz. 25, 39, BGHZ 214, 45 = NJW 2017, 1946; M. Fischer, FuR 2018, 461, 463. Greger in: Greger/Unberath/Steffek, Recht der alternativen Konfliktlösung, 2. Aufl. 2016, Teil E Rz. 176; vgl. zum Meinungsstreit über solche Protokollierungsmöglichkeiten des Güterichters Windau, jM 2019, 52, 55 f. Jost, ZKM 2011, 168, 170. Greger in: Greger/Unberath/Steffek, Recht der alternativen Konfliktlösung, 2. Aufl. 2016, § 2 Rz. 218; Walz, Mediative Vertragsgestaltung durch Notare, DNotZ 2003, 164, 171 ff.; Walz in: Haft/Schlieffen, Hdb. Mediation, 3. Aufl. 2016, § 49 Rz. 23 ff. Walz, DNotZ 2003, 164, 171.

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erhöhte Sorgfaltspflichten in formeller und inhaltlicher Hinsicht. Da diese Anforderungen aber berufsbedingt bekannt sein sollten, ist dies für die Juristen unter den Mediatoren keine besondere Herausforderung. III. Fazit Im Ergebnis ist festzuhalten, dass bei juristisch ausgebildeten Mediatoren kein ernsthafter Anlass zur Sorge besteht, dass ihnen grundsätzlich besonders hohe Pflichten, etwa entsprechend den berufsrechtlichen Haftungsmaßstäben, für die Mediation auferlegt würden. An sie werden nur bei der Umsetzung einer von den Parteien erarbeiteten Lösung regelmäßig höhere, aber berufsbedingt bekannte Anforderungen gestellt. Im Übrigen können juristisch ausgebildeten Mediatoren keine anderen Informations- und Beratungspflichten als sonstigen Mediatoren abverlangt werden. Eine Pflichtverletzung wird in der Regel zu verneinen sein, sofern der Mediator oder Güterichter seiner Steuerungspflicht während des Verfahrens genügt und insbesondere für die notwendige Transparenz und faire Verhandlung sorgt. Bei Güterichtern, aber auch Anwälten und Notaren, löst diese abverlangte Zurückhaltung mit Hinweisen und Informationen in den Mediationen gelegentlich Unbehagen aus. In diesen Situationen sollte sich der Mediator verstärkt seine Aufgabe bewusst machen, nur für ausreichende Kenntnisse und Grundlagen während des Gesprächs sorgen zu müssen, damit die Parteien eigenverantwortlich eine interessengerechte Lösung erarbeiten können. Bei Zweifeln sollte der Mediator den Parteien die Notwendigkeit einer zusätzlichen rechtlichen Beratung in komplexen oder bedeutsamen Angelegenheiten anraten, anstatt selbst die neutrale Rolle verlassen zu müssen. Dieser Umweg mag den Parteien zwar zeit- und kostenintensiv erscheinen und daher zunächst auf Ablehnung stoßen. Das Urteil des IX. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs hat aber eindrucksvoll vor Augen geführt, wie sinnvoll – auch in wirtschaftlicher Hinsicht – dieser zusätzliche Aufwand sein kann. Befriedigende und nachhaltige Lösungen kosten gerade in den wirtschaftlich komplexen Angelegenheiten wie etwa in Familiensachen oftmals mehr Zeit, als die Parteien wahr haben wollen. Der Beschleunigungsaspekt, der für die Mediation sprechen kann, ist letztlich weniger bedeutsam als der Gedanke der Fairness. Eine faire Lösung kann aber nur dann erarbeitet sein, wenn mögliche Risiken bekannt und relevante Umstände oder Zusammenhänge nicht im Dunkeln geblieben sind. Es ist stets die Pflicht des Mediators, zur Wahrung der Fairness für eine eventuell notwendige Entschleunigung des Mediationsprozesses zu sorgen.

Die Geschäftsführerhaftung nach § 64 Satz 1 GmbHG und die Insolvenzanfechtung INGO DRESCHER Inhaltsübersicht I. Ausgangspunkt II. Kein Vorrang der Anfechtung III. Konkurrenz 1. Geschäftsführerhaftung nach Anfechtung 2. Anfechtung nach Geschäftsführerhaftung

a) Abtretbarkeit b) Verbot der Massebereicherung c) Subsidiarität 3. Ausgleich IV. Zusammenfassung

I. Ausgangspunkt Nach § 64 Satz 1 GmbHG sind die Geschäftsführer der Gesellschaft zum Ersatz von Zahlungen verpflichtet, die nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft oder nach Feststellung ihrer Überschuldung, kurz nach Insolvenzreife, geleistet werden. Anliegen der Vorschrift- wie auch der Schwestervorschriften § 130a Abs. 2 Satz 1 HGB, § 92 Abs. 2 Satz 1 AktG, § 99 Satz 1 GenG – ist es, das Vermögen der insolvenzreifen Gesellschaft zusammenzuhalten und dadurch eine bevorzugte Befriedigung einzelner Gläubiger zu verhindern.1) Damit ähnelt sie der Insolvenzanfechtung nach §§ 129 ff. InsO. Die Insolvenzanfechtung soll die Gleichbehandlung der Gläubiger gewährleisten und den Bestand des den Gläubigern haftenden Schuldnervermögens dadurch wiederherstellen, dass bestimmte Vermögensverschiebungen rückgängig gemacht werden.2) Aufgrund dieser Ähnlichkeit erstaunt es nicht, dass versucht wird, Ergebnisse und Wertungen aus dem Insolvenzanfechtungsrecht für den Anspruch gegen den 1)

2)

BGH, Urt. v. 5.5.2008 – II ZR 38/07, Rz. 10, ZIP 2008, 1229, dazu EWiR 2008, 557 (Schulz/Schröder); BGH, Urt. v. 8.1.2001 – II ZR 88/99, BGHZ 146, 264, 278 = ZIP 2001, 235, 238, m. Anm. Altmeppen, dazu EWiR 2001, 329 (Priester); BGH, Urt. v. 29.11.1999 – II ZR 273/98, BGHZ 143, 184, 186 = ZIP 2000, 184, 185, dazu EWiR 2000, 295 (Noack). BGH, Urt. v. 17.2.2011 – IX ZR 91/10, Rz. 9, ZIP 2011, 1114, dazu EWiR 2011, 433 (Huber); BGH, Urt. v. 15.3.1972 – VIII ZR 159/70, BGHZ 58, 240, 242 f. = NJW 1972, 870, 871.

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Geschäftsführer wegen verbotener Zahlungen fruchtbar zu machen und zu übernehmen.3) Beide Ansprüche dienen in der Praxis der sog. Massegenerierung4) durch den Insolvenzverwalter und stehen deshalb bei jeder Insolvenz einer Kapitalgesellschaft auf der Agenda der Ansprüche, die der Insolvenzverwalter prüfen muss. In manchen Fällen wird der Vorgang, der die „Zahlung“ i. S. von § 64 GmbHG ausmacht und die Haftung des Geschäftsführers begründet, gleichzeitig die Insolvenzanfechtung gegen den Zahlungsempfänger rechtfertigen. Das führt zu der Frage, welchen der beiden Ansprüche der Insolvenzverwalter in erster Linie zu verfolgen hat und welche Folgen die erfolgreiche Durchsetzung eines der beiden Ansprüche für den jeweils anderen hat. Sie betrifft den Schnittpunkt zwischen Gesellschaftsrecht und Insolvenzanfechtungsrecht und damit zwischen der Zuständigkeit des II. Zivilsenats und des IX. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs, dessen Vorsitzender der Jubilar ist. II. Kein Vorrang der Anfechtung Zunächst könnte einer der beiden Ansprüche vorrangig vom Insolvenzverwalter zu verfolgen sein. Früher wurde dem Geschäftsführer ein Leistungsverweigerungsrecht zugebilligt, solange der Verwalter noch erfolgversprechende Anfechtungsmöglichkeiten gegen den Zahlungsempfänger hat.5) Der Insolvenzanfechtung sollte damit der Vorrang zukommen. Für den Fall, dass Anfechtungsansprüche verjährt sind bzw. seinerzeit noch wegen Ablaufs der Ausschlussfrist des § 41 KO nicht mehr in Betracht kamen, hat der Bundesgerichtshof bereits in einer Entscheidung im Jahr 1995 eine solche Subsidiarität verneint.6) Aus dem gleichgerichteten Zweck, Masseverluste vor der Insolvenzeröffnung auszugleichen und so für eine Gleichbehandlung von Gläubigern zu sorgen, lässt sich kein Vorrang entnehmen. Beide Ansprüche bestehen im Interesse der Insolvenzgläubiger. Allein von ihrem Interesse hat sich deshalb der Insolvenzverwalter bei seiner Entscheidung, 3)

4) 5) 6)

Gehrlein, Insolvenzanfechtungsrecht als Auslegungshilfe bei den Tatbeständen der Haftung für verbotene Zahlungen, ZHR 181 (2017), 482 ff.; Habersack/Foerster, Austauschgeschäfte der insolvenzreifen Gesellschaft, ZHR 178 (2014), 387, 403 ff. Vgl. zur Anfechtung Kayser, Die Anfechtung als unentgeltliche Leistung – eine Allzweckwaffe des Insolvenzverwalters zur Massegenerierung?, in: FS Bergmann, 2018, S. 339. Vgl. die Nachweise bei BGH, Urt. v. 18.12.1995 – II ZR 277/94, BGHZ 131, 325, 327 = ZIP 1996, 420, dazu EWiR 1996, 459 (Schulze-Osterloh). BGH, Urt. v. 18.12.1995 – II ZR 277/94, BGHZ 131, 325, 328 = ZIP 1996, 421, dazu EWiR 1996, 459 (Schulze-Osterloh).

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ob er mögliche Anfechtungsrechte ausüben will, leiten zu lassen. Infolgedessen darf er bei seiner Entscheidung auch Zweckmäßigkeitserwägungen Raum geben. Entscheidet er sich dabei gegen die Insolvenzanfechtung, indem er die dafür gesetzlich vorgesehene Frist ungenutzt verstreichen lässt, so verletzt er damit allenfalls die Befriedigungsaussichten der Gläubigergemeinschaft, nicht aber rechtlich geschützte, ihm anvertraute Interessen des Geschäftsführers. Im Urteil vom 18. Dezember 1995 hat der Bundesgerichtshof das Fehlen eines Leistungsverweigerungsrechts wegen eines Vorrangs der Insolvenzanfechtung nur für den Sonderfall entschieden, dass der anfechtungsrechtliche Rückgewähranspruch gegen den Zahlungsempfänger verjährt ist, und ihn auch mit einer fehlenden Haftung des Insolvenzverwalters gegenüber dem Geschäftsführer für das Verstreichenlassen der Anfechtungsfrist begründet. Ausdrücklich hat er dahin stehen lassen, ob nicht vor Verjährung des Anfechtungsrechts die Geschäftsführerhaftung in der Weise subsidiär sei, dass der Geschäftsführer ein Leistungsverweigerungsrecht hat, solange realisierbare und erfolgversprechende Anfechtungsmöglichkeiten bestehen.7) 2003 hat er ohne weitere Begründung auch für diesen Fall geurteilt, dass die Ersatzpflicht nach § 64 GmbHG unabhängig von insolvenzrechtlichen Anfechtungstatbeständen besteht.8) Dieses Verschwinden der Subsidiarität wird von der Literatur überwiegend akzeptiert.9) Es liegt auf der Linie der Entscheidung vom 18. Dezember 1995, wenn es dort heißt, dass es keinen Vorrang gebe und der Insolvenzverwalter nach Zweckmäßigkeit entscheiden können müsse, ob er der Insolvenzanfechtung oder der Geschäftsführerhaftung den Vorzug gebe. Das kann nicht nur gelten, wenn der Insolvenzverwalter den Anfechtungsanspruch verjähren lässt. Ein Leistungsverweigerungsrecht würde dem Zweck der Geschäftsführerhaftung, die Masse im Interesse der Gleichbehandlung aller Gläubiger, widersprechen. 7) 8)

9)

BGH, Urt. v. 18.12.1995 – II ZR 277/94, BGHZ 131, 325, 328 = ZIP 1996, 421, dazu EWiR 1996, 459 (Schulze-Osterloh). BGH, Urt. v. 31.3.2003 – II ZR 150/02, ZIP 2003, 1005, 1007, dazu EWiR 2003, 635 (Blöse); ebenso BGH, Beschl. v. 26.6.2018 – II ZR 172/17, Rz. 7, ZInsO 2018, 1955; anklingend schon in BGH, Urt. v. 8.1.2001 – II ZR 88/99, BGHZ 146, 264, 278 = ZIP 2001, 235, 239, m. Anm. Altmeppen, dazu EWiR 2001, 329 (Priester). Müller in: MünchKomm-GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 64 Rz. 169; Kleindiek in: Lutter/ Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 64 Rz. 43; Haas in: Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl. 2017, § 64 Rz. 109; Schmidt-Leithoff/Schneider in: Rowedder/ Schmidt-Leithoff/Schneider, GmbHG, 6. Aufl. 2017, § 64 Rz. 49; Habersack/Foerster in: Großkomm-AktG, 5. Aufl. 2015, § 92 Rz. 139; a. A. K. Schmidt in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2015, § 64 Rz. 70.

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Im Verhältnis von Insolvenzanfechtung und Geschäftsführerhaftung gibt es damit keinen Vorrang, was die Geltendmachung des Masseauffüllungsanspruchs gegen Leistungsempfänger oder Geschäftsführer betrifft. Das Problem des Verhältnisses liegt zeitlich nachgelagert in den Folgen, wenn einer der beiden Ansprüche erfolgreich durchgesetzt wird, für den jeweils anderen Anspruch. III. Konkurrenz Es sind zwei Fälle zu unterscheiden, einmal dass erst der anfechtungsrechtliche Rückgewähranspruch durchgesetzt wird und sich der Insolvenzverwalter danach der Geschäftsführerhaftung zuwendet, und dann die seltene Variante, dass zuerst der Geschäftsführer in Anspruch genommen wird und die Insolvenzanfechtung nicht verfolgt wird. Schon wegen der kurzen Verjährungsfrist der Insolvenzanfechtung und weil beim Geschäftsführer auch ohne die anfechtbaren Rechtshandlungen genug Haftungsmasse übrig bleibt, fokussiert sich der Insolvenzverwalter in der Praxis auf die Insolvenzanfechtung und macht erst später die Geschäftsführerhaftung geltend. 1. Geschäftsführerhaftung nach Anfechtung Wenn der Insolvenzverwalter erfolgreich den anfechtungsrechtlichen Rückgewähranspruch durchsetzt, ist die Masse wieder aufgefüllt. Damit entfällt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs der Haftungsanspruch gegen den Geschäftsführer, weil der Zweck der Haftung, Masseverluste wettzumachen, erreicht ist.10) Eine Massebereicherung ist mit den Ansprüchen nicht beabsichtigt. Für den Wegfall der Haftung des Geschäftsführers genügt es allerdings nicht, dass der Insolvenzverwalter einen Vollstreckungstitel gegen den Zahlungsempfänger erwirkt. Vielmehr entfällt die Haftung erst und nur insoweit, als die Masse wieder aufgefüllt ist. Soweit dies nicht geschieht, bleibt der Anspruch gegen den Geschäftsführer bestehen. Mit anderen Worten mindern Zahlungen des Leistungsempfängers aufgrund der Insolvenzan10)

BGH, Urt. v. 23.6.2015 – II ZR 366/13, Rz. 30, ZIP 2015, 1480, dazu EWiR 2015, 565 (Kleindiek); BGH, Urt. v. 18.11.2014 – II ZR 231/13, Rz. 9, BGHZ 203, 218 = ZIP 2015, 7, dazu EWiR 2015, 69 (Spliedt); BGH, Urt. v. 3.6.2014 – II ZR 100/13, Rz. 14, ZIP 2014, 1523, dazu EWiR 2014, 675 (Wertenbruch); BGH, Urt. v. 18.12.1995 – II ZR 277/94, BGHZ 131, 325, 327 = ZIP 1996, 420, dazu EWiR 1996, 459 (Schulze-Osterloh).

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fechtung die Haftung des Geschäftsführers. Solange nicht vollständig erfüllt ist, besteht der Anspruch nach § 64 Satz 1 GmbHG fort, wenn auch in vermindertem Umfang. Sofern der Geschäftsführer den Rest bezahlt, muss das weitere Schicksal des anfechtungsrechtlichen Rückgewähranspruchs in den Blick genommen werden. Insoweit sollten keine Unterschiede für diesen Restbetrag zu dem Fall bestehen, in dem von Anfang an der Geschäftsführer den Haftungsanspruch erfüllt. Auch hinsichtlich der Gegenrechte gegen die Masse ist das Verhältnis bei Teilleistung des Gläubigers lösbar. Die Forderung des Anfechtungsgegners nach Zahlung lebt wieder auf (§ 144 Abs. 1 InsO) und kann im Verfahren als Insolvenzforderung angemeldet werden. Bei einer Zahlung des Geschäftsführers ist zu berücksichtigen, dass der Gläubiger ohne die Zahlung, die der Geschäftsführer ersetzt, am Insolvenzverfahren teilgenommen hätte. Die Insolvenzquote des im Umfang der Haftung auf Kosten des Geschäftsführers befriedigten Gläubigers ist vom Ersatzanspruch zwar nicht abzuziehen, aber der Geschäftsführer hat einen Anspruch darauf, dass ihm im Urteil vorbehalten wird, nach Erstattung an die Masse Gegenansprüche, die sich nach Rang und Höhe mit den Beträgen decken, die die begünstigten Gesellschaftsgläubiger im Insolvenzverfahren erhalten hätten, gegen den Insolvenzverwalter geltend zu machen.11) Leistungsempfänger und Geschäftsführer können danach anteilig i. H. des jeweils an die Masse geleisteten Betrags am Insolvenzverfahren teilnehmen. Das setzt voraus, dass sich aus dem Verhältnis der Insolvenzanfechtung zur Geschäftsführerhaftung kein Ausgleichsanspruch des Leistungsempfängers ergibt. Dazu ist auch die seltenere Variante, dass zuerst die Geschäftsführerhaftung geltend gemacht wird, in den Blick zu nehmen. 2. Anfechtung nach Geschäftsführerhaftung In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist bislang ungeklärt, welche Folgen es für die Insolvenzanfechtung hat, wenn der Insolvenzverwalter

11)

BGH, Beschl. v. 19.2.2013 – II ZR 296/12, Rz. 3, ZIP 2013, 1251; BGH, Urt. v. 25.1.2011 – II ZR 196/09, Rz. 30, ZIP 2011, 422, dazu EWiR 2011, 257 (Giedinghagen/Göb); BGH, Urt. v. 16.3.2009 – II ZR 280/07, Rz. 24, ZIP 2009, 860, dazu EWiR 2009, 493 (Kiem/ Giershausen); BGH, Beschl. v. 5.11.2007 – II ZR 262/06, Rz. 9, ZIP 2008, 72; BGH, Beschl. v. 17.7.2006 – II ZR 178/05, Rz. 3, DStR 2007, 1360; BGH, Urt. v. 8.1.2001 – II ZR 88/99, BGHZ 146, 264, 278 = ZIP 2001, 235, 239, m. Anm. Altmeppen, dazu EWiR 2001, 329 (Priester).

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zunächst den Haftungsanspruch gegen den Geschäftsführer durchsetzt. Zum Schicksal des Anfechtungsanspruchs wird zwar manchmal ein Urteil des Bundesgerichtshofs vom 8. Januar 2001 zitiert.12) In dieser Entscheidung wird der anfechtungsrechtliche Rückgewähranspruchs aber gar nicht angesprochen. Außer zum Anspruch des Geschäftsführers, nach Zahlung die Rechte des befriedigten Gläubigers im Insolvenzverfahren (entsprechend § 255 BGB oder § 144 Abs. 1 InsO) verfolgen zu dürfen,13) befasst sie sich damit, dass der Geschäftsführer nach Zahlung auf seine Ersatzpflicht nach § 64 GmbHG wegen einer Umsatzsteuervorauszahlung an das Finanzamt entsprechend § 255 BGB Abtretung eines Umsatzsteuererstattungsanspruchs von der Schuldnerin bzw. dem Insolvenzverwalter verlangen kann. Diese Abtretung betrifft keinen anfechtungsrechtlichen Rückgewähranspruch. Hinsichtlich der Steuerrückerstattung ist die Lage nicht anders als bei jeder anderen Abschlagszahlung oder Vorleistung, die von der Schuldnerin zurückverlangt werden kann. Wenn die Rückzahlung vor der Inanspruchnahme des Geschäftsführers gelingt, erlischt insoweit seine Haftung nach den Regeln des Aktiventausches, weil die Masse wieder aufgefüllt wird, indem das Weggegebene wenigstens teilweise zurückgeholt wird.14) Wenn der Rückzahlungsanspruch noch nicht fällig ist, muss er dem Geschäftsführer, der dann in Vorlage tritt, abgetreten werden. Da die Haftung des Geschäftsführers auch erlischt, wenn der Insolvenzverwalter vor seiner Inanspruchnahme erfolgreich die Insolvenzanfechtung durchsetzt, liegt es nahe, die für die nachträgliche Rückgängigmachung einer Vorleistung gefundene Lösung über die Abtretung des Erstattungsanspruchs entsprechend § 255 BGB auch bei der Insolvenzanfechtung zur Geltung zu bringen, wenn der Geschäftsführer vor dem Anfechtungsgegner erfolgreich in Anspruch genommen wird. Aus der angesprochenen Entscheidung, die keine eingehende Begründung zur entsprechenden Anwendung von § 255 BGB enthält, ergibt sich das aber nicht unmittelbar. Da die Insolvenzanfechtung und die Geschäftsführerhaftung beide dem Ausgleich von Masseschmälerungen im Insolvenzverfahren dienen, die Rück-

12) 13)

14)

BGH, Urt. v. 8.1.2001 – II ZR 88/99, BGHZ 146, 264, 279 = ZIP 2001, 235, 238, m. Anm. Altmeppen, dazu EWiR 2001, 329 (Priester). Ebenso dann BGH, Beschl. v. 19.2.2013 – II ZR 296/12, Rz. 3, ZIP 2013, 1251; BGH, Urt. v. 25.1.2011 – II ZR 196/09, Rz. 30, ZIP 2011, 422, dazu EWiR 2011, 257 (Giedinghagen/Göb); BGH, Urt. v. 16.3.2009 – II ZR 280/07, Rz. 24, ZIP 2009, 860. Vgl. grundlegend BGH, Urt. v. 18.11.2014 – II ZR 231/13, Rz. 9, BGHZ 203, 218 = ZIP 2015, 71, dazu EWiR 2015, 69 (Spliedt).

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erstattung von Steuervorauszahlungen oder anderen Vorauszahlungen damit aber nichts zu tun hat, ist es nicht selbstverständlich. Die h. M. geht aber davon aus, dass der Geschäftsführer nach der Zahlung sich den anfechtungsrechtlichen Rückgewähranspruch entsprechend § 255 BGB abtreten lassen könne.15) § 255 BGB sei zugunsten des Geschäftsführers (und nicht etwa des Leistungsempfängers) anwendbar.16) Nach § 255 BGB müsse sich der Schädiger um die Durchsetzung anderweitiger Ersatzansprüche bemühen und könne – wie der Geschäftsführer – das Liquidationsrisiko nicht auf die Schuldnerin übertragen.17) Andere sehen den Grund darin, dass bei dem früheren Erfolg der Anfechtungsklage der Anspruch gegen den Geschäftsführer entfalle.18) Diese Wertung dürfe nicht unterlaufen werden, so dass der Geschäftsführer den Anspruch gegen den Anfechtungsgegner über § 255 BGB erhalten müsse.19) Daraus, dass die Geschäftsführerhaftung entfalle, soweit der Anfechtungsgegner an die Masse leiste, sei zu entnehmen, dass im Verhältnis zwischen Gläubiger und Organvertreter letztlich der Anfechtungsgegner und nicht der Geschäftsfüh-

15)

16) 17) 18) 19)

OLG Oldenburg, Urt. v. 10.5.2004 – 15 U 13/04, GmbHR 2004, 1014, 1015 = ZIP 2005, 317 (LS); Müller, Die Haftung des GmbH-Geschäftsführers aus § 64 GmbHG bei unterlassener Konkursanfechtung, ZIP 1996, 1153, 1156; K. Schmidt, Verbotene Zahlungen in der Krise von Handelsgesellschaften und die daraus resultierenden Errsatzpflichten, ZHR 168 (2004), 637, 669; Priebe, Die Haftung des GmbH-Geschäftsführers gem. § 64 GmbHG, ZInsO 2014, 1681; Goette, Zur systematischen Einordnung des § 64 Abs. 2 GmbHG, ZInsO 2005, 1, 5; Glöckner, Zur Haftung des Geschäftsführers, des Anfechtungsschuldners und des Konkursverwalters bei masseschmälernden Zahlungen, JZ 1997, 623, 625; Flöther/Korb, Das Verhältnis zwischen dem Erstattungsanspruch nach § 64 GmbHG und der Insolvenzanfechtung (§ 64 GmbHG), ZIP 2012, 2333, 2334; Kreuzberg, Zur Geschäftsführerhaftung bei Einziehung von abgetretenen Forderungen auf ein debitorisches Konto, NZG 2016, 371, 375; Poertzgen, Organhaftung wegen Insolvenzverschleppung, 2006, S. 231 f.; K. Schmidt in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2015, § 64 Rz. 70; Müller in: MünchKomm-GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 64 Rz. 169; Haas in: Baumbach/ Hueck, GmbHG, 21. Aufl. 2017, § 64 Rz. 110; Kleindiek in: Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 64 Rz. 43; Altmeppen in: Roth/Altmeppen, GmbHG, 9. Aufl. 2019, § 64 Rz. 24; Schmidt-Leithoff/Schneider in: Rowedder/Schmidt-Leithoff/Schneider, GmbHG, 6. Aufl. 2017, § 64 Rz. 49; Casper in: Ulmer/Habersack/Winter, GmbHG, 2. Aufl. 2013, § 64 Rz. 131; Bittner in: Staudinger, BGB, Bearb. 2014, § 255 Rz. 66; a. A. Bangha-Szabo, Keine Berücksichtigung von Insolvenzanfechtungsansprüchen im Rahmen der Masseschmälerungshaftung des Geschäftsleiters, KTS 2015, 165, 174. Goette, ZInsO 2005, 1, 5; Glöckner, JZ 1997, 623, 625. Müller, ZIP 1996, 1153, 1156. Glöckner, JZ 1997, 623, 625. Haas in: Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl. 2017, § 64 Rz. 110.

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rer für die Auffüllung des Gesellschaftsvermögens verantwortlich sei.20) Andere sehen in der Abtretung die Verhinderung einer ansonsten eintretenden, nicht zu rechtfertigenden Bereicherung der Masse.21) a) Abtretbarkeit Eine entsprechende Anwendung von § 255 BGB sieht sich inzwischen allerdings nicht mehr dem Bedenken gegenüber, dass eine Abtretung des anfechtungsrechtlichen Rückgewähranspruchs nicht möglich sei. Der anfechtungsrechtliche Rückgewähranspruch kann grundsätzlich vom Insolvenzverwalter abgetreten werden, wenn die Abtretung nicht im offensichtlichen Widerspruch zum Zweck des Insolvenzverfahrens steht, die Gläubiger der GmbH gleichmäßig zu befriedigen.22) Dass die Abtretung den Insolvenzzwecken sogar dient, könnte angenommen werden, wenn der Insolvenzverwalter den Anspruch abtreten muss, um eine Zahlung vom Geschäftsführer zu erhalten, Dass gegenüber dem Geschäftsführer (und nicht nur gegenüber den Gläubigern) eine Pflicht des Insolvenzverwalters besteht, den Anfechtungsanspruch durchzusetzen, hat der Bundesgerichtshof aber gerade abgelehnt.23) Der Anfechtungsanspruch gegen den Leistungsempfänger muss daher nicht abgetreten werden, um die Masseauffüllung durch den Geschäftsführer zu erreichen. Andererseits besteht jedenfalls kein offensichtlicher Widerspruch zum Zweck des Insolvenzverfahrens, die Gläubiger gleichmäßig zu befriedigen, weil der Verwalter eine Zahlung erhalten hat und die Masse damit aufgefüllt ist.24) Der Insolvenzverwalter darf die Masse nicht bereichern und ist daher gegenüber den Gläubigern nicht mehr verpflichtet, den anfechtungsrechtlichen Rückgewähranspruch gegen den Leistungsempfänger geltend machen, nachdem der Geschäftsführer den Masseabfluss ausgeglichen hat. Damit ist eine

20)

21) 22)

23) 24)

Poertzgen, Organhaftung wegen Insolvenzverschleppung, 2006, S. 230 f.; Henze/Bauer, Pflichtenstellung und Haftung des GmbH-Geschäftsführers im früheren und gegenwärtigen Insolvenzrecht, in: Kölner Schrift zur Insolvenzordnung, 2. Aufl. 2000, S. 1311, 1328. Goette, ZInsO 2005, 1, 5; Schmidt-Leithoff/Schneider in: Rowedder/Schmidt-Leithoff/ Schneider, GmbHG, 6. Aufl. 2017, § 64 Rz. 49. BGH, Urt. v. 17.2.2011 – IX ZR 91/10, Rz. 8, ZIP 2011, 1114, dazu EWiR 2011, 433 (Huber); BGH, Urt. v. 10.1.2013 – IX ZR 172/11, Rz. 10, ZIP 2013, 531, dazu EWiR 2013, 329 (Schulz). BGH, Urt. v. 18.12.1995 – II ZR 277/94, BGHZ 131, 325, 328 = ZIP 1996, 420, dazu EWiR 1996, 459 (Schulze-Osterloh). So Gehrlein, ZHR 181 (2017), 482, 544.

Die Geschäftsführerhaftung nach § 64 Satz 1 GmbHG und die Insolvenzanfechtung

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Abtretung des Rückgewähranspruchs gegen den Leistungsempfänger jedenfalls nicht mehr insolvenzzweckwidrig und möglich. b) Verbot der Massebereicherung Dabei wird für die Anwendung des § 255 BGB oft stillschweigend vorausgesetzt, dass die Zahlung des Geschäftsführers den Anfechtungsanspruch nicht zum Erlöschen bringt. Manchmal wird das ausdrücklich begründet. Etwa damit, dass die anderen Gläubiger zwar nun so stehen, wie wenn der Geschäftsführer die anfechtbare Zahlung pflichtgemäß nicht veranlasst hätte, jedoch weiterhin gegenüber dem in anfechtbarer Weise befriedigten Gläubiger benachteiligt bleiben. Dem Geschäftsführer werde eine Regressmöglichkeit eingeräumt, was sachgerecht sei, da eine Schadensersatzforderung nur bestehen könne, soweit ein Schaden noch vorhanden sei.25) Daran ist richtig, dass der Ersatzanspruch gegen den Geschäftsführer, der allerdings kein klassischer Schadensersatzanspruch ist, sondern ein Ersatzanspruch eigener Art, nicht mehr besteht, wenn der Insolvenzverwalter mit der Anfechtung gegen den Leistungsempfänger erreicht hat, dass die Masse wieder aufgefüllt ist.26) Für das umgekehrte Verhältnis – Auswirkung der Ersatzleistung durch den Geschäftsführer auf die Anfechtung – besagt das aber nichts; wenn man das Fortbestehen des anfechtungsrechtlichen Rückgewähranspruchs mit der Regressmöglichkeit begründet, handelt es sich um eine petitio principii. Dass stillschweigend vom Fortbestand des anfechtungsrechtlichen Rückgewähranspruchs ausgegangen wird, dürfte vielmehr daran liegen, dass dies dem Musterfall entspricht, der bei der unmittelbaren Anwendung von § 255 BGB diskutiert wird: der zum Schadensersatz verpflichtete Verwahrer, dem die Sache fahrlässig abhandenkam, ist nur gegen Abtretung des Herausgabeanspruchs gegen den Dieb zum Schadensersatz verpflichtet. Dem entspricht, dass der anfechtungsrechtliche Rückgewähranspruch auf Rückgewähr – wie der Herausgabeanspruch – gerichtet ist, der Ersatzanspruch gegen den Geschäftsführer dagegen – wie ein Schadensersatzanspruch bei Unmöglichkeit

25) 26)

Flöther/Korb, ZIP 2012, 2333, 2334. BGH, Urt. v. 23.6.2015 – II ZR 366/13, Rz. 30, ZIP 2015, 1480, dazu EWiR 2015, 565 (Kleindiek); BGH, Urt. v. 18.11.2014 – II ZR 231/13, Rz. 9, BGHZ 203, 218 = ZIP 2015, 71, dazu EWiR 2015, 69 (Spliedt); BGH, Urt. v. 3.6.2014 – II ZR 100/13, Rz. 14, ZIP 2014, 1523, dazu EWiR 2014, 675 (Wertenbruch); BGH, Urt. v. 18.12.1995 – II ZR 277/94, BGHZ 131, 325, 327 = ZIP 1996, 420, dazu EWiR 1996, 459 (Schulze-Osterloh).

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der Naturalrestitution – auf Geldleistung, selbst wenn die masseschmälernde Leistung, die die Haftung ausgelöst hat, in einer Sach- oder Rechtsleistung besteht. Diese Parallele verlockt zur unbesehenen Übernahme. Hinzu kommt, dass ein Zweck von § 255 BGB darin besteht, dass eine unberechtigte Bereicherung des Gläubigers vermieden werden soll,27) und dies auch ein Anliegen im Verhältnis der Masse zum Anfechtungsgegner und dem Geschäftsführer ist. Ob der anfechtungsrechtliche Rückgewähranspruch nach einer Ersatzleistung des Geschäftsführers fortbesteht, ist allerdings zweifelhaft. Zwar gibt es im Anfechtungsrecht keinen Erlöschenstatbestand, wenn die Gläubigerbenachteiligung anders als durch die Rückgewähr durch den Leistungsempfänger entfällt, andererseits liegt auch auf er Hand, dass der Insolvenzverwalter die Masse nicht bereichern darf. Jedenfalls gegenüber der Masse dürfte Tilgungswirkung eintreten, weil der Gläubiger auch bei ungleichstufigen Schuldnern, wie sie § 255 BGB voraussetzt, nach Leistung des einen nicht mehr gegen den anderen vorgehen kann.28) Mit der entsprechenden Anwendung von § 255 BGB müsste also in diesen Fällen auch das Bestehen des Rückgewähranspruchs fingiert werden, was der Rechtsprechung aber hinsichtlich des dem Geschäftsführer nach Zahlung zuzuerkennenden Anspruchs auf Teilnahme am Insolvenzverfahren anstelle des befriedigten Gläubigers auch keine Schwierigkeiten bereitet hat.29) Insoweit erlischt der anfechtungsrechtliche Rückgewähranspruch nicht, wenn auch der Insolvenzverwalter nicht mehr selbst gegen den Leistungsempfänger vorgehen kann. Er kann ihn allenfalls noch an den Geschäftsführer abtreten. Für diesen Zweck besteht er fort. Die Abtretung wird aber nicht umgekehrt benötigt, um eine Massebereicherung zu vermeiden. c) Subsidiarität § 255 BGB ist nur anwendbar, wenn die Ansprüche gegen den Dritten und den Schadensersatzpflichtigen nicht gleichstufig sind, andernfalls kommt eine Gesamtschuld nach § 421 BGB in Betracht.30) In der Tat wird für das 27) 28) 29)

30)

BGH, Urt. v. 12.12.1996 – IX ZR 214/95, NJW 1997, 1008, 1012; Oetker in: MünchKomm-BGB, 8. Aufl. 2019, § 255 Rz. 1. Heinemeyer in: MünchKomm-BGB, 8. Aufl. 2019, § 421 Rz. 68. BGH, Beschl. v. 19.2.2013 – II ZR 296/12, Rz. 3, ZIP 2013, 1251 m. w. N.; BGH, Urt. v. 8.1.2001 – II ZR 88/99, BGHZ 146, 264, 278 = ZIP 2001, 235, 239, m. Anm. Altmeppen, dazu EWiR 2001, 329 (Priester). BGH, Urt. v. 28.11.2006 – VI ZR 136/05, Rz. 17, NJW 2017, 1208 m. w. N.

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Verhältnis zwischen dem anfechtungsrechtlichen Rückgewähranspruch und der Haftung des Geschäftsführers neuerdings auch ein Gesamtschuldverhältnis angenommen. Das soll zu einem Ausgleich nach § 426 Abs. 1 Halbs. 2 BGB gegen den Anfechtungsgegner und einer Legalzession des Anfechtungsanspruchs führen, allerdings nur eines Altgläubigers, während gegenüber Neugläubigern ein differenziertes Regressregime gelten soll.31) Dass die Ansprüche gegen den Anfechtungsgegner und den Geschäftsführer nicht immer gleichartig sind, weil der anfechtungsrechtliche Rückgewähranspruch auf Rückgewähr des anfechtbar Erlangten geht, nicht notwendig auf Zahlung, der Geschäftsführer dagegen immer Geldersatz schuldet, auch wenn die masseschmälernde Leistung nicht in einer Zahlung, sondern in der Leistung eines Gegenstandes oder Rechts aus der Masse besteht, schließt eine Gesamtschuld nicht aus. Erforderlich ist für eine Gesamtschuld die Identität des Leistungsinteresses, nicht eine Identität des Leistungsinhalts und Leistungsumfangs.32) Das Leistungsinteresse ist aber aus der Sicht der Insolvenzmasse identisch: Beseitigung der Gläubigerbenachteiligung durch den Masseabfluss. Entscheidend für die Unterscheidung zwischen Gesamtschuld und § 255 BGB ist damit die Gleichstufigkeit. Gleichstufigkeit liegt vor, wenn durch Erfüllung einer Schuld auch die andere erlischt, dagegen fehlt sie, wenn der Leistungszweck der einen gegenüber der anderen Verpflichtung vorläufig, subsidiär oder nachrangig ist und der unterschiedliche Rang im Außenverhältnis zum Ausdruck kommt.33) Ob sich die Ersatzverpflichteten gegenüber dem Ersatzberechtigten in einer ungleichstufigen Haftung befinden, wird nicht durch § 255 BGB entschieden, sondern von der Vorschrift vorausgesetzt.34) Wenn § 255 BGB anwendbar ist, führt das daher nicht dazu, dass der Geschäftsführer einen Regressanspruch erhält, sondern § 255 BGB ist nur dann entsprechend anwendbar, wenn der Geschäftsführer im Rang nach dem Anfechtungsgegner haftet und deshalb ein Regressanspruch besteht. oder in Frage kommt. Eine subsidiäre Haftung des Geschäftsführers hat der Bundesgerichtshof aber abgelehnt. Auch sonst ist nicht ersichtlich, warum der Geschäftsführer

31) 32) 33) 34)

Habersack/Foerster, ZHR 178 (2014), 387, 409 ff. BGH, Urt. v. 28.10.2014 – VI ZR 15/14, Rz. 34, WM 2014, 2318. BGH, Urt. v. 28.11.2006 – VI ZR 136/05, Rz. 17, NJW 2017, 1208 m. w. N.; PalandtGrüneberg, BGB, 78. Aufl. 2019, § 421 Rz. 7. Oetker in: MünchKomm-BGB, 8. Aufl. 2019, § 255 Rz. 3.

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mit dem Anspruch nach § 64 Satz 1 GmbHG nur in Vorlage für den Anfechtungsanspruch treten oder nur das Liquiditätsrisiko des Leistungsempfängers übernehmen soll. Ein Gesamtschuldverhältnis und die Anwendung von § 426 BGB liegen damit näher als die analoge Anwendung von § 255 BGB. Dem entspricht die Beliebigkeit des Zugriffs durch den Insolvenzverwalter auf Leistungsempfänger oder Geschäftsführer (§ 421 Satz 1 BGB) und die Erfüllungswirkung aus der Sicht des Insolvenzverwalters (§ 422 Abs. 1 BGB). 3. Ausgleich Geht man von einer Gesamtschuld aus, stellt sich damit die Frage des Ausgleichs und des Regresses nach § 426 BGB. Allerdings führt eine Gesamtschuld nicht in jedem Fall zu einem Ausgleichsanspruch über § 426 BGB; vielmehr können die Rechtsfolgen auch bei einer Gesamtschuld spezieller geregelt sein.35) Nur scheinbar macht es § 255 BGB leichter, weil danach nur ein vollständiger Regress des Geschäftsführers in Frage zu kommen scheint. Aber auch bei § 255 BGB ist es nicht so, dass immer der nachrangig Haftende einen Anspruch auf Abtretung hat. Vielmehr ist auch hier eine andere Wertung im Einzelfall möglich.36) Entscheidend für den Ausgleich ist damit nicht die Einordnung als Gesamtschuld, sondern eine wertende Betrachtung. Die Argumente, mit denen der vollständige Regress nach § 255 BGB begründet wird, erweisen sich dabei für einen Vorrang des Anfechtungsanspruchs als wenig tragfähig. Dass der Geschäftsführer das Liquidationsrisiko nicht auf die Schuldnerin übertragen dürfe, ist kein Argument für einen Regress, sondern nur dafür, dass der Geschäftsführer nicht subsidiär haftet. Dass bei dem früheren Erfolg der Anfechtungsklage der Anspruch gegen den Geschäftsführer entfalle und diese Wertung nicht unterlaufen werden dürfe, so dass der Geschäftsführer den Anspruch gegen den Anfechtungsgegner über § 255 BGB erhalten müsse, blendet aus, dass bei einem früheren Erfolg des Ersatzanspruchs nach § 64 Satz 1 GmbHG auch der Rückgewähranspruch aus der Insolvenzanfechtung vom Insolvenzverwalter nicht mehr geltend gemacht werden kann. Über das Verhältnis der Ansprüche besagt dies nichts. Daraus, dass die Geschäftsführerhaftung entfalle, soweit der Anfechtungsgegner an die Masse leiste, kann daher auch nicht entnommen

35) 36)

Heinemeyer in: MünchKomm-BGB, 8. Aufl. 2019, § 421 Rz. 16. Vgl. Palandt-Grüneberg, BGB, 78. Aufl. 2019, § 255 Rz. 4.

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werden, dass im Verhältnis zwischen Gläubiger und Organvertreter letztlich der Anfechtungsgegner und nicht der Geschäftsführer für die Auffüllung des Gesellschaftsvermögens verantwortlich sei. Der Anspruch gegen den Geschäftsführer ist eben nicht subsidiär. Um eine nicht zu rechtfertigenden Bereicherung der Masse zu verhindern, bedarf es ebenfalls keines Regressanspruchs des Geschäftsführers. Der Insolvenzverwalter kann nach Erstattung durch den Geschäftsführer den anfechtungsrechtlichen Rückgewähranspruch gegen den Gläubiger nicht mehr geltend machen. Schwerer wiegt das Argument für einen Ausgleichsanspruch des Geschäftsführers in voller Höhe, dass die Anfechtung den Zustand herstellt, der ohne die Zahlung bestünde.37) Das gilt aus der Sicht der Masse zwar auch für die Erstattung durch den Geschäftsführer. Für den Leistungsempfänger macht es aber einen Unterschied: er wird mit der Anfechtung auf den Zustand zurückgeworfen, der vor Zahlung bestand. Vor allem wird seine Bevorzugung gegenüber anderen Gläubigern rückgängig gemacht, weil er nur mit der Insolvenzquote und nicht vollständig befriedigt wird. Wenn nur der Geschäftsführer erstattet, ohne den Anfechtungsanspruch zu erwerben und geltend zu machen, bleibt diese Begünstigung dem Leistungsempfänger erhalten. Allerdings bleibt auch ein Gläubiger begünstigt, gegenüber dem kein Anfechtungstatbestand verwirklicht ist, weil er vollständig und nicht nur mit der Insolvenzquote befriedigt wird und bleibt. Die Gleichstellung des Anfechtungsgegners mit anderen Gläubigern kann daher kein Grund für einen Regressvorrang sein, sonst müsste auch in den Fällen ohne Anfechtung ein Anspruch gegen die Zahlungsempfänger zur Gleichbehandlung bestehen. Vielmehr hat im Verhältnis zwischen Leistungsempfänger und Geschäftsführer der Geschäftsführer den Masseverlust zu ersetzen. Er ist sozusagen „näher dran“. Die Haftung nach § 64 Satz 1 GmbHG setzt voraus, dass Insolvenzreife besteht. In dieser Situation hat der Geschäftsführer einen Insolvenzantrag zu stellen. Wenn er sich ordnungsgemäß verhält, kann es zu den eine Insolvenzanfechtung begründende Zahlungen nicht mehr kommen. Sie setzen immer voraus, dass der Geschäftsführer sie veranlasst hat, sie also auf sein Handeln zurückgehen.38) Dagegen muss der Leistungsempfänger – jedenfalls bei einer klassischen Zahlung – nichts veranlassen. Selbst wenn 37) 38)

Habersack/Foerster, ZHR 178 (2014), 387, 409. BGH, Urt. v. 16.3.2009 – II ZR 280/07, Rz. 18, ZIP 2009, 860; BGH, Urt. v. 16.3.2009 – II ZR 32/08, Rz. 13, ZIP 2009, 956; BGH, Urt. v. 25.1.2011 – II ZR 196/09, Rz. 28, ZIP 2011, 422.

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er auf die Zahlung gedrängt hat, hätte der Geschäftsführer dem vermeintlichen Zwang zur Zahlung durch Insolvenzantragstellung entgehen können. Damit hätte er zugleich die gleichmäßige Befriedigung aller Gläubiger sicherstellen können und müssen. Das Gesetz bewertet die Verschleppung des Eröffnungsantrags sogar als Straftat nach § 15a Abs. 4 InsO. Demgegenüber steht der Anfechtungsgegner außerhalb. Er hat oft keinen Einblick in die Interna der Gesellschaft und ist auch weder für die Gleichbehandlung der Gläubiger noch das Ausbleiben von Masseschmälerungen unmittelbar verantwortlich, regelmäßig zur Stellung eines begründeten Insolvenzantrags auch nicht in der Lage. Insgesamt liegt die Verantwortung für die Masseschmälerung daher in erster Linie beim Geschäftsführer. Damit wäre es nicht zu vereinbaren, ihm einen Ausgleichsanspruch zuzuerkennen. Schließlich ist auch nicht jede Zahlung anfechtbar. Insoweit ist es aus der Sicht der Zahlungsverbote eher zufällig, wenn bei einer Zahlung auch ein Anfechtungstatbestand verwirklicht wird. Dieses Ergebnis führt aber auch nicht umgekehrt zu einem Ausgleichsanspruch des Leistungsempfängers nach Rückerstattung an die Masse gegen den Geschäftsführer oder gar zu einer Legalzession des Anspruchs aus § 64 Satz 1 GmbHG nach § 426 Abs. 2 GmbHG. Der Anfechtungsgegner erwirbt nach Rückgewähr zwar nach § 144 InsO wieder die Stellung als Insolvenzgläubiger, die jedoch nur einen Anspruch auf die Quote ergibt und keine volle Befriedigung. Für die Differenz käme daher grundsätzlich ein Ausgleichsanspruch in Betracht, weil der Geschäftsführer in erster Linie für die Masseschmälerung verantwortlich ist. Zwischen dem Anfechtungsgegner und dem Geschäftsführer trifft die Verantwortlichkeit den Geschäftsführer, der pflichtwidrig den Insolvenzantrag nicht gestellt hat. Der Ausgleichsanspruch würde aber mit anderen, allen Gläubigern zukommenden Ansprüchen gegen den Geschäftsführer in Konkurrenz treten. Der Schuldner des anfechtungsrechtlichen Rückgewähranspruchs hat nämlich wie jeder Gläubiger einen Schadensersatzanspruch gegen den Geschäftsführer nach § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a Abs. 1 InsO. Mit der Rückgewähr an den Insolvenzverwalter entsteht im auch ein Schaden, weil er nicht mehr voll befriedigt wird, sondern nur noch einen Anspruch auf die Quote hat. Wenn der Anfechtungsanspruch in Konkurrenz zum Haftungsanspruch nach § 64 Satz 1 GmbHG tritt, liegt immer ein Vorgang nach Eintritt der Insolvenzreife und damit eine Insolvenzverschleppung i. S. von § 15a InsO vor. Für diesen Schadensersatzanspruch sind Neu- und Altgläubiger zu unterscheiden, denen jeweils im Einzelnen differenzierte Ersatzansprüche zu-

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kommen. Der Neugläubiger, der erst nach Insolvenzreife mit der Gesellschaft in vertraglichen Kontakt getreten ist, kann unmittelbar gegen den Geschäftsführer Schadensersatzansprüche geltend machen. Sie sind auf den Vertrauensschaden begrenzt und erreichen daher nicht notwendig die Höhe des vereinbarten Zahlungsanspruchs.39) Der Altgläubiger kann dagegen nur den Quotenschaden geltend machen, und zwar im eröffneten Verfahren nicht selbst, sondern nach § 92 InsO nur vermittels des Insolvenzverwalters.40) Auch sein Schadensersatzanspruch muss nicht die Höhe der Zahlung (abzgl. der Insolvenzquote) erreichen. Dieses bestehende Haftungsregime würde durch einen Ausgleichsanspruch gegen den Geschäftsführer auf volle Erstattung unterlaufen. Außerdem wäre das Wahlrecht des Insolvenzverwalters eingeschränkt, nach Zweckmäßigkeit unter Berücksichtigung der Leistungsfähigkeit über die Geltendmachung der Ansprüche zu entscheiden. Wenn es zu einem Wettlauf zwischen Leistungsempfänger und Insolvenzverwalter um die Leistungsfähigkeit des Geschäftsführers käme, könnte der Insolvenzverwalter nicht mehr zuerst sichere Anfechtungsansprüche gegen die Leistungsempfänger geltend machen und verbleibende Ansprüche nach § 64 Satz 1 GmbHG gegen den Geschäftsführer, sondern müsste sofort gegen den Geschäftsführer vorgehen. IV. Zusammenfassung Der Insolvenzverwalter kann nach Zweckmäßigkeit zwischen dem anfechtungsrechtlichen Rückgewähranspruch und der Geschäftsführerhaftung entscheiden. Wenn einer dieser Ansprüche befriedigt wird, kann der Insolvenzverwalter den anderen Anspruch für die Masse nicht mehr geltend machen. Ein Ausgleich oder Regress über § 426 Abs. 1 BGB oder § 255 BGB findet nicht statt, insbesondere kann der Geschäftsführer nicht die Abtretung des Anfechtungsanspruchs verlangen. Der Leistungsempfänger kann, wenn er den anfechtungsrechtlichen Rückgewähranspruch erfüllt hat, dagegen nach § 15a InsO i. V. m. § 823 Abs. 2 BGB nach allgemeinen Regeln seinen Schadensersatz gegen den Geschäftsführer verfolgen bzw. verfolgen lassen.

39) 40)

BGH, Urt. v. 21.10.2014 – II ZR 113/13, Rz. 13, ZIP 2015, 267 m. w. N., dazu EWiR 2015, 209 (Seidel). BGH, Urt. v. 22.10.2013 – II ZR 394/12, Rz. 15, ZIP 2014, 23 m. w. N., dazu EWiR 2014, 277 (Wahl/Mann).

Lastschrift in der Insolvenz JÜRGEN ELLENBERGER Inhaltsübersicht I. II.

Einleitung Einzugsermächtigungslastschrift in der Insolvenz 1. Entwicklung des Einzugsermächtigungsverfahrens 2. Funktionsweise der Einzugsermächtigungslastschrift 3. Genehmigungstheorie a) Deckungsverhältnis aa) Fiktive Genehmigung bb) Konkludente Genehmigung (1) Kommentarlose Entgegennahme von Kontoauszügen (2) Beanstandungslose Kontoweiternutzung (3) Regelmäßig wiederkehrende Lastschriften (4) Führung eines Kontos auf Guthabenbasis

(5) Zeitnaher Ausgleich von Belastungsbuchungen (6) Mit der Bank abgestimmte Kontodispositionen (7) Umbuchungslastschrift b) Valutaverhältnis aa) Grundsatz bb) Insolvenz des Zahlers III. Erstattungsanspruch im SEPA-Basislastschriftverfahren 1. Deckungsverhältnis a) Autorisierung b) Bestandsfestigkeit der Belastungsbuchung c) Aktives Gegenrecht 2. Valutaverhältnis a) Erfüllungswirkung b) Insolvenzfestigkeit IV. Vorsatzanfechtung V. Schlussbemerkung

I. Einleitung Im Lastschriftverkehr gab es wegen der Widerspruchsmöglichkeit des Schuldners im Einzugsermächtigungsverfahren einige Besonderheiten, die zu unterschiedlichen Sichtweisen innerhalb des Bundesgerichtshofs geführt hatten. Die dadurch bestehende Rechtsunsicherheit konnte durch die Urteile des IX. und des XI. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs vom 20. Juli 2010 beseitigt werden. Der Jubilar war maßgeblich an dieser Einigung beteiligt. Deshalb sollen im Folgenden die Grundsätze der übereinstimmenden Rechtsprechung nachgezeichnet werden.

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II. Einzugsermächtigungslastschrift in der Insolvenz 1. Entwicklung des Einzugsermächtigungsverfahrens Die Dogmatik des Einzugsermächtigungsverfahrens war lange umstritten, bis sich die sog. Genehmigungstheorie in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs durchgesetzt hat. Mitte der 2000er Jahre führte die Auslegung der herrschenden Genehmigungstheorie in der Insolvenz des Schuldners zu einem Streit zwischen dem für Bankrecht zuständigen XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs und dem für das Insolvenzrecht zuständigen IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs. Bewegung in die Dogmatik kam durch die Umsetzung der europäischen Zahlungsdiensterichtlinie mit Wirkung ab 31. Oktober 2009. Dies führte dazu, dass sich die beiden Senate in ihren Urteilen vom 20. Juli 20101) auf der Grundlage des neuen Rechts für die Zukunft einigten und den Banken eine Anpassung des Einzugsermächtigungsverfahrens an die neue europäische SEPA-Basislastschrift empfahlen. Der Deutsche Bundestag schloss sich dieser Empfehlung des Bundesgerichtshofs an.2) Die Bankwirtschaft stellte sodann mit Wirkung vom 9. Juli 2012 ihre Vertragswerke entsprechend dieser Empfehlung um. Der europäische Gesetzgeber wiederum bestimmte in der Migrationsverordnung3), dass ab dem 1. Februar 2014 nur noch das europäische Lastschriftverfahren zulässig ist und die nationalen Verfahren in das europäische Verfahren übergeleitet werden. Für die Vergangenheit, also für die Fälle, die sich bis einschließlich 8. Juli 2012 abspielten, gelten weiter die Genehmigungstheorie und das bis dahin geltende Abkommen über den Lastschriftverkehr a. F. (LSA) Das heißt, ohne Vorliegen einer ausdrücklichen, fiktiven oder konkludenten Genehmigung des Insolvenzschuldners kann der (vorläufige) Insolvenzverwalter den endgültigen Abfluss eines Lastschriftbetrages verhindern.

1) 2) 3)

BGH, Urt. v. 20.7.2010 – IX ZR 37/09, BGHZ 186, 242 ff. = ZIP 2010, 1552, und BGH, Urt. v. 20.7.2010 – XI ZR 236/07, BGHZ 186, 269 ff. = ZIP 2010, 1556. BT-Drucks. 17/5768, S. 2. Verordnung (EU) Nr. 260/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 14.3.2012 zur Festlegung der technischen Vorschriften und der Geschäftsanforderungen für Überweisungen und Lastschriften in Euro und zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 924/ 2009 – Migrationsverordnung, ABl. (EU) L 94/22 v. 30.3.2012.

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2. Funktionsweise der Einzugsermächtigungslastschrift Zu dem durch das LSA a. F. am 1. Januar 1964 eingeführte Einzugsermächtigungsverfahren bestand trotz Praxistauglichkeit rechtliche Unsicherheit. Die Frage, wie die Rechtsbeziehungen zwischen den im Lastschriftverkehr Beteiligten beim Einzugsermächtigungsverfahren rechtlich einzuordnen sind, war höchst streitig,4) was nicht zuletzt aus der Entstehungsgeschichte des Lastschriftverfahrens herrührt. Man muss sich die Rechtsbeziehungen im Lastschriftviereck vor Augen führen, um die sich stellenden rechtlichen Frage sachgerecht beantworten zu können: Beim Einzugsermächtigungsverfahren sind im Wesentlichen vier selbständige Rechtverhältnisse zu unterscheiden. Zwischen Gläubiger (= Zahlungsempfänger) und Schuldner (= Zahler i. S. von § 675f Abs. 1 BGB) einer Geldforderung, dem Valutaverhältnis, wird vereinbart, dass die einredefreie Forderung des Gläubigers bei Fälligkeit vom Gläubiger eingezogen wird (Erteilung einer Einzugsermächtigung). Im Inkassoverhältnis zwischen Gläubiger und Gläubigerbank (= Bank des Zahlungsempfängers) wird der Gläubiger mit der Inkassovereinbarung zum Einzugsermächtigungsverfahren zugelassen. Im Interbankenverhältnis sind die Rechte und Pflichten der Gläubigerbank, der Schuldnerbank (Bank des Zahlers) und weiterer Zwischenbanken durch das LSA a. F. geregelt. Im Deckungsverhältnis zwischen Schuldner (= Zahler) und Schuldnerbank ist der zwischen ihnen bestehende Girovertrag (= Zahlungsdiensterahmenvertrag i. S. von § 675f Abs. 2 BGB) maßgeblich. Die Besonderheit des Einzugsermächtigungsverfahrens besteht darin, dass der Gläubiger die Initiative zur Bezahlung seiner Forderung ergreift, indem er seine Bank beauftragt, den Geldbetrag einzuziehen. Diese leitet den Auftrag an die Schuldnerbank weiter, die den Betrag dem Schuldnerkonto belastet und an die Gläubigerbank leitet, ohne dazu vom Schuldner eine Weisung erhalten zu haben. Wegen dieses Initiativrechts des Gläubigers sind sowohl die Bankwirtschaft als auch die führenden juristischen Theorien bereits vor Schaffung des § 675x Abs. 2 und 4 BGB übereinstimmend davon ausgegangen, dass der Lastschriftschuldner der Kontobelastung für einen gewissen Zeitraum widersprechen können muss. Widerspricht der Schuldner, berichtigt die 4)

Vgl. zum Streitstand van Gelder in: Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 3. Aufl. 2007, § 57 Rz. 5 – 56d.

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Schuldnerbank im Deckungsverhältnis die Buchung und gibt die Lastschrift im Interbankenverhältnis zurück. Die Gläubigerbank belastet sodann im Inkassoverhältnis das Gläubigerkonto wieder mit dem zuvor gutgeschriebenen Betrag einschließlich Rücklastschriftgebühren. Der Streit über die juristische Einordnung der Rechtsbeziehungen im Lastschrift-Viereck entzündet sich vor allem an der Einordnung und der Wirkung des Widerspruchs des Schuldners im Deckungsverhältnis zu der Schuldnerbank auf das Valutaverhältnis zwischen Schuldner und Gläubiger. 3. Genehmigungstheorie In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hat sich nach einer Zeit nicht ganz eindeutiger Entscheidungen5) die sog. Genehmigungstheorie durchgesetzt, zu der sich erstmals der XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs mit Urteil vom 14. Februar 19896) expressis verbis bekannt hat. Nach dieser sind die Erfüllung im Valutaverhältnis und die Entstehung des Aufwendungsersatzanspruchs im Deckungsverhältnis untrennbar miteinander verbunden. a) Deckungsverhältnis Nach dieser Theorie hat die Schuldnerbank im Deckungsverhältnis aus dem Zahlungsdiensterahmenvertrag zunächst keinen Aufwendungsersatzanspruch (§§ 675c, 670 BGB) gegen den Schuldner, weil sie ohne dessen Weisung und damit unberechtigt auf sein Konto zugegriffen hat. Wegen dieser weisungslosen Belastung seines Kontos steht dem Schuldner gegenüber der Schuldnerbank aus dem Zahlungsdiensterahmenvertrag bis zu seiner Genehmigung eine Widerspruchsmöglichkeit (besser: Möglichkeit

5)

6)

Vgl. BGH, Urt. v. 28.2.1977 – II ZR 52/77, BGHZ 69, 82, 85; BGH, Urt. v. 28.5.1979 – II ZR 85/78, BGHZ 74, 300, 305, und BGH, Urt. v. 28.5.1979 – II ZR 219/77, BGHZ 74, 309, 312. BGH, Urt. v. 14.2.1989 – XI ZR 141/88, WM 1989, 520, 521 = ZIP 1989, 492; nachfolgend st. Rspr. des BGH: u. a. BGH, Urt. v. 10.1.1996 – XII ZR 271/94, WM 1996, 335, 337 = ZIP 1996, 462; BGH, Urt. 6.6.2000 – XI ZR 258/99, BGHZ 144, 349, 353 = ZIP 2000, 1379; BGH, Urt. v. 4.11.2004 – IX ZR 22/03, BGHZ 161, 49, 53 ff. = ZIP 2004, 2442; BGH, Urt. v. 8.3.2005 – XI ZR 154/04, BGHZ 162, 294, 303 = ZIP 2005, 798; BGH, Urt. v. 11.4.2006 – XI ZR 220/05, BGHZ 167, 171, 174 = ZIP 2006, 1041; BGH, Urt. v. 25.10.2007 – IX ZR 217/06, Rz. 12, BGHZ 174, 84 = ZIP 2007, 2273.

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der Verweigerung der Genehmigung der Kontobelastung) zu. Es bedarf einer ausdrücklichen, konkludenten oder fiktiven Genehmigung der Kontobelastung i. S. von § 675j Abs. 1 Satz 1 Fall 2 i. V. m. § 684 Satz 2 BGB durch den Schuldner, damit der Aufwendungsersatzanspruch der Bank (§ 684 Satz 2 i. V. m. § 683 Satz 1, § 670 BGB) bezogen auf den Zeitpunkt der Kontobelastung (§ 185 BGB) entsteht. In den AGB-Banken und Sparkassen, die ab 31. Oktober 2009 bis 8. Juli 2012 galten, ist in den Bedingungen für das Einzugsermächtigungsverfahren die Sichtweise der Genehmigungstheorie vertraglich vereinbart worden.7) Es bedurfte daher bis zum 8. Juli 2012 weiter eine Genehmigung des Schuldners, um den Aufwendungsersatzanspruch der Bank entstehen zu lassen. aa) Fiktive Genehmigung Da eine ausdrückliche Genehmigung selten erklärt wird, hat es der Bundesgerichtshof gebilligt, dass nach § 7 Abs. 3 AGB-Banken a. F. die Genehmigung spätestens als erteilt gilt, wenn der Kunde sechs Wochen nach Rechnungsabschluss einer Belastungsbuchung nicht widersprochen hat, obwohl der Kunde auf das Genehmigungserfordernis und die Wirkung seines Schweigens im Rechnungsabschluss hingewiesen worden ist. Spätestens zu diesem Zeitpunkt entsteht der Aufwendungsersatzanspruch der Bank mit Wirkung ex tunc (§ 185 BGB).8) Diese Regelung ist in Nr. 2.4 der Bedingungen für Zahlungen mittels Lastschrift im Einzugsermächtigungsverfahren in der ab dem 31. Oktober 2009 bis zum 8. Juli 2012 geltenden Fassung enthalten gewesen. Die Regelung in den AGB zur Fiktion einer Genehmigung mit Ablauf von sechs Wochen nach Zugang des Rechnungsabschlusses steht der Annahme einer konkludenten Genehmigung vor Ablauf dieser Frist nicht entgegen, wie das auch ausdrücklich in Nr. 2.4 der Bedingungen für Zahlungen mittels Lastschrift im Einzugsermächtigungsverfahren in der ab dem 31. Oktober 2009 bis zum 8. Juli 2012 geltenden Fassung angesprochen ist. Eine konkludente und ebenso eine ausdrückliche Genehmigung

7) 8)

Nr. 2.1 und 2.4 der Bedingungen für Zahlungen mittels Lastschrift im Einzugsermächtigungsverfahren in der bis zum 8.7.2012 geltenden Fassung. BGH, Urt. v. 10.6.2008 – XI ZR 283/07, Rz. 47, BGHZ 177, 69 = ZIP 2008, 1977 m. w. N.

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ist bereits vor Ablauf der in den Geschäftsbedingungen geregelten Widerspruchsfrist möglich und vorrangig.9) bb) Konkludente Genehmigung Der Bundesgerichtshof hat sich in zahlreichen Fällen von Lastschriftwidersprüchen durch (vorläufige) Insolvenzverwalter mit der Frage einer konkludenten Genehmigung befassen müssen.10) Ob eine konkludente Genehmigung des Kontoinhabers vorliegt richtet sich nach dem durch normative Auslegung zu ermittelnden objektiven Erklärungswert seines Verhaltens.11) Letztlich kommt es immer auf die Umstände des Einzelfalles an. (1) Kommentarlose Entgegennahme von Kontoauszügen Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist eine konkludente Genehmigung nicht schon in der kommentarlosen Entgegennahme von (Tages-)Kontoauszügen, auf denen die Lastschriftbuchungen enthalten sind, zu sehen.12) Der in einem Tagesauszug ausgewiesene Saldo ist ein reiner Postensaldo, der zur Erleichterung des Überblicks und der Zinsberechnung ermittelt wird und dessen Bedeutung sich darauf beschränkt, Auszahlungen zu verhindern, die nicht durch ein Guthaben gedeckt sind; die Buchung in Staffelform dient in diesem Falle dem Zweck, eine Übersicht buchungstechnischen Charakters zu schaffen, die dem Kreditinstitut die Kontrolle über die vom Kunden getroffenen Dispositionen und dem Kunden die Übersicht über den Stand seines Kontos erleichtert. Im Gegensatz zum Rechnungsabschluss, der auf Herbeiführung einer rechtsgeschäftlichen Erklärung, nämlich des Saldoanerkenntnisses durch den Kunden gerichtet ist, dient der Tagesauszug nur rein tatsächlichen Zwecken. Schon aus diesem Grunde kann in dem Schweigen des Kunden auf einen Kontoauszug keine schlüssige rechtsgeschäftliche Erklärung gesehen werden,

9)

10) 11) 12)

BGH, Urt. v. 20.7.2010 – XI ZR 236/07, Rz. 43, BGHZ 186, 269 ff. = ZIP 2010, 1556; BGH, Urt. v. 26.10.2010 – XI ZR 562/07, Rz. 14 ff., ZIP 2010, 2407 = WM 2010, 2307; BGH, Urt. v. 23.11.2010 – XI ZR 370/08, Rz. 15, ZIP 2011, 91 = WM 2011, 63, und BGH, Urt. v. 25.1.2011 – XI ZR 171/09, Rz. 14 ff., ZIP 2011, 482 = WM 2011, 454. Vgl. die Übersicht bei Nobbe, Die neuere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Lastschriftverkehr, WM Sonderbeilage 3/2012, S. 12 ff. BGH, Urt. v. 1.3.2011 – XI ZR 320/09, Rz. 14, ZIP 2011, 826 = WM 2011, 743 m. w. N. BGH, Urt. v. 24.6.1985 – II ZR 277/84, BGHZ 95, 103, 108 f. = ZIP 1985, 919.

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geschweige denn eine Erklärung des Inhalts, unrechtmäßig getroffene Belastungsbuchungen würden genehmigt. (2) Beanstandungslose Kontoweiternutzung Die kontoführende Bank kann auch allein einer weiteren Nutzung eines Girokontos nicht entnehmen, der Kontoinhaber billige vorausgehende Lastschriftbuchungen und den um die früheren Lastschriftbuchungen geminderten Kontostand.13) Es muss vielmehr ein zusätzlicher Umstand hinzukommen. (3) Regelmäßig wiederkehrende Lastschriften Eine konkludente Genehmigung kommt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs insbesondere dann in Betracht, wenn es sich für die Schuldnerbank erkennbar um regelmäßig wiederkehrende Lastschriften aus Dauerschuldverhältnissen, laufenden Geschäftsbeziehungen oder zum Einzug von wiederkehrenden Steuervorauszahlungen und Sozialversicherungsbeiträgen handelt, die der Kontoinhaber in der Vergangenheit bereits einmal genehmigt hat. Erhebt der Schuldner in Kenntnis eines erneuten Lastschrifteinzugs, der sich im Rahmen des bereits Genehmigten bewegt, gegen diesen nach einer angemessenen Überlegungsfrist keine Einwendungen, so kann auf Seiten der Schuldnerbank die berechtigte Erwartung entstehen, auch diese Belastungsbuchung solle Bestand haben. Eine solche Annahme ist vor allem deshalb gerechtfertigt, weil die Schuldnerbank beim Einzugsermächtigungsverfahren zwar einerseits – für den Kontoinhaber erkennbar – auf seine rechtsgeschäftliche Genehmigungserklärung angewiesen ist, um die Buchung wirksam werden zu lassen, das Verfahren aber andererseits darauf ausgelegt ist, dass der Kontoinhaber keine ausdrückliche Erklärung abgibt. In einer solchen Situation sind an eine Genehmigung durch schlüssiges Verhalten keine zu hohen Anforderungen zu stellen. Dies gilt uneingeschränkt dann, wenn das Konto im unternehmerischen Geschäftsverkehr geführt wird. In diesem Fall kann die Schuldnerbank damit

13)

BGH, Urt. v. 20.7.2010 – XI ZR 236/07, Rz. 45, 47, BGHZ 186, 269 ff. = ZIP 2010, 1556; BGH, Urt. v. 26.10.2010 – XI ZR 562/07, Rz. 19, ZIP 2010, 2407 = WM 2010, 2307, und BGH, Urt. v. 23.11.2010 – XI ZR 370/08, Rz. 17, ZIP 2011, 91 = WM 2011, 63.

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rechnen, dass die Kontobewegungen zeitnah nachvollzogen und überprüft werden.14) Gleiches gilt im Grundsatz auch bei Lastschriftabbuchungen vom Konto eines Verbrauchers, denen wiederkehrende und im Wesentlichen gleichbleibende Forderungen aus Dauerschuldverhältnissen zugrunde liegen. Wie bei einem Unternehmer ist bei einem Verbraucher für eine konkludente Genehmigung zunächst erforderlich, dass der Kontoinhaber den die Belastungsbuchung ausweisenden Kontoauszug bzw. eine entsprechende elektronische Kontomitteilung erhalten hat. Wie bei einem Unternehmer kommt es auch bei einem Verbraucher auf die Umstände des Einzelfalls an, um die Frage beantworten zu können, ab welchem Zeitraum nach Erhalt des Kontoauszugs bzw. der Kontomitteilung die kontoführende Bank von einer konkludenten Genehmigung der daraus ersichtlichen Lastschriftabbuchungen ausgehen kann. Anders als bei einem Unternehmer kann die kontoführende Bank aber bei einem Verbraucher nicht ohne weiteres davon ausgehen, dass die Kontobewegungen zeitnah nachvollzogen und überprüft werden. Bei einem Verbraucher muss vielmehr anhand konkreter Anhaltspunkte für die Bank erkennbar sein, dass der Kontoinhaber die Überprüfung vorgenommen hat. Erst dann und nach Ablauf einer angemessenen Überlegungsfrist kann sie davon ausgehen, dass er keine Einwendungen gegen die aus dem Kontoauszug ersichtlichen Buchungen erhebt. In der Regel kann die Bank aber spätestens dann, wenn der Verbraucher bei monatlichen und im Wesentlichen gleich hohen Lastschriftabbuchungen bereits Kontoauszüge über bzw. die Mitteilung von zwei Folgeabbuchungen erhalten hat, davon ausgehen, dass in Bezug auf die mindestens zwei Monate zurückliegende Abbuchung keine Einwendungen erhoben werden.15)

14)

15)

BGH, Urt. v. 20.7.2010 – XI ZR 236/07, Rz. 48, BGHZ 186, 269 ff. = ZIP 2010, 1556; BGH, Urt. v. 26.10.2010 – XI ZR 562/07, Rz. 21, ZIP 2010, 2407 = WM 2010, 2307; BGH, Urt. v. 23.11.2010 – XI ZR 370/08, Rz. 16, ZIP 2011, 91 = WM 2011, 63; BGH, Urt. v. 25.1.2011 – XI ZR 171/09, Rz. 20, ZIP 2011, 482 = WM 2011, 454; BGH, Urt. v. 1.3.2011 – XI ZR 320/09, Rz. 13, ZIP 2011, 826 = WM 2011, 743, und BGH, Urt. v. 3.5.2011 – XI ZR 152/09, Rz. 11, ZIP 2011, 1252 = WM 2011, 1267; auch BGH, Urt. v. 30.9.2010 – IX ZR 178/09, Rz. 13 f., ZIP 2010, 2105 = WM 2010, 2023. BGH, Urt. v. 3.5.2011 – XI ZR 152/09, Rz. 12, ZIP 2011, 1252 = WM 2011, 1267.

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(4) Führung eines Kontos auf Guthabenbasis Wenn der Kontoinhaber aufgrund einer mit der kontoführenden Bank getroffenen Vereinbarung gehalten ist, sein Konto ausschließlich im Guthaben zu führen und erhöht er in einem solchen Fall den Kontostand durch Bareinzahlungen oder Überweisungen, damit weitere Lastschriften eingelöst werden können, so kann dies für eine konkludente Genehmigung dieser Lastschriften sprechen.16) Die Sicherung der Einlösung konkreter Lastschriften durch zeitnahe Dispositionen des Kontoinhabers – jedenfalls nach Ablauf einer angemessenen Prüfungsfrist – kann die berechtigte Überzeugung der kontoführenden Bank begründen, der Schuldner wolle die jeweiligen Forderungen der Lieferanten uneingeschränkt erfüllen und die entsprechenden Lastschriftbuchungen würden deswegen Bestand haben. (5) Zeitnaher Ausgleich von Belastungsbuchungen Jedenfalls im unternehmerischen Geschäftsverkehr, in dem Lastschriftbuchungen vom Schuldner im Allgemeinen laufend nachvollzogen werden, kann die Tatsache, dass ein Kontoinhaber in Kenntnis erfolgter Abbuchungen durch konkrete Einzahlungen oder Überweisungen zeitnah erst eine ausreichende Kontodeckung für weitere Dispositionen sicherstellt, im Einzelfall für eine konkludente Genehmigung bereits gebuchter Lastschriften sprechen. Der Kontoinhaber will damit ersichtlich zur Sicherung der Fortführung seines Gewerbes eine Rückbuchung neuer Lastschriftbeträge oder die Rückgabe von Überweisungsaufträgen mangels Deckung seines Kontos vermeiden. In einem solchen Fall kann aus der Sicht der Bank der Schluss gerechtfertigt sein, die Lastschriftbuchungen würden Bestand haben, da sich der Kunde andernfalls auf leichterem Wege Liquidität hätte verschaffen können, indem er älteren, aus seiner Sicht unberechtigten Belastungsbuchungen widerspricht.17) (6) Mit der Bank abgestimmte Kontodispositionen Wenn der Kunde seinen Zahlungsverkehr unter Berücksichtigung des Kontostandes und den danach möglichen Dispositionen mit seinem Kre16) 17)

BGH, Urt. v. 26.10.2010 – XI ZR 562/07, Rz. 23, ZIP 2010, 2407 = WM 2010, 2307, und BGH, Urt. v. 22.2.2011 – XI ZR 261/09, Rz. 24, ZIP 2011, 722 = WM 2011, 688. BGH, Urt. v. 23.11.2010 – XI ZR 370/08, Rz. 20, ZIP 2011, 91 = WM 2011, 63.

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ditinstitut abstimmt, kann – zumindest nach einer angemessenen Prüffrist – aus Sicht der Bank der Schluss gerechtfertigt sein, dass die Lastschriftbuchungen Bestand haben, da sich ihr Kunde andernfalls auf leichterem Wege Liquidität verschaffen würde, indem er den Belastungsbuchungen widerspricht.18) (7) Umbuchungslastschrift Wenn der Kunde mittels Lastschrift von seinem eigenen Konto bei derselben oder einer anderen Bank einen Betrag einzieht, spricht man von einer Umbuchungslastschrift. Bei Personenidentität zwischen Zahlungspflichtigem und Zahlungsempfänger greift die Zahlstelle aufgrund eines von dem Zahlungspflichtigen der ersten Inkassostelle erteilten Auftrags und damit berechtigt auf dessen Konto zu. Ein solcher vom Kontoinhaber ausgelöster konkreter Zahlungsvorgang erfolgt auch im Einzugsermächtigungsverfahren mit dessen Einwilligung und ist deswegen von vornherein wirksam. Die Frage einer Genehmigung der Lastschrift stellt sich in diesem Fall nicht. Aus der maßgeblichen Sicht der Zahlstelle besitzt die Tatsache, dass der Kontoinhaber die Lastschrift zugunsten eines auf ihn lautenden Kontos eingezogen hat, den objektiven Erklärungswert dass dieser in die Belastungsbuchung einwilligt. Die nach Abschnitt I Nr. 3 LSA a. F. bei der ersten Inkassostelle erfassten, an die Zahlstelle übermittelten und von dieser dem Zahlungspflichtigen mitgeteilten Daten der Buchung enthalten den Namen von Schuldner und Empfänger der Einziehungslastschrift. Ist darin dieselbe Person als Zahler und Zahlungsempfänger genannt, hat aus Sicht der Zahlstelle der Kontoinhaber die Einziehung von seinem Konto in Auftrag gegeben und damit zugleich die vorherige Zustimmung zu der Lastschriftbuchung erklärt (Vorabautorisierung gemäß § 675j Abs. 1 Satz 1 Fall 1 BGB).19) b) Valutaverhältnis aa) Grundsatz Das Deckungsverhältnis und das Valutaverhältnis werden nach der Genehmigungstheorie derart miteinander verknüpft, dass die für die Belastung 18) 19)

BGH, Urt. v. 20.7.2010 – XI ZR 236/07, Rz. 47, BGHZ 186, 269 ff. = ZIP 2010, 1556. BGH, Urt. v. 10.5.2011 – XI ZR 391/09, ZIP 2011, 1460 = WM 2011, 1471.

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des Schuldnerkontos im Deckungsverhältnis erforderliche Genehmigung des Schuldners auch maßgeblich ist für die Erfüllung im Valutaverhältnis. Erst mit dieser Genehmigung tritt nach dieser Theorie im Valutaverhältnis Erfüllung ein, weil – ausgehend von der Sichtweise im Überweisungsverkehr – nach Anweisungsgrundsätzen Erfüllung erst mit einer Anweisung des Schuldners eintrete, diese liege aber erst mit Genehmigung des Schuldners vor. bb) Insolvenz des Zahlers Die Anwendung der Genehmigungstheorie im Falle der Insolvenz des Lastschriftschuldners führt dazu, dass bei noch nicht ausdrücklich, fiktiv oder konkludent genehmigten Lastschriften bei Bestellung eines (vorläufigen) Insolvenzverwalters die Versagung der Genehmigung grundsätzlich durch diesen erfolgen kann.20) Der (vorläufige) Insolvenzverwalter kann einem Lastschrifteinzug bei noch nicht vorliegender Genehmigung des Schuldners selbst dann widersprechen, wenn der Lastschriftwiderspruch durch den Schuldner eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung nach § 826 BGB darstellen würde. Bei noch nicht genehmigten Lastschriften führt das dazu, dass keine Erfüllung im Valutaverhältnis eintritt. Dem Gläubiger wird so der Lastschriftbetrag wieder genommen und er muss seine Forderung gegen den Schuldner im Insolvenzverfahren geltend machen. III. Erstattungsanspruch im SEPA-Basislastschriftverfahren 1. Deckungsverhältnis Im Deckungsverhältnis ist durch die Neufassung des Zahlungsdiensterechts in den §§ 675c– 676c BGB für Zahlungsvorgänge ab dem 31. Oktober 2009 mit Einführung des SEPA-Lastschriftverfahrens ein insolvenzfestes Zahlungsverfahren eingeführt worden, das ab dem 1. Februar 2014 auch das Einzugsermächtigungsverfahren vollständig verdrängt hat.

20)

BGH, Urt. v. 4.11.2004 – IX ZR 22/03, BGHZ 161, 49 ff. = ZIP 2004, 2442; BGH, Urt. v. 4.11.2004 – IX ZR 82/03, ZInsO 2005, 40, und BGH, Urt. v. 4.11.2004 – IX ZR 28/04, ZIP 2004, 814, dazu EWiR 2005, 227 (Gantenberg); bestätigt durch BGH, Urt. v. 21.9.2006 – IX ZR 173/02, WM 2006, 2092, 2093 = ZIP 2006, 2046.

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a) Autorisierung Gemäß § 675j Abs. 1 Satz 1 BGB ist für die Wirksamkeit des Zahlungsvorgangs maßgeblich, ob der „Zahler“ diesem zugestimmt hat (Autorisierung). Ohne Autorisierung kann der „Zahlungsdienstleister“ gegenüber seinem Kunden keine Rechte herleiten, insbesondere steht ihm kein Aufwendungsersatzanspruch gemäß §§ 675c Abs. 1, 670 BGB zu (§ 675u Satz 1 BGB). Die Autorisierung des Zahlungsvorgangs erfolgt nach dem gesetzlichen Leitbild vorab. b) Bestandsfestigkeit der Belastungsbuchung Aufgrund dieses rechtlichen Inhalts des SEPA-Mandats hat die mittels eines SEPA-Lastschriftverfahrens bewirkte Zahlung auch dann Bestand, wenn nach der Belastungsbuchung über das Vermögen des Zahlungspflichtigen das Insolvenzverfahren eröffnet wird bzw. in einem Eröffnungsverfahren entsprechende Sicherungsmaßnahmen angeordnet werden. Nach Verfahrenseröffnung kommt allein die Anfechtung unter den Voraussetzungen der §§ 129 ff. InsO in Betracht.21) Im Deckungsverhältnis findet der Vermögensabfluss beim Schuldner bereits mit Belastung seines Kontos statt. Da er den Zahlungsvorgang vorab autorisiert hat, ist die Vornahme der Buchung wirksam, so dass die Bank ihren Aufwendungsersatzanspruch gemäß §§ 675c Abs. 1, 670 BGB in das Kontokorrent einstellen kann. Wird nach diesem Zeitpunkt Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens gestellt bzw. das Verfahren eröffnet, so ist ein (vorläufiger) Insolvenzverwalter nicht in der Lage, die Entstehung des Anspruchs noch zu verhindern. Insbesondere hängt die Wirksamkeit der Kontobelastung von keiner „Verfügung“ i. S. des § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Fall 2 InsO mehr ab, die der Zustimmung des vorläufigen „schwachen“ Insolvenzverwalters bedürfte. Auch der Schuldner hat in der Regel keine Möglichkeit, seinem Kreditinstitut diesen Aufwendungsersatzanspruch durch einseitige Erklärung wieder zu entziehen. Nach Zugang des Zahlungsauftrags bzw. der darin liegenden Autorisierung bei seiner Bank kann er diese nur noch „bis zum Ende des Geschäftstages vor dem vereinbarten Fälligkeitstag“ widerrufen (§§ 675j Abs. 2 Satz 1, 675p Abs. 1, Abs. 2 Satz 2 BGB). Nur wenn der Zahlstelle der Widerruf bis zu diesem Zeitpunkt zugeht, ist die gleichwohl

21)

BGH, Urt. v. 20.7.2010 – XI ZR 236/07, Rz. 18, BGHZ 186, 269 ff. = ZIP 2010, 1556.

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vorgenommene Belastungsbuchung ein nicht autorisierter Zahlungsvorgang, der gemäß § 675u Satz 2 BGB zu berichtigen ist.22) c) Aktives Gegenrecht Ohne Einfluss auf den fortbestehenden Aufwendungsersatzanspruch der Zahlstelle ist das Recht des Zahlers, gemäß § 675x Abs. 1, Abs. 2, Abs. 4 BGB binnen acht Wochen ab Belastungsbuchung von seiner Bank Erstattung des Zahlbetrages verlangen zu können. § 675x BGB gibt dem Zahler einen eigenständigen Anspruch als aktives Gegenrecht, der die Autorisierung des Zahlungsvorgangs nicht entfallen lässt.23) 2. Valutaverhältnis a) Erfüllungswirkung Im SEPA-Lastschriftverfahren ist die Forderung des Gläubigers bereits mit vorbehaltloser Gutschrift des Zahlbetrages auf seinem Konto – auflösend bedingt – erfüllt. Mit vorbehaltloser Gutschrift erlangt der Gläubiger die erforderliche uneingeschränkte Verfügungsbefugnis über den Zahlbetrag. Allerdings hat der Gläubiger im SEPA-Basis-Lastschriftverfahren erst acht Wochen nach der Belastungsbuchung auch eine endgültig gesicherte Rechtsposition erlangt. Bis zu diesem Zeitpunkt kann der Zahler von seiner Bank ohne Angabe von Gründen Erstattung des Zahlbetrages verlangen, was aufgrund der vertraglichen Abreden im Lastschrift-Viereck dazu führt, dass die Valuta dem Gläubiger wieder genommen wird. Diese Rückbelastungsmöglichkeit, die der Schuldner mit seinem Erstattungsverlangen auslösen kann, rechtfertigt jedoch nicht die Annahme, der Parteiwille im Valutaverhältnis gehe dahin, dass auch der geschuldete Leistungserfolg erst nach Ablauf der Acht-Wochen-Frist erbracht ist Dies würde dem Umstand nicht gerecht, dass Zahlungen im Lastschriftverfahren in der Regel Bestand haben und nur ausnahmsweise eine Rückbelastung erfolgt.24)

22) 23) 24)

BGH, Urt. v. 20.7.2010 – XI ZR 236/07, Rz. 19, BGHZ 186, 269 ff. = ZIP 2010, 1556. BGH, Urt. v. 20.7.2010 – XI ZR 236/07, Rz. 20, BGHZ 186, 269 ff. = ZIP 2010, 1556. BGH, Urt. v. 20.7.2010 – XI ZR 236/07, Rz. 24, BGHZ 186, 269 ff. = ZIP 2010, 1556.

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b) Insolvenzfestigkeit Die Zahlung ist auch dann insolvenzfest, wenn vor Ablauf der AchtWochen-Frist des § 675x Abs. 4 BGB das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Zahlungspflichtigen eröffnet wird bzw. in einem Eröffnungsverfahren entsprechende Sicherungsmaßnahmen angeordnet werden. Zwar hat der Zahler im SEPA-Basisverfahren binnen acht Wochen die Möglichkeit, mit seinem – voraussetzungslosen – Erstattungsverlangen, die Erfüllungswirkung im Valutaverhältnis entfallen zu lassen. Dieser Anspruch fällt jedoch im Falle der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens nicht in die Insolvenzmasse, so dass der Insolvenzverwalter insoweit keine Verfügungsbefugnis nach § 80 Abs. 1 InsO erlangt. Damit kann auch der vorläufige „starke“ Insolvenzverwalter keine entsprechenden Befugnisse unter Vorwegnahme der Rechtsfolge des § 80 Abs. 1 InsO für sich herleiten.25) Dies ergibt sich aus einer analogen Anwendung des § 377 Abs. 1 BGB. Danach ist das Recht des Schuldners, eine von ihm zur Schuldbefreiung hinterlegte Sache zurückzunehmen (§ 376 BGB), unpfändbar mit der Folge, dass der Anspruch auch nicht zur Insolvenzmasse gehört (§ 36 Abs. 1 Satz 1 InsO). Ist die Hinterlegung wirksam und das Annahmerecht des Gläubigers nach § 382 BGB noch nicht erloschen, hat der Insolvenzverwalter keine Möglichkeit, die hinterlegte Sache zur Masse zu ziehen.26) Dieser Rechtsgedanke lässt sich auf die mittels SEPA-Lastschrift bewirkte Zahlung übertragen. Mit Erteilung des Zahlungsauftrags an seine Bank hat der Schuldner gleichermaßen die endgültige Befriedigung des Gläubigers begonnen. Dabei hat er dem Gläubiger bereits uneingeschränkte Verfügungsmacht über das Geld und damit eine noch weitergehende Rechtsposition als im Hinterlegungsverfahren verschafft. In diesen Zahlungsvorgang darf der Insolvenzverwalter nicht mehr eingreifen. Aufgrund der zuvor bereits eingetretenen Erfüllung der Verbindlichkeit ist sein Auftrag, eine ungleichmäßige Befriedigung der Gläubiger zu verhindern, von vorneherein nicht tangiert. Keine analoge Anwendung findet hingegen § 377 Abs. 2 BGB. Verlangt der Schuldner nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens Erstattung des Zahlbetrages, führt dies zu einem Neuerwerb der Insolvenzmasse.27) Einer ana25) 26) 27)

BGH, Urt. v. 20.7.2010 – XI ZR 236/07, Rz. 29, BGHZ 186, 269 ff. = ZIP 2010, 1556. BGH, Urt. v. 20.7.2010 – XI ZR 236/07, Rz. 30, BGHZ 186, 269 ff. = ZIP 2010, 1556. BGH, Urt. v. 20.7.2010 – XI ZR 236/07, Rz. 31, BGHZ 186, 269 ff. = ZIP 2010, 1556.

Lastschrift in der Insolvenz

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logen Anwendung des § 377 Abs. 2 BGB bedarf es auch nicht zur Abwendung von Missbräuchen durch den Schuldner. Denn der Schuldner selbst darf nicht wider Treu und Glauben den Eintritt der auflösenden Bedingung herbeiführen (§ 162 Abs. 2 BGB).28) Daraus folgt, dass jedes Erstattungsverlangen des Schuldners, das nicht durch ein anerkennenswertes Interesse aus dem Valutaverhältnis gerechtfertigt ist, nach § 162 Abs. 2 BGB unbeachtlich ist. Es geht ins Leere und lässt den Erstattungsanspruch als Gegenrecht erst gar nicht entstehen. Dass der Insolvenzverwalter in vorab autorisierte und begonnene Zahlungsvorgänge nicht eingreifen können soll, bringt auch die Vorschrift des § 116 Satz 3 InsO zum Ausdruck. Danach bestehen vom Schuldner vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens erteilte Zahlungsaufträge – abweichend vom Grundsatz des §§ 116 Satz 1, 115 Abs. 1 InsO – fort und sind zulasten der Masse auszuführen. Mit dieser Regelung hat der Gesetzgeber das Ziel verfolgt, die Insolvenzfestigkeit laufender Zahlungen sicherzustellen; das beruht auf der Erkenntnis, dass dies für ein funktionierendes Zahlungssystem von wesentlicher Bedeutung ist.29) Führt die Zahlstelle einen ihr vor Insolvenzeröffnung mittels SEPA-Mandat erteilten konkreten Zahlungsauftrag nach Verfahrenseröffnung aus, erwirbt sie daher einen Aufwendungsersatzanspruch gegen die Masse. Könnte der Insolvenzverwalter nach Ausführung der Zahlung gemäß § 675x BGB dennoch von der Zahlstelle Erstattung des Zahlbetrages verlangen, liefe dies dem Regelungszweck zuwider.30) Dem Insolvenzverwalter bleibt sein Anfechtungsrecht nach §§ 129 ff. InsO. Dabei kommt es für die Frage, ob ein Bargeschäft i. S. des § 142 InsO vorliegt, weil der Zahlung eine auch in zeitlicher Hinsicht unmittelbare Gegenleistung des Zahlungsempfängers gegenübersteht, auch im SEPAVerfahren auf den Zeitpunkt des Lastschrifteinzugs an.31) IV. Vorsatzanfechtung Um den in den genannten Urteilen vom 20. Juli 2010 erzielten Kompromiss zwischen dem IX. und dem XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs nicht über die Vorsatzanfechtung zu gefährden, einigten sich die Senate auch in

28) 29) 30) 31)

BGH, Urt. v. 20.7.2010 – XI ZR 236/07, Rz. 33, BGHZ 186, 269 ff. = ZIP 2010, 1556. Begr. RegE Überweisungsgesetz, BT-Drucks. 14/745, S. 29. BGH, Urt. v. 20.7.2010 – XI ZR 236/07, Rz. 32, BGHZ 186, 269 ff. = ZIP 2010, 1556. BGH, Urt. v. 20.7.2010 – XI ZR 236/07, Rz. 34, BGHZ 186, 269 ff. = ZIP 2010, 1556.

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Bezug auf die Vorsatzanfechtung, soweit die Bank im Lastschriftverkehr allein als Zahlungsdienstleister handelt. Wenn die Schuldnerbank Lastschrifteinzüge auf dem Schuldnerkonto zulässt, obwohl sie weiß, dass der Schuldner zahlungsunfähig ist, stellt sich die Frage, ob sie neben dem Gläubiger im Wege der Vorsatzanfechtung vom späteren Insolvenzverwalter des Schuldners in Anspruch genommen werden kann. Das hat der Bundesgerichtshof – auch vor dem Hintergrund des erzielten Kompromisses zwischen dem IX. und dem XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs zur Lastschrift in der Insolvenz des Schuldners – im Grundsatz verneint und wie folgt entschieden: Eine Anfechtung gegenüber einer Bank als Leistungsmittler ist nach § 133 Abs. 1 InsO nur unter engen Voraussetzungen möglich. Hat ein Leistungsmittler Kenntnis von Umständen, die zwingend auf die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners schließen lassen (§ 133 Abs. 1 Satz 2 InsO), spricht die Kenntnis des Anfechtungsgegners vom Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners in diesem Fall im Allgemeinen ein gewichtiges Beweisanzeichen.32) Ein Kreditinstitut berechtigt die Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit des Schuldners im Vorfeld eines Insolvenzverfahrens aber nicht, die Ausführung von Zahlungsaufträgen eines weiterhin verpflichtungs- und verfügungsbefugten Schuldners zu verweigern. Vielmehr darf und muss ein Zahlungsdienstleister gemäß § 675o Abs. 2 BGB die Ausführungen von Zahlungsaufträgen nicht ablehnen, wenn die vertraglich vereinbarten Bedingungen erfüllt sind und die Ausführung nicht gegen sonstige Rechtsvorschriften verstößt. Mithin muss die Bank, sofern ein Guthaben oder eine offene Kreditlinie vorhanden ist, grundsätzlich eine Überweisung vornehmen, selbst wenn sie von der Zahlungsunfähigkeit des Kontoinhabers Kenntnis erlangt hat.33) Setzt die Schuldnerbank als Zahlstelle die Erledigung von Aufträgen – auch Lastschrifteinzüge – des Schuldners lediglich zahlungstechnisch um, kommt deshalb eine Vorsatzanfechtung ihr gegenüber auch bei Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit des Schuldners regelmäßig nicht in Betracht, weil es sich bei der Abwicklung des Zahlungsverkehrs durch ein Kreditinstitut um alltägliche Geschäftsvorgänge handelt, denen ein Wille des Überweisenden, seine Gläubiger zu benachteiligen, für 32) 33)

BGH, Urt. v. 24.1.2013 – IX ZR 11/12, Rz. 27 ff., ZIP 2013, 371, und BGH, Urt. v. 13.6.2013 – IX ZR 259/12, Rz. 24, ZIP 2013, 1826 = WM 2013, 1793. BGH, Urt. v. 26.4.2012 – IX ZR 74/11, Rz. 23, BGHZ 193, 129 = ZIP 2012, 1038; BGH, Urt. v. 24.1.2013 – IX ZR 11/12, Rz. 30, ZIP 2013, 371, und BGH, Urt. v. 13.6.2013 – IX ZR 259/12, Rz. 24, ZIP 2013, 1826 = WM 2013, 1793.

Lastschrift in der Insolvenz

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die Bank regelmäßig nicht zu entnehmen ist.34) Denn für das Kreditinstitut sind verschiedene Konstellationen denkbar, bei denen trotz Kenntnis von der Zahlungsunfähigkeit des Schuldners dessen Zahlungsaufträge keinen anfechtungsrechtlichen Bedenken begegnen. Das Kreditinstitut kennt den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners nur dann, wenn es nicht nur über dessen Zahlungsunfähigkeit unterrichtet, sondern im Zuge der Verfolgung eigener Interessen in eine vom Schuldner angestrebte Gläubigerbenachteiligung eingebunden ist.35) V. Schlussbemerkung Der vom IX. und vom XI. Zivilsenat gefundene Kompromiss bei der Lastschrift in der Insolvenz des Schuldners ist ein Beispiel dafür, wie unter Beachtung der jedem Senat zugewiesenen Spezialmaterie eine gleichermaßen dogmatisch fundierte und praxisgerechte Lösung vorgelegt werden konnte, die innerhalb kurzer Zeit akzeptiert wurde.

34)

35)

BGH, Urt. v. 26.4.2012 – IX ZR 74/11, Rz. 31, BGHZ 193, 129 = ZIP 2012, 1038; BGH, Urt. v. 24.1.2013 – IX ZR 11/12, Rz. 31, ZIP 2013, 371, und BGH, Urt. v. 13.6.2013 – IX ZR 259/12, Rz. 25, ZIP 2013, 1826 = WM 2013, 1793. BGH, Urt. v. 24.1.2013 – IX ZR 11/12, Rz. 32, ZIP 2013, 371, und BGH, Urt. v. 13.6.2013 – IX ZR 259/12, Rz. 25, ZIP 2013, 1826 = WM 2013, 1793.

Maklerrechtliche Spuren und Impulse in der Judikatur des IX. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs DETLEV FISCHER Inhaltsübersicht I. II.

Vorbemerkung Der Maklerrechtssenat des Bundesgerichtshofs III. Grenzbereiche zwischen Rechtsberatung und Maklertätigkeit 1. Abgrenzung zwischen Rechtsanwaltsund Maklervertrag a) Anwaltsvertrag b) Maklervertrag c) Anwaltliche Maklertätigkeit 2. Wirksamkeit des von einem Rechtsanwalt abgeschlossenen Maklervertrages IV. Die Verwirkung von Vergütungsansprüchen des Rechtsanwalts und Insolvenzverwalters 1. Allgemeine Grundsätze 2. Analoge Anwendung des § 654 BGB auf andere Rechtsverhältnisse

3. Die Verwirkung des Anwaltshonorars 4. Die Verwirkung der Insolvenzverwaltervergütung V. Die sittenwidrige Maklerprovision 1. Prüfungsmaßstab für die Feststellung der Sittenwidrigkeit 2. Rechtsfolge der Sittenwidrigkeit VI. Der Mitverschuldenseinwand in der Rechtsberaterhaftung und Maklerhaftung 1. Grundsätze der Rechtsberaterhaftung 2. Übertragbarkeit der Grundsätze auf den Versicherungsmakler 3. Übertragbarkeit der Grundsätze auf den Immobilienmakler VII. Ausblick

I. Vorbemerkung Am 1. März 1968 wurde beim Bundesgerichtshof ein weiterer Zivilsenat errichtet, so dass sich die Zahl der Zivilsenate auf zehn erhöhte.1) Zugleich trat eine Änderung der Bezeichnung der Zivilsenate ein, der bisherige Ia Zivilsenat wurde zum X. Zivilsenat (Patentsenat), der bisherige Ib Zivilsenat zum I. Zivilsenat. Der damalige IV. Zivilsenat wurde zum IX. Zivilsenat. Die Vorbemerkung des ab 1. März 1968 maßgeblichen Geschäftsverteilungsplans schließt mit dem Satz: Der neue Senat erhält die Bezeichnung IV. Zivilsenat. Mithin ist der IX. Zivilsenat nicht gerade 50 Jahre alt,2) sondern gehört zum Anfangsbestand des Bundesgerichtshofs. Er begann mit fünf Zivilsenaten und

1)

2)

DRiZ 1968, 109; Dehner, Die Entwicklung der Rechtsprechung des IV. (IVa) Zivilsenats auf dem Gebiet des Versicherungs- und Maklerrechts, DRiZ 1990, 383 f.; Geschäftsverteilungsplan des BGH für die Zeit vom 1.3.1968 bis 31.12.1968. So Zorn, Die Tätigkeit des IX. Zivilsenats als Entschädigungssenat, DRiZ 1990, 452.

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vier Strafsenaten.3) Im Gegensatz zur bisherigen Geschäftsverteilung wurde dem IX. Zivilsenat aus dem früheren Senatszuständigkeitsbereich ausschließlich das Rechtsgebiet der Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, die Entschädigungssachen, zugewiesen.4) Damit sollte die gebotene Beschleunigung dieser Rechtsstreitigkeiten gewährleistet werden. Lange Zeit war das Entschädigungsrecht die maßgebliche Senatsmaterie. Erst später, als die Entschädigungssachen deutlich zurückgingen, wurde der Senat für weitere Rechtsgebiete zuständig, nämlich das Bürgschafts- und Konkursrecht, das Vollstreckungsrecht und schließlich die Rechtsberaterhaftung. Die nachfolgenden Bemerkungen befassen sich mit einer Rechtsmaterie, die dem Senat niemals zugewiesen war, die gleichwohl gelegentlich in gewichtigen Senatsentscheidungen ihren Niederschlag gefunden hat oder deren Entscheidungen für dieses Rechtsgebiet von zentraler Bedeutung wurde: Das Maklerrecht. Dieses Rechtsgebiet macht bekanntlich nur etwa 10 % des Geschäftsanfalls eines Zivilsenats aus.5) Damit eignet es sich als Ausgleichsmasse, um einer Überlastung eines besonders stark betroffenen Zivilsenats zu begegnen. Daher wurden für das Maklerrecht, obgleich vielfach vom Maklerrechtssenat des Bundesgerichtshofs gesprochen wird,6) immer wieder andere Zivilsenate zuständig. II. Der Maklerrechtssenat des Bundesgerichtshofs Zum 1. Oktober 1950 wurde in Karlsruhe der Bundesgerichtshof errichtet. Alsbald wurde der erste Geschäftsverteilungsplan, in starker Anlehnung an den des Reichsgerichts, beschlossen.7) Das Maklerrecht wurde dem II. Zivilsenat zugewiesen.8) Dieser Senat war seit jeher für bedeutsame Bereiche des privaten Wirtschaftsrechts zuständig.9) Er wird als handels- und gesellschaftsrechtlicher Senat bezeichnet und befindet sich, jedenfalls teilweise, in 3) 4) 5) 6) 7) 8) 9)

Keßler, 25 Jahre Bundesgerichtshof, DRiZ 1975, 294, 295. Zur Rechtsprechung des Entschädigungssenats vgl. Wüstenberg, Die Rechtsprechung des Entschädigungssenats, in: 25 Jahre Bundesgerichtshof, 1975, S. 145. Vgl. die Eingangszahlen der letzten Jahre, mitgeteilt bei D. Fischer, Maklerrecht, 4. Aufl. 2017, Kap. I Rz. 10. Schlick, Der Anspruch des Maklers auf Wertersatz, in: FS D. Fischer, 2018, S. 449; D. Fischer, Die Entwicklung des Maklerrechts im zweiten Halbjahr 2018, NJW 2019, 1182. D. Fischer, Zur Geschichte der höchstrichterlichen Rechtsprechung in Deutschland, JZ 2010, 1077, 1087. Haidinger, Zehn Jahre Rechtsprechung des II. Zivilsenats, DRiZ 1960, 309; Keßler, DRiZ 1975, 294, 298. Stimpel in: 25 Jahre Bundesgerichtshof, 1975, S. 13.

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der Nachfolge des am 5. August 1870 in Leipzig eröffneten Bundes- später Reichsoberhandelsgericht und nach Errichtung des Reichsgerichts zum 1. Oktober 1879 zu dessen I. Zivilsenat, später II. Zivilsenat.10) Die Zuordnung des Maklerrechts zum II. Zivilsenat kennzeichnete dessen Bedeutung als Teil des Wirtschaftsrechts. 1959 wurden die Maklersachen an den zum 1. Oktober 1956 errichteten VII. Zivilsenat abgegeben, der traditionell für das (Bau-)Werkvertragsrecht zuständig ist. Bereits zum 1. Januar 1962 trat ein neuer Zuständigkeitswechsel ein. Der ebenfalls zum 1. Oktober 1956 errichtete VIII. Zivilsenat, der seither schwerpunktmäßig für das Kaufvertragsrecht zuständig ist, erhielt zusätzlich die Maklerrechtssachen. Sechs Jahre später, zum 1. Dezember 1968, übernahm der IV. Zivilsenat – als neuer Zivilsenat des Bundesgerichtshofs – neben dem Versicherungs- und Familienrecht auch das Maklerrecht in seinen Zuständigkeitsbereich.11) In diesem Senat verblieb es mehrere Jahrzehnte. Erst 1995 wechselten die Maklersachen zum III. Zivilsenat, der nicht nur für das Staatshaftungsrecht zuständig ist, sondern auch das gewichtige Geschäftsbesorgungsrecht betreut und in diesem Bereich manche Schnittstelle zum IX. Zivilsenat aufweist.12) Seit 2014 ist nunmehr das Maklerrecht dem I. Zivilsenat zugewiesen, der im Bundesgerichtshof für das Wettbewerbs- und Urheberrecht zuständig ist, aber mit dem Transportrecht auch wirtschaftsrechtliche Bezüge aufweist. Das Maklerrecht als Wirtschaftsrecht war mithin in der Geschichte des Bundesgerichtshofs schon zahlreichen Zivilsenaten zugewiesen, so dass es nach dem Prinzip der Wahrscheinlichkeit nur eine Frage der Zeit sein wird, wann der IX. Zivilsenat mit diesem Rechtsgebiet betraut werden wird. Allerdings steht mit annähernder Sicherheit fest, dass dies nicht mehr zur Amtszeit des Jubilars geschehen wird. Die nachfolgenden Bemerkungen befassen sich mit Entscheidungen, die überwiegend während der Senatszugehörigkeit des Jubilars einschließlich seines Vorlaufs als wissenschaftlicher Mitarbeiter ergangen sind und maklerrechtliche Fragen behandelt haben. III. Grenzbereiche zwischen Rechtsberatung und Maklertätigkeit Im Schrifttum wird als häufiger Fall nicht anwaltlicher Tätigkeit das Handeln eines Rechtsanwalts als Makler, insbesondere im Finanzierungs- und 10) 11) 12)

Keßler, DRiZ 1975, 294, 299; Stimpel in: 25 Jahre Bundesgerichtshof, 1975, S. 13. Keßler, DRiZ 1975, 294, 302. Vgl. etwa BGH, Urt. v. 14.6.2012 – IX ZR 145/11, Rz. 9 ff., BGHZ 193, 297 = ZIP 2012, 1353.

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Immobilienbereich, genannt.13) Zum Problembereich des makelnden Rechtsanwalts gibt es eine breites und weit zurückreichendes höchstrichterliches Entscheidungsmaterial,14) das sich insbesondere mit der Frage befasst, ob und inwieweit ein Anwalt sich als Makler betätigen darf. Mit diesem Fragenkreis ist zugleich die begriffliche Abgrenzung zwischen Rechtsberaterund Maklervertrag verbunden, die sich in einer nicht geringen Anzahl von Anwaltshonorarklagen, die in den Zuständigkeitsbereich des IX. Zivilsenats fallen, stellen. 1. Abgrenzung zwischen Rechtsanwalts- und Maklervertrag a) Anwaltsvertrag Der Anwaltsvertrag ist auf die Erbringung typischer anwaltlicher Leistungen gerichtet, etwa die rechtliche Beratung des Mandanten betreffend, dessen Vertretung in einem Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren oder die Berücksichtigung der Interessen des Mandanten beim Aushandeln oder inhaltlichen Gestaltung eines Vertrages. Er ist in der Regel ein Dienstvertrag, der eine Geschäftsbesorgung zum Gegenstand hat.15) Im Hinblick auf den Geschäftsbesorgungscharakter finden auf ihn die Vorschriften der Auftragsrechts Anwendung.16) Wird eine gegenständlich beschränkte Leistung vereinbart, so ist ausnahmsweise der Anwaltsvertrag als Werkvertrag einzustufen.17) Dies kommt etwa bei der Erstellung eines Gutachtens18) oder eines Vertragsentwurfs19) in Betracht.

13)

14)

15)

16) 17) 18) 19)

Arnold in: Staudinger, BGB, Neubearb. 2016, Vorb. §§ 652 ff. Rz. 55; Jungk in: Borgmann/ Jungk/Schwaiger, Anwaltshaftung, 5. Aufl. 2014, § 6 Rz. 13; D. Fischer, Der makelnde Rechtsanwalt – Grenzbereiche zwischen Rechtsberatung und Maklertätigkeit, NJW 2016, 3220. RGZ 121, 200; BGH, Urt. v. 26.10.1955 – VI ZR 145/54, BGHZ 18, 340 = NJW 1955, 1921; BGH, Urt. v. 2.7.1956 – II ZR 75/55, WM 1956, 1240; BGH, Urt. v. 31.10.1991 – IX ZR 303/90, NJW 1992, 681. BGH, Urt. v. 20.10.1964 – VI ZR 101/63, NJW 1965, 106; BGH, Urt. v. 15.7.2004 – IX ZR 256/03, NJW 2004, 2817; BGH, Urt. v. 16.2.2017 – IX ZR 165/16, Rz. 15, DB 2017, 786; BGH, Urt. v. 23.11.2017 – IX ZR 204/16, Rz. 12, ZIP 2018, 279 = WM 2018, 395. BGH, Urt. v. 9.11.2017 – IX ZR 270/16, Rz. 11, NJW 2018, 541 (§ 665 BGB); BGH, Urt. v. 17.5.2018 – IX ZR 243/17, Rz. 11, WM 2018, 1318 (§§ 666, 667 BGB). BGH, Urt. v. 11.5.2006 – IX ZR 63/05, ZIP 2006, 2320 = WM 2006, 1411. BGH, Urt. v. 7.12.2017 – IX ZR 25/17, Rz. 19, ZIP 2018, 483 = WM 2018, 378 (Steuerberater). BGH, Urt. v. 20.6.1996 – IX ZR 106/95, NJW 1996, 2929, 2930 f.

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b) Maklervertrag Demgegenüber ist der Maklervertrag auf den Nachweis der Gelegenheit zum Abschluss eines Vertrages oder auf die Vermittlung eines Vertrages gerichtet. Bei der Nachweistätigkeit hat der Makler dem Kunden lediglich Vertragsabschlussinteressenten zu benennen, ohne auf die Vertragsverhandlungen Einfluss zu nehmen.20) Der Vermittlungsmakler hat dagegen auf den potentiellen Vertragspartner mit dem Ziel einzuwirken, die Abschlussbereitschaft für den angestrebten Hauptvertrag herbeizuführen.21) Ist in einer Provisionsvereinbarung lediglich von einer Vermittlungsleistung die Rede, schließt dies nicht aus, dass nach dem Parteiwillen auch für eine Nachweisleistung des Maklers eine Provision geschuldet sein soll.22) Die Begriffe Vermittlungsleistung und Vermittlungsprovision werden vielfach – sowohl in der modernen Gesetzgebung23) wie auch in der Immobilienpraxis24) – i. S. eines Oberbegriffs verstanden, der neben der Vermittlungsauch die Nachweistätigkeit umfasst.25) c) Anwaltliche Maklertätigkeit Liegt eine anwaltliche Maklertätigkeit vor, ist für die rechtliche Qualifizierung des Vertragsverhältnisses entscheidend, ob der Anwalt i. R der zu erbringenden Maklerleistungen seinem Auftraggeber rechtlichen Rat von nicht völlig unerheblicher Bedeutung zu leisten hat. Ist dies der Fall, liegt ein echter Anwaltsvertrag vor,26) der auch die maklerrechtliche Tätigkeit mitumfasst.27) Beschränkt sich dagegen das Handeln des Anwalts auf eine

20) 21) 22) 23) 24) 25) 26)

27)

BGH, Urt. v. 17.12.2015 – I ZR 172/14, Rz. 20, 42, NJW 2016, 2312. BGH, Urt. v. 4.6.2009 – III ZR 82/08, Rz. 8 f., NJW-RR 2009, 1282; BGH, Urt. v. 21.11.2018 – I ZR 10/18, Rz. 26, BeckRS 2018, 38996. BGH, Urt. v. 21.11.2018 – I ZR 10/18, Rz. 33, BeckRS 2018, 38996. Vgl. etwa die Novellierung des WoVermittG durch das Bestellerprinzip: § 2 Abs. 1 Satz 2, Vermittlungsvertrag; § 2 V Nr. 2 WoVermittG, Vermittlungsentgelt. OLG Saarbrücken, Urt. v. 15.10.2015 – 4 U 131/14, NJW-RR 2016, 58, 59. D. Fischer, Die Entwicklung des Maklerrechts seit 2015, NJW 2016, 3281, 3283; D. Fischer, NJW 2019, 1182, 1183. BGH, Urt. v. 31.10.1991 – IX ZR 303/90, NJW 1992, 681, 682; BGH, Urt. v. 22.2.2001 – IX ZR 357/99, ZIP 2001, 616 = NJW 2001, 1569, insoweit in BGHZ 147, 39 nicht abgedruckt. BGH, Urt. v. 10.6.1985 – III ZR 73/84, NJW 1985, 2642; D. Fischer, NJW 2016, 3220, 3222.

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reine Maklertätigkeit, so liegt ein Maklervertrag vor.28) Ein derartiges Vertragsverhältnis wird mitunter auch als unechter Anwaltsvertrag bezeichnet, weil ihm eine berufsuntypische Geschäftsbesorgung ohne eine Pflicht zur Rechtsbetreuung zugrunde liegt.29) Die Einordnung eines Vertrages als Anwalts- oder Maklervertrag unterliegt nicht der privatautonomen Vereinbarung; es herrscht Typenzwang, auf die Rechtsvorstellungen der Parteien kommt es mithin nicht an.30) Mit einer komplexen Vertragsgestaltung befasste sich der Bundesgerichtshof in einer Entscheidung vom 12. Mai 2016.31) Die auf Vergütung klagende Anwaltsgesellschaft verpflichtete sich zu Dienstleistungen im Zusammenhang mit dem Rohstoffeinkauf von Hackschnitzeln und Landschaftspflegeholz und hatte dem Auftraggeber unterschriftsreife Verträge zu dessen möglichst kostengünstiger Belieferung zu vermitteln. Zum Leistungsumfang gehörte ferner die Erstellung, Prüfung und Verhandlung der Lieferantenverträge mit für den Auftraggeber günstigen Bedingungen. Dieses Vertragsverhältnis, das die Anwaltsgesellschaft auch zur rechtlichen Beratung und Vertretung des Auftraggebers verpflichtete, wurde als Handelsvertretervertrag bewertet; ein Maklervertrag wurde im Hinblick darauf, dass die Gesellschaft nicht unparteiisch zwischen beiden Teilen des abzuschließenden Geschäfts zu vermitteln hatte, verneint.32) Nach den vorstehend angeführten Kategorien dürfte es sich bei dem Vertragsverhältnis um einen echten Anwaltsvertrag gehandelt haben, allerdings angereichert mit zusätzlichen Dienstleistungsverpflichtungen. Ob die Vermittlungsleistungen nach der getroffenen Vertragsgestaltung ein eher handelsvertreter- oder maklerrechtliches Gepräge aufwiesen, ist im Hinblick auf den Typenzwang und der daraus folgenden Einstufung des Vertragsverhältnisses als echten Anwalts-

28)

29)

30) 31) 32)

BGH, Urt. v. 31.10.1991 – IX ZR 303/90, NJW 1992, 681, 682; BGH, Urt. v. 22.2.2001 – IX ZR 357/99, ZIP 2001, 616 = NJW 2001, 1569, insoweit in BGHZ 147, 39 nicht abgedruckt; OLG Hamm, Urt. v. 12.4.2011 – 28 U 159/10, BeckRS 2011, 14911; D. Fischer, NJW 2016, 3220, 3222. Zugehör, Die neue Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur zivilrechtlichen Haftung der Rechtsanwälte und steuerlichen Berater, WM Sonderbeilage Nr. 1/2010, S. 1, 3; D. Fischer, Die neue Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur zivilrechtlichen Haftung der Rechtsanwälte und steuerlichen Berater, WM Sonderbeilage Nr. 1/2014, S. 1, 3; Mennemeyer in: Fahrendorf/Mennemeyer, Die Haftung des Rechtsanwalts, 9. Aufl. 2017, Kap. 1 Rz. 10. BGH, Urt. v. 5.4.1976 – III ZR 79/74, WM 1976, 1135, 1136; BGH, Urt. v. 10.6.1985 – III ZR 73/84, NJW 1985, 2642; D. Fischer, Maklerrecht, 4. Aufl. 2017, Kap. II Rz. 9. BGH, Urt. v. 12.5.2016 – IX ZR 241/14, Rz. 15, ZIP 2016, 1443 = WM 2017, 537. BGH, Urt. v. 12.5.2016 – IX ZR 241/14, Rz. 16, ZIP 2016, 1443 = WM 2017, 537.

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vertrag unerheblich.33) Der Gesichtspunkt des unparteiischen Maklers ist nur dann bedeutsam, wenn der Makler berechtigt ist, auch für die andere Seite tätig zu werden, mithin als Doppelmakler zu handeln.34) Dies war aber der Anwaltsgesellschaft im Hinblick auf die ihr aufgegebene Interessenwahrnehmungspflicht gegenüber der Auftraggeberin, zumindest vertragsimmanent, untersagt.35) Hieraus folgt, wie auch vom Bundesgerichtshof zutreffend bewertet, dass ein Verstoß gegen das Verbot, widerstreitende Interessen zu vertreten, bei der vorliegenden Vertragsgestaltung ausschied.36) 2. Wirksamkeit des von einem Rechtsanwalt abgeschlossenen Maklervertrages Die gewerbsmäßige Betätigung eines Rechtsanwalts als Makler ist regelmäßig mit dem Anwaltsberuf nicht vereinbar, weil sich hier die Gefahr von Interessenkollisionen deutlich abzeichnet. Dies gilt insbesondere für ein Handeln als Versicherungsmakler37) oder Grundstücksmakler.38) Die standesrechtliche Unzulässigkeit einer Tätigkeit begründet aber nicht die Nichtigkeit der hierbei geschlossenen Verträge.39) Das gebietet die Sicherheit des Rechtsverkehrs. Wer etwa die Dienste eines Grundstücksmaklers in Anspruch nimmt, wird häufig nicht erkennen können, ob sein Gegenüber ein Rechtsanwalt ist, der einem standesrechtlichen Verbot zuwiderhandelt.40) Anders liegt es dagegen, wenn der Rechtsanwalt sich mit einem Anwaltsnotar zur gemeinsamen Berufsausübung verbunden hat. Dann greift für den Anwaltsnotar das Tätigkeitsverbot des § 14 Abs. 4 Satz 1 BNotO ein. Danach ist es dem Notar untersagt, Darlehen oder Grundstücke zu vermitteln. Der Gesetzesbegriff „vermitteln“ in § 14 Abs. 4 BNotO erfasst nicht nur eine Vermittlungstätigkeit im engeren Sinne, sondern auch eine reine Nachweisleistung.41) In einem wegweisenden, in die amtliche Entscheidungssammlung aufgenommenen Urteil vom 22. Februar 200142) hat der IX. Zivil33) 34) 35) 36) 37) 38) 39) 40) 41) 42)

D. Fischer, Die neue Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur zivilrechtlichen Haftung der Rechtsanwälte und steuerlichen Berater, WM Sonderbeilage Nr. 1/2019, S. 3, 4. Dehner, Maklerrecht, 2001, Rz. 175. D. Fischer, WM Sonderbeilage Nr. 1/2019, S. 3, 5. BGH, Urt. v. 12.5.2016 – IX ZR 241/14, Rz. 14 ff., ZIP 2016, 1443 = WM 2017, 537. BGH, Beschl. v. 8.10.2007 – AnwZ (B) 92/08, Rz. 8, NJW 2008, 517. BGH, Beschl. v. 13.10.2003 – AnwZ (B) 79/02, NJW 2004, 212. BGH, Urt. v. 31.10.1991 – IX ZR 303/90, NJW 1992, 681, 682; BGH, Urt. v. 12.5.2016 – IX ZR 241/14, Rz. 24, ZIP 2016, 1443 = WM 2017, 537. BGH, Urt. v. 12.5.2016 – IX ZR 241/14, Rz. 26, ZIP 2016, 1443 = WM 2017, 537. Dehner, Maklerrecht, 2001, Rz. 22; D. Fischer, NJW 2016, 3220, 3221. BGH, Urt. v. 22.2.2001 – IX ZR 357/99, ZIP 2001, 616 = NJW 2001, 1569.

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senat ausgesprochen, dass im Hinblick auf den Normzweck des Tätigkeitsverbots, der die unparteiische Amtsführung zu sichern und bereits die bloße Tätigkeit und nicht erst den Erfolg zu unterbinden hat, nicht nur der Anwaltsnotar dem Verbot unterliegt, sondern auch die mit ihm in einer Sozietät verbundenen übrigen Rechtsanwälte. Wird gegen das Tätigkeitsverbot verstoßen, ist der vom Anwaltsnotar abgeschlossene Maklervertrag gemäß § 134 BGB nichtig. Das Gleiche gilt, wenn der Vertrag von einem mit einem Anwaltsnotar verbundenen Anwalt abgeschlossen wird.43) IV. Die Verwirkung von Vergütungsansprüchen des Rechtsanwalts und Insolvenzverwalters In seiner Rechtsprechung hat sich der IX. Zivilsenat mehrfach mit der Bestimmung des § 654 BGB befasst.44) Danach ist der Doppelmakler unter Androhung des Provisionsverlusts gehalten, der Gefahr von Interessenkollisionen als „ehrlicher Makler“ durch strenge Unparteilichkeit entgegenzuwirken.45) 1. Allgemeine Grundsätze In der Judikatur des Reichsgericht wurde § 654 BGB alsbald entgegen seinem Wortlaut nicht nur auf den Fall unzulässiger Doppeltätigkeit angewandt, sondern auch auf andersgelagerte schwerwiegende Pflichtenverstöße des Maklers, gleich ob von einem Doppel- oder Einzelmakler verübt.46) Mit Grundsatzentscheidung vom 5. Februar 196247) gab der damalige Maklerrechtssenat des Bundesgerichtshofs dieser Bestimmung das bis heute gültige Normverständnis.48) Der Provisionsverwirkung kommt Strafcharakter zu und setzt deshalb keinen Schaden auf Seiten des Maklerkunden voraus. Im Hinblick auf den Strafcharakter der Norm ist aber nicht nur ein schwerwiegender Pflichtenverstoß erforderlich, sondern zusätzlich ist es geboten, dass 43) 44)

45) 46) 47) 48)

BGH, Urt. v. 22.2.2001 – IX ZR 357/99, ZIP 2001, 616 = NJW 2001, 1569. BGH, Urt. v. 31.10.1991 – IX ZR 303/90, NJW 1992, 681, 682; BGH, Beschl. v. 6.5.2004 – IX ZB 349/02, BGHZ 159, 122, 131 f. = ZIP 2004, 1214; BGH, Urt. v. 9.12.2010 – IX ZR 60/10, Rz. 14, ZIP 2011, 390 = WM 2011, 364; BGH, Beschl. v. 22.11.2018 – IX ZB 14/18, Rz. 26, ZIP 2019, 82 = WM 2019, 39. BGH, Urt. v. 31.10.1991 – IX ZR 303/90, NJW 1992, 681, 682. RG, LZ 1918, 686, 687; RG, LZ 1920, 758; RGZ 113, 264, 269. BGH, Urt. v. 5.2.1962 – VII ZR 248/60, BGHZ 36, 323. Hierzu im Einzelnen D. Fischer, Ausschluss der Maklerprovision nach § 654 BGB im Spiegel der Rechtsprechung, NZM 2001, 873.

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der Makler subjektiv vorwerfbar vorsätzlich oder zumindest grob leichtfertig gehandelt hat. Damit wurde der Verwirkungstatbestand zum allgemeinen Rechtsprinzip des Maklerrechts fortentwickelt.49) Die Provisionsverwirkung wird auch als zentrales Instrument zum Schutz des Verbrauchers bezeichnet;50) ihr kommt allerdings auch im kaufmännischen Rechtsverkehr große Bedeutung zu.51) In einer kürzlich zur Verwirkung der Vergütung des Insolvenzverwalters ergangenen Entscheidung hat der IX. Zivilsenat diese Grundsätze nochmals zusammengefasst und hinsichtlich der subjektiven Komponente betont:52) Entscheidendes Gewicht liegt bei der Frage der subjektiven Vorwerfbarkeit der Treuepflichtverletzung, aufgrund derer der Makler den Lohn nach allgemeinem Rechts- und Billigkeitsempfinden nicht verdient hat, sondern sich seines Lohnes „unwürdig“ erweist.53) Das Kriterium der Lohnunwürdigkeit wurde von dem Rechtsphilosophen und Rechtsvergleicher Hans Reichel54) (1878 – 1939) entwickelt55) und in der Grundsatzentscheidung vom 5. Februar 1962 unter Bezugnahme auf das Reichsgericht56) ausdrücklich als Prüfstein herangezogen.57) 2. Analoge Anwendung des § 654 BGB auf andere Rechtsverhältnisse Unabhängig von dem Anwendungsbereich des § 654 BGB als maklerrechtliche Bestimmung wird der Vorschrift ein allgemeiner Rechtsgedanke entnommen, der ausnahmsweise auch zu einer entsprechenden Anwendung der Norm außerhalb des Maklerrechts führen kann. Dies wurde etwa für die Vergütung des Vormunds oder Pflegers,58) des Zwangsverwalters59) oder des 49)

50) 51) 52) 53)

54) 55) 56) 57) 58) 59)

Thode, Die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Maklerrecht des BGB, WM Sonderbeilage Nr. 6/1989, S. 15, 16; D. Fischer, Die wirtschaftliche Verflechtung im Maklerrecht – eine richterrechtliche Rechtsfigur, in: FS Bamberger, 2017, S. 35, 43. Jansen-Behnen, Regulierungsmechanismen des Verbraucherschutzes im Maklerrecht, 2017, S. 287. Roth in: Baumbach/Hopt, HGB, 38. Aufl. 2018, § 93 Rz. 52. BGH, Beschl. v. 22.11.2018 – IX ZB 14/18, Rz. 16 ff., ZIP 2019, 82 = WM 2019, 39. BGH, Beschl. v. 22.11.2018 – IX ZB 14/18, Rz. 26, ZIP 2019, 82 = WM 2019, 39, unter Bezugnahme auf BGH, Beschl. v. 6.5.2004 – IX ZB 349/02, BGHZ 159, 122, 131 = ZIP 2004, 1214. Hierzu Forster, Neue Deutsche Biographie, Bd. 21, 2003, S. 299. Reichel, Die Mäklerprovision, 1913, S. 229 ff. RG, LZ 1920 Sp. 758, 759. BGH, Urt. v. 5.2.1962 – VII ZR 248/60, BGHZ 36, 323, 327; Rietschel, LM § 654 BGB Nr. 1 (Urteilsanm.). BayObLG, Beschl. v. 11.7.1991 – BReg 3 Z 79/91, BayObLGZ 1991, 272, 275. BGH, Beschl. v. 23.9.2009 – V ZB 90/09, Rz. 11 ff., NJW-RR 2009, 1710; BGH, Beschl. v. 9.6.2011 – V ZB 77/09, Rz. 21 ff., NJW-RR 2010, 426.

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gerichtlich beauftragten Sachverständigen60) angenommen. Auch der IX. Zivilsenat hat für Vergütungsansprüche des Rechtsanwalts sowie des Insolvenzverwalters eine entsprechende Anwendung des § 654 BGB befürwortet. 3. Die Verwirkung des Anwaltshonorars Bereits das Reichsgericht hat die Vorschrift des § 654 BGB auf den Anwaltsvertrag dahingehend angewandt, dass eine vorsätzliche oder fahrlässige Verletzung wesentlicher Vertragspflichten des Rechtsanwalts zum Verlust der Vergütung führen könne.61) Der Bundesgerichtshof62) hat diese weitgefasste Rechtsprechung eingegrenzt und ist ihr nur insoweit gefolgt, als lediglich ein vorsätzlicher, nach § 356 StGB strafbarer Parteiverrat den anwaltlichen Honoraranspruch ausschließt. Eine fahrlässige Pflichtverletzung, selbst wenn sie grober Art sein sollte, hat eine solche Wirkung nicht.63) Ein Verstoß des Anwalts gegen die Pflicht zur Vermeidung von Interessenkollisionen (§ 43a Abs. 4 BRAO) führt daher nur dann zum Ausschluss einer Honorarforderung, wenn der Anwalt mit dem Bewusstsein und dem Willen gehandelt hat, pflichtwidrig Parteien mit entgegengesetzten Interessen beruflichen Rat oder Beistand zu gewähren.64) Nur ein solcher Verstoß nimmt der Tätigkeit des Rechtsberaters den Wert einer anwaltlichen Leistung.65) Der Rechtsgedanke des § 654 BGB ist grundsätzlich auch auf den Steuerberatervertrag anwendbar.66) Hierzu hat sich der IX. Zivilsenat allerdings, soweit ersichtlich, noch nicht geäußert. Die Vergütung eines Steuerberaters für eine zulässige Wirtschaftsberatung ist bei einer schwerwiegenden Treuepflichtverletzung des Beraters dann jedenfalls nicht ohne weiteres 60) 61) 62) 63)

64) 65) 66)

BGH, Beschl. v. 15.12.1975 – X ZR 52/73, NJW 1976, 1154, 1155. RGZ 113, 264, 269; HRR 1935 Nr. 725. BGH, Urt. v. 29.4.1963 – III ZR 211/61, NJW 1963, 1301, 1303; BGH, Urt. v. 15.1.1981 – III ZR 19/80, NJW 1981, 1211, 1212. BGH, Urt. v. 15.1.1981 – III ZR 19/80, NJW 1981, 1211, 1212; BGH, Urt. v. 15.7.2004 – IX ZR 256/03, NJW 2004, 2817; BGH, Urt. v. 23.4.2009 – IX ZR 167/07, Rz. 39, ZIP 2009, 1767 = NJW 2009, 3297; BGH, Urt. v. 12.5.2011 – III ZR 107/10, Rz. 28, ZIP 2011, 1367 = WM 2011, 1524. Anders dagegen bei einer Geschäftsbesorgung (Geldanlagevertrag). Hier kann bereits eine grob leichtfertige Treuepflichtverletzung zur Verwirkung der Verwaltungsgebühr führen, BGH, Urt. v. 9.12.2010 – IX ZR 60/10, Rz. 14, ZIP 2011, 390 = WM 2011, 364. BGH, Urt. v. 15.1.1981 – III ZR 19/80, NJW 1981, 1211, 1212; BGH, Urt. v. 23.4.2009 – IX ZR 167/07, Rz. 39, ZIP 2009, 1767 = NJW 2009, 3297. BGH, Urt. v. 23.4.2009 – IX ZR 167/07, Rz. 39, ZIP 2009, 1767 = NJW 2009, 3297. D. Fischer in: G. Fischer/Vill/D. Fischer, Handbuch der Anwaltshaftung, 4. Aufl. 2015, § 2 Rz. 499.

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verwirkt, wenn der Dienstberechtigte gemäß § 626 BGB fristlos gekündigt hat und zu dessen Gunsten § 628 Abs. 1 Satz 2 BGB – keine Vergütung bei Interessewegfall – eingreift.67) 4. Die Verwirkung der Insolvenzverwaltervergütung Im Gegensatz zum Anwaltsvergütungsrecht greift der Verwirkungseinwand bei der Insolvenzverwaltervergütung wesentlich weiter. Er wurde anhand der maklerrechtlichen Kriterien entwickelt und entspricht im Wesentlichen diesen Grundsätzen.68) Auch hier ist der Anknüpfungspunkt eine schwerwiegende Treuepflichtverletzung, mit der sich der Insolvenzverwalter seiner Vergütung als „unwürdig“ erweist.69) Da der Insolvenzverwalter einen gemäß Art. 12 Abs. 1 GG verfassungsrechtlich gewährleisteten Anspruch auf Vergütung seiner Tätigkeit hat, kommt ein Ausschluss der Vergütung bei Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes allerdings nur in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht.70) Es genügt nicht jede objektiv erhebliche Pflichtverletzung. Die Versagung jeglicher Vergütung kommt vielmehr nur bei einer schweren, subjektiv in hohem Maße vorwerfbaren Verletzung der Treuepflicht in Betracht. Dies ist insbesondere dann anzunehmen, wenn der Insolvenzverwalter besonders schwerwiegende Pflichtverletzungen in Form von Straftaten zum Nachteil der Masse begangen hat.71) Vergütungsansprüche sind aber auch dann ausgeschlossen, wenn der Verwalter seine Bestellung durch eine Täuschung in strafbarer Weise erschleicht und damit im eigenen wirtschaftlichen Interesse eine Gefährdung der erfolgreichen Abwicklung des 67) 68) 69)

70)

71)

BGH, Urt. v. 12.5.2011 – III ZR 107/10, Rz. 27, 29, ZIP 2011, 1367 = WM 2011, 1524 (Steuerberater als Sanierungsberater). BGH, Beschl. v. 6.5.2004 – IX ZB 349/02, BGHZ 159, 122, 131 f. = ZIP 2004, 1214. BGH, Beschl. v. 6.5.2004 – IX ZB 349/02, BGHZ 159, 122, 131 f. = ZIP 2004, 1214; BGH, Beschl. v. 9.6.2011 – IX ZB 248/09, Rz. 6, ZIP 2011, 1526; BGH, Urt. v. 16.10.2014 – IX ZR 190/13, Rz. 27, ZIP 2014, 2299; BGH, Beschl. v. 6.11.2014 – IX ZB 90/12, Rz. 13, ZIP 2014, 2450; BGH, Beschl. v. 14.7.2016 – IX ZB 52/15, Rz. 6, ZIP 2016, 1648; BGH, Urt. v. 20.7.2017 – IX ZR 310/14, Rz. 33, ZIP 2017, 1571; BGH, Beschl. v. 21.9.2017 – IX ZB 28/14, Rz. 10, ZIP 2017, 2063. BGH, Beschl. v. 6.5.2004 – IX ZB 349/02, BGHZ 159, 122, 132 = ZIP 2004, 1214; BGH, Beschl. v. 9.6.2011 – IX ZB 248/09, Rz. 6, ZIP 2011, 1526; BGH, Beschl. v. 14.7.2016 – IX ZB 52/15, Rz. 6, ZIP 2016, 1648; BGH, Beschl. v. 21.9.2017 – IX ZB 28/14, Rz. 10, ZIP 2017, 2063. BGH, Beschl. v. 14.7.2016 – IX ZB 52/15, Rz. 6, ZIP 2016, 1648; BGH, Urt. v. 20.7.2017 – IX ZR 310/14, Rz. 33, ZIP 2017, 1571; BGH, Beschl. v. 21.9.2017 – IX ZB 28/14, Rz. 10, ZIP 2017, 2063.

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Insolvenzverfahrens in Kauf nimmt.72) Gleiches gilt, wenn er bei seiner Bestellung verschweigt, dass er in einer Vielzahl früherer Insolvenzverfahren als Verwalter an sich selbst und an von ihm beherrschten Gesellschaften grob pflichtwidrig Darlehen aus den dortigen Massen ausgereicht hat.73) Diese Grundsätze gelten auch für den vorläufigen Insolvenzverwalter.74) Er verwirkt seinen Vergütungsanspruch allerdings in der Regel nicht durch Pflichtverletzungen, die er als Insolvenzverwalter im eröffneten Verfahren begeht. Da die Verwirkung des Vergütungsanspruchs ihren inneren Grund in dem schweren Treuebruch gegenüber dem Insolvenzgericht hat,75) kann sie nur auf Pflichtverletzungen des Verwalters bei der Ausübung des konkreten Amtes gestützt werden.76) Die Verwirkungsgrundsätze sind auch für den Treuhänder im Restschuldbefreiungsverfahren (Wohlverhaltensphase) anwendbar.77) V. Die sittenwidrige Maklerprovision Der Einwand, der Makler habe eine sittenwidrige Provision vereinbart, ist vielfach Gegenstand von Rückforderungsklagen von Maklerkunden,78) er kann sich aber auch im Anwaltsregress wiederfinden. So wurde mit Urteil vom 30. Mai 200079) ausgesprochen, dass gegenüber einem Rechtsanwalt, der seinen Mandanten in Kontakt mit einem Makler bringt und einen Anteil an der sittenwidrig überhöhten Maklerprovision erhält, der Vorwurf einer sittenwidrigen Schädigung begründet ist, wenn dieser ihn nicht rechtzeitig auf die Provisionsbeteiligung hingewiesen hat. 1. Prüfungsmaßstab für die Feststellung der Sittenwidrigkeit In diesem Zusammenhang war auch zu erörtern, welcher Prüfungsmaßstab für die Feststellung einer nach § 138 Abs. 1 BGB sittenwidrig überhöhten Maklerprovision heranzuziehen ist. Zwischen der Höhe der versprochenen 72) 73) 74) 75) 76) 77) 78) 79)

BGH, Beschl. v. 6.5.2004 – IX ZB 349/02, BGHZ 159, 122, 132= ZIP 2004, 1214. BGH, Beschl. v. 14.7.2016 – IX ZB 52/15, Rz. 8 f., ZIP 2016, 1648. BGH, Beschl. v. 21.9.2017 – IX ZB 28/14, Rz. 11, ZIP 2017, 2063. BGH, Beschl. v. 14.7.2016 – IX ZB 52/15, Rz. 8, ZIP 2016, 1648; BGH, Beschl. v. 21.9.2017 – IX ZB 28/14, Rz. 11, ZIP 2017, 2063. BGH, Beschl. v. 21.9.2017 – IX ZB 28/14, Rz. 11, ZIP 2017, 2063. Sternal in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 292 Rz. 82; D. Fischer in: Ahrens/ Gehrlein/Ringstmeier, InsO, 3. Aufl. 2017, § 292 Rz. 3. D. Fischer, NJW 2019, 1182, 1186. BGH, Urt. v. 30.5.2000 – IX ZR 121/99, BGHZ 144, 343 = NJW 2000, 2669.

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Leistung und der dafür zu erbringenden Leistung muss, wie dem Wortlaut des § 138 Abs. 2 BGB entlehnt, ein auffälliges Missverhältnis bestehen und weitere Umstände hinzutreten, wie etwa eine verwerfliche Gesinnung des Maklers.80) Der maßgebliche Ausgangspunkt für die Frage nach dem auffälligen Missverhältnis ist daher die Gegenüberstellung der vereinbarten und der üblichen Maklerprovision.81) Hiervon geht auch der IX. Zivilsenat82) aus, lässt aber ausdrücklich offen, ob der bei gegenseitigen Verträgen übliche Maßstab (einer Überschreitung), wenn der Preis knapp doppelt so hoch ist wie der Wert der Gegenleistung, auch auf Maklerprovisionen zu übertragen ist.83) Vielmehr lehnt er sich, bezogen allerdings auf den konkreten Einzelfall, an einen anderen, in derselben Entscheidung auf die Anwaltsvergütung wohl erstmals praktizierten Maßstab an: Wird das Fünffache der im Regelfall üblichen Vergütung (Provision) erreicht, liegt ein auffälliges Missverhältnis i. S. des § 138 BGB vor.84) Bereits knapp 25 Jahre zuvor hatte diesen Maßstab der Bundesgerichtshof in einem bankrechtlich geprägten Maklerprovisionsfall gebilligt.85) In der nachfolgenden Rechtsprechung zur Anwaltsvergütung wird dieser Maßstab, auch bezogen auf die Frage der Unangemessenheit nach § 3 BRAGO86) oder § 3a Abs. 2 RVG87), vielfach angewandt. Ein Vertrag, durch den einem Dienstleister von einer Wohnungsbaugenossenschaft für die bloße Präsentation von Immobilien, die im Falle eines Erwerbs seitens der Wohnungsbaugenossenschaft durch Ausgabe von öffent80) 81) 82) 83)

84)

85)

86)

87)

BGH, Urt. v. 30.5.2000 – IX ZR 121/99, BGHZ 144, 343 = NJW 2000, 2669, unter Bezugnahme auf BGH, Urt. v. 16.2.1994 – IV ZR 35/93, BGHZ 125, 135, 137. BGH, Urt. v. 22.1.1976 – II ZR 90/75, WM 1976, 289; BGH, Urt. v. 16.2.1994 – IV ZR 35/93, BGHZ 125, 135, 137. BGH, Urt. v. 30.5.2000 – IX ZR 121/99, BGHZ 144, 343 = NJW 2000, 2669. Unter Bezugnahme auf Reuter in: Staudinger, BGB, 13. Bearb., §§ 652, 653 Rz. 49. Der von Reuter eingenommene Standpunkt beruht allerdings in erster Linie auf seine Mindermeinung, der Maklervertrag sei als kaufähnlicher Vertrag einzustufen, was weder im Schrifttum noch in der Judikatur auf Zustimmung gestoßen ist. Deshalb wurde auch in der späteren Rechtsprechungsentwicklung der für Kaufverträge entwickelte Maßstab nicht auf Maklerverträge übertragen. BGH, Urt. v. 30.5.2000 – IX ZR 121/99, NJW 2000, 2669 (Maklerprovision), insoweit in BGHZ 144, 343 nicht abgedruckt; BGH, Urt. v. 30.5.2000 – IX ZR 121/99, BGHZ 144, 343, 346 f. = NJW 2000, 2669 (Anwaltsvergütung). BGH, Urt. v. 22.1.1976 – II ZR 90/75, WM 1976, 289, 290. In Anlehnung hieran für das sechsfache Übersteigen der Provision, OLG Oldenburg, Urt. v. 12.3.1986 – 3 U 186/85, NJW-RR 1986, 857, 858. BGH, Urt. v. 27.1.2005 – IX ZR 273/02, BGHZ 162, 98, 107; BGH, Urt. v. 19.5.2009 – IX ZR 174/06, Rz. 14, NJW 2009, 3301; BGH, Urt. v. 4.2.2010 – IX ZR 187/09, Rz. 47 f., BGHZ 184, 209 (jeweils Strafverteidiger). BGH, Urt. v. 10.11.2016 – IX ZR 119/14, Rz. 21, ZIP 2016, 2479 = WM 2017, 827 (zivilrechtliches Mandat).

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lich geförderten Genossenschaftsanteilen vertrieben werden sollen, eine monatliche erfolgsunabhängige Vergütung erheblicher Größenordnung zugesagt wird, kann, wie der IX. Zivilsenat88) mit Urteil vom 8. März 2012 ausgeführt hat, wegen eines groben Missverhältnisses von Leistung und Gegenleistung sittenwidrig sein. Betont wurde in diesem Zusammenhang, dass bei einer Provisionsvereinbarung bereits das auffällige Missverhältnis von Leistung und Gegenleistung den Schluss auf eine verwerfliche Gesinnung zulässt.89) 2. Rechtsfolge der Sittenwidrigkeit Ob im Falle einer Sittenwidrigkeit der Vergütungsabrede der Honoraranspruch insgesamt entfällt, weil nichtig, oder ein Anspruch auf die (ortsübliche oder gesetzliche) Vergütung bestehen bleibt, ist höchstrichterlich für das Anwaltsvergütungsrecht geklärt, im Maklerrecht dagegen nicht. Für die anwaltliche Vergütung ist anerkannt, dass bei Vereinbarung eines sittenwidrigen Honorars, die Abrede zwar nichtig ist, ein Anspruch auf die gesetzlichen Gebühren aber dem Anwalt verbleibt.90) Demgegenüber ist streitig, ob diese Rechtsfolge auch bei Vereinbarung einer sittenwidrig überhöhten Maklerprovision zu gelten hat.91) Es erscheint allerdings zweifelhaft, ob das Anwaltsvergütungsrecht hier als Impulsgeber für das Maklerrecht wirken sollte. Einem Makler die Möglichkeit zu geben, unter Ausnutzung der Unerfahrenheit seines Kunden überhöhte Provisionsabreden zu treffen in der Gewissheit, dass die Provisionen, wenn die Sittenwidrigkeit im Prozess beanstandet wird, auf die ortsübliche zurückgeführt werden wird, leuchtet wenig ein.92) Doch wird dem Meinungsstreit im Maklerprovisionsprozess im Ergebnis nicht allzu große Bedeutung zukommen. In diesem Zusammenhang ist nämlich stets zu prüfen, ob nicht das sittenwidrige und damit treuwidrige Verhalten des Maklers zu einer (gänzlichen) Provisions88) 89) 90) 91)

92)

BGH, Urt. v. 8.3.2012 – IX ZR 51/11, Rz. 14 ff., ZIP 2012, 984 = NJW 2012, 2099. BGH, Urt. v. 8.3.2012 – IX ZR 51/11, Rz. 19, ZIP 2012, 984 = NJW 2012, 2099, unter Bezugnahme auf BGH, Urt. v. 16.2.1994 – IV ZR 35/93, BGHZ 125, 135, 140. BGH, Urt. v. 10.11.2016 – IX ZR 119/14, Rz. 29, ZIP 2016, 2479 = WM 2017, 827 (zivilrechtliches Mandat). Kein Provisionsanspruch: OLG Oldenburg, Urt. v. 12.3.1986 – 3 U 186/85, NJW-RR 1986, 857, 858; Ellenberger in: Palandt, BGB, 78. Aufl. 2019, § 138 Rz. 75; Hamm/ Schwerdtner, Maklerrecht, 7. Aufl. 2016, Rz. 765; D. Fischer, Die Entwicklung des Maklerrechts seit 2012, NJW 2013, 3410, 3411. Ortsübliche Provision: OLG Brandenburg, Urt. v. 14.10.2009 – 4 U 11/09, NJW-RR 2010, 635, 637. OLG Oldenburg, Urt. v. 12.3.1986 – 3 U 186/85, NJW-RR 1986, 857, 858; ähnlich im Zusammenhang mit § 817 BGB: BGH, Urt. v. 10.1.2019 – IX ZR 89/18, Rz. 28, ZIP 2019, 423 = NJW 2019, 1147.

Maklerrechtliche Spuren und Impulse in der Judikatur des IX. Zivilsenats

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verwirkung nach § 654 BGB führen muss. In den meisten Fallsituationen wird dies wohl kaum zu verneinen sein. VI. Der Mitverschuldenseinwand in der Rechtsberaterhaftung und Maklerhaftung In einer Entscheidung vom 30. November 2017 befasste sich der Maklerrechtssenat des Bundesgerichtshofs93) erstmals grundlegend mit dem Einwand des Mitverschuldens in der Maklerhaftung. Die Sache betraf einen Versicherungsmakler, der den klagenden Versicherungsnehmer fehlerhaft beraten hatte. Für den Versicherungsmaklervertrag ist es kennzeichnend, dass hier die vertraglichen Pflichten des Maklers besonders weit gefasst sind.94) Wegen seiner umfassenden Pflichten wird der Versicherungsmakler nach gefestigter höchstrichterlicher Judikatur als treuhänderischer Sachwalter des Versicherungsnehmers bezeichnet und insoweit mit sonstigen Beratern verglichen.95) In der angeführten Entscheidung sprach der Maklerrechtssenat erstmals aus, dass die zur Rechtsanwalts- und Steuerberaterberaterhaftung entwickelten Grundsätze über das Mitverschulden des Mandanten96) in entsprechender Anwendung auch regelmäßig für die Frage eines anspruchsmindernden Mitverschuldens des Versicherungsnehmers bei Beratungspflichtverletzungen des Maklers anwendbar sind.97) 1. Grundsätze der Rechtsberaterhaftung Bei einem Rechtsberatervertrag kann der zu beratenden Person regelmäßig nicht als mitwirkendes Verschulden vorgehalten werden, sie hätte das, worüber sie ihr Berater hätte aufklären oder unterrichten sollen, bei ent-

93) 94) 95)

96)

97)

BGH, Urt. v. 30.11.2017 – I ZR 143/16, Rz. 13, ZIP 2018, 637 = NJW 2018, 1160. BGH, Urt. v. 10.3.2016 – I ZR 147/14, Rz. 18, BGHZ 209, 256 = ZIP 2016, 2174. BGH, Urt. v. 22.5.1985 – IVa ZR 190/83, BGHZ 94, 356, 359; BGH, Urt. v. 20.1.2005 – III ZR 251/04, BGHZ 162, 67, 78 = ZIP 2005, 581; BGH, Urt. v. 14.6.2007 – III ZR 269/06, Rz. 10, NJW-RR 2007, 1503; BGH, Urt. v. 16.7.2009 – III ZR 21/09, Rz. 8, VersR 2009, 1495; BGH, Urt. v. 26.3.2014 – IV ZR 422/12, Rz. 25, NJW 2014, 2038. BGH, Urt. v. 15.4.2010 – IX ZR 189/09, Rz. 14, WM 2010, 993; BGH, Urt. v. 17.3.2011 – IX ZR 162/08, Rz. 12, WM 2011, 1529; BGH, Urt. v. 14.6.2012 – IX ZR 145/11, Rz. 37, BGHZ 193, 297 = ZIP 2012, 1353; D. Fischer in: G. Fischer/Vill/D. Fischer/Rinkler/ Chab, Handbuch der Anwaltshaftung, 4. Aufl. 2015, § 6 Rz. 17 ff. BGH, Urt. v. 30.11.2017 – I ZR 143/16, Rz. 22, ZIP 2018, 637 = NJW 2018, 1160.

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sprechenden Bemühungen ohne fremde Hilfe selbst erkennen können.98) Das gilt auch für rechtlich und wirtschaftlich erfahrene Personen.99) Selbst wenn eine zu beratende Person über einschlägige Kenntnisse verfügt, muss sie darauf vertrauen können, dass der von ihr beauftragte Berater die anstehenden Fragen fehlerfrei bearbeitet, ohne dass eine Kontrolle notwendig ist.100) Der Berater, der seine Vertragspflicht zur sachgerechten Beratung verletzt hat, kann deshalb gegenüber dem Schadensersatzanspruch des geschädigten Mandanten nach Treu und Glauben regelmäßig nicht geltend machen, diesen treffe ein Mitverschulden, weil er sich auf die Beratung verlassen und dadurch einen Mangel an Sorgfalt gezeigt habe.101) Unter besonderen Umständen kann allerdings ausnahmsweise auch i. R. eines Beratungsfehlers ein Mitverschulden des Mandanten in Erwägung zu ziehen sein.102) Dies kann etwa gelten, wenn der Mandant Warnungen oder ohne weiteres erkennbare Umstände, die gegen die Richtigkeit des vom Berater eingenommenen Standpunkts sprechen, nicht genügend beachtet oder den Berater nicht über eine fundierte abweichende Auskunft unterrichtet, die er von einer sachkundigen Person erhalten hat.103) Eine Obliegenheit zur Schadensabwehr kommt auch in Betracht, wenn der Mandant von der Gefährdung seiner Interessen Kenntnis hat.104)

98) BGH, Urt. v. 30.11.2017 – I ZR 143/16, Rz. 20, ZIP 2018, 637 = NJW 2018, 1160 (Versicherungsmakler), unter Bezugnahme auf BGH, Urt. v. 15.4.2010 – IX ZR 189/09, Rz. 14, WM 2010, 993; BGH, Urt. v. 17.3.2011 – IX ZR 162/08, Rz. 12, WM 2011, 1529; BGH, Urt. v. 14.6.2012 – IX ZR 145/11, Rz. 37, BGHZ 193, 297 = ZIP 2012, 1353 (jeweils Steuerberater). 99) BGH, Urt. v. 30.11.2017 – I ZR 143/16, Rz. 20, ZIP 2018, 637 = NJW 2018, 1160, unter Bezugnahme auf BGH, Urt. v. 14.6.2012 – IX ZR 145/11, Rz. 37, BGHZ 193, 297 = ZIP 2012, 1353. 100) BGH, Urt. v. 30.11.2017 – I ZR 143/16, Rz. 20, ZIP 2018, 637 = NJW 2018, 1160, unter Bezugnahme auf BGH, Urt. v. 15.4.2010 – IX ZR 189/09, Rz. 14, WM 2010, 993; BGH, Urt. v. 17.3.2011 – IX ZR 162/08, Rz. 12, WM 2011, 1529; BGH, Urt. v. 14.6.2012 – IX ZR 145/11, Rz. 37, BGHZ 193, 297 = ZIP 2012, 1353. 101) BGH, Urt. v. 30.11.2017 – I ZR 143/16, Rz. 20, ZIP 2018, 637 = NJW 2018, 1160, unter Bezugnahme auf BGH, Urt. v. 15.4.2010 – IX ZR 189/09, Rz. 14, WM 2010, 993; BGH, Urt. v. 17.3.2011 – IX ZR 162/08, Rz. 12, WM 2011, 1529. 102) BGH, Urt. v. 17.3.2011 – IX ZR 162/08, Rz. 12, WM 2011, 1529, unter Bezugnahme auf BGH, Urt. v. 4.3.1987 – IVa ZR 122/85, BGHZ 100, 117, 125 = ZIP 1987, 500; BGH, Urt. v. 8.7.2010 – III ZR 249/09, Rz. 21, BGHZ 186, 152 = ZIP 2010, 1548. 103) BGH, Urt. v. 30.11.2017 – I ZR 143/16, Rz. 21, ZIP 2018, 637 = NJW 2018, 1160, unter Bezugnahme auf BGH, Urt. v. 17.3.2011 – IX ZR 162/08, Rz. 13, WM 2011, 1529. 104) BGH, Urt. v. 30.11.2017 – I ZR 143/16, Rz. 21, ZIP 2018, 637 = NJW 2018, 1160, unter Bezugnahme auf BGH, Urt. v. 14.10.2010 – I ZR 212/08, Rz. 19, NJW 2011, 2138 – MegaKasten-Gewinnspiel.

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2. Übertragbarkeit der Grundsätze auf den Versicherungsmakler Der Maklerrechtssenat betont, dass die vorgenannten Grundsätze der Rechtsberaterhaftung regelmäßig entsprechend für die Frage eines anspruchsmindernden Mitverschuldens des Versicherungsnehmers bei Beratungspflichtverletzungen des Versicherungsmaklers zu gelten haben. Dies bedeutet, dass der zu beratenden Person – mithin dem Versicherungsnehmer – regelmäßig nicht als mitwirkendes Verschulden vorgehalten werden kann, sie hätte das, worüber sie ihr Berater hätte aufklären oder unterrichten müssen, bei entsprechenden Bemühungen ohne fremde Hilfe selbst erkennen und abwenden können. 3. Übertragbarkeit der Grundsätze auf den Immobilienmakler Entscheidungen zum Versicherungsmaklerrecht können auch für das Immobilienmaklerrecht von Bedeutung sein, wenn sie allgemein-maklerrechtliche Fragen betreffen und die entwickelten Grundsätze auch auf andere Bereiche des Maklerrechts übertragbar sind.105) So haben etwa die Grundsatzentscheidungen zur Höhe des bei Widerruf des Maklervertrages geschuldeten Wertersatzes106) und zur Frage der Verwirkung des Maklerlohns bei Verwendung unzulässiger Allgemeiner Geschäftsbedingungen107) zur Fortentwicklung des gesamten Maklerrechts beigetragen.108) Dies gilt auch für die Entscheidung vom 30. November 2017. Der Immobilienmaklervertrag kann vielfältige beratungsrelevante Bezüge aufweisen. So gehört die fehlerfreie Erstellung eines Objektexposés zum vertraglichen Aufgabenbereich des Immobilienmaklers.109) Will der Verkäufer-Makler eine Übererlösprovision vereinbaren, so ist er regelmäßig verpflichtet, den Verkaufsinteressenten über den objektiv erzielbaren Kaufpreis zu unterrichten.110) Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Verkaufsinteressent nicht sachkundig ist und keine Vorstellungen über den tatsächlichen Verkehrswert und

105) D. Fischer, Die Entwicklung des Maklerrechts seit 2011, NJW 2012, 3283, 3284. 106) BGH, Urt. v. 19.7.2012 – III ZR 252/11, Rz. 19, BGHZ 194, 150 = NJW 2012, 3428, hierzu Schlick in: FS D. Fischer, 2018, S. 449, 455 ff. 107) BGH, Urt. v. 19.5.2005 – III ZR 322/04, NJW-RR 2005, 1423, 1424 (keine Verwirkung). 108) D. Fischer, Die neue Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zum Maklerrecht, WM Sonderbeilage Nr. 1/2016, S. 1, 3. 109) OLG Düsseldorf, Urt. v. 9.9.2016 – 7 U 82/15, BeckRS 2016, 21373; D. Fischer, Der Mitverschuldenseinwand in der Maklerhaftung, NZM 2019, 201, 202, 205. 110) Seydel/Heinbuch, Maklerrecht, 4. Aufl. 2005, Rz. 66.

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den erzielbaren Preis hat.111) Der Makler ist zwar i. R einer Nebenpflicht regelmäßig nicht verpflichtet, den Auftraggeber über steuerrechtliche Belange aufzuklären und steuerrechtliche Fragen zu prüfen.112) Er ist aber nach § 4 Nr. 5 StBerG befugt, zu einschlägigen steuerlichen Fragen Auskünfte zu geben und zu beraten.113) Macht er hiervon Gebrauch, etwa indem er, um die Erwerbsabsicht zu fördern, persönliche Berechnungsbeispiele zur Steuerersparnis des Kaufinteressenten vornimmt,114) müssen die erteilten Auskünfte richtig sein.115) Beratungsrelevante Bezüge sind ferner gegeben, wenn der Makler als Immobilienberater auftritt oder sich als solchen ausgibt116) sowie dann, wenn er i. R. eines Alleinauftrags als Vertrauensmakler tätig ist.117) Daher sind die versicherungsmaklerrechtlichen Grundsätze zum Mitverschuldenseinwand auch für das Immobilienmaklerrecht heranzuziehen.118) VII. Ausblick Vor mehr als 100 Jahren hat Hans Reichel in seinem Grundlagenwerk „Die Mäklerprovision“ zu Recht hervorgehoben, angesichts des mehr als rudimentären Normenbestands des Maklerrechts im BGB bleiben das Meiste und Beste der Wissenschaft und der Praxis überlassen.119) Angesichts dieser Ausgangslage musste sich das Maklerrecht zwangsweise zu einer Domaine der Rechtsprechung entwickeln und ist in seinen wesentlichen Zügen Richterrecht.120) Wie die vorstehenden Bemerkungen gezeigt haben, hat hierzu auch der IX. Zivilsenat in nicht wenigen Entscheidungen beigetragen. Dass zwischen dem Insolvenzrecht und dem Maklerrecht gewisse Schnittpunkte auszumachen sind, wie etwa bei der Beurteilung einer inkongruenten De111) OLG Düsseldorf, Urt. v. 4.3.1994 – 7 U 63/93, OLG-Report Düsseldorf 1994, 229; OLG Düsseldorf, Urt. v. 16.2.1996 – 7 U 50/95, NJW-RR 1996, 1012; OLG Düsseldorf, Urt. v. 5.2.1999 – 7 U 132/98, NJW-RR 1999, 1140, 1141; Ibold, Maklerrecht, 3. Aufl. 2015, Rz. 58. 112) BGH, Urt. v. 12.7.2018 – I ZR 152/17, Rz. 13, ZIP 2019, 277 = NJW 2019, 1223. 113) BGH, Urt. v. 12.7.2018 – I ZR 152/17, Rz. 13, ZIP 2019, 277 = NJW 2019, 1223. 114) Vgl. BGH, Urt. v. 14.3.2003 – V ZR 308/02, NJW 2003, 1811, 1812 f.; D. Fischer, Maklerrecht, 4. Aufl. 2017, Kap. IX Rz. 1. 115) LG Bremen, Urt. v. 16.2.2014 – 4 O 480/13, ZMR 2015, 506; D. Fischer, Die Entwicklung des Maklerrechts seit 2014, NJW 2015, 3278, 3283. 116) Vgl. BGH, Urt. v. 12.7.2018 – I ZR 152/17, Rz. 14, ZIP 2019, 277 = NJW 2019, 1223. 117) D. Fischer, Maklerrecht, 4. Aufl. 2017, Kap. IX Rz. 13. 118) D. Fischer, Die Entwicklung des Maklerrechts im zweiten Halbjahr 2017, NJW 2018, 1145, 1148. 119) Reichel, Die Mäklerprovision, 1913, S. V. 120) Ibold, Maklerrecht, 3. Aufl. 2015, Rz. 8; Würdinger, Die drei Säulen des Maklerprovisionsrechts, JZ 2009, 349; D. Fischer in: FS Bamberger, 2017, S. 35.

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ckung (§ 131 Abs. 1 InsO) und der wirtschaftlichen Kongruenz des Hauptvertrages (§ 652 BGB)121) oder die Heranziehung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise zur Erzielung elastischer Lösungen im Insolvenzanfechtungsrecht122) sowie im Maklerrecht123) soll nicht unerwähnt bleiben.

121) Würdinger, Insolvenzanfechtung im bargeldlosen Zahlungsverkehr, 2012, S. 64, 200. 122) Würdinger, Insolvenzanfechtung im bargeldlosen Zahlungsverkehr, 2012, S. 398 ff. 123) D. Fischer, Bemerkungen zur wirtschaftlichen Betrachtungsweise im Maklerrecht, in: FS Schlick, 2015, S. 135, 138 ff.

Können Massegläubiger eine Umqualifizierung ihrer Forderung in eine Insolvenzforderung erreichen? GERO FISCHER Inhaltsübersicht I.

Anlass für ein entsprechendes Interesse des Massegläubigers II. Vertrag zwischen Schuldnerin und Kreditgeberin III. Insolvenzrechtliche Wirkung 1. Rangrücktritt 2. Verfahrensrechtliche Vereinbarung

a) Rechtsnatur der Masseverbindlichkeiten b) Folgerungen aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes c) Schutz der Insolvenzgläubiger 3. Verzicht der Massegläubiger IV. Ergebnis

I. Anlass für ein entsprechendes Interesse des Massegläubigers Gemäß § 53 InsO sind außer den Kosten des Insolvenzverfahrens auch die sonstigen Masseverbindlichkeiten vorweg aus der Insolvenzmasse zu entnehmen. Masseverbindlichkeiten entstehen insbesondere durch Handlungen des Insolvenzverwalters oder eines vorläufigen Insolvenzverwalters, auf den die Verfügungsbefugnis über das Vermögen des Schuldners übergegangen ist, sowie aus gegenseitigen Verträgen, soweit deren Erfüllung zur Insolvenzmasse verlangt werden kann (§ 55 Abs. 1 Nr. 1, 2 und Abs. 2 InsO). Da die Ansprüche aus Masseverbindlichkeiten unabhängig vom für die Insolvenzgläubiger geltenden Verteilungsverfahren nach §§ 187 ff. InsO zu erfüllen sind, haben Massegläubiger in der Regel ein hohes Interesse an der Einhaltung dieser insolvenzrechtlichen Ordnung. Im Verfahren der Eigenverwaltung nach §§ 270 ff. InsO in der Fassung des ESUG1) können sich jedoch Umstände ergeben, die dazu führen, dass ein Massegläubiger die aus §§ 53, 55 InsO folgenden Rechte aufgeben und sich dafür in die Reihe der Insolvenzgläubiger einordnen möchte. Das soll an folgendem in Anlehnung an Sachverhalte aus der Praxis gewählten Beispiel verdeutlicht werden:

1)

Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen – ESUG, v. 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2582.

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Gero Fischer

Die Schuldnerin betreibt Windkraftanlagen. Sie hat Anleihen im Gesamtbetrag von 80 Mio. € ausgegeben, die sie nicht mehr vertragsgemäß bedienen kann. Sonstige Verbindlichkeiten bestehen nur in geringem Umfang. Die Schuldnerin hat den Antrag gestellt, das Insolvenzverfahren über ihr Vermögen in Eigenverwaltung zu eröffnen. Das Insolvenzgericht hat die vorläufige Eigenverwaltung nach § 270a InsO angeordnet und die Schuldnerin auf deren Antrag ermächtigt, ein Massedarlehen i. H. von 40 Mio. € aufzunehmen, das ihr von einer an dem Unternehmen interessierten Gesellschaft gewährt wird. Dieses Massedarlehen hat die Schuldnerin bereits im Vorverfahren in vollem Umfang in Anspruch genommen. Im eröffneten Verfahren hat die Schuldnerin einen Insolvenzplan vorgelegt. Dieser sieht vor, dass die Darlehensgeberin ihre Rechte nicht als Masse-, sondern als Insolvenzgläubigerin geltend macht. Diese Erklärung hat die Darlehensgeberin allerdings unter die auflösende Bedingung gestellt, dass die Eigenverwaltung aufgehoben und das Verfahren als Regelinsolvenzverfahren fortgeführt wird. In der Gläubigerversammlung möchten die Anleihegläubiger mit deutlicher Mehrheit die Aufhebung der Eigenverwaltung erreichen. Dieser Antrag wird jedoch scheitern, wenn der Gläubigerin, die das Massedarlehen gewährt hat, aufgrund der im Insolvenzplan abgegebenen Erklärung ein Stimmrecht gemäß § 77 InsO i. H. ihrer Forderung zuerkannt wird. Dies kommt in Betracht, wenn die Erklärung der Darlehensgläubigerin zur Folge hat, dass sie bei der Feststellung des Stimmrechts nunmehr als Insolvenzgläubigerin nach § 38 InsO zu behandeln ist. II. Vertrag zwischen Schuldnerin und Kreditgeberin Durch den Abschluss des Darlehensvertrages, der aufgrund einer Einzelermächtigung des Insolvenzgerichts wirksam ist, wurde eine Masseforderung der Darlehensgläubigerin gegen die Schuldnerin im Umfang der Inanspruchnahme des Kredits begründet (§ 270 Abs. 1 Satz 2, § 21 Abs. 1 Satz 1, 55 Abs. 2 InsO).2) Die Erklärung der Darlehensgeberin, die Darlehensansprüche auflösend bedingt nur als Insolvenzgläubigerin geltend zu machen, ist nach § 230 Abs. 3 InsO ergangen. Die Schuldnerin hat dieses Angebot angenommen, indem sie dem Insolvenzplan ihre Zustimmung erteilt und das Angebot als Anlage zum Insolvenzplan genommen hat.

2)

Vgl. BGH, Urt. v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, BGHZ 151, 353, 354 = ZIP 2002, 1625; BGH, Urt. v. 16.6.2016 – IX ZR 114/15, Rz. 18, ZIP 2016, 1295 = WM 2016, 1310.

Können Massegläubiger eine Umqualifizierung in eine Insolvenzforderung erreichen? 205

Damit ist eine entsprechende Vereinbarung zwischen der Kreditgeberin und der Schuldnerin zustande gekommen (§ 311 Abs. 1 BGB). III. Insolvenzrechtliche Wirkung Mit der Feststellung einer zivilrechtlichen Vereinbarung zwischen Schuldner und Darlehensgeber ist jedoch noch nichts darüber gesagt, ob diese auch die von den Beteiligten beabsichtigten insolvenzrechtlichen Wirkungen äußert. Die InsO enthält keine Norm, die diese Frage ausdrücklich behandelt. Sie muss daher aus Sinn und Zweck der Unterscheidung zwischen Ansprüchen gegen die Masse und Insolvenzforderungen erschlossen werden. Zu fragen ist danach insbesondere, ob die getroffene Vereinbarung als einvernehmlicher Rangrücktritt oder als eine mit dem Insolvenzzweck zu vereinbarende verfahrensrechtliche Regelung die von Schuldner und Kreditgeber beabsichtigten Wirkungen erzielen kann. 1. Rangrücktritt Gemäß § 39 Abs. 2 InsO kann zwischen Gläubiger und Schuldner der Nachrang im Insolvenzverfahren vereinbart werden. Aufgrund der Vertragsfreiheit besteht auch ohne weiteres die Möglichkeit, dass ein solcher Rangrücktritt zwischen einer Gesellschaft und einem Nichtgesellschafter verabredet wird. Die Rechtsfolgen einer solchen Rücktrittsvereinbarung sind dieselben, unabhängig davon, ob sie mit einem Gesellschafter oder einem außenstehenden Dritten, insbesondere einem Darlehensgeber, vereinbart wird.3) Auch Inhalt und Reichweite des Rangrücktritts im Insolvenzverfahren können zwischen Schuldner und Gläubiger frei geregelt werden.4) Sowohl § 39 Abs. 2 InsO als auch das genannte Urteil des Bundesgerichtshofes behandeln allerdings nur Vereinbarungen des Schuldners mit persönlichen Gläubigern, die einen im Eröffnungszeitpunkt begründeten Vermögensanspruch gegen den Schuldner haben und damit als Insolvenzgläubiger i. S. von § 38 InsO am Insolvenzverfahren teilnehmen. Der Anspruch der Darlehensgläubigerin in dem hier beschriebenen Fall ist demgegenüber eine Masseforderung, die gemäß § 53 InsO vorweg zu befriedigen ist. Der Wortlaut der Norm könnte die Auffassung nahelegen, dass das 3) 4)

BGH, Urt. v. 5.3.2015 – IX ZR 133/14, Rz. 14, BGHZ 204, 231 = ZIP 2015, 638, m. Anm. Bitter/Heim. BGH, Urt. v. 5.3.2015 – IX ZR 133/14, Rz. 15, BGHZ 204, 231 = ZIP 2015, 638.

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Gesetz den Kosten des Insolvenzverfahrens und den Masseforderungen einen gegenüber den Insolvenzforderungen übergeordneten Rang zugewiesen hat, dass also im Insolvenzverfahren sämtliche Forderungen in der Rangordnung § 53 – § 38 – § 39 InsO stehen. Wäre dies zutreffend, spräche einiges dafür, auch einen Rangrücktritt der Forderungen aus § 53 InsO auf die Stufe des § 38 InsO zuzulassen. Ein solches Rangverhältnis zwischen Masseforderungen einerseits und Insolvenzforderungen andererseits ergibt sich jedoch weder aus dem Wortlaut der einschlägigen Normen noch aus Inhalt und Zweck der insolvenzrechtlichen Regelung. Ansprüche der Massegläubiger haben nicht den rechtlichen Charakter privilegierter Insolvenzforderungen. Sie nehmen von vorneherein nicht teil an dem Verfahren über Geltendmachung und Prüfung von Insolvenzforderungen. Vielmehr handelt es sich um Ansprüche eigener Art, die außerhalb dieses Feststellungsverfahrens gegen den Insolvenzverwalter zu verfolgen und von diesem zu befriedigen sind. Sie nehmen daher an dem für Insolvenzforderungen geltenden Verteilungsverfahren nicht teil.5) Da die Rechtsverfolgung nicht durch den Gang des Insolvenzverfahrens beschränkt wird, diese sich vielmehr unabhängig davon vollzieht, stehen Masseforderungen nicht in einem Rangverhältnis zu den Ansprüchen, die nach §§ 38, 39 InsO anzumelden sind. Massegläubiger sind keine privilegierten Insolvenzgläubiger, sondern sie sind Gläubiger eigener Art.6) Die strikte Trennung, welche die InsO insoweit vornimmt, kommt auch darin zum Ausdruck, dass die Masseansprüche in § 217 InsO nicht in die Gegenstände einbezogen sind, die im Insolvenzplan geregelt werden können. Die Massegläubiger sind nicht dem Plan unterworfen, wenn die Masse ausreicht, die Ansprüche nach § 53 InsO zu befriedigen. Diese bleiben im Planverfahren unberührt.7) Da die Massegläubiger von dem Insolvenzplan nicht betroffen werden, nehmen sie auch nicht an den Abstimmungen teil.8) Aus diesem Grunde kann die Darlehensgläubigerin die Erklärung, dass sie 5)

6) 7) 8)

BGH, Urt. v. 11.7.1996 – IX ZR 304/95, WM 1996, 1509, 1510 = ZIP 1996, 1437; BGH, Urt. v. 13.6.2006 – IX ZR 15/04, Rz. 19, BGHZ 168, 112 = ZIP 2006, 1410; Lohmann in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 53 Rz. 5; Hess in: KölnKomm-InsO, § 53 Rz. 13 f.; Hefermehl in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 53 Rz. 46; Thole in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 53 Rz. 7; Sinz in: Uhlenbruck, InsO, 14. Aufl. 2015, § 53 Rz. 3. Hefermehl in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 53 Rz. 12; Thole in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 53 Rz. 7. Eidenmüller in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2014, § 217 Rz. 74; Spliedt in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 217 Rz. 4. Henckel in: Jaeger, InsO, 2004, § 53 Rz. 24.

Können Massegläubiger eine Umqualifizierung in eine Insolvenzforderung erreichen? 207

bedingt auf eine Befriedigung als Massegläubigerin verzichte, nur gemäß § 230 Abs. 3 InsO als am Plan nicht beteiligter Dritter abgeben. Die Masseforderung der Darlehensgläubigerin kann daher nicht im Wege der Vereinbarung eines Rangrücktritts mit der Schuldnerin zu einer Insolvenzforderung herabgestuft werden. Dies gilt auch dann, wenn das Darlehen bereits während des Eröffnungsverfahrens gewährt wird. Die Entstehung der Insolvenzmasse wird erst durch den Eröffnungsbeschluss bewirkt. Forderungen, die von dem dazu ermächtigten Schuldner im Eröffnungsverfahren als Masseschulden begründet worden sind, haben diese Eigenschaft ab Verfahrenseröffnung.9) Auch die Qualifizierung als Insolvenzforderung beginnt erst mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens Die Masseforderung der Darlehensgläubigerin ist folglich nie Insolvenzforderung gewesen. Ein Rangverhältnis, wie es für Insolvenzforderungen nach § 38 und § 39 InsO gilt, hat daher zu keinem Zeitpunkt bestanden. 2. Verfahrensrechtliche Vereinbarung Aus dem Umstand, dass der Massegläubiger nicht die Rechtsstellung eines Insolvenzgläubigers durch eine Rangrücktrittsvereinbarung mit dem Schuldner erlangen kann, folgt noch nicht zwingend, dass diese Wirkung nicht auf andere Weise erreicht werden kann. In Betracht kommt eine Vereinbarung, durch die der Massegläubiger seine gesetzlichen Rechte aufgibt und dafür die Rechtsstellung eines Insolvenzgläubigers erlangt. Eine solche Vereinbarung kann indessen nur wirksam werden, soweit die Bestimmungen der InsO zur Rechtsnatur von Masseforderungen und Insolvenzforderungen disponibel sind und die Rechtsfolgen einer solchen Vereinbarung zu grundlegenden Prinzipien des Insolvenzrechts nicht in Widerspruch stehen. a) Rechtsnatur der Masseverbindlichkeiten Die Vorschriften der §§ 53 –55 InsO enthalten zwingendes Recht. Es steht nicht im Belieben der Beteiligten, ob sie Insolvenzforderungen oder Forderungen gegen die Masse begründen.10) Deshalb enthält § 55 InsO – von einigen Sondervorschriften in anderen Gesetzen abgesehen – einen

9) 10)

Vgl. BGH, Urt. v. 16.6.2016 – IX ZR 114/15, Rz. 18, ZIP 2016, 1295 = WM 2016, 1310. Lohmann in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 53 Rz. 4; Thole in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 53 Rz. 1.

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grundsätzlich abschließenden Kanon von Masseverbindlichkeiten. Der vorläufige Verwalter oder der Schuldner im Eröffnungsverfahren in Eigenverwaltung können, soweit sie vom Insolvenzgericht mit der Befugnis ausgestattet worden sind, Masseverbindlichkeiten zu begründen, nicht wählen, ob sie diese oder stattdessen Insolvenzforderungen entstehen lassen.11) Zwar betrifft das Urteil des Bundesgerichtshofes vom 16. Juli 2016 einen Fall, in dem das Insolvenzgericht allgemein angeordnet hatte, dass der Schuldner Masseverbindlichkeiten begründet. Die Bindung an die Ermächtigung des Insolvenzgerichts besteht aber auch dann, wenn sie nur die Entstehung einer einzelnen Masseverbindlichkeit betrifft; denn das Insolvenzgericht ist nicht befugt, seine Verantwortung für die Frage, ob und in welchem Umfang Masseverbindlichkeiten begründet werden, auf den vorläufigen Verwalter oder den Schuldner im Verfahren der vorläufigen Eigenverwaltung zu delegieren.12) Auch dem Schuldner, der vom Insolvenzgericht nur die Befugnis erhalten hat, eine bestimmte Masseverbindlichkeit zu begründen, fehlt danach die Rechtsmacht, insoweit eine Insolvenzforderung zur Entstehung zu bringen. Dann aber kann es auch nicht zulässig sein, nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Masseverbindlichkeit im Einvernehmen mit dem Massegläubiger in eine Insolvenzforderung umzuwandeln. Da der Insolvenzverwalter über Grund, Umfang und Rang von Insolvenzforderungen nicht disponieren kann, gilt für den Schuldner schon aufgrund von § 270 Abs. 1 Satz 2 InsO dasselbe. Etwas anderes folgt auch nicht aus § 55 Abs. 3 Satz 1 InsO, wonach Ansprüche auf Arbeitsentgelt nach § 169 SGB III, die gemäß § 55 Abs. 2 InsO als Masseverbindlichkeiten begründet worden, dann aber auf die Bundesagentur für Arbeit übergegangen sind, von dieser nur als Insolvenzgläubiger geltend gemacht werden können. Insoweit handelt es sich um eine für ganz spezielle Fälle getroffene gesetzliche Sonderregelung, aus der nicht entnommen werden kann, dass der Insolvenzverwalter oder bei Eigenverwaltung der Schuldner im Einvernehmen mit dem Massegläubiger Ansprüche gegen die Masse in Insolvenzforderungen umwandeln darf.

11) 12)

BGH, Urt. v. 16.6.2016 – IX ZR 114/15, Rz. 18 – 22, ZIP 2016, 1295 = WM 2016, 1310. BGH, Urt. v. 16.6.2016 – IX ZR 114/15, Rz. 21, ZIP 2016, 1295 = WM 2016, 1310, unter Hinweis auf BGH, Urt. v. 3.12.2009 – IX ZR 7/09, Rz. 22, BGHZ 183, 269 = ZIP 2010, 141.

Können Massegläubiger eine Umqualifizierung in eine Insolvenzforderung erreichen? 209

b) Folgerungen aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes Die Unwirksamkeit einer entsprechenden Vereinbarung wird mittelbar durch ein Urteil des Bundesgerichtshofes bestätigt, das sich mit der Frage befasst, welche Rechte ein Massegläubiger hat, wenn dessen Forderung zu Unrecht als Insolvenzforderung festgestellt worden ist. Danach verliert der entsprechende Anspruch dadurch nicht seinen Charakter als Masseforderung. Dies gilt sogar dann, wenn er durch ein rechtskräftiges Urteil als Insolvenzforderung festgestellt worden ist, weil Masseforderungen nur außerhalb des Feststellungsverfahrens gegen den Insolvenzverwalter zu verfolgen sind.13) Geht nicht einmal von einem solchen Urteil die Wirkung einer Umwandlung des Rechtscharakters der Forderung aus, so spricht die vom Bundesgerichtshof gegebene Begründung in hohem Maße dafür, dass auch im Wege einer Vereinbarung ohne Beteiligung der Insolvenzgläubiger eine entsprechende Wirkung nicht herbeigeführt werden kann. Natürlich kann der Massegläubiger mit dem Schuldner im Verfahren der Eigenverwaltung vereinbaren, dass seine Forderung nur i. H. der Quote befriedigt wird, welche die Insolvenzgläubiger erhalten. Diese Wirkung kann aber ohne weiteres durch eine außerhalb des Insolvenzverfahrens getroffene Absprache erreicht werden, ohne dass der Massegläubiger in die Gemeinschaft der Gläubiger eintritt. Der Bundesgerichtshof hat zudem, entgegen einer von Teilen der Literatur vertretenen Ansicht,14) entschieden, dass die Vergütung des Insolvenzverwalters nicht im Insolvenzplan vereinbart werden kann.15) Auch der Insolvenzverwalter gehört mit seinem Vergütungsanspruch nach § 54 Nr. 2 InsO zu den Massegläubigern. Diese sind nach den gesetzlichen Regeln keine Beteiligten des Planverfahrens (§ 221 Satz 1 InsO).16) Die Ansprüche der Massegläubiger sind einer Regelung durch Insolvenzplan daher nicht zugänglich. § 217 InsO bestimmt, wessen subjektive Rechte durch den Insolvenzplan abweichend von den gesetzlichen Vorschriften geregelt werden können. Dazu gehören die absonderungsberechtigten Gläubiger (§§ 50, 51 InsO) und die Insolvenzgläubiger (§ 38 InsO), die Massegläubiger dagegen nicht.17) Der Rechtsrahmen für die durch den Plan eröffneten Gestaltungsmöglichkeiten 13) 14) 15) 16) 17)

BGH, Urt. v. 13.6.2006 – IX ZR 15/04, Rz. 15, 19, BGHZ 168, 112 = ZIP 2006, 1410. Vgl. die Nachweise in BGH, Beschl. v. 16.2.2017 – IX ZB 103/15, Rz. 25, BGHZ 214, 78 = ZIP 2017, 482. BGH, Beschl. v. 16.2.2017 – IX ZB 103/15, Rz. 27 ff., BGHZ 214, 78 = ZIP 2017, 482. BGH, Beschl. v. 16.2.2017 – IX ZB 103/15, Rz. 22, BGHZ 214, 78 = ZIP 2017, 482; Begr. RegE InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 209. BGH, Beschl. v. 16.2.2017 – IX ZB 103/15, Rz. 21 f., BGHZ 214, 78 = ZIP 2017, 482.

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ist nicht verrückbar.18) Ansprüche der Massegläubiger können demnach nicht in das Planverfahren einbezogen werden, weil das Gesetz eine solche Möglichkeit ausschließt. Dies beruht darauf, dass es nicht zulässig ist, Massegläubiger in das Insolvenzverfahren einzubeziehen und ihnen die Rechtsstellung von Insolvenzgläubigern einzuräumen, obwohl Masseverbindlichkeiten nach § 53 InsO unmittelbar gegenüber dem Insolvenzverwalter bzw. der Schuldnerin im Verfahren der Eigenverwaltung geltend zu machen sind. c) Schutz der Insolvenzgläubiger Eine echte Umqualifizierung des Gläubigeranspruchs von einer Masseverbindlichkeit in eine Insolvenzforderung durch eine Vereinbarung des Massegläubigers mit der Schuldnerin, ist vor allem deshalb ausgeschlossen, weil der Massegläubiger dadurch in die Lage versetzt wird, Rechte wahrzunehmen, die nach der Systematik der InsO allein den Gläubigern mit originären Insolvenzforderungen zustehen. Im Insolvenzverfahren haben nur die Insolvenzgläubiger zahlreiche Mitwirkungsrechte, insbesondere Antragsrechte, Anhörungsrechte, Informations- und Prüfungsrechte, Stimm- und Beschwerderechte.19) Entsprechende Befugnisse sind den Massegläubigern nicht eingeräumt worden, weil sie außerhalb des für die Insolvenzgläubiger geltenden Verfahrens stehen und die für diese bestimmten Befugnisse zur Durchsetzung der ihnen zustehenden Rechte nicht benötigen. Sie sind dadurch hinreichend geschützt, dass sie ihre Ansprüche unabhängig vom Verlauf des Insolvenzverfahrens geltend machen können, soweit die Masse zur Befriedigung der Masseverbindlichkeiten ausreicht, und im Falle der Nichterfüllung Schadensersatzansprüche nach § 61 InsO vorgesehen sind. Ebenso wie sie nicht durch Vereinbarung in das Planverfahren einbezogen werden können, ist ihnen auch der Zugang zu den nur für die Insolvenzgläubiger vorgesehenen Verfahrensrechten verschlossen. Die genannten Mitwirkungsrechte dienen nur den Gläubigern mit Forderungen i. S. von § 38 InsO zur Wahrung der Interessen der Gläubigergesamtheit an einem sachgerechten Ablauf des Insolvenzverfahrens i. S. einer dem Insolvenzzweck entsprechenden Befriedigung (§ 1 InsO). In diese Gläubigerautonomie soll kein Dritter – und damit auch kein Massegläubiger – eingreifen können.

18) 19)

Kayser, Der Sanierungsgedanke in der jüngeren Rechtsprechung des IX. Zivilsenats, ZIP 2018, 2189, 2193. Vgl. die Aufzählung von Büteröwe in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 38 Rz. 2.

Können Massegläubiger eine Umqualifizierung in eine Insolvenzforderung erreichen? 211

Ein solcher Eingriff wäre aber in aller Regel möglich, wenn man die Umqualifizierung von Forderungen gegen die Masse in Insolvenzforderungen zulassen würde. Gläubiger, welche zur Durchsetzung ihrer wirksam gegen die Masse entstandenen Ansprüche am Insolvenzverfahren nicht teilzunehmen brauchen, könnten dann in dessen Ablauf eingreifen, um den Verfahrensablauf i. S. eigener, von der Erfüllung ihrer gegen die Masse gerichteten Ansprüche unabhängiger Interessen – in der Regel solcher von wesentlicher wirtschaftlicher Bedeutung – zu beeinflussen. Damit würde ihnen die Möglichkeit eingeräumt, das weitere Verfahren unmittelbar in einer Richtung zu beeinflussen, die allein ihren eigenen, nicht aber dem Interesse der Gläubigergesamtheit entspricht, ohne dass eine solche Entwicklung hinreichend sicher verhindert werden könnte. Dies gilt auch dann, wenn es darum geht, ob die Anordnung der Eigenverwaltung aufgehoben werden soll. Die entsprechende Antragsbefugnis steht, abgesehen vom Schuldner, gemäß § 272 Abs. 1 Nr. 1 und 2 InsO i. V. m. § 76 Abs. 2 InsO deshalb nur den absonderungsberechtigten Gläubigern und den Insolvenzgläubigern zu. Es kommt nicht darauf an, ob der Einfluss des ursprünglichen Massegläubigers auf die nur den Insolvenzgläubigern zustehenden Abstimmungen im Endergebnis tatsächlich zu wirtschaftlichen Nachteilen für die Gläubigergesamtheit führt; denn dies ist bei Eintritt der Wirkungen einer solchen Umqualifizierung nicht immer mit hinreichender Sicherheit abzusehen. Jedenfalls eine entsprechende Gefahr wird sich kaum jemals ausschließen lassen. Ein Massegläubiger wird eine Umqualifizierung seiner Forderung in eine Insolvenzforderung in aller Regel nur wünschen, wenn diese Änderung der Verwirklichung von eigenen Interessen dient, die ihm erheblich wichtiger sind als die Erfüllung seiner gegen die Masse gerichteten Ansprüche. Dies gilt in besonderem Maße, sofern er Sicherheiten erhalten hat, aus denen er sich im Endergebnis unabhängig von der Insolvenzquote mit Aussicht auf Erfolg befriedigen kann. Ließe man eine solche Umqualifizierung zu, könnte sie im Einzelfall dazu führen, dass der Massegläubiger durch den Eintritt in die Gemeinschaft der Gläubiger wirtschaftliche Vorteile erzielt, die mehr wert sind als nur die Erfüllung des gegen die Masse gerichteten Anspruchs und dadurch für die Gläubigergesamtheit erhebliche Nachteile entstehen. Besondere Bedeutung gewinnt dieser Gesichtspunkt im Verfahren der Eigenverwaltung, wenn der Massegläubiger auf diese Weise einen Beschluss der Gläubigerversammlung, die Aufhebung der Eigenverwaltung zu beantragen, durch das auf ihn als Insolvenzgläubiger entfallende Stimmrecht verhindern könnte. Daher ist eine Umqualifizierung der gegen die

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Masse gerichteten Forderung in eine Insolvenzforderung jedenfalls ohne Beteiligung der Gläubigergesamtheit generell abzulehnen. 3. Verzicht der Massegläubiger Allerdings hat der Bundesgerichtshof in einem noch zur KO ergangenen Urteil die Auffassung vertreten, ein Gläubiger, der seinen Anspruch in Unkenntnis, dass es sich um eine Masseverbindlichkeit handelt, als Insolvenzforderung angemeldet und den nach Feststellung zur Tabelle im Verteilungsverfahren an ihn ausbezahlten Betrag angenommen hat, habe damit auf eine Geltendmachung seines Anspruchs als Masseforderung verzichtet.20) Ob diese Ansicht mit den aus dem Urteil vom 13. Juni 2006 zu ersehenden Grundsätzen zu vereinbaren ist, erscheint zweifelhaft. Allerdings hat der Bundesgerichtshof auch in diesem Urteil die Möglichkeit eines Verzichts des Massegläubigers auf die Behandlung seiner Forderung als Masseverbindlichkeit nicht unter allen Umständen ausgeschlossen. Es heißt dort lediglich, ein entsprechender Wille ergebe sich aus seinem Verhalten nicht.21) In dem Beschluss, welcher die Einbeziehung der Vergütung in den Insolvenzplan ablehnt, sieht der Bundesgerichtshof es als zulässig an, dass der Insolvenzverwalter sich im Wege einer Erklärung i. S. des § 230 Abs. 3 InsO verpflichtet, keine einen bestimmten Betrag übersteigende Vergütung zu beantragen.22) Die in den Jahren 1988 und 2006 ergangenen Urteile betrafen indessen Fälle, in denen der am Insolvenzverfahren teilnehmende Massegläubiger nicht erkannt hatte, dass er einen gegen die Masse gerichteten Anspruch besaß. Die Frage eines Verzichts auf diesen Anspruch gewann erst zu einem Zeitpunkt Bedeutung, als die Masseverbindlichkeit zur Tabelle festgestellt worden war. Ein Verzicht auf die Masseschuld war nicht schon in der Anmeldung einer Forderung als Insolvenzforderung zu sehen.23) Die Urteile des Bundesgerichtshofes, die sich zum Verzicht auf die Geltendmachung einer Masseschuld geäußert haben, hatten sich also nicht mit einem Sachverhalt zu befassen, wie er hier angenommen wird. Will ein Massegläubiger durch eine Vereinbarung mit der eigenverwaltenden Schuldnerin seine bisherige Rechtsstellung in der Absicht aufgeben, die Befugnisse zu erringen, die nur den Insolvenzgläubigern zustehen, verfolgt er damit in 20) 21) 22) 23)

BGH, Urt. v. 1.12.1988 – IX ZR 61/88, NJW 1989, 303, 304 = ZIP 1989, 50. BGH, Urt. v. 13.6.2006 – IX ZR 15/04, Rz. 23, BGHZ 168, 112 = ZIP 2006, 1410. BGH, Beschl. v. 16.2.2017 – IX ZB 103/15, Rz. 40 f., BGHZ 214, 78 = ZIP 2017, 482. BGH, Urt. v. 13.6.2006 – IX ZR 15/04, Rz. 23, BGHZ 168, 112 = ZIP 2006, 1410.

Können Massegläubiger eine Umqualifizierung in eine Insolvenzforderung erreichen? 213

aller Regel wirtschaftliche Interessen, die außerhalb seines gegen die Masse gerichteten Anspruchs liegen und allein mit dessen Geltendmachung nicht durchgesetzt werden können. Mit einer entsprechenden Einflussnahme auf die Willensbildung der Insolvenzgläubiger hatten sich die genannten Urteile aus den Jahren 1988 und 2006 nicht zu befassen. Aus ihnen kann daher die Zulässigkeit einer vertraglichen Umqualifizierung in dem hier erörterten Sinne nicht hergeleitet werden. Ein Argument für die Zulässigkeit der Umqualifizierung einer Masseforderung in eine Insolvenzforderung ergibt sich schließlich auch nicht daraus, dass der Bundesgerichtshof es als zulässig angesehen hat, wenn der Insolvenzverwalter sich allen Beteiligten gegenüber verpflichtet, eine Vergütung zu verlangen, die einen bestimmten Betrag nicht übersteigt; denn die Erklärung kann nur nach § 230 InsO abgegeben und nicht in die Planbedingungen aufgenommen werden.24) Ihre Wirkungen sind daher nicht mit denjenigen einer Umqualifizierung der Forderung eines Massegläubigers in eine Insolvenzforderung zu vergleichen. IV. Ergebnis Rechtsgeschäfte des Insolvenzverwalters oder des eigenverwaltenden Schuldners mit Massegläubigern, welche die Umqualifizierung einer Masseverbindlichkeit in eine Insolvenzforderung zum Gegenstand haben und die Teilnahme des Massegläubigers am Insolvenzverfahren ermöglichen sollen, sind nicht zulässig. Da dies schon für unbedingte Vereinbarungen gilt, kann eine entsprechende Wirkung auch nicht durch Abreden, die mit auflösenden Bedingungen versehen sind, erreicht werden. Da Umqualifizierungsabreden dem Zweck dienen, dem Massegläubiger eine Einflussnahme auf die Entschließung der Insolvenzgläubiger zu ermöglichen, die ihm nach dem Gesetz nicht zusteht, sind sie geeignet, die Gläubigerautonomie zu beeinträchtigen und die Interessen der Gläubigergesamtheit massiv zu verletzen. Vereinbarungen solcher Art sind evident insolvenzzweckwidrig und infolgedessen nichtig.25) Dies gilt unabhängig davon, ob sie unbedingt geschlossen oder mit auflösenden Bedingungen versehen werden.

24) 25)

BGH, Beschl. v. 16.2.2017 – IX ZB 103/15, Rz. 40 f., BGHZ 214, 78 = ZIP 2017, 482. Vgl. BGH, Urt. v. 25.4.2002 – IX ZR 313/99, BGHZ 150, 353, 361 ff. = ZIP 2002, 1093.

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Gewährt das Insolvenzgericht einem Massegläubiger wegen einer vereinbarten Umqualifizierung seiner Ansprüche in eine Insolvenzforderung das Stimmrecht in einer Gläubigerversammlung, so ist eine solche Entscheidung rechtsfehlerhaft und infolge eines grundlegenden Verstoßes gegen die Gläubigerautonomie sowie einer erheblichen Gefährdung der berechtigten Interessen der Gläubigergesamtheit selbst insolvenzzweckwidrig und nichtig.

Die Ziele des präventiven Restrukturierungsrahmens – Kontinuität und Wandel – LUCAS F. FLÖTHER Inhaltsübersicht I. II.

Einleitung Meilensteine bis zur Veröffentlichung des Richtlinienvorschlags der Europäischen Kommission vom 22. November 2016 1. Empfehlung der Europäischen Kommission für einen neuen Ansatz im Umgang mit unternehmerischem Scheitern und Unternehmensinsolvenzen vom 12. März 2014 2. Aktionsplan der Europäischen Kommission zur Schaffung einer Kapitalmarktunion vom 30. September 2015

3. Inception Impact Assessment der Europäischen Kommission vom 3. März 2016 III. Erklärte Ziele des präventiven Restrukturierungsrahmens IV. Plädoyer für eine begrenzte Zielsetzung des präventiven Restrukturierungsrahmens 1. Abstandsgebot zu Insolvenzverfahren 2. Begrenzte Anwendbarkeit allein auf bestimmte Gläubigergruppen? 3. Passgenaue Ergänzung des bestehenden nationalen Werkzeugkastens V. Fazit

Godehard Kayser ist seit Juli 2001 Mitglied im insbesondere für das Insolvenzrecht zuständigen IX. Zivilsenat am Bundesgerichtshof, dessen Vorsitz er seit November 2010 innehat. In seiner Zeit als Richter dieses Senats hat er die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zum Insolvenzrecht geprägt. So manche Unklarheiten auf der „Dauerbaustelle“ des Insolvenzrechts wurden durch sein Mitwirken für die Praxis beseitigt. Hervorzuheben gilt es, dass er in seiner Zeit als Vorsitzender Richter des IX. Zivilsenats am Bundesgerichtshof die Einführung und Schärfung des Gesetzes zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen1) – kurz: ESUG – für die Praxis begleitet hat. Neben seinem Engagement, die Regelungen des Insolvenzrechts praxistauglich zu machen und zu halten, hat der Jubilar aber auch immer über seine Eigenschaft als Richter hinaus am wissenschaftlichen Diskurs teilgenommen und ist auch außerhalb des Bundesgerichtshofes für seine Ansichten eingetreten. Dabei hat er sich stets für ein gut funktionierendes deutsches Insolvenzrecht eingesetzt und zu Neuerungen fortwährend Position bezogen. Vor diesem 1)

Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen – ESUG, v. 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2582.

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Hintergrund widme ich Godehard Kayser den nachfolgenden Beitrag und danke ihm als Sprecher des Gravenbrucher Kreises2) zugleich im Namen des gesamten Gravenbrucher Kreises für seinen Einsatz sowie für die zahlreichen äußerst fruchtbaren und konstruktiven Diskussionen. I. Einleitung Um die mit dem präventiven Restrukturierungsrahmen verfolgten Ziele des Europäischen Gesetzgebers herauszuarbeiten, ist es empfehlenswert, sich neben dem ursprünglichen Richtlinienvorschlag der Europäischen Kommission vom 22. November 2016 über präventive Restrukturierungsrahmen u. a.,3) dem sodann veröffentlichten Kompromisstext der drei europäischen Institutionen – Rat der Europäischen Union, Europäisches Parlament und Europäische Kommission – vom 17. Dezember 20184) sowie der finalen Fassung der EU-Richtlinie, die im Amtsblatt der Europäischen Union vom 26. Juni 2019 veröffentlich wurde,5) auch mit der Genese dieser europäischen Legislativinitiative zu beschäftigen. Aus den wesentlichen Stationen, die den Weg bis zur Veröffentlichung des ursprünglichen Richtlinienvorschlags vom 22. November 2016 geprägt haben, las2)

3)

4)

5)

Dem Gravenbrucher Kreis e. V. gehören zurzeit folgende aktive Mitglieder an: RA Dr. Dirk Andres, RA Axel W. Bierbach, RA Volker Böhm, RA Joachim Exner, RA Udo Feser, RA Prof. Dr. Lucas F. Flöther, RA Dr. Michael C. Frege, WP StB Arndt Geiwitz, RA WP StB Ottmar Hermann, RA Tobias Hoefer, RA Dr. Michael Jaffé, RA Dr. Frank Kebekus, RA Dr. Bruno M. Kübler, RA Prof. Dr. Rolf-Dieter Mönning, RA Dr. Jörg Nerlich, RA Horst Piepenburg, RA Michael Pluta, RA Dr. Andreas Ringstmeier, RA Christopher Seagon, RA Dr. Sven-Holger Undritz und RA Rüdiger Wienberg. Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über präventive Restrukturierungsrahmen, die zweite Chance und Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie 2012/30/EU, v. 22.11.2016, COM(2016) 723 final, abrufbar unter https://t1p.de/49dy (Abrufdatum: 8.7.2019), ZIP 2017, Beilage 1; nachfolgend „RL-E a. F.“. Proposal for a Directive of the European Parliament and of the Council on preventive restructuring frameworks, second chance and measures to increase the efficiency of restructuring, insolvency and discharge procedures and amending Directive 2012/30 – Confirmation of the final compromise text with a view to agreement, v. 17.12.2018, abrufbar unter https://t1p.de/kni6 (Abrufdatum: 8.7.2019); nachfolgend: „RL-E (Trilog)“. Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) – Restrukturierungsrichtlinie, ABl. (EU) L 172/18 v. 26.6.2019, abrufbar unter https://t1p.de/5wp8 (Abrufdatum: 22.7.2019); nachfolgend: „Restrukturierungsrichtlinie“.

Die Ziele des präventiven Restrukturierungsrahmens

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sen sich Erkenntnisse gewinnen, die aufzeigen, welche Probleme und Hindernisse der präventive Restrukturierungsrahmen originär in seinen Fokus genommen hat, um diese zu adressieren. Vor diesem Hintergrund werden zunächst relevante Aussagen aus den wesentlichen Stationen bis zur Veröffentlichung des ursprünglichen Richtlinienvorschlags vom 22. November 2016 (II.) hervorgehoben. Sodann wird auf die im Richtlinienvorschlag, im Kompromisstext vom 17. Dezember 2018 sowie in der finalen Fassung der EU-Richtlinie genannten Ziele (III.) näher eingegangen und aufgezeigt, dass sich hier im Laufe der Legislativinitiative durchaus Veränderungen ergeben haben. Auch soll eine wünschenswerte Begrenzung des mit dem präventiven Restrukturierungsrahmen verfolgten Ziels (IV.) diskutiert werden. II. Meilensteine bis zur Veröffentlichung des Richtlinienvorschlags der Europäischen Kommission vom 22. November 2016 Die europäische Legislativinitiative zur Schaffung eines EU-weit harmonisierten präventiven Restrukturierungsrahmens konnte im Grunde nicht überraschen. Vielmehr stellt der Vorstoß des Europäischen Gesetzgebers das Ergebnis eines längeren Prozesses dar, dem mehrere Stationen zugrunde liegen. Die Meilensteine bis zur Veröffentlichung des ursprünglichen Richtlinienvorschlags der Europäischen Kommission vom 22. November 2016 sollen nachfolgend kurz skizziert werden, um aufzuzeigen, vor welchem Hintergrund der nun in einer EU-Richtlinie statuierte präventive Restrukturierungsrahmen erarbeitet wurde. 1. Empfehlung der Europäischen Kommission für einen neuen Ansatz im Umgang mit unternehmerischem Scheitern und Unternehmensinsolvenzen vom 12. März 2014 Einen ersten Pflock der Legislativinitiative auf europäischer Ebene bildete die Empfehlung der Europäischen Kommission vom 12. März 2014.6) In dieser für die EU-Mitgliedstaaten unverbindlichen Empfehlung7) waren bereits einzelne Vorgaben enthalten, aus denen ersichtlich wurde, wie sich 6)

7)

Empfehlung der Kommission v. 12.3.2014 für einen neuen Ansatz im Umgang mit unternehmerischem Scheitern und Unternehmensinsolvenzen, früher: C(2014) 1500 final, heute: 2014/135/EU, ABl. (EU) L 74/65 v. 14.3.2014, abrufbar unter https://t1p.de/nnwd (Abrufdatum: 8.7.2019); nachfolgend: „Empfehlung“. Siehe Art. 288 Abs. 5 AEUV.

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die Europäische Kommission einen präventiven Restrukturierungsrahmen vorstellt. So war der Empfehlung bereits zu entnehmen, dass ein Restrukturierungsrahmen in den EU-Mitgliedstaaten geschaffen werden soll, der es Schuldnern in finanziellen Schwierigkeiten ermöglicht, ihr Unternehmen mit dem Ziel zu restrukturieren, eine Insolvenz abzuwenden.8) Dabei soll der Restrukturierungsrahmen dazu bereitstehen, finanzielle Schwierigkeiten des Schuldners frühzeitig anzugehen, sodass die Insolvenz noch verhindert und die Fortführung des schuldnerischen Unternehmens gesichert werden kann.9) Hieraus konnte bereits geschlussfolgert werden, dass der den EU-Mitgliedstaaten von der Europäischen Kommission empfohlene Restrukturierungsrahmen zur Verhinderung einer Insolvenz und damit zur „Insolvenzverhütung“10) dienen soll. Sofern der Rechtsrahmen jedoch die Möglichkeit bieten soll, eine Insolvenz abzuwenden, ließ auch bereits die Empfehlung den weiteren Schluss zu, dass der Rechtsrahmen wohl vor der materiellen Insolvenzreife des Schuldners und damit im vorinsolvenzlichen Bereich ansetzt. Hervorgehoben werden soll jedoch an dieser Stelle, dass aus der Empfehlung auch hervorging, dass der Rechtsrahmen Schuldnern in finanziellen Schwierigkeiten zur Verfügung stehen soll. Es wurde daher ausdrücklich auf finanzielle Schwierigkeiten des Schuldners abgestellt. Nach der Empfehlung gelten als Schuldner in finanziellen Schwierigkeiten solche, bei denen die Möglichkeit einer Insolvenz besteht.11) Weiter war der Empfehlung zu entnehmen, dass das Restrukturierungsverfahren weder langwierig noch kostenaufwendig, dafür aber flexibel ausgestaltet sein soll.12) Die Gerichtsbeteiligung am Restrukturierungsrahmen soll angesichts dessen auf das erforderliche bzw. notwendige Maß begrenzt und im Hinblick auf den Schutz der Rechte der Gläubiger sowie anderer interessierter Parteien, die vom Restrukturierungsplan betroffen sind, verhältnismäßig sein.13) Auch war den unverbindlichen Vorgaben der Empfehlung bereits zu entnehmen, dass der Schuldner grundsätzlich die Kontrolle über seine Vermögenswerte behalten soll. Dies deutete bereits daraufhin, dass der 8) 9) 10)

11) 12) 13)

Siehe Art. 6 der Empfehlung. Siehe ErwG 16 der Empfehlung. Vgl. Paulus, Ziele und EU-rechtliche Rahmenbedingungen – Zu Nr. 1 des Richtlinienvorschlags der Europäischen Kommission vom 22.11.2016, COM(2016) 723 final, NZI 2017, Beilage 1, S. 5, 6. Siehe Art. 5 lit. a der Empfehlung. Siehe Art. 7 der Empfehlung. Siehe Art. 7 der Empfehlung.

Die Ziele des präventiven Restrukturierungsrahmens

219

Schuldner die Position eines Debtor in Possession im angedachten Rechtsrahmen bekleiden sollte. Die Bestellung eines Mediators oder Beauftragten soll gemäß der Empfehlung der Europäischen Kommission vom 12. März 2014 dabei nicht obligatorisch sein. Die Einsetzung einer solchen Person soll lediglich auf Basis des Einzelfalls erfolgen.14) 2. Aktionsplan der Europäischen Kommission zur Schaffung einer Kapitalmarktunion vom 30. September 2015 Eine weitere beachtenswerte Station bis zur Veröffentlichung des Richtlinienvorschlags der Europäischen Kommission vom 22. November 2016 war der Aktionsplan zur Schaffung einer Kapitalmarktunion,15) den die Europäische Kommission am 30. September 2015 veröffentlicht hat. Der Aktionsplan der Europäischen Kommission hat sich zwar nicht vordergründig mit dem Restrukturierungs- und Insolvenzrecht der EU-Mitgliedstaaten beschäftigt, sondern zielte vielmehr auf die Maßnahmen zur Förderung einer Kapitalmarktunion an sich ab.16) Aus dem Aktionsplan geht jedoch hervor, dass grenzüberschreitende Investitionen durch Hindernisse beeinträchtigt werden, die ihren Ursprung im nationalen Recht haben. Dabei wird als solches Hindernis im Aktionsplan ausdrücklich das nationale Insolvenzrecht hervorgehoben, das neben weiteren ausgemachten Hindernissen nach Ansicht der Europäischen Kommission die Entwicklung des Kapitalbinnenmarkts erschwert.17) Im Aktionsplan heißt es in diesem Zusammenhang, dass konvergente Insolvenz- und Restrukturierungsverfahren zu mehr Rechtssicherheit für grenzüberschreitend tätige Investoren beitragen würden und einer frühzeitigen Restrukturierung tragfähiger Unternehmen, die sich in einer finanziellen Notlage befinden, förderlich wären.18)

14) 15)

16)

17) 18)

Siehe ErwG 17 der Empfehlung. Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament, den Rat, den Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und den Ausschuss der Regionen, Aktionsplan zur Schaffung einer Kapitalmarktunion v. 30.9.2015, COM(2015) 468 final, abrufbar unter https://t1p.de/c1sz (Abrufdatum: 8.7.2019); nachfolgend „Aktionsplan“. Umfassend zum Aktionsplan siehe Heuer/Schütt, Auf dem Weg zu einer europäischen Kapitalmarktunion, BKR 2016, 45 ff., sowie Kumpan, Die Europäische Kapitalmarktunion und ihr Fokus auf kleinere und mittlere Unternehmen, ZGR 2016, 2 ff. Siehe S. 6 des Aktionsplans. Siehe S. 28 des Aktionsplans.

220

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Hieraus lässt sich schlussfolgern, dass auch im Aktionsplan die Europäische Kommission auf die Förderung einer frühzeitigen Restrukturierung von Unternehmen in den EU-Mitgliedstaaten abgestellt hat. Unter Bezugnahme auf die bereits dargestellte Empfehlung der Europäischen Kommission vom 12. März 2014 lässt sich aus der Begrifflichkeit „frühzeitige Restrukturierung von Unternehmen“ wiederum schließen, dass eine Restrukturierung von Unternehmen im Vorfeld einer Insolvenz und damit die „Verhütung“ einer solchen in den EU-Mitgliedstaaten gefördert werden soll. Hervorzuheben gilt es – wie bereits bei der Empfehlung –, dass Unternehmen, die sich in finanzieller Notlage befinden, die Möglichkeit erhalten sollen, sich frühzeitig zu restrukturieren. Der Fokus liegt damit auf Unternehmen mit finanziellen Schwierigkeiten, die aber ansonsten im Kern gesund und damit an sich tragfähig (oder besser: fortführungsfähig) sind. Anders dürfte die Begrifflichkeit „tragfähig“ wohl nicht zu interpretieren sein.19) Da die in der Empfehlung der Europäischen Kommission vom 12. März 2014 aufgestellten gemeinsamen Grundsätze für nationale Insolvenzverfahren für Unternehmen in Schwierigkeiten nur teilweise von den EU-Mitgliedstaaten umgesetzt wurden, kündigte die Europäische Kommission im Aktionsplan an, aufbauend auf den Erfahrungen aus dieser Empfehlung einen Legislativentwurf über Unternehmensinsolvenzen zur Beseitigung der wichtigsten Hindernisse für den freien Kapitalverkehr vorzuschlagen, der Bestimmungen zu frühen Restrukturierungen und zur zweiten Chance enthält. Dem Aktionsplan war weiter zu entnehmen, dass der angekündigte Entwurf ausgehend von nationalen Regelungen, die gut funktionieren, die wichtigsten Hindernisse für den freien Kapitalverkehr beseitigen soll.20) Der Legislativentwurf der Europäischen Kommission wurde für das 4. Quartal 2016 angekündigt21) und stellt den Richtlinienvorschlag der Europäischen Kommission vom 22. November 2016 dar.22) Insgesamt zeigt sich daher, dass die Schaffung eines präventiven Restrukturierungsrahmens im Zusammenhang mit dem Projekt zur Verwirklichung einer Kapitalmarkt-

19)

20) 21) 22)

Vgl. Kayser, Rechtzeitige Insolvenzantragstellung vor dem Hintergrund des Brüsseler Aktionsplans für ein vorinsolvenzliches Restrukturierungsverfahrens, ZIP 2016, Beilage Festheft, S. 40, 42. Siehe S. 28 des Aktionsplans. Siehe S. 35 des Aktionsplans. Siehe Kayser, Eingriffe des Richtlinienvorschlags der Europäischen Union in das deutsche Vertrags-, Insolvenz- und Gesellschaftsrecht, ZIP 2017, 1393, 1394.

Die Ziele des präventiven Restrukturierungsrahmens

221

union steht.23) Der im Aktionsplan angekündigte Legislativvorschlag über präventive Restrukturierungsrahmen, der in allen EU-Mitgliedstaaten umzusetzen ist, gilt also als ein Baustein zur Verwirklichung der Kapitalmarktunion.24) Der Vorstoß des Europäischen Gesetzgebers zur Schaffung eines EU-weit harmonisierten präventiven Restrukturierungsrahmens ist vor diesem Hintergrund jedenfalls auch aus finanzwirtschaftlicher Perspektive zu betrachten.25) 3. Inception Impact Assessment der Europäischen Kommission vom 3. März 2016 Das Inception Impact Assessment vom 3. März 201626) stellte sodann den Fahrplan (Road Map) für die von der Europäischen Kommission in ihrem Aktionsplan zur Kapitalmarktunion vom 30. September 2015 angedachte Legislativinitiative dar. Das Assessment ist eine Evaluierung in der Anfangsphase eines geplanten Vorstoßes auf europäischer Ebene, in dem die Möglichkeiten einer Legislativinitiative dargestellt werden. Sie stellt demzufolge eine erste Folgenabschätzung zu diesem Vorstoß dar.27) Dem Assessment können daher Aussagen der Europäischen Kommission entnommen werden, die die Legislativinitiative in ihren Kontext setzen. So wird im Assessment aufgezeigt, dass Unterschiede in den Insolvenzverfahren der einzelnen EU-Mitgliedstaaten zu Hindernissen, Wettbewerbsnachteilen und Schwierigkeiten für Unternehmen mit grenzüberschreitenden Aktivitäten führen. Mit Blick darauf soll ein zuverlässiger Rechtsrahmen für grenzübergreifende Investitionen geschaffen werden, wobei insoweit insbesondere Schuldnern in finanziellen Schwierigkeiten die Möglichkeit gegeben werden soll, sich frühzeitig zu restrukturieren, um eine Insolvenz zu vermeiden. Das Assessment weist zudem auch die wesentlichen politischen Ziele der Legislativinitiative aus. Dabei wird als allgemeines Ziel der Initiative aus23)

24) 25) 26) 27)

Vgl. Flöther, Die weitere prozessuale Umsetzung der Richtlinie in Deutschland und Europa – Zur Umsetzung des Richtlinienvorschlags der Europäischen Kommission vom 22.11.2016, COM(2016) 723 final, NZI 2017, Beilage 1, S. 4, 4. Siehe S. 7 des Aktionsplans. Siehe Graf-Schlicker, Der Aktionsplan zur Schaffung einer Kapitalmarktunion, ZIP 2016, Beilage Festheft, S. 21, 21. Inception Impact Assessment der Europäischen Kommission v. 3.3.2016, abrufbar unter https://t1p.de/101k (Abrufdatum: 8.7.2019); nachfolgend „Assessment“. Siehe S. 1 des Assessments.

222

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gegeben, Investitionen zu fördern, das Unternehmertum zu unterstützen sowie das Stigma der Insolvenz zu beseitigen.28) Darüber hinaus sind dem Assessment auch spezielle Ziele zu entnehmen, die mit dem Vorstoß erreicht werden sollen. In diesem Zusammenhang wird hervorgehoben, dass die Schulden in der Europäischen Union abgebaut und mehr bestandsfähige Unternehmen fortgeführt werden sollen, anstatt solche zu liquidieren.29) Des Weiteren will die Legislativinitiative die Befriedigungsquoten für Gläubiger erhöhen sowie die Kosten von Restrukturierungs- und Insolvenzverfahren mit grenzüberschreitendem Bezug senken. Das Assessment lässt daher den Schluss zu, dass mit Hilfe des Vorstoßes des Europäischen Gesetzgebers der Fokus in den EU-Mitgliedstaaten eher auf die Restrukturierung von Unternehmen als auf die Liquidation solcher gerichtet werden soll, um so dem Stigma der Insolvenz zu begegnen; vorausgesetzt, das jeweilige Unternehmen gilt als bestandsfähig. III. Erklärte Ziele des präventiven Restrukturierungsrahmens Das Hauptziel30), das im Richtlinienvorschlag der Europäischen Kommission vom 22. November 2016 über präventive Restrukturierungsrahmen u. a. sodann ausgewiesen wurde, ist, dass mit dem Vorstoß des Europäischen Gesetzgebers die Hindernisse für den grenzüberschreitenden Kapitalfluss reduziert werden sollen, die sich aus den Divergenzen in den Restrukturierungs- und Insolvenzrahmen der EU-Mitgliedstaaten ergeben.31) Dieses mit der EU-Richtlinie verfolgte Ziel überrascht nicht und deckt sich mit den aufgezeigten wesentlichen Stationen bis zur Veröffentlichung des Richtlinienvorschlags vom 22. November 2016. Auch ist dieses Ziel nicht nur im ursprünglichen Richtlinienvorschlag vom 22. November 2016, sondern auch im Kompromisstext der drei europäischen Institutionen – Rat der Europäischen Union, Europäisches Parlament und Europäische Kommission vom 17. Dezember 2018 – angelegt sowie auch in der finalen Fassung der EU-Richtlinie selbst wiederzufinden.32) Um das ausgegebene Ziel zu erreichen, werden die wesentlichen Grundsätze für wirksame Rechtsrahmen zur präventiven Restrukturierung for28) 29) 30) 31) 32)

Siehe S. 5 des Assessments. Siehe S. 5 des Assessments. So sogar explizit auf S. 6 der Begründung des RL-E a. F. Siehe S. 6, 17 der Begründung des RL-E a. F. und ErwG 1 des RL-E a. F. Siehe ErwG 1 des RL-E (Trilog) sowie ErwG 1 der Restrukturierungsrichtlinie.

Die Ziele des präventiven Restrukturierungsrahmens

223

muliert, die von den EU-Mitgliedstaaten umzusetzen sind. Der Europäische Gesetzgeber will insoweit ein level playing field in der Europäischen Union zur Restrukturierung im vorinsolvenzlichen Bereich begründen, um somit Hindernisse für den freien Kapitalverkehr einzudämmen.33) Weiter soll mit Hilfe eines in den EU-Mitgliedstaaten zu schaffenden präventiven Restrukturierungsrahmens dazu beigetragen werden, dass leichter und dadurch mehr Investitionen im Binnenmarkt vorgenommen werden können. Dabei soll der in allen EU-Mitgliedstaaten nach den Vorgaben der EU-Richtlinie zu implementierende präventive Restrukturierungsrahmen zu mehr Rechtssicherheit für grenzüberschreitend tätige Investoren führen, da diese durch den EU-weit harmonisierten Rechtsrahmen ihr Kreditrisiko besser einschätzen können34) und Mehrkosten für diese entfallen, die ansonsten für die Bewertung ihres Risikos anfallen würden.35) Die Zahl unnötiger Liquidationen von bestandsfähigen Unternehmen soll zudem mit dem präventiven Restrukturierungsrahmen verringert werden.36) Auch dieses Ziel ist bereits in den genannten Meilensteinen bis zur Veröffentlichung des eigentlichen Richtlinienvorschlags angelegt und überrascht daher letztendlich nicht. Der neue in den EU-Mitgliedstaaten zu implementierende Rechtsrahmen soll die frühzeitige Restrukturierung von Schuldnern bzw. Unternehmen in finanziellen Schwierigkeiten erleichtern, sodass ihre Insolvenz abgewendet und die Fortsetzung ihrer Geschäftstätigkeit gesichert werden kann.37) Dieses Instrument fokussiert sich daher auf die Abwendung bzw. die „Verhütung“ einer Insolvenz.38) Dies lässt sich insbesondere daran erkennen, dass die Restrukturierung möglich sein soll, bevor ein Schuldner nach nationalem Recht insolvent wird, was bereits aus Art. 4 Abs. 1 RL-E a. F., Art. 4 Abs. 1 RL-E (Trilog) sowie Art. 4 Abs. 1 Restrukturierungsrichtli-

33) 34) 35) 36) 37) 38)

Siehe Flöther/Eckelt in: Flöther, Sanierungsrecht, 2019, E. Rz. 6. Siehe S. 2 der Begründung des RL-E a. F. und ErwG 6 des RL-E a. F., ErwG 6 des RL-E (Trilog) sowie ErwG 7 Restrukturierungsrichtlinie. Siehe S. 17 der Begründung des RL-E a. F. und ErwG 6 des RL-E a. F., ErwG 6 des RL-E (Trilog) sowie ErwG 7 Restrukturierungsrichtlinie. Siehe S. 6 der Begründung des RL-E a. F.; vgl. auch ErwG 2 des RL-E (Trilog) sowie ErwG 2 Restrukturierungsrichtlinie. Siehe S. 4 der Begründung des RL-E a. F. und ErwG 2, 17 des RL-E a. F., ErwG 17 des RL-E (Trilog) sowie ErwG 24 Restrukturierungsrichtlinie. Siehe S. 12 der Begründung des RL-E a. F. und ErwG 2 des RL-E a. F., ErwG 2 des RL-E (Trilog) sowie ErwG 2 Restrukturierungsrichtlinie; vgl. auch Paulus, NZI 2017, Beilage 1, S. 5, 6.

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nie folgt.39) Dieser Ansatz ist damit der Legislativinitiative insgesamt immanent und hat sich auch im Laufe des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens auf europäischer Ebene nicht verändert. Sofern jedoch im Richtlinienvorschlag der Bezug des präventiven Restrukturierungsrahmens noch auf Schuldner, die sich („nur“) in finanziellen Schwierigkeiten befinden, und damit der Rechtsrahmen wohl eher auf die Restrukturierung der Passivseite der Bilanz und nicht auf eine leistungswirtschaftliche Sanierung gerichtet war,40) ist insoweit dem Kompromisstext vom 17. Dezember 2018 sowie der finalen Richtlinienfassung eindeutiger zu entnehmen, dass der präventive Restrukturierungsrahmen nicht mehr nur die Restrukturierung der Passivseite der Bilanz in den Blick zu nehmen scheint. Dies zeigt beispielsweise die Regelungsvorgabe des Art. 4 Abs. 1 RL-E (Trilog) sowie des Art. 4 Abs. 1 Restrukturierungsrichtlinie. Im Gegensatz zur Parallelregelung in Art. 4 Abs. 1 RL-E a. F. spricht der Wortlaut dieser Regelungsvorgaben nunmehr nur noch von „Schuldnern“ an sich und nicht mehr von „Schuldnern in finanziellen Schwierigkeiten“. Zwar wird im jeweiligen ErwG, der als Interpretationshilfe des jeweiligen Art. 4 Abs. 1 dient, im Kompromisstext41) sowie im finalen Richtlinientext42) weiterhin auf Schuldner in finanziellen Schwierigkeiten rekurriert. Doch zeigt sich im ErwG 17c des RL-E (Trilog) sowie im ErwG 28 der Restrukturierungsrichtlinie deutlich, dass der präventive Restrukturierungsrahmen durch die EU-Mitgliedstaaten auch auf Fälle erstreckt werden kann, in denen sich Schuldner nicht nur in finanziellen Schwierigkeiten befinden. Darüber hinaus lässt auch die Bestimmung der Begrifflichkeit „Restrukturierung“ in Art. 2 Abs. 1 Nr. 2 RL-E (Trilog) sowie in Art. 2 Abs. 1 Nr. 1 Restrukturierungsrichtlinie nun noch deutlicher erkennen, dass die Restrukturierung, so wie sie in der EU-Richtlinie verstanden wird, nicht nur eine finanzwirtschaftliche Sanierung, d. h. eine Restrukturierung der Passivseite der Bilanz, sondern auch eine leistungswirtschaftliche Sanierung umfassen soll. Auf der anderen Seite soll der Fokus des präventiven Restrukturierungsrahmens jedoch darauf liegen, dem Aufbau von non-performing loans, d. h. 39) 40)

41) 42)

Siehe auch hierzu ErwG 17 des RL-E a. F. und ErwG 17 des RL-E (Trilog) sowie ErwG 24 der Restrukturierungsrichtlinie. Vgl. Flöther, Präventiver Restrukturierungsrahmen nach dem Richtlinienvorschlag der Europäischen Kommission vom 22. November 2016 – Weg zu einer deutschen Restrukturierungsordnung? –, in: FS Graf-Schlicker, 2018, S. 259, 265 f.; Kayser, ZIP 2017, 1393, 1399. Siehe ErwG 17 des RL-E (Trilog). Siehe ErwG 24 Restrukturierungsrichtlinie.

Die Ziele des präventiven Restrukturierungsrahmens

225

nicht bedienten Geldkrediten, vorzubeugen und diese abzubauen.43) Dies wird mehrfach im Richtlinienvorschlag hervorgehoben.44) Auch der Kompromisstext vom 17. Dezember 2018 und nunmehr die EU-Richtlinie selbst greifen dies weiter auf.45) Aus Sicht des Europäischen Gesetzgebers würde die Verfügbarkeit von rechtzeitigen präventiven Restrukturierungsverfahren sicherstellen, dass Maßnahmen ergriffen werden, bevor Unternehmen ihre Kredite nicht mehr bedienen können.46) Dies würde das Risiko verringern, dass Kredite bei Konjunkturabschwüngen zu notleidenden Krediten werden, wodurch auch die damit verbundenen negativen Auswirkungen auf den Finanzsektor verringert würden.47) Nach dem Richtlinienvorschlag soll es auch Ziel sein, die Bilanzen von Kreditinstituten zu bereinigen.48) Auch wenn diese Bereinigung der Bilanzen in dieser Deutlichkeit im Kompromisstext vom 17. Dezember 2018 sowie nun auch in der EURichtlinie über Restrukturierung und Insolvenz nicht mehr zu finden ist, zeigt sich in beiden weiterhin der finanzwirtschaftliche Zusammenhang, der bereits dem Aktionsplan zur Schaffung einer Kapitalmarktunion vom 30. September 2015 entnommen werden konnte. Weitere mit der Schaffung eines EU-weit harmonisierten präventiven Restrukturierungsrahmens angestrebte Ziele sind zum einen die bessere Bewältigung grenzüberschreitender Restrukturierungsmaßnahmen49) und zum anderen das Erzielen höherer Befriedigungsquoten für die Gläubiger,50) aber auch die Förderung einer Sanierungskultur in der Europäischen Union an sich.51) IV. Plädoyer für eine begrenzte Zielsetzung des präventiven Restrukturierungsrahmens Es zeigt sich, dass der Europäische Gesetzgeber mit der Schaffung des präventiven Restrukturierungsrahmens eine Vielzahl unterschiedlicher Ziele 43) 44) 45) 46) 47) 48) 49) 50) 51)

Siehe Flöther/Eckelt in: Flöther, Sanierungsrecht, 2019, E. Rz. 6. Siehe S. 2, 3, 6, 14, 15, 22 der Begründung des RL-E a. F. und ErwG 2 des RL-E a. F. Siehe ErwG 2 des RL-E (Trilog) sowie ErwG 3 Restrukturierungsrichtlinie. Siehe S. 3 der Begründung des RL-E a. F., ErwG 2 des RL-E (Trilog) und ErwG 3 Restrukturierungsrichtlinie. Siehe S. 3 der Begründung des RL-E a. F., ErwG 2 des RL-E (Trilog) und ErwG 3 Restrukturierungsrichtlinie. Vgl. S. 15 der Begründung des RL-E a. F. Siehe S. 6, 8 der Begründung des RL-E a. F. Siehe ErwG 5, 7, 12 des RL-E a. F., ErwG 5, 7, 12 des RL-E (Trilog) sowie ErwG 6, 8, 16 Restrukturierungsrichtlinie. Siehe S. 7 der Begründung des RL-E a. F.; vgl. auch ErwG 3, 33 des RL-E (Trilog) sowie ErwG 4, 69 Restrukturierungsrichtlinie.

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verfolgt, die im Laufe der Beratung über die Legislativinitiative sogar noch umfangreicher geworden sind.52) Demgegenüber sind die Regelungsvorgaben zum präventiven Restrukturierungsrahmen stellenweise sehr offen gefasst.53) So will der Europäische Gesetzgeber durch den präventiven Restrukturierungsrahmen insbesondere die Anhäufung von non-performing loans verhindern und solche nicht bedienten Geldkredite abbauen. Dass mit dem präventiven Restrukturierungsrahmen jedoch allein nur die Restrukturierung der Passivseite der Bilanz adressiert werden kann, lässt der Richtlinientext nicht erkennen.54) Vielmehr wird eine leistungswirtschaftliche Sanierung – vorsichtig gesagt – nicht ausgeschlossen.55) Darüber hinaus ist ein nicht zu verkennendes Ziel, Unternehmen zu restrukturieren, um eine Insolvenz abzuwenden.56) Dies zeigt bereits die Genese der Legislativinitiative. Insoweit gilt es, Unternehmen eher zu restrukturieren als diese zu liquidieren. 1. Abstandsgebot zu Insolvenzverfahren Will der Europäische Gesetzgeber jedoch der Restrukturierung von Unternehmen an sich den Vorzug geben, sollten indes nur solche Unternehmen den präventiven Restrukturierungsrahmen anstreben können, die es verdienen und demzufolge nicht etwa akut insolvenzbedroht oder bereits insolvent sind. Sofern nicht bestandsfähigen Unternehmen Zugang zu einem vorinsolvenzlichen Sanierungsverfahren, wie dem präventiven Restrukturierungsrahmen, gewährt werden würde, könnten sie sich einen Vorteil gegenüber rentablen Unternehmen am Markt verschaffen, der ihnen nicht zusteht. Gerade die wichtige, ordnungspolitische sowie marktregulierende Funktion des Insolvenzrechts würde massiv abgeschwächt werden, wenn auch nicht fortführungs- bzw. sanierungsfähigen Unternehmen sowie darüber hinaus solchen Unternehmen, die bereits akut insolvenzbedroht oder gar insolvent sind, der Weg geöffnet wird, den präventiven Restrukturie-

52) 53) 54) 55)

56)

So bereits Kayser, ZIP 2017, 1393, 1393. So auch Flöther/Eckelt in: Flöther, Sanierungsrecht, 2019, E. Rz. 7. So auch Flöther/Eckelt in: Flöther, Sanierungsrecht, 2019, E. Rz. 7. Vgl. ErwG 2 des RL-E (Trilog), Art. 2 Abs. 1 Nr. 2, Art. 4 Abs. 1 RL-E (Trilog) und ErwG 2 Restrukturierungsrichtlinie, Art. 2 Abs. 1 Nr. 1, Art. 4 Abs. 1 Restrukturierungsrichtlinie. Siehe allein Art. 4 Abs. 1 RL-E (Trilog) und Art. 4 Abs. 1 Restrukturierungsrichtlinie.

Die Ziele des präventiven Restrukturierungsrahmens

227

rungsrahmen bemühen zu können, um die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über ihr Vermögen abzuwenden.57) Deshalb hat der deutsche Gesetzgeber bei der Umsetzung der Vorgaben zum präventiven Restrukturierungsrahmen darauf zu achten, dass nur solche Unternehmen Zugang zum präventiven Restrukturierungsrahmen erhalten, die es auch verdienen. Es muss daher eine deutliche Abgrenzung zwischen dem Zugang zum präventiven Restrukturierungsrahmen und der materiellen Insolvenz und damit einhergehend zwischen dem neuen Rechtsrahmen und dem Insolvenzverfahren gegeben sein.58) Beide Institute dürfen nicht verschwimmen. Dies hat auch der Europäische Gesetzgeber im Blick, wenn er ausführt, dass unrentable Unternehmen ohne Überlebenschance so schnell wie möglich zu liquidieren sind.59) Eine klare Differenzierung der beiden Institute wäre gewährleistet, wenn lediglich Unternehmen, die zahlungsfähig sowie deren Finanzierung langfristig gesichert und die somit nicht von einer Insolvenz bedroht sind, den präventiven Restrukturierungsrahmen anstreben können. Dabei könnten Unternehmen, deren Finanzierung langfristig gesichert ist, solche Unternehmen sein, die liquide sind und über einen bestimmten Zeitraum auch zahlungsfähig bleiben. Als langfristiger Zeitraum könnte in diesem Zusammenhang eine Zeitspanne von zwölf Monaten als angemessen angesehen werden, in der das Unternehmen zahlungsfähig bleiben muss.60) 2. Begrenzte Anwendbarkeit allein auf bestimmte Gläubigergruppen? Zudem dürfte Ziel des präventiven Restrukturierungsrahmens allein die Sanierung oder Wiederherstellung der wirtschaftlichen Bestandsfähigkeit des betroffenen Unternehmens außerhalb eines Insolvenzverfahrens im Wege der Restrukturierung der Passivseite der Bilanz sein.61) Maßnahmen, die darüber hinausgehen, wie Zwangseingriffe in Arbeitnehmerrechte, Vertragsablehnungs- und Sonderkündigungsrechte, dürfen und können in einem Verfahren vor der Insolvenz nicht möglich sein.62) Zwar sieht der 57) 58) 59) 60) 61) 62)

So auch Flöther/Eckelt in: Flöther, Sanierungsrecht, 2019, E. Rz. 7. Vgl. Flöther/Eckelt in: Flöther, Sanierungsrecht, 2019, E. Rz. 7; Kayser, ZIP 2017, 1393, 1396, 1401. Siehe S. 8 der Begründung des RL-E a. F., ErwG 2 des RL-E a. F. und ErwG 2 des RL-E (Trilog) sowie ErwG 3 Restrukturierungsrichtlinie. Siehe Flöther/Eckelt in: Flöther, Sanierungsrecht, 2019, E. Rz. 9. Siehe auch Kayser, ZIP 2016, Beilage Festheft, S. 40, 42; Kayser, ZIP 2017, 1393, 1401. Siehe Flöther, NZI 2017, Beilage 1, S. 4, 5.

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finale Richtlinientext nicht vor, dass die Reichweite des präventiven Restrukturierungsrahmens für Planwirkungen auf Geldkreditgläubiger (financial creditors) begrenzt werden könnte, doch wäre dies wünschenswert.63) Eine solche Einschränkung der Reichweite des präventiven Restrukturierungsrahmens wäre insoweit beim Restrukturierungsplan sowie beim Moratorium vorzugswürdig, da Geldkreditgläubiger im Grunde die (einzigen) geeigneten Beteiligten für den vorgesehenen Restrukturierungsrahmen sein sollten. Denn wie bereits aufgezeigt, will der Europäische Gesetzgeber insbesondere durch den präventiven Restrukturierungsrahmen der Anhäufung von sog. non-performing loans entgegenwirken und solche abbauen. Dieses ausgegebene Ziel würde jedoch adressiert werden, wenn Planeingriffe auf zinstragende Kreditforderungen – unabhängig von deren Rang und etwaigen Sicherheiten – i. R. des vorinsolvenzlichen Rechtsrahmens beschränkt werden würden. Für eine Begrenzung der Reichweite, in der Weise, dass die Planwirkungen nur Geldkreditgläubiger betreffen können, würde auch sprechen, dass eine Sanierungshilfe vor der Insolvenz lediglich Vertragshilfe zur außergerichtlichen Refinanzierung leistet und keine leistungswirtschaftliche Sanierung zum Gegenstand hat, wenngleich sie in der Regel begleitend als (Finanzierungs-)Bedingung vorausgesetzt wird. So treffen allein die Finanzgläubiger die Entscheidung über die Refinanzierung, wohingegen (erst) i. R. eines Gesamtvollstreckungs-/Insolvenzverfahrens durch alle am Unternehmen Beteiligten – d. h. i. R. eines Verfahrens mit Gesamtwirkung – über die Überlebensfähigkeit des Unternehmens entschieden wird. Zudem würde eine leistungswirtschaftliche Sanierung weiterhin außerhalb des vorinsolvenzlichen Rechtsrahmens jederzeit auf privatautonomer Basis möglich bleiben. Auch mit Blick auf die vom Europäischen Gesetzgeber gewählte Rechtsgrundlage, um die Restrukturierungsrichtlinie zu erlassen, wäre eine Beschränkung des Kreises der von dem präventiven Restrukturierungsrahmen Betroffenen grundsätzlich angelegt.64) Die sog. Binnenmarktkompetenz aus Art. 114 AEUV erfährt durch Art. 114 Abs. 2 AEUV insoweit eine Begrenzung, indem Bestimmungen über Steuern, die Freizügigkeit sowie über Rechte und Interessen der Arbeitnehmer explizit 63)

64)

So Gravenbrucher Kreis in seiner Stellungnahme zu den Regelungen des Richtlinienvorschlags der Europäischen Kommission vom 22. November 2016 über präventive Restrukturierungsrahmen v. 28.2.2017, abrufbar unter https://t1p.de/ledt (Abrufdatum: 8.7.2019). Kritischer hierzu Kayser, ZIP 2017, 1393, 1393, der die Zuständigkeit der EU zum Erlass der EU-Richtlinie über präventive Restrukturierungsrahmen u. a. gänzlich in Frage stellt; ders., ZIP 2016, Beilage Festheft, S. 40, 42.

Die Ziele des präventiven Restrukturierungsrahmens

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auszuschließen sind. Dies lässt klar erkennen, dass bestimmte Gläubigergruppen vom Anwendungsbereich des präventiven Restrukturierungsrahmens ausgenommen werden müssen und damit nicht alle Forderungen sowie Rechte Gegenstand des vorinsolvenzlichen Restrukturierungsrahmens sein dürfen. Die Beschränkung des Kreises der Betroffenen sollte daher auch zum Ausdruck kommen und angemessen gestaltet werden. 3. Passgenaue Ergänzung des bestehenden nationalen Werkzeugkastens Bei der Implementierung des präventiven Restrukturierungsrahmens in deutsches Recht darf des Weiteren nicht unbeachtet bleiben, dass Deutschland bereits über ein ausgewogenes, in der Praxis gut funktionierendes und in der Wirtschaft anerkanntes Insolvenzrecht und -verfahren – auch und insbesondere durch das ESUG – verfügt.65) Dabei gilt es auch hervorzuheben, dass das bereits bestehende Insolvenzrecht durchaus sanierungsfreundlich ausgestaltet ist und damit eher auf die Sanierung – und nicht nur auf die Zerschlagung – von Unternehmen abzielt.66) Würde damit ein präventiver Restrukturierungsrahmen in Deutschland breit aufgestellt werden, würde dies das bestehende ausgewogene System des deutschen Restrukturierungs- und Insolvenzrechts insgesamt gefährden.67) Der deutsche Gesetzgeber wird daher vor der Herausforderung stehen, den neuen Rechtsrahmen in das bestehende und funktionierende System des Restrukturierungs- sowie Insolvenzrechts einzupassen, ohne einen Systembruch zu erzeugen.68) Da auch der Europäische Gesetzgeber feststellt, dass einige EU-Mitgliedstaaten bereits über taugliche Rechtsrahmen verfügen und es nicht darum geht, in diese bewährten Verfahren einzugreifen,69) bedarf es mithin lediglich eines Instruments, das passgenau außergerichtliche finanz-

65)

66) 67) 68) 69)

Siehe Studie der Weltbank „Doing Business 2019 – Training for Reform“ v. 31.10.2018, S. 173, abrufbar unter https://t1p.de/20k7 (Abrufdatum: 8.7.2019): Platz 4 von 190 Staaten; lediglich Japan (Platz 1), Finnland (Platz 2) und die Vereinigten Staaten von Amerika (Platz 3) liegen vor Deutschland. Siehe Flöther, NZI 2017, Beilage 1, S. 4, 5; ähnlich auch Kayser, ZIP 2017, 1393, 1393, 1401. Siehe Flöther, NZI 2017, Beilage 1, S. 4, 5. Vgl. Flöther in: FS Graf-Schlicker, 2018, S. 259, 274 f.; Thole, Der Richtlinienvorschlag zum präventiven Restrukturierungsrahmen, ZIP 2017, 101, 112. Vgl. S. 8 der Begründung des RL-E a. F., S. 4 des RL-E (Trilog) und ErwG 12 des RL-E (Trilog) sowie ErwG 16 Restrukturierungsrichtlinie.

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Lucas F. Flöther

wirtschaftliche Sanierungsbemühungen dann unterstützt, wenn diese an einzelnen Akkordstörern zu scheitern drohen.70) Demzufolge sollte es sich bei dem umzusetzenden präventiven Restrukturierungsrahmen allein um eine Art Vertragshilfe im Bereich vor der Insolvenz handeln und zwar für die Fälle, in denen eine konsensuale Sanierung aufgrund einzelner Akkordstörer misslingen würde. Damit wäre der deutsche Werkzeugkasten der Sanierung um ein Instrument ergänzt, damit auch in diesen Fällen eine Restrukturierung ermöglicht werden kann, ohne auf Instrumente des ausländischen Rechts – wie beispielsweise auf das Scheme of Arrangement – zurückgreifen zu müssen. Jedoch darf die Implementierung des präventiven Restrukturierungsrahmens in Deutschland jedenfalls nicht zu einem Paradigmenwechsel führen.71) Demzufolge muss auch nach der Umsetzung des vorinsolvenzlichen Rechtsrahmens der Grundsatz der Gläubigerbefriedigung weiterhin als Grundprämisse Beachtung finden. Eine bloße Entschuldung des Schuldners darf demgegenüber nicht in den Vordergrund gestellt werden. V. Fazit Mit Blick auf das Vorgenannte ist zu konstatieren, dass der der Insolvenz vorgelagerte Restrukturierungsrahmen nur dann ein sinnvolles Werkzeug im bereits bestehenden Werkzeugkasten des deutschen Restrukturierungsrechts sein wird, wenn sein Anwendungsbereich zum einen nicht Unternehmen umfasst, die bereits akut insolvenzbedroht oder insolvent sind, und zum anderen die Gruppe der betroffenen Gläubiger klar definiert wird. Wünschenswert, wenn auch nicht im Richtlinientext vorgesehen, wäre vor diesem Hintergrund, die Reichweite des präventiven Restrukturierungsrahmens für Planwirkungen auf Geldkreditgläubiger (financial creditors) zu begrenzen und damit allein die Restrukturierung der Passivseite der Bilanz zu ermöglichen.

70) 71)

Siehe Flöther/Eckelt in: Flöther, Sanierungsrecht, 2019, E. Rz. 11. Siehe Gravenbrucher Kreis in seiner Stellungnahme zu den Regelungen des Richtlinienvorschlags der Europäischen Kommission v. 22.11.2016 über präventive Restrukturierungsrahmen v. 28.2.2017, abrufbar unter https://t1p.de/ledt (Abrufdatum: 8.7.2019).

Das Vermieterpfandrecht an volatilen Gegenständen in der Mieterinsolvenz HANS GERHARD GANTER Inhaltsübersicht I. II.

Einführung Der Meinungsstand vor der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 6. Dezember 2017 1. Pro Kontinuität des Vermieterpfandrechts 2. Contra Kontinuität des Vermieterpfandrechts III. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 6. Dezember 2017 IV. Die Rezeption der Entscheidung im Schrifttum V. Stellungnahme 1. Zur Tragfähigkeit der vom XII. Zivilsenat gegebenen Begründung a) Wortlaut des § 562a BGB b) Entstehungsgeschichte des Gesetzes c) Systematische Erwägungen

aa) Vergleich mit dem rechtsgeschäftlichen Pfandrecht bb) Vergleich mit der Rechtslage im Hypothekenrecht d) Förderung von Rechtsklarheit und Rechtssicherheit e) Vorrang des Werkunternehmerpfandrechts vor dem Vermieterpfandrecht 2. Zum Grundgedanken der Enthaftung durch Entfernung a) Entfernung als contrarius actus zur Einbringung b) Zur Publizität des „Einbringens“: Parallele zum Besitz? 3. Schwächung des Vermieterpfandrechts, insbesondere in der Insolvenz des Mieters VI. Ergebnisse

I. Einführung Der für das gewerbliche Mietrecht zuständige XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat sich in einem Urteil vom 6. Dezember 20171) mit der Frage befasst, welche Rechtsfolgen das vorübergehende Entfernen von mit einem Vermieterpfandrecht belasteten Gegenständen vom Mietgrundstück hat. Wird das Vermieterpfandrecht dadurch nicht berührt oder erlischt es und wird neu begründet, wenn es wieder auf das Mietgrundstück gelangt? Folgender Sachverhalt war zu beurteilen: Die Schuldnerin, eine GmbH, betrieb ein Rolladen- und MarkisenbauGeschäft. Ihr Betriebsgrundstück hatte sie von der Klägerin gemietet. Diese berief sich im Hinblick auf offene Forderungen aus dem Mietverhältnis 1)

BGH, Urt. v. 6.12.2017 – XII ZR 95/16, ZIP 2018, 236 = NJW 2018, 1083.

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Hans Gerhard Ganter

auf ihr Vermieterpfandrecht. Wenig später wurde über das Vermögen der Schuldnerin das Insolvenzverfahren eröffnet. Der verklagte Insolvenzverwalter kündigte das Mietverhältnis. Zum Kündigungsstichtag standen noch Forderungen der Klägerin aus dem Mietverhältnis i. H. von insgesamt 13.750,57 € offen. Der Beklagte verwertete verschiedene auf dem Betriebsgrundstück vorgefundene Gegenstände der Schuldnerin, darunter zwei LKW und einen Anhänger, auf die insgesamt 6.500 € des Erlöses zzgl. Umsatzsteuer entfielen. Die Klägerin verlangte abgesonderte Befriedigung aus dem Erlös im Hinblick auf ein ihr zustehendes Vermieterpfandrecht. Der Beklagte bestritt das Vermieterpfandrecht. In den Tatsacheninstanzen war offen geblieben, wo sich die Fahrzeuge und der Anhänger im Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung befanden. Das Oberlandesgericht hatte gemeint, Feststellungen dazu seien entbehrlich, weil das Vermieterpfandrecht an den Fahrzeugen nicht erlösche, wenn sie von Mitarbeitern bewegt würden und das Mietgrundstück für Kundenbesuche oder Auslieferungen vorübergehend verließen. Damit sind Gegenstände angesprochen, die man – wenn der Begriff nicht schon anderweitig belegt wäre (vgl. §§ 91, 929 BGB) – als „bewegliche“ Sache bezeichnen würde, so aber nur unvollkommen als „unstet“ oder eben „volatil“ umschreibt. II. Der Meinungsstand vor der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 6. Dezember 2017 1. Pro Kontinuität des Vermieterpfandrechts In Teilen der Rechtsprechung2) und der Literatur3) wurde die Ansicht vertreten, eine von vornherein als lediglich vorübergehend geplante Wegschaffung der Sachen reiche für das Erlöschen des Vermieterpfandrechts nicht aus. Das ergebe sich aus dem systematischen Zusammenhang mit 2)

3)

OLG Frankfurt/M., Urt. v. 19.5.2006 – 24 U 11/06, ZMR 2006, 609, 610 und OLG Frankfurt/M., Urt. v. 25.8.2006 – 2 U 247/05, NJW-RR 2007, 230, 231; LG Neuruppin, Urt. v. 9.6.2000 – 4 S 272/99, NZM 2000, 962, 963. Schopp, NJW 1971, 1141 (Urteilsanm.); Weimar, Erlischt das Vermieterpfandrecht bei vorübergehender Entfernung eingebrachter Kraftfahrzeuge?, ZMR 1972, 295, 296; Alexander, Gesetzliche Pfandrechte an beweglichen Sachen, JuS 2014, 1, 5; Lammel in: Schmidt-Futterer, MietR, 13. Aufl. 2017, § 562a BGB Rz. 8 ff.; v. d. Osten in: Bub/Treier, Hdb. der Geschäfts- und Wohnraummiete, 4. Aufl. 2014, Kap. III. Teil A Rz. 2230 ff.; Sternel, Mietrecht aktuell, 4. Aufl. 2009, Teil III. Rz. 226; Teichmann in: Jauernig, BGB, 17. Aufl. 2018, § 562a Rz. 2; Wolf/Eckert/Ball, Hdb. des gewerblichen Miet-, Pacht- und LeasingR, 10. Aufl. 2009, Rz. 767; Heintzmann in: Soergel, BGB, 13. Aufl. 2007, § 562a Rz. 3.

Das Vermieterpfandrecht an volatilen Gegenständen in der Mieterinsolvenz

233

§ 1253 Abs. 1 BGB, denn da nach § 856 Abs. 2 BGB eine nur vorübergehende Verhinderung in der Ausübung der Gewalt nicht den Besitz beendige, sei es für das rechtsgeschäftliche Pfandrecht anerkannt, dass es in einem solchen Fall nicht erlösche. Zum anderen werde für die insoweit gleichlautenden Tatbestandsmerkmale im Hypothekenrecht (§§ 1121, 1122 BGB), bei dem die gleiche Problematik hinsichtlich des Umfangs der Haftung bestehe, einhellig die Auffassung vertreten, dass unter den Begriff der Entfernung nur die für dauernd geplante Wegschaffung zu verstehen sei. Wegen der rechtlichen und tatsächlichen Vergleichbarkeit dieser Vorschriften seien die dortigen Ergebnisse auf § 562a BGB übertragbar. Es sei auch kein Grund ersichtlich, weshalb die Entfernung von Sachen i. S. des § 562a BGB anders behandelt werden solle als deren Einbringung, für die gefordert werde, dass die Sachen des Mieters nicht lediglich vorübergehend eingestellt seien. Daher lasse insbesondere die tägliche Ausfahrt mit dem eingebrachten Kraftfahrzeug nicht morgens das Pfandrecht erlöschen, um abends beim Einstellen auf dem Grundstück wieder neu begründet zu werden. Andernfalls wäre das Pfandrecht der Willkür des Mieters ausgesetzt, der durch kurzfristiges Entfernen der Sachen das Vermieterpfandrecht aushöhlen könnte, auch durch Pfändung oder Verpfändung während der Ausfahrt. Die zum Erlöschen des Vermieterpfandrechts führende Entfernung sei daher erst beendet, wenn die eingebrachten Gegenstände vollständig aus dem Zugriffsbereich des Vermieters verbracht worden seien. 2. Contra Kontinuität des Vermieterpfandrechts Demgegenüber nahm die Gegenmeinung in Rechtsprechung4) und Literatur5) an, jede auch nur vorübergehende und kurzfristige Entfernung der Sachen führe zum Erlöschen des Vermieterpfandrechts, das bei Wiedereinbringung neu begründet werde. Zur Begründung wurde angeführt, es fehlten 4) 5)

OLG Karlsruhe, Urt. v. 3.2.1971 – 1 U 159/70, NJW 1971, 624, 625; OLG Hamm, Urt. v. 11.12.1980 – 4 U 131/80, ZIP 1981, 165, 166. Kohl, Zum Erlöschen des Vermieterpfandrechts an Kraftfahrzeugen, NJW 1971, 1733; Trenk-Hinterberger, Der Begriff der „Entfernung“ i. S. des § 560 BGB, ZMR 1971, 329, 330 f.; Bronsch, Das Vermieterpfandrecht am Kraftfahrzeug, ZMR 1970, 1, 2 f.; Henckel in: Jaeger, InsO, 1. Aufl. 2004, § 50 Rz. 46; Brinkmann in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 50 Rz. 30; Thole in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 50 Rz. 14; Scholz in: HambKomm-InsO, 7. Aufl. 2019, § 50 Rz. 32; Hess in: KölnKomm-InsO, 1. Aufl. 2017, § 50 Rz. 64; Emmerich in: Staudinger, BGB, Neubearb. 2018, § 562a Rz. 5; Artz in: MünchKomm-BGB, 7. Aufl. 2016, § 562a Rz. 5; Weidenkaff in: Palandt, BGB, 78. Aufl. 2019, § 562a Rz. 4; Blank in: Blank/Börstinghaus, Miete, 5. Aufl. 2016, § 562a Rz. 4; Lützenkirchen/Dickersbach, MietR, 2. Aufl. 2015, § 562a BGB Rz. 9.

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brauchbare Kriterien zur Abgrenzung von vorübergehender und dauerhafter Entfernung, weshalb Rechtsunsicherheit drohe. So wie ein vorübergehendes Hineinschaffen unter Umständen für ein Einbringen genüge, reiche auch ein vorübergehendes Herausschaffen für ein Entfernen. Deshalb erlösche das Pfandrecht des Vermieters eines Betriebsgrundstücks an den Fahrzeugen des Mieters jedes Mal, wenn diese i. R. des ordnungsgemäßen Geschäftsbetriebs das Mietgrundstück verlassen. Kehrten sie zurück, entstehe das Pfandrecht neu. Auch der Verfasser hat früher diese Ansicht vertreten.6) III. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 6. Dezember 2017 Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat sich nunmehr – der zweiten Meinung folgend – gegen die Kontinuität des Vermieterpfandrechts ausgesprochen. Der Senat geht zunächst vom Wortlaut des § 562a BGB aus, wo ohne Einschränkung von „Entfernung“ die Rede sei. Es werde nicht danach differenziert, ob die dem Pfandrecht unterliegenden Sachen auf Dauer oder nur vorübergehend weggeschafft würden.7) Weder der Wortlaut der Norm noch deren Entstehungsgeschichte böten Hinweise für eine einschränkende Auslegung des Begriffs „Entfernung“. Vielmehr habe es der Vorstellung des historischen Gesetzgebers entsprochen, dass auch die nur vorübergehende Entfernung von Sachen – etwa zur Durchführung einer „außerhalb des Hauses“ zu erfolgenden Reparatur – zum (vorübergehenden) Erlöschen des Vermieterpfandrechts führe.8) Ebenso wenig sprächen systematische Erwägungen für eine einschränkende Auslegung. Im Unterschied zum rechtsgeschäftlichen Mobiliarpfandrecht handele es sich bei dem Vermieterpfandrecht um ein besitzloses Pfandrecht, auf das die besitzrechtliche Bestimmung des § 856 Abs. 2 BGB keine Anwendung finden könne. Für das Vermieterpfandrecht enthalte das Gesetz auch keine dem § 1122 Abs. 1 BGB entsprechende Bestimmung, die eine Enthaftung bei nur vorübergehender Entfernung ausdrücklich ausschließe. Dass es sich insoweit um ein gesetzgeberisches Versehen handele, könne nicht angenommen werden, nachdem der Gesetzgeber in Bezug auf das Vermieterpfandrecht beispielsweise für reparaturbedürftige Sachen ausdrücklich eine andere Systematik vorausgesetzt habe.9) Gesichts-

6) 7) 8) 9)

Ganter in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 50 Rz. 95a. BGH, Urt. v. 6.12.2017 – XII ZR 95/16, Rz. 20, ZIP 2018, 236 = NZI 2018, 174. BGH, Urt. v. 6.12.2017 – XII ZR 95/16, Rz. 21, ZIP 2018, 236 = NZI 2018, 174. BGH, Urt. v. 6.12.2017 – XII ZR 95/16, Rz. 22 – 24, ZIP 2018, 236 = NZI 2018, 174.

Das Vermieterpfandrecht an volatilen Gegenständen in der Mieterinsolvenz

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punkte der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit sprächen für eine ausschließlich räumliche Anknüpfung des Begriffs der Entfernung der Sachen, weil handhabbare Kriterien zur Unterscheidung zwischen einer bloß vorübergehenden und einer dauernden Entfernung der Sachen von dem vermieteten Grundstück fehlten.10) Auch im Ergebnis wäre es nicht gerechtfertigt, wenn sich etwa im Falle einer Ausfahrt zur Reparatur des Fahrzeugs das an den Besitz anknüpfende Werkunternehmerpfandrecht (§ 647 BGB) nicht gegenüber dem besitzlosen Vermieterpfandrecht durchsetzen würde. Denn während das Entstehen eines Werkunternehmerpfandrechts an den Sachen des Bestellers durch diesen nicht zu verhindern sei, könne der Mieter das Entstehen des Vermieterpfandrechts beeinflussen, indem er das Fahrzeug für gewöhnlich entweder auf dem Mietgrundstück oder im öffentlichen Straßenraum abstelle. Das Vermieterpfandrecht hänge vom Einbringungswillen des Mieters ab und sei deshalb von vornherein schwächer ausgestaltet.11) IV. Die Rezeption der Entscheidung im Schrifttum Mehrheitlich wird die Entscheidung des XII. Zivilsenats begrüßt, weil sie eine seit 100 Jahren umstrittene Frage praktikabel kläre.12) Sie schaffe Rechtssicherheit und Rechtsklarheit und löse sachgerecht den Konflikt zwischen dem Vermieter- und dem Werkunternehmerpfandrecht.13) Zu dem Hinweis auf §§ 1121 f. BGB sei auch zu berücksichtigen, dass vorübergehend abgestellte Fahrzeuge schon kein Zubehör i. S. der §§ 1120, 97 BGB seien.14) Ebenfalls zustimmend – wenngleich mit differenzierterer Begründung – äußert sich Lammel. Der Hinweis des Senats auf den „allgemeinen Sprachgebrauch“ reiche nicht unbedingt aus. Denn nach dem Grimm’schen Wörterbuch wohne dem Begriff „Entfernen“ ein Element der Endgültigkeit inne, so dass ein nur vorübergehendes Wegfahren dafür nicht genügen könnte. Die Entscheidung trage jedoch der Vorschrift des § 562a Satz 2 BGB Rechnung, wonach der Vermieter der Entfernung der Sache von dem Grundstück

10) 11) 12)

13) 14)

BGH, Urt. v. 6.12.2017 – XII ZR 95/16, Rz. 25, ZIP 2018, 236 = NZI 2018, 174. BGH, Urt. v. 6.12.2017 – XII ZR 95/16, Rz. 26, ZIP 2018, 236 = NZI 2018, 174. Emmerich, Schuldrecht BT: Vermieterpfandrecht an Geschäftsfahrzeugen, JuS 2018, 383; Emmerich in: Staudinger, BGB, Neubearb. 2018, § 562a Rz. 5.1. Ebenfalls zustimmend Mössner/Tiedemann in: jurisPK-BGB, 8. Aufl. 2017, § 562a BGB Rz. 9.1; Ettl in: Spielbauer/Schneider, MietR, 2. Aufl. 2018, § 562a BGB Rz. 6. Artz, WuB 2018, 456, 459 (Urteilsanm.). Mitlehner, EWiR 2018, 115, 116 (Urteilsanm.).

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nicht widersprechen – und somit deren Enthaftung nicht verhindern – könne, wenn sie den gewöhnlichen Lebensverhältnissen entspreche. Außerdem reihe sich das Ergebnis in die Systematik des BGB ein, die mit dem „Besitz“ verbunden sei. Zwar sei das Vermieterpfandrecht ein besitzloses Pfandrecht. Dabei werde die Besitzerlangung jedoch ersetzt durch die „Einbringung“ der Sache, wodurch für den informierten Rechtsverkehr deutlich gemacht werde, dass der Vermieter die Möglichkeit eines Zugriffs auf diesen Gegenstand habe. Mit der Entfernung vom Grundstück werde dieser zunächst ersichtliche Zusammenhang zerstört. Durch die Entscheidung werde der Wert des Vermieterpfandrechts erheblich geschmälert. Dem Vermieter von Gewerberäumen könne nur geraten werden, die Kautionshöhe dem Risiko anzupassen und/oder sich Gegenstände zur Sicherheit übereignen zu lassen.15) Wozniak resümiert, dass die Entscheidung Klarheit in der Fragestellung konkurrierender Sicherheiten in insolvenznahen Sachverhalten gebracht habe. Der zwischenzeitliche Wegfall des Vermieterpfandrechts führe zu einer Rangverschlechterung gegenüber solchen Pfandrechten, die vor dem „Wiedereinbringen“ der Sache begründet worden seien. In jedem Fall sei zu beachten, dass die (Neu-) Entstehung des Pfandrechts einer Insolvenzanfechtung unterliegen könne, wenn ein ständiges „Hinein- und Herausbringen“ der Fahrzeuge vorliege. Dies dürfte nicht unerhebliche Auswirkungen auf Insolvenzverfahren sowie auf den massezugehörigen Teil von Verwertungserlösen haben. Die weitere Rechtsentwicklung sei abzuwarten.16) Ähnlich äußert sich Maier, der von einem „Glücksfall mit Breitenwirkung“ für anfechtende Verwalter spricht.17) Andere meinen, dass die Entscheidung des XII. Zivilsenats zwar de lege lata richtig sei, es jedoch überdeutlich sei, dass es derzeit an einem vernünftigen Ausgleich zwischen dem Sicherungsinteresse des Vermieters und den wirtschaftlichen Bedürfnissen des Mieters fehle. Nach derzeitiger Rechtlage komme es zu völlig willkürlichen Ergebnissen und einer Entwertung des Vermieterpfandrechts. Deshalb empfehle sich eine Neuregelung, wonach eine den gewöhnlichen Lebensverhältnissen entsprechende

15) 16) 17)

Lammel, Vermieterpfandrecht an regelmäßig auf dem gemieteten Grundstück abgestellten Fahrzeugen, jurisPR-MietR 4/2018 Anm. 4. Wozniak, Reichweite des Vermieterpfandrechts für auf dem Mietgrundstück abgestellte Fahrzeuge, jurisPR-InsR 10/2018 Anm. 2. Maier, Revolvierende Vermieterpfandrechte an Mieter-Kfz (BGH, Urt. v. 6.12.2017 – XII ZR 95/16), ZInsO 2018, 1496.

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vorübergehende Entfernung der Sache das Vermieterpfandrecht nicht erlöschen lasse.18) Lediglich eine Mindermeinung vertritt die Auffassung, dass bereits de lege lata ein bloß vorübergehendes Wegschaffen der Sache vom einschränkend auszulegenden Begriff der „Entfernung“ nicht erfasst werde.19) V. Stellungnahme Vorab ist es zu bedauern, dass der XII. Zivilsenat – obwohl es im Kern um ein Recht zur abgesonderten Befriedigung in der Insolvenz ging (§ 50 InsO) – den IX. Zivilsenat (Insolvenzrechtssenat) nicht beteiligt hat. Das macht sich dadurch bemerkbar, dass die insolvenzrechtliche Dimension in der Entscheidung entschieden „zu kurz kommt“. Zunächst sind aber die vom erkennenden Senat angeführten Argumente auf ihre Tragfähigkeit zu überprüfen (dazu nachfolgend 1.). Sodann soll der Sinnhaftigkeit der „Enthaftung durch Entfernung“ nachgegangen werden (dazu nachfolgend 2.). Und schließlich wird sich der Verfasser den insolvenzrechtlichen Folgen der Entscheidung zuwenden (dazu nachfolgend 3.). 1. Zur Tragfähigkeit der vom XII. Zivilsenat gegebenen Begründung a) Wortlaut des § 562a BGB Es wurde bereits von Lammel darauf aufmerksam gemacht (siehe oben IV. Abs. 2), dass die Annahme des Senats, nach dem allgemeinen Sprachgebrauch wohne dem Begriff der „Entfernung“ kein Zeitmoment inne, zu kurz gegriffen sein könnte. Auch im Wörterbuch von Duden deuten die dort angegebenen Synonyme „1a. wegbringen, beseitigen; dafür sorgen, dass (…) 1b. [immer weiter] in die Ferne (…) 2.

weggehen, verschwinden; sich wegbegeben“

darauf hin, dass ein sich in kurzen Abständen ständig wiederholendes Weggehen/Wegschaffen und Wiederkehren/Wiederbringen nicht oder allenfalls bei einer weiten Ausdehnung des Begriffes gemeint ist.

18) 19)

Bergmann, Die „abnorme Natur“ des Vermieterpfandrechts und die vorübergehende Entfernung eingebrachter Sachen, ZMR 2018, 553. Schweitzer, NZM 2018, 206 (Urteilsanm.).

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b) Entstehungsgeschichte des Gesetzes Auch die Ansicht des XII. Zivilsenats, es habe der Vorstellung des historischen Gesetzgebers entsprochen, dass auch die nur vorübergehende Entfernung von Sachen zum (vorübergehenden) Erlöschen des Vermieterpfandrechts führe, begegnet Bedenken. Es ist zutreffend, dass bereits bei den Beratungen des § 560 Satz 1 BGB a. F. als Vorläufer des heutigen § 562a BGB eine Einschränkung des Widerspruchsrechts des Vermieters erörtert worden war, wenn eine nur vorübergehende Entfernung durch die gewöhnlichen Lebensverhältnisse geboten sei, z. B. bei der Mitnahme von Reiseutensilien bei Antritt einer Reise und für reparaturbedürftige Sachen, deren Ausbesserung außerhalb des Mietgrundstücks zu erfolgen hat.20) Indes entsprechen solche Vorgänge fraglos den gewöhnlichen Lebensverhältnissen des Mieters, bei denen ein Widerspruchsrecht des Vermieters generell ausgeschlossen ist. Es kommt hinzu, dass sowohl die Reiseutensilien als auch die reparierte Sache selbstverständlich wieder auf das gemietete Grundstück zurückgelangen sollen. Umso weniger besteht für den Vermieter Anlass, ihrer Entfernung zu widersprechen, und ein trotzdem erfolgter Widerspruch wäre zweifellos nicht gerechtfertigt. Bedeutung hätte der von Anfang an im Gesetz angelegte Ausschluss des Widerspruchsrechts in den Fällen, in denen die Entfernung durch die gewöhnlichen Lebensverhältnisse geboten ist, allenfalls dann, wenn ohne diesen Ausschluss das Erlöschen des Vermieterpfandrechts die zwingende Folge wäre. Dies ist aber nicht anzunehmen. Dazu muss man sich nur das Verhältnis der beiden Sätze des § 562a BGB zueinander verdeutlichen. Nach dessen Satz 2 führt die Entfernung einer dem Pfandrecht unterliegenden Sache von dem Grundstück nicht zum Erlöschen des Pfandrechts, wenn der Vermieter berechtigterweise widerspricht. Ob er berechtigterweise widerspricht oder nicht, ist aber unerheblich, wenn schon keine „Entfernung“ i. S. des Satzes 1 vorliegt. Damit stellt sich die Frage nicht, ob eine nur vorübergehende Entfernung durch die gewöhnlichen Lebensverhältnisse geboten war, falls die konkrete Art der Entfernung schon ihrer Art nach kein Erlöschen des Vermieterpfandrechts bewirken kann. Selbstverständlich behält der Satz 2 auch dann, wenn man der vorstehend entwickelten Ansicht folgt, seine eigenständige Bedeutung. Hinter der Rege20)

Vgl. Motive II, S. 408, zitiert bei Mugdan, Die gesammten Materialien zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 1899, Bd. II, S. 227 f. Darauf hinweisend auch Emmerich in: Staudinger, BGB, Neubearb. 2018, § 562a Rz. 17.

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lung, dass das Widerspruchsrecht des Vermieters entfällt, wenn die Entfernung der Sachen den gewöhnlichen Lebensverhältnissen des Mieters entspricht, steht die Erwägung, dass jeder Vermieter beim Abschluss eines Mietvertrages mit derartigen Vorgängen rechnen muss, so dass er sich mit ihnen durch den Vertragsabschluss konkludent einverstanden erklärt. Das Gesetz nannte bis 2001 in § 560 Satz 2 BGB a. F. als weiteren Fall, in dem dem Vermieter kein Widerspruchsrecht zustehen sollte, die Entfernung von Mietersachen im regelmäßigen Betrieb des Geschäfts des Mieters. Nach Meinung der Gesetzesverfasser muss der Fall der betriebsüblichen Entfernung jetzt i. R. der „gewöhnlichen Lebensverhältnisse“ eines Gewerbetreibenden berücksichtigt werden.21) Zum ordnungsmäßigen Geschäftsbetrieb gehören danach – unter der Voraussetzung, dass der Betrieb nicht stillgelegt, sondern fortgeführt wird – die regelmäßige Veräußerung von Waren, die Ablieferung der auf dem Grundstück hergestellten Produkte, die täglichen Entfernung der Tageskasse sowie bei einem Landwirt die Aberntung und der Verkauf der reifen Feldfrüchte.22) Auch ein üblicher Saisonschlussverkauf fällt noch unter die Ausnahme des § 562a Satz 2 BGB. Den genannten Fällen ist gemeinsam, dass es sich jeweils um eine dauerhafte Entfernung handelt. c) Systematische Erwägungen aa) Vergleich mit dem rechtsgeschäftlichen Pfandrecht Das Argument, dass beim rechtsgeschäftlichen Pfandrecht eine nur vorübergehende Verhinderung in der Ausübung der tatsächlichen Gewalt nicht den Besitz beendige (§ 856 Abs. 2 BGB) und somit auch nicht zum Erlöschen des Pfandrechts führe, wird vom Senat allzu leicht abgetan. Zu § 856 Abs. 2 BGB ist anerkannt, dass die vorübergehende, kurzfristige Verhinderung der Gewaltausübung nicht zur Besitzbeendigung führt, wenn zur Zeit ihres Eintritts die Wiederausübbarkeit zu erwarten ist.23) Beide Merkmale sind erfüllt, wenn Firmenfahrzeuge zur Erledigung von Aufträgen morgens ausrücken und spätestens abends wieder auf den Betriebshof fahren. Nun ist allerdings das Vermieterpfandrecht ein besitzloses gesetzliches Pfandrecht. Die Legitimationsfunktion, die der Besitz im Rechtsverkehr 21) 22) 23)

Begr. RegE MietrechtsreformG, BT-Drucks. 14/4553, S. 40. Emmerich in: Staudinger, BGB, Neubearb. 2018, § 562a Rz. 19 m. w. N. aus der Rechtsprechung. KG Berlin, Urt. v. 31.10.2006 – 21 U 12/06, NJW-RR 2007, 239; Gutzeit in: Staudinger, BGB, Neubearb. 2012, § 856 Rz. 21 f.

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hat, geht ihm ab. Auf der anderen Seite kann aber auch die vorübergehende Lockerung oder sogar der Wegfall des Besitzes die Rechtsstellung des Vermieterpfandgläubigers nicht tangieren. Auf die Frage, ob die Funktion des Besitzes beim Vermieterpfandrecht nicht durch das Merkmal der „Einbringung“ ersetzt wird, ist später (siehe unter V. 2. b)) noch zurückzukommen. bb) Vergleich mit der Rechtslage im Hypothekenrecht Dass das Gesetz für das Vermieterpfandrecht keine dem § 1122 Abs. 1 BGB entsprechende Bestimmung enthält,24) die eine Enthaftung bei nur vorübergehender Entfernung ausschließt, führt der XII. Zivilsenat darauf zurück, dass der Gesetzgeber „ausdrücklich eine andere Systematik vorausgesetzt hat als für den Hypothekenverband“. Diese gewundene Ausdrucksweise ist schwer nachvollziehbar. Es hätte eines Eingehens darauf bedurft, ob nicht – hier wie dort – die Entfernung für den Umfang der Haftung die gleichen Auswirkungen haben muss. Allerdings beruft sich der Senat wieder – ohne den § 562a Satz 2 BGB zu erwähnen – auf die Erwägungen zu Reiseutensilien und reparaturbedürftigen Sachen. Dazu kann auf die obigen Ausführungen (unter V. 2. Abs. 3) verwiesen werden. d) Förderung von Rechtsklarheit und Rechtssicherheit Der Senat vermisst „handhabbare Kriterien zur Unterscheidung zwischen einer bloß vorübergehenden und einer dauernden Entfernung der Sachen“ und lässt deshalb auch die vorübergehende Entfernung – und sei sie noch so kurz und wiederhole sich der Vorgang auch ständig – für die Enthaftung genügen. Dabei verwundert, dass man zu § 1122 Abs. 1 BGB über solche Kriterien zu verfügen scheint.25) Jedenfalls sind dazu – soweit ersichtlich – Klagen über ihr Fehlen noch nicht laut geworden. Warum der Senat diese Kriterien bei § 562a BGB nicht anwenden will, bleibt offen.

24) 25)

Auf § 1121 BGB, dem der XII. Zivilsenat einen ganzen Absatz widmet (Rz. 23), kam es im Streitfall nicht an, weil es an einer mit einer Veräußerung verknüpften Entfernung fehlte. Vgl. dazu Wolfsteiner in: Staudinger, BGB, Neubearb. 2015, § 1122 Rz. 6.

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e) Vorrang des Werkunternehmerpfandrechts vor dem Vermieterpfandrecht An der Lösung des XII. Zivilsenats wird besonders begrüßt, dass damit in der Frage der Kollision von Sicherungsrechten an beweglichen Sachen Klarheit und Rechtssicherheit geschaffen werde; würde das Vermieterpfandrecht bei der vorübergehenden Entfernung eines Fahrzeugs i. R. der gewöhnlichen Lebensverhältnisse (wozu auch die Verbringung in eine Reparaturwerkstatt gehört) nicht erlöschen, ginge dieses besitzlose Pfandrecht dem Werkunternehmerpfandrecht aus § 647 BGB vor, was sich nicht rechtfertigen ließe.26) Endet das Vermieterpfandrecht eines reparaturbedürftigen Kraftfahrzeugs mit der Abfahrt von dem Betriebshof, kann beim Eintreffen in der Reparaturwerkstatt keine Kollision des neu entstehenden Werkunternehmerpfandrechts mit dem Vermieterpfandrecht mehr stattfinden. Insofern schießt die Lösung des Senats über das Ziel hinaus. Es hätte genügt, dem Werkunternehmerpfandrecht den Vorrang vor dem bestehen bleibenden Vermieterpfandrecht zu gewähren. Insofern berührt merkwürdig, dass der Senat die Schwäche des Vermieterpfandrechts betont. Er macht darauf aufmerksam, dass das Entstehen eines Werkunternehmerpfandrechts an den Sachen des Bestellers durch diesen nicht verhindert werden könne; dem gegenüber könne der Mieter das Entstehen des Vermieterpfandrechts beeinflussen, indem er das Fahrzeug für gewöhnlich entweder auf dem Mietgrundstück oder im öffentlichen Straßenraum abstelle. Das Vermieterpfandrecht hänge vom Einbringungswillen des Mieters ab und sei deshalb von vornherein schwächer ausgestaltet. Das mag ja so sein, rechtfertigt es aber nicht, ein (unterstellt) schwaches Sicherungsmittel27) vollends zu entwerten. Denn über andere Möglichkeiten, seine Ansprüche aus dem Mietverhältnis zu sichern, verfügt der Vermieter praktisch nicht. Die Vorschläge von Lammel, die Kautionshöhe dem Risiko anzupassen und/oder sich Gegenstände des Mieters zur Sicherheit übereignen zu lassen (siehe oben IV. Abs. 2), sind wenig sachdienlich. Das Gleiche gilt für den Rat, sich eine Bürgschaft geben zu lassen.28) Denn zum einen wird wahrscheinlich nur eine nahestehende Person aus persönlicher Ver26)

27) 28)

Artz, WuB 2018, 456, 459 (Urteilsanm.); Emmerich in: Staudinger, BGB, Neubearb. 2018, § 562a Rz. 5. Ein entsprechendes Bedürfnis wurde bereits früher bejaht, vgl. Artz in: MünchKomm-BGB, 7. Aufl. 2016, § 562a Rz. 6; Henckel in: Jaeger, InsO, 1. Aufl. 2004, § 50 Rz. 46. Zur Schwäche des Vermieterpfandrechts vgl. Mössner/Tiedemann in: jurisPK-BGB, 8. Aufl. 2017, § 562 Rz. 6. Schweitzer, NZM 2018, 206 (Urteilsanm.).

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bundenheit bürgen wollen, so dass – wenn eine Überforderung hinzukommt – das Risiko der Sittenwidrigkeit besteht, und zum anderen wird der Bürger, eben weil er der Hauptschuldnerin nahesteht, durch deren Insolvenz oft mit „in den Strudel“ gerissen. Dass das Vermieterpfandrecht sich ohne das Eingreifen des XII. Zivilsenats gegenüber dem Werkunternehmerpfandrecht durchsetzen würde, ist keineswegs zwingend. Zwar ist für das Rangverhältnis zwischen mehreren Absonderungsrechten grundsätzlich das Prioritätsprinzip maßgeblich.29) Dieser Grundsatz erleidet jedoch zahlreiche Durchbrechungen. Diese beruhen teils auf gutgläubigem Erwerb, teils auf einer von der Rechtsprechung vorgenommenen Abwägung der Interessen, also Wertungen, mit denen das formale Kriterium der Priorität überspielt wird.30) Entsprechendes kann auch für die Konkurrenz mehrerer gesetzlicher Pfandrechte angenommen werden.31) Unberührt bleibt auf jeden Fall der gutgläubiger Erwerb des Vorrangs (§ 1257 i. V. m. § 1208 BGB). Weiß der Werkunternehmer nicht – und muss er es auch nicht wissen –, dass der Besteller in gemieteten Räumen sitzt, erwirbt er ein vorrangiges Werkunternehmerpfandrecht. Aber selbst wenn er insoweit informiert ist, dürften seine Interessen denen des Vermieters vorgehen. Zum einen wird er die Übernahme der Reparatur rundweg ablehnen, wenn er sich hinter dem Vermieter hintanstellen muss. Dessen wird sich auch der Vermieter bewusst sein. Zum anderen dient eine wertverbessernde, zumindest werterhaltende Reparatur des fraglichen Gegenstandes auch den Interessen des Vermieters, weil sie zugleich den Wert seines Pfandrechts verbessert, zumindest erhält. Ihm ist deshalb das Zurücktreten des Vermieterpfandrechts gegenüber dem Werkunternehmerpfandrecht zuzumuten. Um den Werkunternehmer durch sein Pfandrecht zu schützen, hätte es deshalb nicht der extensiven Auslegung des Begriffs der „Entfernung“ in § 562a BGB bedurft, die – wie noch zuzeigen sein wird (siehe unter V. 3.) – insbesondere in der Mieterinsolvenz nicht wünschenswerte Weiterungen zeitigt; man hätte, um den Sicherheitenkonflikt zu lösen, schlicht den Interessen des Werkunternehmers den Vorrang vor denen des Vermieters geben können.

29) 30) 31)

Ganter in: MünchKomm-InsO, 4. Aufl. 2019, Vor §§ 49 – 52 Rz. 74. Ganter in: MünchKomm-InsO, 4. Aufl. 2019, Vor §§ 49 – 52 Rz. 75. Vgl. Ganter in: MünchKomm-InsO, 4. Aufl. 2019, § 50 Rz. 119 ff.

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2. Zum Grundgedanken der Enthaftung durch Entfernung a) Entfernung als contrarius actus zur Einbringung Das Vermieterpfandrecht, das die Haftung einer dem Mieter gehörenden Sache für Forderungen des Vermieters aus dem Mietverhältnis begründet, entsteht durch die „Einbringung“ einer Sache auf das vermietete Grundstück/in den vermieteten Raum. Das legt nahe, dass die „Entfernung“ aus diesem Bereich schlicht das die Enthaftung bewirkende Gegenstück (contrarius actus) zur „Einbringung“ darstellt. Dies könnte für eine spiegelbildliche Betrachtung von „Einbringung“ und „Entfernung“ sprechen. Deshalb muss zuvörderst der Eigenart der „Einbringung“, welche die Verhaftung bewirkt, nachgegangen werden. Gemäß § 562 Abs. 1 Satz 1 BGB hat der Vermieter für seine Forderungen aus dem Mietverhältnis ein Pfandrecht an den eingebrachten Sachen des Mieters. „Eingebracht“ ist der Zentralbegriff des Vermieterpfandrechts, entscheidet doch diese Eigenschaft letztlich darüber, welche im Eigentum des Mieters stehenden Sachen dem Vermieter haften und welche nicht. Nach allgemeiner Ansicht erfordert die „Einbringung“ ein vom Mieter während der Mietzeit, also vor deren Beendigung, gewolltes Hineinschaffen in die Mieträume.32) Sachen des Mieters, die sich schon vor Beginn der Mietzeit in den Mieträumen befunden haben und vom Mieter willentlich dort belassen wurden, gelten ebenso als „eingebracht“.33) Auch Sachen, die in den Mieträumen erzeugt worden sind, sind „eingebracht“.34) Die „Einbringung“ als Rechtsbegriff muss von der bloßen vorübergehenden Verbringung von Sachen auf das gemietete Grundstück bzw. in den gemieteten Raum unterschieden werden.35) Daraus könnte für die spiegelbildliche Betrachtung gefolgert werden, dass dann, wenn eine bloß vorübergehende Verbringung in den gemieteten Bereich nicht für eine „Einbringung“ genügt, 32) 33) 34) 35)

Lützenkirchen in: Erman, BGB, 15. Aufl. 2017, § 562 Rz. 7. BGH, Urt. v. 15.10.2014 – XII ZR 163/12, ZIP 2015, 378 = NJW 2014, 3775. RGZ 132, 116; Weidenkaff in: Palandt, BGB, 78. Aufl. 2019, § 562 Rz. 6. OLG Braunschweig, Beschl. v. 27.11.1979 – 2 U 175/79, OLGZ 1980, 239, 240; OLG Düsseldorf, Urt. v. 4.6.1998 – 24 U 91/97, ZMR 2000, 518, 521; Ehricke, Zum Entstehen eines Vermieterpfandrechts in der Insolvenz des Mieters, in: FS Gerhardt, 2004, S. 191, 199; Blank/Börstinghaus in: Blank/Börstinghaus, Miete, 5. Aufl. 2016, § 562a BGB Rz. 10; v. d. Osten in: Bub/Treier, Hdb. der Geschäfts- und Wohnraummiete, 4. Aufl. 2014, Kap. III. Teil A Rz. 2192; Lammel in: Schmidt-Futterer, MietR, 13. Aufl. 2017, § 562a BGB Rz. 31; Emmerich in: Staudinger, BGB, Neubearb. 2018, § 562 Rz. 13; Weidenkaff in: Palandt, BGB, 78. Aufl. 2019, § 562 Rz. 6.

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das bloß vorübergehende Wegschaffen auch keine „Entfernung“ begründen kann. Indes hat das „Einbringen“ – und für den actus contrarius der „Entfernung“ muss das dann genauso gelten – neben dem Zeitmoment und dem räumlichen Aspekt zumindest auch, wenn nicht gar in erster Linie, eine weitere Komponente: Durch das Erfordernis der „Einbringung“ der Sachen soll das Vermieterpfandrecht auf solche Sachen des Mieters beschränkt werden, die in einem sachlichen Zusammenhang mit seinem Mietgebrauch stehen.36) Daraus wird deutlich, dass eine Einstellung, selbst wenn sie nur vorübergehend ist, als „Einbringung“ gewertet werden muss, wenn ein sachlicher Zusammenhang zwischen dem betreffenden Gegenstand und dem Mietgebrauch hergestellt wird. Es muss nur noch geklärt werden, was mit dem „sachlichen Zusammenhang“ gemeint ist. Es liegt nahe, dass das etwas mit der Funktion der Sache zu tun hat. Sie muss dem bestimmungsgemäßen (vertragsgemäßen) Gebrauch der Mietsache dienen, diesen fördern oder zumindest angenehm gestalten. Demgemäß gilt ein nur vorübergehend abgestelltes Kraftfahrzeug als „eingebracht“, wenn es im Zusammenhang mit dem bestimmungsgemäßen Gebrauch auf dem Grundstück regelmäßig auf demselben abgestellt wird.37) Somit darf das Merkmal des „Einbringens“ nicht darauf reduziert werden, ob die fragliche Sache dauernd oder vorübergehend eingestellt wird; entscheidend ist vielmehr, ob sie im Zusammenhang mit dem bestimmungsgemäßen (vertragsgemäßen) Gebrauch des gemieteten Grundstücks steht. Dies erinnert an das Kriterium, das über die Frage nach der Zubehöreigenschaft entscheidet. Nach § 97 BGB ist für die Bejahung dieser Eigenschaft insbesondere erforderlich, dass sich das Abhängigkeitsverhältnis, das durch die Überordnung des Grundstücks und die Unterordnung des Zubehörs gekennzeichnet wird, gerade am Grundstück auswirkt38) und dort seinen Schwerpunkt hat.39)

36) 37)

38) 39)

Emmerich in: Staudinger, BGB, Neubearb. 2018, § 562 Rz. 10, 13; Weidenkaff in: Palandt, BGB, 78. Aufl. 2019, § 562 Rz. 6. BGH, Urt. v. 6.12.2017 – XII ZR 95/16, Rz. 11, ZIP 2018, 236 = NZI 2018, 174; OLG Karlsruhe, Urt. v. 3.2.1971 – 1 U 159/70, NJW 1971, 624; OLG Hamm, Urt. v. 11.12.1980 – 4 U 131/80, ZIP 1981, 165, 166; OLG Düsseldorf, Urt. v. 4.6.1998 – 24 U 91/97, ZMR 2000, 518, 521; OLG Frankfurt/M., Urt. v. 19.5.2006 – 24 U 11/06, ZMR 2006, 609; Maier, ZInsO 2018, 1496, 1498; Emmerich in: Staudinger, BGB, Neubearb. 2018, § 562 Rz. 13; Lützenkirchen in: Erman, BGB, 78. Aufl. 2019, § 562 Rz. 9; Weidenkaff in: Palandt, BGB, 76. Aufl. 2017, § 562 Rz. 6; Ganter in: MünchKomm-InsO, 4. Aufl. 2019, § 50 Rz. 86. Reischl in: jurisPK-BGB, 8. Aufl. 2017, § 1120 Rz. 30. BGH, Urt. v. 13.1.1994 – IX ZR 79/93, NJW 1994, 864, 867 = ZIP 1994, 305.

Das Vermieterpfandrecht an volatilen Gegenständen in der Mieterinsolvenz

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Der Bundesgerichtshof hat für die Frage der Zubehöreigenschaft von Kraftfahrzeugen das Erfordernis geprägt, dass der wirtschaftliche Schwerpunkt des Einsatzes eines Kraftfahrzeugs gerade das Grundstück sein muss.40) Dem wirtschaftlichen Zweck eines Betriebsgrundstückes dient auch der Fahrzeugpark einer Fabrik oder eines Handelsunternehmens, mit dem die Bedarfsgüter des Betriebes herbeigeschafft bzw. die erzeugten Produkte ausgeliefert werden.41) Anders soll es jedoch bei einem Speditions- bzw. Transportunternehmen liegen, dessen Geschäftsbetrieb sich auf dem öffentlichen Straßennetz verwirklicht.42) Ob die Übernahme dieser Unterscheidung für die Frage nach der „Einbringung“ sachgerecht ist, mag zweifelhaft erscheinen. Denn die Lkw auf der Straße dienen sicherlich auch dem bestimmungsgemäßen (vertragsgemäßen) Gebrauch des gemieteten Grundstücks. Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat für den Fuhrpark eines insolventen Leasingunternehmens, der regelmäßig von den Leasingnehmern außerhalb des Betriebsgrundstücks auf dem öffentlichen Straßennetz „bewegt“ wird, den Zusammenhang mit der Unternehmenstätigkeit der Schuldnerin betont und demgemäß deren bloß mittelbaren Besitz für das Verwertungsrecht des Insolvenzverwalters nach § 166 Abs. 1 InsO genügen lassen.43) Die Frage kann jedoch dahinstehen. Denn ein – wohl eher handwerklich geprägtes – Rollladen- und Markisenbau-Geschäft ähnelt eher dem erstgenannten Typus des Handelsunternehmens, mit dem die Bedarfsgüter des Betriebes herbeigeschafft bzw. die erzeugten Produkte ausgeliefert werden. Die Bindung an das Betriebsgrundstück ist bei jenem, bei dem eine überregionale Tätigkeit eher unüblich ist, sogar noch stärker ausgeprägt. Die betriebseigenen Fahrzeuge transportieren die auf dem Betriebsgelände gefertigten, zumindest zugerichteten Rollläden und Markisen zu der Kundschaft. Mit ihnen wird zugleich die Rücknahme etwa beim Kunden auszubauender alter Teile auf das Betriebsgelände und die Beförderung der Monteure an den Bestimmungsort – und wieder zurück – besorgt. Nicht selten wird sich der Fahrzeugverkehr nicht auf ein „morgens raus, abends rein“ beschränken;

40) 41) 42) 43)

Vgl. nur BGH, Urt. v. 2.11.1982 – VI ZR 131/81, BGHZ 85, 234 = NJW 1983, 746, 747 = ZIP 1983, 148. BGH, Urt. v. 2.11.1982 – VI ZR 131/81, BGHZ 85, 234 = NJW 1983, 746, 747 = ZIP 1983, 148; BGH, Urt. v. BGH, 22.10.1980 – VIII ZR 334/79, WM 1980, 1383, 1384. BGH, Urt. v. 2.11.1982 – VI ZR 131/81, BGHZ 85, 234 = NJW 1983, 746, 747 = ZIP 1983, 148. BGH, Urt. v. 16.2.2006 – IX ZR 26/05, Rz. 24, BGHZ 166, 215 = NJW 2006, 1873 = ZIP 2006, 814; BGH, Urt. v. 16.11.2006 – IX ZR 135/05, Rz. 8 f., ZIP 2006, 2390 = NZI 2007, 95.

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vielmehr werden die Fahrzeuge – weil für die Erledigung des einzelnen Auftrags kein ganzer Tag benötigt wird oder sonst bei Bedarf – auch tagsüber zum Betriebsgelände zurückkehren, etwa um neues Material zu holen oder beim Kunden ausgebaute Teile abzuliefern. Dieser Fahrzeugeinsatz steht durchweg im Zusammenhang mit dem vertragsgemäßen Gebrauch des gemieteten Grundstücks. Somit sind die Fahrzeuge „eingebracht“, und die „Einbringung“ wird auch nicht durch „Entfernung“ beendet, solange sich diese betriebstypischen Vorgänge ständig wiederholen. Die vorstehend (im vierten Absatz) zur Diskussion gestellte, aber sogleich relativierte These „wenn ein vorübergehendes Hineinschaffen nicht für das ‚Einbringen’ genügt, kann folgerichtig ein vorübergehendes Hinausschaffen nicht für eine ‚Entfernung’ ausreichen“ ist somit richtigerweise wie folgt zu formulieren: Wenn eine Sache i. S. des § 362 BGB „eingebracht“ ist, weil sie im Zusammenhang mit dem bestimmungsgemäßen Gebrauch des gemieteten Grundstücks steht, dann liegt keine „Entfernung“ i. S. des § 362a BGB vor, solange die Sache weiter dieser Zweckbestimmung dient. Dass die Ausfahrt bei einem geschäftlichen Betrieb „den gewöhnlichen Lebensverhältnissen entspricht“, belegt – wenn man den Ausdruck „gewöhnliche Lebensverhältnisse“ durch „betriebliche Usancen“ ersetzt – nicht die „Entfernung“, sondern gerade das Gegenteil. Damit beantwortet sich die streitentscheidende Frage anders, als der XII. Zivilsenat gemeint hat. b) Zur Publizität des „Einbringens“: Parallele zum Besitz? Hier ist auf den interessanten Versuch von Lammel zurückzukommen, der „Einbringung“ eine ähnliche Publizitätswirkung beizumessen, wie sie bei dem rechtsgeschäftlichen Pfandrecht von dem Besitz ausgeht: „Die Besitzerlangung wird ersetzt durch die ‚Einbringung’ der Sache auf das Grundstück; hier wird rudimentär für den informierten Rechtsverkehr deutlich gemacht, dass auch der Vermieter eine Zugriffsmöglichkeit auf diesen Gegenstand hat. Mit der Entfernung vom Grundstück wird dieser zunächst ersichtliche Zusammenhang zerstört (…)“.44)

Mit dem Gesichtspunkt der Publizität sollte man bei besitzlosen Pfandrechten zurückhaltend umgehen. Lässt man sich jedoch darauf ein, wird man das Ergebnis Lammels kaum bestätigt finden. Denn das Kraftfahrzeug, das die dem Kunden zu liefernden und bei ihm einzubauenden Teile transportiert, ist meist schon durch seine Beschriftung als betriebliches Fahrzeug zu 44)

Lammel, jurisPR-MietR 4/2018 Anm. 4.

Das Vermieterpfandrecht an volatilen Gegenständen in der Mieterinsolvenz

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identifizieren, seine Ladung deutet obendrein auf den betrieblichen Zweck der Fahrt hin, und der Fahrer und/oder die Monteure werden eine berufs-, vielleicht sogar betriebstypische Kleidung (mit dem Logo und der Firma des Betriebes) tragen. Alles in allem ist der betriebliche Zweck der Fahrt – also der fortbestehende Zusammenhang mit dem vertragsgemäßen Gebrauch des gemieteten Grundstücks – unverkennbar. 3. Schwächung des Vermieterpfandrechts, insbesondere in der Insolvenz des Mieters Die Entscheidung des XII. Zivilsenats schwächt das Vermieterpfandrecht ganz erheblich. Erlischt dieses mit jeder Ausfahrt eines Kraftfahrzeugs, ist die Aussicht, dass das Vermieterpfandrecht mit jeder Rückkehr auf das Mietgrundstück neu begründet wird, mit dem Risiko belastet, dass das Fahrzeug zwischenzeitlich zur Sicherheit an einen Dritten übereignet wurde oder dass andere Pfandrechte begründet wurden, die dem Vermieterpfandrecht im Rang vorgehen. Das muss den Vermieter, der – wie dargelegt – kaum auf andere Sicherheiten ausweichen kann, besonders schmerzen. Äußerst misslich sind die Folgen in der Mieterinsolvenz. Nach der Lösung des XII. Zivilsenats ist das Vermieterpfandrecht hier praktisch immer anfechtbar (§§ 129 ff. InsO), also gerade in der Lage wertlos, in der es sich für den Vermieten bewähren sollte. Denn der für die Anfechtbarkeit maßgebliche Zeitpunkt (§ 140 Abs. 1 InsO) ist derjenige, in dem die rechtlichen Wirkungen der angefochtenen Rechtshandlung eingetreten sind. Das ist hier der Zeitpunkt, in dem die fragliche Sache das letzte Mal vor Stellung des Insolvenzantrags wieder auf das Mietgrundstück bzw. in die gemieteten Räume gelangt und das Vermieterpfandrecht neu „belebt“ worden ist. Bei einem tagtäglich aus- und einfahrenden Betriebsfahrzeug wird die Anfechtung dem Insolvenzverwalter quasi „auf dem Silbertablett“ serviert. Das ist – namentlich deswegen, weil es andere, vorzugswürdigere Lösungen gibt – untragbar. VI. Ergebnisse Der Entscheidung des XII. Zivilsenats kann nicht gefolgt werden. Bei geschäftlich genutzten Kraftfahrzeugen kommt eine zum Erlöschen des Vermieterpfandsrechts führende „Entfernung“ i. S. des § 562a Satz 1 BGB nicht in Betracht, solange sich das Fahrzeug nur vorübergehend von dem

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Betriebsgrundstück entfernt und dies im Zusammenhang mit dem bestimmungsgemäßen Gebrauch des gemieteten Grundstücks steht. Der Verfasser bedauert, dass er früher – allerdings „in guter Gesellschaft“ – eine andere Meinung vertreten und damit vielleicht selbst zu den „Irrungen-Wirrungen“ beigetragen hat, zu denen er nunmehr in hoffentlich nachvollziehbarer Weise Abstand gewonnen hat. „Es irrt der Mensch, so lang er strebt.“45)

45)

Goethe, Faust I, Kap. 3 – Prolog im Himmel.

Vorvertrag und Option in der Insolvenz MARKUS GEHRLEIN Inhaltsübersicht I. II.

Einleitung Behandlung von Vorvertrag und Option im bürgerlichen Recht 1. Abgrenzungsfragen 2. Bloße Vorhand 3. Begriff des Vorvertrages a) Wesentliche Merkmale b) Bestimmtheit aa) Bindungswille der Parteien bb) Konkretisierung c) Formerfordernisse d) Prozessuale Durchsetzung aa) Abschlussreife bb) Feststellung des Vertragsinhalts durch Gericht 3. Schadensersatz 2. Begriff der Option a) Grundsatz b) Ankaufsrecht c) Gestaltungsformen einer Option d) Form

III. Behandlung von Vorvertrag und Option in der Insolvenz 1. Gestaltungsrechte von Gläubigern und Insolvenzforderung a) Grundsatz b) Sonderfall 2. Dem Schuldner zustehende Option 3. Wahlrecht nach § 103 InsO a) Option eines Gläubigers aa) Bloßes Vertragsangebot bb) Bedingter Vertrag cc) Selbständige Option b) Vorvertrag c) Wahrnehmung der Rechte durch Verwalter d) Erfüllungswahl durch Verwalter 4. Sicherung durch Vormerkung nach § 106 InsO a) Künftige Ansprüche erfasst b) Sicherer Rechtsboden IV. Zusammenfassung

I. Einleitung Vorvertrag und Option haben in der Geschäftswelt durchaus eine nicht zu unterschätzende praktische Bedeutung. Ein Vorvertrag wird vereinbart, wenn die Vertragspartner eine Bindung wünschen, im gegenwärtigen Zeitpunkt eine abschließende Regelung jedoch auf tatsächliche oder rechtliche Hürden trifft. Dann empfiehlt es sich, durch einen Vorvertrag die Verpflichtung einzugehen, später unter gewissen Bedingungen den Hauptvertrag zu schließen.1) Demgegenüber kommt eine Option vor allem dann in Betracht, wenn ein Vertragsinteressent Bedenkzeit benötigt, andererseits aber nicht Gefahr laufen möchte, dass sein Vertragspartner zwischenzeitlich mit einem Dritten kontrahiert. Die kann etwa anzunehmen sein, wenn 1)

BGH, Urt. v. 8.6.1962 – I ZR 6/61, NJW 1962, 1812.

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eine Partei erst noch die Verwendbarkeit eines Erzeugnisses prüfen möchte, um es bei positiver Beurteilung zu kaufen.2) Im Unterschied zu ausländischen Rechtsordnungen hat der Vorvertrag durch das BGB keine Regelung erfahren.3) Seine Zulässigkeit folgt aus der Vertragsfreiheit.4) Die Option ist abgesehen von den Sonderfällen der §§ 456 ff. BGB nicht ausdrücklich gesetzlich normiert. Das Rechtsinstitut verleiht dem Berechtigten die befristete oder unbefristete Befugnis, unmittelbar durch eine einseitige Willenserklärung ein inhaltlich bereits fixiertes Vertragsverhältnis zu begründen oder zu verlängern. Im Kaufrecht wird zwischen der Ankaufsoption (Calloption) und der Verkaufsoption (Put-option) unterschieden.5) Die Option ist ein Gestaltungsrecht, das dem Berechtigten die Rechtsmacht einräumt, unmittelbar durch einseitigen Gestaltungsakt ein Vertragsverhältnis zu begründen oder zu verlängern.6) Die Option ist von anderen Rechtsinstituten, gerade dem Vorvertrag, zu unterscheiden. Besonders schwierig wird es, wenn eine Option den Abschluss eines Vorvertrages zum Gegenstand hat, der die wesentlichen Bestandteile des beabsichtigten Hauptvertrages enthält und diesem die Regelung der Einzelheiten vorbehält.7) Schon diese terminologischen Differenzierungen verdeutlichen, dass die Handhabung dieser Rechtsfiguren Schwierigkeiten bergen kann. Dies gilt umso mehr, wenn einer der Beteiligten in Insolvenz fällt. II. Behandlung von Vorvertrag und Option im bürgerlichen Recht 1. Abgrenzungsfragen Die Option ist ein nicht abschließend umrissener rechtlicher Begriff, der von ähnlichen Instituten abzugrenzen ist. Noch nicht als Option wird ein bindendes Vertragsangebot verstanden, dessen Inhalt der Anbietende festlegt und das von dem Angebotsempfänger regelmäßig innerhalb einer bestimmten Frist durch einseitige Erklärung angenommen werden kann. Hier kann der Angebotsempfänger frei darüber entscheiden, ob er von 2) 3) 4) 5) 6)

7)

Busche in: MünchKomm-BGB, 7. Aufl. 2015, Vor § 145 Rz. 71. Busche in: MünchKomm-BGB, 7. Aufl. 2015, Vor § 145 Rz. 60. Bork in: Staudinger, BGB, 2015, Vor §§ 145 – 156 Rz. 51; Armbrüster in: Erman, BGB, 15. Aufl. 2017, Vor § 145 Rz. 46. Armbrüster in: Erman, BGB, 15. Aufl. 2017, Vor § 145 Rz. 52. Busche in: MünchKomm-BGB, 7. Aufl. 2015, Vor § 145 Rz. 70; Brinkmann in: Prütting/ Wegen/Weinreich, BGB, 13. Aufl. 2018, Vor §§ 145 ff. Rz. 33; einschränkend Bork in: Staudinger, BGB, 2015, Vor §§ 145 – 156 Rz. 73. Vgl. BGH, Urt. v. 21.1.2010 – I ZR 176/07, Rz. 14, NJW-RR 2010, 1410.

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dem Angebot Gebrauch macht und es annimmt. Davon zu unterscheiden ist der Vorvertrag, der eine Partei zum Abschluss eines inhaltlich vorbestimmten Vertrages oder zur Abgabe eines bereits näher konkretisierten Angebots verpflichtet. Von einer Option im engeren Sinne wird erst gesprochen, wenn durch eine bloße Gestaltungserklärung das Optionsrecht ausgeübt wird und dadurch der endgültige Vertrag zustande kommt.8) 2. Bloße Vorhand Vom Vorvertrag und der Option ist die Vorhand oder gleichbedeutend der Vorrechtsvertrag zu unterscheiden. Dabei sind rechtliche Bindungen unterschiedlicher Reichweite bis hin zu Vorvertrag und Option zu unterscheiden. Die Verpflichtung des Veräußerungswilligen wird sich vielfach darauf beschränken, den Berechtigten über eine Verkaufsabsicht zu informieren und ihm Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben, bevor die Sache veräußert wird. Eine Verpflichtung, Angebote des Vorhandberechtigten anzunehmen, besteht dabei nicht.9) Weitergehend kann sich der Vorrechtsgeber verpflichten, einen bestimmten Gegenstand für den Fall, dass er ihn veräußern oder vermieten möchte, zunächst dem Vorberechtigten anzubieten.10) Eine Verpflichtung des Vorhandgebers zum Vertragsschluss besteht nur, wenn der Berechtigte bereit ist, den Vertrag zu den von dem Verpflichteten vorgesehenen Bedingungen einzugehen. Ein gesetzlicher Spezialfall dieser Variante ist in § 463 BGB geregelt. Der Vorrechtsvertrag hat dann die Pflicht zum Inhalt, den Vertragsschluss, wobei der Inhalt des Angebots steht im freien Belieben des Vorhandgebers steht,11) zunächst dem Vorhandberechtigten anzubieten. Ist der Vertragsinhalt weitgehnd konkretisiert, handelt es sich um einen einseitig bindenden, aufschiebend bedingten Vorvertrag.12) Die Verpflichtung zum Vertragsschluss kann bereits in den Vorhandvertrag aufgenommen werden.13) Mit Rücksicht auf die dann begründete rechtliche Bindung ist gesetzlichen Formgeboten wie § 311b BGB zu genügen.14)

8) 9) 10) 11) 12) 13) 14)

Westermann in: MünchKomm-BGB, 7. Aufl. 2015, § 158 Rz. 59. Bork in: Staudinger, BGB, 2015, Vor §§ 145 – 156 Rz. 78. BGH, Urt. v. 17.12.1987 – VII ZR 307/86, BGHZ 102, 384, 387. Busche in: MünchKomm-BGB, 7. Aufl. 2015, Vor § 145 Rz. 76. Bork in: Staudinger, BGB, 2015, Vor §§ 145 – 156 Rz. 78. Armbrüster in: Erman, BGB, 15. Aufl. 2017, Vor § 145 Rz. 52a. OLG Hamburg, Urt. v. 15.2.1991 – 11 U 203/90, NJW-RR 1992, 20.

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3. Begriff des Vorvertrages Ein Vorvertrag ist insbesondere von einer Option abzugrenzen. Der Vorvertrag vermittelt einen schuldrechtlichen Anspruch auf Abschluss eines Hauptvertrages, während mit Hilfe einer Option der Hauptvertrag einseitig zustande gebracht werden kann. a) Wesentliche Merkmale Vorverträge sind schuldrechtliche Vereinbarungen, durch die für beide Teile oder auch nur einen von ihnen die Verpflichtung begründet wird, demnächst einen anderen schuldrechtlichen Vertrag, den Hauptvertrag zu schließen.15) Damit handelt es sich bei einem Vorvertrag um eine Art gewillkürten Kontrahierungszwang.16) Unter einem Vorvertrag wird allgemein ein schuldrechtlicher Vertrag verstanden, durch den beide Teile (oder auch nur ein Teil) sich dazu verpflichten, demnächst einen anderen schuldrechtlichen Vertrag, den Hauptvertrag, abzuschließen. Voraussetzung eines gültigen Vorvertrages ist, dass die allgemeinen Erfordernisse eines Vertrages gegeben sind und der Inhalt des abzuschließenden Hauptvertrages hinreichend genau bestimmt ist.17) Im Rahmen von Vertragsverhandlungen, die zu einem endgültigen Abschluss führen sollen, tritt in der Regel erst dann eine rechtsgeschäftliche Bindung ein, wenn der in Aussicht genommene Vertrag nach Einigung über alle Einzelheiten abschlussreif ist; die Annahme eines Vorvertrages ist nur dann gerechtfertigt, wenn besondere Umstände darauf schließen lassen, dass sich die Parteien ausnahmsweise schon binden wollen, bevor sie alle Vertragspunkte abschließend geregelt haben.18) b) Bestimmtheit aa) Bindungswille der Parteien Ein Vorvertrag muss ein solches Maß an Bestimmtheit oder doch Bestimmbarkeit und Vollständigkeit enthalten, dass im Streitfall der Inhalt des Vertrages richterlich festgestellt werden kann.19) Vertragsverhandlun15) 16) 17) 18) 19)

BGH, Urt. v. 17.12.1987 – VII ZR 307/86, BGHZ 102, 384, 388. Brinkmann in: Prütting/Wegen/Weinreich, BGB, 13. Aufl. 2018, Vor §§ 145 ff. Rz. 27. BGH, Urt. v. 8.6.1962 – I ZR 6/61, NJW 1962, 1812. BGH, Urt. v. 15.3.1989 – VIII ZR 62/88, NJW-RR 1989, 800, 801. BGH, Urt. v. 20.9.1989 – VIII ZR 143/88, ZIP 1989, 1402, 1403; BGH, Urt. v. 12.5.2006 – V ZR 97/05, Rz. 10, NJW 2006, 2843.

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gen, die zu einem endgültigen Abschluss führen sollen, sehen in der Regel erst dann eine rechtsgeschäftliche Bindung vor, wenn der in Aussicht genommene Vertrag nach Einigung über alle Einzelheiten abschlussreif ist. Ein Vorvertrag kann daher nur dann angenommen werden, wenn besondere Umstände darauf schließen lassen, die Parteien hätten sich ausnahmsweise schon binden wollen, bevor alle Vertragspunkte abschließend geregelt sind und die entsprechenden Erklärungen, ggf. in bestimmter Form, vorliegen.20) Grundsätzlich sind die in dem Hauptvertrag an die Bestimmtheit zu stellenden Anforderungen auf den Vorvertrag zu übertragen.21) Nach der Auslegungsregel des § 154 Abs. 1 Satz 1 BGB kommt ein bindender Vertrag zwar erst zustande, wenn sich die Parteien über alle nach ihrer Vorstellung regelungsbedürftigen Punkte geeinigt haben. Die Regel gilt jedoch nur im Zweifel und hindert die Parteien nicht, sich durch den Abschluss eines Vorvertrages zunächst nur hinsichtlich einzelner Punkte zu binden und die Bereinigung der offen gebliebenen Punkte einer späteren Verständigung vorzubehalten. Im Hinblick auf § 154 Abs. 1 Satz 1 BGB ist die Annahme eines Vorvertrages allerdings nur gerechtfertigt, wenn besondere Umstände darauf schließen lassen, dass sich die Parteien ausnahmsweise vor der abschließenden Einigung über alle regelungsbedürftigen Punkte vertraglich binden wollten.22) Kriterium der gerichtlichen Entscheidung ist, welcher Vorschlag den Vereinbarungen im Vorvertrag, dessen Auslegung und dem für die Erfüllung der Pflichten aus dem Vorvertrag geltenden Grundsatz von § 242 BGB entspricht. Die dispositiven gesetzlichen Regelungen sind dabei nicht ohne weiteres maßgebend, sondern nur dann, wenn die Auslegung des Vorvertrages ergibt, dass keine abweichende Regelung beabsichtigt ist.23) bb) Konkretisierung Ein Vorwerkvertrag (§ 631 BGB) muss derart hinreichend bestimmt sein, dass das herzustellende Werk und die zu zahlende Vergütung einschließlich der von den Vertragsparteien für wesentlich angesehenen Nebenpunkte geregelt sind oder sich bestimmen lassen.24) Würde man an die Bestimmtheit uneingeschränkt die Anforderungen des Hauptvertrages stellen, wäre das Rechtsinstitut entbehrlich, weil letztlich bereits ein Hauptvertrag ge20) 21) 22) 23) 24)

BGH, Urt. v. 23.11.1972 – II ZR 126/70, WM 1973, 67. Armbrüster in: Erman, BGB, 15. Aufl. 2017, Vor § 145 Rz. 47. BGH, Urt. v. 12.5.2006 – V ZR 97/05, Rz. 10, NJW 2006, 2843. BGH, Urt. v. 12.5.2006 – V ZR 97/05, Rz. 26, NJW 2006, 2843. BGH, Urt. v. 30.4.1992 – VII ZR 159/91, NJW-RR 1992, 977.

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schlossen werden müsste.25) Kann der Inhalt des Hauptvertrages auch nach den Grundsätzen der ergänzenden Vertragsauslegung nicht konkretisiert werden, so fehlt es an einem wirksamen Vorvertrag. Dies ist nach der Rechtsprechung insbesondere auch bei einem Gesellschaftsvorvertrag der Fall, der nicht vorsieht, welche Gesellschaftsform die Gesellschaft haben soll, ob also eine AG, eine GmbH, eine GbR oder sonst eine handelsrechtliche Personengesellschaft gegründet werden soll. Die Wahl der späteren Gesellschaftsform ist nämlich eine der wichtigsten Erfordernisse für den endgültigen Abschluss des späteren Gesellschaftsvertrages. Ist über sie noch keine Einigung erzielt, fehlt dem Vertrag schon deshalb die nötige Bestimmtheit oder Bestimmbarkeit. Eine Aufrechterhaltung mit der Erwägung, dass jedenfalls eine Gesellschaft als solche geschlossen werden sollte, ist nicht angängig, weil eine Gesellschaft als abstrakter Begriff nicht denkbar ist. Es muss sich immer um eine bestimmte, dem bürgerlichen oder Handelsrechte angehörende Gesellschaft handeln.26) Ebenso ist die zwischen dem Inhaber eines Handelsgeschäfts und seinem Angestellten abgeschlossene Vereinbarung, zu einem bestimmten späteren Zeitpunkt den Angestellten am Geschäft zu beteiligen, unwirksam, wenn die Vereinbarung derart unbestimmt ist, dass im Streitfall der abzuschließende Gesellschaftsvertrag seinem Inhalt nach auch richterlich nicht festgestellt werden kann.27) c) Formerfordernisse Bei Abschluss eines auf die Veräußerung eines Grundstücks zielenden Vorvertrages gelten insoweit, als der Inhalt des Hauptvertrages bereits in dem Vorvertrag bestimmt werden kann und soll, hinsichtlich der Beurkundungsbestimmtheit dieselben Maßstäbe wie bei sonstigen dem Formzwang des § 311b BGB unterworfenen Verträgen. In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass ein Vorvertrag nicht die gleiche Vollständigkeit aufweisen muss, die für den vorgesehenen Hauptvertrag zu verlangen ist. Mit dieser Judikatur soll hauptsächlich der wesentlichen Funktion des Vorvertrages Rechnung getragen werden, eine vertragliche Bindung auch dort zu ermöglichen, wo der Inhalt des Hauptvertrages noch nicht in allen Einzelheiten festgelegt werden kann. Soweit aber der Inhalt des Hauptvertrages bereits im Vor25) 26) 27)

Bork in: Staudinger, BGB, 2015, Vor §§ 145 – 156 Rz. 57. RG, Urt. v. 9.1.1923 – II 851/21, RGZ 106, 174, 177; OLG Karlsruhe, Urt. v 14.6.1995 – 4 U 221/94, NJW-RR 1996, 997. OLG Frankfurt/M., Urt. v. 3.5.1972 – 17 U 167/71, MDR 1973, 759.

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vertrag bestimmt werden kann und, vor allem, nach dem Parteiwillen auch bestimmt werden soll, fehlt ein rechtfertigender Grund dafür, hinsichtlich der Beurkundungsbestimmtheit andere Maßstäbe anzulegen als bei sonstigen dem Formzwang des § 311b BGB unterworfenen Verträgen.28) Für die Klage aus einem formbedürftigen Vorvertrag bedeutet dies, dass sich die verlangte Vertragserklärung nicht auf die bereits vereinbarten und beurkundeten Regelungen beschränken muss und dass der weitere Vertragsinhalt nicht daran zu messen ist, ob in der Vorvertragsurkunde ein entsprechender Parteiwille zumindest andeutungsweise zum Ausdruck kommt. Diese Frage stellt sich nur, soweit der Inhalt des Hauptvertrages in dem Vorvertrag bestimmt werden sollte und darum in diesem formwirksam erklärt werden musste. Soweit dies nicht der Fall ist, kommt es nur insofern auf die formgerechte Andeutung des Parteiwillens an, als die Vorgaben des Vorvertrages, denen die mit der Klage verlangte Vertragserklärung entsprechen muss, der Beurkundung bedürfen. Der gesetzliche Maßstab von § 242 BGB und hieraus abzuleitende Pflichten der Vertragsparteien werden dagegen von dem Formerfordernis nicht berührt.29) d) Prozessuale Durchsetzung aa) Abschlussreife Will ein Vertragspartner aufgrund eines Vorvertrages den Abschluss des Hauptvertrages erzwingen, so ist jedenfalls dann, wenn der in Aussicht genommene Hauptvertrag in dem Vorvertrag inhaltlich bereits vollständig ausformuliert worden ist, die Klage auf Annahme eines Angebots des Klägers zu richten. Wenn der in Aussicht genommene Hauptvertrag in dem Vorvertrag inhaltlich bereits vollständig ausformuliert worden ist, besteht kein Rechtsschutzbedürfnis für eine Klage auf Abgabe eines Angebots durch die Gegenseite. In einem solchen Fall kann der Kläger ein eigenes Angebot unterbreiten, ohne dass die Unsicherheit bestünde, ob der Beklagte verpflichtet ist, sich mit allen Einzelheiten dieses Angebots einverstanden zu erklären, und ob das Angebot daher so, wie abgegeben, vom Gericht gebilligt werden wird. Dann aber besteht kein schützenswertes Interesse daran, dass die Klage nur auf die Abgabe eines Angebots durch die Gegenseite gerichtet wird, womit der Kläger bei stattgebendem Urteil immer noch die 28) 29)

BGH, Urt. v. 7.2.1986 – V ZR 176/84, BGHZ 97, 147, 154 f. BGH, Urt. v. 12.5.2006 – V ZR 97/05, Rz. 16, NJW 2006, 2843.

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Entscheidung in der Hand hätte, ob er dieses Angebot annehmen und damit den Vertrag zustande bringen will. Bei solcher Sachlage ist es vielmehr geboten, dass der Kläger mit seinem Antrag ein eigenes Angebot unterbreitet und dessen Annahme durch den Beklagten verlangt, womit dann mit der Rechtskraft eines stattgebenden Urteils gemäß § 894 ZPO der Vertrag zustande kommt.30) bb) Feststellung des Vertragsinhalts durch Gericht Wird in einem gerichtlichen Verfahren um den Inhalt des abzuschließenden Vertrages gestritten, so ist jede Partei des Vorvertrages berechtigt, die Erfüllung der übernommenen Verpflichtung in Gestalt einer von ihr formulierten Vertragserklärung zu verlangen und zum Gegenstand einer Klage zu machen, sofern die andere Partei ihrer Verpflichtung zu ernsthaften Verhandlungen über den Inhalt des abzuschließenden Vertrages nicht nachkommt oder eine Einigung nicht zu erzielen ist. Sache der beklagten Partei ist es sodann, einen möglichen Gestaltungsspielraum einwendungsweise durch konkrete Alternativvorschläge geltend zu machen. Dem Kläger ist es hierauf überlassen, die Abweichungen durch Änderungen des Klageantrags – ggf. hilfsweise – zum Gegenstand der Klage zu machen oder aber, mit dem Risiko der Klageabweisung, auf seinem Antrag zu beharren. Kriterium der gerichtlichen Entscheidung ist, welcher Vorschlag den Vereinbarungen im Vorvertrag, dessen Auslegung und dem für die Erfüllung der Pflichten aus dem Vorvertrag geltenden Grundsatz von § 242 BGB entspricht. Die dispositiven gesetzlichen Regelungen sind dabei nicht ohne weiteres maßgebend, sondern nur dann, wenn die Auslegung des Vorvertrages ergibt, dass keine abweichende Regelung beabsichtigt ist. Unterlässt es der Beklagte, seine Vorschläge und Wünsche im Hinblick auf den abzuschließenden Vertrag in das Verfahren einzubringen, ist die Klage begründet, wenn die von dem Kläger formulierten Regelungen des abzuschließenden Vertrages den Vorgaben des Vorvertrages, dessen Auslegung sowie Treu und Glauben entsprechen.31)

30) 31)

BGH, Urt. v. 7.10.1983 – V ZR 261/81, NJW 1984, 479. BGH, Urt. v. 12.5.2006 – V ZR 97/05, Rz. 26, NJW 2006, 2843.

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3. Schadensersatz Dem Berechtigten aus einem Vorvertrag können bei Verweigerung des Abschlusses des Hauptvertrages auch Schadensersatzansprüche wegen Nichterfüllung erwachsen. Dies gilt nicht nur, wenn der Verpflichtete unter Verletzung vorvertraglicher Bindungen einen Vertrag mit einem Dritten abgeschlossen hat, sondern kann auch in Betracht kommen, wenn infolge Verzuges das Interesse am Abschluss des Hauptvertrages entfallen ist oder der Abschluss des Hauptvertrages abgelehnt wird, weil der Verpflichtete nicht in der Lage ist, die Leistung zu erbringen, die nach den vorvertraglichen Absprachen Gegenstand des Hauptvertrages bilden sollte.32) Macht sich der Vertragsgegner die Leistung aus dem künftigen Hauptvertrag, in der entschiedenen Sache die Übertragung eines Busbetriebes, schuldhaft dadurch subjektiv unmöglich, dass er seine Busse an eine Gesellschaft verkaufte, ihr auch die Geschäftsverbindungen übertrug und zugleich sein Gewerbe abmeldete, so kann der begünstigte Vertragspartner grundsätzlich sein Interesse an der Erfüllung des Hauptvertrages ersetzt verlangen.33) 2. Begriff der Option Die Option vermittelt das Recht, einen Hauptvertrag durch Wahrnehmung einer Option unmittelbar zustande zu bringen. Insofern kommen verschiedene Gestaltungsformen in Betracht. a) Grundsatz Die Rechtsprechung misst der Unterscheidung von Vorvertrag und Option in erster Linie terminologische Bedeutung bei. Ob man einen Vertrag, durch den sich der eine Vertragspartner gegenüber dem anderen Vertragspartner verpflichtet, auf dessen Verlangen einen Vertrag mit einem Dritten abzuschließen, als Vorvertrag bezeichnet, oder ob man diesen – vom Gesetz selbst nicht verwendeten – Begriff auf solche Verträge beschränkt, durch welche eine (einseitige oder zweiseitige) Verpflichtung zum Abschluss eines weiteren Vertrages zwischen denselben Parteien begründet wird, ist eine Frage der Terminologie. Desgleichen ist es eine Frage des Sprachgebrauchs, ob man von einem solchen Recht auch dann spricht, wenn dem Berechtigten 32) 33)

BGH, Urt. v. 15.3.1963 – Ib ZR 69/62, NJW 1963, 1247; BGH, Urt. v. 30.9.2011 – V ZR 17/11, Rz. 25, 33, BGHZ 191, 139. BGH, Urt. v. 18.1.1989 – VIII ZR 311/87, NJW 1990, 1233.

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ein langfristig bindendes Vertragsangebot gemacht worden ist, oder ob man den Begriff des Optionsrechts nur verwendet bei Bestehen eines Gestaltungsrechts, durch einseitige Erklärung einen Vertrag zustande zu bringen. Mit der Bezeichnung allein ist die Frage der rechtlichen Behandlung jedenfalls noch nicht geklärt, vielmehr bedarf es der Prüfung im einzelnen, ob und inwieweit die Grundsätze, die in Rechtsprechung und Schrifttum für „Vorverträge“ und „Optionsrechte“ entwickelt worden sind, jeweils Anwendung finden können.34) b) Ankaufsrecht Das Ankaufsrecht ist kein eindeutiger Begriff. Solche Rechte lassen sich sowohl vertraglich – mittels bedingten Kaufvertrages oder Vorvertrages – einräumen als auch einseitig durch befristetes Verkaufsangebot. Was jeweils gemeint ist, ergeben die Umstände des Einzelfalles. Nach Auffassung der Rechtsprechung handelt es sich bei dem Ankaufsrecht, das im Gesetz nicht geregelt ist und sich erst in der Praxis entwickelt hat, um nichts Einheitliches und Festumrissenes, sondern um einen mehrdeutigen Begriff. Ein solches Recht zu begründen, gibt es verschiedene Möglichkeiten, die voneinander teilweise erheblich abweichen, und es steht den Beteiligten jeweils frei, für welche sie sich entscheiden wollen; verwenden sie in ihren rechtsgeschäftlichen Erklärungen ohne nähere Erläuterung einfach das Wort „Ankaufsrecht“, dann ist es im Streitfall Aufgabe des Richters, durch Auslegung zu ermitteln, was beabsichtigt war. Nur so erklärt es sich, dass in höchstrichterlichen Entscheidungen bald diese und bald jene Rechtsfigur erörtert wird. Richtig ist, dass die Praxis drei Hauptformen des Ankaufsrechts kennt. Dieses kann entweder einseitig eingeräumt werden durch Abgabe eines Verkaufsangebots mit befristeter Bindung, oder vertraglich, wobei letzterenfalls wiederum zwei Möglichkeiten in Betracht kommen, nämlich Abschluss eines Vorvertrages, aus dem für den einen Teil ein Recht auf ein Vertragsangebot des anderen mit bestimmtem Inhalt erwächst, oder Abschluss eines bedingten Kaufvertrages, d. h. unter der aufschiebenden Bedingung, dass der Berechtigte durch spätere Ausübungserklärung von seinem Recht Gebrauch macht.35) 34) 35)

BGH, Urt. v. 7.2.1986 – V ZR 176/84, BGHZ 97, 147, 152. BGH: Urt. v. 28.9.1962 – V ZR 8/61, BB 1962, 1303.

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c) Gestaltungsformen einer Option Während ein Vorvertrag lediglich einen Anspruch auf Abschluss des Hauptvertrages schafft, kann durch Ausübung einer Option der Hauptvertrag unmittelbar ins Werk gesetzt werden.36) Im Ergebnis bedeutet dies, dass eine Option in drei Formen begründet werden kann: Einmal besteht die Möglichkeit, dem Vertragspartner durch eine unbefristetes oder befristetes Vertragsangeb die Möglichkeit zu eröffnen, den Vertrag nach Belieben – durch Ausübung der Option – anzunehmen. Die Option manifestiert sich als Festofferte dann in der Annahme des Vertragsangebots.37) Als Alternative kann ein Optionsvertrag in der Form eines Angebotsvertrages vereinbart werden, in dem die eine Partei ein – vorher ausgehandeltes – bindendes Vertragsangebot abgibt und der anderen Partei das Recht eingeräumt wird, dieses Angebot – auch unter bestimmten Bedingungen oder Befristungen – anzunehmen.38) Schließlich können die Parteien bereits den Hauptvertrag abschließen und dabei vereinbaren, dass dieser Vertrag erst durch die Erklärung des Berechtigten in Kraft gesetzt werden solle. In dieser Konstellation handelt es sich um einen bedingten Hauptvertrag, weil die Ausübung des Optionsrechts die Bedingung für den Eintritt der Rechtsfolgen darstellt.39) d) Form Bei der Option sind die Formvorschriften insbesondere zu wahren, soweit es um die Einräumung der Option geht, gleich ob dies durch eine Festofferte, einen Angebotsvertrag oder einen bedingten Hauptvertrag geschieht.40) Ist das eingeräumte Recht als befristetes Angebot zum Abschluss eines Kaufvertrages zu qualifizieren, bedarf die Ausübung als Annahme des Angebots der notariellen Beurkundung. Ist dagegen ein durch die Optionsausübung aufschiebend bedingter Kaufvertrag geschlossen worden, muss die Erklärung, die den Bedingungseintritt bewirkt, nicht mehr beurkundet

36) 37) 38) 39) 40)

BGH, Urt. v. 25.2.1985 – VIII ZR 116/84, BGHZ 94, 29, 31; Bork in: Staudinger, BGB, 2015, Vor §§ 145 – 156 Rz. 69. Bork in: Staudinger, BGB, 2015, Vor §§ 145 – 156 Rz. 70; Brinkmann in: Prütting/Wegen/ Weinreich, BGB, 13. Aufl. 2018, Vor §§ 145 ff. Rz. 35. Bork in: Staudinger, BGB., 2015, Vor §§ 145 – 156 Rz. 71; Brinkmann in: Prütting/Wegen/ Weinreich, BGB, 13. Aufl. 2018, Vor §§ 145 ff. Rz. 34. Bork in: Staudinger, BGB, 2015, Vor §§ 145 – 156 Rz. 71. Brinkmann in: Prütting/Wegen/Weinreich, BGB, 13. Aufl. 2018, Vor §§ 145 ff. Rz. 36.

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werden, weil der Schutzzweck des § 311b BGB durch die Beurkundung des bedingten Kaufvertrages gewahrt ist.41) III. Behandlung von Vorvertrag und Option in der Insolvenz Vorvertrag und Option werfen auch in der Insolvenz vielfältige Rechtsfragen auf. Dabei geht es darum, ob Vorvertrag und Option eine Insolvenzforderung (§ 38 InsO) darstellen, und schließlich um die Anwendung der §§ 103, 106 InsO. 1. Gestaltungsrechte von Gläubigern und Insolvenzforderung Insolvenzgläubiger sind gemäß § 38 InsO die Personen, die zur Zeit der Verfahrenseröffnung einen begründeten Vermögensanspruch gegen den Schuldner haben. Deshalb könnte fraglich sein, ob solche Personen Gläubiger sind, die einen Anspruch aus einer noch nicht ausgeübten Option gegen den Schuldner haben. a) Grundsatz Vorvertragliche Ansprüche ebenso wie eine Option schaffen für sich genommen keinen Vermögensanspruch i. S. des § 38 InsO.42) Die einer Person gewährte Rechtsmacht, mit Hilfe eines Gestaltungsrechts eine Änderung der Rechtslage zu erwirken, bildet kein Gläubigerrecht. Von § 38 InsO werden darum nicht erfasst die Anfechtung nach §§ 119, 123 BGB, der Rücktritt (§ 323 Abs. 1 BGB) und die fristlose Kündigung.43) Zu den Gestaltungsrechten gehören ferner Wiederverkaufs- und Vorkaufsrechte sowie Optionsrechte. Allein aus der Ausübung eines Gestaltungsrechts kann ein Gläubigerrecht erwachsen, folglich eine Forderung erst durch Wahrnehmung des Rechts entstehen.44) Dabei ist aber zu beachten, dass grundsätzlich auf den Zeitpunkt der Wahrnehmung eines Gestaltungsrechts abzustellen ist, der notwendigerweise nach der Verfahrenseröffnung liegt, wenn bis dahin noch kein Gläubigerrecht entstanden war.45) 41)

42) 43) 44) 45)

BGH, Urt. v. 12.5.2006 – V ZR 97/05, Rz. 20, NJW 2006, 2843; a. A. Busche in: MünchKomm-BGB, 7. Aufl. 2015, Vor § 145 Rz. 75; Bork in: Staudinger, BGB, 2015, Vor §§ 145 – 156 Rz. 74. BGH, Urt. v. 17.3.2008 – II ZR 45/06, Rz. 17, BGHZ 176, 43 = ZIP 2008, 778. Sinz in: Uhlenbruck, InsO, 14. Aufl. 2015, § 38 Rz. 16. Ahrens in: Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier, InsO, 3. Aufl. 2017, § 38 Rz. 19. Henckel in: Jaeger, InsO, 2004, § 38 Rz. 64.

Vorvertrag und Option in der Insolvenz

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Eine Insolvenzforderung wird auch bei Ausübung eines Gestaltungsrechts nach Verfahrenseröffnung begründet, wenn dem Gläubiger im Hinblick auf das Entstehen der Forderung eine gesicherte Rechtsposition zukam.46) Dies ist anzunehmen, wenn die Forderung unabhängig von einem Verhalten des Schuldners oder des Verwalters zum Entstehen gebracht werden kann. Dies gilt, wenn dem Gläubiger ein nicht zerstörbares Gestaltungsrecht zusteht,47) so dass die Begründung der Forderung nicht von einer persönlichen Handlung des Schuldners abhängt.48) Dagegen ist noch keine Insolvenzforderung entstanden, wenn die Begründung des Anspruchs an ein Tun oder Unterlassen des Schuldners gekoppelt ist.49) Handelt es sich um eine Option, kann der Gläubiger sein Recht unabhängig von dem Schuldnerwillen durchsetzen, so dass § 38 InsO eingreift. Der Vertragsanspruch ist gemäß § 45 InsO in Geld umzurechnen. b) Sonderfall Andienungsrechte stellen im Unterschied zu Gestaltungsrechten Vermögensansprüche dar. Im Rahmen der §§ 87 ff. SachenRBerG wird das einseitige gesetzliche Recht auf Abschluss eines Grundstückskaufvertrages zu einem bestimmbaren Preis verfolgt, das zunächst durch notarielle Vermittlung durchgesetzt werden kann. Der Vermögenswert eines solchen Anspruchs liegt – wie bei einem Vorvertrag – in dem erstrebten Leistungsaustausch. Ein solcher Anspruch kann auf der Grundlage des § 894 ZPO zu dem begehrten Vertragsschluss führen. Damit geht es nicht etwa um eine unvertretbare Handlung i. S. von § 888 ZPO, die nicht in der Insolvenz des Schuldners zu berücksichtigen wäre, sondern um ein Vermögensrecht, das zugleich die Insolvenzmasse des Schuldners betreffen kann. Denn im Falle der Nichterfüllung des erzwungenen Vertragsschlusses könnte Schadensersatz verlangt werden.50) 2. Dem Schuldner zustehende Option Dem Schuldner zustehende Optionsrechte nicht höchstpersönlicher Natur kann nach Verfahrenseröffnung der Insolvenzverwalter wahrnehmen. Zur Masse gehört die Rechtsposition des Angebotsempfängers nach den allge46) 47) 48) 49) 50)

Jacoby in: Jaeger, InsO, 2014, § 103 Rz. 74. Jacoby in: Jaeger, InsO, 2014, § 103 Rz. 74. BFH, Beschl. v. 28.7.1983 – V S 8/81, ZIP 1983, 1120. Lüdtke in: HambKomm-InsO, 6. Aufl. 2017, § 38 Rz. 33. BGH, Urt. v. 18.4.2002 – IX ZR 161/01, BGHZ 150, 305, 309 f. = ZIP 2002, 1043.

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meinen Regeln (§§ 35, 36 InsO) dann, wenn sie abtretbar (§§ 398 ff. BGB) und damit pfändbar (§§ 851, 857 ZPO) ist. Ob dies der Fall ist, lässt sich nicht generell, sondern nur für den jeweiligen Einzelfall durch Auslegung der Parteierklärungen entscheiden. Sehr oft wird ein Vertragsangebot, das sich an einen bestimmten Angebotsempfänger richtet, ausschließlich für diesen bestimmt sein. Eine Abtretung kommt dann nicht in Betracht. Dem Anbieter kann nicht ohne oder sogar gegen seinen Willen ein anderer als der gewollte Vertragspartner aufgedrängt werden. Es gibt jedoch Ausnahmen. Nach der Rechtsprechung kann das aus der Gebundenheit des Antragenden folgende Recht des Angebotsempfängers jedenfalls dann abgetreten werden, wenn letzterem die entsprechende Befugnis vertraglich eingeräumt worden ist. Hat der Antragende sich ausdrücklich oder den Umständen nach damit einverstanden erklärt, dass der Angebotsempfänger an einen beliebigen Dritten weiterleiten kann, wird ihm dieser Dritte nicht ohne oder gegen seinen Willen aufgedrängt. Der Bundesgerichtshof hat unter Bezugnahme auf diese Rechtsprechung angenommen, dass das Recht aus einem Vertragsangebot unter der genannten Voraussetzung pfändbar ist. Im Einverständnis aller Beteiligten können im Wege der Vertragsübernahme sogar die gesamten Rechte und Pflichten aus einem Schuldverhältnis übertragen werden. Für die aus einem Vertragsangebot folgenden Rechte kann nichts anderes gelten. Sind sie abtretbar und pfändbar, gehören sie auch zur Masse.51) 3. Wahlrecht nach § 103 InsO a) Option eines Gläubigers aa) Bloßes Vertragsangebot Betrachtet man den Wortlaut des § 103 Abs. 1 InsO, könnte die Regelung, die einen gegenseitigen Vertrag im Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung voraussetzt, auf eine Option, bei der es an einem wirksamen Vertrag fehlt, nicht anwendbar sein. Grundsätzlich wird die Insolvenzmasse nicht gebunden, wenn ein von dem Schuldner vor Verfahrenseröffnung gemachten Angebot von dem Vertragsgegner nach Verfahrenseröffnung angenommen wird. In diesem Fall ist ein Vertrag mit dem Schuldner hinsichtlich seines Neuvermögens zustande gekommen, weil der Schuldner nicht seine Verpflichtungs51)

BGH, Urt. v. 26.2.2015 – IX ZR 174/13, Rz. 19, ZIP 2015, 694 = ZInsO 2015, 688.

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fähigkeit verliert und darum ein von ihm gemachtes Kaufangebot auch nach der Verfahrenseröffnung angenommen werden kann.52) Ein bloßes Angebot ist von einer Festofferte zu unterscheiden, die gleich einer Option auch im Insolvenzfall eine gesicherte Rechtsposition verleiht.53) Ein schlichtes Vertragsangebot verleiht im Unterschied zur Festofferte keine gesicherte Rechtsposition, weil es nur innerhalb der nach §§ 147, 148 BGB zu bestimmenden Frist angenommen werden kann. bb) Bedingter Vertrag Anders verhält es sich, wenn es um die Annahme einer Option geht, durch die dem Vertragsgegner bereits eine gesicherte Rechtsposition, einen gegenseitigen Vertrag mit dem Schuldner zu begründen, verschafft wurde. Handelt es sich um einen bedingten Vertrag, erwächst dem Vertragspartner daraus eine gesicherte Rechtsposition, wenn es von seiner persönlichen Entscheidung i. S. einer Potestativbedingung abhängt, ob der Vertrag in Vollzug gesetzt wird.54) Macht er von einem solchen Gestaltungsrecht Gebrauch, ist § 103 InsO einschlägig. Dann hat der Vertragsgegner immerhin die Befugnis, mit der Schadenersatzforderung aus § 103 Abs. 2 InsO an dem Insolvenzverfahren teilzunehmen. cc) Selbständige Option Ferner sind Sachverhaltslagen in den Blick zu nehmen, in denen dem Vertragsgegner eine Option des Inhalts gewährt wird, den Vertrag durch eine Gestaltungserklärung ins Werk zu setzen. Übt ein abfindungsberechtigter Aktionär das ihm kraft Gesetzes zustehende Optionsrecht gemäß § 305 Abs. 1 AktG gegenüber dem herrschenden Unternehmen aus, so wird dadurch außerhalb der Insolvenz unmittelbar dessen Erwerbsverpflichtung hinsichtlich der Aktien gegen Zahlung der angemessenen, gerichtlicher Kontrolle unterliegenden Abfindung als „Gegenleistung“ ausgelöst. Mit diesem Inhalt kann das Abfindungsrecht in der Insolvenz des herrschenden Unternehmens freilich nicht geltend gemacht werden, weil es auf einen Leistungsaustausch und nicht auf eine schlichte, zur Tabelle anzumeldende Geldforderung zielt. Die Rechtslage 52) 53) 54)

BGH, Urt. v. 14.9.2001 – V ZR 231/00, BGHZ 149, 1, 4 f. = ZIP 2001, 2008; Bork in: Staudinger, BGB, 2015, § 153 Rz. 15. Beides wohl gleichsetzend Jacoby in: Jaeger, InsO, 2014, § 103 Rz. 82. Jacoby in: Jaeger, InsO, 2014, § 103 Rz. 76; vgl. BGH, Urt. v. 21.4.1967 – V ZR 75/64, BGHZ 47, 387, 391; BGH, Urt. v. 25.2.1985 – VIII ZR 116/84, BGHZ 94, 29, 31.

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entspricht nach Ausübung der vorinsolvenzlich erworbenen und durch die Insolvenz nicht entfallenen Abfindungsoption der Situation eines beiderseits unerfüllten Vertrages. Der Insolvenzverwalter kann danach die ihm „angedienten“ Aktien erwerben, wenn er sich davon Vorteile für die Masse verspricht. In diesem Fall entstünde eine Masseschuld. Der Abfindungsberechtigte hat hierauf aber im Insolvenzverfahren keinen Anspruch. Lehnt der Verwalter ab, kann der Abfindungsberechtigte „eine Forderung wegen der Nichterfüllung“ geltend machen (§ 103 Abs. 2 InsO), also statt des Leistungsaustauschs eine einseitige Schadensersatzforderung zur Tabelle anmelden.55) Die vorstehenden der Rechtsprechung zum Abfindungsanspruch eines außenstehenden Aktionärs zu entnehmenden Grundsätze können verallgemeinert werden.56) Wird die Option vor Verfahrenseröffnung ausgeübt, ist § 103 InsO anwendbar. Als Gestaltungsrecht kann die Option noch nach Verfahrenseröffnung ausgeübt werden und eine Insolvenzforderung auslösen.57) Auf den mit Hilfe der Option nach Verfahrenseröffnung entstehenden Vertrag ist § 103 InsO anzuwenden.58) b) Vorvertrag Im Falle eines mit dem Schuldner zustande gekommenen Vorvertrages ist ein Verwalter nicht verpflichtet, Erfüllung zu wählen. Vielmehr kann der Verwalter die Erfüllung ablehnen.59) c) Wahrnehmung der Rechte durch Verwalter Einen gegen einen Schuldner gerichteten Anspruch auf Abschluss eines Vertrages, der sich aus einem Vorvertrag ergibt, braucht der Verwalter nur als Insolvenzforderung zu berücksichtigen.60) Sofern der Vertrag für die Masse günstig ist, kann der Insolvenzverwalter anstelle des Schuldners die Kontrahierungspflicht erfüllen.61) Dann handelt es sich freilich um eine Masseverbindlichkeit.62) 55) 56) 57) 58) 59) 60) 61) 62)

BGH, Urt. v. 17.3.2008 – II ZR 45/06, Rz. 18, BGHZ 176, 43 = ZIP 2008, 778. Jacoby in: Jaeger, InsO, 2014, § 103 Rz. 84. BGH, Urt. v. 17.3.2008 – II ZR 45/06, Rz. 17, BGHZ 176, 43 = ZIP 2008, 778. Jacoby in: Jaeger, InsO, 2014, § 103 Rz. 77. BGH, Urt. v. 18.4.2002 – IX ZR 161/01, BGHZ 150, 305, 310 = ZIP 2002, 1043. Marotzke in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 103 Rz. 18. Marotzke in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 103 Rz. 18. BGH, Urt. v. 17.3.2008 – II ZR 45/06, Rz. 18, BGHZ 176, 43 = ZIP 2008, 778.

Vorvertrag und Option in der Insolvenz

265

Bei einer Option besteht die Möglichkeit, dass sie zugunsten der Masse und nicht des Gläubigers eine gesicherte Rechtsposition begründet. Dann fällt die Option als Aktivum in die Masse. Daraus erwächst die Befugnis des Verwalters, von der Option, sofern sie massebezogen ist, Gebrauch zu machen. Geschieht dies, wird eine Masseverbindlichkeit geschaffen.63) d) Erfüllungswahl durch Verwalter Schwierige Rechtsfragen stellen sich, wenn der Verwalter Erfüllung eines Vertrages verlangt, der zugunsten des Vertragspartners ein Optionsrecht, etwa im Blick auf eine Verlängerung, beinhaltet. Übt der Vertragspartner die Option aus, entsteht nicht ohne weiteres eine Masseverbindlichkeit. Dies gilt nur, wenn die Option auf den Vertrag einwirkt, dessen Erfüllung der Verwalter verlangt hat. Dies wird man bei einer Verlängerungsoption annehmen können.64) Anders verhält es sich dagegen, wenn in Ausübung der Option ein neues Schuldverhältnis, etwa i. R. eines Leasingvertrages kraft Andienung ein Kaufvertrag, begründet wird. Nach Wahrnehmung dieser Option ist § 103 InsO zugunsten des Verwalters auf den neuen Vertrag anwendbar.65) 4. Sicherung durch Vormerkung nach § 106 InsO Ist eine Option oder ein Vorvertrag durch eine Vormerkung gesichert, kann der Gläubiger gemäß § 106 InsO Befriedigung aus der Insolvenzmasse verlangen. a) Künftige Ansprüche erfasst Obwohl der Wortlaut des § 883 Abs. 1 Satz 2 BGB die Eintragungsfähigkeit nicht einschränkt, stehen Rechtsprechung und Lehre einhellig auf dem Standpunkt, dass zur Sicherung eines künftigen Anspruchs eine Vormerkung nur eingetragen werden kann, wenn bereits der Rechtsboden für seine Entstehung vorbereitet ist.66) Dieser Rechtsprechung liegt die Wertung zugrunde, dass der vom Gesetz zugelassene Vormerkungsschutz für künftige Ansprüche (§ 883 Abs. 1 Satz 2 BGB) sinnentleert wäre, wollte man ihn erst von dem Zeitpunkt an eintreten lassen, in dem die gesicherten Ansprüche entstehen. 63) 64) 65) 66)

Jacoby in: Jaeger, InsO, 2014, § 103 Rz. 86. Jacoby in: Jaeger, InsO, 2014, § 103 Rz. 316. Sinz in: Uhlenbruck, InsO, 14. Aufl. 2015, § 108 Rz. 128. BGH, Beschl. v. 5.12.1996 – V ZB 27/96, BGHZ 134, 182, 184 = ZIP 1997, 420.

266

Markus Gehrlein

Die Vormerkung zur Sicherung eines künftigen Anspruchs schafft keine nur künftige Sicherung, der § 91 InsO einen Riegel vorschiebt; es handelt sich vielmehr um die gegenwärtige Sicherung eines künftigen Anspruchs, auch wenn dieser erst nach seiner Entstehung geltend gemacht werden kann. Der Bundesgerichtshof hat die Insolvenzfestigkeit des vormerkungsgesicherten künftigen Anspruchs indes nicht generell anerkannt, sondern davon abhängig gemacht, dass der Anspruch nicht nur möglich, sondern der für dessen Vormerkungsfähigkeit zwingend erforderliche sichere Rechtsboden bereits gelegt ist. Nur in diesem Fall kann die für die Insolvenzfestigkeit notwendige Seriosität des künftigen Anspruchs gegeben sein.67) b) Sicherer Rechtsboden Eine feste, die Gestaltung des Anspruchs bestimmende Grundlage, die zu einer Vormerkungsfähigkeit des künftigen Anspruchs führt, ist von der höchstrichterlichen Rechtsprechung insbesondere dann angenommen worden, wenn die Entstehung des Anspruchs nur noch von dem Willen des künftigen Berechtigten abhängt. Jedenfalls ist die Vormerkungsfähigkeit eines künftigen Anspruchs zu verneinen, wenn seine Entstehung ausschließlich vom Willen des Schuldners oder davon abhängt, dass dieser ein Rechtsgeschäft überhaupt erst vornimmt. Ebenso wie es nicht Sinn der Vormerkung sein kann, einen künftigen Gläubiger in der Einzelzwangsvollstreckung gegen Zwangsmaßnahmen Dritter zu schützen, solange er nicht einmal gegen die Willensentscheidung des Schuldners geschützt ist, zielt § 106 InsO im Insolvenzfall nicht darauf ab, den mehr oder weniger aussichtsreichen tatsächlichen Erwerbsmöglichkeiten des künftigen Gläubigers Insolvenzfestigkeit zu verschaffen. In der Insolvenz des Schuldners soll diese Vorschrift – ähnlich wie § 95 Abs. 1 Satz 1 InsO für den Fall der Aufrechnung – nur den Gläubiger schützen, dessen Anspruch in seinem rechtlichen Kern aufgrund gesetzlicher Bestimmungen oder vertraglicher Vereinbarungen bereits gesichert ist.68) Die Eintragungsvoraussetzungen bedingter entsprechen denen künftiger Ansprüche. Sie werden von bedingten Ansprüchen aber im Allgemeinen erfüllt. Ein bedingt abgeschlossenes Rechtsgeschäft liefert in aller Regel den erforderlichen „sicheren Rechtsboden“ für die künftige Entstehung des darin begründeten Anspruchs. Für eine teilweise befürwortete Un67) 68)

BGH, Urt. v. 9.3.2006 – IX ZR 11/05, Rz. 12, BGHZ 166, 319 = ZIP 2006, 1141. BGH, Urt. v. 9.3.2006 – IX ZR 11/05, Rz. 13, BGHZ 166, 319 = ZIP 2006, 1141.

Vorvertrag und Option in der Insolvenz

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gleichbehandlung der bedingten und der künftigen Ansprüche besteht deshalb kein Anlass.69) Lag einer im Grundbuch eingetragenen Auflassungsvormerkung ein in notariell beurkundeter Form abgegebenes unwiderrufliches Angebot zum Abschluss eines Kaufvertrages über ein Grundstück zugrunde, welches der Käufer erst nach Eröffnung des Gesamtvollstreckungsverfahrens über das Vermögen eines der Miteigentümer angenommen hat, so ist ein solcher künftiger, durch eine vor Verfahrenseröffnung eingetragene Vormerkung gesicherter Auflassungsanspruch insolvenzfest.70) Dies bedeutet, dass eine auf einer formwirksamen Option oder einem Vorvertrag beruhende Verpflichtung, für die eine Vormerkung eingetragen ist, in der Insolvenz Beachtung findet. Hingegen genügt es nicht, wenn für die künftige Gestaltung des Anspruchs lediglich eine bloße mehr oder weniger aussichtsreiche tatsächliche Möglichkeit besteht. Die Vormerkbarkeit ist auch dann zu verneinen, wenn die Entstehung des Anspruchs ausschließlich von dem Willen des Schuldners oder davon abhängt, dass dieser ein Rechtsgeschäft überhaupt erst vornimmt.71) Dies hätte etwa zu gelten, wenn die Vereinbarung einer Vorhand in Rede steht, die keine Verpflichtung des Verkäufers schafft. IV. Zusammenfassung Vorvertrag und Option sind geeignete Instrumente, um einen künftigen Vertragsschluss sicherzustellen. Ein Vorvertrag sollte den künftigen Vertrag so weit als möglich konkretisieren. Dabei kann eine Option in unterschiedlicher Weise ausgestaltet sein, als unwiderrufliches Vertragsangebot, als bedingter Vertrag oder als Angebotsvertrag. Kommt es zur Insolvenz, begründet eine Option als bloßes Gestaltungsrecht keine Insolvenzforderung (§ 38 InsO). Anders ist es, wenn die Option auf der Grundlage einer gesicherten Rechtsposition ausgeübt wird. In diesem Fall kann der Verwalter das Wahlrecht aus § 103 InsO wahrnehmen. Schließlich kann eine auf einer gesicherten Rechtsgrundlage fußende Option gemäß § 106 InsO durch eine Vormerkung insolvenzfest ausgestaltet werden.

69) 70) 71)

BGH, Beschl. v. 5.12.1996 – V ZB 27/96, BGHZ 134, 182, 185 f. = ZIP 1997, 420. BGH, Urt. v. 9.3.2006 – IX ZR 11/05, Rz. 11, BGHZ 166, 319 = ZIP 2006, 1141. BGH, Beschl. v. 5.12.1996 – V ZB 27/96, BGHZ 134, 182, 185 = ZIP 1997, 420.

Die Besteuerung im Rahmen von Insolvenz und Restrukturierung – Anspruch und Wirklichkeit – ARNDT GEIWITZ Inhaltsübersicht I.

Die Besteuerung i. R. von Insolvenz und Restrukturierung – Anspruch und Wirklichkeit II. Sanierungs- versus Steuerrecht 1. Zweck des Insolvenz- und Sanierungsverfahrens a) Gläubigergleichbehandlung b) Vermögenssicherung 2. Steueranspruch und Steuergerechtigkeit III. Das Insolvenz- und Sanierungsverfahren im fiskalischen Kontext 1. Die Abschaffung des Fiskusprivilegs

2. Die Steuerfreiheit von Sanierungsgewinnen 3. Der präventive Restrukturierungsrahmen IV. Der Fiskus schlägt zurück – Sanierung nicht ohne fiskalische Privilegien 1. Der Fiskus als Gläubiger 2. Die Verschiebung der Begründetheit von Steuerverbindlichkeiten 3. Die sog. „IST-Versteuerung“ 4. Einführung von § 55 Abs. 4 InsO V. Fazit

I. Die Besteuerung i. R. von Insolvenz und Restrukturierung – Anspruch und Wirklichkeit Vorrangiges Ziel des Insolvenzrechts ist die Gläubigergleichbehandlung und die Vermögenssicherung1) Hierbei gibt es in aller Regel mehrere Verwertungs- und Sanierungsoptionen in Abhängigkeit der gewählten Verfahrensart und auch des gewählten Zeitpunktes eines Insolvenzantrages.2) In den meisten Fällen führt die Unternehmenssanierung zu einem besseren Ergebnis als die Liquidation, weil Fortführungswerte höher als Zerschlagungswerte sind. Zweck eines Sanierungsverfahrens ist es, Unternehmen wieder dauerhaft wirtschaftlich zu stabilisieren, indem diese durch eine branchenübliche Renditefähigkeit nachhaltig wettbewerbsfähig werden und eine angemessene Eigenkapitalausstattung erhalten.3) Das sanierte Unternehmen erbringt neben der (quotalen) Altgläubigerbefriedigung seinen

1) 2) 3)

Vgl. Braun, InsO, 7. Aufl. 2018. Vgl. Madaus/Geiwitz in: Paulus/Knecht, Gerichtliche Sanierung, 2018, § 2 Rz. 3 ff. Vgl. Beck/Stannek in: Thierhoff/Müller, Unternehmenssanierung, 2. Aufl. 2016, S. 492.

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oft identischen zukünftigen Stakeholdern, wozu auch der Fiskus gehört einen dauerhaften Mehrwert. Ziel der steuerlichen Gesetzgebung ist es, das Steueraufkommen im allgemeinen – öffentlichen Interesse sicherzustellen. Sind die entsprechend vorgesehenen gesetzlichen Tatbestände erfüllt, werden Steuern unterschiedslos, d. h. „gerecht“, festgesetzt, erhoben und vollstreckt.4) Die Zielsetzungen des Insolvenzrechts bzw. des Sanierungsverfahrens auf der einen Seite und des Steuerrechts auf der anderen Seite, stehen sich im Falle der Unternehmenskrise konträr gegenüber (vgl. ausführlich unter II.): Dem Steuerrecht zufolge werden die Steuergesetze unterschiedslos angewendet, was einen besonderen Schutz für Krisenunternehmen widerspricht. Und der Fiskus steht im Selbstverständnis des Steuerrechts naturgemäß in einem Über-/Unterordnungsverhältnis – d. h. über allen anderen Gläubigern. Die Notwendigkeit diese Divergenz durch Regelungen für den Krisenfall zugunsten eines volkswirtschaftlich sinnvollen Sanierungsansatzes aufzulösen, wurde offenbar vom Gesetzgeber erkannt: So wurde Ende der 1990er Jahre das sog. Fiskusprivilegs aus der KO abgeschafft,5) so dass der Fiskus mit Einführung der InsO jedem anderen Gläubiger gleichgestellt wurde. Und auch in jüngster Vergangenheit wurden weitere Maßnahmen zugunsten des Sanierungsansatzes i. R. der Freistellung von Sanierungsgewinnen gesetzlich verankert (vgl. hierzu ausführlich unter III. 2.). Es kommt also durchaus vor, dass die „Steuergerechtigkeit“ zugunsten einer Förderung oder gar Ermöglichung der Unternehmenssanierung geopfert wird, und dies sicherlich nicht aus altruistischem Gedankengut, sondern aus volkswirtschaftlichen oder längerfristigen fiskalischen Strategien. Ob sich diese sinnvolle Sanierungsförderung jedoch in der Praxis tatsächlich konsequent durchgesetzt hat, erscheint fraglich: Die Finanzbehörden, die Finanzgerichte und der Bundesfinanzhof dienen der Steuergerechtigkeit, d. h. sie fühlen sich bei der Beurteilung von Sachverhalten und in ihrer Rechtsprechung dem fiskalischen Ansatz verpflichtet. Da dieser Ansatz jedoch zwangsläufig mit dem Sanierungsansatz kollidiert, kommt es in der Praxis dazu, dass der fiskalische Ansatz trotz der dokumentierten

4) 5)

Vgl. z. B. Helmschrott/Schaeberle, AO, 16. Aufl. 2016, S. 3 ff. Abschaffung des Konkursrechts und Einführung der InsO zum 1.1.1999.

Die Besteuerung im Rahmen von Insolvenz und Restrukturierung

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gesetzgeberischen auch jüngeren sanierungsfreundlichen Ansätze durch die „Hintertür“ sinnvolle Sanierungen verhindert. II. Sanierungs- versus Steuerrecht Der gegensätzliche fiskalische- und insolvenzrechtliche Ansatz kann sehr gut am Beispiel der praktischen Wirkung einer Anfechtung von Steuerzahlungen gegenüber dem Finanzamt dargestellt werden:6) In aller Regel werden Auskunftsersuchen des Insolvenzverwalters über Informationen zu den vom Schuldner geleisteten Steuerzahlungen von der Finanzverwaltung abgelehnt. Typischerweise wehrt sich der Fiskus mit allen Mitteln – und sei es indem er die Auskunft verweigert – gegen Bestrebungen, die nach erfolgreicher Vollstreckung beigetriebenen Steuern „gefühlt an den Insolvenzverwalter, nicht an die Gläubigergemeinschaft, wieder auszukehren“.7) Dass Finanzämter dem Insolvenzverwalter die Einsicht in die Kontodaten des Schuldners verweigern, ist kein Sonderfall, sondern – wie der Praktiker weiß – eher die Normalität (eigene Erfahrungswerte). Möglich wird ein Zugriff des Insolvenzverwalters zur Erfüllung seiner insolvenzrechtlichen Pflichten deshalb nur indirekt: Nämlich wenn sich der Steuerpflichtige glaubhaft auf die Notwendigkeit einer Einsicht – ausschließlich zur Erfüllung seiner steuerlichen Pflichten – beruft.8) Erstaunlich ist, dass der Insolvenzverwalter dazu gezwungen wird, einen Umweg über das Steuerrecht zu gehen, um seinen insolvenzrechtlichen Pflichten ordnungsgemäß nachzukommen. Dabei ist die Anfechtungshandlung im Insolvenzrecht selbstverständlich kein „rechtswidriges“ Handeln. Sie ist – im Gegenteil – von der i. R. rechtstaatlicher Verfahren ersonnenen Rechtsordnung – konkret der InsO – gedeckt.9) Der Anfechtungsanspruch entsteht bereits mit Verwirklichung des Anfechtungstatbestands bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Nach dem Willen des Gesetzgebers und der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (Achtung: zivilgerichtliche Rechtsprechung!) bedarf es noch nicht einmal eine Anfechtungserklärung dazu.10)

6) 7) 8) 9) 10)

Vgl. hierzu Hölzle, Konkurrenz von Steuerrecht und Insolvenzrecht, BB 2012, 1571 ff. Hölzle, BB 2012, 1571, 1572. Vgl. hierzu z. B. BVerwG, Beschl. v. 14.5.2012 – 7 B 53.11, ZIP 2012, 1258 = NVwZ 2012, 824. Hölzle, BB 2012, 1571, 1573. BGH, Urt. v. 1.2.2007 – IX ZR 96/04, ZIP 2007, 488.

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Theoretisch wären steuerliche Erstattungsansprüche sogar von Amts wegen zu prüfen und müssten (eigentlich) aktiv offengelegt und (freiwillig) an die Insolvenzmasse ausgekehrt werden.11) Die Legitimität der Verweigerungshaltung des Finanzamts, wenn es in der Praxis darum geht dem Insolvenzverwalter Informationen zu vergangenen Steuerzahlungen herauszugeben, ist deshalb für den Insolvenzverwalter unverständlich. Zu verstehen nur unter der fiskalischen Prämisse der „Steuergerechtigkeit“, welche dem Insolvenzrecht gegenüber ablehnend eingestellt ist. Dabei möchte der Verfasser seinen subjektiven Eindruck nicht verbergen, dass Finanzbeamte sehr oft eine geradezu kämpferische Haltung für das Steuerrecht und gegen das Insolvenzrecht einnehmen, als wäre der Insolvenzverwalter quasi im Rang gleich einem Steuerhinterzieher anzusehen. Dies verwundert aber deshalb nicht, weil sich ebengleiche Denkweisen bis zu den obersten Behörden und Ministerien der Oberfinanzdirektionen, der Landes- und des Bundesfinanzministeriums wiederfinden. 1. Zweck des Insolvenz- und Sanierungsverfahrens a) Gläubigergleichbehandlung Ein wesentliches Prinzip des Insolvenzrechts, ist der Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung (par conditio creditorum) und die gleichmäßige Haftungsverwirklichung. „Die Insolvenzordnung ist Gesamtvollstreckungsordnung, weil das gemeinsame Schicksal der Gläubiger eine einheitliche Vollstreckung in Ihrem gemeinsamen wohlverstandenen Interesse bedingt.“12)

Erst danach gilt es als wichtiges, aber eben nachgelagertes Ziel, das betroffene Unternehmen zu erhalten und zu sanieren.13) Allerdings: Die Bestrebungen des Gesetzgebers und anderer Institutionen unterstreichen die Bedeutung welcher einer erfolgreichen Sanierung – ob innerhalb oder außerhalb des Insolvenzverfahrens – zugemessen werden.14) Und das hat seinen Grund: Wesentliches Ziel der erfolgreichen Unternehmenssanierung (ob gerichtlich oder außergerichtlich) ist die Wieder11) 12) 13) 14)

Kruse/Drüen in: Tipke/Kruse, AO/FGO, § 37 Rz. 97. Hölzle, BB 2012, 1571. Vgl. Braun, InsO, 7. Aufl. 2018. Meilensteine dabei u. a.: Reform des Konkursrechts – Einführung der InsO (1999), Einführung des ESUG in 2012, Richtlinie zum Präventiven Restrukturierungsrahmen (2019)

Die Besteuerung im Rahmen von Insolvenz und Restrukturierung

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herstellung der Leistungsfähigkeit des Unternehmens, so dass dieses auf Dauer am Markt überlebensfähig ist.15) Gelingen kann das in aller Regel nur, wenn die Gläubiger notwendige Sanierungsmaßnahmen unterstützen. Wichtige Voraussetzung hierfür ist, dass die Gläubiger in ihrer Gesamtheit sich nicht schlechterstellen, als wenn das Unternehmen abgewickelt und liquidiert wird. Da deshalb eine Sanierung niemals gegen, sondern immer nur mit den Gläubigern erfolgsversprechend ist, sind die Ziele „maximale Gläubigerbefriedigung“ und „Gläubigergleichberechtigung“ auf der einen Seite und „erfolgreiche Unternehmenssanierung“ auf der anderen Seite, komplementär und eben nicht gegenläufig. b) Vermögenssicherung Die InsO begünstigt die Unternehmenssanierung, indem sie das verbliebene Vermögen dem Zugriff der Gläubiger zunächst entzieht, so dass ein Wettlauf der Gläubiger um die letzten verbliebenden Unternehmensressourcen verhindert wird. Ansonsten wäre ein gesamtheitlicher Sanierungsansatz nicht möglich.16) Das Prinzip der Vermögenssicherung ist es keinen Vermögensabfluss aus der Insolvenzmasse ohne (gleichwertige) Gegenleistung zuzulassen.17) Damit soll sichergestellt sein, dass kein einzelner Gläubiger einen besonderen Vorteil zulasten der Gläubigergemeinschaft erlangt, d. h. jeder Leistung aus dem Vermögen der „Gläubigergemeinschaft“ muss eine angemessene Gegenleistung gegenüberstehen.18) Ein Abfluss von Vermögen ohne Gegenleistung ist insolvenzrechtlich nicht vorgesehen, da sie dem Massesicherungsgedanken widerspricht. Das Insolvenzrecht verhindert also einen Eingriff in die Vermögensmasse des Insolvenzschuldners. Die Insolvenzmasse wird durch die InsO geschützt. Das gegenleistungslose Zahlen von Steuern aus den Mitteln aller Insolvenzgläubiger (§ 38) – den man als „Haftungsfonds“ bezeichnen könnte –

15) 16) 17) 18)

https://de.wikipedia.org/wiki/Sanierung_(Wirtschaft) (Abrufdatum: 2019). Vgl. Deutscher Bundestag, Wissenschaftliche Dienste Nr. 33/09. Vgl. Braun, InsO, 7. Aufl. 2018, § 1. Hölzle, BB 2012, 1571, 1572.

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ist deshalb „(…) im Grundsatz insolvenzsystemwidrig“19). Ein weiterer Hinweis auf die Gegensätzlichkeit der Zielsetzungen. 2. Steueranspruch und Steuergerechtigkeit Nach § 3 Abs. 1 AO handelt es sich bei Steuern um „(…) Geldleistungen, die zur Erzielung von Einnahmen Allen auferlegt werden, bei denen der Tatbestand zutrifft, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft“.

In der steuerlichen Ordnung ist ein „Haftungsfonds“ im insolvenzrechtlichen Sinne selbstverständlich nicht vorgesehen. Die „Gläubigergleichbehandlung“ des Insolvenzverfahrens ist dem Steuerrecht fremd. Übergeordnete Insolvenz- und Sanierungsziele, wie z. B. das wirtschaftliche Überleben des Steuerpflichtigen, spielt in aller Regel keinerlei Rolle – es sei denn, der steuerliche Gedanke wird direkt gesetzlich durchbrochen, wie beispielsweise bei den sanierungsbedingten Steuererleichterungen. Die steuerliche Ordnung fordert normalerweise eine gleichmäßige, gegenleistungs- und unterschiedslose Durchsetzung des Steueranspruchs. Dabei beruft sich die steuerliche Gesetzgebung auf ihr oberstes Prinzip: Die sog. „Steuergerechtigkeit“. Diese „Steuergerechtigkeit“ ist Ausdruck des in Art. 3 Abs. 1 des GG verankerten Gleichheitsprinzips. „Gleichheit“ und „Gerechtigkeit“ im Steuerrecht ist nicht in einem sozialwissenschaftlichen Sinne zu verstehen, sondern bedeutet, dass ein bestimmter steuerlich relevanter Lebenssachverhalt unter sonst gleichen Bedingungen immer dieselbe Abgabenwirkung haben muss. Die „Gleichmäßigkeit der Besteuerung“ manifestiert sich deutlich in § 85 Satz 1 AO. Danach haben die „(…) Finanzbehörden die Steuern nach Maßgabe der Gesetze gleichmäßig festzusetzen und zu erheben.“

Jeder Steuerpflichtige ist in diesem Sinne „gleich“ zu behandeln: Die Steuergesetzgebung behandelt den Steuerpflichtigen allein aufgrund objektiv festgelegter (steuer-)gesetzlicher Tatbestandsmerkmale. Steuerliche Einzelfallgesetze sind nicht erlaubt, denn diese würden dem Grundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG widersprechen.20) Eine Verhandlungsoder Einzelfalllösung – oder gar eine zivilrechtliche Einigung unter Gleichen zum „Besten der Beteiligten“ – ist im Steuerrecht nicht vorgesehen. 19) 20)

Hölzle, BB 2012, 1571, 1572. BVerfG, Urt. v. 27.6.1991 – 2 BvR 1493/89, ZIP 1991, 1123.

Die Besteuerung im Rahmen von Insolvenz und Restrukturierung

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III. Das Insolvenz- und Sanierungsverfahren im fiskalischen Kontext 1. Die Abschaffung des Fiskusprivilegs Die zum 1. Januar 1999 in Kraft getretene InsO stellt den Sanierungsgedanken ganz klar in den Vordergrund. Erstmalig wird das sog. „Fiskusprivileg“, welches noch in der KO die Finanzbehörde gegenüber anderen Gläubigern bessergestellt hat, beschnitten. Die Maßnahme wird in der Gesetzesbegründung zur InsO u. a. so begründet: „Die [fiskalischen] Konkursvorrechte beruhen auf keinem einleuchtenden Grundgedanken. Sie sind wirtschaftlich nicht gerechtfertigt (…). Auch ordnungspolitisch sind insolvenzspezifische Vorzugsstellungen nicht unbedenklich. Der Antrag auf Verfahrenseröffnung kann von einzelnen Gläubigergruppen eingesetzt werden, um Vermögensvorteile zu erlangen.“21)

Ein möglicher Einnahmeausfall des Fiskus durch den Schutz des insolventen Unternehmens vor der Finanzbehörde sollte dabei insgesamt auch für das Steueraufkommen von Vorteil sein: „Steuerausfälle (…) dürften im Ergebnis nicht zu erwarten sein.“22)

Inwieweit sich dies in der Praxis zwischenzeitlich bewahrheitet hat, ist statistisch-wissenschaftlich (soweit bekannt) zwar nicht aufgearbeitet worden. Jedoch „bringen die unter der Geltung der InsO eingeleiteten Insolvenzverfahren (unstreitig) deutlich mehr Unternehmensfortführungen und übertragende Sanierungen hervor, als diese noch zu Zeiten des Konkursrechts der Fall war.“23) Denn durch eine nachhaltige Unternehmenssanierung soll eine „Verbesserung der Befriedigungsaussichten einfacher Insolvenzgläubiger“24) eintreten. Der Gedanke des Gesetzgebers dem Insolvenzrecht – im besser verstandenen Gemeinwohl – dem Vorrang vor dem Steuerrecht einzuräumen, findet seinen konkreteren Niederschlag u. a. in § 251 Abs. 2 Satz 1 AO. Demzufolge bleiben die Vorschriften der InsO vom Steuerrecht unberührt. Dies bedeutet, dass steuerliche Ansprüche grundsätzlich genauso insolvenzrechtlich behandelt werden wie Ansprüche anderer Insolvenz-

21) 22) 23) 24)

Begr. RegE InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 81. Begr. RegE InsO, BT-Drucks. 12/2443, dort: Einführung Abschn. B. Hölzle, BB 2012, 1571, 1575. Begr. RegE InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 81.

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gläubiger.25) Das steuerliche Verfahren gilt mit Insolvenzeröffnung – nach der weithin anerkannten Sicht des Bundesfinanzministeriums – in Analogie zu § 240 ZPO als unterbrochen.26) 2. Die Steuerfreiheit von Sanierungsgewinnen Besonders deutlich wird der Abwägungsprozess zwischen Fiskalprinzip und Sanierungsrecht, wenn der Insolvenzschuldner oder das Krisenunternehmen zugleich Steuerpflichtiger ist. Leicht nachvollziehbar wird dies im Zuge des sanierungsbedingten Gläubigerverzichts, der im Zusammenhang mit einer Restrukturierung in aller Regel unumgänglich ist. Dieser Gläubigerverzicht löst einen steuerlichen Ertrag beim Schuldner ohne Liquiditätszufluss aus, welche die Wirkung des Gläubigerverzichts vollständig neutralisieren oder ins Negative verkehren können. Deshalb gab es seit jeher Bestrebungen diesen Effekt zu vermeiden, indem Sanierungsgewinne – entgegen dem Prinzip der „Steuergerechtigkeit“ – steuerfrei gestellt werden. Mit der steuerlichen Freistellung von Sanierungsgewinnen gemäß § 3 Nr. 66 EStG a. F. – gültig bis 1997 – hatte über lange Zeit eine für den Steuerpflichtigen sehr großzügig gesetzliche Regelung bestanden. Im Kern waren sanierungsbedingte Gewinne steuerfrei zu stellen. Zugleich blieben bestehende Verlustvorträge des zu sanierenden Unternehmens vollständig erhalten. Doch war das Gesetz zu großzügig, der Gesetzgeber sah u. a. das Prinzip der gleichmäßigen Besteuerung gefährdet, was letzten Endes dazu geführt hat, dass die Regelung zum 31. Dezember 199727) wieder aufgehoben wurde. Danach war der Verzicht auf Steuern die auf Sanierungsgewinne anfallen, nur noch auf Grundlage der in der AO verankerten Billigkeitsvorschriften der §§ 163, 222, 227 AO möglich, was aber natürlich erheblichen Interpretationsspielraum zugelassen hat. Dies, wiederum führte zu erheblichen 25)

26)

27)

BGH, Beschl. v. 22.9.2011 – IX ZB 121/11, NZI 2011, 953; BGH, Beschl. v. 7.4.2005 – IX ZB 195/03, NJW-RR 2005, 990; BFH, Urt. v. 8.3.2012 – V R 24/11, ZIP 2012, 684, 686, und BFH, Urt. v. 24.8.2011 – V R 53/09, ZIP 2011, 2421, 2422, m. Anm. Kahlert, ZIP 2011, 2425; BFH, Urt. v. 18.5.2010 – X R 60/08, ZIP 2010, 1612, 1613 f., dazu EWiR 2010, 677 (de Weerth); Sinz in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 55 Rz. 26; Hölzle, BB 2012, 1571 f. Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, 11. Aufl. 2015, S. 291 Rz. 491, m. Verweis auf BFH, Urt. v. 2.7.1997 – I R 11/97, BStBl. II 1998, 428 = ZIP 1997, 2160; außerdem vgl. BMF v. 31.1.2013 – IV A 3 – S 0062/08/10007-15, DOK 2012/1176804, Rz. 32, 4.1.2. § 3 Nr. 66 EStG a. F. wurde durch Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur Fortsetzung der Unternehmenssteuerreform v. 29.10.1997 abgeschafft, BGBl. I 1997, 2590.

Die Besteuerung im Rahmen von Insolvenz und Restrukturierung

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Planungsunsicherheiten, was den Sanierungsbemühungen, die langfristig geplant und mit allen Beteiligten abgestimmt werden müssen, nicht förderlich war.28) In den nächsten Jahren haben sich aus der angewandten Praxis und Rechtsprechung Regelungen herausgebildet, die im „Schreiben betr. ertragsteuerliche Behandlung von Sanierungsgewinnen, Steuerstundung und Steuererlass aus sachlichen Billigkeitsgründen“, dem sog. Sanierungserlass vom 27. März 2003, zusammengefasst (und auch ergänzt) wurden. Damit war ein spezieller Steuererlass für die Unternehmenssanierungen geschaffen.29) Es wurden zunächst die rechtlichen Unsicherheiten beseitigt und Sanierungen wieder steuerlich begünstigt. Schließlich hat der Große Senat des Bundesfinanzhofes jedoch am November 2016 den Sanierungserlass für ungültig erklärt, da dieser gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung verstoße.30) Sowohl der Gesetzgeber als auch das Bundesministerium für Finanzen haben in Rekordzeit auf die Entscheidung des Bundesfinanzhofes reagiert: –

Nach der Veröffentlichung des oben genannten BFH-Urteils am 8. Februar 2017 wurde bereits mit Beschluss des Deutschen Bundestages über das „Gesetz gegen schädliche Steuerpraktiken“ vom 27. Juni 201731) § 3a EStG n. F. bzw. § 7b GewStG eingeführt. Diese standen zunächst noch unter dem Vorbehalt der Zustimmung durch die Europäische Kommission.



Das Bundesministerium für Finanzen hatte allerdings gleichzeitig Übergangsregelungen erlassen, so dass eine lückenlose Anwendung sanierungsbedingter Steuererleichterungen möglich gewesen wäre.32)



Eher ungewöhnlich war, das BMF-Schreiben (Nicht-Anwendungserlasse) sich gegen den Fiskus besserstellende Entscheidungen des Bundesfinanzhofes33) wendeten.

28)

Vgl. Seer, Insolvenz, Sanierung und Ertragsteuern – verfassungs- und europarechtliche Überlegungen, FR 2014, 721, 724. Vgl. BMF v. 27.3.2003 – IV A 6 – S 2140–8/03, BStBl. I 2003, 240, allerdings durch BFH, Beschl. v. 28.11.2016 – GrS 1/15, ZIP 2017, 338, für rechtswidrig erklärt. BFH, Beschl. v. 28.11.2016 – GrS 1/15, ZIP 2017, 338. Gesetz gegen schädliche Steuerpraktiken im Zusammenhang mit Rechteüberlassungen, v. 27.6.2017, BStBl. I 2017, 1202. BMF v. 27.4.2017 – IV C 6 – S 2140/13/10003, BStBl. I 2017, 741 = DB 2017, 996. BFH, Urt. v. 23.8.2017 – I R 52/14, ZIP 2017, 2158, und BFH, Urt. v. 23.8.2017 – X R 38/15, ZIP 2017, 2161; BMF v. 27.4.2017 – IV C 6 – S 2140/13/10003, BStBl. I 2017, 741 = DB 2017, 996.

29) 30) 31) 32) 33)

278

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Die aufgezählten Maßnahmen der Exekutive verdeutlichen die Dringlichkeit und zugleich die volkswirtschaftliche Bedeutung, welche sanierungsbedingte Steuererleichterungen ganz offensichtlich haben können. Dies wird im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens durch die Legislative bestätigt: Nachdem die Europäischen Kommission im August 2018 mitgeteilt hat, dass keine EU-rechtlichen Bedenken bestehen, wurden Sanierungsgewinne per Gesetz sowohl für Altfälle als auch für neue Fälle freigestellt.34) Damit waren alle Rechtsunsicherheiten beseitigt. Die Bedeutung erfolgreicher Sanierungen wurde bewusst über das Dogma der „Steuergerechtigkeit“ gestellt. Zugleich spiegelt das Gesetz eine sorgfältige Abwägung, zwischen den beiden Polen – Steuergerechtigkeit und Ermöglichung des Sanierungserfolges – wider: Damit die Sanierungsgewinne steuerfrei gestellt werden, sind strenge Voraussetzungen zu erfüllen. Außer einer Sanierungsbedürftigkeit, -fähigkeit, -eignung und -absicht müssen u. a. sämtliche stille Lasten aufgedeckt und alle bestehenden Verlustverrechnungsmöglichkeiten ausgeschöpft worden sein. Auch Verluste des der Sanierung nachfolgenden Jahres sind vorrangig zu verbrauchen.35) Die strengen Auflagen veranschaulichen, dass es sich aus steuerrechtlicher Perspektive im Grunde um einen systemwidrigen Eingriff in die „Steuergerechtigkeit“ handelt, der aber in Kauf genommen wird, um Sanierungsverfahren zu ermöglichen. 3. Der präventive Restrukturierungsrahmen Mit Richtlinienvorschlag der Europäischen Kommission über einen präventiven Restrukturierungsrahmen verfolgt die Europäische Kommission das Ziel, Sanierungen in der Europäischen Union zu erleichtern und zu fördern. Der erste Entwurf wurde von der Kommission am 22. November 201636) vorgelegt, der Entwurf wurde laufend fortentwickelt. Im Dezember 2018 haben sich EU-Parlament, Rat und Kommission auf einen Kompromiss für den Richtlinienentwurf verständigt, der den ersten Entwurf in Teilen signifikant modifiziert hat.37) Bei der konkreten Umsetzung haben 34) 35) 36) 37)

JStG 2018, verkündet am 14.12.2018, BGBl. I 2018, 2338. Vgl. u. a. Krumm in: Blümich, EStG/KStG/GewStG, 145. EL 12/2018, § 3a EStG Rz. 1 – 52. Vgl. Richtlinienvorschlag der Europäischen Komission v. 22.11.2016, COM (2016) 723. Interinstitutional File 2016/0359, v. 17.12.2018.

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279

die Mitgliedsstaaten (voraussichtlich) einen relativ breiten Umsetzungsspielraum zur Verfügung.38) Am 28. März 2019 hat das EU-Parlament die Richtlinie zum künftigen Präventiven Restrukturierungsrahmen verabschiedet.39) Das Instrument soll dem Insolvenzverfahren vorgelagert sein, d. h. letztlich verhindern, dass notleidende Unternehmen in die Insolvenz geraten. Voraussetzung zur Anwendung des „präventiven Restrukturierungsrahmens“ wird die (nicht näher definierte) „drohende Insolvenz“ sein. Unter dem Schutz des Restrukturierungsrahmens, soll das bedrohte Unternehmen vor prozessualer Vollstreckung geschützt werden. Bisher enthält der Richtlinienvorschlag allerdings keine Vorschläge, wie mit den steuerlichen Auswirkungen umgegangen werden soll, die sich bei Einsatz der Maßnahmen oftmals fast zwangsläufig ergeben.40) Zwar sieht der Rahmen eine „Aussetzung einzelner Durchsetzungsmaßnahmen“ vor, jedoch ist dadurch die Steuerdurchsetzung nur vorübergehend gehindert, der Anspruch besteht materiell-rechtlich fort.41) Die vorinsolvenzlichen Restrukturierung wäre damit gänzlich ohne die Schutzwirkung des Insolvenzrechts dem erläuterten Prinzip der „gleichmäßigen Besteuerung“ ausgesetzt. Nach aktueller Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes bleiben Verbindlichkeiten auch dann passiviert, wenn diese (vorübergehend) nicht vom Gläubiger durchgesetzt werden können. Voraussetzung für eine Ausbuchung ist, dass der Schuldner mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr mit einer Inanspruchnahme durch den Gläubiger rechnen muss.42)

38)

39)

40) 41) 42)

Vgl. Hölzle, Präventiver Restrukturierungsrahmen – Beitrag zu einer Verbesserung der Restrukturierungskultur in Europa und ergänzende Sanierungsoption oder „Schlachtbank“ für die Motive des ESUG?, ZIP 2017, 1307 – 1313. Richtlinie (EU) Nr. 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) – Restrukturierungsrichtlinie, ABl. (EU) L 172/18 v. 26.6.2019. Kahlert, Hat das Steuerrecht die Macht, den von der EU-Kommission vorgeschlagenen präventiven Restrukturierungsrahmen außer Kraft zu setzen?, NZI Beilage 2017, S. 52 ff. Kahlert, NZI Beilage 2017, S. 54. BFH, Urt. v. 22.11.1988 – VIII R 62/85, BStBl. II 1989, 359; BFH, Urt. v. 9.2.1993 – VIII R 29/91, BStBl. II 1993, 747.

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Damit wären negative ertragsteuerliche Wirkungen durch die Restrukturierung so lange ausgeschlossen, wie die Verbindlichkeit lediglich gestundet wird. Spätestens aber wenn ein Gläubiger auf die Forderungen (ggf. zum Teil) verzichtet, um das Unternehmen eine nachhaltig überlebensfähig zu machen, wird zu prüfen sein, ob der Sanierungserlass i. S. des § 3a EStG zur Anwendung gelangt. Dies dürfte bei einem freiwilligen Forderungsverzicht der Gläubiger zur Umsetzung der Unternehmensrestrukturierung wahrscheinlich der Fall sein. Aber auch das Erfordernis zur Vorsteuerkorrektur gemäß § 17 UStG könnte sich negativ auf die erfolgreiche Restrukturierung auswirken, da die hieraus resultierende Forderungen des Finanzamts – anders als im Insolvenzverfahren – nicht in einen Schutzbereich des § 38 InsO fallen. Die persönliche Haftung des Geschäftsführers nach §§ 69, 34 AO ist bereits i. R. der vorläufigen Eigenverwaltung hinsichtlich nicht gezahlter Steuerverbindlichkeiten umstritten und in jedem Fall ein nicht zu unterschätzendes Risiko. Zwar ist vorgesehen, die Zahlung von Steuerverbindlichkeiten im Sanierungsfall auszusetzen. Ungeklärt ist, inwieweit und unter welchen Umstände der Geschäftsführer aber verpflichtet bleibt die spätere Zahlung der lediglich gestundeten Steuerverbindlichkeiten sicherzustellen. IV. Der Fiskus schlägt zurück – Sanierung nicht ohne fiskalische Privilegien 1. Der Fiskus als Gläubiger Die steuerliche Behandlung von Unternehmen in der Krise hat für den Fiskus eine große Bedeutung. In der Regel ist das Finanzamt nämlich einer der größten, wenn nicht der größte, Gläubiger. Dies hat u. a. die folgenden Gründe: –

Forderungen des Finanzamts entstehen automatisch, sofern bestimmte gesetzlich vorgesehene Tatbestände erfüllt sind (§ 85 AO), so dass das Finanzamt gegen immer neue sich aufbauende Forderungen eines sich womöglich bereits in Zahlungsschwierigkeiten befindlichen Schuldners – anders als der normale Lieferant – nicht wehren kann, indem es das Entstehen weiterer Forderungen verhindert.



Forderungen des Fiskus sind in aller Regel ungesichert, da ein Schuldner keinen Anlass hat, dem Finanzamt Sicherungsrechte einzuräumen, wenn er andernfalls in seinem Handeln nicht beschränkt ist, es

Die Besteuerung im Rahmen von Insolvenz und Restrukturierung

281

sei denn das Finanzamt gewährt eine Zahlungsstundung (§ 222 Satz 2 AO). Ansonsten findet eine Besicherung im Vorfeld nur in exotischen Ausnahmefällen43) statt, die in der Praxis der meisten Insolvenzverfahren aber keine Rolle spielen. –

Die Tatsache, dass das Finanzamt nicht ohne weiteres das Auflaufen neuer Forderungen verhindern kann, veranlasst Schuldner erfahrungsgemäß zum Teil dazu, bei der Bezahlung ausstehender Verbindlichkeiten andere Lieferanten zu bevorzugen, da diese ansonsten ihre Lieferungen einstellen können, auch wenn verschiedene Haftungsnormen in der AO und Einzelsteuergesetzen dem entgegenwirken sollen.44) Die Haftung kann aber den Steuerausfall nur ersetzen, wenn der rechtmäßig in Anspruch Genommene insoweit selbst ausreichend zahlungsfähig ist. Oft ist der Haftende aber selbst unmittelbar von der Insolvenz direkt oder indirekt wirtschaftlich stark betroffen. Unbezahlte Verbindlichkeiten führen notwendig zur Korrektur der darin enthaltenen Vorsteuern.45) Der hieraus resultierenden Rückzahlungsanspruch des Finanzamts stellt eine Insolvenzforderung i. S. von § 38 InsO dar.

Abgesehen von der beschrieben Problematik der sanierungsbedingten Gläubigerverzichte, welche eine große ertragsteuerliche Relevanz haben, hat bei Krisenunternehmen insbesondere die Umsatzsteuer eine besonders große Bedeutung. Die Bedeutung der Umsatzsteuer ist deshalb sehr groß, weil die Umsatzsteuer – aufgrund der gewinnunabhängigen Steuerentstehung und -erhebung entsteht. Sie ist zudem in Deutschland die Steuerart mit dem mit Abstand höchsten Aufkommen – sieht man vom Lohnsteueraufkommen ab, welches nur knapp darunter liegt.46)

43) 44) 45)

46)

Z. B. Biersteuer BGH, Urt. v. 9.7.2009 – IX ZR 86/08, ZIP 2009, 1674. Zu nennen sind hier insbesondere §§ 69 ff. AO sowie § 42d EStG. Korrektur nach § 17 Abs. 2 Nr. 1 UStG, zur Uneinbringlichkeit vgl. BMF v. 9.12.2011 – IV D 2 – S 7330/09/10001 :001, Rz. 14, BStBl. I 2011, 1273, und BFH, Urt. v. 22.10.2009 – V R 14/08, BStBl. II 2011, 988 = ZIP 2010, 383. Vgl. Bundeszentralamt für Steuern, Steuereinnahmen nach Steuerarten 2010 – 2016, abrufbar unter https://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Standardartikel/ Themen/Steuern/Steuerschaetzungen_und_Steuereinnahmen/2017-05-05-steuereinnahmen-nach-steuerarten-2010-2016.pdf?__blob=publicationFile&v=5 (Abrufdatum: 5.7.2019).

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Mehrere Urteile des Bundesfinanzhofes,47) haben die Auslegung der Umsatzsteuergesetze, insbesondere für das Insolvenzverfahren, stark zugunsten des Fiskalprinzips verändert. Der Grundgedanke dabei war ganz offenbar dem Bedürfnis nach mehr Steuergerechtigkeit den Vorrang einzuräumen, gegenüber einer allzu konsequenten Umsetzung einer sich aus dem reinen Insolvenzrecht im Zusammenspiel mit der steuerlichen Gesetzgebung abgeleiteten Erhebung und Durchsetzung des Steueranspruchs. 2. Die Verschiebung der Begründetheit von Steuerverbindlichkeiten Die Zuordnung des umsatzsteuerlichen Anspruchs in die Vermögenssphären richtet sich danach, wann der Anspruch tatsächlich „insolvenzrechtlich“ i. S. des § 38 InsO „begründet“ ist. Die Rechtsprechung zur „Begründetheit“ des Umsatzsteueranspruchs wurde vereinheitlicht, nachdem diese Frage einige Zeit streitig war:48) Bei der Begründetheit von umsatzsteuerlichen Ansprüchen ist demnach nicht die zivilrechtliche Verwirklichung eines Lebenssachverhalts maßgeblich, sondern wann der steuerliche Tatbestand vollständig verwirklicht und damit abgeschlossen ist.49) Über lange Zeit wurde die h. M. von der Rechtsprechung des VII. Senats des Bundesfinanzhofes bestimmt, welcher in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes auf die Verwirklichung des reinen Lebenssachverhalts abgestellt hatte50) – also auf den Leistungszeitpunkt (etwa Zeitpunkt des Gefahrenübergangs einer Warenlieferung). Konträr dazu stellte der V. Senat später fest, dass es auf den „(…) Zeitpunkt, zu dem der Umsatzsteueranspruch begründende Tatbestand vollständig verwirklicht und damit abgeschlossen ist“ ankäme.51)

47)

48) 49) 50) 51)

Vgl. beispielhaft BFH, Urt. v. 9.12.2010 – V R 22/10, BStBl. II 2011, 996 = ZIP 2011, 782; BFH, Urt. v. 25.7.2012 – VII R 29/11, BStBl. II 2013, 36 = ZIP 2012, 2217; BFH, Urt. v. 8.8.2013 – V R 18/13, ZIP 2013, 1773 – zur Organschaft; BFH, Urt. v. 24.9.2014 – V R 48/13, BStBl. II 2015, 506 = ZIP 2014, 2451. Waza/Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, 11. Aufl. 2015, S. 909 Rz. 1963. BFH, Urt. v. 9.12.2010 – V R 22/10, BStBl. II 2011, 996 = ZIP 2011, 782, und BFH, Urt. v. 25.7.2012 – VII R 29/11, BStBl. II 2013, 36 = ZIP 2012, 2217. Vgl. BFH, Beschl. v. 6.10.2005 – VII B 309/04, BFH/NV 2006, 369; BFH, Urt. v. 5.10.2004 – VII R 69/03, ZIP 2005, 266. Vgl. BFH, Urt. v. 19.1.2009 – V R 64/07, BStBl. II 2009, 682 = ZIP 2009, 977, es wird hier auch verwiesen auf BFH, Urt. v. 13.11.1986 – V R 59/79, ZIP 1987, 119. vgl. BFH, Urt. v. 9.2.2011 – XI R 35/09, BStBl. II 2011, 1000 = ZIP 2011, 1222; aktueller: FG Hamburg, Urt. v. 25.11.2015 – 6 K 167/15, ZIP 2016, 283.

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Die Rechtsprechung der Senate des Bundesfinanzhofes wurde schließlich vereinheitlicht indem sich der VII. Senats des Bundesfinanzhofes mit Urteil vom 25. Juli 201252) in seiner Begründung im Wesentlichen der Rechtsprechung des V. Senats angeschlossen hat. Die steuerliche Begründetheit wird seitdem von Bundesfinanzhof und Finanzverwaltung mit dem Zeitpunkt definiert, in dem, der für den steuerlichen Anspruch relevante Tatbestand – gemäß den allgemein gültigen steuerlichen Vorschriften – vollständig verwirklicht und damit abgeschlossen ist.53) Der Zeitpunkt der vollständigen Verwirklichung eines steuerlichen Tatbestandes wiederum, ergibt sich aus dem Steuerrecht und nicht etwa aus insolvenz- oder zivilrechtlichen Bestimmungen. Das Steuerrecht wiederum unterliegt der Rechtsprechung der Finanzgerichtsbarkeit, welche den Zeitpunkt der Begründetheit des steuerlichen Anspruchs wesentlich später angesetzt hat, als es nach zivilrechtlichen (bzw. rein insolvenzrechtlichen) Maßstäben der Fall wäre. Wenn sich die insolvenzrechtliche Einordung eines Steueranspruchs nach steuerlichen Kriterien richtet, genießt das Insolvenzrecht – sozusagen durch die „Hintertür“ – keinen Vorrang gegenüber dem Steuerrecht. In der praktischen Konsequenz hat dies dazu geführt, dass der Zeitpunkt der steuerlichen Begründetheit den Steueranspruch aus der Schutzwirkung des Insolvenzrechts herausnimmt, so dass Steueransprüche, die nach zivilrechtlichen Maßstäben Insolvenzforderungen (§ 38 InsO) wären, jetzt doch zu Masseverbindlichkeiten (§ 55 InsO) werden. Die weitere Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes ist ursächlich dafür, dass auf dieser Grundlage die Begründetheit des steuerlichen Anspruchs zeitlich nach hinten – aus dem Anwendungsbereich von § 38 InsO hinaus – verschoben wurde. 3. Die sog. „IST-Versteuerung“ Bei der steuerlichen Erhebung der Umsatzsteuer wird zwischen der ISTVersteuerung gemäß § 20 UStG und der SOLL-Versteuerung nach § 16

52) 53)

BFH, Urt. v. 25.7.2012 – VII R 29/11, BStBl. II 2013, 36 = ZIP 2012, 2217, und Waza/ Uhländer/Schmittmann, Insolvenzen und Steuern, 11. Aufl. 2015, S. 909 Rz. 1963. Vgl. u. a. BFH, Urt. v. 9.2.2011 – XI R 35/09, BStBl. II 2011, 1000 = ZIP 2011, 1222; FG Hamburg, Urt. v. 25.11.2015 – 6 K 167/15, ZIP 2016, 283; BMF v. 31.1.2014 – IV A 3 – S 0062/14/10002, Dok. 2014/0108334, BStBl. I 2014, 290 – AEAO zu § 251 unter 5.1.

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UStG unterschieden. Die IST-Versteuerung ist nur in sehr engen Grenzen54) zulässig und kommt deshalb nur für Kleinunternehmen in Frage. Mittlere und große Unternehmen, d. h. zugleich die Unternehmen mit dem höchsten Umsatzsteueraufkommen, werden auf Basis der SOLL-Versteuerung veranlagt. Nicht entscheidend als steuerauslösendes Moment ist bei der SOLL-Versteuerung der Zeitpunkt des Zahlungsflusses: Es kommt allein auf den Leistungszeitpunkt, d. h. z. B. auf den Zeitpunkt des zivilrechtlichen Gefahrenübergang, oder die Rechnungsstellung an.55) Folglich müsste diejenige Umsatzsteuer, die auf Umsätze entfällt, die vor Insolvenzantrag vom Schuldner ausgeführt wurden, in den Anwendungsbereich des § 38 InsO gelangen – und zwar unabhängig davon, ob die Einordung – d. h. die „Begründetheit“ des steuerlichen Anspruchs – nach zivilrechtlichen oder steuerlichen Maßstäben erfolgt. Damit wäre der Umsatzsteueranspruch auf von der Insolvenzmasse eingezogene Forderungen, die vor Insolvenzantrag begründet wurden, eine lediglich quotal zu erfüllende Insolvenzforderung. Weite Teile der Finanzverwaltung haben sich an dieser Rechtsfolge gestört, da die Umsatzsteuer zwar zur Masse gelangt, letztlich aber nicht als Masseverbindlichkeit abgeführt werden musste. Der Bundesfinanzhof hat diese Sichtweise für das Insolvenzverfahren grundlegend in Frage gestellt und schließlich mit Urteil vom 9. Dezember 201056) klargestellt, dass es im Insolvenzverfahren auch bei der SOLLVersteuerung nicht auf den Leistungszeitpunkt, sondern auf den Zeitpunkt der Entgeltvereinnahmung ankommt. Das Urteil war stark umstritten, da es sich mit der steuerlichen Systematik nicht vereinbaren lässt.57) Der Bundesfinanzhof konstruiert in seinem Urteil eine durch den Insolvenzfall bewirkte Aufspaltung des Schuldnerunternehmens in mehrere Teile. Dabei unterscheidet der Bundesfinanzhof klar zwischen vorinsolvenzlichem Teil und Insolvenzmasse. Da – so der Bundesfinanzhof – ein Einzug von Forderungen nach Übergang der Verfügungsbefugnis auf den Insolvenzverwalter durch den Schuldner nicht mehr möglich ist, werden 54)

55) 56) 57)

Beispielsweise dürfen Gewerbebetriebe nach § 20 UStG die Umsatzgrenze von 500.000 € im Kalenderjahr nicht überschreiten, um einen Antrag auf IST-Versteuerung stellen zu können. Die Steuer entsteht dann mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums, in dem die Leistung ausgeführt wurde (§ 13 Abs. 1 Nr. 1 lit. a UStG). BFH, Urt. v. 9.12.2010 – V R 22/10, BStBl. II 2011, 996 = ZIP 2011, 782. Vgl. beispielhaft Onusseit, Das Urteil des BFH vom 9.12.2010 – VR 22/10, DZWIR 2011, 239 – Kritik und Folgen, DZWIR 2011, 353 – 358.

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Forderungen aus dem vorinsolvenzlichen Teil mit Insolvenzeröffnung58) aus „Rechtsgründen“ uneinbringlich (unabhängig von ihrer Werthaltigkeit) mit der Folge, dass der enthaltene Umsatzsteueranspruch korrigiert werden muss. Begründet wird dies mit dem Wechsel der Empfangszuständigkeit für den Forderungseinzug aufgrund der Bestimmungen in § 80 Abs. 1 InsO. Konsequenterweise ist unter diesen Prämissen die Umsatzsteuer gemäß § 17 Abs. 2 Nr. 1 i. V. m. § 17 Abs. 1 Satz 1 UStG vor Insolvenzeröffnung zu berichtigen und wird damit zu einem (mit Insolvenzforderungen verrechenbaren) Steueranspruch gegen das Finanzamt. Die spätere Vereinnahmung der Entgeltforderung führt – insoweit wieder konsequent – zu einer zweiten Berichtigung nach § 17 Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 UStG. Das heißt, es wird erneut i. S. des UStG ein steuerlicher Anspruch (neu)begründet. Da der erforderliche Tatbestand gemäß § 17 Abs. 1 Satz 7 UStG zum Zeitpunkt der Vereinnahmung eintritt, und dieser Zeitpunkt nach Insolvenzeröffnung59) liegen muss, handelt es sich bei dem Steueranspruch jetzt um eine Masseverbindlichkeit. Die Finanzverwaltung hat die beschriebenen Grundsätze des Urteils des Bundesfinanzhofes für alle Insolvenzverfahren, die nach dem 31. Dezember 2011 eröffnet wurden, übernommen60) und den Zeitraum außerdem auf Grundlage des § 55 Abs. 4 InsO zwischenzeitlich auf das Insolvenzantragsverfahren ausgedehnt.61) Selbst wenn also ein Steueranspruch zivilrechtlich vor Insolvenzantrag begründet worden war, und damit ganz eindeutig als eine Forderung i. S. von § 38 InsO gelten müsste, wird dieselbe Forderung auf diesem Wege zur Masseverbindlichkeit i. S. von § 55 InsO. Damit wird die Insolvenzmasse abermals zugunsten der steuerlichen Erhebung geschmälert. 4. Einführung von § 55 Abs. 4 InsO Der sog. schwache vorläufige Insolvenzverwalter mit Zustimmungsvorbehalt (§ 21 Abs. 2 Nr. 2 InsO) ist in der Praxis weit verbreitet.62) Deshalb 58)

59) 60) 61) 62)

Nach Einführung von § 55 Abs. 4 InsO und einem Urteil des BFH v. 24.9.2014 wurde der entscheidende Zeitpunkt auf den Beginn des vorläufigen Insolvenzverfahrens bestimmt: BFH, Urt. v. 24.9.2014 – V R 48/13, BStBl. II 2015, 506 = ZIP 2014, 2451, d. h. die Forderungen werden bereits mit Insolvenzantrag aus Rechtsgründen ausgebucht. Bzw. nach Insolvenzantrag (vgl. hierzu die Ausführungen in Fn. 58. BMF v. 9.12.2011 – IV D 2 – S 7330/09/10001 :001, BStBl. I 2011, 1273. BMF v. 20.5.2015 – I V A 3 – S 0550/10/10020-05, BStBl. I 2015, 476, bzw. BFH, Urt. v. 24.9.2014 – V R 48/13, BStBl. II 2015, 506 = ZIP 2014, 2451. Seer, Abschlussbericht der Kommission zur Harmonisierung von Insolvenz- und Steuerrecht, ZIP Beilage 2 zu Heft 42/2014, S. 1.

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handelt es sich bei im Insolvenzantragsverfahren begründeten Verbindlichkeiten in der Regel ganz allgemein um Insolvenzforderungen i. S. des § 38 InsO. Dies galt lange Zeit auch für in diesem Zeitraum begründete Steueransprüche, die nur dann Masseverbindlichkeiten darstellten, wenn diese im Zeitraum nach Insolvenzeröffnung begründet worden sind. Diese Rechtspraxis wurde mit dem Haushaltsbegleitgesetz 201163) geändert, welches u. a. § 55 Abs. 4 in die InsO eingeführt hat. § 55 Abs. 4 InsO weitet den Zeitraum, in dem Steueransprüche zu Masseverbindlichkeiten i. S. von § 53 InsO werden können, auf das Insolvenzantragsverfahren aus. Einer sog. starken vorläufigen Insolvenzverwaltung bedarf es nicht. Die Regelung betrifft ausschließlich Verbindlichkeiten aus dem Steuerschuldverhältnis. Gegenansprüche des Steuerpflichtigen (vorläufigen Insolvenzverwalters) an das Finanzamt sind nicht umfasst.64) Durch § 55 Abs. 4 InsO wird die Systematik der InsO durchbrochen, der zufolge Masseverbindlichkeiten grundsätzlich erst mit Insolvenzeröffnung begründet werden. Allein für Steuerverbindlichkeiten wird der Zeitraum über das gesamte Insolvenzantragsverfahren ausgedehnt. Auch mit dieser Maßnahme wird die Insolvenzmasse zugunsten der steuerlichen Erhebung geschwächt. V. Fazit Die Ausführungen haben gezeigt, dass der Gesetzgeber die Konkurrenz zwischen Sanierungs- und fiskalischem Ansatz erkannt hat, und sich in seinen Maßnahmen vielfach scheinbar zugunsten des volkswirtschaftlich sinnvollen Sanierungsgedankens entschieden hat. Doch ist die Bedeutung des Steueraufkommens – auch und vor allem im Krisenfall – zu groß und reichen die Wurzeln des fiskalischen Gedankens bei denen das Steuerrecht tragenden Institutionen (insbesondere der Finanzgerichte und der Verwaltung) zu tief, so dass der fiskalische Ansatz – ob sinnvoll oder nicht – nach wie vor konsequent in der Praxis dominiert. Somit wird vom Gesetzgeber in Kauf genommen, dass ein – bis zum Urteil des Bundesfinanzhofes vom 9. Dezember 2010 – stringentes und durch erfreulich wenig Änderungen praktiziertes sowie weltweit anerkanntes deutsches Insolvenzrecht durch rechtsdogmatisch systemwidrige Elemente deutscher Steuergesetzgebung beschädigt wird. 63) 64)

RegE Haushaltsbegleitgesetz 2011 (HBeglG 2011), BT-Drucks. 17/3030 v. 27.9.2010. Vgl. im Detail auch IDW, WpH Edition „Sanierung und Insolvenz – Rechnungslegung und Beratung in der Unternehmenskrise“, 2017, Kap. E Rz. 99 – 116.

Vergütung von Insolvenzverwaltern – eine Sonderrechtszone? THORSTEN GRAEBER Inhaltsübersicht I.

„Allgemeine Erwartungen“ an ein Rechtsgebiet II. Die rechtliche Basis des insolvenzlichen Vergütungsrechts und seine historische Entwicklung III. Der Umgang der Rechtssetzer mit den Normierungsnotwendigkeiten

IV. Wirtschaftliche Bedeutung des Vergütungsrechts und Einordnung des Stellenwerts durch den Gesetzgeber V. Der Umgang der gerichtlichen Praxis … VI. Verhalten der Insolvenzverwalter VII. Ausblick

I. „Allgemeine Erwartungen“ an ein Rechtsgebiet Die Vergütung eines Insolvenzverwalters für seine Tätigkeit ist immer wieder Thema einer teilweise recht emotionsgeladenen Diskussion, innerhalb und außerhalb des Insolvenzrechts. Dies ist verständlich, da gern die unzureichende Befriedigung der Insolvenzgläubiger mit vermeintlich hohen Vergütungen der Insolvenzverwalter verglichen werden. Da es sich letztlich um eine Rechtsfrage handelt, wie in einem konkreten Verfahren eine Vergütung eines Insolvenzverwalters zulasten der anderen Verfahrensbeteiligten festzusetzen ist, bedarf es einer geeigneten gesetzlichen Regelung. Eine solche Regelung ist selbstverständlich sowohl in der InsO, in den § 63 bis § 65 InsO als auch in der InsVV vorhanden. Wie bei allen anderen Rechtsnormen zeitigen sich bei der konkreten Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben sowie der der Verordnung diverse Probleme, die durch die Praxis, die Rechtsprechung der Insolvenzgerichte sowie Obergerichte als auch durch Vorschläge aus der Literatur zu lösen sind. Üblicherweise findet sich hierdurch im Laufe der Zeit ein allgemeiner Konsens, der die Diskussion zu einem Ende führt, gefolgt von dem Auftauchen eines neuen, bislang nicht bekannten Rechtsproblems. Der Weg hierzu geht üblicherweise von ersten Lösungsansätzen der erstinstanzlichen Gerichte aus, welche in den unterschiedlichen Rechtsmittelinstanzen sowie durch eine Behandlung in der Literatur insbesondere dahingehend überprüft werden, ob diese mit dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Bestimmungen

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sowie der rechtlichen Systematik übereinstimmen. Je länger ein Rechtsproblem behandelt und diskutiert wird, umso tiefer geht die rechtliche Durchdringung, gern auch bis zu einem Rückgriff auf grundrechtliche Prinzipien. Im zivilrechtlichen Bereich werden solche Problemlagen oft durch Entscheidungen des Bundesgerichtshofes aufgelöst, welcher nach einer vertieften Darstellung des Problems selbst, den richtigen Lösungsweg unter Rückgriff auf rechtsdogmatische Grundsätze unter Behandlung aller alternativen Lösungswege in einer Weise darstellt, dass die Unterinstanzen nicht allein aus Respekt gegenüber dem Bundesgerichtshof diesen Lösungsweg übernehmen, sondern vielmehr der Argumentationslogik des Bundesgerichtshofes infolge seiner Richtigkeit, seiner Durchdringung der Problemlage und der Rückführung auf grundlegende Prinzipien der Rechtsanwendung folgen. Dies dürfte so oder in ähnlicher Weise in allen Rechtsgebieten der Fall sein. Der rechtliche Bereich der Behandlung der Vergütung von Insolvenzverwalter entspricht dieser Praxis jedoch in vielen Fällen nicht. II. Die rechtliche Basis des insolvenzlichen Vergütungsrechts und seine historische Entwicklung Die KO von 1877 sah, wie auch die InsO von 1999, keine eigene Regelung zum Bemessung der Vergütung von Konkursverwaltern vor. § 85 KO stellte zwar den Anspruch des Verwalters auf Vergütung fest, übertrug die Klärung der Vergütung den Landesjustizverwaltungen. Erst 1936 ergingen erstmalig „Richtlinien für die Vergütung eines Konkursverwalters“1). Bei ihnen handelte es sich um eine Übernahme der Vergütungsrichtlinien des AG BerlinMitte, welches sich mangels landesrechtlicher Regelung selbst geeignete Grundsätze gegeben hatte. Diese Richtlinien galten auch nach dem Krieg weiter und wurden erst 1960 durch die Verordnung über die Vergütung des Konkursverwalters – VergVO2) ersetzt.

1)

2)

Richtlinien für die Vergütung des Konkurs- und Vergleichsverwalters und der Mitglieder des Gläubigerausschusses und Gläubigerbeirats, AB d. RJM. v. 18.2.1936 (IV b 3410), Deutsche Justiz, S. 311, abrufbar unter https://www.insvv-online.de/richtlinien-fuerdie-verguetung-des-konkurs-und-vergleichsverwalters-und-der-mitglieder-desglaeubigerausschusses-und-glaeubigerbeirats-v-18-02-1936/ (Abrufdatum: 5.7.2019). Verordnung über die Vergütung des Konkursverwalters, des Vergleichsverwalters, der Mitglieder des Gläubigerausschusses und der Mitglieder des Gläubigerbeirats, BGBl. I 1960, 329, v. 22.6.1960, abrufbar unter https://www.insvv-online.de/richtlinien-fuerdie-verguetung-des-konkurs-und-vergleichsverwalters-und-der-mitglieder-desglaeubigerausschusses-und-glaeubigerbeirats-v-18-02-1936/ (Abrufdatum: 5.7.2019).

Vergütung von Insolvenzverwaltern – eine Sonderrechtszone?

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Vergleicht man die Richtlinien mit der VergVO, fallen keine bemerkenswerten Veränderungen auf, sieht man einmal von den Staffelsätzen ab. Diese VergVO wurde zuletzt im Jahre 1979 geändert und gilt – insbesondere auch mit ihren Vorgaben hinsichtlich einer Regelvergütung – auch über das Jahr 1999 hinaus. Noch im Jahre 2016 hatte der Bundesgerichtshof über ein Verfahren nach der VergVO zu entscheiden. Für die InsO wurde die VergVO durch die InsVV ersetzt. Zwar enthält die InsVV einige gegenüber der VergVO zusätzliche Regelungen, die stärkere Ausdifferenzierung der verschiedenen Verfahrenssituationen durch die InsO übernimmt die InsVV jedoch nicht. Ein Vergleich der InsVV mit der VergVO zeigt, dass sich der Verordnungsgeber mit einer geringen Anpassung der VergVO zufriedengegeben hat, eine Änderung gegenüber der vorherigen Normierung, wie sie die InsO gegenüber der KO darstellt, jedoch unterlassen wurde. III. Der Umgang der Rechtssetzer mit den Normierungsnotwendigkeiten Bereits vor Geltung der InsO wurde einhellig festgestellt, dass sich ein Insolvenzverwalter nach der InsO verschiedenen Aufgaben zu stellen hat, die einem Verwalter nach der KO bislang nicht oblagen. Nicht allein die Tabellenführung und die Übernahme der Zustellungen für das Insolvenzgericht kamen für den Insolvenzverwalter hinzu, sondern auch zahlreiche andere Aufgaben waren nun durch den Verwalter zu bewältigen. Hinsichtlich der Vergütung sah die InsVV eine Reduzierung des Regelsatzes gegenüber der bisherigen Praxis nach der VergVO vor, welche ohne nähere Begründung einem Konkursverwalter, ohne dass es sich um einen Zuschlag gehandelt hätte, nicht etwa den Regelsatz des § 3 VergVO zubilligte, sondern vielmehr von einer Regelvergütung i. H. des vierfachen Regelsatzes ausging. Eine nachvollziehbare Begründung, warum ein Insolvenzverwalter für ein erhebliches Mehr an Aufgaben, Pflichten und Haftungsrisiken grundsätzlich eine geringere Regelvergütung erhalten sollte, enthielt die Begründung zur InsVV nicht.3) Seit 1999 sind weitere Aufgaben und Pflichten für den Insolvenzverwalter hinzugekommen. Eine Anpassung der Regelsätze der InsVV hatte dies nicht zur Folge. Der Verordnungsgeber, der Justizminister, hat es weder für die insoweit seit 1972 unveränderte VergVO noch für die seit 1999 insoweit 3)

Abrufbar unter https://www.insvv-online.de/begruendung_1998/ (Abrufdatum: 5.7.2019).

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unveränderte InsVV für notwendig gehalten, eine Anpassung vorzunehmen. Es ist auch nicht ersichtlich, ob die diversen Justizminister seit 1972 oder seit 1999 überhaupt erwogen haben, zu prüfen, ob ihre Regelungen, welche nunmehr 47 bzw. 20 Jahre alt sind, aufgrund rechtlicher, tatsächlicher und oder wirtschaftlicher Veränderungen anzupassen wären. Hierzu ist der Bundesjustizminister jedoch verpflichtet. Diese Verpflichtung ergibt sich einerseits aus seiner Aufgabe entsprechend der Verordnungsermächtigung in § 65 InsO als auch aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 31. August 20154). Dieses hatte dem Bundesjustizminister aufgegeben, diese Entwicklungen zu beobachten und in geeigneter Weise zu reagieren. Dass eine Beobachtung erfolgt wäre, ist für einen Außenstehenden nicht ersichtlich. Ersichtlich ist jedoch, dass sich die Bezüge der Bundesjustizminister und seiner Mitarbeiter seit 1999 stärker erhöht haben,5) als sich der Verbraucherpreisindex in diesem Zeitraum entwickelt hat.6) IV. Wirtschaftliche Bedeutung des Vergütungsrechts und Einordnung des Stellenwerts durch den Gesetzgeber Die Vergütung der Insolvenzverwalter ist nicht nur insoweit von Bedeutung, als deren Höhe sich negativ auf die Befriedigungsquote der Insolvenzgläubiger auswirkt. Es darf nicht übersehen werden, dass es für ein optimales Verfahrensergebnis auch wichtig ist, dem Handelnden, also dem Insolvenzverwalter für seine Tätigkeit, seine Belastungen, seine Risiken und seinen Einsatz eine angemessene und passende Vergütung zuzubilligen. Die Anforderungen an einen Insolvenzverwalter sind sehr hoch und es kann nur dann langfristig erwartet werden, dass entsprechend qualifizierte Personen für diese Tätigkeit zur Verfügung stehen, wenn die Anforderungen und Belastungen durch eine angemessene Vergütung ausgeglichen werden. Zu erinnern ist an die Zeit der 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts, zu der ein erheblicher Mangel an qualifizierten Verwalterpersönlichkeiten herrschte. Erst als sich die gerichtliche Praxis dazu entschied, anstelle eines einfachen Regelsatzes nach der VergVO generell ein Vielfaches an Vergütung zuzubilligen, verbesserte sich diese Situation. Eine angemessene Vergütung

4) 5) 6)

BVerfG, Beschl. v. 31.8.2005 – 1 BvR 700/05, ZIP 2005, 1694 = NZI 2005, 618. Die Besoldungsstufe B11 stieg von 1998 mit 9.671,09 € auf 14.749,49 € für das Jahr 2020, was einer Steigerung um 53 % entspricht. Der Verbraucherpreisindex stieg von 1998 zu 2018 von 84 auf 111,43, was einer Steigerung von 33 % entspricht.

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ist daher nicht nur grundsätzlich sachgerecht, sondern notwendig, um qualifizierte Spezialisten dauerhaft für die Tätigkeit in Insolvenzverfahren zu gewinnen und zu erhalten und diese keinen Anreizen auszusetzen, die zwingend notwendige Kostendeckung eventuell in indirekter Weise zu erreichen. Auf die Wichtigkeit eines Rechtsproblems versuchen die Gesetze in verschiedener Weise zu reagieren. Hinsichtlich zivilrechtlicher Streitigkeiten hat der Gesetzgeber die Einordnung getroffen, wonach Streitigkeiten mit einem Wert bis 5.000 € grundsätzlich durch einen Einzelrichter am Amtsgericht zu entscheiden sind. Auch bei rechtlichen und oder tatsächlichen Schwierigkeiten verbleibt es bei der Entscheidung eines Richters. Wird der Wert von 5.000 € überschritten und entsteht hierdurch die Zuständigkeit des Landgerichtes, entscheidet zwar dort gemäß § 348 Abs. 1 ZPO grundsätzlich auch ein Einzelrichter, in bestimmten Rechtsgebieten, bei besonderen Schwierigkeiten oder Rechtssachen grundsätzlicher Bedeutung ist jedoch die Entscheidung durch die mit mehreren Richtern besetzte Kammer zu treffen. In Insolvenzverfahren geht es zumeist um Vergütungsansprüche mit einem Wert von mehr als 5.000 €. Insbesondere in Großverfahren kommt es auch zu Vergütungen im dreistelligen Millionenbereich. Die Bemessung einer angemessenen Vergütung in diesem Verfahren ist sowohl tatsächlich als auch rechtlich schwierig. Gleichwohl ist der Gesetzgeber der Ansicht, dass die damit zusammenhängenden Vergütungsentscheidungen weder durch einen Richter noch durch ein Richterkollegium getroffen werden müssten. Vielmehr sollen die Vergütungsentscheidungen, solange kein Richtervorbehalt ausgesprochen worden ist, einzig und allein durch die Rechtspfleger getroffen werden, ohne dass beispielsweise § 5 RPflG eine Vorlage an den Insolvenzrichter vorsehen würde, wenn es sich um Verfahren mit besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten handelt. Eine rechtlich schwierige Entscheidung über einen Kaufpreisanspruch mit einem Wert von 6.000 € ist daher durch drei Richter zu entscheiden und ein Vergütungsanspruch von beispielsweise 32 Mio. € brutto durch einen einzelnen Rechtspfleger. Diese grundlegende Wertung macht deutlich, welche Bedeutung der Gesetzgeber dem Vergütungsrecht in Insolvenzverfahren und dem Vergütungsanspruch des Insolvenzverwalters zumisst. V. Der Umgang der gerichtlichen Praxis … Der Umgang vieler Insolvenzgerichte mit dem Vergütungsanspruch eines Insolvenzverwalters und den allgemeinen Verfahrensregelungen entsprechen

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in großem Umfang nicht dem, was in vergleichbaren Verfahren als Mindeststandard gefordert wird. Dieser Umgang mit dem Recht, der selbstverständlich nicht überall zu kritisieren ist, wird sowohl von den Beschwerdegerichten als auch vom Bundesgerichtshof im Wesentlichen hingenommen. Teilweise sind auch die Obergerichte insoweit zu kritisieren. Die Problemfälle sind den Praktikern bekannt. Gleichwohl sollen einige Beispiele hier benannt werden, die aus Sicht eines Zivilrichters erschreckend erscheinen. So entscheidet beispielsweise das Insolvenzgericht Essen über einen Vergütungsantrag von mehr als 27 Mio. € netto ohne jedwedes rechtliches Gehör der Mitglieder des Gläubigerausschusses oder gar der Insolvenzgläubiger.7) Die Prüfung dieses Antrages über eine Unternehmensfortführung von 13 Monaten inklusive eines Insolvenzplans usw. dauerte nur wenige Stunden, da das Insolvenzgericht die Festsetzung der Vergütung am Tag der Stellung des Vergütungsantrages vornehmen konnte. Für die Erhöhung der Vergütung durch einen Zuschlag um mehr als 21 Mio. € netto genügte dem Insolvenzgericht eine Begründung mit der Formulierung: „Im Hinblick auf Umfang und Schwierigkeit der Geschäftsführung im vorliegenden Verfahren ist die Festsetzung des 5-fachen Regelsatzes und damit auf den Betrag von 27.151.250,00 Euro gerechtfertigt.“

Zu bemerken ist, dass das Insolvenzgericht einen „Rechnungsabgrenzungsposten“ mit einem Wert von 37.900.000 € als Bestandteil der Insolvenzmasse akzeptiert hatte, was im Ergebnis zu einer Erhöhung der Bruttovergütung um 1.127.525,00 € führte. Die Mitglieder des Gläubigerausschusses, welche für zehn Sitzungen eine Nettovergütung von mehr als jeweils 100.000 € erhalten haben, hielten dies nicht für kritikwürdig. Die Vergütungsentscheidungen werden in der Regel nicht entsprechend den Vorgaben des § 64 Abs. 2 InsO veröffentlicht. Auch nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 14. Dezember 20178) hat sich diese Praxis der Insolvenzgerichte kaum verändert. Zwar ist es jedem Insolvenzgericht zuzustehen, dass es die Rechtsansicht des Bundesgerichtshofs insoweit nicht teilt, doch wäre es in einem solchen Fall notwendig, dass das Insolvenzgericht in seiner Entscheidung dazu Stellung nimmt, warum es hinsichtlich der Veröffentlichung von den Vorgaben des § 64 Abs. 2 InsO und der Rechtsansicht des Bundesgerichtshofs abweicht. Eine Auseinandersetzung der Insolvenzgerichte hiermit konnte bislang jedoch nicht festgestellt werden. Was 7) 8)

AG Essen, Beschl. v. 30.9.2010 – 160 IN 107/09. BGH, Beschl. v. 14.12.2017 – IX ZB 65/16, ZIP 2018, 86 = ZInsO 2018, 135.

Vergütung von Insolvenzverwaltern – eine Sonderrechtszone?

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jedoch festgestellt werden kann, ist die Art und Weise, wie einzelne Gerichte auf Rechtsmittel von Insolvenzverwaltern reagieren. Unter nicht sehr vorgehaltener Hand ist zu hören, dass Gerichte teilweise auf Rechtsmittel von Insolvenzverwaltern durch Veränderung ihres Verhaltens bei der Bearbeitung von Vergütungsanträgen allgemein oder der Bemessung der konkreten Vergütung in anderen Verfahren direkt reagieren. Eine solche Reaktionsweise ist aus anderen Rechtsbereichen nicht bekannt. Diverse Entscheidungen von Beschwerdegerichten lassen erkennen, dass auch diese mindestens hinsichtlich des Verfahrens von den sonst üblichen Grundsätzen abweichen. Ein rechtliches Gehör der von der zu treffenden Entscheidung betroffenen Personen findet zumeist nicht statt. Die Beschwerdeentscheidung enthält zumeist – wie bereits die Entscheidungen der Insolvenzgerichte – weder den der Entscheidung zugrunde liegenden Tatbestand noch die gestellten Anträge oder gar eine Begründung, die das Ergebnis der Entscheidung nachvollziehbar macht. Dass eine Vergütungsentscheidung eines Landgerichts jemals entsprechend § 64 Abs. 2 InsO veröffentlicht worden wäre, ist bislang nicht bekannt geworden. Auch der Bundesgerichtshof scheint in seinen Verfahren betreffend die Vergütung eines Insolvenzverwalters weder den Grundsatz des rechtlichen Gehörs der wirtschaftlich von seiner Entscheidung betroffenen Personen umzusetzen noch es für notwendig zu halten, dass seine Vergütungsentscheidungen entsprechend § 64 Abs. 2 InsO öffentlich bekannt gemacht werden. In vielen Verfahren ist den Insolvenzgläubigern nicht bekannt, dass die Verfahrensbeendigung und somit eine Ausschüttung von Insolvenzmasse dadurch verzögert wird, dass hinsichtlich der nicht ordnungsgemäß bekannt gemachten Vergütungsentscheidung des Insolvenzgerichts sowohl eine sofortige Beschwerde als auch eine Rechtsbeschwerde eingereicht worden ist. Weder kennen diese den Inhalt der Erstentscheidung noch haben sie die Möglichkeit ohne Akteneinsicht zu erkennen, dass sie sich in einem Beschwerdeverfahren beteiligen könnten. Zwar entscheiden die Insolvenzgerichte wirtschaftlich betrachtet auch über die Höhe ihrer Befriedigungsquote, doch haben sie keine Möglichkeit, zu entscheiden, ob sie sich an einem Rechtsmittelverfahren beteiligen können und wollen. Die oft formal unzulänglichen Vorentscheidungen werden vom Bundesgerichtshof kaum einmal ob der Verletzung von Formalien kritisiert. Dies mag daran liegen, dass der Bundesgerichtshof in seinen eigenen Entscheidungen auch die Genauigkeit vermissen lässt, welche in anderen Rechtsbereichen

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von ihm als Mindestmaßstab gefordert wird. So spricht der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 21. Juli 20169) in Leitsatz e) davon, man könne dem vorläufigen Sachwalters dafür, dass er auf die Festsetzung seiner Vergütung warten müsse, auf Antrag einen „Abschlag“ gewähren. Als Abschlag definiert § 3 Abs. 2 InsVV eine Verminderung der Vergütung. Was der Bundesgerichtshof wohl meint, ist ein Vorschuss, wie ihn § 9 InsVV definiert. Derartige Begriffsungenauigkeiten unterlaufen dem Bundesgerichtshof in seiner Besetzung mit fünf obersten Richtern kaum einmal. Betrachtet man die Art und Weise, wie der Bundesgerichtshof den Vergütungsanspruch eines vorläufigen Sachwalters entsprechend §§ 270a, 274 Abs. 1, 63 Abs. 1 InsO behandelt, erstaunt dies nicht. Während sich aus diesen Normen ein eigener Vergütungsanspruch ergibt, meint der Bundesgerichtshof in der genannten Entscheidung, dass es nicht erforderlich sei, von einem eigenen Vergütungsanspruch eines vorläufigen Sachwalters auszugehen. Die hierbei notwendige rechtsdogmatische Diskussion unter Berücksichtigung des Parallelfalls des vorläufigen Insolvenzverwalters unterlässt der Bundesgerichtshof, der andere Rechtsprobleme geringerer Bedeutung regelmäßig umfassender durchdringt. Eine solche Durchdringung der Problematik, inwieweit sich sonstige Masseverbindlichkeiten entsprechend § 55 Abs. 2 InsO auf den Wert der Insolvenzmasse gemäß § 35 InsO als Basis der Vergütungsbemessung gemäß § 63 Abs. 1 Satz 2 InsO auswirken, lässt auch die Entscheidung vom 2. März 201710) vermissen. Zwar handelt es sich bei dem insolvenzrechtlichen Vergütungsrecht um eine rechtliche Sondermaterie, von der alle Richter keine Vorkenntnisse besitzen, doch rechtfertigt dies nicht, das juristische Handwerkszeug der Rückbesinnung auf gesetzliche Regelungen und rechtsdogmatische Grundsätze außer Betracht zu lassen. VI. Verhalten der Insolvenzverwalter Die Entwicklung und insbesondere Fortentwicklung eines Rechtsgebiets erfolgt zumeist durch eine intensive Diskussion der diversen Problemlagen vor und mit dem Gericht durch die verschiedenen Beteiligten. Hierdurch werden regelmäßig alle denkbaren und geeigneten Argumente vorgebracht, betrachtet, abgewogen und eingeordnet. Dies führt regelmäßig im Laufe der Zeit zu einem mehr oder minder starken Konsens darüber, wie bestimmte rechtliche oder tatsächliche Problemlagen in der richtigen und angemesse9) 10)

BGH, Beschl. v. 21.7.2016 – IX ZB 70/14, ZIP 2016, 1592 = NZI 2016, 796. BGH, Beschl. v. 2.3.2017 – IX ZB 90/15, ZIP 2017, 979 = ZInsO 2017, 1051.

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nen Weise rechtlich zu behandeln sind. Motor einer solchen wünschenswerten Entwicklung sind insbesondere die Kritiker der gerichtlichen Entscheidungen, also in diesem Zusammenhang fast ausschließlich die Insolvenzverwalter i. R. ihrer Vergütungsanträge sowie der Begründungen etwaiger Rechtsmittel. Während allgemein nicht festgestellt werden kann, dass Insolvenzverwalter grundsätzlich mit der Umsetzung der ihnen zugewiesenen Ansprüche zögerlich und dabei rechtsmitteladvers wären, ist hinsichtlich deren Verhalten gegenüber dem Insolvenzgericht eine extreme Zurückhaltung festzustellen. Angezeigte und wohl häufig auch erfolgversprechende Rechtsmittel gegen Entscheidungen der Insolvenzgerichte werden von Insolvenzverwaltern zumeist nicht genutzt, da diese – in vielen Fällen berechtigterweise – Nachteile für sich befürchten, wenn sie gegen insolvenzgerichtliche Entscheidungen vorgehen. Zwar dürfte dies im Interesse einer effektiven und sachgerechten Justiz nicht der Fall sein, doch ist die Rechtspraxis tatsächlich so, dass es einem Insolvenzverwalter nicht in jedem Fall angeraten werden kann, seine Rechte zur Überprüfung der insolvenzgerichtlichen Entscheidungen in Anspruch zu nehmen. Dieser Verzicht auf die diversen Rechtsmittelmöglichkeiten verhindert eine Fortentwicklung des Rechts hin zu einer angemessenen und dogmatisch richtigen Praxis. Die dadurch mangelnde Kontrolle der Insolvenzgerichte verführt diese mehr und mehr dazu, die bei ihrer Arbeit und ihren Entscheidungen zu beachtenden Grundsätze außer Acht zu lassen. So kommt es teilweise zu Vergütungsentscheidungen über Dutzende Millionen Euro, deren Begründungsinhalt und -umfang nicht einmal den Anforderungen an eine amtsrichterliche Entscheidung gemäß § 495a ZPO bei einem Streitwert von 10 € genügen würde. VII. Ausblick Über Schwachstellen der insolvenzrechtlichen Vergütungspraxis könnte noch lang berichtet werden. Selbstverständlich gibt es auch eine umfangreiche Praxis der Insolvenzgerichte, welche nicht in der hiesigen Weise zu kritisieren wäre. Um diesen sachgerechten Umgang mit der besonderen Materie des insolvenzrechtlichen Vergütungsrechts geht es an dieser Stelle jedoch nicht. Vielmehr sollte bemerkt werden, dass sich diese Vergütungspraxis in besonderer Weise von der normalen Entwicklung eines Rechtsgebiets entfernt und nicht demjenigen entspricht, was insbesondere

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von Gerichten im Umgang mit Ansprüchen und Rechtsnormen als grundlegender Standard zu fordern ist. Die Missstände beruhen auf einem misslichen Zusammenwirken aller Beteiligten. Der Bundesjustizminister kommt seiner Aufgabe zur Aktualisierung der Vergütungsnormen der VergVO und InsVV nicht nach und unterlässt es beispielsweise weiterhin, die Vergütung des Verfahrenskoordinators gemäß § 269g InsO zu regeln, obwohl diese Notwendigkeit bereits seit Erlass des Gesetzes im April 2017 bestand. Die Insolvenzgerichte sind den Anforderungen hinsichtlich der Vergütungsbemessung insbesondere in Großverfahren kaum gewachsen und die Insolvenzverwalter nehmen weiterhin beides hin. Eine Veränderung und insbesondere Verbesserung der aktuellen Situation ist vorerst nicht zu erwarten. Ein Verbesserung könnte sicherlich insbesondere dadurch erreicht werden, dass der Bundesgerichtshof wieder vereinfacht in die Behandlung der vergütungsrechtlichen Rechtsfragen einbezogen wird, was durch eine Reaktivierung des früheren § 7 InsO möglich wäre. Eine Neufassung des gesamten Vergütungsrechts in Insolvenzverfahren wäre sicherlich angezeigt, um einige Schwierigkeiten und Probleme der Praxis zu beseitigen oder zumindest zu vereinfachen. Wünschenswert wäre auch eine einfachere Behandlung und Bemessung von Erhöhungstatbeständen, welche sowohl das Antragsverfahren als auch das Festsetzungsverfahren erleichtern könnte und womöglich auch zu einer besseren Transparenz der Festsetzungsentscheidungen führte. Eine Änderung oder Novellierung des insolvenzrechtlichen Vergütungsrechts könnte auch mit einer Veränderung der Zuständigkeiten und des Verfahrens verbunden werden. Es ist nicht zwingend, dass die Vergütung des Insolvenzverwalters durch das zuständige Insolvenzgericht festzusetzen ist. Dies könnte auch an eine Stelle außerhalb des Insolvenzgerichts delegiert werden. Die notwendigen Erfahrungen und Kenntnisse könnten dort sicherlich in der gleichen Weise erarbeitet werden, wie sie sich die Mitarbeiter des Insolvenzgerichts selbst erarbeiten mussten. Genauso wenig wie der Zivilrichter die Vergütung der Rechtsanwälte zu bemessen hat, muss es unbedingt ein Mitarbeiter des Insolvenzgerichts sein, der über den Vergütungsanspruch des Insolvenzverwalters entscheidet. Eine Distanzierung der Vergütungsentscheidung von dem den Auftrag erteilenden Insolvenzgericht könnte einerseits das Verfahren entlasten und andererseits Befindlichkeiten vermeiden, welcher einer positiven Entwicklung dieses Rechtsgebiets entgegenstehen.

Vergütung von Insolvenzverwaltern – eine Sonderrechtszone?

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Eine solche Entwicklung wäre im Interesse aller am Verfahren beteiligten Personen wünschenswert, um klare und nachvollziehbare Entscheidungen in einem angemessenen Zeitrahmen unter Beteiligung aller Interessierten zu ermöglichen. Der aktuelle Rechtszustand entspricht dem Standard der Gerichte und der Praxis nicht. Die „Sonderrechtszone“ des insolvenzrechtlichen Vergütungsrechts sollte möglichst bald aufgelöst werden, damit an ihre Stelle ein Rechtsgebiet tritt, welches den an es zu stellenden hohen Anforderungen gerecht wird.

Präklusion im Wandel der Zeit DIETMAR GRUPP Inhaltsübersicht I. II. III. IV.

Die Sprache von 1933 1877 1924 1931 und 1933

V. 1939 bis 1950 VI. 1977 und 2002 VII. Fazit

Wer, wie der Jubilar, die durch das Zivilprozessreformgesetz vom 27. Juli 2001 eingeführte Zulassungsrevision von Anfang an in einem Zivilsenat des Bundesgerichtshofs miterlebt und ihre Umsetzung mitgestaltet hat,1) weiß um die Probleme der Zulassungsgründe.2) Seit langem ist anerkannt, dass die Zulassung der Revision zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten ist, wenn das Berufungsgericht das Verfahrensgrundrecht einer Partei auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG verletzt hat.3) Fast jede Nichtzulassungsbeschwerde enthält heute entsprechende Rügen. Der Anspruch einer Partei auf rechtliches Gehör ist auch dann verletzt, wenn das Berufungsgericht Präklusionsvorschriften wie die §§ 530, 531 ZPO offenkundig unrichtig angewandt hat.4) Das Verständnis dieser Normen beschäftigt den Revisionsrichter deshalb bereits im Massengeschäft der Beschwerdeverfahren, gelegentlich über eine Verfahrensrüge5) auch im Revisionsverfahren. I. Die Sprache von 1933 „Eine volkstümliche Rechtspflege ist nur in einem Verfahren möglich, das dem Volke verständlich ist und einen ebenso sicher wie schleunig wirkenden Rechtsschutz verbürgt. Die Parteien und ihre Vertreter müssen sich bewußt sein, daß die Rechtspflege nicht nur ihnen, sondern zugleich und vornehmlich der Rechtssicherheit des Volksganzen dient. Keiner Partei kann gestattet werden, das Gericht durch Unwahrheiten irrezuführen oder seine Arbeitskraft durch böswillige oder nachlässige Prozeßver-

1) 2) 3) 4) 5)

Godehard Kayser wurde am 4.7.2001 zum Bundesrichter ernannt. § 543 Abs. 2 ZPO. Vgl. nur BGH, Beschl. v. 27.3.2003 – V ZR 291/02, BGHZ 154, 288, 296 = NJW 2003, 1943, 1946. Etwa BGH, Beschl. v. 9.6.2005 – V ZR 271/04, NJW 2005, 2624. § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2b, § 559 Abs. 2 ZPO.

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Dietmar Grupp schleppung zu mißbrauchen. Dem Rechtsschutz, auf den jeder Anrecht hat, entspricht die Pflicht, durch redliche und sorgfältige Prozeßführung dem Richter die Findung des Rechts zu erleichtern.“

Mit diesen Worten beginnt der im Reichsgesetzblatt veröffentlichte Vorspruch des Gesetzes zur Änderung des Verfahrens in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten vom 27. Oktober 1933,6) der die Grundgedanken der neuen Regelungen zusammenfassen sollte. Das Gesetz bestimmte im Abschnitt „Maßnahmen zur strafferen Zusammenfassung des Streitstoffs“ folgende Neufassung des § 529 ZPO: „Die Parteien können Angriffs- und Verteidigungsmittel, die in erster Instanz nicht geltend gemacht sind, insbesondere neue Tatsachen und Beweismittel vorbringen. Neue Angriffs- und Verteidigungsmittel sowie Beweismittel und Beweiseinreden, die in erster Instanz hätten geltend gemacht werden können und deren Berücksichtigung die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde, sind jedoch nur zuzulassen, wenn nach der freien Überzeugung des Gerichts die Partei das Vorbringen in erster Instanz weder in der Absicht, den Prozeß zu verschleppen, noch aus grober Nachlässigkeit unterlassen hatte. Diese Vorschrift gilt entsprechend für das Vorbringen einer Partei, das in erster Instanz nach den §§ 279, 279a, 283 Abs. 2 zurückgewiesen worden ist.“

Erich Volkmar, Ministerialdirektor und Leiter der Abteilung für bürgerliches Recht und Zivilprozessrecht im Reichsjustizministerium, führte zur Erläuterung des Gesetzes aus: „Die im Zuge der nationalen Revolution liegende Erneuerung unseres Rechts, die unsere gesamten Rechtseinrichtungen volkstümlich gestalten und der neuen Staatsauffassung anpassen soll, kann sich nicht auf das Gebiet des materiellen Rechts beschränken, auf dem sie schon so machtvoll eingesetzt hat … Sie muß sich mit gleicher Kraft und vornehmlich auch auf das Zivilprozeßverfahren erstrecken, von dessen Brauchbarkeit für unsere Volksgenossen letzten Endes der praktische Wert unserer ganzen Privatrechtsordnung abhängt.“7)

Volkmar fährt fort, die verfehlte, aus einer „liberalistischen“ Gedankenwelt stammende Grundeinstellung des alten Rechts, die den Zivilprozess weitgehend dem freien Wechselspiel der Parteien überlassen habe, müsse überwunden werden. Die Parteien hätten ihr Interesse „(…) dem Volksinteresse an einer gesunden Rechtspflege unbedingt unterzuordnen,8) und da nichts die Gerichte mehr überlastet und nichts schädlicher für eine gesunde

6) 7) 8)

RGBl. I 1933, 780. Volkmar, Das neue Zivilprozeßrecht vom 27.10.1933, JW 1933, 2427. Vgl. in diesem Sinne bereits die Regierungserklärung Adolf Hitlers in der Sitzung des Deutschen Reichstags v. 23.3.1933 (Protokolle der Verhandlungen des Reichstags, Bd. 457 S. 28): „Unser Rechtswesen muss in erster Linie der Erhaltung dieser Volksgemeinschaft dienen. Der Unabsetzbarkeit der Richter auf der einen Seite muss die Elastizität der Urteilsfindung zum Zweck der Erhaltung der Gesellschaft entsprechen. Nicht das Individuum kann der Mittelpunkt der gesetzlichen Sorge sein, sondern das Volk!“

Präklusion im Wandel der Zeit

301

Rechtspflege ist als Prozeßverschleppung, so ist deren tatkräftige Bekämpfung nicht nur das Recht, sondern zugleich ernsteste Pflicht des Gerichts.“9)

Im Kern findet sich die Regelung des Jahres 1933 noch in der heutigen Vorschrift des § 531 Abs. 2 ZPO über die Präklusion neuen Vorbringens in der Berufungsinstanz. Beruht diese Präklusion deshalb auf nationalsozialistischem Gedankengut? Die nachfolgenden Ausführungen werden zeigen, dass dem nicht so ist. II. 1877 Die Civilprozeßordnung (CPO) für das Deutsche Reich vom 30. Januar 1877,10) in Kraft getreten am 1. Oktober 1879, enthielt nur in sehr geringem Umfang Präklusionsnormen. Nach § 252 CPO11) konnte nachträglicher Vortrag in erster Instanz unter engen Voraussetzungen zurückgewiesen werden, allerdings nur Vortrag des Beklagten und nur auf Antrag des Klägers. Im Berufungsverfahren galt diese Norm mit der Einschränkung, dass die Geltendmachung zurückgewiesener Verteidigungsmittel dem Beklagten vorzubehalten war;12) in Betreff dieser Verteidigungsmittel blieb der Rechtsstreit in der Berufungsinstanz anhängig.13) Hiervon abgesehen war das Recht der Parteien, im Berufungsverfahren neue Angriffs- und Verteidigungsmittel vorzubringen (beneficium novorum), nicht beschränkt. Der Rechtsstreit wurde im Sinne eines novum iudicium neu verhandelt.14) Diese Regelung lag auf der Linie der Grundkonzeption der CPO. Im Anschluss an die Reichsgründung des Jahres 1871 sollte eine einheitliche Prozessordnung für das gesamte Deutsche Reich geschaffen werden. Geprägt durch eine sich im 19. Jahrhundert entwickelnde liberale Prozessauffassung nach dem Vorbild des französischen code de procédure civile wurde in Abkehr vom gemeinrechtlichen schriftlichen Verfahren das Mündlichkeitsprinzip eingeführt, die Prozessführung weitgehend den Prozessparteien 9) 10) 11)

12) 13) 14)

Volkmar, JW 1933, 2427, 2428. RGBl. 1877, 83. „Vertheidigungsmittel, welche von dem Beklagten nachträglich vorgebracht werden, können auf Antrag zurückgewiesen werden, wenn durch deren Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögert werden würde, und das Gericht die Ueberzeugung gewinnt, daß der Beklagte in der Absicht, den Prozeß zu verschleppen, oder aus grober Nachlässigkeit die Vertheidigungsmittel nicht früher vorgebracht hat.“ § 502 CPO (= § 540 ZPO 1898), vgl. dazu Hahn, Die gesammten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, 1881, Bd. 2, 1. Abt. S. 130. § 503 CPO (= § 541 ZPO 1898). Näher Senft, Neues Vorbringen in der Berufungsinstanz, 1968, S. 30 f.

302

Dietmar Grupp

überlassen und dem Gericht als der Staatsgewalt eine eher passive Rolle zugeschrieben.15) Die praktischen Folgen dieser Grundkonzeption waren bald Gegenstand kritischer Äußerungen. Otto Bähr16) sah den Fehler des Gesetzes schon im Jahr 188517) darin, dass „(…) neben der Möglichkeit des Guten auch die Möglichkeit des Schlechten einen zu großen Spielraum hat“.

Die Prozessordnung begünstige die Unvollkommenheit der Menschen dadurch, dass sie ihnen volle Freiheiten gewähre. „Bleiben die Zustände, wie sie gegenwärtig sind, so wage ich vorauszusagen, dass im Laufe eines Menschenalters der Werth unserer Rechtsprechung durch die Verlotterung des Processes tief gesunken sein wird.“

Noch drastischer formulierte der Abgeordnete Lenzmann 1898 im Reichstag: „Es freut mich zunächst, daß die sämmtlichen Redner in dem einen Punkte übereinstimmen, dass unsere CPO nichts taugt (…). Wir haben das schon im ersten Jahre an unserem eigenen Fleisch und Bein verspürt, daß jenes Gesetzgebungswerk ein gelungenes nicht zu nennen ist.“18)

III. 1924 Unter dem Einfluss der von Franz Klein entwickelten österreichischen Zivilprozessordnung vom 1. August 1895, die mit großem Erfolg auf einen straffen Amtsbetrieb und eine verstärkte richterliche Prozessleitung setzte,19) nahm auch in Deutschland die Diskussion über eine Reform des Zivilprozessrechts zu. Einer der Kritikpunkte blieb der schleppende Gang der Prozesse. Seit 1920 war beim Reichsministerium der Justiz eine ständige Zivilprozesskommission eingerichtet. Erste Änderungen der Präklusionsvorschriften brachte die Verordnung über das Verfahren in bürgerlichen 15)

16) 17) 18) 19)

Eingehend dazu Bettermann, Hundert Jahre Zivilprozeßordnung – Das Schicksal einer liberalen Kodifikation, ZZP 91 (1978), 365 ff.; vgl. auch Dahlmanns, Der Strukturwandel des deutschen Zivilprozesses im 19. Jahrhundert, 1971, S. 86 ff.; Meyer, Wandel des Prozessrechtsverständnisses – vom „liberalen“ zum „sozialen“ Zivilprozess?, JR 2004, 1. Reichsgerichtsrat und Reichstagsabgeordneter der Nationalliberalen Partei. JhJb Bd. 23, S. 426, 432 (zit. nach Henckel, Gedanken zur Entstehung und Geschichte der Zivilprozeßordnung, in: FS Bruns, 1980, S. 111 f.). Hahn/Mugdan, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 8, Neudruck 1983, S. 243. Eingehend Sprung, Die Ausgangspositionen österreichischer Zivilprozessualistik und ihr Einfluß auf das deutsche Recht, ZZP 92 (1979), 4 ff.

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303

Rechtsstreitigkeiten vom 13. Februar 1924.20) Für das erstinstanzliche Verfahren wurde die Möglichkeit, verspätetes Vorbringen zurückzuweisen, auf Vortrag des Klägers ausgedehnt und von einem Antrag unabhängig gemacht.21) Für das Berufungsverfahren wurde der Grundsatz, dass neue Tatsachen vorgebracht werden können, beibehalten.22) Neu eingeführt wurde aber in § 529 Abs. 2 ZPO folgende Regelung: „Angriffs- und Verteidigungsmittel sowie Beweismittel und Beweiseinreden, die in erster Instanz nicht geltend gemacht worden sind, können zurückgewiesen werden, wenn durch deren Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits verzögert werden würde und nach der freien Überzeugung des Gerichts die Partei in der Absicht, den Prozeß zu verschleppen oder aus grober Nachlässigkeit sie nicht früher vorgebracht hat.“

Gleiches sollte für Vorbringen gelten, das in erster Instanz zurückgewiesen worden war, und für neuen Vortrag im Berufungsverfahren, soweit dieser an sich zulässig, aber nicht in der Berufungsbegründung enthalten war. Die Neuregelung war stark umkämpft.23) Der deutlich weiter gehende Entwurf des Ministeriums musste im Verlaufe der Beratungen einem Kompromiss weichen.24) Zu Ursache, Inhalt und Zielen der Reform äußerte sich der damalige Ministerialrat im Reichsjustizministerium Erich Volkmar – der nämliche, der als Ministerialdirektor die spätere Novelle des Jahres 1933 mit nationalsozialistischem Vokabular anpries – dem Zeitgeist der 20er-Jahre entsprechend wie folgt:25) „Die schweren wirtschaftlichen Erschütterungen der letzten Jahre haben die Mängel unseres Prozeßverfahrens, die hauptsächlich in seiner Langsamkeit und Umständlichkeit bestehen und unter normalen wirtschaftlichen Verhältnissen allenfalls ertragen werden konnten, ständig schwerer und drückender hervortreten lassen (…). Der gewöhnliche Gang des Zivilprozesses mit der endlosen Kette von Vertagungen, mit der Häufung von Verhandlungen und Beweiserhebungen erbittert nicht nur die Rechtsuchenden, schädigt nicht nur das Ansehen der Rechtspflege, sondern er bedeutet auch eine Vergeudung der Kraft von Richtern und anderen Gerichtsorganen, die in einer Zeit, in der nur wirtschaftlichste Geschäftsführung, peinlichstes Sparen unsere Existenz erhalten kann, unmöglich weiter geduldet werden darf.“

20) 21) 22) 23) 24) 25)

RGBl. I 1924, 135; nach dem damaligen Reichsjustizminister auch „Emminger-Verordnung“ genannt. §§ 279, 283 Abs. 2 ZPO. § 529 Abs. 1 ZPO. Vgl. nur Curtius, Parlamentarisches zur Zivilprozeßreform, JW 1924, 354 ff.; weitere Nachweise bei Schumann in: Stein/Jonas, ZPO, 20. Aufl. 1977 – 1989, Einl. Rz. 124. Curtius, JW 1924, 354, 357 f., 360; Senft, Neues Vorbringen in der Berufungsinstanz, 1968, S. 38 f. Curtius, JW 1924, 345 f.

304

Dietmar Grupp

Im Blick auf die Erweiterung der Präklusionsvorschriften führt Volkmar aus, die bisher für die erste Instanz geltenden Bestimmungen hätten sich als unwirksam erwiesen. Im Berufungsverfahren sei das Ausmaß der Verschleppung durch die unbeschränkte Zulässigkeit neuen Vortrags noch wesentlich vergrößert. Vielfach werde die erste Instanz zu einer bloßen Versuchsstation herabgedrückt. Erst in der Berufungsinstanz beginne die wirklich erschöpfende Verhandlung auf einer von dem erstinstanzlichen Prozessstoff oft völlig verschiedenen tatsächlichen Grundlage. Die darin liegende nutzlose Vergeudung der in erster Instanz aufgewendeten Arbeit von Richtern und Anwälten erscheine in der gegenwärtigen Zeit unerträglich.26) IV. 1931 und 1933 Die amtlichen Arbeiten an einer allgemeinen Reform des Zivilverfahrensrechts dauerten in den folgenden Jahren fort und mündeten in den im Jahr 1931 vom Reichsjustizministerium veröffentlichten „Entwurf einer Zivilprozeßordnung“. Der von Referenten des Ministeriums erstellte, aber auf den Arbeiten der Zivilprozesskommission fußende und mit der Kommission eingehend beratene Entwurf sollte zur Vorbereitung einer Neugestaltung des Prozessrechts dienen und eine öffentliche Diskussion ermöglichen.27) Er sah in § 494 für das Berufungsverfahren folgende Präklusionsnorm vor: „Angriffs- und Verteidigungsmittel sowie Beweismittel und Beweiseinreden, die in erster Instanz nicht geltend gemacht worden sind und deren Berücksichtigung die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde, sind jedoch nur zuzulassen, wenn nach der freien Überzeugung des Gerichts die Partei sie weder in der Absicht, den Prozeß zu verschleppen, noch aus grober Nachlässigkeit erst in zweiter Instanz vorgebracht hat. Diese Vorschrift gilt entsprechend für das Vorbringen einer Partei, das in erster Instanz nach den §§ … zurückgewiesen worden ist.“

Der hauptsächliche Unterschied zu der seit 1924 geltenden Fassung des § 529 Abs. 2 ZPO bestand darin, dass nach dem Entwurf eine Partei mit neuem, die Erledigung verzögerndem Vorbringen von vorneherein ausgeschlossen war, soweit es nicht ausnahmsweise zugelassen wurde, während das bisherige Recht dem Gericht lediglich die Möglichkeit eröffnet hatte, Vorbringen dieser Art zurückzuweisen. In den ausführlichen Erläuterungen zu dem Gesetzentwurf wird darauf hingewiesen, dass von der nach geltendem Recht bestehenden Zurückwei-

26) 27)

Curtius, JW 1924, 345, 349. Entwurf einer Zivilprozeßordnung, Berlin 1931, S. 245.

Präklusion im Wandel der Zeit

305

sungsbefugnis in der Praxis nur sparsam Gebrauch gemacht werde. Dies möge zum Teil daran liegen, dass die im Jahr 1924 eingeführten Vorschriften durch ihr bloßes Dasein die Parteien veranlasst haben könnten, sich mehr als früher schon in erster Instanz vollständig zu erklären. Teilweise hätten aber auch die Richter noch Hemmungen, von der Zurückweisungsmöglichkeit im Berufungsverfahren Gebrauch zu machen. Dem könne durch die Entwurfsfassung begegnet werden.28) Der Entwurf einer Neufassung der Zivilprozessordnung von 1931 wurde nie Gesetz. Er hatte jedoch einen erheblichen Einfluss auf spätere Änderungen der Zivilprozessordnung. Dies gilt insbesondere für die am 1. Januar 1934 in Kraft getretene Gesetzesnovelle vom 27. Oktober 1933.29) Sie statuierte zur Verfahrensbeschleunigung, neben der Änderung des § 529 ZPO, u. a. die Wahrheitspflicht der Parteien,30) sanktionierte verspätetes schriftsätzliches Vorbringen in erster Instanz31) und erweiterte die Pflicht zur Begründung der Berufung.32) Die eingangs wiedergegebene Neufassung von § 529 Abs. 1 und 2 ZPO entsprach fast wörtlich dem Vorschlag des Entwurfs von 1931.33) Gleichwohl fehlte es nicht an Versuchen, der Novelle ihrem Vorspruch folgend Züge weltanschaulicher Prägung zuzuschreiben34) und sie als Gesetz zu sehen, das im Zeichen der „nationalen Erhebung“ habe kommen müssen und nur in einer solchen Zeit habe kommen können.35) Diese Beurteilungen treffen jedoch nicht zu. Die Novelle setzte lediglich einen Teil der Vorschläge um, die im Reichsministerium der Justiz noch in der Zeit der Weimarer Republik ausgearbeitet worden waren. Selbst Volkmar, der bei der Vorstellung der Novelle in der Juristischen Wochenschrift so sehr die Erneuerung des Rechts im Zuge der nationalen Revolution betonte, räumte ein, dass sich die Novelle in der grundsätzlichen Richtung des ZPO-Entwurfs von 1931 bewege und aus dessen Verfahrensteil die wesentlichen Neuerungen vorwegnehme.36) Und die von 28) 29)

30) 31) 32) 33) 34) 35) 36)

Entwurf einer Zivilprozeßordnung, Berlin 1931, S. 347 f. Dannreuther, Der Zivilprozess als Gegenstand der Rechtspolitik im Deutschen Reich 1871 – 1945, S. 475 m. w. N.; Damrau, Die Entwicklung einzelner Prozeßmaximen seit der Reichszivilprozeßordnung von 1877, 1975, S. 408 f. § 138 Abs. 1 ZPO. §§ 272, 279 Abs. 2 ZPO. § 519 Abs. 3 ZPO. Näher Otto, Die Präklusion: Ein Beitrag zum Prozeßrecht, 1970, S. 41. Schwabe, Kammerprinzip und Wahrheitspflicht im neuen Zivilprozeß, JW 1934, 3174. Gündel (Senatspräsident am Reichsgericht), Das neue Zivilprozeßrecht, DRiZ 1933, 331, 332. Volkmar, JW 1933, 2427.

306

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Volkmar gegebene Einzelbegründung zur Verstärkung des Neuerungsverbots in der Berufungsinstanz gleicht in weiten Teilen den amtlichen Erläuterungen zu der entsprechenden Norm im Entwurf von 1931.37) V. 1939 bis 1950 Während des zweiten Weltkriegs wurden mehrere Vereinfachungsverordnungen und ab 1943 Kriegsmaßnahmenverordnungen erlassen, meist mit dem Ziel, die Zivilgerichtsbarkeit den veränderten Umständen anzupassen und mit den noch zur Verfügung stehenden Kräften wenigstens die wichtigsten Geschäfte der bürgerlichen Rechtspflege durchzuführen. Die Maßnahmen gipfelten in der Abschaffung der Berufung gegen Urteile der Amtsund Landgerichte zum 15. Oktober 1944.38) Zuvor war die Berufung in bemerkenswerter Weise umgestaltet worden. Mit der Dritten Vereinfachungsverordnung vom 16. Mai 194239) wurde in § 529 ZPO der bisherige Absatz 1 gestrichen und damit der seit Einführung der Zivilprozessordnung im Jahr 1879 geltende Grundsatz, dass im Berufungsverfahren neue Tatsachen vorgebracht werden können, abgeschafft. Nach dem neuen Wortlaut waren neue Angriffs- und Verteidigungsmittel nur zu berücksichtigen, wenn ihre Geltendmachung im ersten Rechtszug der Partei auch bei Berücksichtigung ihrer Pflicht zu einer sachgemäßen und sorgfältigen Prozessführung nicht zuzumuten war. Die Verordnung war aufgrund des Erlasses Hitlers über die Vereinfachung der Rechtspflege vom 21. März 1942 ergangen.40)

37) 38) 39) 40)

Vgl. einerseits Volkmar, JW 1933, 2427, 2430, andererseits Entwurf einer Zivilprozeßordnung, Berlin 1931, S. 344 ff. § 1 Abs. 1 der Zweiten Kriegsmaßnahmenverordnung, v. 27.9.1944, RGBl. I 1944, 229. Dritte Vereinfachungsverordnung, v. 16.5.1942, RGBl. I 1942, 333, § 7. Erlass des Führers über die Vereinfachung der Rechtspflege, v. 21.3.1942, RGBl. I 1942, 139. Dort heißt es u. a.: „Die Verteidigung von Volk und Reich erfordert reibungslose und schnelle Arbeit der Rechtspflege. Um die Gerichte (…) instand zu setzen, ihre Aufgaben unter den besonderen Verhältnissen des Krieges auch weiterhin zu erfüllen, bestimme ich: (…) Das Verfahren (…) in Zivilsachen (…) ist unter Fortfall aller entbehrlichen Maßnahmen und unter Einsatz aller verfügbaren Kräfte so weit zu vereinfachen und zu beschleunigen, wie dies mit dem Zweck des Verfahrens noch vereinbar ist (…) Rechtsbehelfe gegen gerichtliche Entscheidungen sind den Kriegsverhältnissen entsprechend zu gestalten (…) In Zivilsachen ist die Beschränkung neuen Vorbringens im Berufungsrechtszug zu verschärfen.“

Präklusion im Wandel der Zeit

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Nach Kriegsende wurde durch das Rechtseinheitsgesetz von 195041) nicht nur der Bundesgerichtshof errichtet,42) sondern auch auf dem Gebiet des Zivilprozessrechts im Wesentlichen der Rechtszustand nach der Novelle vom 27. Oktober 1933 wiederhergestellt. Dies gilt insbesondere für die Zulässigkeit neuen Vorbringens im Berufungsverfahren. Die Vorschrift des § 529 ZPO erhielt, von marginalen redaktionellen Änderungen abgesehen, wieder die Fassung vom 1. Januar 1934.43) In der Begründung des Gesetzentwurfs wurde hierzu ausgeführt, die mit der Dritten Vereinfachungsverordnung von 1942 eingeführte grundsätzliche Beschränkung des Novenrechts habe sich nicht bewährt, sie sei von den Rechtsuchenden als unbillige Rechtsverkürzung empfunden worden. Aus Kreisen der Richter und Anwälte sei der dringende Wunsch geäußert worden, im Interesse der Rechtsuchenden den alten Zustand wiederherzustellen.44) Die Novelle von 1933 wurde offenkundig nicht der spezifisch nationalsozialistischen Gesetzgebung zugerechnet. VI. 1977 und 2002 Die weitere Entwicklung hin zur heutigen Rechtslage soll hier nur kurz skizziert werden. Bedeutsame Veränderungen brachte zunächst die Vereinfachungsnovelle von 1977.45) Sie hielt zwar an der grundsätzlichen Zulässigkeit neuen Vortrags im Berufungsverfahren als zweiter Tatsacheninstanz fest, schränkte aber das Novenrecht in einem weiteren Umfang ein, als dies durch die Novellen von 1924 und 1933 geschehen war. Die bisherigen Beschränkungen wurden als nicht ausreichend erachtet, um das Ziel der Vereinfachungsnovelle zu erreichen, die Parteien schon im ersten Rechtszug zu einem möglichst erschöpfenden Sachvortrag anzuhalten.46) Ihre heutige Fassung erhielten die §§ 529 bis 531 ZPO durch das am 1. Januar 2002 in Kraft getretene Zivilprozessreformgesetz.47) Die Reform 41)

42) 43) 44) 45) 46) 47)

Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts, v. 12.9.1959, BGBl. I 1959, 455. Art. 1 Abs. 1 Nr. 10 und 52. Art. 2 Abs. 1 Nr. 80, BGBl. I 1950, 475. Köster, Die Beschleunigung der Zivilprozesse und die Entlastung der Zivilgerichte in der Gesetzgebung von 1879 bis 1993, Teil I, 1995, S. 401. Gesetz zur Vereinfachung und Beschleunigung gerichtlicher Verfahren, v. 3.12.1976, BGBl. I 1976, 3281, in Kraft getreten am 1.7.1977. Begr. RegE Vereinfachungsnovelle, BT-Drucks. 7/2729, S. 40 f. Gesetz zur Reform des Zivilprozesses, v. 27.7.2001, BGBl. I 2001, 1887.

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machte sich eine weitere Stärkung des Verfahrens in erster Instanz und eine Umgestaltung der Berufungsinstanz von einer zweiten Tatsacheninstanz zu einem Instrument vornehmlich der Fehlerkontrolle und -beseitigung zum Ziel.48) Funktion der Berufung sollte es nun sein, das erstinstanzliche Urteil auf die korrekte Anwendung des materiellen Rechts sowie auf die Richtigkeit und Vollständigkeit der getroffenen Feststellungen hin zu überprüfen und etwaige Fehler zu beseitigen.49) Das Berufungsgericht ist deshalb nach dem neuen § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO an richtige und vollständige Tatsachenfeststellungen der ersten Instanz gebunden. Daneben wurden die Voraussetzungen, unter denen im Berufungsverfahren neue Angriffsoder Verteidigungsmittel vorgebracht werden können, in § 531 Abs. 2 ZPO weiter verschärft. VII. Fazit In der Gesamtschau erweist sich die Novelle von 1933 mit ihrer Erweiterung der Präklusionsvorschriften für das Berufungsverfahren entgegen dem Eindruck, den der Vorspruch zur Novelle erweckt, nicht als nationalsozialistisch geprägte Maßnahme, sondern als organischer Schritt auf dem Weg vom parteigesteuerten Prozess der Civilprozeßordnung von 1877 hin zu einem Prozessrecht, das in besonderem Maß die Effizienz und Transparenz des Verfahrens ermöglichen soll. Deutlich geworden ist auch das Ringen des Gesetzgebers, in den Spannungsfeldern zwischen Parteiherrschaft und richterlicher Prozessleitung, zwischen materieller Wahrheit und zeitnaher Entscheidung das rechte, auch den gesellschaftlichen Verhältnissen der jeweiligen Zeit entsprechende Maß zu finden. Dieses rechte Maß zu finden, bleibt stets auch Aufgabe des Gerichts.

48)

49)

Zur Frage, ob dieses Ziel erreicht wurde, vgl. Roth, Zur Überwindung gesetzgeberischer Modellvorstellungen im zivilprozessualen Berufungsrecht durch das bessere Argument der höchstrichterlichen Rechtsprechung, JZ 2019, 115 m. w. N. Begr. RegE Gesetz zur Reform des Zivilprozesses, BT-Drucks. 14/4722, S. 61, 64.

Die Umsetzung des präventiven Restrukturierungsrahmens an der Schnittstelle zwischen Insolvenz- und Gesellschaftsrecht ULRICH HAAS Inhaltsübersicht I. II.

Einleitung Die Vorgaben der Restrukturierungsrichtlinie III. Sachzusammenhang IV. Verfassungsrechtliche Vorgaben V. Ökonomische Sinnhaftigkeit VI. Bekämpfung der Insolvenzverschleppung 1. Das bestehende System zur Bekämpfung der Insolvenzverschleppung 2. Einleitung eines Restrukturierungsverfahrens anstelle eines Insolvenzverfahrens

3. Suspendierung von Insolvenzantragsrecht und -pflicht a) Die Verlagerung des wirtschaftlichen Risikos b) Kompensation durch gerichtliche ex ante-Kontrolle c) Kompensation durch Haftung aa) Pflichten nicht zur Disposition der Gesellschafterversammlung bb) Notwendigkeit, Verhalten zu vermeiden, das die Bestandsfähigkeit gefährdet cc) Zusammenfassung VII. Schluss

I. Einleitung Die Europäische Union hat Ende 2016 einen Entwurf für eine Richtlinie für einen außerinsolvenzrechtliches Restrukturierungsrahmen1) vorgestellt.2) Am 28. März 2019 hat das Europäische Parlament den Vorschlag für die Richtlinie angenommen (nachfolgend Restrukturierungsrichtlinie). Am 26. Juni 2019 wurde die Restrukturierungsrichtlinie im Amtsblatt veröffentlicht. Ziel der Restrukturierungsrichtlinie ist es u. a., den Zugang von Unternehmen zu präventiven und effektiven Restrukturierungsmaßnah1)

2)

Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) – Restrukturierungsrichtlinie, ABl. (EU) L 172/18 v. 26.6.2019. Zur Vorgeschichte der Richtlinie, siehe Kayser, Eingriffe des Richtlinienvorschlags der Europäischen Union in das deutsche Vertrags-, Insolvenz- und Gesellschaftsrecht, ZIP 2017, 1393 ff.

310

Ulrich Haas

men im Vorfeld des Insolvenzverfahrens eröffnen.3) Nur zu diesem Aspekt der Richtlinie soll nachfolgend Stellung genommen werden. Die Mitgliedstaaten haben nun zwei Jahre Zeit, um die Vorgaben der Richtlinie in nationales Recht umzusetzen. Wie eine solche Umsetzung erfolgen kann, wird kontrovers diskutiert.4) In der Restrukturierungsrichtlinie wird ganz überwiegend ein Angriff auf die „Kernelemente der deutschen Insolvenzordnung“ gesehen.5) Im Mittelpunkt der Diskussion steht dabei die Frage, wie sich die Restrukturierungsrichtlinie zum nationalen Insolvenzrecht (der InsO) verhält, insbesondere ob und inwieweit die Restrukturierungsrichtlinie den bisherigen Anwendungsbereich der InsO verdrängt oder überlagert.6) 3) 4)

5)

6)

H. F. Müller, Sanierung nach der geplanten EU-Restrukturierungs-Richtlinie, ZGR 2018, 56, 58. Hier eine willkürliche Auswahl der bisherigen Stellungnahmen: Bork, Präventive Restrukturierungsrahmen: „Kömodie der Irrungen“ oder „Ende gut, alles gut“?, ZIP 2017, 1441 ff.; Heese, Die Funktion des Insolvenzrechts im Wettbewerb der Rechtsordnungen, JZ 2018, 179 ff.; Frind, Abschaffung von Kernelementen der deutschen Insolvenzordnung im Zuge der Umsetzung eines präventiven Restrukturierungsrahmens?, NZI 2018, 431 ff.; Ganter, Von der Beständigkeit rechtspolitischer Richtungsentscheidungen – Der Kampf für und gegen ein vorinsolvenzliches Sanierungsverfahren, in: FS Wimmer, 2017, S. 187 ff.; Dammann, Umsetzung des EU-Richtlinienvorschlags vom 22.11.2016: Vorschläge zur Einführung eines präventivenRestrukturierungsverfahrens, in: FS Wimmer, 2017, S. 162 ff.; Vallender, Harmonisierung des Insolvenzrechts in der EU schreitet voran – Zum Kommissionsentwurf einer Richtlinie für einvorinsolvenzliches Sanierungsverfahren, in: FS Wimmer, 2017, S. 537 ff.; Freitag, Grundfragen der Richtlinie über präventive Restrukturierungsrahmen und ihrer Umsetzung in das deutsche Recht, ZIP 2019, 541 ff.; Madaus, Die Vorgaben der EU-Richtlinie über präventive Restrukturierungsrahmen an den deutschen Gesetzgeber – Handlungsspielräume und grenzen, DB 2019, 592 ff.; Gruber, Drei Schritte zu einer deutsch-französischen Annäherung im Bereich Insolvenz und Restrukturierung, EuZW 2019, 181 ff. Frind, NZI 2018, 431; siehe auch Kayser, ZIP 2017, 1393, der darauf hinweist, dass der „Europäischen Union (…) für die Ausgestaltung des nationalen Insolvenzrechts jedenfalls nach bisherigem Verständnis der Verträge die Zuständigkeit fehlt“ und die Richtlinie als „Zugriff der Union auf die nationalen Insolvenzrechte“ bezeichnet; Vallender in: FS Wimmer, 2017, S. 537, 547 f. Spiekermann, Die Implementierung des EU-Restrukturierungsverfahrens – eine Renaissance der Vergleichsordnung?, ZInsO 2019, 429 ff.; Freitag, ZIP 2019, 541, 549 ff.; Gruber, EuZW 2019, 181, 183: deutsche Gesetzgeber wird nicht umhinkommen, den Weg einer Einheit von Insolvenz- und Sanierungsverfahren zu verlassen. Siehe auch Heese, JZ 2018, 179, 180: „Ein solches vorinsolvenzrechtliches Restrukturierungsrecht steht allerdings quer zur traditionellen Funtionsweise des deutschen Insolvenzrechts, das dem Gläubigerinterese verschrieben ist.“; Paulus, Ziele und EU-rechtliche Rahmenbedingungen, NZI Beilage 1/2017, S. 5, 7; siehe auch Nachweise bei Dammann in: FS Wimmer 2017, S. 162 f.; PLUTAnews 18/2019. S. 1: Richtlinie überlagert deutsches Insolvenz- und Vollstreckungsrecht so, dass Parallel-Insolvenzrecht geschaffen wird; Thole, Der Richtlinienvorschlag zum präventiven Restrukturierungsrahmen, ZIP 2017, 101, 102: spricht viel dafür, dass Richtline im systematischen Kontext der InsO umgesetzt werden wird.

Die Umsetzung des präventiven Restrukturierungsrahmens

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Nachfolgend soll dazu Stellung genommen werden. Dabei soll aber, auch wenn die Restrukturierungsrichtlinie rechtsformneutral formuliert ist,7) der Frage mit Blick auf die GmbH nachgegangen werden,8) stellt diese doch in Deutschland aufgrund ihrer vielfältigen Einsatzmöglichkeiten in der Praxis die zahlen- und umsatzmäßig bedeutendste Unternehmensform dar.9) II. Die Vorgaben der Restrukturierungsrichtlinie Die Restrukturierungsrichtlinie äußert sich zum zeitlichen Anwendungsbereich des Restrukturierungsrahmens nur sehr vage. Dieser ist nach Art. 1 Abs. 1 lit. a Restrukturierungsrichtlinie bei einer „wahrscheinlichen Insolvenz“ („liklihood of insolvency“) eröffnet. Die Definition dieses Begriffs überlässt Art. 2 Abs. 2 lit. b Restrukturierungsrichtlinie – ebenso wie die Ausgestaltung des Begriffs „Insolvenz“ (Art. 2 Abs. 2 lit. a Restrukturierungsrichtlinie) – dem nationalen Gesetzgeber. Auch aus dem Gesamtzusammenhang der Richtlinie ergeben sich kaum Vorgaben an den nationalen Gesetzgeber, wo der Restrukturierungsrahmen in zeitlicher Hinsicht zu verorten ist.10) Eindeutig ist nur, dass der zeitliche Anwendungsbereich desselben dem Insolvenzverfahren vorgelagert sein muss.11) Dies ergibt sich etwa aus dem ErwG 24, in dem es heißt, dass der Restrukturierungsrahmen bereits zu einem Zeitpunkt zur Verfügung stehen soll, „(…) bevor ein Schuldner nach nationalem Recht die Voraussetzungen für die Eröffnung eines Gesamteröffnungsverfahren erfüllt, das die Insolvenz des Schuldners voraussetzt“.

Ähnlich heißt es in Art. 1 Abs. 1 lit. a Restrukturierungsrichtlinie, dass der präventive Restrukturierungsrahmen „die Insolvenz abwenden“ soll. In dieselbe Richtung zeigt Art. 4 Abs. 1 Restrukturierungsrichtlinie, wonach der Schuldner „(…) Zugang zu einem präventiven Restrukturierungsrahmen haben [soll], der es ihm ermöglicht, sich zu restrukturieren, um eine Insolvenz abzuwenden.“

7) 8)

9) 10) 11)

Siehe Thole, ZIP 2017, 101, 111; Mock, Das künftige (harmonisierte) Insolvenzrecht – Entwurf einer Richtlinie zum Unternehmensinsolvenzrecht, NZI 2016, 977, 980. Der persönliche Anwendungsbereich des Restrukturierungsrahmen umfasst natürliche Personen und juristische Personen. Der Anwendungsbereich kann jedoch nach Art. 1 Abs. 4 Restrukturierungsrichtlinie auf juristische Personen (gemeint sind damit alle Gesellschaften, siehe auch Freitag, ZIP 2019, 541, 548) beschränkt werden. Haas/Kolmann/Kern in: Gottwald/Haas, Insolvenzrechtshandbuch, 6. Aufl. 2019, § 92 Rz. 1. Goetker in: Flöther, Sanierungsrecht, 2019, Kap. E Rz. 54 ff. Siehe Madaus, NZI 2017, 329, 330.

312

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Zwischen dem Restrukturierungsrahmen und dem Insolvenzverfahren muss mithin der Restrukturierungsrichtlinie zufolge ein „Abstand“ bestehen (sog. Abstandsgebot).12) Mit diesem Abstandsgebot unvereinbar wäre beispielsweise eine Lösung vergleichbar dem (alten) deutschen Vergleichsverfahren; denn danach war der Vergleichsvorschlag ja zusammen mit dem (Konkurs-) Eröffnungsantrag zu stellen.13) Aus dem Abstandsgebot folgt keinesfalls zwingend, dass der präventive Restrukturierungsrahmen im deutschen Recht auf Kosten des zeitlichen Anwendungsbereichs des Insolvenzverfahrens umzusetzen wäre. Zulässig wäre es zwar – wie mitunter vorgeschlagen –, den bisherigen Überschuldungstatbestand zu streichen und/oder zu modifizieren,14) um dadurch in zeitlicher Hinsicht „Platz“ für ein vorinsolvenzrechtliches Sanierungsverfahren zu schaffen.15) Zwingend ist dies jedoch keinesfalls.16) Aus europarechtlicher Sicht ist damit ein „Frontalangriff“ auf das nationale Insolvenzrecht durch eine Neugestaltung der Insolvenzauslöstatbestände nicht vorgegeben, ja nicht einmal angedeutet. Vielmehr steht dem deutschen Gesetzgeber ein weiter Ermessenspielraum17) zu, wie er den Restrukturierungsrahmen in das nationale Recht einpassen will. III. Sachzusammenhang In der Literatur wird immer wieder der Sachzusammenhang zwischen präventivem Restrukturierungsrahmen und Insolvenzrecht betont, um gerade 12)

13) 14)

15)

16) 17)

Siehe hierzu auch Ganter in: FS Wimmer, 2017, S. 184, 213; Kayser, ZIP 2017, 1393, 1397; Goetker in: Flöther, Sanierungsrecht, 2019, Kap. E Rz. 67; Freitag, ZIP 2019, 541, 549; a. A. Vallender in: FS Wimmer, 2017, S. 537, 548: nicht zwingend, da dass Restrukturierungsverfahren außerhalb der InsO angesiedelt ist. Spiekermann, ZInsO 2019, 429, 433; siehe auch Madaus, NZI 2017, 329, 339. Goetker/Schulz, Vorinsolvenzliches Sanierungsverfahren – Warum braucht die Praxis ein solches und wie könnte es aussehen?, ZIP 2016, 2095, 2103; Freitag, ZIP 2019, 541, 550; Andersch/Philipp, Damoklesschwert Insolvenzverschleppung – Nachweis der positiven Fortbestehensprognose noch vor Finalisierung des Sanierungskonzepts, NZI 2017, 782, 784; Gruber, EuZW 2019, 181, 184 f.: spricht einiges für eine Abschaffung; siehe hierzu auch Thole, ZIP 2017, 101, 104; Ganter in: FS Wimmer, 2017, S. 187, 213; Goetker in: Flöther, Sanierungsrecht, 2019, Kap. E Rz. 73. Der Tatbestand der Überschuldung liegt nämlich auf dem Zeitstrahl der wirtschaftlichen Abwärtsentwicklung in aller Regel vor der Zahlungsunfähigkeit, Haas in: Baumbach/ Hueck, GmbHG, 22. Aufl. 2019, Vor § 64 Rz. 25; K. Schmidt in: K. Schmidt/Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, 5. Aufl. 2016, Rz. 5.81; Gruber, EuZW 2019, 181, 185. Im Ergebnis auch Frind, NZI 2018, 431, 433. Siehe auch H. Schmidt, Der Richtlinienvorschlag für präventive Restrukturierungsrahmen aus Bankensicht, WM 2017, 1735, 1736.

Die Umsetzung des präventiven Restrukturierungsrahmens

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einen Anpassungsbedarf im Insolvenzrecht zu erklären. Ordnungsziele und Ordnungsinstrumente von Restrukturierungsrichtlinie und Insolvenzrecht weisen – so der Hinweis – große Gemeinsamkeiten auf mit der Folge, dass infolge der Umsetzung der Restrukturierungsrichtlinie vor allem das nationale Insolvenzrecht (teilweise) zu weichen habe.18) Es ist offensichtlich, dass es zwischen dem nationalen Insolvenzrecht (InsO) und der Restrukturierungsrichtlinie einen weiten Überschneidungsbereich gibt; denn das Ziel, Sanierungen zu fördern steht im Mittelpunkt beider Regelungsebenen.19) Das räumt auch die Restrukturierungsrichtlinie offen ein, wenn im Erwägungsgrund 4 darauf hingewiesen wird, dass auch im „(…) Insolvenzrecht immer häufiger nach präventiven Lösungen gesucht [wird und dass zunehmend] Verfahren bevorzug [werden], die im Gegensatz zum herkömmlichen Vorgehen, ein in finanzielle Schwierigkeiten geratenes Unternehmen zu liquidieren auf die Sanierung des Unternehmens oder zumindest die Bewahrung seiner noch wirtschaftlich bestandsfähigen Geschäftsbereiche abzielen.“

Der Blick allein auf das nationale Insolvenzrecht springt aber – aus einer ordnungsrechtlichen Perspektive – zu kurz. Letztlich geht es nämlich in der Restrukturierungsrichtlinie darum, das Verhalten von Unternehmen in der Krise innerhalb bestimmter schützenswerter Interessenkoordinaten steuern. Ein solches ordungsrechtliches Ziel weist aber nicht nur Parallelen zum Insolvenzrecht,20) sondern insbesondere auch – soweit es bei dem Schuldner um eine Gesellschaft handelt – zum Gesellschaftsrecht auf. Letzteres will nicht nur – ganz allgemein – unternehmerisches Verhalten innerhalb bestimmter Interessenkoordinaten steuern. Vielmehr kennt auch das Gesellschaftsrecht (hier das GmbH-Recht) ein System der Insolvenzprophylaxe, das der Unternehmensleitung ermöglichen soll, ein Abgleiten des Unternehmensträgers in die Insolvenz zu verhindern und die Gesellschaft (auch im Interesse der Gläubiger)21)

18) 19)

20)

21)

Siehe Nachweise in Fn. 5 und 6. Spiekermann, ZInsO 2019, 429, 431: unschwer zu erkennen, dass sich ein Teil der Richtlinieninhalte daher bereits im deutschen Insolvenzrecht wiederfindet; Madaus, NZI 2017, 329, 332: Richtlinienvorschlag will Sanierungskultur in Europa stärken. Er hat insoweit dieselbe Zielrichtung wie das ESUG aus dem Jahr 2012; Freitag, ZIP 2019, 541, 543 f. Zur Bedeutung des Insolvenzrechts als Ordnungsrechts, Flessner, Insolvenzverfahren ohne Insolvenz? Vorteile und Nachteile eines vorinsolvenzlichen Reorganisationsverfahrens nach französischem Vorbild, KTS 2010, 127, 148. Siehe Haas/Kolmann/Kern in: Gottwald/Haas, Insolvenzrechtshandbuch, 6. Aufl. 2019, § 92 Rz. 8; Goetker in: Flöther, Sanierungsrecht, 2019, Kap. G Rz. 11.

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zu sanieren.22) Dieses gesellschaftsrechtliche System der Insolvenzprophylaxe ist, auch wenn es nur einen rudimentären Niederschlag im GmbHG gefunden hat,23) komplex: –

Es regelt das Initiativrecht und -pflicht des Geschäftsführers für die Einleitung der außergerichtlichen (gesellschaftsrechtlichen) Sanierung.24)



Es bestimmt zudem den „Auslösezeitpunkt“ für dieses Initiativrecht. Dabei besteht Einigkeit, dass hierfür § 49 Abs. 3 GmbHG die zeitlich (allerletzte) Schranke bildet.



Um den Auslösezeitpunkt erkennen zu können, ist der Geschäftsführer verpflichtet, für die kontinuierliche Kontrolle der finanziellen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Gesellschaft zu sorgen und – abhängig von der Art, Grösse und Komplexität des Unternehmens – den unternehmensinternen Informationsfluss so zu organisieren, dass Krisen rechtzeitig erkannt werden.25)



Mit Eintritt des Auslöszeitpunkts hat der Geschäftsführer zunächst eine Sanierungsprüfung (bzw. einen Solvenztest) durchzuführen.26) Ist die Gesellschaft sanierungsfähig, hat er sodann einen Sanierungsplan zu erarbeiten.27) Welche Anforderungen hieran zu stellen sind, ist gesetzlich nicht geregelt. Ganz überwiegend wird aus der Pflicht zur ordnungsgemäßen Geschäftsführung (§ 43 Abs. 1 GmbHG) aber die

22)

Haas, Reform des gesellschaftsrechtlichen Gläubigerschutzes, Gutachten zum 66. Deutschen Juristentag, 2006, E. 104 ff.; Haas/Kolmann/Kern in: Gottwald/Haas, Insolvenzrechtshandbuch, 6. Aufl. 2019, § 92 Rz. 8 ff.; Bork, Pflichten der Geschäftsführung in Krise und Sanierung, ZIP 2011, 101, 102 ff.; siehe auch K. Schmidt in: K. Schmidt/ Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, 5. Aufl. 2016, Rz. 9 ff.; siehe zur entsprechenden Rechtslage nach schw. Recht Wüstiner in: BSK-OR, 4. Aufl. 2012, Art. 725 Rz. 9e ff. Kleindiek, Geschäftsführerhaftung in der Krise, in: FS U. H. Schneider, 2011, S. 617, 618; Kleindiek in: Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 43 Rz. 32. Kleindiek in: FS U. H. Schneider, 2011, S. 617, 618. Bork, ZIP 2011, 101, 102 ff.; Kleindiek in: FS U. H. Schneider, 2011, S. 617, 619; Haas, Gutachten zum 66. Deutschen Juristentag, 2006 E. 105 f.; Haas/Kolmann/Kern in: Gottwald/Haas, Insolvenzrechtshandbuch, 6. Aufl. 2019, § 92 Rz. 11 f.; K. Schmidt in: K. Schmidt/Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, 5. Aufl. 2016, Rz. 1.35. Bork, ZIP 2011, 101, 106 ff.; Kleindiek in: FS U. H. Schneider, 2011, S. 617, 619; Kleindiek in: Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 43 Rz. 35; K. Schmidt in: K. Schmidt/ Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, 5. Aufl. 2016, Rz. 1.35; Goetker in: Flöther, Sanierungsrecht, 2019, Kap. G Rz. 9. Haas, Gutachten zum 66. Deutschen Juristentag, 2006, E. 114; Kleindiek in: Lutter/ Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 43 Rz. 35; für das österr. Recht siehe etwa Dellinger/Oberhammer/Koller, Insolvenzrecht, 4. Aufl. 2018, Rz. 53.

23) 24) 25)

26)

27)

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Pflicht des Geschäftsführers abgeleitet,28) eine umfassende Ursachenund Schwachstellenanalyse sowie eine Darstellung der künftigen Chancen und Risiken vorzunehmen. Darauf aufbauend muss der Geschäftsführer ein Sanierungskonzept erstellen, das die verschiedenen Sanierungsmaßnahmen aufzeigt, mit deren Hilfe die Krisenursachen (dauerhaft) beseitigt werden.29) –

Die Entscheidungszuständigkeit über den vom Geschäftsführer erstellten Plan liegt dem gesetzlichen Leitbild zufolge nicht bei diesem, sondern bei der Gesellschafterversammlung; denn die Sanierung stellt grundsätzlich eine außergewöhnliche Geschäftsführungsmaßnahme dar, für die die Gesellschafterversammlung zuständig ist.30)



Diese Aufspaltung der Zuständigkeiten zwischen Geschäftsführer und Gesellschafterversammlung erfordert, dass beide Organe reibungslos zusammenarbeiten. Dies gelingt nur bei einem vertrauensvollen Umgang der Organe miteinander. Zu diesem Zweck bestimmen §§ 49 Abs. 2, 3 GmbHG, dass der Geschäftsführer die Gesellschafterversammlung rechtzeitig einzuberufen, diese entsprechend zu informieren und zu instruieren hat.31) Eine Entscheidungspflicht der Gesellschafterversammlung, über den Sanierungsplan abzustimmen, kennt das deutsche Gesellschaftsrecht – anders als ausländische Rechtsordnungen32) – allerdings nicht.



Ob und wie der Sanierungsplan umgesetzt wird liegt im Ermessen der Gesellschafter. Den einzelnen Gesellschafter trifft dabei keine haftungsbewehrte Sanierungs- oder Investitionspflicht.33) Allerdings obliegt den Gesellschaftern – unter bestimmten Voraussetzungen – ein Obstruktionsverbot i. R. (außergerichtlicher) Sanierungen. Dieses folgt nach

28) 29)

Bork, ZIP 2011, 101, 106 f. Kleindiek in: FS U. H. Schneider, 2011, S. 617, 619; Haas, Gutachten zum 66. Deutschen Juristentag, 2006, E. 114; siehe zur entsprechenden Rechtslage nach schw. Recht Wüstiner in: BSK-OR, 4. Aufl. 2012, Art. 725 Rz. 28. OLG München, Urt. v. 21.3.2013 – 23 U 3344/12, DB 2013, 1596, 1598 = ZIP 2013, 1121: zur GmbH & Co KG; Uhlenbruck in: K. Schmidt/Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, 5. Aufl. 2016, Rz. 2.4; Bork, ZIP 2011, 101, 108; Kleindiek in: FS U. H. Schneider, 2011, S. 617, 619; Kleindiek in: Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 43 Rz. 36; Haas, Gutachten zum 66. Deutschen Juristentag, 2006, E. 109; Haas/ Kolmann/Kern in: Gottwald/Haas, Insolvenzrechtshandbuch, 6. Aufl. 2019, § 92 Rz. 24. Kleindiek in: Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 43 Rz. 34; Bork, ZIP 2011, 101, 108 f. Haas, Gutachten zum 66. Deutschen Juristentag, 2006, E. 110. Vgl. Kleindiek in: Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 43 Rz. 36.

30)

31) 32) 33)

316

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zutreffender Ansicht aus der, sowohl gegenüber der Gesellschaft34) als auch gegenüber den Mitgesellschaftern, jedem Gesellschafter – sei er Mehrheits- oder Minderheitsgesellschafter35) – obliegenden gesellschaftsrechtlichen Treuepflicht.36) Diese Treuepflicht verbietet es dem Gesellschafter, überwiegender Ansicht nach, eine gebotene, nachhaltige und üblicherweise mehrheitlich angestrebte Sanierung aus eigennützigen Motiven oder ohne vertretbaren Grund zu verhindern.37) –

Beschließen die Gesellschafter den Sanierungsplan, ist der Geschäftsführer (gegenüber der Gesellschaft) verpflichtet, diesen umzusetzen.

Vergleicht man nun die Instrumente des präventiven Restrukturierungsrahmens mit denen des gesellschaftsrechtlichen Systems der Insolvenzprophylaxe, verbleibt eigentlich nur ein markanter Unterschied. Dieser besteht darin, dass dem gesellschaftsrechtlichen Instrumentarium richterliche Beteiligung und Zwangseingriffe in Gläubigerrechte fremd sind.38) Dieser Unterschied folgt jedoch nicht aus der Natur der Sache (Insolvenz- oder Gesellschaftsrecht), sondern ist allein Folge einer rechtspolitischen – jederzeit änderbaren – Ermessensentscheidung des Gesetzgebers. Dies zeigt ein Blick auf eine (ältere) Entscheidung des Bundesgerichtshofes, in der sich dieser seinerzeit mit der Frage auseinandersetzte, ob die in der KO geregelten Zwangseingriffe in Gläubigerrechte auch vorkonkursrechtlich Anwendung finden können. In der Entscheidung heißt es insoweit wie folgt:39) „Die Revision meint (…), es sei vom Ergebnis her unbefriedigend, bei einer gelungenen außergerichtlichen Sanierungsaktion einzelne ‚Akkordstörer‘, die ohne die Rettung 34)

35)

36)

37)

38)

39)

Zutreffend: Bitter in: Scholz, GmbHG, 12. Aufl. 2018, § 13 Rz. 50 ff.; Seibt in: Scholz, GmbHG, 12. Aufl. 2018, § 14 Rz. 73; K. Schmidt in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2014, § 47 Rz. 33; Kleindiek in: Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 47 Rz. 14; Reichert, Zur Treuebindung der Mehrheit in Sanierungsfällen, NZG 2018, 134, 136. Siehe hierzu ausführlich Reichert, NZG 2018, 134 ff.: Treuebindungen bestehen konzeptionell unabhängig von der Beteiligungshöhe; vgl. Seibt in: Scholz, GmbHG, 12. Aufl. 2018, § 14 Rz. 69, 101. Vgl. BGH, Urt. v. 12.4.2016 – II ZR 275/14, Rz. 19, NZG 2016, 781 = ZIP 2016, 1220; OLG München, Urt. v. 23.6.2016 – 23 U 4531/15, ZIP 2016, 1832; allgemein K. Schmidt in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2014, § 47 Rz. 26, 31; Fastrich in: Baumbach/Hueck, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 13 Rz. 20. Vgl. BGH, Urt. v. 12.4.2016 – II ZR 275/14, NZG 2016, 781, 782 = ZIP 2016, 1220; BGH, Urt. v. 20.3.1995 – II ZR 205/94, NJW 1995, 1739, 1743 = ZIP 1995, 819; OLG Köln, Urt. v. 9.3.1999 – 22 U 145/98, NZG 1999, 1166, 1167 f.; K. Schmidt in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2014, § 47 Rz. 31. Siehe Madaus, NZI 2017, 329, 333: „Allerdings sind kollektive Wirkungen von Sanierungsplänen und Moratorien in den Traditionen des deutschen Rechts dem Insolvenzverfahren vorbehalten.“ BGH, Urt. v. 12.12.1991 – IX ZR 178/91, NJW 1992, 967, 968 = ZIP 1992, 191.

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des Beklagten durch die solidarische Aktion der überwiegenden Bankengläubiger mit ihrer Klageforderung in vollem Umfang ausgefallen wären, für die mangelnde Solidarität zu belohnen (…). Die Rechtsordnung müsse deshalb die Durchsetzung derartiger, auf Kosten anderer erlangter Sondervorteile jedenfalls in den Fällen (…) verhindern, in denen ein gerichtliches Vergleichsverfahren wirtschaftlich unvernünftig (…) und nur ein außergerichtlicher Vergleich eine Befriedigungschance eröffne. (…) Aus dem Grundsatz der Gleichbehandlung (…) im Vergleichsverfahren und (…) für den Zwangsvergleich im Konkursverfahren (…) sind derartige Rechtsfolgen entgegen der Auffassung der Revision nicht herzuleiten. Diese Normen, die es grundsätzlich gebieten, allen von dem Vergleich betroffenen Gläubigern gleiche Rechte zu gewähren, sind im Zusammenhang mit der gesetzlichen Regelung zu sehen, dass mit Mehrheitsentscheidung, die der gerichtlichen Bestätigung bedarf, eine Verbindlichkeit des Vergleichs für und gegen sämtliche Vergleichsgläubiger (…) mit Einschluss derjenigen Gläubiger begründet wird, die dem Vergleich nicht beigetreten sind oder gegen ihn gestimmt haben. Bei einem außergerichtlichen Vergleich fehlt es an einer Gesetzesbestimmung, der zufolge sein Inhalt auch für solche Gläubiger maßgeblich ist, die sich ihm nicht angeschlossen haben (…). Voraussetzung für die Annahme einer zwischen den Gläubigern bestehenden Gemeinschaft ist (…) die Eröffnung eines Konkursverfahrens. Lediglich Habscheid (…) gibt zu erwägen, in Vorwirkung eines sonst notwendigen Insolvenzverfahrens von einer Art Gefahrengemeinschaft auszugehen und in dieser Gemeinschaft Mehrheitsentscheidungen zu Lasten nicht zustimmender Gläubiger zuzulassen. Eine derart weitgehende Rechtsfortbildung wäre mit der verfassungsrechtlichen Bindung des Richters an Gesetz und Recht nicht vereinbar. Der Gesetzgeber der Konkurs- und Vergleichsordnung hat die Voraussetzungen, unter denen einem Vergleich, dem nicht alle Gläubiger zugestimmt haben, Wirkungen zu Lasten außenstehender Gläubiger zukommen kann, im Einzelnen festgelegt.“ (Hervorhebung durch d. Verf.)

Der Bundesgerichtshof lehnt hier einen Zwangseingriff in Gläubigerrechte im Vorfeld des Konkurs- bzw. Vergleichsverfahrens, also außerhalb des Insolvenzverfahrens nicht von vornherein bzw. generell ab. Vielmehr verlangt er hierfür lediglich eine gesetzliche (d. h. eine verfahrensrechtliche) Grundlage. Stellt der Gesetzgeber also derartige Instrumente außerhalb des Insolvenzrechts zur Verfügung, sind Zwangseingriffe in Gläubigerpositionen aus der Sicht des Bundesgerichtshofes grundsätzlich möglich. Eine Bestätigung findet dies nicht nur bei einem Blick in ausländische Rechtsordnungen, wo zunehmend insolvenzrechtliche Regelungsmechanismen auch im Vorfeld des Insolvenzverfahrens Anwendung finden.40) Vielmehr gibt es Beispiele hierfür auch in branchenspezifischen Regelungen des deutschen Rechts. So regelt etwa das Kreditorganisationsgesetz für Kreditinstitute (mit Sitz im Inland) Sanierungs- (§§ 2 ff. KreditreorganisationsG) 40)

Siehe hierzu Paulus, Ausdifferenzierungen im Insolvenz- und Restrukturierungsrecht, JZ 2019, 11, 15; Paulus, Internationales Restrukturierungsrecht, RIW 2013, 577 ff.; vgl. auch eine Beschreibung verschiedener dieser Verfahren in Flöther, Sanierungsrecht, 2019, Kap. K – L.

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und Reorganisationsverfahren (§§ 7 ff. ReorganisationsG) im Vorfeld eines Insolvenzverfahrens. Hierbei handelt es sich um Verfahren, die Eingriffe in die Rechte der Gläubiger vorsehen. Zusammenfassend ist damit festzuhalten, dass auch mit Blick auf die in der Restrukturierungsrichtlinie geregelten Ordnungsziele und -instrumente eine Umsetzung derselben auf Kosten des bestehenden Insolvenzrechts nicht zwingend erscheint. IV. Verfassungsrechtliche Vorgaben Gegen eine Verortung des europarechtlichen Restrukturierungsverfahrens außerhalb des derzeitigen zeitlichen Anwendungsbereichs der InsO werden mitunter verfassungsrechtliche Bedenken geltend gemacht. (Zwangs-)Eingriffe in die Rechte der Beteiligten (insbesondere der Gläubiger) – wie sie in der Restrukturierungsrichtlinie vorgesehen sind – seien mit Blick auf Art. 14 GG nur bei Vorliegen einer „Insolvenz“, nicht aber in deren Vorfeld zu rechtfertigen.41) Diese Kritik gründet mehr oder weniger auf der Vorstellung, dass es sich bei der „Insolvenz“ um einen klar definierbaren Tatbestand handelt.42) Die Antwort aber auf die Frage, wo der gesellschaftsrechtliche Regelungsrahmen „endet“ bzw. der insolvenzrechtliche Ordnungsrahmen beginnt, ist „komplex“. Hier finden eine Vielzahl unterschiedlicher Gesichtspunkte Eingang in die Abwägung. Da sind zuvorderst ökonomische Parameter zu nennen, nämlich wann – wirtschaftlich besehen – eine Krise vorliegt, die ein gerichtliches Gesamtvollstreckungsverfahren zum Schutz der Gläubiger notwendig macht.43) Einfluss auf die Ausgestaltung der Auslösetatbestände haben aber auch rechtliche Gesichtspunkte, die ihren Ursprung darin haben, dass es sich bei einem Insolvenzverfahren um ein Antragsverfahren handelt. Die Auslösetatbestände müssen mithin so ausgestaltet sein, dass sie für die Antragsteller

41)

42) 43)

Siehe hierzu Bork, Grundfragen des Restrukturierungsrechts, ZIP 2010, 397, 401; Kayser, ZIP 2017, 1393, 1397; vgl. auch Ganter in: FS Wimmer, 2017, S. 187, 200 und 214 f.; Thole, ZIP 2017, 101, 103; Madaus, DB 2019, 592, 594: Bedenken sind berechtigt, soweit sie die Verankerung kollektiver Instrumente jenseits der materiellen Insolvenz betreffen; Vallender in: FS Wimmer, 2017, S. 537, 549; kritisch hierzu Flessner, KTS 2010, 127, 144 ff. In diese Richtung wohl Bork, ZIP 2017, 1441, 1445, wenn versucht wird, zwischen drohender und unvermeidlicher Insolvenz abzugrenzen. Haas, Zahlungsunfähigkeit, drohende Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung, in: RWSForum Insolvenzrecht 1998, S. 1, 2; Haas, Eigenkapitalersetzende Gesellschafterdarlehen und Feststellung der Überschuldung oder Zahlungsunfähigkeit, NZI 1999, 209, 211 f.; siehe auch Thole, Gläubigerschutz durch Insolvenzrecht, 2010, S. 68 ff.

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erkennbar und für das Gericht justitiabel sind.44) Auch muss gewährleistet sein, dass die Eingangsvoraussetzungen für das Insolvenzverfahren – wegen der damit verbundenen Eingriffe in die Rechte der Beteiligten – nicht zu vollstreckungsfremden Zwecken missbraucht werden können. Eine optimale Zielerreichung zwischen den vorgenannten verschiedenen Funktionen ist kaum möglich. Dass das Ergebnis dieser schwierigen Abwägung nicht zu einer trennscharfen Definition der „Insolvenz“ und damit zu einer eindeutigen zeitlichen Abgrenzung zwischen Gesellschafts- und Insolvenzrecht führen kann, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass das deutsche Recht mit der Zahlungsunfähigkeit (§ 17 InsO), der Überschuldung (§°19 InsO) und der drohenden Zahlungsunfähigkeit (§ 18 InsO) gleich drei unterschiedliche Insolvenzauslösetatbestände kennt45) und für den „richtigen“ Eröffnungszeitpunkt gar noch nach der Art des Schuldners (siehe § 15 Abs. 1, 3 InsO) differenziert. Hinzu kommt, dass in der Vergangenheit insbesondere der Überschuldungstatbestand (und die daran anknüpfende Insolvenzantragspflicht) immer wieder Änderungen bzw. Neujustierungen abhängig von historischen Ausnahmeereignissen,46) Naturkatastrophen,47) wirtschaftlichen Krisen48) oder angeblich besseren Erkenntnissen49) erfahren hat. Schließlich zeigt sich die Unschärfe des Begriffs „Insolvenz“ auch darin, dass – in der Praxis – unterschiedliche Prüfungsanforderungen bestehen je nachdem, ob der Eröffnungsantrag von der schuldnerischen Gesellschaft (z. B. § 15 Abs. 2 InsO) oder dem Gläubiger (z. B. § 14 Abs. 1 InsO) gestellt wird.50) Die „Insolvenz“ ist mithin ein „eigenartig unbestimmter Tatbestand“, der nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt eintritt und dann Rechtsfolgen zeitigt.51) Vielmehr handelt es sich hierbei um ein „Kontinuum“,52) das mehr oder weniger genau durch die Insolvenztatbestände jetziger Prägung abgebildet wird. Dem Gesetzgeber kommt damit auch verfassungsrechtlich ein (weites) Entscheidungsermessen zu, ab welchem Stadium der wirtschaftlichen Abwärtsentwicklung er Zwangseingriffe in die Beteiligtenrechte zu44) 45) 46) 47) 48) 49) 50) 51) 52)

Haas in: Baumbach/Hueck, GmbHG, 22. Aufl. 2019, Vor § 64 Rz. 1a; Haas, Gutachten zum 66. Deutschen Juristentag, 2006, E. 20. Flessner, KTS 2010, 127, 146. Wiedervereinigung, siehe § 56 DMBilG (1991). Hochwasser 2002 (Flutopfersolidargesetz v. 19.2.2002, BR-Drucks. 701/02), Hochwasser 2013, siehe NJW-Spezial 2013, 471. Finanzkrise 2008, Art. 5 FMStG, BGBl. I 2008, 1982. Siehe Bitter/Hommerich, Die Zukunft des Überschuldungsbegriffs, 2012. Flessner, KTS 2010, 127, 146. Flessner, KTS 2010, 127, 146. Flessner, KTS 2010, 127, 146.

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lassen will.53) Dass der Gesetzgeber mit der bestehenden Ausgestaltung der Auslösetatbestände seinen Ermessensspielraum (nach oben) bereits ausgereizt hätte, wird man – mit Blick auf die derzeitigen Ausfallquoten der ungesicherten Gläubiger in eröffneten Verfahren, die durchschnittliche Schadenssumme pro Insolvenzfall und der immer noch hohen Zahl masseloser Verfahren54) – kaum annehmen können.55) Ist dem aber so, hindert das Grundgesetz den nationalen Gesetzgeber nicht daran, den europarechtliche Restrukturierungsrahmen im Vorfeld der bestehenden Insolvenauslösetatbestände zu plazieren und dadurch den derzeitigen zeitlichen Anwendungsbereich des Insolvenzverfahrens unangetastet zu lassen.56) V. Ökonomische Sinnhaftigkeit Stellt das Verfassungsrecht allenfalls eine ferne Schranke dar, kann sich der nationale Gesetzgeber bei der Umsetzung des präventiven Restrukturierungsrahmens vornehmlich von ökonomischen Erwägungen leiten lassen. Diese sprechen m. E. ganz überwiegend dafür, den zeitlichen Anwendungsbereich des Insolvenzverfahrens unangetastet zu lassen. Eine Einbettung des Restrukturierungsverfahrens „auf Kosten“ der InsO läuft nicht nur den seinerzeitigen Zielvorstellungen des InsO-Gesetzgebers zuwider.57) Dieser wollte den zeitlichen Anwendungsbereich des Insolvenzverfahrens vorverlagern und die Quote der eröffneten Verfahren erhöhen.58) Auch wenn dies – zumindest – teilweise gelungen ist,59) so wird für das geltende Recht doch immer noch konstatiert, dass die Insolvenzverfahren zum Nachteil der Gläubiger ganz generell zu spät eröffnet werden.60) Hierdurch wird die verteilungsfähige Masse geschmälert, was wiederum die Zahl masseloser Verfahren beeinflusst. All dies liegt nicht im Interesse der Gläubiger, deren 53) 54) 55) 56) 57)

58) 59) 60)

So auch Thole, ZIP 2017, 101, 103. Siehe hierzu Haas in: Gottwald/Haas, Insolvenzrechtshandbuch, 6. Aufl. 2019, § 91 Rz. 3 f. A. A. Kayser, ZIP 2017, 1393, 1397: früheres Stadium als (jetziger) § 18 InsO zwar möglich, aber viel Spielraum für ein weiteres Absenken der Eingriffsschwelle gibt es nicht. So auch Goetker in: Flöther, Sanierungsrecht, 2019, Kap. E Rz. 70; vgl. auch Thole, ZIP 2017, 101, 103. Nach Ansicht von K. Schmidt (in: K. Schmidt/Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, 5. Aufl. 2016, Rz. 5.81) handelt es sich bei dem Überschuldungstatbestand „rechtspolitisch um den bedeutsamsten Insolvenzgrund“. Haas in: Gottwald/Haas, Insolvenzrechtshandbuch, 6. Aufl. 2019, § 91 Rz. 26. Siehe auch K. Schmidt in: K. Schmidt/Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, 5. Aufl. 2016, Rz. 6.46. Haas in: Baumbach/Hueck, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 64 Rz. 144.

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Schutz ja auch die Restrukturierungsrichtlinie bezweckt.61) Darüber hinaus erscheint es wenig sinnvoll das bislang – im Zeitraum ab Eintritt der Überschuldung – mögliche (mit §§ 270 ff. InsO gekoppelte) Insolvenzplanverfahren in ein vorinsolvenzrechtliches Restrukturierungsverfahren umzuetikettieren.62) Weder werden den Beteiligten hierdurch neue oder bessere Möglichkeiten der Sanierung eingeräumt, noch ein wirklich sinnvoller Beitrag zur Insolvenzvermeidung geleistet. Ein Mehrwert gegenüber der jetzigen Rechtslage ist bei einer solchen Vorgehensweise nicht erkennbar. Für ein frühzeitiges (also vor den derzeitigen Insolvenzeröffnungsgründen liegendes) Sanierungsverfahren spricht demgegenüber der allenthalben anzutreffende Gedanke, wonach die „(…) wirksamste Unternehmenssanierung (…) früh, schnell und still, also außerhalb des Insolvenzverfahrens [erfolgt]“.63)

Darüber hinaus dürfte unstreitig sein, dass das bestehende gesellschaftsrechtliche Krisenerkennungs- und Reaktionssystem aus der Sicht des Gläubigerschutzes völlig unzureichend ausgestaltet ist. So ist etwa die Anknüpfung in § 49 Abs. 3 GmbHG an den Verlust der Hälfte des Stammkapitals, um Sanierungspflichten auszulösen bzw. in Gang zu bringen, unbefriedigend. Ein sinnvolles Krisenwarnsignal liegt hierin jedenfalls nicht; denn zwischen der Stammkapitalziffer und der Gläubigergefährdung gibt es keinen ökonomischen Zusammenhang.64) Auch wird – ganz grundsätzlich – das bestehende haftungsrechtliche Pflichtenprogramm im Zusammenhang mit (gesellschaftsrechtlichen) Sanierungen als unzureichend oder zumindest lückenhaft empfunden.65) Zudem hält das gesellschaftsrechtliche System der Insolvenzprophylaxe keine Lösung für die Akkordstörerproblematik bereit mit der Folge, dass es im Grundsatz stets der Zustimmung all derjenigen Beteiligten (Kreditgeber und Gesellschafter) bedarf, auf deren Mitwirkung man bei der Sanierung angewiesen ist.66) Die Lösung dieses Prob61) 62) 63)

64) 65) 66)

Gottwald, Gläubigerbefriedigung als Ziel des Insolvenzverfahrens, NZI Editorial 10/2018, V.; im Ergebnis auch Thole, ZIP 2017, 101, 105; a. A. Gruber, EuZW 2019, 181, 185. So aber Gruber, EuZW 2019, 181, 184 f. K. Schmidt, Möglichkeiten der Sanierung von Unternehmen durch Maßnahmen im Unternehmens-, Arbeits-, Sozial- und Insolvenzrecht, Gutachten zum 54. Deutschen Juristentag, 1982, D. 59; siehe auch für das schw. Recht Handschin in: ZK-OR, 3. Aufl. 2018, Art. 725 Rz. 41; siehe aber auch Flessner, KTS 2010, 127, 128 und 137 f. Haas, Gutachten zum 66. Deutschen Juristentag, 2006, E. 111. Haas, Gutachten zum 66. Deutschen Juristentag, 2006, E. 114 f. Uhlenbruck in: K. Schmidt/Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, 5. Aufl. 2016, Rz. 2.6; Bork, ZIP 2010, 397, 400; Heese, JZ 2018, 179, 186; Fritz, BB 2019, Die erste Seite.

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lems im Vorfeld des Insolvenzstigma,67) d. h. eingebettet in das Gesellschaftsrecht macht mithin ökonomisch Sinn.68) Für das derzeitige Gesellschaftsrecht ergänzende Sanierungsinstrumente gibt es zudem Beispiele in anderen europäischen Rechtsordnungen.69) Das gilt – mit Blick auf Österreich – auch für solche Staaten, die den Insolvenzauslösetatbestand der Überschuldung kennen.70) Erklärtes Ziel dieser Rechtsordnungen ist es, Insolvenzverfahren zurückzudrängen, indem seriöse Möglichkeiten der Sanierung – insbesondere auch im Interesse der Gesellschaftsgläubiger – frühzeitig ausgelotet werden. Dahinter steht die richtige Überlegung, dass es – gerade auch mit Blick auf die Gläubigerinteressen – klüger ist, den Kurs frühzeitig zu korrigieren, als später den bereits verfahrenen Wagen „aus dem Dreck“ zu ziehen.71) Gegen einen der InsO vorgelagerten Restrukturierungsrahmen wird teilweise geltend gemacht, dass eine Doppelung vorinsolvenzrechtlicher und insolvenzrechtlicher Sanierungsinstrumente ökonomisch nicht sinnvoll sei. Zum einen könnten hierdurch die vorhandenen insolvenzrechtlichen Sanierungsinstrumente entwertet werden.72) Zum anderen bestünde die Gefahr, dass eine solche „Doppelung“ zu einer „kaum überschaubaren Zersplitterung der Rechtsregime [führt].“73) Auch diese Kritik überzeugt nicht. So gibt es etwa auch ein der InsO vorgelagertes gesellschaftsrechtliches Liquidationsverfahren (§§ 66 ff. GmbHG). Dieses erfüllt vergleichbare Ordnungsziele wie das insolvenzrechtliche Liquidationsverfahren, stehen doch hier wie dort die Befriedigung der Gläubigerinteressen und die Vollabwicklung des Unternehmensträgers im Vordergrund. Weil es aber bei der Ausgestaltung der einzelnen auf die Liquidation bezogenen Ordnungsinstru67) 68)

69)

70)

71) 72)

73)

Siehe hierzu Spiekermann, ZInsO 2019, 429, 432; Vallender in: FS Wimmer, 2017, S. 537, 553 f. A. A. Thole, ZIP 2017, 101, 103: Für ein Konzept eines gleichsam von dem Insolvenzrecht vollständig losgelösten, allein gesellschafts- und zivilrechtlich geprägten Restrukturierungsverfahrens besteht kein Anlass. Siehe zu Frankreich und England, Dammann in: FS Wimmer, 2017, S. 162, 166 ff.; siehe rechtsvergleichend auch Flessner, KTS 2010, 127, 128 ff.; Haas, Gutachten zum 66. Deutschen Juristentag, 2006, E. 115 ff. Siehe zum Überschuldungstatbestand nach österr. Recht, Dellinger/Oberhammer/Koller, Insolvenzrecht, 4. Aufl. 2018, Rz. 70; Haas/Hoffmann, Ein rechtsvergleichender Blick auf Überschuldung und Fortbestehensprognose, in: FS Beck, 2016, S. 223 ff. Dellinger/Oberhammer/Koller, Insolvenzrecht, 4. Aufl. 2018, Rz. 51. Thole, ZIP 2017, 101, 103: unabhängig davon, wie die Eingangsvoraussetzungen des Restrukturierungsverfahrens bemessen werden, ist jedenfalls das Konkurrenzproblem zur Sanierung im Insolvenzverfahren nicht zu leugnen. Freitag, ZIP 2019, 541, 550.

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mente – die der unterschiedlichen wirtschaftlichen Ausgangslage geschuldet ist – deutliche Unterschieden gibt, käme doch niemand auf die Idee, in dem Vorhalten zweier Liquidationsverfahren eine unüberschaubare Zersplitterung der Rechtsregime oder gar eine Entwertung des Insolvenzverfahrens zu sehen. Ist aber im Gesellschaftsrecht Platz für eine „kleine Schwester“ des insolvenzrechtlichen Liquidationsverfahrens, dann ist nicht einzusehen, warum eine – sinnvoll ausgestaltete – Doppelung mit Bezug auf Sanierungen von vornherein abzulehnen ist. Das gilt um so mehr als die (wirtschaftlichen) Rahmenbedingungen für eine außerinsolvenzrechtliche Sanierung deutlich anders sind. So bestehen etwa i. R. des vorinsolvenzrechtlichen Sanierungsverfahrens keine Möglichkeiten der Massegenerierung (z. B. durch Anfechtung).74) Darüber hinaus sind nach der Restrukturierungsrichtlinie Zwangseingriffe in die Rechte der Arbeitnehmer nahezu ausgeschlossen. Schließlich kann sich der Schuldner durch den präventiven Restrukturierungsrahmen nicht von drückenden Dauerschuldverhältnissen durch Sonderkündigungsrechte lösen.75) Schon wegen der unterschiedlichen Ausgangslage sind Regelungstiefe und Komplexität des Restrukturierungsrahmen im Vergleich zum insolvenzrechtlichen Sanierungsverfahrens notwendig verschieden.76) Dies erkennt auch die Restrukturierungsrichtlinie, wenn diese dem nationalen Gesetzgeber nicht schlechterdings ein „Sanierungsverfahren“ im Vorfeld des Insolvenzrechts aufzwingt, sondern lediglich einzelne Instrumente eines allgemeinen Restrukturierungsrahmens beschreibt, die der nationale Gesetzgeber an passender Stelle verankern kann.77) Ausdrücklich heißt es in Art. 4 Abs. 5 Restrukturierungsrichtlinie nämlich, dass der präventive Restrukturierungsrahmen „(…) aus einem oder mehreren Verfahren, Maßnahmen oder Bestimmungen bestehen [kann], von denen einige außergerichtlich durchgeführt werden können“.

VI. Bekämpfung der Insolvenzverschleppung Folgt man dem hier vertretenen Ansatz, so hat der nationale Gesetzgeber sicherzustellen, dass sich der präventive Restrukturierungsrahmen stim-

74) 75) 76) 77)

Spiekermann, ZInsO 2019, 429, 434. H. Schmidt, WM 2017, 1735, 1737. Spiekermann, ZInsO 2019, 429, 435. Siehe auch Madaus, NZI 2017, 329, 330; Madaus, DB 2019, 592 ff., spricht insoweit von einem „Vertragshilfemodell“ im Gegensatz zu einem „Verfahren“.

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mig sowohl in das Insolvenz- als auch das Gesellschaftsrecht einfügt.78) Besonderes Augenmerk bedarf dabei die Frage, wie der Gefahr zu begegnen ist, dass durch den präventiven Restrukturierungsrahmen die Eröffnung des Insolvenzverfahrens unter Umständen verzögert wird. Diese Gefahr beruht darauf, daß das deutsche Insolvenzverfahren nur auf Antrag (§ 13 InsO) und nicht von Amts wegen eingeleitet wird. Das wiederum birgt das Risiko, daß die Antragsberechtigten – aufgrund eines Informationsdefizits oder aus Kalkül – den Eröffnungsantrag verspätet, d. h. zu einem Zeitpunkt stellen, in dem die materielle Insolvenz bereits eingetreten ist. Da durch eine verspätete Auslösung des Insolvenzverfahrens in aller Regel die Gläubigergesamtheit geschädigt wird, gilt es eine verspätete Auslösung des Insolvenzverfahrens zu verhindern und zwar auch dann, wenn der Schuldner Zugang zu einem präventiven Restrukturierungsrahmen hat. 1. Das bestehende System zur Bekämpfung der Insolvenzverschleppung Das deutsche Recht setzt zur Bekämpfung der Insolvenzverschleppung allein auf die Haftung der Leitungsorgane, also auf eine ex post-Kontrolle durch die Gerichte. Dahinter steht die Erkenntnis, dass das Leitungsorgan über einen (potentiellen) Informationsvorsprung in Bezug auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Schuldners verfügt und es daher letztlich auch das Leitungsorgan „in der Hand“ hat, ab wann das Gesellschaftsrecht durch das Insolvenzrecht überlagert wird. Um dem Leitungsorgan nun einen Verhaltensanreiz zu geben, von seinem (potentiellen) Informationsvorsprung im Interesse der Gläubigergesamtheit Gebrauch zu machen, legt das Insolvenzrecht79) dem Geschäftsführer haftungsrechtliche Pflichten auf. Danach muss er mit Eintritt der Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung den Eröffnungsantrag stellen (§ 15a InsO). Die in § 15a InsO enthaltene haftungs- und strafbewehrte Insolvenzantragspflicht erfüllt mithin eine wichtige ordnungsrechtliche Funktion.80) Darüber hinaus wird der Geschäfts-

78) 79)

80)

Haas/Kolmann/Kern in: Gottwald/Haas, Insolvenzrechtshandbuch, 6. Aufl. 2019, § 92 Rz. 7; H. F. Müller, ZGR 2018, 56, 68. Sowohl die Haftung wegen Insolvenzverschleppung (§ 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a InsO) als auch die Haftung wegen pflichtwidriger Zahlungen nach Eintritt der materiellen Insolvenz (§ 64 Satz 1 GmbHG) sind insolvenzrechtlicher Natur, dienen sie doch der Umsetzung der Eröffnungsgründe; siehe insoweit aus europarechtlicher Perspektive EuGH, Urt. v. 10.12.2015 – Rs. C-594/14 (Kornhaas), NZI 2016, 48 ff.; BGH, Urt. v. 15.3.2016 – II ZR 119/14, NZG 2016, 550 ff. = ZIP 2016, 821. Frind, NZI 2018, 431, 432.

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führer mit Eintritt der materiellen Insolvenz zum „Wahrer“ der Gläubigerinteressen, indem er – so lange er über das Gesellschaftsvermögen verwaltungs- und verfügungsbefugt ist – das Gesellschaftsvermögen allein im Interesse der Gläubiger zu erhalten hat (§ 64 Satz 1 GmbHG) und folglich an Weisungen der Gesellschafter nicht mehr gebunden ist (§ 64 Satz 4, § 43 Abs. III Satz 3 GmbHG).81) Die vorstehenden Haftungsansprüche entstehen – richtiger Ansicht nach – erst mit Insolvenzeröffnung (oder Abweisung des Eröffnungsantrags mangels Masse).82) Das Weiterwirtschaften des Leitungsorgans ab Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung löst folglich nicht bereits die Haftung aus, ist also m. a. W. nicht schlechterdings verboten. Wohl aber trägt das Leitungsorgans ab diesem Zeitpunkt das wirtschaftliche Risiko des Scheiterns der Unternehmung, d. h. dass sich das Risiko der Insolvenzeröffnung realisiert.83) 2. Einleitung eines Restrukturierungsverfahrens anstelle eines Insolvenzverfahrens Fraglich ist, ob und inwieweit das vorstehende haftungrechtliche Steuerungsmodell einer Modifizierung bedarf, wenn das Leitungsorgan, anstelle seiner Insolvenzantragspflicht nachzukommen, das „Restrukturierungsverfahren“ einleitet. Die Restrukturierungsrichtlinie regelt diese Fragestellung 81)

82)

83)

Kolmann in: HK-GmbHG, 3. Aufl. 2016, § 64 Rz. 2; Kleindiek in: Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 64 Rz. 4; Haas, § 64 S. 1 GmbHG im (vorläufigen) Eigenverwaltungs- und Schutzschirmverfahren, ZHR 178 (2014), 603, 605 f. Für § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a InsO, siehe Arnold in: Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2019, § 64 Rz. 84; Haas in: Baumbach/Hueck, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 64 Rz. 188; a. A. Weller, Die intertemporale Behandlung der Insolvenzverschleppungshaftung beim Insolvenzstatutenwechsel, in: FS Ganter, 2010, S. 439, 442: Anspruchsentstehung mit Eintritt der materiellen Insolvenz; Casper in: Ulmer/Habersack/ Löbbe, GmbHG, 2. Aufl. 2016, § 64 Rz. 88: Entstehung mit Insolvenzantrag. Für den Anspruch aus § 64 Satz 1 GmbHG, siehe für eine Entstehung mit Insolvenzeröffnung oder Abweisung mangels Masse BGH, Urt. v. 11.9.2000 – II ZR 370/99, NJW 2001, 304, 305 = ZIP 2000, 816; BGH, Urt. v. 2.12.2014 – II ZR 119/14, Rz. 8, NZI 2015, 85; Haas in: Baumbach/Hueck, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 64 Rz. 24 f.; SchmidtLeithoff/Baumert in: Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 6. Aufl. 2017, § 64 Rz. 54; Kolmann in: HK-GmbHG, 3. Aufl. 2016, § 64 Rz. 57; a. A. BGH, Urt. v. 23.6.2015 – II ZR 366/13, Rz. 29, ZIP 2015, 1480 = NZG 2015, 998; BGH, Urt. v. 5.5.2008 – II ZR 38/07, NZG 2008, 508, 509; H. F. Müller in: MünchKomm-GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 64 Rz. 172. BGH, Urt. v. 23.6.2015 – II ZR 366/13, Rz. 24, NZG 2015, 998 = NZG 2015, 998; Haas in: Baumbach/Hueck, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 64 Rz. 3; anders wohl K. Schmidt in: K. Schmidt/Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, 5. Aufl. 2016, Rz. 11.2 – Verbot unerlaubter Geschäftsfortführung.

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nicht. Eine „Gleichwertigkeit“ beider Anträge wird man nur dann annehmen können,84) wenn der präventive Restrukturierungsrahmen und das Insolvenzverfahren – aus Gläubigersicht – ein vergleichbares Schutzniveau aufweisen. Hierfür gibt es Beispiele in ausländischen Rechtsordnungen. So kann beispielsweise im schw. Recht das Leitungsorgan seiner Pflicht, die Bilanz zu deponieren (Art. 725 Abs. 2 OR) auch dadurch „nachkommen“, dass es einen Antrag auf Eröffnung eines Nachlassverfahrens (Art. 294 ff. SchKG) stellt.85) Der Grund hierfür liegt letztlich darin, dass das im Nachlassverfahren garantierte Gläubigerschutzniveau demjenigen in einem deutschen Eigenverwaltungs- und Insolvenzplanverfahren in nichts nachsteht.86) Folgt man aber dem Vorschlag hier, dass eine Doppelung vor- und nachinsolvenzrechtlicher Sanierungsintrumente nur bei einem „inhaltlichen Abstandsgebot“ ökonomisch Sinn macht (siehe oben V.), dann kann die Einleitung eines Restrukturierungsverfahren – aus Gläubigersicht – ein Insolvenzverfahren keinesfalls ersetzen. Ist dem aber so, dann sollte von dem bestehenden haftungsrechtlichen Steuerungsmodell nicht abgewichen werden; denn es kann schwerlich sein, dass das Leitungsorgan über das Schutzniveau zugunsten der Gläubiger bei Eintritt der materiellen Insolvenz (eigenmächtig) disponieren können soll. Gelingt es daher dem Geschäftsführer im Zeitpunkt der materiellen Insolvenz durch Einleitung eines Restrukturierungsverfahrens nicht, das Insolvenzverfahren abzuwenden, sollte er das wirtschaftliche Risiko hierfür – ebenso wie bei jeder anderen erfolglosen außergerichtlichen Sanierung – im Wege des § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a InsO vollumfänglich tragen.87) Zu erwägen ist allenfalls, ob diese gerichtliche ex post-Kontrolle durch eine ex ante-Kontrolle der zuständigen Verwaltungs- oder Justizbehörden zu ergänzen ist. Danach hätte die Verwaltungs- oder Justizbehörde bei Einleitung des Restrukturierungsverfahren zu prüfen, ob dessen zeitlicher Anwendungsbereich überhaupt eröffnet ist. Letzteres sieht beispielsweise das 84)

85)

86) 87)

So Jacobi, Das Präventive Restrukturierungsverfahren, ZInsO 2017, 1, 9, wonach ein Antrag auf Einleitung des Restrukturierungsverfahrens dem Insolvenzeröffnungsantrag gleichstehen soll. BG, Entscheid v. 4.3.1938 i. S A.-G. Appartement-Haus, BGE 62 III 22, 25; Wüstiner in: BSK-OR, 4. Aufl. 2012, Art. 725 Rz. 40b; Hunkeler in: KuKo-SchKG, 2. Aufl. 2014, Art. 293 Rz. 32; Wirz, Die Überschuldungsanzeige als Pflicht und Pflichtverletzung, 2015, Rz. 66. Siehe für einen Überblick über das schw. Nachlassverfahren Oehri, Der Sachwalter im Nachlassverfahren: Ein Diener zweier Herren, 2018, S. 6 ff. In diesem Sinne auch H. Schmidt, WM 2017, 1735, 1740.

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österr. Recht vor. Danach hat der Schuldner nach § 4 URG im Antrag auf Einleitung des Reorganisationsverfahrens u. a. zu erklären, dass er nicht insolvent (zahlungsunfähig oder überschuldet) ist. Im Ansatz ermöglicht dies auch die Restrukturierungsrichtlinie in Art. 4 Abs. 3. Danach können die Mitgliedstaaten eine Bestandsfähigkeitsprüfung einführen, „(…) sofern eine solche Prüfung den Ausschluss von Schuldner ohne Aussicht auf Bestandsfähigkeit dient.“

Von einer solchen ex ante-Kontrolle sollte man sich aber nicht zu viel versprechen; denn wegen der zeitlichen Dringlichkeit in diesem Verfahrensstadium, wird die Verwaltungs- bzw. Justizbehörde hier keine in die Tiefe gehende Prüfung der Insolvenzauslösetatbestände (vergleichbar dem § 26 InsO) vornehmen können. Dies zeigt auch ein Blick auf das österr. Recht. Danach leitet das Gericht das Reorganisationsverfahren nach § 5 Abs. 1 URG nur dann nicht ein, wenn der Schuldner „offensichtlich“ insolvent ist. Schließlich ist zu beachten, dass die Restrukturierungsrichtlinie eine Prüfung (der Verwaltungs- bzw. Justizbehörde) bei Einleitung des Restrukturierungsverfahrens nicht zwingend vorschreibt.88) Art. 4 Abs. 7 Restrukturierungsrichtlinie spricht zwar von einem „Antrag der Schuldner“ auf Einleitung. Jedoch sehen Art. 4 Abs. 6 Restrukturierungsrichtlinie und der ErwG 29 vor, dass die Mitgliedstaaten die Beteiligung einer Justiz- und Verwaltungsbehörde auf das „Erforderliche und Angemessene“ beschränken können.89) Nur für den Fall eines Eingriffs in die Beteiligtenrechte ist der Restrukturierungsrichtlinie zufolge eine zwingende gerichtliche/behördliche Beteiligung vorgesehen. Ein solcher Eingriff liegt aber bei bloßer Antragstellung auf Zugang zum präventiven Restrukturierungsrahmen noch nicht vor. 3. Suspendierung von Insolvenzantragsrecht und -pflicht Die Restrukturierungsrichtlinie sieht vor, das die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens grundsätzlich dann nach Art. 7 Abs. 1, 2 Restrukturierungsrichtlinie ausgeschlossen ist, wenn die zuständige Justiz- bzw. Verwaltungsbehörde nach Art. 6 die Aussetzung von Einzelzwangsvollstreckungsmaßnahmen (Moratorium) zur Unterstützung der Verhandlungen über

88) 89)

Siehe auch Madaus, NZI 2017, 329, 330; Freitag, ZIP 2019, 541, 545. Siehe auch Goetker in Flöther, Sanierungsrecht, 2019, Kap. E Rz. 43 ff.

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einen Restrukturierungsplan auf Antrag des Schuldners angeordnet hat.90) Nach Art. 7 Abs. 1 Restrukturierungsrichtlinie ruht nämlich für die Dauer des Moratoriums die Insolvenzantragspflicht der Leitungsorgane. Damit ist auch eine Haftung des Geschäftsführers für verspätete Insolvenzantragstellung (§ 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a InsO) für die Dauer des Moratoriums ausgeschlossen. Nach dem Willen der Restrukturierungsrichtlinie soll der Geschäftsführer nach Art. 7 Abs. 1 Restrukturierungsrichtlinie keinem (haftungsrechtlichen) Druck ausgesetzt sein, (aussichtsreiche) Sanierungsverhandlungen durch Insolvenzantragstellung torpedieren zu müssen.91) Darüber hinaus führt die Anordnung des Moratoriums auch zu einem „Aufschub“ der Antragsrechte der Gläubiger.92) Für die Dauer des Moratoriums kann also auch auf Antrag der Gläubiger nicht vom Restrukturierungsrahmen in das Insolvenzverfahren hinübergewechselt werden. a) Die Verlagerung des wirtschaftlichen Risikos Ist ein Moratorium angeordnet, tragen also im Stadium der materiellen Insolvenz – anders als nach deutschem Recht – die Gläubiger und nicht das Leitungsorgan das wirtschaftliche Risiko eines Scheiterns des Sanierungsversuchs. Diese mit Art. 7 Abs. 1, 2 Restrukturierungsrichtlinie einhergehende Risikoverschiebung ist – verglichen mit dem deutschen Recht – beträchtlich. Nach deutschem Recht hat nämlich der Geschäftsführer – anders als nach manchen ausländischen Rechtsordnungen93) – mit Eintritt der materiellen Insolvenz nur kurz (höchstens drei Wochen) Zeit, den Eröffnungsantrag wegen ernsthafter und aussichtsreiches Sanierungsversuche aufzuschieben (§ 15a Abs. 1 InsO). Die Restrukturierungsrichtlinie ist demgegenüber deutlich liberaler. Hier kann das Moratorium zunächst für eine Höchstfrist von vier Monaten angeordnet werden (Art. 6 Abs. 6 Restrukturierungsrichtlinie). Eine Verlängerung des oder die erneute Anordnung eines weiteren Moratoriums sind aber möglich (Art. 6 Abs. 7 Restrukturierungsrichtlinie) und zwar bis zu einer maximalen Gesamt90) 91) 92) 93)

Dagegen führt die „Eröffnung“ des Restrukturierungsrahmen als solcher noch nicht zu einer solchen „Blockade“. Siehe zum Ganzen auch Freitag, ZIP 2019, 541, 551. Siehe auch Thole, ZIP 2017, 101, 106; kritisch zu dieser Zielsetzung Kayser, ZIP 2017, 1393, 1397. Kritisch hierzu Kayser, ZIP 2017, 1393, 1398. Für Österreich, siehe § 69 IO: Höchstfrist 60 Tage; für die Schweiz, siehe etwa den Entwurf zur Aktienrechtsreform in Art. 725b OR: 90 Tage, vgl. auch Meier-Hayoz/ Forstmoser/Sethe, Schweizerisches Gesellschaftsrecht, 12. Aufl. 2018, § 16 Rz. 129 ff.

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dauer von zwölf Monaten (Art. 6 Abs. 8 Restrukturierungsrichtlinie).94) Selbst § 270b Abs. 1 Satz 2 InsO sieht – bei deutlich stärkerer Gläubigerbeteiligung und damit deutlich höherem Schutzniveau – lediglich eine Frist von höchstens drei Monaten bis zur Vorlage eines Insolvenzplans vor. Es verwundert daher nicht, dass aus deutscher Sicht die mit Art. 7 Abs. 1, 2 Restrukturierungsrichtlinie einhergehende Verlagerung der unternehmerischen Risikos sehr kritisch gesehen wird.95) b) Kompensation durch gerichtliche ex ante-Kontrolle Dieser Verlagerung des Gläubigerrisikos begegnet die Restrukturierungsrichtlinie mit Hilfe einer vergleichsweise schwachen ex ante-Kontrolle durch die Verwaltungs- bzw. Justizbehörden:96) –

Nach Art. 6 Abs. 1 können die Mitgliedstaaten vorsehen, dass die Aussetzung von Vollsteckungsmaßnahmen u. a. dann verweigert wird, wenn keine Aussicht besteht, dass die Aussetzung die Verhandlungen über einen Restrukturierungsplan unterstützt. Das ist jedoch eine recht niedrige Eingangshürde.97) Unter den gleichen Voraussetzungen kann die Justiz- oder Verwaltungsbehörde nach Art. 6 Abs. 9 Restrukturierungsrichtlinie ein einmal angeordnetes Moratorium auch wieder aufheben. Auffallend ist, dass die Hürde für eine erneute Anordnung bzw. Verlängerung des Moratoriums (auf Antrag des Schuldners, eines Gläubigers oder des Restrukturierungsbeauftragten) grundsätzlich höher ist (Art. 6 Abs. 7 Restrukturierungsrichtlinie) als bei der erstmaligen Anordnung.

94)

Zu beachten ist allerdings, dass der Rahmen nicht auf das erste Mal ausgeschöpft werden muss. Denkbar ist m. E. durchaus, das Moratorium zunächst für zwei Monate zu gewähren und eine Verlängerung (etwa um weitere zwei Monate) vom Fortschritt der Verhandlungen abhängig zu machen. Die vier Monate in Art. 6 Abs. 6 Restrukturierungsrichtlinie sind nämlich nur eine Höchstfrist. Vgl. auch Rechtslage in der Schweiz, siehe Art. 293a II, 294 I, 295b SchKG, danach kann in besonders komplexen Fällen das Moratorium auf bis zu 24 Monate verlängert werden. Thole, ZIP 2017, 101, 106; H. Schmidt, WM 2017, 1735, 1738; Berger ZInsO 2016, 2413 (2414); kritisch ingesamt auch Freitag, ZIP 2019, 541, 550. Ob das Moratorium nur auf Antrag des Schuldners oder auch eines Gläubigers angeordnet werden kann, ist nicht eindeutig. Die erneute Anordnung oder die Verlängerung eines Moratoriums kann jedenfalls sowohl vom Schuldner als auch vom Gläubiger oder dem Restrukturierungsbeauftragten beantragt werden (Art. 6 Abs. 7 Restrukturierungsrichtlinie), siehe auch Schönfelder in: Flöther, Sanierungsrecht, 2019, Kap. F Rz. 14. Schönfelder in: Flöther, Sanierungsrecht, 2019, Kap. F Rz. 23.

95) 96)

97)

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Darüber hinaus sieht Art. 7 Abs. 3 Restrukturierungsrichtlinie vor, dass die Mitgliedstaaten im Fall des Eintritts der Zahlungsunfähigkeit eine Ausnahme von Art. 7 Abs. 1, 2 Restrukturierungsrichtlinie vorsehen können, d. h. dass die Insolvenzantragspflicht des Leitungsorgans und das Insolvenzantragsrecht der Gläubiger in diesem Fall wieder aufleben. Davon sollte der nationale Gesetzgeber unbedingt Gebrauch machen.98) Selbst für diesen Fall aber bestimmt die Restrukturierungsrichtlinie, dass die Verwaltungs- bzw. Justizbehörde im Falle der Antragstellung auf Eröffnung eines Restrukturierungsverfahrens nicht gezwungen sind, das Insolvenzverfahren zu eröffnen, wenn letzteres ausnahmsweise nicht im allgemeinen Interesse der Gläubigergesamtheit liegt.99)



Schließlich sieht die Restrukturierungsrichtlinie noch vor, dass das Moratorium auch auf Antrag des Schuldners oder des Restrukturierungsbeauftragten aufgehoben werden kann (Art. 6 Abs. 9 Restrukturierungsrichtlinie).

Auch der Umstand, dass die Richtlinie für den Fall der Anordnung eines generellen Moratoriums (Art. 6 Abs. 3 Restrukturierungsrichtlinie) bestimmt, dass von der Justiz- oder Verwaltungsbehörde ein Restrukturierungsbeauftragter zu bestellen ist, soweit dies zur Wahrung der Interessen der Parteien notwendig ist (Art. 5 Abs. 3 lit. a Restrukturierungsrichtlinie),100) stellt keinen ausreichenden Ausgleich für die Verschiebung des (oben beschriebenen) Gläubigerrisikos dar.101) c) Kompensation durch Haftung Sind die vorstehenden Instrumente kaum geeignet, die Verlagerung des unternemerischen Risikos zu kompensieren, stellt sich die Frage, inwieweit dies durch eine gerichtliche ex post-Kontrolle, also durch Haftung geschehen kann. Art. 19 Restrukturierungsrichtlinie bestimmt, dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung des Restrukturierungsrahmens in nationales 98) 99) 100) 101)

Siehe auch H. Schmidt, WM 2017, 1735, 1740. Kritisch hierzu Kayser, ZIP 2017, 1393, 1397. Siehe hierzu auch H. Schmidt, WM 2017, 1735, 1737. Dessen Befugnisse werden in Art. 2 Abs. 12 Restrukturierungsrichtlinie umschrieben. Sie reichen von der Unterstützung des Schuldners bei der Ausarbeitung und Aushandlung eines Restrukturierungsplans über die Überwachung der Tätigkeit des Schuldners bis hin zur teilweisen Übernahme der Kontrolle über die Vermögenswerte bzw. Geschäfte des Schuldners.

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Recht „mindestens sicherstellen“, dass die Unternehmensleitung bei einer wahrscheinlichen Insolvenz, verschiedene „Notwendigkeiten“ „gebührend berücksichtigt“. Offensichtlich will die Restrukturierungsrichtlinie – im Wege entsprechender (haftungsbewehrter) Verhaltenspflichten – Anreize für die ordnungsgemäße Sanierung seitens der Unternehmensleiter setzen. Fraglich ist freilich, wie derartige haftungsrechtliche Verhaltensanreize aussehen sollen aa) Pflichten nicht zur Disposition der Gesellschafterversammlung Bereits das geltende (Gesellschafts-)Recht kennt haftungsbewehrte Organpflichten im Zusammenhang mit der Sanierung in § 43 Abs. 2 GmbHG (siehe oben III.).102) Allerdings hat diese Haftung in der Praxis bislang keine nennenswerte Bedeutung erlangt.103) Der Grund hierfür wird mitunter darin gesehen, dass es andere (Haftungs-)Ansprüche gebe, die sich „(…) wesentlich einfacher darlegen und beweisen lassen als die Verletzung von Leitungspflichten in der Krise und ihre Kausalität für einen konkreten Schaden der Gesellschaft.“104)

Die Hauptursache für die Bedeutungslosigkeit der haftungsbewehrten Sanierungspflichten dürfte wohl darin liegen, dass die Haftung nach § 43 Abs. 2 GmbHG komplett zur Disposition der Gesellschafter steht.105) Bedenkt man, dass das Gros der GmbH Ein- bzw. Zweimann-Gesellschaften sind, in denen der Geschäftsführer immer auch Gesellschafter ist, dann wird sofort verständlich, warum von der derzeitigen Rechtslage keinerlei (sinnvolle) Steuerungswirkung im Krisenvorfeld ausgeht. Will man diese Defizite beseitigen, so gilt es daher zunächst sicherzustellen, dass die Unternehmensleitung in der Krise nicht nur die Interessen der Gesellschafter, sondern – wie in Art. 19 Restrukturierungsrichtlinie vorgesehen – die Interessen sämtlicher „stakeholder“ wahrnimmt. Die Richtlinie selbst bestimmt keine Rangfolge der (schützenswerten) Interessen der verschiedenen stakeholder. Vielmehr überlasst sie dies dem nationalen

102) Kleindiek in: FS U. H. Schneider, 2011, S. 617, 620; Kleindiek in: Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 43 Rz. 35. 103) Kleindiek in: Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 43 Rz. 35. 104) Kleindiek in: Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 43 Rz. 35. 105) So zu Recht Kleindiek in: FS U. H. Schneider, 2011, S. 617, 620.

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Gesetzgeber.106) Dennoch heißt es aber in ErwG 71, dass es im Fall einer drohenden Insolvenz „(…) darauf an[kommt], die berechtigten Interessen der Gläubiger vor Managemententscheidungen zu schützen, die sich auf die Zusammensetzung des Schuldnervermögens auswirken können.“

Dieses Ziel lässt sich aber nur erreichen, wenn der Pflichtenmaßstab in Art. 19 Restrukturierungsrichtlinie nicht zur Disposition der Gesellschafter steht. Erreichen lässt sich dies etwa dadurch, daß man haftungsbefreiende (und damit folgepflichtige) Weisungen der Gesellschafter an die Geschäftsführer – vergleichbar dem § 43 Abs. 3 GmbHG – im Anwendungsbereich der Restrukturierungsrichtlinie schlechterdings verbietet. Diese Lösung hat der Gesetzgeber mit § 276a InsO letztlich für das Eigenverwaltungsverfahren gewählt.107) Begründet wird dieser Eingriff in das gesellschaftsrechtliche Organisationsrecht damit, dass das Leitungsorgan im Eigenverwaltungsverfahren die Funktionen eines Insolvenzverwalters wahrnimmt. Diese Begründung passt für den vorinsolvenzrechtlichen Restrukturierungsrahmen nicht. Darüber hinaus stellt ErwG 71 klar, dass Art. 19 Restrukturierungsrichtlinie „(…) die nationalen Vorschriften der Mitgliedstaaten über die Entscheidungsprozesse in einem Unternehmen unberührt lassen [will]“.

Genau das wäre aber die Folge, würde man das Weisungsrecht der Gesellschafter (und damit einhergehend die Folgepflicht der Geschäftsführung) kappen. Vorzugswürdiger erscheint es daher mE, den Begriff der „Unternehmensleitung“ i. S. des Art. 19 Restrukturierungsrichtlinie weit zu verstehen und darunter alle „Organe“ zu fassen, die Leitungsaufgaben in der GmbH wahrnehmen. Das wären dann – neben dem Geschäftsführer – auch die Gesellschafter (soweit sie Weisungen an die Geschäftsführer erteilen), die Mitglieder eines (zwingenden oder fakultativen) Aufsichtsrats oder aber auch der Restrukturierungsberater.108) bb) Notwendigkeit, Verhalten zu vermeiden, das die Bestandsfähigkeit gefährdet Art. 19 Restrukturierungsrichtlinie fordert schließlich die Mitgliedstaaten auch auf, sicherzustellen, dass die Unternehmensleitung „(…) die Notwendigkeit [gebührend berücksichtigt] (…) Verhalten zu vermeiden, das die Bestandsfähigkeit des Unternehmens gefährdet“. 106) Siehe ErwG 71. 107) Siehe hierzu Haas in: Gottwald/Haas, Insolvenzrechtshandbuch, 6. Aufl. 2019, § 90 Rz. 29 ff. 108) Vgl zu einer entsprechenden Lösung § 25 österr. URG; siehe auch Goetker in: Flöther, Sanierungsrecht, 2019, Kap. G Rz. 19 f.

Die Umsetzung des präventiven Restrukturierungsrahmens

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Die Verhaltensweisen, die durch Art. 19 Restrukturierungsrichtlinie unterbunden werden sollen, werden in ErwG 71 dahin beschrieben, dass die Unternehmensleitung keine Handlungen vornehmen soll, „die auf Kosten der Anteilsinhaber zu persönlichen Vorteilen führen“, die „Transaktionen unter Marktwert“ zum Gegenstand haben oder die „unfaire Bevorzugung eines oder mehrer Interessenträger zur Folge haben“. Mitunter wird darauf hingewiesen, dass Art. 19 Restrukturierungsrichtlinie Parallelen zu der englischen wrongful-trading-Haftung109) aufweist.110) Die wrongful-trading-Haftung dient dem Schutz der Gläubiger. Dies zeigt sich bei der Schadensberechnung deutlich. Ausgangspunkt ist dabei nämlich zunächst ein Vergleich des hypothetischen Gläubigerausfalls bei Einleitung einer Liquidation im „moment of truth“ mit dem später tatsächlich eingetretenen Gläubigerausfall.111) Sodann wird in einem zweiten Schritt hieraus der Betrag errechnet, der kausal und normativ zurechenbar auf das wrongful trading zurückzuführen ist.112) Schließlich findet auch noch eine Korrektur auf einer dritten Stufe statt, bei der unter Berücksichtigung des Verschuldensgrades und des Gesamteindrucks des Verhaltens des Leitungsorgans der Haftungsumfang je nach dem Umstanden noch weiter reduziert werden kann.113) Letztlich kommt dem englischen Richter bei der Berechnung des den Gläubigern entstandenen Schadens ein weiter Ermessensspielraum zu,114) damit die Haftung nicht – vergleichbar der dt. Insolvenzverschleppungshaftung für Altverbindlichkeiten115) – nicht zu einer aufwendigen juristischer Spielerei verkommt.

109) Siehe hierzu Schillig in: Kindler/Nachmann, Handbuch Insolvenzrecht in Europa, England und Wales, 4. Aufl. 2014, Rz. 416 ff.; Steffek, Wrongful Trading – Grundlagen und Spruchpraxis, NZI 2010, 589 ff.; Haas, Gutachten zum 66. Deutschen Juristentag, 2006, E. 25 f.; Habersack/Verse, Wrongful Trading – Grundlage einer europäischen Insolvenzverschleppungshaftung?, ZHR 168 (2004), 174 ff. 110) Goetker in: Flöther, Sanierungsrecht, 2019, Kap. G Rz. 25 f. 111) Steffek, NZI 2010, 589, 593; Servatius in: Henssler/Strohn, Gesellschaftsrecht, 4. Aufl. 2019, Intern GesR Rz. 169; Schillig in: Kindler/Nachmann, Handbuch Insolvenzrecht in Europa, England und Wales, 4. Aufl. 2014, Rz. 421. 112) Steffek, NZI 2010, 589, 593. 113) Steffek, NZI 2010, 589, 593; Schillig in: Kindler/Nachmann, Handbuch Insolvenzrecht in Europa, England und Wales, 4. Aufl. 2014, Rz. 421. 114) Schillig in: Kindler/Nachmann, Handbuch Insolvenzrecht in Europa, England und Wales, 4. Aufl. 2014, Rz. 421. 115) Siehe hierzu Altmeppen in: Roth/Altmeppen, GmbHG, 9. Aufl. 2019, Vor § 64 Rz. 126; Müller in: MünchKomm-GmbHG, 3. Aufl. 2018, § 64 Rz. 139, 141; Haas in: Baumbach/ Hueck, GmbHG, 22. Aufl. 2019, § 64 Rz. 60a.

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Ulrich Haas

Ob diese wrongful-trading-Haftung jedoch Pate für eine Umsetzung des Art. 19 Restrukturierungsrichtlinie sein sollte, erscheint eher fraglich. So stellt sich die Frage, warum die Schadensberechnung nach Art. 19 Restrukturierungsrichtlinie überhaupt aus der Sicht der Gläubiger und zudem – übermäßig kompliziert – als Gesamtgläubigerschaden aus der Differenz zweier höchstkomplexer Szenarien zu berechnen ist. Viel näher liegt es, die einzelnen Transaktionen (wie i. R. des § 43 Abs. 2 GmbHG)116) daraufhin zu überprüfen, ob sie für die Gesellschaft (und damit auch für alle stakeholder) nachteilig und damit haftungsbegründend sind. Eine Schadensberechnung aus Gläubigersicht ist mE in einem Zeitpunkt, indem das Vermögen nicht allein der Befriedigung der Gläubiger dient, nicht angezeigt. Der hier vertretene Haftungsansatz steht nicht im Widerspruch zum geltenden Gesellschaftsrecht. Zwar trifft es zu, dass es danach kein schützenswertes Eigeninteresse der Gesellschaft jenseits der §§ 30 f., 64 Satz 3 GmbHG bzw. der Existenvernichtungshaftung nach § 826 BGB gibt. Jedoch ist für dieses liberale (Haftungs-)Modell dort kein Raum mehr, wo der Schuldner ein Moratorium nach Art. 6 ff. Restrukturierungsrichtlinie erlangt hat. Ab diesem Zeitpunkt müssen die Gläubigerinteressen stärker in das gesellschaftsrechtliche Steuerungsmodell einbezogen werden mit der Folge, dass die Unternehmensleitung grundsätzlich für jede Transaktionen haftet, die sich nachteilig auf das Gesellschaftsvermögen auswirkt. Um einer übermäßigen Haftung der Leitungsorgane vorzubeugen, sieht Art. 19 Restrukturierungsrichtlinie insoweit eine Haftungserleichterung vor als die Unternehmensleitung lediglich für Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit haftet. cc) Zusammenfassung Zusammenfassend ist also festzuhalten, dass bei Umsetzung der Restrukturierungsrichtlinie eine Aufgabe der in § 15a InsO geregelten Insolvenzantragspflicht weder notwendig noch angezeigt ist.117) Lediglich das Zusammenspiel zwischen § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a InsO und § 64 Satz 1 GmbHG muss – für den Fall, dass die Justiz- oder Verwaltungsbehörde ein Moratorium anordnet – überdacht werden; denn letztere Bestimmung passt auf ein (gerichtlich begleitetes) Sanierungsverfahren nicht. § 64 Satz 1

116) Aber ohne die haftungsbefreiende Wirkung von Gesellschafterweisungen oder -billigungen, siehe oben VI. 3 b) aa). 117) Siehe zu dieser Befürchtung Frind, NZI 2018, 431, 433.

Die Umsetzung des präventiven Restrukturierungsrahmens

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GmbHG ist nicht auf eine längere Unternehmensfortführung angelegt, sondern will – im Gegenteil – davor gerade abschrecken.118) Eine Bestimmung (wie § 64 Satz 1 GmbHG) aber, die – wie der Bundesgerichtshof ausgeführt hat119) – klar und einfach darauf ausgerichtet ist, den Einfluss des Geschäftsführers auf die Insolvenzmasse soweit wie möglich zu minimieren, passt auf einen präventiven Restrukturierungsrahmen nicht. Diese Erkenntnis ist freilich nicht neu. Sie entspricht vielmehr der nunmehr h. M. für das in Eigenverwaltung eröffnete Insolvenzverfahren.120) Gleiches gilt aber auch für das vorläufige Eigenverwaltungs- bzw. Schutzschirmverfahren (§§ 270a, 270b InsO).121) Nichts anderes gilt schließlich für den präventiven Restrukturierungsrahmen. In allen diesen Fällen bedarf es eines sinnvolleren, d. h. den Gegebenheiten besser Rechnung tragenden Haftungsmodells. VII. Schluss Entgegen der überwiegenden Ansicht in der deutschen Literatur stellt der präventive Restrukturierungsrahmen keinen „Generalangriff“ auf das nationale Insolvenzrecht dar. Vielmehr zielt die Restrukturierungsrichtlinie auf die – stets aktuelle – Schnittstelle zwischen Gesellschafts- und Insolvenzrecht. Bei der Umsetzung in das nationale Recht, sollte der Gesetzgeber die Restrukturierungsrichtlinie nicht auf Kosten des zeitlichen Anwendungsbereich der InsO umsetzen, sondern vielmehr den präventiven Restrukturierungsrahmen im Vorfeld der jetzigen Insolvenzauslösegründe platzieren. Ziel muss es sein, den bestehenden (gesellschaftsrechtlichen) Instrumentkasten für Sanierungen zu ergänzen und zu komplettieren; denn dieser weist im bestehenden Recht die größten Defizite auf. Verfassungsrechtliche Bedenken stehen dem nicht entgegen. Auch entstehen durch die „Doppelung“ außerinsolvenzrechtlicher und insolvenzrechtlicher Sanierungsinstrumente keine unüberwindbaren Schwierigkeiten. Besonderes Augenmerk sollte auf die Gefahr der Insolvenzverschleppung gelegt werden. Hier sind

118) Haas, ZHR 178 (2014), 603, 615. 119) BGH, Urt. v. 5.5.2008 – II ZR 38/07, NJW 2008, 2504, 2505 = ZIP 2008, 1229. 120) BGH, Urt. v. 26.4.2018 – IX ZR 238/17, Rz. 24 ff., ZIP 2018, 977; siehe auch Hofmann, Die Haftung der Geschäftsleiter in der Eigenverwaltung der Gesellschaft, ZIP 2018, 1429, 1431 f.; Haas in: Gottwald/Haas, Insolvenzrechtshandbuch, 6. Aufl. 2019, § 90 Rz. 93 f.; Haas, ZHR 178 (2014), 603, 610 ff. 121) Haas in: Gottwald/Haas, Insolvenzrechtshandbuch, 6. Aufl. 2019, § 90 Rz. 150 ff.; Haas, ZHR 178 (2014), 603, 619 ff.; a. A. Klinck, Die Geschäftsführerhaftung nach § 64 Satz 1 GmbHG im Eigenverwaltungs(eröffnungs)verfahren, DB 2014, 938, 941 f.

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allenfalls Randkorrekturen im Insolvenzrecht notwendig. Wichtige Änderungen ergeben sich aber demgegenüber aus dem Zusammenspiel zwischen dem präventiven Restrukturierungsrahmen und dem Gesellschaftsrecht.

Was hat sich an der Rechtspersönlichkeit, der die Insolvenz droht, im Verlauf der gesetzlichen Entwicklung verändert? PETRA HEIDENFELDER Inhaltsübersicht I.

Eine kurze lange Geschichte der Schulden II. Verbot der Schuldsklaverei III. Der ewige Haftungszugriff – KO 1998 IV. Restschuldbefreiung – Die neue InsO V. Geschäftsmodell Insolvenz – Aufstieg der Verwaltungskanzleien VI. Umstrittenes ESUG – Nutzen für wen?

VII. Präventiver Restrukturierungsrahmen auf EU-Ebene VIII. Koordinationsverfahren für Konzerninsolvenzen IX. Änderungen des Anfechtungsrechts X. Veränderungen in der Verwalterpersönlichkeit XI. Auswirkungen auf die Unternehmen XII. Fazit

I. Eine kurze lange Geschichte der Schulden Schulden gehören zum Menschsein einfach dazu, könnte man meinen. Diesem Gedanken widerspricht der amerikanische Anthropologe David Graeber entschieden. In seinem Buch „Schulden. Die ersten 5.000 Jahre“1) nahm er die lange Geschichte der Schulden besonders gründlich unter die Lupe und entdeckte ein jahrtausende altes Zusammenspiel von Macht und Geld. Die Geschichte der Schulden sei eine Geschichte von Herrschaft und Auflehnung dagegen. „Tatsächlich findet der Kampf zwischen Arm und Reich überwiegend in Form von Konflikten zwischen Gläubigern und Schuldnern statt – es sind Kämpfe um die Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit von Zinszahlungen, beispielsweise Kämpfe um die Aufhebung der Leibeigenschaft, Kämpfe um Zwangsenteignungen und Entschädigungen, die zur Beschlagnahme von Schafherden und Weinbergen führen oder zum Verkauf der Schuldnerkinder in die Sklaverei.“2)

Graebers Publikation entstand in Folge der Finanzkrise von 2008, die in Europa als Euro-Krise im Gedächtnis geblieben ist, die aber ursprünglich

1) 2)

David Graeber, Schulden. Die ersten 5.000 Jahre, 2012. David Graeber, Debt. The First 5000 Years, 2011 Melville House Publishing, hier zitiert nach Der SPIEGEL v. 21.11.2011, abrufbar unter http://www.spiegel.de/spiegel/ print/d-81933577.html (Abrufdatum: 17.7.2019).

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eine Kreditkrise war und durch millionenfache riskante Immobilienkredite ausgelöst worden war – und zwar von bisher unbekanntem Ausmaß: „Die Gesamtschuld brachte die Welt dermaßen ins Schleudern, dass es fast das System selbst zerstört hätte.“3)

Deswegen stünde, so diagnostiziert Graeber, die kapitalistische Welt nunmehr an einer Schwelle, in der das tief verwurzelte Verständnis, dass es eine Frage der Moral sei, Schulden zu begleichen, erheblich ins Wanken gerate: „Umfragen ergaben, dass eine überwältigende Mehrheit der Amerikaner der Ansicht war, man solle die Banken nicht retten, egal welche wirtschaftlichen Konsequenzen dies hätte, sondern normalen Bürgern, die auf schlechten Hypothekendarlehen sitzengeblieben waren, zu Hilfe kommen.“

In Graebers Augen schien es deswegen, „als wären die meisten Amerikaner offen für radikale Lösungen.“ Zehn Jahre später wissen wir, dass es bislang keine Revolution im Kreditwesen gegeben hat, sondern höchstens Reformen, die staatsgefährdende Kreditausfallrisiken minimieren und betrügerische Kreditmodelle ausschließen sollen. Der Umgang mit Schuldnern wurde nicht wesentlich verändert. Kulturell verharren wir etwa auf dem Niveau des 19. Jahrhunderts, in dem in Europa und den USA nach und nach Schuldnergesetze mit geringen nationalen Variationen erlassen wurden. Das ist nicht das Schlechteste. Die Schuldsklaven aus dem Römischen Reich, die ihren Körper, ihre Arbeitskraft und ihre Freiheit verkauften, um ihre Schulden zu begleichen, gibt es heute nicht mehr. Oder doch? Der einstige FAZ-Herausgeber Frank Schirrmacher stellte jedenfalls in seiner Graeber-Rezension die mehr als besorgte Frage, was wohl geschähe, „(…) wenn auch mehr individuelle Schuldner die Aussichtslosigkeit ihrer Lage erkennen müssen. Käme Plato mit einer Zeitmaschine zu uns, er würde sich nicht wundern, Menschen zu sehen, die arbeiten müssen. Nicht, um ihr Leben zu leben, sondern um eine Schuld zu bezahlen, für die ihr Leben gar nicht ausreicht. Zu seiner Zeit nannte man sie Sklaven.“4)

3)

4)

David Graeber, Debt. The First 5.000 Years, 2011 Melville House Publishing, hier zitiert nach Der SPIEGEL v. 21.11.2011, abrufbar unter http://www.spiegel.de/spiegel/ print/d-81933577.html (Abrufdatum: 17.7.2019). Frank Schirrmacher, EUROKRISE: Und vergib uns unsere Schulden, FAZ v. 13.11.2011, abrufbar unter https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/kapitalismus/eurokriseund-vergib-uns-unsere-schulden-11527296.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0 (Abrufdatum: 10.7.2019).

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II. Verbot der Schuldsklaverei Die römische Schuldsklaverei wurde im 2. Jahrhundert v. Chr. verboten; vermutlich gab es aufgrund der erfolgreichen Eroberungsfeldzüge ausreichend Kriegsgefangene. Zeitweilig bestand etwa ein Drittel der Bevölkerung Roms aus Sklaven. Da musste man nicht zusätzlich den eigenen Armen zu Zwangsarbeit verdonnern. Sklaverei, verstanden als Eigentum an einer anderen Person, gilt seit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 weltweit als verboten. Faktisch jedoch werden Menschen auch heute noch wie Ware gehandelt und unter schlimmsten Bedingungen zum Arbeiten gezwungen.5) Moderne Sklaverei definiert sich nach vier Kriterien: Kontrolle durch Gewalt, Verlust des freien Willens, wirtschaftliche Ausbeutung und soziale Marginalisierung.6) Dass Sklaverei „(…) ein unverändert lukratives Geschäft“ ist, liegt nicht zuletzt an gesellschaftlich tief verankerten Traditionen. „Sozioökonomische Strukturen, die teilweise über Jahrhunderte von Sklaverei geprägt waren, konnten sich nicht über Nacht wandeln.“7)

Die Grenzen zwischen fairer Bezahlung über einvernehmliche Unterbezahlung und Ausbeutung bis zu gewaltsamer Verdinglichung sind fließend. Schulden sind stets präsenter Teil dieser breiten Skala, muss doch schon der „gerechte Lohn“ erst durch entsprechende Leistung „verdient“ werden. Als „Sklaverei-ähnliche Praktik“ gilt die Schuldknechtschaft, die im deutschsprachigen Raum bis ins Mittelalter hinein praktiziert wurde und erst zu Beginn der frühen Neuzeit nicht mehr abgearbeitet, sondern „abgesessen“ werden konnte – durch öffentliche Schuldhaft im Schuldturm. Von der Sklaverei unterscheidet sich die (übrigens auch heute noch z. B. in Pakistan oder Indien gebräuchliche) Schuldknechtschaft dadurch, dass hier die Menschen zwar zu Arbeit gezwungen werden, mit ihnen selbst aber nicht gehandelt wird. In den USA lässt sich die Schuldknechtschaft bis 1941

5)

6)

7)

Johannes Piepenbrink, Editorial, in: Aus Politik und Zeitgeschichte: Sklaverei, Bundeszentrale für politische Bildung, 2015, abrufbar unter http://www.bpb.de/apuz/216473/ editorial (Abrufdatum: 17.7.2019). Jan-Christoph Marschelke, Moderne Sklaverei, in: Aus Politik und Zeitgeschichte: Sklaverei, Bundeszentrale für politische Bildung, 2015, abrufbar unter http://www.bpb.de/ apuz/216478/moderne-sklavereien (Abrufdatum: 17.7.2019). Jan-Christoph Marschelke, Moderne Sklaverei, in: Aus Politik und Zeitgeschichte: Sklaverei, Bundeszentrale für politische Bildung, 2015.

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nachweisen. In Deutschland ist die Schuldknechtschaft verboten und sogar unter Strafe gestellt (§ 233 StGB). III. Der ewige Haftungszugriff – KO 1998 Schulden gibt es nach wie vor. Das Kreditwesen blüht und gedeiht. Und die Frage, wer in welcher Weise für offene Schulden haftet, wird weiterhin in vielfältiger Weise diskutiert. Mögen sich zwar die Formen des Haftungszugriffs – Schuldturm, Verkauf ins Ausland, Tötung oder lebenslange Schuldknechtschaft – im Laufe der Geschichte gewandelt haben, der Haftungszugriff selbst wird bis heute nicht in Frage gestellt. Die Entwicklung des Haftungszugriffs zwischen den Polen von Vermögens- und Personalvollstreckung untersuchte der Jurist Michael Spann innerhalb der überlieferten Rechtsquellen.8) Er entdeckte dabei einen roten Faden ausgehend vom römischen Recht über das fränkische Recht und den Sachsenspiegel des Mittelalters, das später auf bayerischem Gebiet geltende Landrecht und die Stadtrechte Augsburgs, Nürnbergs und Ulms bis ins aktuelle Recht des 21. Jahrhunderts. Bis heute ist unsere Insolvenz-Gesetzgebung geprägt von der KO im Deutschen Reichsgesetzblatt 1877, die nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 i. R. einer neu geschaffenen einheitlichen Rechtsverordnung entwickelt wurde. Sie war beeinflusst von einem Entwurf für eine deutsche Gemeinschuldordnung, den der preußische Justizminister Adolph Leonhardt 1873 vorgelegt hatte. In deren Mittelpunkt standen nicht die Schuldner, sondern die Befriedigung der Gläubiger. Eine Gewichtung, die uns bis heute erhalten geblieben ist. Die Rechtsverordnung war geprägt vom Grundsatz der unbeschränkten Nachforderung: Wurden die Forderungen im Insolvenzverfahren nicht erfüllt, konnten sie nach Abschluss des Verfahrens weiter durchgesetzt werden (Einzelzwangsvollstreckung). Der Schuldner wurde bis zum Ablauf einer 30-jährigen Verjährungsfrist, die laut § 218 Abs. 1 Satz 2 BGB insbesondere für Ansprüche aus einem Konkursverfahren galt, den Ansprüchen der Gläubiger und entsprechenden Vollstreckungsmaßnahmen

8)

Michael Spann, Der Haftungszugriff auf den Schuldner zwischen Personal- und Vermögensvollstreckung, Eine exemplarische Untersuchung der geschichtlichen Rechtsquellen ausgehend vom römischen Recht bis ins 21. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung bayerischer Quellen, Augsburger Schriften zur Rechtsgeschichte, Bank I 2004.

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ausgesetzt. Zugleich wurde die Verjährung gemäß § 214 Abs. 1 BGB während des Konkurses unterbrochen. Dieser Zustand wurde von vielen privaten Schuldnern, deren Leben ohne Perspektive oder Hoffnung auf Besserung war, als inakzeptabel erachtet. Mangels Anreiz einer Erwerbstätigkeit für den Schuldner, bestand auch für die Gläubiger wenig Aussicht, die verbliebenen Forderungen noch durchsetzen zu können. IV. Restschuldbefreiung – Die neue InsO Das änderte sich 1999: Mit der nunmehr neu benannten „Insolvenzordnung“9) wurde eine Restschuldbefreiung eingeführt, wonach der Schuldner (sofern er eine natürliche Person ist) von den im Insolvenzverfahren nicht erfüllten Verbindlichkeiten gegenüber den Insolvenzgläubigern befreit wird (§ 286 InsO). Erstmals gab es eine Restschuldbefreiung auch für Privatpersonen, die laut KO von 1898 nur Kaufleuten vorbehalten gewesen war. Das Konkursverfahren ist eine unter richterlicher Autorität sich vollziehende Auseinandersetzung zwischen dem zahlungsunfähig gewordenen Schuldner und seinen Gläubigern. Zur Befriedigung der Gläubiger dient hierbei das gesamte der Zwangsvollstreckung unterliegende Vermögen des Schuldners, welches ihm zur Zeit der Eröffnung des Verfahrens gehörte. Im Allgemeinen gilt der Grundsatz, dass alle Gläubiger einen Anspruch auf gleichmäßige Befriedigung haben. Die Verwaltung der Konkursmasse übernahm der Konkursverwalter, welcher vom Gericht ernannt wurde und unter dessen Aufsicht stand (§§ 70, 75, 76 KO). Außerdem ist den Gläubigern, deren Befriedigung den Zweck des Konkursverfahrens bildet, in weitgehender Weise eine Mitwirkung bei der Verwaltung zuerkannt und der Verwalter bzgl. wichtiger Fragen an die Genehmigung der Organe der Gläubiger, Gläubigerausschuss und Gläubigerversammlung gebunden (§§ 118, 120 –122 KO). Die Übernahme eines Konkursverfahrens war unter Juristen viele Jahrzehnte nicht besonders beliebt. Richter und Rechtspfleger an den Amtsgerichten suchten nach geeigneten – also auch mit betriebswirtschaftlichem Knowhow ausgestatteten – Rechtsanwälten, die bereit waren, insolvente Gesellschaften abzuwickeln. Keine leichte Aufgabe: Das Wort Konkurs war mit einem negativen Touch behaftet, die Abwicklung von 9)

Insolvenzordnung – InsO, v. 5.10.1994, BGBl. I 1994, 2866.

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Konkursverfahren demnach nicht förderlich fürs persönliche Prestige. Das änderte sich erst zu Beginn der 1990er Jahre, als die Treuhandanstalt Fachleute suchte, um insolvente Unternehmen in den neuen Bundesländern zu verwalten, abzuwickeln und umzustrukturieren. Am 6. Juni 1990 war in der damaligen DDR die Gesamtvollstreckungsordnung (GesO) in Kraft getreten.10) Im Zuge des Einigungsvertrages vom 31. August 1990 wurde sodann festgeschrieben, dass diese für die in den neuen Bundesländern gelegenen Gesellschaften zunächst in angepasster Form fortgelten sollte.11) Konkursverwalter aus den alten Bundesländern gründeten neue Kanzleien in Dresden, Leipzig und Cottbus. Vermehrt wurden Wirtschaftsprüfer und Steuerberater eingesetzt, um von der Treuhand verwaltete Gesellschaften fortzuführen und abzuwickeln. Zwar gab es – wie wohl immer und überall – schwarze Schafe unter den eingesetzten Verwaltern, unter denen es zur Veruntreuung von Geldern kam, auch stieß die Vergabe der Verfahren von Richtern an Verwalter gelegentlich auf Kritik, aber im Großen und Ganzen entwickelte sich die Branche positiv. Wegen der großen zu verwaltenden Vermögensmassen und den damit im Zusammenhang stehenden Vergütungen wurden die Verfahren für Rechtsanwälte und Wirtschaftsprüfer zunehmend interessanter. Es bildeten sich große Kanzleien heraus, deren Namen auch heute noch in der Insolvenzszene mit den maßgeblichen Verbänden wie die Arbeitsgemeinschaft für Insolvenzrecht, der Gravenbrucher Kreis oder der Verband der Insolvenzverwalter Deutschland (VID) eine maßgebliche Rolle spielen. Für die Vorstände, Geschäftsführer und Betriebsinhaber war es jedoch weiterhin mit einem Stigma behaftet, einen Insolvenzantrag zu stellen. Man zögerte die Insolvenzantragstellung so lange wie möglich heraus. Die Akteure lebten unter einem wirtschaftlichen Druck, immer auf der Suche nach Liquidität und am Rande der Illegalität. Die neue InsO von 1999 sollte für Vorstände, Geschäftsführer und Firmeninhaber einen Anreiz setzen, den Insolvenzantrag früher zu stellen. Denn das rechtzeitige Stellen eines Insolvenzantrages erhöht nachweislich die Chancen für das betreffende Unternehmen, erfolgreich einen Neuanfang durch ein Insolvenzplanverfahren oder eine übertragenden Sanierung 10) 11)

Gesamtvollstreckungsordnung – GesO, v. 6.6.1990, GBl. DDR I Nr. 32, 285. Gesetz zu dem Vertrag v. 31.8.1990 – Einigungsvertragsgesetz, v. 23.9.1990, BGBl. II 1990, 885, 1153.

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zu schaffen – und dadurch zumindest für die Mitarbeiter die Fortführung der Gesellschaft unter einem anderen Geschäftsführer bzw. mit einem anderen Investor zu ermöglichen. Dafür allerdings müssen die Geschäftsführer ihre eigenen finanziellen Interessen zurückstellen, da sie ihre Gesellschaftsanteile verlieren und nicht mehr die Firmenleitung innehaben. V. Geschäftsmodell Insolvenz – Aufstieg der Verwaltungskanzleien Bei der Abwicklung der von der Treuhandgesellschaft verwalteten Betriebe sammelten die Verwalter umfangreiche Erfahrungen im Umgang mit der GesO. Immer mehr auf Insolvenzrecht spezialisierte Kanzleien etablierten sich. Sie verdankten ihren Aufstieg im Zeitraum zwischen Ende der 1990er Jahre bis 2010 einer Vielzahl von großen Insolvenzverfahren, bei denen aufgrund der umfangreichen verwalteten Masse ansehnliche Vergütungen abgerechnet werden konnten. Zum Teil war eine große Gesellschaft mit funktionierender kaufmännischer Abteilung einfacher zu verwalten als der kleine Betrieb mit einer wilden „Chiquita-BananenkistenBuchhaltung“, also ohne sortierte Belege. Deswegen wurden die Verfahren von den Gerichten nach einem Mischprinzip vergeben: Die Verwalter bekamen größere Verfahren, bei denen kostendeckend gearbeitet werden kann, mussten aber im Gegenzug weniger profitable kleinere Betriebsund Privatinsolvenzen in den Kanzleien mitbearbeiten. Die bislang unbeliebte Verwaltungsarbeit bei Konkursverfahren gewann für karrierebewusste Juristen mit wirtschaftsrechtlicher Ausprägung deutlich an Attraktivität. Insolvenzverfahren entwickelten sich aber gleichzeitig auch zu einem spannenden Berufsfeld, in dem Wirtschaftsprüfer oder Rechtsanwälte gesellschaftsrechtliche Probleme in Angriff nehmen konnten. Welche Berufsgruppe sich als Verwalter besser eignet, ist je nach Präferenz und Blickwinkel unterschiedlich. VI. Umstrittenes ESUG – Nutzen für wen? Doch während sich das Berufsbild des Insolvenzverwalters positiv entwickelt, änderte sich am Stigma desjenigen, der einen Insolvenzantrag stellen musste, im deutschen Rechtsraum nichts. Trotz der neuen InsO blieb die Tendenz erhalten, Insolvenzanträge möglichst lange hinauszuzögern. Die Intention, den Insolvenzantragszeitraum nach vorne zu verlegen, so dass eine Firma nicht erst Antrag stellte, wenn sie zahlungsunfähig i. S. von

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§ 17 InsO bzw. überschuldet i. S. von § 19 InsO war, führte in den letzten Jahren zu zahlreichen Gesetzesänderungen. Denn unstrittig ist: Je früher ein Insolvenzantrag gestellt wird, desto besser kann eine Sanierung der Gesellschaft gelingen, ein Investor oder ein neuer Betreiber gefunden werden. Doch spielte möglicherweise bei den umfangreichen Gesetzesänderungen auch das wachsende Interesse der etablierten Verwalterkanzleien eine nicht unwesentliche Rolle: Insolvenzberater mit eher betriebswirtschaftlichem Hintergrund können ihr Geschäftsmodell der Beratung bei der Sanierung und der Suche nach Investoren natürlich besser umsetzen, wenn eine Gesellschaft lediglich in leichter Schieflage, als wenn sie schwerwiegend und dauerhaft zahlungsunfähig ist. Ihnen jedenfalls kam das am 1. März 2012 in Kraft getretene ESUG zugute.12) Es sollte die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die Sanierung eines notleidenden Unternehmens verbessern, indem der Sanierungszeitraum zeitlich vorverlegt wurde. Zugleich wurde der Einfluss der Gläubiger auf die Auswahl des Insolvenzverwalters gestärkt und damit die Möglichkeit für die Geschäftsführer, im „Driver Seat“ zu verbleiben. Erklärtes Ziel war es, mit Unterstützung von Experten und Sachwaltern innerhalb von drei bis neun Monaten im Zuge einer umfassenden Umstrukturierung, meist mit Hilfe eines Insolvenzplanverfahrens, das betroffene Unternehmen zu sanieren. Ob diese Form der Eigenverwaltung für das jeweils betroffene Unternehmen wirklich von Nutzen ist, war und ist immer noch heftig umstritten. Kritisch betrachtet wird vor allem der Umstand, dass mit einer Eigenverwaltung eine hohe Beratungsintensität und damit auch hohe Beraterkosten verbunden sind. Angezweifelt wird auch der langfristige Nutzen der Regelung, da manche Gesellschaft noch während des Eigenverwaltungsverfahrens in die Regelinsolvenz überführt wurde oder schon kurze Zeit nach der Durchführung einer Eigenverwaltung doch ein regulärer Insolvenzantrag gestellt werden musste. Das Gesetz wurde planmäßig fünf Jahre nach Inkrafttreten im Zeitraum 2017/2018 durch eine Forschergemeinschaft evaluiert. Das Ergebnis zusammengefasst: Die durch das ESUG eingeführten Änderungen seien in der Praxis weitgehend positiv angenommen worden und eine Rückkehr

12)

Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen – ESUG, v. 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2582.

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zum früheren Recht deswegen nicht notwendig. Aus Gläubiger- und aus Beratersicht war das neue Gesetz in jedem Fall ein Erfolg.13) VII. Präventiver Restrukturierungsrahmen auf EU-Ebene Zwischenzeitlich gab es auf EU-Ebene eine weitere Initiative zur Vereinheitlichung von Insolvenzverfahren im EU-Bereich. Am 26. Juni 2019 hat das Europäische Parlament die Richtlinie über präventive Restrukturierungsmaßnahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von RestrukturierungsInsolvenz- und Entschuldungsverfahren (kurz: Restrukturierungsrichtlinie) verabschiedet.14) Bei den nun seitens der Mitgliedsstaaten umzusetzenden Vorgaben handelt es sich um ein gesetzliches Sanierungsverfahren außerhalb eines Insolvenzverfahrens. Die Ausgestaltung und Durchführung eines Sanierungsvorhabens soll den Gläubigern und dem Schuldnerunternehmen vorbehalten bleiben. Gerichte sollen nur eingeschaltet werden, um Vollstreckungsmaßnahmen anderer Gläubiger zu verhindern. Auch bei diesem Verfahren bleibt das Management weiter in der Führungsverantwortung. Nach Durchführung der Sanierungsmaßnamen wird ein Restrukturierungsplan durchgesetzt. VIII. Koordinationsverfahren für Konzerninsolvenzen Eine weitere gesetzliche Regelung ist das zum 21. April 2018 in Kraft getretene Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen,15) das zum Ziel hat, verschiedene Einzelverfahren über die Vermögen konzernangehöriger Unternehmen besser aufeinander abzustimmen und die Chancen zum Erhalt des Konzerns im Wege einer Sanierung zu erhöhen. Dafür wurde ein übergeordnetes Koordinationsverfahrens

13) 14)

15)

Siehe https://www.cmshs-bloggt.de/insolvenzrecht/esug-evaluation-reform-gelungennachbesserungen-noetig/ (Abrufdatum: 10.7.2019). Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) – Restrukturierungsrichtlinie, ABl. (EU) L 172/18 v. 26.6.2019. Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen, v. 13.4.2017, BGBl. I 2017, 866.

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geschaffen, in dem der Verwalter einen Koordinationsplan für die jeweiligen konzernzugehörigen Unternehmen erarbeiten soll. Zahlreiche neue Gesetze verfolgen den Zweck, eine Sanierungskultur ohne das Insolvenz-Stigma einzuführen und den Unternehmensführern die Angst, zu nehmen, in einem frühen Stadium der (drohenden) Krise sinnvolle Restrukturierungsmaßnahmen durchzuführen. Doch die One-size-fits-allStrategie bleibt zweifelhaft: Da die Verfahren sehr beratungs- und kostenintensiv sind, steht zu erwarten, dass sie hauptsächlich bei großen Gesellschaften und Konzerninsolvenzen zur Anwendung kommen, jedoch für den Mittelstand und kleine Insolvenzverfahren weniger geeignet sind. IX. Änderungen des Anfechtungsrechts Mit dem Anfechtungsrecht können Insolvenzverwalter Vermögensverschiebungen und Gläubigerbevorzugungen, die der Schuldner vor Insolvenzantragstellung vorgenommen hat, rückgängig machen. Es soll dadurch eine gleichmäßige quotale Befriedigung aller Gläubiger i. R. des Insolvenzverfahrens sichergestellt werden – unabhängig davon, ob ein Gläubiger vor Insolvenzantragstellung mehr Druck zur Zahlung seiner Forderungen auf das insolvente Unternehmen ausgeübt hat oder abgewartet hat. Diese Möglichkeit des Insolvenzverwalters, zum Teil bis zu zehn Jahre zurückliegende Forderungen von Gläubigern zurückzuverlangen, führte aufgrund fehlender Rechtssicherheit zu großer Verärgerung bei den Gläubigern. Nach Ansicht der Gläubiger war insbesondere die Vorsatzanfechtung gemäß § 133 InsO a. F. durch die höchstrichterliche Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes völlig ausgeufert. Verbände und Interessenvertreter plädierten einstimmig für eine Abänderung des Anfechtungsrechtes. Mit Wirkung zum 29. März 2017 beschloss der Bundestag eine Reform des Insolvenzanfechtungsrechtes.16) Damit sollen nun Insolvenzgläubiger besser davor geschützt sein, erhaltene Zahlungen auch noch Jahre später an einen Insolvenzverwalter zurückzahlen zu müssen. Allerdings ist mehr als fraglich, ob sich durch die Reform des Anfechtungsrechtes in der Praxis wesentliche Dinge geändert haben: In meinem persönlichen Rechtsalltag untersuche ich weiterhin Anfechtungstatbestände 16)

Gesetz zur Verbesserung der Rechtssicherheit bei Anfechtungen nach der Insolvenzordnung und nach dem Anfechtungsgesetz, v. 29.3.2017, BGBl. I 2017, 654.

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in den Buchhaltungen der schuldnerischen Unternehmen und setze sie erfolgreich gegenüber Gläubigern durch, insbesondere in überschaubaren Zeiträumen vor der Insolvenzantragstellung. Eine Zurückverfolgung von Anfechtungstatbestände in einem Zeitraum über vier Jahre hinaus – oder entsprechend der damals gesetzlichen Regelung sogar bis zu zehn Jahre zurück – waren in der Praxis ausgesprochen selten. Insofern hat das Gesetz vermutlich lediglich die Regelung der Realität angepasst und damit lediglich den Kritikern ihr Argument genommen, ohne die Rechtspraxis wesentlich zu verändern. Gänzlich anders verhält es sich mit der Abänderung der Verzinsung von Anfechtungsansprüchen in § 143 InsO: Demnach dürfen Zinsen nunmehr erst ab Inverzugsetzung des Gläubigers, statt wie bisher automatisch ab Verfahrenseröffnung, berechnet werden. Das führt in der Praxis sehr wohl immer wieder zu einer frühzeitigeren Bearbeitung von Anfechtungsansprüchen durch die Insolvenzverwalter. Eine bemerkenswerte Änderung hat sich im Verhalten einiger Krankenkasse gezeigt, die seit einiger Zeit – trotz Ausgleich der den Insolvenzantrag begründenden Forderung – die Erstellung eines insolvenzrechtlichen Gutachtens gemäß § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO fordern. Der Insolvenzverwalter muss infolgedessen ein Gutachten über die wiederhergestellte Zahlungsfähigkeit des Schuldners erstellen, was in vielen Fällen nicht möglich ist, wenn bei anderen Gläubigern Zahlungsrückstände bestehen. Die Krankenkassen dagegen befürchten – und haben entsprechende Erfahrungen wohl schon ausreichend gemacht –, dass ansonsten immer wieder Rückstände bei Sozialversicherungsträgern auflaufen, die dann im Falle eines erneuten Insolvenzantrags durch den neuen Insolvenzverwalter angefochten werden können. Inwieweit das geänderte Anfechtungsrecht Auswirkungen auf die Rechtsprechung haben wird, wird die Zukunft zeigen. Bislang sind aufgrund der Verfahrenslaufzeit noch nicht viele Fälle im zuständigen Senat beim Bundesgerichtshof angekommen. X. Veränderungen in der Verwalterpersönlichkeit Vom Wandel des Berufsbildes war bereits die Rede. Aus dem wenig populären „Abwickler“ in Zeiten der KO hatte sich das Amt des Konkursverwalters zu Beginn der InsO zu einem lukrativen Insolvenzgeschäft verwandelt. Das zog viele Interessenten an. Das Bild hat sich zwischenzeitlich erneut verändert. Derzeit gibt es kaum noch Juristen, die den Fachanwalt

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für Insolvenzrecht ablegen wollen. Tendenziell wird sich die Zahl der Verwalter künftig verringern. Ursache dafür sind Umorientierung auf andere Rechtsgebiete, eigene finanzielle Schwierigkeiten und der zunehmende Alterungsprozess der Verwalter. Gefragt ist jetzt weniger der klassische Rechtsanwalt als der Manager. Da in den ESUG-Verfahren die Gläubigerausschussmitglieder den Verwalter bestimmen, zählen Netzwerken und Öffentlichkeitsarbeit neuerdings zu den Basis-Kompetenzen eines Verwalters, um im Geschäft zu bleiben. Die Vergabe von Insolvenzverfahren über die Gerichte ist rückläufig und betrifft vor allem kleinere Betriebe, bei denen ein ESUG-Verfahren nicht in Frage kommt. Das ehemals ausgewogene Mischprinzip der Verfahrensvergabe ist damit obsolet. Die Schere geht auseinander: Es gibt zunehmend kleine Kanzleien, die arbeitsintensive Verfahren mit kleinen Budgets bestreiten, und große Kanzleien mit lukrativen insolvenzrechtlich aufwändigen Verfahren, die aber aufgrund der Unternehmensgröße ungleich besser vergütet werden. Das meiste Geld aus Krisenunternehmen fließt aber – dank ESUG – in die vorinsolvenzrechtliche Beratung. Bedauerlicherweise hat sich die Situation der Frauen, die als Insolvenzverwalterinnen bestellt werden, durch die Gesetzesveränderung ebenfalls gewandelt. Wurden in den 1990er Jahren noch selten Frauen als Verwalterinnen eingesetzt, nahm die Zahl seither stetig zu, auch wenn Frauen eher mit kleinen arbeitsintensiven Verfahren bedacht wurden. Einigen Frauen gelang es, durch langjährige Zusammenarbeit mit den Insolvenzgerichten das Vertrauen der Richter zu erwerben und immer wieder auch größere Insolvenzverfahren zugeteilt zu bekommen. Mit der Einführung des ESUG änderte sich das leider schlagartig zum Schlechten: Derzeit gibt es kaum Frauen als Sachwalterinnen, wie die Auswertungen in den monatlichen Beilagen der ZInsO zeigen. Über die Gründe lässt sich spekulieren: Ist der Wettbewerb um die interessanten Verfahrensgrößen und die damit verbundenen Vergütungen zu hart? Oder sind Frauen einfach nur weniger präsent in der Öffentlichkeit? Oder fehlen einfach die entsprechenden Netzwerke? XI. Auswirkungen auf die Unternehmen Seit der Inkrafttreten der InsO 1999, gab es zahlreiche ergänzende Gesetzesvorhaben und -änderungen. Angesicht eines so kleinen Gesetzes mit

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nur knapp 359 Paragraphen eine überraschende Dynamik. Offenbar sind Schulden und Entschuldung auch im 21. Jahrhundert ein aufreibendes Rechtsfeld, das fortwährend politischer Regulierung bedarf. Stellt sich die Frage, ob sich der Aufwand gelohnt hat: Hat insbesondere die Einführung des ESUG die Durchführung von Insolvenzverfahren zum Positiven verändert? Die Ergebnisse der Evaluierung zum ESUG bejahen diese Frage. Ich widerspreche. Möglicherweise haben die Änderungen im Insolvenzrecht eine Vorverlagerung des Insolvenzantragszeitraumes erreicht und dadurch möglicherweise eine erfolgreiche Sanierung begünstigt. Doch der Patient, nämlich das zu sanierende Unternehmen oder die Person, die in Vermögensverfall geraten und zahlungsunfähig ist, ist unverändert. Um im Bild zu bleiben: Die Krankenhäuser sind lukrativer geworden, die Patienten aber unverändert krank und sie scheuen sich nach wie vor, um Hilfe zu bitten. Vielleicht sogar noch weniger als früher: Denn wirkungsvoll behandelt werden nur noch Erste-Klasse-Patienten, nämlich große Unternehmen mit investitionsstarken, mächtigen Gläubigern. Schwache, kleine Unternehmen können aufgrund mangelnder finanzieller und sozialer Ressourcen nur noch schnell abgewickelt werden. Sicher haben Digitalisierung und veränderte Banken-Richtlinien (Basel II und Basel III) zu Veränderungen geführt, die sich auch im Alltag von Insolvenzverfahren bemerkbar macht. Doch die Angst des mittelständischen Unternehmers, einen Insolvenzantrag zu stellen, besteht weiterhin unverändert – zumal damit häufig aufgrund der Vergabe von persönlichen Bürgschaften an Banken die Privat-Insolvenz einhergeht. Der Druck auf die Unternehmensleitung ist sogar gewachsen. Banken und Investoren verlangen zügige, schnelle Entscheidungen. Obendrein fallen die sozialen Zusammenhalte schneller weg; kaum eine Ehe übersteht ein Insolvenzverfahren. Der Wegfall von Vermögenssicherheiten wie Haus und Auto, die unweigerlich nach Insolvenzantragstellung verloren sind, aber auch der gesellschaftliche Statusverlust belasten verantwortliche Geschäftsführer im Mittelstand schwer. Vorstände und CFOs von großen Gesellschaften ziehen nach einer Insolvenz weiter zum nächsten Unternehmen. Die Bindung zum Unternehmen ist oft geringer, auch arbeitet in der Konzernwelt üblicherweise ein anderer Manager-Typ. Die weniger mobilen, mittelständischen Unternehmer bleiben auch in Krisen meist weiterhin ihrem Betrieb verbunden. Manche halten zu lange

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am Unternehmen fest, ohne ein Insolvenzverfahren als Chance wahrzunehmen. Auch mehren sich die Fälle, dass Geschäftsführer chronisch erkranken, Herzinfarkte oder Schlaganfälle erleiden oder sogar Suizidversuche unternehmen. Der Druck hat sich erhöht. In unserer Gesellschaft fehlen Mechanismen, um diesen Druck aufzufangen. Schuldnerberatungsstellen stehen oft nur dem privaten Insolvenzantragsteller zur Seite, zumal mit häufig langen Wartezeiten. Für die psychischen Probleme krisengeschüttelter Unternehmer fehlt es an geeigneten Beratungsstellen. Die meisten Insolvenzverwalter sind mit derartigen Themen überfordert. Ihnen fehlt die entsprechende Ausbildung und oft auch die Zeit; schließlich sind Insolvenzverfahren ein Projektgeschäft, bei denen in einem sehr kurzen Zeitraum von zwei bis drei Monaten, höchstens ein halbes Jahr, eine Vielzahl von Entscheidungen zu treffen sind. Die Stundenbelastung bei Insolvenzverwaltern und Sachwaltern ist extrem hoch. XII. Fazit Das mittelständische Unternehmen mit seinen Mitarbeitern und Produkten wird auch nach vielen Gesetzesänderungen im Insolvenzverfahren überwiegend betriebwirtschaftlich betreut. Für die Gläubiger mag sich vieles zum Besseren entwickelt haben. Für die Schuldner sieht die Insolvenzwelt im Jahr 2019 noch genauso aus wie zu Zeiten der GesO in den neuen Bundesländern oder zu Zeiten der KO im Deutschen Reich. Ja, schlimmer noch: Aufgrund der fehlenden Mischkalkulation in den Kanzleien hat sich ihre Lage vermutlich sogar verschlechtert. Denn früher fand sich in den stabil organisierten Kanzleien immer noch die Zeit für ein zwischenmenschliches Gespräch, eine für alle Beteiligten stabilisierende Prozessführung und somit auch für kreative Lösungen, die heute aufgrund des Zeitdrucks gar nicht mehr entstehen können. Da ist es auch wenig tröstlich, dass ein Unternehmensführer seit Einführung der InsO seine privaten Verbindlichkeiten schon nach drei bis sechs Jahren entschulden kann und nicht wie früher in den Schuldturm geworfen wird oder den Rest seines Lebens als Schuldsklave arbeiten muss. Echter Fortschritt sähe anders aus.

Die Reform des Insolvenzanfechtungsrechts in der politischen Diskussion HERIBERT HIRTE Inhaltsübersicht I. II.

Die Insolvenzanfechtung im Koalitionsvertrag Die Insolvenzanfechtung in ausgewählten Pressemitteilungen

III. Die Insolvenzanfechtung auf Twitter IV. Der Wille des Gesetzgebers V. Zusammenfassung

Kaum ein anderes Thema hat die rechtspolitische Diskussion im Insolvenzrecht in der 18. Legislaturperiode so beschäftigt wie die Reform des Rechts der Insolvenzanfechtung, wie sie schlussendlich mit dem Gesetz zur Verbesserung der Rechtssicherheit bei Anfechtungen nach der Insolvenzordnung und nach dem Anfechtungsgesetz1) Gestalt angenommen hat. Der Verfasser dieser Zeilen hat diese Reform als Berichterstatter für das Thema in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion während der ganzen Zeit begleitet. Und immer wieder war er dabei auf verschiedenen Tagungen und Seminaren mit dem hier zu ehrenden Godehard Kayser im Austausch – manchmal auch gemeinsam mit ihm auf dem Podium. Nichts liegt daher näher, als die Entwicklung dieser Reform einmal aus der Sicht der Politik aufzugreifen, auch um damit das eine oder andere Missverständnis auszuräumen und den gegenseitigen Austausch zu fördern. Dabei muss das „Insolvenzanfechtungsrecht“ zugleich pars pro toto auch für andere Rechtsbereiche stehen, so dass es im Folgenden vor allem darum gehen wird, die Grenzen des Politischen für den in der Praxis tätigen Juristen auszuloten.2) I. Die Insolvenzanfechtung im Koalitionsvertrag Dass der Koalitionsvertrag gerade im inzwischen typischen Falle einer Koalitionsregierung der Ausgangspunkt des gesetzgeberischen Handelns 1) 2)

Gesetz zur Verbesserung der Rechtssicherheit bei Anfechtungen nach der Insolvenzordnung und nach dem Anfechtungsgesetz, v. 29.3.2017, BGBl. I 2017, 654. Ähnlich bereits für das Gesellschaftsrecht Hirte, Das Gesellschaftsrecht und die Politik, in: FS Seibert, 2019, S. 345 ff. und für das Insolvenzrecht allgemein Hirte, Das Insolvenzrecht und die Politik, in: Schwartz Insolvenzverwalter, Insolvenzrecht, Synopse, 5. Aufl. 2017, S. 7 – 17.

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ist,3) hat der Verfasser gerade im Zusammenhang mit dem Insolvenzanfechtungsrecht immer wieder betont. Wie genau man solche Koalitionsverträge lesen muss, sei an einem Blick in die Aussagen des Koalitionsvertrages der 2017 zu Ende gegangenen Legislaturperiode zu unserem Thema Anfechtungsrecht veranschaulicht. Dort hieß es: „(…) Zudem werden wir das Insolvenzanfechtungsrecht im Interesse der Planungssicherheit des Geschäftsverkehrs sowie des Vertrauens der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in ausgezahlte Löhne auf den Prüfstand stellen.“4)

Schon auf den ersten Blick wird deutlich: Es ist ein Gleichgewicht vereinbart zwischen einer Verbesserung des Rechts der Insolvenzanfechtung zugunsten mittelständischer Anfechtungsgegner wie zugunsten von Arbeitnehmern. Und es ist andererseits nicht fest vereinbart, dass geändert wird, sondern nur, dass eine Änderung „geprüft“ wird. Alle diese auf den ersten Blick semantischen Feinheiten haben die Diskussion in der letzten Legislaturperiode zentral beeinflusst. Denn ohne Einigung zwischen den Koalitionspartnern in der Sache kann es keine Änderung geben – und der Prüfauftrag wäre erledigt gewesen. Von entscheidender Bedeutung ist aber auch, was alles gerade nicht vereinbart war. Nicht vereinbart war insbesondere, dass auch die Lage von Fiskus und Sozialversicherungsträgern als Anfechtungsgegnern verbessert werden sollte. Entsprechende Begehrlichkeiten waren aber gleichwohl nicht leicht zurückzuweisen: Denn auch Koalitionsverträge lassen sich natürlich einvernehmlich ändern. Und wenn in beiden die Koalition tragenden Fraktionen die dem Fiskus und den Sozialversicherungsträgern nahestehenden Arbeitsgruppen, also Finanzen, Arbeit und Soziales sowie Gesundheit, ihren Hut in den Ring werfen, und wenn Gleiches auch noch auf der Ebene der Bundesländer – also des Bundesrates – geschieht, wird es für die Rechtspolitiker schwer, ihre rechtspolitische Grundüberzeugung zu verteidigen. Und deshalb ergab sich fast während der ganzen letzten Legislaturperiode die bemerkenswerte Lage, dass die Rechtspolitiker aller Fraktionen gemeinschaftlich ein Fiskusprivileg (durch die „Hintertür“) ablehnten, während

3)

4)

Dazu zuletzt Hirte in: FS Seibert, 2019, S. 345, 347 ff.; zur Rechtsnatur von Koalitionsverträgen ausführlich jüngst Kloepfer, NJW 2018, 1799 ff. (mit allerdings insoweit abweichender Auffassung, als er von der rechtlichen „Unverbindlichkeit“ von Koalitionsverträgen ausgeht). „Deutschlands Zukunft gestalten“, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 2013, S. 19.

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umgekehrt ebenso deutlich bei den Finanzpolitikern auf Bundes- wie Landesebene durchaus Sympathien in diese Richtung bestanden.5) II. Die Insolvenzanfechtung in ausgewählten Pressemitteilungen Wie deutlich (nur) dieses Problem die Verhandlungen über die Reform beeinflusste, wird an einem Blick auf einige der in diesem Zusammenhang verbreiteten Pressemitteilungen deutlich. So hieß es in einer am 20. Oktober 2014 zum zeitweiligen Stopp der Koalitionsverhandlungen (nach dem Bekanntwerden eines „Eckpunktepapiers“ des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz) über das Gesetz verbreiteten Erklärung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion:6) „Union hält an Änderungen im Insolvenzanfechtungsrecht fest Reformverweigerung des Bundesjustizministeriums ist unverständlich In einem Presseartikel berichtet die Frankfurter Allgemeine Zeitung (F.A.Z.) am vergangenen Samstag, dass die Koalition die Pläne, das Insolvenzanfechtungsrecht zu ändern, gestoppt habe. Hierzu erklären die rechtspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Elisabeth Winkelmeier-Becker und der zuständige Berichterstatter Heribert Hirte: Elisabeth Winkelmeier-Becker: ‚Die Union tritt weiterhin für Änderungen im Bereich der Insolvenzanfechtung ein. Unser Ziel ist es, Unternehmen besser vor ungerechtfertigten Rückforderungen eines Insolvenzverwalters zu schützen. Zudem müssen sich die Arbeitnehmer eines insolventen Unternehmens darauf verlassen können, dass sie ausgezahlte Löhne im Regelfall behalten dürfen. Wir sind nach wie vor davon überzeugt, dass der Gesetzgeber den betroffenen Unternehmen und Arbeitnehmern mit gezielten Änderungen zügig helfen kann. Das wäre auch im Rahmen eines eigenständigen Gesetzgebungsverfahrens denkbar. Die Union hält selbstverständlich an diesem wichtigen Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag fest. Dass die Rechtslage nicht so bleiben darf wie bisher, hat auch Minister Maas erkannt, dessen Haus erst jüngst ein Eckpunktepapier zur Reform des Anfechtungsrechts vorgelegt hatte. Insofern ist es unverständlich und widersprüchlich, wenn der Minister den Auftrag aus dem Koalitionsvertrag nun als erledigt betrachtet.‘

5)

6)

Dass es in der Insolvenzanfechtung keine besonderen Vorrechte für den Staat („Fiskusprivileg“) geben darf (auch nicht indirekt), schlägt sich denn auch in der dies nicht mehr aufgreifenden Neufassung des Gesetzes wieder (Gesetz zur Verbesserung der Rechtssicherheit bei Anfechtungen nach der Insolvenzordnung und nach dem Anfechtungsgesetz, v. 29.3.2017, BGBl. I 2017, 654), vgl. auch schon zuvor Hirte, Erstreckung der Bargeschäftsausnahme des § 142 InsO auf den „Bruttolohn“?, ZInsO 2016, 2027 ff. – Zur Vorgeschichte das Wortprotokoll der 92. Sitzung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz v. 24.2.2016 (Protokoll Nr. 18/92) sowie Beschlussempfehlung und Bericht des RA, BT-Drucks. 18/11199, S. 10. Abrufbar unter https://www.cducsu.de/presse/pressemitteilungen/union-haelt-aenderungen-im-insolvenzanfechtungsrecht-fest (Abrufdatum: 17.7.2019).

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Heribert Hirte Heribert Hirte: ‚Das Eckpunktepapier des Bundesjustizministeriums enthält zwar richtige Ansätze, geht aber in zwei wesentlichen Punkten über die Zielsetzung des Koalitionsvertrages hinaus und wird insofern auch in der Fachöffentlichkeit zurecht kritisiert. Das betrifft insbesondere die geänderte Behandlung von Zahlungen im Rahmen einer Zwangsvollstreckung, die gravierende Folgen für die Eröffnungsquote von Insolvenzverfahren haben könnte. Mit der Union wird es keine neuen Privilegien für Fiskus, Sozialkassen oder Banken im Insolvenzverfahren geben. Der Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung ist eine zentrale Errungenschaft der Insolvenzordnung, die wir erhalten wollen. Außerdem ist nicht einzusehen, warum auch Manager und Mitarbeiter aus der Finanzbuchhaltung besser gestellt werden sollten. Denn mit uns wird es keine Prämie für diejenigen geben, die die Krise eines Unternehmens zu verantworten haben.‘ “ (Hervorhebung durch d. Verf.)

Lob erhielt dementsprechend der vom Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz daraufhin erstellte Referentenentwurf. So hieß es in einer am 17. März 2015 anlässlich der Vorlage des Referentenentwurfs des Gesetzes verbreiteten Erklärung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion:7) „Winkelmeier-Becker/Prof. Dr. Hirte: Reform der Insolvenzanfechtung schützt mittelständische Unternehmen Wichtiges Anliegen der Union wird aufgegriffen Das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz hat am gestrigen Montag einen Referentenentwurf zur Reform der Insolvenzanfechtung vorgelegt. Hierzu erklären die rechtspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Elisabeth WinkelmeierBecker und der zuständige Berichterstatter Heribert Hirte: ‚Wir begrüßen den Gesetzentwurf zur Reform der Insolvenzanfechtung. Die Koalition korrigiert damit eine in den vergangenen Jahren teilweise ausgeuferte Anfechtungspraxis und stellt die Rechtssicherheit für Unternehmen wieder her. Insbesondere mittelständische Unternehmen, aber auch Arbeitnehmer werden vor fragwürdigen Rückforderungen geschützt. Ein wichtiges Anliegen der Union aus dem Koalitionsvertrag wird damit aufgegriffen. Kern der Reform sind Präzisierungen des bisher unbestimmten Gesetzeswortlauts bei der sogenannten Vorsatzanfechtung nach § 133 der Insolvenzordnung. Wir stellen klar, dass eine Anfechtung künftig nicht darauf gestützt werden kann, dass der später insolvente Schuldner bei einem Gläubiger um eine Zahlungserleichterung nachgesucht hat. Das Risiko, dass ein Gläubiger später vom Insolvenzverwalter in Anspruch genommen wird, zum Beispiel weil er Ratenzahlung mit dem Schuldner vereinbart hat, wird damit ausgeschlossen. Wir begrüßen auch, dass der Entwurf – entgegen früheren Planungen des Ministeriums – keine Regelungen vorsieht, durch die Anfechtungen von Zahlungen an Fiskus und Sozialversicherungsträger im Rahmen einer Zwangsvollstreckung eingeschränkt werden. Für uns ist klar, dass das Anfechtungsrecht ein wichtiges Instrument zur Durchsetzung des Gläubigerschutzes ist. Deshalb werden wir die Auswirkungen der geplanten Neuregelung auf die Eröffnungswahrscheinlichkeit von Insolvenzverfahren genau im Auge behalten.‘ “ (Hervorhebung durch d. Verf.)

Der in der Folge erarbeitete Regierungsentwurf war demgegenüber aus der Sicht des Fiskusprivilegs wieder ein Schritt zurück, wie es in einer Presse-

7)

Abrufbar unter https://www.heribert-hirte.de/images/Pressemitteilungen/PM_Insolvenzanfechtung.pdf (Abrufdatum: 17.7.2019).

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mitteilung der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung (MIT) der CDU vom 2. Oktober 2015 deutlich zum Ausdruck kommt:8) „MIT begrüßt Einigung bei Insolvenzanfechtung ‚Wir beseitigen ein hohes Risiko für den Mittelstand‘ Die Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU (MIT) begrüßt den Kabinettsbeschluss zur Insolvenzanfechtung. MIT-Chef Carsten Linnemann: ‚Damit befreit die Koalition den Mittelstand von hohen Belastungsrisiken, die für viele Unternehmen existenzbedrohend sein könnten.‘ Entscheidend sei vor allem, dass Insolvenzverwalter künftig nicht mehr so leicht bereits geleistete Zahlungen an andere Unternehmen zurückfordern können. Bislang konnte es schon ausreichen, dass eine Ratenzahlung vereinbart wurde, um im Insolvenzfall alle Zahlungen danach zurück fordern zu können. Das hätte viele Unternehmen ihrerseits in die Insolvenz getrieben. Mit der nun geforderten Beweislastumkehr muss der Insolvenzverwalter beweisen, dass der Kunde von der Zahlungsunfähigkeit gewusst hat oder hätte wissen müssen. In den meisten Fällen bleiben damit Mittelständler von unerwarteten Rückforderungen verschont. Auch werden die Anfechtungsfristen bei sogenannten kongruenten Deckungen von zehn auf vier Jahre verkürzt. Zahlungen, die länger zurück liegen, sind nicht mehr rückforderbar. Fast alle Forderungen der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU/CSU sind damit aufgegriffen worden. Linnemann: ‚Wir begrüßen grundsätzlich den Gesetzentwurf zur Reform der Insolvenzanfechtung. Die Bundesregierung korrigiert damit eine in den vergangenen Jahren teilweise ausgeuferte Anfechtungspraxis und stellt die Rechtssicherheit für Unternehmen wieder her. Insbesondere mittelständische Unternehmen werden vor fragwürdigen Rückforderungen geschützt. Das wichtigste für den Mittelstand ist Planungs- und Rechtssicherheit im Geschäftsverkehr, mit dem Entwurf kommen wir dabei einen große Schritt voran.‘ Nachbesserungsbedarf sieht die MIT noch bei der Gleichstellung von Fiskus und Sozialversicherungsträgern mit anderen Insolvenzgläubigern. Dazu der zuständige Berichterstatter der CDU/CSU-Fraktion und MIT-Mitglied Heribert Hirte: ‚Dass Forderungen des Finanzamts nach diesem Entwurf so behandelt werden, wie die ‚normalen‘ Gläubiger, ist höchstproblematisch, denn der Fiskus kann sich seine Vollstreckungstitel selbst schaffen. Ich bin aber zuversichtlich, dass wir an dieser Stelle im parlamentarischen Verfahren noch Nachbesserungen erreichen werden.‘ “ (Hervorhebung durch d. Verf.)

Die Folge waren lange Verhandlungen hinter verschlossenen Türen, die gelegentlich außerhalb des parlamentarischen Raums dahingehend interpretiert wurden, dass in der Sache „nichts mehr passiere“. Die schlussendlich erzielte Einigung wurde von einer am 14. Februar 2017 verbreiteten Erklärung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion begleitet:9) „Koalition einigt sich auf Reform des Insolvenzanfechtungsrechts Verbesserte Rechtssicherheit für Unternehmen und Arbeitnehmer Die Koalition hat sich nach langen Verhandlungen auf eine Reform des Insolvenzanfechtungsrechts geeinigt. Der Gesetzentwurf soll am morgigen Mittwoch im Rechtsausschuss beraten und 8) 9)

Abrufbar unter https://www.mit-bund.de/content/mit-begruesst-einigung-bei-insolvenzanfechtung (Abrufdatum: 17.7.2019). Abrufbar unter https://www.cducsu.de/presse/pressemitteilungen/koalition-einigt-sichauf-reform-des-insolvenzanfechtungsrechts (Abrufdatum: 17.7.2019).

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Heribert Hirte am kommenden Donnerstag im Plenum des Deutschen Bundestages beschlossen werden. Hierzu erklären die rechtspolitische Sprecherin der CDU/CSU-Fraktion, Elisabeth WinkelmeierBecker, und der zuständige Berichterstatter, Heribert Hirte: Winkelmeier-Becker: ‚Die neuen Regeln schaffen Rechtssicherheit sowohl für Unternehmer als auch für Arbeitnehmer. Wir setzen damit ein wichtiges Anliegen von CDU und CSU aus dem Koalitionsvertrag um. Unternehmen müssen sich darauf verlassen können, dass sie Zahlungen, die sie für ihre Leistungen erhalten haben, behalten können. Diese Planungssicherheit war in den vergangenen Jahren durch die Praxis von Insolvenzverwaltern in Frage gestellt worden. Wir stellen die unverzichtbare Planungssicherheit wieder her. In Zukunft können Insolvenzverwalter von Lieferanten nicht mehr hohe Beträge zurückfordern, nur weil diese etwa vor längerer Zeit Ratenzahlungen mit dem nunmehr insolventen Unternehmen vereinbart hatten. Künftig sollen zudem Fälle, in denen Insolvenzverwalter Löhne von Arbeitnehmern zurückgefordert haben, ausgeschlossen sein.‘ Heribert Hirte: ‚Wichtig war uns bei der Reform, dass keine neuen Sonderrechte für einzelne Gläubigergruppen geschaffen werden. Das Insolvenzrecht muss als Instrument zur Sanierung von Unternehmen und zum Erhalt von Arbeitsplätzen bewahrt bleiben. Deswegen haben wir uns nachdrücklich dafür eingesetzt, Privilegien für den Fiskus und andere öffentlich-rechtliche Gläubiger zu verhindern. Ein wichtiger Punkt für alle von Anfechtungen überzogenen Gläubiger ist zudem die Begrenzung der Zinsregelung. Nach der Neuregelung werden Zinsen auf Insolvenzanfechtungsforderungen erst mit Eintritt des Verzugs entstehen. Dabei haben wir von der Union durchgesetzt, dass diese Regelung auch schon für bereits eröffnete Verfahren gilt und damit sogleich auch „kassenwirksam“ wird.‘ “ (Hervorhebung durch d. Verf.)

Der in den Pressemitteilungen deutlich zu Tage tretende Streit über die (indirekte) Stärkung der Rechte von Fiskus und Sozialversicherungsträgern konnte sicher auch deshalb schließlich beigelegt werden, weil am 29. Dezember 2016 das Gesetz zur Änderung der Insolvenzordnung und zur Änderung des Gesetzes, betreffend die Einführung der Zivilprozessordnung in Kraft treten konnte.10) Mit ihm wurden im Wesentlichen Unklarheiten in Bezug auf das sog. „Close-out-Netting“ beseitigt, welche nach einem Urteil des Bundesgerichtshofes vom 9. Juni 201611) entstanden waren. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollen nach § 104 InsO n. F. auch weiterhin Netting-Klauseln in den Fällen wirksam sein, in denen die fixe Lieferung von Waren vereinbart worden ist, die einen Markt- oder Börsenpreis haben, oder andere Fixgeschäfte über Finanzdienstleistungen geschlossen wurden, die einen Markt- oder Börsenpreis haben. Dass das Gesetz beträchtliche Risiken beseitigt, die sonst für die deutsche Kreditwirtschaft bestanden 10)

11)

Gesetz zur Änderung der Insolvenzordnung und zur Änderung des Gesetzes, betreffend die Einführung der Zivilprozessordnung, v. 22.12.2016, BGBl. I 2016, 3147; zum Streit über die Frage, ob das Gesetz eine sachlich nicht gebotene Privilegierung für Kreditinstitute darstelle, siehe die Reden der Abgeordneten Hirte und Keul in der abschließenden Debatte zum Gesetz (Deutscher Bundestag, Plen.-Prot. 18/206, S. 20631 ff.). BGH, Urt. v. 9.6.2016 – IX ZR 314/14, BGHZ 210, 321 = ZIP 2016, 1226.

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hätten und für die das Bundesministerium der Finanzen ein Fürsprecher ist, liegt auf der Hand.12) III. Die Insolvenzanfechtung auf Twitter Die in den Pressemitteilungen zum Ausdruck kommende Akzentsetzung wird auch in den Twitter-Meldungen des Verfassers deutlich, die hier auszugsweise in chronologischer Reihenfolge (ohne Kommentare) wiedergegeben werden:

12)

Dazu die Rede des Verf. Hirte in der abschließenden Debatte zum Gesetz, Deutscher Bundestag, Plen.-Prot. 18/206, S. 20632 (A).

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Die Twitter-Meldungen zeigen anschaulich, dass die wirtschaftlichen Auswirkungen der Regelungen die zentrale Frage im Gesetzgebungsprozess waren. Die juristische Dogmatik war (jedenfalls im Bereich der Insolvenzanfechtung) nur Umsetzungswerkzeug des ermittelten (und ggf. errungenen) politischen Ergebnisses und nicht umgekehrt. Im Übrigen legen gerade die Twitter-Meldungen auch noch einen anderen im Ergebnis entscheidenden Zusammenhang offen: Für die CDU/CSU-Bundestagsfraktion war es nämlich wichtig, dass ein die Wirtschaft belastendes Gesetz

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wie das CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz,13) das eine Erweiterung der allgemeinen Berichtspflichten im Lagebericht (§ 289a HGB n. F.) durch die Einführung einer sog. nichtfinanziellen Berichterstattung für kapitalmarktorientierte Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitern vorsieht (§ 289b HGB n. F.),14) nicht verabschiedet werden sollte, wenn nicht zugleich die mit der Reform des Rechts der Insolvenzanfechtung verbundenen Erleichterungen für die Wirtschaft Gesetz werden. Man mag dies als Teil eines rechtspolitischen Bazars bezeichnen … Ausführlich kommentiert wurde dies in einer Pressemitteilung des Nachhaltigkeitsrats (Rat für Nachhaltige Entwicklung) vom 16. Dezember 2016:15) „Bundestag verabschiedet Gesetz zur CSR-Berichtspflicht von Unternehmen erst 2017 (…) Eigentlich hätten die Mitgliedsstaaten der EU die Richtlinie zur nichtfinanziellen Berichtspflicht von Oktober 2014 bis spätestens 6. Dezember 2016 in nationales Recht umsetzen müssen. In diesem Jahr allerdings wird der Bundestag es nicht mehr schaffen, das entsprechende CSR-Gesetz zu verabschieden. Die Verzögerung führt zu Verunsicherung betroffener Unternehmen. Yvonne Zwick, wissenschaftliche Referentin in der Geschäftsstelle des Rates für Nachhaltige Entwicklung, berichtet von entsprechenden Fragen von Unternehmen und Branchenverbänden. Das federführende Bundesjustizministerium beruhigt allerdings; es legte den Entwurf zur Umsetzung der Berichtspflicht im September 2016 vor: ‚Auch wenn das CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz wegen der andauernden Beratungen erst Anfang 2017 vom Deutschen Bundestag verabschiedet werden sollte, soll es nach derzeitigem Stand aus Sicht des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz dabei bleiben, dass die neuen nichtfinanziellen Berichtspflichten – wie von der CSR-Richtlinie 2014/95/EU vorgegeben – auf Lage- und Konzernlageberichte für nach dem 31. Dezember 2016 beginnende Geschäftsjahre anzuwenden sind‘, schreibt das Ministerium auf Anfrage. Die Union nimmt die CSR-Richtlinie in Geiselhaft Für die Unternehmen ändert sich also am Startpunkt der Berichtspflicht nichts, auch wenn die bereits fertig formulierte Endfassung des Gesetzes noch nicht veröffentlicht ist. Sie entspricht aber nach Angaben verschiedener Mitglieder des Rechtsausschusses im Deutschen Bundestag im Wesentlichen dem Entwurf des Justizministeriums. Wesent13)

14)

15)

Das Gesetz zur Stärkung der nichtfinanziellen Berichterstattung der Unternehmen in ihren Lage- und Konzernlageberichten – CSR-Richtlinie-Umsetzungsgesetz, v. 11.4.2017, BGBl. I 2017, 802 (RegE, BT-Drucks. 18/9982), setzt die Richtlinie 2014/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 22.10.2014 zur Änderung der Richtlinie 2013/34/EU im Hinblick auf die Angabe nichtfinanzieller und die Diversität betreffender Informationen durch bestimmte große Unternehmen und Gruppen – sog. CorporateSocial-Responsibility- bzw. CSR-Richtlinie, ABl. (EU) L 330/1 v. 15.11.2014, um. Ausführlich Beschlussempfehlung und Bericht des RA, BT-Drucks. 18/11450, S. 45 ff., und die Rede des Verf. in der Plenardebatte anlässlich der 2. und 3. Lesung des Gesetzes, Deutscher Bundestag, Plen.-Prot. 18/221, S. 22258 (B) f. Abrufbar unter https://www.nachhaltigkeitsrat.de/aktuelles/bundestag-verabschiedetgesetz-zur-csr-berichtspflicht-von-unternehmen-erst-2017/ (Abrufdatum: 11.7.2019).

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Heribert Hirte lich ist unter anderem der Kreis der Berichtspflichtigen: Unternehmen mit mehr als 500 Mitarbeitenden und einer Bilanzsumme von mehr als 20 Millionen Euro oder Umsatzerlösen von mehr als 40 Millionen Euro sind ab dem kommenden Geschäftsjahr verpflichtet, CSR-Berichte zu erstellen. Grund der Verzögerung ist ein Streit zwischen Union und SPD über die Insolvenzrechtsreform. Das Gesetz hat zwar formal nichts mit der CSR-Richtlinie zu tun, die CDU/CSU-Fraktion will sie aber im Paket verhandeln. ‚Die Union nimmt die CSRRichtlinie in Geiselhaft‘, ärgert sich deshalb Johannes Fechner, Sprecher der SPD im Rechtsausschuss des Bundestages. ‚Das ist ärgerlich für die Unternehmen, die sich in einem Schwebezustand befinden‘, ergänzt er. Die SPD wollte zudem auch Unternehmen ab 250 Mitarbeitern verpflichten, CSR-Berichte zu verfassen, und zudem sollten diese gleichzeitig mit den Finanzberichten veröffentlicht werden, was nach Ansicht der SPD die Aufmerksamkeit erhöht hätte. Beides lehnte die Union mit einem Verweis auf den Koalitionsvertrag ab, der eine Eins-zu-Eins-Umsetzung von EU-Richtlinien vorsieht. Heribert Hirte, für die CDU/CSU-Fraktion-Mitglied im Rechtsausschuss und dort Berichterstatter für das Bilanzrecht, weist die Vorwürfe der SPD zurück und betont, dass es durchaus noch Klärungsbedarf in Sachfragen gebe. Hirte sagt, es sei natürlich, das CSRGesetz mit den Verhandlungen um das neue Insolvenzrecht zu verbinden. ‚Das CSRGesetz ist mit Belastungen für die Wirtschaft verbunden, da ist es logisch, es mit der Insolvenzrechtsreform zu verhandeln, die zu Entlastungen führen soll. Zudem kommen beide Entwürfe aus dem gleichen Ministerium‘, sagt Hirte. Sowohl er als auch SPD-Mann Fechner sehen aber keine Hindernisse, das CSR-Gesetz im Januar zu verabschieden. (…)“

IV. Der Wille des Gesetzgebers Im Rahmen der historisch-teleologischen Auslegung geht es dann auch beim Insolvenzanfechtungsrecht darum, den „wahren Willen des Gesetzgebers“ zu erforschen. Schon an anderer Stelle wurde darauf verwiesen, dass die sog. Gesetzesbegründung des Regierungsentwurfs insoweit nur einen Teil der Motive wiedergeben kann.16) Vielmehr ist auch ein Blick zu werfen auf den „Bericht des Ausschusses“ als Teil der Beschlussempfehlung des federführenden Ausschusses an das Plenum (§§ 63, 66 GOBT), da in ihm sowohl konsentierte als auch fraktions-spezifische Ansichten zu Gesetzentwürfen protokollsicher zu Papier gebracht werden. Der Verfasser hatte auch darauf verwiesen, dass sich in den Plenarreden der (vor allem) 2./3. Lesung eines Gesetzes oft Anhaltspunkte für die Auslegung eines Gesetzes finden ließen.17) Einer solchen Berücksichtigung der Ansichten „einzelner Abgeordneter“ für die Ermittlung des Willens der Gesetzgebers hat allerdings Fleischer vor einiger Zeit in einer grundlegenden 16) 17)

Dazu ausführlicher Hirte in: FS Seibert, 2019, S. 345, 356. Dazu ausführlicher Hirte in: FS Seibert, 2019, S. 345, 356 f. (dort auch zur Möglichkeit, eine Rede „zu Protokoll“ zu geben (§ 78 Abs. 6 GOBT), und dem Für und Wider dieses Vorgehens).

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Abhandlung widersprochen. Er lehnt seine Auffassung an ein älteres Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1952 zur traditionell „objektiven Theorie“ an, wo es heißt: „Nicht entscheidend ist dagegen die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung der Bestimmung.“18)

In dieser Folge führt Fleischer aus, dass sich durchaus die Frage stelle, welche Vorarbeiten als „Gesetzesmaterialien“ verwertbar seien.19) Eine Abschichtung nimmt er sodann bei Äußerungen von Parlamentsabgeordneten vor: „Ihre Redebeiträge geben dem Rechtsanwender daher oft keine weiterführenden Fingerzeige für die rechtliche Bedeutung einer Einzelvorschrift; die Kompromisshaftigkeit der politischen Meinungsbildung erschwert außerdem die Suche nach einer juristisch verwertbaren Intention des Gesetzgebers.“20)

Etwas abwägender hieß es allerdings noch bzgl. nachträglicher Stellungnahmen eines Parlamentsabgeordneten in einem anderen Beitrag: „Die Irrelevanz nachträglicher Stellungnahmen eines Abgeordneten für die Gesetzesauslegung schließt nicht aus, dass man seinen vorherigen Äußerungen während des Gesetzgebungsverfahrens Beachtung schenkt. Sofern sie schriftlich dokumentiert und allgemein zugänglich sind, z. B. im Parlamentsprotokoll, gehören sie zu den Gesetzesmaterialien im weiteren Sinne. Für ihre Aussagekraft kann es eine Rolle spielen, ob es sich bei der betreffenden Person um den Gesetzesinitiator (‚bill sponsor‘) oder einen in die Entwurfserstellung nicht näher eingebundenen Abgeordneten handelt.“21)

Diese Überlegungen offenbaren allerdings eine gewisse Unkenntnis der die parlamentarischen und innerfraktionellen Abläufe regelnden rechtlichen Regeln – in Deutschland. Denn (natürlich) folgt die Abfolge der Reden, vor allem aber ihr (zeitlicher) Umfang keineswegs dem Zufall, sondern unterliegt den Regelungen der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages (GOBT), die durch Beschlüsse des Ältestenrats weiter konkretisiert wurden und werden. Hier ist aus der GOBT vor allem entscheidend deren „§ 28 Reihenfolge der Redner (1) Der Präsident bestimmt die Reihenfolge der Redner. Dabei soll ihn die Sorge für sachgemäße Erledigung und zweckmäßige Gestaltung der Beratung, die Rücksicht auf die verschiedenen Parteirichtungen, auf Rede und Gegenrede und auf die Stärke der Fraktionen (Hervorhebung durch d. Verf.) leiten; insbesondere soll nach der Rede eines Mitgliedes oder Beauftragten der Bundesregierung eine abweichende Meinung zu Wort kommen. 18) 19) 20) 21)

BVerfG, Urt. v. 21.5.1952 – 2 BvH 2/52, BVerfGE 1, 299, 301, 312 = NJW 1952, 737; bestätigt in BVerfG, Beschl. v. 17.5.1960 – 2 BvL 11/59, 2 BvL 11/60, BVerfGE 11, 126, 130. Fleischer in: Fleischer, Mysterium „Gesetzesmaterialien“, 2013, S. 1, 14. Fleischer in: Fleischer, Mysterium „Gesetzesmaterialien“, 2013, S. 1, 14. Fleischer, Gesetzesauslegung durch Befragung von Bundestagsabgeordneten?, NJW 2012, 2087, 2090.

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Heribert Hirte (2) Der erste Redner in der Aussprache zu Vorlagen von Mitgliedern des Bundestages soll nicht der Fraktion des Antragstellers angehören. Antragsteller und Berichterstatter können vor Beginn und nach Schluß der Aussprache das Wort verlangen. Der Berichterstatter hat das Recht, jederzeit das Wort zu ergreifen.“

Aber auch innerhalb der Fraktionen folgt die Rednerbenennung klaren Regeln, die letztlich Ausfluss des Demokratieprinzips sind. So heißt es exemplarisch in der „Arbeitsordnung der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag für die 19. Wahlperiode“:22) „§ 8. Arbeitsgruppen (…) 2. Die von der Fraktionsversammlung gewählten Vorsitzenden der Arbeitsgruppen leiten die Arbeitsgruppen; sie sind die verantwortlichen Sprecher der Fraktion für den Aufgabenbereich der Arbeitsgruppe und für die Arbeit der Fraktionsmitglieder in ihrem Ausschuss verantwortlich. (…) 4. Die Arbeitsgruppen beraten eigene Initiativen und die Vorlagen, die ihnen vom Vorstand überwiesen worden sind. Die Arbeitsgruppe schlägt der Fraktionsversammlung die Redner vor, die im Plenum für die Fraktion sprechen.“ (Hervorhebung durch d. Verf.)

Das aber heißt im Klartext: Die Redner stehen für die Mehrheitsmeinung der jeweiligen Fraktion, und wenn dies – aus Gründen des Minderheitenschutzes – anders ist, machen sie es (natürlich) kenntlich. Aber auch in diesem letzten Fall ist ihr Rederecht von der Gesamtfraktion getragen. Von „nicht näher eingebundenen Abgeordneten“ oder einer erschwerten „Suche nach einer juristisch verwertbaren Intention des Gesetzgebers“ kann daher nicht die Rede sein. Die Abläufe sind im Binnenrecht der Legislative und der Fraktionen geregelt und haben wenig bis gar nichts mit Zufälligkeiten zu tun, dafür vielmehr mit demokratischer Willensbildung. Das gilt im Übrigen auch für die vorstehend exemplarisch wiedergegebenen Pressemitteilungen. Denn auch bei diesen handelt es sich nicht um „zufällige“ Äußerungen eines Pressesprechers, sondern um Meinungen, die der Vorsitzende der Fraktion im Auftrag der Gesamtfraktion i. R. seiner Geschäftsführungs- und Vertretungskompetenz vertritt oder vertreten lässt. Entscheidend ist insoweit: „§ 7. Der Vorsitzende 1.

Der Vorsitzende führt die Fraktion und vertritt sie nach innen und nach außen.“

… was auch die Pressearbeit umfasst. Auch Pressemitteilungen sind damit „Materialien“, die nicht per Zufall so verfasst und übermittelt werden. Wie mit ihnen methodologisch im Einzelfall umzugehen ist, ist eine ganz andere

22)

Beschl. v. 17.4.2018, abrufbar unter https://www.cducsu.de/sites/default/files/201804/WP19 %20Arbeitsordnung_17.04.2018docx.pdf (Abrufdatum: 17.7.2019).

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Frage für die Rechtsdogmatik – sie völlig zu vernachlässigen erscheint mir aber zu einfach gedacht, ja nicht richtig. V. Zusammenfassung Fassen wir zusammen: Während die Reform des Insolvenzanfechtungsrechts im Koalitionsvertrag der letzten Legislaturperiode – jedenfalls als Prüfauftrag – vorgegeben war und damit Maßstab des politischen Handelns war, war die rechtswissenschaftliche Diskussion noch lange Zeit von der politisch überholten Frage bestimmt, ob diese Annahme zutrifft. Ganz umgekehrt hielt man es in der rechtswissenschaftlichen Diskussion für völlig ausgeschlossen, dass es eine ernsthafte Diskussion über die (indirekte) Einführung von Fiskusprivilegien geben könne. Weiter konnten die Welten nicht auseinander liegen. Dass auf der politischen Bühne eine „Eskalation nach oben“ in Bezug auf die letztlich doch eher speziellen juristischen Fragen wenig hilfreich gewesen wäre, wurde bereits an anderer Stelle beschrieben.23) Dieses Manko an gegenseitigem Verständnis lässt sich nur beheben, wenn man in der Wissenschaft auch ein offenes Ohr (besser zwei) für die Rechtspolitik – und die Politik insgesamt – mitbringt. Denn am Ende des Tages ist „Recht“ – wie es so schön heißt – doch „geronnene Politik“, welches nur in einem komplexen gesellschaftlich-demokratischen Prozess entstehen kann und in einen gesetzgeberischen Akt mündet. Und an die Adresse des Rechtswissenschaftlers muss man dabei sagen: Es entscheidet die Mehrheit, nicht die Dogmatik, und das steht sogar im Grundgesetz.24) Besonders bemerkenswert ist daher, dass die Wissenschaft, die eigentlich die Aufgabe einer Zuarbeit zur Gestaltung des Rechts wahrnehmen will, dies im Bereich der Gesetzgebung praktisch nicht tut. Ja, Vorschläge werden erdacht und veröffentlicht, und auch der Verfasser hat dies früher gelegentlich gemacht. Aber die Einbringung in den eigentlich politischen Prozess wird unterlassen, weil man sich – vereinfacht gesagt – scheut, die Notwendigkeit einer Reform des Insolvenzrechts auch am Wahlkampfstand in der Fußgängerzone zu vertreten! Kontakt gesucht wird nur zur Regierung, die aber – das muss man betonen – nur eine Rolle im Geflecht der Entscheidungsträger spielt. Insoweit ist es symptomatisch, dass der Vorsitzende Richter am Bundesgerichtshof a. D. Dr. Hans Gerhard Ganter – als 23) 24)

Hirte in: FS Seibert, 2019, S. 345, 354 f. Zu diesem Appell auch schon Hirte in: FS Seibert, 2019, S. 345, 357.

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Heribert Hirte

einer der Vorgänger des hier zu Ehrenden – seinen vertrauensvollen Gedankenaustausch mit der geschätzten Marie Luise Graf-Schlicker mit „Betrachtungen zum Verhältnis von Legislative [sic!] und Judikative auf dem Gebiet des Insolvenzrechts“ überschreibt;25) angesichts der grundgesetzlich angeordneten Gewaltenteilung wirkt dies doch etwas überraschend. Er steht damit aber nicht alleine: Denn bei einem Parlamentarischen Abend und Empfang des Deutschen Juristentages anlässlich des 25. Jubiläums seines Generalsekretärs Andreas Nadler am 11. April 2019 in Berlin wurde unter dem (verbesserungsfähigen) Dialog zwischen Rechtswissenschaft und „Politik“ auch überwiegend der mit der Exekutive verstanden. Umgekehrt gilt aber auch: Jedenfalls aus meiner eigenen politischen Erfahrung kann ich sagen, dass Positionen nicht in Programme gelangen (und damit potentiell in Koalitionsvereinbarungen), die vorher nicht in hinreichendem Umfang diskutiert wurden – und das typischerweise in der Wissenschaft. Dass der Dialog mit der Rechtsprechung dann nicht (mehr) i. R von Sachverständigenanhörungen des Deutschen Bundestages erfolgt, hat auch Gründe, die in der Gewaltenteilung liegen und auf die Bundestagspräsident Norbert Lammert alle Fraktionen des Deutschen Bundestages auf der Grundlage der „amtlichen Auslegung“ von § 70 GOBT in der letzten Legislaturperiode hingewiesen hat.26) Aber der Dialog mit Godehard Kayser, den

25) 26)

Ganter, Betrachtungen zum Verhältnis von Legislative und Judikative auf dem Gebiet des Insolvenzrechts, NZI 2018, 961. Dazu Ritzel/Bücker/Schreiner, Handbuch für die Parlamentarische Praxis, 12/2018, § 70 GOBT: „I. Zu Abs. 1: 1. (…) a) (…) bb) Auch Bundesbedienstete kommen laut Auslegungsentscheidung 15/4 vom 11.12.2003 zu § 70 grundsätzlich nicht als Anhörpersonen in Frage, ausgenommen werden ausdrücklich nur die Bereiche Forschung und Lehre. Mit Blick auf die Bundesbediensteten wird zugleich darauf verwiesen, dass der Ausschuss die Expertise dieser Berufsgruppe im Regelfall in regulären Beratungssitzungen einbeziehen kann. Wie auch im Falle von Mitgliedern der Bundesregierung und des Bundesrates kommt jedoch in „berechtigten Ausnahmefällen“ eine Einladung in Betracht. (…) Der Auslegungsentscheidung ist die Auffassung des Geschäftsordnungsausschusses zu entnehmen, dass Anhörungen grundsätzlich der Gewinnung und Nutzung „externen“ Sachverstandes dienen, während die Einbeziehung des Sachverstandes von Ministerialbeamten und Bediensteten anderer Behörden im Wege der Teilnahme an regulären Beratungssitzungen der Ausschüsse erfolgen soll. Der Geschäftsordnungsausschuss hat sich weiter davon leiten lassen, dass anderenfalls die grundsätzliche Nichtzulassung von Mitgliedern der Bundesregierung als Anhörpersonen (siehe oben unter aa)) durch Einladung hoher Ministerialbeamter unterlaufen werden könnte, und im Übrigen der Gefahr des Eindrucks von Befangenheit sowie von Loyalitätskonflikten bei Anhörpersonen vorbeugen wollen. Die Ausnahme für den Bereich „Forschung und Lehre“ stellt klar, dass z. B. Professoren auch weiterhin als Anhörpersonen benannt werden können.“

Die Reform des Insolvenzanfechtungsrechts in der politischen Diskussion

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der Verfasser dieser Zeilen gerne geführt hat, war ja nicht an dieses Forum gebunden.27) Manche der hier diskutierten Streitfragen haben sich übrigens für die jetzt laufende 19. Legislaturperiode erledigt. Einstweilen. Denn dort heißt es: „Im Insolvenzrecht werden wir den Grundsatz der Gleichbehandlung aller Gläubiger ohne Einschränkung bewahren.“28)

Das wird sicher auch die Zustimmung von Godehard Kayser finden.

27) 28)

Siehe hierzu teilweise auch schon Hirte in: FS Seibert, 2019, S. 345, 348 ff. Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 2018, S. 131.

Die Verschwiegenheitspflicht der Vorstandsmitglieder einer Rechtsanwaltskammer im Spannungsfeld zur Informationsfreiheit JOST HÜTTENBRINK1) Inhaltsübersicht I.

1)

Problemfelder bei Aufsichtsangelegenheiten 1. Rechtscharakter der Aufsichtsverfahren 2. Kein Anspruch Dritter auf Überlassung der Aufsichtsentscheidungen 3. Kein Anspruch Dritter auf Überlassung der Stellungnahmen des betroffenen Rechtsanwalts 4. Informationszugang nach dem IFG NRW (hier: Einsichtnahme in die Sitzungsprotokolle des Vorstands und der Aufsichtsabteilungen)

II.

5. Akteneinsicht in allgemeinen verwaltungsrechtlichen Angelegenheiten der Rechtsanwaltskammern Pressegesetze der Länder 1. Presserechtliche Auskunftsansprüche nach Landesrecht 2. Presserechtlicher Auskunftsanspruch in Zulassungsangelegenheiten 3. Verhältnis der Pressefreiheit zu entgegenstehenden öffentlichen bzw. privaten Interessen

Nach § 76 Abs. 1 BRAO haben die Vorstandsmitglieder und Angestellten einer Rechtsanwaltskammer über die Angelegenheiten, die ihnen bei ihrer Vorstandstätigkeit über Rechtsanwälte, Bewerber und andere Personen bekannt werden, Verschwiegenheit gegen jedermann zu bewahren. Diese Vorschrift ist in den letzten Jahren seit Erlass der IFG und PresseG des Bundes und der Länder immer stärker in ein Spannungsfeld zu dem Informationsbedürfnis verschiedener Betroffener geraten. In jüngster Zeit musste sich sowohl der Bundesgerichtshof – Senat für Anwaltssachen2) – als auch die Verwaltungsgerichtsbar1)

2)

Der Verf. ist Mitglied des Vorstands der Rechtsanwaltskammer Hamm und zugleich Vorsitzender einer Aufsichtsabteilung in Beschwerdesachen. Der Verf. ist mit dem Jubilar seit dem Studium in Münster freundschaftlich verbunden. Vgl. BGH, Urt. v. 11.1.2016 – AnwZ (Brfg) 42/14, MDR 2016, 735 (Vorinstanz: AGH NRW, Urt. v. 9.5.2014 – 1 AGH 6/14, juris); BGH, Beschl. v. 22.9.2015 – AnwZ (Brfg) 44/15, juris (Vorinstanz: AGH BW, Urt. v. 5.6.2015 – AGH 16/14 (I), juris; BGH, Urt. v. 20.3.2017 – AnwZ (Brfg) 46/15, NJW 2017, 2044. Nur am Rande sei bemerkt: Die Finanzbehörden sind grundsätzlich berechtigt, von einer Rechtsanwaltskammer Auskünfte über für die Besteuerung erheblichen Sachverhalte eines Kammermitglieds einzuholen. § 76 Abs. 1 BRAO steht der Auskunftspflicht nicht entgegen, weil sich die Finanzbehörden gemäß §§ 93, 105 AO 1977 als der vorrangigen spezielleren Vorschrift gegenüber § 76 BRAO berufen können, vgl. BFH, Urt. v. 19.12.2006 – VII R 46/05, juris Rz. 17 – im konkreten Fall ging es um die Mitteilung der Bankverbindungen des betroffenen Rechtsanwalts.

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keit3) mit Rechtsfragen befassen, die sich aus dem Konflikt zwischen dem allgemeinen Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit oder den an berufsrechtlichen Aufsichts- und Beschwerdeverfahren beteiligten Personen einerseits und der Verschwiegenheitspflicht der Vorstandsmitglieder und Angestellten der Rechtsanwaltskammer (§ 76 Abs. 1 BRAO) auf der anderen Seite ergeben. I. Problemfelder bei Aufsichtsangelegenheiten 1. Rechtscharakter der Aufsichtsverfahren Der Sinn und Zweck der bei den Rechtsanwaltskammern geführten Aufsichtsverfahren wird in der breiten Öffentlichkeit häufig verkannt. Landläufig herrscht oft die irrige Ansicht vor, die Rechtsanwaltskammern seien eine umfassende, allgemeine Aufsichts- und Kontrollinstanz aller Rechtsanwälte und Rechtsanwältinnen, insbesondere auch bei Schlechterfüllung des anwaltlichen Dienstleistungsvertrages. Die Beschwerdeführer meinen vielfach auch, dass es sich bei den Aufsichtsverfahren der Kammern um eine Art kontradiktorisches Verfahren zweier Parteien – nämlich zwischen dem Beschwerdeführer einerseits und dem betroffenen Rechtsanwalt andererseits – handele, wobei die Rechtsanwaltskammer als Entscheidungsorgan fungiere. Tatsächlich beschränkt sich die Zuständigkeit der bei den Rechtsanwaltskammern geführten Aufsichtsverfahren ausschließlich auf Berufsrechtsverletzungen.4) Die Aufsichtsverfahren gleichen in mancherlei Hinsicht den beamtenrechtlichen Disziplinarverfahren, wobei die Aufsichtsverfahren in der Praxis dadurch gekennzeichnet sind, dass diese in den meisten Fällen nicht von Amts wegen, sondern aufgrund der Beschwerde eines Dritten (Mandanten, Behörden/Gerichte oder eines anderen Rechtsanwalts) eingeleitet werden.5) Die Aufsichtsverfahren sind deshalb keine Verwaltungsverfahren i. S. des VwVfG.6) Der Beschwerdeführer ist aus 3)

4)

5) 6)

Vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 21.8.2014 – OVG 12 B 14.12, NVwZ-RR 2015, 123 – 126; OVG NRW, Beschl. v. 3.5.2017 – 15 B 457/17 (Vorinstanz: VG Arnsberg, Beschl. v. 5.4.2017 – 7 L 383/17). Vgl. insbesondere die §§ 43 – 59a BRAO und die Vorschriften der BORA. Soweit im Einzelfall die Schlechterfüllung eines Anwaltsvertrages in Rede steht, handelt es sich in der Regel nicht um ein berufsrechtlich relevantes Phänomen. Die Klärung von Schadensersatzansprüchen ist ausschließlich der ordentlichen Gerichtsbarkeit vorbehalten. Es gelten deshalb die Verfahrensbestimmungen zum Strafprozess, vgl. Siegmund in: Gaier/ Wolf/Göcken, Anwaltliches Berufsrecht, 2. Aufl. 2014, § 32 Rz. 19b. Siegmund in: Gaier/Wolf/Göcken, Anwaltliches Berufsrecht, 2. Aufl. 2014, § 32 Rz. 19b.

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diesem Grunde auch nicht Verfahrensbeteiligter im engeren Sinne, sondern außenstehender Dritter. Seine Eingabe wird kammerintern von der zuständigen Aufsichtsabteilung des Vorstandes der jeweiligen Rechtsanwaltskammer von Amts wegen geprüft. Die von der Rechtsanwaltskammer geführten Aufsichts-und Beschwerdeakten sind dabei Bestandteil der Personalakte (§ 58 BRAO) des betroffenen Rechtsanwalts.7) Der in § 58 BRAO verwendete Begriff der Personalakte ist-ähnlich wie in beamtenrechtlichen Verfahren-im materiellen Sinne zu verstehen. Es kommt daher nicht darauf an, wie und auf welche Weise ein bestimmter Vorgang geführt und an welcher Stelle er abgelegt wird (z. B. in einer gesonderten Beschwerdeakte). Entscheidend ist, ob die fragliche Angelegenheit in unmittelbarem Zusammenhang mit der anwaltlichen Tätigkeit des betroffenen Rechtsanwalts steht.8) Dies ist bei Aufsichtssachen der Fall. Erst nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens setzt der Vorstand den Beschwerdeführer von seiner Entscheidung in Kenntnis. Die Mitteilung ist lediglich mit einer kurzen Darstellung der wesentlichen Gründe für die Entscheidung zu versehen (§ 73 Abs. 3 Satz 2 BRAO). Dem Beschwerdeführer stehen auch keine Rechtsmittel zur Verfügung (§ 73 Abs. 3 Satz 4 BRAO), er kann allenfalls eine Dienstaufsichtsbeschwerde bei dem zuständigen Präsidenten des jeweiligen Oberlandesgerichts bzw. beim übergeordneten Justizministerium einreichen. Die Anwaltsgerichtsbarkeit musste sich bzgl. der geschilderten Verfahrensabläufe in der zurückliegenden Zeit mit mehreren Problemen befassen. Zunächst ging es um die Frage, ob ein beschwerdeführender Rechtsanwalt einen Anspruch gegenüber der Rechtsanwaltskammer auf Überlassung eines Beschlusses hat, der in einem berufsrechtlichen Aufsichtsverfahren gegenüber einem anderen Rechtsanwalt ergangenen ist, über den er Beschwerde geführt hatte9) (vgl. dazu nachstehend 2.). In einem weiteren Fall war dann zu klären, ob der beschwerdeführende Rechtsanwalt einen Rechtsanspruch auf Überlassung der Stellungnahme (= der Einlassung) des betroffenen Rechtsanwalts hat, die der Betroffene als Gegenäußerung zu der von der 7)

8) 9)

BGH, Beschl. v. 2.3.2011 – AnwZ (B) 50/10, juris Rz. 11, MDR 2011, 575; vgl. Zuck in: Gaier/Wolf/Göcken, Anwaltliches Berufsrecht, 2. Aufl. 2014, § 58 Rz. 13; Hartung in: Henssler/Prütting, BRAO, 4. Aufl. 2014, § 58 Rz. 2; Feuerich/Weyland, BRAO, 9. Aufl. 2016, § 58 Rz. 8. BGH, Beschl. v. 2.3.2011 – AnwZ (B) 50/10, juris Rz. 11, MDR 2011, 575. BGH, Beschl. v. 22.9.2015 – AnwZ (Brfg) 44/15, juris (Vorinstanz AGH BW, Urt. v. 5.6.2015 – AGH 16/14 (I), juris).

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Jost Hüttenbrink

Rechtsanwaltskammer zu prüfenden Beschwerde abgegeben hatte10) (vgl. dazu nachstehend 3.). Der dritte Komplex verhielt sich zu dem Problemkreis, ob und inwieweit die Verschwiegenheitspflicht der Vorstandsmitglieder der Akteneinsicht eines Rechtsanwalts in die Vorstandsprotokolle der Rechtsanwaltskammer entgegensteht,11) bzw. ob in allgemeinen verwaltungsrechtlichen Angelegenheiten ein Anspruch auf Akteneinsicht besteht (vgl. nachstehend 4. und 5.). 2. Kein Anspruch Dritter auf Überlassung der Aufsichtsentscheidungen Durch Beschluss des Anwaltssenats des Bundesgerichtshofes vom 22. September 2015 wurde geklärt, dass der beschwerdeführende Rechtsanwalt in einem berufsrechtlichen Aufsichtsverfahren keinen Anspruch gegen die Rechtsanwaltskammer (den Vorstand) hat, dass ihm die gegen den anderen Rechtsanwalt ergangene Aufsichtsentscheidung überlassen wird, gegen den er Beschwerde geführt hat.12) Dieser Beschluss stieß in der Praxis einmütig auf breite Zustimmung, weil die abschließenden Entscheidungen der Rechtsanwaltskammer (z. B. ein Rügebescheid, § 74 BRAO, ein belehrender Hinweis, § 73 Abs. 2 Nr. 1 BRAO, oder die Abgabe an die Generalstaatsanwaltschaft zum Zwecke der Einleitung eines anwaltsgerichtlichen Verfahrens, §§ 121, 122 BRAO) ebenso wie die den Rechtsanwalt betreffenden anwaltsgerichtlichen Verfahren Bestandteil der Personalakte des betroffenen Rechtsanwalts sind13) und deshalb – ähnlich wie in beamtenrechtlichen Disziplinarangelegenheiten – der unbedingten Verschwiegenheit unterliegen.14) Der Beschwerdeführer initiiert zwar die Einleitung eines Beschwerdeverfahrens durch die Anwaltskammer, der Beschwerdeführer ist aber in berufsrechtlichen Beschwerdeverfahren nicht förmlich Beteiligter: Der Beschwerdeführer bleibt außenstehender Dritter. Er besitzt deshalb nach der gesetzlichen Konzeption mit Ausnahme der in § 73 Abs. 3 BRAO bestimmten Mittei10)

11) 12)

13) 14)

BGH, Urt. v. 11.1.2016 – AnwZ (Brfg) 42/14, MDR 2016, 735 (Vorinstanz: AGH NRW, Urt. v. 9.5.2014 – 1 AGH 6/14, juris); vgl. hierzu auch AGH NRW, Urt. v. 20.4.2018 – 1 AGH 56/17, n. v. BGH, Urt. v. 20.3.2017 – AnwZ (Brfg) 46/15, NJW 2017, 2044. BGH, Beschl. v. 22.9.2015 – AnwZ (Brfg) 44/15, juris; letztlich ergibt sich dies auch im Umkehrschluss aus § 73 Abs. 3 Satz 1 BRAO, wonach der Vorstand den Beschwerdeführer von seiner abschließenden Entscheidung lediglich in Kenntnis setzt; die Mitteilung erfolgt erst nach Abschluss des Verfahrens und ist mit einer kurzen Darstellung der wesentlichen Gründe für die Entscheidung zu versehen (§ 73 Abs. 3 Satz 2 BRAO). BGH, Beschl. v. 2.3.2011 – AnwZ (B) 50/10, juris Rz. 11, MDR 2011, 575. BGH, Beschl. v. 22.9.2015 – AnwZ (Brfg) 44/15, juris (Vorinstanz AGH BW, Urt. v. 5.6.2015 – AGH 16/14 (I), juris).

Die Verschwiegenheitspflicht der Vorstandsmitglieder einer Rechtsanwaltskammer 371

lungspflicht über den abschließenden Verfahrensausgang keine Verfahrensrechte. Der Beschwerdeführer hat daher auch keinen Anspruch auf rechtliches Gehör. Aus dem gleichen Grunde darf er – auch nicht auf dem Umweg über einen vermeintlichen Anspruch auf Akteneinsichtnahme in die Personalakten – ohne Zustimmung des betroffenen Rechtsanwalts keine Kenntnis von dem Inhalt des Beschwerdevorgangs erlangen. Die gleichen Grundsätze gelten selbstverständlich auch dann, wenn der Beschwerdeführer kein Anwalt, sondern eine Privatperson (Mandant) oder eine andere Amtsperson (Behörden/Gerichte) ist. Ausgenommen ist lediglich die Generalstaatsanwaltschaft als Einleitungsbehörde für anwaltsgerichtliche Verfahren (§ 74 Abs. 4 Satz 3 BRAO, § 121 BRAO).15) Erst dann, wenn das Aufsichtsverfahren rechtskräftig abgeschlossen ist, erhält der Beschwerdeführer die Mitteilung nach § 73 Abs. 3 BRAO, die aber in der Regel sehr knapp gehalten ist und lediglich das Ergebnis des Verfahrens (Rüge/ Geldbuße/Geldauflage [§ 153 lit. a StPO)]/Verurteilung) und die festgestellten Rechtsverstöße unter Benennung der berufsrechtlichen Vorschriften enthält.16) Mitteilungen über einen Zwischenstand des Verfahrens (z. B. bei Abgabe des Vorgangs an die Generalstaatsanwaltschaft17) oder nach Erlass eines [noch nicht rechtskräftigen] Rügebescheids) dürfen keine Darstellung/ die Gründe der dem Zwischenstand zugrunde liegenden Entscheidungen beinhalten, weil sie den fehlerhaften Eindruck hervorrufen können, dass – aus den mitgeteilten Gründen – mit einem bestimmten Verfahrensergebnis zu rechnen sei.18) Ob es hiernach zulässig wäre, den Beschwerdeführer – als Zwischenstand – darüber zu informieren, dass die Rechtsanwaltskammer das Verfahren an die Generalstaatsanwaltschaft abgegeben hat,19) erscheint 15)

16) 17)

18) 19)

Die Generalstaatsanwaltschaft wird so in die Lage versetzt, das Verfahren trotz einer etwa ich bereits verhängten Rüge aufzugreifen, an sich zu ziehen und ein anwaltsgerichtliches Verfahren einzuleiten. BGH, Beschl. v. 3.4.2018 – AnwZ (Brfg) 2/18, NJW-RR 2018, 691. Das Aufsichtsverfahren ist mit der Abgabe an die Generalstaatsanwaltschaft noch nicht beendet, weil diese nach Prüfung des Sachverhalts und eventuellen weiteren Ermittlungen zu dem Schluss gelangen kann, dass das Rügerecht des Kammervorstands (§ 74 BRAGO) ausreicht. Die Generalstaatsanwaltschaft kann in diesen Fällen von einem anwaltsgerichtlichen Verfahren absehen und das Verfahren stattdessen mit bindender Wirkung wieder an den Vorstand der Rechtsanwaltskammer zurückgeben. Entschließt sich die Generalstaatsanwaltschaft den betroffenen Rechtsanwalt vor dem Anwaltsgericht anzuschuldigen, so ist das Verfahren erst mit der rechtskräftigen Entscheidung des Anwaltsgerichts abgeschlossen; vgl. dazu BGH, Beschl. v. 3.4.2018 – AnwZ (Brfg) 2/18, NJW-RR 2018, 691. BGH, Beschl. v. 3.4.2018 – AnwZ (Brfg) 2/18, juris Rz. 4 a. E., NJW-RR 2018, 691. So Huff, Mitteilungspflicht einer RAK bei Abgabe an die Generalstaatsanwaltschaft, BRAK-Mitteilungen 2018, 159, 160.

372

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zweifelhaft, weil die Mitteilung der „Abgabe des Verfahrens an die Generalstaatsanwaltschaft“ indirekt den Hinweis darauf enthalten kann, dass die Rechtsanwaltskammer einen schwerwiegenden Berufsrechtsverstoß des betroffenen Rechtsanwalts angenommen hat, so dass die Rechtsanwaltskammer selbst nicht mehr von ihrem Rügerecht Gebrauch machen will/kann.20) Im Übrigen sind häufig weitere Ermittlungen erforderlich, zu denen die Rechtsanwaltskammer selbst nicht in der Lage ist, so dass die Abgabe des Verfahrens an die Generalstaatsanwaltschaft noch keine endgültige Entscheidung i. S. des § 73 Abs. 3 BRAO darstellt.21) Der Beschwerdeführer erhält deshalb nach Zwischenentscheidungen häufig nur einen Hinweis mit formelhaften Wendungen etwa wie „die Rechtsanwaltskammer hat das berufsrechtlich Erforderliche veranlasst (…)“, oder „die Rechtsanwaltskammer hat noch weitere Ermittlungen veranlasst (…)“. Bei den Beschwerdeführern stoßen derartige nichtssagende Formulierungen häufig nur auf Unverständnis. 3. Kein Anspruch Dritter auf Überlassung der Stellungnahmen des betroffenen Rechtsanwalts Die weitere Entscheidung des Anwaltssenats des Bundesgerichtshofes22) befasste sich mit der Frage, ob dem Beschwerdeführer, wenn schon nicht die abschließende Entscheidung der Anwaltskammer, so doch jedenfalls die Einlassung des betroffenen Rechtsanwalts zugeleitet werden müsse. In konsequenter Fortführung und Fortentwicklung der Entscheidung vom 22. September 2015 kam der Anwaltssenat des Bundesgerichtshofes zu dem Ergebnis, dass auch die Äußerungen und Stellungnahmen des betroffenen Rechtsanwalts Bestandteil seiner Personalakte seien und deshalb nur mit seiner ausdrücklichen Einwilligung dem Beschwerdeführer oder sonstigen Dritten zur Verfügung gestellt werden dürften. Die Entscheidung war für die Praxis der Rechtsanwaltskammern – insbesondere für die Arbeit der Beschwerdeabteilungen – deshalb von besonderer Bedeutung, weil es bei den Kammern vielfach üblich war, die Stellungnahmen des betroffenen Rechtsanwalts dem jeweiligen Beschwerdeführer zur Kenntnisnahme und zur Gegenäußerung zur Verfügung zu stellen, es sei denn, der betroffene Rechtsanwalt hatte vorab eine Weiterleitung ausdrücklich untersagt. Der An20) 21) 22)

BGH, Beschl. v. 3.4.2018 – AnwZ (Brfg) 2/18, juris Rz. 5, NJW-RR 2018, 691. BGH, Beschl. v. 3.4.2018 – AnwZ (Brfg) 2/18, juris Rz. 5, NJW-RR 2018, 691. BGH, Urt. v. 11.1.2016 – AnwZ (Brfg) 42/14, MDR 2016, 735 (Vorinstanz: AGH NRW, Urt. v. 9.5.2014 – 1 AGH 6/14, juris); vgl. hierzu auch AGH NRW, Urt. v. 20.4.2018 – 1 AGH 56/17, n. v.

Die Verschwiegenheitspflicht der Vorstandsmitglieder einer Rechtsanwaltskammer 373

waltssenat widersprach dieser Handhabung und entschied, dass in derartigen Verfahren auch nach einem vorherigen Hinweis der Rechtsanwaltskammer auf die beabsichtigte Übersendung etwaiger Stellungnahmen bei fehlendem Widerspruch des Betroffenen nicht von einer konkludenten Zustimmung des Betroffenen ausgegangen werden dürfe, sondern dass die Weiterleitung der Stellungnahmen immer der ausdrücklichen vorherigen Zustimmung des Betroffenen bedürfe. Wird die Zustimmung des Betroffenen verweigert, führt dies für die Beschwerdeabteilungen der jeweiligen Rechtsanwaltskammern zu einem gewissen Dilemma: Einerseits müssen die Vorstandsmitglieder ihre Verschwiegenheitspflicht wahren, andererseits hat die jeweilige Anwaltskammer aber auch die Pflicht, Berufsrechtsverstöße einzelner Mitglieder von Amts wegen aufzuklären23) und zu ahnden. Dieser Aufklärungspflicht kann die jeweilige Aufsichtsabteilung am besten dadurch nachkommen, dass die Stellungnahme des betroffenen Anwalts dem Beschwerdeführer ungekürzt (und damit auch unverfälscht) zur Gegenäußerung vorlegt wird. Der Beschwerdeführer hätte dann Gelegenheit zu einer unmittelbaren Replik, ggf. könnte er aber auch durch die Übersendung von weiterem Schriftwechsel und Dokumenten sein Vorbringen untermauern. Dieser direkte Weg ist durch die Entscheidung des Bundesgerichtshofes vom 11. Januar 201624) verbaut. Die Praxis behilft sich dadurch, dass die Stellungnahme des betroffenen Rechtsanwalts nicht weitergeleitet wird, dass aber versucht wird, die neuralgischen Punkte des Sachverhalts durch indirekte Bezugnahme auf die Stellungnahme des betroffenen Rechtsanwalts durch gezielte Rückfragen beim Beschwerdeführer aufzuklären. Dies muss zulässig sein, weil ansonsten jede Art der Aufklärung durch die Rechtsanwaltskammer unmöglich wäre. Die Aufsichtsabteilung muss im Anschluss an die Stellungnahme des betroffenen Rechtsanwalts ggf. in der Lage sein, dessen Verteidigungsvorbringen noch einmal kritisch zu hinterfragen, indem die Aufsichtsabteilung den Beschwerdeführer mit neuem Vorbringen des betroffenen Anwalts konfrontiert. Auch wenn der jeweilige Beschwerdeführer nicht Verfahrensbeteiligter des Beschwerdeverfahrens ist, so muss i. R. der Amtsermittlung durch die Rechtsanwaltskammer mindestens die Möglichkeit bestehen, bei dem Beschwerdeführer im Einzelfall punktuell nachzufragen. Die daraus resultierende Praxis der Kammern, die Stellungnahme des betroffenen Anwalts auszuwerten, um dann einzelne Aspekte der Stellungnahme in einem gesonderten Anschreiben der Rechtsan23) 24)

Vgl. z. B. § 36 BRAO. BGH, Urt. v. 11.1.2016 – AnwZ (Brfg) 42/14, MDR 2016, 735.

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waltskammer an den Betroffenen zu thematisieren und zu hinterfragen, ist zwar umständlich, da es häufig einfacher, schneller und möglichweise auch objektiver wäre, wenn die Beschwerdeabteilung die Stellungnahme des betroffenen Anwalts den Beschwerdeführer in Gänze zur Gegenäußerung vorlegen könnte, letztlich aber der Verschwiegenheitspflicht geschuldet.25) 4. Informationszugang nach dem IFG NRW (hier: Einsichtnahme in die Sitzungsprotokolle des Vorstands und der Aufsichtsabteilungen) Der 3. Verfahrenskomplex betraf ein Verfahren, in dem der Kläger (allgemein ohne konkreten Anlass) beantragt hatte, ihm Einsicht in die Protokolle der Sitzungen des Gesamtvorstands und der Aufsichtsabteilung zu gewähren, soweit darin nur Beratungsgegenstände und Ergebnisse wiedergegeben werden und keine personenbezogenen Daten offenbart werden. Nachdem dem Kläger keine entsprechenden Auszüge aus dem Protokoll zur Verfügung gestellt wurden, kam es zur Klage. Der Anwaltssenat des Bundesgerichtshofes26) musste sich dabei mit dem Spannungsverhältnis zwischen der Verschwiegenheitspflicht aus § 76 BRAO und dem Anspruch auf Informationszugang nach § 7 Abs. 1, Abs. 3 Satz 2 IFG NRW27) (ähnlich

25) 26)

27)

Zum Beispiel um zu vermeiden, dass der Beschwerdeführer mit der Original-Stellungnahme des betroffenen Anwalts hausiert. BGH, Urt. v. 20.3.2017 – AnwZ (Brfg) 46/15, NJW 2017, 2044; zur Kritik vgl. Ewer, Rechtsanwaltskammern: Transparenz und geschützter Diskurs, AnwBl. 2017, 601 ff.; im Übrigen auch allgemein: Ewer, Die gläserne Selbstverwaltung der Anwaltschaft, AnwBl. 2017, 273 – 2 75. § 7 IFG NRW lautet: „(1) Der Antrag auf Informationszugang ist abzulehnen für Entwürfe zu Entscheidungen, für Arbeiten und Beschlüsse zu ihrer unmittelbaren Vorbereitung sowie für Protokolle vertraulicher Beratungen. (2) Der Antrag soll abgelehnt werden, wenn a) sich der Inhalt der Information auf den Prozess der Willensbildung innerhalb von und zwischen öffentlichen Stellen bezieht oder b) das Bekanntwerden des Inhalts der Information die Funktionsfähigkeit und die Eigenverantwortung der Landesregierung beeinträchtigt oder c) es sich um Informationen handelt, die ausschließlich Bestandteil von Vorentwürfen und Notizen sind, die nicht Bestandteil eines Vorgangs werden sollen und alsbald vernichtet werden. (3) Informationen, die nach Absatz 1 vorenthalten worden sind, sind nach Abschluss des jeweiligen Verfahrens zugänglich zu machen. Für Protokolle vertraulichen Inhalts gilt dies nur für die Ergebnisse.“

Die Verschwiegenheitspflicht der Vorstandsmitglieder einer Rechtsanwaltskammer 375

lautende Vorschriften finden sich in den IFG aller Bundesländer)28) auseinandersetzen. Da das IFG NRW nach § 2 Abs. 1 Satz 1 IFG NRW für die Verwaltungstätigkeit aller der Aufsicht des Landes unterstehenden juristischen Personen des öffentlichen Rechts gilt, findet es auch auf die Verwaltungstätigkeit von Rechtsanwaltskammern Anwendung.29) Zu Recht hat der Bundesgerichtshof darauf hingewiesen, dass keine besonderen Rechtsvorschriften bestehen, die den Zugang zu Protokollen des Vorstandes einer Rechtsanwaltskammer regeln. Die BRAO hat lediglich in § 58 BRAO das Recht eines Rechtsanwalts auf Akteneinsicht in die bzgl. seiner Person geführten Personalakten normiert. Die Verschwiegenheitspflicht der Vorstandsmitglieder der Rechtsanwaltskammer (§ 76 BRAO) sei keine Rechtsvorschrift über den Zugang zu Informationen, sondern lediglich eine Regelung, die den allgemeinen beamtenrechtlichen Vorschriften über die Amtsverschwiegenheit entspreche. Die Amtsverschwiegenheit entfalle deshalb in den Fällen des § 4 Abs. 2 Satz 2 IFG NRW. Der Bundesgerichtshof hat in diesem Zusammenhang allerdings nachdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich bei den Beratungen des Vorstands bzw. einer Abteilung des Vorstandes einer Rechtsanwaltskammer um vertrauliche Beratungen i. S. von § 7 Abs. 1 IFG NRW handelt. Grundsätzlich gebietet deshalb die umfassende Verschwiegenheitsverpflichtung der Mitglieder des Vorstands gemäß § 76 BRAO die Nichtöffentlichkeit und damit die Vertraulichkeit des Verlaufs und des Hergangs der Vorstandsberatung. Es wird aber nicht der gesamte Inhalt der Protokolle als vertrauliche Beratungen über § 7 Abs. 1 IFG NRW geschützt. Geschützt ist lediglich der Prozess der behördlichen (kammerinternen) Entscheidungsfindung, nicht aber dessen Ergebnis. Der Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 IFG NRW will nur einen unbefangenen und freien Meinungsaustausch gewährleisten. Schutzgut ist also nur die effektive funktionsfähige und neutrale Entscheidungsfindung. Unter Beratung sei nur der Beratungsverlauf mit den dabei vorgebrachten Diskussionsbeiträgen und Meinungsäußerungen zu verstehen, nicht aber der Beratungsgegenstand und 28)

29)

OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 21.8.2014 – OVG 12 B 14.12, juris Rz. 18, NVwZ-RR 2015, 123 – 126; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 23.5.2017 – OVG 12 N 72.16, juris Rz. 4, 17. BGH, Urt. v. 20.3.2017 – AnwZ (Brfg) 46/15, juris Rz. 12, NJW 2017, 2044. Der Anwaltssenat des BGH befindet sich damit in Übereinstimmung mit der parallellaufenden verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, vgl. dazu allgemein zur Anwendung der IFG auf die Rechtsanwaltskammern: OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 21.8.2014 – OVG 12 B 14.12, juris Rz. 18, NVwZ-RR 2015, 123 – 126; OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 23.5.2017 – OVG 12 N 72.16, juris Rz. 4, 17; VG Köln, Urt. v. 23.1.2014 – 13 K 3710/12, juris Rz. 23.

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das Beratungsergebnis.30) Klarstellend sei wiederholt, dass der Anspruch auf Informationsfreiheit keinen Anspruch auf Zugang zu personenbezogenen Daten gewährt. Soweit sich aus den Vorstandsprotokollen bzw. aus dem Ergebnis der Beratung personenbezogene Daten ableiten lassen, ist ein entsprechender Zugang nicht statthaft. Die Protokolle sind dann an den entsprechenden Stellen zu schwärzen31) (vgl. § 10 Abs. 1 Satz 1 IFG NRW). Der Bundesgerichtshof hat in diesem Zusammenhang offengelassen, ob ein Rechtsanwalt einen Anspruch auf Akteneinsicht oder Informationszugang aufgrund seiner mitgliedschaftlichen Stellung und den daraus resultierenden Teilhaberechten an der anwaltlichen Selbstverwaltung zustehe oder nicht, weil ein solcher Anspruch nicht weiterreichen könne als das Akteneinsichtsrecht nach § 4 IFG NRW.32) Auch nach § 810 BGB besteht nach Auffassung des Bundesgerichtshofes kein Anspruch auf Akteneinsicht/Informationszugang.33) Nach dieser Vorschrift kann, wer ein rechtliches Interesse daran hat, um eine im fremden Besitz befindliche Urkunde einzusehen, von dem Besitzer die Gestattung der Einsicht verlangen, wenn die Urkunde in seinem Interesse errichtet oder in der Urkunde ein zwischen ihm und einem anderen bestehendes Rechtsverhältnis beurkundet ist oder wenn die Urkunde Verhandlungen über ein Rechtsgeschäft enthält, die ihm und einem anderen oder zwischen einem von beiden einem gemeinschaftlichen Vermittler geführt worden sind. Der Bundesgerichtshof hat festgestellt, dass Vorstandsprotokolle des Vorstandes einer Rechtsanwaltskammer oder seiner Abteilungen keine Urkunden i. S. von § 810 BGB sind.34)

30) 31)

32) 33) 34)

BGH, Urt. v. 20.3.2017 – AnwZ (Brfg) 46/15, juris Rz. 16, NJW 2017, 2044 m. zahlr. weiteren Nachweisen aus Literatur und Rechtsprechung. BGH, Urt. v. 20.3.2017 – AnwZ (Brfg) 46/15, juris Rz. 20 a. E., NJW 2017, 2044; die Praxis behilft sich dahingehend, dass jeweils eine Langfassung und eine zur Veröffentlichung bestimmte Kurzfassung des Vorstandsprotokolls erstellt wird. BGH, Urt. v. 20.3.2017 – AnwZ (Brfg) 46/15, juris Rz. 23 f., NJW 2017, 2044; vgl. auch AGH NRW, Urt. v. 20.4.2018 – 1 AGH 56/17, amtl. Umdruck, S. 8, 9. BGH, Urt. v. 20.3.2017 – AnwZ (Brfg) 46/15, juris Rz. 23 f., NJW 2017, 2044; vgl. auch AGH NRW, Urt. v. 20.4.2018 – 1 AGH 56/17, amtl. Umdruck, S. 8, 9. BGH, Urt. v. 20.3.2017 – AnwZ (Brfg) 46/15, juris Rz. 28 – 30, NJW 2017, 2044; AGH NRW, Urt. v. 20.4.2018 – 1 AGH 56/17, amtl. Umdruck, S. 9.

Die Verschwiegenheitspflicht der Vorstandsmitglieder einer Rechtsanwaltskammer 377

5. Akteneinsicht in allgemeinen verwaltungsrechtlichen Angelegenheiten der Rechtsanwaltskammern Am Rande sei bemerkt, dass in den Fällen, in denen der Antragsteller sich in einem konkreten verwaltungsrechtlichen Verfahren mit der jeweiligen Anwaltskammer als Behörde findet (also bei allgemeinen verwaltungsrechtlichen Angelegenheiten der Rechtsanwaltskammern, § 112b BRAO),35) die allgemeinen Grundsätze gelten. Mangels anderweitiger Regelungen36) gilt § 29 VwVfG, wonach Akteneinsicht zu gewähren ist, wenn der Antragsteller ein berechtigtes Interesse37) darzulegen vermag. Bei den unmittelbaren Verfahrensbeteiligten dürfte ein entsprechendes berechtigtes Interesse aus Gründen des rechtlichen Gehörs regelmäßig zu bejahen sein. Die Rechtsanwaltskammern sind im Einzelfall zur Gestattung der Akteneinsicht nur dann nicht verpflichtet, soweit durch die Akteneinsicht die ordnungsgemäße Erfüllung ihrer Aufgaben beeinträchtigt, durch das Bekanntwerden des Inhalts der Akten Nachteile für das öffentliche Wohl entstehen könnten oder soweit die Vorgänge nach einem Gesetz oder ihrem Wesen nach namentlich wegen der berechtigten Interessen der Beteiligten oder dritter Personen geheim gehalten werden müssen (§ 29 Abs. 2 VwVfG). II. Pressegesetze der Länder 1. Presserechtliche Auskunftsansprüche nach Landesrecht Die Verschwiegenheitspflicht nach § 76 Abs. 1 BRAO steht weiter im Spannungsverhältnis zu den presserechtrechtlichen Auskunftsansprüchen der ein-

35)

36)

37)

Vgl. z. B. Verfahren nach dem BBiG, BGH, Urt. v. 10.3.2014 – AnwZ (Brfg) 67/12, juris Rz. 20, 21, NJW-RR 2014, 943; Festsetzung der Vergütung eines Kanzleiabwicklers durch die Rechtsanwaltskammer, BGH, Beschl. v. 12.2.2018 – AnwZ (Brfg) 6/17, juris Rz. 14. Vgl. Leinemann/Taubert, BBiG, 2. Aufl. 2008, § 34 Rz. 16; Pepping in: Wohlgemut, BBiG, 2011, § 34 Rz. 12; hinsichtlich außenstehender Dritter enger Herkert/Töltl, BBiG, 112. EL 2019, § 34 Rz. 17, und wohl auch Knopp/Kraegeloh, Berufsbildungsgesetz, 5. Aufl. 2005, § 34 Rz. 3. BGH, Beschl. v. 12.2.2018 – AnwZ (Brfg) 6/17, juris Rz. 14.

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zelnen Bundesländer (vgl. z. B. § 4 PresseG NRW)38). Die presserechtlichen Auskunftsansprüche der übrigen Bundesländer sind im Wesentlichen gleichlautend bzw. ähnlich strukturiert.39) Der jeweilige Auskunftsanspruch richtet sich an alle Landesbehörden, zu denen auch die Rechtsanwaltskammern gehören.40) Aus diesem Grund besteht auch zwischen § 76 BRAO und den presserechtlichen Auskunftsansprüchen keine Kollisionslage, die nach Art. 31 GG (Bundesrecht bricht Landesrecht) die presserechtlichen Bestimmungen zurückdrängen könnte.41) 2. Presserechtlicher Auskunftsanspruch in Zulassungsangelegenheiten Das OVG Nordrhein-Westfalen42) hatte sich im Vorfeld der nordrheinwestfälischen Landtagswahl 2017 mit der Frage zu befassen, ob eine Rechtsanwaltskammer presserechtlich verpflichtet sei, Auskunft darüber zu erteilen, seit wann ein Rechtsanwalt keine Rechtsanwaltszulassung mehr besitze, ob die konkrete Anwaltszulassung von der Rechtsanwaltskammer zurückgenommen worden sei, ob sie widerrufen worden sei, weil der betroffene Rechtsanwalt nach § 14 Abs. 2 Nr. 4 BRAO auf seine Zulassung schriftlich verzichtet habe oder ob der Widerruf aus einem ande38)

39)

40) 41) 42)

§ 4 PresseG NRW, GV NW 1966, 340, i. d. F. der Änderung v. 8.5.2018, GV NW 2018, 214, lautet: „(1) Die Behörden sind verpflichtet, den Vertretern der Presse die der Erfüllung ihrer öffentlichen Aufgabe dienenden Auskünfte zu erteilen. (2) ein Anspruch auf Auskunft besteht nicht, soweit 1. durch sie die sachgemäße Durchführung eines schwebenden Verfahrens vereitelt, erschwert, verzögert oder gefährdet werden könnte oder 2. Vorschriften über die Geheimhaltung entgegenstehen oder 3. ein überwiegendes öffentliches oder ein schutzwürdiges privates Interesse verletzt würde oder 4. deren Umfang das zumutbare Maß überschreitet. (3) Allgemeine Anordnungen, die einer Behörde Auskünfte an die Presse überhaupt, an diejenige einer bestimmten Richtung oder an ein bestimmtes periodisches Druckwerk verbieten, sind unzulässig. (4) Der Verleger einer Zeitung oder Zeitschrift kann von den Behörden verlangen, dass ihm deren amtliche Bekanntmachungen nicht später als seinen Mitbewerbern zur Verwendung zugeleitet werden.“ Vgl. beispielhaft § 4 PresseG NS v. 22.3.1965, Nds. GVBl. 1965, 9, i. d. F. v. 16.5.2018, Nds. GVBl. 2018, 566; § 4 PresseG Bayern i. d. F. v. 19.4.2000, Bay. GVBl. 340; § 4 PresseG Sachsen v. 3.4.1991, Sächs. GVBl. 1991, 125 i. d. F. v. 21.3.2003, Sächs. GVBl. 2003, 38 usw. OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 21.8.2014 – OVG 12 B 14.12, juris Rz. 18, NVwZ-RR 2015, 123 – 126. OVG NRW, Beschl. v. 3.5.2017 – 15 B 457/17, S. 6. OVG NRW, Beschl. v. 3.5.2017 – 15 B 457/17 (Vorinstanz VG Arnsberg, Beschl. v. 5.4.2017 – 7 L 383/17).

Die Verschwiegenheitspflicht der Vorstandsmitglieder einer Rechtsanwaltskammer 379

ren Grund nach § 14 Abs. 2 BRAO erfolgt sei. Ferner sollte Auskunft darüber gegeben werden, aus welchen der in §§ 14 Abs. 1, 7 Nr. 1 – 10 BRAO genannten Gründe die Zulassung des Rechtsanwalts ggf. zurückgenommen bzw. aus welchem der § 14 Abs. 2 Nr. 1 – 3 oder Nr. 5 – 9 BRAO genannten Gründe die Zulassung widerrufen worden sei. Bei dem betroffenen früheren Rechtsanwalt handelte es sich um den Sprecher des Vorstandes einer bei den nordrhein-westfälischen Landtagswahlen zur Wahl stehenden Partei und um den Spitzenkandidaten dieser Partei bei der Landtagswahl.43) Das OVG Nordrhein-Westfalen hat zunächst festgestellt, dass die Rechtsanwaltskammer nicht berechtigt war, das Auskunftsbegehren unter Hinweis auf § 4 Abs. 2 Nr. 2 PresseG NRW zu verweigern, wonach ein Auskunftsanspruch nicht besteht, wenn Vorschriften über die Geheimhaltung entgegenstehen. Geheimhaltungsvorschriften i. S. des presserechtlichen Auskunftsanspruchs nach § 4 Abs. 2 Nr. 2 PresseG NRW seien nämlich nur solche Bestimmungen, die öffentliche Geheimnisse schützen sollten und zumindest auch auskunftsverpflichtete Behörden zum Adressaten haben. Hierzu sollen aber nur Gesetzesbestimmungen über Staats- und Dienstgeheimnisse gehören, nicht aber Normen, die den einzelnen Beamten zur Amtsverschwiegenheit verpflichten (wie z. B. § 37 BeamtStG, § 67 BBG). Der presserechtliche Anspruch richte sich gegen die Behörde als solche, nicht gegen einzelne Beamte.44) § 76 BRAO stelle in diesem Sinne keine Geheimhaltungsvorschrift i. S. des § 4 Abs. 2 Nr. 2 PresseG NRW dar, weil sich diese Vorschrift nicht an die Rechtsanwaltskammer an sich, sondern nur an die Mitglieder des Vorstandes und solche Personen richte, die Aufgaben der Rechtsanwaltskammer für den Vorstand wahrnehmen. § 76 BRAO entspreche nur den allgemeinen beamtenrechtlichen Regelungen über die Amtsverschwiegenheit des einzelnen Beamten.45) Diese feinsinnige Unterscheidung erscheint zweifelhaft, wenn man den Sinn und Zweck, insbesondere die Entstehungsgeschichte des § 76 BRAO in den Blick nimmt. Die frühere Reichsrechtsanwaltsordnung kannte

43)

44) 45)

Rathcke (RP Online), „Warum Marcus Pretzell kein Rechtsanwalt mehr ist“, abrufbar unter https://rp-online.de/nrw/landespolitik/nrw-warum-marcus-pretzell-afd-keinrechtsanwalt-mehr-ist_aid-17926667 (Abrufdatum: 5.7.2019). OVG NRW, Beschl. v. 3.5.2017 – 15 B 457/17 (Vorinstanz VG Arnsberg, Beschl. v. 5.4.2017 – 7 L 383/17). OVG NRW, Beschl. v. 3.5.2017 – 15 B 457/17, S. 5, unter Hinweis auf das BGH, Urt. v. 20.3.2017 – AnwZ (Brfg) 46/15, NJW 2017, 2044.

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noch keine Verschwiegenheitspflicht. Es wurde aber frühzeitig erkannt, dass ohne eine entsprechende Vorschrift eine vertrauensvolle gedeihliche Arbeit innerhalb des Vorstandes nicht möglich sei. Im Rahmen der Vorstandstätigkeit werden nämlich der Rechtsanwaltskammer (nicht nur den Vorstandsmitgliedern bzw. der Geschäftsführung) Daten und Tatsachen der betroffenen Rechtsanwälte sowie auch zahlreiche personenbezogene Daten von nicht der Kammer angehörenden Personen aus den verschiedensten Verfahrensbereichen bekannt.46) In diesem Zusammenhang erscheint es von besonderer Bedeutung, dass die betroffenen Kolleginnen und Kollegen aber auch die beschwerdeführenden Personen Tatsachen vortragen, die sie der Rechtsanwaltskammer nur für die Zwecke der Aufsicht anvertrauen. Schon aus der Genese zu § 76 BRAO (§ 89 RegE BRAO)47) aus dem Jahr 1959 ergibt sich, dass der Gesetzgeber das Vertrauen an der Geheimhaltung der nur für die Zwecke der Aufsicht anvertrauten Tatsachen besonders schützen wollte: „Dieses Vertrauen darf nicht erschüttert werden.“48) Lauda49) schreibt zu Recht: „Das Wissen, dass Informationen beim Vorstand unter Verschluss gehalten werden, ermöglicht überhaupt erst die Erfüllung der Kammeraufgaben“.

Den gleichen Sinn und Zweck dürfte die Vorschrift auch im Hinblick auf Verfahren der Zulassung oder des Widerrufs der Zulassung entfalten, obwohl der 1959 in das Gesetz neu eingefügte § 76 BRAO (§ 89 RegE BRAO) diese Möglichkeit noch nicht im Blick hatte, weil Zulassungsverfahren bzw. der Widerruf der Zulassung zum damaligen Zeitpunkt noch in der Kompetenz der jeweiligen Landesjustizverwaltungen lagen. § 76 BRAO ist die einzige Vorschrift des Gesetzes, die sich neben der individuellen Verschwiegenheitspflicht (§ 43a Abs. 2 BRAO) mit der institutionellen Verschwiegenheitspflicht der Kammern und ihrer Organe auseinandersetzt. Von daher erscheint die Differenzierung zwischen der Rechtsanwaltskammer als Institution auf der einen Seite und den handelnden Personen (Vorstandsmitglieder, Mitglieder der Geschäftsführung) auf der anderen Seite konstruiert. § 76 BRAO postuliert eine Verschwiegenheitspflicht für die Institution, ihre Organe und Organwalter. § 76 BRAO steht deshalb als lex specialis den presserechtlichen Auskunftsansprüchen entgegen. Die gegenteilige Auffassung kann sich zwar darauf berufen, 46) 47) 48) 49)

Lauda in: Gaier/Wolf/Göcken, Anwaltliches Berufsrecht, 2. Aufl. 2014, § 76 Rz. 2. Begr. RegE z. Einfügung des § 89 (§ 76) BRAO, BT-Drucks. 3/120, S. 88. Begr. RegE z. Einfügung des § 89 (§ 76) BRAO, BT-Drucks. 3/120, S. 88. Lauda in: Gaier/Wolf/Göcken, Anwaltliches Berufsrecht, 2. Aufl. 2014, § 76 Rz. 2.

Die Verschwiegenheitspflicht der Vorstandsmitglieder einer Rechtsanwaltskammer 381

dass der Wortlaut des § 76 BRAO nicht die Rechtsanwaltskammern anspricht, sondern nur die beteiligten Vorstandsmitglieder und die übrigen Mitglieder der Geschäftsführung. Diese Sichtweise lässt freilich außer Acht, dass die Verschwiegenheitspflicht der Organwalter sich nur aus der institutionellen Verschwiegenheitspflicht der jeweiligen Rechtsanwaltskammer ableiten kann. Im Übrigen war es für den Gesetzgeber des Jahres 1959 bei der Einfügung des § 76 BRAO undenkbar, dass es in späteren Jahrzehnten zu einer Institutionalisierung von Auskunftsrechten durch IFG/ PresseG kommen würde.50) 3. Verhältnis der Pressefreiheit zu entgegenstehenden öffentlichen bzw. privaten Interessen Die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung will den Vertrauensschutz personenbezogener Daten in Bezug auf Auskunftsansprüche der Presse über eine im Einzelfall vorzunehmende Abwägung nach (z. B. § 4 Abs. 2 Nr. 3 PresseG NRW) gewährleisten.51) Danach ist in jedem Einzelfall zu prüfen, ob „(…) ein überwiegendes öffentliches oder ein schutzwürdiges privates Interesse verletzt würde“. In diesem Zusammenhang wird hervorgehoben, dass die in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 GG verbürgte Pressefreiheit der freien und unabhängigen Presse im freiheitlich-demokratischen Staatswesen eine besondere Bedeutung beimisst. Die Pressefreiheit dient der freien individuellen und öffentlichen Meinungsbildung und ist in ihrer Eigenschaft von der Beschaffenheit der Information bis zur Verbreitung der Nachrichten und Meinungen geschützt. Nur der prinzipiell ungehinderte Zugang zu Informationen versetze die Presse in die Lage, ihre in der freiheitlichen Demokratie eröffnete Rolle wirksam wahrzunehmen.52) Da der von der zu erteilenden Auskunft betroffene (frühere) Rechtsanwalt im zu entscheidenden Fall Landesvorsitzender und Spitzenkandidat einer Partei für die Wahlen zum nordrhein-westfälischen Landtag am 14. Mai 2017 war, waren er selbst und die Partei auch Gegenstand eingehender Presseberichterstattung.

50)

51) 52)

Ewer, Die gläserne Selbstverwaltung der Anwaltschaft, AnwBl. 2017, 273 – 275, vertritt die Auffassung, dass im Übrigen nichts dafür spreche die Anwaltskammern aus dem Pflichtenkreis des IFG herauszunehmen. OVG NRW, Beschl. v. 3.5.2017 – 15 B 457/17, S. 6 ff. OVG NRW, Beschl. v. 3.5.2017 – 15 B 457/17, S. 7; BVerfG, Beschl. v. 8.9.2014 – 1 BvR 23/14, juris Rz. 29, MDR 2014, 1406.

382

Jost Hüttenbrink „Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass ein gewichtiges öffentliches Interesse auch an der bisherigen beruflichen Tätigkeit des Beigeladenen und den Gründen, die dazu geführt haben, dass er nicht mehr als Rechtsanwalt zugelassen ist, besteht. Es liegt auf der Hand, dass diese Gründe unter Umständen herangezogen werden können, um die Qualifikation des Beigeladenen für ein politisches Amt journalistisch zu bewerten“.53)

Im konkret entschiedenen Einzelfall ergab die Abwägung zwischen dem öffentlichen Berichterstattungsinteresse einerseits und dem ebenfalls grundgesetzlich geschützten Persönlichkeitsrecht (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG) des Betroffenen (früheren Rechtsanwalts), dass die widerstreitenden Rechtspositionen in einen wechselseitigen angemessenen Ausgleich zu bringen waren. Mit anderen Worten: Das öffentliche Informationsinteresse an der begehrten Auskunft und der Eingriff in die privaten Rechte durch die Offenlegung der begehrten Informationen waren zu gewichten. Eine Einzelfallprüfung muss klären, wie gewichtig das von der Presse verfolgte Interesse an der begehrten Auskunft ist, wie sensibel der Bereich ist, über den informiert werden soll und wie detailliert und weitgehend die begehrten Auskünfte im Einzelfall erfolgen sollen. Dabei ist aufgrund der allgemeinen presserechtlichen Rechtsprechung auch in die Abwägung miteinzubeziehen, welche im öffentlichen Leben wahrgenommene Funktion von demjenigen, über den Auskunft begehrt wird, ausgefüllt wird. Soweit es sich um wahre Tatsachen als Fragen von allgemeinem Interesse handelt und das Auftreten namentlich von Politikern oder anderen Personen des öffentlichen Lebens in Rede stehen, sind die privaten Interessen regelmäßig weniger schutzbedürftig als das Informationsbedürfnis der Presse. Häufig werden deshalb die aus dem Persönlichkeitsrecht folgenden privaten Geheimhaltungsinteressen der Betroffenen als Person des öffentlichen Lebens hinter dem Interesse der Öffentlichkeit an den begehrten Auskünften zurückzutreten haben. Diese im Kern nachvollziehbare Rechtsprechung (zu § 4 Abs. 2 Nr. 3 PresseG NRW) stürzt die von dem Auskunftsbegehren betroffenen Rechtsanwaltskammern regelmäßig in ein gewisses Dilemma. Der von der Auskunft Betroffene weigert sich regelmäßig einer Auskunftserteilung durch die Rechtsanwaltskammer zuzustimmen. Erteilt die betroffene Rechtsanwaltskammer die beantragten Auskünfte, riskiert die Rechtsanwaltskammer ihrerseits weitergehende gerichtliche Schritte oder sonstige dienstaufsichtliche Maßnahmen des von der Auskunft Betroffenen. Da die Frage, welche Auskünfte nach den vorgenannten Maßstäben erteilt werden dürfen, jeweils eine 53)

OVG NRW, Beschl. v. 3.5.2017 – 15 B 457/17, S. 8.

Die Verschwiegenheitspflicht der Vorstandsmitglieder einer Rechtsanwaltskammer 383

enge Gratwanderung darstellt, bleibt den betroffenen Rechtsanwaltskammern in vielen Fällen nur die Möglichkeit offen, den sichersten Weg zu gehen und die begehrten Auskünfte bis zu einer anderweitigen gerichtlichen Entscheidung zu verweigern. Im konkret entschiedenen Falle haben es die Verwaltungsgerichte für angemessen gehalten, die genaue Bekanntgabe des Datums der Löschung im Anwaltsverzeichnis bekannt zu geben, weil diese Tatsache aufgrund der Veröffentlichung im Kammer-Report ohnehin bereits bekannt war. Schwieriger war schon die Frage zu entscheiden, ob auch mitgeteilt werden durfte, ob die Zulassung zurückgenommen wurde, ob sie ohne oder gegen den Willen des betroffenen früheren Rechtsanwalt widerrufen wurde oder ob sie widerrufen wurde, nachdem der frühere Rechtsanwalt auf die Zulassung verzichtet hatte. Diese Auskünfte – so das OVG Nordrhein-Westfalen – betrafen nicht dessen Privatsphäre, sondern lediglich dessen Sozialsphäre, die wegen des Bezugs nach außen grundsätzlich weniger geschützt sei. Auskünfte über wahre Tatsachenbehauptungen, die Vorgänge aus der Sozialsphäre benennen, müssten deshalb von den Betroffenen grundsätzlich hingenommen werden, weil das Persönlichkeitsrecht seinem Träger keinen Anspruch darauf verleihe, nur so in der Öffentlichkeit dargestellt zu werden, wie es ihm genehm sei. Die Schwelle zur Persönlichkeitsrechtsverletzung werde bei der Mitteilung wahrer Tatsachen über die Sozialsphäre des Betroffenen regelmäßig erst dann überschritten, wo sie einen Persönlichkeitsschaden befürchten lasse, der außer Verhältnis zu dem Interesse an der Verbreitung der Wahrheit stehe, etwa bei einer unzulässigen Stigmatisierung, sozialen Ausgrenzung oder Prangerwirkung.54) Eine derartige Stigmatisierung trete nicht ein, wenn bekannt werde, ob der Betroffene frühere Rechtsanwalt seine Zulassung gegen oder ohne seinen Willen verloren habe oder ob er auf sie verzichtet habe. Der frühere Rechtsanwalt müsse es in diesen Fällen auch hinnehmen, dass Auskunft darüber erteilt werden müsse, aus welchen Gründen – im Falle einer Rücknahme – die Rechtsanwaltskammer die Zulassung zurückgenommen habe (§ 14 Abs. 1 i. V. m. § 7 Nr. 1 – 10 BRAO); die Bekanntgabe der Rücknahme- und Widerrufsgründe ohne die Kenntnis der dahinter stehenden Sachverhalte betreffe allein die Sozialsphäre. Ein umfassender Eintritt sozialer Ächtung drohe nicht. Dies gelte sogar auch für die Fälle in denen die Rücknahme bzw. der Widerruf der Zulassung des früheren Rechtsan54)

OVG NRW, Beschl. v. 3.5.2017 – 15 B 457/17, S. 11.

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Jost Hüttenbrink

walts wegen schwerwiegender gesundheitlicher Beeinträchtigung erfolgt sei. Hier könne zwar dessen Privatsphäre betroffen sein, es dränge sich jedoch auf, dass jemand, der aus gesundheitlichen Gründen nicht nur vorübergehend unfähig sei, den Beruf eines Rechtsanwalts ordnungsgemäß auszuüben, auch nicht in der Lage wäre, den Aufgaben und Verpflichtungen als Abgeordneter des Landtags Nordrhein-Westfalen nachzukommen. Die Verwaltungsgerichte55) haben allerdings klargestellt, dass sich die Auskünfte nicht auf die hinter den Rücknahme- und Widerrufsgründen liegenden Sachverhalte beziehen dürfen.

55)

OVG NRW, Beschl. v. 3.5.2017 – 15 B 457/17 (Vorinstanz VG Arnsberg, Beschl. v. 5.4.2017 – 7 L 383/17).

Masseverbindlichkeiten und anfechtungsfeste Deckungen aus dem Eröffnungsverfahren FLORIAN JACOBY Inhaltsübersicht I. Anlass II. Arten von Eröffnungsverfahren III. Begründung von Masseverbindlichkeiten 1. Anordnungen im Regeleröffnungsverfahren a) Starker vorläufigen Verwalter b) Einzelermächtigungen 2. Anordnungen in der vorläufigen Eigenverwaltung 3. Sonderregel Steuerverbindlichkeiten 4. Spezialfall Erfüllungswahlrecht

IV. Anfechtbarkeit von Deckungen aus dem Eröffnungsverfahren 1. Fallgruppen 2. Meinungsstand a) Regeleröffnungsverfahren b) Vorläufige Eigenverwaltung 3. Kritik 4. Eigener Begründungsansatz a) Ermächtigung zur Begründung von Masseverbindlichkeiten b) Folgen bei Handeln ohne Massebegründungskompetenz V. Ergebnisse

I. Anlass Der Jubilar hat in den vergangenen Jahren insbesondere mit den Entscheidungen des von ihm geführten Senats die Grundlage der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zum Insolvenzrecht maßgeblich geprägt. In Würdigung dieser herausragenden Leistung soll im Folgenden die Rechtsprechung des IX. Zivilsenats zum Eröffnungsverfahren, das durch die Stärkung der Eigenverwaltung jüngst wieder in den Fokus auch des Senats gerückt ist, systematisiert und kritisch hinterfragt werden. Nach einer kurzen Einführung unter II. zu den Arten von Eröffnungsverfahren liegt unter III. ein erster Schwerpunkt auf der Begründung von Masseverbindlichkeiten. Es gilt die besondere Qualität der Ermessensentscheidung hervorzuheben, mit der das Insolvenzgericht dem vorläufigen Insolvenzverwalter bzw. dem eigenverwaltenden Schuldner die Kompetenz einräumt, Masseverbindlichkeiten zu begründen. Daran anknüpfend wird unter IV. der Anfechtbarkeit von Deckungen im Eröffnungsverfahren nachgegangen. Der Bundesgerichtshof macht den Anfechtungsausschluss in ständiger Rechtsprechung in erster Linie davon abhängig, inwieweit der vorläufige Insolvenzverwalter einen Vertrauenstatbestand erzeugt hat. Diese Recht-

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sprechung gilt es zu überdenken, weil sie nicht begründet, woher die Rechtsmacht des schwachen vorläufigen Verwalters stammt, einen solchen Vertrauenstatbestand zu erzeugen. Vielmehr ist es vorzugswürdig, auch insoweit auf die Rechtsmacht des vorläufigen Verwalters bzw. eigenverwaltenden Schuldners abzustellen, Masseverbindlichkeiten zu begründen. II. Arten von Eröffnungsverfahren Die unterschiedlichen Arten von Eröffnungsverfahren lassen sich in Anknüpfung an § 270a InsO nach der Verteilung der Verfügungsbefugnis einteilen: Im Regeleröffnungsverfahren wird ein vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt. Nach § 22 Abs. 1 InsO geht die Verfügungsbefugnis auf diesen vorläufigen Verwalter wie nach § 80 InsO bei Insolvenzeröffnung auf den Insolvenzverwalter über, wenn dem Schuldner nach § 21 Abs. 2 Nr. 2 Fall 1 InsO ein allgemeines Verfügungsverbot auferlegt wird. Der vorläufige Verwalter wird dann auch als „starker“ bezeichnet. Alternativ kann sich die Anordnung aber darauf beschränken, dass der Schuldner für eine Verfügung der Zustimmung des vorläufigen Verwalters bedarf. Der Verwalter hat dann keine Initiativkompetenz, sondern kann allein Verfügungen des Schuldners durch Verweigerung der Zustimmung hindern. Entsprechend wird dieser Verwalter als schwacher bezeichnet. Freilich hängt die Rechtsstellung dieses schwachen vorläufigen Verwalters entsprechend § 22 Abs. 2 InsO von den weiteren Sicherungsanordnungen des Insolvenzgerichts ab. Es ist durchaus möglich, ihn zur alleinigen Vornahme bestimmter Verfügungen zu ermächtigen.1) In der vorläufigen Eigenverwaltung liegt die Verfügungsbefugnis beim Insolvenzschuldner selbst. Ob das Gericht als Sicherungsanordnung bestimmte Verfügungen an die Zustimmung des Sachwalters knüpfen kann, ist umstritten. Dagegen spricht maßgeblich, dass § 270a Abs. 1 Satz 2 InsO nicht auf § 277 InsO verweist.2) Aus § 275 InsO ergeben sich nur intern wirkende Pflichten, die der Wirksamkeit von Verfügungen im Außenverhältnis nicht entgegenstehen.

1) 2)

BGH, Urt. v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, BGHZ 151, 353, 365 = ZIP 2002, 1625. Undritz in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 270a Rz. 4 m. w. N. zum Streitstand.

Masseverbindlichkeiten und anfechtungsfeste Deckungen aus dem Eröffnungsverfahren 387

III. Begründung von Masseverbindlichkeiten § 38 InsO definiert diejenigen Gläubiger als Insolvenzgläubiger, deren Forderung bei Insolvenzeröffnung begründet ist. Die Qualifikation einer Forderung als Masseverbindlichkeit kann sich daher im Regeleröffnungsverfahren nur aus § 55 Abs. 2, 4 InsO ergeben, in der vorläufigen Eigenverwaltung kommt es darauf an, ob diese Vorschriften über § 270 Abs. 1 Satz 2 InsO, § 270b Abs. 3 Satz 2 InsO anwendbar sind. Die Bedeutung dieser Weichenstellung für Eröffnungsverfahren lässt sich in Abgrenzung zur Begründung von Masseverbindlichkeiten nach Verfahrenseröffnung verdeutlichen. Ab diesem Zeitpunkt können Insolvenzforderungen nicht mehr begründet werden. Alle Verbindlichkeiten, die der Schuldner – außerhalb der Eigenverwaltung – eingeht, sind Neuverbindlichkeiten, die im Verfahren nicht verfolgt werden können. Hingegen hat der Insolvenzverwalter in seinem Amt die eigentümliche Befugnis, Verbindlichkeiten des Schuldners zu begründen, die nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO Masseverbindlichkeiten sind. Eigentümlich ist diese Befugnis, weil so in spezifischer Weise Rechtsfolgen erzeugt werden, die davon zu unterscheiden sind, dass der Schuldner selbst handelt oder dass der Insolvenzverwalter mit Wirkung für sein Privatvermögen handelt. Es ist dies das Handeln, das die herrschende Meinung als das einer Partei kraft Amtes bezeichnet.3) Es lässt sich so konstruieren, dass der Insolvenzverwalter für das Amt handelt, das Zurechnungsendpunkt und damit Handlungssubjekt ist.4) Vor Verfahrenseröffnung sind indessen alle Verbindlichkeiten, die der Schuldner begründet, Insolvenzforderungen. Diese Verpflichtungsbefugnis kann ihm auch durch Sicherungsanordnungen nicht genommen werden. Deswegen ist es irrelevant, ob der vorläufige Insolvenzverwalter dieser Begründung der Verbindlichkeit zustimmt. Der vorläufige Insolvenzverwalter hat seinerseits nicht ohne weiteres die Befugnis, den Schuldner zu verpflichten, gleich welche haftungsrechtliche Natur die begründete Verbindlichkeit erlangte. So hat er insbesondere keine Vertretungsmacht, als Vertreter des Insolvenzschuldners wie dieser Verbindlichkeiten zu be3)

4)

BGH, Urt. v. 14.4.1987 – IX ZR 260/86, BGHZ 100, 346, 351 = ZIP 1987, 650; Bork, Einführung in das Insolvenzrecht, 9. Aufl. 2019, Rz. 78; Kayser in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018; § 80 Rz. 14. Jacoby in: Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2014, Vor § 50 Rz. 75 ff.; Jacoby, Das private Amt, 2007, S. 298 ff.

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gründen, die im Verfahren als Insolvenzforderungen zu verfolgen sind. Ihm kann aber durch Sicherungsanordnungen des Insolvenzgerichts die wie beim Insolvenzverwalter eigentümliche Rechtsmacht eingeräumt werden, Masseverbindlichkeiten zu begründen. 1. Anordnungen im Regeleröffnungsverfahren Im Regeleröffnungsverfahren ist zu unterscheiden zwischen der Bestellung des starken vorläufigen Insolvenzverwalters sowie der Anordnung von Ermächtigungen an den schwachen vorläufigen Insolvenzverwalter, Masseverbindlichkeiten zu begründen. a) Starker vorläufigen Verwalter § 55 Abs. 2 InsO erklärt bestimmte Verbindlichkeiten zu Masseverbindlichkeiten für den Fall, dass ein starker vorläufiger Insolvenzverwalter nach § 22 Abs. 1 InsO unter Anordnung eines allgemeinen Verfügungsverbots für den Schuldner bestellt wird.5) Infolge einer solchen Anordnung werden zum einen nach § 55 Abs. 2 Satz 1 InsO diejenigen Verbindlichkeiten zu Masseverbindlichkeiten erklärt, die durch den starken vorläufigen Verwalter begründet werden. Zum anderen werden nach § 55 Abs. 2 Satz 2 InsO Verbindlichkeiten aus Dauerschuldverhältnissen des Schuldners Masseverbindlichkeit, wenn der starke vorläufige Verwalter die Gegenleistung für die Masse in Anspruch nimmt. Eine Masseverbindlichkeit steht also nicht nur den Vertragspartnern aus neu vom vorläufigen Verwalter abgeschlossenen Austauchverträgen zu, sondern auch einem Vermieter, wenn der vorläufige Insolvenzverwalter die Mietsache zur Unternehmensfortführung oder zumindest zur Aufbewahrung von Massegegenständen nutzt. Damit geht § 55 Abs. 2 InsO zwar nicht ganz so weit wie § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO, aber in weitem Umfange werden bei der Unternehmensfortführung Masseverbindlichkeiten begründet. Es müssen nicht nur die genannten vertraglichen Verbindlichkeiten als Masseverbindlichkeit aus der Masse gezahlt werden, sondern auch gesetzlich begründete Verbindlichkeiten wie die Umsatzsteuer oder deliktische Forderungen werden von

5)

Grundlegend BGH, Urt. v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, BGHZ 151, 353 = ZIP 2002, 1625.

Masseverbindlichkeiten und anfechtungsfeste Deckungen aus dem Eröffnungsverfahren 389

§ 55 Abs. 2 Satz 1 InsO erfasst.6) Diese Einordnung als Masseverbindlichkeit hat zur Folge, worauf zurückzukommen sein wird, dass die Tilgung einer solchen Verbindlichkeit vor Insolvenzeröffnung nicht anfechtbar ist.7) Auf diese Weise wird die Massegenerierung im Eröffnungsverfahren jedenfalls für den Anwendungsbereich des § 55 Abs. 2 InsO erschwert. Freilich belässt § 55 Abs. 3 InsO eine ganz bedeutsame Option der Massegenerierung, indem es abweichend von § 55 Abs. 2 InsO durch Insolvenzgeld gedeckte Arbeitnehmeransprüche, die auf die Bundesagentur für Arbeit übergehen, als Insolvenzforderungen einordnet. b) Einzelermächtigungen Um im Eröffnungsverfahren Masseverbindlichkeiten zu begründen, hat der Bundesgerichtshof als Alternative den Weg der sog. Einzelermächtigungen an den schwachen vorläufigen Insolvenzverwalter gewiesen.8) Als Sicherungsanordnung kann das Insolvenzgericht nach § 21 Abs. 1, § 22 Abs. 2 InsO diesen ermächtigen, einzelne Verbindlichkeiten zu begründen, die dann ebenfalls den Rang einer Masseverbindlichkeit erlangen. Allerdings hält der Bundesgerichtshof es nicht für möglich, dass das Insolvenzgericht einen vorläufigen Verwalter umfassend ermächtigt, Masseverbindlichkeiten zu begründen. Eine solche Kompetenz könne nur aus § 55 Abs. 2 i. V. m. § 22 Abs. 1 InsO folgen. Das Insolvenzgericht müsse also die Verbindlichkeiten, die der vorläufige Verwalter begründen darf, im Einzelnen genau bezeichnen. Dem trägt die Bezeichnung als Einzelermächtigungen im Unterschied zu einer Generalermächtigung Rechnung. Die Wirkungen einer Generalermächtigung hat die Anordnung einer starken vorläufigen Insolvenzverwaltung. Dem schwachen vorläufigen Verwalter kann indessen nicht im Wege einer Globalermächtigung eine entsprechende Rechtmacht verliehen werden. Durch solche Einzelermächtigungen wird eine Selektion getroffen. Zwar dürfen und sollen alle neuen rechtsgeschäftlichen Verbindlichkeiten als Masseverbindlichkeiten begründet werden, soweit sie für die Unterneh-

6) 7) 8)

Begr. RegE InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 126; Thole in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 53 Rz. 41. Vgl. BGH, Urt. v. 16.6.2016 – IX ZR 114/15, Rz. 16, 44, BGHZ 210, 372 = ZIP 2016, 1295. Grundlegend BGH, Urt. v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, BGHZ 151, 353, 365 ff. = ZIP 2002, 1625; ferner BGH, Urt. v. 22.11.2018 – IX ZR 167/16, Rz. 15, ZIP 2018, 2488.

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mensfortführung erforderlich sind.9) Immer wieder wird aber zur Meidung des Aufwandes davon Abstand genommen, was den Vertragspartner mit dem im Weiteren noch zu behandelnden Risiko der Anfechtbarkeit einer ihm gewährten Deckung seiner Insolvenzforderung belastet. Vor allem aber sind abweichend von § 55 Abs. 2 Satz 1 InsO gesetzlich begründete Verbindlichkeiten und abweichend von § 55 Abs. 2 Satz 2 InsO die Ansprüche aus Dauerschuldverhältnissen nach §§ 38, 108 Abs. 3 InsO Insolvenzforderung unabhängig davon, ob die Gegenleistung zugunsten der Masse genutzt wird. Diese Rechtsfolgen hält der Bundesgerichtshof nicht für unangemessen.10) Einerseits begrüßt der Bundesgerichtshof die möglicherweise sich ergebende Massemehrung.11) Andererseits hält er die Beeinträchtigung des Vertragspartners diesem für zumutbar, da er allen anderen Gläubigern gleich steht, wenn er bzw. diese anderen ungesicherte Vorleistungen erbringen.12) 2. Anordnungen in der vorläufigen Eigenverwaltung Die Begründung von Masseverbindlichkeiten in der vorläufigen Eigenverwaltung war zunächst umstritten.13) Inzwischen hat der Bundesgerichtshof auch hier für Rechtsklarheit gesorgt. Allein der Schuldner, nicht der vorläufige Sachwalter, kann Masseverbindlichkeiten begründen. Dafür bedarf es allerdings einer besonderen Ermächtigung durch das Insolvenzgericht.14) Der Art nach lassen sich insoweit Globalermächtigung und Einzelermächtigung(en) unterscheiden. Im sog. Schutzschirmverfahren sieht § 270b Abs. 3 InsO eine Globalermächtigung vor. Danach kann der Schuldner beanspruchen, dass das Insolvenzgericht eine solche Globalermächtigung anordnet. Diese Vorschrift schließt also das sonst dem Insolvenzgericht nach § 21 Abs. 1 InsO eröffnete Ermessen aus. Der Verweis des § 270b Abs. 3 Satz 2 InsO auf § 55 Abs. 2 InsO verdeutlicht, dass der Schuldner aufgrund einer solchen Globalermächtigung wie der starke vorläufige Insolvenzverwalter gestellt ist. 9) 10) 11) 12) 13)

14)

BGH, Urt. v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, BGHZ 151, 353, 366 = ZIP 2002, 1625. Vgl. auch BGH, Urt. v. 24.1.2019 – IX ZR 110/17, ZIP 2019, 472. BGH, Urt. v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, BGHZ 151, 353, 362 = ZIP 2002, 1625. BGH, Urt. v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, BGHZ 151, 353, 369 = ZIP 2002, 1625. Vgl. dazu Klinck, Die Begründung von Masseverbindlichkeiten durch den Schuldner im Eigenverwaltungs-Eröffnungsverfahren, ZIP 2013, 853, 860; Pape, Entwicklungstendenzen bei der Eigenverwaltung, ZIP 2013, 2285, 2292, jeweils m. w. N. BGH, Urt. v. 22.11.2018 – IX ZR 167/16, Rz. 8 ff., ZIP 2018, 2488.

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Der Schuldner begründet Masseverbindlichkeiten nicht nur durch jeden Vertragsschluss, sondern auch dann, wenn er für die Masse die Gegenleistung aus einem Dauerschuldverhältnis entgegennimmt. Dem Schuldner steht kein Ermessen zu, selbst zu bestimmen, was für eine Verbindlichkeit er begründet.15) Nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers sperrt § 270b Abs. 3 InsO aber nicht, dass das Gericht dem Schuldner wie dem schwachen vorläufigen Insolvenzverwalter im Wege von Einzelermächtigungen nach § 21 Abs. 1, § 270 Abs. 1 Satz 2 InsO die Kompetenz verleiht, Masseverbindlichkeiten zu begründen.16) Zum Verfahren der vorläufigen Eigenverwaltung nach § 270a InsO hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass das Insolvenzgericht ebenfalls dem Schuldner wie sonst dem schwachen vorläufigen Insolvenzverwalter im Wege von Einzelermächtigungen die Befugnis einräumen kann, Masseverbindlichkeiten zu begründen.17) Dabei hat der Bundesgerichtshof ausdrücklich offengelassen, ob auch in diesem Verfahren eine Generalermächtigung mit den Wirkungen des § 55 Abs. 2 InsO in Betracht kommt. Allerdings besteht kein Grund, warum man eine solche Anordnung von vornherein aus dem Kreis der nach § 21 Abs. 1, § 270 Abs. 1 Satz 2 InsO statthaften Anordnungen ausscheiden sollte. Das Bedürfnis dafür kann sich etwa ergeben, wenn die Unternehmensfortführung durch die für die Einzelermächtigungen erforderliche Spezifizierung infolge ihrer Komplexität bei gleichzeitig bestehendem Eilbedürfnis behindert werden würde. 3. Sonderregel Steuerverbindlichkeiten Die Anordnung der schwachen vorläufigen Insolvenzverwaltung samt Einzelermächtigungen statt der starken vorläufigen Verwaltung bringt mit sich, dass Steuerforderungen aus dem Eröffnungsverfahren nicht nach § 55 Abs. 2 InsO als Masseverbindlichkeit einzuordnen sind. Das hatte der Gesetzgeber der Insolvenzordnung namentlich für die Umsatzsteuer anders erwartet, weil er davon ausgegangen war, es werde regelmäßig zur starken vorläufigen Insolvenzverwaltung kommen.18) So aber ergab sich die Möglichkeit, im Eröffnungsverfahren Masse dadurch zu generieren, 15) 16) 17) 18)

BGH, Urt. v. 16.6.2016 – IX ZR 114/15, Rz. 22, BGHZ 210, 372 = ZIP 2016, 1295. Beschlussempfehlung und Bericht des RA z. ESUG, BT-Drucks. 17/7511, S. 37; BGH, Urt. v. 16.6.2016 – IX ZR 114/15, Rz. 18, BGHZ 210, 372 = ZIP 2016, 1295. BGH, Urt. v. 22.11.2018 – IX ZR 167/16, Rz. 16 f., ZIP 2018, 2488. Begr. RegE InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 126.

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dass Umsatzsteuer vereinnahmt, aber nicht an den Fiskus abgeführt, sondern dieser auf seine Insolvenzforderung verwiesen wird. Nicht zuletzt die öffentliche Diskussion dieser Möglichkeit anlässlich des Insolvenzverfahrens Arcandor-Konzern/Karstadt AG hat zur Schaffung von § 55 Abs. 4 InsO durch das Haushaltsbegleitgesetz 2011 geführt.19) Die Bestimmung ist zunächst rechtspolitisch fragwürdig, weil sie nicht nach den einzelnen Steuerarten unterscheidet und damit den Grund für die Privilegierung des Fiskus nicht offenlegt. Teilweise wird sie insgesamt für bedenklich gehalten, weil der Fiskus keine Leistung in die Masse erbringe.20) In jedem Falle ist der Wortlaut verunglückt. Denn der Schuldner bedarf keiner Zustimmung des schwachen vorläufigen Verwalters, um Verbindlichkeiten zu begründen. Freilich kann ohnehin nicht der Schuldner, sondern nur der vorläufige Verwalter kraft entsprechender Ermächtigung Masseverbindlichkeiten begründen. Bei Anordnung einer starken vorläufigen Insolvenzverwaltung bleibt überdies das Spannungsverhältnis zu § 55 Abs. 2 InsO unklar. Im Ergebnis ist die Bestimmung aber angesichts des in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck kommenden Willens des Gesetzgebers so zu verstehen, dass alle Steuerforderungen Masseverbindlichkeit werden, die entstehen, nachdem eine vorläufige Insolvenzverwaltung angeordnet und dem Schuldner eine Verfügungsbeschränkung nach § 21 Abs. 2 Nr. 2 InsO auferlegt worden ist. Es wird noch diskutiert, ob die Norm auch gilt, wenn die Anordnung der vorläufigen Insolvenzverwaltung nicht mit einer Verfügungsbeschränkung flankiert wird.21) Einer solchen Sicherungsanordnung wurde jedoch durch Einführung rechtspraktisch der vorläufigen Eigenverwaltung in § 270a Abs. 1 InsO der Boden entzogen. Denn in solchen Sachlagen wird ein Antrag auf Eigenverwaltung gestellt werden, so dass lediglich ein Sachwalter zu bestellen ist. Für die vorläufige Eigenverwaltung hat der Bundesgerichtshof eine Anwendung des § 55 Abs. 4 InsO abgelehnt.22) Die Regelung sei ihrem Wortlaut nach – wohl auch über den Verweis des § 270 Abs. 1 Satz 2 InsO – nicht einschlägig. Eine Analogie scheide sowohl mangels planwidriger Regelungslücke, da der Gesetzgeber eine Regelung erwogen habe, als auch 19) 20) 21) 22)

Begr. RegE HBeglG 2011, BT-Drucks. 17/3030, S. 42 f. Thole in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 53 Rz. 45. Lohmann in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 55 Rz. 35; Thole in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 53 Rz. 47. BGH, Urt. v. 22.11.2018 – IX ZR 167/16, ZIP 2018, 2488.

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mangels vergleichbarer Interessenlage aus, weil die Norm auf die spezifischen Befugnisse des vorläufigen Insolvenzverwalters abstelle. Dem gibt es nichts hinzuzufügen abgesehen davon, dass es die Bestimmung selbst rechtspolitisch noch fragwürdiger macht.23) 4. Spezialfall Erfüllungswahlrecht Ein spezifisches Problem werfen noch nicht erfüllte gegenseitige Verträge auf. Mit Eröffnung des Verfahrens knüpft § 103 InsO die Durchführung des Vertrags an die Wahl des Insolvenzverwalters an. Recht einhellig anerkannt ist, dass dieses Wahlrecht nur vom Insolvenzverwalter, nicht aber vom vorläufigen Insolvenzverwalter ausgeübt werden kann.24) Hier wird also im Hinblick auf die Kompetenzen völlig treffend zwischen denen des vorläufigen Insolvenzverwalters einerseits und andererseits denjenigen des Insolvenzverwalters unterschieden. Unlängst hat der Bundesgerichtshof freilich die Frage aufgeworfen, deren Beantwortung dann aber offen gelassen, ob der Insolvenzverwalter nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) bei seiner Wahl durch das Verhalten des vorläufigen Insolvenzverwalters gebunden sein kann.25) Die erwogene Bindung stützt sich auf die Grundsätze über den Ausschluss einer Anfechtung wegen des vom vorläufigen Insolvenzverwalter in Anspruch genommenen Vertrauens. Diese Grundsätze werden im Folgenden noch auf den Prüfstand gestellt. Maßgeblich wird dort sein, darauf abzustellen, ob der vorläufige Insolvenzverwalter überhaupt die Rechtsmacht hat, Rechtshandlungen vorzunehmen, die der Anfechtung entgegenstehen. Ähnlich ist hier darauf abzustellen, inwieweit der vorläufige Verwalter die Rechtswirkungen der Erfüllungswahl herbeiführen kann. Das Erfüllungswahlrecht des Insolvenzverwalters zieht die insolvenzrechtlichen Konsequenzen der auf § 320 BGB fußenden Einrede des nicht erfüllten Vertrags. Die Einseitigkeit des Wahlrechts zugunsten des Verwalters und damit der Masse beruht darauf, dass der Vertragspartner lediglich über eine Insolvenzforderung verfügt, die er nach den allgemeinen Regelungen in §§ 38, 87 InsO nur zur Insolvenztabelle anmelden kann. Dem Insolvenzverwalter indessen steht die Wahl zu, ob er es durch Erfül23) 24) 25)

Vgl. auch Thole, EWiR 2019, 49, 50 (Urteilsanm.). BGH, Urt. v. 14.9.2017 – IX ZR 261/15, Rz. 19, BGHZ 216, 10 = ZIP 2017, 1915 m. w. N. BGH, Urt. v. 14.9.2017 – IX ZR 261/15, Rz. 21, BGHZ 216, 10 = ZIP 2017, 1915.

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lungsablehnung dabei belässt. Dann kann der Vertragspartner entsprechend § 103 Abs. 2 InsO nur seine Insolvenzforderung geltend machen. Alternativ kann der Insolvenzverwalter die zur Masse zählende Forderung gegen den Vertragspartner durchsetzen wollen. Dann muss er aber, wie ein Umkehrschluss aus § 103 Abs. 1 InsO aussagt, die Gegenforderung des Vertragspartners als Masseverbindlichkeit erfüllen. Entsprechend ordnet § 55 Abs. 1 Nr. 2 Fall 1 InsO an, das die Erfüllungswahl zur Begründung von Masseverbindlichkeiten führt. Diese Rechtsmacht, aus einer Insolvenzforderung eine Masseverbindlichkeit zu machen, ist die mit der Erfüllungswahl verbundene charakteristische Rechtsmacht. Damit ist die maßgebliche Frage für das Eröffnungsverfahren aufgeworfen. Zwar kann der vorläufige Verwalter nicht Erfüllung eines Vertrags nach Maßgabe von § 103 InsO wählen. Er kann aber ganz entsprechende Wirkungen herbeiführen, wenn er die Altforderung des Vertragspartners zu einer Masseverbindlichkeit aufwertet. Dazu besitzt er die Rechtsmacht nach dem oben unter III. 1. Ausgeführten entweder als starker vorläufiger Verwalter oder aufgrund einer Einzelermächtigung als schwacher vorläufiger Verwalter. Unter diesen Voraussetzungen kann der vorläufige Verwalter also mit dem Vertragspartner einen Änderungsvertrag schließen, dass der Vertrag mit Wirkung für die Masse herbeigeführt wird. Das kann etwa nützlich für die Masse sein, wenn der Insolvenzverwalter so den Vertragspartner davon abhält von einem außerhalb des § 112 InsO möglichem gesetzlichen Kündigungs-, Rücktritts- oder sonstigem Lösungsrecht Gebrauch zu machen. Hat der vorläufige Verwalter diese Rechtsmacht, kann er auch wirksam für die Insolvenzmasse einen Vertrauenstatbestand erzeugen, der den Insolvenzverwalter bei der Ausübung des Wahlrechts bindet. Zu denken ist daran, dass der starke vorläufige Insolvenzverwalter dem Vertragspartner Erfüllungswahl verspricht und der Vertragspartner daraufhin, von einer Lösung vom Vertrag Abstand nimmt und Dispositionen zur Vertragsdurchführung unternimmt. Ist der vorläufige Verwalter indessen nicht mit hinreichenden Kompetenzen ausgestattet, kann er – ohne die entsprechende insolvenzgerichtliche Ermächtigung – keinen Vertrauenstatbestand setzen, der der Insolvenzmasse zurechenbar wäre. Eine Bindung des Insolvenzverwalters bei der Erfüllungswahl scheidet aus. Zu erwägen ist freilich, ob der vorläufige Verwalter persönlich Vertrauen in Anspruch genommen hat, für deren Enttäuschung er nach §§ 280, 241 Abs. 2 BGB haftet.

Masseverbindlichkeiten und anfechtungsfeste Deckungen aus dem Eröffnungsverfahren 395

Entsprechendes gilt in der vorläufigen Eigenverwaltung. Es kommt nicht darauf an, dass nach Verfahrenseröffnung gemäß § 279 InsO das Erfüllungswahlrecht dem Schuldner zusteht. Vor Verfahrenseröffnung ist maßgeblich, ob der Schuldner aufgrund einer Global- oder Einzelermächtigung die Forderung des Vertragspartners aus dem betroffenen Vertrag zu einer Masseverbindlichkeit aufwerten kann. IV. Anfechtbarkeit von Deckungen aus dem Eröffnungsverfahren Haben Vertragspartner oder andere Gläubiger des Schuldners während des Eröffnungsverfahrens Deckung für ihre Forderung erhalten, so erhebt sich die Frage nach deren Insolvenzfestigkeit. Mit dem Begriff der Insolvenzfestigkeit ist in erster Linie die Anfechtbarkeit einer solchen Deckung angesprochen. Freilich ist der Umfang der Anfechtbarkeit von Handlungen eines vorläufigen Insolvenzverwalters angesichts seiner Legitimation durch das Insolvenzgericht umstritten. Diesem Streit soll im Folgenden nachgegangen werden, um die Grenzen der Anfechtung des Handelns des vorläufigen Verwalters auszuloten. Dabei muss man sich vergegenwärtigen, dass die Alternative zur Anfechtbarkeit die Grundsätze insolvenzzweckwidrigen Handelns sind, mittels derer die Wirksamkeit von Verwalterhandeln eingegrenzt wird.26) 1. Fallgruppen Die Deckung (späterer) Masseverbindlichkeit ist grundsätzlich der Anfechtung entzogen.27) Mangels Schmälerung der Befriedigungsaussichten der Insolvenzgläubiger scheidet schon die von § 129 InsO verlangte Gläubigerbenachteiligung aus.28) Darüber hinaus passen auch die Anfechtungsgründe nicht auf eine Befriedigung von Massegläubigern.

26)

27) 28)

BGH, Urt. v. 15.12.2005 – IX ZR 156/04, BGHZ 165, 283, 289 = ZIP 2006, 431, 433; Bork, Einführung in das Insolvenzrecht, 9. Aufl. 2019, Rz. 248; Ganter, Die Ausübung unzulässigen wirtschaftlichen Drucks auf den vorläufigen Insolvenzverwalter beim Abschluss zur Fortführung des Schuldner-Unternehmens notwendiger Geschäfte, in: FS Gerhardt, 2004, S. 237, 248 ff.; Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 129 Rz. 44. Vgl. BGH, Urt. v. 16.6.2016 – IX ZR 114/15, Rz. 16, 44, BGHZ 210, 372 = ZIP 2016, 1295. Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 129 Rz. 110; K. Schmidt in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 129 Rz. 54.

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Bei der Deckung von Insolvenzgläubigern ist zu unterscheiden. Zum einen kommt die Deckung von Altverbindlichkeiten aus der Zeit vor Verfahrensantrag in Betracht. Dazu kann es insbesondere kommen, wenn ein Vertragspartner die Fortsetzung einer für die Unternehmensfortführung bedeutsamen Vertragsbeziehung an die Deckung von Altverbindlichkeiten knüpft.29) Es mag aber auch dem Unternehmen an der Fortsetzung ihrer Erbringung von Sachleistungen an ihre Kunden gelegen sein, um im Markt quasi als notwendige Marketingmaßnahme das Vertrauen der Kunden nicht zu erschüttern.30) Nach den oben unter III. 1. und 2. behandelten Grundsätzen des Bundesgerichtshofes entstehen allerdings auch während des Eröffnungsverfahrens neue Insolvenzforderungen. So werden zur Unternehmensfortführung neue Verbindlichkeiten begründet, ohne dass insoweit Einzelermächtigungen des Insolvenzgerichts eingeholt werden. Der Vertragspartner mag dann befriedigt oder – vielfach mittels eines sog. Treuhandkontenmodells – besichert werden. Werden dann die Voraussetzungen des Bargeschäfts nicht eingehalten, stellt sich mit Nachdruck die Frage der Anfechtbarkeit. 2. Meinungsstand Ein gefestigter Meinungsstand zur Frage der Anfechtbarkeit solcher Deckungen hat sich bislang allein zum Regeleröffnungsverfahren gebildet. Daraus werden freilich auch Folgerungen für das vorläufige Eigenverwaltungsverfahren gezogen. a) Regeleröffnungsverfahren Der Bundesgerichtshof begründet den Anfechtungsausschluss mit dem Schutz berechtigten Vertrauens.31) Das Vertrauen in die Begründung, Tilgung und Sicherung von Masseverbindlichkeiten sei immer schützenswert. Charakteristisch ist unter diesen unanfechtbaren Rechtshandlungen frei29) 30)

31)

BGH, Urt. v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, BGHZ 151, 353, 366 = ZIP 2002, 1625. Vgl. Bork, Die Erfüllung von Sachleistungsansprüchen im vorläufigen Eigenverwaltungsverfahren, ZIP 2018, 1613 ff. zu einer Fallgestaltung, die erkennbar Parallelen zur Insolvenz von Air Berlin aufweist. BGH, Urt. v. 20.2.2014 – IX ZR 164/13, Rz. 11 f., BGHZ 200, 210 = ZIP 2014, 584; BGH, Urt. v. 10.1.2013 – IX ZR 161/11, Rz. 16 ff., ZIP 2013, 528; BGH, Urt. v. 15.12.2005 – IX ZR 156/04, BGHZ 165, 283 = ZIP 2006, 431; BGH, Urt. v. 9.12.2004 – IX ZR 108/04, BGHZ 161, 315 = ZIP 2005, 314; Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 129 Rz. 43 ff.; Thole in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 129 Rz. 35 ff.

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lich die Begründung von Masseverbindlichkeiten, weil deren Deckung nach dem gerade unter 1. Gesagten ohnehin der Anfechtung entzogen ist. Diese Kompetenz, Masseverbindlichkeiten zu begründen, steht freilich nur dem starken vorläufigen Insolvenzverwalter und dem mit einer entsprechenden Einzelermächtigung ausgestattetem vorläufigen Verwalter zu. Als weiteres Argument für die Unanfechtbarkeit führt der Bundesgerichtshof dann noch an, dass die Kompetenzen dieser insoweit dann denen des Insolvenzverwalters entsprechen. Anders wertet der Bundesgerichtshof, wenn nicht Masseverbindlichkeiten, sondern Insolvenzforderungen erfüllt werden. Die Erfüllung solcher Verbindlichkeiten sei grundsätzlich anfechtbar, auch wenn der Insolvenzverwalter einer Verfügung des Schuldners zustimme. Selbst wirksame Verfügungen des vorläufigen starken und des ermächtigten schwachen Insolvenzverwalters könnten angefochten werden. Eine Ausnahme sei aber zu machen, wenn der vorläufige Insolvenzverwalter durch sein Handeln einen schutzwürdigen Vertrauenstatbestand gesetzt habe, aufgrund dessen der Leistungsempfänger nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) davon ausgehen dürfe, ein auch im Wege der Insolvenzanfechtung nicht mehr entziehbares Recht erhalten zu haben.32) Das sei insbesondere dann der Fall, wenn der vorläufige Verwalter einem Vertrag zustimme, in dem der Vertragspartner angesichts der zugesagten Leistungen auf Altverbindlichkeiten verspräche, neue Leistungen zu erbringen. Das gelte allerdings nur, wenn der Vertragspartner nicht allein aufgrund seiner wirtschaftlichen Machtstellung den vorläufigen Verwalter zu seiner Zustimmung bewogen habe. b) Vorläufige Eigenverwaltung Zur vorläufigen Eigenverwaltung fehlt es noch an Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes. In der obergerichtlichen Rechtsprechung sowie der Literatur wird eine Übertragung der Grundsätze aus dem Regeleröffnungsverfahren mehrheitlich befürwortet.33) Soweit Masseverbindlichkeiten be32) 33)

BGH, Urt. v. 10.1.2013 – IX ZR 161/11, Rz. 16 ff., ZIP 2013, 528; Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 129 Rz. 46b f. OLG Düsseldorf, Urt. v. 8.11.2018 – I-12 U 16/18, ZIP 2019, 382; Bork, ZIP 2018, 1613, 1619 f.; Frind, Die Übertragbarkeit der Grundsätze zum „anfechtungshindernden“ Vertrauen im Regelinsolvenzverfahren auf das Eigenverwaltungsverfahren, ZInsO 2019, 1292, 1296 ff.; Hofmann, Vertrauensschutz bei Anfechtungsverzicht des vorläufigen Sachwalters, NZI 2019, 287; Thole in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 129 Rz. 38; Zipperer, Wem kann der Geschäftsverkehr beim Abschluss von Rechtsgeschäften mit dem eigenverwaltenden Schuldner vertrauen?, ZIP 2019, 689 ff.

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gründet werden, soll also auch deren Deckung unanfechtbar sein. Bei der Deckung von Insolvenzforderungen soll der Vertrauenstatbestand beim Vertragspartner, insolvenzfeste Leistungen zu erhalten, vom vorläufigen Sachwalter gesetzt werden können. Ganz unumstritten ist diese Lösung aber nicht.34) Denn Handlungsbefugnisse im Außenverhältnis stehen dem vorläufigen Sachwalter im Unterschied zum vorläufigen Insolvenzverwalter nicht zu. Gleichzeitig steht der Verweis auf die Anfechtungskompetenz des Sachwalters auf tönernen Füßen. Die Ämter von vorläufigem Sachwalter und Sachwalter sind verschieden. Auch wird im Anschluss an eine vorläufige Eigenverwaltung das Verfahren nicht selten als Regelverfahren eröffnet, in dem die Anfechtung dem Insolvenzverwalter obliegt. 3. Kritik Die Begründung des Anfechtungsausschlusses mit dem Gedanken des Vertrauensschutzes weckt Bedenken, weil die das Vertrauen rechtfertigende Rechtsmacht nicht benannt wird. Jede Person kann zunächst für sich selbst Vertrauen in Anspruch nehmen. Dann richten sich die Rechtsfolgen bei Enttäuschung solchen Vertrauens aber auch gegen die Person selbst. So liegt es für den (vorläufigen) Insolvenzverwalter etwa im Falle des § 61 InsO. Dort weckt der Amtswalter das Vertrauen des Vertragspartners, dass die Masseverbindlichkeit aus der Masse bezahlt werden wird. Ist die Masse dazu tatsächlich nicht in der Lage, muss der Amtswalter dafür persönlich haften. Bei der Begründung des Anfechtungsausschlusses grenzt sich der Bundesgerichtshof allerdings deutlich von einem solchen persönlichen Vertrauen ab. Das Vertrauen knüpfe typischerweise nicht an die bestellte Person, sondern an dessen Funktion an.35) Richtet man daher den Blick auf die Funktion des vorläufigen Verwalters, überzeugt es nicht, warum der schwache vorläufige Insolvenzverwalter angesichts seiner beschränkten Amtsbefugnisse in der Lage sein sollte, den späteren Insolvenzverwalter zu binden. Das von ihm bekleidete Amt umfasst doch diese Kompetenz gerade nicht. Das räumt der Bundesgerichtshof selbst ein, wenn er die Erfüllung von Insolvenzforderungen grundsätzlich für anfechtbar hält. Zur Veranschaulichung dieses Gedankens 34) 35)

Zipperer, ZIP 2019, 689, 691. BGH, Urt. v. 9.12.2004 – IX ZR 108/04, Rz. 18, BGHZ 161, 315 = ZIP 2005, 314.

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lässt sich das Vertretungsrecht heranziehen. Dort kann sich die Vertretungsmacht einer sonst nicht zur Vertretung berechtigten Person aus der Inanspruchnahme von Vertrauen ergeben. Diesen Vertrauenstatbestand kann dann aber nicht die nicht zur Vertretung berechtigte Person, sondern nur der zu Vertretene setzen. Das Ziel des Bundesgerichtshofes geht wohl dahin, das Vertrauen in die amtlich bestellten Organe der Insolvenzverwaltung zu schützen, da sonst die Abwicklung der Insolvenzverfahren erschwert werden könnte.36) Jedoch kann der vorläufige Insolvenzverwalter durch Anordnungen des Insolvenzgerichts mit den entsprechenden Kompetenzen ausgestattet werden. Ob diese Kompetenzen vorliegen, darauf haben Rechtsverkehr und vorläufiger Verwalter zu achten. Der vom Bundesgerichtshof propagierte Vertrauensschutz führt aber dazu, dass der vorläufige Verwalter recht beliebig entscheiden kann, wem er mit einem Anfechtungsverzicht für neue Leistungen belohnen möchte und wen nicht. Damit steht diese Rechtsprechung zum Anfechtungsausschluss in einem deutlichen Gegensatz zur oben unter III. 1. b) bereits behandelten Rechtsprechung desselben Senats zur Einzelermächtigung. Denn wie dort bereits erwähnt, soll es gerade nicht ins Belieben des vorläufigen Verwalters gestellt werden können, wem gegenüber er Masseverbindlichkeiten begründet. Der Bundesgerichtshof weist die Bestimmung der Kompetenzen dem Insolvenzgericht zu. Wegweisend und zutreffend ist daher auch die dortige Aussage des Senats, dass „sich nur an solchen Einzelanordnungen ein Vertrauen der Geschäftspartner ausrichten kann“.37) Diese Aussage muss auch für den Anfechtungsausschluss gelten. 4. Eigener Begründungsansatz Nach alledem besteht die maßgebliche Weichenstellung darin, welche Kompetenzen das Insolvenzgericht einem vorläufigen Insolvenzverwalter (oder eigenverwaltenden Schuldner) verleihen muss, dass dieser insolvenzfeste Rechtsgeschäfte abschließen kann. Als eine solche Kompetenz genügt nicht die bloße Befugnis, eine bestimmte Leistung mit Verfügungsbefugnis vornehmen zu können. Denn die Verfügungsbefugnis allein ist neutral, enthält keinen Anfechtungsschutz, weil 36) 37)

BGH, Urt. v. 13.3.2003 – IX ZR 64/02, BGHZ 154, 190, 193 = ZIP 2003, 810. BGH, Urt. v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, BGHZ 151, 353, 360 = ZIP 2002, 1625.

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sie nicht erklären kann, welche Verfügung anfechtungsfest, welche anfechtbar sein soll. Selbst Verfügungen des Insolvenzverwalters können der Rückabwicklung unterliegen. Zwar kann wegen § 129 InsO die Insolvenzanfechtung nicht greifen, die Rückabwicklung der Deckung einer Insolvenzforderung kommt aber über das Institut des Verteilungsfehlers in Betracht.38) Die maßgebliche Kompetenz besteht vielmehr darin, Masseverbindlichkeiten begründen zu können. So können nämlich Verpflichtungen geschaffen werden, die auch den Insolvenzverwalter treffen und deren Deckung mangels Beeinträchtigung der Insolvenzgläubiger unanfechtbar ist. Man könnte allenfalls erwägen, den Abschluss des die Masseverbindlichkeit begründenden Rechtsgeschäfts selbst nach § 132, § 133 oder § 134 InsO anzufechten. Dem steht aber, wie es ja auch der oben unter IV. 2. a) referierte Bundesgerichtshof sagt, aus Wertungsgründen die Gleichstellung der Kompetenzen von vorläufigem Insolvenzverwalter und Insolvenzverwalter entgegen. Keinen Unterschied macht es indessen, ob der vorläufige Verwalter bzw. eigenverwaltende Schuldner generell Masseverbindlichkeiten begründen kann oder nur aufgrund einer Einzelermächtigung. Entscheidend ist jeweils, ob für das abgeschlossene Rechtsgeschäft eine Kompetenz zur Begründung von Masseverbindlichkeiten besteht. a) Ermächtigung zur Begründung von Masseverbindlichkeiten Können vorläufiger Insolvenzverwalter oder eigenverwaltender Schuldner Masseverbindlichkeiten begründen, vermögen sie dies nicht nur durch Abschluss von Neuverträgen, sondern auch durch Änderung von Altverträgen. Unter dieser Voraussetzung entstehen also etwa Masseverbindlichkeiten auch dann, wenn der vorläufige Verwalter sich verpflichtet, für eine Neulieferung auch Altverbindlichkeiten zu bezahlen. Erfüllt er später noch diese Masseverbindlichkeit, ist diese Leistung der Anfechtung entzogen. Schwieriger liegt es, wenn der vorläufige Verwalter zwar Masseverbindlichkeiten begründen kann, dies aber nicht tut, sondern Insolvenzforderungen als solche tilgt, ohne sie vorher rechtsgeschäftlich zur Massever-

38)

Mikolajczak, Die Haftung des Gesellschafters für doppelbesicherte Drittdarlehen – Was folgt aus dem Nachrang des Freistellungsanspruchs?, ZIP 2011, 1285, 1291; Wegener in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 187 Rz. 20 f.

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bindlichkeit aufzuwerten. Dann kommt die Insolvenzanfechtung grundsätzlich in Betracht, wie auch Verteilungsfehler des Insolvenzverwalters nach dem Gesagten grundsätzlich rückabzuwickeln sind. Es kann im Ausnahmefall allerdings beim Leistungsempfänger ein berechtigtes Vertrauen begründet worden sein, dass er die Leistung behalten darf. Insoweit lassen sich die in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze heranziehen. Es ist bloß im Unterschied zu dieser zu berücksichtigen, dass der Vertrauensschutz nur greifen kann, wenn der vorläufige Verwalter über die Rechtsmacht verfügt, Masseverbindlichkeiten zu begründen. Wie eingangs unter IV. bereits angerissen, ist in allen diesen Fällen die Masse nicht schutzlos. Zwar scheidet eine Insolvenzanfechtung aus, die Rechtsgeschäfte des vorläufigen Insolvenzverwalters sind aber unwirksam, wenn diese erkennbar insolvenzzweckwidrig sind. b) Folgen bei Handeln ohne Massebegründungskompetenz Kann der vorläufige Insolvenzverwalter oder eigenverwaltende Schuldner Masseverbindlichkeiten nicht begründen, scheidet ein grundsätzlicher Anfechtungsausschluss aus. Folglich sind die Voraussetzungen der Anfechtung im Einzelfall zu prüfen. Diese können ganz vielgestaltige Probleme aufwerfen.39) Aus der neuen Rechtsprechung ist daran zu erinnern, dass die Erbringung einer Sachleistung nur dann gläubigerbenachteiligend ist, wenn eine wirtschaftliche Nutzung des Gegenstands zum Vorteil der Gläubiger rechtlich und tatsächlich möglich war.40) Sonst kommt ein Ausschluss der Anfechtung meist nur unter den Voraussetzungen eines Bargeschäfts in Betracht. Insoweit ist zu bedenken, dass der Leistungsaustausch wie vereinbart erfolgen muss. Besteht etwa kein Anspruch auf eine bestimmte Sicherheit, ist diese inkongruent, was nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ein Bargeschäft ausschließt.41) Vielfach wird die Besicherung über ein Doppeltreuhandkonto so unbestimmt vereinbart, dass man an den Voraussetzungen einer kongruenten Deckung und damit an denen eines Bargeschäfts zweifeln muss.

39) 40) 41)

Vgl. Bork, ZIP 2018, 1613, 1617 ff., zu typischen Problem der Anfechtung von Handlungen aus dem Eröffnungsverfahren. BGH, Urt. v. 15.11.2018 – IX ZR 229/17, Rz. 20, ZIP 2019, 233; BGH, Urt. v. 19.7.2018 – IX ZR 307/16, Rz. 16, ZIP 2018, 1601. BGH, Urt. v. 30.9.1993 – IX ZR 227/92, BGHZ 123, 320, 324 = ZIP 1993, 1653.

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Ist eine Zuwendung daher anfechtbar, wird das Vertrauen des Vertragspartners vielfach enttäuscht sein. Das wird insbesondere dann gelten, wenn der vorläufige Insolvenzverwalter oder der Geschäftsführer des eigenverwaltenden Schuldners ihm „Insolvenzfestigkeit“ zugesichert haben. Dann scheidet aber ein Vertrauensschutz zulasten der Masse aus, weil es der das Vertrauen in Anspruch nehmenden Person an der Kompetenz fehlte, insolvenzfeste Dispositionen zu treffen. In Betracht kommt allerdings, dass diese Person eine persönliche Haftung wie in den Fällen des § 311 Abs. 3, § 179 BGB trifft, diese also mit ihrem Privatvermögen einstehen muss. V. Ergebnisse 1.

Die unterschiedlichen Arten der Eigenverwaltung sind entsprechend § 270a InsO nach der Verteilung der Verfügungsbefugnis zu systematisieren.

2.

Dem vorläufigen Insolvenzverwalter wird dadurch, dass er die Kompetenz erhält, Masseverbindlichkeiten zu begründen, eine spezifische Rechtsmacht eingeräumt, die sonst nur dem Insolvenzverwalter zusteht.

3.

Wird dem vorläufigen Insolvenzverwalter diese Kompetenz im Wege von Einzelermächtigungen eingeräumt, findet eine Selektion statt, welche Gläubiger im Eröffnungsverfahren Insolvenzforderungen und welche Masseverbindlichkeiten erlangen. Die Aufgabe, diese Selektion vorzunehmen, hat der Bundesgerichtshof dem Insolvenzgericht zugewiesen.

4.

In der vorläufigen Eigenverwaltung geltend grundsätzlich über den Verweis des § 270 Abs. 1 Satz 2 InsO entsprechende Rechtsfolgen.

5.

Der verunglückte § 55 Abs. 4 InsO enthält eine unsystematische Privilegierung von Steuerforderungen, die allerdings auf das Regeleröffnungsverfahren beschränkt ist.

6.

Im Eröffnungsverfahren kann der vorläufige Insolvenzverwalter bzw. der eigenverwaltende Schuldner zwar nicht das Wahlrecht aus § 103 InsO wahrnehmen, er kann aber durch Änderungsvertrag mit dem Vertragspartner entsprechende Wirkungen herbeiführen, wenn er insoweit ermächtigt ist, Masseverbindlichkeiten zu begründen.

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7.

Inwieweit Deckungen im Eröffnungsverfahren der Anfechtung unterliegen können, macht der Bundesgerichtshof maßgeblich davon abhängig, ob der vorläufige Insolvenzverwalter einen Vertrauenstatbestand erzeugt hat. Diese Rechtsprechung überzeugt nicht, soweit sie nicht beantwortet, woher die Rechtsmacht des (schwachen) vorläufigen Insolvenzverwalters stammt, solches Vertrauen zu erzeugen.

8.

Tatsächlich kann allein ein vorläufiger Insolvenzverwalter bzw. eigenverwaltender Schuldner insoweit anfechtungsfest Verbindlichkeiten decken, als er die Befugnis hat, diese Verbindlichkeit zu einer Masseverbindlichkeit aufzuwerten.

Der Ertragsteueranspruch als Insolvenzforderung im Wandel der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes GÜNTER KAHLERT Inhaltsübersicht I.

II.

Einleitung 1. Erfassung von Steuerforderungen durch das Gesamtvollstreckungsverfahren 2. Schuldner bleibt im Gesamtvollstreckungsverfahren Steuersubjekt 3. Die Aufteilung des Ertragsteueranspruchs in die insolvenzrechtlichen Forderungskategorien Entwicklungslinien der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes 1. IV. Senat des Bundesfinanzhofes in 1984: Maßgeblichkeit der insolvenzrechtlichen Wertungen 2. IV. Senat des Bundesfinanzhofes in 2013: Änderung der Rechtsprechung – Maßgeblichkeit der steuerrechtlichen Wertungen

3. X. Senat des Bundesfinanzhofes in 2008: Maßgeblichkeit der insolvenzrechtlichen Wertungen 4. X. Senat des Bundesfinanzhofes in 2014: Maßgeblichkeit der steuerrechtlichen Wertungen 5. VIII. Senat des Bundesfinanzhofes in 2015: Maßgeblichkeit der steuerrechtlichen Wertungen 6. III. Senat des Bundesfinanzhofes in 2018: Maßgeblichkeit der steuerrechtlichen Wertungen 7. XI. Senat des Bundesfinanzhofes in 2018: Maßgeblichkeit der steuerrechtlichen Wertungen III. Kritik IV. Fazit

Bei der insolvenzrechtlichen Qualifikation eines Ertragsteueranspruchs als Insolvenzforderung i. S. des § 38 InsO spielen die insolvenzrechtlichen Wertungen nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes keine wesentliche Rolle mehr. Vielmehr sind steuerrechtliche Grundsätze maßgeblich. Dies gibt Anlass, die Frage zu untersuchen, ob die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes – wie er meint – mit der Rechtsprechung des IX. Zivilsenats des Bundesgerichtshofes im Einklang steht. I. Einleitung 1. Erfassung von Steuerforderungen durch das Gesamtvollstreckungsverfahren Dass Steuerforderungen von der KO erfasst waren und von der InsO erfasst sind, ist allgemein anerkannt. Für die KO ergab sich dies bereits daraus, dass Steuerforderungen im Rang einer Konkursforderung i. S. des § 3 Abs. 1

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Günter Kahlert

KO im Konkursverfahren nach § 61 Abs. 1 Nr. 2 KO ein Privileg zustand. § 3 Abs. 1 KO hatte den folgenden Wortlaut:1) „(1) Die Konkursmasse dient zur gemeinschaftlichen Befriedigung aller persönlichen Gläubiger, welche einen zur Zeit der Eröffnung des Verfahrens begründeten Vermögensanspruch an den Gemeinschuldner haben (Konkursgläubiger).“

§ 61 Abs. 1 Nr. 2 KO lautete wie folgt:2) „(1) Die Konkursforderungen werden nach folgender Rangordnung berichtigt: (…) 2. die Forderungen der Reichskasse, der Staatskassen und der Gemeinden sowie der Amts-, Kreis- und Provinzialverbände wegen öffentlicher Abgaben, welche im letzten Jahre vor der Eröffnung des Verfahrens fällig geworden sind oder nach § 65 als fällig gelten; es macht hierbei keinen Unterschied, ob der Steuererheber die Abgabe bereits vorschußweise zur Kasse entrichtet hat;“

Seit dem Inkrafttreten der InsO am 1. Januar 1999 ergibt sich die Einbeziehung von Steuerforderungen in das Gesamtvollstreckungsverfahren aus dem in § 1 Satz 1 InsO verankerten Gläubigergleichbehandlungsgrundsatz und der damit verbundenen ersatzlosen Aufhebung des vormals in § 61 Abs. 1 Nr. 2 KO geregelten Fiskusprivilegs.3) Zudem regelt § 251 Abs. 1 Satz 2 AO: „Unberührt bleiben die Vorschriften der Insolvenzordnung (…)“

Danach richtet sich auch die Befriedigung einer Steuerforderung im Insolvenzverfahren nach dem insolvenzrechtlichen Rang als Insolvenzforderung (§ 38 InsO), als Masseverbindlichkeit (§ 55 InsO) oder als Forderung gegen das insolvenzfreie Vermögen. Da die Insolvenzquote bei Unternehmensinsolvenzen durchschnittlich unter 5 % liegt4) und freigegebenes Vermögen regelmäßig nicht vorhanden ist, ist es für den Fiskus wirtschaftlich vorteilhafter, wenn seine Steuerforderung als Masseverbindlichkeit zu qualifizieren ist. Dafür ist Voraussetzung, dass der Steuerforderung nicht der Rang einer Insolvenzforderung i. S. des § 38 InsO zukommt. Nur in diesem Fall kommt es in Betracht, die Steuerforderung im Rang einer Masseverbindlichkeit i. S. des § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO zu qualifizieren. Nach § 38 InsO gilt: „Die Insolvenzmasse dient zur Befriedigung der persönlichen Gläubiger, die einen zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründeten Vermögensanspruch gegen den Schuldner haben (Insolvenzgläubiger).“

1) 2) 3)

4)

§ 3 Abs. 1 KO i. d. F. der Bekanntmachung v. 20.5.1898, RGBl. 1898, S. 612. § 61 Abs. 1 Nr. 2 KO i. d. F. der Bekanntmachung v. 20.5.1898, RGBl. 1898, S. 612. Dazu Piekenbrock, Steuerforderungen in grenzüberschreitenden Insolvenzverfahren, EWS 2016, 181, 182 ff., auch zur Gesetzgebungskompetenz des Deutschen Reichs bzw. des Bundes zur Beteiligung von Steuerforderungen im Konkursverfahren bzw. im Insolvenzverfahren. Dazu https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2018/03/PD18_113_ 52431.html (Abrufdatum: 17.7.2019).

Der Ertragsteueranspruch als Insolvenzforderung im Wandel der Rechtsprechung 407

§ 38 InsO enthält – wie § 3 Abs. 1 KO5) – keine besonderen Regelungen für Steueransprüche. Danach ist auch der Steuergläubiger als Insolvenzgläubiger zu beurteilen, wenn sein Steueranspruch zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens in einer Beziehung zur Insolvenzmasse steht, die es rechtfertigt, diesen Anspruch (nur) aus der Insolvenzmasse als Haftungsmasse zu befriedigen. In diesem Fall kann der Steuergläubiger seinen Anspruch (nur) durch Anmeldung zur Insolvenztabelle (§§ 174 ff. InsO) und Befriedigung durch Teilnahme an der Verteilung der Insolvenzmasse i. H. seiner Insolvenzquote (§§ 187 ff. InsO) geltend machen. § 38 InsO regelt zwar nicht, wie die Beziehung zwischen dem Anspruch des Gläubigers zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens und der Insolvenzmasse zu diesem Zeitpunkt konkret beschaffen sein muss, damit der Anspruch als Insolvenzforderung zu qualifizieren ist. Allerdings ist den insolvenzrechtlichen Regelungen für betagte (§ 41 InsO), auflösend bedingte (§ 42 InsO) und aufschiebend bedingte (§ 191 InsO) Forderungen zu entnehmen, dass es weder auf die Fälligkeit noch auf das Entstehen der Forderung ankommen kann.6) 2. Schuldner bleibt im Gesamtvollstreckungsverfahren Steuersubjekt Mit Urteil vom 22. Juni 1938 hatte der VI. Senat des Reichsfinanzhofes seine bisherige Rechtsprechung geändert und entschieden, dass der Schuldner im Konkursverfahren Steuersubjekt bleibt.7) An diese grundlegende Rechtsprechung des Reichsfinanzhofes knüpft der Bundesfinanzhof bis heute an.8) Der Reichsfinanzhof hat seine Rechtsprechungsänderung wie folgt begründet: „Der Senat glaubt an dieser durch das bürgerliche Recht nicht bedingten, überwiegend wohl aus Gründen der Vereinfachung des steuerlichen Verfahrens gebilligten Trennung des Gemeinschuldners und der Konkursmasse in zwei verschiedene Steuersubjekte nicht mehr festhalten zu können. Wenn auch der Gemeinschuldner mit der Eröffnung des Konkursverfahrens das Verwaltungs- und Verfügungsrecht an den zur Konkursmasse gehörenden Gegenständen verliert, so bleibt er doch durch die Hand5)

6) 7) 8)

Der in § 3 Abs. 1 KO verwendete Begriff des zur Zeit der Eröffnung des Verfahrens „begründeten Vermögensanspruchs“ findet sich in gleicher Weise in § 38 InsO und nach allgemeiner Meinung hat § 38 InsO keine Veränderung in der Auslegung dieses Begriffs bewirkt. Dazu BFH, Urt. v. 16.11.2004 – VII R 75/03, II. 2., BStBl. II 2006, 193 = ZIP 2005, 628 m. w. N. Onusseit in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, 8/2018, InsSteuerR F. Rz. 178. RFH, Urt. v. 22.6.1938 – VI 687/37, RFHE 44, 162. Siehe nur BFH, Urt. v. 16.5.2013 – IV R 23/11, Rz. 22, BStBl. II 2013, 759 = ZIP 2013, 1481 (Einkommensteuer) und BFH, Urt. v. 21.10.2015 – XI R 28/14, Rz. 33, BFH/NV 2016, 873 = ZIP 2016, 731 (Umsatzsteuer).

408

Günter Kahlert lungen des Konkursverwalters auch steuerlich berechtigt und verpflichtet, mag man nun den Konkursverwalter als Treuhänder oder Stellvertreter des Gemeinschuldners auffassen. Träger der Einkünfte bleibt der Gemeinschuldner, dem die Masse gehört.“

3. Die Aufteilung des Ertragsteueranspruchs in die insolvenzrechtlichen Forderungskategorien Steueransprüche haben im Vergleich mit rechtsgeschäftlich begründeten Ansprüchen in mehrfacher Hinsicht eine besondere Struktur: –

Nach § 38 AO entstehen die Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 Abs. 1 AO), insbesondere der Steueranspruch, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft. Der Steueranspruch knüpft somit (nur) an den rechtsgeschäftlich begründeten Anspruch an.



Der Fiskus kann nicht allein deshalb die Erfüllung eines Steueranspruchs verlangen kann, weil er materiell-rechtlich entstanden ist. Vielmehr erfordert die Durchsetzung eines Steueranspruchs nach § 218 Abs. 1 AO seine (formelle) Festsetzung durch Steuerbescheid.



Der Ertragsteueranspruch entsteht grundsätzlich erst mit Ablauf des Jahres (§ 36 Abs. 1 EStG, § 30 Nr. 3 KStG) und wird regelmäßig erst mit seiner Festsetzung durch Steuerbescheid fällig (§ 220 Abs. 1 AO, § 36 Abs. 4 Satz 1 EStG, § 31 Abs. 1 Satz 1 KStG).



Die einzelnen im Jahr erzielten Einkünfte gemäß § 2 Abs. 1 EStG bilden sog. unselbständige Besteuerungsgrundlagen, die gemäß § 157 Abs. 2 AO nicht selbständig anfechtbar sind.9)

Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes ist die für das gesamte Jahr einheitlich zu ermittelnde Ertragsteuer den insolvenzrechtlichen Forderungskategorien zuzuordnen und entsprechend aufzuteilen.10) Insoweit berücksichtigt die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes die dargestellten insolvenzrechtlichen Wertungen, wonach es weder auf das Entstehen noch auf die Fälligkeit der Forderung ankommen kann: –

Die anteilige Ertragsteuer im Rang der Insolvenzforderung darf nicht durch Steuerbescheid festgesetzt werden, sondern ist zur Insolvenztabelle anzumelden.

9) 10)

Dazu Seer in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 21 Rz. 117. BFH, Urt. v. 10.2.2015 – IX R 23/14, Rz. 35, BStBl. II 2017, 367 = ZIP 2015, 1503 (betreffend Einkommensteuer).

Der Ertragsteueranspruch als Insolvenzforderung im Wandel der Rechtsprechung 409



Die anteilige Ertragsteuer im Rang der Masseverbindlichkeit darf gegen den Insolvenzverwalter oder den eigenverwaltenden Schuldner festsetzt werden und ist vorrangig (§ 53 InsO) aus der Insolvenzmasse zu berichtigen.



Die anteilige Ertragsteuer im Rang einer Forderung gegen das insolvenzfreie Vermögen darf zwar gegen den Schuldner festgesetzt werden, ist aber nur aus dem insolvenzfreien Vermögen zu bedienen.

Allerdings nimmt der Bundesfinanzhof die Zuordnung und Aufteilung der Ertragsteuer in die insolvenzrechtlichen Forderungskategorien – wie sich aus den nachstehenden Ausführungen ergeben wird – nicht nach insolvenzrechtlichen Wertungen, sondern nach steuerrechtlichen Wertungen vor. Denn nach dem Bundesfinanzhof ist für diese Zuordnung und Aufteilung der Zeitpunkt der vollständigen materiell-rechtlichen Verwirklichung des einzelnen Besteuerungstatbestandes, also die vollständige materiell-rechtliche Verwirklichung der Einkünfte gemäß § 2 Abs. 1 EStG, maßgeblich. Umstände außerhalb des konkreten Besteuerungstatbestandes sollen keinen Einfluss auf die Einordnung in die insolvenzrechtlichen Forderungskategorien haben. II. Entwicklungslinien der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes 1. IV. Senat des Bundesfinanzhofes in 1984: Maßgeblichkeit der insolvenzrechtlichen Wertungen Dem Urteil des IV. Senats des Bundesfinanzhofes vom 29. März 198411) lag ein Sachverhalt zugrunde, in dem der Insolvenzverwalter ein mit Grundpfandrechten wertausschöpfend belastetes Grundstück des Insolvenzschuldners (natürliche Person) veräußert und den Kaufpreis an die Grundpfandgläubiger ausgekehrt hatte. Er hatte zu entscheiden, ob die auf der Veräußerung des Grundstücks beruhende Einkommensteuerforderung als Konkursforderung i. S. des § 3 Abs. 1 KO zu qualifizieren ist. Der IV. Senat des Bundesfinanzhofes hat unter Bezugnahme auf die insolvenzrechtliche Literatur zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen gemacht, dass eine Forderung als vor der Konkurseröffnung begründet anzusehen sei, wenn der Rechtsgrund für ihre Entstehung zu diesem Zeitpunkt bereits gelegt war. Die Einkommensteuerschuld entstehe zwar gemäß § 36 11)

BFH, Urt. v. 29.3.1984 – IV R 271/83, BStBl. II 1984, 602 = ZIP 1984, 1127.

410

Günter Kahlert

Abs. 1 EStG am Ende des Veranlagungszeitraums, sie werde aber i. S. des § 3 Abs. 1 KO dadurch begründet, dass im Laufe des Veranlagungszeitraums die einzelnen, für die Höhe des Jahreseinkommens maßgebenden Besteuerungsmerkmale erfüllt würden. Für die konkursrechtliche Betrachtung sei danach entscheidend, ob die Besteuerungsmerkmale, insbesondere die Einkünfte des § 2 Abs. 1 EStG, vor oder nach Konkurseröffnung verwirklicht würden. Auf dieser Grundlage hat der IV. Senat des Bundesfinanzhofes entgegen Meinungen in der Literatur und im Anschluss an die bisherige Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes die Ansicht vertreten, das Halten von stillen Reserven erfülle noch kein Besteuerungsmerkmal. Deshalb hat er die auf der Veräußerung des Grundstücks beruhende Einkommensteuer nicht als Konkursforderung i. S. des § 3 Abs. 1 KO beurteilt, weil sie auf stillen Reserven beruhe, die sich vor Eröffnung des Konkursverfahrens gebildet hatten. Allerdings hat der IV. Senat des Bundesfinanzhofes die Besonderheiten des Konkursverfahrens berücksichtigt und ist auf diese Weise zu dem Ergebnis gelangt, dass die Einkommensteuerforderung insoweit als Konkursforderung zu qualifizieren sei. Er hat zum einen argumentiert, dass die Einkommensteuerforderung in dem Fall, in dem der Grundpfandgläubiger die Zwangsversteigerung betrieben hätte, nicht als Konkursforderung zu beurteilen gewesen wäre. Zum anderen sei das Einkommen des Steuerpflichtigen nicht nur die Bemessungsgrundlage, sondern auch das Steuerobjekt. Die Einkommensteuer könne deshalb nur insoweit den Rang einer Konkursforderung erlangen, wie das Einkommen zur Konkursmasse gelangt sei. 2. IV. Senat des Bundesfinanzhofes in 2013: Änderung der Rechtsprechung – Maßgeblichkeit der steuerrechtlichen Wertungen Der IV. Senat des Bundesfinanzhofes hatte in seinem Urteil vom 16. Mai 201312) erneut über einen Sachverhalt zu befinden, in dem der Insolvenzverwalter ein mit Grundpfandrechten wertausschöpfend belastetes Grundstück des Insolvenzschuldners (natürliche Person) veräußert und den Kaufpreis an die Grundpfandgläubiger ausgekehrt hatte. Er hat seine vorstehend unter II. 1. dargestellte Rechtsprechung geändert und die Ansicht vertreten, ein auf der Veräußerung des Grundstücks beruhender Einkommensteueranspruch sei nur dann als Insolvenzforderung zu qualifizieren, wenn 12)

BFH, Urt. v. 16.5.2013 – IV R 23/11, BStBl. II 2013, 759 = ZIP 2013, 1481.

Der Ertragsteueranspruch als Insolvenzforderung im Wandel der Rechtsprechung 411

der (unselbständige) Besteuerungstatbestand – die einzelnen Einkünfte nach § 2 Abs. 1 EStG – materiell-rechtlich vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens vollständig verwirklicht worden ist. Hierfür seien allein steuerrechtliche Grundsätze maßgeblich. § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO sei in einer seiner beiden Alternativen erfüllt, wenn der Insolvenzverwalter nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens den Besteuerungstatbestand auslöse, weil es auf die Realisationshandlung nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens ankomme. Das gelte auch im Fall der Aufdeckung stiller Reserven und im Fall, in dem der (tatsächlich) zur Masse gelangte Verwertungserlös nicht ausreicht, um die aus der Verwertungshandlung resultierende Einkommensteuerforderung zu befriedigen. Der IV. Senat des Bundesfinanzhofes hat die Ansicht vertreten, seine geänderte Rechtsprechung würde der allgemeinen insolvenzrechtlichen Meinung entsprechen und er hat dies wie folgt begründet:13) „Trennlinie zwischen sonstigen Masseverbindlichkeiten und Insolvenzforderungen ist, ob der Rechtsgrund der Entstehung der Forderung im Augenblick der Verfahrenseröffnung bereits gelegt war. Das ist dann der Fall, wenn der anspruchsbegründende Tatbestand vor der Verfahrenseröffnung materiell-rechtlich abgeschlossen war (MünchKommInsO/ Ehricke, Bd. 1, 2. Aufl., § 38 Rz. 16 m. w. N.). Für die Zwecke der Besteuerung können keine anderen Kriterien gelten.“

Diese Meinung überrascht. Im Einzelnen: Der IV. Senat des Bundesfinanzhofes zitiert die herangezogene insolvenzrechtliche Literaturmeinung14) nur unvollständig. Es heißt dort vollständig: „Trennlinie zwischen den Forderungen, die als Masseverbindlichkeiten vorweg zu befriedigen sind, und Insolvenzforderungen ist nunmehr, ob der Rechtsgrund der Entstehung der Forderung im Augenblick vor Verfahrenseröffnung bereits gelegt war. Das ist der Fall, wenn der anspruchsbegründende Tatbestand vor der Verfahrenseröffnung materiell-rechtlich abgeschlossen war. Es braucht weder die Forderung selbst entstanden zu sein, noch ist die Fälligkeit erforderlich; notwendig ist nur, dass der „Schuldrechtsorganismus“, der die Grundlage des Anspruchs darstellt, besteht.“ (Hervorhebung durch d. Verf.)

Aus der vom IV. Senat des Bundesfinanzhofes herangezogenen Literaturmeinung selbst und auch aus dem dort zitierten Beschluss des IX. Zivilsenats des Bundesgerichtshofes vom 2. September 201115) ergibt sich zwar, dass eine Insolvenzforderung i. S. des § 38 InsO nach der Rechtsprechung des IX. Zivilsenats des Bundesgerichtshofes vorliegt, wenn der anspruchsbegründende Tatbestand schon vor Verfahrenseröffnung abgeschlossen ist, 13) 14) 15)

BFH, Urt. v. 16.5.2013 – IV R 23/11, Rz. 25, BStBl. II 2013, 759 = ZIP 2013, 1481. Ehricke in: MünchKomm-InsO, 2. Aufl. 2007, § 38 Rz. 16. BGH, Beschl. v. 22.9.2011 – IX ZB 121/11, NZI 2011, 408.

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mag sich eine Forderung des Gläubigers daraus auch erst nach Beginn des Insolvenzverfahrens ergeben. Allerdings muss nur die schuldrechtliche Grundlage des Anspruchs schon vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden sein und unerheblich ist, ob die Forderung selbst schon entstanden oder fällig ist. Entgegen der Ansicht des IV. Senats des Bundesfinanzhofes kommt es nach der Rechtsprechung des IX. Zivilsenats des Bundesgerichtshofes somit nicht darauf an, ob „der anspruchsbegründende Tatbestand vor der Verfahrenseröffnung materiell-rechtlich abgeschlossen war.“ Zudem hat der IV. Senats des Bundesfinanzhofes einen Beschluss des X. Senats des Bundesfinanzhofes vom 1. April 2008 nicht berücksichtigt, den der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes in seinem Beschluss vom 22. September 2011 zitiert hat. Dazu sogleich nachstehend unter II. 3. 3. X. Senat des Bundesfinanzhofes in 2008: Maßgeblichkeit der insolvenzrechtlichen Wertungen Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat in seinem Beschluss vom 22. September 2011 auf einen Beschluss des X. Senats des Bundesfinanzhofes vom 1. April 2008 Bezug genommen, in dem sich der X. Senat des Bundesfinanzhofes der Rechtsprechung des IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes angeschlossen hatte. Er hat in seinem Beschluss vom 22. September 2011 ausgeführt:16) „Entsprechend geht auch der Bundesfinanzhof davon aus, dass für die Frage, ob Steuerforderungen Insolvenzforderungen sind, entscheidend ist, ob die Hauptforderung ihrem Kern nach bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden ist. Auf die Frage, ob der Anspruch zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens im steuerrechtlichen Sinne entstanden ist, kommt es dagegen nicht an (BFH ZIP 2008, 1780 Rz. 17).“

In dem vom IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes herangezogenen Beschluss des X. Senats des Bundesfinanzhofes vom 1. April 200817) hatte der X. Senat des Bundesfinanzhofes darüber zu befinden, ob eine bei EinnahmeÜberschussrechnung durch die Rückgewähr von Zahlungen nach Insolvenzanfechtung ausgelöste Einkommensteuerforderung als Insolvenzforderung zu qualifizieren ist. Der X. Senat des Bundesfinanzhofes hat diese Frage bejaht. Er hat dies damit begründet, dass bereits die Anfechtbarkeit einer Rechtshandlung vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens den Rückgewähranspruch i. S. des § 38 InsO begründe. Denn bereits in diesem Zeit-

16) 17)

BGH, Beschl. v. 22.9.2011 – IX ZB 121/11, NZI 2011, 408. BFH, Beschl. v. 1.4.2008 – X B 201/07, BFH/NV 2008, 925 = ZIP 2008, 1780.

Der Ertragsteueranspruch als Insolvenzforderung im Wandel der Rechtsprechung 413

punkt sei nach insolvenzrechtlichen Grundsätzen der Rechtsgrund für den Steueranspruch gelegt, weil der Rückgewähranspruch lediglich aufschiebend bedingt abhängig von der Einkünfteerzielung in Gestalt der insolvenzrechtlichen Rückgewähr sei. Diese Rechtsprechung hat der III. Senat des Bundesfinanzhofes in 2018 (dazu nachstehend unter II. 6.) nicht fortgeführt. 4. X. Senat des Bundesfinanzhofes in 2014: Maßgeblichkeit der steuerrechtlichen Wertungen Der X. Senat des Bundesfinanzhofes hatte seinem Urteil vom 9. Dezember 201418) über einen Fall zu befinden, in dem Einrichtungsgegenstände des Insolvenzschuldners (natürliche Person) im vorläufigen Insolvenzverfahren veräußert worden waren und der Kaufpreis durch den Käufer nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens gezahlt worden war. Ohne irgendeinen Hinweis auf seinen gegenteiligen Beschluss vom 1. April 200819) (dazu vorstehend unter II. 3.) hat sich der X. Senat des Bundesfinanzhofes dem Urteil des IV. Senats des Bundesfinanzhofes vom 16. Mai 201320) (dazu vorstehend unter II. 2.) angeschlossen, wonach ein Einkommensteueranspruch nur dann als Insolvenzforderung zu qualifizieren sei, wenn der (unselbständige) Besteuerungstatbestand – die einzelnen Einkünfte nach § 2 Abs. 1 EStG – materiell-rechtlich vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens vollständig verwirklicht worden ist. Sodann hat der X. Senat des Bundesfinanzhofes die Rechtsprechung des IV. Senats des Bundesfinanzhofes ergänzt, indem er die Ansicht vertreten hat, dass bei einer Einkommensteuer auch die Art der Gewinnermittlung entscheidend sei: Werde der Gewinn durch Betriebsvermögensvergleich nach § 4 Abs. 1 EStG, ggf. i. V. m. § 5 EStG ermittelt, so gelte das Realisationsprinzip nach § 252 Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 2 HGB. Im Falle der EinnahmeÜberschussrechnung gemäß § 4 Abs. 3 EStG sei das Zuflussprinzip nach § 11 Abs. 1 Satz 1 EStG maßgeblich. Habe bei Einnahme-Überschussrechnung eine Betriebsaufgabe stattgefunden, so sei ab diesem Zeitpunkt der Gewinn nach den Grundsätzen des Betriebsvermögensvergleichs zu ermitteln. Sei in diesem Fall die Betriebsaufgabe vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfolgt, so komme es für die insolvenzrechtliche Qualifi18) 19) 20)

BFH, Urt. v. 9.12.2014 – X R 12/12, BStBl. II 2016, 852 = ZIP 2015, 1035. BFH, Beschl. v. 1.4.2008 – X B 201/07, BFH/NV 2008, 925 = ZIP 2008, 1780. BFH, Urt. v. 16.5.2013 – IV R 23/11, BStBl. II 2013, 759 = ZIP 2013, 1481.

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zierung der Einkommensteuerforderung nicht auf den Zufluss des Kaufpreises nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens an. In einem späteren Beschluss vom 18. Dezember 201421) betreffend die Einkünfte aus der Beteiligung an einer Personengesellschaft hat der X. Senat des Bundesfinanzhofes seine Ansicht mit einem Hinweis auf ein Urteil des IX. Senats des Bundesfinanzhofes vom 29. August 200722) betreffend die KFZ-Steuer begründet. Der IX. Senat des Bundesfinanzhofes hat zur KFZ-Steuer hervorgehoben, dass die InsO i. R. der Durchsetzung einer Steuerforderung Vorrang habe, nicht aber hinsichtlich der materiell-rechtlichen Entstehung eines Steueranspruchs. Er hat auf dieser Grundlage die Meinung vertreten, der Rechtsgrund, auf den es für die Qualifizierung eines Steueranspruchs als Insolvenzforderung ankomme, sei materiell-rechtlich zu bestimmen, und zwar nach den Grundsätzen des Steuerrechts. Der IX. Senat des Bundesfinanzhofes hat wie folgt formuliert: „Allein nach Steuerrecht richtet sich aber, wann die Steuer (als Rechtsgrund i. S. der Insolvenzordnung) entsteht: Entsteht sie nach Verfahrenseröffnung, so ist die Steuerverbindlichkeit Masseverbindlichkeit. (…).“

Der V. Senat des Bundesfinanzhofes hat zur Begründung seiner Rechtsprechung der Umsatzbesteuerung in der Insolvenz in seinem Urteil vom 29. Januar 200923) ebenfalls auf die vorstehend dargestellte Entscheidung des IX. Senats des Bundesfinanzhofes vom 29. August 200724) zur KFZSteuer Bezug genommen. Seitdem beurteilt der V. Senat des Bundesfinanzhofes einen Umsatzsteueranspruch als Insolvenzforderung, wenn der materiell-rechtliche Besteuerungstatbestand vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens materiell-rechtlich entstanden ist.25) 21) 22) 23) 24) 25)

BFH, Beschl. v. 18.12.2014 – X B 89/14, BFH/NV 2015, 470 = ZIP 2015, 389. BFH, Urt. v. 29.8.2007 – IX R 4/07, III. 2. b), dd), (1), BStBl. II 2010, 145 = ZIP 2007, 2081. BFH, Urt. v. 29.1.2009 – V R 64/07, BStBl. II 2009, 682. BFH, Urt. v. 29.8.2007 – IX R 4/07, III. 2. b), dd), (1), BStBl. II 2010, 145 = ZIP 2007, 2081. Der V. Senat des BFH hat seine Rechtsprechung mit Urt. v. 9.12.2010 – V R 22/10, BStBl. II 2011, 996 = ZIP 2011, 782, auf die Soll-Besteuerung durch die Denkfigur der sog. 1. und 2. Berichtigung erweitert. Mit Urteil v. 24.9.2014 hat der V. Senat des BFH § 55 Abs. 4 InsO in seine Rechtsprechung integriert (BFH, Urt. v. 24.9.2014 – V R 48/13, BStBl. II 2015, 506 = ZIP 2014, 2451). Dieses Urteil markiert den Zeitpunkt der Umstellung von Soll-Besteuerung auf Ist-Besteuerung in der Soll-Besteuerung ab dem vorläufigen Regelinsolvenzverfahren. Mit Urt. v. 27.9.2018 – V R 45/16, BStBl. II 2019, 356 = ZIP 2018, 2232, hat der V. Senat des BFH entschieden, dass seine Rechtsprechung der 1. und 2. Berichtigung auch im Falle der Vereinnahmung des Entgelts nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens in Form der Eigenverwaltung Anwendung findet.

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Der VII. Senat des Bundesfinanzhofes hat mit seinem Urteil vom 25. Juli 201226) seine Rechtsprechung hinsichtlich der Auslegung des Schuldigwerdens i. S. des § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO geändert und er hat sich der Rechtsprechung des V. Senats des Bundesfinanzhofes angeschlossen. Danach ist das Finanzamt einen Steueranspruch i. S. des § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO schuldig geworden, wenn der Besteuerungstatbestand vollständig vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens verwirklicht worden ist. Die Rechtsprechungsänderung hat der VII. Senat des Bundesfinanzhofes allerdings gewissermaßen unter Protest im Interesse der Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung und zunächst (nur) hinsichtlich eines Anspruchs auf Berichtigung gemäß § 17 Abs. 2 InsO vollzogen. In weiteren Entscheidungen hat der VII. Senat des Bundesfinanzhofes seine geänderte Rechtsprechung auf weitere Umsatzsteuertatbestände wie z. B. die Berichtigung nach § 14c Abs. 2 UStG,27) die Berichtigung nach § 14c Abs. 1 UStG,28) sowie den Vorsteuerabzug29) übertragen. Der VII. Senat des Bundesfinanzhofes hat seine Rechtsprechungsänderung auch auf Steueransprüche außerhalb des Umsatzsteuerrechts erstreckt, nämlich mit Beschluss vom 21. März 201430) auf Ansprüche nach dem InvZulG und mit Urteil vom 15. Januar 201931) auf Ansprüche nach dem GrEStG. 5. VIII. Senat des Bundesfinanzhofes in 2015: Maßgeblichkeit der steuerrechtlichen Wertungen Der VIII. Senat des Bundesfinanzhofes hatte in seinem Beschluss vom 12. Oktober 201532) i. R. eines Nachlassinsolvenzverfahrens darüber zu be26)

27)

28)

29)

30) 31) 32)

BFH, Urt. v. 25.7.2012 – VII R 29/11, BStBl. II 2013, 36 = ZIP 2012, 2217. An diese Rechtsprechungsänderung knüpft eine Entscheidung des VII. Senats des BFH vom selben Tage an, BFH, Urt. v. 25.7.2012 –VII R 44/10, BStBl. II 2013, 33 = ZIP 2012, 2220. Vgl. BFH, Urt. v. 8.11.2016 – VII R 34/15, BStBl. II 2017, 496 = ZIP 2017, 584 – Schuldigwerden erst, wenn jedwede Gefährdung des Steueraufkommens ausgeschlossen ist. BFH, Beschl. v. 25.4.2018 – VII R 18/16, BFH/NV 2018, 1289 = NZI 2018, 902 – Schuldigwerden erst, wenn die Berichtigung des unrichtigen Steuerausweises zugegangen ist. BFH, Urt. v. 12.6.2018 – VII R 19/16, BFH/NV 2018, 1131 = ZIP 2018, 1749 – für Schuldigwerden erforderliches materiell-rechtliches Entstehen des Anspruchs auf Vorsteuerabzug ist weder vom Besitz der Rechnung noch von einem nachträglich erklärten Verzicht auf Steuerfreiheit gemäß § 9 UStG abhängig. BFH, Beschl. v. 21.3.2014 – VII B 214/12, BFH/NV 2014, 1088. BFH, Urt. v. 15.1.2019 – VII R 23/17, ZIP 2019, 627. BFH, Beschl. v. 12.10.2015 – VIII B 143/14, BFH/NV 2016, 40 = ZIP 2015, 2487.

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finden, ob eine nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstehende Einkommensteuerschuld als Masseverbindlichkeit i. S. des § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO zu qualifizieren ist. Er hat diese Frage unter Bezugnahme auf das Urteil des IV. Senats des Bundesfinanzhofes vom 16. Mai 201333) (dazu vorstehend unter II. 2.) und den Beschluss des X. Senats des Bundesfinanzhofes vom 18. Dezember 201434) (dazu vorstehend unter II. 3.) bejaht. Denn der Besteuerungstatbestand – die Einkünfte nach § 2 Abs. 1 EStG – sei erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens vollständig verwirklicht worden. 6. III. Senat des Bundesfinanzhofes in 2018: Maßgeblichkeit der steuerrechtlichen Wertungen Der III. Senat des Bundesfinanzhofes hatte in seinem Beschluss vom 31. Oktober 201835) wie der X. Senat des Bundesfinanzhofes in seinem Beschluss vom 1. April 200836) (dazu vorstehend unter II. 3.) über die insolvenzrechtliche Qualifizierung einer durch Rückgewähr nach Insolvenzanfechtung ausgelösten Einkommensteuerforderung bei Einnahme-Überschussrechnung zu befinden. Er ist der Ansicht des X. Senats des Bundesfinanzhofes in seinem Beschluss vom 1. April 200837) nicht gefolgt. Vielmehr hat er sich der vorstehend dargestellten Rechtsprechung des IV. Senats des Bundesfinanzhofes (Urteil vom 16. Mai 2013, dazu vorstehend unter II. 2.)38) und des X. Senats des Bundesfinanzhofes (Urteil vom 9. Dezember 2014, dazu vorstehend unter II. 4.)39) angeschlossen. Der III. Senat des Bundesfinanzhofes hat die Einkommensteuerforderung nicht als Insolvenzforderung qualifiziert, weil der Besteuerungstatbestand erst durch die Rückgewähr nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens vollständig verwirklicht worden sei.

33) 34) 35) 36) 37) 38) 39)

BFH, Urt. v. 16.5.2013 – IV R 23/11, BStBl. II 2013, 759 = ZIP 2013, 1481. BFH, Beschl. v. 18.12.2014 – X B 89/14, BFH/NV 2015, 470 = ZIP 2015, 389. BFH, Beschl. v. 31.10.2018 – III B 77/18, Rz. 14 a. E., BFH/NV 2019, 123 = ZIP 2019, 133. BFH, Beschl. v. 1.4.2008 – X B 201/07, BFH/NV 2008, 925 = ZIP 2008, 1780. BFH, Beschl. v. 1.4.2008 – X B 201/07, BFH/NV 2008, 925 = ZIP 2008, 1780. BFH, Urt. v. 16.5.2013 – IV R 23/11, BStBl. II 2013, 759 = ZIP 2013, 1481. BFH, Urt. v. 9.12.2014 – X R 12/12, BStBl. II 2016, 852 = ZIP 2015, 1035.

Der Ertragsteueranspruch als Insolvenzforderung im Wandel der Rechtsprechung 417

7. XI. Senat des Bundesfinanzhofes in 2018: Maßgeblichkeit der steuerrechtlichen Wertungen Der XI. Senat des Bundesfinanzhofes hatte in seinem Beschluss vom 15. November 201840) darüber zu befinden, ob die vorstehend dargestellten Grundsätze auch für eine Körperschaftsteuer gelten, die auf Forderungsverzichten im Insolvenzplanverfahren beruht. Der Kläger machte geltend, die Körperschaftsteuer sei als Insolvenzforderung zu qualifizieren, weil sie auf vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens begründeten Verbindlichkeiten beruhe. Der XI. Senat des Bundesfinanzhofes hat entschieden, dass die vorstehend dargestellten Grundsätze des Bundesfinanzhofes nach § 8 Abs. 1 KStG auch für die Körperschaftsteuer maßgeblich sind. Danach, so der XI. Senat des Bundesfinanzhofes, sei der Besteuerungstatbestand (ertragswirksame Ausbuchung der restlichen Verbindlichkeiten) erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens vollständig verwirklicht worden und die darauf beruhende Körperschaftsteuer sei als Masseverbindlichkeit zu qualifizieren: Erst durch die Rechtskraft des Beschlusses über die Bestätigung des Insolvenzplans nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens hätten sich die restlichen Verbindlichkeiten nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zu sog. unvollkommenen Verbindlichkeiten gewandelt, die zwar erfüllt aber nicht hätten vollstreckt werden können. Deshalb hätten die restlichen Verbindlichkeiten nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels wirtschaftlicher Belastung nicht mehr passiviert werden dürfen.41) Der IV. Senat des Bundesfinanzhofes hatte bereits mit seinem Beschluss vom 27. Oktober 201642) entschieden, dass die vorstehend dargestellten Grundsätze gleichermaßen für eine Gewerbesteuerforderung gelten. Auch dieser Ansicht hat sich der XI. Senat des Bundesfinanzhofes in seinem Beschluss vom 15. November 201843) angeschlossen. III. Kritik Die Ansicht des Bundesfinanzhofes, die Begründetheit i. S. des § 38 InsO entspreche der vollständigen materiell-rechtlichen Verwirklichung des Be40) 41)

42) 43)

BFH, Beschl. v. 15.11.2018 – XI B 49/18, BFH/NV 2019, 208 = ZIP 2019, 427. Nach FG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 14.1.2016 – 10 K 10245/14, NZI 2016, 463, soll als maßgeblicher Zeitpunkt auch der (fruchtlose) Ablauf der Beschwerdefrist in Betracht kommen. BFH, Beschl. v. 27.10.2016 – IV B 119/15, BFH/NV 2017, 320. BFH, Beschl. v. 15.11.2018 – XI B 49/18, BFH/NV 2019, 208 = ZIP 2019, 427.

418

Günter Kahlert

steuerungstatbestandes – die Einkünfte gemäß § 2 Abs. 1 EStG –, steht nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des IX. Zivilsenats des Bundesgerichtshofes. Denn nach der Rechtsprechung des IX. Zivilsenats des Bundesgerichtshofes ist – wie vorstehend unter II. 2. und 3. dargestellt – maßgeblich, ob die schuldrechtliche Grundlage vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden ist. Hierbei handelt es sich – wie vorstehend unter II. 2. und 3. weiter dargestellt – nicht um den materiell-rechtlichen Tatbestand eines Anspruchs. Es ist die Anknüpfung an die vollständige materiell-rechtliche Verwirklichung des Besteuerungstatbestandes, die den Bundesfinanzhof erst in die Lage versetzt zu argumentieren, insolvenzrechtliche Wertungen spielten bei der Begründetheit eines Ertragsteueranspruchs i. S. des § 38 InsO keine wesentliche Rolle. Denn er meint, sich nunmehr auf den allgemein anerkannten Grundsatz berufen zu können, dass die InsO nur für die Durchsetzung von Ansprüchen, nicht aber für deren Entstehung, vorrangig sei. Deshalb, so der Bundesfinanzhof, richte sich die vollständige materiellrechtliche Verwirklichung des Ertragsteueranspruchs – und damit seine Begründetheit i. S. des § 38 InsO – allein nach steuerrechtlichen Grundsätzen. Nach der Auslegung des Bundesfinanzhofes delegiert § 38 InsO seine Macht an das Steuerrecht und gestattet ihm, die Begründetheit eines Ertragsteueranspruchs i. S. des § 38 InsO allein nach steuerrechtlichen Grundsätzen zu bestimmen. Damit werden Steuerforderungen bei der insolvenzrechtlichen Qualifikation als Insolvenzforderung oder als Masseverbindlichkeit gegenüber den Wertungen der InsO „immunisiert“.44) Denn die steuerrechtlichen Grundsätze entscheiden zugleich über die insolvenzrechtliche Qualifikation eines Ertragsteueranspruchs. Das widerspricht nicht nur dem Grundsatz, dass die InsO als Gesamtvollstreckungsverfahren auch auf Steuerforderungen Anwendung findet (dazu vorstehend unter I. 1.). Der Staat, der zugleich Gesetzgeber und Steuergläubiger ist, wird damit – ungeachtet seiner widerstreitenden Interessen – in die Lage versetzt, durch steuerrechtliche Regelungen die insolvenzrechtliche Qualifikation einer Steuerforderung zu bestimmen. Auch diese Gedanken machten deutlich, dass sich die Auslegung des Bundesfinanzhofes nicht auf sicherem Boden bewegt. 44)

So treffend Meyer in: Schön/Sternberg, Zukunftsfragen des deutschen Steuerrechts, 2018, 2. Kap. S. 57.

Der Ertragsteueranspruch als Insolvenzforderung im Wandel der Rechtsprechung 419

Die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes kann nicht mit der Rechtsprechung des V. Senats des Bundesfinanzhofes hinsichtlich der Umsatzbesteuerung in der Insolvenz gerechtfertigt werden. Zwar knüpft der V. Senat des Bundesfinanzhofes45) für die Begründetheit eines Umsatzsteueranspruchs i. S. des § 38 InsO an die vollständige materiell-rechtliche Verwirklichung des Besteuerungstatbestands an (dazu vorstehend unter II. 4.). Allerdings ist diese Anknüpfung (nur) die steuertechnische Voraussetzung dafür, den Umsatzsteueranteil in einer bei (vorläufiger) Insolvenz noch offenen Forderung bei Vereinnahmung der Forderung im (vorläufigen) Insolvenzverfahren als Masseverbindlichkeit i. S. des § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO zu qualifizieren. Der V. Senat des Bundesfinanzhofes rechtfertigt diese Steuertechnik tiefergehend, und zwar mit der unionsrechtlichen Verpflichtung zur Erhebung der Umsatzsteuer in der Insolvenz. Eine solche Rechtfertigung kommt im Ertragsteuerrecht nicht in Betracht. Denn anders als das Umsatzsteuerrecht46) ist das Ertragsteuerrecht47) unionsrechtlich nicht harmonisiert. Ebenso kann die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes nicht mit der Rechtsprechung des VII. Senats des Bundesfinanzhofes hinsichtlich Auslegung der parallelen Auslegung des Schuldigwerdens i. S. des § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO gerechtfertigt werden. Denn wie vorstehend unter II. 4. dargestellt, hat der VII. Senat des Bundesfinanzhofes seine Rechtsprechung (nur) im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung angepasst. Dass die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes auf den Prüfstand gehört und neu ausgerichtet werden muss, ist auch i. R. der Europäisierung der Restschuldbefreiung offenbar geworden. Das Grundproblem liegt darin begründet, dass die Restschuldbefreiung des Unternehmers nur Steuerschulden im Rang der Insolvenzforderung erfasst und der Maßstab – die vollständige materiell-rechtliche Verwirklichung des Besteuerungstatbe-

45) 46)

47)

Siehe dazu BFH, Urt. v. 27.9.2018 – V R 45/16, BStBl. II 2019, 356 = ZIP 2018, 2232 m. w. N. Richtlinie 2006/112/EG des Rates v. 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem – Mehrwertsteuersystem-Richtlinie (MwStSystRL), ABl. (EU) L 347/1 v. 11.12.2006, zuletzt geändert durch Richtlinie 2016/1065/EU v. 27.6.2016 zur Änderung der Richtlinie 2006/112/EG hinsichtlich der Behandlung von Gutscheinen, ABl. (EU) L 177/9 v. 1.7.2016. Die MwStSystRL ist am 1.1.2007 in Kraft getreten, Art. 413 MwStSystRL. Sie ist inzwischen bereits mehrfach geändert worden. Dazu Robisch in: Bunjes, UStG, 17. Aufl. 2018, Vor § 1 Rz. 7. Zur Harmonisierung der direkten Steuern Fehling in: Schaumburg/Englisch, Europäisches Steuerrecht, 2015, Rz. 10.20 ff.

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Günter Kahlert

standes vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens – nicht vom privatautonomen Verhalten des Schuldners beherrscht werden kann. Das ist mit der Restrukturierungsrichtlinie nicht zu vereinbaren.48) IV. Fazit Nach dem Gesagten ist die eingangs aufgeworfene Frage zu verneinen: Der vom Bundesfinanzhof verwendete Maßstab für die Qualifikation eines Ertragsteueranspruchs als Insolvenzforderung i. S. des § 38 InsO, nämlich ob der materiell-rechtliche Besteuerungstatbestand – die Einkünfte nach § 2 Abs. 1 EStG – vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens vollständig verwirklicht worden ist, entspricht nicht dem vom IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes verwendeten Maßstab, ob die schuldrechtliche Grundlage vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden ist. Angesichts des Umstandes, dass die einzelnen Senate des Bundesfinanzhofes einer Meinung sind, sollte sich der Gesetzgeber der Sache annehmen und interessengerechte Kriterien zur Qualifikation eines Ertragsteueranspruchs als Insolvenzforderung regeln. Der Gesetzgeber hätte Gelegenheit, dies i. R. der Umsetzung der Restrukturierungsrichtlinie in nationales Recht in Angriff zu nehmen.

48)

Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) – Restrukturierungsrichtlinie, ABl. (EU) L 172/18 v. 26.6.2019. Dazu im Einzelnen Kahlert, Restschuldbefreiung des Unternehmers von Steuerschulden nach der Richtlinie betreffend die zweite Chance, DStR 2019, 719.

Eigenständiger Vergütungsantrag des „nur“ vorläufigen Sachwalters FRANK KEBEKUS UND DAVID GEORG Inhaltsübersicht I.

II.

Einheitliche Vergütung des (vorläufigen) Sachwalters 1. Hintergründe der Entscheidung 2. (Dogmatische) Probleme beim einheitlichen Vergütungsantrag Vergütung des „nur“ vorläufigen Sachwalters 1. Wechsel in der Person des vorläufigen und endgültigen Sachwalters 2. Wechsel ins Regularverfahren 3. Überleitung ins Regularverfahren mit personenverschiedenem Insolvenzverwalter

III. Regelsatz beim eigenständigen Vergütungsantrag 1. Vormalige Bestimmung des Regelsatzes 2. Regelsatz unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes 3. Bemessungsgrundlage IV. Erhöhungsfaktoren bei der Eigenverwaltung 1. Grundsätze bei Erhöhungstatbeständen 2. Anerkannte Erhöhungstatbestände

Dem Jubilar ist durch seine Tätigkeit als langjähriger Vorsitzender Richter des neunten Zivilsenats des Bundesgerichtshofes eine tragende Bedeutung bei der Entwicklung des Insolvenzrechts in den vergangenen Jahren beizumessen. Obgleich der Jubilar für seine insolvenzrechtliche Expertise allgemein anerkannt ist, scheint die dogmatische Herleitung und Begründung einer vielbeachteten Entscheidung aus dem Jahre 2016 betreffend das Vergütungsrecht des vorläufigen Sachwalters mit einigen Schwierigkeiten verbunden zu sein. Gerade bei einem Wechsel in der Person des (vorläufigen) Sachwalters oder einer Überleitung des Eigenverwaltungsverfahrens in ein Regularverfahren gibt es gute Gründe, die Vergütung des „nur“ vorläufigen Sachwalters auf Grundlage der (ehemaligen) unterinstanzlichen Rechtsprechung zu beurteilen und dem vorläufigen Sachwalter einen eigenständigen Vergütungsanspruch zuzubilligen. I. Einheitliche Vergütung des (vorläufigen) Sachwalters Mit einer Grundsatzentscheidung vom 21. Juli 2016 hat der Bundesgerichtshof die Vergütung des (vorläufigen) Sachwalters geregelt und der bis dahin

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gängigen Praxis der Vergütungsfestsetzung eine klare Absage erteilt.1) Zuvor wurde dem vorläufigen Sachwalter mit unterschiedlicher Begründung ein eigenständiger Vergütungsanspruch zugesprochen. Demgegenüber ist nach Auffassung des Bundesgerichtshofes die Vergütung des vorläufigen Sachwalters in Anwendung der Vorschriften über die Vergütung des (endgültigen) Sachwalters festzusetzen. Als Argumente werden insbesondere die Einheitlichkeit des Sachwalteramtes sowie die fehlende Vergleichbarkeit von vorläufigem Sachwalter und vorläufigem Insolvenzverwalter angeführt. Infolgedessen haben für die Tätigkeit des (vorläufigen) Sachwalters nunmehr ein einheitlicher Vergütungsantrag und eine einheitliche Festsetzung zu erfolgen. Hierbei wird dem Sachwalter für die Tätigkeit als vorläufiger Sachwalter pauschal ein Zuschlag gewährt von 25 %, so dass sich die Regelvergütung auf insgesamt 85 % der Vergütung des Insolvenzverwalters beläuft. Als Bemessungsgrundlage wird für den einheitlichen Vergütungsantrag diejenige des endgültigen Sachwalters herangezogen. Neben dem Zuschlag für die Tätigkeit als vorläufiger Sachwalter sind Zuschläge für Aufgaben zu gewähren, die dem (vorläufigen) Sachwalter vom Gesetz, vom Insolvenzgericht oder von den Verfahrensbeteiligten rechtswirksam übertragen worden sind. Voraussetzung ist jedoch regelmäßig eine die Arbeitskraft des (vorläufigen) Sachwalters überdurchschnittlich in Anspruch nehmende Tätigkeit. 1. Hintergründe der Entscheidung Ausgangspunkt der Entscheidung ist der Umstand, dass eine gesetzliche Regelung zur Vergütung des vorläufigen Sachwalters nicht existiert. Hierbei geht der Bundesgerichtshof davon aus, dass der Gesetzgeber die Notwendigkeit einer solchen Regelung (wahrscheinlich) nicht übersehen oder vergessen habe, da dieser sich intensiv mit den Aufgaben des vorläufigen Sachwalters auseinandergesetzt habe.2) Nachdem die Aufgaben und Befugnisse des vorläufigen Sachwalters mit denen des Sachwalters nahezu vollständig übereinstimmen, soll § 12 InsVV 1)

2)

BGH, Beschl. v. 21.7.2016 – IX ZB 70/14, BGHZ 211, 225 = ZIP 2016, 1592; BGH Beschl. v. 22.9.2016 – IX ZB 71/14, ZIP 2016, 1981 = NZI 2016, 963; BGH, Beschl. v. 22.6.2017 – IX ZB 91/15, ZInsO 2017, 1813 = DZWIR 2017, 529. Zudem wurde vom BGH darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber i. R. der Einführung des Gesetzes zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahren und zur Stärkung der Gläubigerrechte, v. 15.7.2013, BGBl. I 2013, 2379, keine Anpassungen vorgenommen habe.

Eigenständiger Vergütungsantrag des „nur“ vorläufigen Sachwalters

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entsprechend auf den vorläufigen Sachwalter anwendbar sein. Die Höhe der Vergütung für die Tätigkeit des vorläufigen Sachwalters könne jedoch nicht unverändert übernommen werden, da das Eröffnungsverfahren zeitlich kürzer und die Aufgaben des endgültigen Sachwalters umfangreicher seien. Aus diesem Grunde bewertet der Bundesgerichtshof eine Vergütung des vorläufigen Sachwalters i. H. von 25 % als angemessen. Die (zusätzliche) Anwendung der Regelungen zur Vergütung des vorläufigen Insolvenzverwalters gemäß § 63 Abs. 3 InsO, § 11 InsVV wird vom Bundesgerichtshof demgegenüber abgelehnt, weil die Tätigkeit des vorläufigen Sachwalters mit der des vorläufigen Insolvenzverwalters strukturell nicht vergleichbar sei. Als wesentliche dogmatische Änderung zur vorherigen Vergütungspraxis erachtet der Bundesgerichtshof einen gesonderten Vergütungsanspruch des vorläufigen Sachwalters allerdings als nicht nachvollziehbar. Vielmehr sei die Vergütung des vorläufigen Sachwalters i. R. der Vergütung des endgültigen Sachwalters festzusetzen, wobei für die Tätigkeit als vorläufiger Sachwalter ein Zuschlag von 25 % zu gewähren sei. Darüber hinaus können bei der Vergütung des Sachwalters entsprechende Zu- und Abschläge Berücksichtigung finden. Bei deren Bestimmung ist es unerheblich, ob die zuschlagsbegründende Tätigkeit (teilweise) in der Zeit der vorläufigen Sachwaltung oder (teilweise) im eröffneten Verfahren erbracht worden ist. 2. (Dogmatische) Probleme beim einheitlichen Vergütungsantrag Kritisch zu hinterfragen ist bereits die Annahme des Bundesgerichtshofes, dass der Gesetzgeber infolge der fehlenden Implementierung einer gesonderten gesetzlichen Regelung zum Vergütungsanspruch des vorläufigen Sachwalters von der Anwendung der Vergütungsregelungen des Sachwalters ausging. Gerade vor dem Hintergrund der Vielzahl von vergütungsrechtlichen Problemen und Anpassungen in den vergangenen Jahren erscheint es nicht unwahrscheinlich, dass der Gesetzgeber die vor der Entscheidung des Bundesgerichthofes praktizierten Grundsätze als sachgemäß angesehen hat.3)

3)

Haarmeyer/Mock, Die Vergütung des vorläufigen Sachwalters – Finales und Halbfinales aus Karlsruhe, ZInsO 2016, 1829, 1830; Hackenburg, Die Rechtsprechung des BGH zur Vergütung des vorläufigen Sachwalters – ein Sanierungshindernis?, ZInsO 2017, 204.

424

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Zudem hat der Gesetzgeber mit den §§ 270a und 270b InsO zwei eigenständige Verfahrensarten vorgesehen. Da die Beteiligten in diesen Verfahrensarten unterschiedliche Rechtsstellungen einnehmen, erscheint die Annahme eines einzigen durchgehenden Sachwalteramtes dogmatisch schwer begründbar.4) Darüber hinaus vermischt der Bundesgerichtshof zwei gesetzlich unterschiedlich geregelte Verfahrensabschnitte: Das Insolvenzeröffnungsverfahren und das eröffnete Insolvenzverfahren. Im Übrigen wurde dem strukturellen Unterschied zwischen (vorläufigem) Sachwalter und (vorläufigem) Insolvenzverwalter vor dem Urteil des Bundesgerichtshofes nach der vorherrschenden Auffassung in Literatur und Rechtsprechung bereits Rechnung getragen. Wegen dem geringeren Tätigkeitsumfang des vorläufigen Sachwalters wurde diesem ein reduzierter Regelwert von 15 % zugesprochen.5) Während der Bundesgerichtshof für den Fall der fehlenden Insolvenzeröffnung eine analoge Anwendung von § 26a InsO annimmt, stellen sich dogmatisch bislang nicht geklärte Problemfelder bei einem Wechsel in der Person des (vorläufigen/endgültigen) Sachwalters, einer Überleitung der Eigenverwaltung in ein Regularverfahren sowie einer Kombination aus diesen beiden Konstellationen. Falls der vorläufige Sachwalter nicht zum endgültigen Sachwalter bestellt wird, ist nach Ansicht des Bundesgerichtshofes eine „anteilige Vergütung“ für die Tätigkeit bis zur Eröffnung festzusetzen.6) Eine weitergehende Konkretisierung erfolgte jedoch nicht. Unklar ist daher insbesondere, ob die anteilige Vergütung pro rata temporis zu verstehen ist und ob ein gemeinsamer Vergütungsantrag von vorläufigem und endgültigem Sachwalter oder jeweils gesonderte Vergütungsanträge zu erfolgen haben. Ein weiteres Problem zeigt sich bei einem einheitlichen Vergütungsantrag, wenn es im Zeitpunkt der Insolvenzöffnung zur Beendigung der Eigenverwaltung kommt. Ist die Vergütung des vorläufigen Sachwalters als Zuschlag

4)

5)

6)

Kirchner/Wozniak, Die Vergütung des vorläufigen Sachwalters nach der Entscheidung des BGH vom 21.07.2016 – Roma locuta, causa finita für Altvergütungen?, ZInsO 2018, 147, 150. LG Bonn, Beschl. v. 11.10.2013 – 6 T 184/13, ZIP 2014, 694 = BeckRS 2013, 20295; AG Köln, Beschl. v. 13.11.2012 – 71 IN 109/13, ZIP 2013, 426 = BeckRS 2012, 25442; AG Essen, Beschl. v. 17.1.2014 – 164 IN 135/13, ZInsO 2014, 464 = BeckRS 2014, 02417; Mock, Die Vergütung des vorläufigen Sachwalters, ZInsO 2014, 67, 69. BGH, Beschl. v. 21.7.2016 – IX ZB 70/14, BGHZ 211, 225 = ZIP 2016, 1592.

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beim Insolvenzverwalter zu berücksichtigen? Oder ist dem vorläufigen Sachwalter ein eigenständiger Vergütungsanspruch zuzubilligen? Vor dem Hintergrund der dogmatischen Probleme sowie der ungeklärten Sonderfälle bleibt die vom Bundesgerichtshof postulierte einheitliche Vergütungsfestsetzung insgesamt kritisch zu beurteilen.7) Daher obliegt es dem Gesetzgeber durch eine entsprechende Korrektur der gesetzlichen Ausgangslage dafür Sorge zu tragen, dass diese „Gesetzeslücke“ geschlossen und dem vorläufigen Sachwalter systemkonform ein eigenständiger Vergütungsanspruch zugestanden wird. II. Vergütung des „nur“ vorläufigen Sachwalters Sofern es zur Beendigung der Eigenverwaltung kommt oder der vorläufige Sachwalter nicht zum (endgültigen) Sachwalter bestellt wird, bietet die Entscheidung des Bundesgerichtshofes noch keine abschließenden Lösungsansätze für die Vergütung des „nur“ vorläufigen Sachwalters. Der Bundesgerichtshof weist in diesem Zusammenhang lediglich darauf hin, dass der vorläufige Sachwalter einen Anspruch auf anteilige Vergütung für seine Tätigkeit bis zur Insolvenzeröffnung habe.8) Eine nähere Konkretisierung dieser anteiligen Vergütung erfolgte jedoch nicht. 1. Wechsel in der Person des vorläufigen und endgültigen Sachwalters Schwierigkeiten bei der Anwendung der Entscheidung ergeben sich zunächst, wenn keine Personenidentität zwischen vorläufigem und endgültigem Sachwalter besteht. Im Ausgangspunkt kommt zunächst ein gemeinsamer Vergütungsantrag des vorläufigen und endgültigen Sachwalters in Betracht. Probleme ergeben sich allerdings, wenn unterschiedliche Erhöhungstatbestände für den vorläufigen bzw. endgültigen Sachwalter zum Tragen kommen. Ebenso müsste gewährleistet sein, dass der vorläufige Sachwalter entsprechenden Einfluss auf einen gemeinsamen Vergütungsantrag nehmen kann. Letztlich scheitert ein solcher einheitlicher Vergütungsantrag allerdings daran, dass gegenüber dem

7)

8)

Vgl. auch: Keller, Die Vergütung des volräufigen Sachwalters nach den Vorstellungen des BGH, NZI 2016, 753, 754; Kirchner/Wozniak, ZInsO 2018, 147, 150; Büttner in: HambKomm-InsO, 6. Aufl. 2017, § 12 InsVV Rz. 29 ff. BGH, Beschl. v. 21.7.2016 – IX ZB 70/14, BGHZ 211, 225 = ZIP 2016, 1592.

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vorläufigen Sachwalter bereits aus formellen Gesichtspunkten ein eigenständiger Vergütungsanspruch festgesetzt werden muss. Darüber hinaus bestünde die Möglichkeit, dass der vorläufige und der endgültige Sachwalter jeweils gesonderte Vergütungsanträge für ihre Tätigkeiten einreichen. Infolge der Einheit des Eigenverwaltungsverfahrens könnten diese methodisch betrachtet die gesamte Verfahrensdauer umfassen, wobei jeweils ein Vergütungsanspruch nur (zeit-)anteilig für den Zeitraum der eigenen Tätigkeit bestehen würde. Da der vorläufige Sachwalter regelmäßig jedoch keine Kenntnisse über den weiteren Verfahrenshergang hat, kann dieser eine (fiktive) Gesamtvergütung mangels entsprechender Informationen nicht errechnen. Letztlich kommen damit weder ein gemeinsamer Vergütungsantrag von vorläufigem und endgültigem Sachwalter noch ein (fiktiver) Gesamtvergütungsantrag des vorläufigen Sachwalters in Betracht. Aus diesem Grunde muss dem vorläufigen Sachwalter letztlich ein eigenständiger Vergütungsanspruch für den Zeitraum des Insolvenzeröffnungsverfahrens zugebilligt werden. Die „anteilige Vergütung“ erfolgt mithin nicht pro rata temporis an der Gesamtvergütung eines Sachwalters, sondern anteilig (und gesondert) für den Zeitraum des Insolvenzeröffnungsverfahrens. Nachdem dem vorläufigen Sachwalter die zur Berechnung seines Vergütungsantrages notwendigen Informationen bereits mit Insolvenzeröffnung vorliegen, muss dieser für seinen Vergütungsantrag auch nicht die Verfahrensbeendigung abwarten.9) Infolge der Beendigung seiner Tätigkeit ist ein solches Abwarten nicht gerechtfertigt. 2. Wechsel ins Regularverfahren Bei der Überleitung eines Eigenverwaltungsverfahrens in ein Regularverfahren kommt bei einer Personenidentität zwischen vorläufigem Sachwalter und Insolvenzverwalter zum einen die Gewährung eines Zuschlags für die Tätigkeit als vorläufiger Sachwalter i. R. der Insolvenzverwaltervergütung und zum anderen ein gesonderter Vergütungsanspruch des vorläufigen Sachwalters in Betracht.

9)

Demgegenüber wird die Verfahrensbeendigung gefordert von Haarmeyer/Mock, ZInsO 2016, 1829, 1831.

Eigenständiger Vergütungsantrag des „nur“ vorläufigen Sachwalters

427

Der Bundesgerichtshof stellt bei der Ermittlung der Berechnungsgrundlage auf § 1 InsVV ab und begründet dies mit dem Verweis in § 10 InsVV.10) Damit erteilt der Senat zugleich der Anwendung der besonderen Regelung zur Berechnungsgrundlage in § 11 InsVV eine Absage, da der vorläufige Sachwalter insbesondere keine Aus- und Absonderungsrechte prüfen muss. Vor dem Hintergrund dieser Gleichstellung mit der Berechnungsgrundlage des Insolvenzverwalters ermöglicht der Bundesgerichtshof ebenfalls eine einheitliche Festsetzung der Vergütung des vorläufigen Sachwalters und des Insolvenzverwalters. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass der vorläufige Sachwalter und der Insolvenzverwalter unterschiedliche Aufgaben und Befugnisse innehaben. Hierbei ist der Aufgabenbereich des Insolvenzverwalters deutlich weiter gefasst als derjenige des vorläufigen Sachwalters. Wenn daher bereits die Tätigkeit des vorläufigen Sachwalters von der des Sachwalters umfasst wird, muss dies erst recht in Bezug auf den Insolvenzverwalter gelten. Vor diesem Hintergrund erscheint ein pauschaler Zuschlag für die Tätigkeit als vorläufiger Sachwalter i. R. der Insolvenzverwaltervergütung methodisch zunächst darstellbar. Auf Grundlage dieser Argumentation könnte im Falle eines personenidentischen vorläufigen Sachwalters und Insolvenzverwalters in Fortentwicklung der Entscheidung des Bundesgerichtshofes ein Zuschlag i. R. der Insolvenzverwaltervergütung von 25 % in Ansatz gebracht werden.11) Das Argument der längeren Verfahrensdauer eines Regularverfahrens ließe sich zudem über die Gewährung eines Vorschusses entkräften. Demgegenüber spricht gegen einen solchen einheitlichen Vergütungsantrag, dass der Bundesgerichtshof die (vorläufige) Sachwaltung als einheitliches Gebilde angesehen hat. Dieses fehlt jedoch bei dem Übergang ins Regularverfahren. Gerade das Argument der Strukturgleichheit ist bei einem Vergleich zwischen der Tätigkeit des vorläufigen Sachwalters und der des Insolvenzverwalters nicht einschlägig. Im Falle der Beendigung der Eigenverwaltung und dem Wechsel ins Regularverfahren zeigen sich diametrale Unterschiede zwischen den Kontroll- und Überwachungsaufgaben des vorläufigen Sachwalters und den umfassenden (Verwertungs-)Aufgaben des Insolvenzverwalters. Zudem übersieht die Annahme, dass die Tätigkeit des vorläufigen Sachwalters von der des Insolvenzverwalters als Minus um10) 11)

BGH, Beschl. v. 21.7.2016 – IX ZB 70/14, BGHZ 211, 225 = ZIP 2016, 1592. Vgl. auch: Keller, NZI 2016, 753, 755.

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fasst wird, dass dies auch in Bezug auf den vorläufigen Insolvenzverwalter zutrifft. Gleichwohl hat der vorläufige Insolvenzverwalter einen eigenständigen (gesetzlichen) Vergütungsanspruch. Insgesamt erscheint eine Berücksichtigung der Tätigkeit des vorläufigen Sachwalters als Zuschlag bei der Vergütung des Insolvenzverwalters damit nur schwer begründbar. Infolgedessen sollte dem vorläufigen Sachwalter für seine Tätigkeit ein gesonderter Vergütungsantrag zugestanden werden. Einen solchen erkennt der Bundesgerichtshof jedenfalls im Falle der analogen Anwendung des § 26a InsO auch für den vorläufigen Sachwalter an.12) Falls es erst nach der Insolvenzeröffnung zu einem Wechsel ins Regularverfahren kommt, kann die Vergütung ohnehin auf Basis der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes erfolgen. Der Sachwalter kann einen einheitlichen Vergütungsantrag für seine Tätigkeit als vorläufiger und endgültiger Sachwalter stellen. Gleichzeitig hat jedoch i. R. des Vergütungsantrages als Insolvenzverwalter eine Berücksichtigung der Sachwaltervergütung gemäß § 3 Abs. 2 InsVV zu erfolgen. 3. Überleitung ins Regularverfahren mit personenverschiedenem Insolvenzverwalter Denkbar sind zudem Konstellationen, bei denen die Eigenverwaltung beendet wird und zugleich ein vom vorläufigen Sachwalter personenverschiedener Insolvenzverwalter bestellt wird. Vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen kann die vom Bundesgerichtshof vorgesehene anteilige Vergütung in diesem Fall ebenfalls nur als gesonderter Vergütungsanspruch des vorläufigen Sachwalters verstanden werden. III. Regelsatz beim eigenständigen Vergütungsantrag Bei einem Wechsel in der Person des (vorläufigen/endgültigen) Sachwalters oder der Überleitung in ein Regularverfahren steht dem vorläufigen Sachwalter damit im Ergebnis ein eigenständiger Vergütungsantrag gemäß § 270a Abs. 1, 274 Abs. 1, 63, 65 InsO zu. Über diesen ist nach § 64 Abs. 1 InsO zu entscheiden.

12)

BGH, Beschl. v. 21.7.2016 – IX ZB 70/14, BGHZ 211, 225 = ZIP 2016, 1592; entsprechend auch: AG Köln, Beschl. v. 25.1.2017 – 73 IN 411/16, NZI 2017, 322.

Eigenständiger Vergütungsantrag des „nur“ vorläufigen Sachwalters

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In diesen Sonderkonstellationen erfolgt damit in Ausnahme der Entscheidung des Bundesgerichtshofes eine Anknüpfung an die vorherige Vergütungspraxis. Bezüglich der Bemessung des Regelsatzes hatten sich in Literatur und Rechtsprechung unterschiedlichste Ansichten herausgebildet, wobei dem vorläufigen Sachwalter ein Regelsatz zwischen 15 % und 60 % zugesprochen wurde. 1. Vormalige Bestimmung des Regelsatzes Einer ersten Auffassung zufolge wurde der Regelsatz durch Heranziehung der Vergütungsregelung des vorläufigen Insolvenzverwalters bestimmt.13) Folglich wurde dem vorläufigen Sachwalter eine Vergütung i. H. von 25 % der Vergütung des Insolvenzverwalters zugesprochen. Daneben wurde teilweise vertreten, dass eine Differenzierung zwischen Eröffnungsverfahren und eröffnetem Insolvenzverfahren nicht zu erfolgen habe. Demnach wurde § 12 InsVV als Basis für die Vergütung des vorläufigen Sachwalters genutzt, was mit einen Regelsatz von 60 % gleichgesetzt war.14) Wegen der (fehlenden) Vergleichbarkeit zwischen vorläufigem Sachwalter und vorläufigem Insolvenzverwalter wurde zudem eine kumulative Anwendung von §§ 11 und 12 InsVV befürwortet.15) Demnach war eine Regelvergütung von 25 % der Sachwaltervergütung anzusetzen, was im Ergebnis 15 % der Regelvergütung des Insolvenzverwalters entsprach. 2. Regelsatz unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes Im Lichte der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes wird man (dogmatisch) einen Mittelweg zwischen den vorstehenden Auffassungen annehmen müssen, da der Bundesgerichtshof die entsprechende Anwendbarkeit von 13)

14)

15)

AG Wuppertal, Beschl. v. 26.5.2014 – 145 IN 751/13, ZIP 2015, 541 = BeckRS 2015, 01662; Schur, Die Vergütung des vorläufigen Sachwalters – Regelvergütung, Berechnungsgrundlage, Zuschläge, ZIP 2014, 757, 758 ff. AG Göttingen, Beschl. v. 28.11.2012 – 74 IN 160/12, ZIP 2013, 36 = ZInsO 2012, 2413; AG Hamburg, Beschl. v. 20.12.2013 – 67g IN 419/12, ZIP 2014, 237 = ZInsO 2014, 569; AG Potstdam, Besch. v. 8.1.2015 – 35 IN 748/12, ZIP 2015, 1799 = ZInsO 2015 975; Budnik, Zur Regelvergütung des vorläufigen Sachwalters, NZI 2014, 247, 250. LG Bonn, Beschl. v. 11.10.2013 – 6 T 184/13, ZIP 2014, 694 = BeckRS 2013, 20295; AG Köln, Beschl. v. 13.11.2012 – 71 IN 109/13, ZIP 2013, 426 = BeckRS 2012, 25442; AG Essen, Beschl. v. 17.1.2014 – 164 IN 135/13; ZInsO 2014, 464 = BeckRS 2014, 02417; Mock, ZInsO 2014, 67, 69.

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§ 12 InsVV bejaht, während er diejenige von § 11 InsVV ablehnt.16) Gleichzeitig hat der Bundesgerichtshof zum Ausdruck gebracht, dass ein Regelsatz von 60 % nicht übernommen werden kann, sondern „die Vergütung des vorläufigen Sachwalters anteilig mit 25 % der Vergütung des Insolvenzverwalters nach § 2 Abs. 1 InsVV zu bemessen“ ist. In Bezug auf den Regelsatz bei einem gesonderten Vergütungsantrag des vorläufigen Sachwalters kann grundsätzlich nichts abweichendes gelten, so dass im Ausgangspunkt ein Regelwert von 25 % anzunehmen ist.17) Eine derartige Handhabung würde jedoch bedeuten, dass trotz der strukturellen Unterschiede zwischen vorläufigem Sachwalter und vorläufigem Insolvenzverwalter beide den gleichen Regelsatz erhalten würden. Infolgedessen erscheint es sachgemäß, den vom Bundesgerichtshof als angemessenen angesehenen Regelwert von 25 % im Falle eines eigenständigen Vergütungsantrages nochmalig zu reduzieren. Vor dem Hintergrund der vormaligen h. M. zur Bemessung des Regelsatzes eines vorläufigen Sachwalters erscheint ein Regelsatz von 15 % sowohl sachgerecht als auch angemessen zu sein. 3. Bemessungsgrundlage Neben der Höhe des Regelsatzes bedarf auch die Bestimmung der Bemessungsgrundlage bei einem eigenständigen Vergütungsanspruch des vorläufigen Sachwalters einer näheren Konkretisierung. Der Rückgriff vom Bundesgerichtshof auf § 12 InsVV beim Vergütungsantrag des Sachwalters basierte zum einen auf dem Grundsatz der Strukturgleichheit zwischen vorläufigem und endgültigem Sachwalter sowie zum anderen auf dem Umstand eines einheitlichen Vergütungsantrages. Beide Argumente greifen vorliegend jedoch nicht durch. Entweder hat daher ein Rückgriff auf die Bemessungsgrundlage des vorläufigen Insolvenzverwalters zu erfolgen oder es ist – im Falle wesentlicher betragsmäßiger Unterschiede zwischen der Bemessungsgrundlage des vorläufigen und des endgültigen Insolvenzverwalters – ein Abschlag bei der Vergütung zu machen. Dieser Abschlag wäre anhand des Differenzbetrags bei den jeweiligen Vergütungen zu bemessen. Um Unsicherheiten und Unklarheiten zu vermeiden, erscheint eine analoge Anwendung von § 11 InsVV beim eigenständigen Vergütungsantrag sachgerechter. Infolge des 16) 17)

BGH, Beschl. v. 21.7.2016 – IX ZB 70/14, BGHZ 211, 225 = ZIP 2016, 1592. Vgl. AG Köln, Beschl. v. 25.1.2017 – 73 IN 411/16, NZI 2017, 322.

Eigenständiger Vergütungsantrag des „nur“ vorläufigen Sachwalters

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unterschiedlichen Aufgabenbereiches von vorläufigem Sachwalter und Insolvenzverwalter widerspricht dies auch nicht der Grundsatzentscheidung des Bundesgerichtshofes. Als Bemessungsgrundlage dient daher das schuldnerische Vermögen, auf das sich die Tätigkeit des vorläufigen Sachwalters während des Eröffnungsverfahrens erstreckt hat. IV. Erhöhungsfaktoren bei der Eigenverwaltung Beim einheitlichen Vergütungsanspruch des Sachwalters ist eine Erhöhung des Vergütungssatzes analog § 12 Abs. 2 InsVV in Ansatz zu bringen, wenn die Erfüllung der regulären Aufgaben des (vorläufigen) Sachwalters ein überdurchschnittliches Ausmaß annimmt oder durch besondere rechtliche oder tatsächliche Schwierigkeiten geprägt ist. Gleichzeitig ist zu berücksichtigen, dass die Zu- und Abschlagstatbestände für den (vorläufigen) Sachwalter der Höhe nach nicht vom Regelinsolvenzverfahren übernommen werden können, sondern eigenständig sind und in der Regel geringer ausfallen.18) Diese Grundsätze gelten infolge der entsprechenden Anwendung von §§ 10, 11 InsVV ebenso beim eigenständigen Vergütungsantrag des vorläufigen Sachwalters. 1. Grundsätze bei Erhöhungstatbeständen In Betracht kommen die allgemeinen Erhöhungstatbestände gemäß § 3 InsVV, jedoch unter Berücksichtigung der Besonderheiten der Eigenverwaltung. Die Gewährung eines Zuschlages erfolgt unmittelbar durch eine Erhöhung des Basisbruchteils der Vergütung, ohne selbst entsprechend § 12 Abs. 1 InsVV auf einen Bruchteil von 60 % gekürzt zu werden.19) Im Rahmen des eigenständigen Vergütungsanspruchs erfolgt die Erhöhung der Vergütung des vorläufigen Sachwalters unmittelbar durch Erhöhung des Bruchteils der Gesamtvergütung von 15 % der Regelvergütung nach § 2 Abs. 1 InsVV. Zu vergüten sind alle Tätigkeiten, die dem (vorläufigen) Sachwalter vom Gesetz selbst oder vom Insolvenzgericht oder den Verfahrensbeteiligten in 18)

19)

BGH, Beschl. v. 21.7.2016 – IX ZB 70/14, BGHZ 211, 225 = ZIP 2016, 1592; BGH Beschl. v. 22.9.2016 – IX ZB 71/14, ZIP 2016, 1981 = NZI 2016, 963; BGH, Beschl. v. 22.6.2017 – IX ZB 91/15, ZInsO 2017, 1813 = DZWIR 2017, 529. BGH, Beschl. v. 21.7.2016 – IX ZB 70/14, BGHZ 211, 225 = ZIP 2016, 1592; BGH, Beschl. v. 22.6.2017 – IX ZB 91/15, ZInsO 2017, 1813 = DZWIR 2017, 529; Haarmeyer/ Mock, InsVV, 5. Aufl. 2010, § 12 Rz. 12.

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gesetzlicher Weise wirksam übertragen worden sind. Die Übernahme von gesetzlich nicht geregelten Sonderaufgaben wie z. B. arbeitsrechtlicher Sanierungsmaßnahmen begründet keinen Zuschlag, selbst wenn eine Beauftragung oder Zustimmung des vorläufigen Gläubigerausschusses vorliegt.20) Eine Beauftragung des vorläufigen Sachwalters mit der Erstellung eines Insolvenzplans ist demgegenüber auch im Eröffnungsverfahren in entsprechender Anwendung des § 284 InsO möglich.21) Aufgaben, die der (vorläufige) Sachwalter in Überschreitung seiner ihm gesetzlich zukommenden Aufgaben ausgeübt hat, sind nicht zu vergüten.22) Mit dieser Einschränkung möchte der Bundesgerichtshof verhindern, dass der (vorläufige) Sachwalter seine Aufgaben eigenmächtig zulasten der Masse in vergütungsrelevanter Weise erweitert. Hierbei übersieht der Bundesgerichtshof jedoch, dass Dritte zur Fortsetzung der Geschäftsbeziehung häufig auf eine Einbindung des gerichtlich bestellten (neutralen) Sachwalters bestehen. Kommt der vorläufige Sachwalter dieser Bitte nach, erfolgt die Tätigkeit i. S. der Sanierungsbemühungen und nicht mit der Zielsetzung einer Vergütungserhöhung. Keine vergütungsrelevanten Auswirkungen ergeben sich, falls die Schuldnerin einen Generalbevollmächtigten oder sonstige insolvenzrechtliche Berater hinzugezogen hat. Insbesondere hat der Bundesgerichtshof in diesen Fällen einen Abschlag abgelehnt.23) 2. Anerkannte Erhöhungstatbestände Ausweislich der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes kommen Zuschläge insbesondere auch bei Eigenverwaltungsverfahren regelmäßig in Betracht.24)

20)

21) 22) 23) 24)

BGH, Beschl. v. 22.9.2016 – IX ZB 71/14, ZIP 2016, 1981 = NZI 2016, 963; offengelassen wurde vom BGH in dieser Entscheidung, ob eine entsprechende Anordnung des Insolvenzgerichts im Eröffnungsverfahren zulässig und zuschlagsbegründend sein kann. BGH, Beschl. v. 22.9.2016 – IX ZB 71/14, ZIP 2016, 1981 = NZI 2016, 963. BGH, Beschl. v. 21.7.2016 – IX ZB 70/14, BGHZ 211, 225 = ZIP 2016, 1592; vgl. auch Hackenburg, ZInsO 2017, 204, 208 ff. BGH, Beschl v. 21.7.2016 – IX ZB 70/14, BGHZ 211, 225 = ZIP 2016, 1592. Zu den Einzelheiten der jeweiligen Erhöhungstatbestände: BGH, Beschl. v. 21.7.2016 – IX ZB 70/14, BGHZ 211, 225 = ZIP 2016, 1592; BGH Beschl. v. 22.9.2016 – IX ZB 71/14, ZIP 2016, 1981 = NZI 2016, 963; BGH, Beschl. v. 22.6.2017 – IX ZB 91/15, ZInsO 2017, 1813 = DZWIR 2017, 529; Haarmeyer/Mock, ZInsO 2016, 1829, 1832 ff.; Büttner in: HambKomm-InsO, 6. Aufl. 2017, § 12 InsVV Rz. 42 ff.

Eigenständiger Vergütungsantrag des „nur“ vorläufigen Sachwalters

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Vergütungserhöhend können zunächst Unternehmensfortführungen sein, da diese keinen Regelfall von Eigenverwaltungsverfahren darstellen. Der (vorläufige) Sachwalter kann daher einen entsprechenden Zuschlag geltend machen, wenn die Überwachung der Betriebsfortführung seine Arbeitskraft in überdurchschnittlichen Umfang in Anspruch genommen hat. Zu den Aufgaben der Sachwaltung gehört bei der Unternehmensfortführung vor allem die Überwachung der Geschäftsführung, was die dauerhafte und umfassende Einbindung in den Prozess der Betriebsfortführung erfordert. Dazu ist eine Kontrolle der laufenden Bestellungen erforderlich.25) Voraussetzung eines Zuschlags ist jedoch gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 4 InsVV, dass die Masse durch die Betriebsfortführung nicht entsprechend größer geworden ist. Nicht erforderlich kann demgegenüber sein, dass eine Erhöhung nur bei nicht kooperativen Schuldnern oder einer nachhaltigen Störung der internen Abläufe bei der Geschäftsführung als erfüllt angesehen wird.26) Daneben kann eine hohe Zahl von Arbeitnehmern oder die Unterstützung und Überwachung bei der Vorfinanzierung der Löhne und Gehälter einen Zuschlag rechtfertigen, sofern dies einen überdurchschnittlichen Arbeitsaufwand auslöst. Zuschlagsbegründend wirkt sich zudem eine gerichtliche Ermächtigung zur Begründung von Masseverbindlichkeiten im Eröffnungsverfahren aus. Entsprechende Erhöhungen werden allerdings nur in geringem Umfang anerkannt und können bereits i. R. des Zuschlags für die Betriebsfortführung Berücksichtigung finden. Einen weiteren Erhöhungstatbestand stellen übertragende Sanierungen dar. Bei diesen hat der (vorläufige) Sachwalter die von der Eigenverwaltung ausgearbeiteten Sanierungsszenarien auf ihre Durchführbarkeit und die Auswirkungen auf die Quotenerwartung der Gläubiger zu überprüfen. Derartige Planungen der Eigenverwaltung sind i. R. der Kontrollfunktion zu plausibilisieren und abzuwägen. Der (vorläufige) Sachwalter hat insoweit die Eigenverwaltung von Beginn an zu begleiten. Des Weiteren ist ein (geringer) Zuschlag für die Zusammenarbeit mit einem (vorläufigen) Gläubigerausschuss gerechtfertigt. Ebenso wirkt sich zuschlagsbegründend aus, wenn der vorläufige Sachwalter den Zahlungsverkehr gemäß § 275 InsO an sich zieht. 25) 26)

Nicht ausreichend ist insoweit die Kommunikation mit Kunden oder Lieferanten, da diese Aufgaben dem (vorläufigen) Sachwalter gesetzlich nicht zugewiesen sind. So aber Haarmeyer/Mock, ZInsO 2016, 1829, 1834; in diesem Falle würden die Voraussetzungen einer Eigenverwaltung bereits nicht mehr vorliegen, so dass das Verfahren in ein Regelverfahren überzuleiten wäre.

Geschäftsführung und Ressortaufteilung in der Unternehmenskrise DETLEF KLEINDIEK Inhaltsübersicht I. II.

Einführung Grundsatz der Gesamtverantwortung und Aufgabenverteilung im Geschäftsführerkollegium III. Zur Architektur der Aufgabenverteilung im Geschäftsführerkollegium 1. Vorgabe durch die Gesellschafter 2. Absprache unter den Geschäftsführern 3. Formale Anforderungen IV. Insbesondere: Sachgerechte Ausgestaltung der Aufgabenverteilung V. Konkretisierung der Überwachungspflichten

VI. Gesteigerte Überwachungspflichten bei sog. „nicht übertragbaren Aufgaben“ 1. Grundlagen 2. Massesicherungspflicht und Insolvenzantragspflicht 3. Abführung der Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung 4. Steuerliche Pflichten 5. Resümee VII. Ausblick: Ressortaufteilung zur Haftungsvermeidung in der Eigenverwaltung?

I. Einführung Hat eine GmbH mehrere Geschäftsführer, so gilt für die Abgrenzung der Geschäftsführerkompetenzen, soweit weder in der Satzung noch durch Gesellschafterentscheid etwas anderes festgelegt worden ist, der Grundsatz der Gesamtgeschäftsführung. Das lässt sich aus einer entsprechenden Anwendung des § 35 Abs. 2 Satz 1 GmbHG (Gesamtvertretung) ableiten;1) andere Stimmen kommen in Analogie zu § 77 Abs. 1 Satz 1 AktG zum selben Ergebnis.2) In der Konsequenz müssen jedenfalls sämtliche vorhandenen Geschäftsführer einschließlich der stellvertretenden (§ 44 GmbHG) bei allen Geschäftsführungsmaßnahmen zusammenwirken.

1)

2)

Altmeppen in: Roth/Altmeppen, GmbHG, 9. Aufl. 2019, § 37 Rz. 33; Baukelmann in: Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 6. Aufl. 2017, § 37 Rz. 16; Jacoby in: Bork/ Schäfer, GmbHG, 4. Aufl. 2019, § 37 Rz. 4; Kleindiek in: Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 37 Rz. 28; Paefgen in: Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl. 2014, § 35 Rz. 170. U. H. Schneider/S. H. Schneider in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2014, § 37 Rz. 25; Stephan/Tieves in: MünchKomm-GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 37 Rz. 78 f.; Zöllner/Noack in: Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl. 2017, § 37 Rz. 29.

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Detlef Kleindiek

Auch bei einer solchen Ausgangslage können die Geschäftsführer jedoch – wiederum: vorbehaltlich vorrangiger Satzungsregelung oder Gesellschafterentscheidung – die Geschäftsführungsaufgaben untereinander verteilen, insbesondere durch Bildung von Geschäftsführungsressorts. Eine sachgerechte Ressortaufteilung führt zu einer differenzierten Ausgestaltung der jedem einzelnen Geschäftsführer obliegenden Handlungspflichten: Für die Wahrnehmung der ihm zugewiesenen Aufgaben ist in erster Linie der jeweilige Ressortgeschäftsführer verantwortlich; bezogen auf sein eigenes Ressort ist jeder Geschäftsführer typischerweise einzelgeschäftsführungsbefugt.3) Gleichwohl muss jeder Geschäftsführer die jeweilige ressortbezogene Tätigkeit seiner Mitgeschäftsführer beobachtend kontrollieren und überwachen. Denn für die Führung der Geschäfte im Ganzen bleibt jeder einzelne Geschäftsführer (mit-)verantwortlich. Die Voraussetzungen, unter denen sich ein nicht unmittelbar (ressort-)zuständiger Geschäftsführer vor diesem Hintergrund vom Vorwurf schuldhafter Verletzung seiner Geschäftsführerpflichten entlasten kann, hat der II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes in einer lehrreichen Entscheidung vom 6. November 2018 konkretisiert.4) Es klagte der Insolvenzverwalter im Insolvenzverfahren über das Vermögen einer GmbH, die Fernsehshows produzierte. Geschäftsführer waren der Beklagte und der Zeuge K. Der Kläger nahm den Beklagten aus § 64 Abs. 2 GmbHG a. F. auf Erstattung von Zahlungen in Anspruch, die nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit (und zwar im Zeitraum 3. September – 10. Oktober 2008) getätigt worden waren; mit K. hatte sich der Insolvenzverwalter im Vergleichswege geeinigt. Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts kümmerte sich der Geschäftsführer K. um die kaufmännische, organisatorische und finanzielle Seite des Geschäfts, während der Beklagte allein „für das Künstlerische“ zuständig war. K. hatte den Beklagten erst am 9. Oktober 2008 (dem Tag vor Stellung des Insolvenzantrags) über die eingetretene Insolvenzreife unterrichtet. Das 3)

4)

Baukelmann in: Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 6. Aufl. 2017, § 37 Rz. 38; Jacoby in: Bork/Schäfer, GmbHG, 4. Aufl. 2019, § 37 Rz. 5; Leuering/Dornhegge, Geschäftsverteilung zwischen GmbH-Geschäftsführern, NZG 2010, 13; Stephan/Tieves in: MünchKomm-GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 37 Rz. 90; Vetter in: Hdb Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, § 22 Rz. 22.19. BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, ZIP 2019, 261; dazu Anm. und Bespr. v. BuckHeeb, BB 2019, 584 ff.; Fleischer, DB 2019, 472 ff.; Hülsmann, GmbHR 2019, 209 ff.; Kleindiek, EWiR 2019, 135 f.; v. d. Linden, Teile und herrsche – auch als Geschäftsführer, NJW 2019, 1039 ff.; Peitsmeyer/Klesse, NZG 2019, 501 ff.; Schädlich, NZI 2019, 229 f.; Schockenhoff, Ressortaufteilung unter GmbH-Geschäftsführern: Ein Minenfeld, GmbHR 2019, 514 ff.; Wentz, WuB 2019, 188 ff.

Geschäftsführung und Ressortaufteilung in der Unternehmenskrise

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Berufungsgericht war zu dem Ergebnis gekommen, dass dem Beklagten hinsichtlich aller Zahlungen vor dem 10. Oktober 2008 eine schuldhafte Verletzung der Massesicherungspflicht nicht vorzuwerfen sei, weil er den Eintritt der Zahlungsunfähigkeit nicht habe erkennen können. Es hatte die Klage deshalb bis auf einen kleineren Teilbetrag abgewiesen. Der Bundesgerichtshof hat das Berufungsurteil insoweit aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückverwiesen, weil das Berufungsgericht die an den Entlastungsbeweis zu stellenden Anforderungen verkannt habe. Im Mittelpunkt der Entscheidungsgründe steht die Konkretisierung jener Anforderungen, die von Rechts wegen an eine Geschäftsverteilung oder Ressortaufteilung zu stellen sind, damit ihr entlastende Wirkung zukommen kann. Zugleich ruft das Urteil die – wie (wenig glücklich) formuliert wird – „nicht übertragbaren Aufgaben“ der Geschäftsführer in Erinnerung, zu denen die zivilgerichtliche Rechtsprechung u. a. die Pflicht zur Stellung des Insolvenzantrags und zur Massesicherung nach Eintritt von Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung zählt (§ 15a Abs. 1 InsO und § 64 GmbHG). Auch die Wahrnehmung der sog. „nicht übertragbaren Aufgaben“ ist einer Ressortzuweisung durchaus zugänglich. Aber den Mitgeschäftsführern obliegen hier gesteigerte Kontroll- und Überwachungspflichten, an deren Erfüllung ein strenger Maßstab angelegt wird. Der nachfolgende Beitrag analysiert die Lehren aus jener Entscheidung des Bundesgerichtshofes, und zwar unter Konzentration auf das GmbHRecht.5) Er geht dabei auch der Herleitung gesteigerter Kontroll- und Überwachungspflichten bei sog. „nicht übertragbaren Aufgaben“ nach. Ein solches Unterfangen ist aus der Perspektive des Insolvenz- wie des Gesellschaftsrechts gleichermaßen von Belang. Denn zum einen betreffen die „nicht übertragbaren Aufgaben“ gerade solche Pflichten der Geschäftsführer, die entweder erst ab materieller Insolvenzreife entstehen oder deren Erfüllung in der wirtschaftlichen Krise der Gesellschaft typischerweise massiv gefährdet ist. Dass die Rechtsprechung hier gesteigerte Kontroll- und Überwachungspflichten der (intern) nicht unmittelbar (ressort-)zustän5)

Zur Parallelproblematik im Aktienrecht siehe etwa Emde, Gesamtverantwortung und Ressortverantwortung im Vorstand der AG, in: FS U. H. Schneider, 2011, S. 295 ff.; Fleischer, Zum Grundsatz der Gesamtverantwortung im Aktienrecht, NZG 2003, 449 ff.; Harbarth, Unternehmensorganisation und Vertrauensgrundsatz im Aktienrecht, ZGR 2017, 211 ff.; Löbbe/Fischbach, Die Business Judgment Rule bei Kollegialentscheidungen des Vorstands, AG 2014, 717, 718 ff.; Nietsch, Überwachungspflichten bei Kollegialorganen, ZIP 2013, 1449 ff.; aus der aktienrechtlichen Kommentarliteratur siehe zuletzt Fleischer in: Spindler/Stilz, AktG, 4. Aufl. 2019, § 77 Rz. 46 ff.

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digen Mitgeschäftsführer annimmt, erklärt sich als Reaktion auf eine akute Bedrohung nicht lediglich der Interessen der Gesellschaft, sondern auch (oder gar allein) des öffentlichen Interesses sowie der Interessen der Gesellschaftsgläubiger. Jene Zusammenhänge zu verdeutlichen, mag – zum anderen – einen Beitrag zu einer aktuellen Diskussion im Insolvenzrecht leisten. Sie dreht sich um die Frage, ob die Geschäftsführer einer GmbH im Eigenverwaltungsverfahren dem Risiko der eigenen Haftung in Analogie zu §§ 60, 61 InsO6) dadurch aus dem Weg gehen können, dass die Wahrnehmung der insolvenzspezifischen Pflichten – gewissermaßen „exklusiv“ – der Ressortzuständigkeit eines zum Organmitglied (Mitgeschäftsführer) berufenen Restrukturierungsexperten zugewiesen wird. Hierauf wird abschließend zurückzukommen sein. II. Grundsatz der Gesamtverantwortung und Aufgabenverteilung im Geschäftsführerkollegium In der mehrköpfigen GmbH-Geschäftsführung gilt der Grundsatz der Gesamtverantwortung: Die Geschäftsführer einer GmbH sind – so hat der Bundesgerichtshof formuliert7) – kraft ihrer Organstellung grundsätzlich für alle Angelegenheiten der Gesellschaft zuständig. Deshalb trifft jeden von ihnen die Pflicht zur Geschäftsführung im Ganzen, denn die Führung der Geschäfte der Gesellschaft umfasst die verantwortliche Leitung der Geschäfte in ihrer Gesamtheit, nicht in erster Linie die Besorgung bestimmter (einzelner) Geschäfte. Und dieser Allzuständigkeit des Geschäftsführers entspricht eine umfassende Verantwortung für die Belange der Gesellschaft als Ganzes. Freilich steht der Grundsatz der Gesamtverantwortung der internen Aufgabenverteilung unter den Mitgliedern eines Geschäftsführerkollegiums nicht entgegen. Denn die Geschäftsführer können ihrer Verantwortung für die Gesellschaft als Ganzes auch durch Mitwirkung an einer Regelung nachkommen, durch die jedem einzelnen von ihnen bestimmte Aufgaben zugewiesen werden. Eine solche binnenorganisatorische Maßnahme (in der Praxis größerer Unternehmen ohnehin unabdingbar) dient gerade der Bewältigung der bestehenden Geschäftsführungsaufgaben und der Erfüllung der der Gesellschaft obliegenden Pflichten.8) 6) 7) 8)

Dazu BGH, Urt. v. 26.4.2018 – IX ZR 238/17, ZIP 2018, 977. BGH, Urt. v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, ZIP 1996, 2017, 2019; ebenso schon BFH, Urt. v. 26.4.1984 – V R 128/79, ZIP 1984, 1345, 1346. Zutreffend BGH, Urt. v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, ZIP 1996, 2017, 2019.

Geschäftsführung und Ressortaufteilung in der Unternehmenskrise

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Der Grundsatz der Gesamtverantwortung setzt einer Entscheidungsdelegation an einzelne Geschäftsführer allerdings gewisse Grenzen: Bestimmte Maßnahmen, die für die Gesellschaft von besonderem Gewicht sind, müssen ungeachtet einer Geschäftsverteilung oder Ressortaufteilung von allen Geschäftsführern zusammen getroffen werden.9) Dazu zählen etwa Vorschläge der Geschäftsführer an die Gesellschafter hinsichtlich der Unternehmenspolitik und ihrer Fortschreibung oder die Erörterung ungewöhnlicher, weil mit besonderen Risiken verbundener Vorgänge. Gleiches gilt für die Aufstellung des Jahresabschlusses (§ 264 Abs. 1 Satz 1 HGB, § 42a Abs. 1 Satz 1 GmbHG).10) Insoweit mag der ressortzuständige Geschäftsführer die Initiative ergreifen und Vorschläge für die Beratung im Geschäftsführerkollegium erarbeiten. Aber jeder Geschäftsführer muss eine Angelegenheit seines eigenen Ressorts allen anderen Geschäftsführern zur Mitentscheidung antragen, wenn es um herausragend bedeutsame Entscheidungen geht. Gleiches gilt, wenn mit dem Widerspruch anderer Geschäftsführer zu rechnen ist.11) Im Übrigen kann jeder Geschäftsführer eine Angelegenheit des eigenen Ressorts den Mitgeschäftsführern jederzeit zur Beratung und Entscheidung antragen, wenn er eine Befassung des Geschäftsführerkollegiums für angezeigt hält. Von der Zuständigkeit aller Geschäftsführer im arbeitsteilig organisierten Geschäftsführungskollegium war auch der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofes in seiner bekannten „Lederspray“-Entscheidung aus dem Jahre 199012) ausgegangen, wo die Gefährdung hoher Individualrechtsgüter in Rede stand: Dort ging es um die strafrechtliche Verantwortlichkeit aus unterlassenem Rückruf von Erzeugnissen, die sich (aus ungeklärter Ursache) als gesundheitsschädlich erwiesen hatten. Produktion und Vertrieb jener Erzeugnisse, so der Bundesgerichtshof, sei jedem der Geschäftsführer strafrechtlich zuzurechnen, woraus sich für jeden von ihnen eine zur Schadensabwendung verpflichtende Garantenstellung ergeben habe. Die interne Aufgabenverteilung unter den Geschäftsführern habe zu keiner Einschränkung der aus jener 9)

10) 11) 12)

Dazu etwa OLG Karlsruhe, Urt. v. 4.5.1999 – 8 U 153/97, NZG 2000, 264, 266; Kleindiek in: Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 37 Rz. 31; Leuering/Dornhegge, NZG 2010, 13, 15; Peters, Ressortverteilung zwischen GmbH-Geschäftsführern und ihre Folgen, GmbHR 2008, 682, 686; U. H. Schneider in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2014, § 43 Rz. 43. – BGH, Urt. v. 6.3.2012 – II ZR 76/11, Rz. 23, ZIP 2012, 824, hat freilich offengelassen, ob es „Kernaufgaben“ der Geschäftsführer gibt, die sich einer Ressortaufteilung entziehen. Zutreffend OLG Hamm, Urt. v. 24.4.1991 – 8 U 188/90, GmbHR 1992, 375, 377. Vgl. OLG Karlsruhe, Urt. v. 4.5.1999 – 8 U 153/97, NZG 2000, 264, 266 f. BGH, Urt. v. 6.7.1990 – 2 StR 549/89, NJW 1990, 2560.

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Garantenstellung folgenden Handlungspflichten geführt, da die Geschäftsführung „in Krisen- und Ausnahmesituationen“ schon nach dem gesellschaftsrechtlichen Grundsatz der Gesamtverantwortung insgesamt zum Handeln berufen sei und die Gefahren aus den in Verkehr gebrachten Erzeugnissen ohnehin nur „ressortübergreifend“ hätten bewältigt werden können. Jeder Geschäftsführer sei deshalb verpflichtet gewesen, „(…) unter vollem Einsatz seiner Mitwirkungsrechte das ihm Mögliche und Zumutbare zu tun, um einen Beschluss der Gesamtgeschäftsführung über Anordnung und Vollzug des gebotenen Rückrufs zustande zu bringen“.13)

Jenseits solcher Fälle der Entscheidungszuständigkeit aller Geschäftsführer führen interne Zuständigkeitsregelungen in der Geschäftsleitung zwar nicht zu einer Aufhebung, wohl aber zu einer Beschränkung der haftungsrechtlichen Verantwortlichkeit; sie haben haftungsentlastende Wirkung. In den Worten des Bundesgerichtshofes: „Durch eine derartige Aufteilung der Geschäfte wird die Verantwortlichkeit des nicht betroffenen Geschäftsführers nach innen und außen beschränkt, denn im Allgemeinen kann er sich darauf verlassen, dass der zuständige Geschäftsführer die ihm zugewiesenen Aufgaben erledigt. Doch verbleiben dem nicht betroffenen Geschäftsführer in jedem Fall kraft seiner Allzuständigkeit gewisse Überwachungspflichten, die ihn zum Eingreifen veranlassen müssen, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Erfüllung der der Gesellschaft obliegenden Aufgaben durch den zuständigen Geschäftsführer nicht mehr gewährleistet ist.“14)

Damit ist festzuhalten: Werden die Geschäfte in sachgerechter Weise unter den Geschäftsführern aufgeteilt, ist jeder Geschäftsführer zuvörderst für das ihm zugewiesene Ressort verantwortlich. Die Verantwortung jedes einzelnen Mitgeschäftsführers für die Führung der Geschäfte im Ganzen bleibt gleichwohl unberührt, denn der Grundsatz der Gesamtverantwortung aller Mitglieder des Geschäftsführungskollegiums ist unentziehbar und unverzichtbar. Aus der Gesamtverantwortung folgt, dass jeder Geschäftsführer auch die ressortbezogene Tätigkeit seiner Mitgeschäftsführer beobachtend überwachen und kontrollieren muss.15) Die Entlastung eines nicht unmittelbar ressortzuständigen Geschäftsführers hat mithin eine doppelte Voraussetzung: Die interne Aufgabenvertei13) 14) 15)

BGH, Urt. v. 6.7.1990 – 2 StR 549/89, NJW 1990, 2560, 2565. BGH, Urt. v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, ZIP 1996, 2017, 2019 f. So schon RG, Urt. v. 3.2.1920 – II 272/19, RGZ 98, 98, 100; zuletzt BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, Rz. 18, ZIP 2019, 261; aus dem Schrifttum etwa Baukelmann in: Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 6. Aufl. 2017, § 37 Rz. 45; Fleischer in: MünchKomm-GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 43 Rz. 119 ff.; Kleindiek in: Lutter/ Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 37 Rz. 32; Leuering/Dornhegge, NZG 2010, 13, 15; Peters, GmbHR 2008, 682, 684; U. H. Schneider in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2014, § 43 Rz. 39; Vetter in: Hdb Managerhaftung, 3. Aufl. 2017, § 22 Rz. 22.79.

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lung innerhalb des Geschäftsführerkollegiums muss den Anforderungen entsprechen, die an eine – wie der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung aus 2018 formuliert hat16) – „wirksame“ (will sagen: entlastende) Ressortverteilung zu stellen sind (hierzu unten IV.). Und der nicht unmittelbar zuständige Geschäftsführer muss – außerdem – seinen Kontrollund Überwachungspflichten gegenüber dem (ressortzuständigen) Mitgeschäftsführer nachgekommen sein (dazu unten V. und VI.). III. Zur Architektur der Aufgabenverteilung im Geschäftsführerkollegium Der Geschäftsverteilung oder Ressortaufteilung unter den Geschäftsführern kann ein Gesellschafterentscheid zugrunde liegen; alternativ kann sie aber auch von den Geschäftsführern selbst vorgenommen werden. Ob sie, um haftungsentlastende Wirkung entfalten zu können, zwingend schriftlich fixiert sein muss, wurde im Schrifttum bislang kontrovers erörtert. Dazu jeweils etwas näher: 1. Vorgabe durch die Gesellschafter Die interne Aufgabenverteilung im Geschäftsführerkollegium kann auf einer Entscheidung der Gesellschafter beruhen. Sie kann in der Satzung verankert sein oder – praktisch allemal verbreiteter – auf einem Beschluss der Gesellschafter gründen.17) Denn diese können den Geschäftsführern eine Geschäftsverteilung oder Ressortaufteilung jederzeit vorgeben, etwa im Rahmen einer von ihnen mit einfacher Mehrheit beschlossenen Geschäftsordnung18). Ebenso steht es im Belieben der Gesellschafter, ein anderes Gesellschaftsorgan (z. B. den Beirat) zur konkretisierenden Abgrenzung der Geschäftsführerkompetenzen zu ermächtigen. Die Gesellschafter können indes keinen Geschäftsführer von seiner kontrollierenden Gesamtverantwortung entbinden. Die angesprochenen Überwachungs- und Kontrollpflichten jedes einzelnen Geschäftsführers gegenüber seinen ressortzuständigen Mitgeschäftsführern gelten auch bei einer 16) 17) 18)

BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, Rz. 16, 27, ZIP 2019, 261. Leuering/Dornhegge, NZG 2010, 13, 14; Peters, GmbHR 2008, 682, 683. Altmeppen in: Roth/Altmeppen, GmbHG, 9. Aufl. 2019, § 37 Rz. 33; Kleindiek in: Lutter/ Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 37 Rz. 36; Leuering/Dornhegge, NZG 2010, 13, 14; Stephan/Tieves in: MünchKomm-GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 37 Rz. 98; a. A. U. H. Schneider/S. H. Schneider in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2014, § 37 Rz. 71: qualifizierte Mehrheit nach § 53 Abs. 2 Satz 1.

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Aufgabenzuweisung durch die Gesellschafter oder durch ein anderes (dazu berufenes) Gesellschaftsorgan. Mit den Worten des Bundesfinanzhofes: „Die Gesellschaft kann (…) im Gesellschaftsvertrag oder durch Beschluss der Gesellschafter (§ 37 Abs. 1 GmbHG) unter mehreren Geschäftsführern zwar eine Arbeitsteilung verfügen, bei der für jeden Bereich stets mindestens ein Geschäftsführer zuständig sein muss (§ 6 Abs. 1 GmbHG); sie kann aber keinen Geschäftsführer von seinem Anteil an der Gesamtverantwortung entlasten.“19)

2. Absprache unter den Geschäftsführern Statt selbst eine Geschäftsordnung zu beschließen, steht es den Gesellschaftern frei, den Geschäftsführern den Erlass einer eigenen Geschäftsordnung aufzugeben. Die Geschäftsführer können aber – soweit eine einschlägige Satzungsregelung oder eine Vorgabe seitens der Gesellschafter gerade fehlt – auch ohne dahin gehende Ermächtigung die Geschäftsführungsaufgaben untereinander aufteilen, etwa Geschäftsführungsressorts bilden.20) Dabei stand das Schrifttum schon bislang auf dem Standpunkt, dass es für eine solche Geschäftsverteilung oder Ressortaufteilung – etwa im Rahmen einer Geschäftsordnung, die sich die Geschäftsführer selbst geben – der Zustimmung aller Geschäftsführer bedarf.21) Der Bundesgerichtshof hat das in seiner Entscheidung von November 2018 bestätigt: Eine von den Geschäftsführern vorgenommene Aufgabenzuweisung muss von allen Mitgliedern des Geschäftsführungsorgans einvernehmlich mitgetragen werden.22) 3. Formale Anforderungen Ob die Aufgabenaufteilung in der mehrköpfigen Geschäftsführung, um haftungsentlastend wirken zu können, zwingend eine schriftliche Fixierung voraussetzt, ist kontrovers erörtert worden. Im Rahmen der steuerlichen Haftung des Geschäftsführers aus §§ 34, 69 Satz 1 AO erkennt der Bundesfinanzhof 19) 20) 21)

22)

BFH, Urt. v. 26.4.1984 – V R 128/79, ZIP 1984, 1345, 1346. Heute wohl unstreitig; siehe nur Leuering/Dornhegge, NZG 2010, 13, 14; Stephan/ Tieves in: MünchKomm-GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 37 Rz. 100, je m. w. N. Altmeppen in: Roth/Altmeppen, GmbHG, 9. Aufl. 2019, § 37 Rz. 35; Baukelmann in: Rowedder/Schmidt-Leithoff, GmbHG, 6. Aufl. 2017, § 37 Rz. 42; Kleindiek in: Lutter/ Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 37 Rz. 29; Leuering/Dornhegge, NZG 2010, 13, 14; Paefgen in: Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl. 2014, § 35 Rz. 190 f.; U. H. Schneider/S. H. Schneider in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2014, § 37 Rz. 75; Stephan/Tieves in: MünchKomm-GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 37 Rz. 101; Zöllner/Noack in: Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl. 2017, § 37 Rz. 29. BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, Rz. 21, ZIP 2019, 261.

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eine haftungsentlastende Ressortaufteilung nur an, sofern sie ex ante schriftlich niedergelegt worden ist:23) Die Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmanns (§ 43 Abs. 1 GmbHG) erfordere eine vorweg eindeutige Klarstellung, welcher Geschäftsführer für welchen Bereich zuständig sei, damit nicht im Haftungsfalle jeder Geschäftsführer auf die Verantwortlichkeit eines anderen verweise. Folglich müsse eine vorgegebene – und damit zumindest schriftliche – Aufteilung vorliegen, die jede einzelne Aufgabe in den Zuständigkeitsbereich mindestens eines Geschäftsführers verweise. Fehle es daran, bleibe es „(…) zumindest hinsichtlich eines Unterlassens bei der solidarischen Haftung aller Geschäftsführer (§ 43 Abs. 2 GmbHG) wegen Organisationsverschuldens“.24)

Auch Teile des gesellschaftsrechtlichen Schrifttums wollen die rechtliche Anerkennung einer Geschäftsverteilung an eine schriftliche Fixierung in Satzung, Gesellschafterbeschluss, Geschäftsordnung oder Anstellungsvertrag knüpfen.25) Der Bundesgerichtshof ist in seiner Entscheidung aus 201826) der Gegenposition27) gefolgt. Mit guten Gründen: Die schriftliche Dokumentation der Aufgabenzuweisung ist regelmäßig das Mittel der Wahl, um eine klare und eindeutige Aufgabenabgrenzung sicherzustellen. Jedoch setzt eine wirksame Begrenzung des Verantwortungsbereichs nicht zwingend die schriftlich fixierte Aufgabenverteilung voraus. Vielmehr genügt es, dem Geschäftsführer, der sich mit der internen Aufgabenverteilung im Geschäftsführerkollegium exkulpieren will, den Nachteil des non liquet aufzuerlegen.28) Durch wechselseitige Verweisung auf eine angebliche Zuständigkeitszuweisung an einen jeweils anderen können sich die Geschäftsführer ihrer Verantwortlichkeit nicht entziehen.29) 23)

24) 25)

26) 27)

28) 29)

BFH, Urt. v. 26.4.1984 – V R 128/79, ZIP 1984, 1345, 1346; BFH, Vers.-Urt. v. 4.3.1986 – VII S 33/85, ZIP 1986, 1247, 1248; BFH, Urt. v. 13.3.2003 – VII R 46/02, NZG 2003, 734, 736. BFH, Urt. v. 26.4.1984 – V R 128/79, ZIP 1984, 1345, 1347; vgl. aber auch die Entscheidung in BFH, Beschl. v. 4.3.1986 – VII S 33/85, ZIP 1986, 1247, 1248. So etwa Dreher, Die persönliche Verantwortlichkeit von Geschäftsleitern nach außen und die innergesellschaftliche Aufgabenteilung, ZGR 1992, 22, 57 ff.; Fleischer in: MünchKomm-GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 43 Rz. 114 f.; U. H. Schneider/S. H. Schneider in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2014, § 37 Rz. 69; U. H. Schneider in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2014, § 43 Rz. 37; Ziemons in: Michalski/Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 43 Rz. 338. BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, Rz. 17, 22 ff., ZIP 2019, 261. Der Senat nennt Buck-Heeb in: Gehrlein/Born/Simon, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 37 Rz. 28; Jacoby in: Bork/Schäfer, GmbHG, 3. Aufl. 2015, § 37 Rz. 6; Kleindiek in: Lutter/ Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 37 Rz. 37; Leuering/Dormhegge, NZG 2010, 13, 15; Marsch-Barner/Diekmann in: MünchHdb. GesR III, 4. Aufl. 2012, § 44 Rz. 87. Siehe schon Kleindiek in: Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 37 Rz. 37. BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, Rz. 24, ZIP 2019, 261.

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Ob und ggf. in welchem Umfang eine schriftliche Dokumentation erforderlich ist, will der Bundesgerichtshof deshalb von den Umständen des konkreten Einzelfalls abhängig machen: Eine schriftliche Dokumentation könne geboten sein, „(…), wenn den Geboten der Klarheit und Eindeutigkeit der Aufgabenverteilung im Hinblick auf die konkreten Verhältnisse der Gesellschaft oder die Art der Verteilung der Geschäfte bzw. Aufteilung der Ressorts selbst nicht genügend Rechnung getragen“

werden könne.30) Auch eine ausdrückliche Vereinbarung der Aufgabenverteilung sieht der Senat nicht als unabdingbar erforderlich an: Selbst eine auf nur faktischer Arbeitsteilung oder stillschweigender Übereinkunft beruhende Geschäftsverteilung oder Ressortzuweisung könne zu einer den – sogleich zu beschreibenden – Anforderungen entsprechenden Aufgabenzuweisung erstarken.31) IV. Insbesondere: Sachgerechte Ausgestaltung der Aufgabenverteilung Damit sich die übrigen Geschäftsführer auf die Kontrolle und Überwachung des primär (ressort-)zuständigen Kollegen beschränken dürfen, muss die Aufgabenverteilung unter den Geschäftsführern sachgerecht ausgestaltet sein. Sie muss es auch im Zeitablauf bleiben, was zur regelmäßigen Überprüfung Anlass geben sollte.32) Dies gilt erst recht bei personellen Veränderungen im Geschäftsführerkollegium – zumal eine unter den Geschäftsführern vereinbarte Aufgabenverteilung (wie dargelegt) ohnehin von jedem einzelnen Mitgeschäftsführer, also auch von einem neu hinzukommenden, mitgetragen werden muss. Die Aufgabenverteilung muss – so lassen sich die einschlägigen Überlegungen des Bundesgerichtshofes in der Entscheidung von November 2018 zusammenfassen33) – die ordnungsgemäße Erledigung jeder Geschäftsführungsaufgabe durch einen zweifelsfrei zuständigen, fachlich und persönlich geeigneten Geschäftsführer erwarten lassen und zudem das Vertrauen rechtfertigen, dass alle Geschäftsführer zuverlässig über die wesentlichen Angelegenheiten der Gesellschaft informiert werden, damit sie ihre wechselseitigen Kontroll- und Überwachungsaufgaben wahrnehmen können und ihre Gesamtverantwortung gewährleistet bleibt. 30)

31) 32) 33)

So BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, Rz. 23, ZIP 2019, 261, unter Verweis auf Goette, Organisationspflichten in Kapitalgesellschaften zwischen Rechtspflicht und Opportunität, ZHR 175 (2011), 388, 397 f., und Dreher, ZGR 1992, 22, 59 f. BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, Rz. 26, ZIP 2019, 261. Zum Gebot regelmäßiger Überprüfung Peters, GmbHR 2008, 682, 684; siehe auch v. d. Linden, NJW 2019, 1039, 1040. Vgl. insbesondere BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, Rz. 17, 23 a. E., ZIP 2019, 261.

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In eben diesem Sinne hat der Bundesgerichtshof die an eine Geschäftsverteilung oder Ressortaufteilung zu stellenden Anforderungen mit Bezug auf eine von den Geschäftsführern selbst vorgenommene Aufgabenverteilung konkretisiert: Sie muss eine klare und eindeutige Aufgabenabgrenzung enthalten, die Geschäftsführungsaufgaben also zweifelsfrei (und vollständig) zuordnen.34) Dabei dürfen weder Zweifel hinsichtlich der Abgrenzung des Aufgabenbereichs noch der Person des für die Erledigung jeweils Verantwortlichen verbleiben. Zudem müssen die einzelnen Aufgaben fachlich und persönlich geeigneten Personen zugewiesen werden; dieser Eignung müssen sich die Geschäftsführer vergewissern, wenn sie die Aufgabenzuweisung durch Absprache untereinander regeln.35) Ob auch eine von den Gesellschaftern verfügte Geschäftsverteilung oder Ressortaufteilung jenen Anforderungen genügen muss, um haftungsentlastende Wirkung zugunsten der Geschäftsführer zu entfalten, musste der Bundesgerichtshof in der angesprochenen Entscheidung nicht erörtern. Hinsichtlich der – sogleich näher in den Blick zu nehmenden – „nicht übertragbaren Aufgaben“ dürfte diese Frage im Ergebnis schon deshalb praktisch wenig relevant werden, weil hier ohnehin jedem einzelnen Mitgeschäftsführer besonders weitgehende (zudem zwingende) Kontroll- und Überwachungspflichten verbleiben, an deren Erfüllung ein strenger Maßstab anzulegen ist. Und auch hinsichtlich der sonstigen Geschäftsführungsaufgaben sind die Geschäftsführer kraft ihrer allgemeinen Leitungspflicht (§ 43 Abs. 1 GmbHG) jedenfalls gehalten, bei den Gesellschaftern vorstellig zu werden, wenn sie die mangelnde Sachgerechtigkeit einer von diesen erlassenen Geschäftsordnung etc. erkennen. Sollten die Gesellschafter dann gleichwohl an einer objektiv sachwidrigen Aufgabenzuweisung festhalten, bleibt die Haftungsentlastung zugunsten der nicht ressortzuständigen Geschäftsführer durchaus zweifelhaft. Denn der Grundsatz der Gesamtverantwortung aller Geschäftsführer (der die Haftungsentlastung an eine sachgerecht ausgestaltete Aufgabenverteilung knüpft) steht nicht zur Disposition der Gesellschafter.36) Jedenfalls muss es für solche Aufgaben bei der Gesamtverantwortung aller Geschäftsführer bleiben, die nicht eindeutig (mindestens) einem von ihnen zugewiesen worden sind. Wie der Bundesgerichtshof in derartigen Fällen entscheiden wird, ist einstweilen freilich offen.

34) 35) 36)

BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, Rz. 20, ZIP 2019, 261. BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, Rz. 21, ZIP 2019, 261. Siehe oben im Text vor Fn. 15 und 19.

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V. Konkretisierung der Überwachungspflichten Eine sachgerechte Aufgabenverteilung im Geschäftsführerkollegium hat zur Folge, dass jeder Geschäftsführer in erster Linie für den ihm zugewiesenen Bereich verantwortlich ist und sich alle Mitgeschäftsführer im Allgemeinen darauf verlassen können, dass der zuständige Geschäftsführer die ihm zugewiesenen Aufgaben ordnungsgemäß erledigt. Jedem einzelnen Geschäftsführer verbleiben kraft seiner Gesamtverantwortung aber Überwachungspflichten: Er muss die ressortbezogene Tätigkeit der Mitgeschäftsführer beobachtend überwachen und kontrollieren.37) Das begründet selbstverständlich keine Pflicht zur umfassenden Überwachung jeder einzelnen Handlung des unmittelbar ressortzuständigen Kollegen;38) auch darf sich kein Geschäftsführer ohne triftigen Grund in die Führung der Geschäfte eines anderen Ressorts „einmischen“,39) darf in die Ressortzuständigkeit des Mitgeschäftsführers nicht „hineinregieren“.40) Aber jeder Geschäftsführer ist zum Eingreifen gehalten, wenn sich Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die ordnungsgemäße Erfüllung der Geschäftsführungsaufgaben durch den primär zuständigen Ressortgeschäftsführer nicht mehr gewährleistet ist.41) Mit Blick auf die Erfüllung steuerlicher Pflichten heißt es in einer Entscheidung des Bundesfinanzhofes: „Jede Aufgabenverteilung zwischen Vertretern einer juristischen Person wird hinfällig, wenn Anlass besteht, an der Pflichterfüllung derjenigen zu zweifeln, auf die steuerliche Pflichten zulässigerweise delegiert werden.“42)

Das ist zu streng formuliert, denn schlechterdings „hinfällig“ wird eine vereinbarte Aufgabenverteilung in einem solchen „Zweifelsfall" noch nicht. Gewiss aber muss die Pflicht zur beobachtenden Überwachung und Kontrolle darauf gerichtet sein, dass der unmittelbar zuständige Geschäftsführer in seinem Arbeitsbereich die Geschäfte ordnungsgemäß führt.

37) 38) 39)

40) 41)

42)

Siehe die Nachweise oben Fn 15. Vgl. OLG Koblenz, Urt. v. 22.11.2007 – 6 U 1170/07, GmbHR 2008, 37, 40. OLG Koblenz, Urt. v. 22.11.2007 – 6 U 1170/07, GmbHR 2008, 37, 39; OLG Zweibrücken, Urt. v. 22.12.1998 – 8 U 98/98, NZG 1999, 506, 508; Paefgen in: Ulmer/ Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl. 2014, § 35 Rz. 176; Ziemons in: Michalski/ Heidinger/Leible/J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 43 Rz. 346. OLG Hamm, Urt. v. 24.4.1991 – 8 U 188/90, GmbHR 1992, 375, 377. BGH, Urt. v. 8.7.1985 – II ZR 198/84, NJW 1986, 54, 55; BGH, Urt. v. 20.3.1986 – II ZR 114/85, NJW-RR 1986, 1293; BGH, Urt. v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, ZIP 1996, 2017, 2020. BFH, Urt. v. 13.3.2003 – VII R 46/02, LS 4, NZG 2003, 734.

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Schon um dieser Überwachungsverpflichtung nachkommen zu können, ist jeder Geschäftsführer gehalten, sich über alle wesentlichen Angelegenheiten der Gesellschaft auch außerhalb seines eigenen Ressorts stetig zu informieren. Jeder Geschäftsführer, auch der ressortlose, hat gegenüber jedem anderen Geschäftsführer ein umfassendes Auskunftsrecht; dies schließt (wenn und soweit erforderlich) das Recht zur Befragung nachgeordneter Mitarbeiter ein.43) Ein nicht unmittelbar (ressort-)zuständiger Geschäftsführer muss aktiv werden, sobald er genügend Anlass zu der Annahme hat, um die betreffende Ressortangelegenheit müssten sich sämtliche Geschäftsführer kümmern. Deshalb hat jeder Geschäftsführer ein Interventionsrecht: Er kann verlangen, dass sich alle Geschäftsführer mit einer (zu treffenden oder unterlassenen) Maßnahme im anderen Ressort befassen und dass der Ressortleiter solange nichts Weiteres unternimmt.44) Freilich darf der jeweilige Ressortgeschäftsführer nicht einfach zuwarten, bis seine Mitgeschäftsführer von ihm Auskünfte zu seiner Ressortgeschäftsführung einfordern. Die Geschäftsführer müssen sich wechselseitig und in eigener Initiative mit den nötigen Informationen versorgen. Der Bundesgerichtshof führt in seiner Entscheidung aus 2018 aus: Hätten sich die Geschäftsführer über die eindeutige Zuweisung aller Aufgaben an fachlich und persönlich geeignete Verantwortliche vergewissert und könnten sie deshalb von einer ordnungsgemäßen Aufgabenverteilung ausgehen, sei die Zuständigkeitsverteilung „(…) regelmäßig so zu verstehen, dass die Pflicht des zuständigen Geschäftsführers zur laufenden Unterrichtung der weiteren Geschäftsführer über die wesentlichen Angelegenheiten der Gesellschaft unberührt (…)“

bleibe.45) Zu optimistisch ist aber die sich anschließende pauschale Feststellung, in diesem Fall könnten alle Geschäftsführer auch ohne ausdrückliche Regelung darauf vertrauen, vom Ressortgeschäftsführer zuverlässig und rechtzeitig diejenigen Informationen zu erhalten, die erforderlich seien, um die 43)

44) 45)

Zum Auskunftsrecht siehe weiterführend etwa OLG Karlsruhe, Urt. v. 4.5.1999 – 8 U 153/97, NZG 2000, 264, 266; OLG Koblenz, Urt. v. 22.11.2007 – 6 U 1170/07, GmbHR 2008, 37, 38 ff.; Kleindiek in: Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 37 Rz. 32; Leuering/Dornhegge, NZG 2010, 13, 15; Peters, GmbHR 2008, 682, 685; U. H. Schneider/ S. H. Schneider in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2014, § 37 Rz. 31; U. H. Schneider in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2014, § 43 Rz. 39; Ziemons in: Michalski/Heidinger/Leible/ J. Schmidt, GmbHG, 3. Aufl. 2017, § 43 Rz. 343. Siehe Kleindiek in: Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 37 Rz. 32; Leuering/ Dornhegge, NZG 2010, 13, 15; Peters, GmbHR 2008, 682, 685 f. BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, Rz. 21, ZIP 2019, 261, unter Verweis auf Stephan/ Tieves in: MünchKomm GmbHG, 2. Aufl. 2016, § 37 Rz. 90.

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ihnen persönlich obliegenden Kontroll- und Überwachungsaufgaben wahrnehmen zu können.46) Vielmehr bedarf es – nach dem Maßstab der „Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes“ (§ 43 Abs. 1 GmbHG) – ggf. organisatorischer Vorkehrungen zur Sicherstellung der wechselseitigen Informationspflicht. Was insoweit zu verlangen ist, hängt vom jeweiligen Einzelfall ab; unter Umständen ist zum Zweck beobachtender Kontrolle ein geschäftsführungsinternes System gegenseitiger Ressortberichte einzurichten.47) Denn die regelmäßige Berichterstattung ist Grundlage und Kern der wechselseitigen laufenden Überwachung im Geschäftsführerkollegium, die erst bei entsprechendem Anlass zu intensivieren ist (anlassbezogene Überwachungspflicht). VI. Gesteigerte Überwachungspflichten bei sog. „nicht übertragbaren Aufgaben“ Verletzt ein Geschäftsführer seine Beobachtungs- und Überwachungspflichten gegenüber dem unmittelbar (ressort-)zuständigen Mitgeschäftsführer, kann dieses Versäumnis seine Binnenhaftung nach § 43 Abs. 2 GmbHG begründen. Die Haftung des Geschäftsführers beruht aber immer auf persönlicher Verantwortung kraft eigener Pflichtverletzung.48) Eine haftungsbegründende Zurechnung der Pflichtverletzungen eines Mitgeschäftsführers nach § 278 BGB scheidet aus; ebenso eine Haftung aus § 831 BGB: Mehrere Geschäftsführer sind im Verhältnis zueinander weder Erfüllungs- noch Verrichtungsgehilfen. Gleichwohl besteht ein deutlich gesteigertes – zudem ggf. auch Dritten gegenüber wirkendes – Haftungsrisiko jedes einzelnen Mitgeschäftsführers bei Verletzung solcher Geschäftsführungsaufgaben, die der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung aus 2018 als „nicht übertragbare Aufgaben“49) bezeichnet. Was verbirgt sich dahinter? 1. Grundlagen Im Blick auf die sich aus § 64 GmbHG a. F. ergebenden Pflichten – also die Insolvenzantragspflicht nach dem früheren § 64 Abs. 1 GmbHG (heute § 15a Abs. 1 InsO) und die Pflicht zur Massesicherung nach § 64 Abs. 2 46) 47)

48)

49)

BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, Rz. 21, ZIP 2019, 261. Fleischer in: MünchKomm GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 43 Rz. 124; Kleindiek in: Lutter/ Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 43 Rz. 32; Zöllner/Noack in: Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl. 2017, § 37 Rz. 32; Paefgen in: Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl. 2014, § 35 Rz. 181 m. w. N. Fleischer in: MünchKomm GmbHG, 3. Aufl. 2019, § 43 Rz. 372 f.; Kleindiek in: Lutter/ Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 43 Rz. 29; Paefgen in: Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl. 2014, § 43 Rz. 32. BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, Rz. 15, ZIP 2019, 261.

Geschäftsführung und Ressortaufteilung in der Unternehmenskrise

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GmbHG a. F. (heute § 64 GmbHG) – stellt der II. Zivilsenat fest, sie würden allen Geschäftsführern persönlich obliegen und könnten „(…) nicht im Wege der Geschäftsverteilung auf einen einzelnen Geschäftsführer übertragen werden“.50)

In der Sache knüpft er damit an eine gefestigte Rechtsprechung an, wonach im Blick auf die Zuweisung bestimmter Geschäftsführungsaufgaben an einen einzelnen (Ressort-)Geschäftsführer gesteigerte Anforderungen an die Kontroll- und Überwachungspflichten der übrigen Geschäftsführer gestellt werden. In einer Entscheidung aus dem Jahre 1993, auf die der Senat Bezug nimmt, ist von den „den Geschäftsführern vom Gesetz auferlegten Pflichten“ die Rede.51) Andere Entscheidungen sprechen von „öffentlich-rechtlichen Pflichten der Gesellschaft“, für deren Erfüllung auch in einer mehrgliedrigen Geschäftsleitung grundsätzlich jeder Geschäftsführer verantwortlich sei; dieser Pflichten könnten sich die Geschäftsführer weder durch Zuständigkeitsverteilungen innerhalb der Geschäftsleitung noch durch Aufgabendelegation auf Personen außerhalb der Geschäftsleitung „entledigen“.52) Insoweit von „nicht übertragbaren Aufgaben“ zu sprechen, derer sich kein Geschäftsführer durch interne Aufgabenverteilung oder Delegation auf Dritte „entledigen“ könne, ist freilich nicht ganz glücklich. Denn auch die mit jenen Pflichten verbundenen Aufgaben können – nicht anders als die sonstigen Geschäftsführungsaufgaben – Gegenstand einer Geschäftsverteilung oder Ressortaufteilung sein.53) Und seiner Verantwortung für die sonstigen („übertragbaren“) Aufgaben kann sich ein Geschäftsführer durch Ressortaufteilung oder Delegation an Dritte ebenfalls nicht gänzlich „entledigen“: weil ihm – wie dargelegt – Kontroll- und Überwachungspflichten verbleiben. Bei Licht besehen sind die sog. nicht übertragbaren Geschäftsführungsaufgaben denn auch vor allem dadurch gekennzeichnet, dass hier gesteigerte Kontrollund Überwachungspflichten der (intern) nicht unmittelbar zuständigen Geschäftsführer angenommen werden. In eben diesem Sinne hatte der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung aus 1993 formuliert: „Das Vorhandensein eines weiteren Geschäftsführers entbindet den anderen nicht von seiner eigenen Verantwortlichkeit für die ordnungsgemäße Führung der Geschäfte der Gesellschaft, insbesondere für die Erfüllung der den Geschäftsführern vom Gesetz auferlegten Pflichten. Dies gilt selbst dann, wenn diese untereinander in zulässiger Weise eine Auftei50) 51) 52)

53)

BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, Rz. 14, ZIP 2019, 261. BGH, Urt. v. 1.3.1993 – II ZR 81/94 [II ZR 61/92], ZIP 1994, 891, 892. BGH, Urt. v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, ZIP 1996, 2017, 2019; BGH, Urt. v. 9.1.2001 – VI ZR 407/99, ZIP 2001, 422, 424; BGH, Urt. v. 2.6.2008 – II ZR 27/07, Rz. 10, ZIP 2008, 1275. So ausdrücklich auch BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, Rz. 15, ZIP 2019, 261.

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Detlef Kleindiek lung der Geschäfte vorgenommen haben. Eine solche interne Geschäftsaufteilung ist deshalb auch nicht dazu geeignet, den Geschäftsführer von der Verantwortung für die rechtzeitige Stellung des Konkursantrags und das Unterbleiben masseschmälernder Zahlungen der Gesellschaft nach Eintritt der in § 64 GmbHG bezeichneten Voraussetzungen zu befreien. Er bleibt vielmehr auch dann gehalten, für die Einhaltung dieser Verpflichtungen durch die Gesellschaft Sorge zu tragen. Dabei ist, da es hier um die Wahrung grundsätzlich nicht auf einen anderen übertragbarer Aufgaben, sondern um die eigene Einstandspflicht des Geschäftsführers für die Gesetzmäßigkeit der Unternehmensleitung geht, jedenfalls ein strenger Maßstab auch an die Erfüllung der in einem solchen Fall besonders weitgehenden Kontroll- und Überwachungspflichten gegenüber einem Mitgeschäftsführer anzulegen.“54)

Und hieran knüpft der Senat in seinem aktuellen Urteil von November 2018 an: „Die persönliche Verantwortung des Geschäftsführers für die Erfüllung der Insolvenzantragspflicht schließt (…) ein arbeitsteiliges Handeln bzw. eine Ressortaufteilung auf der Ebene der Geschäftsführung nicht aus (…). Auch eine für sich genommen zulässige Verteilung der Geschäftsaufgaben entbindet denjenigen, dem hiernach nur bestimmte Aufgaben zur Erledigung zugewiesen sind, allerdings nicht von seiner eigenen Verantwortung für die ordnungsgemäße Führung der Geschäfte der Gesellschaft. Soweit es um die Wahrnehmung der nicht übertragbaren Aufgaben geht, wie die Einstandspflicht des Geschäftsführers für die Gesetzmäßigkeit der Unternehmensleitung, ist ein strenger Maßstab an die Erfüllung der in einem solchen Fall besonders weitgehenden Kontroll- und Überwachungspflichten gegenüber einem Geschäftsführer anzulegen.“55)

Geht man der einschlägigen Rechtsprechung weiter auf den Grund, fallen in den Kreis der sog. „nicht übertragbaren Aufgaben“ neben der Insolvenzantragspflicht und dem Verbot masseschmälernder Leistungen im Vorfeld des Insolvenzverfahrens56) insbesondere die Verpflichtung zur Abführung der Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung57) sowie die steuerlichen Pflichten58). – Dazu jeweils etwas näher: 2. Massesicherungspflicht und Insolvenzantragspflicht Die Verpflichtung eines jeden GmbH-Geschäftsführers zur Vermeidung masseschmälernder Zahlungen entsteht gemäß § 64 GmbHG mit Eintritt von Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung der Gesellschaft, ggf. (näm54) 55)

56) 57)

58)

BGH, Urt. v. 1.3.1993 – II ZR 81/94, [II ZR 61/92], ZIP 1994, 891, 892. BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, Rz. 15, ZIP 2019, 261, unter Bezugnahme auf BGH, Urt. v. 1.3.1993 – II ZR 81/94 [II ZR 61/92], ZIP 1994, 891, 892, und BGH, Urt. v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, BGHZ 133, 370, 378 f. = ZIP 1996, 2017, 2019 f. Dazu insbesondere BGH, Urt. v. 1.3.1993 – II ZR 81/94 [II ZR 61/92], ZIP 1994, 891, 892; BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, Rz. 15, ZIP 2019, 261. So in den Fällen BGH, Urt. v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, ZIP 1996, 2017; BGH, Urt. v. 9.1.2001 – VI ZR 407/99, ZIP 2001, 422; BGH, Urt. v. 2.6.2008 – II ZR 27/07, ZIP 2008, 1275. Dazu etwa BFH, Urt. v. 26.4.1984 – V R 128/79, ZIP 1984, 1345.

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lich soweit es um Zahlungen an Gesellschafter geht) auch schon früher (§ 64 Satz 3 GmbHG). Den Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens hat jeder Geschäftsführer nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung ohne schuldhaftes Zögern, spätestens aber binnen dreier Wochen zu stellen (§ 15a Abs. 1 InsO). Sowohl der Ersatzanspruch aus § 64 GmbHG als auch die Schadensersatzpflicht wegen Insolvenzverschleppung nach § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a Abs. 1 InsO setzen Verschulden des Geschäftsführers voraus, wobei Fahrlässigkeit (nach dem Maßstab eines ordentlichen Geschäftsmanns; § 64 Satz 2 GmbHG und § 43 Abs. 1 GmbHG) genügt. Ausreichend für das Verschulden des Geschäftsführers ist deshalb Erkennbarkeit des Insolvenzeintritts, die vermutet wird; Darlegungs- und Beweislast mangelnder Erkennbarkeit treffen den Geschäftsführer.59) Der in Anspruch genommene Geschäftsführer mag vor allem eine für ihn unerkennbare Insolvenzlage entschuldigend ins Feld führen; im Kontext des § 64 GmbHG kann er zudem versuchen, die Vereinbarkeit der masseschmälernden Leistung mit den Pflichten eines ordentlichen Geschäftsleiters geltend zu machen (§ 64 Satz 2 GmbHG). Mangelnde persönliche Sachkenntnis entschuldigt ihn aber nicht, denn auf seine individuellen Fähigkeiten kommt es nicht an.60) Vor allem aber: Zu seiner Entlastung muss der Geschäftsführer Nichtkenntnis und Nichterkennbarkeit der finanziellen Lage der Gesellschaft trotz entsprechender organisatorischer Vorkehrungen vortragen und beweisen.61) Denn schon die haftungsbewehrte Insolvenzantragspflicht nach § 15a Abs. 1 InsO und das Masseerhaltungsgebot ab materieller Insolvenzreife nach Maßgabe von § 64 Satz 1 und 2 GmbHG, aber auch die Informationspflicht bei hälftigem Verlust des Stammkapitals (§ 49 Abs. 3 GmbHG) bzw. – in der UG (haftungsbeschränkt) – bei drohender Zahlungsunfähigkeit (§ 5a Abs. 4 GmbHG) halten jeden Geschäftsführer an, die Finanz- und Vermögenslage der Gesellschaft kontinuierlich zu beobachten 59)

60) 61)

Siehe für die Ersatzpflicht aus § 64 GmbHG: BGH, Urt. v. 29.11.1999 – II ZR 273/98, ZIP 2000, 184, 185; BGH, Urt. v. 14.5.2007 – II ZR 48/06, ZIP 2007, 1265, 1266; BGH, Urt. v. 18.10.2010 – II ZR 151/09, Rz. 14, ZIP 2010, 2400; BGH, Urt. v. 27.3.2012 – II ZR 171/10, Rz. 13, ZIP 2012, 1174; BGH, Vers.-Urt. v. 19.6.2012 – II ZR 243/11, Rz. 9 f., ZIP 2012, 1557; BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, Rz. 12, ZIP 2019, 261. Für die Insolvenzverschleppungshaftung: BGH, Urt. v. 29.11.1999 – II ZR 273/98, ZIP 2000, 184, 185; BGH, Urt. v. 5.2.2007 – II ZR 234/05, Rz. 8, ZIP 2007, 676; BGH, Urt. v. 18.10.2010 – II ZR 151/09, Rz. 14, ZIP 2010, 2400. BGH, Vers.-Urt. v. 19.6.2012 – II ZR 243/11, Rz. 9, 11, ZIP 2012, 1557; BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, Rz. 12, ZIP 2019, 261. BGH, Vers.-Urt. v. 19.6.2012 – II ZR 243/11, Rz. 13, ZIP 2012, 1557.

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und im Falle krisenhafter Anzeichen näher zu überprüfen. Mit Schaffung des § 64 Satz 3 GmbHG und dem ihm zugrunde liegenden Verbot von Zahlungen an Gesellschafter, soweit diese (erkennbar) zur Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft führen mussten, wurde jene Beobachtungspflicht noch einmal unterstrichen. Der Geschäftsführer, der in den Angelegenheiten der Gesellschaft die Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmanns anzuwenden hat (§ 43 Abs. 1 GmbHG), muss für eine Organisation sorgen, die ihm die hierzu erforderliche Übersicht jederzeit ermöglicht.62) Im Geschäftsführerkollegium ist, auch im Falle einer Ressortaufteilung, jeder einzelne Geschäftsführer gehalten, auf Schaffung der notwendigen organisatorischen Voraussetzungen zu drängen.63) Denn die Pflicht zur fortlaufenden Überwachung der wirtschaftlichen Lage der Gesellschaft besteht „auch im Gläubiger- und öffentlichen Interesse“.64) Die gebotenen organisatorischen Vorkehrungen, um sich jederzeit einen Überblick über die finanzielle Lage der Gesellschaft verschaffen zu können, setzen naturgemäß eine ordnungsgemäße Buchführung voraus. Die gesetzliche Verpflichtung, für eine solche zu sorgen (§ 41 GmbHG), ist auch bei mehrköpfiger Geschäftsführung eine Pflicht jedes Geschäftsführers. Das hindert zwar wiederum nicht, die Aufgaben der Buchführung innerhalb arbeitsteilig organisierter Geschäftsleitung in erster Linie einem (sachgerecht ausgewählten) Geschäftsführer zur Erledigung zuzuweisen. Die übrigen Geschäftsführer haben den zuständigen Geschäftsführer dann aber „(…) angemessen zu überwachen (…), müssen sich (…) über die Buchführung informieren“ – und zwar „kontinuierlich“.65)

Anlass zur Prüfung einer etwaigen Überschuldung nach den hierfür geltenden Maßstäben66) – und damit eine entsprechende Pflicht eines jeden Geschäftsführers – bejaht der Bundesgerichtshof schon „bei Anzeichen einer

62)

63) 64) 65)

66)

BGH, Urt. v. 20.2.1995 – II ZR 9/94, ZIP 1995, 560, 561; bestätigend: BGH, Vers.-Urt. v. 19.6.2012 – II ZR 243/11, Rz. 11, 13, ZIP 2012, 1557; BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, Rz. 15, ZIP 2019, 261; w. N. bei Kleindiek in: Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 43 Rz. 31 und 33. BGH, Urt. v. 20.2.1995 – II ZR 9/94, ZIP 1995, 560, 561. BGH, Urt. v. 20.2.1995 – II ZR 9/94, ZIP 1995, 560, 561 (re. Sp.). So BGH, Urt. v. 26.6.1995 – II ZR 109/94, ZIP 1995, 1334, 1336; siehe auch BGH, Urt. v. 8.7.1985 – II ZR 198/84, ZIP 1985, 1135, 1136; Fleischer in: MünchKommGmbHG, 3. Aufl. 2019, § 41 Rz. 11; Haas in: Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl. 2017, § 41 Rz. 3; Kleindiek in: Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 41 Rz. 2 f. Zu ihnen näher Kleindiek in: Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, Anh. § 64 Rz. 30 ff.

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Krise“;67) die Überschuldungsprüfung ist zudem regelmäßig fortzuschreiben, denn der Geschäftsführer bleibt zur laufenden Überprüfung der Unternehmenslage verpflichtet.68) Bestehen Anzeichen, dass die Gesellschaft zu einem bestimmten Stichtag nicht in der Lage ist, ihre fälligen und eingeforderten Verbindlichkeiten vollständig zu bedienen, ist ihre Zahlungsfähigkeit anhand einer Liquiditätsbilanz zu überprüfen.69) Ein Geschäftsführer handelt fahrlässig, wenn er sich nicht rechtzeitig die erforderlichen Informationen und die Kenntnisse verschafft, die er für die Prüfung benötigt, ob er pflichtgemäß nach § 15a InsO Insolvenzantrag stellen muss. Dabei muss er sich, sofern er nicht über ausreichende persönliche Kenntnisse verfügt, ggf. fachkundig beraten lassen.70) Nichts anderes gilt im Blick auf die Massesicherungspflicht gemäß § 64 GmbHG. Vor diesem Hintergrund weist die Rechtsprechung, wenn die Erfüllung der angesprochenen Aufgaben im Zuge einer internen Geschäftsverteilung oder Ressortaufteilung primär einem einzelnen Geschäftsführer (ggf. auch mehreren) zugewiesen worden ist, jedem einzelnen Mitgeschäftsführer „besonders weitgehende Kontroll- und Überwachungspflichten“ gegenüber dem ressortzuständigen Organmitglied zu, an deren Erfüllung „ein strenger Maßstab (…) anzulegen“ sei.71) Das bedeutet zugleich: Werden Zahlungen nach Eintritt der Insolvenzreife getätigt, so wird zulasten eines jeden Geschäftsführers die schuldhafte Verletzung der Massesicherungspflicht aus § 64 GmbHG widerlegbar vermutet, auch soweit die Zahlungen nicht von ihm selbst, sondern von einem Mitgeschäftsführer veranlasst wurden.72) Ein nicht ressortzuständiger Geschäftsführer, der sich unter Berufung auf die Aufgabenaufteilung im Geschäftsführerkollegium exkulpieren will, muss den Entlastungsbeweis in zweifacher Richtung führen:73) Er muss nachweisen, dass die interne Aufgabenverteilung unter den Geschäftsführern den Anforderungen genügte, die an eine Geschäftsverteilung oder Ressortaufteilung mit entlastender Wirkung zu stellen sind. Gelingt dies, muss er außerdem nachweisen, dass er seinen gesteigerten Kontroll- und Überwachungspflichten 67) 68) 69) 70) 71) 72) 73)

BGH, Urt. v. 6.6.1994 – II ZR 292/91, ZIP 1994, 1103, 1109 f. BGH, Urt. v. 6.6.1994 – II ZR 292/91, ZIP 1994, 1103, 1110. BGH, Urt. v. 26.1.2016 – II ZR 394/13, Rz. 33, ZIP 2016, 1119. BGH, Urt. v. 26.1.2016 – II ZR 394/13, Rz. 34, ZIP 2016, 1119 m. w. N. BGH, Urt. v. 1.3.1993 – II ZR 81/94 [II ZR 61/92], ZIP 1994, 891, 892; BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, Rz. 15, ZIP 2019, 261. BGH, Urt. v. 1.3.1993 – II ZR 81/94 [II ZR 61/92], ZIP 1994, 891, 892. Instruktiv BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, Rz. 16 ff., ZIP 2019, 261.

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nachgekommen war, den Eintritt der Insolvenzreife gleichwohl (d. h. trotz der in der gebotenen Weise getroffenen organisatorischen Vorkehrungen) nicht erkennen konnte und deshalb auch keinen Anlass sehen musste, Maßnahmen zur Massesicherung zu ergreifen. Entsprechendes gilt, wenn sich ein auf Schadensersatz wegen Insolvenzverschleppung in Anspruch genommener Geschäftsführer unter Verweis auf die primäre (Ressort-)Zuständigkeit seines Mitgeschäftsführers zu entlasten versucht: Er muss – neben sachgerechter Aufgabenverteilung – nachweisen, dass er seinen gesteigerten Kontroll- und Überwachungspflichten nachgekommen war, den Eintritt der Insolvenzreife gleichwohl (und trotz der in der gebotenen Weise getroffenen organisatorischen Vorkehrungen) nicht erkennen konnte und deshalb auch keinen Anlass sehen musste, auf Stellung eines Insolvenzantrags zu drängen. Im eingangs skizzierten Fall zur Geschäftsführerhaftung nach § 64 Abs. 2 GmbHG a. F. (heute § 64 GmbHG)74) hat der Bundesgerichtshof die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen, weil noch keine ausreichenden Feststellungen zur etwaigen Entlastung des Beklagten getroffen worden seien: Zum einen sei zweifelhaft, ob die zwischen beiden Geschäftsführern vereinbarte Aufgabenverteilung als sachgerecht angesehen werden könne, da die persönliche und fachliche Eignung des Zeugen K. bislang ebenso ungeklärt sei wie die Frage, ob die Zuweisung praktisch aller wesentlichen Geschäftsführungsaufgaben allein an ihn eine ordnungsgemäße Erledigung erwarten lassen konnte.75) Zum anderen hatten sich die beiden Geschäftsführer nach den Tatsachenfeststellungen des Berufungsgerichts zwar wöchentlich oder vierzehntäglich getroffen, um sich „über Aktuelles“ auszutauschen; Geschäftsführer K. hatte die Insolvenzreife der Gesellschaft durchaus erkannt, diese Information seinem (beklagten) Mitgeschäftsführer aber über mehrere Wochen vorenthalten. Dass all dies noch nicht die Schlussfolgerung zulässt, der Beklagte sei seinen „besonders weitgehenden Kontroll- und Überwachungspflichten“ nachgekommen, liegt auf der Hand.76) Schon angesichts teilweise ausbleibender Zahlungen auf die Geschäftsführervergütung konnten dem Beklagten Anzeichen für eine fortbestehende wirtschaftliche Krise der Gesellschaft nicht verborgen geblieben sein. Gleichwohl hatte das Berufungsgericht nicht einmal Feststellungen dazu getroffen, ob er in

74) 75) 76)

BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, ZIP 2019, 261; siehe oben im Text nach Fn. 4. BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, Rz. 28 f., ZIP 2019, 261. Dazu näher BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, Rz. 30 ff., ZIP 2019, 261.

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den Geschäftsführerbesprechungen gezielte Nachfragen gestellt und sich betriebswirtschaftliche Kennzahlen hatte vorlegen lassen. 3. Abführung der Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshof haftet der Geschäftsführer deliktsrechtlich gemäß § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. §§ 266a Abs. 1, 14 Abs. 1 Nr. 1 StGB gegenüber dem Sozialversicherungsträger auf Schadensersatz, wenn und soweit Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung (§§ 28a ff. SGB IV) nicht abgeführt werden.77) Im Geschäftsführerkollegium kann auch mit der Wahrnehmung der sozialversicherungsrechtlichen Pflichten – im Rahmen einer Geschäftsverteilung oder Ressortaufteilung – ein einzelner Geschäftsführer betraut werden. Den Mitgeschäftsführern verbleiben aber wiederum Überwachungspflichten, die sie zum Eingreifen veranlassen müssen, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Erfüllung der der Gesellschaft obliegenden Aufgaben durch den zuständigen Geschäftsführer nicht mehr gewährleistet ist. In diesem Sinne hatte der (seinerzeit zuständige) VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes formuliert: „Eine solche Überwachungspflicht kommt vor allem in finanziellen Krisensituationen zum Tragen, in denen die laufende Erfüllung der Verbindlichkeiten nicht mehr gewährleistet erscheint (…). Vor allem bei der Abführung von Arbeitnehmerbeiträgen zur Sozialversicherung müssen die Anforderungen an die Pflicht zum Eingreifen des Geschäftsführers besonders streng sein, da es sich bei den Beitragsanteilen um Gelder handelt, die nicht der freien Verfügung des Arbeitgebers, sondern seiner Pflicht zur pünktlichen Abführung unterliegen (…).“78)

Der II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat diese Rechtsprechung bruchlos fortgeführt: „Wenn die Zahlung der Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung dem Ressort eines anderen Geschäftsführers zugewiesen oder auf Angestellte übertragen ist, muss der Geschäftsführer im Rahmen der ihm verbliebenen Überwachungspflicht tätig werden, sobald Anhaltspunkte bestehen, dass die Erfüllung der Aufgaben durch den intern zuständigen Geschäftsführer oder den mit der Erledigung beauftragten Angestellten nicht mehr gewährleistet ist, und durch geeignete Maßnahmen die Abführung der Sozialversicherungsbeiträge sicherstellen sowie die Einhaltung der Pflicht überwachen (…). Anlass für

77) 78)

Zu Einzelheiten siehe Kleindiek in: Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 43 Rz. 91 ff. BGH, Urt. v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, ZIP 1996, 2017, 2020 m. w. N.; siehe auch BGH, Urt. v. 9.1.2001 – VI ZR 407/99, ZIP 2001, 422, 424.

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Detlef Kleindiek konkrete Überwachungsmaßnahmen bieten insbesondere eine finanzielle Krisensituation (…) oder ungeordnete Verhältnisse im Geschäftsablauf innerhalb der Gesellschaft (…).“79)

Der in § 266a Abs. 1 StGB vorausgesetzte Vorsatz (auf den sich die Darlegungs- und Beweislast des Sozialversicherungsträgers ebenfalls und auch dann erstreckt, wenn die objektive Pflichtwidrigkeit des beanstandeten Verhaltens feststeht)80) erfordert das Bewusstsein und den Willen, die Abführung der Beiträge bei Fälligkeit zu unterlassen.81) Im Rahmen des insoweit ausreichenden bedingten Vorsatzes werden diese Voraussetzungen auch dann als gegeben angesehen, wenn es der Geschäftsführer verabsäumt, die Erfüllung der Beitragspflicht durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen.82) Wiederum belässt eine interne Zuständigkeitsverteilung unter mehreren Geschäftsführern den nicht primär zuständigen Geschäftsführern Überwachungspflichten, die auch hinsichtlich der Abführung von Arbeitnehmerbeiträgen zur Sozialversicherung „besonders streng“83) ausgeformt sind. Insbesondere in der Unternehmenskrise oder bei Feststellung ungeordneter Verhältnisse im Geschäftsablauf muss sich jedes Organmitglied über die Einhaltung der Pflicht zur pünktlichen Zahlung fälliger Arbeitnehmerbeiträge in ausreichender Weise vergewissern (Grundsatz der Gesamtverantwortung)84); dabei hat der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes ggf. sogar telefonische Rückfragen bei den in Frage kommenden Bankinstituten verlangt.85) Der Irrtum des Geschäftsführers über den Umfang seiner Überwachungspflicht ist Ver- bzw. Gebotsirrtum, der in der Regel (soweit nicht unvermeidbar) den Vorsatz hinsichtlich des Vorenthaltens der Beiträge nicht entfallen lässt.86)

79)

80) 81) 82) 83) 84)

85) 86)

BGH, Urt. v. 2.6.2008 – II ZR 27/07, Rz. 11, ZIP 2008, 1275; bestätigend BGH, Urt. v. 18.12.2012 – II ZR 220/10, Rz. 17, ZIP 2013, 412 Rz. 17; BGH, Urt. v. 3.5.2016 – II ZR 311/14, Rz. 24, ZIP 2016, 1283. BGH, Urt. v. 18.12.2012 – II ZR 220/10, Rz. 14, ZIP 2013, 412; BGH, Urt. v. 3.5.2016 – II ZR 311/14, Rz. 15 ff., ZIP 2016, 1283. BGH, Urt. v. 11.12.2001 – VI ZR 123/00, ZIP 2002, 261, 263 m. w. N. Zu Einzelheiten siehe Kleindiek in: Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 43 Rz. 94 und 97 m. w. N. BGH, Urt. v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, ZIP 1996, 2017, 2020. BGH, Urt. v. 3.5.2016 – II ZR 311/14, Rz. 24, ZIP 2016, 1283; BGH, Urt. v. 18.12.2012 – II ZR 220/10, Rz. 17, ZIP 2013, 412; BGH, Urt. v. 2.6.2008 – II ZR 27/07, Rz. 11, ZIP 2008, 1275; BGH, Urt. v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, ZIP 1996, 2017, 2020. BGH, Urt. v. 9.1.2001 – VI ZR 407/99, ZIP 2001, 422, 424; siehe aber auch BGH, Beschl. v. 28.5.2002 – 5 StR 16/02, ZIP 2002, 2143, 2145 – 5. Strafsenat. BGH, Urt. v. 9.1.2001 – VI ZR 407/99, ZIP 2001, 422, 424.

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4. Steuerliche Pflichten Aus §§ 34, 69 Satz 1 AO trifft den GmbH-Geschäftsführer eine steuerliche Eigenhaftung, soweit Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis der Gesellschaft infolge vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Verletzung der ihm auferlegten Pflichten nicht oder nicht rechtzeitig (z. B. wegen verspäteter Erklärung) festgesetzt oder (mangels fristgerechter Zahlung) nicht erfüllt werden; die Pflichtverletzung indiziert das Verschulden des Geschäftsführers.87) Sind mehrere Geschäftsführer bestellt, trifft grundsätzlich jeden von ihnen die Verantwortung für die steuerlichen Pflichten der Gesellschaft. Ist die Wahrnehmung der steuerlichen Belange der Gesellschaft – sei es im Gesellschaftsvertrag, durch Gesellschafterbeschluss oder in einer von den Geschäftsführern selbst verabschiedeten Geschäftsordnung – einem von mehreren Geschäftsführern zugewiesen, treffen die steuerlichen Pflichten zwar in erster Linie diesen Geschäftsführer. Die Verantwortung der übrigen Geschäftsführer wird dadurch aber nicht aufgehoben: „Vielmehr tritt der Umfang ihrer Pflichten nur insoweit und so lange zurück, wie für sie unter den Maßstäben der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes (§ 43 Abs. 1 GmbHG) kein Anlass besteht anzunehmen, die steuerlichen Pflichten der Gesellschaft würden nicht exakt erfüllt. Die Gesamtverantwortung aller Geschäftsführer wird spätestens dann wirksam, wenn die laufende Erfüllung aller Verbindlichkeiten nicht mehr gewährleistet ist und infolgedessen Unregelmäßigkeiten in der Erklärung der Steuern oder der Erfüllung der Steuerschulden zu besorgen sind, oder wenn die Person des für die steuerlichen Belange primär zuständigen Geschäftsführers diese Besorgnis rechtfertigt.“88)

Zeichne sich die nahende Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung der Gesellschaft ab, sei jeder einzelne Geschäftsführer verpflichtet, sich um die Gesamtbelange der Gesellschaft zu kümmern.89) Der Bundesfinanzhof verlangt deshalb auch dort, wo die Abgabe der Umsatzsteuervoranmeldungen einem einzelnen Geschäftsführer obliegt, eine „inhaltliche Nachprüfung“ seitens der Mitgeschäftsführer, wenn „die wirtschaftliche Lage der Gesellschaft (…) hierzu Veranlassung“ gibt.90) Auch nach der steuerrechtlichen Rechtsprechung ist eine „Krisensituation“ einer juristischen Person für deren gesetzliche Vertreter mithin „Anlass (…), die korrekte Erfüllung steuerlicher Pflichten (…) mit besonderer Aufmerksamkeit zu überwachen“.91) 87) 88) 89) 90) 91)

Zu Einzelheiten siehe Kleindiek in: Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 43 Rz. 111 ff. BFH, Urt. v. 26.4.1984 – V R 128/79, ZIP 1984, 1345, 1346. BFH, Urt. v. 26.4.1984 – V R 128/79, ZIP 1984, 1345, 1346. BFH, Urt. v. 26.4.1984 – V R 128/79, ZIP 1984, 1345, 1346. BFH, Urt. v. 13.3.2003 – VII R 46/02, NZG 2003, 734, 736.

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5. Resümee Der vorausgegangene Rundblick hat gezeigt: Die Rede von den „nicht übertragbaren Aufgaben“ nimmt auf solche gesetzlichen Leitungspflichten Bezug, die dem Leitungsorgan gerade nicht lediglich im Interesse der Gesellschaft, sondern auch (oder gar allein) im öffentlichen Interesse respektive im Interesse der Gesellschaftsgläubiger obliegen. Auch die Wahrnehmung solcher Aufgaben ist einer Ressortzuweisung zugänglich.92) Die jedem Mitgeschäftsführer verbleibende Verpflichtung zur laufenden beobachtenden Kontrolle, die typischerweise im Zuge wechselseitiger Berichterstattung realisiert wird, ist aber gerade dann zu intensivieren, wenn Anlass zu der Besorgnis besteht, dass eine Geschäftsführungsaufgabe nicht (mehr) ordnungsgemäß erfüllt wird. Und im Konzept der Rechtsprechung gibt – soweit es um die sog. nicht übertragbaren Aufgaben geht – jedenfalls der Eintritt einer wirtschaftlichen Krise der Gesellschaft Anlass zu eben dieser Besorgnis. So realisiert sich die persönliche Verantwortung jedes einzelnen Gesellschafters für die termingerechte Abführung der Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung „in finanziellen Krisensituationen“, in denen die laufende Erfüllung der Verbindlichkeiten erfahrungsgemäß nicht mehr gewährleistet ist.93) Dem entsprechend wird die Gesamtverantwortung aller Geschäftsführer für die steuerlichen Pflichten der Gesellschaft wirksam, wenn „die wirtschaftliche Lage der Gesellschaft (…) hierzu Veranlassung“ gibt, was spätestens dann der Fall ist, wenn die Erfüllung aller Verbindlichkeiten der Gesellschaft nicht mehr sichergestellt ist und deshalb erfahrungsgemäß Unregelmäßigkeiten in der Erklärung der Steuern oder der Erfüllung der Steuerschulden zu besorgen sind.94) Hier wie dort ist also eine „Krisensituation“ der Gesellschaft für deren gesetzliche Vertreter Anlass, die ordnungsgemäße Erfüllung der nämlichen Pflicht mit besonderer Aufmerksamkeit zu überwachen. Ebenso realisiert sich in der Unternehmenskrise die Verantwortung jedes einzelnen Geschäftsführers für die Vermeidung masseschmälernder Leistungen, die mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmanns unvereinbar sind, sowie für die rechtzeitige Stellung des Insolvenzantrags. Denn diese Pflichten entstehen überhaupt erst mit Ein92) 93) 94)

BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, Rz. 15, ZIP 2019, 261. Siehe nur BGH, Urt. v. 15.10.1996 – VI ZR 319/95, ZIP 1996, 2017, 2020; BGH, Urt. v. 2.6.2008 – II ZR 27/07, Rz. 11, ZIP 2008, 1275. BFH, Urt. v. 26.4.1984 – V R 128/79, ZIP 1984, 1345, 1346.

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tritt der materiellen Insolvenzreife oder doch jedenfalls – was § 64 Satz 3 GmbHG betrifft – unmittelbar davor. Die von der Rechtsprechung in all diesen Fällen verfochtenen (gesteigerten) Kontroll- und Überwachungspflichten der intern nicht unmittelbar zuständigen Mitgeschäftsführer erklären sich mithin als Reaktion auf eine akute Bedrohung nicht lediglich der Interessen der Gesellschaft, sondern auch (oder gar allein) des öffentlichen Interesses sowie der Interessen der Gesellschaftsgläubiger. Das ist aus der Perspektive des Gesellschaftsrechts wenig spektakulär: Allemal zutreffend hat der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofes darauf verwiesen, dass die Geschäftsführung „in Krisen- und Ausnahmesituationen“ schon nach dem gesellschaftsrechtlichen Grundsatz der Gesamtverantwortung insgesamt zum Handeln berufen ist.95) Mit dem Einwand, er habe die Krisenlage weder erkannt noch erkennen können, wird ein Geschäftsführer in aller Regel nicht durchdringen: Weil jeder Geschäftsführer angehalten ist, die Finanz- und Vermögenslage der Gesellschaft kontinuierlich zu beobachten und im Falle krisenhafter Anzeichen näher zu überprüfen. Kraft seiner Bindung an die Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmanns (§ 43 Abs. 1 GmbHG) muss im Geschäftsführerkollegium, auch im Falle einer Ressortaufteilung, jeder einzelne Geschäftsführer auf die Schaffung der notwendigen organisatorischen Voraussetzungen drängen, die ihm die Übersicht über die aktuelle wirtschaftliche Lage der Gesellschaft jederzeit ermöglichen.96) Auch diese Strenge der Rechtsprechung ist konsequent, denn die Pflicht zur fortlaufenden Überwachung der Finanz- und Vermögenslage der Gesellschaft besteht „auch im Gläubiger- und öffentlichen Interesse“.97) Vor diesem Hintergrund war schon in ersten Anmerkungen zur hier erörterten BGH-Entscheidung vom 6. November 201898) darauf hingewiesen worden, dass dem nicht unmittelbar (ressort-)zuständigen Geschäftsführer, der wegen nicht ordnungsgemäßer Erfüllung einer „nicht übertragbaren Aufgabe“ in Anspruch genommen wird, der Entlastungsbeweis nur selten gelingen dürfte.99) So wird die Ressortaufteilung im Regelfall nicht helfen, um die 95) 96)

97) 98) 99)

BGH, Urt. v. 6.7.1990 – 2 StR 549/89, NJW 1990, 2560, 2565. BGH, Urt. v. 20.2.1995 – II ZR 9/94, ZIP 1995, 560, 561; BGH, Vers.-Urt. v. 19.6.2012 – II ZR 243/11, Rz. 11, 13, ZIP 2012, 1557; BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, Rz. 15, ZIP 2019, 261. BGH, Urt. v. 20.2.1995 – II ZR 9/94, ZIP 1995, 560, 561. BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, ZIP 2019, 261. Kleindiek, EWiR 2019, 135, 136 (Urteilsanm.); ähnlich Schädlich, NZI 2019, 229, 230 (Urteilsanm.): „nur in absoluten Ausnahmefällen“.

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mangelnde Erkennbarkeit des Eintritts der Insolvenzreife zu belegen. Außerhalb einer Unternehmenskrise hat eine Ressortverteilung aber allemal (haftungs-)entlastende Wirkung, sofern sie den Anforderungen genügt, die in den Urteilsgründen der genannten Entscheidung entfaltet worden sind. Eine gesteigerte Kontroll- und Überwachungspflicht der nicht ressortzuständigen Organmitglieder besteht dann – ohne konkreten Anlass – gerade nicht. Etwas anderes dürfte auch jene Passage der Entscheidungsgründe nicht zum Ausdruck bringen wollen, nach der die „Einstandspflicht des Geschäftsführers für die Gesetzmäßigkeit der Unternehmensleitung“ zu den „nicht übertragbaren Aufgaben“ zähle.100) Denn damit wird eine Formulierung aus einer früheren Senatsentscheidung (vom 1. März 1993) aufgegriffen, die sich insoweit gerade auf die „rechtzeitige Stellung des Konkursantrags und das Unterbleiben masseschmälernder Zahlungen der Gesellschaft nach Eintritt der in § 64 GmbHG bezeichneten Voraussetzungen“ bezog.101) Dass es im Verantwortungsbereich eines Ressortgeschäftsführers im Einzelfall zu Verstößen gegen die Legalitätspflicht kommen kann, wird im Übrigen kaum jemals sicher auszuschließen sein. Sie führen aber noch nicht zu einer Haftung der Mitgeschäftsführer wegen Überwachungsverschuldens, wenn und solange diese auf gesetzeskonformes Handeln innerhalb des fremden Ressorts vertrauen dürfen. Das dürfen sie freilich dann nicht mehr, wenn konkreter Anlass zum Misstrauen besteht: Etwa weil es schon wiederholt zu erkannten Gesetzesverletzungen gekommen und mithin eine Gefährdungslage entstanden ist, der es zu begegnen gilt. VII. Ausblick: Ressortaufteilung zur Haftungsvermeidung in der Eigenverwaltung? Ist im Insolvenzverfahren über das Vermögen einer Gesellschaft Eigenverwaltung angeordnet, so befürwortet der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes bekanntlich die Haftung der Geschäftsführer in Analogie zu §§ 60, 61 InsO:102) Die haftungsrechtliche Gleichstellung einer insolventen, in Eigenverwaltung befindlichen Gesellschaft mit einer Gesellschaft im Regelinsolvenzverfahren sei geboten, weil die Geschäftsleiter im Eigenverwaltungsverfahren weitgehend die Aufgaben eines Insolvenzverwalters 100) BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, Rz. 15, ZIP 2019, 261. 101) BGH, Urt. v. 1.3.1993 – II ZR 81/94 [II ZR 61/92], ZIP 1994, 891, 892; siehe das Zitat oben im Text vor Fn. 54. 102) BGH, Urt. v. 26.4.2018 – IX ZR 238/17, Rz. 13 ff., ZIP 2018, 977.

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im Regelverfahren wahrnähmen und entsprechenden Pflichten unterlägen. Im Schrifttum ist die Frage aufgeworfen worden, ob sich jenes Haftungsrisiko für die bisherige (zur Bewältigung des operativen Geschäfts im Amt verbliebene) Geschäftsführung dadurch reduzieren lässt, dass die Wahrnehmung der insolvenzspezifischen Pflichten der Ressortzuständigkeit eines zum Organmitglied (Mitgeschäftsführer) berufenen Restrukturierungsexperten zugewiesen wird. Insoweit wurde vorgetragen:103) Gerade weil der Eigenverwalter, über seine originären gesellschaftsrechtlichen Befugnisse hinaus, die Aufgaben des Insolvenzverwalters wahrnehme, werde die gesellschaftsrechtliche (vom Prinzip der Gesamtverantwortung geprägte) Haftungsordnung „insolvenzrechtlich überlagert“. Sobald und soweit die Ressortzuständigkeiten eindeutig verteilt, hinreichend dokumentiert und dem Sachwalter zur Kenntnis gebracht worden seien, lasse sich hierdurch „eine regressfreie Ressort-, Pflichten- und Haftungszuweisung erreichen“. Wollte man hingegen das gesellschaftsrechtliche Prinzip der Gesamtverantwortung auch auf das eigenverwaltende Gesamtorgan anwenden, würde man „(…) ein Netz von Pflichten auch über solchen Organmitgliedern (…) spinnen, die Inhalt und Auswirkung nicht beurteilen und sich daher regelmäßig gar nicht pflichtenkonform verhalten [könnten]“.

Auch ein Gebot „innerorganschaftliche(r) Aufsicht“ sei nicht zu rechtfertigen, da die Aufsicht im Anwendungsbereich der Eigenverwaltung „(…) dem Gesellschaftsrecht und damit auch dem Organ entzogen und auf den Sachwalter verlagert [sei]“.104)

Derartige Überlegungen sind kritisch zu sehen. Die aus dem (gesellschaftsrechtlichen) Grundsatz der Gesamtverantwortung abgeleiteten Kontrollund Überwachungspflichten nicht unmittelbar ressortzuständiger Mitgeschäftsführer bestehen, wie dargelegt, gerade dann in gesteigerter Intensität, wenn Gläubigerinteressen sowie das öffentliche Interesse bedroht sind. Die im Amt verbliebenen Mitgeschäftsführer eines eigenverwaltenden Geschäftsführerkollegiums, das den Gläubigerinteressen in besonderem Maße verpflichtet ist, von jener Gesamtverantwortung freizustellen zu wollen, ginge mithin mit einem massiven Wertungswiderspruch einher. Dieser ließe sich auch keineswegs mit insolvenzrechtlichen Erwägungen rechtfertigen; im Gegenteil: Ist Schuldnerin eine GmbH, so obliegt die Ausübung der Eigen103) Hölzle, Folgen der „faktischen Verwalterhaftung“ für die Grundsätze ordnungsmäßiger Eigenverwaltung und den Nachteilsbegriff i. S. d. § 270 Abs. 2 Nr. 2 InsO, ZIP 2018, 1669, 1672 f. 104) Alle Zitate nach Hölzle, ZIP 2018, 1669, 1672 f.

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verwaltung ihrer Geschäftsführung, und zwar in ihrer Gesamtheit, also allen Geschäftsführern gleichermaßen. Sie haben die Geschäftsführung an den Interessen der Gläubiger auszurichten und unterliegen (wie der Insolvenzverwalter im Regelinsolvenzverfahren) zusätzlichen insolvenzrechtlichen Pflichten, denen sie „im Rahmen ihrer Legalitätspflicht zu genügen“ haben.105) Wenn die schon vor Antragstellung tätigen Geschäftsführer ihre Tätigkeit fortsetzen und die Eigenverwaltung betreiben, können sie der damit – wie der IX. Zivilsenat formuliert hat106) – „unweigerlich verbundenen verschärften Haftung nach insolvenzrechtlichen Grundsätzen“ nicht dadurch entgehen, dass sie einen Restrukturierungsexperten „ins Boot nehmen“. Sie selbst bleiben Pflichtenadressaten und haben deshalb – auch wenn die Erfüllung der insolvenzspezifischen Pflichten im Zuge der Ressortaufteilung zuvörderst dem „Chief Insolvency Officer“ zugewiesen werden mag – jedenfalls ihre Kontroll- und Überwachungsverantwortung wahrzunehmen.107) Der Umstand, dass die Geschäftsführung durch den Sachwalter überwacht wird (§ 274 Abs. 2 InsO), der seinerseits für fehlerhafte Überwachung haftet (§ 274 Abs. 1 i. V. m. §§ 60, 61 InsO), führt nicht zu einer verminderten Verantwortlichkeit der Geschäftsleiter. Vielmehr hat der Bundesgerichtshof die Haftung der eigenverwaltenden Geschäftsleiter analog §§ 60, 61 InsO auch und nicht zuletzt aus jener Sachwalterhaftung abgeleitet: Weil es „ungereimt“ wäre, im Falle einer Pflichtverletzung der Geschäftsleiter nur den auf Überwachung beschränkten Sachwalter haften zu lassen, die Geschäftsleiter selbst („als Entscheidungsträger der Eigenverwaltung“) aber zu entlasten.108) Und ebenso wenig können sich die Mitgeschäftsführer ihrer Kontroll- und Überwachungsverantwortung mit der Erwägung entziehen, mangels eigener Sachkunde gar nicht beurteilen zu können, ob der „Chief Insolvency Officer“ im Einklang mit den bestehenden insolvenzspezifischen Pflichten agiert. Auch auf den „überkommenen Grundsatz ultra posse nemo obligatur“ lässt sich ein solches Entlastungsvorbringen nicht mit Erfolg stützen.109) Denn mangelnde persönliche Sachkenntnis entschuldigt den Geschäftsführer nicht; auf seine individuellen

105) So BGH, Urt. v. 26.4.2018 – IX ZR 238/17, Rz. 61, ZIP 2018, 977. 106) BGH, Urt. v. 26.4.2018 – IX ZR 238/17, Rz. 60, ZIP 2018, 977. 107) Im Ergebnis ebenso Gehrlein, Haftung des Insolvenzverwalters und eigenverwaltender Organe, ZInsO 2018, 2234, 2241: Aufgabenverteilung lässt die haftungsrechtliche Gesamtverantwortung unberührt. 108) BGH, Urt. v. 26.4.2018 – IX ZR 238/17, Rz. 56, ZIP 2018, 977. 109) Betont a. A. Hölzle, ZIP 2018, 1669, 1673.

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Fähigkeiten kommt es nicht an.110) Das ist auch in der Eigenverwaltung nicht anders.111) Wer nicht beurteilen kann, wann Maßnahmen der Geschäftsführung einer Gesellschaft in Eigenverwaltung mit den Gläubigerinteressen vereinbar sind und wann nicht, ist als Geschäftsleiter einer solchen Gesellschaft fehl am Platz. Wenn er seine individuellen Defizite erst im Verlauf des Eigenverwaltungsverfahrens erkennt, ist er gut beraten, sein Geschäftsleiteramt niederzulegen.

110) BGH, Vers.-Urt. v. 19.6.2012 – II ZR 243/11, Rz. 9, 11, ZIP 2012, 1557; BGH, Urt. v. 6.11.2018 – II ZR 11/17, Rz. 12, ZIP 2019, 261. 111) BGH, Urt. v. 26.4.2018 – IX ZR 238/17, Rz. 61, ZIP 2018, 977.

Insolvenzplan: Kein Obstruktionsverbot bei Schuldner-/Gesellschaftervorteilen? BRUNO M. KÜBLER UND DIETMAR RENDELS Inhaltsübersicht I.

Einführung 1. Erfahrungsberichte aus der Praxis a) Fall 1: Apothekerinsolvenz b) Fall 2: unrichtig bewertete Schuldnerbeteiligung c) Fall 3: natürliche Person verkauft nach Verfahrensaufhebung 2. Gesetzliche Ausgangslage II. Meinungsstand III. Transparenz von Schuldner-/Gesellschaftervorteilen 1. Planvergleichsrechnung und Unternehmensplanung 2. M&A-Prozess IV. Stellungnahme: Ausschluss des Obstruktionsverbotes bei Schuldner-/ Gesellschaftervorteilen sinnvoll? 1. Schlechterstellungsverbot (§ 245 Abs. 1 Nr. 1 InsO) als alleiniger Maßstab?

a) Wortlaut, Sinn und Zweck b) Rechtspolitisch: Schlechterstellungsverbot als ausreichender Schutz für überstimmte Plangruppe? c) Auslegung: kein Vorteil des Schuldners wegen dessen Mitarbeit? d) Abgelehntes Investorenangebot 2. Gesellschaftsanteile immer wertlos? 3. Weitere rechtspolitische Erwägungen a) ESUG-Evaluation b) Eigene Überlegung: Besserungsschein auf Verlangen einer Summenmehrheit V. Derzeit keine Rechtsfortbildung durch den Bundesgerichtshof VI. Fazit

I. Einführung 1. Erfahrungsberichte aus der Praxis Ein Insolvenzplan ist grundsätzlich nur angenommen, wenn sämtliche Plangruppen zustimmen (§ 244 InsO). Wenn zumindest die Mehrheit der abstimmenden Gruppen dem Plan zustimmt, gilt unter den Voraussetzungen des § 245 InsO (Obstruktionsverbot) die Zustimmung der obstruierenden Gruppe als erteilt. Das setzt u. a. voraus, dass die obstruierende Gruppe „angemessen“ am Planergebnis beteiligt wird (§ 245 Abs. 1 Nr. 2 InsO). Eine „Angemessenheit“ liegt nur vor, wenn weder „der Schuldner oder eine an ihm beteiligte Person einen wirtschaftlichen Wert erhält“ (§ 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO). Nachfolgend drei Erfahrungsberichte aus der hiesigen Praxis, die (potentielle) Vorteile des Schuldners oder seiner Altgesellschafter betreffen:

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Bruno M. Kübler und Dietmar Rendels

a) Fall 1: Apothekerinsolvenz1) Herr A betreibt vier getrennte Apothekenfilialen. Der Jahresumsatz beträgt insgesamt ca. 5 Mio. €. Herr A beschäftigt 60 Arbeitnehmer(!). Die Krisenursache liegt darin, dass Herr A zwei Filialen gekauft hat, die betriebswirtschaftlich schlecht laufen. Außerdem hat Herr A den administrativen Überblick verloren. Schon wegen der Bindung der Apothekerlizenz an die natürliche Person beantragt Herr A die (zunächst vorläufige) Eigenverwaltung, die nach § 270a InsO vom Insolvenzgericht bewilligt wird. Zur Gläubigerstruktur: Ein Kreditinstitut hat von Herrn A ca. 4 Mio. € zu fordern und reklamiert eine – wegen Bestimmtheitsfragen strittige – Sicherungsübereignung der Einrichtung und des Lagers. Lieferanten schuldet Herr A ca. 800.000 €. Den Vermietern der verschiedenen Standorte schuldet Herr A 50.000 €, dem Finanzamt 120.000 € (Umsatzsteuer) und an sonstigen Verbindlichkeiten schuldet Herr A ca. weitere 150.000 €. Nachdem auf Verlangen des vorläufigen Gläubigerausschusses ein M&A-Prozess durchgeführt wurde, liegen für alle Filialen konkrete Kaufangebote vor. Folgende Planstruktur ist vorgesehen: Der vom Schuldner vorgelegte Insolvenzplan enthält fünf Gruppen, nämlich Gruppe 1 = Kreditinstitut, Gruppe 2 = Lieferanten, Gruppe 3 = Vermieter, Gruppe 4 = Finanzamt und Gruppe 5 = alle sonstigen Insolvenzgläubiger. Der Schuldner A soll als “Belohnung” für bisherige Kooperation in der Eigenverwaltung nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens eine Filiale behalten. Nach dem M&A-Prozess liegen für diese Filiale konkrete Kaufangebote zur Zahlung eines Kaufpreises von 400.000 € vor. Für die anderen drei Filialen bieten die Investoren weitere 1,2 Mio. €. Aus diesen 1,2 Mio. € sollen die Planzahlungen zur Quotenzahlung und Ablösung der Sicherungsrechte generiert werden. Die integrierte Unternehmensplanung weist für die Herrn A verbleibende Apotheken-Filiale hervorragende Ertragsaussichten aus. Die Gruppen 3 und 4 (Finanzamt und Vermieter) wenden gegen den Plan ein, dass Herr A nach der Insolvenz mit der vierten Filiale schuldenfrei „im Geld schwimme“. Herr A, so die Gruppen 3 und 4, solle auch diese Filiale verkaufen und die Planquote erhöhen. Herr A verteidigt den Insolvenzplan mit dem Argument, im Regelinsolvenzverfahren müsse ein Insolvenzverwalter mangels Apothekerlizenz schließen. Dann sei die Quote null.

1)

Vgl. dazu AG Osnabrück v. 12.7.2017 – 38 IN 25/15, ZVI 2018, 24, m. krit. Anm. Hofmann, EWiR 2017, 765.

Insolvenzplan: Kein Obstruktionsverbot bei Schuldner-/Gesellschaftervorteilen? 467

Der Insolvenzplan stelle die Gläubiger daher trotz Belassung der Filiale deutlich besser als die Regelinsolvenz. b) Fall 2: unrichtig bewertete Schuldnerbeteiligung Dieser Fall betraf einen Stahlkonzern. Der Jahresumsatz der insolventen Muttergesellschaft lag bei ca. 110 Mio. €. Ein Investor erwarb über den Insolvenzplan 90 % der Gesellschaftsanteile an der Schuldner-GmbH, der Altgesellschafter behielt 10 % der Anteile an der Schuldnerin. Eine 100 %ige Beteiligung der Schuldnerin an einer Tochtergesellschaft bewertete die Vermögensübersicht der Planvergleichsrechnung nach intensiven Diskussionen mit den Bankengläubigern mit 6 Mio. €. Nach Plansanierung und drei Jahre nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens veräußerte der Investor die Beteiligung für ca. 15 Mio. €. Bei der Tochtergesellschaft waren die Verhältnisse im Vergleich zur Phase in der Insolvenz der Muttergesellschaft nahezu unverändert. Ein Bankgläubiger bemerkte zum Verkauf für 15 Mio. € kritisch, dass er eigentlich eine höhere Insolvenzquote hätte verlangen müssen. Zumindest hätte man, so dieser Gläubiger, im Plan zur Stabilisierung des Geschäftsbetriebs der Schuldnerin „Abzugssperren“ vorsehen sollen. Die „Hebung“ des Mehrwertes der Beteiligung führte in der Planüberwachungsphase, in der letzte Quotenzahlungen erfolgten, zu strittigen Diskussionen mit den Insolvenzgläubigern. c) Fall 3: natürliche Person verkauft nach Verfahrensaufhebung In einem weiteren Fall, in dem ein Insolvenzverwalter im Regelinsolvenzverfahren den Plan vorlegte, verkaufte der Schuldner, ein Ingenieur, nach Planrechtskraft und Aufhebung des Insolvenzverfahrens seinen Ingenieurbetrieb zu einem unerwartet hohen Preis. Dieser war signifikant höher als in einer Unternehmensbewertung erwartet. 2. Gesetzliche Ausgangslage Da im Fall 1 (Apotheker) drei von fünf Plangruppen dem Plan zustimmen wollen, kommt es für die Bestätigung des Insolvenzplans auf das Obstruktionsverbot (§ 245 InsO) und dessen Voraussetzungen im Detail an. Hier soll die Frage problematisiert werden, ob im Fall 1 die Gruppen 3 und 4 (und generell Gläubiger in ähnlicher Lage) „angemessen“ am Planergebnis i. S. der

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Bruno M. Kübler und Dietmar Rendels

§ 245 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 Nr. 2 InsO beteiligt werden. Dafür ist insbesondere entscheidend, ob wegen der dem Schuldner verbleibenden „Restwerte“ ein Schuldnervorteil nach § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO vorliegt, der die Anwendbarkeit des Obstruktionsverbotes – und damit die Bestätigung des Insolvenzplans – ausschließen könnte. Solche Vorteile wären bei Planbestimmung auch in den Fällen 2 und 3 in Betracht zu ziehen gewesen. In den Fällen 2 und 3 sind die nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens „gehobenen“ Vermögenswerte im Plan, aus welchen Gründen auch immer, nicht berücksichtigt und nicht offengelegt worden. II. Meinungsstand Bei natürlichen Personen sind sowohl das Behalten des Betriebs (etwa der Kanzlei eines Freiberuflers) als auch die Möglichkeit, durch eine Betriebsfortführung nach der Insolvenz wieder Erträge zu generieren, potentielle, zu prüfende „Vorteile“ i. S. des § 245 Abs. 2 Nr. 2 Halbs. 2 InsO. Bei juristischen Personen ist das Behalten der (ggf. wieder durch den Insolvenzplan werthaltig gemachten) Gesellschaftsanteile für Altgesellschafter ein solcher potentieller Vorteil. Das Meinungsspektrum zur Auslegung des § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO, dort der Merkmale „weder der Schuldner oder eine an ihm beteiligte Person einen wirtschaftlichen Wert erhält“, ist breit gefächert. Weitgehend Einigkeit besteht aber noch insoweit, dass in Rechtsprechung und Literatur niemand automatisch oder spiegelbildlich bei der Rettung des Unternehmens durch den Insolvenzplan ausnahmslos einen „Vorteil“ annehmen will. Die Vorschrift des § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO ist Ausdruck der sog. Absolute Priority Rule, entlehnt aus dem US-amerikanischen Recht.2) Im Anschluss an die Gesetzesbegründung zur Ur-InsO3) wird in Rechtsprechung und Literatur tendenziell versucht, die Annahme eines „Vorteils“ eng zu fassen.4) Die nähere Bestimmung/Eingrenzung des Merkmals „Vorteil“ i. S. des § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO erfolgt dann aber recht unterschiedlich, was im Einzelfall zu erheblicher Rechtsunsicherheit führt. Das LG Mühlhausen entschied im Jahre 2007 im Anschluss an die zuvor erwähnte Gesetzesbegründung zur InsO, dass die Frage, ob dem Schuldner ein wirtschaftlicher Wert zufließe, nur anhand des konkreten Einzelfalls be2) 3) 4)

Vgl. Lüer/Streit in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 245 Rz. 26. Begr. RegE InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 209. Vgl. Thies in: HambKomm-InsO, 6. Aufl. 2017, § 245 Rz. 13.

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urteilt werden könne. Insbesondere sei zu prüfen, ob ein fremder Dritter bereit gewesen wäre, das Schuldnerunternehmen anstelle des Schuldners fortzuführen. Im zu entscheidenden Fall sei „ein solcher fortführungswilliger Dritter nicht bekannt“, sodass der Insolvenzplan nicht am Widerstand einer Plangruppe und nicht an der Annahme eines Vorteils i. S. des § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO scheitere.5) Andere führen aus, es seien „in der künftigen Praxis Kriterien zu entwickeln“.6) Die vorbezeichnete Literaturansicht stellt sodann auf eine handelsbilanzielle Betrachtung ab. Führe der Verzicht von Gläubigerforderungen und/oder die Zuführung frischen Kapitals zu einem positiven Eigenkapital, könne von der Zuwendung eines Vermögenswerts an den Schuldner gesprochen werden.7) Vorbezeichnete Literaturansicht sieht auch in künftigen Gewinnen aufgrund einer Unternehmensfortführung einen möglichen Vorteil.8) Andere Literaturansichten betonen die Notwendigkeit einer wertenden Betrachtung und vertreten eine teleologische Reduktion.9) In Bezug auf etwaige Vorteile aus einer Betriebsfortführung seien Fortführungs- und Haftungsrisiken bewertend zugunsten des Schuldners mitzuberücksichtigen.10) Braun setzt sich überdies kritisch mit der Rechtsprechung des US Supreme Court zu Chapter 11 BC11) auseinander und betont, dass die Rechtsprechung des US-Gerichtes nicht unreflektiert auf die Auslegung der deutschen Norm übertragen werden könne. Auch dürfe das Planinitiativrecht des Schuldners durch eine zu extensive Annahme von Schuldnervorteilen nicht entwertet werden.12) Weitere Literaturansichten argumentieren, eine enge Auslegung der Vorteile i. S. des § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO sei mit Blick auf das frühere Vergleichsverfahren nach der VerglO gerechtfertigt. Damals hätten bei einer Quote von 35 % keine Bedenken bestanden, den Altgesellschaftern den „Restwert“ des Unternehmens zu belassen.13) Die Beteiligung der Altaktionäre einer bör-

5) 6) 7) 8) 9) 10) 11) 12) 13)

Vgl. LG Mühlhausen, Beschl. v. 17.9.2007 – 2 T 190/06, NZI 2007, 724, und LG Traunstein, Beschl. v. 27.8.1999 – 4 T 2966/99, NZI 1999, 461. Lüer/Streit in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 245 Rz. 27. Lüer/Streit in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 245 Rz. 29. Lüer/Streit in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 245 Rz. 27. Vgl. Braun in: Nerlich/Römermann, InsO, 6/2018, § 245 Rz. 25. Braun in: Nerlich/Römermann, InsO, 6/2018, § 245 Rz. 26. Dazu Drukarczyk in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2014, § 245 Rz. 83 ff., 89. Braun in: Nerlich/Römermann, InsO, 6/2018, § 245 Rz. 26. Vgl. Wienecke/Hoffmann, Der Erhalt der Börsennotierung beim echten und unechten Debt Equity Swap in der Insolvenz der börsennotierten AG, ZIP 2013, 697, 699 re.

470

Bruno M. Kübler und Dietmar Rendels

sennotierten Gesellschaft am Sanierungserfolg führe nicht zur Anwendung des § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO.14) III. Transparenz von Schuldner-/Gesellschaftervorteilen 1. Planvergleichsrechnung und Unternehmensplanung Wie die eingangs (siehe oben I. 1.) skizzierten Fälle zeigen, werden nach Beendigung der Insolvenz nicht selten Vermögenswerte „gehoben“, die schon während der Insolvenz quotenerhöhend hätten berücksichtigt werden können. Nicht immer sind nach der Insolvenz realisierbare oder behaltene Vermögenswerte so klar im Insolvenzplan deklariert wie in Fall 1 (siehe oben I. 1. a)). Das mag teilweise eher zufällig sein, ist manchmal aber auch das Ergebnis einer umfangreichen oder bewusst unübersichtlichen Planvergleichsrechnung. Schon um Streitigkeiten in der Planüberwachungsphase oder Vertrauensverluste zu vermeiden, sollten „Restwerte“ des Schuldners oder seiner Altgesellschafter transparent im Plan offengelegt werden. Unabhängig von der Auslegung der Merkmale in § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO („Schuldner oder […] an ihm beteiligte Person einen wirtschaftlichen Wert erhält“) sind zur Transparenz des darstellenden Teils §§ 220 Abs. 2, 226 Abs. 3 InsO einzuhalten. Nach § 220 Abs. 2 InsO „muss“15) der darstellende Teil alle Angaben enthalten, die für die Entscheidung der „Beteiligten“ wesentlich sind. Alle Informationen, die für die Bemessung der Quote erheblich sind, sind im darstellenden Teil und der Planvergleichsrechnung offenzulegen.16) Es ist deshalb nach § 220 Abs. 2 InsO unzulässig, einer rechtlich schwierigen Diskussion zur Auslegung des § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO im konkreten Fall auszuweichen, indem auf der Sachverhaltsebene etwas „fingiert“ wird. Weiter folgt dies zumindest aus dem Rechtsgedanken des § 226 Abs. 3 InsO, wonach geheime, abstimmungsrelevante „Abkommen“ zur Zuwendung eines „Vorteils“ unzulässig sind. In allen drei Ausgangsfällen gehören deshalb zu den potentiellen Vorteilen i. S. des § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO Angaben in den darstellenden Teil (d. h. in Fall 1 zum Wert der dem Schuldner verbleibenden Apotheke; in Fall 2 muss 14) 15) 16)

Wienecke/Hoffmann, ZIP 2013, 697, 700 o. li. BGH, Beschl. v. 26.4.2018 – IX ZB 49/17, Rz. 32, 33, ZIP 2018, 1141. Vgl. detailliert zur Plan-Vergleichsrechnung Schmidt in: Kübler, HRI, 3. Aufl. 2019, § 34 Rz. 9 ff., 88 ff.; vgl. auch zur Unternehmensplanung und den insoweit zu erfüllenden Anforderungen Zabel in: HRI, 3. Aufl. 2019, § 27 Rz. 37 ff., 97 ff.

Insolvenzplan: Kein Obstruktionsverbot bei Schuldner-/Gesellschaftervorteilen? 471

der darstellende Teil zutreffende Angaben zum Beteiligungswert enthalten und in Fall 3 Angaben zu Verkaufsmöglichkeiten betreffend das Unternehmen in der Zeit nach der Insolvenz). Weiter ist eine (integrierte) Unternehmensplanung geeignet, Transparenz zu etwaigen wirtschaftlichen Vorteilen in der Zeit nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens herbeizuführen.17) 2. M&A-Prozess Die Frage, ob und wie ein Investorenprozess bei Eigenverwaltung und Insolvenzplan durchzuführen ist, betrifft eine zentrale Streitfrage. Zum Diskussionsstand soll auf die insoweit vorhandene Literatur verwiesen werden.18) Hier nur einige Punkte: Auch diese Frage ist zur Sachverhaltsaufklärung mit Blick auf § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO entscheidend. Tendenziell, sofern Transparenz zu potentiellen Schuldner-/Gesellschaftervorteilen hergestellt werden soll (siehe vorstehende Ausführungen), wird eine solche oft nur i. R. eines M&A-Prozesses vollumfänglich hergestellt werden können. So wirkte es schon ein wenig „gebogen“, wenn das LG Mühlhausen im eingangs erwähnten Fall (siehe oben II.) ausführte, kein fremder Dritter sei bereit gewesen, das Unternehmen fortzuführen, weil „im hier zu entscheidenden Fall (…) dem Gericht kein solcher bekanntgeworden (sei)“.19) Ohne ordnungsgemäße Bemühungen, einen Investor zu finden, kann dieser nicht „bekannt“ sein.20) IV. Stellungnahme: Ausschluss des Obstruktionsverbotes bei Schuldner-/ Gesellschaftervorteilen sinnvoll? 1. Schlechterstellungsverbot (§ 245 Abs. 1 Nr. 1 InsO) als alleiniger Maßstab? a) Wortlaut, Sinn und Zweck Als Ausdruck der Absolute Priority Rule erwähnt § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO die Merkmale „noch der Schuldner oder eine an ihm beteiligte Person einen 17) 18)

19) 20)

Zabel in: Kübler, HRI, 3. Aufl. 2019, § 27 Rz. 102 ff. Vgl. Kübler/Rendels, Aspekte des M&A-Prozesses in der (vorläufigen) Eigenverwaltung, ZIP 2018, 1369 ff.; Brünkmans in: Brünkmans/Thole, Handbuch Insolvenzplan, 2017, § 2 Rz. 87 ff. LG Mühlhausen, Beschl. v. 17.9.2007 – 2 T 190/06, NZI 2007, 724, 725. Für einen Bieterprozess Drukarczyk in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2014, § 245 Rz. 89 ff.

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wirtschaftlichen Wert erhält“ in einem Zug mit den Nachranggläubigern, die ebenfalls, damit das Obstruktionsverbot anwendbar sein soll, keine Befriedigung erhalten dürfen. Da Gesellschafterforderungen in der Insolvenz grundsätzlich nachrangig sind (vgl. § 199 Satz 1 und 2 InsO), stellt das Gesetz wertungsmäßig den Schuldner oder am Schuldner beteiligte Personen diesen Nachranggläubigern gleich. In der Praxis kann die potenzielle Annahme einer Wertzuwendung i. S. des § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO an Gesellschafter oder Schuldner die Plansanierung deshalb erheblich „stören“, weil häufig der Schuldner (siehe oben Fall 1) oder am Schuldner beteiligte Personen für eine erfolgreiche Plansanierung benötigt werden. b) Rechtspolitisch: Schlechterstellungsverbot als ausreichender Schutz für überstimmte Plangruppe? Wenn unter diesem Aspekt die genannten Merkmale des § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO oft sanierungsfeindlich sind, könnte man rechtspolitisch (dazu vertiefend unten IV. 3.) erwägen, die Merkmale zum Schuldner- und Gesellschaftervorteil in § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO zu streichen. Für eine solche Streichung könnte auch sprechen, dass das Schlechterstellungsverbot nach § 245 Abs. 1 Nr. 1 InsO schon ein „starker“ Filter zum Schutz der obstruierenden Plangruppe ist. Dies gilt zumindest dann, wenn strenge Anforderungen für die Plan-Vergleichsrechnungen greifen21) und im Einzelfall ein M&A-Prozess22) erwogen wird. Folgende Gegenargumente: Insbesondere wenn im Einzelfall (was intensiv zu prüfen wäre) die Betriebsschließung der Vergleichsmaßstab i. S. des § 245 Abs. 1 Nr. 1 InsO ist, könnte ein Schuldner ohne § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO und die bezeichneten Tatbestandsmerkmale die Differenz zwischen Fortführungs- und Zerschlagungswert mithilfe des Obstruktionsverbotes schuldenfrei behalten. Ob das zu einer „angemessenen“ (vgl. § 245 Abs. 1. Nr. 2 InsO) Befriedigung der gegen den Plan stimmenden Gruppe führt, ist vor allem zweifelhaft, wenn – wie regelmäßig – die Differenz zwischen Fortführungs- und Zerschlagungswerten sehr groß ist. Das kann nicht nur die Insolvenzquote betreffen, sondern auch den Wert der Sicherungsrechte. So 21) 22)

Vgl. Kübler/Rendels, Aspekte der Insolvenzplan-Vergleichsrechnung in der Eigenverwaltung, in: FS Prütting, 2017, S. 697 ff. Vgl. Kübler/Rendels, ZIP 2018, 1369 ff.

Insolvenzplan: Kein Obstruktionsverbot bei Schuldner-/Gesellschaftervorteilen? 473

hatten Gutachter im Fall 1 (siehe oben I. 1. a)) den Wert der Sicherungsrechte der Plan-Gruppe 1 (Kreditinstitut) an der Apothekeneinrichtung bei Zerschlagung mit 80.0000 € bewertet, bei Fortführung mit 900.000 € (u. a. wegen bei Schließung notwendiger Aus-/Umbaukosten betreffend Einrichtung und Labor). Soll diesen Mehrwert der Schuldner oder eine an ihm beteiligte Person allein, d. h. ohne Quotenerhöhung, vereinnahmen können? Das Obstruktionsverbot ist eine Ausnahme zum Grundsatz des § 244 InsO, wonach der Insolvenzplan grundsätzlich der Zustimmung aller Plangruppen bedarf. Das Obstruktionsverbot ist weiter eine Ausnahme dazu, dass jedenfalls überwiegend in Gläubigerversammlungen Beschlüsse mit Summenmehrheit zu fassen sind. Bei natürlichen Personen ist zudem eine Restschuldbefreiung nach §§ 287 ff. InsO vom Grundsatz einer bescheidenen Lebensführung geprägt. Das spricht alles für eine nicht zu extensive Anwendung des Obstruktionsverbotes. Eine kompensationslose schlichte Streichung der bezeichneten Merkmale i. S. des § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO ginge daher u. E. rechtspolitisch zu weit. c) Auslegung: kein Vorteil des Schuldners wegen dessen Mitarbeit? Aufgrund vorstehender Erwägungen trägt auch das Argument zur Auslegung der gegenwärtigen Fassung des § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO nicht, ein Schuldner als natürliche Person könne einen Schuldnervorteil dadurch aufwiegen, dass er in der Eigenverwaltung bei der Fortführung eines Unternehmens und an Teilverkäufen mitgewirkt habe.23) Das würde bedeuten, dass faktisch in der Eigenverwaltung bei halbwegs ordnungsgemäßer Mitwirkung des Schuldners § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO stets keine Rolle spielt. Eine Mitwirkung des Schuldners ist schon Voraussetzung der Anordnung der Eigenverwaltung (vgl. § 270 Abs. 2 Nr. 2 InsO und das erforderliche Fehlen von Nachteilen). Insgesamt sollten Gesetz und Rechtsprechung dafür Sorge tragen, dass sich Gesellschafter und/oder der Schuldner nicht mithilfe des Obstruktionsverbots kompensationslos Wertzuwendungen verschaffen können, die zumindest partiell auch für eine signifikante Quotenerhöhung oder höhere Befriedigung von Absonderungsrechten hätten eingesetzt werden können. 23)

AG Osnabrück, Beschl. v. 12.7.2017 – 38 IN 25/15, dazu EWiR 2017, 765 (Hofmann) und oben I. 1. a) (Fall 1).

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d) Abgelehntes Investorenangebot Weiter wird zu § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO oft die Konstellation diskutiert, in der eine Mehrheit der Abstimmungsgruppen dem Plan unter Ablehnung eines Investorenangebotes zustimmen will.24) Es wird diskutiert, ob eine Wertzuwendung i. S. des § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO darin liegt, wenn Dritten im Planverfahren nicht die Möglichkeit eingeräumt wird, bessere Angebote für eine Fortführung des Unternehmens abzugeben.25) Richtigerweise dürfte die Frage, ob ein Investorenangebot angenommen werden muss oder nicht, ausschließlich i. R. des Schlechterstellungsverbots nach § 245 Abs. 1 Nr. 1 InsO eine Rolle spielen.26) Insbesondere dann, wenn (einzelfallabhängig) rechtzeitig ein M&A-Prozess eingeleitet und dieser rechtzeitig vor dem Abstimmungstermin beendet wurde (siehe oben III. 2.), sollte klar sein, ob mithilfe eines Investors eine höhere Quote realisiert werden kann als mit Insolvenzplan ohne Investor. Grundsätzlich ist daher das Thema „Investorenangebot annehmen oder ausschlagen“ ausschließlich i. R. des § 245 Abs. 1 Nr. 1 InsO abzuhandeln. Ernsthafte Investorenangebote können aber ein starkes Indiz dafür sein, dass der Schuldner oder Altgesellschafter des Schuldners nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens ihre Rechtspositionen gewinnbringend veräußern, siehe oben I. 1. b) und c) (Praxisfälle 2 und 3). Das mag dann wiederum einzelfallabhängig ein Indiz für einen „Vorteil“ i. S. des § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO sein. 2. Gesellschaftsanteile immer wertlos? In der Regelinsolvenz erhalten die Gesellschafter nahezu ausnahmslos keinen Überschuss (vgl. § 199 Satz 1 und 2 InsO). Das führt zu der verbreiteten Annahme, Gesellschaftsanteile seien in der Regelinsolvenz wertlos. Wären die Altgesellschaftern belassenen Anteile wertlos, könnte das gegen die Annahme eines Vorteils i. S. des § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO sprechen.27)

24) 25) 26) 27)

Vgl. Becker in: Kübler, HRI, 3. Aufl. 2019, § 41 Rz. 66 ff. Becker in: Kübler, HRI, 3. Aufl. 2019, § 41 Rz. 66 ff. Vgl. Becker in: Kübler, HRI, 3. Aufl. 2019, § 41 Rz. 66 ff. Vgl. zur angeblichen Wertlosigkeit von Gesellschaftsanteilen ESUG-Evaluation, Gesamtbericht, S. 179.

Insolvenzplan: Kein Obstruktionsverbot bei Schuldner-/Gesellschaftervorteilen? 475

Zum Planverfahren hat schon der Bundesgerichtshof in seiner SuhrkampEntscheidung28) darauf hingewiesen, dass jedenfalls bei einer hohen Planquote auch den Gesellschaftsanteilen der Altgesellschafter möglicherweise ein Wert beigemessen werden muss. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass Aktien (und ggf. sonstige Gesellschaftsanteile) selbst in der Insolvenz oft noch mit einem Spekulationswert gehandelt werden. Zudem gibt es Fälle, in denen das Know-how der Gesellschafter für die Betriebsfortführung wichtig, ggf. sogar wesentlich ist. Weiter sind Altgesellschafter, denen Anteile belassen werden, nach Beendigung der Plan-Insolvenz grundsätzlich (sofern der Plan keine Sperre „einbaut“) in der Lage, diese Anteile zu verkaufen, siehe oben I. 1. b) und c) (Fälle 2 und 3). Vor diesem Hintergrund ist jedenfalls beim Insolvenzplan zu bezweifeln, dass Gesellschaftsanteile stets wertlos sind.29) Belassene Gesellschaftsanteile sind damit entgegen verbreiteter Ansicht (siehe oben II.) grundsätzlich ein Vorteil i. S. des § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO. 3. Weitere rechtspolitische Erwägungen a) ESUG-Evaluation Das ESUG-Evaluationsgutachten befasst sich ausführlich mit Fragen des Obstruktionsverbotes u. a. auch im Zusammenhang mit der Bewertung der Stellung der Gesellschafter.30) Die ESUG-Evaluationsgutachter schlagen auf S. 179 ihres Berichtes Folgendes vor: „Jedenfalls ist zu überlegen, die Anwendung des Obstruktionsverbots gegen eine Gläubigergruppe in § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO nicht streng davon abhängig zu machen, dass kein Gesellschafter einen wirtschaftlichen Wert erhält, bevor alle Gläubiger der widersprechenden Gruppe voll befriedigt sind. Diese Anforderung zwingt in der Praxis zu der Annahme, Anteile an einer insolventen Gesellschaft hätten trotz der Aussicht auf die Erträge nach der Sanierung im Regelfall keinen Wert bzw. würden durch das Fortführungsrisiko kompensiert. Auch hier könnte der Passus in § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO, der den Schuldner bzw. dessen Anteilseigner betrifft (‚noch der Schuldner oder eine an ihm beteiligte Person‘) gestrichen werden. Stattdessen könnte in einer neuen Nr. 4 formuliert werden, dass eine widersprechende Gruppe angemessen an der Verteilung beteiligt ist, wenn nach dem Plan ‚der Schuldner das Unternehmen oder Teile davon fortführen soll oder eine an ihm beteiligte Person Anteile behalten soll, sofern entweder ohne diese Regelung eine Unternehmensfortführung nicht möglich ist oder aber soweit sichergestellt ist, dass eine hierin liegende Wertzuweisung ausgeglichen wird.‘ Eine Schlechterstellung der nicht zustimmenden Gläubiger gegenüber einer Liquidations28) 29) 30)

Vgl. BGH, Beschl. v. 17.7.2014 – IX ZB 13/14, ZIP 2014, 1442. Vgl. Becker in: Kübler, HRI. 3. Aufl. 2019, § 41 Rz. 14, 15. Vgl. Gesamtbericht des ESUG-Evaluationsgutachten ab S. 178 ff.

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Bruno M. Kübler und Dietmar Rendels lösung, also insbesondere gegenüber einer übertragenden Sanierung, wäre ohnehin durch § 245 Abs. 1 Nr. 1 und § 251 Abs. 1 Nr. 2 InsO (Schlechterstellungsverbot) gesichert.“

Die von dem Evaluationsgutachten angeregte Einfügung eines neuen § 245 Abs. 2 Nr. 4 InsO ist mit den vorgeschlagenen Tatbestandsmerkmalen wenig überzeugend. Das von den ESUG-Gutachtern erwogene Tatbestandsmerkmal „ohne diese Regelung eine Unternehmensfortführung nicht möglich“ sichert der überstimmten Plangruppe nur den Zerschlagungswert und wiederholt damit nur das Schlechterstellungsverbot (i. S. des § 245 Abs. 1 Nr. 1 InsO). Die Merkmale „oder (…) sichergestellt ist, dass eine hierin liegende Wertzuwendung ausgeglichen wird“ lassen die Höhe des Ausgleichs offen und bergen die Gefahr, dass der gesamte Planmehrwert durch die Gläubiger, insbesondere eine gegen den Plan stimmende Gruppe, abgeschöpft wird. Irgendeine „Belohnung“ sollte dem eigenverwaltendem Schuldner, der durch seine Kooperation die Fortführungswerte sichert, siehe oben I. 1. a) (Fall 1), bleiben. Das dient der Werterhaltung und liegt damit auch im Interesse der Gläubiger. b) Eigene Überlegung: Besserungsschein auf Verlangen einer Summenmehrheit Wegen der Rechtsunsicherheit bei der Auslegung der vorbezeichneten Merkmale in § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO (zu Schuldnervorteilen oder Vorteilen von Anteilseignern) ist u. E. insoweit im Ansatz zwar dem Evaluationsgutachten zu folgen und deshalb eine Streichung dieser Merkmale angezeigt (siehe oben IV. 3. a)). Die Ersatzregelung sollte aber anders erfolgen, als im Evaluationsgutachten vorgeschlagen. Es muss aber sichergestellt werden, dass zumindest eine Summenmehrheit der Insolvenzgläubiger dann nicht übervorteilt werden kann, wenn nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens erhebliche Wertzuwendungen an den Schuldner selbst oder an die Anteilseigner erkennbar sind, die auch – zumindest teilweise – signifikant quotenerhöhend hätten eingesetzt werden können. Da grundsätzlich in Gläubigerversammlungen eine Summenmehrheit entscheidungsgebend ist, sollte der Besserungsschein an das Verlangen einer Summenmehrheit geknüpft werden. Gelingt es dem Planinitiator, eine Summenmehrheit zur Planzustimmung zu bewegen, ohne dass Vorteile i. S. des § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO der bisherigen Fassung der InsO ausgeglichen werden, sollte der Plan nicht an dieser Norm scheitern.

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Vor diesem Hintergrund folgender Vorschlag für eine Regelung in § 245 Abs. 2 Nr. 4 InsO n. F.: „4. Auf Verlangen einer Summenmehrheit sind potentiell dem Schuldner oder einer an ihm beteiligten Person zufließende wirtschaftliche Werte partiell durch Zahlungen an alle Gläubiger angemessen auszugleichen. Im Zweifel ist die hälftige Teilung solcher Werte zwischen Schuldner oder Anteilseignern einerseits und Insolvenzgläubigern andererseits angemessen.“

Bei der vorgeschlagenen Regelung handelt es sich um eine Art zwingenden Besserungsschein. Die Regelung würde den Planinitiator dazu zwingen, bei greifbaren Schuldner- oder Gesellschaftervorteilen in Verhandlungen mit einer Plangruppe einzutreten, die eine Summenmehrheit aller Insolvenzgläubiger repräsentiert. Diese hätte es dann in der Hand, durch Verhandlungen zur Planquote die potenziellen Gesellschafter- oder Schuldnervorteile zumindest partiell durch Zahlung einer erhöhten Planausschüttung zu kompensieren. Außerdem enthält der Vorschlag eine „Faustregel“ zur Aufteilung von Schuldner- oder Gesellschaftervorteilen, wonach diese im Zweifel hälftig zwischen Schuldner und Gläubigern durch Erhöhung der Insolvenzquote aufzuteilen sind. V. Derzeit keine Rechtsfortbildung durch den Bundesgerichtshof Weiter ist auf folgendes Problem nach der ESUG-Reform hinzuweisen: Nach § 253 Abs. 2 Nr. 2 InsO erfordert die zulässige Einlegung einer sofortigen Beschwerde gegen die Planbestätigung die Glaubhaftmachung einer wesentlichen Schlechterstellung im Vergleich zur Regelinsolvenz. Das hilft mit Bezug auf das Obstruktionsverbot aber nur dann, sofern eine Schlechterstellung i. S. des § 245 Abs. 1 Nr. 1 InsO im Raum steht. Geht es dagegen „nur“ um einen Schuldner- oder Gesellschaftervorteil i. S. des § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO, so ist die alleineige Glaubhaftmachung eines solchen Vorteils nicht rechtsmittelfähig. Das wiederum führt praktisch dazu, dass mit der Auslegung des Obstruktionsverbotes, namentlich der Merkmale des § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO, häufig das Amtsgericht/Insolvenzgericht letzte Station ist. In Anbetracht der erheblichen Probleme, die das Obstruktionsverbot insgesamt und speziell § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO aufwerfen, wäre es jedoch sinnvoll und angezeigt, zur Sicherstellung einer einheitlichen und kompe-

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tenten Rechtsauslegung Entscheidungen des Bundesgerichtshofes zu erhalten. Rechtspolitisch sollte deshalb – auch mit Blick auf das anstehende vorinsolvenzliche Sanierungsverfahren im Anschluss an die EU-Richtlinie31) – darüber nachgedacht werden, zumindest im Bereich des § 245 InsO durch eine Neufassung des § 7 InsO (a. F.) eine Nichtzulassungsbeschwerde/ Rechtsbeschwerde zu ermöglichen. Dem Bundesgerichtshof sollte es durch eine Änderung der InsO ermöglicht werden, nach eigenem Ermessen, falls Vorinstanzen die Rechtsbeschwerde nicht zugelassen haben, die Auslegung des § 245 InsO sicherzustellen. VI. Fazit –

§ 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO hat bei der Abfassung von Insolvenzplänen eine hohe praktische Bedeutung, die oft verkannt wird. Das sollte auch bei der Ausgestaltung der ausstehenden Verfahren zur vorinsolvenzlichen Sanierung zur Umsetzung der Restrukturierungsrichtlinie berücksichtigt werden.



Die Auslegung des Merkmals i. S. des § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO „noch der Schuldner oder eine an ihm beteiligte Person einen wirtschaftlichen Wert erhält“ führt in Rechtsprechung und Literatur zu erheblicher Rechtsunsicherheit. Das ist sanierungsfeindlich.



Verbreitet wird deshalb schlicht „fingiert“, dass solche Vorteile nicht vorhanden seien, etwa weil der Schuldner Fortführungsrisiken übernehme, keine Investoren zu erkennen oder die Anteile von Altgesellschaftern wertlos seien. Gerade bei Schuldnerplänen erlangen der Schuldner oder dessen Anteilsinhaber oft erhebliche wirtschaftliche Vorteile mittels Insolvenzplan (siehe Erfahrungsberichte unter I. 1.).



Die genannten Merkmale i. S. des § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO sollten durch eine Art gesetzlichen Besserungsschein ersetzt werden. Der Planverfasser sollte auf Verlangen einer Summenmehrheit verpflichtet wer-

31)

Zur Diskussion European Relative Priority Rule nach der Richtlinie (EU) 2019/1023 v. 20.6.2019 (veröffentlicht am 26.6.2019) betreffend vorinsolvenzliche Sanierung https:// stephanmadaus.de/author/StephanMadaus und kritisch der Blog von Prof. Moritz Brinkmann, Die relative Vorrangregel aus Art. 11 (1) (c) der Insolvenzrichtlinie nicht nur untauglich, sondern brandgefährlich!, abrufbar unter https://www.tax-legal-excellence.com/ herausgeber-brinkmann/ (Abrufdatum: 4.7.2019).

Insolvenzplan: Kein Obstruktionsverbot bei Schuldner-/Gesellschaftervorteilen? 479

den, potentielle Schuldner- oder Gesellschaftervorteile – partiell – den Gläubigern durch eine Quotenerhöhung zuzuwenden (siehe oben IV. 3. b)). Ein Schuldner (natürliche Person) oder Anteilseigner (juristische Person), die durch Kooperation i. R. der Eigenverwaltung Fortführungswerte sicherstellen, sollten ihrerseits partiell durch ein Behalten der Vorteile belohnt werden. –

Potentielle betriebswirtschaftliche Vorteile des Schuldners oder der Anteilseigner in der Zeit nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens müssen in der Planvergleichsrechnung und in der Unternehmensplanung offen ausgewiesen werden (vgl. §§ 220 Abs. 2, 226 Abs. 3 InsO, siehe oben III.).



Zu bedauern ist, dass der Bundesgerichtshof aufgrund der Rechtsmittelbegrenzung, die das ESUG eingeführt hat, trotz erheblicher praktischer Relevanz bisher keine Gelegenheit hatte, sich zu den aufgeworfenen Fragen zu äußern. Auch vor diesem Hintergrund, aber auch wegen der sanierungsfeindlichen Wirkung des § 245 Abs. 2 Nr. 2 InsO, besteht bzgl. dieser Norm rechtspolitischer Handlungsbedarf.

Aktuelles zur Rechtshandlung des Schuldners nach § 133 Abs. 1 InsO KAREN KUDER UND KATRIN STOHRER Inhaltsübersicht I.

II.

Die Rechtshandlung des Schuldners im Kontext einer Zwangsvollstreckung 1. Weiternutzung eines gepfändeten Kontos 2. Aufrechterhalten eines vor der Pfändung bestehenden Zahlungswegs („Spielhalle“) 3. Anerkenntnisurteil 4. Bewertung a) Das Fehlen abstrakter Abgrenzungskriterien b) Verhaltensänderung als geeignetes Abgrenzungskriterium? c) Aufwertung der Rechtshandlung des Schuldners Geltung der BGH-Rechtsprechung für Fälle ohne Vollstreckungsbezug?

III. Insbesondere: Verrechnungen im debitorischen Kontokorrent als Rechtshandlung des Schuldners? 1. Rechtshandlung des Schuldners a) Anweisung an Drittschuldner b) Umleitung des Zahlungsverkehrs auf ein anderes Konto c) Giro- bzw. Kontokorrentabrede 2. Gegenläufige BGH-Rechtsprechung zur Rechtshandlung i. S. von § 135 Abs. 2 InsO? IV. Ausblick: Das Werthaltigmachen einer zedierten Forderung als Rechtshandlung des Schuldners? V. Wesentliche Ergebnisse

Die Vorsatzanfechtung ist sicherlich eines der Themen, die der Jubilar in seiner Zeit als Vorsitzender Richter des IX. Zivilsenats entscheidend geprägt und weiterentwickelt hat. Auch mit der Reform des Insolvenzanfechtungsrechts im Jahr 2017 sind noch längst nicht alle Fragen geklärt. Die Vorsatzanfechtung wird deshalb auch weiterhin die Praxis beschäftigen.1) Dabei stehen die Tatbestandsvoraussetzungen des Benachteiligungsvorsatzes des Schuldners und der Kenntnis des Anfechtungsgegners von diesem Vorsatz unverändert im Fokus. Allerdings verdient auch das Merkmal der Rechtshandlung des Schuldners Aufmerksamkeit. Denn ist bereits eine für § 133 InsO relevante Rechtshandlung zu verneinen, fehlt ein Bezugspunkt für den Benachteiligungsvorsatz und die Anfechtung geht ins Leere. Im Unterschied zur 1)

Zur neueren Rechtsprechung s. Gehrlein, Neuere Rechtsprechung zur Vorsatzanfechtung, ZInsO 2018, 2557; Huber, Die neuen Wege des IX. Zivilsenats des BGH in der Vorsatzanfechtung gem. § 133 Abs. 1 InsO, ZIP 2018, 519; Pape, Aktuelles Insolvenzrecht im Jahr 2017, ZInsO 2018, 745, 747 ff.; Ganter, Die Rechtsprechung des BGH zum Insolvenzrecht im Jahr 2017, NZI 2018, 289, 298 ff.

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Karen Kuder und Katrin Stohrer

Anfechtung nach §§ 130, 131 InsO ist für die Vorsatzanfechtung eine Rechtshandlung gerade des Schuldners erforderlich, während die Rechtshandlungen eines Gläubigers oder eines Dritten nicht reichen. Insbesondere im Bereich der Zwangsvollstreckung gibt es zur Frage der Rechtshandlung des Schuldners schwierige Abgrenzungen. Der IX. Zivilsenat hat sich im Jahr 2017 in gleich drei Urteilen mit der Frage befasst, unter welchen Voraussetzungen eine Vermögensverlagerung, die ein Gläubiger durch eine Zwangsvollstreckungsmaßnahme bewirkt, auch auf einer mitwirkenden Rechtshandlung des Schuldners beruht und damit der Vorsatzanfechtung unterliegt.2) Für eine erfolgreiche Anfechtung von Vollstreckungshandlungen nach § 133 InsO muss der Insolvenzverwalter künftig erhöhte Anforderungen an berücksichtigen (siehe I.). Neben den Auswirkungen dieser Rechtsprechung auf die Vorsatzanfechtung im Kontext einer Vollstreckung stellt sich die weitergehende Frage, ob erhöhte Anforderungen an die Rechtshandlung des Schuldners auch für die Vorsatzanfechtung in Fällen ohne Vollstreckungsbezug gelten (siehe II.). Hier soll vor allem die Anfechtung der Verrechnung von Zahlungseingängen auf einem debitorisch geführten Kontokorrentkonto des Schuldners betrachtet werden (siehe III.). I. Die Rechtshandlung des Schuldners im Kontext einer Zwangsvollstreckung Eine Zahlung, die ein Gläubiger durch Vollstreckungsmaßnahmen erlangt, unterliegt mangels Rechtshandlung des Schuldners grundsätzlich nicht der Vorsatzanfechtung.3) Im Regelfall wird sich die Reaktion des Schuldners auf die passive Hinnahme einer berechtigten Vollstreckung beschränken, ohne dass er die diese besonders fördert. Eine Vermögensverlagerung i. R. einer Vollstreckung kann aber als Rechtshandlung des Schuldners qualifiziert werden, wenn der Schuldner die Vermögensverlagerung durch eine eigene selbstbestimmte Rechtshandlung oder ein gleichstehendes Unterlassen unterstützt. Nach der vormaligen Rechtsprechung des IX. Zivilsenats reich-

2)

3)

BGH, Urt. v. 14.9.2017 – IX ZR 108/16, ZIP 2017, 1962 = WM 2017, 1988; BGH, Urt. v. 1.6.2017 – IX ZR 114/16, WM 2017, 1348 = ZInsO 2017, 1479; BGH, Urt. v. 1.6.2017 – IX ZR 48/15, ZIP 2017, 1281 = WM 2017, 1315. BGH, Urt. v. 23.3.2006 – IX ZR 116/03, Rz. 7, BGHZ 167, 11, 14 = ZIP 2006, 916; BGH, Urt. v. 10.2.2005 – IX ZR 211/02, Rz. 15, BGHZ 162, 143, 147 f. = ZIP 2005, 494; Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 133 Rz. 9; Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 133 Rz. 14.

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te irgendeine mitwirkende Rechtshandlung des Schuldners, die aber nicht die einzige Ursache für die Gläubigerbenachteiligung sein muss.4) Dieses weite Verständnis hat der Bundesgerichtshof in den letzten Jahren verengt. In einem Urteil aus dem Jahr 2014 hält das Gericht eine Kontopfändung nicht bereits deshalb für anfechtbar, weil der Schuldner die Eröffnung eines neuen Kontos unterlässt. Eine die Anfechtung rechtfertigende Mitwirkungshandlung liege nur vor, wenn die untätige Hinnahme einer Zwangsvollstreckungsmaßnahme gerade in der Vorstellung und mit dem Willen geschehe, dass das Unterlassen die anstehende Vermögensverlagerung fördere. Der Schuldner müsse andere Handlungsmöglichkeiten zum Schutz der Gläubigergesamtheit in Erwägung gezogen und hiervon im Interesse einzelner Gläubiger bewusst abgesehen haben.5) Der IX. Zivilsenat hat seine Rechtsprechung im Jahr 2017 weiter eingeschränkt und lässt entfernte Mitwirkungsbeiträge des Schuldners nicht mehr ausreichen. Die Vorsatzanfechtung komme nur in Betracht, wenn der Beitrag des Schuldners ein der Vollstreckungstätigkeit des Gläubigers zumindest vergleichbares Gewicht erreiche.6) Das Gericht führt aus, dass andernfalls Pfändungen künftiger Forderungen, die selten ohne Mitwirkung des Schuldners entstehen, regelmäßig von einer Vorsatzanfechtung betroffen wären.7) Es ist unklar, in welchen Fällen ein gleichgewichtiger Schuldnerbeitrag in Form einer Rechtshandlung oder einer der Handlung gleichgestellten Unterlassung angenommen werden kann. Hier bietet eine Einzelbetrachtung der ergangenen Urteile Anhaltspunkte. Künftig soll das Verhalten des Schuldners nach Wirksamwerden der Vollstreckungsmaßnahme das maß-

4)

5)

6)

7)

BGH, Urt. v. 19.9.2013 – IX ZR 4/13, Rz. 10, ZIP 2013, 2113, 2114 = WM 2013, 2074, 2075; BGH, Urt. v. 14.6.2012 – IX ZR 145/09, Rz. 8, ZIP 2012, 1422, 1423 = WM 2012, 1401, 1402; dazu auch Pape, ZInsO 2018, 745, 747; Ganter, NZI 2018, 289, 298. BGH, Urt. v. 16.1.2014 – IX ZR 31/12, Rz. 13, ZIP 2014, 275, 277 = WM 2014, 272, 274; dazu Fuhst, jurisPR-InsR 5/2014 Anm. 1 (Urteilsanm.), und Schädlich/Böhme, Zur Vorsatzanfechtung bei Unterlassen der Eröffnung eines weiteren Kontos nach Kontopfändung, NZI 2014, 220 (Urteilsanm.). BGH, Urt. v. 14.9.2017 – IX ZR 108/16, Rz. 31, ZIP 2017, 1962, 1965 = WM 2017, 1988, 1991; BGH, Urt. v. 1.6.2017 – IX ZR 114/16, Rz. 9, WM 2017, 1348, 1349 = ZInsO 2017, 1479, 1480; BGH, Urt. v. 1.6.2017 – IX ZR 48/15, Rz. 17, ZIP 2017, 1281, 1283 = WM 2017, 1315, 1317. BGH, Urt. v. 1.6.2017 – IX ZR 114/16, Rz. 8, WM 2017, 1348 f. = ZInsO 2017, 1479, 1480; BGH, Urt. v. 1.6.2017 – IX ZR 48/15, Rz. 16, ZIP 2017, 1281, 1283 = WM 2017, 1315, 1317.

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gebende Kriterium sein. Das unveränderte Fortführen der Geschäftstätigkeit reicht für eine Anfechtung nicht aus.8) Im Einzelnen: 1. Weiternutzung eines gepfändeten Kontos In dem Revisionsverfahren IX ZR 48/159) verfügten Finanzämter Pfändungen eines Geschäftskontos des Schuldners und zogen Kontoguthaben ein. Die Guthaben ergaben sich aus Zahlungen von Kunden des Schuldners, die diese auf Rechnungen geleistet hatten, die nach dem Wirksamwerden der Pfändungen ausgestellt worden waren. Nach Auffassung des Bundesgerichtshofes handelt es sich bei der Rechnungsstellung nach der Pfändung um einen Vorgang i. R. der normalen Geschäftsfortführung und damit um die bloße Hinnahme der Pfändung. Dies reiche in aller Regel für eine mitwirkende Rechtshandlung des Schuldners nicht aus.10) Auch ein der Rechtshandlung gleichgestelltes Unterlassen verneinte das Gericht. Das Absehen von einer Umstellung des Forderungseinzugs über ein bestehendes, nicht gepfändetes oder neu zu eröffnendes Bankkonto stelle kein anfechtungsrechtlich relevantes Unterlassen dar.11) Einen möglichen Anknüpfungspunkt für die Anfechtbarkeit sah das Gericht allein in der vom Insolvenzverwalter behaupteten und unter Beweis gestellten Rückdatierung der ausgestellten Rechnungen auf die Zeit vor dem Wirksamwerden der Pfändung. Dieses Vorgehen könne als Verhaltensänderung und damit als mitwirkende Rechtshandlung des Schuldners zu werten sein.12) Das Urteil wurde zur Nachholung der erforderlichen Feststellungen an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

8) 9)

10)

11) 12)

BGH, Urt. v. 1.6.2017 – IX ZR 114/16, Rz. 10, WM 2017, 1348, 1349 = ZInsO 2017, 1479, 1480. Dazu Gehrlein, ZInsO 2018, 2557; Pape, ZInsO 2018, 745, 747 f.; Pießkalla, Anfechtbare Rechtshandlungen nach § 133 Abs. 1 InsO bei erfolgreicher Zwangsvollstreckung in Bankkonten?, ZInsO 2018, 501, 502 f. BGH, Urt. v. 1.6.2017 – IX ZR 48/15, Rz. 18, ZIP 2017, 1281, 1283 = WM 2017, 1315, 1317; kritisch zum Kriterium der Verhaltensänderung Lütcke, Der Begriff der Rechtshandlung im Rahmen der Vorsatzanfechtung, NZI 2017, 701, 704 (Urteilsanm.). So für die Neueröffnung eines Kontos bereits BGH, Urt. v. 16.1.2014 – IX ZR 31/12, Rz. 16 f., ZIP 2014, 275, 277 = WM 2014, 272, 274. BGH, Urt. v. 1.6.2017 – IX ZR 48/15, Rz. 22, ZIP 2017, 1281, 1284 = WM 2017, 1315, 1318; kritisch Pießkalla, ZInsO 2017, 501, 506.

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2. Aufrechterhalten eines vor der Pfändung bestehenden Zahlungswegs („Spielhalle“) In einem weiteren vom IX. Zivilsenat entschiedenen Sachverhalt13) betrieb der Schuldner Spielhallen. Er zahlte den Kunden auf Wunsch Barbeträge aus der Kasse aus, um ihnen die Nutzung der Automaten zu ermöglichen. Im Gegenzug veranlassten die Kunden Gutschriften (EC-Kartenzahlungen) i. H. des jeweiligen Barauszahlungsbetrages auf dem Geschäftskonto des Schuldners. Obgleich das Finanzamt mehrere Pfändungs- und Einziehungsverfügungen für das Konto ausbrachte, führte der Schuldner den besonderen Service unverändert fort und die kontoführende Bank zahlte die sich auf dem Konto ergebenden Guthaben an das Finanzamt aus. Für das Gericht war auch hier entscheidungserheblich, dass der Schuldner seinen Geschäftsbetrieb in Kenntnis der Vollstreckung in der bisher geübten Art fortgesetzt und sich damit auf die Hinnahme einer berechtigten Zwangsvollstreckung beschränkt hatte.14) Allein das Aufrechterhalten eines vor der Pfändung bestehenden Zahlungswegs reichte dem Bundesgerichtshof in diesem Fall nicht für die Annahme aus, dass die Geschäftstätigkeit in unveränderter Weise fortgeführt worden war. Das Urteil wurde zur Nachholung der erforderlichen Feststellungen an das Berufungsgericht zurückverwiesen. 3. Anerkenntnisurteil Schließlich hatte der Bundesgerichtshof in dem Revisionsverfahren IX ZR 108/16 über einen Sachverhalt zu entscheiden, in dem ein Gläubiger aus einem Anerkenntnisurteil vollstreckte, das auf einem zwischen ihm und dem Schuldner geschlossenen Vergleich beruhte.15) Der Schuldner hatte eine unter dem Vergleich fällige Rate nicht erbracht, woraufhin der Gläubiger ein Anerkenntnisurteil erwirkte. Auf dessen Grundlage pfändete er Konten des Schuldners. 13)

14) 15)

BGH, Urt. v. 1.6.2017 – IX ZR 114/16, WM 2017, 1348 = ZInsO 2017, 1479; dazu Hölken, jurisPR-InsR 16/2017 Anm. 1 (Urteilsanm.); Ganter, NZI 2018, 289, 298 f.; Pießkalla, ZInsO 2018, 501. BGH, Urt. v. 1.6.2017 – IX ZR 114/16, Rz. 18, WM 2017, 1348, 1349 = ZInsO 2017, 1479, 1480. BGH, Urt. v. 14.9.2017 – IX ZR 108/16, ZIP 2017, 1962 = WM 2017, 1988; dazu Gehrlein, ZInsO 2018, 2557, 2558; Huber, ZIP 2018, 519, 521; Würdinger, WuB 2018, 96 (Urteilsanm.); Schmidt-Burgk, WuB 2017, 618 (Urteilsanm.).

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Der IX. Zivilsenat urteilte, dass eine mitwirkende Rechtshandlung des Schuldners nur dann anfechtungsrechtlich relevant sei, wenn sie ein der Vollstreckungstätigkeit des Gläubigers zumindest vergleichbares Gewicht erreiche. Ein Anerkenntnis stelle keine Rechtshandlung des Schuldners dar, wenn der Anspruch des Gläubigers bestand und eingefordert werden konnte und der Schuldner nicht beabsichtige, dem Gläubiger durch das prozessuale Anerkenntnis beschleunigt einen Vollstreckungstitel zu verschaffen.16) Weiterhin urteilte der Senat, dass in einem Vergleich, der dem Anerkenntnis zugrunde liegt, nur dann eine der Vollstreckungstätigkeit des Gläubigers gleichwertige Mitwirkungshandlung des Schuldners zu sehen sei, wenn der Vergleichsinhalt den Bereich verlasse, der bei objektiver Beurteilung ernsten Zweifeln unterliege. Beziehe sich der Vergleichsinhalt demgegenüber auf Aspekte, für welche eine Ungewissheit tatsächlich bestehe, sei die Anfechtbarkeit nicht gegeben.17) 4. Bewertung Die aktuellen Urteile sind aus Gläubigersicht begrüßenswert, da sie die Anfechtbarkeit von Vermögensverschiebungen im Zusammenhang mit einer Zwangsvollstreckung im Wesentlichen auf den für die Deckungsanfechtung geltenden Drei-Monats-Zeitraum begrenzen und sie damit in zeitlicher Hinsicht kalkulierbar machen. a) Das Fehlen abstrakter Abgrenzungskriterien Diese grundsätzlich positive Bewertung darf aber nicht den Blick verbauen, dass die Praxis nur begrenzt von der geänderten Rechtsprechung profitieren wird. Aussagen über die Anfechtbarkeit einer Vermögensverschiebung im Kontext einer Zwangsvollstreckung werden für den Gläubiger künftig anhand abstrakter Kriterien kaum noch möglich sein. Es ist stets eine wertende Betrachtung des Einzelfalls erforderlich.18) Auch wird ein vollstreckender Gläubiger nur schwer beurteilen können, ob der Schuldner sein Verhalten infolge der Vollstreckung ändert. Auf der anderen Seite werden aber auch die Anforderungen an die Sachverhaltsaufarbeitung für die Insolvenzver-

16) 17) 18)

BGH, Urt. v. 14.9.2017 – IX ZR 108/16, Rz. 33, ZIP 2017, 1962 = WM 2017, 1988, 1991. BGH, Urt. v. 14.9.2017 – IX ZR 108/16, Rz. 36, ZIP 2017, 1962 = WM 2017, 1988, 1992. Pießkalla, ZInsO 2017, 501, 504.

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walter und die Gerichte erheblich steigen.19) Die Darlegung und der Beweis einer Verhaltensänderung des Schuldners werden künftig zur Klippe für eine erfolgreiche Vorsatzanfechtung. b) Verhaltensänderung als geeignetes Abgrenzungskriterium? Es gibt Stimmen in der Literatur, die dem Kriterium der Verhaltensänderung seine Eignung zur Abgrenzung von anfechtbaren und nicht anfechtbaren Mitwirkungshandlungen des Schuldners generell absprechen. Die unveränderte Fortführung des Betriebs sei dort, wo der Gläubiger nur auf künftiges Vermögen zugreifen könne, ein wesentlicher Faktor für den Vollstreckungserfolg und von einem unanfechtbaren Hinnehmen der Vollstreckung durch den Schuldner könne keine Rede sein.20) Diese Kritik verfängt aber nicht. Eine Ein- oder Umstellung des Geschäftsbetriebs bei Eingang einer Pfändung kann vom Schuldner nicht verlangt werden. Die Unternehmensfortführung ist regelmäßig Ausdruck des Willens zur Rettung des Unternehmens. Allenfalls in atypischen Fällen geht es dem Schuldner vorrangig um die Förderung der Vollstreckungshandlung eines Gläubigers. c) Aufwertung der Rechtshandlung des Schuldners Schließlich kann festgehalten werden, dass der Bundesgerichtshof mit den oben genannten Entscheidungen das Merkmal der Rechtshandlung des Schuldners bei der Vorsatzanfechtung erheblich aufwertet und ihm zugleich neue Nuancen verleiht. Irgendeine willensgeleitete Tätigkeit reicht künftig nicht mehr,21) sondern es werden qualitative Anforderungen an ein anfechtungsrechtlich relevantes Tun oder Unterlassen gestellt. Der Bundesgerichtshof gibt ein erkennbares Signal, dass bestimmte Zwecksetzungen und innere Einstellungen des Schuldners bereits beim Merkmal der Rechtshandlung und damit im objektiven Tatbestand zu prüfen sind. Die Berücksichtigung der unterschiedlichen Willensrichtungen ist sicherlich 19) 20) 21)

So auch die Einschätzung von Würdinger, WuB 2018, 96 (Urteilsanm.); Schlicht/Swierczok, WuB 2017, 614, 615 (Urteilsanm.). Lütcke, NZI 2017, 701, 703 ff. (Urteilsanm.), der auf die Erweiterung von Zugriffsmöglichkeiten abstellt. Zum weiten Begriff der Rechtshandlung bei §§ 130, 131 InsO siehe BGH, Urt. v. 12.2.2004 – IX ZR 98/03, ZIP 2004, 620, 621 = WM 2004, 666, 667; BGH, Urt. v. 7.5.2013 – IX ZR 191/12, Rz. 6, ZIP 2013, 1180 = ZInsO 2013, 1143; Überblick über die umfassende Rechtsprechung bei Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 129 Rz. 86.

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auch beim Gläubigerbenachteiligungsvorsatz, also auf subjektiver Ebene, denkbar.22) Diesen Weg ist der Bundesgerichtshof aber wohl bewusst nicht gegangen. II. Geltung der BGH-Rechtsprechung für Fälle ohne Vollstreckungsbezug? Es ist überlegenswert, ob die für den Bereich der Zwangsvollstreckung geltenden, erhöhten Anforderungen des Bundesgerichtshofes an die Rechtshandlung des Schuldners auch bei einer Vorsatzanfechtung ohne Vollstreckungsbezug zu beachten sind. Es ist offenkundig, dass die Ausführungen des Gerichts im spezifischen Kontext einer Vollstreckung stehen. Die Frage nach der Übertragbarkeit hat für Unternehmensfortführungen in der Krise eine große Bedeutung. Die Vertragspartner des Unternehmens und späteren Schuldners sind zur Aufrechterhaltung zentraler Verträge insbesondere bereit, wenn das Risiko der Anfechtbarkeit von Deckungen und Sicherungen aus diesen Verträgen auf den für die Deckungsanfechtung geltenden DreiMonats-Zeitraum begrenzt bleibt. Vor diesem Hintergrund wäre eine Anwendung der erhöhten Anforderungen des Bundesgerichtshofes begrüßenswert und zur Vermeidung von Wertungswidersprüche auch geboten. Wenn die unveränderte Fortsetzung des unternehmerischen Geschäftsbetriebs in der Krise die Pfändung von Forderungen, die außerhalb des DreiMonats-Zeitraums unter Mitwirkung des Schuldners entstehen oder werthaltig gemacht werden, unanfechtbar ermöglicht, ist es nur konsequent, wenn Deckungen und Sicherungen, die ein Gläubiger nur aufgrund eines fortgeführten Vertragsverhältnisses erhält, außerhalb des Drei-MonatsZeitraum ebenfalls unanfechtbar sind. Eine Anfechtbarkeit im Vier-JahresZeitraum der Vorsatzanfechtung würde dem Gebot einer konsistenten Rechtsanwendung widersprechen. Vor allem in dem Urteil im Revisionsverfahren IX ZR 48/15 verweist der Bundesgerichtshof auf seine grundlegenden Ausführungen zu Zielrichtung und Struktur der Vorschriften der Insolvenzanfechtung aus dem Jahr 2005.23) Diese Ausführungen stehen im Kontext der damals geführten Diskussion um die gänzliche Entbehrlichkeit der Rechtshandlung des

22)

23)

So auch Lütcke, NZI 2017, 701, 703 f. (Urteilsanm.); Schäfer, Die Anfechtbarkeit von Handlungen des Insolvenzschuldners im Rahmen einer (drohenden oder laufenden) Zwangsvollstreckung nach § 133 Abs. 1 InsO, ZInsO 2018, 917, 918 f. BGH, Urt. v. 10.2.2005 – IX ZR 211/022, BGHZ 162, 143, 148 f. = ZIP 2005, 494, 496.

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Schuldners bei einer vom Gläubiger betriebenen Vollstreckung.24) Sie können ihrer Natur nach aber nicht auf diesen Bereich beschränkt bleiben. Der Bundesgerichtshof spricht sich für das Erfordernis einer Rechtshandlung des Schuldners aus und hebt dabei die unterschiedlichen Schutzzwecke der Anfechtungsnormen hervor. Während bei §§ 130 –132 InsO für die Anfechtbarkeit der unmittelbare Zusammenhang mit der materiellen Insolvenz entscheidend sei, missbillige § 133 InsO bestimmte Verhaltensweisen des Schuldners und schütze das Interesse der Gläubiger vor einer Beeinträchtigung ihrer prinzipiell gleichen Befriedigung durch den Schuldner. In der Rechtshandlung des Schuldners komme sein Wille zum Ausdruck, den Anfechtungsgegner zum Nachteil anderer Gläubiger zu befriedigen.25) Auch in der Literatur wird die Bedeutung der Rechtshandlung des Schuldners als begrenzendes Merkmal anerkannt.26) Nach alledem ist ein über den Bereich der Vollstreckung hinausgehender Gehalt der aktuellen Urteile des Bundesgerichtshofes zu bejahen. III. Insbesondere: Verrechnungen im debitorischen Kontokorrent als Rechtshandlung des Schuldners? Wendet man die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zur Rechtshandlung des Schuldners über die Vollstreckung hinaus an, so ist aus Bankensicht die Anfechtbarkeit von Verrechnungen im debitorischen Kontokorrent27) von besonderem Interesse. Der Verrechnung liegen regelmäßig Fälle zugrunde, in denen der Schuldner in der Krise unverändert Zahlungen von Drittschuldnern auf dem für die Abwicklung derartiger Geschäftsvorfälle

24)

25)

26)

27)

Kreft, Zum Verhältnis von Judikative und Legislative am Beispiel des Insolvenzrechts, KTS 2004, 205, 216 ff.; Rendels, Wann ist eine Vollstreckungshandlung als Rechtshandlung des Schuldners nach § 133 Abs. 1 InsO anfechtbar?, ZIP 2004, 1289, 1294 ff. BGH, Urt. v. 10.2.2005 – IX ZR 211/02, BGHZ 162, 143, 150 = ZIP 2005, 494, 496 f.; dagegen Marotzke, Freiwillige Forderungserfüllung, Zwangsvollstreckung und Vollstreckungsdruck im Fokus des Insolvenzanfechtungsrechts, DZWiR 2007, 265, 275 ff. Überblick zum Meinungsstand bei K. Schmidt in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 133 Rz. 5 f.; Jacoby, Zur Bedeutung des § 133 InsO im System der Insolvenzanfechtungsgründe, KTS 2009, 3, 14 ff. – „Schutzwürdigkeit des Anfechtungsgegners“; Thole, Die Vorsatzanfechtung als Instrument des Gläubigerschutzes, KTS 2007, 293, 299 f., und Bork, Die Renaissance des § 133 InsO, ZIP 2004, 1684, 1691 – „sozial inadäquates Verhalten des Schuldners“. Zur Rechtslage bei kreditorischer Kontoführung siehe Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 142 Rz. 57; Kirchhof in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 142 Rz. 13b.

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bereits vor der Krise genutzten debitorischen Konto vereinnahmt und die Bank diese mit ihren Kreditforderungen verrechnet.28) 1. Rechtshandlung des Schuldners a) Anweisung an Drittschuldner Betrachtet man die einzelnen Handlungsschritte des Schuldners in zeitlicher Abfolge,29) ist möglicher Anknüpfungspunkt der Anfechtung bereits die Anweisung des Schuldners an seine Drittschuldner zur Zahlung auf das bei der Bank geführte (debitorische) Konto. Dies kann etwa durch Angabe der Bankverbindung auf den vom Schuldner verwendeten Rechnungsvordrucken erfolgen.30) Eine Rechtshandlung des Schuldners wird nur anzunehmen sein, wenn der Schuldner die Drittschuldner anweist, gerade auf das bei der Bank geführte Konto zu leisten.31) Das bloße Nichtändern der Kontoverbindung des Schuldners auf einem auch vor der Krise genutzten Rechnungsvordruck ist demgegenüber nicht ausreichend.32) Eine andere Einschätzung würde der aktuellen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes nicht gerecht. Das Gericht hat im Kontext einer Kontopfändung die Aufforderung an die Drittschuldner, auf das bereits vor der Pfändung für den Forderungseinzug verwendete, bekannte Konto zu leisten nicht als Rechtshandlung des Schuldners gewertet.33) Dasselbe muss für ein nicht gepfändetes Konto gelten.

28)

29) 30) 31) 32)

33)

Zu Zahlungen des Schuldners auf sein Konto siehe Kirstein, Kreditinstitute als Anfechtungsgegner – ein Überblick, ZInsO 2014, 1921, 1928; Bork, Die anfechtbare Kontokorrentverrechnung, in: FS G. Fischer, 2008, S. 37, 49. Übersicht bei Kirstein, ZInsO 2012, 709, 710 ff. So Kirstein, ZInsO 2012, 709, 711; Heublein, Gutschriften in der Krise – insolvenzfester Glücksfall oder anfechtbare Scheindeckung?, ZIP 2000, 161, 165. BGH, Urt. v. 26.4.2012 – IX ZR 67/09, Rz. 43, ZIP 2012, 1301, 1307 = WM 2012, 1200, 1205. Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, 9. Aufl. 2016, Rz. 3.210; Obermüller, Auswirkungen der Insolvenz des Bankkunden auf die Kontobeziehung und den Zahlungsverkehr, ZInsO 1998, 252, 256. BGH, Urt. v. 1.6.2017 – IX ZR 48/15, Rz. 18, ZIP 2017, 1281, 1283 = WM 2017, 1315, 1317; so bereits auch BGH, Urt. v. 16.1.2014 – IX ZR 31/12, Rz. 9, ZIP 2014, 275, 276 = WM 2014, 272, 273.

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b) Umleitung des Zahlungsverkehrs auf ein anderes Konto Sieht der Schuldner von einer aktiven Umleitung des Zahlungsverkehrs auf ein weiteres bestehendes oder neu eröffnetes Bankkonto ab, so liegt darin kein anfechtungsrelevantes Unterlassen. Das ist jedenfalls der Fall, wenn die Nutzung des Kontos nicht intensiviert wird.34) Diese vom Bundesgerichtshof in Bezug auf ein gepfändetes Konto getroffene Aussage muss für ein nicht gepfändetes Konto erst recht gelten. c) Giro- bzw. Kontokorrentabrede Weiterer Anknüpfungspunkt einer Rechtshandlung könnte die Entgegennahme von Zahlungseingängen durch die Bank auf dem Konto des Schuldners und die anschließende Verrechnung mit dort vorhandenen Kreditinanspruchnahmen sein. Die Bank als Zahlungsdienstleisterin des Schuldners ist aufgrund des zwischen ihr und dem Schuldner geschlossenen Girovertrags zur Entgegennahme von Zahlungen für den Schuldner verpflichtet.35) Mit Entstehung des Anspruchs des Schuldners auf Gutschrift des für ihn bestimmten Geldeingangs ergibt sich die aus anfechtungsrechtlicher Sicht relevante Aufrechnungslage. Denn bereits zu diesem Zeitpunkt tritt die Sicherungswirkung der Aufrechnung ein.36) Die Entgegennahme ebenso wie die spätere Gutschrift auf dem Schuldnerkonto ist eine Vertragserfüllungshandlung der Bank und eine Rechtshandlung des Schuldners ist nicht erkennbar. Allenfalls könnte auf die unterlassene Kündigung des Girovertrags durch den Schuldner abgestellt werden. Eine Pflicht zur Vertragskündigung bzw. Nichtnutzung eines Kontos besteht aber nicht einmal bei einer Kontopfändung.37)

34)

35)

36)

37)

BGH, Urt. v. 1.6.2017 – IX ZR 48/15, Rz. 19, ZIP 2017, 1281, 1283 = WM 2017, 1315, 1317; BGH, Urt. v. 16.1.2014 – IX ZR 31/12, Rz. 14, ZIP 2014, 275, 277 = WM 2014, 272, 274; Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 133 Rz. 8; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, 9. Aufl. 2016, Rz. 3.211; a. A. Kirstein, ZInsO 2012, 709, 711. Statt vieler Stapper/Jacobi, Die Insolvenzanfechtung der Verrechnung im Kontokorrent, BB 2007, 2017; Schmieder in: Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 5. Aufl. 2017, § 47 Rz. 9. Bork in: FS G. Fischer, 2008, S. 37, 50; Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, 9. Aufl. 2016, Rz. 3.212; Streit/Jordan, Anfechtbarkeit von Kontokorrentverrechnungen und Sicherungs-Globalzession in der Insolvenz des Kontoinhabers, DZWiR 2004, 441, 442 f. So bereits Bork in: FS G. Fischer, 2008, S. 37, 50 f.

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Keine Relevanz kommt demgegenüber der neben dem Girovertrag bestehenden Kontokorrentabrede zu. Die Kontokorrentabrede ist rechtlich als antizipierte Verrechnungsvereinbarung einzustufen, die dem Regime der §§ 94 ff. InsO unterliegt.38) Der tatsächlichen Verrechnung ist keine selbständige anfechtungsrechtliche Bedeutung beizumessen.39) Will man dem nicht folgen und der Verrechnung einen eigenen Gehalt verleihen, ist eine genaue Betrachtung erforderlich. Die mit dem Rechnungsabschluss vorgenommene Verrechnung der im jeweiligen Zeitraum entstandenen Ansprüche der Bank und des Kontoinhabers ist ohne Bedeutung. Denn erst mit dem sich anschließenden Saldoanerkenntnis tritt hinsichtlich der sich deckenden Posten Tilgungswirkung ein.40) Die Bank gibt mit der Übersendung des Rechnungsabschlusses ein Angebot auf Abschluss eines Schuldanerkenntnisvertrages ab, dessen Annahme durch den Schuldner regelmäßig durch die Genehmigungsfiktion nach Nr. 7 Abs. 2 Satz 2 AGB Banken realisiert wird.41) Allerdings ist der Eintritt der Fiktionswirkung nicht als Rechtshandlung des Schuldners zu werten. Die Fiktion kann nur durch Einwendungen wegen Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit des Rechnungsabschlusses beseitigt werden und steht damit nicht im freien Ermessen des Schuldners. Es handelt sich insoweit um einen typischen Vorgang i. R. des standardisierten Zahlungsverkehrs, dem das vom Bundesgerichtshof geforderte Gewicht für eine anfechtungsrechtlich zu missbilligende Handlung nicht zukommen kann. Die vom Bundesgerichtshof angestellten Erwägungen zur Zahlstellenfunktion bei der Anfechtung gegen die Bank als Leistungsmittlerin42) gelten entsprechend.43)

38)

39) 40)

41) 42) 43)

So BGH, Urt. v. 24.1.1985 – I ZR 201/82, BGHZ 93, 315, 323 = ZIP 1985, 599, 602; Steinhoff, Die insolvenzrechtlichen Probleme im Überweisungsverkehr, ZIP 2000, 1141, 1143. Bork in: FS Fischer, 2008, S. 37, 50; Stapper/Jacobi, BB 2007, 2017, 2019. BGH, Urt. v. 24.1.1985 – I ZR 201/82, BGHZ 93, 315, 323 = ZIP 1985, 599, 602; streitig, a. A. Müller-Christmann in: Langenbucher/Bliesener/Spindler, Bankrechts-Kommentar, 2. Aufl. 2016, Rz. 194; Schmieder in: Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Handbuch, 5. Aufl. 2017, § 47 Rz. 72. Bunte in: Bunte, AGB-Banken, 4. Aufl. 2015, Rz. 125. BGH, Urt. v. 26.4.2012 – IX ZR 74/11, Rz. 21, BGHZ 193, 129, 136 = ZIP 2012, 1038, 1040. Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, 9. Aufl. 2016, Rz. 3.213.

Aktuelles zur Rechtshandlung des Schuldners nach § 133 Abs. 1 InsO

493

2. Gegenläufige BGH-Rechtsprechung zur Rechtshandlung i. S. von § 135 Abs. 2 InsO? Die vorstehenden Erwägungen müssen sich an einer Reihe aktueller Urteile des Bundesgerichtshofes messen lassen, die sich mit der Rückführung von Bankkrediten einer Gesellschaft, für die Sicherheiten aus dem Vermögen des Gesellschafters bestellt sind, befassen. § 135 Abs. 2 InsO bestimmt die Anfechtbarkeit der Befreiung der Gesellschaftersicherheit durch Leistung der Gesellschaft und späteren Schuldnerin an den gesicherten Gläubiger. Dies mit der Rechtsfolge, dass der befreite Gesellschafter zur Erstattung des durch die Befreiung ersparten Betrages verpflichtet ist (§ 143 Abs. 3 InsO). Der IX. Zivilsenat hat entschieden, dass die Rückführung eines der Gesellschaft gewährten Kontokorrentkredits stets auch auf einer Rechtshandlung der Gesellschaft beruhe, weil Zahlungen nur nach Maßgabe der zwischen Bank und Gesellschaft getroffenen Kontokorrentabrede Tilgungswirkung entfalten.44) Damit können auch Zahlungseingänge auf dem Konto der Gesellschaft, die aus Überweisungen und Einzahlungen von einem Kunden der Gesellschaft45) oder von einem Gesellschafter46) herrühren, oder Zahlungseingänge aus Widerrufen von Einziehungsaufträgen und Abbuchungsermächtigungen durch einen vorläufigen Insolvenzverwalter eine Rechtshandlung der Gesellschaft darstellen.47) Diese zu § 135 Abs. 2 InsO ergangene Rechtsprechung stellt die im vorstehenden Abschnitt gefundenen Ergebnisse aber nicht in Frage.48) § 135 Abs. 2 InsO nimmt im System der Anfechtungsregelungen eine Sonderstellung ein. Die Norm zielt auf die Einstufung eines Gesellschafters, der durch Stellung von Sicherheiten einen Kredit an die Gesellschaft ermöglicht, 44)

45)

46) 47)

48)

BGH, Urt. v. 20.2.2014 – IX ZR 164/13, Rz. 9, BGHZ 200, 210, 213 = ZIP 2014, 584, 585; BGH, Urt. v. 13.7.2017 – IX ZR 173/16, Rz. 9, BGHZ 215, 262, 264 f. = ZIP 2017, 1632. Abweichende Formulierung noch bei BGH, Urt. v. 4.7.2013 – IX ZR 229/12, Rz. 16, BGHZ 198, 77, 82 = ZIP 2013, 1629, 1630 – „Die Kontokorrentabrede ist demnach die Rechtshandlung im Sinne des § 135 Abs. 2 InsO.“ BGH, Urt. v. 13.7.2017 – IX ZR 173/16, Rz. 9, BGHZ 215, 262, 265 = ZIP 2017, 1632; dazu Göb/Nebel, Aktuelle gesellschaftsrechtliche Fragen in Krise und Insolvenz, NZI 2017, 884; Thole, Neues zur Doppelbesicherung und § 135 Abs. 2 InsO, ZIP 2017, 1742 (Urteilsanm.); Spatz, DZWir 2017, 43 (Urteilsanm.). BGH, Urt. v. 4.7.2013 – IX ZR 229/12, Rz. 16, BGHZ 198, 77, 82 = ZIP 2013, 1629, 1630; Plathner/Luttmann, EWiR 2013, 657 (Urteilsanm.). BGH, Urt. v. 20.2.2014 – IX ZR 164/13, Rz. 9, BGHZ 200, 210, 213 = ZIP 2014, 584, 585; dazu Commandeur/Utsch, Aktuelle Entwicklungen im Insolvenzrecht, NZG 2014, 570. Anders Raupach in: BeckOK-InsO, 12. Ed. 28.10.2018, § 133 Rz. 6.2.

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als „Quasi-Kreditgeber“.49) Dem entspricht die Gleichstellung der Rückführung des Gesellschafterdarlehens mit der Befreiung von der Sicherung.50) Für die Anwendbarkeit des Tatbestandes entscheidend ist die Befriedigung des Kreditgebers auf Kosten des Gesellschaftsvermögens.51) In diesem Lichte sind die Ausführungen des Bundesgerichtshofes zur Rechtshandlung des Schuldners nach § 135 Abs. 2 InsO zu verstehen. Anders als bei der Anfechtung wegen vorsätzlicher Benachteiligung kommt es nicht darauf an, ob in dem Verhalten des Schuldners eine sozial inadäquate Bevorzugung einzelner Gläubiger liegt. Entscheidend ist allein die Vermögensverschiebung zu Lasten der Masse, ohne dass subjektive Elemente eine Rolle spielen. IV. Ausblick: Das Werthaltigmachen einer zedierten Forderung als Rechtshandlung des Schuldners? Für die Praxis ebenso bedeutend sind die Auswirkungen der aktuellen Urteile zur Rechtshandlung des Schuldners in Vollstreckungsfällen auf das Werthaltigmachen von Forderungen, die einem Kreditinstitut i. R. einer Globalzession abgetreten sind.52) Das nachträgliche Werthaltigmachen einer abgetretenen Forderung ist eine selbständig anfechtbare Rechtshandlung, die bei einer Globalzession in gleicher Weise wie das Entstehen der Forderung als kongruent zu werten ist.53) Im Lichte der aktuellen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ist aber offen, ob es sich auch um eine Rechtshandlung des Schuldners handelt. Dem Werthaltigmachen einer abgetretenen Forderung liegt regelmäßig eine unveränderte Unternehmensfortführung zugrunde, ohne dass der Schuldner seine Gläubiger damit benachteiligen will. Bei einer konsequenten Übertragung der für Fälle mit Vollstreckungsbezug aufgestellten Anforderungen an die Rechtshandlung des Schuldners wird man wohl auch das Werthaltigmachen von globalzedierten 49) 50) 51)

52) 53)

K. Schmidt in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 135 Rz. 25; Thole, Gesellschafterbesicherte Kredite und die Anfechtung nach § 135 Abs. 2 InsO, ZIP 2015, 1609, 1609 f. BGH, Urt. v. 20.2.21014 – IX ZR 164/13, Rz. 18, BGHZ 200, 210, 217 f. = ZIP 2014 584, 586. K. Schmidt in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 135 Rz. 25; Altmeppen, Das neue Recht der Gesellschafterdarlehen in der Praxis, NJW 2008, 3601, 3607; Thole, ZIP 2015, 1609, 1614. Kiesel, FD-InsR 2017, 393438 (Urteilsanm.); Schlicht/Swierczok, WuB 2017, 614, 615 (Urteilsanm.). BGH, Urt. v. 28.2.2008 – IX ZR 177/05, Rz. 20, ZIP 2008, 650, 652 = WM 2008, 701, 703 f.; BGH, Urt. v. 29.11.2007 – IX ZR 30/07, Rz. 38 f., BGHZ 174, 297, 310 = ZIP 2008, 183, 187; Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 131 Rz. 34 m. w. N.

Aktuelles zur Rechtshandlung des Schuldners nach § 133 Abs. 1 InsO

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Forderungen nicht nach § 133 InsO anfechten können, da es bereits an einer darauf zielenden Rechtshandlung des Schuldners fehlt. V. Wesentliche Ergebnisse –

Der Bundesgerichtshof begrenzt den Begriff der Rechthandlung des Schuldners, indem er insbesondere die unveränderte Fortführung der Geschäftstätigkeit des Schuldners nicht als Mitwirkungshandlung ausreichen lässt. Es zeigen sich in der Rechtsprechung Ansätze zur Begrenzung der Vorsatzanfechtung bereits auf der Ebene des objektiven Tatbestands.



Die vom Bundesgerichtshof im Kontext der Zwangsvollstreckung aufgestellten Anforderungen an die Rechtshandlung des Schuldners haben für das Tatbestandsmerkmal eine generelle Bedeutung und gelten auch für Fälle ohne Vollstreckungsbezug.



Die Verrechnung von Gutschriften und Sollständen auf einem debitorischen Kontokorrentkonto stellt keine Rechtshandlung des Schuldners dar und unterliegt damit nicht der Vorsatzanfechtung gegenüber der Bank. Im Übrigen ist die Stellung der Bank als Zahlungsdienstleisterin des Schuldners zu berücksichtigen.



Die vom Bundesgerichtshof für § 135 Abs. 2 InsO vorgenommene Einstufung einer Kontokorrentabrede als Rechtshandlung des Schuldners bleibt auf diese Norm beschränkt.



Das Werthaltigmachen einer unanfechtbar abgetretenen Forderung ist nur bei einer erkennbaren Verhaltensänderung des Schuldners als vorsätzliche Benachteiligung anfechtbar.

Die Insolvenz natürlicher Personen als Herausforderung des Internationalen Insolvenzrechts PETER LAROCHE Inhaltsübersicht I. II.

Gläubigerbeteiligung im grenzüberschreitenden Verfahren Ausländisches Arbeitseinkommen 1. Im eröffneten Insolvenzverfahren 2. Rechtsweg bei Streit über die Massezugehörigkeit im Ausland belegener Vermögenswerte 3. Arbeitseinkommen in der Wohlverhaltensperiode a) Keine Anwendbarkeit des Insolvenzstatuts b) Entscheidung nach Maßgabe des Forderungsstatuts c) Pragmatischer Ausweg: Obliegenheit entsprechend § 295 Abs. 2 InsO?

III. Rechtsfolgen der Restschuldbefreiung 1. Anerkennung einer im Ausland erlangten Restschuldbefreiung 2. Wirkungen und Umfang einer im Ausland erteilten Restschuldbefreiung 3. Sperrfrist des § 287a Abs. 2 InsO bei im Ausland erteilter oder versagter Restschuldbefreiung? IV. Anerkennung des gerichtlichen Schuldenbereinigungsplans gemäß §§ 306 ff. InsO im Ausland V. Problemlösung auf europarechtlicher Ebene? 1. Keine Vereinfachung der Probleme durch die Restrukturierungsrichtlinie 2. Europäisches Justizielles Netz VI. Zusammenfassung

Verbraucherinsolvenzen werden bisweilen recht pauschal zu den einfach gelagerten Verfahren gezählt. Es soll deshalb möglich sein, zum Insolvenzverwalter auch solche Bewerber zu bestellen, denen es an praktischer Erfahrung fehlt, wenn sie nur über ein ausreichendes theoretisches Wissen verfügen.1) Diese These des einfachen Verfahrens mag ohne weiteres auf masselose Stundungsverfahren mit wenigen Gläubigern zutreffen. In solch einfachen Fällen darf man allerdings bereits in Frage stellen, ob es überhaupt eines Insolvenzverwalters bedarf, oder ob nicht auch ein verwalterloses Verfahren ausreichend ist, wie es etwa das österreichische Insolvenzrecht in § 186 öIO kennt und wie es auch für die InsO in den §§ 331 ff. InsO-E2) diskutiert wurde. Zweifellos bedarf es vielfach keiner vertieften betriebswirtschaftlichen Kenntnisse, um ein Verbraucherinsolvenzverfahren abzuwickeln. Gleichwohl handelt

1) 2)

Vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.7.2006 – 1 BvR 1351/06, Rz. 10, ZIP 2006, 1541 = NZI 2006, 636. Begr. RegE InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 65, 266.

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es sich um ein großes Missverständnis, möchte man Verbraucherinsolvenzen, oder weiter gefasst, Privatinsolvenzen – verstanden als Insolvenzverfahren über das Vermögen natürlicher Personen mit dem Ziel der Restschuldbefreiung – generell als einfache Verfahren ansehen. Das Gegenteil ist häufig der Fall. Es stehen vielfach Rechtsprobleme im Fokus, die in der klassischen Unternehmensinsolvenzverwaltung eher am Rande eine Rolle spielen, etwa Fragen der Pfändbarkeit von bestimmten Lohnanteilen oder des Sozial- und Unterhaltsrechts. Besonders komplex wird das Privatinsolvenzrecht immer dort, wo ein grenzüberschreitender Bezug besteht, was in Zeiten wachsender Mobilität zunehmend der Fall ist. Einige wiederkehrende Fallkonstellationen aus diesem Bereich sollen nachfolgend etwas näher beleuchtet werden. I. Gläubigerbeteiligung im grenzüberschreitenden Verfahren Auch wenn es auf den ersten Blick erstaunen mag, so unterfallen doch eine Vielzahl von Privatinsolvenzverfahren unmittelbar den Regelungen des Internationalen Insolvenzrechts. So gehört es mittlerweile zum Alltagsgeschäft, dass auch in Kleinstinsolvenzen Gläubiger mit Sitz im Ausland beteiligt sind. Einzelne Gläubiger, etwa aus dem Internethandel, wie z. B. Paypal oder Amazon, finden sich sogar recht häufig im Gläubiger- und Forderungsverzeichnis. Auch Banken mit Sitz in Luxemburg oder der Schweiz sind nicht nur im seltenen Ausnahmefall beteiligt. Aus der Anwendbarkeit des Internationalen Insolvenzrechts, namentlich der EuInsVO, auch in diesen scheinbar unbedeutenden Fällen folgen eine Reihe von Besonderheiten für die Verfahrensabwicklung. So gelten etwa die besonderen Regeln über die Forderungsanmeldung nach Art. 53 ff. EuInsVO. Auch besteht für Gläubiger nach Art. 102c § 4 EGInsO das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde, das auf eine etwaig fehlende internationale Zuständigkeit gestützt werden kann.3) Aus der Beteiligung ausländischer Gläubiger können auch Fristenproblematiken folgen, die bei rein innerstaatlichen Sachverhalten unbekannt sind. Denn man wird nur schwerlich die Veröffentlichung als hinreichende Information der ausländischen Gläubiger ansehen können. Man mag insoweit 3)

Vgl. zur auf diesen Umstand gestützten sofortigen Beschwerde insb. den Fall Niki: LG Berlin, Beschl. v. 8.1.2018 – 84 T 2/18, ZIP 2018, 140 = ZInsO 2018, 168; Landesgericht Korneuburg (Österreich), Urt. v. 12.1.2018 – 36 S 5/18d – 3, ZIP 2018, 393 = ZInsO 2018, 164; Deyda, Der Fall NIKI Luftfahrt – Bruchlandung des neuen europäischen internationalen Insolvenzrechts?, ZInsO 2018, 221.

Die Insolvenz natürlicher Personen als Herausforderung

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zwar vertreten können, dass hier das Insolvenzstatut sonstigen Regelungen vorgeht. Aber vor dem Hintergrund des Art. 54 Abs. 2 EuInsVO, der eine „individuelle Übersendung eines Vermerks“ über Fristen, Rechte und Pflichten an „alle bekannten ausländischen Gläubiger“ vorschreibt, dürften jedenfalls Anträge auf Wiedereinsetzung in den vorherigen Stand bei Fristversäumnis großzügig zu handhaben sein. Selbst wenn der ausländische Gläubiger einen inländischen Verfahrensbevollmächtigten hat, dürfte dies kaum von den Informationspflichten nach der EuInsVO entbinden. Auch die besonderen Anmeldemöglichkeiten und verlängerten Fristen des Art. 55 EuInsVO dürften unverändert gelten. Hierauf haben deutsche Gerichte bei der Terminierung des Prüfungstermins, bei Forderungsprüfung und der Festsetzung etwaiger Gebühren für Nachprüfungstermine zu achten. II. Ausländisches Arbeitseinkommen In der gerichtlichen Praxis taucht vermehrt die Frage auf, welche Konsequenzen es für die Masse hat, wenn der Schuldner während des laufenden Verfahrens ins Ausland verzieht und dort arbeitet oder Arbeit sucht. Es kann keinen vernünftigen Zweifel geben, dass dem Schuldner ein solcher Umzug gestattet ist. Gleichfalls dürfte es eindeutig sein, dass dies den Schuldner nicht von seinen insolvenzrechtlichen Obliegenheiten entlastet, wie etwa der Erwerbsobliegenheit nach § 287b InsO und § 295 Abs. 1 Nr. 1 InsO. Schließlich dürfte zu fordern sein, dass die Gläubiger durch die Tätigkeit des Schuldners im Ausland finanziell gegenüber einer inländischen Tätigkeit nicht schlechtergestellt werden.4) Als problematisch stellt sich allerdings die Durchsetzbarkeit von Ansprüchen der Masse bzw. des Treuhänders in der Wohlverhaltensphase gegenüber dem ausländischen Arbeitgeber dar. Zu Streit führt insbesondere immer wieder die Frage, welche Pfändungsfreigrenzen zu berücksichtigen sind. 1. Im eröffneten Insolvenzverfahren Im eröffneten Insolvenzverfahren dürfte es mittlerweile ganz h. M. entsprechen, dass ausschließlich die Pfändungsschutzvorschriften des deutschen

4)

Vgl. Laroche in: FS Kübler, 2015, S. 371, 374.

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Rechts gelten,5) weil es sich um eine Frage der Massezugehörigkeit handelt, die sich nach der lex fori concursus richtet. Im Anwendungsbereich der EuInsVO kann insoweit an Art. 7 Abs. 2 lit. b EuInsVO angeknüpft werden, der den Umfang der Masse und des Neuerwerbs innerhalb des Insolvenzverfahrens dem Insolvenzstatut unterstellt. Schwieriger ist die Rechtslage im Verhältnis zu Drittstaaten, in denen die EuInsVO nicht gilt. Für den Fall eines Rentenbezugs in der Schweiz hat der Bunddesgerichtshof entschieden, dass nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens das (deutsche) Insolvenzstatut anwendbar ist.6) Der Schuldner bezog eine Altersrente nach Schweizer Recht i. H. von 205 CHF sowie eine deutsche Altersrente i. H. von 1.204,32 €. Das Insolvenzgericht hatte die Zusammenrechnung dieser Ansprüche nach § 36 Abs. 4 Satz 1, Abs. 1 Satz 2 InsO, § 850e Nr. 2a ZPO angeordnet, da das insolvenzrechtliche Universalitätsprinzip auch die Schweizer Rente erfasse. Im Hinblick auf die ausländischen Hoheitsrechte sei dies unproblematisch, weil der pfändbare Betrag der inländischen Rente entnommen werde, sodass eine Vollstreckung im Ausland nicht erforderlich sei. Der Bundesgerichtshof hat diese Auffassung bestätigt. Nachdem der Bundesgerichtshof bereits früher entschieden hatte, dass eine Zusammenrechnung ausländischer und inländischer Renten möglich ist,7) war nunmehr noch zu klären, nach welchem Recht sich die Pfändbarkeit der Renten richtet. Der Bundesgerichtshof hat festgestellt, dass sich außerhalb eines Insolvenzverfahrens die Pfändbarkeit eines Gegenstands nach dem Recht des Ortes richtet, an welchem sich der Gegenstand befindet und an welchem die Zwangsvollstreckung betrieben werden müsste (lex loci executionis). Da eine Forderung beim Drittschuldner belegen ist, wäre außerhalb eines Insolvenzverfahrens nach Schweizer Recht zu beurteilen, ob die Rente pfändbar ist.8) Weil nach Schweizer Recht Altersrenten der Zwangsvollstreckung entzogen sind, stehen sie in der Einzelzwangsvollstreckung selbst Gläubi5)

6) 7) 8)

Vgl. BGH, Beschl. v. 5.6.2012 – IX ZB 31/10, Rz. 4 f., ZIP 2012, 1371 = NZI 2012, 672; LG Traunstein, Beschl. v. 3.2.2009 – 4 T 263/09, NZI 2009, 818; AG Deggendorf, Beschl. v. 14.2.2007 – 1 IK 255/03, ZInsO 2007, 558; Mankowski, Bestimmung der Insolvenzmasse und Pfändungsschutz unter der EuInsVO, NZI 2009, 785 ff.; Paulick/Simon, „EU-Grenzgänger“ und die Anwendbarkeit der deutschen Pfändungsschutzvorschriften, ZInsO 2009, 1933. BGH, Beschl. v. 20.7.2017 – IX ZB 63/16, ZInsO 2017, 1781 = ZIP 2017, 1578. BGH, Beschl. v. 18.9.2014 – IX ZB 68/13, Rz. 12 ff., ZIP 2014, 2194 = ZInsO 2014, 2223. BGH, Urt. v. 20.12.2012 – IX ZR 130/10, Rz. 18, ZIP 2013, 374 = ZInsO 2013, 337 m. w. N.

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gern, deren Forderungen nicht Schweizer Recht unterfallen, nicht zur Verfügung.9) Anders liegt der Fall im eröffneten Insolvenzverfahren. Es gelten dann nicht die Pfändungsschutzvorschriften des Vollstreckungsstaats, sondern diejenigen des deutschen Rechts.10) Denn die Vorschriften über die Pfändbarkeit von Vermögensgegenständen einschließlich der Pfändungsschutzvorschriften betreffen nach Auffassung des Bundesgerichtshofes die Wirkungen des Insolvenzverfahrens und unterfallen damit dem Insolvenzstatut, was allerdings in der Instanzrechtsprechung durchaus auch anders gesehen wurde.11) Der Bundesgerichtshof leitet seine Auffassung unmittelbar aus § 335 InsO her, bei dessen Auslegung die Beispiele des Art. 7 Abs. 2 EuInsVO12) ergänzend herangezogen werden können. Gemäß Art. 7 Abs. 2 lit. b EuInsVO regelt das Recht des Staates der Verfahrenseröffnung, welche Vermögenswerte zur Masse gehören. Das Insolvenzstatut bestimmt damit den Umfang und die Grenzen der Insolvenzmasse.13) Von der Massezugehörigkeit ausgenommen sind gemäß § 36 Abs. 1 Satz 1 InsO nur solche Gegenstände, die nicht der Zwangsvollstreckung unterliegen. Wegen der Einzelheiten verweist die InsO u. a. auf die Vorschriften der ZPO über den Pfändungsschutz für Arbeitseinkommen, darunter auch § 850e Nr. 2 ZPO, die damit den Umfang der zur Insolvenzmasse gehörenden Vermögenswerte bestimmen.14) Die Geltung des Insolvenzstatuts wird, führt der Bundesgerichtshof aus, dem Sinn der Pfändungsschutzvorschriften einerseits, demjenigen des Insolvenzrechts andererseits am ehesten gerecht und schafft am ehesten einen Ausgleich zwischen Schuldner und Gläubigern. Das deutsche Insolvenzrecht 9)

10) 11) 12) 13) 14)

BGH, Beschl. v. 20.7.2017 – IX ZB 63/16, Rz. 9, ZInsO 2017, 1781, 1782 = ZIP 2017, 1578: Nach Art. 92 Abs. 1 Nr. 9a des Bundesgesetzes über Schuldbetreibung und Konkurs – SchKG, v. 11.4.1889 sind Altersrenten nach Art. 20 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die Alters- und Hinterlassenenversicherung – AHVG, v. 20.12.1946 unpfändbar. BGH, Beschl. v. 20.7.2017 – IX ZB 63/16, Rz. 9, ZInsO 2017, 1781, 1782 = ZIP 2017, 1578. Vgl. die Nachweise bei BGH, Beschl. v. 20.7.2017 – IX ZB 63/16, Rz. 13, ZInsO 2017, 1781, 1782 = ZIP 2017, 1578. Art. 7 EuInsVO entspricht Art. 4 EuInsVO a. F., auf den der BGH sich in seiner Entscheidung bezogen hat. BGH, Beschl. v. 20.7.2017 – IX ZB 63/16, Rz. 16, ZInsO 2017, 1781, 1783 = ZIP 2017, 1578. BGH, Beschl. v. 20.7.2017 – IX ZB 63/16, Rz. 16, ZInsO 2017, 1781, 1783 = ZIP 2017, 1578.

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folgt dem Universalitätsprinzip. Es dient der gemeinsamen Befriedigung der Insolvenzgläubiger durch Verwertung des Vermögens des Insolvenzschuldners und bestimmt daher auch die Grenzen, innerhalb derer sich die Verwertung zu bewegen hat. Da die Pfändungsschutzvorschriften anderer Länder die Verhältnisse des jeweiligen Landes voraussetzen, können sie – bezogen auf den abweichenden Wohnsitz des Insolvenzschuldners – unangemessen hoch oder unangemessen niedrig sein.15) Auch pragmatische Gründe zieht der Bundesgerichtshof zur Begründung heran. Denn der Verwalter müsste etwa bei einem Abstellen auf die lex loci executionis die Pfändungsschutzvorschriften sämtlicher Staaten prüfen, in welchem Vermögen des Insolvenzschuldners belegen ist.16) Dass die vom Bundesgerichtshof vertretene Lösung nicht frei von praktischen Schwierigkeiten ist, erkennt das Gericht selbst und nennt als Beispiel, dass der Verwalter die ausländische Forderung vielfach rein praktisch nicht zur Masse ziehen kann. Diese Probleme sind allerdings hinzunehmen und stehen nicht hinter den Problemen zurück, die bei jeder anderen Lösung auftreten.17) Im vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall wurde – wie vermutlich häufig – dieses Problem hingegen nicht praxisrelevant. Da die Schweizer Rente unterhalb der deutschen Pfändungsfreigrenzen lag, konnte das Gericht anordnen, dass der unpfändbare Grundbetrag der Schweizer Rente zu entnehmen ist. Zahlungen an die Masse hatte deshalb nur der deutsche Rententräger zu erbringen.18) Ein weiteres Problem galt es für den Bundesgerichtshof allerdings noch zu lösen: Der Schweizer Rententräger hatte es abgelehnt, dem Insolvenzverwalter als aus seiner Sicht unbeteiligten Dritten Auskunft über die Höhe der jeweils gezahlten Rente zu erteilen. Hier behilft sich das Gericht, indem es völlig zu Recht Verwalter und Schuldner die Pflicht auferlegt, die jeweils aktuellen Zahlen an den deutschen Rentenversicherungsträger zu übermitteln.

15) 16) 17) 18)

BGH, Beschl. v. 20.7.2017 – IX ZB 63/16, Rz. 19 f., ZInsO 2017, 1781, 1783 = ZIP 2017, 1578. BGH, Beschl. v. 20.7.2017 – IX ZB 63/16, Rz. 21, ZInsO 2017, 1781, 1783 = ZIP 2017, 1578. BGH, Beschl. v. 20.7.2017 – IX ZB 63/16, Rz. 21, ZInsO 2017, 1781, 1783 = ZIP 2017, 1578. BGH, Beschl. v. 20.7.2017 – IX ZB 63/16, Rz. 21, ZInsO 2017, 1781, 1783 f. = ZIP 2017, 1578.

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2. Rechtsweg bei Streit über die Massezugehörigkeit im Ausland belegener Vermögenswerte Die grenzüberschreitenden Fragestellungen enden nicht mit der Bestimmung des anwendbaren Rechts. Denn auch in Fällen, in denen über die Anwendung des Insolvenzstatuts nicht gestritten wird, können erhebliche Probleme auftreten, etwa wenn zwischen den Beteiligten Uneinigkeit über den Umfang der Massezugehörigkeit besteht. Exemplarisch dafür steht ein weiterer vom Bundesgerichtshof entschiedener Fall:19) Der Schuldner war in die Schweiz verzogen. Der Verwalter vollstreckte erfolgreich im Wege der Vollstreckungshilfe. Der Schuldner beantragte beim deutschen Insolvenzgericht, das gemäß § 36 Abs. 4 InsO als Vollstreckungsgericht entscheidet, wegen der dort höheren Lebenshaltungskosten die Erhöhung des Pfändungsfreibetrags. Dieser Antrag, der in einem rein innerstaatlichen Sachverhalt zutreffend gestellt gewesen wäre, war unzulässig. Denn von deutschen Gerichten angeordnete Vollstreckungsmaßnahmen dürfen nicht in die Hoheitsgewalt eines anderen Staats eingreifen. Dies gilt auch für das Insolvenzverfahren, sofern im Ausland belegene Massebestandteile betroffen sind.20) Dem Insolvenzgericht fehlte deshalb die internationale Zuständigkeit für die Entscheidung über die im Ausland erforderlich werdende Einzelzwangsvollstreckung aus der vollstreckbaren Ausfertigung des Eröffnungsbeschlusses. Folglich konnte das Insolvenzgericht (als Vollstreckungsgericht) auch keine vollstreckungsrechtlichen Anordnungen in Bezug auf im Ausland belegene Massebestandteile treffen. Der Schuldner hätte richtigerweise den Verwalter vor dem Prozessgericht auf Feststellung verklagen müssen, dass nur ein über den zur Bestreitung des Lebensunterhalts erforderlichen Betrag von 5.070 CHF hinausgehender Betrag seines monatlichen Arbeitslohns als Neuerwerb in die Insolvenzmasse fällt.21) 3. Arbeitseinkommen in der Wohlverhaltensperiode Während die Frage, wie Arbeitseinkommen im laufenden Insolvenzverfahren zu behandeln ist, vorbehaltlich einer anderweitigen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes, die derzeit nicht zu erwarten ist, als weitgehend geklärt gelten darf, ist die Frage, wie während der Wohlverhaltens19) 20) 21)

BGH, Beschl. v. 5.6.2012 – IX ZB 31/10, ZIP 2012, 1371 = NZI 2012, 672. BGH, Beschl. v. 5.6.2012 – IX ZB 31/10, Rz. 7, ZIP 2012, 1371 = NZI 2012, 672. BGH, Beschl. v. 5.6.2012 – IX ZB 31/10, Rz. 8, ZIP 2012, 1371 = NZI 2012, 672.

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phase mit ausländischem Arbeitseinkommen umzugehen ist, noch weitgehend ungeklärt. a) Keine Anwendbarkeit des Insolvenzstatuts Vom vielfach gewünschten Ergebnis her gedacht, wird auch für die Wohlverhaltensperiode ganz überwiegend vertreten, die deutschen Pfändungsfreigrenzen anzuwenden. Die Begründungen variieren, wobei gemeinsamer Ausgangspunkt das Abstellen auf das Insolvenzstatut auch in Ansehung der Abtretungserklärung nach § 287 Abs. 2 InsO ist: Teilweise wird ohne weiteres § 335 InsO herangezogen,22) teilweise wird Art. 7 Abs. 2 lit. j EuInsVO,23) der Voraussetzungen und Wirkungen der Beendigung des Verfahrens regelt, bemüht, weil die Abtretung nach § 287 Abs. 2 InsO und ihr Umfang Voraussetzung für die Restschuldbefreiung seien.24) Andere stellen auf Art. 7 Abs. 2 lit. b EuInsVO ab.25) Man kann und muss allerdings ernsthaft hinterfragen, ob während der Wohlverhaltensperiode – also nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens – das Insolvenzstatut überhaupt noch maßgeblich sein kann oder ob sich die Frage der Pfändbarkeit nicht vielmehr nach dem Forderungsstatut zu richten hat, denn immerhin hat der Schuldner seine volle Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis zurückerhalten. Die Beantwortung dieser Frage ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer denkbaren grenzüberschreitenden Wirkung des § 287 Abs. 3 InsO, der Vereinbarungen des Schuldners insoweit für unwirksam erklärt, als sie die Abtretungserklärung nach Absatz 2 vereiteln oder beeinträchtigen würden, von Interesse. Greift diese Regelung bei nach ausländischem Recht vertraglich (z. B. tarifvertraglich) vereinbarten Abtretungsverboten? Wie sieht es mit gesetzlichen Abtretungsverboten aus, die jedenfalls vom Wortlaut des § 287 Abs. 2 InsO nicht erfasst sind? Auch wenn die EuInsVO während der Wohlverhaltensphase bis zur Entscheidung über die Restschuldbefreiung als Annexverfahren anwendbar sein dürfte,26) sagt dies noch nichts über die Rechtswirkungen der Vorausabtretung nach § 287 Abs. 2 InsO in Bezug auf ausländische Forderungen aus. Man wird kaum ohne weiteres unterstellen können, dass eine Forderung, die 22) 23) 24) 25) 26)

LG Stendal, Beschl. v. 6.8.2013 – 25 T 93/13, ZVI 2014, 70 = BeckRS 2013, 17102. Entsprechend Art. 4 Abs. 2 lit. j EuInsVO a. F. LG Passau, Schluss-Urt. v. 16.1.2014 – 1 O 721/13, BeckRS 2014, 14849. Stephan in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2014, § 287 Rz. 49b – 49c. Vgl. näher: Laroche in: FS Kübler, 2015, S. 371, 375 f.

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nach ausländischem Recht nicht oder nur beschränkt abtretbar ist, was bei ausländischen Forderungen auf Arbeitsentgelt durchaus vorkommt, rechtswirksam an einen deutschen Treuhänder abgetreten werden kann. Dies gilt umso mehr, als sich nach Art. 13 EuInsVO das Recht des Arbeitsverhältnisses nach dem Recht des Arbeitsvertrags, also dem Vertragsstatut, der lex fori contractus, und gerade nicht nach Insolvenzstatut richtet.27) Ein genauerer Blick auf die einzelnen Tatbestände des Art. 7 EuInsVO zeigt, dass keiner der dort genannten Fälle so recht auf die Abtretung nach § 287 Abs. 2 InsO passt.28) Dies gilt zunächst für Art. 7 Abs. 2 lit. j EuInsVO, der „die Voraussetzungen und die Wirkungen der Beendigung des Insolvenzverfahrens, insbesondere durch Vergleich regelt“. Denn abgesehen davon, dass das Insolvenzverfahren beendet und lediglich noch ein Annexverfahren anhängig ist, würde eine Anwendung dieser Regelung auch auf die Abtretung nach § 287 Abs. 2 InsO die Norm faktisch in den Stand einer Generalklausel erheben, was sie sicherlich nicht ist.29) Auch Art. 7 Abs. 2 lit. b EuInsVO, der regelt, „welche Vermögenswerte zur Masse gehören und wie die nach der Verfahrenseröffnung vom Schuldner erworbenen Vermögenswerte zu behandeln sind“, kann nicht herangezogen werden. Denn das Insolvenzverfahren samt Vermögensbeschlag ist aufgehoben; der Schuldner hat die Verwaltungs- und Vermögensbefugnis mit Aufhebung des Insolvenzverfahrens zurückerhalten. b) Entscheidung nach Maßgabe des Forderungsstatuts Tatsächlich geht es im Kern um die Frage der Abtretung und Abtretbarkeit einer Forderung und die Wirkungen dieser Abtretung. Eine europarechtliche Regelung, die diesen Fall aufgreift, findet man in Art. 14 Abs. 2 Rom IVO.30) Diese Vorschrift erklärt unzweifelhaft das Forderungsstatut für anwendbar. Hinsichtlich Wirkung und Umfang der Abtretung während der Wohlverhaltensphase auf das Forderungsstatut abzustellen, erscheint nur auf den ersten Blick befremdlich. Tatsächlich dürfte dies sachgerecht und ohne größere Probleme möglich sen. Sowohl Arbeitgeber als auch örtliche Gerichte können lokales Recht anwenden, z. B. wenn ein Dritter in die Forderung vollstrecken will oder wenn Änderungen der Pfändungsfreigrenzen, 27) 28) 29) 30)

Reinhart in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2014, Vor §§ 335 ff. Rz. 49. Dazu ausführlich Laroche in: FS Kübler, 2015, S. 371, 375 f. Vgl. Laroche in: FS Kübler, 2015, S. 371, 375 f. Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 17.6.2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht – Rom I-VO, ABl. (EG) L 177/6 v. 4.7.2008.

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etwa wegen Änderungen der Unterhaltspflichten, in Rede stehen.31) Es dürfte jedenfalls keinen Vorteil an Rechtsklarheit und -sicherheit bringen, wenn der ausländische Drittschuldner und ggf. ein ausländisches Gericht hier deutsches Recht (als lex fori concursus) anwenden müssten. Da scheint es einfacher, dem deutschen Treuhänder die Geltendmachung seiner im Ausland belegenen Forderung nach den dortigen Regelungen abzuverlangen. Da der Treuhänder sich nur mit einer anderen Rechtsordnung, nämlich der des Forderungsstatuts auseinandersetzen muss, unterscheidet sich die Situation insofern vom eröffneten Insolvenzverfahren, wo – bei der Frage nach dem anwendbaren Vollstreckungsrecht – ein Hauptargument für die Anwendung des Insolvenzstatuts die Vermeidung der Beschäftigung mit mehreren Rechtsordnungen war (siehe oben II. 1.).32) Ausländisches Recht für anwendbar zu erklären, ist im Internationalen Privatrecht auch nicht ungewöhnlich, wie etwa auch das Abstellen auf die lex loci executionis in der Einzelzwangsvollstreckung zeigt (siehe oben II. 1.).33) Im Interesse der Rechtspraxis wäre es wünschenswert, wenn die Frage alsbald obergerichtlich geklärt werden könnte, wobei zu beachten bleibt, dass eine Klärung auf Grundlage der europarechtlichen Vorschriften (insbesondere die Anwendbarkeit von EuInsVO, Rom I-VO) nicht alle auftretenden Probleme löst, namentlich, wenn das Verhältnis zu Drittstatten betroffen ist. c) Pragmatischer Ausweg: Obliegenheit entsprechend § 295 Abs. 2 InsO? Teilweise wird vertreten, den Schuldner treffe in der Wohlverhaltensperiode eine ungeschriebene Obliegenheit entsprechend § 295 Abs. 2 InsO, bei Weigerung des ausländischen Arbeitgebers, pfändbare Beträge an den Treuhänder auszuzahlen, entsprechende Beträge abzuführen.34) Dies erscheint äußerst zweifelhaft, da im Interesse der Rechtsklarheit, auch im Hinblick auf eine Versagung nach § 296 InsO, die Obliegenheiten grundsätzlich abschließend sind.35) Auch wenn es auf den ersten Blick unbefriedigend 31) 32) 33) 34) 35)

Vgl. Laroche in: FS Kübler, 2015, S. 371, 376. BGH, Beschl. v. 20.7.2017 – IX ZB 63/16, Rz. 21, ZInsO 2017, 1781, 1783 = ZIP 2017, 1578. BGH, Beschl. v. 20.7.2017 – IX ZB 63/16, Rz. 9, ZInsO 2017, 1781, 1782 = ZIP 2017, 1578. LG Stendal, Beschl. v. 6.8.2013 – 25 T 93/13, ZVI 2014, 70 = BeckRS 2013, 17102. Sternal in: Uhlenbruck, InsO 15. Aufl. 2019, § 295 Rz. 5; Henning in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 290 Rz. 2; zur vergleichbaren Konstellation bei § 290 InsO vgl. BGH, Beschl. v. 22.5.2003 – IX ZB 456/02, NJW 2003, 2457 = NZI 2003, 449; AG Köln, Beschl. v. 20.10.2017 – 73 IN 113/08, ZVI 2018, 460 = NZI 2018, 166.

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erscheint, gebietet es die Rechtsicherheit, hier Schutzlücken hinzunehmen und eine Schließung dem Gesetzgeber zu überlassen. Es wäre aber in der Tat eine einfache und praktikable Lösung, wenn dem im Ausland tätigen Schuldner gesetzlich eine Obliegenheit zur Abführung eines dem deutschen pfändbaren Einkommen entsprechenden Betrages auferlegt würde und gleichzeitig der Treuhänder – in der Wohlverhaltensphase – vom Einzug der ausländischen Forderungen entlastet würde. III. Rechtsfolgen der Restschuldbefreiung Eine andere Frage betrifft die grenzüberschreitende Anerkennung der Restschuldbefreiung. Sie ist nicht nur wegen des „Insolvenztourismus“, etwa nach England, praxisrelevant, sondern von grundlegender Bedeutung im europäischen Binnenmarkt mit seiner Arbeitnehmerfreizügigkeit und Niederlassungsfreiheit. Verstärkt wird ihre Relevanz noch durch die Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über präventive Restrukturierungsrahmen (folgend: Restrukturierungsrichtlinie)36), die eine Teilharmonisierung der Restschuldbefreiung anstrebt. 1. Anerkennung einer im Ausland erlangten Restschuldbefreiung Auch wenn sich ausdrückliche Regelungen über die Anerkennung einer ausländischen Restschuldbefreiung weder in der EuInsVO37) noch im autonomen Internationalen Privatrecht finden, dürfte die grundsätzliche Anerkennungsfähigkeit einer im Ausland erteilten Restschuldbefreiung aufgrund der eindeutigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes unbestritten sein.38) Sofern nach ausländischem Recht die Restschuldbefreiung unmittelbar, also ohne weitere gerichtliche Entscheidung erlangt wird, folgt ihre Anerkennung im Anwendungsbereich der EuInsVO unmittelbar aus Art. 19 i. V. m.

36)

37) 38)

Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) – Restrukturierungsrichtlinie, ABl. (EU) L 172/18 v. 26.6.2019. Vallender, Wirkungen und Anerkennung einer im Ausland erteilten Restschuldbefreiung, ZInsO 2009, 616, 618. BGH, Beschl. v. 18.9.2001 – IX ZB 51/00, ZIP 2002, 365 = NJW 2002, 960.

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Art. 7 Abs. 2 lit. k EuInsVO39) als Folgewirkung aus dem Eröffnungsbeschluss, ohne dass es eines Rückgriffs auf Art. 32 EuInsVO bedarf.40) Soweit es sich bei der Restschuldbefreiung um eine „zur Durchführung und Beendigung eines Insolvenzverfahrens“ ergangene Entscheidung oder eine Annexentscheidung handelt, wird man insoweit Art. 32 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 1 bzw. Unterabs. 2 EuInsVO („[…] Entscheidungen, die unmittelbar aufgrund des Insolvenzverfahrens ergehen und in engem Zusammenhang damit stehen, […]“) heranziehen können.41) Hingegen wird man in einem solchen Fall nicht auf Art. 19 Abs. 1 EuInsVO abstellen können, denn die Norm regelt die Anerkennung und Wirkungserstreckung des dem Universalitätsprinzip unterfallenden Hauptverfahrens und bezieht sich auf den Hoheitsakt der Eröffnungsentscheidung, während die Restschuldbefreiung erst später, typischerweise am Verfahrensende, erteilt wird.42) Eine Grenze für die Anerkennung ergibt sich im Anwendungsbereich der EuInsVO nur aus dem ordre-public-Vorbehalt des Art. 33 EuInsVO.43) Dieser ist europarechtskonform allerdings eng auszulegen. Es ist dem Gläubiger grundsätzlich selbst im Falle einer Zuständigkeitserschleichung zunächst zuzumuten, Rechtsschutz im Staat der Verfahrenseröffnung zu suchen.44) Soweit die EuInsVO nicht anwendbar ist, also hinsichtlich einer in einem Drittstaat erteilten Restschuldbefreiung, gilt nichts grundlegend anderes.

39) 40) 41)

42) 43) 44)

Fuchs, NZI 2016, 932 (Urteilsanm. zu BFH, NZI 2016, 929), für die automatisch nach einem Jahr erteilte Restschuldbefreiung nach englischem Recht. Vallender, ZInsO 2009, 616, 618. Fuchs, NZI 2016, 932 (Urteilsanm. BFH, NZI 2016, 929); Vallender, ZInsO 2009, 616, 618 m. w. N. Sofern man dieser Auffassung nicht folgt, ist Art. 32 Abs. 2 EuInsVO zu prüfen, der bestimmt, dass Entscheidungen, die nicht unter Art. 32 Abs. 1 EuInsVO fallen, nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 12.12.2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen – Brüssel Ia-VO, ABl. (EG) L 351/1 v. 20.12.2012, anzuerkennen sind. Vallender, ZInsO 2009, 616, 618. BGH, Urt. v. 10.9.2015 – IX ZR 304/13, ZIP 2015, 2331 = NZI 2016, 93; BFH, Beschl. v. 27.1.2016 – VII B 119/15, ZIP 2016, 2027 = NZI 2016, 929. BGH, Urt. v. 10.9.2015 – IX ZR 304/13, ZIP 2015, 2331 = NZI 2016, 93; vgl. deutlich enger: OLG Düsseldorf, Urt. v. 23.8.2013 – I-22 U 37/13, ZVI 2014, 425 = BeckRS 2013, 15627, das nicht nur eine vollständige Überprüfung der internationalen Zuständigkeit englischer Gerichte für zulässig hält, sondern der in England erteilten Restschuldbefreiung u. a. aufgrund der Kürze des Verfahrens jedenfalls im Zusammenhang mit einer kurzzeitigen Wohnsitzverlegung die Anerkennung wegen Verletzung des orde public versagen will.

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Hier richtet sich die Anerkennung nach §§ 335, 343 InsO.45) Allerdings sind die Anerkennungsvoraussetzungen etwas strenger. Denn während nach der EuInsVO die Zuständigkeit des erkennenden Gerichts nicht in Frage gestellt werden kann, wird nach § 343 Abs. 1 Satz 2 InsO das ausländische Verfahren nicht anerkannt, wenn die Gerichte des Staats der Verfahrenseröffnung nach deutschem Recht nicht zuständig sind (Nr. 1) oder die Anerkennung zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist, insbesondere soweit sie mit den Grundrechten unvereinbar ist (ordre-public-Vorbehalt, Nr. 2).46) Hinsichtlich der Auslegung des ordre-public-Vorbehalts dürften im Wesentlichen dieselben Erwägungen gelten wie i. R. des Art. 33 EuInsVO, auch wenn im Einzelfall eine engere Auslegung durchaus denkbar ist. Liegen die Voraussetzungen des § 343 Abs. 1 Satz 2 InsO vor, sind auch die Folgewirkungen und damit eine ausländische Restschuldbefreiung anzuerkennen.47) 2. Wirkungen und Umfang einer im Ausland erteilten Restschuldbefreiung Wenn man erst einmal geklärt hat, dass die ausländische Restschuldbefreiung im Inland anzuerkennen ist, ist damit noch nicht viel gewonnen. Denn Restschuldbefreiung ist nicht gleich Restschuldbefreiung. Vielmehr sind die Rechtswirkungen in verschiedenen Ländern deutlich unterschiedlich ausgestaltet. Dies gilt nicht nur hinsichtlich der rechtstechnischen Umsetzung – neben der aus dem deutschen Recht bekannten Umwandlung in unvollkommene Verbindlichkeiten ist insbesondere auch ein echter Forderungserlass denkbar –, sondern auch für die Frage, welche Forderungen von der Restschuldbefreiung erfasst und welche ausgenommen sind. Es entspricht wohl der ganz h. M., dass sich die Rechtswirkungen einer im Ausland erteilten Restschuldbefreiung nach der lex fori concursus richten. Denn die lex fori concursus als „Grundnorm des Internationalen Insolvenzrechts“ gilt nicht nur hinsichtlich des Insolvenzverfahrens als solchem, sondern ist auch maßgeblich für die Wirkungen des Insolvenzverfahrens.48) Im Anwendungsbereich der EuInsVO kann insoweit insbesondere an Art. 7 Abs. 2 lit. j EuInsVO („die Voraussetzungen und die Wirkungen der Been45) 46) 47) 48)

Vallender, ZInsO 2009, 616, 618 f. Vallender, ZInsO 2009, 616, 618 f. Vallender, ZInsO 2009, 616, 619. Vallender, ZInsO 2009, 616, 617; Reinhart in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2014, Vor §§ 335 ff. Rz. 49.

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digung des Insolvenzverfahrens, insbesondere durch Vergleich;“) und Art. 7 Abs. 2 lit. k EuInsVO („die Rechte der Gläubiger nach der Beendigung des Insolvenzverfahrens;“) angeknüpft werden.49) Es ist somit ausschließlich nach dem Recht des Eröffnungsstaates zu entscheiden, ob und unter welchen Voraussetzungen Forderungen nach Abschluss des Verfahrens noch gegen den Schuldner geltend gemacht werden können. Damit sind auch die Rechtswirkungen einer Restschuldbefreiung ausschließlich nach dem Recht des Eröffnungsstaates zu bemessen.50) Entsprechendes gilt für eine in einem Drittstaat außerhalb des Anwendungsbereichs der EuInsVO erlangte Restschuldbefreiung. Hier ergibt sich die Anknüpfung an die lex fori concursus aus § 335 InsO.51) Allerdings ergeben sich aus der Anwendung der lex fori concursus bisweilen erhebliche Folgeprobleme, wie exemplarisch ein Fall zeigt, den der Bundesgerichtshof im Jahre 2014 zu entscheiden hatte. Der Beklagte hatte im Jahre 2011 in einem englischen Insolvenzverfahren die Restschuldbefreiung erlangt. Die Klägerin hatte in diesem Verfahren Arbeitnehmeranteile zur Sozialversicherung aus der Zeit von Juni bis August 2008 als „claim in tort“ angemeldet. Nunmehr stritten die Parteien vor deutschen Gerichten darüber, ob die Forderung i. H. von 789,98 € von der englischen Restschuldbefreiung, erfasst ist. Nachdem Amts- und Landgericht sich mit dem Fall beschäftigt hatten, gelangte er zum Bundesgerichtshof. Dieser hob die Entscheidung des Landgerichts auf und verwies den Fall zurück. Denn das Landgericht hatte sich nicht hinreichend vertieft mit dem englischen Recht, genauer mit der Wirkung der englischen Restschuldbefreiung befasst. Zur Vermeidung eines teuren Rechtsgutachtens über das englische Recht, das rund 3.500 bis 4.000 € gekostet hätte, hatte das Landgericht auf Grundlage des Europäischen Übereinkommens v. 7. Juni 1968 betreffend Auskünfte über ausländisches Recht52) eine Auskunft des Foreign & Commonwealth Office, handelnd durch das Department for Business Innovation & Skills, London, eingeholt. Dies ist, wie der Bundesgerichtshof betont, durchaus ein gangbarer Weg; angesichts des Streitwertes und der Kosten eines Gutachtens wohl auch ein äußerst sachgerechter. Leider war die Auskunft er-

49) 50) 51) 52)

Vallender, ZInsO 2009, 616, 617. Vallender, ZInsO 2009, 616, 617; Reinhart in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2014, § 335 Rz. 131. Vallender, ZInsO 2009, 616, 618. Gesetz zu dem Europäischen Übereinkommen v. 7.6.1968 betreffend Auskünfte über ausländisches Recht, v. 5.7.1974, BGBl. II 1974, 937 ff., sog. Londoner Übereinkommen.

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kennbar nicht erschöpfend und das Landgericht hatte versäumt, eine ergänzende Auskunft einzuholen. Dies wäre aber erforderlich gewesen, denn der Tatrichter darf sich bei der Ermittlung ausländischen Rechts nicht auf die Heranziehung der Rechtsquellen beschränken, sondern muss auch die konkrete Ausgestaltung des Rechts in der ausländischen Rechtspraxis, insbesondere die ausländische Rechtsprechung, berücksichtigen.53) Da der Fall nicht entscheidungsreif war, musste sich das Landgericht also erneut damit beschäftigen, ob die Forderung von 789,98 € von der Restschuldbefreiung erfasst ist, nachdem der Rechtsstreit bereits über drei Instanzen geführt worden war. Klarer können die Probleme grenzüberschreitender Privatinsolvenzen kaum zu Tage treten. 3. Sperrfrist des § 287a Abs. 2 InsO bei im Ausland erteilter oder versagter Restschuldbefreiung? Ebenfalls eine Frage der innerstaatlichen Wirkungen einer ausländischen Restschuldbefreiung ist es, ob die ausländische Restschuldbefreiung die Sperrfristen des § 287a Abs. 2 InsO von zehn Jahren bei Erteilung bzw. von fünf respektive drei Jahren im Falle der Versagung auslöst. Der Wortlaut lässt eine solche Auslegung ohne weiteres zu. Eine Klärung der Frage schafft weder das Gesetz selbst noch gibt die Gesetzgebungsgeschichte ausreichend Argumente für eine Lösung.54) Die Rechtsprechung hat sich ihr noch nicht erkennbar angenommen. Aus systematischen Gründen wird man der erteilten ausländischen Restschuldbefreiung vom Grundsatz her dieselben Wirkungen wie einer inländischen zubilligen müssen. Denn andernfalls würde die ausländische Restschuldbefreiung eine nicht zu rechtfertigende Privilegierung erfahren: Der Schuldner könnte sich mit Erfolg auf die für ihn positiven Rechtsfolgen berufen, ohne gleichzeitig die Nachteile in Kauf nehmen zu müssen. Die im Ausland erteilte Restschuldbefreiung löst deshalb dieselbe zehnjährige Sperrfrist aus wie eine im Inland erteilte.55) Schwieriger ist hingegen die Frage zu beantworten, ob auch eine ausländische Versagung der Restschuldbefreiung der inländischen gleichzusetzen ist. Hier bestehen aufgrund der Gesetzgebungsgeschichte des § 287a InsO er53) 54) 55)

BGH, Urt. v. 14.1.2014 – II ZR 192/13, ZIP 2014, 394 = ZInsO 2014, 452. Ausführlich dazu Vallender, ZInsO 2009, 616, 621. Ebenso Vallender, ZInsO 2009, 616, 621, zur Vorgängernorm des § 290 Abs. 1 Nr. 3 InsO a. F.

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hebliche Bedenken. Denn mit der Norm hat der Gesetzgeber auf die sog. Sperrfristrechtsprechung des Bundesgerichtshofes reagiert und diese nur für die in der Norm ausdrücklich benannten Fälle ins Gesetz übernommen.56) Der Gesetzgeber wollte ersichtlich eine beschränkte, abschließende Regelung schaffen und hat auch verschiedene inländische Versagungstatbestände, namentlich § 298 InsO, aus dem Anwendungsbereich ausgenommen und für die anderen Versagungstatbestände ein zeitlich abgestuftes System geschaffen. Mit diesem System wäre es nur schwer vereinbar, wenn eine ausländische Versagung, deren Gründe allenfalls teilweise den inländischen Versagungsgründen entsprechen, eine inländische Restschuldbefreiung sperrt.57) IV. Anerkennung des gerichtlichen Schuldenbereinigungsplans gemäß §§ 306 ff. InsO im Ausland Soweit ersichtlich, ist die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen ein deutscher Schuldenbereinigungsplan nach §§ 306 ff. InsO im Ausland anzuerkennen ist, von den Gerichten noch nicht geklärt. Diese Frage hat hingegen eine nicht zu unterschätzende Relevanz für das deutsche Verfahren.58) Die Probleme beginnen bereits mit der Begründung der deutschen internationalen Zuständigkeit. Es ist zwar ein Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens gestellt worden, für den unter den Voraussetzungen des Art. 3 EuInsVO deutsche Gerichte zuständig sind. Allerdings ist das Schuldenbereinigungsplanverfahren gerade auf Vermeidung eines Insolvenzverfahrens gerichtet. Dennoch wird man das Schuldenbereinigungsplanverfahren wohl als Annexverfahren i. R. eines insolvenzrechtlichen Eröffnungsverfahrens unter Art. 3 EuInsVO fassen können. Möchte man dies nicht, wäre die internationale Zuständigkeit deutscher Gerichte anhand anderer Normen des Internationalen Privatrechts zu messen. Hier kommen in erster Linie die ausdifferenzierten Zuständigkeitsregelungen der Brüssel Ia-VO in Betracht. Jedenfalls diese dürften vielfach dazu führen, dass die internationale Zuständigkeit für einen Rechtsstreit zwischen Schuldner und Gläubiger besteht, 56) 57)

58)

Begr. RegE InsO (§ 287a InsO), BT-Drucks. 17/11268, S. 25; BGH, Beschl. v. 4.5.2017 – IX ZB 92/16, Rz. 12, NJW-RR 2017, 1006 = NZI 2017, 627. Ähnlich wohl Vallender, ZInsO 2009, 616, 621, der darauf hinweist, dass eine Vergleichbarkeit einer ausländischen Versagungsentscheidung mit §§ 296, 297 InsO nicht ohne weiteres festzustellen sein dürfte. Ausführlich dazu: Bast/Deyda/Laroche/Schöttler/Siebert, Das gerichtliche Schuldenbereinigungsplanverfahren in der Verbraucherinsolvenz – ein praxistaugliches Entschuldungsverfahren, ZInsO 2017, 2471, 2479.

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etwa nach Art. 18 Abs. 2 Brüssel Ia-VO. Diese Norm schafft eine Zuständigkeit für Klagen eines Vertragspartners gegen einen Verbraucher nur vor den Gerichten des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet der Verbraucher seinen Wohnsitz hat. Allerdings sind durchaus Fälle nicht nur theoretisch denkbar, in denen eine deutsche internationale Zuständigkeit nach der Brüssel Ia-VO nicht besteht, etwa bei Schulden, die aus einer ehemaligen Selbstständigkeit herrühren.59) Gelingt es, die internationale Zuständigkeit zur begründen, gehen die Probleme bei der Zustellung an den ausländischen Gläubiger weiter, sofern dieser nicht ausnahmsweise einen inländischen Verfahrensbevollmächtigten hat.60) Sonderregelungen der EuInsVO dürften nicht anwendbar sein. Denn soweit die EuInsVO eine Veröffentlichung zur Information der Gläubiger ausreichen lässt, knüpfen diese Vorschriften an die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens an. Eine solche Eröffnung soll durch das Schuldenbereinigungsplanverfahren aber gerade vermieden werden. Denkbar ist eine Zustellung nach den Regelungen der EuZVO,61) die von der EuInsVO in ErwG 64 hingegen für zu komplex für Insolvenzverfahren gehalten wird. Praktikabler als eine Zustellung auf diplomatischem Weg erscheint die Zustellung nach der EuZVO allerdings gleichwohl. Hat man auch das Zustellungsproblem in den Griff bekommen, stellt sich die Frage, ob ein gerichtlicher Schuldenbereinigungsplan im Ausland Anerkennung finden kann. Eine Anerkennung über die Vorschriften der EuInsVO, namentlich Art. 32 EuInsVO, dürfte kaum möglich sein. Denn Wesensmerkmal des Schuldenbereinigungsplans ist ja gerade, dass kein Insolvenzverfahren eröffnet wird, sondern der Eröffnungsantrag nach § 309 Abs. 2 InsO mit dem Bestätigungsbeschluss als zurückgenommen gilt.62) In Betracht kommen dürfte in ihrem Anwendungsbereich allenfalls eine Aner-

59) 60) 61)

62)

Bast/Deyda/Laroche/Schöttler/Siebert, ZInsO 2017, 2471, 2479. Bast/Deyda/Laroche/Schöttler/Siebert, ZInsO 2017, 2471, 2479. Verordnung (EG) Nr. 1393/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 13.11.2007 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten (Zustellung von Schriftstücken) und zur Aufhebung der Verordnung (EG) Nr. 1348/2000 des Rates – EuZVO, ABl. (EG) L 324/79 v. 10.12.2007. Bast/Deyda/Laroche/Schöttler/Siebert, ZInsO 2017, 2471, 2479.

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kennung über die Brüssel Ia-VO.63) Da der Schuldenbereinigungsplan die Wirkungen eines gerichtlichen Vergleichs hat, § 308 Abs. 1 Satz 2 InsO, § 794 Abs. 1 Satz 1 ZPO, dürfte die Anerkennung über Art. 2 lit. a und lit. b Brüssel Ia-VO, Art. 58 ff. Brüssel Ia-VO möglich sein.64) Außerhalb des Anwendungsbereichs der Brüssel Ia-VO richtet sich die Anerkennung entweder nach besonderen völkerrechtlichen Verträgen (insbesondere dem Lugano-Abkommen im Verhältnis zu den EFTA-Staaten) oder dem autonomen Internationalen Privatrecht. Hat man schließlich begründet, dass der Schuldenbereinigungsplan im Ausland anzuerkennen ist, stellt sich im Einzelfall noch die Frage, ob der Schuldenbereinigungsplan dem ordre public des ausländischen Staats widerspricht. Dies ist etwa dann denkbar, wenn das Zustandekommen des Plans auf einer Zustimmungsfiktion durch Schweigen gemäß § 307 Abs. 2 Satz 1 InsO beruht, die per se anfällig für eine Verletzung des rechtlichen Gehörs ist, zumal i. V. m. den bereits weiter oben benannten Zustellungsproblemen. All diese Feststellungen zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass das scheinbar einfache Schuldenbereinigungsplanverfahren, das der Vermeidung eines Insolvenzverfahrens für Verbraucher dienen soll, in grenzüberschreitenden Sachverhalten derart komplex ist, dass es in diesen Fällen nicht durchgeführt werden sollte.65) V. Problemlösung auf europarechtlicher Ebene? 1. Keine Vereinfachung der Probleme durch die Restrukturierungsrichtlinie Die vielen Probleme, die im grenzüberschreitenden Raum auftreten, lassen eine europäische Regelung der Privatinsolvenz und der Restschuldbefreiung folgerichtig und fast notwendig erscheinen. Leider bietet die Restrukturierungsrichtlinie keine hinreichende Lösung. Es findet sich zwar in den Art. 20 ff. eine Vielzahl an Regelungen zur Restschuldbefreiung. Allerdings geht die Rechtsharmonisierung kaum über das Erfordernis, überhaupt ein Verfahren zur Restschuldbefreiung zu schaffen und diese nach einer 63)

64) 65)

Die Situation ist insoweit durchaus der kontrovers diskutierten Anerkennung des englischen scheme of arrangement vergleichbar, dazu: Mankowski, Anerkennung englischer Solvent Schemes of Arrangement in Deutschland, WM 2011, 1201; Schulz, Apcoa – Grenzen der Anerkennung des Scheme of Arrangement nach Änderung der Rechtswahlklausel, ZIP 2015, 1912. Bast/Deyda/Laroche/Schöttler/Siebert, ZInsO 2017, 2471. Bast/Deyda/Laroche/Schöttler/Siebert, ZInsO 2017, 2471, 2479, 2484.

Die Insolvenz natürlicher Personen als Herausforderung

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Höchstfrist von drei Jahren zu erteilen, hinaus. Die Richtline lässt dem nationalen Gesetzgeber zu Wirkung und Ausnahmen einen derart großen Umsetzungsspielraum, dass von einer Harmonierung kaum die Rede sein kann. Fragen der Anerkennung werden überhaupt nicht geregelt. Von einer echten europäischen Rechtsangleichung sind wir noch weit entfernt. 2. Europäisches Justizielles Netz Andererseits hat die Politik schon früh die Probleme im grenzüberschreitenden Bereich erkannt und mit einigen wirksamen Maßnahmen reagiert. Allen voran ist die Schaffung des Europäischen Justiziellen Netzes für Zivilund Handelssachen (EJN) zu erwähnen. Zu den Aufgaben des im Mai 2001 vom Rat der Europäischen Union eingerichteten EJN gehört es, Richterinnen und Richter, die mit einem grenzüberschreitenden Rechtsstreit befasst sind, bestmöglich zu unterstützen. Hilfestellungen können von der Unterstützung bei der Formulierung und Erledigung von Rechtshilfeersuchen bis zur Einholung von Auskünften über den Inhalt ausländischen Rechts reichen.66) Im Rahmen des EJN arbeitet etwa die Bundeskontaktstelle im Bundesamt für Justiz für die Erleichterung, Vereinfachung und Beschleunigung einer wirksamen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit und sorgt europaweit in engem Kontakt mit den Gerichten für eine reibungslose Abwicklung von Gerichtsverfahren.67) Integriert in das EJN ist auch das bereits erwähnte68) Europäische Übereinkommen betreffend Auskünfte über ausländisches Recht (Londoner Übereinkommen), das national durch das AuslandsRechtsauskunftgesetz vom 5. Juli 1974 (AuRAG)69) umgesetzt ist. Auch die Erkenntnisquellen, die die EuInsVO bereitstellt (etwa Informationen über ausländisches Insolvenzrecht, Art. 86 EuInsVO, oder die Vernetzung der nationalen Insolvenzregister, Art. 25 EuInsVO), sind über das EJN und dessen Internetauftritt (e-justice.europa.eu) zu erreichen. Leider ist diese Art der Unterstützungsleistung nach wie vor kaum bekannt, wie der oben (siehe III. 2.) dargestellte Fall exemplarisch zeigt. 66) 67) 68) 69)

Abrufbar unter https://www.bundesjustizamt.de/DE/Themen/Gerichte_Behoerden/ EJNZH/Start/Ueberblick.html?nn=3449864 (Abrufdatum: 7.7.2019). So die Selbstdarstellung unter https://www.bundesjustizamt.de/DE/Themen/Gerichte_Behoerden/Gerichte_Behoerden_node.html (Abrufdatum: 7.7.2019). Vgl. oben unter III. 2. die Ausführungen zu BGH, Urt. v. 14.1.2014 – II ZR 192/13, ZIP 2014, 394 = ZInsO 2014, 452. Gesetz zur Ausführung des Europäischen Übereinkommens betreffend Auskünfte über ausländisches Recht und seines Zusatzprotokolls – Auslands-Rechtsauskunftgesetz (AuRAG), BGBl. I 1974, 1433.

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VI. Zusammenfassung Entgegen landläufiger Meinung ist das Recht der Privatinsolvenz keineswegs trivial. Gerade in den immer häufiger werdenden grenzüberschreitenden Konstellationen stellen sich komplexe rechtliche Fragen. Dies betrifft etwa Schuldner, die im Laufe des Verfahrens ins Ausland umziehen oder auch nur eine Erwerbstätigkeit im Ausland aufnehmen. Namentlich Fragen der Reichweite des Insolvenzbeschlags im Ausland sowie der Bestimmung der Pfändungsfreigrenzen stellen die Praxis immer wieder vor Probleme. Ebenfalls von hoher Komplexität ist der Umgang mit ausländischen Gläubigern, die auch in der Privatinsolvenz immer häufiger beteiligt sind. Schwierige Rechtsfragen stellen sich auch bei der Anerkennung und den Wirkungen einer im Ausland erteilten Restschuldbefreiung sowie bei Durchführung eines gerichtlichen Schuldenbereinigungsplanverfahrens. Einige der aufgeworfenen Fragen waren zwischenzeitlich Gegenstand der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes und können als weitgehend geklärt gelten. Andere Fragen haben trotz ihrer erheblichen praktischen Relevanz noch nicht den Weg zu den Obergerichten gefunden. Während die Restrukturierungsrichtlinie voraussichtlich kaum Verbesserungen und Rechtsharmonisierung mit sich bringen wird, sind die Informationsmöglichkeiten und Hilfestellungen für Gerichte und Rechtssuchende, die das Europäische Justizielle Netz – EJN (e-justice.europa.eu) zur Verfügung stellt, durchaus geeignete Hilfsmittel in grenzüberschreitenden Sachverhalten.

Die Festschrift – Risiken und Nebenwirkungen ILSE LOHMANN Inhaltsübersicht I. Einführung II. Die Vorgeschichte III. Das Verfahren 1. Die erfolglosen Anträge 2. Der Ablehnungsgrund „Festschrift“

3. Einordnung des Falles in das System der Ablehnungsgründe 4. Parteiobjektiver Maßstab IV. Fazit

I. Einführung „Auch der untadeligste, vom besten Wollen erfüllte Richter kann in mancher Lage in die Gefahr geraten, daß seine Entscheidung bewußt oder unbewußt von Gefühlsströmungen oder Vorurteilen mitbestimmt wird“,

schrieb ein jüngst verstorbener Kollege bereits im Jahre 1962.1) Eine innere Einstellung des Richters, welche die erforderliche Distanz zum Gegenstand des Rechtsstreits und die notwendige Unparteilichkeit gegenüber den Parteien derart vermissen lässt, dass es infolge sachfremder Erwägungen zu Bevorzugungen oder Benachteiligungen einer Partei kommt, bezeichnet die ZPO als „Befangenheit“. Ablehnungsgrund ist nicht die Befangenheit als solche, sondern die Besorgnis der Befangenheit (§ 42 Abs. 2 ZPO). Entscheidend ist insoweit, ob eine Partei bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass hat, an der Unvoreingenommenheit und objektiven Einstellung eines Richters zu zweifeln.2) Darüber, ob diese Voraussetzungen in einem bestimmten Fall gegeben sind, lässt sich trefflich streiten. Das gilt insbesondere in dem Fall, welcher dem Senatsbeschluss vom 7. November 2018 zugrunde lag.3) Die in der Vergangenheit liegende Mitwirkung an einer juristischen Festschrift, die einer Prozesspartei gewidmet war, soll je nach Lage des Falles die Besorgnis der Befangenheit begründen können.

1) 2) 3)

Teplitzky, Probleme der Richterablehnung wegen Befangenheit, NJW 1962, 2044. BGH, Beschl. v. 21.6.2018 – I ZB 58/17, Rz. 10, NJW 2019, 526 = MDR 2018, 1522; vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 21.11.2018 – 1 BvR 436/17, Rz. 20 f., NJW 2019, 505. BGH, Beschl. v. 7.11.2018 – IX ZA 16/17, ZIP 2018, 2503 = NJW 2019, 308.

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II. Die Vorgeschichte Die beiden Klägerinnen, eine BGB-Gesellschaft und eine in Liquidation befindliche AG, nahmen einen Insolvenzverwalter persönlich nach den §§ 60, 61 InsO wegen behaupteter Pflichtverletzungen auf Schadensersatz in Anspruch. Die Klage blieb in zwei Instanzen erfolglos. Die Klägerinnen beantragten sodann Prozesskostenhilfe für eine Nichtzulassungsbeschwerde gegen das Berufungsurteil. Der Antrag wurde abgelehnt.4) Gemäß § 116 Satz 1 Nr. 2 ZPO erhält eine juristische Person oder eine parteifähige Vereinbarung nur dann Prozesskostenhilfe, wenn die Kosten weder von ihr noch von den am Gegenstand des Rechtsstreits wirtschaftlich Beteiligten aufgebracht werden können und wenn die Unterlassung der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung allgemeinen Interessen zuwiderlaufen würde. Die letztgenannte Voraussetzung war offensichtlich nicht erfüllt. Wirtschaftliche oder soziale Bedeutung für die Allgemeinheit5) hatte der Fall nicht. Die BGB-Gesellschaft war ausschließlich zum Zweck der Durchsetzung von Ansprüchen ihrer zunächst 28, zuletzt noch sechs Gesellschafter gegründet worden, vertrat also gebündelte Individualinteressen. Die AG hatte ihren Geschäftsbetrieb eingestellt. Sie nahm nicht mehr am Wirtschaftsleben teil. Das allgemeine Interesse an der richtigen Entscheidung eines Prozesses rechtfertigt die Bewilligung von Prozesskostenhilfe in aller Regel nicht.6) Die Klägerinnen erhoben eine Anhörungsrüge gegen diesen Beschluss. Sie lehnten zudem alle Richterinnen und Richter wegen der Besorgnis der Befangenheit ab, die am Beschluss vom 19. Oktober 2017 mitgewirkt hatten. Später lehnten sie auch diejenigen Richter des IX. Zivilsenats ab, die über den Ablehnungsantrag entscheiden mussten. III. Das Verfahren Die „Ausschließung und Ablehnung von Gerichtspersonen“ ist in den §§ 41 bis 49 ZPO geregelt. Zuständig für die Entscheidung über das Ablehnungsgesuch ist gemäß § 45 Abs. 1 ZPO das Gericht, welchem der Abgelehnte angehört. Das war hier der IX. Zivilsenat ohne die abgelehn4) 5) 6)

BGH, Beschl. v. 19.10.2017 – IX ZA 16/17, ZInsO 2017, 2538. Dazu ausführlich BGH, Beschl. v. 10.2.2011 – IX ZB 145/09, Rz. 10, ZIP 2011, 540 = NJW 2011, 1595. BGH, Beschl. v. 20.9.1957 – VII ZR 62/57, BGHZ 25, 183, 185 = NJW 1957, 1636.

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ten Richter. Nachdem während des Ablehnungsverfahrens noch die drei verbliebenen Senatskollegen abgelehnt worden waren, entschied der Senat ausschließlich durch Mitglieder des XII. Zivilsenats als des Vertretungssenats.7) Das Ablehnungsgesuch (§ 41 ZPO) muss die Tatsachen bezeichnen, auf welche die Ablehnung gestützt wird. Damit legt die antragstellende Partei zugleich den Verfahrensgegenstand des Ablehnungsverfahren fest.8) Zu prüfen ist folglich, ob die behaupteten (und glaubhaft gemachten, § 44 Abs. 2 ZPO) Tatsachen den Schluss auf die Besorgnis der Befangenheit des abgelehnten Richters zulassen. Anlass zu einer umfassenden Prüfung der Unparteilichkeit des Richters auch jenseits der im Antrag angebrachten Gründe gibt es nicht. Zur Glaubhaftmachung kann auf das Zeugnis des abgelehnten Richters Bezug genommen werden (§ 44 Abs. 2 Satz 2 ZPO). Der abgelehnte Richter hat sich über den Ablehnungsgrund dienstlich zu äußern (§ 44 Abs. 3 ZPO). So ist hier auch verfahren worden. Die Klägerinnen hatten bzgl. aller am Senatsbeschluss vom 19. Oktober 2017 und am Ablehnungsverfahren beteiligten Richter des IX. Zivilsenats Befangenheitsgründe behauptet, die nicht aktenkundig waren. Die Entscheidung über das Ablehnungsgesuch ergeht durch Beschluss (§ 46 Abs. 1 ZPO). 1. Die erfolglosen Anträge Fünf der insgesamt acht Ablehnungsanträge blieben ohne Erfolg. Die Mitwirkung an einem vom Beklagten herausgegebenen Kommentar als einer von insgesamt zwanzig Autoren begründe für sich genommen ebenso wenig die Besorgnis der Befangenheit9) wie die Mitwirkung an einem Urteil in einer anderen Sache, an welcher die Klägerinnen nicht beteiligt gewesen seien. Der Hinweis auf die „Autoren-, Herausgeber- oder Vortragstätigkeit“ in einem vom Beklagten gegründeten Fachverlag, welche keinen Ablehnungsgrund darstelle,10) ist insofern irreführend, als die Klägerinnen hinsichtlich der hier genannten Senatsmitglieder andere Gründe vorgebracht hatten: Ein 7)

8) 9)

10)

Ebenso BGH, Urt. v. 5.3.2001 – I ZR 58/00, BGH-Report 2001, 432; im damaligen Fall waren fast alle Mitglieder des Vertretungssenats ebenfalls an der Mitwirkung gehindert, so dass die Mitglieder des zweiten Vertretungssenats herangezogen werden mussten. Vollkommer, Der ablehnbare Richter, 2001, S. 162 ff. Ebenso bereits BGH, Beschl. v. 31.1.2005 – II ZR 304/03, BGH-Report 2005, 1350, dessen Begründung der Beschl. v. 7.11.2018 weitgehend wörtlich übernimmt; zweifelnd Vollkommer in: Zöller, ZPO, 32. Aufl. 2018, § 42 Rz. 12. BGH, Beschl. v. 7.11.2018 – IX ZA 16/17, Rz. 7, ZIP 2018, 2503 = NJW 2019, 308.

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öffentlicher Vortrag an der Universität Mannheim über Aus- und Absonderungsrechte, welcher Fachkenntnisse belege, die ersichtlich nicht genutzt worden seien; Spezialkenntnisse im Strafrecht, deren Anwendung zu einer für die Klägerin günstigen Entscheidung hätte führen müssen, und die berufliche Tätigkeit in demjenigen Bundesland, in welchem sich das Büro des Beklagten befand, was nach Ansicht der Klägerinnen die Zugehörigkeit zur selben „Seilschaft“ bedeutete. Aber auch wenn sich der Beschluss mit dem Vortrag der Klägerinnen und mit den dienstlichen Erklärungen der abgelehnten Richter11) befasst hätte, hätte das Ergebnis kaum anders ausfallen können. 2. Der Ablehnungsgrund „Festschrift“ Für begründet erachtet wurde die Ablehnung dagegen hinsichtlich derjenigen Senatsmitglieder, die sich an einer Festschrift zum 70. Geburtstag des Beklagten beteiligt hatten. Ansatzpunkt hierfür war zunächst das dem Aufsatzteil der Festschrift vorangestellte Geleitwort. Die in Auswahl zitierten lobenden Worte über die Person und das Lebenswerk des Beklagten böten jedenfalls dann Anlass zu Zweifeln an der Unvoreingenommenheit des zu den Herausgebern zählenden Richters, wenn der Beklagte wegen angeblicher Pflichtverletzungen bei der Ausübung seines Amtes als Insolvenzverwalter auf Schadensersatz in Anspruch genommen werde. Dies gelte unabhängig davon, wer die „Laudatio“ tatsächlich verfasst habe, denn bei vernünftiger Würdigung der äußeren Umstände dürfe die Partei daran zweifeln, dass das mit dem Geleitwort zum Ausdruck Gebrachte hinter seinem objektiven Wortsinn zurückbleibe. Aber auch die Ablehnung der beiden Senatsmitglieder, die nur einen Fachbeitrag verfasst hatten, hatte Erfolg. Die für sich genommen neutralen Beiträge hätten nämlich den Beklagten unter Hervorhebung besonderer Verdienste ehren sollen. Dass dies das Anliegen nicht nur der Herausgeber, sondern auch der Autoren gewesen sei, folge aus einer entsprechenden Passage des Geleitwortes.12) Festschriften sind Sammelwerke mit wissenschaftlichen Beiträgen von Gratulanten und dienen der fröhlichen oder erhebenden Feier einer Institution oder einer Person, regelmäßig aus Anlass eines runden Geburtstags.13) Die 11) 12) 13)

Jedenfalls eine der übergangenen dienstlichen Erklärungen ging dahin, niemals für den vom Beklagten gegründeten Verlag tätig gewesen zu sein. BGH, Beschl. v. 7.11.2018 – IX ZA 16/17, Rz. 4 f., ZIP 2018, 2503 = NJW 2019, 308. Schulze-Fielitz, Festschriften im Dienst der Wissenschaft, DVBl. 2000, 1260.

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erste Festschrift der Welt soll im Jahre 1640 zum 200. Geburtstag der Erfindung der Buchdruckerkunst erschienen sein.14) Die älteste im deutschsprachigen Raum noch nachweisbare juristische Festschrift erschien im Jahre 1864 zum 5. Deutschen Juristentag in Braunschweig.15) Im Jahre 1868 folgte die erste „personenbezogene” Festschrift, die dem Rechtshistoriker Moritz August von Bethmann-Hollweg gewidmet war.16) Festschriften waren zunächst einer kleinsten Gelehrten-Elite vorbehalten.17) Die weitere Entwicklung lässt sich in der elfbändigen Bibliographie juristischer Festschriften und Festschriftenbeiträge18) nachverfolgen, die den Zeitraum von 1864 bis 2002 abdeckt. In den 81 Jahren von 1864 bis 1944 erschienen in Deutschland, der Schweiz und Österreich 269 juristische Festschriften, in den 17 Jahren von 1945 bis 1961 171 Festschriften, in den fünf Jahren von 1962 bis 1966 immerhin schon 91 Festschriften, in den acht Jahren von 1967 bis 1974 238 Festschriften, in den fünf Jahren von 1975 bis 1979 und von 1980 bis 1984 jeweils 182 Festschriften, in den drei Jahren von 1985 bis 1987 dann 137 Festschriften.19) Seit Mitte der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts bis zur Jahrtausendwende erschienen jährlich etwa 70 neue juristische Festschriften.20) Eine „einfache Suche“ im Katalog der Bibliothek des Bundesgerichtshofs ergibt für das Stichwort „Festschrift“ 11.744 Treffer; allerdings werden hier nicht nur Sammelwerke, sondern auch Aufsätze in Zeitschriften nachgewiesen. Die „Festschriftenwelle“,21) „Festschriftenflut“22), „Festschriftenlawine“, „Festschrifteninflation“,23) nicht zu vergessen das „Festschriftenunwesen“ hat zu einer einer gewissen Entwertung der Festschrift geführt.24) Einst war die eher seltene Festschrift Ausdruck einer außerordentlichen Wert14) 15) 16) 17) 18) 19) 20) 21) 22) 23) 24)

Wikipedia, Artikel „Festschrift“, eingesehen am 17.3.2019; der „Große Brockhaus“, 20. Aufl. 2001, erläutert den Begriff der Festschrift nicht. Lüttger, Über juristische Festschriften, JR 1989, 309; Schulze-Fielitz, DVBl. 2000, 1260, 1261. Schulze-Fielitz, DVBl 2000, 1260, 1261; Lahusen, FS Festschrift, myops 4/2008, 64. Stiefel, Glanz und Elend der Festschriftler, JZ 1995, 613. „Bibliographie juristischer Festschriften und Festschriftenbeiträge“, Bd. 1 – 10, hrsg. v. Dau, Bd. 11, hrsg. v. Pannier und Aulich. Lüttger, JR 1989, 309. Schulze-Fielitz, DVBl. 2000, 1260, 1262; vgl. auch Lahusen, myops 4/2008, 64, 66: „Jahresauswurf von rund 65“; Stiefel, JZ 1995, 613, schätzt „um 100“ Festschriften pro Jahr. Lüttger, JR 1989, 309, 310. v. Münch, Das Festschriftwesen und -unwesen, NJW 2000, 3253, 3255. Stiefel, JZ 1995, 613. Vgl. Lüttger, JR 1989, 309, 310: „von herausgehobenen festlichen Ereignissen zu einer Dauerfestivität“.

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schätzung und Zeichen höchster wissenschaftlicher Reputation.25) Sie wurde nur den ganz Großen ihres Faches gewidmet.26) Rudolf von Jhering (1818– 1892) erhielt anlässlich seines goldenen Doktorjubiläums nicht weniger als sieben Festschriften von sieben juristischen Fakultäten.27) Bernhard Windscheid (1817–1892) wurde im Jahre 1888 mit der Festgabe der Leipziger Juristenfakultät und der Festschrift der Juristenfakultät in Breslau geehrt;28) insgesamt sind ihm vier Festschriften gewidmet worden.29) Rudolf von Laun (1882 –1975) bekam zwischen 1945 und 1972 je eine Festschrift zum 65., 70., 80. und 90. Geburtstag.30) Die Festschrift für Carl Schmitt zum 70. Geburtstag (1959) erlebte zwei weitere Auflagen (1989 und 1994).31) Heute ist das anders. Schon im Jahr 2000 zitierte ein Hochschullehrer einen Kollegen: „Einige Kollegen wollen schon zum 60. Geburtstag eine Festschrift. Viele Kollegen wollen mindestens zum 65. Geburtstag eine Festschrift. Die meisten Kollegen wollen erst zum 70. Geburtstag eine Festschrift. Die wenigsten Kollegen wollen gar keine Festschrift.“32)

Keine Festschrift zu erhalten, soll in diesen Kreisen zur Ausnahme geworden sein.33) Bei den sog. Praktikern des Rechts – Richter, Rechtsanwälte, Verwaltungsbeamte u. a. m. – dürfte der Anteil an Festschriftempfängern (der „Befestschrifteten“)34), bezogen auf die Gesamtmenge der Berufsangehörigen, deutlich geringer sein. Aber auch insoweit wurde bereits im Jahre 1989 beklagt, dass Praktiker Festschriften erhielten, die sich zwar berufliche Verdienste, aber keine wissenschaftlichen Meriten erworben hätten; hierin liege eine weitere Ursache für die Vermehrung der Festschriften, die wohl Schule machen werde.35) Es soll Jubilare geben, die den Druck der Festschrift selbst bezahlen.36) Dem Herausgeber oder den Herausgebern der Festschrift obliegt es, dem Aufsatzteil ein Vor- oder Geleitwort voranzustellen, welches den Geehrten und sein Lebenswerk vorstellt und seine Verdienste würdigt. So war bereits 25) 26) 27) 28) 29) 30) 31) 32) 33) 34) 35) 36)

Schulze-Fielitz, DVBl. 2000, 1260, 1262. Lüttger, JR 1989, 309, 311. Schulze-Fielitz, DVBl. 2000, 1260, 1262. v. Münch, NJW 2000, 3253, 3254. Lahusen, myops 4/2008, 64, 65. v. Münch, NJW 2000, 3253, 3254. Schulze-Fielitz, DVBl. 2000, 1260, 1263 Fn. 35. v. Münch, NJW 2000, 3253, 3254. Schulze-Fielitz, DVBl. 2000, 1260, 1263. v. Münch, NJW 2000, 3253. Lüttger, JR 1989, 309, 312. „Entscheidung der Woche“, NJW-aktuell 50/2018, 9.

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die Festschrift für Moritz August von Bethmann-Hollweg im Jahre 1868 aufgebaut.37) Der Senatsbeschluss vom 7. November 201838) zitiert lobende Worte, welche „Hochachtung“ vor dem Beklagten bezeugten. Das in Bezug genommene Geleitwort unterscheidet sich in dieser Hinsicht allerdings nicht wesentlich von anderen Vor- und Geleitworten, was folgende (willkürlich ausgesuchte) Beispiele belegen mögen: Dem damaligen Rechtsanwalt am Bundesgerichtshof Philipp Möhring wurde in einer Festschrift zum 65. Geburtstag (1965)39) bescheinigt, er habe sich neben seinem verantwortungsvollen Amt „mit größtem Erfolg der wissenschaftlichen Arbeit gewidmet“ und so die Verbindung zwischen Theorie und Praxis hergestellt. Im Vorwort zu einer weiteren Festschrift, die ihm zu seinem 75. Geburtstag überreicht wurde (1975), heißt es, die Festschrift sei „der Ausdruck der besonderen Hochschätzung von Person und Werk des Jubilars und Zeichen der Würdigung eines Lebenswerks“. Der Jubilar sei die „personifizierte Mischung von Praxis und Wissenschaft, einer selten anzutreffenden Symbiose“; er sei „zu einer Institution unseres Rechtslebens geworden“, dem die Herausgeber „hohe Achtung und Wertschätzung“ bezeugen wollten.40) Im Vorwort der Festschrift für den damaligen Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof Hans Erich Brandner zum 70. Geburtstag (1996) wird „das Bild eines ungewöhnlich befähigten, unermüdlich tätigen und äußerst erfolgreichen Juristen“ gezeichnet, der „Rechtsprechung, Gesetzgebung und Rechtswissenschaft nachhaltig beeinflusst“ habe. Das Vorwort schließt mit den Sätzen: „Die Zahl der Festschriften mag ausufern. Hans Erich Brandner hat eine solche verdient.“41)

37) 38) 39) 40)

41)

Lahusen, myops 4/2008, 64. BGH, Beschl. v. 7.11.2018 – IX ZA 16/17, Rz. 3 f., ZIP 2018, 2503 = NJW 2019, 308. Zu den Autoren gehörten u. a. die Bundesrichter Albrecht Spengler und Fritz Hauss. Mitgewirkt haben an dieser Festschrift u. a. die damalige Vorsitzende Richterin am BGH Gerda Krüger-Nieland und die damaligen Richter am BGH Helmut Bendler und Karl Bruchhausen. Zu den Autoren gehörten PräsBGH a. D. Gerd Pfeiffer, die pensionierten Vorsitzenden Richter am BGH Karl-Heinz Boujong, Erich Steffen und Walter Stimpel, die pensionierten Bundesrichter Hans-Josef Kullmann und Manfred Skibbe, die damaligen Vorsitzenden Richter am BGH Henning Piper und Rüdiger Rogge und die damaligen Bundesrichter Willi Erdmann, Otto Teplitziky und Eike Ullmann.

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Im Vorwort der Festschrift zum 70. Geburtstag des damaligen Rechtsanwalts beim Bundesgerichtshof Achim Krämer (2009)42) wird der Jubilar als „vir elegantissimus eloquii et multae undecumque scientiae“ bezeichnet, dessen überragendes juristisches Fachwissen sich immer mit einer weitgespannten Allgemeinbildung, insbesondere auf den Gebieten der Kunst, der Musik, der Literatur und vor allem auch der Theologie, gepaart habe. Hingewiesen, wurde auf eine „umfangreiche wissenschaftliche Veröffentlichungs-Tätigkeit“, von welcher das der Festschrift beigefügte „eindrucksvolle Schriftenverzeichnis“ Zeugnis ablege. Festschriften sind geschwungene Weihrauchfässer in Buchform.43) In den ersten, eher spöttisch gehaltenen Berichten über den Senatsbeschluss vom 7. November 201844) kam dieses Vorverständnis recht deutlich zum Ausdruck. „Kein Wunder, dass das Lob für den Geehrten noch überschwänglicher ausfällt als die weitgehend übliche Schönfärberei in Arbeitszeugnissen“, hieß es im Klappentext der NJW. Die im Beschluss enthaltenen Zitate aus dem beanstandeten Geleitwort seien „Poesie“, welche der gegnerischen Partei nicht geschmeckt habe.45) Die Legal Tribune Online46) bildete das sehr gelungene Beispiel eines Vorsitzenden Richters, der als Fan der Dortmunder Borussia allwöchentlich den Namen des BVB-Spielers Marco Reus durch das Stadion brülle und dann über eine Klage gegen diesen Spieler zu entscheiden habe. Die Festschrift sei „das juristisch-akademische Äquivalent zum In-der-Kurve-Stehen-und-Brüllen“. Mal enthalte sie echte akademische Schätze, mal eher Lobhudelei auf das Lebenswerk des Bedachten. In diesem Fall seien es wohl einfach zu viel der salbungsvollen Worte gewesen. Andererseits gibt es durchaus Gegenbeispiele freundlicher oder freundschaftlicher, dabei sachlicher und informativer Vor- und Ge-

42)

43) 44) 45) 46)

Zu den Herausgebern gehörte der damalige Vorsitzende Richter am BGH Joachim Bornkamm, zu den Autoren die (aktuellen und ehemaligen) Vizepräsidenten Wolfgang Schlick und Joachim Wenzel, die Vorsitzenden Richter Katharina Deppert, Wulf Goette, Gerhart Kreft, Gerd Nobbe und Eike Ullmann, die Richter am BGH Hanns Engelhardt und Hans-Peter Greiner und der damalige Richter des BVerfG Reinhard Gaier. Vgl. v. Münch, NJW 2000, 3252, 3255. BGH, Beschl. v. 7.11.2018 – IX ZA 16/17, ZIP 2018, 2503 = NJW 2019, 308. „Entscheidung der Woche“, NJW-aktuell 50/2018, 9. „BGH-Richter nach Festschriftbeitrag befangen: Wer den Beklagten ehrt“, in: Legal Tribune Online, v. 27.11.2018, abrufbar unter https://www.lto.de/persistent/a_id/32349/ (Abrufdatum: 5.7.2019).

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leitworte.47) Wie auch immer: Das Geleitwort einer Festschrift ist nicht der Ort, an welchem man eine kritische oder auch nur sachliche Auseinandersetzung mit Leben und Werk des Geehrten erwarten kann. Autoren der Festschrift sind in der Regel (Fach-)Kollegen, Weggefährten und Freunde. Im Fall des Beklagten handelte es sich ausweislich des Inhaltsverzeichnisses um Insolvenzverwalter, Rechtsanwälte, Richter, Hochschullehrer, Verwaltungsbeamte. Ausgewählt werden die Autoren von den Herausgebern, gelegentlich auch vom Verlag. Im Fall der Festschrift für Moritz August von Bethmann-Hollweg waren die Herausgeber zugleich die Autoren.48) Im Laufe der Jahre wuchs mit dem Umfang der Festschriften auch der Kreis der Autoren und die Zahl der Beiträge.49) Der wachsende Bedarf an Beiträgen bringt eigene Probleme mit sich. Aus dem Hochschulbereich wird berichtet, dass die besonders angesehenen Kollegen von einem bestimmten Lebensalter an einen bedeutenden Anteil ihrer Ressourcen für den wissenschaftlichen Festschriftenbetrieb abstellen müssen.50) Ein anderer Autor beschreibt die sich nach dem Erhalt der Einladung und der Zusage, einen Artikel beizusteuern, einfindenden Gemütszustände mit den Worten „Lust – Last – Ärger – Glanz – Nachgeschmack“.51) Ein dritter Autor bekennt, gelegentlich „überbucht“ zu sein, und erinnert an den Rat einer italienischen Schauspielerin: „Die wichtigsten drei Worte im Leben einer Frau sind nein, nein, nein“.52) Richter, insbesondere Bundesrichter können Anfragen aus dem Kreis potentieller Prozessparteien oder -vertreter künftig natürlich einfach unter Hinweis auf den Senatsbeschluss vom 7. November 201853) ablehnen. Zusagen erfolgen aus unterschiedlichen Gründen. Der Autor kann sich dem Geehrten verpflichtet fühlen, den Herausgebern oder dem Verlag. Einige 47)

48) 49)

50) 51) 52) 53)

Vgl. etwa das Vorwort der Festschrift für Wellensiek zum 80. Geburtstag, 2011; auch die soeben auszugsweise zitierten Vorworte zu den Festschriften der BGH-Anwälte Möhring, Brandner und Krämer gehören durchaus in diese Kategorie. Lahusen, mypos 4/2008, 64: Es handelte sich um die Professoren Georg Beseler, Georg Bruns, Gustav Homeyer, Theodor Mommsen, Adolf Rudorff. Lüttger, JR 1989, 309, 310; der schöne Vorschlag einer mehrbändigen Festschrift mit Ergänzungsband für verspätet eingegangene Beiträge und einer Loseblattausgabe für kommende Geburtstage hat sich bisher nicht durchgesetzt (v. Münch, NJW 2000, 3253, 3256). Schulze-Fielitz, DVBl. 2000, 1260, 1263 m. Beispielen in Fn. 31. Stiefel, JZ 1995, 613, 614. v. Münch, NJW 2000, 3253, 3255. BGH, Beschl. v. 7.11.2018 – IX ZA 16/17, ZIP 2018, 2503 = NJW 2019, 308; unter diesem Gesichtspunkt ist der genannte Beschluss im Kollegenkreis durchaus wohlwollend aufgenommen worden.

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mag die Aussicht auf den Erhalt der Festschrift locken.54) Andere hoffen auf eine Hebung ihrer Reputation55) oder auf ein gutes Essen in angenehmer Gesellschaft anlässlich der Feierstunde zur Übergabe der Festschrift. Der Schluss vom Festschriftbeitrag auf ein Näheverhältnis zum Festschriftempfänger ist sicher unzulässig. Das gilt unabhängig vom Inhalt des Voroder Geleitwortes, welches den Autoren nicht vorab, insbesondere nicht vor der Entscheidung über eine Zu- oder Absage und nicht vor Abfassung des Beitrags bekannt gegeben wird. 3. Einordnung des Falles in das System der Ablehnungsgründe Das Ablehnungsrecht der Parteien ist ein hohes Gut. Es ist Teil des Grundrechts auf den gesetzlichen Richter. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG56) garantiert, dass der Rechtsuchende im Einzelfall vor einem Richter steht, der unabhängig und unparteilich ist und die Gewähr für Neutralität und Distanz gegenüber den Verfahrensbeteiligten bietet. Der Gesetzgeber hat deshalb in materieller Hinsicht Vorsorge dafür zu treffen, dass die Richterbank im Einzelfall nicht mit Richtern besetzt ist, die dem zur Entscheidung anstehenden Streitfall nicht mit der erforderlichen professionellen Distanz eines Unbeteiligten und Neutralen gegenüberstehen. Die materiellen Anforderungen der Verfassungsgarantie verpflichten den Gesetzgeber dazu, Regelungen vorzusehen, die es ermöglichen, einen Richter, der im Einzelfall nicht die Gewähr der Unparteilichkeit bietet, von der Ausübung seines Amtes auszuschließen.57) Diesem Ziel dienen die §§ 41 ff. ZPO. Die Vorschriften der §§ 41 ff. ZPO sind älter als das Grundgesetz. Es gab sie bereits bei Inkrafttreten der ZPO am 1. Oktober 1879. Nach Ansicht der veröffentlichten Gesetzesmaterialien enthielten sie – von Einzelheiten der Ausgestaltung des Ablehnungsrechts abgesehen – eine Selbstverständlichkeit: „Die Vorschriften des vierten Titels über die Ausschließung und Ablehnung der Gerichtspersonen schließen sich auf das engste den Bestimmungen der neueren Prozeßgesetze und Entwürfe (…) an, reproduzieren im Wesentlichen die bewährten Grund-

54) 55) 56) 57)

v. Münch, NJW 2000, 3253, 3255. Vgl. Stiefel, JZ 1995, 613: „Nun beruft mich doch endlich!“ oder „Ich will in den Aufsichtsrat!“. Ähnlich Art. 6 Abs. 1 EMRK. BVerfG, Beschl. v. 21.11.2018 – 1 BvR 436/17, Rz. 17, NJW 2019, 505 m. w. N.; BGH, Beschl. v. 12.10.2011 – V ZR 8/10, Rz. 7, NJW-RR 2012, 61 = MDR 2012, 49; vgl. auch Schwab/Hawickenbrauck, Die Ablehnung eines Richters wegen wissenschaftlicher Stellungnahmen zu entscheidungsrelevanten Rechtsfragen, JZ 2019, 77.

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sätze des bestehenden Rechts und erfordern daher nur in Betreff einzelner Punkte eine nähere Begründung (…)”.58)

Dass ein Richter nicht Partei nehmen darf, steht ja auch schon im Alten Testament: „Du sollst nicht unrecht handeln im Gericht: Du sollst den Geringen nicht vorziehen, aber auch den Großen nicht begünstigen, sondern du sollst deinen Nächsten recht richten.“59)

Nach § 42 Abs. 2 ZPO findet die Ablehnung wegen Befangenheit statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen. Weitere Konkretisierungen sind mit Überlegung unterblieben: „Von einer Aufstellung einzelner Kategorien von Ablehnungsgründen sowie von beispielsweiser Aufzählung einzelner Fälle (…) ist Abstand genommen, da eine solche Spezialisierung in erschöpfender Weise nicht wohl geschehen kann, auch insofern nicht angemessen ist, als die übergangenen Fälle gegen die hervorgehobenen von geringerer Bedeutung erscheinen würden.“60)

Rechtsprechung und Literatur bemühen sich seither um eine Systematisierung der möglichen Ablehnungsgründe, etwa in Anlehnung an die Ausschlusstatbestände des § 41 ZPO.61) Häufig werden personenbezogenen Gründe (die Beziehung des Richters zu einer Partei oder zum Prozessbevollmächtigten einer Partei, die Beziehung des Richters zum Streitgegenstand) und tätigkeitsbezogene Gründe (das Verhalten des Richters im konkreten Verfahren, das außerdienstliches Verhalten des Richters, insbesondere wissenschaftliche Stellungnahmen oder öffentliche Meinungsäußerungen) unterschieden,62) wobei Überschneidungen nicht ausgeschlossen sind. Hinsichtlich des Geleitworts geht der Senatsbeschluss vom 7. November 2018 ausdrücklich nicht von einer besonderen Nähebeziehung zwischen dem unterzeichnenden Mitherausgeber und dem Empfänger der Festschrift aus.63) Er unterstellt auch nicht, dass die geäußerten lobenden Worte ernst 58) 59) 60) 61) 62)

63)

Hahn/Mugdan, Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 2.1, 1881, Neudruck 1983, S. 162. 3. Mose 19, 15 (Luther-Übersetzung 2016). Hahn/Mugdan, Die gesamten Materialien zu den Reichts-Justizgesetzen, Bd. 2.1, 1881, Neudruck 1983, S. 164 zu § 42. Vgl. etwa Stackmann in: MünchKomm-ZPO, 5. Aufl. 2016, § 42 Rz. 7; Graßnack in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 10. Aufl. 2018, § 42 Rz. 7. Vgl. etwa Meinert, Befangenheit im Rechtsstreit, 2015, Rz. 158; Graßnack in: Prütting/ Gehrlein, ZPO, 10. Aufl. 2018, § 42 Rz. 10 ff.; Heinrich in: Musielak/Voit, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 42 Rz. 10 ff. BGH, Beschl. v. 7.11.2018 – IX ZA 16/17, Rz. 4, ZIP 2018, 2503 = NJW 2019, 308.

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gemeint gewesen seien. Vielmehr soll der Umstand, dass sich der abgelehnte Richter in einer Festschrift positiv über die Fähigkeiten und Leistungen des beklagten Verwalters geäußert hat, seine Fähigkeit beeinträchtigen, dessen Verhalten im konkreten Einzelfall mit der nötigen Distanz und Sachlichkeit zu beurteilen. Objektiv gesehen, trifft das sicherlich nicht zu. Es handelt sich um ein außerdienstliches Verhalten ohne Bezug zu dem in Frage stehenden Rechtsstreit, welches das Pflichtgemäße, Angemessene und Übliche,64) wie gezeigt, trotz allem nicht überschreitet. Zudem hat die mehr oder weniger aufrichtig gemeinte Würdigung eines Lebenswerks nichts mit der rechtlichen Beurteilung der Amtsführung des Festschriftempfängers in einem konkreten Fall zu tun.65) Ein guter Ruf und ein hohes fachliches Ansehen schützen nicht vor einer Verurteilung zu Schadensersatz wegen einer einzelnen Pflichtwidrigkeit. Ebenso bedeutet die Verurteilung zu Schadensersatz in einem Einzelfall in aller Regel kein Unwerturteil über Leben und Werk des Betroffenen. Jeder Mensch ist fehlbar. Hinsichtlich der in der Festschrift abgedruckten Fachbeiträge erkennt der Senatsbeschluss vom 7. November 2018 immerhin, dass es sich um Fachbeiträge handelt. Die Teilnahme am wissenschaftlichen Diskurs unabhängig von einem zur Entscheidung stehenden Fall stellt keinen Befangenheitsgrund dar. Das gilt selbst dann, wenn sich der Richter zu einer Rechtsfrage geäußert hat, die im weiteren Verlauf seiner dienstlichen Tätigkeit in einem konkreten Fall entscheidungserheblich wird.66) Ein Fallbezug bestand hier nicht. Den abgelehnten Richtern wird vielmehr der Festschriftbeitrag als solcher vorgeworfen. Mit ihren Beiträgen hätten sie sich in den Dienst einer Sache gestellt, die auf eine Ehrung des Jubilars unter Hervorhebung außergewöhnlicher Verdienste ausgerichtet gewesen sei. Was damit gemeint ist, bleibt unklar. Das Vor- oder Geleitwort einer Festschrift wird den Autoren, wie schon gesagt, nicht vorab bekannt gegeben. Beide abgelehnten Richter sind hoch angesehene und sehr gefragte Autoren und Referenten, die weit mehr als 100 Veröffentlichungen aufzuweisen haben, darunter 15 und 17 Beiträge in Festschriften, die Richtern, Hochschullehrern und auch 64) 65) 66)

Vgl. Graßnack in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 10. Aufl. 2018, § 42 Rz. 27. A. A. wohl Conrad, Richterablehnung: Mitwirkung an juristischer Festschrift bzw. Kommentar als Ablehnungsgrund, MDR 2019, 211, 212. Vgl. § 18 Abs. 3 Nr. 2 BVerfGG und dazu BVerfG, Beschl. v. 11.10.2011 – 2 BvR 1010/10, Rz. 18, NJW 2011, 3637 m. w. N.; BGH, Beschl. v. 13.1.2003 – XI ZR 357/01, WM 2003, 848, 849; ebenso Schwab/Hawickenbrauck JZ 2019, 77 f. m. w. N. unter der Voraussetzung, dass die Grundsätze des wissenschaftlichen Diskurses eingehalten werden; Meinert, Befangenheit im Rechtsstreit, Rz. 168 m. w. N.

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Insolvenzverwaltern gewidmet sind. Sie haben an einer Festschrift mitgewirkt, die sich aus ihrer Sicht nicht von anderen Festschriften unterscheiden würde und die sich, wie gezeigt, von anderen Festschriften des 21. Jahrhunderts auch nicht wesentlich unterschied. Ihre Beiträge hätten auch in einer Fachzeitschrift, einer anderen Festschrift oder in einem Sammelband erscheinen können. Ein Beitrag ist tatsächlich auch anderweitig veröffentlicht worden. Es ist nicht ersichtlich, in welcher Hinsicht ihr Verhalten für einen Richter nicht pflichtgemäß, angemessen und üblich gewesen sein könnte. 4. Parteiobjektiver Maßstab Ob ein Befangenheitsgrund vorliegt, ist allerdings nicht rein objektiv zu entscheiden. Es kommt darauf an, ob ein am Verfahren Beteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass hat, an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln.67) Rein subjektive, unvernünftige Vorstellungen und Gedanken der ablehnenden Partei reichen nicht aus. Erforderlich ist vielmehr eine gewisse Objektivierbarkeit der subjektiv empfundenen Gefahrenlage.68) Die Formulierungen wechseln: „Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters ist gerechtfertigt, wenn ein besonnen prüfender Beteiligter, der seine Interessen auch in einer für ihn schwierigen verfahrensrechtlichen Lage zwar aufmerksam, aber nicht überempfindlich wahrnimmt, aus objektiven Gründen auf die Voreingenommenheit des Richters schließen kann. Einerseits eignen sich rein subjektive Befindlichkeiten des Ablehnenden, die einem Dritten nicht vermittelbar und für ihn nicht nachvollziehbar sind, nicht zur Begründung der Befangenheitssorge. Andererseits kommt es auf eine tatsächliche Voreingenommenheit oder Parteilichkeit des abgelehnten Richters nicht an, sondern allein auf den äußeren Anschein von Befangenheit, von dem das Verfahren freigehalten werden soll.“69)

67)

68)

69)

BVerfG, Beschl. v. 5.4.1990 – 2 BvR 413/88, BVerfGE 82, 30, 38 = NJW 1990, 2457; BVerfG, Beschl. v. 6.7.1999 – 2 BvF 2/98, 2 BvF 3/98, 2 BvF 1/99, 2 BvF 2/99, BVerfGE 101, 46, 51 = NJW 1999, 2801; BVerfG, Beschl. v. 21.11.2018 – 1 BvR 436/17, Rz. 20, NJW 2019, 505; BGH, Beschl. v. 14.5.2002 – XI ZR 322/01, VuR 2003, 391; BGH, Beschl. v. 12.10.2011 – V ZR 8/10, Rz. 5, NJW-RR 2012, 61 = MDR 2012, 49; BGH, Beschl v. 18.12.2014 – IX ZB 65/13, Rz. 11, WM 2015, 788 = NJW-RR 2015, 444; BGH, Beschl. v. 21.6.2018 – I ZB 58/17, Rz. 10, NJW 2019, 526 = MDR 2018, 1522; Grasnack in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 10. Aufl. 2018, § 42 Rz. 5; ausführlich Günther, „Persönliche Spannungen“ als Ablehnungsgrund, ZZP 105 (1992), 20, 21 ff. Günther, ZZP 105 (1994), 20, 23 f. unter Hinweis auf den Hannoveraner Entwurf einer Allgemeinen Civilprozeßordnung für die deutschen Bundesstaaten, auf den die oben zitierten Materialien zur ZPO Bezug nehmen. OLG Brandenburg, Beschl. v. 5.3.2018 – 13 WF 48/18, FamRZ 2018, 1088.

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Dieser „parteiobjektive“ Maßstab70) wird gelegentlich kritisiert. Bei der „ruhig und vernünftig denkenden Partei“ handele es sich um eine Projektion, eine Idealfigur. Die wirkliche Besorgnis des Ablehnenden werde nicht thematisiert, obwohl es sich bei der psychischen Reaktion eines Ablehnenden immer um eine extrem individuelle Sensibilisierung handele. Eine empfindliche Partei sei nicht weniger schutzwürdig als eine robuste Partei.71) Außerdem entscheide ein Dritter, nämlich das Gericht in seiner über den Ablehnungsantrag entscheidungsbefugten Besetzung. Die Befangenheit hänge wesentlich davon ab, ob das Gericht sich der Parteimeinung anschließe und anschließen dürfe.72) Diese Kritik hat in der Rechtsprechung zu Recht keinen Widerhall gefunden. Die Zuständigkeit für die Entscheidung über das Ablehnungsgesuch folgt aus § 45 ZPO. Der Gesetzgeber hat die Entscheidung über den Ablehnungsantrag dem Gericht übertragen, dem der abgelehnte Richter angehört. Die Ablehnung allein reicht gerade nicht aus, um zu erreichen, dass ein anderer Richter in der Sache tätig wird. Das zur Entscheidung berufene Gericht prüft vielmehr, ob ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu rechtfertigen (§ 42 Abs. 2 ZPO). Die hierauf bezogene „Eignung“ des im Antrag angegebenen Grundes kann nur objektiv bestimmt werden. Maßstab ist die durchschnittlich verständige Partei.73) Andernfalls würde jeglicher Willkür Tür und Tor geöffnet. Wichtiger ist die Frage nach dem Kenntnisstand der durchschnittlich verständigen Partei, insbesondere dann, wenn der Ablehnungsantrag, wie hier, von einer nicht anwaltlich vertretenen Partei gestellt worden ist. Kenntnisse der ZPO und der Gepflogenheiten bei Gericht können regelmäßig nicht vorausgesetzt werden. Die Partei kann sich etwa durch einen Beweisbeschluss benachteiligt fühlen, der ergangen ist, obwohl sie dem Gericht den Sachverhalt gut erklärt hat und die Gegenpartei nicht die Wahrheit sagt. Gleichwohl bliebe ein auf diesen Vorgang bestützter Befangenheitsantrag ohne Erfolg. Die richtige Anwendung des Verfahrensrechts kann niemals die Besorgnis der Befangenheit begründen. Gelegentlich wird verlangt zu berücksichtigen, dass sich die Partei in der für sie ungewohnten Rolle eines Prozessbeteiligten befinde.74) Dies trifft jedenfalls dann nicht zu, wenn 70) 71) 72) 73) 74)

Hartmann in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 77. Aufl. 2019, § 42 Rz. 10. Schneider, Das Vorgehen bei der Richterablehnung, MDR 2005, 671. Hartmann in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 77. Aufl. 2019, § 42 Rz. 10. Meinert, Befangenheit im Rechtsstreit, 2015, Rz. 154. Gerken in: Wieczorek/Schütze, ZPO, 4. Aufl. 2015, § 42 Rz. 5.

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es um Rechtsanwendung geht. Auf eine unrichtige Rechtsanwendung kann die Ablehnung (nur) dann gestützt werden, wenn die Auslegung des Gesetzes oder dessen Handhabung im Einzelfall willkürlich oder offensichtlich unhaltbar ist.75) Grundsätzlich ist das Ablehnungsrecht aber kein Instrument der Richtigkeitskontrolle. Auf den Kenntnisstand der Partei kommt es auch dann nicht an, wenn es um der Partei nachteilige Rechtsansichten geht, die in einem rechtlichen Hinweis enthalten, in einem bereits beendeten Rechtsstreit vertreten oder, wie schon gesagt, unabhängig vom anhängigen Verfahren als Beitrag zum wissenschaftlichen Diskurs geäußert worden sind.76) Jegliche Meinungsäußerung kommt nicht umhin, abweichende Positionen zu verwerfen und den Argumenten, welche für die eigene Meinung sprechen, den Vorzug vor den Überlegungen der Gegenansichten zu geben.77) Die nicht anwaltlich vertretene Partei mag diese Zusammenhänge nicht verstehen. Trotzdem hat ein hierauf gestützter Ablehnungsantrag – wenn nicht sonstige Umstände hinzutreten – keine Aussicht auf Erfolg. Das oben beschriebene „Festschriftenwesen“, welches mit dem Alltagsgeschäft der Beteiligten nichts zu tun hat, mag der nicht anwaltlich vertretenen Naturalpartei ebenfalls nicht vertraut sein. Warum es hierauf – anders als bei einer grundsätzlich unbedenklichen wissenschaftlicher Betätigung oder auch bei einer Mitautorenschaft in einem von der gegnerischen Partei herausgegebenen Kommentar – aber ankommen soll, hätte einer gesonderten Begründung bedurft. Der vielzitierten vernünftigen, sachlich urteilenden Partei wäre aufgefallen, dass der den Antrag auf Prozesskostenhilfe ablehnende Beschluss allein die tatsächlichen Voraussetzungen des § 116 Satz 1 Nr. 2 ZPO betraf, die nach der beigefügten ausführlichen Begründung offensichtlich nicht gegeben waren. Schon diesen Punkt haben die Klägerinnen nicht nachvollzogen. In ihren umfänglichen, mehrfach ergänzten Ablehnungsgesuchen haben sie der Festschrift und insbesondere dem beanstandeten Geleitwort ihre eigene, außerordentlich negative und die Grenzen der §§ 185 ff. StGB nicht nur streifende Würdigung des Beklagten gegenübergestellt. Aus ihrer Sicht 75) 76)

77)

BGH, Beschl. v. 12.10.2011 – V ZR 8/10, Rz. 7, NJW-RR 2012, 61 = MDR 2012, 49. Vgl. etwa BGH, Beschl. v. 14.5.2002 – XI ZR 322/01, VuR 2003, 391; BGH, Beschl. v. 14.5.2002 – XI ZR 388/01, NJW 2002, 2396; BGH, Beschl. v. 13.1.2016 – VII ZR 36/14, Rz. 11, NJW 2016, 1022 = WM 2016, 1198; Bork in: Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2015, § 42 Rz. 10; teils kritisch Schwab/Hawickenbrauck, JZ 2019, 77, 79. Schwab/Hawickenbrauck, JZ 2019, 77.

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hatte der Beklagte keine Festschrift verdient. Das kann man so sehen, ist aber kein Ablehnungsgrund. IV. Fazit Seit Jahrzehnten werden nicht nur Hochschullehrer, sondern auch verdiente Praktiker mit Festschriften geehrt. Richter leisten hierzu ihren Beitrag. Mit Ausnahme des Senatsbeschlusses vom 7. November 201878) hat dieser Brauch niemals zu Beanstandungen geführt. Ablehnungen hat es nicht gegeben. Dabei sollte es bleiben.

78)

BGH, Beschl. v. 7.11.2018 – IX ZA 16/17, ZIP 2018, 2503 = NJW 2019, 308.

Roma locuta, causa finita? – Folgefragen aus dem Urteil des Bundesgerichtshofes zur Haftung der Geschäftsleiter in der Eigenverwaltung – STEPHAN MADAUS Inhaltsübersicht I.

Die Ausgangslage – Die insolvenzrechtliche Haftung der Geschäftsleitung bei Eigenverwaltung II. Der Begriff des „Geschäftsleiters“ III. Die Geschäftsleiterhaftung analog § 60 InsO im eröffneten Verfahren in Eigenverwaltung 1. Grundlagen der Verwalterhaftung nach § 60 InsO 2. Übertragung auf die Eigenverwaltung a) Der Generalbevollmächtigte haftet (grundsätzlich) nicht b) Ressortverantwortlichkeit in mehrgliedrigen Geschäftsleitungen IV. Die Geschäftsleiterhaftung analog § 61 InsO im eröffneten Verfahren in Eigenverwaltung 1. Grundlagen der Verwalterhaftung nach § 61 InsO

2. Übertragung auf die Eigenverwaltung a) Der Generalbevollmächtigte haftet (grundsätzlich) nicht b) Ressortverantwortlichkeit in mehrgliedrigen Geschäftsleitungen V. Die Geschäftsleiterhaftung in der vorläufigen Eigenverwaltung 1. Die Pflichtenbindung in der werbenden Gesellschaft 2. Die insolvenzrechtliche Pflichtenbindung in der vorläufigen Insolvenzverwaltung 3. Die Pflichtenbindung in der vorläufigen Eigenverwaltung 4. Die Haftung für Masseverbindlichkeiten aus der vorläufigen Eigenverwaltung VI. Fazit

Die Rechtsprechung des IX. Zivilsenats der letzten Jahre wurde maßgeblich durch die Arbeit des Jubilars geprägt. Dabei galt es insbesondere die vielen offenen Fragen zu klären, die die ESUG-Reform gestellt hat. Zugleich war und ist Geduld gefragt, hat die Beschränkung der Rechtsbeschwerde zum Bundesgerichtshof doch dazu geführt, dass dem Senat nur noch vergleichsweise selten überhaupt Gelegenheit gegeben wird, Antworten zu geben. Umso bedeutender ist die aktive Beteiligung der Richter am Meinungsaustausch in der Fachöffentlichkeit, die der Jubilar nicht nur gern, sondern auch in inhaltlich geistreicher Weise genutzt hat. Das Bemühen, Rechtsprechungslinien über den konkret entschiedenen Fall hinaus zu erläutern, ist zu würdigen und hat Maßstäbe gesetzt. Dieser Beitrag will diesem Beispiel folgen und versucht, aus der Grundsatzentscheidung zur Geschäftsleiterhaftung in der Eigenverwal-

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tung Linien herauszuarbeiten, anhand derer offengebliebene Fragen künftig entschieden werden könnten. I. Die Ausgangslage – Die insolvenzrechtliche Haftung der Geschäftsleitung bei Eigenverwaltung Mit dem Urteil des Bundesgerichtshofes vom 26. April 20181) ist die Grundfrage einer Haftung der Geschäftsleitung vorerst entschieden. Ist der insolvente Schuldner eine Gesellschaft und wird bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens über ihr Vermögen die Eigenverwaltung angeordnet, so haften die „Geschäftsleiter“ der Gesellschaft nicht nur nach den allgemeinen zivil- und gesellschaftsrechtlichen Regeln, sondern auch in analoger Anwendung der §§ 60 und 61 InsO. Zulässigkeit wie auch Zweckmäßigkeit dieser (doppelten) Analogie waren überaus streitig;2) sie sind vom Bundesgerichtshof zu Recht und mit detailreicher Begründung bejaht worden. In der Eigenverwaltung einer Gesellschaft lässt sich die insolvenzrechtliche Haftung des Eigenverwalters nun nicht mehr auf die Gesellschaft begrenzen. Die „Geschäftsleiter” haften ebenso. Akzeptiert man diesen Ausgangsbefund, so stellt sich die Frage, wer die Geschäftsleiter sind und inwieweit sich deren Haftung steuern lässt. II. Der Begriff des „Geschäftsleiters“ Die Antwort auf die Frage, wer als „Geschäftsleiter” analog § 60 InsO in der Eigenverwaltung haftet, wird vom Bundesgerichtshof nicht explizit beantwortet. Zum Teil scheint er den Begriff eher zufällig mit dem des Organs zu ersetzen.3) Tatsächlich wird der Begriff des Geschäftsleiters in den Normen des Gesellschaftsrechts nicht durchgehend oder gar stringent verwendet. Er hat seine Heimat im Aufsichtsrecht. Prominent definiert wird er in § 1 Abs. 2 KWG: „Geschäftsleiter im Sinne dieses Gesetzes sind diejenigen natürlichen Personen, die nach Gesetz, Satzung oder Gesellschaftsvertrag zur Führung der Geschäfte und zur Vertretung eines Instituts oder eines Unternehmens in der Rechtsform einer juristischen Person oder einer Personenhandelsgesellschaft berufen sind.“

1) 2) 3)

BGH, Urt. v. 26.4.2018 – IX ZR 238/17, ZIP 2018, 977, m. Anm. Bitter. Ausführliche Nachweise BGH, Urt. v. 26.4.2018 – IX ZR 238/17, Rz. 47, ZIP 2018, 977, m. Anm. Bitter. Darauf hinweisend Horstkotte, Was ist eigentlich ein „Geschäftsleiter“?, ZInsO 2018, 2329 f.

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Geschäftsleiter sind mithin die Organe der Gesellschaft i. S. der gesellschaftsrechtlichen Organtheorie.4) Ein synonymes Verständnis beider Begriffe ist insofern naheliegend. Sie wird als Ausgangspunkt auch zur Bestimmung der Reichweite der Haftung in der Eigenverwaltung dienen können. In den Grenzbereichen bleibt eine rein begriffliche Bestimmung des „Geschäftsleiters“ allerdings zu schematisch. Hier wird man die durchaus unterschiedlichen Haftungsfunktionen der §§ 60, 61 InsO in die Betrachtung einbeziehen müssen, um zu sachgerechten Lösungen zu gelangen. Schon der methodische Zugang über die Analogie zwingt den Rechtsanwender dazu, die Vergleichbarkeit der Interessenlage für den jeweiligen Geschäftsleiter positiv festzustellen. Hierzu muss in einem ersten Schritt herausgearbeitet werden, welche Interessen durch die Haftung des Insolvenzverwalters gemäß der §§ 60, 61 InsO bedient werden, um dann in einem zweiten Schritt zu schauen, bei welchen Personen in der „Geschäftsleitung“ des eigenverwaltenden Schuldners tatsächlich im Einzelfall eine vergleichbare Interessenlage besteht. Dabei werden diese Prüfungsschritte bei beiden Haftungstatbeständen jeweils gesondert vorzunehmen sein. Wir beginnen die Untersuchung mit der Insolvenzverwalterhaftung nach § 60 InsO. III. Die Geschäftsleiterhaftung analog § 60 InsO im eröffneten Verfahren in Eigenverwaltung Der Haftungstatbestand des § 60 InsO lautet wie folgt: „(1) 1Der Insolvenzverwalter ist allen Beteiligten zum Schadenersatz verpflichtet, wenn er schuldhaft die Pflichten verletzt, die ihm nach diesem Gesetz obliegen. 2Er hat für die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Insolvenzverwalters einzustehen. (2) Soweit er zur Erfüllung der ihm als Verwalter obliegenden Pflichten Angestellte des Schuldners im Rahmen ihrer bisherigen Tätigkeit einsetzen muß und diese Angestellten nicht offensichtlich ungeeignet sind, hat der Verwalter ein Verschulden dieser Personen nicht gemäß § 278 des Bürgerlichen Gesetzbuchs zu vertreten, sondern ist nur für deren Überwachung und für Entscheidungen von besonderer Bedeutung verantwortlich.“

1. Grundlagen der Verwalterhaftung nach § 60 InsO Die Rechtsnatur der Verwalterhaftung ist streitig, soweit es um deren Charakterisierung als deliktisch oder deliktsähnlich aus einem gesetzlichen 4)

Vgl. Leuschner in: MünchKomm-BGB, 8. Aufl. 2018, § 31 Rz. 1 m. w. N.

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Schuldverhältnis geht.5) Unstreitig ist, dass die Verwalterhaftung aus § 60 InsO an die Amtsstellung des Verwalters anknüpft (Amtsträgeraspekt). Der Verwalter haftet aufgrund seiner Amtsbefugnisse über fremdes Vermögen und den daraus folgenden Gefährdungen für die Vermögensinteressen der „Beteiligten“. Die Haftung setzt folgerichtig die Verletzung insolvenzspezifischer, also amtsspezifischer Pflichten voraus.6) Ob daraus (nur) ein Gesamtschaden kraft Masseminderung oder auch ein Individualschaden entsteht, ist dann nur für die Bestimmung des Kreises der Anspruchsberechtigten relevant.7) Die vieldiskutierte Nähe der Verwalterhaftung zum Deliktsrecht erklärt sich aus dem zweiten wesensprägenden Aspekt. Die Verwalterhaftung ist stets Handelndenhaftung (Handelndenaspekt). Der Insolvenzverwalter nimmt sein Amt als natürliche Person wahr (§ 56 Abs. 1 InsO), was bedeutet, dass er mit seinem gesamten Privatvermögen für seine Handlungen in Erfüllung seiner Amtspflichten haftet.8) Bedient er sich insoweit Hilfspersonen, haftet er für deren Handeln über § 278 BGB, soweit nicht § 60 Abs. 2 InsO einschlägig ist. Der Verwalter haftet aus § 60 InsO also weder mit dem verwalteten Vermögen noch mit dem Vermögen der Kanzlei oder Gesellschaft, der er angehört. Die Haftung aus § 60 InsO führt daher stets zur Verhaftung einer Vermögensmasse jenseits der Insolvenzmasse – der des handelnden Insolvenzverwalters. 2. Übertragung auf die Eigenverwaltung Überträgt man die so in § 60 InsO gestaltete Interessenlage auf die Eigenverwaltung einer Gesellschaft, so findet man auf den ersten Blick schon keinen Amtsträger mit der insolvenzspezifischen Kompetenz zur Verwaltung der Insolvenzmasse. Beide Aspekte scheinen hier auseinanderzufal5)

6)

7) 8)

Siehe BGH, Urt. v. 3.3.2016 – IX ZR 119/15, Rz. 19, ZIP 2016, 727 = NZI 2016, 352; BGH, Urt. v. 17.1.1985 – IX ZR 59/84, 2. e), BGHZ 93, 278, 284 = ZIP 1985, 359; siehe auch K. Schmidt, „Amtshaftung“ und „interne Verantwortlichkeit“ des Konkursverwalters – Eine Analyse des § 82 KO, KTS 1976, 191 ff.; Gerhardt in: Jaeger, InsO, 2007, § 60 Rz. 13 ff. Allg. A., vgl. BGH, Urt. v. 25.1.2007 – IX ZR 216/05, Rz. 7, ZIP 2007, 539; auch BGH, Urt. v. 25.9.2008 – IX ZR 235/07, Rz. 3, ZIP 2008, 2126 = NZI 2008, 735; Sinz in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 60 Rz. 12. Siehe Lüke in: Kübler/Prütting/Bork, 76. EL 5/2018, § 60 InsO Rz. 30; Sinz in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 60 Rz. 118. BGH, Urt. v. 26.4.2018 – IX ZR 238/17, Rz. 34 a. E., ZIP 2018, 977; BGH, Beschl. v. 19.9.2013 – IX AR (VZ) 1/12, Rz. 27, BGHZ 198, 225 = ZIP 2013, 2070.

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len. Mit dem bestellten Sachwalter findet sich zwar ein Amtsträger, diesem fehlt eben die Verwaltungskompetenz für die Insolvenzmasse. Diese Verwaltungskompetenz bleibt in der Eigenverwaltung beim Schuldner, im Fall einer Schuldnergesellschaft also bei dieser. Insoweit ist dann allerdings der Handelndenaspekt zu beachten, der nach einem haftenden Drittvermögen und damit nach einer Anknüpfung an eine natürliche Person verlangt. Diese Handelndenhaftung trifft daher nicht die Gesellschaft, sondern deren Organe. Findet sich dann wiederum eine Gesellschaft in der Organstellung, wie etwa bei einer GmbH & Co. KG, so ist das für den Aspekt der Handelndenhaftung irrelevant; sie trifft stets die als Verwalter handelnde natürliche Person, ggf. also das Organ der Gesellschaft in Organstellung einer anderen Gesellschaft. Für die Eigenverwaltung ist damit typisch, dass die formale Amtsträgerschaft von der Verwaltungsbefugnis getrennt wird. Dies bedeutet aber nicht, dass die Verwaltung der Insolvenzmasse nun frei von den insolvenzspezifischen Pflichten der InsO erfolgen darf. Die Pflichtenbindung folgt der Verwaltungsbefugnis – jedenfalls im eröffneten Verfahren9) (für das Eröffnungsverfahren siehe unten IV.). Der Handelndenaspekt des § 60 InsO verlangt insofern nach einer natürlichen Person als Verwalter. Bei Schuldnergesellschaften ist es damit erst die gesellschaftsrechtliche Konstruktion der Organe, d. h. der verfassungsmäßig berufenen Vertreter i. S. des § 31 BGB, die sicherstellt, dass die insolvenzspezifischen Pflichten durch natürliche Personen tatsächlich erfüllt werden. Man darf insofern zu Recht auch vom Eigenverwalter sprechen, auch wenn im Fall der Eigenverwaltung einer Schuldnergesellschaft nicht der oder die einzelnen Organmitglieder unmittelbar als Eigenverwalter „bestellt“ werden.10) Eine Besonderheit besteht schließlich darin, dass auch im Fall der Eigenverwaltung die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens stets zur Auflösung der Gesellschaft führt. Ihre Organe handeln insofern fortan als Liquidatoren, die im Insolvenzfall das besondere Liquidationsprogramm der InsO erfüllen 9)

10)

BGH, Urt. v. 26.4.2018 – IX ZR 238/17, Rz. 53, ZIP 2018, 977; Undritz in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 270 Rz. 17 (wohl unstreitig). Schon die Gesetzesbegründung zum ESUG enthielt die Aussage, dass in der Eigenverwaltung die Führung der Geschäfte „(…) an den Interessen der Gläubiger auszurichten (…)“ sei; vgl. Begr. RegE ESUG z. § 276a, BT-Drucks. 17/5712, S. 42. Begr. RegE ESUG z. § 276a, BT-Drucks. 17/5712, S. 42: „Die Eigenverwaltung wird bei einer Gesellschaft nicht für eine bestimmte natürliche Person als Geschäftsleiter angeordnet, sondern sie betrifft die (jeweilige) Geschäftsleitung der insolventen Gesellschaft.“

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müssen. Ihr Austausch ist folgerichtig nicht mehr allein nach gesellschaftsrechtlichen Regeln möglich (vgl. § 276a InsO). Ob die damit – jedenfalls im eröffneten Verfahren wohl unstreitige – Pflichtenbindung in dogmatischer Hinsicht auch dazu führt, den Organen der eigenverwaltenden Schuldnergesellschaft unmittelbar eine formale Amtsträgerschaft in der Eigenverwaltung zuzuweisen, scheint für die Behandlung der Haftungsfrage nicht mehr von Bedeutung. Der jede Haftung nach § 60 InsO prägende Amtsträgeraspekt wäre hinreichend durch die Pflichtenbindung der Handelnden abgebildet. Allerdings spricht die durch die Pflichtenbindung insolvenzrechtlich geprägte Rechtsstellung des Schuldners in der Eigenverwaltung in der Tat für die Annahme einer Amtsträgerschaft.11) Bei einer Schuldnergesellschaft würde dieses Amt durch die Organe wahrgenommen. a) Der Generalbevollmächtigte haftet (grundsätzlich) nicht Der aufgezeigte Regelungshintergrund des § 60 InsO macht bereits deutlich, wer in der Eigenverwaltung nicht analog § 60 InsO haften kann. Personen, die nicht in die Organstellung gehen, werden nicht von den amtsspezifischen Pflichten der InsO erfasst, aus denen die Haftung resultiert. Die Entscheidung gegen die Organstellung ist damit eine Entscheidung gegen die Haftung analog § 60 InsO. Insbesondere Generalbevollmächtigte oder Prokuristen der Schuldnergesellschaft werden mithin nicht unmittelbar von ihr erfasst.12) Dies gilt selbst in den Fällen, in denen die Organe der Gesellschaft die Wahrnehmung insolvenzspezifischer Kompetenzen und die Erfüllung insolvenzspezifischer Pflichten bewusst auf solche Personen übertragen. Die fehlende haftungsrechtliche Relevanz solcher Maßnahmen folgt aus der 11)

12)

So für den Schuldner etwa auch Haas in: Gottwald, Insolvenzrechts-Hdb., 5. Aufl. 2015, § 90 Rz. 3; Häsemeyer, Insolvenzrecht, 4. Aufl. 2007, Rz. 8.13; Smid, Sanierungsverfahren nach dem neuen Insolvenzrecht, WM 1998, 2489, 2510; Tetzlaff in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2014, § 270 Rz. 141; Undritz in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 270 Rz. 17; Zipperer in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 270 Rz. 12. Ebenso Bachmann/Becker, Haftung des Insolvenz-Geschäftsführers in der Eigenverwaltung, NJW 2018, 2235, 2237; Bitter, Zur Haftung des Geschäftsführers einer GmbH bei Anordnung der Eigenverwaltung, ZIP 2018, 986, 988; Weber, Analoge Anwendung der Haftungsnormen aus §§ 60, 61 InsO auf die Geschäftsleiter von eigenverwaltenden Schuldnern, NZI 2018, 553, 555 f.; a. A. aber etwa Baumert, LMK 2018, 407918 (Urteilsanm.); auch Taras/Jungclaus, Haftung der Geschäftsleitung in der Eigenverwaltung, NJW-Spezial 2018, 405, 406.

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fehlenden Möglichkeit zur haftungsbefreienden Delegation der Amtspflichten, die sich im Umkehrschluss aus § 60 Abs. 2 InsO ergibt. Hilfspersonen des Amtsträgers werden nicht selbst Amtsträger mit der Folge einer Außenhaftung nach § 60 InsO; sie haften nur intern gegenüber ihrem Geschäftsherrn, der wiederum über § 278 BGB extern für entstandene Schäden einzustehen hat.13) Generalbevollmächtigte, denen in der Eigenverwaltung die Erfüllung insolvenzspezifischer Pflichten übertragen wird, haften bei Pflichtverletzungen folglich nicht analog § 60 InsO den geschädigten Beteiligten, sondern nur der beauftragenden Gesellschaft im Innenverhältnis. Die Außenhaftung beschränkt sich auf die Gesellschaftsorgane. Das Fehlen einer Durchgriffshaftung hat dann natürlich zur Folge, dass die Bedingungen einer Rückgriffshaftung des Generalbevollmächtigten für Fehler zwischen ihm und der Gesellschaft frei vertraglich gestaltet werden können.14) Hier besteht dieselbe Gestaltungsfreiheit wie in Fragen der Festlegung des Aufgabenbereichs des Bevollmächtigten oder in Fragen seiner Vergütung. Eine Sonderkonstellation wird erst dann erreicht, wenn der Bevollmächtigte über die Rechtsfigur des „faktischen Geschäftsführers“ haftungsrechtlich in die Organstellung gelangt. Dann haftet er als Organ auch analog § 60 InsO.15) Hierzu müssen aber die gesellschaftsrechtlichen Anforderungen an eine faktische Geschäftsführung erfüllt sein. Dies erfordert ein eigenes Auftreten nach außen, das die Tätigkeit des rechtlichen Geschäftsführungsorgans nachhaltig prägt und dessen Gesamterscheinungsbild den Eindruck erweckt, dass der Betreffende die Geschicke der Gesellschaft durch eigenes Handeln im Außenverhältnis maßgeblich in die Hand genommen hat.16) Der Generalbevollmächtigte müsste also im Außenverhältnis die Geschicke der Schuldnergesellschaft nicht nur im Hinblick auf das Insolvenzverfahren, sondern auch im täglichen Geschäftsbetrieb dominant leiten. Dies ist in der heutigen Restrukturierungspraxis regelmäßig nicht der Fall.17) Dann scheidet eine Haftung aus diesem Gesichtspunkt aus.18) 13) 14) 15) 16) 17) 18)

BGH, Urt. v. 3.3.2016 – IX ZR 119/15, Rz. 19, ZIP 2016, 727 = NZI 2016, 352; Zipperer in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 60 Rz. 99. Darauf hinweisend Horstkotte, ZInsO 2018, 2329, 2332. Ebenso Bitter, ZIP 2018, 986, 988; Taras/Jungclaus, NJW-Spezial 2018, 405, 406; mit Vorsicht auch Thole, EWIR 2018, 339, 340 (Urteilsanm.). BGH, Urt. v. 11.7.2005 – II ZR 235/03, ZIP 2005, 1550 = NZI 2006, 63. Darauf hinweisend Horstkotte, ZInsO 2018, 2329, 2331. Anders (und in seiner Pauschalität zu weitgehend) aber Baumert, LMK 2018, 407918 (Urteilsanm.) – „faktischer Eigenverwalter“.

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b) Ressortverantwortlichkeit in mehrgliedrigen Geschäftsleitungen Die Geschäftsleiterhaftung analog § 60 InsO erfasst alle Personen in Organstellung bei der Schuldnergesellschaft. Ist hier nicht nur eine Person tätig, sondern eine Mehrzahl an Vorständen oder auch Geschäftsführern bestellt, so ist zu klären, ob auch alle der Haftung unterfallen bzw. ob sich die Haftung der einzelnen Personen in mehrgliedrigen Geschäftsleitungen effektiv begrenzen lässt. Der Amtsträgeraspekt der Haftung aus § 60 InsO spricht hier zunächst gegen eine subjektive Haftungsbegrenzung, sind doch alle Organe der Schuldnergesellschaft auch Organe des Amtsträgers in der Eigenverwaltung. Ansatzpunkt kann daher nur der Handelndenaspekt sein. Insbesondere die Bestellung einer Person in der Geschäftsleitung, der unter der Bezeichnung als CRO („Chief Restructuring Officer“) oder CIO („Chief Insolvency Officer“) allein die Erfüllung insolvenzspezifischer Pflichten übertragen wird, scheint hier ein tragfähiger Ansatz. Dem steht jedenfalls nicht die fehlende Möglichkeit einer haftungsbefreienden Delegation entgegen, liegt doch in der Kompetenzzuweisung innerhalb der Geschäftsleitung keine Delegation auf eine Hilfsperson. Die Situation ist insbesondere nicht vergleichbar mit der eines Insolvenzverwalters, der sich zur Abwicklung des Verfahrens weitgehend seines ebenfalls als Verwalter gelisteten Kollegen in der Sozietät als „Schattenverwalter“ oder „Grauverwalter“ bedient. Es geht hier vielmehr um den haftungsrechtlichen Umgang mit einer Mehrheit an Amtsträgern, die sich im Regelinsolvenzverfahren nur im Fall der Bestellung von Sonderinsolvenzverwaltern findet. Für diese Konstellation ist anerkannt, dass jeder dieser Verwalter nur für die Schäden aus § 60 InsO haftet, die er durch seine Pflichtverletzungen in seinem Pflichtenkreis verursacht. Eine Mithaftung für die Pflichtverletzungen des anderen findet sich nicht; ebenso wenig eine Zurechnung über § 278 BGB. Es gilt der Grundsatz der eigenen Haftungsverantwortung.19) Dieser insolvenzrechtliche Haftungsgrundsatz bei Amtsträgermehrheit deckt sich mit dem gesellschaftsrechtlichen bei Organmehrheit. Auch hier gilt der Grundsatz der Ressortverantwortlichkeit. Dieser besagt, dass dem einzelnen Geschäftsführer nicht auch das pflicht- und sorgfaltswidrige 19)

Ries in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, InsO § 56 Rz. 65; auch Lüke in: Kübler/ Prütting/Bork, InsO, 76. EL 5/2018, § 56 Rz. 78.

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Verhalten seiner Mitgeschäftsführer zugerechnet werden kann.20) Diese haftungsrechtliche Entlastung setzt allerdings voraus, dass es dem betreffenden Mitglied der Geschäftsführung aufgrund der Geschäftsverteilung verwehrt ist, in die Tätigkeitsbereiche der anderen Mitglieder einzugreifen. Zugleich folgt für den Vorstand einer AG auch in diesen Fällen aus dem Grundsatz der Gesamtverantwortung des Vorstandes eine Pflicht zur allgemeinen Beaufsichtigung.21) Eine strenge automatische Mithaftung der Privatvermögen der anderen Geschäftsleiter findet mithin weder im Gesellschafts- noch im Insolvenzrecht ein Vorbild. Es solche Mithaftung im Wege der Geschäftsleiterhaftung analog § 60 InsO zu konstruieren, würde mithin eine überschießende Haftungsfolge erzeugen. Richtigerweise ist im Einzelfall zu klären, welches Organmitglied konkret die Handlung vorgenommen hat, die sich als Pflichtverletzung darstellt und bei Beteiligten zu einem Schaden geführt hat. Aus diesem Ansatz folgt, dass eine kollektive Ausgestaltung der Entscheidungsmechanismen in der Geschäftsleitung durchaus auch zu einer kollektiven Haftung führen wird. Im Umkehrschluss können Alleinentscheidungs- und Einzelhandlungsbefugnisse, insbesondere des CRO oder CIO bzgl. insolvenzspezifischer Pflichten, zu einer Ressortverantwortlichkeit und damit zu einer Haftung führen, die auf den konkret Handelnden beschränkt ist.22) Ob es zur Begründung einer Ressortverantwortlichkeit notwendig ist, die Geschäftsverteilung unter den Organmitgliedern schriftlich und eindeutig zu fixieren,23) scheint fraglich. Tatsächlich wird es hier weniger um eine materiell-rechtliche Anforderung an die Haftungsbegrenzung gehen als um die Beweisbarkeit einer Ressortverteilung im Haftungsfall.24) Insofern könnte im Sonderfall der Eigenverwaltung schon die Bestellung als CRO oder CIO oder eben als „Sanierungsgeschäftsführer“ nach außen hinreichend deutlich machen und damit beweisen, mit welchen Aufgaben dieses Organmitglied betraut wurde. Im Zweifel sollte dennoch eine Geschäftsverteilungsabsprache dokumentiert werden. 20) 21) 22) 23)

24)

Haas/Ziemons in: BeckOK-GmbHG, 37. Ed. 1.8.2017, § 43 Rz. 251; Spindler in: MünchKomm-AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 Rz. 169. Siehe zum Ganzen Spindler in: MünchKomm-AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 Rz. 170 m. w. N. Im Ergebnis ebenso Weber, NZI 2018, 553, 556. So etwa für die AG BFH, Urt. v. 26.4.1984 – V R 128/79, BFHE 141, 443, 447 = ZIP 1984, 1345; BFH, Urt. v. 23.6.1998 – VII R 4/98, BFHE 186, 132; auch Fleischer, NZG 2003, 449, 452. Ebenso Spindler in: MünchKomm-AktG, 5. Aufl. 2019, § 93 Rz. 171.

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Im Ergebnis spricht mithin viel dafür, eine Haftungsbegrenzung dann zuzulassen, wenn die Verletzung insolvenzspezifischer Pflichten nach § 60 InsO nicht kollektiv durch die Geschäftsleitung erfolgt, sondern nur individuell durch eine Person in der Geschäftsleitung i. R. ihrer Ressorttätigkeit. Die Bestellung eines CRO oder CIO kann diese Beschränkung bewirken, wenn dieser Person im Einzelfall tatsächlich die jeweilige Alleinentscheidungskompetenz für die haftungsrelevante Handlung zukam. IV. Die Geschäftsleiterhaftung analog § 61 InsO im eröffneten Verfahren in Eigenverwaltung Der Haftungstatbestand des § 61 InsO lautet wie folgt: „1Kann eine Masseverbindlichkeit, die durch eine Rechtshandlung des Insolvenzverwalters begründet worden ist, aus der Insolvenzmasse nicht voll erfüllt werden, so ist der Verwalter dem Massegläubiger zum Schadenersatz verpflichtet. 2Dies gilt nicht, wenn der Verwalter bei der Begründung der Verbindlichkeit nicht erkennen konnte, daß die Masse voraussichtlich zur Erfüllung nicht ausreichen würde.“

1. Grundlagen der Verwalterhaftung nach § 61 InsO Die Frage, wer als „Geschäftsleiter” analog § 61 InsO für nicht erfüllte Masseverbindlichkeiten aus einer Eigenverwaltung haftet, kann nicht schlicht mit einem Verweis auf die Ausführungen zu § 60 InsO beantwortet werden, findet sich doch in § 61 InsO ein besonderer Interessenausgleich normiert. Dessen maßgebliche Grundsätze sind also herauszuarbeiten, um zu klären, ob sie im Wege der Analogie auch in der Eigenverwaltung zur Anwendung kommen sollten. Die Nichterfüllungshaftung des Verwalters aus § 61 InsO beinhaltet die Antwort des InsO-Gesetzgebers auf die unter der Konkursordnung streitige Frage nach der persönlichen Haftung für die Nichterfüllung von durch den Verwalter begründeten Masseverbindlichkeiten. Der Gesetzgeber erkannte, dass die allgemeinen Haftungsgrundsätze einer zivilrechtlichen Vertrauenshaftung bei Geschäften mit dem Insolvenzverwalter für den Vertragspartner kaum Schutz bieten. Die zivilrechtlichen Grundsätze der „Sachwalterhaftung“, die sich in § 311 Abs. 3 BGB verankert finden und zu einer Nichterfüllungshaftung von Vertretern und sonstigen Dritten führen können, sind an strenge Voraussetzungen geknüpft. Zwar nimmt der Verwalter bei Verträgen besonderes Vertrauen im Hinblick auf die Befriedigung als Masseverbindlichkeit in Anspruch. Der Bundesgerichts-

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hof hielt dieses Vertrauen allerdings kaum für schutzwürdig, da die Geschäftspartner des Konkursverwalters durch die Konkurseröffnung gewarnt und sich bewusst sein müssen, dass sie Risiken, insbesondere das Risiko der Massenunzulänglichkeit, eingehen.25) Der damit fehlende Schutz der Massegläubiger ließ den Gesetzgeber befürchten, dass Dritte nicht mehr bereit sein könnten, Geschäftsbeziehungen mit insolventen Unternehmen aufzunehmen, ohne besondere Sicherheiten für die Erfüllung der Verbindlichkeiten des Unternehmens zu verlangen, was dann wiederum die Unternehmensfortführung im Insolvenzverfahren entscheidend erschweren könnte.26) Er schuf daher in § 61 InsO einen eigenständigen Haftungstatbestand, der nicht mehr an die Schutzwürdigkeit des Vertrauens des Geschäftspartners, sondern an die pflichtgemäße Liquiditätsplanung des Verwalters anknüpft. Grundlage der Nichterfüllungshaftung ist dennoch weiter der Gedanke enttäuschten Vertrauens (Sachwalterhaftung). Folgerichtig lassen sich wieder zwei Kernaspekte der Haftung herausarbeiten. Zum einen muss der Haftende durch seine konkreten Handlungen einen Vertrauenstatbestand geschaffen haben (Handelndenaspekt). Es bedarf also einer Rechtshandlung des Verwalters; oktroyierte Masseverbindlichkeiten sind nicht geschützt.27) Zum anderen muss das Vertrauen des Geschädigten in die Erfüllung schützenswert sein (Vertrauensaspekt), wobei im Fall des Eingehens von Masseverbindlichkeiten das Vertrauen an die Planungskompetenzen des Insolvenzverwalters anknüpft, der als einziger „einen vollständigen Überblick über den Umfang der Masse und die Höhe der Masseverbindlichkeiten“ hat.28) Über den Vertrauensaspekt kommt so mittelbar wieder dem Amtsträgeraspekt eine Rolle zu, wenngleich dies hier nur mittelbar und eher typisierend über den Einblick in die Vermögensverhältnisse und damit in die Planbarkeit des künftigen Liquiditätsbedarfs erfolgt. 2. Übertragung auf die Eigenverwaltung Überträgt man die so gesetzlich gestaltete Interessenlage auf die Eigenverwaltung einer Gesellschaft, so kommt der richtigen Identifikation eines 25) 26) 27)

28)

BGH, Urt. v. 14.4.1987 – IX ZR 260/86, BGHZ 100, 346, 351 = NJW 1987, 3133, 3135 = ZIP 1987, 650. Begr. RegE InsO z. § 72, BT-Drucks. 12/2443, S. 129. BGH, Urt. v. 2.12.2004 – IX ZR 142/03, BGHZ 161, 236, 239 f. = NZI 2005, 155 = ZIP 2005, 131; Gerhardt in: Jaeger, InsO, 2007, § 61 Rz. 15; Sinz in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 61 Rz. 5 f. Begr. RegE InsO z. § 72, BT-Drucks. 12/2443, S. 129.

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Amtsträgers mithin schon keine primäre Bedeutung zu. Die Wahrnehmung von Amtspflichten durch Organmitglieder indiziert allenfalls die Schutzwürdigkeit des Vertrauens von Geschäftspartnern. Primär maßgeblich ist vielmehr der Handelndenaspekt, also die rechtliche Befugnis zur Begründung von Masseverbindlichkeiten in der Eigenverwaltung und deren Ausübung im betreffenden Einzelfall (Handelndenaspekt). Diese Kompetenz liegt in der Eigenverwaltung in der Regel – also vom Sonderfall des § 277 InsO abgesehen – allein beim Schuldner29) und wird damit im Fall einer Schuldnergesellschaft durch deren Organe wahrgenommen. Zugleich findet sich in der Eigenverwaltung bei diesen Personen auch der vom Gesetzgeber vorausgesetzte vollständige Überblick über den Umfang der Masse und die Höhe der Masseverbindlichkeiten, auf den der Geschäftspartner vertrauen darf (Vertrauensaspekt). Die Organe der Schuldnergesellschaft treten mithin als Sachwalter im zivilrechtlichen Sinn auf, was analog § 61 InsO ihre Nichterfüllungshaftung trotz Vertreterstellung rechtfertigt. Die Norm typisiert insofern die Schutzwürdigkeit des Vertrauens des Massegläubigers in seine Privilegierung als Massegläubiger und die Kompetenz der für die Schuldnergesellschaft handelnden Personen zur adäquaten Liquiditätsplanung. a) Der Generalbevollmächtigte haftet (grundsätzlich) nicht Aus diesen Grundsätzen folgt für die Möglichkeit der Erweiterung der Haftung auf Personen außerhalb einer Organstellung zunächst die Feststellung, dass die Haftung aus § 61 InsO – anders als die aus § 60 InsO – nicht an eine Amtsstellung anknüpft. Entscheidend sind die rechtliche Befugnis zur Begründung von Masseverbindlichkeiten (Handelndenaspekt) sowie die persönliche Inanspruchnahme besonderen Vertrauens aufgrund der Befähigung zur Liquiditätsplanung im Hinblick auf die Erfüllung von Masseverbindlichkeiten (Vertrauensaspekt). Für Prokuristen oder Generalbevollmächtigte bedeutet dies, dass sie überhaupt nur dann in die Gefahr einer Nichterfüllungshaftung analog § 61 InsO geraten könnten, wenn sie kraft ihrer Bevollmächtigung auch Masseverbindlichkeiten begründen können. Und selbst in diesen Fällen ist zu beachten, dass dieser Personenkreis stets und nach außen sichtbar nur im fremden Namen und damit als Hilfsperson der Geschäftsleitung tätig 29)

Vgl. nur Zipperer in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 270 Rz. 13.

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wird. Bevollmächtigte nehmen eben keine eigene Kompetenz und damit auch kein eigenes Vertrauen in Anspruch. Sie einer erleichterten zivilrechtlichen Sachwalterhaftung analog § 61 InsO zu unterwerfen, ist daher nicht gerechtfertigt.30) Eine andere Bewertung ist folglich allein in dem Ausnahmefall denkbar, in dem ein Bevollmächtigter als faktischer Geschäftsführer auftritt, also gerade nicht als Hilfsperson, sondern als Geschäftsführungsorgan nach außen hin tätig wird, indem er den Eindruck vermittelt, die Geschicke der Gesellschaft in der Hand zu halten (zum Tatbestand der „faktischen Geschäftsführung“ siehe schon oben unter III. 2. a)). In diesen seltenen Fällen einer faktischen Geschäftsführung durch den Generalbevollmächtigten kann das Vertrauen der Vertragspartner atypisch in der als CRO/CIO auftretenden Person des Generalbevollmächtigten entstehen, was eine Haftung analog § 61 InsO rechtfertigt. b) Ressortverantwortlichkeit in mehrgliedrigen Geschäftsleitungen Handelt für die Schuldnergesellschaft in Eigenverwaltung ein Kollektivorgan, so können grundsätzlich alle Organmitglieder die Befugnis zur Begründung von Masseverbindlichkeiten ausüben und zugleich über ihren Einblick in die Vermögensverhältnisse der Gesellschaft hinreichendes Vertrauen erzeugen, um analog § 61 InsO zu haften. Übt nur einer von ihnen diese Befugnis aus, so folgt eine kollektive Mithaftung nicht aus der Natur der Sache. Sie ist begründungsbedürftig und kann sich aus einer kollektiven Geschäftsführung ergeben. Lässt sich hingegen (nachweisbar) eine Ressortverteilung feststellen, die im betreffenden Einzelfall bei der Begründung der Masseverbindlichkeit (nachweisbar) eingehalten wurde, so wird eine Mithaftung der nicht beteiligten Organmitglieder ausscheiden. Die Begrenzung des Haftungsrisikos aus § 61 InsO bei mehreren Geschäftsleitern ist mithin wie bei § 60 InsO dadurch möglich, dass eine Ressortverantwortung dokumentiert und eingehalten wird. Insbesondere die Bestellung eines CRO oder CIO kann daher dazu in der Lage sein, im Wege der Durchführung von Alleinentscheidungs- und Einzelhandlungskompetenzen haftungsbegrenzend zu wirken.31) 30)

31)

Ebenso Bachmann/Becker, NJW 2018, 2235, 2237; Bitter, ZIP 2018, 986, 988; Weber, NZI 2018, 553, 555 f.; a. A. aber etwa Baumert, LMK 2018, 407918 (Urteilsanm.); auch Taras/Jungclaus, NJW-Spezial 2018, 405, 406. Im Ergebnis wohl ebenso Weber, NZI 2018, 553, 556.

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V. Die Geschäftsleiterhaftung in der vorläufigen Eigenverwaltung Während sich im eröffneten Insolvenzverfahren ein Gleichlauf der Haftung von Insolvenzverwalter und Eigenverwalter als natürliche Personen aufgrund des Gleichlaufs ihrer Pflichten und Kompetenzen gut begründen lässt, muss für das Eröffnungsverfahren in Eigenverwaltung schon hinterfragt werden, ob es hier überhaupt schon einen Gleichlauf an Pflichten geben kann. 1. Die Pflichtenbindung in der werbenden Gesellschaft In der vorläufigen Eigenverwaltung gilt es insoweit eine Besonderheit zu beachten. Die Gesellschaft ist vor der Verfahrenseröffnung noch nicht aufgelöst. Die Organe handeln also trotz materieller Insolvenz unter voller Bindung an die gesellschaftsrechtlichen Pflichten. Pflichtverletzungen werden über das gesellschaftsrechtliche Haftungssystem erfasst und in der Regel im Wege der Innenhaftung sanktioniert (vgl. § 43 GmbHG, §§ 92, 93 AktG). Die Haftungsdurchsetzung obliegt dann im eröffneten Eigenverwaltungsverfahren dem Sachwalter (§ 280 InsO), soweit Gesamtschäden zu liquidieren sind. 2. Die insolvenzrechtliche Pflichtenbindung in der vorläufigen Insolvenzverwaltung Für die Frage nach einer zusätzlichen Haftung analog §§ 60, 61 InsO ist vor diesem Hintergrund zunächst zu klären, welche insolvenzspezifischen Pflichten das Insolvenzrecht dem Verwalter überhaupt schon im Eröffnungsverfahren auferlegt. Die Antwort findet sich in den §§ 21, 22 InsO. Diese Regelungen machen deutlich, dass es der Anordnung von Sicherungsmaßnahmen durch das Insolvenzgericht bedarf, um bestimmte Verfahrenswirkungen in das Eröffnungsverfahren vorzuziehen. Erst die Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters und die Auferlegung von Verfügungsbeschränkungen bilden die Grundlage einer insolvenzspezifischen Pflichtenbindung, die zu einer Verwalterhaftung führen kann. Insbesondere die Pflicht zur Massesicherung und Masseerhaltung folgt allein aus der Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters nach § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 InsO und obliegt nur diesem. Für den starken vorläufigen Insolvenzverwalter ergibt sich die Pflichtenbindung explizit aus § 22 Abs. 1

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Satz 2 Nr. 1 InsO;32) für den vorläufigen schwachen Insolvenzverwalter aus seiner Überwachungsfunktion.33) Den Schuldner treffen solche Massesicherungspflichten im Eröffnungsverfahren nicht. Er muss sich weiter rechtskonform verhalten und ggf. Leistungspflichten erfüllen. Seine Leistungen und insbesondere kongruente Deckungen sind ggf. anfechtbar, er darf sie aber nicht verweigern. Diese Aufgabe käme allein dem vorläufigen Verwalter aufgrund eines Zustimmungsvorbehalts zu. Der Schuldner führt also sein Geschäft nach Antragstellung grundsätzlich so wie bisher fort. Geht er Verpflichtungen ein, sind diese wirksam, begründen aber nur Insolvenzforderungen.34) Als besondere Pflicht trifft den Schuldner allein die Auskunfts- und Mitwirkungspflicht in § 20 Abs. 1 InsO. Es ist diese Pflichtenlage, die Sicherungsmaßnahmen nach § 22 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 InsO erst rechtfertigt. 3. Die Pflichtenbindung in der vorläufigen Eigenverwaltung Die Pflichtenlage in der vorläufigen Eigenverwaltung ist gemäß § 270a Abs. 1 Satz 1 InsO nun gerade dadurch geprägt, dass das Insolvenzgericht auf Sicherungsmaßnahmen verzichtet. Es wird weder ein vorläufiger Verwalter mit den Pflichten des § 22 InsO bestellt noch ein Verfügungsverbot oder ein Zustimmungsvorbehalt angeordnet. Damit fehlt jede Grundlage für eine insolvenzspezifische Pflichtenbindung des Schuldners und seiner Organe. Ihre Betriebsfortführung bleibt allein dem außerinsolvenzlichen Rechtskreis unterworfen. Die gesellschaftsrechtlichen Bindungen werden nicht überlagert. Der Masseschutz findet allein über das Insolvenzanfechtungsrecht statt. Ignoriert der Schuldner in dieser Phase Ausoder Absonderungsrechte, so haftet er folglich nicht analog § 60 InsO auf den entstehenden Einzelschaden,35) sondern aus der zugrunde liegenden vertraglichen Haftung (etwa § 280 Abs. 1 BGB) oder gesetzlichen Haftungsnorm (bei Aussonderungsrechten etwa §§ 989, 990 BGB). Eine vollständige Überlagerung dieser Pflichten, insbesondere durch eine Pflicht zur Rücksicht auf Gläubigerinteressen, lässt sich in diesem Verfah32) 33) 34) 35)

BGH, Urt. v. 4.11.2004 – IX ZR 22/03, BGHZ 161, 49, 55 = NJW 2005, 675, 676 f. = ZIP 2004, 2442, m. Anm. Bork. BGH, Urt. v. 5.5.2011 – IX ZR 144/10, Rz. 49, BGHZ 189, 299 = ZIP 2011, 1419. Windau in: BeckOK-InsO, 13. Ed. 28.1.2019, § 22 Rz. 68. Hieraus haftet der vorläufige Insolvenzverwalter; vgl. BGH, Urt. v. 5.5.2011 – IX ZR 144/10, Rz. 29, BGHZ 189, 299 = ZIP 2011, 1419.

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rensstadium auch nur schwer aus allgemeinen Rechtsgedanken rechtfertigen. Es verwundert insofern nicht, dass eine den Schuldner nach Antragstellung treffende Pflicht zur Sicherung der künftigen Insolvenzmasse schlicht angenommen, aber eben nicht begründet wird36) oder aber allein auf den äußeren Anschein abgestellt wird.37) Insbesondere das Argument, die Gesellschaft gehöre in der materiellen Insolvenz bei wirtschaftlicher Betrachtung den Gläubigern und nicht mehr den Gesellschaftern,38) kann eine Überlagerung der gesellschaftsrechtlichen Pflichtenbindung im Wege der Vorwirkung der Insolvenzeröffnung nicht rechtfertigen. Zum einen treten die Rechtsänderungen bei einer materiellen Insolvenz eben erst mit der Verfahrenseröffnung ein, nicht schon bei Antragstellung oder gar Überschuldung. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz stellen gerichtliche Sicherungsmaßnahmen nach § 21 InsO dar, die Eröffnungswirkungen schon vorläufig zur Geltung bringen können. Zum anderen sind die Gläubiger auch in der materiellen Insolvenz der Gesellschaft allein zum Zugriff auf die Masse, nicht aber zur Weisung an die Geschäftsleitung nach Maßgabe des Gesellschaftsrechts befugt. Und den Zugriff auf die Masse erhalten sie auch in der materiellen Insolvenz nur nach Maßgabe der vollstreckungs- und insolvenzrechtlichen Gläubigerbefugnisse; letztere sind im Eröffnungsverfahren noch sehr begrenzt. Die Organe der Schuldnergesellschaft bleiben folglich im Wesentlichen den noch unbeschränkt geltenden gesellschaftsrechtlichen Pflichten unterworfen. Im Ergebnis bleibt so festzuhalten, dass sich im Fall eines Eröffnungsverfahrens in Eigenverwaltung unter Geltung des § 270a InsO kaum spezifisch insolvenzrechtliche Pflichten oder Kompetenzen des Schuldners und seiner Organe finden, die für eine Haftung analog § 60 InsO relevant sein könnten. Die Haftung für Pflichtverletzungen beschränkt sich insofern mangels insolvenzspezifischer Pflichten (nicht aber mangels rechtlicher Anwendbarkeit der Haftungstatbestände39) auf die Haftung aus gesell-

36) 37)

38) 39)

Hofmann in: Kübler, HRI, 3. Aufl. 2019, § 7 Rz. 229. Hofmann, Die Haftung der Geschäftsleiter in der Eigenverwaltung der Gesellschaft, ZIP 2018, 1429, 1430, weist etwa allein darauf hin, dass die „(…) Geschäftsleiter wie ein vorläufiger Insolvenzverwalter (…)“ handeln. Später (S. 1431) wird eine (wohl gesellschaftsrechtliche) „(…) Treuepflicht gegenüber der Gläubigergemeinschaft (…)“ nur postuliert, nicht aber hergeleitet. Hofmann, ZIP 2018, 1429, 1432. Die Argumentation des BGH rechtfertigt in der Tat eine analoge Anwendung des § 60 InsO dem Grund nach; ebenso Bitter, ZIP 2018, 986, 988; Hofmann, ZIP 2018, 1429, 1430; a. A. Baumert, LMK 2018, 407918 (Urteilsanm.).

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schafts- und allgemeinen zivilrechtlichen Haftungsnormen, die insofern weder überlagert noch verdrängt werden. Entsprechendes gilt in Fällen eines Eröffnungsverfahrens nach § 270b InsO (Schutzschirmverfahren). Auch hier ist es dem Insolvenzgericht gerade untersagt, im Wege der Sicherungsmaßnahmen nach § 21 InsO einen vorläufigen Insolvenzverwalter zu bestellen und Verfügungsbeschränkungen anzuordnen.40) Wieder fehlt damit die Grundlage für eine haftungsrelevante insolvenzspezifische Pflichtenbindung des Schuldners. Auch die Frist zur Vorlage eines Insolvenzplans begründet keine insolvenzspezifische und damit haftungsträchtige Pflicht des Schuldners; gelingt die Planvorlage nicht, droht als Sanktion allein die Eröffnung des Verfahrens ohne Schuldnerplan.41) 4. Die Haftung für Masseverbindlichkeiten aus der vorläufigen Eigenverwaltung Mit der fehlenden Pflicht des Schuldners im Eröffnungsverfahren zur Massesicherung korreliert dessen fehlende Befugnis zur Begründung von Masseverbindlichkeiten. Geht der Schuldner – in vorläufiger Eigen- wie Fremdverwaltung – in dieser Phase neue Verbindlichkeiten ein, so entstehen Insolvenzforderungen nach § 38 InsO. Eine Haftung analog § 61 InsO ist insofern schon im Grundsatz nicht denkbar. Die Befugnis zur Begründung von Masseverbindlichkeiten in diesem Verfahrensstadium ist folglich ein Ausnahmefall und ein Systembruch. § 55 Abs. 2 InsO sieht ihn nur in den Fällen einer vorläufigen starken Insolvenzverwaltung vor, gleichen doch hier die Verfahrenswirkungen hinsichtlich der Vermögensverwaltung doch bereits weitgehend denen des eröffneten Verfahrens. Eine schlichte analoge Anwendung dieser Norm auf die vorläufige schwache Insolvenzverwaltung42) ist daher ebenso ausgeschlossen wie auf die vorläufige Eigenverwaltung.43) Da sich aber in der 40) 41) 42) 43)

Begr. RegE ESUG, BT-Drucks. 17/5712, S. 40 f. Vgl. Kern in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2014, § 270b Rz. 76; Martini in: BeckOKInsO, 13. Ed. 28.1.2019, § 270b Rz. 55. BGH, Urt. v. 29.1.2015 – IX ZR 258/12, Rz. 18, BGHZ 204, 74 = ZIP 2015, 434; BGH, Urt. v. 13.1.2011 – IX ZR 233/09, Rz. 9, NZI 2011, 143. BGH, Urt. v. 22.11.2018 – IX ZR 167/16, Rz. 10 f., ZIP 2018, 2488 = NJW 2019, 224. Der vorläufige Eigenverwalter ist eben kein vorläufiger starker Insolvenzverwalter i. S. der Norm; so aber (einzig) LG Erfurt, Urt. v. 16.10.2015 – 8 O 196/15, ZIP 2015, 2181 = NZI 2016, 32, 33.

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Praxis eine Betriebsfortführung im Eröffnungsverfahren nur durchführen lässt, wenn schon in diesem Stadium Masseverbindlichkeiten begründet werden können, hat die Rechtsprechung dem Insolvenzgericht erlaubt, den vorläufigen schwachen Insolvenzverwalter über § 22 Abs. 2 InsO zu ermächtigen, einzelne, im Voraus genau festgelegte Verpflichtungen zulasten der späteren Insolvenzmasse einzugehen, soweit dies für eine erfolgreiche Verwaltung nötig ist.44) Auf dieser Grundlage bestimmt § 270b Abs. 3 InsO, dass im Schutzschirmverfahren das Insolvenzgericht den Schuldner auf seinen Antrag hin entsprechend ermächtigen muss.45) In der vorläufigen Eigenverwaltung jenseits des Schutzschirmverfahrens erlaubt der Bundesgerichtshof dem Insolvenzgericht eine Einzelermächtigung des Schuldners analog der Rechtsprechung zum vorläufigen schwachen Insolvenzverwalter als Sicherungsmaßnahmen nach § 21 Abs. 1 Satz 1 InsO.46) Masseverbindlichkeiten sind danach auf das zur Betriebsfortführung notwendige Maß zu begrenzen. Die damit festzustellende Kompetenz des eigenverwaltenden Schuldners bzw. seiner Organe zur Begründung von Masseverbindlichkeiten wirft die Frage nach einer Haftung analog § 61 InsO bei Masseunzulänglichkeit auf. Man wird die Nichterfüllungshaftung als notwendiges Korrelat zur Befugnis verstehen müssen, solche Verbindlichkeiten zu begründen und die Frage daher für die vorläufige Eigenverwaltung ebenso bejahen wie für die vorläufige (schwache) Insolvenzverwaltung.47) Es gelten insofern dann dieselben Grundsätze wie im eröffneten Verfahren in Eigenverwaltung.48) VI. Fazit Die Geschäftsleitung des eigenverwaltenden Schuldners haftet analog §§ 60 und 61 InsO sowohl im eröffneten Verfahren in Eigenverwaltung als auch – soweit bereits entsprechende Pflichten und Kompetenzen bestehen – in der vorläufigen Eigenverwaltung. Bei Geschäftsleitungen mit 44) 45) 46) 47) 48)

Grundlegend BGH, Urt. v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, BGHZ 151, 353, 363 ff. = NZI 2002, 543, 546 = ZIP 2002, 1625. Dazu grundlegend BGH, Urt. v. 16.6.2016 – IX ZR 114/15, BGHZ 210, 372 = ZIP 2016, 1295. BGH, Urt. v. 22.11.2018 – IX ZR 167/16, Rz. 16, ZIP 2018, 2488 = NJW 2019, 224. Für den Ermächtigungsverwalter wohl unstreitig – vgl. Thole in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 61 Rz. 4; Sinz in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 61 Rz. 35. Bitter, ZIP 2018, 986, 988; Hofmann, ZIP 2018, 1429, 1430 und 1434; a. A. Baumert, LMK 2018, 407918 (Urteilsanm.).

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mehreren Geschäftsleitern findet eine Mithaftung nur statt, wenn kollektiv gehandelt wird. Eine solche Mithaftung lässt sich folglich durch die klare und dokumentierte Zuweisung von Handlungskompetenzen in der Geschäftsleitung (Ressortbildung) begrenzen. Generalbevollmächtigte haften grundsätzlich weder analog § 60 InsO noch analog § 61 InsO. Etwas anderes ist nur in dem seltenen Ausnahmefall denkbar, in dem der Bevollmächtigte nach außen als faktischer Geschäftsführer auftritt. Ansonsten haften Bevollmächtigte für Pflichtverletzungen nur nach Maßgabe des Innenverhältnisses.

Fluch der bösen Tat – Zum richtigen Umgang mit § 14 Abs. 3 InsO – WOLFGANG MAROTZKE Inhaltsübersicht I. II.

Stein des Anstoßes Aktuelle Entwicklungen im Schatten des § 14 Abs. 3 InsO 1. Gescheiterte Vorlage an das Bundesverfassungsgericht 2. Verschlimmernde Nachjustierung des legislativen Unrechts 3. Ausweichversuche ohne Mitwirkung des Bundesverfassungsgerichtes a) Mögliche Schaltstellen

b) Gerichtliche Reaktionsmöglichkeiten auf Untätigkeit nach Zahlungseingang c) Gerichtliche Reaktionsmöglichkeiten auf Erledigungserklärung aa) Einseitige Erledigungserklärung bb) Beiderseitige Erledigungserklärung cc) Das Druckantrag-Argument III. Fazit

I. Stein des Anstoßes „Das eben ist der Fluch der bösen Tat, daß sie, fortzeugend, immer Böses muß gebären.“

Im Lichte dieses Satzes aus Schillers „Wallenstein“1) lassen sich auch einige jüngere rechtsdogmatische Kreationen aus dem Umfeld des § 14 Abs. 3 InsO besser einordnen. Dabei braucht man nur an die Stelle der „bösen“ Tat im Wege der Analogie eine „ungerechte“ Tat zu setzen und als fluchauslösendes Ereignis den § 14 Abs. 3 InsO in den Fokus zu nehmen. Für dieses gedankliche Experiment und seinen juristischen Ertrag könnte sich, wenn ich es recht sehe,2) auch der Jubilar interessieren. § 14 Abs. 3 InsO hat den Fall vor Augen, dass jemand auf Antrag eines Gläubigers mit einem Insolvenzeröffnungsverfahren überzogen wird und dann, z. B. nach Überwindung eines lediglich vorübergehenden Liquiditätsengpasses, die Forderung des Antragstellers erfüllt. Kommt es in der Folge zu einer gerichtlichen Entscheidung, die den Eröffnungsantrag des (ehemaligen) Gläubigers als „unbegründet“ abgeweist, sollen die Kosten des Eröff1) 2)

Friedrich von Schiller, Wallenstein, Erstdruck 1800. Die Piccolomini, Fünfter Aufzug, erster Auftritt, Octavio. Tagungsbericht, INDat Report 2/2016, S. 46, 49.

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nungsverfahrens entgegen der allgemeinen Regel des § 91 ZPO (i. V. m. § 4 InsO) nicht dem erfolglosen Antragsteller, sondern, so § 14 Abs. 3 InsO, ausnahmslos dem zu Unrecht der Insolvenz bezichtigten Antragsgegner aufzuerlegen sein. Dies gilt selbst dann, wenn die Fehleinschätzung des Antragstellers nicht durch das Verhalten des Schuldners herausgefordert wurde, sondern auf grobem Eigenverschulden beruht.3) Damit durchbricht § 14 Abs. 3 InsO in stark begründungsbedürfiger Weise die inhaltlich überzeugende allgemeine Kostentragungsregel des § 91 ZPO, die über § 4 InsO grundsätzlich auch im Insolvenzrecht (analog) anwendbar ist. § 14 Abs. 3 InsO trat, ebenso wie der zweckverwandte4) § 23 Abs. 1 Satz 4 GKG, als Bestandteil des Haushaltbegleitgesetzes 2011 (im Folgenden: HBeglG 2011) am 1.1.2011 in Kraft.5) Er beruht auf einer am 26. Oktober 2010 verabschiedeten Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses des Deutschen Bundestages.6) Die am Folgetag präsentierte Begründung besteht aus den folgenden drei Sätzen:7) „Durch die Änderung werden die Sozialkassen zukünftig von Kosten entlastet, wenn sich der Antrag als zwar zulässig, aber unbegründet erweist, weil kein Insolvenzgrund vorliegt, also wenn etwa der Schuldner nicht zahlungsunfähig war. Mit dieser Änderung soll eine frühzeitige Antragstellung gefördert werden, ohne das Kostenrisiko der antragstellenden Sozialkasse zu erhöhen. Durch die Änderung wird erreicht, dass künftig nicht gemäß § 4 InsO in Verbindung mit § 91 ZPO dem Antragsteller die Kosten anheimfallen.“

Bereits diese knappe Begründung zeigt, dass § 14 Abs. 3 InsO, anders als seine abstrakt-generelle Fassung vermuten lässt, als eine Sondervorschrift zugunsten insolvenzantragstellender Sozialkassen gedacht war. Nach der Entwurfsbegründung eines Vorläufers des heutigen § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO8) sollen allerdings auch insolvenzantragstellende Finanzämter von § 14 Abs. 3 InsO profitieren können. Bei diesen umfasst das Kostenrisiko, von dem § 14 Abs. 3 InsO befreien will, aber nicht die Gerichtskosten (von diesen befreit 3)

4) 5) 6) 7)

8)

Ein „grobes Verschulden“ des Antragstellers wird zwar in § 26a Abs. 2 InsO, nicht aber auch in § 14 Abs. 3 InsO besonderes berücksichtigt. Jedoch verdient auch § 26a InsO deutliche Kritik (Marotzke, Insolvenzrechtsreform à la 007: Finanzbehörden mit Lizenz zum Töten?, ZInsO 2015, 2397, 2398 ff.). Vgl. Marotzke, Kostenfreie Weiterverfolgung eines von Gläubigerseite gestellten Insolvenzantrags trotz Wegfalls der zugrunde liegenden Forderung?, ZInsO 2011, 841, 843 f. Vgl. Art. 3 Nr. 1 und Art. 24 Abs. 2 HBeglG 2011, BGBl. I 2010, 1885, 1893, 1898. Beschlussempfehlung des BT-Haushaltsausschusses z. RegE HBeglG 2011 (BT-Drucks. 17/3030, 17/3361), BT-Drucks. 17/3406 v. 26.10.2010, S. 21. Vgl. Bericht des BT-Haushaltsausschusses z. RegE HBeglG 2011 (BT-Drucks. 17/3030, 17/3361), BT-Drucks. 17/3452 v. 27.10.2010, S. 6, „Zu Artikel 3 (…) Nummer 1 (…) Buchstabe b“. Vgl. unten II. 3. c) aa) (die Textpassage mit den Fn. 55 ff.).

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sie bereits § 2 GKG)9), sondern nur eine mögliche Haftung für außergerichtliche Rechtsverteidigungskosten (insbesondere Anwaltskosten)10) des Antragsgegners. Dennoch gehören nach dem Inhalt der Gesetzesmaterialien nicht nur Sozialkassen, sondern auch Finanzbehörden zu den Nutznießern des § 14 Abs. 3 InsO. Angehörige dieser beiden (öffentlich-rechtlichen) Gläubigergruppen sollen mithilfe des § 14 Abs. 3 InsO zu einer „frühzeitigen“ Insolvenzantragstellung gegenüber in Zahlungsrückstand geratenen Beitrags- bzw. Steuerschuldnern bewegt werden. Das zur Erreichung dieses Ziels eingesetzte Instrument ist, vorsichtig formuliert, ungewöhnlich. Es besteht darin, Verfahrenskosten, die nach allgemeinen Grundsätzen (§ 91 ZPO, § 4 InsO) der einen unbegründeten Eröffnungsantrag stellenden Sozialkasse oder Finanzbehörde auferlegt werden müssten, ausgerechnet auf denjenigen abzuwälzen, der von der Sozialkasse (Finanzbehörde) zu Unrecht – vielleicht weil zu früh? – der Insolvenz bezichtigt wurde. Im Ergebnis läuft dies auf finanzielle Sonderopfer „Unschuldiger“ zugunsten „frühzeitige aber unbegründete“ Eröffnungsanträge stellender öffentlich-rechtlicher Gläubiger hinaus, die allein dem Ziel dient, diese Gläubiger durch die nunmehr kraft Gesetzes (§ 14 Abs. 3 InsO) in Aussicht gestellte Kostenverlagerung auf den Antragsgegner – die in ihrer Maßlosigkeit sogar diejenigen Verfahrenskosten umfasst, von denen eine antragstellende Finanzbehörde, selbst wenn die Kosten des Eröffnungsverfahrens nach § 91 ZPO (i. V. m. § 4 InsO) ihr auferlegt worden wären, gem. § 2 GKG befreit gewesen wäre11) – zu einer effektiveren Verfolgung „Schuldiger“ animieren zu können. Zu der sich aufdrängenden Frage, weshalb für die Kosten des mit § 14 Abs. 3 InsO angestrebten Sozialkassen- und Finanzbehördenprivilegs nicht der Staat, sondern ausgerechnet die von einer Sozialkasse oder einem Finanzamt zu Unrecht der Insolvenz bezichtigten Beitrags- oder Steuerschuldner aufkommen sollen, hatten sich die Verfasser des § 14 Abs. 3 InsO, soweit ersichtlich, keine öffentlich vorzeigbaren Gedanken gemacht. Dies könnte als Indiz dafür aufgefasst werden, dass hier vielleicht sogar gesetzgeberische Willkür am Werk war, m. a. W. ein Verstoß gegen das allgemeine Willkür-

9) 10) 11)

Vgl. auch Webel, Systematische Einordnung und praktische Anwendung des reformierten § 14 InsO, ZInsO 2017, 2261, 2263 f. Vgl. Wegener in: Uhlenbruck/Hirte/Vallender, InsO, 15. Aufl. 2019, § 13 Rz. 197. Siehe oben S. 554 letzter Satz.

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verbot des Art. 3 Abs. 1 GG vorliegt.12) Für die Frage, ob es dem deutschen Gesetzgeber wirklich erlaubt ist, ein teils gesamtgesellschaftlich, teils staatshaushälterisch definiertes Interesse an einer möglichst frühen insolvenzverfahrensmäßigen Abwicklung zahlungsunfähiger Unternehmen13) statt mit Steuergeldern durch Sonderopfer aller von einer Sozial- oder Finanzbehörde zu Unrecht der Insolvenz bezichtigter Akteure des Wirtschaftslebens zu fördern, könnte sich vermutlich sogar das Bundesverfassungsgericht interessieren. Dessen Verwerfungsmonopol haben die Fachgerichte selbstverständlich zu respektieren. Als Vertreter der Wissenschaft ist man hingegen frei, in der Schaffung des § 14 Abs. 3 InsO, sollte sich für eine Vorschrift dieses Inhalts ein rechtlich vertretbarer Grund nicht finden lassen, eine vielleicht gut gemeinte, aber objektiv ungerechte Tat zu sehen. Ob § 14 Abs. 3 InsO in diesem Fall tatsächlich „fortzeugend“ und „immer“ Böses gebären „muss“,14) hängt freilich auch von der Widerstandskraft der deutschen Insolvenzgerichte ab. Und diese ist, wie noch zu zeigen sein wird, bemerkenswert hoch. Hoch ist allerdings auch das Risiko, dass manche Gerichte in ihrem Bestreben, dem § 14 Abs. 3 InsO aus dem Wege zu gehen, zu Argumentationsmustern greifen, welche die Grenzen des methodisch Zulässigen überschreiten. Letzteres wäre dann sehr wohl ein „Fluch“ des § 14 Abs. 3 InsO.

12)

13) 14)

Einen solchen Verstoß mit vielleicht etwas zu knapper Begründung bejahend Marotzke, Sinn und Unsinn einer insolvenzrechtlichen Privilegierung des Fiskus, ZInsO 2010, 2163, 2168 f.; Marotzke, ZInsO 2011, 841, 852, und AG Deggendorf, Beschl. v. 3.8.2011 – IN 102/11, ZInsO 2011, 1801 f. = ZIP 2011, 1735, abrufbar unter http://openjur.de/u/ 493282.html (zur Entscheidung des AG Deggendorf siehe unten II. 2.). Sehr kritisch auch Frind, Zwischenruf: Änderung des § 14 InsO – Freibrief für den verschleppten oder unbegründeten Gläubigerantrag?, ZInsO 2010, 2183, 2184 f., und Pape in: Kübler/ Prütting/Bork, InsO, 45. EL 8/2011, § 14 Rz. 10 (eine „Bevorteilung der Sozialkassen“ und „eine klare Privilegierung, die sehr weit“ gehe), Rz. 170 („mit Gesichtspunkten der materiellen Gerechtigkeit nicht zu vereinbaren“, „mit Art. 14 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG nur schwer zu vereinbaren“). Den § 14 Abs. 3 InsO als nicht hinreichend durchdacht kritisierend auch Laroche, Der forderungslose Insolvenzantrag – Praxisanmerkungen zu § 14 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 InsO und zur geplanten Neuregelung des § 14 Abs. 1 InsO durch den Regierungsentwurf zur Reform des Anfechtungsrechts, ZInsO 2015, 2511, 2514 ff. Näheres unter II. 3. c) aa), insbesondere im vierten Absatz und in Fn. 56. Siehe oben I., erster Satz.

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II. Aktuelle Entwicklungen im Schatten des § 14 Abs. 3 InsO 1. Gescheiterte Vorlage an das Bundesverfassungsgericht Hält ein Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der ihm abverlangten Entscheidung ankommt, für unvereinbar mit dem Grundgesetz, hat es das Verfahren auszusetzen und eine die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen (Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG). Auf diesem Wege hatte das AG Deggendorf im August 2011 versucht, das Bundesverfassungsgericht zu einer Überprüfung des § 14 Abs. 3 InsO zu bewegen.15) In dem insolvenzgerichtlichen Ausgangsverfahren vor dem AG Deggendorf16) hatte die Gläubigerin, eine gesetzliche Krankenkasse, im April 2011 die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Schuldnerin beantragt, weil diese ihrer Verpflichtung zur fristgerechten und vollständigen Beitragszahlung als Arbeitgeberin nicht nachgekommen sei. Während des Eröffnungsverfahrens erfüllte die Schuldnerin die dem Antrag zugrunde liegende Forderung. Die Gläubigerin hielt ihren Eröffnungsantrag unter Hinweis auf einen früheren Eröffnungsantrag aus dem Jahr 2010, nach dessen Stellung die Schuldnerin ebenfalls einen Beitragsrückstand beglichen hatte, aufrecht. Jedoch ohne Erfolg: Mit der Begründung, dass die Antragsgegnerin nicht zahlungsunfähig sei, wies das AG Deggendorf den Eröffnungsantrag ab. Die Kosten erlegte es der Antragstellerin auf. Hiergegen legte diese unter Hinweis auf § 14 Abs. 3 InsO Beschwerde ein. Das AG Deggendorf setzte das Verfahren aus und bat das BVerfG um Entscheidung über die Verfassungsgemäßheit des § 14 Abs. 3 InsO. Zur Begründung führte es aus:17) § 14 Abs. 3 InsO stelle einen krassen Verstoß gegen das aus Art. 3 GG resultierende Willkürverbot dar. Es entspreche sowohl allgemeinem Rechtsempfinden als auch der Gesetzeslage aller anderen Verfahrensordnungen, dass bei Einreichung eines unbegründeten Antrags, einer unbegründeten 15) 16)

17)

AG Deggendorf, Beschl. v. 3.8.2011 – IN 102/11, ZInsO 2011, 1801 f. = ZIP 2011, 1735, abrufbar unter http://openjur.de/u/493282.html. Die folgende Darstellung beruht auf der Sachverhaltsschilderung im Beschluss des BVerfG, Beschl. v. 20.8.2013 – 2 BvL 7/11, NZI 2013, 1000, abrufbar unter https:// urteile-gesetze.de/rechtsprechung/2-bvl-7-11. AG Deggendorf, Beschl. v. 3.8.2011 – IN 102/11, ZInsO 2011, 1801 = ZIP 2011, 1735, abrufbar unter http://openjur.de/u/493282.html. Die folgende, etwas gekürzte Darstellung der amtsgerichtlichen Argumentation beruht auf der Wiedergabe in BVerfG, Beschl. v. 20.8.2013 – 2 BvL 7/11, abrufbar unter https://urteile-gesetze.de/rechtsprechung/ 2-bvl-7-11.

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Klage, eines unbegründeten Rechtsmittels und ähnlichen Sachverhalten die Kosten des Verfahrens der unterlegenen Partei aufzubürden seien. Weshalb das in Fällen des § 14 Abs. 3 InsO anders sein solle und die abweichende Regelung des § 14 Abs. 3 InsO nicht wenigstens unter den Vorbehalt abweichenden richterlichen Ermessens gestellt worden sei, sei nicht ersichtlich. Es gebe dafür keine sachlich und rechtlich tragfähige Begründung. Das Bundesverfassungsgericht18) erachtete die auf Art. 100 GG gestützte Vorlage des AG Deggendorf als unzulässig, weil ihr sowohl bzgl. der geltend gemachten Verfassungswidrigkeit des § 14 Abs. 3 InsO als auch bzgl. der Entscheidungserheblichkeit der Vorschrift eine hinreichend substanzielle Begründung fehle. Möglicherweise war das Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf die allein ihm vorbehaltene Verwerfungskompetenz auch unzufrieden mit der Art und Weise des Zustandekommens der bereits erlassenen und sich im Zeitpunkt der Vorlage an das Bundesverfassungsgericht schon im Beschwerdeverfahren befindenden amtsgerichtlichen Kostenentscheidung. Da es die amtsgerichtliche Vorlage (Art. 100 GG) als unzulässig einordnete, enthielt sich das Bundesverfassungsgericht eigener Ausführungen zur Frage der Verfassungswidrigkeit des § 14 Abs. 3 InsO. Während der folgenden Jahre bestand mehr als einmal Anlass, die Frage der Verfassungsgemäßheit des § 14 Abs. 3 InsO erneut zum Gegenstand einer Richtervorlage (Art. 100 GG) zu machen, bei der dann natürlich peinlich genau alle Begründungsanforderungen zu beachten gewesen wären, die das Bundesverfassungsgericht dem AG Deggendorf mit auf den Weg gegeben hatte. Ein solcher zweiter Anlauf ist jedoch, soweit ersichtlich, bisher nicht unternommen worden. 2. Verschlimmernde Nachjustierung des legislativen Unrechts Durch Art. 1 Nr. 1 des am 5. April 2017 in Kraft getretenen Gesetzes zur Verbesserung der Rechtssicherheit bei Anfechtungen nach der Insolvenzordnung und nach dem Anfechtungsgesetz19) wurde der Anwendungsbereich des § 14 Abs. 3 InsO sogar noch erheblich vergrößert. Dies geschah nicht etwa auf dem direkten Wege einer Änderung des § 14 Abs. 3 InsO, sondern indirekt durch eine (zugleich zum Wegfall des § 14 Abs. 1 Satz 3 18) 19)

BVerfG, Beschl. v. 20.8.2013 – 2 BvL 7/11, abrufbar unter https://urteile-gesetze.de/ rechtsprechung/2-bvl-7-11. Gesetz zur Verbesserung der Rechtssicherheit bei Anfechtungen nach der Insolvenzordnung und nach dem Anfechtungsgesetz, v. 29.3.2017, BGBl. I 2017, 654.

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InsO führende) Umformulierung des § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO. Zum Verständnis des „indirekten“ Zusammenhangs ist in Erinnerung zu rufen, dass § 14 Abs. 3 InsO nicht nur die während des Eröffnungsverfahrens erfolgte Erfüllung der Forderung des antragstellenden Gläubigers und die Erfolglosigkeit des Gläubigerantrags, sondern außerdem voraussetzt, dass der Eröffnungsantrag „als unbegründet“ abgewiesen wird. Wird der Antrag hingegen „als unzulässig“ zurückgewiesen, fallen die Verfahrenskosten nicht gemäß § 14 Abs. 3 InsO dem Schuldner, sondern gemäß § 91 ZPO (i. V. m. § 4 InsO) dem Antragsteller zur Last. Je großzügiger das Gesetz davon Abstand nimmt, die Erfüllung der Forderung des Antragstellers zur Unzulässigkeit des Antrags führen zu lassen, desto weiter öffnet sich das Eingangstor zum Anwendungsbereich des § 14 Abs. 3 InsO. Just an dieser Schaltstelle hat sich am 5. April 2017 Wesentliches geändert. Bis zu diesem Datum war die Frage, unter welchen Voraussetzungen die Erfüllung der Forderung des Antragstellers nicht zur Unzulässigkeit des Antrags führt (und somit im Fall der Antragsabweisung der Anwendungsbereich des § 14 Abs. 3 InsO eröffnet ist), in den Sätzen 2 und 3 des § 14 Abs. 1 InsO wie folgt geregelt: „War in einem Zeitraum von zwei Jahren vor der Antragstellung bereits ein Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Schuldners gestellt worden, so wird der Antrag nicht allein dadurch unzulässig, dass die Forderung erfüllt wird. In diesem Fall hat der Gläubiger auch die vorherige Antragstellung glaubhaft zu machen.“

Mit Wirkung ab 5. April 2017 wurde die Stelle dieser beiden letzten Sätze der heutige § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO gesetzt.20) Dieser ist nahezu identisch mit einer bereits im Jahre 2010 diskutierten,21) aber im weiteren Gesetzgebungsverfahren als zu weitgehend verworfenen Entwurfsfassung eines § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO und hat folgenden Wortlaut: „Der Antrag wird nicht allein dadurch unzulässig, dass die Forderung erfüllt wird.“

Durch diese Formulierung wurde das Erfordernis eines innerhalb von zwei Jahren vor dem jetzt zur Entscheidung anstehenden Antrag eingegangenen früheren Antrags gestrichen und dadurch das Eingangstor zum Anwendungsbereich des § 14 Abs. 3 InsO weit geöffnet. Konnte man an diesem

20) 21)

Vgl. Art. 1 Nr. 1 Gesetz zur Verbesserung der Rechtssicherheit bei Anfechtungen nach der Insolvenzordnung und nach dem Anfechtungsgesetz, v. 29.3.2017, BGBl. I 2017, 654. Die im Jahr 2010 präsentierte, dann aber (zunächst) gescheiterte Entwurfsfassung des § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO hatte folgenden Wortlaut (vgl. Art. 3 Nr. 1 RegE HBeglG 2011 i. d. F. der BT-Drucks. 17/3030 v. 27.9.2010): „Der Antrag wird nicht allein dadurch unzulässig, dass der Schuldner nach Antragstellung die Forderung erfüllt.“

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Tor zunächst noch eine Einlasskontrolle vornehmen, indem man an den zeitlich früheren anderen Antrag und sein verfahrensrechtliches Schicksal gewisse Minimalanforderungen stellte (z. B. dass der Antrag überhaupt die einfachsten Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllte, dass er nicht bereits zu einer abweisenden Gerichtsentscheidung geführt hatte, dass es sich nicht um einen nach Eingang einer Zahlung zurückgenommenen oder für erledigt erklärten Druckantrag handelte, dass der Antrag nicht aus anderen oder auch nur unbekannten Gründen zurückgenommen oder für erledigt erklärt worden war),22) so ist den Gerichten dieses Instrument des legalen Widerstands gegen den elementaren Gerechtigkeitsvorstellungen hohnsprechenden § 14 Abs. 3 InsO seit dem 5. April 2017 entrissen.23) Und ausgerechnet jetzt will man nicht erneut das Bundesverfassungsgericht anrufen, sondern, wenn überhaupt, auf stillen Widerstand setzen? Das kann methodisch sauber nur in Grenzen gelingen. 3. Ausweichversuche ohne Mitwirkung des Bundesverfassungsgerichtes a) Mögliche Schaltstellen Zu den wenigen Schaltstellen, bei denen man ohne allzu große methodische Risiken und ohne Hilfe des Bundesverfassungsgerichtes zu einer engen Handhabung des § 14 Abs. 3 InsO (sowie des diesen ergänzenden § 23 Abs. 1 Satz 4 GKG) kommen kann, gehören –

eine teleologische Reduktion des im Vergleich zur Gesetzesbegründung viel zu weit gefassten § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO auf diejenigen Gläubiger, die aufgrund gesetzlicher Vorschriften nicht die Möglichkeit haben, die Verbindung zum Schuldner kurzfristig einseitig zu beenden (also insbesondere Finanzbehörden und Sozialkassen und vielleicht – aber wohl eher nicht24) – auch Gläubiger aus nicht ohne weiteres kündbaren privatrechtlichen Dauerschuldverhältnissen25) oder Gläubiger, die

22) 23)

Zu diesen Beispielen bereits Marotzke, ZInsO 2011, 841, 850 ff. Die Gesetzesbegründung spricht diesen wichtigen Punkt nicht an, sondern belässt es bei einigen schönen Nebelkerzen (Näheres bei Marotzke, ZInsO 2015, 2397 f.). Denn den Schöpfern des § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO ging es primär nur um die verfahrensrechtliche Privilegierung von Finanzbehörden und Sozialversicherungsträgern. Näheres unter II. 3. c) aa), insbesondere im dritten Absatz. Ein Vermieter oder Verpächter wird sich freilich hüten, gegen seinen Vertragspartner Insolvenzantrag zu stellen. Denn damit läuft er Gefahr, in erster Linie sich selbst zu schädigen (vgl. §§ 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5, 112 InsO).

24)

25)

Fluch der bösen Tat

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einem gesetzlichen Kontrahierungs- und Belieferungszwang unterliegen26),27) –

strenge Anforderungen an die Glaubhaftmachung der Tatsache, dass die Forderung des Antragstellers im Zeitpunkt des Zahlungseingangs wirklich existierte,



strenge Anforderungen an die Glaubhaftmachung von Tatsachen, aus denen sich ergibt, dass die Forderung des Antragstellers nach dem Eröffnungsantrag trotz möglicherweise bereits erlassener Anordnungen i. S. des § 21 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO wirksam und vollumfänglich erfüllt wurde,



gründliche Prüfung aller Aspekte der Zulässigkeit des Eröffnungsantrags,



noch i. R. der Zulässigkeitsprüfung: strenge Anforderungen an das fortbestehende Rechtsschutzinteresse des während des Eröffnungsverfahrens befriedigten Antragstellers,28)



noch i. R. der Zulässigkeitsprüfung: strenge Anforderungen an die Glaubhaftmachung des Eröffnungsgrundes,29)



noch i. R. der Zulässigkeitsprüfung: gründliche Prüfung der Frage, ob es sich bei dem Eröffnungsantrag um einen insolvenzzweckwidrigen Druckantrag handelt,30)



Nichtanwendung des § 14 Abs. 3 InsO auf den Fall, dass ein Eröffnungsantrag, dessen Zulässigkeit aus prozessökonomischen Gründen ungeklärt blieb, nach Zahlungseingang als „jedenfalls unbegründet“ abgewiesen wurde.

26)

Gläubiger der zuletzt genannten Art werden sich aber dann nicht auf § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO berufen dürfen, wenn ihnen zweifelsfrei das Recht zusteht, ihre Leistung von einer vorherigen Sicherheitsleistung (oder sogar „Vorkasse“) des Schuldners abhängig zu machen. A. A. N. M. Schmidt, Scheitert der neue § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO am Rechtsschutzinteresse?, ZInsO 2018, 853 ff., der alle wirtschaftlich tätigen Gläubiger im Anwendungsbereich des § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO sieht und auch deren Rechtsschutzinteresse über den Zeitpunkt der Zahlung hinaus grundsätzlich bejahen möchte. So auch die Begr. RegE, auszugsweise wiedergegeben unter II. 3. c) aa) (in der Textpassage mit den Fn. 55 ff.). Besonders streng mit der Konsequenz der Antragszurückweisung als unzulässig LG Leipzig, Beschl. v. 4.10.2018 – 8 T 633/18, ZVI 2019, 189 = NZI 2019, 163, m. Anm. Stapper/Böhme. Vgl. auch Fn. 60. So auch die Begr. RegE, auszugsweise wiedergegeben unter II. 3. c) aa) (in der Textpassage mit den Fn. 55 ff.); hierauf Bezug nehmend BGH, Beschl. v. 18.12.2014 – IX ZB 34/14, Rz. 13, ZInsO 2015, 301 ff. = ZIP 2015, 319 ff. (vgl. zu dieser Entscheidung auch unten II. 3., den Satz mit Fn. 42). Vgl. dazu unten II. 3. c) cc).

27)

28)

29)

30)

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Alle diese Instrumente zur Verhinderung einer ausufernden Anwendung des § 14 Abs. 3 InsO wurden bereits an anderer Stelle ausführlich beschrieben.31) b) Gerichtliche Reaktionsmöglichkeiten auf Untätigkeit nach Zahlungseingang Eine (legitime?)32) Ergänzung erfuhr dieser Instrumentenkasten durch eine Entscheidung des AG Göttingen vom 9. Januar 2018.33) Der Sachverhalt ist schnell berichtet: Wegen ihrer Forderung auf Entrichtung rückständiger Sozialversicherungsbeiträge von insgesamt 6.499,96 € für den Zeit vom 1. Februar 2017 bis zum 30. November 2017 beantragte eine Sozialkasse (Antragstellerin) mit Schreiben vom 30. November 2017 die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Antragsgegners. Fünf vorherige Eröffnungsverfahren gegen denselben Antragsgegner waren jeweils durch Erledigungserklärungen beendet worden, drei dieser Verfahren nach vorheriger Einsetzung eines Sachverständigen. Antragsteller waren in den ersten beiden Verfahren die Knappschaft-Bahn-See, die Antragstellerin des jetzt anhängigen Verfahrens, das Finanzamt und wiederum die Antragstellerin des jetzt anhängigen Verfahrens. Während des aktuell laufenden Eröffnungsverfahrens wurde die Forderung der Antragstellerin beglichen. Mit Fax vom 13. Dezember 2017 wandte sich die Antragstellerin an das Gericht und bat um Mitteilung, ob „Erkenntnisse über die Wiederherstellung der vollständigen Zahlungsfähigkeit vorliegen“ und ob einem „Antrag auf Erledigung der Hauptsache“ zugestimmt werde. Zwei Tage später, am 15. Dezember 2017, schrieb das Gericht der Antragstellerin: „Telefonisch habe ich sie nicht erreicht. Sie erhalten binnen 2 Wochen Gelegenheit, verfahrensfördernde Erklärungen abzugeben.“ Mit Fax vom 27. Dezember 2017 antwortete die Antragstellerin: „Verfahrensfördernde Erklärungen werden von uns nicht abgegeben.“ Im Übrigen wiederholte dieses Fax den Text des Fax vom 13. Dezember 2017. Nach diesem Katz-und-Maus-Spiel wies das Gericht den Eröffnungsantrag „auf Kosten der Antragstellerin“ zurück. Zur Begründung führte es aus: Mit Erfüllung der zugrunde liegenden Forderung sei der Eröffnungsantrag (trotz 31) 32) 33)

Vgl. Marotzke, ZInsO 2011, 841, 846 ff.; vgl. auch Wegener in: Uhlenbruck/Hirte/ Vallender, InsO, 15. Aufl. 2019, § 14 Rz. 98 ff., 136 ff. Dazu sogleich im Text. AG Göttingen, Beschl. v. 9.1.2018 – 74 IN 210/17, NZI 2018, 159 ff. = ZIP 2018, 992 f. = ZInsO 2018, 396 f.

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§ 14 Abs. 1 Satz 2 InsO?)34) unzulässig geworden. In solch einem Fall habe ein Antragsteller drei Möglichkeiten: Zurücknahme des Antrags gemäß § 4 InsO i. V. m. § 269 ZPO (die nicht der Zustimmung des Schuldners bedarf, da über einen insolvenzrechtlichen Eröffnungsantrag keine mündliche Verhandlung i. S. des § 269 Abs. 1 ZPO stattfindet)35), Erledigungserklärung gemäß § 4 InsO i. V. m. § 91a ZPO36) oder Fortsetzung des Verfahrens nach Maßgabe des § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO. Von welcher der drei Möglichkeiten er Gebrauch machen wolle, müsse ein Antragsteller selbst entscheiden und durch eindeutige Erklärung37) kundtun. Letzteres habe die Antragstellerin trotz des schriftlichen Hinweises des Gerichts nicht getan. Ihr Eröffnungsantrag sei deshalb als unzulässig zurückzuweisen. Das AG Göttingen hat den Eröffnungsantrag der Sozialkasse also deshalb als „unzulässig“ qualifiziert (mit der Konsequenz, dass das Tor zu § 14 Abs. 3 InsO für diesen Fall verschlossen ist), weil die Antragstellerin nach Erfüllung ihrer Forderung keinen Antrag auf Fortsetzung des Eröffnungsverfahrens gestellt hatte. Eine solche Argumentation entspricht jedoch nicht den gesetzlichen Vorgaben: § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO sagt klipp und klar, dass ein Eröffnungsantrag (jedenfalls wenn er von einer Finanzbehörde oder einem Sozialversicherungsträger gestellt wurde)38) nicht allein dadurch unzulässig wird, dass die Forderung des antragstellenden Gläubigers während des Eröffnungsverfahrens erfüllt wird.39) Die juristische Notwendigkeit, einen wirksam gestellten und trotz späterer Erfüllung aller zugrunde liegenden Forderungen weder zurückgenommenen noch für erledigt erklärten noch auf andere Weise aus dem Verkehr gezogenen Eröffnungsantrag einer Finanzbehörde oder eines Sozialversicherungsträgers durch einen besonderen Fortsetzungsantrag nochmals zu bekräftigen, lässt sich, insbesondere wenn solch ein Fortsetzungsantrag als Voraussetzung für die weitere Zulässigkeit des ursprüng34) 35) 36) 37)

38) 39)

Dazu sogleich im Text. Vgl. Wegener in: Uhlenbruck/Hirte/Vallender, InsO, 15. Aufl. 2019, § 13 Rz. 158. Dazu unten II. 3. c). Dies ausdrücklich hervorhebend der in ZInsO 2018, 396 wiedergegebene 1. LS des Gerichts. Dieser lautet: „Begleicht der Schuldner die dem Antrag zugrunde liegende Forderung, ist es Aufgabe des Gläubigers, eine eindeutige Erklärung abzugeben, ob der Antrag für erledigt erklärt oder ein Fortsetzungsverlangen gem. § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO gestellt wird.“ Vgl. unten II. 3. c) aa) (die Textpassage mit den Fn. 53 ff.). Problematisch ist deshalb die oben erwähnte Formulierung des AG Göttingen (NZI 2018, 159 ff. = ZIP 2018, 992 f. = ZInsO 2018, 396 f.), dass der Eröffnungsantrag bereits mit Erfüllung der zugrunde liegenden Forderung unzulässig geworden sei.

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lichen Eröffnungsantrags angesehen wird,40) aus dem Gesetz heraus nicht begründen.41) Selbst einer erneuten Glaubhaftmachung des Eröffnungsgrundes, die dann dem Antragsteller obläge und deren Misslingen den stehengelassenen Eröffnungsantrag unzulässig machen würde, bedarf es im Fall des § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO nur, wenn die bereits vor Erfüllung der Antragsforderung erfolgte Glaubhaftmachung durch neue oder erst jetzt bekannt gewordene Tatsachen, die das Vorliegen eines Eröffnungsgrundes nicht mehr „überwiegend wahrscheinlich“ erscheinen lassen, entkräftet wurde.42) Die vom AG Göttingen aufgestellte zusätzliche Zulässigkeitsvoraussetzung führte im konkreten Fall zu dem sehr sympathischen Ergebnis, dass das Gericht den zwar noch anhängigen, aber nicht durch einen Fortsetzungsantrag bekräftigten Eröffnungsantrag der Sozialkasse als unzulässig zurückweisen und die Verfahrenskosten gemäß § 91 ZPO (i. V. m. § 4 InsO) der Antragstellerin auferlegen konnte, ohne zuvor die Frage der Begründetheit des Eröffnungsantrags und, sollte diese zu verneinen sein, den für diesen Fall kurioserweise eine Kostenüberbürdung auf den Antragsgegner vorschreibenden § 14 Abs. 3 InsO in den Blick nehmen zu müssen. Methodisch einwandfrei war die Argumentation zur (angeblichen) Unzulässigkeit des Eröffnungsantrags aber nicht. c) Gerichtliche Reaktionsmöglichkeiten auf Erledigungserklärung aa) Einseitige Erledigungserklärung Nicht unproblematisch ist auch die vom AG Göttingen43) erwähnte, aber von der Antragstellerin nicht ausgeübte prozessuale Handlungsoption der Abgabe einer Erledigungserklärung. Denn eine Erledigungserklärung kann,

40)

41) 42)

43)

In diesem Sinne mehr oder weniger deutlich AG Göttingen, Beschl. v. 9.1.2018 – 74 IN 210/17, NZI 2018, 159 ff. = ZIP 2018, 992 f. = ZInsO 2018, 396 f.; AG Leipzig, Beschl. v. 5.9.2017 – 403 IN 1109/17, ZInsO 2017, 2704, 2705 = ZVI 2018, 17; Pape in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, 45. EL 8/2011, § 14 Rz. 166 f.; Sternal in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 14 Rz. 20. So auch Gundlach/Müller/Rautmann, Der Antrag zur Fortsetzung des Verfahrens gemäß § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO, ZInsO 2018, 1188 ff. BGH, Beschl. v. 18.12.2014 – IX ZB 34/14, ZInsO 2015, 301 ff. = ZIP 2015, 319 ff.; Wegener in: Uhlenbruck/Hirte/Vallender, InsO, 15. Aufl. 2019, § 14 Rz. 120 ff.; ohne diese Einschränkung Sternal in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 14 Rz. 20; gegen jede neuerliche Glaubhaftmachungslast hingegen Pape in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, 45. EL 8/2011, § 14 Rz. 136. Siehe oben II. 3. b).

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wenn der (Insolvenz-)Antragsgegner ihr rechtzeitig (§ 91a Abs. 1 Satz 2 ZPO) widerspricht, nur dann zu einer verfahrensbeendenden Gerichtsentscheidung mit Kostenüberbürdung auf den Antragsgegner führen, wenn der Eröffnungsantrag des Gläubigers ursprünglich zulässig und begründet war44) und erst infolge der vom Antragsgegner (oder einem Dritten) geleisteten Zahlung entweder unzulässig oder unbegründet wurde.45) Selbst wenn der vom Gläubiger für erledigt erklärte Eröffnungsantrag ursprünglich sowohl zulässig als auch begründet gewesen sein sollte (was in der Logik der nun folgenden Argumentation aber offenbleiben kann)46), hätte sich, außer in sehr seltenen Ausnahmefällen,47) durch die zwischenzeitliche Tilgung der Gläubigerforderung weder an der Zulässigkeit noch an der Begründetheit

44)

45)

46)

47)

Wie hier BGH, Urt. v. 25.9.2008 – IX ZB 131/07, Rz. 8, ZInsO 2008, 1206, 1207 = ZIP 2008, 2285 (dabei jedoch, insofern nicht anders als bei beiderseitigen Erledigungserklärungen, weitere gerichtliche Ermittlungen zur Frage des Vorliegens eines Eröffnungsgrundes für entbehrlich erklärend); LG Bonn, Beschl. v. 8.1.2001 – 2 T 58/00, NZI 2001, 488, 490 = ZIP 2001, 342 (maßgeblich sei, „ob nach den im Eröffnungsverfahren getroffenen Feststellungen der Insolvenzantrag bis zum Eintritt des erledigenden Ereignisses zulässig und begründet war“); OLG Köln, Beschl. v. 28.3.2001 – 2 W 39/01, NZI 2001, 318, 319 = ZIP 2001, 1081; vgl. auch LG Koblenz, Beschl. v. 15.2.2001 – 2 T 46/01, NZI 2001, 265; Mönning in: Nerlich/Römermann, InsO, 36. EL 6/2018, § 13 Rz. 122; Kexel in: Graf-Schlicker, InsO, 5. Aufl. 2019, § 14 Rz. 48; a. A. – aber möglicherweise nur in der Art der Formulierung – Wegener in: Uhlenbruck/ Hirte/Vallender, InsO, 15. Aufl. 2019, § 14 Rz. 177 (Der Eröffnungsantrag brauche bei Eintritt des erledigenden Ereignisses lediglich „zulässig“ gewesen zu sein) und jedenfalls bei Vorliegen beiderseitiger Erledigungserklärungen auch AG Hannover, Beschl. v. 28.12.2018 – 908 IN 538/18 – 7, ZInsO 2019, 158, 159 = ZIP 2019, 1080 (mit Wiedergabe auch der Kostenentscheidung abrufbar unter http://www.rechtsprechung.niedersachsen.de/jportal/portal/page/bsndprod?feed=bsnd-r-og&showdoccase=1¶mfromHL=true&doc.id=KORE231672018). Vgl. für das ZPO-Klageverfahren Vollkommer in: Zöller, ZPO (auf die § 4 InsO verweist), 31. Aufl. 2016, § 91a Rz. 43 f. (Kriterien für die gerichtliche Feststellung der Erledigung), Rz. 47 (Kostenentscheidung nach § 91 ZPO). Ebenso zumindest konkludent auch für das insolvenzrechtliche Eröffnungsverfahren OLG Köln, Beschl. v. 28.3.2001 – 2 W 39/01, NZI 2001, 318, 319 = ZIP 2001, 1081; LG Koblenz, Beschl. v. 15.2.2001 – 2 T 46/01, NZI 2001, 265; LG Bonn, Beschl. v. 8.1.2001 – 2 T 58/00, NZI 2001, 488, 490 = ZIP 2001, 342; Mönning in: Nerlich/Römermann, InsO, 36. EL 6/2018, § 13 Rz. 122; Kexel in: Graf-Schlicker, InsO, 5. Aufl. 2019, § 14 Rz. 48; Webel, ZInsO 2017, 2261, 2262 (in der Textpassage mit Fn. 16). Nicht anders wohl auch der BGH, Urt. v. 25.9.2008 – IX ZB 131/07, Rz. 8, ZInsO 2008, 1206, 1207 = ZIP 2008, 2285: Das Gericht habe zu entscheiden, ob der Eröffnungsantrag zulässig und begründet gewesen sei „und sich durch ein nachträglich eingetretenes Ereignis erledigt“ habe. Das trifft sich gut mit den Ausführungen des BGH, Urt. v. 25.9.2008 – IX ZB 131/07, Rz. 8, ZInsO 2008, 1206, 1207 = ZIP 2008, 2285, bzgl. der Entbehrlichkeit weiterer gerichtlicher Ermittlungen zur Frage des Vorliegens eines Eröffnungsgrundes. Vgl. Fn. 60.

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des Eröffnungsantrags etwas zum Nachteil des Antragstellers geändert:48) War der Schuldner bis zur letzten Sekunde vor der Zahlung pleite (Frage der Begründetheit), so ist er es auch nach der Zahlung.49) Fehlte es vor der Zahlung nicht an einer kostendeckenden Masse (§ 26 InsO), so ist die Verfahrenskostendeckung auch nach der Zahlung kein Problem (zumal jedenfalls dann, wenn die Zahlung zulasten des Schuldnervermögens erfolgte, ab dem Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung ein massezugehöriger Rückzahlungsanspruch aus §§ 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 143 Abs. 1 InsO bestünde). Auch das Rechtsschutzinteresse des Antragstellers entfällt nicht allein infolge der vereinnahmten Zahlung des Antragsgegners. Mit der Formulierung (§ 14 Abs. 1 Satz 2 InsO), dass der Eröffnungsantrag eines Gläubigers „nicht allein dadurch unzulässig [wird], dass die Forderung erfüllt wird“, ist die These, dass die Erfüllung der Antragsforderung ohne weiteres50) das Rechtsschutzinteresse des Antragstellers entfallen lasse und auf diese Weise zur „Erledigung“ der Hauptsache führe, unvereinbar.51) Deshalb wird eine einseitig gebliebene Erledigungserklärung des während des Eröffnungsverfahrens befriedigten Antragstellers nur dann zu einer für den Antragsteller reibungslosen und kostenfreien Verfahrensbeendigung und eventuell sogar zur Anfechtungsfreiheit der empfangenen Zahlung führen können, wenn der Antragsteller entweder nicht zu dem Personenkreis gehört, für den § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO gemacht wurde (dazu sogleich), oder wenn er zwar Angehöriger dieses Personenkreises ist, aber das diesem Personenkreis durch § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO zugeschriebene, vom Fortbestand der Antragsforderung unabhängige Interesse an einer Eröffnung des Insolvenzverfahrens wegen der Besonderheiten des konkreten Falles endgültig erloschen ist (z. B. weil der Schuldner seinen Betrieb stillgelegt die letzten Arbeitnehmer entlassen hat)52).

48) 49)

50) 51)

52)

Zutr. AG Fulda, Beschl. v. 13.10.2017 – 92 IN 69/17, JurionRS 2017, 27611. Dies gilt selbst dann, wenn die Zahlung nicht mit eigenem, sondern mit fremdem Geld erfolgte. Denn die Bereitschaft eines Dritten, das zur Zahlung verwendete Geld zur Verfügung zu stellen, ist keine Folge der tatsächlich erfolgten Zahlung, sondern dieser vorgelagert. Also auch dann, wenn keiner der in Fn. 60 erwähnten Ausnamefälle vorliegt. Zutreffend Webel, ZInsO 2017, 2261, 2262; AG Köln, Beschl. v. 18.11.2017 – 72 IN 171/17, II. 2., Rz. 19, 22, abrufbar unter http://www.justiz.nrw.de/nrwe/ag_koeln/j2017/ 72_IN_171_17_Beschluss_20171118.html (vgl. zu diesem Beschluss auch Fn. 69). Nicht überzeugend ist in diesem Punkt die Erwiderung von Foerste/Helte, Nochmals: Doch Kostenhaftung nach § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO?, ZInsO 2017, 2722 ff. Näheres in Fn. 60.

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Die Frage, wessen Interessen § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO zu dienen bestimmt ist, lässt sich allein aus dem Wortlaut der Vorschrift nicht erschließen. § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO ist derart allgemein formuliert, dass ein über die Entstehungsgeschichte nicht informierter Leser den Eindruck gewinnen muss, es handele sich um eine Vorschrift, deren zulässigkeitskonservierende Wirkung grundsätzlich jedem Gläubiger zugutekomme, dessen Forderung nach Stellung seines Eröffnungsantrags erfüllt werde. In Wahrheit ist § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO jedoch eine sich den Anschein einer für Alle geltenden Regelung gebende Sondervorschrift zugunsten von Finanzbehörden und Sozialversicherungsträgern. Dies wird bereits indiziert durch die Tatsache, dass die am 1.1.2011 in Kraft getretene Ursprungsfassung des § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO nicht auf einem InsO-Änderungsgesetz, sondern auf einem Haushaltsbegleitgesetz beruht,53) und ergibt sich mit kaum zu überbietender Klarheit aus der amtlichen Begründung einer mit dem heutigen § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO nahezu identischen54) Entwurfsfassung der Vorschrift. Dort wird u. a. Folgendes ausgeführt:55) Durch § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO solle die Möglichkeit geschaffen werden, die wirtschaftliche Tätigkeit insolventer Unternehmen einzuschränken und die Zahlungsfähigkeit des Schuldners möglichst frühzeitig abzuklären. Erfülle der Schuldner vor der Anordnung von Verfügungsbeschränkungen oder mit Zustimmung eines vorläufigen Insolvenzverwalters alle fälligen Forderungen des den Eröffnungsantrag stellenden Gläubigers und werde die Zahlung entgegengenommen – wozu etwa die Sozialversicherungsträger verpflichtet seien –, so werde der Eröffnungsantrag des Gläubigers nach bisherigem Recht unzulässig und der Gläubiger somit gezwungen, seinen Antrag zurückzunehmen oder für erledigt zu erklären. Eine Auswechslung der dem Antrag zugrunde liegenden Forderung, die insbesondere bei Forderungen aus einem Dauerschuldverhältnis in Betracht komme, helfe nicht weiter, wenn der Schuldner zwar alle bereits jetzt fälligen Forderungen des Fiskus oder eines Sozialversicherungsträgers begleiche, jedoch absehbar sei, dass erst künftig fällig werdende Forderungen dieser Gläubiger nicht erfüllt würden. Um dem Fiskus und den Sozialversicherungsträgern eine Mög53) 54)

55)

Art. 3 Nr. 1 und Art. 24 Abs. 2 HBeglG 2011, BGBl. I 2010, 1885, 1893, 1898. Vgl. Art. 3 Nr. 1 RegE HBeglG 2011 i. d. F. der BT-Drucks. 17/3030 v. 27.9.2010): „Der Antrag wird nicht allein dadurch unzulässig, dass der Schuldner nach Antragstellung die Forderung erfüllt.“ Einzelbegründung zu Art. 3 Nr. 1 RegE HBeglG 2011 (Stand 27.9.2010), BT-Drucks. 17/ 3030, S. 42. Hervorhebende Kursivsetzungen nicht im Original. Wiedergabe der und Stellungnahme zur ungekürzten Fassung bei Marotzke, ZInsO 2011, 841, 844 ff.

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lichkeit zu eröffnen, das Entstehen neuer Verbindlichkeiten, die letztlich nicht bedient würden, zu verhindern, bedürfe es einer gesetzlichen Regelung des Inhalts, dass ein Insolvenzantrag nicht allein dadurch unzulässig wird, dass der Schuldner zugrunde liegende Forderung erfüllt. Auch nach Inkraftsetzung einer solchen Vorschrift seien allerdings, so die Entwurfsbegründung, besonders strenge Anforderungen an das Rechtsschutzinteresse des Antragstellers und die Glaubhaftmachung des Eröffnungsgrundes zu stellen: Erfülle der Schuldner die dem Eröffnungsantrag eines Gläubigers zugrunde liegende Forderung, entfalle in der Regel das Rechtsschutzinteresse des Antragstellers, sodass sein Antrag als unzulässig zurückgewiesen werden müsse. Eine andere Wertung könne jedoch beim Fiskus und bei den Sozialversicherungsträgern gerechtfertigt sein. Denn diese hätten aufgrund der gesetzlichen Vorgaben „nicht die Möglichkeit, die Verbindung zum Schuldner einseitig zu beenden“. Fiskus und Sozialversicherungsträger hätten deshalb ein „gravierendes Interesse“ daran, ein insolventes Unternehmen an einer weiteren wirtschaftlichen Tätigkeit zu hindern56) und Klarheit über seine Zahlungsfähigkeit zu erlangen. Nur durch das Aufrechterhalten ihres Eröffnungsantrags könnten sie verhindern, dass ihnen weitere (ungedeckte) Forderungen gegen den bereits insolventen Schuldner erwachsen. Vor diesem Hintergrund dürften – so die Einzelbegründung zu der mit dem heutigen § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO nahezu identischen damaligen Entwurfsfassung – „Finanzbehörden und Sozialversicherungsträger die einzigen57) größeren Gläubigergruppen sein, bei denen trotz vollständiger Erfüllung der

56)

57)

Inhalt und Funktion der zur aktiven Wahrnehmung gerade dieses Interesses animieren Sondervorschriften (§§ 14 Abs. 1 Satz 2, Abs. 3 InsO, § 23 Abs. 1 Satz 4 GKG) lassen sich mit einiger satirischer Zuspitzung als „Lizenz zum Töten“ charakterisieren (vgl. Marotzke, ZInsO 2015, 2397 ff.; Marotzke, Starker Tobak aus dem Finanzamt, ZInsO 2017, 1836). Pointierte Kritik äußern auch Waltenberger, Die Kosten des „erledigten“ Gläubigerantrags, ZInsO 2017, 2690, 2692 (Versuch des Gesetzgebers, einen einzelnen Gläubiger als „weißen Ritter“ der Marktbereinigung vor die Gläubigergesamtheit zu spannen), AG Leipzig, Beschl. v. 5.9.2017 – 403 IN 1109/17, ZInsO 2017, 2704, 2707 f. = ZVI 2018, 17 (Herbeiführung eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen einer natürlichen Person sei kein geeignetes Mittel, diese an einer Fortsetzung ihrer selbstständigen wirtschaftlichen Tätigkeit zu hindern) und Schädlich, Zur Frage der Fortführung des Insolvenzantragsverfahrens von Amts wegen trotz § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO, NZI 2017, 849, 850 (Verhinderung vermeintlich dauerhaft unrentabler einzelunternehmerischer Tätigkeiten sei nicht Aufgabe des Insolvenzverwalters oder des Insolvenzgerichts, das Insolvenzverfahren kein gewerbeordnungsrechtliches Sanktionsinstrument). Dezidiert a. A. N. M. Schmidt, ZInsO 2018, 853 ff.

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den Antrag stützenden Forderung ein rechtliches Interesse an der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens gegeben ist“.58) „Finanzbehörden und Sozialversicherungsträger“ sind also ohne jeden Zweifel die Zielgruppen, denen der Gesetzgeber durch Schaffung des § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO und durch Zuerkennung eines die Existenz ihrer Forderungen überdauernden Rechtsschutzinteresses die Möglichkeit verschaffen wollte, ihre als Gläubiger (§ 14 InsO) gestellten Eröffnungsanträge auch dann zulässigerweise aufrechtzuerhalten, wenn inzwischen alle zugrundeliegenden Forderungen erfüllt wurden. Folglich werden Finanzbehörden und Sozialversicherungsträger, anders als normale Gläubiger,59) in der Regel60) auch akzeptieren müssen, dass sich ihre Eröffnungsanträge von Rechts wegen nicht allein schon dadurch „erledigen“, dass der Antragsgegner die zugrunde liegenden Forderungen nach Antragseingang erfüllt.61) Die Erledigungserklärung eines Antragstellers, dessen in der Entwurfsbegründung als „gravierend“ bezeichnetes Interesse an der Eröffnung des Insolvenzver58)

59)

60)

61)

Wörtlich zitiert aus der Einzelbegründung zu Art. 3 Nr. 1 RegE HBeglG 2011 BTDrucks. 17/3030, S. 42. Vgl. auch Begr. RegE Gesetz zur Verbesserung der Rechtssicherheit bei Anfechtungen nach der Insolvenzordnung und nach dem Anfechtungsgesetz, BTDrucks. 18/7054, S. 16: „(…) soll das Antragsrecht insbesondere der Sozialversicherungsträger effektiver ausgestaltet werden. (…) Ein rechtliches Interesse [an der Verfahrenseröffnung sei im Fall des § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO] regelmäßig nur bei Finanzbehörden und Sozialversicherungsträgern anzuerkennen, weil diese öffentlichen Gläubiger nicht verhindern können, dass sie weitere Forderungen gegen den Schuldner erwerben (…).“ Ein trotz Erfüllung ihrer Antragsforderung fortbestehendes Rechtsschutzinteresse wie bei Finanzbehörden und Sozialversicherungsträgern ist vielleicht noch denkbar bei Gläubigern aus nicht ohne weiteres kündbaren Dauerschuldverhältnissen und bei Gläubigern, die einem gesetzlichen Kontrahierungs- und Belieferungszwang unterliegen. Auch solche Gläubiger von § 14 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 3 InsO, § 23 Abs. 1 Satz 4 GKG profitieren zu lassen, wäre aber keineswegs zwingend (siehe oben II. 3. a) mit Fn. 24 ff.). Eine Ausnahme vom dem Grundsatz, dass Rechtsschutzinteresse antragstellender Finanzbehörden oder Sozialversicherungsträger trotz zwischenzeitlicher Erfüllung ihrer Forderungen fortbesteht, macht man jedoch dann, wenn der Schuldner seinen Betrieb stillgelegt und die letzten Arbeitnehmer entlassen und damit zugleich die Gefahr des künftigen Auflaufens weiterer steuer- oder sozialrechtlicher Verbindlichkeiten auf ein vernachlässigbares Restrisiko reduziert hat (vgl. BGH, Beschl. v. 12.7.2012 – IX ZB 18/12, ZInsO 2012, 1565 f. = ZIP 2012, 1674; AG Köln, Beschl. v. 2.2.2018 – 73 IN 210/17, ZInsO 2018, 1635; LG Hamburg, Beschl. v. 2.5.2019 – 326 T 20/19, ZInsO 2019, 1487 f.; dies auf ähnlich liegende Fälle übertragend AG Leipzig, Beschl. v. 5.9.2017 – 403 IN 1109/17, ZInsO 2017, 2704, 2706 = ZVI 2018, 17; AG Mönchengladbach, Beschl. v. 29.1.2018 – 45 IN 66/17, ZInsO 2018, 398 f.; LG Leipzig, Beschl. v. 4.10.2018 – 8 T 633/18, ZVI 2019, 189 = NZI 2019, 163, m. Anm. Stapper/Böhme). Auf Rechtsfolgeseite weiter differenzierend AG Köln, Beschl. v. 20.2.2018 – 73 IN 237/17, ZInsO 2018, 1688, 1689. Insoweit zutreffend Webel, ZInsO 2017, 2261, 2262; a. A. Foerste/Helte, ZInsO 2017, 2722 ff.

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fahrens den Bestand seiner Forderung überdauert, kann deshalb, wenn überhaupt,62) nur dann zu einer – meist aus ganz anderen Gründen angestrebten63) – Beendigung des Eröffnungsverfahrens führen, wenn der Antragsgegner zustimmt oder zumindest nicht rechtzeitig (§ 91a Abs. 1 Satz 2 ZPO) widerspricht. Andernfalls kommt für diese Gläubiger nur noch eine kostenpflichtige64) Rücknahme des Eröffnungsantrags in Betracht. Dies ist letztlich der Preis, den diese Gläubiger für die (zulässige) Nichterfüllung der ihnen vom Gesetzgeber durch Schaffung der §§ 14 Abs. 1 Satz 2, 14 Abs. 3 InsO und des § 23 Abs. 1 Satz 4 GKG angedienten Aufgabe der Fortführung eines einmal gestellten Eröffnungsantrags zu zahlen haben. bb) Beiderseitige Erledigungserklärung Was jedoch gilt, wenn sich der Antragsgegner der nach Zahlungseingang abgegebenen Erledigungserklärung des antragstellenden Gläubigers (Finanzbehörde oder Sozialversicherungsträgers) anschließt? Muss das Gericht die vom Antragsgegner akzeptierte Erledigungserklärung als verbindlichen Dispositionsakt akzeptieren oder darf es dem Antragsteller die Auskunft geben, dass er jetzt nur noch durch eine (kostenpflichtige)65) Antragsrücknahme aus der Sache herauskomme?66) Für Letzteres lässt sich das Argument anführen, dass die in der Erledigungserklärung liegende Behauptung, der ursprünglich zulässig und begründet gewesene Eröffnungsantrag sei infolge der späteren Erfüllung der zugrunde liegenden Forderung gegenstands- und aussichtslos geworden, der wirklichen Sach- und Rechtslage offensichtlich widerspricht,67) wenn diese Behauptung nicht von einem „normalen“ Gläubiger, sondern von einem als Insolvenzantragsteller aktiv gewordenen Finanzamt oder Sozialversicherungsträger aufgestellt wird und das Unter62) 63)

64) 65) 66) 67)

Näheres sogleich im nächsten Absatz. Mögliche Motive sind Bequemlichkeit des Antragstellers und/oder Vermeidung einer auf §§ 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 143 Abs. 1 InsO gestützten Rückforderung der vereinnahmten Zahlung durch den im Fall der Verfahrenseröffnung zu bestellenden Insolvenzverwalter. § 269 Abs. 3 Satz 2 ZPO i. V. m. § 4 InsO. Vgl. § 269 Abs. 3 Satz 2 ZPO (i. V. m. § 4 InsO), allerdings auch die in § 269 Abs. 3 Satz 3 ZPO (i. V. m. § 4 InsO) vorgesehene Ausnahme. Für Letzteres Webel, ZInsO 2017, 2261, 2262 ff. Siehe oben II. 3. c) aa) (insbesondere die ersten beiden Absätze); i. E. übereinstimmend Webel, ZInsO 2017, 2261, 2262 f.; AG Köln, Beschl. v. 18.11.2017 – 72 IN 171/17, II. 2., Rz. 19, 22, abrufbar unter http://www.justiz.nrw.de/nrwe/ag_koeln/j2017/ 72_IN_171_17_Beschluss_20171118.html, (vgl. zu diesem Beschluss aber auch Fn. 69 f.); a. A. Foerste/Helte, ZInsO 2017, 2722 f.

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nehmen des Schuldners zu diesem Zeitpunkt noch existiert.68) Durch die Tatsache, dass sich der Schuldner der Erledigungserklärung des Finanzamts oder Sozialversicherungsträgers angeschlossen hat, sollte sich das Insolvenzgericht eigentlich schon wegen des Amtsermittlungsgrundsatzes (§ 5 Abs. 1 InsO) nicht gehindert sehen, die offensichtliche Unwahrheit der ihm präsentierten Erledigungsbehauptung zur Kenntnis zu nehmen und aus ihr, vorzugsweise bereits bei der Beurteilung der Wirksamkeit der Erledigungserklärungen,69) spätestens und äußerst hilfsweise zumindest im Zusammenhang mit der nach § 91a ZPO i. V. m § 4 InsO zu treffenden Kostenentscheidung,70) rechtliche Schlüsse zu ziehen. Rechtsprechung und Schrifttum gehen jedoch andere Wege. Sie betrachten die beiderseitige Erledigungserklärung als eine der Dispositionsmaxime zuzurechnende71) Prozesshandlung, die das Verfahren ohne Weiteres, insbesondere ohne Zutun des Gerichts, beende.72) Ob tatsächlich ein Fall der Erledigung vorliegt (ob also der für erledigt erklärte Antrag ursprünglich zulässig und begründet war und erst später infolge eines nachträglich eingetretenen Ereignisses unzulässig oder unbegründet wurde)73), wird für irrelevant gehalten.74) Überträgt man dies auf insolvenzrechtliche Eröffnungsanträge, was in der gerichtlichen Praxis und in der Kommentarliteratur allgemein befürwortet wird,75) so bewirkt die beiderseitige Erledigungserklärung zwar wie eine wirksame Antragsrücknahme ohne weiteres die Be68) 69)

70)

71) 72) 73) 74)

75)

Vgl. Fn. 60. In diesem Sinne Webel, ZInsO 2017, 2261, 2262 f. (der a. a. O. S. 2263, unmittelbar vor Fn. 37, ausführt, dass in solch einem Fall nicht nur die verfahrensbeendende Wirkung gemeinschaftlichen Erledigungserklärung entfalle, sondern auch eine einseitig gebliebene Erledigungserklärung unwirksam und deshalb für das weitere Verfahren unbeachtlich sei); a. A. wegen des „kontradiktorischen“ Charakters des Insolvenzeröffnungsverfahrens AG Köln, Beschl. v. 18.11.2017 – 72 IN 171/17, II. 1., Rz. 13, http://www.justiz.nrw.de/nrwe/ag_koeln/j2017/72_IN_171_17_Beschluss_20171118. html, (vgl. zu diesem Beschluss auch Fn. 51, 67, 70, 88, 90, 91). Für Berücksichtigung (erst) im Zusammenhang mit der Kostenentscheidung AG Köln, Beschl. v. 18.11.2017 – 72 IN 171/17, II. 2., Rz. 19, 22, http://www.justiz.nrw.de/nrwe/ ag_koeln/j2017/72_IN_171_17_Beschluss_20171118.html, (vgl. zu diesem Beschl. auch Fn. 51, 67, 70, 88, 90, 91). Vgl. statt aller Vollkommer in: Zöller, ZPO, 31. Aufl. 2016, § 91a Rz. 8. Vgl. statt aller Vollkommer in: Zöller, ZPO, 31. Aufl. 2016, § 91a Rz. 9. Siehe oben II. 3. c) aa) m. N. in Fn. 45. Vgl. statt aller Vollkommer in: Zöller, ZPO, 31. Aufl. 2016, ZPO § 91a Rz. 12, 43; Foerste/Helte, ZInsO 2017, 2722, 2723, m. w. N. in Fn. 13; Waltenberger, ZInsO 2017, 2690, 2691 m. w. N. in Fn. 10; a. A. Webel, ZInsO 2017, 2261, 2262 f. für den Fall einer rechtsmissbräuchlichen Erledigungserklärung; vgl. zu diesem Sonderfall auch Sternal in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 14 Rz. 61 m. w. N. Vgl. Wegener in: Uhlenbruck/Hirte/Vallender, InsO, 15. Aufl. 2019, § 14 Rz. 173 m. w. N.

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endigung des Eröffnungsverfahrens. Die noch zu fällende Kostenentscheidung ist für das Gericht allerdings aufwändiger und für die Beteiligten weniger vorhersehbar als im Fall der kostenmäßig fast immer zulasten des Antragstellers76) gehenden Antragsrücknahme. Im Fall der beiderseitigen Erledigungserklärung trifft das Gericht seine Kostenentscheidung „unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen“ (§ 91a ZPO i. V. m. § 4 InsO). Gut vertretbar und sachlich angemessen wäre es, wenn das Gericht die offensichtliche77) Unwahrheit der Erledigungsbehauptung i. R. seiner Billigkeitsentscheidung zum Anlass nähme, die gesamten Kosten des Eröffnungsverfahrens wie im Fall der Antragsrücknahme dem Antragsteller aufzuerlegen. Üblicherweise wird das Thema, über das das Gericht auf der Basis des bisherigen Sach- und Streitstandes zu befinden hat, jedoch nicht in der Frage nach der sachlichen Richtigkeit der Erledigungserklärung gesehen, sondern in der Frage, ob und mit welcher Wahrscheinlichkeit der Eröffnungsantrag bei Eintritt des (angeblich) erledigenden Ereignisses zulässig und begründet war,78) wobei sich die „überwiegende“ Wahrscheinlichkeit der Begründetheit bei Nichtvorliegen gegenteiliger Erkenntnisse bereits aus der dem Antragsteller auf Zulässigkeitsebene79) obliegenden Glaubhaftmachung des Eröffnungsgrundes ergeben kann.80) Aufgrund seiner auf diese Frage gefundenen Antwort soll das Gericht nach billigem Ermessen (§ 91a ZPO i. V. m. § 4 InsO) seine Kostenentscheidung zu treffen haben. Diese Entscheidung erfolgt im Lichte des § 91 ZPO. Wenn das Gericht nach überschlägiger Prüfung zu dem Ergebnis gelangt, dass der für erledigt erklärte Eröffnungsantrag zwar zulässig, aber zu keinem Zeit76) 77) 78) 79) 80)

Vgl. Fn. 65. Siehe oben II. 3. c) bb) samt Fn. 67 ff. Siehe oben II. 3. c) aa) m. N. in Fn. 44 f. Vgl. § 14 Abs. 1 Satz 1 InsO. Vgl. LG Köln, Beschl. v. 24.8.2016 – 13 T 87/16, ZInsO 2016, 1997, 1998 = ZVI 2017, 67: „Für die [im Fall des § 91a ZPO anstehende] Kostenentscheidung ist von ausschlaggebender Bedeutung, ob der Eröffnungsantrag im Zeitpunkt des erledigenden Ereignisses zulässig, insbesondere der Eröffnungsgrund glaubhaft gemacht war. Weitere Ermittlungen, ob ein Eröffnungsgrund tatsächlich vorgelegen hat, finden hierzu im Rahmen der Entscheidung über die Kosten nicht statt. War der Antrag zulässig, so sind die Kosten des Verfahrens in der Regel dem Schuldner aufzuerlegen. Eine Kostenentscheidung zu Lasten des antragstellenden Gläubigers kommt hingegen in Betracht, wenn sich eine Zurückweisung des Eröffnungsantrags als unzulässig abzeichnet oder die gerichtlichen Ermittlungen schwerwiegende Zweifel daran ergeben haben, dass zur Zeit der Antragstellung ein Eröffnungsgrund vorlag.“ Vgl. zu dieser Gerichtsentscheidung auch Fn. 90 f. sowie zum Prüfungsumfang des Gerichts im Fall einer einseitig gebliebenen Erledigungserklärung das bereits in Fn. 44 erwähnte BGH-Urteil v. 25.9.2008 – IX ZB 131/07, ZInsO 2008, 1206, 1207 = ZIP 2008, 2285.

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punkt begründet war, darf es also nicht81) im Vorgriff auf die Wertung des § 14 Abs. 3 InsO den (ehemaligen) Antragsgegner, sondern nur den (ehemaligen) Antragsteller mit Kostennachteilen belasten. Sähe man das anders,82) würde man einem der Erledigungserklärung des Antragstellers nicht rechtzeitig (§ 91a Abs. 1 Satz 2 ZPO) widersprechenden Antragsgegner auch dann, wenn das Vorliegen eines Eröffnungsgrundes nach dem bei Abgabe der Erledigungserklärung erreichten Ermittlungsstand nicht (mehr) überwiegend wahrscheinlich oder sogar unwahrscheinlich ist, jede Chance nehmen, einer anteiligen oder sogar vollständigen Auferlegung der Verfahrenskosten zu entgehen. Zugleich würde man Finanzbehörden und Sozialversicherungsträger kostenmäßig selbst dann besserstellen als andere Antragsteller, wenn sie von dem im Wesentlichen nur ihnen83) zugestandenen Recht, den Eröffnungsantrag im Fall des § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO aufrechtzuerhalten, also von der Handlungsoption, zu deren Ausübung § 14 Abs. 3 InsO sie auf Kosten des Antragsgegners animieren möchte,84) keinen Gebrauch machen. Das aber wäre, ungeachtet der ordnungspolitischen Fragwürdigkeit85) der nicht ausgeübten Befugnis, eindeutig zu viel der Fürsorge. cc) Das Druckantrag-Argument Die hier vertretene Ansicht, dass die Existenz des § 14 Abs. 3 InsO bei der Ausübung des von § 91a ZPO (i. V. m. § 4 InsO) geforderten billigen Ermessens niemals eine Rolle spielen darf, wird vermutlich nicht auf ungeteilte Zustimmung stoßen.86) Die insolvenzgerichtliche Praxis hat jedoch zu einer Argumentation gefunden, mit deren Hilfe in vielen Fällen gleichwohl erreicht werden kann, dass das im Fall einer gemeinschaftlichen87) Erledigungserklärung geforderte kostenrechtliche Ermessen ohne Rücksicht auf § 14 Abs. 3 InsO ausgeübt wird. Der Clou dieser Argumentation besteht darin, den nach Zahlungseingang für erledigt erklärten Eröffnungsantrag eines Finanzamts oder Sozialversicherungsträgers wegen der Erledi81) 82) 83) 84) 85) 86) 87)

Vgl. Marotzke, ZInsO 2011, 841, 852; ebenso Sternal in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 14 Rz. 62. In diesem Sinne – allerdings eher resignierend – Frind, ZInsO 2010, 2183, 2185. Siehe oben II. 3. c) aa), insbesondere die letzten drei Absätze. Siehe oben I. Vgl. Fn. 56. Zum Meinungsstand siehe oben Fn. 81 f. Im Fall der einseitig gebliebenen Erledigungserklärung eines Finanzamts oder Sozialversicherungsträgers bedarf es, folgt man den hierzu gemachten Ausführungen unter II. 3. c) aa), des Druckantrag-Arguments nur in den in Fn. 60 genannten Fällen.

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gungserklärung des Antragstellers als insolvenzzweckwidrigen „Druckantrag“ zu qualifizieren,88) der, wäre sein wirklicher Zweck bereits früher erkannt worden, ohne Prüfung der Begründetheit als unzulässig zurückzuweisen gewesen wäre (und zwar mit auf § 91 ZPO, § 4 InsO beruhender Kostenentscheidung zulasten des Antragstellers, da § 14 Abs. 3 InsO nicht auch den Fall der Antragszurückweisung als unzulässig umfasst). Etwas vorsichtiger agierende Gerichte erachten die tatsächlichen Voraussetzungen, unter denen der für erledigt erklärte Eröffnungsantrag als unzulässiger Druckantrag behandelt werden muss, bei Fehlen weiterer Indizien zwar nicht als definitiv vorliegend, aber doch immerhin als möglich89) oder sogar naheliegend.90) Sowohl auf die eine als auch auf die andere Weise kann man in Ausübung des gesetzlich vorgeschriebenen billigen Ermessens (§ 91a ZPO, § 4 InsO) sehr schön zu einer Kostenentscheidung gelangen, die im Ergebnis selbst dann gerechter ist als § 14 Abs. 3 InsO, wenn sie die Verfahrenskosten nicht vollständig dem Antragsteller auferlegt,91) sondern sie

88)

89) 90)

91)

In diesem Sinne AG Hamburg, Beschl. v. 27.9.2011 – 67c IN 74/11, ZInsO 2011, 2092 ff. = ZIP 2012, 1044 ff.; LG Köln, Beschl. v. 5.3.2018 – 1 T 5/18, NZI 2018, 355 f. = ZIP 2018, 1610 (dazu auch Fn. 91, 96); AG Köln, Beschl. v. 18.11.2017 – 72 IN 171/17, II. 2., Rz. 25, abrufbar unter http://www.justiz.nrw.de/nrwe/ag_koeln/j2017/72_IN_ 171_17_Beschluss_20171118.html, (dazu auch Fn. 51, 67, 69, 70, 90, 91); nicht jedoch AG Köln, Beschl. v. 20.2.2018 – 73 IN 237/17, ZInsO 2018, 1688, 1689. In diesem Sinne AG Köln, Beschl. v. 20.10.2017 – 75 IN 309/17, ZIP 2018, 500 = NZI 2018, 68 f., m. Anm. Frind. In diesem Sinne anscheinend das LG Köln, Beschl. v. 24.8.2016 – 13 T 87/16, ZInsO 2016, 1997, 1998 = ZVI 2017, 67: Die Erledigungserklärung könne ein „erhebliches Indiz für einen Druckantrag“ darstellen. Vgl. auch AG Köln, Beschl. v. 18.11.2017 – 72 IN 171/17, II. 2., Rz. 25, abrufbar unter http://www.justiz.nrw.de/nrwe/ag_koeln/j2017/ 72_IN_171_17_Beschluss_20171118.html, (vgl. zu diesem Beschluss auch Fn. 51, 67, 69, 70, 90, 91). Einen Druckantrag nach Lage des Falles verneinend AG Köln, Beschl. v. 20.2.2018 – 73 IN 237/17, ZInsO 2018, 1688, 1689 (bereits erwähnt in Fn. 60, 88). Die Verfahrenskosten vollständig dem Antragsteller auferlegend AG Hamburg, Beschl. v. 27.9.2011 – 67c IN 74/11, ZInsO 2011, 2092 ff. = ZIP 2012, 1044 ff.; AG Köln, Beschl. v. 13.5.2016 –75 IN 441/15, diese Entscheidung bestätigend LG Köln, Beschl. v. 24.8.2016 – 13 T 87/16, ZInsO 2016, 1997, 1998 = ZVI 2017, 67 (Textauszug oben Fn. 80; dem LG zustimmend Frind, Wer nicht fortsetzen will, muss zahlen – zum „Unwillen“ von Gläubigern, von der Möglichkeit des § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO Gebrauch zu machen, ZInsO 2016, 2337, 2339 f.); LG Köln, Beschl. v. 5.3.2018 – 1 T 5/18, NZI 2018, 355 f. = ZIP 2018, 1610; AG Köln, Beschl. v. 18.11.2017 – 72 IN 171/17, abrufbar unter http://www.justiz.nrw.de/nrwe/ag_koeln/j2017/72_IN_171_17_Beschluss_ 20171118.html; LG Hamburg, Beschl. v. 2.5.2019 – 326 T 20/19, ZInsO 2019, 1487 f. In dem Fall, der dem Beschluss des AG Köln v. 18.11.2017 zugrunde lag, ergab sich die Unzulässigkeit des Eröffnungsantrags allerdings nicht nur aus dessen insolvenzzweckwidriger Motivation, sondern auch schon aus der örtlichen Unzuständigkeit des angegangenen Gerichts (Entscheidungsgründe II. 2., Rz. 26).

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gemäß §§ 91a Abs. 1, 92 Abs. 1 ZPO (i. V. m. § 4 InsO) gegeneinander aufhebt.92) Diese Entscheidungspraxis blieb jedoch nicht ohne Kritik.93) Einer der schärfsten Kritiker hat seine Einwände wie folgt auf den Punkt gebracht:94) Die Gerichte würden Sozialversicherungsträgern und Finanzämtern, die ihren gegen einen Betrags- oder Steuerschuldner gestellten Insolvenzantrag nach Eingang von Zahlungen für erledigt erklären, zunehmend „unterstellen“, sie hätten das Eröffnungsverfahren überhaupt nur eingeleitet, um solche Zahlungen zu erzwingen. Da der Eröffnungsantrag aus diesem Grunde als unzulässig angesehen werde, komme es auch im Fall beiderseitiger Erledigungserklärung (§ 91a ZPO i. V. m. § 4 InsO) zu einer Überbürdung der Verfahrenskosten auf den Antragsteller. Die gerichtliche Praxis, die in der fehlenden Bereitschaft eines Finanzamts oder Sozialversicherungsträgers, seinen Eröffnungsantrag im Fall des § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO aufrechtzuerhalten, ein gewichtiges Indiz für das Vorliegen eines unzulässigen Druckantrags sehe, sei „beweisrechtlich nicht haltbar“. Die Feststellung, dass ein unzulässiger Druckantrag vorliege oder die nach Zahlungseingang abgegebene Erledigungserklärung missbräuchlich sei, bedürfe zusätzlicher Anhaltspunkte. Denn: Egoismus nach Antragstellung [sei] ohne Beweiswert für die Motivation bei Antragstellung.95) Diese Argumentation steht und fällt mit der ihr zugrunde liegenden Prämisse, dass es für Beurteilung, ob der nach Zahlungseingang für erledigt erklärte Eröffnungsantrag als unzulässiger Druckantrag gewertet werden muss, allein auf die Motivationslage im Zeitpunkt der Antragstellung ankomme, also darauf, ob dem Antragsteller bereits zu diesem frühen Zeit-

92)

93)

94) 95)

Die Kosten gegeneinander aufhebend AG Köln, Beschl. v. 20.10.2017 – 75 IN 309/17, ZIP 2018, 500 = NZI 2018, 68 f., m. Anm. Frind und m. abl. Anm. Waltenberger, ZInsO 2017, 2690 ff. Vgl. Waltenberger, ZInsO 2017, 2690 ff.; Foerste, Kostenhaftung von Störern einer Marktbereinigung nach § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO, ZInsO 2017, 1263 ff.; Foerste/Helte, ZInsO 2017, 2722 ff.; AG Göttingen, Beschl. v. 9.1.2018 – 74 IN 210/17, NZI 2018, 159 ff. = ZIP 2018, 992 f. = ZInsO 2018, 396 f. (dazu oben II. 3. b); AG Leipzig, Beschl. v. 5.9.2017 – 403 IN 1109/17, ZInsO 2017, 2704, 2706 = ZVI 2018, 17; AG Hannover, Beschl. v. 28.12.2018 – 908 IN 538/18 – 7, ZInsO 2019, 158, 159 = ZIP 2019, 1080. Vgl. Foerste, ZInsO 2017, 1263, 1268 (unter „IV. Resümee“). Foerste, ZInsO 2017, 1263, 1268; vgl. auch Webel, ZInsO 2017, 2261, 2262.

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punkt96) nicht wirklich an der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens, sondern lediglich an der Erlangung einer Zahlung des durch den Eröffnungsantrag unter Druck gesetzten Schuldners gelegen war. Diese Prämisse ist jedoch keineswegs zwingend. Denn für das Zivilverfahrensrecht ist zu Recht allgemein anerkannt, dass ein Antrag auch dann nicht zu einer dem Antragsteller günstigen Gerichtsentscheidung führen darf, wenn er zwar zunächst zulässig war, jedoch im Laufe des durch ihn initiierten Verfahrens nachträglich unzulässig wurde. Überträgt man dies auf das insolvenzrechtliche Eröffnungsverfahren, wird man den Eröffnungsantrag eines Finanzamts oder Sozialversicherungsträgers auch dann als unzulässig ansehen müssen, wenn der Antragsteller nach Erfüllung seiner Forderung beschließt, das Verfahren nicht weiter zu betreiben. Durch diese Entscheidung verleiht der Antragsteller seinem Eröffnungsantrag „spätestens jetzt“, aber immer noch rechtzeitig97) vor der ihr als Vollzugsakt nachfolgenden Erledigungserklärung und mit starker Indizwirkung auch für die bereits unmittelbar vor Zahlungseingang gehegten Absichten,98) den Charakter eines unzulässigen Druckantrags.99) Es fällt schwer zu glauben, dass das Gericht dies bei der 96)

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98)

99)

In diesem Sinne die in Fn. 95 Genannten und wohl auch das AG Göttingen, Beschl. v. 9.1.2018 – 74 IN 210/17, II. 3. a), NZI 2018, 159 ff. = ZIP 2018, 992 f. = ZInsO 2018, 396 f. Der Erledigungserklärung der Antragstellerin eine bis zum Zeitpunkt der Stellung des Eröffnungsantrags zurückwirkende Indizwirkung zuerkennend LG Köln, Beschl. v. 5.3.2018 – 1 T 5/18, NZI 2018, 355 f. = ZIP 2018, 1610 (bereits erwähnt in Fn. 88, 91): Der Umstand, dass nach Befriedigung der Gläubigerin der Antrag für erledigt erklärt wurde, spreche im konkreten Fall dafür, dass die Gläubigerin mit ihrem Antrag „einzig und allein“ das Ziel verfolgt habe, Druck auf den Schuldner zwecks Befriedigung ihrer Forderung außerhalb und vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens auszuüben, dass sie aber „nie“ das Ziel verfolgt habe, „das Insolvenzverfahren tatsächlich zur Durchführung zu bringen.“ Im Ergebnis übereinstimmend AG Hamburg, Beschl. v. 27.9.2011 – 67c IN 74/11, ZInsO 2011, 2092, 2093 (li. Sp.) = ZIP 2012, 1044: Im Rahmen der nach §§ 91a ZPO, 4 InsO zu treffenden Kostenentscheidung sei auch zu berücksichtigen, ob der „zunächst zulässige“ Eröffnungsantrag sich „nunmehr nach den derzeitigen Erkenntnissen“ als unzulässiger Druckantrag darstelle. Vgl. auch Sternal in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 14 Rz. 62 („Für die Kostenentscheidung über einen erledigten Antrag komm[e] es, wie allgemein, auf den Zeitpunkt des erledigenden Ereignisses an.“) und Waltenberger, ZInsO 2017, 2690, 2691 (Das Vorliegen eines unzulässigen Druckantrags könne die Kostenentscheidung im Fall des § 91a InsO [„nur“] beeinflussen, wenn ein solcher „bereits vor der Erledigungserklärung als gegeben anzunehmen war.“). Allerdings hat Waltenberger das große Potenzial seiner schönen Formulierung nicht vollständig ausgeschöpft (vgl. Fn. 99). Insoweit übereinstimmend die in Fn. 88 bis 90 Genannten, mögen auch deren Ausführungen zur zeitlichen Reichweite dieser Indizwirkung (Rückwirkung auf den Zeitpunkt der Antragstellung?) nicht in allen Fällen (aber: Fn. 96) völlig eindeutig sein. Diese Möglichkeit trotz der weiten Fassung seiner in Fn. 97 zitierten Formulierung außer Acht lassend Waltenberger, ZInsO 2017, 2690 ff.

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Ausübung seines billigen Ermessens (§ 91a ZPO) außer Acht lassen darf oder sogar muss. Die beliebte Ausrede, das Fallenlassen des Eröffnungsantrags habe nicht der anfechtungsfesten Sicherung der vereinnahmten Zahlung, sondern der Vermeidung der Zurückweisung des Eröffnungsantrags als „unzulässig“ (kein Fall des § 14 Abs. 3 InsO!) gedient, mag man einem Gläubiger, dessen Eröffnungsantrag nach Erfüllung seiner Forderung automatisch unzulässig wird, möglicherweise abnehmen. Zum Kreis dieser Gläubiger gehören die durch § 14 Abs. 1 Satz 2 InsO begünstigten Finanzbehörden und Sozialversicherungsträger aber nur dann, wenn der Schuldner seinen Betrieb stillgelegt und alle Arbeitnehmer entlassen hat100) oder das künftige Auflaufen weiterer Steuer- oder Beitragsschulden aus einem anderen Grunde101) nicht mehr zu erwarten ist. III. Fazit Die Ausführungen haben gezeigt, dass sich auch in einigen rechtlich schwierigeren Fällen durchaus noch Wege finden lassen, die nicht in den Anwendungsbereich des § 14 Abs. 3 InsO, sondern am Eingangstor der Vorschrift vorbeiführen. Jedenfalls dann, wenn das Finanzamt oder der Sozialversicherungsträger seinen gegen den Steuer- oder Beitragsschuldner gerichteten Eröffnungsantrag zurückgenommen oder für erledigt erklärt hat, ist es keineswegs zwingend, dass die in der Schaffung des § 14 Abs. 3 InsO liegende „ungerechte“ Tat des Gesetzgebers „fortzeugend immer Böses gebären“ muss. Schaut man aber nicht nur auf die Ergebnisse, sondern auch auf die Begründungen einiger insolvenzgerichtlicher Kostenentscheidungen, so lässt sich in manchen Fällen eine juristische Grenzwertigkeit nicht leugnen. Einige Begründungen sind höchstwahrscheinlich rechtsfehlerhaft,102) andere zumindest in einzelnen Formulierungen103) derart unklar, dass im rechtswis-

100) Vgl. Fn. 60. 101) Vgl. die vom AG Leipzig, Beschl. v. 5.9.2017 – 403 IN 1109/17, ZInsO 2017, 2704 = ZVI 2018, 17 (siehe oben Fn. 40 f., 60, 93), und vom AG Mönchengladbach, Beschl. v. 29.1.2018 – 45 IN 66/17, ZInsO 2018, 398 f. (siehe oben Fn. 60), entschiedenen Fälle. 102) Letzteres gilt für die Argumentation des allerdings nicht auf eine Erledigungserklärung, sondern auf schlichtes Stillschweigen der Antragstellerin reagierenden Beschlusses des AG Göttingen, Beschl. v. 9.1.2018 – 74 IN 210/17, NZI 2018, 159 ff. = ZIP 2018, 992 f. = ZInsO 2018, 396 f., dazu oben II. 3. b). 103) Vgl. den Hinweis in Fn. 98.

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senschaftlichen Schrifttum bereits der (berechtigte?)104) Vorwurf erhoben wurde, in der gerichtlichen Praxis würden die Voraussetzungen, unter denen insolvenzrechtliche Eröffnungsanträge von Finanzämtern oder Sozialversicherungsträgern als unzulässige Druckanträge anzusehen seien (was dann jeden, auch einen durch § 91a Abs. 1 Satz 1 InsO vermittelten indirekten105) Rückgriff auf § 14 Abs. 3 InsO ausschließen und folglich unabhängig von der Begründetheit oder Unbegründetheit des – ja bereits „unzulässigen“ – Eröffnungsantrags immer zu einer vollständigen Kostenüberbürdung auf den Antragsteller führen würde), zunehmend106) und gern107) „unterstellt“108) bzw. „beweisrechtlich nicht haltbar“109) als vorliegend erachtet. Solche und ähnliche Kritik der verbreiteten Gerichtspraxis findet sich nicht nur im Schrifttum, sondern auch in den Gründen einiger etwas abseits des aktuellen Mainstreams argumentierender insolvenzgerichtlicher Entscheidungen,110) die mitunter aber dennoch Mittel und Wege fanden (oder gefunden zu haben glaubten)111), um die Kosten des Eröffnungsverfahrens im konkreten Fall allein dem antragstellenden Sozialversicherungsträger aufzuerlegen. Man geht vermutlich nicht fehl, wenn man einen der Gründe für die zunehmende argumentative Risikobereitschaft mancher Insolvenzgerichte in § 14 Abs. 3 InsO sieht: Man weicht dieser als ungerecht empfundenen Vorschrift nach Möglichkeit aus und geht dabei beherzt bis an die Grenzen des juristisch Vertretbaren. Das ist unter dem Aspekt der Einzelfallgerechtigkeit gewiss keine böse, sondern sogar eine sehr gute Tat. Als Fluch einer ungerechten Tat, nämlich der Schaffung des § 14 Abs. 3 InsO, muss man aber wohl den im juristischen Schrifttum und in der gerichtlichen Praxis 104) 105) 106) 107) 108) 109) 110)

Vgl. dazu II. 3. c) cc), letzter Absatz. Siehe oben II. 3. c) cc). Foerste, ZInsO 2017, 1263, 1268. Foerste/Helte, ZInsO 2017, 2722 (im Vorspanntext). Foerste, ZInsO 2017, 1263, 1268, und Foerste/Helte, ZInsO 2017, 2722. Foerste, ZInsO 2017, 1263, 1268. In der Kritik sehr deutlich, aber die Kosten des Eröffnungsverfahrens mit anderer Begründung dennoch dem Antragsteller auferlegend AG Leipzig, Beschl. v. 5.9.2017 – 403 IN 1109/17, ZInsO 2017, 2704, 2706 f. = ZVI 2018, 17 (bereits erwähnt in Fn. 40, 56, 60, 93, 101). Der Kritik moderateren Formulierungen zustimmend, aber die Verfahrenskosten aus anderen Gründen gleichwohl vollständig dem Antragsteller auferlegend AG Göttingen, Beschl. v. 9.1.2018 – 74 IN 210/17, NZI 2018, 159 ff. = ZIP 2018, 992 f. = ZInsO 2018, 396 f., dazu oben II. 3. b). Der Kritik ebenfalls zustimmend und die Verfahrenskosten deshalb dem Antragsgegner auferlegend der auch in Fn. 44, 93 erwähnte Beschluss des AG Hannover v. 28.12.2018 – 908 IN 538/18 – 7, ZInsO 2019, 158, 159 = ZIP 2019, 1080. 111) Siehe oben II. 3. b).

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schwelenden Streit über den richtigen Inhalt der Kostenentscheidung ansehen, die das Insolvenzgericht zu treffen hat, wenn eine Finanzbehörde oder Sozialkasse ihren gegen einen Steuer- oder Beitragsschuldner gerichteten Eröffnungsantrag nach Eingang aller fälligen Zahlungen für erledigt erklärt. Die im vorliegenden Beitrag vertretenen Ausführungen zur Unbeachtlichkeit der Wertungen des § 14 Abs. 3 InsO im Fall der Erledigungserklärung112) und die Ausführungen zur Bedeutung der Erledigungserklärung für die Feststellung eines „spätestens jetzt“113) unzulässigen Druckantrags bieten einem zu Unrecht der Insolvenz bezichtigten Antragsgegner zwar einen gewissen Schutz. Dieser wirkt jedoch nicht in allen Situationen: Überhaupt nicht, jedenfalls nicht ohne Hilfe des Bundesverfassungsgerichtes, ist der Antragsgegner vor § 14 Abs. 3 InsO zu retten, wenn die Finanzbehörde oder Sozialkasse trotz zwischenzeitlicher Erfüllung ihrer Forderungen am Eröffnungsantrag festhält, das Gericht nach gründlicher Sachprüfung das Vorliegen eines Eröffnungsgrundes verneint und der Antrag deshalb als unbegründet abgewiesen wird. Selbst wenn das Bundesverfassungsgericht den § 14 Abs. 3 InsO irgendwann für nichtig114) erklären sollte (was auf Zulässigkeitsebene eine sehr ausführlich begründete115) fachgerichtliche Vorlage voraussetzt), besteht für zu Unrecht der Insolvenz Bezichtigte kein Grund zu ungeteilter Freude. War im konkreten Fall bereits ein vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt, droht ihnen nämlich weiterhin erhebliches finanzielles Unheil aufgrund des ebenfalls sehr kritisch zu sehenden116) § 26a InsO.

112) Siehe oben II. 3. c) bb) (die Textpassage mit den Fn. 81 ff.); a. A. Frind, ZInsO 2010, 2183, 2185. 113) Siehe oben II. 3. c) cc) (die Textpassage mit den Fn. 96 ff.); Nachweise zur a. A. in Fn. 95, 105 ff. 114) Vgl. §§ 78 Satz 1, 82 Abs. 1 BVerfGG. 115) Siehe oben II. 1. 116) Marotzke, ZInsO 2015, 2397, 2398 f., insbesondere Fn. 11 f.

Objektive Gläubigerbenachteiligung und Saldierung mit Vorteilen der Masse THOMAS MEHRING Inhaltsübersicht I. II.

Problemstellung Hypothetischer Kausalverlauf und Gesamtvermögensvergleich 1. Die Maßgeblichkeit einer hypothetischen Vergleichsbetrachtung zur Bestimmung der objektiven Gläubigerbenachteiligung a) Der Kausalitätsbegriff des Anfechtungsrechts b) Die Kausalität der Unterlassung 2. Die Gretchenfrage: Wie hast du’s mit der Saldierung von Vorteilen? III. Saldierung von Vorteilen im Anfechtungsrecht 1. Die isolierte Anfechtung einzelner Wirkungen einer Rechtshandlung

2. Die Anweisung auf Schuld und auf Kredit als Problematik der Verrechnung von Vorteilen 3. Die Bedeutung der Gegenleistung des Anfechtungsgegners a) Die Gegenleistung als Differenzierungskriterium am Beispiel der Ablösung von Sicherheiten b) Die Bedeutung der vom Anfechtungsgegner erbrachten Gegenleistung bei anderen Sachverhalten 4. Das Bargeschäft als Sonderfall zulässiger Saldierung von Vorteilen und Nachteilen der Masse IV. Zusammenfassung

I. Problemstellung Es gehört zu den gesicherten Erkenntnissen des Insolvenzanfechtungsrechts, dass sich der Begriff der objektiven Gläubigerbenachteiligung (§ 129 Abs. 1 InsO) von schadensrechtlichen Kategorien grundlegend unterscheidet. Nach der Differenzhypothese des § 249 Abs. 1 BGB bestimmt sich der ersatzfähige Schaden durch einen Gesamtvermögensvergleich, der nicht lediglich Einzelpositionen in den Blick nimmt, sondern alle vom haftungsbegründenden Ereignis betroffenen Positionen umfasst und die tatsächliche Vermögenslage der hypothetischen Lage gegenüberstellt, die ohne das haftungsbegründende Ereignis bestünde.1) Indem auf das Gesamtvermögen des Geschädigten abgestellt wird, vermindert sich der Schaden grundsätzlich durch Vermögensvorteile, welche dem Geschädigten neben nachteiligen Folgen durch das schädigende Ereignis erwachsen sind. Demgegenüber soll sich der ursächliche Zusammenhang zwischen der angefochtenen Rechts1)

BGH, Urt. v. 8.9.2016 – IX ZR 255/13, Rz. 11, ZIP 2017, 287 = ZInsO 2017, 93.

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handlung und der objektiven Gläubigerbenachteiligung allein auf der Grundlage des realen Geschehens beurteilen, während für hypothetische, nur gedachte Kausalverläufe kein Raum sei.2) Der Eintritt einer Gläubigerbenachteiligung bestimme sich überdies isoliert mit Bezug auf die konkret bewirkte Minderung des Aktivvermögens oder Mehrung der Passiva, eine Vorteilsausgleichung durch Saldierung mit zugleich eingetretenen Vorteilen der Masse finde grundsätzlich nicht statt.3) Wie nachfolgend aufgezeigt werden soll, vermögen die gängigen Formeln gläubigerbenachteiligende von masseneutralen Vorgängen nicht abzugrenzen, wenn sich eine Rechtshandlung auf die Quotenerwartung der Insolvenzgläubiger zugleich nachteilig wie auch günstig ausgewirkt hat. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung hat sich hierzu eine Kasuistik herausgebildet, die aber das maßgebliche Wertungskriterium offenlässt, dem die Entscheidung in den jeweiligen Fallgruppen folgt. Es soll herausgearbeitet werden, dass die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs – ohne dieses Differenzierungskriterium ausdrücklich zu benennen – einen masseneutralen Aktiv- oder Passivtausch im Wesentlichen dann annimmt, wenn der mit einem Nachteil korrespondierende Vorteil der Masse auf einer Gegenleistung des späteren Anfechtungsgegners beruht. Nicht mit diesem Maßstab vereinbar und folgerichtig aufzugeben ist die Figur der Anweisung auf Kredit, in welcher der Bundesgerichtshof eine objektive Gläubigerbenachteiligung zu Unrecht verneint. II. Hypothetischer Kausalverlauf und Gesamtvermögensvergleich 1. Die Maßgeblichkeit einer hypothetischen Vergleichsbetrachtung zur Bestimmung der objektiven Gläubigerbenachteiligung a) Der Kausalitätsbegriff des Anfechtungsrechts Die Formel, die objektive Gläubigerbenachteiligung bestimme sich allein auf der Grundlage des realen Geschehens, während für hypothetische Kau2) 3)

BGH, Urt. v. 9.6.2016 – IX ZR 153/15, Rz. 30, ZIP 2016, 1491 = ZVI 2017, 25; BGH, Urt. v. 15.11.2018 – IX ZR 229/17, Rz. 17, ZIP 2019, 233 = WM 2019, 213. BGH, Urt. v. 9.7.2009 – IX ZR 86/08, Rz. 27 f., ZIP 2009, 1674 = ZVI 2009, 370; BGH, Urt. v. 18.7.2013 – IX ZR 219/11, Rz. 14, BGHZ 198, 64 = ZIP 2013, 1579; Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 129 Rz. 175 f.; Thole in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 129 Rz. 45; Ehricke in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, 78. EL 11/2018, § 129 Rz. 87 f.; Huber in: Graf-Schlicker, InsO, 5. Aufl. 2019, § 129 Rz. 24; Raupach in: BeckOK-InsO, 26.10.2018, § 129 Rz. 58; Schäfer in: Kummer/Schäfer/Wagner, Insolvenzanfechtung, 3. Aufl. 2017, Rz. B 314, B 328.

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salverläufe kein Raum sei,4) ist irreführend, weil sie die Annahme nahelegt, die gläubigerbenachteiligende Wirkung einer Rechtshandlung lasse sich ohne eine hypothetische Vergleichsbetrachtung beurteilen. Dies ist aber nicht möglich. Das „reale Geschehen“ besteht aus der zeitlichen Abfolge einzelner Ereignisse, welche gedanklich miteinander verknüpft werden müssen, um einen Umstand als Ursache eines anderen einstufen zu können. Um die Ursächlichkeit vom bloßen zeitlichen Nacheinander abgrenzen zu können, bedarf es des aus anderen Rechtsgebieten bekannten hypothetischen Eliminationsverfahrens, wonach ein solcher Umstand eine Ursache ist, welcher nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele.5) An diesem Kausalitätsbegriff kommt auch das Insolvenzanfechtungsrecht nicht vorbei, indem für das Vorliegen einer objektiven Gläubigerbenachteiligung darauf abgestellt wird, ob sich die Befriedigungsmöglichkeiten ohne die angefochtene Handlung bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise günstiger gestaltet hätten.6) Die Formel, wonach für hypothetische Kausalverläufe kein Raum sei, bedeutet folglich keinen anfechtungsrechtlichen Sonderweg zur Bestimmung der Kausalität. Um das reale Geschehen auf Kausalität untersuchen zu können, bedarf es vielmehr der Vergleichsbetrachtung mit einem hypothetischen Kausalverlauf. Richtig an der Absage an hypothetische Kausalverläufe ist aber die Schlussfolgerung, dass der Anfechtungsgegner einer objektiven Gläubigerbenachteiligung nicht entgegenhalten kann, ohne die angefochtene Rechtshandlung wäre die Masse auf andere Weise geschmälert worden,7) mit anderen Worten sog. Reserveursachen rechtlich unbeachtlich sind.8) Hierbei handelt es sich aber nicht um eine Besonderheit des Insolvenzanfechtungsrechts, sondern um die bereits aus dem Schadensrecht bekannte Ausgestaltung des hypothetischen Eliminationsverfahrens.9)

4) 5) 6) 7) 8) 9)

BGH, Urt. v. 9.6.2016 – IX ZR 153/15, Rz. 30, ZIP 2016, 1491 = ZVI 2017, 25; BGH, Urt. v. 15.11.2018 – IX ZR 229/17, Rz. 17, ZIP 2019, 233 = WM 2019, 213. BGH, Urt. v. 5.5.2011 – IX ZR 144/10, Rz. 35, BGHZ 189, 299 = ZIP 2011, 1419. BGH, Urt. v. 19.7.2018 – IX ZR 307/16, Rz. 15, ZIP 2018, 1601 = ZVI 2018, 409; Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 129 Rz. 169. BGH, Urt. v. 15.11.2018 – IX ZR 229/17, Rz. 17, ZIP 2019, 233 = WM 2019, 213. Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 129 Rz. 181. Vgl. dazu BGH, Urt. v. 20.7.2006 – IX ZR 94/03, Rz. 22, BGHZ 168, 352 = WM 2006, 1742.

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b) Die Kausalität der Unterlassung Ferner soll sich aus der Unbeachtlichkeit hypothetischer Kausalverläufe ergeben, dass eine objektive Gläubigerbenachteiligung nicht vorliege, wenn das Schuldnervermögen nicht gemindert worden sei, sondern der Schuldner es lediglich unterlassen habe, sein Vermögen zu mehren.10) Hinter dieser vermeintlichen Abkehr vom hypothetischen Eliminationsverfahren verbirgt sich eine falsche Etikettierung. So sieht der Bundesgerichtshof die Gewährung eines zinslosen Darlehens aus dem Privatvermögen des Schuldners dann als Verkürzung seines Aktivvermögens an, wenn der Schuldner ohne diese Darlehensvergabe Nutzungsvorteile aus der Darlehensvaluta erzielt hätte.11) Die unentgeltliche Überlassung einer Immobilie durch den Schuldner soll dann objektiv gläubigerbenachteiligend sein, wenn es üblich und dem Schuldner möglich gewesen wäre, hierfür eine Gegenleistung zu verlangen.12) Damit stellt der Bundesgerichtshof eben doch darauf ab, ob das Schuldnervermögen im Falle eines hypothetischen Verlaufs durch den Zufluss von (Darlehens- oder Miet-)Zinsen erhöht worden wäre. Folglich geht es auch hier nicht darum, den Begriff der objektiven Gläubigerbenachteiligung auf andere Weise als durch eine hypothetische Vergleichsbetrachtung zu bestimmen. Besonders deutlich wird dies an den Ausführungen des Bundesgerichtshofs, die Feststellung, ob der Schuldner ohne die Gewährung eines zinslosen Darlehens aus seinem Geldvermögen eine Rendite erzielt hätte, betreffe nicht einen hypothetischen Kausalverlauf, sondern die Beurteilung der Kausalität auf der Grundlage des realen Geschehens.13) Nach hier vertretener Auffassung stellt die Frage, wie der Schuldner sich ohne die zinslose Darlehensgewährung als angefochtene Rechtshandlung verhalten hätte (und ob seinem Vermögen dann Zinserträge zugeflossen wären), eine hypothetische Betrachtung dar, die zur Beurteilung der Kausalität anzustellen ist. Wird angenommen, der Schuldner hätte ohne die unentgeltliche Kapitalüberlassung Zinserträge erzielt, so besteht die objektive Gläubigerbenachteiligung darin, dass eine Mehrung des Schuldnervermögens unterblieben 10)

11) 12) 13)

BGH, Urt. v. 2.4.2009 – IX ZR 236/07, Rz. 15, ZIP 2009, 1080 = ZInsO 2009, 1060; BGH, Urt. v. 19.7.2018 – IX ZR 307/16, Rz. 15, ZIP 2018, 1601 = ZVI 2018, 409; Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 129 Rz. 170; Jaeger in: Henckel, InsO, § 129 Rz. 129; einschränkend Thole in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 129 Rz. 27. BGH, Urt. v. 15.11.2018 – IX ZR 229/17, Rz. 22, ZIP 2019, 233 = WM 2019, 213. BGH, Urt. v. 19.7.2018 – IX ZR 307/16, Rz. 18, ZIP 2018, 1601 = ZVI 2018, 409. BGH, Urt. v. 15.11.2018 – IX ZR 229/17, Rz. 18, ZIP 2019, 233 = WM 2019, 213.

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ist. Dies wird verdeckt, indem der Bundesgerichtshof auf eine Verkürzung des Aktivvermögens abstellt, eine solche aber dann bejaht, wenn der Schuldner ohne die zinslose Überlassung des Geldes tatsächlich Nutzungsvorteile erzielt hätte.14) Hat sich nie ein Zinsanspruch im Aktivvermögen befunden, so kann dieses nicht um Zinsen verkürzt worden sein, so dass die objektive Gläubigerbenachteiligung sich nur aus dem Unterbleiben einer Vermögensmehrung ergeben kann. Bei der Differenzierung zwischen gewerblichen Vermögensbestandteilen, welche typischerweise zur Renditeerzielung eingesetzt werden, und Privatvermögen, bei dem dies nicht der Fall ist,15) handelt es sich daher nicht um einen rechtlichen Maßstab zur Bestimmung des Aktivvermögens, sondern um einen tatsächlichen Erfahrungssatz zur Frage, ob der Schuldner ohne die angefochtene Hingabe eines zinslosen Darlehens Zinserträge erzielt hätte. Um eine wertungsmäßig nicht gerechtfertigt erscheinende Ausweitung des Anfechtungsrechts auf Fallgestaltungen zu unterbinden, in welchen eine lediglich vorstellbare Mehrung des Schuldnervermögens unterblieben ist, kann folglich nicht an den Begriff der objektiven Gläubigerbenachteiligung angeknüpft werden. Begrenzt wird der Kreis anfechtbarer Unterlassungen von Vermögensmehrungen dadurch, dass die Gleichstellung des Unterlassens mit dem Tun (§ 129 Abs. 2 InsO) teleologisch reduziert werden muss, indem nicht jede denkbare Handlung, welche hätte vorgenommen werden können, als relevantes Unterlassen genügt. Die teleologische Reduktion des § 129 Abs. 2 InsO ist nötig, weil die Anfechtbarkeit einer Rechtshandlung keine Pflichtwidrigkeit voraussetzt, so dass die schadensrechtliche Begrenzung rechtserheblicher Unterlassungen auf die Verletzung einer Handlungspflicht anfechtungsrechtlich keine Parallele findet. Anfechtungsrechtlich kann ein erhebliches Unterlassen daher nur dann vorliegen, wenn dies bewusst und gewollt erfolgt,16) während eine erst im Nachhinein aufgezeigte Handlungsmöglichkeit, welche zum Zeitpunkt ihrer Unterlassung gar nicht erwogen worden ist, außer Betracht bleibt. Die Anfechtbarkeit von Unterlassungen wird weiter durch die Merkmale des jeweiligen Anfechtungstatbestands eingeschränkt, insbesondere im Falle der Vorsatz-

14) 15) 16)

BGH, Urt. v. 15.11.2018 – IX ZR 229/17, Rz. 22, ZIP 2019, 233 = WM 2019, 213. BGH, Urt. v. 15.11.2018 – IX ZR 229/17, Rz. 20 ff., ZIP 2019, 233 = WM 2019, 213. BGH, Urt. v. 16.1.2014 – IX ZR 31/12, Rz. 12, ZIP 2014, 275 = ZVI 2014, 110; Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 129 Rz. 24.

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anfechtung.17) An der Feststellung der objektiven Gläubigerbenachteiligung durch ein hypothetisches Eliminationsverfahren ändert all dies nichts. 2. Die Gretchenfrage: Wie hast du’s mit der Saldierung von Vorteilen? Der maßgebliche Unterschied zwischen dem Schadensbegriff und demjenigen der objektiven Gläubigerbenachteiligung besteht nicht darin, dass bei letzterem auf das hypothetische Eliminationsverfahren verzichtet werden könnte, sondern in der Frage, ob die Beurteilung auf das Gesamtvermögen des Schuldners oder auf Einzelposten abstellt. Nach der Formel, wonach sich die Gläubigerbenachteiligung isoliert mit Bezug auf die konkret bewirkte Minderung des Aktivvermögens oder Mehrung der Passiva beurteile, während keine Saldierung mit zugleich eingetretenen Vorteilen der Masse erfolge,18) müsste für die objektive Gläubigerbenachteiligung folgerichtig genügen, dass entweder ein Aktivposten aus dem Schuldnervermögen ausgeschieden oder ein Passivposten hinzugekommen ist, ohne dass es darauf ankäme, ob zugleich ein anderer Aktivposten hinzugetreten oder ein anderer Passivposten entfallen ist. Selbst der Tausch einer 10 €-Note gegen zwei Noten zu jeweils 5 € wäre wegen des Ausscheidens eines Aktivpostens objektiv gläubigerbenachteiligend. Ebenso müsste bereits der Abschluss eines schuldrechtlichen Vertrags auch bei Ausgewogenheit von Leistung und Gegenleistung als gläubigerbenachteiligend angesehen werden, weil das Schuldnervermögen mit einer Verbindlichkeit belastet worden ist. Eine solchermaßen radikale Einzelbetrachtung löste sich freilich gänzlich von dem in ständiger Rechtsprechung aufgestellten Kriterium, dass sich die Befriedigungsmöglichkeiten der Insolvenzgläubiger ohne die angefochtene Handlung bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise günstiger gestaltet haben müssen.19) Die Berücksichtigung korrespondierender Vorteile der Masse, welche mit der angefochtenen Rechtshandlung

17) 18)

19)

BGH, Urt. v. 16.1.2014 – IX ZR 31/12, Rz. 13, ZIP 2014, 275 = ZVI 2014, 110. BGH, Urt. v. 9.7.2009 – IX ZR 86/08, Rz. 27 f., ZIP 2009, 1674 = ZVI 2009, 370; BGH, Urt. v. 18.7.2013 – IX ZR 219/11, Rz. 14, BGHZ 198, 64 = ZIP 2013, 1579; Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 129 Rz. 175 f.; Thole in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 129 Rz. 45; Ehricke in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, 78. EL 11/2018, § 129 Rz. 87 f.; Huber in: Graf-Schlicker, InsO, 5. Aufl. 2019, § 129 Rz. 24; Raupach in: BeckOK-InsO, 26.10.2018, § 129 Rz. 58; Schäfer in: Kummer/Schäfer/Wagner, Insolvenzanfechtung, 3. Aufl. 2017, Rz. B 314, B 328. Vgl. dazu BGH, Urt. v. 10.7.2014 – IX ZR 280/13, Rz. 12, ZIP 2014, 1887 = ZVI 2014, 465; BGH, Urt. v. 25.1.2018 – IX ZR 299/16, Rz. 9, ZIP 2018, 385 = ZVI 2018, 207.

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einhergehen, wird von der höchstrichterlichen Rechtsprechung daher auch nicht generell abgelehnt, sondern auf solche Folgen beschränkt, welche ihrerseits an die angefochtene Rechtshandlung selbst anknüpfen,20) was freilich seinerseits ein ausfüllungsbedürftiges Kriterium darstellt. Nach einer in der älteren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs verwendeten Formel, welche in jüngerer Zeit wieder aufgegriffen worden ist, soll die Insolvenzanfechtung gar der Insolvenzmasse keine Vermögensvorteile verschaffen, welche sie ohne die anfechtbare Handlung nicht erlangt hätte.21) Diese Formel ist mit der Einzelbetrachtung der nachteiligen Folgen der angefochtenen Handlung unvereinbar und wohl nicht wörtlich zu nehmen. Denn bleiben bei der Bestimmung der objektiven Gläubigerbenachteiligung Vorteile der Masse unberücksichtigt, welche durch die angefochtene Rechtshandlung bedingt sind, so hat dies notwendig zur Folge, dass die Masse nach Anfechtung besserstehen kann als sie stünde, wenn die angefochtene Rechtshandlung unterblieben wäre. Nach bislang ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung unterscheidet sich das Insolvenzanfechtungsrecht insofern nicht nur vom Schadensrecht, sondern auch vom Recht der Gläubigeranfechtung nach dem AnfG, welches dem anfechtungsberechtigten Gläubiger den durch die angefochtene Rechtshandlung vereitelten Gläubigerzugriff wieder erschließen, ihm aber nicht mehr Rechte verschaffen soll, als er bei wirtschaftlicher Betrachtung ohne die angefochtene Rechtshandlung hatte.22) Wollte man im Recht der Insolvenzanfechtung ein Verbot der Besserstellung der Masse annehmen, so müsste entgegen der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung nach schadensrechtlichem Vorbild eine Gesamtvermögensbetrachtung angestellt werden. III. Saldierung von Vorteilen im Anfechtungsrecht 1. Die isolierte Anfechtung einzelner Wirkungen einer Rechtshandlung Die Möglichkeit, die Masse nach erfolgreicher Anfechtung günstiger zu stellen als sie stünde, wenn die angefochtene Rechtshandlung unterblieben 20) 21)

22)

BGH, Urt. v. 26.1.2012 – IX ZR 99/11, Rz. 12, ZIP 2012, 636 = ZVI 2012, 272; BGH, Urt. v. 26.4.2012 – IX ZR 146/11, Rz. 31, ZIP 2012, 1183 = ZVI 2012, 336. BGH, Urt. v. 26.5.1971 – VIII ZR 61/70, WM 1971, 908 = BB 1971, 849; BGH, Urt. v. 26.1.1983 – VIII ZR 254/81, BGHZ 86, 349, 354 f. = ZIP 1983, 337; BGH, Urt. v. 15.11.2018 – IX ZR 229/17, Rz. 16, ZIP 2019, 233 = WM 2019, 213. Vgl. dazu BGH, Urt. v. 11.3.2010 – IX ZR 104/09, Rz. 12, ZIP 2010, 793 = ZInsO 2010, 711; BGH, Urt. v. 13.9.2018 – IX ZR 190/17, Rz. 16 f., ZIP 2018, 2083 = ZInsO 2018, 2356.

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wäre, ist mittelbar vorgezeichnet durch die Regelung des § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO zur Anfechtbarkeit der Aufrechnungslage. Nachfolgender, hier leicht verkürzt dargestellter, Fall mag dies verdeutlichen:23) Der Schuldner hatte erhebliche Verbindlichkeiten gegenüber der späteren Beklagten, einer Lieferantin, angehäuft, welche er nicht bezahlen konnte. Er verkaufte seinen Geschäftsbetrieb an die Beklagte, wobei der Kaufpreis vereinbarungsgemäß mit den offenen Verbindlichkeiten des Schuldners verrechnet werden sollte. Der Insolvenzverwalter forderte die Zahlung des Kaufpreises und hielt die Aufrechnung nach § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO für unwirksam. Der Bundesgerichtshof hat dem Aufrechnungseinwand der Beklagten den Erfolg versagt. Der Umstand, dass die vom Insolvenzverwalter geltend gemachte Kaufpreisforderung aus demselben Vertrag stamme, welcher auch die Aufrechnungslage mit den Gegenforderungen der Beklagten begründet habe, hindere nicht, die Aufrechnungslage als anfechtbar anzusehen. Denn Gegenstand der Anfechtung sei nicht der Abschluss des Kaufvertrags als solcher, sondern die Möglichkeit der Beklagten, ihre Verpflichtung aus dem Kaufvertrag durch Aufrechnung zu erfüllen. Der Insolvenzverwalter kann nach dieser Entscheidung folglich aufgrund der Anfechtung Leistungsansprüche aus einem Vertrag durchsetzen, obwohl gerade der Abschluss dieses Vertrags die angefochtene Rechtshandlung darstellt, mithin bei Unterbleiben der angefochtenen Rechtshandlung der Masse die vom Verwalter geltend gemachten Ansprüche nicht zustünden. Die Möglichkeit, der Masse aufgrund der Anfechtung eine Rechtsposition zu verschaffen, welche ohne die angefochtene Handlung nicht bestünde, ergibt sich aus der gesetzlichen Regelungstechnik des § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO, wonach die Anfechtbarkeit der Aufrechnungslage zur insolvenzrechtlichen Unzulässigkeit der Aufrechnung führt, ohne dass der Bestand der Gegenforderung infrage gestellt werden müsste. Die isolierte Anfechtbarkeit der Aufrechnungslage zeigt, dass es ein Verbot der Besserstellung der Masse durch Anfechtung gegenüber dem hypothetischen Zustand bei Unterbleiben der angefochtenen Rechtshandlung nicht geben kann. Ebenso wird hierdurch die Untauglichkeit des Kriteriums deutlich, wonach für die Masse günstige Folgen der angefochtenen Rechtshandlung dann beachtlich seien, wenn diese an die angefochtene Rechts-

23)

BGH, Urt. v. 2.6.2005 – IX ZR 263/03, ZIP 2005, 1521 = ZVI 2005, 431.

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handlung selbst anknüpfen,24) mit anderen Worten mit der angefochtenen Handlung tatsächlich auf besonders enge Weise verbunden sind: Denn ein engerer tatsächlicher Zusammenhang als derjenige zwischen der Begründung einer Gegenforderung und der damit eintretenden Aufrechnungslage ist kaum vorstellbar. Nach dem Grundsatz der isolierten Anfechtbarkeit der nachteiligen Folgen einer Rechtshandlung können folglich Vorteile der Masse selbst dann außer Betracht bleiben, wenn die anfechtbaren Nachteile und die korrespondierenden Vorteile nicht nur tatsächlich miteinander einhergegangen sind, sondern auch nur gemeinschaftlich eintreten können, so dass ein Lebenssachverhalt, welcher der Masse die Vorteile ohne korrespondierende Nachteile verschafft hätte, gar nicht denkbar ist. Besonders deutlich zeigt dies die Entscheidung im Biersteuerfall:25) Der Schuldner braute Bier, welches kraft Gesetzes mit einem Pfandrecht zur Sicherung der anfallenden Biersteuer zugunsten des Steuerfiskus belastet wurde (§ 7 Abs. 2 BiersteuerG a. F., § 76 AO). Zur Abwendung der Beschlagnahme des Bieres bezahlte der vorläufige Insolvenzverwalter die angefallene Biersteuer unter dem Vorbehalt der Insolvenzanfechtung. Der Insolvenzverwalter forderte diese Zahlung zurück. Der Bundesgerichtshof hat angenommen, die Entstehung der Sachhaftung des Bieres für die Biersteuer sei anfechtbar. Gläubigerbenachteiligende Rechtshandlung sei das Brauen des Bieres, welches zur Belastung des Bieres mit der abgabenrechtlichen Sachhaftung führte. Dem stehe nicht entgegen, dass die Sachhaftung notwendig mit dem Brauen des Bieres einhergeht und sich ohne den Brauvorgang überhaupt kein Bier im Schuldnervermögen befunden hätte. Denn anfechtbar sei nicht die Rechtshandlung des Bierbrauens als solche, sondern ihre gläubigerbenachteiligende Wirkung. Analog zur isolierten Anfechtung der Aufrechnungslage könne auch die Entstehung der Sachhaftung als einzelne Wirkung isoliert angefochten werden. 2. Die Anweisung auf Schuld und auf Kredit als Problematik der Verrechnung von Vorteilen Kann damit eine objektive Gläubigerbenachteiligung auch dann vorliegen, wenn sich eine Rechtshandlung per saldo auf die Quotenerwartung der Insolvenzgläubiger nicht nachteilig ausgewirkt hat, so muss folgerichtig 24) 25)

BGH, Urt. v. 26.1.2012 – IX ZR 99/11, Rz. 12, ZIP 2012, 636 = ZVI 2012, 272; BGH, Urt. v. 26.4.2012 – IX ZR 146/11, Rz. 31, ZIP 2012, 1183 = ZVI 2012, 336. BGH, Urt. v. 9.7.2009 – IX ZR 86/08, ZIP 2009, 1674 = ZVI 2009, 370.

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eine mittelbare Zuwendung des Schuldners eine objektive Gläubigerbenachteiligung begründen, wenn das Schuldnervermögen hierdurch mit einem Regressanspruch des Leistungsmittlers belastet worden ist, ohne dass das Entfallen der Verbindlichkeit des Leistungsempfängers saldiert werden könnte. Diese Schlussfolgerung hat die höchstrichterliche Rechtsprechung aber bislang nicht gezogen. Tilgt der Schuldner eine Verbindlichkeit durch Überweisung, indem er Kredit auf seinem im Soll geführten Konto in Anspruch nimmt, so ist dieser Vorgang noch vom Reichsgericht als masseneutraler Gläubigertausch angesehen worden, weil einerseits die Verbindlichkeit gegenüber dem befriedigten Gläubiger getilgt und andererseits die Verbindlichkeit gegenüber der Bank erhöht worden ist.26) Eine objektive Gläubigerbenachteiligung ist nur dann angenommen worden, wenn die Verbindlichkeit gegenüber der Bank eine größere Belastung der Gläubigergemeinschaft darstellte als die getilgte Forderung des befriedigten Gläubigers, etwa aufgrund von Kreditsicherheiten der Bank.27) Mit anderen Worten hat das Reichsgericht darauf abgestellt, ob die mittelbare Zuwendung per saldo zur Verwässerung der Quote geführt hat. Demgegenüber hat der Bundesgerichtshof eine objektive Gläubigerbenachteiligung bejaht, wenn durch die Überweisung ein Anspruch des Schuldners auf Auszahlung des Kredits als Bestandteil seines Aktivvermögens untergegangen ist (sog. Anweisung auf Schuld).28) Der Ansatzpunkt, wonach die Inanspruchnahme von Kredit zur Tilgung einer anderen Verbindlichkeit nicht schon wegen der Belastung des Schuldnervermögens mit dem Regressanspruch des Darlehensgebers, sondern erst im Hinblick auf die Verringerung des Schuldnervermögens um den Kreditauszahlungsanspruch als gläubigerbenachteiligend anzusehen sei, führte zur Problematik von Überweisungsaufträgen, welche die kontoführende Bank aufgrund lediglich faktischer Duldung der Kontoüberziehung vorgenommen hat, ohne dass dem Schuldner rechtsgeschäftlich die Inanspruchnahme eines solchen Bankkredits eingeräumt worden wäre. Der Bundesgerichtshof hat das Vorliegen einer objektiven Gläubigerbenachteiligung in solchen Fällen zunächst verneint,29) unter Aufgabe dieser Rechtsprechung aber in einer späteren Entscheidung bejaht.30) Obwohl der Bundesgerichts26) 27) 28) 29) 30)

RG v. 30.4.1901 – Rep. VII. 75/01, RGZ 48, 148, 150 f. RG v. 20.12.1912 – Rep. VII. 406/12, RGZ 81, 144, 145 f. BGH, Urt. v. 7.2.2002 – IX ZR 115/99, ZIP 2002, 489, 490 = ZInsO 2002, 276. BGH, Urt. v. 11.1.2007 – IX ZR 31/05, Rz. 11 ff., BGHZ 170, 276 = ZIP 2007, 435. BGH, Urt. v. 6.10.2009 – IX ZR 191/05, Rz. 11 ff., BGHZ 182, 317 = ZIP 2009, 2009.

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hof seine Abkehr von der vorherigen Rechtsprechung auch damit begründet hat, dass die abtrennbaren Wirkungen anfechtbarer Rechtshandlungen bei der Prüfung der objektiven Gläubigerbenachteiligung einzeln zu betrachten seien,31) erachtet er die Begründung einer Verbindlichkeit des Schuldners in Form des Regressanspruchs des Angewiesenen weiterhin nicht als ausreichend, um eine objektive Gläubigerbenachteiligung zu begründen, weil der Regressanspruch durch die Tilgung der Verbindlichkeit gegenüber dem Zahlungsempfänger zu einem Gläubigertausch neutralisiert werde. Der Bundesgerichtshof leitet die objektive Gläubigerbenachteiligung im Grundsatz weiter aus dem Kreditauszahlungsanspruch des Schuldners ab, so dass ein masseneutraler Gläubigertausch vorliege, wenn keine rechtliche Verpflichtung des Angewiesenen gegen den Schuldner bestanden hat, die Zahlungsanweisung zu befolgen (sog. Anweisung auf Kredit).32) Die Maßgeblichkeit des Kriteriums, ob die Zahlung aus einem Kreditauszahlungsanspruch als Aktivposten des Schuldnervermögens geleistet worden ist, stellt einen nicht überzeugenden Mittelweg dar. Hat der Schuldner einen Gläubiger aus Kreditmitteln befriedigt, so macht es für die Quote der Insolvenzgläubiger keinen Unterschied, ob dem Schuldner ein Anspruch auf diese Kreditschöpfung zugestanden hat oder nicht. Stellt man entscheidend auf das Vorliegen einer Quotenverwässerung ab, so scheidet entsprechend der reichsgerichtlichen Rechtsprechung eine objektive Gläubigerbenachteiligung bei einer mittelbaren Zuwendung durch Inanspruchnahme von Kredit aus, sofern nicht der Regressanspruch des Kreditgebers im Hinblick auf Sicherheiten oder aus anderen Gründen für die Masse belastender ist als die getilgte Verbindlichkeit. Wendet man hingegen den Satz an, wonach für die Bestimmung der objektiven Gläubigerbenachteiligung keine Saldierung der Vorteile mit den Nachteilen stattfinde, welche die angefochtene Handlung für die Gesamtheit der Gläubiger bedeute, so ergibt sich die gläubigerbenachteiligende Wirkung allein aus der Belastung der Masse mit dem Regressanspruch des Zahlungsmittlers, während das Entfallen einer anderen Verbindlichkeit nicht gegengerechnet wird. Auf die Ausgestaltung des Rechtsverhältnisses zwischen dem Schuldner und dem Anweisungsempfänger kommt es nach keinem dieser beiden Lösungsmöglichkeiten an.

31) 32)

BGH, Urt. v. 6.10.2009 – IX ZR 191/05, Rz. 13, BGHZ 182, 317 = ZIP 2009, 2009. BGH, Urt. v. 21.6.2012 – IX ZR 59/11, Rz. 12, ZIP 2012, 1468 = ZInsO 2012, 1425; BGH, Urt. v. 20.11.2014 – IX ZR 13/14, Rz. 22, ZIP 2015, 42 = ZInsO 2014, 2568.

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Die Bestimmung der objektiven Gläubigerbenachteiligung in den Anweisungsfällen sollte sich daher von dem Kriterium lösen, ob durch die mittelbare Zuwendung ein Kreditauszahlungsanspruch des Schuldners erfüllt worden ist. Entscheidend ist allein die Frage, ob die Vermehrung der Passiva des Schuldners durch den Regressanspruch des Angewiesenen bereits für sich genommen eine objektive Gläubigerbenachteiligung begründet oder ob eine Saldierung mit der Verringerung der Passiva um die getilgte Verbindlichkeit stattfindet. Wie nachfolgend begründet werden soll, ist bei der mittelbaren Zuwendung keine Saldierung vorzunehmen, so dass allein die Belastung der Masse mit dem Regressanspruch des Angewiesenen eine objektive Gläubigerbenachteiligung begründet. 3. Die Bedeutung der Gegenleistung des Anfechtungsgegners a) Die Gegenleistung als Differenzierungskriterium am Beispiel der Ablösung von Sicherheiten Die Formel, wonach eine objektive Gläubigerbenachteiligung dann vorliege, wenn sich ohne die angefochtene Rechtshandlung die Befriedigungsaussichten der Gläubiger günstiger gestaltet hätten, vermag die nötige Bestimmung derjenigen Vorteile der Masse nicht zu leisten, welche in diese Betrachtung einfließen sollen; denn der Vergleich des realen mit einem hypothetischen Geschehensverlauf ist als solcher wertneutral. Diese Wertneutralität ist aus dem Schadensrecht bekannt und führt dazu, dass trotz der Differenzhypothese des § 249 Abs. 1 BGB an das schädigende Ereignis anknüpfende Vorteile nicht allein aufgrund ihres adäquat-kausalen Zusammenhangs berücksichtigungsfähig sind, sondern nur dann, wenn ihre Anrechnung dem Sinn und Zweck des Schadensersatzes entspricht und weder der Geschädigte unzumutbar belastet noch der Schädiger unbillig entlastet wird.33) Im Insolvenzanfechtungsrecht bedarf es ebenfalls eines Wertungskriteriums, um berücksichtigungsfähige von nicht berücksichtigungsfähigen Vorteilen abzugrenzen, wobei die schadensrechtliche Einstufung wegen des unterschiedlichen Regelungszwecks hierfür nicht als Vorbild taugt. Ist ein mit der angefochtenen Rechtshandlung für die Masse eintretender Vorteil als solcher wertungsmäßig indifferent im Hinblick auf seine anfechtungsrechtliche Relevanz und gibt auch – wie dargelegt – die äußerliche Nähe der Verbindung von gläubigerbenachteiligender Wirkung und kor33)

BGH, Urt. v. 15.7.2010 – III ZR 336/08, Rz. 35, BGHZ 186, 205 = ZIP 2010, 1646.

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respondierenden Massevorteilen nichts zur Frage her, ob eine Saldierung zu erfolgen hat, so ist das Abgrenzungskriterium im Rechtsverhältnis des Schuldners zum Anfechtungsgegner zu suchen. Zur Bestimmung der objektiven Gläubigerbenachteiligung nicht auf die Masse, sondern auf das Rechtsverhältnis zum Anfechtungsgegner abzustellen, mag auf den ersten Blick sinnwidrig erscheinen, ist aber in der ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung angelegt, wie an der Rechtsprechung zur Ablösung insolvenzfester Sicherungsrechte deutlich wird. Die Ablösung eines insolvenzfesten Sicherungsrechts bedeutet für die Masse einen zugleich nachteiligen wie auch günstigen Vorgang. Einerseits mindert die Zahlung das Aktivvermögen des Schuldners (bzw. erhöht die Passiva, sofern die Zahlung durch Kreditschöpfung erfolgt), andererseits entfällt die Belastung des Schuldnervermögens mit einem Aus- oder Absonderungsrecht, so dass der Verwertungserlös des belasteten Gegenstands für die Masse zur Verfügung steht. Nach ständiger Rechtsprechung ist die Ablösung eines insolvenzfesten Sicherungsrechts durch Zahlung nicht gläubigerbenachteiligend,34) mit anderen Worten kann das Freiwerden der Sicherheit für die Masse die gläubigerbenachteiligende Wirkung der Zahlung neutralisieren. Welcher Betrag ist jedoch maßgeblich, wenn sich der Verwertungserlös, welchen die Masse aus dem belasteten Gegenstand erzielen kann, von demjenigen unterscheidet, den der gesicherte Gläubiger hätte erzielen können? Man stelle sich vor, der Schuldner habe seiner Bank ein Kraftfahrzeug zur Sicherung übereignet. Der Schuldner tilgt den gesicherten Kredit i. H. von 20.000 € und erhält das Eigentum an dem Fahrzeug zurück. Durch Verwertung des Sicherungseigentums hätte die Bank zu diesem Zeitpunkt einen Erlös von 21.000 € erzielen können. Bis zur Insolvenzeröffnung sinkt der Wert des Fahrzeugs, weshalb der Insolvenzverwalter hierfür nur 18.000 € erlöst. Der Insolvenzverwalter steht auf dem Standpunkt, die Zahlung des Schuldners sei i. H. von 2.000 € objektiv gläubigerbenachteiligend, weil der Masse durch die Ablösung des Sicherungseigentums nur ein Wert i. H. von 18.000 € zugeflossen sei. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung liegt keine objektive Gläubigerbenachteiligung vor, soweit der Absonderungsberechtigte die Zahlung aus dem Schuldnervermögen durch Verwertung des Sicherungsguts hätte erzielen 34)

BGH, Urt. v. 22.1.2004 – IX ZR 39/03, BGHZ 157, 350, 353 = ZIP 2004, 513; BGH, Urt. v. 9.11.2006 – IX ZR 133/05, Rz. 8, ZIP 2007, 35 = ZInsO 2006, 1321; BGH, Urt. v. 18.7.2013 – IX ZR 219/11, Rz. 14, BGHZ 198, 64 = ZIP 2013, 1579.

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können.35) Hiernach scheidet im Beispielsfall eine objektive Gläubigerbenachteiligung aus, obwohl sich der Tausch zum Zeitpunkt des Insolvenzverfahrens als für die Masse nachteilig darstellt. Maßgeblich ist nicht der tatsächliche Mittelzufluss an die Insolvenzmasse, sondern das Vermögensopfer, das der Gläubiger als Gegenleistung für die erlangte Befriedigung erbracht hat. Hätte der Gläubiger zum Zeitpunkt der Ablösezahlung nach der Sicherungsabrede auf das Sicherungsgut zugreifen können, so hätte er sich damit zugleich gegen den Wertverfall der Sicherheit schützen können. Nimmt der Schuldner dem Sicherungsnehmer die Möglichkeit zur Verwertung des Sicherungsguts aus der Hand, indem er die gesicherte Schuld begleicht, so gibt es wertungsmäßig keinen Sachgrund, dem gesicherten Gläubiger diesen Schutz im Wege des Anfechtungsrechts wieder zu nehmen. Andernfalls wäre die Sicherheit gerade nicht vollumfänglich insolvenzfest. Dieser Rechtsgedanke, wonach die Ablösung einer Sicherheit insoweit nicht anfechtbar sei, als der gesicherte Gläubiger denselben Mittelzufluss auch ohne diese Ablösungsvereinbarung im Wege der Verwertung seiner Sicherheit hätte erzielen können, ist vom Bundesgerichtshof auch in der rechtlichen Einkleidung als Bargeschäft in folgendem (hier leicht vereinfacht dargestellten) Fall angenommen worden: 36) Die Schuldnerin beauftragte die verklagte Frachtunternehmerin, ein von der Schuldnerin hergestelltes Schiffsruder an eine Werft zu liefern, welche zur Fortsetzung ihrer Produktion dringend auf das Ruder angewiesen war. Die Beklagte nahm das Schiffsruder zum Zwecke des Transportauftrags entgegen, machte sodann aber die Fortsetzung des Transports davon abhängig, dass ihre in der Geschäftsbeziehung zur Schuldnerin aufgelaufenen Frachtlohnforderungen beglichen würden. Die Schuldnerin, die Beklagte und die Werft verständigten sich sodann darauf, dass die Werft die offenen Frachtlohnverbindlichkeiten der Schuldnerin gegenüber der Beklagten tilge, wobei diese Zahlung auf die Werklohnforderung der Schuldnerin gegen die Werft anzurechnen sein sollte, und die Beklagte im Gegenzug das Schiffsruder an die Werft ausliefere. Die Werft zahlte daraufhin an die Beklagte 135.473,98 DM, welche das Ruder auslieferte. Der Insolvenzverwalter forderte diesen Betrag im Wege der Insolvenzanfechtung heraus. 35)

36)

BGH, Urt. v. 6.4.2006 – IX ZR 185/04, Rz. 21, ZIP 2006, 1009 = ZVI 2006, 288; BGH, Beschl. v. 19.3.2009 – IX ZR 39/08, Rz. 13, ZIP 2009, 817 = ZInsO 2009, 828; BGH, Urt. v. 26.4.2012 – IX ZR 67/09, Rz. 32, ZIP 2012, 1301 = ZInsO 2012, 1429. BGH, Urt. v. 21.4.2005 – IX ZR 24/04, ZIP 2005, 992 = ZInsO 2005, 648.

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Der Bundesgerichtshof hat angenommen, die Ablösungsvereinbarung sei als Bargeschäft (§ 142 InsO) der Anfechtung entzogen. Es fehle an einer Gläubigerbenachteiligung, weil im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang gleichwertige Gegenleistungen ausgetauscht worden seien. Mit der Übernahme des Frachtguts habe die Beklagte ein gesetzliches Pfandrecht am Schiffsruder auch im Hinblick auf ihre Altforderungen erlangt, welches durch die dreiseitige Vereinbarung abgelöst worden sei. Der Wert des Pfandes, welches abgelöst worden sei, habe den Wert der Werklohnforderung der Schuldnerin gegen die Werft erreicht, aus welcher die Beklagte vereinbarungsgemäß Befriedigung erlangen sollte. Bei der Bemessung des Werts des Pfandrechts hat der Bundesgerichtshof dabei nicht darauf abgestellt, welchen Wert die Freigabe des Pfandrechts für die Masse eingespielt hat, sondern welchen Erlös die Beklagte durch Verwertung des Pfandrechts hätte erzielen können. Da das Schiffsruder bei einer öffentlichen Versteigerung lediglich den Schrottwert i. H. von 3.000 DM erbracht hätte, für die Schiffswerft aber einen weitaus höheren Wert hatte, hätte die Beklagte gemäß § 1246 BGB eine Verwertung des Pfands im Wege des freihändigen Verkaufs verlangen und dabei einen Verwertungserlös mindestens i. H. von 135.473,98 DM erzielen können, weil die Schiffswerft bereit gewesen wäre, diesen Betrag zu zahlen.37) Das Kriterium, wonach derjenige Zufluss anfechtungsfest sein soll, welchen der spätere Anfechtungsgegner durch Verwertung seines Sicherungsrechts hätte erlösen können, deckelt zugleich den Umfang, inwieweit eine – isoliert betrachtet – gläubigerbenachteiligende Wirkung durch einen zugleich bestehenden Vorteil der Masse neutralisiert werden kann. Gläubigerbenachteiligend ist im vorstehend beschriebenen Fall das Erlöschen der Werklohnforderung der Schuldnerin gegen die Werft i. H. von 135.473,98 DM. Zugleich ist die Freigabe des Pfandrechts am Schiffsruder für das Schuldnervermögen aber günstig, weil die Schuldnerin erst dadurch die Möglichkeit erlangt hat, ihren Werkvertrag mit der Werft zu erfüllen und dadurch den übersteigenden Werklohnanspruch (insgesamt sollen noch 219.000 DM offen gewesen sein) zu verdienen. Nähme man aber an, dass die Beklagte nicht nach § 1246 BGB zur Verwertung des Schiffsruders im Wege des freihändigen Verkaufs berechtigt gewesen wäre, sondern nur die öffentliche Versteigerung (§ 1235 Abs. 1 BGB) mit dem Erlös des Schrottwerts von 3.000 DM hätte betreiben können, so beschränkte sich das durch Freigabe des Pfandrechts von der Beklagten er37)

BGH, Urt. v. 21.4.2005 – IX ZR 24/04, ZIP 2005, 992, 994 f. = ZInsO 2005, 648.

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brachte Vermögensopfer auf 3.000 DM. Unter dieser Prämisse bliebe das Erlöschen der Werklohnforderung der Schuldnerin gegen die Werft im Umfang von (135.473,98 DM ./. 3.000 DM =) 132.473,98 DM objektiv gläubigerbenachteiligend. Der Umstand, dass nach einer Gesamtsaldierung die Ablösungsvereinbarung für das Schuldnervermögen günstig bliebe, weil im Falle einer Verwertung des Pfandrechts durch Versteigerung an einen Außenstehenden die Schuldnerin ihren Werkvertrag mit der Werft nicht hätte erfüllen können, ist demgegenüber anfechtungsrechtlich unerheblich. b) Die Bedeutung der vom Anfechtungsgegner erbrachten Gegenleistung bei anderen Sachverhalten Der Anfechtungsgegner kann demnach bei der Ablösung insolvenzfester Sicherheiten einwenden, dass die angefochtene Rechtshandlung der Masse neben Nachteilen auch Vorteile gebracht habe, soweit die Vermögensvorteile auf dem als Gegenleistung erbrachten Vermögensopfer des Anfechtungsgegners beruhen. Dem liegt die Wertung zugrunde, dass derjenige Anfechtungsgegner bessergestellt werden soll, welcher aufgrund seiner eigenen Gegenleistung zur Erhöhung der Aktiva oder Verminderung der Passiva beigetragen hat. Nach diesem hier vertretenen Differenzierungskriterium werden die Fälle der sog. Anweisung auf Kredit vom Bundesgerichtshof nicht richtig entschieden. Vielmehr begründet bereits die Belastung des Schuldnervermögens mit dem Regressanspruch des Zahlungsmittlers eine objektive Gläubigerbenachteiligung. Die zugleich erfolgende Verminderung der Passiva aufgrund des Umstands, dass die Verbindlichkeit gegenüber dem befriedigten Gläubiger getilgt worden ist, bedeutet keinen masseneutralen Gläubigertausch, weil nicht der begünstigte Gläubiger die Befriedigung seiner Forderung gegen die Übernahme einer anderen Verbindlichkeit „eingetauscht“ hat, sondern er vielmehr allein den Vorteil des Zahlungsflusses erhält, während ein Dritter (im Falle der Überweisung: die Bank des Schuldners) die hierfür benötigte Liquidität bereitgestellt hat. Im Verhältnis zwischen Schuldner und begünstigtem Gläubiger liegt daher gerade kein Tauschgeschäft vor.38) 38)

Für eine Aufgabe der Unterscheidung zwischen Anweisung auf Schuld und Anweisung auf Kredit auch Thole in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 129 Rz. 53; Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2018, § 129 Rz. 275; Raupach in: BeckOK-InsO, 26.10.2018, § 129 Rz. 71.

Objektive Gläubigerbenachteiligung und Saldierung mit Vorteilen der Masse

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Im oben bereits behandelten Biersteuerfall39) neutralisiert der Vorteil der Masse, wonach das Bierbrauen Bier hervorgebracht habe, die gläubigerbenachteiligende Sachhaftung des Bieres für die Biersteuer ebenfalls nicht, weil der Vorteil der Masse (durch das Bierbrauen ist Bier entstanden, dessen Wert höher ist als derjenige der Zutaten) nicht auf einer Gegenleistung des Fiskus als Anfechtungsgegner beruht. Derselbe Rechtsgedanke greift durch, wenn die Änderung des Bezugsrechts einer Lebensversicherung angefochten wird:40) Der Erblasser änderte kurz vor seinem Tod die Bezugsberechtigung eines Risikolebensversicherungsvertrags ab und bestimmte den Beklagten (anteilig) zum Bezugsberechtigten. Nach dem Tod des Erblassers zahlte der Lebensversicherer die Todesfallleistung (anteilig) an den Beklagten aus. Der Verwalter im Nachlassinsolvenzverfahren forderte die erhaltene Versicherungsleistung im Wege der Anfechtung heraus. Der Bundesgerichtshof nahm an, dass die wirksame Änderung des Bezugsberechtigten im Todesfall objektiv gläubigerbenachteiligend sei. Die Änderung des Bezugsrechts enthalte zum einen den Widerruf der Berechtigung des bislang Bezugsberechtigten und zugleich die Einräumung des Bezugsrechts eines anderen Bezugsberechtigten. Diese beiden Handlungen seien isoliert zu betrachten. Da bei bloßem Widerruf der Bezugsberechtigung ohne Bestimmung eines anderen Bezugsberechtigten der Anspruch auf die Versicherungssumme in den Nachlass gefallen wäre, sei dem Nachlass durch die Bestimmung des Beklagten als Bezugsberechtigten ein Vermögenswert entzogen worden.41) Die isolierte Betrachtung der Bezugsrechtseinräumung für die Frage der objektiven Gläubigerbenachteiligung ist zutreffend, auch wenn der Widerruf des bisherigen Bezugsrechts und die Bestimmung eines neuen Bezugsberechtigten in einer äußerlich einheitlichen Rechtshandlung vorgenommen worden sind und zu keinem Zeitpunkt eine Sachlage bestanden hat, in welchem keine Bezugsberechtigung bestand mit der Folge, dass die Versicherungsleistung in den Nachlass gefallen wäre. Dem neuen Bezugsberechtigten die Berufung darauf zu versagen, dass auch ohne sein Bezugsrecht dem Nachlass wegen eines anderen Bezugsberechtigten der Anspruch auf die Versicherungsleistung vorenthalten worden wäre, rechtfertigt sich 39) 40) 41)

BGH, Urt. v. 9.7.2009 – IX ZR 86/08, ZIP 2009, 1674 = ZVI 2009, 370. BGH, Urt. v. 22.10.2015 – IX ZR 248/14, ZIP 2015, 2251 = ZVI 2016, 81. BGH, Urt. v. 22.10.2015 – IX ZR 248/14, Rz. 18 f., ZIP 2015, 2251 = ZVI 2016, 81.

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daraus, dass das Entfallen der alten Bezugsberechtigung nicht auf einer Gegenleistung des neuen Bezugsberechtigten zugunsten des Nachlasses beruht. Nicht richtig entschieden erscheint hingegen die Befriedigung eines solchen Gläubigers, welcher von einer bestehenden Aufrechnungsmöglichkeit keinen Gebrauch gemacht hat. Zu entscheiden war nachfolgender (hier leicht vereinfacht dargestellter) Sachverhalt:42) Die Schuldnerin (Bauträger) und der Beklagte (Makler) unterhielten eine ständige Geschäftsbeziehung. Der Schuldnerin standen gegen den Beklagten Werklohnansprüche i. H. von 176.000 DM zu, dem Beklagten wiederum standen gegen die Schuldnerin Provisionsansprüche i. H. von 187.064 DM zu. Die Schuldnerin trat an den Beklagten zur Befriedigung seiner Provisionsansprüche eine Werklohnforderung gegen einen Dritten i. H. von 95.000 DM ab, welche vom Beklagten eingezogen wurde. Gegen den unter Berücksichtigung dieser Zahlung verbleibenden Werklohnanspruch der Schuldnerin rechnete der Beklagte mit seinen noch offenen Provisionsforderungen auf und zahlte den unter Berücksichtigung dieser Aufrechnung noch offenen Werklohnanspruch. Der Insolvenzverwalter focht die Abtretung der Werklohnforderung über 95.000 DM an. Während das Berufungsgericht angenommen hatte, die Abtretung der Forderung über 95.000 DM benachteilige die Gläubiger nur insoweit, als der Beklagte gegen die Vergütungsforderung der Schuldnerin nicht hätte aufrechnen können – also i. H. von 11.064 DM –, nahm der Bundesgerichtshof an, die Abtretung der Forderung über 95.000 DM sei in voller Höhe objektiv gläubigerbenachteiligend. Der Umstand, dass die Befriedigung des Beklagten aus der abgetretenen Forderung der Schuldnerin die Möglichkeit verschafft habe, die ihr zustehende Werklohnforderung ohne den Aufrechnungseinwand des Beklagten durchzusetzen, stelle keine vollwertige Gegenleistung dar, welche den Nachteil kompensiere. Dass der Beklagte hätte aufrechnen können, sei unerheblich, weil er gerade nicht aufgerechnet habe und ein hypothetischer Kausalverlauf anfechtungsrechtlich unbeachtlich sei.43) Das vom Bundesgerichtshof in dieser Entscheidung aufgestellte Kriterium, wonach eine unmittelbare Gläubigerbenachteiligung aufgrund einer vom 42) 43)

BGH, Urt. v. 12.7.2007 – IX ZR 235/03, ZIP 2007, 2084 = ZInsO 2007, 1107. BGH, Urt. v. 12.7.2007 – IX ZR 235/03, Rz. 11 f., 14 ff., ZIP 2007, 2084 = ZInsO 2007, 1107.

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Schuldner vereinnahmten Gegenleistung nur dann ausscheide, wenn der Schuldner unmittelbar eine vollwertige Gegenleistung erhalten habe,44) erscheint schon deshalb nicht zutreffend, weil der hier in Frage stehende Anfechtungstatbestand des § 133 Abs. 1 InsO – anders als der in der in Bezug genommenen Entscheidung maßgebliche Tatbestand des § 132 Abs. 1 InsO45) – eine unmittelbare Gläubigerbenachteiligung gar nicht voraussetzt. Im Rahmen des bei jedem Anfechtungstatbestand erforderlichen Merkmals der objektiven Gläubigerbenachteiligung (§ 129 Abs. 1 InsO) kommt es auf eine unmittelbare Gläubigerbenachteiligung nicht an. Das Kriterium des unmittelbaren Zusammenhangs zwischen Nachteil und Vorteil des Schuldnervermögens ist auch untauglich, um den Kreis berücksichtigungsfähiger Vorteile abzugrenzen, weil – wie oben an den Beispielen der anfechtbaren Aufrechnungslage und des Bierbrauens ausgeführt – selbst zwingend einheitlich auftretende Folgen einer unteilbaren Handlung isoliert zu betrachten sein können, und die rein gegenständliche Nähe von Vorteilen und Nachteilen als anfechtungsrechtliches Wertungskriterium nicht überzeugt. Stattdessen sollte die Leistung des Schuldners (Abtretung der Forderung an einen Dritten i. H. von 95.000 DM) ebenso wie die Ablösung von Absonderungsrechten als nicht gläubigerbenachteiligend angesehen werden, wenn der vom Schuldner getilgten Forderung eine Gegenforderung des Leistungsempfängers aufrechenbar gegenüberstand, dieser aber die Aufrechnung nicht erklärt hatte.46) Denn durch die Tilgung der Gegenforderung hat der Schuldner die Möglichkeit erlangt, die ihm zustehende Forderung ohne Aufrechnungsmöglichkeit des anderen Teils durchzusetzen. Der Verlust der Aufrechnungsmöglichkeit stellt die Gegenleistung dar, so dass der Vermögensnachteil des Schuldnervermögens (Abtretung der Forderung) neutralisiert wird durch die Erhöhung des Aktivvermögens (Durchsetzbarkeit der Werklohnforderung des Schuldners ohne Aufrechnungseinwand). 4. Das Bargeschäft als Sonderfall zulässiger Saldierung von Vorteilen und Nachteilen der Masse Nach der hier vertretenen Auffassung kann ein masseneutraler Aktiv- oder Passivtausch demnach nicht durch isolierte Betrachtung des Schuldnerver44) 45) 46)

BGH, Urt. v. 12.7.2007 – IX ZR 235/03, Rz. 11, ZIP 2007, 2084 = ZInsO 2007, 1107. BGH, Urt. v. 13.3.2003 – IX ZR 64/02, BGHZ 154, 190, 195 f. = ZIP 2003, 810. Raebel, ZInsO 2007, 1110 (Urteilsanm.).

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mögens bestimmt werden, sondern nach Maßgabe der Austauschbeziehung zwischen dem Schuldnervermögen und dem späteren Anfechtungsgegner. Der Anfechtungsgegner kann sich darauf berufen, im Gegenzug für die von ihm bezogene Leistung sei der Masse ein Vorteil erwachsen, wenn dieser Vorteil als Gegenleistung des Anfechtungsgegners zugewandt worden ist. Demgegenüber ist ein der Masse auf andere Weise zugeflossener Vorteil anfechtungsrechtlich unbeachtlich. Findet die Saldierung von Vorteilen und Nachteilen der Masse demnach dann statt, wenn zwischen dem Schuldner und dem späteren Anfechtungsgegner ein Tauschgeschäft vorgenommen worden ist, so erscheint das Bargeschäftsprivileg des § 142 Abs. 1 InsO47) als gesetzlich ausgestalteter Anwendungsfall eines allgemeinen Rechtsgedankens, welcher auf der Ebene des Merkmals der objektiven Gläubigerbenachteiligung (§ 129 Abs. 1 InsO) anzusiedeln ist. Dem entspricht, dass die Rechtsfigur des Bargeschäfts trotz des Fehlens einer der Regelung des § 142 Abs. 1 InsO vergleichbaren Norm bereits unter Geltung der KO von der Rechtsprechung entwickelt und mit dem Gesichtspunkt der bloßen Vermögensumschichtung begründet worden ist.48) Der Verwurzelung des Bargeschäfts in der Kategorie der objektiven Gläubigerbenachteiligung lässt sich nicht entgegenhalten, dass trotz bargeschäftlichen Leistungsaustauschs nach § 142 Abs. 1 InsO die Vorsatzanfechtung möglich bleibe. Zwar setzen sämtliche Anfechtungstatbestände gleichermaßen eine objektive Gläubigerbenachteiligung voraus, was dafür spricht, dieses Tatbestandsmerkmal bei allen Anfechtungstatbeständen einheitlich zu bestimmen. Geht es um die Frage, ob eine durch Minderung der Aktiva oder Vermehrung der Passiva gegebene objektive Gläubigerbenachteiligung durch einen gegenläufigen Vorgang neutralisiert wird, so handelt es sich aber um eine Wertungsentscheidung, welche einer Differenzierung nach den Merkmalen unterschiedlicher Anfechtungstatbestände zugänglich sein kann. Deutlich wird dies an der Rechtsfigur der bargeschäftsähnlichen Lage, welche von der Rechtsprechung unter Geltung des § 142 InsO in der vor dem 5. April 2017 geltenden Fassung entwickelt worden ist. Der vormalige Gesetzeswortlaut, welcher die Anfechtung trotz eines unmittelbaren Leistungsaustauschs ermöglichte, „wenn die Voraussetzungen des § 133 Abs. 1 gegeben sind“, legte die Annahme nahe, der bargeschäftliche Leis47) 48)

Vgl. dazu grundlegend Kayser, Der Rechtsgedanke des Bargeschäfts – Ein Beitrag zu den Grenzen des Anwendungsbereichs des § 142 InsO, in: FS G. Fischer, 2008, S. 267 ff. BGH, Urt. v. 21.5.1980 – VIII ZR 40/79, ZIP 1980, 518, 519 = WM 1980, 779; BGH, Urt. v. 30.9.1993 – IX ZR 227/92, BGHZ 123, 320, 323 = ZIP 1993, 1653.

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tungsaustausch sei i. R. der Vorsatzanfechtung ohne Belang. Mit der Begründung, dass sowohl dem Schuldner als auch dem Gläubiger bei einem bargeschäftsähnlichen Leistungsaustausch die gläubigerbenachteiligende Wirkung nicht bewusstgeworden sein mag, weshalb der Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners und die Kenntnis des Anfechtungsgegners von diesem Vorsatz als Tatbestandsvoraussetzungen des § 133 Abs. 1 InsO fehlten, hat der Bundesgerichtshof den unmittelbaren und kongruenten Austausch gleichwertiger Leistungen gleichwohl grundsätzlich der Vorsatzanfechtung entzogen.49) Diese Privilegierung des bargeschäftsähnlichen Leistungsaustauschs lässt sich kaum allein mit Erwägungen zum Gläubigerbenachteiligungsvorsatz und der Kenntnis des Anfechtungsgegners hiervon rechtfertigen. Nimmt man an, dass die dem Schuldnervermögen zugeflossene Gegenleistung auf der Ebene der objektiven Gläubigerbenachteiligung ohne Belang ist, so müsste es folgerichtig auf der subjektiven Ebene des Benachteiligungsvorsatzes als rechtlich unerheblicher Subsumtionsirrtum angesehen werden, wenn der Schuldner und der Anfechtungsgegner gemeint haben sollten, es fehle wegen des Leistungsaustauschs an einer objektiven Gläubigerbenachteiligung. Dogmatisch sollte die bargeschäftsähnliche Lage daher ebenso wie das Bargeschäft selbst als besonderer Anwendungsfall der Saldierung von Vor- und Nachteilen der Masse begriffen werden. Damit ist systematisch Raum, die Saldierung unter besonderen Wertungsgesichtspunkten zu verweigern, namentlich im Falle unlauteren Schuldnerhandelns, welches mit der Neuregelung des § 142 Abs. 1 InsO mit Wirkung zum 5. April 201750) als anfechtungsbegründendes Merkmal trotz unmittelbaren Leistungsaustauschs eingeführt worden ist. Zugleich lassen sich mit der Verortung der bargeschäftsähnlichen Lage auf der Ebene der Saldierung i. R. der objektiven Gläubigerbenachteiligung Fallgestaltungen lösen, in welchen eine einheitliche Rechtshandlung lediglich teilweise die Voraussetzungen einer bargeschäftsähnlichen Lage erfüllt. Zahlt der Schuldner beispielsweise durch eine einzige Überweisung die Forderung eines Geschäftspartners aus einem bargeschäftlich abgewickelten Leistungsaustausch wie auch eine schon länger rückständige Forderung, so wird man ohne dogmatische Verrenkungen die Vorstellung des Schuldners kaum auf49) 50)

BGH, Urt. v. 17.11.2016 – IX ZR 65/15, Rz. 31, ZIP 2016, 2423 = ZInsO 2016, 2474; BGH, Urt. v. 4.5.2017 – IX ZR 285/16, Rz. 9, ZIP 2017, 1232 = ZVI 2017, 351. Gesetz zur Verbesserung der Rechtssicherheit bei Anfechtungen nach der Insolvenzordnung und nach dem Anfechtungsgesetz, v. 29.3.2017, BGBl. I 2017, 654.

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spalten können, er habe bei diesem äußerlich einheitlichen Zahlungsvorgang im Hinblick auf die Altverbindlichkeit mit Gläubigerbenachteiligungsvorsatz gehandelt, im Hinblick auf die bargeschäftlich abgewickelte Leistungsbeziehung hingegen nicht. Kann der Vorsatz nur einheitlich bestimmt werden, so muss folgerichtig entweder die Deckung einer Altverbindlichkeit auch den bargeschäftlichen Leistungsaustausch „infizieren“ mit der Folge, dass das Privileg der bargeschäftsähnlichen Lage gänzlich entfällt, oder diese Rechtsfigur wird in dieser Fallkonstellation auch auf die Deckung der Altverbindlichkeit erstreckt – zwei gleichermaßen wenig überzeugende Ergebnisse. Begreift man die bargeschäftsähnliche Lage hingegen als Tatbestand, welcher ausnahmsweise die Saldierung von Vor- und Nachteilen auf der Ebene der objektiven Gläubigerbenachteiligung zulässt, so ist eine Differenzierung innerhalb des einheitlichen Überweisungsvorgangs begründbar. IV. Zusammenfassung Eine objektive Gläubigerbenachteiligung ergibt sich im Ausgangspunkt bereits daraus, dass die Aktiva des Schuldnervermögens vermindert, die Passiva vermehrt oder – im Falle eines erheblichen Unterlassens – eine Mehrung der Aktiva unterblieben ist, ohne dass durch die angefochtene Handlung zugleich verursachte Vorteile der Masse gegengerechnet würden. Damit kann eine Rechtshandlung auch dann eine objektive Gläubigerbenachteiligung darstellen, wenn sie sich unter Berücksichtigung sämtlicher Wirkungen quotenneutral ausgewirkt hat. Namentlich begründet eine mittelbare Zuwendung des Schuldners eine objektive Gläubigerbenachteiligung, wenn die Passiva des Schuldners um einen Regressanspruch des Angewiesenen erhöht worden sind. Eine Saldierung der nachteiligen Folgen der angefochtenen Rechtshandlung mit für die Masse günstigen Folgen kann jedoch dann erfolgen, wenn die Vorteile der Masse die vom Anfechtungsgegner erbrachte Gegenleistung für den angefochtenen Mittelzufluss darstellen, wobei sich die Bewertung der Gegenleistung nach dem vom Anfechtungsgegner zugunsten der Masse erbrachten Vermögensopfer bestimmt. Die Voraussetzungen, nach deren Maßgabe die Saldierung von Vorteilen zulässig ist, können in besonderen Fallkonstellationen näher ausgestaltet sein. Hierzu gehören namentlich das Bargeschäft wie auch die Rechtsfigur der bargeschäftsähnlichen Lage, welche sich als Anwendungsfälle zulässiger Saldierung darstellen.

Fortführung des Geschäftsbetriebs im Eröffnungsverfahren durch den schwachen vorläufigen Insolvenzverwalter? PRAXEDIS MÖHRING1) Inhaltsübersicht I. II.

1)

Betriebsfortführung bis zur Entscheidung der Gläubigerversammlung Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters im Eröffnungsverfahren 1. Starker vorläufiger Insolvenzverwalter 2. Schwacher vorläufiger Insolvenzverwalter

III. Betriebsfortführung im Eröffnungsverfahren 1. Praxis der Bestellung 2. Betriebsführung bei Bestellung eines starken vorläufigen Verwalters 3. Betriebsführung bei Bestellung eines schwachen vorläufigen Verwalters

Der Jubilar hat Anfang dieses Jahres2) einen Rechtsstreit verhandelt, in dem es am Rande um die Frage ging, wer einen Betrieb im Eröffnungsverfahren fortführt.3) Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die Schuldnerin, eine juristische Person, betrieb einen großen Getränkehandel mit diversen Ladengeschäften. Ihre Gläubiger waren im Wesentlichen die Geldkreditgeber, die Warenkreditgeber und die Vermieter. Jedenfalls einzelne Läden hätten wohl Gewinn bringend betrieben werden können, zumindest konnten sie im Insolvenzverfahren veräußert werden. Die Schuldnerin stellte wegen Zahlungsunfähigkeit Insolvenzantrag. Das Insolvenzgericht bestellte einen vorläufigen Insolvenzverwalter. Es ordnete an, dass Verfügungen der Schuldnerin über die Gegenstände ihres Vermögens nur noch mit dessen Zustimmung wirksam seien, und verbot ihr, über ihre Bankkonten ganz oder teilweise zu verfügen. Insoweit sollte die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis auf den vorläufigen Insolvenzverwalter übergehen. Den Drittschuldnern wurde verboten, an die Schuldnerin zu zahlen. Der vorläufige Insolvenzverwalter wurde ermächtigt, Bankguthaben und sonstige Forderungen der Schuldnerin einzuziehen sowie eingehende Gelder entgegenzunehmen. Die Drittschuldner durften befreiend nur noch an den vorläufigen Insolvenzverwalter leisten. Der Geschäftsbetrieb wurde während des Eröffnungsverfahrens und auch noch einige Zeit nach der Insolvenzeröff1) 2) 3)

Praxedis Möhring gehört dem IX. Zivilsenat an, dessen Vorsitzender der Jubilar ist. Das Jahr 2019. BGH, Urt. v. 24.1.2019 – IX ZR 110/17, ZIP 2019, 472.

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nung fortgeführt. Im Rechtsstreit war streitig, wer im Eröffnungsverfahren den Geschäftsbetrieb fortgeführt hatte. Die Klägerin, eine Geldkreditgeberin, hatte behauptet, der vorläufige Verwalter hätte unmittelbar nach seiner Bestellung die gesetzlichen Vertreter der Schuldnerin des Hauses verwiesen und gegen deren Willen eine eigene Geschäftsführung im Geschäft installiert. I. Betriebsfortführung bis zur Entscheidung der Gläubigerversammlung Die InsO geht davon aus, dass der schuldnerische Betrieb grundsätzlich bis zur Insolvenzeröffnung und darüber hinaus fortgeführt wird. Die Entscheidung über das Schicksal des Schuldnerunternehmens und damit zugleich über den Weg zur Befriedigung der Gläubiger fällt nach § 157 Satz 1 InsO nämlich erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens durch die Gläubigerversammlung. Deswegen bestimmt § 22 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO, dass der starke vorläufige Verwalter das schuldnerische Unternehmen bis zur Entscheidung über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens in der Regel fortzuführen hat. Ein entsprechendes Ziel ergibt sich auch aus § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 InsO. Nach dieser Vorschrift kann das Insolvenzgericht anordnen, dass Gegenstände, die im Falle der Eröffnung des Verfahrens von § 166 InsO erfasst würden oder deren Aussonderung verlangt werden könnte, vom Gläubiger nicht verwertet oder eingezogen werden dürfen und dass solche Gegenstände zur Fortführung des Unternehmens des Schuldners eingesetzt werden können, soweit sie hierfür von erheblicher Bedeutung sind. Dadurch sollen Sanierungschancen genutzt und eine möglichst optimale Verwertung der Insolvenzmasse gesichert werden.4) Nach diesen Regelungen soll es primär Sache der Gläubigerversammlung sein, im Berichtstermin (§ 156 InsO) über die Frage der Fortführung oder Stilllegung des schuldnerischen Betriebs zu entscheiden.5) Bis zu der Entscheidung der Gläubigerversammlung soll deswegen der Betrieb wenn möglich fortgeführt werden. Weil der starke vorläufige Insolvenzverwalter nach den gesetzlichen Regelungen im Eröffnungsverfahren den Betrieb in der Regel fortzuführen hat, bedarf es insoweit weder einer besonderen Anordnung des Insolvenzgerichtes noch der Zustimmung des Schuldners. Dogmatisch ist dies als Sicherungsmaßnahme zu begreifen: Die Fortführung sorgt 4)

5)

BGH, Urt. v. 24.1.2019 – IX ZR 110/17, Rz. 31, ZIP 2019, 472; vgl. Begr. RegE InsOVereinfG, BT-Drucks. 16/3227, S. 15; vgl. BGH, Urt. v. 21.1.2010 – IX ZR 65/09, Rz. 39, BGHZ 184, 101 = ZIP 2010, 739. Eckardt in: Jaeger, InsO, 2018, § 157 Rz. 2 m. w. N.

Fortführung des Betriebs durch den schwachen vorläufigen Insolvenzverwalter?

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dafür, dass das Unternehmen als Vermögensgegenstand erhalten bleibt und seinen Wert behält, damit im Insolvenzverfahren entschieden werden kann, wie nunmehr zu verfahren ist.6) II. Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters im Eröffnungsverfahren 1. Starker vorläufiger Insolvenzverwalter Die InsO unterscheidet zwischen dem sog. starken vorläufigen Insolvenzverwalter und dem sog. schwachen vorläufigen Insolvenzverwalter. Auf den starken vorläufigen Insolvenzverwalter geht mit seiner Bestellung die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das Vermögen des Schuldners über (§ 22 Abs. 1 Satz 1 InsO). Seine rechtlichen Befugnisse entsprechen denjenigen eines Insolvenzverwalters, der ebenfalls berechtigt ist, das zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen des Schuldners zu verwalten und über es zu verfügen (§ 80 Abs. 1 InsO). Nur seine Aufgaben (vgl. § 22 Abs. 1 Satz 2 InsO) unterscheiden sich von denjenigen des endgültigen Verwalters. Die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis umfasst auch das Hausrecht über Betriebsgrundstücke des Schuldners.7) Aufgrund des Übergangs der Verwaltungsbefugnis ist der vorläufige Insolvenzverwalter grundsätzlich unbeschränkt befugt, für das schuldnerische Vermögen Verpflichtungsgeschäfte abzuschließen.8) Durch seine Rechtshandlungen wird allerdings nicht nur das von ihm verwaltete Schuldnervermögen verpflichtet,9) sondern er begründet nach § 55 Abs. 2 Satz 1 InsO Verbindlichkeiten, welche nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens als Masseverbindlichkeiten gelten. Gleiches gilt nach § 55 Abs. 2 Satz 2 InsO für Verbindlichkeiten aus Dauerschuldverhältnissen, soweit der vorläufige Insolvenzverwalter für das von ihm verwaltete Vermögen die Gegenleistung entgegengenommen hat. Es steht nicht im Belieben des vorläufigen Verwalters, ob er im Einzelfall Masseverbindlichkeiten oder Insolvenzforderungen begründet. Maßgebend hierfür ist allein das Gesetz, nämlich § 55 Abs. 2 InsO.10)

6) 7) 8) 9) 10)

So Gerhardt in: Jaeger, InsO, 2004, § 22 Rz. 77 m. w. N. BGH, Beschl. v. 11.1.2007 – IX ZB 271/04, Rz. 17, ZIP 2007, 438 = ZVI 2007, 359. Blankenburg in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, 11/2018, § 22 Rz. 38. Blankenburg in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, 11/2018, § 22 Rz. 40. Vgl. BGH, Urt. v. 16.6.2016 – IX ZR 114/15, LS, Rz. 18, 22, BGHZ 210, 372 = ZIP 2016, 1295.

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2. Schwacher vorläufiger Insolvenzverwalter Ebenso kann das Insolvenzgericht einen vorläufigen Insolvenzverwalter bestellen, ohne dem Schuldner nach § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Fall 1 InsO ein allgemeines Verfügungsverbot aufzuerlegen. Dessen Befugnisse und Pflichten richten sich nach den Anordnungen des Insolvenzgerichts (§ 22 Abs. 2 Satz 1 InsO). So kann das Insolvenzgericht nach § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Fall 2 InsO anordnen, dass Verfügungen des Schuldners nur mit Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters wirksam sind. Dieser kann zusätzlich dazu ermächtigt werden, über bestimmte Gegenstände des Schuldnervermögens zu verfügen, insbesondere Forderungen des Schuldners einzuziehen.11) Ferner kann das Insolvenzgericht den vorläufigen Insolvenzverwalter auch ohne begleitendes allgemeines Verfügungsverbot dazu ermächtigen, einzelne, im Voraus genau festgelegte Verpflichtungen zulasten der späteren Insolvenzmasse einzugehen, soweit dies für eine erfolgreiche Verwaltung nötig ist.12) Zudem darf das Insolvenzgericht nach § 22 Abs. 2 InsO die Pflichten des vorläufigen Insolvenzverwalters grundsätzlich bis hin zu Grenze derjenigen des mit einem begleitenden Verfügungsverbots bestellten vorläufigen Verwalters (§ 22 Abs. 1 InsO) ausdehnen. Für die Befugnisse, die nötig sind, um diese Pflichten zu erfüllen, kann nichts anderes gelten.13) Jedoch darf das Insolvenzgericht, wenn es kein allgemeines Verfügungsverbot erlässt, Verfügungs- und Verpflichtungsermächtigungen nicht pauschal in das Ermessen des dann schwachen vorläufigen Insolvenzverwalters stellen. Vielmehr hat das Gericht i. R. des § 22 Abs. 2 InsO in jedem Falle selbst die einzelnen Maßnahmen bestimmt zu bezeichnen, zu denen der vorläufige Verwalter verpflichtet und berechtigt sein soll.14) Anders als der starke vorläufige Insolvenzverwalter begründet der sog. schwache vorläufige Insolvenzverwalter regelmäßig keine Masseverbindlichkeiten. § 55 Abs. 2 Satz 1 InsO betrifft ausschließlich Rechtshandlungen eines vorläufigen Insolvenzverwalters, auf den die Verfügungsbefugnis über das Vermögen des Schuldners übergegangen ist (§ 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 11) 12) 13) 14)

BGH, Urt. v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, juris Rz. 35, BGHZ 151, 353, 365 = ZIP 2002, 1625, 1629. BGH, Urt. v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, juris Rz. 36, BGHZ 151, 353, 365 = ZIP 2002, 1625, 1629. BGH, Urt. v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, juris Rz. 36, BGHZ 151, 353, 366 = ZIP 2002, 1625, 1629. BGH, Urt. v. 18.7.2002 – IX ZR 195/01, juris Rz. 37, BGHZ 151, 353, 366 = ZIP 2002, 1625, 1629.

Fortführung des Betriebs durch den schwachen vorläufigen Insolvenzverwalter?

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Fall 1, § 22 Abs. 1 Satz 1 InsO). Sie gilt nicht für den vorläufigen Verwalter ohne Verfügungsbefugnis, dem durch das Insolvenzgericht auch nicht die Ermächtigung erteilt worden ist, einzelne, im Voraus genau festgelegte Verpflichtungen zulasten der späteren Insolvenzmasse einzugehen. Außerhalb einer Einzelermächtigung kann auch der mitbestimmende vorläufige Insolvenzverwalter (§ 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Fall 2, § 22 Abs. 2 InsO) keine Masseverbindlichkeiten begründen; die Vorschrift des § 55 Abs. 2 InsO ist auch nicht entsprechend anwendbar.15) Umgekehrt ergibt sich aus diesen Ausführungen, dass § 55 Abs. 2 Satz 1 InsO für den schwachen vorläufigen Insolvenzverwalter insoweit gilt, als das Insolvenzgericht ihn ermächtigt hat, einzelne im Voraus genau festgelegte Verpflichtungen zulasten der späteren Insolvenzmasse einzugehen. Dazu ist das Insolvenzgericht berechtigt.16) Wenn also das Insolvenzgericht ihn ermächtigt hat, gegenüber Energielieferungsunternehmen oder einzelnen bestimmten Warenlieferanten Masseverbindlichkeiten einzugehen, sind die Forderungen der Vertragspartner insoweit nach Insolvenzeröffnung keine Insolvenz- sondern Masseforderungen und aus der Masse vorweg zu befriedigen. III. Betriebsfortführung im Eröffnungsverfahren 1. Praxis der Bestellung Nach den Vorstellungen des Gesetzgebers sollte der schuldnerische Betrieb im Eröffnungsverfahren bevorzugt durch den starken vorläufigen Insolvenzverwalter fortgeführt werden. Mit der Anordnung einer starken vorläufigen Verwaltung werden klare Verhältnisse geschaffen. Neugläubiger, insbesondere Weiterlieferanten, die mit dem vorläufigen Insolvenzverwalter ein Geschäft abschließen, aber auch Gläubiger, die ihm gegenüber ein Dauerschuldverhältnis erfüllen, das sie mit dem Schuldner vereinbart hatten, sind geschützt, weil ihnen nach Eröffnung eine Masseforderung zusteht, die nach § 55 Abs. 2 InsO vorweg aus der Masse zu befriedigen ist.17)

15) 16)

17)

BGH, Urt. v. 24.1.2019 – IX ZR 110/17, Rz. 53 f., ZIP 2019, 472. BGH, Urt. v. 22.11.2018 – IX ZR 167/16, Rz. 15, ZIP 2018, 2488 = ZVI 2019, 23; BGH, Urt. v. 13.1.2011 – IX ZR 233/09, Rz. 9, ZInsO 2011, 388 = NZI 2011, 143; BGH, Urt. v. 7.5.2009 – IX ZR 61/08, Rz. 13, ZIP 2009, 1477 = ZInsO 2009, 1102. Vgl. Pape/Schaltke in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, 2/2011, § 55 Rz. 207.

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In der Praxis hat sich die starke vorläufige Verwaltung allerdings nicht durchgesetzt.18) Auch die Betriebsfortführung erfolgt tatsächlich anders, als der Gesetzgeber der InsO es sich vorgestellt hatte. Die Insolvenzgerichte bestellen nämlich überwiegend keinen starken vorläufigen Insolvenzverwalter mit Verfügungsmacht (§ 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Fall 1 InsO), sondern regelmäßig einen schwachen vorläufigen Insolvenzverwalter, allerdings mit Zustimmungsvorbehalt und Einziehungsermächtigung. Grund ist die Angst, dass die späteren Insolvenzmassen infolge der Begründung von Masseverbindlichkeiten durch den starken vorläufigen Insolvenzverwalter vorbelastet werden und die spätere Verfahrensabwicklung gefährdet wird.19) Nach Ansicht des Bundesgerichtshofes schließen sich allerdings die Anordnung, der vorläufige Verwalter habe den Betrieb fortzuführen, und die Bestellung eines bloß schwachen vorläufigen Insolvenzverwalters im Allgemeinen aus.20) Das bedeutet jedoch nicht, dass in jedem Fall der Betriebsfortführung ein starker vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt werden müsste. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Schuldner zur Zusammenarbeit mit dem vorläufigen Verwalter bereit ist.21) 2. Betriebsführung bei Bestellung eines starken vorläufigen Verwalters Wenn ein starker vorläufiger Verwalter bestellt wird, führt dieser den schuldnerischen Betrieb fort. Er trifft die unternehmerischen Entscheidungen, schließt die Verträge und verfügt über das Vermögen, alles allerdings i. R. seines sich aus § 22 Abs. 1 Satz 2 InsO ergebenden Aufgabenkreises. Auf eine Mitwirkung des Schuldners ist er zumindest rechtlich nicht angewiesen. 3. Betriebsführung bei Bestellung eines schwachen vorläufigen Verwalters Daran schließt sich unmittelbar die Frage an, wer im Eröffnungsverfahren den schuldnerischen Betrieb fortführt, wenn nur ein schwacher vorläufiger Verwalter bestellt wird, ggf. mit Zustimmungsvorbehalt und Einziehungsermächtigung. Es finden sich immer wieder Entscheidungen des Bundesgerichtshofes, in denen die Bestellung eines schwachen vorläufigen Verwalters und gleich18) 19) 20) 21)

Vgl. Pape/Schaltke in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, 2/2011, § 55 Rz. 210. Pape, 20 Jahre Insolvenzordnung – Kein Grund zum Feiern, ZInsO 2019, 57, 58. BGH, Beschl. v. 13.4.2006 – IX ZB 158/05, Rz. 7, ZIP 2006, 1008 = ZVI 2006, 261. Blankenburg in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, 5/2018, § 22 Rz. 10.

Fortführung des Betriebs durch den schwachen vorläufigen Insolvenzverwalter?

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zeitig die Betriebsfortführung durch ihn festgestellt wird.22) Oder es wird mitgeteilt, dass dem schwachen vorläufigen Verwalter vom Insolvenzgericht aufgegeben wurde, das schuldnerische Unternehmen bis zur Entscheidung über die Eröffnung des Verfahrens fortzuführen.23) In einer in der amtlichen Sammlung veröffentlichten Entscheidung formulierte der Senat, dem schwachen vorläufigen Insolvenzverwalter (mit Zustimmungsvorbehalt und der Anordnung nach § 22 Abs. 2 InsO, das Unternehmen einstweilen fortzuführen) obliege die Betriebsfortführung.24) Auch in unserem Ausgangsfall hielt das Berufungsgericht nur fest, dass der schuldnerische Betrieb durch den schwachen vorläufigen Insolvenzverwalter fortgeführt worden sei, obwohl diese Frage gerade zwischen den Prozessparteien streitig war. Diesen Entscheidungen ist nicht zu entnehmen, dass der schuldnerische Geschäftsbetrieb rechtlich durch den schwachen vorläufigen Insolvenzverwalter fortgeführt wurde. Vielmehr ist davon auszugehen, dass hier die tatsächliche Betriebsfortführung im Zusammenwirken von Schuldner und schwachen vorläufigen Verwalter gemeint war. Anders ist es nicht zu erklären, dass etwa das Berufungsgericht in unserem Ausgangsfall auf die zwischen den Parteien streitige Frage nicht eingegangen ist. Denn ein schwacher vorläufiger Insolvenzverwalter ist, auch wenn angeordnet wird, dass Verfügungen des Schuldners nur mit seiner Zustimmung wirksam sind (§ 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Fall 2 InsO) und er die Forderungen des Schuldners einziehen darf und Drittschuldner befreiend nur an ihn zahlen dürfen (§ 22 Abs. 2 InsO), rechtlich zur Betriebsfortführung nicht in der Lage. Ein schwacher vorläufiger Insolvenzverwalter ist regelmäßig aufgrund der richterlichen Anordnungen nicht berechtigt, selbst über das schuldnerische Vermögen zu verfügen, Verträge für den schuldnerischen Betrieb abzuschließen und zu erfüllen, Waren zu bestellen und zu bezahlen, Mieten zu zahlen. Er kann auch nicht, um auf den eingangs geschilderten Fall zurückzukommen, die „alte“ Geschäftsleitung „entlassen“. Ihm obliegt als vorläufiger Insolvenzverwalter ohne Verfügungsbefugnis nur die Sicherung des vorhandenen Vermögens und, wenn in einem solchen Fall der Schuldner seinen 22)

23) 24)

BGH, Beschl. v. 27.7.2006 – IX ZB 171/05, juris Rz. 1; BGH, Beschl. v. 28.9.2006 – IX ZB 212/03, Rz. 1, ZInsO 2007, 439; BGH, Beschl. v. 2.3.2017 – IX ZB 90/15, LS, Rz. 1, ZIP 2017, 979 = ZInsO 2017, 1051; BGH, Beschl. v. 6.4.2017 – IX ZB 23/16, Rz. 1, ZInsO 2017, 982 = InsbürO 2017, 303; vgl. auch BGH, Urt. v. 13.3.2003 – IX ZR 56/02, ZIP 2003, 855 = ZInsO 2003, 420. BGH, Beschl. v. 14.12.2005 – IX ZB 256/04, Rz. 1, BGHZ 165, 266, 267 = ZIP 2006, 621; BGH, Beschl. v. 27.9.2012 – IX ZB 243/11, Rz. 1, ZInsO 2013, 840. BGH, Beschl. v. 14.12.2005 – IX ZB 256/04, Rz. 13, BGHZ 165, 266, 270 = ZIP 2006, 621.

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Praxedis Möhring1)

Betrieb im Eröffnungsverfahren fortführt, die Kontrolle der Geschäftsführung des Schuldners. Damit kann er den schuldnerischen Betrieb nicht eigenständig fortführen.25) Das gilt auch, wenn das Insolvenzgericht nach § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Fall 2 InsO angeordnet hat, dass Verfügungen des Schuldners nur mit Zustimmung des vorläufigen Insolvenzverwalters wirksam sind und Drittschuldner befreiend nur an den vorläufigen Insolvenzverwalter leisten können. Der Zustimmungsvorbehalt bewirkt lediglich, dass der vorläufige Insolvenzverwalter die Wirksamkeit rechtsgeschäftlicher Verfügungen des Schuldners zu verhindern vermag. Ein in der beschriebenen Weise ausgestatteter vorläufiger Verwalter kann auf die Vertragsabwicklung in der Weise Einfluss nehmen, dass er die Verringerung des Schuldnervermögens, insbesondere durch Erfüllung von Verbindlichkeiten, verhindert. Dagegen ist er rechtlich nicht in der Lage, den Schuldner gegen dessen Willen zu Rechtshandlungen anzuhalten oder ihn daran zu hindern, Verpflichtungsgeschäfte einzugehen, aus denen Insolvenzforderungen entstehen.26) Er kann mithin die Betriebsfortführung durch den Schuldner nur begleiten. Ebenso wenig hat der schwache vorläufige Insolvenzverwalter die Rechtsmacht, anstelle des Schuldners im eigenen Namen zu handeln.27) Selbst kann er für den schuldnerischen Betrieb nur tätig werden, wenn er vom Schuldner bevollmächtigt wird. Fehlt es an einer solchen Bevollmächtigung, kann er (außerhalb der gerichtlichen Ermächtigungen) keine wirksamen Willenserklärungen für den schuldnerischen Betrieb abgeben. Verträge würde er ohne Vertretungsmacht mit den Folgen des § 177 Abs. 1 BGB abschließen; deren Wirksamkeit für und gegen den Schuldner hinge also von dessen Genehmigung bzw. von der Genehmigung des Insolvenzverwalters nach Insolvenzeröffnung ab.28) Bei einseitigen Rechtsgeschäften ist nach § 180 Abs. 1 Satz 1 BGB eine Vertretung ohne Vertretungsmacht unzulässig. Der Betrieb wird demnach im Eröffnungsverfahren durch den Schuldner selbst fortgeführt. Dieser trifft die unternehmerischen Entscheidungen, schließt die Verträge und verfügt über sein Vermögen. Allerdings sind seine Möglichkeiten deutlich eingeschränkt, wenn – wie im Ausgangsfall – ein Zustimmungsvorbehalt angeordnet ist, Drittschuldner befreiend nur noch 25) 26) 27) 28)

Vgl. BGH, Urt. v. 24.1.2019 – IX ZR 110/17, Rz. 77, ZIP 2019, 472 m. w. N. BGH, Urt. v. 25.10.2007 – IX ZR 217/06, Rz. 24, BGHZ 174, 84 = ZIP 2007, 2273. BGH, Urt. v. 25.10.2007 – IX ZR 217/06, Rz. 24, BGHZ 174, 84 = ZIP 2007, 2273. Vgl. BGH, Urt. v. 24.1.2019 – IX ZR 110/17, Rz. 78, ZIP 2019, 472.

Fortführung des Betriebs durch den schwachen vorläufigen Insolvenzverwalter?

611

an den vorläufigen Insolvenzverwalter leisten können und dieser über die Bankkonten verfügen kann. Denn die Verfügungen des Schuldners bedürfen zu ihrer Wirksamkeit der Zustimmung des vorläufigen Verwalters; sie sind ohne Zustimmung des vorläufigen Verwalters absolut unwirksam (§ 24 Abs. 1, § 81 Abs. 1 InsO).29) Über seine Bankkonten kann der Schuldner nicht mehr verfügen. Zahlungen seiner Schuldner erfolgen nicht mehr an ihn. Mithin stehen ihm keine finanziellen Mittel zur Verfügung. Damit kann er zwar ohne Mitwirkung des vorläufigen Verwalters Verträge schließen, er kann sie jedoch nicht erfüllen, soweit er zur Erfüllung Verfügungen, insbesondere auch Zahlungen, vornehmen muss. Im Ausgangsfall kann die Schuldnerin ohne Zustimmung des vorläufigen Verwalters ihren Kunden nicht das Eigentum an den Getränken übertragen. Ebenso wenig kann sie das Entgelt für ihre Gegenleistung entgegennehmen, weil ihre Schuldner befreiend nur an den vorläufigen Verwalter zahlen können, und selber Zahlungen ohne Mitwirkung des vorläufigen Verwalters erbringen, weil allein der vorläufige Verwalter über die Bankkonten verfügen kann. dd) Die Betriebsfortführung durch den Schuldner funktioniert in einem solchen Fall deswegen nur, wenn Schuldner und vorläufiger Insolvenzverwalter vertrauensvoll zusammenarbeiten. Der vorläufige Insolvenzverwalter tritt an die Seite des Schuldners.30) Zwischen ihm und dem Schuldner besteht ein Kooperationsverhältnis, aus dem eine gemeinsame Unternehmensleitung entstehen kann.31) Man kann deswegen nur sehr eingeschränkt sagen, auch dem schwachen vorläufigen Insolvenzverwalter obliege die Fortführung des schuldnerischen Unternehmens. Wolle er den schuldnerischen Geschäftsbetrieb einstellen, bedürfe er hierfür der Zustimmung des Insolvenzgerichts.32) Die Entscheidung, den Geschäftsbetrieb einzustellen, trifft nämlich allein der Schuldner. Will der vorläufige Insolvenzverwalter dies verhindern und reicht seine Überzeugungskraft gegenüber dem Schuldner nicht aus, muss er das Insolvenzgericht zur Anordnung einer starken Insolvenzverwaltung veranlassen. Ebenso wenig kann er die Betriebseinstellung durch den Schuldner gegen dessen Willen als schwacher vorläufiger Insolvenzverwalter erzwingen, auch wenn er sie anstoßen und eine Masseminderung dadurch erschweren kann, 29) 30) 31) 32)

BGH, Urt. v. 25.10.2007 – IX ZR 217/06, Rz. 24, BGHZ 174, 84 = ZIP 2007, 2273. Hölzle, Die Fortführung von Unternehmen im Insolvenzeröffnungsverfahren, ZIP 2011, 1189, 1890. Hölzle, ZIP 2011, 1189, 1891 f. Hölzle, ZIP 2011, 1189, 1890.

612

Praxedis Möhring1)

dass er Verfügungen des Schuldners nicht mehr zustimmt und ihm finanzielle Mittel nicht mehr zur Verfügung stellt, ggf., wenn er dadurch die Betriebseinstellung erreichen will, mit Zustimmung des Insolvenzgerichts. Der schwache vorläufige Verwalter soll den Schuldner bei der Fortführung des Betriebs im Grundsatz unterstützen und ihm keine Steine in den Weg legen; insoweit kann in einem übertragenen Sinn gesagt werden, dass auch der schwache vorläufige Verwalter die Aufgabe der Betriebsfortführung hat. Er führt aber das Unternehmen nicht „mittelbar“ fort;33) dies würde voraussetzen, dass er in der Lage wäre, das Unternehmen aus dem Hintergrund zu führen. Dies kann er rechtlich aber gerade nicht.

33)

So Hölzle, ZIP 2011, 1189, 1892.

„Insolvenzverfahren 4.0“ – Gestaltungselemente einer Modernisierung des Insolvenzverfahrens – CHRISTOPH NIERING UND DANIEL BERGNER Inhaltsübersicht I. II.

Einleitung Die Nutzung elektronischer Kommunikationsmittel in Insolvenzverfahren III. Art. 28 Restrukturierungsrichtlinie als Impuls für die Modernisierung des Insolvenzverfahrens IV. Die Genese des Art. 28 Restrukturierungsrichtlinie V. Das britische Vorbild: Insolvency (England and Wales) Rules 2016

VI. Geltendmachung von Forderungen (Art. 28 lit. a Restrukturierungsrichtlinie) VII. Einreichung von Restrukturierungs- oder Tilgungsplänen (Art. 28 lit. b Restrukturierungsrichtlinie) VIII. Mitteilungen an die Gläubiger (Art. 28 lit. c Restrukturierungsrichtlinie) IX. Einlegung von Beanstandungen und Rechtsbehelfen (Art. 28 lit. d Restrukturierungsrichtlinie) X. Fazit

I. Einleitung Die Begriffe Effektivität und Beschleunigung haben im Bereich des Insolvenzverfahrens eine besondere Aktualität gewonnen. Mit ihnen verbindet nicht nur der nationale, sondern auch der europäische Gesetzgeber die Hoffnung, den wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Aspekten des zeitgenössischen Insolvenzgeschehens besser gerecht zu werden.1) Eine zentrale Rolle spielt dabei die Verbindung notwendiger rechtsstaatlicher Verfahrenselemente mit den Erwartungen der Betroffenen, deren Zahl 1)

Die Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) – Restrukturierungsrichtlinie, ABl. (EU) L 172/18 v. 26.6.2019, formuliert dies in ErwG 6 besonders deutlich: „Die übermäßig lange Dauer von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren in verschiedenen Mitgliedstaaten ist maßgeblich dafür verantwortlich, dass niedrige Befriedigungsquoten erzielt und Anleger von Anlageaktivitäten in Ländern, in denen ein Risiko langwieriger und unverhältnismäßig kostspieliger Verfahren besteht, abgeschreckt werden.“

614

Christoph Niering und Daniel Bergner

während des letzten Jahrzehnts in einer beeindruckenden Reihe von Insolvenzverfahren stark zugenommen hat.2) Auch jenseits dieser öffentlichkeitswirksamen Verfahren drängt sich oft der Eindruck auf, dass die InsO bis heute versucht, mit den Mitteln des 19. Jahrhunderts Antworten auf die Fragen des 21. Jahrhunderts zu geben. Nachfolgend soll deshalb der Versuch unternommen werden, erste Schritte einer Modernisierung sichtbar zu machen, die gleichzeitig in einem rechtsstaatlichen Zielkorridor bleibt, den der hier Geehrte in zahlreichen Literaturbeiträgen und Vorträgen ausgemessen und verteidigt hat. Notwendig steht auch hier am Anfang eine Definition dieser Modernisierung, die den Begriff i. R. des Insolvenzverfahrens von seiner diffusen Aura befreit und für die notwendig kritische Analyse greifbar macht. Modernisierung ist i. R. der Justiz3) und des Insolvenzverfahrens kein unbelasteter Begriff. Allein die Zahl der seit Inkrafttreten der InsO umgesetzten Reformen könnte dazu verleiten, ihr eine besondere Aktualität zuzuschreiben und damit gleichzeitig jeden Modernisierungsbedarf in Abrede zu stellen.4) Die hier sichtbar werdende Agilität des Gesetzgebers korrespondiert mit den Erwartungen, die von vielen Seiten an ihn herangetragen werden und überwiegend nicht durch ein abstraktes Interesse an Verfahrensverbesserung, sondern durch ein konkretes Partikularinteresse geformt sind. II. Die Nutzung elektronischer Kommunikationsmittel in Insolvenzverfahren Es kann deshalb auch nicht verwundern, dass die Frage nach einem verstärkten Einsatz moderner digitaler Datenverarbeitung in Insolvenzverfahren gerade dort formuliert wird, wo auch das Gemeinwohl als Kriterium zu beachten ist.5) Dieser technische geprägte Begriff der Modernisierung soll

2)

3)

4) 5)

Vgl. hierzu etwa nur aus den Jahren 2018 und 2019 die Verfahren P&R mit (jeweils laut Presseberichten) 54.000 Gläubigern, Top Bonus mit 2.300.000 Gläubigern oder BEV mit über 250.000 Gläubigern. Vgl. hierzu etwa die Justizmodernisierungsgesetze (1 und 2) mit denen der Gesetzgeber 2004 (Erstes Gesetz zur Modernisierung der Justiz –1. Justizmodernisierungsgesetz, v. 24.8.2004, BGBl. I 2004, 2198) und 2006 (Zweites Gesetz zur Modernisierung der Justiz – 2. Justizmodernisierungsgesetz, v. 22.12.2006, BGBl. I 2006, 3416) zahlreiche punktuelle Änderungen der Verfahrensordnungen einführte. Vgl. hierzu etwa die kritische Bewertung von Pape, 20 Jahre Insolvenzordnung – Kein Grund zum Feiern, ZInsO 2019, 57. Vgl. etwa Kollbach/Lodyga/Zanthoff, Insolvenzverfahren 4.0, ZInsO 2017, 2529.

„Insolvenzverfahren 4.0“

615

deshalb auch hier im Mittelpunkt stehen. Er blendet andere, ebenfalls als Modernisierung apostrophierte Verfahrensreformen6) aus, die aber nicht notwendig mit den bereits erwähnten Zielen der Effektivität und Beschleunigung verbunden sind. Zudem fokussiert er den Blick auf solche technischen Veränderungen, die solche Effekte nicht nur für einzelne, sondern für die Gesamtheit aller Verfahrensbeteiligten erreichen können. Das Schlagwort „E-Justice“ und die Digitalisierung der Justiz beschäftigen die Wissenschaft,7) die Fachöffentlichkeit8) und den Gesetzgeber.9) Die aus dieser Diskussion abzuleitenden Erkenntnisse für gesetzliche Veränderungen im Insolvenzverfahren bleiben jedoch begrenzt. Als Kollektivverfahren folgt das Insolvenzverfahren zwar vielen Vorgaben des Zivilprozesses. Es weist aber gerade dort über diese Vorgaben hinaus, wo der Einsatz digitaler Datenverarbeitung wegen der Multipolarität des Verfahrens besondere Effektivitätsgewinne und Beschleunigungspotentiale erschließen würde. Die traditionellen Verfahrensmuster des Insolvenzverfahrens basieren wesentlich auf Kommunikation und Interaktion der Beteiligten. Ein Aspekt, der im Zivilprozess zwar auch, dort aber eher einschränkend als bipolares Austauschverhältnis geprägt ist. Maßgaben zur kollektiven Willensbildung oder zur öffentlichen Information findet man dort kaum. Auch die i. R. des allgemeinen Zivil- und Strafprozesses heftig diskutierten Fragen der elektronischen Akten- und Beweisführung10) finden im Insolvenzverfahren wenig Widerhall. Partizipation am Verfahren wird hier nicht notwendig durch anwaltliche Vertretung vermittelt.

6) 7) 8) 9)

10)

Vgl. etwa das Gesetz zur Modernisierung des Kostenrechts – Kostenrechtsmodernisierungsgesetz (KostRMoG), v. 5.5.2004, BGBl. I 2004, 718. Vgl. ausführlich Buschmann/Gläß/Gonska/Philipp/Zimmermann, Digitalisierung der gerichtlichen Verfahren und das Prozessrecht, 2018. Vgl. https://www.e-justice-magazin.de. Vgl. hierzu auch den Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD – 19. Legislaturperiode, v. 7.2.2018, der unter Zeile 6199 eine konsequente Förderung der Digitalisierung des Insolvenzverfahrens als rechtspolitisches Ziel benennt. Vgl. hierzu die Beiträge in: Buschmann/Gläß/Gonska/Philipp/Zimmermann, Digitalisierung der gerichtlichen Verfahren und das Prozessrecht, 2018, v. Stöhr, Die elektronische Akte im Zivilprozess, S. 55; Saviü, Beweisführung mit digitalen Medien im Strafprozess. Im Vergleich und unter Berücksichtigung der ZPO und VwGO (sowie weiterer Rechtsvorschriften), S. 71; Brodowski, Die Beweisführung mit digitalen Spuren und das Unmittelbarkeitsprinzip, S. 83, und Baum, Die elektronische Akte im Strafverfahren: Chancen und Risiken aus Sicht der Verteidigung, S. 109.

616

Christoph Niering und Daniel Bergner

Die Liste der Unterschiede lässt sich noch lange fortsetzen. Die hier Angesprochenen lassen jedoch bereits erkennen, dass eine reine digitale Abbildung der Reaktionsmuster des Zivilprozesses den Ansprüchen des Kollektivverfahrens nicht genügt. III. Art. 28 Restrukturierungsrichtlinie als Impuls für die Modernisierung des Insolvenzverfahrens Impulse für eine weitergehende Modernisierung finden sich sowohl in nationalen wie auch in europäischen Verfahrensregulierungen.11) An besonders prominenter Stelle ist dabei Art. 28 der im Sommer 2019 verabschiedeten Restrukturierungsrichtlinie12) zu nennen: „Artikel 28 Einsatz elektronischer Kommunikationsmittel Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass in Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren die Verfahrensparteien, die Verwalter und die Justiz- oder Verwaltungsbehörde auch in grenzüberschreitenden Situationen mindestens folgende Handlungen elektronisch vornehmen können: a)

Geltendmachung von Forderungen;

b)

Einreichung von Restrukturierungs- oder Tilgungsplänen;

c)

Mitteilungen an die Gläubiger;

d)

Einlegung von Beanstandungen und Rechtsbehelfen.“

Auch wenn diese Vorgaben wegen großzügig bemessener Umsetzungsfristen13) das nationale Recht nicht sofort erreichen werden, so bilden sie doch die bislang konkreteste Beschreibung einer elektronischen Gestaltung wichtiger Verfahrensschritte. Obwohl sie kein vollständig elektronisches Verfahren beschreiben14) sind sie zudem auch der bisher am weitesten reichende Ausdruck eines gesetzgeberischen Willens zur Modernisierung von Insolvenzverfahren. Sie sollen deshalb im Nachfolgenden als Gliederungspunkte

11)

12) 13)

14)

Vgl. hierzu den ErwG 76 der Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.5.2015 über Insolvenzverfahren – EuInsVO, ABl. (EU) L 141/19 v. 5.6.2015. Vgl. oben Fn. 1. Art. 28 lit. a – c Restrukturierungsrichtlinie: fünf Jahre (vgl. Art. 34 Abs. 1 Restrukturierungsrichtlinie); Art. 28 lit. d Restrukturierungsrichtlinie: sieben Jahre (vgl. Art. 34 Abs. 1 Restrukturierungsrichtlinie (dort in Satz 1 fälschlicherweise noch als Art. 28 lit. e bezeichnet)), jeweils mit Möglichkeit der Fristverlängerung um max. ein Jahr gemäß Art. 34 Abs. 2 Restrukturierungsrichtlinie. Vgl. nachfolgend im Text die ErwG 90 und 91 der Restrukturierungsrichtlinie.

„Insolvenzverfahren 4.0“

617

einer Darstellung dienen, die notwendige Umsetzungsschritte im Insolvenzverfahren in den Blick nimmt. Zuvor sollen aber noch Erwägungen, Entstehungsgeschichte und Vorbilder der Vorschrift kurz dargestellt werden. Sie können das Verständnis dafür erleichtern, warum gerade diese Elemente Eingang in die europäischen Verfahrensvorgaben gefunden haben. IV. Die Genese des Art. 28 Restrukturierungsrichtlinie Mit dem ursprünglichen Vorschlag der Richtlinie15) hatte die Kommission den Text von Art. 28 noch etwas weiter formuliert: „Artikel 28 Einsatz elektronischer Kommunikationsmittel Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass folgende Handlungen elektronisch vorgenommen werden können, auch in grenzüberschreitenden Situationen: a)

Geltendmachung von Ansprüchen;

b)

Einreichung von Restrukturierungs- oder Tilgungsplänen bei den zuständigen Justizoder Verwaltungsbehörden;

c)

Mitteilungen an die Gläubiger;

d)

Abstimmung über Restrukturierungspläne;

e)

Einlegung von Rechtsbehelfen.“

Auch das Europäische Parlament hatte in seinen Empfehlungen16) lediglich eine gesonderte Erwähnung der Arbeitnehmervertreter unter lit. c für notwendig gehalten. Erst in den Trilogverhandlungen wurde die nun vorliegende Fassung erreicht, die auf den ursprünglichen lit. d verzichtet und damit die Komplexität der Umsetzung deutlich verringert.

15)

16)

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über präventive Restrukturierungsrahmen, die zweite Chance und Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie 2012/30/EU, v. 22.11.2016, COM(2016) 723 final. Bericht des RA über den Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über präventive Restrukturierungsrahmen, die zweite Chance und Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie 2012/30/EU, COM(2016) 723, v. 21.8.2018, abrufbar unter http://www.europarl.europa.eu/doceo/document/A-8-20180269_DE.html (Abrufdatum: 17.7.2019).

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Den maßgeblichen ErwG 90 und 91 der Endfassung17) ist dabei nicht zu entnehmen, ob dieser (Rück-)Schritt aufgrund der damit verbundenen Erleichterung für die Mitgliedstaaten unternommen wurde: „(90) Um die Verfahren weiter zu verkürzen, eine bessere Beteiligung der Gläubiger an Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren zu erleichtern und ähnliche Bedingungen für Gläubiger unabhängig von ihrem Standort in der Union zu gewährleisten, sollten die Mitgliedstaaten Vorkehrungen treffen, damit Schuldnern, Gläubigern, Verwaltern und Justiz- und Verwaltungsbehörden die Nutzung elektronischer Kommunikationsmittel ermöglicht wird. Es sollte daher möglich sein, Verfahrenshandlungen wie die Geltendmachung von Gläubigerforderungen, Mitteilungen an Gläubiger oder die Einlegung von Beschwerden und Rechtsbehelfen mit elektronischen Kommunikationsmitteln vorzunehmen. Die Mitgliedstaaten sollten vorsehen können, dass Mitteilungen an einen Gläubiger nur dann elektronisch vorgenommen werden dürfen, wenn der betreffende Gläubiger der elektronischen Kommunikation zuvor zugestimmt hat. (91) Die Parteien in Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren sollten nicht verpflichtet sein, elektronische Kommunikationsmittel zu nutzen, wenn diese nach nationalem Recht nicht vorgeschrieben sind, unbeschadet dessen, dass die Mitgliedstaaten ein verbindliches System für die elektronische Einreichung und Zustellung von Dokumenten in Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren einrichten können. Die Mitgliedstaaten sollten die konkreten elektronischen Kommunikationsmittel auswählen können. Beispiele solcher Kommunikationsmittel könnten ein eigens erstelltes System für die elektronische Übermittlung solcher Dokumente oder die Verwendung von E-Mail sein, ohne dass die Mitgliedstaaten daran gehindert werden, Elemente einzuführen, mit denen die Sicherheit der elektronischen Übermittlungen im Einklang mit der Verordnung (EU) Nr. 910/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates18) gewährleistet wird, beispielsweise elektronische Signaturen oder Vertrauensdienste, etwa Dienste für die Zustellung elektronischer Einschreiben.“

Der hier angeführte Ausgleich zwischen den Verfahrenserleichterungen für die Beteiligten und ihrem Schutz vor intrusiven Verfahrensregeln zur Erzwingung von elektronischer Kommunikation beleuchtet das Spannungsverhältnis, in dem jede einschlägige Regulierung des multipolaren Insolvenzverfahrens steht. Eine Überforderung der Beteiligten kann die verfolgten Ziele der Modernisierung ins Gegenteil verkehren, indem sie bestimmte Gläubiger von einer Verfahrensteilnahme ausschließt. Es lohnt hier ein Blick auf die Verfahrensnovelle, die aufgrund ihrer zeitlichen und inhaltlichen Position als Vorbild des Art. 28 Restrukturierungsrichtlinie angesprochen werden darf.

17) 18)

Restrukturierungsrichtlinie, ABl. (EU) L 172/18, 34 f. v. 26.6.2019. Verordnung (EU) Nr. 910/2014 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. Juli 2014 über elektronische Identifizierung und Vertrauensdienste für elektronische Transaktionen im Binnenmarkt und zur Aufhebung der Richtlinie 1999/93/EG (ABl. L 257 vom 28.8.2014, S. 73).

„Insolvenzverfahren 4.0“

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V. Das britische Vorbild: Insolvency (England and Wales) Rules 2016 The Insolvency (England and Wales) Rules 201619) enthalten bereits seit 2016 umfangreiche Regelungen zum elektronischen Rechtsverkehr in Insolvenzverfahren.20) Dort werden u. a. normiert: „Part 1, Chapter 3 (Form and content of documents (Requirement for writing and form of documents Authentication)) Part 1, Chapter 9 (Electronic delivery of documents, Electronic delivery of documents to the court, Electronic delivery of notices to enforcement officers, Electronic delivery by office-holders, Use of website by office-holder to deliver a particular document (sections 246B and 379B), General use of website to deliver documents, Retention period for documents made available on websites) Part 15, Chapter 2 (Decision procedures (Interpretation, The prescribed decision procedures, Electronic voting, Virtual meetings))“.

Im Explanatory Memorandum to the Insolvency (England and Wales) Rules 201621) werden die Unterschiede zum früheren Rechtsstand erläutert. Dort findet man zur Kommunikation zwischen Insolvenzverwalter und Gläubigern unter 7.6. folgende Erläuterungen: „Where a debtor and a creditor have been customarily corresponding electronically prior to insolvency, under the 1986 Rules an insolvency office-holder could not continue to correspond in that way without first obtaining the creditor’s written consent. Stakeholders stated that this is a big barrier to e-communications and did not reflect the way the business world operated (even more so than in 2010 when e-communications were first permitted by the Insolvency (Amendment) Rules 20101). The 2016 Rules change this so that where electronic communication was customarily used pre-insolvency, then that method of communication can continue post- insolvency. This will encourage e-communication, which is generally cheaper and speedier than traditional post.“

Unter 7.7. wird zum ergänzenden Einsatz von Websites ausgeführt: „Under the 1986 Rules an office-holder who wants to put all future documents on a case on a website after only an initial notice to creditors, must obtain an order of the court. This requirement has been removed and the 2016 Rules permit an office-holder to send a notice to creditors stating that all future documents will be made available on a website, subject to certain exceptions.“

19)

20)

21)

The Insolvency (England and Wales) Rules 2016 – 2016 No. 1024, Table of contents, abrufbar unter http://www.legislation.gov.uk/uksi/2016/1024/contents/made (Abrufdatum: 17.7.2019). Zu den vorausgegangenen Reformvorschlägen vgl. bereits ausführlich Braegelmann, Moderne Onlinegerichte: Ein Reformvorschlag aus dem Vereinigten Königreich – Vorbild für die Digitalisierung des Deutschen Insolvenzrechts?, ZInsO 2016, 950 m. w. N. The Insolvency (England and Wales) Rules 2016 – 2016 No. 1024, Explanatory Memorandum, abrufbar unter http://www.legislation.gov.uk/uksi/2016/1024/memorandum/ contents (Abrufdatum: 17.7.2019).

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Mit Blick auf die als „alternative decision-making processes“ bezeichneten Möglichkeiten einer virtuellen Gläubigerversammlung, eines schriftlichen Verfahrens oder einer elektronischen Abstimmung führt 7.13. aus: „The Rules specify what types of alternative decision-making processes may be used. The form the alternative decision-making process takes in respect of a particular decision will be at the discretion of the office-holder, with two exceptions. An office-holder may only call a physical meeting of creditors if this has been requested by 10 % or more by value of the creditors, or 10 % of the total number of creditors, or 10 individual creditors. It is open to creditors to make this request at any time they are asked to make a decision. This means that the expenses of calling a physical meeting will be incurred and charged to the insolvency estate only where creditors have asked for this to happen, so unnecessary charges will be prevented. The thresholds for requiring a physical meeting of creditors are contained within the primary legislation.“

Mit dem hier angesprochenen „alternative decision-making process“, dessen Ausgestaltung weitgehend in das Ermessen des Insolvenzverwalters gestellt wird, ist auch die elektronische Abstimmung angesprochen, die bis in die Trilogverhandlungen hinein auch in Art. 28 lit. d Restrukturierungsrichtlinie vorgesehen war. Mit der Betonung auf die elektronische Übermittlung von Dokumenten (Art. 28 lit. a und lit. b Restrukturierungsrichtlinie) sowie der Kommunikation mit Gläubigern (Art. 28 lit. c Restrukturierungsrichtlinie) macht die Restrukturierungsrichtlinie eine gedankliche Nähe zu den britischen Regelungen deutlich. Wenden wir uns deshalb nun ihren einzelnen Regelungsgegenständen zu. VI. Geltendmachung von Forderungen (Art. 28 lit. a Restrukturierungsrichtlinie) Mit der Geltendmachung von Forderungen spricht Art. 28 lit. a Restrukturierungsrichtlinie den § 174 InsO an. Hier existiert im deutschen Recht bereits seit 200522) in Gestalt des § 174 Abs. 4 ein Bezug zu elektronischen Anmeldungen: „Die Anmeldung kann durch Übermittlung eines elektronischen Dokuments erfolgen, wenn der Insolvenzverwalter der Übermittlung elektronischer Dokumente ausdrücklich zugestimmt hat. In diesem Fall sollen die Urkunden, aus denen sich die Forderung ergibt, unverzüglich nachgereicht werden.“

Eine genauere Analyse macht jedoch die Schwachstellen dieser Regelung deutlich. § 174 Abs. 4 Satz 2 InsO verpflichtet zur Nachreichung der forde22)

Mit Wirkung v. 1.4.2005 eingefügt durch das Gesetz über die Verwendung elektronischer Kommunikationsformen in der Justiz – Justizkommunikationsgesetz (JKomG), v. 22.3.2005, BGBl. I 2005, 837.

„Insolvenzverfahren 4.0“

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rungsbegründenden Urkunden und ergänzt damit die elektronische Übermittlung durch einen notwendigen Schriftverkehr nach klassischem Muster. Die elektronische Forderungsanmeldung hat deshalb in der Praxis bisher nur geringe Bedeutung erlangt.23) Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung und Vereinfachung der Aufsicht in Insolvenzverfahren (GAVI)24) wurde bereits 2007 ein Versuch unternommen, die elektronische Verfahrensführung in der InsO neu zu regeln. Dieser Versuch kam über die erste Beratung des deutschen Bundestages im Februar 200825) aber nicht hinaus. Damals dachte man auch noch nicht an die Forderungsanmeldung, sondern an den elektronischen Rechtsverkehr zwischen Insolvenzverwaltern und Gerichten. Der dazu vorgeschlagene § 5a InsO sollte folgenden Wortlaut haben: „§ 5a Elektronische Verfahrensführung (1) Tabellen und Verzeichnisse, die Zwischenberichte und die Schlussrechnung sowie dazugehörige Anlagen können maschinell erstellt und bearbeitet werden. Das Bundesministerium der Justiz wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates nähere Bestimmungen über Inhalt und Gliederung dieser Dokumente zu treffen. (2) Die Landesregierungen werden ermächtigt, durch Rechtsverordnung nähere Bestimmungen über die elektronische Einreichung und Führung der in Absatz 1 genannten Dokumente sowie deren Aufbewahrung zu treffen. Dabei können sie auch Vorgaben für die Datenformate der elektronischen Einreichung machen. Die Landesregierungen können die Ermächtigung auf die Landesjustizverwaltungen übertragen. (3) Soweit dem Gericht Unterlagen in elektronischer Form zur Verfügung stehen, in die nach anderen Bestimmungen dieses Gesetzes ein Einsichtsrecht besteht, kann auch ein direkter Zugriff der Verfahrensbeteiligten hierauf mittels Online-Verfahren eröffnet werden. Auf diesem Wege kann das Gericht den Beteiligten auch die wesentlichen Ergebnisse der Zwischenberichte nach § 58 Abs. 1 zur Verfügung stellen.“

Die in § 130a ZPO enthaltenen und zum 1. Januar 201826) erweiterten Vorgaben für eine Einreichung elektronischer Dokumente bieten heute einen Übermittlungsweg, der auch die Einreichung von Urkunden zulässt und ab dem 1. Januar 2022 zumindest von Rechtsanwälten und Behörden zwingend genutzt werden soll. Dieser Übermittlungsweg ist aber technisch (qua23)

24) 25) 26)

Vgl. Preß/Henningsmeier in: HambKomm-InsO, § 174 Rz. 10, sowie die jüngst durch den BGH formulierten Vorbehalte gegenüber einer Übermittlung von PDF-Dateien (BGH, Beschl. v. 8.5.2019 – XII ZB 8/19, NJW 2019, 2096). RegE Gesetz zur Verbesserung und Vereinfachung der Aufsicht in Insolvenzverfahren – GAVI, v. 21.11.2007, BT-Drucks. 16/7251. Plenarprotokoll 16/142 zur 142. Sitzung d. Dt. BT v. 14.2.2008, S. 14966 ff. Gesetz zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten, v. 10.10.2013, BGBl. I 2013, 3786.

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lifizierte elektronische Signatur oder sicherer Übermittlungsweg) durch Voraussetzungen geprägt, die nur von wenigen Gläubigern außerhalb dieses Kreises erfüllt werden. Eine schrittweise Erweiterung dieses Zugangs würde hier den Kreis der potentiellen Nutzer deutlich erweitern. Die Arbeitsgruppe Insolvenzverfahren 4.0, eine im November 2017 erstmals zusammengetretene Gruppe von Vertretern der Sozialversicherungsträger, der Bundesagentur für Arbeit, des Justiz- und Finanzministeriums Nordrhein-Westfalen, der Insolvenzrichter und des VID, hat deshalb in ihrem Eckpunktepapier vom 11. Juli 201827) eine Änderung des § 174 Abs. 4 InsO angeregt. Dort müsse geregelt werden, dass Insolvenzforderungen künftig nur noch elektronisch angemeldet werden können.28) Nur in Ausnahmefällen solle noch eine schriftliche Anmeldung möglich sein, sofern die betroffenen Insolvenzgläubiger über keinen Zugang zu elektronischen Medien verfügen.29) Diese Vorschläge setzen ihrerseits wieder eine Reihe von flankierenden Änderungen voraus. Das hat sie der Kritik ausgesetzt, dass hier nicht umfassend genug gefordert und gleichsam insular30) ein grundlegenderer Reformbedarf31) übergangen werde. Zu Recht weist Frind32) auf Art. 54 Abs. 2, Abs. 3 EuInsVO 2017 hin, der die Unterrichtung der bekannten ausländischen Gläubiger nur unter Ver27)

28)

29) 30)

31)

32)

VID Arbeitsgruppe Insolvenzverfahren 4.0, Eckpunktepapier – Insolvenzverfahren 4.0, v. 31.7.2018, abrufbar unter https://www.vid.de/initiativen/eckpunktepapier-insolvenzverfahren-4-0 (Abrufdatum: 17.7.2019). Dies entspricht der in ErwG 91 Satz 1 Restrukturierungsrichtlinie ausdrücklich eröffneten Gestaltungsmöglichkeit eines national verbindliches Systems für die elektronische Einreichung und Zustellung von Dokumenten in Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren. ErwG 90 Satz 3 Restrukturierungsrichtlinie sieht dazu als nationale Umsetzungsmöglichkeit einen Zustimmungsvorbehalt für Gläubiger vor. Vgl. hierzu Haarmeyer, InsO 2.0: Deutschland als Vorreiter oder Schlusslicht? – Plädoyer für eine durchgreifende Digitalisierung des Unternehmens-Insolvenzverfahrens, in: FS Graf-Schlicker, 2018, S. 277, der eine durchgreifende Digitalisierung des Unternehmensinsolvenzrechts fordert und auf die US-amerikanischen National Creditor Registration Services (NCRS) verweist, die als kostenloser Service der Insolvenzgerichte die Registrierung der eigenen elektronischen Kontaktdaten über ein gemeinsames Bankruptcy Noticing Center (BNC), abrufbar unter https://bankruptcynotices.uscourts.gov (Abrufdatum: 17.7.2019), ermöglichen. Vgl. etwa Till, Revolution im Insolvenzwesen durch die Künstliche Intelligenz (KI)?, NZI 2019, 405 zu den Perspektiven des Einsatzes Künstlicher Intelligenz in Insolvenzverfahren. Frind, „Insolvenzverfahren 4.0“ – Dringende Notwendigkeiten und nicht ausreichende Vorschläge, ZInsO 2018, 2130.

„Insolvenzverfahren 4.0“

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wendung des in Art. 88 EuInsVO geregelten Standardmitteilungsformulars zulässt. Eine Forderungsanmeldung in Verfahren nach der EuInsVO ist dagegen gemäß Art. 55 Abs. 4 EuInsVO nicht an die Verwendung eines Formulars gemäß Art. 88 EuInsVO gebunden, solange der Kanon der Pflichtangaben des Art. 55 Abs. 2 EuInsVO beachtet wird. Die Probleme einer solchen Anmeldung33) werden jedenfalls mit Blick auf den eindeutigen Rechtssetzungsbefehl des europäischen Gesetzgebers in Art. 28 lit. a Restrukturierungsrichtlinie i. S. eines durch europäische Anwendungsregeln (vertikale Direktwirkung nach erfolglosem Ablauf der Umsetzungsfrist) gebotenen effet utile aufgelöst. Die von Frind34) kritisierte Verpflichtung zur elektronischen Forderungsanmeldung soll nach den Vorschlägen des Eckpunktepapiers nur noch in Ausnahmefällen durch eine schriftliche Forderungsmeldung ersetzt werden. Eine Verifikation der Forderungsinhaberschaft schon bei der Anmeldung wird man an dieser Stelle nicht voraussetzen können, da eine Nichtvorlage von Urkunden die Wirksamkeit der Anmeldung nicht berührt.35) Die notwendige flankierende Anpassung des rechtssicheren Scannens von Dokumenten, das bislang gemäß § 298a Abs. 2 ZPO bei Privatpersonen nicht zu rechtsersetzenden digitalen Kopien führt,36) könnte schrittweise erfolgen. Der zum 1. Januar 2022 in Kraft tretende § 130d ZPO, der i. R. des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten Rechtsanwälte, Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts zur Einreichung elektronischer Dokumente verpflichtet, weist hier den Weg. VII. Einreichung von Restrukturierungs- oder Tilgungsplänen (Art. 28 lit. b Restrukturierungsrichtlinie) Mit der Bezeichnung als Restrukturierungs- oder Tilgungspläne ist zunächst der engere Regelungsbereich der Art. 8 ff. Restrukturierungsrichtlinie angesprochen. Über diesen Bereich hinaus wird man aber auch Insolvenzpläne nach den §§ 217 ff. InsO unter diese Regelungsverpflichtung des nationalen Gesetzgebers einordnen können. Eine singuläre gesetzliche Regelung, die nur nach der Richtlinie geschaffene Planverfahren zur elektronischen Einrei33) 34) 35) 36)

Frind, ZInsO 2018, 2130 m. w. N. Frind, ZInsO 2018, 2130. Vgl. BGH, Urt. v. 1.12.2005 – IX ZR 95/04, Rz. 9, ZIP 2006, 192 = ZInsO 2006, 103. Vgl. hierzu den entsprechenden Hinweis von Blankenburg, A brave new world?, ZVI 2018, 386 sowie die Kommentierung von Deppenkemper in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 11. Aufl. 2019, § 298a Rz. 4 ff. m. w. N. und Schilderung der technischen Verfahren.

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chung zuließe, wäre ansonsten dem Vorwurf ausgesetzt, die strukturell ähnliche Verfahrenssituation der Planeinreichung für insolvente Schuldner beschwerlicher zu machen. Dabei wird man der elektronischen Planeinreichung alleine nur begrenztes Potential zur effektiveren und schnelleren Verfahrensgestaltung zuschreiben können. Erst wenn sie i. R. des Verfahrens durch die Möglichkeit einer elektronischen Weiterleitung an die Gläubiger ergänzt wird, können – insbesondere bei hohen Gläubigerzahlen – auch hier Verbesserungen erzielt werden. Die Arbeitsgruppe Insolvenzverfahren 4.0 hat deshalb an dieser Stelle zunächst auch keine besonderen Vorschläge formuliert. Eine Lösung dazu könnte der von der Arbeitsgruppe Insolvenzverfahren 4.0 für eine zweite Reformstufe vorgeschlagene Ausbau der bereits bestehenden Veröffentlichungsplattform www.insolvenzbekanntmachungen.de zu einer einheitlichen „Datenbank“ auf Bundes- oder Landesebene für Gläubigerinformationen sein.37) Hier könnten weitergehende Informationen für die Gläubiger nach Vergabe einer individuellen Zugangsberechtigung im Wege der elektronischen Akteneinsicht zugänglich gemacht werden. Diese elektronische Akteneinsicht würde die elektronische Aktenführung bei den Gerichten voraussetzen, die nach derzeitigem Stand gemäß § 298a Abs. 1a Satz 1 ZPO zum 1. Januar 2026 eingeführt wird. VIII. Mitteilungen an die Gläubiger (Art. 28 lit. c Restrukturierungsrichtlinie) Mit dieser Vorgabe verbindet sich ein weiter Anwendungsbereich, der heute im Insolvenzverfahren von den öffentlichen Bekanntmachungen bis zu individuellen Zustellungen an einzelne Gläubiger reicht. Dabei ist in dem Begriff der Mitteilung nicht die allgemeine Information, sondern nur die konkrete, gesetzlich vorgesehene und als Verfahrenshandlung titulierte38) Information von Verfahrensbeteiligten angesprochen. Während bei öffentlichen Bekanntmachungen gemäß § 9 Abs. 2 Satz 1 InsO die Möglichkeiten digitaler Mitteilung bereits genutzt werden,39) sind individuelle digitale Mitteilungen an Gläubiger bislang gesetzlich ungesichert. Die Arbeitsgruppe Insolvenzverfahren 4.0 hat deshalb mit der Zustellung nach § 8 InsO die häufigste Form der schriftlichen Kommunikation zwischen 37) 38) 39)

VID Arbeitsgruppe Insolvenzverfahren 4.0, Eckpunktepapier – Insolvenzverfahren 4.0, v. 31.7.2018, S. 1 und 3. Vgl. oben ErwG 90 Restrukturierungsrichtlinie. Vgl. https://www.insolvenzbekanntmachungen.de (Abrufdatum: 17.7.2019).

„Insolvenzverfahren 4.0“

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Insolvenzverwaltern und Gläubigern aufgegriffen und verweist in diesem Zusammenhang auf die Zustellungswirkung einer öffentlichen Bekanntmachung gemäß § 9 Abs. 3 InsO. Eine durchgehende Beobachtung der öffentlichen Bekanntmachungen sei den Gläubigern nicht zumutbar. Nach einer verfahrenseinleitenden schriftlichen Zustellung des Eröffnungsbeschlusses sollten deshalb künftig weitere schriftliche Zustellungen durch individuelle elektronische Zustellungen ersetzt werden. Einer öffentlichen Bekanntmachung bedürfe es dann nur noch in gesetzlich zu regelnden Ausnahmefällen.40) Dieser Vorschlag setzt eine gesetzliche Regelung des elektronischen Zustellungsempfangs voraus, die in den Regelungen zum elektronischen Rechtsverkehr über ein elektronisches Anwaltspostfach zumindest für anwaltlich vertretene Gläubiger bereits existiert und seit dem 3. September 2018 auch die direkte Zustellung durch Insolvenzverwalter auf diesem Weg ermöglicht, wenn der oder die Insolvenzverwalterin, wie meistens, selbst als Anwalt zugelassen und deshalb zur Nutzung des elektronischen Anwaltspostfachs in der Lage ist.41) Zustellungen an Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts können gemäß § 130a Abs. 4 Nr. 3 ZPO auf dem dort geregelten Übermittlungsweg nicht erfolgen. Mit § 1 Abs. 1 Satz 1 der zum 1. Januar 2018 in Kraft getretenen Elektronischer-Rechtsverkehr-Verordnung (ERVV)42) ist zunächst, wie schon in § 130a Abs. 1 ZPO, nur die Übermittlung elektronischer Dokumente an die Gerichte der Länder und des Bundes angesprochen. Über das in § 6 ERVV geregelte besondere elektronische Behördenpostfach wäre jedoch auch eine Zustellung möglich, weil ihre Identität über das Identifizierungsverfahren nach § 7 ERVV gesichert werden kann. Private Gläubiger ohne diese gesetzlich privilegierten Voraussetzungen sind auf weitere Entwicklungsschritte der öffentlichen elektronischen Infrastruktur verwiesen. Erste Versuche mit ländereigenen Zugangsportalen (z. B. Bayern ID, Service Berlin), die auf die Online-Ausweisfunktion neuerer Personalausweise zurückgreifen, zielen bislang nur auf den Rechtsverkehr mit Behörden, schließen dabei aber neben natürlichen Personen auch juris40)

41) 42)

Ausführlich zur Kritik an der uneinheitlichen gerichtlichen Praxis öffentlicher Bekanntmachungen Bergner/Berg, Die Insolvenzverwaltervergütung im Internet: Theorie und Praxis, ZIP 2018, 858 ff. m. w. N. Vgl. § 195 Abs. 1 Satz 5 i. V. m. § 174 Abs. 3 Satz 1, 3 ZPO. Verordnung über die technischen Rahmenbedingungen des elektronischen Rechtsverkehrs und über das besondere elektronische Behördenpostfach – Elektronischer-RechtsverkehrVerordnung (ERVV), v. 24.11.2017, BGBl. I 2017, 3803.

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tische Personen in ihr Angebot ein. Sie ermöglichen elektronische Anträge in einer Vielzahl von Verwaltungsverfahren. Eine Erweiterung auf den Rechtsverkehr mit Gerichten wäre möglich und könnte auch das enthaltene Postfach einschließen. Dies würde zunächst eine bundesweite Verbreitung, Vernetzung und Vereinheitlichung solcher Bürgerportale voraussetzen. Ihre Nutzung ist nur auf freiwilliger Basis vorgesehen. Sie bieten deshalb in ihrer aktuellen Ausprägung kein umfassendes Substitut für den klassischen Schriftverkehr, könnten aber bei wachsender Verbreitung auch für Zustellungen der Gerichte genutzt werden. IX. Einlegung von Beanstandungen und Rechtsbehelfen (Art. 28 lit. d Restrukturierungsrichtlinie) Mit dieser Maßgabe verbinden sich bei anwaltlich vertretenen Gläubigern und Schuldnern nach Einführung des elektronischen Anwaltspostfachs keine besonderen Fragen. Jenseits der heutigen Grenzen des elektronischen Rechtsverkehrs stellt sich jedoch die Frage nach dem Zugang und einer sicheren Authentifizierung der Verfahrensbeteiligten ohne Zugriff auf die notwendige technische Infrastruktur. Für die eingelegten Rechtsbehelfe und Beanstandungen müsste ein System der Erstellung und Übermittlung elektronischer Dokumente i. S. des § 130a ZPO entwickelt werden. Hier könnten die bereits erwähnten Bürgerportale eine wichtige Funktion übernehmen. X. Fazit Mit der zunächst sehr technisch anmutenden Nutzung elektronischer Kommunikationsmittel in Insolvenzverfahren verbinden sich zahlreiche rechtliche Einzelfragen, für deren Lösung der Bundes- und Landesgesetzgeber in den letzten Jahren gesetzliche Grundlagen geschaffen hat. Die jüngst auch europäisch induzierte Forderung nach einer elektronischen Verfahrensgestaltung, die sich auf wenige und zentrale Elemente konzentriert, trifft damit auch ein gesetzliches Umfeld, das für wirksame Sofortmaßnahmen nur noch an wenigen Stellen ergänzt werden muss und schrittweise weiter entwickelt werden sollte. Jenseits des elektronischen Rechtsverkehrs und der Einführung elektronischer Verfahrensakten wird es vor allem die bundesweite Entwicklung von allgemein zugänglichen und technisch sicheren Zugangsportalen (Bürgerportalen) sein, die einem Insolvenzverfahren 4.0 weitere Perspektiven eröffnen.

Quotenzahlung und Vorsteuerberichtigung DIETMAR ONUSSEIT Inhaltsübersicht I. II.

Einleitung Zur ersten Vorsteuerberichtigung bei Insolvenzeröffnung III. Umsatzsteuerrechtliche Folgen von Quotenzahlungen 1. Die Auffassung des FG Münster 2. Kritik a) Wörtliche Auslegung des § 17 Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 UStG

b) Bisherige Judikate und die Auffassung der Finanzverwaltung c) Keine ungerechtfertigte Bereicherung der Masse aufgrund der Rückberichtigung IV. Zusammenfassung und Ausblick

I. Einleitung In der Insolvenzsituation kommt Steuer- und Vorsteuerberichtigungen nach §§ 15a und 17 UStG, gelegentlich auch nach § 14c UStG oder nach Aufdeckung unzutreffender Organschaftsverhältnisse, traditionell eine erhebliche Bedeutung zu. Im Vordergrund stehen dabei ihre insolvenzrechtlichen Zuordnungen. Vorwiegend geht es zum einen darum, ob die Forderung des Finanzamts, die aus einer zweiten Steuerberichtigung oder ersten Vorsteuerberichtigung resultiert, als Insolvenzforderung nach § 38 InsO oder als Masseverbindlichkeit nach § 55 InsO einzuordnen ist, zum anderen steht häufig in Streit, ob das Finanzamt nach der ersten Steuerberichtigung oder einer zweiten Vorsteuerkorrektur berechtigt ist, gegen die sich daraus ergebende Erstattungsforderungen der Masse mit Steuerinsolvenzforderungen aufzurechnen, oder ob die entsprechenden Forderungen nur zur Aufrechnung mit Steuermasseverbindlichkeiten zur Verfügung stehen und in Ermangelung solcher an die Masse auszukehren sind. Die Pflicht und das Recht zur Berichtigung des Vorsteuerabzugs, die ausschließlich den Leistungsempfänger betreffen, ergeben sich bei der Änderung der Verhältnisse eines Wirtschaftsguts aus § 15a UStG. Ändert sich hingegen die Bemessungsgrundlage für einen steuerpflichtigen Umsatz i. S. des § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG, wird etwa der Kaufpreis für die gelieferte Sache nachträglich reduziert, sind der leistende Unternehmer zur Steuer-

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korrektur und der Leistungsempfänger zur Berichtigung des Vorsteuerabzugs gemäß § 17 Abs. 1 UStG verpflichtet. Diese Berichtigungen sind nach Satz 7 der genannten Vorschrift nicht rückwirkend, sondern für den Besteuerungszeitraum vorzunehmen, in dem die Änderung der Bemessungsgrundlage eingetreten ist. II. Zur ersten Vorsteuerberichtigung bei Insolvenzeröffnung Nach der in Insolvenzverfahren besonders relevanten Regelung des § 17 Abs. 2 Nr. 1 UStG, auf der hier der Schwerpunkt liegen soll, sind Steuer und Vorsteuer in gleicher Weise zu berichtigen, wenn das vereinbarte Entgelt für eine steuerpflichtige Lieferung, eine sonstige Leistung oder einen steuerpflichtigen innergemeinschaftlichen Erwerb uneinbringlich geworden ist. Wird das Entgelt nachträglich vereinnahmt, sind Steuerbetrag und Vorsteuerabzug erneut zu berichtigen (Rückberichtigung, § 17 Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 UStG), bei Ratenzahlungen auch mehrfach. Das Gesetz definiert den Begriff der Uneinbringlichkeit nicht, es deutet nur durch die Anordnung der Rückberichtigung in § 17 Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 UStG an, dass eine vollständige und endgültige Wertlosigkeit der Entgeltforderung nicht vorausgesetzt ist. Eine Entgeltforderung wird uneinbringlich, wenn der Anspruch bei Fälligkeit nicht erfüllt wird und bei objektiver Betrachtung damit zu rechnen ist, dass der Leistende die Entgeltforderung (ganz oder teilweise) jedenfalls auf absehbare Zeit nicht durchsetzen kann. Ob diese Voraussetzung erfüllt ist, ist eine im jeweiligen Einzelfall durch Würdigung aller Umstände zu entscheidende Tatfrage.1) In der Insolvenz des Leistungsempfängers gilt die Regel der Einzelfallbetrachtung nur mit Einschränkungen. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes tritt Uneinbringlichkeit nach § 17 Abs. 2 Nr. 1 UStG mit der Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters mit Zustimmungsvorbehalt oder mit der Anordnung eines Verfügungsverbots ein. Im Hinblick auf die Pflicht des vorläufigen Verwalters zur Massesicherung und dem sich hieraus ergebenden Verbot, Insolvenzforderungen zu befriedi1)

BFH, Beschl. v. 3.11.2008 – XI B 217/07, juris. Vgl. auch Abschn. 17.1 Abs. 5 UStAE. Abzugrenzen ist diese tatsächliche Unmöglichkeit von der vom V. Senat des Bundesfinanzhofes geschaffenen sog. rechtlichen Unmöglichkeit, näher BFH, Urt. v. 9.12.2010 – V R 22/10, ZIP 2011, 782; bestätigt durch BFH, Beschl. v. 6.9.2016 – V B 52/16, ZInsO 2016, 2449; BFH, Urt. v. 24.11.2011 – V R 13/11, Rz. 54, ZIP 2011, 2481.

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gen, hätten beide Arten der Verfügungsbeschränkung nach § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 InsO zur Folge, dass der Gläubiger seinen Entgeltanspruch – selbst wenn es nachfolgend zu keiner Eröffnung des Insolvenzverfahrens kommt – zumindest für die Dauer des Eröffnungsverfahrens und damit im Regelfall über einen längeren Zeitraum von ungewisser Dauer nicht mehr durchsetzen kann. Ohne die beschriebenen Anordnungen tritt Uneinbringlichkeit aber jedenfalls mit Verfahrenseröffnung ein. Damit gelten Insolvenzforderungen – spätestens – im Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung unbeschadet einer möglichen Insolvenzquote in voller Höhe als uneinbringlich.2) Die aus der folglich spätestens mit der Insolvenzeröffnung notwendigen Vorsteuerberichtigung folgenden Forderungen des Finanzamts führen, wenngleich mit unterschiedlichen Begründungsansätzen, nach allgemeiner Meinung lediglich zu Insolvenzforderungen i. S. des § 38 InsO. III. Umsatzsteuerrechtliche Folgen von Quotenzahlungen Kommt es im Insolvenzverfahren zu Quotenzahlungen, werden in deren Umfang die Entgeltforderungen der Lieferanten des Schuldners wieder einbringlich, was für die Notwendigkeit einer Rückberichtigung nicht nur der Steuer des leistenden Unternehmers, sondern auch der Vorsteuer des Schuldners zu sprechen scheint. Regelmäßig sind freilich die aus der ersten spätestens bei Verfahrenseröffnung erforderlichen Berichtigung folgenden Forderungen des Finanzamts, da, wie erwähnt, lediglich Insolvenzforderungen, allenfalls i. H. der jeweiligen Quotenzahlung ausgeglichen. Das FG Münster, dessen Urteil vom 20. Februar 20183) den unmittelbaren Anlass für die vorliegende Untersuchung gibt, hatte nun zu entscheiden, ob die Rückberichtigung der Vorsteuer der Insolvenzmasse nach Quotenzahlung anlässlich der Schlussverteilung voraussetzt, dass der ursprüngliche Vorsteuerabzug des Schuldners zuvor berichtigt und die sich daraus ergebenden Vorsteuerrückforderungen an das Finanzamt gezahlt worden waren. Dieselbe Frage stellt sich im Übrigen bei Abschlagsverteilungen. Ihre Beantwortung hat erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen auf das Insolvenzverfahren. Zum einen stehen, wenn die Rückberichtigung jedenfalls nicht von der Befriedigung der Forderungen aus der ersten Vorsteuerkorrektur abhängig gemacht wird, 19 % der an die Lieferanten des Schuldners, die 2) 3)

BFH, Urt. v. 13.11.1986 – V R 59/79, ZIP 1987, 119; BFH, Urt. v. 28.6.2000 – V R 45/99, ZIP 2000, 2120; Abschn. 17.1 Abs. 15 UStAE. FG Münster, Urt. v. 20.2.2018 – 15 K 1514/15 U, S, ZIP 2018, 845.

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häufig die meisten Insolvenzforderungen auf sich vereinen, geleisteten Quotenzahlung als (rückberichtigte) Vorsteuer zusätzlich zur Verfügung, die nach der dadurch ermöglichten erneuten Quotenzahlung eine weitere Vorsteuerberichtigung zulassen.4) Zum anderen erhöht sich unter dieser Voraussetzung die Bemessungsgrundlage für die Verwaltervergütung (§ 1 Abs. 1 InsVV) um die zu erstattenden Vorsteuerbeträge.5) 1. Die Auffassung des FG Münster Nach dem wohl trotz Revisionszulassung durch das Finanzgericht selbst ohne Revisionsverfahren rechtskräftig geworden Urteil des FG Münster6) hängt die Rückberichtigung der Vorsteuer zugunsten der Masse davon ab, dass die erste Berichtigung vorangemeldet (und/oder erklärt) wurde und der aufgrund der angemeldeten Vorsteuerkürzung entstandene Berichtigungsbetrag entrichtet wurde. Das FG Münster begründet seine Auffassung in weitgehender Anlehnung an die diesbezügliche Argumentation von Stadie7). Der im Gesetz verwendete Begriff „Vorsteuerabzug“, so meint das FG Münster, umschreibe das, was § 17 Abs. 1 Satz 2 UStG deklaratorisch zum Ausdruck bringe und der gesetzlichen Leitentscheidung über die Funktion des Vorsteuerabzugs entspreche, wonach eine Entlastung von Umsatzsteuer nur insoweit geboten sei, als der Unternehmer zuvor mit ihr belastet worden sei. Der Vorsteuerabzugsmöglichkeit liege das „Sollprinzip“ zugrunde. Als gegenläufiges Prinzip bestimme § 17 Abs. 2 Nr. 1 UStG eine Rückgängigmachung des gewährten Vorsteuerabzugs in dem Umfang, in dem das dem erklärten

4) 5) 6)

7)

Zur Berechnung der endgültigen Quote nach wiederholter Berichtigung und Auszahlung vgl. Onusseit in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, 79. EL 3/2019, InsSteuerR F. Rz. 539. BGH, Beschl. v. 26.2.2015 – IX ZB 9/13, ZIP 2015, 696 m. w. N. FG Münster, Urt. v. 20.2.2018 – 15 K 1514/15 U, S, ZIP 2018, 845, 847 f., m. zust. Anm. Tiebing, EFG 2018, 699; wohl auch Hoffmann, NZI 2018, 459 (Urteilsanm.); und abl. Anm. Schmidt, DB 2018, 1372, 1373, sowie Witfeld, EWiR 2018, 375 (Urteilsanm.); ähnlich wie das FG Münster auch Stadie in: Rau/Dürrwächter, UStG, 10/2018, § 17 Rz. 420 und § 18 Anh. 2 Rz. 167. Das FG Münster sieht eine „mögliche Abweichung“ seiner Entscheidung zur Rechtsprechung des BFH (BFH, Urt. v. 24.9.2014 – V R 48/13, ZIP 2014, 2451 und BFH, Urt. v. 22.10.2009 – V R 14/08, ZIP 2010, 383). Beide genannten Entscheidungen sprechen die hier interessierende Durchführung der ersten Berichtigung freilich nicht an, sodass offenbleibt, ob der BFH für die Rückberichtigung die Rückzahlung der Vorsteuer an die Finanzverwaltung aufgrund der ersten Berichtigung fordert. Stadie in: Rau/Dürrwächter, UStG, 10/2018, § 17 Rz. 420 und § 18 Anh. 2 Rz. 167.

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Vorsteuerabzug zugrunde liegende Entgelt nicht erbracht worden sei. Die Vorsteuervergütung bezwecke die Entlastung von einer Belastung, nicht aber die Bereicherung des Unternehmers, dem die Umsatzsteuer für Vorbezüge in Rechnung gestellt wurde. § 17 UStG passe die Besteuerung und den Vorsteuerabzug an den tatsächlichen Aufwand des Leistungsempfängers an. Werde auf die Entrichtung des Berichtigungsbetrags aus der ersten Korrektur verzichtet, träte eine nach der gesetzlichen Leitentscheidung nicht gerechtfertigte Privilegierung der Insolvenzmasse ein. Dies werde den insolvenzrechtlichen Besonderheiten nicht gerecht, wonach die Unternehmenseinheit auch nach der Verfahrenseröffnung fortbestehe, so dass i. R. der begehrten zweiten Berichtigung das Vorverhalten des Schuldners und damit auch die Nichtentrichtung des ersten Berichtigungsbetrags zu berücksichtigen sei. Dieser Argumentation kann nicht gefolgt werden. Richtig ist allein, dass § 17 Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 UStG keine ausdrückliche gesetzliche Anordnung über die Entrichtung des ersten Berichtigungsbetrags enthält und ihre Notwendigkeit sich daher nur aus anderen Vorschriften oder allgemeinen Prinzipien ableiten lassen könnte, was indessen – wie zu zeigen sein wird – nicht der Fall ist. 2. Kritik a) Wörtliche Auslegung des § 17 Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 UStG Aus der Wortwahl des Gesetzes, wonach der „Vorsteuerabzug erneut zu berichtigen“ ist, ist jedenfalls nichts zugunsten der Auffassung des FG Münster abzuleiten, insbesondere nicht, dass die Rückberichtigung neben der Voranmeldung der ersten Korrektur auch die Entrichtung des sich aus ihr ergebenden Betrags voraussetzt. Vieles spricht vielmehr für eine gegenteilige Sicht. Wie der Vorsteuerabzug erfolgt, ergibt sich aus § 16 Abs. 2 UStG, wonach von der nach dessen Absatz 1 berechneten Steuer die nach § 15 UStG abziehbaren Vorsteuerbeträge abzusetzen sind, die Entrichtung wird nicht angesprochen. Der Vorsteuerabzug ist damit durchgeführt. Die Pflicht zur Steuerentrichtung regelt erst § 18 Abs. 4 UStG im Anschluss an die Erklärungspflichten. Schließlich differenziert das Gesetz in § 17 Abs. 1 Satz 6 UStG zwischen der Berichtigung und der Entrichtung der Steuer.

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b) Bisherige Judikate und die Auffassung der Finanzverwaltung In der bisherigen Rechtsprechung spiegelt sich die Auffassung des FG Münster, wie es selbst zutreffend sieht, nicht. Allerdings lässt sich ihr jedenfalls ausdrücklich auch nichts für das Gegenteil entnehmen. Zwar hat der Bundesfinanzhof entschieden, dass aufgrund der Bestellung eines starken vorläufigen Insolvenzverwalter der Steuerbetrag für die steuerpflichtigen Leistungen, die der Schuldner bis zur Verwalterbestellung erbracht hat, nach § 17 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 UStG wegen Uneinbringlichkeit zu berichtigen ist, und eine nachfolgende Vereinnahmung des Entgelts zu einer zweiten Berichtigung führt, ohne auf die Erstattung der ursprünglich geleisteten Steuer abzuheben.8) Entsprechend hat er zur Vorsteuer judiziert, ohne ausdrücklich die Entrichtung des sich aus der ersten Berichtigung ergebenden Betrags zu verlangen.9) Damit ist indessen nichts Abschließendes über die Haltung des Bundesfinanzhofs zu dem hier diskutierten Problem gesagt, er hatte darüber noch nicht zu entscheiden. Ebenso wenig hat sich die Finanzverwaltung positioniert. Der hier in Rede stehende Sachverhalt wird zwar in Abschn. 17.1 Abs. 16 UStAE i. d. F. v. 2. Januar 2019 angesprochen, auf die Entrichtung des ersten Berichtigungsbetrags aber nicht rekurriert. Ob die Verwaltung sie fordert, bleibt daher im Ungewissen. Allerdings hat sie die Entscheidung des FG Münster10) auch nicht zum Anlass genommen, die Frage im UStAE klarzustellen, was nahegelegen hätte, wollte sie dessen dem Fiskus günstigen Argumentation folgen. c) Keine ungerechtfertigte Bereicherung der Masse aufgrund der Rückberichtigung Die Begründung des FG Münster stützt sich folgerichtig auch nur vordergründig auf den Wortlaut des § 17 Abs. 2 Satz 2 UStG. Sein Augenmerk liegt in erster Linie auf der Abwendung einer vermeintlich ungerechtfertigten Bereicherung der Masse. Anders als Stadie11), der ohne Ausnahme 8) 9)

10) 11)

BFH, Urt. v. 1.3.2016 – XI R 21/14, ZIP 2016, 1355. BFH, Urt. v. 24.9.2014 – V R 48/13, ZIP 2014, 2451; BFH, Urt. v. 22.10.2009 – V R 14/08, ZIP 2010, 383. Das vom FG Münster, Urt. v. 20.2.2018 – 15 K 1514/15 U, S, ZIP 2018, 845, weiter zitierte Urteil des BFH v. 29.3.2017 – XI R 5/16, ZIP 2017, 1121, betrifft andere Sachverhalte. FG Münster, Urt. v. 20.2.2018 – 15 K 1514/15 U, S, ZIP 2018, 845. Stadie in: Rau/Dürrwächter, UStG, 10/2018, § 17 Rz. 420 und § 18 Anh. 2 Rz. 167.

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für die Rückberichtigung die Entrichtung des berichtigten Betrags verlangt, beschränkt sich das FG Münster auf die Quotenzahlung in der Insolvenz und schafft so ein im Gesetz nicht vorgesehenes und nicht einmal angelegtes Sonderrecht für Insolvenzverfahren, was weder zulässig noch allgemein in der Sache begründbar ist. Denn eine ungerechtfertigte Bereicherung des leistungsempfangenden Unternehmers durch die Rückberichtigung der Vorsteuer tritt weder außerhalb der Insolvenz noch im Insolvenzverfahren ein, auch wenn die erste Berichtigung entweder ordnungsgemäß erklärt oder durch das Finanzamt festgesetzt, die Forderung der Finanzbehörde daraus aber nicht beglichen wurde. Der Forderung nach Ausgleich der ersten Berichtigung vor der Rückberichtigung begegnen bereits technische Schwierigkeiten. Fällt die erste Berichtigung nicht, was praktisch nahezu ausgeschlossen ist, in einen Voranmeldungszeitraum, in dem weder positive Steuern noch abziehbare Vorsteuern zu erklären sind, lässt sich nicht feststellen, ob die berichtigte Vorsteuer entrichtet ist, weil alle Steuern und Vorsteuern des Voranmeldungszeitraums in dem nach § 16 Abs. 2 UStG zu bildenden Saldo aufgehen.12) Letztlich kann jedoch dahinstehen, ob sich die Nichtentrichtung feststellen lässt. Hat der Leistungsempfänger die gemäß § 17 Abs. 2 Satz 1 UStG korrigierte Vorsteuer noch nicht entrichtet, steht dem Finanzamt nach der Rückberichtigung nämlich nach § 226 Abs. 1 AO i. V. m. §§ 387 ff. BGB die Möglichkeit der Aufrechnung zu Gebote. Nicht nur eine „ungerechtfertigte“ Bereicherung, sondern jegliche – auch wirtschaftliche – Bereicherung des Unternehmers wird dadurch ausgeschlossen. Dass dies nicht automatisch geschieht, sondern dem Finanzamt eine Handlung, die Aufrechnung im dafür vorgesehenen Verfahren, abverlangt wird, vermag die Bewertung auch unter Berücksichtigung des Aufrechnungsausschlusses in § 226 Abs. 2 AO, den die Verwaltung durch geeignetes Agieren verhindern kann, nicht zu ändern. Bei Rückberichtigungstatbeständen, die nach Insolvenzeröffnung eintreten, ist dieses Korrektiv nach der heute einheitlichen Rechtsprechung der Umsatzsteuersenate des Bundesfinanzhofes und dessen für die Aufrechnung zuständigen VII. Senats allerdings durch § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO suspendiert, die Aufrechnung ist ausgeschlossen, weil der Fiskus als Insolvenz12)

Schmidt, Vorsteuerberichtigung nach Schlussverteilung im Insolvenzverfahren, DB 2018, 1372, 1373.

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gläubiger mit der ersten Berichtigungsforderung etwas, die Vorsteuervergütung aus der Rückberichtigung, nach der Eröffnung zur Insolvenzmasse schuldig wird, was auf Folgendem beruht. Der V. Senat des Bundesfinanzhofes vertritt spätestens seit der Entscheidung vom 13. November 198613) die Auffassung, § 17 UStG stelle eine Berichtigungsvorschrift eigener Art dar, der im Ausmaß der vom Unternehmer vorzunehmenden Berichtigung selbstständige Bedeutung als Besteuerungstatbestand zukomme. § 17 UStG regele einen eigenständigen materiellrechtlichen Berichtigungstatbestand gegenüber den Änderungsvorschriften der AO.14) Durch die Berichtigung werde nicht die ursprünglich festgesetzte Steuer, sondern die Steuer des Veranlagungszeitraums berührt, in den die Änderung der Bemessungsgrundlage fällt. Für diesen Zeitraum, in dem sie wiederum eine unselbstständige Besteuerungsgrundlage nach § 157 Abs. 2 AO darstelle, werde die Berichtigungspflicht des Unternehmers begründet.15) Der Vorsteuerrückforderungsanspruch entstehe mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums, in dem der Berichtigungstatbestand eingetreten ist, er sei insbesondere nicht im Zeitpunkt des ursprünglichen Vorsteuerabzugs oder im Zeitpunkt der Ausführung des zugrunde liegenden Umsatzes betagt16) oder bedingt17) entstanden.18) Der anfänglich nach „Soll“Besteuerungsgrundsätzen vorgenommene Vorsteuerabzug – wohl auch die ursprüngliche Steuer – ist danach lediglich tatbestandliche Voraussetzung der materiellen Regelung nach § 17 UStG.19) Wird den Berichtigungsvorschriften, hier insbesondere § 17 Abs. Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 UStG, mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung eine eigenständige materiell-rechtliche Tatbestandsqualität zugewiesen, gilt dies not-

13) 14) 15) 16) 17) 18)

19)

BFH, Urt. v. 13.11.1986 – V R 59/79, ZIP 1987, 119; jüngst bestätigt durch BFH, Urt. v. 15.1.2019 – VII R 23/17, Rz. 16, BB 2019, 866. BFH, Urt. v. 22.10.2009 – V R 14/08, Rz. 26, ZIP 2010, 383; BFH, Beschl. v. 13.7.2006 – V B 70/06, ZIP 2006, 1779. BFH, Beschl. v. 13.7.2006 – V B 70/06, ZIP 2006, 1779. BFH, Urt. v. 16.7.1987 – V R 80/82, ZIP 1987, 1130. BFH, Urt. v. 6.6.1991 – V R 115/87, ZIP 1991, 1080; ferner BFH, Urt. v. 24.8.1995 – V R 55/94, ZIP 1996, 465. Der Auffassung der Umsatzsteuersenate hat sich der früher abweichend judizierende VII. Senat des BFH mit der Entscheidung vom 22.7.2012 angeschlossen, BFH, Urt. v. 25.7.2012 – VII R 29/11, Rz. 16 f., ZIP 2012, 2217. Die Annahme des V. Senats (BFH, Urt. v. 24.11.2011 – V R 13/11, Rz. 40, ZIP 2011, 2481), die Berichtigung der zuvor erfolgten Besteuerung lasse den zuvor begründeten Steueranspruch wieder entfallen, dürfte eher wirtschaftlich als rechtstechnisch gemeint sein. Jedenfalls ist sie singulär geblieben.

Quotenzahlung und Vorsteuerberichtigung

635

wendig auch für Satz 2 dieser Vorschrift, der insoweit keine strukturellen Unterschiede zu Satz 1 aufweist. Liegt deshalb der Voranmeldungszeitraum, in den der Tatbestand fällt, der die Rückberichtigung erfordert, hier also die Quotenzahlung, nach der Verfahrenseröffnung, wird der Fiskus die sich aus der Rückberichtigung ergebende Forderung der Masse nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu dieser schuldig. Die Aufrechnung mit Insolvenzforderungen ist dann gemäß § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO nach Ansicht der maßgeblichen Senate des Bundesfinanzhofes ausgeschlossen. Dieser Aufrechnungsausschluss führt zwar wirtschaftlich – nicht rechtlich – zu einer Bereicherung der Insolvenzmasse, jedoch nicht zu einer ungerechtfertigten. § 96 InsO verschärft allgemein das Gegenseitigkeitserfordernis bei der Aufrechnung und verlagert es im Interesse der Masseerhaltung auf die Zeit vor der Verfahrenseröffnung. Nur der Insolvenzgläubiger soll in den Genuss der Befriedigung seiner Forderung durch die in der Aufrechnung liegende Selbstexekution kommen, dem diese Möglichkeit unanfechtbar (§ 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO) bereits vor der Verfahrenseröffnung (§ 94 InsO) zur Verfügung stand. § 96 InsO ist damit ein Ausdruck des insolvenzrechtlichen Prinzips der par condicio creditorum.20) Es handelt sich mithin beim Aufrechnungsausschluss um eine bewusste, den Fiskus wie jeden anderen Insolvenzgläubiger in gleicher Weise treffende gesetzgeberische Entscheidung, nicht um eine ungerechtfertigte Bereicherung der Masse oder gar um eine Subvention.21) Dem Fiskus wird hier nichts genommen, was anderen Gläubigern zusteht, es wird ihm lediglich kein Sonderrecht eingeräumt. Nach allem tritt weder außerhalb noch innerhalb der Insolvenz eine ungerechtfertigte Bereicherung bei Durchführung der Rückberichtigung ohne vorherige Entrichtung der sich aus der Erstberichtigung ergebenden Forderung des Finanzamts ein. Die aus Erst- und Zweitberichtigung resultierenden wechselseitigen Forderungen von Steuerschuldner und Finanzverwaltung sind, folgt man der dargestellten Rechtsprechung zur tatbestandlichen Selbständigkeit der Berichtigungsvorschriften, auch eigenständige materiell-rechtliche Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis gemäß § 37 AO, die – wie dargestellt – aufgerechnet werden können, soweit nicht insolvenzspezifische Aufrech-

20) 21)

Zu allem Lüke in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, 64. EL 7/2015, § 96 Rz. 3. So aber Stadie in: Rau/Dürrwächter, UStG, 10/2018, § 18 Anh. 2 Rz. 167.

636

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nungsausschlüsse entgegenstehen. Mit der Möglichkeit der Aufrechnung hat es allerdings auch sein Bewenden. Insbesondere unterliegen die Ansprüche aus Erst- und Rückberichtigung entgegen einer in der Literatur vertretenen Ansicht22) nicht etwa einer automatischen Verrechnung in dem Sinne, dass die Rückberichtigung lediglich zu einer Reduzierung des Anspruchs aus der Erstberichtigung führt, wenn dieser noch nicht befriedigt ist, was auch § 17 Abs. 1 Satz 7 UStG deutlich zum Ausdruck bringt. Es geht bei der Rückberichtigung auch nicht um einen erneuten – zweiten – Vorsteuerabzug,23) der nur zulässig wäre, wenn der erste vollständig abgewickelt ist, sondern auf der Basis der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes eben um einen selbständigen Anspruch aus dem Berichtigungstatbestand selbst. Wie die erste Korrektur den ursprünglichen Vorsteuerabzug nicht ändert, sondern einen neben ihn tretenden Anspruch bedingt, tritt die Rückberichtigung selbständig neben die Erstberichtigung. Entgegen dem FG Münster24) entsteht eine ungerechtfertigte Bereicherung des Unternehmers bei Rückberichtigung ohne Ausgleichung der Ansprüche aus der Erstberichtigung nicht daraus, dass die Besteuerung nicht an den tatsächlichen Aufwand angepasst wäre. Der hier angesprochene „tatsächliche Aufwand“ liegt in der Entgeltzahlung und nicht in der Entrichtung von Steuer oder der Begleichung von Forderungen aus der ersten Vorsteuerkorrektur. An den tatsächlichen Aufwand in diesem, aber auch nur in diesem Sinne knüpft die neuere Rechtsprechung in anderen Zusammenhängen an. Stets geht es darum, dass die zugrunde liegende, in der Regel zivilrechtliche Forderung ausgeglichen ist, bevor eine Korrektur statthaft ist, wohingegen die Steuerentrichtung unerheblich bleibt. So verlangt der Bundesfinanzhof für die wirksame Berichtigung eines Steuerbetrags nach § 14c Abs. 1 Satz 2 UStG i. V. m. § 17 Abs. 1 UStG grundsätzlich, dass der Unternehmer den vereinnahmten Kaufpreisanteil, der auf den Umsatzsteuerbetrag entfällt („die Umsatzsteuer“), an den Leistungsempfänger zurückgezahlt hat.25) Die Berichtigung nach § 17 Abs. 2 Nr. 2 UStG setzt voraus, dass das ent-

22) 23) 24) 25)

Stadie in: Rau/Dürrwächter, UStG, 10/2018, § 17 Rz. 420 und § 18 Anh. 2 Rz. 167. So aber die Argumentation von Stadie in: Rau/Dürrwächter, UStG, 10/2018, § 17 Rz. 420. FG Münster, Urt. v. 20.2.2018 – 15 K 1514/15 U, S, ZIP 2018, 845. BFH, Urt. v. 16.5.2018 – XI R 28/16, NZI 2018, 813.

Quotenzahlung und Vorsteuerberichtigung

637

richtete Entgelt an den Leistungsempfänger zurückgewährt wurde.26) Bei Nr. 3 dieser Vorschrift hat der Bundesfinanzhof in einer Entscheidung aus 1999 nicht einmal die Rückzahlung des Entgelts vor der Berichtigung gefordert.27) Ferner ist die Vorsteuerberichtigung nach insolvenzrechtlicher Anfechtung der Entgeltentrichtung durch den Schuldner gemäß § 17 Abs. 2 Nr. 1 UStG nur erforderlich, wenn der Anfechtungsgegner die empfangene Leistung tatsächlich an die Masse zurückgewährt hat.28) Vorherige Steuerentrichtung oder Zahlungen der Finanzverwaltung auf die Forderung des Unternehmers werden in keinem dieser Fälle vom Bundesfinanzhof vorausgesetzt. Die gemäß § 14c Abs. 2 Satz 4 UStG für die dortigen Berichtigungstatbestände ggf. erforderliche Rückzahlung der Vorsteuer durch den Rechnungsempfänger an die Finanzbehörde betrifft andere, dem hier besprochenen nicht vergleichbare Sachverhalte. Insgesamt besteht daher auch nach Sinn und Zweck der Vorschrift des § 17 Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 UStG kein Anlass, die Rückberichtigung der Vorsteuer zu versagen, wenn die aus der ersten Berichtigung folgende Forderung der Finanzbehörde nicht ausgeglichen ist, und zwar weder außernoch innerhalb des Insolvenzverfahrens. IV. Zusammenfassung und Ausblick Der Entscheidung des FG Münster,29) die die Rückberichtigung der Vorsteuer nach Quotenzahlung gemäß § 17 Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 UStG nur bei Begleichung der aus der Erstkorrektur folgenden Forderung des Finanzamts zulässt, ist entgegenzutreten. Auf ihrer Grundlage wäre die Rückberichtigung bei Quotenzahlung in jedem Fall ausgeschlossen, denn dem Verwalter ist es untersagt, die aus der Erstberichtigung resultierenden Steu26) 27)

28)

29)

BFH, Urt. v. 5.12.2018 – XI R 44/14, DStR 2019, 508; BFH, Urt. v. 2.9.2010 – V R 34/09, Rz. 20, DStR 2010, 2632. BFH, Beschl. v. 20.8.1999 – V B 74/99, BFH/NV 2000, 243. Ob dies im Hinblick auf die neuere Rechtsprechung zu § 17 Abs. 2 Nr. 2 UStG Bestand haben wird, erscheint fraglich, ist indes vorliegend unerheblich. Allerdings meint das FG Baden-Württemberg, Urt. v. 11.12.2017 – 9 K 2646/16, juris Rz. 94, da die Zahlung dem Verwalter als Befriedigung einer Insolvenzforderung untersagt sei, könne auch das Umsatzsteuerrecht sie nicht als Voraussetzung für die Zustimmung des Finanzamts nach § 14c Abs. 2 Satz 5 UStG fordern. Grundlegend BFH, Urt. v. 15.12.2016 – V R 26/16, ZIP 2017, 782; zustimmend BFH, Urt. v. 29.3.2017 – XI R 5/16, ZIP 2017, 1121, m. zust. Anm. Heuermann, DStR 2017, 495 f.; BFH, Beschl. v. 27.9.2017 – XI R 18/16, ZIP 2018, 699. FG Münster, Urt. v. 20.2.2018 – 15 K 1514/15 U, S, ZIP 2018, 845.

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erinsolvenzforderungen außerhalb von Quotenzahlungen zu befriedigen. Zudem wäre es wirtschaftlich sinnlos.30) Zuzustimmen ist allerdings der Forderung des Finanzgerichts nach Erklärung der Erstberichtigung vor der Rückberichtigung. Wollte man sich hingegen der Auffassung des FG Münster insgesamt anschließen, wären die Auswirkungen des Urteils in der Regelinsolvenz zwar spürbar, gefährdeten die Abwicklung des Verfahrens jedoch nicht. Anders wäre es im Planverfahren. Wird die Forderung gegen das Finanzamt aus der Rückberichtigung nach der Ausschüttung der im Plan niedergelegten Quote bei der Aufstellung des Plans in die Planrechnungen einbezogen, wie es bisher wohl üblich und nach der hier vertretenen Auffassung auch angezeigt ist, könnte das Ausbleiben der Zahlung aufgrund der Rechtsprechung des FG Münster die Erfüllung des Plans gefährden. Bis eine abschließende Klärung der Problematik durch die höchstrichterliche Rechtsprechung herbeigeführt ist, sollten die Möglichkeit der Rückberichtigung und die daraus resultierenden Forderungen bei den Planrechnungen vorsorglich nicht als Liquidität in Betracht gezogen werden. Schließlich dürfte die Entscheidung, folgte man ihr, nicht auf die Rückberichtigung der Vorsteuer beschränkt bleiben, sondern müsste konsequent zu Ende gedacht auch bei der Rückberichtigung der Steuer Anwendung finden, da Gründe für eine abweichende Behandlung nicht gegeben sind. Dies bedeutet für die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes zur sog. rechtlichen Uneinbringlichkeit,31) dass die Rückberichtigung der Steuer nach Forderungseinzug durch den Insolvenzverwalter nur zulässig wäre, wenn die erste Berichtigung erklärt ist und das Finanzamt die sich daraus ergebende Erstattungsforderung der Masse, sei es auch durch Aufrechnung, befriedigt hat. Umgekehrt dürfte bereits die erste Korrektur aufgrund des Eintritts der rechtlichen Uneinbringlichkeit bei Verfahrenseröffnung nur durchgeführt werden, wenn der Schuldner die Steuer, die er wegen des dem späteren Forderungseinzug zugrunde liegenden Umsatzes schuldete, entrichtet hatte. Ist die Steuer nicht entrichtet worden, müsste sodann die Nichtdurchführung der ersten Berichtigung auch die Rückberichtigung bei Forderungseinzug durch den Verwalter ausschließen. 30) 31)

Das übersieht Hoffmann, NZI 2018, 460, 461 (Urteilsanm.), der wohl die Zahlung auf die erste Berichtigung durch den Verwalter anregt. BFH, Urt. v. 9.12.2010 – V R 22/10, ZIP 2011, 782, bestätigt durch BFH, Beschl. v. 6.9.2016 – V B 52/16, ZInsO 2016, 2449; BFH, Urt. v. 24.11.2011 – V R 13/11, Rz. 54, ZIP 2011, 2481.

Die Bank als Beteiligte im vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahren des Schuldners – Chancen und Risiken für Kreditinstitute im vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahren – KLAUS PANNEN1) Inhaltsübersicht I. II.

Einleitung Grundlegende Aspekte des vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahrens 1. Der Schuldner als Initiator des Verfahrens und die Beteiligten am präventiven Restrukturierungsverfahren 2. Die Einleitung des präventiven Restrukturierungsverfahrens 3. Ablauf und formelle Aspekte des präventiven Restrukturierungsverfahrens – Der Vollstreckungsstopp, die Aussetzung der Antragspflichten und die Kündigungsschutzregelung nach Art. 7 Restrukturierungsrichtlinie und ErwG 40 III. Die Aufrechterhaltung der Geschäftsbeziehung von Schuldner und Kreditinstitut im präventiven Restrukturierungsrahmen und die Kontrolle der Zahlungsströme IV. Bankenrelevante Einzelfragen im präventiven Restrukturierungsrahmen 1. Zwischenfinanzierungen a) Rechtliche Auswirkungen des deutschen Insolvenzverfahrens auf Überbrückungskredite und die Rechtsprechungsmaßstäbe zu Zwischenfinanzierungen aa) Die jüngere Jurisprudenz des Bundesgerichtshofes zur Sittenwidrigkeit der Kreditgewährung in der Krise (2016 und 2017)

bb) Das Privileg der Zwischenfinanzierung und der Begriff des schlüssigen Sanierungskonzepts b) Ausgestaltung im präventiven Restrukturierungsrahmen – Das Zwischenfinanzierungsprivileg des Art. 17 Restrukturierungsrichtlinie aa) Der Anwendungsbereich des Zwischenfinanzierungsprivilegs des Art. 17 Abs. 1 Restrukturierungsrichtlinie bb) Die Reichweite des Zwischenfinanzierungsprivilegs des Art. 17 Abs. 1 Restrukturierungsrichtlinie und die Rückausnahme für missbräuchliche Finanzierungen cc) Missbrauchsgefahren der Anwendung des Zwischenfinanzierungsprivilegs des Art. 17 Restrukturierungsrichtlinie auf Gesellschafter dd) Risiken der Ausweitung des Zwischenfinanzierungsprivilegs auf Vorrangregelungen für den Insolvenzfall (Art. 17 Abs. 2 Restrukturierungsrichtlinie)

1)

1)

Der Autor ist Vorsitzender des Insolvenzrechtsausschusses des Deutschen Anwaltvereins e. V. (DAV). Der vorliegende Beitrag stellt die persönliche Meinung des Autors zu der Thematik dar und repräsentiert nicht die Auffassung des Ausschusses.

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Klaus Pannen 2. Kreditverträge (valutierte Darlehen) a) Rechtliche Situation im deutschen Insolvenzverfahren b) Ausgestaltung im präventiven Restrukturierungsrahmen 3. Dispositionskredite a) Rechtliche Situation im deutschen Insolvenz(eröffnungs)verfahren b) Ausgestaltung im präventiven Restrukturierungsrahmen 4. Sonderfall: nicht valutierte Darlehen 5. Kreditsicherheiten im laufenden Restrukturierungsverfahren a) Rechtliche Situation im deutschen Insolvenzeröffnungsverfahren b) Ausgestaltung im präventiven Restrukturierungsrahmen 6. Finanztermingeschäfte (vor allem Close-out Netting) a) Rechtliche Situation im deutschen Insolvenzverfahren b) Ausgestaltung präventiven Restrukturierungsrahmen

V.

Der Restrukturierungsplan: Abschluss des vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahrens 1. Vergleichsmaßstab: Das Regelinsolvenzverfahren und der deutsche Insolvenzplan 2. Gruppenbildung a) Die Gruppenbildung im Restrukturierungsplan b) Der Begriff des „gemeinsamen wirtschaftlichen Interesses“ im Restrukturierungsplan und im Insolvenzplan c) Besonderheiten bei der Gruppenbildung im Restrukturierungsplan in Bezug auf Gesellschafter und andere Eigenkapitelgeber 3. Besonderheiten in Bezug auf Bürgschaften a) Auswirkungen des Restrukturierungsplans auf Bürgschaften b) Vergleich: Bürgschaften im Insolvenzplan VI. Fazit VII. Ausblick

Das Insolvenzrecht bildet einen der Zuständigkeitsschwerpunkte des IX. Zivilsenats, dem Godehard Kayser seit 2001 angehört. Auf diesem Rechtsgebiet hat der Jubilar viele Grundsatzentscheidungen mitverantwortet. Darüber hinaus bereitet er als viel gefragter Referent und renommierter Autor die Entwicklung der Rechtsprechung für die Öffentlichkeit transparent und nachvollziehbar auf und vertrat den Senat, dem er seit 2010 vorsteht, damit auch außerhalb des Gerichtssaals stets in würdiger Weise. Es dürfte nur wenige Juristen geben, die eine solche Leidenschaft für ihr Fachgebiet mitbringen und in ihrer Person so eng mit dem Insolvenzrecht in Verbindung gebracht werden, wie der Jubilar. Ihm ist dieser Beitrag, der sich mit dem vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahren beschäftigt, gewidmet. Nach intensiven Verhandlungen zwischen der EU-Kommission, dem Europäischen Parlament und dem Europäischen Rat i. R. der Trilog-Verhandlun-

Die Bank als Beteiligte im vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahren

641

gen wurde der am 1. Oktober 2018 ausgehandelte Kompromiss2) des Richtlinienentwurfs für eine europäische Restrukturierungsrichtlinie3) schließlich am 28. März 2019 im Plenum des EU-Parlaments mit 327 zu 34 Stimmen bei 142 Enthaltungen angenommen. Nach der Zustimmung des europäischen Rats am 6. Juni 2019 wurde am 26. Juni 2019 die Richtlinie (EU) 2019/1023 im Amtsblatt der europäischen Union veröffentlicht.4) Die finale Fassung der Restrukturierungsrichtlinie,5) die in der Öffentlichkeit bereits als wesentlicher Schritt hin zu einer Neuorientierung für das Sanierungsrecht angepriesen wurde,6) liegt damit vor. Das Inkrafttreten der Richtlinie, mit dem auch die zweijährige Umsetzungsfrist für die Mitgliedstaaten beginnt, ist ein guter

2)

3)

4)

5)

6)

Zum Diskussionsstand siehe: Albrecht, Die EU-Kommission ebnet den Einstieg in die vorinsolvenzliche Sanierung, ZInsO 2016, 2415, 2420; Ganter, Der Beruf des Insolvenzverwalters zwischen allen Stühlen?, NZI 2018, 137, 142; Graeber, Die Entwicklung der Verwalterauswahl unter der Insolvenzordnung, in: FS Vallender, 2015, S. 165, 179; Hammes, Keine Eigenverwaltung ohne Berater?, NZI 2017, 233, 234 ff.; Klupsch/ Schulz, Der Vorschlag der EU-Kommission für eine Richtlinie zu präventiven Restrukturierungsrahmen, EuZW 2017, 85, 89; Müller, Sanierung nach der geplanten EURestrukturierungs-Richtlinie, ZGR 2018, 56; Jacoby, Zur Einführung eines vorinsolvenzlichen Restrukturierungsinstruments in Deutschland, ZIP 2016, 1210; Madaus, Einstieg in die ESUG-Evaluation – Für einen konstruktiven Umgang mit den europäischen Ideen für einen präventiven Restrukturierungsrahmen, NZI 2017, 329, 331 ff. Die zwischen der EU-Kommission und dem europäischen Rat ausgehandelte Kompromissfassung des Richtlinienentwurfs in englischer Sprache abrufbar unter http:// www.europarl.europa.eu/doceo/document/A-8-2018-0269-AM-109-109_EN.pdf (Abrufdatum: 2.8.2019); eine deutschsprachige Version ist abrufbar unter https:// www.parlament.gv.at/PAKT/EU/XXVI/EU/03/79/EU_37922/imfname_10846715.pdf (Abrufdatum: 19.7.2019). Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/ 1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) – Restrukturierungsrichtlinie, ABl. (EU) L 172/18 v. 26.6.2019. Die deutsche Fassung des Amtsblatts der EU ist abrufbar unter https://eur-lex. europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=OJ:L:2019:172:FULL&from=DE (Abrufdatum: 2.8.2019). So z. B. Schluck-Amend, Ein Meilenstein für die vorinsolvenzliche Sanierung, LTO v. 29.3.2019, abrufbar unter https://www.lto.de/recht/kanzleien-unternehmen/k/ praeventiver-restrukturierungsrahmen-eu-parlament-verabschiedung-restrukturierungvorinsolvenzliche-sanierung/ (Abrufdatum: 2.8.2019), die insoweit von einem „Meilenstein“ für das Sanierungsrecht spricht.

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Grund, sich eingehend mit der Rolle der Banken i. R. des damit in Aussicht stehenden „German Scheme of Arrangement“7) auseinanderzusetzen. I. Einleitung Über 90 % der deutschen Unternehmen sind dem Mittelstand zuzuordnen und weisen Kapitalstrukturen mit durchschnittlich rund 75 % Fremdkapital auf, das vorwiegend von Banken bereitgestellt wird.8) Auch i. R. eines vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahrens wird die Beteiligung von Kreditinstituten für den Erfolg der Sanierungsbemühungen daher entscheidend bleiben. Angesichts des Novums des geplanten präventiven Restrukturierungsrahmens, stellt sich die Frage, wie sich ein Sanierungsverfahren i. R. einer präventiven Restrukturierung von einer Sanierung im Insolvenzverfahren unterscheidet. Für Banken, deren Betreuung von Krisenfällen oft strikt reglementiert ist9) und die daher zuweilen auch als „Treiber“ von Restrukturierungen bezeichnet werden,10) ist von besonderer Relevanz, welche Möglichkeiten und Risiken ein solches Verfahren bietet. Der Autor geht diesen Fragen deshalb im dem vorliegenden Beitrag nach und stellt dabei stets eine Vergleichsbetrachtung zwischen einer Sanierung in der Insolvenz vor dem Hintergrund der Sanierungserfahrungen des deutschen In-

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8)

9) 10)

Bormann, Kreditreorganisationsgesetz, ESUG und Scheme of Arrangement, NZI 2011, 892; zu den Eckpunkten eines deutschen „Scheme“ siehe Mankowski, Die Grundbegriffe der Richtlinie, NZI Beilage 1/2017, S. 15; Westpfahl, Vorinsolvenzliches Sanierungsverfahren, ZGR 2010, 385; Mock, Das künftige (harmonisierte) Insolvenzrecht – Entwurf einer Richtlinie zum Unternehmensinsolvenzrecht, NZI 2016, 977; Bork, Grundfragen des Restrukturierungsrechts, ZIP 2010, 397, 401. Kreditnehmerstatistik der Bundesbank, abrufbar unter https://www.bundesbank.de/ de/statistiken/banken-und-andere-finanzielle-institute/banken/kreditnehmerstatistik/ kreditnehmerstatistik-612378 (Abrufdatum: 2.8.2019); zum Anteil am Fremdkapital an externen Forderungen im EU-Raum siehe die Übersicht der Deutschen Bundesbank, abrufbar unter https://www.bundesbank.de/dynamic/action/de/statistiken/ zeitreihen-datenbanken/zeitreihen-datenbank/723452/723452?tsId=BBQFS.A.U2.0000. EXTASS_DBC_SH.W1.0000 (Abrufdatum: 2.8.2019). Zu den Einflussfaktoren von Fremdfinanzierungen siehe auch Börner/Grichnik/Reize, Finanzierungsentscheidungen mittelständischer Unternehmer, ZFBF 2010, 228. Als Beispiel sei insbesondere das Rundschreiben der BaFin, Mindestanforderungen an das Risikomanagement – MaRisk, v. 27.10.2017, genannt. So Simon/Gless/Robeck, Konzepte und Erfahrungen für Praktiker in Krisenfällen, 1. Aufl. 2014, S. 45.

Die Bank als Beteiligte im vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahren

643

solvenzrechts und i. R. des geplanten neuen Verfahrens auf Grundlage der Richtlinienbestimmungen an. Dabei werden zunächst grundlegende Aspekte wie die Stellung des Schuldners als Verfahrensinitiator, die Verfahrensbeteiligten, die Einleitung des vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahrens und der formelle Verfahrensablauf beleuchtet. Sodann werden die Auswirkungen der Einleitung eines vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahrens auf die laufende Geschäftsbeziehung mit dem Kreditinstitut untersucht. Im Anschluss wird auf die speziell in Bezug auf Kreditinstitute relevanten Aspekte sowie auf die finale Ausgestaltung des Sanierungskonzepts im Restrukturierungsplan eingegangen. Am Ende der Ausführungen stehen ein Fazit sowie eine abschließende Gesamtbetrachtung der Beteiligung von Banken am präventiven Restrukturierungsrahmen. II. Grundlegende Aspekte des vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahrens Der Darstellung der bankenspezifischen Einbindung in den präventiven Restrukturierungsrahmen sollen folgende grundlegende Aspekte des vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahrens vorangestellt werden: 1.

Der Schuldner als Initiator des Verfahrens und die (sonstigen) Beteiligten am präventiven Restrukturierungsverfahren;

2.

die Einleitung des präventiven Restrukturierungsverfahrens sowie

3.

formelle Aspekte des präventiven Restrukturierungsverfahrens, insbesondere die Aussetzung der Antragspflichten und die Kündigungsschutzregelung nach Art. 7 Restrukturierungsrichtlinie und ErwG 40. 1. Der Schuldner als Initiator des Verfahrens und die Beteiligten am präventiven Restrukturierungsverfahren

Initiator eines vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahrens ist der Schuldner. Er steht als Auslöser und Gegenstand des Restrukturierungs-

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verfahrens in dessen Zentrum.11) Gemäß Art. 4 Restrukturierungsrichtlinie kann nur er (Abs. 7) oder ein Gläubiger mit seiner Zustimmung (Abs. 8) das Verfahren einleiten.12) Der Anstoß für ein Restrukturierungsverfahren13) dürfte indessen nicht selten durch ein Kreditinstitut erfolgen, das seinen Geschäftspartner aufgrund entsprechender Indizien (beispielsweise Herabstufungen im Rating des Unternehmens, der Verletzung von Covenants in den Kreditverträgen, Überziehungen der Kreditlinie, auffälligen Terminverschiebungen von Berichten etc.) als Risikofall identifiziert hat. Der Schuldner, der in das Verfahren eintritt, soll ganz oder teilweise berechtigt bleiben, über seine Vermögenswerte zu verfügen und das Tagesgeschäft seines Unternehmens fortzuführen (Art. 5 Abs. 1 Restrukturierungsrichtlinie).14) Auf Gläubigerseite werden regelmäßig nicht alle Gläubiger an der Restrukturierung beteiligt sein, sondern ein oder mehrere Hauptgläubiger, von deren Mitwirkungsbereitschaft im Ergebnis der Erfolg der Sanierungsbemühungen abhängt. Dazu zählen wiederum regelmäßig auch Kreditinstitute,15) die aufgrund der obig erwähnten Kapitalstruktur mittelständischer Unternehmen einen wesentlichen Anteil der Verbindlichkeiten

11) 12) 13) 14)

15)

Schmidt, Der Richtlinienvorschlag für präventive Restrukturierungsrahmen aus Bankensicht, WM 2017, 1735. Aufgrund des Mitwirkungserfordernisses des Schuldners ist die Möglichkeit etwaig konkurrierender Verfahren ausgeschlossen. So Simon/Gless/Robeck, Konzepte und Erfahrungen für Praktiker in Krisenfällen, 1. Aufl. 2014, S. 45. Siehe dazu auch Kayser, Eingriffe des Richtlinienvorschlags der Europäischen Union in das deutsche Vertrags-, Insolvenz- und Gesellschaftsrecht, ZIP 2017, 1393, 1393, der vom Schuldner als „Herr des Verfahrens“ spricht. Siehe zu den einzelnen Beteiligten auch die Ausführungen zu den Zielen des Vorschlags in der Begr. des Vorschlags für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über präventive Restrukturierungsrahmen, die zweite Chance und Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie 2012/30/EU, v. 22.11.2016, COM(2016) 723 final sowie Ziff. 1 der ErwG des Richtlinienentwurfs. Zur Historie seit Übermittlung des Vorschlags für die Restrukturierungsrichtlinie sei folgendes ausgeführt: Der Vorschlag war Gegenstand intensiver Diskussionen sowohl auf politischer Ebene als auch unter Insolvenzpraktikern. Der Ansatz der EU-Kommission galt als schuldnerfreundlich. Das EU-Parlament drängte auf einen stärkeren Schutz von Gläubiger- und Arbeitnehmerrechten. In den Verhandlungen des Rates war zudem deutlich geworden, dass viele Mitgliedstaaten die aufgrund der Richtlinie drohenden Veränderungen der nationalen Insolvenzordnungen kritisch betrachten.

Die Bank als Beteiligte im vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahren

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halten und daher besonderes Interesse am Restrukturierungskonzept mitbringen.16) 2. Die Einleitung des präventiven Restrukturierungsverfahrens Die europäische Kommission stellt geringe Anforderungen an die Einleitung des Restrukturierungsverfahrens. Grundvoraussetzung sind finanzielle Schwierigkeiten des Unternehmens und die Wahrscheinlichkeit einer drohenden Insolvenz (Art. 1 Abs. 1 lit. a und Art. 4 Abs. 1 Restrukturierungsrichtlinie). Wann eine aus finanziellen Schwierigkeiten resultierenden Krise vorliegt, die nicht bloß materiell von der Insolvenz abzugrenzen ist, sondern positiv definiert wird, ist eines der zentralen Themen, wenn nicht sogar die zentrale Frage, der Restrukturierungsrichtlinie.17) Da bereits i. R. der drohenden Zahlungsunfähigkeit die Bestimmbarkeit anhand von individuellen Kriterien gemäß eines im Einzelfall zu bestimmenden Prognosezeitraums18) erfolgt, fällt es schwer, eine klare Abgrenzung zwischen materieller Krise und drohender Zahlungsunfähigkeit vorzunehmen. Von der Festlegung einer konkreten Liquiditätskennziffer und dem vagen Erfordernis der bloßen Glaubhaftmachung von Zahlungsschwierigkeiten erscheint letztlich alles darstellbar. Spätestens bei drohender Zahlungsunfähigkeit (§ 18 InsO) dürften die Eintrittsvoraussetzungen erfüllt sein. Bei bereits eingetretener Zahlungsunfähigkeit ist dagegen die Einleitung eines

16) 17)

18)

Siehe dazu auch Huber, Der Überbrückungskredit – ein Kredit für maximal drei Wochen?, NZI 2016, 521. Entsprechend viel Berücksichtigung findet diese Frage in der Literatur; siehe beispielshaft Albrecht, ZInsO 2016, 2415, 2420; Klupsch/Schulz, EuZW 2017, 85, 89; Herbst/ Schiller, Vorinsolvenzliches Sanierungsverfahren – Deutschland im Wettbewerb der Rechtsordnungen, Deutscher AnwaltsSpiegel 13/2016, S. 4; Siemon, Das Konzept für ein vorinsolvenzliches Sanierungsverfahren, NZI 2016, 57, 62; so auch der VID, Stellungnahme zum Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über präventive Restrukturierungsrahmen, die zweite Chance und Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie 2012/30/EU (COM(2016) 723 final), v. 1.3.2017, S. 13 – 14, abrufbar unter https://www.vid.de/stellungnahmen/stellungnahmedes-vid-zum-vorschlag-fuer-eine-richtlinie-des-europaeischen-parlaments-und-des-ratesueber-praeventive-restrukturierungsrahmen-die-zweite-chance-und-massnahmen-zursteigerung-der-effiz/ (Abrufdatum: 2.8.2019). Mock in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 18 Rz. 18 – 31.

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präventiven Restrukturierungsverfahrens ausgeschlossen (sog. Abstandsgebot).19) Praktisch stellt sich vor dem Hintergrund des ESUG die Frage, wann die fehlende Insolvenzreife trotz bestehender Krise nachgewiesen werden kann. Der Regierungsbericht zur ESUG-Evaluation hat die Erfahrung belegt,20) dass die i. R. der Eigenverwaltung geforderte Sanierungsbescheinigung nach § 270b Abs. 1 InsO weder eine taugliche Verfahrensgrundlage noch Garant für eine erfolgreiche Sanierung ist.21) Ob Sanierungsgutachten nach dem IDW S 6-Standard22) eine erwägenswerte Alternative sind, ist ebenfalls fraglich, da sie ebenfalls regelmäßig die Prüfung einer bestehenden Antragspflicht i. R. der Sanierungsfähigkeit zum Gegenstand haben.23) Am zielführendsten dürfte es sein, wenn die geschäftsführenden Organe der Schuldnerin bei der Antragstellung lediglich gemäß § 269 ZPO glaubhaft machen, dass keine Insolvenzreife besteht und die Überprüfung einem Sachwalter überbleibt, der ggf. Sicherungsmaßnahmen anregt.24) Wann der Schuldner in Verhandlungen über eine Restrukturierung eintritt, entscheidet er ohnehin selbst.

19)

20)

21) 22)

23)

24)

Zu der Frage der Abgrenzung bzgl. der fehlenden Insolvenzreife als negative Voraussetzung eines solchen Antrags (sog. „Abstandsgebot“) siehe auch bereits Pannen/ Weitzmann in: HambKomm-InsO, 7. Aufl. 2019, Anh. § 1 Rz. 16. Siehe dazu Jacoby/Madaus/Sack/Schmidt/Thole, ESUG-Evaluation (Langbericht), S. 31, abrufbar unter https://www.bmjv.de/SharedDocs/Downloads/DE/News/Artikel/ 101018_Gesamtbericht_Evaluierung_ESUG.pdf;jsessionid=2A9B569FBBB5D5C0FB D6DFBC9C9DD926.2_cid297?__blob=publicationFile&v=2 (Abrufdatum: 2.8.2019). So auch Hammes, NZI 2017, 233, 234. IDW, Anforderungen an Sanierungskonzepte (IDW S 6), Stand: 16.5.2018, IDW Life 8/2018, 813. Zum Inhalt eines Sanierungskonzepts nach dem IDW S 6-Standard siehe auch Groß in: Hess/Groß/Reill-Ruppe/Roth, Insolvenzplan, Sanierungsgewinn, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenz, 4. Aufl. 2014, Rz. 424 ff. Siehe dazu die offizielle Verlautbarung des IDW zum IDW S 6-Standard: Anforderungen an die Erstellung von Sanierungskonzepten (IDW S 6), 1. Aufl. 2012, Punkt 2.1.: Kernanforderungen an Sanierungskonzepte. Zur Überwachung des vorinsolvenzlichen Sanierungsverfahren durch einen Sachwalter siehe auch die gemeinsame Stellungnahme des Insolvenzrechtsausschusses des Deutscher Anwaltverein e. V., der Arbeitsgemeinschaft Insolvenzrecht und Sanierung des Deutscher Anwaltverein e. V. v. 1.3.2017 sowie auch bereits die Stellungnahme vom 13.4.2016 beide abrufbar unter https://anwaltverein.de/de/newsroom?newscategories= 3&category=33 (Abrufdatum: 2.8.2019).

Die Bank als Beteiligte im vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahren

647

3. Ablauf und formelle Aspekte des präventiven Restrukturierungsverfahrens – Der Vollstreckungsstopp, die Aussetzung der Antragspflichten und die Kündigungsschutzregelung nach Art. 7 Restrukturierungsrichtlinie und ErwG 40 Zur Sicherung der Verhandlungen und zur Bewahrung der Aussichten auf eine Restrukturierung des Unternehmens ist in der Richtlinie vorgesehen, dass der Schuldner eine Aussetzung einzelner Vollstreckungsmaßnahmen der Gläubiger in Anspruch nehmen kann.25) Das heißt, dem Schuldner steht die Möglichkeit offen, „bei Bedarf“ die Aussetzung von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen durch die Anordnung eines gerichtlichen Vollstreckungsstopps (parallel zu der Regelung des § 21 Abs. 1 Nr. 3 InsO, bzw. § 30d Abs. 1 ZVG26) anzuregen, um nicht durch die Zwangsvollstreckungs-

25)

26)

Siehe dazu auch Art. 6 Abs. 1 der finalen Fassung der Restrukturierungsrichtlinie: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Schuldner (…) eine Aussetzung einzelner Vollstreckungsmaßnahmen (…) zur Unterstützung der Verhandlungen über einen Restrukturierungsplan im Rahmen eines präventiven Restrukturierungsrahmens in Anspruch nehmen können (…)“. Art. 6 Abs. 1 der finalen Fassung stimmt insoweit dem Grundsatz nach mit dem Wortlaut des ursprünglichen Richtlinienentwurfs überein. Eine Abweichung findet sich jedoch im Hinblick auf dem allgemeinen Vorbehalt der „Erforderlichkeit“ des Vollstreckungsstopps. Während der ursprüngliche Richtlinienentwurf noch vorsah, dass dies nur gilt „(…) sofern und soweit eine solche Aussetzung zur Unterstützung der Verhandlungen über den Restrukturierungsplan notwendig ist (…)“ (und damit eine unmittelbare Aufnahme des Erforderlichkeitsvorbehalts in die gesetzlichen Regelungen vorsah), sieht die finale Fassung vor, dass den Mitgliedstaaten die eigenmächtige Entscheidung über die Regelung eines entsprechenden Vorbehalts obliegt (Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 2 der finalen Fassung lautet: „Die Mitgliedstaaten können vorsehen, dass Justiz- oder Verwaltungsbehörden die Gewährung einer Aussetzung einzelner Vollstreckungsmaßnahmen verweigern können, wenn eine solche Aussetzung nicht erforderlich ist oder wenn sie nicht den in Unterabsatz 1 genannten Zweck erfüllen würde.“). Im Rahmen der hier zu erörternden Auswirkungen der Richtlinie auf die Kreditinstitute ist dieser optionale, ins Ermessen der Mitgliedstaaten gestellte Erforderlichkeitsvorbehalt jedoch zu vernachlässigen. Zur Reichweite und bzgl. der exakten Wirkungen des § 21 Abs. 3 Nr. 3 InsO siehe Haarmeyer in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 21 Rz. 70 ff. Die Regelung des § 21 Abs. 1 Nr. 3 InsO gilt lediglich für die Einstellung von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen in das bewegliche Schuldnervermögen. Für die Einstellung von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen in das unbewegliche Vermögen ist die Regelung des § 30d Abs. 1 ZVG maßgeblich.

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maßnahmen einzelner Gläubiger die Sanierungsbemühungen als Ganzes zu gefährden.27) Der Vollstreckungsstopp – und damit de facto das vorinsolvenzliche Restrukturierungsverfahren als solches – soll grundsätzlich eine Dauer von nicht länger vier Monaten aufweisen (Art. 6 Abs. 6, 7 Restrukturierungsrichtlinie), die nach entsprechender Anordnung des zuständigen Spruchkörpers auf bis zu maximal zwölf Monate verlängert werden kann (Art. 6 Abs. 8 Restrukturierungsrichtlinie i. V. m. ErwG 35). Die ursprünglich avisierte Alternative, die eine spezifische Verlängerung bis zur Bestätigung des Plans vorsah, wenn die Planvorlage binnen acht Monaten nach Anordnung des Vollstreckungsstopps erfolgen muss (Art. 6 Abs. 7a Richtlinienentwurf) hat in die finale Fassung keinen Einzug gefunden. Ergänzend zum Vollstreckungsstopp sieht Art. 7 Abs. 5 Restrukturierungsrichtlinie den Schutz vor sog. Ipso-Facto-Klauseln vor, die in Bezug auf beidseitig nicht vollständig erfüllte Verträge eine Kündigung allein aufgrund des Antrags auf Eröffnung eines präventiven Restrukturierungsverfahrens und/oder der Aussetzung von Vollstreckungsmaßnahmen vorse-

27)

Anzumerken ist, dass dies laut dem ursprünglichen Richtlinienentwurf nur soweit gelten sollte, wie die betroffenen Gläubiger an der Aushandlung des Restrukturierungsplans „beteiligt“ sind (Art. 6 des ursprünglichen Richtlinienentwurfs). Was „(…) an der Verhandlung beteiligt (…)“ konkret bedeuteten sollte, wäre eine ggf. durch die Mitgliedstaaten zu präzisierende Anforderung. Der Begriff wäre mutmaßlich unter Schuldnerschutzgesichtspunkten im Zweifel großzügig auszulegen gewesen. Fraglich erschien indessen auch, ob die Einschränkung des Vollstreckungsstopps auf an der Verhandlung über das Scheme beteiligte Gläubiger generell Sinn ergeben hätte oder nicht vielmehr die Möglichkeit für obstruierende Gläubiger eröffnet hätte, die Verhandlungen zur Gänze ablehnen, durch Vollstreckungsmaßnahmen bzgl. „unbeteiligter“ Forderungen die Sanierungsbemühungen zu torpedieren. Art. 6 der finalen Fassung sieht nunmehr kein solches Beteiligungserfordernis mehr vor, sondern verpflichtet die Mitgliedstaaten in Absatz 2 nunmehr im Grundsatz zu bestimmen, dass der Vollstreckungsstopp sämtliche Gläubigerforderungen, gleich ob besichert oder unbesichert, erfasst. Allerdings eröffnet Absatz 4 Ausnahmen in besonderen, ggf. noch zu konkretisierenden („wohldefinierten“) Einzelfällen, wenn „die Vollstreckung die Restrukturierung nicht gefährdet“ (Abs. 4 lit. a) oder die Gläubiger durch die Aussetzung der Vollstreckung in „unangemessener Weise benachteiligt“ würden (Abs. 4 lit. b). Zudem sind unverändert die Arbeitnehmerforderungen von der Vollstreckung ausgenommen (Abs. 5). Zur Ausnahme von Arbeitnehmerforderungen vom Vollstreckungsstopp siehe auch Pannen, Die Stellung der Arbeitnehmer im Rahmen des vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahrens gemäß der europäischen Restrukturierungsrichtlinie, in: FS Moll, 2019, S. 517.

Die Bank als Beteiligte im vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahren

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hen.28) Dies gilt insbesondere für essentielle Versorgungsverträge (wie z. B. Strom, Wasser, Gas), wobei zu betonen ist, dass eine andauernde Suspendierung des Kündigungsrechts nach der Kommission an die fortlaufende Erbringung der vertraglichen Gegenleistung durch den Schuldner geknüpft sein soll und nur für „essentielle Verträge“ (sog. essential contracts29) gelten soll (ErwG 40). Welche Verträge essentiell sind, ist durch die Mitgliedstaaten festzulegen und hängt vom Einzelfall ab,30) wobei zumindest bzgl. der standardmäßigen Versorgungsverträge kein Streit hinsichtlich ihrer Notwendigkeit bestehen dürfte.31) Ferner ruht während des vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahrens die Insolvenzantragsplicht (Art. 7 Abs. 1 Restrukturierungsrichtlinie). Zudem soll während einer angeordneten Durchsetzungssperre ein Gläubigerantrag nicht dazu führen, dass ein Insolvenzverfahren eröffnet wird (Art. 7 Abs. 2 Restrukturierungsrichtlinie). Den Mitgliedstaaten wird jedoch nach Art. 7 Abs. 3 Restrukturierungsrichtlinie anheimgestellt, eine Ausnahme von der Suspendierung der Antragspflicht (d. h. ein Wiederlaufleben der Antragspflicht) für den Fall anzuordnen, dass der Schuldner während des Restrukturierungsverfahrens zahlungsunfähig wird. Auf diese Regelung ist besonderes Augenmerk zu richten, denn sie bestimmt näher, dass auch im Falle des nachträglichen Eintritts der Zahlungsunfähigkeit das Aufleben der Antragspflicht nur nach Entscheidung des aufsichtführenden Gerichts erfolgt. Im Interesse des Gläubigerschutzes sollte der deutsche Gesetzgeber eindringlichst von diesem Ermessen Gebrauch machen32), denn der Eintritt der Zahlungsunfähigkeit im Restrukturierungsverfahren sollte allen Beteiligten ein Warnsignal sein. Es muss in diesem Zusammenhang rekapituliert werden, dass die Strafandrohung der fahrlässigen Verletzung der

28)

29) 30) 31) 32)

Art. 7 Abs. 5 der finalen Fassung lautet: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Gläubiger aufgrund einer Vertragsklausel, die entsprechende Maßnahmen vorsieht, nicht allein aus folgenden Gründen Leistungen aus noch zu erfüllenden Verträgen verweigern oder diese Verträge kündigen, vorzeitig fällig stellen oder in sonstiger Weise zum Nachteil des Schuldners ändern (…): (c) wegen eines Antrags auf Eröffnung eines präventiven Restrukturierungsverfahrens; (d) wegen eines Antrags auf Aussetzung einzelner Vollstreckungsmaßnahmen (…)“ (Hervorhebung durch d. Verf.). Siehe dazu auch Schmidt, WM 2017, 1735, 1739. Mock, NZI 2016, 977, 980 f. Zu der Frage, ob unter Umständen auch Kreditverträge als „essentiell“ einzustufen sind, siehe unten unter IV. Dafür plädiert auch Schmidt, Der Richtlinienvorschlag für präventive Restrukturierungsrahmen aus Bankensicht, WM 2017 1735, 1740.

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Insolvenzantragspflicht (§ 15a Abs. 4 und 5 InsO) nicht grundlos besteht und das unberechtigte Fortdauern der Suspendierung der Antragsflicht angesichts der Dauer des Restrukturierungsverfahrens von bis zu zwölf Monaten (vgl. ErwG 35) zu erheblichen Schäden führen kann. Das zuständige Gericht sollte daher in diesem Fall genau prüfen, ob die Sanierungsbemühungen tatsächlich mit hinreichender Aussicht durch den avisierten Restrukturierungsplan zum Abschluss gebracht werden können oder ob lediglich die weitere Verschlechterung der Liquiditätslage ohne Aussicht auf Besserung droht. Im Idealfall jedoch mündet das Restrukturierungsverfahren vor Ablauf des Vollstreckungsstopps in der Verabschiedung eines Restrukturierungsplans, dessen Umsetzung die Krise des Unternehmens und die ggf. (drohende) Insolvenz nachhaltig beseitigt. III. Die Aufrechterhaltung der Geschäftsbeziehung von Schuldner und Kreditinstitut im präventiven Restrukturierungsrahmen und die Kontrolle der Zahlungsströme Aus den Vorgaben der Restrukturierungsrichtlinie und den Ausführungen in den ErwG lassen sich zwei wesentliche Aspekte in Bezug auf die Auswirkungen der Einleitung des vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahrens auf laufende Geschäftsbeziehungen herauskristallisieren.33) Erstens: Der Richtliniengeber knüpft die Regelung bzgl. der Auswirkung des Restrukturierungsverfahrens auf die laufenden Verträge mit Geschäftspartnern (und damit auch eventuelle Kontoführungsverträge mit Kreditinstituten) an den ggf. anzuordnenden Vollstreckungsstopp, und zweitens: ein von den Mitgliedstaaten zu erlassendes Kündigungsverbot während der Dauer des vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahrens muss in jedem Fall unter der Bedingung stehen, dass die nach Anordnung des Vollstreckungsstopps fällig gewordenen vertraglichen Gegenleistungen seitens des schuldnerischen Unternehmens vertragsgemäß erbracht wurden.34)

33) 34)

Bzgl. der grundlegenden Differenzierung zwischen diesen Aspekten bereits Jacoby, Vorinsolvenzliches Sanierungsverfahren, ZGR 2010, 359, 370. Das Erfordernis dieser Bedingung ergibt sich insbesondere aus den Ausführungen zu ErwG 21 im ursprünglichen Richtlinienentwurf.

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Die Erwägung einer solchen Schutzregelung in Bezug auf die regulären Geschäftspartner liegt nahe, soweit sie Verträge über wesentliche Versorgungsgüter wie Gas, Strom, Wasser, Telekommunikation und Kartenzahlungsdienste betrifft.35) Bezüglich der Frage, ob der deutsche Gesetzgeber von seinem Ermessen insoweit Gebrauch machen wird, kann nur spekuliert werden. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Eigenverwaltung dürfte eine entsprechende Kündigungsschutzregelung jedenfalls im Hinblick auf die weitere Nutzung der Geschäftskonten wenig Sinn ergeben. Festzustellen ist insoweit zunächst, dass bzgl. der Ausgestaltung der Finanzströme i. R. eines vorinsolvenzlichen Sanierungsverfahren die Restrukturierungsrichtlinie auch in ihrer finalen Fassung keinerlei Vorgaben enthält,36) sodass die Zahlungsströme nicht von einem etwaig einzusetzenden Restrukturierungssachwalter37) kontrolliert werden müssen und damit grundsätzlich dem schuldnerischen Unternehmen überlassen ist. Es entspricht jedoch auch i. R. der Eigenverwaltung der Praxis, dass die laufenden Einnahmen, die aus dem weiteren Geschäftsbetrieb generiert werden, auf ein Verfahrenskonto umgeleitet werden, auf das die Geschäftsführung entweder gar keinen oder nur sehr eingeschränkten Zugriff hat. Obwohl dies gesetzlich nur bei Anordnung einer vorläufigen Insolvenzverwaltung vorgeschrieben ist,38) wird dies auch i. R. der Eigenverwaltung

35)

36)

37) 38)

Siehe dazu auch die weiteren Erwägungen i. R. der ErwG 12, 25 und 40 in der finalen Richtlinienfassung. Dabei ist gleichwohl zu trennen zwischen zwei wesentlichen Aspekten: zum einen der Vollstreckung wegen bestehender Verbindlichkeiten und zum anderen zwischen der weiteren Aufrechterhaltung der Geschäftsbeziehung. Die Möglichkeit der Anordnung eines Vollstreckungsstopps ist verbindlich (Art. 6 Abs. 1 Restrukturierungsrichtlinie) und wird lediglich in untergeordneten Einzelfällen erlassen (Art. 6 Abs. 2 Restrukturierungsrichtlinie). Den Mitgliedstaaten anheimgestellt wird lediglich, ob sie – über diese verbindliche Schuldnerschutzmaßnahme hinaus – eine Regelung schaffen wollen, welche die Aufkündigung der laufenden Geschäftsbeziehung verbietet, um die Sanierungsmaßnahmen zusätzlich zu protegieren. Im Gegenteil stellt die Restrukturierungsrichtlinie in Art. 5 Abs. 1 klar, dass der Schuldner die Kontrolle über sein Unternehmen behält, was auch die Kontrolle über die Finanzströme umfasst (siehe oben). Zur Bestellung eines Restrukturierungssachwalters siehe bereits Jacoby, ZGR 2010, 359, 373. Regelmäßig wird der vorläufige Insolvenzverwalter im Beschluss über die Anordnung der vorläufigen Insolvenzverwaltung mit dem Forderungseinzug sowie der Entgegennahme der Gelder beauftragt.

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regelmäßig so gehandhabt.39) Grund ist dabei regelmäßig, dass beabsichtigt ist, die Aufgabe der Kontrolle des Zahlungsverkehrs und die Überleitung der Kontrolle auf einen „Sanierungsexperten“ als vertrauensbildende Maßnahme gegenüber den Lieferanten sowie auch ggf. gegenüber der eigenen Belegschaft einzusetzen, um nach außen hin zu signalisieren, dass der bisherigen „Misswirtschaft“ der Geschäftsführung Einhalt geboten wird und die Begleichung von Lieferantenrechnungen sowie auch Gehältern sichergestellt ist.40) Ob sich eine solche Praxis auch i. R. eines vorinsolvenzlichen Sanierungsverfahrens etablieren wird, bleibt abzuwarten. Die Prämisse der „stillen Sanierung“, der die vorinsolvenzliche Restrukturierung folgt,41) spricht tendenziell eher dafür, dass eventuelle Berater sich eher im Hintergrund halten und unter Umständen nach außen hin sogar gar nicht in Erscheinung treten. IV. Bankenrelevante Einzelfragen im präventiven Restrukturierungsrahmen Bezüglich folgender Punkte muss aus Sicht eines Kreditinstituts im Sanierungsprozess seines Geschäftspartners eine Klärung erfolgen, wenn es sich auf die Sanierung i. R. eines „Scheme“ einlassen soll: 1.

Zwischenfinanzierungen (vor allem Überbrückungskredite),

2.

Kreditverträge (bereits bestehende und vollständig valutierte Darlehen),

3.

Dispositionskredite,

4.

nicht valutierte Darlehen,

5.

Kreditsicherheiten im laufenden Restrukturierungsverfahren und

6.

Finanztermingeschäfte.

Daneben ist auf die abschließende Regelung der Verbindlichkeiten und Sicherheiten im Insolvenzplan (siehe dazu unter V.) einzugehen.

39)

40) 41)

Siehe dazu instruktiv Hammes, NZI 2017, 233, 235, der daraus eine Misskonzeption der Eigenverwaltung ableitet und den Schluss zieht, dass selbst Berater dem Schuldner einen insolvenzrechtlich ordnungsgemäßen Umgang mit Massemitteln nicht zutrauen. Zu den Erfahrungen in Zusammenhang mit der Eigenverwaltung und ihrer Bedeutung für die Ausgestaltung eines deutschen „Scheme“ siehe auch Kayser, ZIP 2017, 1393, 1397. Hammes, NZI 2017, 233, 234 ff. Theiselmann/Verhoeven, Das Scheme of Arrangement aus Sicht der Geschäftsleitung nach deutschem Insolvenzrecht, ZIP 2018, 2101; Zenker, To scheme or not to scheme?, INDat Report 2015, 48.

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1. Zwischenfinanzierungen Die Gewährung eines Überbrückungskredits ist regelmäßig Voraussetzung für das wirtschaftliche Überleben eines krisenbehafteten Unternehmens in dem Zeitraum bis zur Finalisierung eines Sanierungskonzepts. Eine erfolgreiche Restrukturierung setzt zwingend voraus, dass der Schuldner während des Restrukturierungsverfahrens und im Anschluss durchfinanziert ist. Für den potenziellen Kreditgeber ist die Vergabe des Überbrückungskredits vor allem mit der Frage seines Risikos im Fall des Scheiterns der Sanierung verbunden. Dass Überbrückungs- und Sanierungsdarlehen für das erfolgreiche Verhandeln und Umsetzen der Restrukturierung notwendig sind und ihre Bereitstellung durch spätere Sanktionen aller Art gefährdet wird, erkennt der Richtliniengeber ausdrücklich an und will sie mit ihrer Freistellung von derartigen Sanktionen vermeiden (ErwG 31). Zu differenzieren ist allgemein danach, ob der Kredit von einem Gesellschafter des zu sanierenden Unternehmens oder von einem außenstehenden Dritten – regelmäßig einem Kreditinstitut – gewährt wurde.42) Die Kreditgewährung durch Gesellschafter soll vorliegend vernachlässigt werden. Für die hier vorzunehmende Erörterung von Zwischenfinanzierungen i. R. eines vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahrens soll zuvörderst ein Blick auf die Auswirkungen des Insolvenzfalls auf ein bankenseitiges Kreditengagement unter Berücksichtigung der jüngeren Jurisprudenz des Bundesgerichtshofes zur Sittenwidrigkeit von Darlehen in der Krise geworfen werden. a) Rechtliche Auswirkungen des deutschen Insolvenzverfahrens auf Überbrückungskredite und die Rechtsprechungsmaßstäbe zu Zwischenfinanzierungen Bei der Vergabe eines Überbrückungskredits durch ein Kreditinstitut, besteht für den Kreditgeber im Fall des Scheiterns der Sanierung stets das Risiko, sich dem Vorwurf sittenwidrigen Handelns auszusetzen. Neben der Gefahr der Nichtigkeit des Nichtigkeit des Darlehensvertrags nach

42)

Zur Gewährung von Überbrückungskrediten durch Gesellschafter und die Auswirkungen der Kreditgewährung im Insolvenzverfahren siehe insbesondere Dahl/Kortleben, Überbrückungskredite in der Insolvenz, NJW-Spezial 2017, 21.

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§ 138 BGB drohen insbesondere Schadensersatzansprüche des Insolvenzverwalters und Dritter aus § 826 BGB.43) Die Sittenwidrigkeit ist regelmäßig dann zu bejahen, wenn der Kreditgeber die Verzögerung der Insolvenz aus eigensüchtigen Beweggründen unterstützt und er dabei (billigend) in Kauf nimmt, dass dadurch Dritte über die Kreditwürdigkeit des Schuldners getäuscht werden.44) Handelt der Kreditgeber in der beschriebenen Weise, so wird es ihm zudem verwehrt bleiben, die Ansprüche des Insolvenzverwalters nach §§ 129 ff. InsO auf Rückgewähr bereits erlangter Darlehensraten und bestellter Sicherheiten mit dem Argument abzuwehren, er habe zur Sanierung der Insolvenzschuldnerin beitragen wollen.45) aa) Die jüngere Jurisprudenz des Bundesgerichtshofes zur Sittenwidrigkeit der Kreditgewährung in der Krise (2016 und 2017) In einer Entscheidung aus dem Jahr 201646) hat der Bundesgerichtshof seine Rechtsprechung zu verschiedenen Fallgruppen der Sittenwidrigkeit der Kreditgewährung in der Krise präzisiert. Er kategorisiert dabei die Fallgruppe einer Insolvenzverschleppung als einen Unterfall der „Gläubigergefährdung bzw. Kredittäuschung“.47) Eine Insolvenzverschleppung liegt nach dem Bundesgerichtshof vor, wenn ein Kreditgeber um eigener Vorteile willen die letztlich unvermeidliche Insolvenz eines Unternehmens nur hinausschöbe, indem er Kredite gewährte, die nicht zur Sanierung, sondern nur dazu ausreichen, den Zusammenbruch zu verzögern, wenn hierdurch andere Gläubiger über die Kreditfä-

43) 44) 45) 46) 47)

Siehe dazu Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, 8. Aufl. 2011, Rz. 5.72 ff. Ständige Rechtsprechung BGH, Urt. v. 11.11.1985 – II ZR 109/84, ZIP 1986, 14 = NJW 1986, 837. Vgl. hierzu im speziellen BGH, Urt. v. 12.5.2016 – IX ZR 65/14, ZIP 2016, 1235 = NZI 2016, 636. BGH, Urt. v. 12.4.2016 – XI ZR 305/14, BGHZ 210, 30 = ZIP 2016, 1058. Zu beachten ist insoweit, dass der BGH die Gläubigergefährdung mit Kredittäuschung gleichsetzt, obwohl beide Begriffe eigentlich auf unterschiedliche Aspekte abzielen. Die Gläubigergefährdung meint eigentlich die Benachteiligung von Gläubigern durch die – grundsätzlich in der Insolvenzordnung abschließend geregelte – Weggabe von Vermögen und die Kredittäuschung das Verursachen einer Fehlvorstellung hinsichtlich der Kreditwürdigkeit. Siehe zu dieser Differenzierung auch Jäger, Der Überbrückungskredit im Lichte des Entwurfs der Richtlinie über präventive Restrukturierungsmaßnahmen, WM 2018, 9.

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higkeit des Unternehmens getäuscht und geschädigt würden sowie der Kreditgeber sich dieser Erkenntnis mindestens leichtfertig verschlösse.48) Eine sittenwidrige Gläubigerbenachteiligung könne demgegenüber grundsätzlich auch dann vorliegen, wenn das Sicherungsgeschäft, mit dem der Schuldner (fast) sein gesamtes freies Vermögen zur Sicherung auf einen Gläubiger übertrage, unter Umständen bereits abgeschlossen wird, die dazu geeignet und bestimmt seien, andere gegenwärtige oder künftige Gläubiger über die Kreditwürdigkeit des Schuldners zu täuschen und dadurch zur Vergabe weiterer Kredite zu verleiten. Hinsichtlich der Sittenwidrigkeit von Sanierungskrediten konkretisiert der Bundesgerichtshof, dass von einer Sittenwidrigkeit einer Kreditgewährung „gegen Sicherheitsleistungen“ an ein insolvenzreifes Unternehmen „zum Zweck der Sanierung“ dann auszugehen sei, wenn das Kreditinstitut bewirke, „dass möglicherweise Dritte zu ihrem Schaden über die Kreditwürdigkeit des Unternehmens getäuscht werden und sich vor der Krediteinräumung nicht mittels einer eingehenden und objektiven Prüfung durch einen branchenkundigen Wirtschaftsfachmann von den Erfolgsaussichten des Sanierungsvorhabens überzeugt“ habe. Im Jahr 201749) bekräftigte der Bundesgerichtshof zuletzt seinen Grundsatz, dass es bei der Beurteilung der Sittenwidrigkeit eines als Überbrückungskredit bezeichneten Darlehens auf eine Gesamtwürdigung ankomme.50)

48) 49) 50)

Nach dem Wortlaut dieser Definition müssten davon auch ohne Sicherheiten gewährte Kredite erfasst sein. BGH, Beschl. v. 7.3.2017 – XI ZR 571/15, ZIP 2017, 809 = NZI 2017, 507, m. Anm. Huber. BGH, Beschl. v. 7.3.2017 – XI ZR 571/15, ZIP 2017, 809 = NZI 2017, 507, m. Anm. Huber. Von einer Sittenwidrigkeit sei auszugehen, weil es bei der Kreditgewährung „(…) nicht um die Überbrückung eines kurzfristigen Liquiditätsengpasses bis zur Klärung der Sanierungsfähigkeit (…), sondern von vornherein um die Bereitstellung von Finanzmitteln gegangen sei, die in einer mittleren Frist bis zum Abschluss der Projekte (…) ein Überleben (…) gewährleisten sollten (…)“; diese Entscheidung des BGH stieß in der Literatur gleichwohl auf Zustimmung, da damit die sowohl für sich in der Krise befindende Unternehmen als auch für Kreditinstitute missliche kurze mögliche Laufzeit von Überbrückungskrediten, die der 24. Zivilsenat des KG Berlin angenommen hätte und die in umfangreicheren Sanierungsvorhaben eine Finanzierung bis zur Fertigstellung des Sanierungskonzepts unmöglich gemacht hätte, aus der Welt ist. Siehe dazu auch Huber, NZI 2017, 507 (Urteilsanm.), sowie Jäger, WM 2018, 9, 10.

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bb) Das Privileg der Zwischenfinanzierung und der Begriff des schlüssigen Sanierungskonzepts Aus Sicht des Kreditgebers ist damit fraglich, unter welchen Voraussetzungen er dem Verdikt der Sittenwidrigkeit entgehen kann. Im Fall eines dem Überbrückungskredit ggf. nachfolgenden Sanierungskredits ist dies möglich, wenn die Kreditvergabe auf einem schlüssigen Sanierungskonzept basiert.51) Bei einer Überbrückungsfinanzierung hingegen besteht diese Möglichkeit nicht, denn das charakteristische Merkmal des Überbrückungskredits liegt gerade darin, dass die Kreditvergabe für den Zeitraum vor bzw. während der Ausarbeitung eines Sanierungskonzepts gewährt wird. In diesem Zeitraum gilt ein anderer Maßstab: Der Vorwurf sittenwidrigen Handelns ist dann nicht gerechtfertigt, wenn der Kreditgeber dem Unternehmen neue Kredite einräumt, um dadurch die Zahlungsunfähigkeit abzuwenden und einen wirtschaftlichen Zusammenbruch während der Sanierungsvorbereitungen zu verhindern.52) b) Ausgestaltung im präventiven Restrukturierungsrahmen – Das Zwischenfinanzierungsprivileg des Art. 17 Restrukturierungsrichtlinie Den Schutz von Zwischenfinanzierungen realisiert im präventiven Restrukturierungsrahmen Art. 17 Restrukturierungsrichtlinie, der eine Schutzbestimmung enthält, indem er die Mitgliedstaaten verpflichtet, sicherzu-

51) 52)

BGH, Urt. v. 12.5.2016 – IX ZR 65/14, ZIP 2016, 1235 = NZI 2016, 636; weiterführend Steffan, Sanierungskonzept quo vadis?, ZIP 2016, 1712. Vgl. Obermüller, Insolvenzrecht in der Bankpraxis, 8. Aufl. 2011, Rz. 5.68; Huber, NZI 2016, 521, 522. Umstritten ist, wie lang die Laufzeit des Kredits bemessen sein darf, damit (noch) von einer privilegierten Überbrückungsfinanzierung ausgegangen werden kann. Der u. a. für das Bankrecht zuständige 24. Zivilsenat des KG Berlin vertritt (KG Berlin, Urt. v. 4.11.2015 – 24 U 112/14, ZIP 2016, 1451 = NZI 2016, 546) die Ansicht, die zeitliche Grenze für einen Überbrückungskredit sei mit längstens drei Wochen zu bemessen. Nur kurze Zeit später hat der u. a. für das Insolvenzrecht zuständige 14. Zivilsenat des KG Berlin (KG Berlin, Urt. v. 15.12.2015 – 14 U 79/14, ZIP 2016, 1450 = NZI 2016, 552) entschieden, dass die Laufzeit einer Überbrückungsfinanzierung in der Regel nicht länger als ein bis drei Monate betragen soll. Der BGH vertritt zu dieser Thematik die Auffassung, dass die Frage, ab welcher Laufzeit ein als „Überbrückungskredit“ bezeichnetes Darlehen sittenwidrig ist, nicht pauschal, sondern nur auf Grund einer umfassenden Gesamtwürdigung des einzelnen Vertrages unter Berücksichtigung aller den Vertrag kennzeichnenden Umstände beurteilt werden kann (BGH, Beschl. v. 7.3.2017 – IX ZR 571/15, ZIP 2017, 809).

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stellen, „(…) dass neue Finanzierungen und Zwischenfinanzierungen in geeigneter Weise (…) geschützt werden.“ Die Regelung des Art. 17 Restrukturierungsrichtlinie soll ermöglichen, dass das Restrukturierungsverfahren (unabhängig von seinem Ausgang) durchgeführt werden kann53) und unterstützt damit das Vertrauen des Kreditgebers in das Restrukturierungsverfahren als solches. Es ermöglicht Kreditgebern, ohne weitere Prüfung der Schlüssigkeit eines Sanierungskonzepts o. Ä. zumindest dem Schutz der Anfechtbarkeit oder Sittenwidrigkeit im Falle des Scheiterns der Sanierungsbemühungen zu entgehen.54) aa) Der Anwendungsbereich des Zwischenfinanzierungsprivilegs des Art. 17 Abs. 1 Restrukturierungsrichtlinie Die Restrukturierungsrichtlinie definiert als Zwischenfinanzierung zunächst Mittel, gleich ob von einem vorhandenen oder neuen Gläubiger zur Verfügung gestellt, die vernünftigerweise sofort erforderlich sind, um den Geschäftsbetrieb des Schuldners aufrechtzuerhalten oder den Unternehmenswert zu bewahren oder zu steigern, solange der Restrukturierungsplan noch nicht bestätigt ist (Art. 2 Abs. 1 Nr. 8 Restrukturierungsrichtlinie). Daneben fallen auch neue Mittel, die notwendig sind, um den Restrukturierungsplan umzusetzen. Voraussetzung ist jedoch insoweit, dass die Mittel im Plan vorgesehen sind und anschließend von der zuständigen Behörde genehmigt werden (Art. 8 Abs. 1, lit. g (vi) Restrukturierungsrichtlinie). Erfasst sind jedoch nicht nur klassische Überbrückungskredite, sondern gemäß der Restrukturierungsrichtlinie insbesondere auch folgende Restrukturierungsmaßnahmen: –

Transaktionen,



Zahlungen,



Debt-to-Equity Swaps,

53) 54)

Jäger, WM 2018, 9, 10. Die soll gemäß ErwG 68 auch dann gelten, wenn der Restrukturierungsplan nicht angenommen oder nicht bestätigt wird und der Schuldner in der Folge in die Insolvenz abgleitet.

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Garantien,



Sicherheiten.55)

Dies gilt selbst dann, wenn die Finanzierungen nicht zu weiteren Umsetzung des Restrukturierungsplans ausgeführt werden und auch dann, wenn dies nicht im ordnungsgemäßen Geschäftsbetrieb des Schuldners geschieht (Art. 17 Abs. 1 lit. a und b Restrukturierungsrichtlinie). Über den vorgenannten Anwendungsbereich hinaus ist den Mitgliedstaaten freigestellt, durch eine nationale gesetzliche Regelung Überbrückungsund Sanierungsdarlehen in einer sich anschließenden Liquidation Vorrang vor anderenfalls vor- oder gleichrangigen Gläubigern einzuräumen (Art. 17 Abs. 2 Satz 1 Restrukturierungsrichtlinie). Im Falle der Inanspruchnahme dieses Ermessens müssen diese dann mindestens vorrangig gegenüber den Forderungen gewöhnlicher unbesicherter Gläubiger sein (Art. 17 Abs. 2 Satz 2 Restrukturierungsrichtlinie). Ein Vorrang vor besicherten Gläubigern ist demgegenüber nicht zwangsläufig vorgesehen. Er kann aber angemessen sein, um das erhöhte Risiko der zusätzlichen neuen Finanzierung eines sich in Insolvenzgefahr befindlichen Unternehmens zu honorieren und Anreize zu schaffen, sich in dieser Weise bei dem Unternehmen zu engagieren und dessen Restrukturierung zu fördern. Auf der anderen Seite darf der Vorrang neuer Finanzierungen die bestehenden besicherten Forderungen nicht unangemessen beeinträchtigen.56) bb) Die Reichweite des Zwischenfinanzierungsprivilegs des Art. 17 Abs. 1 Restrukturierungsrichtlinie und die Rückausnahme für missbräuchliche Finanzierungen Konkret soll der Finanzierungsschutz durch einen gewissen Mindestschutz dergestalt geschehen, dass solche Finanzierungen nicht allein deshalb als für nichtig, anfechtbar etc. erklärt werden (Art. 17 Abs. 1 lit. a Restrukturierungsrichtlinie) und die Finanziers nicht deshalb einer ziviloder strafrechtlichen Haftung unterliegen, weil die Finanzierungen als gläu-

55)

56)

Beispielsweise die Verpfändung von Geschäftsanteilen an einer Tochtergesellschaft des Schuldners zur Besicherung eines Sanierungsdarlehens (vgl. zu den Zwischenfinanzierungen im weiteren die ErwG 67 und 68). Mock, NZI 2016, 977, 981; Schmidt, WM 2017, 1735, 1738.

Die Bank als Beteiligte im vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahren

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bigerbenachteiligend eingestuft werden (Art. 17 Abs. 1 lit. b Restrukturierungsrichtlinie).57) Diese sehr weitgehende Privilegierung der Restrukturierungsfinanzierung findet keine Entsprechung im deutschen Recht. Er übersteigt insbesondere die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zu sog. ernsthaften Sanierungsversuchen, die nur die Wirkungen des § 133 InsO eingrenzt und nicht das gesamte Insolvenzanfechtungsrecht erfasst.58) Ausgenommen sind lediglich missbräuchliche und arglistige Transaktionen. In der in Deutschland geführten Diskussion um die Einführung des vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahrens wurde hinsichtlich dieser Ausnahme erwartungsgemäß der Hinweis auf die Vorsatzanfechtung (§ 133 Abs. 1 Satz 1 InsO) und die oben genannte BGH-Rechtsprechung zur sittenwidrigen vorsätzliche Schädigung (§ 826 BGB) vorgebracht.59) Der Hinweis scheint zunächst berechtigt. Auf den zweiten Blick erscheint jedoch fraglich, ob die Bedenken durchgreifen. Angesichts der Verbindlichkeit des Zwischenfinanzierungsprivilegs des Art. 17 Restrukturierungsrichtlinie dürfte eine Rückausnahme im deutschen Recht, welche die Anfechtbarkeit von Zwischenfinanzierungen nach § 133 InsO eröffnet, keinen Rückhalt in der Restrukturierungsrichtlinie finden, auch wenn § 133 InsO ein gewisses Vorsatzelement innewohnt, das einen Missbrauch indiziert. Dezidierter ist indessen eine etwaige Haftung nach § 826 BGB zu betrachten, die sich durchaus unter den Rückausnahmetatbestand subsumieren ließe. Fraglich wäre insoweit (was soweit ersichtlich ungeklärt ist), ob der europäische Richtliniengeber insoweit einen anderen Missbrauchsbegriff zugrunde legt, als der nationale Gesetzgeber bei der Umsetzung der Restrukturierungsrichtlinie und worin sich dieser Unterschiede äußern.

57)

58) 59)

Art. 17 Abs. 1 Restrukturierungsrichtlinie lautet in der finalen Fassung der Richtlinie wie folgt: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass neue Finanzierungen und Zwischenfinanzierungen in geeigneter Weise (…) geschützt werden. Zumindest dürfen im Falle einer späteren Insolvenz des Schuldners (a) neue Finanzierungen und Zwischenfinanzierungen nicht allein deshalb für nichtig, anfechtbar oder nicht vollstreckbar erklärt werden und (b) die Geber solcher Finanzierungen (…) nicht allein deshalb einer zivil-, verwaltungs- oder strafrechtlichen Haftung unterliegen, weil solche Finanzierungen die Gesamtheit der Gläubiger benachteiligen.“ Siehe dazu auch Westphal, Die Risiken der Banken im vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahren, NZI Beilage 1/2017, S. 49, 51. Schmidt, WM 2017, 1735, 1744.

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Die Linie im Regel-Ausnahme-Verhältnis des Art. 17 Restrukturierungsrichtlinie auch im nationalen Recht sauber zu ziehen, dürfte den deutschen Gesetzgeber bei der Umsetzung vor eine Herausforderung stellen. Etwaige Zweifel bei der Anwendung eines (für Missbrauchsfälle als anwendbar vorbehaltenen Haftungstatbestands) müssten im Zweifel europarechtskonform ausgelegt werden. Diese Zweifel gehen indessen zulasten des Finanziers, der im vermeintlichen Vertrauen auf die Privilegierung der von ihm gewährten Zwischenfinanzierung unter Umständen doch mit einer Haftung oder einem Ausfall rechnen muss. Solche Erwägungen, welche die Bank zwangsläufig bei der Gewährung eines Überbrückungskredits gemäß den MaRisk in ihre Risikoabwägung einfließen lassen muss, verlangsamen den Sanierungsprozess, in dem schnelles Handeln wichtig ist. Dem Gesetzgeber kann daher nur angeraten werden, bei der Fassung des Zwischenfinanzierungsprivilegs des Art. 17 Restrukturierungsrichtlinie großzügig und bei der Rückausnahme zurückhaltend zu agieren. cc) Missbrauchsgefahren der Anwendung des Zwischenfinanzierungsprivilegs des Art. 17 Restrukturierungsrichtlinie auf Gesellschafter Während das Zwischenfinanzierungsprivileg in Bezug auf Kreditinstitute aufgrund der Einschränkungen des vorsätzlichen Missbrauchs an Rechtssicherheit einbüßt und seinem Zweck selbst abträglich ist, bestehen angesichts der deutschen insolvenzrechtlichen Regelungen zur Gesellschafterfremdfinanzierung auch ohne vorsätzlichen Missbrauch bereits erhebliche Bedenken. Die zuweilen auch als „Begleitschutz“ deklarierte Regelung60) des Art. 17 Restrukturierungsrichtlinie dürfte dazu führen, dass sämtliche Nachrangregelungen bzgl. Gesellschafterfremdfinanzierungen einschließlich der komplementären Anfechtungstatbestände (§ 39 Abs. 1 Nr. 5, Abs. 4, 5, § 135 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2, § 143 Abs. 3 InsO) ab der formellen Einleitung des „Scheme“ unanwendbar sind. Da dies ausdrücklich auch für den Fall des Nicht-Zustandekommens des Restrukturierungsplans oder des Scheiterns der Sanierungsbemühen gilt, wird so ein Anreiz geschaffen, ein Gericht vor dem Vorwand der Durchführung eines vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahrens anzurufen, um die „unbequemen“ Nachrangregelungen in Bezug auf Gesellschafterdarlehen – und damit im Endeffekt

60)

Kayser, ZIP 2017, 1393, 1394.

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die Finanzierungsfolgenverantwortung61) als Legitimation dieses Rechtsinstituts62) – zu umgehen. Dies droht nicht nur, dieses im deutschen Insolvenzrecht seit Einführung des Eigenkapitalersatzrechts fest verankerte Rechtsinstitut nachhaltig auszuhöhlen, sondern setzt vor allem auch falsche Finanzierungsanreize und droht letztlich das vorinsolvenzliche Restrukturierungsverfahren zum bloßen Instrumentarium für kurzfristige Finanzierungsprivilegien und schlimmstenfalls für eine Insolvenzverschleppung zu machen. dd) Risiken der Ausweitung des Zwischenfinanzierungsprivilegs auf Vorrangregelungen für den Insolvenzfall (Art. 17 Abs. 2 Restrukturierungsrichtlinie) Ebenso kritisch wie die Anwendung des Zwischenfinanzierungsprivilegs auf Gesellschafter ist seine optionale Ausdehnung auf einen Befriedigungsvorrang im Insolvenzfall zu sehen. Nach Art. 17 Abs. 2 Restrukturierungsrichtlinie ist den Mitgliedstaaten die Möglichkeit anheimgestellt, zu bestimmen, dass Zwischenfinanzierungen nicht nur nicht den nachteiligen Regelungen von Anfechtbarkeit, Nichtigkeit etc. unterliegen, sondern sogar umgekehrt ein Vorrang dergestalt eingeräumt wird, dass die aus Zwischenfinanzierungen offen gebliebenen Verbindlichkeiten im Insolvenzfall sogar vorrangig befriedigt werden. Dies mag zwar dann nützlich sein, wenn der Schuldner im Restrukturierungsverfahren keine hinreichenden Sicherheiten bereitstellen kann, sodass auch die Regelungen bzgl. der Nicht-Anwendbarkeit etwaiger Anfechtungstatbestände auf die Sicherheitengewährung keine Absicherung für das Kreditinstitut bietet. Allerdings wird zu Recht darauf hingewiesen, dass die Kreditgewährung eines in der Krise befindlichen Unternehmens auf Gesellschafter vorrangig marktwirtschaftlich abzuwickeln ist.63) Zudem droht dadurch die dauerhafte Benachteiligung der übrigen (unbesicherten) Gläubiger, wenn diese nicht nur nicht vor den (eigentlich) nachrangigen 61)

62)

63)

Zur Entwicklung des Begriffs der Finanzierungsfolgenverantwortung BGH, Urt. v. 7.11.1994 – II ZR 270/93 (Früchte-GmbH), BGHZ 127, 336, 344 f. = NJW 1995, 326, 329 = ZIP 1994, 1934. Selzner/Leuerning in: Römermann, MünchAHB GmbH-Recht, 4. Aufl. 2018, § 7 Rz. 8. Zum Rechtsinstitut der Finanzierungsfolgenverantwortung als Legitimation des Rechts der Gesellschafterdarlehen siehe auch Wollring, Legitimation und Ziele des Rechts der Gesellschafterdarlehen, HRN 2015, 56 ff. So richtigerweise Kayser, ZIP 2017, 1393, 1394.

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Gläubigern (§ 39 InsO) befriedigt werden, sondern sogar nach den (ursprünglich) nachrangigen Gläubigern, weil diese plötzlich zu privilegierten Gläubigern geworden sind aufgrund eines Restrukturierungsverfahrens. Dies könnte langfristig den volkswirtschaftlichen Effekt bewirken, dass die ohnehin schon oft niedrigen Insolvenzquoten weiter sinken und damit nicht nur die Reputation des Insolvenzverfahrens, sondern auch des vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahrens nachhaltig schädigen. Zudem dürfte dies die Kapitalstruktur von ohnehin schon überschwänglich mit Fremdkapital ausgestatteten Unternehmen noch weiter verwässern und wirkt damit der eindringlichen ökonomischen Forderung, mittelständische Unternehmen tendenziell eher mit Eigenkapital64) auszustatten65), entgegen. 2. Kreditverträge (valutierte Darlehen) Neben den Auswirkungen des vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahrens auf eventuell erforderliche Zwischenfinanzierungen sind vor allem auch die Auswirkungen auf bereits bestehende Kreditverträge zu untersuchen. a) Rechtliche Situation im deutschen Insolvenzverfahren Ist das Darlehen bereits vollständig valutiert, hat der Darlehensgeber seine vertraglichen Pflichten i. S. des § 488 Abs. 1 BGB vollständig erbracht.66) Die Insolvenz oder die Anordnung von Sicherungsmaßnahmen rechtfertigt gleichwohl regelmäßig die sofortige Kündigung des Darlehensvertrags.67) Das Kreditinstitut, das zeitgleich routinemäßig seine Geschäftsbeziehung mit dem Schuldner fristlos aufkündigt, stellt die Restvaluta sofort fällig. Weder die Regelung des § 112 InsO, noch etwaige Sicherungsanordnungen nach § 21 InsO vermögen dies zu unterbinden. Der wesentliche Fokus liegt im Insolvenzverfahren vor allem auf der Ablöse der Sicherheiten.

64) 65) 66) 67)

Der Begriff des Eigenkapitals ist hier im betriebswirtschaftlichen Sinn, nicht im bilanzrechtlichen Sinn zu verstehen. Siehe dazu Sommer, Ein starker Mittelstand ist für Deutschland wichtiger denn je, Handelsblatt Online v. 2.4.2019. Gehrlein, Behandlung eines Darlehens in der Insolvenz des Darlehensgebers, ZInsO 2012, 101. Dies ergibt sich bereits aus Nr. 17 AGB-Banken 1.92. Siehe dazu auch Berger in: MünchKomm-BGB, 7. Aufl. 2016, § 490 Rz. 9 – 10.

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b) Ausgestaltung im präventiven Restrukturierungsrahmen Angesichts der vollständigen Erfüllung der vertraglichen Pflichten durch den Darlehensgeber bei vollständiger Valutierung, könnte das Darlehen seitens des Darlehensgebers trotz Durchsetzungssperre grundsätzlich gekündigt werden, denn die Durchsetzungssperre gilt gemäß ihrem ausdrücklichen Wortlaut nur für beidseitig „noch zu erfüllende“ Verträge.68) Vor Anordnung der Vollstreckungssperre fällig gewordene Darlehensverpflichtungen dürfen nicht mehr vollstreckt werden (Art. 7 Abs. 1 Restrukturierungsrichtlinie). Unbenommen bleibt es dem Schuldner jedoch Forderungen, die während der Aussetzung (d. h. nach Anordnung des Vollstreckungsstopps) entstehen, zu bedienen (Art. 7 Abs. 5 Restrukturierungsrichtlinie).69) Dem Schuldner wird somit das Recht eingeräumt, laufende Darlehensverpflichtungen zu erfüllen, was jedoch freilich voraussetzt, dass die (in diesem Fall zulässige) Kündigung seitens des Kreditinstituts unterbleibt. Im Grundsatz eröffnet die Restrukturierungsrichtlinie damit die Möglichkeit, dass Schuldner und Kreditinstitut sich hinsichtlich der weiteren Bedienung des bereits valutierten Darlehens während des Restrukturierungsverfahren einigen und eine Kündigung unterbleibt. Diese Möglichkeit sollte indessen nicht überbewertet werden, denn gleich ob eine Kündigung des Darlehensvertrags erfolgt oder nicht, wird der Restrukturierungsplan eine Lösung für den Umgang mit der Restvaluta parat halten müssen. Interessant kann eine auf ErwG 39 Restrukturierungsrichtlinie basierende Einigung jedoch im Hinblick auf die ggf. fortbestehenden Antragspflichten (siehe oben) sein, die so hinausgezögert werden können. Für das Kreditinstitut ist jedoch zu konstatieren, dass die weitere Bedienung der laufenden Darlehen nicht unter das Zwischenfinanzierungsprivileg des Art. 17 Abs. 1 Restrukturierungsrichtlinie zu subsumieren sein dürfte.70)

68)

69)

70)

Schmidt, WM 2017, 1735, 1739. Zur Begriffsbestimmung von „noch zu erfüllenden Verträgen“ siehe auch Art. 2 Abs. 1 Nr. 5 Restrukturierungsrichtlinie sowie ErwG 41 und 94. Zu beachten ist jedoch, dass in der final veröffentlichten Fassung der ursprüngliche Art. 7 Abs. 6 der Kompromissfassung lediglich in Form von ErwG 39 in die Richtlinie Einzug gefunden hat. Vgl. dazu ErwG 66 – 68.

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3. Dispositionskredite Separater Betrachtung bedürfen Dispositionskredite.71) a) Rechtliche Situation im deutschen Insolvenz(eröffnungs)verfahren Auch bzgl. der Dispositionskredite gelten im Insolvenzverfahren dieselben Wirkungen wie bzgl. regulärer Kreditverträge. Regelmäßig wird das Kreditinstitut spätestens mit Anordnung der vorläufigen Insolvenzverwaltung etwaige Dispositionskreditlinien (mit)aufkündigen.72) Mit etwaigen Dispositionskreditlinien bei Kreditinstituten, mit denen der Schuldner bei Antragstellung in Geschäftsbeziehung steht, kann weder ein vorläufiger, noch ein endgültiger Insolvenzverwalter i. R. seiner im Zuge der Betriebsfortführung anzustellenden Liquiditätsplanung kalkulieren.73) Fehlt es temporär an Liquidität, ist er gezwungen einen Massekredit in Anspruch zu nehmen und ggf. Sicherheiten dafür aus der Insolvenzmasse bereitzustellen. b) Ausgestaltung im präventiven Restrukturierungsrahmen Im präventiven Restrukturierungsrahmen sind insoweit zunächst die Wirkungen des Vollstreckungsstopps zu rekapitulieren. Gemäß Art. 7 Abs. 5 Restrukturierungsrichtlinie ist eine Kündigung der Kreditlinie aufgrund der bloßen Einleitung des Restrukturierungsverfahrens nicht zu rechtfertigen. Ob eine Kreditlinie ein „essentieller Vertrag“ i. S. des ErwG 40 sein kann, lässt sich zumindest diskutieren.74) Ferner wäre darüber zu streiten, ob die Bereitstellung von Sicherheiten als vertragliche Gegenleitung einzustufen wäre. Zumindest nach dem deutschen Recht wäre dies angesichts des eindeutigen Wortlauts des § 488 Abs. 1 BGB zu verneinen. Der Darlehensnehmer ist lediglich verpflichtet, den vereinbarten Zins zu zahlen und das Darlehen bei Fälligkeit zurückzuzahlen, § 488 Abs. 1 Satz 2

71) 72) 73)

74)

Schmidt, WM 2017, 1735, 1739. Gehrlein, Rechtsprechung des BGH zur Insolvenzanfechtung, WM 36/2017, Sonderbeilage 2, S. 5. Zur Liquiditätsplanung in der (vorläufigen Eigenverwaltung) und im Schutzschirmverfahren siehe Uebele, Corporate Governance in der (vorläufigen) Eigenverwaltung und im Schutzschirmverfahren, NZG 2018, 881 ff. Schmidt, WM 2017, 1735, 1739.

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BGB.75) Die Bereitstellung von Sicherheiten ist allenfalls vertragliche Nebenpflicht, unter Umständen auch Geschäftsgrundlage i. S. des § 313 BGB, aber keine vertragliche Hauptpflicht und damit keine „Gegenleistung“ i. S. des ErwG 40. Solange die laufenden Zinsen bezahlt werden76) und der Dispositionskredit nicht zur Rückzahlung fällig ist, wäre somit eine weitere Gegenleistung i. S. des ErwG 40 nicht zu erbringen, sodass bereits der reine Schutz des Art. 7 Abs. 5 Restrukturierungsrichtlinie bewirkt, dass eine nicht ausgeschöpfte Dispositionskreditlinie im weiteren Verlauf des vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahrens vollständig Anspruch genommen werden kann.77) 4. Sonderfall: nicht valutierte Darlehen In der Insolvenz des Darlehensnehmers, der bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens über sein Vermögen die Darlehensvaluta nicht oder nicht vollständig erhalten hat, gilt § 103 InsO,78) dem gleichwohl in der Praxis kaum Bedeutung beizumessen ist. Denn in einem solche Falle wird der Darlehensgeber den Darlehensvertrag regelmäßig gemäß § 490 Abs. 1 BGB kündigen. Im präventiven Restrukturierungsrahmen hingegen gilt dasselbe wie in Bezug auf Dispositionskredite. Da insoweit Art. 7 Abs. 5 Restrukturierungsrichtlinie einer Kündigung nach § 490 Abs. 1 BGB entgegensteht,79) kann der Darlehensnehmer die ausstehende Darlehensvaluta voll für sich beanspruchen. Weder eine Ipso-Facto-Klausel, noch die näheren Bestimmungen des ErwG 40 vermögen dies zu verhindern.80) 5. Kreditsicherheiten im laufenden Restrukturierungsverfahren Damit ist jedoch noch keine Aussage darüber getroffen, wie mit potentiellen Absonderungsrechten (§§ 49 ff. InsO) oder Aussonderungsrechten (§ 47 InsO) i. R. des vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahren zu verfahren ist. 75) 76) 77) 78) 79) 80)

Zu den Pflichten des Darlehensnehmers siehe auch Berger in: Jauernig, BGB, 17. Aufl. 2018, § 488 Rz. 17 – 19. Zur Zinszahlungspflicht des Darlehensnehmers siehe Berger in: Jauernig, BGB, 17. Aufl. 2018, § 246 Rz. 5 ff. Diese Gefahr sieht auch Schmidt, WM 2017, 1735, 1739. Huber in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 103 Rz. 69. So auch Schmidt, WM 2017, 1735, 1739. Im Ergebnis ebenso Schmidt, WM 2017, 1735, 1739.

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Dabei sind zwei Fragen zu trennen: Zum einen, wie mit den Kreditsicherheiten im laufenden Restrukturierungsverfahren umzugehen ist, zum anderen wie ihre – hier zunächst nicht zu betrachtende – Ablöse im Restrukturierungsplan erfolgt (siehe dazu unter V.). a) Rechtliche Situation im deutschen Insolvenzeröffnungsverfahren Auch insoweit erscheint es sachdienlich, zunächst einen Blick auf das Parallelszenario der vorläufigen Insolvenzverwaltung zu werfen. Dort besteht die Möglichkeit, sowohl die Verwertung als auch die Herausgabe von Fremdeigentum im Insolvenzeröffnungsverfahren vorläufig zu unterbinden (§ 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 InsO). Diese Regelung ist für die Betriebsfortführung mindestens genau so bedeutsam, wie für die Suspendierung von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen nach § 21 Abs. 1 Nr. 3 InsO, bzw. § 30d Abs. 1 ZVG. Stehen betriebsrelevante Vermögenswerte, wie z. B. Leasingfahrzeuge oder gemietete Baumaschinen nicht zu weiteren Verfügung des Schuldners während der Betriebsfortführung, kann dies im Zweifel zu einer faktischen Betriebsstillegung führen. Damit zur Aus- oder Absonderung berechtigte Gläubiger im Insolvenzeröffnungsverfahren diese Rechte nicht durchsetzen können, besteht die Möglichkeit diese Rechte zur Gewährleistung der Betriebsfortführung für die Dauer des Insolvenzeröffnungsverfahrens zu suspendieren. In der Praxis wird der Insolvenzverwalter eine solche Anordnung regelmäßig anregen, wenn er nicht zuvor in der Lage war, sich mit dem Gläubiger mittels einer Sondervereinbarung hinsichtlich der Nutzung im Insolvenzeröffnungsverfahren zu einigen. Vorläufige Insolvenzverwalter sind einem solchen Gläubigerbegehren regelmäßig vor dem Hintergrund einer bereits gekündigten Geschäftsbeziehung, gepaart mit einer Verwertungsankündigung oder einem Herausgabeverlangen ausgesetzt oder müssen zumindest damit rechnen, dass der Gläubiger ein solches Begehren zeitnah geltend macht. Insbesondere ist es dem Gläubiger nicht untersagt, die Geschäftsbeziehung im Insolvenzeröffnungsverfahren aufzukündigen.81)

81)

Zu beachten ist jedoch, dass gemäß der Regelung des § 112 InsO eine solche Kündigung nur zulässig ist, soweit sie auf nach Antragstellung auflaufende Entgelte gestützt ist; vgl. zum Anwendungsbereich des § 112 InsO Eckert in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 112 Rz. 3 ff.

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b) Ausgestaltung im präventiven Restrukturierungsrahmen Im vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahren ist diese Gefahrensituation dem Grundsatz nach dieselbe. Gleichwohl ist in der Restrukturierungsrichtlinie nicht erkennbar, dass die Schaffung entsprechender Sonderermächtigungen analog § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO für dieses Verfahren vorgesehen ist. Die Frage, die sich nun stellt, ist: Wie wirkt sich dies aus das vorinsolvenzliche Restrukturierungsverfahren aus? Zunächst ist folgendes festzustellen, dass die vertragliche Basis des Herausgabeverlangens vor dem Hintergrund der in der Restrukturierungsrichtlinie vorgesehenen Sonderregelungen abweichen kann. So würden insbesondere z. B. rückständige Leasingraten nicht zu einer Kündigung des Leasingvertrags und zur Herausgabe des Leasingobjekts durch das Kreditinstitut als Leasinggeber berechtigen, sofern der Schuldner die Leasingraten zumindest im weiteren Verlauf des vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahrens vertragsgemäß erbringt. Dies ist eine Folge der Kündigungsschutzvorgabe des ErwG 4082) und deckt sich dem Grundsatz nach mit der Schutzvorschrift des § 112 InsO, die eine Kündigung im Insolvenzeröffnungsverfahren nur bei weiter auflaufenden Mietzinsen oder Leasingraten zulässt, eine Kündigung wegen bereits vor Antrag bestehender Rückstände jedoch untersagt.83) Insoweit ändern sich also die Schutzvorgaben der Restrukturierungsrichtlinie und des deutschen Insolvenzrechts im Insolvenzeröffnungsverfahren. Eine potentielle Schutzlücke besteht dann, wenn sich der Schuldner bei Einleitung des vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahrens bereits einer gekündigten Geschäftsbeziehung mit dem Kreditinstitut ausgesetzt sieht.

82)

83)

Dies gilt vorausgesetzt, dass der Mitgliedstaat von dem Ermessen Gebrauch macht, den Vollstreckungsstopp mit einer Suspendierung von vertraglichen Kündigungsrechten zu verbinden (siehe oben unter III.). Zudem ist zu beachten, dass die Möglichkeit einer Sicherungsanordnung nach § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO besteht. Allerdings ist bzgl. der Schutzrichtungen des § 112 InsO und des § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO zu unterscheiden. § 112 InsO soll vor allem das Wahlrecht des Verwalters nach § 103 InsO im eröffneten Insolvenzverfahren sichern. § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO soll vor Ab- oder Aussonderungsverlagen schützen. Daraus ergibt sich bereits, dass § 112 InsO nur bei (noch) bestehender (d. h. in diesem Zusammenhang ungekündigter) vertraglicher Beziehung zur Anwendung kommen kann, während § 21 Abs. 2 Nr. 5 InsO in der Regel nur bei einer bereits beendeten (oder zeitnah endenden) vertraglichen Beziehung zur Anwendung kommt. Denn solange das Vertragsverhältnis noch besteht, gibt dieses Recht zum Besitz (§ 986 BGB) und kann demnach weder einen dinglichen, noch einen vertraglichen Herausgabeanspruch begründen.

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Dann nämlich besteht weder die Möglichkeit der Anordnung einer Nutzungsbefugnis durch das das Verfahren beaufsichtigende Gericht, noch ist der Schuldner durch den möglichen Kündigungsstopp nach ErwG 40 geschützt. Er ist vielmehr dem ungebremsten Herausgabeverlangen des Gläubigers ausgesetzt und kann auch einer Verwertung nichts entgegensetzen. Weder eine vertragliche, noch eine gerichtliche Nutzungsbefugnis berechtigt ihn dann zum Einsatz des Vermögenswerts für die Betriebsfortführung. Die Sicherstellung der weiteren Nutzung ist dann einzig allein Sache des Schuldners, der sich dazu, ggf. unterstützt durch einen Berater oder einen Restrukturierungssachwalter,84) mit dem Eigentümer (gemäß dem obigen Beispiel und hier relevanten Fall dem Kreditinstitut) bzgl. der weiteren Nutzung verständigen muss. Das ist keinesfalls unproblematisch. Denn auch in „regulären“ Insolvenzeröffnungsverfahren ist die vertragliche Vereinbarung einer Nutzungsbefugnis nicht nur selten deshalb erfolgreich, weil im Zweifel stets die Rückgriffsmöglichkeit des vorläufigen Insolvenzverwalters auf eine gerichtliche Anordnung nach § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 5 InsO besteht. Das Fehlen einer Parallelregelung, bzw. einer Parallelvorgabe bzgl. einer solchen Regelung in der Restrukturierungsrichtlinie ist somit ein entscheidendes Versäumnis, das den Erfolg der Betriebsfortführung und damit des vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahrens als Ganzes in einem entscheidenden Punkt vom Zufall, bzw. der erfolgreichen Abstimmung mit dem aus- oder absonderungsberechtigen Gläubiger (bei dem es sich in der Praxis häufig um ein Kreditinstitut oder eine ihm wirtschaftlich gleichberechtigte Einrichtung, z. B. die Finanzierungsbank eines Autoherstellers handeln dürfte) abhängig macht. Der deutsche Gesetzgeber sollte dieses Versäumnis unbedingt nachholen und eine entsprechende Regelung in die gesetzlichen Rahmenbedingungen eines „German Scheme“ implementieren. 6. Finanztermingeschäfte (vor allem Close-out Netting) Zu klären sind ferner die Auswirkungen des vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahrens in Bezug auf Finanztermingeschäfte.

84)

Zur Bestellung eines Restrukturierungssachwalters sowie den Anforderungen an sein Amt siehe bereits Jacoby, ZGR 2010, 359, 373.

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a) Rechtliche Situation im deutschen Insolvenzverfahren Anders als bei regulären Verträgen, endet der deutsche Rahmenvertrag für Finanztermingeschäfte im Insolvenzfall ohne Kündigung (sog. Close-out Netting).85) Dieser wird durch den Insolvenzantrag ausgelöst, wenn die Partei entweder den Antrag selbst gestellt hat oder zahlungsunfähig ist.86) Anschließend ist keine Partei mehr zu Zahlungen und sonstigen Leistungen verpflichtet, die gleichtägig oder später fällig geworden wären.87) Vielmehr werden diese Verpflichtungen in der einheitlichen Ausgleichsforderung zusammengefasst.88) b) Ausgestaltung präventiven Restrukturierungsrahmen Im Moment würde das Restrukturierungsverfahren den Insolvenzfall in diesem Sinne nicht auslösen, jedoch wäre zu erwägen, den Rahmenvertrag dahingehend anzupassen, dass spätestens die Anordnung der Durchsetzungssperre ihn enden ließe. Nach den oben genannten Bestimmungen der Restrukturierungsrichtlinie (Art. 7 Abs. 5 Restrukturierungsrichtlinie) wäre jedoch gerade eine solche Regelung, die den Vertrag ipso facto enden ließe, nicht zu vereinbaren. Dies ist problematisch, denn das Close-out Netting ist für die Funktionsfähigkeit des Derivatemarkts grundlegend.89) Es darf durch die Durchsetzungssperre nicht gefährdet werden.90) Dies eröffnet einen schwerwiegenden Wiederspruch zwischen den Richtlinienbestimmungen zur Durchsetzungssperre, bzw. zum Kündigungsverbot und zur Finanzmarktstabilität von Finanzsicherheiten. Die Kommission erkennt ausdrücklich an, dass die Finanzmarktstabilität von Finanzsicherheiten maßgeblich abhängt und der Wert von Finanzinstrumenten, die als Sicherheiten gegeben werden, starken Schwankungen unterliegt und zügig

85) 86) 87) 88) 89) 90)

Jahn/Reiner in: Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Hdb., 5. Aufl. 2017, § 50 Rz. 176. Kerkemeyer, Systemrettend oder -destabilisierend? – Das Close-out-Netting in der Diskussion, ZBB 2017, 272. Lehmann/Flöther/Gurlit, Die Wirksamkeit von Close-out-Netting-Klauseln in Finanzderivaten nach § 104 InsO n. F., WM 2017, 597, 599. Lehmann/Flöther/Gurlit, WM 2017, 597, 599. BGH, Urt. v. 9.6.2016 – IX ZR 314/14, ZIP 2016, 1226, m. Anm. Paulus = WM 2016, 1168. So auch Schmidt, WM 2017, 1735.

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realisiert werden muss (ErwG 43).91) Entsprechend soll die Richtlinie für das Derivategeschäft zentrale Gesetzgebungsakte unberührt lassen (Art. 31 Abs. 1 lit. a – c Restrukturierungsrichtlinie). In dieser Aufzählung fehlen jedoch wesentliche Regelwerke,92) die gleichermaßen berücksichtigt werden müssten.93) Der Richtliniengeber scheint dies nunmehr ebenfalls erkannt zu haben und stellt daher in Art. 7 Abs. 6 Restrukturierungsrichtlinie den Mitgliedstaaten nunmehr ins Ermessen, ob sie eine entsprechende Ausnahme im nationalen Recht für derartige Geschäfte erlassen. V. Der Restrukturierungsplan: Abschluss des vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahrens Während der Umgang mit den Sicherheiten zugunsten von Kreditinstituten (und von Gläubigern im Allgemeinen) während des vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahrens sich vor allem anhand der Bestimmung zu vorläufigen Maßnahmen sowie anhand der Auswirkungen auf laufende vertragliche Rechte bestimmt (siehe oben unter III.), entscheidet sich das endgültige Schicksal dieser Sicherheiten erst im Restrukturierungsplan. Die Restrukturierungsrichtlinie sieht vor, dass im Restrukturierungsplan, dessen Inhalt in den Art. 8 ff. näher präzisiert wird und der bei entsprechender Bestätigung für alle Parteien verbindlich ist (Art. 15 Restrukturierungsrichtlinie), eine abschließende Regelung über die Ausgestaltung und die Ablöse der Sicherheiten getroffen wird. Nähere Präzisierungen zum Inhalt trifft die Richtlinie zumindest in Bezug auf Sicherheiten nicht. Der Richtliniengeber geht grundsätzlich davon aus, dass der Inhalt des Plans

91) 92)

93)

Siehe auch Schmidt, WM 2017, 1735. So Richtlinie 2014/59/EU des Europäischen Parlaments und des Rates v. 15.5.2014 zur Festlegung eines Rahmens für die Sanierung und Abwicklung von Kreditinstituten und Wertpapierfirmen und zur Änderung der Richtlinie 82/891/EWG des Rates, der Richtlinien 2001/24/EG, 2002/47/EG, 2004/25/EG, 2005/56/EG, 2007/36/EG, 2011/35/EU, 2012/30/EU und 2013/36/EU sowie der Verordnungen (EU) Nr. 1093/2010 und (EU) Nr. 648/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates, ABl. (EU) L 173/190 v. 12.6.2014. So schützt die BRRD Saldierungs- und Sicherungsvereinbarungen sehr viel stärker vor den Wirkungen auch nur vorübergehender Maßnahmen. Siehe dazu Schmidt, WM 2017, 1735 f. Unter anderem fehlen Art. 49 Abs. 2 und 3, 70 Abs. 2, 71 Abs. 3, 77 und 78 Richtlinie 2014/59/EU, die ebenfalls einzubeziehen wären.

Die Bank als Beteiligte im vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahren

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Sache der verhandelnden Parteien ist und dass diese einen Sanierungsplan aufstellen, der „die Probleme regelt“.94) 1. Vergleichsmaßstab: Das Regelinsolvenzverfahren und der deutsche Insolvenzplan Der Restrukturierungsplan kann (und muss im Regelfall) auch in die Absonderungsrechte eingreifen. Die im Plan denkbaren Regelungen sind dabei vielseitig. Sie dürften sich im Regelfall am Alternativszenario der Insolvenz orientieren und damit vor allem die Werthaltigkeit der Sicherheiten in Bezug auf potentielle Absonderungsrechte gemäß §§ 49 ff. InsO (oder deren Anfechtbarkeit gemäß §§ 129 ff. InsO) konstatieren. Für den deutschen Gesetzgeber dürfte insbesondere der Insolvenzplan als Orientierungsmaßstab dienen. 2. Gruppenbildung Ein rechtlicher Konsens muss von den Beteiligten legitimiert werden, deren Vermögensinteressen berührt werden. Das gilt unabhängig davon, ob es sich um einen Insolvenzplan, einen einfachen außergerichtlichen Vergleich oder einen Restrukturierungsplan handelt.95) Davon macht auch die Restrukturierungsrichtlinie keine Ausnahme und sieht in Bezug auf den Restrukturierungsplan vor, dass Gläubiger mit einem gemeinsamen wirtschaftlichen Interesse in einer Gruppe („Klasse“) zusammengefasst werden und innerhalb dieser Gruppe der Grundsatz der Gleichbehandlung gilt. a) Die Gruppenbildung im Restrukturierungsplan Eine Gruppenbildung nach einem gemeinsamen Interesse ist in Art. 9 Abs. 3 Restrukturierungsrichtlinie manifestiert. Ein ausdrücklicher Hinweis auf die Gleichbehandlung innerhalb einer Gruppe fehlt zwar. Gleichwohl wird in ErwG 40 eine „faire Behandlung ähnlicher Rechte“ gefordert und

94) 95)

Siemon, NZI 2016, 57. Zum Insolvenzplan siehe Groß in: Hess/Groß/Reill-Ruppe/Roth, Insolvenzplan, Sanierungsgewinn, Restschuldbefreiung und Verbraucherinsolvenz, 4. Aufl. 2014, Rz. 122 ff.

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u. a. hieraus geschlossen, dass das Gleichbehandlungsgebot zu berücksichtigen sei.96) Bei der Festsetzung des Mehrheitserfordernisses für die Annahme des Plans durch eine Gruppe ist folgendes zu beachten: Die Schwelle sollte so hoch angesetzt werden, dass mit Erreichung bereits eine gewisse Legitimation für den Plan einhergeht. Gleichzeitig darf sie aber auch nicht zu niedrig angesetzt werden, da es Akkordstörern ansonsten zu leichtgemacht würde, den Plan zu obstruieren. Eine Summenmehrheit von 75 % erscheint insoweit unter Praxisgesichtspunkten angemessen und kann gemäß Art. 9 Abs. 4 Satz 2 Restrukturierungsrichtlinie vom nationalen Gesetzgeber auch in dieser Höhe festgesetzt werden. Außerdem ist aus Bankensicht zu begrüßen, dass Art. 9 Abs. 4 Restrukturierungsrichtlinie keinen Hinweis auf eine Kopfmehrheit enthält. Dies ist indessen zu befürworten, da die Annahme des Plans ansonsten nicht den wirtschaftlichen Gegebenheiten folgen würde und eine wirtschaftliche Minderheit die Mehrheit zu überstimmen droht. Kritisch zu sehen ist demgegenüber die Regelungstechnik des sog. klassenübergreifenden Cram-Down (Art. 11 Restrukturierungsrichtlinie).97) 96)

97)

ErwG 44 der finalen Fassung der Restrukturierungsrichtlinie lautet wie folgt: „Um zu gewährleisten, dass im Wesentlichen ähnliche Rechte fair behandelt werden und dass Restrukturierungspläne angenommen werden können, ohne die Rechte betroffener Parteien in unangemessener Weise zu beeinträchtigen, sollten die betroffenen Parteien in unterschiedlichen Klassen behandelt werden, die den Kriterien für die Klassenbildung nach nationalem Recht entsprechen. Klassenbildung bedeutet die Gruppierung der betroffenen Parteien mit dem Zweck, einen Plan in der Weise anzunehmen, dass die Rechte und der Rang der betroffenen Forderungen beziehungsweise Beteiligungen zum Tragen kommen. Zumindest gesicherte und ungesicherte Gläubiger sollten stets in unterschiedlichen Klassen behandelt werden, aber Mitgliedstaaten können vorschreiben, dass mehr als zwei Klassen von Gläubigern gebildet werden, einschließlich verschiedener Klassen ungesicherter und gesicherter Gläubiger und Klassen von Gläubigern mit nachrangigen Forderungen. Die Mitgliedstaaten können auch gesonderte Klassen für andere Arten von Gläubigern ohne ausreichende gemeinsame Interessen schaffen, wie Steuerbehörden oder Sozialversicherungsträger. Das nationale Recht könnte vorsehen, gesicherte Forderungen auf der Grundlage einer Bewertung der Sicherheiten in gesicherte und ungesicherte Anteile zu unterteilen. Im nationalen Recht könnten auch besondere Vorschriften festgelegt werden, mit denen eine Klassenbildung unterstützt wird, wenn nicht diversifizierte oder aus anderen Gründen besonders schutzbedürftige Gläubiger wie Arbeitnehmer oder kleine Lieferanten von der Klassenbildung profitieren würden.“ (Hervorhebungen durch d. Verf.). Art. 11 der finalen Fassung lautet wie folgt: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass ein Restrukturierungsplan, der nicht von allen Abstimmungsklassen betroffener Parteien gemäß Art. 9 Absatz 4 genehmigt worden ist, auf Vorschlag eines Schuldners oder (…) mit Zustimmung des Schuldners von einer Justiz- oder Verwaltungsbehörde bestätigt und für (…) ablehnende Abstimmungsklassen verbindlich werden kann, wenn der Restrukturierungsplan mindestens folgende Bedingungen erfüllt: (…)“

Die Bank als Beteiligte im vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahren

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Nach dieser Vorschrift kann eine Planbestätigung selbst dann erfolgen, wenn nicht alle Gruppen mit der erforderlichen Mehrheit zugestimmt haben, sofern mindestens eine – nicht nachrangige – Gruppe zugestimmt hat (Art. 11 Abs. 1 lit. b Restrukturierungsrichtlinie). Dies dient zwar der Effektivität des Planzustandekommens, stellt jedoch eine deutliche Lockerung des Obstruktionsverbotes im Vergleich zum Insolvenzplan dar. b) Der Begriff des „gemeinsamen wirtschaftlichen Interesses“ im Restrukturierungsplan und im Insolvenzplan Gläubiger mit einem gemeinsamen wirtschaftlichen Interesse zusammenzufassen ist auch bereits in § 222 Abs. 1 und § 226 Abs. 1 InsO vorgesehen. Das gemeinsame wirtschaftliche Interesse ist beim Insolvenzplan materielles Differenzierungskriterium. Es dient zusammen mit dem Sachgerechtigkeitskriterium der wirtschaftlichen Abgrenzung der Gläubiger.98) Wie es konkret zu bestimmen ist, ist jedoch auch bereits i. R. des Insolvenzplan zuweilen schwierig. Die einzelnen Differenzierungskriterien, welche eine sachgerechte Abgrenzung zum Zwecke der Gruppenbildung ermöglichen, lassen sich nicht abschließend festlegen99), sodass weder vom Richtliniengeber, noch vom nationalen Gesetzgeber insoweit konkrete Vorgaben zu erwarten sind. Nicht nur im Interesse der Banken sollte der Gesetzgeber jedoch erwägen, eine dem § 245 Abs. 1 Nr. 3 InsO entsprechende Regelung zu ergänzen, damit zumindest eine Mehrheit der abstimmenden Gruppen dem Plan zugestimmt haben muss. Andernfalls würde lediglich das sog. „Schlechterstellungsverbot“100) einen Mindestschutz garantieren. Dieses wird in der deutschen Fassung der Restrukturierungsrichtlinie als „Gläubigerinteresse“ bezeichnet (Art. 2 Nr. 6 sowie auch ErwG 52 Restrukturierungsrichtlinie) und besagt, dass kein ablehnender Gläubiger nach dem Plan schlechter 98) Vgl. Begr. RegE InsO z. § 265, BT-Drucks. 12/2443, S. 199 f.: „Um Manipulationen zur Beschaffung von Mehrheiten zu vermeiden, ist ausdrücklich vorgeschrieben, dass die Gruppen sachgerecht voneinander abgegrenzt und die Kriterien für die Abgrenzung im Plan angegeben werden müssen. Der Verfasser des Plans (…) muss (…) erläutern, inwiefern diese Differenzierung nach den rechtlichen und wirtschaftlichen Interessen der Beteiligten gerechtfertigt ist (…)“. Die Erwähnung der rechtlichen Interessen in dieser Formulierung ist darauf zurückzuführen, dass nach § 265 Abs. 1 Satz 1 RegE InsO noch eine obligatorische Gruppenbildung für „(…) Beteiligte mit gleicher Rechtsstellung und gleichartigen wirtschaftlichen Interessen (…)“ vorgeschrieben war. 99) Eidenmüller in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2014, § 222 Rz. 81. 100) Vgl. zu diesem Begriff auch Westphal, NZI Beilage 1/2017, S. 49, 51.

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gestellt werden darf als im Falle der Liquidation.101) Einzelne Gläubigergruppen, einschließlich der Banken, könnten andernfalls in eine Lösung gedrängt werden, die sie nicht unterstützen, obwohl sie eine qualifizierte Mehrheit der Forderungen gegen den Schuldner halten. c) Besonderheiten bei der Gruppenbildung im Restrukturierungsplan in Bezug auf Gesellschafter und andere Eigenkapitelgeber Besonderheiten gelten in Bezug auf die Gruppenbildung bei Gesellschaftern und anderen Eigenkapitalgebern des schuldnerischen. Unternehmens. Ist eine Insolvenz hinreichend wahrscheinlich, sollen diese die Verabschiedung eines sie benachteiligenden, die Überlebensfähigkeit des Unternehmens jedoch sichernden Restrukturierungsplans nicht in unbilliger Weise verhindern dürfen. Aus diesem Grund können die Mitgliedstaaten vom Restrukturierungsplan betroffene Eigenkapitalgeber in eine oder mehrere Gruppen zusammenfassen102) und ihnen entsprechende Stimmrechte erteilen (Art. 12 Restrukturierungsrichtlinie).103) 3. Besonderheiten in Bezug auf Bürgschaften Zu klären wäre insbesondere auch, ob und ggf. inwieweit der Restrukturierungsplan auch Wirkung hinsichtlich der Rechte der Insolvenzgläubiger gegen eventuell mithaftende Gesamtschuldner und Bürgen des Schuldners entfaltet. a) Auswirkungen des Restrukturierungsplans auf Bürgschaften Sieht der Restrukturierungsplan ein Erlöschen der Hauptforderung über die im Restrukturierungsplan vereinbarte Ablöse hinaus vor, so könnte 101) Zu beachten ist, dass für die Zwecke des gruppenübergreifenden Cram-down dabei wohl auf den Fortführungswert des Unternehmens abzustellen sein dürfte (vgl. Art. 11 Restrukturierungsrichtlinie). 102) Dabei muss nur sichergestellt werden, dass die Kriterien für die Klassenbildung gewahrt sind, insbesondere die Homogenität der Gruppe. Da die Anteilseigner gemäß Art. 9, 12 Restrukturierungsichtlinie jedoch insoweit eine eigene Gruppe bilden, darf von der Wahrung dieses Kriteriums insoweit ausgegangen werden. 103) Art. 9 Abs. 2 der finalen Fassung lautet: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass betroffene Gläubiger das Recht haben, über die Annahme eines Restrukturierungsplans abzustimmen. Die Mitgliedstaaten können ein solches Stimmrecht nach Artikel 12 Absatz 2 auch betroffenen Anteilseignern gewähren.“ Dies bedeutet natürlich, dass umgekehrt Eigenkapitalgeber ggf. von anderen Gruppen überstimmt werden können.

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der Gläubiger den Mitschuldner oder Bürgen grundsätzlich aufgrund des Akzessorietätsprinzip nicht mit seiner Forderung in Anspruch nehmen. Eine Ausnahme dürfte allenfalls dann gelten, wenn der Mitschuldner oder Bürge dem Restrukturierungsplan beitritt und die von ihm bereitgestellten Sicherheiten Regelungen im Restrukturierungsplan getroffen werden. b) Vergleich: Bürgschaften im Insolvenzplan Anders sieht dies bei einem Insolvenzplan aus:104) Sieht ein Insolvenzplan ein Erlöschen der Hauptforderung über die Planquote hinaus vor, kann der Insolvenzgläubiger den Mitschuldner oder Bürgen – in Abweichung vom Akzessorietätsprinzip – gleichwohl bis zur vollständigen Befriedigung seiner Forderung in Anspruch nehmen (§ 254 InsO).105) Dies soll sogar in den Fällen gelten, in denen die Forderung durch Einbringung i. R. eines Debt-Equity-Swaps (durch Konfusion) erlischt und nicht voll werthaltig war.106) Für einen Restrukturierungsplan ist zu konstatieren, dass eine dem § 254 InsO gleichgestellte Regelung zumindest in der Restrukturierungsrichtlinie nicht vorgesehen ist. VI. Fazit Im Ergebnis lassen sich folgende Thesen festhalten: 1.

Grundvoraussetzung für die Einleitung eines vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahrens sind finanzielle Schwierigkeiten und die Wahrscheinlichkeit einer drohenden Insolvenz (Art. 1 Abs. 1 lit. a und Art. 2 Abs. 2 Restrukturierungsrichtlinie). Die aus finanziellen Schwierigkeiten resultierende Krise nicht bloß materiell von der Insolvenz abzugrenzen, sondern positiv zu definieren, ist eine zentrale Frage der Restrukturierungsrichtlinie und beinhaltet auch in ihrer finalen Fassung noch Konkretisierungsbedarf. Da bereits i. R. der drohenden Zahlungsunfähigkeit die Bestimmbarkeit anhand von individuellen Kriterien gemäß eines im Einzelfall zu bestimmenden Prognosezeitraums erfolgt, fällt es schwer, eine klare Abgrenzung zwischen materieller Krise und drohender Zahlungsunfähigkeit vorzunehmen.

104) Siehe dazu im Allgemeinen Habersack in: MünchKomm-BGB, 6. Aufl. 2013, § 765 Rz. 61, § 767 Rz. 6 sowie § 768 Rz. 7. 105) Huber in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 254 Rz. 25, 28. 106) Spliedt in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 225a Rz. 29.

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2.

Der Vollstreckungsstopp – und damit de facto das vorinsolvenzliche Restrukturierungsverfahren als solches – soll grundsätzlich eine Dauer von nicht länger vier Monaten aufweisen (Art. 6 Abs. 6 Restrukturierungsrichtlinie), die nach entsprechender Anordnung des zuständigen Spruchkörpers auf bis zu maximal zwölf Monate verlängert werden kann (Art. 6 Abs. 8 Restrukturierungsrichtlinie i. V. m. ErwG 35).

3.

Der Richtliniengeber knüpft die Regelung bzgl. der Auswirkung des Restrukturierungsverfahrens auf die laufenden Verträge mit Geschäftspartnern (und damit auch eventuelle Kontoführungsverträge mit Kreditinstituten) an den ggf. anzuordnen Vollstreckungsstopp.

4.

Ergänzend zum Vollstreckungsstopp sieht Art. 7 Abs. 5 Restrukturierungsrichtlinie den Schutz vor sog. Ipso-Facto-Klauseln vor, die in Bezug auf beidseitig nicht vollständig erfüllte Verträge eine Kündigung allein aufgrund des Antrags auf Eröffnung eines präventiven Restrukturierungsverfahrens und/oder der Aussetzung von Vollstreckungsmaßnahmen vorsehen. Dies gilt insbesondere für essentielle Versorgungsverträge (wie z. B. Strom, Wasser, Gas).

5.

Während des vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahrens ruht die Insolvenzantragsplicht (Art. 7 Abs. 1 Restrukturierungsrichtlinie). Zudem soll während einer angeordneten Durchsetzungssperre ein Gläubigerantrag nicht dazu führen, dass ein Insolvenzverfahren eröffnet wird (Art. 7 Abs. 2 Restrukturierungsrichtlinie). Den Mitgliedstaaten wird jedoch nach Art. 7 Abs. 3 Restrukturierungsrichtlinie anheimgestellt, eine Ausnahme von der Suspendierung der Antragspflicht (d. h. ein Wiederlaufleben der Antragspflicht) für den Fall anzuordnen, dass der Schuldner während des Restrukturierungsverfahrens zahlungsunfähig wird.

6.

Den Schutz von Zwischenfinanzierungen realisiert im präventiven Restrukturierungsrahmen Art. 17 Restrukturierungsrichtlinie, der eine Schutzbestimmung für Neu- und Zwischenfinanzierungen dergestalt enthält, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet werden „sicherzustellen, dass neue Finanzierungen und Zwischenfinanzierungen in geeigneter Weise (…) geschützt werden.“ Die Restrukturierungsrichtlinie definiert als Zwischenfinanzierung zunächst Mittel, gleich ob von einem vorhandenen oder neuen Gläubiger zur Verfügung gestellt, die vernünftigerweise sofort erforderlich sind, um den Geschäftsbetrieb des Schuldners aufrechtzuerhalten oder den Unternehmenswert zu be-

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wahren oder zu steigern, solange der Restrukturierungsplan noch nicht bestätigt ist (Art. 2 Abs. 12 Restrukturierungsrichtlinie). Daneben fallen auch neue Mittel, die notwendig sind, um den Restrukturierungsplan umzusetzen, in diesem vorgesehen sind und anschließend von der zuständigen Behörde genehmigt werden (Art. 2 Abs. 11 Restrukturierungsrichtlinie). Bezüglich der Ausnahmeregelung des Art. 17 Abs. 2 Restrukturierungsrichtlinie auf missbräuchliche Finanzierung besteht in nationaler Hinsicht Klärungsbedarf bzgl. der Anwendung auf § 133 InsO und § 826 BGB. 7.

Die Anwendung des Zwischenfinanzierungsprivilegs auf Gesellschafter bietet erhebliche Missbrauchsrisiken. Selbiges gilt für den optionalen Finanzierungsvorrang des Art. 17 Abs. 2 Restrukturierungsrichtlinie.

8.

Trotz der Durchsetzungssperre bleibt es dem Schuldner unbenommen, laufende Darlehensverpflichtungen, die nach Anordnung der Durchsetzungssperre fällig werden, zu erfüllen (ErwG 39 Restrukturierungsrichtlinie). Im Grundsatz eröffnet die Restrukturierungsrichtlinie damit die Möglichkeit, dass Schuldner und Kreditinstitut sich hinsichtlich der weiteren Bedienung des bereits valutierten Darlehens während des Restrukturierungsverfahrens einigen und eine Kündigung unterbleibt. Ob i. R. von ErwG 39 Restrukturierungsrichtlinie geleistete Zahlungen einer späteren Anfechtbarkeit nach §§ 129 ff. InsO bleibt zu klären. Sie dürften jedenfalls nicht unter das Zwischenfinanzierungsprivileg fallen.

9.

Der Schutz des Art. 7 Abs. 5 Restrukturierungsrichtlinie bewirkt, dass eine nicht ausgeschöpfte Dispositionskreditlinie im weiteren Verlauf des vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahrens vollständig Anspruch genommen werden kann. Selbiges gilt für nicht oder nicht vollständig valutierte Darlehen.

10. Das sog. Close-Out Netting bei Finanztermingeschäften, das die Funktionsfähigkeit des Derivatemarkts gewährleistet, steht im Widerspruch zu Art. 7 Abs. 5 Restrukturierungsrichtlinie und würde im Falle einer entsprechenden Kündigungsschutzregelung im Zusammenhang mit der Durchsetzungssperre außer Kraft gesetzt. Dies eröffnet einen schwerwiegenden Wiederspruch zwischen den Richtlinienbestimmungen zur Durchsetzungssperre, bzw. zum Kündigungsverbot und zur Finanzmarktstabilität von Finanzsicherheiten. Die Mitgliedstaaten

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sollten daher von der in Art. 7 Abs. 6 neu manifestierten Ermessensregelung zwingend Gebrauch machen. 11. Die Restrukturierungsrichtlinie sieht in Bezug auf den Restrukturierungsplan vor, dass Gläubiger mit einem gemeinsamen wirtschaftlichen Interesse in einer Gruppe („Klasse“) zusammengefasst werden und innerhalb dieser Gruppe der Grundsatz der Gleichbehandlung gilt. Besonderheiten sind vor allem in Bezug auf Gesellschafter und Eigenkapitalgeber zu beachten. VII. Ausblick Ein vorinsolvenzliches Restrukturierungsverfahren bildet aus Sicht eines Kreditinstituts durchaus Vorteile gegenüber einer vorinsolvenzlichen Sanierung. Vor allem der Schutz von Zwischenfinanzierungen vor einer eventuellen Insolvenzanfechtung sowie Schadenersatzansprüchen im Zusammenhang mit der Sittenwidrigkeit der Kreditgewährung dürfte aus Sicht der Kreditinstitute einen entscheidenden Anreiz darstellen. Die Möglichkeit, dass schuldnerische Unternehmen aufgrund des Art. 7 Restrukturierungsrichtlinie auch während des Restrukturierungsverfahrens bestehende Dispositionskredite weiter ausschöpfen und nicht valutierte Darlehen in Anspruch nehmen können, dürfte einige Kreditinstitute „kalt erwischen“, wenn Schuldner nach Einleitung eines solchen Verfahrens erstmals wie selbstverständlich weiter den Dispositionskredit ohne rechtliche Folgen ausschöpfen und unter Umständen sogar eine eventuelle Kündigung der Kreditlinie mit Blick auf Art. 7 Abs. 5 Restrukturierungsrichtlinie zurückweisen. Die Ausdehnung des im Übrigen sinnvollen und notwendigen Zwischenfinanzierungsprivilegs des Art. 17 Abs. 1 Restrukturierungsrichtlinie gibt Anlass zu ernsthaften Bedenken und droht in Kombination mit der optionalen Vorrangregelung des Art. 17 Abs. 2 Restrukturierungsrichtlinie die bestehenden Regelungen des Rechts der Gesellschafterdarlehen nahezu vollständig auszuhöhlen. Es droht ein Abschied von der Finanzierungsfolgenverantwortung, was sich auch nachhaltig auf die Kapitalstruktur mittelständischer Unternehmen auswirken dürfte. In Bezug auf Finanztermingeschäfte kann dem Richtliniengeber nur ein Versäumnis vorgeworfen werden. Die Regelungen in Bezug auf Ipso-FactoKlauseln sind insoweit deutlich zu starr ausgestaltet und lösen nicht nur angesichts der nationalen gesetzlichen Bestimmungen der Bundesrepublik Deutschland Widersprüche aus, sondern belegen auch, dass die Europäische

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Kommission auch innerhalb ihrer eigenen Richtlinien nicht immer widerspruchsfreie Vorgaben erlässt. Im Vergleich mit anderen Regelwerken, wie etwa den BRRD Saldierungs- und Sicherungsvereinbarungen, ist die Restrukturierungsrichtlinie vergleichsweise schwach ausgestaltet.107) Die Vorgaben der Restrukturierungsrichtlinie in Bezug auf Drittsicherheiten demonstrieren, dass außerhalb einer regulären Insolvenz – und damit auch in einem vorinsolvenzlichen Restrukturierungsverfahren – der Umgang mit den Sicherheiten und Verbindlichkeiten vor allem Angelegenheit der verhandelnden Parteien ist. Obwohl die Rahmenbedingungen an das Zustandekommen eines Insolvenzplans erinnern, fehlt es bislang an den (insolvenz-)planüblichen Sonderbestimmungen, sodass vergleichbare Einschränkungen nicht zu erwarten sind ist und neben Vorgaben zur Klassenbildung mit keinerlei weiteren Restriktionen bei der Ausgestaltung und dem Zustandekommen des Restrukturierungsplans zu rechnen ist. Ob sich ein Restrukturierungsplan nach den Vorgaben der Restrukturierungsrichtlinie für Kreditinstitute als vorzugswürdiges Sanierungsinstrument gegenüber der regulären Eigenverwaltung oder der Sanierung in der Insolvenz durch einem Insolvenzplan etabliert, bleibt abzuwarten. Dies hängt auch davon ab, wie der deutsche Gesetzgeber die europarechtlichen Vorgaben umsetzt und ob er die richtigen Lehren aus den Erfahrungen mit der Eigenverwaltung zieht. Die detaillierte Analyse der Richtlinienvorgaben erweckt zu Weilen den Eindruck, dass die EU-Kommission versucht, mit der Restrukturierungsrichtlinie Versäumnisse einiger Mitgliedstaaten bei der Ausgestaltung der nationalen Insolvenzordnungen zu schließen.108) Dass dies bei Mitgliedstaaten auf Unmut stößt, deren Insolvenzrecht vergleichsweise gut funktioniert, ist verständlich. In Bezug auf Deutschland stellt sich jedoch angesichts der bereits bestehenden Sanierungsmöglichkeiten, einschließlich der fein ausdifferenzierten Regelungen des Insolvenzplans die Frage, ob ein vorinsolvenzliches Restrukturierungsverfahren das bestehende Repertoire der Sanierungsmechanismen tatsächlich bereichert. Damit es nicht bloß um ein undurchdachtes Verfahren ergänzt wird, das im schlimmsten Fall der Insolvenzverschleppung Vorschub leistet, bedarf es noch deutlicher Konturierung durch den deutschen Gesetzgeber. Eine Chance, ein auch bankenorientiertes Sanierungsinstrument zu schaffen, besteht indessen allemal. 107) So tendenziell auch Schmidt, WM 2017, 1735, 1736. 108) Ähnlich Kayser, ZIP 2017, 1393.

Hoffnungsschimmer Restrukturierungsrichtlinie – neue Impulse für die Entschuldung aus Europa – GERHARD PAPE Inhaltsübersicht I.

Beginn und Abschied von der rechtsvereinheitlichenden Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes im Insolvenzverfahrensrecht 1. Blütezeit der Rechtsprechung zum Insolvenzverfahrensrecht vom 1. Januar 2002 bis zum 26. Oktober 2011 2. Missbrauch der zulassungsfreien Rechtsbeschwerde zur Einzelfallprüfung 3. Zäsur des Gesetzes zur Änderung des § 522 der ZPO II. Faktisches Ende der Rechtsfortbildung in Insolvenzsachen trotz erheblichen Erläuterungsbedarfs 1. Ausstehende Klärung offener Rechtsfragen des Gesetzes zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte 2. Wettlauf der Klärung von Auslegungsfragen mit dem Erlass neuer gesetzlicher Vorschriften III. Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Restrukturierung, Insolvenz und Entschuldung als erneute Zäsur 1. Neuausrichtung des Entschuldungsund Restschuldbefreiungsverfahrens 2. Bereinigung der Webfehler des Gesetzes zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte

3. Anwendungsbereich der Regelungen der Richtlinie für die Entschuldung a) Ausschluss einer Beschränkung auf ehemalige Unternehmer b) Weite Fassung des Unternehmerbegriffs 4. Konservierung des Stigmas der Insolvenz über weit mehr als sechs Jahre 5. Ansätze zur Verwässerung der Restrukturierungsrichtlinie schon vor deren Inkrafttreten und Umsetzung 6. Unzulässigkeit einer starren Befriedigungsquote 7. Erteilung der Restschuldbefreiung und Beseitigung insolvenzbedingter Einschränkungen nach Fristablauf ohne (nochmalige) Antragserfordernisse 8. Untersagung/Fortsetzung einer selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit 9. Vereinbarkeit der Versagungsgründe mit der Restrukturierungsrichtlinie a) Versagungsgründe des § 290 Abs. 1 InsO b) Obliegenheiten des § 295 InsO 10. Anerkennung ausgenommener Forderungen IV. Schlussbemerkungen

In der Rechtsprechung des IX. Zivilsenats des Bundesgerichtshofes, die der Jubilar in seinen Jahren als Vorsitzender des Senats maßgeblich geprägt hat, ist es – soweit es das Insolvenzverfahren betrifft – in den vergangenen Jahren vornehmlich um Fragen der Unternehmensinsolvenz gegangen. Dabei hat das Anfechtungsrecht fraglos den größten Raum eingenommen, der alle übri-

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gen Bereiche des Insolvenzgeschehens überstrahlt. Fragen des Insolvenzverfahrensrechts, des Vergütungsrecht und des Verbraucher- und Restschuldbefreiungsverfahrens, die in den ersten zwölf Jahren der Anwendungszeit der InsO einen ganz erheblichen Teil der Rechtsprechung des Senats ausgemacht haben, sind nach Aufhebung des § 7 InsO zunehmend in den Hintergrund getreten. In den Jahren seit 2012 ist es mit dem Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen (ESUG) vom 7. Dezember 2011,1) dem Gesetz zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte vom 15. Juli 20132) und dem Gesetz zur Verbesserung der Rechtssicherheit bei Anfechtungen nach der Insolvenzordnung und nach dem Anfechtungsgesetz vom 29. März 20173) zu einer ganzen Reihe von tiefgreifenden Änderungen des Insolvenzrechts gekommen. Gleichwohl konnte der Bundesgerichthof auf die Auslegung und Anwendung dieser Gesetze nur vergleichsweise wenig Einfluss nehmen. Dies dürfte im Fall der Änderungen des Anfechtungsrechts4) allerdings an der noch kurzen Anwendungszeit der im April 2017 in Kraft getretenen Vorschriften liegen. Im Hinblick auf die beiden anderen aufgeführten Gesetze, die schon erheblich länger in Kraft sind, ist jedoch die weitgehende Abkoppelung des Bundesgerichtshofs von der Weiterentwicklung des Insolvenzrechts der Grund für die ausbleibenden Entscheidungen zu vielen noch offenen Rechtsfragen. Um einer ähnlichen – aus der Sicht des Verfassers schädlichen – Fortsetzung dieser Entwicklung im Hinblick auf die zu erwartenden Änderungen der InsO aufgrund der Europäischen Richtlinie für einen präventiven Restrukturierungsrahmen5) vorzubeugen, sollen nachfolgend die Gründe, die zu einer weitgehenden Ausschaltung des Bundesgerichtshofes geführt haben noch ein1) 2) 3) 4)

5)

Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen – ESUG, v. 7.12.2011, BGBl. I 2011, 2582, 2800. Gesetz zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte, v. 15.7.2013, BGBl. I 2013, 2379. Gesetz zur Verbesserung der Rechtssicherheit bei Anfechtungen nach der Insolvenzordnung und nach dem Anfechtungsgesetz, v. 29.3.2017, BGBl. I 2017, 654. Zu den geänderten Vorschriften vgl. Kayser, Konsequenzen des neuen Anfechtungsrechts für die Rechtsprechung des BGH – Viel Lärm um nichts?, ZIP 2018, 1153 ff.; Pape, Anfechtungsrecht 2017 – Abschied von der Insolvenzrechtsreform auf Raten, ZInsO 2018, 296 ff. Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) – Restrukturierungsrichtlinie, ABl. (EU) L 172/18 v. 26.6.2019.

Hoffnungsschimmer Restrukturierungsrichtlinie

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mal nachgezeichnet und für eine stärkere Einbindung bei der Umsetzung der Richtlinie plädiert werden. Der Fokus ist dabei weniger auf die Vorschriften für einen vorinsolvenzlichen Sanierungsrahmen gerichtet,6) hinsichtlich derer allerdings auch eine stärkere Einbindung der Rechtsprechung des höchsten deutschen Zivilgerichts wünschenswert wäre. Den Schwerpunkt sollen vielmehr die Vorschläge für die Regelung einer zweiten Chance bilden.7) Hier besteht bei der Umsetzung der Richtlinie möglicherweise eine – mutmaßlich allerdings nur sehr geringe – Chance, die größten Schwächen der am 1. Juli 2014 in Kraft getretenen Vorschriften des Gesetzes zur Verbesserung der Rechtssicherheit bei Anfechtungen zu bereinigen und für eine stärkere Einbindung des Bundesgerichtshofes und der Rechtsprechung allgemein in den kommenden Jahren zu sorgen. I. Beginn und Abschied von der rechtsvereinheitlichenden Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes im Insolvenzverfahrensrecht Erst mit der Verabschiedung des InsOÄndG vom 26. Oktober 2001,8) das wenige Tage nach seiner Verkündung am 1. Dezember 2001 in Kraft getreten ist, ist mehr als zwei Jahre nach Inkrafttreten der InsO die Restschuldbefreiung zu einer echten Option für mittellose Privatpersonen geworden. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die seit dem 1. Januar 1999 geltenden Vorschriften, soweit sie das Schuldenbereinigungs-, Verbraucherinsolvenz- und Restschuldbefreiungsverfahren betreffen, eher schmückendes Beiwerk des neuen Insolvenzrechts. Mangels Regelung einer Verfahrenskostenhilfe für insolvente Schuldner musste das neue Recht zunächst zwangsläufig ohne große praktische Bedeutung bleiben. Die Finanzierung von Verfahren mittels Prozesskostenhilfe wurde ganz überwiegend abgelehnt. Private Schuldner, die einen Antrag auf Restschuldbe6)

7)

8)

Hierzu bereits Kayser, Eingriffe des Richtlinienvorschlags der Europäischen Union in das deutsche Vertrags-, Insolvenz- und Gesellschaftsrecht, ZIP 2017, 1393; Kayser, Zur Eigendynamik europäischer Gesetzgebungsverfahren am Beispiel der Restrukturierungsrichtlinie, in: FS G. Pape, 2019, S. 183 ff.; zur Berücksichtigung der Richtlinie bei der Umsetzung der ESUG-Evaluation auch schon Pape, Erste Überlegungen zu möglichen Konsequenzen der ESUG-Evaluation, ZInsO 2018, 2725 ff. Zum Umsetzungsbedarf der Richtlinie siehe auch Ahrens, Umsetzungsbedarf des Europäischen Entschuldungsverfahrens, ZInsO 2019, 1449 ff.; Frind, Schnelle Erteilung der Restschuldbefreiung – Europäische Anforderungen und praktische nationale Umsetzungsmöglichkeiten, NZI 2019, 361 ff. Gesetz zur Änderung der Insolvenzordnung und anderer Gesetze – InsOÄndG, v. 26.10.2001, BGBl. I 2001, 2710.

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freiung stellen wollten, scheiterten in der Regel an der Kostenhürde des § 26 Abs. 1 InsO. Die Restschuldbefreiung blieb zunächst für die Mehrzahl privater Schuldner unerreichbar. Der Umstand, dass die mit der InsO ohne Vorbild in der KO erstmals im deutschen Recht eingeführte Restschuldbefreiung noch viele Fragen aufwarf, hatte zunächst noch keine große Bedeutung. Antworten auf die neu aufgekommenen Fragen gab es nicht. 1. Blütezeit der Rechtsprechung zum Insolvenzverfahrensrecht vom 1. Januar 2002 bis zum 26. Oktober 2011 Diese in der Anfangszeit entscheidende Kostenhürde wurde durch die im Jahre 2001 mit dem InsOÄndG neu eingeführte Stundung der Verfahrenskosten (§§ 4a–d InsO) wirkungsvoll beseitigt. Die Zahl der eröffneten Insolvenzverfahren, die eine Restschuldbefreiung zum Ziel haben, schnellte von wenigen hundert auf über 100.000 pro Jahr hoch. Soweit es um die zunächst noch offenen Rechtsfragen ging, sorgte – wenn auch zum Leidwesen mancher Oberlandesgerichte9) – die am 1. Januar 2002 in Kraft getretene Änderung des § 7 InsO durch das Gesetz zur Reform des Zivilprozesses vom 27. Februar 200110) für eine effektive Klärungsmöglichkeit. Die Verfahrenskostenstundung ließ die Restschuldbefreiung zu einer Option für alle insolventen Schuldner werden, die nicht einmal die Mittel zur Finanzierung der Verfahrenskosten aufbringen konnten. Mit Einführung der zulassungsfreien Rechtsbeschwerde zum 1. Januar 2002 konnte jede Entscheidung der Landgerichte über die Beschwerde in Insolvenzsachen zur Überprüfung durch den Bundesgerichtshof gestellt werden. Die gemäß § 7 InsO a. F. zulassungsfreie Rechtsbeschwerde in Insolvenzsachen verschaffte den Beteiligten einen vergleichsweise unproblematischen Zugang zu einer Entscheidung der dritten Instanz. Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hatte in der Folgezeit Jahr für Jahr über hunderte von Rechtsbeschwerdeverfahren zu entscheiden, in denen es um Fragen des Insolvenzverfahrens ging. Konsequenz war in der auf das Inkrafttreten des InsOÄndG 2001 folgenden Dekade eine sehr ausgefeilte und detailreiche Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes insbesondere zu den Vorschriften, die das Schuldenbereinigungsverfahren, die Privatinsolvenz und die Restschuldbefreiung regeln. Weitere Schwerpunkte bildeten das Eröffnungsverfahren, Fragen der Gläubigerbeteiligung und vor allem das 9) 10)

Vgl. Pape, Die Oberlandesgerichte werden arbeitslos, ZInsO 2001, 777 ff. Gesetz zur Reform des Zivilprozesses, v. 27.2.2.2001, BGBl. I 2001, 1887.

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Vergütungsrecht, in dem es ebenfalls eine Vielzahl von Entscheidungen gab. Der Bundesgerichtshof hatte dadurch die effektive Möglichkeit, das neue Insolvenzrecht, das erhebliche Unterschiede und zahlreiche Neuerungen im Vergleich zur KO und auch zur jüngeren Gesamtvollstreckungsordnung aufweist, nicht nur im Blick auf das materielle Recht, sondern auch in Bezug auf das Verfahrensrecht umfassend zu gestalten. Dies kann an der Vielzahl von Entscheidungen zum Eröffnungsverfahren, zum Vergütungsrecht, zur Schuldenbereinigungsverfahren – jedenfalls, soweit es um die Anfangszeit der Anwendung der InsO geht, in der dieses Verfahren noch eine gewisse Bedeutung hatte –, zur Gläubigerautonomie und zum Restschuldbefreiungsverfahren aus den Jahren 2002 bis 2012 nachvollzogen werden.11) Von erheblicher Bedeutung war diese Rechtsprechung auch im Hinblick auf das Bild von der „Dauerbaustelle Insolvenzrecht“12) das in dieser Zeit wegen der der zahlreichen Gesetzesänderungen aufkam, mit denen gerade das Insolvenzrecht in immer kürzeren Abständen fertig werden musste. 2. Missbrauch der zulassungsfreien Rechtsbeschwerde zur Einzelfallprüfung Es gab allerdings auch eine Kehrseite der niedrigen Zugangshürde zu nicht bloß formalen Entscheidungen des Bundesgerichtshofes über die Zulässigkeit von Rechtsmitteln, die es wegen der erheblichen Zahl unzulässiger Rechtsbeschwerden – insbesondere aufgrund fehlender Zulassung – auch heute noch gibt. Hier ist in erster Linie auf die schon zur Zeit der zulassungsfreien Rechtsbeschwerde hohe Belastung des IX. Zivilsenats mit einer Vielzahl von Verfahren, in denen es nicht um Fragen von grundsätzlicher Bedeutung, Rechtsfortbildung oder der Sicherung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung ging, hinzuweisen. Gegenstand einer erheblichen Zahl von Verfahren waren vielmehr schlichte Tatsachenfragen, die eigentlich der Tatrichter zu entscheiden hatte, die aber gleichwohl mit der unmotivierten Behauptung verfassungsrechtlich relevanter Gehörsverletzungen oder dem Vorwand der Verfahrenswillkür an den Senat herangetragen wurden. Neben den mit dem Zweck des § 7 InsO a. F. konformen Verfahren, die Fragen von grundsätzlicher Bedeutung oder die Fortbildung des Rechts zum Gegenstand hatten, wurden zunehmend Fragen des 11) 12)

Zu dieser Entwicklung Pape, 20 Jahre Insolvenzordnung – kein Grund zum Feiern, ZInsO 2019, 57 ff. Zu diesem Schlagwort vgl. Pape, 10 Jahre Insolvenzordnung, ZInsO 2009, 1 ff.

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Einzelfalls in der Verkleidung von Rechtsbeschwerden an den Bundesgerichtshof herangetragen. Ausgenutzt wurde die weite Fassung des § 7 InsO a. F. vor allem in Verfahren, in den es um das Eingreifen eines Versagungsgrundes oder eine Obliegenheitsverletzung i. R. der Versagung der Restschuldbefreiung ging. Weitere Fälle, in denen Gründe für die Einlegung von Rechtsbeschwerden ganz offensichtlich nicht vorlagen, Rechtsbeschwerden aber gleichwohl durchgeführt wurden, waren beispielsweise Vergütungsverfahren, in denen etwa um den Prozentsatz eines Erhöhungstatbestandes gestritten wurde. Diese Verfahren wurden ohne Rücksicht auf die Zulässigkeitsvoraussetzungen regelmäßig mit der schlichten Behauptung geführt, die von den Vorstellungen des Rechtsbeschwerdeführers abweichende Festsetzung des Erhöhungsfaktors verstoße gegen Art. 103 GG. 3. Zäsur des Gesetzes zur Änderung des § 522 der ZPO Diese Entwicklung war schließlich eine der Ursachen für die ersatzlose Streichung des § 7 InsO durch das Gesetz zur Änderung des § 522 der Zivilprozessordnung vom 21. Oktober 2011,13) das am 26. Oktober 2011 in Kraft getreten ist. Diese Aufhebung erfolgte zwar auch aufgrund des Beklagens der zuvor dargestellten Missstände durch den IX. Zivilsenat, der sich zunehmend mit Fragen konfrontiert sah, für die der Bundesgerichtshof nicht geschaffen ist. Nicht auf eine Initiative des Senats geht es aber zurück, dass die Streichung des § 7 InsO a. F. nach den Vorstellungen des Gesetzgebers Kompensation für die Einführung der Nichtzulassungsbeschwerde gegen die einstimmige Zurückweisung der Berufung nach § 522 ZPO sein sollte, die bis dahin unanfechtbar war. Ebenso wenig hatte der Senat etwas damit zu tun, dass mit der Einführung der Nichtzulassungsbeschwerde in § 522 ZPO die Oberlandesgerichte diszipliniert werden sollten, die angeblich – einen Nachweis für diese Behauptung hat es nie gegeben – von der Möglichkeit der einstimmigen Berufungszurückweisung durch Beschluss allzu offensiv Gebrauch machten. Mit dieser Änderung entfielen zwar die sich beständig häufende Zahl von Rechtsbeschwerden, mit denen der Bundesgerichtshof als dritte Tatsacheninstanz missbraucht wurde. Es entfielen aber weitgehend auch die 13)

Gesetz zur Änderung des § 522 der Zivilprozessordnung, v. 21.10.2011, BGBl. I 2011, 2082.

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Rechtsbeschwerdeverfahren, welche die erforderliche Substanz hatten, um das immer noch im Fluss befindliche Insolvenzrecht weiterzuentwickeln. Stattdessen kam eine sehr große Zahl noch unerquicklicherer Verfahren auf den Bundesgerichtshof insgesamt zu. Die Eröffnung der Nichtzulassungsbeschwerde gegen eine einstimmige Zurückweisung der Berufung durch Beschluss führte zu einer jährlichen Mehrbelastung in einer Größenordnung von 1.200 bis 1.500 Verfahren, in denen es eine sehr überschaubare Zulassungsquote, die eher im Promillebereich als im Prozentbereich liegt, gab und gibt. Das Vehikel, mit dem die zumeist unbegründeten Nichtzulassungsbeschwerden begründet werden, ist – wie allerdings auch in der weit überwiegenden Mehrzahl der Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren, die sich gegen Urteile und nicht gegen Beschlüsse nach § 522 Abs. 2 ZPO richten – wiederum die stereotype Geltendmachung von vermeintliche Gehörsverletzungen und gefühlten Willkürverstößen, die es tatsächlich nicht gibt. Der Bundesgerichtshof wird ungeachtet des Wissens, dass er dafür nicht geschaffen ist, in der Mehrzahl dieser Verfahren zur fließbandmäßigen Überprüfung von Tatsachenentscheidungen gezwungen, in denen Gründe für die Zulassung von Revisionen weit und breit nicht zu erkennen sind. Statt Fragen rechtsgrundsätzlicher Art oder den Bedarf nach einer Rechtsfortbildung herauszuarbeiten, werden von den Vorstellungen der Parteien abweichende Rechtsansichten der Vorinstanzen stumpf als Gehörsverletzungen gegeißelt, um eine Zulassung zu erzwingen. In dieser extremen Form nicht vorhersehbar war, dass mit der ersatzlosen Aufhebung des § 7 InsO die höchstrichterliche Rechtsfortbildung in Insolvenzsachen ein abruptes Ende gefunden hat. Die Zulassung von Rechtsbeschwerden aus dem Bereich des Eröffnung-, Restschuldbefreiungs- und Verbraucherinsolvenzverfahrens sowie der InsVV hat seit Inkrafttreten des Gesetzes im Oktober 2011 Seltenheitswert bekommen. Die Zahl der statthaften und zulässigen einschlägigen Rechtsbeschwerden bewegt sich seit dieser Zeit jedes Jahr im einstelligen oder allenfalls niedrigen zweistelligen Bereich. Dies gilt – trotz der zahlreichen Rechtsänderungen, die einen ganz erheblichen Auslegungs- und Rechtsfortbildungsbedarf erkennen lassen – auch nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte14)

14)

Gesetz zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte, v. 15.7.2013, BGBl. I 2013, 2379.

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am 1. Juli 2014, mit dem ein Großteil der Vorschriften über die Restschuldbefreiung natürlicher Personen ergänzt und neu gefasst worden sind.15) Anstelle von Rechtsbeschwerden, in denen es um die Lösung dieser Fragen geht, dominieren Verfahren mit unzulässigen Einzelrichterzulassungen, die schon aus formalen Gründen zurückgewiesen werden müssen, oder es gibt Verfahren, in denen – ebenfalls gegen das Gesetz – anstatt der gebotenen Übertragung der Sache durch den originären Einzelrichter auf die Kammer die Kammer die Sache durch Beschluss an sich zieht. Damit wird auch in diesen Verfahren ein Grund für die notwendige Aufhebung und Zurückverweisung gesetzt, welche die Sache nicht weiterbringt. II. Faktisches Ende der Rechtsfortbildung in Insolvenzsachen trotz erheblichen Erläuterungsbedarfs Die Unsitte, die auch das Nichtzulassungsbeschwerden weitgehend beherrscht, in der Beschwerdebegründung lediglich den untauglichen Versuch zu unternehmen, die eigene Würdigung der Sache durch die Partei an die Stelle der Würdigung des Tatrichters zu setzen, hat nach der vorstehenden Ausführung letztlich zum Untergang des § 7 InsO a. F. geführt. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine erhebliche Zahl von Grundsatzfragen und Rechtsfortbildungsproblemen übrigbleibt, die es eigentlich verdient hätten, i. R. von Rechtsbeschwerdeverfahren bundeseinheitlich geklärt zu werden. Derartige Fragen weisen sowohl die verfahrensrechtlichen Vorschriften des ESUG, bezüglich derer die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes nahezu vollständig zum Erliegen kommen ist – sieht man einmal von einigen Entscheidungen zum Planverfahren ab – als auch das Gesetz zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte auf. Seit Mitte des Jahres 2014 sind viele der sehr tief gehenden Eingriffe in das Verfahren der Restschuldbefreiung – beispielsweise des Systemwechsels, der mit der Ankündigung der Restschuldbefreiung zu Beginn des Verfahrens gemäß § 287a InsO n. F. verbunden ist oder der Zulässigkeit von Anträgen auf Versagung der Restschuldbefreiung während des gesamten Verfahrens nach § 290 Abs. 1, 2 InsO n. F. – ungeklärt. Der Gesetzgeber hat es trotz der permanenten Systemwechsel und Gesetzesänderungen unterlassen, 15)

Vgl. Grote/Pape, Das Ende der Diskussion? Die wichtigsten Neuregelungen zur Restschuldbefreiung, ZInsO 2013, 1433.

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für ein wirksames Beschwerderecht – jedenfalls soweit es die dritte Instanz betrifft – zu sorgen. Konsequenz ist eine Rechtszersplitterung und Verunsicherung, die bei einer Reihe von Vorschriften des seit Mitte des Jahres 2014 geltenden Rechts deutlich wird.16) An der im Jahr 2013 schon absehbaren äußerst restriktiven Zulassungspraxis der Beschwerdegerichte hat sich ungeachtet zahlreicher neuer Vorschriften, die einen erheblichen Auslegungsbedarf erkennen lassen, nichts geändert. Zulassungen unterbleiben häufig auch dann, wenn es um grundsätzliche Fragen geht oder bei divergierenden Entscheidungen eine Eröffnung des Rechtsbeschwerdeverfahrens zur Rechtsvereinheitlichung geboten wäre.17) 1. Ausstehende Klärung offener Rechtsfragen des Gesetzes zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte Symptomatisch hierfür ist die nur sehr geringe Zahl von Entscheidungen, die zur Klärung der neu geschaffenen Probleme beigetragen haben. Die Entscheidungen des Bundesgerichtshofes, der eigentlich zur Rechtsvereinheitlichung aufgerufen sein sollte, die seit 2014 zu den neu gefassten Vorschriften ergangen sind, lassen sich infolge der Abschaffung des § 7 InsO a. F. an einer Hand abzählen.18) Verglichen mit der geradezu stürmischen Rechtsentwicklung in der ersten Dekade des neuen Jahrtausends ist eine Grabesstille eingetreten, die wohl auch weiter anhalten wird. Gab es früher Jahr für Jahr Rechtsprechungsübersichten zum Insolvenzrecht, in denen Entscheidungen der Instanzgerichte zum Verfahrensrecht kaum berücksichtigt werden konnten, um nicht den zumutbaren Rahmen zu sprengen, müssen inzwischen die höchstrichterlichen Entscheidungen mit der Lupe gesucht werde. Instanzgerichte, denen es zu verdanken ist, dass es überhaupt noch „Material“ gibt, nehmen den weit überwiegenden Raum 16)

17)

18)

Hierzu exemplarisch I. Pape/G. Pape, Entwicklung der Rechtsprechung zum Verbraucherinsolvenz- und Restschuldbefreiungsverfahren bis Ende des Jahres 2016 – Schuldenbereinigung, Stundung, Eröffnung, ZInsO 2017, 793, zu den Querelen um die Anforderungen an die Bescheinigung des Schuldners über das Scheitern des außergerichtlichen Einigungsversuchs, bei denen es trotz einer Vielzahl divergierender landgerichtlicher Entscheidungen keine Rechtsbeschwerdeentscheidung gibt. Zu den Konsequenzen im Fall der (willkürlichen) Nichtzulassung trotz Abweichung von der Rechtsprechung des BGH vgl. BVerfG, Beschl. v. 7.12.2016 – 2 BvR 1602/16, ZIP 2017, 433 = ZInsO 2017, 158. Siehe etwa BGH, Beschl. v. 4.5.2017 – IX ZB 92/16, ZInsO 2017, 1444 – zu § 287a InsO; BFH, Urt. v. 8.7.2015 – VI R 77/14, ZIP 2016, 91 = ZInsO 2016, 2357 – zu § 300 InsO n. F.

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ein; die Frage, wie ggf. unterschiedliche Entscheidungen zu harmonisieren sind, bleibt unbeantwortet. Mit einer nachhaltigen Fortentwicklung der Rechtsprechung ist damit vorerst nicht mehr zu rechnen. An die Stelle der kreativen Gestaltung des Restschuldbefreiungsverfahrens ist die häufig fragwürdige und weitgehend überflüssig erscheinende Überprüfbarkeit von einstimmigen Berufungszurückweisungen durch die Oberlandesgerichte nach § 522 Abs. 2 ZPO getreten, die zur Beantwortung von Grundsatzfragen und Rechtsfortbildung nichts beiträgt. 2. Wettlauf der Klärung von Auslegungsfragen mit dem Erlass neuer gesetzlicher Vorschriften Seit Inkrafttreten des Gesetzes zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte am 1.7.2014 sind bereits mehr als fünf Jahre vergangen. Gleichwohl überwiegen bei der Mehrzahl der neu gefassten oder vollkommen neuen Vorschriften des Verbraucherinsolvenz- und Restschuldbefreiungsverfahrens immer noch Anwendungs- und Auslegungsfragen, die unbeantwortet sind. Zwar können die Bemühungen des Gesetzgebers um eine Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens durch die neu gefasste Regelung des § 300 InsO getrost – erwartungsgemäß – als gescheitert angesehen werden, wie die Ergebnisse der Evaluation der Vorschrift zeigt.19) Dies ändert aber nichts an dem Umstand, dass eine Vorschrift, die größeren Unklarheiten als § 300 InsO n. F. aufweist, wohl im gesamten Insolvenzrecht nicht zu finden ist, sieht man einmal von § 295 Abs. 2 InsO ab, der den Umgang mit einer wirtschaftlich selbständigen Tätigkeit des Schuldners während des Insolvenz- und Restschuldbefreiungsverfahrens regeln soll. Inzwischen erscheint es fünf Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte aber ohnehin zweifelhaft, ob es überhaupt jemals zu einer Klärung der zahlreichen Rechtsfragen kommt, welche § 300 InsO n. F. und die übrigen, Mitte des Jahres 2014 geänderten und neu gefassten

19)

Vgl. den Bericht der Bundesregierung über die Wirkungen des Gesetzes zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens v. 6/2018, nach dem die Quote der Verfahren, in denen es zu einer vorzeitigen Erteilung der Restschuldbefreiung nach drei Jahren gekommen ist, bei 0,78 % der in dem Erhebungszeitraum beantragten Verfahren bei einer Zielgröße von 15 % aller Verfahren liegt, abrufbar unter http://dip21.bundestag.de/ dip21/btd/19/040/1904000.pdf (Abrufdatum: 29.7.2019).

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Rechtsvorschriften aufwerfen. Viel Zeit bleibt dafür nicht mehr. Rechnet man auch für die Zukunft mit zwei bis drei Beschlüssen pro Jahr, in denen grundsätzliche Fragen der Restschuldbefreiung geklärt werden, dürfte es mehrere Jahrzehnte dauern, bis die Regelungen des Gesetzes zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte so weit vereinheitlicht sind, dass sie als geschlossenes funktionierendes System angesehen werden können. Diese auf Jahrzehnte angelegte Rechtsvereinheitlichung könnte durch die Umsetzung der inzwischen verabschiedeten und im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlichten Richtlinie für einen Restrukturierungsrahmen (Restrukturierungsrichtlinie)20), die in den nächsten Jahren nach Art. 34 RRG unausweichlich bis zum 17. Juli 2021 erfolgen muss, überholt werden. Die Richtlinie hat nach den Art. 20 bis 24 RRG erhebliche Auswirkungen auf das Entschuldungsverfahren.21) Bevor es überhaupt zu einer Klärung der Fragen kommt, wie die seit Mitte 2014 geltenden Vorschriften zu verstehen und auszulegen sind, könnte es mit einiger Wahrscheinlichkeit schon wieder neue Vorschriften für das Entschuldungsverfahren geben, welche die 2014 reformierten Vorschriften ersetzen. Diese Regelungen dürften dann ebenfalls wieder einen erheblichen Auslegungsbedarf aufweisen, für den sich die Frage stellt, wie er gedeckt werden soll. Infolge des Inkrafttretens der Richtlinie muss es mit Sicherheit Änderungen der Vorschriften des bundesdeutschen Entschuldungs- und Restschuldbefreiungsverfahrens geben, soweit es ehemalige Unternehmer betrifft. Dass es im Hinblick auf diese Änderungen – etwa die Abkürzung des Verfahrens auf drei Jahre ohne eine Mindestquote – bei den bisherigen Regeln für private Verbraucher bleibt, erscheint sehr unwahrscheinlich.22)

20)

21) 22)

Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) – Restrukturierungsrichtlinie, ABl. (EU) L 172/18 v. 26.6.2019. Vgl. Ahrens, Umsetzungsbedarf des Europäischen Entschuldungsverfahrens, ZInsO 2019, 1449 ff. A. A. Frind, Schnelle Erteilung der Restschuldbefreiung – Europäische Anforderungen und praktische nationale Umsetzungsmöglichkeiten, NZI 2019, 361 ff.

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III. Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Restrukturierung, Insolvenz und Entschuldung als erneute Zäsur Bei der vorstehend beschriebenen eher niederschmetternden Ausgangslage geben die Regelungsvorschläge der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Restrukturierung, Insolvenz und Entschuldung etwas Hoffnung auf Änderung. Dies gilt insbesondere, weil in der im Amtsblatt verkündeten Fassung der Richtlinie23) die schon vorab veröffentlichten Vorschläge der konsolidierten Fassung der Restrukturierungsrichtlinie zu den Art. 20 ff.24) – bis auf die Verschiebung der Ordnungsnummern der Artikel – im Wesentlichen erhalten geblieben sind. Bei der Umsetzung dieser Vorschriften könnte sich auch im Hinblick auf das private Entschuldungsverfahren nach dem Stillstand, der durch das Mitte 2014 in Kraft getretene Verkürzungsgesetz eingetreten ist, wieder etwas bewegen. Dies gilt aus der Perspektive des Verfassers im Hinblick auf die Entschuldung von Unternehmern und von Privatpersonen gleichermaßen. 1. Neuausrichtung des Entschuldungs- und Restschuldbefreiungsverfahrens Die Restrukturierungsrichtlinie beschäftigt sich zwar ihrem Wortlaut nach nur mit der Entschuldung von Unternehmern nach einer gescheiterten selbständigen Tätigkeit. Insoweit ist aber nur schwer vorstellbar, dass nach In-Kraft-Treten der Richtlinie ein besonderes Entschuldungsverfahren ausschließlich für Unternehmer nach einer gescheiterten Geschäftsgründung geschaffen wird, dessen Regelungen sich grundlegend von der Entschuldung privater Verbraucher unterscheiden. Die Aufteilung in ein Entschuldungsverfahren für Privatpersonen und ein Entschuldungsverfahren für ehemalige Unternehmer ist schon unter Gleichheitsgesichtspunkten und unter dem Aspekt der Gewährung effektiven Rechtsschutzes kaum denkbar.25) Würde etwa gescheiterten Unternehmern eine Entschuldung 23)

24) 25)

Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) – Restrukturierungsrichtlinie, ABl. (EU) L 172/18 v. 26.6.2019. Abgedruckt in ZInsO 2018, 2242. Wie hier wohl Ahrens, ZInsO 2019, 1449 ff.; a. A. Frind, NZI 2019, 361 ff., der für private Schuldner eine Frist von fünf Jahren für angemessen und mit der Richtlinie vereinbar hält.

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nach drei Jahren zugestanden werden, ohne dass sie eine bestimmte Mindestquote ihrer offenen Verbindlichkeiten erfüllen müssen, privaten Verbrauchern dagegen eine Entschuldung nach drei Jahren nur unter der Bedingung, dass sie eine Mindestquote von 35 % erbringen und die Verfahrenskosten gedeckt sind, dürfte eine solche Regelung einer verfassungsrechtlichen Überprüfung unter Gleichheitsgesichtspunkten kaum Stand halten können. Ähnlich problematisch dürfte es sein, die Versagungsgründe und Obliegenheiten für (ehemalige) Unternehmer grundlegend anders auszugestalten, als für Personen, die aufgrund privater Schulden zahlungsunfähig geworden sind. Es ist deshalb zu erwarten, dass mit der Verabschiedung und bei Umsetzung der Restrukturierungsrichtlinie, die inzwischen am 26. Juni 2019 im Amtsblatt26) verkündet wurde,27) eine Neuordnung der §§ 286 ff. InsO erforderlich wird. 2. Bereinigung der Webfehler des Gesetzes zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte Diese Neuordnung sollte aus der Sicht des Verfassers genutzt werden, die zahlreichen handwerklichen und regelungstechnischen Fehler zu korrigieren, die der Gesetzgeber bei Verabschiedung des am 1. Juli 2014 in Kraft getretenen Gesetzes zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Rechte der Gläubiger gemacht hat. Nachdem sich die zahlreichen Schwächen der Neuregelungen offensichtlich nicht durch grundlegende Entscheidungen der Gerichte – insbesondere des Bundesgerichtshofes – korrigieren lassen, weil das Verfahren zu rechtsgrundsätzlichen und rechtsfortbildenden Entscheidungen des Bundesgerichtshofes praktisch außer Kraft gesetzt ist,28) kommt nach derzeitigem Stand wohl nur noch ein Umbau des Gesetzes durch den Gesetzgeber selbst in Betracht. 26)

27) 28)

Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) – Restrukturierungsrichtlinie, ABl. (EU) L 172/18 v. 26.6.2019. Zum Ablauf des Verfahrens vgl. Freitag, Grundfragen der Richtlinie über präventive Restrukturierungsrahmen und ihrer Umsetzung in das deutsche Recht, ZIP 2019, 541. Wobei nach der Ursprungsfassung des § 7 InsO wenigstens noch die Möglichkeit einer weiteren sofortigen Beschwerde zu den OLG gegeben war (vgl. Pape, ZInsO 2001, 777), während es diese Möglichkeit seit Inkrafttreten des ZPO-Reformgesetzes auch nicht mehr gibt, so dass im insolvenzrechtlichen Beschwerdeverfahren in aller Regel bei den LG Schluss ist.

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Diese Chance sollte genutzt werden, um die Versäumnisse der letzten Jahre aufzuarbeiten, die sonst kaum zu bereinigen sind, wenn es bei der momentanen prozessrechtlichen Situation bleibt. Wünschenswert wäre es, die Bereinigung der Vorschriften mit einer Änderung des Prozessrechts zu verbinden, die zukünftig eine rechtsfortbildende und rechtsgrundsätzliche Rechtsprechung wieder möglich macht, ohne das Tor für einen Missbrauch des Verfahrens zur Überprüfung von rein einzelfallbezogen Entscheidungen erneut zu öffnen. 3. Anwendungsbereich der Regelungen der Richtlinie für die Entschuldung Im Blick auf diese mögliche Weiterentwicklung des Rechts, die in den nächsten Jahren ansteht, soll an dieser Stelle der Frage nachgegangen werden, ob und inwieweit die bereits bestehenden Vorschriften des Insolvenzverfahrens über das Vermögen natürlicher Personen und das Restschuldbefreiungsverfahren mit den Regelungsvorschlägen der Richtlinie in Einklang zu bringen sind und an welchen Stellen es Änderungsbedarf geben könnte. a) Ausschluss einer Beschränkung auf ehemalige Unternehmer Die mögliche und erwünschte Übertragung der Entschuldungsvorschriften der Restrukturierungsrichtlinie auf private Verbraucher ergibt sich schon aus den Erwägungsgründen der Richtlinie, in denen die Gleichbehandlung von Unternehmern und Verbrauchern in den Mitgliedstaaten gemäß den Grundsätzen der Richtlinie empfohlen wird, soweit es um die Vorschriften für die Entschuldung geht (ErwG 21). Kritisch gesehen wird in der Richtlinie insbesondere auch die übermäßig lange Dauer von Entschuldungsverfahren in verschiedenen Mitgliedstaaten, in denen sie über den Zeitraum von drei Jahren hinausgeht, also noch deutlich unter der im Regelfall sechsjährigen Dauer in der Bundesrepublik zurückbleibt (siehe ErwG 5 und 6). Die Verschuldung von Verbrauchern wird in der Richtlinie als wirtschaftlich und sozial äußerst bedenklich und mit dem Abbau des Schuldenüberhangs in engem Zusammenhang stehend angesehen (ErwG 21). Im Blick auf unternehmerisch tätige Schuldner und Freiberufler wird in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass eine Unterscheidung zwischen privaten und geschäftlichen Schulden häufig nicht möglich sei. Unternehmer würden deshalb nicht wirksam von der zweiten Chance, die ihnen

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die Richtlinie eröffnen will, profitieren, wenn sie29) wegen ihrer geschäftlichen und privaten Schulden verschiedene Verfahren durchlaufen müssten. Um dies Dilemma zu vermeiden sei es zu empfehlen, den persönlichen Anwendungsbereich auf alle natürlichen Personen, einschließlich Verbrauchern, auszudehnen. Die Restrukturierungsrichtlinie ist nach diesen Erwägungsgründen keinesfalls darauf beschränkt, die zweite Chance nur für Personen zu ermöglichen oder zu erleichtern, die zuvor Unternehmer waren oder Unternehmer sind. Sie nimmt durchaus auch natürliche Personen in den Blick. Für Unternehmer ist sie allerdings deshalb von besonderer Bedeutung, weil insoweit nicht nur die Voraussetzungen der Entschuldung geregelt werden sollen, sondern auch die Hindernisse für die Wiederaufnahme einer unternehmerischen Tätigkeit abgebaut werden sollen. b) Weite Fassung des Unternehmerbegriffs Der Begriff der Unternehmer in Art. 2 Abs. 1 Nr. 13 dahingehend definiert, dass es sich um eine natürliche Person handeln muss, die eine gewerbliche, geschäftliche, handwerkliche oder freiberufliche Tätigkeit ausübt. Ziel dieser weiten Auslegung des Begriffs des Unternehmers ist nach ErwG 72, der sich mit der Entschuldung von Unternehmern befasst, durch eine einheitliche Gestaltung der Entschuldungsvorschriften in den Mitgliedstaaten den Anreiz für ein forum shopping zu minimieren und die damit verbundenen Erschwerungen und Mehrkosten für die Gläubiger zu vermeiden. Außerdem soll durch kürzere Entschuldungsfristen die Stigmatisierung der Schuldner verringert und die Dauer von mit der Überschuldung oder Insolvenz des Schuldners zusammenhängenden Berufsverboten begrenzt werden (ErwG 73). Zumindest diese Gesichtspunkte gelten für bei Verfahrensbeginn noch tätige und frühere Unternehmer gleichermaßen. Aus welchen Gründen einem bei Verfahrensbeginn nicht mehr aktivem Unternehmer der Neustart erst nach fünf Jahren ermöglicht werden soll, dem noch tätigen dagegen schon nach drei Jahren, ist rational nicht zu erklären.

29)

Wobei unklar ist, ob und inwieweit die Richtlinie auch für ehemalige Unternehmer gilt; so will etwa Frind, NZI 2019, 361, 366, für ehemalige Unternehmer an einer fünfjährigen Frist festhalten.

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4. Konservierung des Stigmas der Insolvenz über weit mehr als sechs Jahre Insoweit greift der zuletzt genannte Erwägungsgrund zwar nicht für Verbraucher, die regelmäßig nicht die erforderlichen Mittel für eine Sitzverlegung in andere Mitgliedstaaten haben. Für diese ist die Stigmatisierung aufgrund des Insolvenzverfahrens aber ebenso ein Problem, wie für ehemalige Unternehmer. Für Schuldner, die das sechsjährige Verfahren durchlaufen, bedeutet die Insolvenz mit anschließendem Restschuldbefreiungsverfahren nach derzeitigem Standard ein fast zehnjähriges Verfahren bis zur „vollen Entschuldung“, die von der Restrukturierungsrichtlinie gemäß Art. 2 Abs. 1 Nr. 10 gefordert wird. Diese Dauer ergibt sich dann, wenn die Zeit in die Berechnung einbezogen wird, in welcher der Schuldner nach Erteilung der Restschuldbefreiung weiter von Auskunfteien und Inkassogesellschaften mit dem Makel des abgeschlossenen Insolvenzverfahrens geführt wird und entsprechende Auskünfte erteilt werden. Diese Konsequenz, die immer wieder diskutiert und problematisiert wird,30) belegt, wie weit die Entschuldung privater Verbraucher – für die Entschuldung von Unternehmern gilt allerdings nichts anderes – in der Bundesrepublik von den Vorstellungen des Entwurfs einer Restrukturierungsrichtlinie entfernt ist. Während Art. 21 Abs. 1 Restrukturierungsrichtlinie für den Regelfall eine dreijährige vollständige Entschuldung ohne Wenn und Aber vorsieht, sieht die Realität in der Bundesrepublik so aus, dass von der Eröffnung des Insolvenzverfahrens bis zur Entschuldung einschließlich der Löschung des Stigmas des Insolvenzverfahrens mindestens neun Jahre vergehen, in denen der Schuldner kaum eine Chance hat, in das Wirtschaftsleben zurückzukehren. An dieser Sachlage hat das 2014 in Kraft getretene Gesetz zur Verkündung des Restschuldbefreiungsverfahrens praktisch nichts geändert. Die unter optimalen Bedingungen auf drei Jahre verkürzte Zeit bis zur formalen Erteilung der Restschuldbefreiung ist Augenwischerei.31) Selbst wenn es vereinzelt Schuldnern gelingt, diese Verkürzung zu erreichen, wird das 30)

31)

Vgl. etwa zuletzt den Tagungsbericht über den 9. Deutschen Privatinsolvenztag in München am 14.9.2018, InDat Report 7/2018, S. 58, sowie die Diskussion auf den Deutschen Insolvenzrechtstag 2019 im Workshop zur Verbraucherinsolvenz. Vgl. die oben bereits erwähnten Ergebnisse der Evaluation des § 300 InsO im Bericht der Bundesregierung über die Wirkungen des Gesetzes zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens v. 6/2018, abrufbar unter http://dip21.bundestag.de/dip21/ btd/19/040/1904000.pdf (Abrufdatum: 29.7.2019).

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Stigma ihres Scheiterns doch frühestens nach sechs Jahren endgültig gelöscht. Eine Lösung dieses Dilemmas, das der Gesetzgeber i. R. der Verkürzung des Verfahrens nicht angegangen ist – etwa durch das sanktionsbewehrte Verbot, Schuldner nach Erteilung der Restschuldbefreiung noch in einschlägigen Dateien und Verzeichnissen zu führen –, ist vom nationalen Gesetzgeber nicht zu erwarten. Das Gebot der vollständigen Entschuldung nach drei Jahren könnte aber den bundesdeutschen Gesetzgeber dazu zwingen, sich der Problematik zu stellen und die faktische Verdoppelung des Zeitraums bis zur endgültigen Restschuldbefreiung zu beenden. Die derzeitige Praxis, Schuldner nach erteilter Restschuldbefreiung weiter jahrelang in privaten und öffentlichen Schuldnerkarteien zu führen, ist mit dem Gebot einer vollständigen Schuldbefreiung und Endstigmatisierung kaum zu vereinbaren. 5. Ansätze zur Verwässerung der Restrukturierungsrichtlinie schon vor deren Inkrafttreten und Umsetzung Insoweit darf allerdings nach Vorlage der konsolidierten Fassung der Restrukturierungsrichtlinie nicht übersehen werden, dass aufgrund der Ausnahmeregelungen des Art. 23 schon jetzt darauf spekuliert wird, den dreijährigen Zeitraum bis zur Erteilung der Restschuldbefreiung wiederum so stark verwässern zu können, dass es in der Bundesrepublik für die überwältigende Zahl aller Schuldner zu einer fünfjährigen Standardfrist kommt. Diese Hoffnung auf eine nationale Verlängerung der Entschuldungsfrist, die dem stetigen Bestreben entspricht, die Erreichbarkeit der Restschuldbefreiung so schwer wie möglich zu machen,32) übersieht allerdings, dass Art. 21 Abs. 1 Restrukturierungsrichtlinie in der Endfassung der Richtlinie von einer gesetzlichen Höchstfrist von drei Jahren ausgeht. Gesichtspunkte, unter denen diese Höchstfrist verlängert oder dem Schuldner der Zugang zur Entschuldung verwehrt werden kann, sollen etwa unredliches oder bösgläubiges Handeln des Schuldners bei der Be32)

Erinnert sei hier nur auf die Entwicklung des Gesetzgebungsverfahrens zum Gesetz zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte, in dem zunächst eine Befriedigungsquote von 15 % als realistische Basis für eine Verkürzung auf drei Jahre in der Diskussion war, bevor der Gesetzgeber sich schrittweise auf Initiative des Rechtsausschusses auf eine unrealistische 35 %-Quote verständigt hat. Die nunmehr durch die Ergebnisse der Evaluation bestätigte Vorhersage, dass man bei einer derartigen Quote auf die „Reform“ auch hätte verzichten können, bedurfte keiner prophetischen Gaben.

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friedigung seiner Gläubiger, Nichteinhaltung eines Tilgungsplans oder die missbräuchliche Beantragung des Entschuldungsverfahrens sein. Eine Verlängerung auf fünf Jahre würde deshalb entsprechende Verhaltensweisen voraussetzen. Ferner könnten Fristverlängerungen dann in Betracht kommen, wenn dem Schuldner bereits einmal eine volle Entschuldung gewährt worden ist oder eine Verwertung der Hauptwohnung des Schuldners im Entschuldungsverfahren unterblieben ist. Eine Regelfrist von fünf Jahren als nationaler Alleingang ist aufgrund der Erforderlichkeit eines Ausnahmetatbestandes nur schwer vorstellbar. 6. Unzulässigkeit einer starren Befriedigungsquote All diese Ausnahmetatbestände, die nach den Erwägungsgründen zu Art. 23 Restrukturierungsrichtlinie wohl auch nicht erschöpfend sein sollen (ErwG 78 ff.), dürften aber nicht dazu führen, dass die dreijährige Entschuldungsfrist von einer bestimmten – in der Realität utopischen – Mindestbefriedigungsquote abhängig gemacht wird, wie dies derzeit nach § 300 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 InsO der Fall ist. Art. 20 Abs. 2 Restrukturierungsrichtlinie verlangt die Sicherstellung, dass die Tilgungspflicht des Schuldners dessen individueller Lage entspricht und in einem angemessenen Verhältnis zum pfändbaren oder verfügbaren Einkommen oder zu den pfändbaren oder verfügbaren Vermögenswerten des Schuldners steht. Mit dieser Anknüpfung an die individuellen Möglichkeiten des Schuldners dürfte es nicht zu vereinbaren sein, eine dreijährige Entschuldungsfrist nur dann eingreifen zu lassen, wenn ohne Rücksicht auf die Einkommensund Vermögensverhältnisse des Schuldners eine 35 %ige Mindestbefriedigungsquote erreicht wird. Dies gilt umso mehr, als bei der in § 300 Abs. 1 InsO vorgeschriebenen Deckung der Kosten des Verfahrens als Voraussetzung für eine „vorzeitige“ Entschuldung in der Realität eine Deckungsquote von weit über 50 % erreicht werden muss. Nach Art. 24 Restrukturierungsrichtlinie ist ausgeschlossen, dass einem insolventen Unternehmer die Restschuldbefreiung nach Ablauf von drei Jahren nur erteilt wird, wenn er seine Gläubiger mit einer Quote von 35 % befriedigt hat. Dies gilt sowohl für die geschäftlichen als auch die privaten Schulden. Unter dieser Prämisse kann es nicht sein, dass für andere natürliche Personen an dieser Quote festgehalten wird. Dies würde zu gänzlich unterschiedlichen Voraussetzungen für eine Entschuldung unternehmerisch

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tätiger Personen und privater Schuldner, die doppelt so lange im privaten Schuldturm gehalten werden dürften, führen. Eine nur ausnahmsweise Erteilung der Restschuldbefreiung nach drei Jahren bei Erfüllung einer bestimmten Mindestquote, die ohne Rücksicht auf die persönlichen Verhältnisse des Schuldners willkürlich festgesetzt wird, dürfte deshalb ausgeschlossen sein. Zwar ist den Mitgliedstaaten über die Ausnahmeregelungen des Art. 23 Abs. 1 und 2 Restrukturierungsrichtlinie eine Verlängerung der Frist zur Entschuldung grundsätzlich gestattet. Diese Verlängerung muss aber darauf beruhen, dass ein Ausnahmefall vorliegt, der die Verlängerung ausreichend sachlich rechtfertigt. Ohne eine solche Rechtfertigung dürfte die Höchstfrist von drei Jahren weiter Geltung beanspruchen, weil andernfalls die Ausnahme zur Regel gemacht würde. Insoweit stellt sich dann auch die oben bereits angesprochene Frage, ob es dem Sinn und Zweck der Richtlinie entsprechen kann, dass ein Unternehmer der die Entschuldung nach drei Jahren erlangt hat, gleichwohl weitere drei Jahre darauf warten muss, bis der Makel der Insolvenz von Auskunfteien, Wirtschaftsinformationsdiensten usw. getilgt wird, bevor er wieder in ein geregeltes Wirtschaftsleben zurückkehren kann. Dies würde nach der hier vertretenen Ansicht entsprechend auch für Verbraucher und ehemalige Unternehmer gelten, die andernfalls gegenüber unternehmerisch tätigen natürlichen Personen extrem benachteiligt würden. 7. Erteilung der Restschuldbefreiung und Beseitigung insolvenzbedingter Einschränkungen nach Fristablauf ohne (nochmalige) Antragserfordernisse Nach der Restrukturierungsrichtlinie sollen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass nach Erfüllung der entsprechenden Voraussetzungen die Wirkungen der Restschuldbefreiung automatisch eintreten. In der Regel soll es keiner gesonderten Anträge bei einer Justiz- oder Verwaltungsbehörde bedürfen, aufgrund derer während der Insolvenz des Unternehmers erlassene Verbote, eine gewerbliche, geschäftliche, handwerkliche oder freiberufliche Tätigkeit aufzunehmen oder auszuüben, außer Kraft treten.33) Dass ungeachtet dieser unmittelbar befreienden Wirkung der Erteilung der Restschuldbefreiung die faktischen Einschränkungen und Verbote weiter wirken, die sich daraus ergeben, dass der Schuldner in Verzeichnissen 33)

Vgl. Art. 20 Abs. 1 und 2 Restrukturierungsrichtlinie.

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geführt wird, die ihm den Zugang zu einer geregelten wirtschaftlichen Tätigkeit erschweren oder versagen, ist nur schwer vorstellbar. Ein Umdenken erscheint angesichts dieser Erfordernisse auch im Hinblick auf insolvenzbedingte Gewerbeuntersagungen usw. erforderlich. Auch hier wird sich der Gesetzgeber mit den nachwirkenden Folgen des Insolvenzverfahrens auseinandersetzen müssen, die es nach der Richtlinie im Anschluss an eine Entschuldung des Unternehmers nicht geben darf. Möglich ist die Verhängung längerer oder unbestimmter Verbotsfristen allerdings dann, wenn der Schuldner einem Berufsstand angehört, für den besondere ethische Regeln oder besondere Regeln bezüglich der Reputation oder der Sachkunde gelten oder der sich mit der Verwaltung des Eigentums Dritter befasst.34) Diese Ausnahmeregelung rechtfertigt längere Verbotsfristen etwa für Rechtsanwälte, Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer, denen die Zulassung aufgrund ihrer Insolvenz entzogen ist. Sie stellt aber auf der anderen Seite im Zusammenspiel mit Art. 21 auch klar, dass etwaige gewerberechtliche Folgen, die sich aus der Insolvenz des Unternehmers ergeben, mit der Entschuldung abgeschlossen sein müssen und nicht mehr – ohne dass es dafür einer behördlichen oder gerichtlichen Anordnung bedarf – zu dessen Nachteil geltend gemacht werden können. Zu überdenken sein werden deshalb i. R. der Umsetzung der Restrukturierungsrichtlinie die vielfältigen Folgen, die sich aus der Verkürzung des Insolvenzverfahrens für unternehmerisch tätige Personen ergeben. Verbote, die über die Entschuldung hinauswirken, können nur noch unter den eingeschränkten Voraussetzungen des Art. 23 Abs. 5 Restrukturierungsrichtlinie weiter Bestand haben, soweit sie an die Eröffnung des Insolvenzverfahrens anknüpfen. Unberührt bleiben gemäß Art. 22 Abs. 6 Restrukturierungsrichtlinie lediglich solche Berufsverbote, die nicht im Zusammenhang mit der Eröffnung eines Insolvenzverfahrens durch eine Justiz- oder Verwaltungsbehörde erlassen worden sind. Auch diese Regelung belegt, dass die Wirkungen der Insolvenz bei Erteilung der Restschuldbefreiung nicht über den Zeitpunkt der Entschuldung hinausgehen sollen, es sei denn, der Schuldner gehört einem Berufsstand an, der unter die besondere Regelung des Art. 23 Abs. 5 Restrukturierungsrichtlinie fällt.

34)

Vgl. Art. 23 Abs. 5 lit. a und lit. b Restrukturierungsrichtlinie.

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8. Untersagung/Fortsetzung einer selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit Zwar sieht Art. 20 Abs. 1 Satz 2 der Restrukturierungsrichtlinie vor, die Mitgliedstaaten könnten zur Bedingung machen, dass der Schuldner die von ihm ausgeübte gewerbliche, geschäftliche, handwerkliche oder freiberufliche Tätigkeit, mit der die Schulden im Zusammenhang stehen, eingestellt hat. Diese Regelung kann jedoch dahin verstanden werden, dass dem Unternehmer in jedem Fall die Fortsetzung oder Wiederaufnahme seiner selbständigen Tätigkeit untersagt ist. Nach dem Wortlaut der Richtlinie können die Mitgliedstaaten auch vorsehen, dass es den Unternehmern gestattet ist, während der Durchführung des Tilgungsplans bzw. des Verfahrens sein bisheriges Geschäft fortzuführen, oder eine neue Tätigkeit in demselben oder einem anderen Bereich aufzunehmen. Eine zwingende Aufgabe der Tätigkeit, die zur Insolvenz des Schuldners geführt hat, ergibt sich aus der Richtlinie damit nicht. Es handelt es sich um eine KannRegelung, die es den Mitgliedstaaten erlaubt, auch die Weiterführung der Tätigkeit zu erlauben. Im Übrigen steht auch Art. 22 Abs. 1 Restrukturierungsrichtlinie, der vorsieht dass ein aufgrund der Insolvenz erlassenes Tätigkeitsverbot in der Regel spätestens mit der Entschuldung erlischt, dieser Sichtweise nicht entgegen. Mit dem Begriff „spätestens“ bringt die Richtlinie zum Ausdruck, dass entsprechende Verbote auch schon während des Verfahrens gelockert werden können. Es sollte davon ausgegangen werden, dass die Bestimmungen, wonach der Unternehmer in einem Verfahren, in dem er von seinen sämtlichen Schulden – seien diese aus der unternehmerischen Tätigkeit oder aus seinem Verbrauch – einheitlich befreit wird, es zulassen, dass ein neues Insolvenzverfahren über seine während des Entschuldungsverfahrens fortgesetzte unternehmerische Tätigkeit geführt wird. Allerdings sollte es in weiterem Umfang als bisher auch die Möglichkeit geben, dem Schuldner bestimmte Tätigkeiten zu untersagen, wenn diese sich als schädlich erweisen. Ob es diesem Regelungsbild noch entspricht, dass nach der heutigen Fassung des § 35 Abs. 2 InsO der Schuldner, der während des Insolvenzverfahrens eine selbständige Tätigkeit ausübt, welche vom Insolvenzverwalter freigegeben worden ist, sich einem weiteren Insolvenzverfahren unterziehen kann, wenn er mit seiner fortgesetzten oder neu aufgenommenen Geschäftstätigkeit erneut insolvent wird, dürfte zu diskutieren sein. Im Rahmen der Umsetzung der Restrukturierungsrichtlinie dürfte der Gesetzgeber, der sich dieser Problematik bislang nicht gestellt hat, dann auch

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zu dem bisher ungelösten Problem Farbe bekennen müssen, wie der Schuldner in beiden Verfahren zu einer vollen Entschuldung gelangen kann, wenn er zwei parallel verlaufende Insolvenzverfahren zulässt. Prämisse für die Zulassung zweier getrennter Insolvenzverfahren ist nach der Richtlinie die volle, d. h. umfassende Entschuldung. Diese ist nach heutigem Verständnis nicht möglich, wenn der Schuldner im Fall des Scheiterns einer nach § 35 Abs. 2 InsO frei gegebenen Tätigkeit einen weiteren Insolvenzantrag betreffend den Neuerwerb stellt. Die nach der bisherigen Praxis eintretende Konsequenz, dass der Schuldner im Zweitverfahren nicht von seinen restlichen Verbindlichkeiten entlastet werden kann, dürfte jedenfalls nicht aufrechtzuerhalten sein. Der Gesetzgeber wird deshalb im Fall der Umsetzung der Richtlinie gehalten sein, für die Eröffnung von Zweitinsolvenzverfahren über die vom Insolvenzverwalter freigegebene selbständige wirtschaftliche Tätigkeit des Schuldners eine Lösung zu finden, die zur vollen Entschuldung in beiden Verfahren führt. Alternativ könnte er die Fortsetzung/Aufnahme einer unternehmerischen Tätigkeit gänzlich verbieten. Dies wäre allerdings kaum mit den Absichten zu vereinbaren, die der Gesetzgeber mit der Einführung des § 35 Abs. 2 und 3 InsO verfolgt hat. 9. Vereinbarkeit der Versagungsgründe mit der Restrukturierungsrichtlinie Weniger problematisch als die Vereinbarkeit der Verfahrensdauer nach geltendem Recht mit der nach der Restrukturierungsrichtlinie zu erwartenden Höchstdauer, die im Wesentlichen durch die halbherzige Reform verursacht ist, die Mitte des Jahres 2014 in Kraft getreten ist, erscheint aus derzeitiger Sicht die Vereinbarkeit der Versagungsgründe der InsO mit den Ausnahmeregelungen der Richtlinie, die in Art. 23 Restrukturierungsrichtlinie zu finden sind. Insoweit sind die Versagungstatbestände des § 290 Abs. 1 Nr. 1 bis 7 InsO zwar nicht deckungsgleich mit den in Art. 23 Abs. 1 und 2 Restrukturierungsrichtlinie genannten Gründen, die zu einer Verwehrung der Entschuldung, einem Widerruf oder einer Verlängerung der Fristen für die Entschuldung führen können. Im Hinblick darauf, dass die in der Richtlinie aufgeführten Gründe aber nicht abschließend sein sollen (ErwG 78 – 80), dürfte es aber eher unproblematisch sein, die Versagungsgründe mit der Richtlinie zu harmonisieren.

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a) Versagungsgründe des § 290 Abs. 1 InsO So kann unredliches oder bösgläubiges Verhalten etwa unter § 290 Abs. 1 Nr. 2 und 4 InsO gefasst werden, soweit der Schuldner Nachteile hinnehmen muss, wenn er gegen seine Verpflichtung verstoßen hat, die Rendite für Gläubiger zu maximieren. Kommt er seinen Informationspflichten oder seinen Verpflichtungen zur Zusammenarbeit nicht nach, kann dies mit § 290 Abs. 1 Nr. 5 und 7 InsO in Einklang gebracht werden. Soweit es um die missbräuchliche Beantragung der Restschuldbefreiung geht, sind Entsprechungen in § 290 Abs. 1 Nr. 6 InsO zu finden. Einschränkungen hinsichtlich der Zulässigkeit einer erneuten Beantragung der Restschuldbefreiung nach deren Erteilung, ergeben sich aus § 287a Abs. 2 InsO. b) Obliegenheiten des § 295 InsO Ebenso wie die Versagungstatbestände bei Pflichtverstößen des Schuldners im eröffneten Verfahren kann auch die Verletzung von Obliegenheiten in der Wohlverhaltensphase unter die Ausnahmeregelungen des Art. 23 Abs. 1 und 2 Restrukturierungsrichtlinie gefasst werden. Auch hier geht es um die Verletzung von Mitwirkungspflichten des Schuldners, die Nichterfüllung von Obliegenheiten, für die Befriedigung der Gläubiger während des Verfahrens zu sorgen und bestimmte Abführungspflichten. All dies dürfte unter einen entsprechend gefassten Katalog von Ausnahmeregelungen, die im Einzelnen hier nicht erörtert werden sollen, zu subsummieren sein. Dabei sollte allerdings streng darauf geachtet werden, das bisherige System enumerativ aufgeführter Versagungsgründe beizubehalten und es nicht zu einer Versagung nach Gutdünken oder Ermessen kommen zu lassen. Gleiches gilt, soweit unter bestimmten Voraussetzungen gemäß § 303 InsO ein Widerruf der Restschuldbefreiung in Betracht kommt. 10. Anerkennung ausgenommener Forderungen Auch hinsichtlich der von der Restschuldbefreiung ausgenommenen Forderungen, die sich nach derzeit geltendem Recht aus § 302 Nr. 1 bis 3 InsO ergeben, dürfte ein Konflikt zwischen der InsO und der Restrukturierungsrichtlinie eher nicht zu erwarten sein. Insoweit sieht Art. 23 Abs. 4 Restrukturierungsrichtlinie ausdrücklich vor, dass die Mitgliedstaaten bestimmten Schuldenkategorien aus der Entschuldung herausnehmen oder

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den Zugang zur Entschuldung beschränken können. Wenn dort neben besicherten Schulden strafrechtliche Sanktionen sowie Verbindlichkeiten aus deliktischer Haftung, Schulden aus Unterhaltspflichtverletzungen und Schulden, die aus der Verpflichtung, die Kosten des Verfahrens zu tragen, aufgeführt sind, so werden damit die Ausnahmetatbestände der InsO vollständig abgedeckt. Größerer Eingriffe in den Katalog der ausgenommenen Forderungen wird es deshalb voraussichtlich nicht bedürfen. Hier dürfte eher die „Gefahr“ einer weiteren Ausdehnung des Kreises der ausgenommenen Forderungen bestehen. Insgesamt zu begrüßen ist im Blick auf Art. 23 Restrukturierungsrichtlinie die Forderung nach bestimmten, genau festgelegten Umständen, unter denen die Ausnahmeregelungen gerechtfertigt sind. Durch diese Formulierung, die auch hinsichtlich der Herausnahme bestimmter Schuldenkategorien gilt, die ebenfalls enumerativ aufgeführt sind, wird klargestellt, dass es unbenannte Versagungsgründe, die nicht präzisiert sind, und allgemein formulierte von der Entschuldung ausgenommene Forderungen, die nicht im Einzelnen präzisiert sind, nicht geben soll. Allgemein an die „Redlichkeit“ des Schuldners anknüpfende Versagungs- oder Verlängerungsgründe, die nicht an bestimmte Voraussetzungen geknüpft sind, will offensichtlich auch die Richtlinie nicht vorsehen. Dies bestätigt, zumindest an dieser Stelle, die insoweit gelungene Konzeption der InsO, die ebenfalls an entsprechend klar und eindeutig formulierte Tatbestände anknüpft. Wenigstens dieses Prinzip hat die Mitte 2014 in Kraft getretene Reform nicht aufgegeben. IV. Schlussbemerkungen Bei einer abschließenden Betrachtung des Kompatibilitätsvergleichs zwischen den geltenden Bestimmungen der InsO und den Regularien der Richtlinie – soweit diese die Entschuldung betreffen – ist zu konstatieren, dass es Bereiche gibt, in den die Anpassung kompliziert und aufwändig erscheint, und andere Bereiche, in denen es leichter sein dürfte, die Vorschriften anzugleichen. Mit nur geringfügigen Eingriffen wird es jedenfalls nicht getan sein. Selbst wenn – anders als bei einer Reihe der Mitte 2014 in Kraft getretenen Vorschriften – auf die praktischen Umsetzbarkeit und die Widerspruchsfreiheit der neu zu konzipierenden Vorschriften geachtet und auf unerfüllbare Voraussetzungen und nicht plausible Verfahrensvorschriften verzichtet wird, dürfte es kaum gelingen, ein Regel-

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werk zu schaffen, in dem es keine Vorschriften gibt, die auszulegen sind. Auch bezüglich des neu zu schaffenden Rechts stellt sich deshalb die Frage nach der Gestaltung eines effektiven Rechtsschutzes, die im Übrigen auch in der Richtlinie mit der Forderung nach einem effektiven Rechtsschutzsystem in Art. 25 Restrukturierungsrichtlinie anklingt. Insoweit sollte die Chance ergriffen werden, zu einer abgespeckten Fassung des § 7 InsO zurückzukehren, nach der Rechtsbeschwerden dann ohne Zulassung statthaft sind, wenn entweder Grundsatzbedeutung, Rechtsfortbildungsbedarf oder eine echte Divergenz zu einer schon ergangenen und zwingend anzugebenden Entscheidung eines gleich- oder höherrangigen Gerichts geltend gemacht wird. Dagegen sollten Rechtsbeschwerden ausgeschlossen werden, die auf die vermeintliche Verletzung von Verfahrensgrundrechten, insbesondere Gehörsverletzungen und Willkürverstößen gestützt werden, um nicht wieder zu einer Inflation von Rechtsbeschwerdeverfahren zu kommen, in denen es tatsächlich nur um den Einzelfall geht. Für entsprechende Rügen könnte das Verfahren nach § 321a ZPO und die Verfassungsbeschwerde, auf deren missbräuchliche Inanspruchnahme mit einer Strafgebühr reagiert werden kann, der richtige Rahmen sein.

Zahlungen aus debitorischen Konten im Insolvenzanfechtungsrecht ANDREAS PIEKENBROCK Inhaltsübersicht I. II.

Einleitung Zahlungen aus vereinbarten Kreditlinien und geduldeten Überziehungen 1. Zahlungen aus vorab vereinbarten Krediten 2. Zahlungen aus geduldeten Überziehungen III. Die Lehre von der mittelbaren Zuwendung 1. Überweisungen aus debitorischen Konten als Anweisung auf Schuld?

2. Fehlerquellen der überkommenen Einordnung a) Einzelbetrachtung von Kreditschöpfung und Mittelverwendung b) Bewertung des Kreditanspruchs als vollwertiger Aktivposten c) Ungerechtfertigte Massebereicherung IV. Gläubigerbenachteiligung durch Passivmassemehrung V. Zusammenfassung

I. Einleitung Wenn der scheidende Vorsitzende des Insolvenzrechtssenats des Bundesgerichtshofes, der zudem lange Jahre als Honorarprofessor an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster gelehrt und sich vielfach literarisch mit dem Insolvenzanfechtungsrecht befasst hat,1) für seine Verdienste mit 1)

Vgl. die von seinem früheren Senatskollegen Hans-Peter Kirchhof übernommene Kommentierung der §§ 129 bis 134 in der dritten Auflage des Münchener Kommentars zur Insolvenzordnung von 2013 und die zahlreichen Beiträge etwa Kayser, Vorsatzanfechtung im Spannungsverhältnis von Gläubigergleichbehandlung und Sanierungschancen, NJW 2014, 422 ff.; Kayser, Die Insolvenzanfechtung nach § 134 InsO – Ausweitung der Anfechtbarkeit von Drittleistungen?, WM 2007, 1 ff.; Kayser, Die Entkräftung der die Insolvenzanfechtung begründenden Vermutungen und Indizien, WM 2013, 293 ff.; Kayser, Vorsatzanfechtung von Zahlungen nach Stundungsbitte, Quotenvergleich und Sanierungsplan, ZInsO 2016, 2134 ff.; Kayser, Insolvenzrechtliche Bargeschäfte (§ 142 InsO) bei der Erfüllung gesetzlicher Ansprüche?, ZIP 2007, 49 ff.; Kayser, Schlaglicht Insolvenzanfechtung – notwendige Korrekturen bei der Anfechtung kongruenter Leistungen?, ZIP 2014, 1966 ff.; Kayser, Rechtsfolgen der Insolvenzanfechtung, ZIP 2015, 449 ff.; Kayser, Der Sanierungsgedanke in der jüngeren Rechtsprechung des IX. Zivilsenats, ZIP 2018, 2189 ff.; Kayser, Die Anfechtung als unentgeltliche Leistung – eine Allzweckwaffe des Insolvenzverwalters zur Massegenerierung?, ZIP 2019, 293 ff.; Kayser, Der Rechtsgedanke des Bargeschäfts – Ein Beitrag zu den Grenzen des Anwendungsbereichs des § 142 InsO, in: FS G. Fischer, 2008, S. 267 ff.; Kayser, Von mittebaren Zuwendungen, Leistungsketten und Empfangsberechtigten, in: FS Ganter, 2010, S. 221 ff.

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einer wissenschaftlichen Festschrift geehrt wird, liegt es nahe, ihm einige Zeilen eben zu diesem Rechtsgebiet zu widmen. Dabei soll es um die grundsätzliche Frage gehen, ob die übrigen Gläubiger bei Zahlungen aus debitorischen Konten i. S. von § 129 Abs. 1 InsO benachteiligt werden. Dass im Folgenden die im Mittelpunkt dieses Beitrags stehende Entscheidung BGHZ 182, 317, die auch die Unterschrift des Jubilars trägt, kritisch analysiert wird, ist ausschließlich den Grundprinzipien der Wissenschaft geschuldet. Ihre Aufgabe besteht bekanntlich darin, rein sachorientiert und (immer auch selbst-)kritisch nach der Wahrheit zu suchen, so es diese in Normwissenschaften wie den Rechtswissenschaften überhaupt gibt. Daher besteht Anlass zur Hoffnung, dass der Jubilar in diesem wissenschaftlichen Geist Freude an der Kritik an der Rechtsprechung „seines“ Senats haben wird, egal, ob sie ihn und andere letztlich überzeugt oder nicht. II. Zahlungen aus vereinbarten Kreditlinien und geduldeten Überziehungen Für die Frage, ob Zahlungen aus debitorischen Konten die übrigen Gläubiger benachteiligen, hat der Senat früher danach unterschieden, ob die Kontoüberziehung vorab vereinbart worden war oder ob sie nur ad hoc geduldet wurde. 1. Zahlungen aus vorab vereinbarten Krediten Danach lag die objektive Gläubigerbenachteiligung jedenfalls dann vor, wenn der Schuldner seinen Gläubiger mit Mitteln aus der ihm zuvor zur Disposition gestellten offenen Kreditlinie befriedigt hatte. Der Anspruch auf Auszahlung des zugesagten Darlehens sei mit dessen Abruf pfändbar,2) ein „Vermögensbestandteil des Schuldners“,3) und daher vom Insolvenzbeschlag erfasst.4) Durch die Tilgung der Gläubigerforderung mit den 2)

3) 4)

Vgl. BGH, Urt. v. 29.3.2001 – IX ZR 34/00, BGHZ 147, 193, 195 ff. = ZIP 2001, 825, dazu EWiR 2001, 599 (Prütting/Stickelbrock); BGH, Urt. v. 7.2.2002 – IX ZR 115/99, ZIP 2002, 489, 490 = NJW 2002, 1574, 1575; BGH. Urt. v. 11.1.2007 – IX ZR 31/05, Rz. 12, BGHZ 170, 276 = ZIP 2007, 435; BGH, Urt. v. 9.6.2011 – IX ZR 179/08, Rz. 13, ZIP 2011, 1324 = ZVI 2011, 455. BGH, Urt. v. 6.10.2009 – IX ZR 191/05, Rz. 14, BGHZ 182, 317 = ZIP 2009, 2009, dazu EWiR 2009, 651 (Bork). BGH, Urt. v. 11.1.2007 – IX ZR 31/05, Rz. 12, BGHZ 170, 276 = ZIP 2007, 435; vgl. zum alten Recht BGH, Urt. v. 7.2.2002 – IX ZR 115/99, ZIP 2002, 489, 490 = NJW 2002, 1574, 1575; zu einem zweckgebundenen Darlehen vgl. BGH, Urt. v. 7.6.2001 – IX ZR 195/00, ZIP 2001, 1248 f. = NZI 2001, 539.

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gewährten Darlehensmitteln werde das Aktivvermögen des Schuldners zulasten der Insolvenzgläubiger i. H. des gezahlten Betrages verringert.5) Der ausdrücklich vereinbarten offenen Kreditlinie gleichgestellt wurde die Zahlung aus einer anderweitig vorab vereinbarten Kontoüberziehung.6) Das ist folgerichtig, weil die Vereinbarung der Überziehungsmöglichkeit letztlich nichts anderes ist als eine konkludente Erweiterung des vereinbarten Kreditrahmens.7) Wann eine solche konkludente Vereinbarung vorliegt, war im Einzelfall jedoch schwierig festzustellen;8) so hat der Senat in seiner Grundsatzentscheidung, in der er die Differenzierung zwischen vorab vereinbarten und ad hoc geduldeten Überziehungen für das Insolvenzanfechtungsrecht aufgegeben hat, die mehrfache Duldung einer Überziehung in wechselnder Höhe nicht ausreichen lassen.9) 2. Zahlungen aus geduldeten Überziehungen Wurde die Kontoüberziehung ad hoc geduldet, ohne dass darin eine konkludente Erweiterung der Kreditlinie gesehen werden konnte, sollte der

5)

6)

7)

8) 9)

BGH, Urt. v. 11.1.2007 – IX ZR 31/05, Rz. 12, BGHZ 170, 276 = ZIP 2007, 435; vgl. auch BGH, Urt. v. 7.2.2002 – IX ZR 115/99, ZIP 2002, 489, 490 = NJW 2002, 1574, 1575 f. BGH, Urt. v. 11.1.2007 – IX ZR 31/05, Rz. 16, BGHZ 170, 276 = ZIP 2007, 435; BGH, Urt. v. 28.2.2008 – IX ZR 213/06, Rz. 8, ZIP 2008, 701 = NZI 2008, 297; zustimmend Spliedt, NZI 2007, 228, 229 (Urteilsanm.); Mock, Einmal ist keinmal? – Zur Anfechtung geduldeter Kontoüberziehungen, ZInsO 2007, 561, 563 f.; ablehnend Galster, ZInsO 2007, 908, 910 f. (Urteilsanm.), mit Erwiderung Mock, Gläubigerbenachteiligung bei der geduldeten Kontoüberziehung, ZInsO 2007, 911 ff.; vgl. zuvor ergänzend etwa R. Fischer, Pfändbarkeit von Dispositionskrediten, DZWIR 2002, 143, 146; Stiller, Die (un-)zulässige Verrechnung von Zahlungseingängen im Kontokorrentkonto vom dritten Monat vor dem Eröffnungsantrag bis zur Eröffnung, ZInsO 2002, 651, 655 f.; Stiller, Gläubigerbenachteiligung bei Zahlung unter Ausnutzung einer geduldeten Kontoüberziehung, ZInsO 2005, 72, 73. Vgl. BGH, Beschl. v. 26.9.1985 – III ZR 229/84, WM 1985, 1437; BGH, Urt. v. 22.1.1998 – IX ZR 99/97, BGHZ 138, 40, 47 f. = ZIP 1998, 477; BGH, Urt. v. 17.6.1999 – IX ZR 62/98, ZIP 1999, 1271, 1272 = NJW 1999, 3780, 3781; Bitter in: Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Hdb., 5. Aufl. 2017, § 33 Rz. 85; Bitter, Pfändung des Dispositionskredits?, WM 2001, 889, 890; Bitter, Neues zur Pfändbarkeit des Dispositionskredits – Kritische Anmerkungen zum Stand der Rechtsprechung nach den BGH-Urteilen vom 22.1.2004 = WM 2004, 517 und vom 17.2.2004 = WM 2004, 669, WM 2004, 1109, 1111 f. Vgl. exemplarisch OLG Saarbrücken, Urt. v. 20.6.2006 – 8 U 330/0598, ZIP 2006, 2029, 2030 = WM 2006, 2212, 2213. So BGH, Urt. v. 6.10.2009 – IX ZR 191/05, Rz. 9, BGHZ 182, 317 = ZIP 2009, 2009.

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Kunde keinen Anspruch auf Kredit erwerben10) und daher keine Gläubigerbenachteiligung vorliegen.11) Entscheidend für diese Differenzierung war, dass der Darlehensvertrag bei einer geduldeten Überziehung erst konkludent mit der tatsächlichen Durchführung des Zahlungsauftrags geschlossen wird und es deshalb zuvor keinen pfändbaren Anspruch aus § 488 Abs. 1 Satz 1 BGB, sondern nur eine Chance auf die Duldung der Überziehung gebe.12) Die zusätzliche Liquidität, die der Schuldner durch eine geduldete Kontoüberziehung erhalte, sei kein den Insolvenzgläubigern haftendes Vermögen, solange der fragliche Betrag nicht an ihn ausbezahlt oder auf ein im pfändbaren Bereich geführtes Konto übertragen wird.13) Im Falle der Überweisung fehlt es demnach vollständig an der Pfändbarkeit, weil der Geldbetrag niemals in das haftende Schuldnervermögen gelangt ist. Folgerichtig hat der Senat eine unmittelbare Gläubigerbenachteiligung seinerzeit verneint, wenn ein Gläubiger mit Mitteln befriedigt wird, die der Schuldner aus einer lediglich geduldeten Kontoüberziehung schöpft.14) Eine Verfügung des Schuldners über unpfändbare Gegenstände bewirkt keine (unmittelbare) Gläubigerbenachteiligung, weil sie nicht zur Insol-

10)

11) 12)

13)

14)

So BGH, Urt. v. 24.1.1985 – IX ZR 65/84, BGHZ 93, 315, 325 = ZIP 1985, 339, dazu EWiR 1985, 119 (Merz); BGH, Urt. v. 29.3.2001 – IX ZR 34/00, BGHZ 147, 193, 202 = ZIP 2001, 825; OLG Saarbrücken, Urt. v. 20.6.2006 – 8 U 330/0598, ZIP 2006, 2029, 2030 = WM 2006, 2212 f. So BGH, Urt. v. 11.1.2007 – IX ZR 31/05, Rz. 14 f., BGHZ 170, 276 = ZIP 2007, 435; BGH, Urt. v. 28.2.2008 – IX ZR 213/06, Rz. 7, ZIP 2008, 701 = NZI 2008, 297. BGH, Urt. v. 24.1.1985 – IX ZR 65/84, BGHZ 93, 315, 325 = ZIP 1985, 339; BGH, Urt. v. 29.3.2001 – IX ZR 34/00, BGHZ 147, 193, 202 = ZIP 2001, 825; BGH, Urt. v. 11.1.2007 – IX ZR 31/05, Rz. 15, BGHZ 170, 276 = ZIP 2007, 435; BGH, Urt. v. 28.2.2008 – IX ZR 213/06, Rz. 7, ZIP 2008, 701 = NZI 2008, 297; Olzen, Die Zwangsvollstreckung in Dispositionsrechte, ZZP 97 (1984), 1, 2. BGH, Urt. v. 11.1.2007 – IX ZR 31/05, Rz. 15, BGHZ 170, 276 = ZIP 2007, 435; BGH, Beschl. v. 1.2.2007 – IX ZB 248/05, Rz. 13, ZIP 2007, 601 = NZI 2007, 283, dazu EWiR 2007, 439 (Göb); BGH, Urt. v. 28.2.2008 – IX ZR 213/06, Rz. 7, ZIP 2008, 701 = NZI 2008, 297. BGH, Urt. v. 11.1.2007 – IX ZR 31/05, Rz. 11, 13, BGHZ 170, 276 = ZIP 2007, 435; BGH, Beschl. v. 1.2.2007 – IX ZB 248/05, Rz. 13, ZIP 2007, 601 = NZI 2007, 283; BGH, Urt. v. 28.2.2008 – IX ZR 213/06, Rz. 7, ZIP 2008, 701 = NZI 2008, 297.

Zahlungen aus debitorischen Konten im Insolvenzanfechtungsrecht

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venzmasse i. S. der §§ 35, 36 InsO gehören und deshalb zur Gläubigerbefriedigung von vornherein ungeeignet sind.15) Denkbar war hiernach allein eine mittelbare Gläubigerbenachteiligung, wenn es sich nicht um einen masseneutralen Passivtausch handelte, sondern der Anspruch der Bank auf Rückzahlung des Überziehungskredits, für die Insolvenzmasse ungünstiger war als der Anspruch des befriedigten Gläubigers. Das war insbesondere denkbar, wenn die Bank für ihren Rückzahlungsanspruch besser gesichert war.16) Diese Differenzierung zwischen vorab vereinbarten und ad hoc geduldeten Überziehungen ist im Schrifttum vielfach kritisiert worden.17) Vor allem ist eingewendet worden, bei der geduldeten Überziehung werde schon vor der Ausführung der Zahlungsanweisung durch das Kreditinstitut ein Darlehensvertrag und somit ein pfändbarer Anspruch des Kunden auf Auszahlung der Darlehensvaluta begründet, nämlich durch die Entscheidung über die Ausführung der Auszahlung bzw. Überweisung, deren 15)

16)

17)

Vgl. BGH, Urt. v. 8.7.1993 – IX ZR 116/92, BGHZ 123, 183, 185 = ZIP 1993, 1662; BGH, Urt. v. 27.5.2003 – IX ZR 169/02, BGHZ 155, 75, 82 = ZIP 2003, 1506; BGH, Urt. v. 11.1.2007 – IX ZR 31/05, Rz. 13, BGHZ 170, 276 = ZIP 2007, 435; BGH, Urt. v. 7.4.2016 – IX ZR 145/15, Rz. 17, ZIP 2016, 1174 = NZI 2016, 584; Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 129 Rz. 84, 108; Thole in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 129 Rz. 69; Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 129 Rz. 184; Rogge/ Leptien in: HambKomm-InsR, 7. Aufl. 2019, § 129 InsO Rz. 53; Ganter, Neues zum Merkmal der Gläubigerbenachteiligung bei der Insolvenzanfechtung, in: FS Görg, 2010, S. 169. BGH, Urt. v. 11.1.2007 – IX ZR 31/05, Rz. 11, BGHZ 170, 276 = ZIP 2007, 435; BGH, Beschl. v. 1.2.2007 – IX ZB 248/05, Rz. 13, ZIP 2007, 601 = NZI 2007, 283; BGH, Urt. v. 28.2.2008 – IX ZR 213/06, Rz. 8, ZIP 2008, 701 = NZI 2008, 297; siehe auch noch BGH, Urt. v. 6.10.2009 – IX ZR 191/05, Rz. 10, BGHZ 182, 317 = ZIP 2009, 2009; vgl. auch RG, Urt. v. 30.4.1901 – VII 75/01, RGZ 48, 148, 151; BGH, Urt. v. 7.2.2002 – IX ZR 115/99, ZIP 2002, 489, 491 = NJW 2002, 1574, 1576; Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 129 Rz. 144. Vgl. Grunsky, JZ 1985, 490 f. (Urteilsanm.); Wagner, Pfändung der Deckungsgrundlage – ungeklärte Fragen bei der Zwangsvollstreckung in Girokonten, ZIP 1985, 849, 853; Baßlsperger, Das Girokonto in der Zwangsvollstreckung, Rpfleger 1985, 177, 180; Peckert, Pfändbarkeit des Überziehungs- und Dispositionskredits, ZIP 1986, 1232, 1234; Gaul, Die Zwangsvollstreckung in den Geldkredit, KTS 1989, 3, 7 f.; Jungmann, Die Pfändung in das Bankkonto, ZInsO 1999, 64, 71 f.; Blank, ZInsO 2004, 983 (Urteilsanm.); Henkel, Der gläubigerbenachteiligende Charakter der Zahlungen des Schuldners von einem außerhalb der vereinbarten Kreditlinie geführten Konto, § 129 Abs. 1 InsO, ZInsO 2005, 468, 469; Stiller, ZInsO 2005, 72, 73; Mock, ZInsO 2007, 561 f.; Kreft, Fragen aus Anlass des Urteils des BGH vom 6.10.2009, in: FS Ganter, 2010, S. 247, 253 ff.; im Ansatz auch Bitter, WM 2004, 1109, 1110; Bitter in: Schimansky/ Bunte/Lwowski, Bankrechts-Hdb., 5. Aufl. 2017, § 33 Rz. 83; Häsemeyer, Die Deckung einer Insolvenzforderung mittels geduldeter Kontenüberziehung benachteiligt die Insolvenzgläubiger!, KTS 2007, 423, 425.

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Zugang an den Kunden nach § 151 BGB entbehrlich sei. Dieser Anspruch unterliege dann auch dem Insolvenzbeschlag. Außerdem wurde zu bedenken gegeben, es mache wirtschaftlich keinen Unterschied und führe zu Zufallsergebnissen, wenn die Anfechtbarkeit von Zahlungen davon abhinge, ob der Schuldner in der Krise Bargeld, Guthaben oder Kreditmittel welcher Art auch immer zur Befriedigung eines Gläubigers einsetze. Eine Zahlung sei ohne Weiteres anfechtbar, wenn der Schuldner diese nach Abhebung von einem debitorisch geführten Konto, auch außerhalb einer bewilligten Kreditlinie, in bar leiste.18) Schließlich könnten Schuldner, die ausgewählte Einzelgläubiger vorrangig befriedigen wollten, die Insolvenzanfechtung durch Zahlungen i. R. einer nur geduldeten Überziehung ihrer Bankkonten unterlaufen.19) Hier wurde ein erhebliches Umgehungspotential gesehen.20) Ganter, unter dessen Vorsitz der Senat diese Differenzierung 2009 aufgegeben hat,21) hat diese Argumente schon 2002 für gewichtig gehalten, die Differenzierung aber zunächst noch verteidigt.22) 2009 hat der Senat im vielbeachteten Urteil vom 6. Oktober 2009 die geduldete Überziehung jedenfalls i. R. von § 129 Abs. 1 InsO23) schließlich doch einem ausdrücklich eingeräumten Dispositionskredit gleichgestellt.24) Diese Änderung der Rechtsprechung beruhte allerdings weniger auf der im Schrifttum geäußerten Kritik, als vielmehr auf praktischen Erwägungen und wirkt „ausgesprochen ergebnisorientiert“.25) So weist der Senat darauf hin, dass der Empfänger einer bargeldlosen Leistung in der Regel keine Kenntnis vom Stand des Kontos und etwaigen Sicherheiten der Bank hat. Wenn man, wie zuvor, für die objektive Gläubigerbenachteiligung eine vorab vereinbarte Überziehung oder jedenfalls eine Valutierung bank18) 19) 20) 21)

22) 23)

24) 25)

Stiller, ZInsO 2005, 72, 74; siehe auch BGH, Urt. v. 6.10.2009 – IX ZR 191/05, Rz. 15, BGHZ 182, 317 = ZIP 2009, 2009. Grunsky, JZ 1985, 490; Stiller, ZInsO 2005, 72, 74. So schon zur Kontopfändung Honsell, JZ 2001, 1143, 1144 (Urteilsanm.). BGH, Urt. v. 6.10.2009 – IX ZR 191/05, Rz. 10 ff., BGHZ 182, 317 = ZIP 2009, 2009; vgl. entsprechend BGH, Urt. v. 1.7.2010 – IX ZR 70/08, Rz. 12, WM 2010, 1756 = ZInsO 2010, 1598; BGH, Urt. v. 25.2.2016 – IX ZR 12/14, Rz. 7, ZIP 2016, 581 = NZI 2016, 398. Ganter, Pfändung von Ansprüchen „aus offener Kreditlinie“ – Pfändung des Dispositionskredits, in: Horn/Krämer, Bankrecht 2002, 2003, S. 135, 151. Für die Einzelzwangsvollstreckung geht bspw. Bitter in: Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Hdb., 5. Aufl. 2017, § 33 Rz. 84, davon aus, dass die Differenzierung zwischen vorab vereinbaren und nur ad hoc gedulden Überziehungen fortbestehen soll. Darauf kann hier nicht näher eingegangen werden. BGH, Urt. v. 6.10.2009 – IX ZR 191/05, Rz. 10 ff., BGHZ 182, 317 = ZIP 2009, 2009 So Bork, EWiR 2009, 651, 652 (Urteilsanm.).

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mäßiger Sicherheiten verlange, lasse sich beim Empfänger die Kenntnis von der Gläubigerbenachteiligung kaum noch nachweisen. Dies führe dazu, dass die Anfechtungstatbestände der §§ 133 Abs. 1, 131 Abs. 1 InsO im gesamten bargeldlosen Zahlungsverkehr regelmäßig versagten und laufe dem gesetzgeberischen Ziel zuwider, die Masse durch die eingeräumten Anfechtungsmöglichkeiten zu stärken.26) Auch widerspreche dies dem Erfahrungssatz, dass ein Gläubiger, der die drohende Zahlungsunfähigkeit des Schuldners kennt, in der Regel von der Gläubigerbenachteiligung wisse.27) Rechtstechnisch stützte sich der Senat in seiner Begründung vor allem auf Erwägungen aus der Dogmatik der mittelbaren Zuwendungen. Anerkannt sei, dass die nach § 143 Abs. 1 InsO zurückzugewährenden Vermögenswerte nicht unmittelbar aus dem Vermögen des Schuldners stammen müssen. Es reiche aus, wenn Vermögensbestandteile mit Hilfe einer Mittelsperson an den gewünschten Empfänger verschoben werden. Der unmittelbar aus dem Vermögen der Bank entspringende Zahlungsfluss sei dem Schuldner zuzurechnen, da er erst infolge des von ihm beantragten Überziehungskredits bewirkt worden sei.28) Für die anfechtungsrechtliche Bewertung dieses Vorgangs müsse – das ist der entscheidende Punkt – in getrennter Betrachtung von Kreditschöpfung und Mittelverwendung eine gläubigerbenachteiligende Wirkung der Deckungshandlung bejaht werden.29) Bei dieser Betrachtung liege die Gläubigerbenachteiligung der Direktauszahlung des Überziehungskredits von der Bank an den begünstigten Gläubiger dann darin, dass die Kreditmittel nicht in das Vermögen des Schuldners gelangt und dort für den Zugriff der Gläubigergesamtheit verblieben seien.30) Diese Betrachtung stehe im Einklang mit den allgemeinen Grundsätzen der mittelbaren Zuwendungen, wo anerkannt sei, dass „(…) eine solche Direktzahlung grundsätzlich nicht anders behandelt werden [kann,] als wenn Geldmittel, auf die der Schuldner keinen Anspruch hatte, ihm durch ein neu

26) 27) 28)

29)

30)

BGH, Urt. v. 6.10.2009 – IX ZR 191/05, Rz. 12, BGHZ 182, 317 = ZIP 2009, 2009. BGH, Urt. v. 6.10.2009 – IX ZR 191/05, Rz. 12, BGHZ 182, 317 = ZIP 2009, 2009. BGH, Urt. v. 6.10.2009 – IX ZR 191/05, Rz. 14, BGHZ 182, 317 = ZIP 2009, 2009; entsprechend BGH, Urt. v. 17.3.2011 – IX ZR 166/08, Rz. 10, ZIP 2011, 824 = ZVI 2011, 250. BGH, Urt. v. 6.10.2009 – IX ZR 191/05, Rz. 13, BGHZ 182, 317 = ZIP 2009, 2009 unter Hinweis auf den abweichenden Ansatz in RG, Urt. v. 30.4.1901 – VII 75/01, RGZ 48, 148, 151. BGH, Urt. v. 6.10.2009 – IX ZR 191/05, Rz. 15, BGHZ 182, 317 = ZIP 2009, 2009; entsprechend BGH, Urt. v. 17.3.2011 – IX ZR 166/08, Rz. 11, ZIP 2011, 824 = ZVI 2011, 250.

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Andreas Piekenbrock gewährtes Darlehen zunächst überlassen und sodann zur Deckung von Verbindlichkeiten verwendet werden“.31)

Außerdem habe man bereits mehrfach entschieden, „(…) dass die abtrennbaren Wirkungen anfechtbarer Rechtshandlungen bei Prüfung der objektiven Gläubigerbenachteiligung gemäß § 129 Abs. 1 InsO einzeln zu betrachten sind“.32)

Auch der Gläubiger sei bei der Auszahlung von Darlehensmitteln durch den Kreditgeber anfechtungsrechtlich nicht stärker schutzwürdig, als wenn er die Mittel direkt durch den Schuldner erhalten hätte, sofern für ihn nur erkennbar sei, dass es sich um eine Leistung des Schuldners handele.33) III. Die Lehre von der mittelbaren Zuwendung 1. Überweisungen aus debitorischen Konten als Anweisung auf Schuld? Die vom Senat vorgenommene Trennung von Kreditschöpfung und Mittelverwendung ist schon zuvor praktiziert, aber bis dahin nicht so deutlich artikuliert worden.34) Neu war nur, dass diese Betrachtung auf die ad hoc geduldete Überziehung übertragen und dieser Fall damit sonstigen Zahlungen aus debitorisch geführten Konten gleichgestellt wurde. So gesehen wurde die Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung ganz überwiegend auf die skizzierten praktischen Erwägungen gestützt. Dass sich dagegen kein Wort zu der darlehensrechtlichen Kritik an der Differenzierung zwischen vorab vereinbarten und ad hoc geduldeten Überziehungen findet, hat der Jubiliar damit erklärt, dass man nicht beabsichtigt habe, den Überziehungskredit zu einem pfändbaren Anspruch zu erklären.35) Schaut man sich die bisherige Rechtsprechung zu mittelbaren Zuwendungen genauer an, erscheint die These, damit ließe sich die objektive Gläubi-

31)

32) 33) 34)

35)

BGH, Urt. v. 6.10.2009 – IX ZR 191/05, Rz. 14, BGHZ 182, 317 = ZIP 2009, 2009 unter Verweis auf BGH, Urt. v. 27.5.2003 – IX ZR 169/02, BGHZ 155, 75, 81 f. = ZIP 2003, 1506; entsprechend BGH, Urt. v. 17.3.2011 – IX ZR 166/08, Rz. 11, ZIP 2011, 824 = ZVI 2011, 250. BGH, Urt. v. 6.10.2009 – IX ZR 191/05, Rz. 13, BGHZ 182, 317 = ZIP 2009, 2009 m. w. N. zu dieser Rechtsprechung; vgl. auch Ganter in: FS Görg, 2010, S. 169, 181. BGH, Urt. v. 6.10.2009 – IX ZR 191/05, Rz. 15, BGHZ 182, 317 = ZIP 2009, 2009. Vgl. BGH, Urt. v. 11.1.2007 – IX ZR 31/05, Rz. 12, BGHZ 170, 276 = ZIP 2007, 435: „(…) isoliert auf ihre gläubigerbenachteiligende Folge zu prüfende Tilgung der Gläubigerforderung mit den gewährten Darlehensmitteln (…)“; zu diesem Aspekt Ganter in: FS Görg, 2010, S. 169, 178 ff. Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 129 Rz. 84a.

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gerbenachteiligung bei Zahlungen aus ad hoc geduldeten Überziehungen begründen, sehr zweifelhaft. Zu unterscheiden sind bekanntlich die „Anweisung auf Schuld“ (vgl. § 787 Abs. 1 BGB) und die „Anweisung auf Kredit“: –

Bei der Anweisung auf Schuld weist der Insolvenzschuldner seinen Drittschuldner (den Zuwendenden) an, an einen Dritten (den Gläubiger) zu leisten. Dieser Vorgang ist objektiv unmittelbar gläubigerbenachteiligend, weil der Insolvenzschuldner hierdurch i. H. des Zahlungsbetrags seine Forderung gegen den Drittschuldner verliert, die er (vorbehaltlich einer Insolvenz des Drittschuldners) in voller Höhe hätte durchsetzen können.36)



Bei der Anweisung auf Kredit weist der Insolvenzschuldner einen „neutralen“ Dritten an, der kein Schuldner des Insolvenzschuldners ist. Wenn dieser die Anweisung befolgt, erlangt er einen Rückgriffsanspruch gegen den Insolvenzschuldner, wird also seinerseits Gläubiger des Insolvenzschuldners. In diesem Fall handelt es sich um einen masseneutralen Passivtausch (Gläubigertausch), sofern nicht die entstehende Rückgriffsforderung des „neutralen“ Dritten für den Insolvenzschuldner, etwa wegen einer verfügbaren (besseren) Besicherung, ungünstiger ist als die getilgte Forderung des ursprünglichen Gläubigers.37)

Wendet man diese Kategorisierung auf den Fall der Überweisung aus einem debitorischen Konto an, ergibt sich auf den ersten Blick, dass es sich re36)

37)

BGH, Urt. v. 29.11.2007 – IX ZR 121/06, Rz. 27, BGHZ 174, 314 = ZIP 2008, 190; BGH, Beschl. v. 16.10.2008 – IX ZR 147/07, Rz. 9, ZIP 2008, 2182 = NZI 2009, 56; BGH, Urt. v. 21.6.2012 – IX ZR 59/11, Rz. 12, ZIP 2012, 1468 = NZI 2012, 805; BGH, Urt. v. 20.11.2014 – IX ZR 13/14, Rz. 22, ZIP 2015, 42 = NZI 2015, 183; BGH, Urt. v. 17.12.2015 – IX ZR 287/14, Rz. 13, BGHZ 208, 243 = ZIP 2016, 279; Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 129 Rz. 144; Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 129 Rz. 270 f.; K. Schmidt in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 129 Rz. 65; Thole in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 129 Rz. 53; Ganter in: FS Görg, 2010, S. 169, 175 f. BGH, Beschl. v. 16.10.2008 – IX ZR 147/07, Rz. 9, ZIP 2008, 2182 = NZI 2009, 56; BGH, Urt. v. 21.6.2012 – IX ZR 59/11, Rz. 12, ZIP 2012, 1468 = NZI 2012, 805; BGH, Urt. v. 20.11.2014 – IX ZR 13/14, Rz. 22, ZIP 2015, 42 = NZI 2015, 183; BGH, Urt. v. 17.12.2015 – IX ZR 287/14, Rz. 13, BGHZ 208, 243 = ZIP 2016, 279; Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 129 Rz. 144; Borries/Hirte, Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 129 Rz. 273 f.; K. Schmidt in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 129 Rz. 69; Thole in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 129 Rz. 53; Ganter in: FS Görg, 2010, S. 169, 175 f.; vgl. auch schon RG, Urt. v. 30.4.1901 – VII 75/01, RGZ 48, 148, 151; RG, Urt. v. 20.12.1912 – VII 406/12, RGZ 81, 144, 145 f.

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gelmäßig um einen Fall der Anweisung auf Schuld zu handeln scheint, weil ja der Insolvenzschuldner vor der Durchführung der Überweisung einen Darlehensanspruch gegen die Bank erwirbt.38) Wenn man der Literaturlinie hinsichtlich der geduldeten Kontoüberziehung folgt, gilt das auch bei einer geduldeten Kontoüberziehung.39) 2. Fehlerquellen der überkommenen Einordnung Bei näherer Betrachtung stellt sich der Rückgriff auf die Grundsätze der mittelbaren Zuwendungen allerdings alles andere als folgerichtig dar. a) Einzelbetrachtung von Kreditschöpfung und Mittelverwendung Schon im Ansatz nicht überzeugend ist die Einzelbetrachtung von Kreditschöpfung und Mittelverwendung. Dies gilt zunächst schon deshalb, weil eine solche Einzelbetrachtung eine reine Fiktion darstellt. Obwohl das Geld direkt vom Verrechnungskonto der Bank des Zahlers – ggf. über weitere Intermediäre – der Bank des Zahlungsempfängers zur Verfügung gestellt worden und der Ersatzanspruch aus § 670 BGB ins (debitorische) Konto des Zahlers eingebucht worden ist, behandelt der Senat den Fall so, als hätte die Bank dem Schuldner einen Koffer voll Bargeld in die Hand gedrückt und dieser ihn an den Gläubiger weitergereicht. Darüber hinaus geht es bei den klassischen mittelbaren Zuwendungen häufig gerade nicht

38) 39)

Vgl. Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 129 Rz. 276; Ganter, Gläubigerbenachteiligung durch Drittzahlungen?, NZI 2011, 475, 477. Freilich kommt der Darlehensvertrag hier ggf. nur eine „juristische Sekunde“ vor der Überweisung zustande, sodass man ebenso gut von einer Anweisung auf Kredit ausgehen kann; so denn auch ausdrücklich die Einordnung von BGH, Urt. v. 6.10.2009 – IX ZR 191/05, BGHZ 182, 317 = ZIP 2009, 2009, bei Ganter, NZI 2011, 475, 477, und Henkel, Zahlungen durch Dritte sind stets gläubigerbenachteiligend, ZInsO 2012, 774. Wenn man den Fall aber als Anweisung auf Kredit einordnet, stellt sich erst recht die Frage, weshalb hier abweichend vom allgemeinen Grundsatz nur um des „anfechtungsrechtlichen Gleichlaufs“ willen ausnahmsweise eine unmittelbare Gläubigerbenachteiligung vorliegen soll; krit. auch Lütcke, Die Anfechtbarkeit von Drittzahlungen, NZI 2011, 702, 704 f. Zum Teil ist die Entscheidung zum Anlass genommen zu fragen, ob der Senat die überkommene Dogmatik der mittelbaren Zuwendungen ganz verworfen habe. Vgl. Bork, EWiR 2009, 651, 652 (Urteilsanm.); Lütcke, NZI 2011, 702, 704 f.; Henkel, ZInsO 2012, 774, 777 und 779; Hofmann, EWiR 2011, 431, 432 (Urteilsanm.). Dass dies nicht bezweckt war, wurde indessen später klargestellt; vgl. BGH, Urt. v. 21.6.2012 – IX ZR 59/11, Rz. 12, ZIP 2012, 1468 = NZI 2012, 805; Ganter, NZI 2011, 475, 477.

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um einaktige Direktzahlungen wie bei bargeldlosen Zahlungsvorgängen, sondern um zwei- oder mehraktige Vorgänge.40) Schließlich wird die Aussage zu den mittelbaren Zahlungen in einen ihr wesensfremden Kontext gestellt, wenn man sie dazu verwendet, aus einer einaktigen Direktzahlung einen mehraktigen Vorgang zu konstruieren. Entstanden ist die Aussage nämlich vor allem im Hinblick auf die wertungsmäßig sachgerechte Bestimmung der Parteien des Anfechtungsrechtsverhältnisses.41) Hingegen ging es nicht darum, eine objektive Gläubigerbenachteiligung zu fingieren, indem eine masseneutrale einaktige Rechtshandlung (Direktzahlung) in eine zweiaktige umdefiniert wird und so den Vorgang auch hinsichtlich der Frage der Gläubigerbenachteiligung „aufzuspalten“.42) Mit einer solchen Argumentation hätte man letztlich jede beliebige Anweisung auf Kredit für anfechtbar erklären müssen, weil der Schuldner beim fiktiven „Durchleiten“ des Geldes an den Dritten dieses ebenfalls wieder aus seinem Vermögen hergegeben hätte.43) Die „Aufspaltung“ des einaktigen Vorgangs in eine fiktive zweiaktige Zahlung „über’s Eck“ widerspricht zudem dem auch vom Bundesgerichtshof selbst anerkannten Grundsatz, dass die Berücksichtigung hypothetischer alternativer Geschehensabläufe nicht zulässig ist.44) Die Überweisung aus einem debitorischen Konto im Wege einer „Einzelbetrachtung“ von Kreditschöpfung und Mittelverwendung aufzuspalten, lässt sich aus diesem Grund nicht unter Rückgriff auf die Lehre von der mittelbaren Zuwendung rechtfertigen. b) Bewertung des Kreditanspruchs als vollwertiger Aktivposten Die Einordnung der Überweisung aus einem debitorischen Konto als Anweisung auf Schuld ist aber auch deshalb nicht tragfähig, weil man den auf das Konto bezogenen Darlehensauszahlungsanspruch nicht als Aktivposten ansehen kann. Zwar findet sich im ausgehenden 19. Jahrhundert

40) 41)

42) 43) 44)

Vgl. Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 129 Rz. 266. Vgl. dazu symptomatisch BGH, Urt. v. 16.11.2007 – IX ZR 194/04, Rz. 24 ff., BGHZ 174, 228 = ZIP 2008, 125 – zur Konkurrenz zu § 134 InsO; vgl. dazu Kayser in: FS Ganter, 2010, S. 221, 222 ff. Das übersehen Ringstmeier/Homann, Gläubigerbenachteiligung bei Zahlungen aus und außerhalb der Kreditlinie – Eine Neubesinnung, ZInsO 2009, 607, 611. Völlig zutreffend daher RG, Urt. v. 30.4.1901 – VII 75/01, RGZ 48, 148, 151. So zutreffend Lütcke, NZI 2011, 702, 703 m. w. N. zu diesem Topos.

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die These, „daß Kredit auch noch Vermögen sei“.45) Damit lässt sich aber letztlich nur begründen, warum die rechnerische Überschuldung bei positiver Fortführungsprognose keine Überschuldung im insolvenzrechtlichen Sinne begründet (§ 19 Abs. 2 Satz 1 InsO); bilanziell betrachtet ist die Aussage dagegen schlicht falsch, weil selbst ein Anspruch aus § 488 Abs. 1 Satz 1 BGB nicht aktiviert werden kann. Daran wird deutlich, dass die herkömmliche Differenzierung zwischen Anweisung auf Schuld und Anweisung auf Kredit im Detail unscharf ist. Entscheidend kann für die Abgrenzung nämlich nicht allein sein, ob der Anweisende einen Anspruch auf die Ausführung der Anweisung hat und daher insoweit Gläubiger des Zuwendenden ist. Hinzukommen muss vielmehr, dass sich diese Gläubigerposition aus Sicht der Gläubigergesamtheit wirtschaftlich als echter, vollwertiger Aktivposten darstellt. Bei Zahlungen aus debitorischen Konten fehlt es aber am objektiv gläubigerbenachteiligenden Tausch eines „echten“ Aktivpostens gegen die Befriedigung einer potentiellen Insolvenzforderung, weil ein Anspruch aus § 488 Abs. 1 Satz 1 BGB in der Insolvenz niemals zugunsten der Gläubigergesamtheit verwertet werden kann. Bei einem typischen Dispositionskredit erlischt der Girovertrag durch die Insolvenzeröffnung (§§ 115, 116 InsO);46) damit erlischt auch die Kreditzusage zugunsten des Schuldners. Schon deshalb kann der Insolvenzverwalter den Kredit nicht zur Befriedigung der übrigen Gläubiger abrufen. Aber selbst wenn der Anspruch aus § 488 Abs. 1 Satz 1 BGB der Masse zustehen sollte, begründet der Insolvenzverwalter, der den Kredit in Anspruch nimmt, eine Masseverbindlichkeit (§ 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1 InsO), die vorranging zu begleichen ist (§ 53 InsO);47) die bereinigte Aktivmasse, die zur Befriedigung der Insolvenzgläubiger zur Verfügung steht, lässt sich durch die Kreditaufnahme daher nicht erhöhen. Das unterscheidet den Fall der Zahlung aus einem debitorisch geführten Konto von der üblichen „Anweisung auf Schuld“, bei der dem Anspruch gegen den Drittschuldner kein gleichwertiger Rück45)

46) 47)

So die Stellungnahme des Regierungskommissars im Bericht der X. Kommission v. 16.3.1894, Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages, 9. Legislaturperiode – II. Session 1893/94, Anlagenband 2, Nr. 278, S. 1352. So nunmehr ausdrücklich BGH, Urt. v. 21.2.2019 – IX ZR 246/17, Rz. 11, ZIP 2019, 577 = WM 2019, 550. Marotzke, ZInsO 2007, 897, 901 f. (Urteilsanm.); Ringstmeier/Homann, ZInsO 2009, 607, 608; Polt, Die Zahlung von debitorischen Konten – ein Fall der Gläubigerbenachteiligung im Sinne des § 129 InsO?, in: FS Krämer, 2009, S. 317, 324 f.; vgl. auch Häsemeyer, KTS 2007, 423, 425.

Zahlungen aus debitorischen Konten im Insolvenzanfechtungsrecht

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zahlungsanspruch gegenübersteht. Erfolgt die Zahlung aus einer vorab vereinbarten Kontoüberziehung, könnte man zwar von einer „Anweisung auf geschuldeten Kredit“ sprechen; das macht sie aber nicht zu einer „Anweisung auf Schuld“ im anfechtungsrechtlichen Sinne. Vielmehr fehlt es in allen Fällen der Zahlung aus einem debitorisch geführten Konto an einer unmittelbaren Benachteiligung der Gläubiger.48) Diese kann nicht zur Vermeidung von Beweisproblemen bei § 133 Abs. 1 BGB „herbeifingiert“ werden. Zur Vermeidung von Missverständnissen sei schließlich darauf hingewiesen, dass die hier vertretene These, nach der es auch bei „Anweisungen auf geschuldeten Kredit“ an einer unmittelbaren Gläubigerbenachteiligung fehlt, nicht der Rechtsprechung zur Pfändbarkeit des Anspruchs aus § 488 Abs. 1 Satz 1 BGB widerspricht. Denn im Unterschied zur Insolvenz geht es in der Einzelzwangsvollstreckung nicht um eine quotale Befriedigung. Ob diese Rechtsprechung Zustimmung verdient,49) kann daher hier offenbleiben. Nach wie vor in Betracht kommt freilich die Möglichkeit einer mittelbaren Gläubigerbenachteiligung im Fall eines nicht vollkommen masseneutralen Passivtauschs, etwa, wenn für die neue Forderung der Bank eine werthaltige Sicherheit bestellt ist, die ansonsten nicht hätte verwertet werden dürfen.50) Die Richtigkeit der hier vertretenen Auffassung wird schließlich noch durch die Analyse eines eher atypischen Falls bestätigt, in dem der Schuldner durch die Kontoüberziehung einen höherverzinslichen Kredit ablöst. Denn in diesem Fall ist die Zahlung aus dem debitorischen Konto nicht nur nicht gläubigerbenachteiligend, sondern wegen der Entlastung der Passivmasse sogar vorteilhaft. Die Einzelbetrachtung des Bundesgerichtshofes ist in einem solchen Fall kontraproduktiv, weil sie mit der Zerlegung des einheitlichen Vorgangs in zwei so gar nicht geschehene Einzelakte eine wirtschaftliche Besserstellung der Insolvenzmasse (Verminderung der Passiva) verhindert. Das widerstrebt erkennbar dem Zweck der Insolvenzanfechtung.51) Die Lösung des Bundesgerichtshofes scheint – unausgesprochen – 48)

49) 50) 51)

Im Ergebnis wie hier Ringstmeier/Homann, ZInsO 2009, 607, 608 f.; Polt in: FS Krämer, 2009, S. 317, 324 f.; Achsnick/Opp, Insolvenzanfechtung von Zahlungen aus geduldeter Kontoüberziehung, NZI 2010, 633, 636 f. Ablehnend etwa Bitter, WM 2001, 889, 893; Bitter, WM 2004, 1109, 1112 ff.; Bitter in: Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Hdb., 5. Aufl. 2017, § 33 Rz. 87 ff. Kritisch hierzu aber Häsemeyer, KTS 2007, 423, 425 ff. Das übersieht Ganter in: FS Görg, 2010, S. 169, 183, wenn er auf die Vorteile der Einzelbetrachtung verweist.

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eher auf die Abschöpfung des „ungerechtfertigten“ Vorteils beim befriedigten Gläubiger, als auf den Schutz der Gläubigergesamtheit ausgerichtet zu sein. Das Insolvenzanfechtungsrecht soll aber nicht die Bevorzugung einzelner verhindern, sondern die Benachteiligung der Gläubigergesamtheit sicherstellen.52) c) Ungerechtfertigte Massebereicherung Ungereimtheiten treten auf dem Boden der Lösung des Bundesgerichtshofes auch dann auf, wenn man sich auf die Rechtsfolgen der Anfechtung besinnt. Im Falle einer erfolgreichen Anfechtung der Zahlung aus dem debitorischen Konto stünde der gesamte Zahlungsbetrag der Gläubigergesamtheit zur Verwertung zur Verfügung. Die Bank ist hingegen wegen ihres Debetsaldos auf eine Insolvenzforderung verwiesen. Die Masse erhält damit im Ergebnis den vollen Geldbetrag, muss ihn aber nur i. H. der Insolvenzquote an die Bank zurückführen. Nähme dagegen der Insolvenzverwalter selbst den Kredit in Anspruch, wäre er als Masseverbindlichkeit voll zurückzubezahlen (§ 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1 InsO). Wenn es aber zutrifft, dass die Insolvenzanfechtung nur die Wirkungen der Insolvenzeröffnung zeitlich vorverlagern soll, kann es nicht richtig sein, dass die Anfechtung im Einzelfall zu einem Ergebnis führt, das nie zu erreichen gewesen wäre, hätte derselbe Vorgang erst nach der Insolvenzeröffnung stattgefunden.53) IV. Gläubigerbenachteiligung durch Passivmassemehrung Nachdem sich die Gläubigerbenachteiligung bei Zahlungen aus debitorischen Konten nicht unter Rückgriff auf die Lehre von der mittelbaren Zuwendung begründen lässt, ist abschließend noch ein kurzer Blick auf die These zu werfen, dass es hier zu einer Passivmehrung komme, die die übrigen Gläubiger benachteiligt.54) Diese These beruht wiederum auf einer Einzelbetrachtung, die nunmehr jedoch die – bei Überweisungen auf Kon52)

53) 54)

Der von Raebel, Folgenbeseitigung von Gläubigerbenachteiligungen, in: FS Ganter, 2010, S. 339, 341 f., herangezogene Begriff der „relativen Gläubigerbenachteiligung“ ist insoweit zu unscharf. RG, Urt. v. 30.4.1901 – VII 75/01, RGZ 48, 148, 151; Achsnick/Opp, NZI 2010, 633, 637; Lütcke, NZI 2011, 702, 703; ausführlich auch Polt in: FS Krämer, 2009, S. 317, 322 ff. So Jacoby/Mikolajczak, Gläubigerbenachteiligung bei Zahlung mittels Bank und sonstiger Dritter, ZIP 2010, 301, 305 f.

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ten bei anderen Kreditinstituten in der Tat etwas zeitverzögerte – Tilgung der potentiellen Insolvenzforderung außer Betracht lassen will. Mit dieser Begründung lässt sich aber nicht die Anfechtung der Deckung gegenüber dem potentiellen Insolvenzgläubiger erklären. Wird die Passivmasse anfechtbar gemehrt, führt die Insolvenzanfechtung vielmehr dazu, dass der Insolvenzverwalter bei der Anmeldung der Forderung zur Tabelle die Einrede der Anfechtbarkeit erheben kann. V. Zusammenfassung Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass die These von der objektiven Gläubigerbenachteiligung durch Zahlungen aus debitorisch geführten Konten ausschließlich ergebnisorientiert zu erklären, aber dogmatisch nicht zu begründen ist. Es ist daher an der Zeit, zu den Quellen der Erkenntnis zurückzukehren, aus denen das Reichsgericht55) schon 1901 geschöpft hat.56) Damit würde auch wieder ein Gleichlauf der Auslegung von § 129 Abs. 1 InsO und § 64 Satz 1 GmbHG erreicht, weil der II. Zivilsenat keine „Zahlung“, sondern einen masseneutralen Gläubigertausch annimmt, wenn der Geschäftsführer zulasten eines debitorischen Kontos eine Forderung gegen die Gesellschaft begleicht.57)

55) 56) 57)

RG, Urt. v. 30.4.1901 – VII 75/01, RGZ 48, 148, 151. Dafür auch Achsnick/Opp, NZI 2010, 633, 637. Vgl. zuletzt BGH, Urt. v. 4.7.2017 – II ZR 319/15, Rz. 13, ZIP 2017, 1619 = WM 2017, 1661 m. w. N.

Die Rückforderung festgesetzter, im Nachhinein als verwirkt erkannter Verwaltervergütungen MICHAEL PLUTA UND GRIT HEIDRICH Inhaltsübersicht I. II.

Einleitung Grundsätze der Verwirkung von Vergütungsansprüchen III. Die Geltendmachung der Verwirkung durch den neuen Verwalter vor Eintritt der Rechtskraft des Vergütungsbeschlusses 1. Die Rechtskraft von Vergütungsbeschlüssen a) Formelle Rechtskraft b) Materielle Rechtskraft 2. Vorgehen des neuen Insolvenzverwalters vor Rechtskraft des Beschlusses 3. Rückforderung von Vorschüssen und bereits vor Rechtskraft entnommener Vergütungen

IV. Rückforderung rechtskräftig festgesetzter, im Nachhinein als verwirkt anzusehender Vergütungen 1. Wiederaufnahme des Vergütungsfestsetzungsverfahrens? 2. Verlängerte Vollstreckungsabwehrklage gemäß § 812 Abs. 1 Satz 1 BGB? 3. Schadenersatzklage wegen sittenwidriger Titelerschleichung gemäß § 826 BGB 4. Rückforderungsanspruch gemäß § 60 InsO? V. Fazit

I. Einleitung In jüngster Zeit verging kein Jahr, in dem der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes nicht über die Verwirkung des Vergütungsanspruchs eines Insolvenzverwalters zu entscheiden hatte.1) Diesen Beschlüssen wie auch solchen aus früheren Jahren sowie den Entscheidungen unterinstanzlicher Gerichte ist gemein, dass die jeweiligen insolvenzgerichtlichen Vergütungsfestsetzungen noch nicht rechtskräftig waren, so dass im Verlauf der Vergütungsfestsetzungs- bzw. der sich anschließenden Rechtsmittelverfahren die Verwirkung der Verwaltervergütungen festgestellt wurde. Schaut man sich die veröffentlichten Entscheidungen an, gingen diesen entweder (Rechts-)Beschwerden eines neu bestellten Insolvenzverwalters oder anderer Beteiligter gegen die Vergütungsfestsetzung zugunsten des abberufe1)

BGH, Beschl. v. 22.11.2018 – IX ZB 14/18, ZIP 2019, 82 = NZI 2019, 139; BGH, Beschl. v. 21.9.2017 – IX ZB 28/14, ZIP 2017, 2063 = NZI 2017, 988; BGH, Beschl. v. 14.7.2016 – IX ZB 52/15, ZIP 2016, 1648 = NZI 2016, 892.

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nen Verwalters voraus,2) oder aber der abgelöste Verwalter wehrte sich im Rechtsmittelverfahren gegen die Zurückweisung seines Vergütungsantrags.3) Teilweise war der treulose, abberufene Insolvenzverwalter selbst in Insolvenz geraten, so dass dessen Insolvenzverwalter die Festsetzung der Verwaltervergütung beantragte bzw. gegen deren Aberkennung vorging.4) Vergeblich sucht man hingegen in der (veröffentlichten) Rechtsprechung Fälle, in denen die Vergütung bereits rechtskräftig festgesetzt und aus der Masse entnommen wurde und in denen sich erst im Nachhinein herausstellte, dass die Verwaltervergütung objektiv verwirkt war, beispielsweise wegen der Veruntreuung von Massebeträgen, die der Insolvenzverwalter zunächst über die Vorlage gefälschter Kontoauszüge erfolgreich gegenüber dem Insolvenzgericht zu verschleiern vermochte. Hier stellt sich dann die Frage, ob nach Aufdeckung solcher Delikte ein an die Stelle des untreuen Verwalters getretener neuer Insolvenzverwalter die bereits aus der Insolvenzmasse entnommene, titulierte Vergütung von seinem Amtsvorgänger zurückfordern kann. II. Grundsätze der Verwirkung von Vergütungsansprüchen Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes5) verwirkt der Insolvenzverwalter seinen Vergütungsanspruch entsprechend dem der Regelung in § 654 BGB zugrunde liegenden allgemeinen Rechtsgedanken, wenn er vorsätzlich oder grob leichtfertig die ihm obliegende Treuepflicht so schwerwiegend verletzt, dass er sich seines Lohnes als unwürdig erweist. Da der Insolvenzverwalter einen gemäß Art. 12 Abs. 1 GG verfas2)

3)

4)

5)

BGH, Beschl. v. 22.11.2018 – IX ZB 14/18, ZIP 2019, 82 = NZI 2019, 139; BGH, Beschl. v. 21.9.2017 – IX ZB 28/14, ZIP 2017, 2063 = NZI 2017, 988; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 6.4.2000 – 9 W 87/99, ZIP 2000, 2035, sowie die Vorinstanz LG Konstanz, Beschl. v. 15.9.1999 – 6 T 38/99, ZInsO 1999, 589. BGH, Beschl. v. 6.5.2004 – IX ZB 349/02, NZI 2004, 440 = ZIP 2004, 1214; LG Magdeburg, Beschl. v. 10.1.2013 – 11 T 507/11, BeckRS 2013, 14545; LG Mühlhausen, Beschl. v. 7.8.2007 – 2 T 151/07, BeckRS 2008, 12620; LG Schwerin, Beschl. v. 9.7.2008 – 5 T 31/06, NZI 2008, 692. BGH, Beschl. v. 14.7.2016 – IX ZB 52/15, ZIP 2016, 1648 = NZI 2016, 892; BGH, Beschl. v. 9.6.2011 – IX ZB 248/09, NZI 2011, 760 = ZIP 2011, 1526; LG Deggendorf, Beschl. v. 24.7.2013 – 13 T 57/13, ZIP 2013, 1975 = NZI 2013, 1028; LG München II, Beschl. v. 29.7.2003 – 7 T 5001/00, ZInsO 2003, 910, sowie die Vorinstanz AG Wolfratshausen, Beschl. v. 3.8.2000 – N 19/92, ZInsO 2000, 517 (in dem Fall war der untreue Konkursverwalter verstorben, später wurde ein Nachlassinsolvenzverwalter bestellt). Zuletzt: BGH, Beschl. v. 22.11.2018 – IX ZB 14/18, Rz. 15, ZIP 2019, 82 = NZI 2019, 139.

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sungsrechtlich gewährleisteten Anspruch auf Vergütung seiner Tätigkeit hat, kommt ein Ausschluss der Vergütung unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht. Es genügt nicht jede objektiv erhebliche Pflichtverletzung. Die Versagung jeglicher Vergütung kommt vielmehr nur bei einer schweren, subjektiv in hohem Maße vorwerfbaren Verletzung der Treuepflicht in Betracht. Eine solche besonders schwerwiegende Pflichtverletzung liegt insbesondere dann vor, wenn der Insolvenzverwalter zum Nachteil der von ihm verwalteten Masse eine strafbare Handlung begeht, wie eine Untreue (§ 266 StGB), um sich oder seine Angehörigen zu bereichern.6) Auch der Auftritt unter einem falschem Diplomtitel („Diplom-Kaufmann“), mit dessen Hilfe die Bestellung zum Insolvenzverwalter durch Täuschung in strafbarer Weise (§ 132a StGB) erschlichen wurde, führt zur Versagung der Vergütung.7) Ebenso wurde einem Insolvenzverwalter die Vergütung abgesprochen, der bei seiner Bestellung verschwiegen hat, dass er in einer Vielzahl früherer Insolvenzverfahren als Verwalter an sich selbst oder an von ihm beherrschte Gesellschaften grob pflichtwidrig Darlehen aus den dortigen Insolvenzmassen ausgereicht hatte.8) Die strafbaren Handlungen, die zum Ausschluss der Vergütung führen, muss der Insolvenzverwalter nicht im Rahmen des Verfahrens begangen haben, in dem er die Vergütung begehrt. Nach Auffassung des Bundesgerichtshofes9) genügt es, wenn eine in einem anderen Insolvenzverfahren verübte Straftat die charakterliche Eignung des Verwalters, fremdes Vermögen zu verwalten, entfallen lässt, so dass er die Bestellung zum Insolvenzverwalter nicht hätte annehmen dürfen. Später stellte der Bundesgerichtshof10) klar, dass die Verwirkung des Vergütungsanspruchs regelmäßig nur auf Pflichtverletzungen des Verwalters bei Ausübung des konkreten Amtes gestützt werden kann, für das er eine Vergütung beansprucht. Pflichtverletzungen des Insolvenzverwalters im eröffneten Verfahren führen demnach nur unter besonderen Umständen zum Verlust des Anspruchs auf Vergütung für die vorangegangene Tätigkeit als vorläufiger Insolvenzverwalter. 6) 7) 8) 9) 10)

BGH, Beschl. v. 22.11.2018 – IX ZB 14/18, Rz. 17, ZIP 2019, 82 = NZI 2019, 139. BGH, Beschl. v. 6.5.2004 – IX ZB 349/02, NZI 2004, 440 = ZIP 2004, 1214. BGH, Beschl. v. 14.7.2016 – IX ZB 52/15, ZIP 2016, 1648 = NZI 2016, 892. BGH, Beschl. v. 9.6.2011 – IX ZB 248/09, Rz. 6, NZI 2011, 760 = ZIP 2011, 1526. BGH, Beschl. v. 21.9.2017 – IX ZB 28/14, ZIP 2017, 2063 = NZI 2017, 988.

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III. Die Geltendmachung der Verwirkung durch den neuen Verwalter vor Eintritt der Rechtskraft des Vergütungsbeschlusses Zunächst ist vom neuen Insolvenzverwalter zu prüfen, ob die bereits erfolgte Vergütungsfestsetzung zugunsten seines treulosen, entlassenen Amtsvorgängers rechtskräftig ist und, wenn das nicht der Fall ist, welche Schritte er unternehmen kann, um wegen eines erfüllten Verwirkungstatbestandes die Herabsetzung der Vergütung auf Null zu erreichen. 1. Die Rechtskraft von Vergütungsbeschlüssen Vergütungsbeschlüsse sind der formellen und materiellen Rechtskraft fähig. a) Formelle Rechtskraft Die formelle Rechtskraft tritt ein, wenn die Rechtsmittelfristen abgelaufen sind oder die den Rechtszug abschließende Entscheidung wirksam geworden ist.11) Die zweiwöchige Frist zur Erhebung der sofortigen Beschwerde gegen den insolvenzgerichtlichen Vergütungsbeschluss (§§ 4, 64 Abs. 3 Satz 1 InsO, § 569 Abs. 1 Satz 1 ZPO) beginnt gemäß § 6 Abs. 2 InsO mit der Zustellung der Entscheidung zu laufen. Gemäß der §§ 9 Abs. 3, 64 Abs. 2 InsO genügt für die Zustellung die öffentliche Bekanntmachung der Vergütungsfestsetzung. Ist die öffentliche Bekanntmachung unrichtig erfolgt, wird die Zustellungswirkung des § 9 Abs. 3 InsO nicht ausgelöst.12) Allerdings ist gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 InsO der Vergütungsbeschluss dem Insolvenzverwalter, dem Schuldner und den Mitgliedern eines bestehenden Gläubigerausschusses besonders zuzustellen. Erfolgte die Einzelzustellung vor der Wirksamkeit der öffentlichen Bekanntmachung, ist für den Lauf der Beschwerdefrist die frühere Zustellung maßgeblich.13) Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung verlangt die ordnungsgemäße öffentliche Bekanntmachung eines Vergütungsbeschlusses die richtige Bezeichnung der verkündeten Entscheidung (vorläufiger Insolvenzverwalter oder Insolvenzverwalter),14) die Veröffentlichung des vollständigen, 11) 12) 13) 14)

Lorenz in: FK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 8 InsVV Rz. 60. BGH, Beschl. v. 24.3.2016 – IX ZB 67/14, Rz. 9, ZIP 2016, 988 = NZI 2016, 397. BGH, Beschl. v. 5.11.2009 – IX ZB 173/08, Rz. 9, NZI 2010, 159. BGH, Beschl. v. 10.11.2011 – IX ZB 165/10, Rz. 8, ZIP 2011, 2479 = NZI 2011, 974.

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nur um die festgesetzten Beträge anonymisierten Beschlusstenors, der Berechnungsgrundlage, der Zuschläge und Abschläge einschließlich einer schlagwortartigen Bezeichnung und der im Rahmen der Gesamtschau festgesetzte Gesamtzuschlag oder -abschlag, die vom Insolvenzgericht angenommenen Auslagentatbestände und gegebenenfalls die Entscheidung des Insolvenzgerichts, ob vom Insolvenzverwalter an von ihm beauftragte Dritte aus der Masse bezahlte Vergütungen zu berücksichtigen sind.15) Ist in Ermangelung einer ordnungsgemäßen Zustellung bzw. Bekanntmachung die Beschwerdefrist nicht angelaufen, ist eine mögliche Verfristung gemäß § 569 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 ZPO zu beachten. Der Bundesgerichtshof16) wendet die nach Erlass der Entscheidung anlaufende FünfMonats-Frist, nach deren Ablauf die Beschwerdefrist spätestens beginnt, nicht auf die Fälle entsprechend an, in denen eine öffentliche Bekanntmachung in einer Art und Weise erfolgte, die einzelne Beteiligte des Insolvenzverfahrens dazu zwingt, beim Insolvenzgericht nachzufragen, ob überhaupt eine Entscheidung vorliegt. Demzufolge muss die Beschwerdefrist nach fünf Monaten zumindest dann zu laufen beginnen, wenn die Insolvenzgläubiger vernünftigerweise von einer entsprechenden Beschlussfassung ausgehen durften (wie im Falle einer unzureichenden Bekanntmachung).17) Sollte ausnahmsweise die Fünf-Monats-Frist noch nicht begonnen haben, ist die Verwirkung des Beschwerderechts zu prüfen, die dann in Betracht kommt, wenn ein erheblicher Zeitraum seit dem Erlass des Vergütungsbeschlusses verstrichen ist und die Beteiligten den durch die angefochtene Entscheidung geschaffenen Zustand infolge des Ausbleibens eines Rechtsmittels als endgültig angesehen haben und ansehen durften. Der Bundesgerichtshof18) sieht den für die Verwirkung erforderlichen Umstandsmoment im Regelfall als erfüllt an, wenn die Schlussverteilung stattgefunden hat und die Aufhebung des Insolvenzverfahrens öffentlich bekannt gemacht worden ist (§ 200 InsO), da dann einem Gläubiger klar sein müsse, dass auch für den Insolvenzverwalter eine Vergütung festgesetzt worden sei. Als Zeitmoment lässt er es in Anlehnung an § 569 Abs. 1 Satz 2 Halbs. 2 ZPO genügen, wenn fünf Monate seit der öffentlichen Bekanntmachung

15) 16) 17) 18)

BGH, Beschl. v. 14.12.2017 – IX ZB 65/16, Rz. 26, ZIP 2018, 86 = NZI 2018, 235. BGH, Beschl. v. 14.12.2017 – IX ZB 65/16, Rz. 38, ZIP 2018, 86 = NZI 2018, 235. Keller, NZI 2018, 239, 240 (Urteilsanm.). BGH, Beschl. v. 14.12.2017 – IX ZB 65/16, Rz. 40, ZIP 2018, 86 = NZI 2018, 235.

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der Aufhebung des Insolvenzverfahrens, mindestens jedoch seit Erlass des Beschlusses über die Festsetzung der Vergütung verstrichen sind. Die Beschlüsse des Gerichts, die auf die sofortige Beschwerde ergangen sind und der Rechtsbeschwerde unterliegen, sind in entsprechender Anwendung von § 318 ZPO unabänderlich und damit grundsätzlich bindend.19) Lässt also das Beschwerdegericht die Rechtsbeschwerde nicht zu, tritt die formelle Rechtskraft schon mit Verkündung, Mitteilung oder Zustellung der Entscheidung des Beschwerdegerichts ein (§ 4 InsO i. V. m. § 329 ZPO). Die Entscheidung darf demzufolge auch nicht aufgrund einer Gegenvorstellung abgeändert werden. b) Materielle Rechtskraft Die materielle Rechtskraft der Vergütungsfestsetzung bezieht sich nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung20) nur auf den Vergütungsanspruch und seinen Umfang; die Ausführungen des Gerichts zur Berechnungsgrundlage und zum Vergütungssatz einschließlich der hierfür bejahten oder verneinten Zu- oder Abschläge nehmen als bloße Vorfragen nicht an der materiellen Rechtskraft der Vergütungsfestsetzung teil. Wenn sich durch neue Tatsachen die Sachlage nach der Erstfestsetzung zugunsten des Antragstellers verändert hat (wie nachträgliche Massezuflüsse oder die Erbringung weiterer zuschlagsbegründender Tätigkeiten), ist eine nachträgliche Ergänzung der Vergütungsfestsetzung möglich.21) Damit ist der Insolvenzverwalter im Rahmen eines Zweitantrags nur mit solchen Tatsachen ausgeschlossen, die er im Verlauf des ersten Festsetzungsverfahrens hätte geltend machen können.22) 2. Vorgehen des neuen Insolvenzverwalters vor Rechtskraft des Beschlusses Wenn der treulose Insolvenzverwalter nach Bekanntwerden seiner schwerwiegenden Pflichtverletzungen eine ergänzende Festsetzung der Vergütung beantragen würde, wäre in diesem zweiten, noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Festsetzungsverfahren die Verwirkung des Vergütungs19) 20) 21) 22)

BGH, Beschl. v. 18.10.2018 – IX ZB 31/18, Rz. 14 ff., ZIP 2018, 2229 = NZI 2018, 958. BGH, Beschl. v. 20.5.2010 – IX ZB 11/07, Rz. 10, ZIP 2010, 1403 = NZI 2010, 643. BGH, Beschl. v. 20.7.2017 – IX ZB 75/16, Rz. 9, ZIP 2017, 1629 = NZI 2017, 822. BGH, Beschl. v. 6.10.2011 – IX ZB 12/11, Rz. 9, ZIP 2011, 2115 = NZI 2011, 906.

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anspruchs zu berücksichtigen, so dass dieser weitere Antrag vom Insolvenzgericht zurückzuweisen wäre. Ist die Beschwerdefrist gegen den ersten Vergütungsbeschluss noch nicht abgelaufen, ist der neue Insolvenzverwalter gemäß § 64 Abs. 3 Satz 1 InsO beschwerdebefugt. Der Insolvenzverwalter hat kraft Amtes die Vermögensfürsorge für die Masse wahrzunehmen (§ 80 Abs. 1 InsO). Deshalb kommt dem Insolvenzverwalter zur Abwehr unberechtigter Vergütungsforderungen gegen die Masse die Beschwerdebefugnis bei der Festsetzung der Vergütung eines entlassenen früheren Insolvenzverwalters oder vorläufigen Insolvenzverwalters zu.23) Diese Beschwerdebefugnis muss auch einem neuen Insolvenzverwalter zustehen, der erst nach dem Erlass des Vergütungsbeschlusses, aber noch während der laufenden Rechtsmittelfrist bestellt wurde. Zu diesem Zeitpunkt ist der Vergütungsbeschluss noch nicht rechtskräftig. Die dem Insolvenzverwalter auferlegte Aufgabe der Massesicherung gebietet es, dass dieser kraft eigenen Rechts gegen die zu Unrecht festgesetzte Vergütung seines Amtsvorgängers vorgehen kann und sich nicht auf einen Umweg, etwa einen Insolvenzgläubiger zur Einlegung der sofortigen Beschwerde zu bewegen und über diesen den Verwirkungseinwand erheben zu lassen, verweisen lassen muss. Vergleichend kann die Anfechtung von Beschlüssen einer Wohnungseigentümerversammlung herangezogen werden. Ein Erwerber, der zum Zeitpunkt der Beschlussfassung noch nicht im Wohnungsgrundbuch als Eigentümer eingetragen war, aber innerhalb der noch laufenden Anfechtungsfrist Eigentümer wird, kann einen durch die Wohnungseigentümer gefassten Beschluss anfechten, da er durch diesen für die Zukunft belastet wird (vgl. § 10 Abs. 4 WEG).24) Da vorliegend die Masse durch eine rechtsgrundlos gewährte, da verwirkte Vergütung des abgelösten Verwalters beeinträchtigt ist, muss es dem neuen Insolvenzverwalter während der noch laufenden Beschwerdefrist möglich sein, in eigener Person Beschwerde gegen den Vergütungsbeschluss einzulegen. Den Einwand der Verwirkung der Vergütung kann der neue Insolvenzverwalter im Beschwerdeverfahren erheben, auch wenn die zugrunde lie23) 24)

BGH, Beschl. v. 10.10.2013 – IX ZB 38/11, Rz. 12, ZIP 2013, 2164 = NZI 2013, 1014; BGH, Beschl. v. 27.9.2012 – IX ZB 276/11, Rz. 3, ZIP 2012, 2081 = NZI 2012, 886. OLG Frankfurt, Beschl. v. 14.4.1992 – 20 W 202/91, NJW-RR 1992, 1170; Bergerhoff in: Bärmann/Seuß, Praxis des Wohnungseigentums, 7. Aufl. 2017, § 87 Rz. 8.

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genden Tatsachen schon vor der Festsetzung der Vergütung durch das Insolvenzgericht vorlagen. Gemäß § 4 InsO i. V. m. § 571 Abs. 2 Satz 1 ZPO darf die Beschwerde auf neue Angriffs- und Verteidigungsmittel gestützt werden. Nur in der Rechtsbeschwerde sind wegen § 576 Abs. 1 ZPO neue Tatsachen grundsätzlich nicht mehr zu berücksichtigen. Kann der neue Insolvenzverwalter infolge des Ablaufs der Beschwerdefrist selbst kein Rechtsmittel mehr einlegen, müsste dieser jedoch in einem vom vormaligen Verwalter, vom Schuldner oder von Insolvenzgläubigern bereits eingeleiteten Beschwerdeverfahren seine Erkenntnisse zur Verwirkung der Verwaltervergütung darlegen können. Gemäß § 5 InsO gilt die Amtsermittlungspflicht auch im Vergütungsfestsetzungsverfahren25) einschließlich des Beschwerdeverfahrens nach § 6 InsO.26) Aufgrund dessen muss das Insolvenz- bzw. das Beschwerdegericht die für die zu treffende Vergütungsentscheidung maßgeblichen Tatsachen ermitteln, so dass es den Vortrag des amtierenden Insolvenzverwalters, auch wenn dieser nicht Beteiligter des Beschwerdeverfahrens ist, berücksichtigen muss. Hatte allerdings allein der treulose Insolvenzverwalter sofortige Beschwerde gegen den Vergütungsbeschluss eingelegt, ist das Verbot der Schlechterstellung (reformatio in peius) zu beachten.27) Deshalb ist ihm auch dann, wenn nachträglich im Beschwerdeverfahren festgestellt wird, dass dieser seine Vergütung verwirkt hat, in der Rechtsmittelentscheidung bzw. nach Aufhebung und Zurückverweisung in der neuen Entscheidung die Vergütung zu gewähren, die ihm in dem angefochtenen Beschluss zugesprochen wurde. 3. Rückforderung von Vorschüssen und bereits vor Rechtskraft entnommener Vergütungen Hatte der vormalige Insolvenzverwalter, dessen Vergütung wegen Verwirkung abschließend auf Null festgesetzt wurde, bereits Vorschüsse gezogen,28) muss dieser die erlangten Beträge zurückzahlen. Die Rückerstattung richtet sich nach materiellem Recht.29)

25) 26) 27) 28)

29)

BGH, Beschl. v. 16.10.2008 – IX ZB 247/06, Rz. 25, NZI 2009, 57. Pape in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 5 Rz. 1. BGH, Beschl. v. 6.5.2004 – IX ZB 349/02, NZI 2004, 440, 441 = ZIP 2004, 1214. Wie in den Fällen: BGH, Beschl. v. 14.7.2016 – IX ZB 52/15, ZIP 2016, 1648 = NZI 2016, 892; LG Schwerin, Beschl. v. 9.7.2008 – 5 T 31/06, NZI 2008, 692; AG Wolfratshausen, Beschl. v. 3.8.2000 – N 19/92, ZInsO 2000, 57. BGH, Beschl. v. 1.10.2002 – IX ZB 53/02, NZI 2003, 31 32 = ZIP 2002, 2223.

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Anspruchsgrundlage ist ein Anspruch aus ungerechtfertigter Bereicherung gemäß § 812 Abs. 1 Satz 2 BGB. Mit Festsetzung der Vergütung auf Null ist der Rechtsgrund für die Vergütung und damit für die zuvor gestattete Vorschussentnahme weggefallen.30) Diesen Anspruch muss der neue Insolvenzverwalter verfolgen. Für die Rückforderung einer festgesetzten Vergütung, die aufgrund der vorläufigen Vollstreckbarkeit bereits vor Rechtskraft des Vergütungsbeschlusses vom abgelösten Verwalter entnommen und die anschließend im Rechtsmittelverfahren herabgesetzt wurde, greift der Bundesgerichtshof31) allerdings nicht auf einen Bereicherungsanspruch oder einen etwaigen Schadensersatzanspruch nach § 60 InsO zurück, sondern auf den prozessualen Schadensersatzanspruch gemäß § 717 Abs. 2 ZPO, der nach einer Aufhebung oder Änderung des nicht rechtskräftigen Vergütungsfestsetzungsbeschlusses analoge Anwendung findet. Die verschiedenen Anspruchsgrundlagen schließen einander jedoch nicht aus, sondern konkurrieren miteinander.32) IV. Rückforderung rechtskräftig festgesetzter, im Nachhinein als verwirkt anzusehender Vergütungen Ist die Vergütung des abgelösten Insolvenzverwalters in Unkenntnis des Insolvenz- bzw. Beschwerdegerichts von Verwirkungstatbeständen bereits rechtskräftig festgesetzt worden, hat der nach deren Aufdeckung in der Regel ins Amt gekommene neue Verwalter zu prüfen, wie die Rechtskraft des Vergütungsbeschlusses durchbrochen werden kann, um die vom Amtsvorgänger entnommene Vergütung wieder zur Masse zu ziehen. Ist allerdings der abgelöste Verwalter selbst insolvent, verbleibt nur die Anmeldung der Rückforderungsansprüche zur Insolvenztabelle.

30)

31) 32)

Vgl. LG Göttingen, Beschl. v. 2.8.2001 – 10 T 40/01, NZI 2001, 665; Haarmeyer/Mock, InsVV, 5. Aufl. 2014, § 9 Rz. 22; Prasser in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, 64. EL 7/2015, § 9 InsVV Rz. 3; Stephan in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 9 InsVV Rz. 33. BGH, Urt. v. 20.3.2014 – IX ZR 25/12, ZIP 2014, 1394 = NZI 2014, 709; BGH, Urt. v. 17.11.2005 – IX ZR 179/04, ZIP 2006, 36 = NZI 2006, 94. Cranshaw, Bemerkungen zu der Leistung der Insolvenzverwaltervergütung und zu der Erstattung von „Überzahlungen“, ZInsO 2017, 989, 1009.

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1. Wiederaufnahme des Vergütungsfestsetzungsverfahrens? Grundsätzlich finden die Vorschriften der ZPO über die Wiederaufnahme des Verfahrens (§§ 578 ff. ZPO) aufgrund der Verweisung in § 4 InsO im Insolvenzverfahren nach Eintritt der Rechtskraft eines streitentscheidenden Beschlusses entsprechende Anwendung.33) Allerdings sollen im Vergütungsfestsetzungsverfahren gemäß § 64 Abs. 1 InsO, § 8 InsVV nach Auffassung des Bundesgerichtshofes34) die Vorschriften der ZPO über die Wiederaufnahme des Verfahrens nicht unmittelbar anzuwenden sein. Das Festsetzungsverfahren über die Verfahrenskosten gemäß § 54 Nr. 2 InsO sei kein Rechtsstreit, sonst hätte es aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht dem Rechtspfleger zugewiesen werden dürfen. Ein Parteienstreit zwischen dem vergütungsberechtigten Insolvenzverwalter und der mit der Vergütungspflicht belasteten, vom Insolvenzverwalter selbst repräsentierten Masse könne nicht stattfinden. Es handele sich vielmehr um ein besonderes Rechtspflegeverfahren, für welches eigene Grundsätze über das Wiederaufgreifen nach rechtskräftigem Abschluss gelten.35) Vor diesem Hintergrund besteht eine Unsicherheit, ob und unter welchen Voraussetzungen die Wiederaufnahme des Vergütungsfestsetzungsverfahrens insbesondere wegen eines nachträglich aufgedeckten strafbaren Verhaltens (wie die bereits erwähnte Untreue oder der Titelmissbrauch, siehe zuvor unter II.) des abgelösten Insolvenzverwalters zulässig ist. Die Auswirkungen strafbaren Verhaltens auf die Grundlagen eines Urteils werden von der Wiederaufnahme durch eine Restitutionsklage aufgegriffen (§§ 578, 580 Nr. 1 – 5 ZPO). Die Restitutionsklage gemäß § 580 ZPO soll verhindern, dass die Autorität der Gerichte und das Vertrauen der Allgemeinheit in die Rechtsprechung beeinträchtigt werden, wenn rechtskräftige Urteile nicht überprüft werden können, obwohl ihre Grundlagen für jedermann erkennbar in einer für das allgemeine Rechtsgefühl unerträglichen Weise erschüttert sind.36)

33) 34) 35) 36)

BGH, Beschl. v. 7.12.2006 – IX ZB 257/05, Rz. 5, ZIP 2007, 144; BGH, Beschl. v. 2.2.2006 – IX ZB 279/04, Rz. 8, ZIP 2006, 587 = NZI 2006 234. BGH, Beschl. v. 20.5.2010 – IX ZB 11/07, Rz. 6, ZIP 2010, 1403 = NZI 2010, 643. A. A. OLG Karlsruhe, Beschl. v. 30.3.1965 – 3 W 22/65, NJW 1965, 1023, 1024. BGH, Urt. v. 21.10.2004 – IX ZR 59/04, NJW 2005, 222, 223.

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Dieser Rechtsgedanke kann auch für die Wiederaufnahme eines Vergütungsfestsetzungsverfahrens fruchtbar gemacht werden. Ein untreuer Insolvenzverwalter verstößt massiv gegen die ihm obliegende Hauptpflicht der Sicherung und Erhaltung der Insolvenzmasse. Zudem bringt er durch sein Verhalten einen ganzen Berufsstand in Misskredit. Insofern könnte in solchen Fällen erwogen werden, eine Wiederaufnahme des Vergütungsfestsetzungsverfahrens entsprechend der §§ 580 ff. ZPO zuzulassen. Allerdings führt die rückwirkende Aufhebung des Vergütungsbeschlusses und die Zurückweisung des Vergütungsantrags des untreuen Insolvenzverwalters nicht zugleich auch zu einem die Rückzahlung der bereits entnommenen Vergütung aussprechenden Titel. Zwar darf im Rahmen eines Wiederaufnahmeverfahrens gleichzeitig ein Antrag auf Erstattung des aufgrund des angefochtenen Urteils beigetriebenen Hauptbetrages durch Zwischenantrag analog § 717 Abs. 3 ZPO gestellt werden. Ebenso kann ein etwaiger Schadensersatzanspruch nach §§ 823 ff. BGB mit gesonderter Klage geltend gemacht werden, die mit der Wiederaufnahmeklage verbunden werden kann.37) Im Vergütungsfestsetzungsverfahren kann jedoch der Rechtspfleger über solche materiell-rechtlichen Ansprüche nicht entscheiden.38)) Er kann somit dem neuen Insolvenzverwalter keinen auf dessen Namen lautenden vollstreckbaren Titel über den Rückforderungsanspruch verschaffen. Allenfalls könnte das Insolvenzgericht den entlassenen Verwalter (vgl. § 58 Abs. 3 InsO) mit Zwangsgeld dazu anhalten, einer Anordnung der Rückzahlung der Vergütung nachzukommen.39) Geht es um die Rückerstattung sehr hoher Vergütungen, dürfte ein einzelnes Zwangsgeld von maximal 25.000 € (§ 58 Abs. 2 Satz 2 InsO), ggf. auch mehrere, die diesen Betrag überschreiten dürfen,40) einen kriminellen Insolvenzverwalter jedoch nicht beeindrucken. Folglich muss der neue Insolvenzverwalter zur Erlangung eines vollstreckbaren Titels seinen Amtsvorgänger auf die Rückzahlung der Vergütung vor dem Zivilgericht verklagen.41) Insofern bringt ihn eine Wiederaufnahme des ursprünglichen Vergütungsfestsetzungsverfahrens nicht entscheidend weiter. 37) 38) 39) 40) 41)

Greger in: Zöller, ZPO, 32. Aufl. 2018, § 590 Rz. 12. BGH, Beschl. v. 6.5.2004 – IX ZB 349/02, NZI 2004, 440, 443 = ZIP 2004, 1214. Vgl. für die Vorschussentnahme: BGH, Urt. v. 17.11.2005 – IX ZR 179/04, Rz. 18, ZIP 2006, 36 = NZI 2006, 94. BGH, Beschl. v. 14.4.2005 – IX ZB 76/04, ZIP 2005, 865 = NZI 2005, 391. Vgl. Cranshaw, ZInsO 2017, 989, 1008 ff.

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2. Verlängerte Vollstreckungsabwehrklage gemäß § 812 Abs. 1 Satz 1 BGB? Wenn der treuwidrig handelnde Verwalter die festgesetzte, aber objektiv verwirkte Vergütung bereits aus der Masse entnommen hatte, könnte der neue Insolvenzverwalter versuchen, die Rückzahlung der Beträge vom abgelösten Insolvenzverwalter über eine sog. verlängerte Vollstreckungsabwehrklage zu erzwingen. Nach der Beendigung der Zwangsvollstreckung aus einem Titel wird die Vollstreckungsabwehrklage gemäß § 767 ZPO wegen Entfallens des Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig.42) Der Vollstreckungsschuldner – hier also der neue Insolvenzverwalter – kann den vollstreckten Betrag im Wege der materiell-rechtlichen Bereicherungsklage gemäß § 812 Abs. 1 Satz 1 BGB zurückfordern, die als verlängerte Vollstreckungsabwehrklage bezeichnet wird.43) Ebenso wie die Vollstreckungsabwehrklage hat diese Klage nur dann Erfolg, wenn gemäß § 767 Abs. 2 ZPO die Einwendungen gegen die titulierte Forderung erst nach dem Schluss der letzten mündlichen Verhandlung bzw. – im schriftlichen Verfahren – erst nach dem Zeitpunkt, bis zu dem Schriftsätze eingereicht werden können, entstanden sind. Dieser Einwendungsausschluss soll die Rechtskraft der Entscheidung absichern. Daher kommt es allein auf den Zeitpunkt der Entstehung der Einwendungen an, nicht jedoch darauf, wann die Einwendungen dem Vollstreckungsschuldner bekannt wurden oder ab wann sie, ohne dass ein Verschulden des Vollstreckungsschuldners vorliegt, von diesem erstmals mit Erfolg hätten geltend gemacht werden können.44) Zwar hat der Bundesgerichtshof45) § 767 Abs. 2 ZPO gegenüber der Festsetzung der Vergütung des Insolvenzverwalters für nicht anwendbar erklärt. Allerdings ging es in jenen Fällen um die Aufrechnung mit bereits vor Festsetzung der Vergütung entstandenen Schadensersatzansprüchen gegen den Insolvenzverwalter. Das Gericht ließ den Einwendungsausschluss nicht durchgreifen, da der Rechtspfleger im Vergütungsfestsetzungsverfahren nicht befugt sei, über eine nach Bestand und Höhe streitige Gegenforderung zu entscheiden. Daher sei wie im Kostenfestsetzungsverfahren nach § 104 ZPO im Vergütungsfestsetzungsverfahren nach der 42) 43) 44) 45)

BGH, Urt. v. 6.3.1987 – V ZR 18/86, NJW 1987, 3266. BGH, Urt. v. 2.4.2001 – II ZR 331/99, NJW-RR 2001, 1450, 1451. BGH, Urt. v. 21.5.1973 – II ZR 22/72, NJW 1973, 1328. BGH, Beschl. v. 6.11.2014 – IX ZB 90/12, Rz. 12, ZIP 2014, 2450 = NZI 2015, 46; BGH, Urt. v. 5.1.1995 – IX ZR 241/93, ZIP 1995, 290, 291.

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InsO eine Aufrechnung mit Schadensersatzansprüchen ausgeschlossen, weil auch hier die Entscheidung über den Vergütungsantrag dem Rechtspfleger obliege. Zudem ist nach Auffassung in der Literatur46) dem Insolvenzgericht nicht die Entscheidung über materiell-rechtliche Gegenansprüche zugewiesen. Hingegen hat der Rechtspfleger im Vergütungsfestsetzungsverfahren zu prüfen und zu entscheiden, ob der Vergütungsantrag des Insolvenzverwalters abzuweisen ist, weil dessen Vergütungsanspruch verwirkt ist. Somit sind gemäß § 767 Abs. 2 ZPO im Rahmen der sog. verlängerten Vollstreckungsabwehrklage alle Einwendungen gegen den Vergütungsbeschluss ausgeschlossen, die auf tatsächliche Umstände gestützt werden, die die Verwirkung der Verwaltervergütung begründen und die schon bei der ursprünglichen Vergütungsfestsetzung hätten berücksichtigt werden können, weil diese zu diesem Zeitpunkt bereits objektiv vorlagen.47) Damit scheidet die sog. verlängerte Vollstreckungsabwehrklage zur Rückforderung von bereits bei Festsetzung objektiv verwirkten Verwaltervergütungen aus. 3. Schadenersatzklage wegen sittenwidriger Titelerschleichung gemäß § 826 BGB Die Vorschrift des § 826 BGB verschafft dem Vollstreckungsschuldner, hier also dem neuen Insolvenzverwalter, nicht nur die Möglichkeit, unter bestimmten Umständen auf Unterlassung der Vollstreckung aus einem erschlichenen Titel zu klagen und der Berufung des Titelgläubigers auf die Rechtskraft einer solchen Entscheidung mit dem Einwand der Arglist zu begegnen. Vielmehr ist diese Norm nach Abschluss der Zwangsvollstreckung auch Anspruchsgrundlage für die Rückforderung bereits vollstreckter Beträge im Wege des Schadensersatzes. Es gelten die Bestimmungen der §§ 249 ff. BGB.48) Hat also der vormalige Insolvenzverwalter zur Verwirkung der Vergütung führenden Tatumstände gegenüber dem Insolvenzgericht verschwiegen bzw. falsche Tatsachen vorgespiegelt, kommt ein klagweises Vorgehen des neuen Insolvenzverwalters aus § 826 BGB gegen den Amtsvorgänger wegen

46) 47) 48)

Keller, NZI 2015, 48 (Urteilsanm.). Vgl. BGH, Beschl. v. 6.5.2004 – IX ZB 349/02, NZI 2004, 440, 441 = ZIP 2004, 1214. BGH, Urt. v. 19.2.1986 – IVb ZR 71/81, NJW 1986, 1751, 1752.

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der Rückzahlung der aus der Masse entnommenen Vergütung in Betracht. Erfüllt das Vorgehen des abgelösten Verwalters zugleich den Tatbestand des Prozessbetruges, kann die Erstattung der Vergütung auch allein auf den Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 263 StGB gestützt werden.49) § 826 BGB findet nicht nur auf Urteile, sondern auf alle der Rechtskraft fähigen Vollstreckungstitel Anwendung (wie auf Kostenfestsetzungsbeschlüsse).50) Der Vergütungsbeschluss ist ein Vollstreckungstitel gemäß § 794 Abs. 1 Nr. 3 ZPO, der formell und materiell rechtskräftig wird (siehe zuvor unter III. 1.). Demzufolge ist eine auf § 826 BGB gestützte Klage zur Rechtskraftdurchbrechung des Vergütungsbeschlusses möglich.51) Tatbestandliche Voraussetzungen sind die materielle Unrichtigkeit des Titels, die Kenntnis des Titelgläubigers von der Unrichtigkeit und das Hinzutreten besonderer Umstände, die die Vollstreckung aus diesem Titel als missbräuchlich erscheinen lassen.52) Hat der vormalige Insolvenzverwalter aus den eingangs genannten Gründen (siehe II.) seinen Vergütungsanspruch verwirkt, ist ein trotzdem die Vergütung zusprechender Festsetzungsbeschluss des Insolvenzgerichts materiell unrichtig. Dem treulosen Insolvenzverwalter als Titelgläubiger ist die Unrichtigkeit des von ihm erwirkten Vergütungsbeschlusses in aller Regel bekannt. Nur bei einem Streit über die Zulässigkeit einer künftigen Vollstreckung genügt es, wenn dem Titelgläubiger diese Kenntnis erst während des Rechtsstreits über den Anspruch aus § 826 BGB vermittelt wird.53) Hinzukommen müssen außerdem besondere Umstände, die die Art und Weise der Titelerlangung oder der Vollstreckung in sittenwidriger Weise prägen. Hierzu gehört die sog. Titelerschleichung, also die vorsätzliche Täuschung des Gerichts über den wahren Sachverhalt durch den späteren Titelgläubiger, etwa durch den Vortrag nicht existierender Tatsachen oder

49) 50) 51)

52) 53)

Vgl. BGH, Beschl. v. 20.6.2018 – XII ZB 84/17, Rz. 40, NJW 2018, 2871 (Unterhaltstitel). OLG Nürnberg, Beschl. v. 28.11.1972 – 4 W 60/72, NJW 1973, 370. Vgl. Kirchner/Wozniak, Die Vergütung des vorläufigen Sachwalters nach der Entscheidung des BGH vom 21.7.2016 – Roma locuta, causa finita für Altvergütungen?, ZInsO 2018, 147, 154. BGH, Urt. v. 25.2.1988 – III ZR 272/85, NJW-RR 1988, 957, 959; Wagner in: MünchKomm-BGB, 7. Aufl. 2017, § 826 Rz. 230 ff. BGH, Urt. v. 24.9.1987 – III ZR 187/86, NJW 1987, 3256, 3257 = ZIP 1987, 1305.

Die Rückforderung festgesetzter, als verwirkt erkannter Verwaltervergütungen

737

durch die Manipulation von Beweismitteln.54) Hat also der abgelöste Insolvenzverwalter das Insolvenzgericht durch die Vorlage gefälschter Kontoauszüge über die vorhandene Masse getäuscht und so die Veruntreuung von Massemitteln verschleiert und hierdurch eine Vergütungsfestsetzung zu seinen Gunsten erreicht, obwohl die Vergütung aufgrund dieser Umstände verwirkt war, ist eine sittenwidrige Titelerschleichung i. S. von § 826 BGB zu bejahen. Die Folge ist gemäß den §§ 249 ff. BGB, dass der Titelgläubiger den Titel herausgeben und den durch die Erschleichung des Vergütungsbeschlusses entstandenen Schaden ausgleichen muss. Hierzu gehört die Herausgabe des in der Vollstreckung Erlangten, also die Rückzahlung der entnommenen Verwaltervergütung, sowie der Ersatz der der Masse durch die Entnahme entgangenen Zinsen sowie entstandener Kosten. 4. Rückforderungsanspruch gemäß § 60 InsO? Die Haftung des Insolvenzverwalters aus deliktsrechtlichen Ansprüchen und die insolvenzspezifische Haftung gemäß § 60 InsO bestehen nebeneinander, sie schließen sich grundsätzlich nicht aus.55) Soweit in der insolvenzrechtlichen Literatur56) § 60 InsO als Anspruchsgrundlage für die Rückzahlung von Verwaltervergütungen herangezogen wurde, handelte es sich allerdings um vor Rechtskraft der Vergütungsfestsetzung entnommene Beträge, die sich aufgrund der späteren Herabsetzung der Vergütung im Rechtsmittelzug als überhöht herausstellten. Als insolvenzspezifische Pflichtverletzung wurde der Verstoß gegen die Masseerhaltungspflicht gewertet, wenn der Insolvenzverwalter mehr Vergütung entnommen hat, als ihm letztlich zustand. Kann jedoch der treulose Insolvenzverwalter die Entnahme der Vergütung aus der Masse auf einen bereits rechtskräftigen Beschluss stützen, müsste einem auf § 60 InsO gestützten Anspruch auf Rückzahlung der Vergütung rechtskraftdurchbrechende Wirkung zukommen. Denn infolge

54) 55) 56)

Wagner in: MünchKomm-BGB, 7. Aufl. 2017, § 826 Rz. 231. BGH, Urt. v. 5.6.1975 – X ZR 37/72, NJW 1975, 1969; Sinz in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 60 Rz. 58. Blersch, Die vorzeitige Entnahme der Verwaltervergütung – unkalkulierbares Risiko für Verwalter und Windfall Profits für Gläubiger? – Das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 20.3.2014 – IX ZR 25/12, in: FS Kübler, 2015, S. 51, 62; Cranshaw, ZInsO 2017, 989, 1003.

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Michael Pluta und Grit Heidrich

der Rechtskraft des Vergütungsbeschlusses darf die ausgesprochene Rechtsfolge, die Zuerkennung der Vergütung, vor den staatlichen Gerichten grundsätzlich nicht mehr in Frage gestellt werden. § 60 InsO begründet eine gesetzliche Haftung des Insolvenzverwalters, die auf den Ersatz des negativen Interesses gerichtet ist. Der Geschädigte ist so zu stellen, wie wenn der Insolvenzverwalter die Pflichtverletzung nicht begangen hätte.57) Jedoch würde der treulose Insolvenzverwalter, knüpfte man allein an die Veruntreuung von Massebestandteilen oder das Führen falscher Titel an, ohne diese Pflichtverletzungen eine Vergütung zu beanspruchen haben; der Masse wäre insofern gerade kein Schaden entstanden. Haftungsansatz kann daher nur das Verhalten des abgelösten Insolvenzverwalters im Vergütungsfestsetzungsverfahren sein, dass dieser unwahre Tatsachen behauptet oder ihm bekannte Tatsachen verschwiegen und so eine Festsetzung der Vergütung auf Null vermieden hat. Hierdurch hat er gegen die auch im Insolvenzverfahren geltende Pflicht zur Wahrheit gemäß § 4 InsO i. V. m. § 138 Abs. 1 ZPO58) und zur Massesicherung und -erhaltung verstoßen. Bei Beachtung dieser Pflichten wäre die Vergütung zu versagen gewesen. Die Rechtsprechung lässt die Rechtskraft eines Titels allerdings nur dann zurücktreten, wenn es mit dem Gerechtigkeitsgedanken schlechthin unvereinbar wäre, dass der Titelgläubiger seine formelle Rechtsstellung unter Missachtung der materiellen Rechtslage zulasten des Schuldners ausnutzt. Hierzu wurden zu § 826 BGB besondere Tatbestandsvoraussetzungen aufgestellt, um die Anwendung dieser Norm auf schwerwiegende, eng begrenzte Ausnahmefälle zu beschränken, weil jede Ausdehnung das Institut der Rechtskraft aushöhlen, die Rechtssicherheit beeinträchtigen und den Eintritt des Rechtsfriedens in untragbarer Weise in Frage stellen würde.59) Das in § 826 BGB enthaltene Tatbestandsmerkmal der Sittenwidrigkeit wird in § 60 InsO nicht vorausgesetzt. Somit muss es zur Vermeidung einer Ausdehnung der Rechtskraftdurchbrechung bei der alleinigen Anwendbarkeit des § 826 BGB und den hierzu entwickelten Tatbestandsvoraussetzungen (siehe zuvor IV. 3.) bleiben. Ausschließlich über § 60 InsO kann daher eine rechtskräftig festgesetzte, der Masse bereits entnommene Vergütung ohne vorherige Titelaufhebung ggf. durch Wiederaufnahme 57) 58) 59)

BGH, Urt. v. 25.1.2007 – IX ZR 216/05, Rz. 14, ZIP 2007, 539 = NZI 2007, 286. Ganter/Lohmann in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 4 Rz. 47. BGH, Urt. v. 24.9.1987 – III ZR 187/86, NJW 1987, 3256, 3257 = ZIP 1987, 1305.

Die Rückforderung festgesetzter, als verwirkt erkannter Verwaltervergütungen

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des Vergütungsverfahrens (siehe zuvor unter IV. 1.) nicht zurückgefordert werden. V. Fazit Eine vom bisherigen Verwalter verwirkte und aus der Masse entnommene Vergütung kann der neue Insolvenzverwalter bei Vorliegen eines rechtskräftigen Vergütungsbeschlusses nur über eine Schadensersatzklage (bzw. Anmeldung der Deliktsforderung zur Insolvenztabelle) gemäß § 826 BGB wegen sittenwidriger Titelerschleichung zurückfordern.

Die Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit HANNS PRÜTTING Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Die normativen Grundlagen III. Der Fall Az. IX ZA 16/17 des Bundesgerichtshofes IV. Die Ablehnung eines Spruchkörpers

V.

Die Ablehnung der Richter Nr. 4 bis Nr. 8 VI. Die Ablehnung der Richter Nr. 2 und Nr. 3 VII. Die Ablehnung des Vorsitzenden VIII. Ergebnis

I. Einleitung Entscheidungen über Anträge einer Partei, ein Richter sei wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen, sind nahezu uferlos. Es gibt sie nicht nur im Zivil- und Strafprozess, sondern auch in allen anderen Verfahrensordnungen, also der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit, der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit sowie der Verfassungsgerichtsbarkeit. Der Antrag einer Prozesspartei, einen im konkreten Fall zur Entscheidung berufenen Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen, ist ein sehr wichtiges Instrument zur Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze im Prozess. Insbesondere der Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) garantiert, dass der Rechtsuchende im konkreten Verfahren vor einem Richter steht, der unabhängig und unparteilich ist und damit die Gewähr für Neutralität und Distanz gegenüber den Verfahrensbeteiligten bietet.1) Dieses Verfassungsgebot aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG wird durch die im Rechtsstaatsprinzip wurzelnden Grundsätze des fairen Verfahrens und der prozessualen Waffengleichheit gestützt.2) Eine Bevorzugung oder Benachtei-

1) 2)

BVerfG, Beschl. v. 21.11.2018 – 1 BvR 436/17, Rz. 17, NJW 2019, 505 m. w. N. Rauscher in: MünchKomm-ZPO, 5. Aufl. 2016, Einl. Rz. 255 ff., 258; Prütting in: Prütting/ Gehrlein, ZPO, 11. Aufl. 2019, Einl. Rz. 36 ff.

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Hanns Prütting

ligung einer Partei durch den Richter kann darüber hinaus einen Verstoß gegen das Gebot des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) darstellen.3) Freilich muss man immer wieder beobachten, dass das Instrument der Richterablehnung mit dem Ziel der Verzögerung des Verfahrens oder der Verunsicherung von Gericht und Gegenseite manchmal missbraucht wird. Die Richterablehnung als „prozesstaktische Maßnahme“ ist keine Seltenheit. Hier bietet vor allem der Strafprozess vielfältiges Anschauungsmaterial. So hat jüngst in einem Totschlagsprozess gegen einen Syrer in Chemnitz im März 2019 die Verteidigung einen Befangenheitsantrag gegen die zur Entscheidung berufene Strafkammer mit der Forderung begründet, es solle das politische Verhalten der Richter (und Schöffen) sowie deren Einstellung zur AfD geprüft werden. Derartige taktische Winkelzüge schaden dem Rechtsstaat. Im Strafprozess mögen sie einer konfrontativen Verteidigungsstrategie (Konfliktverteidigung) geschuldet sein. In einem zivilprozessualen Verfahren vor dem Revisionsgericht werden sie dagegen eher selten sein. Es hat daher über die Fachpresse hinaus großes Aufsehen erregt, als im November 2018 in einem Verfahren vor dem IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes der Kläger alle acht Richter des Senats wegen Befangenheit abgelehnt hat und sein Gesuch bei drei Richtern erfolgreich war.4) Die Entscheidung vom 7. November 2018 wirft Fragen von grundsätzlicher Bedeutung für alle Verfahrensbereiche und alle Instanzen auf. Daher lohnt die Entscheidung einer vertieften Betrachtung. Da die Person des Jubilars als Vorsitzender des IX. Zivilsenats zwangsläufig im Mittelpunkt der konkreten Auseinandersetzung des genannten Beschlusses steht, kann der Autor dieser Zeilen auf ein gewisses Interesse des Jubilars an den nachfolgenden Überlegungen hoffen. Dabei mag man es zunächst als reinen Zufall bewerten, dass im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen eine Festschrift steht5) und der folgende Beitrag wiederum Teil einer Festschrift ist. II. Die normativen Grundlagen Die Ausschließung und Ablehnung von Richtern ist bekanntlich in den §§ 41– 48 ZPO im Einzelnen geregelt. Diese Regelung ist gemäß § 49 ZPO 3)

4) 5)

Schwab/Hawickenbrauck, Die Ablehnung eines Richters wegen wissenschaftlicher Stellungnahmen zu entscheidungsrelevanten Rechtsfragen, JZ 2019, 77; Lamprecht, Befangenheit an sich – Über den Umgang mit einem prozessualen Grundrecht, NJW 1993, 2222. BGH, Beschl. v. 7.11.2018 – IX ZA 16/17, ZIP 2018, 2503 = NJW 2019, 308. Bork/Kayser/Kebekus, FS Kübler, 2015.

Die Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit

743

auf Urkundsbeamte, gemäß § 10 RPflG auf Rechtspfleger, gemäß § 406 ZPO auf gerichtliche Sachverständige, gemäß § 6 FamFG auf alle FamFGVerfahren und gemäß § 4 InsO auf alle Insolvenzverfahren anwendbar. § 54 VwGO, § 51 FGO, § 60 SGG und §§ 46 Abs. 2, 80 Abs. 2 i. V. m. 49 ArbGG enthalten jeweils eine umfassende Verweisung auf die §§ 41 ff. ZPO. Eigenständige Regelungen enthalten weiter die §§ 18 ff. BVerfGG für die Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, die §§ 1036– 1039 ZPO für Schiedsrichter sowie die §§ 22–31 StPO für das Strafverfahren. Die umfassende Regelung für alle staatlichen und privaten Gerichtsverfahren zeigt deutlich, welche Vertrauensstellung Verfassung und Verfahrensgesetze allen Gerichtspersonen zuweisen. Neben der Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) ist damit die Unparteilichkeit, Neutralität und Unbefangenheit des Richters die unverzichtbare und tragende Säule jeglicher Justiz. § 42 Abs. 2 ZPO bringt dies dadurch zum Ausdruck, dass eine Ablehnung des Richters wegen Besorgnis der Befangenheit in Betracht kommt, wenn „(…) ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu rechtfertigen (…)“.

Das Gesetz stellt also nicht auf eine objektiv vorliegende Befangenheit ab, sondern erhebt die Sicht der ablehnenden Partei und ihre Besorgnis zum Maßstab. Daraus folgt zwangsläufig, dass diese Sicht der Partei nicht rein subjektiv sein kann. Über den Ablehnungsantrag der Partei muss ein (anderer) Richter entscheiden. Er kann dies nicht auf der Basis einer der Vernunft unzugänglichen Bewertung der Partei leisten. Vielmehr muss aus der Sicht des Ablehnenden bei vernünftiger und besonnener Betrachtungsweise das Verhalten des Richters die Befürchtung hervorrufen können, dieser stehe der Rechtssache nicht neutral und unbefangen gegenüber.6) III. Der Fall Az. IX ZA 16/17 des Bundesgerichtshofes In einem vor dem LG München I und dem OLG München geführten Rechtsstreit hatte der Kläger seine Klage auf § 60 InsO gestützt und vom Beklagten in dessen Eigenschaft als Insolvenzverwalter in einem fast 20 Jahre zurückliegenden Insolvenzverfahren Schadensersatz gefordert. In der Revi6)

BVerfG, Beschl. v. 5.4.1990 – 2 BvR 413/88, BVerfGE 82, 30; BVerfG, Beschl. v. 6.7.1999 – 2 BvF 2/98, 2 BvF 3/98, 2 BvF 1/99, 2 BvF 2/99, BVerfGE 101, 46; BVerfG, Beschl. v. 21.11.2018 – 1 BvR 436/17, NJW 2019, 505; Bork in: Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2014, § 42 Rz. 2; Graßnack in: Prütting/Gehrlein, ZPO, 11. Aufl. 2019, § 42 Rz. 5.

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Hanns Prütting

sionsinstanz vor dem IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat der Kläger Prozesskostenhilfe beantragt, die vom Senat ohne Ausführungen zur Hauptsache abgelehnt wurde, weil es an den Voraussetzungen für die Gewährung von Prozesskostenhilfe fehle. Das hat den Kläger veranlasst, zunächst den Vorsitzenden und dann sukzessive weitere sieben Richter des IX. Zivilsenats wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen. Der Kläger stützt sich dabei auf die Tatsache, dass der Vorsitzende des Senats Mitherausgeber einer Festschrift zum 70. Geburtstag des Beklagten war und zwei weitere Richter Aufsätze in dieser Festschrift veröffentlicht hatten. Bei den weiteren fünf abgelehnten Richtern verwies der Kläger darauf, dass sie in unterschiedlicher Art und Weise in einem Verlag wissenschaftlich tätig waren, dem der Beklagte als Gründer und Mitinhaber verbunden ist. Da im Ergebnis alle acht Richter des IX. Zivilsenats von dem Ablehnungsgesuch betroffen waren, mussten die Mitglieder des XII. Zivilsenats als des Vertretersenats über die Ablehnungsanträge entscheiden. Formal handelte es sich aber dennoch um einen Beschluss des IX. Senats, wie auch das Aktenzeichen ausweist. Im Ergebnis hat der Beschluss beim Vorsitzenden (Kayser, Nr. 1) und bei den beiden an der Festschrift beteiligten Autoren (Gehrlein, Nr. 2 und Pape, Nr. 3) die Besorgnis der Befangenheit bejaht, nicht dagegen bei den übrigen fünf Richtern (Grupp, Lohmann, Möhring, Schoppmeyer und Meyberg, Nr. 4 bis Nr. 8). IV. Die Ablehnung eines Spruchkörpers Der Antrag auf Ablehnung eines Richters richtet sich stets gegen eine einzelne natürliche Person. Niemals kann ein Gericht oder ein Spruchkörper als Ganzes abgelehnt werden.7) Da die Intention des Klägers im konkreten Fall offenbar dahin ging, den gesamten IX. Zivilsenat auszuschalten, hätten sich bei einem einheitlichen Ablehnungsantrag wohl Probleme der Zulässigkeit ergeben. Allerdings hatte der Kläger gegen jedes Mitglied des Senats ein gesondertes Ablehnungsgesuch gerichtet, was zulässig ist. Bedenken gegen die Zulässigkeit könnten sich weiterhin aus der Tatsache ergeben, dass ein Zivilsenat in der Besetzung mit fünf Richtern entscheidet, der Kläger aber insgesamt acht Richter des Senats abgelehnt hat. Ein mit dem konkreten Verfahren nicht befasster Richter, der im konkreten Fall somit nicht 7)

BVerfG, Beschl. v. 22.2.1960 – 2 BvR 36/60, BVerfGE 11, 1; BVerfG, Beschl. v. 19.10.1977 – 2 BvC 3/77, BVerfGE 46, 200; BVerfG, Beschl. v. 20.7.2007 – 1 BvR 2228/06, NJW 2007, 3771; BVerfG, Beschl. v. 20.7.2007 – 1 BvR 3084/06, NJW-RR 2008, 72.

Die Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit

745

zur Sitzgruppe gehört, kann nicht abgelehnt werden.8) Diese Zulässigkeitsschranke hat der Kläger umgangen, indem er die Richter zeitlich sukzessiv abgelehnt hat, sodass dann auch die jeweils nachrückenden Richter abgelehnt werden konnten. Die Anträge auf Ablehnung gegen die acht Richter waren also zulässig. V. Die Ablehnung der Richter Nr. 4 bis Nr. 8 Die Entwicklung des Rechts und damit die Rechtswissenschaft sind ohne die Beteiligung von Richtern in Deutschland nicht vorstellbar. Richter beteiligen sich an Kommentaren und Handbüchern, sie schreiben Aufsätze in Fachzeitschriften und Sammelbänden (wie z. B. Festschriften), sie halten Referate auf Fachtagungen und stellen sich in Podiumsdiskussionen zur Verfügung. Dem Richter steht dabei wie jedem Rechtswissenschaftler die Wissenschaftsfreiheit des Art. 5 Abs. 3 GG zur Seite. Die Vorstellung, eine wissenschaftliche Beteiligung an einem Kommentar oder Sammelwerk, an dem auch eine Prozesspartei beteiligt ist, oder die Autoren- oder Vortragstätigkeit in einem Verlag, der von einer Prozesspartei geleitet wird, könne bei vernünftiger und besonnener Würdigung eine Besorgnis der Befangenheit begründen, ist abwegig. Es gibt Autoren, die ihre Mitautoren oder Verlagsleiter gar nicht persönlich kennen. Soweit aber eine wissenschaftliche Bekanntschaft besteht, liegt dem in aller Regel keine persönliche Freundschaft zugrunde. Angesichts der Beteiligung von vielen Tausenden von Richtern, Rechtsanwälten, Notaren und Universitätsprofessoren am Wissenschaftsbetrieb ist es auch für jeden Laien offenkundig, dass ein allgemeiner beruflicher Kontakt kein Näheverhältnis auslöst, sodass eine ernstzunehmende Besorgnis der Befangenheit bestünde. Ein besonderer persönlicher Kontakt der Richter Nr. 4 bis Nr. 8 zum Beklagten ist aber im konkreten Verfahren nicht vorgetragen worden. Die Anträge auf Ablehnung der Richter Nr. 4 bis Nr. 8 waren daher unbegründet. Dies hat der Beschluss vom 7. November 2018 überzeugend dargelegt. VI. Die Ablehnung der Richter Nr. 2 und Nr. 3 Die (im Ergebnis) erfolgreiche Ablehnung der Richter Gehrlein (Nr. 2) und Pape (Nr. 3) stützt sich auf je einen wissenschaftlichen Beitrag, den diese beiden Richter in der Festschrift für den Beklagten zu dessen 70. Ge8)

BGH, Beschl. v. 29.1.2003 – IX ZR 137/00, WM 2003, 847.

746

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burtstag veröffentlicht haben. Festschriften sind heute zu Ehren von Wissenschaftlern, von Richtern, von Rechtsanwälten und von Notaren zu runden Geburtstagen sehr häufig. Die beteiligten Autoren greifen wissenschaftliche Themen mit aktuellem Bezug und meist mit einer Verknüpfung zum wissenschaftlichen Themenfeld des Jubilars auf. Festschriften sind also ähnlich anderen Sammelwerken und wissenschaftlichen Zeitschriften eine Möglichkeit zum offenen wissenschaftlichen Diskurs. Dabei geht es stets um den sachlichen Gehalt wissenschaftlicher Streitfragen, nicht um personale Bezüge. Es wäre ein grobes Missverständnis, allen Autoren einer Festschrift eine freundschaftliche Verbindung zum Jubilar zu unterstellen. Wo im Einzelfall eine solche freundschaftliche und persönliche Beziehung besteht, wird das gerne in der Einleitung oder am Schluss eines Aufsatzes erwähnt. Die beiden abgelehnten Richter haben sich zu insolvenzrechtlichen Themen9) geäußert, die mit dem konkreten Prozessgeschehen keinerlei Verbindung aufweisen. Der Autor Gehrlein hat keinerlei Bezug zum Jubilar angedeutet, der Autor Pape hat in seiner Einleitung nur darauf verwiesen, dass das von ihm gewählte Thema auch zum wissenschaftlichen Anliegen des Jubilars Bezüge aufweist. Eine persönliche Würdigung des Jubilars ist in beiden Beiträgen nicht enthalten. Der Neutralitätsgesichtspunkt des wissenschaftlichen Diskurses wird im Falle des Beitrags von Gehrlein noch dadurch unterstrichen, dass sein Aufsatz eine unabhängige Zweitverwertung in einer insolvenzrechtlichen Fachzeitschrift gefunden hat.10) Wichtig ist ferner der Gesichtspunkt, dass Aufsätze in Festschriften niemals vergütet werden. Ökonomische Gesichtspunkte scheiden also aus. Dass wohl jede Festschrift eine Einleitung („Geleitwort“) mit einer Laudatio des wissenschaftlichen Werks des Jubilars und einem Glückwunsch zum runden Geburtstag enthält, ist verständlich, ändert aber nichts am Charakter von Festschriften als Sammelband wissenschaftlicher Aufsätze. Das wird dadurch unterstrichen, dass Festschriften aus der Sicht des Jubilars stets nur ein neutrales Schriftenverzeichnis enthalten, nicht aber auch einen Lebenslauf des Jubilars. Wer den (abgesehen vom Geleitwort) strikt sachlichen und vom Wissenschaftsdiskurs geprägten Inhalt von Festschriften besonnen und vernünftig würdigt, kann aus einer Beteiligung an der Festschrift einer Prozesspartei 9)

10)

Gehrlein, Verbindungslinien zwischen Eigenkapitalersatz, Insolvenzanfechtung und Deliktshaftung, in: FS Kübler, 2015, S. 181; Pape, Zum Verhältnis von Insolvenzanfechtung und Insolvenzplanverfahren, in: FS Kübler, 2015, S. 487. Gehrlein, NZI 2015, 577.

Die Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit

747

unter keinen Umständen eine so große persönliche Nähe zwischen Autor und Jubilar herauslesen, dass dies die Besorgnis der Befangenheit rechtfertigen könnte. Der Beschluss vom 7. November 2018 räumt im Grunde diese Bewertung ein, überspielt dann aber diese Erkenntnis mit dem Hinweis, dass jeder Autor einer Festschrift sich „(…) in den Dienst einer Sache gestellt habe, die auf eine Ehrung des Jubilars (…)“

ausgerichtet war. Es wird also das Geleitwort der Festschrift jedem Autor persönlich zugerechnet. Verkannt wird dabei, dass ein Festschriftautor niemals an der Abfassung eines Geleitwortes beteiligt ist, und dass die einzelnen Autoren vom Inhalt des Geleitwortes vor Veröffentlichung keine Kenntnis haben. Der naheliegende Einwand, dem Kläger des vorliegenden Verfahrens müsse das Wesen, der Inhalt und das Zustandekommen von Festschriften nicht vertraut sein, ist nicht rationaler Natur und würde von einer besonnenen Partei nicht erhoben. Der Kläger hatte in seinem Ablehnungsgesuch ausgiebig aus der Festschrift zitiert und konnte bei besonnener Betrachtung leicht erkennen, dass ein solcher Sammelband zum wissenschaftlichen Diskurs keinerlei Besorgnis einer Befangenheit auslösen kann. Die Ablehnungsanträge gegen die Richter Nr. 2 und Nr. 3 waren unbegründet. Die gegenteilige Auffassung im Beschluss vom 7. November 2018 kann nicht überzeugen. VII. Die Ablehnung des Vorsitzenden Auch der Vorsitzende des IX. Zivilsenats hat in der hier behandelten Festschrift einen streng wissenschaftlichen Aufsatz zu Insolvenzrechtsfragen verfasst, der keinerlei Bezug zum konkreten Rechtsstreit aufweist.11) Auch er hat in seinem Aufsatz keinerlei persönlichen Bezug zum Jubilar hergestellt. Die bereits erläuterten Aspekte zum Wesen von Festschriften als Sammelbände eines wissenschaftlichen Diskurses gelten für den Beitrag des Vorsitzenden in gleicher Weise. Daher kann der Beitrag des Vorsitzenden ebenso wenig Anlass zu einer Besorgnis der Befangenheit sein wie die Beiträge der Richter Gehrlein und Pape. Der Beschluss vom 7. November 2018 stützt sich allerdings ausschließlich auf das Geleitwort, das rein technisch von allen drei Herausgebern gezeichnet ist. Dass in einem solchen Geleitwort der Jubilar als eine herausragende 11)

Kayser, Anfechtungsrisiken für Banken und andere Zahlungsmittler, in: FS Kübler, 2015, S. 321.

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Hanns Prütting

Persönlichkeit gelobt und gewürdigt wird, ergibt sich aus der Natur der Sache. Bei einem wissenschaftlichen Werk von (im konkreten Fall) 870 Seiten ist aber das Geleitwort mit zwei Seiten der einzige Ort, an dem der strikt sachliche wissenschaftliche Diskurs verlassen wird. Daraus ein besonderes persönliches Näheverhältnis zu konstruieren, wäre verfehlt. Es gibt in der Tat universitäre Festschriften, bei denen der Herausgeber als wissenschaftlicher Schüler des Jubilars eine solche persönliche Nähe aufweist. Bei der Festschrift für einen Rechtsanwalt, bei der als Herausgeber ein Wissenschaftler, ein Richter und ein Rechtsanwalt erscheinen, geht es erkennbar darum, den Jubilar durch die Gemeinschaft der Rechtswissenschaftler zu ehren. Es ist daher durchaus von Bedeutung, dass die Unterzeichnung des Geleitworts keineswegs bedeutet, dass der einzelne Herausgeber den Text verfasst hat. Vor allem aber wird verkannt, dass das Geleitwort mit seinem direkten Bezug zu den wissenschaftlichen Aufsätzen des gesamten Sammelbandes die wissenschaftliche, verlegerische und gesetzesunterstützende Arbeit des Jubilars hervorhebt, nicht die praktische Arbeit als Insolvenzverwalter in Alltagsfällen. Es kann daher nicht überzeugen, wenn der Beschluss vom 7. November 2018 die Behauptung aufstellt, es komme nicht darauf an, ob die Ehrung des Jubilars „(…) tatsächlich Ausdruck einer besonderen Nähebeziehung ist oder ob die Laudatio etwa nur geschäftsmäßig verfasst oder gar lediglich mitunterzeichnet wurde.“

Natürlich ist die Sicht der ablehnenden Partei maßgeblich, aber diese Sicht muss unter vernünftiger Würdigung der Umstände erfolgen und bewertet werden. Die Mitwirkung an einer Festschrift als Herausgeber und Mitautor gibt bei vernünftiger Betrachtung keine Veranlassung, eine Besorgnis der Befangenheit zu hegen. Wäre die Auffassung des Beschlusses vom 7. November 2018 richtig, so müsste auch derjenige abgelehnt werden können, der einen neutralen wissenschaftlichen Aufsatz in einer wissenschaftlichen Zeitschrift verfasst, die in einem Vorwort einem Jubilar zum runden Geburtstag gratuliert und ihm das Zeitschriftenheft zum Festtag widmet. Solche Arten wissenschaftlicher Laudationes sind keineswegs selten. Würde man aus solchen und ähnlichen wissenschaftlichen Glückwünschen einen Ablehnungsgrund entnehmen wollen, wäre für Richter die Teilnahme an Festschriften und Festheften ein erhebliches Risiko, das mit der Wissenschaftsfreiheit des Einzelnen kollidieren könnte. Die Besorgnis des Klägers im konkreten Fall ist daher rational nicht nachvollziehbar. Wie wenig der Beschluss vom 7. November 2018 überzeugen kann, vermag noch eine Gegenüberlegung zu verdeutlichen. Es gibt Festschriften nicht

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nur für runde Geburtstage von natürlichen Personen, sondern auch für Institutionen, z. B. für Gerichte. So hat der Bundesgerichtshof zu seinem 50. Geburtstag eine Festschrift mit vier Bänden(!) erhalten.12) Man stelle sich vor, ein früherer Präsident des Gerichts würde in einer solchen Festschrift gewürdigt und gelobt. In einem Nachbarstreit eines Klägers gegen diesen früheren Gerichtspräsidenten könnte nach Auffassung des Beschlusses vom 7. November 2018 jeder an dieser Festschrift Beteiligte wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden. Denn er hätte sich angeblich „(…) in den Dienst (…)“ einer solchen Ehrung gestellt. Eine solche Auffassung kann nicht überzeugen. VIII. Ergebnis Die Beteiligung eines Richters an der Festschrift zu Ehren einer Prozesspartei begründet für sich genommen keine Besorgnis der Befangenheit. Die im Beschluss vom 7. November 2018 vom Bundesgerichtshof vertretene Gegenauffassung verkennt das Wesen von Festschriften als strikt sachliche Sammelbände des wissenschaftlichen Diskurses. Es wird verkannt, dass die Beteiligung an einer Festschrift für sich genommen noch keine besondere Nähebeziehung zwischen Autor und Jubilar erkennen lässt. Eine gegenteilige Besorgnis kann nur aus einer der Vernunft unzugänglichen und rein subjektiven Bewertung heraus entstehen. Sie stellt keine besonnene Betrachtungsweise auf das Verhalten des abgelehnten Richters dar.

12)

Canaris/Heldrich, FS 50 Jahre BGH, 2000.

Gemeinnützigkeit, Vereinigungsfreiheit und Gleichheitssätze BERND RAEBEL Inhaltsübersicht I. II.

Gesetzesgeschichte Keine Gemeinnützigkeitsbarriere geschlechtsabhängigen Mitgliederzugangs (Art. 3 Abs. 2 und 3 GG) III. Keine unnötigen Satzungseingriffe und Tätigkeitsbeschränkungen wegen Verletzung der Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG) 1. Ausschließlichkeit 2. Vermögensbindung

3. Satzungsanforderungen bei unschädlichen Zusatzzwecken (§ 58 Nr. 7 und 8 AO et simile generis) IV. Gemeinnützigkeit trotz politischer Betätigung (Art. 3 Abs. 1 GG) 1. Beteiligung an Wahlen 2. Ausschluss von Parteienfinanzierung 3. Katalogzwecke im Attac-Urteil 4. Gleichstellung gemäß § 52 Abs. 2 Satz 2 AO V. Ergebnis

Das Recht der steuerlichen Gemeinnützigkeit ist durch Oppositionsanträge im Deutschen Bundestag1) und jüngere Entscheidungen des Bundesfinanzhofes in die aktuelle öffentliche Diskussion geraten; auch der 72. Deutsche Juristentag (2018) hat sich im größeren Rahmen des Rechts der Non-Profit-Organisationen damit befasst.2) Drei Entscheidungen des Bundesfinanzhofes bergen in diesem Zusammenhang besonderen Zündstoff und verdienen somit nähere Betrachtung: –

Freimaurerlogen, die nur Männer aufnehmen, sind nicht gemeinnützig (Freimaurerloge),3)



Vereine, die das Bekenntnis zur ausschließlichen Verfolgung gemeinnütziger Ziele verweigern, sind nicht gemeinnützig, selbst wenn sie satzungs-

1)

Bündnis 90/Die Grünen, „Rechtssicherheit für bürgerschaftliches Engagement – Gemeinnützigkeit braucht klare Regeln“, BT-Drucks. 18/12559; „Gemeinnützigkeit braucht Rechtssicherheit statt politischer Willkür, BT-Drucks. 19/7434, und der FDP, „Straftaten und Gemeinnützigkeit schließen sich aus“, BT-Drucks. 19/2580. Siehe insbesondere das Gutachten des Bonner Steuerrechtlers Hüttemann, Empfiehlt es sich, die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Gründung und Tätigkeit von NonProfit-Organisationen übergreifend zu regeln?, Gutachten Teil G, 72. Deutscher Juristentag, 2018, Bd. I. BFH, Urt. v. 17.5.2017 – V R 52/15, BFHE 258, 124 = BStBl. II 2018, 218.

2)

3)

752

Bernd Raebel

mäßig ihre Mittel ausschließlich für den steuerbegünstigten Zweck einsetzen dürfen (Hochwasserschutzverein),4) –

politische Aktionsbündnisse sind nicht gemeinnützig, wenn ihre Tätigkeitsfelder nicht streng einem oder mehreren der begünstigten Katalogzwecke des § 52 Abs. 2 Satz 1 AO zugeordnet werden können (Attac).5)

Die genannten Erkenntnisse fordern Kritik heraus, weil in ihnen die grundrechtliche Ingerenz des Rechts der Gemeinnützigkeit nicht durchscheint. Sie dürfte schon dem Gesetzgeber, zuletzt in Art. 10 des JStG 2009,6) mit dem die Mustersatzung in § 60 Abs. 1 Satz 2 AO eingefügt worden ist, nicht ausreichend bewusst gewesen sein. Vielleicht trifft dieser Vorwurf sogar das Bundesverfassungsgericht derzeitiger Besetzung, weil es die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil zur Freimaurerloge nicht angenommen und dies nicht einmal begründet hat.7) Wer im Ruhestand sich in mehreren gemeinnützigen oder potentiell gemeinnützigen Körperschaften betätigt, dessen Blick schärft sich zwangsläufig für die hier drängenden Fragen und er sieht sie mit anderen Augen als die Finanzverwaltung und der Steuerrechtler vom Fach, auch anders als das frühere Mitglied des IX. Zivilsenats, weil in der Praxis der Steuerberatung es regelmäßig um die Notwenigkeit geht, den Anforderungen von Gesetz, Finanzverwaltung und Rechtsprechung zu genügen, was hier nur am Rande (unten III. 3.) berührt wird. Den Jubiliar, der schon vor fast drei Jahrzehnten als wissenschaftlicher Mitarbeiter des Bundesverfassungsgerichtes einen Tropfen grundrechtlichen Salböls empfangen hat, hoffe ich wegen dieses Kapitels seiner Laufbahn, aber auch mit einem Weckruf über Ausstrahlungen der Vereinigungsfreiheit und Gleichheit auf eine verschonende Seite des Steuerrechts zu interessieren, der wenig mit unserer späteren gemeinsamen Senatstätigkeit zu tun hat. I. Gesetzesgeschichte Wie auf fast allen Rechtsgebieten lohnt sich auch bei der Behandlung grundsätzlicher Fragen der Steuerbegünstigung gemeinnütziger und mildtätiger

4) 5)

6) 7)

BFH, Beschl. v. 7.2.2018 – V B 119/17, BFH/NV 2018, 544. BFH, Urt. v. 10.1.2019 – V R 60/17, NJW 2019, 877; die Anm. von Seer, JZ 2019, 513, und der Besprechungsaufsatz von Hüttemann, DB 2019, 744, hierzu konnten leider bei Abfassung dieses Beitrags nicht mehr berücksichtigt werden. Art. 10 JStG 2009, v. 19.12.2008, BGBl. I 2008, 2794, 2827. BVerfG, Beschl. v. 14.11.2018 – 2 BvR 1966/17.

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Körperschaften eine Rückschau darauf, wie sich das geltende Recht entwickelt hat.8) Zur Gemeinnützigkeit i. S. des damaligen KStG verlangte die Verordnung vom 22. April 19229) in § 1 Abs. 1, dass das Steuersubjekt unmittelbar zur Förderung der Allgemeinheit zu dienen bestimmt sei und auch tatsächlich diene. Eine unmittelbare Förderung der Allgemeinheit lag nach § 1 Abs. 3 dieser Verordnung nicht vor, wenn das Steuersubjekt nur den Interessen bestimmter Personen oder eines engeren Kreises von solchen oder in erster Linie Erwerbs- oder sonstigen eigenwirtschaftlichen Zwecken diente. Der Zufluss der Erträge eines Unternehmens an eine öffentlich-rechtliche Körperschaft sollte für sich allein nach § 2 Abs. 3 der Verordnung noch keine unmittelbare Förderung der Allgemeinheit bedeuten. Das StAnpG vom 16. Oktober 193410) erklärte in § 17 Abs. 1 solche Zwecke für gemeinnützig, durch deren Erfüllung ausschließlich und unmittelbar die Allgemeinheit gefördert werde. Die begünstigte Tätigkeit musste dem gemeinen Besten auf materiellem, geistigem oder sittlichem Gebiet nutzen (§ 17 Abs. 2 StAnpG). Der Folgeabsatz gab Ausführungsbeispiele. Gegenanzeigen zur Förderung der Allgemeinheit enthielten ähnlich § 1 Abs. 3 der Verordnung vom 22. April 1922 § 17 Abs. 4 und 5 StAnpG. § 17 Abs. 6 StAnpG wiederholte § 2 Abs. 3 der Verordnung vom 22. April 1922. Richtungweisende Veränderungen des Rechts der steuerlichen Gemeinnützigkeit brachte normativ spätesten die Gemeinnützigkeitsverordnung vom 24. Dezember 1953 (GemV 1953),11) wobei heute nicht mehr interessiert, inwieweit diese Regelungen schon durch die Gemeinnützigkeitsverordnung vom 16. Dezember 1941 (GemV 1941),12) das zonale Recht und die Landesrechte der Nachkriegszeit13) vorbereitet waren und der Verordnungsgeber seinen Ermächtigungsspielraum überschritten hat. § 2 Abs. 1, §§ 12, 13 GemV 1953 zwangen dazu, die Ausschließlichkeit und die Unmittelbarkeit in der Satzung festzulegen (sog. formelle Satzungsmäßigkeit), nicht nur durch die tatsächliche Geschäftsführung zu verwirklichen. Von der Aus8) 9) 10) 11) 12) 13)

Vgl. Raebel, Baubeschränkungen an niedersächsischen Deichen im Lichte ihrer rechtshistorischen Wurzeln und anderer Landesrechte, in: FS D. Fischer, 2018, S. 417. Verordnung über die Anerkennung der Gemeinnützigkeit und Mildtätigkeit im Sinne des Körperschaftssteuergesetzes, v. 22.4.1922, RStBl. 1922, 152. Steueranpassungsgesetz – StAnpG, v. 16.10.1934, RGBl. I 1934, 925. Verordnung zur Durchführung der §§ 17 bis 19 des Steueranpassungsgesetzes – Gemeinnützigkeitsverordnung, v. 24.12.1953, BGBl. I 1953, 1592. Gemeinnützigkeitsverordnung – GemV, v. 16.12.1941, RStBl. 1941, 937. Vgl. die mit § 23 GemV 1953 aufgehobenen früheren Vorschriften.

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schließlichkeit hieß es in § 4 Abs. 1 GemV 1953, sie liege vor, wenn das Steuersubjekt keine anderen als steuerbegünstigte Zwecke verfolge. Mit dieser sprachlich kaum auffallenden Änderung war ein sachlich scharf einschneidender Bezugswechsel von dem seiner Natur nach ausschließlich allgemeinförderlichen Zweck des § 17 Abs. 1 StAnpG, mithin einem Zweckmerkmal, zum exklusiven Körperschaftsmerkmal vollzogen, welcher innerhalb einer Körperschaft die Aufteilung zwischen gemeinnützigen und nicht gemeinnützigen Tätigkeiten grundsätzlich ausschließt.14) Hierauf ist zurückzukommen. Ausnahmsweise steuerlich unschädliche Nebenzwecke umschrieb § 5 GemV 1953, die jeweils ein bestimmter Vermögenseinsatz kennzeichnete. Für Geschäftsbetriebe steuerbegünstigter Körperschaften wurde unterschieden: Erfüllten sie selbst die Voraussetzungen der Gemeinnützigkeit, waren sie steuerlich unschädlich, ansonsten waren sie als Sondervermögen mit diesem und den darauf bezogenen Einkünften nach § 6 GemV 1953 steuerpflichtig. Das Regelungsmuster der Gemeinnützigkeitsverordnung vom 24. Dezember 1953 hat der Gesetzgeber im Wesentlichen in die §§ 51 bis 68 AO 1977 übernommen, ausgebaut und durch Art. 10 des JStG vom 19. Dezember 2008 weiter verschärft.15) Die Steuerbegünstigung soll die Frucht einer ausschließlichen und unmittelbaren Verfolgung privilegierter Zwecke sein, die im Katalog des § 52 Abs. 2 AO aufgezählt sind. Zur Abgrenzung vorwiegend eigennütziger Zwecke und zweckwidriger Fremdbegünstigungen dient der neu eingeführte Sammelbegriff der Selbstlosigkeit (§§ 52 Abs. 1 Satz 1, 53 Satz 1, 55 AO).16) Entsprechend § 4 Abs. 1 GemV 1953 bestimmt § 56 AO, Ausschließlichkeit liege vor, wenn eine Körperschaft nur ihre steuerbegünstigten satzungsmäßigen Zwecke verfolge. Seit Art. 10 JStG 2009 fordert § 60 Abs. 1 Satz 2 AO zudem, die Satzung der steuerbegünstigten Körperschaft müsse die in der Anlage zum Gesetz bezeichneten weiteren Festlegungen enthalten. Dies spiegelt die Reaktion eines willfährigen Gesetzgebers auf das von der Finanzverwaltung missbilligten Vorlagebe-

14)

15) 16)

So der BFH, Urt. v. 17.5.2017 – V R 52/15, Rz. 33 a. E., BFHE 258, 124 = BStBl. II 2018, 218; ebenso jüngst die Stellungnahme der Deutschen Steuer-Gewerkschaft für den Finanzausschuss des Deutschen Bundestages zur Anhörung v. 13.2.2019 unter Nr. 11, jeweils zu den §§ 51, 56 AO. Siehe Jahressteuergesetz 2009 – JStG 2009, v. 19.12.2008, BGBl. I 2008, 2794, 2827. Zur Selbstlosigkeit näher Leisner-Egensperger, Die Selbstlosigkeit im Gemeinnützigkeitsrecht, DStZ 2008, 292 ff.

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schluss des Bundesfinanzhofes vom 14. Juli 200417) wieder, welches übertriebene Anforderungen an die ohnehin fragwürdige formelle Satzungsmäßigkeit von Körperschaften ablehnte. II. Keine Gemeinnützigkeitsbarriere geschlechtsabhängigen Mitgliederzugangs (Art. 3 Abs. 2 und 3 GG) Unterwirft man die soeben dargestellten gesetzgeberischen Entscheidungen einer verfassungsrechtlichen Prüfung, so ist grundrechtlicher Maßstab die Vereinigungsfreiheit des Art. 9 Abs. 1 GG, soweit die korporative Religionsfreiheit gemäß Art. 4 Abs. 1 und 2, Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 2, 3 WRV nicht berührt ist.18) Der Bundesfinanzhof sieht zu einer solchen Prüfung keinen Anlass. Zivilrechtlichen und kirchlichen Körperschaften stehe es frei, ihre Vereinigungen i. R. der Satzungsautonomie beliebig zu gestalten. Sie könnten aber nicht verlangen, dass die Allgemeinheit ihr Tun durch steuerabzugsfähige Spenden nachhaltig unterstütze.19) Das greift zu kurz. Kraft Tradition oder Überzeugung gibt es in Deutschland immer noch zahlreiche Vereinigungen, deren Mitgliedschaft satzungsmäßig nur Frauen oder nur Männern offensteht. Der Verf. dieses Beitrages erinnert sich daran, vor Jahren anlässlich eines Trauerfalls einer als gemeinnützig anerkannten Schwesternschaft gespendet zu haben, die in der Krankenpflege und Sterbebegleitung sich um das leibliche und seelische Wohl ihrer Schutzbefohlenen große Verdienste erworben hat. Schon nach natürlichem Verständnis misst sich die Gemeinnützigkeit an Taten, nicht an handelnden Personen. Nicht sogleich einsichtig ist danach, dass der Bundesfinanzhof in seinem Urteil zur Freimaurerloge20) angenommen hat, der sachlich nicht gerechtfertigte geschlechtsabhängige Mitgliederzugang verstoße gegen die Wertordnung des GG, weswegen es an einer Förderung der Allgemeinheit i. S. des § 52 Abs. 1 Satz 1 AO fehle. Der geschlechtsabhängige Mitgliederzugang zu einer karitativen Körperschaft ist jedenfalls dann kein Grund, ihr die steuerliche Gemeinnützigkeit 17) 18) 19)

20)

BFH, Beschl. v. 14.7.2004 – I R 94/02, Rz. 13, BFHE 206, 350 = BStBl. II 2005, 721. Zur Letzteren siehe BFH, Urt. v. 17.5.2017 – V R 52/15, Rz. 29, BFHE 258, 124 = BStBl. II 2018, 218. BFH, Urt. v. 17.5.2017 – V R 52/15, Rz. 30, BFHE 258, 124 = BStBl. II 2018, 218 = DStR 2017, 1749, m. Anm. Heuermann, sowie BFH, Beschl. v. 7.2.2018 – V B 119/17, Rz. 13, BFH/NV 2018, 544. Siehe BFH, Urt. v. 17.5.2017 – V R 52/15, Rz. 29 ff., BFHE 258, 124 = BStBl. II 2018, 218.

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zu versagen, wenn ihre nach außen gerichtete Tätigkeit Frauen und Männern zugutekommt. Der Gemeindienst der sog. Serviceclubs erfüllt die Merkmale der Gemeinnützigkeit oder Mildtätigkeit selbst dann, wenn die Mitgliedschaft ausschließlich Damen vorbehalten ist.21) Der Bundesfinanzhof hat übersehen, dass Art. 3 Abs. 2 GG bei privatrechtlichen Vereinigungen keineswegs unbedingter Vorrang vor der Vereins- und Satzungsautonomie zukommt. Private Vereinigungen können ihre Aufnahmebedingungen autonom bestimmen. Diese Autonomie genießt ihrerseits Grundrechtsschutz gemäß Art. 9 Abs. 1 GG.22) Die Vereinigungsfreiheit entfaltet mittelbare Drittwirkung und erleidet nach übereinstimmender Rechtsprechung von Bundesverfassungsgericht und Bundesgerichtshof23) nur dort Einschränkungen, wo eine Vereinigung stärker im öffentlichen Bereich wirkt und infolge ihres wirtschaftlichen oder sozialen Einflusses beitrittswillige Nichtmitglieder durch Ablehnung des Beitritts gewichtige Nachteile zu befürchten haben. Geht aber die speziellere Vereinigungsfreiheit nach dem angeführten Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichtes den besonderen Gleichheitssätzen des Art. 3 Abs. 2 und 3 GG vor, sind auch die Finanzgerichte nicht berechtigt, unter Berufung auf eine richterlich erdachte Wertordnung des Grundrechtskatalogs den nur geschlechtsabhängig beitrittsoffenen Körperschaften die Rechtswohltat der steuerlichen Gemeinnützigkeit zu versagen. Der Ansatz des Bundesfinanzhofes24) widerspricht so gesehen der in Art. 3 Abs. 1 GG garantierten Gleichheit aller Körperschaften, die sich gemeinnützig betätigen, vor dem Steuerrecht. Wollte man überhaupt Wertordnungsgründe gegen die Zubilligung der steuerlichen Gemeinnützigkeit ins Feld führen, wäre nicht zuletzt schon die Einfügung von § 51 Abs. 3 AO durch Art. 10 Nr. 4 JStG 2009 gänzlich überflüssig gewesen.25) Hierin liegt ein weiteres positives Indiz, dass nach der Abgabenordnung für andere Wertordnungsbarrieren gegen die Gemeinnützigkeit kein Raum ist.

21)

22) 23) 24) 25)

So wie bei der zuvor erwähnten Schwesternschaft oder Soroptimist International. Über die Sachgründe für geschlechtsabhängige Berufsorganisationen wie den Juristinnenbund e. V. kann man streiten. BVerfGK, Beschl. v. 29.5.1989 – 1 BvR 1049/88, FamRZ 1989, 1047. BGH, Urt. v. 29.6.1987 – II ZR 295/86, BGHZ 101, 193, 200 = ZIP 1987, 1108; BGH, Urt. v. 23.11.1998 – II ZR 54/98, BGHZ 140, 74, 76 ff. = ZIP 1999, 237 (Sportverband). Ebenso Heuermann, DStR 2017, 1754 (Urteilsanm.). Ob sie im Hinblick auf das Vereinsgesetz unnötig war, kann hier dahinstehen. Das BMF ist anscheinend aber bestrebt, gegen die Einheit der Rechtsordnung die möglichste Eigenständigkeit des Steuerrechts durchzusetzen.

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Größeres Gewicht hat das Urteil zur Freimaurerloge im Blick auf den steuerrechtlichen Begriff der geförderten Allgemeinheit (§ 52 Abs. 1 Satz 2 AO), auf den sich der Bundesfinanzhof gleichfalls bezogen hat.26) Besteht die Hauptbetätigung einer Freimaurerloge in der inneren Weiterbildung und Erziehung ihrer Mitglieder, so kann dieser abgegrenzte Kreis dauerhaft nur klein sein. Der Schwerpunkt körperschaftlicher Tätigkeit nach Innen (im Bereich der eigenen Mitgliedschaft) schließt allerdings die Förderung der Allgemeinheit nicht aus, wie das Beispiel zahlreicher gemeinnütziger Sportvereine und ähnlicher Organisationen zeigt. Denn hier repräsentieren die Vereinsmitglieder die Allgemeinheit, wenn ihr Kreis nicht durch besondere Aufnahmeschranken gezielt klein gehalten wird. Darauf kommt es letztlich an.27) Solche Zugangshürden mögen bei einer Freimaurerloge vielleicht schon in ihren besonderen Vereinsgrundsätzen (Ritualen) liegen. Dazu hatte aber der Tatrichter im Urteilsfall anscheinend nicht die nötigen Feststellungen getroffen. Auch in diesem Zusammenhang überzeugt indes die Gemeinnützigkeitsbarriere eines nur geschlechtsabhängigen Mitgliederzugangs nicht. Selbst die Mitgliedschaft von ausschließlich Frauen oder ausschließlich Männern kann die Allgemeinheit repräsentieren. Der Kreis möglicher Mitglieder ist nicht eng begrenzt. Es ist schließlich ein Kernbereich der Vereinigungsfreiheit, Frauen und Männern nach freiem Willen zu ermöglichen, auch bestimmte gemeinnützige Tätigkeiten organisiert unter ihresgleichen auszuüben. Das gilt nicht nur für Sport- oder Gesangvereine. Der vom Bundesfinanzhof vermisste sachliche Grund für die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen vor der Zugangsschranke28) liegt in eben dem von Art. 9 Abs. 1 GG geschützten Willen der Vereinsmitglieder, ihrer Satzungsautonomie. Die von den ordentlichen Gerichten entwickelten Grundsätze über den ausnahmsweisen Aufnahmezwang Beitrittswilliger, die auch hier zu beachten wären, kommen gegenüber Freimaurerlogen schon deshalb nicht in Betracht, weil es in der Freimaurerei auch reine Frauenlogen gibt. Spricht die mitgliedschaftliche Erziehungsarbeit der Freimaurer eine hinreichende Zahl von Menschen an und ist sie nach dem Zweck gemeinnützig, gibt es keinen Grund, einer Loge die hieraus folgende Steuerbegünstigung zu versagen. 26) 27) 28)

BFH; Urt. v. 17.5.2017 – V R 52/17, Rz. 24, BFHE 218, 124 = BStBl. II 2018, 218. Vgl. BFH, Urt. v. 13.8.1997 – I R 19/96 (Golfclub), II. 2., BFHE 183, 371 = BStBl. II 1997, 794; siehe auch AEAO zu § 52 Nr. 1. und 1. 1. BFH, Urt. v. 17.5.2017 – V R 52/17, Rz. 26, BFHE 218, 124 – BStBl. II 2018, 218.

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Die in jedem Fall bedauerliche schlichte Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde gegen das Freimaurerlogenurteil dürfte, wenn nicht ein Begründungsmangel vorlag, damit zu erklären sein, dass dem 2. Senat des Bundesverfassungsgerichtes die in Art. 9 Abs. 1 GG wurzelnde Grundrechtsproblematik hinter der gleichheitsfreundlichen Fassade des Bundesfinanzhofes nicht deutlich geworden ist. Die Sache hätte sonst wohl auch an den 1. Senat (Grundrechtssenat) gelangen müssen, der so oder so wohl auf seinen vom Bundesfinanzhof nicht erwähnten Beschluss vom 29. Mai 198929) zurückgekommen wäre. III. Keine unnötigen Satzungseingriffe und Tätigkeitsbeschränkungen wegen Verletzung der Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG) Die Vorschriften der Nachkriegszeit über die steuerliche Gemeinnützigkeit nehmen massiv Einfluss auf Satzung und Geschäftsführung von Vereinigungen (§§ 59, 60, 61, 63 AO), die sich auf dem Gebiet steuerbegünstigter Zwecke (§ 52 AO) betätigen und die danach möglichen Vergünstigungen anstreben. Das ist auch ohne einen ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt zulässig. Dieser Spielraum des Gesetzgebers gewährt aber keinen Freiraum dafür, Körperschaften in der Gestaltung von Satzungen und Geschäften Beschränkungen aufzuerlegen, die nach dem Zweck der Steuerbegünstigung nicht erforderlich oder unverhältnismäßig sind. Auch hier müssen die Schranken der Vereinigungsfreiheit so gesetzt werden, dass sie der Bedeutung des Grundrechts und seinem Schutzbereich Rechnung tragen, wirkt das Grundrecht mithin als Schrankenschranke. Müssen sich Körperschaften bei der Verfolgung gemeinnütziger Zwecke unter ein Joch beugen, welches sachlich durch die erstrebten Vergünstigungen nicht gerechtfertigt wird, so gebietet die Vereinigungsfreiheit dem verfassungsgebundenen Gesetzgeber, dieses Joch zu entfernen. Der Steuergesetzgeber hat diese Schrankenschranke seit langem missachtet und dadurch den in Art. 3 Abs. 1 GG mitverbürgten Grundsatz der Steuergerechtigkeit verletzt. Die steuerliche Begünstigung gemeinnütziger Zwecke darf nicht teils gewährt, teils versagt werden, wenn die betroffenen Körperschaften ohne hinlängliche Sachgründe ungleich behandelt werden. Demgegenüber kennt der Bundesfinanzhof – wie erwähnt – Grundrechte nur zulasten der Steuersubjekte. Nach Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit der gesetzlichen Beschränkungen der

29)

BVerfG, Beschl. v. 29.5.1989 – 1 BvR 1049/88, FamRZ 1989, 1047.

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Vereinigungsfreiheit für gemeinnützige Körperschaften fragt der Bundesfinanzhof nicht.30) 1. Ausschließlichkeit Das Gesetz gewährt die Steuerbegünstigung nur, wenn eine Körperschaft ausschließlich gemeinnützig tätig ist (§§ 51 Abs. 1, 56 AO). Sie darf also keine anderen Zwecke verfolgen und muss sich dazu in ihrer Satzung bekennen (§§ 59, 60 AO und die Mustersatzung – Anlage zu § 60 AO mit überflüssiger Wiederholung). Der Grund dieses Gebotes ist gerade vor dem Hintergrund der eingangs dargelegten Gesetzesentwicklung kaum erkennbar, wenn man nicht das finanzbehördliche Interesse an größtmöglicher Transparenz durch Einführung eines Buchnachweises31) in Betracht zieht. Dieses Bestreben geht letztlich in die Irre, weil es nicht ausreichend mit den Tatsachen rechnet, die Beweisthema sein müssten. Kern der Steuerbegünstigung gemeinnütziger Tätigkeiten ist der Grundsatz der Vermögensbindung an diesen Zweck, wie er in einem Nebenpunkt (Vermögensübertragung) jetzt durch § 55 Abs. 1 Nr. 4 Satz 1, § 61 AO geregelt ist. Die mithilfe der gewährten Vergünstigungen geschaffenen Vermögensteile gemeinnütziger Körperschaften sollen an den begünstigten Zweck gebunden werden, ihm also ausschließlich (oder fast ausschließlich, wie Ausnahmen zeigen) zugutekommen. Diese Vermögensbindung gilt für lebende gemeinnützige Körperschaften erst recht. Sie wird gegenwärtig hier durch die Ausschließlichkeit des steuerbegünstigten Zwecks als Körperschaftsmerkmal erreicht, weil Mittel der Körperschaft nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 AO nur für satzungsmäßige Zwecke verwendet werden dürfen.32) Dieser gesetzestechnische Lösungsweg ausschließlicher Verfolgung ihrer Satzungszwecke durch die begünstigte Körperschaft geht aber über den Beschränkungsgrund hinaus. 30) 31)

32)

Siehe BFH, Urt. v. 17.5.2017 – V R 52/15, Rz. 33 a. E., BFHE 258, 124 = BStBl. II 2018, 218, und BFH, Beschl. v. 7.2.2018 – V B 119/17, BFH/NV 2018, 544. Zum Buchnachweis der Zweckverfolgung vgl. BFH, Urt. v. 13.8.1997 – I R 19/96 (Golfclub), II. 2., BFHE 183, 371 = BStBl. II 1997, 794; zum Buchnachweis der Vermögensbindung BFH, Urt. v. 13.9.2013 – I R 16/12, Rz. 12, BFHE 243, 319 = BStBl. II 2014, 440. Das ist ohnehin normale Vorstandspflicht – zum Vereinsrecht vgl. etwa OLG Düsseldorf, Urt. v. 26.3.2010 – I-22 U 173/09, juris Rz. 86. Werden vom Vorstand Vereinsmittel dem gemeinnützigen Zweck entfremdet, haftet der Vorstand dem Verein für den Schaden. Ob es notwendig sein kann, deshalb die Gemeinnützigkeit abzuerkennen, wird damit noch nicht beantwortet sein.

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Der Bundesfinanzhof betont im Ansatz richtig, zwischen Verfolgung der Körperschaftszwecke nach § 3 und der Mittelverwendung nach § 5 der Mustersatzung sei zu unterscheiden.33) Er orientiert sich damit aber rein am Wortlaut der Gesetzesanlage und ignoriert den inneren Zusammenhang. Notwendig ist nur die Bindung der Körperschaftsmittel an den Körperschaftszweck, wie es das Vorkriegsrecht bestimmte. Das gilt für lebende wie aufgelöste oder aufgehobene Körperschaften gleichermaßen, um Zweckentfremdungen zu verhindern. Es kann aber kein materielles steuerliches Interesse daran geben, dass eine Körperschaft sich auch noch zur ausschließlichen Verfolgung ihrer steuerbegünstigten Zwecke bekennt, wenn sie die Verwendung ihrer Mittel ausschließlich an diese Zwecke bindet.34) Gäbe es ein solches Interesse oder gar eine solche Notwendigkeit, müsste schon die Vermögensnachfolge in § 55 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 AO anders geregelt sein. Die übernehmende Körperschaft hätte nach ihrer Satzung und Geschäftsführung ebenso ausschließlich einen gemeinnützigen Zweck zu verfolgen, in dieser Hinsicht also genauso zu stehen wie die aufgelöste oder aufgehobene gemeinnützige Körperschaft. Das ist für öffentliche Körperschaften unmöglich. Das Gesetz sieht daher aus gutem Grund von einer solchen Anforderung ab. Die Mittelverwendung für den begünstigten Zweck als notwenige aber auch hinreichende Bedingung der Gemeinnützigkeit bestätigt das Gesetz noch anderweit. Nur die Mittelverwendung ist nach § 63 Abs. 3 AO von der Körperschaft durch Aufzeichnungen über Einnahmen und Ausgaben nachzuweisen und von der Finanzverwaltung zu prüfen. Ein umfassender Tätigkeitsbericht, auf den es doch andernfalls ankäme, wird nicht verlangt. Nur die Mittelverwendung ist schließlich Verbotstatbestand für die Einwirkung gemeinnütziger Körperschaften auf politische Parteien nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 AO. Ideelle Parteienunterstützung wie Wahlempfehlungen bei Gelegenheit eigener Veranstaltungen in der Art, wie sie früher auch die Kirchen erteilten, dürften der Gemeinnützigkeit nicht schaden (dazu noch unter IV.). Selbst in der Mittelverwendung lässt das Gesetz Ausnahmen von der Zweckbindung zu, die dann umso mehr auch für die ideelle Zweckverfolgung gelten müssen. So sind in § 58 Nrn. 7 und 8 AO insbesondere Tätigkeiten außerhalb des steuerbegünstigten Zwecks von Körperschaften für steuer33) 34)

BFH, Beschl. v. 7.2.2018 – V B 119/17, Rz. 9 a. E., BFH/NV 2018, 544. Entgegen BFH, Beschl. v. 7.2.2018 – V B 119/17, Rz. 9 a. E., BFH/NV 2018, 544.

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lich unschädlich erklärt worden, obwohl hier dann auch Mittel für Geselligkeit (Nr. 7) oder bezahlten Sport (Nr. 8) verwendet werden dürfen. Die Rechtfertigung liegt dort in der untergeordneten Bedeutung dieser Nebenzwecke (vgl. auch § 67a AO). Wenn es solche Durchbrechungen in der Ausschließlichkeit der Zweckverfolgung und Mittelverwendung aber nach dem Willen des Gesetzes gibt, dann muss der Begriff der Ausschließlichkeit schon in § 51 Abs. 1, § 56, § 63 Abs. 1 AO so verstanden werden, dass allgemein jedenfalls untergeordnete Nebenzwecke unschädlich sind. Im Übrigen sind auch Analogien zugunsten der Steuerpflichtigen durch die Tatbestandsmäßigkeit der Besteuerung (§§ 37, 38 AO) nicht ausgeschlossen. Ist danach von dem Grundsatz auszugehen, dass untergeordnete Nebenzwecke und vielleicht auch bestimmte andere Zusatzzwecke weder bei der Zweckverfolgung noch bei der Mittelverwendung der Gemeinnützigkeit entgegenstehen, darf folgerichtig auch ein Ausschließlichkeitsbekenntnis der Satzung zu den benannten Zwecken nicht gefordert werden, welches sich mit den zulässigen Durchbrechungen in Widerspruch setzt. Das strikte Aufteilungsverbot als Ausprägung des Ausschließlichkeitsgebots, welches der Bundesfinanzhof vertritt,35) findet eine Widerlegung ferner in § 64 AO. Unterhält eine gemeinnützige Körperschaft einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb, so verliert sie nicht ihre Gemeinnützigkeit, sondern nach § 64 AO im Einklang mit dem älteren Recht nur die Steuervergünstigung für die dem Geschäftsbetrieb zuzuordnenden Besteuerungsgrundlagen. Hier aufzuteilen ist möglich. Anderweitige Schwierigkeiten sind nicht vorstellbar. Dann gibt es auch keine praktischen Gründe der Transparenz und der Prüfbarkeit, welche das strikte Ausschließlichkeitsgebot rechtfertigen können. Die Rechtsprechung und Finanzverwaltung gestatten weitere Ausnahmen. Auf die schon jetzt von der Rechtsprechung als unschädlich betrachteten streng zweckbezogenen politischen Zielsetzungen ist noch weiter unten (siehe IV.) einzugehen. Der Anwendungserlass zur Abgabenordnung (AEAO) zeigt ähnliche Beispiele, die das Ausschließlichkeitsgebot durchbrechen; das hier behandelte steht dem Verf. persönlich besonders nahe. Schützenvereine oder historische Schützenbruderschaften können nach den Nrn. 7 und 12 AEAO zu § 52 als gemeinnützig anerkannt werden, wenn sie neben dem Schießsport 35)

Siehe BFH, Urt. v. 17.5.2017 – V R 52/15, Rz. 33 a. E., BFHE 258, 124 = BStBl. II 2018, 218.

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als Hauptzweck auch das Schützenbrauchtum fördern (§ 52 Abs. 2 Nr. 21 und 23 AO). Die Durchführung von volksfestartigen Schützenfesten ist danach jedoch kein gemeinnütziger Zweck (so ausdrücklich AEAO zu § 52 Nr. 7 letzter Satz), obwohl sich auch in diesen Festen teilweise historisches Brauchtum wiederspiegelt.36) Daran anschließend bestimmt AEAO zu § 52 Nr. 12 a. E., Vereine, deren Hauptzweck die Veranstaltung örtlicher Volksfeste (z. B. Kirmes, Kärwa, Schützenfest) sei, seien nicht gemeinnützig. Nun feiern Tausende der über 14.000 Mitgliedsvereine des Deutschen Schützenbundes, die als gemeinnützig anerkannt sind, jährlich Schützenfeste. Steuerlich stromlinienförmige Satzungen lassen das unerwähnt. Entsprechende Beschlüsse der Vereine werden dann aber in der Regel jährlich gefasst. Der Hinweis in AEAO Nr. 12 auf den „Hauptzweck“ beruht vielleicht darauf, dass hier der Gedanke des § 58 Nr. 7 AO (untergeordnete Geselligkeit) mit herangezogen werden soll. Diese Annahme ist jedoch gewagt, wenn man den tatsächlichen Mitteleinsatz für die Festveranstaltungen berücksichtigt. Auch von einem Zweckbetrieb der Festausrichtung (§§ 65, 67a AO) kann nicht ohne weiteres ausgegangen werden. Dann käme ein wirtschaftlicher Geschäftsbetrieb (§§ 14, 64 AO) in Frage, wenn es dem oft defizitären Festbetrieb nicht an der Nachhaltigkeit gebricht. Nach allem ist die Rechtsunsicherheit für die betroffenen Vereine derzeit unzumutbar hoch; denn sie müssen damit rechnen, bei Prüfung ihrer Nachweise (§ 63 Abs. 3 AO) durch die Finanzverwaltung und strikter Anwendung des Ausschließlichkeitsgebotes wegen dessen Verletzung bis zur Verjährungsgrenze (§ 169 Abs. 2 Satz 2 AO) vollen Umfangs nachveranlagt zu werden. Hält die Finanzverwaltung hier in großzügiger Auslegung des Anwendungserlasses still, was zu begrüßen ist, so hat sie einen weiteren Durchbrechungsfall zu § 51 Abs. 1, §§ 56, 63 Abs. 1 bis 3 AO praeter legem geschaffen, der einen besonders großen Anwendungsbereich hat. 2. Vermögensbindung Die fragwürdige Fixierung aller drei Staatsgewalten auf die formelle Satzungsmäßigkeit, welche in die Vereinigungsfreiheit tief einschneidet und doch nicht scharf und folgerichtig durchgeführt ist, zeigt sich nicht zuletzt 36)

In meiner Heimatstadt datieren die einschlägigen Ordnungen des Rates für die damals als nicht rechtsfähige öffentliche Anstalt organisierte Schützengilde aus den Jahren 1594 und 1609; sie enthalten allerdings auch die Übungspflichten zur Erhaltung der Schießfertigkeit im Interesse der Stadtverteidigung.

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an der Ausgestaltung der Vermögensbindung für Restmittel aufgehobener oder aufgelöster gemeinnütziger Körperschaften. Nach § 55 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 AO genügt es, wenn die Satzung bestimmt, dass dieses Restvermögen einer anderen steuerbegünstigten Körperschaft oder Körperschaft des öffentlichen Rechts für steuerbegünstigte Zwecke übertragen werden soll. § 5 der Mustersatzung verlangt ohne erkennbaren Grund alternativ in doppelter Hinsicht mehr: Der Zweck braucht nicht benannt zu sein, dann muss aber die unmittelbare und ausschließliche Mittelverwendung für gemeinnützige Zwecke dem Vermögensübernehmer in der Satzung der aufgelösten Körperschaft zur Pflicht gemacht werden (Nr. 1), oder es ist ein bestimmter gemeinnütziger Zweck in der Satzung der aufgelösten Körperschaft zu bezeichnen, dann braucht dem Vermögensübernehmer dort keine weitere Auflage erteilt zu werden (Nr. 2). Der Sinn dieser Unterscheidung ist nicht erkennbar. Denn der Vermögensnachfolger kann im Fall der Nr. 2 über die ihm angefallenen Mittel nach Wortlaut der Mustersatzung ohne die Restriktionen der Unmittelbarkeit und Ausschließlichkeit verfügen, die hier anscheinend plötzlich nicht mehr wichtig sind. Es hat sich anscheinend noch kein Vertreter des Steuerrechts die Frage vorgelegt, welche Bindungswirkung die Satzung einer aufgehobenen oder aufgelösten Körperschaft mit einer Verwendungsauflage für den Vermögensnachfolger überhaupt haben kann. Andere gemeinnützige Körperschaften unterliegen kraft Gesetzes und Satzung den gleichen Bindungen aus eigener Wurzel. Es dient allein der Klarstellung, dass dieses auch für übernommene gemeinnützige Drittmittel gilt. Nur für juristische Personen des öffentlichen Rechts als Vermögensnachfolger kommen hier nach richtigem Verständnis neben § 46 Satz 2 BGB ergänzende Satzungsbestimmungen in Frage, weil diese Vorschrift, die eine öffentlich-rechtliche Verpflichtung begründet, nur für den Fiskus gilt und die Verfassung einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft die Anforderungen der Gemeinnützigkeit als eigene Pflicht in der Regel nicht kennt. Schwer zugänglich erscheinen in diesem Zusammenhang die Ausführungen des Bundesfinanzhofes in seinem Beschluss vom 7. Februar 2018.37) Der Beschwerdeführer hatte dort eine § 55 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 AO gleichlautende Bestimmung zugunsten der Bundesrepublik Deutschland getroffen. Er war wohl der Ansicht, es sei überflüssig, dem zuständigen Bundesminister

37)

BFH, Beschl. v. 7.2.2018 – V B 119/17, Rz. 12, BFH/NV 2018, 544.

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der Finanzen über § 46 Satz 2 BGB und die Verpflichtung zur Gemeinnützigkeit (nach Ermessen) hinausgehende privatrechtliche Bindungen kraft seiner Satzung aufzuerlegen und meinte, dass auch diese oberste Finanzbehörde – wenn notwendig – die §§ 56, 57 AO sinngemäß beachten werde.38) Da die Bundesrepublik Deutschland für den Vereinszweck Hochwasserschutz nicht zuständig ist und auch der weitere Vereinszweck Küstenschutz nach Art. 91a GG unter das Sonderregime der Gemeinschaftsaufgaben mit möglichen Folgen für die Unmittelbarkeit (§ 57 AO) fällt, wollte der Beschwerdeführer vielleicht auch eine Regelung nach § 5 Nr. 2 der Mustersatzung nicht treffen. Damit stieß er beim Bundesfinanzhof auf taube Ohren, der darauf bestand, die Vereinssatzung habe der Bundesrepublik Deutschland nach § 5 Nr. 1 der Mustersatzung die unmittelbare und ausschließliche Verwendung der übernommenen Mittel für einen gemeinnützigen Zweck vorzuschreiben; der Wortlaut des § 55 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 AO in der Satzung genüge nicht mehr. Ein überwiegendes Interesse des Steuerrechts, die Satzungsautonomie von Körperschaften noch über § 55 Abs. 1 Nr. 4 Satz 2 AO hinaus gemäß § 5 der Mustersatzung zu beschränken, ist aber nirgends ersichtlich.39) Bedauerlich bleibt, wenn durch solche amtlichen und gerichtlichen Überspitzungen bürgerlicher Einsatz (§ 679 BGB) abgeschreckt wird und Landesinteressen Schaden nehmen. Der Steuergesetzgeber hat mit § 5 der Mustersatzung nach derzeitigem Erkenntnisstand die Vereinigungsfreiheit des Art. 9 Abs. 1 GG ein weiteres Mal verletzt. 3. Satzungsanforderungen bei unschädlichen Zusatzzwecken (§ 58 Nr. 7 und 8 AO et simile generis) Ungeklärt und doch insbesondere für die Beratungspraxis wichtig ist die Frage, wie die Satzung einer Körperschaft auf Zusatzzwecke eingehen muss, welche der Gemeinnützigkeit nicht schaden. Aus dem Endlagerurteil des Bundesfinanzhofes40) konnte möglicherweise entnommen werden, es reiche aus, wenn eine Körperschaft als einzige Zwecke in ihrer Satzung bestimmte Fälle des Katalogs von § 52 Abs. 2 Satz 1 AO angibt, steuerlich unschädliche Zusatztätigkeiten aber weder ausdrücklich ausschließt noch überhaupt erwähnt. 38) 39)

40)

Vgl. das erstinstanzliche Urteil des FG Niedersachsen, Urt. v. 14.9.2017 – 6 K 89/17, juris. Sollten Gründe nachgereicht werden, so ist der Verf. gespannt, welchen grassierenden Missständen vor dem 1.1.2009 § 5 der Mustersatzung abgeholfen hat. Gegebenenfalls ist er gern bereit, seinen kritischen Standpunkt zu revidieren. BFH, Urt. v. 29.8.1984 – I R 203/81, 3. b) (2), BFHE 142, 51 = BStBl. II 1984, 844.

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Diesen Weg ist der Hochwasserschutzverein gegangen, wahrscheinlich um bei fachlichen und politischen Auseinandersetzungen dem Einwand vorzubeugen, er mische sich wegen der ausschließlichen Zweckverpflichtung in satzungsfremde Dinge und sei ultra vires mit bestimmten Positionen (etwa zu Schifffahrtsbelangen oder zu Landwirtschaftsfragen – damals existierte § 78d WHG noch nicht) von vornherein disqualifiziert. Noch wahrscheinlicher dürfte es gewesen sein, dass der Vereinsvorstand bei grenzüberschreitender Tätigkeit in einem konfliktbeladenen Umfeld sogar mit einer Denunziation beim Finanzamt gerechnet hat und bei dessen bekannt engherziger und formalistischer Einstellung sich der Gefahr von Haftungsbescheiden und eines Strafverfahrens wegen Steuerhinterziehung bei allem Vertrauen in die ordentlichen Gerichte nicht hat aussetzen wollen. Auf solche Gedankengänge – wenn vorgetragen – hat sich der Bundesfinanzhof nicht eingelassen.41) Er verlangt rigoros ein (wahrheitswidriges) Bekenntnis zur Ausschließlichkeit der satzungsmäßig bezeichneten Zweckverfolgung. In eine ähnliche Zwickmühle können Sportvereine kommen, die im Einklang mit § 58 Nr. 8 AO auch den bezahlten Sport fördern oder Veranstaltungen durchführen, welche die Zweckbetriebsgrenzen nach § 67a AO überschreiten, oder Schützenvereine, die auch dem Volk offene Feste oder gesellige Vereinszusammenkünfte (§ 58 Nr. 7 AO) veranstalten. Nicht zuletzt stellen sich dieselben Fragen bei allen (steuerlich unschädlichen) politischen Einwirkungen gemeinnütziger Vereine. In diesem auch für die Praxis der Steuerberatung wichtigen Punkt dürfte es sich bis zum Eingreifen des Gesetzgebers oder des Bundesverfassungsgerichtes empfehlen, in der körperschaftlichen Satzung einerseits die gesetzlich begünstigten Zwecke als ausschließlich zu bezeichnen, sich andererseits aber trotz des offenbaren Widerspruchs alle nach Gesetz und Recht unschädlichen Zusatztätigkeiten unter näherer Angabe ausdrücklich vorzubehalten. Für den von der Finanzverwaltung spätestens seit der GemV 1953 geforderten42) und vom Bundesfinanzhof gebilligten43) Buchnachweis der Gemeinnützigkeit bringen solche offenen Vorbehalte wenig. Sie würden

41) 42) 43)

BFH, Beschl. v. 7.2.2018 – V B 119/17, Rz. 9 a. E., BFH/NV 2018, 544. Siehe noch die Stellungnahme des BMF zur Revision Attac, BFH, Urt. v. 10.1.2019 – V R 60/17, Rz. 13, NJW 2019, 877. Zum Buchnachweis der Zweckverfolgung vgl. BFH, Urt. v. 13.8.1997 – I R 19/96 (Golfclub), II. 2., BFHE 183, 371 = BStBl. II 1997, 794; zum Buchnachweis der Vermögensbindung BFH, Urt. v. 13.9.2013 – I R 16/12, Rz. 12, BFHE 243, 319 = BStBl. II 2014, 440.

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der Finanzverwaltung nur die Fälle anzeigen, in denen der tatsächliche Prüfaufwand wegen der Gefahr von Grenzüberschreitungen erhöht werden könnte. Vorläufig gaukelt die gängige Satzungspraxis der Finanzverwaltung eine Scheinsicherheit vor, die Steuerausfälle befürchten lässt und deren weiteren Preis mangelnder Rechtssicherheit die (gemeinnützigen) Körperschaften zahlen. Dieser Preis wird im Regelfall ruinös sein, weil zehn- oder mindestens fünfjährige Nachveranlagungen drohen (vgl. § 169 Abs. 2 Satz 2 AO). IV. Gemeinnützigkeit trotz politischer Betätigung (Art. 3 Abs. 1 GG) Die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes versucht seit langem, die bei Verfolgung zahlreicher gemeinnütziger Zwecke nicht abtrennbare politische Zielsetzung und Betätigung in einen unschädlichen zweckbezogenen Teil und einen davon losgelösten allgemeinpolitischen Bereich zu unterscheiden, welcher nicht gemeinnützig sein soll.44) Wie zutreffend bemerkt worden ist, stößt eine trennscharfe Unterscheidung beider Bereiche auf Schwierigkeiten.45) Einigkeit besteht bisher darüber, dass die Unterstützung von Parteipolitik die Gemeinnützigkeit ausschließt.46) Schon diese Ausgrenzung ist aber sachlich fragwürdig und kann das Grundrecht gemeinnütziger Körperschaften auf Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 3 Abs. 1 GG) verletzen. 1. Beteiligung an Wahlen Entgegen dem Attac-Urteil des Bundesfinanzhofes47) ist es nicht unerheblich, ob allgemein – politische Einwirkungen einer Körperschaft im Hinblick auf eine Beteiligung an Wahlen erfolgen. Die Einflussnahme auf die politische Willensbildung (§ 2 Abs. 1 PartG) und die Gestaltung der öffentlichen Meinung (§ 1 Abs. 2 PartG) ist nach Art. 21 Abs. 1 GG kein Parteienmonopol. Politische Aktionsbündnisse und Denkfabriken wie die

44)

45) 46) 47)

BFH, Urt. v. 29.8.1984 – I R 203/81, 3. b) (2), BFHE 142, 51 = BStBl. II 1984, 844; BFH, Urt. v. 20.3.2017 – X R 13/15, Rz. 85 ff., BFHE 257, 486 = BStBl. II 2017, 1110 m. w. N.; BFH, Urt. v. 10.1.2019 – V R 60/17, NJW 2019, 877. Winheller/Vielwerth, Politische Betätigungen durch Gemeinnützige: Was ist zulässig, was nicht?, DStR 2017, 2588, 2590. BFH, Urt. v. 20.3.2017 – X R 13/15, Rz. 91, BFHE 257, 486 = BStBl. II 2017, 1110; BFH, Urt. v. 10.1.2019 – V R 60/17, Rz. 22, NJW 2019, 877. BFH, Urt. v. 10.1.2019 – V R 60/17, Rz. 18 a. E., NJW 2019, 877.

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Bertelsmann-Stiftung stehen nicht im Wahlwettbewerb mit politischen Parteien, sie sind aber ebenso Meinungsbildner der demokratischen Öffentlichkeit. Gerade weil diese politischen Meinungsbildner keine Parteien sind, sie nur um Köpfe ringen statt um Sitze in Parlamenten, spricht nichts dagegen, sie steuerlich besserzustellen als politische Parteien. Denn auch der von § 55 AO nicht mehr erfasste Ursprungsgedanke der Selbstlosigkeit findet sich eher bei den überwiegend idealistischen Aktionsbündnissen und nicht bei den von eigenen Machtinteressen beherrschten Parteien. 2. Ausschluss von Parteienfinanzierung Geht es nicht um Wettbewerb, sondern um Nähe, zieht § 55 Abs. 1 Nr. 1 Satz 3 AO die nötige und klare Grenze: Gemeinnützige Körperschaften dürfen ihre Mittel weder für die unmittelbare noch für die mittelbare Unterstützung oder Förderung politischer Parteien verwenden. Jedenfalls mittelbar würden andere Körperschaften politische Parteien finanziell auch dadurch unterstützen, dass sie ihre Geschäfte besorgen, etwa einen Wahlkampf der Partei durchführen. Auch Pfründenstiftungen, die Funktionäre einer bestimmten Partei mit gut dotierten Sinekuren versehen und dadurch die Parteikassen entlasten, könnte eine mittelbare finanzielle Parteiunterstützung zur Last gelegt werden, die nicht mehr gemeinnützig sein kann. Warum demgegenüber die ideelle Parteiunterstützung zur Einwirkung auf parlamentarische und exekutive Entscheidungen gemeinnützigen Körperschaften bei Verlust dieses Status verwehrt sein soll, ist schwer zu erkennen. Man kann hier wieder die ausschließliche Zweckverfolgung heranziehen und die Förderung der Allgemeinheit. Aber selbst die angeführte Rechtsprechung gestattet im Grundsatz die zweckbezogene politische Zielsetzung und Betätigung von Aktionsbündnissen als weitere Durchbrechung des Ausschließlichkeitsgebots, verfährt hierbei allerdings seit Neuem mit unangebrachter Schärfe. 3. Katalogzwecke im Attac-Urteil In seinem Bestreben, die unschädliche zweckbezogene politische Zielsetzung und Betätigung von der allgemeinpolitischen Einflussnahme abzugrenzen, hat der Bundesfinanzhof im Attac-Urteil die geprüften Katalogzwecke des § 52 Abs. 2 Satz 1 AO unnatürlich verengt.

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Die Volksbildung i. S. von § 52 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 AO ist in den politischen Fragestellungen nicht auf bildungspolitische Aspekte und ergebnisoffene Problembeschreibungen beschränkt.48) Damit ist der V. Senat des Bundesfinanzhofes spürbar hinter einem Urteil des XI. Senats zurückgeblieben,49) nach dem die politische Bildung als Teil der Volksbildung nicht nur in theoretischer Unterweisung bestehen muss, sondern auch durch den Aufruf zu konkreter Handlung ergänzt werden kann. Bei der streitigen Anzeigenkampagne sollte es deshalb auf Inhalt, Motivation und Zusammenhang der Aktion ankommen; nur durfte Tagespolitik nicht im Mittelpunkt stehen. Der V. Senat des Bundesfinanzhof hätte sich daneben anhand der Geschichte der Arbeiterbildungsvereine und ihrer Rolle in der Arbeiterbewegung von der Lebensferne seiner Begriffsverengung überzeugen können. Die allgemeine Förderung des demokratischen Staatswesens findet auch durch politische Aktionsbündnisse und Denkfabriken statt, soweit sie für rechtsstaatliche und soziale Ziele an der politischen Willensbildung innerhalb einer funktionierenden Demokratie mitwirken. Es kommt hier nicht darauf an, dass politische Aktionsbündnisse fast regelmäßig gegen die amtliche Politik Stellung beziehen. Denn es ist gerade die Aufgabe politischer Auseinandersetzung in der Demokratie, andere Vorstellungen und Lösungsmöglichkeiten außerparlamentarisch zu artikulieren und sie mithilfe der öffentlichen Meinung möglicherweise – wie etwa im Fall der Energiewende – zum Inhalt der amtlichen Politik werden zu lassen. Der Ausschluss bestimmter Einzelinteressen staatsbürgerlicher Art in § 52 Abs. 2 Satz 1 Nr. 24 Halbs. 2 AO wird vom Bundesfinanzhof seit jeher unrichtig eingeordnet. Dieser Ausschluss spiegelt § 52 Abs. 1 AO mit seiner Begriffsbestimmung der Allgemeinheit wieder. Nicht gemeinnützig für die Förderung des demokratischen Staatswesens sind vor allem solche politischen Einzelinteressen, die infolge ihrer Besonderheiten lediglich einen dauernd nur kleinen Kreis von Personen betreffen, welcher zudem nicht mehr als Repräsentanz der Allgemeinheit verstanden werden kann. Die Verfolgung solcher Einzelinteressen ist dann auch nicht mehr selbstlos, sondern gruppen- oder eigennützig. Der Ausschluss lediglich eigenwirtschaftlicher Zwecke im Dachsatz von § 55 Abs. 1 AO ist danach zu eng. Die Aktionen

48) 49)

Entgegen BFH, Urt. v. 10.1.2019 – V R 60/17, Rz. 23–26, NJW 2019, 877. BFH, Urt. v. 23.9.1999 – XI R 63/98, II. 1. a), b), BFHE 190, 338 = BStBl. II 2000, 200; ebenso AEAO zu § 52 Nr. 9 und 16.

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von Attac dürften im Wesentlichen nicht zu dieser Kategorie, der die Gemeinnützigkeit verwehrt ist, gehört haben. 4. Gleichstellung gemäß § 52 Abs. 2 Satz 2 AO Wenn der Bundesfinanzhof den Katalog des § 52 Abs. 2 Satz 1 AO nicht für einschlägig hielt, so hätte er sich im Attac-Urteil damit auseinandersetzen müssen, ob ein Gleichstellungsfall des § 52 Abs. 2 Satz 2 AO vorlag. Die Auslegung des AEAO zu § 52 Nr. 2 (Aufzählung grundsätzlich abschließend) ist missverständlich und für die Rechtsprechung ohnehin nicht bindend.50) Ein Beurteilungs- oder Entschließungsermessen der Finanzverwaltung, andere Zwecke wie die Katalogfälle des § 52 Abs. 2 Satz 1 AO, welche die Allgemeinheit auf materiellem, geistigem oder sittlichem Gebiet entsprechend selbstlos fördern, als gemeinnützig anzuerkennen oder nicht, ist trotz der missverständlichen Gesetzesfassung zu verneinen. Wenn die selbstlose Förderung der Allgemeinheit festgestellt wird, würde mit der Nichtanerkennung unbenannter Zwecke als gemeinnützig Gleiches ungleich behandelt werden. Es geht auch hier um Gleichheit vor dem Gesetz und Steuergerechtigkeit, auf die nach Art. 3 Abs. 1, Art. 19 Abs. 3 GG jedermann und jede Rechtsperson Anspruch hat. Zu einer Prüfung von § 52 Abs. 2 Satz 2 AO ist der Bundesfinanzhof im Attac-Urteil nicht mehr gelangt, weil er ganz generell „nur“ politische Zielsetzungen aus den gemeinnützigen Zwecken ausgeschlossen hat. Das ist – wie schon gesagt – zu beanstanden. Es kann z. B. kaum anders als gemeinnützig sein, unsinnige oder überteuerte Verkehrsprojekte zu verhindern, wenn dadurch die Umwelt geschont und die ersparten Mittel im öffentlichen Interesse verkehrspolitisch wirkungsvoller hätten eingesetzt werden können. Ob hier der Begriff des Umweltschutzes gemäß § 52 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 AO noch einschlägig ist, spielt keine Rolle.51) Viele große Infrastrukturprojekte in Gegenwart und jüngerer Vergangenheit zeigen komplexe Verhältnisse, die mit dem engen Verständnis des Bundesfinanzhofes von den Zwecken des § 52 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 AO und ihrer ausschließlichen Verfolgung (siehe oben unter III.) nicht mehr zutreffend beurteilt werden können, selbst wenn man – insoweit mit dem Bundesfinanzhof – streng zweckbezogene politische Zielsetzungen und Tätigkei50) 51)

Klarer demgegenüber AEAO zu § 52 Nr. 2.7. Entgegen BFH, Urt. v. 10.1.2019 – V R 60/17, Rz. 34, NJW 2019, 877 mit Bezug auf Stuttgart 21.

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ten einem hiergegen auftretenden politischen Aktionsbündnis als unvermeidliches Beiwerk noch gestattet. Ein politisches Aktionsbündnis, welches sich in Sorge um den Naturschutz, Umweltschutz und Küstenschutz gegen die Durchführung der derzeit planfestgestellten weiteren Elbevertiefung wendet, hätte sehr guten Grund, sich fachlich auch mit der deutschen Schifffahrtspolitik im allgemeinen und der Hafenentwicklung an der Nordseeküste zu befassen. Ein unmittelbarer Zusammenhang mit der Elbevertiefung wäre hier im Einzelfall vielleicht nicht einmal greifbar gewesen. Ebenso hätten in zurückliegenden Jahrzehnten Aktionsbündnisse von Kernkraftgegnern im Interesse des Schutzes der Umwelt vor Strahlenrisiken sich mit allgemein wirtschaftspolitischen Fragen des künftigen Energiebedarfs einschließlich von Einsparmöglichkeiten, mit der technischen Entwicklung risikoarmer neuartiger Reaktortypen und – schon damals – mit dem forcierten Ausbau erneuerbarer Energieerzeugung befassen können, ohne dabei imstande zu sein, ein Ausgreifen auf benachbarte Fachgebiete und Fragen der allgemeinen Politik zu vermeiden. In ähnlichen Aktionsbereichen kommen viele Mittel in Frage von klassischer Lobbyarbeit, wissenschaftlichen Veröffentlichungen, Teilnahmen an Ausschussanhörungen, Petitionen und die Erwirkung parlamentarischer Anfragen über Anzeigenkampagnen, öffentliche Versammlungen und Demonstrationen bis zur Wahlunterstützung politischer Parteien. Denn schließlich ist es im Ringen um Entscheidungen sehr oft nicht nur eine Frage der Köpfe, die für bestimmte Belange gewonnen werden können, sondern mehr noch die Frage, wohin sich die Waagschalen der Macht senken. Diese verkörpert sich in den Sitzen der Parlamente und Räte neben den politisch besetzten Führungsämtern der Ministerien, Behörden und öffentlichen Verbände. Es kann von Verfassung wegen nicht Aufgabe des Steuerrechts, der Finanzverwaltung und der Finanzgerichte sein, hier den Handlungsspielraum gemeinnütziger Organisationen unter Berufung auf die Ausschließlichkeit der Satzungszwecke und ein eng gebundenes politisches Mandat entscheidend einzuschränken. Wer die parlamentarische Opposition für bestimmte Zielsetzungen i. R. der Zwecke des § 52 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 AO gewonnen hat, kann ihr jede noch so intensive ideelle politische Unterstützung gewähren, weil dies der demokratischen Durchsetzung des gemeinnützigen Zwecks dient. Nur wenn es um die zweckfreie Erringung der politischen Macht

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durch Parteien als solche geht, sind die Grenzen einer noch gemeinnützigen politischen Betätigung von Körperschaften überschritten.52) V. Ergebnis Grundlegende Bausteine des gegenwärtigen Rechts der steuerlichen Gemeinnützigkeit verletzen Art. 9 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG. Die Rechtsprechung hat ein mangelhaftes Gesetz hier nicht verfassungskonform fortgebildet, sondern zeigt in den erörterten Entscheidungen eher einen Rückschritt gegenüber älteren Urteilen. Not tut nichts weniger als ein Systemwechsel im Steuerrecht der gemeinnützigen Körperschaften, dem sich voraussichtlich die große Mehrheit in Verwaltung, Rechtsprechung und Wissenschaft entgegenstellen wird, die sich in mehr als sechs Jahrzehnten mit der andauernden Praxis gut eingelebt hat. Beendet werden sollte vor allem die Satzungsdiktatur gegenüber den gemeinnützigen Körperschaften, die seit der Gemeinnützigkeitsverordnung 1953 immer stärker Platz gegriffen hat. Die Ausschließlichkeit der verfolgten steuerbegünstigten Zwecke sperrt die Körperschaften in eine löcherige Zwangsjacke, die zu willkürlichen Ergebnissen einlädt. Das Gebot der Zeit ist ein lebensnahes Gemeinnützigkeitsrecht, welches mit der notwendigen Fortentwicklung noch einmal neu bei § 17 Abs. 1 und 2 StAnpG ansetzen kann. Die Ausschließlichkeit des Gemeinwohls ist dabei als Zweckmerkmal begünstigter Körperschaften wiederherzustellen, allerdings mit dem Hinweis, dass das öffentliche Interesse insoweit naheliegende Eigeninteressen verdrängt.53) Die hauptsächliche Mittelverwendung für diesen gemeinnützigen Zweck ist als Voraussetzung der Steuerbegünstigung beizubehalten. Das Bestreben nach einem Buchnachweis für Zweckverfolgung und Mittelverwendung gemeinnütziger Körperschaften sollte aufgegeben werden, weil es der Lebenswirklichkeit widerspricht. Der umfangreiche Katalog gemeinnütziger Zwecke in § 52 Abs. 2 Satz 1 AO sollte nicht verlängert, sondern zugunsten einer allgemeinen Regel mit wenigen Ausführungsbeispielen aufgegeben werden. Ohne 52)

53)

Vgl. Hüttemann, Gutachten Teil G, 72. Deutscher Juristentag, 2018, Bd. I, S. 42, dem ich aber mit seiner Forderung nach gedämpfter Intensität bei politischer Betätigung gemeinnütziger Körperschaften nicht folgen möchte. Sie sind keine Beamte, für die aus besonderem Grunde ein Mäßigungsgebot (vgl. § 60 Abs. 2 BBG) gilt. Zu eng ferner AEAO zu § 52 Nr. 9 und 16. Sonst könnte etwa ein Küstenschutzverein in Konstanz gemeinnützig sein, in Emden aber nicht, selbst wenn hier der verbesserte Schutz des gesamten Weser-Ems-Polders bezweckt würde, also fraglos Belange der Allgemeinheit gefördert würden.

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den vorgeschlagenen Systemwechsel des Bundesgesetzgebers, dessen weitere Einzelheiten hier offenbleiben müssen, werden Steuergerechtigkeit, Rechtssicherheit und die Vereinigungsfreiheit für gemeinnützige Körperschaften ihren gebührenden Rang nicht erhalten können.

Anwaltliches Berufsrecht und Insolvenzrecht: Verbindungslinien ANDREAS REMMERT1) Inhaltsübersicht I. II.

Einführung Zulassungswiderruf wegen Vermögensverfalls 1. Vermögensverfall 2. Widerlegung der gesetzlichen Vermutung a) Sachverhalt b) Entscheidung des Anwaltssenats vom 29. Dezember 2016 aa) Rechtslage bis zum 30. Juni 2014

bb) Anpassung der Senatsrechtsprechung an geänderte Rechtslage cc) Offene Fragen III. Die Richtlinie über präventive Restrukturierungsrahmen IV. Fachanwalt für Insolvenzrecht 1. Vertretung in einem gerichtlichen Verbraucherinsolvenzverfahren 2. Aktuelle Rechtslage V. Schluss

1)

I. Einführung Das breite Zuständigkeitsspektrum des Anwaltssenats des Bundesgerichtshofs ist für seine Mitglieder zugleich ein Anlass zur Freude und eine Herausforderung. Die Entscheidungen des Senats über Berufungen gegen die Urteile der Anwaltsgerichtshöfe und auch über die Zulassung der Berufung (§ 112e Satz 2 BRAO i. V. m. § 124a Abs. 4, 5 VwGO) erfordern die Befassung mit einer Vielzahl von Rechtsgebieten jenseits des anwaltlichen Berufsrechts. Hier kommt dem Insolvenzrecht seit jeher eine prominente Bedeutung zu. Eine direkte Verbindungslinie zwischen dem anwaltlichen Berufsrecht und dem Insolvenzrecht stellt der Vermögensverfall dar. Wer sich in Vermögensverfall befindet, wird nicht zur Rechtsanwaltschaft zugelassen (§ 7 Nr. 9 BRAO). Gerät ein Rechtsanwalt in Vermögensverfall, ist seine Zulassung zur Rechtsanwaltschaft zu widerrufen (§ 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO; dazu nachfolgend zu II.). Dabei ist das in der Entwicklung befindliche europäische Insolvenzrecht im Blick zu behalten (nachfolgend zu III.). Regelmäßig gestritten wird vor dem Anwaltssenat auch um die 1)

Der Autor ist Mitglied des Anwaltssenats des BGH. Der Beitrag gibt ausschließlich seine persönliche Auffassung wieder.

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Befugnis, die Bezeichnung „Fachanwalt für Insolvenzrecht“ führen zu dürfen (nachfolgend zu IV.). II. Zulassungswiderruf wegen Vermögensverfalls 1. Vermögensverfall Eine Vielzahl der Entscheidungen des Anwaltssenats betrifft den Widerruf der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft wegen Vermögensverfalls. Der Widerruf hat nach § 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO (durch die zuständige Rechtsanwaltskammer) zu erfolgen, wenn der Rechtsanwalt in Vermögensverfall geraten ist, es sei denn, dass dadurch die Interessen der Rechtsuchenden nicht gefährdet sind. Ein Vermögensverfall wird nach der vorgenannten Bestimmung vermutet, wenn ein Insolvenzverfahren über das Vermögen des Rechtsanwalts eröffnet ist. 2. Widerlegung der gesetzlichen Vermutung Eine gesetzliche Vermutung kann widerlegt worden. Aber wann ist dies bei einem über das Vermögen des Rechtsanwalts eröffneten Insolvenzverfahren der Fall? Hier hatte der Anwaltssenat des Bundesgerichtshofs Ende 2016 die Gelegenheit, seine Rechtsprechung an die geänderte Insolvenzordnung anzupassen.2) Indes sind noch nicht alle mit dem geänderten Insolvenzrecht verbundenen Fragen geklärt. a) Sachverhalt In dem zur Entscheidung stehenden Sachverhalt war am 1. Dezember 2015 das Insolvenzverfahren über das Vermögen eines Rechtsanwalts, des Klägers, eröffnet worden. Schon mit Beschluss vom darauffolgenden Tage hatte das Insolvenzgericht festgestellt, dass der Kläger Restschuldbefreiung erlangen werde, wenn er den Obliegenheiten nach § 295 InsO nachkomme und die Voraussetzungen einer Versagung nach §§ 290, 297 bis 298 InsO nicht vorlägen. Mit Bescheid vom 21. März 2016 widerrief die beklagte Rechtsanwaltskammer die Zulassung des Klägers zur Rechtsanwaltschaft wegen Vermögensverfalls (§ 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO). Die Klage gegen den Widerrufsbescheid wies der Anwaltsgerichtshof ab. Der Kläger beantragte die 2)

BGH, Beschl. v. 29.12.2016 – AnwZ (Brfg) 53/16, ZVI 2017, 229 = NJW 2017, 1181.

Anwaltliches Berufsrecht und Insolvenzrecht: Verbindungslinien

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Zulassung der Berufung durch den Anwaltssenat des Bundesgerichtshofs. Das Insolvenzverfahren dauerte an. b) Entscheidung des Anwaltssenats vom 29. Dezember 2016 In dem Zulassungsverfahren war zu klären, ob ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils bestanden (§ 112e Satz 2 BRAO, § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). In diesem Rahmen war – nach der ständiger Rechtsprechung des Anwaltssenats – für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Widerrufs der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft allein auf den Zeitpunkt des Abschlusses des behördlichen Widerrufsverfahrens, vorliegend mithin auf den Widerrufsbescheid der Beklagten vom 21. März 2016, abzustellen; die Beurteilung danach eingetretener Entwicklungen blieb einem Wiederzulassungsverfahren vorbehalten.3) Der Kläger hatte sich zum Zeitpunkt des Widerrufsbescheids in Vermögensverfall befunden. Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über sein Vermögen durch Beschluss des Insolvenzgerichts vom 1. Dezember 2015 hatte – wie bereits ausgeführt – zur Folge, dass der Eintritt des Vermögensverfalls gesetzlich vermutet wurde (§ 14 Abs. 2 Nr. 7 Halbs. 2 BRAO). aa) Rechtslage bis zum 30. Juni 2014 Nach der bis zu dem hier berichteten Beschluss vom 29. Dezember 2016 geltenden Senatsrechtsprechung war die gesetzliche Vermutung des Vermögensverfalls im Fall eines Insolvenzverfahrens widerlegt bzw. konnten die Vermögensverhältnisse wieder als geordnet angesehen werden, wenn dem Schuldner entweder durch Beschluss des Insolvenzgerichts die Restschuldbefreiung angekündigt worden war (§ 291 InsO i. d. F. bis zum 30. Juni 2014) oder ein vom Insolvenzgericht bestätigter Insolvenzplan (§ 248 InsO) oder angenommener Schuldenbereinigungsplan (§ 308 InsO) vorlag, bei dessen Erfüllung der Schuldner von seinen übrigen Forderungen gegenüber den Gläubigern befreit werden würde.4)

3)

4)

Ständige Rechtsprechung, vgl. nur BGH, Beschl. v. 29.6.2011 – AnwZ (Brfg) 11/10, Rz. 9 ff., BGHZ 190, 187; BGH, Beschl. v. 9.6.2015 – AnwZ (Brfg) 16/15, juris Rz. 7, und BGH, Beschl. v. 21.4.2016 – AnwZ (Brfg) 1/16, juris Rz. 4, jeweils m. w. N. Vgl. BGH, Beschl. v. 9.6.2015 – AnwZ (Brfg) 16/15, juris Rz. 9; BGH, Beschl. v. 18.1.2014 – AnwZ (Brfg) 53/13, juris Rz. 8; BGH, Beschl. v. 9.7.2013 – AnwZ (Brfg) 20/13, juris Rz. 5; BGH, Beschl. v. 23.6.2012 – AnwZ (Brfg) 23/12, juris Rz. 3, und BGH, Beschl. v. 7.12.2004 – AnwZ (B) 40/04, juris Rz. 10 ff., NJW 2005, 1271.

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Die Widerlegung der Vermutung des Vermögensverfalls bei Ankündigung der Restschuldbefreiung nach § 291 InsO a. F. war darin begründet, dass die Restschuldbefreiung, die während des Insolvenzverfahrens lediglich eine abstrakte Möglichkeit darstellte, nach dessen Aufhebung und nach Ankündigung der Restschuldbefreiung gemäß § 291 InsO a. F. sich zu einer konkreten Aussicht verdichtete. Während der sich anschließenden Wohlverhaltensphase waren die Vermögensverhältnisse des Schuldners in vergleichbarer Weise geordnet wie bei einem angenommenen Schuldenbereinigungsplan. Der Beschluss über die Ankündigung der Restschuldbefreiung nach § 291 InsO a. F. war insofern als Ordnungsfaktor nicht geringer zu schätzen als ein Schuldenbereinigungsplan oder eine außergerichtliche Tilgungsvereinbarung.5) bb) Anpassung der Senatsrechtsprechung an geänderte Rechtslage Nachdem durch das Gesetz zur Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens und zur Stärkung der Gläubigerrechte vom 15. Juli 2013 die Vorschrift des § 291 InsO mit Wirkung vom 1. Juli 2014 aufgehoben worden war, entfiel die dort bisher geregelte Ankündigung der Restschuldbefreiung durch einen am Ende des Insolvenzverfahrens erfolgenden Beschluss des Insolvenzgerichts. Stattdessen stellt nunmehr das Insolvenzgericht im Falle eines zulässigen Restschuldbefreiungsantrags nach § 287a Abs. 1 InsO bereits bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens durch Beschluss fest, dass der Schuldner Restschuldbefreiung erlangt, wenn er den Obliegenheiten nach § 295 InsO nachkommt und die Voraussetzungen für eine Versagung nach den §§ 290, 297 bis 298 InsO nicht vorliegen. Ein solcher Beschluss nach § 287a Abs. 1 InsO wurde in dem das Vermögen des Klägers betreffenden Insolvenzverfahren bereits am Tag nach der Verfahrenseröffnung erlassen. Der Anwaltssenat entschied aufgrund dieser veränderten insolvenzrechtlichen Lage, dass mit dem Beschluss gemäß § 287a InsO n. F. die gesetzliche Vermutung des Vermögensverfalls (§ 14 Abs. 2 Nr. 7 Halbs. 2 BRAO) nicht widerlegt ist.6) Im Unterschied zur Ankündigung der Restschuldbefreiung nach § 291 InsO a. F. erfolgt der Beschluss gemäß § 287a InsO nicht nach 5) 6)

BGH, Beschl. v. 7.12.2004 – AnwZ (B) 40/04, juris Rz. 10 ff., NJW 2005, 1271. A. a. O. Rz. 9 ff.; so auch BGH, Beschl. v. 21.2.2018 – AnwZ (Brfg) 72/17, Rz. 9, NZI 2018, 422, und BGH, Beschl. v. 20.11.2017 – AnwZ (Brfg) 41/17, juris Rz. 8, und BGH, Beschl. v. 20.11.2017 – AnwZ (Brfg) 46/17, juris Rz. 9.

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der Beendigung des Insolvenzverfahrens, sondern – als Eingangsentscheidung – bereits mit oder unmittelbar nach seiner Eröffnung. Der Gesetzgeber geht indes ausweislich der in § 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO bestimmten Vermutung des Vermögensverfalls davon aus, dass die Vermögensverhältnisse des Rechtsanwalts zum Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung ungeordnet sind. Mit dieser Wertung wäre es nicht vereinbar, wenn die gesetzliche Vermutung bereits durch die Eingangsentscheidung nach § 287a InsO, also zeitgleich mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder unmittelbar danach, allein bei Zulässigkeit eines Restschuldbefreiungsantrags sogleich widerlegt wäre. Mit dem Beschluss nach § 287a InsO erfolgt auch – insofern anders als bei der Ankündigung der Restschuldbefreiung nach § 291 InsO a. F. – keine Prüfung von Versagungsgründen i. S. von § 290 InsO.7) Der Schuldner muss damit rechnen, dass bei Vorliegen solcher Versagungsgründe – auch noch nach dem Schlusstermin (§ 297a InsO) – auf Antrag eines Insolvenzgläubigers die Restschuldbefreiung versagt werden kann. Letztere hat sich daher zum Zeitpunkt der Eingangsentscheidung noch nicht zu einer konkreten Aussicht verdichtet. Die Vermögensverhältnisse des Schuldners sind in diesem frühen Stadium noch nicht in vergleichbarer Weise geordnet wie im Fall eines angenommenen Schuldenbereinigungsplans, einer außergerichtlichen Tilgungsvereinbarung oder einer nach früherem Recht am Ende des Insolvenzverfahrens erfolgten Ankündigung der Restschuldbefreiung. cc) Offene Fragen Ob allein bei Aufhebung des Insolvenzverfahrens nach Schlussverteilung (§ 200 InsO) wieder von hinreichend geordneten Vermögensverhältnissen des Rechtsanwalts ausgegangen werden kann, bedurfte in dem Beschluss vom 29. Dezember 2016 keiner Entscheidung. Denn zum maßgeblichen Zeitpunkt des Widerrufsbescheids der Beklagten war das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Klägers noch nicht aufgehoben. So wird es sich auch in vielen anderen Widerrufsfällen verhalten. Ist ein Insolvenzverfahren nach § 200 InsO aufgehoben, tritt die Vermutungswirkung gemäß § 14 Abs. 2 Nr. 2 Halbs. 2 InsO nicht mehr ein. Denn

7)

Waltenberger in HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 287a Rz. 4; Kexel in: Graf-Schlicker, InsO, 5. Aufl. 2019, § 287a Rz. 3; Sternal in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 287a Rz. 6a, jeweils m. w. N.

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von Bedeutung ist nicht, ob zu einem beliebigen Zeitpunkt vor dem Widerruf der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft ein Insolvenzverfahren über das Vermögen des Rechtsanwalts eröffnet war. Abzustellen ist vielmehr – wie ausgeführt – auf den Zeitpunkt des Abschlusses des Widerrufsverfahrens. Andererseits sind nach Schlussverteilung und Aufhebung des Insolvenzverfahrens – insoweit anders als im Fall eines vom Insolvenzgericht bestätigten Insolvenzplans (§ 248 InsO) oder angenommenen Schuldenbereinigungsplans (§ 308 InsO), bei dessen Erfüllung der Schuldner von seinen übrigen Forderungen gegenüber den Gläubigern befreit werden würde, – die Vermögensverhältnisse des Rechtsanwalts nicht stets wieder geordnet. Die Insolvenzgläubiger können nämlich gemäß § 201 Abs. 1 InsO nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens ihre restlichen Forderungen gegen den Schuldner wieder unbeschränkt geltend machen. Zwar können sie, wenn der Rechtsanwalt (als Schuldner), wie dies häufig der Fall sein wird, die Restschuldbefreiung beantragt hat, gemäß § 294 Abs. 1 InsO in dem Zeitraum zwischen Beendigung des Insolvenzverfahrens und dem Ende der Abtretungsfrist (§ 287 Abs. 2 InsO) nicht in das Vermögen des Rechtsanwalts vollstrecken. Dies ist ihnen indes dann wieder möglich, wenn dem Rechtsanwalt nach Ablauf der Abtretungsfrist die Restschuldbefreiung versagt wird (§ 300 Abs. 3 InsO). Nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens gemäß § 200 InsO und vor Erteilung der Restschuldbefreiung befinden sich die Vermögensverhältnisse des Rechtsanwalts mithin in einer Übergangsphase zwischen ehedem fehlender und wieder hergestellter Ordnung. In einer solchen – fortgeschrittenen – Phase werden viele Rechtsanwaltskammern abwarten, ob dem Rechtsanwalt die Restschuldbefreiung erteilt wird. Dies dürfte jedenfalls dann gelten, wenn das Ende der Abtretungsfrist und der Beschluss über die Erteilung der Restschuldbefreiung absehbar sind. Es dient daher (auch) den berufsrechtlichen Interessen des Rechtsanwalts, wenn er die sechsjährige Abtretungsfrist gemäß § 300 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 oder 3 InsO auf drei oder fünf Jahre verkürzt. Entschließt sich die Rechtsanwaltskammer dennoch in der vorgenannten Übergangsphase zu einem Widerruf der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft, gelten die allgemeinen, zu § 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO vom Anwaltssenat des Bundesgerichtshofs entwickelten Grundsätze. Dabei dürfte fraglich und zumindest begründungsbedürftig sein, ob – bei im Übrigen laufender Abtretungsfrist gemäß § 287 Abs. 2 InsO – allein das beendete Insolvenzver-

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fahren den Schluss auf (fortdauernd) ungeordnete Vermögensverhältnisse des Rechtsanwalts zulässt. Ist es dagegen schon wieder zu Vollstreckungsmaßnahmen von Neugläubigern (für die § 294 Abs. 1 InsO nicht gilt) oder – bei fehlendem Restschuldbefreiungsantrag – von Insolvenzgläubigern (vgl. § 201 Abs. 2 Satz 1 InsO) gegen den Rechtsanwalt gekommen, liegen Beweisanzeichen für einen (erneuten oder fortdauernden) Vermögensverfall vor.8) III. Die Richtlinie über präventive Restrukturierungsrahmen Der berufsrechtliche Zusammenhang zwischen dem Vermögensverfall eines Rechtsanwalts, einer ihm erteilten Restschuldbefreiung und dem Widerruf seiner Zulassung zur Rechtsanwaltschaft könnte auch von der vor kurzem in Kraft getretenen Restrukturierungsrichtlinie9) betroffen sein. Nach Art. 22 Restrukturierungsrichtlinie stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass, wenn ein insolventer Unternehmer im Einklang mit der Richtlinie entschuldet wird, ein allein aufgrund der Insolvenz des Unternehmers erlassenes Verbot, eine freiberufliche Tätigkeit aufzunehmen oder auszuüben, spätestens bei Ablauf der – höchstens dreijährigen – Entschuldungsfrist (vgl. Art. 21 Abs. 1 Restrukturierungsrichtlinie) außer Kraft tritt, ohne dass ein Antrag bei einer Justiz- oder Verwaltungsbehörde gestellt werden muss, zusätzlich zu den in Art. 21 Abs. 1 Restrukturierungsrichtlinie genannten Verfahren ein weiteres Verfahren zu eröffnen. Allerdings wird in ErwG 83 der Restrukturierungsrichtlinie ausgeführt, dass in dem Fall, dass einem Unternehmer infolge eines Tätigkeitsverbots die Genehmigung oder Lizenz zur Ausübung (u. a.) einer bestimmten freiberuflichen Tätigkeit verweigert oder entzogen wurde, die Restrukturierungsrichtlinie den Mitgliedstaaten nicht die Möglichkeit nehmen sollte, vom

8)

9)

Vgl. zu Vollstreckungsmaßnahmen gegen den Rechtsanwalt als Beweisanzeichen für seinen Vermögensverfall BGH, Beschl. v. 24.9.2018 – AnwZ (Brfg) 7/18, juris Rz. 4; BGH, Beschl. v. 15.12.2017 – AnwZ (Brfg) 11/17, juris Rz. 4, und BGH, Beschl. v. 21.4.2016 – AnwZ (Brfg) 1/16, juris Rz. 6, jeweils m. w. N. Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) – Restrukturierungsrchtlinie. ABl. (EU) L 172/18 v. 26.6.2019.

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Unternehmer nach Ablauf des Tätigkeitsverbots die Einreichung eines neuen Antrags für eine neue Genehmigung oder Lizenz zu verlangen. Für die Umsetzung der Restrukturierungsrichtlinie, die (von Ausnahmen abgesehen) grundsätzlich bis zum 17. Juli 2021 zu erfolgen hat (Art. 34 Abs. 1), stellt sich die Frage, ob es sich bei dem Widerruf der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft wegen Vermögensverfalls (§ 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO) um ein Tätigkeitsverbot oder um einen Genehmigungs- bzw. Lizenzentzug „infolge eines Tätigkeitsverbots“ (ErwG 83) i. S. der Restrukturierungsrichtlinie handelt. Der Begriff des Tätigkeitsverbots wird in der Restrukturierungsrichtlinie nicht definiert. Diese spricht von „allein aufgrund der Insolvenz des Unternehmers“ erlassenen Verboten (Art. 22 Abs. 1 Restrukturierungsrichtlinie). Eine solche monokausale Verbindung10) zwischen Insolvenz und Verbot (Zulassungswiderruf) ergibt sich aus § 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO allerdings nicht. Der Widerruf knüpft dort vielmehr an den Vermögensverfall des Rechtsanwalts an. Zwar wird letzterer gemäß § 14 Abs. 2 Nr. 7 Halbs. 2 BRAO vermutet, wenn ein Insolvenzverfahren über das Vermögen des Rechtsanwalts eröffnet ist. Diese Vermutung kann jedoch widerlegt werden (siehe oben. zu II. 2.). Zudem setzt der Zulassungswiderruf nach § 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO zusätzlich voraus, dass durch den Vermögensverfall die Interessen der Rechtsuchenden gefährdet sind. Nach der in § 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO zum Ausdruck gekommenen gesetzgeberischen Wertung ist mit dem Vermögensverfall eines Rechtsanwalts zwar grundsätzlich eine Gefährdung der Interessen der Rechtsuchenden verbunden. Sie kann jedoch in (seltenen) Ausnahmefällen verneint werden.11) Der gemäß § 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO erfolgende Zulassungswiderruf beruht mithin nicht „allein aufgrund der Insolvenz“ (Art. 22 Abs. 1 Restrukturierungsrichtlinie) des Rechtsanwalts. Zwischen ihm und der Insolvenz besteht kein Automatismus. Es spricht daher vieles dafür, ihn nicht als ein Tätigkeitsverbot i. S. der Restrukturierungsrichtlinie anzusehen. Ob diese Sicht mehrheitlich und insbesondere vom Gerichtshof der Europäischen Union geteilt werden wird, ist indes nicht sicher. Daher soll an dieser Stelle auch gefragt werden, ob bei Bejahung eines Tätigkeitsverbots 10) 11)

Die Wortwahl in ErwG 73 Satz 1 Restrukturierungsrichtlinie (mit der Insolvenz des Schuldners zusammenhängende Tätigkeitsverbote) erscheint dagegen etwas weiter. Ständige Rechtsprechung, vgl. nur BGH, Beschl. v. 9.11.2018 – AnwZ (Brfg) 61/18, Rz. 5, NZI 2019, 95 m. w. N; Schmidt-Räntsch in: Gaier/Wolf/Göcken, Anwaltliches Berufsrecht, 2. Aufl. 2014, § 14 BRAO Rz. 39.

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i. S. der Restrukturierungsrichtlinie im Fall eines wegen Vermögensverfalls eines insolventen Rechtsanwalts erfolgten Zulassungswiderrufs gemäß § 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO der Widerruf nach Ablauf der Entschuldungsfrist gemäß Art. 22 Abs. 2 Restrukturierungsrichtlinie ohne weiteres außer Kraft treten, die widerrufene Zulassung wieder wirksam werden und hierfür ein Wiederzulassungsantrag bzw. -verfahren im Unterschied zur derzeitigen Rechtslage nicht mehr erforderlich sein würde.12) Dies hätte eine bedeutende Änderung des deutschen Berufsrechts zur Folge, das einen solchen Automatismus nicht kennt und nach dem eine erneute Zulassung zur Rechtsanwaltschaft durch die zuständige Rechtsanwaltskammer erforderlich ist, wenn die Zulassung zuvor widerrufen wurde. Hiervon dürfte indes nicht auszugehen sein. Insofern bildet ErwG 83 der Restrukturierungsrichtlinie eine Brücke zwischen dem neuen europäischen Recht und dem deutschen Berufsrecht. Zwar ergibt sich daraus, von Ausnahmekonstellationen abgesehen,13) nicht die Möglichkeit, entgegen Art. 22 Restrukturierungsrichtlinie im nationalen Recht ein über die Entschuldungsfrist hinausgehendes Tätigkeitsverbot vorzusehen. Vielmehr wird dort ein „Ablauf des Tätigkeitsverbots“ vorausgesetzt. Den Mitgliedstaaten soll nach dem Erwägungsgrund jedoch nicht die Möglichkeit genommen werden, nach Ablauf des Tätigkeitsverbots die Einreichung eines Antrags für eine neue Genehmigung oder Lizenz zu verlangen. Für das deutsche, die Restrukturierungsrichtlinie umsetzende Recht könnte dies bedeuten, dass ein wegen Vermögensverfalls erfolgter Widerruf der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft, sofern er – abweichend von der hier vertretenen Auffassung – als Tätigkeitsverbot oder als Genehmigungs- bzw. Lizenzentzug infolge eines Tätigkeitsverbots einzuordnen ist (siehe oben), zwar mit Ablauf der Entschuldungsfrist außer Kraft tritt (Art. 22 Abs. 1 Restrukturierungsrichtlinie), dass jedoch mit diesem – in der Sprachregelung der Richtlinie – „Ablauf des Tätigkeitsverbots“ die frühere Zulassung nicht wieder wirksam wird, sondern die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft – wie nach geltendem deutschen Recht – von einem entsprechenden erneuten Antrag (vgl. § 6 Abs. 1 BRAO) abhängig gemacht werden kann. Faktisch würde sich hierdurch für den Rechtsanwalt, der ein Insolvenzverfahren durchlaufen hat, wenig ändern. Auf seinen – nach nationalem Recht 12) 13)

Vgl. hierzu Würdinger, Fresh Start und zweite Chance für Unternehmer, jm 2018, 90, 93. Zur Ermächtigung zu entsprechenden Ausnahmeregelungen, wenn der insolvente Unternehmer gegen besondere Regeln eines Berufsstandes verstoßen hat, vgl. Art. 23 Abs. 5 lit. a Restrukturierungsrichtlinie.

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(weiterhin) vorzusehenden – Antrag auf Wiederzulassung wären von der Rechtsanwaltskammer seine Vermögensverhältnisse zu überprüfen (vgl. § 7 Nr. 9 BRAO). Ist ihm nach Ablauf der Abtretungsfrist (§ 287 Abs. 2 InsO; Entschuldungsfrist i. S. der Restrukturierungsrichtlinie) die Restschuldbefreiung erteilt worden, dürften seine Vermögensverhältnisse im Regelfall wieder geordnet sein und kann ihm die Wiederzulassung nicht gemäß § 7 Nr. 9 BRAO versagt werden. IV. Fachanwalt für Insolvenzrecht Auch wenn die Berechtigung zur Führung der Bezeichnung „Fachanwalt für Insolvenzrecht“ allein noch nicht eine Eignung für das Amt des Insolvenzverwalters begründet,14) dürfte diese fachliche Qualifikation im Wettbewerb um das begehrte Amt doch von erheblichem Vorteil sein.15) Dementsprechend hatte auch der Anwaltssenat des Bundesgerichtshofs in den vergangenen Jahren immer wieder über diese Fachanwaltsbezeichnung zu entscheiden. Beispielhaft soll über einen neueren Fall berichtet werden, den der Anwaltssenat am 9. November 2018 entschieden hat.16) Ein Rechtsanwalt hatte im Jahr 2015 bei der beklagten Rechtsanwaltskammer die Gestattung der Führung der Bezeichnung „Fachanwalt für Insolvenzrecht“ beantragt. Die Beklagte lehnte den Antrag im Jahr 2017 ab, da es dem Rechtsanwalt nicht gelungen sei, die nach § 5 Abs. 1 lit. g FAO erforderlichen besonderen praktischen Erfahrungen nachzuweisen. Die hiergegen gerichtete Klage des Klägers wies der Anwaltsgerichtshof ab. Der Kläger beantragte die Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Anwaltsgerichtshofs. Auch in diesem Fall bestanden indes keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 112e Satz 2, § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Der Kläger hatte gerügt, der Anwaltsgerichtshof akzeptiere zu Unrecht i. R. der Ersetzung gemäß § 5 Abs. 1 lit. g Nr. 3 FAO (in der bis zum 30. Juni 2017 geltenden Fassung) nur Verfahren, in denen der Kläger einen

14) 15)

16)

Vgl. BVerfG, Beschl. v. 27.11.2008 – 1 BvR 2032/08, Rz. 9, NZI 2009, 371 – zu § 56 Abs. 1 Satz 1, § 57 Satz 3 InsO. Am 1.1.2018 gab es nach einer Statistik der BRAK in Deutschland 1.697 Fachanwälte für Insolvenzrecht, abrufbar unter https://www.brak.de/w/files/04_fuer_journalisten/ statistiken/2018/fachanwaelte_2018_cd.pdf (Abrufdatum: 5.7.2019). BGH, Beschl. v. 9.11.2018 – AnwZ (Brfg) 51/18, juris.

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Schuldner in einem bereits eröffneten Verbraucherinsolvenzverfahren gegenüber einem Gericht vertreten habe. 1. Vertretung in einem gerichtlichen Verbraucherinsolvenzverfahren Nach dem Wortlaut von § 5 Abs. 1 lit. g Nr. 3a FAO a. F. können die in § 5 Abs. 1 lit. g Nr. 1 FAO bezeichneten Verfahren – u. a. – durch Verfahren als Vertreter des Schuldners in der Verbraucherinsolvenz ersetzt werden. Die Verwendung der Worte „Verfahren“ und „Verbraucherinsolvenz“ weist darauf hin, dass die Vertretung in einem gerichtlichen Verbraucherinsolvenzverfahren gemeint ist. Dies folgt zudem aus der gleichförmigen Verwendung des Verfahrensbegriffs in § 5 Abs. 1 lit. g Nr. 1 und Nr. 3 FAO a. F. Bei den „in Nr. 1 bezeichneten Verfahren“ (§ 5 Abs. 1 lit. g Nr. 3 FAO a. F.) handelt es sich um „eröffnete“ gerichtliche Insolvenzverfahren, in denen der Rechtsanwalt als Insolvenzverwalter gegenüber dem Gericht auftritt. Daraus ist zu schließen, dass auch die – die eröffneten Insolvenzverfahren i. S. von § 5 lit. g Nr. 1 FAO a. F. ersetzenden – Verfahren nach § 5 Abs. 1 lit. g Nr. 3 FAO a. F. gerichtliche (Verbraucher-)Insolvenzverfahren sind, in denen der Rechtsanwalt – als Vertreter des Schuldners – gegenüber dem Gericht auftritt. Die Notwendigkeit einer Vertretung des Schuldners im gerichtlichen Verfahren ergab sich zudem aus dem in § 5 Abs. 1 lit. g Nr. 3a FAO a. F. bestimmten Erfordernis, dass der Rechtsanwalt den Schuldner in der Verbraucherinsolvenz „bis zum Abschluss des Gerichtsverfahrens“ vertreten haben musste. Auch aus Sinn und Zweck der Ersetzungsregelung in § 5 Abs. 1 lit. g Nr. 3 FAO a. F. war dies abzuleiten. Die dort genannten Verfahren sollen in Bezug auf die vom Rechtsanwalt nachzuweisenden praktischen Erfahrungen die in § 5 Abs. 1 lit. g Nr. 1 FAO a. F. bezeichneten Verfahren ersetzen. Bei letzteren handelt es sich um eröffnete Insolvenzverfahren und mithin um solche, in denen der Rechtsanwalt – als Insolvenzverwalter – gegenüber dem Insolvenzgericht auftritt und praktische Erfahrungen in dem gerichtlichen Insolvenzverfahren erwirbt. Vergleichbare, wenn auch fallbezogen nicht immer gleichwertige – daher das Erfordernis der höheren Anzahl der ersetzenden Fälle – prozessuale Erfahrungen kann der Rechtsanwalt als Vertreter des Schuldners in der Verbraucherinsolvenz nur in einem eröffneten Verbraucherinsolvenzverfahren erwerben. Das Erfordernis einer Vertretung des Schuldners im gerichtlichen Verbraucherinsolvenzverfahren entspricht schließlich auch der Systematik der Fach-

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anwaltsordnung. Für alle anderen in § 5 Abs. 1 FAO geregelten Fachgebiete ist ausnahmslos der Nachweis von Fallbearbeitungen aus dem Bereich gerichtlicher oder rechtsförmlicher Verfahren notwendig. Dementsprechend setzt nach der Rechtsprechung des Anwaltssenats des Bundesgerichthofs eine Ersetzung i. S. von § 5 Abs. 1 lit. g Nr. 3 FAO a. F. voraus, dass die Stellung des Rechtsanwalts der eines Vertreters des Schuldners im gerichtlichen Verfahren gleichwertig sein muss.17) Mithin war in dem zu entscheidenden Fall, wie der Anwaltsgerichtshof zutreffend erkannt hatte, i. R. des § 5 Abs. 1 lit. g Nr. 3 FAO a. F. nicht ausreichend, dass der Kläger gegenüber den Gläubigern der Schuldner „in der Verbraucherinsolvenz“ tätig geworden war. Erforderlich war vielmehr eine Vertretung des Schuldners im gerichtlichen Verbraucherinsolvenzverfahren. Eine solche ergab sich aus dem Vortrag des Klägers nicht. 2. Aktuelle Rechtslage Nach § 5 Abs. 1 lit. g Nr. 3a FAO in der seit dem 1. Juli 2017 geltenden Fassung können die in § 5 Abs. 1 lit. g Nr. 1 FAO bezeichneten Verfahren u. a. durch Verfahren als Vertreter des Schuldners im Verbraucherinsolvenzverfahren ersetzt werden. Damit dürfte sich in Bezug auf die Beantwortung der Rechtsfragen, die der Anwaltssenat in seiner Entscheidung vom 9. November 2018 zu klären hatte, im Ergebnis nichts geändert haben. Im Gegenteil weist die Verwendung des Wortes „Verbraucherinsolvenzverfahren“ (Hervorhebung durch d. Verf.) nunmehr noch deutlicher als bisher darauf hin, dass die Vertretung in einem gerichtlichen Verbraucherinsolvenzverfahren erfolgt sein muss. V. Schluss Das Insolvenzrecht wird derzeit bewegt durch eine in vollem Gange befindliche Diskussion zu einem künftigen – im aktuellen Koalitionsvertrag bereits vorgesehenen18) – Berufsrecht für Insolvenzverwalter.19) Vertreter

17) 18)

19)

BGH, Beschl. v. 16.4.2007 – AnwZ (B) 31/06, Rz. 8, ZIP 2007, 1123 = NJW 2007, 2125. Ein neuer Aufbruch für Europa, Eine neue Dynamik für Deutschland, Ein neuer Zusammenhalt für unser Land, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 19. Legislaturperiode, Zeile 6195 ff. Vgl. hierzu VID, Eckpunktepapier zum Berufsrecht der Insolvenzverwalter, NZI Heft 1 – 2/2019, S. XI f.

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des Schrifttums fordern u. a. die Einrichtung einer Insolvenzverwalterkammer und einer zweistufigen Berufsgerichtsbarkeit mit einem Insolvenzverwaltergerichtshof in erster und einem Insolvenzverwaltersenat beim Bundesgerichtshof in zweiter Instanz.20) Das Ergebnis der Diskussion ist indes noch nicht absehbar. Der Anwaltssenat des Bundesgerichtshofs hat schon jetzt jedes Jahr zahlreiche Entscheidungen mit Bezug zu insolvenzrechtlichen Fragestellungen zu treffen. Seine Mitglieder kommen ohne insolvenzrechtliches Fachwissen nicht aus. Es ist daher ein Glücksfall, dass mit Godehard Kayser, dem Vorsitzenden des für das Insolvenzrecht und die Anwaltshaftung zuständigen IX. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs, einer der renommiertesten deutschen Insolvenzrechtler den Stellvertretenden Vorsitz des Anwaltssenats innehat.

20)

Vgl. nur Schmittmann, Beschluss des BVerfG vom 12.01.2016 (1 BvR 3102/13): Die Zeichen stehen auf Berufskammer, INDat Report 2/2016, S. 20; Vallender, Große oder kleine Lösung? – Überlegungen zu einem künftigen Berufsrecht für Insolvenzverwalter, ZIP 2019, 158, 165 m. w. N.

Schenkungsanfechtung gemäß § 134 InsO ALEXANDER RIEDEL Inhaltsübersicht I. II.

Einleitung Anfechtung gemäß § 134 Abs. 1 InsO im Fall gemäß § 308 Nr. 1 BGB unwirksamer Vertragsbedingungen 1. Unwirksamkeit aufschiebend bedingten Leistungsversprechen gemäß § 308 Nr. 1 BGB

2. Anfechtung nach § 134 InsO bei einseitig erbrachter Leistung im Zwei-Personen-Verhältnis 3. Anspruch gemäß § 812 Abs. 1 Satz 1 BGB III. Hinderung des Rückgewähranspruchs wegen Berufung auf § 242 BGB IV. Fazit

I. Einleitung § 134 InsO, die sog. Schenkungsanfechtung, stand im Vergleich zum Anfechtungstatbestand des § 133 InsO nicht im Zentrum der Diskussion zur Reform des Anfechtungsrechts, ist jedoch von erheblicher praktischer Relevanz, wobei in der Anwendung weiterhin Unklarheiten verbleiben.1) Dazu mag die in neuerer Zeit geänderte Rechtsprechung zur Frage des anzuwenden Maßstabs für die Beurteilung der Unentgeltlichkeit bei Austauschverträgen, mit welcher der Freigiebigkeitsgedanke wieder mehr in den Vordergrund gerückt wurde, beigetragen haben.2) Auch in der Fachöffentlichkeit hat § 134 InsO in letzter Zeit wieder an Aufmerksamkeit gewonnen.3) Dieser offensichtlich verstärkten Wichtigkeit von § 134 InsO für die Praxis hat sich auch der Jubilar kürzlich in einem Fachaufsatz mit dem Thema „Die Anfechtung als unentgeltliche Leistung – eine Allzweckwaffe

1) 2) 3)

Klinck, Die Anfechtung unentgeltlicher Leistungen im Spiegel der jüngsten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, ZIP 2017, 1589 – zu I. Pape, Aktuelles Insolvenzrecht im Jahr 2018 – Übersicht über die Rechtsprechung des BGH zur InsO im vergangenen Jahr (Teil 1), ZInsO 2019, 349 f., 364 – zu III. 3. Bork, Die Anfechtung unentgeltlicher Leistungen nach § 134 InsO, NZI 2018, 1 f.; Klinck, ZIP 2017, 1589 f.; Ganter, Zum Begriff der „Unentgeltlichkeit“ nach § 134 lnsO in Zwei-Personen-Verhältnissen, NZI 2015, 249 f.; Trams, Anfechtung der teilweise unentgeltlichen Leistung nach § 134 InsO, NJW-Spezial 2018, 533 f.

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Alexander Riedel

des Insolvenzverwalters zur Massegenerierung?“ zugewandt4) und dabei die vermeintlichen Vorteile einer Insolvenzanfechtung gemäß § 134 InsO in seinem Vorwort gekennzeichnet.5) Godehard Kayser zeichnet in dem benannten Aufsatz die jüngste Entwicklung der Rechtsprechung zu § 134 anhand verschiedener vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fällen nach, um jeweils fallbezogen die Voraussetzungen und Grenzen von § 134 InsO auszuleuchten bzw. zu verdeutlichen, um mit dem Ergebnis zu schließen, dass die Schenkungsanfechtung angesichts der von der Rechtsprechung in den letzten Jahren entwickelten Schranken als Allzweckwaffe gerade nicht tauge. Um dieses Ergebnis zu untermauern bzw. die Fallaufzählung zu ergänzen, soll auf eine in letzter häufiger auftauchende und in diesem Kontext relevante Problematik eingegangen werden, die sich in Fällen aufschiebend bedingter Leistungsversprechen in Kombination mit einer Leistungsauffächerung auf der Anbieterseite im Hinblick auf § 308 Nr. 1, 1a und 1b BGB stellt.6) Dazu folgender Sachverhalt: Eine Vertriebs – GmbH (Schuldnerin) hatte mit einem Kunden i. R. eines Kapitalanlagekonzepts (wie mit vielen anderen Anlegern) einen Mietvertrag über eine Photovoltaik-Anlage über zehn Jahre abgeschlossen, der vorsah, dass der Kunde der Vertriebs-GmbH die Nutzungsrechte und damit die Einspeisevergütung an der Anlage, die er als reiner Kapitalanleger nie gesehen hat, auf die Vertriebs-GmbH überträgt und dafür im Gegenzug Mieteinnahmen erhält. Die Photovoltaikanlage sollte durch eine andere Tochter-GmbH der Unternehmensgruppe, der auch die handelnde Vertriebs-GmbH angehörte, erstellt werden, woraufhin der Kunde den beträchtlichen Kauf- bzw. Errichtungspreis an die Tochter-GmbH zahlte. Zu der Erstellung einer für die Stromerzeugung funktionstüchtigen Anlage durch die Tochter-GmbH kam es in der Folgezeit allerdings nicht, weshalb auch keine Einspeisevergütung durch die Vertriebs-GmbH erzielt werden 4) 5) 6)

Kayser, Die Anfechtung als unentgeltliche Leistung – eine Allzweckwaffe des Insolvenzverwalters zur Massegenerierung?, ZIP 2019, 293 ff. Dazu auch Zenker in: Bork/Hölzle, Hdb. Insolvenzrecht, 2. Aufl. 2019, Kap. 10 Rz. 107. BGH, Urt. v. 26.2.2016 – V ZR 208/14, NJW 2016, 2173 = ZIP 2016, 1486; Lütcke, Tilgung einer fremden Schuld bei Verlust der werthaltigen Forderung gegen den Forderungsschuldner nicht nach § 134 InsO durch Insolvenzschuldner anfechtbar, NZI 2015, 452 f.

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konnte. Obwohl der Mietvertrag mit dem Kunden erst mit der Inbetriebnahme der Anlage (und damit der Vereinnahmung der Einspeisevergütungen) wirksam werden sollte, entrichtete die Vertriebs – GmbH dennoch den Mietzins als Nutzungsvergütung7) an den Kunden für die Dauer von vier Jahren (insgesamt ca. 8.800 €), welche der Insolvenzverwalter der Vertriebs-GmbH, nachdem die Unternehmensgruppe mit sämtlichen UnterGmbHs in die Insolvenz gefallen war, gemäß § 134 InsO zurückverlangte, weil, mangels tatsächlicher Inbetriebnahme, die Mietzinszahlungen rechtsgrundlos erfolgt seien.8) Der beklagte Kapitalanleger bestritt die Unentgeltlichkeit der Leistungserbringung und berief sich zudem auf widersprüchliches Verhalten gemäß § 242 BGB. Der Beispielsfall wirft Fragen sowohl nach der Wirksamkeit der Vertragsbedingungen im Hinblick auf § 308 Nr. 1 BGB auf, weiter die Frage nach der Unentgeltlichkeit der Leistungserbringung (Mietzinszahlung), die Folge der Mietzinszahlungen für die Wirksamkeit des Vertrages und die Relevanz des Einwands gemäß § 242 BGB auf. Diesen Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden. II. Anfechtung gemäß § 134 Abs. 1 InsO im Fall gemäß § 308 Nr. 1 BGB unwirksamer Vertragsbedingungen 1. Unwirksamkeit aufschiebend bedingten Leistungsversprechen gemäß § 308 Nr. 1 BGB Die Klauselverbote des § 308 Nr. 1 BGB sollen die Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Dispositionsfreiheit des Kunden bzw. Vertragspartners vor einem überlangen Schwebezustand und den damit verbundenen Nachteilen schützen.9) § 308 Nr. 1, 1a und 1b BGB regeln im Hinblick auf diese Zielsetzungen verschiedene Varianten von unzulässigen, weil unangemessenen Fristen bzw. Zeiträumen. Praktische Relevanz hat dies z. B. für Vertragsgestaltungen, in denen der Unternehmer die Wirksamkeit des Vertrages von dem Eintreten einer zukünftigen Bedingung, gekoppelt an bestimmte Maximalfristen, abhängig 7) 8) 9)

Zur Nutzungsvergütung siehe auch BGH, Urt. v. 19.7.2018 – IX ZR 307/16, ZInsO 2018, 1841 f. = ZIP 2018, 1601. Zu diesem Allzweck-Argument Kayser, ZIP 2019, 293, 296 re. Sp. unten, 298 li. Sp. Schmidt in: Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht, 12. Aufl. 2016, § 308 Nr. 1 Rz. 1; Wurmnest in: MünchKomm-BGB, 8. Aufl. 2019, § 308 Nr. 1 Rz. 1, 12.

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macht. Derartige Klauseln finden sich häufig in der Baubranche im Hinblick auf Finanzierungszusagen der beteiligten Banken. Ein plastisches Beispiel liefert der Fall, welcher dem Urteil des Bundesgerichtshofes vom 26. Februar 201610) zugrunde lag. Die Käuferin machte der beklagten Bauträgerin ein in notarielle Form gefasstes Angebot zum Kauf einer Doppelhaushälfte, an welches die Käuferin unwiderruflich bis zum Ablauf von drei Monaten gebunden sein sollte. Die Annahme des Angebotes erfolgte nach Eingang der Bonitätszusage durch die finanzierende Bank sechs Wochen nach Abgabe des Angebots, woraufhin die Kaufpreiszahlung erfolgte. Der Bundesgerichtshof hat der in den Vorinstanzen erfolglosen Klage der Klägerin auf Rückabwicklung des Vertrages stattgegeben, da die Klausel nach § 308 Nr. 1 BGB unwirksam sei und damit die Voraussetzungen für einen Anspruch gemäß § 812 Abs. 1 Satz 1 BGB vorliegen würden. Die unwiderrufliche Bindungsfrist von drei Monaten sei im Hinblick von § 147 Abs. 2 BGB unangemessen lang, selbst im Fall eines inhaltlich beschränkten Lösungsrechts,11) mit der Folge, dass das Angebot gemäß § 146 BGB erloschen sei. Bei einer Bonitätsprüfung als Bedingung sei eine Frist von maximal vier Wochen ab Abgabe des Angebots angemessen.12) Gehe die vereinbarte Bindungsfrist über diesen Zeitraum hinaus, stelle dies nur dann keine unangemessene Benachteiligung dar, wenn der Verwender hierfür ein schutzwürdiges Interesse geltend machen könne, hinter welchem das Interesse des Kunden an dem baldigen Wegfall seiner Bindung zurückstehen müsse.13) Das auf mehrere Gründe gestützte schutzwürdige Interesse wurde im konkreten Fall verneint. Im oben geschilderten Eingangsfall wurde die Wirksamkeit des Mietvertrages nicht von einer zeitlichen Maximalfrist, sondern von der zeitlich unbestimmten Inbetriebnahme der Photovoltaikanlage abhängig gemacht. Eine Überprüfung nach § 308 Nr. 1 BGB lag nahe, da der Kapitalanleger

10) 11) 12)

13)

BGH, Urt. v. 26.2.2016 – V ZR 208/14, NJW 2016, 2173 f. = ZIP 2016, 1486. BGH, Urt. v. 26.2.2016 – V ZR 208/14, Rz. 20 f., NJW 2016, 2173 = ZIP 2016, 1486. BGH, Urt. v. 26.2.2016 – V ZR 208/14, Rz. 11, NJW 2016, 2173 = ZIP 2016, 1486; BGH, Urt. v. 27.9.2013 – V ZR 52/12, Rz. 12, NJW 2014, 854; BGH, Urt. v. 17.1.2014 – V ZR 5/12, Rz. 10, ZIP 2014, 427 =NJW 2014, 857; BGH, Urt. v. 11.6.2010 – V ZR 85/09, Rz. 8, 12, ZIP 2010, 1854 = NJW 2010, 2873. BGH, Urt. v. 26.2.2016 – V ZR 208/14, Rz. 11 – 13, 20, NJW 2016, 2173 = ZIP 2016, 1486; BGH, Urt. v. 27.9.2013 – V ZR 52/12, Rz. 16 f., NJW 2014, 854; BGH, Urt. v. 17.1.2014 – V ZR 5/12, Rz. 11, ZIP 2014, 427 =NJW 2014, 857.

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als Verbraucher gemäß § 13 BGB einzustufen ist,14) und die vom erstinstanzlichen Gericht vorgenommene Einstufung der verwendeten Bestimmungen als Allgemeine Geschäftsbedingungen von den Parteien nicht angegriffen wurde. Fraglich war, ob auch derartige, an einen tatsächlichen Umstand (Inbetriebnahme) anknüpfende Klauseln § 308 Nr. 1 BGB unterfallen können. Dass dies möglich ist, hat das OLG Karlsruhe noch zur Vorgängernorm (§ 10 Nr. 1 AGBG) hinsichtlich des Beginns eines Pachtverhältnisses entschieden. Danach ist eine Bedingungsklausel dann unwirksam, wenn es der Verwender angesichts des Fehlens jeglicher zeitlicher Anhaltspunkte für den Eintritt der Bedingung in der Hand hat, den Beginn des Vertragsverhältnisses auf unabsehbare Zeit hinauszuschieben.15) Mehr noch als bei einer Fristsetzung wird der Vertragspartner in einem solchen Fall aufgrund der zeitlichen Unbestimmtheit in seiner wirtschaftlichen Dispositionsfreiheit unangemessen lange eingeschränkt.16) Im oben geschilderten Beispielsfall (Photovoltaikanlage) verhält es sich in vergleichbarer Weise. Mit der vorformulierten Wirksamkeitsbedingung „Das Mietverhältnis wird begründet auf die Dauer von zehn Jahren ab dem Tag der Inbetriebnahme der Anlage“ wird ebenfalls an einen für den Kapitalanleger zeitlich ungewissen und damit nicht bestimmbaren Umstand angeknüpft, der auf der Kundenseite die wirtschaftliche Dispositionsfreiheit tangiert. Im Beispielsfall wurde zwar nicht eine zeitbezogene Bindungsfrist statuiert, die Koppelung von der vom Anleger zu finanzierenden Anlage mit der ungewissen Inbetriebnahme und damit der ungewissen Aufnahme von Mietzahlungen wirkt dabei aber, mangels zeitlicher Fixierung, sogar in noch stärkerem Maße auf dessen wirtschaftliche Situation ein. Deshalb kann eine solche Vertragsformulierung einer Bestimmung i. S. von § 308 Nr. 1 BGB gleichgestellt werden, da sie den Bedingungseintritts, mehr noch als eine Befristung, für den Anleger in zeitlicher Hinsicht unberechenbar macht,17) mit der Folge der Unwirksamkeit der Klausel gemäß § 308 Nr. 1 BGB. Dabei ist zudem zu berücksichtigen, dass bei der Beurteilung der Angemessenheit bzw. Unangemessenheit einer derartigen Klau-

14)

15) 16) 17)

Ellenberger in: Palandt, BGB, 78. Aufl. 2019, § 13 Rz. 3, § 14 Rz. 2; auch im unternehmerischen Geschäftsverkehr ist § 308 Nr. 1 BGB anzuwenden: Wurmnest in: MünchKommBGB, 8. Aufl. 2019, § 308 Nr. 1b Rz. 2. OLG Karlsruhe, Urt. v. 26.1.1995 – 9 U 68/94, juris Orientierungssatz. Coster-Waltjen in: Staudinger, BGB, 2013, § 308 Nr. 1 Rz. 1. Wurmnest in: MünchKomm-BGB, 8. Aufl. 2019, § 308 Nr. 1 Rz. 9.

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sel eine wertende Betrachtung und typisierende Interessenabwägung vorzunehmen ist.18) Ein schutzwürdiges Interesse der Schuldnerin an der gewählten Formulierung bestand im geschilderten Fall schon deshalb nicht, weil die Inbetriebnahme der Photovoltaik-Anlage, von der Errichtung bis zur Fertigstellung der Anlage, durch die, derselben Firmengruppe angehörige, nunmehr ebenfalls in der Insolvenz befindliche Tochter-GmbH erfolgen sollte, sie selbst also den Zeitpunkt der Inbetriebnahme steuern konnte bzw. von der durch den Anlagebau bedingten zeitlichen Ungewissheit über den Wirksamkeitszeitpunkt wissen musste. Wird auf der Verwenderseite ein aus Sicht des Vertragspartners einheitlicher Vorgang in verschiedene Verträge aufgespalten, kann die Verwenderseite nicht erwarten, dass sie aus dieser Aufspaltung Vorteile zieht und nur der Kunde bzw. Verbraucher die sich aus der Aufspaltung ergebenden Nachteile zu tragen hat. Entgegen § 139 BGB sieht § 306 Abs. 1 BGB als lex specialis als Folge einer unwirksamen AGB-Klausel vor, dass der Vertrag grundsätzlich wirksam bleibt, selbst wenn die einzelne Klausel unwirksam ist. Der Inhalt des Vertrages richtet sich dann nach den gesetzlichen Vorschriften, § 306 Abs. 2 BGB. Liegt keine dispositive gesetzliche Regelung vor, ist die durch die Unwirksamkeit der Klausel entstandene Lücke durch ergänzende Vertragsauslegung nach §§ 133, 157 BGB zu schließen. Bei Wegfall einer aufschiebenden Bedingung ist i. R. der ergänzenden Vertragsauslegung davon auszugehen, dass der Vertrag nicht unmittelbar Geltung erlangt, sondern lediglich eine angemessene Verkürzung der Schwebezeit eintritt.19) Im Beispielsfall bestand die Besonderheit darin, dass die Schuldnerin durch die Aufnahme der Mietzinszahlungen, obwohl die Bedingung (Inbetriebnahme) noch nicht eingetreten war, nach dem objektiven Empfängerhorizont die Bedingung für die Wirksamkeit des Vertrages selbst herbeigeführt hat, da aus Sicht des Kapitalanlegers nach der vertraglichen Regelung die Mietzinszahlung die Inbetriebnahme der Anlage voraussetzte, weshalb sie sich, unabhängig davon, ob die Bedingung tatsächlich eingetreten ist, nicht auf die Unwirksamkeit des Vertrages berufen kann. Aus Sicht des Vertragspartners lag ab der Aufnahme der Mietzinszahlungen eine Beendigung des Schwebezustands und damit ein unbedingter Mietvertrag vor, weshalb die insoweit erfolgten Zahlungen der Schuldnerin auf der Grund18) 19)

Schmidt in: Ulmer/Brandner/Hensen, AGB-Recht, 12. Aufl. 2016, § 308 Nr. 1b Rz. 13. Weiler in: BeckOGK-BGB, 15.9.2018, § 308 Nr. 1 Rz. 151, 151.1.

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lage einer wirksamen vertraglichen Verpflichtung und damit mit Rechtsgrund erfolgten. 2. Anfechtung nach § 134 InsO bei einseitig erbrachter Leistung im Zwei-Personen-Verhältnis Der Beispielsfall war dadurch gekennzeichnet, dass aufgrund der Nichtfertigstellung der Anlage die als Äquivalent zur Mietzinszahlung vorgesehene Einspeisevergütung20) seitens der Vertriebs-GmbH auf Schuldnerseite nicht vereinnahmt werden konnte. Der Schwerpunkt der Klagebegründung lag deshalb auf dem Umstand, dass es von vorneherein an einer Gegenleistung fehle, weshalb die Mietzinszahlungen i. S. von § 134 InsO unentgeltlich erfolgt seien. Für die Beurteilung, ob die Voraussetzungen von § 134 Abs. 1 BGB in dieser Konstellation vorliegen, ist zunächst festzuhalten, dass sich die Vertragsparteien aufgrund des gegenseitigen Leistungsversprechens in einem sog. Zwei-Personen-Verhältnis befanden.21) Ob eine auf dieser Grundlage erbrachte einseitigen Leistung unentgeltlich i. S. von § 134 erfolgt, knüpft zunächst an die Frage nach dem ausgleichenden objektiven Gegenwert an.22) Ohne dabei näher auf die Gewichtung des in erster Linie zu beachtenden objektiven Wertverhältnisses zu den subjektiven Vorstellungen der Vertragsparteien einzugehen,23) reicht nach ständiger Rechtsprechung und der h. M. allein schon die Verpflichtung zur Gegenleistung für die Verneinung von Unentgeltlichkeit aus.24) Ob ein Ausgleich tatsächlich erfolgt ist, spielt dann für die Frage der Unentgeltlichkeit keine Rolle.25)

20) 21) 22) 23)

24) 25)

BGH, Urt. v. 5.6.2008 – IX ZR 17/07, Rz. 14, ZIP 2008, 1291 = NZI 2008, 488; Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 134 Rz. 18. Thole in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 134 Rz. 7; Ganter/Weinland in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 134 Rz. 22 – 26. Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 134 Rz. 22. BGH, Urt. v. 5.7.2018 – IX ZR 126/17, ZIP 2018, 1505 = NZI 2018, 699; BGH, Urt. v. 20.4.2017 – IX ZR 252/16, Rz. 17 – 20, ZIP 2017, 1233; Bork, NZI 2018, 1, 3 f.; Ganter, NZI 2015, 249, 253; Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 134 Rz. 29, 30. Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 134 Rz. 19 – 21; Thole in: HKInsO, 9. Aufl. 2018, § 134 Rz. 7. BGH, Urt. v. 13.10.2016 – IX ZR 184/14, Rz. 14, ZIP 2016, 2483 = NZI 2017, 24; Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 134 Rz. 17c; Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 134 Rz. 22; Ganter/Weinland in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 134 Rz. 24.

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Der Begriff der Entgeltlichkeit setzt dabei nicht die synallagmatische Verknüpfung von Leistung und Gegenleistung voraus.26) Es genügt, wenn Leistung und Gegenleistung rechtlich konditional miteinander verknüpft sind,27) wobei die Gegenleistung nicht unmittelbar in das Vermögen der Schuldnerin gelangen muss. Eine über die Abtretung der Nutzungsvergütung vermittelter werthaltige Vermögenszuwachs, hier in Form der Einspeisevergütung, reicht aus,28) zumal es sich im Vergleich der Mietzahlung zu der Einspeisevergütung um einen äquivalenten29) Vermögenswert handelt.30) Es liegt kein Fall der bewussten Erfüllung einer nicht bestehenden Forderung vor.31) Da der Schuldner mit der ersten Mietzinszahlung auch die aufschiebende Bedingung32) für die Wirksamkeit des Vertrages selbst hat eintreten lassen, liegt, wie oben dargelegt, keine rechtsgrundlose Leistung vor,33) die selbst dann nicht als unentgeltlich einzustufen wäre, wenn es sich um eine unbewusst rechtsgrundlose Leistung handeln würde,34) weil dem Schuldner dann ein Anspruch gemäß § 812 Abs. 1 BGB zustehen würde. Im vorliegenden Fall handelt es sich aber weder um eine unbewusst, irrige35) oder bewusst rechtsgrundlose Leistung, sondern um eine bewusste Leistung auf der Grundlage eines wirksamen Vertrages, bei der die Gegenleistung in der Abtretung des Anspruchs auf Nutzungsvergütung (Einspeisevergütung) erbracht wurde. Im Ergebnis liegt deshalb keine unentgeltliche Leistung vor. Auch ist nicht davon auszugehen, dass sich ein entgeltliches Leistungsversprechen (Nutzungsvergütung) aufgrund fehlender Inbetriebnahme in ein unentgeltliches Leistungsversprechen umgewandelt haben könnte, da hinsichtlich der Entgeltlichkeit an die Übertragung der Nutzungsmöglichkeit anzuknüpfen ist.

26) 27) 28) 29) 30) 31) 32) 33) 34) 35)

Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 134 Rz. 17a; Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 134 Rz. 19 m. w. N. zur Rechtsprechung. Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 134 Rz. 19. BGH, Urt. v. 5.6.2008 – IX ZR 17/07, Rz. 14 f., ZIP 2008, 1291 = NZI 2008, 488; Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 134 Rz. 25. Zu diesem Aspekt Kayser, ZIP 2019, 293, 297 – zu II. 2.1. Bork in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, 11/2016, § 134 Rz. 40. Ganter/Weinland in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 134 Rz. 32. Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 134 Rz. 26. Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 134 Rz. 47, 48. BGH, Urt. v. 20.4.2017 – IX ZR 252/16, ZIP 2017, 1233 = NZI 2017, 669. Ganter/Weinland in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 134 Rz. 41.

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Die einseitige Vorstellung des Schuldners (Vertriebs-GmbH) im Zeitpunkt der Leistungserbringung,36) die im geschilderten Fall im Vorspiegeln von Liquidität liegen dürfte, spielen für die rechtliche Beurteilung, ebenso wie die Vermögenslage,37) keine Rolle.38) Es liegt auch keine beachtenswerte Fehlvorstellung auf Seiten der Schuldnerin (Vertriebs-GmbH) vor,39) da sie als Tochter-GmbH der Unternehmensgruppe in der vorliegenden Konstellation von den fehlenden Voraussetzungen für die Erzielung der Einspeisevergütung wissen musste bzw. hätte wissen können. 3. Anspruch gemäß § 812 Abs. 1 Satz 1 BGB Der – weite – Leistungsbegriff des § 134 InsO ist nicht mit dem Leistungsbegriff des § 812 Abs. 1 BGB gleichzusetzen.40) Ein Anspruch gemäß § 812 Abs. 1 Satz 1 BGB schied hier allerdings schon deshalb aus, weil mit dem Wirksamwerden des Vertrages ein Rechtsgrund gegeben ist und im Übrigen, sofern man hierauf abstellt, die Schuldnerin in Kenntnis des fehlenden Rechtsgrundes geleistet hat, was einen Anspruch gemäß § 812 BGB wegen § 814 BGB ausschließt.41) Auf die Frage, ob mit der Anerkennung eines bereicherungsrechtlichen Anspruchs gemäß § 812 Abs. 1 Satz 1 BGB die Entgeltlichkeit der Leistung verbunden ist,42) kam es deshalb nicht an. III. Hinderung des Rückgewähranspruchs wegen Berufung auf § 242 BGB Im geschilderten Fall hatte sich der Beklagte hilfsweise auch auf § 242 BGB berufen, mit dem Argument, dass die Berufung der Schuldnerin auf das Nichtvorliegen der im Mietvertrag aufgestellten Bedingung (Inbetriebnahme der Anlage) und damit die Berufung auf die Rechtgrundlosigkeit

36) 37) 38)

39) 40) 41) 42)

Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 134 Rz. 36. Ganter/Weinland in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 134 Rz. 20. BGH, Urt. v. 11.12.2008 – IX ZR 195/07, Rz. 6, ZIP 2009, 186 = NZI 2009, 103; BGH, Urt. v. 20.4.2017 – IX ZR 252/16, Rz. 14, ZIP 2017, 1233 = NZI 2017, 669; BGH, Urt. v. 21.1.1999 – IX ZR 429/97, NZI 1999, 111, 112 = ZIP 1999, 316; BGH, Hinweisbeschl. v. 21.12.2010 – IX ZR 199/10 (Phoenix), Rz. 10, 12, ZIP 2011, 484. Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 134 Rz. 32. Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 134 Rz. 15. BGH, Urt. v. 20.4.2017 – IX ZR 252/16, ZIP 2017, 1233 = NZI 2017, 669. Kayser, ZIP 2019, 293, 298 – zu II. 2.2.

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der Mietzinszahlungen widersprüchlich sei und deshalb gegen den Grundsatz von Treu und Glauben gemäß § 242 BGB verstoße. Obwohl es auf diesen Einwand i. E. im Beispielsfall nicht ankam, sei ein kurzer gedanklicher Ausflug zur Frage nach der Reichweite von § 242 BGB, insbesondere i. R. des Anfechtungstatbestands des § 134 InsO, gestattet, da die Berufung auf § 242 BGB auch eine häufig genutzte Allzweckwaffe im anwaltlichen Repertoire darstellt. § 242 BGB wurde bisher in der insolvenzrechtlichen Rechtsprechung in verschiedenen Fallgestaltungen diskutiert, z. B. bei der Treuwidrigkeit der Anfechtung bei einer Vermögensübertragung43) oder beim Lastschriftwiderruf des Insolvenzverwalters ohne anerkennenswerten Grund.44) Speziell zu § 134 InsO bedeutsam ist die Rechtsprechung zum anfechtungsrechtlichen Rückgewähranspruch bei Scheingewinnen. So hat der Bundesgerichtshof in mehreren Entscheidungen einen Rückgewähranspruch gegenüber den Anlegern45) bzw. dem Vermittler46) bejaht, weil es sich bei der Auszahlung von Scheingewinnen (Anleger) bzw. auf Scheingewinnen beruhenden Folgeprovisionen (Vermittler) um eine entgeltliche und rechtsgrundlose Leistung handelt.47) In diesem Zusammenhang führt der Bundesgerichtshof aus, dass der von den jeweiligen Beklagten geltend gemachte Verstoß gegen § 242 BGB nur in Extremfällen dem Rückgewähranspruch entgegenstehen könne.48) Dieser Hinweis wird in den Kommentierungen überwiegend nur knapp wiedergegeben,49) ohne näher auf die Frage einzugehen, was unter einem Extremfall zu verstehen ist.

43) 44) 45)

46) 47)

48) 49)

BGH, Urt. v. 21.1.1993 – IX ZR 275/91, ZIP 1993, 208, 210. BGH, Urt. v. 10.6.2008 – XI ZR 283/07, Rz. 16, 19, ZIP 2008, 1977, m. Anm. Bork/Haas = NJW 2008, 3348, m. Anm. Nasall. BGH, Urt. v. 11.12.2008 – IX ZR 195/07, ZIP 2009, 186 = NZI 2009, 103; BGH, Urt. v. 22.4.2010 – IX ZR 163/09, ZIP 2010, 1253; BGH, Urt. v. 20.4.2017 – IX ZR 252/16, ZIP 2017, 1233 = NZI 2017, 669; Madaus/Wilke/Knauth, Der Nachweis der Unentgeltlichkeit von Scheingewinnausschüttungen in verdeckten Schneeballsystemen, ZIP 2018, 2293 f. BGH, Urt. v. 22.9.2011 – IX ZR 209/10, ZIP 2011, 2264 = NZI 2011, 976. BGH, Urt. v. 22.9.2011 – IX ZR 209/10, Rz. 14, ZIP 2011, 2264 = NZI 2011, 976; BGH, Hinweisbeschl. v. 21.12.2010 – IX ZR 199/10, Rz. 13, ZIP 2011, 484 = NZI 2011, 107. BGH, Urt. v. 11.12.2008 – IX ZR 195/07, Rz. 21, ZIP 2009, 186 = NZI 2009, 103; BGH, Urt. v. 22.9.2011 – IX ZR 209/10, Rz. 15, ZIP 2011, 2264 = NZI 2011, 976. Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 134 Rz. 45; Thole in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 134 Rz. 3; Ganter/Weinland in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 134 Rz. 90.

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Bezieht man die Rechtsprechung auf den Beispielsfall, wäre zu fragen, ob die Inanspruchnahme des Beklagten gemäß § 242 BGB treuwidrig wäre, wenn die Mietzinszahlung der Schuldnerin als rechtsgrundlos eingestuft würde. Dabei dürfte mit dem Einwand des Beklagten zu § 242 BGB eher nicht die Fallgruppe des widersprüchlichen Verhaltens,50) sondern die Fallgruppe der unzulässigen Rechtsausübung51) gemeint sein, denn der Beklagte nimmt ja an der Ausübung des Anfechtungsrechts gemäß § 134 InsO und damit an einer Rechtsausübung Anstoß. Ein Verstoß wäre allerdings nur dann zu bejahen, wenn mit der Berufung auf unzulässige Rechtsausübung die Missbrauchsschwelle überschritten wäre. Der Bundesgerichtshof hat in einem mietrechtlichen Rechtsstreit zur Fallgruppe widersprüchliches Verhalten mit einer den Anwendungsbereich von § 242 BGB eingrenzenden Argumentation deutlich gemacht,52) dass ein Verhalten erst dann rechtsmissbräuchlich sei, wenn für den anderen Teil ein Vertrauenstatbestand geschaffen worden sei oder wenn andere besondere Umstände die Rechtsausübung als treuwidrig erscheinen lassen. Nimmt man dies als Maßstab, so müsste im Beispielsfall in Bezug auf die Fallgruppe unzulässige Rechtsausübung die Nichtinbetriebnahme der Anlage bzw. die Rechtsgrundlosigkeit der Leistungserbringung für die Schuldnerin mit der Möglichkeit der Rückforderung vorhersehbar gewesen sein, um eine Treuwidrigkeit zu begründen. Davon konnte aber nach dem Sachverhalt nicht ausgegangen werden. IV. Fazit Knüpft man an den Titel des Aufsatzes des Jubilars an, kann für den geschilderten Beispielsfall festgestellt werden, dass die Berufung auf § 134 InsO sich tatsächlich nicht als Allzweckwaffe eignet, sondern eher ein stumpfes Schwert darstellt, wenn nicht gar als „Rohrkrepierer“. Dies betrifft auch die beliebte und fast schon reflexhafte Berufung auf § 242 BGB, die ebenfalls häufig an den vom Bundesgerichtshof aufgestellten hohen Hürden scheitern wird.

50) 51) 52)

Grüneberg in: Palandt, BGB, 78. Aufl. 2019, § 242 Rz. 55 f. Grüneberg in: Palandt, BGB, 78. Aufl. 2019, § 242 Rz. 38 f. BGH, Urt. v. 4.2.2015 – VIII ZR 154/14, Rz. 17, 18, 24, ZIP 2015, 13 = NJW 2015, 1087.

Die Kontenführung im Insolvenzverfahren SUSANNE RIEDEMANN Inhaltsübersicht I. II.

Einleitung Rechtliche Aspekte der Führung von Insolvenzkonten 1. Die Hinterlegungsstelle – ihre Wahl und ihre Bestimmung a) Das Konstitut der Hinterlegungsstelle b) Rechte und Pflichten aus der Einrichtung der Hinterlegungsstelle aa) Kontoführung für sich selbst versus Kontoführung für die Insolvenzmasse – Grundlegende Unterschiede bei der Einrichtung von Anderkonten und Insolvenzsonderkonten in Bezug auf die Verfügungsbefugnis bb) Die Hinterlegungsstelle als Beteiligte des Insolvenzverfahrens sowie Warnund Kontrollpflichten des Kreditinstituts in Bezug auf die Hinterlegungsstelle

2. Das Anderkonto und das Insolvenzsonderkonto im Vergleich a) Das Anderkonto b) Das Sonderkonto c) Vorteile des Sonderkontos bzw. Nachteile des Anderkontos aa) Der Tod oder die Ersetzung des Verwalters bb) Zwangsvollstreckung von Privatgläubigern des Verwalters in das Anderkonto cc) Wahrung des Bankgeheimnisses beim Anderkonto/ Kontrolle des Geldverkehrs durch das Insolvenzgericht bzw. die Gläubiger dd) Zwischenergebnis d) Probleme bei der Einrichtung eines Sonderkontos aa) Schwacher vorläufiger Insolvenzverwalter bb) Starker vorläufiger Insolvenzverwalter/Insolvenzverwalter III. Zusammenfassung

Die Führung der verfahrensspezifischen Konten im Insolvenzverfahren gehört zu den Aufgaben des Insolvenzverwalters. Nicht selten wurden diese Konten in der Praxis (fälschlicherweise) immer noch als Anderkonten geführt,1) in der insolvenzrechtlichen Praxis wird nach wie vor gern der Terminus „Insolvenzanderkonto“ verwandt (auch wenn er nicht immer im bankrechtlichen Sinn gemeint ist) und in der Literatur ist umstritten, ob die

1)

Trotz der BGH-Entscheidungen aus den Jahren 2007 und 2008: BGH, Urt. v. 20.9.2007 – IX ZR 91/06, ZIP 2007, 2279 = NZI 2008, 39; BGH, Urt. v. 18.12.2008 – IX ZR 192/07, ZIP 2009, 531 = NZI 2009, 245.

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Einrichtung eines Anderkontos als Insolvenzkonto zulässig ist.2) Das vom Bundesgerichtshof präferierte „Sonderkonto“ wurde in der Praxis der Kreditwirtschaft explizit kaum vorgefunden, ist aber bei vorzunehmender Auslegung in der Regel (zumindest seitens der Insolvenzverwalter) wohl gemeint. Vor diesem Hintergrund ist das Urteil des Bundesgerichtshofes vom 7. Februar 20193) zu sehen in dem klargestellt wird, dass es unzulässig ist, ein Anderkonto (Vollrechts-Treuhandkonto) als Insolvenzkonto zu führen. Die jüngst ergangene Entscheidung des Bundesgerichtshofes hat damit nochmals neuen Wind in die zuletzt abgeflaute Diskussion um die Führung von Insolvenzkonten gebracht. Dass die Voraussetzungen an die Kontoführung gewahrt werden, ist indessen nicht nur im Interesse von Gläubigern und Insolvenzverwaltern. Zudem setzen sich Kreditinstitute Haftungsgefahren aus. Das aktuelle BGH-Urteil hat die Autorin zum Anlass genommen, sich mit der Kontenführung im Insolvenzverfahren zu befassen. Dieser Beitrag ist Godehard Kayser anlässlich seines 65. Geburtstages gewidmet. Ad multos annos! I. Einleitung Der Bundesgerichtshof macht mit seinem Urteil vom 7. Februar 20194) (nochmals) deutlich, dass es unzulässig ist, ein Anderkonto (VollrechtsTreuhandkonto) als Insolvenzkonto zu führen. Die Führung eines Kon-

2)

3) 4)

Für die Unzulässigkeit eines Anderkontos: vgl. z. B. Eckardt in: Jaeger, InsO, 1. Aufl. 2016, Bd. 5, § 149 Rz. 53; Depré in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 149 Rz. 6; Wegener in: FK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 149 Rz. 7; Sinz in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 149 Rz. 12 ff., 13c; Kirchhof, Hinterlegungskonten im Insolvenzverfahren bei drohender Zahlungsschwäche der Hinterlegungsstelle, in: FS Runkel, 2009, S. 149, 156 f. Für die Zulässigkeit eines Anderkontos: vgl. z. B. Füchsl/Weishäupl/Jaffé in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 149 Rz. 14 ff.; Andres in: Nerlich/Römermann, InsO, 2009, § 149 Rz. 14 f.; Kießling in: Blersch/Goetsch/Haas, InsO, 2007, § 149 Rz. 30, 39 f.; Haffa/Leichtle in: Braun, InsO, 7. Aufl. 2017, § 149 Rz. 9; Kießling, Die Kontoführung im Insolvenzverfahren, vor allem durch Rechtsanwälte, NZI 2006, 440, 441 ff.; Paulus, Überlegungen zur Kontoführung eines Insolvenzverwalters – Aus Anlass des Urteils des BGH vom 20.9.2007 = WM 2007, 2299, WM 2008, 473, 474; kritisch etwa Holzer in: Kübler/ Prütting/Bork, InsO, 5. EL 3/2018, § 149 Rz. 8 ff.; Ringstmeier, Anderkonto oder Sonderkonto – wohin mit den Geldmitteln der Insolvenzmasse?, in: FS Runkel, 2009, S. 187 f.; Stahlschmidt, Die Schwierigkeiten eines (Ander-)kontos, NZI 2011, 272 ff.; Schulte-Kaubrügger, Kontoeinrichtung durch den (vorläufigen) Insolvenzverwalter: Sonderkonto oder Anderkonto?, ZIP 2011, 1400 ff. BGH, Urt. v. 7.2.2019 – IX ZR 47/18, ZIP 2019, 718. BGH, Urt. v. 7.2.2019 – IX ZR 47/18, ZIP 2019, 718.

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tos, das nicht die Masse selbst als materiell berechtigt ausweist, als Insolvenzkonto ist unzulässig und pflichtwidrig. Nach Auffassung des Bundesgerichtshofes eignen sich die Geldmittel der Insolvenzmasse nicht zur Anlage auf einem Anderkonto, weil es sich dabei um ein Vollrechtstreuhandkonto handelt, aus dem ausschließlich der das Konto eröffnende Rechtsanwalt persönlich der Bank gegenüber berechtigt und verpflichtet ist.5) Das zentrale Problem dabei: Das Kontoguthaben auf einem Anderkonto ist kein Bestandteil der Masse,6) was z. B. in der – glücklicherweise seltenen – Ausnahmesituation (Wechsel des Verwalters o. Ä.) problematisch ist. II. Rechtliche Aspekte der Führung von Insolvenzkonten 1. Die Hinterlegungsstelle – ihre Wahl und ihre Bestimmung Der Insolvenzverwalter darf von sich aus Gelder der Insolvenzmasse auf Bankkonten anlegen.7) Dazu bedarf es an sich keiner besonderen Ermächtigung. Die Einrichtung von Konten zum Zwecke der Sicherung und Verwaltung der Insolvenzmasse gehört zum Kompetenzbereich des Verwalters.8) Gemäß § 149 Abs. 1 und 2 InsO bestimmen aber Insolvenzgericht, Gläubigerausschuss oder Gläubigerversammlung über die Hinterlegungsstelle.9) Unabhängig von den dezidiert zu betrachtenden rechtlichen Konsequenzen dieser Bestimmung, besteht Einigkeit darüber, dass der Insolvenzverwalter an eine solche Bestimmung gebunden ist, er darf dann also nicht von sich aus Gelder der Insolvenzmasse auf anderen Konten hinterlegen.10) Solange keine Hinterlegungsstelle i. S. von § 149 InsO bestimmt worden ist, darf der Insolvenzverwalter uneingeschränkt angelegte Gelder auf ein Kreditinstitut seiner Wahl übertragen. Mit Einrichtung der Hinterlegungsstelle konkretisiert sich also zunächst die Sicherungs- und Verwaltungspflicht des Verwalters auf ein bestimmtes Kreditinstitut. 5) 6) 7) 8) 9) 10)

BGH, Urt. v. 18.12.2008 – IX ZR 192/07, ZIP 2009, 531 = NZI 2009, 245; BGH, Urt. v. 12.5.2011 – IX ZR 133/10, ZIP 2011, 1220. BGH, Urt. v. 20.9.2007 – IX ZR 91/06, ZIP 2007, 2279 = NZI 2008, 39; BGH, Urt. v. 26.3.2015 – IX ZR 302/13, ZIP 2015, 1179. Sinz in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 149 Rz. 13 ff. Sinz in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 149 Rz. 13 ff. Kirchhof in: FS Runkel, 2009, S. 149, 151. LG Freiburg, Beschl. v. 13.7.1983 – 8 T 37/81, ZIP 1983, 1098, 1099 f.

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Die Wahl der das Verfahrenskonto führenden Bank erfolgt regelmäßig durch den Insolvenzverwalter, die Bestimmung der Hinterlegungsstelle erfolgt durch den Gläubigerausschuss, die Gläubigerversammlung oder das Insolvenzgericht. In den drei letztgenannten Fällen wird eine Stelle durch den entsprechenden Beschluss zur Hinterlegungsstelle bestimmt; auf die tatsächliche Hinterlegung kommt es dann nicht mehr an.11) Hinterlegungsstelle wird eine bestimmte Bank, Sparkasse oder sonstige Stelle, indem sie vom Insolvenzgericht, dem Gläubigerausschuss oder der Gläubigerversammlung dazu bestimmt wird. a) Das Konstitut der Hinterlegungsstelle Nicht jede Anlage von Geld (insbes. nicht die Eröffnung eines „Insolvenzverfahrenskontos“) führt indessen dazu, dass das jeweilige Kreditinstitut zur Hinterlegungsstelle wird. Es ist aber möglich, dass ein Kreditinstitut, bei welchem ein „Insolvenzverfahrenskonto“ geführt wird, nachträglich (etwa durch einen späteren Beschluss des Gläubigerausschusses oder der Gläubigerversammlung) zur Hinterlegungsstelle i. S. des § 149 InsO wird.12) Der Senat erläutert in seinem Urteil vom 7. Februar 201913), dass Bestimmungen der Gläubigerversammlung, bei welcher Stelle und zu welchen Bedingungen Geld, Wertpapiere oder Kostbarkeiten zu hinterlegen sind, einen förmlichen Beschluss erfordern. Im konkreten, vom Bundesgerichtshof zu entscheidenden Fall, hatte dieser befunden, dass das Protokoll keine ausreichende Grundlage dafür biete, dass ein förmlicher Beschluss der Gläubigerversammlung über die Hinterlegungsstelle getroffen worden sei. Wenn nämlich die Gläubigerversammlung lediglich zur Kenntnis nimmt, dass der Insolvenzverwalter eine Hinterlegungsstelle eingerichtet hat, ersetzt dies nach Ansicht des Senats nicht den Beschluss der Gläubigerversammlung nach § 149 Abs. 2 InsO. Gemäß den obigen Ausführungen ist dies nur folgerichtig. Wirkt die Bestimmung der Hinterlegungsstelle konstitutiv, kann eine bloß deklaratorische Kenntnisnahme der Gläubigerversammlung den durch sie zu treffenden Beschluss nicht ersetzen. Die bloße Führung eines Kontos zum Zwecke der ordnungsge-

11) 12) 13)

Jungmann in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 149 Rz. 7. Vgl. BGH, Urt. v. 20.9.2007 – IX ZR 91/06, ZIP 2007, 2279 = NZI 2008, 39. BGH, Urt. v. 7.2.2019 – IX ZR 47/18, ZIP 2019, 718.

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mäßen Ausübung seiner Amtspflicht kann eben kein gleichwertiges Surrogat für diese Entscheidung bieten. b) Rechte und Pflichten aus der Einrichtung der Hinterlegungsstelle Aus der Einrichtung der Hinterlegungsstelle ergeben sich diverse Rechten und Pflichten. Zu diesen Pflichten gehören zuvörderst die beiderseitigen Rechte und Pflichten, die originär aus dem Kontoführungsvertrag zwischen Insolvenzverwalter und Kreditinstitut resultieren. Bereits bei der Einrichtung des Kontos werden dabei die Divergenzen zwischen einem Anderkonto und einem Insolvenzsonderkonto deutlich: Vertragspartner ist bei einem echten Anderkonto der Insolvenzverwalter persönlich, bei einem Insolvenzsonderkonto hingegen die Insolvenzmasse (§ 35 InsO), für die der Insolvenzverwalter lediglich kraft seines Amtes agiert. Bereits aus der Ausgestaltung der Rechte wird jedoch deutlich, dass nur die Einrichtung eines Insolvenzsonderkontos dem Gedanken der Kontoführung im Insolvenzverfahren gerecht wird, denn nur das Insolvenzsonderkonto spiegelt die Rechte und Befugnisse des Amts des Insolvenzverwalters in adäquater Weise wider. aa) Kontoführung für sich selbst versus Kontoführung für die Insolvenzmasse – Grundlegende Unterschiede bei der Einrichtung von Anderkonten und Insolvenzsonderkonten in Bezug auf die Verfügungsbefugnis Der Insolvenzverwalter ist Partei kraft Amtes und verfügt als solches kraft Gesetzes über die Insolvenzmasse (§ 80 InsO).14) Er wird jedoch nicht Eigentümer der Masse, etwa mit der Absicht diese wiederum an Dritte zu übereignen, weshalb beispielsweise bei Verwertungshandlungen der Insolvenzverwalter niemals persönlich, sondern kraft gesetzlicher Verfügungs14)

Ott/Vuia in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 80 Rz. 6 ff. Verfassungsrechtlich ist der Übergang der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis auf den Insolvenzverwalter eine durch Gründe des öffentlichen Interesses gerechtfertigte Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG); sie verstößt insbesondere nicht gegen den verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit oder gegen andere Verfassungsnormen, vgl. dazu BVerfG, Beschl. v. 14.2.1967 – 1 BvL 17/63, BVerfGE 21, 150, 155 = NJW 1967, 1175; BVerfG, Beschl. v. 15.1.1969 – 1 BvL 3/66, BVerfGE 25, 112, 117 = DÖV 1969, 281; BVerfG, Beschl. v. 8.7.1976 – 1 BvL 19/75, 1 BvL 20/75, 1 BvR 148/75, BVerfGE 42, 263, 295 = NJW 1976, 1783.

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befugnis agiert.15) Vielmehr bleibt der Schuldner selbst Eigentümer der Masse bzw. Inhaber der dazu gehörenden Rechte und Gläubiger der Forderungen gegen Dritte.16) Folglich gehen auch etwaige Gelder der Insolvenzmasse, die durch Forderungseinzug, die Übernahme von Bankguthaben oder Verwertungserlöse auf dem von ihm geführten Konto eingehen, nicht in das Eigentum des Verwalters über.17) Nicht er hat einen Anspruch auf Auszahlung gegen das kontoführende Kreditinstitut, sondern die Masse hat einen solchen Anspruch, den der Insolvenzverwalter lediglich für diese ausübt. Dieser Dogmatik folgen auch weitere gerichtliche Ermächtigungshandlungen, wie z. B. Vergütungsbeschlüsse, in denen der Verwalter regelmäßig darum bittet, dass ihm genehmigt wird, den auf die Vergütung entfallenden Teil der Insolvenzmasse zu entnehmen.18) Er bietet jedoch eben gerade nicht darum, einen Teil der (bereits in seinem Eigentum stehenden) Insolvenzmasse behalten zu dürfen. Obwohl damit die Vorzugswürdigkeit eines Insolvenzsonderkontos gegenüber einem Anderkonto evident erscheint, erscheinen die Unterschiede der Kontoführung in der Praxis der Kreditinstitute zumindest auf den ersten Blick marginal. Dies hat vor allem folgenden Grund: Sowohl beim Anderkonto als auch beim Insolvenzsonderkonto ist die Handlungsbefugnis des Insolvenzverwalters gegenüber dem Kreditinstitut umfassend.19) Eine Verfügung des Schuldners ist in beiden Fällen unzulässig und außer dem Insolvenzverwalter und den von ihm bevollmächtigten Personen darf regelmäßig niemand über das Kontoguthaben verfügen.

15) 16)

17) 18) 19)

Leithaus in: Andres/Leithaus, InsO, 4. Aufl. 2018, § 80 Rz. 5 m. w. N. Durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens gehen aber die aus der Rechtsträgerschaft folgenden Befugnisse auf den Insolvenzverwalter über, der sie unabhängig von Willen und Weisung des Rechtsträgers ausübt; siehe dazu bereits Baur/Stürner, Zwangsvollstreckungs-, Konkurs- und Vergleichsrecht, Bd. II, Rz. 8.5; Dörndorfer, Wirkungen der Eröffnung des Insolvenzverfahrens, DGVZ 1999, 51. Dies zeigt sich indessen auch den Wirkungen der Freigabe von Gegenständen aus dem Insolvenzbeschlag. Eine Freigabe hat nicht etwa die Rückübereignung des Insolvenzverwalters auf den Schuldner zur Folge, sondern vielmehr die Aufhebung der Verfügungsbefugnis durch Negierung des Insolvenzbeschlags (§ 35 Abs. 2 InsO i. V. m. § 80 InsO), vgl. BGH, Urt. v. 25.2.2016 – IX ZR 146/15, WM 2016, 614, 616 = ZIP 2016, 682; LG Stuttgart, Urt. v. 23.4.2008 – 10 S 5/07, NZI 2008, 442, 443 = ZVI 2008, 490. Leithaus in: Andres/Leithaus, InsO, 4. Aufl. 2018, § 80 Rz. 5. Vgl. zum Vergütungsantrag des Insolvenzverwalters Nerlich/Römermann, InsVV, 37. EL 2018, § 11 Rz. 63. Die frühere Einschränkung, dass Mitglieder eines Gläubigerausschusses Verfügungen des Insolvenzverwalters mitunterzeichnen müssen (§ 149 Abs. 2 Satz 2 InsO a. F.) ist mit Wirkung zum 1.7.2007 entfallen.

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bb) Die Hinterlegungsstelle als Beteiligte des Insolvenzverfahrens sowie Warn- und Kontrollpflichten des Kreditinstituts in Bezug auf die Hinterlegungsstelle Die scheinbar marginalen Unterschiede bleiben auf den ersten Blick auch auf der Pflichtenseite der Bank ohne nähere Auswirkung. Der Bundesgerichtshof lässt in seinem Urteil vom 7. Februar 2019 dahinstehen, ob die Hinterlegungsstelle als Beteiligte des Insolvenzverfahrens anzusehen ist.20) Jedenfalls führe selbst die Annahme einer Beteiligung nach Ansicht des Bundesgerichtshofes weder dazu, dass die Hinterlegungsstelle Gehilfin für die Durchführung des Insolvenzverfahrens wird21) noch begründet die Stellung als Beteiligte des Insolvenzverfahrens zur Haftung führende insolvenzspezifische Pflichten.22) Der Senat stellt klar, dass es keine Norm des Insolvenzrechts gibt, die einer Hinterlegungsstelle insolvenzspezifische Pflichten auferlegten, bei deren Verletzung die Hinterlegungsstelle zum Schadensersatz verpflichtet sei. Dies verpflichte die Bank nicht, Kontobewegungen auf einem Sonderkonto in der Insolvenz allgemein und ohne besondere Anhaltspunkte zu überwachen.23) Mit Abschaffung der Mitzeichnungspflicht des Gläubigerausschusses sind insolvenzrechtliche Auszahlungshemmnisse entfallen. Seither greifen nur die allgemeinen bankrechtlichen Vorgaben. Trotz der Differenzierung zwischen Anderkonto und Insolvenzsonderkonto bleiben also auch insoweit vor allem die Vorgaben des Kontoführungsvertrags zwischen Kreditinstitut und Insolvenzverwalter, und damit nicht die dogmatische Einordnung des Kontos, maßgeblich. Erforderlich für eine Haftung ist nach Ansicht des Senats, dass der Zahlungsauftrag des Insolvenzverwalters für ein solches Sonderkonto objektiv evident insolvenzzweckwidrig ist und sich der Bank aufgrund der Umstände des Einzelfalls ohne weiteres begründete Zweifel an der Vereinbar-

20)

21) 22) 23)

So Holzer in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, 2018, § 149 Rz. 6a; Lind in: Ahrens/ Gehrlein/Ringstmeier, InsO, 3. Aufl. 2017, § 149 Rz. 7; Haffa/Leichtle in: Braun, InsO, 7. Aufl. 2017, § 149 Rz. 8; Sinz in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 149 Rz. 20; RG, Urt. v. 7.11.1935 – VI R 188/35, RGZ 149, 182, 185 – für die KO. A. A. z. B. Sinz in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 149 Rz. 20; Haffa/Leichtle in: Braun, InsO, 7. Aufl. 2017, § 149 Rz. 8. A. A. Lind in: Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier, InsO, 3. Aufl. 2017, § 149 Rz. 7. BGH, Urt. v. 7.2.2019 – IX ZR 47/18, ZIP 2019, 718, 719.

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keit der Handlung mit dem Zweck des Insolvenzverfahrens aufdrängen mussten.24) Die Bank ist zudem nicht verpflichtet, Kontobewegungen auf einem Sonderkonto in der Insolvenz allgemein und ohne besondere Anhaltspunkte zu überwachen. Im weiteren ist maßgeblich, ob die Bank ohne nähere Prüfung i. R. der normalen Bearbeitung eines Zahlungsverkehrsvorgangs auf Grund einer auf massiven Verdachtsmomenten beruhenden objektiven Evidenz den Verdacht einer Veruntreuung schöpft.25) Obschon der Bundesgerichtshof damit die evidente Insolvenzzweckwidrigkeit auf Fälle der Untreue durch Insolvenzverwalter konkretisiert, bleibt auch in derartigen Fällen fraglich, wie sich die Evidenz für das Kreditinstitut präsentieren soll. Der Zahlungsfluss in Insolvenzverfahren kann, abhängig von der Verfahrensgröße, zuweilen eine derartige Komplexität aufweisen, dass weder größere Zahlungen, noch Auslandsüberweisungen per se einen Widerspruch zum Zweck des Insolvenzverfahrens aufdrängen. Eine Bank handelt jedoch jedenfalls vor dem Hintergrund der vorgenannten Rechtsfolgen der Einrichtung einer Hinterlegungsstelle pflichtwidrig, wenn ihr zum einen im Zeitpunkt der Verfügung über das Kontoguthaben aufgrund der Gesamtumstände bekannt sein muss, dass Gläubigerausschuss, Insolvenzgericht oder Gläubigerversammlung die Bank gemäß § 149 InsO als Hinterlegungsstelle bestimmt haben oder dass das bei ihr eingerichtete Sonderkonto – auch ohne förmliche Bestimmung einer Hinterlegungsstelle – dazu dient, in der Art einer Hinterlegungsstelle die zugunsten der verwalteten Masse eingehenden Gelder zu sammeln. Hierzu kann es insbesondere genügen, wenn der Insolvenzverwalter die Hinterlegungsstelle eingerichtet hat und dies der Bank nach den Gesamtumständen bekannt sein muss. Auch dann, so betont der Bundesgerichtshof, muss sich der Bank nach den Gesamtumständen aufdrängen, dass es sich um einen objektiv evident insolvenzzweckwidrigen Zahlungsauftrag handelt, weil die Art der Verfügung mit der Eigenschaft des Sonderkontos als Hinterlegungskonto oder Anlagekonto für Massegelder in einem Insolvenzverfahren offensichtlich unvereinbar ist. Dies ist typischerweise der Fall, wenn der Insolvenzverwalter zu seinen Gunsten über nahezu das gesamte Guthaben auf einem der Bank erkenn-

24) 25)

BGH, Urt. v. 7.2.2019 – IX ZR 47/18, ZIP 2019, 718, 720. Vgl. BGH, Urt. v. 6.5.2008 – XI ZR 56/07, Rz. 16, BGHZ 176, 281 = ZIP 2008, 1222.

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bar in der Art einer Hinterlegungsstelle geführten Sonderkonto verfügt, ohne dass hierfür triftige Gründe nachvollziehbar genannt werden.26) Die Warnpflicht besteht indessen nur gegenüber eigenen Kunden der Bank. Auch insoweit wird die Differenzierung zwischen Anderkonto und Insolvenzsonderkonto deutlich: Wenn der Insolvenzverwalter ein Anderkonto eingerichtet hat, fehlt es an der erforderlichen Kundenbeziehung zwischen der Bank und der Insolvenzmasse, sodass eine etwaige Warnpflicht leerläuft, während bei einem Insolvenzsonderkonto Kunde die Masse ist, und der Insolvenzverwalter lediglich Verfügungsbefugter (siehe oben). 2. Das Anderkonto und das Insolvenzsonderkonto im Vergleich Im Weiteren sollen die grundlegenden Unterschiede zwischen Anderkonten und Sonderkonten aufzeigt werden. a) Das Anderkonto Nur bestimmte Berufsgruppen (Rechtsanwälte, Notare, Patentanwälte, Wirtschaftsprüfer und Steuerberater), denen die Verwaltung fremder Gelder obliegt, können Anderkonten einrichten.27) Das Amt als Insolvenzverwalter vermittelt diese besondere Qualifikation für sich allein noch nicht,28) zumal die Zulassung zu einer der vorgenannten Berufsgruppen formell betrachtet keine Voraussetzung für die Ernennung zum Insolvenzverwalter ist. Die Rechte und Pflichten sind in den für die unterschiedlichen Berufsgruppen zwischen den jeweiligen Standesvertretungen und dem Kreditgewerbe ausgehandelten „Sonderbedingungen für Anderkonten und Anderdepots“ geregelt.29) Das Anderkonto ist ein spezieller Fall eines offenen Treuhandkontos.30) Als „offen“ bezeichnet man dieses Treuhandkonto, weil die Stellung des

26) 27) 28) 29) 30)

Vgl. Kuder, Kontoführung im Insolvenzverfahren, ZInsO 2009, 584, 589; Füchsl/ Weishäupl/Jaffé in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 149 Rz. 26. Sinz in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 149 Rz. 13; siehe auch Cranshaw, Anderkonto, Insolvenz-Sonderkonto und Zahlungsdienstleister, NZI 2019, 609, 610. BGH, Urt. v. 19.5.1988 – III ZR 38/87, ZIP 1988, 1136 – für einen Betriebswirt. Schimansky/Bunte/Lwowski, Bankrechts-Hdb., 4. Aufl. 2011, § 38 Rz. 1. Füchsl/Weishäupl/Jaffé in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 149 Rz. 14; Sinz in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 149 Rz. 13; Schulte-Kaubrügger, ZIP 2011, 1400, 1401.

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Kontoinhabers als Treuhänder durch eine spezielle Bezeichnung des Kontos nach außen kenntlich gemacht wird.31) Bei der Einrichtung des Kontos wird der vorläufige oder der endgültige Insolvenzverwalter persönlich Inhaber des Kontos. Es handelt sich bei einem Anderkonto um einen Fall der offenen Vollrechtstreuhand.32) Rechtsinhaber ist also der Treuhänder.33) Nach den üblichen Bedingungen für Anderkonten ist gegenüber dem Kreditinstitut aus dem Kontovertrag nur der Kontoinhaber berechtigt und verpflichtet, also der (vorläufige) Insolvenzverwalter persönlich als Treuhänder (z. B. Nr 1 Abs 1 Satz 3 der Sonderbedingungen für Anderkonten und Anderdepots von Rechtsanwälten).34) Daraus ergeben sich z. B. die folgenden Konsequenzen: –

Die Bank darf dem Insolvenzgericht nicht ohne weiteres Auskunft über das Anderkonto erteilen, da Kontoinhaber der Verwalter persönlich ist; das Bankgeheimnis ist daher diesem gegenüber zu wahren (§ 4 InsO i. V. m. § 383 Abs 1 Nr 6 ZPO). Allerdings dürfte die Weigerung des Insolvenzverwalters, die Bank von ihrer Schweigepflicht zu entbinden, einen wichtigen Grund i. S. von § 59 Abs. 1 InsO darstellen.



Zahlungen, die während des Insolvenzverfahrens auf ein Anderkonto eingehen, gelangen in das Vermögen des Verwalters und nicht automatisch in die Insolvenzmasse.35) In der Konsequenz bedarf es eines weiteren Verfügungsakts des Verwalters, wenn die Gelder von dem Vermögen des Verwalters in die Masse überführt werden sollen.

31) 32) 33) 34)

Ringstmeier in: FS Runkel, 2009, S. 187, 191. BGH, Urt. v. 18.12.2008 – IX ZR 192/07, ZIP 2009, 531 = NZI 2009, 245. Sinz in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 149 Rz. 13. Nr. 1 Abs. 1 Satz 3 der Sonderbedingungen für Anderkonten und Anderdepots von Rechtsanwälten: „Für Rechtsanwälte oder Gesellschaften von Rechtsanwälten (im Weiteren: „Kontoinhaber“) werden Anderkonten und Anderdepots (beide im Folgenden „Anderkonten“ genannt) eingerichtet. Diese dienen der Verwahrung von Vermögenswerten eines Mandanten, die dem Kontoinhaber anvertraut wurden. Der Bank gegenüber ist nur der Kontoinhaber berechtigt und verpflichtet.“ Schulte-Kaubrügger, ZIP 2011, 1400, 1401. Anders Mitlehner, EWiR 2008, 213, 214 (Urteilsanm.), mit der Auffassung, das Anderkontoguthaben des vorläufigen Verwalters falle mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens in die Insolvenzmasse – gegen die Ansicht spricht, dass die Frage, wer aus dem Kontovertrag berechtigt und verpflichtet ist, primär keine insolvenzrechtliche ist, sondern eine solche des Bankvertragsrechts.

35)

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b) Das Sonderkonto In seinem Urteil vom 7. Februar 201936) definiert der Bundesgerichtshof ein Sonderkonto als ein bei einem Kreditinstitut geführtes Konto, das –

entweder auf seinen Namen als Partei kraft Amtes einer bestimmten Insolvenzmasse oder



auf den Namen des Schuldners

lautet. Dies ist nur konsequent, orientieren sich diese Maßstäbe doch vor allem an den gesetzlichen Folgen des Übergangs der Verfügungsbefugnis auf den Insolvenzverwalter über das Schuldnermögen zum Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung als Ist-Masse. Bei einem Sonderkonto ist nach Auffassung des Bundesgerichtshofes das Guthaben folgerichtig vermögensrechtlich der Masse zuzuordnen, während die Verfügungsbefugnis dem Verwalter als Ermächtigungstreuhänder (§§ 80, 148 InsO) zukommt.37) Das Sonderkonto ist demnach ein Konto, bei dem die Verfügungsmacht einem anderen als dem Rechtsträger zusteht. Ob es sich bei dem geführten Konto tatsächlich um ein Sonderkonto handelt, ist gegebenenfalls durch Auslegung der Erklärungen zu ermitteln.38) Eine Auslegung des Kontoführungsvertrags zwischen dem Kreditinstitut und dem Insolvenzverwalter dürfte indessen in der Regel ergeben, dass die Anlegung eines Sonderkontos beabsichtigt ist. Dabei ist zu berücksichtigen, dass bei der Auslegung des Kontoführungsvertrags (oder des entsprechenden Rahmenvertrags) mit dem Kreditinstitut gemäß §§ 133, 157 BGB ein objektiver Empfängerhorizont als Maßstab anzulegen ist.39) Dies zugrunde gelegt, dürfte kaum ein Verwalter bei der Anlegung eines Kontos „im Zusammenhang mit“ oder „für“ ein Insolvenzverfahren etwas anderes als die Anlegung eines Sonderkontos intendieren. Dies gilt insbesondere, wenn der Verwalter im Zusammenhang mit der Bitte der Kontoeröffnung deutlich

36)

37) 38) 39)

BGH, Urt. v. 7.2.2019 – IX ZR 47/18, ZIP 2019, 718; vertiefend Cranshaw, NZI 2019, 609 ff.; ausführlich zur Definition des BGH Kamm, Zur Kontoführung durch den (vorläufigen) Insolvenzverwalter, ZInsO 2019, 1085, 1088. Vgl. Eckardt in: Jaeger, InsO, 1. Aufl. 2016, Bd. 5, § 149 Rz. 47; Schulte-Kaubrügger, ZIP 2011, 1400, 1402. Vgl. BGH, Urt. v. 19.5.1988 – III ZR 38/87, ZIP 1988, 1136 = WM 1988, 1222. Busche in: MünchKomm-BGB, 8. Aufl. 2018, § 157 Rz. 26 m. w. N.

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macht, dass die Kontoeröffnung aufgrund seiner Bestellung zum (vorläufigen) Insolvenzverwalter erfolgen soll. Unabhängig davon, ob das Sonderkonto ausdrücklich auf den Namen des Schuldners oder auf den Namen des Insolvenzverwalters als Partei kraft Amtes für eine bestimmte Insolvenzmasse lautet, ist das Sonderkonto nach Insolvenzeröffnung stets Bestandteil der Insolvenzmasse.40) Es besteht keine Kontobeziehung mit dem jeweiligen Insolvenzverwalter persönlich. c) Vorteile des Sonderkontos bzw. Nachteile des Anderkontos Obschon die Unterschiede zuweilen als formalistisch bezeichnet werden, zeigen folgende drei Problemkonstellationen die Vorteile des Sonderkontos, bzw. die Nachteile eines im Insolvenzverfahren geführten Anderkontos: –

Der Tod oder die Ersetzung des Insolvenzverwalters,



die Zwangsvollstreckung von Privatgläubigern in ein vom Insolvenzverwalter geführtes Anderkonto und



die Wahrung des Bankgeheimnisses beim Anderkonto. aa) Der Tod oder die Ersetzung des Verwalters

Wurde ein Sonderkonto eingerichtet, liegt die Verfügungsbefugnis für das Konto bei der Partei kraft Amtes, also bei demjenigen, der für die Insolvenzmasse wirksam handeln kann. Das ist immer der jeweilige Insolvenzverwalter. Stirbt dieser oder wird ein neuer Insolvenzverwalter bestellt, so kann sich dieser gegenüber der Bank durch die Bestallungsurkunde legitimieren und erlangt unverzüglich die Verfügungsbefugnis über das Kontoguthaben. Denn „Kunde“ bzw. Kontoinhaber war (und ist) stets die Masse, für die der ehemalige Verwalter agiert hat und nun nicht mehr agiert. Die Verfügungsbefugnis des neuen Verwalters resultiert aus seiner (Neu-)Bestellung, welche in gleicher Weise die Rechtsfolgen des § 80 InsO auslöst wie die Bestellung des originären (verstorbenen oder abgelösten) Insolvenzverwalters.41) Anders ist die Situation beim Treuhandkonto: Stirbt der Verwalter, geht die Verfügungsbefugnis an dem Konto grundsätzlich im Wege der Uni40) 41)

Vgl. BGH, Urt. v. 19.5.1988 – III ZR 38/87, ZIP 1988, 1136 = WM 1988, 1222. Zu diesem Problem Cranshaw, NZI 2019, 609, 610.

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811

versalsukzession auf seine Erben über (§ 1922 BGB). Diese sind zwar in gleicher Weise an die Treuhandabrede gebunden, aber die Erben müssen ggf. erst ermittelt werden, durch einen Erbschein formal legitimiert werden und ihrerseits dann das Kontoguthaben an den neuen Verwalter herausgeben müssen.42) bb) Zwangsvollstreckung von Privatgläubigern des Verwalters in das Anderkonto Ein weiteres Risikofeld stellt der potentielle Zugriff von Privatgläubigern des Insolvenzverwalters als Kontoinhaber beim Anderkonto dar. Beim Anderkonto können Privatgläubiger des Verwalters grundsätzlich die Zwangsvollstreckung in das Konto betreiben. Einem solchen Zugriffsversuch kann die Masse zwar durch Erhebung der Drittwiderspruchsklage nach § 771 ZPO aufgrund ihrer Berechtigung aus der Treuhand widersprechen,43) sodass im praktischen Ergebnis der Rechtsbehelf einen ausreichenden Schutz der Masse gewährleisten wird. Gleichwohl bleibt ein Risiko für den Fall, dass ein Rechtsbehelf nicht eingelegt wird und das Risiko eines Vollstreckungszugriffs durch Privatgläubiger des Verwalters bei Anderkonten bleibt, während es bei Sonderkonten der rechtlichen Konstruktion nach ausgeschlossen ist.44)

42)

43) 44)

Insofern bietet das Anderkonto Vorteile, da gemäß Nr. 13 der Anderkonto-Bedingungen für Rechtsanwälte geregelt ist, dass im Falle des Todes des Kontoinhabers die Rechtsanwaltskammer oder ein öffentlich bestellter Abwickler Kontoinhaber wird. Nr. 13 Abs. 1 Satz 3 der Sonderbedingungen für Anderkonten und Anderdepots von Rechtsanwälten: „(1) Wird das Anderkonto als Einzelkonto für einen Rechtsanwalt geführt, so wird im Falle seines Todes die zuständige Rechtsanwaltskammer oder die von ihr bestimmte Person Kontoinhaber, bis die Landesjustizverwaltung einen Abwickler bestellt. (2) Absatz 1 gilt entsprechend, wenn der Kontoinhaber infolge Zurücknahme oder Erlöschens seiner Zulassung aus der Rechtsanwaltschaft ausscheidet oder gegen ihn ein Berufs- oder Vertretungsverbot verhängt ist. Wird im Falle eines Berufs- oder Vertretungsverbots von der Landesjustizverwaltung ein Vertreter für den Kontoinhaber bestellt, so tritt dieser an die Stelle der in Absatz 1 genannten Personen. Die Wirksamkeit von Rechtshandlungen des Rechtsanwalts wird durch ein Berufs- oder Vertretungsverbot nicht berührt (§ 155 Abs. 5 BRAO).“ Kießling, NZI 2006, 440, 443. Schulte-Kaubrügger, ZIP 2011, 1400, 1403.

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cc) Wahrung des Bankgeheimnisses beim Anderkonto/Kontrolle des Geldverkehrs durch das Insolvenzgericht bzw. die Gläubiger Von Relevanz sind auch Unterschiede zwischen Anderkonto und Sonderkonto in Bezug auf die Wahrung des Bankgeheimnisses. Beim Anderkonto hat die Bank gegenüber dem Verwalter persönlich das Bankgeheimnis zu wahren,45) da er allein Vertragspartner und Kontoinhaber ist. Gläubigerorgane oder das Insolvenzgericht erhalten deshalb auch nicht ohne weiteres Informationen von der Bank.46) Diskutiert wird zwar, ob dies anders zu beurteilen ist, wenn das Anderkonto als Hinterlegungskonto geführt wird.47) Letztlich erscheint aber fraglich, ob die Begründung einer Hinterlegungsstelle in das zwischen Verwalter und Kreditinstitut bestehende Vertragsverhältnis derart hineinwirken kann, dass dies von der Schweigepflicht entbindet. Praktisch lässt sich auch dieses Problem dadurch überwinden, dass der Insolvenzverwalter gegenüber den relevanten Beteiligten die Bank von der Schweigepflicht entbindet. Zumal die Weigerung des Insolvenzverwalters, die Bank von ihrer Schweigepflicht zu entbinden, einen wichtigen Grund i. S. von § 59 Abs. 1 InsO darstellen dürfte. Allerdings demonstriert auch insoweit der Unterschied zum Sonderkonto eine weitere Schwäche des Anderkontos. dd) Zwischenergebnis Eine Gegenüberstellung von Anderkonto und Insolvenzsonderkonto ergibt, dass die Führung eines Anderkontos gegenüber einem Sonderkonto im Insolvenzverfahren in diversen Konstellationen problembehaftet ist. Obschon sich die rechtlichen Nachteile eines Anderkontos praktisch überwinden lassen, entspricht das Sonderkonto den dogmatischen Anforderungen des Insolvenzverfahrens und den Amtsanforderungen des Insolvenzverwalters und birgt im Ergebnis auch weniger potentielle Risiken für die Insolvenzmasse.

45)

46) 47)

RG, Beschl: v. 15.10.1904 – I 118/04, RGZ 59, 85, 86 f.; LG Lübeck, Zwischenurt. v. 22.3.1983 – 5 046/81, ZIP 1983, 711, 712, m. Anm. Henckel, ZIP 1983, 712; Füchsl/ Weishäupl/Jaffé, in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 149 Rz. 28. Schulte-Kaubrügger, ZIP 2011, 1400, 1403. Zum Streitstand Sinz in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 149 Rz. 25 ff.

Die Kontenführung im Insolvenzverfahren

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d) Probleme bei der Einrichtung eines Sonderkontos Obwohl damit dem Sonderkonto im Insolvenzverfahren scheinbar in allen Punkten der Vorzug zu geben ist, ist die Einrichtung eines Sonderkontos durchaus problembehaftet.48) aa) Schwacher vorläufiger Insolvenzverwalter Praktische Probleme gibt es vor allem bei der Einrichtung eines Sonderkontos für den sog. schwachen vorläufigen Insolvenzverwalter (§ 21 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 InsO). Der schwache vorläufige Insolvenzverwalter kann den Geschäftsbesorgungsvertrag für ein Sonderkonto mit der Bank nicht selbst abschließen, sondern der Schuldner muss mit unterzeichnen (für ein Konto, für das nur der vorläufige Insolvenzverwalter verfügungsbefugt ist).49) Grund ist, dass der vorläufige Insolvenzverwalter in diesem Fall selbst nicht allein verfügungsbefugt ist, da die Wirkungen des § 80 InsO erst mit Insolvenzeröffnung eintreten. Besonders problematisch wird dies bei obstruierenden Schuldnern, oder aber auch bei Schuldnern, die sich im Ausland befinden oder „untergetaucht“ sind.50) Deshalb wird die Ansicht vertreten, dass für den schwachen 48) 49) 50)

Zum Problem der Praktikabilität vgl. Kamm, ZInsO 2019, 1085, 1089. Ringstmeier in: FS Runkel, 2009, S. 187, 194. Vor diesem Hintergrund sind auch die Anforderungen, die einige führende Kreditinstitute an die Einrichtung eines Sonderkontos im vorläufigen Insolvenzverfahren stellen, kritisch zu sehen. Zum Teil wird nicht nur gefordert, dass ein Identifikationsnachweis des Schuldners oder der Gesellschafter der Schuldnerin (in der Regel also ein gültiger Personalausweis oder Reisepass) vorgelegt wird, sondern neben einem aktuellen Handelsregisterauszug auch die Vorlage einer aktuellen Gesellschafterliste nebst eines Organigramms der Gesellschaftsstruktur einschließlich der verdeckten Beteiligungen. Bereits die Vorlage eines Identifikationsnachweises dürfte bei die Kontaktaufnahme verweigernden Schuldnern schwierig sein. Eine aktuelle Gesellschafterliste wird zudem nicht zwangsläufig immer aktuell im Handelsregister einzusehen sein, sondern nur wenn sie auch beim Handelsregister eingereicht wurde. Die Aufarbeitung der Beteiligungsstruktur im Eröffnungsverfahren dürfte sich dementsprechend ebenfalls schwierig gestalten, da bloße im Handelsregister hinterlegte Gesellschaftsverträge, die im Zuge der Gründung hinterlegt wurden, keinen Aufschluss über zwischenzeitlich erfolgte Abtretungen der Gesellschaftsanteile geben. Die Ermittlung verdeckter Beteiligungen dürfte in derartigen Fällen eine besondere Herausforderung darstellen und im Zweifel im Eröffnungsverfahren nicht abschließend durchzuführen sein. Für den vorläufigen Insolvenzverwalter stellt sich daher die Komplikation, dass er trotz bestehender Einrichtungspflicht bezüglich eines Sonderkontos nicht in der Lage sein wird, die für die Einrichtung des Sonderkontos erforderlichen Unterlagen beizubringen und damit unter Umständen seinen Sicherungspflichten nicht oder nur durch Einrichtung eines nicht den rechtlichen Anforderungen entsprechenden Kontos gerecht werden kann.

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vorläufigen Insolvenzverwalter damit allein das Treuhandkonto praktikabel sein dürfte.51) Dies werde zudem seiner Rolle im Verhältnis zum Schuldnervermögen gerecht, da er nicht an die Stelle des Schuldners tritt oder für diesen handelt, sondern mit der Sicherung der Masse betraut wird.52) Zu beachten ist allerdings, dass auch der schwache vorläufige Insolvenzverwalter durch gerichtlichen Beschluss regelmäßig dazu ermächtigt ist, Forderungen des Schuldners einzuziehen. Hinsichtlich der Befugnis zur Einziehung, die als Verfügung über die Forderung zu begreifen ist, hat damit auch der schwache vorläufige Insolvenzverwalter eine eigene Verfügungsbefugnis. Da der Forderungseinzug vernünftigerweise nur auf ein Konto erfolgen kann, liegt es deshalb nahe, der gerichtlichen Ermächtigung zum Einzug der Forderungen des Schuldners zugleich die Ermächtigung zur Begründung eines Sonderkontos für den Schuldner zu entnehmen.53) Um die Verfügungsbeschränkung zu verdeutlichen, sollte die auf den Namen des Schuldners lautende Kontobezeichnung ergänzt werden mit dem Zusatz „vorläufiger Insolvenzverwalter [Name des vorläufigen Insolvenzverwalters]“.54) bb) Starker vorläufiger Insolvenzverwalter/Insolvenzverwalter Die rechtliche Situation ist anders, wenn dem Schuldner mit Bestellung des vorläufigen Insolvenzverwalters ein allgemeines Verfügungsverbot auferlegt wurde (§ 21 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 1 InsO). Der starke vorläufige Insolvenzverwalter (ebenso wie der endgültige Insolvenzverwalter) kann aufgrund seiner umfassenden Verfügungsbefugnis

51) 52)

53)

54)

So auch zurecht Ringstmeier in: FS Runkel, 2009, S. 187, 194. Ringstmeier in: FS Runkel, 2009, S. 187, 194; ebenso Blankenburg/Godzierz, Anforderungen an die Kontoführung durch den (vorläufigen) Insolvenzverwalter und Treuhänder, ZInsO 2019, 1092, 1094. Schulte-Kaubrügger, ZIP 2011, 1400, 1402 f.; Kuder, ZInsO 2009, 584. Gleichwohl fordern einige Kreditinstitute bei der Einrichtung eines Sonderkontos eine ausdrückliche Ermächtigung des vorläufigen Insolvenzverwalters durch das Insolvenzgericht, ein Sonderkonto für das Eröffnungsverfahren einrichten zu dürfen. Bezüglich der konkreten Anforderungen an eine solche Ermächtigung wird zum Teil sogar präzisiert, dass nicht nur die Einrichtung, sondern auch die Begründung von Masseverbindlichkeiten bezüglich der i. R. der Kontoführung anfallenden Entgelte von der Ermächtigung umfasst sein muss. Kuder, ZInsO 2009, 584.

Die Kontenführung im Insolvenzverfahren

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(§ 21 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 InsO bzw. § 80 InsO) ohne weiteres ein Sonderkonto einrichten.55) Sowohl bei der Einrichtung eines Sonderkontos als Fremdkonto wie auch als Eigenkonto muss der (vorläufige) Insolvenzverwalter den Schuldner, in dessen Namen oder für den er das Sonderkonto einrichtet, der Bank gegenüber identifizieren.56) So verbietet § 154 AO die Errichtung eines Kontos unter falschem Namen und verpflichtet die Banken, sich Gewissheit über die Person des Verfügenden zu schaffen. Wenn ein Konto für einen Dritten – wie beim Sonderkonto der Fall – eingerichtet wird, muss der Verwalter, der das Konto einrichten lässt, Namen und Anschrift desjenigen mitteilen, für dessen Rechnung er handelt und die Bank ist verpflichtet, sich Gewissheit darüber zu verschaffen (vgl. §§ 2, 8 und § 17 GwG). Nach § 4 GwG erfolgt die Identifikation bei natürlichen Personen durch einen Personalausweis und bei einer juristischen Person oder Personengesellschaft durch einen Auszug aus dem Handelsregister. Eine Herausforderung stellt dies jedenfalls in den Fallkonstellationen dar, in denen über das Vermögen einer „untergetauchten“ natürlichen Person das Insolvenzverfahren eröffnet wurde und keine zustellungsfähige Anschrift bekannt ist, die i. R. der Legitimation vorgelegt werden kann. Unter Praxisgesichtspunkten sollte in diesen Fällen die Angabe der letzten bekannten Wohnanschrift als hinlänglich erachtet werden, bzw. die Vorlage einer Bestallungsurkunde durch den Verwalter genügen. III. Zusammenfassung Vor dem Hintergrund der aktuellen Entscheidung des Bundesgerichtshofes vom 7. Februar 201957) ergibt sich das folgende Fazit im Hinblick auf die Kontenführung im Insolvenzverfahren: 1.

Die Bestimmung einer Hinterlegungsstelle erfordert einen förmlichen Beschluss der Gläubigerversammlung.

2.

Eine Bank, die zur Hinterlegungsstelle bestimmt worden ist, treffen keine insolvenzspezifischen Pflichten zum Schutz der Insolvenzmasse oder der Insolvenzgläubiger, bei deren Verletzung die Bank als Hinterlegungsstelle zum Schadensersatz verpflichtet ist. Die Insolvenz-

55) 56) 57)

Zum starken vorläufigen Insolvenzverwalter vgl. auch Cranshaw, NZI 2019, 609, 612. So auch Kamm, ZInsO 2019, 1085, 1089; a. A. aber Cranshaw, NZI 2019, 609, 612. BGH, Urt. v. 7.2.2019 – IX ZR 47/18, ZIP 2019, 718.

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ordnung enthält insbesondere keine Regelung, wonach die Hinterlegungsstelle Verfügungen des Insolvenzverwalters darauf zu überprüfen hat, ob diese sachlich berechtigt sind und der Insolvenzverwalter pflichtgemäß handelt. 3.

Der Bundesgerichtshof macht mit seinem Urteil vom 7. Februar 2019 nochmals deutlich, dass es unzulässig ist, ein Anderkonto (VollrechtsTreuhandkonto) als Insolvenzkonto zu führen.

4.

Eine Gegenüberstellung von Anderkonto und Insolvenzsonderkonto ergibt, dass die Führung eines Anderkontos gegenüber einem Sonderkonto im Insolvenzverfahren in diversen Konstellationen problembehaftet ist. Obschon sich die Nachteile eines Anderkontos praktisch überwinden lassen, entspricht das Sonderkonto den dogmatischen Anforderungen des Insolvenzverfahrens und den Amtsanforderungen des Insolvenzverwalters und birgt im Ergebnis auch weniger potentielle Risiken.

5.

Ob es sich bei dem geführten Konto tatsächlich um ein Sonderkonto handelt, ist gegebenenfalls durch Auslegung der Erklärungen zu ermitteln. Eine Auslegung des Kontoführungsvertrags zwischen dem Kreditinstitut und dem Insolvenzverwalter dürfte in der Regel ergeben, dass die Anlegung eines Sonderkontos beabsichtigt ist.

6.

Für den schwachen vorläufigen Insolvenzverwalter kann es problematisch sein, ein Sonderkonto zu eröffnen. Da der Forderungseinzug jedoch nur auf ein Konto erfolgen kann, liegt es deshalb nahe, der gerichtlichen Ermächtigung zum Einzug der Forderungen des Schuldners zugleich die Ermächtigung zur Begründung eines Sonderkontos für den Schuldner zu entnehmen.

Der Bundesfinanzhof und die Bindung seiner Richter an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG) – auch gegenüber der spezialgesetzlichen „Rangordnung“ bei Insolvenz – STEPHAN RIES Inhaltsübersicht I. II.

Einführung Das Regelungskonzept der InsO – wo kommt sie her und wo will sie hin? III. Allgemeine Grundlagen des Rechts – „sedes materiae“ in besonderen Schnittstellen

IV. Rechtsprechung des V. und XI. Senat des Bundesfinanzhofes zu § 17 Abs. 2 Nr. 1 UStG; weitere kritische Fallbeispiele anderer Senate V. Die Frage nach dem „Warum“ der zitierten Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes VI. Rechtswegfragen

I. Einführung Der Jubilar ist Vorsitzender Richter am höchsten deutschen Zivilgericht. Er sitzt einem Senat vor, in dessen Spezialzuständigkeit sämtliche insolvenzbezogenen Rechtsbeschwerden und Revisionen fallen, soweit deren Rechtsweg in die Zivilgerichtsbarkeit führt. Der Verf. wirkt als Co-Autor an einem Kommentar mit, dessen Mitherausgeber der Jubilar ist. Wir sind uns über die Jahre häufiger begegnet, und so gab es durchaus Gelegenheit zu anregenden Gesprächen über private, aber – wie sich versteht – erst recht natürlich spannende Fachthemen. In einem Punkt waren wir dabei stets einig: Nach der Konzeption des InsO-Gesetzgebers gilt der Gleichbehandlungsgrundsatz für alle Gläubiger einheitlich (par condicio creditorum), ohne Ansehung der Person und egal welche Aufgaben (seien sie hoheitlich oder privat) diese Gläubiger ansonsten wahrnehmen. Immer mal wieder fiel dabei ein prüfender Blick auf andere Gerichtsbarkeiten. Gehen sie wirklich unvoreingenommen, d. h. unbefangen und dogmatisch sauber mit den rechtsweghalber bei ihnen zu entscheidenden Insolvenzsachverhalten um? Dementsprechend groß war unserer beider Enttäuschung, als der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes durch Beschluss vom 27. Sep-

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tember 20101) arbeitnehmerbezogene Insolvenzanfechtungen einer arbeitsgerichtlichen Sonderzuständigkeit unterwarf und hierdurch streitgegenständlich „Gleiches“ – zumindest prozessual – nun doch nicht mehr so vollkommen gleich behandeln mochte. Dem trat der Verf. schon damals sehr kritisch entgegen.2) Der Jubilar mag also verzeihen, wenn sich der heutige Beitrag wiederum sorgenvoll der Arbeit höchster Richter zuwendet und dabei sogar Art. 20 Abs. 3 GG in Augenschein nimmt. Ihm mag jedoch Genugtuung sein, dass das, was der Verf. dem Bundesfinanzhof jetzt vorhält, keineswegs den Bundesgerichtshof betrifft, sondern wiederum (nur) eine andere Fachgerichtsbarkeit, die in falsch verstandener Steuerrechtskonformität doch allzu häufig insolvenzrechtlich auf Abwege gerät. Oft hilft es schon in der Sache, wenn man miteinander spricht. Dem Verf., damals vor dem Tod seiner Frau noch stärker verbandsmäßig aktiv, war es beispielsweise im Jahr 2009 gelungen, für den VID im Berliner Finanzministerium ein Gespräch in großer Runde zu organisieren. Auch war er einer der Mitinitiatoren für die sog. Seer-Kommission.3) In jenen Jahren erklärten sich zudem einige Richter des Bundesfinanzhofes bereit (etwa Frau Jäger und Herr Rüsken aus dem VII. Senat)4), an insolvenzrechtlichen Kongressen teilzunehmen und dort sogar vorzutragen. Das blieb nicht ohne Wirkung – wie der Verf. beispielsweise in seiner Besprechung des Urteils des Bundesfinanzhofes vom 25. Juli 2012 – VII R 29/115) positiv hervorhob. In jener Entscheidung erwähnte der VII. Senat sogar die Grundsätze der Einheitlichkeit der Rechtsordnung und der Rechtsprechung. Nachdem jene

1) 2)

3) 4)

5)

GmS-OGB, Beschl. v. 27.9.2010 – GmS-OGB 1/09, ZIP 2010, 2418 (nach Vorlage durch BGH, Beschl. v. 2.4.2009 – IX ZB 182/08, ZIP 2009, 825). Ries, Zersplitterung statt Rechtsvereinheitlichung(!) – Warum vergisst der Gemeinsame Senat der obersten Gerichtshöfe seine gesetzlichen Grundlagen(?), ZInsO 2010, 2382; siehe dazu auch Kreft, Der Rechtsweg für Insolvenzanfechtungsklagen, ZIP 2013, 241; Bork, Zuständigkeit der Arbeitsgerichte für Klage aus Insolvenzanfechtung von Lohnzahlungen, EWiR 2010, 765 (Urteilsanm.). Vgl. zu deren Tätigkeit Seer, Abschlussbericht der Kommission zur Harmonisierung von Insolvenz- und Steuerrecht, ZIP Beilage Heft 42/2014, S. 1. Dieser Senat ist u. a. zuständig für das Vollstreckungs- und das allgemeine Recht der AO; vgl. ferner die parallelen Veröffentlichungen von Rüsken, Die Rechtsprechung des VII. Senats des Bundesfinanzhofs zum steuerlichen Insolvenzverfahrensrecht und zur Aufrechnung im Insolvenzverfahren, NZI 2006, 330; Rüsken, Aufrechnung von Steuern im Insolvenzverfahren in der neueren Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs, ZIP 2007, 2053. Ries, Insolvenzrechtliches Aufrechnungsverbot und Entstehenszeitpunkt von Ansprüchen auf Steuererstattung bzw. -vergütung, EWiR 2013, 17, 18 (Anm. zu BFH-Urteil v. 25.7.2012 – VII R 29/11, ZIP 2012, 2217).

Der BFH und die Bindung seiner Richter an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG)

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Richter ruhestandsbedingt aus dem Dienst schieden, schliefen diese Kontakte aber zum Großteil leider wieder ein. Bettina Limperg, die Präsidentin des Bundesgerichtshofes, ist Wuppertalerin. Und so kam der Verf. mit ihr bei einem Besuch ihrer Heimatstadt und am Rande einer Veranstaltung am 18. Februar 2019 ins Gespräch. Sie hatte zuvor bereits von möglichen Spannungen gehört. Recht schnell kam ihr der Gedanke, zu Professor Mellinghof, dem Präsidenten des Bundesfinanzhofes, den Kontakt zu suchen. Gespräche sind – wie gesagt – ganz wichtig und richtig. Manchmal muss man zuvor aber Tacheles reden; natürlich stets allein im Dienste der Sache, d. h. ohne Ansehung von Person oder Amt. Damit allen bewusst wird, worum es eigentlich geht. II. Das Regelungskonzept der InsO – wo kommt sie her und wo will sie hin? Die vom damaligen Bundesjustizminister Dr. Vogel einberufene Kommission für Insolvenzrecht behandelte eingehend die Schwächen der KO. Sie kritisierte dabei vor allem die seinerzeitigen Konkursvorrechte für Arbeitnehmer, Sozialversicherungsträger und die Steuerverwaltung, etwa in §§ 59 Abs. 1 Nr. 3, 61 KO. Diese sollten ersatzlos(!) entfallen.6) Speziell zur Streichung von § 61 Abs. 1 Nr. 2 KO finden sich dabei in der Begründung zu Leitsatz 3.8.27) folgende, hier sinngemäß wiedergegebene Aussagen: Es sei ohne Belang, dass der Fiskus keinen Einfluss auf die Auswahl seiner Schuldner nehmen könne, weil dieses Phänomen gleichermaßen auf viele andere ungesicherte Gläubiger zutreffe.8) Der Fiskus habe sogar vielfältig die Gelegenheit, kraft Gesetzes angemessen Vorauszahlungen einzufordern. Er könne sogar bescheidmäßig seine Forderungen titulieren.9) 6) 7) 8)

9)

Vgl. Erster Bericht der Kommission für Insolvenzrecht, RWS-Verlag 1985, S. 14, 17 ff. Erster Bericht der Kommission für Insolvenzrecht, RWS-Verlag 1985, S. 346 f. Dazu, dass derjenige, der per Gesetz Steuern (etwa die Umsatzsteuer) erhebt, dazu auch Sicherungsmechanismen implementieren könnte, dies aber bewusst nicht tat, Ries, Art. 3 Nr. 3 Haushaltsbegleitgesetz 2011 Reg-E – kein Ausweg aus vermintem Gelände?, NZI-Gastkommentar Heft 19/2010, V., VI. (u. a. mit Verweis auf die Rechtsgedanken von § 51 Nr. 3 und 4 InsO); ähnlich Mankowski, Anm. zu EuGH, Urt. v. 9.11.2016 – Rs. C-212/15, NZI 2016, 959, 962 a. E. = ZIP 2017, 26. Zu den damit bspw. im Insolvenzverfahren selbst, aber auch später nach dessen Aufhebung ggf. verbundenen Vorteilen siehe etwa § 179 Abs. 2 InsO (Umkehr der Bestreitenslast) und das nicht unproblematische BFH-Urteil v. 7.8.2018 (BFH, Urt. v. 7.8.2018 – VII R 24/17, VII R 25/17, NZI 2019, 175 (Feststellungskompetenz zu steuerstrafrechtlicher Verurteilung).

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Und wörtlich im Zitat:10) „Die Kommission ist im übrigen davon überzeugt, dass sich die Massearmut der Insolvenzen, die zu einem starken Funktionsverlust des geltenden Konkursrechts geführt hat, nur durch einen einheitlichen Abbau aller allgemeinen Konkursvorrechte erreichen läßt“.

Das alles griff der Gesetzgeber explizit auf und benannte es als ein wichtiges Hauptziel der Insolvenzrechtsreform.11) Es gelte, die Massearmut der Insolvenzverfahren zu überwinden, in einem einheitlichen Insolvenzverfahren Hindernisse für wirtschaftlich sinnvolle Sanierungen zu beseitigen und vor allem auch, die Gläubigervorrechte abzubauen. Denn es gehe schließlich um eine bessere Funktionsfähigkeit des Konkurses als Verfahren gemeinschaftlicher Haftungsverwirklichung. Das zielt letztlich auf den heutigen Rang von § 38 InsO ab und impliziert damit natürlich, dass nicht anstelle dessen neue, den Insolvenzgläubigern nachteilige Masseverbindlichkeiten im Rang der §§ 55, 209 InsO geschaffen werden. Dass der Gesetzgeber Letzteres keinesfalls wollte, ergibt sich zugleich aus seinen ausdrücklichen Bezugnahmen auf frühere Reformbemühungen, in denen es neben einer wirksameren Ausgestaltung der Anfechtung gläubigerbenachteiligender Handlungen und der Einschränkung von Aus- und Absonderungsrechten auch maßgeblich um die Eindämmung von Masseschulden12) gegangen war. Es gelte also tunlichst, den so häufigen „Konkurs im Konkurs“13) zu vermeiden. III. Allgemeine Grundlagen des Rechts – „sedes materiae“ in besonderen Schnittstellen Der Verf. hat in zahlreichen Beiträgen14) betont, dass sich das zivilrechtliche Erkenntnis- bzw. ein behördliches Erhebungsverfahren einerseits sowie andererseits das Vollstreckungsverfahren auf ganz unterschiedlichen Rechtsebenen bewegen. Diese Ebenen konkurrieren weitestgehend nicht einmal miteinander, sondern ergänzen sich allenfalls. Materiell „gestaltet“ das Insolvenzrecht sehr wenig, d. h. im Wesentlichen greift es nur über die Son10) 11) 12) 13) 14)

Erster Bericht der Kommission für Insolvenzrecht, RWS-Verlag 1985, S. 347. Siehe Begr. RegE InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 90, 96; Beschlussempfehlung und Bericht des RA z. RegE InsO, BT-Drucks. 12/7302, S. 151 und passim. Begr. RegE InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 102 re. Sp. Begr. RegE InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 103 li. Sp.; ebenda auch mit Kritik an der zunehmenden Belastung durch Masseschulden. Etwa Ries, Die gesetzliche „Ordnung“ bei Insolvenz – Zur Bedeutung insolvenzrechtlicher Durchsetzungssperren und Unwirksamkeitsanordnungen, in: FS Runkel, 2009, S. 93, 97 f.; Ries, ZInsO 2010, 2382, 2384 re. Sp.; Ries, Insolvenz(anfechtungs)recht – wohin bist Du geraten?, ZInsO 2012, 1751, 1756.

Der BFH und die Bindung seiner Richter an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG)

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derkündigungsrechte zu den Dauerschuldverhältnissen gemäß §§ 109, 113 InsO und bei einigen arbeitsrechtlichen Spezialnormen in den eigentlichen „Status“ der Schuldrechtsbeziehung ein. Insolvenzrechtlich geht es in erster Linie um die Ebene dahinter, d. h. die „Durchsetzbarkeit“ – oder eben „Nichtdurchsetzbarkeit“ – von Statuspositionen „für die Dauer und Zwecke des Insolvenzverfahrens“. Auch der Begriff der „Unwirksamkeit“ zielt in den Normen der InsO hauptsächlich in diese Richtung.15) Es gibt also m. a. W. ganz viele Ansprüche, die materiell bestehen, sogar formell vollstreckbar und doch am Ende auf bestimmten Wegen gar nicht realisierbar sind. Und sei es nur, dass ihre zwangsweise Durchsetzung am Verbot der „Kahlpfändung“ (§§ 811, 850 ff. ZPO) scheitert. Die Insolvenzsituation bildet einen ganz speziellen „Sonderfall des Lebens“ ab. Unter gewissen allgemeinen Voraussetzungen ist jeder von uns Steuerbürger und -schuldner. Aber bei Weitem sind wir nicht alle insolvent. Es geht also m. a. W. um ein lex-specialis-Thema: Das Bestehen des Steueranspruches und die Steuerschuldnerschaft des insolventen Rechtsträgers sind im Ausgangspunkt unbestritten. Aber es gibt kein steuerrechtlich vorrangiges Durchsetzungsprivileg. Ein solches ist auch nicht europarechtlich begründbar;16) denn der – auf europäischer Ebene in sich

15) 16)

Dazu schon Ries in: FS Runkel, 2009, S. 93, 106 ff.; Ries, ZInsO 2012, 1751, 1753 (Ziff. 4); vgl. ferner die Nachweise bei Ries in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 208 Rz. 34. Soweit an dieser Stelle bspw. Art. 90 der MwStSystemRL 2006/112/EG (vgl. die Hinweise von Seer, Abstimmungsprobleme zwischen Umsatzsteuer- und Insolvenzrecht, DStR 2016, 1289, 1295 f.) bzw. neuerdings Art. 185 MwStSystemRL 2006/112/EG (s. jetzt BFH, Beschl. v. 13.11.2018 – V B 60/18, Rz. 4 f., ZIP 2019, 184) bemüht werden, handelt es sich ebenfalls nur um allgemeine Status- und keine insolvenzspezifischen Vorrang- bzw. dingliche Aus- oder Absonderungsnormen. Im Übrigen unterbleibt ja im Insolvenzfall nicht die Steuerhebung als solche und auch nicht gänzlich jegliche Vollstreckung, sondern es findet allenfalls eine Unterordnung unter das „Gesamtvollstreckungsprinzip“ statt. Schlussendlich haben EuGH und EU-Kommission zuletzt wiederholt entschieden (u. a. im Kontext des sog. Sanierungserlasses und zu § 8c KStG), dass die vorhandenen Verteilungs- und Restrukturierungsinstrumente, erst recht solche der InsO, wettbewerbsrechtlich unbedenklich sind (vgl. etwa EuGH, Urt. v. 28.6.2018 – Rs. C-203/16 P (EuG), ZIP 2018, 1345: ferner Krumm in: Blümich, EStG/KStG/GewStG, 146. EL 2/2019, § 3a EStG Rz. 9 f., zum Comfort-Letter der EU-Kommission v. 20.7.2018). Zur Unbedenklichkeit von „Insolvenzgeldzahlungen“ siehe EuG, Beschl. v. 11.1.2012 – T-58/10, BeckRS 2012, 80214, sowie EuGH, Urt. v. 2.3.2017 – Rs. C-496/15, ZIP 2017, 628 = ZInsO 2017, 1090.

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identische – Gesetzgeber hat spiegelbildlich die funktionsgleiche EuInsVO17) erschaffen. Wobei ganz grundsätzlich parlamentarisch erinnert sei: Sowohl für das Steuer- als auch für das Insolvenzrecht gibt es nur jeweils einheitlich ein „Gesetzgebungsorgan“. Das betrifft sowohl die nationale wie vergleichbar auch die europäische Ebene. Es gibt jeweils keinen organschaftlich eigenständigen „Steuergesetzgeber“, der machtmäßig über allem anderen steht. Wer dennoch so tut, muss sich in das Rollenverständnis der deutschen und europäischen Rechtsstaatlichkeit tunlichst besser eingewöhnen. Der gelegentlich zu hörende Primat eines nahezu unbeschränkten, jegliche Vollstreckungsschranken beiseite schiebenden „Steuervollzuges“, der ausschließlich an seiner grenzenlosen Effektivität zu messen sei, ist jedenfalls in der Verfassungs- und Gesetzgebungswirklichkeit eine Schimäre. Wer „gibt“ darf allerdings meist auch „nehmen“. Der „eine“ Gesetzgeber, der für sein Regelungsgebiet – national wie europäisch – überhaupt erst die Grundlagen (d. h. einen gewissen Status) schafft, kann diesen Status kraft seines Hoheitsrechtes an gewissen Stellen in seiner Durchsetzbarkeit gleichwohl sperren. Will hier mit Nachdruck sagen: Aus den statusregelnden Normen des Steuerrechts allein lassen sich gerade keine insolvenzrechtlichen „Durchsetzbarkeitserkenntnisse“ gewinnen, es sei denn, es steht in der betreffenden steuerrechtlichen Norm ausdrücklich so mit drin; oder es rechtfertigt sich zumindest nach deren Telos. Was mit der hier vertretenen Ansicht etwa bedeutet, –

dass man über den Wortlaut von § 251 Abs. 3 AO sehr viel mehr nachdenken muss, weil es darin im eigentlichen Sinne um Vollstreckbarkeits- und Rangzuordnungsfragen im Insolvenzverfahren selbst, nicht jedoch um Statusfeststellungen geht, und diese Norm die Kompetenz der Finanzverwaltung zu einer förmlichen „Verbescheidung“ ausdrücklich auf Anordnungen beschränkt, die die „Verfolgbarkeit“ von „In-

17)

Vgl. etwa ErwG 63 zur EuInsVO, wo „Steuerbehörden“ ausdrücklich im Gleichbehandlungskontext mit genannt und bspw. in Art. 23 EuInsVO auch nicht von Herausgabeund Anrechnungspflichten verschont werden; ein Durchsetzungsprivileg für Steuerbehörden ist der EuInsVO nicht einmal ansatzweise zu entnehmen (vgl. EuGH, Urt. v. 9.11.2016 – Rs. C-212/15, Rz. 39 ff., NZI 2016, 959 = ZIP 2017, 26, zur Gleichbehandlung privater und öffentlich-rechtlicher Gläubiger).

Der BFH und die Bindung seiner Richter an Recht und Gesetz (Art. 20 Abs. 3 GG)

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solvenzforderungen“ zur Tabelle und Teilnahme an Ausschüttungen gemäß §§ 187 ff. InsO betreffen;18) –

dass die im Steuerecht bevorzugte Anknüpfung an die dortigen Haftungsnormen der §§ 34, 35, 69 AO19) unzulässig ist, soweit die Amtsführungs- und Verantwortungsregeln der InsO (u. a. §§ 55, 209, 60 InsO) demgegenüber – auch für die persönliche Haftung des Insolvenzverwalters – verdrängende „lex-specialis“-Anordnungen treffen;



dass in Normen wie etwa § 17 Abs. 2 Nr. 1 UStG gar nicht dasjenige drinsteht, was einzelne Senate des Bundesfinanzhofes – aus welch‘ fragwürdiger Motivlage auch immer – dort dennoch insolvenzrechtlich hineinlesen;



und schließlich, dass man die klaren, eigentlich unmissverständlichen Anfechtungsanordnungen der §§ 129 ff., nicht zuletzt § 144 Abs. 1 InsO (Aufleben der Ausgangsverbindlichkeit nur als Insolvenzforderung i. S. des § 38 InsO)20), geradezu auf den Kopf stellt,21) wenn man das, was die Verteilungsmasse „anreichern“ soll und dem einzelnen Gläubiger zur Verwirklichung der gemeinschaftlichen par condicio creditorum als „Opfer“ abverlangt wird, ihr im Gegenzug als angebliche Masseschuld i. S. des § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO sogleich wieder entzieht.22) Wer dennoch so entscheidet, pervertiert geradezu „contra le-

18)

Viel zu weitgehend beispielsweise BFH, Urt. v. 7.8.2018 – VII R 24/17, VII R 25/17, NZI 2019, 175; in jenen Fällen ging es gerade nicht um die Teilnahmemöglichkeit an Ausschüttungen im Insolvenzverfahren, sondern stattdessen – jenseits des Normwortlauts – um außerinsolvenzliche Nachwirkungen für die Frage späterer Restschuldbefreiung. Zu möglichen weiteren Kollisionsthemen bei § 251 Abs. 3 AO siehe Ries, Freigabe von Passivprozessen aus der Masse – zur Disposivität der § 240 ZPO, § 87 InsO für den Insolvenzverwalter auch in Steuersachen, ZInsO 2013, 595, 597 (dort i. V. m. Fn. 16). Danach soll der Insolvenzverwalter als Vermögensverwalter i. S. des § 34 Abs. 3 AO zu behandeln sein. Zu § 144 InsO ausführlich Ries, ZInsO 2012, 1751, 1752 (bei Ziff. 3). Zu den eigentlichen Zielen der §§ 129 ff. InsO hier stellvertretend Bork, Anfechtung als Kernstück der Gläubigergleichbehandlung, ZIP 2014, 797; siehe ferner BGH, Urt. v. 7.5.1991 – IX ZR 30/90, BGHZ 114, 315, 320 f. = ZIP 1991, 737: „Der konkursrechtliche Rückgewähranspruch nach § 37 KO ist nicht die Umkehrung des öffentlichrechtlichen Anspruchs auf Abgaben“. Ein solches „Durchziehen“ durch die Masse würde im Übrigen die ungesicherten Gläubiger noch zusätzlich enorm schädigen, da die Umsatzsteuer als Bestandteil der Masse (stellvertretend BGH, Beschl. v. 14.10.2010 – IX ZB 224/08, ZIP 2010, 2252, dazu Ries, EWiR 2011, 59 [Urteilsanm.]) zeitgleich die Vergütung erhöht, ggf. sogar in bedeutender Höhe (vgl. zu solchen Folgen Ries, Deckungsanfechtung versus „dingliche“ Absonderung – eine wenig überzeugende Schlussfolgerung aus § 13b Abs. 1 Nr. 2 UStG, ZInsO 2007, 650).

19) 20) 21)

22)

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gem“ das ganze System der Gleichbehandlung – und leider verfestigt sich der Eindruck, das geschehe sogar bewusst. Es gilt also leider auch, wofür an dieser Stelle allerdings Zeit und Raum fehlen, über mögliche Kehrseiten der richterlichen Unabhängigkeit nachzudenken, soweit sie die Grenzen von Art. 20 Abs. 3 GG überschreitet,23) und zu deren Korrektiv sogar notfalls die Frage einer Verfassungsbeschwerdebefugnis von Insolvenzverwaltern ins Visier zu nehmen.24) IV. Rechtsprechung des V. und XI. Senat des Bundesfinanzhofes zu § 17 Abs. 2 Nr. 1 UStG; weitere kritische Fallbeispiele anderer Senate Mit Urteil vom 9. Dezember 201025) stellte der V. Senat als These auf, mit der Insolvenzeröffnung verändere sich die „Vereinnahmungszuständigkeit“. Für den Schuldner selbst würden offene Debitoren letztlich „uneinbringlich“. Selbst bei einer tatbestandlich schon abgeschlossenen26) „Sollbesteuerung“, also im Fall einer steuerlich längst begründeten Insolvenzforderung des Finanzamtes (§ 38 InsO), werde dennoch der Insolvenzverwalter nachträglich masseschuldverantwortlich (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO), sobald er die Debitoren zur Masse liquide einziehe. Entscheidend sei die später hinzuwachsende „Inkasso-Kompetenz“ des Verwalters, nicht aber die Anknüpfung an das eigentliche „Steuersubjekt“. Mit Urteil vom 24. September 201427) dehnte der V. Senat diesen Ansatz sogar auf einen vorläufigen 23) 24)

25) 26)

27)

Vgl. zu diesem Maßstab auch Kreft, ZIP 2013, 241, 250. Zur möglichen Verfassungsbeschwerdebefugnis des Verwalters siehe die Rechtsprechung des BVerfG zu §§ 60, 61 KO (BVerfG, Beschl. v. 30.3.1993 – 1 BvR 1045/89, 1 BvR 1381/90, 1 BvL 11/90, ZIP 1993, 838; zur Darstellung der Ausgangssachverhalte siehe NJW 1993, 2861). Insbesondere der Fall 1 BvR 1381/90 zeigt, dass eine Beschwerdebefugnis auch greifen kann, soweit es um eine persönliche Haftungsinanspruchnahme des Verwalters wegen angeblicher Verteilungs- und/oder Rangzuordnungsfehler gemäß § 60 InsO geht. Zur möglichen Verfassungsbeschwerdebefugnis wegen des Anspruches des Verwalters auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) zudem Kreft, ZIP 2013, 241, 251. BFH, Urt. v. 9.12.2010 – V R 22/10, ZIP 2011, 782. Gemeint sind hier Konstellationen, bei denen jeweils vorinsolvenzlich die steuerbare Lieferung schon durchgeführt und die steuerauslösende Rechnung bereits gestellt, aber noch keine Zahlung erfolgt ist; denn besteuert werden insoweit „vereinbarte“ und nicht erst „vereinnahmte“ Entgelte. BFH, Urt. v. 24.9.2014 – V R 48/13, ZIP 2014, 2451, 2452. Dazu mit vielsagender Überschrift: Kahlert, Ein neuer Schöpfungsakt des V. BFH-Senats zur Umsatzsteuer im Insolvenzverfahren und seine Entschlüsselung, ZIP 2015, 11; zuvor schon Kahlert, Der V. Senat des BFH als Schöpfer von Fiskusvorrechten im Umsatzsteuerrecht, DStR 2011, 921.

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sog. schwachen Insolvenzverwalter i. S. von § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO aus, dabei allerdings voraussetzend, dass dieser – wie vielfach üblich – durch das Insolvenzgericht zur „Kassenführung“ und zum „Forderungsinkasso“ ermächtigt wurde.28) Sodann findet sich bei Wäger29), einem der richterlichen Mitbegründer solcher Thesen im V. Senat, die bemerkenswerte Aussage, das Urteil des Bundesfinanzhofes vom 9. Dezember 2010 sei Teil eines im UStG angelegten Besteuerungskonzeptes; § 17 Abs. 2 Nr. 1 UStG erfordere berichtigungshalber die Ausbuchung als Alt- und die Wiedereinbuchung als Neudebitor. Allein: In § 17 UStG steht das Wort „Insolvenz“ gar nicht drin. Die Frage einer möglichen „Insolvenz“ des Zahlungspflichtigen spielte im historischem Gesetzgebungswerdegang zu dieser Norm nie eine Rolle. Andere Normen des UStG, die sich tatsächlich mit der Spezialsituation der „Insolvenz“ befassen, unterteilen eben nicht in unterschiedliche „Sphären“ beim Schuldner selbst, sondern machen es genau anders herum: Sie verlagern die eigentliche Steuerschuldnerschaft oder zumindest die Mithaft auf Dritte (siehe stellvertretend §§ 13b Abs. 2 Nr. 2 bzw. 13c UStG). Vergleichbar ist und bleibt § 17 UStG ebenfalls eine reine „Statusvorschrift“, welche die Steuerschuldnerschaft des Rechtsträgers (sei er nun insolvent oder nicht) für bestimmte Fälle einheitlich regelt, sich aber mit weitergehenden Durchsetzbarkeits- und Verteilungsfragen i. S. der condicio creditorum oder gar mit einer spezifischen Veranlagung der (rechtlich unselbständigen) Insolvenzmasse ganz offenkundig nicht beschäftigt. Träger aller Rechte und Pflichten bleibt der insolvente „Schuldner“ des Verfahrens; die „Masse“ hat sich im Status von ihm nicht rechtlich verselbständigt. Der V. Senat missbraucht schlichtweg § 17 UStG – rechtsstaatlich nicht legitimierbar30) – zu einer nachträglichen Rangprivilegierung des Steuer28)

29) 30)

Beispiel eines in NRW üblichen Textbausteins: „Der vorläufige Insolvenzverwalter wird ermächtigt, Bankguthaben und sonstige Forderungen der Schuldnerin einzuziehen sowie eingehende Gelder entgegenzunehmen. Die Drittschuldner werden aufgefordert, nur noch unter Beachtung dieser Anordnung zu leisten (§ 23 Abs. 1 Satz 3 InsO)“. Wäger, Insolvenz und Umsatzsteuer, DStR 2011, 1925, 1926 li. Sp. Vgl, mit zahlr. weiterführenden Nachweisen Onusseit in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, 77. EL 8/2018, InsSteuerR F. Rz. 302 f., 511 (keine gesetzliche Grundlage). Seer formuliert in seinem Kommissionsbericht (Fn. 3), ZIP Beilage Heft 42/2014 auf S. 5 hierzu diplomatisch: „Es wurde deutlich, dass die Rechtsprechung vor allem dadurch motiviert ist, infolge von erbrachten Ausgangsumsätzen in der Masse vereinnahmte Umsatzsteuerbeträge an den Fiskus weiterzuleiten. Dabei wird weniger auf den Wortlaut des Gesetzes, sondern mehr auf den dem Umsatzsteuerrecht immanenten Belastungsgrund abgestellt.“

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fiskus, wenn er auf diese Weise längst entstandene Insolvenzforderungen – rein steuereintreibungsmotiviert – doch noch zu Masseschulden aufwertet. Dem Fiskus wird es dadurch ermöglicht, auf der Basis einer nur vorgeschobenen gesetzlichen Grundlage zu seinen eigenen Gunsten bei den übrigen Beteiligten31) abzukassieren, obwohl auch diese von dem Insolvenzereignis eigentlich gleichermaßen betroffen sind. Oder um es noch deutlicher zu sagen: Man vergiftet den Brunnen der par condicio creditorum und sprengt an dieser Stelle kraft freier Rechtsschöpfung rein zielorientiert ein Loch in die gemeinsame Kasse. Endgültig deutlich wird dieser – allem Anschein nach bewusst herbeigeführte – Rechtsstaatskonflikt, wenn man mittels der völlig insolvenzneutralen Vorschrift des § 17 Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 UStG sogar die Spezialnorm des § 144 Abs. 1 InsO übertrumpfen will,32) also das „Geld“ (es handelt sich zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr im eigentlichen Sinne um „Steuern“)33), welches der Insolvenzverwalter dauerhaft zu Verteilungszwecken der §§ 187 ff. InsO in die Masse vereinnahmt hat, ihr sogleich als vermeintliche Masseschuld wieder abnimmt, obwohl es sich nur um eine Insolvenzforderung handeln kann. „Sine lege“ war eigentlich schon schlimm genug (siehe oben) – „contra legem“ setzt nun allem wahrlich die Krone auf. Einmal ganz zu schweigen von der Grundsatzentscheidung im 114. Band von BGHZ34), wo es unter Ziff. I. 2. wörtlich heißt: „Der konkursrechtliche Rückgewähranspruch nach § 37 Abs. 1 KO ist nicht die Umkehrung des öffentlich-rechtlichen Anspruchs auf Abgaben.“

Davon abzuweichen erforderte die Anrufung des Gemeinsamen Senates der obersten Gerichtshöfe des Bundes. Im Bild gesprochen: Der Insolvenzver31)

32) 33)

34)

Vgl. Ries in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 38 Rz. 2; Ries, ZInsO 2013, 595, 598: Solche Mehrbelastungen treffen in aller Regel nicht den Schuldner, der ohnehin schon alles Pfändbare in die Masse gab, sondern die den Gläubigern zugewiesene Verteilungsmasse. So nun mittlerweile BFH, Urt. 15.12.2016 – V R 26/16, ZIP 2017, 782; BFH, Beschl. v. 13.11.2018 – V B 60/18, ZIP 2019, 184 – zur Umsatzsteuer. Siehe auch das nachstehend mit Fn. 34 verknüpfte Zitat aus BGHZ 114, 315; ausführlich dazu Ries, ZInsO 2012, 1751, 1755 f.: Es geht allein noch um den finanziellen Vollstreckungserfolg an sich und nicht mehr um die ursprüngliche causa. BGH, Urt. v. 7.5.1991 – IX ZR 30/90, BGHZ 114, 315, 320 f. = ZIP 1991, 737; seither ständige Rechtsprechung; vgl. stellvertretend BGH, Beschl. v. 6.12.2012 – IX ZB 84/12, Rz. 6, ZIP 2012, 2524: „Der anfechtungsrechtliche Rückgewähranspruch aus § 143 InsO ist generell ein bürgerlich-rechtlicher Anspruch, der die materiellen Ordnungsvorstellungen des Insolvenzrechts gegenüber sämtlichen Gläubigern nach Maßgabe der §§ 129 ff. InsO durchsetzt und außerhalb der Insolvenz geltende allgemeine Regelungen verdrängt (…). Der Rückgewähranspruch ist von Ansprüchen aus dem zugrundeliegenden Rechtsverhältnis wesensverschieden und folgt eigenen Regeln“.

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walter zieht, wie es der Bundesgerichtshof zutreffend beschreibt, infolge der Anfechtung ausschließlich „Geld“ zurück zur Masse; er kehrt damit nicht den steuerrechtlichen Ausgangssachverhalt „als solchen“ um.35) Insoweit ist allein § 144 InsO die unmittelbare, konstitutiv wirkende Folgenorm, soweit es um die Anfechtungswirkungen auf Seiten des Rückgewährpflichtigen geht. Die Norm „fingiert“ allenfalls noch Teile des Ursprungszustandes, wie er ohne die anfechtbare Handlung bestanden hätte, aber real schon gar nicht mehr existiert. Ohne diese Sonderregelung gäbe es den durch Erfüllung längst untergegangenen Steueranspruch trotz Anfechtung auch weiterhin nicht. Wie der Verf. bereits an anderer Stelle36) darlegte, bildet der Anspruch aus § 144 InsO einen eigenen, isolierbaren Streitgegenstand ab.37) Er kann sich – etwa zwecks Wiederauflebens dinglicher Sicherheiten – gegen Dritte richten, wie überhaupt im Verhältnis zum Schuldner ein synallagmatisches oder sonstiges rechtliches Band gerade nicht unmittelbar massebelastend wiederhergestellt wird. Der Anspruch des Anfechtungsgegners ist, sofern er – wie hier – gemäß §§ 144 Abs. 2 Satz 2, 38 InsO den Rang einer Insolvenzforderung erhält, (a) im Verhältnis zum Schuldner allein zur Tabelle anmeldefähig und (b) gegenüber dem Insolvenzverwalter nicht einmal aufrechenbar oder sonstiger Zurückbehaltung unterworfen. Damit wir uns nicht missverstehen: „Gegenleistung“ i. S. des § 144 Abs. 2 Satz 1 InsO meint gerade nicht das nach Anfechtung Zurückgewährte, sondern allein dasjenige, was zur ursprünglichen Leistung des Schuldners korrespondierend im Gegenzug (also vorinsolvenzlich) in sein Vermögen floss und dort später noch unterscheidbar vorhanden blieb. Letzteres mag hier und da nach einem synallagmatischen Leistungsaustausch unter Vertragspartnern tatsächlich noch der Fall sein, betrifft aber Steuerschuldverhältnisse in aller Regel nicht – hier findet typischerweise schon gar kein wechselseitiger Leistungsaustausch statt. § 144 InsO ist, was die Massekonsistenz und die Rechte des Anfechtungsgegners betrifft, eine „abschließende“ Regelung. Da lässt sich nichts mehr 35) 36) 37)

Ausführlich Ries, ZInsO 2012, 1751, 1754 re. Sp., 1755 f. Ries, ZInsO 2012, 1751, 1752. Vgl. Kirchhof in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 144 Rz. 7 (zu Abs. 1) und Rz. 16 (zu Abs. 2): „Danach bilden der Rückgewähranspruch der Insolvenzmasse nach § 143 einerseits und der Erstattungsanspruch des anderen Teils aus § 144 Abs. 2 nicht ein einheitliches Schuldverhältnis.“ Ebenso Hirte/Borries in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 144 Rz. 12: „Der Rückgewähranspruch und der Erstattungsanspruch bilden (…) kein einheitliches, Zug um Zug zu erfüllendes Schuldverhältnis.“

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aus dem Ursprungsverhältnis draufsatteln. Insbesondere entsteht aus diesem Anfechtungsgeschehen kein anschließend neues „Status“- bzw. „Steuerrechtsverhältnis“. Der Gesetzgeber38) hat ausdrücklich den Umfang des Anspruchs auf Rückgewähr so bestimmt, dass der Anfechtungsgegner alles zur Insolvenzmasse zurückgewähren muss, was dem Vermögen des Schuldners durch die anfechtbare Rechtshandlung abhanden kam. Durch diese Art der „Rückgewähr” wird die Insolvenzmasse in die Lage zurückversetzt, in der sie sich befände, wenn die anfechtbare Rechtshandlung unterblieben wäre. Damit war eines ganz sicher(!) ausgesagt: Was durch Anfechtung zu Zwecken der Verteilung an die Gemeinschaft in die Masse zurückzuholen ist, fließt niemals als durch die Anfechtung selbst begründete Masseschuld an jenen Einzelgläubiger sogleich wieder zurück. Aus dem Vorgesagten heraus ist somit genauso falsch die Ansicht eines anderen, nämlich des III. Senats des Bundesfinanzhofes,39) der Anfechtungserlös aus Rückzahlungen Dritter sei nunmehr seinerseits ertragsteuerlich (zur ESt, GewSt usw.) neu zu veranlagen. Die Anfechtung ist nicht im eigentlichen Sinne eine förmliche „Umkehrung“ von früheren, in sich als Lebenssachverhalt schon abgeschlossenen und real getätigten Betriebsausgaben (siehe oben zu BGHZ 114, 315), sondern ein insolvenzverteilungspezifischer Rechtsakt „sui generis“. Sie bedeutet a priori schon kein unternehmerisches Handeln des Schuldners selbst; denn er besaß nie eine eigene Anfechtungskompetenz. Der vorinsolvenzlichen Ausgangsleistung an den Anfechtungsgegner (meist ein Lieferant) haftete zur Deckung des Steueranspruches auch keinerlei dingliche Sicherheit zugunsten der Finanzverwaltung an. Damit fließt nach den klaren Zielvorgaben von § 144 InsO (nur vorinsolvenzlich verbunden gewesene „Sicherungsrechte“ leben jenseits eines Ranges von § 38 InsO vollwertig auf)40) der Anfechtungserlös unverkürz- und unbelastbar der Verteilungsmasse für alle Gläubiger zu. Demgegenüber verbiegt der Bundesfinanzhof den Willen des Gesetzgebers und schlägt mit der Axt einen Keil in die InsO, wenn er jetzt § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO dennoch eine gegenteilige Wirkungsweise, also quasi der InsO einen Widerspruch in sich unterstellt, sei es nun mit oder ohne die per se fehlgeleitete (siehe oben) Bezugnahme auf § 17 Abs. 2 Nr. 1, 38) 39) 40)

Begr. RegE InsO, BT-Drucks 12/2443, S. 167 f. (zu Entw. §§ 162 f.). BFH, Beschl. v. 31.10.2018 – III B 77/18, ZIP 2019, 133 – zur Einkommensteuer. Vgl. Kirchhof in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 144 Rz. 10 f.; Hirte/Borries in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 143 Rz. 3a, 7; Thole in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 144 Rz. 3 – nur Wiederherstellung eines Zustandes in den Rechtskategorien, wie er ohne die angefochtenen Rechtshandlung bestanden hätte.

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Abs. 1 Satz 2 UStG. Um es ganz deutlich zu sagen: Die Anfechtung, deren „Erklärung“ keine eigene „Gestaltungswirkung“ besitzt, sondern nur Ausprägung einer Anspruchsgeltendmachung ist,41) erweist sich natürlich nicht als Rechtshandlung des Verwalters i. S. von § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO, sondern als außerhalb dessen stehendes eigenes Rechtsinstitut.42) Wäre es anders, stünden nicht nur ganz allgemein der sehr viel speziellere Telos von § 144 InsO sowie derjenige von § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO in unauflösbarem Widerspruch zueinander, sondern es wären z. B. gleichermaßen alle Rückgewährschuldverhältnisse zivilrechtlicher Natur betroffen. Die Begründung einer Rückgewährpflicht durch Anfechtung würde dann stets gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO (konstitutiv) eine „neue“, sich selbst aushöhlende Rangordnung schaffen. Bei allem Verständnis: Das kann man dem Gesetzgeber der InsO nach allem Vorgesagten nicht einmal ansatzweise als Normziel unterstellen. Der Bundesfinanzhof bewegt sich hier ergebnisbesessen jenseits aller Grenzen von Art. 20 Abs. 3 GG. V. Die Frage nach dem „Warum“ der zitierten Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes Das zuletzt Gesagte, nämlich die ergebnisorientierte Hinwendung der Rechtsprechung zur „Steuerverwirklichung trotz Insolvenz“, geschieht leider nicht zum ersten Mal. An dieser Stelle (aus einer sehr viel größeren Vielzahl von Entscheidungen) sei nur an folgende drei Beispiele erinnert: –

Lange Zeit hielt die Rechtsprechung beharrlich daran fest, durch Anordnung der schwachen vorläufigen Insolvenzverwaltung (§ 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO) werde die umsatzsteuerliche „Organschaft“ nicht beendet.43) Dahinter stand u. a. der Gedanke, nicht stets habe eine materielle und ggf. formelle Insolvenz der Organgesellschaft auch eine solche des Trägerunternehmens zur Folge. Und wenn doch, gehe

41)

Stellvertretend Ries, ZInsO 2012, 1751 (Ziff. 2), 1752 li. Sp.; Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 143 Rz. 2. Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, Vor § 129 Rz. 37 – Rechtsinstitut eigener Art; ebenso Thole in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 129 Rz. 85, 89 f.; Bork in: Kübler/ Prütting/Bork, InsO, 50. EL 9/2012, Vor § 129 Rz. 3 ff. – zwingendes, in sich abschließend geregeltes Recht; Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 129 Rz. 4 ff. – Anspruch schon kraft Gesetzes; keine Rechtsgestaltung durch Verwaltererklärung. So zuletzt noch BFH, Urt. 14.3.2012 – XI R 28/09, BFH/NV 2012, 1493 – fortbestehende Organschaft bis zur Insolvenzeröffnung; zuvor bspw. BFH, Urt. v. 22.10.2009 – V R 14/08, Rz. 35 f., ZIP 2010, 383.

42)

43)

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diejenige der operativen Gesellschaft meist zeitlich voraus. Zumindest bis dahin könne das Trägerunternehmen noch Steuern abführen, und das Finanzamt falle nicht bei der Organgesellschaft allzu früh in den nachteiligen Rang des § 38 InsO zurück. Dann begriff man jedoch die Wirkungsweise des mit dem HBeglG 2011 neu geschaffenen § 55 Abs. 4 InsO, wonach die Organgesellschaft neuerdings – unterstellt, sie wird selbst Steuerschuldner – eine Masseverbindlichkeit schulden würde, man also nicht einmal mehr das Risiko einer zeitgleichen oder vielleicht späteren Insolvenz des Trägerunternehmens laufen muss.44) Denn dort könnte das Finanzamt später auch nur eine Insolvenzforderung zur Tabelle anmelden, weil auf das Trägerunternehmen § 55 Abs. 4 InsO bekanntlich nicht passt (dort war man operativ/produktiv gar nicht tätig, d. h. man hat in ihm selbst keine unmittelbar privilegierbare Ausgangslieferung/-leistung erzeugt), Und siehe da: Obwohl weder § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG noch § 21 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 InsO geändert wurden, also die gesetzlichen Beurteilungsgrundlagen identisch geblieben waren(!), änderte sich gleichwohl die Rechtsprechung45) hin zur Begründung von Masseschulden in der Organgesellschaft. Jetzt zählte alles früher so nachdrücklich zu Einfluss- und Eingliederungsfragen Gesagte nichts mehr. Die Organschaft fand jetzt schon mit Anordnung der vorläufigen Verwaltung ihr Ende, weil der Einfluss des vorläufigen Verwalters doch stärker sei als ursprünglich angenommen.46) Da hat es dann wieder gepasst. –

Für Fälle dinglicher Absonderung von Verwertungserlösen galt seit dem Urteil des Bundesfinanzhofes vom 29. März 198447) viele Jahre der sachgerechte Grundsatz, die Masse schulde Einkommen- bzw. Körperschaftsteuer nur auf den ihr selbst zufließenden freien (Überschuss-

44)

Zum Zusatzrisiko späterer Insolvenzanfechtung in Organschaftsfällen BGH, Urt. v. 19.1.2012 – IX ZR 2/11, ZIP 2012, 280; vgl. auch BGH, Urt. 29.9.2011 – IX ZR 202/10, ZInsO 2012, 138; demgegenüber sehr viel zurückhaltender BFH, Urt. v. 23.9.2009 – VII R 43/08, ZIP 2009, 2455. Siehe nunmehr BFH, Urt. v. 8.8.2013 – V R 18/13, ZIP 2013, 1773. Zur Klarstellung: Für Letzteres gab es aus Sicht des Verf. schon lange vor Inkrafttreten des § 55 Abs. 4 InsO die besseren Argumente. Was die Sache eigentlich schlimm macht, ist der Umstand, dass man aber trotzdem vorher (wenig überzeugend) an dem Konstrukt noch so lange Zeit festhielt; diese (falsche) Rechtsprechung änderte sich erst, als dem Senat die Steuerverwirklichung anderweitig gesichert schien. BFH, Urt. v. 29.3.1984 – IV R 271/83, NJW 1985, 511; weitgehend identisch mit dem in ZIP 1984, 853 abgedruckten Vorbescheid (BFH, Vorbescheid v. 28.3.1984 – IV R 271/83).

45) 46)

47)

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bzw. Regiekosten-)Teil des Erlöses. Anderenfalls – so eines der nachvollziehbaren Argumente – könne wegen der bürgerlich-rechtlichen Verpflichtung zur Absonderung des Bruttobetrages die steuerliche Vorwegbelastung der Masse sogar größer sein als deren Zuwachs aus dem Veräußerungsgeschäft, also den ungesicherten Gläubigern größerer Schaden erwachsen und hierdurch die „Ordnungsfunktion“ des Verfahrens beeinträchtigt werden. Denn wo die Dinge finanziell rückwärts laufen, muss der Verwalter sich tunlichst heraushalten und den Massegegenstand ggf. vorab freigeben. Mit Urteil vom 16. Mai 201348) dreht sich – anlässlich der Insolvenz einer natürlichen Person – die Betrachtung plötzlich in eine neue, ganz eigenartige Richtung: Demnach würde die restliche Steuerforderung, hielte man an der alten Rechtsprechung von 1984 fest, unter Geltung der InsO nunmehr als Forderung gegen das insolvenzfreie Vermögen zu qualifizieren sein. Damit würde sie aber nach Ansicht des Bundesfinanzhofes am Restschuldbefreiungsverfahren (§§ 286 ff. InsO) nicht teilnehmen können, weil sie nicht gegenüber einem Insolvenzgläubiger bestehe.49) Auch könne der Schuldner sich von dieser Forderung gegen das insolvenzfreie Vermögen nicht durch ein zweites Insolvenz- und anschließendes Restschuldbefreiungsverfahren befreien, da der Bundesgerichtshof50) außerhalb der besonderen gewerblichen Freigabekonstellation des § 35 Abs. 2 InsO kein zweites Insolvenzverfahrens zulasse. Allein: Diese Aspekte sind überhaupt nicht neu, wo es doch schon nach den Altregeln der KO nie anders war, weil es damals mangels entsprechendem Instrumentarium gar keine Restschuldbefreiung gab. Und man fragt sich außerdem, wo hier ein ernsthaftes Bemühen des Bundesfinanzhofes erkennbar wird, die neuen Restschuldbefreiungsregeln sachgerecht auf Neuverbindlichkeiten zu erstrecken, die der

48) 49)

50)

BFH, Urt. v. 16.5.2013 – IV R 23/11, ZIP 2013, 1481. In dieser Richtung jetzt auch BFH, Urt. v. 28.11.2017 – VII R 1/16, ZIP 2018, 593 = ZInsO 2019, 10. Der BGH, Urt. 28.6.2007 – IX ZR 73/06, Rz. 16, ZInsO 2007, 994, hatte die Frage leider seinerzeit offengelassen. Vgl. BGH, Beschl. v. 18.5.2004 – IX ZB 189/03, ZInsO 2004, 739; BGH, Beschl. v. 3.7.2008 – IX ZB 182/07, ZIP 2008, 1976; BGH, Beschl. v. 9.6.2011 – IX ZB 175/10, Rz. 6, ZIP 2011, 1326.

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Schuldner nicht einmal selbst begründet hat.51) Und weshalb soll dieser Argumentationsstrang auch gegenüber der Mehrzahl von Fällen ziehen, die juristische Personen betreffen, welche gar keinen Restschuldbefreiungsantrag stellen können? Die dahinter stehende These, die Masse müsse schon deshalb quasi subsidiär haften (oder um im Thema zu bleiben: die Gemeinschaft der ungesicherten Gläubiger müsse mit ihrer Verteilungsmasse i. S. der §§ 187 ff. InsO schon deshalb vorweg für Absonderungserlöszahlungen an dinglich Bevorrechtigte bluten), weil man das Problem anderenfalls auf der persönlichen Ebene des Schuldners nicht in den Griff bekomme, kann nicht wirklich überzeugen. Auch wenn es dem Bundesfinanzhof schwer vorstellbar erscheint: Nach wie vor sprechen die besseren Argumente dafür, dass es – gerade wegen der Restschuldbefreiung – Neuverbindlichkeiten gibt, für die weder die insolvenzbeschlagene Masse noch – nach Erteilung der Restschuldbefreiung – der Schuldner persönlich haftet.52) –

Soweit ein Schuldner schon zu Beginn des Veranlagungsjahres den vollen Betrag der Kfz-Steuer vorausbezahlt hat, denkt der verständige Laie, damit sei für diesen Zeitraum alles erledigt. Ein einziger Schuldner – ein einziger Rechtsträger – in diesem Sinne auch derselbe Fahrzeughalter. Stattdessen meint der II. Senat des Bundesfinanzhofes, es sei erforderlich, die Steuer für die Zeit nach Insolvenzeröffnung bis zur Abmeldung oder Freigabe in entsprechender Anwendung von § 12 Abs. 3 KraftStG gegen den Insolvenzverwalter neu festzusetzen. Das folge – so die unspezifizierte These – aus dem Vorrang der InsO, wobei bis heute unklar blieb, welche insolvenzrechtliche Regel damit

51)

Dazu Ries, Der „vorläufige Insolvenzverwalter“ nach § 21 Abs. 2 Nr. 2, 2. Alt. InsO, ZInsO 2013, 1612, 1613 re. Sp.; Ries in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 38 Rz. 17 a. E. Vgl. ferner die Effektivitätsziele der neuen Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz), etwa in ErwG 15 und 75 – Zweite Chance für Unternehmer nach vollständiger Entschuldung. Siehe dazu ein vergleichbares Szenario für neue Hausgeldschulden nach WEG bei Ries in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 38 Rz. 17 a. E.

52)

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gemeint sein soll. Der VII. Senat greift das sodann auf53) mit dem Hinweis, ab Insolvenzeröffnung seien zwei, bei Freigabe von Vermögensgegenständen aus der Insolvenzmasse sogar drei Vermögensmassen zu unterscheiden. Bei objektbezogenen Steuern wie der Kfz-Steuer sei die Steuerschuld daher derjenigen Vermögensmasse zuzuordnen, zu welcher das Objekt gehöre. Angenehmer Effekt zugunsten des Fiskus: Er kassiert für die Zeit nach der Insolvenzeröffnung bis zum Ende des Veranlagungszeitraumes gleich zweimal; denn gegen den Erstattungsanspruch aus der Erstzahlung des Schuldners rechnet er typischerweise mit anderen Steuer(insolvenz)forderungen auf. Allein: Diese Art verselbständigter „Vermögensmassen“ entsprang freier Rechtsschöpfung – jenseits aller gesetzlichen Statuarien. Die In53)

Vgl. BFH, Beschl. v. 26.11.2013 – VII B 243/12, Rz. 13, ZIP 2014, 979. Bezeichnenderweise verneint der Senat auch das Aufrechnungsverbot von § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO (aaO. Rz. 17), indem er die Funktionalität des § 95 Abs. 1 Satz 1 InsO fehldeutet. Letzterer schützt der Sache nach „Aufrechnungsanwartschaften“, deren Rechtsboden zum Zeitpunkt der Verfahrenseröffnung bereits greifbar gelegt ist. Dann soll deren „Vollendung“ nicht mehr durch den Eintritt der Insolvenz behindert werden, d. h. die Aufrechnungschancen sollen dieses Ereignis „überdauern“ und sich ungeachtet dessen noch endgültig verwirklichen können. Im Vordergrund stehen dabei Haupt- oder Gegenforderungen, deren mehraktiges Entstehen noch von sonstigen Bedingungen abhängt, die die jeweiligen Anspruchsgegner nicht mehr beeinflussen können. Völlig anders gelagert und keinesfalls ausreichend(!) ist es jedoch, wenn erst die Insolvenzeröffnung (als „conditio sine qua non“) für sich genommen einen – wie es der BFH meint – sphärisch neuen „Zuordnungsbedarf“ erzeugt, den es ohne Insolvenz zu diesem Zeitpunkt nicht gäbe. Die vorzeitige Durchsetzbarkeit (= besondere Rechtsfolge) des Erstattungsanspruches der Masse geschähe dann – worauf spezifisch § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO abzielt – rein „insolvenzbedingt“; die Insolvenzeröffnung selbst ist deshalb nie geeignete „Bedingung“ i. S. von § 95 Abs. 1 Satz 1 InsO. Davon abgesehen wäre der Anspruch auch rechnerisch ganz anders als im Normalfall einer Jahresabrechnung (ohne Insolvenz) zu ermitteln. Verlagert man stattdessen – entgegen der Ansicht des Verf. – mit dem VII. Senat den Erstattungsanspruch auf die vorinsolvenzliche Ebene zurück, greift regelmäßig § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO ein, zeigen doch die Insolvenzgerichte gemäß Abschn. IX Ziff. 1 Abs. 3 Nr. 5 MiZi amtswegig die Anordnung von Sicherungsmaßnahmen den Finanzämtern sofort an. Dann ist zum Zeitpunkt des (vermeintlichen) Entstehens des Erstattungsanspruches in aller Regel kein guter Glaube i. S. des § 130 InsO mehr vorhanden. Für § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO genügt, dass auch nur eine der beiderseitigen Forderungen (egal welche, sei es aktiv oder passiv) in die kritische Phase fällt. Auf ein weitergehendes rechtliches „Handeln“ (i. S. eines „Zustandebringens“ der bilateralen Forderungen) kommt es hierbei nicht an. Es geht allein um die „Aufrechnungsverknüpfung“ als solche, also die Frage, ob die Finanzverwaltung im Moment erstmaligen aufrechenbaren Gegenüberstehens von Aktiv- und Passivanspruch zur Absicherung eigener Rechts noch insolvenzfest ein neues „Pfand“ erwerben konnte (vgl. Ries, EWiR 2016, 81, 82 [Urteilsanm.]). Wie man es auch dreht und wendet: Eine Aufrechnung des Finanzamtes gegen Altforderungen ist hier unzulässig.

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solvenzmasse ist kein eigener „Rechtsträger“ und kein eigenständiges Steuersubjekt. Allenfalls umgekehrt wird ein Schuh daraus: Wenn steuerrechtlich feststeht, dass der Schuldner als Fahrzeughalter und Rechtsträger zahlen muss, beantwortet die InsO die Frage, aus welchem Portemonnaie – über die Tabelle, direkt aus der Masse oder insolvenzfrei vom Schuldner persönlich. Die Kritik von Sinz54) an dieser Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes lässt an Klarheit und Deutlichkeit nichts vermissen; darauf sei hier stellvertretend verwiesen. Sind „Steuerrechtler“ von Natur aus so ganz anders; in einem eher falschen Selbstverständnis als Gralshüter der Staatskasse? Wie staatsnah darf man als Richter überhaupt sein? Nützt oder schadet eine vorhergehende Laufbahn in der Steuerverwaltung oder ministerielle Nähe der richterlichen „Neutralitätsverpflichtung“? Fragen über Fragen, die man eigentlich im Vertrauen auf die Rechtsstaatlichkeit nie stellen möchte, die sich aber nun zunehmend stärker aufdrängen. Einheitlichkeit der Rechtsordnung und der Rechtsprechung – nur noch geflügelte Worte ohne echte Basis? Es geht dem Verf. – wohl gemerkt – mit solchen Beispielen nicht um die Frage, ob der eine oder andere konzeptionelle Ansatz des Bundesfinanzhofes vielleicht sogar richtig oder wenigstens dogmatisch konsequent erschiene, hätte ihn der Gesetzgeber für sich so niedergelegt.55) Hat er aber nicht. Wie der historische Werdegang der InsO unmissverständlich zeigt, wollte er derartige Masse(zusatz)belastungen gerade verhindern. Wenn nun jedoch Richter beginnen, stattdessen eigene Ansichten und Überzeugungen an die Stelle des Gesetzgebers zu setzen und dessen Willen zurückzudrängen, schadet das dem Ansehen des Rechtsstaates. Die Finanzgerichtsbarkeit hat „neutral“ zu bleiben. Sie darf sich weder selbst, wo die (insolvenz)gesetzliche Grundlage fehlt, zu einem einseitig interessengeprägten Steuereintreiber für den Staat machen, noch hat sie dies anderen aufzugeben, welche eben derselbe Staat als besondere Amtsträger56) gerade 54)

55)

56)

Sinz in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 95 Rz. 34; zuvor bereits Ries, Kraftfahrzeugsteuer als Masseverbindlichkeit auch bei Freigabeerklärung, NZI 2010, 498 (krit. Anm. zu BFH II B 172/09). Insofern schon „de lege lata“ vermittelnd Ries, ZInsO 2007, 650; Ries, § 13b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG – Ende aller Diskussion(! ?), ZInsO 2010, 689, sowie „de lege ferenda“ Ries, NZI-Gastkommentar Heft 19/2010, V., VI. Der „Insolvenzverwalter“ ist, wie auch der frühere Verfassungsrichter Udo di Fabio anlässlich einer Zusammenkunft beim 14. DJT 2017 in Berlin bestätigte, ein öffentlichrechtlich „Beliehener“; dazu Ries in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 56 Rz. 6; in den Details näher ausgeführt Ries, ZInsO 2013, 1612, 1617 f.

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mit einer gegenteiligen Zielsetzung inauguriert, nämlich dazu beauftragt hat, mit möglichst geringem finanziellem Aufwand Ordnung zu schaffen. Hierbei sei schwerpunktmäßig insolvenzrechtliche Verteilungsmasse nicht nur für die Gläubigergemeinschaft zu sichern, sondern diese sei außerdem optimal (i. S. von „bestmöglich“) anzureichern.57) Es bleibt dabei: Nach der bisherigen gesetzgeberischen Konzeption der InsO ist auch die vereinnahmte Umsatzsteuer zunächst freier Bestandteil der Insolvenzmasse und kein lediglich absonderungsgleich durchlaufender Posten.58) Der Gesetzgeber ist stark und mächtig genug, sich selbst ausreichend zu schützen, falls er seine Interessen gefährdet sieht. Wo er dies nicht tut, haben sich auch seine Rechtsprechungsorgane zurückzuhalten. Der Gesetzgeber hat andererseits dort, wo er die Einzelvollstreckung Privater beschränkt, diesen59) anstelle dessen ein wirklich effektives Gesamtvollstreckungsverfahren zu gewährleisten (Art. 14, 19 Abs. 4 GG)60); unter Zurückstellung eigener Sonderinteressen. Und der verständige Leser weiß zudem, wohin die Richtung eigentlich geht, wenn eine europäische Richtlinie inzwischen der einzelstaatlichen Gesetzgebung vorgibt, Bürgern und Unternehmern eine zweite Chance einzuräumen. Da soll eine vollständige Restschuldbefreiung ganz gewiss nicht an vermeintlich überhängenden Masseschulden scheitern. Was so erschreckt ist die Tatsache, mit welchem Eifer und mit welch‘ dogmatisch zweifelhaften Begründungssträngen dennoch in der Finanzgerichtsbarkeit so häufig Wege gesucht werden, fundamentale Grundprinzipien der InsO auszuhebeln. Damit verstößt man zugleich gegen die verfassungsrechtlichen Gebote zur Wahrung einer Einheitlichkeit der Rechtsordnung und der Rechtsprechung. Vielleicht hilft dagegen am Ende tatsächlich nur der Gang eines Beteiligten zum Bundesverfassungsgericht(?). Das wäre sehr zu bedauern.

57)

58) 59) 60)

Siehe zum Gebot „optimaler“ Gläubigerbefriedigung BVerfG, Beschl. v. 23.5.2006 – 1 BvR 2530/04, Rz. 34, ZIP 2006, 1355; BVerfG, Beschl. v. 12.1.2016 – 1 BvR 3102/13, Rz. 43, ZIP 2016, 321 = ZInsO 2016, 383; Ries, Der „Eigenverwalter“ – ein Organ der Rechtspflege, in: FS Pannen, 2017, S. 667, 668. Stellvertretend BGH, Beschl. v. 14.10.2010 – IX ZB 224/08, ZIP 2010, 2252, dazu Ries, EWiR 2011, 59 (Urteilsanm.). Und zwar allen „gemeinsam“, nicht nur der Finanzverwaltung allein. Dazu stellvertretend die in Fn. 57 angegebenen Fundstellen; ferner Ries in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 56 Rz. 35, 43, § 59 Rz. 4.

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VI. Rechtswegfragen Der IX. Zivilsenat hat stets die soeben besprochene Neutralität bewiesen; sich auch in den Schnittstellen zu anderen Rechtsgebieten den maßgeblichen Grundsatzfragen gestellt. Dazu hat er den Willen des (InsO-)Gesetzgebers weitestgehend umgesetzt. Dafür sei auch dem Jubilar, der dem Senat bereits seit mehr als 18 Jahren angehört, an dieser Stelle besonders herzlich gedankt. Der Verf. tritt schon lange für eine stärkere Vereinheitlichung des Rechtsweges bei Insolvenzsachen ein, auch für den Mut, den jeweiligen multipolaren (Vollstreckungs-)Rechtsbeziehungen bei Insolvenz eine im Wortgebrauch deutlichere Kontur zu geben – mit der jeweiligen Kennzeichnung als „Insolvenzrechtsverhältnis“.61) An diesen Stellen gibt es sicherlich noch Anlass und Gelegenheit auch für den IX. Zivilsenat, weiter nachzusteuern. Und der Gesetzgeber wäre gut beraten, diesen Gesichtspunkten zur Wahrung der Einheit der Rechtsordnung und Einheitlichkeit der Rechtsprechung mehr Rechnung zu tragen. Nach Ansicht des Verf. gehören alle wesentlichen Streitfragen aus Insolvenzrechtsverhältnissen durch Rechtswegkonzentration vor die Zivilgerichte. Zur „Gleichbehandlung“ aller Gläubiger gehört es nun einmal, stets alle Gesamtinteressen einheitlich in den Blick zu nehmen. Fachgerichtlich zu dicht an Einzelinteressen orientierte Entscheidungen untergraben ansonsten – auf lange Sicht betrachtet – das ganzheitliche Konzept einer „par condicio creditorum“ fundamental.

61)

Ries in: FS Runkel, 2009, S. 93, 111 ff.; Ries, ZInsO 2012, 1751, 1753 li. Sp. und 1754 f.

Der unparteiliche Richter in der juristischen Fachwelt INGO SAENGER Inhaltsübersicht I. II. III. IV.

Einführung Besorgnis der Befangenheit Systematik der Befangenheitsgründe Begründet die Zugehörigkeit zur Fachwelt Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters? 1. Äußerung von Rechtsansichten 2. Formen der Kooperation in und mit der Fachwelt a) Beteiligung an Tagungsveranstaltungen

V.

b) Fachpublizistische Tätigkeit aa) Mitautorenschaft bb) Beteiligung an Sammelwerken cc) Beteiligung an Festschriften dd) Mitherausgabe von Festschriften Resümee

I. Einführung Das Recht auf den gesetzlichen Richter findet seine Grundlage nicht allein in § 16 Satz 2 GVG, sondern hat mit Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG Verfassungsrang. Ein faires Verfahren, wie Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 GG es vorzeichnen, vermag freilich nur ein unabhängiger und zugleich unparteilicher Richter zu gewährleisten, was auch völkerrechtlich in Art. 6 Nr. 1 EMRK anerkannt ist. Deshalb kann ein Richter von den Prozessparteien, auch ohne dass ein gesetzlicher Ausschlussgrund (§ 41 ZPO) vorliegt, nach § 42 Abs. 2 ZPO „wegen Besorgnis der Befangenheit“ abgelehnt werden. Gründe, die eine solche Besorgnis zu rechtfertigen vermögen, sind vielfältig. Die umfangreiche Kommentarliteratur sowie eine facettenreiche Judikatur belegen dies eindrucksvoll. In jüngerer Zeit hatte der Bundesgerichtshof mehrfach Gelegenheit, sich mit der Frage zu befassen, ob es Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit rechtfertigt, wenn sich ein Richter in der juristischen „Fachwelt“ bewegt. Die entschiedenen Fälle betrafen die Beteiligung an der Fachdiskussion in Wort und Schrift. Sachlich war die Kundgabe von Meinungen zu bewerten, persönlich die Intensität der Beziehungen zu anderen Personen, die sich – vor allem auf spezialisierten Rechtsgebieten – in der „Szene“ bewegen, begegnen und, was unvermeidbar ist, einander bekannt sind.

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Dem Thema soll in drei Schritten auf den Grund gegangen werden. Nach einem Blick auf die Beurteilungsmaßstäbe für die Besorgnis einer Befangenheit (II.) und die Systematik der Befangenheitsgründe (III.) steht die eigentliche Frage im Mittelpunkt, ob die Zugehörigkeit zur Fachwelt Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters und damit möglicherweise seine Befangenheit zu begründen vermag (IV.). Am Ende steht, welche Schlüsse aus den Überlegungen gezogen werden können (V.). II. Besorgnis der Befangenheit Bekanntlich unterscheidet das Gesetz in §§ 41, 42 ZPO zwischen Ausschluss und Ablehnung des Richters. Beide Vorschriften gewährleisten dessen Unparteilichkeit. So soll der Gefahr unsachlicher Beweggründe bei der Rechtsprechung begegnet werden.1) Das Vorliegen der in § 41 ZPO abschließend geregelt gesetzlichen Ausschlussgründe – die dort genannten objektiven Kriterien lassen sich vor allem in personen- bzw. familienbezogene Gründe und Ausschlussgründe wegen Sachnähe oder Vorbefassung gliedern2) – begründet eine unwiderlegliche Vermutung der Befangenheit und ist von Amts wegen zu berücksichtigen.3) Darüber hinaus sind weitere Befangenheitsgründe unbeachtlich, solange sie nicht mit einem Ablehnungsgesuch geltend gemacht werden.4) Welche auf äußeren Tatsachen beruhenden5) Gründe hierfür in Betracht kommen können und wie sich diese systematisieren lassen, wird darzustellen sein. Zuvor ist aber der Dreh- und Angelpunkt für die Annahme der Befangenheit zu benennen: Dies ist, wie dem Wortlaut des § 42 Abs. 2 ZPO zu entnehmen ist, ein „Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters“. Es kommt nicht darauf an, ob der Richter tatsächlich befangen ist.6) Entscheidend ist allein, ob ein am Verfahren Beteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass hat, an der Unvoreingenommenheit und objektiven Einstellung des Richters zu zweifeln.7) Der gesetzliche Richter muss also so-

1) 2) 3) 4) 5) 6) 7)

Bork in: Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2014, § 42 Rz. 2. Bendtsen in: Saenger, Hk-ZPO, 8. Aufl. 2019, § 41 Rz. 7. Stackmann in: MünchKomm-ZPO, 5. Aufl. 2016, § 41 Rz. 32. Bendtsen in: Saenger, Hk-ZPO, 8. Aufl. 2019, § 41 Rz. 2. Gerken in: Wieczorek/Schütze, ZPO, 4. Aufl. 2015, § 42 Rz. 4. Bork in: Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2014, § 42 Rz. 2. BVerfG, Beschl. v. 3.3.1966 – 2 BvE 2/64, NJW 1966, 923; BGH, Beschl. v. 15.3.2012 – V ZB 102/11, NJW 2012, 1890.

Der unparteiliche Richter in der juristischen Fachwelt

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wohl unparteilich sein, als auch unparteilich erscheinen.8) Für die Beurteilung kommt es damit auf die subjektive Wahrnehmung der Parteien an.9) Mit anderen Worten: Es geht um die Vermeidung des „bösen Scheins“!10) Der böse Schein ließe sich auf einfache Weise ausräumen, gäbe man in Fällen geäußerten Misstrauens einem Ablehnungsantrag sogleich statt. Dies wird aber von niemandem befürwortet, obgleich die Unparteilichkeit des Richters und auch das Vertrauen der Parteien darauf wertvolle Güter sind.11) Allenfalls wird vorgeschlagen, den Richter „im Zweifel“ für befangen zu erklären.12) Dass sich das Problem nicht so einfach lösen lässt, folgt schon daraus, dass ein rechtsstaatliches Verfahren nicht allein den Interessen einer Partei Rechnung tragen kann. Umso niedriger die Schwelle für die Annahme einer Besorgnis der Befangenheit gelegt würde, desto einfacher wäre es, einen Richter erfolgreich abzulehnen. Damit wäre zum einen das Prinzip des gesetzlichen Richters in Frage gestellt.13) Soweit die Befangenheit mit einem Verhalten des Richters begründet wird, könnte zudem die richterliche Unabhängigkeit beeinträchtigt sein.14) Jedes Befangenheitsgesuch unkritisch für begründet zu erklären, würde aber auch die Interessen der gegnerischen Partei berühren. Diese müsste jedenfalls, auch wenn die Richterablehnung nicht allein zum Zweck der Prozessverschleppung und damit missbräuchlich erfolgt,15) die Konsequenzen der Verzögerung des Verfahrens tragen. Auch wenn Unparteilichkeit die Grundlage von Legitimität und Autorität des Richterspruchs ist, vermag deshalb nicht jedes „Misstrauen“ einen Ablehnungsgrund zu rechtfertigen, ohne das rechtsstaatliche Verfahren insgesamt in Frage zu stellen.16) § 42 Abs. 2 ZPO verlangt folglich darüber hinaus das Vorliegen eines „geeigneten Grundes“ für ein Misstrauen gegen die Unpar8) 9) 10)

11) 12) 13) 14) 15)

16)

BVerfG, Beschl. v. 18.6.2003 – 2 BvR 383/03, NJW 2003, 3404, 3406; Vollkommer in: Zöller, ZPO, 32. Aufl. 2018, § 42 Rz. 9. Gerken in: Wieczorek/Schütze, ZPO, 4. Aufl. 2015, § 42 Rz. 5. BVerfG, Beschl. v. 18.6.2003 – 2 BvR 383/03, NJW 2003, 3404, 3406; BGH, Beschl. v. 15.3.2012 – V ZB 102/11, NJW 2012, 1890; Vollkommer in: Zöller, ZPO, 32. Aufl. 2018, § 42 Rz. 8. Dazu auch Bork in: Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2014, § 42 Rz. 2. Bendtsen in: Saenger, Hk-ZPO, 8. Aufl. 2019, § 41 Rz. 12. Bork in: Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2014, § 42 Rz. 2. Bork in: Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2014, § 42 Rz. 2. Zum Missbrauch des Ablehnungsrechts Bendtsen in: Saenger, Hk-ZPO, 8. Aufl. 2019, § 42 Rz. 7; Bork in: Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2014, § 42 Rz. 17; Ghassemi-Tabar/ Nober, Die Richterablehnung im Zivilprozess, NJW 2013, 3686. Zu taktischen Ablehnungsgesuchen Windau, Taktische Ablehnungsgesuche und das Recht auf den gesetzlichen Richter, NJW 2018, 3206. Stackmann in: MünchKomm-ZPO, 5. Aufl. 2016, § 42 Rz. 4.

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teilichkeit. Dies mag eine höhere Schwelle darstellen als die bloßen „berechtigten Zweifel“, die § 1036 Abs. 2 Satz 1 ZPO als Voraussetzung für die Ablehnung von Schiedsrichtern nennt.17) Indes können in Schiedsverfahren18) ad-hoc-Gerichte zum Einsatz kommen und werden die Richter nicht wie im Prozess vor staatlichen Gerichten aufgrund von Geschäftsverteilungsplänen nach objektiven Kriterien bestimmt.19) Weil Schiedsgerichte nicht nach dem „Zufallsprinzip“ zusammengestellt werden, wird man über bloße Zweifel an der Unparteilichkeit ihrer Mitglieder nicht ohne Weiteres hinweggehen können. Gleichwohl haben die Parteien auch dort Anspruch darauf, vor einem Näheverhältnis des Richters zu einem Beteiligten bewahrt zu werden. Man kommt also nicht umhin, zwischen berechtigter und unberechtigter Besorgnis zu unterscheiden. Dem Ziel der Vermeidung des bösen Scheins kann dabei nur gerecht werden, wer ein subjektives Misstrauen aus der Perspektive der den Richter ablehnenden konkreten Partei und nicht nach den Vorstellungen des Gerichts erdachten „Idealpartei“ beurteilt.20) Vom Standpunkt des Ablehnenden aus müssen objektiv vernünftige Gründe vorliegen, die in den Augen eines vernunftgemäß denkenden Menschen in gleicher Lage geeignet sind, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu erregen.21) Und dies erfordert eine nähere Befassung mit der Systematik möglicher Befangenheitsgründe. III. Systematik der Befangenheitsgründe Die nahezu unüberschaubare, vor allem obergerichtliche Judikatur wird inzwischen nach Fallgruppen geordnet.22) Von Bedeutung sind dabei im17) 18)

19) 20)

21)

22)

Dazu nur Saenger in: Saenger, Hk-ZPO, 8. Aufl. 2019, § 1036 Rz. 7 ff. Zu den Besonderheiten in einem solchen Verfahren Effer-Uhe, Schiedsrichterliche Unabhängigkeit bei wissenschaftlichen Äußerungen, SchiedsVZ 2018, 75, 77; Froitzheim, Schiedsrichterliche Befangenheit durch Äußerungen zu Rechtsfragen – Eine Antwort auf Effer-Uhe, SchiedsVZ 2019, 10. Wobei in gewissen Grenzen auch vor staatlichen Gerichten forum shopping möglich ist, dazu Froitzheim, SchiedsVZ 2019, 10, 11 f. Bendtsen in: Saenger, Hk-ZPO, 8. Aufl. 2019, § 42 Rz. 11; Vollkommer in: Zöller, ZPO, 32. Aufl. 2018; § 42 Rz. 9; a. A. Stackmann in: MünchKomm-ZPO, 5. Aufl. 2016, § 42 Rz. 4 – „(fiktive) Normalpartei“. BVerfG, Beschl. v. 10.5.2000 – 1 BvR 539/96, NJW 2000, 2808, 2809; BGH, Beschl. v. 20.10.2003 – II ZB 31/02, NJW 2004, 163 f.; Bendtsen in: Saenger, Hk-ZPO, 8. Aufl. 2019, § 42 Rz. 11; Bork in: Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2014, § 42 Rz. 2; Stackmann in: MünchKomm-ZPO, 5. Aufl. 2016, § 42 Rz. 4. Bendtsen in: Saenger, Hk-ZPO, 8. Aufl. 2019, § 42 Rz. 12 ff.; Stackmann in: MünchKommZPO, 5. Aufl. 2016, § 42 Rz. 7 ff.; Vollkommer in: Zöller, ZPO, 32. Aufl. 2018, § 42 Rz. 11 ff.

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mer wieder die „Beziehungen“ des Richters zu Parteien, Prozessbevollmächtigten oder auch Dritten. So hat der Bundesgerichtshof 2012 die Besorgnis der Befangenheit eines Richters bejaht, dessen Ehefrau zwar nicht als Prozessvertreterin, aber als Anwältin in der Kanzlei des gegnerischen Prozessbevollmächtigten tätig ist.23) Von praktischer Bedeutung sind weiterhin die Aspekte „Vorbefassung“ und „öffentliche Meinungsäußerung“. 2016 hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass Richter an wissenschaftlichen Tagungen teilnehmen und dort öffentlich Rechtsansichten äußern können, ohne sich dem Vorwurf der Befangenheit auszusetzen, jedenfalls wenn diese kein anhängiges Verfahren betreffen.24) 2018 hat sich das Gericht zur Befangenheitsablehnung wegen fachpublizistischer Tätigkeit von Richtern geäußert.25) Die beiden letztgenannten Entscheidungen thematisieren die seit langem „übliche und allgemein bekannt(e)“26) Beteiligung von Richtern an der Fachdiskussion in Form der Teilnahme an Tagungen und Seminaren und/oder von wissenschaftlichen Veröffentlichungen. IV. Begründet die Zugehörigkeit zur Fachwelt Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters? Niemand wird in Abrede stellen wollen, dass ein Gedankenaustausch mit der Fachwelt der Meinungsbildung von Richtern förderlich ist. Die Bewertung aus der Praxis herangetragener neuer tatsächlicher Entwicklungen und Fallgestaltungen, mit denen nicht nur Obergerichte befasst sind, erfordert Denkanstöße von außen. Dazu ist es unumgänglich, dass Richter auch ihre eigenen Überlegungen in Form von Diskussionsbeiträgen, Vorträgen und Publikationen präsentieren und zur Diskussion stellen.27) Gleichwohl ist der Richter auch als Teil der juristischen Fachwelt zu Neutralität verpflichtet. Dies gilt sowohl für Meinungsäußerungen als auch für den unvermeidlichen „Kontakt“ zu weiteren Mitgliedern der „Szene“. Damit 23) 24) 25) 26) 27)

BGH, Beschl. v. 15.3.2012 – V ZB 102/11, NJW 2012, 1890 f. – Ehegatte als Rechtsanwalt in verfahrensbeteiligter Kanzlei. BGH, Beschl. v. 13.1.2016 – VII ZR 36/14, NJW 2016, 1022, 1023 – Silikonbrustimplantate. BGH, Beschl. v. 7.11.2018 – IX ZA 16/17, NZI 2018, 998 = ZIP 2018, 2503 – fachpublizistische Tätigkeit. BGH, Beschl. v. 13.1.2016 – VII ZR 36/14, NJW 2016, 1022, 1023. BGH, Beschl. v. 13.1.2016 – VII ZR 36/14, NJW 2016, 1022, 1023; Schwab/ Hawickenbrauck, Die Ablehnung eines Richters wegen wissenschaftlicher Stellungnahmen zu entscheidungsrelevanten Rechtsfragen, JZ 2019, 77, 80.

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sind zwei Grenzen zu vermessen, nämlich die der Vorfestlegung einerseits und auch die der üblichen gesellschaftlichen, beruflichen bzw. kollegialen Beziehungen andererseits. 1. Äußerung von Rechtsansichten Dass sich ein Richter zu entscheidungsrelevanten Rechtsfragen in früheren Verfahren, in Vorträgen oder auch schriftstellerisch geäußert bzw. sonstige wissenschaftliche Stellungnahmen abgegeben hat, vermag nach allgemeiner Ansicht allein keine Ablehnung wegen Befangenheit zu begründen.28) Dies unterstreicht auch § 18 Abs. 3 Nr. 2 BVerfGG, wonach die Äußerung einer wissenschaftlichen Meinung zu einer Rechtsfrage, die für das Verfahren bedeutsam sein kann, einen Richter des Bundesverfassungsgerichts nicht von der Ausübung seines Richteramtes ausschließt. Äußert sich der Richter in zeitlichem und sachlichem Zusammenhang zu einem konkreten Verfahren, kann die Gesamtschau zu einer anderen Bewertung führen. Zwar verliert ein Richter seine Unparteilichkeit nicht schon, wenn er auf Veranstaltungen oder im Schrifttum zu Fragen Stellung nimmt, mit denen er auch in einem anhängigen Verfahren befasst ist. Gründe für eine Besorgnis der Befangenheit können sich aber ergeben, wenn gerade die Nähe zum Verfahren den Eindruck vermittelt, der Richter habe sich bereits eine feste Meinung gebildet und sei nicht mehr in der Lage, vorgebrachten Argumenten offen gegenüberzustehen.29) Die insoweit zulässigen Grenzen wissenschaftlicher Stellungnahmen zu entscheidungsrelevanten Rechtsfragen hat der Bundesgerichtshof im Silikonbrustimplantate-Beschluss30) ausgelotet. Die Entscheidung ist nicht unumstrittenen.31) Gerade dieses Beispiel belegt die Bedeutung des subjektiven Elements. Es kommt nicht darauf an, ob der Richter tatsächlich festgelegt und damit nicht mehr neutral ist, sondern ob es aus der Sicht einer Partei vernünftige Gründe gibt, die ihr Misstrauen begründen. Davon kann entgegen der Ansicht des Bundesgerichtshofes32) ausgegangen werden, wenn ein Richter in einer öffentlichen Stellungnahme durch Nennung des Ak-

28) 29) 30) 31) 32)

BVerfG, Beschl. v. 10.5.2000 – 1 BvR 539/96, NJW 2000, 2808; zahlreiche Belege aus der Judikatur bei Bork in: Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2014, § 42 Rz. 10, Fn. 43 f. Schwab/Hawickenbrauck, JZ 2019, 77, 79. BGH, Beschl. v. 13.1.2016 – VII ZR 36/14, NJW 2016, 1022, 1023. Schwab/Hawickenbrauck, JZ 2019, 77, 79. BGH, Beschl. v. 13.1.2016 – VII ZR 36/14, NJW 2016, 1022, 1023.

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tenzeichens auf das konkrete Verfahren, das demnächst noch zur Entscheidung ansteht, Bezug nimmt. Der entschiedene Fall wies zudem die Besonderheit auf, dass, bildlich gesprochen, die betreffende Akte nicht auf dem Tisch des Richters lag, sondern wegen einer Vorlage an den Europäischen Gerichtshof einer dortigen vorgreiflichen Entscheidung harrte. Aber auch ein solcher „prozesstechnischer“ Vorgang stellt sich aus Sicht der Partei nicht zwingend so dar, als sei der sachliche Zusammenhang mit ihrem Verfahren – wenn überhaupt, dann nur vorläufig – gelöst, und muss auch nicht geeignet sein, die Bedenken zu zerstreuen, die ein Misstrauen begründen.33) 2. Formen der Kooperation in und mit der Fachwelt Nicht abschließend geklärt sind auch die Fragen, die sich mit Blick auf den Austausch mit der Fachwelt nur sehr grob mit dem Stichwort „gesellschaftliche Kontakte“ umschreiben lassen. Soweit die Kommentarliteratur die Rechtsprechung systematisiert, lässt sich dies am ehesten der Gruppe der „Beziehungen“ zu Parteien und Prozessbevollmächtigten34) unterordnen lassen. Neben den bereits in § 41 ZPO nicht abschließend aufgeführten Familien- und Verwandtschaftsverhältnissen, die eine Befangenheit unabhängig davon begründen, ob sie zu Parteien oder deren Bevollmächtigten bestehen,35) werden darunter auch „Freundschaft“, sonstige „nähere Beziehungen“ wie „Bekanntschaft“ und ganz allgemein „gesellschaftliche Beziehungen“ gefasst.36) Hierbei wird weiter danach unterschieden, ob diese Beziehungen zu einer Partei oder ihrem Bevollmächtigten besteht.37) Zwar werden, soweit es um die Bewertung fachlicher Kontakte geht, diese in erster Linie zur Person eines Prozessbevollmächtigten bestehen. Aber auch die Konstellation, in der ein dem Richter persönlich bekannter Berufsträger Partei eines Rechtsstreits ist, ist nicht unbekannt. Letztlich verspricht jedoch eine Unterscheidung danach, ob Kontakte auf fachlicher Grundlage nun zur Partei selbst oder aber ihrem Prozessbevollmächtigten bestehen, keinen größeren Erkenntnisgewinn. Denn stets bedarf es einer 33) 34) 35) 36) 37)

Dazu auch Schwab/Hawickenbrauck, JZ 2019, 77, 81. Stackmann in: MünchKomm-ZPO, 5. Aufl. 2016, § 42 Rz. 8 ff. Bork in: Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2014, § 42 Rz. 6. Dazu Bork in: Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2014, § 42 Rz. 6. Instruktiv die Aufzählung bei Bork in: Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2014, § 42 Rz. 6, und Stackmann in: MünchKomm-ZPO, 5. Aufl. 2016, § 42 Rz. 14, 16. Bork in: Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2014, § 42 Rz. 6.

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Gesamtschau aller Facetten der Beziehung und können „konkrete Anhaltspunkte“ hinzutreten.38) Will man gleichwohl den Versuch einer, freilich immer nur schematischen, näheren Einordnung unternehmen, kommt man nicht umhin, sich die „klassischen“ Gestaltungen fachlicher Kontakte vor Augen zu halten und Parallelen zu in der Rechtsprechung entschiedenen bzw. in der Literatur diskutierten Situationen zu ziehen. Hierbei ist darauf abzustellen, welche Berührungspunkte sich bei der Beteiligung von Richtern an der Fachdiskussion vor allem anlässlich von Tagungen und mittels fachpublizistischer Aktivitäten ergeben können. a) Beteiligung an Tagungsveranstaltungen Dass Richter an wissenschaftlichen Veranstaltungen teilnehmen, ist aus den vorgenannten Gründen üblich und auch allgemein bekannt.39) Hieraus ergeben sich nicht zwangsläufig relevante Beziehungen zu anderen Tagungsteilnehmern. Fachtagungen haben freilich unterschiedliche Veranstalter. Soweit Richter ein Vortragshonorar erhalten, ist zwar an die in der Literatur gleichfalls diskutierte Kategorie „wirtschaftlicher Interessen“40) zu denken. Aus der Zahlung üblicher Vortragshonorare oder auch der Übernahme von Reisekosten, zumal unter dem strengen Auge des beamtenrechtlichen Nebentätigkeitsrechts, lassen sich aber im Regelfall vernünftigerweise keine Befangenheitsgründe ableiten. Insoweit mögen Veranstaltungen, die von Fachgesellschaften, Kammern oder universitären Einrichtungen organisiert werden, wohl den geringsten Bedenken begegnen. Auch ungeachtet einer Vortragstätigkeit gegen Honorar41) ergeben sich vielfältige Berührungspunkte zur Praxis. Denn zu nahezu allen Bereichen des Rechts finden regelmäßige Fachveranstaltungen statt, vom Deutschen Juristentag bis hinab in die Verästelungen einzelner Rechtsgebiete. Diese genießen häufig auf dem jeweiligen Spezialgebiet ein so hohes Ansehen, dass sie nicht nur für anwaltliche Berufsträger, sondern auch für Wissenschaftler und entsprechend befasste Richter als Pflichtveranstaltungen gelten. Nicht ungewöhnlich ist es, dass die Tagungsleitung einem reprä-

38) 39) 40) 41)

Bork in: Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2014, § 42 Rz. 6; Vollkommer in: Zöller, ZPO, 32. Aufl. 2018, § 42 Rz. 9; Bendtsen in: Saenger, Hk-ZPO, 8. Aufl. 2019, § 41 Rz. 2. BGH, Beschl. v. 13.1.2016 – VII ZR 36/14, NJW 2016, 1022, 1023. Stackmann in: MünchKomm-ZPO, 5. Aufl. 2016, § 42 Rz. 8, 11 f. Dazu auch Lamprecht, „Ehrenkodex“ für die obersten Richter der Republik, NJW 2017, 1156.

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sentativen „Präsidium“ oder, soweit ein eingetragener Verein Veranstalter ist, einem gesetzlichen Vorstand obliegt. Einem solchen Gremium fällt dann die Aufgabe zu, aktuelle Diskussionsthemen und Referenten auszuwählen. Es besteht meist ausgewogen aus Vertretern von Anwaltschaft, Wissenschaft und auch Justiz. Richter, vor allem Bundesrichter und insbesondere Vorsitzende Richter, können sich einer solchen Beteiligung nicht nur aus kollegialen Gründen schwerlich entziehen. Vielfach bietet ihre Beteiligung gerade die Chance, in der Rechtsentwicklung anstehende Themen überhaupt erst zur Diskussion zu stellen, ein Meinungsbild zu entwickeln oder die Initiative des Gesetzgebers anzustoßen. Wirken Richter an solchen Veranstaltungen in der beschriebenen Weise wiederholt mit, entwickeln sich naturgemäß gesellschaftliche und kollegiale Beziehungen zu weiteren Berufsträgern. Auf diese können sie in späteren Verfahren vor ihrem Spruchkörper treffen, weniger als Parteien, aber jedenfalls als Prozessbevollmächtige. Dies wird man am ehesten mit der vielfältig diskutierten Fallgestaltung der Zugehörigkeit des Richters zu demselben Verein oder derselben politischen Partei vergleichen können. Solche gesellschaftlichen Kontakte vermögen kein „besonderes“ Näheverhältnis42) zu einer Partei zu begründen, das als so eng zu qualifizieren wäre, dass es ausreichen könnte, die Befangenheit zu begründen. Dies gilt erst recht, wenn das Verhältnis zu einem Prozessbevollmächtigten zu beurteilen ist,43) woran selbst eine Duz-Beziehung nichts ändern muss, die sich in diesem Zusammenhang ergeben hat.44) Das entspricht auch der für die fachliche Kooperation unter Mitautoren vertretenen allgemeinen Auffassung, dass selbst häufigere persönliche Begegnungen allein regelmäßig keinen Ablehnungsgrund rechtfertigen.45) b) Fachpublizistische Tätigkeit Schriftstellerische Tätigkeit ist inhaltlich an den für die Äußerung von Rechtsansichten vergleichbaren Maßstäben zu messen. Darüber hinaus stellt sich in allen Fällen der Kooperation, also bei nicht in Alleinautoren-

42) 43) 44) 45)

Gerken in: Wieczorek/Schütze, ZPO, 4. Aufl. 2015, § 42 Rz. 29. Zu diesen Fallgestaltungen siehe nur Bork in: Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2014, § 42 Rz. 6, Fn. 12. Dazu OLG Hamm, Beschl. v. 15.5.2012 – I-1 W 20/12, NJW-RR 2012, 1209, 1210. Siehe auch Gerken in: Wieczorek/Schütze, ZPO, 4. Aufl. 2015, § 42 Rz. 29. BGH, Beschl. v. 7.11.2018 – IX ZA 16/17, NZI 2018, 998, 999 = ZIP 2018, 2503.

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schaft verfassten Monographien und Aufsätzen bzw. Sammelwerken, die (Mit-)Herausgeber ausweisen, die Frage nach den „Beziehungen“ zu den weiteren Beteiligten. aa) Mitautorenschaft Begründet eine Mitautorenschaft des Richters das Misstrauen einer Partei an dessen Unparteilichkeit, dürfte dem umso schwerer zu begegnen sein, desto weniger plausibel das Bedürfnis einer solchen Kooperation ist. Zwar mag das gemeinsame Verfassen eines umfangmäßig überschaubaren Beitrags in einer Fachzeitschrift ganz praktische Gründe haben. So kann die Publikation etwa aus einer Vortrags- oder Diskussionsveranstaltung hervorgegangen und möglicherweise sogar von dritter Seite initiiert worden sein. Ist ein so „harmloser“ Anlass hingegen nicht nach außen erkennbar, stellt sich die Frage nach dem Hintergrund der Kooperation des Richters mit einem Praktiker, erst recht im Wiederholungsfall. bb) Beteiligung an Sammelwerken Von vornherein unproblematisch erscheint dagegen die Mitwirkung an Handbüchern, Sammelwerken und Kommentaren mit weiteren Autoren und Herausgebern.46) Insoweit ist auf die Erwägungen für die Beteiligung an Tagungsveranstaltungen entsprechend zu verweisen. Es bleibt nicht aus und ist auch erwünscht, dass sich ein Richter an der Diskussion der Rechtsentwicklung beteiligt. Dies braucht sich nicht auf den mündlichen Vortrag zu beschränken, sondern kann und muss im Schrifttum seinen Niederschlag finden. Nur in Ausnahmefällen und auf überschaubaren Gebieten wird man als Einzelautor vermögen, die gesamte Bandbreite der Materie alleine abzudecken. Dass in solchen Fällen, ebenso wie bei Tagungsveranstaltungen, meist sogar verlagsseitig, ein repräsentatives Herausgeberteam gebildet wird, ist – ebenso wie bei einem Tagungsvorstand – nicht unüblich. Aber „(…) selbst ein Kollegialitätsverhältnis, das in der Regel mit häufigeren persönlichen Begegnungen als eine[r] bloße[n] Mitautorenschaft verbunden ist, [kann] nur dann eine Ablehnung [wegen Befangenheit] rechtfertigen, wenn damit eine sehr enge berufliche Zusammenarbeit verbunden ist. (…) Eine Mitautorenschaft als solche begründet [aber] weder enge berufliche noch nahe persönliche Kontakte zwischen den Mitautoren und -herausgebern, (…) [so dass] [a]us der Sicht einer ruhig und vernünftig den46)

Siehe nur Gorken in: Wieczerek/Schütze, ZPO, 4. Aufl. 2015, § 42 Rz. 35.

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kenden Partei (…) daher kein Anlass [besteht], deswegen an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln.“47)

Bedenken gegen die Unabhängigkeit können sich hingegen ergeben, wenn die Auswahl des Autorenkreises „einseitig“ erscheint, etwa bei einem Projekt ausschließlich Berufsträger einer einzelnen Kanzlei mitwirken. cc) Beteiligung an Festschriften Eine besondere Publikationsgattung bilden Festschriften, die üblicherweise von fachlich oder persönlich verbundenen Weggefährten eines Jubilars aus Anlass seines 70. oder eines anderen runden Geburtstags verfasst und herausgegeben werden. Zu den Geehrten zählen seit jeher überwiegend Wissenschaftler. Seit langem werden auf diese Weise aber auch Richter aus Anlass ihres Eintritts in den Ruhestand gewürdigt, die die Rechtsentwicklung auf ihrem Fachgebiet in herausgehobener Position nachhaltig geprägt haben. Früher eher vereinzelt, inzwischen aber sehr häufig, werden auch Festschriften für Mitglieder der Anwaltschaft, insbesondere für Namenspartner von Kanzleien, initiiert. Dies geschieht nicht selten bereits aus Anlass des 65. Geburtstags. Jedenfalls markiert das Erscheinen der Festschrift für Rechtsanwälte häufig nicht den Eintritt in den Ruhestand, sondern dauert die berufliche Aktivität zu diesem Zeitpunkt noch an. Ob die Mitwirkung eines Richters an einer Festschrift Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit begründet, lässt sich in vergleichbarer Weise wie bei der Beteiligung an einer Vortragsveranstaltung beurteilen. Letztlich ist der Eindruck entscheidend, den die besorgte Partei von einem solchen Projekt vernünftigerweise haben muss. Dabei kommt es zum einen auf die Erkennbarkeit einer ausreichenden Ausgewogenheit an. Je größer der Kreis der Beiträger ist, desto offensichtlicher wird, dass ein repräsentativer Querschnitt der Fachwelt mitwirkt und die für eine Befangenheit aufgrund besonderer Beziehungen kennzeichnende persönliche Nähe und Intensität48) fehlt. Freilich besteht ein Unterschied zu anderen Sammelwerken, wie etwa Tagungsbänden oder Konvoluten zu spezifischen Fragestellungen oder auch Gesetzesvorhaben: Die Festschrift nennt einen zu Ehrenden. Dies wäre indes auch aus der Sicht einer besorgten Partei nur bedenklich, wenn diese aus der Festschriftbeteiligung den Rückschluss ziehen müsste, die Auto47) 48)

BGH, Beschl. v. 7.11.2018 – IX ZA 16/17, NZI 2018, 998, 999 = ZIP 2018, 2503. BGH, Beschl. v. 7.11.2018 – IX ZA 16/17, NZI 2018, 998, 999 = ZIP 2018, 2503.

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ren und insbesondere der mitwirkende Richter stünden dem Festschriftempfänger unkritisch gegenüber. Dass von dieser Vorstellung vernünftigerweise nicht ausgegangen werden kann, mag schon die inflationäre Fülle entsprechender Werke belegen.49) Erst recht drängt es sich auf, dass die Mitwirkenden nicht „im Lager“ des Festschriftempfängers stehen oder ihre berufliche Objektivität und Neutralität aufgegeben haben, wenn es sich um einen großen Autorenkreis handelt. Dies ist jedenfalls auch nach außen erkennbar, wenn ein Projekt, wie häufig, eine mehr als achtzigköpfige gemischte Autorenschaft aus Wissenschaft, Praxis und Justiz aufweist, und offensichtlich ist, dass zahlreiche der mitwirkenden Berufsträger ihrem so geehrten Kollegen im Berufsleben durchaus als „Wettbewerber“ und Gegner in Verfahrenssituationen gegenübertreten. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die an einer Festschrift Mitwirkenden sich nicht nur beteiligen, um bloß „dabei“ zu sein, sondern damit auch einen Ausdruck ihrer besonderen Wertschätzung für den Jubilar verbinden, vermag selbst ein solches Motiv jedenfalls allein nicht die Sorge fehlender Neutralität und Unparteilichkeit begründen. Dass man auf nahezu allen beruflichen Feldern „die Klingen kreuzt“ und dies in besonderer Weise für die Streitbeilegung gilt, ist ebenso eine Binsenweisheit, wie die Tatsache, dass es anspruchsvollere und weniger respektierte Gegner gibt. Hingegen gibt es keine Lebensweisheit, dass bei Auftreten einer „Koryphäe“ regelmäßig die Segel gestrichen werden und die Unvoreingenommenheit aufgegeben wird. Dieser Einsicht kann man sich selbst dann nicht verschließen, wenn man die regelmäßig zu erwartenden anerkennenden Äußerungen zu Persönlichkeit und (Lebens-)Werk eines Jubilars im Vorwort zur Kenntnis nimmt, auf die ein Autor ohnehin regelmäßig nicht die Gelegenheit hat, Einfluss zu nehmen – wenn er ihren Inhalt überhaupt vor Erscheinen des Werkes zur Kenntnis nehmen kann. Nichts anderes kann für die Beteiligung von Richtern gelten, die regelmäßig an der Fachdiskussion mitwirken und allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur „community“ ganz selbstverständlich auch zur Mitwirkung an entsprechenden Festschriften eingeladen werden. dd) Mitherausgabe von Festschriften Es bleibt die Frage zu beantworten, ob die Beteiligung eines Richters an der Herausgabe einer Festschrift Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit 49)

Dazu bereits v. Münch, Das Festschriftwesen und -unwesen, NJW 2000, 3253.

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begründet. Die Antwort ergibt sich konsequent aus den Vorüberlegungen. Die Ausgewogenheit des Kreises der Beteiligten an Tagungen wie Publikationen bürgt für Neutralität. Eine gemischte Herausgeberschaft aus Wissenschaft, Praxis und Justiz repräsentiert den Querschnitt der Fachwelt und dokumentiert Ausgewogenheit, ebenso wie sich dies regelmäßig auch auf entsprechenden Tagungen darstellt. Es wäre befremdlich, würde man die Mitglieder der Richterschaft nicht zu den führenden Personen der „Szene“ zählen und aus dem Kreis ihrer Repräsentanten ausschließen. Die Beteiligung eines Richters an einer in dieser Weise gebildeten Herausgeberschaft allein begründet daher kein Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit. Anders mag es zu beurteilen sein, wenn weitere Umstände hinzutreten, die Bedenken gegen die Neutralität begründen können. Dabei kann es darauf ankommen, welche Rückschlüsse eine Partei vernünftigerweise aus der regelmäßig im Vorwort enthaltenen Laudatio auf den Empfänger der Festschrift ziehen darf. Diese wird üblicherweise im Namen der Herausgeber verfasst und muss sich ein beteiligter Richter auch dann zurechnen lassen, wenn er sie nicht selbst niedergeschrieben oder noch nicht einmal redigiert hat.50) Auch kommt es weder auf die Wahrheit oder Unwahrheit der regelmäßig beschriebenen positiven Eigenschaften des Festschriftempfängers an noch darauf, ob ggf. eine gewisse Überschwänglichkeit oder Übersteigerung noch der Üblichkeit entspricht. Maßgeblich ist allein der subjektive Eindruck, der sich daraus vernünftigerweise für eine Partei ergeben kann.51) Dass in die Beurteilung zudem die ebenfalls subjektiven Vorstellungen der Mitglieder des über das entsprechende Gesuch entscheidenden Spruchkörpers einfließen, macht die Sache nicht einfacher. Die Formulierung eines Festschriftvorworts gerät damit, zumindest für einen richterlichen Mitherausgeber, zum „Ritt auf der Rasierklinge“. Wer auf „Nummer Sicher“ gehen will, hat drei Möglichkeiten, aber nur eine realistische Option: 1.

Der für ein Rechtsgebiet maßgebliche Richter könnte die ihm angetragene Mitherausgeberschaft einer Festschrift für ein anerkanntes Mitglied der Fachwelt ablehnen – was aber einem Affront gleichkäme.

50) 51)

BGH, Beschl. v. 7.11.2018 – IX ZA 16/17, NZI 2018, 998, 999 = ZIP 2018, 2503. BGH, Beschl. v. 7.11.2018 – IX ZA 16/17, NZI 2018, 998, 999 = ZIP 2018, 2503.

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2.

Er könnte die Mitherausgeberschaft übernehmen, aber Einfluss auf die Abfassung eines streng sachlichen Vorworts nehmen, das lediglich Berufsstationen, aber keine Verdienste des Festschriftempfängers auflistet – was aber einer Festschrift nicht gerecht würde und gleichfalls befremdlich wäre.

3.

Es bleibt die „Pontius Pilatus-Lösung“: Man ersetzt das „Vorwort der Herausgeber“ durch ein nur von den nicht-richterlichen Herausgebern verfasstes und gezeichnetes Geleitwort. Dokumentiert der Richter als Mitherausgeber einer Festschrift auf diese Weise seine Neutralität, was ihm niemand verübeln kann, vermeidet er, dass ihm eine positive Äußerung über den Gegner einer späteren Prozesspartei oder dessen Prozessbevollmächtigen zugerechnet und damit das Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit begründet wird. V. Resümee

Das Ergebnis lässt sich mit den bereits zuvor zitierten Worten des Bundesgerichtshofs treffend zusammenfassen: Ebenso wie die Beteiligung an Vortragsveranstaltungen52) begründet „(…) eine Mitautorenschaft als solche (…) weder enge berufliche noch nahe persönliche Kontakte zwischen den Mitautoren und -herausgebern (…) Aus der Sicht einer ruhig und vernünftig denkenden Partei besteht daher kein Anlass, deswegen an der Unvoreingenommenheit des Richters zu zweifeln.“53)

Eine allgemeinverbindliche Antwort auf die hier aufgeworfenen Fragen lässt sich freilich nicht geben. Die umfangreiche Judikatur belegt, dass jeder Sachverhalt, auch wenn er nur in Nuancen von einer anderen Fallgestaltung abweicht, in der Gesamtschau eine individuelle und damit möglicherweise abweichende Beurteilung erfordert.54) Festzuhalten ist aber, dass der Begriff der „Befangenheit“ häufig verfehlt ist und den Grund für eine Richterablehnung unzutreffend beschreibt. Parteilichkeit und Voreingenommenheit, beides Eigenschaften, die mit einem Makel behaftet sind, werden in den wenigsten Fällen der Grund für eine Richterablehnung sein. Die Thematik ist schon deshalb sensibel, weil sie Empfindungen betrifft, Misstrauen Rechnung zu tragen ist und am Ende das Vertrauen in Justiz und Rechtsstaat insgesamt auf dem Prüf52) 53) 54)

BGH, Beschl. v. 13.1.2016 – VII ZR 36/14, NJW 2016, 1022, 1023. BGH, Beschl. v. 7.11.2018 – IX ZA 16/17, NZI 2018, 998, 999 = ZIP 2018, 2503. Bork in: Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl. 2014, § 42 Rz. 5.

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stand steht. Ebenso wichtig wie die Vermeidung des „bösen Scheins“ ist aber auch die Aufrechterhaltung des Prinzips des gesetzlichen Richters – was einen entscheidenden Unterschied zur möglicherweise „einfacheren“ Richterablehnung in Schiedsverfahren macht. Deshalb bedarf es in jedem Einzelfall einer sorgfältigen Analyse der „vernünftigen Gründe“ für berechtigtes Misstrauen, aber auch einer für die Partei nachvollziehbaren, plausiblen Begründung, wenn ein Ablehnungsgesuch für unbegründet erklärt wird. Dieser anspruchsvollen Aufgabe kann und muss sich die Rechtsprechung stellen, wenn sie nicht voreilig Verfahrensmaximen aufgeben will.

Einbeziehung der Gesellschafter in ein vorinsolvenzliches Restrukturierungsverfahren? – Empfehlungen zur Umsetzung der EURestrukturierungsrichtlinie – CARSTEN SCHÄFER Inhaltsübersicht I. II.

Einleitung Zu den Vorgaben der Richtlinie in Bezug auf die Einbeziehung von Anteilseignern in einen „präventiven Restrukturierungsrahmen“ III. Zur rechtspolitischen Diskussion in Deutschland IV. Empfehlungen zur Umsetzung 1. Ausgangsbefund 2. Sollten gesellschaftsrechtliche Maßnahmen zum Planinhalt gemacht werden können? a) Keine zwangsweise Einbeziehung von Mitgliedschaftsrechten

V.

b) Verfahrensmäßige Einbeziehung der gesellschaftsrechtlichen Beschlussfassung in das Planannahmeverfahren aa) Befugnis zur modifizierenden Umsetzung der Restrukturierungsrichtlinie? bb) Zum Erfordernis hinreichend effizienter Rechtsmittel für dissentierende Gesellschafter c) Fazit 3. Überwindung von Blockaden der Gesellschafter bei der Annahme von Plänen ohne gesellschaftsrechtliche Maßnahmen Zusammenfassung der Umsetzungsempfehlungen

I. Einleitung Godehard Kayser hat sich auf dem 13. Mannheimer Insolvenzrechtstag (2017) ausführlich mit dem Richtlinienentwurf zu einem „präventiven Restrukturierungsrahmen“ befasst und diesen insgesamt skeptisch beurteilt.1) Ein Verfahren, das partielle Sanierungen unter Beteiligung nur bestimmter Gläubiger ermöglicht, hält er aber für bedenkenswert, sofern der Abstand zum Insolvenz(plan)verfahren gewahrt bleibt. Als besonders kritisch bewertet er Eingriffe in Forderungsrechte im Vorfeld der Insolvenz, weil ein solcher Eingriff die wirtschaftliche Abwertung voraussetze, die hier nicht notwendigerweise vorliege. Stehe sie allerdings fest, sei ein Moratorium 1)

Kayser, Eingriffe des Richtlinienvorschlags der Europäischen Union in das deutsche Vertrags-, Insolvenz- und Gesellschaftsrecht, ZIP 2017, 1393.

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ebenso denkbar wie die mehrheitliche Überwindung von Blockaden einzelner Gläubiger. Mit der möglichen Einbeziehung von Gesellschaftern in die vorinstanzliche Restrukturierung hat sich der Beitrag nur am Rande befasst. Der Verf. hofft deshalb, mit diesem Thema ein dem Jubilar willkommenes Geschenk zu dessen Ehrentag beisteuern zu können. Mittlerweile geht es um die Umsetzung der Richtlinie über den „präventiven Restrukturierungsrahmen“,2) nachdem Rat und Parlament sich im Dezember 2018 auf einen Kompromiss verständigt hatten3) und die endgültige Fassung am 28. März 2019 vom Parlament als dessen Standpunkt beschlossen und mittlerweile verabschiedet wurde.4) Der für die Einbeziehung der Anteilseigner zentrale Art. 12 Restrukturierungsrichtlinie wurde gegenüber der Entwurfsfassung 2016 noch einmal wesentlich geändert und entschärft. Der nachfolgende Beitrag nimmt Stellung zu der Frage, wie der deutsche Gesetzgeber seiner Umsetzungsaufgabe nachkommen und insbesondere, ob er die Einbeziehung der Anteilseigner überhaupt ermöglichen sollte. Zunächst werden die einschlägigen Richtlinien-Bestimmungen und ErwG vorgestellt, die leider teilweise nicht sonderlich klar formuliert sind (unter II.), danach soll kurz auf die rechtspolitische Diskussion hingewiesen werden, die sich in Deutschland nach Bekanntwerden des Entwurfs von 2016 entwickelt hat (unter III.), um auf dieser Grundlage Empfehlungen an den Gesetzgeber zu entwickeln (unter IV.), die am Schluss noch einmal zusammengefasst werden (unter V.).

2)

3)

4)

Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) – Restrukturierungsrichtlinie, ABl. (EU) L 172/18 v. 26.6.2019. Dazu etwa Freitag, Grundfragen der Richtlinie über präventive Restrukturierungsrahmen und ihrer Umsetzung in das deutsche Recht, ZIP 2019, 541, 542 ff., mit grundsätzlicher Kritik an den Regelungszielen der Richtlinie und den hierfür eingesetzten Mitteln. Bei Manuskriptabschluss stand die Billigung dieses Standpunkts durch den Rat der Europäischen Union (und die Veröffentlichung im Amtsblatt) noch aus; inzwischen wurde sie verabschiedet als Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) – Restrukturierungsrichtlinie, ABl. (EU) L 172/18 v. 26.6.2019.

Einbeziehung der Gesellschafter in ein Restrukturierungsverfahren

855

II. Zu den Vorgaben der Richtlinie in Bezug auf die Einbeziehung von Anteilseignern in einen „präventiven Restrukturierungsrahmen“ In der Entwurfsfassung5) von 2016 wollte Art. 12 Restrukturierungsrichtlinie den Mitgliedstaaten in Absatz 1 noch aufgeben, sicherzustellen, dass „(…) bei einer drohenden Insolvenz Aktionäre und andere Anteilseigner (…) die Annahme oder die Umsetzung eines Restrukturierungsplans (…) nicht ohne Grund verhindern dürfen“,

und ihnen zugleich nach Absatz 2 eine Regelung ermöglichen, wonach „(…) die Anteilseigner eine oder mehrere eigene Klassen bilden müssen und ihnen das Recht [!] gewährt wird, über die Annahme von Restrukturierungsplänen abzustimmen.“

Für diesen Fall sollten sie aber zugleich dem sog. „klassenübergreifenden Cram-down“ unterworfen werden, also durch Gläubiger überstimmt werden können. Warum die Gesellschafter überhaupt ein Mitspracherecht haben sollten, war dem Entwurf nicht zu entnehmen: Art. 9 Abs. 1 Restrukturierungsrichtlinie sprach nur allgemein davon, dass Anteilseigner vom Restrukturierungsplan „betroffen“ sein können. Die endgültige Fassung der Richtlinie hat diese Unklarheiten nicht völlig beseitigt, lässt aber immerhin indirekt erkennen, dass eine Betroffenheit der Gesellschafter sowohl daraus herrühren kann, dass sich der Plan unmittelbar auf ihre Rechte auswirkt, als auch (schon) daraus, dass sie kraft ihrer Kompetenz in Geschäftsführungsangelegenheiten der Planannahme zustimmen müssen, und zwar vor dem Hintergrund, dass (unverändert) nur „betroffenen“ Parteien ein Stimmrecht bei der Planannahme eingeräumt werden darf, Art. 9 Abs. 26) Restrukturierungsrichtlinie: „Member States shall ensure that affected parties have a right to vote on the adoption of a restructuring plan. Parties that are not affected by the restructuring plan shall not have a voting right concerning the adoption of that plan.“

Zwar definiert Art. 2 Abs. 1 Nr. 2 Restrukturierungsrichtlinie Anteilseigner als „betroffen“, wenn sich der Plan unmittelbar auf ihre Rechte auswirkt. ErwG 71 betont aber zum einen, dass die nationalen Vorschriften der Mitgliedstaaten über die Entscheidungsprozesse in einem Unternehmen durch die Restrukturierungsrichtlinie unberührt bleiben (die somit eine durch das

5)

6)

Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über präventive Restrukturierungsrahmen, die zweite Chance und Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie 2012/30/EU, COM(2016) 723 final. Entspricht Art. 9 Nr. 2 Restrukturierungsrichtlinie englischer Sprachfassung.

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einschlägige Gesellschaftsrecht eingeräumte Entscheidungskompetenz bestehen lässt). Und zum anderen unterscheidet ErwG 57, der Art. 12 Restrukturierungsrichtlinie erläutert, zwischen Restrukturierungsmaßnahmen, die sich „unmittelbar“ auf die Rechte der Anteilsinhaber auswirken, und solchen, für die das nicht gilt. Nach ErwG 53 kann schließlich die Schuldnerzustimmung, die bei jeder gerichtlichen Planfeststellung erforderlich ist, auch durch die Gesellschafter erklärt werden: „(…) Member States should be able to decide if, for the purpose of adopting or confirming a restructuring plan, the debtor is to be understood as the legal person’s management board or a certain majority of shareholders or equity holders (…).“

Während zur Kategorie der sich nur mittelbar auf Gesellschafterrechte auswirkenden Restrukturierungsmaßnahmen gewiss alle diejenigen Geschäftsführungsangelegenheiten gehören, an denen die Gesellschafter (nach dem jeweiligen Gesellschaftsrecht) mitwirken, bezieht sich die zweite Kategorie mit unmittelbarer Berührung von Gesellschafterrechten auf sämtliche Vertrags- und Strukturänderungen, also namentlich auf Kapitalschnitt und Sachkapitalerhöhung (insbesondere in Form des „debt-to-equity-swap“ = DES). Dass die Richtlinie solche Planinhalte zumindest für möglich hält, zeigt zunächst ErwG 2, der am Beispiel des DES erläutert, dass gesellschaftsrechtliche Maßnahmen jedenfalls nur in dem Rahmen möglich sein sollen, wie es das anwendbare Gesellschaftsrecht gestattet, und zwar einschließlich seiner Schutzinstrumente: „Any debt-to-equity-swaps should also comply with safeguards [dt. Fassung: Schutzvorkehrungen] provided for by national law.“

Außerdem gibt ErwG 96 den Mitgliedstaaten auf, für die AG ggf. Ausnahmen zu der gemäß Kapital-Richtlinie (jetzt Teil der Richtlinie [EU] 2017/ 1132)7) erforderlichen zwingenden Hauptversammlungszuständigkeit für Kapitalmaßnahmen und für den Ausschluss des Bezugsrechts zu schaffen und enthält überdies den Auftrag (an die Kommission), auch für eine Änderung der Kapitalrichtlinie selbst zu sorgen. Damit solche Maßnahmen überhaupt Planinhalt werden können, müssen die Mitgliedstaaten allerdings zunächst den Plan für „gesellschaftsrechtliche Maßnahmen“ öffnen, ähnlich wie es im geltenden Recht die Funktion der §§ 217, 225a InsO in Bezug auf den Insolvenzplan ist. In diesem Fall sind die Gesellschafter nach der Logik der Richtlinie zugleich der Möglichkeit eines sog. „cross-class cramdown“ gemäß Art. 11 Restrukturierungsrichtlinie unterworfen. 7)

Richtlinie (EU) 2017/1132 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 14.7.2017 über bestimmte Aspekte des Gesellschaftsrechts, ABl. (EU) L 169/46 v. 30.6.2017.

Einbeziehung der Gesellschafter in ein Restrukturierungsverfahren

857

Zwingend ist dies aber keineswegs; die Mitgliedstaaten können vielmehr auch andere Instrumente zur Verfügung stellen, damit Anteilseigener nicht „grundlos“ einen Restrukturierungsplan blockieren. Die für die Einbeziehung der Anteilseigner zentrale Vorschrift des Art. 12 Restrukturierungsrichtlinie betont in Absatz 1 zunächst die Möglichkeit, Anteilseigner von der „Anwendung der Artikel 9 bis 11“ ganz auszunehmen, was anscheinend vor allem verhindern soll, dass die Regeln des „cross-class cram-down“ (Art. 11 Restrukturierungsrichtlinie) zur Anwendung gelangen. Schon der Einführungstext zur vorletzten (englischen) Fassung der Richtlinie hatte es zu den „MAIN ELEMENTS OF THE COMPROMISE“ zwischen Parlament und Rat gerechnet, dass die Mitgliedstaaten darin frei sein sollen, ob sie Anteilsinhaber in den Plan einbeziehen oder nicht: „(…) still have the flexibility to decide whether they apply Article 9 to 11 or Article 12 for equity holders.“8)

Für unternehmerisch beteiligte Anteilseigner hält auch die Richtlinie selbst eine potentielle Unterwerfung unter den Mechanismus der Art. 9 – 11 Restrukturierungsrichtlinie für unangemessen, wie der geänderte ErwG 58 mit Bezug auf KMU deutlich zu erkennen gibt: „(…) Equity holders of SMEs [meint: small and medium-sized enterprises] that are not mere investors, but are the owners of the enterprise and contribute to the enterprise in other ways, such as managerial expertise, might not have an incentive to restructure under such conditions. For this reason, the cross-class cram-down should remain optional for debtors that are SMEs.“

Für den Fall, dass Mitgliedstaaten die Anteilsinhaber nicht dem Mechanismus der Art. 9 – 11 Restrukturierungsrichtlinie unterwerfen wollen, müssen sie nach Art. 12 Abs. 2 Restrukturierungsrichtlinie sicherstellen, dass diese Annahme und Umsetzung9) des Plans nicht „grundlos verhindern oder erschweren“ können. Was sie als „grundloses“ Verhalten verstehen wollen, können die Mitgliedstaaten gemäß Absatz 310) selbst bestimmen und dabei

8)

9)

10)

Die Richtlinie spricht durchgängig vom „equity holder“, worunter sie gemäß Art. 2 Nr. 1 (3) versteht: „a person that has an ownership interest in a debtor or a debtor's business, including a shareholder, in so far as that person is not a creditor.” Was das bedeuten soll, ist unklar. Mitgliedstaaten sollen anscheinend auch mezzanine Kapitalgeber wie Genussscheininhaber den Gesellschaftern gleichstellen und sie damit von einer Planbeteiligung ganz ausnehmen können – ob das sinnvoll wäre, steht auf einem anderen Blatt. Eine Differenzierung zwischen Annahme (Abs. 1) und Umsetzung (Abs. 2) erledigt sich im deutschen Recht jedenfalls dann, wenn die Gesellschafter der Planannahme zustimmen; denn in diesem Falle ist eine erneute Beschlussfassung über Umsetzungsmaßnahmen von vornherein entbehrlich. Entspricht Art. 12 Nr. 3 Restrukturierungsrichtlinie englischer Sprachfassung.

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insbesondere nach der Größe der Unternehmen differenzieren, wobei anscheinend auch an Einzelunternehmer als Schuldner gedacht wird: „Member States may adapt what it means to unreasonably prevent or create obstacles under this Article to take into account, inter alia: whether the debtor is an SME or a large enterprise; the proposed restructuring measures touching upon the rights of equity holders; the type of equity holder; whether the debtor is a legal or a natural person; or whether partners in a company have limited or unlimited liability.“

Nimmt man die bereits zitierten ErwG 57, 58 hinzu, liegt indessen eine weniger komplizierte Regelung näher, wobei allerdings das Verhältnis zwischen ErwG 57 und (dem neuen) Art. 12 Abs. 3 Restrukturierungsrichtlinie nicht abgestimmt erscheint; darauf ist unter IV. 2. und 3. zurückzukommen. III. Zur rechtspolitischen Diskussion in Deutschland Durchmustert man die bisher – in der Regel noch zum Entwurf von 2016 – publizierten Stellungnahmen der Verbände und des Schrifttums, so fällt auf, dass diese nur wenige und meist eher allgemein gehaltene Aussagen zu einer möglichen Einbeziehung von Gesellschafter(rechte)n in einen „präventiven Restrukturierungsrahmen“ treffen. So verweist die BRAK-Stellungnahme11) allgemein darauf, dass der Unternehmenswert in einem vorinsolvenzlichen Verfahren keineswegs nach Liquidationswerten zu ermitteln sei und dieser daher auch nicht zum Bezugspunkt der Interessenbeeinträchtigung gemacht werden dürfe.12) Der Richtlinien-Vorschlag sehe im Übrigen einen massiven Eingriff in Gesellschafterrechte vor, die ein vorinsolvenzrechtliches Restrukturierungsverfahren nicht zu rechtfertigen vermöge; Art. 12 des Vorschlags sei daher insgesamt zu streichen. Auch die VID-Stellungnahme hält Eingriffe in Gesellschafterrechte durch den Plan für unzulässig, möchte aber freiwillige Gesellschafterleistungen im Sanierungsplan ermöglichen.13) Ebenso sieht es im Ansatz der Gravenbru-

11) 12) 13)

BRAK, Stellungnahme Nr. 21/2017 zum EU-Richtlinienvorschlag über präventive Restrukturierungsrahmen, ZIP 2017, 789. BRAK, Stellungnahme Nr. 21/2017 zum EU-Richtlinienvorschlag über präventive Restrukturierungsrahmen, ZIP 2017, 789, 790 und 792 (zu Art. 2 Nr. 9 und zu Art. 13 RL-E). VID, Stellungnahme „Grundsätze eines vorinsolvenzlichen Sanierungsverfahrens“ (Stand: 16.2.2016), S. 3 (zu [11]), abrufbar unter https://www.vid.de/initiativen/grundsaetzeeines-vorinsolvenzlichen-sanierungsverfahrens; ergänzend VID, Stellungnahme zur allgemeinen Ausrichtung des Rates der Europäischen Union zur RL Restrukturierungsrahmen 11./12.10.2018 (Stand: 2.11.2018), abrufbar unter https://www.vid.de/ stellungnahmen/eu-richtlinienentwurf-ueber-praeventive-restrukturierungsrahmen-2 (Abrufdatum: 17.7.2019).

Einbeziehung der Gesellschafter in ein Restrukturierungsverfahren

859

cher Kreis:14) Vorinsolvenzlich könne eine fehlende Berechtigung der Gesellschafter zur Mitsprache nicht vermutet werden. Allerdings möchte der Kreis ermöglichen, die „Berechtigung eines Vetos in der Gesellschaftergruppe (…) individuell und damit nach den Maßstäben einer fairen und gerechten Planlösung gerichtlich zu überprüfen.“

Genau entgegengesetzt begrüßt die – auch im Übrigen recht robuste – Stellungnahme des Insolvenzrechtsausschusses im DAV15) die Einbeziehung der Anteilsinhaber ausdrücklich und fordert, dass Anteilsinhaber entgegen dem Richtlinien-Vorschlag auch mit guten Gründen gegen den Plan präkludiert werden müssten; denn welche Gründe vernünftig seien, wisse man nicht. Nur wenn die Gesellschafter nach dem Plan weniger als den anteiligen Liquidationswert erhalten sollen, sei ihnen eine Verhinderungsmöglichkeit zuzubilligen. Irgendeine Rechtfertigung für diese erstaunliche Forderung lässt der Text allerdings nicht erkennen. Auch im (vorwiegend insolvenzrechtlichen) Schrifttum steht die Frage nach der Gesellschafterbeteiligung nicht im Vordergrund. Vereinzelt finden sich Hinweise auf die Unzulässigkeit eines DES aus verfassungsrechtlichen Gründen16) oder, allgemeiner, auf die durch den Richtlinien-Vorschlag nicht beantwortete Frage, ob der Sanierungsplan überhaupt in Gesellschafterrechte eingreifen dürfe. Mangels Feststellung der materiellen Insolvenz könne nicht vermutet werden, dass die Gesellschaftsanteile wirtschaftlich wertlos seien, zumal der Fortführungswert des Unternehmens anzusetzen sei. Zwar möge man die vermögensrechtliche Seite der Mitgliedschaft eventu-

14)

15)

16)

Gravenbrucher Kreis, Stellungnahme zu den Regelungen des Richtlinienvorschlags über präventive Restrukturierungsrahmen (Stand: 28.2.2017), S. 10, abrufbar unter https:// www.gravenbrucher-kreis.de/app/download/13069351235/Stellungnahme_praeventiver_ Restrukturierungsrahmen_Feb2017_DE.pdf?t=1494487312 (Abrufdatum: 17.7.2019). DAV, Stellungnahme SN 17/17 durch den Ausschuss für Insolvenzrecht (Stand: 2/2017), S. 23, abrufbar unter https://anwaltverein.de/de/newsroom/sn-17-17-zweite-chancefuer-unternehmen-neuer-vorschlag-fuer-eu-richtlinie (Abrufdatum: 17.7.2019). Dammann, Umsetzung des EU-Richtlinienvorschlags vom 22.11.2016: Vorschläge zur Einführung eines präventiven Restrukturierungsverfahrens, in: FS Wimmer, 2017, S. 162, 184; Madaus, Europäische Ideen für einen präventiven Restrukturierungsrahmen und Handlungsspielräume für das deutsche Recht, in: Unternehmensrestrukturierung im Umbruch?! (10. Heidelberger Symposium zur Unternehmensrestrukturierung, 2017), S. 43, 66; gegen Einbeziehung auch Goetker/Schulz, Vorinsolvenzliches Sanierungsverfahren – Warum braucht die Praxis ein solches und wie könnte es aussehen?, ZIP 2016, 2095, 2106; Seagon/Scheel, Die Stellung des Arbeitnehmers im Richtlinienentwurf der Kommission über präventive Restrukturierungsverfahren (COM[2016] 723 final), in: Unternehmensrestrukturierung im Umbruch?! (10. Heidelberger Symposium zur Unternehmensrestrukturierung, 2017), S. 99, 101.

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ell noch durch einen vom Plan vorgesehenen Entschädigungsfonds kompensieren; jedenfalls verhindere aber die institutionelle Seite der Mitgliedschaft, die Gesellschafter zugunsten der Gläubiger einem strengen Obstruktionsverbot zu unterwerfen.17) Vereinzelt wird allerdings auch die These vertreten, dass sich unerwünschte Blockadepotentiale seitens der Anteilsinhaber, anders als der Richtlinien-Vorschlag (2016) suggeriere, gar nicht anders als durch Unterwerfung der Gesellschafter unter die absolute priority rule bewerkstelligen lasse.18) Der Bericht zur ESUG-Evaluierung hat allgemein zum Bedürfnis für ein vorinsolvenzliches Sanierungsverfahren Stellung genommen und einen deutlichen Abstand (auch) zum Planverfahren nach der InsO empfohlen, zugleich aber auf das erhebliche Missbrauchspotential eines vorinsolvenzlichen Verfahrens hingewiesen. Deshalb solle jedenfalls der „volle Instrumentenkasten“ für ein solches Verfahren nicht zur Verfügung gestellt werden.19) Ob sich der Gesetzgeber auch hinsichtlich der Einbeziehung von Gesellschafterrechten in den Plan zurückhalten sollte, wird allerdings nicht thematisiert. IV. Empfehlungen zur Umsetzung 1. Ausgangsbefund Wie unter II. dargestellt, ist es den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie unbenommen, ob sie Gesellschafterrechte – § 225a Abs. 1 InsO spricht von „Anteils- oder Mitgliedschaftsrechten“ – potentiell in den Plan einbeziehen, mithin auch gesellschaftsrechtliche Maßnahmen als Planinhalt ermöglichen wollen. Wenn sie davon absehen, brauchen sie lediglich dafür zu sorgen, dass die Gesellschafter die Annahme des Plans nicht dennoch kraft ihrer Geschäftsführungskompetenz verhindern können.

17)

18) 19)

Madaus in: Unternehmensrestrukturierung im Umbruch?! (10. Heidelberger Symposium zur Unternehmensrestrukturierung, 2017), S. 43, 56, 66 f. m. N. zu (kontroversen) älteren Stellungnahmen mit Bezug auf das Insolvenz(plan)verfahren. Mock, Das künftige (harmonisierte) Insolvenzrecht – Entwurf einer Richtlinie zum Unternehmensinsolvenzrecht, NZI 2016, 977, 980. Jacoby/Madaus/Sack/Schmidt/Thole, ESUG-Evaluierung, Forschungsbericht zur Evaluierung des ESUG v. 7.12.2011, 2019, S. 139, abrufbar unter https://www.bmjv.de/ SharedDocs/Downloads/DE/News/Artikel/101018_Gesamtbericht_Evaluierung_ ESUG.pdf (Abrufdatum: 17.7.2019).

Einbeziehung der Gesellschafter in ein Restrukturierungsverfahren

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In erster Linie geht es also um die Frage, ob der Plan einen Eingriff in Gesellschafterrechte überhaupt ermöglichen sollte. Dass solche Maßnahmen jedenfalls nicht gegen den (mehrheitlichen) Willen der Gesellschafter sollen durchgesetzt werden können, ist die klar vorherrschende Ansicht in den Stellungnahmen zum Richtlinien-Entwurf (siehe unter III.); das trifft auch ins Schwarze, wie sogleich unter 2. a) zu begründen ist. Zu erwägen ist aber, ob nicht eine formale Einbeziehung von Gesellschafterbeschlüssen in das Verfahren zur Annahme eines Restrukturierungsplans in Betracht kommt (dazu unter 2. b)). Endlich bleibt zu prüfen, wie mit der Kompetenz der Gesellschafter in Geschäftsführungsangelegenheiten in Bezug auf die Bestätigung eines Plans umzugehen ist, der keine gesellschaftsrechtlichen Maßnahmen enthält (dazu unter 3.). 2. Sollten gesellschaftsrechtliche Maßnahmen zum Planinhalt gemacht werden können? a) Keine zwangsweise Einbeziehung von Mitgliedschaftsrechten Dass es keine Rechtfertigung dafür gibt, die Gesellschafterrechte in einem Restrukturierungsrahmen zu beeinträchtigen oder die Mitgliedschaft gar insgesamt zu entziehen, liegt im Grunde auf der Hand. Denn mangels eines eröffneten Insolvenzverfahrens fehlt jede Grundlage für die Annahme, dass die Anteile (zumindest typischerweise) „aus dem Geld“ sind, wie die Richtlinie es passim formuliert. Dies trifft, wie offenbar immer wieder betont werden muss, nicht einmal bei eröffneten Insolvenzverfahren automatisch zu, zumal bei sog. „strategischen“ Insolvenzen wie in dem berüchtigten Fall Suhrkamp.20) Vielmehr ist der Wert eines Unternehmens, das durch denselben Rechtsträger fortgeführt werden soll, nach allgemeinen Regeln (selbstverständlich) auf der Basis von Fortführungswerten und unter Einbeziehung des Restrukturierungsplans zu berechnen. Und ohne positiven Fortführungswert erscheint eine Sanierung in der Regel sinnlos.21) Zugleich helfen Lippenbekenntnisse des Gesetzgebers, dass Gesellschaftern der „restliche Vermögenswert“ ihrer Anteile nicht gegen ihren Willen ent-

20)

21)

Zuletzt Schäfer, Zur Einbeziehung der Anteilsinhaber in den Insolvenzplan, ZIP 2016, 1911, 1912 und Schäfer, Suhrkamp und die Folgen – Konsequenzen aus dem vorläufigen Abschluss des Suhrkamp-Insolvenzverfahrens ZIP 2015, 1208, 1210 m. w. N. Eingehend dazu Schäfer/Wüstemann, Unternehmensbewertung, Kapitalmaßnahmen und Insolvenzplan, ZIP 2014, 1757, 1758 ff.

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zogen werden dürfe,22) nicht weiter, wenn sie einerseits einem strikten Obstruktionsverbot (§§ 244 f. InsO) unterworfen werden, ihnen andererseits aber keinerlei funktionierende Rechtsmittel gegen die Feststellung eines Plans zur Verfügung stehen – auch hierfür war der Fall Suhrkamp ein schlagender Beleg.23) Hinzu kommt, dass die Berliner Insolvenzgerichte – durchaus mit Unterstützung durch die (insolvenzrechtliche) Literatur24) – sämtliche Instrumente des gesellschaftsrechtlichen Minderheits- und Individualschutzes im Verfahren der Planfeststellung a limine für unbeachtlich erklärten.25) Wer als Gesellschafter somit einen – zweifelsfrei vorhandenen – Anteilswert gegen einen festgestellten und gerichtlich bestätigten Plan durchsetzen will, der diesen Wert, ebenfalls zweifelsfrei, beeinträchtigt, hat selbst in einem gerichtlich kontrollierten Insolvenzverfahren äußerst schlechte Karten. Vor diesem Hintergrund kann eine vergleichbare Regelung zur Gesellschafterbeteiligung, wie sie das ESUG26) in die InsO eingeführt hat, zur Umsetzung der Restrukturierungsrichtlinie nicht ernsthaft erwogen werden. Denn insofern steht ein Verfahren in Frage, dessen formloses Ingangsetzen materiell nicht einmal einen Insolvenzgrund erfordert und deshalb keinerlei Basis für die (tatsächliche) Vermutung regelmäßiger Wertlosigkeit von Gesellschaftsanteilen bietet. Die Richtlinie spricht in Bezug auf den Start eines präventiven Restrukturierungsrahmens nur sehr allgemein von drohender bzw. wahrscheinlicher Insolvenz, und überlässt es den Mitgliedstaaten, die Voraussetzungen hierfür zu definieren (Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 Restrukturierungsrichtlinie).27) Das Schrifttum plädiert teilweise sogar für einen völligen Verzicht auf materielle Voraussetzungen; vielmehr solle dem Schuldner-Unternehmen überlassen bleiben, das Verfahren immer dann in Gang zu setzen, wenn es dies für angemessen halte.28) Aber auch, wenn man die Eröffnung des Verfahrens von einer „drohenden Zahlungs-

22) 23) 24) 25) 26) 27) 28)

Begr. RegE ESUG, BT-Drucks. 17/5712, S. 18. Schäfer, ZIP 2015, 1208, 1211. Siehe nur Thole, Treuepflicht-Torpedo? Die gesellschaftsrechtliche Treuepflicht im Insolvenzverfahren, ZIP 2013, 1937, 1941; Hölzle, EWiR 2013, 589, 590 (Urteilsanm.). Siehe nur LG Berlin, Beschl. v. 20.10.2014 – 51 T 696/14, ZIP 2014, 2197, 2203. Gesetz zur weiteren Erleichterung der Sanierung von Unternehmen v. 7.12.2011 – ESUG, BGBl. I 2011, 2582 (ber. BGBl. I 2011, 2800). Sehr kritisch zu diesem Ansatz Freitag, ZIP 2019, 541, 542 f. und 546 f. Sax/Ponseck/Swierczok, Ein vorinsolvenzliches Restrukturierungsverfahren für europäische Unternehmen, BB 2017, 323, 325; zustimmend Dammann in: FS Wimmer, 2017, S. 162, 169.

Einbeziehung der Gesellschafter in ein Restrukturierungsverfahren

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unfähigkeit“29) (bei gleichzeitig für mindestens sechs Monate feststehender Zahlungsfähigkeit) abhängig machte, wie es etwa Vallender und Freitag fordern,30) änderte dies nichts an diesem Befund; denn die Wertlosigkeit des Unternehmens (und damit auch der Anteile) ergibt sich aus einer (aktuell) negativen Fortführungsprognose, nicht jedoch aus der Wahrscheinlichkeit zukünftiger Liquiditätsprobleme. Hinzu kommt, dass in dieser Phase keinerlei gerichtliche Entscheidung zur Prüfung der Voraussetzungen in Sicht ist, die auch nur entfernt zur Rechtfertigung eines Entzugs des „Anteilseigentums“ taugen könnte. Von einer Einbeziehung der Gesellschafter nach ESUG-Art, also einer Durchsetzung von Vertrags- oder Strukturänderungen gegen ihr Mehrheitsvotum, ist folglich unbedingt Abstand zu nehmen. Auf einem anderen Blatt steht freilich, dass auch die ESUG-Regeln selbst revidiert werden sollten.31) Eine gesellschaftsrechtliche Abstinenz entspricht im Übrigen durchaus der Rechtslage im englischen Recht, das mit seinem „scheme of arrangement“ in mancher Hinsicht Pate für den Restrukturierungsrahmen gestanden hat, aber ebenso wie das französische Recht Gesellschafter weder einem „cross-class cram-down“ unterwirft noch einen „debt-to-equityswap“ erlaubt.32) Gesellschaftsrechtliche Maßnahmen kommen als Restrukturierungsmaßnahme daher nur in Betracht, wenn sie mit der gesellschaftsrechtlich erforderlichen Mehrheit getroffen werden und materiellen gesellschaftsrechtlichen Anforderungen des Minderheitsschutzes etc. entsprechen. b) Verfahrensmäßige Einbeziehung der gesellschaftsrechtlichen Beschlussfassung in das Planannahmeverfahren aa) Befugnis zur modifizierenden Umsetzung der Restrukturierungsrichtlinie? Wenn gesellschaftsrechtliche Maßnahmen nach allem nicht gegen den Willen der Gesellschafter beschlossen werden können (oben 2. a)), bedeutet dies 29)

30)

31) 32)

Überwiegend wird insofern auf einen Prognosezeitraum von längstens zwei Jahren abgestellt, vgl. Drukarczyk in: MünchKomm-InsO, 4. Aufl. 2019, § 18 Rz. 63; Mock in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 18 Rz. 23 f.; Freitag, ZIP 2019, 541, 547, jeweils m. w. N. Vallender, Harmonisierung des Insolvenzrechts in der EU schreitet voran – Zum Kommissionsentwurf einer Richtlinie für ein vorinsolvenzliches Sanierungsverfahren, in: FS Wimmer, 2017, S. 537, 549 f.; Freitag, ZIP 2019, 541, 546 f., 552. Dazu Schäfer, ZIP 2019, 1305, 1306 ff. (in Auseinandersetzung mit den Empfehlungen des ESUG-Evaluierungsberichts). Näher Dammann in: FS Wimmer, 2017, S. 162, 170.

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noch nicht notwendigerweise, dass sie dem Beschluss einer Gesellschafterversammlung vorbehalten bleiben müssen. Zwar bedarf es für sämtliche Vertragsänderungen und (sonstige) Strukturmaßnahmen eines mit der gesellschaftsrechtlich erforderlichen Mehrheit getroffenen Gesellschafterbeschlusses. Auch scheidet die Anwendung eines (insolvenzrechtlichen) Obstruktionsverbots nach Art des § 245 InsO (bzw. Art. 11 Restrukturierungsrichtlinie) bei einem präventiven Restrukturierungsrahmen definitiv aus. Möglich bleibt jedoch die formale Einbeziehung der Gesellschafter in das Verfahren zur Annahme eines Restrukturierungsplans unter Suspendierung der gesellschaftsrechtlichen Normen zur Einberufung der Gesellschafterversammlung; denn auf diese Weise könnte eine größere Verfahrenseffizienz durch einheitliche Einberufungszuständigkeiten und -formalitäten wie auch eine Vereinheitlichung der gegen eine Planbestätigung zu Gebote stehenden Rechtsmittel erreicht werden, wenngleich diese dann zwangsläufig die gesellschaftsrechtlichen Regeln zur Beschlussanfechtung ersetzten (dazu unter 2. b) bb)). Es stellt sich mithin die Frage, ob Art. 9 – 11 Restrukturierungsrichtlinie eine derartige Umsetzung zulassen. Zunächst sieht Art. 9 Abs. 6 Unterabs. 1 Restrukturierungsrichtlinie für die Planannahme vor, dass eine Mehrheit „in jeder Klasse“ erforderlich ist, so dass er der Anforderung, keine Annahme gegen das Gesellschaftervotum zuzulassen, nicht entgegensteht. Allerdings darf nach Unterabsatz 2 Satz 2 die erforderliche Mehrheit nicht größer als 75 % sein. Das ist zwar im Kapitalgesellschaftsrecht in der Regel unproblematisch, weil Satzungs- und Strukturänderungen grundsätzlich mit Dreiviertelmehrheit beschlossen werden (siehe nur § 179 Abs. 2 Satz 1 AktG, § 53 Abs. 2 Satz 1 GmbHG), doch kann die Satzung im Einzelfall eine höhere Mehrheit verlangen (§ 179 Abs. 2 Satz 2 AktG, § 53 Abs. 2 Satz 2 GmbHG). Im Personengesellschaftsrecht gilt hingegen grundsätzlich das Einstimmigkeitsprinzip, wenn der Gesellschaftsvertrag keine Mehrheitsklausel enthält (siehe § 119 Abs. 1 HGB).33) Zwar verfügen unternehmenstragende Gesellschaften regelmäßig über solche Mehrheitsklauseln; doch bleibt es naturgemäß denkbar, dass der Gesellschafterwille mangels vertraglicher Regelung nur durch einstimmigen Beschluss gebildet werden kann. Eine wortgetreue Umsetzung scheidet in diesem Punkt also aus. Zu berücksichtigen ist allerdings noch, dass Mitgliedstaaten, welche die Entscheidungskompetenz der Gesellschafterversammlung unberührt lassen, 33)

Zu personengesellschaftsrechtlichen Mehrheitsklauseln s. nur Schäfer in: Habersack/ Schäfer, Das Recht der OHG, 2. Aufl. 2019, § 119 Rz. 30 ff. bzw. Schäfer in: MünchKommBGB, 7. Aufl. 2017, § 709 Rz. 81 ff.

Einbeziehung der Gesellschafter in ein Restrukturierungsverfahren

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gemäß Art. 12 Abs. 2 Restrukturierungsrichtlinie dafür sorgen sollen, dass die Gesellschafter den Plan nicht „grundlos“ verhindern oder erschweren können. Und ErwG 57 scheint auch ein „unangemessen hohes“ Mehrheitserfordernis zu den „grundlosen“ Erschwernissen zu rechnen, was gegen die Zulässigkeit von Beschlussquoren zu sprechen scheint, die jenseits der 75 %-Marke liegen. Indessen spiegelt der aktuelle Normtext eine solche Auslegung nicht wider, vielmehr bleibt es nach der (neuen) Regelung des Art. 12 Abs. 3 Restrukturierungsrichtlinie Sache der Mitgliedstaaten, zu definieren, was sie als „grundlos“ i. S. von Art. 12 Abs. 2 Restrukturierungsrichtlinie ansehen wollen. Hiermit ist es durchaus vereinbar, auf höhere Mehrheitserfordernisse zu verweisen, sofern sie in der jeweiligen Gesellschaft allgemein gelten; denn als ein „grundloses“ Hindernis wird sich ein solches allgemein wirkendes Quorum kaum einordnen lassen, zumal Absatz 3 eine Differenzierung nach der Unternehmensgröße und damit indirekt auch nach der Rechtsform explizit ermöglicht; und ohnehin sind nur für die kleine, gesetzestypische Personen(handels)gesellschaft oder GmbH sind höhere Beschlussquoren zu erwarten. Art. 9, 12 Restrukturierungsrichtlinie können (und sollten) daher in der Weise umgesetzt werden, dass die für die Annahme erforderliche Mehrheit eines Restrukturierungsplans an das Gesellschaftsrecht gebunden und die 75 %-Mehrheit nur mit dieser Einschränkung für maßgeblich erklärt wird: „(…) soweit nicht für die jeweilige Rechtsform durch Gesetz oder Gesellschaftsvertrag/Satzung eine höhere Mehrheit vorgeschrieben wird.“

Sodann ist die „cross-class cram-down“-Regelung des Art. 11 Restrukturierungsrichtlinie in den Blick zu nehmen. Danach sollen die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass ein Restrukturierungsplan gerichtlich bestätigt werden kann, wenn er nicht in allen Gläubigerklassen die nach Art. 9 Restrukturierungsrichtlinie erforderliche Mehrheit erreicht hat. Nach Art. 11 Abs. 1 Unterabs. 1 lit. b (ii)34) Restrukturierungsrichtlinie soll es dafür grundsätzlich ausreichen, dass der Plan von einer Gläubigerklasse genehmigt wird, bei der es sich weder um die Gesellschafter noch um solche Gläubiger handeln darf, die in einer normalen Liquidation nichts zu erwarten hätten, wobei der Unternehmenswert allerdings nach Fortführungswerten zu berechnen ist („upon a valuation of the debtor as a going concern“, so auch ErwG 49). Zwar kann ein Mitgliedstaat nach Art. 11 Abs. 1 Unterabs. 335) Restruktu34) 35)

Entspricht Art. 11 Nr. 1 Unterabs. 1 lit. b (ii) Restrukturierungsrichtlinie englischer Sprachfassung. Entspricht Art. 11 Nr. 1 Unterabs. 3 Restrukturierungsrichtlinie englischer Sprachfassung.

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rierungsrichtlinie die Anzahl der für den „cross-class cram-down“ erforderlichen Gläubigerklassen erhöhen („may increase the minimum number of classes“), aber wohl nicht in der Weise, dass auch die Zustimmung der Anteilseignerklasse zur Voraussetzung gemacht wird; denn die entsprechende Einschränkung nach Absatz 1 Unterabs. 1 lit. b (ii) wird gerade nicht aufgehoben. Zudem heißt es jetzt in ErwG 54, dass die Bestätigung eines Restrukturierungsplans auch dann in Betracht kommen „sollte“, wenn die Anteilsinhaber dem Plan nicht zugestimmt haben. Andererseits könnte ein Mitgliedstaat die nach Art. 11 Abs. 1 Restrukturierungsrichtlinie stets für eine Planbestätigung erforderliche Zustimmung des Schuldners, wie gesehen, auch i. S. einer Zustimmung der Anteilseigner definieren (ErwG 53). Belässt man es jedoch bei der grundsätzlichen Zuständigkeit der Geschäftsführung, so müsste die Umsetzung den „cross-class cram-down“ gemäß Art. 11 Restrukturierungsrichtlinie wohl insgesamt ausschließen. Hinzu kommt, dass nach den unter 2. a) entwickelten Vorgaben die gesellschaftsrechtlichen Schutzmechanismen innerhalb der Klasse der Anteilseigner gewahrt bleiben müssen, also sichergestellt wird, dass nur Maßnahmen zum Planinhalt gemacht werden, die in (jeder Hinsicht) materiellem Gesellschaftsrecht entsprechen, und es mithin nicht ausreicht, dass eine Maßnahme im gesellschaftsrechtlichen Numerus Clausus nur überhaupt existiert. Diese Anforderung erzeugt aber keine zusätzlichen Probleme bei der Richtlinien-Umsetzung. Vielmehr entspricht die Wahrung gesellschaftsrechtlicher Schutzinstrumente („safeguards“) für den Restrukturierungsrahmen durchaus den Vorstellungen des Richtliniengebers, wie der schon unter II. zitierte ErwG 2 verdeutlicht.36) Auch ErwG 50 betont das Erfordernis eines angemessenen Schutzes der Anteilseigner, der bei der Planbestätigung zu berücksichtigen sei. Der deutsche Gesetzgeber sollte dies also unmissverständlich klarstellen, sofern er – wie zu empfehlen37) – den Plan für gesellschaftsrechtliche Maßnahmen öffnet, und darüber hinaus die Gelegenheit nutzen, diese Klarstellung in § 225a InsO auch für das Insolvenzplanverfahren zu übernehmen.38) 36) 37)

38)

So auch Freitag, ZIP 2019, 541, 544. Entsprechend sollten im Übrigen auch § 244 Abs. 3 InsO modifiziert und § 238a InsO gestrichen werden (dazu, eine Empfehlung in der ESUG-Evaluierung fortführend, Schäfer, ZIP 2019, 1305, 1307 f.). Schäfer, ZIP 2015, 1208, 1209; anders aber Jacoby/Madaus/Sack/Schmidt/Thole, ESUGEvaluierung, 2019, S. 182, die für Klarstellung der Verdrängungswirkung des Insolvenzrechts plädieren, freilich unter dem Vorbehalt, dass die Rechtsbehelfe der Gesellschafter verbessert werden.

Einbeziehung der Gesellschafter in ein Restrukturierungsverfahren

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Richtigerweise lässt die Richtlinie eine diesen Anforderungen gerecht werdende Umsetzung zu. Zwar scheint Art. 12 Abs. 139) Restrukturierungsrichtlinie nur eine en-bloc-Ausnahme von den Art. 9 – 11 Restrukturierungsrichtlinie zugunsten von Gesellschaftern zu gestatten: „Where Member States exclude equity holders from the application of Articles 9 to 11 (…).“

Wenn indessen sogar eine Gesamtausnahme zulässig ist, muss es erst recht möglich sein, einzelne in diesem Verfahren nicht zu rechtfertigende Instrumente auszuschalten, eine formale Einbeziehung der Anteilseigner in das Verfahren aber durchaus vorzusehen. Darin liegt zugleich die bestmögliche Erfüllung des unmittelbar im Anschluss an die zitierte Passage in Art. 12 Abs. 1 sowie Abs. 2 Restrukturierungsrichtlinie formulierten Auftrages an die Mitgliedstaaten, zu verhindern, dass Anteilseigner die Annahme des Plans grundlos blockieren. Denn die Einbeziehung in ein Planbestätigungsverfahren, das nach (formal) einheitlichen Abstimmungsregeln und -zeitpunkten funktioniert, ermöglicht dies offensichtlich besser als der alternativ in Betracht kommende Verweis auf die Beschlussfassung in der jeweiligen Gesellschafterversammlung, für die ausschließlich gesellschaftsrechtliche, und nach der jeweiligen Rechtsform differierende Regeln gelten. Dies gilt erst recht, wenn sich die Einbeziehung mit besonderen Rechtsmitteln in Bezug auf die Planbestätigung verbindet. Hierauf ist sogleich unter 2. b) bb) näher einzugehen. bb) Zum Erfordernis hinreichend effizienter Rechtsmittel für dissentierende Gesellschafter Neuralgischer Punkt bleibt damit das Postulat eines effektiven Rechtsschutzes gegen die mehrheitliche Planannahme innerhalb der Gesellschafterklasse. Allgemein sind Rechtsmittel Thema des im Trilog deutlich entschärften Art. 16 Restrukturierungsrichtlinie; sie richten sich formal gegen die (gerichtliche) Planbestätigung. Gemäß Absatz 1 und 2 muss zunächst ein Rechtsmittel zu einem (höheren) Gericht eröffnet werden, über das zügig zu entscheiden ist, ähnlich wie es im Ansatz auch § 253 InsO vorsieht, der die Beschwerde gegen eine gerichtliche Planbestätigung eröffnet. Das Rechtsmittel soll gemäß Art. 16 Abs. 340) Restrukturierungsrichtlinie zwar grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung haben, doch können die Mit39) 40)

Entspricht Art. 12 Nr. 1 Restrukturierungsrichtlinie englischer Sprachfassung. Entspricht Art. 16 Nr. 3 Restrukturierungsrichtlinie englischer Sprachfassung.

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gliedstaaten hiervon abweichen, wenn dies zur Wahrung schutzwürdiger Interessen einer betroffenen Partei erforderlich ist: „(…) may provide that judicial authorities can suspend the execution of the restructuring plan or parts thereof where necessary and appropriate to safeguard the interests of a party.“

Die Richtlinie gestattet daher eine bessere Regelung, als sie § 253 InsO derzeit noch vorsieht, die sich aber aus Sicht betroffener Anteilsinhaber als defizitär erwiesen hat, vor allem in Bezug auf das Verhältnis zwischen Beschwerdeverfahren und Freigabeentscheidung gemäß § 253 Abs. 4 InsO, gegen die keinerlei Rechtsmittel mehr besteht, die aber gleichwohl das Verfahren definitiv beendet.41) Demgegenüber erlaubt es die Restrukturierungsrichtlinie ohne weiteres, eine Beschwerde mit aufschiebender Wirkung auszustatten, die Wirksamkeit des Plans aber in einem vom Beschwerdeverfahren entkoppelten Freigabeverfahren durchzusetzen. Das entspricht dem Modell des § 246a AktG, mit dessen Hilfe die faktische Suspensivwirkung einer Beschlussanfechtungsklage überwunden werden kann.42) Dieses Modell kann für den Restrukturierungsplan übernommen werden, die aufschiebende Wirkung einer (mittelbar)43) gegen den Gesellschafterbeschluss gerichteten Beschwerde sollte hierdurch also überwindbar werden; wie dort sollte das Freigabeverfahren beim Oberlandesgericht angesiedelt und grundsätzlich nach den in § 246a Abs. 2 AktG geregelten (gesellschaftsrechtlichen) Kriterien entschieden werden, freilich mit Ausnahme des Mindestaktienbesitzes (§ 246a Abs. 2 Nr. 2 AktG), sofern der Schuldner keine AG ist. Eine solche Regelung beschränkt den Gesellschafterschutz außerhalb der AG, also für GmbH und Personen(handels)gesellschaft, zwar immer noch deutlich im Vergleich zu dem für diese Rechtsformen allgemein geltenden Schutz vor mangelhaften Gesellschafterbeschlüssen. Denn ein Freigabeverfahren ist für sie gesetzlich nicht vorgesehen und seine Einführung rechtspolitisch umstritten.44) Erwogen wird neuerdings allerdings, den (u. a.) durch § 246a AktG veran-

41)

42) 43) 44)

Siehe Schäfer, ZIP 2015, 1208, 1211 f.; eingehend zu dem defizitären Rechtsschutz auch Zipperer, Rechtsschutzmöglichkeiten des Gesellschafters im Insolvenzeröffnungs- und eröffneten Verfahren, ZIP 2015, 2002. Dazu allgemein nur Hüffer/Schäfer in: MünchKomm-AktG, 4. Aufl. 2016, § 246a Rz. 2 ff. Formal (unmittelbar) richtet sich die Beschwerde gegen die gerichtliche Planbestätigung. Zum Meinungsstand für die GmbH siehe nur Raiser in: Ulmer/Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl. 2014, Anh. § 47 Rz. 13; Zöllner/Noack in: Baumbach/Hueck, GmbHG, 21. Aufl. 2017, § 54 Rz. 28.

Einbeziehung der Gesellschafter in ein Restrukturierungsverfahren

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kerten Gedanken der Verhältnismäßigkeit zumindest auf das GmbH-Beschlussmängelrecht zu übertragen.45) Gleichwohl lässt sich die rechtsformübergreifende Einführung eines Freigabeverfahrens in Bezug auf Restrukturierungspläne durch die besondere Eilbedürftigkeit von Sanierungsentscheidungen rechtfertigen, zumal wenn sich das Beschwerdegericht mit der materiellen Rechtmäßigkeit der Mehrheitsentscheidung in gesellschaftsrechtlicher Hinsicht zu befassen hat (oben 2. b) aa)). Hinzu kommt, dass das Beschwerdegericht gemäß Art. 16 Abs. 4 Unterabs. 246) Restrukturierungsrichtlinie den Plan zwar letztlich bestätigen, zugleich aber eine finanzielle Kompensation festsetzen kann: „Member States may provide that, where a plan is confirmed (…) compensation is granted to the party who incurred monetary losses and whose appeal is upheld.“

Letzteres wird sich im Falle einer vorangegangenen Freigabe des Plans regelmäßig anbieten. Allerdings muss (selbstverständlich) dafür gesorgt werden, dass dies eben auch dann noch möglich ist, wenn das für die Freigabeentscheidung zuständige Oberlandesgericht die Freigabe des Plans erteilt hat. c) Fazit Eine zwangsweise Einbeziehung von Gesellschafterrechten kommt nicht in Betracht, gesellschaftsrechtliche Maßnahmen, d. h. Vertrags- und (sonstige) Strukturänderungen, bedürfen vielmehr stets der nach Gesellschaftsrecht erforderlichen Mehrheit und müssen in jeder Hinsicht materiellem Gesellschaftsrecht entsprechen. Unter Beachtung dieser Vorgaben ist aber eine formale Einbeziehung der Gesellschafter in das Planannahmeverfahren denkbar und auch empfehlenswert. Die Restrukturierungsrichtlinie steht einer derartigen modifizierenden Umsetzung nicht entgegen. Für sie ist Art. 9 Abs. 6 Restrukturierungsrichtlinie durch den Vorbehalt etwaiger höherer gesellschaftsrechtlicher Mehrheitserfordernisse in der Gesellschafterklasse leicht zu modifizieren und das Verfahren nach Art. 11 Restrukturierungsrichtlinie zur Durchsetzung solcher Maßnahmen auszuschließen. Im Rechtsmittelverfahren gegen eine gerichtliche Planbestätigung sollte die gesellschaftsrechtliche Zulässigkeit der Maßnahme voll überprüft werden, das Rechtsmittel von Anteilsinhabern sollte aufschiebende Wirkung haben;

45) 46)

Dazu Koch, Empfiehlt sich eine grundlegende Reform des Personengesellschaftsrechts?, Gutachten F zum 72. DJT, 2018, S. F 89 ff. Entspricht Art. 16 Nr. 4 Unterabs. 2 Restrukturierungsrichtlinie englischer Sprachfassung.

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zugleich sollte aber ein hiervon unabhängiges Freigabeverfahren vor dem Oberlandesgericht nach dem Vorbild des § 246a AktG geschaffen werden. 3. Überwindung von Blockaden der Gesellschafter bei der Annahme von Plänen ohne gesellschaftsrechtliche Maßnahmen Wie unter II. dargestellt, geht die Restrukturierungsrichtlinie davon aus, dass die Gesellschafter durch die Annahme eines Restrukturierungsplans auch schon dann „betroffen“ sind, wenn ihnen in der jeweiligen Rechtsform die Kompetenz zur Mitentscheidung in Geschäftsführungsangelegenheiten zukommt, also auch ohne dass der Plan gesellschaftsrechtliche Maßnahmen (Vertrags- bzw. Strukturänderungen) enthält und deshalb unmittelbar in Gesellschafterrechte eingreift. ErwG 71 sagt in seinem Schlusssatz ausdrücklich, dass die nationalen Vorschriften der Mitgliedstaaten über die Entscheidungsprozesse in einem Unternehmen von der Richtlinie unberührt bleiben. Und ErwG 57 verlangt für den Fall der nur indirekten Berührung von Gesellschafterinteressen, dass die Mitgliedstaaten, falls sie die Gesellschafter nicht dem „cross-class cram-down“ unterwerfen, ihnen keine „Zuständigkeit bei Restrukturierungsmaßnahmen“ einräumen, während sich Art. 12 Abs. 2 Restrukturierungsrichtlinie selbst auf den Auftrag an die Mitgliedstaaten beschränkt, dafür zu sorgen, dass die Anteilsinhaber die Annahme des Plans nicht „grundlos verhindern oder erschweren“. Was ein Mitgliedstaat darunter verstehen will, kann er gemäß Art. 12 Abs. 3 Restrukturierungsrichtlinie selbst bestimmen. Eine Mitsprachebefugnis der Gesellschafter bei außergewöhnlichen Geschäftsführungsfragen, zu denen die Planannahme zweifellos gehört, kennt sowohl das Recht der Personen(handels)gesellschaften (§§ 116 Abs. 2, 164 HGB)47) wie auch das GmbH-Recht (§ 37 Abs. 1 GmbHG),48) nicht jedoch das Aktienrecht, das eine Kompetenz der Hauptversammlung in Geschäftsführungsangelegenheiten grundsätzlich ausschließt (§ 119 Abs. 2 AktG). Nur für die Personengesellschaft und GmbH gilt daher, dass die Gesellschafter durch die Planannahme selbst dann betroffen werden, wenn der 47) 48)

Dazu nur Schäfer in: Habersack/Schäfer, Das Recht der OHG, 2. Aufl. 2019, § 116 Rz. 11 ff. Dazu, dass Geschäftsführer nach h. M. verpflichtet sind, außergewöhnliche GF-Maßnahmen von sich aus den Gesellschaftern zur Zustimmung vorzulegen, siehe nur BGH, Urt. v. 5.12.1983 – II ZR 56/82, ZIP 1984, 310 = NJW 1984, 1461, 1462; Kleindiek in: Lutter/Hommelhoff, GmbHG, 19. Aufl. 2016, § 37 Rz. 10 f.; Paefgen in: Ulmer/ Habersack/Löbbe, GmbHG, 2. Aufl. 2014, § 37 Rz. 19.

Einbeziehung der Gesellschafter in ein Restrukturierungsverfahren

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Plan keine Vertrags- oder Strukturänderungen enthält und demgemäß auch keine Regelungen, die sich „unmittelbar auf ihre Rechte“ auswirken. In der AG hingegen steht ihnen gemäß Art. 9 Abs. 2 Restrukturierungsrichtlinie bei der Planannahme von vornherein kein Stimmrecht zu. Zweifellos könnten die Mitgliedstaaten, wenn sie die (durch die Planannahme nur in ihrem Geschäftsführungsrecht) betroffenen Gesellschafter nicht in das Verfahren gemäß Art. 9 – 11 Restrukturierungsrichtlinie einbeziehen wollen, die Mitentscheidungskompetenz insofern vollständig ausschließen. Auch aus deutscher Sicht erscheint dies als gangbarer Weg, zumal es sich bei der (Gesellschafter-)Zuständigkeit in Geschäftsführungsfragen – im Gegensatz zu der Zuständigkeit für Vertrags- und Strukturänderungen – durchweg um eine nur dispositive Kompetenz handelt (§ 109 HGB, § 37 Abs. 1 GmbHG). Enthält der Plan keine gesellschaftsrechtlichen Maßnahmen und berührt er demgemäß die Interessen der Gesellschafter nicht unmittelbar, so kommt ihrem Mitentscheidungsrecht keine derart wesentliche Bedeutung zu wie im Falle von Strukturänderungen als Planinhalt. Ein völliger Ausschluss der Mitentscheidungsbefugnis bei der Planannahme erscheint im Übrigen auch deshalb hinnehmbar, weil die Einleitung des Restrukturierungsverfahrens ihrerseits als außergewöhnliche Geschäftsführungsmaßnahme einzuordnen ist, welcher die Gesellschafter in Personengesellschaft und GmbH zustimmen müssen. Geschäftsführer, welche sich darüber hinwegsetzen, verhielten sich pflichtwidrig und machten sich potentiell schadensersatzpflichtig. Es wäre also keineswegs so, dass die Inanspruchnahme eines präventiven Restrukturierungsrahmens völlig ohne Mitsprache der Gesellschafter erfolgen könnte. Deshalb könnte das Mitspracherecht bei der Bestätigung eines Plans, der keine gesellschaftsrechtlichen Maßnahmen enthält, entweder unmittelbar in §§ 116 Abs. 2, 164 HGB bzw. § 37 Abs. 1 GmbHG ausgeschlossen werden. Oder der Gesetzgeber stellt bei Umsetzung des Art. 9 Restrukturierungsrichtlinie klar, dass die Gesellschafter kein Mitspracherecht bei der Annahme des Plans haben und durch diesen demgemäß nicht betroffen werden, auch dies naturgemäß unter dem Vorbehalt, dass der Plan keine gesellschaftsrechtlichen Maßnahmen enthält. Zweifelhaft bleibt, ob die Mitgliedstaaten diesen Weg sogar beschreiten müssen. Zwar enthält ErwG 57 insofern einen deutlichen Fingerzeig (wenn er auch relativierend mit „(…) Eine weitere Möglichkeit wäre (…)“ eingeleitet wird); auf das problematische Verhältnis zur endgültigen Fassung von Art. 12 (Abs. 2 und 3) Restrukturierungsrichtlinie wurde indessen schon hingewiesen (oben 2. b) aa)). Denn nach Art. 12 Abs. 3 Restrukturierungs-

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richtlinie ist es Sache der Mitgliedstaaten, die Mittel zu bestimmen, mit denen sie „grundlose“ Erschwernisse bei der Planannahme verhindern wollen. Insofern mag es durchaus als ausreichend beurteilt werden, dass Geschäftsführungsmaßnamen allgemein – wie in aller Regel – mit einfacher Mehrheit der abgegebenen Stimmen entschieden werden können (in der GmbH gemäß § 47 Abs. 1 GmbHG, in der Personengesellschaft aufgrund einer entsprechenden Mehrheitsklausel). Das kann aber letztlich offenbleiben; denn dem Gesetzgeber ist, wie unter IV. 2. dargestellt, ohnehin zu empfehlen, die Gesellschafter formal in die Annahme von Restrukturierungsplänen für den Fall einzubeziehen, dass diese gesellschafsrechtliche Maßnahmen enthalten. liegt es aus systematischen Gründen nahe, eine Einbeziehung auch für den Fall vorzusehen, dass der Plan keine gesellschaftsrechtlichen Maßnahmen enthält und die Gesellschafter demgemäß durch seine Annahme nur in ihrem Geschäftsführungsrecht betroffen werden. Die Einbeziehung sollte dann aber mit einem grundsätzlich bestehenden Stimmrecht der Gesellschafter verbunden werden; denn der (explizite) Ausschluss des Stimmrechts ließe die gesellschaftsrechtliche Kompetenz insofern zunächst unberührt (so dass ein separater Beschluss erforderlich würde). Sofern der Plan keine gesellschaftsrechtlichen Maßnahmen enthält, sollte freilich innerhalb der Gesellschafterklasse die einfache Mehrheit für seine Annahme ausreichen, und die Gesellschafter sollten insofern auch dem Mechanismus des Art. 11 Restrukturierungsrichtlinie unterworfen werden; ein Verweis auf höhere gesellschaftsrechtliche Mehrheiten ist also insofern entbehrlich. Außerdem ist es dann nicht erforderlich, die Beschwerde von Gesellschaftern gegen die gerichtliche Planbestätigung mit aufschiebender Wirkung auszustatten. V. Zusammenfassung der Umsetzungsempfehlungen 1.

Insgesamt sollte eine Einbeziehung in das Planannahmeverfahren erfolgen; ihre Ausgestaltung sollte aber danach differenzieren, ob der Plan gesellschaftsrechtliche Maßnahmen enthält oder nicht. Im Einzelnen:

2.

Eine zwangsweise Einbeziehung von Gesellschafter(rechte)n in das Planannahmeverfahren gemäß Art. 9 – 11 Restrukturierungsrichtlinie scheidet aus, sofern der Restrukturierungsplan gesellschaftsrechtliche Maßnahmen enthält, i. e. Vertrags- und (sonstige) Strukturänderungen, und die Gesellschafterrechte durch eine Planannahme aus diesem Grund unmittelbar berührt werden.

Einbeziehung der Gesellschafter in ein Restrukturierungsverfahren

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3.

Eine formale Einbeziehung der Gesellschafter kommt gleichwohl in Betracht; es ist aber sicherzustellen, dass die Planannahmeentscheidung innerhalb der Gesellschaftergruppe nur mit der nach Gesellschaftsrecht allgemein erforderlichen Mehrheit zustande kommt und die Maßnahme (abgesehen vom Zustandekommen der Entscheidung) materiellem Gesellschaftsrecht in jeder Hinsicht entspricht.

4.

Die Restrukturierungsrichtlinie steht einer derartigen modifizierenden Umsetzung nicht entgegen. Hierfür ist Art. 9 Abs. 6 Restrukturierungsrichtlinie durch den Vorbehalt etwaiger höherer gesellschaftsrechtlicher Mehrheitserfordernisse in der Gesellschafterklasse leicht modifizierend umzusetzen und das Verfahren nach Art. 11 Restrukturierungsrichtlinie zur Durchsetzung solcher Maßnahmen auszuschließen.

5.

Im Rechtsmittelverfahren gegen eine gerichtliche Planbestätigung sollte die gesellschaftsrechtliche Zulässigkeit der Maßnahme voll überprüft und die Beschwerde eines Gesellschafters gegen die Planbestätigung mit aufschiebender Wirkung ausgestattet werden. Zugleich sollte aber ein hiervon unabhängiges und rechtsformübergreifendes Freigabeverfahren vor dem Oberlandesgericht nach Vorbild des § 246a AktG geschaffen werden.

6.

Alternativ zu den Vorschlägen Nr. 1 – 4 könnte der Gesetzgeber gesellschaftsrechtliche Planinhalte auch ganz ausschließen, nähme hierdurch allerdings eine umständlichere Beschlussfassung innerhalb der Gesellschafterversammlungen in Kauf und erschwerte damit die (im Grundsatz unproblematische) freiwillige Einbeziehung der Gesellschafter in Restrukturierungsmaßnahmen.

7.

Für den Fall, dass der Restrukturierungsplan keine gesellschaftsrechtlichen Maßnahmen enthält und die Gesellschafter demgemäß durch seine Annahme nur in ihrem Geschäftsführungsrecht betroffen werden, was überdies allein für GmbH und Personen(handels)gesellschaft gilt, sollte der Gesetzgeber die Gesellschafter schon aus systematischen Gründen ebenfalls in das Planannahmeverfahren einbeziehen.

8.

In diesem Falle sollte er freilich innerhalb der Gesellschafterklasse die einfache Mehrheit ausreichen lassen und sollten die Gesellschafter auch dem Mechanismus des Art. 11 Restrukturierungsrichtlinie unterworfen werden. Außerdem ist es insofern nicht erforderlich, die Beschwerde

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von Gesellschaftern gegen die gerichtliche Planbestätigung mit aufschiebender Wirkung auszustatten. 9.

Insgesamt ist dem Gesetzgeber daher eine Einbeziehung der Anteilsinhaber durchaus zu empfehlen; sie muss in ihrer Ausgestaltung aber danach differenzieren, ob der Plan gesellschaftsrechtliche Maßnahmen (Vertrags- bzw. Strukturänderungen) enthält oder lediglich die Entscheidungsbefugnis in Geschäftsführungsangelegenheiten in Frage steht.

Insolvenzverwalter und Berufsgerichtsbarkeit JENS M. SCHMITTMANN Inhaltsübersicht I. Einführung II. Eingrenzung des Themas III. Erteilung der Berufszulassung 1. Vorauswahlverfahren 2. Anforderungen an den Zugang 3. Kammersystem IV. Verlust der Berufszulassung 1. Rücknahme und Widerruf 2. Ausschließung aus dem Berufsstand

V. Berufskammer VI. Berufsgerichtsbarkeit 1. Anschuldigungsverfahren 2. Verfahren erster Instanz 3. Verfahren zweiter Instanz a) Zuständigkeit b) Besetzung des Senats VII. Fazit und Ausblick

Der geschätzte Jubilar, der seit 2001 dem Bundesgerichtshof angehört, hat nicht nur das Insolvenzrecht sowie das Haftungsrecht der Rechtsanwälte, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer maßgeblich in den vergangenen Jahren geprägt, sondern auch das anwaltliche Berufsrecht. Er war bis zum Eintritt in den Ruhestand nicht nur Vorsitzender Richter des IX. Zivilsenats, sondern auch stellvertretender Vorsitzender des Senats für Anwaltssachen sowie Vorsitzender des Senats für Patentanwaltssachen. Durch den Koalitionsvertrag von 20181) ist die Frage nach einem Berufsrecht der Insolvenzverwalter in den Fokus gerückt. Die sich stellenden rechtlichen Fragen liegen an der Schnittstelle zwischen Insolvenz- und Berufsrecht und damit im Tätigkeitsschwerpunkt von Godehard Kayser. I. Einführung Fragen des Berufsrechts der Insolvenzverwalter fristeten über Jahrzehnte ein Schattendasein. Lange Zeit gingen Rechtsprechung und Literatur davon aus, dass Rechtsanwälte, in seltenen Fällen auch Steuerberater und Wirtschaftsprüfer, die Tätigkeit als Konkurs- und Insolvenzverwalter „ne1)

Siehe Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD – 19. Legislaturperiode, v. 7.2.2018, abrufbar unter https://www.bundesregierung.de/resource/blob/975226/847984/ 5b8bc23590d4cb2892b31c987ad672b7/2018-03-14-koalitionsvertragdata.pdf?download=1 (Abrufdatum: 19.7.2019).

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benbei“ zusätzlich zu ihrer hauptberuflichen Tätigkeit erledigen. In der öffentlichen Wahrnehmung wurden Konkurs- und Insolvenzverwalter bisweilen sogar als „Totengräber, Bestatter, Ferkelstecher oder Leichenfledderer“ angesehen.2) Schon Jaeger wies aber darauf hin, dass die Auswahl des Verwalters durch das Gericht die „Schicksalsfrage“ des Verfahrens sei,3) was zu einem gewissen „Heldenmythos“ führt.4) Nur der Vollständigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass für den Fall, dass ein Berufsträger i. R. seiner Stellung als geschäftsführender Gesellschafter bei einer GmbH als Insolvenzverwalter tätig wird, er zwar in dieser Funktion eine Vielzahl anwaltlicher Tätigkeiten ausübt, aber nicht in Rechtsangelegenheiten seiner Arbeitgeberin tätig wird, sondern in seiner Funktion als Insolvenzverwalter, so dass eine Zulassung als Syndikusrechtsanwalt in diesem Fall ausscheidet.5) Das Bundesverfassungsgericht hat im Jahre 2014 entschieden, dass die Tätigkeit von Insolvenzverwaltern angesichts der Entwicklung in den letzten zwei Jahrzehnten nicht mehr „(…) als bloße Nebentätigkeit der Berufsausübung von Rechtsanwälten oder von Kaufleuten“ angesehen werden könne. Vielmehr habe sich die Betätigung als Insolvenzverwalter „(…) zu einem eigenständigen Beruf (…)“ entwickelt.6) Der Bundesfinanzhof hatte schon im Jahre 2001 konstatiert, dass die Tätigkeit eines Konkurs-, Zwangs- und Insolvenzverwalters eine vermögensverwaltende Tätigkeit i. S. des § 18 Abs. 1 Nr. 3 EStG und keine freiberufliche Tätigkeit i. S. des § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG sei.7) Diese Rechtsprechung

2)

3) 4) 5) 6) 7)

Vgl. Uhlenbruck, Das Bild des Insolvenzverwalters – Der Versuch einer Orientierung im Widerstreit vielfältiger Interessen, KTS 1998, 1; Uhlenbruck, Vom Totengräber zum verfassungsrechtlich geschützten Berufsbild des Insolvenzverwalters, in: FS Wellensiek, 2011, S. 361. So Weber in: Jaeger, KO, 9. Aufl. 1977 ff., § 78 Rz. 2. So treffend: Mönning, Beteiligung der Gläubiger bei der Auswahl des Insolvenzverwalters, in: FS Görg, 2010, S. 291, 294. So AGH Hessen, Urt. v. 13.3.2017 – 1 AGH 9/16, NZI 2018, 181 ff., m. Anm. Henssler/ Pant. So BVerfG, Beschl. v. 3.8.2004 – 1 BvR 135/00 und 1 BvR 1086/01, Rz. 28, ZIP 2004, 1649 = WM 2004, 1781. So BFH, Urt. v. 12.12.2001 – V R 56/00, Rz. 12, BStBl. II 2002, 202 = ZIP 2002, 359; unter Hinweis auf BFH, Urt. v. 11.5.1989 – IV R 152/86, BStBl. II 1989, 729 = ZIP 1989, 1209; BFH, Urt. v. 5.7.1973 – IV R 129/69, BStBl. II 1973, 730 = BFHE 110, 40; BFH, Urt. v. 29.3.1961 – IV 404/60 U, BStBl. III 1961, 306 = BFHE 73, 100.

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hat der Bundesfinanzhof zunächst bestätigt und fortentwickelt,8) bis er seine Rechtsprechung unter Aufgabe der sog. „Vervielfältigungstheorie“ modifiziert und konstatiert hat, dass es sich nicht um eine anwaltstypische Tätigkeit handele, weil es anderenfalls zu einer nicht begründbaren Ungleichbehandlung zwischen hauptberuflichen Insolvenz- und Zwangsverwaltern aus dem Kreis der freien Berufe i. S. von § 18 Abs. 1 Nr. 1 EStG einerseits und andererseits solchen käme, die nicht diesen Berufen angehören.9) Der Bundesfinanzhof hat in seiner Rechtsprechung insbesondere herausgearbeitet, dass sich die Tätigkeit als Insolvenzverwalter in den letzten Jahrzehnten zu einem verfassungsrechtlich geschützten – eigenständigen – Beruf entwickelt habe. Daher verwundert nicht, dass in jüngster Zeit im Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD („Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land.“) vom 7. Februar 201810) ausgeführt wird: „Wir werden gesetzliche Rahmenbedingungen für die Berufszulassung und -ausübung von Insolvenzverwalterinnen und Insolvenzverwaltern sowie Sachwalterinnen und Sachwaltern regeln, um im Interesse der Verfahrensbeteiligten eine qualifizierte und zuverlässige Wahrnehmung der Aufgaben sowie effektive Aufsicht zu gewährleisten.“11)

Obgleich zum Teil der Insolvenzverwalter als „(…) Beruf in Auflösung (…)“12) angesehen wird, sehen die Regierungsparteien offenbar – möglicherweise im Hinblick auf Missbrauchsfälle13) in der Vergangenheit –

8) 9)

10) 11) 12) 13)

Vgl. BFH, Beschl. v. 7.4.2009 – VIII B 191/07, ZIP 2009, 1244 = BFH/NV 2009, 1078; BFH, Beschl. v. 14.7.2008 – VIII B 179/07, BFH/NV 2008, 1874. So BFH, Urt. v. 15.12.2010 – VIII R 50/09, Rz. 19, BStBl. II 2011, 506 = ZIP 2011, 582; BFH, Urt. v. 15.6.2010 – VIII R 10/09, Rz. 22, BStBl. II 2010, 906 = ZIP 2010, 1858; BFH, Urt. v. 15.6.2010 – VIII R 14/09, BStBl. II 2010, 909 = BFHE 230, 54 – zum Berufsbetreuer. Siehe Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD – 19. Legislaturperiode, v. 7.2.2018. So Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD – 19. Legislaturperiode, v. 7.2.2018, Zeile 6219 ff. So Frind, Verwalters Zukunft? – Bundesvorauswahl-Liste ja – Berufsordnung nein, ZInsO 2017, 2146, 2153. Vgl. unlängst zur Frage der Verwirkung des Vergütungsanspruchs durch strafbare Pflichtverletzung des Insolvenzverwalters: BGH, Beschl. v. 22.11.2018 – IX ZB 14/18, ZIP 2019, 82 (Strafbare Untreue durch Kick-Back-Geschäfte); BGH, Beschl. v. 14.7.2016 – IX ZB 52/15, ZIP 2016, 1648 (Verwirkung des Vergütungsanspruchs durch Verschweigen von Pflichtwidrigkeiten in einer Vielzahl von früheren Insolvenzverfahren).

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Handlungsbedarf. Der Senat des Jubilars – allerdings in einer Spruchgruppe ohne seine Beteiligung – hat zu Recht konstatiert, dass ein Anscheinsbeweis dafür streitet, dass ein Insolvenzverwalter bei sorgfältiger Überwachung nicht wagt, sich durch strafbare Handlungen an den ihm anvertrauten Werten zu vergreifen.14) Obgleich seit mehr als 50 Jahren15) gerichts- und politikkundig ist, dass es Untreue bei Konkurs- und Insolvenzverwaltern gibt,16) blieb die Schaffung eines Berufsrechts für Insolvenzverwalter bislang aus.17) II. Eingrenzung des Themas Dieser Beitrag kann und soll nicht die ganze Bandbreite der Diskussion um die Schaffung eines Berufsrechts für Insolvenzverwalter und die An-

14) 15)

16) 17)

So BGH, Urt. v. 9.10.2014 – IX ZR 140/11, Rz. 36, BGHZ 202, 324 = ZIP 2014, 2244. Der BGH (BGH, Urt. v. 11.12.1967 – VII ZR 139/65, BGHZ 49, 121 = WM 1968, 99) hatte über die Haftung des Gläubigerausschusses zu entscheiden, nachdem der zum Konkursverwalter bestellte Rechtsanwalt in den Jahren 1959 bis 1962 zur Konkursmasse gehörende Gelder veruntreut hat. Der Sachverhalt aus der Entscheidung des BGH (BGH, Urt. v. 7.2.2019 – IX ZR 47/18, ZIP 2019, 718, dazu EWiR 2019, 277 ff. (Schulte/Kaubrügger) = WM 2019, 629 ff. = NZI 2019, 414 ff., m. Anm. Zuleger. Dokumentiert die Veruntreuung durch einen Insolvenzverwalter i. H. von 588.000 €. Vgl. die umfassende Zusammenstellung bei Frind in: HambKomm-InsO, 6. Aufl. 2017, § 58 Rz. 3a. Vgl. Schmittmann, Koalitionsvertrag 2018: insolvenzberufsrechtlich betrachtet, INDat Report 1/2018, S. 42 f.

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forderungen an sie abbilden,18) sondern fokussiert sich auf die Erteilung der Berufszulassung, also die Aufnahme auf die Liste,19) und den Verlust der Berufszulassung, also die Streichung von der Vorauswahlliste. Fragen eines Berufsverbots nach §§ 61 Nr. 6, 70 StGB bleiben außer Betracht.20) Ebenso geht es hier nicht um Fragen der Entlassung des Insol-

18)

19)

Vgl. Arndt, Die Zukunft des Berufsstandes des Insolvenzverwalters in Deutschland im europäischen Vergleich (D, AT, ES, F, HU, I, IRL, ENG&WAL) vor dem Hintergrund anstehender Europarechtlicher Regelungen zur Harmonisierung mitgliedstaatlicher Rechte, 2017; Blankenburg/Kramer/Noll/Sauer-Colberg, Verwalterauswahl nach dem Hannoveraner Modell, ZInsO 2017, 1018; Bork, Die gerichtliche Informationsgewinnung im Vorfeld der Bestellung von Insolvenzverwaltern, ZIP 2017, 2173; Bork/Thole, Die Verwalterauswahl: Gerichtliche Informationsgewinnung, Qualitätsmessung und der Einfluss von Zertifizierungen, 2018; Frind, Zur Geltungsreichweite und Nutzen einer Berufsverordnung für Insolvenzverwalter, NZI 2018, 729; Ganter, Der Beruf des Insolvenzverwalters zwischen allen Stühlen?, NZI 2018, 137; Ganter, Die Aufsicht des Insolvenzgerichts und ihre Grenzen, ZInsO 2017, 2517; Hammes, Keine Eigenverwaltung ohne Berater? Zu Risiken und Nebenwirkungen einer scheinbaren Selbstverständlichkeit, NZI 2017, 233; Hirte, Berufsrecht holt Vergütung automatisch auf den Tisch, INDat Report 1/2018, S. 28; Kästner, Argumenten für Berufsrecht und Verwalterkammer: Weit mehr als nur der guten Ordnung halber, INDat Report 7/2018, S. 11; Moderegger, Fragwürdige Verwalterauswahl beim AG – Insolvenzgericht – Hannover, NZI 2017, 241; Neubert, Das Hannoveraner Modell in der Praxis, ZInsO 2017, 1649; Pape, Vorauswahl und Bestellung von Insolvenzverwaltern im Lichte der Rechtsprechung des BGH, ZInsO 2017, 1341; Pollmächer/Siemon, Der Bundesinsolvenzverwalter für die InsO oder die unverbindliche Vorauswahlliste, NZI 2017, 93; Prütting, Eigenständige Berufsordnung zwingend erforderlich, INDat Report 7/2018, S. 22; Reuter, Berufsbild nicht in Auflösung, aber im extremen Wandel, INDat Report 1/2018, S. 74; Riel, Die Verwalterauswahl nach der österreichischen Insolvenzordnung, NZI 2017, 832; Römermann, Berufsrecht von Insolvenzverwaltern im Werden – ein konkreter Vorschlag, ZIP 2018, 1757; Schmittmann, INDat Report 1/2018, S. 42; Siemon, Der Verwaltermarkt in der Krise, NZI 2017, 741; Siemon, Qualität und Leistungsanforderungen in der Insolvenzverwaltung, NZI 2017, 825; Smid, Kritische Anmerkungen zur Diskussion um Verwalterauswahl und Insolvenzverwalterkammer, ZInsO 2018, 1825; Thole, Insolvenzverwalterberufe in Europa – wie machen es die Nachbarn?, KTS 2018, 225; Thole, Problemfälle des Anwaltsrechts im Insolvenzverfahren und bei der Restrukturierung, NZI 2017, 737; Thole, Zertifizierungen und Qualitätsmessung bei der Verwalterauswahl, ZIP 2017, 2183; Vallender, Die Zeit ist reif – Plädoyer für eine Berufsordnung der Insolvenzverwalter, NZI 2017, 641; Vallender, Einführung einer Insolvenzverwalterkammer als Träger der Berufsaufsicht über Insolvenzverwalter, NZI 2017, 777; Vallender, Europäische Anforderungen an den Verwalterstand, ZIP 2018, 353; Vallender, Große oder kleine Lösung? – Überlegungen zu einem künftigen Berufsrecht für Insolvenzverwalter, ZIP 2019, 158. Vgl. dazu: BAKinso e. V., Eckpunktepapier „Notwendige und ausreichende Regelungen im insolvenzrechtlichen Berufsrechtsbereich von Insolvenzverwalter*innen/ Sachwalter*innen/PIFOR“, ZInsO 2019, 604.

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venzverwalters gemäß § 59 InsO.21) Auch kartellrechtliche Fragen werden nicht behandelt.22) Der Senat für Anwaltssachen des Bundesgerichtshofes hat unter dem Vorsitz des Jubilars die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes aufgenommen, nach der die Insolvenzverwaltung einen eigenständigen Beruf darstellt, aber gleichwohl entschieden, dass die Tätigkeit als Insolvenzverwalter i. S. von § 56 InsO zum Berufsbild des Rechtsanwalts gehört.23) Die Meinungsverschiedenheiten um die Notwendigkeit einer Berufsordnung haben im Übrigen soweit geführt, dass ein Mitglied des Vorstandes des Verbands Insolvenzverwalter Deutschlands e. V. (VID) am 11. Mai 2018 zurückgetreten ist und u. a. erklärt hat: „Qualitätssicherung durch eine Kammer funktioniert schon bei den Anwälten nicht. Aus meiner Sicht ist eine gesetzlich geregelte Berufsordnung daher abzulehnen.“24)

III. Erteilung der Berufszulassung Die Erteilung der Berufszulassung knüpft an die Aufnahme auf die Vorauswahlliste an, die i. R. eines Kammersystems der rechtstaatlichen Selbstverwaltung unterliegen sollte.

20)

21)

22) 23)

24)

Nach der Rechtsprechung des BGH (BGH, Beschl. v. 20.2.2001 – 5 StR 544/00, NStZ 2001, 380 = HFR 2001, 1198) ist z. B. die Entwicklung eines „Steuermodells“ für einen Mandanten durch einen Rechtsanwalt, das diesem ermöglichte, unter Verwendung überhöhter Rechnungen in der Buchhaltung über einen längeren Zeitraum eine Verkürzung von Körperschaft-, Gewerbe-, Umsatz- und Einkommensteuer herbeizuführen, als Anstiftung zur Steuerhinterziehung zu werten und grundsätzlich geeignet, ein Berufsverbot für den Beruf Rechtsanwalt auszulösen. So kann das Insolvenzgericht z. B. einen Verwalter wegen mangelnder Erreichbarkeit, Täuschung über die eigene Eignung, unterlassener Anzeige an einer bestehenden Interessenkollision, Verdacht von Straftaten, permanenter Arbeitsüberlastung und Nichtbeachtung insolvenzgesetzlicher Rangfolgen entlassen; vgl. Ries in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 59 Rz. 8; Riedel in: Kayser/Thole, InsO, 9. Aufl. 2018, § 59 Rz. 3. Vgl. dazu: Siemon, NZI 2017, 741. So BGH, Urt. v. 6.7.2015 – AnwZ(Brfg) 24/14, Rz. 23, ZIP 2015, 1546 = NZI 2015, 910 unter Bezugnahme auf BGH, Urt. v. 17.1.1985 – IX ZR 59/84, BGHZ 93, 278 = ZIP 1985, 359, vgl. dazu: Thole, Problemfälle des Anwaltsrechts im Insolvenzverfahren und bei der Restrukturierung, NZI 2017, 937. Vgl. o. Verf., Kritikpunkt Berufsordnung: Rücktritt im VID-Vorstand, INDat Report 3/ 2018, S. 9.

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1. Vorauswahlverfahren Im Hinblick darauf, dass es sich bei dem Insolvenzverwalterberuf um einen eigenständigen Beruf handelt, bedarf es zur Erteilung der Berufszulassung eines rechtsstaatlichen Verfahrens, das sich zweckmäßigerweise an das Verfahren bei der Bestellung von Rechtsanwälten, Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern anlehnt. Anders als bei Rechtsanwälten, Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern, die ihre Aufträge von natürlichen und juristischen Personen im Wege des Vertragsschlusses erhalten, setzt eine Tätigkeit als Insolvenzverwalter voraus, dass das Insolvenzgericht gemäß § 27 Abs. 1 Satz InsO einen Bewerber im Eröffnungsbeschluss zum Insolvenzverwalter ernennt. Gemäß § 56 Abs. 1 InsO ist der Insolvenzverwalter aus dem Kreis aller zur Übernahme von Insolvenzverwaltungen bereiten Personen auszuwählen. Die Zulassung zum Beruf wird daher in der Aufnahme in die Vorauswahlliste liegen. Im Folgenden wird daher von einem Gleichlauf zwischen Zulassung zum Beruf und Aufnahme auf die Vorwahlliste (sog. „Amtsträgerregister“) ausgegangen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes vermittelt Art. 3 Abs. 1 GG den Bewerbern um das Amt des Insolvenzverwalters einen Rechtsanspruch auf fehlerfreie Ausübung des Auswahlermessens nach § 56 Abs. 1 InsO.25) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ist ein Verfahren erforderlich, das dem Richter nicht nur eine zügige Eignungsprüfung für das konkrete Verfahren ermöglicht, sondern ihm außerdem hinreichende Informationen für eine pflichtgemäße Ausübung des Ausfallermessens verschafft und verfügbar macht. Der Bundesgerichtshof führt dazu aus, dass es ein „(…) dem konkreten Insolvenzverfahren vorgelagertes allgemeines Vorauswahlverfahren (…)“ geben muss, in dem die Erhebung, Verifizierung und Strukturierung der Daten gewährleistet wird, die nach der Einschätzung des jeweiligen Insolvenzrichters nicht nur für die Feststellung der Eignung eines Bewerbers im konkreten Fall maßgebend sind, sondern vor allem auch eine sachgerechte Ermessensausübung bei der Auswahl des Insolvenzverwalters aus dem Kreis der geeigneten Bewerber ermöglichen.26) Diesem Zweck dient die

25) 26)

So BVerfG, Beschl. v. 23.5.2006 – 1 BvR 2530/04, Rz. 31, BVerfGE 116, 1 = ZIP 2006, 1355. So BGH, Beschl. v. 19.12.2007 – V AR (VZ) 6/07, Rz. 19, ZIP 2008, 515 = NZI 2008, 161.

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sog. „Vorauswahlliste“. Diese Liste ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes27) und des Bundesgerichtshofes28) so zu führen, dass „(…) in sie jeder Bewerber eingetragen werden muss, der die grundsätzlich zu stellenden Anforderungen an eine generelle, von der Typizität des einzelnen Insolvenzverfahrens gelöste Eignung für das erstrebte Amt im Rahmen eines Insolvenzverfahrens erfüllt.“

2. Anforderungen an den Zugang Die Aufnahme in die „Vorauswahlliste“ entspricht somit dem Zugang zum Beruf, der für Rechtsanwälte z. B. in § 4 BRAO geregelt ist. Im Folgenden werden die Begrifflichkeiten „Zulassung als Insolvenzverwalter“, „Berufszulassung“, „Amtsträgerregister“ und „Aufnahme auf die Vorauswahlliste“ zum Teil synonym verwendet. Es dürfte sich angesichts der verfassungsgerichtlichen Vorgaben anbieten, einen Anforderungskatalog zu schaffen, der nicht dem eines Rechtsanwalts, Steuerberaters oder Wirtschaftsprüfers entspricht, sondern sich nach den besonderen Anforderungen des Berufes eines Insolvenzverwalters richtet.29) Der VID hat dazu am 18. Dezember 2018 ein Eckpunktepapier veröffentlicht in dem es unter anderem heißt, dass zugelassene Insolvenzverwalter in einem bundeseinheitlichen Amtsträgerregister geführt werden, das Gläubiger und Gerichte über besondere qualifizierende Merkmale informiert.30) Die Aufnahme auf die Vorauswahlliste bzw. das Amtsträgerregister wird zu versagen sein, wenn ein hinreichender Grund vorliegt. Insoweit ist es zweckmäßig, sich an den Versagungsgründen in § 4 BRAO zu orientieren. 3. Kammersystem Der VID befürwortet die selbstverwaltende Aufsicht in Form einer Insolvenzverwalterkammer nach dem Vorbild der Notare.31) Eine Kammer schaffe zudem die Möglichkeit einer erfolgreichen Interessenvertretung sowie einer sachverständigen Beratung staatlicher Stellen.32) 27) 28) 29) 30) 31)

32)

So BVerfG, Beschl. v. 19.7.2006 – 1 BvR 1351/06, Rz. 8, ZIP 2006, 1541 = NZI 2006, 636. So BGH, Beschl. v. 19.12.2007 – V AR (VZ) 6/07, Rz. 19, ZIP 2008, 515 = NZI 2008, 161. Vgl. zu den Anforderungen auch: Vallender, ZIP 2019, 158, 162 Vgl. VID, Eckpunktepapier – Berufsrecht, v. 18.12.2018, abrufbar unter https:// www.vid.de/initiativen/eckpunktepapier-berufsrecht/ (Abrufdatum: 19.7.2019). Vgl. hierzu VID, Pressemitteilung v. 18.12.2018, abrufbar unter https://www.vid.de/ pressemitteilung/vid-veroeffentlicht-eckpunktepapier-zum-berufsrecht-fuer-insolvenzverwalter/ (Abrufdatum: 19.7.2019). So Niering, Zulassung, Berufsordnung und Kammer für Insolvenzverwalter, in: FS Graf-Schlicker, 2018, S. 643, 656.

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Nach Auffassung von Vallender ist im Hinblick auf die überschaubare Zahl von künftigen Kammermitgliedern lediglich eine Bundesinsolvenzverwalterkammer einzurichten und davon abzusehen, Insolvenzverwalterkammern im Bezirk eines Oberlandesgerichts einzurichten.33) Auch GrafSchlicker plädiert angesichts einer Mitgliederzahl von 3.500 Verwaltern zu einer Bundeskammer, wobei sie als hinderlich ansieht, dass es außer vom VID von keiner Berufsinstitution Unterstützung für eine solche Lösung gibt.34) Die Bundesrechtsanwaltskammer, der Deutsche Anwaltsverein, die Neue Insolvenzverwaltervereinigung Deutschlands sowie der Gravenbrucher Kreis lehnen sogar eine eigenständige Kammer ab. Die Besonderheit einer solchen Kammer sei, dass ihr auch Nichtanwälte angehören könnten.35) M. E. ist fraglich, ob Graf-Schlicker, Niering36)und Vallender37) beizupflichten ist, dass eine Bundesinsolvenzkammer ausreicht und die Einrichtung von Kammern in den Bezirken der Oberlandesgerichte nicht erforderlich ist. Auf den ersten Blick spricht einiges dafür. In Bremen wurden z. B. im Jahre 2018 lediglich rund zehn Personen regelmäßig zum Insolvenzverwalter bestellt.38) Im Saarland wurden zwar ca. 30 Personen im Jahre 2018 regelmäßig zum Insolvenzverwalter bestellt, wobei aber zu berücksichtigen ist, dass die genannten Personen auch in anderen Bundesländern als Insolvenzverwalter tätig waren.39) Bei Kammern mit sehr wenigen Mitgliedern besteht das latente Risiko einer unprofessionellen Selbstverwaltung und einer übermäßigen Belastung der Mitglieder mit den Kosten der Kammer, was aber dadurch kompensiert werden könnte, dass Bundesländer übergreifende Kammern gebildet werden. So könnten z. B. Rheinland-Pfalz und das Saarland eine Insolvenzverwalterkammer bilden sowie Bremen und Niedersachsen eine gemeinsame Kammer. IV. Verlust der Berufszulassung Ungeachtet eines strafrechtlichen Berufsverbots ist zu regeln, in welchem Verfahren eine Streichung von der Vorauswahlliste (sog. „Delisting“), die 33) 34) 35) 36) 37) 38) 39)

So Vallender, ZIP 2019, 158, 164. Vgl. dazu: Reuter, Kleine Kammer unter großem Dach, INDat Report 2/2019, S. 28, 30. Vgl. dazu: Reuter, INDat Report 2/2019, S. 28, 30. Siehe Niering in: FS Graf-Schlicker, 2018, S. 643, 656. So Vallender, ZIP 2019, 158, 164. So o. Verf., Statistikländer: Bremen, INDat Report 1/2019, S. 22. Vgl. o. Verf., Statistikstädte: Saarland, INDat Report 1/2019, S. 106.

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dem Verlust der Berufszulassung entspricht, erfolgen kann. Gesondert zu regeln sind Rücknahme und Widerruf der Zulassung durch die Insolvenzverwalterkammer sowie die Ausschließung aus dem Beruf als berufsgerichtliche Maßnahme.40) Nicht als Verlust der Berufszulassung ist das „kalte“ Delisting anzusehen, also die dauerhafte Nichtbestellung eines in der Vorauswahlliste aufgeführten Bewerbers, ohne förmliche gerichtliche Entscheidung.41) Geeignete Bewerber als Insolvenzverwalter haben einen Anspruch auf pflichtgemäße Ermessensausübung, so dass jeder Bewerber eine faire Chance hat, entsprechend seiner Eignung berücksichtigt zu werden.42) Dies kann aber dazu führen, auch über einen längeren Zeitraum nicht bestellt zu werden. 1. Rücknahme und Widerruf Orientiert sich der Gesetzgeber – was zweckmäßig wäre – an den Vorschriften der BRAO, so ist die Aufnahme auf die Vorauswahlliste mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen, wenn Tatsachen nachträglich bekannt werden, bei deren Kenntnis die Zulassung hätte versagt werden müssen. Hier handelt es sich insbesondere um Tatsachen, die einer Aufnahme auf die Liste entgegenstehen,43) aber auch unzutreffende Angaben, um die Aufnahme auf die Liste zu „erschleichen“, also insbesondere die Täuschung über die eigene Eignung.44) Hinsichtlich der Widerrufsgründe bietet sich eine Orientierung an § 14 Abs. 2 BRAO an, wobei allerdings insolvenzverwalterspezifische Beson40) 41)

42) 43) 44)

Vgl. Vallender, ZIP 2019, 158, 164. Nach der Rechtsprechung des BVerfG (BVerfG, Beschl. v. 15.2.2010 – 1 BvR 285/10, ZIP 2010, 1103 = NZI 2010, 413) kann ein gerichtlicher Ermessensfehler darin liegen, dass ein Bewerber trotz seiner Eignung von vornherein nicht in die Auswahlentscheidung einbezogen wird. So BVerfG, Beschl. v. 12.7.2006 – 1 BvR 1493/05, ZIP 2006, 1956 = WM 2006, 1680. Hier könnte sich der Gesetzgeber an den Vorschriften über die Versagung der Zulassung gemäß § 7 BRAO orientieren. Der BGH (BGH, Beschl. v. 6.5.2004 – IX ZB 349/02, BGHZ 159, 122 = ZIP 2004, 1214) hat eine Person, die sich mit falschem Diplom-Titel unter Vorspiegelung nicht vorhandener Qualifikation in strafbarer Weise die Bestellung zum Insolvenzverwalter erschlichen hat, von der Festsetzung einer Vergütung ausgeschlossen; vgl. dazu auch Ries in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 59 Rz. 8; Riedel in: Kayser/Thole, InsO, 9. Aufl. 2018, § 59 Rz. 3. Im Fall eines Zwangsverwalters hat der BGH (BGH, Beschl. v. 23.9.2009 – V ZB 90/09, NZI 2009, 820 = NZM 2010, 50) entschieden, dass wer bei der Bestellung unbefugt einen Doktor- oder Diplom-Titel führe, unzuverlässig sei und nicht zum Zwangsverwalter bestellt werden könne.

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derheiten zu berücksichtigen sind. Der Verf. schlägt dazu vor, dass die Streichung von der Vorauswahlliste zudem zu erfolgen hat, wenn der Insolvenzverwalter in mindestens drei Fällen von einem Insolvenzgericht gemäß § 59 InsO aus dem Amt entlassen worden ist. Im Hinblick darauf, dass die Entlassung aus dem Amt des Insolvenzverwalters stets „ultima ratio“ ist,45) indiziert eine dreifache Entlassung durch das Insolvenzgericht, dass der Berufsträger schwerwiegende Pflichtverletzungen begangen hat, die einen weiteren Verbleib auf der Vorauswahlliste und damit die Möglichkeit einer weiteren Bestellung zum Insolvenzverwalter ausschließen. Die Insolvenzgerichte sind gesetzlich zu verpflichten, jeden Fall der Entlassung eines Insolvenzverwalters an die Insolvenzverwalterkammer zu melden. 2. Ausschließung aus dem Berufsstand Weiterhin kommt eine Ausschließung aus dem Berufstand als berufsgerichtliche Maßnahme in Betracht. Sofern der Gesetzgeber sich an § 114 BRAO orientiert, so können die Maßnahmen Warnung, Verweis und Geldbuße bis zu 25.000 € übernommen werden. Das in § 114 Abs. 1 Nr. 4 vorgesehene Verbot, auf bestimmten Rechtsgebieten als Vertreter und Beistand für die Dauer von einem Jahr bis zu fünf Jahren tätig zu werden, ist auf den Beruf des Insolvenzverwalters nicht übertragbar, da die auf der Liste aufgenommenen Berufsträger lediglich auf dem Rechtsgebiet des Insolvenzrechts tätig sind. Eine Unterscheidung nach Regel- und Verbraucherinsolvenzverfahren erscheint nicht zweckmäßig. Wer z. B. in einem Unternehmensinsolvenzverfahren Insolvenzmasse veruntreut, dokumentiert damit zugleich auch seine Unfähigkeit, in einem Verbraucherinsolvenzverfahren tätig zu werden. Es kann insbesondere nicht argumentiert werden, dass im Verbraucherinsolvenzverfahren regelmäßig weniger Anreiz besteht, Straftaten gegen die Masse zu begehen. Zum einen ist die Unterschlagung von Teilen der Insolvenzmasse hinreichendes Indiz dafür, dass der Berufsträger nicht integer genug ist, überhaupt fremdes Vermögen zu verwalten. Darüber hinaus kann auch in Insolvenzverfahren eine nennenswerte Insolvenzmasse vorliegen, z. B. wenn der Schuldner erbt. Zudem kommt aus verfassungsrechtlichen Gründen ein Vertretungsverbot dann nicht in Betracht, wenn es existenzvernichtende Wirkung entfal45)

So Ries in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 59 Rz. 1.

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tet und im Ergebnis einer Ausschließung aus dem Beruf gleichkommt.46) Wer sich auf eine Tätigkeit als Unternehmensinsolvenzverwalter eingerichtet hat und auf die Bearbeitung von Verbraucherinsolvenzverfahren – wenn auch nur temporär – beschränkt wird, hat eine existenzvernichtende Wirkung zu gegenwärtigen. Auch dies spricht dafür, dass eine berufsgerichtliche Maßnahme i. S. eines Verbots, auf bestimmten Rechtsgebieten tätig zu sein, ungeeignet ist. Die Ausschließung aus dem Berufsstand, also die Streichung von der Liste, kommt lediglich dann in Betracht, wenn der Insolvenzverwalter seine beruflichen Pflichten so gröblich verletzt hat, dass er für die Ausübung des Berufes nicht weiter tragbar ist.47) Die Rechtsprechung geht davon aus, dass in Fällen der Verurteilung eines Rechtsanwalts wegen Untreue, wegen Betruges, wegen Parteiverrats oder Aussagedelikten eine Ausschließung erfolgt.48) Weiterhin ist auch bei einer Verurteilung wegen Begünstigung, Insolvenzverschleppung49), Beitragsvorenthaltung, Unterlassen der Umsatzsteuervoranmeldung, Urkundenfälschung und Hehlerei sowie Verstoß gegen ein strafgerichtliches Berufsverbot auf Ausschließung zu erkennen.50) Für den Fall der Streichung von der Vorauswahlliste wäre noch zu ergänzen, dass ein Regelfall dann vorliegt, wenn der Insolvenzverwalter beharrlich gegen seine Berichtspflichten gegenüber dem Insolvenzverwalter verstoßen hat und Zwangsgeldfestsetzungen gegen ihn ohne Erfolg geblieben sind. Weiterhin kommt eine Streichung von der Vorauswahlliste in Betracht, wenn der Berufsträger Interessenkollisionen gegenüber dem Insolvenzgericht verschwiegen hat und damit seine Integrität und Aufrichtigkeit als Insolvenzverwalter gefährdet ist. Das Berufsverbot nach § 70 StGB soll die Allgemeinheit vor weiteren Gefährdungen schützen. Demgegenüber dient die Ausschließung aus dem Berufsstand wesentlich der Reinhaltung des Berufsstandes vor untragbaren Mitgliedern.51) 46) 47) 48) 49) 50) 51)

So Dittmann in: Henssler/Prütting, BRAO, 4. Aufl. 2014, § 114 Rz. 12, unter Hinweis auf BGH, Urt. v. 9.12.1985 – AnwSt (R) 13/85, BRAK-Mitt. 1986, 172. So Dittmann in: Henssler/Prütting, BRAO, 4. Aufl. 2014, § 114 Rz. 14 – für Rechtsanwalt; Reelsen in: Feuerich/Weyland, BRAO, 9. Aufl. 2016, § 114 Rz. 44. Vgl. Reelsen in: Feuerich/Weyland, BRAO, 9. Aufl. 2016, § 114 Rz. 47 ff. Siehe AGH Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 4.7.2014 – 2 AGH 1/14. So Reelsen in: Feuerich/Weyland, BRAO, 9. Aufl. 2016, § 114 Rz. 51 ff. So Reelsen in: Feuerich/Weyland, BRAO, 9. Aufl. 2016, § 114 Rz. 43.

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Bei Rechtsanwälten ist gemäß § 7 Nr. 3 BRAO vorgesehen, dass die Ausschließung aus der Rechtsanwaltschaft eine erneute Zulassung für die Dauer von acht Jahren hindert, was allerdings eine Bewertung des zu der Maßnahme führenden Verhaltens nach § 7 Nr. 5 BRAO nicht ausschließt. Eine entsprechende Regelung sollte auch für die Insolvenzverwalter eingeführt werden. Dabei ist auch zu Recht für den Fristbeginn auf die Rechtskraft des Urteils abzustellen, mit dem der Insolvenzverwalter aus der Liste ausgeschlossen worden ist. Verzögert sich das Verfahren, so kann der Berufsträger währenddessen seinen Beruf weiterhin ausüben. Es ist also nur konsequent, dass auf die Rechtskraft des Urteils abgestellt wird, um zu sachgerechten Ergebnissen zu kommen. V. Berufskammer Die zu schaffende Berufskammer entscheidet über die Berufszulassung und führt das Register der zugelassenen Insolvenzverwalter („Vorauswahlliste“). Darüber hinaus soll sie für die Berufsaufsicht zuständig sein.52) Im Insolvenzverfahren ist strikt zwischen der Entlassung eines Insolvenzverwalters gemäß § 59 InsO durch das Insolvenzgericht und der Streichung von der Vorauswahlliste durch die Kammer zu unterscheiden. Es wird somit ein – beabsichtigtes – Nebeneinander von Berufsaufsicht und Aufsicht im einzelnen Verfahren geben, was einen intensiven Informationsaustausch zwischen Insolvenzverwalterkammern und Insolvenzgerichten erfordert.53) Die Berufskammer wird i. R. ihrer Tätigkeit Verwaltungsakte nach der Berufsordnung erlassen. Gegen diese ist der Rechtsweg zur Berufsgerichtsbarkeit zu eröffnen. Analog den heutigen Regelungen in der BRAO sind das VwVfG sowie die VwGO anzuwenden. Der Vorschlag von Graf-Schlicker, die Bundesinsolvenzverwalterkammer als 29. Kammer unter dem Dach der Bundesrechtsanwaltskammer einzurichten,54) ist pragmatisch, dürfte aber die „faktische Vorherrschaft“ der Rechtsanwälte im Bereich der Insolvenzverwaltung deutlich verfestigen. Die „neue“ Kammer bedarf m. E. nicht zwingend eines Daches. Die Bundeslotsenkammer ist Körperschaft des öffentlichen Rechts und die auto52) 53) 54)

Vgl. Vallender, ZIP 2019, 158, 165; Niering in: FS Graf-Schlicker, 2018, S. 643, 656. So zutreffend Vallender, ZIP 2019, 158, 165. Vgl. dazu Reuter, INDat Report 2019, S. 28, 30.

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nome gesetzliche Interessensvertretung der sieben Deutschen Lotsenbrüderschaften. Sie umfasst von rund 800 Berufsträgern.55) Die Patentanwaltskammer ist ebenso eine Körperschaft des öffentlichen Rechts und hat derzeit rund 3.600 Mitglieder.56) VI. Berufsgerichtsbarkeit Die Berufsgerichtsbarkeit wird die Rechtmäßigkeit der Entscheidungen der Berufskammer überprüfen müssen sowie Maßnahmen verhängen, Angeschuldigte freisprechen und Verfahren einzustellen haben. Es ist zweckmäßig, die Struktur der Insolvenzverwalterberufsgerichtsbarkeit der Struktur der Berufsgerichtsbarkeit der Rechtsanwälte nachzubilden. Die Gerichte der Anwaltsgerichtsbarkeit sind staatliche Gerichte.57) Die Schaffung der Anwaltsgerichtsbarkeit beruht auf staatlichem Gesetz (§§ 92 ff. BRAO). Die Anwaltsgerichtsbarkeit dient der Erfüllung staatlicher Aufgaben und ihre Bindung an den Staat ist auch in personeller Hinsicht ausreichend gewährleistet.58) 1. Anschuldigungsverfahren Das Verfahren beginnt mit der Einreichung einer Anschuldigungsschrift, sofern das Verfahren auf den Erlass einer Maßnahme gerichtet ist (siehe oben unter IV. 2.). Ungeachtet der Fälle des sog. „Selbstreinigungsverfahrens“, das in § 123 BRAO geregelt ist, aber in der Praxis wenig Bedeutung hat,59) wird das anwaltsgerichtliche Verfahren gemäß § 121 BRAO dadurch eingeleitet, dass die Staatsanwaltschaft bei dem Anwaltsgericht eine Anschuldigungsschrift einreicht. In der Anschuldigungsschrift ist gemäß § 130 Satz 1 BRAO die dem Rechtsanwalt zur Last gelegte Pflichtverletzung unter Anführung der sie begründenden Tatsachen zu bezeichnen

55) 56) 57)

58) 59)

Übersicht der Bundeslotsenkammer, abrufbar unter http://www.bundeslotsenkammer.de/ bundeslotsenkammer/mitglieder/index.html (Abrufdatum: 19.7.2019). Vgl. Patentanwaltskammer, https://www.patentanwalt.de/de/kammer/organisation.html (Abrufdatum: 19.7.2019). So BVerfG, Beschl. v. 26.6.2006 – 2 BvR 609/06, Rz. 17, NJW 2006, 3049; BVerfG, Beschl. v. 11.6.1969 – 2 BvR 518/66, Rz. 21, BVerfGE 26, 186 = NJW 1969, 2192; Kilimann in: Feuerich/Weyland, BRAO, 9. Aufl. 2016, Vor § 92 Rz. 3. So Kilimann in: Feuerich/Weyland, BRAO, 9. Aufl. 2016, Vor § 92 Rz. 3. Vgl. aber: BGH, Urt. v. 26.10.2015 – AnwSt (R) 4/15, NJW 2015, 3672 f. = BRAKMitt. 2016, 34.

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(sog. „Anschuldigungssatz“). Die Anschuldigungsschrift legt die Grenzen fest, in denen sich die gerichtliche Untersuchung und Entscheidung zu halten hat. Das Gericht darf dem Eröffnungsbeschluss und der Urteilungsfindung nur die in der Anschuldigungsschrift bezeichnete Tat zugrunde legen.60) Hinsichtlich des Inhalts der Anschuldigungsschrift im berufsgerichtlichen Verfahren der Insolvenzverwalter kann auf die Grundlagen in Anwaltsgerichtsbarkeit zurückgegriffen werden, in dem die Staatsanwaltschaft Angaben zur Person des Rechtsanwalts machen muss, damit eindeutig festgestellt ist, gegen welchen Rechtsanwalt das Verfahren sich richten soll.61) Darüber hinaus ist die Pflichtverletzung zu bezeichnen. Die Pflichtverletzung muss unter Angabe der entsprechenden Bestimmung der BRAO bzw. der Berufsordnung im Anschuldigungssatz angeführt werden.62) Zudem müssen zur Bezeichnung der dem Rechtsanwalt zur Last gelegten Pflichtverletzung die sie begründenden Tatsachen angeführt werden. Die anzuschuldigende Tat im strafprozessualen Sinne ist somit mit Zeit- und Ortsangabe als historisches Ereignis in einer Weise zu schildern, dass die Identität des gemeinten Vorgangs zweifelsfrei klargestellt wird.63) Für das berufsgerichtliche Verfahren der Insolvenzverwalter ist es zweckmäßig, das Verfahren den Vorschriften der §§ 121 ff. BRAO nachzubilden. Während die anwaltliche Berufsgerichtsbarkeit drei Instanzen vorsieht, nämlich das Anwaltsgericht, den Anwaltsgerichtshof sowie den Anwaltssenat des Bundesgerichtshofes, erscheint ein dreigliedriger Instanzenzug bei der Berufsgerichtsbarkeit der Insolvenzverwalter nicht erforderlich. Auch andere Gerichtsbarkeiten sind von Zweizügigkeit bestimmt, z. B. die Finanzgerichtsbarkeit.64) Ein zweistufiger Gerichtsaufbau ermöglicht dem betroffenen Insolvenzverwalter ein rechtsstaatliches Verfahren. Im berufsgerichtlichen Verfahren der Insolvenzverwalter sollte gleichermaßen sichergestellt werden, dass das Anschuldigungsmonopol bei der Staatanwaltschaft liegt. Ein Privatklageverfahren sollte ausgeschlossen werden.

60) 61) 62) 63) 64)

So Reelsen in: Feuerich/Weyland, BRAO, 9. Aufl. 2016, § 130 Rz. 2. So Reelsen in: Feuerich/Weyland, BRAO, 9. Aufl. 2016, § 130 Rz. 6. So Reelsen in: Feuerich/Weyland, BRAO, 9. Aufl. 2016, § 130 Rz. 8. So Reelsen in: Feuerich/Weyland, BRAO, 9. Aufl. 2016, § 130 Rz. 8. Vgl. zum zweistufigen Gerichtsaufbau der Finanzgerichtsbarkeit: Seer in: Tipke/Lang, Steuerrecht, 23. Aufl. 2018, § 22 Rz. 60.

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In den Verfahren vor dem Insolvenzverwaltergerichtshof sollte zweckmäßigerweise die Staatsanwaltschaft bei dem OLG, in dessen Bezirk der Insolvenzverwaltergerichtshof seinen Sitz hat, die Aufgaben der Staatsanwaltschaft wahrnehmen. 2. Verfahren erster Instanz Für das Verfahren in erster Instanz sind Insolvenzverwaltergerichtshöfe zu bilden. Im Hinblick darauf, dass die Anzahl der Berufsträger, also der Personen, die als Insolvenzverwalter im Amtsträgerverzeichnis gelistet sind, überschaubar sein wird, wird nicht für jedes Bundesland oder gar jeden Bezirk eines Oberlandesgerichtes ein Insolvenzverwaltergerichtshof einzurichten sein. Vielmehr ist es zielführend, wenn mehrere Bundesländer gemeinsame Anwaltsgerichtshöfe bilden. Eine solche gemeinsame Organisation der Rechtsprechung ist nicht ungewöhnlich; so wird die Verwaltungsgerichtsbarkeit z. B. in Berlin und Brandenburg gemeinsam vom OVG Berlin-Brandenburg ausgeübt. Auch die Finanzgerichtsbarkeit kennt derartige Strukturen, z. B. das FG Berlin-Brandenburg. Ebenso wie der Anwaltsgerichtshof gemäß § 112a Abs. 1 BRAO im ersten Rechtszug über alle öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten nach der BRAO, einer aufgrund der BRAO erlassenen Rechtsverordnung oder einer Satzung einer nach der BRAO errichteten Rechtanwaltskammer oder der Bundesrechtsanwaltskammer, soweit nicht die Streitigkeiten anwaltsgerichtlicher Art oder einem anderen Gericht ausdrücklich zugewiesen sind (sog. „verwaltungsrechtliche Anwaltssachen“), entscheidet, sollte auch der Insolvenzverwaltergerichtshof für alle verwaltungsrechtlichen Insolvenzverwaltersachen zuständig sein. Dies sind insbesondere Streitigkeiten über die Aufnahme auf die Insolvenzverwalterliste („Amtsträgerverzeichnis“) sowie Rücknahme und Widerruf der Aufnahme auf die Liste. Darüber hinaus sollte der Insolvenzverwaltergerichtshof auch die erstinstanzliche Zuständigkeit für Klagen gegen Wahlen und Beschlüsse der Insolvenzverwalterkammern haben. In den verwaltungsrechtlichen Insolvenzverwaltersachen sollte als Rechtsmittel die Berufung zum Bundesgerichtshof vorgesehen werden. Der Anwaltsgerichtshof wird gemäß § 101 BRAO mit einem Präsidenten, der erforderlichen Anzahl von weiteren Vorsitzenden sowie Rechtsanwälten und Berufsrichtern als weiteren Mitgliedern besetzt. Die Mitwirkung

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von Berufsrichtern in der Anwaltsgerichtsbarkeit ist unter dem Gesichtspunkt, dass diese aufgrund ihrer ständigen Zusammenarbeit mit Rechtsanwälten wertvolle Erfahrungen in die Entscheidung über berufsrechtliche Sachverhalte einbringen können, gerechtfertigt.65) Ebenso wie die Anwaltsgerichtshöfe mit der Besetzung mit drei Rechtsanwälten und zwei Berufsrichtern entscheiden, sollte dies auch in der Insolvenzverwaltergerichtsbarkeit geregelt werden. Dabei sollten allerdings als Berufsrichter nicht – wie in der Anwaltsgerichtsbarkeit – Richter der Oberlandesgerichte herangezogen werden, sondern Insolvenzrichter.66) Die ehrenamtlichen Richter sollen über hinreichende Erfahrung im Insolvenzrecht verfügen. Sie sind zum einen aus dem Kreis der in der Liste aufgeführten Insolvenzverwalter auszuwählen, aber auch aus Personen, die nicht mehr als Insolvenzverwalter tätig sind, aber über lange Erfahrung im Insolvenzrecht verfügen. Im Hinblick darauf, dass die Anzahl der Personen, die als Mitglieder der Insolvenzverwalterkammer gelistet sind, im Verhältnis zu den zugelassenen Rechtsanwälten sehr klein ist, erscheinen unmittelbare Konkurrenzsituationen wahrscheinlicher als in der Anwaltsgerichtsbarkeit nach bisherigem Zuschnitt. Daher sollte ein Korrektiv in Form eines nicht mehr aktiv tätigen Insolvenzverwalters Mitglied des Senates sein.67) Die Anzahl der zu bildenden Senate richtet sich in erster Linie nach dem Bedarf. Es ist jedoch sicherzustellen, dass jeder Insolvenzverwaltergerichtshof wenigstens zwei Senate hat.68) Weiterhin ist zu regeln, dass die Insolvenzverwaltergerichtshöfe für die Disziplinarsachen zuständig sind, in denen eine Pflichtverletzung mit einer Maßnahme geahndet werden soll. Der Insolvenzverwaltergerichtsbarkeit in disziplinarischer Hinsicht sollten die Personen unterliegen, die auf der Liste der Insolvenzverwalter („Amtsträgerregister“) verzeichnet sind. Eine Ahndung einer Pflichtverletzung kommt nur in Betracht, wenn diese zu einer Zeit begangen worden ist, als der Angeschuldigte der Insol65) 66)

67) 68)

So Kilimann in: Feuerich/Weyland, BRAO, 9. Aufl. 2016, § 101 Rz. 1. Soweit Schmittmann, INDat Report 1/2018, S. 42, 43, noch die Auffassung vertreten hat, dass die jeweiligen Senate mit einem Insolvenzrichter, zwei tätigen und zwei nicht mehr tätigen Insolvenzverwaltern besetzt sein sollen, wird an dieser Auffassung nicht mehr festgehalten. So Schmittmann, INDat Report 01/2018, S. 42, 43. Vgl. dazu BGH, Urt. v. 14.2.1966 – AnwSt (R) 7/65, NJW 1966, 1084 – zur Anforderung, dass in Bundesländern, in denen nur ein einziger Ehrengerichtshof für Rechtsanwälte besteht, mindestens zwei Senate zu errichten sind.

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venzverwalterberufsgerichtsbarkeit unterstanden hat. Die Unterstellung unter die Insolvenzverwaltergerichtsbarkeit endet mit dem Verlust der Zulassung als Insolvenzverwalter („Delisting“) bzw. der Mitgliedschaft in der Insolvenzverwalterkammer.69) Der Maßnahmenkatalog, der gesetzlich zu regeln ist, kann sich an § 114 BRAO orientieren. Für die verwaltungsrechtlichen Insolvenzverwaltersachen sollten die Vorschriften der VwGO anwendbar sein; für die disziplinarrechtlichen Insolvenzverwaltersachen sollte die StPO sinngemäß angewendet werden. Darüber hinaus sind ergänzend auch die Vorschriften des Gerichtsverfassungsgesetzes anwendbar. Regelmäßig werden Insolvenzverwalter neben der Insolvenzverwalterberufsgerichtsbarkeit auch der Berufsgerichtsbarkeit eines anderen Berufes, insbesondere als Rechtsanwalt, Steuerberater und/oder Wirtschaftsprüfer unterliegen. Über eine Pflichtverletzung eines Insolvenzverwalters, der zugleich der Disziplinar-, Ehren- oder Berufsgerichtsbarkeit eines anderen Berufes untersteht, sollte im insolvenzverwaltergerichtlichen Verfahren nur entschieden werden, wenn die Pflichtverletzung nicht überwiegend mit der Ausübung anderen Berufes im Zusammenhang steht. Eine ähnliche Regelung findet sich bereits in § 118 a BRAO. Die Abgrenzung zwischen einer Pflichtverletzung als Insolvenzverwalter oder einer Pflichtverletzung in Ausübung eines anderen Berufes ist regelmäßig einfach festzustellen, da die Tätigkeit als Insolvenzverwalter nur aufgrund einer Bestellung durch das Insolvenzgericht ausgeübt werden kann. 3. Verfahren zweiter Instanz Für das Verfahren zweiter Instanz ist ein Senat für Insolvenzverwaltersachen beim Bundesgerichtshof einzurichten. a) Zuständigkeit Der Senat für Insolvenzverwaltersachen beim Bundesgerichtshof soll Rechtsmittelgericht sein. Er soll über das Rechtsmittel der Berufung gegen Urteile sowie gegen Gerichtsbescheide der Insolvenzverwalterge69)

Vgl. zum anwaltlichen Berufsrecht: Reelsen in: Feuerich/Weyland, BRAO, 9. Aufl. 2016, § 113 Rz. 3.

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richtshöfe sowie Beschwerden nach § 17a Abs. 1 Satz 4 GVG entscheiden. Es stellt sich die Frage, ob auch eine erstinstanzliche Zuständigkeit des Bundesgerichtshofes bestehen kann. Für das anwaltliche Berufsrecht regelt § 112a Abs. 3 BRAO, dass der Bundesgerichtshof in erster und letzter Instanz über Klagen entscheidet, die Entscheidungen betreffen, die das Bundesministerium der Justiz und Verbraucherschutz oder die Rechtsanwaltskammer bei dem Bundesgerichtshof getroffen hat oder für die das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz oder die Rechtsanwaltskammer bei dem Bundesgerichtshof zuständig ist sowie über die Nichtigkeit von Wahlen und Beschlüssen der Bundesrechtsanwaltskammer und der Rechtsanwaltskammer bei dem Bundesgerichtshof. Übertragen auf das Berufsrecht der Insolvenzverwalter wäre eine Zuständigkeit des Insolvenzverwaltersenats beim Bundesgerichtshof für Klagen zu schaffen, die Entscheidungen der Bundesinsolvenzverwalterkammer betreffen, sowie über die Nichtigkeit von Wahlen und Beschlüssen der Bundesinsolvenzverwalterkammer. b) Besetzung des Senats Der beim Bundesgerichtshof zu bildende Senat für Insolvenzverwaltersachen sollte analog der Regelung für Rechtsanwälte aus dem Präsidenten des Bundesgerichtshofes sowie zwei Mitgliedern des Bundesgerichtshofes und zwei Insolvenzverwaltern als Beisitzern bestehen. Wegen der herausgehobenen Bedeutung des Anwaltssenats hat der Gesetzgeber den Präsidenten des Bundesgerichtshofes als „geborenen Vorsitzenden“ des Senats bestimmt.70) Mit den gleichen Erwägungen sollte auch der Vorsitz des Senats für Insolvenzverwaltersachen beim Präsidenten des Bundesgerichtshofes liegen, wobei es zweckmäßig ist, dass der geschäftsplanmäßige Vertreter der Vorsitzende des IX. Zivilsenats des Bundesgerichtshofes ist, um die hinreichende Sachkunde im Insolvenzrecht zu gewährleisten. Dies hat sich beim Senat für Anwaltssachen des Bundesgerichtshofes bewährt. Das Recht auf den gesetzlichen Richter im Senat für Anwaltssachen wird weder dadurch verletzt, dass der Vorsitz aufgrund der vom Präsidenten 70)

So Beschlussempfehlung und Bericht des RA z. RegE Gesetz zur Modernisierung von Verfahren im anwaltlichen und notariellen Berufsrecht, zur Errichtung einer Schlichtungsstelle der Rechtsanwaltschaft sowie zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung, der Finanzgerichtsordnung und kostenrechtlicher Vorschriften, BT-Drucks. 16/12717, S. 55.

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des Bundesgerichtshofes aufgestellten Mitwirkungsgrundsätze zwischen ihm und einem vom Präsidium bestellten Vorsitzenden Richter am Bundesgerichtshof wechselt, noch dadurch, dass dem Senat fünf Mitglieder des Bundesgerichtshofes und acht Rechtsanwälte als Beisitzer zugeteilt sind.71) Daher ist es unbedenklich, für den Senat für Insolvenzverwaltersachen entsprechend zu verfahren. Eine Besetzung mit sechs Insolvenzverwaltern sollte genügen; dabei sollte in der konkreten Spruchgruppe ein ehrenamtlicher Richter Mitglied der Insolvenzverwalterkammer sein und als solcher auf der Liste verzeichnet sein. Ein weiterer ehrenamtlicher Richter der Spruchgruppe sollte ehemaliger Insolvenzverwalter mit einer Berufspraxis von nicht weniger als zehn Jahren sein. Die Einbeziehung eines ehrenamtlichen Richters, der nicht mehr als Insolvenzverwalter tätig ist, gewährleistet, dass neben den drei Berufsrichtern ein weiteres Mitglied des Senats nicht in einem unmittelbaren Wettbewerbsverhältnis zum betroffenen Insolvenzverwalter steht. Ebenso wie der Anwaltssenat des Bundesgerichtshofes ein Fachsenat mit besonderer Besetzung ist,72) ist auch der Senat für Insolvenzverwaltersachen als Spruchkörper des Bundesgerichtshofes auszugestalten, so dass es sich nicht um ein verfassungswidriges „Sondergericht“ handelt. Der Senat für Insolvenzverwaltersachen wird in einer Besetzung von fünf Richtern entscheiden und zwar unabhängig davon, ob die Entscheidung durch Beschluss oder Urteil aufgrund einer mündlichen oder Hauptverhandlung oder durch Beschluss außerhalb der Hauptverhandlung ergeht. Ebenso wie die Rechtsanwälte, die ehrenamtliche Richter beim Bundesgerichtshof sind, sollten die Insolvenzverwalter vom Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz für die Dauer von fünf Jahren berufen werden. Es ist zweckmäßig, dass das Präsidium der Bundesinsolvenzverwalterkammer aufgrund von Vorschlägen den Insolvenzverwalterkammern eine Vorschlagsliste erstellt und dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz vorlegt. Die Vorschlagslisten sollten mindestens die doppelte Zahl der zu berufenden Insolvenzverwalter enthalten.73) Ebenso wie heute in § 107 Abs. 1 Satz 2 BRAO geregelt, sollte eine erneute Berufung nach Ablauf der Amtszeit möglich sein.

71) 72) 73)

So BGH, Beschl. v. 14.3.1994 – AnwZ (B) 27/93, BGHZ 125, 288 = ZIP 1994, 1478. Vgl. Kilimann in: Feuerich/Weyland, BRAO, 9. Aufl. 2016, § 106 Rz. 4. Vgl. zur Vorschlagsliste beim Anwaltssenat: Kilimann in: Feuerich/Weyland, BRAO, 9. Aufl. 2016, § 107 Rz. 3.

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Ähnlich wie in § 108 Abs. 1 BRAO geregelt sollte zum Beisitzer aus dem Kreis der aktiven Insolvenzverwalter nur ein Insolvenzverwalter berufen werden können, der in den Vorstand der Insolvenzverwalterkammer gewählt werden kann. Die Regelung sollte vorsehen, dass das Mitglied, das aus dem Kreis der noch aktiv tätigen Insolvenzverwalter zu wählen ist, Mitglied der Kammer ist und den Beruf des Insolvenzverwalters seit mindestens fünf Jahren ohne Unterbrechung ausübt. Weiterhin ist zu regeln, dass ehrenamtlicher Richter nicht werden kann, gegen den ein insolvenzberufsgerichtliches Verfahren eingeleitet oder ein Berufs- oder Vertretungsverbot in einem anderen Kammerberuf verhängt worden ist, sowie gegen den die öffentliche Klage wegen einer Straftat, welche die Unfähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter zur Folge haben kann, erhoben ist. Der Ausschluss der Wählbarkeit sollte darüber hinaus auch gelten, wenn der Betroffene in den letzten 15 Jahren aus dem Amt des Insolvenzverwalters entlassen worden ist und dies nicht auf eigenen Antrag des Betroffenen erfolgt ist. VII. Fazit und Ausblick Unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Berufsstandes der Insolvenzverwalter bedarf es der Einrichtung von mehreren regionalen Insolvenzverwalterkammern sowie einer Bundesinsolvenzverwalterkammer. Im Hinblick auf die überschaubare Zahl von Insolvenzverwaltern ist es erforderlich, dass der Bezirk der einzelnen Insolvenzverwalterkammern sich über mehrere Bundesländer erstreckt, sofern es sich nicht um Bundesländer handelt, die – wie Bayern und Nordrhein-Westfalen – allein über eine hinreichende Mächtigkeit verfügen. Die Struktur der Insolvenzverwalterkammern sowie der Bundesinsolvenzverwalterkammer ist der Struktur der Rechtsanwaltskammern sowie der Bundesrechtsanwaltskammer nachzubilden. Anders als in der Anwaltsgerichtsbarkeit, die dreistufig organisiert ist, ist in der Insolvenzverwaltergerichtsbarkeit lediglich ein zweistufiger Aufbau mit Insolvenzverwaltergerichtshöfen und einem Insolvenzverwaltersenat beim Bundesgerichtshof erforderlich. Für die erstinstanzlichen Verfahren bei den Anwaltsgerichtshöfen sind Senate zu bilden, die mit drei Insolvenzverwaltern sowie zwei Berufsrichtern zu besetzen sind. Der Insolvenzverwaltersenat beim Bundesgerichtshof sollte mit drei Berufsrichtern und zwei Insolvenzverwaltern besetzt werden.

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Die verwaltungsgerichtlichen Insolvenzverwaltersachen sind entsprechend den Vorschriften der VwGO und die disziplinarrechtlichen Insolvenzverwaltersachen sind nach StPO zu bearbeiten. Anschuldigungsbehörde ist die Generalstaatsanwaltschaft bei dem Oberlandesgericht, bei dem der Insolvenzverwaltergerichtshof seinen Sitz hat. Aufgrund der vergleichsweise geringen Zahl an Mitgliedern der Insolvenzverwalterkammern besteht in besonderem Maße die Gefahr, dass ehrenamtliche Richter und Verfahrensbetroffene in einem spürbaren Wettbewerbsverhältnis stehen. Aus diesem Grunde ist sicherzustellen, dass auch in jedem Spruchkörper ein erfahrener ehemaliger Insolvenzverwalter vertreten ist, der keine wirtschaftlichen Interessen im Bereich der Insolvenzverwaltung mehr verfolgt. Der Koalitionsvertrag vom 7. Februar 201874) fordert, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Berufszulassung und -ausübung von Insolvenzverwaltern und Sachwaltern geregelt werden. Zu Sachwaltern sollten lediglich Personen bestellt werden können, die auch über die Qualifikation als Insolvenzverwalter verfügen, also Mitglied einer Insolvenzverwalterkammer sind. Damit ist eine eigene gesetzliche Regelung hinsichtlich der Berufszulassung und -ausübung von Sachwaltern nicht erforderlich. Es ist auch nicht davon auszugehen, dass es sich bei Sachwaltern um einen eigenen Berufsstand handelt. Es ist vielmehr eine besondere Ausprägung des Berufes des Insolvenzverwalters. Dies insbesondere vor dem Gesichtspunkt, dass für den Fall, das sich die Eigenverwaltung als ungeeignete Verfahrensart erweist, der bisherige Sachwalter regelmäßig zum Insolvenzverwalter bestellt wird.

74)

Siehe Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD – 19. Legislaturperiode, v. 7.2.2018.

Schenkungsanfechtung bei Restschuldversicherungen HEINRICH SCHOPPMEYER Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Ein Beispielsfall III. Ein versicherungsrechtlicher Überblick 1. Ausgestaltung 2. Rechtsstellung des Darlehensnehmers 3. Sittenwidrigkeit? IV. Anfechtungsrechtliche Beurteilung 1. Allgemeine Grundsätze der Schenkungsanfechtung 2. Anfechtbarkeit hinsichtlich der Leistungen aus der Versicherung? a) Leistung des Schuldners bei Eigenversicherung der Bank?

V.

b) Bezugsrecht als unentgeltliche Leistung? c) Bezugsrecht und Abtretung als Darlehenssicherheit? 3. Anfechtung der Prämienzahlung a) Entgeltlichkeit wegen eines Auftragsverhältnisses? b) Versicherungsschutz als Gegenleistung? 4. Abgrenzung zum Widerruf des Darlehensvertrags Ergebnis

I. Einleitung Ein Verbraucherkredit ist teuer. So genannte Restschuldversicherungen (auch Ratenschutzversicherungen genannt) vermitteln dem Darlehensnehmer das Gefühl, sich abzusichern. Die üblichen Restschuldversicherungen versichern nur eingeschränkte Risiken.1) Hierzu zählen die Risiken Tod und Arbeitsunfähigkeit sowie häufig auch das Risiko der unverschuldeten Arbeitslosigkeit. Teilweise werden auch Restschuldversicherungen für das Risiko „schwere Krankheit“, „Pflegefall“ oder „Scheidung“ angeboten. Restschuldversicherungen für Verbraucherkredite ist gemeinsam, dass sie den Darlehensnehmer meist viel Geld kosten und selten für ihn wirtschaftlich sinnvoll sind.2) Der Verbraucherdarlehensvertrag und der Restschuldversicherungsvertrag bleiben – selbst wenn es sich um verbundene Geschäfte i. S. des § 358 BGB handelt – rechtlich selbständige Verträge 1) 2)

Vgl. Göbel/Köther, Ausgewählte Probleme aus dem Bereich der Restschuldversicherung, VersR 2015, 425 f. Vgl. zur Kritik den Ergebnisbericht der BaFin, Marktuntersuchung zu Restschuldversicherungen, v. 21.6.2017, abrufbar unter https://www.bafin.de/SharedDocs/Downloads/ DE/Anlage/dl_170620_marktuntersuchung_restschuldversicherungen.html (Abrufdatum: 17.7.2019).

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Heinrich Schoppmeyer

über die Gewährung eines Darlehens und die Gewährung von Versicherungsschutz.3) Die Vorteile für den Darlehensnehmer sind überschaubar. Ihnen steht entgegen, dass zugunsten des Versicherers der Umfang des Versicherungsschutzes vor allem für die Risiken Arbeitsunfähigkeit4) und unverschuldete Arbeitslosigkeit begrenzt ist5) und – unter Umständen allerdings unwirksame6) – Risikoausschlüsse7) bestehen. Zudem ist die Wahrscheinlichkeit, dass einer der eng umgrenzten Versicherungsfälle eintritt, eher gering. Überwiegend profitiert daher die Bank von der Restschuldversicherung:8) Sie erhält eine Sicherheit auf Kosten des Kreditnehmers und erzielt vor allem zusätzliche Einnahmen aus der Vermittlungsprovision für die Restschuldversicherung und – in geringerer Höhe – durch die Zinsen für die mitfinanzierte Versicherungsprämie. Dies wirft die Frage auf, ob die Leistungen an die Bank insolvenzfest sind. II. Ein Beispielsfall Der Schuldner nimmt einen Verbraucherkredit über 17.000 € auf. Die Bank bietet ihm an, zusätzlich eine Ratenschutzversicherung abzuschließen. Die Kosten der Ratenschutzversicherung betragen 3.500 € und sollen mitfinanziert werden. Damit erhöht sich der Darlehensbetrag auf 20.500 €.9) 3) 4) 5) 6) 7) 8)

9)

BGH, Urt. v. 15.12.2009 – XI ZR 45/09, Rz. 21, BGHZ 184, 1 = ZIP 2010, 220. Vgl. zur Wirksamkeit einer Klausel, wonach der Versicherungsschutz bei unbefristeter Berufsunfähigkeit erlischt, BGH, Urt. v. 11.9.2013 – IV ZR 303/12, VersR 2013, 1397. Vgl. Schneider, Auf der Suche nach Kredit, VersR 2014, 1295, 1299 f. Vgl. hierzu BGH, Urt. v. 10.12.2014 – IV ZR 289/13, VersR 2015, 318. Hierzu vgl. Schneider, VersR 2014, 1295, 1301 f. Vgl. Brömmelmeyer, Informations- und Beratungspflichten in der Restschuldversicherung, VersR 2015, 1460, 1461. Dabei hat die Bank kein Interesse an niedrigen Versicherungsprämien, vgl. Knops, Restschuldversicherung im Verbraucherkredit, VersR 2006, 1455. Die Versicherungsprämie beträgt im Beispielsfall damit 17 % des Darlehensbetrags. Eine solche im Verhältnis zu Darlehenssumme und Laufzeit der Versicherung exorbitante Versicherungsprämie ist keine Seltenheit bei Restschuldversicherungen, vgl. aus der Rechtsprechung etwa BGH, Urt. v. 15.12.2009 – XI ZR 45/09, BGHZ 184, 1 = ZIP 2010, 220 (57.747 € Darlehen für eine Laufzeit von 83 Monaten bei einer mitfinanzierten Versicherungsprämie von 10.241,90 €); BGH, Urt. v. 18.1.2011 – XI ZR 356/09, ZIP 2011, 656 = WM 2011, 451 (32.994,40 € Darlehen mit einer Laufzeit von 84 Monaten bei einer mitfinanzierten Versicherungsprämie von 6.376,51 €); BGH, Urt. v. 29.11.2011 – XI ZR 220/10, ZIP 2012, 67 = WM 2012, 30 (Gesamtdarlehen von 50.831,60 € für eine Laufzeit von 83 Monaten bei einer mitfinanzierten Versicherungsprämie von 10.572,90 €). Es gibt auch Fälle mit einer im Verhältnis zur Darlehenssumme nicht ganz so hohen Versicherungsprämie, vgl. BGH, Urt. v. 3.3.2016 – IX ZR 132/15, BGHZ 209, 179 = ZIP 2016, 678 (13.885,04 € Darlehen für eine Laufzeit von 83 Monaten bei einer mitfinanzierten Versicherungsprämie von 885,04 €).

Schenkungsanfechtung bei Restschuldversicherungen

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Der Beitritt des Schuldners zur Ratenschutzversicherung ist nach dem Vertrag keine Voraussetzung für die Gewährung des Darlehens. Die Bank ist Versicherungsnehmerin eines Gruppenversicherungsvertrags bei zwei Versicherern für die zu versichernden Risiken Tod und Arbeitsunfähigkeit des Darlehensnehmers. Mit dem Darlehensvertrag beantragt der Schuldner, ihn als versicherte Person in den jeweiligen Gruppenversicherungsvertrag aufzunehmen. Typisch für die Ausgestaltung der Restschuldversicherungen sind zwei Klauseln in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen (fortan: AVB). Zum einen regeln die AVB, dass der Darlehensnehmer der Bank den im Versicherungsvertrag ausgewiesenen Betrag für die Restschuldversicherung schuldet: „Zur Erlangung Ihres persönlichen Versicherungsschutzes bezahlen Sie den vereinbarten Einmalbetrag direkt an den Versicherungsnehmer [Bank]. Im Fall einer Einmalbeitragszahlung wird der Einmalbeitrag im Rahmen ihrer Kreditvereinbarung mitfinanziert. Dies erfolgt, indem der Versicherungsnehmer [Bank] diesen Einmalbeitrag einbehält. Der Versicherungsnehmer [Bank] (Prämienschuldner) ist dann verpflichtet, die Versicherungsprämie gemäß dem Gruppenversicherungsvertrag an [Versicherer] zu bezahlen.“10)

Zum andern enthalten die AVB stets eine Klausel zum Bezugsrecht: „Aus den Versicherungen werden alle Leistungen unwiderruflich an die allein bezugsberechtigte [Bank] erbracht, solange diese nichts anderes bestimmt.“11)

Die Bank zahlt an den Schuldner 17.000 € aus, die übrigen 3.500 € zahlt die Bank als Versicherungsbeiträge an die Versicherer. An die Bank flie10)

11)

Es gibt verschiedene Formulierung dieser Klausel. Eine andere Variante lautet: „Der Darlehensnehmer schuldet dem Versicherungsnehmer den im Versicherungsvertrag ausgewiesenen Betrag für die Ratenschutzversicherung. Dieser mitfinanzierte Einmalbeitrag wird bei Beginn des Versicherungsverhältnisses durch den Versicherungsnehmer an den Versicherer abgeführt.“ Eine weitere Formulierung: „Schuldner der Versicherungsprämie ist der Versicherungsnehmer. Die Beitragsverpflichtung der versicherten Person zur Erlangung und Aufrechterhaltung des Versicherungsschutzes besteht gegenüber dem Versicherungsnehmer.“ Auch hier gibt es abweichende Formulierungen in den AVB: „Abweichend von § 44 VVG können Sie ohne Zustimmung des Versicherungsnehmers [Bank] über Ihre Rechte aus der Versicherung verfügen und diese gerichtlich geltend machen. Mit Ihrer Anmeldung zu den Gruppenversicherungsverträgen ist der Versicherungsnehmer [Bank] für alle Versicherungsleistungen unwiderruflich bezugsberechtigt. Der Versicherungsnehmer [Bank] hat die Leistung mit Ihren Zahlungsverpflichtungen aus dem Kreditvertrag zu verrechnen und darüber hinausgehende Beträge an Sie bzw. Ihre Erben auszuzahlen.“ Eine andere Formulierung lautet: „Die Versicherungsleistung erbringen wir an die unwiderruflich bezugsberechtigte Bank zur Deckung Ihrer aus dem [Kredit] bestehenden Zahlungsverpflichtungen. (…) Die Wahl eines Bezugsberechtigten durch die versicherte Person (§ 159 VVG) ist ausgeschlossen.“

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ßen hieraus erhebliche Vermittlungsprovisionen zurück.12) Nachdem der Schuldner einige Zeit lang die Darlehensraten gezahlt hat, gerät er in Zahlungsverzug. Darauf kündigt die Bank das Darlehen. Anschließend fällt der Schuldner in Insolvenz. Es besteht noch eine Darlehensforderung der Bank i. H. von 14.000 €. Nach Insolvenzeröffnung erhält die Bank vom Versicherer aufgrund der Vertragsbeendigung die nicht verbrauchten Versicherungsbeiträge – abzüglich eines Stornoabschlags – i. H. von 1.000 € erstattet und verrechnet diesen Betrag mit der offenen Darlehensforderung. Fraglich ist, ob dem Insolvenzverwalter gegenüber der Bank Anfechtungsansprüche im Hinblick auf den Restschuldversicherungsvertrag insbesondere unter dem Gesichtspunkt einer unentgeltlichen Leistung zustehen.13) Dies hängt zum einen von der materiell-rechtlichen Ausgestaltung der Restschuldversicherung ab. Diesen Fragen widmet sich ein versicherungsrechtlicher Überblick. Dem schließt sich die insolvenzrechtliche Betrachtung an. III. Ein versicherungsrechtlicher Überblick Versicherungsrechtlich handelt es sich um eine Sonderform der Risikolebensversicherung.14) Dabei stellen die Arbeitsunfähigkeits- und die Arbeitslosigkeitsversicherung eine Zusatzversicherung zur Todesfallversicherung dar. Eine besondere gesetzliche Regelung fehlt. § 195 Abs. 2 VVG kennt eine Restschuldkrankenversicherung, deren Versicherungsdauer an die Laufzeit des zugrundeliegenden Kredits gebunden ist.15) Die von § 7a Abs. 5, § 7d VVG eingeführten Bestimmungen für Restschuldversicherungen gelten erst für ab dem 23. Februar 2018 abgeschlossene Verträge.16) Sie zielen u. a. für die i. R. einer Gruppenversicherung abgeschlossene Restschuldversiche12)

13) 14) 15) 16)

Es bestehen nach dem Ergebnisbericht zur Marktuntersuchung der BaFin unterschiedliche Provisionsmodelle (vgl. BaFin, Marktuntersuchung zu Restschuldversicherungen, v. 21.6.2017, S. 17 f.). Provisionshöchstsätze von über 50 % der Versicherungsprämie sind keine Seltenheit. Zu den Anfechtungsfragen bei einer Lebensversicherung allgemein Kayser, Die Lebensversicherung in der Insolvenz des Arbeitgebers, 2006, S. 67 ff. Schneider in: Prölss/Martin, VVG, 30. Aufl. 2018, Vor § 150 Rz. 25. Vgl. Begr. RegE VVG z. § 195, BT-Drucks. 16/3945, S. 112. Dies ergibt sich aus Art. 6 Satz 1 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/97 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.1.2016 über Versicherungsvertrieb und zur Änderung weiterer Gesetze, v. 20.7.2017, BGBl. I 2017, 2789, wonach die Änderungen des VVG am 23.2.2018 in Kraft getreten sind.

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rung darauf, den Verbraucherschutz und die Transparenz zu verbessern und der versicherten Person die Rechte eines Versicherungsnehmers einzuräumen.17) Ob damit der Schutz vor unnötigen Restschuldversicherungen verbessert wird, darf man bezweifeln. 1. Ausgestaltung Schon die Ausgestaltung der Restschuldversicherungen als echte Gruppenversicherung wirft mangels besonderer gesetzlicher Regelungen verschiedene Rechtsfragen auf. Der Versicherer schließt keinen Einzelvertrag mit dem Darlehnsnehmer ab. Versicherungsnehmer des Gruppenversicherungsvertrags ist in aller Regel die Bank. Nach den zwischen Versicherer und Bank vereinbarten Versicherungsbedingungen ist ein Beitritt eines Darlehensnehmers zum Gruppenversicherungsvertrag lediglich als versicherte Person möglich.18) Die Darlehensnehmer werden nicht selbst Versicherungsnehmer, so dass es sich um eine echte Gruppenversicherung handelt.19) Der Versicherungsvertrag besteht nur zwischen dem Versicherer und dem Versicherungsnehmer. Inwieweit die Versicherten Rechte aus dem Versicherungsvertrag erwerben und inwieweit die Vertragsparteien des Versicherungsvertrages solche Rechte gegebenenfalls wieder ändern oder aufheben können, richtet sich in Ermangelung einer besonderen Bestimmung ergänzend zu den vertraglichen Vereinbarungen und – gegebenenfalls – den Regelungen der §§ 43 ff. VVG nach der Vorschrift des § 328 Abs. 2 BGB.20) Dies führt dazu, dass grundsätzlich Versicherungsnehmer und Versicherer Vereinbarungen zum Leistungsumfang der Gruppenversicherung auch rückwirkend treffen können.21) Zwischen dem Versicherungsnehmer und der versicherten Person besteht ein Zuwendungsverhältnis; allein dieses Rechtsverhältnis entscheidet darüber, ob der

17)

18) 19) 20) 21)

Vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des WA z. RegE Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/97, BT-Drucks. 18/13009, S. 53. Der RegE beschränkte sich auf die erforderlichen Umsetzungsvorschriften, vgl. Begr. RegE Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2016/97, BT-Drucks. 18/11627, S. 44. Vgl. Langheid in: Langheid/Rixecker, VVG, 6. Aufl. 2019, § 7a Rz. 9; Brömmelmeyer, VersR 2015, 1460, 1462. Vgl. Schneider in: Prölss/Martin, VVG, 30. Aufl. 2018, Vor § 150 Rz. 31. Vgl. BGH, Urt. v. 8.5.2013 – IV ZR 233/11, Rz. 25, ZIP 2013, 1228 = VersR 2013, 853 zur Gruppenrechtsschutzversicherung für Gewerkschaftsmitglieder. Vgl. BGH, Urt. v. 8.5.2013 – IV ZR 233/11, ZIP 2013, 1228 = VersR 2013, 853.

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Versicherungsnehmer bei Vereinbarungen mit dem Versicherer seine Pflichten gegenüber der versicherten Person verletzt hat.22) Tritt der Darlehensnehmer einer Restschuldversicherung bei, sind daher zwei Rechtsverhältnisse zu unterscheiden: Auf der einen Seite besteht ein Versicherungsverhältnis zwischen Bank und Versicherer; dieses Versicherungsverhältnis entscheidet darüber, ob dem Darlehensnehmer eigene Ansprüche aus dem Versicherungsvertrag zustehen. Auf der anderen Seite kann sich aus den Absprachen zwischen Bank und Darlehensnehmer ein Rechtsverhältnis ergeben, das die Rechte und Pflichten zwischen der Bank und dem Darlehensnehmer regelt, die sich aus dem Beitritt des Darlehensnehmers als versicherte Person zur Gruppenversicherung ergeben. Man kann insoweit von einem Zuwendungsverhältnis sprechen. Die AVB können – soweit sie dem Darlehensnehmer zur Verfügung stehen – für beide Rechtsverhältnisse von Bedeutung sein. 2. Rechtsstellung des Darlehensnehmers In der praktischen Ausgestaltung stehen dem Darlehensnehmer bei einer im Zusammenhang mit einem Verbraucherkredit abgeschlossenen Restschuldversicherung in der Regel keine eigenen Rechte aus dem Versicherungsverhältnis zu. Nach den AVB werden „(…) alle Leistungen aus den Versicherungen (…)“ von vornherein unwiderruflich an die Bank erbracht. In anderen AVB heißt es, dass die Bank „(…) für alle Versicherungsleistungen unwiderruflich bezugsberechtigt (…)“ ist. Diese Regelungen zielen darauf, einen Zugriff des Darlehensnehmers auf die Ansprüche aus dem Versicherungsvertrag zu verhindern. Wie sich aus § 159 Abs. 3 VVG ergibt, erwirbt ein unwiderruflich als bezugsberechtigt bezeichneter Dritter das Recht auf die Leistung des Versicherers bereits mit der Bezeichnung als Bezugsberechtigter. Damit stehen die Ansprüche auf die Leistungen des Versicherers bereits mit Wirksamwerden des Beitritts des Darlehensnehmers allein der Bank zu.23) Da die Versicherungssumme laufend der offenen Darlehensforderung angepasst wird, verbleibt in der Regel kein verwertbarer Überschuss zugunsten des Darlehensnehmers oder seiner Erben.24) Auch wenn die Bank als Versicherungsnehmer kaum als Dritter 22) 23) 24)

Vgl. BGH, Urt. v. 8.5.2013 – IV ZR 233/11, Rz. 24, 37, ZIP 2013, 1228 = VersR 2013, 853. Vgl. Schneider, VersR 2014, 1295, 1302. Schneider, VersR 2014, 1295, 1297.

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anzusehen ist, spricht nichts dagegen, den von § 159 Abs. 3 VVG aufgestellten Rechtssatz auch auf die Bezugsberechtigung des Versicherungsnehmers anzuwenden. Da es sich bei der Restschuldversicherung um eine von der Bank auf das Leben eines anderen, nämlich des Darlehensnehmers, genommene Versicherung handelt, ist § 150 VVG zu beachten. Dies gilt auch für eine Gruppenversicherung.25) Insoweit ist der Darlehensnehmer bloße Gefahrperson. Davon zu unterscheiden ist die Frage, in wessen Interesse der Versicherungsschutz genommen worden ist.26) Für die Restschuldversicherung bestehen unterschiedliche Einschätzungen des versicherten Interesses. Demgemäß ist bislang nicht geklärt, ob es sich um eine Versicherung für fremde Rechnung i. S. des § 43 VVG handelt.27) Liegt eine Versicherung für fremde Rechnung vor, stehen die Rechte aus der Versicherung gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 VVG dem Versicherten zu. Diese Ansprüche auf die Versicherungsleistung fallen immer in die Insolvenzmasse des Versicherten.28) Für die Anwendbarkeit der §§ 43 ff. VVG ist entscheidend, ob fremde Interessen in der Weise in den Vertrag einbezogen werden, dass für den Dritten ein eigener Anspruch aus dem Vertrag begründet wird.29) Ist dies nicht ausdrücklich bestimmt, kommt es auf die ergänzende Vertragsauslegung an. Um eine Versicherung für fremde Rechnung handelt es sich, wenn mit dem Vertrag ausschließlich oder jedenfalls neben dem Eigeninteresse des Versicherungsnehmers auch das eigene Interesse der versicherten Person versichert werden soll, vor Einbußen geschützt zu werden.30) Ein eigenes wirtschaftliches Interesse des Versicherungsnehmers am Ab-

25) 26) 27)

28) 29) 30)

Schneider in: Prölss/Martin, VVG, 30. Aufl. 2018, § 150 Rz. 5; vgl. auch BGH, Urt. v. 7.5.1997 – IV ZR 35/96, II. 3., NJW 1997, 2381, 2382. Schneider, VersR 2014, 1295, 1296. Dafür Herdter, Der Gruppenversicherungsvertrag, 2010, S. 55 f.; Winter in: Bruck/ Möller, VVG, 9. Aufl. 2013, § 159 Rz. 268. Dagegen Göbel/Köther, VersR 2015, 425, 426 f.; Brand in: Bruck/Möller, VVG, 9. Aufl. 2010, § 43 Rz. 12. Zweifelnd Schneider, VersR 2014, 1295, 1296 f.; Brömmelmeyer, VersR 2015, 1460, 1461. Vgl. auch die bei Brand in: Bruck/Möller, VVG, 9. Aufl. 2010, Vor §§ 43 – 48 Rz. 38, 42, zitierten gerichtlichen Entscheidungen. Allgemein zur Lebensversicherung für fremde Rechnung Hasse, Zur Lebensversicherung für fremde Rechnung, VersR 2010, 837 ff. Dageförde in: MünchKomm-VVG, 2. Aufl. 2016, § 43 Rz. 4. Dageförde in: MünchKomm-VVG, 2. Aufl. 2016, § 43 Rz. 8. Das ist letztlich eine Frage der vertraglichen Vereinbarung zwischen Versicherungsnehmer und Versicherer. Vgl. BGH, Urt. v. 8.2.2006 – IV ZR 205/04, Rz. 25, VersR 2006, 686.

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schluss einer Restschuldversicherung steht der Einordnung als Versicherung für fremde Rechnung nicht von vornherein entgegen.31) In der Regel stellen Gruppenversicherungen eine Versicherung für fremde Rechnung dar. Zweifelhaft kann dies aber sein, wenn die Versicherung allein das finanzielle Interesse des Versicherungsnehmers absichern soll. Betrachtet man die vertragliche Konstruktion der Restschuldversicherung, bei der sämtliche Rechte aus dem Versicherungsvertrag der Bank zustehen, die laufend auf den offenen Darlehensbetrag angepasste Versicherungssumme und die wirtschaftliche Verflechtung von Bank und Versicherer, spricht alles dafür, dass die Restschuldversicherung in erster Linie das Interesse der Bank absichert, eine vollständige Rückzahlung des Darlehens zu erhalten.32) In diesem Sinne handelt es sich um eine Kreditversicherung zugunsten der Bank. Das Interesse des Darlehensnehmers, im Versicherungsfall von seinen Darlehensverbindlichkeiten befreit zu werden, ist kein Gegenstand der Versicherung. Versichert sind die Risiken Tod, Arbeitsunfähigkeit und unverschuldete Arbeitslosigkeit, nicht aber die Befreiung von der Darlehensverbindlichkeit. Dass Versicherungssumme und Versicherungsleistungen sich nach der Höhe der Darlehensverbindlichkeit richten, macht die Darlehensschuld nicht zum versicherten Interesse.33) Im Todesfall fehlt es ohnehin an einem eigenen Interesse des Darlehensnehmers; ein Interesse der Erben entfällt, wenn sie die Erbschaft ausschlagen, etwa weil der Nachlass wertlos oder überschuldet ist. Ob die mittelbare Folge der vertraglichen Konstruktion, dass der Darlehensnehmer im Versicherungsfall wirtschaftlich von seinen Verpflichtungen aus dem Darlehensvertrag befreit wird,34) für eine Einordnung der Restschuldversicherung als eine Versicherung auch eines fremden Interesses ausreicht, erscheint daher zweifelhaft. 3. Sittenwidrigkeit? Angesichts des stets nur für eine begrenzte Laufzeit gewährten Versicherungsschutzes, der fallenden Versicherungssumme, der wenigen versicher31) 32) 33) 34)

Vgl. Dageförde in: MünchKomm-VVG, 2. Aufl. 2016, § 43 Rz. 7. Ebenso Schneider, VersR 2014, 1295, 1297; Brömmelmeyer, VersR 2015, 1460 f. Es liegt keine Schadensversicherung vor, vgl. Winter in: Bruck/Möller, VVG, 9. Aufl. 2013, Einf. Lebensversicherung, Rz. 208 f. Dies heben etwa Göbel/Köther, VersR 2015, 425, 428, hervor.

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ten Risiken und der durch Risikoausschlüsse und in der Höhe begrenzten Leistungspflicht sind die Versicherungsprämien der Restschuldversicherungen für Verbraucherkredite exorbitant hoch. Sie dürften in zahllosen Fällen die Voraussetzungen des § 138 Abs. 1 BGB erfüllen.35) Prämien i. H. von 10 %, 15 % oder gar 20 % des ursprünglichen Darlehensbetrags für eine auf sieben Jahre (84 Monate) begrenzte Risiko(!)Lebensversicherung sind auch unter Einschluss des Arbeitsunfähigkeits- und Arbeitslosigkeitsrisikos kaum nachvollziehbar. Hingegen sollen die Kosten der Restschuldversicherung bei der Prüfung, ob der Darlehensvertrag gemäß § 138 Abs. 1 BGB sittenwidrig und nichtig ist, nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs jedenfalls dann nicht zu berücksichtigen sein, wenn die Bank den Abschluss der Restschuldversicherung nicht zwingend vorschreibt.36) IV. Anfechtungsrechtliche Beurteilung Für den Insolvenzverwalter stellt § 134 Abs. 1 InsO einen wirkungsvollen Anfechtungstatbestand dar.37) Insoweit kommen Anfechtungsansprüche bei einer Lebensversicherung unter zwei Gesichtspunkten in Betracht:38) Eine unentgeltliche Leistung kann in der Zahlung der Versicherungsprämien gesehen werden. Zum anderen können die Leistungen des Versicherers an die Bank anfechtbare unentgeltliche Leistungen des Schuldners darstellen. 1. Allgemeine Grundsätze der Schenkungsanfechtung Die Schenkungsanfechtung beruht auf dem Gedanken, dass freigebige Zuwendungen des Schuldners weniger schutzwürdig sind als ein Erwerb, für den der Empfänger und spätere Anfechtungsgegner ein ausgleichendes Vermögensopfer zu erbringen hat.39) Unentgeltlich ist im Zwei-Personen-

35) 36) 37) 38)

39)

Vgl. Knops, Sittenwidrigkeitsprüfung in gestörten Marktlagen am Beispiel von Restschuldversicherungen, NJW 2019, 1847 ff.; Knops, VersR 2006, 1455, 1458. Vgl. BGH, Urt. v. 29.11.2011 – XI ZR 220/10, Rz. 13, 14, 27, ZIP 2012, 67 = WM 2012, 30. Vgl. Kayser, ZIP 2019, 293 ff., unter dem treffenden Titel „Die Anfechtung als unentgeltliche Leistung – eine Allzweckwaffe des Insolvenzverwalters zur Massegenerierung?“ Vgl. Kayser, Die Lebensversicherung in der Insolvenz des Arbeitgebers, 2006, S. 69 ff. Die insolvenzrechtliche Betrachtung von Göbel/Köther, VersR 2015, 425, 428 f., geht auf Anfechtungsansprüche nicht ein. Vgl. zum Normzweck Kayser, ZIP 2019, 293 f.; Schoppmeyer, Rechtssystematische Überlegungen zum Insolvenzanfechtungsrecht nach der Reform – 11 Thesen und eine Schlussfolgerung, WM 2018, 353 f.

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Verhältnis eine Leistung, wenn ein Vermögenswert des Verfügenden zugunsten einer anderen Person aufgegeben wird, ohne dass dem Verfügenden ein entsprechender Vermögenswert vereinbarungsgemäß zufließen soll.40) Der insolvenzrechtliche Begriff der unentgeltlichen Leistung setzt keine Einigung über die Unentgeltlichkeit als solche voraus.41) Entscheidend hierfür ist regelmäßig, ob den Empfänger seinerseits eine Leistungsverpflichtung trifft. Dies ist der Fall, wenn der Zuwendungsempfänger einen objektiv gleichwertigen Gegenwert für die erhaltene Zuwendung zu erbringen hat.42) Ein solcher Ausgleich des vom Schuldner durch die Zuwendung aufgegebenen Vermögenswertes kann aus dem Vermögen eines Dritten erfolgen. Erbringt ein Dritter die ausgleichende Gegenleistung, muss zwischen der Leistung des Schuldners und der ausgleichenden Gegenleistung des Dritten ein ausreichender rechtlicher Zusammenhang bestehen.43) Erforderlich sind eine rechtliche Zuordnung und eine entsprechende rechtliche Verknüpfung.44) Diese Grundsätze gelten auch hinsichtlich der Ansprüche aus einer Lebensversicherung. Ist der Schuldner Versicherungsnehmer und räumt er einem Dritten ein Bezugsrecht ein, kann darin eine gemäß § 134 Abs. 1 InsO anfechtbare unentgeltliche Leistung liegen.45) In einem solchen Fall ist für die Frage der Unentgeltlichkeit i. S. des Anfechtungsrechts darauf abzustellen, ob der Empfänger seinerseits für den erhaltenen Gegenstand eine Leistung zu erbringen hatte; typischerweise erfolgt die Einräumung des Bezugsrechts unentgeltlich.46) Ist der Dritte unwiderruflich bezugsberechtigt, ist die unentgeltliche Leistung als Rechtshandlung gemäß § 140 InsO mit der wirksamen Einräumung des Bezugsrechts vorgenommen; ist der Dritte lediglich widerruflich bezugsberechtigt, ist die Rechtshandlung 40)

41) 42) 43) 44) 45)

46)

BGH, Urt. v. 20.4.2017 – IX ZR 252/16, Rz. 10, BGHZ 214, 350 = ZIP 2017, 1233 m. w. N. Gleiches gilt, soweit ein Dritter den Ausgleich erbringt, vgl. BGH, Urt. v. 19.7.2018 – IX ZR 307/16, Rz. 35, ZIP 2018, 1601. BGH, Urt. v. 20.4.2017 – IX ZR 252/16, Rz. 10, BGHZ 214, 350 = ZIP 2017, 1233 BGH, Urt. v. 20.4.2017 – IX ZR 252/16, Rz. 11, BGHZ 214, 350 = ZIP 2017, 1233. BGH, Urt. v. 19.7.2018 – IX ZR 307/16, Rz. 33, 34, ZIP 2018, 1601. BGH, Urt. v. 19.7.2018 – IX ZR 307/16, Rz. 37, ZIP 2018, 1601. Vgl. Kayser, Die Lebensversicherung in der Insolvenz des Arbeitgebers, 2006, S. 69 f.; BGH, Urt. v. 23.10.2003 – IX ZR 252/01, III. 2., BGHZ 156, 350, 354 = ZIP 2003, 2307; BGH, Urt. v. 27.9.2012 – IX ZR 15/12, Rz. 6 ff., ZIP 2012, 2409 – zum unwiderruflichen Bezugsrecht. Ebenso BGH, Urt. v. 20.12.2012 – IX ZR 21/12, Rz. 13, ZIP 2013, 223 = WM 2013, 215 – für die Abtretung von Ansprüchen aus einer Lebensversicherung. BGH, Urt. v. 23.10.2003 – IX ZR 252/01, III. 2., BGHZ 156, 350, 354 = ZIP 2003, 2307. Bork in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, 69. EL 11/2016, § 134 Rz. 69 m. w. N.

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regelmäßig erst mit Eintritt des Versicherungsfalls vorgenommen.47) Sind die Voraussetzungen des § 134 Abs. 1 InsO erfüllt, erstreckt sich die Anfechtung auf die Versicherungsleistung, die der Dritte im Versicherungsfall aufgrund seines Bezugsrechts erhält. Es handelt sich dabei um eine – anfechtbare – mittelbare Zuwendung des Schuldners.48) Anfechtungsrechtlich kommt es insoweit nicht darauf an, welche Mittel der Versprechensempfänger (Schuldner) aufgebracht, sondern welche Leistungen der Versprechende nach dem Inhalt seiner Vertragsbeziehung zum Schuldner bei Eintritt der Fälligkeit zu erbringen hatte.49) Auf der anderen Seite kann auch die Prämienzahlung der Schenkungsanfechtung unterliegen.50) Insbesondere kann im Hinblick auf die in dem Vierjahreszeitraum des § 134 Abs. 1 InsO vom Schuldner an den Versicherer erbrachten Beitragszahlungen gegenüber dem Begünstigten oder Sicherungsnehmer eine Anfechtbarkeit gegeben sein.51) Zusätzlich kann in diesen Fällen die durch die anfechtbaren Beitragszahlungen bewirkte Mehrung der Versicherungsleistung angefochten werden.52) Darin kann eine mittelbare Zuwendung des Schuldners liegen. 2. Anfechtbarkeit hinsichtlich der Leistungen aus der Versicherung? Fraglich ist, ob diese Voraussetzungen einer Anfechtung nach § 134 Abs. 1 InsO auf von der Bank vereinnahmte Leistungen des Versicherers zutreffen.53) Im Beispielsfall kommt dies hinsichtlich des erstatteten Prämienanteils in Betracht. Dabei ist als Besonderheit der Restschuldversicherung gegenüber den typischen Lebensversicherungsfällen zu berücksichtigen, dass der Schuldner nicht Versicherungsnehmer, sondern nur versicherte Person ist. 47)

48)

49) 50) 51) 52) 53)

Vgl. Kayser, Die Lebensversicherung in der Insolvenz des Arbeitgebers, 2006, S. 71 f.; BGH, Urt. v. 23.10.2003 – IX ZR 252/01, III. 4. d), BGHZ 156, 350, 357 f. = ZIP 2003, 2307; BGH, Urt. v. 27.9.2012 – IX ZR 15/12, Rz. 8, ZIP 2012, 2409. Kayser, Die Lebensversicherung in der Insolvenz des Arbeitgebers, 2006, S. 69 ff.; BGH, Urt. v. 23.10.2003 – IX ZR 252/01, III. 4. a), BGHZ 156, 350, 355 = ZIP 2003, 2307 m. w. N.; BGH, Urt. v. 22.10.2015 – IX ZR 248/14, Rz. 22, ZIP 2015, 2328. BGH, Urt. v. 23.10.2003 – IX ZR 252/01, III. 4. a), BGHZ 156, 350, 355 = ZIP 2003, 2307. Kayser, Die Lebensversicherung in der Insolvenz des Arbeitgebers, 2006, S. 72. BGH, Urt. v. 20.12.2012 – IX ZR 21/12, Rz. 14, ZIP 2013, 223 = WM 2013, 215. BGH, Urt. v. 20.12.2012 – IX ZR 21/12, Rz. 15 f., ZIP 2013, 223 = WM 2013, 215 m. w. N. Dabei wird im Weiteren unterstellt, dass eine Gläubigerbenachteiligung vorliegt.

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a) Leistung des Schuldners bei Eigenversicherung der Bank? Sofern die Restschuldversicherung als Versicherung ausschließlich eines eigenen Interesses der Bank als Versicherungsnehmer eingeordnet wird, sind die Bestimmungen der AVB zum Bezugsrecht der Bank deklaratorisch, weil eine solche Versicherung im eigenen Interesse keine Ansprüche der versicherten Gefahrperson begründet.54) Hier scheidet eine Anfechtung des Bezugsrechts und der Versicherungsleistung im Versicherungsfall als unentgeltliche Leistung aus, weil die Bank diese Leistungen nicht als (mittelbare) Zuwendung des Schuldners, sondern aus eigenem Recht erhält. Der Versicherer verspricht in diesem Fall nur der Bank eine Leistung. Der Schuldner zahlt die Versicherungsprämie nach den AVB an die Bank, nicht an den Versicherer, dem die Bank ihrerseits die Prämie schuldet. Dass die Bank die Kosten ihres Versicherungsschutzes vom Schuldner bezahlen lässt, macht die Versicherungsleistung nicht zu einer unentgeltlichen Leistung des Schuldners. b) Bezugsrecht als unentgeltliche Leistung? Anders sieht dies aus, wenn die Restschuldversicherung eine Versicherung für fremde Rechnung i. S. des § 43 Abs. 1 VVG darstellt. Dann stehen dem Schuldner eigene Ansprüche gegen den Versicherer zu (§ 44 Abs. 1 VVG). Die Einräumung eines Bezugsrechts und die Abtretung der Ansprüche aus der Versicherung an die Bank führen – hinsichtlich der vom Versicherer an die Bank erbrachten Leistungen – zu einer unentgeltlichen Leistung des Schuldners im Wege einer mittelbaren Zuwendung. Die Bank erbringt keine Gegenleistung für den Anspruch auf die Versicherungsleistungen.55) Nach den ausdrücklichen vertraglichen Abreden hängt der Verbraucherkredit nicht davon ab, ob der Schuldner die Restschuldversicherung abschließt. Auch im Übrigen fließt dem Schuldner im Zuwendungsverhältnis zur Bank keine den durch die Zuwendung der Versicherungsansprüche aufgegebenen Vermögenswert ausgleichende Leistung zu. Dass die Bank die Versicherungsprämie im Zuge des Verbraucherkredits mitfinanziert, genügt hierfür nicht.

54) 55)

Vgl. Brand in: Bruck/Möller, VVG, 9. Aufl. 2010, § 43 Rz. 11 f. Vgl. allgemein zu möglichen Gegenleistungen für die Einräumung eines Bezugsrechts bei einer Lebensversicherung Henckel in: Jaeger, InsO, 2008, § 134 Rz. 46; Kayser, Die Lebensversicherung in der Insolvenz des Arbeitgebers, 2006, S. 73 f.

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Das Vorzugsrecht des Versicherungsnehmers aus § 46 Satz 1 VVG steht einer Anfechtung wegen unentgeltlicher Leistung nicht entgegen. Es ist schon zweifelhaft, ob das von der Restschuldversicherung versicherte Risiko eine versicherte Sache i. S. des § 46 Satz 1 VVG darstellt. Die Vorschrift zielt auf eine Sachversicherung. Die Restschuldversicherung ist eine Personenversicherung. Unabhängig davon ändert das kraft Gesetzes nach § 46 Satz 1 VVG entstehende Vorzugsrecht nichts daran, dass die Bank als Versicherungsnehmer dieses Vorzugsrecht beim Beitritt des Schuldners zu einer Restschuldversicherung durch eine unentgeltliche Leistung des Schuldners erhalten hat. Diese Regelung beruht auf der Überlegung, dass die Versicherung nicht aus Mitteln des insolventen Versicherten, sondern aus denen des Versicherungsnehmers genommen worden ist.56) Daran fehlt es beim Beitritt des Schuldners zur Restschuldversicherung. Die Bank erbringt für dieses Vorzugsrecht keine Leistungen, der Anspruch auf die Versicherungsleistung wird vollständig vom Schuldner bezahlt, so dass auch das Vorzugsrecht nach § 46 VVG eine unentgeltliche Leistung des Schuldners darstellt. c) Bezugsrecht und Abtretung als Darlehenssicherheit? Einer Anfechtung als unentgeltliche Leistung kann jedoch der Sicherungscharakter der Restschuldversicherung entgegenstehen. Sicherheiten, die der Schuldner zur Sicherung einer eigenen Verbindlichkeit bestellt, sind grundsätzlich entgeltlich, wenn die gesicherte Verbindlichkeit entgeltlicher Natur ist.57) Sie können in der Insolvenz des Sicherungsgebers nicht nach § 134 Abs. 1 InsO angefochten werden. Dies gilt sowohl für die nachträgliche wie für die anfängliche Besicherung eigener Verbindlichkeiten. Dient eine Lebensversicherung des Schuldners der Sicherung des Anspruchs des Kreditgebers auf Rückzahlung des entgeltlichen Kredits, liegt daher eine entgeltliche Leistung vor.58) Allerdings setzt dies – wie stets für die Entgeltlichkeit – eine rechtliche Verknüpfung zwischen Sicherheit und gesicherter Forderung voraus. Ein 56) 57)

58)

Brand in: Bruck/Möller, VVG, 9. Aufl. 2010, § 46 Rz. 2. BGH, Urt. v. 22.7.2004 – IX ZR 183/03, ZIP 2004, 1819, 1820 f.; BGH, Urt. v. 18.3.2010 – IX ZR 57/09, Rz. 10, ZIP 2010, 841 m. w. N.; BGH, Urt. v. 19.7.2018 – IX ZR 296/17, Rz. 16, ZIP 2018, 1606 m. w. N.; Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 134 Rz. 28 f.; Bork in Kübler/Prütting/Bork, InsO, 69. EL 11/2016, § 134 Rz. 72. Henckel in: Jaeger, InsO, 2008, § 134 Rz. 46.

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Heinrich Schoppmeyer

Anspruch auf Besicherung ist nicht als Minus in dem Anspruch auf Befriedigung der gesicherten Forderung enthalten, sondern als Aliud anzusehen.59) Die Gewährung einer Sicherheit ist daher nur dann kongruent, wenn der Sicherungsnehmer einen Anspruch auf gerade diese Sicherheit zugunsten gerade dieser Forderung hatte.60) Gleichwohl ist eine Sicherheit nicht deshalb unentgeltlich, weil sie inkongruent war.61) Damit ist fraglich, ob es eine Bedeutung hat, auf welcher Rechtsgrundlage der Gläubiger die Sicherheit erhält. Bei der Prüfung, ob die Sicherung entgeltlich oder unentgeltlich gewährt worden ist, darf nicht nur die Sicherungsabrede berücksichtigt werden; vielmehr sind die Sicherungsabrede und das Kreditgeschäft als einheitliches Rechtsgeschäft zu werten.62) Das Erlöschen des Anspruchs auf die Sicherheit für die eigene Verbindlichkeit des Schuldners führt zur Entgeltlichkeit. Insoweit spricht viel dafür, eine Sicherheit für eine eigene Verbindlichkeit dann als unentgeltlich anzusehen, wenn der Gläubiger keinen Anspruch auf Bestellung einer Sicherheit gerade zugunsten der gesicherten Forderung hat, der Schuldner ihm aber gleichwohl – in Kenntnis des fehlenden Besicherungsanspruchs – eine solche Sicherheit bestellt. Der Fall liegt ähnlich wie die Leistung des Schuldners auf eine erkannte Nichtschuld; diese ist unentgeltlich (arg. § 814 BGB):63) Der Gläubiger erhält eine Sicherheit, auf die er keinen Anspruch hat; der Schuldner kann diese Sicherheit nicht kondizieren und – etwa zugunsten anderer Gläubiger – anderweitig verwerten. Dies kann auf die vom Schuldner der Bank übertragenen Ansprüche aus der Restschuldversicherung für fremde Rechnung zutreffen: Der im Anspruch auf die Versicherungsleistung liegende Vorteil der Bank begründet den Sicherungscharakter der Restschuldversicherung.64) Die Darlehensbedingungen sehen nicht vor, dass der Abschluss der Restschuldversicherung eine Bedingung für den Abschluss des Darlehensvertrags ist. Im Gegenteil enthalten die Verträge regelmäßig eine ausdrückliche Bestimmung, dass der Abschluss des Darlehensvertrags nicht davon abhängt, dass der 59) 60) 61) 62) 63) 64)

BGH, Urt. v. 18.3.2010 – IX ZR 57/09, Rz. 16, ZIP 2010, 841. Vgl. Schoppmeyer in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, 60. EL 9/2014, § 131 Rz. 79 ff. BGH, Urt. v. 18.3.2010 – IX ZR 57/09, Rz. 11 a. E., ZIP 2010, 841; vgl. auch BGH, Urt. v. 20.4.2017 – IX ZR 252/16, Rz. 17, BGHZ 214, 350 = ZIP 2017, 1233. Henckel in: Jaeger, InsO, 2008, § 134 Rz. 4. Vgl. BGH, Urt. v. 20.4.2017 – IX ZR 252/16, Rz. 16, BGHZ 214, 350 = ZIP 2017, 1233 m. w. N. Zurückhaltend zur Einordnung als Sicherheit BGH, Urt. v. 15.12.2009 – XI ZR 45/09, Rz. 22, BGHZ 184, 1 = ZIP 2010, 220.

Schenkungsanfechtung bei Restschuldversicherungen

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Schuldner eine Restschuldversicherung abschließt.65) Demgemäß steht der Bank kein Anspruch auf Abtretung der Ansprüche oder auf Einräumung eines Bezugsrechts als Sicherheit für die Darlehensansprüche zu. Soweit der Schuldner der Bank gleichwohl ein unwiderrufliches Bezugsrecht einräumt, handelt es sich rechtlich um eine freiwillige Leistung des Schuldners. Da die Bank den Verbraucherkredit dem Schuldner auch ohne Abschluss einer Restschuldversicherung gewährt, fehlt es an einer das Vermögen der Bank belastenden, ausgleichenden Gegenleistung der Bank für die zusätzliche Sicherheit. Häufig wird als Vorteil des Schuldners hervorgehoben, dass die Bank die Versicherungsleistungen dazu verwendet, den Darlehensnehmer im Versicherungsfall von seinen Darlehensverbindlichkeiten gegenüber der Bank zu befreien.66) Die Bank mag aufgrund der AVB oder jedenfalls der Abreden im Zuwendungsverhältnis verpflichtet sein, die Versicherungsforderung einzuziehen und auf die Darlehensansprüche zu verrechnen. Die Verwertung einer Sicherheit und die spätere Befreiung von den Darlehensverbindlichkeiten stellen jedoch keinen ausgleichenden Vermögenswert für die anfechtungsrechtlich bereits mit Einräumung eines unwiderruflichen Bezugsrechts vollzogene Leistung dar. Die Unentgeltlichkeit einer Leistung richtet sich nach den rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen im Zeitpunkt der angefochtenen Rechtshandlung.67) Mit Einräumung des Bezugsrechts wendet der Schuldner die Versicherungsleistung der Bank zu. Der – mittelbar – über den Beitritt als versicherte Person bewirkte Versicherungsschutz führt ebenfalls zu keiner Gegenleistung der Bank für die Bestellung der Sicherheit, weil die Ansprüche im Versicherungsfall gerade ausschließlich der Bank als Sicherheit zustehen. 3. Anfechtung der Prämienzahlung Von der Anfechtung der Leistungen des Versicherers zu unterscheiden ist die Anfechtung der Prämienzahlungen. Hier kommt es auf die Rechtsstel65)

66)

67)

Andernfalls wäre die Bank verpflichtet, die Kosten der Restschuldversicherung in den Effektivzins des Verbraucherkredits einzuberechnen, vgl. § 6 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 Nr. 2 PAnGV; BGH, Urt. v. 29.11.2011 – XI ZR 220/10, Rz. 32 ff., ZIP 2012, 67 = WM 2012, 30 – zu § 6 Abs. 3 Nr. 5 PAngV i. d. F. v. 3.7.2004; Knops, VersR 2006, 1455, 1456 f. Etwa BGH, Urt. v. 29.11.2011 – XI ZR 220/10, Rz. 13, ZIP 2012, 67 = WM 2012, 30; Schneider, VersR 2014, 1295, 1303. Vgl. auch BGH, Urt. v. 7.12.1978 – III ZR 171/76, II. 3., VersR 1979, 345. Vgl. BGH, Urt. v. 6.12.2018 – IX ZR 143/17, Rz. 12, ZIP 2019, 679.

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lung des Schuldners i. R. der Restschuldversicherung nicht an. Stets schuldet der Schuldner der Bank die Versicherungsbeiträge. Maßgeblich ist daher das Zuwendungsverhältnis zwischen Bank und Darlehensnehmer. a) Entgeltlichkeit wegen eines Auftragsverhältnisses? Die Bank ist gegenüber dem Darlehensnehmer verpflichtet, die erhaltene Versicherungsprämie an den Versicherer weiterzuleiten. Diese Verpflichtung hat Auftragscharakter; zahlt die Bank die Versicherungsprämie an den Versicherer, steht ihr ein Aufwendungserstattungsanspruch gegen den Darlehensnehmer zu. Wendet der Schuldner einem Beauftragten die für die Ausführung des Auftrags erforderlichen Mittel zu, liegt keine unentgeltliche Leistung vor, sondern steht dem die Verpflichtung des Beauftragten gegenüber, die empfangenen Mittel auftragsgemäß zu verwenden und sie – soweit dies nicht erfolgt ist – gemäß § 667 BGB nach Beendigung des Auftrags zurück zu gewähren.68) In gleicher Weise kann eine treuhänderische Übertragung von Vermögenswerten infolge des Rückforderungsanspruchs des Treugebers nicht als unentgeltlich betrachtet werden.69) Jedoch stellt die Übertragung von Vermögen an einen Auftragnehmer dann eine anfechtbare unentgeltliche Leistung dar, soweit der Auftragnehmer einen Teil des Vermögens behalten soll.70) Hierfür kann es genügen, wenn der Auftraggeber auf seinen Herausgabeanspruch aus § 667 BGB verzichtet. Erst recht liegt eine unentgeltliche Leistung vor, wenn der Auftraggeber dem Auftragnehmer Mittel zuwendet, welche der Auftragnehmer zu seinen eigenen Gunsten verwenden soll (mittelbare Schenkung).71) Eine Anfechtung nach § 134 Abs. 1 InsO scheidet in diesen Fällen nur dann aus, wenn der Auftragnehmer dem Schuldner einen zur Entgeltlichkeit führenden vermögenswerten Vorteil verspricht.72) Auf dieser Grundlage ist die Prämienzahlung für die Restschuldversicherung eine unentgeltliche Leistung des Schuldners an die Bank. Wird die Restschuldversicherung als Versicherung für eigene Rechnung der Bank als Versicherungsnehmer eingeordnet, fehlt es mangels eigener rechtlicher 68) 69) 70) 71) 72)

BGH, Urt. v. 8.12.2016 – IX ZR 257/15, Rz. 44, ZIP 2017, 91 m. w. N. BGH, Urt. v. 8.12.2016 – IX ZR 257/15, Rz. 42, ZIP 2017, 91 m. w. N.; BGH, Urt. v. 7.9.2017 – IX ZR 224/16, Rz. 15, ZIP 2017, 1863. Vgl. Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 134 Rz. 13 a. E. Vgl. Chiusi in: Staudinger, BGB, 2013, § 516 Rz. 13. BGH, Urt. v. 8.12.2016 – IX ZR 257/15, Rz. 48, ZIP 2017, 91.

Schenkungsanfechtung bei Restschuldversicherungen

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Vorteile des Schuldners an einer die Zuwendung des Schuldners ausgleichenden Leistung. Der Versicherer schuldet die Versicherungsleistungen nur dem Versicherungsnehmer. Die Prämienzahlung des Schuldners ist dann als unentgeltliche Leistung anfechtbar. Nichts anderes gilt im Ergebnis, wenn die Restschuldversicherung als eine Versicherung für fremde Rechnung angesehene wird. Denn die dem Schuldner zustehenden Rechte als versicherte Person hat der Schuldner auf der Grundlage der AVB von vornherein mit der Bezugsrechtsbestimmung auf die Bank übertragen. Auch in diesem Fall erhält der Schuldner somit keine die Prämienzahlung ausgleichende Leistung der Bank. Alle Leistungen des Versicherers stehen der Bank zu. Der Auftrag, der Auftragnehmer möge sich mit dem Geld des Auftraggebers einen Vermögensvorteil verschaffen, stellt eine mittelbare Zuwendung eines unentgeltlichen Vorteils dar. b) Versicherungsschutz als Gegenleistung? Es bleibt als denkbare, zur Entgeltlichkeit führende Leistung der mit der Restschuldversicherung geschaffene Versicherungsschutz. Die zu zahlende Einmalprämie umfasst von vornherein das zu versichernde Risiko für die gesamte Laufzeit der Restschuldversicherung, die in der Regel identisch mit der Laufzeit des Darlehensvertrages ist.73) Nach den Abreden erhält der Schuldner jedenfalls die Stellung einer versicherten Person. Ob insoweit eine ausgleichende Gegenleistung vorliegt, ist grundsätzlich anhand eines objektiven Maßstabs zu beurteilen.74) Dies betrifft die Gegenleistung an sich und die Äquivalenz der Gegenleistung.75) Auf dieser Grundlage erscheint fraglich, ob der Versicherungsschutz eine ausgleichende Leistung für die Prämienzahlungen an die Bank darstellt. Der Schuldner tritt dem bestehenden Gruppenversicherungsvertrag mit dem Versicherer lediglich als versicherte Person bei. Das Versicherungsverhältnis und die Stellung der Bank als Versicherungsnehmer des Gruppenversicherungsvertrags sind offensichtlich keine dem Vermögen des Schuldners zufließenden Werte, bestehen beide doch unabhängig von einem Beitritt des Schuldners als versicherter Person zu diesem Gruppenversicherungsvertrag. Versicherungsschutz schuldet der Versicherer der Bank. 73) 74) 75)

Vgl. BGH, Urt. v. 11.9.2013 – IV ZR 303/12, Rz. 21, VersR 2013, 1397. Vgl. Kayser, ZIP 2019, 293, 297 m. w. N.; BGH, Urt. v. 15.9.2016 – IX ZR 250/15, Rz. 21, ZIP 2016, 2329 m. w. N. Vgl. Kayser, ZIP 2019, 293, 297.

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Selbst wenn die Restschuldversicherung als Versicherung für fremde Rechnung anzusehen wäre, fehlt es aufgrund des von vornherein bestehenden unwiderruflichen Bezugsrechts der Bank an einem eigenen Anspruch des Darlehensnehmers auf die Versicherungsleistung. Dies spricht dagegen, den Versicherungsschutz als ausgleichende Leistung für die Zahlung der Versicherungsprämie an die Bank anzusehen. Auch im Übrigen erhält der Schuldner keinen als ausgleichende Leistung anzusehenden Vermögenswert. Die Bank ist zwar aus dem Zuwendungsverhältnis zwischen ihr und dem Darlehensnehmer verpflichtet, fällige Versicherungsleistungen einzuziehen, auf die Darlehensschuld anzurechnen und einen eventuellen Überschuss an den Darlehensnehmer auszuzahlen.76) Damit führt die Versicherungsleistung im Versicherungsfall dazu, dass die bestehenden Verbindlichkeiten gegenüber der Bank getilgt werden. Der Schuldner oder seine Erben werden nach Eintritt des Versicherungsfalles mit der Zahlung des Versicherers an den Darlehensgeber in entsprechender Höhe von den eigenen Leistungsverpflichtungen frei.77) Insoweit bringt die Restschuldversicherung auch dem Darlehensnehmer Vorteile. Dieser mittelbare Vorteil der Restschuldversicherung genügt auf der Grundlage des bei § 134 Abs. 1 InsO grundsätzlich anzulegenden objektiven Maßstabs nicht, um die Entgeltlichkeit der Prämienzahlung des Schuldners annehmen zu können. Der Versicherungsschutz dient in erster Linie dem wirtschaftlichen Interesse der Bank. Dem Schuldner stehen keine Ansprüche auf die Versicherungsleistung zu. Er muss für die der Bank zur Sicherheit verschafften Ansprüche ein Entgelt in Form der Versicherungsprämie bezahlen.78) Dem schuldnerischen Vermögen fließt aufgrund der vertraglichen Konstruktion kein ausgleichender Wert zu; vielmehr wird lediglich für bestimmte Fälle das Risiko gemindert, dass der Schuldner die Darlehensverbindlichkeit aus eigenen Mitteln erfüllen muss. Versichert sind die Risiken Tod, Arbeitsunfähigkeit und unverschuldete Arbeitslosigkeit, nicht etwa die Zahlungsfähigkeit des Schuldners. Auch die weiteren rechtlichen und tatsächlichen Umstände der Restschuldversicherung sprechen dafür, dass es an einer objektiv ausgleichenden Gegenleistung fehlt: Aufgrund der AVB ist gesichert, dass die Versicherungsprämie

76) 77) 78)

Schneider, VersR 2014, 1295, 1297. BGH, Urt. v. 29.11.2011 – XI ZR 220/10, Rz. 13, ZIP 2012, 67 = WM 2012, 30. Vgl. BGH, Urt. v. 15.12.2009 – XI ZR 45/09, Rz. 22, BGHZ 184, 1 = ZIP 2010, 220.

Schenkungsanfechtung bei Restschuldversicherungen

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aus dem von der Bank gewährten Darlehen bezahlt wird; der Schuldner ist nicht in der Lage, über diesen Teil des Darlehens zu verfügen. Ebensowenig kann er auf die Versicherungsleistung zugreifen. Die Kosten der Restschuldversicherung sind unverhältnismäßig hoch. Erhebliche Teile der Versicherungsprämie fließen in Form von Provisionszahlungen an die – von der Versicherung ohnehin begünstigte – Bank zurück. Dies unterscheidet die Restschuldversicherung fundamental von üblichen Versicherungen. Da die Versicherungsleistung stets der Bank zusteht, handelt es sich tatsächlich um eine Kreditversicherung für die Bank, um deren Ausfallrisiko zu mindern. Eine Kreditversicherung für die Bank ist keine ausgleichende Kompensation für die Prämienleistungen des Schuldners. 4. Abgrenzung zum Widerruf des Darlehensvertrags Ein Widerruf des Darlehensvertrags führt – auch wenn ein mit der Restschuldversicherung verbundenes Geschäft vorliegt – nicht dazu, dass der Schuldner Auszahlung der Versicherungsprämie verlangen kann.79) In diesem Fall ist die Bank auch nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Schuldners berechtigt, gegen den Anspruch des Schuldners auf Rückzahlung der erbrachten Darlehensraten mit ihrem Darlehensanspruch aufzurechnen. Hingegen steht dem Verbraucher gegen den Darlehensgeber aufgrund des Widerrufs von vornherein kein Anspruch auf Rückerstattung derjenigen Leistungen an den Unternehmer – hier Versicherer – zu, die der Darlehensgeber durch Auszahlung des Darlehens an den Unternehmer finanziert hat.80) Auf §§ 95, 96 InsO kommt es nicht an. Denn diese Vorschriften setzen voraus, dass selbständige, wechselseitige Forderungen bestehen.81) Daran fehlt es beim Eintritt des Darlehensgebers in das Rückabwicklungsverhältnis nach § 358 Abs. 4 Satz 3 BGB a. F., soweit es um die Darlehensbeträge geht, die dem Unternehmer bei Wirksamwerden des Widerrufs bereits zugeflossen sind. Die hierauf beruhenden Forderungen erlöschen kraft Gesetzes, sobald und weil der Verbraucher seine Vertragserklärung widerruft und der Darlehensgeber in die Rechte und Pflichten des Unter-

79) 80) 81)

BGH, Urt. v. 3.3.2016 – IX ZR 132/15, BGHZ 209, 179 = ZIP 2016, 678. BGH, Urt. v. 3.3.2016 – IX ZR 132/15, Rz. 30, BGHZ 209, 179 = ZIP 2016, 678. BGH, Urt. v. 14.12.2006 – IX ZR 194/05, Rz. 9, BGHZ 170, 206 = ZIP 2007, 383.

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nehmers eintritt.82) Anfechtungsansprüche hinsichtlich der bezahlten Versicherungsprämien waren nicht Gegenstand des Urteils. V. Ergebnis Hinsichtlich der im Interesse der Banken gewählten rechtlichen Konstruktion bei Restschuldversicherungen kann die Schenkungsanfechtung in der Insolvenz des Darlehensnehmers ein wirksames Mittel sein, die Gläubiger benachteiligende Leistungen des Schuldners rückgängig zu machen. Je nach Antwort auf die aufgeworfenen Fragen können in Beziehung zur Bank in mehrfacher Hinsicht anfechtbare unentgeltliche Leistungen vorliegen: –

Wird der Bank das unwiderrufliche Bezugsrecht nicht länger als vier Jahre vor dem maßgeblichen Insolvenzantrag eingeräumt, können die gesamten Versicherungsleistungen im Vierjahreszeitraum vor dem maßgeblichen Insolvenzantrag eine unentgeltliche Leistung darstellen.



Liegt die Einräumung des unwiderruflichen Bezugsrechts länger als vier Jahre vor dem maßgeblichen Insolvenzantrag, können im Versicherungsfall nur die innerhalb des Vierjahreszeitraums erfolgen Prämienzahlungen des Schuldners oder die auf innerhalb des Vierjahreszeitraums erbrachte Leistungen des Schuldners zurückgehenden Wertsteigerungen als unentgeltliche Leistung angefochten werden.



Wird der Bank ein widerrufliches Bezugsrecht eingeräumt, sind sämtliche Leistungen aus der Versicherung als unentgeltliche Leistungen anfechtbar, wenn der Versicherungsfall nicht länger als vier Jahre vor dem maßgeblichen Insolvenzantrag eingetreten ist.



Ist der Versicherungsfall nicht eingetreten, sind sämtliche Prämienzahlungen des Schuldners an die Bank, die nicht länger als vier Jahre vor dem maßgeblichen Insolvenzantrag liegen, als unentgeltliche Leistungen anfechtbar.

82)

BGH, Urt. v. 3.3.2016 – IX ZR 132/15, Rz. 36, BGHZ 209, 179 = ZIP 2016, 678.

Der Restschuldbefreiungstourismus im Lichte der neuen EuInsVO VOLKER SCHULTZ Inhaltsübersicht I. II.

Einleitung und Überblick Gericht im Eröffnungsstaat 1. Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen 2. Feststellung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen

III. Gericht im Anerkennungsstaat 1. Einzelstaatliche Anforderungen an die Restschuldbefreiung 2. Feststellung der internationalen Zuständigkeit IV. Zusammenfassung und wesentliche Ergebnisse

Der europäische Binnenmarkt braucht grenzüberschreitende Insolvenzverfahren. Mehr noch ist er allerdings angewiesen auf die Akzeptanz der am Binnenmarkt Beteiligten. Die Akzeptanz grenzüberschreitender Insolvenzverfahren leidet unter dem Restschuldbefreiungstourismus. Gläubiger empfinden es mit Recht als Zumutung, wenn zu ihrem Nachteil der Schuldner ein fremdes Forum dazu nutzt, sich schneller und effizienter von seinen Schulden zu befreien. Im Interesse eines ordnungsgemäß funktionierenden Binnenmarkts ist der Restschuldbefreiungstourismus daher nach Möglichkeit zu verhindern. Die neue EuInsVO nimmt das in den Blick und gibt den Gerichten der Mitgliedstaaten Mittel an die Hand, dem Restschuldbefreiungstourismus Einhalt zu gebieten. Welche Mittel das sind und welche Wege eher nicht beschritten werden sollten, ist Gegenstand der nachstehenden Ausführungen. I. Einleitung und Überblick Die Regelungen der neuen EuInsVO1) über grenzüberschreitende Insolvenzverfahren sind eine Kompromisslösung. Der Verordnungsgeber erkennt an, dass aufgrund der großen Unterschiede im materiellen Recht ein einziges Insolvenzverfahren mit universaler Geltung für den gesamten Geltungsbereich der Verordnung nicht realisierbar ist.2) Diese Erkenntnis 1) 2)

Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.5.2015 über Insolvenzverfahren, ABl. (EU) L 141/19 v. 5.6.2015. Vgl. den ErwG 22 zur EuInsVO n. F.

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Volker Schultz

ist nicht neu. Sie lag schon den Regelungen der alten EuInsVO3) zugrunde.4) Ein der alten EuInsVO vorausgegangener Übereinkommensentwurf5) hatte hingegen – den Grundsätzen der Einheit und Universalität streng folgend – ein einziges Verfahren vorgesehen, das in den übrigen Mitgliedstaaten anzuerkennen war, ohne dass in diesen anderen Staaten parallel dazu inländische Verfahren eröffnet werden konnten.6) Dieser Entwurf war auf Kritik7) und auf rechtliche Probleme8) gestoßen. Die Beratungen über den Entwurf wurden letztlich mangels hinreichenden Einvernehmens ausgesetzt.9) Vor diesem Hintergrund erklärt sich, warum die Grundsätze der Einheit und Universalität der – alten wie neuen – EuInsVO nur in abgeschwächter Form zugrunde liegen.10) Ohne dass es dabei auf eine randscharfe Abgrenzung der genannten Grundsätze ankäme,11) liegt eine Abschwächung insbesondere darin, dass in ihren Wirkungen territorial begrenzte Partikularinsolvenzverfahren (Art. 3 Abs. 2 bis 4, Art. 34 ff. EuInsVO n. F.)12) anstatt eines Hauptinsolvenzverfahrens oder neben einem solchen eröffnet werden können. Innerhalb eines Verfahrens sind die der EuInsVO zu entnehmenden Sonderanknüpfungen eine Abschwächung der Grundsätze der Einheit und Universalität. Nicht der lex fori concursus, sondern ihrem jeweiligen Sonderstatut unterfallen etwa dingliche Rechte (Art. 8 EuInsVO) oder Arbeitsverträge (Art. 13 EuInsVO).13) Keine Sonderanknüpfung sieht die EuInsVO vor für die Restschuldbefreiung. Die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen der Schuldner 3) 4) 5) 6) 7) 8) 9) 10)

11) 12) 13)

Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates v. 29.5.2000 über Insolvenzverfahren, ABl. (EG) L 160/1 ff. v. 30.6.2000. Vgl. den ErwG 11 zur EuInsVO a. F. Vgl. Bulletin der Europäischen Gemeinschaften, Beilage 2/82. Virgos/Schmit, Erläuternder Bericht zu dem EU-Übereinkommen über Insolvenzverfahren, Nr. 3. Virgos/Schmit, Erläuternder Bericht zu dem EU-Übereinkommen über Insolvenzverfahren, Nr. 5. Virgos/Schmit, Erläuternder Bericht zu dem EU-Übereinkommen über Insolvenzverfahren, Nr. 5. Virgos/Schmit, Erläuternder Bericht zu dem EU-Übereinkommen über Insolvenzverfahren, Nr. 3. Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 26.10.2016 – Rs. C-195/15 (Senior Home), Rz. 17, ZIP 2016, 2175; Dornblüth in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, Vor Art. 1 EuInsVO Rz. 1; Kindler in: MünchKomm-BGB, 7. Aufl. 2018, Vorb. EuInsVO n. F. Rz. 14. Vgl. dazu Müller in: Mankowski/Müller/J. Schmidt, EuInsVO 2015, 2016, Einl. Rz. 17. Nachfolgende Normzitate ohne nähere Kennzeichnung sind solche der neuen EuInsVO. Kindler in: MünchKomm-BGB, 7. Aufl. 2018, Vorb. EuInsVO n. F. Rz. 14.

Der Restschuldbefreiungstourismus im Lichte der neuen EuInsVO

919

Restschuldbefreiung erlangt, richtet sich daher nach der lex fori concursus, also nach dem Recht des Staats der Verfahrenseröffnung (Art. 7 Abs. 1 EuInsVO). Da die einzelstaatlichen Regelungen über die Restschuldbefreiung bislang nicht Gegenstand einer Harmonisierung waren,14) unterscheiden sie sich zum Teil erheblich. Für den Schuldner kann dies den Anreiz begründen, den Ort seines gewöhnlichen Aufenthalts in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen, um in den Genuss kürzerer Fristen oder sonstiger Vorteile für eine Restschuldbefreiung zu gelangen. Diesem Anreiz ist nicht nur deshalb entgegen zu wirken, weil die Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts in einen anderen Mitgliedstaat zu Rechtsunsicherheit führt und die Gläubiger mit Mehrkosten belastet.15) Entscheidend ist, dass es das Vertrauen der Beteiligten in den Binnenmarkt untergräbt, wenn dieser für den Schuldner die Möglichkeit bietet, sich durch eine schlichte Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts in einen anderen Mitgliedstaat vorzeitig oder unter Ausnutzung anderer Vorteile von seinen restlichen Schulden zu befreien. Der Anreiz für den Schuldner, seinen gewöhnlichen Aufenthalt in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen, besteht solange fort, wie ein solches Vorgehen aufgrund der Unterschiede im nationalen Recht der Mitgliedstaaten Vorteile verspricht. Das sicherste Mittel zur Verhinderung des Restschuldbefreiungstourismus ist daher die Rechtsangleichung. Eine solche ist derzeit nicht in Sicht. Die Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz16) sieht nur eine Teilharmonisierung vor, die den Mitgliedstaaten wohl genügend Spielraum in alle Richtungen lässt. Restschuldbefreiungstourismus dürfte daher auch weiterhin zu erwarten sein. Bis auf Weiteres fällt vor diesem Hintergrund den Gerichten die Aufgabe zu, den Restschuldbefreiungstourismus zu verhindern. Zu unterscheiden sind die Gerichte im Eröffnungsstaat von denen im Anerkennungsstaat. Das Gericht im Eröffnungsstaat hat von Amts wegen zu prüfen, ob es für die Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens international zuständig ist

14)

15) 16)

Jetzt erstmals beschränkt auf „Unternehmer“: Art. 20 ff. der Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz), ABl. (EU) L 172/18 v. 26.6.2019. Vgl. ErwG 72 der Richtlinie (EU) 2019/1023, ABl. (EU) L 172/18 v. 26.6.2019. COM(2016) 723 v. 22.11.2016.

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(Art. 4 Abs. 1 Satz 1 EuInsVO).17) Dies ist nur dann der Fall, wenn sich der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen des Schuldners im Zuständigkeitsbereich dieses Gerichts befindet (Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 1 EuInsVO). Lässt sich dies im Falle eines Restschuldbefreiungstouristen verneinen, kann dem Phänomen an dieser Stelle effektiv begegnet werden, indem der Eröffnungsantrag mangels internationaler Zuständigkeit als unzulässig verworfen wird. Da eine gleichwohl getroffene Eröffnungsentscheidung in allen übrigen Mitgliedstaaten automatisch18) anerkannt wird (Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 1 EuInsVO), kann das Gericht im Anerkennungsstaat dem Restschuldbefreiungstourismus nur noch begegnen, indem es die Anerkennung wegen eines Verstoßes gegen die inländische öffentliche Ordnung verweigert (Art. 33 EuInsVO). Ein solches Vorgehen unterliegt hohen Voraussetzungen. In einer unter dem Vorsitz des Jubilars am 15. September 2015 noch zur alten EuInsVO getroffenen Entscheidung19) hat der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs der Verweigerung der Anerkennung wegen eines Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung enge Grenzen gesetzt und die Verhinderung des Restschuldbefreiungstourismus damit den Gerichten im Eröffnungsstaat zugewiesen. Diesen Weg beschreitet auch die neue EuInsVO. II. Gericht im Eröffnungsstaat Das Gericht im Eröffnungsstaat entscheidet nicht nur über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Die Eröffnungsentscheidung bestimmt zugleich das für das Insolvenzverfahren und seine Wirkungen anwendbare Insolvenzrecht (Art. 7 Abs. 1 EuInsVO). Wegen der vorstehend schon erwähnten automatischen Anerkennung der getroffenen Eröffnungsentscheidung gemäß Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 1 EuInsVO gilt dies nicht nur für den Eröffnungsstaat, sondern auch für alle übrigen Mitgliedstaaten. Das veranschaulicht die besondere Bedeutung der Eröffnungsentscheidung in grenz-

17) 18)

19)

Vgl. auch ErwG 27 zur EuInsVO n. F. Vgl. Kindler in: MünchKomm-BGB, 7. Aufl. 2018, Art. 20 EuInsVO Rz. 8; Ehret in: Braun, InsO, 7. Aufl. 2017, Art. 20 EuInsVO Rz. 6; Cranshaw, Tendenzen im internationalen Insolvenzrecht, DZWIR 2018, 1, 16. BGH, Urt. v. 15.9.2015 – IX ZR 304/13, ZIP 2015, 2331.

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überschreitenden Insolvenzverfahren – nicht zuletzt im Blick auf das für die Restschuldbefreiung anwendbare Recht.20) Die neue EuInsVO regelt die internationale Zuständigkeit für die Verfahrenseröffnung in den Art. 3 und 4 EuInsVO. Gegenüber der alten EuInsVO handelt es sich dabei zum Teil um neue, zum Teil um deutlich erweiterte Regelungen. Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 2 EuInsVO definiert erstmals den Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen.21) Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 bis 4 EuInsVO erweitert die bisher nur für Gesellschaften und juristische Personen geregelte Vermutung für den Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen auf natürliche Personen. Übt die natürliche Person eine selbständige oder freiberufliche Tätigkeit aus, ist Vermutungsgrundlage die Hauptniederlassung, bei allen anderen natürlichen Personen der gewöhnliche Aufenthalt. Der Anwendungsbereich der erweiterten Vermutung wird zugleich beschränkt. Die Vermutung kommt nicht zur Anwendung, wenn Sitz oder Hauptniederlassung in einem Zeitraum von drei Monaten oder der gewöhnliche Aufenthalt binnen sechs Monaten vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens in einen anderen Mitgliedstaat verlegt worden sind. Art. 4 Abs. 1 Satz 1 EuInsVO verpflichtet das mit einem Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens befasste Gericht, von Amts wegen zu prüfen, ob es international zuständig ist. Die Pflicht zur Prüfung von Amts wegen wird flankiert durch Art. 4 Abs. 1 Satz 2 EuInsVO, der das Gericht dazu anhält, in der Eröffnungsentscheidung die Gründe anzugeben, auf denen die internationale Zuständigkeit beruht. Dies ist von Bedeutung nicht nur im Blick auf die durch Art. 5 Abs. 1 EuInsVO neu geschaffene Rechtsschutzmöglichkeit. Die Begründungspflicht dient zudem der Selbstkontrolle und schützt vor übereilten Eröffnungsentscheidungen. Bei den erweiterten und neuen Regelungen zur Bestimmung der internationalen Zuständigkeit für die Verfahrenseröffnung handelt es sich sämtlich um unmittelbar geltende Sachnormen. Sie bestimmen den Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen und machen Vorgaben für dessen Feststellung. Die Regelungen stehen im Lichte des Ziels des Verordnungsgebers, betrügerisches oder missbräuchliches Forum Shopping zu verhindern. Dies ergibt sich aus den ErwG 29 bis 33 zur EuInsVO. Das in den ErwG 20) 21)

Vgl. BGH, Beschl. v. 2.3.2017 – IX ZB 70/16, Rz. 9, ZIP 2017, 688 m. w. N. In Anlehnung an ErwG 13 zur EuInsVO a. F. und EuGH, Urt. v. 2.5.2006 – Rs. C341/04 (Eurofood), Rz. 32, ZIP 2006, 907; EuGH, Urt. v. 20.10.2011 – Rs. C-396/09 (Interedil), Rz. 47, ZIP 2011, 2153.

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niedergelegte Ziel der Verhinderung von betrügerischem oder rechtsmissbräuchlichem Forum Shopping ist bei der Auslegung der Regelungen zur Bestimmung der internationalen Zuständigkeit zu berücksichtigen. Zwar sind die Begründungserwägungen eines Unionsrechtsakts rechtlich nicht verbindlich und können weder herangezogen werden, um von den Bestimmungen des betreffenden Rechtsakts abzuweichen, noch, um diese Bestimmungen in einem Sinne auszulegen, der ihrem Wortlaut offensichtlich widerspricht.22) Die ErwG sind jedoch ein wichtiges Instrument für die Ermittlung des mit einer bestimmten Regelung verfolgten Ziels.23) 1. Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen Die erweiterten und neuen Regelungen zur internationalen Zuständigkeit für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens machen eine Neubestimmung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen erforderlich. Das folgt aus den erweiterten Vorschriften über die Vermutung für den Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen, nicht hingegen aus der in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 2 EuInsVO erstmals enthaltenen Legaldefinition. Die in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 1 Satz 2 EuInsVO enthaltene Legaldefinition entspricht weitestgehend ErwG 13 zur alten EuInsVO. An diesem ErwG hatte der EuGH seine Rechtsprechung zum Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen nach der alten EuInsVO ausgerichtet.24) Mit der „Aufwertung“ des alten ErwG 13 zur gesetzlichen Regelung sind daher keine durchgreifenden Änderungen verbunden. In Anlehnung an die Rechtsprechung des EuGH hat der Bundesgerichtshof den Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen einer natürlichen Person nach Maßgabe der alten EuInsVO für Kaufleute, Gewerbetreibende oder Selbständige an den Ort der wirtschaftlichen oder gewerblichen Tätigkeit angeknüpft.25) Für abhängig Beschäftigte hat er im Regelfall den gewöhnlichen Aufenthalt als tatsächlichen Lebensmittelpunkt für maß-

22) 23) 24) 25)

Vgl. etwa EuGH, Urt. v. 19.6.2014 – Rs. C-345/13 (Karen Millen Fashions Ltd), Rz. 31, GRUR 2014, 774 m. w. N. Vgl. EuGH, Urt. v. 20.10.2011 – Rs. C-396/09 (Interedil), Rz. 42, ZIP 2011, 2153. EuGH, Urt. v. 2.5.2006 – Rs. C-341/04 (Eurofood), Rz. 32, ZIP 2006, 907; EuGH, Urt. v. 20.10.2011 – Rs. C-396/09 (Interedil), Rz. 47, ZIP 2011, 2153. BGH, Beschl. v. 17.9.2009 – IX ZB 51/09, Rz. 5, ZInsO 2009, 1955; BGH, Beschl. v. 18.9.2018 – IX ZB 77/17, Rz. 6, ZInsO 2018, 2412.

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geblich gehalten.26) Aufgrund der erweiterten Vorschriften über die Vermutung für den Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen lässt sich das in dieser Form nicht aufrechterhalten. Es liegt auf der Hand, dass weder allein an den Ort der wirtschaftlichen oder gewerblichen Tätigkeit (jetzt: Ort der Hauptniederlassung) noch an den gewöhnlichen Aufenthalt angeknüpft werden kann, wenn diese Orte für einen Zeitraum von drei beziehungsweise sechs Monaten nach Verlegung in einen anderen Mitgliedstaat noch nicht einmal eine widerlegliche27) Vermutung für den Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen begründen. Aber auch dann, wenn die Vermutung greift, sind Hauptniederlassung oder gewöhnlicher Aufenthalt lediglich Vermutungsgrundlage und können daher den Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen nicht für sich genommen, sondern allenfalls kraft der Vermutungswirkung begründen. Hauptniederlassung und gewöhnlicher Aufenthalt sind nur Vermutungsgrundlagen und streng vom eigentlichen Tatbestandsmerkmal, dem Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen, zu trennen. Insbesondere im Blick auf den gewöhnlichen Aufenthalt fällt diese Trennung gedanklich nicht leicht. Auf den ersten Blick liegt es vielmehr nah, den Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen einer natürlichen Person i. S. des Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 EuInsVO stets am Ort ihres gewöhnlichen Aufenthalts zu erblicken. Dass der gewöhnliche Aufenthalt gleichwohl allenfalls Vermutungsgrundlage ist, wird durch das Ziel des Verordnungsgebers erhellt, betrügerisches oder missbräuchliches Forum Shopping zu verhindern. ErwG 30 lassen sich zwei Fälle entnehmen, in denen der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen vom – tatsächlich vorliegenden und nicht nur zum Schein eingenommenen – gewöhnlichen Aufenthalt abweichen soll. Vordergründig befasst sich ErwG 30 zwar mit der Widerlegung der in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 und 4 EuInsVO geregelten Vermutungen. Was für die Widerlegung der Vermutung gilt, muss jedoch erst recht zutreffen, wenn die Vermutung wegen gerade erst erfolgter Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts (noch) nicht greift. Der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen und der gewöhnliche Aufenthalt sollen etwa voneinander abweichen, wenn sich der Großteil des Vermögens des Schuldners außerhalb des Mitgliedstaats des gewöhnlichen

26) 27)

BGH, Beschl. v. 2.3.2017 – IX ZB 70/16, Rz. 10, ZIP 2017, 688; BGH, Beschl. v. 18.9.2018 – IX ZB 77/17, Rz. 6, ZInsO 2018, 2412. ErwG 30; Dornblüth in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, Art. 3 EuInsVO Rz. 11.

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Aufenthalts befindet. In diesem Fall kommt zwar zum Schutz der Gläubiger auch die Eröffnung eines Sekundärinsolvenzverfahrens nach den Art. 34 ff. EuInsVO in Betracht.28) Weitergehender Schutz wird aber sicherlich dadurch gewährleistet, dass ein Hauptinsolvenzverfahren im Mitgliedstaat des gewöhnlichen Aufenthalts gar nicht erst eröffnet wird. Vermögen außerhalb des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts dürfte dabei auch solches sein, dessen sich der Schuldner in anfechtbarer Weise begeben hat. Der zweite, ErwG 30 zu entnehmende Fall, in dem der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen und der gewöhnliche Aufenthalt voneinander abweichen sollen, ist speziell auf das Phänomen des Restschuldbefreiungstourismus zugeschnitten. Er liegt vor, wenn der Hauptgrund für die Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts darin bestand, einen Insolvenzantrag im neuen Gerichtsstand zu stellen, und die Interessen der Gläubiger, die vor dem Umzug eine Rechtsbeziehung mit dem Schuldner eingegangen sind, durch einen solchen Insolvenzantrag wesentlich beeinträchtigt würden. Der Verordnungsgeber verbindet ein subjektives mit einem objektiven Element. Der (Haupt-)Grund für die Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts ist eine innere, dem Beweis nur eingeschränkt zugängliche Tatsache, die sich in vielen Fällen nur mittelbar aus objektiven Tatsachen herleiten lassen wird.29) Von maßgeblicher Bedeutung dürfte insoweit sein, ob der Insolvenzgrund schon vor dem Umzug eingetreten war und dem Schuldner die diesen begründenden Umstände bekannt waren. Ob die Interessen der Gläubiger, die vor dem Umzug eine Rechtsbeziehung mit dem Schuldner eingegangen sind, wesentlich beeinträchtigt werden, ist objektiv zu bestimmen. Hierzu bedarf es wohl keiner konkreten Verschlechterung der Befriedigungsaussichten. Um dem Anliegen des Verordnungsgebers, betrügerisches oder missbräuchliches Forum Shopping zu verhindern, zur Geltung zu verhelfen, dürfte eine wesentliche Beeinträchtigung der Interessen vielmehr schon dann anzunehmen sein, wenn die Restschuldbefreiung nach dem Recht im Eröffnungsstaat ungleich leichter zu erlangen ist als im Ursprungsstaat. Die damit verbundene abstrakte Gefährdung der Befriedigungsaussichten der Gläubiger reicht wohl aus. Unter diesen Voraussetzungen dürfte eine Abweichung des Mittel-

28) 29)

Vgl. EuGH, Urt. v. 4.9.2014 – Rs. C-327/13 (Burgo Group), Rz. 39, ZIP 2014, 2513. Vgl. BGH, Urt. v. 14.7.2016 – IX ZR 188/15, Rz. 12, ZIP 2016, 1686 – für die subjektiven Voraussetzungen des § 133 Abs. 1 InsO a. F.

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punkts der hauptsächlichen Interessen vom gewöhnlichen Aufenthalt in vielen Fällen des Restschuldbefreiungstourismus anzunehmen sein. Danach kann zur Bestimmung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen einer natürlichen Person nicht mehr allein an den Ort der wirtschaftlichen oder gewerblichen Tätigkeit30) (jetzt: Ort der Hauptniederlassung) oder an den gewöhnlichen Aufenthalt31) angeknüpft werden. Im Sinne eines negativen Tatbestandsmerkmals muss vielmehr hinzutreten, dass kein Fall vorliegt, in dem der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen und die Hauptniederlassung oder der gewöhnliche Aufenthalt voneinander abweichen. Zwei Fälle, in denen dies im Blick auf den gewöhnlichen Aufenthalt angenommen werden soll, sind nicht abschließend32) dem neuen ErwG 30 zu entnehmen. Für Personen, die eine selbständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausüben, enthält ErwG 30 gesondert nichts. Es spricht viel dafür, die für den gewöhnlichen Aufenthalt genannten Fälle entsprechend anzuwenden. 2. Feststellung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen Für die Feststellung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen ist einerseits die in Art. 4 Abs. 1 Satz 1 EuInsVO geregelte Pflicht zur Prüfung der internationalen Zuständigkeit von Amts wegen bedeutsam; andererseits sind es die Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 2 bis 4 EuInsVO zu entnehmenden Vermutungen. Art. 4 Abs. 1 Satz 1 EuInsVO verpflichtet das Gericht, seine internationale Zuständigkeit von Amts wegen zu prüfen. Auch diese Regelung steht im Zusammenhang mit dem Ziel des Verordnungsgebers, betrügerisches oder missbräuchliches Forum Shopping zu verhindern. Nach ihrem Wortlaut33) erschöpft sie sich allerdings wohl darin, das Gericht im Eröffnungsstaat dazu anzuhalten, sich über die internationale Zuständigkeit aus eigenem Antrieb zu vergewissern und nicht etwa nur auf Antrag/Anregung eines Beteiligten. In Anwendung der grundlegenden Kollisionsnorm des

30) 31) 32) 33)

So noch BGH, Beschl. v. 17.9.2009 – IX ZB 51/09, Rz. 5, ZInsO 2009, 1955; BGH, Beschl. v. 18.9.2018 – IX ZB 77/17, Rz. 6, ZInsO 2018, 2412. So noch BGH, Beschl. v. 2.3.2017 – IX ZB 70/16, Rz. 10, ZIP 2017, 688; BGH, Beschl. v. 18.9.2018 – IX ZB 77/17, Rz. 6, ZIP 2018, 2412. Vgl. ErwG 30: „(…), wenn sich z. B. (…)“. Englische Sprachfassung: „of its own motion examine“; französische Sprachfassung: „examine d’office“.

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Art. 7 EuInsVO dürfte hingegen das nationale Recht regeln, ob das Gericht die zur Beurteilung der internationalen Zuständigkeit erforderlichen Tatsachen von Amts wegen zu ermitteln hat oder ob diese vom Antragsteller beizubringen sind.34) Eine solche Anknüpfung an die lex fori concursus steht einer effektiven Bekämpfung des Restschuldbefreiungstourismus entgegen. Soweit das nationale Recht dies ermöglicht, steht zu befürchten, dass die Gerichte im Eröffnungsstaat ihrer Beurteilung der internationalen Zuständigkeit die Angaben des Antragstellers ungeprüft zugrunde legen. Diese Gefahr hat offenbar auch der Verordnungsgeber erkannt. ErwG 32 fordert die Gerichte im Eröffnungsstaat deshalb auf, in allen Fällen, in denen die Umstände des Falls Anlass zu Zweifeln an der internationalen Zuständigkeit geben, den Schuldner aufzufordern, zusätzliche Nachweise vorzulegen, und, wenn das für das Insolvenzverfahren geltende Recht dies erlaubt, den Gläubigern des Schuldners Gelegenheit zu geben, sich zur Frage der Zuständigkeit zu äußern. In eine für die Gerichte im Eröffnungsstaat verbindliche unionsrechtliche Regelung hat der Verordnungsgeber seine Bedenken allerdings nicht umgesetzt. Auch die in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 und 4 EuInsVO geregelten Vermutungen sind von Bedeutung für die Feststellung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen einer natürlichen Person. Nach der zur alten EuInsVO ergangenen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs35) haben die Vermutungen – selbst nach Maßgabe der nach deutschem Recht geltenden Amtsermittlungspflicht – Auswirkungen auf die Beibringungslast des Antragstellers und die Prüfungspflicht des Gerichts: Das Gericht soll zunächst von seiner internationalen Zuständigkeit ausgehen dürfen, solange sich aus dem Vortrag des Antragstellers nicht etwas anderes ergibt. Die in ErwG 32 erwähnten Zweifel müssen sich demnach aus den Angaben des Antragstellers ergeben. Nimmt man die in ErwG 30 genannten Beispielsfälle für eine Widerlegung der Vermutungen36) in den Blick, dürften Zweifel indes gar nicht so selten angezeigt sein. Wahrheitsgemäße Angaben im Antragsverfahren offenbaren Vermögen, das sich außerhalb des Mitgliedstaats des gewöhnlichen Aufenthalts befindet. Auch Hinweise auf 34)

35) 36)

Thole, Die neue Europäische Insolvenzordnung, IPRrax 2017, 213, 216; Mankowski in: Mankowski/Müller/J. Schmidt, EuInsVO 2015, 2016, Art. 4 Rz. 8; Dornblüth in: HKInsO, 9. Aufl. 2018, Art. 4 EuInsVO Rz. 2; Garcimartín, The EU Insolvency Regulation Recast: Scope, Jurisdiction and Applicable Law, ZEuP 2015, 694, 709; a. A. Kindler in: MünchKomm-BGB, 7. Aufl. 2018, Art. 4 EuInsVO Rz. 2. BGH, Beschl. v. 1.12.2011 – IX ZB 232/10, Rz. 12, ZIP 2012, 139. Vgl. dazu oben unter II. 1.

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einen in jüngerer Vergangenheit erfolgten Umzug in den Eröffnungsstaat und einen schon vor dem Umzug eingetretenen Insolvenzgrund37) müssten sich den Angaben im Antragsverfahren entnehmen lassen. Da es an einer für die Gerichte verbindlichen unionsrechtlichen Regelung fehlt, ist es allerdings nicht auszuschließen, dass diesen Zweifeln nicht hinreichend nachgegangen werden wird. Wenn die in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 und 4 EuInsVO enthaltenen Vermutungen wegen der dort geregelten Fristen (noch) nicht eingreifen, hat sich das Gericht von vornherein nicht nur über die Hauptniederlassung oder den gewöhnlichen Aufenthalt zu vergewissern. Es muss auch prüfen, ob ein Fall vorliegt, in dem der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen und die Hauptniederlassung oder der gewöhnliche Aufenthalt voneinander abweichen. Die Frage, ob die Anknüpfungstatsachen beizubringen oder von Amts wegen zu ermitteln sind, richtet sich auch hier nach der lex fori concursus. Die Feststellungslast trägt der Antragsteller. III. Gericht im Anerkennungsstaat Das Gericht im Anerkennungsstaat kann dem Restschuldbefreiungstourismus nur noch in engen Grenzen begegnen. Nach Art. 19 Abs. 1 Unterabs. 1 EuInsVO wird die im Eröffnungsstaat erfolgte Eröffnung eines Insolvenzverfahrens in allen übrigen Mitgliedstaaten anerkannt. Der Wortlaut des Art. 19 EuInsVO („durch ein nach Art. 3 zuständiges Gericht“) ist nicht dahingehend zu verstehen, dass im Anerkennungsstaat überprüft werden könnte, ob das Gericht im Eröffnungsstaat international zuständig war. Dies verbietet der Grundsatz gegenseitigen Vertrauens.38) Die Anerkennung kann das Gericht im Anerkennungsstaat deshalb nur verweigern, wenn es einen Verstoß gegen die inländische öffentliche Ordnung gemäß Art. 33 EuInsVO feststellt. Nach Art. 33 EuInsVO kann sich das Gericht im Anerkennungsstaat weigern, ein in einem anderen Mitgliedstaat eröffnetes Insolvenzverfahren anzuerkennen, soweit die Anerkennung zu einem Ergebnis führt, dass offensichtlich mit seiner öffentlichen Ordnung, insbesondere mit den Grundprinzipien oder den verfassungsmäßig garantierten Rechten und 37) 38)

Vgl. dazu oben unter II. 1. EuGH, Urt. v. 2.5.2006 – Rs. C-341/04 (Eurofood), Rz. 38 ff., ZIP 2006, 907; EuGH, Urt. v. 21.1.2010 – Rs. 444/07 (MG Probud), Rz. 29, ZIP 2010, 187; BGH, Urt. v. 10.9.2015 – IX ZR 304/13, Rz. 8, ZIP 2015, 2331.

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Freiheiten des Einzelnen, unvereinbar ist. Es geht also immer um das Ergebnis, nicht um die Verfahrenseröffnung an sich.39) Das hier zu betrachtende Ergebnis ist die nach dem Recht des Eröffnungsstaats erteilte oder zu erteilende Restschuldbefreiung. 1. Einzelstaatliche Anforderungen an die Restschuldbefreiung Die Insolvenzrechte der Mitgliedstaaten weichen zum Teil ganz erheblich voneinander ab. Dies gilt auch für die Regelungen, nach denen der Schuldner Befreiung von seinen restlichen Schulden erlangen kann. Auf abweichende Anforderungen an die Restschuldbefreiung kann die Annahme eines Verstoßes gegen die inländische öffentliche Ordnung gleichwohl allenfalls im Extremfall40) gestützt werden.41) Dem Verordnungsgeber waren alle wesentlichen nationalen Rechte bekannt. In Kenntnis von deren Unterschiedlichkeit hat er sich schon mit der alten EuInsVO für den Grundsatz gegenseitigen Vertrauens entschieden.42) Dies hat er mit der neuen EuInsVO noch einmal bekräftigt, obwohl zwischenzeitlich das Phänomen des Restschuldbefreiungstourismus aufgetreten und als Problem erkannt worden war. 2. Feststellung der internationalen Zuständigkeit Auch die letztlich zur Erteilung der Restschuldbefreiung führende Feststellung der internationalen Zuständigkeit durch das Gericht im Eröffnungsstaat kann regelmäßig keinen Verstoß gegen die inländische öffentliche Ordnung begründen. Herkömmlich wird hier zwischen solchen Schuldnern unterschieden, die Hauptniederlassung oder gewöhnlichen Aufenthalt tatsächlich in einen anderen Mitgliedstaat verlegen und solchen, die eine Verlegung nur vortäuschen.43) Diese Unterscheidung hat an Bedeutung verloren durch die ErwG 30 zu entnehmende Klarstellung des 39) 40) 41)

42) 43)

Vgl. BGH, Urt. v. 10.9.2015 – IX ZR 304/13, Rz. 27, ZIP 2015, 2331; Kindler in: MünchKomm-BGB, 7. Aufl. 2018, Art. 33 EuInsVO Rz. 12. Etwa sofortige Restschuldbefreiung ohne jedes Wohlverhalten des Schuldners; vgl. auch Müller in: Mankowski/Müller/J. Schmidt, EuInsVO 2015, 2016, Art. 33 Rz. 25. Noch enger: Mock in: BeckOK-InsO, Stand: 26.10.2018, Art. 33 EuInsVO Rz. 17.1; Vallender, NZI 2014, 285, 286 (Urteilsanm.); vgl. auch Thole in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2016, Art. 26 EuInsVO a. F. Rz. 14. Kindler in: MünchKomm-BGB, 7. Aufl. 2018, Art. 33 EuInsVO Rz. 19; Schultz in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, Art. 33 EuInsVO Rz. 14. Vgl etwa Thole in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2016, Art. 26 EuInsVO a. F. Rz. 14 f.

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Verordnungsgebers, dass der Mittelpunkt der hauptsächlichen Interessen und die Hauptniederlassung oder der gewöhnliche Aufenthalt voneinander abweichen können. Auch im Falle der tatsächlichen Verlegung von Hauptniederlassung und gewöhnlichem Aufenthalt wird es deshalb häufig an der internationalen Zuständigkeit des Gerichts in dem betreffenden Mitgliedstaat fehlen. Jeder Fall der fehlenden internationalen Zuständigkeit ist nach Möglichkeit mit einem Rechtsmittel im Eröffnungsstaat geltend zu machen.44) Die einzelstaatlichen Rechtsschutzmöglichkeiten werden ergänzt durch den in Art. 5 Abs. 1 EuInsVO neu geregelten Rechtsbehelf, wonach neben dem Schuldner jeder Gläubiger die Entscheidung zur Eröffnung des Hauptinsolvenzverfahrens vor Gericht aus Gründen der internationalen Zuständigkeit anfechten kann. Ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung wegen einer offensichtlichen Verletzung des EU-Grundrechts auf rechtliches Gehör nach den vom EuGH entwickelten Grundsätzen45) wird deshalb nur noch in Betracht kommen, wenn das flankierende nationale Recht die unionsrechtliche Rechtsschutzmöglichkeit derart beschränkt, dass von einem Gehörsverstoß ausgegangen werden muss. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs reicht der Gehörsverstoß allerdings für sich genommen nicht aus, um einen Verstoß gegen die öffentliche Ordnung nach Art. 33 EuInsVO anzunehmen.46) Findet sich im Eröffnungsstaat eine hinreichende, das Recht auf ein faires Verfahren wahrende Rechtsschutzmöglichkeit, muss die dort ergehende Entscheidung im Anerkennungsstaat im Regelfall bis zur Grenze der Willkür hingenommen werden.47) Die Willkürkontrolle dürfte durch die in Art. 4 Abs. 1 Satz 2 EuInsVO neu geregelte Pflicht, die Gründe anzugeben, auf denen die internationale Zuständigkeit beruht, erleichtert werden. Es kann sich aber auch der Fall ergeben, dass die Feststellung der internationalen Zuständigkeit zwar unter Berücksichtigung materiellen Rechts 44)

45) 46) 47)

BGH, Urt. v. 15.9.2015 – IX ZR 304/13, Rz. 26 f., ZIP 2015, 2331; Jacoby, Der ordre public-Vorbehalt beim forum shopping im Insolvenzrecht, GPR 2007, 200, 204 f.; Mehring, Die Durchsetzung von Ansprüchen trotz Restschuldbefreiungsverfahren nach englischem oder französischem Recht, ZInsO 2012, 1247, 1250. Vgl. EuGH, Urt. v. 2.5.2006 – Rs. C-341/04 (Eurofood), Rz. 67 f., ZIP 2006, 907. BGH, Urt. v. 15.9.2015 – IX ZR 304/13, Rz. 27, ZIP 2015, 2331. Schultz in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, Art. 33 EuInsVO Rz. 16; vgl. auch BGH, Urt. v. 15.9.2015 – IX ZR 304/13, Rz. 13, ZIP 2015, 2331.

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falsch ist, aber dem im Eröffnungsstaat maßgeblichen Verfahrensrecht entspricht. Gilt dort etwa der Beibringungsgrundsatz und greift eine der in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 und 4 EuInsVO geregelten Vermutungen ein, muss es keinen Fehler darstellen, wenn das Gericht die Angaben des Antragstellers ohne nähere Prüfung zugrunde legt. Gegebenenfalls macht es keinen Sinn, eine Rechtsschutzmöglichkeit im Eröffnungsstaat zu ergreifen. Die Prüfung eines Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung im Anerkennungsstaat steht dann nicht unter dem Vorbehalt der Beschreitung des Rechtsmittelzugs im Eröffnungsstaat. Ein abweichendes Verfahrensrecht allein wird allerdings einen Verstoß kaum begründen. Hier wäre vielmehr der Verordnungsgeber aufgerufen gewesen, durch verbindliche Regelungen sicherzustellen, dass die Gerichte im Eröffnungsstaat ihre internationale Zuständigkeit nicht nur von Amts wegen prüfen, sondern auch die hierzu erforderlichen Tatsachen ermitteln. IV. Zusammenfassung und wesentliche Ergebnisse Die neue EuInsVO widmet sich dem Phänomen des Restschuldbefreiungstourismus. Das ist insbesondere den ErwG 29 bis 33 zu entnehmen. Die erweiterten und neuen Regelungen zur internationalen Zuständigkeit für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens machen eine Neubestimmung des Mittelpunkts der hauptsächlichen Interessen erforderlich. Die Verhinderung des Restschuldbefreiungstourismus überantwortet der Verordnungsgeber den Gerichten im Eröffnungsstaat. Materiellrechtlich zeigt ErwG 30 dem dortigen Richter Wege auf, dem Restschuldbefreiungstourismus Einhalt zu gebieten. Verfahrensrechtlich kann jedoch die neu geregelte Verpflichtung, die internationale Zuständigkeit von Amts wegen zu prüfen, zu kurz greifen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die in Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 und 4 EuInsVO geregelten Vermutungen einschlägig sind. Ist das (Haupt-)Insolvenzverfahren über das Vermögen eines Restschuldbefreiungstouristen erst einmal eröffnet, ist es den Gerichten im Anerkennungsstaat in der Regel verwehrt sich zu weigern, das Verfahren anzuerkennen.

Anfechtbarkeit von Honorarzahlungen an Sanierungsberater im Lichte der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes WERNER STERNAL1) Inhaltsübersicht I.

1)

Anfechtungsgrund § 133 Abs. 1 InsO 1. In den Anfängen umgesetztes erfolgversprechendes Sanierungskonzept a) Rechtshandlung b) Objektive Gläubigerbenachteiligung c) Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners d) Kenntnis vom Gläubigerbenachteiligungsvorsatz e) Entfallen der für den Vorsatz und der Kenntnis hiervon sprechenden Beweisanzeichen aa) Sanierungsbemühungen bb) Anforderungen an ein erfolgversprechendes Sanierungskonzept (1) Inhalt des Konzepts (2) Umsetzbarkeit des Sanierungskonzepts f) Zwischenergebnis 2. Zahlungen i. R. der vorbereitenden Tätigkeiten a) Grundsatz

b) Voraussetzungen für insolvenzfeste Honorarzahlungen aa) Verneinung des Gläubigerbenachteiligungsvorsatz bb) Verneinung der Kenntnis des Beraters c) Bargeschäftsähnliche Lage aa) Grundsatz bb) Vorschusszahlungen d) Zwischenergebnis 3. Aussichtsloser Sanierungsversuch 4. Gesetzliche Neuregelung a) Neufassung des § 133 InsO b) Neufassung des § 142 InsO II. § 133 Abs. 2 InsO a. F./§ 133 Abs. 4 InsO n. F. 1. Nahestehende Person 2. Unmittelbare Gläubigerbenachteiligung 3. Zwischenergebnis III. §§ 130, 131 InsO IV. § 132 InsO V. Prozess VI. Ergebnis

Die Sanierungsberatung nimmt in der Praxis zunehmend eine wichtige Rolle ein.2) Für die vom Schuldner beauftragten Berater (z. B. Rechtsanwälte, Buchprüfer, Betriebswirte, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer) ist mit der Übernahme des Auftrages sowie der Entgegennahme der vereinbarten Vergütung ein Anfechtungsrisiko verbunden, wenn es später zu keiner Sanierung des Unternehmens kommt und das Insolvenzverfahren eröffnet wird. Dass auch Sanierungsberater Gegner einer Insolvenzanfechtung sein können, stellt weder „eine 1) 2)

Der Beitrag gibt ausschließlich die persönliche Auffassung des Verfassers wieder. Mock, Die Vergütung des vorinsolvenzlichen Sanierungsberaters, ZIP 2014, 445.

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neue noch überraschende Erkenntnis“3) dar. In der Praxis kommt es immer wieder vor, dass eingesetzte Insolvenzverwalter Rückgewähransprüche hinsichtlich der gezahlten Beratervergütung (erfolgreich) geltend machen.4) In der letzten Zeit haben mehrere gerichtliche Entscheidungen, die jeweils zugunsten des klagenden Insolvenzverwalters gegen die vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens tätigen Berater ergangen sind, zu einer erheblichen Verunsicherung in der Beraterpraxis geführt.5) Honorarzahlungen an den Sanierungsberater können der Insolvenzanfechtung gemäß § 133 Abs. 1 InsO (dazu I.) und § 133 Abs. 2 InsO a. F./§ 133 Abs. 4 InsO n. F. (dazu II.) sowie §§ 130, 131 InsO (dazu III.) und ggf. § 132 InsO (dazu IV.) unterliegen. Für die vom Schuldner in der wirtschaftlichen Krise beauftragten Sanierungsberater stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen Honorarzahlungen insolvenzfest vereinnahmt werden können.6) I. Anfechtungsgrund § 133 Abs. 1 InsO In den veröffentlichten Gerichtsentscheidungen ist die Anfechtung der gezahlten Beratervergütung vornehmlich auf § 133 Abs. 1 InsO a. F. gestützt worden. Die gesetzliche Neufassung dieser Vorschrift durch das

3) 4)

5)

6)

Riewe, NZI 2015, 1025 (Urteilsanm.). So z. B. OLG Bremen, Urt. v. 3.7.2015 – 2 U 145/14, ZInsO 2015, 1791; OLG Frankfurt/M., Urt. v. 17.1.2018 – 4 U 4/17 (Arcandor/KPMG), ZIP 2018, 488; OLG Frankfurt/M., Urt. 19.10.2016 – 19 U 102/15, ZIP 2017, 187 = NZI 2017, 265 (die eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde ist erfolglos geblieben, BGH, Beschl. v. 22.3.2018 – IX ZR 261/16, n. v.); LG Frankfurt/M., Urt. v. 21.4.2015 (Q-Cells) – 2-19 O 37/14, ZIP 2015, 2035 = NZI 2015, 1022, m. Anm. Riewe; LG Frankfurt/M., Urt. v. 7.5.2015 – 232 O 102/13 (Q-Cells), ZIP 2015, 1358; LG Köln, Urt. v. 4.4.2017 – 37 O 378/15, juris; LG Würzburg, Urt. v. 6.2.2018 – 71 O 1592/16 Ins, NZI 2018, 271 = ZIP 2018, 1891. Vgl. nur die teilweise sehr kritischen Besprechungen von Ganter, „Sanierungsberaters Kunst – oft umsunst“?, ZIP 2015, 1413; Gessner, Insolvenzrechtliche Anfechtbarkeit von Honorarzahlungen an Sanierungsberater, jurisPR-BKR 10/2015 Anm. 5; Heil/ Schmitt, Sanierungsberatung und Vorsatzanfechtung nach § 133 InsO n. F., ZIP 2018, 714; Hirte/Fontaine, Offene Rechtsfragen als neues Beweisanzeichen im Rahmen von § 133 Abs. 1 InsO?, ZInsO 2017, 1817; Riewe, NZI 2015, 1025 (Urteilsanm.); Schuhknecht, GWR 2015, 303 (Urteilsanm.); Thole, Die Vorsatzanfechtung von Beraterhonoraren für Sanierungskonzepte, ZIP 2015, 2145. Da Verpflichtungs- und Erfüllungsgeschäfte stets gesondert anfechtbar sind, ist auch eine Anfechtung des regelmäßig damit zeitnah abgeschlossenen Beratervertrages denkbar. Die damit verbundenen Probleme bleiben hier ausgeklammert; vgl. dazu Heil/ Schmitt, ZIP 2018, 714, 717.

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Gesetz vom 29. März 20177) hat in der täglichen Gerichtspraxis bislang kaum Bedeutung erlangt, da derzeit überwiegend noch Altfälle Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen, insbesondere der Rechtsmittelgerichte, sind. Die mit den Neuregelungen für die am dem 5. April 2017 eröffneten Verfahren verbundenen Änderungen werden nachstehend unter I. 4. erörtert. Hinsichtlich der Erfolgsaussichten etwaiger Rückgewähransprüche (§ 143 Abs. 1 InsO) ist zu unterscheiden zwischen Vergütungszahlungen bei einem bereits in den Anfängen umgesetzten erfolgversprechenden Sanierungskonzept (dazu I. 1.) und denjenigen Zahlungen, die in der Vorbereitungsphase (dazu I. 2.) bzw. bei einem von vornherein aussichtslosen Sanierungsplan (dazu I. 3.) erbracht worden sind. 1. In den Anfängen umgesetztes erfolgversprechendes Sanierungskonzept a) Rechtshandlung Die Bezahlung des vereinbarten Beraterhonorars durch den Schuldner stellt eine Rechtshandlung des Schuldners i. S. des § 129 InsO dar. Dabei ist es unerheblich, ob die Beauftragung des Beraters durch den Schuldner oder durch einen Dritten erfolgt, z. B. durch den Gesellschafter oder die kreditierende Bank. Dass sich der Schuldner eines abbuchenden Kreditinstituts als „Zahlungs- und Verrechungsstelle“ bedient und die Regeln des Abbuchungs- bzw. des Einzugsermächtigungsverfahrens eingehalten werden,8) lässt das Tatbestandsmerkmal der Rechtshandlung ebenso wenig entfallen. b) Objektive Gläubigerbenachteiligung Die Erfüllung des Vergütungsanspruchs des Beraters führt – ebenfalls unproblematisch – zu der für alle Tatbestände der Insolvenzanfechtung erforderlichen objektiven Gläubigerbenachteiligung. Dieses Tatbestandsmerkmal wird i. R. des § 133 Abs. 1 InsO weit ausgelegt und umfasst auch mittelbare Benachteiligungen.9) Im Falle der Eröffnung des Insolvenzverfahrens genügt es, wenn zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz die dann vorhandenen Mittel nicht ausreichen, 7) 8) 9)

Gesetz zur Verbesserung der Rechtssicherheit bei Anfechtungen nach der Insolvenzordnung und nach dem Anfechtungsgesetz, v. 29.3.2017, BGBl. I 2017, 654. Thole in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 133 Rz. 9 m. w. N. Vgl. nur BGH, Urt. v. 18.7.2002 – IX ZR 480/00, ZIP 2002, 1540, 1541 = NZI 2002, 602; vgl. auch Thole, ZIP 2015, 2145, 2146.

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um alle bestehenden Verbindlichkeiten zu befriedigen. Ausnahmsweise kann eine objektive Gläubigerbenachteiligung bei einer Zahlung eines Dritten auf „Anweisung auf Kredit“ fehlen, da insoweit nur ein neutraler, die Gläubigergesamtheit nicht benachteiligender Gläubigeraustausch vorliegt.10) Dieser Gesichtspunkt hilft den Beratern in den meisten Anfechtungsfällen nicht weiter, da die Abgrenzung der „Anweisung auf Kredit“ zur „Anweisung auf Schuld“ oft problematisch ist und Drittzahlungen eher als eine die Gläubiger benachteiligende „Anweisung auf Schuld“ zu qualifizieren sind.11) Vereinzelt wird in der Literatur unter Bezugnahme auf die zur KO ergangene obergerichtliche Rechtsprechung vertreten, eine objektive Gläubigerbenachteiligung scheide aus, wenn der Sanierungsberater im Vorfeld eines Insolvenzverfahrens Tätigkeiten entfaltet, die in dem späteren Insolvenzverfahren der gerichtlich eingesetzte Insolvenzverwalter ebenfalls durchführen müsste. Eine Rückgewähr der hierbei an den Berater geflossenen Vergütung sei nicht gerechtfertigt, da für die Insolvenzmasse mit den bereits durchführten Tätigkeiten eine Kostenersparnis verbunden sei, die die objektive Gläubigerbenachteiligung hinsichtlich des erfolgten Mittelabfluss entfallen lasse.12) Diese Auffassung ist abzulehnen. Die Rechtsprechung hat die für die KO zurückhaltende Annahme einer objektiven Gläubigerbenachteiligung bei der Zahlung von Anwalts- und Beraterhonoraren13) aufgegeben. Maßgeblich für die mittelbare Gläubigerbenachteiligung ist ausschließlich das objektive Kriterium, dass die weggegebenen Beträge der Insolenzmasse nicht mehr zur Verfügung stehen. Auf die Nützlichkeit der damit erkauften Beraterleistungen für den Schuldner bzw. für das spätere Insolvenzverfahren kommt es nicht an. Zudem dürften die im Vorfeld von einem Sanierungsberater entfalteten Tätigkeiten nur sehr eingeschränkt dem späteren Insolenzverwalter, der regelmäßig nicht mit dem Sanierungsberater identisch ist, nützen. Dieser muss eigenverantwortlich die wirtschaftliche Situation des Schuldners prüfen und beurteilen.

10) 11) 12) 13)

Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 133 Rz. 273 m. w. N. Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 133 Rz. 275 f. m. w. N. Mock, ZIP 2014, 445, 453. BGH, Urt. v. 17.11.1958 – II ZR 224/57, BGHZ 28, 344, 347 = NJW 1959, 147; BGH, Urt. v. 11.6.1980 – VIII ZR 62/79, BGHZ 77, 250, 252 = ZIP 1980, 618; siehe auch Thole, ZIP 2015, 2145, 2146; Tolani, Vererbbarkeit eines Benutzerkontos in sozialem Netzwerk, ZIP 2018, 1887, 2002.

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c) Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners Für den Benachteiligungsvorsatz des Schuldners genügt es, dass dieser die Benachteiligung der Gläubiger als mutmaßliche Folge erkennt und billigt.14) Entsprechend muss der Schuldner nur wissen, dass neben dem Sanierungsberater nicht alle weiteren Gläubiger innerhalb angemessener Zeit befriedigt werden können. Es genügt, wenn der Schuldner sich diese Folge zumindest als möglich vorgestellt, aber in Kauf genommen hat, ohne sich durch die Vorstellung dieser Möglichkeit von seinem Handeln abhalten zu lassen.15) Die (innere) Motivationslage des Schuldners kann anhand von Beweisanzeichen festgestellt werden. Neben der Inkongruenz der Leistung ist auch die Zahlungsunfähigkeit ein bedeutsames Indiz. Kennt der Schuldner seine Zahlungsunfähigkeit, erlaubt dies – auch bei kongruenten Leistungen16) – den Schluss auf einen Benachteiligungsvorsatz. Der Schuldner weiß, dass sein Vermögen nicht ausreicht, um sämtliche Gläubiger zu befriedigen.17) Auch die nur drohende Zahlungsunfähigkeit stellt ein starkes Beweisanzeichen für den Benachteiligungsvorsatz des Schuldners dar.18) Der Kenntnis der (drohenden) Zahlungsunfähigkeit steht die Kenntnis von Umständen gleich, die zwingend auf eine bereits

14)

15) 16) 17)

18)

Ständige Rechtsprechung z. B. BGH, Urt. v. 10.2.2005 – IX ZR 211/02, BGHZ 162, 143, 153 = ZIP 2003, 1506; BGH, Urt. v. 27.3.2003 – IX ZR 169/02, BGHZ 155, 75, 84 = ZIP 2005, 494. BGH, Urt. v. 24.5.2016 – IX ZR 97/06, Rz. 8, ZIP 2007, 1511 = NZI 2007, 512. BGH, Urt. v. 14.9.2017 – IX ZR 108/16, Rz. 20, ZIP 2017, 1962 = NZI 2017, 926; BGH, Urt. v. 21.1.2016 – IX ZR 84/13, Rz. 15, ZIP 2019, 374 = NZI 2016, 355. Ständige Rechtsprechung z. B. BGH, Urt. v. 28.3.2018 – IX ZR 7/18, Rz. 7, BeckRS 2019, 6270; BGH, Urt. v. 7.5.2015 – X ZR 95/14, ZIP 2015, 1234 = NZI 2015, 717, Rz. 11; BGH, Urt. v. 10.1.2013 – IX ZR 13/12, ZIP 2013, 174 = NZI 2013, 133, Rz. 14; BGH, Urt. v. 6.12.2012 – IX 3/12, Rz. 15, ZIP 2013, 228 = NZI 2013, 140; BGH, Urt. v. 29.9.2011 – IX ZR 202/10, Rz. 14, NZI 2012, 137; Kayser, Vorsatzanfechtung im Spannungsverhältnis von Gläubigergleichbehandlung und Sanierungschancen, NJW 2014, 422, 425. Ständige Rechtsprechung z. B. BGH, Urt. v. 22.5.2014 – IX ZR 95/13, Rz. 15, ZIP 2014, 1289 = NZI 2014, 698; BGH, Urt. v. 24.1.2013 – IX ZR 11/12, Rz. 23, ZIP 2013, 371 = NZI 2013, 249; BGH, Urt. v. 12.8.2009 – IX ZR 159/06, Rz. 8, ZIP 2009, 1966 = NZI 2009, 768; BGH, Urt. v. 5.3.2009 – IX ZR 85/07, Rz. 10, BGHZ 180, 98 = ZIP 2009, 922; BGH, Urt. v. 13.4.2006 – IX ZR 158/05, BGHZ 167, 190 = ZIP 2006, 1261; vgl. auch Kayser, Die Entkräftung der die Insolvenzanfechtung begründenden Vermutungen und Indizien, WM 2013, 293, 294; a. A. teilweise die Literatur Ganter, ZIP 2015, 1413, 1415 m. w. N.; Schoppmeyer, § 133 Abs. 1 InsO versus §§ 130, 131 InsO: Ist die Deckungsanfechtung nur ein Unterfall der Vorsatzanfechtung?, ZIP 2009, 600, 607.

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eingetretene oder zumindest drohende Zahlungsunfähigkeit schließen lassen.19) Anhand dieser vom Bundesgerichtshof vertretenen Grundsätze lässt sich in vielen Fällen der Beauftragung eines Sanierungsberaters der Benachteiligungsvorsatz unproblematisch bejahen. So stellt bereits die Notwendigkeit der Einschaltung externer Hilfe zum Zwecke der Sanierung des Unternehmens ein starkes Beweisanzeichen für eine (drohende) Zahlungsunfähigkeit und damit Beteiligungsvorsatz des Schuldners dar. Denn solange der Schuldner davon ausgehen kann, er könne noch seine Verbindlichkeiten bedienen, besteht für ihn keine Veranlassung, eine mit nicht unerheblichen Kosten verbundene Beratungshilfe in Anspruch zu nehmen. In der Praxis erfolgt die Beauftragung regelmäßig erst nach dem Eintritt einer Krisesituation. Der Berater soll einen Ausweg aus der wirtschaftlich bedrohlichen Lage finden. Zudem sind zu diesem Zeitpunkt oftmals auch weitere von der Rechtsprechung entwickelte Beweisanzeichen für eine (drohende) Zahlungsunfähigkeit (wie z. B. stockende bzw. ausstehende Zahlungen fälliger Verbindlichkeiten, drohende bzw. bereits erfolgte Kreditkündigungen, Mahnungen, Vollstreckungen) erfüllt. d) Kenntnis vom Gläubigerbenachteiligungsvorsatz Der Kenntnis des Anfechtungsgegners von der (drohenden) Zahlungsunfähigkeit steht gemäß § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO die Kenntnis von Umständen gleich, die zwingend auf eine drohende (oder bereits eingetretene) Zahlungsunfähigkeit hinweisen.20) Es genügt, dass der Anfechtungsgegner die tatsächlichen Umständen kennt, aus denen bei zutreffender rechtlicher Bewertung die drohende oder bereits eingetretene Zahlungsunfähigkeit zweifelsfrei folgt.21) In diesem Fall weiß der Anfechtungsgegner auch, dass die an ihn erfolgten Zahlungen die Befriedigungsmöglichkeit anderer Gläubiger vereitelt oder zumindest erschwert und verzögert. Mithin kennt 19)

20) 21)

BGH, Urt. v. 22.11.2012 – IX ZR 62/10, ZIP 2013, 76 = NZI 2013, 129 m. w. N.; BGH, Vers.-Urt, v. 18.12.2008 – IX ZR 79/07, Rz. 4, ZIP 2009, 518 = NZI 2009, 135; BGH, Urt. v. 29.11.2007 – IX ZR 121/06, Rz. 32, ZIP 2008, 190 = NZI 2008, 167; BGH, Urt. v. 24.5.2016 – IX ZR 97/06, Rz. 19, ZIP 2007, 1511 = NZI 2007, 512; BGH, Urt. v. 13.4.2006 – IX ZR 158/05, Rz. 14, BGHZ 167, 190, 192 = ZIP 2006, 1261; BGH, Urt. v. 27.5.2003 – IX ZR 169/02, BGHZ 155, 75, 83 f. = ZIP 2003, 1506. BGH, Urt. v. 8.10.2009 – IX ZR 173/07, Rz. 10, ZIP 2009, 2148 = NZI 2009, 847 m. w. N. BGH, Urt. v. 19.2.2009 – IX ZR 62/08, Rz. 13, BGHZ 180, 63 = ZIP 2009, 526.

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ein solcher Gläubiger zugleich den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners.22) Unter Beachtung dieser Grundsätze ist der Nachweis der Kenntnis des Beraters von einem Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners für den Insolvenzverwalter regelmäßig leicht zu erbringen.23) Auch für den Berater gilt (spiegelbildlich), dass bereits die Notwendigkeit seiner Beauftragung, um etwaige Sanierungschancen zu eruieren, ein nicht unerhebliches Beweisanzeichen für eine eingetretene (bzw. zumindest drohende) Zahlungsunfähigkeit darstellt. Zudem gewinnt der Berater bei einer gewissenhaften Ausführung seines Auftrages einen umfassenden Einblick in die wirtschaftliche Situation des Schuldners. Die Einschätzung der Sanierungsmöglichkeiten erfordert eine sorgfältige Analyse der bestehenden und künftigen Verbindlichkeiten des Schuldners sowie dessen Zahlungsfähigkeit. Daneben setzt die Erstellung eines Sanierungskonzepts eine vorhergehende Vermögens-, Finanz- und Ertragsplanung voraus,24) was ebenfalls in der Regel die nach § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO ausreichende Kenntnis vermittelt. Die Tatsache, dass der Sanierungsberater im Einzelfall den Schluss auf einen Gläubigerbenachteiligungsvorsatz nicht zieht, steht der Annahme einer entsprechenden Kenntnis nicht entgegen. Es reicht die Kenntnis der Umstände, aus denen sich zwingend die (drohende) Zahlungsunfähigkeit ergibt, sofern sich ein redlicher und vernünftig denkender Dritter der Einsicht nicht hätte verschließen können.25) Zudem sind manchmal auch noch weitere gewichtige Beweisanzeichen erfüllt, z. B. wenn der Berater eine inkongruente Leistung erhält. Dies ist der Fall, wenn er eine gesetzlich nicht vorgesehene bzw. vertraglich nicht vereinbarte Vorschusszahlung oder eine Veränderung des Zahlungsweges (z. B. durch eine Direktzahlung eines Drittschuldners) verlangt.26) Dieser Umstand nährt den Verdacht, der Berater habe erhebliche Zweifel, dass der Schuldner zur Zahlung der vereinbarten Vergütung zum Zeitpunkt der Fälligkeit noch in der Lage ist. 22)

23) 24) 25) 26)

BGH, Urt. v. 14.9.2017 – IX ZR 108/16, Rz. 21, ZIP 2017, 1962 = NZI 2017, 926; BGH, Urt. v. 17.11.2016 – IX ZR 65/15, Rz. 13, ZIP 2016, 2423 = NZI 2017, 64 m. w. N. Heil/Schmitt, ZIP 2018, 714, 715. Becker/Bieckmann/Wechsung/Müller, Konkretisierung der Anforderungen an ein Sanierungskonzept nach IDW S 6, DStR 2017, 2506. BGH, Urt. v. 19.2.2009 – IX ZR 68/08, Rz. 14, BGHZ 180, 63 = ZIP 2009, 526. Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 133 Rz. 128; Kayser, NJW 2014, 422, 426.

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e) Entfallen der für den Vorsatz und der Kenntnis hiervon sprechenden Beweisanzeichen Die konsequente Anwendung dieser von der Rechtsprechung für die subjektiven Voraussetzungen des § 133 InsO aufgestellten Grundsätze, führt dazu, dass Honorarzahlungen an den Sanierungsberater in vielen Fällen der erfolgreichen Insolvenzanfechtung unterliegen.27) aa) Sanierungsbemühungen Der Bundesgerichtshof hat diese – alle Gläubiger treffende – Problematik erkannt und Grundsätze für die vorsatzausschließende Wirkung eines Sanierungskonzepts aufgestellt. Von der Kenntnis der (drohenden) Zahlungsunfähigkeit kann bei der gebotenen Gesamtwürdigung28) im Einzelfall – nicht generell29) – nicht auf einen Benachteiligungsvorsatz des Schuldners und auf die Kenntnis des Gläubigers hiervon geschlossen werden, wenn die Rechtshandlung Teil eines schlüssigen, von den tatsächlichen Gegebenheiten ausgehendes, wenngleich erfolgloses Sanierungskonzepts ist, welches mindestens in den Anfängen bereits in die Tat umgesetzt worden ist.30) Zudem muss der Schuldner mit dem ernsthaften und begründeten Sanierungswillen handeln. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, wird der Schuldner von einem anfechtungsrechtlich unbedenklichen Willen geleitet und das Bewusstsein der potentiellen Benachteiligung anderer Gläubiger

27) 28)

29) 30)

Utsch, Anfechtbarkeit von Honorarzahlungen an Sanierungsberater, DZWIR 2013, 353, 357. Vgl. BGH, Urt. v. 14.7.2016 – IX ZR 188/15, Rz. 12, ZIP 2016, 1686 = NZI 2016, 837; G. Fischer, Gläubigerbenachteiligungsvorsatz bei kongruenter Deckung, NZI 2008, 588, 592; Kayser, WM 2013, 293, 298. Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013 § 133 Rz. 37; G. Fischer, NZI 2008, 588, 593; Ganter, Vorsatzanfechtung nach fehlgeschlagener Sanierung, WM 2009, 1441, 1447. Ständige Rechtsprechung BGH, Urt. v. 12.5.2016 – IX ZR 65/14, Rz. 14 f., BGHZ 210, 249 = ZIP 2016, 1235; BGH, Urt. v. 3.4.2014, IX ZR 201/13, Rz. 40, ZIP 2014, 1032 = NZI 2014, 650; BGH, Urt. v. 21.2.2013 – IX ZR 52/10, Rz. 11, ZIP 2013, 894 = NZI 2013, 500; BGH, Urt. v. 22.11.2012 – IX ZR 62/10, ZIP 2013, 79 = NZI 2013, 129; BGH, Urt. v. 8.12.2011 – IX ZR 156/09, Rz. 11, ZIP 2012, 137 = NZI 2012, 142; BGH, Urt. v. 5.3.2009 – IX ZR 85/07, Rz. 17, BGHZ 180, 98 = ZIP 2009, 922; BGH, Urt. v. 12.11.1992 – IX ZR 236/91, NJW-RR 1993, 238 = ZIP 1993, 276.

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tritt aufgrund dieser Zielsetzung in den Hintergrund.31) Dagegen räumt die bloße vage Hoffnung auf eine Sanierung den Benachteiligungsvorsatz des Schuldners nicht aus, wenn die dazu erforderlichen Bemühungen über die Entwicklung von Plänen und die Erörterung von Hilfsmöglichkeiten nicht hinausgekommen sind.32) Auch auf Seiten des Anfechtungsgegners kann die Kenntnis der (drohenden) Zahlungsunfähigkeit des Schuldners im Fall eines ernsthaften, wenn auch letztlich gescheiterten Sanierungsversuchs an Bedeutung verlieren.33) Diese Grundsätze finden auf Zahlungen an alle Gläubiger einschließlich der Honorarzahlungen an einen Sanierungsberater Anwendung. Mithin entfallen der Gläubigerbenachteiligungsvorsatz und damit auch die entsprechende Kenntnis hiervon, wenn der Berater seine Vergütung erhält, nachdem er ein erfolgversprechendes Sanierungskonzept vorlegt, welches bereits in den Anfängen umgesetzt worden ist. Für den Berater bleibt dennoch das Risiko, ob das von ihm entwickelte, bereits in den Anfängen umgesetzte Sanierungskonzept in einem späteren Insolvenzanfechtungsprozess bei einer Ex-ante-Betrachtung tatsächlich als erfolgsversprechend eingestuft wird. Denn die von der Rechtsprechung verlangten Kriterien „erfolgversprechendes Konzept“ und „in den Anfängen umgesetzt“ sind mit einer Reihe unsicherer Faktoren verbunden. Letztlich besteht immer die Gefahr, dass das Gericht unter Berücksichtigung der Sicht eines objektiven Dritten zu dem Ergebnis gelangt, die in Aussicht genommenen Maßnahmen seien für die Beseitigung aller Verbindlichkeiten unzureichend gewesen, das Konzept habe die maßgeblichen Gesamtumstände nicht ausreichend berücksichtigt oder es habe bereits keine ernsthafte und begründete Aussicht auf Erfolg bestanden.

31)

32)

33)

BGH, Urt. v. 28.3.2019 – IX ZR 7/17, Rz. 7, BeckRS 2019, 6270; BGH, Urt. v. 12.5.2016 – IX ZR 65/14, Rz. 14, BGHZ 210, 249 = ZIP 2016, 1235; BGH, Urt. v. 21.2.2013 – IX ZR 52/10, ZIP 2013, 894 = NZI 2013, 500; BGH, Urt. v. 9.12.2011 – IX ZR 156/09, Rz. 11, 18, ZIP 2012, 137 = NZI 2012, 142; BGH, Urt. v. 1.4.2004 – IX ZR 305/00, ZIP 2004, 957 = NZI 2004, 376; Kayser, WM 2013, 293, 299; Kayser, NJW 2014, 422, 427. BGH, Urt. v. 12.5.2016 – IX ZR 65/14, Rz. 15, BGHZ 210, 249 = ZIP 2016, 1235; BGH, Urt. v. 3.4.2014 – IX ZR 201/13, ZIP 2014, 1032 = NZI 2014, 650; BGH, Urt. v. 21.2.2013 – IX ZR 52/10, ZIP 2013, 894 = NZI 2013, 500; BGH, Urt. v. 10.1.2013 – IX ZR 28/12, Rz. 20, NZI 2013, 253; BGH, Urt. v. 8.12.2011 – IX ZR 156/09, ZIP 2012, 137 = NZI 2012, 142; Kayser, NJW 2014, 422, 427. BGH, Urt. v. 28.3.2019 – IX ZR 7/18, Rz. 10, BeckRS 2019, 6270; BGH, Urt. v. 14.6.2018 – IX ZR 22/15, Rz. 9, ZIP 2019, 1794 = WM 2018, 1703; BGH, Urt. v. 12.5.2016 – IX ZR 65/14, Rz. 22, BGHZ 210, 249 = ZIP 2016, 1235.

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bb) Anforderungen an ein erfolgversprechendes Sanierungskonzept (1) Inhalt des Konzepts Damit stellt sich die Frage, welche Anstrengungen der Berater unternehmen muss, damit das erstellte, in den Anfängen umgesetzte, dann gescheiterte Konzept bei einer späteren gerichtlichen Ex-ante Betrachtung als erfolgversprechend eingestuft werden kann. Zu weit geht die in der Literatur vertretene Auffassung, Sanierungsbemühungen seien erst dann ungenügend, wenn das erstellte Konzept offensichtlich undurchführbar ist. Es sei ein im Ergebnis nicht überprüfbarer Beurteilungsspielraum bis zur Grenze der Unvertretbarkeit zuzubilligen. Die Gläubiger müssten das Risiko einer erfolgversprechenden Sanierung zumindest in Höhe des Beraterhonorars mittragen.34) Diese Auffassung führt zu einer vom Gesetzgeber nicht gewollten Privilegierung der Sanierungsberater. Die Erfolgsausicht der Sanierungsbemühungen kann vielmehr nur dann bejaht werden, wenn das entwickelte Konzept sich an den hierfür von dem Bundesgerichtshof aufgestellten Anforderungen beachtet.35) Erforderlich ist mithin eine Analyse der wirtschaftlichen Situation des schuldnerischen Unternehmens unter Einbeziehung der Ursachen für die eingetretene wirtschaftliche Krise. Zudem sind die für eine künftige Beseitigung und Vermeidung der (drohenden) Zahlungsunfähigkeit erforderlichen Maßnahmen aufzuzeigen. Außerdem bedarf es Überlegungen für die Zukunft des Unternehmens unter Darstellung der Möglichkeiten der Sanierung durch Vermeidung von künftigen Verlusten. Mithin ist ein geschlossenes Konzept zur Bereinigung sämtlicher Verbindlichkeiten des Schuldners und zur Sanierung des Geschäftsbetriebes erforderlich. Es müssen aber nicht bestimmte formale Vorgaben eingehalten werden, wie sie etwa das Institut für Wirtschaftsprüfer e. V. in dem IDW Standard S 6 (IDW S 6)36) oder das Institut für die Standardisierung von Unterneh-

34) 35)

36)

Hirte/Fontaine, ZInsO 2017, 1817, 1820. BGH, Urt. v. 28.3.2019 – IX ZR 7/18, Rz. 8, BeckRS 2019, 6270; BGH, Urt. v. 14.6.2018 – IX ZR 22/15, Rz. 10, ZIP 2019, 1794 = WM 2018, 1703; BGH, Urt. v. 12.5.2016 – IX ZR 65/14, Rz. 17 ff., BGHZ 210, 249 = ZIP 2016, 1235 m. w. N. IDW, Anforderungen an Sanierungskonzepte (IDW S 6), Stand: 16.5.2018, IDW Life 8/2018, 813.

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menssanierungen (ISU) als Mindestanforderungen an Sanierungskonzepte (MaS)37) aufgestellt haben.38) (2) Umsetzbarkeit des Sanierungskonzepts Zudem kommt einem Sanierungskonzept nur dann Erfolgsaussicht zu, wenn die vorgeschlagenen Maßnahmen in der Praxis umsetzbar sind. Unzureichend ist ein Sanierungskonzept, welches unrealistische Annahmen enthält bzw. Maßnahmen vorsieht, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht umgesetzt werden können. Notwendig ist zwar keine erfolgreiche Umsetzung, die im Falle einer Insolvenzeröffnung gerade nicht gegeben ist, jedoch eine erfolgversprechende Möglichkeit. Einem Konzept kommt nur dann Erfolgsaussicht zu, wenn dessen Umsetzung keine rechtlichen oder tatsächlichen Gründe entgegenstehen. Dabei ist für die Frage der Erkennbarkeit der Ausgangslage als auch für die Prognose der Durchführbarkeit auf die Beurteilung eines unvoreingenommenen branchenkundigen Fachmanns abzustellen, dem die vorgeschriebenen oder üblichen Buchhaltungsunterlagen zeitnah vorliegen.39) Sind geplante Sanierungsmaßnahmen bereits aus rechtlichen Gründen nicht durchsetzbar, z. B. weil es derzeit an den notwendigen gesetzlichen Vorgaben fehlt oder die Rechtsprechung der für den Schuldner zuständigen Gerichte einer Umsetzung der vorgeschlagenen Maßnahmen entgegensteht, dann ist der Plan zum Scheitern verurteilt, selbst wenn sich der Schuldner bzw. sein Berater auf eine in der Literatur vertretene Rechtsauffassung stützen können.40) Es genügt nicht, die Umsetzung des entworfenen Konzepts – wie in den Fällen Q-Cells41) – von einer nicht konkret absehbaren Gesetzesänderung oder einer (spekulativen) Änderung der Rechtsprechung abhängig zu machen. Die Tatsache, dass es zu einem 37) 38) 39) 40) 41)

ISU, Mindestanforderungen an Sanierungskonzepte (MaS): ISU-Standard für das Erstellen, Umsetzen und Prüfen von Sanierungskonzepten und Sanierungsgutachten, 2007. BGH, Urt. v. 12.5.2016 – IX ZR 65/14, Rz. 18, BGHZ 210, 249 = ZIP 2016, 1235. BGH, Urt. v. 12.5.2016 – IX ZR 65/14, Rz. 18, BGHZ 210, 249 = ZIP 2016, 1235; BGH, Urt. v. 4.12.1997 – IX ZR 47/97, ZIP 1998, 428 = NJW 1998, 1561. A. A. Hirte/Fontaine, ZInsO 2017, 1817, 1821. OLG Frankfurt/M., Urt. v. 19.10.2016 – 19 U 102/15, ZIP 2017, 187 = NZI 2017, 265; die eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde hat der BGH mit Beschuss v. 22.3.2018 zurückgewiesen (BGH, Beschl. v. 22.3.2018 – IX ZR 261/16, n. v.); LG Frankfurt/M., Urt. v. 7.5.2015 – 2-32 O 102/13 (Q-Cells), ZIP 2015, 1358; LG Frankfurt/M., Urt. v. 21.4.2015 – 2-19 O 37/14, ZIP 2015, 2035 = NZI 2015, 1022, m. Anm. Riewe.

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späteren Zeitpunkt zu einer Gesetzesänderung oder Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung kommt,42) macht ein untaugliches Konzept nicht nachträglich zu einem tauglichen.43) Der Berater muss bei der Erstellung des Sanierungskonzepts nicht nur einen vertretbaren,44) sondern einen tatsächlich umsetzbaren und damit sicheren Weg wählen. Rechtliche Risiken sind auch immer tatsächliche Risiken,45) da die zeitnahe Umsetzung der geplanten Maßnahmen für eine Sanierung existenziell ist. Daher muss eine in eine bestimmte Richtung deutende Rechtsprechung berücksichtigt werden. Nur ausnahmsweise kann etwas anderes gelten, wenn die von den zuständigen Gerichten bisher vertretene Auffassung evident rechtsfehlerhaft ist, so dass mit einer kurzfristigen Änderung der vertretenen Rechtsansichten in einem weiteren Verfahren zu rechnen ist. Zudem ist für einen erfolgversprechenden Sanierungsplan erforderlich, dass das entwickelte Konzept auch tatsächlich durchsetzbar ist. Da die Mitwirkung und Zustimmung aller Gläubiger regelmäßig nicht erreichbar sein dürfte, setzt ein schlüssiges Sanierungskonzept nicht notwendigerweise eine Einbeziehung sämtlicher Gläubiger voraus. Vielmehr kann ein Sanierungsversuch auch dann erfolgreich sein, wenn sich die geplante Maßnahme nur auf die wesentlichen Gläubiger (Gesellschafter/Hauptaktionäre, institutionellen Gläubiger, die Kreditinstitute, die wesentlichen Lieferanten, etwaige Vermieter der Betriebsimmobilie und die Leasinggeber der maßgeblichen Betriebsmittel) erstreckt, um deren Zustimmung zu gewinnen.46) Für die tatsächliche Durchsetzbarkeit reicht indes nicht die bloße Hoffnung des Beraters, vielmehr muss hinreichende Rechtssicherheit bestehen. Daher hilft der in Anfechtungsprozessen oftmals gemachte Einwand des wirtschaftlich vernünftigen Verhaltens der Gläubiger „diese werden wohl zustimmen“ oder des Vorliegens entsprechender Absichtserklärungen nicht weiter. Zwar kann davon ausgegangen werden, dass sich die am Wirtschaftsleben Beteiligten grundsätzlich wirtschaftlich sinnvoll verhalten und sich daher einem Sanierungsplan, der ihnen gegenüber einem 42)

43) 44) 45) 46)

In den Q-Cells hatten sich die Instanzgerichte jeweils an dem Gesetzwortlaut der Übergangsvorschrift zum SchVG 2012 orientiert. Der BGH hat dann in einem anderen Verfahren (BGH, Urt. v. 1.7.2014 – II ZR 38/13, ZIP 2014, 1876) die Vorschrift über den eigentlichen Wortlaut hinaus auf Altfälle angewandt. Thole, ZIP 2015, 2145, 2151. So aber Hirte/Fontaine, ZInsO 2018, 1817, 1822. Thole, ZIP 2015, 2145, 2150. BGH, Urt. v. 12.5.2016 – IX ZR 65/14, Rz. 16, BGHZ 210, 249 = ZIP 2016, 1235; BGH, Urt. v. 8.12.2011 – IX ZR 156/09, Rz. 13, ZIP 2012, 137 = NZI 2012, 142.

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Insolvenzverfahren Vorteile bringt, nicht verschließen. Von einer ernsthaften und begründeten Aussicht auf Erfolg der Sanierungsbemühungen kann aber erst bei Vorliegen rechtlich verbindlicher und damit bindender Zusagen ausgegangen werden. Diese sollten, allein aus den Gründen der späteren Beweisbarkeit, schriftlich fixiert werden. Die gelegentlich in Rechtsstreitigkeiten vorgetragenen mündlichen oder telefonischen Zusagen sind oft schwer nachweisbar. Letztlich kann ein Erklärungsirrtum oder ein Missverständnis nicht ausgeschlossen werden. Die Weigerung, schriftliche Zustimmungen zu einem Sanierungsplan zu erteilen, sprechen zudem prima facie für eine fehlende abschließende Einigung. Daher stellt ein allein auf mündliche Zusagen gestütztes Sanierungskonzept letztlich kein ordnungsgemäßes dar. f) Zwischenergebnis Werden die vorstehenden Grundsätze an ein erfolgversprechendes Sanierungskonzept beachtet, läuft ein Berater bei einer in den Anfängen erfolgten Umsetzung des Plans nicht Gefahr, die für seine Tätigkeit erhaltene angemessene Vergütung später aufgrund einer Insolvenzanfechtung zurückzahlen zu müssen. Eines Rückgriffs auf die bargeschäftsähnliche Lage (siehe dazu I. 2. c)) bedarf es nicht. Die vorstehenden Überlegungen sind auch auf die Fälle anwendbar, in denen ein erfolgversprechendes Sanierungskonzept zunächst umgesetzt worden ist, indes zu einem späteren Zeitpunkt dennoch das Insolvenzverfahren über das Vermögen des Schuldners eröffnet wird, weil aufgrund geänderter Umstände (z. B. Wegfall eines Kunden; Ausfall einer größeren Forderung; Scheitern der zugesagten Zuführung neuen Kapitals; überraschende Kreditkündigungen; Änderung der allgemeinen wirtschaftlichen Lage; Änderung der (steuer)rechtlichen Rahmenbedingungen) eine langfristige Sanierung des Unternehmens scheitert und damit die dauerhafte Wiederherstellung der Rentabilität des Schuldners nicht erreicht werden kann. 2. Zahlungen i. R. der vorbereitenden Tätigkeiten a) Grundsatz Die vorstehenden Überlegungen betreffen indes nur Vergütungen, die nach einer in den Anfängen erfolgten Umsetzung eines erfolgversprechenden

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Sanierungskonzepts geleistet worden sind. Eine erfolgreiche Unternehmenssanierung erfordert aber bereits umfangreiche vorbereitende Tätigkeiten des Beraters. Schon aufgrund der von der Rechtsprechung gestellten Anforderungen an einen erfolgversprechenden Sanierungsversuch (siehe dazu I. 1. e) bb)) sind eine Vielzahl von Arbeiten erforderlich, wie z. B. die Analyse der wirtschaftlichen Situation oder die Verhandlungen mit den Gläubigern und potentiellen Kreditgebern. Ein Berater muss bis zur anfänglichen Umsetzung eines Sanierungskonzepts in erheblichem Umfang Zeit und Arbeit investieren, für die in der Praxis üblicherweise (Abschlags-) Zahlungen durch den Auftraggeber erbracht werden. Bei den insoweit erfolgten Honorarzahlungen fehlt es an dem von der Rechtsprechung geforderten Merkmal der „Umsetzung in den Anfängen“ bzw. an der Notwendigkeit eines bereits „erstellten Sanierungskonzepts.“ Zudem kann das für die Erstellung eines Konzepts gezahlte Honorar nicht eigentlicher Bestand dieses Konzepts sein.47) Damit würden, sofern die Grundsätze einer bargeschäftsähnlichen Lage nicht greifen (siehe dazu I. 2. c)), die erbrachten Vergütungszahlungen der Insolvenzanfechtung unterliegen.48) Vertröstet man den Berater mit seinen Vergütungsansprüchen auf den Zeitpunkt nach der Erstellung und anfänglichen Umsetzung eines erfolgversprechenden Konzepts, bürdet man dem Berater das Risiko der Sanierungsfähigkeit des schuldnerischen Unternehmens und der dann noch bestehenden Zahlungsfähigkeit des Schuldners auf. Bei Aufnahme der Arbeiten besteht für den Berater typischerweise eine Phase der Unsicherheit, da die Rahmenbedingungen für eine Sanierung und die wirtschaftlichen Möglichkeiten erst ausgelotet werden müssen und erst danach die Erfolgsaussichten einer möglichen Sanierung eingeschätzt werden können.49) Oftmals kann der Berater noch nicht zuverlässig einschätzen, ob seine Tätigkeit überhaupt zum Erfolg führt. Die Erstellung eines tauglichen Konzepts i. S. der obergerichtlichen Rechtsprechung hängt auch von Faktoren ab, auf die der Berater keinen Einfluss nehmen kann, wie die tatsächlich vorgefundenen Gegebenheiten vor Ort (wie z. B. unzureichende oder fehlerhafte Buchhaltung, fehlende Unterlagen), die Mitwirkung des Schuldners bei der Erstellung des Sanierungskonzepts sowie der Bereitschaft der Gläubiger, entsprechende Sanierungsmaßnahmen zu unterstützen. Zudem 47) 48) 49)

Thole, ZIP 2015, 2145, 2149. Utsch, DZWIR 2013, 353, 357. Riewe, NZI 2015, 1025 (Urteilsanm.).

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kann sich im Laufe der Beratungstätigkeiten die Ausgangslage verändern, wenn z. B. Kreditgeber aufgrund der erfolgten Einschaltung eines Sanierungsberaters nicht bereit sind, weiterhin Kredite zu gewähren bzw. zu verlängern oder Lieferanten abspringen bzw. nunmehr auf Vorkasse bestehen. Der Berater braucht für seine Tätigkeit eine verlässliche Sicherheit, dass er sein Honorar anfechtungsfest behalten darf. Es müssen die einerseits vom Gesetzgeber erwünschte Sanierung und die anderseits noch nicht in Anfängen erfolgte Umsetzung der Sanierungsbemühungen in einen sachgerechten Ausgleich durch eine Berücksichtigung des Sanierungsversuchs bei einer Auslegung der Anfechtungstatbestände gebracht werden.50) Zumal mit dem ESUG der Sanierungsgedanken gestärkt worden ist und eine Sanierung des Unternehmens regelmäßig auch im Interesse der Gläubiger liegt. Für den Berater stellt sich damit die Frage, wie er das „Geschäftsrisiko“51) minimieren und wie er verhindern kann, dass angemessene Zahlungen auf die Beratervergütung der Insolvenzanfechtung unterliegen. Würde der Berater stets der Gefahr ausgesetzt sein, das bereits für die außergerichtlichen Sanierungsbemühungen erhaltene Honorar zurückzuzahlen, würde dies in der Praxis dazu führen, dass kaum jemand bereit sein dürfte, das Mandat zu übernehmen, obwohl gerade in der wirtschaftliche Krise die Inanspruchnahme eines externen Beraters zur Klärung der Sanierungschancen oftmals unabdingbar ist. b) Voraussetzungen für insolvenzfeste Honorarzahlungen Damit besteht das von Kayser52) angesprochene Problem, ob nicht das von der Rechtsprechung aufgestellte Kriterium der Umsetzung des Sanierungskonzepts „mindestens in den Anfängen“ zu eng gefasst ist,53) und ob und wie Zahlungen an den Berater von dem Risiko einer Insolvenzanfechtung „befreit“ werden können. Thole54) stellt in Frage, ob das vom Bundesgerichtshof geforderte Kriterium des Sanierungsversuchs überhaupt auf Vergütungszahlungen an den Berater passt. In der Notwendigkeit der Um-

50) 51) 52) 53) 54)

Gehrlein, WM 2011, 577. Ganter, ZIP 2015, 1413; Kayser, WM 2013, 293, 294. Kayser, NJW 2014, 422, 428. So auch Thole/Schmidberger, Die Insolvenzanfechtung von (überhöhten) Gehältern und Vergütungen von Geschäftsleitern und Sanierungsberatern, BB 2014, 3, 8. Thole, ZIP 2015, 2145, 2149.

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setzung des Sanierungskonzept sieht er eine Diskriminierung der beratend tätigen Personen, die dazu getrieben werden, dem Schuldner Kredit zu gewähren und nicht zeitnah abzurechnen.55) Ob man tatsächlich von einer Diskriminierung ausgehen kann, erscheint zumindest fraglich. Denn die vom Bundesgerichtshof aufgestellten Grundsätze gelten für alle Gläubiger und damit auch für diejenige, die in Kenntnis der wirtschaftlichen Krise sowie von Sanierungsbestrebungen bereits vor Umsetzung eines Konzepts auf Zahlung bestehen. Zu weit geht die teilweise vertretene Auffassung, nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit bestehe grundsätzlich kein Raum mehr für ein Sanierungskonzept.56) Dies würde dazu führen, dass der zu diesem Zeitpunkt beauftragte Sanierungsberater letztlich nicht mehr tätig darf, da er keinen insolvenzfesten Vergütungsanspruch mehr besitzt. Jedoch kann auch bei Eintritt der Zahlungsunfähigkeit noch eine Sanierung des Schuldners in Betracht kommen, wenn z. B. neue Kreditgeber gefunden bzw. die Gläubiger zu einem Forderungsverzicht bereit sind. Der Umstand, dass das Unternehmen in der Vergangenheit mit Verlusten gewirtschaftet hat (z. B. wegen zu hoher Zinsbelastungen, Mietkosten, Einkaufspreisen oder Produktionskosten), erlaubt nicht zwingend den Schluss auf eine nicht durch entsprechende Maßnahmen zu beseitigende künftige Unrentabilität. Es erscheint geboten, dass Honorarzahlungen an die im Vorfeld i. R. der Erstellung sowie Umsetzung eines Sanierungskonzepts tätigen Personen nicht grundsätzlich einer Insolvenzanfechtung gemäß § 133 InsO unterliegen.57) Insoweit sollte dem Sanierungsberater für seine Tätigkeit und damit für seinen Vergütungsanspruch eine gewisse „Karrenszeit“ zugebilligt werden. Da dem Sanierungsberater im Verhältnis zu den anderen Gläubigern keine gesetzlich nicht vorgesehene Privilegierung zugebilligt werden darf, muss sich die Insolvenzfestigkeit des Vergütungsanspruchs i. R. der gesetzlichen Regelung des § 133 InsO und der hierzu ergangenen Rechtsprechung bewegen. Anzusetzen ist an die i. R. des § 133 InsO gebotene Gesamtwürdigung. Es müssen besondere Umstände vorliegen, die

55) 56) 57)

Thole, Die Kritik an der Ausdehnung der Vorsatzanfechtung auf dem Prüfstand, ZIP 2013, 2081, 2087; Thole/Schmidtberger, BB 2014, 3, 8; Thole, ZIP 2015, 2145, 2149. Neuberger, Vorsatzanfechtung und Fortbestehensprognose: Wann wächst zusammen, was zusammen gehört?, ZInsO 2018, 1242, 1246. Ob und in welchem Umfang dies auch für Zahlungen an andere Gläubiger, von deren Leistungen die Erfolgsaussichten einer geplanten Sanierung ebenfalls abhängen können (z. B. Vermieter, Energielieferant etc.), soll hier nicht geprüft werden.

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stärker sind als die Beweisanzeichen für den Vorsatz und der Kenntnis hiervon. aa) Verneinung des Gläubigerbenachteiligungsvorsatz Ein Gläubigerbenachteiligungsvorsatz kann entfallen, wenn der Schuldner eine Sanierung des Unternehmens ernsthaft anstrebt.58) In diesem Fall will er seinen Gläubigern „(…) gewissermaßen etwas Gutes tun und sie nicht benachteiligen (…)“.59) Der Schuldner handelt subjektiv redlich, da er typischerweise den Eintritt der Gläubigerbenachteiligung verhindern und damit nicht in Kauf nehmen will.60) Unerheblich ist, dass mit der Sanierungserwartung des Schuldners eine gewisse Unsicherheit verbunden ist.61) Etwas anders gilt dann, wenn der Schuldner vor den Realitäten die Augen verschließt. Es geht darum, ob die Erwartung einer erfolgreichen Unternehmenssanierung und damit verbunden die vollständige Gläubigerbefriedigung oder das Prinzip Hoffnung überwiegt. Die Literatur62) und teilweise die Rechtsprechung63) verneinen den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners bereits dann, „(…) wenn der Sanierungsversuch für den Schuldner zwar erkennbar mit Risiken belastet ist, die Bemühungen um eine Rettung des Unternehmens im Vordergrund stehen und aufgrund konkreter Umstände eine positive Prognose nachvollziehbar und vertretbar erscheint.“64)

Die an die Zahlungsunfähigkeit anknüpfende Indizwirkung kann indes nicht allein durch den Wunsch des Schuldners nach einer Sanierung beseitigt werden.65) Allein dies rechtfertigt noch nicht eine erfolgreiche Restrukturierung des Unternehmens. Ebenso wenig reicht der Umstand aus, dass der Schuldner durch die Einschaltung renommierter Berater professionelle Hilfe in Anspruch nimmt.66) Vielmehr ist zusätzlich erforderlich, dass der Schuldner den Berater mit den für eine Sanierung erforderlichen 58) 59) 60) 61) 62) 63) 64) 65) 66)

Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 129 Rz. 163a. Thole, ZIP 2015, 2145, 2149. Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 120 Rz. 37a. Thole, ZIP 2015, 2145, 2149. Riewe, NZI 2015, 1025, 1026 (Urteilsanm.). LG Würzburg, Urt. v. 6.2.2018 – 71 O 1592/16 Ins, NZI 2018, 271, 274 = ZIP 2018, 1891. BGH, Urt. v. 19.11.1992 – IX ZR 236/91, NJW-RR 1993, 238, 241 = ZIP 1993, 276. Kayser, NJW 2014, 422, 423. So aber LG Berlin, Urt. v. 26.6.2014 – 63 O 117/14, ZIP 2014, 1688; LG Würzburg, Urt. v. 16.12.2013 – 92 O 2268/12, ZInsO 2014, 564.

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Tätigkeiten beauftragt und die von dem Berater hierzu entfalteten Tätigkeiten als Sanierungsbemühungen geeignet sind. Zudem müssen schon bei der Beauftragung des Beraters konkrete Ansätze für eine Sanierungschance bestehen. Hieran fehlt es, wenn die tatsächliche wirtschaftliche Lage des Schuldners für eine Sanierungsunfähigkeit spricht; z. B. wenn die notwendige Zuführung von frischem Kapital oder Kreditmitteln aufgrund abschlägiger Erklärungen der Gesellschafter und Banken kaum realisierbar ist oder wenn für das von dem Schuldner vertriebene Produkt kein Markt mehr vorhanden ist. Problematisch sind die Fälle, in denen der Schuldner sich darauf beruft, er habe aufgrund der Beauftragung externer Berater und durch die von diesen entfalteten Tätigkeiten eine Sanierung seiner Unternehmung für erfolgversprechend gehalten, obwohl bei objektiver Betrachtung eine Sanierung aussichtslos war. Es geht um die Frage, ob allein ein aus Sicht des Schuldners subjektiv taugliches Konzept genügt.67) Teilweise wird unter Hinweis darauf, dass für eine Anwendbarkeit des § 133 Abs. 1 InsO Fahrlässigkeit nicht genügt, ein Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners verneint.68) Demgegenüber führt Thole69) zutreffend aus: „M. E. genügt auf dieser beweisrechtlichen Ebene zwecks Aufhebung der Typizität des Sachverhalts eben nicht (als innere Tatsache) der Glaube an die Richtigkeit der eigenen Rechtsauffassung, sondern verlangt ist (als äußere Tatsache) der vertretbare und nachvollziehbare Glaube, d. h. letztlich das ‚Glaubendürfen‘ an die Durchsetzung der Sanierungsschritte und der Lösung über das SchVG innerhalb des verbleibenden Zeitrahmens. Nur dann besteht die ernsthafte Möglichkeit, dass die mit der Zahlung verbundene Vermutung für den Benachteiligungsvorsatz im konkreten Fall nicht plausibel ist, der Fall also anders liegt als der typische Fall. Dafür spricht auch der angesprochene Zusammenhang zu den Insolvenzgründen; die dort verlangte Prognose ist ebenfalls objektiviert und gerichtlich nachprüfbar.“

Um eine sachgerechte Abgrenzung zu der bloßen Hoffnung auf eine Sanierung zu halten, muss es darauf ankommen, wie ein objektiv Dritter anstelle des Schuldners in Kenntnis der bekannten Umstände die Sanierungschancen beurteilt hätte. Würde dieser bei Wertung der tatsächlichen Gegebenheiten (z. B. Erklärungen der Lieferanten, Kreditgeber, Gläubiger, Erklärungen der eingeschalteten Berater) eine Sanierung für überwie67) 68) 69)

Thole, ZIP 2015, 2145, 2151; vgl. Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 133 Rz. 37; Ganter/Weinland in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 133 Rz. 37a. Ganter, WM 2009, 1441, 1447 unter Hinweis auf BGH, Urt. v. 4.12.1997 – IX ZR 47/97, ZIP 1998, 428 = NJW 1998, 1561; Hirte/Fontaine, ZInsO 2017, 1817, 1820. Thole, ZIP 2015, 2145, 2151.

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gend aussichtslos einschätzen, dann begründet dies einen Benachteiligungsvorsatz des Schuldners. Anders kann es sein, wenn ein objektiv untauglicher Sanierungsversuch vorliegt, indes der Berater den Schuldner – für diesen bzw. einem objektiven Dritten nicht erkennbar – über die Sanierungsfähigkeit täuscht. Auch in diesen Fällen glaubt der Schuldner an die Sanierung und will nicht eine Benachteiligung seiner Gläubiger in Kauf nehmen. Damit entfällt der Gläubigerbenachteilungsvorsatz und damit letztlich auch die Anfechtbarkeit der Honorarzahlungen. In diesem Fall steht der Insolvenzmasse aber wegen der unzureichenden oder falschen Beratung gegen den Berater – zumindest in Höhe der gezahlten Beratervergütung – vertraglicher und unter Umständen deliktischer Schadensersatzanspruch zu.70) bb) Verneinung der Kenntnis des Beraters Liegt ein Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners vor, stellt sich die Frage, ob und wie lange eine entsprechende Kenntnis des beauftragten Beraters hiervon verneint werden kann. In der Praxis kommt es immer wieder vor, dass Schuldner von vornherein nicht an eine Sanierungsfähigkeit glauben, indes Berater hinzuziehen, um nach außen hin eine Sanierungsmöglichkeit vorzugeben, um zumindest vorläufig weiter wirtschaftlich tätig sein zu können. Kayser71) verweist darauf, „(…) man sich [mitunter] im Nachhinein des Eindrucks nicht erwehren [kann], dass die Plünderung des Unternehmens erst so richtig auf Touren kam, nachdem die Berater ins Haus geholt worden waren.“

Fraglich ist, wie lange der Berater in dem schuldnerischen Unternehmen die wirtschaftliche Lage überprüfen darf, ohne Gefahr zu laufen, das erhaltene Honorar später durch eine erfolgreiche Insolvenzanfechtung zu verlieren. Die Rechtsprechung hat hierzu noch nicht abschließend Stellung genommen. Insoweit helfen auch die in dem Insolvenzverfahren Q-Cells ergangenen gerichtlichen Entscheidungen nicht weiter. In den dortigen Verfahren hat der Insolvenzverwalter nur Honorarzahlungen für einen Zeitraum zurückgefordert, zu dem – nach Auffassung der entscheidenden Gerichte – das erstellte Sanierungskonzept nicht mehr durchsetzbar war und damit keine Sanierungsfähigkeit mehr bestand; die für die vorberei70) 71)

Ehlers, Die Risiken der Sanierungsberatung, ZInsO 2013, 105; Hirte/Fontaine, ZInsO 2017, 1817, 1820. Kayser, NJW 2014, 422, 424; Kayser, WM 2013, 293, 294.

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tenden Tätigkeiten erbrachten (ganz erheblichen) Honorarzahlungen waren nicht Gegenstand der Insolvenzanfechtung. Solange überwiegende Anhaltspunkte für eine Sanierungsfähigkeit des schuldnerischen Unternehmens bestehen, liegen besondere Umstände vor, die i. R. einer Gesamtwürdigung stärker sind als die Beweisanzeichen für die Kenntnis von einem Gläubigerbenachteiligungsvorsatz. Der Berater kann an der Sanierung sowie an der Erstellung eines entsprechenden Konzepts arbeiten, ohne Gefahr zu laufen, seine Vergütungsanspruch später zu verlieren. Spätestens aber, wenn bei der gebotenen sorgfältigen Analyse der wirtschaftlichen Lage sowie der gesamten Umstände die überwiegende Wahrscheinlichkeit gegen eine Sanierungsfähigkeit spricht (z. B. wegen der fehlenden Mitwirkung des Schuldners oder wegen einer fehlenden Zustimmung eines (wesentlichen) Gläubigers), muss der Berater seine Tätigkeiten für den Schuldner einstellen, will er nicht seinen Vergütungsanspruch aufgrund einer Insolvenzanfechtung verlieren. Zudem läuft er Gefahr, Beihilfe zur Insolvenzverschleppung zu leisten. Dabei ist für die Erkennbarkeit der wirtschaftlichen Situation weder auf die Vorstellung des Schuldners noch des Beraters abzustellen. Maßgeblich ist die „(…) Beurteilung eines unvoreingenommenen, branchenkundigen Fachmanns (…)“, dem die „(…) vorgeschriebenen oder üblichen Buchhaltungsunterlagen vorliegen.“72) c) Bargeschäftsähnliche Lage aa) Grundsatz Das aus der Kenntnis der (drohenden) Zahlungsunfähigkeit des Schuldners folgende starke Beweisanzeichen für einen Gläubigerbenachteiligungsvorsatz kann entfallen, sofern der Schuldner eine kongruente Leistung Zugum-Zug gegen eine zur Fortführung des Unternehmens unentbehrliche Gegenleistung erbracht hat, die den Gläubigern im Allgemeinen nützt.73) In diesem Fall benachteiligt der Schuldner regelmäßig nicht bewusst andere Gläubiger, vielmehr steht die für das Unternehmen notwendige Leistung

72) 73)

Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 129 Rz. 163a. BGH, Urt. v. 17.11.2016 – IX ZR 65/15, Rz. 31, ZIP 2016, 2423 = NZI 2017, 64 m. w. N.; BGH, Urt. v. 12.2.2015 – IX ZR 180/12, ZIP 2015 585 = NZI 2015, 320; BGH, Urt. v. 17.7.2014 – IX ZR 240/13, ZIP 2014, 1595 = NZI 2014, 762; vgl. Kayser, NJW 2014, 422, 427; G. Fischer, NZI 2008, 588, 594.

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im Vordergrund. Bei einem Sanierungsversuch ist fraglich, welche Anforderungen an die Gleichwertigkeit der ausgetauschten Leistungen zu stellen sind. Erforderlich ist auf jeden Fall, dass die gezahlte Vergütung (markt)angemessen ist.74) Nach einer in der Literatur vertretenen Auffassung soll dies bereits genügen, dass der der Gläubigerbefriedigung dienende praktische Nutzen schon in der beratenden Tätigkeit an sich liegt.75) Eine fehlerhafte oder unzureichende Beratung sei über die Grundsätze der Schlechterfüllung des Beratervertrages zu lösen. Der Bundesgerichtshof hat bisher noch nicht abschließend zu der Frage Stellung genommen, ob eine Sanierungsberatung überhaupt eine zur Fortführung des Unternehmens unentbehrliche Leistung darstellt. In dem Urteil vom 6. Dezember 2007 hat der Bundesgerichtshof76) zu dem Beraterhonorar eines mit der Erstellung eines Insolvenzplans beauftragten Rechtsanwalts ausgeführt: „Ein solcher Nutzen stand unabhängig von den Gründen, aus denen die Verträge mit dem Beklagten von den Auftraggeberinnen gekündigt worden sind, von vornherein erst in Aussicht, wenn ein aus dem Konzept weiter zu entwickelnder Insolvenzplan die Zustimmung der Gläubiger erwarten ließ. Bis dahin hatten sich die Möglichkeiten der Gläubigerbefriedigung durch die Leistung des Beklagten noch nicht so verbessert, dass dadurch auch nur ein Teil des abgeflossenen Honorars wertgleich in das Schuldnervermögen zurückgelangt gewesen wäre.“

Letztlich wird man auf den Einzelfall abstellen müssen. Maßgeblich ist dabei nicht die Sicht des Schuldners und dessen Nutzen, sondern diejenige der Gläubigergesamtheit. Dabei ist die Gleichwertigkeit anhand eines objektiven Maßstabes zu ermitteln.77) Ausgehend hiervon scheidet eine Gleichwertigkeit im Falle von vornherein (objektiv) aussichtslosen Sanierungsbemühungen aus, da sich durch die Tätigkeit des Beraters – wirtschaftlich betrachtet – die Befriedigungsmöglichkeiten der Gläubiger nicht verbessert haben. Vielmehr ist für diese das Wirken der beauftragten Berater selbst bei einer angemessenen Vergütung nutzlos. Gleiches gilt, sobald sich im Verlaufe der Tätigkeiten des Sanierungsberaters herausstellt, dass keine erfolgversprechende Sanierung möglich ist. Auch in diesem Fall liegt in der Vergütungszahlung keine zur Fortführung des Un74) 75) 76)

77)

Mock, ZIP 2014, 445, 451 m. w. N. aus der Rechtsprechung. Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 142 Rz. 43; Thole, ZIP 2015, 2145, 2153; Thole/Schmidberger, BB 2014, 3, 8; so auch Mock, ZIP 2014, 445, 451. BGH, Urt. v. 6.12.2007 – IX ZR 113/06, ZIP 2008, 101 = NZI 2008, 173 für ein Bargeschäft bei der Erstellung eines Insolvenzantrages sowie eines Insolvenzplanes durch einen Rechtsanwalt. Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 142 Rz. 9.

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ternehmens unentbehrliche Gegenleistung vor, die den Gläubigern im Allgemeinen nützt. Weiterhin erforderlich für die Bejahung einer bargeschäftsähnlichen Lage ist im Hinblick auf die notwendige „Zug-um-Zug-Leistung“ ein Leistungsaustausch in einem engen zeitlichen Zusammenhang, der regelmäßig bei bis zu 30 Tagen gewahrt ist.78) Der zeitliche Zusammenhang zwischen Leistung und Gegenleistung ist nur dann gewahrt, wenn zwischen der jeweiligen Fälligkeit der Vergütung sowie der Zahlung nicht mehr als 30 Tage liegen. Entsprechend muss der Berater, um sich den Einwand der bargeschäftsähnlichen Lage zu erhalten, bereits erbrachte Teilleistungen abrechnen oder Vorschüsse verlangen. Zudem ist bei einem Dienstvertrag erforderlich, dass der Berater zum Zeitpunkt der Zahlung die Arbeiten bereits aufgenommen hat. Das bloße Versprechen, eine Leistung zu erbringen, reicht für die Annahme eines Bargeschäfts nicht aus.79) bb) Vorschusszahlungen Der Berater, der nach dem gesetzlichen Leitbild vorleistungspflichtig ist, hat grundsätzlich keinen Anspruch auf vorzeitige Befriedigung. Damit sind geforderte Vorschussleistungen inkongruent und schließen schon deshalb eine bargeschäftsähnliche Lage aus. Soweit gesetzlich vorgesehen oder vertraglich eine Vorschusspflicht vereinbart worden ist, kann dies eine Kongruenz begründen. Zur Wahrung der Unmittelbarkeit des Leistungsaustausches muss in diesen Fällen die Vergütung abschnittsweise (vgl. § 614 Satz 2 BGB) gezahlt werden; zwischen dem Beginn und der Zahlung dürfen nicht mehr als 30 Tage liegen.80) Zudem darf auf jeden Fall der geforderte Vorschuss die wertadäquate Vergütung für die nächsten 30 Tage nicht überschreiten.81) Aber bereits die Vereinbarung eines Vorschusses kann ein eigenständiges, im Einzelfall ausreichendes Beweisan-

78)

79) 80)

81)

BGH, Urt. v. 21.6.2007 – IX ZR 231/04, ZIP 2007, 1469 = NZI 2007, 517; BGH, Urt. v. 13.4.2006 – IX ZR 158/04, BGHZ 167, 190 = ZIP 2006, 1261; Ganter, WM 2009, 1441, 1450 f., Mock, ZIP 2014, 445, 451. BGH, Urt. v. 4.12.1998 – IX ZR 47/97, ZIP 1998, 428 = NJW 1998, 1561; Ganter, WM 2009, 1441, 1451. BGH, Urt. v. 13.4.2006 – IX ZR 158/05, BGHZ 167, 190 = ZIP 2006, 1261, 1265; BGH, Urt. v. 18.7.2002 – IX ZR 480/00, ZIP 2002, 1540 = NZI 2002, 602; Ganter, WM 2009, 1441, 1450 f.; Ganter, Bargeschäfte (§ 142 InsO) von Dienstleistern, ZIP 2012, 2037, 2040; Gehrlein, WM 2011, 577, 583. Thole/Schmidberger, BB 2014, 3, 7.

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zeichen für den Gläubigerbenachteiligungsvorsatz sowie die Kenntnis hiervon darstellen. Gleiches gilt, wenn der Berater von dem mit dem Schuldner in der Vergütungsvereinbarung getroffenen Abrechnungszeitraum abweicht82) bzw. den Zahlungsweg verändert. d) Zwischenergebnis Die an den Berater i. R. der Prüfung der Sanierungsvoraussetzungen und der Erstellung eines Sanierungskonzepts erbrachten Honorarzahlungen unterliegen nicht der Insolvenzanfechtung gemäß § 133 Abs. 1 InsO, solange der Schuldner ernsthaft durch die Einschaltung des Beraters eine Sanierung des Unternehmens anstrebt bzw. der Berater von einer überwiegende Wahrscheinlichkeit der Sanierungsfähigkeit des Unternehmens ausgehen darf. 3. Aussichtsloser Sanierungsversuch Bei einem von vornherein aussichtslosen oder vorgetäuschten Sanierungsversuch können Honorarzahlungen an den beauftragten Sanierungsberater grundsätzlich der Insolvenzanfechtung gemäß § 133 Abs. 1 InsO unterliegen. Der erforderliche Gläubigerbenachteiligungsvorsatz liegt bereits vor, wenn der Schuldner die Aussichtslosigkeit seiner Sanierungsbemühungen erkennt. Dies gilt erst recht, wenn er eine Sanierungsabsicht nur vortäuscht. Eine Kenntnis des Beraters von diesem Vorsatz ist zu bejahen, sobald für diesen – aus Sicht eines objektiven Fachmanns – erkennbar ist, dass für eine Sanierung keine ernsthaften Erfolgschancen bestehen. In diesem Fall muss der Berater kurzfristig den Schuldner auf die Erfolglosigkeit der Sanierung und auf die Notwendigkeit der Insolvenzantragstellung hinweisen und seine Tätigkeit für den Schuldner einstellen. Insoweit bleibt insoweit für die Arbeiten nur eine kurze Frist (z. B. für die Vorbereitung eines Insolvenzantrages) von maximal drei Wochen. An diese Frist knüpft das Gesetz die Insolvenzantragspflicht (§ 15a Abs. 1 Satz 1 InsO). Dieser Zeitraum ist indes um so kürzer zu bemessen, je offensichtlicher die Sanierungsunfähigkeit ist. Ein gewisses Risiko des Vergütungsverlustes für die durchgeführte Tätigkeit verbleibt beim Berater, wenn dieser die Aussichtslosigkeit der Sanierungsbemühungen nicht oder 82)

Kayser, Der neue § 25a WpHG im System der Beteiligungstransparenz, WM 2012, 293, 297.

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erst verspätet erkennt. Entsprechend hat der Bundesgerichtshof einen Rückgewähranspruch hinsichtlich der Vergütung eines Sanierungsberaters in einem Fall bejaht, in dem der Berater auf der Grundlage zweifelhafter, letztlich rein spekulativer Grundannahmen ein Gutachten erstatten sollte und der Berater bereits vor Erhalt der ersten Zahlung die Insolvenzreife des Schuldners erkannt hatte.83) 4. Gesetzliche Neuregelung a) Neufassung des § 133 InsO Die gesetzliche Neufassung des § 133 InsO durch Einfügung eines § 133 Abs. 2 und Abs. 3 InsO84) hat im Wesentlichen zu keiner Änderung der Voraussetzungen für eine Insolvenzanfechtung der Beratervergütung geführt. Das im Referentenentwurf ursprünglich enthaltene Sanierungsprivileg, wonach keine „unangemessene“ Gläubigerbenachteiligung vorliegt, wenn die Rechtshandlung „Bestandteil eines ernsthaften Sanierungsversuchs“ ist, hat der Gesetzgeber nicht übernommen. Damit sind Sanierungsberater weiterhin gegenüber anderen Gläubiger nicht privilegiert und deren Vergütung kann grundsätzlich von dem Insolvenzverwalter nach allgemeinen Grundsätzen angefochten werden. Die Verkürzung des maßgeblichen Anfechtungszeitraums auf vier Jahre vor der Beantragung des Insolvenzverfahrens für die kongruenten und inkongruenten Deckungshandlungen (§ 133 Abs. 2 InsO n. F.) wirkt sich im Ergebnis nicht aus. Die Tätigkeit eines Beraters erstreckt sich wohl kaum über den nunmehr maßgeblichen Anfechtungszeitraums hinaus.85) Hat der Berater bereits ein erfolgversprechendes Konzept vorgelegt, welches bereits in den Anfängen umgesetzt worden ist, greifen zudem die unter I. 1. dargestellten Gesichtspunkte. Die nach § 133 Abs. 3 Satz 1 InsO n. F. für die Anfechtung von kongruenten Deckungshandlungen i. R. der Vermutung des § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO nunmehr erforderliche Kenntnis einer bereits eingetretenen Zahlungsunfähigkeit hat in vielen Fällen keine Auswirkung auf die Feststellung des Gläubigerbenachteiligungsvorsatzes des Schuldners sowie die Kenntnis des 83) 84) 85)

Nach Kayser, NJW 2014, 422, 424. Gesetz zur Verbesserung der Rechtssicherheit bei Anfechtungen nach der Insolvenzordnung und nach dem Anfechtungsgesetz, v. 29.3.2017, BGBl. I 2017, 654. Heil/Schmitt, ZIP 2018, 714, 715.

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Anfechtungsgegners hiervon. Die Beauftragung eines Beraters folgt regelmäßig nicht zur Abwendung einer erst drohenden Zahlungsunfähigkeit, sondern bei einer bereits eingetretenen Zahlungsunfähigkeit.86) Entsprechend stellt in der Praxis die Kenntnis des Beraters von einer (nur) drohenden Zahlungsunfähigkeit eher die seltene Ausnahme und dessen Kenntnis von einer bereits eingetretenen Zahlungsunfähigkeit eher die Regel dar.87) Entsprechend kann der Sanierungsberater von der Verschärfung der Anforderungen an die Kenntnis nur selten profitieren, zumal auch die Grenze zwischen drohender und eingetretener Zahlungsunfähigkeit oft schmal ist.88) Gleiches gilt, wenn der Benachteiligungsvorsatz aus anderen Beweisanzeichen abgeleitet wird. Dahingestellt bleiben kann es, ob die Neuregelung überhaupt auf die Feststellung des Gläubigerbenachteiligungsvorsatzes des Schuldners Anwendung findet.89) b) Neufassung des § 142 InsO Der Tatbestand des § 142 Abs. 1 InsO ist durch die Gesetzesreform insofern geändert worden, als dass kongruente Bargeschäfte nur noch nach § 133 InsO anfechtbar sind, wenn der Anfechtungsgegner die „Unlauterkeit“ des Rechtsgeschäfts erkannt hat.90) Zudem hat der Gesetzgeber in § 142 Abs. 1 Satz 1 InsO den engen zeitlichen Zusammenhang zwischen Leistung und Gegenleistung definiert. Schließlich sollen nach der Vorstellung des Gesetzgebers bargeschäftsähnliche kongruente Austauschverhältnisse vom Bargeschäftsprivileg erfasst werden.91) Die gesetzliche Neuregelung stellt eine Kodifizierung der bisherigen Rechtsprechung des 86)

87)

88) 89) 90) 91)

Möglicherweise wären die zu Q-Cells ergangenen Urteile bei Anwendbarkeit des neuen Rechts teilweise anders ausgefallen, da ausweislich der Entscheidungsveröffentlichungen nur drohende Zahlungsunfähigkeit vorlag und möglicherweise erst mit der Fälligkeit der Wandelschreibung im Februar 2012 die Schuldnerin zahlungsunfähig war. So Pape, Anfechtungsrecht 2017 – Abschied von der Insolvenzrechtsreform in Raten, ZInsO 2018, 296, 300; so auch im Ergebnis auch Heil/Schmitt, ZIP 2018, 714, 716; a. A. nur in sehr seltenen Fällen beweisbar Tolani, Insolvenzanfechtung gegenüber Dienstleistern mit besonderem Augenmerk auf die Auswirkungen des reformierten Bargeschäftsprivilegs gem. § 142 InsO, ZIP 2018, 1997, 2007. Thole, ZIP 2017, 401, 404. Verneinend Heil/Schmitt, ZIP 2018, 714, 717; Thole, ZIP 2017, 401, 404: bejahend Hirte/Fontaine, ZInsO 2017, 1817, 1823; Tolani, ZIP 2018, 1997, 2007. Thole, ZIP 2017, 401, 407. Begr. RegE Gesetz zur Verbesserung der Rechtssicherheit bei Anfechtungen nach der Insolvenzordnung und nach dem Anfechtungsgesetz z. § 142 InsO, BT-Drucks. 18/7054, S. 19; Tolani, ZIP 2018, 1997, 2000.

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Bundesgerichtshofes dar, was im Ergebnis die Anfechtbarkeit der Honorarzahlungen an den Berater nicht erheblich ändert.92) Das von dem Gesetzgeber nunmehr verlangte (wenig bestimmte) Kriterium der „Unlauterkeit“ der schuldnerischen Handlung ist bereits schwer zu umgrenzen. Anhaltspunkte liefert die Gesetzbegründung.93) Ein unlauteres Verhalten soll mehr voraussetzen als die Vornahme einer Rechtshandlung im Bewusstsein, nicht mehr alle Gläubiger befriedigen zu können. Es müssen gewichtige Umstände hinzutreten, die einen besonderen Unwertgehalt erkennen lassen. Dies soll bei der gezielten Benachteiligung einzelner Gläubiger vorliegen, so z. B. bei einer gezielten Schädigungsabsicht oder die Verschleuderung von Vermögen für flüchtige Luxusgüter. Dagegen soll keine Unlauterkeit gegeben sein, wenn der Schuldner die allgemein für die Fortführung des Unternehmens erforderlichen Geschäfte tätig, selbst wenn der Schuldner erkennt, dass die Betriebsfortführung Verluste mit sich bringt. Wann genau eine Unlauterkeit zu bejahen ist, muss in Zukunft von der Rechtsprechung geklärt werden. Bei Anwendung dieser Kriterien dürfte auf jeden Fall die Zahlung einer angemessenen Vergütung an einen Sanierungsberater die Voraussetzungen der „Unlauterkeit“ nicht erfüllen, solange eine berechtigte Aussicht auf eine Sanierungsmöglichkeit des Unternehmens besteht.94) Bisher noch nicht abschließend geklärt ist, ob die gesetzliche Neuregelung etwas an der von der Rechtsprechung für ein Bargeschäft geforderten „Gleichwertigkeit“ geändert hat.95) Geht man davon aus, dass die hierzu vorstehend aufgezeigten Überlegungen (siehe I. 2. c)) weiterhin Anwendung finden, dann ist auch nach der Neufassung des § 142 InsO erforderlich, dass die vom Anfechtungsgegner erbrachte Leistung der Fortführung des Unternehmens nützt; in diesem Fall hat sich gegenüber der bisherigen Situation nichts geändert. Anders ist es, wenn man der unter Hinweis auf die Gesetzesbegründung96) vertretenen Ansicht folgt, der Gesetzgeber habe die von der Rechtsprechung aufgestellte Einschränkung der Gleich92) 93)

94) 95) 96)

Neuberger, ZInsO 2018, 1242. Begr. RegE Gesetz zur Verbesserung der Rechtssicherheit bei Anfechtungen nach der Insolvenzordnung und nach dem Anfechtungsgesetz z. § 142 InsO, BT-Drucks. 18/7054, S. 19. So auch Heil/Schmitt, ZIP 2018, 722, 719. Thole, ZIP 2017, 401, 408; einschränkend Hirte/Fontaine, ZInsO 2017, 1817, 1824. Begr. RegE Gesetz zur Verbesserung der Rechtssicherheit bei Anfechtungen nach der Insolvenzordnung und nach dem Anfechtungsgesetz z. § 142 InsO, BT-Drucks. 18/7054, S. 19.

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wertigkeit nicht übernommen.97) Dann kommt es nicht mehr darauf an, ob die in das Vermögen des Schuldners gelangende Gegenleistung dem Gläubiger einen konkreten Nutzen bringt. In diesem Fall werden die Zahlungen an den Sanierungsberater von dem Bargeschäftseinwand erfasst. Besondere Bedeutung kommt dann dem Tatbestandsmerkmal der „Unlauterkeit“ und dem Wissen des Anfechtungsgegners hiervon zu. Sieht man bereits in der Insolvenzverschleppung und in deren Mitwirkung ein unlauteres Verhalten,98) dann scheidet ein Bargeschäft bei einer bereits eingetretenen Zahlungsunfähigkeit aus, sofern die konkrete Leistung nicht geeignet ist, diesen Umstand zu beseitigen. Abzuwarten bleibt, welche Auffassung der Bundesgerichtshof künftig vertritt. II. § 133 Abs. 2 InsO a. F./§ 133 Abs. 4 InsO n. F. 1. Nahestehende Person Der für den Schuldner tätige Berater ist der Gefahr einer verschärften Haftung gemäß § 133 Abs. 2 InsO a. F./§ 133 Abs. 4 InsO n. F. ausgesetzt, sofern man ihn als eine nahestehende Person i. S. des § 138 Abs. 1 Nr. 2 InsO qualifiziert.99) In diesem Fall wird wegen des Näheverhältnisses zum Schuldner ein Benachteiligungsvorsatz des Schuldners und eine Kenntnis des anderen Teils hiervon widerleglich vermutet. Als nahestehend sind auch solche Personen oder Gesellschaften anzusehen, die aufgrund einer vergleichbaren gesellschaftsrechtlichen oder dienstvertraglichen Verbindung zum Schuldner die Möglichkeit haben, sich über dessen wirtschaftliche Verhältnisse zu unterrichten. Dienstnehmer stehen in einer solchen Verbindung zum Schuldner, wenn sie durch ihre Tätigkeit innerhalb des Schuldnerunternehmens eine besondere Informationsmöglichkeit über dessen wirtschaftliche Verhältnisse besitzen. Demgegenüber kann nicht jeder freiberufliche oder gewerbliche Dienstleister als nahestehender Dritter aufgefasst werden, nur weil er aufgrund seiner Rechtsbeziehungen zum Schuldner größeren Einblick in dessen wirtschaftliche Verhältnisse als andere Personen hat.

97) 98) 99)

Pape, ZInsO 2018, 296, 303; Tolani, ZIP 2018, 1997, 2000. So Pape, ZInsO 2018, 296, 304. Vgl. z. B. Dahl/Thomas, NJW 2013, 696 (Urteilsanm.); Fuhst, Neue Anfechtungsrisiken für Steuerberater – ein Praxisleitfaden, DStR 2013, 782, 783; Wilhelm, BB 2013, 83 (Urteilsanm.).

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Ob es sich bei dem Sanierungsberater um eine nahestehende Person in diesem Sinne handelt, lässt sich nicht pauschal beantworten.100) Entscheidend ist die jeweilige Ausgestaltung des Beratungsverhältnisses. Die Voraussetzungen einer nahestehenden Person liegen vor, wenn der Berater einen gegenüber einem außenstehenden Dritten einen wesentlichen Wissensvorsprung dadurch erhält, dass er einen uneingeschränkten persönlichen Zugriff auf die Daten hat und diese vor Ort persönlich überprüfen kann. Maßgebend ist, ob dem Dienstleister nach der ihm vertraglich eingeräumten Rechtsstellung wie einem in gleicher Zuständigkeit tätigen Angestellten alle über die wirtschaftliche Lage des Auftraggebers erheblichen Daten üblicherweise im normalen Geschäftsgang zufließen.101) Dagegen spricht die bloße Möglichkeit der Auswertung der vom Schuldner überlassenen Informationen ohne deren Verifizierung auf Vollständigkeit oder Richtigkeit gegen die Annahme einer nahestehenden Person. Je mehr der Berater im konkreten Fall in den schuldnerischen Betrieb „eingebunden“ ist, umso eher liegen die Voraussetzungen einer nahestehenden Person vor. 2. Unmittelbare Gläubigerbenachteiligung § 133 Abs. 2 InsO a. F./§ 133 Abs. 4 InsO n. F. ist nur bei einer unmittelbaren Gläubigerbenachteiligung anwendbar. Diese liegt vor, wenn die Befriedigungsmöglichkeiten der Gläubiger schon durch die angefochtene Rechtshandlung als solche beeinträchtigt werden, ohne dass es auf das Hinzutreten weiterer Umstände ankommt. Gleichwertigkeit ist bei der Bezahlung von Dienstleistungen gegeben, wenn schon im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses die vom Schuldner erbrachte Zahlung den objektiven Wert des Erlangten übersteigt. Insoweit richtet sich die Beurteilung der Gleichwertigkeit ausschließlich nach dem Inhalt des Vertrags sowie seinen Auswirkungen auf das Vermögen des Schuldners.102) Damit stellen die Beratungsleistungen eine ausreichende Gegenleistung dar, wenn hierfür eine marktangemessene Vergütung gezahlt wird und die Dienstleistung für den Schuldner nicht von vornherein nutzlos ist. Da es insoweit auf den Zeitpunkt der Zahlung ankommt und der Sanierer keinen Erfolg 100) Weitergehend Mock, ZIP 2014, 445, 451, Sanierungsberater gilt in der Regel als nahestehende Person. 101) BGH, Urt. v. 15.11.2012 – IX ZR 205/11, Rz. 10 f., BGHZ 195, 358 = ZIP 2012, 2449. 102) Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 133 Rz. 44.

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schuldet, ist es unerheblich, ob das später vorgelegte Sanierungskonzept erfolgversprechend zumindest in den Anfängen umgesetzt werden konnte. Dagegen ist bei einem von vornherein aussichtslosen oder vorgetäuschten Sanierungsversuch die für § 133 Abs. 2 InsO a. F./§ 133 Abs. 4 InsO n. F. erforderliche unmittelbare Gläubigerbenachteiligung erfüllt.103) 3. Zwischenergebnis Eine auf § 133 Abs. 2 InsO a. F. bzw. § 133 Abs. 4 InsO n. F. gestützte Anfechtung scheidet – selbst wenn es sich bei dem Berater um eine nahestehende Person i. S. des § 138 Abs. 1 Nr. 2 InsO handelt – regelmäßig aus, solange an den Berater eine angemessene Vergütung gezahlt wird und die Tätigkeit nicht von vornherein für den Schuldner nutzlos ist. III. §§ 130, 131 InsO In der kritischen Zeit kommt zudem eine Anfechtung der Vergütungszahlungen gemäß § 130 InsO bei einer kongruenten bzw. gemäß § 131 InsO bei einer inkongruenten Deckung in Betracht. Die insoweit ausreichende mittelbare Gläubigerbenachteiligung ist erfüllt, wenn die Insolvenzmasse zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz um das Beraterhonorar gekürzt ist.104) Auch die weiteren Tatbestandsmerkmale sind von dem Insolvenzverwalter regelmäßig unproblematisch darzulegen. Die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners ist in vielen Fällen der Beauftragung eines externen Beraters gegeben; ebenso die Kenntnis des Beraters von der Zahlungsunfähigkeit. Inkongruent sind nicht vereinbarte bzw. ohne rechtliche Grundlage erfolgte Vorschusszahlungen oder Zahlungen bei einer fehlenden Fälligkeit wegen der nicht beachteten Vorgaben an eine ordnungsgemäße Abrechnung.105) Zudem kann sich der Insolvenzverwalter regelmäßig auf die Vermutungsregelung des § 130 Abs. 2 InsO bzw. § 131 Abs. 2 Satz 1 InsO berufen. Je nach Ausgestaltung des Vertragesverhältnisses und der Einbindung des Beraters in den schuldnerischen Betrieb können zudem die Vermutungsregelungen des § 130 Abs. 3 InsO bzw. § 131 Abs. 2 Satz 2 103) Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 129 Rz. 163. 104) BGH, Urt. v. 18.2.2002 – IX ZR 480/00, ZIP 2002, 1540 = NZI 2002, 602; Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 129 Rz. 165a. 105) Mock, ZIP 2014, 445, 451.

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InsO i. V. m. § 138 Abs. 2 Nr. 2 InsO greifen. Gegen den Rückgewähranspruch des Insolvenzverwalters kann sich der Berater mit dem Einwand des Vorliegens eines Bargeschäfts i. S. des § 142 InsO106) verteidigen, sofern dessen Voraussetzungen erfüllt sind. IV. § 132 InsO Eine Anfechtung einer angemessenen Vergütung für Sanierungsbemühung nach § 132 InsO scheitert in der Regel bereits aus den vorstehend aufgezeigten Gesichtspunkten an der fehlenden unmittelbaren Gläubigerbenachteiligung (siehe dazu II. 2.). Bei einem von vornherein aussichtslosen oder vorgetäuschten Sanierungsversuch liegt die für § 132 InsO erforderliche unmittelbare Gläubigerbenachteiligung vor.107) V. Prozess In dem Prozess muss durch das Gericht geprüft werden, ob das erstellte Sanierungskonzept den obergerichtlichen Anforderungen entspricht. Hierfür ist nicht zwingend die Einholung eines Gutachtens erforderlich. Vielmehr darf das Gericht selber anhand der in den Prozess eingeführten Tatsachen überprüfen, ob die Tätigkeit des Sanierungsberaters die oben aufgezeigten Grundsätze erfüllt, insbesondere, ob er eine Analyse der Ursachen für die eingetretene Krise in der Vergangenheit und konkrete Maßnahmen zur Beseitigung dieser Ursachen für die Zukunft erstellt hat, ob er eine rechtliche und tatsächliche Umsetzung des Konzepts geprüft und eine Einbindung der wesentliche Gläubiger in ein erstelltes Konzept versucht hat. Hierfür trägt der Anfechtungsgegner – mithin der Berater – die Darlegungs- und Beweislast. VI. Ergebnis Als Ergebnis lässt sich festhalten: –

Die Mitwirkung an einem Sanierungsversuch bedeutet für den Berater ein nicht unerhebliches Risiko der späteren Anfechtung der gezahlten Vergütung.

106) Gehrlein, WM 2011, 577, 583. 107) Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 129 Rz. 163.

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Bei einer von vornherein aussichtslosen Sanierung bleibt dem Berater eine kurze Zeit für eine Analyse der vorgefundenen wirtschaftlichen Situation des Schuldners. Die für diesen Zeitraum gezahlten Honorare sind insolvenzfest.



Bei einer nicht von vornherein aussichtslosen Sanierung fehlt dem Schuldner der Gläubigerbenachteiligungsvorsatz, wenn er von einer Sanierungsfähigkeit seines Unternehmens ausgeht und die gebotenen Schritte zur Sanierung einleitet. In diesem Fall kann der Berater, ohne dass für ihn die Gefahr der späteren Anfechtung der verdienten Vergütung besteht, die wirtschaftliche Ausgangssituation analysieren und an der Erstellung eines Sanierungskonzepts und deren Umsetzung arbeiten.



Sobald während dieser Arbeiten ersichtlich ist, dass eine Sanierung des Schuldners aus rechtlichen oder tatsächlichen Umständen nicht möglich ist, muss der Berater hierüber den Schuldner informieren, um sich nicht seinerseits schadensersatzpflichtig zu machen.



Durch die Mitteilung des Beraters erhält der Schuldner Kenntnis von der Undurchführbarkeit der Sanierung. Damit liegen die Voraussetzungen eines Gläubigerbenachteiligungsvorsatzes und einer entsprechenden Kenntnis hiervon vor.



Scheitert ein bereits in Ansätzen in die Tat umgesetzter erfolgversprechender Sanierungsversuch, lässt dies die Insolvenzfestigkeit der erhaltenen Beratervergütung nicht entfallen.



Die gesetzlichen Neuregelungen des § 133 InsO führen zu einer anderen Beurteilung in den Fällen, in denen die Kenntnis des Beraters von einem Gläubigerbenachteiligungsvorsatz aus einer drohenden Zahlungsunfähigkeit hergeleitet wird.



Stellt man für den neugefassten Tatbestand des § 142 InsO auf die Unlauterkeit der schuldnerischen Handlung ab, erfüllen Zahlungen an den Sanierungsberater die Voraussetzungen eines Bargeschäfts, solange die berechtigte Aussicht auf eine Sanierungsmöglichkeit des schuldnerischen Unternehmens besteht.



Der Berater kann im Einzelfall die Voraussetzungen einer nahestehenden Person i. S. des § 138 Abs. 2 Nr. 2 InsO erfüllen.

Auskunftsansprüche des Insolvenzverwalters gegen (mögliche) Anfechtungsgegner in der höchstrichterlichen Rechtsprechung CHRISTOPH THOLE Inhaltsübersicht I. II.

Einführung Der Auskunftsanspruch gegen Anfechtungsgegner in der Rechtsprechung 1. Die Entscheidung des Reichsgerichts vom 3. Januar 1936 2. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 18. Januar 1978 3. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 6. Juni 1979 4. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 15. Januar 1987 5. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 21. Januar 1999

6. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 13. August 2009 III. Würdigung 1. Keine allgemeine Auskunftspflicht unbeteiligter Dritter 2. Punktuelle Auskunftspflichten im deutschen Recht 3. Das „Feststehen des Anfechtungsanspruchs dem Grunde nach“ 4. Entwicklungen zur sekundären Darlegungslast 5. Keine Sonderverbindung? IV. Folgerungen

I. Einführung Der Insolvenzverwalter ist verpflichtet, Anfechtungsansprüche zu prüfen und bei hinreichender Erfolgsaussicht geltend zu machen.1) Die Erfolgsaussichten hängen davon ab, ob der Verwalter genügend Informationen zusammentragen kann, um sein Vorbringen schlüssig machen zu können. Im Prozess trägt er die Darlegungs- und Beweislast für die Anfechtungsvoraussetzungen.2) In einer perfekten Welt hätte der Verwalter, der die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das schuldnerische Vermögen übernimmt, alle notwendigen Unterlagen und Informationen rasch zur Hand. Er wüsste, wann, wie und wo es zu Rechtshandlungen gekommen ist und 1)

2)

Vgl. BGH, Urt. v. 18.12.1995 – II ZR 277/94, BGHZ 131, 325, 328 = ZIP 1996, 421; BGH, Urt. v. 22.4.2003 – IX ZR 128/03, ZIP 2004, 1218 = NZI 2004, 496; LG Krefeld, Urt. v. 6.2.2014 – 3 O 271/13, ZInsO 2014, 848, 849 f.; Huber, Zur Frage der ausschließlichen Geltendmachung des Quotenverringerungsschadens durch Konkursverwalter, NZI 2004, 497; Sinz in: Uhlenbruck, InsO, 14. Aufl. 2015, § 60 Rz. 25; Thole in: K. Schmidt, InsO, § 60 Rz. 16. BGH, Urt. v. 7.10.2010 – IX ZR 209/09, Rz. 24, ZIP 2010, 2307 = NZI 2011, 18.

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könnte deren anfechtungsrechtliche Relevanz prüfen und im Prozess näher dazu vortragen und zugleich entsprechende Belege oder Dokumente vorlegen. Tatsächlich stehen Insolvenzverwalter indes häufig vor dem Problem, dass Unterlagen des Schuldners unvollständig sind, der Schuldner und/oder die Organe des Schuldners trotz der Auskunfts- und Mitwirkungspflichten nach §§ 97, 101 InsO nicht kooperativ sind oder „mauern“ und potenzielle Anfechtungsgegner ihrerseits – naturgemäß – keine Veranlassung haben, dem Verwalter bei der Sachverhaltsaufklärung behilflich zu sein. Oft bleibt dem Verwalter daher nur der begründete Verdacht, dass es zu anfechtbaren Rechtshandlungen gekommen ist, es fehlen aber Informationen zu Grund und/oder Höhe des Anfechtungsanspruchs. Daher stellt sich die Frage, ob der Verwalter von einem in diesem Sinne noch potenziellen Anfechtungsgegner nähere Auskünfte verlangen kann. Das Reichsgericht und der Bundesgerichtshof haben sich punktuell mit dieser Frage beschäftigen müssen. Der folgende Beitrag unternimmt es, die Entwicklung der Rechtsprechung nachzuzeichnen und zu würdigen. II. Der Auskunftsanspruch gegen Anfechtungsgegner in der Rechtsprechung Auskunftsansprüche sind gesetzlich an verschiedenen Stellen normiert. Anerkannt ist darüber hinaus, dass sich aus § 242 BGB ein Auskunftsanspruch innerhalb eines Rechtsverhältnisses ergibt, wenn der Berechtigte in entschuldbarer Weise über das Bestehen oder den Umfang seines Rechts im Ungewissen, der Verpflichtete hingegen in der Lage ist, unschwer solche Auskünfte zu erteilen.3) Darauf wird noch zurückzukommen sein. Die im Folgenden nachgezeichnete Rechtsprechung betrifft die im Ausgangspunkt anders gelagerte Frage, ob sich ein genuin insolvenzrechtlicher, aus dem Wesen der Insolvenzanfechtung bzw. als Nebenpflicht ergebender Auskunftsanspruch gegen Personen ergeben kann, die mit dem Schuldner in einer potentiell anfechtbaren Weise in Verbindung standen. Da die InsO einen solchen Auskunftsanspruch nicht normiert hat, kann er sich, wie zu zeigen sein wird, gleichfalls nur aus § 242 BGB ergeben, so dass die Maßstäbe von Treu und Glauben letztlich gleichermaßen für das anfechtungsrechtliche Rückgewährverhältnis wie für andere Sonderverbindungen gelten. 3)

Ständige Rechtsprechung; vgl. nur BGH, Urt. v. 28.10.1953 – II ZR 149/52, BGHZ 10, 385, 387 = NJW 1954, 70; BGH, Urt. v. 2.4.1957 – VIII ZR 60/56, NJW 1957, 1026; BGH, Urt. v. 6.2.1962 – VI ZR 193/61, NJW 1962, 731; BGH, Urt. v. 20.1.1971 – VIII ZR 251/69, BGHZ 55, 201, 203 = NJW 1971, 656; BGH, Urt. v. 17.5.1994 – X ZR 82/92, NJW 1995, 386, 387 = ZIP 1994, 1621; früher schon RGZ 158, 377, 379; RGZ 108, 1, 7.

Auskunftsansprüche des Insolvenzverwalters gegen (mögliche) Anfechtungsgegner

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1. Die Entscheidung des Reichsgerichts vom 3. Januar 1936 Zuerst war das Reichsgericht in der Entscheidung vom 3. Januar 19364) mit der Frage befasst, ob i. R. der Gläubigeranfechtung nach dem AnfG ein Anfechtungsgläubiger von dem Prozessgegner Auskunft verlangen kann. Im konkreten Fall hatte der Schuldner (Ruhe-)Gehaltsansprüche an die beklagte Ehefrau abgetreten, die Ehefrau hatte Zahlungen auf die Ansprüche erhalten. Der Gläubiger, dessen Pfändung dieser Ansprüche infolge der Abtretung ins Leere ging, machte die Anfechtbarkeit der Abtretung geltend und forderte die Beklagte auf, Auskunft darüber zu erteilen, welche Auszahlungen sie aufgrund der Abtretung in der Vergangenheit erhalten habe, und den sich ergebenden Betrag an den Gläubiger zu zahlen. Das Reichsgericht hielt das Auskunftsbegehren insoweit für unbegründet. Die Auskunftsverpflichtung sei keine selbständige Verpflichtung, sondern sie setze eine Hauptverbindlichkeit in Form der Rückgewährschuld aufgrund der Anfechtung als bestehend voraus. Ehe eine Auskunftserteilung über die Höhe der erhaltenen Beträge in Betracht komme, müsse feststehen, dass der Anfechtungsanspruch dem Grunde nach besteht. Das sei aber vom Gericht noch nicht hinreichend geprüft worden. Konkret war fraglich, ob die Abtretung gläubigerbenachteiligende Wirkung hatte, weil der Schuldner auch ohne die Abtretung die ausgezahlten Beträge mutmaßlich zum Lebensunterhalt verbraucht hätte.5) Das Reichsgericht verlangte mithin, dass die Voraussetzungen der Anfechtung dem Grunde nach feststehen, bevor eine Auskunftspflicht über die Höhe der Rückgewährschuld in Betracht kommt. Die angefochtene Rechtshandlung als solche – die Abtretung – war allerdings unstreitig. Es ging bei der Auskunft allein um die Rechtsfolgen, nämlich die Bestimmung der Höhe der Rückgewährschuld. Das Reichsgericht formuliert: „Ehe auf Auskunftserteilung über die Höhe der der Zwangsvollstreckung entzogenen Beträge erkannt werden kann, muss feststehen, dass der Anfechtungsanspruch selbst dem Grunde nach zu Recht besteht.“6)

4) 5)

6)

RGZ 150, 42, 46. Man kann allerdings fragen, ob das Reichsgericht insoweit nicht einen hypothetischen Lebenssachverhalt zugrunde gelegt hat, was bei der Prüfung der Gläubigerbenachteiligung gerade nicht statthaft wäre, vgl. BGH, Urt. v. 7.6.1988 – IX ZR 144/87, BGHZ 104, 355, 360 = ZIP 1988, 1060; BGH, Urt. v. 30.9.1993 – IX ZR 227/92, ZIP 1993, 1653, 1655. RGZ 150, 42, 46.

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2. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 18. Januar 1978 In der Entscheidung vom 18. Januar 19787) richtete sich das Auskunftsbegehren ebenfalls gegen die Ehefrau des Schuldners, bei der vermutet wurde, sie habe früher vom Schuldner gehaltene Aktienbeteiligungen (anfechtbar) erworben. Auch insoweit lehnte der Bundesgerichtshof eine sich aus den Regeln der Konkursanfechtung ergebende und „aufgrund des Rückgewährschuldverhältnisses“ bestehende Auskunftspflicht ab. Das Reichsgericht habe ausführlich ausgesprochen, dass eine Auskunftspflicht dem Anfechtungsgegner nur insoweit auferlegt werden könne, als der Anfechtungsanspruch selbst dem Grunde nach feststehe. Offengelassen hat der Bundesgerichtshof, inwieweit eine andere Beurteilung in Betracht kommen könnte, wenn der Konkursverwalter trotz Inanspruchnahme der ihm zur Verfügung stehenden rechtlichen Möglichkeiten ohne ausreichende Information seitens des Gemeinschuldners bliebe. Wohlgemerkt: Die Berufung auf das Urteil des Reichsgerichts zeugt von mangelnder Abgrenzung. Denn es ging, wie ausgeführt, im Fall des Reichsgerichts um Auskünfte zur Höhe der Rückgewährschuld, im Fall vom 18. Januar 1978 darum, ob die Ehefrau überhaupt etwas bekommen hatte. Der Bundesgerichtshof hat aus der Aussage des Reichsgerichts, Auskunft über die Höhe sei erst bei feststehendem Grund des Anspruchs geschuldet, also die Aussage gemacht, generell sei Auskunft erst bei feststehendem Grund des Anspruchs geschuldet. 3. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 6. Juni 1979 In der Entscheidung vom 6. Juni 19798) hat der Bundesgerichtshof seine Rechtsprechung erneut bestätigt. Ein allgemeiner Auskunftsanspruch gegen Dritte, die möglicherweise etwas anfechtbar erworben hätten, bestehe nicht, weil es Sache des Gesetzgebers wäre, eine solche allgemeine Auskunftspflicht zu normieren. Der Bundesgerichtshof lehnt hier einen Anspruch nur „auf begründeten Verdacht“ hin ab, sieht also eine Auskunftspflicht auch bei Anhaltspunkten für einen anfechtbaren Erwerb noch nicht gegeben. Der Konkursverwalter könne sich an den Schuldner halten, um Informationen zu erlangen.

7) 8)

BGH, Urt. v. 18.1.1978 – VIII ZR 262/76, NJW 1978, 1002. BGH, Urt. v. 6.6.1979 – VIII ZR 255/78, NJW 1979, 1832.

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Konkret hatte der Verwalter wiederum die Ehefrau des Gemeinschuldners auf Auskunft in Anspruch genommen, anders als im Falle des Reichsgerichts aber nicht nur über die Höhe erlangter Vorteile, sondern generell über entgeltliche oder unentgeltliche Rechtsgeschäfte mit dem Gemeinschuldner. 4. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 15. Januar 1987 Die Entscheidung vom 15. Januar 19879) fügte der Thematik eine neue Facette hinzu. Das betraf allerdings nicht den Gegner des Auskunftsbegehrens, denn auch dieses Mal handelte es sich um die Ehefrau des Gemeinschuldners. Die Ehefrau hatte anfechtbar Aktien vom Gemeinschuldner erworben, dem Verwalter lagen allerdings Indizien vor, nach denen die Ehefrau auch weitere Vermögensgegenstände vom Gemeinschuldner in vermeintlich anfechtbarer Weise erworben hatte. In seiner Entscheidung machte der Bundesgerichtshof deutlich, der Umstand, dass eine anfechtbare Rechtshandlung feststeht (d. h. die Übertragung der Aktien), bedeute nicht, dass der Anfechtungsgegner auch wegen des damit begründeten Verdachts weiterer anfechtbarer Vorgänge Auskunft schulde, weil jede Rechtshandlung selbständig zu betrachten sei. Das für § 129 InsO geltende Gebot der Einzelbetrachtung setzt sich nach diesen Maßstäben also auch bei der Frage der Auskunftspflicht durch. 5. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 21. Januar 1999 Auch die Entscheidung vom 21. Januar 199910) betraf ein Auskunftsbegehren des Verwalters gegen die Ehefrau des Gemeinschuldners. Zwischen den Parteien war streitig, ob Geldleistungen, die der Gemeinschuldner der Ehefrau auf einem Konto zur Verfügung gestellt hatte, unentgeltlich waren. Zum Beweis dieser Behauptung stützte sich der Verwalter auf Unterlagen zu diesem Konto. Der Bundesgerichtshof meinte, es sei verfahrensrechtlich nicht zu beanstanden, dass das Tatgericht dem Urkundsbeweis nicht nachgegangen sei und der Ehefrau nicht die Vorlage der Unterlagen aufgegeben habe. Dazu sei es nach § 422 ZPO nur verpflichtet gewesen, wenn ein Anspruch gegen die Ehefrau nach bürgerlichem Recht auf Vorlage bestanden hätte. Ein Auskunftsanspruch nach § 242 BGB bestehe aber nicht. 9) 10)

BGH, Urt. v. 15.1.1987 – IX ZR 4/86, ZIP 1987, 244 = NJW 1987, 1812. BGH, Urt. v. 21.1.1999 – IX ZR 429/97, NJW 1999, 1033, 1034 = ZIP 1999, 316.

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Die höchstrichterliche Rechtsprechung versage jedoch dem Verwalter einen solchen Anspruch gegenüber Personen, die lediglich im Verdacht stehen, sie könnten etwas vom Gemeinschuldner in anfechtbarer Weise erworben haben. Erst wenn das Anfechtungsrecht dem Grunde nach feststeht und es nur noch um die nähere Bestimmung des Anspruchs geht, begründe das Rückgewährschuldverhältnis entsprechende Verpflichtungen des Anfechtungsgegners. Tatsächlich hat hier der Bundesgerichtshof erstmals ausdrücklich die genuin anfechtungsrechtliche Auskunftspflicht, die vom Reichsgericht als Nebenpflicht zum bestehenden Rückgewährschuldverhältnis angedacht war, mit den allgemeinen Regeln für Rechtsverhältnisse bzw. Sonderverbindungen11) und mithin mit § 242 BGB in Verbindung gebracht. 6. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 13. August 2009 Zur Rechtslage unter der InsO hat der Bundesgerichtshof mit Urteil vom 13. August 200912), unter Beteiligung des Jubilars, entschieden. Die Entscheidung war nicht nur deshalb ein Novum, weil sie sich erstmals zum Auskunftsanspruch gegen Anfechtungsgegner unter der InsO äußerte, sondern auch deshalb, weil hier erstmals in der aufgezeigten Entwicklung nicht die Ehefrau des Schuldners Anfechtungsgegnerin war, sondern die Finanzverwaltung. Der Bundesgerichtshof führte die bisherige Rechtsprechung fort und versagte dem Verwalter einen Auskunftsanspruch nach Treu und Glauben. Eine Verpflichtung, Leistungen so zu bewirken, wie Treu und Glauben es erfordern, gebe es nur i. R. bereits bestehender Rechtsbeziehungen. Ein Auskunftsanspruch wegen möglicher Anfechtungsansprüche sei davon abhängig, dass ein Anfechtungsanspruch dem Grunde nach feststeht und es nur noch um die nähere Bestimmung von Art und Umfang des Anspruchs geht. Solange ein Rückgewährschuldverhältnis nicht feststeht, habe sich der Verwalter wegen aller benötigten Auskünfte an den Schuldner zu halten. Gegenüber Personen, die lediglich im Verdacht stehen, sie könnten etwas vom

11)

12)

Beachte BGH, Urt. v. 9.11.2011 – XII ZR 136/09, Rz. 20, BGHZ 191, 259: Der Auskunftsanspruch nach § 242 BGB verlangt naturgemäß kein Schuldverhältnis im engeren Sinne, wohl aber eine Sonderverbindung; darunter fallen auch Vertragsverhandlungen, dauernde Geschäftsverbindungen, Nachbarschaftsverhältnisse u. a. m. BGH, Urt. v. 13.8.2009 – IX ZR 58/06, ZIP 2009, 1823 = NZI 2009, 722. Das aktuelle Urteil des BGH, Urt. v. 14.2.2019 – IX ZR 149/16, ZIP 2019, 666, das sich ebenfalls zu Auskunftsansprüchen verhält (Rz. 83), konnte nicht mehr berücksichtigt werden.

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Insolvenzschuldner in anfechtbarer Weise erworben haben, bestehe kein Anspruch auf Auskunft. Das gelte auch dann, wenn sich der Verdacht auf die Feststellung anderer anfechtbarer Vermögensverfügungen gründet. Denn jede selbstständige anfechtbare Rechtshandlung begründe einen besonderen Rückgewähranspruch. Anzumerken ist allerdings, dass die Auskunftsansprüche gegen die Finanzverwaltung heute weitgehend spezialgesetzlich geregelt sind, weil sich aus dem Bundes-IFG und ggf. auch aus landesrechtlichen Vorschriften Ansprüche auf Informationserteilung ergeben können. Zudem hat der Verwalter Anspruch auf Einsicht in die Steuerakten des Schuldners und kann sich unter Umständen die für eine Anfechtung erforderlichen Informationen daraus zusammensuchen.13) III. Würdigung 1. Keine allgemeine Auskunftspflicht unbeteiligter Dritter Die Rechtsprechung ist von dem billigenswerten Bestreben getragen, der Grundentscheidung des Insolvenzrechts und des bürgerlichen Rechts, dass es keinen allgemeinen Informationsanspruch gibt, zur Geltung zu verhelfen. Nicht jeder (möglicherweise nur „gefühlte“) Verdacht einer anfechtbaren Rechtshandlung kann es rechtfertigen, Dritte, die entfernt in Beziehung zum Schuldner standen, mit einer Auskunftspflicht zu belegen. Dies hätte zur Folge, dass Verwalter mit Auskunftsbegehren an beliebige Dritte herantreten könnten, obwohl die InsO in §§ 97, 101 InsO grundsätzlich allein den Schuldner und die Organe für auskunftspflichtig erachtet. Daher hat der Bundesgerichtshof recht, wenn er grundsätzlich davon ausgeht, der Verwalter müsse vorrangig die gesetzlich vorgesehenen Auskunfts- und Mitwirkungspflicht des Schuldners nutzen, um an die relevanten Informationen zu gelangen. Dazu passt es, dass die Mitwirkungspflicht des Schuldners weitaus großzügiger als das Pflichtgefüge Dritter ausgestaltet ist. Der Insolvenzschuldner (bzw. über § 101 InsO der organschaftliche Vertreter) ist schon dann zur Auskunft nach § 97 InsO verpflichtet, sobald konkrete Anhaltspunkte vorliegen, die eine Anfechtbarkeit als möglich erscheinen lassen.14) 13) 14)

Näher m. N. Mock in: Uhlenbruck, InsO, § 80 Rz. 130 f. BGH, Beschl. v. 11.2.2010 – IX ZB 126/08, Rz. 6, MDR 2010, 590; BGH, Beschl. v. 23.9.2010 – IX ZB 16/10, Rz. 5, NZI 2010, 999; BGH, Beschl. v. 8.3.2012 – IX ZB 70/10, Rz. 14, juris; BGH, Beschl. v. 27.4.2017 – IX ZB 80/16, Rz. 8, MDR 2017, 790.

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Er hat, ggf. auch ungefragt, die maßgeblichen Informationen zu offenbaren. Die Auskunftspflicht ist über § 98 InsO auch zwangsweise durchsetzbar. 2. Punktuelle Auskunftspflichten im deutschen Recht Die Rechtsprechung fügt sich zugleich in den allgemeinen prozessualen Kontext ein. Im deutschen Prozessrecht fehlt eine allgemeine (vor-)prozessuale Aufklärungs- und Mitwirkungspflicht, wie sie im anglo-amerikanischen Rechtskreis bekannt ist.15) Der hergebrachte Grundsatz, niemand müsse dem Gegner die Mittel zum Prozesssieg verschaffen,16) ist freilich vielfach durchbrochen worden. Als Mittel zur Schaffung punktueller Aufklärungs- und Mitwirkungspflichten dienen neben der Wahrheitspflicht des § 138 ZPO die Vorlagepflichten nach § 142 ZPO, aber auch weitere prozessuale Remeduren, zu denen u. a. auch die sekundäre Darlegungslast gehört.17) Grundsätzlich legt das deutsche Recht freilich das „Modell einer prozessualen Aufklärung durch materiell-rechtliche Auskunfts- und Vorlageansprüche“ zugrunde18), wie es z. B. in § 422 ZPO, §§ 140b, 140c PatG und zuletzt mit § 33g GWB für den Kartellschadensersatz umgesetzt worden ist. Einen allgemeinen Auskunftsanspruch gibt es gerade nicht, sondern nur punktuell ansetzende Auskunftspflichten. 3. Das „Feststehen des Anfechtungsanspruchs dem Grunde nach“ Dennoch ist die Engführung der Auskunftsansprüche für die Zukunft überprüfungswürdig. Das gilt zunächst für den Satz, der Anfechtungsanspruch müsse dem Grunde nach feststehen, bevor es Auskunftsansprüche geben könne. Diese Formulierung stammt, wie gesehen, aus der Rechtsprechung des Reichsgerichts und betraf Auskunftsansprüche zur Höhe. Er ist dann in der Rechtsprechung eher unterschwellig zu der Aussage geworden, Auskunftsansprüche zum Grund des Anspruchs könnten nicht bestehen, bevor dieser Grund nicht feststehe. Wenn Auskunft überhaupt nur für die nähere Bestimmung des Anspruchs verlangt werden kann, bedeutet dies, dass die 15) 16) 17) 18)

BGH, Urt. v. 11.6.1990 – II ZR 159/89, NJW 1990, 3151 m. N. BGH, Urt. v. 17.10.1996 – IX ZR 293/95, NJW 1997, 128, 129; BGH, Urt. v. 11.6.1990 – II ZR 159/89, NJW 1990, 3151. Brand, Grenzen zivilprozessualer Wahrheit und Gerechtigkeit, NJW 2017, 3558; vgl. auch Stadler in: Musielak/Voit, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 138 Rz. 11 m. w. N. Vgl. BGH, Urt. v. 11.6.1990 – II ZR 159/89, NJW 1990, 3151, 3152 m. N. und die N. soeben Fn. 17.

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Anfechtbarkeit der Rechtshandlung anderweitig und ohne die erteilte Auskunft dargelegt sein muss. Das bedeutet nicht, dass das jeweils angerufene Gericht das Auskunftsbegehren ohne weiteres zurückweisen kann. Ob auf der Grundlage der in den Auskunftsprozess eingeführten Tatsachen die Anfechtung dem Grunde nach feststeht, hat das Gericht anhand des prozessualen Vortrags zu prüfen, ggf. auch nach Beweisaufnahme, und kann nicht darauf verweisen, die Anfechtung müsse vorprozessual, z. B. durch anderweitiges Urteil, bereits geklärt sein. Das ist auch deshalb wichtig, weil sich seit der Zivilprozessrechtsreform vom 1. Januar 2002 die Aufklärungsmöglichkeiten des Gerichts mit der seinerzeitigen Einführung des § 142 ZPO erweitert haben. Die Entscheidung vom 21. Januar 1999 könnte deshalb heute anders zu treffen sein. Zwar ist streitig, unter welchen Voraussetzungen § 142 ZPO eingreift und inwieweit damit auch Informationsgewinnung betrieben werden kann. Die im Fall vom 21. Januar 1999 in Rede stehende Pflicht, die Unterlagen zu dem maßgeblichen Konto herauszugeben, wäre jedoch über § 142 ZPO zu begründen gewesen, weil es auf die Voraussetzungen des § 422 ZPO gerade nicht mehr ankommt.19) Ungeachtet der amtswegigen Aufklärung im Prozess ändert das aber nichts daran, dass die Rechtsprechung Auskunftsansprüche zum Grund des Anspruchs gerade verwehrt, denn das Auskunftsbegehren hat ja nur dann Sinn, wenn dieser Grund noch nicht feststeht. Anders formuliert: Regelmäßig wird der Anfechtungsanspruch nie dem Grunde nach feststehen, wenn nicht die Auskunft zu erteilen ist, die ja gerade diese Feststellung erst ermöglichen soll. 4. Entwicklungen zur sekundären Darlegungslast Fraglich ist nun allerdings, ob die tragende Begründung, es fehle solange an dem für den Auskunftsanspruch nach § 242 BGB notwendigen Rechtsverhältnis, wie das Rückgewährschuldverhältnis aufgrund der Insolvenzanfechtung nicht feststeht, wirklich überzeugt. Ein erster Zweifel ist durch die jüngeren Entwicklungen zur sekundären Darlegungslast ausgelöst. Die sekundäre Darlegungslast greift, wenn die eigentlich nicht darlegungs- und beweispflichtige Partei außerhalb eines Geschehensablaufs steht und ihr eine nähere Behauptung nicht möglich oder nicht zumutbar ist, während der Gegner die notwendigen Kenntnisse 19)

Stadler in: Musielak/Voit, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 142 Rz. 7.

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hat und ihm nähere Angaben zumutbar sind. Dann muss der Gegner entsprechend darlegen und kann nicht einfach bestreiten, sondern muss sein Bestreiten substantiieren, andernfalls gilt es als unzureichend und folglich gelten die von der primär darlegungspflichtigen Partei behaupteten Tatsachen als zugestanden (§ 138 Abs. 3 ZPO).20) Der Bundesgerichtshof hat – ebenfalls unter Mitwirkung des Jubilars – in einer wichtigen Entscheidung zur Ersatzabsonderung vom 24. Januar 201921) angenommen, die sekundäre Darlegungslast (in casu: des Verwalters) sei von der Durchsetzung möglicher Auskunftsansprüche (in casu: des Absonderungsberechtigten) unabhängig. Gleichwohl hat er sich um die Herstellung eines Wertungsgleichlaufs bemüht, weil er die Grenzen des Auskunftsanspruchs aus § 242 BGB auf die sekundäre Darlegungslast überträgt. Soweit im Einzelfall dem Auskunftsverpflichteten keine konkrete Auskunft, sondern nur die Verweisung des Auskunftsberechtigten auf die Einsichtnahme in die Bücher zumutbar sei, könne in einem solchen Fall auch die sekundäre Darlegungslast durch die Verweisung auf die Einsichtnahme in die Bücher erfüllt werden.22) Sind damit sekundäre Darlegungslast und Auskunftsanspruch nach § 242 BGB funktionelle Äquivalente, ist allerdings fraglich, ob streng an dem Erfordernis eines bereits bestehenden Anfechtungsanspruchs festgehalten werden kann. Immerhin setzt die sekundäre Darlegungslast ein bestehendes Schuldverhältnis gerade nicht voraus bzw. es liegt schon in dem Prozessrechtsverhältnis. Zu berücksichtigen ist auch, dass der deutsche Gesetzgeber bei der Umsetzung der Kartellschadensersatzrichtlinie23) zwar gleichfalls dem deutschen Weg über materiell-rechtliche Auskunfts- und Vorlageansprüche gefolgt ist, die Offenlegungs- und Auskunftspflicht aber schon bei Glaubhaftmachung des Schadensersatzanspruchs einsetzen lässt (§ 33g Abs. 1, 2, 10 GWB), weil die Auskunft ja gerade dazu dienen soll, den Schadensersatzanspruch zu

20)

21) 22)

23)

BGH, Urt. v. 11.6.1990 – II ZR 159/89, NJW 1990, 3151; BGH, Urt. v. 24.11.1998 – VI ZR 388/97, ZIP 1999, 105 = NJW 1999, 714 m. w. N; BGH, Urt. 3.5.2002 – V ZR 115/01, NJW-RR 2002, 1280 m. w. N; BGH, Urt. v. 14.6.2005 – VI ZR 179/04, NJW 2005, 2614. BGH, Urt. v. 24.1.2019 – IX ZR 110/17, ZIP 2019, 472. Teils kritisch zur Annahme einer „Erfüllung“ der sekundären Darlegungslast Thole, Die Ersatzabsonderung bei Einziehung sicherungszedierter Kundenforderungen und beim verlängerten Eigentumsvorbehalt, ZIP 2019, 552. Richtlinie 2014/104/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.11.2014 über bestimmte Vorschriften für Schadensersatzklagen nach nationalem Recht wegen Zuwiderhandlungen gegen wettbewerbsrechtliche Bestimmungen der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union, ABl. (EU) L 349/1 v. 5.12.2014.

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beweisen. Auskunft für einen bereits bewiesenen Schadensersatzanspruch wäre sinnlos. 5. Keine Sonderverbindung? Schließlich ist auch im anfechtungsrechtlichen Kontext zu berücksichtigen, dass häufig bereits Sonderverbindungen bestehen. Ist etwa der Insolvenzschuldner Vertragspartner des Anfechtungsgegners gewesen, können Auskunftsansprüche aus diesem Vertragsverhältnis in Betracht kommen, die auch der Verwalter geltend machen kann, weil er in die Position des Schuldners eingetreten ist. Jedenfalls lässt sich insoweit das Vorliegen eines Rechtsverhältnisses nicht bestreiten. Dann kommt neben speziellen Auskunftspflichten (z. B. § 666 BGB) auch ein Auskunftsanspruch nach § 242 BGB in Betracht, wenn die engen, eingangs beschriebenen Voraussetzungen vorliegen, also der Verpflichtete die Auskunft unschwer geben kann, der Berechtigte in entschuldbarer Weise über sein Recht im Ungewissen ist. Für diesen Auskunftsanspruch aus § 242 BGB innerhalb von Vertragsbeziehungen wird aber das Bestehen des Leistungsanspruchs nicht vorausgesetzt. Es besteht ein Auskunftsanspruch, namentlich zur Vorbereitung von Schadensersatzansprüchen, bereits bei dem begründeten Verdacht einer Vertragsverletzung, wenngleich die Grenzen im Einzelnen festgezogen werden müssen. Die anspruchsbegründenden Merkmale, insbesondere auch die Pflichtverletzung, müssen aber jedenfalls nicht feststehen.24) Entsprechendes gilt, wenn ein Vertragspartner zur Begründung von Einwendungen auf die Information durch den anderen angewiesen ist.25) Innerhalb vertraglicher Beziehungen hat der Auskunftsanspruch also die Funktion, dem Berechtigten Informationen auch schon über das Bestehen des Anspruchs dem Grunde nach zu verschaffen.26) Diese Auskunftspflicht besteht schon bei dem Verdacht der Pflichtverletzung, während im anfechtungsrechtlichen Kontext der begründete Verdacht von anfechtbaren Rechtshandlungen nicht genügen soll.

24)

25)

26)

BAG, Urt. v. 12.5.1972 – 3 AZR 401/71, DB 1972, 1831, 1832; BGH, Urt. v. 17.7.2002 – VIII ZR 64/01, NJW 2002, 3771; BGH, Urt. v. 1.8.2013 – VII ZR 268/11, NJW 2014, 155; Krüger in: MünchKomm-BGB, 8. Aufl. 2019, § 260 Rz. 16. BGH, Urt. v. 22.10.1958 – V ZR 154/57, WM 1959, 206, 208; BGH, Urt. v. 16.6.1970 – V ZR 90/67, WM 1970, 1116, 1118; Krüger in: MünchKomm-BGB, 8. Aufl. 2019, § 260 Rz. 16. Krüger in: MünchKomm-BGB, 8. Aufl. 2019, § 260 Rz. 16.

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Der Anfechtungsanspruch erwächst zwar gerade nicht aus der schuldnerischen Vertragsbeziehung, weil die Insolvenzanfechtung originär in die Kompetenz des Verwalters fällt. Dennoch darf die häufige Einbettung in einen vertraglichen Kontext kaum ausgeklammert bleiben. Die anfechtbare Rechtshandlung mag zwar keine vertragliche Pflichtverletzung sein, wohl aber damit zusammenfallen. Hat etwa der Vertragspartner des Insolvenzschuldners zu viel abgerechnet und entsprechende Zahlungen erhalten, kann sich dies sowohl als schadensersatzbegründende Pflichtverletzung als auch als (inkongruente) Deckung darstellen. Vor diesem Hintergrund scheint es, als sei die Rechtsprechung zum Anfechtungsrecht tendenziell doch zu sehr von der Sorge getrieben, es könne jeder unbeteiligte Dritte mit umfänglichen Auskunftsbegehren des Verwalters überzogen werden. Dies wird auf die Spitze getrieben, wenn selbst das Feststehen anfechtbarer Rechtshandlungen schon a priori jegliche Auskunftsansprüche wegen weiterer Vermögensverschiebungen ausschließen soll, solange ebendiese weiteren – als anfechtbar erkannten – Vermögensverschiebungen nicht feststehen. Im Ergebnis scheint die berechtigte Sorge vor einer zu weit gehenden Auskunftspflicht von nicht am Insolvenzverfahren beteiligten Dritten dann unberechtigt, wenn zumindest der begründete Verdacht anfechtbarer Rechtshandlungen besteht, also der Verwalter – wie bei § 33g Abs. 1, 10 GWB – seinen Anspruch glaubhaft machen, wenngleich noch nicht voll beweisen kann und deshalb die Anfechtung noch nicht dem Grunde nach feststeht. Würde dann der Verwalter unmittelbar auf Leistung klagen, wäre ggf. die sekundäre Darlegungslast ausgelöst (wenn dessen Voraussetzungen vorliegen), und deshalb ist nicht einzusehen, warum der vorgelagerte Auskunftsanspruch nicht bestehen soll. IV. Folgerungen Aus dem Vorgesagten folgt, dass die Rechtsprechung dort, wo der Verwalter auf spezifische vertragliche oder gesetzliche Auskunftsansprüche nicht zurückgreifen kann, zwar keineswegs die „Fluttore öffnen“ sollte. Wohl aber sollte sie auch hinsichtlich des „Ob“ einer Anfechtung eine Auskunftspflicht nach § 242 BGB bejahen, wenn der Verwalter seinerseits den begründeten Verdacht solcher anfechtbarer Rechtshandlungen in Gestalt einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit dargelegt hat und wenn die weiteren Voraussetzungen eines Auskunftsanspruchs gegeben sind,

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d. h. der Verwalter sich bestimmte Kenntnisse nicht in zumutbarer Weise verschaffen kann, während der Prozessgegner diese Kenntnisse hat und unschwer Auskunft geben kann. Insoweit kann zwar dem Verwalter auch abverlangt werden, die Auskunfts- und Mitwirkungspflichten des Insolvenzschuldners nach §§ 97, 101 InsO durchzusetzen. Hat sich dieses Vorgehen jedoch als nicht praktikabel oder fruchtlos erwiesen, kann der Verwalter auf den Auskunftsanspruch aus § 242 BGB zurückgreifen. Das erscheint auch rechtspolitisch wünschenswert. Bestehen greifbare Anhaltspunkte für einen anfechtbaren Erwerb, wäre es fragwürdig, wenn die Durchsetzung von Anfechtungsansprüchen allein daran scheiterte, dass der potenzielle Anfechtungsgegner jegliche Mitwirkung verweigerte und der Verwalter dann keine weitere Handhabe hätte. Der Trend des deutschen Prozessrechts geht – in wohl abgewogener Weise und keineswegs einseitig – in Richtung verstärkter Sachverhaltsaufklärung, und das Anfechtungsrecht sollte hinter diesem Stand nicht zurückbleiben.

Die Patronatserklärung als unentgeltliche Leistung in der Insolvenz des Patrons (§§ 39 Abs. 1 Nr. 4, 134 InsO) SVEN-HOLGER UNDRITZ Inhaltsübersicht I. II.

Einleitung Die Patronatserklärung als rechtliches Phänomen 1. Kategorisierung der Patronatserklärungen 2. Formulierungsbeispiele aus der Praxis 3. Vertragstypologische Einordnung der Patronatserklärungen III. Bestimmung des Leistungsinhalts der Patronatserklärung 1. Erfolgsbezogene Leistung des Patrons 2. Gegenleistung des Protegés oder Gläubigers 3. Geschäftszweck und Rechtsgrund der Patronatserklärung 4. Zwischenergebnis IV. Gewährt der Patron eine unentgeltliche Leistung? 1. Unentgeltlichkeit als „Anfechtungsfrage“ oder „Rangfrage“ 2. Auslegung des Begriffs der „unentgeltlichen Leistung“ a) Einheitliches Begriffsverständnis b) Weites Begriffsverständnis aa) Synallagmatische, konditionale oder kausale Verknüpfung bb) Wirtschaftliches Eigeninteresse cc) Ausgleich „auf andere Art und Weise“ dd) Gedanke der Vorteilsausgleichung ee) Entgeltlichkeit von Leistungen causa societatis (1) „Stehenlassen“ von Gesellschafterdarlehen

(2) Besicherung einer Gesellschaftsschuld (3) Parallele zu „ehebedingten Zuwendungen“ ff) Zwischenergebnis 3. Unentgeltlichkeit der Ausstattungsleistung 4. Unentgeltlichkeit der Patronatserklärung a) „Interne“ Patronatserklärung aa) Synallagmatische, konditionale oder kausale Gegenleistung des Protegés bb) Regressanspruch des Patrons als Ausgleich „auf andere Art und Weise“ cc) Entgeltlichkeit von Leistungen causa societatis dd) Wirtschaftliches Eigeninteresse des Patrons ee) Zwischenergebnis b) Externe Patronatserklärung aa) Synallagmatische, konditionale oder kausale Gegenleistung des Gläubigers bb) Regressanspruch des Patrons als Ausgleich „auf andere Art und Weise“ cc) Sonstige Anknüpfungspunkte zur Begründung einer Entgeltlichkeit dd) Zwischenergebnis V. Konsequenzen aus der Unentgeltlichkeit 1. Nachrang der Forderung des Protegés 2. Anfechtung einer Leistung des Patrons und der Patronatserklärung VI. Zusammenfassung der Ergebnisse

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I. Einleitung Die Insolvenzpraxis hält viele große Herausforderungen für den Rechtsanwender parat. Die Konzerninsolvenz gehört ohne Frage dazu. Der Gesetzgeber hat mit dem Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen, welches am 21. April 2018 in Kraft getreten ist, erstmals Regelungen speziell für die Konzerninsolvenz geschaffen.1) Die neuen Regelungen fassen mit Blick auf die verfahrensrechtliche Abwicklung von Konzerninsolvenzen viele der bisherigen losen Enden zusammen. Die Insolvenzverfahren über das Vermögen von Schuldnern einer Unternehmensgruppe können örtlich durch Begründung eines Gruppen-Gerichtsstands (vgl. §§ 3a bis 3e, 13a InsO) oder personell durch Bestellung eines Gruppen-Insolvenzverwalters (vgl. § 56b InsO) zusammengefasst werden. Beide Möglichkeiten dienen der effizienteren Verfahrenskoordination. Auch das Koordinationsverfahren mit der Möglichkeit der Erstellung eines Koordinationsplans für mehrere gruppenangehörige Unternehmen (vgl. §§ 269a bis 269i InsO) dient diesem Zweck. Die vielen materiell-rechtlichen Fragen im Zusammenhang mit der Konzerninsolvenz bleiben aber weiterhin der Praxis zur Beantwortung überlassen und damit auch in letzter Instanz der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes. Der Jubilar hat in seiner langjährigen Tätigkeit als Richter des IX. Zivilsenats des Bundesgerichtshofes hierzu – wie zu vielen anderen „Großthemen“ des Insolvenzrechts – einen bedeutenden Beitrag geleistet. Aus der Fülle der Entscheidungen seien hier beispielhaft nur die jüngere Entscheidung, nach der die Auszahlung eines Gesellschafterdarlehens an die Gesellschaft in der Insolvenz des Gesellschafters nicht als unentgeltliche Leistung des Gesellschafters angefochten werden kann,2) und die Entscheidungen zur fehlenden Insolvenzbeständigkeit von Konzernverrechnungsklauseln3) genannt. Auch mit der Anfechtung unentgeltlicher Leistungen nach § 134 InsO hatte sich der IX. Zivilsenat in den letzten Jahren vermehrt zu beschäftigen und hat hierzu grundlegende Entscheidungen getroffen, die dem Tatbestand der „Schenkungsanfechtung“ schärfere Konturen verliehen

1) 2) 3)

Gesetz zur Erleichterung der Bewältigung von Konzerninsolvenzen, v. 13.4.2017, BGBl. I 2017, 866 ff. BGH, Urt. v. 13.10.2016 – IX ZR 184/14, BGHZ 212, 272 = ZIP 2016, 2483. BGH, Urt. v. 13.7.2006 – IX ZR 152/04, ZIP 2006, 1740 = NZI 2006, 639, m. Anm. Gundlach/Frenzel; BGH, Urt. v. 15.7.2004 – IX ZR 224/03, ZIP 2004, 1764 = NZI 2004, 585, m. Anm. Höpfner.

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haben. Der Jubilar hat sich mit der Insolvenzanfechtung im Allgemeinen4) und der „Schenkungsanfechtung“ im Besonderen5) auch in mehreren Veröffentlichungen befasst. Vor diesem Hintergrund lag es nahe, dem Jubilar einen Beitrag zu widmen, der beide Bereiche, sowohl das Konzerninsolvenzrecht als auch die Schenkungsanfechtung, zusammenbringt. Der folgende Beitrag wendet sich aus Sicht des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Patrons drei Fragen zu, ob (i) etwaige Forderungen der Protegés aus einer Patronatserklärung in der Insolvenz des Patrons nach § 39 Abs. 1 Nr. 4 InsO möglicherweise nachrangig sind und (ii) Leistungen im Zusammenhang mit einer Patronatserklärung oder (iii) auch die Patronatserklärung selbst nach § 134 InsO anfechtbar sind. Es dreht sich mithin alles um die Frage der Entgeltlichkeit bzw. Unentgeltlichkeit der Patronatserklärung und der auf ihrer Grundlage oder in ihrem Zusammenhang bewirkten Leistungen. Diese Fragen sind vom Bundesgerichtshof – soweit ersichtlich – noch nicht beantwortet worden. Der Beitrag soll daher der Fortbildung des materiellen Konzerninsolvenzrechts dienen und zumindest Denkanstöße für die Beantwortung der hier einleitend gestellten Fragen geben. II. Die Patronatserklärung als rechtliches Phänomen Die Patronatserklärung ist ein rechtliches Phänomen, das im Gesetz nicht geregelt ist. Unter dem Begriff der Patronatserklärung werden ganz unterschiedliche Unterstützungserklärungen zusammengefasst. Sie unterscheiden sich sowohl dem Inhalt nach als auch in puncto der Person des Erklärungsempfängers. Regelmäßig findet man aber eine „Dreieckskonstellation“ dergestalt vor, dass in einer Unternehmensgruppe eine Muttergesellschaft (der Patron) gegenüber ihrer Tochtergesellschaft oder gegenüber bestimmten oder allen Gläubiger ihrer Tochtergesellschaft eine Erklärung abgibt, die wirtschaftlich die finanzielle Situation der Tochtergesellschaft (der Protegé) verbessern soll, sei es ganz allgemein in der Krise der Tochterge4)

5)

Siehe beispielhaft Kayser, Konsequenzen des neuen Anfechtungsrechts für die Rechtsprechung des BGH – Viel Lärm um nichts?, ZIP 2018, 1153; Kayser, Rechtsfolgen der Insolvenzanfechtung, ZIP 2015, 449; Kayser, Vorsatzanfechtung im Spannungsverhältnis von Gläubigergleichbehandlung und Sanierungschancen, NJW 2014, 422. Siehe für einen Beitrag zur „Schenkungsanfechtung“ etwa Kayser, Die Anfechtung als unentgeltliche Leistung – eine Allzweckwaffe des Insolvenzverwalters zur Massegenerierung?, ZIP 2019, 293; Kayser, Die Insolvenzanfechtung nach § 134 InsO – Ausweitung der Anfechtbarkeit von Drittleistungen?, WM 2007, 1.

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sellschaft zur Vermeidung einer (drohenden) Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung (dann wirkt die Patronatserklärung zugunsten der Gläubigergesamtheit) oder sei es im Hinblick auf eine oder mehrere bestimmte Verbindlichkeiten zur Stärkung der Kreditwürdigkeit (dann wirkt die Patronatserklärung zugunsten bestimmter Gläubiger).6) 1. Kategorisierung der Patronatserklärungen Die in Aussicht gestellte Unterstützung kann ihrem rechtlichen Inhalt nach unterschiedlich verbindlich sein: Denkbar sind „weiche“ Wissensund Auskunftserklärungen oder das Inaussichtstellen oder „harte“ Absichts- und Verpflichtungserklärungen. Regelmäßig wird insoweit je nach Grad des rechtlichen Bindungswillens zwischen „weicher“ und „harter“ Patronatserklärung unterschieden. Der Bundesgerichtshof hat diese beiden Kategorien wie folgt lehrbuchartig zusammengefasst:7) –

Bei einer „weichen“ Patronatserklärung, bei der es sich um bloße Informationen über die Zahlungsfähigkeit einer Tochtergesellschaft oder um allenfalls moralisch verpflichtende Goodwill-Erklärungen handelt, fehlt ein rechtsgeschäftlicher Charakter und sie begründet damit keine irgendwie geartete Verbindlichkeit des Patrons.



Demgegenüber übernimmt der Patron durch eine „harte“ Patronatserklärung entweder im Innenverhältnis zu seiner Tochtergesellschaft („intern“) oder im Außenverhältnis zu deren Gläubiger („extern“) die rechtsgeschäftliche Verpflichtung, die Tochtergesellschaft in der

6)

Das Institut der Wirtschaftsprüfer (IDW) unterscheidet in seinem Rechnungslegungshinweis betreffend handelsrechtliche Vermerk- und Berichterstattungspflichten bei Patronatserklärungen zwischen fünf „Grundformen“, siehe IDW, Handelsrechtliche Vermerk- und Berichterstattungspflichten bei Patronatserklärunge (IDW RH HFA 1.013), Stand: 22.2.2008, Rz. 8, WPg Supplement 1/2008, S. 37: Die Muttergesellschaft sagt dem Gläubiger der Tochtergesellschaft zu, für die Dauer des Kreditverhältnisses (1) das Gesellschaftsverhältnis mit der Tochtergesellschaft beizubehalten; (2) den Unternehmensvertrag mit der Tochtergesellschaft nicht zu ändern, aufzuheben oder zu kündigen; (3) die Tochtergesellschaft dahin zu beeinflussen, dass sie ihren Verbindlichkeiten (gegenüber dem Gläubiger) nachkommt; (4) die Tochtergesellschaft finanziell so ausgestattet zu halten, dass sie ihren Verbindlichkeiten (gegenüber dem Gläubiger) nachkommen kann; und (5) eine bestimmte Kapitalausstattung bei der Tochtergesellschaft aufrechtzuerhalten. Diese fünf „Grundformen“ decken die Inhalte, die Patronatserklärungen in der Praxis häufig haben, im Ausgangspunkt recht gut ab. BGH, Urt. v. 19.5.2011 – IX ZR 9/10, Rz. 17, ZIP 2011, 1111 = NZI 2011, 536 m. w. N.

7)

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Weise auszustatten, dass sie stets in der Lage ist, ihren finanziellen Verbindlichkeiten zu genügen. Die „weiche“ Patronatserklärung bereitet in der Insolvenz des Patrons keine besonderen Schwierigkeiten, insbesondere erübrigt sich wegen ihrer fehlenden Verbindlichkeit die Frage nach ihrer gläubigerbenachteiligenden Wirkung und damit auch ihrer Anfechtbarkeit. Die folgenden Überlegungen sollen sich daher auf die „harte“ Patronatserklärung konzentrieren. 2. Formulierungsbeispiele aus der Praxis In der Praxis begegnen einem unter der Überschrift „Patronatserklärung“ Erklärungen mit ganz unterschiedlichen Formulierungen. Häufig sind z. B. Formulierungen, mit denen die Einflussnahme auf die Geschäftsführung und die hinreichende finanzielle Ausstattung versprochen werden: „Die X-Gesellschaft (Patron) übernimmt hiermit unwiderruflich die uneingeschränkte Verpflichtung, auf die Y-Gesellschaft (Protegé) in der Weise Einfluss zu nehmen und diese finanziell so auszustatten, dass sie stets in der Lage ist, ihre gegenwärtigen und zukünftigen Verpflichtungen aus ihrer Geschäftstätigkeit nachzukommen.“ „Die X-Gesellschaft (Patron) verpflichtet sich, dafür zu sorgen, dass die Y-Gesellschaft (Protegé) während der Zeit, in der sie den von der Z-Bank gewährten Kredit in Anspruch nimmt, in der Weise geleitet und finanziell ausgestattet wird, dass sie jederzeit 8) in der Lage ist, ihre Verpflichtungen aus dem Kreditvertrag pünktlich zu erfüllen.“

Hier wird neben der Einflussnahme auf die Geschäftsführung auch die hinreichende finanzielle Ausstattung versprochen, und zwar in der ersten Variante insgesamt hinsichtlich sämtlicher Verbindlichkeiten und in der zweiten Variante hinsichtlich eines bestimmten Kreditverhältnisses. Die Erklärung in der zweiten Variante wird typischerweise gegenüber dem Gläubiger des bestimmten Kreditverhältnisses direkt abgegeben, während die Erklärung in der ersten Variante in der Praxis nicht selten auch nur im Innenverhältnis zwischen Mutter- und Tochtergesellschaft abgegeben wird. Dem Sachverhalt der Entscheidung des Bundesgerichtshofes in dem vielbeachteten Fall „STAR21“ lag noch eine weitere Variante der Patronatser-

8)

Vgl. BGH, Beschl. v. 12.1.2017 – IX ZR 95/16, ZIP 2017, 337 = NZI 2017, 157, m. Anm. Burmeister/Tasma: „Wir, die alleinige Gesellschafterin der S-GmbH, verpflichten uns hiermit, der S-GmbH die notwendigen finanziellen Mittel zur Verfügung zu stellen, dass sie ihrerseits den vertraglichen Verpflichtungen gemäß mit ihrem Haus vereinbarten Zahlungsplan einhalten kann.“

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klärung zugrunde, die in der Praxis ebenfalls recht verbreitet ist. Dort heißt es (leicht angepasst und gekürzt wiedergegeben):9) „Im Falle der Zahlungsunfähigkeit sowie im Falle der Überschuldung der Y-Gesellschaft (Protegé) ist die X-Gesellschaft (Patron) auf schriftliche Anforderung der YGesellschaft (Protegé) hin verpflichtet, Verbindlichkeiten der Y-Gesellschaft (Protegé), sobald sie fällig geworden sind, in dem Umfange zu erfüllen, als dies zur Beseitigung der Überschuldung oder zur Vermeidung der Zahlungsunfähigkeit erforderlich ist.“

In dieser Variante begründet die Unterstützungserklärung eine unmittelbare Verpflichtung des Patrons zur Zahlung auf eine Schuld des Protegés an den Gläubiger. Es geht nicht um eine Gewähr der hinreichenden Liquiditätsausstattung der Tochtergesellschaft, damit diese ihre eigene Schuld begleichen kann. Hinzu kommt die klare Formulierung der Zwecksetzung der Patronatserklärung, die zugleich die Grenzen der Einstandspflicht zieht. Die Zahlungsverpflichtung besteht nämlich nur, wenn und soweit sie zur Beseitigung der Überschuldung oder zur Vermeidung der Zahlungsunfähigkeit erforderlich ist. Diese vorgenannten Formulierungen sind jedoch – wie bereits betont wurde – nur beispielhaft für die ganz unterschiedlich formulierten Unterstützungserklärungen, die zudem auch vereinzelt stark auslegungsbedürftig sind. 3. Vertragstypologische Einordnung der Patronatserklärungen Im Schrifttum und auch in einzelnen Entscheidungen der Rechtsprechung finden sich immer wieder auch Ansätze einer vertragstypologischen Einordnung der Patronatserklärung. Die Patronatserklärung, in welcher der Patron dem Protegé Liquiditätszusagen macht, wird teilweise als aufschiebend bedingtes Darlehensversprechen angesehen.10) Bisweilen wird die Verpflichtung aus der Patronatserklärung auch allgemein als ein der Bürgschaft oder Garantieerklärung vergleichbares Sicherungsmittel angesehen.11) Es fragt sich, welche Bedeutung eine solche vertragstypologische Einordnung hat. Ein Vertragstyp erfasst eine Struktur, er hat abstrahierende, normative Züge. Die vertragstypologische Einordnung kann für die Bestimmung der vertraglichen Haupt- und Nebenleistungspflichten der Vertragspartner und die Konsequenzen einer Pflichtverletzung des Vertrags hilfreich 9) 10) 11)

BGH, Urt. v. 20.9.2010 – II ZR 296/08 (STAR 21), ZIP 2010, 2092 = NZI 2010, 952. BGH, Urt. v. 20.9.2010 – II ZR 296/08 (STAR 21), Rz. 31, ZIP 2010, 2092 = NZI 2010, 952. BGH, Urt. v. 8.5.2003 – IX ZR 334/01, ZIP 2003, 1097 = NZI 2003, 434; BGH, Urt. v. 30.1.1992 – IX ZR 112/91, BGHZ 117, 127, 132 = ZIP 1992, 338.

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sein. Allerdings gewährt das BGB Typenfreiheit und erlaubt auch typengemischte Verträge und sogar Verträge ganz jenseits der Typenbildung des BGB. Eine vertragstypologische Einordnung der Patronatserklärungen kann daher auch irreführend sein, nicht zuletzt angesichts der großen Unterschiede hinsichtlich ihres Inhalts in der Praxis. Die häufige Verpflichtung des Patrons, stets für eine hinreichende finanzielle Ausstattung des Protegés zu Sorgen, lässt die Art und Weise der Ausstattung des Protegés durch den Patron sogar schlicht offen. Bei der Beantwortung der Frage der Entgeltlichkeit bzw. Unentgeltlichkeit der Patronatserklärung und der auf ihrer Grundlage oder in ihrem Zusammenhang bewirkten Leistungen soll daher der Leistungsinhalt der Patronatserklärung näher in den Blick genommen werden. Dieser Blick soll nicht durch eine allzu voreilige vertragstypologische Einordnung der Patronatserklärungen verstellt werden. III. Bestimmung des Leistungsinhalts der Patronatserklärung Angesicht dieser hier eingangs dargestellten Vielfalt und Vielschichtigkeit von Patronatserklärungen kommt in der Praxis der Auslegung der vorgefundenen Patronatserklärung besonderer Bedeutung zu. Die schuldrechtliche Leistungspflicht i. S. von § 241 Abs. 1 BGB setzt neben der Bekanntheit oder doch wenigstens Feststellbarkeit der Vertragsparteien einen bestimmten oder doch wenigstens bestimmbaren Leistungsinhalt voraus. Der von den Vertragsparteien gewollte Leistungsinhalt ist durch Auslegung nach §§ 133, 157 BGB zu ermitteln. Die Vertragsparteien und auch die Gläubiger- und Schuldnerrollen sind bei der „harten“ Patronatserklärung mit Ausstattungszusage des Patrons gegenüber dem Protegé klar bestimmt. Dagegen ist der konkrete Leistungsinhalt der in der Praxis üblichen Patronatserklärungen häufig – zumindest auf den ersten Blick – nicht genau erkennbar. 1. Erfolgsbezogene Leistung des Patrons Der Patron verspricht regelmäßig die Leistungsfähigkeit des Protegés und die zu ihrer Herstellung erforderliche Ausstattung des Protegés mit hinreichend finanziellen Mitteln. Die Art und Weise, auf der der Patron diese Mittelausstattung bewirkt, ist jedoch in der Patronatserklärung in den allermeisten Fällen offengelassen. Denkbar sind alle Arten der Zuführung von Eigen- oder Fremdkapital durch den Patron, z. B. die Ausreichung

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eines Gesellschafterdarlehens oder von Hybridkapital sowie die Einlageleistung im Zuge effektiver Kapitalerhöhung oder in die freie Kapitalrücklage. Die Leistungsfähigkeit kann aber auch in der Weise hergestellt werden, dass von Dritter Seite finanzielle Mittel an den Protegé fließen. So kann der Patron auch lediglich seinen rechtlichen Einfluss auf den Protegé dergestalt ausüben, dass dieser z. B. zu einem Verkauf von nicht betriebsnotwendigen Vermögensgegenständen oder auch ganzen Betriebsteilen oder Beteiligungen angewiesen wird oder finanzielle Mittel durch Saleand-lease-Back-Transaktionen oder Factoring und Fortfaitierung generiert. Mit anderen Worten: Das Ziel der hinreichenden Mittelausstattung ist klar, der Weg dorthin offengelassen. Mit Blick auf den Inhalt der Leistungspflicht des Patrons wird wegen dieser Offenheit der Patronatserklärung hinsichtlich der konkreten Art und Weise der Mittelausstattung daher vereinzelt auch von einer Wahlschuld oder Wahlschuld sui generis i. S. von §§ 262 ff. BGB gesprochen.12) Eine Wahlschuld gemäß § 262 BGB ist dadurch gekennzeichnet, dass mehrere Leistungen in der Weise geschuldet werden, dass nur die eine oder die andere zu bewirken ist. Legt man dieses Verständnis einer Wahlschuld zugrunde, würde der Leistungsinhalt der Patronatserklärung von Beginn an alle Wege der Mittelausstattung umfassen13) und erst die Ausübung des Wahlrechts würde dann nach § 263 Abs. 2 BGB bewirken, dass der gewählte Weg der Mittelausstattung als die von Anfang an allein geschuldete Leistung gilt. Ein solches Verständnis von der Patronatserklärung und der Maßnahme, welche die finanzielle Mittelausstattung des Protegés bewirken soll, i. S. einer Wahlschuld oder Wahlschuld sui generis i. S. von §§ 262 ff. BGB ist jedoch irreführend. Der Leistungsinhalt der Patronatserklärung und der Leistungsinhalt eines etwaigen Rechtsgeschäfts, das zum Zwecke der Herstellung der Leistungsfähigkeit des Protegés abgeschlossen wird, sind vielmehr auseinanderzuhalten und getrennt zu betrachten. Eine geschuldete Leistung i. S. von § 241 Abs. 1 BGB kann ganz grundsätzlich auch in der Herbeiführung eines Erfolgs liegen. Mit Blick auf die Patronatserklärung ist ein ebensolcher Leistungserfolg geschuldet, keine konkrete Leis-

12) 13)

Kohout, Patronatserklärungen, 1984, S. 136, 138; Stecher, „Harte“ Patronatserklärungen, 1987, S. 98; zum Ganzen auch La Corte, Die harte Patronatserklärung, 2006, S. 338 ff. Vgl. statt vieler etwa Krüger in: MünchKomm-BGB, 8. Aufl. 2019, § 262 Rz. 2: „Die schuldrechtliche Bindung umfasst zunächst alle Einzelleistungen.“

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tungshandlung.14) Der von dem Patron versprochene Leistungserfolg ist in den allermeisten Varianten der Patronatserklärung ein bestimmter „Zustand“, den er herzustellen hat, nämlich den Zustand der Leistungsfähigkeit, in dem der Protegé zu jeder Zeit über hinreichend finanzielle Mittel verfügt, die zur Deckung einer bestimmten Verbindlichkeit oder aller seiner fälligen Verbindlichkeiten und der Abwendung seiner materiellen Insolvenz vonnöten sind. Der Umstand, dass die Patronatserklärung offenlässt wie dieser Zustand der Leistungsfähigkeit herzustellen ist, begründet keine Unbestimmtheit des Leistungsinhalts. In Ermangelung einer „Lücke“ gibt es auch keinen Bedarf der „Lückenschließung“ etwa durch Ausübung einer Wahl i. S. von § 263 BGB oder eines einseitigen Leistungsbestimmungsrechts i. S. von § 315 BGB. Der Wille der Vertragsparteien ist vielmehr eindeutig auf die Begründung einer Erfolgsschuld gerichtet. Der geschuldete Erfolg ist hingegen hinreichend bestimmt. Der Patron schuldet nicht wahlweise eine von mehreren Ausstattungsvarianten, sondern schlicht die Leistungsfähigkeit des Protegés als Erfolg. Wie beim Werkvertrag als dem paradigmatischen Fall der Erfolgsschuld ist die Frage der Art und Weise der Herstellung des geschuldeten Erfolgs nicht Teil der Vereinbarung und damit auch nicht Teil des geschuldeten Leistungsinhalts. Dasselbe gilt für das Garantieversprechen, mit dem der Eintritt eines bestimmten Erfolges auch ganz ohne jeden Einfluss darauf garantiert werden kann.15)

14) 15)

In diesem Zusammenhang wird auch eine Parallele zum Anspruch aus Werkvertrag gezogen, der ebenfalls auf einen bestimmten Erfolgt gerichtet ist. Als Kontrollüberlegung kann man sich fragen, wie im Fall der prozessualen Geltendmachung der Ansprüche aus der Patronatserklärung durch den Protegé der Klagantrag bzw. der Tenor lauten würde (dazu ausführlich La Corte, Die harte Patronatserklärung, 2006, S. 343 ff.). Bestehen für den Schuldner zur Herbeiführung eines von ihm geschuldeten Erfolgs mehrere Handlungsmöglichkeiten, kann ein auf die Erfüllung der Verpflichtung gerichteter Antrag des Gläubigers weit gefasst sein (statt vieler BeckerEberhard in: MünchKomm-ZPO, 5. Aufl. 2016, § 253 Rz. 140; vgl. etwa BAG, Beschl. v. 29.4.2004 – 1 ABR 30/02, NZA 2004, 671, jeweils m. w. N.). In der Konstellation der „harten“ internen Patronatserklärung kann ein Tenor beispielsweise wie folgt formuliert werden: „Die Beklagte (Patron) wird verurteilt, die XY-Gesellschaft (Protegé) unverzüglich finanziell so auszustatten, dass sie ihre Verbindlichkeiten [ggf. näher bestimmte Verbindlichkeiten gegenüber einem bestimmten Gläubiger oder gegenüber mehreren bestimmten Gläubigern] erfüllen kann, und in dieser Weise ausgestattet zu halten.“ So der Tenorierungsvorschlag von Koch, Die Patronatserklärung, 2005, S. 245; siehe auch Schröder, Die „harte“ Patronatserklärung – verschleierte Bürgschaft/Garantie oder eigenständiger Kreditsicherungstyp?, ZGR 1982, 552, 559.

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2. Gegenleistung des Protegés oder Gläubigers Die in der Praxis regelmäßig abgegebenen „internen“ Patronatserklärungen sehen keine Gegenleistung i. S. der §§ 320 ff. BGB des Protegés für den versprochenen Erfolg (d. h. die hinreichende finanzielle Ausstattung) vor. Für die „externe“ Patronatserklärung, die der Patron gegenüber einem bestimmten Gläubiger oder allen Gläubigern des Protegés abgibt, gilt derselbe Befund: Die Patronatserklärung wird abgegeben, ohne dass die Gläubiger für die Abgabe eine Gegenleistung i. S. der §§ 320 ff. BGB an den Patron zu erbringen haben.16) Das ist mit Blick auf das Ausstattungsgeschäft, auf dessen Grundlage von dem Patron eine bestimmte Leistung an den Protegé erbracht wird, indes regelmäßig anders. In den in der Praxis häufig gewählten Ausstattungsvarianten der Einlageleistung auf Grundlage eines Übernahmevertrages im Zusammenhang mit einer effektiven Kapitalerhöhung, der Zahlung auf Grundlage eines Darlehensvertrags oder der Zahlung auf Grundlage mezzaniner Finanzierungsinstrumente wie z. B. der stillen Beteiligung ist der Protegé nach diesen Ausstattungsgeschäften zu einer Gegenleistung i. S. der §§ 320 ff. BGB verpflichtet. Dagegen wäre z. B. die Zahlung eines „verlorenen Zuschusses“ in die freie Kapitalrücklage ohne Gegenleistung des Protegés geleistet. 3. Geschäftszweck und Rechtsgrund der Patronatserklärung Die Patronatserklärung dient der Unterstützung des Protegés. Da die Unterstützung auf ganz unterschiedlichen Wegen erreicht werden kann und auch vor unterschiedlichem Hintergründen erfolgen kann, können sich auch die Geschäftszwecke von Patronatserklärungen von Fall zu Fall immer etwas unterscheiden. Die Patronatserklärung trägt ihren Geschäftszweck aber stets in sich. Im Fall der externen Patronatserklärung, die gegenüber einem bestimmten Gläubiger des Protegés im Hinblick auf eine bestimmte Forderung dieses Gläubigers abgegeben wird, steht z. B. der Zweck der Kreditsicherung im Vordergrund. Dagegen dient die interne Patronatserklärung regelmäßig der Vermeidung des Eintritts einer Zahlungsunfähigkeit und sichert damit auch die positive Fortführungsprognose des Prote16)

Eine andere Frage ist es, ob der Gläubiger im Verhältnis zum Protegé als Begünstigten ein „Vermögensopfer“ erbringt und ob dieses mit der Leistung des Patrons zumindest konditionell oder kausal verknüpft ist, siehe dazu im Folgenden noch unter IV.2.b)aa).

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gés. Es geht mithin nicht um die Sicherung eines bestimmten Kredits, sondern um die Wahrung oder Wiederherstellung der Kreditwürdigkeit des Protegés und den Schutz der Gläubigergesamtheit. Von dieser inneren causa als Zweck des Rechtsgeschäfts ist die äußere causa als Rechtsgrund i. S. von § 812 BGB zu unterscheiden.17) Auch den Rechtsgrund liefert die Patronatserklärung selbst, macht den Anspruch auf Herbeiführung des Leistungserfolgs mithin kondiktionfest. Der Geschäftszweck und der Rechtsgrund müssen bei diesem Verständnis nicht einer gesonderten Abrede sui generis entnommen werden. Dies ist mithin vergleichbar mit den Rechtsverhältnissen bei den Personalsicherheiten (Bürgschaft und Garantie), die ebenfalls Geschäftszweck und Rechtsgrund in sich tragen und konstruktiv ohne Sicherungsabrede auskommen,18) und anders als bei den Realsicherheiten, deren Rechtsgrund und Geschäftszweck der Sicherungsabrede als Vertragstyp sui generis zu entnehmen sind.19) Je nachdem, ob es sich um eine interne oder eine externe Patronatserklärung handelt, sind der Geschäftszweck und der Rechtsgrund der erfolgsbezogenen Leistungspflicht des Patrons demnach im Verhältnis zum Protegé (bei interner Patronatserklärung) oder im Verhältnis zum Gläubiger des Protegés (bei externer Patronatserklärung) zu finden. Im Fall der externen Patronatserklärung fragt sich noch, was Grund(-lage) der Patronatserklärung im Verhältnis von Patron und Protegé sowie im Verhältnis von Protegé und Gläubiger ist: Im Verhältnis von Patron und Protegé liegt der Abgabe der externen Patronatserklärung gegenüber einem Gläubiger oder aller Gläubiger des Protegés regelmäßig ein Auftrag i. S. von §§ 662 ff. BGB oder ein Geschäftsbesorgungsvertrag i. S. von § 675 BGB zugrunde (die Einordnung des Rechtsverhältnisses zwischen Patron und Protegé im Fall der externen Patronatserklärung spielt vor dem Hintergrund eines möglichen Regeressanspruchs des Patrons eine Rolle, dazu unten IV.4.b)bb)). Im Verhältnis zwischen Protegé und seinen Gläubiger wurden bzw. werden völlig eigenständige Schulden auf ganz unterschiedlichen Grundlagen begründet. Zusätzlich kann hier mit Blick auf einzelne bestimmte Verbind17) 18) 19)

Zu dieser Unterscheidung siehe Larenz/Canaris, Lehrbuch des Schuldrecht BT, Bd. 2, 13. Aufl. 1994, § 60 I. 3. e). Statt vieler Habersack in: MünchKomm-BGB, 7. Aufl. 2017, § 765 Rz. 2 und 3. Statt vieler Oechsler in: MünchKomm-BGB, 7. Aufl. 2017, Anh. §§ 929 – 936 Rz. 25 (Sicherungseigentum und Sicherungsübereignung).

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lichkeiten eine Abrede zur Beschaffung der Patronatserklärung getroffen worden sein, und zwar gerichtet auf die Pflicht oder Obliegenheit des Protegés zur Vorlage eines Patronatserklärung durch die Muttergesellschaft als Patronin (z. B. als Voraussetzung für die Auszahlung eines bestimmten Darlehens).20) Eine solche Abrede ist aber nicht zwingend. Die Patronatserklärung kann auch ohne oder sogar gegen den Willen des Protegés abgegeben werden. 4. Zwischenergebnis Der Patron schuldet im Regelfall einen bestimmten Leistungserfolg, nämlich die hinreichende finanzielle Ausstattung des Protegés. Die Patronatserklärung trägt ihren Geschäftszweck und auch ihren Rechtsgrund i. S. von § 812 BGB in sich. Die Art und Weise der Ausstattung ist in der Patronatserklärung häufig offengelassen und der Patron kann insoweit frei entscheiden, solange nur der geschuldete Leistungserfolg eintritt. Die Patronatserklärung ist insoweit von dem Ausstattungsgeschäft, auf dessen Grundlage von dem Patron eine bestimmte Leistung an den Protegé erbracht und damit der geschuldete Erfolg letztlich herbeigeführt wird, strikt zu trennen. Nur in Fällen, in denen die Patronatserklärung selbst auch konkrete handlungsbezogene Leistungspflichten (z. B. Pflicht zur direkten Zahlung an einen bestimmten Gläubiger des Protegés) begründet, ist die Patronatserklärung selbst auch die Grundlage für die konkrete Leistungserbringung und es bedarf keines weiteren Ausstattungsgeschäfts. Für die Abgabe der Patronatserklärung schulden im Regelfall weder der Protegé aufgrund einer internen Patronatserklärung noch der oder die Gläubiger des Protegés aufgrund einer externen Patronatserklärung dem Patron eine Gegenleistung i. S. von §§ 320 ff. BGB. Das ist mit Blick auf das Ausstattungsgeschäft, auf dessen Grundlage von dem Patron eine bestimmte Leistung an den Protegé erbracht wird, regelmäßig anders.

20)

Die Abrede zur Beschaffung einer Patronatserklärung kann separate Verpflichtung sein oder auch Teil eines Kreditvertrags. Im Zusammenhang mit der Bürgschaft und der Garantie wird ebenfalls davon ausgegangen, dass im Verhältnis von Hauptschuldner und Gläubiger eine Sicherheitenabrede bzw. präziser eine „Sicherheitenbeschaffungsabrede“ vorliegen kann, siehe etwa Habersack in: MünchKomm-BGB, 7. Aufl. 2017, § 765 Rz. 8.

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Nicht zuletzt deshalb sind Patronatserklärung und Ausstattungsgeschäft strikt voneinander zu trennen. IV. Gewährt der Patron eine unentgeltliche Leistung? In der Insolvenz des Patrons stellt sich aus Sicht des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Patrons die Frage nach der Unentgeltlichkeit der Patronatserklärung selbst bzw. der Ausstattung, die in Erfüllung der erfolgsbezogenen Verpflichtung aus der Patronatserklärung bereits gewährt wurde oder auf deren Vornahme noch ein Anspruch besteht. Diese Frage stellt sich je nach Anknüpfungspunkt als „Rangfrage“ oder als „Anfechtungsfrage“ (dazu unten 1.). Die „Rangfrage“ stellt sich nur mit Blick auf eine noch nicht erfüllte Forderung auf eine unentgeltliche Leistung, während sich die „Anfechtungsfrage“ auf die Ausstattungsleistung, die in Erfüllung der erfolgsbezogenen Verpflichtung aus der Patronatserklärung bereits gewährt wurde, beziehen kann (dazu unten 3.) oder auf die Patronatserklärung selbst (dazu unten 4.). 1. Unentgeltlichkeit als „Anfechtungsfrage“ oder „Rangfrage“ Die eingangs bereits betonte Notwendigkeit einer strikten Trennung zwischen einerseits der Patronatserklärung und der auf ihrer Grundlage bestehenden Ansprüche gegen den Patron, andererseits den Leistungen, die der Patron auf der Grundlage eines weiteren Ausstattungsgeschäfts erbracht hat, hat nicht nur Bedeutung für die Beurteilung der Unentgeltlichkeit auf Tatbestandsseite, sondern wirkt sich auch mit Blick auf die Rechtsfolge aus bzw. bestimmt die richtige normative Anknüpfung der Frage nach der Unentgeltlichkeit. Denn die Frage nach der Unentgeltlichkeit kann eine „Rangfrage“ oder eine „Anfechtungsfrage“ sein: Hat der Patron seine erfolgsbezogene Pflicht zur Ausstattung des Protegés im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über sein Vermögen noch nicht erfüllt, entscheidet die Antwort auf die Frage nach der Unentgeltlichkeit der Patronatserklärung über den Rang etwaiger Forderungen des Protegés (bei interner Patronatserklärung) bzw. des Gläubigers oder der Gläubiger (bei externer Patronatserklärung) in der Insolvenz des Patrons. Nach § 39 Abs. 1 Nr. 4 InsO kann für Forderungen auf eine unentgeltliche Leistung des Patrons in dessen Insolvenzverfahren nur nachrangig Befriedigung erlangt werden. Eine Anmeldung solcher Forde-

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rungen auf eine unentgeltliche Leistung des Patrons erfolgt gemäß § 174 Abs. 3 Satz 1 InsO nur, wenn eine Ausschüttung auch an die nachrangigen Gläubiger in Betracht kommt und das Insolvenzgericht gesondert zur Anmeldung dieser Forderungen auffordert. Da die Vollbefriedigung der „einfachen“ Insolvenzgläubiger i. S. des § 38 InsO in der Praxis die absolute Ausnahme ist, ergeht diese Aufforderung nach § 174 Abs. 3 Satz 1 InsO nur äußerst selten.21) Hat der Patron hingegen zum Zwecke der Erfüllung seiner erfolgsbezogenen Pflicht aus der Patronatserklärung im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über sein Vermögen bereits Ausstattungsleistungen an den Protegé erbracht, bezieht sich die Frage nach der Unentgeltlichkeit auf die zum Zwecke der Ausstattung konkret bewirkten Leistungen. Im Regelfall wird die Ausstattungsleistung auf Grundlage eines eigenständigen Ausstattungsgeschäfts erbracht, kann aber ausnahmsweise auch auf Grundlage der Patronatserklärung selbst erbracht worden sein. Handelt es sich bei der Ausstattungsleistung um eine unentgeltliche Leistung des Patrons, kann diese in dessen Insolvenz im Fall ihrer Unentgeltlichkeit nach § 134 InsO angefochten werden. Der Tatbestand der sog. Schenkungsanfechtung nach § 134 InsO ist wegen seines vierjährigen Anfechtungszeitraums und dem Fehlen von oftmals nur schwer nachweisbaren subjektiven Tatbestandsmerkmalen besonders „schneidig“.22) 2. Auslegung des Begriffs der „unentgeltlichen Leistung“ Nach § 134 InsO anfechtbar ist eine „unentgeltliche Leistung“ des Schuldners, die er innerhalb der letzten vier Jahre vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorgenommen hat. Nach § 39 Abs. 1 Nr. 4 InsO sind Forderungen auf eine „unentgeltliche Leistung“ des Schuldners nachrangig. Zentrales Merkmal beider Tatbestände und Schlüssel zur Antwort auf die vorgenannte „Nachrangfrage“ und „Anfechtungsfrage“ ist damit die „unentgeltliche Leistung“. 21)

22)

Nach überwiegender Ansicht meldet der Protegé in der Insolvenz des Patrons nicht den Anspruch auf Erfüllung der Ausstattungsverpflichtung zur Insolvenztabelle an, sondern einen Schadenersatzanspruch wegen der Nichterfüllung der Ausstattungsverpflichtung und der Insolvenzauslösung. Dazu und zu der Frage, ob der Nachrang des § 39 Abs. 1 Nr. 4 InsO auch für diesen Sekundäranspruch gilt noch im Folgenden unter V.2. Der Jubilar hat die Anfechtung nach § 134 InsO vor diesem Hintergrund auch als „Allzweckwaffe“ bezeichnet (wohlweislich aber mit einem Fragezeichen versehen), siehe Kayser, ZIP 2019, 293.

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a) Einheitliches Begriffsverständnis Vorab ist festzuhalten, dass der Begriff der Unentgeltlichkeit in § 39 Abs. 1 Nr. 4 InsO und in § 134 InsO nach ganz überwiegender Ansicht im Schrifttum, welcher der Bundesgerichtshof gefolgt ist, einheitlich auszulegen ist.23) Die Begründung einer Unentgeltlichkeit mit Blick auf § 134 InsO ist daher auch auf § 39 Abs. 1 Nr. 4 InsO übertragbar. Für die einheitliche Auslegung des Begriffs der Unentgeltlichkeit spricht vor allem, dass die Ratio des Anfechtungstatbestands des § 134 InsO dieselbe ist wie die Ratio des Nachrangs nach § 39 Abs. 1 Nr. 4 InsO. In mehreren Entscheidungen hat der Bundesgerichtshof zum Normzweck des § 134 InsO festgehalten, dass die Regelung des § 134 InsO die Gläubiger entgeltlich begründeter Rechte gegen die Folgen unentgeltlicher Verfügungen des Schuldners innerhalb eines bestimmten Zeitraums vor Insolvenzeröffnung schützen will.24) Die Interessen der durch eine unentgeltliche Leistung Begünstigten sollen den Interessen der Gläubigergesamtheit weichen. Der § 134 InsO ist mithin Ausdruck der „Schwäche des unentgeltlichen Erwerbs“, welche das gesamte Zivilrecht durchzieht (siehe hierfür etwa §§ 528, 530, 816 Abs. 1 Satz 2, §§ 822, 988 BGB).25) Aus demselben Grund sollen Forderungen auf eine unentgeltliche Leistung des Schuldners nach § 39 Abs. 1 Nr. 4 InsO in der Insolvenz nur nachrangig befriedigt werden. Rechtsprechung und Schrifttum nehmen zur Auslegung des Begriffs der Unentgeltlichkeit in den allermeisten Fällen vor dem Hintergrund des Tatbestands des § 134 InsO Stellung. Im Folgenden wird daher auch hier im Wesentlichen auf die Stellungnahmen im Zusammenhang mit § 134 InsO rekurriert werden. b) Weites Begriffsverständnis Inhaltlich ist der Begriff der „Leistung“ nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes und der ganz überwiegenden Meinung im Schrifttum 23)

24)

25)

BGH, Urt. v. 13.3.2008 – IX ZR 117/07, Rz. 7, ZIP 2008, 975 = NZI 2008, 369; Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 39 Rz. 28; K. Schmidt/Herchen in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 39 Rz. 16. Siehe etwa jüngst BGH, Urt. v. 20.4.2017 – IX ZR 252/16, BGHZ 214, 350 = ZIP 2017, 1233; siehe zum Normzweck auch Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 134 Rz. 1. Siehe für eine dezidierte Auseinandersetzung mit dem Normzweck Bork, Die Anfechtung unentgeltlicher Leistungen nach § 134 InsO, NZI 2018, 1, 2 m. w. N.

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weit zu verstehen.26) Er umfasst nicht nur Verfügungen, sondern auch verpflichtende Rechtsgeschäfte.27) Ausreichend ist demnach, dass die Handlung das Vermögen des Schuldners mindert, indem es die Aktivmasse verkürzt oder die Passivmasse vergrößert. Letzteres ist bei der Begründung von vertraglichen Verpflichtungen der Fall. Die Ratio des § 134 InsO gebietet nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ebenso eine weite Auslegung des Begriffs der Unentgeltlichkeit.28) Unentgeltlich ist hiernach eine Leistung, wenn für sie vereinbarungsgemäß keine Gegenleistung, sei es an den Leistenden, sei es an einen Dritten, erbracht wird, der Leistungsempfänger also keine eigene Rechtsposition aufgibt, die der Leistung objektiv entspricht.29) aa) Synallagmatische, konditionale oder kausale Verknüpfung Die Gegenleistung muss nach der vorgenannten Definition der Unentgeltlichkeit „vereinbarungsgemäß“ erbracht werden. Es schließt mithin nicht jede Vermögenseinbuße, die der Leistungsempfänger im Zusammenhang mit der Leistung erleidet, die Entgeltlichkeit aus. Die Gegenleistung des Leistungsempfängers muss allerdings mit der Leistung des Patrons auch nicht i. S. der §§ 320 ff. BGB verknüpft sein. Eine solche synallagmatische Verknüpfung ist zwar hinreichende, nicht aber notwendige Bedingung für die Annahme einer Gegenleistung nach dem Inhalt der Vereinbarung. Der Bundesgerichtshof hat vielmehr betont, dass auch eine „freiwillige Leistung“ die Entgeltlichkeit zu begründen vermag.30) Gemeint ist hiermit eine Gegenleistung, auf die der Patron zwar keinen Anspruch hat, die aber

26)

27) 28) 29)

30)

Siehe etwa BGH, Urt. v. 3.3.2005 – IX ZR 441/00, Rz. 14, ZIP 2005, 767 = NZI 2005, 323, m. Anm. Gundlach/Frenzel; Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 134 Rz. 5; Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 134 Rz. 14, jeweils m. w. N. BGH, Urt. v. 26.4.2012 – IX ZR 146/11 (Karstadt-Arcandor), Rz. 38, ZIP 2012, 1183 = NZI 2012, 562; BGH, Urt. v. 8.11.2012 – IX ZR 77/11, Rz. 30, WM 2012, 2340. Siehe etwa BGH, Urt. v. 5.3.2015 – IX ZR 133/14, Rz. 49, BGHZ 204, 231 = ZIP 2015, 638, m. Anm. Bitter/Heim. Ständige Rechtsprechung, siehe etwa BGH, Urt. v. 26.4.2012 – IX ZR 146/11 (KarstadtArcandor), Rz. 39, ZIP 2012, 1183 = NZI 2012, 562; siehe zum Begriff der Unentgeltlichkeit im Zwei-Personen-Verhältnis etwa BGH, Urt. v. 15.9.2016 – IX ZR 250/15, Rz. 19, ZIP 2016, 2329 = NZI 2017, 68, m. Anm. Lütcke. Siehe etwa BGH, Urt. v. 26.4.2012 – IX ZR 146/11 (Karstadt-Arcandor), Rz. 39, ZIP 2012, 1183 = NZI 2012, 562.

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mit seiner Leistung wenn schon nicht synallagmatisch i. S. der §§ 320 ff. BGB, so doch wenigstens konditional oder kausal verknüpft ist.31) Eine konditionale Verknüpfung liegt vor, wenn die Leistungspflicht nur unter der Bedingung i. S. von § 158 BGB begründet wird, dass der Leistungsempfänger seinerseits eine Gegenleistung erbringt. Der Leistende hat in dieser Konstellation keinen Anspruch auf die Gegenleistung. Die Erbringung der Gegenleistung erfolgt vielmehr freiwillig. Tritt infolge der Erbringung der Gegenleistung die Bedingung für die Leistung ein, wird zugleich der Rechtsgrund für das Behaltendürfen der Leistung i. S. von § 812 Abs. 1 Satz 1 BGB gelegt.32) Im Hinblick auf Sachverhalte der bloßen kausalen Verknüpfung von Leistung und Gegenleistung begegnen einem in der Praxis häufig Abgrenzungsschwierigkeiten. Die kausale Verknüpfung verlangt, dass eine Leistung (auch) deshalb erbracht wird, um den Leistungsempfänger zur Erbringung einer nicht geschuldeten Gegenleistung zu bewegen. Die kausale Verknüpfung muss aber so eng sein, dass der Leistende seine Leistung nach § 812 Abs. 1 Satz 2 Alt. 2 BGB kondizieren kann, falls die Gegenleistung wider Erwarten ausbleibt. Dies setzt aber zwischen dem Leistenden und dem Leistungsempfänger eine zumindest konkludente Einigung voraus, nach der der Leistungsempfänger die Leistung nur im Hinblick auf die von ihm erwartete Gegenleistung erhält (ohne damit freilich zugleich einen Anspruch auf diese Gegenleistung zu begründen).33) Eine konditionale oder kausale Verknüpfung in dem vorgenannten Sinne sorgt dafür, dass das Behaltendürfen der Leistung von der Erbringung der Gegenleistung abhängt. Insofern begründen die konditionale oder kausale Verknüpfung wie die synallagmatische Verknüpfung von Leistung und Gegenleistung nicht den Vorwurf, der Leistende hätte durch seine Leistungserbringung sein Vermögen unter Missachtung des Grundsatzes der Gläubigergleichbehandlung zugunsten des Leistungsempfängers geschmälert, weil die endgültige Vermögeneinbuße durch die Leistung von der Erbringung der Gegenleistung abhängt.

31)

32) 33)

BGH, Urt. v. 8.12.2016 – IX ZR 257/15, Rz. 42, ZIP 2017, 91 = NZI 2017, 105; Bork in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, 69. EL 11/2016, § 134 Rz. 37; Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 134 Rz. 19. Emmerich in: MünchKomm-BGB, 8. Aufl. 2019, Vor § 320 Rz. 8. Schwab in: MünchKomm-BGB, 7. Aufl. 2017, § 812 Rz. 450.

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bb) Wirtschaftliches Eigeninteresse Den zuvor genannten Varianten der Verknüpfung von Leistung und Gegenleistung in synallagmatischer, konditionaler oder kausaler Art ist gemeinsam, dass ihnen stets eine Vereinbarung zugrunde liegt. Die Erwartung des Leistenden gerichtet auf eine Gegenleistung darf nicht bloßes Motiv oder einseitige Zweckbestimmung sein.34) Ganz in diesem Sinne lässt sich die Entgeltlichkeit einer Leistung nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes im Insolvenzrecht nicht damit begründen, dass der Leistende mit der Leistung ein wirtschaftliches Eigeninteresse verfolgt.35) Ebenso wird im Schrifttum darauf hingewiesen, dass freigiebige Zuwendungen, die in der Hoffnung auf einen künftigen Vorteil gewährt werden, nicht entgeltlich sind, auch wenn sich später zeigt, dass die Hoffnung nicht unberechtigt war und der Vorteil gewährt wird (freilich ohne dass ein Anspruch auf ihn bestanden hätte).36) cc) Ausgleich „auf andere Art und Weise“ Eine vertragliche Vereinbarung der Gegenleistung ist indes nicht zwingend erforderlich. Auch ohne eine vertraglich geschuldete Gegenleistung fehlt es nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes an einer für die Unentgeltlichkeit erforderlichen kompensationslosen Minderung des schuldnerischen Vermögens, wenn der Empfänger die Leistung des Schuldners „auf andere Art und Weise“ auszugleichen hat.37) So ist z. B. eine Leistung ohne Rechtsgrund nicht etwa stets auch immer eine unentgeltliche Leistung i. S. von § 134 InsO. Denn dem Schuldner steht ein Bereicherungsanspruch nach § 812 Abs. 1 Satz 1 BGB zu, wenn er seine Leistung erbringt, weil er irrig davon ausgeht, hierzu verpflichtet zu sein (aufgrund des Irr34) 35)

36)

37)

Aus bereicherungsrechtlicher Sicht: Schwab in: MünchKomm-BGB, 7. Aufl. 2017, § 812 Rz. 450. BGH, Urt. v. 1.6.2006 – IX ZR 159/04, ZIP 2006, 1362 = NZI 2006, 524, m. Anm. Henkel (zu einem Fall der Sicherung einer fremden Forderung als unentgeltliche Leistung); BGH, Urt. v. 7.5.2009 – IX ZR 71/08, ZIP 2009, 1122 = NZI 2009, 435 (zu einem Fall des Stehenlassens einer kündbaren Darlehensforderung als unentgeltliche Leistung); siehe auch Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 134 Rz. 33a m. w. N. (auch zur früheren abweichenden Ansicht); Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 134 Rz. 76. Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 134 Rz. 17a; Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 134 Rz. 21, 127; Bork in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, 69. EL 11/2016, § 134 Rz. 38. BGH, Urt. v. 20.4.2017 – IX ZR 252/16, Rz. 12, BGHZ 214, 350 = ZIP 2017, 1233.

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tums hinsichtlich der Leistungspflicht greift auch nicht der Ausschluss nach § 814 BGB). Der Empfänger der Leistung ohne Rechtsgrund ist in diesem Fall von vornherein diesem Bereicherungsanspruch ausgesetzt, was als Ausgleich „auf andere Art und Weise“ für die Begründung der Entgeltlichkeit genügt. dd) Gedanke der Vorteilsausgleichung Eine ähnliche Frage nach der Verknüpfung von Vor- und Nachteilen einer Zuwendung stellt sich im Fall der Anfechtung nach § 134 InsO bei der Prüfung der gläubigerbenachteiligenden Wirkung der Zuwendung gemäß § 129 InsO. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zu den Grundsätzen der Vorteilsausgleichung im Insolvenzanfechtungsrecht können Vorteile die Gläubigerbenachteiligung jedoch ausnahmsweise auch dann kompensieren, wenn sie unmittelbar an die nachteiligen Wirkungen der freigiebigen Zuwendung anknüpfen. Einen solchen Unmittelbarkeitszusammenhang von Vor- und Nachteilen, der die Gläubigerbenachteiligung ausschließt, hat der Bundesgerichtshof unter strengen Voraussetzungen in einigen Fällen bereits bejaht, wenn z. B. ein für die Insolvenzmasse vorteilhafter Forderungsverzicht durch eine aufschiebende Bedingung an eine Zahlung geknüpft ist.38) In diesem Bespiel ist die Nähe zur Fallgruppe der konditionalen Verknüpfung von Leistung und Gegenleistung im Zusammenhang mit der Beurteilung der Unentgeltlichkeit offenkundig (dazu oben aa)). Ferner hat der Bundesgerichtshof die Gläubigerbenachteiligung einer Zahlung zwecks Befriedigung einer Darlehensschuld verneint, wenn der Schuldner erst durch die Tilgung der Schuld sein Unternehmen gewinnbringend veräußern konnte.39) In diesem Fall war die Zahlung tatsächliche Bedingung für den Verkauf. Fraglich ist, ob ein solcher tatsächlicher unmittelbarer Zusammenhang von Vor- und Nachteilen, der für den Ausschluss der Gläubigerbenachteiligung genügen soll, auch schon im Zusammenhang mit der Frage der Unentgeltlichkeit zu berücksichtigen sein kann. Der Unterschied zeigt sich mit Blick auf § 39 Abs. 1 Nr. 4 InsO, der keine Gläubigerbenachteiligung voraussetzt bzw. davon ausgeht, dass sich im Regelfall die gläubigerbenachteiligende Wirkung unproblematisch aus der 38) 39)

BGH, Urt. v. 28.1.2016 – IX ZR 185/13, ZIP 2016, 426 = NZI 2016, 262, m. Anm. Böhme. BGH, Urt. v. 24.11.1959 – VIII ZR 220/57, WM 1960, 377.

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Unentgeltlichkeit der Forderung ergibt. Die Wiederherstellung des Gleichlaufs von § 134 InsO und § 39 Abs. 1 Nr. 4 InsO spräche für eine solche Übertragung. ee) Entgeltlichkeit von Leistungen causa societatis Nach der Rechtsprechung des II. Zivilsenats des Bundesgerichtshofes ist die Anwendung der bürgerlich-rechtlichen Schenkungsregeln der §§ 516 ff. BGB ausgeschlossen, wenn ein Gesellschafter, ohne dazu nach dem Gesellschaftsvertrag oder aus einem anderen Rechtsgrund verpflichtet zu sein, eine Leistung an die Gesellschaft im Hinblick auf seine Mitgliedschaft (causa societatis) erbringt oder eine solche zusagt.40) Eine solche Verpflichtung wird nach Ansicht des Bundesgerichtshofes auch ohne die Vereinbarung einer unmittelbaren Gegenleistung im Rechtssinne regelmäßig vor dem Hintergrund abgegeben, dass sich der Gesellschafter von ihr eine Stärkung der Gesellschaft und damit mittelbar eine Verbesserung seiner durch die Mitgliedschaft vermittelten Vermögenslage oder auch nur immaterielle Vorteile verspricht.41) Ausdrücklich nennt der Bundesgerichtshof Leistungen zu Sanierungszwecken in Form von verlorenen Zuschüssen oder sonstigen freiwilligen finanziellen Zuwendungen als Beispiele für entgeltliche Leistungen causa societatis.42) Gerade bei solchen Finanzierungszusagen oder bei der Bestellung von Kreditsicherheiten durch einen Gesellschafter ist nach Ansicht des Bundesgerichtshofes mit vordergründiger Abgrenzung zwischen Entgeltlichkeit oder Unentgeltlichkeit der Leistung nichts gewonnen. Im Ergebnis soll es zur Begründung der Entgeltlichkeit im Zusammenhang mit den bürgerlich-rechtlichen Schenkungsregeln der §§ 516 ff. BGB hinreichend sein, wenn eine solche Verpflichtung auch ohne die Vereinbarung einer unmittelbaren Gegenleistung im Rechts40)

41)

42)

BGH, Urt. v. 18.9.2012 – II ZR 50/11 (HSH Nordbank), Rz. 19, ZIP 2013, 19 = NZG 2013, 53; BGH, Urt. v. 8.5.2006 – II ZR 94/05 (Boris Becker/Sportgate), Rz. 11, ZIP 2006, 1199 = NZG 2006, 543; BGH, Urt. v. 14.1.2008 – II ZR 245/06, Rz. 17, ZIP 2008, 453 = NJW 2008, 1589; siehe auch Grunewald, Leistungen causa societatis als Sonderfall des Schenkungsrechts?, NZG 2011, 613, 616. BGH, Urt. v. 18.9.2012 – II ZR 50/11 (HSH Nordbank), Rz. 19, ZIP 2013, 19 = NZG 2013, 53; BGH, Urt. v. 8.5.2006 – II ZR 94/05 (Boris Becker/Sportgate), Rz. 12, ZIP 2006, 1199 = NZG 2006, 543; BGH, Urt. v. 14.1.2008 – II ZR 245/06, Rz. 18, ZIP 2008, 453 = NJW 2008, 1589. BGH, Urt. v. 18.9.2012 – II ZR 50/11 (HSH Nordbank), Rz. 19, ZIP 2013, 19 = NZG 2013, 53; BGH, Urt. v. 28.6.1999 – II ZR 272/98, BGHZ 142, 116 = ZIP 1999, 1263; siehe dazu auch Koch in: MünchKomm-BGB, 7. Aufl. 2016, § 516 Rz. 98 m. w. N.; Groh, Schenkung durch disquotale Einlagen?, DStR 1999, 1050, 1051.

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sinne vor dem Hintergrund eingegangen wird, dass sich der Gesellschafter von ihr eine Stärkung der Gesellschaft und damit mittelbar eine Verbesserung seiner durch die Mitgliedschaft vermittelten Vermögenslage oder auch nur immaterielle Vorteile verspricht.43) Der im Gesellschaftsverhältnis wurzelnde Leistungszweck steht der Annahme einer unentgeltlichen Zuwendung i. S. des § 516 Abs. 1 BGB entgegen.44) Aus diesem Befund, dass hinsichtlich einer Leistung des Gesellschafters causa societatis keine Unentgeltlichkeit i. S. der bürgerlich-rechtlichen Schenkungsregeln gemäß §§ 516 ff. BGB begründet sein soll, lassen sich für die Frage der Anwendung von § 134 InsO jedoch keine zwingenden Schlüsse ableiten. Der anfechtungsrechtliche Begriff der unentgeltlichen Leistung i. S. des § 134 InsO ist nämlich umfassender als der Begriff der unentgeltlichen Leistung i. S. der bürgerlich-rechtlichen Schenkungsregeln der §§ 516 ff. BGB und setzt eine vertragliche Einigung über die Unentgeltlichkeit als solche nicht voraus.45) Im Zusammenhang mit § 134 InsO ist die Frage, inwieweit der im Gesellschaftsverhältnis wurzelnde Leistungszweck der Annahme einer unentgeltlichen Leistung i. S. des § 134 InsO entgegen steht, noch nicht, zumindest nicht explizit beantwortet worden. Es finden sich in der Rechtsprechung und im Schrifttum aber durchaus Konstellationen, die den Rückschluss darauf zulassen, dass die Leistungen eines Gesellschafters, die causa societatis erfolgen, sehr wohl auch als unentgeltlich i. S. von § 134 InsO eingeordnet werden können.46)

43)

44) 45)

46)

BGH, Urt. v. 18.9.2012 – II ZR 50/11 (HSH Nordbank), Rz. 19, ZIP 2013, 19 = NZG 2013, 53; unter Verweis auf BGH, Urt. v. 8.5.2006 – II ZR 94/05 (Boris Becker/ Sportgate), Rz. 11, ZIP 2006, 1199 = NZG 2006, 543; BGH, Urt. v. 14.1.2008 – II ZR 245/06, Rz. 17, ZIP 2008, 453 = NJW 2008, 1589. BGH, Urt. v. 18.9.2012 – II ZR 50/11 (HSH Nordbank), Rz. 20, ZIP 2013, 19 = NZG 2013, 53. BGH, Urt. v. 13.10.2016 – IX ZR 184/14, Rz. 13, BGHZ 212, 272 = ZIP 2016, 2483, mit Verweis auf BGH, Urt. v. 15.9.2016 – IX ZR 250/15, Rz. 20, ZIP 2016, 2329 = NZI 2017, 68, m. Anm. Lütcke. Siehe dazu und zum Folgenden auch Gleim, Ist die Übertragung von Vermögensgegenständen (assets) durch eine Gesellschafterin auf ihre (Tochter-)GmbH nach § 134 InsO anfechtbar?, ZIP 2017, 1000, der der Frage nachgeht, ob die Übertragung von Vermögensgegenständen durch einen Gesellschafter an die Gesellschaft nach § 134 InsO anfechtbar sein kann.

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(1) „Stehenlassen“ von Gesellschafterdarlehen Der Bundesgerichtshof hatte mit seiner Entscheidung vom 2. April 2009 noch zur alten Rechtslage vor dem Inkrafttreten des MoMiG entschieden, dass in der Insolvenz einer Muttergesellschaft die Anfechtbarkeit des Stehenlassens einer Gesellschafterforderung, das in der Krise der Tochtergesellschaft zur Umqualifizierung in Eigenkapital führt, als unentgeltliche Leistung i. S. von § 134 InsO „nicht zweifelhaft sein [kann]“.47) Im Kern stützt sich die Begründung der Unentgeltlichkeit darauf, dass der Gesellschafter als Gläubiger infolge der Umqualifizierung seines Anspruchs auf Rückzahlung in Eigenkapital und des damit bewirkten Rangrücktritts den wirtschaftlichen Wert seiner Forderung verliert. Der bewirkte Rangrücktritt werde ohne ausgleichende Gegenleistung der Gesellschaft gewährt.48) Offenbar hatte auch der Umstand, dass der Leistungszweck hier im Gesellschaftsverhältnis wurzelte, keine Zweifel an der Unentgeltlichkeit der Leistung i. S. des § 134 InsO geweckt. Dies wurde vereinzelt kritisiert. So kommentierte etwa Haas, dass es schwerfällt, eine Leistung (hier Belassen der Gesellschafterhilfe) von vornherein als unentgeltlich einzuordnen, wenn sie zugunsten der Gesellschaft grundsätzlich um der Erhaltung der Stellung als Gesellschafter willen erfolgt.49) Diese Kritik hat indes keine überwiegende Gefolgschaft gefunden und hat – soweit ersichtlich – insbesondere auch keinen Eingang in die Rechtsprechung gefunden. Der Bundesgerichtshof hat mit seiner Entscheidung vom 13. Oktober 2016 zwischenzeitlich auch zum geltenden Recht für die Zeit nach dem Inkrafttreten des MoMiG zwar entschieden, dass die Gewährung eines Gesellschafterdarlehens – ebenso wie die Gewährung eines Darlehens an einen Dritten – als entgeltlich einzuordnen ist.50) Die Entgeltlichkeit der Darlehensgewährung wird aber nicht etwa mit dem Hinweis auf die Gesellschafterstellung der das Darlehen gebenden Gesellschaft begründet, sondern damit, dass der Darlehensgewährung als vereinbarte Gegenleis47)

48)

49) 50)

BGH, Urt. v. 2.4.2009 – IX ZR 236/07, ZIP 2009, 1080 = NZI 2009, 429; zum Ganzen ausführlich auch Bork, Insolvenzanfechtung des „Stehenlassens“, in: FS Uhlenbruck, 2000, S. 279 ff. BGH, Urt. v. 2.4.2009 – IX ZR 236/07, Rz. 16, ZIP 2009, 1080 = NZI 2009, 429; BGH, Urt. v. 5.3.2015 – IX ZR 133/14, Rz. 51, BGHZ 204, 231 = ZIP 2015, 638, m. Anm. Bitter/Heim. Haas, Anfechten des Stehenlassens einer Gesellschafterhilfe, DStR 2009, 1592, 1594. BGH, Urt. v. 13.10.2016 – IX ZR 184/14, Rz. 14, BGHZ 212, 272 = ZIP 2016, 2483.

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tung der außerhalb der Insolvenz der Gesellschaft rechtlich durchsetzbare Anspruch auf Rückzahlung des Darlehens nach Fälligkeit (§ 488 Abs. 1 Satz 2 BGB) zzgl. eines etwaigen Zinsanspruchs gegenübersteht.51) Eine vorinsolvenzliche Durchsetzungssperre, die den Anspruch auf Rückzahlung des Darlehens in der Krise entwerten würde, gibt es seit dem Inkrafttreten des MoMiG nicht mehr (vgl. auch § 30 Abs. 1 Satz 3 GmbHG). Erst in der Insolvenz der Gesellschaft tritt die Entwertung des Anspruchs auf Rückzahlung des Darlehens ein, weil hier der insolvenzrechtliche Nachrang nach § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO gilt (was regelmäßig zum Totalausfall führt). Hierbei handelt es sich nach Ansicht des Bundesgerichtshofs aber weder um eine sich bereits aus der Tatsache der Darlehensgewährung zwingend ergebende Folge, noch tritt diese bereits im Zeitpunkt der Leistungserbringung ein. Darin liegt die wesentliche Änderung gegenüber dem alten Rechtszustand, nicht in einer Neubewertung der grundsätzlichen Frage, ob Leistungen eines Gesellschafters, die causa societatis erfolgen, als entgeltlich nicht nur i. S. von § 516 Abs. 1 BGB, sondern auch als entgeltlich i. S. von § 134 InsO eingeordnet werden können. In der Entscheidung vom 13. Oktober 2016 erfolgt sogar noch der Hinweis, dass in Fallgestaltungen, in denen ein verlorener Zuschuss formal in die Form eines Darlehens gekleidet worden ist, unverändert von einer unentgeltlichen Leistung i. S. von § 134 InsO auszugehen ist.52) Der Bundesgerichtshof geht demnach offenbar davon aus, dass in dieser Fallgestaltung keine Entgeltlichkeit begründet ist, obwohl hinsichtlich der Gewährung verlorener Zuschüsse in den allermeisten Fällen eine Leistung causa societatis vorliegen dürfte. Der Umstand der Leistung causa societatis schein mithin unverändert nicht für eine Entgeltlichkeit i. S. von § 134 InsO zu streiten. Diese Prämisse legen (unausgesprochen) auch diejenigen Stimmen im Schrifttum zugrunde, die eine Unentgeltlichkeit der Darlehensgewährung auch dann annehmen wollen, wenn von dem Gesellschafter flankierend ein qualifizierter Rangrücktritt erklärt wird.53) 51) 52) 53)

BGH, Urt. v. 13.10.2016 – IX ZR 184/14, BGHZ 212, 272 = ZIP 2016, 2483. BGH, Urt. v. 13.10.2016 – IX ZR 184/14, Rz. 14, BGHZ 212, 272 = ZIP 2016, 2483. Bork, NZI 2018, 1, 4; Bormann, GmbHR 2017, 141, 143 (Urteilsanm.); Thole, WuB 2017, 218, 219 (Urteilsanm.) (für einen nachträglichen Rangrücktritt). Die Vergleichbarkeit mit der Rechtslage vor dem Inkrafttreten des MoMiG ergibt sich aus dem Umstand, dass der qualifizierte Rangrücktritt auch eine Durchsetzungssperre für die Zeit vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens bewirkt, wenn eine Rückzahlung des Darlehens eine Insolvenz auslösen würde, siehe dazu BGH, Urt. v. 5.3.2015 – IX ZR 133/14, BGHZ 204, 231 = ZIP 2015, 638, m. Anm. Bitter/Heim.

1000

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(2) Besicherung einer Gesellschaftsschuld Die Frage, ob Leistungen eines Gesellschafters, die causa societatis erfolgen, per se als entgeltlich i. S. von § 134 InsO eingeordnet werden müssen, stellt sich auch mit Blick auf die Besicherung einer Gesellschaftsschuld durch den Gesellschafter. Hier geht es um die Frage, ob die Sicherheitenbestellung im Verhältnis von Sicherungsgeber/Gesellschafter und Forderungsschuldner/Gesellschaft im Konzernverbund schon deshalb als entgeltlich zu behandeln ist, weil sie in diesem Verhältnis causa societatis erfolgt ist. In der Rechtsprechung findet sich hierzu – soweit ersichtlich – keine Antwort. Stellt man auf die allgemeinen Regeln ab, liegt Entgeltlichkeit in diesem Verhältnis vor, wenn die Sicherheit nur gegen ein entsprechendes Entgelt gestellt wurde.54) Der Bundesgerichtshof hat insoweit bereits festgestellt, dass ein rein wirtschaftliches Interesse des Sicherungsgebers an der Sicherheitenbestellung nicht ausreichend ist, um im Verhältnis zum Gläubiger oder Kreditnehmer Entgeltlichkeit zu begründen.55) Im Schrifttum finden sich dazu allenfalls kurze Stellungnahmen, die im Verhältnis von Gesellschafter/Sicherungsgeber und Gesellschaft/ Forderungsschuldner nach den allgemeinen Regeln durchaus eine Unentgeltlichkeit für möglich halten, ohne dass dem der Aspekt der Leistungen causa societatis entgegenstünde.56) (3) Parallele zu „ehebedingten Zuwendungen“ Nach dem zuvor Gesagten, spricht der Umstand, dass der Zweck einer Leistung des Gesellschafters an seine Gesellschaft regelmäßig im Gesellschaftsverhältnis wurzelt, d. h. die Leistung causa societatis erfolgt, zwar gegen eine Unentgeltlichkeit i. S. von § 516 BGB, nicht aber gegen eine Unentgeltlichkeit i. S. von § 134 InsO. Dieser Befund findet durchaus eine Parallele im Familienrecht, wenn man sich die sog. unbenannten (ehebedingten) Zuwendungen ansieht: Eine Zuwendung unter Ehegatten, 54) 55)

56)

So sind auch im Konzernverbund Gebührenansprüche z. B. des Garanten nicht unüblich. BGH, Urt. v. 1.6.2006 – IX ZR 159/04, Rz. 14, ZIP 2006, 1362 = NZI 2006, 524, m. Anm. Henkel; BGH, Urt. v. 30.3.2006 – IX ZR 84/05 (Cash-Pool-System II), ZIP 2006, 957 = NZI 2006, 399. Kirchhof in: MünchKomm-AnfG, 2012, § 4 Rz. 48 und 60; offengelassen von Hirte/ Borries in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 134 Rz. 127 a. E. Liegt eine unentgeltliche und daher anfechtbare Besicherung vor, muss der Kreditnehmer dafür Sorge tragen, dass der Sicherungsnehmer die Sicherheiten an den insolventen Sicherungsgeber zurücküberträgt oder – bei Unmöglichkeit der Rückübertragung – Wertersatz leisten.

Die Patronatserklärung als unentgeltliche Leistung in der Insolvenz des Patrons 1001

der die Vorstellung oder Erwartung zugrunde liegt, dass die eheliche Lebensgemeinschaft Bestand haben werde, oder die sonst um der Ehe willen oder als Beitrag zur Verwirklichung oder Ausgestaltung der ehelichen Lebensgemeinschaft erbracht wird und darin ihre Geschäftsgrundlage hat, soll nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes keine Schenkung i. S. von § 516 BGB sein.57) Dagegen soll die bürgerlich-rechtliche Abgrenzung zwischen Schenkungen und ehebedingten Zuwendungen im Recht der Insolvenzanfechtung nicht maßgeblich sein. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes stellt allein der Umstand, dass die Übertragung eines Vermögensgegenstands i. R. einer ehebedingten Zuwendung erfolgt ist, keine Gegenleistung dar, welche die Unentgeltlichkeit des Empfangs i. S. des § 134 InsO ausschließt.58) Eine solche unbenannte (ehebedingte) Zuwendung ist unentgeltlich, wenn sie ohne adäquate Gegenleistung erbracht wird.59) Dieser Parallele zwischen Leistung des Gesellschaftsverhältnisses willen und Leistungen der Ehe willen ist zwar kein zwingendes inhaltliches Argument zu entnehmen, sie kann mit Blick auf den obigen Befund aber durchaus der Vergewisserung dienen, dass ein solcher nicht völlig atypisch ist. ff) Zwischenergebnis Der Begriff der Unentgeltlichkeit i. S. von §§ 39 Abs. 1 Nr. 4 und 134 InsO ist ein anderer als der des bürgerlich-rechtlichen Schenkungsrechts gemäß §§ 516 ff. BGB. Die Rechtsprechung des II. Zivilsenats des Bundesgerichtshofes zum bürgerlich-rechtlichen Schenkungsrecht, wonach eine unentgeltliche Zuwendung ausgeschlossen ist, wenn ein Gesellschafter, ohne dazu nach dem Gesellschaftsvertrag oder aus einem anderen Rechtsgrund verpflichtet zu sein, eine Leistung an die Gesellschaft im Hinblick auf seine Mitgliedschaft (causa societatis) erbringt oder eine solche zusagt, kann nicht auf die Schenkungsanfechtung im Insolvenzrecht übertragen werden.60)

57) 58) 59) 60)

BGH, Urt. v. 9.7.2008 – XII ZR 179/05, Rz. 15, NJW 2008, 3277 m. w. N. zur ständigen Rechtsprechung. BGH, Urt. v. 8.12.2011 – IX ZR 33/11, Rz. 44, ZIP 2012, 234 = NJW 2012, 1217 m. w. N. zur ständigen Rechtsprechung. Zum Ganzen auch Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 134 Rz. 138 ff. BGH, Urt. v. 18.9.2012 – II ZR 50/11 (HSH Nordbank), Rz. 19, ZIP 2013, 19 = NZG 2013, 53; BGH, Urt. v. 8.5.2006 – II ZR 94/05 (Boris Becker/Sportgate), Rz. 11, ZIP 2006, 1199 = NZG 2006, 543; BGH, Urt. v. 14.1.2008 – II ZR 245/06, Rz. 17, ZIP 2008, 453 = NJW 2008, 1589; siehe auch Grunewald, NZG 2011, 613, 616.

1002

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3. Unentgeltlichkeit der Ausstattungsleistung Hat der Patron zum Zwecke der Erfüllung seiner erfolgsbezogenen Pflicht aus der Patronatserklärung im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über sein Vermögen bereits Ausstattungsleistungen an den Protegé erbracht, kann diese Leistungserbringung Gegenstand einer Insolvenzanfechtung nach § 134 InsO sein. Die Frage, ob hier gemessen an den zuvor dargestellten Maßstäben (dazu oben 2.) die Leistung mit einer ausgleichenden Gegenleistung verknüpft ist, beurteilt sich bei Erfüllungshandlungen nach dem zugrunde liegenden Verpflichtungsgeschäft.61) Wie eingangs bereits betont wurde (dazu oben IV.1.) wird die Ausstattungsleistung des Patrons regelmäßig auf der Grundlage eines eigenständigen Ausstattungsgeschäfts erbracht. Die Unentgeltlichkeit der Ausstattungsleistung beurteilt sich demnach im Regelfall nach dem Inhalt des Ausstattungsgeschäfts. So kann der Patron die finanzielle Ausstattung z. B. bewirken, indem er ein verzinsliches Gesellschafterdarlehen ausreicht. In diesem Fall erlangt er einen Rückzahlungsanspruch und einen Zinsanspruch (vgl. § 488 Abs. 1 Satz 2 BGB). Die Entgeltlichkeit eines solchen in Erfüllung der Ausstattungsverpflichtung aus der Patronatserklärung ausgereichten Gesellschafterdarlehens steht wegen der vertraglich geschuldeten Gegenleistung der Rückzahlung des Darlehens außer Frage.62) Entscheidet sich der Patron für ein zinsloses Darlehen wäre die Kapitalüberlassung auf Zeit dagegen unentgeltlich erlangt worden.63) Ebenso ist die Entgeltlichkeit zweifelhaft, wenn hinsichtlich des Anspruchs auf Rückzahlung der empfangenen Darlehensvaluta ein qualifizierter Rangrücktritt ausgesprochen wird.64) Allerdings ist in allen diesen Fällen das Gesellschafterdarlehen und seine Einordnung als entgeltlich oder unentgeltlich strikt von der erfolgsbezogenen Verpflichtung aus der Patronatserklärung und deren Einordnung als entgeltlich oder unentgeltlich zu trennen. Dasselbe gilt auch, wenn die Ausstattung etwa in Form einer Einlageleistung auf Grundlage eines Übernahmevertrages im Zusammenhang mit einer effektiven Kapitalerhöhung 61) 62) 63) 64)

BGH, Beschl. v. 27.4.2010 – IX ZR 69/09, BeckRS 2010, 12574. Zur Entgeltlichkeit eines Darlehens siehe etwa BGH, Urt. v. 13.10.2016 – IX ZR 184/14, BGHZ 212, 272 = ZIP 2016, 2483. BGH, Urt. v. 15.11.2018 – IX ZR 229/17, ZIP 2019, 233 = NZI 2019, 333, m. Anm. Leithaus. Bork, NZI 2018, 1, 4; Bormann, GmbHR 2017, 141, 143 (Urteilsanm.).

Die Patronatserklärung als unentgeltliche Leistung in der Insolvenz des Patrons 1003

erbracht wird. Eine solche Einlageleistung ist entgeltlich, weil der Gesellschafter im Gegenzug den neuen Gesellschaftsanteil erhält.65) Erfolgt eine Zahlung auf Grundlage mezzaniner Finanzierungsinstrumente ist der Protegé nach diesen Ausstattungsgeschäften wie z. B. der stillen Beteiligung ebenfalls zu einer Gegenleistung verpflichtet und ist die Zahlung mithin entgeltlich. Dagegen wäre z. B. die Zahlung eines „verlorenen Zuschusses“ in die freie Kapitalrücklage ohne Gegenleistung des Protegés geleistet und mithin unentgeltlich.66) Der Patron entscheidet mithin (erst) im Zeitpunkt der Zuwendung der finanziellen Mittel darüber, ob er die Mittel auf Grundlage des Ausstattungsgeschäfts nur gegen eine Gegenleistung zur Verfügung stellt oder als „verlorenen Zuschuss“ ohne Ausgleich. Schließend soll hinsichtlich der Ausstattungsleistung noch ein Blick auf zwei besondere Konstellationen geworfen werden: Die erste Konstellation betrifft den in der Praxis seltenen Fall, dass die Ausstattungsleistung auf Grundlage der Patronatserklärung selbst erbracht wird, weil die Patronatserklärung nicht nur eine hinreichende Mittelausstattung als Erfolg verspricht, sondern unter bestimmten Voraussetzungen auch eine konkrete Leistungshandlung des Patrons geschuldet ist. In dieser Konstellation beurteilt sich die Unentgeltlichkeit der Ausstattungsleistung nach dem zuvor Gesagten nach der Patronatserklärung (zu der Frage der Unentgeltlichkeit der Patronatserklärung sogleich unten 4.). Die zweite Konstellation betrifft den Fall der Direktzahlung des Patrons an einen Gläubiger des Protegés, z. B. um das Weiterleitungsrisiko im Fall der Ausstattung des Protegés zu bannen. Hier kommt eine Anfechtung der Leistung auch gegenüber dem Gläubiger in Betracht, wenn die befriedigte Forderung des Gläubigers gegen den Protegé im Zeitpunkt der Zahlung durch den Patron nicht mehr (voll) werthaltig war. Denn nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ist die Tilgung einer fremden Schuld als unentgeltliche Leistung nach § 134 Abs. 1 InsO anfechtbar, wenn die gegen den Dritten gerichtete Forderung des Zuwendungsempfängers wertlos war.67)

65)

66) 67)

Vgl. Gleim, ZIP 2017, 1000, 1002 (zur Sacheinlage); allgemein zur Insolvenzanfechtung von Kapitalerhöhungsmaßnahmen siehe Lwowski/Wunderlich, Insolvenzanfechtung von Kapitalerhöhungsmaßnahmen, NZI 2008, 129. Vgl. Gleim, ZIP 2017, 1000, 1004 ff. (zur Sacheinlage). Zuletzt wieder BGH, Urt. v. 25.2.2016 – IX ZR 12/14, ZIP 2016, 581 = NZI 2016, 398, m. Anm. Wazlawik; siehe auch Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 134 Rz. 66 m. w. N. zur umfangreichen Rechtsprechung

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4. Unentgeltlichkeit der Patronatserklärung Bei der Beantwortung der Frage nach der Unentgeltlichkeit der Patronatserklärung und der auf ihrer Grundlage bestehenden Ansprüche gegen den Patron soll hier zwischen interner und externer Patronatserklärung unterschieden werden. a) „Interne“ Patronatserklärung Bei der „internen“ Patronatserklärung übernimmt der Patron im Innenverhältnis zum Protegé die erfolgsbezogene Verpflichtung, den Protegé in der Weise auszustatten, dass er stets in der Lage ist, seinen finanziellen Verbindlichkeiten nachzukommen. Nach dem weiten Begriffsverständnis von der Unentgeltlichkeit (dazu oben 2.b)) ist die Leistung des Patrons unentgeltlich, wenn für sie vereinbarungsgemäß keine Gegenleistung, sei es an den Patron, sei es an einen Dritten, erbracht wird, der Protegé als Leistungsempfänger also keine eigene Rechtsposition aufgibt, die der Leistung des Patrons objektiv entspricht.68) Die Leistung des Patrons liegt in der Eingehung der erfolgsbezogenen Verpflichtung gegenüber dem Protegé durch Abgabe der „internen“ Patronatserklärung.69) Fraglich ist, ob der Protegé als Leistungsempfänger seinerseits eine Gegenleistung, sei es an den Patron, sei es an einen Dritten, erbringt. aa) Synallagmatische, konditionale oder kausale Gegenleistung des Protegés Nach dem Inhalt der „internen“ Patronatserklärung steht der Leistung des Patrons typischerweise kein Leistungsversprechen des Protegés i. S. einer synallagmatischen Gegenleistung gemäß §§ 320 ff. BGB gegenüber (dazu 68)

69)

Siehe etwa BGH, Urt. v. 26.4.2012 – IX ZR 146/11 (Karstadt-Arcandor), Rz. 39, ZIP 2012, 1183 = NZI 2012, 562; BGH, Urt. v. 15.9.2016 – IX ZR 250/15, Rz. 19, ZIP 2016, 2329 = NZI 2017, 68, m. Anm. Lütcke; BGH, Urt. v. 20.4.2017 – IX ZR 252/16, Rz. 11, BGHZ 214, 350 = ZIP 2017, 1233. Statt vieler Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 134 Rz. 17 m. w. N. auch zur umfangreichen Rechtsprechung Ganz in diesem Sinne ist z. B. die Ausreichung eines Darlehens nach der Rechtsprechung des BGH entgeltlich, weil der Darlehensnehmer gemäß des Darlehensvertrags zur Rückzahlung der Darlehensvaluta verpflichtet ist (vgl. § 488 Abs. 1 Satz 2 BGB), siehe dazu BGH, Urt. v. 15.11.2018 – IX ZR 229/17, Rz. 25, ZIP 2019, 233 = NZI 2019, 333, m. Anm. Leithaus; BGH, Urt. v. 13.10.2016 – IX ZR 184/14, Rz. 14, BGHZ 212, 272 = ZIP 2016, 2483.

Die Patronatserklärung als unentgeltliche Leistung in der Insolvenz des Patrons 1005

oben III.2.). Die Gegenleistung des Protegés muss mit der Leistung des Patrons jedoch auch nicht i. S. der §§ 320 ff. BGB verknüpft sein. Eine konditionale oder kausale Verknüpfung ist hinreichend (dazu oben 2.b)aa)). Die Frage, ob der Protegé eine Gegenleistung an den Patron oder einen Dritten erbracht hat, die konditional oder kausal mit dem Leistungsversprechen des Patrons verknüpft ist, kann nur für den Einzelfall beantwortet werden. Kann eine solche konditionale oder kausale Verknüpfung im Einzelfall festgestellt werden, liegt ein entgeltliches Leistungsversprechen des Patrons vor. Anderenfalls wurde die Patronatserklärung unentgeltlich gewährt. Denkbar ist z. B. eine konditionale Verknüpfung in der Weise, dass der Patron die Patronatserklärung für den Fall abgibt, dass der Protegé ein aufsteigendes Darlehen an den Patron gewährt (etwa auch i. R. eines Cash Poolings). In dieser Konstellation muss aber nicht nur die hinreichende Verknüpfung von Leistung und Gegenleistung untersucht werden, sondern auch, ob die Gegenleistung überhaupt einen hinreichenden werthaltigen Vermögensvorteil einräumt. Das Stehenlassen einer ungekündigten, aber kündbaren Darlehensforderung durch den Protegé stellt im Anwendungsbereich der Schenkungsanfechtung z. B. keine zur Entgeltlichkeit führende Gegenleistung dar.70) bb) Regressanspruch des Patrons als Ausgleich „auf andere Art und Weise“ Eine vertragliche Vereinbarung der Gegenleistung ist indes nicht zwingend erforderlich. Auch ohne eine vertraglich geschuldete Gegenleistung fehlt es nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes an einer für die Unentgeltlichkeit erforderlichen kompensationslosen Minderung des schuldnerischen Vermögens, wenn der Empfänger die Leistung des Schuldners „auf andere Art und Weise“ auszugleichen hat (dazu oben 2.b)cc)).71) Es fragt sich mit Blick auf die „interne“ Patronatserklärung also, ob ein Ausgleich „auf andere Art und Weise“ erfolgt, wenn der Patron seine erfolgsbezogene Verpflichtung zur hinreichenden finanziellen Ausstattung des Protegé erfüllt.72) Denkbar ist, dass der Patron im Fall der Erfüllung seiner Ausstattungspflicht gegen den Protegé einen Regressanspruch er70) 71) 72)

BGH, Urt. v. 7.5.2009 – IX ZR 71/08, ZIP 2009, 1122 = NZI 2009, 435; siehe auch Kayser, WM 2007, 1, 7. BGH, Urt. v. 20.4.2017 – IX ZR 252/16, Rz. 12, BGHZ 214, 350 = ZIP 2017, 1233. Ausführlich zum Regress bei der Patronatserklärung Koch, Die Patronatserklärung, 2005, S. 313 ff.

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wirbt. Die vertragliche Vereinbarung eines Regressanspruchs dürfte sich jedoch in der Praxis in den allermeisten „internen“ Patronatserklärungen nicht finden. Damit ist die „interne“ Patronatserklärung von den Parteien aber nicht etwa nicht zu Ende gedacht worden, was nach einer Vervollständigung durch dispositives Recht bzw. dessen allfälliger Fortbildung verlangen und in letzter Konsequenz auch die ergänzende Vertragsauslegung auf den Plan rufen würde.73) Der Patron wahrt seine Interessen bei Abgabe der Patronatserklärung vielmehr schon durch die Offenheit der Wege zur Erfüllung der erfolgsbezogenen Ausstattungsverpflichtung und letztlich im Zeitpunkt der Zuwendung der finanziellen Ausstattung durch die Wahl des konkreten Mittels der Ausstattung. Die denkbaren Wege für eine finanzielle Ausstattung tragen dann den bewusst gewählten Interessenausgleich schon in sich (z. B. ein Darlehensvertrag oder eine Einlage nach Abschluss eines Übernahmevertrags im Zusammenhang mit einer Kapitalerhöhung). Die (spätere) Ausstattungsleistung erbringt der Patron bei der „internen“ Patronatserklärung dann auf Basis einer weiteren Kausalbeziehung (das hier zuvor sog. „Ausstattungsgeschäft“), die er in Erfüllung seiner Verpflichtung zur hinreichenden finanziellen Ausstattung gegenüber dem Protegé neu begründet, und mithin mit Rechtsgrund, sodass auch kein Raum für bereicherungsrechtliche Ansprüche besteht. Ein Ausgleichsanspruch nach den Grundsätzen der Geschäftsführung ohne Auftrag gemäß §§ 677 ff. BGB scheitert an der im Verhältnis zwischen Patron und Protegé bestehenden Verpflichtung aus der Patronatserklärung bzw. aus dem in Erfüllung der Patronatserklärung begründeten Rechtsgeschäft (z. B. Darlehensvertrag oder Einlagepflicht nach Abschluss eines Übernahmevertrags im Zusammenhang mit einer Kapitalerhöhung). In der seltenen Fallkonstellation, in der sich der Patron durch Abgabe einer „internen“ Patronatserklärung gegenüber dem Protegé mit der Verpflichtung zur Direktzahlung an einen Gläubiger des Protegé verpflichtet, kommt ebenfalls kein Aufwendungsersatzanspruch nach § 670 BGB in Betracht, weil der Patron nicht als Beauftragter oder berechtigter Geschäftsführer ohne Auftrag gehandelt hat, sondern auch hier in Erfüllung seiner Verpflichtung aus der Patronatserklärung im Verhältnis zum Protegé. Eine Zession der Drittforderung scheidet ebenfalls aus, weil der Patron als Dritter i. S. von § 267 BGB auf die Schuld des Protegés leistet

73)

Statt vieler Busche in: MünchKomm-BGB, 8. Aufl. 2018, § 157 Rz. 27: „Aufgabe [der ergänzenden Vertragsauslegung] sei es gleichsam, den Vertrag ‚zu Ende zu denken‘.“

Die Patronatserklärung als unentgeltliche Leistung in der Insolvenz des Patrons 1007

und die Drittforderung infolge Erfüllung nach § 362 BGB schlicht erlischt. Es liegt mithin eine Leistung mit doppelter Tilgungsbestimmung vor, nach der zugleich im Verhältnis zum Gläubiger die Verpflichtung des Protegés als Schuldner und im Verhältnis zum Protegé eine eigene Verbindlichkeit des Patrons erfüllt wird.74) Es ist nach alledem auf Grundlage der „internen“ Patronatserklärung kein Regress- oder Aufwendungsersatzanspruch des Patrons gegen den Protegé als „ausgleichende Zuwendung“ begründet, der eine Entgeltlichkeit der „internen“ Patronatserklärung begründen könnte. cc) Entgeltlichkeit von Leistungen causa societatis Im Ergebnis ergibt sich allein aus dem Umstand, dass der Patron mit dem Protegé regelmäßig gesellschaftsrechtlich verbunden ist, nichts für die Beurteilung der Unentgeltlichkeit einer „internen“ Patronatserklärung (dazu oben 2.b)ee)). Ist der Zweck der Leistung des Patrons (auch) gerichtet auf die Förderung der Mitgliedschaft (causa societatis), ist vielmehr im Einzelfall zu untersuchen, ob eine konditionale oder kausale Verknüpfung der Leistung des Patrons mit der bezweckten Gegenleistung des Protegé gegeben ist.75) dd) Wirtschaftliches Eigeninteresse des Patrons Der bisherige Befund, dass die typischen Ausstattungsverpflichtungen auf der Grundlage einer „internen“ Patronatserklärung nach dem Inhalt der Erklärung ohne Gegenleistung oder Ausgleich „auf andere Art“ i. S. eines 74)

75)

Anders wäre die Konstellation zu beurteilen, wenn z. B. durch den Patron eine gesamtschuldnerische Verpflichtung begründet wird, die Schuld des Protegés als eigene Schuld gegenüber dem Gläubiger/Dritten zu erfüllen. In einem solchen Fall kommen eine Ausgleichspflicht im Innenverhältnis nach § 426 Abs. 1 BGB und ein bestärkender Forderungsübergang nach § 426 Abs. 2 BGB in Betracht. Allerdings liegt eine Freistellung des Protegés nahe, wenn die Patronatserklärung zum Zwecke der Abwendung einer Insolvenz des Protegés abgegeben wurde. Nach Befriedigung des Dritten/ Gläubigers würde dann kein Innenregress des Patrons nach § 426 Abs. 1 BGB stattfinden und würde auch der Forderungsübergang nach § 426 Abs. 2 BGB nicht stattfinden, weil sich der Forderungsübergang nur i. H. des durch § 426 Abs. 1 BGB eingeräumten Ausgleichsanspruchs vollzieht. BGH, Urt. v. 18.9.2012 – II ZR 50/11 (HSH Nordbank), Rz. 19, ZIP 2013, 19 = NZG 2013, 53; BGH, Urt. v. 8.5.2006 – II ZR 94/05 (Boris Becker/Sportgate), Rz. 11, ZIP 2006, 1199 = NZG 2006, 543; BGH, Urt. v. 14.1.2008 – II ZR 245/06, Rz. 17, ZIP 2008, 453 = NJW 2008, 1589; siehe auch Grunewald, NZG 2011, 613, 616.

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Regeressanspruches begründet werden, führt zu der Frage der Relevanz etwaiger mittelbarer Vorteile. Denn die Ausstattungsverpflichtungen werden im Konzernverbund regelmäßig vor dem Hintergrund abgegeben, dass sich der Gesellschafter als Patron eine Stärkung der Kreditwürdigkeit „seiner“ Gesellschaft und damit mittelbar eine Verbesserung seiner durch die Mitgliedschaft vermittelten Vermögenslage verspricht. Denkbar ist auch, dass sich der Protegé seine Teilnahme an einem (faktischen) Cash Pooling durch die Abgabe einer Patronatserklärung durch den poolführenden Patron absichern lässt. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs lässt sich die Entgeltlichkeit einer Leistung an den Protegé jedoch nicht damit begründen, dass der Patron mit der Leistung ein wirtschaftliches Eigeninteresse verfolgt (zu dieser Grenzziehung des Bundesgerichtshofes oben 2.b)bb)).76) Gleichsinnig wird im Schrifttum darauf hingewiesen, dass freigiebige Zuwendungen, die in der Hoffnung auf einen künftigen Vorteil gewährt werden, nicht entgeltlich sind, auch wenn sich später zeigt, dass die Hoffnung nicht unberechtigt war und der Vorteil gewährt wird (freilich ohne dass ein Anspruch auf ihn bestanden hätte).77) ee) Zwischenergebnis Die erfolgsbezogene Pflicht des Patrons aus der „internen“ Patronatserklärung, gerichtet auf eine hinreichende finanzielle Ausstattung des Protegés, hat im Regelfall eine unentgeltliche Leistung zum Gegenstand. Für sie verspricht der Protegé keine Gegenleistung i. S. von §§ 320 ff. BGB und es erfolgt auch kein Ausgleich auf andere Weise. Die Frage, ob der Protegé eine Gegenleistung an den Patron oder einen Dritten erbracht hat, die konditional oder kausal mit dem Leistungsversprechen des Patrons verknüpft ist, kann nur für den Einzelfall beantwortet werden. Kann

76)

77)

BGH, Urt. v. 1.6.2006 – IX ZR 159/04, ZIP 2006, 1362 = NZI 2006, 524, m. Anm. Henkel (zu einem Fall der Sicherung einer fremden Forderung als unentgeltliche Leistung); BGH, Urt. v. 7.5.2009 – IX ZR 71/08, ZIP 2009, 1122 = NZI 2009, 435 (zu einem Fall des Stehenlassens einer kündbaren Darlehensforderung als unentgeltliche Leistung); siehe auch Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 134 Rz. 33a m. w. N. (auch zur früheren abweichenden Ansicht); Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 134 Rz. 76. Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 134 Rz. 17a; Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 134 Rz. 21, 127; Bork in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, 69. EL 11/2016, § 134 Rz. 38.

Die Patronatserklärung als unentgeltliche Leistung in der Insolvenz des Patrons 1009

eine solche konditionale oder kausale Verknüpfung im Einzelfall festgestellt werden, liegt ein entgeltliches Leistungsversprechen des Patrons vor. Anderenfalls wurde die Patronatserklärung auch insoweit unentgeltlich gewährt. b) Externe Patronatserklärung Bei der „externen“ Patronatserklärung übernimmt der Patron im Außenverhältnis gegenüber einem bestimmten Gläubiger oder sämtlichen Gläubigern (ad incertas personas) des Protegés die erfolgsbezogene Verpflichtung, den Protegé in der Weise auszustatten, dass er stets in der Lage ist, seinen finanziellen Verbindlichkeiten gegenüber dem bestimmten Gläubiger oder schlicht sämtlichen Gläubigern nachzukommen. Wie in der Konstellation der „internen“ Patronatserklärung ist auch hier nach dem weiten Begriffsverständnis von der Unentgeltlichkeit78) die Leistung des Patrons unentgeltlich, wenn für sie vereinbarungsgemäß keine Gegenleistung, sei es an den Patron, sei es an einen Dritten (etwa den Protegé), erbracht wird, der Gläubiger des Protegés als Leistungsempfänger also keine eigene Rechtsposition aufgibt, die der Leistung des Patrons objektiv entspricht (dazu oben 2.b)).79) Die Leistung des Patrons liegt in der Eingehung der erfolgsbezogenen Verpflichtung gegenüber dem Gläubiger des Protegés durch Abgabe der „externen“ Patronatserklärung.80) aa) Synallagmatische, konditionale oder kausale Gegenleistung des Gläubigers Nach dem zuvor genannten weiten Begriffsverständnis von der Unentgeltlichkeit (dazu oben 2.b)) ist mit Blick auf die „externe“ Patronatser78) 79)

80)

Siehe etwa BGH, Urt. v. 5.3.2015 – IX ZR 133/14, Rz. 49, BGHZ 204, 231 = ZIP 2015, 638, m. Anm. Bitter/Heim. Siehe etwa BGH, Urt. v. 26.4.2012 – IX ZR 146/11 (Karstadt-Arcandor), Rz. 39, ZIP 2012, 1183 = NZI 2012, 562; BGH, Urt. v. 15.9.2016 – IX ZR 250/15, Rz. 19, ZIP 2016, 2329 = NZI 2017, 68, m. Anm. Lütcke; BGH, Urt. v. 20.4.2017 – IX ZR 252/16, Rz. 11, BGHZ 214, 350 = ZIP 2017, 1233. Statt vieler Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 134 Rz. 17 m. w. N. auch zur umfangreichen Rechtsprechung. Ganz in diesem Sinne ist z. B. die Ausreichung eines Darlehens nach der Rechtsprechung des BGH entgeltlich, weil der Darlehensnehmer gemäß des Darlehensvertrags zur Rückzahlung der Darlehensvaluta verpflichtet ist (vgl. § 488 Abs. 1 Satz 2 BGB), siehe dazu BGH, Urt. v. 15.11.2018 – IX ZR 229/17, Rz. 25, ZIP 2019, 233 = NZI 2019, 333, m. Anm. Leithaus; BGH, Urt. v. 13.10.2016 – IX ZR 184/14, Rz. 14, BGHZ 212, 272 = ZIP 2016, 2483.

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klärung im Einzelfall zu untersuchen, ob der Gläubiger des Protegés für die ihm zugewendete erfolgsbezogene Forderung gegenüber dem Patron seinerseits vereinbarungsgemäß eine entsprechende Gegenleistung an den Patron oder einen Dritten (insbesondere den Protegé) erbringen muss. Nach dem Inhalt der „externen“ Patronatserklärung steht der Leistung des Patrons typischerweise kein Leistungsversprechen des Gläubigers des Protegés i. S. der §§ 320 ff. BGB gegenüber (dazu oben III.2.). Auch die „externe“ Patronatserklärung ist im Grundsatz ein einseitig verpflichtender Vertrag. Wie im Zusammenhang mit der „internen“ Patronatserklärung bereits näher ausgeführt muss die Gegenleistung des Gläubigers mit der Leistung des Patrons jedoch auch nicht i. S. der §§ 320 ff. BGB synallagmatisch verknüpft sein. Der Bundesgerichtshof hat vielmehr betont, dass auch eine „freiwillige Leistung“ die Entgeltlichkeit zu begründen vermag.81) Gemeint ist hiermit eine Gegenleistung, auf die der Patron zwar keinen Anspruch hat, die aber mit seiner Leistung wenn schon nicht synallagmatisch i. S. der §§ 320 ff. BGB, so doch wenigstens konditional oder kausal miteinander verknüpft sind (ausf. oben 2.b)aa)).82) Damit rückt das Verhältnis zwischen Gläubiger und Protegé näher in den Blick. Eine solche konditionale Verknüpfung der Leistung des Patrons mit der Zusage der Übertragung eines vermögenswerten Vorteils an den Protegé kommt in der Praxis etwa in Betracht, wenn die externe Patronatserklärung im Hinblick auf einen bestimmten Gläubiger und eine bestimmte Forderung abgegeben wird. So kann ein Darlehensgeber die Ausreichung seines Darlehens an den Protegé von der Abgabe einer Patronatserklärung durch die Muttergesellschaft abhängig machen. In der Konstellation der „externen“ Patronatserklärung an sämtliche Gläubiger (ad incertas personas) dürfte die kausale oder konditionale Verknüpfung der Patronatserklärung mit der Zusage der Übertragung eines vermögenswerten Vorteils an den Protegé die Ausnahme sein. Nicht zuletzt wird eine solche Verknüpfung schon vom zeitlichen Ablauf her nicht in Betracht kommen, wenn der Gläubiger die Gläubigerstellung erst nach Abgabe der Patronatserklärung und völlig unabhängig von ihr begründet (mitunter sogar ohne Wissen, dass es eine Patronatserklärung überhaupt gibt). 81) 82)

Siehe etwa BGH, Urt. v. 26.4.2012 – IX ZR 146/11 (Karstadt-Arcandor), Rz. 39, ZIP 2012, 1183 = NZI 2012, 562. BGH, Urt. v. 8.12.2016 – IX ZR 257/15, Rz. 42, ZIP 2017, 91 = NZI 2017, 105; Bork in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, 69. EL 11/2016, § 134 Rz. 37.

Die Patronatserklärung als unentgeltliche Leistung in der Insolvenz des Patrons 1011

Die Maßgaben für die Beurteilung der Entgeltlichkeit einer Drittsicherheit können hier ebenfalls Geltung beanspruchen. Hiernach ist die Sicherheitenbestellung gegenüber dem Sicherungsnehmer nicht als unentgeltliche Leistung anfechtbar, wenn dieser Zug-um-Zug oder später vereinbarungsgemäß einem Dritten z. B. ein Darlehen ausreicht. Wurde die Sicherheit nicht spätestens Zug-um-Zug mit der Darlehensauszahlung gewährt, sondern erst später, liegt eine unentgeltliche Nachbesicherung vor. Als Gegenleistung, die zur Annahme der Entgeltlichkeit führt, wäre das Stehenlassen eines sonst durchsetzbaren Rückforderungsanspruchs gegen einen Dritten nicht ausreichend, weil das bloße Unterlassen der Rückforderung keine Zuführung neuen Vermögens bedeutet.83) Im Ergebnis liegt eine entgeltliche „externe“ Patronatserklärung vor, wenn der Gläubiger an den Patron oder einen Dritten, insbesondere den Protegé, eine ausgleichende Gegenleistung erbringt und diese wenigstens kausal oder konditional mit der Patronatserklärung verknüpft ist. Anderenfalls wurde die „externe“ Patronatserklärung unentgeltlich gewährt. bb) Regressanspruch des Patrons als Ausgleich „auf andere Art und Weise“ Es fragt sich wie zuvor bereits mit Blick auf die „interne“ Patronatserklärung auch mit Blick auf die „externe“ Patronatserklärung, ob ein Ausgleich „auf andere Art und Weise“ erfolgt.84) Die Antwort fällt in der Konstellation der „externen“ Patronatserklärung, in der sich der Patron gegenüber einem Gläubiger zur Ausstattung des Protegés verpflichtet, komplexer aus, weil ein dreiseitiges Verhältnis in den Blick genommen werden muss. Die erfolgsbezogene Ausstattungsverpflichtung übernimmt der Patron im Verhältnis zum Gläubiger des Protegés. Im Verhältnis zwischen Patron und Protegé liegt der Übernahme der erfolgsbezogenen Ausstattungsverpflichtung nach ganz überwiegender Ansicht ein Auftrag i. S. von §§ 662 ff. BGB oder bei Entgeltlichkeit eine Geschäftsbesorgung i. S. von § 675 BGB zugrunde (dazu bereits oben III.3.).85) Fehlt es ganz an einer vertraglichen Beziehung zwischen Patron und Protegé, sollen

83) 84) 85)

BGH, Urt. v. 20.12.2012 – IX ZR 21/12, Rz. 31, ZIP 2013, 223 = NZI 2013, 258, m. Anm. Runge. Ausführlich zum Regress bei der Patronatserklärung Koch, Die Patronatserklärung, 2005, S. 313 ff. Zum Meinungsstand ausführlich Koch, Die Patronatserklärung, 2005, S. 314 f. (siehe dort die Nachweise in Fn. 11 und Fn. 12).

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Ansprüche unter den Voraussetzungen der §§ 677 ff. BGB aufgrund einer Geschäftsführung ohne Auftrag in Betracht kommen.86) Im Ergebnis soll dann der aus § 670 BGB (ggf. i. V. m. § 675 BGB) folgende Aufwendungsersatzanspruch dem Patron die Grundlage für einen originären Regress beim Protegé als dem Hauptschuldner verschaffen. Ein solcher Aufwendungsersatzanspruch nach § 670 BGB umfasst sämtliche etwaige freiwillige Vermögensopfer im Interesse eines anderen, die der Beauftragte zur Ausführung des Auftrags, in dessen Folge oder zur Erreichung des Zwecks der Besorgung erbracht hat.87) Dieses weite Begriffsverständnis sorgt im Grundsatz dafür, dass nicht nur die Vermögensopfer umfasst sind, die unmittelbar infolge der Übernahme der Ausstattungsverpflichtung erbracht werden, sondern eben gerade auch die, die mittelbar zum Zwecke der Erfüllung der übernommenen Ausstattungsverpflichtung erbracht werden. Allerdings ist fraglich, ob der Patron die zum Zwecke der Erfüllung der übernommenen Ausstattungsverpflichtung erbrachten Vermögensopfer „im Interesse eines anderen“, nämlich des Protegés, erbringt. Die Leistung an den Protegé erbringt der Patron aufgrund eines zwischen ihm und dem Protegé neu geschaffenen eigenständigen Schuldgrundes, z. B. eines Darlehensvertrags, eines Übernahmevertrags im Zusammenhang mit einer Kapitalerhöhung oder einer schuldrechtlichen Pflicht zur Zahlung in die freie Kapitalrücklage. Diesen Schuldgrund hat der Patron zwar zum Zwecke der Erfüllung seiner erfolgsbezogenen Ausstattungsverpflichtung aus der Patronatserklärung gegenüber dem Protegé neu geschaffen. Es liegt aber – zumindest auch – ein Eigengeschäft vor. Im Fall eines Eigengeschäfts entfällt der Aufwendungsersatzanspruch des Auftragsrechts. Im Fall eines „Auch-fremden-Geschäfts“ soll dem beauftragten Patron nur ein anteiliger Ersatz zustehen, und zwar nur in der Höhe, in welcher die Aufwendung der Auftragsausführung zugutegekommen ist.88) Darin spiegelt sich die Ratio des § 670 BGB wieder, dass nämlich die Kosten der Ausführung des zu besorgenden Geschäfts oder der Vornahme dazu bestimmter Handlungen von demjenigen, in dessen Interesse sie vorgenommen worden sind, auch zu tragen sind. Eine pauschale Abgrenzung lässt sich aufgrund der Vielgestaltigkeit der denkbaren 86) 87) 88)

Koch, Die Patronatserklärung, 2005, S. 315 (siehe dort die Nachweise in Fn. 13 und zur Gegenansicht in Fn. 14 und Fn. 15). Statt vieler Schäfer in: MünchKomm-BGB, 7. Aufl. 2017, § 670 Rz. 7 ff., insbesondere Rz. 19 zu der Voraussetzung der Auftragsausführung als Zweck der Aufwendung. Statt vieler Schäfer in: MünchKomm-BGB, 7. Aufl. 2017, § 670 Rz. 33.

Die Patronatserklärung als unentgeltliche Leistung in der Insolvenz des Patrons 1013

Leistungen zwecks Erfüllung der Ausstattungspflicht aus der Patronatserklärung zwar nicht vornehmen. Der Patron hat es im Regelfall aber in der Hand, bei der Wahl des Ausstattungswegs die eigenen Interessen zu verfolgen. Leistet der Patron z. B. die im Zusammenhang mit einer Kapitalerhöhung auf die übernommenen Anteile entfallende Einlage, dürfte ein Aufwendungsersatz ganz ausscheiden. Aber selbst in dem Fall, dass kein unmittelbarer Ausgleich für die Ausstattung erbracht wird, erfolgt die Ausstattung des Protegés im Hinblick auf die Gesellschafterstellung des Patrons und mithin causa societatis und nicht allein im Fremdinteresse wie es dem Leitbild des Auftragsrechts und insbesondere auch des § 670 BGB entspricht. In diesem Fall fehlt es entweder bereits an einer Geschäftsbesorgung, die nämlich eine fremdnützige Tätigkeit voraussetzt,89) oder aber jedenfalls an der Zwecksetzung, weil es sich nicht um Vermögensopfer zum Zwecke der Ausführung des zu besorgenden Geschäfts, sondern in erster Linie causa societatis handelt. Wenn man entgegen der hier vertretenen Auffassung annimmt, dass der Patron seine Leistung als Aufwendung i. S. von § 670 BGB (ggf. i. V. m. § 675 BGB) bzw. nach §§ 670, 683 Satz 1 BGB gegenüber dem Protegé geltend machen kann, stellt sich die Frage nach der Werthaltigkeit des Regressanspruchs. In der Entscheidung, in welcher der Bundesgerichtshof hinsichtlich der Zahlung auf eine Nichtschuld die Entgeltlichkeit damit begründet hat, dass dem Leistenden (vorbehaltlich § 814 BGB) ein bereicherungsrechtlicher Ausgleich nach § 812 BGB zusteht, wird die Frage der Werthaltigkeit des Ausgleichsanspruchs nicht gestellt. Das mag in dem vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall auch unproblematisch gewesen sein, weil es sich dort bei der Schuldnerin des bereicherungsrechtlichen Ausgleichs um eine deutsche Großbank gehandelt hat.90) Im Grundsatz gilt aber nach einhelliger Meinung, dass trotz Gegenleistung Unentgeltlichkeit vorliegt, wenn die Gegenleistung keinen angemessenen Gegenwert für die vom Schuldner erbrachte Leistung darstellt.91)

89)

90) 91)

Statt vieler Schäfer in: MünchKomm-BGB, 7. Aufl. 2017, § 662 Rz. 11. Das Element der Fremdnützigkeit findet sich auch in dem Begriff der Aufwendung wieder, siehe BGH, Urt. v. 19.6.2013 – IV ZR 228/12, Rz. 23, NJW-RR 2013, 1252: Soweit der Begriff der Aufwendung in Vorschriften des BGB verwendet wird (vgl. etwa §§ 256, 284, 304, 670 BGB), bezeichnet er in Abgrenzung zu unfreiwillig erlittenen Schäden die freiwillige Aufopferung von Vermögenswerten im Interesse eines anderen. So auch die Erklärung bei Bork, NZI 2018, 1, 5. Statt vieler Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 134 Rz. 28.

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Vor diesem Hintergrund könnte die Frage nach einem Ausgleichsanspruch des Patrons gegen den Protegé dahinstehen, wenn ein solcher Anspruch ohnehin nicht werthaltig wäre. Im dem Zeitpunkt, in dem der Patron die finanzielle Ausstattung des Protegés bewirkt oder an den Dritten/Gläubiger direkt zahlt, dürfte es an der Werthaltigkeit eines etwaigen Aufwendungsersatzanspruchs nach § 670 BGB (ggf. i. V. m. § 675 BGB) bzw. nach §§ 670, 683 Satz 1 BGB gegenüber dem Protegé regelmäßig fehlen. Allerdings beginnt der Auftrag bzw. die Geschäftsbesorgung nicht erst mit der Leistung des Patrons, sondern bereits mit der Abgabe der Patronatserklärung selbst. Der Abschluss von Verträgen mit der Übernahme von Leistungspflichten durch den Schuldner kann ebenfalls als Leistung i. S. des § 134 InsO angesehen werden.92) Wird der Abschlusses des Kausalgeschäfts angefochten, ist entsprechend der Zeitpunkt des Vertragsschlusses maßgebend. Allerdings setzt die Entstehung des Aufwendungsersatzanspruchs nach § 670 BGB (ggf. i. V. m. § 675 BGB) bzw. nach §§ 670, 683 Satz 1 BGB gegenüber dem Protegé voraus, dass der Patron zum Zwecke der Geschäftsbesorgung „Aufwendungen macht“. Der Bundesgerichtshof hat mit Blick auf § 670 BGB daher festgestellt, dass die Vorschrift des § 670 BGB nicht allein an die Geschäftsbesorgung als solche anknüpft, sondern daran, dass anlässlich der Geschäftsführung ein freiwilliges Vermögensopfer durch den Geschäftsführer tatsächlich erbracht wird.93) Zum Zeitpunkt der Eingehung des Auftrags bzw. der Geschäftsbesorgung kann daher allenfalls von einem aufschiebend bedingten Ausgleichsanspruch des Patrons gesprochen werden. Die Bedingung tritt ein, sobald der Patron seine Leistung an den Protegé oder den Dritten/Gläubiger tatsächlich erbracht hat. Die Pflicht zur Leistung wird aber nach Maßgabe der Patronatserklärung wiederum regelmäßig voraussetzen, dass der Protegé selbst nicht in der Lage ist, seine Verbindlichkeiten oder eine bestimmte Verbindlichkeit zu befriedigen. Erlangt der Patron in dieser Situation einen Regressanspruch gegen den Protegé, dürfte der Protegé diesen Regressanspruch ebenso wenig befriedigen können. Diese Zusammenhänge bewirken aber bereits bei Abschluss der Patronatserklärung und des Auftrags bzw. der Geschäftsbesorgung, dass der aufschiebend bedingte Ausgleichs92)

93)

BGH, Urt. v. 26.4.2012 – IX ZR 146/11 (Karstadt-Arcandor), Rz. 38, ZIP 2012, 1183 = NZI 2012, 562; vgl. auch BGH, Urt. v. 21.1.1993 – IX ZR 275/91, BGHZ 121, 179, 182 = ZIP 1993, 208; aus dem Schrifttum statt vieler Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 134 Rz. 6. BGH, Urt. v. 5.7.2018 – III ZR 273/16, Rz. 28, NJW 2018, 2714.

Die Patronatserklärung als unentgeltliche Leistung in der Insolvenz des Patrons 1015

anspruch bei wirtschaftlicher Betrachtung objektiv keine hinreichende Gegenleistung für die Übernahme von Leistungspflichten in der Patronatserklärung darstellt.94) Es ist nach alledem weder auf Grundlage der externen Patronatserklärung zwischen Patron und Gläubiger des Protegés noch auf Grundlage des nach ganz überwiegender Ansicht zwischen Patron und Protegé begründeten Auftragsverhältnisses i. S. von §§ 662 ff. BGB bzw. Geschäftsbesorgungsverhältnisses i. S. von § 675 BGB oder einer Geschäftsführung ohne Auftrag i. S. von §§ 677 ff. BGB ein – zumindest kein werthaltiger – Regressoder Aufwendungsersatzanspruch des Patrons gegen den Protegé begründet, der als „ausgleichende Zuwendung“ eine Entgeltlichkeit der externen Patronatserklärung begründen könnte. cc) Sonstige Anknüpfungspunkte zur Begründung einer Entgeltlichkeit Hinsichtlich der übrigen im Zusammenhang mit der „internen“ Patronatserklärung geprüften Anknüpfungspunkte für eine Begründung der Entgeltlichkeit der Patronatserklärung ergeben sich mit Blick auf die „externe“ Patronatserklärung keine Besonderheiten. Im Ergebnis ergibt sich auch aus dem Umstand, dass der Patron mit dem Protegé regelmäßig gesellschaftsrechtlich verbunden ist, nichts für die Annahme einer Entgeltlichkeit einer „externen“ Patronatserklärung. Ferner lässt sich die Entgeltlichkeit der externen Patronatserklärung auch nicht damit begründen, dass der Patron mit der Leistung ein wirtschaft94)

Dies ist auch kein Widerspruch zu der Rechtsprechung des BGH, nach der die voraussetzungslose Anordnung des Nachrangs für Rückzahlungsansprüche des Gesellschafters aus Gesellschafterdarlehen gemäß § 39 Abs. 1 Nr. 5 InsO im Insolvenzfall den Rückzahlungsanspruch gerade nicht entwerten soll, siehe BGH, Urt. v. 13.10.2016 – IX ZR 184/14, BGHZ 212, 272 = ZIP 2016, 2483. Der Gesellschafter würde nach Ansicht des BGH zwar in der Insolvenz der Gesellschaft im Regelfall den vollen wirtschaftlichen Wert seiner Rückzahlungsforderung verlieren, weil eine auch nur anteilige Befriedigung seiner nachrangigen Ansprüche der absolute Ausnahmefall ist. Hierbei handele es sich aber weder um eine sich bereits aus der Tatsache der Darlehensgewährung zwingend ergebende Folge, noch tritt diese bereits im Zeitpunkt der Leistungserbringung ein. Die Abwertung des Rückzahlungsanspruchs beschränke sich vielmehr in tatsächlicher und zeitlicher Hinsicht auf Fälle, in denen das Insolvenzverfahren über das Vermögen der Gesellschaft eröffnet worden ist. Die Frage des „Ob“ der Verfahrenseröffnung ist aber ungewiss. Dagegen entsteht der Regress- oder Aufwendungsersatzanspruch des Patrons im Regelfall erst, wenn die fehlende Leistungsfähigkeit des Protegés und damit auch die fehlende Werthaltigkeit des Regress- oder Aufwendungsersatzanspruchs des Patrons feststeht.

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liches Eigeninteresse verfolgt.95) Im Regelfall dürfte auch kein Vorteil gegeben sein, der die Nachteile der erfolgsbezogenen Verpflichtung des Patrons zur hinreichenden finanziellen Ausstattung des Protegés unmittelbar auszugleichen vermag. Die Stärkung der Kreditwürdigkeit des Protegés und damit mittelbar die Verbesserung der durch die Mitgliedschaft vermittelten Vermögenslage des Patrons ist jedenfalls unzureichend. dd) Zwischenergebnis Im Ergebnis liegt eine entgeltliche „externe“ Patronatserklärung vor, wenn der Gläubiger an den Patron oder einen Dritten, insbesondere den Protegé, eine ausgleichende Gegenleistung erbringt und diese wenigstens kausal oder konditional mit der Patronatserklärung verknüpft ist. Eine solche Verknüpfung ist im Einzelfall festzustellen. Fehlt es an einem Vermögensopfer des Gläubigers oder an einer kausalen oder konditionalen Verknüpfung mit der Patronatserklärung, ist die „externe“ Patronatserklärung unentgeltlich gewährt. Weder auf der Grundlage der „externen“ Patronatserklärung zwischen Patron und Gläubiger des Protegés noch auf Grundlage des nach ganz überwiegender Ansicht zwischen Patron und Protegé begründeten Auftragsverhältnisses i. S. von §§ 662 ff. BGB bzw. Geschäftsbesorgungsverhältnisses i. S. von § 675 BGB oder einer Geschäftsführung ohne Auftrag i. S. von §§ 677 ff. BGB ist ein – zumindest kein werthaltiger – Regress- oder Aufwendungsersatzanspruch des Patrons gegen den Protegé begründet, der als „ausgleichende Zuwendung“ eine Entgeltlichkeit der externen Patronatserklärung begründen könnte. V. Konsequenzen aus der Unentgeltlichkeit 1. Nachrang der Forderung des Protegés Die erfolgsbezogene Verpflichtung des Patrons zur hinreichenden finanziellen Ausstattung des Protegés, die ihre Grundlage in der Patronatser95)

BGH, Urt. v. 1.6.2006 – IX ZR 159/04, ZIP 2006, 1362 = NZI 2006, 524, m. Anm. Henkel (zu einem Fall der Sicherung einer fremden Forderung als unentgeltliche Leistung); BGH, Urt. v. 7.5.2009 – IX ZR 71/08, ZIP 2009, 1122 = NZI 2009, 435 (zu einem Fall des Stehenlassens einer kündbaren Darlehensforderung als unentgeltliche Leistung); siehe auch Kayser in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 134 Rz. 33a m. w. N. (auch zur früheren abweichenden Ansicht); Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 134 Rz. 76.

Die Patronatserklärung als unentgeltliche Leistung in der Insolvenz des Patrons 1017

klärung hat, begründet aus Sicht des Protegés nach Maßgabe des zuvor Gesagten eine Forderung auf eine unentgeltliche Leistung, die nach § 39 Abs. 1 Nr. 4 InsO in der Insolvenz des Patrons nachrangig ist. Dasselbe gilt, wenn man mit der h. M. annimmt, dass dem Patron mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens über sein Vermögen die Erfüllung seiner erfolgsbezogenen Ausstattungspflicht unmöglich wird und infolgedessen ein Schadenersatzanspruch begründet ist.96) Dieser ergibt sich bei Annahme einer Unmöglichkeit aus §§ 280 Abs. 1, Abs. 3, 283 BGB. Richtigerweise geht die Verpflichtung des Patrons zur hinreichenden finanziellen Ausstattung des Protegés mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Protegés jedoch nicht automatisch unter.97) Sie setzt sich mit Verfahrenseröffnung inhaltlich in einer Pflicht zur Deckung der Verbindlichkeiten fort.98) Der Protegé kann aber einen Schadenersatz wegen Nichterfüllung nach §§ 280 Abs. 1, Abs. 3, 281 BGB geltend machen. Eine Fristsetzung dürfte aufgrund der besonderen Umstände unter Abwägung der beiderseitigen Interessen nach § 281 Abs. 2 Alt. 2 BGB entbehrlich sein. Der Erfüllungsanspruch erlischt nach § 281 Abs. 4 BGB, wenn der Gläubiger Schadensersatz statt der Leistung verlangt. Allerdings teilt auch der Anspruch auf Schadenersatz statt der Leistung im Hinblick auf den Rang das Schicksal des ursprünglichen Erfüllungsanspruchs, d. h. er fällt ebenso wie dieser in den Nachrang des § 39 Abs. 1 Nr. 4 InsO. 2. Anfechtung einer Leistung des Patrons und der Patronatserklärung Eine nach den zuvor begründeten Maßstäben als unentgeltlich einzuordnende Leistung des Patrons an den Protegé kann nach § 134 InsO angefochten werden. Darüber hinaus kommt als Anfechtungsgegenstand aber auch die Patronatserklärung selbst in Betracht. Denn auch die Begründung einer Verpflichtung, hier die Begründung der erfolgsbezogenen Ausstattungsverpflichtungen auf Grundlage der Patronatserklärung, stellt eine Leistung i. S. des § 134 Abs. 1 InsO dar.99)

96) 97) 98) 99)

Zum Meinungsstand ausführlich Koch, Die Patronatserklärung, 2005, S. 297 ff. (siehe dort vor allem die Nachweise zur h. M. in Fn. 136). So wohl auch die Annahme in BGH, Urt. v. 19.5.2011 – IX ZR 9/10, Rz. 19, ZIP 2011, 1111 = NZI 2011, 536. Überzeugend La Corte, Die harte Patronatserklärung, 2006, S. 263 ff. BGH, Urt. v. 26.4.2012 – IX ZR 146/11 (Karstadt-Arcandor), Rz. 38, ZIP 2012, 1183 = NZI 2012, 562; Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 134 Rz. 15.

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Allerdings muss die Begründung der erfolgsbezogenen Ausstattungsverpflichtungen auf Grundlage der Patronatserklärung auch eine gläubigerbenachteiligende Wirkung i. S. von § 129 InsO haben. Nach einer vielzitierten Begriffsbestimmung durch den Bundesgerichtshof führt die Rechtshandlung zu einer Gläubigerbenachteiligung i. S. des § 129 InsO, wenn sie entweder die Schuldenmasse des Schuldners vermehrt oder die Aktivmasse verkürzt und dadurch den Zugriff der Gläubiger auf das Vermögen des Schuldners vereitelt, erschwert oder verzögert, mithin wenn sich die Befriedigungsmöglichkeiten der Insolvenzgläubiger ohne die Handlung bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise günstiger gestaltet hätten.100) Da der erfolgsbezogene Ausstattungsanspruch aus der Patronatserklärung oder der Schadenersatzanspruch des Protegés wegen Schlecht- oder Nichterfüllung der Verpflichtung zur Ausstattung nach hier vertretener Ansicht als unentgeltliche Forderungen und mithin nachrangige Forderungen i. S. von § 39 Abs. 1 Nr. 4 InsO einzuordnen sind, konkurrieren sie zwar nicht mit den sonstigen „einfachen“ Insolvenzgläubigern i. S. des § 38 InsO und auch nicht mit den nachrangigen Insolvenzgläubigern mit Forderungen im Rang des § 39 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 InsO. Allerdings würden sich die Befriedigungsmöglichkeiten eines nachrangigen Insolvenzgläubigers mit einer Forderung im Rang des § 39 Abs. 1 Nr. 4 InsO oder mit einer Forderung mit einem noch tieferen Rang günstiger gestalten, wenn der Protegé seine nachrangige Forderung i. S. des § 39 Abs. 1 Nr. 4 InsO nicht zur Insolvenztabelle anmelden dürfte (sofern es in dem Insolvenzverfahren über das Vermögen des Patrons überhaupt zu einer Aufforderung des Insolvenzgerichts zur Anmeldung der nachrangigen Forderungen gemäß § 174 Abs. 3 Satz 1 InsO kommen sollte). Die Benachteiligung dieser nachrangigen Gläubiger ist hinreichend, um eine gläubigerbenachteiligende Wirkung der Patronatserklärung i. S. von § 129 InsO annehmen zu können. Wird eine auf Abschluss eines gegenseitigen Vertrags gerichtete Willenserklärung insolvenzrechtlich angefochten, hat dies nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Folge, dass der Anfechtungsgegner sich nicht auf die angefochtene Erklärung berufen kann.101) Einer weitergehenden 100) Ständige Rechtsprechung siehe jüngst BGH, Urt. v. 12.10.2017 – IX ZR 288/14, Rz. 22, ZIP 2017, 2267 = NZI 2018, 22; ferner Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 129 Rz. 160 m. w. N. 101) BGH, Urt. v. 16.10.2014 – IX ZR 282/13, Rz. 11, ZIP 2014, 2303 = NZI 2014, 1057 m. w. N.

Die Patronatserklärung als unentgeltliche Leistung in der Insolvenz des Patrons 1019

Rückgewähr bedarf es nicht. Folge der Anfechtung ist also, dass der Vertrag als nicht bestehend behandelt wird und der Insolvenzverwalter dessen Anfechtbarkeit einwenden kann, wenn er auf Erfüllung des Vertrags in Anspruch genommen wird.102) Die Anfechtung der Patronatserklärung bewirkt also, dass sie als Grundlage für Ansprüche (auch für nachrangige Forderungen) wegfällt. VI. Zusammenfassung der Ergebnisse 1.

Der Patron schuldet im Regelfall einen bestimmten Leistungserfolg, nämlich die hinreichende finanzielle Ausstattung des Protegés. Die Patronatserklärung trägt ihren Geschäftszweck und auch ihren Rechtsgrund i. S. von § 812 BGB in sich.

2.

Die Art und Weise der Ausstattung ist in der Patronatserklärung regelmäßig offengelassen und der Patron kann insoweit frei entscheiden, solange nur der geschuldete Leistungserfolg eintritt. Die Patronatserklärung ist insoweit von dem Ausstattungsgeschäft, auf dessen Grundlage von dem Patron eine bestimmte Leistung an den Protegé erbracht und damit der geschuldete Erfolg letztlich herbeigeführt wird, strikt zu trennen.

3.

Für die Abgabe der Patronatserklärung schulden im Regelfall weder der Protegé aufgrund einer „internen“ Patronatserklärung noch der oder die Gläubiger des Protegés aufgrund einer „externen“ Patronatserklärung dem Patron eine Gegenleistung i. S. von §§ 320 ff. BGB. Das ist mit Blick auf das Ausstattungsgeschäft, auf dessen Grundlage von dem Patron eine bestimmte Leistung an den Protegé erbracht wird, regelmäßig anders. Nicht zuletzt deshalb sind Patronatserklärung und Ausstattungsgeschäft strikt voneinander zu trennen.

4.

Die Frage nach der Unentgeltlichkeit von Leistungen, die zum Zwecke der Erfüllung einer Ausstattungsverpflichtung aus einer Patronatserklärung erbracht werden, beantwortet sich nach dem Ausstattungsgeschäft, auf dessen Grundlage die Leistung erbracht wird. Die in der Praxis häufig gewählten Ausstattungsvarianten der Einlageleistung auf Grundlage eines Übernahmevertrages im Zusammenhang mit einer effektiven Kapitalerhöhung, der Zahlung auf Grundlage eines Darle-

102) Ebenso aus dem Schrifttum etwa Borries/Hirte in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 143 Rz. 5b.

1020

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hensvertrags oder der Zahlung auf Grundlage mezzaniner Finanzierungsinstrumente wie z. B. der stillen Beteiligung sind im Regelfall allesamt Ausstattungsvarianten auf der Grundlage entgeltlicher Ausstattungsgeschäfte und die auf deren Grundlage bewirkten Zahlungen sind ebenfalls entgeltliche Leistungen. Dagegen wäre z. B. die Leistung eines „verlorenen Zuschusses“ in die freie Kapitalrücklage unentgeltlich. 5.

Da der Protegé aufgrund einer „internen“ Patronatserklärung dem Patron im Regelfall keine Gegenleistung i. S. von §§ 320 ff. BGB verspricht und auch kein Regress- oder Aufwendungsersatzanspruch als Ausgleich „auf andere Art und Weise“ begründet ist, hängt die Unentgeltlichkeit davon ab, ob der Protegé eine Gegenleistung an den Patron oder einen Dritten erbracht hat, die konditional oder kausal mit dem Leistungsversprechen des Patrons verknüpft ist. Kann eine solche konditional oder kausal verknüpfte Gegenleistung im Einzelfall festgestellt werden, liegt eine entgeltliche „interne“ Patronatserklärung vor. Anderenfalls wurde die Patronatserklärung unentgeltlich gewährt.

6.

Weder auf der Grundlage der „externen“ Patronatserklärung zwischen Patron und Gläubiger des Protegés noch auf Grundlage des nach ganz überwiegender Ansicht zwischen Patron und Protegé begründeten Auftragsverhältnisses i. S. von §§ 662 ff. BGB bzw. Geschäftsbesorgungsverhältnisses i. S. von § 675 BGB oder einer Geschäftsführung ohne Auftrag i. S. von §§ 677 ff. BGB ist ein – zumindest kein werthaltiger – Regress- oder Aufwendungsersatzanspruch des Patrons gegen den Protegé begründet, der als „ausgleichende Zuwendung“ eine Entgeltlichkeit der „externen“ Patronatserklärung begründen könnte. Im Ergebnis liegt daher eine entgeltliche „externe“ Patronatserklärung vor, wenn der Gläubiger an den Patron oder einen Dritten, insbesondere den Protegé, eine ausgleichende Gegenleistung erbringt und diese wenigstens kausal oder konditional mit der Patronatserklärung verknüpft ist. Eine solche Verknüpfung ist im Einzelfall festzustellen. Fehlt es an einem Vermögensopfer des Gläubigers oder an einer kausalen oder konditionalen Verknüpfung mit der Patronatserklärung, ist die „externe“ Patronatserklärung insoweit unentgeltlich gewährt.

7.

Der Begriff der Unentgeltlichkeit i. S. von §§ 39 Abs. 1 Nr. 4 und 134 InsO ist ein anderer als der des bürgerlich-rechtlichen Schen-

Die Patronatserklärung als unentgeltliche Leistung in der Insolvenz des Patrons 1021

kungsrechts gemäß §§ 516 ff. BGB. Die Rechtsprechung des II. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs zum bürgerlich-rechtlichen Schenkungsrecht, wonach eine unentgeltliche Zuwendung ausgeschlossen ist, wenn ein Gesellschafter, ohne dazu nach dem Gesellschaftsvertrag oder aus einem anderen Rechtsgrund verpflichtet zu sein, eine Leistung an die Gesellschaft im Hinblick auf seine Mitgliedschaft (causa societatis) erbringt oder eine solche zusagt, kann nicht auf die Schenkungsanfechtung im Insolvenzrecht und den dort maßgeblichen Begriff der Unentgeltlichkeit i. S. von § 134 InsO übertragen werden.

Restrukturierung im Land der Pharaonen – Das neue ägyptische Insolvenzrecht auf dem Prüfstand – HEINZ VALLENDER Inhaltsübersicht I. Einleitung II. Anwendungsbereich III. Mediation, Restrukturierung und Insolvenzvermeidung als neue Elemente des ägyptischen Insolvenzrechts 1. Mediation a) Zielsetzung des ägyptischen Mediationsverfahrens aa) Zuständigkeit bb) Verfahrensablauf b) Verfahrensabschluss 2. Restrukturierungsverfahren a) Zulässigkeit des Antrags b) Verfahrensgang aa) Bestellung eines Restrukturierungsausschusses bb) Folgen der Planbestätigung cc) Bestellung eines Assistenten („assistant“) dd) Beendigung des Restrukturierungsverfahrens 3. Insolvenzvermeidungsverfahren („Preventive Composition“) a) Antragsvoraussetzungen b) Verfahrensgang aa) Zurückweisung des Antrags bzw. Aufhebung des Verfahrens

bb) Anordnung von Sicherungsmaßnahmen cc) Verfahrenseröffnung c) Wirkungen der Verfahrenseröffnung d) Bestellung, Rechtsstellung und Aufgaben des Verwalters („composition trustee“) e) Forderungsanmeldung aa) Hinterlegung der Forderungstabelle bei der Geschäftsstelle des Gerichts bb) Bestreiten der angemeldeten Forderungen cc) Anberaumung der Gläubigerversammlung dd) Durchführung der Gläubigerversammlung ee) Vergleichsabschluss ff) Wirkungen des Vergleichs und Verfahrensabschluss f) Bestellung eines Zensors („censor“) g) Unwirksamkeit der Vergleichsvereinbarung h) Aufhebung der Vergleichsvereinbarung i) Vergütungsfestsetzung 4. Internationales Insolvenzrecht IV. Bewertung und Ausblick

I. Einleitung Am 19. Februar 2018 ist das ägyptische Restrukturierungs-, Konkursvermeidungs- und Konkursgesetz1) in Kraft getreten. Es löst die konkursrecht1)

Law regulating the Restructuring, Preventive Composition and Bankruptcy, Official Gazette, Law Nr. 11 of 2018, Issue Nr. 7 (bis) (d), v. 19.2.2018, aus Gründen der Vereinfachung wird im nachstehenden Beitrag der Begriff Insolvenzgesetz verwendet.

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lichen Bestimmungen aus dem Jahre 19992) ab, die Teil des ägyptischen Handelsgesetzbuchs (Art. 550 bis 772) waren. Neben dem neuen Insolvenzgesetz, das als ein wichtiges Element der Gesetzgebung zum Wirtschaftsrecht angesehen wird,3) sind für die Bearbeitung von Insolvenzverfahren weiterhin die Vorschriften des ägyptischen Zivilprozessrechts insoweit maßgebend, als sie Regelungen zum Verkauf und der Liquidation des schuldnerischen Vermögens enthalten. Um Gläubigern und dem Schuldner ein höheres Maß an Flexibilität bei der Bewältigung unternehmerischer Krisen zu eröffnen, sieht das neue Gesetz u. a. die Einführung eines Mediationsverfahrens sowie die Möglichkeit der Restrukturierung vor. Der Jubilar hat in den vielen Jahren, in denen er insbesondere als Vorsitzender des IX. Zivilsenats des Bundesgerichtsgerichtshofes tätig war, reichhaltige Erfahrung mit grenzüberschreitenden Verfahren sowie fremden Rechtsordnungen sammeln und die zur Entscheidung anstehenden Verfahren gemeinsam mit seinen Senatskollegen sachgerechten Lösungen zuführen können. Gleichzeitig hat er den Dialog mit der insolvenzrechtlichen Praxis gesucht und gepflegt, auf nationaler wie auf internationaler Ebene. So hat er etwa – gemeinsam mit dem Verfasser dieses Beitrags – am 8. und 9. Mai 2017 als Referent und äußerst engagierter Diskussionsteilnehmer am 17. Deutsch-Chinesischen Rechtssymposium in Changde/VR China teilgenommen. Von daher liegt es nahe, Godehard Kayser in längjähriger Verbundenheit einen Beitrag zuzueignen, der hoffentlich trotz seines ein wenig „exotischen“ Charakters das Interesse des Jubilars finden möge.4) Den Schwerpunkt der nachfolgenden Ausführungen bilden die Vorschriften zur Mediaton, Restrukturierung und Insolvenzvermeidung, die auch aus europäischer Sicht interessante Ansatzpunkte für die Bewältigung finanzieller und wirtschaftlicher Schwierigkeiten eines Unternehmens bieten.

2) 3)

4)

Law Nr. 17 of 1999. In seiner Begrüßungsansprache am 18.2.2019 in Kairo anlässlich des Egypt Judicial Training on Company Bankruptcy Restructuring in der Zeit vom 18. bis 20.2.2019, an der auch der Verfasser dieses Beitrags als Experte der WorldBank teilgenommen hat, wies der ägyptische Justizminister Mohamed Hossan Abdel-Rahim darauf hin, dass das neue Gesetz den Wirtschaftsstandort Ägypten stärken und Investoren im Fall des Scheiterns von Unternehmen mehr Sicherheit geben solle. Da dem Verfasser nur die englische Fassung des Gesetzes vorlag und er des Arabischen nicht mächtig ist, ist nicht auszuschließen, dass manche der verwendeten Begriffe nicht deckungsgleich mit den deutschen Termini sind.

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II. Anwendungsbereich Die Regelungen des neuen ägyptischen Insolvenzgesetzes finden auf Unternehmen Anwendung, unabhängig davon, ob es sich um einen Konzern oder eine Partnerschaft handelt oder sie den Vorschriften des Investment Law Nr. 71 of 2017 oder dem Companies Law Nr. 159 of 1981 unterliegen.5) Darüber hinaus gelten sie auch für natürliche Personen, die einer eigenständigen wirtschaftlichen Tätigkeit nachgehen, sei es gelegentlich oder hauptberuflich. Ausgenommen vom Anwendungsbereich des Insolvenzgesetzes sind Joint-Venture-Unternehmen sowie Gesellschaften aus dem öffentlichen Bereich („public sector companies and public business sector companies“).6) Damit bleibt das neue Gesetz insoweit hinter zahlreichen Insolvenzgesetzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft zurück, als diese auch Privatpersonen, die keiner wirtschaftlichen Tätigkeit nachgehen, in ihren Anwendungsbereich einbeziehen.7) Im Übrigen sieht das Gesetz Nr. 11 of 2018 keine Möglichkeit der Restschuldbefreiung vor. III. Mediation, Restrukturierung und Insolvenzvermeidung als neue Elemente des ägyptischen Insolvenzrechts Bis Anfang des vergangenen Jahres war dem ägyptischen Recht die Möglichkeit, ein wirtschaftlich angeschlagenes Unternehmen nach Maßgabe gesetzlicher Bestimmungen zu reorganisieren, fremd. Der Staat hat indes inzwischen erkannt, dass die Einführung aufeinander abgestimmter Regelungen zur Reorganisation und Liquidation eines schuldnerischen Unternehmens dazu beitragen kann, dem Schuldner eine zweite Chance zu eröffnen und die Befriedigungsmöglichkeiten der Gläubiger zu verbessern. Darüber hinaus dürfte sich die Erkenntnis durchgesetzt haben, dass die Sanierung von Unternehmen zum Erhalt von Arbeitsplätzen beitragen und den Unternehmergeist fördern kann. Dazu dienen ersichtlich die neu eingeführten Regelungen zur Mediation im Insolvenzverfahren (Art. 4 bis 10), die Einführung eines Restrukturierungsverfahrens (Art. 15 bis 29) sowie das Insolvenzvermeidungsverfahren (Preventive Composition, Art. 30 bis 73), die es Unternehmen und natürlichen Personen ermöglichen, in einer Krisensituation durch die Ausarbeitung eines 5) 6) 7)

S. die Definition in Art. 10 des Handelsgesetzbuchs, Law Nr. 17 of 1999. S. Art. 1 Satz 2 des Einführungsgesetzes (Law Nr. 11 of 2018 Promulgating the Law regulating the Restructuring, Preventive Composition and Bankruptcy). S. z. B. § 11 Abs. 1 Satz 1 InsO.

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Restrukturierungsplans bzw. eines gerichtlich bestätigten Vergleichs das Unternehmen fortzuführen und den Eintritt in ein Liquidationsverfahren zu vermeiden. Damit weisen die neuen Bestimmungen Parallelen zum französischen Recht auf, das für zahlreiche Regelungen Pate gestanden haben dürfte.8) So ernennt in dem weitgehend informellen und vertraulichen Ad-hocMandat-Verfahren (mandat-ad-hoc-Verfahren) der Präsident des Handelsgerichts auf Antrag des Schuldners einen Beauftragten (mandataire ad hoc), den der Schuldner vorschlagen kann, und bestimmt dessen Aufgaben, und zwar in der Regel, dem Schuldner zu helfen, mit seinen Gläubigern einen freiwilligen Vergleich auszuhandeln (Art. L. 611-3). Das – ebenfalls vertrauliche – Schlichtungsverfahren (procédure de conciliation) steht Schuldnern offen, die rechtlichen, wirtschaftlichen oder finanziellen Schwierigkeiten ausgesetzt sind oder denen solche drohen, und entweder nicht oder noch nicht länger als 45 Tage zahlungsunfähig sind (Art. L. 611-4 C. com.). Zugang zum Sanierungsverfahren (procédure de sauvegarde) als präventives gerichtliches Insolvenzverfahren finden wiederum nur solche Schuldner, die zwar noch nicht zahlungsunfähig sind, aber finanzielle Schwierigkeiten haben, die sie nicht zu überwinden in der Lage sind (Art. L. 620-1 C. com.). 1. Mediation Mediation ist die Vermittlung in einem Konflikt durch einen neutralen Dritten, der keine Entscheidungskompetenz besitzt.9) Die Konfliktlösung wird dadurch bewirkt, dass der Mediator die Verhandlungen der Beteiligten strukturiert und auf eine einvernehmliche Einigung hinwirkt, die dann ggf. in einer Abschlussvereinbarung fixiert wird.10) Auf europäischer Ebene ist man dem Gedanken, in Fällen des wirtschaftlichen Scheiterns von Unternehmen durch die Bestellung einer unabhängigen Person eine interessengerechte Lösung für einen Konflikt zu finden, jüngst nahegetreten. In ihrer Empfehlung vom 12. März 2014 regt die Europäische Kommission die Beauftragung eines Mediators durch das Gericht zur Unterstützung des Schuldners und der Gläubiger an, damit erfolgreiche Verhandlungen über 8)

9)

10)

Näher dazu Vallender/Heukamp, Die Reform des französischen Unternehmensinsolvenzrechts oder rette sich, wer kann, InVo 2006, 1; Degenhardt, Die Reform des französischen Insolvenzrechts vom 12.3.2014, NZI 2014, 433. Duve/Eidenmüller/Hacke, Mediation in der Wirtschaft, 2003, S. 59; näher zur Mediation in der Insolvenz Vallender, Mediation in nationalen und grenzüberschreitenden Insolvenzverfahren, in: FS Prütting, 2018, S. 897. Schön, Mediation – ein effizientes Instrument in der Schuldnerberatung, ZKM 2008, 137.

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einen Restrukturierungsplan geführt werden können.11) Diesen Gedanken hatte der Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über präventive Restrukturierungsrahmen, die zweite Chance und Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie 2012/30/EU aufgegriffen.12) So schrieb ErwG 18 dem Mediator die Aufgabe zu, die Verhandlungen über einen Restrukturierungsplan zu unterstützen. Art. 25 des Entwurfs gab den Mitgliedstaaten auf, sicherzustellen, dass Mediatoren, Insolvenzverwalter und sonstige Verwalter, die in Sachen im Bereich Restrukturierung, Insolvenz und zweite Chance bestellt werden, die nötige Aus- und Weiterbildung erhalten, um zu gewährleisten, dass ihre Dienste gegenüber den Parteien in einer wirksamen, unparteiischen, unabhängigen und sachkundigen Weise erbracht werden. In der endgültigen Fassung der Restrukturierungsrichtlinie hat dies keine Berücksichtigung mehr gefunden. a) Zielsetzung des ägyptischen Mediationsverfahrens In teilweiser Übereinstimmung mit den vorgenannten Grundsätzen definiert Art. 1 des Insolvenzgesetzes Mediation als ein Güteverfahren zur Beilegung von Streitigkeiten wirtschaftlicher Art durch einen Mediator („an amicable system to resolve commercial disputes trough a mediator [bankruptcy judge]“). Dem Insolvenzrichter, der in diesem Verfahren nicht die klassische Rolle eines gänzlich neutralen Dritten einnimmt,13) kommt dabei die Aufgabe zu, die Annäherung der verschiedenen Ansichten der Parteien im Zusammenhang mit einer streitigen vertraglichen oder nichtvertraglichen Beziehung zu fördern und angemessene Vorschläge zur Streitbeilegung zu unterbreiten („who shall promote a convergence of views among the parties in dispute on occasion of a contractual or non-contractual relationship, and suggest appropriate solutions to such disputes“). Die Tätigkeit 11)

12)

13)

Empfehlung der Kommission v. 12.3.2014 für einen neuen Ansatz im Umgang mit unternehmerischem Scheitern und Unternehmensinsolvenzen, COM(2014) 1500 final, B. 9. lit. a, S. 7. Richtlinie (EU) 2019/1023 des Europäischen Parlaments und des v. 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) – Restrukturierungsrichtlinie, ABl. (EU) L 172/18, v. 26.6.2019. Im Falle des Scheiterns der Mediation hat der Insolvenzrichter weitere verfahrensrechtliche Schritte einzuleiten, s. Art. 11.

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des Richters zielt darauf ab, einen Vergleichsabschluss zu fördern und nicht auf den Inhalt des Vergleichs Einfluss zu nehmen. Den Parteien steht die Möglichkeit offen, in jeder Phase des Restrukturierungs- oder des Insolvenzvermeidungsverfahren diesen Weg zu beschreiten. Ein solches Vorgehen liegt z. B. für einen Schuldner nahe, dessen Bank die Kündigung eines Kredits angekündigt hat mit der Folge, dass der Rückzahlungsanspruch zur Zahlungsunfähigkeit des Schuldners führen würde. Ebenso bietet sich die Mediation als Insolvenzvermeidungsinstrument bei Streitigkeiten zwischen Gesellschaftern eines Unternehmens über die Frage des Eintritts der Zahlungsunfähigkeit an. aa) Zuständigkeit Mit der Durchführung des Mediationsverfahrens wird die neu beim Economic Court verortete Insolvenzabteilung betraut (Art. 4 (a)). Ein entsprechender Antrag ist an den Leiter dieser Abteilung zu richten, der das Gesuch an den Insolvenzrichter mit der Weisung, innerhalb von 30 Tagen ein Mediationsverfahren einzuleiten, weiterleitet. Art. 5 Satz 2 sieht vor, dass diese Frist um weitere 30 Tage verlängert werden kann. Der Insolvenzrichter ist verpflichtet, die ihm im Zusammenhang mit dem Verfahren zur Kenntnis gelangten Informationen grundsätzlich vertraulich zu behandeln (Art. 6). bb) Verfahrensablauf Zu den vom Richter anberaumten Mediationsgesprächen haben die Parteien grundsätzlich persönlich zu erscheinen. Die Art und Weise der Durchführung des Mediationsverfahrens steht im Ermessen des Insolvenzrichters. Er kann entweder die Parteien zu einem gemeinsamen Gespräch laden oder mit jeder einzelnen Partei den Streit erörtern (Art. 7). Soweit es ihm notwendig erscheint, kann er sich der Hilfe Dritter bedienen. Dabei wird er im Zweifel auf Sachverständige des Restrukturierungsausschusses (Art. 13, 14)14) zurückgreifen (Art. 8). Dem Insolvenzrichter steht es frei, eine der beiden Parteien aufzufordern, die Vergütung des Sachverständigen zu zahlen.

14)

Aus dem beim Handelsgericht niedergelegten Verzeichnis von Experten im Bereich der Sanierung und Vermögensverwaltung setzt der zuständige Richter einen Restrukturierungsausschuss zusammen.

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b) Verfahrensabschluss Gelingt es dem Insolvenzrichter, den Streit beizulegen, wird eine Vergleichsvereinbarung getroffen, in der Inhalt und Bedingungen der gütlichen Einigung niedergelegt und die Einzelheiten des Vergleichsverfahrens aufgeführt werden. Die Vereinbarung ist von den Parteien zu unterzeichnen. Der zuständige Insolvenzrichter erlässt auf dieser Grundlage einen Bestätigungsbeschluss zur Beendigung des Verfahrens. Die Vergleichsvereinbarung hat die Wirkung eines Vollstreckungstitels (Art. 9 Satz 3). 2. Restrukturierungsverfahren Mit Einführung des vor allem auf eine finanzwirtschaftliche Sanierung ausgerichteten Restrukturierungsverfahrens setzt Ägypten seinen Weg hin zu einem modernen Insolvenzrecht fort. Mittels eines Restrukturierungsplans soll der Schuldner aus einer aktuellen Finanzkrise geführt und das Unternehmen reorganisiert werden. Zur Erreichung dieses Ziels sieht Art. 18 verschiedene Instrumente vor. Dazu zählen zunächst die Vermögensbewertung, eine Umschuldung einschließlich öffentlich-rechtlicher Verbindlichkeiten in Form von Forderungsverzichten oder Stundungen, Kapitalerhöhungsmaßnahmen, Anstieg des eingehenden Kapitalflusses (groth of incoming cashflow), Rückgang des ausgehenden Kapitalflusses sowie verwaltungstechnische Umstrukturierungsmaßnahmen. Die Aufzählung in der vorgenannten Bestimmung ist nicht abschließend („such as“), so dass z. B. auch ein Debt to Equity Swap möglich ist. Das Verfahren bietet sich vor allem bei einer überschaubaren Zahl von Gläubigern wie Banken und Zulieferern an. a) Zulässigkeit des Antrags Jeder Kaufmann,15) dessen Eigenkapital („capital“) nicht weniger als 1 Mio. ägyptische Pfund16) beträgt und der in den letzten beiden Jahren vor Antragstellung regelmäßig kaufmännisch tätig war und keinen Betrug begangen hat, ist befugt, einen Antrag auf Durchführung des Restrukturierungsverfahrens zu stellen. Auf diese Weise soll der missbräuchlichen Inanspruchnahme des Verfahrens begegnet werden. Gläubiger des Schuldners sind zur Antragstellung nicht berechtigt. 15) 16)

Der Begriff „trader“ erfasst alle natürlichen und juristischen Personen, vgl. Art. 1 und 11 Trade Law. Dies entspricht einem Betrag von ca. 50.000 €.

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Befindet sich ein Unternehmen bereits in der Liquidation, ist der Antrag unzulässig. Ebenso wenig ist ein Schuldner im Falle der Konkurseröffnung oder der Beantragung eines Konkursvermeidungsverfahrens zur Antragstellung berechtigt (Art. 17 Abs. 1). Sobald der Schuldner den Antrag auf Einleitung des Restrukturierungsverfahrens eingeleitet hat, ruht ein etwaiger Antrag auf Konkurseröffnung oder Einleitung eines Konkursvermeidungsverfahrens bis zur abschließenden Entscheidung über den Restrukturierungsantrag (Art. 17 Abs. 3). Zugang zum Verfahren findet im Übrigen nur der Schuldner, der sich in einer aktuellen Finanzkrise („financial turmoil“) befindet (Art. 19 Abs. 1). Was darunter zu verstehen ist, lässt das Gesetz offen. Berücksichtigt man, dass die Einleitung eines Restrukturierungsverfahrens ein anhängiges Konkursverfahren, das bei Zahlungseinstellung („cessation of payment“) eingeleitet werden kann (Art. 75 Abs. 2), zum Ruhen bringt, dürfte die Spannbreite der Krise von der drohenden Zahlungsunfähigkeit bis zur Zahlungseinstellung reichen. Der Schuldner hat seinem Antrag einen Sanierungsvorschlag sowie die in Art. 19 Abs. 2 aufgeführten Unterlagen beizufügen. b) Verfahrensgang Gelangt der Insolvenzrichter zu der Überzeugung, dass es nicht zur Annahme eines Restrukturierungsplans kommen wird oder unterbreitet der Schuldner nicht die erforderlichen Unterlagen, kann er den Antrag zurückweisen. Gleiches gilt für den Fall, dass der Schuldner die Kosten für die Durchführung des Verfahrens nicht aufbringt. aa) Bestellung eines Restrukturierungsausschusses Nach Prüfung der Zulässigkeit des Antrags ernennt der Insolvenzrichter einen Restrukturierungsausschuss (Art. 14 Satz 1), dessen Aufgabe es ist, dem Richter innerhalb von drei Monaten seit Antragstellung einen Bericht vorzulegen, der die Gründe für die aktuelle Finanzkrise des Schuldners aufführt, die Aussichten für eine Restrukturierung näher darlegt und sowie einen Plan zu unterbreiten, mit welchen Mitteln und Maßnahmen die finanzwirtschaftliche Krise des Schuldners gemeistert werden kann (Art. 20 Satz 1). Der Insolvenzrichter kann die Frist um weitere drei Monate verlängern. Die Frist für die Umsetzung des Restrukturierungsplans darf einen Zeitraum von fünf Jahren nicht überschreiten (Art. 20 Satz 3). Gelangt der

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Restrukturierungsausschuss zu dem Ergebnis, dass sich das schuldnerische Unternehmen nicht für eine Restrukturierung eignet, kann der Richter den Antrag zurückweisen. bb) Folgen der Planbestätigung Nach Annahme und Unterzeichnung des Plans durch die Beteiligten erfolgt die Planbestätigung durch den Insolvenzrichter. Damit erlangt der Plan Bindungswirkung gegenüber allen Beteiligten (Art. 21 Satz 1 und 2). Der Schuldner bleibt während des Zeitraums der Durchführung des Plans verwaltungs- und verfügungsbefugt. Gleichzeitig hat er für die sich aus dem Plan ergebenden Pflichten einzustehen (Art. 24). Er hat sich solcher Rechtshandlungen zu enthalten, die zu einer Beeinträchtigung der Planerfüllung führen können. Insbesondere hat er die Veräußerung von nicht zum gewöhnlichen Geschäftsbetrieb gehörenden Vermögensgegenständen sowie Schenkungen, die Übernahme von Bürgschaften oder die Einräumung von Sicherheiten zu unterlassen, solange sie nicht die Realisierung des Plans vereiteln (Art. 25). Bis zur vollständigen Umsetzung des Plans sind den Inhalt oder die Durchführung des Plans betreffende Klagen oder Rechtshandlungen von unterzeichnenden Gläubigern oder des Schuldners unzulässig (Art. 29). Jeder, der von dem Restrukturierungsplan betroffen ist, hat das Recht, bei Darlegung eines berechtigten Interesses den Insolvenzrichter um Überprüfung seines Petitums zu ersuchen (Art. 26). cc) Bestellung eines Assistenten („assistant“) Soweit der Richter dies für notwendig erachtet und die Vergütung aufgrund einer Parteivereinbarung sichergestellt ist, bestellt er aus der bei der Konkursabteilung geführten Expertenliste einen sog. Assistenten (Art. 21 Satz 2).17) Vermögen die Beteiligten keine Einigung über die Vergütung zu erzielen, setzt der Richter die Vergütung fest. Die Aufgaben des Assistenten beschreibt Art. 21. Sie sind primär beratender Natur. Darüber hinaus hat er den Schuldner dabei zu unterstützen, seine wirtschaftlichen Schwierigkeiten wieder in den Griff zu bekommen (Art. 22 lit. a und b). Insbesondere hat er 17)

S. die Definition in Art. 1: „The person responsible for assisting the trader in the redressing of his financial and administrative positions and following up the execution of the restructuring plan in accordance to the provisions of this law“.

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dem Schuldner bei der Umsetzung der Vorgaben des Restrukturierungsplans zur Seite zu stehen. Die Befugnisse des Assistenten reichen indes nicht so weit, dass sie die Kompetenzen des Schuldners bei der Betriebsfortführung verdrängen. Gegenüber dem Gericht hat der Assistent die Verpflichtung, alle drei Monate einen Bericht über den Fortgang der Restrukturierung zu unterbreiten und mitzuteilen, inwieweit der Schuldner den entsprechenden Verpflichtungen nachkommt (Art. 22 lit.(e)). Der Insolvenzrichter kann den Assistenten entweder auf entsprechenden Antrag oder von Amts wegen entlassen (Art. 23). dd) Beendigung des Restrukturierungsverfahrens Das Restrukturierungsverfahren findet seinen Abschluss bei Scheitern des Restrukturierungsversuchs, bei unzureichender Information durch den Schuldner oder bei Nichtzahlung der Kosten. Gleiches gilt, falls die Gründe für das Restrukturierungsbegehren nicht mehr vorliegen. Schließlich wird das Restrukturierungsverfahren durch die Planerfüllung oder deren Scheitern beendet. Die entsprechende Beschlussfassung erfolgt auf Grund eines dahingehenden Antrags (Art. 28). Die Entscheidung ist nicht anfechtbar (Art. 12 Satz 1). 3. Insolvenzvermeidungsverfahren („Preventive Composition“) Neben dem Restrukturierungsverfahren bietet das neue ägyptische Insolvenzgesetz Schuldnern mit der Preventive Composition eine weitere Möglichkeit der Sanierung an. Die in Kapitel 2 Art. 30 ff. genannten Bestimmungen dienen dazu, durch einen Vergleichsabschluss nach Maßgabe der Art. 57 ff. das Konkursverfahren zu vermeiden. Im Vergleich zum Restrukturierungsverfahren enthalten die Bestimmungen zum Konkursvermeidungsverfahren zwar einschneidendere Regelungen, die allerdings dem Schuldner mehr wirtschaftliche Freiheiten als in einem Konkursverfahren einräumen. Das Verfahren bietet sich vor allem bei einer großen und nicht homogenen Gläubigerzahl sowie einem absehbaren „cram down“ an. a) Antragsvoraussetzungen Nach Art. 30 kann jede natürliche Person („trader“), die befugt ist, einen Konkursantrag zu stellen und nicht wegen Betruges vorbestraft ist, das

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Verfahren bereits bei drohender Zahlungsunfähigkeit beantragen.18) Darüber hinaus muss der Antragsteller in den letzten zwei Jahren vor Antragstellung seinen Betrieb ununterbrochen geführt und seine Register- und Buchführungspflichten erfüllt haben (Art. 31 Abs. 1). Soweit bereits Zahlungseinstellung erfolgt ist, sieht § 30 Abs. 2 die Möglichkeit der Inanspruchnahme des Verfahrens noch binnen 15 Tagen nach diesem Zeitpunkt vor. Unter den zuvor genannten Voraussetzungen kann auch eine juristische Person das Verfahren beantragen, es sei denn, sie befindet sich bereits im Liquidationsstadium (Abs. 3). Diese Befugnis setzt indes die Zustimmung der Mehrheit der Anteilseigner oder Partner voraus (Art. 31 Abs. 2). Gegenüber einem bereits eingeleiteten Konkursverfahren genießt das Verfahren der Preventive Composition bis zur Konkurseröffnungsentscheidung Vorrang (Art. 34). b) Verfahrensgang Der Antrag ist beim Leiter der Insolvenzabteilung des zuständigen Economic Court einzureichen. Darin sind die Gründe für die wirtschaftliche Schieflage, Vorschläge für einen Vergleich und Sicherheiten für dessen erfolgreiche Umsetzung aufzuführen (Art. 35). Darüber hinaus hat der Schuldner die in Art. 36 aufgeführten Unterlagen einzureichen. Dazu zählen u. a. eine Vermögensübersicht und eine Gläubigerliste sowie der Nachweis, einen Betrag von 10.000 ägyptischen Pfund zur Begleichung der Veröffentlichungskosten hinterlegt zu haben. aa) Zurückweisung des Antrags bzw. Aufhebung des Verfahrens Kommt der Schuldner der Aufforderung des Gerichts, die gesetzlich vorgesehenen Unterlagen vorzulegen, nicht nach, kann es den Antrag zurückweisen. Das gleiche gilt, wenn der Schuldner vor Antragstellung wegen Insolvenzstraftaten verurteilt worden ist (Art. 38). Gibt der Schuldner sein Geschäft auf oder flieht er, ist der Antrag ebenfalls zurückzuweisen. In all diesen Fällen kann das Gericht gegen den Schuldner eine Strafe von mindestens 20.000 und höchstens 100.000 ägyptische Pfund festsetzen, falls es zu der Erkenntnis gelangt, der Schuldner habe das Verfahren missbräuchlich eingeleitet (Art. 39).

18)

„(…) in case his financial works are distressed in a way that can lead to ceasing payments”.

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Stellt sich im Laufe des Verfahrens heraus, dass der Schuldner Vermögensbestandteile versteckt oder zerstört hat oder Gläubiger benachteiligende Rechtshandlungen ausführt oder gegen die Vorgaben von Art. 46 verstößt, kann das Gericht von Amts wegen das Verfahren aufheben (Art. 49). bb) Anordnung von Sicherungsmaßnahmen Bei einem zulässigen Antrag erlaubt Art. 37 es ähnlich der Regelung des § 21 InsO, zur Sicherung der Masse und zur besseren Beurteilung der wirtschaftlichen Situation des Schuldners entsprechende Maßnahmen zu treffen, ohne die Art der Anordnungen näher aufzuführen. Zuständig hierfür ist die Insolvenzabteilung des Economic Court. cc) Verfahrenseröffnung Nach der Zulassung des Antrags eröffnet das Gericht das Verfahren und ernennt einen für die Beaufsichtigung des Verfahrens zuständigen Richter („composition judge“) sowie einen oder mehrere Verwalter (Art. 40). Darüber hinaus kann es dem Schuldner aufgeben, einen bestimmten, die Kosten des Verfahrens deckenden Betrag bei der Gerichtskasse einzuzahlen. Kommt der Schuldner dieser Aufforderung nicht in der vorgegebenen Zeit nach, kann der Richter das Verfahren aufheben oder seine Unterbrechung anordnen (Art. 40 Abs. 2). Art. 45 sieht ferner vor, dass der Richter unverzüglich nach der Eröffnungsentscheidung die Geschäftsbücher des Schuldners zu schließen hat. c) Wirkungen der Verfahrenseröffnung Solange das Verfahren andauert, können gerichtliche Entscheidungen und Einzelzwangsvollstreckungsmaßnahmen nicht eingeleitet oder fortgeführt werden. Dies gilt indes nicht für vom Schuldner eingeleitete Verfahren (Art. 47). Die Verfahrenseröffnung führt anders als im deutschen Insolvenzrecht nicht zur Fälligkeit der gegen den Schuldner gerichteten Forderungen; sie bleiben verzinslich (Art. 48). Während des gesamten Verfahrens behält der Schuldner wie in einem Eigenverwaltungsverfahren gemäß § 270 InsO die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis. Er untersteht allerdings der Aufsicht des Verwalters (Art. 46 Abs. 1 Satz 1). Der Schuldner ist befugt, sämtliche zum gewöhn-

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lichen Geschäftsbetrieb zählende Tätigkeiten auszuüben (Art. 46 Abs. 1 Satz 2). Schenkungen müssen die Gläubiger nicht gegen sich gelten lassen. Weitere Einschränkungen sieht Art. 46 Abs. 2 vor. d) Bestellung, Rechtsstellung und Aufgaben des Verwalters („composition trustee“) Der Richter wählt den zu bestellenden Verwalter aus dem Kreis der zur Übernahme dieses Amtes befugten Personen aus (Art. 41). Die Geschäftsstelle des Gerichts hat diesen unverzüglich nach seiner Ernennung zu benachrichtigen (Art. 44 Abs. 1).Der Verwalter hat täglich die von ihm zu erledigenden Aufgaben in einem besonderen Hauptbuch aufzuzeichnen, das vom Richter zu unterzeichen ist. Er hat binnen 24 Stunden nach der Benachrichtigung über seine Ernennung in Anwesenheit des Schuldners und des Urkundsbeamten ein Verzeichnis der einzelnen Gegenstände der Masse zu erstellen (Art. 45 Abs. 2). e) Forderungsanmeldung Innerhalb von 15 Tagen nach der Eröffnungsentscheidung haben die Gläubiger ihre Forderungen unter Beifügung der Originalunterlagen dem Verwalter zu übersenden und eine Stellungnahme zu ihren Forderungen abzugeben. Nicht fällige Forderungen können ebenfalls angemeldet werden. Ausländischen Gläubigern steht eine Anmeldungsfrist von 30 Tagen zur Verfügung (Art. 50 Abs. 2). Gläubiger, die nicht die Originalunterlagen zu ihren Forderungen fristgerecht eingereicht haben oder deren Forderungen nicht oder nicht vorläufig anerkannt wurden, nehmen nicht am Verfahren teil (Art. 56). Der Verwalter hat nach Ablauf der Frist jede angemeldete Forderung sowie die entsprechenden Sicherheiten in eine Tabelle einzutragen und in der Tabelle anzugeben, ob der anmeldende Gläubiger einen Vergleichsabschluss anzunehmen beabsichtigt oder ablehnt (Art. 51 Abs. 1). aa) Hinterlegung der Forderungstabelle bei der Geschäftsstelle des Gerichts Der Verwalter hat die Tabelle spätestens nach Ablauf von 40 Tagen nach Eröffnung des Verfahrens auf der Geschäftsstelle des Gerichts zu hinterlegen. Soweit dies geboten erscheint, kann der Richter diese Frist verlängern (Art. 52 Abs. 3 Satz 2). Einen Tag nach Einreichung der Tabelle hat der

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Verwalter die Hinterlegung in einer landesweit erscheinenden Zeitung zu veröffentlichen (Art. 52 Abs. 4). Interessierte Gläubiger können die Liste dort einsehen (Art. 52 Abs. 5). bb) Bestreiten der angemeldeten Forderungen Innerhalb von zehn Tagen nach der Veröffentlichung der Tabelle können Gläubiger oder der Schuldner die angemeldete Forderung bei der Geschäftsstelle des Gerichts bestreiten (Art. 53). Nach Ablauf dieser Frist hat der Richter eine abschließende Tabelle mit den nicht bestrittenen Forderungen und seiner dazu vorgenommenen Anmerkungen zu erstellen (Art. 54 Abs. 1). Er ist befugt, Forderungen auch von Amts wegen als bestritten zu bewerten (Art. 54 Abs. 2). Über bestrittene Forderungen hat der Insolvenzrichter binnen 30 Tagen eine Entscheidung zu treffen (Art. 54 Abs. 3). Innerhalb von zehn Tagen kann die richterliche Entscheidung angefochten werden. Aufschiebende Wirkung hat das Rechtsmittel grundsätzlich nicht (Art. 55 Abs. 1). Das Gericht kann vor seiner Entscheidung die Forderung des Gläubigers vorläufig feststellen, es sei denn, sie ist Gegenstand eines Strafverfahrens (Art. 55 Abs. 2 Satz 2). Soweit sich das Bestreiten auf die der Forderung zugrunde liegende Sicherheit bezieht, kann die Forderung vorläufig als ungesicherte Forderung festgestellt werden (Art. 55 Abs. 3). cc) Anberaumung der Gläubigerversammlung Der Insolvenzrichter bestimmt einen Termin zur Gläubigerversammlung, in der über den Inhalt des Vergleichs beraten werden soll (Art. 57). Die Ladung veranlasst die Geschäftsstelle des Gerichts (Art. 54 Abs. 4). Zu laden sind die Gläubiger, deren Forderungen vorläufig oder endgültig festgestellt wurden. Spätestens fünf vor Tage vor diesem Termin hat der Verwalter einen Bericht über die finanzielle Situation des Schuldners und die Gründe für die Finanzkrise einzureichen. Beizufügen ist eine Liste mit den Gläubigern, die befugt sind, an der Gläubigerversammlung teilzunehmen. Gleichzeitig hat der Verwalter eine Stellungnahme zu dem Antrag des Schuldners abzugeben (Art. 58 Abs. 1 Satz 2). Diesen Bericht können alle Gläubiger einsehen.

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dd) Durchführung der Gläubigerversammlung Der Insolvenzrichter leitet die Gläubigerversammlung. Gläubiger können sich durch Ausstellung einer entsprechenden Vollmacht vertreten lassen. Der Schuldner hat grundsätzlich persönlich zu erscheinen (Art. 59 Abs. 2 Satz 1). Erst nach Verlesung des Verwalterberichts kann die Erörterung über den Inhalt des Vergleichs erfolgen. Der Schuldner kann währenddessen seine eigenen Vorstellungen modifizieren (Art. 59 Abs. 3). Über den Ablauf des Termins ist ein Protokoll zu erstellen, das vom Richter, dem Verwalter, den anwesenden Gläubigern und vom Schuldner zu unterzeichen ist (Art. 64 Abs. 1). ee) Vergleichsabschluss Zur Annahme des Vergleichsvorschlags bedarf es der Zustimmung einer einfachen Mehrheit der anwesenden Gläubiger, deren Forderungen endgültig oder vorläufig festgestellt wurden, vorausgesetzt der Wert ihrer Forderungen repräsentiert Zweidrittel sämtlicher Forderungen (Art. 60 Abs. 1). Wird einer der zuvor genannten Mehrheiten nicht erreicht, ist der Erörterungstermin um zehn Tage zu verschieben (Art. 63 Abs. 2). Gesicherte Gläubiger nehmen nicht an der Abstimmung teil, es sei denn, sie haben auf ihr Sicherungsrecht verzichtet (Art. 62). Der Vergleich ist in der Gläubigerversammlung zu unterzeichnen, andernfalls ist er ungültig (Art. 63). Wird der Termin wegen Nichterreichens der erforderlichen Mehrheiten verschoben, können die Gläubiger, die im ersten Termin anwesend waren und das Protokoll des Termins unterzeichnet haben, dem Folgetermin fernbleiben. Ihre Zustimmung gilt fort (Art. 63 Abs. 3 Satz 29. Jeder teilnahmeberechtigte Gläubiger kann innerhalb von zehn Tagen nach Unterzeichnung des Verhandlungsprotokolls Einwendungen gegen den Vergleich und seine Begründung erheben (Art. 64 Abs. 1). Nach Ablauf dieser Frist hat der Richter das Protokoll, einen Bericht über die Finanzsituation des Schuldners, die Gründe für die wirtschaftliche Krise, den Inhalt des Vergleichs und eine Stellungnahme zu den Einwendungen der Gläubiger der Insolvenzabteilung des Economic Court (Gericht) zwecks Bestätigung des Vergleichs zu übersenden (Art. 64 Abs. 2). Über die Einwendungen entscheidet das Gericht nach Durchführung eines Anhörungstermins (Art. 65 Abs. 1 und 2).

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Obwohl das neue Gesetz vor allem dem Schuldner eine starke Position bei der Festlegung der Vergleichsbedingungen einräumt, haben weder er noch die über den Plan abstimmenden Gläubiger die alleinige Entscheidungsbefugnis über den Abschluss des Vergleichs. Denn das Gericht kann die Bestätigung der Vergleichsvereinbarung auch von Amts wegen versagen, wenn es der Auffassung ist, dass die Vereinbarungen dem öffentlichen Wohl19) oder den Interessen der Gläubiger widersprechen (Art. 65 Abs. 3). Weist das Gericht die Einwendungen gegen den Vergleich zurück, kann es gegen den Gläubiger eine Geldstrafe von mindestens 5.000 und höchstens 20.000 ägyptische Pfund festsetzen, wenn es zu der Erkenntnis gelangt, dass die Einlegung des Rechtsmittels allein der Verfahrensverzögerung diente (Art. 65 Abs. 4). Der Bestätigungsbeschluss ist zu veröffentlichen (Art. 67). ff) Wirkungen des Vergleichs und Verfahrensabschluss Der Vergleich kann Bedingungen für die Schuldenregulierung enthalten. Er kann auch eine teilweise Schuldbefreiung vorsehen (Art. 66 Abs. 1). Auf Antrag des Schuldners kann das Gericht Fristen zur Schuldbegleichung setzen, wenn der Vergleich insoweit keine Anwendung findet (Art. 69 Abs. 1). Sie dürfen nicht länger als die im Vergleich vorgesehenen Fristen sein (Art. 69 Abs. 2). Falls der Schuldner innerhalb des im Vergleich vorgesehenen Zeitraums, der nicht mehr als fünf Jahre betragen darf, seine Zahlungsfähigkeit wiedererlangt, findet das Verfahren seinen Abschluss. Der Schuldner gilt solange nicht als zahlungsfähig, als sein Vermögen nicht 10 % der Verbindlichkeiten überschreitet (Art. 66 Abs. 2 Satz 2). Der Vergleich wird mit dem Bestätigungsbeschluss wirksam und bindet auch diejenigen Gläubiger, die entweder nicht am Verfahren teilgenommen oder gegen den Vergleich gestimmt haben (Art. 68 Abs. 1). Mitschuldner oder Bürgen werden von den Vergleichswirkungen nicht betroffen (Art. 68 Abs. 2). Der Vergleichsabschluss erfasst auch nicht nach der Eröffnung des Verfahrens entstandene Verbindlichkeiten (Art. 68 Abs. 3).

19)

Die englische Fassung des Gesetzes spricht insoweit von „public good“.

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f) Bestellung eines Zensors („censor“) Entsprechend der Anregung des Richters in seinem Bericht an die Insolvenzabteilung des Economic Court kann das Gericht in seinem Bestätigungsbeschluss entweder beschließen, dass der Verwalter im Amt bleibt oder es ernennt aus dem Kreise der Gläubiger einen Zensor, der die Umsetzung der Vergleichsbedingungen zu beobachten und das Gericht über etwaige Verletzungen übernommener Verpflichtungen zu unterrichten hat (Art. 70 Abs. 1). Ferner hat er die an die Gläubiger gezahlten Beträge aufzulisten. Die Gläubiger wiederum haben dem Schuldner eine vom Verwalter oder Zensor unterzeichnete Bescheinigung über die Höhe der beglichenen Verbindlichkeiten zu übersenden (Art. 70 Abs. 2). Innerhalb von zehn Tagen nach Erfüllung der Vergleichsbedingungen hat der Zensor bzw. Verwalter bei Gericht die Verfahrensaufhebung zu beantragen (Art. 70 Abs. 3). Die entsprechende Gerichtsentscheidung hat innerhalb von 30 Tagen nach Veröffentlichung des Antrags zu erfolgen (Art. 70 Abs. 4). g) Unwirksamkeit der Vergleichsvereinbarung Nach der Bestätigung durch das Gericht kann der Vergleich durch Entscheidung des Gerichts für unwirksam erklärt werden, wenn dem Schuldner Betrug nachgewiesen werden kann. Dies gilt insbesondere, wenn der Schuldner Vermögenswerte versteckt, Schulden erfindet oder zu hoch angibt (Art. 71 Abs. 1). Der Antrag ist innerhalb eines Zeitraums von sechs Monaten nach Feststellung des Betrugs zu stellen. Wird er nach Ablauf eines Jahres nach dem Erlass des Bestätigungsbeschlusses gestellt, ist er unzulässig (Art. 71 Abs. 2). Die geleisteten Zahlungen haben schuldbefreiende Wirkung (Art. 71 Abs. 2). h) Aufhebung der Vergleichsvereinbarung Auf Antrag eines jeden der von der Vergleichsvereinbarung betroffenen Gläubigers kann das Gericht die Vereinbarung aufheben, wenn der Schuldner die übernommenen Verpflichtungen nicht erfüllt, er ohne triftigen Grund sein Geschäft veräußert, er stirbt und nicht davon auszugehen ist, dass die Bedingungen erfüllt werden können (Art. 72). Ebenso wie bei Feststellung der Unwirksamkeit des Vergleichs brauchen die Gläubiger im Falle der Aufhebung der Vergleichsvereinbarung die geleisteten Zahlungen nicht zurückzuerstatten.

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i) Vergütungsfestsetzung Der Richter setzt die Vergütung des Verwalters fest. Dies gilt gleichermaßen für den Zensor, wenn dieser nicht Gläubiger des Schuldners ist. Ist dies der Fall, kann das Gericht eine Vergütung für ihn festsetzen, wenn seine Anstrengungen überobligationsmäßig waren und die wirtschaftliche Lage des Schuldners eine solche Festsetzung erlaubt (Art. 74). Gegen die richterliche Entscheidung können alle betroffenen Parteien binnen 15 Tagen nach deren Eingang auf der Geschäftsstelle des Gerichts Rechtsmittel einlegen. Die Entscheidung des Gerichts ist abschließend (Art. 73). 4. Internationales Insolvenzrecht Regelungen zur Behandlung grenzüberschreitender Insolvenzverfahren enthält das neue Insolvenzgesetz, sieht man von Art. 2 Abs. 3 Satz 3 ab, nicht. Nach der vorgenannten Bestimmung kann über das Vermögen eines Kaufmanns, der in Ägypten über eine Niederlassung oder eine Agentur verfügt, unbeschadet internationaler Abkommen das Konkursverfahren eröffnet werden, auch wenn in einem ausländischen Staat eine Verfahrenseröffnung nicht erfolgt ist. Die Vorschrift entspricht weitgehend § 354 InsO, und bezweckt primär den Schutz lokaler Gläubiger. Im Rahmen des Partikularverfahrens werden nur die in Ägypten belegenen Vermögenswerte dem ägyptischen Insolvenzbeschlag unterstellt. Die Anerkennung und Vollstreckbarkeit ausländischer Eröffnungsentscheidungen richtet sich nach Art. 296 bis 302 des ägyptischen Zivilprozessrechts.20) IV. Bewertung und Ausblick Mit dem Gesetz Nr. 11 aus 2018 ist Ägypten in den Kreis der Länder eingetreten, die über ein modernes Insolvenzrecht verfügen. Mediation, das Restrukturierungsverfahren und die Prevention Composition ermöglichen es dem Schuldner, die Liquidation zu vermeiden und nach einer Schuldregulierung das Unternehmen weiterzuführen. Den Insolvenzrichtern ist im Vergleich zum deutschen Insolvenzrecht eine starke Stellung eingeräumt. Sie haben über bestrittene Forderungen und Aussonderungsansprüche zu entscheiden. Darüber hinaus können sie von Amts wegen die Bestätigung eines Plans versagen. Vor allem aus Sicht der Gläubiger bedürfen die schuldner20)

Law Nr. 13 of 1968.

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freundlichen neuen Bestimmungen einiger Ergänzungen. Es fehlt für die Preventive Composition eine „safe-harbour-Regelung“ sowie eine klare zeitliche Begrenzung dieses Verfahrens. Darüber hinaus wäre eine gesetzliche Klarstellung hilfreich, inwieweit die Gläubiger Einfluss auf den Planinhalt nehmen können. Leider wurden bislang erst wenige Anträge nach den neuen Vorschriften gestellt, so dass die Richter kaum Erfahrung sammeln konnten. Die qualifizierte Ausbildung der Entscheidungsträger gibt indes genügend Anlass zu der Hoffnung, dass sie nach einer gewissen Einarbeitungszeit die neuen Herausforderungen erfolgreich meistern werden.

Die Vergütung von Verwalter oder Sachwalter in Insolvenzverfahren mit hoher Gläubigerzahl GERHARD VILL Inhaltsübersicht I. II.

Problemlage Rechtliche Grundlagen im Überblick 1. Vergütung des Insolvenzverwalters 2. Vergütung des Sachwalters 3. Vergütung des vorläufigen Verwalters 4. Vergütung des vorläufigen Sachwalters III. Die Regelvergütung nach § 2 InsVV 1. Regelvergütung nach § 2 Abs. 1 InsVV 2. Mindestvergütung nach § 2 Abs. 2 InsVV 3. Das Verhältnis der Absätze 1 und 2 des § 2 InsVV zueinander a) Anwendbarkeit des § 2 Abs. 2 InsVV nur in massearmen Verfahren? b) Vergleichsrechnung bei relativ hoher Masse und hoher Gläubigerzahl? c) Ergebnis 4. Anwendbarkeit auf den vorläufigen Insolvenzverwalter 5. Anwendbarkeit des § 2 Abs. 2 InsVV auf den (vorläufigen) Sachwalter 6. Zahl der Gläubiger a) Zahl der Gläubiger, nicht der Forderungen b) Welche Gläubiger sind zu berücksichtigen? c) Sind weitere Schätzungsgrundsätze zu berücksichtigen?

IV. Zuschläge 1. Allgemeine Grundsätze a) Zuschläge allgemein b) Maßstab bei der Festsetzung der Höhe eines Zuschlags beim Sachwalter c) Berücksichtigung der erzielten Erhöhung der Regelvergütung aa) Grundsätze bei der Regelvergütung nach § 2 Abs. 1 InsVV bb) Grundsätze bei der Mindestvergütung nach § 2 Abs. 2 InsVV d) Verhältnis Regelvergütung zur Zuschlagshöhe e) Zuschlag wegen großer Gläubigerzahl V. Abschläge 1. Allgemeines 2. Die einzelnen Abschläge a) Vorzeitige Beendigung des Amtes b) Abschlag wegen der Tätigkeit als vorläufiger Sachwalter? c) Abschlag wegen Tätigkeit eines insolvenzrechtskundigen Generalbevollmächtigten der Insolvenzschuldnerin bei Eigenverwaltung? d) Abschlag wegen übergroßer Gläubigerzahl? VI. Abzüge von der festzusetzenden Vergütung?

I. Problemlage In den letzten Jahren sind in einer Reihe von Fällen Insolvenzverfahren über das Vermögen von Unternehmen eröffnet worden, in denen zwar noch

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Gerhard Vill

eine erhebliche Masse vorhanden war, die aber vor allem durch eine Vielzahl von Insolvenzgläubigern auf sich aufmerksam machten. In diesen Fällen stellt sich die Frage, ob die Regelvergütung des Verwalters oder Sachwalters nach § 2 Abs. 1 oder nach § 2 Abs. 2 InsVV berechnet wird. Die Größenverhältnisse sind natürlich von Fall zu Fall unterschiedlich. Als Beispiel soll hier zur Veranschaulichung angenommen werden, dass die freie Masse bei Beendigung des Verfahrens 60 Mio. € beträgt, die Zahl der Insolvenzgläubiger 600.000. II. Rechtliche Grundlagen im Überblick 1. Vergütung des Insolvenzverwalters Die Vergütung des Insolvenzverwalters ist in § 63 Abs. 1 InsO und in §§ 1 bis 9 InsVV geregelt. Nach § 63 Abs. 1 InsO hat der Verwalter Anspruch auf Vergütung für seine Geschäftsführung und auf Erstattung angemessener Auslagen. Der Regelsatz der Vergütung wird nach dem Wert der Masse bei Beendigung des Verfahrens berechnet. Dem Umfang und der Schwierigkeit der Geschäftsführung des Verwalters wird durch Abweichung vom Regelsatz Rechnung getragen. Einzelheiten sind in der InsVV geregelt, die auf der Grundlage des § 65 InsO vom Bundesministerium der Justiz erlassen worden ist. Die Berechnungsgrundlage ist danach in § 1 InsVV näher bestimmt. Aus ihr wird gemäß § 2 Abs. 1 InsVV nach einer Degressionsstaffel die Regelvergütung berechnet. Auf die Regelvergütung gibt es Zu- und Abschläge nach näherer Maßgabe des § 3 InsVV. § 2 Abs. 2 InsVV sieht für die Regelvergütung eine Mindestvergütung vor, die sich nach der Zahl der Gläubiger richtet. Die Vorgängerregelung war für masselose Verfahren gedacht und enthielt nur einen Mindestbetrag. Hierauf stellt die jetzt geltende Regelung jedoch nicht mehr ab. Das wirft die Frage auf, ob diese Vorschrift auch anwendbar ist, wenn zwar eine beträchtliche Masse vorhanden ist, die Berechnung der Mindestvergütung aber gleichwohl zu einer höheren Regelvergütung führt. Ist die nach § 2 Abs. 2 InsVV berechnete Regelvergütung dann unzumutbar hoch oder unzumutbar niedrig? Beides wird vertreten.

Die Vergütung von Verwalter oder Sachwalter in Insolvenzverfahren

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2. Vergütung des Sachwalters Die Vorschriften über den Sachwalter verweisen in § 274 Abs. 1 InsO wegen der Vergütung auf die Vorschriften für den Insolvenzverwalter in §§ 63 bis 65 InsO. Die Vergütung des Sachwalters ist auf dieser Grundlage in § 12 InsVV näher geregelt. Er erhält in der Regel 60 % der für den Insolvenzverwalter bestimmten Vergütung (§ 12 Abs. 1 InsVV), dessen Regelvergütung sich nach § 2 InsVV bestimmt. Die Berechnungsgrundlage bemisst sich wie beim Insolvenzverwalter grundsätzlich nach § 63 Abs. 1 InsO, § 1 InsVV. Wegen der Anwendbarkeit auch des § 2 InsVV stellt sich auch hier die Frage, wie bei Verfahren mit sehr hohen Gläubigerzahlen zu verfahren ist. Dem Umfang und der Schwierigkeit der Geschäftsführung wird auch bei ihm gemäß §§ 63 Abs. 1 Satz 3, 274 Abs. 1 InsO, §§ 10, 3 InsVV mit Zuund Abschlägen Rechnung getragen. Der Aufgabenzuschnitt des Sachwalters führt aber regelmäßig zu deutlich geringeren Zuschlägen als für vergleichbare zuschlagspflichtige Tätigkeitsbereiche des Verwalters im Regelinsolvenzverfahren.1) 3. Vergütung des vorläufigen Verwalters Für ihn gelten gemäß § 63 Abs. 3 InsO, § 11 Abs. 1 InsVV hinsichtlich der Berechnungsgrundlage einige Besonderheiten. Ob und in welchem Umfang diese Regelungen mit der Ermächtigungsgrundlage vereinbar sind, ist bisher nicht abschließend geklärt.2) Ihre Wirksamkeit wird hier unterstellt. Nach § 63 Abs. 3 Satz 2 InsO erhält der vorläufige Verwalter in der Regel 25 % der Vergütung des Insolvenzverwalters, bezogen aber auf die bei ihm abweichend zu bestimmende Berechnungsgrundlage. Die Regelung ist redaktionell verunglückt: Gemeint ist offenkundig nicht die Vergütung des Insolvenzverwalters (einschließlich aller Zu- und Abschläge), sondern eine nach § 2 Abs. 1 InsVV zu berechnende Regelvergütung. Gemäß § 10 InsVV gilt für ihn aber nicht nur § 2 Abs. 1 InsVV entsprechend, sondern auch § 2 Abs. 2 InsVV. Deshalb stellt sich auch bei ihm die Frage, wie in Fällen sehr hoher Gläubigerzahlen zu rechnen ist.

1) 2)

BGH, Beschl. v. 21.7.2016 – IX ZB 70/14, Rz. 81, BGHZ 211, 225 = ZIP 2016, 1592. Vgl. dazu Vill, Zur Reform des insolvenzrechtlichen Vergütungsrechts, in: FS Kübler, 2015, S. 741, 743.

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Auch bei ihm sind gemäß §§ 10, 3 InsVV Zu- und Abschläge zu prüfen und festzusetzen. 4. Vergütung des vorläufigen Sachwalters Die Vergütung des vorläufigen Sachwalters ist weder in der InsO noch in der InsVV geregelt. Der Streit um die Bemessung seiner Vergütung ist jedoch vom Bundesgerichtshof in mehreren Grundsatzbeschlüssen vom 21. Juli 2016, 22. September 2016 und 22. Juni 20173) entschieden worden. Danach gilt Folgendes: Ein selbstständig geltend zu machender Vergütungsanspruch steht dem vorläufigen Sachwalter nicht zu. Seine Tätigkeit stellt vielmehr einen Umstand dar, der, unbeschadet eines Anspruchs auf Vorschuss, zu einem Zuschlag für die Vergütung des Sachwalters führt. Die Vergütung ist also in Anwendung der Vorschriften über die Vergütung des (endgültigen) Sachwalters festzusetzen; die Vorschriften über die Vergütung des vorläufigen Insolvenzverwalters (§ 63 Abs. 3 InsO, § 11 InsVV) sind nicht entsprechend anwendbar. Die Berechnungsgrundlage für die Vergütung des vorläufigen Sachwalters ist die Berechnungsgrundlage für die Vergütung des (endgültigen) Sachwalters. Die Vergütung des vorläufigen Sachwalters beträgt im Normalfall 25 % der Regelvergütung des Insolvenzverwalters. Die Bemessung von Zu- und Abschlägen auf die Regelvergütung bemisst sich wie beim Sachwalter. III. Die Regelvergütung nach § 2 InsVV Die gemäß § 2 InsVV zu berechnende Regelvergütung unterscheidet zwei Fälle: –

Grundsätzlich wird nach der Degressionsstaffel des § 2 Abs. 1 InsVV die Regelvergütung nach der gemäß § 1 InsVV (beim vorläufigen Verwalter nach zusätzlicher Maßgabe des § 63 Abs. 3, § 11 Abs. 1 InsVV) festgestellten Bemessungsgrundlage berechnet.



§ 2 Abs. 2 InsVV sieht jedoch als Regelvergütung eine Mindestvergütung vor, die selbständig gestaffelt nach der Zahl der Gläubiger berechnet wird.

3)

BGH, Beschl. v. 21.7.2016 – IX ZB 70/14, BGHZ 211, 225 = ZIP 2016, 1592; BGH, Beschl. v. 22.9.2016 – IX ZB 71/14, ZIP 2016, 1981; BGH, Beschl. v. 22.6.2017 – IX ZB 91/15, ZInsO 2017, 1813.

Die Vergütung von Verwalter oder Sachwalter in Insolvenzverfahren

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1. Regelvergütung nach § 2 Abs. 1 InsVV Legte man nach obigem Beispiel eine Berechnungsgrundlage von 60 Mio. € zugrunde, würde sich eine Regelvergütung nach § 2 Abs. 1 InsVV ergeben von: 40 % aus

25.000 €

10.000 €

25 % aus

25.000 €

6.250 €

7 % aus

200.000 €

14.000 €

3 % aus

250.000 €

7.500 €

2 % aus

24.500.000 €

490.000 €

1 % aus

25.000.000 €

250.000 €

½ % aus

10.000.000 €

50.000 € 827.750 €

Gesamt 2. Mindestvergütung nach § 2 Abs. 2 InsVV

Bei 600.000 Gläubigern wäre die Mindestvergütung wie folgt zu berechnen: 1.000 €

Für die ersten 10 Gläubiger 11. bis 30. Gläubiger je 5 Gläubiger

150 €

600 €

31. bis 600.000. Gläubiger je 5 Gläubiger

100 €

11.999.400 €

Zusammen

12.001.000 €

3. Das Verhältnis der Absätze 1 und 2 des § 2 InsVV zueinander Das Verhältnis von § 2 Abs. 1 InsVV zu § 2 Abs. 2 InsVV ist nach dem Wortlaut der Verordnung eindeutig geregelt: Beide Absätze regeln die Vergütungshöhe für den Regelfall (jeweils „in der Regel“). Ist jedoch die Mindestvergütung nach Absatz 2 höher als diejenige nach Absatz 1, ist die Mindestvergütung nach Absatz 2 maßgebend.4) Bei dieser Vergleichsrechnung sind etwaige Zu- und Abschläge unberücksichtigt zu lassen, weil auf 4)

Haarmeyer/Mock, InsVV, 5. Aufl. 2014, § 2 Rz. 54; Graeber/Graeber, InsVV, 2. Aufl. 2016, § 2 Rz. 21; Keller in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 2 InsVV Rz. 17; Lorenz in: Lorenz/ Klanke, InsVV/GKG/RVG, 2. Aufl. 2014, § 2 InsVV Rz. 24; Büttner in: HambKommInsO, 6. Aufl. 2018, § 2 Rz. 67.

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Gerhard Vill

beide Regelvergütungen, also die nach Absatz 1 und die nach Absatz 2, Zu- und Abschläge möglich sind.5) a) Anwendbarkeit des § 2 Abs. 2 InsVV nur in massearmen Verfahren? Mock6) vertritt die Auffassung, § 2 Abs. 2 InsVV sei nur bei massearmen Kleinverfahren anwendbar, was sich aus der Begründung der Verordnung und ihrem „Telos“ ergebe. Das ist unzutreffend. Weder der Wortlaut noch die Begründung sehen eine solche Einschränkung des Anwendungsbereiches vor. § 2 Abs. 2 InsVV hatte ursprünglich folgenden Wortlaut: „Die Vergütung soll in der Regel mindestens 1.000 Deutsche Mark betragen.“

Später wurden die Worte „1.000 DM“ durch die Worte „500 Euro“ ersetzt. Mit Beschluss vom 15. Januar 20047) erklärte der Bundesgerichtshof die Regelung wegen zu geringer Höhe der Mindestvergütung in masselosen Verfahren für verfassungswidrig. Die heute geltende Regelung lautet: „(2) 1Haben in dem Verfahren nicht mehr als 10 Gläubiger ihre Forderungen angemeldet, so soll die Vergütung in der Regel mindestens 1.000 Euro betragen. 2Von 11 bis zu 30 Gläubigern erhöht sich die Vergütung für je angefangene 5 Gläubiger um 150 Euro. 3 Ab 31 Gläubiger erhöht sich die Vergütung je angefangene 5 Gläubiger um 100 Euro.“

Diese Fassung wurde durch die (erste) Verordnung zur Änderung der InsVV vom 4. Oktober 20048) eingeführt. Der Verordnungsgeber beschränkte sich dabei aber nicht darauf, die Mindestvergütung anzuheben, sondern differenzierte nun nach der Zahl der Gläubiger, ohne diese Zahl nach oben zu begrenzen. In der Begründung seines Entwurfs9) ging er hinsichtlich eines Normalfalls von einer erheblichen Streubreite bei der Zahl der Gläubiger aus, wobei allerdings in diesem Zusammenhang als höchste Zahl mehrfach nur die Zahl 80 genannt wurde.10) Wegen dieser Streubreite wurde die unterste Grenze der Mindestvergütung auf der Basis von lediglich zehn Gläubigern 5)

6) 7) 8) 9) 10)

Völlig h. M. vgl. z. B. Lorenz in: Lorenz/Klanke, InsVV/GKG/RVG, 2. Aufl. 2014, § 2 InsVV Rz. 24; a. A. nur Riedel in: Stephan/Riedel, InsVV, 2010, § 2 Rz. 14; Riedel in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2013, § 2 Rz. 14. Mock, ZInsO 2019, 643 (Urteilsanm.). BGH, Beschl. v. 15.1.2004 – IX ZB 96/03, BGHZ 157, 282 = ZIP 2004, 417. Verordnung zur Änderung der Insolvenzrechtlichen Vergütungsverordnung v. 4.10.2004, BGBl. I 2004, 2569. Abgedruckt etwa bei Haarmeyer/Mock, InsVV, 5. Aufl. 2014, Anh. 2 IV., S. 504. Vgl. amtliche Begründung bei Haarmeyer/Mock, InsVV, 5. Aufl. 2014, Anh. 2 IV., S. 506, 511.

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festgelegt. Die Mindestvergütung erhöht sich bei einer höheren Zahl von Gläubigern. Ab 31 Gläubigern sollte außerdem eine gewisse Degression greifen, wonach ab dieser Zahl sich die Mindestvergütung für je angefangene fünf Gläubiger nur noch um 100 € erhöhen soll, durchschnittlich pro Gläubiger also um 20 €. Der Verordnungsgeber hat dabei gesehen, dass es Verfahren mit extrem hohen Gläubigerzahlen gibt.11) Er hat jedoch davon abgesehen, eine weitere Degression bei höheren Gläubigerzahlen vorzusehen, die maximal zu berücksichtigende Gläubigerzahl nach oben zu begrenzen oder etwa nach Umfang und Schwierigkeit zu differenzieren. Im Gegenteil war es sein Ziel, im Interesse der Verfahrensökonomie darauf zu verzichten, auf unbestimmte Rechtsbegriffe wie Umfang oder Schwierigkeit der Tätigkeit abzustellen.12) Der Verordnungsgeber ging davon aus, dass bei der hier notwendigen typisierenden Betrachtung oberhalb von 31 Gläubigern pro Gläubiger ein Mehraufwand notwendig ist, der im Regelfall mit – im Schnitt – 20 € pro Gläubiger zu vergüten ist. Der Verordnungsgeber hatte dabei zwar in erster Linie massearme Verfahren im Blick. Der Begriff der Massearmut ist in diesem Zusammenhang aber relativ. Bei einer Gläubigerzahl von 26 bis 30 Gläubigern führt die Regelung zu einer Mindestvergütung von 1.600 €, was pro Gläubiger im Schnitt einen Masseanteil von ca. 53 € verbraucht. Bei sehr hohen Gläubigerzahlen nähert sich der Betrag immer mehr dem in der höchsten Degressionsstufe maßgebenden Durchschnittsbetrag von 20 € pro Gläubiger an. Im vorliegenden Fall führt die Relation bei einer Gläubigerzahl von (mindestens) 600.000 zu einer Mindestvergütung als Regelvergütung nach § 2 Abs. 2 InsVV von 12.001.000 € und zu einem Masseverbrauch von im Durchschnitt 20 € (20,0016 €) pro Gläubiger, unabhängig von der hier vorliegenden Masse von 60 Mio. €. Zwar liegt in einem solchen Fall – abstrakt betrachtet – kein massearmes Verfahren vor. Bei einer freien Masse von 60.000.000 € entfiele auf jeden der 600.000 Insolvenzgläubiger ein Masseanteil von 100 €. Bei angemeldeten Insolvenzforderungen in großer Höhe und erst recht bei nach § 208 11) 12)

Vgl. amtliche Begründung bei Haarmeyer/Mock, InsVV, 5. Aufl. 2014, Anh. 2 IV., S. 507 oben. Vgl. amtliche Begründung bei Haarmeyer/Mock, InsVV, 5. Aufl. 2014, Anh. 2 IV., S. 513.

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InsO mitgeteilter Massenzulänglichkeit kann man aus der Sicht der Insolvenzgläubiger aber auch ein solches Verfahren als massearm ansehen. Der Verordnungsgeber hat jedenfalls in Kenntnis von Verfahren mit extrem hohen Gläubigerzahlen keine Deckelung der Mindestvergütung ab einer gewissen Gläubigerzahl vorgesehen. Das ist auch ohne weiteres nachvollziehbar, weil grundsätzlich nicht davon ausgegangen werden kann, dass ab einer gewissen Höchstgrenze weitere Gläubiger keine zusätzliche Arbeit mehr verursachen. Das mag de lege ferenda einer Überprüfung wert sein.13) Das geltende Recht sieht aber eine Abweichung aus allgemeinen Überlegungen nicht vor. Die Regelung ist also nicht auf massearme Verfahren beschränkt worden. Sie kennt bei der Gläubigerzahl auch keine Obergrenze.14) Der Verordnungsgeber hat in der Begründung ausdrücklich ausgeführt, dass die Mindestvergütung allgemein und für alle Fälle geregelt wird, nicht etwa nur für die Stundungsfälle.15) Die Annahme von Mock, die Regelung über die Mindestvergütung nach § 2 Abs. 2 InsVV sei nur anwendbar, wenn die Berechnungsgrundlage nach § 2 Abs. 1 InsVV Null sei,16) ist im Übrigen denklogisch nicht nachvollziehbar. Die Mindestvergütung bemisst sich zwar im Falle der Nullmasse auch nach der Auffassung von Mock nach § 2 Abs. 2 InsVV. Dann hätte offenbar auch er gegen die Berechnung nach § 2 Abs. 2 InsVV bei 600.000 Gläubigern nichts einzuwenden. Warum aber bei steigender Masse die Vergütung – nach Auffassung Mocks – allein aus diesem Grund stark fallen sollte, ist nach Sinn und Zweck sowie der Systematik des Vergütungsrechts nicht nachvollziehbar. Bei exorbitant hohen Gläubigerzahlen mag die sich aus der Vorschrift des § 2 Abs. 2 InsVV ergebende Mindestvergütung abstrakt betrachtet hoch erscheinen. Bei derart hohen Gläubigerzahlen steigt aber auch die – mit der Gläubigerzahl verbundene – Arbeitslast entsprechend an. Alle Gläubiger müssen zur Forderungsanmeldung aufgefordert, alle Forderungen (bei einzelnen Gläubigern können das eine Vielzahl von Forderungen sein) entgegengenommen und in die Tabelle eingetragen, die Berechtigung der For13) 14) 15) 16)

Vgl. z. B. Vill in: FS Kübler, 2015, S. 740, 750. Zimmer, InsVV, 2017, § 2 Rz. 74. Amtliche Begründung bei Haarmeyer/Mock, InsVV, 5. Aufl. 2014, Anh. 2 IV., S. 504, 507 Abs. 2. Mock, ZInsO 2019, 643 re. Sp. (Urteilsanm.).

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derungen geprüft und ggf. begründet bestritten, Tabellenfeststellungsklagen geführt werden, die sodann festgestellten Forderungen bei der Verteilung berücksichtigt werden usw. Jedenfalls liegt dies dem Regelungsmodell des Verordnungsgebers zugrunde. Sollte sich im Einzelfall wegen dort festzustellenden besonderen Umstände ergeben, dass die Annahme des Verordnungsgebers nicht trägt, weil sich der Aufwand bei der Behandlung der Forderungen der einzelnen Gläubiger signifikant reduziert, kann dem durch einen Abschlag auf die Mindestvergütung Rechnung getragen werden. Darauf ist später näher einzugehen. Im Übrigen entsteht eine Vielzahl von Gläubigern nicht versehentlich, sondern wegen eines entsprechend umfassenden Geschäftes des Schuldners, was natürlich typischer Weise auch die anderen in einem Insolvenzverfahren zu lösenden Probleme entsprechend vermehrt. Davon geht auch § 2 Abs. 2 InsVV aus. b) Vergleichsrechnung bei relativ hoher Masse und hoher Gläubigerzahl? In die Gegenrichtung von Mock argumentiert Keller, der meint,17) dass bei übergroßer Gläubigerzahl die Mindestvergütung nach § 2 Abs. 2 InsVV zu niedrig sei, weil bei mehr als 30 Gläubigern für die weiteren Gläubiger pro Gläubiger nur noch 20 € Vergütung gewährt werde.18) Deshalb müsse eine Vergleichsrechnung durchgeführt werden, wenn bei relativ hoher Masse eine sehr hohe Gläubigerzahl vorhanden sei. Bei der Berechnung der Regelvergütung nach § 2 Abs. 1 InsVV spiele die Gläubigerzahl zwar keine Rolle, aber ihretwegen müsse ein Zuschlag nach § 3 Abs. 1 InsVV gewährt werden, während ein solcher Zuschlag bei der Berechnung nach § 2 Abs. 2 InsVV nicht in Betracht komme. Vergleiche man das Ergebnis beider Berechnungsmethoden, müsse der dann höhere Betrag (Mindestvergütung nach Absatz 2 einerseits oder Regelvergütung nach Absatz 1 zzgl. Zuschlag für hohe Gläubigerzahl andererseits) als Regelvergütung angesehen werden. Ebenso wenig wie der Idee von Mock kann dem Berechnungsvorschlag von Keller gefolgt werden. Keller sieht zutreffend, dass es für die dann allerdings erforderliche Erhöhung durch Zuschlag wegen hoher Gläubigerzahl 17) 18)

Keller, Vergütung und Kosten im Insolvenzverfahren, 4. Aufl. 2016, § 4 zu § 2 InsVV Rz. 113 ff., 130 ff. Keller, Vergütung und Kosten im Insolvenzverfahren, 4. Aufl. 2016, § 4 zu § 2 InsVV z. B. Rz. 121, 122, 124, 127.

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nach § 3 Abs. 1 InsVV keine anerkannte allgemeine Berechnungsmethode gibt. Er schlägt im Hinblick auf zu erwartende Arbeitserleichterungen bei steigender Gläubigerzahl eine Degressionsstaffel in Anlehnung an § 2 Abs. 1 InsVV vor,19) räumt aber selbst ein, dass hierfür keine empirische Grundlage vorhanden ist. Richtig ist zwar, dass bei sehr hohen Gläubigerzahlen sich die Bearbeitung der Forderungsanmeldungen vereinfachen kann. Zwingend ist das aber nicht. Bestimmte anerkannte Maßstäbe haben sich hierfür bisher nicht allgemein herausgebildet. Vor allem gibt es aber keinen Maßstab, mit dem bei einer hohen Zahl von Gläubigern der Zuschlag allgemeingültig gerechter als vom Verordnungsgeber vorgegeben berechnet werden könnte. Legt man die von Keller20) vorgeschlagenen Zuschlagshöhe bei einer Regelvergütung nach § 2 Abs. 1 InsVV zugrunde, würde sich bei 60.000 Gläubigern ein Zuschlagsfaktor von 101 bis 10.000 Gläubiger

je 100 10 %

= Faktor 9,9

10.001 bis 20.000 Gläubiger

je 100 7 %

= Faktor 7,0

20.001 bis 30.000 Gläubiger

je 100 5 %

= Faktor 5,0

30.001 bis 40.000 Gläubiger

je 100 3 %

= Faktor 3,0

40.001 bis 50.000 Gläubiger

je 100 2 %

= Faktor 2,0

50.001 bis 60.000 Gläubiger

je 100 1 %

= Faktor 1,0

Zusammen

= Faktor 27,9

ergeben. Welcher Zuschlag für weitere Gläubiger angesetzt werden soll, wird von Keller nicht ausgeführt. Denkt man sein System weiter, wäre wohl davon auszugehen, dass er entsprechend § 2 Abs. 1 InsVV bei weiteren Gläubigern je 100 Gläubigern 0,5 % zugrunde legen würde. Dann ergäbe sich hier bei weiteren (600.000 ./. 60.000) 540.000 Gläubigern je 100 Gläubigern 0,5 %, was zusammen einen weiterer Faktor von 27 ergäbe, sodass sich insgesamt ein Faktor von 54,9 errechnen würde.

19) 20)

Keller, Vergütung und Kosten im Insolvenzverfahren, 4. Aufl. 2016, § 4 zu § 2 InsVV Rz. 132. Keller, Vergütung und Kosten im Insolvenzverfahren, 4. Aufl. 2016, § 4 zu § 2 InsVV Rz. 132.

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Legt man eine Berechnungsgrundlage von 60 Mio. € zugrunde, würde sich, wie oben dargelegt, eine Regelvergütung nach § 2 Abs. 1 InsVV i. H. von 827.750 € ergeben. Vervielfältigt mit dem nach Keller errechneten Faktor von 54,9 ergäbe dies einen Betrag von 45.443.475 €. Das wäre ein weit höherer Betrag als der nach § 2 Abs. 2 InsVV berechnete. Nach Keller wäre dieser höhere Betrag als Regelvergütung zugrunde zu legen. Die Höhe des Zuschlags nach § 3 Abs. 1 InsVV hängt immer auch von der Höhe der Regelvergütung nach § 2 Abs. 1 InsVV ab. Deshalb kann nicht von vorneherein eine für alle Fälle, wie von Keller vorgeschlagen, gültige Zuschlagstabelle aufgestellt werden. Feststellen lässt sich vielmehr, dass die in § 2 Abs. 2 InsVV für alle Fälle vorgegebene Mindestvergütung von 20 € pro Gläubiger nach Ansicht des Verordnungsgebers angemessen ist. Gerade umgekehrt wie Keller meint muss nur entschieden werden, ob hierauf Zuschläge zuzubilligen oder Abschläge vorzunehmen sind, was am Maßstab des § 3 InsVV zu beurteilen ist. c) Ergebnis Die von Mock und Keller unterbreiteten Vorschläge haben letztlich nur den Sinn, den Verordnungsgeber zu korrigieren. Eine solche Korrektur der Verordnung bedürfte der Feststellung der Unwirksamkeit der Verordnung wegen Gesetz- oder Verfassungswidrigkeit. In der Literatur ist allerdings tatsächlich die Frage diskutiert worden ob § 2 Abs. 2 InsVV von der Ermächtigungsgrundlage des § 63 Abs. 1 InsO gedeckt ist, weil § 63 Abs. 1 Satz 2 InsO anordnet, dass der Regelsatz der Vergütung nach dem Wert der Insolvenzmasse zu berechnen sei.21) Der Bundesgerichtshof hat aber die Neuregelung der Mindestvergütung ausführlich geprüft und mehrfach entschieden, dass diese sich i. R. der Ermächtigungsgrundlage hält und nicht verfassungswidrig ist. Darauf kann hier Bezug genommen werden.22) Im Übrigen führt die von Keller vorgeschlagene Lösung zu eindeutig zu hohen Regelvergütungen. Es ist vielmehr die InsVV anzuwenden. Für ein Abweichen von § 2 Abs. 2 InsVV gibt es kein Bedürfnis, weil den Besonder-

21) 22)

Blersch in: Blersch/Goetsch/Haas, InsO, 2018, § 2 InsVV Rz. 14a. Grundlegend BGH, Beschl. v. 13.3.2008 – IX ZB 63/05, ZIP 2008, 976.

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heiten des Einzelfalls – wie auch sonst – systemgerecht mit den Mitteln des § 3 InsVV Rechnung getragen werden kann.23) Im Ergebnis ist festzuhalten, dass der Verordnungsgeber eine Berechnungsmethode vorgegeben hat, die einzuhalten ist. Sie kann nicht aufgrund von Zweckmäßigkeitsüberlegungen und eigenen Wertungen oder Wunschvorstellungen durch andere Berechnungsmethoden ersetzt werden. Über eine Auslegung gehen diese Ansätze weit hinaus. Auch für eine Analogie, die zu so einem Ergebnis führen könnte, besteht keinerlei Ansatzpunkt. Ergänzend ist zudem darauf hinzuweisen, dass der Bundesgerichtshof die Neuregelung des § 2 Abs. 2 InsVV zwar als verfassungs- und ermächtigungskonform gebilligt hat.24) Er hat dabei aber die neu festgelegte Höhe der Mindestvergütung – jedenfalls bei geringen Gläubigerzahlen – als sehr knapp bemessen angesehen.25) Die Neuregelung des § 2 Abs. 2 InsVV ist am 7. Oktober 2004 in Kraft getreten,26) also vor über 14 Jahren. Insoweit könnte sich die Frage stellen, ob im Hinblick auf die allgemeine Teuerung und die Ausdehnung der Aufgaben der Insolvenzverwalter eine Erhöhung der Mindestvergütung angemessen wäre. Einen allgemeinen Zuschlag aus diesen Gründen hat der Bundesgerichtshof 2015 als zu dieser Zeit noch nicht veranlasst angesehen.27) Jedenfalls erscheint es aber ausgeschlossen, die Mindestvergütung des § 2 Abs. 2 InsVV umgekehrt mit allgemeinen, fallunabhängigen Erwägungen generell abzusenken. 4. Anwendbarkeit auf den vorläufigen Insolvenzverwalter Für den vorläufigen Insolvenzverwalter gilt § 2 Abs. 2 InsVV gemäß § 10 InsVV entsprechend. Die Probleme entsprechen denjenigen beim Insolvenzverwalter. Nur die Relation der Regelvergütung nach Absatz 1 zu derjenigen nach Absatz 2 kann im Hinblick auf die abweichende Berechnungsgrundlage abweichen.

23)

24) 25) 26) 27)

BGH, Beschl. v. 25.6.2009 – IX ZB 118/08, Rz. 2, ZInsO 2009, 1511 m. zahlr. N.; vgl. neuerdings auch BGH, Beschl. v. 14.12.2017 – IX ZB 101/15, ZIP 2018, 333; BGH, Beschl. v. 6.4.2017 – IX ZB 48/16, WM 2017, 825. BGH, Beschl. v. 13.3.2008 – IX ZB 63/05, ZIP 2008, 976. Vgl. BGH, Beschl. v. 13.3.2008 – IX ZB 63/05, ZIP 2008, 976. Verordnung zur Änderung der Insolvenzrechtlichen Vergütungsverordnung v. 4.10.2004, BGBl. I 2004, 2569. BGH, Beschl. v. 5.3.2015 – IX ZB 48/14, InsBüro 2015, 368.

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5. Anwendbarkeit des § 2 Abs. 2 InsVV auf den (vorläufigen) Sachwalter Die entsprechende Anwendbarkeit des § 2 Abs. 2 InsVV auch auf den (vorläufigen) Sachwalter ist in § 10 InsVV angeordnet. Da § 2 Abs. 2 InsVV auf die Zahl der Gläubiger abstellt, könnte die entsprechende Anwendung allerdings ausgeschlossen sein, wenn der Sachwalter mit den Insolvenzgläubigern nichts oder nichts Relevantes zu tun hätte, denn dann könnten Bedenken gegen die Geeignetheit des hier zugrunde gelegten Maßstabes bestehen. Dies ist aber nicht der Fall: Beim Sachwalter sind nach § 270c Satz 2 InsO die Insolvenzforderungen anzumelden, er hat die Tabelle zu führen. Demzufolge obliegt es Ihm auch, die Insolvenzgläubiger von der Insolvenz zu unterrichten und zur Anmeldung ihrer Forderungen aufzufordern. Nach § 183 Abs. 1 Satz 1 InsO kann er die Insolvenzforderungen bestreiten, was deren Prüfung voraussetzt, zu der er folglich verpflichtet ist. Gegebenenfalls muss gegen ihn, wenn er bestritten hat, die Tabellenfeststellungsklage geführt werden. Die Verteilung wird zwar gemäß § 283 Abs. 2 Satz 1 InsO vom eigenverwaltenden Insolvenzschuldner durchgeführt. Zuvor muss aber der Sachwalter gemäß Satz 2 dieser Vorschrift die Verteilungsverzeichnisse prüfen und jeweils schriftlich erklären, ob Einwendungen zu erheben sind. Zudem ist nur er berechtigt, gemäß § 280 InsO die mit der teilweisen Befriedigung von Insolvenzgläubigern häufig verbundenen Anfechtungsmöglichkeiten nach §§ 129 ff. InsO geltend zu machen. Deshalb sind die Aufgaben des Sachwalters mit denen des Insolvenzverwalters in Bezug auf die Behandlung der Forderungen der Insolvenzgläubiger durchaus vergleichbar. Gegen die entsprechende Anwendung des § 2 Abs. 2 InsVV bestehen deshalb keine Bedenken. Die Probleme entsprechen denjenigen beim Insolvenzverwalter. 6. Zahl der Gläubiger Ist danach § 2 Abs. 2 InsVV auch bei sehr hoher Gläubigerzahl anwendbar, muss festgelegt werden, welche Gläubiger dabei zu berücksichtigen sind: a) Zahl der Gläubiger, nicht der Forderungen Maßgebend ist bei § 2 Abs. 2 InsVV nicht die Zahl der Forderungsanmeldungen, sondern die Zahl der Gläubiger. Gläubiger mit mehreren angemel-

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deten Forderungen werden nur einmal gezählt. Nach der Rechtsprechung des BGH entspricht es der typisierenden Regelungsweise des § 2 Abs. 2 InsVV, die maßgebliche Anzahl der Gläubiger formal zu bestimmen. Entscheidend ist, wer jeweils materiell-rechtlich Inhaber der angemeldeten Forderung ist. Unerheblich ist, ob ein Gläubiger mehrere Forderungen geltend macht, auch wenn diese auf unterschiedlichen Rechtsverhältnissen beruhen und von verschiedenen Organisationseinheiten des Gläubigers bearbeitet werden. Selbst wenn es sich bei dem Gläubiger um eine öffentlich-rechtliche Gebietskörperschaft handelt, die durch verschiedene Behörden rechtlich selbstständige Forderungen angemeldet hat, ist sie bei der Ermittlung der Mindestvergütung nach § 2 Abs. 2 InsVV nur einmal zu zählen, selbst wenn im konkreten Fall für den Insolvenzverwalter ein ähnlicher Arbeitsaufwand entsteht wie bei der Forderungsanmeldung durch unterschiedliche Gläubiger.28) b) Welche Gläubiger sind zu berücksichtigen? Beim Insolvenzverwalter ist gemäß § 2 Abs. 2 InsVV maßgebend, wie viele Gläubiger Forderungen angemeldet haben. Beim vorläufigen Verwalter liegen Forderungsanmeldungen noch nicht vor. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes richtet sich deshalb die Höhe der Mindestvergütung bei ihm nach der Anzahl der Gläubiger, denen nach den Unterlagen des Schuldners offene Forderungen gegen den Schuldner zustehen, soweit mit einer Forderungsanmeldung im Insolvenzverfahren zu rechnen ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich der vorläufige Verwalter mit den Forderungen konkret befasst hat.29) Danach sind als Gläubiger i. S. der §§ 10, 2 Abs. 2 InsVV z. B. grundsätzlich auch die Arbeitnehmer des Schuldners zu berücksichtigen, die zum Zeitpunkt der Bestellung des vorläufigen Verwalters offene Forderungen haben. Eine konkrete Befassung mit diesen Forderungen braucht der vorläufige Insolvenzverwalter nicht nachzuweisen. Nicht selten wird es aber in diesen Fällen zu keiner Forderungsanmeldung der einzelnen Arbeitnehmer im Insolvenzverfahren kommen, weil ihre Lohnforderungen mit dem Antrag auf Insolvenzgeld auf die Bundesagentur für Arbeit übergehen (§§ 183,

28) 29)

BGH, Beschl. v. 16.12.2010 – IX ZB 39/10, Rz. 4, ZIP 2011, 132; BGH, Beschl. v. 19.5.2011 – IX ZB 27/10, Rz. 5 f., ZIP 2011, 1479. BGH, Beschl. v. 4.2.2010 – IX ZB 129/08, Rz. 7 ff., ZIP 2010, 486.

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187 SGB III). Für die Berechnung der Mindestvergütung des vorläufigen Insolvenzverwalters sind solche Arbeitnehmer daher zu einem Gläubiger zusammenzufassen. Ansonsten käme es zu einer sachlich nicht gerechtfertigten Besserstellung des vorläufigen gegenüber dem endgültigen Insolvenzverwalter. Arbeitnehmer mit Lohnforderungen aus Zeiträumen, für die kein Insolvenzgeld gewährt wird, bleiben hingegen auch im eröffneten Verfahren als Gläubiger zur Anmeldung ihrer Forderung berechtigt. Sie sind bei der Berechnung der Mindestvergütung gesondert zu berücksichtigen.30) Das gilt auch für Arbeitnehmer, die andere Forderungen haben, die nicht auf die Bundesagentur für Arbeit übergehen. Sie sind – aber nur einmal – zu berücksichtigen, wenn von der Anmeldung der Forderung auszugehen ist. Beim Sachwalter ist bei entsprechender Anwendung dieser Regelungen auf die angemeldeten Forderungen abzustellen. Da beim vorläufigen Sachwalter die Berechnungsgrundlage des Sachwalters maßgebend ist,31) gilt für ihn dasselbe. Liegen aber noch keine Forderungsanmeldungen vor, etwa weil die Eigenverwaltung beendet und das Verfahren ins Regelinsolvenzverfahren übergeleitet wurde und damit das Amt des (vorläufigen) Sachwalters endete, bevor die Anmeldungen vorgenommen werden konnten, muss entsprechend der Rechtsprechung zum vorläufigen Verwalter auf die Anzahl der Gläubiger abgestellt werden, denen nach den Unterlagen des Schuldners offene Forderungen gegen den Schuldner zustehen, soweit mit einer Forderungsanmeldung im Insolvenzverfahren zu rechnen war. Es kommt auch hier wiederum nicht darauf an, ob sich der (vorläufige) Sachwalter mit den Forderungen konkret befasst hat.32) c) Sind weitere Schätzungsgrundsätze zu berücksichtigen? Bei der Schätzung wird, soweit noch keine weitergehenden Erkenntnisse vorliegen, von der Buchhaltung der Schuldnerin und den dort verzeichneten Gläubigern ausgegangen werden müssen. Dabei können folgende weitere Gesichtspunkte zu berücksichtigen sein: –

Bei einer hohen Gläubigerzahl ist damit zu rechnen, dass Gläubiger mit marginalen Forderungen vorhanden sind. Die Anmeldung zur Ta-

30) 31) 32)

BGH, Beschl. v. 4.2.2010 – IX ZB 129/08, Rz. 10, ZIP 2010, 486. BGH, Beschl. v. 21.7.2016 – IX ZB 70/14, Rz. 50, BGHZ 211, 225 = ZIP 2016, 1592. BGH, Beschl. v. 4.2.2010 – IX ZB 129/08, Rz. 7 ff., ZIP 2010, 486.

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belle ist zwar nicht aufwändig. Gleichwohl ist fraglich, ob davon auszugehen ist, dass Gläubiger mit Forderungen im Cent-Bereich oder im Bereich weniger Euro von einer Anmeldung absehen werden, weil ihnen diese womöglich mehr Mühe macht als im besten Fall an Ertrag erwartet werden kann. –

Zweifelhaft kann dies erst recht sein, wenn bereits vor Ablauf der Anmeldefrist nach § 208 Abs. 1 InsO (drohende) Masseunzulänglichkeit angezeigt wurde. In diesem Fall besteht für Insolvenzgläubiger von vorneherein keine oder nur eine sehr geringe Aussicht auf eine Quote. Dann stellt sich die Frage, ob diese Anzeige und die zumindest für Sachkundige daraus zu ziehenden Konsequenzen nicht dazu führen, dass davon ausgegangen werden muss, dass Insolvenzgläubiger ihre Forderung überhaupt nicht erst anmelden.

Ob diese Umstände in der erforderlichen Prognose zu berücksichtigen sind, hängt freilich davon ab, wie sich solche Gläubiger erfahrungsgemäß verhalten. Die meisten Gläubiger haben von derartigen insolvenzrechtlichen Fragestellungen keine Vorstellung. Deshalb wird in der Regel davon auszugehen sein, dass Anmeldungen gleichwohl erfolgen. Allerdings kann eine gewisse Reduzierung bei der Gläubigerzahl angebracht sein. IV. Zuschläge Angesprochen werden sollen hier nur allgemeine Grundsätze und Fragen, die mit der hoher Gläubigerzahl zusammenhängen. 1. Allgemeine Grundsätze a) Zuschläge allgemein Auf die Regelvergütung des vorläufigen Insolvenzverwalters, des Verwalters, des vorläufigen Sachwalters und des Sachwalters sind nach Maßgabe der Umstände des Einzelfalles Zu- und Abschläge vorzunehmen. Maßgebend ist § 3 InsVV, der über § 10 InsVV auch für den vorläufigen Verwalter und den (vorläufigen) Sachwalter gilt.33) Wie der Wortlaut des § 12 Abs. 1 InsVV zeigt, handelt es sich auch bei dem dort festgesetzten „Regelsatz“ 33)

Vgl. BGH, Beschl. v. 21.7.2016 – IX ZB 70/14, Rz. 55 ff., BGHZ 211, 225 = ZIP 2016, 1592; BGH, Beschl. v. 22.9.2016 – IX ZB 71/14, Rz. 41 ff., ZIP 2016, 1981; BGH, Beschl. v. 22.6.2017 – IX ZB 91/15, Rz. 13 ff., ZInsO 2017, 1813.

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nicht um eine unveränderbare Größe. § 12 Abs. 2 InsVV macht durch das Wort „insbesondere“ klar, dass dort ergänzend zu § 3 Abs. 1 InsVV ein Regelzuschlag geschaffen wurde, der andere Zu- und Abschläge nicht ausschließt.34) Ausschlaggebendes Kriterium für die Gewährung von Zu- und Abschlägen ist der im Verhältnis zu den in jedem Verfahren zu erfüllenden gesetzlichen Aufgaben des (vorläufigen) Verwalters oder Sachwalters gestiegene oder geminderte Arbeitsaufwand.35) Das die Vergütung festsetzende Insolvenzgericht kann für einzelne Zu- und Abschlagstatbestände zunächst gesonderte Zu- und Abschläge ansetzen. Eine solche Vorgehensweise ist jedoch nicht zwingend erforderlich. Maßgebend ist für den Gesamtzuschlag oder Gesamtabschlag eine im Ergebnis angemessene Gesamtwürdigung. Dieser vorausgehen muss aber in jedem Fall eine genaue Überprüfung und Beurteilung aller in Frage kommenden Zu- und Abschlagstatbestände, insbesondere der beantragten Zuschläge. Die Überprüfung und ihr Ergebnis hat in der Begründung der Vergütungsfestsetzung entsprechenden Ausdruck zu finden.36) Es muss also zu jedem beantragten Zuschlag ausgeführt werden, ob und inwieweit dieser berechtigt ist. Auf die abschließende Gesamtwürdigung kann dann schon deshalb nicht verzichtet werden, weil sich viele in Betracht kommende Zu- und Abschlagstatbestände überschneiden.37) Zu beobachten ist, dass (vorläufige) Verwalter und Sachwalter einerseits, Insolvenzgerichte andererseits, nur noch dazu Stellung nehmen, ob ein Zuschlag dem Grunde nach gerechtfertigt ist, und bis zu welcher Höhe Zuschläge in diesen Fällen im Allgemeinen zuerkannt werden. Ein konkreter Zuschlag wird dann nur beim Gesamtzuschlag genannt bzw. festgesetzt. Dies ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zwar möglich. Die Vorgehensweise vermindert aber die Nachvollziehbarkeit der getrof34) 35) 36)

37)

vgl. BGH, Beschl. v. 21.7.2016 – IX ZB 70/14, Rz. 55 ff., BGHZ 211, 225 = ZIP 2016, 1592. BGH, Beschl. v. 21.7.2016 – IX ZB 70/14, Rz. 56, BGHZ 211, 225 = ZIP 2016, 1592; BGH, Beschl. v. 22.6.2017 – IX ZB 91/15, Rz. 14, ZInsO 2017, 1813. Vgl. BGH, Beschl. v. 11.5.2006 – IX ZB 249/04, Rz. 11, ZIP 2006, 1204; BGH, Beschl. v. 21.7.2016 – IX ZB 70/14, Rz. 57, BGHZ 211, 225 = ZIP 2016, 1592; BGH, Beschl. v. 22.6.2017 – IX ZB 91/15, Rz. 15, ZInsO 2017, 1813; ständige Rechtsprechung. BGH, Beschl. v. 11.5.2006 – IX ZB 249/04, Rz. 11, ZIP 2006, 1204; BGH, Beschl. v. 26.2.2015 – IX ZB 34/13, Rz. 7, ZInsO 2015, 765; zum (vorl.) Sachwalter vgl. insbesondere BGH, Beschl. v. 21.7.2016 – IX ZB 70/14, Rz. 55 ff., BGHZ 211, 225 = ZIP 2016, 1592 m. w. N.; ständige Rechtsprechung.

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fenen Entscheidung. Vorzuziehen ist es, wenn bei jedem Zuschlagstatbestand ein angemessener Zuschlag festgesetzt wird, möglichst unter Ausschaltung aller Überschneidungen mit anderen Zuschlagstatbeständen, damit nicht wegen dieser Überschneidungen bei der Gesamtbetrachtung die rechnerische Summe wieder erheblich gekürzt werden muss. Zuzuerkennende Zuschläge erhöhen die Regelvergütung um den Vomhundertsatz, der als Zuschlag gewährt wird. Beim Zuschlag sind nicht erneut Regelbruchteile zu bilden. Die Zuschlagshöhe orientiert sich immer an der Höhe der Regelvergütung. Belasten erschwerende Zustände den vorläufigen Sachwalter in gleicher Weise, wie sie den endgültigen Sachwalter beschweren würden, wenn erst er diese Aufgabe hätte wahrnehmen müssen, sind die deswegen zu gewährenden Zuschläge, da die Berechnungsgrundlage übereinstimmt, in gleicher Höhe zu gewähren.38) Ist beim vorläufigen Verwalter wegen der Sonderregelungen zur Berechnungsgrundlage eine andere Regelvergütung zugrunde zu legen, muss die Zuschlagshöhe bei sonst gleichen Verhältnissen entsprechend angepasst werden. Eine Bindung an Faustregeltabellen besteht nicht. Entscheidungen anderer Gerichte in vergleichbaren Fällen können aber eine Orientierungshilfe bieten.39) Die Bemessung der Zu- und Abschläge ist in allen Fällen Aufgabe der Tatrichter. In der Rechtsbeschwerdeinstanz wird die Bemessung nur daraufhin überprüft, ob sie die Gefahr der Verschiebung von Maßstäben mit sich bringt.40) b) Maßstab bei der Festsetzung der Höhe eines Zuschlags beim Sachwalter War die zuschlagsbegründende Tätigkeit sowohl in der Zeit der Tätigkeit als vorläufiger Sachwalter als auch der Tätigkeit als Sachwalter auszuüben, ist ein einheitlicher Zuschlag anzusetzen, nicht etwa getrennte Zuschläge für beide Zeitabschnitte. Denn es wird auch insgesamt nur eine Vergütung festgesetzt.

38) 39) 40)

Vgl. BGH, Beschl. v. 21.7.2016 – IX ZB 70/14, Rz. 55 ff., BGHZ 211, 225 = ZIP 2016, 1592 m. w. N. Vgl. BGH, Beschl. v. 21.7.2016 – IX ZB 70/14, Rz. 55 ff., BGHZ 211, 225 = ZIP 2016, 1592 m. w. N. Vgl. BGH, Beschl. v. 21.7.2016 – IX ZB 70/14, Rz. 55 ff., 60, BGHZ 211, 225 = ZIP 2016, 1592 m. w. N.

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Bei der Frage der Angemessenheit des Zuschlags wird man beim (vorläufigen) Sachwalter als Vergleichsmaßstab auch berücksichtigen, welche Zuschläge bei einem (vorläufigen) Insolvenzverwalter üblich sind. Diese können aber nicht ohne weiteres übertragen werden, weil zu berücksichtigen ist, dass sich die Aufgaben unterscheiden, der (vorläufige) Sachwalter in aller Regel einen deutlich geringeren Aufgabenbereich wahrzunehmen hat, nämlich im Wesentlichen Kontroll- und Überwachungsfunktionen. Der Aufgabenzuschnitt des (vorläufigen) Sachwalters führt deshalb regelmäßig zu deutlich geringeren Zuschlägen als für vergleichbare zuschlagspflichtige Tätigkeitsbereiche des Verwalters im Regelinsolvenzverfahren.41) Auf der anderen Seite muss berücksichtigt werden, dass hier ein einheitlicher Zuschlag festgelegt wird, während bei der gesonderten Festsetzung der Vergütungen von vorläufigem Verwalter und Verwalter jeweils gesonderte Zuschläge anfallen. c) Berücksichtigung der erzielten Erhöhung der Regelvergütung aa) Grundsätze bei der Regelvergütung nach § 2 Abs. 1 InsVV Bei der Bemessung der Höhe eines Zuschlags ist zu berücksichtigen, ob sich durch die Tätigkeit, für die ein Zuschlag verlangt wird, bereits die Berechnungsgrundlage und damit die Regelvergütung nach § 2 Abs. 1 InsVV erhöht hat. Viele Tatbestände, die einen Zuschlag rechtfertigen können, etwa die Ermittlung und Durchsetzung von Anfechtungsansprüchen, sind in § 3 Abs. 1 InsVV nicht geregelt. Das war im Hinblick auf den lediglich beispielhaften Charakter der Regelung und die Entnahmemöglichkeit nach § 5 InsVV auch nicht erforderlich.42) Die Regelungsstruktur des § 3 Abs. 1 InsVV geht jedoch dahin, dass zwischen Zuschlagstatbeständen unterschieden wird, die Arbeiten betreffen, die die Masse regelmäßig mehren (lit. a und b), und solchen, wo dies nicht der Fall ist (lit. d und e). Der Regelfall unter lit. c betrifft den Degressionsausgleich in Fällen, in denen durch die Tätigkeit des Verwalters die Masse gemehrt wurde, aber der erhebliche Arbeitsaufwand durch die geringe Steigerung der Regelvergütung bei hoher Masse nicht ausreichend 41) 42)

BGH, Beschl. v. 21.7.2016 – IX ZB 70/14, Rz. 81, BGHZ 211, 225 = ZIP 2016, 1592. BGH, Beschl. v. 8.3.2012 – IX ZB 162/11, Rz. 13 ff., ZIP 2012, 682.

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vergütet wird. Aus lit. a, b und c ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes das allgemeine Regelungsmodell abzuleiten, dass in Fällen, in denen eine Tätigkeit die Masse und damit schon die Regelvergütung erhöht, zu prüfen ist, ob nicht schon die bewirkte Erhöhung der Regelvergütung eine angemessene Vergütung der Tätigkeit darstellt, für die ein Zuschlag verlangt wird. Es ist deshalb, bezogen auf den einzelnen in Betracht zu ziehenden Zuschlagstatbestand, zu prüfen, ob trotz einer eingetretenen Erhöhung der Regelvergütung ein (Ausgleichs-)Zuschlag zu gewähren ist, weil sich die Vergütung ohne Masseerhöhung bei angemessenem Zuschlag stärker erhöht hätte.43) Die Vergütung, die sich unter Berücksichtigung der Erhöhung der Berechnungsgrundlage durch die realisierte Erhöhung der Masse ergibt, ist derjenigen Vergütung gegenüberzustellen, welche der Verwalter ohne Erwirtschaftung dieser Massemehrung aufgrund eines Zuschlags erhielte; bleibt die Vergütung aufgrund der Massemehrung hinter dieser fiktiven Vergütung zurück, so erhält der Verwalter ergänzend einen Zuschlag, der die Differenz zumindest ausgleicht. Diese jeweils vorzunehmende Vergleichsüberlegung ist bei jedem in Betracht kommenden Zuschlagstatbestand gesondert vorzunehmen. Es sind hierbei also nicht alle Zuschlagstatbestände zusammenzuziehen, insbesondere sind nicht Zuschläge einzubeziehen, die für Tätigkeiten gewährt werden, die eine Massemehrung nicht bewirken können. Denn dies würde die Vergütung insgesamt absenken. Wäre dies vom Verordnungsgeber gewollt gewesen, hätte er in § 3 Abs. 1 InsO nicht zwischen Zuschlagstatbeständen mit Massemehrung und solchen ohne Massemehrung unterschieden.44) Auch in § 3 Abs. 1 lit. c InsVV wird bei dem dortigen Zuschlagstatbestand des Degressionsausgleichs nur darauf abgestellt, ob der Verwalter mit erheblichem Arbeitsaufwand die Masse vermehrt oder zusätzliche Masse – lediglich – festgestellt hat. Die in § 3 Abs. 1 InsVV für diese Fälle vorgesehene Vergleichsrechnung hat nicht die Zielrichtung, die Vergütung des Verwalters, der eine Massemehrung erreicht hat, auf die Vergütung zu beschränken, die ein Verwal43)

44)

BGH, Beschl. v. 8.3.2012 – IX ZB 162/11, Rz. 16, ZIP 2012, 682; BGH, Beschl. v. 12.5.2011 – IX ZB 143/08, Rz. 10 f., ZIP 2011, 1373; BGH, Beschl. v. 8.11.2012 – IX ZB 139/10, Rz. 22, ZIP 2012, 2407. Vgl. BGH, Beschl. v. 12.5.2011 – IX ZB 143/08, Rz. 12, ZIP2011, 1373.

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ter erzielt hätte, der keine Massemehrung erwirtschaftet.45) Der Bundesgerichtshof hat vielmehr besonders bei den zahlreichen Fällen von Betriebsfortführungen stets betont, dass der Insolvenzverwalter, der durch die Betriebsfortführung eine Anreicherung der Masse bewirkt, vergütungsmäßig nicht schlechterstehen darf, als wenn die Masse nicht angereichert worden wäre. Dabei kann der Erfolg des Verwalters zu einer angemessenen Erhöhung des rechnerischen Ausgleichszuschlags führen, um die für die Masse erfolgreiche Tätigkeit angemessen zu honorieren.46) Diese Möglichkeit, den Erfolg des Verwalters zu honorieren, wird in der Praxis noch zu wenig wahrgenommen. bb) Grundsätze bei der Mindestvergütung nach § 2 Abs. 2 InsVV Bemisst sich die Regelvergütung allerdings nach § 2 Abs. 2 InsVV, können diese zu § 2 Abs. 1 InsVV entwickelten Grundsätze keine Anwendung finden. Denn wenn nach § 2 Abs. 2 InsVV die Mindestvergütung als Regelvergütung anzusetzen ist, ändert sich durch eine eingetretene Erhöhung der Berechnungsgrundlage nach § 1 InsVV an der Mindestvergütung nichts. Insbesondere ändert sich nichts an der hier allein maßgebenden Zahl der Insolvenzgläubiger. Eine Vergleichsrechnung der geschilderten Art scheidet deshalb in solchen Fällen von vorneherein aus. Es ist dann nur danach zu fragen, welcher Zuschlag angemessen ist. d) Verhältnis Regelvergütung zur Zuschlagshöhe Aus den oben unter c) aa) dargelegten Überlegungen ergibt sich auch, dass die Höhe der Regelvergütung immer auch heranzuziehen ist bei Beurteilung der Frage, ob überhaupt ein Zuschlag gerechtfertigt ist und wie hoch dieser zu bemessen ist. Es ist deshalb von erheblicher Bedeutung, welche Regelvergütung zugrunde gelegt wird, auch für die Höhe der Zuschläge. Wie oben bereits ausgeführt, ist im oben genannten Beispielsfall die Mindestvergütung nach § 2 Abs. 2 InsVV zugrunde zu legen. Bei einer Berechnung nach § 2 Abs. 1 InsVV wäre die Regelvergütung beträchtlich niedriger. Selbstverständlich kann nicht in beiden Fällen für eine zuschlagsbegründende Sonderaufgabe der45) 46)

Vgl. BGH, Beschl. v. 12.5.2011 – IX ZB 143/08, Rz. 13, ZIP2011, 1373. BGH, Beschl. v. 12.5.2011 – IX ZB 143/08, ZIP 2011, 1373; BGH, Beschl. v. 18.12.2014 – IX ZB 5/13, Rz. 30, ZIP 2015, 230.

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selbe Zuschlag gewährt werden. Die Hebelwirkung der Regelvergütung ist bei der Höhe der Zuschläge zu berücksichtigen. e) Zuschlag wegen großer Gläubigerzahl Wie bereits oben zur Anwendbarkeit des § 2 Abs.2 InsVV ausgeführt wurde, ist bei einer Berechnung der Regelvergütung nach § 2 Abs. 1 InsVV eine hohe Gläubigerzahl als Zuschlagstatbestand allgemein anerkannt. Die Höhe des Zuschlags wird gestaffelt nach der Zahl der Gläubiger, sehr häufig werden bei einer Gläubigerzahl über 100 pro weiteren 100 Gläubigern 10 bis 15 % Zuschlag gewährt. Umgerechnet auf den einzelnen Gläubiger ergeben sich bei den gewährten Zuschlägen Vergütungsmehrungen von bis zu ca. 25 €, in einzelnen Fällen deutlich mehr.47) Bei einer Berechnung der Regelvergütung nach § 2 Abs. 2 InsVV kann ein Zuschlag dagegen nicht gewährt werden, weil die Zahl der Gläubiger bereits das wesentliche Kriterium zur Berechnung der Mindestvergütung ist. V. Abschläge 1. Allgemeines Abschläge sind unter den Voraussetzungen der §§ 10, 3 Abs. 2 InsVV vorzunehmen. Auch hier ist die Regelung der Verordnung nicht abschließend, sondern nur beispielhaft. Es handelt es sich bei den ausdrücklich aufgeführten Tatbeständen um Regeltatbestände. Entscheidend ist, ob der Arbeitsaufwand des (vorläufigen) Verwalters/Sachwalters sich im Verhältnis zum Normalverfahren reduziert hat. Eine Besonderheit gilt aber, wenn als Regelvergütung die Mindestvergütung anzusetzen ist. Abschläge sind auch hier möglich.48) Es ist aber besonders sorgfältig zu prüfen, ob die vom Verordnungsgeber angeordnete Mindestvergütung unterschritten werden kann.

47) 48)

Vgl. die Übersicht bei Graeber/Graeber, InsVV, 3. Aufl. 2019, § 3 Rz. 183 m. w. N. Vgl. BGH, Beschl. v. 6.4.2017 – IX ZB 48/16, WM 2017, 825; BGH, Beschl. v. 14.12.2017 – IX ZB 101/15, ZIP 2018, 333.

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2. Die einzelnen Abschläge a) Vorzeitige Beendigung des Amtes Die vorzeitige Beendigung des Amtes als (vorläufiger) Verwalter oder Sachwalter muss zu einem Abschlag führen, es handelt sich um einen Regelfall nach § 10 i. V. m. § 3 Abs. 2 lit. c InsVV. Dies ist offensichtlich49) und entspricht im Übrigen ständiger Rechtsprechung. Bei mehreren hintereinander bestellten Verwaltern sollte die Vergütung des vorzeitig ausscheidenden Verwalters – von notwendiger Doppelarbeit abgesehen – dem Prozentsatz entsprechen, der sich aus dem Verhältnis der von ihm geleisteten Arbeit und der voraussichtlich noch zu leistenden Arbeit ergibt. Maßgeblich zur Bestimmung des Abschlags sind dabei insbesondere Dauer und Umfang der Tätigkeit sowie alle Umstände des Einzelfalls. Der Abschlag ist umso höher, je weniger von der i. R. eines Normalverfahrens geschuldeten Leistung bereits erbracht ist.50) Dies gilt entsprechend, wenn nach Bestellung eines Sachwalters das Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung in ein Regelinsolvenzverfahren übergeleitet und der bisherige Sachwalter (oder eine andere Person) zum Insolvenzverwalter bestellt wird. Dabei ist der unterschiedliche Aufgabenumfang zu berücksichtigen; dies geschieht hinsichtlich der Regelvergütung im Wesentlichen schon durch deren unterschiedliche Höhe. Allerdings kann sich durch die Überleitung ins Regelinsolvenzverfahren für den Insolvenzverwalter Mehrarbeit ergeben, die bei sofortigem Eintritt ins Regelinsolvenzverfahren schon in der Zeit der Tätigkeit des Sachwalters zeitanteilig hätte erledigt werden müssen. Deshalb wird in solchen Fällen die Summe der Quoten der Regelvergütungen niemals 100 % betragen, sondern eine höhere Gesamtquote ergeben. Bei der Frage, welche Höhe beim Abschlag angemessen ist, muss jedoch unterschieden werden: –

Hinsichtlich der in Form eines Zuschlags anzusetzenden Vergütung für die Tätigkeit als vorläufiger Sachwalter liegt kein Kürzungsgrund vor, wenn erst das Amt des Sachwalters nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorzeitig geendet hat. Die Amtszeit des vorläufigen Sachwalters wurde dann nicht verkürzt, seine Tätigkeit dauerte das ge-

49) 50)

Vgl. BGH, Beschl. v. 16.19.2008 – IX ZB 247/06, Rz. 13, ZInsO 2009, 1030. Vgl. schon BGH, Beschl. v. 16.12.2004 – IX ZB 301/03, juris Rz. 12, ZIP 2005, 180.

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samte Eröffnungsverfahrens an. Hält sich die Dauer des Eröffnungsverfahrens im üblichen Rahmen von bis zu drei Monaten,51) besteht für eine Kürzung insoweit kein Anlass. –

Die Dauer eines Insolvenzverfahrens in Eigenverwaltung kann nach den Feststellungen des Bundesgerichtshof normalerweise mit einem Zeitraum von sechs bis neun Monaten erwartet werden.52) Allerdings verbietet sich hier eine streng quotale zeitanteilige Kürzung schon aus dem Grund, weil zu Beginn der Tätigkeit erfahrungsgemäß besonders viele, zeitlich drängende Arbeiten anfallen, während sich später der Handlungsdruck verringert. Allerdings ist nicht auf die statistisch durchschnittlichen Umstände, sondern auf den konkreten Fall abzustellen. Ergibt die Prognose der Verfahrensdauer eine wesentlich längere Frist, was vor allem in Fällen gegeben ist, wo es zu keiner Sanierung, sondern zu einer Abwicklung des Unternehmens kommt, ist das natürlich zu berücksichtigen. In solchen Fällen erfolgt in der Regel eine Überleitung ins Regelinsolvenzverfahren.

Bei vorzeitige Beendigung des Amtes könnte man bei einer Berechnung der Regelvergütung nach § 2 Abs. 2 InsVV (Mindestvergütung) argumentieren, für die Regelvergütung nach § 2 Abs. 2 InsVV sei vor allem der mit den Gläubigern verbundene Aufwand Maßstab für die Berechnung. Dieser sei aber zu großen Teilen noch nicht angefallen, wenn in der Zeit der Bestellung erst ein geringer Teil der von den Gläubigern unmittelbar verursachten Arbeit angefallen ist, etwa weil zwar im Wesentlichen alle Gläubiger unterrichtet, aber mangels Ablauf der Anmeldefrist die Forderungen noch nicht angemeldet und in die Tabelle eingetragen, die Forderungen noch nicht geprüft, Tabellenfeststellungsklagen noch nicht geführt, das Verteilungsverzeichnis noch nicht geprüft worden ist. Zu berücksichtigen ist aber auch in einem solchen Fall, dass, wie schon ausgeführt, die anderen zu bewältigenden Aufgaben im Verhältnis zur Gesamtdauer des Amtes in den ersten Wochen besonders hoch sind. Diese Aufgaben sind zwar nicht Maßstab für die Bemessung der Mindestvergütung nach § 2 Abs. 2 InsVV, sie sind dabei aber natürlich mitberücksichtigt. Die Zahl der Gläubiger wurde gewählt, weil sie i. R. einer typisieren-

51) 52)

BGH, Beschl. v. 21.7.2016 – IX ZB 70/14, Rz. 48, BGHZ 211, 225 = ZIP 2016, 1592. BGH, Beschl. v. 21.7.2016 – IX ZB 70/14, Rz. 48, BGHZ 211, 225 = ZIP 2016, 1592.

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den Betrachtung ein einfach zu handhabender Maßstab sind, während die anderen erforderlichen Tätigkeiten im Hinblick auf die Vielzahl womöglich anfallender unterschiedlicher Aufgaben nicht zum Maßstab taugen. Es kann keineswegs davon ausgegangen werden, dass die Befassung mit den Insolvenzgläubigerrechten den größten Teil der Arbeit des Insolvenzverwalters oder Sachwalters ausmacht. Das zeigt sich gerade in komplexen Fällen. b) Abschlag wegen der Tätigkeit als vorläufiger Sachwalter? Bei der Festsetzung der Vergütung des Insolvenzverwalters, bei dem im Verfahren zuvor ein vorläufiger Insolvenzverwalter bestellt war (im Regelfall besteht Personenidentität), ist nach ständiger gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ein Abschlag nach § 3 Abs. 2 Nr. 1 InsVV zu prüfen, weil davon auszugehen ist, dass diese Tätigkeit die Arbeit des Insolvenzverwalters in der Regel erleichtert hat. Aus diesem Grund hat der Verordnungsgeber diesen Abschlag als Regelfall ausgestaltet.53) Von den Insolvenzverwaltern wird diese Rechtsprechung – zu Unrecht – seit jeher mit Nachdruck abgelehnt. An Ihrer Berechtigung ändert das nichts. Für den Sachwalter kann bei der nach § 10 InsVV angeordneten entsprechenden Anwendung von § 3 Abs. 2 InsVV vom Grundsatz her nichts anderes gelten. Bei der Festlegung des Regelvergütungssatzes des vorläufigen Sachwalters in Form eines Zuschlags i. H. von 25 % der Regelvergütung des Insolvenzverwalters nach § 2 InsVV54) hat der Bundesgerichtshof dazu nicht Stellung nehmen müssen. Die Festlegung der Höhe der regelmäßigen Vergütung des vorläufigen Sachwalters besagt an sich auch noch nichts zur Höhe der Vergütung des Sachwalters. Andererseits ist für vorläufigen Sachwalter und den Sachwalter eine einheitliche Vergütung festzusetzen. Deshalb spricht alles dafür, dass der Bundesgerichtshof bei der Festsetzung des Regelzuschlags für die Tätigkeit als vorläufiger Sachwalter die mit seiner Tätigkeit im Regelfall verbundenen Erleichterungen für den Sachwalter bereits berücksichtigt hat.

53) 54)

Vgl. z. B. BGH, Beschl. v. 10.10.2013 – IX ZB 38/11, Rz. 24, ZIP 2013, 2164 m. w. N. Vgl. BGH, Beschl. v. 21.7.2016 – IX ZB 70/14, Rz. 48 f., BGHZ 211, 225 = ZIP 2016, 1592.

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c) Abschlag wegen Tätigkeit eines insolvenzrechtskundigen Generalbevollmächtigten der Insolvenzschuldnerin bei Eigenverwaltung? Ein solcher Abschlag ist nicht vorzunehmen. Das hat der Bundesgerichtshof wiederholt entschieden. Die Eigenverwaltung setzt selbstverständlich eine insolvenzrechtliche Expertise des Schuldners voraus. Ob der Schuldner oder seine Geschäftsführung sich diese Expertise selbst verschaffen oder zu diesem Zweck einen Berater anstellen, dem sie Generalvollmacht erteilen, ist unerheblich. Bei der Bemessung der Zuschläge ist stets eine solche Expertise der Eigenverwaltung zugrunde zu legen. Deshalb und im Hinblick auf die Beschränkung der Tätigkeit auf Prüfungs- und Überwachungsaufgaben fallen Zuschläge in der (vorläufigen) Eigenverwaltung in der Regel deutlich geringer aus als im Regelinsolvenzverfahren. Dann können anschließend aus demselben Grund nicht Abschläge vorgenommen werden.55) d) Abschlag wegen übergroßer Gläubigerzahl? Eine große Zahl von Gläubigern führt bei einer Regelvergütung, die nach § 2 Abs. 1 InsVV berechnet worden ist, in der Regel zu einem Zuschlag.56) Dagegen kann eine große Gläubigerzahl im Falle der Berechnung der Regelvergütung nach der Zahl der Gläubiger nach § 2 Abs. 2 InsVV einen Zuschlag nicht rechtfertigen, weil die Zahl der Gläubiger bereits Gegenstand der Berechnung ist. Hier stellt sich aber umgekehrt die Frage, ob bei übergroßer Gläubigerzahl ein Abschlag bei der Mindestvergütung gerechtfertigt sein kann. Der Bundesgerichtshof hatte zunächst ausgesprochen, dass bei einer nach § 2 Abs. 1 InsVV berechneter Regelvergütung ein Abschlag auch dann möglich ist, wenn die Masse nicht groß57) oder gering war.58) Später hat er diese Möglichkeit auch bejaht bei nach § 2 Abs. 2 InsVV berechneten Mindestvergütungen in massearmen Verfahren, wenn der qualitative und quantitative Zuschnitt des Verfahrens erheblich hinter den Kriterien eines durchschnittlichen massearmen Verfahrens zurückbleibt und der Regelsatz der

55) 56) 57) 58)

BGH, Beschl. v. 21.7.2016 – IX ZB 70/14, Rz. 81, BGHZ 211, 225 = ZIP 2016, 1592. Vgl. dazu schon oben und z. B. grundlegend BGH, Beschl. v. 11.5.2006 – IX ZB 249/04, LS 6, ZIP 2006, 1204; Graeber/Graeber, InsVV, 3. Aufl. 2019, § 3 Rz. 183 m. w. N. BGH, Beschl. v. 11.5.2006 – IX ZB 249/04, LS 5, ZIP 2006, 1204. BGH, Beschl. v. 23.3.2006 – IX ZB 20/05, ZIP 2006, 856.

Die Vergütung von Verwalter oder Sachwalter in Insolvenzverfahren

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Mindestvergütung deshalb zu einer unangemessen hohen Vergütung führen würde.59) Die Voraussetzungen eines Abschlags von der Mindestvergütung werden aber nach Ansicht des Bundesgerichtshofes bei der gebotenen Berücksichtigung verfassungsrechtlicher Aspekte in der Praxis selten gegeben sein. Für eine Kürzung der Regelmindestvergütungssätze nach § 2 Abs. 2 InsVV bestehe nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen Raum.60) In der genannten Entscheidung hat der Bundesgerichtshof angenommen, dass ein Abschlag auf die Mindestvergütung nur in Betracht komme, wenn der qualitative und quantitative Zuschnitt des Verfahrens so weit hinter den Kriterien eines durchschnittlichen massearmen Verfahrens zurückbleibe, dass der Regelsatz der Mindestvergütung zu einer unangemessen hohen Vergütung führen würde. Maßgebend sei auch hier, ob die Bearbeitung den Insolvenzverwalter stärker oder schwächer als in entsprechenden Insolvenzverfahren allgemein üblich in Anspruch genommen hat, also der real gestiegene oder gefallene Arbeitsaufwand. Wegen des Grundsatzes der Querfinanzierung rechtfertige nicht jede Unterschreitung einen Abschlag. Einfache Verfahren, die gleichwohl mit dem vollen Satz der Mindestvergütung vergütet werden, könnten ein Ausgleich sein für ebenfalls mit der Mindestvergütung honorierte aufwändigere Verfahren. Ein Abschlag von der Mindestvergütung komme deshalb nur in Betracht, wenn der durchschnittliche Aufwand eines massearmen Verfahrens beträchtlich unterschritten werde.61) Diese auf massearme Verfahren abstellende Betrachtung kann natürlich nicht unbesehen auf Fälle übertragen werden, in denen eine extrem hohe Gläubigerzahl zu einer sehr hohen Mindestvergütung führt. Verfassungsrechtliche Aspekte im Hinblick auf eine zu geringe Vergütung spielen hier keine Rolle. Allerdings kann auch hier der Gedanke der Querfinanzierung greifen. Entscheidend ist aber hier wie auch sonst allgemein bei § 3 Abs. 2 InsVV, ob die Bearbeitung den Insolvenzverwalter stärker oder schwächer als in entsprechenden Insolvenzverfahren allgemein üblich in Anspruch genommen hat, also der real gestiegene oder gefallene Arbeitsaufwand. Das könnte hier angenommen werden, wenn der in § 2 Abs. 2 InsVV gewählte Ansatz, 59) 60) 61)

BGH, Beschl. v. 14.12.2017 – IX ZB 101/15, Rz. 13 f., ZIP 2018, 333. BGH, Beschl. v. 14.12.2017 – IX ZB 101/15, Rz. 14, ZIP 2018, 333 m. w. N. BGH, Beschl. v. 14.12.2017 – IX ZB 101/15, Rz. 14, ZIP 2018, 333 m. w. N.

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dass im Durchschnitt für die Bearbeitung der Forderungen eines Gläubigers eine Vergütung von 20 € auskömmlich sei, ersichtlich nicht zutreffend ist, vielmehr zu erkennbar zu hohen Vergütungen führt. Bei der Behandlung einer oder häufig gar mehrerer Forderungen eines Insolvenzgläubigers ist eine Vergütung von 20 € pro Gläubiger im Normalfall eher knapp gerechnet, was schon ein Vergleich mit den Gebühren nach dem RVG zeigt. Anders könnte das aber sein, wenn eine Vielzahl von gleichgelagerten Forderungen zu prüfen ist, bei denen keine individuellen Besonderheiten bestehen und bei denen wegen ihrer Gleichartigkeit eine Bearbeitung weitgehend elektronisch erfolgen kann, sodass der Verwalter oder Sachwalter nur einen Aufwand hat, der ersichtlich weit unterhalb des in § 2 Abs. 2 InsVV zugrunde gelegten Satzes von 20 € pro Gläubiger liegt. Derartiges ist denkbar. Entscheidend ist, ob tatsächlich eine solche vereinfachte Prüfung bei pflichtgemäßer Ausübung des Amtes möglich ist. VI. Abzüge von der festzusetzenden Vergütung? Zur Erledigung besonderer Aufgaben darf der Verwalter im Insolvenzverfahren für die Masse Dienst- oder Werkverträge abschließen und die angemessene Vergütung aus der Masse zahlen (§ 4 Abs. 1 Satz 3 InsVV). Macht der Verwalter von dieser Möglichkeit Gebrauch, ist das Insolvenzgericht allerdings berechtigt und verpflichtet zu prüfen, ob die besonderen Aufgaben in Wahrheit nicht allgemeine Geschäfte, also Regelaufgaben des Verwalters betrafen, die mit der Regelvergütung bereits abgegolten sind. Betrafen die gesondert aus der Masse entnommenen Beträge eine solche Regelaufgabe und stellen sie somit eine zusätzliche, nicht gerechtfertigte Vergütung des Verwalters dar, ist die Vergütung um den zu Unrecht aus der Masse entnommenen Betrag zu kürzen. Dabei ist zur Abgrenzung vor allem auch § 5 InsVV zu berücksichtigen. Nach § 5 Abs. 1 InsVV kann ein Insolvenzverwalter, der als Rechtsanwalt zugelassen ist, für solche Tätigkeiten, die ein nicht als Rechtsanwalt zugelassener Verwalter angemessener Weise einem Rechtsanwalt übertragen hätte, nach Maßgabe des RVG Gebühren und Auslagen gesondert aus der Insolvenzmasse entnehmen. Nach § 5 Abs. 2 InsVV gilt Entsprechendes, wenn der Insolvenzverwalter eine andere besondere Qualifikation – etwa als Steuerberater – aufweist. Die

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Tätigkeiten i. S. von § 5 InsVV entsprechen den „besonderen Aufgaben“ gemäß § 4 Abs. 1 Satz 3 InsVV.62) Auf den (vorläufigen) Sachwalter übertragen würde ein Abzug voraussetzen, dass dieser die zur Wahrnehmung seiner Regelaufgaben erforderlichen Arbeiten delegiert hat, also vor allem bzgl. seiner Überwachungs- und Aufsichtspflichten, aber etwa auch zur Prüfung der Voraussetzungen einer von ihm zu erteilenden Zustimmung, sofern diese Aufgaben nicht ohnehin Sonderaufgaben waren. Die von der Eigenverwaltung im eigenen Namen vergebenen Aufträge dienen allerdings naturgemäß dazu, die der Eigenverwaltung obliegenden Pflichten zu erfüllen. Das gilt selbst dann, wenn der (vorläufige) Sachwalter der Auftragsvergabe zugestimmt hat. Die Pflichten des (vorläufigen) Sachwalters werden dadurch nicht eingeschränkt. Ob und in welchem Umfang die gleichwohl erforderliche Überwachung auch dieser von der Schuldnerin eingeschalteten Fachleute ihrerseits erneut die Einschaltung externer Sachverständiger erforderte, obliegt der Prüfung und Entscheidung des Sachwalters. Wurden solche Verträge nicht abgeschlossen, besteht auch kein Anlass, Abzüge zu prüfen. Wurden solche Verträge vom (vorläufigen) Sachwalter nicht abgeschlossen, sind sie auch nicht nach § 8 Abs. 2 InsVV im Vergütungsantrag im Einzelnen darzulegen.

62)

BGH, Beschl. v. 11.11.2004 – IX ZB 48/04, juris Rz. 6, ZIP 2005, 36, ständige Rechtsprechung.

Das Mitverschulden des Mandanten bei beschränktem Mandat des steuerlichen Beraters ERICH WACLAWIK Inhaltsübersicht I.

Einleitung 1. Der Berater zwischen unbeschränktem und beschränktem Mandat 2. Ein Beispielsfall II. Der Mitverschuldenseinwand bei unbeschränktem Mandat III. Der Mitverschuldenseinwand bei beschränktem Mandat 1. Der Grundsatz: Kein Mitverschulden bei „vollkausalen“ Schäden 2. Ausnahmen von diesem Grundsatz („Spiegelbildtheorie“) a) Grundsätzliche Erwägungen b) Fallgruppen aa) Nichtbeauftragung des steuerlichen Beraters

bb) Erklärungen oder Entscheidungen des Mandanten cc) Weitere Verursachungsbeiträge IV. Die Höhe der Mitverschuldensquote V. Folgerungen für die Praxis 1. Prävention a) Beharren auf angemessenem Mandat b) Dokumentation der Beratung aa) Erteilte Hinweise bb) Begründung von Unterlassungen 2. Im Regressprozess 3. Beitrag des Bundesgerichtshofs VI. Zusammenfassung

I. Einleitung 1. Der Berater zwischen unbeschränktem und beschränktem Mandat Die steuerliche Beratung von Mandanten durch Steuerberater, Wirtschaftsprüfer, aber auch durch auf dem Gebiet des Steuerrechts tätige Rechtsanwälte (im Folgenden: steuerlicher Berater) ist vielfach eine langjährige und inhaltlich umfassende Tätigkeit. Der steuerliche Berater ist der Ansprechpartner in allen steuerlichen (und wirtschaftlichen) Angelegenheiten, einschließlich der Gestaltungsberatung. Er bereitet die Steuererklärungen oder -anmeldungen vor, führt Einspruchsverfahren und hält auch sonst den notwendigen Kontakt mit dem Finanzamt. In solchen Fallgestaltungen ist der steuerliche Berater auch für alle Bereiche des steuerlichen Lebens seines Mandanten verantwortlich, wenn er nicht von vornherein klargestellt hat, dass er bestimmte Bereiche nicht bearbeiten kann und will, weil er insoweit keine ausreichende Fachkompetenz hat (Beispiel: Zölle und Verbrauchsteuern). Mit dieser Einschränkung muss der steuerliche Berater die steuer-

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lichen Interessen des Mandanten umfassend im Blick haben. Ist sein Rat oder Handeln falsch oder rät er pflichtwidrig nicht, haftet er seinem Mandanten für den daraus entstehenden Schaden. Nicht immer berät und handelt der steuerliche Berater in dieser umfassenden Weise. Großunternehmen, aber auch die meisten mittelständischen Unternehmen, haben eigene Steuerabteilungen, welche den Großteil der steuerlichen Erklärungspflichten und auch einen erheblichen Teil der steuerlichen Gestaltungsarbeit selbst erledigen. Der steuerliche Berater wird von solchen Mandanten nur dann hinzu gebeten, wenn besondere steuerliche Probleme zu bearbeiten sind oder aber die Inhouse-Kapazität erschöpft ist. Daneben gibt es sowohl bei den gewerblichen als auch bei den privaten Mandanten solche, die sich umfassenden steuerlichen Rat entweder nicht leisten können oder nicht leisten wollen. Von diesen Mandanten wird der steuerliche Berater nur zu der Erledigung einzelner Angelegenheiten herangezogen und die steuerlichen Pflichten im Übrigen von dem Mandanten selbst besorgt. In diesen Fällen stellt sich die Frage, ob und – wenn ja – wie weit der steuerliche Berater über den Rand des ihm erteilten Mandats hinausblicken und Rat oder jedenfalls warnende Hinweise an den Mandanten erteilen muss, wenn bei diesem in dem außermandatlichen Bereich Dinge steuerlich im Argen liegen.1) Unterbleiben dahingehende Hinweise und erleidet der Mandant aus diesem Grund einen Schaden, stellt sich die Frage der Verantwortlichkeit des steuerlichen Beraters. Bejaht man diese Verantwortlichkeit, liegt aber auch die Frage nicht fern, ob den Mandanten nicht ein Mitverschulden (§ 254 BGB) an dem eingetretenen Schaden trifft. Darum soll es im Folgenden gehen. 2. Ein Beispielsfall Die Fragestellung sei durch einen Fall illustriert, den das Hanseatische Oberlandesgericht vor nicht allzu langer Zeit zu entscheiden hatte:2) Die klagende AG (ohne Steuerabteilung) hatte die beklagte Steuerberatungsgesellschaft über Jahre hinweg mit der Erstellung ihrer Körperschaftsteuererklärungen 1)

2)

Nicht behandelt wird hier die Frage, in welchem Umfang mandatsfremde, nicht steuerliche Belange des Mandanten Hinweispflichten des steuerlichen Beraters auslösen können; dazu kritisch Ehlers, Ein Plädoyer für eine begrenzte Haftung der Steuerberater, DStR 2010, 2154, 2159 f. Vgl. OLG Hamburg, Urt. v. 23.5.2017 – 9 U 51/14, BeckRS 2017, 152058 = DStR 2018, 2498, m. Anm. Schröder/Thoma; die dagegen eingelegte NZB (IX ZR 153/17) wurde vom BGH durch Beschluss vom 19.4.2018 zurückgewiesen.

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(nebst Anlagen), der Gewerbesteuererklärungen sowie der Umsatzsteuererklärungen beauftragt. Die AG verfügte über ein hohes steuerliches Einlagekonto (§ 27 KStG). In den Jahren 2010 und 2011 beschloss die Hauptversammlung der Klägerin jeweils Dividendenausschüttungen in Millionenhöhe. Die steuerliche Beraterin wurde zur Vorbereitung der Beschlussfassungen nicht hinzugezogen. Die Klägerin ging davon aus, dass – wie im Regelfall – von der an die Aktionäre auszuschüttenden Dividende Kapitalertragsteuer (nebst Solidaritätszuschlag) anzumelden, einzubehalten und an das Finanzamt abzuführen sei. Diese Annahme war jedoch falsch: Die Dividenden stellten körperschaftsteuerlich eine bloße Einlagenrückgewähr dar. Das Angebot der beklagten steuerlichen Beraterin, dies gegen ein (bezogen auf die Höhe der Ausschüttungen) geringes Honorar zu prüfen, war von der Klägerin nach dem Vortrag der Beklagten abgelehnt worden. Die Beklagte übersandte ihr eine E-Mail, in der sie in abstrakter Form auf die Anmeldemodalitäten hinwies. Da die Klägerin nicht über die technischen Voraussetzungen für den Versand der Steueranmeldung verfügte, bot die Beklagte an, einen Vordruck zu übersenden und nach dem Rückerhalt die vorausgefüllte Steueranmeldung elektronisch zu erfassen und zu versenden. Zudem übersandte die Beklagte der Klägerin einen umfangreichen Auszug eines Themenlexikons zum Kapitalertragsteuerrecht. Die Steueranmeldung wurde sodann von der Beklagten mit den von der Klägerin gelieferten Zahlen versandt. Erst am Ende des Folgejahres erkannte die Beklagte bei der Erstellung der Körperschaftsteuerklärung 2010 den Fehler. Zwischenzeitlich war jedoch eine Verwendungsfestschreibung (§ 27 Abs. 5 KStG) erfolgt. Eine Rückgängigmachung der fehlerhaften Steueranmeldung und -abführung war nicht mehr möglich.3) Das Zusammenwirken der (über-)sparsamen Klägerin und der „pro bono“Hilfe ihrer Beraterin zur Pflege der Geschäftsbeziehung endete in einem steuerlichen Desaster. Steuerzahlungen in sechsstelliger Höhe erfreuten den Fiskus, die materiell-rechtlich ohne Grundlage geleistet, aber nicht mehr rückforderbar waren. Die von der Klägerin gegen die Beklagte geführte Feststellungsklage hatte in erster und in zweiter Instanz Erfolg; der Bundesgerichtshof wies die gegen das Berufungsurteil gerichtete Nichtzulassungsbeschwerde zurück.4) Im Prozess wurde ausführlich darüber gestritten, ob die Beklagte überhaupt etwas falsch gemacht hatte. Die Frage des Mitverschul3) 4)

Vgl. Schröder/Thoma, DStR 2018, 2498 (Urteilsanm.), unter „Sachverhalt“. Vgl. BGH, Beschl. v. 19.4.2018 – IX ZR 153/17, BeckRS 2018, 36175.

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dens wurde – soweit ersichtlich – von beiden Parteien nicht näher beleuchtet, obwohl das Mitverschulden zum Anspruchsgrund gehört und daher im Feststellungsprozess zu prüfen ist.5) Die Gerichte hielten dies ebenso. II. Der Mitverschuldenseinwand bei unbeschränktem Mandat Hätte die Beklagte in jenem Fall (auch) den Auftrag gehabt zu prüfen, ob die Dividendenzahlungen aus steuerlicher Sicht aus dem Einlagekonto abfließen, und wäre ihr der gleiche Fehler unterlaufen, stünde eine Pflichtverletzung außer Frage. Ebenso wäre nicht zweifelhaft, dass ein Mitverschulden der dortigen Klägerin ausscheidet. Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs formuliert dies dahin, dass dem Auftraggeber in aller Regel nicht schon deshalb ein Mitverschulden anzurechnen sei, weil er eine Gefahrenlage, zu deren Vermeidung er einen Fachmann hinzugezogen hat, bei genügender Sorgfalt selbst hätte erkennen oder abwenden können.6) Ebenso könne dem Auftraggeber nicht als mitwirkendes Verschulden vorgeworfen werden, er hätte das, worüber ihn sein Berater hätte aufklären müssen, bei entsprechenden Bemühungen auch ohne fremde Hilfe erkennen können.7) Die dahinterstehende, berechtigte Erwägung ist, dass der Mandant nicht deshalb „zum Steuerberater geht“, um dessen Arbeit sodann kritisch hinterfragen zu müssen. Er darf sich dem steuerlichen Berater anvertrauen und davon ausgehen, dass dessen Rat richtig ist und er diejenigen steuerlichen Belange des Mandanten im Blick behält, die der Mandant ihm zur Bearbeitung übertragen hat.8) Das gilt auch dann, wenn der Mandant selbst sachkundig ist.9) Auch der steuerliche Berater, der seine eigenen steuerlichen Angelegenheiten nicht selbst bearbeiten möchte und einen Berufskollegen mit deren Erledigung beauftragt, darf sich darauf verlassen, dass der Kollege 5)

6)

7) 8) 9)

Vgl. BGH, Urt. v. 10.7.2003 – IX ZR 5/00, unter II., NJW 2003, 2986; BGH, Urt. v. 14.6.1988 – VI ZR 279/87, unter II. 1., NJW 1989, 105 m. w. N., dazu EWiR 1988, 1137; Gräfe in: Gräfe/Lenzen/Schmeer, Steuerberaterhaftung, 6. Aufl. 2017, Rz. 704 a. E. Vgl. BGH, Urt. v. 15.4.2010 – IX ZR 189/09, Rz. 14, DStRE 2010, 1219, 1220 = DStR 2010, 1695, m. Anm. Meixner/Schröder, dazu EWiR 2010, 633 (Gräfe); BGH, Urt. v. 29.4.1993 – IX ZR 101/92, unter II. 5., NJW 1993, 2045, 2047 m. w. N. – zu der sachgleichen Lage bei der Haftung des Rechtsanwalts; Gehrlein, Anwalts- und Steuerberaterhaftung, 4. Aufl. 2016, Rz. 183. Vgl. BGH, Urt. v. 18.12.2008 – IX ZR 12/05, Rz. 21, NJW 2009, 1141, 1143 m. w. N., dazu EWiR 2009, 337 (Podewils) – zur Haftung des Steuerberaters. Vgl. Muthers in: Henssler/Gehrlein/Holzinger, Handbuch der Beraterhaftung, 2018, Kap. 1 Rz. 207. Vgl. Muthers in: Henssler/Gehrlein/Holzinger, Handbuch der Beraterhaftung, 2018, Kap. 1 Rz. 207.

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die ihm anvertrauten Angelegenheiten mit der gleichen Sorgfalt bearbeitet, als sei sein Auftraggeber ein steuerlicher Laie.10) Aus der von dem IX. Zivilsenat gewählten Formulierung „in aller Regel“ lässt sich allerdings entnehmen, dass auch in den Fällen eines unbeschränkten Mandats ein Mitverschulden des Mandanten nicht unter allen Umständen ausgeschlossen ist. Auch dem Mandanten, der sich einem steuerlichen Berater umfassend anvertraut, bleibt ein Bereich der Eigenverantwortung, in dem die Vernachlässigung eigener Obliegenheiten nicht dem steuerlichen Berater angelastet werden darf.11) Allerdings muss man die Vorstellungskraft schon etwas bemühen, um sich einen Fall auszudenken, in dem den umfassend beratenen Mandanten ein – gar überwiegendes oder anspruchsausschließendes – Mitverschulden trifft. So mag man sich einen Fall vorstellen, in dem einem steuerlichen Berater bei der Erstellung einer Steuererklärung ein Fehler unterläuft, der von diesem bei der Prüfung des erklärungsgemäß ergangenen Steuerbescheids entdeckt wird. Aus diesem Grund legt er gegen den Steuerbescheid einen – unterstellt – aussichtsreichen Einspruch ein. Der Mandant, den der „Ärger mit dem Finanzamt“ verdrießt und der seine Ruhe haben möchte, nimmt in dem fiktiven Fall den Einspruch ohne Rücksprache mit seinem Berater zurück. Der fehlerhafte Steuerbescheid wird damit bestandskräftig. Gleichzubehandeln dürfte der Fall sein, dass der Mandant ein aussichtsreiches und zumutbares Rechtsmittel nicht einlegt und auch seinen Berater damit nicht beauftragt.12) In solchen Fällen wäre es nicht sachgerecht, sich darauf zurückzuziehen, dass der fehlerhafte belastende Steuerbescheid auf einen Erklärungsfehler des Beraters zurückzuführen ist. Der Mandant hat in seinem Fall einen Verursachungsbeitrag von solcher Schwere gesetzt, dass man ihm – die evidente Begründetheit des Einspruchs oder des anderweitigen Rechtsmittels un10)

11)

12)

Vgl. BGH, Urt. v. 18.12.1997 – IX ZR 153/96, unter II. 5., NJW 1998, 1486; Gräfe in: Gräfe/Lenzen/Schmeer, Steuerberaterhaftung, 6. Aufl. 2017, Rz. 267; Gehrlein, Anwaltsund Steuerberaterhaftung, 4. Aufl. 2016, Rz. 39 – zur gleichgelagerten Frage bei der Anwaltshaftung – und Rz. 183; Schultz in: Henssler/Gehrlein/Holzinger, Handbuch der Beraterhaftung, 2018, Kap. 5 Rz. 177. Vgl. BGH, Urt. v. 18.1.2001 – IX ZR 223/99, unter II. 2., NJW 2001, 1644 m. w. N., dazu EWiR 2001, 465 (Gräfe); OLG Celle, Urt. v. 21.5.2008 – 3 U 26/08, unter II. 2. a), DStRE 2008, 1365, 1367; Gehrlein, Anwalts- und Steuerberaterhaftung, 4. Aufl. 2016, Rz. 183; Schultz in: Henssler/Gehrlein/Holzinger, Handbuch der Beraterhaftung, 2018, Kap. 5 Rz. 179 ff. Vgl. BGH, Urt. v. 15.4.2010 – IX ZR 189/09, DStRE 2010, 1219 = DStR 2010, 1695, m. Anm. Meixner/Schröder, dazu EWiR 2010, 633 (Gräfe); Muthers in: Henssler/Gehrlein/ Holzinger, Handbuch der Beraterhaftung, 2018, Kap. 1 Rz. 207 m. weiteren Beispielen.

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terstellt – ein anspruchsausschließendes Mitverschulden anlasten muss. Der Fall zeigt aber, dass ein Mitverschulden des Mandanten im unbeschränkten Mandat nur bei ungewöhnlichen Fallgestaltungen zu erwägen ist. In der alltäglichen Praxis der steuerlichen Beratung spielt es daher keine nennenswerte Rolle. III. Der Mitverschuldenseinwand bei beschränktem Mandat 1. Der Grundsatz: Kein Mitverschulden bei „vollkausalen“ Schäden Hat der Mandant seinem steuerlichen Berater kein unbeschränktes Mandat erteilt, sondern den Berater nur mit einzelnen Aufgaben betraut, stellt sich die Sachlage anders dar. So ist es bereits nicht selbstverständlich, dass der steuerliche Berater überhaupt haftet, wenn er nicht durch einen Hinweis Nachteile von seinem Mandanten abwendet, die jenseits des ihm erteilten steuerlichen Geschäftsbesorgungsauftrags liegen. Dennoch ist das nach der Rechtsprechung so. Der IX. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass ein steuerlicher Berater, dem lediglich ein eingeschränktes Mandat erteilt wurde, den Mandanten auch vor außerhalb seines Auftrags liegenden Fehlentscheidungen warnen muss, wenn diese ihm bekannt oder für einen durchschnittlichen Berater auf den ersten Blick ersichtlich sind bzw. sich bei ordnungsgemäßer Bearbeitung des Mandats aufdrängen.13) Voraussetzung ist weiter, dass der Berater Grund zu der Annahme hat, dass sein Auftraggeber sich der Gefahren nicht bewusst ist.14) Es handelt sich um eine richterrechtlich ausgeformte Redepflicht des steuerlichen Beraters, die derjenigen des gesetzlichen Abschlussprüfers nach § 321 Abs. 1 Satz 3 HGB ähnelt. Der steuerliche Berater ist zwar nicht zu einer kostenlosen „Zusatzberatung“ seines Mandanten verpflichtet. Er muss aber über den (Teller-)Rand seines Mandats blicken und darf nicht untätig bleiben, wenn er Gefahren für seinen Mandanten erkennt oder diese Gefahren für ihn auf der Hand liegen. 13)

14)

Vgl. BGH, Urt. v. 21.6.2018 – IX ZR 80/17, Rz. 12, NJW 2018, 2476, 2477, dazu EWiR 2019, 17 (Röhm/Seichter)– zur sachgleichen Frage bei der Anwaltshaftung; BGH, Urt. v. 21.7.2005 – IX ZR 6/02, unter I. 1. a), DStRE 2006, 187, 188 = DStR 2006, 160; BGH, Urt. v. 26.1.1995 – IX ZR 10/94, unter II. 2. b), BGHZ 128, 358, 362; Gehrlein, Anwaltsund Steuerberaterhaftung, 4. Aufl. 2016, Rz. 84; Weitze-Scholl, Hinweispflichten im beschränkten Mandat, DStR 2018, 2720, 2721, li. Sp. oben; jeweils m. w. N. Vgl. BGH, Urt. v. 21.6.2018 – IX ZR 80/17, Rz. 12, NJW 2018, 2476, 2477; BGH, Urt. v. 18.12.2008 – IX ZR 12/05, unter III. 1., NJW 2009, 1141, 1143 m. w. N.; BGH, Urt. v. 21.7.2005 – IX ZR 6/02, unter I. 1. a), DStRE 2006, 187 = DStR 2006, 160.

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Diese Rechtsprechung überzeugt vor dem Hintergrund des genannten gesetzlichen Vorbilds jedenfalls insoweit, als es um positiv erkannte Gefahren geht. Problematisch ist hingegen die zweite Alternative der richterrechtlichen Definition, da diese dem steuerlichen Berater eine, wenngleich durch das Kriterium der Ersichtlichkeit gemilderte Prüfungs- und Interessenwahrnehmungspflicht auferlegt, die jenseits von Mandat und Vergütung liegt.15) Kritik an dieser Rechtsprechung ist jedoch nicht der Gegenstand des vorliegenden Beitrags. Geht man daher von einer Hinweis- oder Warnpflicht des steuerlichen Beraters auch außerhalb des ihm erteilten Mandats aus, so erscheint es konsequent, den steuerlichen Berater für die Unterlassung des Hinweises oder der Warnung dann voll – also ohne die Annahme eines Mitverschuldens des Mandanten  haften zu lassen, wenn diese Unterlassung die einzige ersichtliche Ursache dafür ist, dass der Mandant den ihn belastenden Schaden erlitten hat. Diese Fälle seien als „vollkausale Schäden“ bezeichnet. Bei diesen Unterlassungen des steuerlichen Beraters hat sich gerade der Schaden verwirklicht, der durch die richterrechtlich ausgeformte Warn- und Hinweispflicht verhindert werden sollte. Es erschiene widersprüchlich, einerseits solche Pflichten aufzustellen und andererseits zugleich ein Mitverschulden des Mandanten gleichsam als „Regelrabatt“ auf seine Schadenersatzpflicht allein deshalb zu befürworten, weil es insoweit um eine unentgeltliche Interessenwahrnehmung jenseits der beauftragten Geschäftsbesorgung geht. Hält man die Haftung des steuerlichen Beraters im Einzelfall für unangemessen, ist bei der mandatsübergreifenden Hinweis- und Warnpflicht selbst anzusetzen und diese entsprechend zu begrenzen. 2. Ausnahmen von diesem Grundsatz („Spiegelbildtheorie“) a) Grundsätzliche Erwägungen Der grundsätzliche Unterschied zwischen dem unbeschränkten und dem beschränkten Mandat ist, dass der steuerliche Berater im letzteren Fall den Mandanten nicht in seine vertragliche Obhut genommen hat. Der Mandant hat um einen solchen Schutz auch nicht nachgesucht und bezahlt für einen solchen Schutz auch nicht. Nimmt man dennoch mit der Rechtsprechung vertragsübergreifende Hinweis- und Warnpflichten des Beraters bei be-

15)

Zu dem Offenkundigkeitsmaßstab näher Weitze-Scholl, DStR 2018, 2720, 2722.

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schränktem Mandat an, muss man gleichsam spiegelbildlich den Bereich der Eigenverantwortung des Mandanten kritisch in den Blick nehmen. Ein Mitverschulden des Mandanten kommt hier daher eher in Betracht als in dem unbeschränkten Mandat.16) Die kritische Betrachtung der Missachtung eigener Belange durch den Mandanten ist in diesen Fällen insbesondere deshalb geboten, weil hier die „Versicherungsfunktion“ des erteilten (umfassenden) Mandats nicht greift. Je weiter man daher Hinweis- und Warnpflichten in den außermandatlichen Bereich hinausgreifen lässt, umso kritischer hat man zu prüfen, ob es auch Verursachungsbeiträge gibt, die aus der Sphäre des Mandanten herrühren.17) Dieses wechselbezügliche Verhältnis von Beraterpflichten einerseits und Eigenverantwortung des Mandanten andererseits sei im Folgenden als „Spiegelbildtheorie“ bezeichnet. b) Fallgruppen Die Prüfung und Abwägung dieser Verantwortungsbereiche ist im Einzelfall vorzunehmen. Der Einzelfall ist aber nicht konturenlos. Es lassen sich Fallgruppen identifizieren, bei denen nach der Spiegelbildtheorie ein Mitverschulden des Mandanten anzunehmen ist. aa) Nichtbeauftragung des steuerlichen Beraters Die wichtigste Fallgruppe dürfte die der Nichtbeauftragung des steuerlichen Beraters mit denjenigen Interessen des Mandanten sein, hinsichtlich derer die mandatsübergreifende Hinweis- oder Warnpflicht anzunehmen ist. Um insoweit von einer „Fallgruppe“ sprechen zu können, bedarf es allerdings weiterer Anforderungen. Anderenfalls wäre in jedem Fall der Haftung des steuerlichen Beraters bei beschränktem Mandat ein Mitverschulden des Mandanten anzunehmen. Dies wäre aber, wie bereits dargelegt, nicht sachgerecht. Auszugehen ist daher von Folgendem: Im Grundsatz kann es einem Mandanten nicht zum Vorwurf gemacht werden, dass er dem steuerlichen Berater nur ein beschränktes Mandat erteilt hat. Es gibt keinen gesetzlichen Zwang, steuerlichen Beratern, deren Dienste man in Anspruch nehmen möchte, ein unbeschränktes Mandat zu erteilen. Ein solcher Zwang sollte 16) 17)

Dahin auch Schultz in: Henssler/Gehrlein/Holzinger, Handbuch der Beraterhaftung, 2018, Kap. 5 Rz. 179. Dahingehend bereits Späth, Zur Verantwortlichkeit des Steuerberaters bei eingeschränktem Mandat, Stbg 1993, 391, 393, li. Sp. oben.

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auch nicht über die typisierende Annahme eines Mitverschuldens durch die Nichterteilung eines erweiterten Mandats geschaffen werden. Zudem ist auch der steuerliche Berater jedenfalls in rechtlicher Hinsicht  etwaige wirtschaftliche Rücksichten oder Zwänge ausgeblendet  nicht verpflichtet, ein beschränktes Mandat anzunehmen. Der Berater kann vielmehr auch darauf bestehen, dass das Mandat erweitert wird, um absehbaren Problemen bei der sachgerechten Wahrnehmung der Interessen des Mandanten von vornherein zu begegnen. Letzteres ist allerdings kein Grund, den Einwand des Mitverschuldens schlechthin beiseitezuschieben. Auch der steuerliche Berater kann nicht stets vorhersehen, auf welchen Gebieten der steuerlichen Interessen des Mandanten, für die kein Mandat erteilt wurde, Beratungsbedarf entstehen könnte. Ist allerdings im Einzelfall eine solche Vorhersehbarkeit für den Berater zu bejahen, spricht dies gegen ein Mitverschulden des Mandanten. Es verbleiben aber Fälle, in denen erst nachträglich ersichtlich wird, dass der Mandant seine eigenen steuerlichen Interessen (sträflich) vernachlässigt hat und aus Gründen der Kostenersparnis das Mandat beschränkt war, obwohl eine umfassendere Erteilung eines Mandats in Richtung der von dem späteren Schadensfall betroffenen Interessen für den Mandanten auf der Hand lag, aber gleichwohl nicht vorgenommen wurde. Das gilt nicht nur, aber insbesondere dann, wenn der steuerliche Berater seine dahingehende Bereitschaft angeboten hatte, der Mandant das Hilfsangebot jedoch ausgeschlagen hat. Der eingangs geschilderte Beispielsfall gehört in die hier betrachtete Fallgruppe. Im Grunde darf es börsennotierte AGs ohne eigene Steuerabteilung nicht geben. Ist dem aber dennoch so, kann sich eine solche Gesellschaft bei der Frage der steuerlichen Würdigung von Gewinnausschüttungen nicht auf das eigene laienhafte Know-how verlassen und (wie wohl in jenem Fall) überdies das Angebot steuerlicher Hilfeleistung durch den etatmäßigen steuerlichen Berater aus „Kostengründen“ ausschlagen. Dies ist eine derart grobe Vernachlässigung der eigenen steuerlichen Obliegenheiten, dass es unangemessen wäre, dem steuerlichen Berater den gesamten Schaden aufzubürden.18) bb) Erklärungen oder Entscheidungen des Mandanten Zu einer weiteren Fallgruppe gehören Fälle, in denen der Mandant, um Kosten zu sparen, steuerliche Erklärungen selbst vorbereitet. Bei dieser Tätigkeit wird der steuerlich nicht selbst versierte Mandant, wenn er sein eigenes Tun realistisch einschätzen kann, häufig erkennen, dass Zweifels18)

Kritisch zu Recht Schröder/Thoma, DStR 2018, 2498, 2500 (Urteilsanm.).

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fragen bleiben, die besser von dem steuerlichen Fachmann geklärt würden. Auch die amtlichen Erläuterungen zu den Steuererklärungen, etwa diejenigen in dem Steuerprogamm „Elster“ der Finanzverwaltung, klären zwar manche Zweifelsfragen, aber keineswegs alle. Gleiches gilt für die in diesen Fällen beliebte Recherche der Steuerpflichtigen im Internet. Vergleichbare Zweifelsfragen können sich dann stellen, wenn der Steuerpflichtige Entscheidungen zu treffen hat, die nach dessen zutreffender Einschätzung steuerliche Konsequenzen haben, die der Steuerpflichtige jedoch nicht oder jedenfalls nicht in vollem Umfang überblickt. Wird der Steuerpflichtige in anderen Angelegenheiten von einem steuerlichen Berater laufend betreut, liegt in solchen Fällen der Anruf bei dem Berater oder einem seiner Mitarbeiter nahe, mit dem das fehlende steuerliche Know-how des Mandanten abgefragt und ergänzt werden soll – ohne dass diese Beratung etwas kosten soll. Häufig werden solche Anfragen von dem steuerlichen Berater oder dem angefragten Mitarbeiter beantwortet, entweder aus Gutmütigkeit oder auf der Grundlage der Erwartung, dass der durch die Auskunft einstweilen zufriedengestellte Mandant künftig mit einer Angelegenheit erneut vorstellig wird, die der steuerliche Berater auf vertraglicher Grundlage abrechnen kann. In diesen Fällen ist die Fehleranfälligkeit des erteilten Rats deshalb besonders hoch, weil die Gesprächssituation zum einen auf eine sofortige Einschätzung durch den Berater angelegt ist und der Berater zum anderen nicht geneigt sein wird, viel Zeit mit der Beantwortung der gestellten Frage zu verbringen. Erschwerend kommt hinzu, dass es für Spontanauskünfte keinen Pflichtenabschlag gibt; auch der ad hoc oder nur knapp erteilte Rat muss richtig sein.19) Der eingangs geschilderte Beispielsfall weist Bezüge auch zu dieser Fallgruppe auf. In jenem Fall ging es zwar vorrangig um die Übermittlung der Kapitalertragsteueranmeldung durch den steuerlichen Berater an das Finanzamt, also um die Nutzung einer bei dem Mandanten selbst nicht vorhandenen technischen bzw. elektronischen Einrichtung. Auch in einem solchen Fall mag die unausgesprochene, aber durchaus erkennbare Erwartung des Mandanten vorherrschen, der steuerliche Berater werde die Daten der vorbereiteten Erklärung nicht völlig ungeprüft übernehmen, sondern über diese mehr oder minder kritisch „drüberschauen“.

19)

Vgl. BGH, Urt. v. 17.3.2011  IX ZR 162/08, Rz. 14, DStRE 2012, 133, 134; Gräfe in: Gräfe/Lenzen/Schmeer, Steuerberaterhaftung, 6. Aufl. 2017, Rz. 724 a. E.; Schultz in: Henssler/Gehrlein/Holzinger, Handbuch der Beraterhaftung, 2018, Kap. 5 Rz. 178.

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Auch in solchen Fällen kann der Mandant billigerweise nicht erwarten, dass der steuerliche Berater durch seine Hilfestellung die alleinige Verantwortung für die Richtigkeit der Erklärung oder die Entscheidung des Mandanten übernimmt. Kommt es in Fällen solcher Gefälligkeitsberatung zu Schäden, ist nur eine Verteilung des Schadens zwischen dem Berater einerseits und dem Mandanten andererseits sachgerecht. Den Mandanten trifft die Verantwortung dafür, dass er einen schnellen und damit auch nicht durch Überlegungen und Recherchen des Beraters fundierten unentgeltlichen Rat abfragt, dessen hohes Fehlerrisiko auf der Hand liegt. Ferner fehlt es auch in dieser Fallgruppe an der „Versicherungsfunktion“ eines erteilten steuerlichen Geschäftsbesorgungsvertrags. Aber auch der steuerliche Berater kann sich von einer Mitverantwortung nicht freisprechen, da er sich auf die Frage seines (anderweitigen) Mandanten eingelassen hat, wozu er jedenfalls rechtlich nicht verpflichtet war. cc) Weitere Verursachungsbeiträge Die beiden vorstehend dargestellten Fallgruppen dürften die Hauptquellen von Schäden in den Fällen des beschränkten Mandats sein. Diese haben aber keinen erschöpfenden Charakter. So können auch weitere Verursachungsbeiträge von den Mandanten herrühren, die sowohl in den Fällen eines unbeschränkten Mandats als auch in den Fällen des beschränkten Mandats auftreten und gerade dort – mangels vertraglicher Risikoübernahme durch den Berater  ein Mitverschulden des Mandanten rechtfertigen können. Zu denken ist etwa an die Schaffung eines nicht sachnotwendigen Zeitdrucks durch Anfragen kurz vor dem Ablauf von steuerlichen (Erklärungs-)Fristen,20) die Übermittlung unvollständiger oder gar falscher Angaben21) oder die nicht hinreichend klare Offenlegung der von dem Mandanten verfolgten steuerlichen Ziele. Unter Umständen ist auch ein Fehlverhalten weiterer Berater dem Mandanten nach § 254 Abs. 2 Satz 2 BGB zuzurechnen.22) Auch solche Verursachungsbeiträge mögen, selbst wenn diese kumulativ auftreten, in der Regel keine anspruchsausschließende Schwere haben, da der steuerliche Berater auch insoweit seinen Rat oder seine Hilfestellung nicht ver20) 21) 22)

Vgl. Gräfe in: Gräfe/Lenzen/Schmeer, Steuerberaterhaftung, 6. Aufl. 2017, Rz. 740. Vgl. Gehrlein, Anwalts- und Steuerberaterhaftung, 4. Aufl. 2016, Rz. 183; Muthers in: Henssler/Gehrlein/Holzinger, Handbuch der Beraterhaftung, 2018, Kap. 1 Rz. 207. Dazu näher Muthers in: Henssler/Gehrlein/Holzinger, Handbuch der Beraterhaftung, 2018, Kap. 1 Rz. 208; Schultz in: Henssler/Gehrlein/Holzinger, Handbuch der Beraterhaftung, 2018, Kap. 5 Rz. 183 ff., und zu weiteren Beispielen Kap. 5 Rz. 179 ff.

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weigert, sondern sich auf den Mandanten eingelassen hat. Andererseits erschiene es unangemessen, diese Verursachungsbeiträge des Mandanten zu ignorieren und den Schaden allein bei dem steuerlichen Berater zu allokieren. IV. Die Höhe der Mitverschuldensquote In welchem Umfang der steuerliche Berater bei Schäden des Mandanten jenseits des beschränkten Mandats haftet und in welchem Umfang den Mandanten ein Mitverschulden trifft, ist eine Frage der Würdigung der Umstände des Einzelfalls, die sich einer Typisierung oder Fallgruppenbildung entzieht.23) Ein Unterschied ist allerdings zwischen den Fällen des unbeschränkten und des beschränkten Mandats zu machen: Soweit sich das Schrifttum zu Fragen des Mitverschuldens des Mandanten im unbeschränkten Mandat äußert, wird dieser Einwand als grundsätzlich unbeachtlich eingestuft.24) Selbst wenn ein Mitverschulden des Mandanten anzunehmen sei, habe der Berater in der Regel mehr als die Hälfte des entstandenen Schadens zu ersetzen.25) Der Grund für diese Zurückhaltung ist, dass in dem unbeschränkten Mandat der steuerliche Berater durch die vertragliche Übernahme der Geschäftsbesorgung auch die Verantwortung für deren Richtigkeit und für die umfassende Wahrnehmung der Interessen des Mandanten übernimmt. Für die Annahme eines Mitverschuldens ist daher, wie oben bereits dargestellt, nur wenig Raum. Das gilt nicht nur für die Frage der Annahme eines Mitverschuldens dem Grunde nach, sondern auch für die Bemessung der Quote eines etwaigen Mitverschuldens. Dieser Gesichtspunkt der Verantwortungs- und Risikoübernahme gilt in dem Bereich des beschränkten Mandats nicht. Hier ist die Mitverschuldensquote von dem Tatrichter frei und allein unter Würdigung des Gewichts der beiderseitigen Verursachungsbeiträge zu bestimmen. Sind die Verursachungsbeiträge gleichwertig, so ist die Annahme eines hälftigen Mitverschuldens des Mandanten sachgerecht. Überwiegen die Verursachungsbeiträge des Mandanten diejenigen des steuerlichen Beraters, ist auch 23) 24)

25)

Dahin auch Muthers in: Henssler/Gehrlein/Holzinger, Handbuch der Beraterhaftung, 2018, Kap. 1 Rz. 209. Vgl. etwa Gräfe in: Gräfe/Lenzen/Schmeer, Steuerberaterhaftung, 6. Aufl. 2017, Rz. 701 (unter „Grundsatz“); Gehrlein, Anwalts- und Steuerberaterhaftung, 4. Aufl. 2016, Rz. 183; Schultz in: Henssler/Gehrlein/Holzinger, Handbuch der Beraterhaftung, 2018, Kap. 5 Rz. 177. Vgl. Schultz in: Henssler/Gehrlein/Holzinger, Handbuch der Beraterhaftung, 2018, Kap. 5 Rz. 191.

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die Annahme eines anspruchsausschließenden Mitverschuldens des Mandanten möglich. Demgegenüber wäre es in den Fällen von Schäden in dem beschränkten Mandat nicht sachgerecht, die Verursachungsbeiträge zu Lasten des steuerlichen Beraters deshalb asymmetrisch zu gewichten, weil der Berater der Fachmann und der Mandant (in der Regel) der Laie ist. Der Mandant kann sich nämlich von dem Vorwurf des Mitverschuldens gewissermaßen „freikaufen“, indem er seinem steuerlichen Berater einen Geschäftsbesorgungsauftrag erteilt, der seinen Beratungsbedarf abdeckt. V. Folgerungen für die Praxis Die praktischen Folgerungen für den steuerlichen Berater aus den vorstehenden Überlegungen betreffen zwei Bereiche: zum einen den Bereich der Schadensvermeidung oder -minderung, zum anderen den Bereich der Abwehr von Klagen des Mandanten wegen Schäden bei beschränktem Mandat. 1. Prävention a) Beharren auf angemessenem Mandat Der wichtigste Rat an den steuerlichen Berater dürfte sein, die Mandanten möglichst umfassend auf vertraglicher Grundlage zu beraten. Damit vermeidet der Berater zwar per se keine Haftungsfälle. Auch der für den steuerlichen Berater im Ansatz günstige Einwand des Mitverschuldens wird, wie eingangs dargestellt, in seiner Bedeutung zwar stark zurückgedrängt. Der steuerliche Berater wird aber, wenn er diesen Rat befolgt und gegenüber dem Mandanten durchsetzt, für das von ihm übernommene Risiko vergütet. Es mag nicht immer gelingen, dieses Ziel zu erreichen. Haftungsfälle in dem Bereich des beschränkten Mandats haben ihre Ursache nicht allein in dem Verhalten des sparsamen Mandanten, der durch die nur beschränkte Mandatserteilung das hier behandelte Problem schafft. Auch der steuerliche Berater kann das Problem im Einzelfall dadurch schaffen, dass er mit dem Mandanten nicht das Gespräch sucht, in welchen Bereichen der Mandant steuerlichen Rat benötigt, und dies entsprechend vertraglich vereinbart, sondern vorschnell „dienstleistungsorientiert“ auch auf Fragen antwortet, die er nicht beantworten muss. Damit ermuntert er seinen Mandanten zur sparsamen Mandatserteilung. Bei Beachtung dieses Rats hätte sich der eingangs geschilderte Beispielsfall – jedenfalls so – wohl nicht ereignet.

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b) Dokumentation der Beratung Eine weitere Handlungsmaxime für den steuerlichen Berater ist die möglichst umfassende Dokumentation der Beratung.26) aa) Erteilte Hinweise Im Vordergrund steht, die dem Mandanten erteilten Hinweise möglichst umfassend zu dokumentieren. Diese Handlungsempfehlung betrifft nicht nur den Bereich des beschränkten, sondern auch denjenigen des unbeschränkten Mandats. Sie ist aber auch auf dem hier betrachteten Gebiet bedeutsam. Sie impliziert das Gebot, telefonischen Rat möglichst sparsam zu erteilen. Der steuerliche Berater muss sich dazu bei Anrufen seiner Mandanten nicht von seinen Mitarbeitern verleugnen lassen. Er darf – und muss in der Praxis natürlich auch – mit seinen Mandanten sprechen. Das Medium des Gesprächs in der Kanzlei oder am Telefon ist für den Berater so lange (weitgehend) unkritisch, wie er sich mit dem Mandanten über steuerliche Fragen austauscht, die aus seiner Sicht banal oder jedenfalls eindeutig sind, mögen sie dies auch für den Mandanten nicht sein. Die Haftungsgefahren lauern weniger in diesem Bereich steuerlicher „Alltagskonversation“, sondern dort, wo die Antworten auf die Fragen des Mandanten auch für den Berater nicht mehr banal sind, sondern der Prüfung bedürfen. Der Berater ist gehalten, dies seinem Mandanten auch so darzulegen und sich nicht als allwissende Spontanauskunftei zu präsentieren. Die Offenlegung eines Prüfungsbedarfs wird in vielen Fällen aus dem Bereich des beschränkten Mandats weg in den Bereich der vertraglichen Steuerberatung führen. Erteilt der Mandant hingegen kein (erweitertes) Mandat, sollte von der (spontanen) Erteilung eines Rats zur Vermeidung weiterer Haftungsrisiken abgesehen werden. Liegt der Beratungsbedarf des Mandanten außerhalb des Gebiets des Steuerrechts, ist der richtige Rat des steuerlichen Beraters, den Rat eines Fachmanns, etwa eines (einschlägig bewanderten) Rechtsanwalts einzuholen.27) Aber auch dann, wenn dem steuerlichen Berater nur ein beschränktes Mandat erteilt wurde und dies auch so bleibt, zwingt die Dokumentation des erteilten Rats den steuerlichen Berater zur Reflexion darüber, ob er wirklich alles Erforderliche getan und die notwendigen Hinweise erteilt hat. Kommt 26)

27)

Dafür auch Weitze-Scholl, DStR 2018, 2720, 2723; Mielke, Verschärfung der Insolvenzverschleppungshaftung von Steuerberatern und Maßnahmen zur Haftungsvermeidung, DStR 2017, 1060, 1063 f. So auch Weitze-Scholl, DStR 2018, 2720, 2723.

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es gleichwohl zu Schäden bei dem Mandanten, legt die schriftliche Dokumentation erteilter Hinweise durch E-Mails oder Schreiben an den Mandanten die Grundlage bei der Abwägung der Verursachungsbeiträge unter dem Gesichtspunkt des Mitverschuldens für den Nachweis des Beraters, was er seinerseits getan oder gesagt hat, um einen Schaden des Mandanten möglichst zu vermeiden. bb) Begründung von Unterlassungen Neben der Dokumentation erteilten Rats ist es für den steuerlichen Berater aus den vorstehenden Überlegungen heraus auch sinnvoll darüber nachzudenken, ob festzuhalten ist, warum er bestimmte Dinge nicht getan bzw. welchen denkbaren Rat er aus welchen Gründen nicht erteilt hat. Das gilt insbesondere dann (aber nicht nur), wenn die Unterlassung in einem Gespräch mit dem Mandanten erörtert wurde. Natürlich können steuerliche Berater ihre Arbeitstage nicht im Wesentlichen damit verbringen, dass sie in Aktenvermerken oder E-Mails festhalten, was sie gerade nicht getan haben. Allein das Bewusstsein, dass es sinnvoll sein kann, auch solche Überlegungen zu dokumentieren, kann jedoch das Gespür dafür wachsen lassen, wo dies geboten ist. 2. Im Regressprozess Kommt es zu einem Schaden in Fällen des beschränkten Mandats, hat die Verteidigung des steuerlichen Beraters auf der Grundlage der vorstehend erörterten schriftlichen Dokumentation der Beratungstätigkeit zu erfolgen. Diese dient damit nicht nur der Vermeidung von Schadensfällen, sondern auch der Verteidigung im Prozess. So kann etwa dem Vortrag des Mandanten begegnet werden, gebotene Hinweise seien durch den steuerlichen Berater nicht erteilt worden, obwohl dies tatsächlich der Fall war. Der mündlich erteilte Rat ist auch deshalb gefährlich, weil er als solcher nur schwer beweisbar ist. Gerade bei dem rein bilateralen Gespräch des steuerlichen Beraters mit seinem Mandanten kann für jenen eine echte Beweisnot entstehen. Für den Inhalt des Gesprächs und für die Erteilung des (bestrittenen) Rats kann der beklagte steuerliche Berater, der zumindest sekundär beweisbelastet ist,28) weder sich selbst noch den klagenden Mandanten als Zeugen aufbieten. Eine Parteivernehmung wird im Zweifel an der Weigerung des Mandanten 28)

Vgl. Lohmann in: Henssler/Gehrlein/Holzinger, Handbuch der Beraterhaftung, 2018, Kap. 2 Rz. 94 m. w. N.

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(siehe §§ 446, 447 ZPO) scheitern und eine amtswegige Parteivernehmung nach § 448 ZPO ohne sonstige Beweisgrundlage, die eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die zu beweisende Tatsache bietet, ebenfalls ausscheiden.29) Allenfalls der Gesichtspunkt der prozessualen „Waffengleichheit“ streitet in solchen Fällen für eine großzügige Anwendung des § 448 ZPO.30) Wie der Tatrichter im Einzelfall hierzu steht, ist aber ungewiss. Was speziell die Frage des Mitverschuldens des Mandanten anbelangt, hat die Dokumentation der Beratungstätigkeit auch die Funktion, bei der Würdigung der Verursachungsbeiträge aufzeigen zu können, in welchem Umfang durch den steuerlichen Berater Hinweise mit dem Ziel erteilt worden sind, einen Schaden des Mandanten dem Grunde nach zu vermeiden oder jedenfalls der Höhe nach gering zu halten. Dabei ist zu bedenken, dass bei der Anwendung des § 254 BGB im Prozess unterschiedliche Beweismaßstäbe gelten: Die Verletzung einer Obliegenheit durch den Mandanten ist mit dem Beweismaß des § 286 Abs. 1 ZPO festzustellen. Bei der Ermittlung, welchen Einfluss die Obliegenheitsverletzung auf den Umfang des zu ersetzenden Schadens hat, geht es hingegen um die nach § 287 ZPO zu ermittelnde haftungsausfüllende Kausalität.31) Darüber hinaus müssen der steuerliche Berater und sein Prozessbevollmächtigter überhaupt an die Vorschrift des § 254 BGB denken und erwägen, ob Vortrag zu Verursachungsbeiträgen des Mandanten zu halten ist. Dies gerät häufig aus dem Blick, da in Regressprozessen vielfach – und im Ausgangspunkt auch zu Recht – der Schwerpunkt der Verteidigung darauf liegt, die Verantwortlichkeit des steuerlichen Beraters dem Grunde nach zu widerlegen, die Kausalität oder die geltend gemachten Schadenspositionen kritisch zu hinterfragen oder zu dem Einwand der Verjährung vorzutragen. Der eingangs geschilderte Fall stellt auch unter diesem Blickwinkel ein anschauliches Beispiel dar. Dort stand offenbar die Frage im Vordergrund, ob dem steuerlichen Berater überhaupt ein Fehler unterlaufen war. Die Frage des Mitverschuldens des Mandanten, also Vortrag zu dessen Verursachungsbeiträgen für den eingetretenen Schaden, geriet dabei wohl aus dem Blick, obwohl sich – wie oben dargelegt  durchaus Gesichtspunkte für eine Mitverantwortung der dortigen Mandantin hätten vortragen lassen. 29) 30) 31)

Vgl. BGH, Urt. v. 11.6.2015 – I ZR 7/14, Rz. 35, NJW 2016, 950, 952; Huber in: Musielak/Voit, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 448 Rz. 3, jeweils m. w. N. Näher Huber in: Musielak/Voit, ZPO, 15. Aufl. 2018, § 448 Rz. 6 ff. Vgl. BGH, Urt. v. 24.6.1986  VI ZR 222/85, unter II. 2., NJW 1986, 2945, dazu EWiR 1986, 873; Gräfe in: Gräfe/Lenzen/Schmeer, Steuerberaterhaftung, 6. Aufl. 2017, Rz. 752.

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Der möglichst frühzeitige Vortrag der für die Annahme eines Mitverschuldens des Mandanten sprechenden Tatsachen ist auch deshalb wichtig, weil die Abwägung der beiderseitigen Verantwortungsbeiträge, die § 254 BGB fordert, die Aufgabe des Tatrichters ist. Der Vortrag zum Mitverschulden muss daher bereits in erster Instanz erfolgen. Es ist daher in der Regel keine kluge Prozesstaktik, den Vortrag zu dem Mitverschulden, der als stillschweigendes Eingeständnis zumindest einer Teilschuld des steuerlichen Beraters empfunden werden mag, erst dann zu bringen, wenn es nicht gelingt, den Berater in erster Instanz bereits von dem Vorwurf pflichtwidrigen Verhaltens bzw. unterlassener Hinweise zu verteidigen. Bereits das Berufungsverfahren ist keine reine zweite Tatsacheninstanz; neuer tatsächlicher Vortrag ist nur in den Schranken der §§ 529, 531 ZPO möglich. Der Vortrag erst in zweiter Instanz kann daher schon aus verfahrensrechtlichen Gründen unbeachtlich sein. Jedenfalls über die Erwägung des Revisionsanwalts, es hätte zu einem Mitverschulden des Mandanten vorgetragen werden können, ist stets die Zeit hinweggegangen. Prozessual ist der Einwand des Mitverschuldens zwar keine Einrede, sondern eine von Amts wegen zu beachtende Einwendung. Die Frage des mitwirkenden Verschuldens ist daher auch noch in der Revisionsinstanz zu prüfen. Dies setzt aber voraus, dass von einer Partei rechtzeitig Tatsachen vorgetragen worden sind, die für ein Mitverschulden sprechen.32) Vor dem Bundesgerichtshof ist es für dahingehenden Vortrag jedoch zu spät. Ist hingegen zu dem Mitverschulden rechtzeitig Vortrag gehalten worden und hat dieser in erster und in zweiter Instanz die Gerichte überzeugt, hat diese Beurteilung in aller Regel auch in dritter Instanz Bestand. Der Bundesgerichtshof überprüft als Revisionsgericht die tatrichterliche Würdigung nur auf ihre Fehlerhaftigkeit, insbesondere dahin, ob die in Betracht kommenden (vorgetragenen) Umstände vollständig berücksichtigt worden sind und bei ihrer Würdigung kein Rechtsfehler, insbesondere kein Verstoß gegen Denk- und Erfahrungssätze, unterlaufen ist.33) Der Bundesgerichtshof ist hingegen nicht befugt, die tatrichterliche Würdigung des Berufungsgerichts durch seine eigene zu ersetzen.34) Hinzu kommt, dass

32) 33) 34)

Vgl. BGH, Urt. v. 15.4.2010 – IX ZR 189/09, Rz. 13, DStRE 2010, 1219, 1220 = DStR 2010, 1695 m. w. N., m. Anm. Meixner/Schröder, dazu EWiR 2010, 633 (Gräfe). Vgl. BGH, Urt. v. 15.4.2010 – IX ZR 189/09, Rz. 13, DStRE 2010, 1219, 1220 = DStR 2010, 1695 m. w. N., m. Anm. Meixner/Schröder, dazu EWiR 2010, 633 (Gräfe). Vgl. BGH, Urt. v. 12.10.1999 – XI ZR 294/98, unter II. 2. b), WM 1999, 2255, 2256; Oetker in: MünchKomm-BGB, 8. Aufl. 2019, § 254 Rz. 148, jeweils m. w. N.

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die Berufungsgerichte zumeist die Revision nicht zulassen, sodass – wenn nach § 26 Nr. 8 EGZPO überhaupt statthaft  nur die Nichtzulassungsbeschwerde nach § 544 ZPO als Rechtsmittel in Frage kommt. Diese hat nur dann Erfolg, wenn nicht nur die fehlerhafte tatrichterliche Würdigung überzeugend dargelegt wird, sondern auch der Bundesgerichtshof davon überzeugt wird, dass diese im Ausgangspunkt einzelfallbezogene Fragestellung einen der Zulassungsgründe des § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO verwirklicht. Eine solche Darlegung ist kaum jemals möglich. 3. Beitrag des Bundesgerichtshofs Bei der Durchsicht der Rechtsprechung des IX. Zivilsenats fällt auf, dass es an einer revisionsgerichtlichen Praxis zu der in diesem Beitrag betrachteten Fragestellung fehlt. Es gibt, soweit ersichtlich, keine Entscheidung des IX. Zivilsenats, die sich mit der Frage des Mitverschuldens des Mandanten bei beschränktem Mandat näher befasst. Dies ist keine Kritik an der Rechtsprechung des Senats, die der Jubilar über viele Jahre hinweg geprägt hat. Der Bundesgerichtshof kann nur über Fälle entscheiden, die an ihn herangetragen werden. Nach dem in dem vorangegangenen Abschnitt Dargelegten dürfte verständlich sein, dass solche Fälle an der Pforte zur Revisionsinstanz nicht Schlange stehen. Indes: Auch wenn die Frage der Anwendung des § 254 BGB stets einen stark einzelfallbezogenen Bezug hat, geht es in dem vorliegenden Zusammenhang nicht nur um Fragen des Einzelfalls, die für ein Revisionsgericht uninteressant sind. Es stellen sich auch grundsätzliche Fragen der Normanwendung, deren Klärung der Fortbildung des Rechts dienen würde. So harrt der höchstrichterlichen Klärung, ob es eine Wechselbeziehung zwischen den Hinweispflichten des steuerlichen Beraters einerseits und den Verantwortungsbeiträgen des Mandanten andererseits gibt, wie in diesem Beitrag unter dem Begriff der „Spiegelbildtheorie“ dargelegt worden ist. Ebenso wäre höchstrichterlich zu klären, dass es in den Fällen der Pflichtverletzung des steuerlichen Beraters bei beschränktem Mandat keinen Rechtssatz gibt, das Mitverschulden des Mandanten sei, sofern überhaupt vorhanden, gegenüber den Verursachungsbeiträgen des steuerlichen Beraters geringer zu gewichten. Es wäre erfreulich, wenn sich für den IX. Zivilsenat alsbald die Gelegenheit ergeben würde, zu diesen Fragen Stellung zu nehmen. Hierzu bedarf es aber (mindestens) eines geeigneten Falls, im dem das Berufungsgericht, seinerseits für die hier behandelten Fragen sensibilisiert, die Revision zugelassen

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hat. Dies setzt wiederum Instanzanwälte voraus, die in solchen Fällen auf die Zulassung der Revision hinwirken. VI. Zusammenfassung In den Fällen einer Pflichtverletzung des steuerlichen Beraters bei der Gelegenheit eines nur beschränkten Mandats kann sich auch die Frage des Mitverschuldens des Mandanten stellen. Ein Mitverschulden ist jedenfalls dann konkret zu erwägen, wenn sich in dem eingetretenen Schaden nicht nur die Pflichtverletzung des steuerlichen Beraters verwirklicht, sondern der Mandant einen eigenverantwortlichen Beitrag zu der Entstehung des Schadens geleistet hat. Insoweit lassen sich Fallgruppen bilden, zu denen die obliegenheitsvergessene Mandatsbeschränkung ebenso gehört, wie die Fälle der schadensverursachenden Eigentätigkeit des Mandanten. Auch für die Rechtsprechung, namentlich für diejenige des Bundesgerichtshofs, ist in dem vorliegenden Zusammenhang noch Arbeit zu leisten, die der Fortbildung des Rechts zu dienen hat. Die Anwendung des § 254 BGB ist keine bloße tatrichterliche Würdigung im Einzelfall, die dem Bundesgerichtshof als Revisionsgericht verschlossen wäre. Es stellt sich vielmehr die bislang noch nicht höchstrichterlich entschiedene Frage der Justierung des Mitverschuldenseinwands bei Fehlern des Beraters jenseits seines beschränkten Mandats. Es bleibt dem von dem Jubilar über viele Jahre geleiteten IX. Zivilsenat zu wünschen, dass sich hierzu alsbald die Gelegenheit zur Klärung ergibt.

Insolvenzrechtliche Betrachtungen zur neuen Musterfeststellungsklage ALEXANDER WEINLAND Inhaltsübersicht I.

II.

Einführung 1. Musterfeststellungsklage als Instrument des kollektiven Rechtschutzes 2. Auswirkungen auf das Insolvenzrecht a) Ein Anlass (…) b) (…) und weitreichende Folgen Anwendungsbereich 1. Sachlicher Anwendungsbereich 2. Persönlicher Anwendungsbereich a) Verbraucher aa) Verbraucher im Insolvenzverfahren als Anmelder bb) Arbeitnehmer als Verbraucher b) Insolvenzverwalter als Unternehmer aa) Modifizierter Unternehmerbegriff bb) Unternehmereigenschaft des Verwalters

III. Klagebefugnis 1. Allgemeines 2. Insolvenz einer qualifizierten Einrichtung 3. Widerklagebefugnis für Unternehmen/Insolvenzverwalter? IV. Insolvenz des beklagten Unternehmens 1. Nach Rechtshängigkeit 2. Vor Rechtshängigkeit V. Beklagtenfähigkeit des Insolvenzverwalters VI. Verfahrensgegenstand 1. Grundsätzliches 2. Insolvenzrechtliche Anwendungsbeispiele a) Haftung des Insolvenzverwalters b) Insolvenzanfechtung c) Insolvenzforderungsfeststellung aa) Grundsätzliches bb) Statthaftigkeit der Musterfeststellungsklage VII. Zusammenfassung

I. Einführung Die Musterfeststellungsklage steht bestimmten Verbänden in verbraucherrechtlichen Angelegenheiten seit kurzem als neues Rechtsschutzinstrument zur Verfügung. Dieser Beitrag zu Ehren von Godehard Kayser geht ausgewählten Fragen zu Wechselwirkungen zwischen der neuen Klageart und dem Insolvenzrecht nach. 1. Musterfeststellungsklage als Instrument des kollektiven Rechtschutzes Der Gesetzgeber hat mit der gemäß Art. 11 Abs. 1 des Gesetzes zur Einführung einer zivilprozessualen Musterfeststellungsklage im Wesentlichen am 1. November 2018 in Kraft getretenen Musterfeststellungsklage ein

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neues Mittel der kollektiven Rechtsverfolgung in Verbraucherstreitsachen eingeführt.1) Die als eigenständige zivilprozessuale Klageart geschaffene,2) zwischen der klagebefugten qualifizierten Einrichtung und dem beklagten Unternehmer erstinstanzlich beim Oberlandesgericht (§ 119 Abs. 3 Satz 1 GVG) zu erhebende Musterfeststellungsklage, soll das „rationale Desinteresse“ von Verbrauchern mit gleichgerichteten Ansprüchen überwinden und es diesen ohne Anwaltszwang und Prozess(kosten-)risiko ermöglichen, die Feststellungen des Musterverfahrens bei gleichzeitiger Hemmung der Verjährung abzuwarten, um anschließend Individualansprüche auf der Grundlage der im – nach Maßgabe des § 613 Abs. 1 ZPO bindenden – Musterfeststellungsurteil getroffenen Feststellungen durchzusetzen.3) Während des Musterfeststellungsverfahrens muss der Verbraucher gemäß § 608 Abs. 1 ZPO lediglich Ansprüche oder Rechtsverhältnisse, die von den Feststellungszielen abhängen, zur Eintragung in das beim Bundesamt für Justiz geführte Klageregister anmelden. An einen allfälligen Vergleich zwischen den Musterfeststellungsprozessparteien sind die angemeldeten Anspruchsberechtigten gebunden, wenn sie nicht innerhalb eines Monats ihrem Austritt aus dem Vergleich erklären (§ 611 Abs. 4 ZPO). 2. Auswirkungen auf das Insolvenzrecht a) Ein Anlass (…) Den Anlass für die Einführung der Musterfeststellungsklage bildete der sog. (Diesel-)Abgasskandal. Mit der neuen Klageart sollte einerseits die Rechtsdurchsetzung für Verbraucher erleichtert, anderseits die Entstehung einer „Klageindustrie“ verhindert werden, um zu einem angemessenen Interessenausgleich zu kommen. Aufgrund der langwierigen Koalitionsverhandlungen im Bund bis zum Koalitionsvertrag vom 14. März 2018, der nach überwiegender Auffassung zum Jahresende 2018 drohenden Anspruchsverjährung und dem Bestreben, das neue Verfahren für die betroffenen bzw. interessierten Kreise gerade noch rechtzeitig ab dem 1. November 2018 auch technisch zur Verfügung zu stellen, verblieb nur ein sehr kurzer Zeitraum für das Gesetzgebungsverfahren. Infolgedessen war für eine Erprobung im Wege der Verfahrenssimulation, um Schwä1) 2) 3)

RegE MuFKlaG z. Art. 11, BT-Drucks. 19/2439, S. 13. Begr. RegE MuFKlaG, BT-Drucks. 19/2439, S. 14. Begr. RegE MuFKlaG, BT-Drucks. 19/2439, S. 23.

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chen und Umgehungsmöglichkeiten und – möglicherweise ungewollte – Folgen aufdecken zu können, kein Raum mehr.4) Die Argumentation mit einem „rationalen Desinteresse“ von Verbraucherinnen und Verbrauchern, dem das Gesetz erklärtermaßen entgegenwirken soll,5) passt nur zu einem – vom Regelungsanlass bei näherer Betrachtung nicht betroffenen – Teilbereich des kollektiven Rechtsschutzes. Ein solches Desinteresse ist anzutreffen im Fall von Streuschäden, die in so großer Anzahl, aber in im Einzelnen so geringer Höhe auftreten, dass eine Rechtsverfolgung für den einzelnen Geschädigten nicht lohnend, der Verzicht darauf jedoch problematisch ist, weil ein überindividuelles Interesse an der Sanktionierung und Prävention des Rechtsverstoßes besteht.6) Bei der zivilrechtlichen Aufarbeitung des Abgasskandals geht es indessen um Massenschäden, also Schäden mittlerer bis großer Höhe, die aufgrund von Gesamtschadensereignissen oder in so großer Zahl auftreten, dass eine effektive individuelle Rechtsverfolgung Schwierigkeiten begegnet, insbesondere zu einer Überlastung der Gerichte führen kann.7) b) (…) und weitreichende Folgen Den Gesetzesmaterialien zufolge soll der Anwendungsbereich für die neue Klageart – anders als bei dem Kapitalanleger-Musterverfahren und der Verbandsklage – nicht auf ein hochspezifisches zivilrechtliches Sondergebiet beschränkt, sondern in verbraucherrechtlichen Angelegenheiten allgemein angewendet werden können.8) Die insolvenzrechtliche Dimension des neuen Rechtsschutzinstruments wurde im Gesetzgebungsverfahren, wie viele andere gängige Rechtsmaterien auch, nicht erörtert. Allerdings liegt auf der Hand, dass insbesondere für den häufigen Fall des ungesicherten Insolvenzgläubigers bei geringer Insolvenzquote geradezu ein Schulfall des rationalen Desinteresses vorliegt. So wird z. B. im Insolvenzfall einer Fluggesellschaft ein nicht gesicherter Fluggast von der Verfolgung einer Insolvenzforderung, die unter 4) 5) 6)

7) 8)

Vgl. Schmidt, Widerruf von Verbraucherdarlehen und Musterfeststellungsklage – ein Gedankenexperiment, WM 2018, 1966, 1967. Begr. RegE MuFKlaG, BT-Drucks. 19/2439, S. 12, 14. Meller-Hannich, Sammelklagen, Gruppenklagen, Verbandsklagen – bedarf es neuer Instrumente des kollektiven Rechtsschutzes im Zivilprozess?, NJW-Beilage 2/2018, S. 29, 30. Meller-Hannich, NJW-Beilage 2018, S. 29, 30. Begr. RegE MuFKlaG, BT-Drucks. 19/2439, S. 13 f.

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Berücksichtigung der Quote allenfalls einen zweistelligen Geldbetrag erbringen wird, vielfach schon aufgrund der mit einer Anmeldung zur Tabelle verbundenen Mühen und Kosten Abstand nehmen. Erst recht wird sich ein solcher Gläubiger bei einem Widerspruch gegen seine Forderung nicht zur Rechtsverfolgung i. R. einer Insolvenzforderungsfeststellungsklage bereitfinden. Einer empirischen Erhebung zufolge scheut eine knappe Mehrheit von Bürgern erst ab einer – hier bei weitem nicht erreichten – Schadenssumme von 1.950 € nicht mehr die Kosten und den persönlichen Aufwand zur Durchsetzung eines erlittenen materiellen Schadens vor Gericht; bei ungewisser Rechtslage und einem als stark empfundenen Anspruchsgegner – wie einem Insolvenzverwalter – dürfte diese Schwelle noch höher liegen.9) Gelingt es, das rationale Desinteresse zu überwinden, so lässt sich der mit dem zweistufigen Modell von Musterfeststellungsklage und anschließender Individualklage verbundene Verlust an Effektivität vor allem dann eindämmen, wenn die individuell zu klärenden Fragen etwa der Anspruchshöhe standardisiert oder wenigstens in typischen Fallgruppen zusammengefasst („geclustert“) werden können.10) Diese Vorgehensweisen sind grundsätzlich auch bei einer Vielzahl von durch einen Insolvenzfall betroffenen Verbraucherinnen und Verbrauchern möglich. II. Anwendungsbereich Bezüge zum Insolvenzrecht können bereits i. R. des Anwendungsbereichs der neuen Klageart auftreten. Gegenstand der Musterfeststellungsklage ist gemäß § 606 Abs. 1 ZPO die Feststellung des Vorliegens oder Nichtvorliegens von tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen für das Bestehen oder Nichtbestehen von Ansprüchen oder Rechtsverhältnissen (Feststellungsziele) zwischen Verbrauchern und einem Unternehmer. 1. Sachlicher Anwendungsbereich Nach dem Wortlaut des § 606 Abs. 1 Satz 1 ZPO und den Gesetzesmaterialien11) sind grundsätzlich alle Ansprüche oder Rechtsverhältnisse zwi9) 10) 11)

Winkelmeier-Becker in: Schäfer, Der Gesetzesentwurf zur „Musterfeststellungsklage“, 2018, S. 99, dort allerdings im Zusammenhang mit Massenschäden. Röthemeyer, Musterfeststellungklage und Individualanspruch – Zur Kritik und zu den Entwicklungsmöglichkeiten, VuR 2019, 87, 91. Begr. RegE MuFKlaG, BT-Drucks. 19/2439, S. 13 f.

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schen Verbrauchern und einem Unternehmer erfasst, und zwar unabhängig davon, ob deutsches oder ausländisches Recht Anwendung findet.12) Betroffen sind also nicht nur vertragliche, sondern auch gesetzliche Ansprüche von Verbrauchern.13) Ein besonderer Bezug zu Verbraucherschutzrechten ist nicht erforderlich.14) Musterklagefähig können daher z. B. auch Ansprüche oder Rechtsverhältnisse in Bezug auf Insolvenzoder Masseforderungen oder die Insolvenzanfechtung sein. 2. Persönlicher Anwendungsbereich a) Verbraucher Dem in § 29c Abs. 2 ZPO eingeführten, auch i. R. der §§ 606 ff. ZPO maßgeblichen, neuen prozessrechtlichen Verbraucherbegriff zufolge ist Verbraucher jede natürliche Person, die bei dem Erwerb des Anspruchs oder der Begründung des Rechtsverhältnisses nicht überwiegend i. R. ihrer gewerblichen oder selbständigen beruflichen Tätigkeit handelt. Dieser Verbraucherbegriff ist zum Zwecke einer umfassenden Verbraucherrechtsdurchsetzung weiter gefasst als der materiell-rechtliche Verbraucherbegriff des § 13 BGB, welcher die Verbrauchereigenschaft an den Abschluss eines Rechtsgeschäfts mit einem Verbraucher anknüpft, um auch eine Einbeziehung (konkurrierender) gesetzlicher Ansprüche eines Verbrauchers zu ermöglichen.15) aa) Verbraucher im Insolvenzverfahren als Anmelder Das Gesetz sieht weder eine Überprüfung der Identität noch der Aktivlegitimation oder der Prozessführungsbefugnis des angemeldeten Verbrauchers vor. Laut § 3 Abs. 3 Satz 1 MFKRegV16) nimmt das zuständige Bundesamt für Justiz die Eintragung in das Klageregister („nur“) vor, wenn die Anmeldung alle Angaben nach § 608 Abs. 2 Satz 1 ZPO enthält. Andererseits muss, wie der Bundesrat im Gesetzgebungsverfahren mit Recht angemerkt hat, z. B. auch geschäftsunfähigen oder beschränkt geschäftsfähigen Verbrauchern die (rechtssichere) Anmeldung von Ansprüchen 12) 13) 14) 15) 16)

Weinland, Die neue Musterfeststellungsklage, 2019, Rz. 27. Stadler in: Musielak/Voit, ZPO, 16. Aufl. 2019, § 606 Rz. 2. Lutz in: BeckOK-ZPO, 31. Ed. 1.12.2018, § 606 Rz. 11. Begr. RegE MuFKlaG, BT-Drucks. 19/2439, S. 19. Verordnung über das Register für Musterfeststellungsklagen – Musterfeststellungsklagenregister-Verordnung (MFKRegV), v. 24.10.2018, BGBl. I 2018, 1804.

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i. R. von Musterfeststellungsverfahren möglich sein.17) Nach allgemeinen Grundsätzen hat, wie sich aus § 105 BGB und im Umkehrschluss aus § 165 BGB ergibt, bei einem geschäftsunfähigen Verbraucher die Anmeldung durch den gesetzlichen Vertreter zu erfolgen. Da dem beschränkt geschäftsfähigen Verbraucher durch die Anmeldung unmittelbar kein Rechtsnachteil entsteht, bedarf es entsprechend § 107 BGB insoweit nicht der Einwilligung des gesetzlichen Vertreters. Bei gesetzlicher Vertretung sind nach diesseitiger Auffassung außer den Personalien des Verbrauchers Name und Anschrift des bzw. der gesetzlichen Vertreter(s) anzugeben.18) Davon ausgehend muss auch bei einem Verbraucher, über dessen Vermögen das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist, die Anmeldung möglich sein. Gehören die der Anmeldung zugrunde liegenden Ansprüche oder Rechtsverhältnisse zum insolvenzbefangenen Vermögen des Verbrauchers, ist infolge des Übergangs der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis gemäß § 80 Abs. 1 InsO der Insolvenzverwalter für eine Anmeldung zuständig. Der Verwalter ist gesetzlich zu allen Maßnahmen berechtigt und verpflichtet, welche die Insolvenzmasse betreffen und irgendwie geeignet sein können, den Interessen der Beteiligten zu dienen.19) Eine Negativerklärung des Verwalters i. R. einer Freigabe (§ 35 Abs. 2 InsO) ändert daran von vorneherein nichts, weil sie nur insoweit wirkt, als ein funktionaler Bezug zu Vermögen aus einer selbstständigen Tätigkeit vorliegt,20) was bei den von der Anmeldung betroffenen verbraucherrechtlichen Ansprüchen nicht der Fall ist. bb) Arbeitnehmer als Verbraucher Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts sind auch Arbeitnehmer im Verhältnis zu ihrem Arbeitgeber als Verbraucher i. S. des § 13 BGB anzusehen.21) Der demgegenüber weitergehende prozessrechtliche Verbraucherbegriff des § 29c Abs. 2 ZPO schließt somit grundsätzlich auch Arbeitnehmer ein, so dass zur Verfolgung ihrer Interessen die Musterfeststellungsklage nicht von vorneherein ausgeschlossen ist.22) Die Änderung 17) 18) 19) 20) 21) 22)

Empfehlung der Ausschüsse z. RegE MuFKlaG, BR-Drucks. 176/1/18, S. 12. Weinland, Die neue Musterfeststellungsklage, 2019, Rz. 98. BGH, Urt. v. 4.6.1996 – IX ZR 261/95, ZIP 1996, 1307; Piekenbrock in: Ahrens/ Gehrlein/Ringstmeier, InsO, 3. Aufl. 2017, § 80 Rz. 10. Ahrens in: Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier, InsO, 3. Aufl. 2017, § 35 Rz. 166. BAG, Urt. v. 25.5.2005 – 5 AZR 572/04, BAGE 115, 19 = ZIP 2005, 1699, 1703. Zimmer/Weigl, Massenklagen – auch für Arbeitnehmer?, BB 2019, 183, 184.

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des § 46 ArbGG verschließt jedoch den Zugang zur Arbeitsgerichtsbarkeit, nicht hingegen zur ordentlichen Gerichtsbarkeit.23) b) Insolvenzverwalter als Unternehmer aa) Modifizierter Unternehmerbegriff Bei der Beurteilung der Unternehmereigenschaft des Insolvenzverwalters ist davon auszugehen, dass sich der Begriff des Unternehmers in Ermangelung einer besonderen Regelung für die Musterfeststellungsklage zwar grundsätzlich aus § 14 BGB ergibt,24) die Norm aber bedarf aufgrund des Gesetzeszwecks und des systematischen Zusammenhangs i. R. der Musterfeststellungsklage insoweit der Modifikation durch erweiternde Auslegung dahin bedarf, dass der Abschluss eines Rechtsgeschäfts nicht vorausgesetzt wird.25) Andernfalls liefe die mit dem prozessualen Verbraucherbegriff des § 29c ZPO bezweckte Erweiterung leer; denn eine rechtsgeschäftliche Sonderverbindung wäre dann nur auf Seiten der Verbraucher, nicht der Unternehmer entbehrlich.26) bb) Unternehmereigenschaft des Verwalters Die Unternehmereigenschaft setzt in erweiternder Auslegung des § 14 BGB folglich eine natürliche oder juristische Person oder eine rechtsfähige Personengesellschaft voraus, die in Ausübung ihrer gewerblichen oder selbständigen beruflichen Tätigkeit handelt. Im Schrifttum zu § 14 BGB wird zutreffend angenommen, dass unter den Unternehmerbegriff auch gesetzliche Vermögensverwalter wie Insolvenzverwalter, die ein Unternehmen verwalten, fallen, weil es nach dem Wortlaut des Gesetzes auf die Absicht einer Gewinnerzielung nicht ankommt.27) Aufgrund des modifi23) 24)

25) 26) 27)

Zimmer/Weigl, BB 2019, 183, 184. Waßmuth/Asmus, Der Diskussionsentwurf des BMJV zur Einführung einer Musterfeststellungsklage, ZIP 2018, 657, 658; Weinland, Die neue Musterfeststellungsklage, 2019, Rz. 41. Weinland, Die neue Musterfeststellungsklage, 2019, Rz. 41. Lutz in: BeckOK-ZPO, 31. Ed. 1.12.2018, § 606 Rz. 13; Weinland, Die neue Musterfeststellungsklage, 2019, Rz. 41. Ellenberger in: Palandt, BGB, 78. Aufl. 2019, § 14 Rz. 2; Alexander in: BeckOGK-BGB, 15.6.2019, § 14 Rz. 78.1; Fritzsche in: Staudinger, BGB, Neubearb. 2018, § 13 Rz. 51 – auch in der Insolvenz eines Verbrauchers; ebenso Lüke in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, 9/2009, § 80 Rz. 13a.

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zierten Unternehmerbegriffs ist lediglich das Tatbestandsmerkmal des Abschlusses eines Rechtsgeschäfts obsolet, bleibt der Unternehmerbegriff als solcher aber unverändert, weshalb auch i. R. der neuen Klageart die Unternehmereigenschaft des Insolvenzverwalters zu bejahen ist. III. Klagebefugnis 1. Allgemeines Die Klagebefugnis kommt nach § 606 Abs. 1 Satz 1 ZPO ausschließlich qualifizierten Einrichtungen i. S. von § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UKlaG zu, nicht aber den an den zugrunde liegenden Ansprüchen oder Rechtsverhältnissen beteiligten Verbrauchern oder Unternehmen. Soweit ersichtlich, erfüllt bislang in der Bundesrepublik Deutschland keine ganz oder überwiegend auf dem Gebiet des Insolvenzrechts tätige Stelle die dafür in § 606 Abs. 1 Satz 2 ZPO verzeichneten Voraussetzungen.28) 2. Insolvenz einer qualifizierten Einrichtung Da das Gesetz für den Insolvenzfall einer qualifizierten Einrichtung keine besonderen Bestimmungen enthält (§ 610 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 2 ZPO) und auch die Anwendbarkeit der allgemeinen Vorschriften insoweit nicht ausgeschlossen ist (§ 610 Abs. 5 Satz 2 ZPO), verweist § 610 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 1 ZPO auf die allgemeinen Bestimmungen des § 240 ZPO. Die Unterbrechung eines Verfahrens nach dieser Regelung setzt ein durch Zustellung der Klageschrift begründetes rechtshängiges zivilrechtliches Streitverfahren voraus.29) Die – von § 607 Abs. 2 ZPO und § 610 Abs. 1 Satz 1 ZPO vorausgesetzte – Rechtshängigkeit richtet sich gemäß § 610 Abs. 5 Satz 1 Halbs. 2 ZPO ebenfalls nach den allgemeinen Vorschriften, erfordert also die Zustellung (§§ 253 Abs. 1, 261 Abs. 1 ZPO) an das beklagte Unternehmen nach Maßgabe der §§ 166 ff. ZPO. Darüber hinaus erfordert die Unterbrechung nach den Bestimmungen des § 240 ZPO, dass das Verfahren – unmittelbar oder mittelbar – die Insolvenzmasse (§§ 35, 36 InsO) betrifft. Der Streitgegenstand muss entweder Bestandteil

28)

29)

Vgl. BfJ, Liste qualifizierter Einrichtungen gemäß § 4 UKlaG, v. 3.7.2019, abrufbar unter https://www.bundesjustizamt.de/DE/SharedDocs/Publikationen/Verbraucherschutz/ Liste_qualifizierter_Einrichtungen.html?nn=11295604 (Abrufdatum: 26.7.2019). Stackmann in: MünchKomm-ZPO, 5. Aufl. 2016, § 240 Rz. 3, 6.

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der Insolvenzmasse oder aus ihr zu leisten sein; eine nur wirtschaftliche Beziehung zur Masse reicht nicht aus.30) Diese Voraussetzungen sind in Bezug auf die klagende qualifizierte Einrichtung zu verneinen. Der Streitgegenstand der Musterfeststellungsklage umfasst gemäß § 606 Abs. 1 ZPO die Feststellung des Vorliegens oder Nichtvorliegens von tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen für das Bestehen oder Nichtbestehen von Ansprüchen oder Rechtsverhältnissen (Feststellungsziele) zwischen Verbrauchern und einem Unternehmer. Ansprüche für und gegen die qualifizierte Einrichtung, die eine Massebetroffenheit begründen könnten, bilden nicht den Verfahrensgegenstand. Für die Betroffenheit der Masse kommt es grundsätzlich auf die Hauptsache an, die Kosten bleiben außer Betracht.31) Da es bei der Musterfeststellungsklage schon in der Hauptsache an der Betroffenheit der Insolvenzmasse fehlt, kann allein die Möglichkeit eines Kostenerstattungsanspruchs der oder gegen die Musterfeststellungsklägerin keinen Massebezug begründen. 3. Widerklagebefugnis für Unternehmen/Insolvenzverwalter? Unbeschadet des klaren Befundes bei der auf qualifizierte Einrichtungen beschränkten Klagebefugnis wird im Schrifttum teilweise angenommen, der sowohl zivilprozessual als auch verfassungsrechtlich elementare Grundsatz der Waffengleichheit gebiete es, dass auch der Musterbeklagte Feststellungsziele in das Verfahren einbringen können müsse.32) Obschon eine Widerklage weder durch den Wortlaut noch die Begründung des Gesetzes ausgeschlossen werden, mangelt es an den allgemeinen Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 33 ZPO (in Verbindung mit § 610 ZPO), insonderheit der Parteiidentität und der Geltendmachung konnexer Gegenansprüche. Die mit einer Widerklage zu verfolgenden Ansprüche würden sich nicht gegen die klagende qualifizierte Einrichtung, sondern gegen die nicht am Verfahren beteiligten Verbraucher richten.33) Soweit das Gesetz neben dem Vorliegen auch das Nichtvorliegen von tatsächlichen und 30) 31)

32) 33)

Stackmann in: MünchKomm-ZPO, 5. Aufl. 2016, § 240 Rz. 19. BGH, Urt. v. 21.10.1965 – Ia ZR 144/63, NJW 1966, 51; Piekenbrock in: Ahrens/ Gehrlein/Ringstmeier, InsO, 3. Aufl. 2017, § 85 Rz. 22; Sternal in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 85 Rz. 20. Waßmuth/Asmus, ZIP 2018, 657, 663. Balke/Liebscher/Steinbrück, Der Gesetzentwurf zur Einführung einer Musterfeststellungsklage – ein zivilprozessualer Irrweg, ZIP 2018, 1321, 1328.

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rechtlichen Voraussetzungen für das Bestehen oder Nichtbestehen von Ansprüchen oder Rechtsverhältnissen erwähnt, ist dies im Zusammenhang mit der im Gesetz genannten Klagebefugnis der qualifizierten Einrichtung zu sehen. Im Übrigen können in einem Prozess zwei Klagen nicht durch Klage und Widerklage miteinander verbunden werden, deren Verfahrensregeln erhebliche Unterschiede aufweisen.34) Die erstinstanzlich vor dem Oberlandesgericht zu erhebende (§ 119 Abs. 3 GVG) ist indessen eine eigene Prozessart mit zahlreichen Besonderheiten.35) Über das Fehlen der allgemeinen Zulässigkeitsvoraussetzungen hinaus ist die Ablehnung einer Widerklagebefugnis des Beklagten auch in der Sache gerechtfertigt, weil dieser andernfalls beliebige Feststellungsziele einführen und damit Verfahrensumfang und -dauer, Prozess- und Prozesskostenrisiko im Einzelfall erheblich ausweiten könnte.36) IV. Insolvenz des beklagten Unternehmens Die Insolvenz des Unternehmens kann insolvenzrechtliche Fragen sowohl nach als auch vor Rechtshängigkeit des Musterfeststellungsklageverfahrens aufwerfen. 1. Nach Rechtshängigkeit Wie oben unter II. 2. bereits ausgeführt worden ist, tritt bei Insolvenzeröffnung über das Vermögen der qualifizierten Einrichtung (§ 240 Satz 1 ZPO) bzw. bei Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters und Erlass eines allgemeinen Verfügungsverbots (§ 240 Satz 2 ZPO) in Ermangelung einer auch nur mittelbaren Massebetroffenheit keine Unterbrechung ein. Anders stellt sich die Rechtslage im Insolvenzfall auf Beklagtenseite dar: Die Bindungswirkung des Musterfeststellungsurteils für den anschließenden Individualprozess eines angemeldeten Verbrauchers gegen das beklagte Unternehmen gemäß § 613 Abs. 1 Satz 1 ZPO erfasst in objektiver Hinsicht nicht nur die Beantwortung des Feststellungsziels im Tenor der Entscheidung, sondern auch die diesen Entscheidungssatz tragenden tatsächlichen und rechtlichen Begründungselemente.37) Damit betrifft das 34) 35) 36) 37)

BGH, Urt. v. 28.11.2001 – VIII ZR 75/00, BGHZ 149, 222, 227 = ZIP 2002, 870. Hettenbach, Negative Musterfeststellungsklagen?, WM 2019, 577, 580. Weinland, Die neue Musterfeststellungsklage, 2019, Rz. 60. Weinland, Die neue Musterfeststellungsklage, 2019, Rz. 196.

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Verfahren zumindest mittelbar die Insolvenzmasse des beklagten Unternehmens, weshalb insoweit eine Unterbrechung eintritt. 2. Vor Rechtshängigkeit Greifen in Bezug auf das Unternehmen vor Klageerhebung die Rechtsfolgen des § 80 InsO ein, besitzt der Insolvenzverwalter für alle die Insolvenzmasse betreffenden Rechtsstreitigkeiten unabhängig von der Verfahrensart eine umfassende Prozessführungsbefugnis.38) Eine die Insolvenzmasse auch nur mittelbar betreffende Passivklage ist gegen ihn zu richten.39) Die ungeachtet dessen an den Schuldner bewirkte Klagezustellung führt zwar zur Rechtshängigkeit der gegen ihn gerichteten Klage; diese ist jedoch als unzulässig abzuweisen, soweit die Insolvenzmasse betroffen ist.40) V. Beklagtenfähigkeit des Insolvenzverwalters Aus den vorstehenden Ausführungen folgt, dass der Insolvenzverwalter Musterfeststellungsbeklagter sein kann, wenn über das Vermögen eines Unternehmens das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist (IV. 1. und 2.), oder wenn der Verwalter selbst als Unternehmer gehandelt hat (II. 2. b) bb)). VI. Verfahrensgegenstand 1. Grundsätzliches § 606 Abs. 1 Satz 1 ZPO ermöglicht die Feststellung der Haftung des Unternehmers dem Grunde nach, die Feststellung einzelner Tatbestandsmerkmale tatsächlicher oder rechtlicher Art wie auch die negative Feststellung, dass bestimmte Einwendungs- oder Einredevoraussetzungen des beklagten Unternehmens nicht vorliegen.41) Das Feststellungsziel muss in einer Vielzahl von Fällen wiederkehren, also unabhängig von der konkreten Person des Verbrauchers getroffen werden können.42) Die Klageschrift muss gemäß § 606 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO Angaben und Nachweise darüber enthalten, dass von den Feststellungszielen die Ansprüche oder 38) 39) 40) 41) 42)

Kayser in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 80 Rz. 23. Sternal in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 80 Rz. 37. Sternal in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 80 Rz. 41. Stadler in: Musielak/Voit, ZPO, 16. Aufl. 2019, § 606 Rz. 12. Stadler in: Musielak/Voit, ZPO, 16. Aufl. 2019, § 606 Rz. 12.

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Rechtsverhältnisse von mindestens zehn Verbrauchern abhängen. Überdies ist die Musterfeststellungsklage nach § 606 Abs. 3 Nr. 3 ZPO nur zulässig, wenn zwei Monate nach öffentlicher Bekanntmachung der Musterfeststellungsklage (§ 607 ZPO) mindestens 50 Verbraucher ihre Ansprüche oder Rechtsverhältnisse zur Eintragung in das Klageregister wirksam angemeldet haben. 2. Insolvenzrechtliche Anwendungsbeispiele a) Haftung des Insolvenzverwalters Aufgrund der dargestellten Unternehmereigenschaft des Insolvenzverwalters kann eine Musterfeststellungsklage auch vertragliche oder außervertragliche Ansprüche oder Rechtsverhältnisse zwischen Verbrauchern und einem Insolvenzverwalter betreffen. Zu denken ist etwa an Einzelschäden von Insolvenzgläubigern i. R. der Haftung des Insolvenzverwalters nach § 60 Abs. 1 InsO, die auch bei einer Vielzahl von Fällen nur von dem einzelnen Betroffenen geltend zu machen sind.43) b) Insolvenzanfechtung Aufgrund seiner bürgerlich-rechtlichen Natur ist der insolvenzrechtliche Anfechtungsstreit grundsätzlich unabhängig von dem der Rechtshandlung zugrunde liegenden Rechtsverhältnis44) dem Rechtsweg vor den Zivilgerichten (§ 13 GVG) zugewiesen.45) Damit ist insbesondere die Feststellung des Nichtvorliegens von tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen für das Bestehen von Ansprüchen oder Rechtsverhältnissen möglicher Gegenstand einer Musterfeststellungsklage gemäß § 606 Abs. 1 ZPO; denn eine aktive Geltendmachung durch den Insolvenzverwalter ist wegen des Ausschlusses der Widerklagebefugnis (oben III. 3.) nicht zulässig.

43) 44) 45)

Vgl. OLG Köln, Urt. v. 1.6.2006 – 2 U 50/06, ZInsO 2007, 218; Lind in: Ahrens/ Gehrlein/Ringstmeier, InsO, 3. Aufl. 2017, § 60 Rz. 42. Einzelheiten bei Gehrlein in: Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier, InsO, 3. Aufl. 2017, § 129 Rz. 131. Gehrlein in: Ahrens/Gehrlein/Ringstmeier, InsO, 3. Aufl. 2017, § 129 Rz. 131; Büteröwe in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 143 Rz. 39; Kayser, Rechtsfolgen der Insolvenzanfechtung, ZIP 2015, 449, 451.

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c) Insolvenzforderungsfeststellung Eine Musterfeststellungsklage kommt auch in Betracht im Zusammenhang mit der Feststellung einer Vielzahl gleichartiger, vom Insolvenzverwalter oder von einem Insolvenzgläubiger bestrittener (§ 179 Abs. 1 InsO) Forderungen. aa) Grundsätzliches Nach § 180 Abs. 1 Satz 1 InsO ist die Klage auf die Feststellung im ordentlichen Verfahren zu erheben. Die Norm bezweckt, dass der Streit zwischen einem anmeldenden Gläubiger und dem widersprechenden Insolvenzverwalter oder Gläubiger außerhalb des Insolvenzverfahrens in einem Feststellungsprozess geklärt werden soll, der als kontradiktorisches Verfahren geführt wird.46) Durch die Zuweisung der Streitentscheidung nicht an das Insolvenzgericht, sondern an die allgemeine Justiz einschließlich der besonderen Fachgerichte und der ggf. vorgeschalteten Verwaltungsbehörden soll verhindert werden, dass das Insolvenzgericht i. R. von Feststellungsklagen z. B. über arbeits-, finanz-, verwaltungs- oder sozialrechtliche Fragen zu entscheiden hat.47) Für den Fall der Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte soll die in § 180 Abs. 1 InsO angeordnete begrenzte Konzentration eine zu weiträumige Aufsplitterung der Feststellungsprozesse verhindern.48) Als innerer Grund für diese Regelung war schon in der Begründung der Gemeinschuldordnung hervorgehoben worden, dass die Einbeziehung derartiger Prozesse in das Insolvenzverfahren „(…) den Abschluss jeden gemeinrechtlichen Konkurses, auch des einfachsten, in unabsehbare Ferne (…)“ rücken würde.49) Gegen die Ausgliederung aus dem Insolvenzverfahren selbst ergebe sich „(…) aus der Natur des Konkurses (…)“ kein Grund, insbesondere stelle es sogar für die Gläubiger unstreitiger Rechtspositionen „(…) eine Art Rechtsverweigerung (…)“ dar, das Verfahren auf diese Weise in die Länge zu ziehen.50) Mit der Verweisung des § 180 Abs. 1 InsO auf ein Verfahren außerhalb des Insolvenzverfahrens ist grundsätzlich der zur Feststellung der materiellen Rechte

46) 47) 48) 49) 50)

Pape/Schaltke in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, 65. EL 9/2015, § 180 Rz. 1. Pape/Schaltke in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, 65. EL 9/2015, § 180 Rz. 1. Pape/Schaltke in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, 65. EL 9/2015, § 180 Rz. 2. Gerhardt in: Jaeger, InsO, 5. Aufl. 2010, § 180 Rz. 2. Gerhardt in: Jaeger, InsO, 5. Aufl. 2010, § 180 Rz. 9.

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berufene Zivilprozess nach dem Gerichtsverfassungsgesetz und der Zivilprozessordnung und die Anwendung der dafür geltenden prozessualen Normen gemeint.51) Im Schrifttum wird eine sonstige (allgemeine) Feststellungsklage nur für zulässig gehalten, wenn mit ihr rechtsschutzwürdige eigenständige Ziele verfolgt werden, die nicht mit dem Streitgegenstand der Insolvenzfeststellungsklage, d. h. der Feststellung der Forderung zur Tabelle, deckungsgleich sind.52) Solche Fälle seien aber kaum vorstellbar.53) bb) Statthaftigkeit der Musterfeststellungsklage Ohne eine ausdrückliche gesetzliche Regelung kann das Verfahren nach §§ 179 ff. ZPO nicht als das gegenüber dem später eingeführten Verfahren der Musterfeststellungsklage speziellere angesehen werden. Die beiden Verfahren unterscheiden sich in wesentlichen Voraussetzungen und Rechtsfolgen. Das Verfahren der Musterfeststellungsklage steht nur bestimmten Einrichtungen als Klägern offen und bedingt eine Mindestzahl von 50 angemeldeten Verbrauchern, die selbst am Verfahren nicht beteiligt sind. Auch der Instanzenzug (Oberlandesgericht – Bundesgerichtshof) ist anders ausgestaltet als bei der besonderen Insolvenzforderungsfeststellungsklage, die grundsätzlich jedem anmeldenden Gläubiger offensteht und für die erstinstanzlich streitwertabhängig das Amts- oder das Landgericht zuständig ist. VII. Zusammenfassung Zwischen der neuen Klageart und dem Insolvenzrecht bestehen zahlreiche Wechselwirkungen, die im schnellen Gesetzgebungsverfahren zur Einführung einer zivilprozessualen Musterfeststellungsklage außer Betracht geblieben waren und bisher, soweit für den Verfasser ersichtlich, noch nicht in Wissenschaft und Praxis diskutiert worden sind. Die im vorliegenden Beitrag erörterten Rechtsfragen lassen sich unter Anwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze verhältnismäßig rechtssicher beantworten. Bei Vorlie-

51) 52) 53)

Gerhardt in: Jaeger, InsO, 5. Aufl. 2010, § 180 Rz. 9. Pape/Schaltke in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, 65. EL 9/2015, § 179 Rz. 13a. Pape/Schaltke in: Kübler/Prütting/Bork, InsO, 65. EL 9/2015, § 179 Rz. 13a; Sinz in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 180 Rz. 18.

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gen der besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen der §§ 606 ff. ZPO sind grundsätzlich alle Streitfragen der Haftung des Insolvenzverwalters, der Insolvenzanfechtung und der Insolvenzforderungsfeststellung dem neu geschaffenen kollektiven Rechtsschutz zugänglich. Wenngleich bisher keine einschlägige qualifizierte Einrichtung aufgetreten ist, sollten (auch) Insolvenzverwalter künftig mit dem insolvenzrechtlichen Potenzial des kollektiven Rechtsschutzes rechnen.

Der Überschuldungstatbestand aus der Sicht eines Praktikers – Plädoyer für die Abschaffung der Überschuldung als Insolvenzauslöser – LARS WESTPFAHL Inhaltsübersicht I. II.

Einleitung Der Überschuldungsbegriff und seine historische Entwicklung 1. Der Überschuldungsbegriff in § 19 InsO 2. Die bisherige Entwicklung des Überschuldungsbegriffes III. Der Überschuldungsbegriff im Rechtsvergleich IV. Kritik am Überschuldungsbegriff 1. Geringe praktische Relevanz 2. Fehlende Justiziabilität a) Überschuldungsstatus b) Fortbestehensprognose

3. Unangemessene Sanktionen a) Strafbare Insolvenzverschleppung b) Zivilrechtliche Haftung wegen Insolvenzverschleppung 4. Abgrenzungsschwierigkeiten a) Abgrenzung zur drohenden Zahlungsunfähigkeit b) Abgrenzung zur „Wahrscheinlichkeit einer Insolvenz“ i. R. der Restrukturierungsrichtlinie V. Argumente für Beibehaltung des Überschuldungsbegriffes VI. Handlungsoptionen für den Gesetzgeber VII. Summa

I. Einleitung Der Insolvenzantragsgrund der Überschuldung hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Diese reicht bis ins Preußische Recht zurück und bis heute ist die Überschuldung Spielfeld gesetzgeberischer Optimierungsversuche. Wer gedacht hat, dass die Diskussion über die inhaltliche Ausgestaltung mit der im Jahre 2013 beschlossenen Entfristung der der Finanzkrise geschuldeten Übergangsregelung aus dem Jahre 2008 zu Ende gegangen ist, liegt falsch. Denn die aktuellen Reformbestrebungen im deutschen Restrukturierungs- und Insolvenzrecht erfordern auch, dass die Insolvenzantragsgründe, jedenfalls die Überschuldung, einer kritischen Neubewertung unterzogen werden. Das gilt zum einen für die ESUG-Evaluation, i. R. derer auch die Frage beantwortet werden muss, warum auch nach Stärkung der Eigenverwaltung und Einführung des Schutzschirmverfahrens kaum von dem Antragsrecht bei drohender Zahlungsunfähigkeit Gebrauch gemacht worden ist. Zum anderen stellt sich im Zusammenhang mit der Um-

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setzung der europäischen Richtlinie über präventive Restrukturierungsrahmen1) (im Folgenden „Restrukturierungsrichtlinie“) die Frage, ab bzw. bis zu welchem Zeitpunkt ein entsprechendes Vorhaben zulässig sein soll. Auch insoweit spielt die Überschuldung eine zentrale Rolle. Immerhin besteht nunmehr erneut die Möglichkeit, eine Auseinandersetzung zu beenden, die bereits vor zehn Jahren als „30jähriger Krieg“ bezeichnet worden ist.2) Dazu sollen die nachfolgenden Ausführungen einen Beitrag leisten. Zu diesem Zweck sollen zunächst kurz der Überschuldungsbegriff und die wesentlichen Veränderungen in der Vergangenheit dargestellt werden (dazu unter II.). Es folgt ein sehr kurzer Blick ins Ausland (dazu unter III.), bevor die wesentlichen Kritikpunkte am Überschuldungsbegriff ausführlich erläutert werden (dazu unter IV.). Schließlich soll kurz auf jene Argumente eingegangen werden, die für ein Festhalten an der Überschuldung als zwingendem Antragsgrund angeführt (dazu unter V.), bevor abschließend die gesetzgeberischen Handlungsoptionen vorgestellt werden (dazu unter VI.). II. Der Überschuldungsbegriff und seine historische Entwicklung 1. Der Überschuldungsbegriff in § 19 InsO Nach § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO liegt eine Überschuldung vor, wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt, es sei denn, die Fortführung des Unternehmens ist nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich. Für die Ermittlung der Überschuldung ist die Handelsbilanz ungeeignet, weil die dort nicht ausgewiesenen stillen Reserven sowie handelsrechtlich nicht bilanzierbare Vermögenswerte aufzudecken und die Vermögensgegenstände mit ihren aktuellen Werten anzusetzen sind. Es ist daher eine von der Handelsbilanz abweichende Bilanz zu erstellen, der sog. Überschuldungsstatus. Darin sind die Gegenstände des Aktivvermögens mit Liquidationswerten anzusetzen, mit1)

2)

Richtlinie (EU) des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) – Restrukturierungsrichtlinie, ABl. (EU) L 172/18 v. 26.6.2019. K. Schmidt, Überschuldung und Insolvenzantragspflicht nach dem Finanzmarktstabilisierungsgesetz. Geschäftsleiterpflichten im Wechselbad der Definitionen, DB 2008, 2467.

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hin denjenigen Werten, die sich bei einer Einzelveräußerung im Zuge einer Zerschlagung des Unternehmens für jeden einzelnen Gegenstand erzielen ließen. Ergibt sich dabei rechnerisch eine Überschuldung, ist eine sog. Fortbestehensprognose zu stellen, mithin zu ermitteln, ob eine Fortführung des Unternehmens überwiegend wahrscheinlich ist, was einen Fortführungswillen des Schuldners und die mittelfristige Überlebensfähigkeit des Unternehmens verlangt. Wird diese Frage verneint, ist der Schuldner überschuldet. Wird sie bejaht, ist dies nicht der Fall. Der Insolvenzgrund der Überschuldung dient dem Gläubigerschutz in zweifacher Hinsicht. Zum Einen ermöglicht er die Eröffnung des Insolvenzverfahrens als kollektive Befriedigungsmöglichkeit und zum anderen zwingt er die Geschäftsleitung juristischer Personen zur Insolvenzantragsstellung.3) 2. Die bisherige Entwicklung des Überschuldungsbegriffes Schon im Preußischen Recht galt der Grundsatz, dass ein Konkurs durchzuführen sei, wenn das Vermögen des Schuldners nicht ausreicht, um seine Gläubiger zu befriedigen.4) Seither unterlag der Überschuldungstatbestand einem steten Wandel,5) war aber jedenfalls zu Zeiten der KO ein Konkurseröffnungsgrund. So war in den §§ 207 Abs. 1, 209 Abs. 1 Satz 2 und 3, § 213 KO geregelt, dass die Überschuldung bei allen Verbänden, für deren Verbindlichkeiten keine natürliche Person unmittelbar oder mittelbar unbeschränkt haftet, neben der Zahlungsunfähigkeit Konkurseröffnungsgrund sein solle. Die Antragspflicht selbst war wiederum nicht in der KO geregelt sondern in den jeweiligen gesellschaftsrechtlichen Gesetzen (vgl. § 64 Abs. 1 GmbHG a. F., § 92 Abs. 2 AktG a. F.). Bei derartigen beschränkt haftenden Verbänden sollten die Gläubiger bei eingetretener Überschuldung nicht darauf verwiesen werden, sich zu gedulden, bis auch die Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft eingetreten sei.6) Eine gesetzliche Definition war indes weder in der KO noch in den gesellschaftsrechtlichen Gesetzen enthalten, so dass die inhaltliche Ausgestaltung des Über3) 4) 5) 6)

K. Schmidt in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 19 Rz. 1; Mock in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 19 Rz. 2. Siehe dazu nur Piekenbrock, Die Überschuldung als Insolvenzeröffnungsgrund in Europa, KTS 2017, 333, 340 ff. m. w. N. Erneut Piekenbrock, KTS 2017, 333, 340 ff. m. w. N. Hahn/Mugdahn, Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 4, 1881, S. 291, 390; vgl. auch Götz, Entwicklungslinien insolvenzrechtlicher Überschuldungsmessung – Ein Schritt nach vorn zurück?, KTS 2003, 1 ff.

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schuldungsbegriffs zunächst Rechtswissenschaft und -praxis überlassen war. Während weitgehende Einigkeit zumindest darüber erzielt werden konnte, dass eine rein bilanzielle Betrachtungsweise nicht ausreichend und ein prognostisches Element notwendig sei, wurde über die weiteren Voraussetzungen lange Zeit kontrovers diskutiert. Schließlich folgte der Bundesgerichtshof in seiner berühmten DornierEntscheidung dem von Karsten Schmidt entwickelten modifizierten zweistufigen Überschuldungsbegriff. Danach konnte von einer Überschuldung nur dann gesprochen werden, wenn das Vermögen der Gesellschaft bei Ansatz von Liquidationswerten unter Einbeziehung der stillen Reserven die bestehenden Verbindlichkeiten nicht deckt (rechnerische Überschuldung) und die Finanzkraft der Gesellschaft nach überwiegender Wahrscheinlichkeit mittelfristig nicht zur Fortführung des Unternehmens ausreicht (Überlebens- und Fortbestehensprognose).7) Dem lag die Einschätzung zugrunde, dass ein Unternehmen nicht deshalb in ein Konkursverfahren gezwungen werden solle, weil zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bilanziellen Gegenüberstellung die Verbindlichkeiten durch das Vermögen nicht gedeckt sind, solange von einer dauerhaften Zahlungsfähigkeit ausgegangen werden könne.8) Nach langer Diskussion i. R. der Reformbemühungen, die schließlich im Jahre 1999 in die InsO mündeten, löste sich der Gesetzgeber jedoch von dem modifizierten zweistufigen Überschuldungsbegriff. Statt dessen führte er den heute als herkömmlichen zweistufen Überschuldungsbegriff bezeichneten Tatbestand ein, nach dem eine positive Fortbestehensprognose nun nicht mehr automatisch die Wirkung hatte, dass keine Überschuldung vorliegt. Vielmehr änderte sie den Maßstab für die in beiden Fällen notwendige – bilanzielle – Bemessung des Vermögens: „Bei der Bewertung des Vermögens des Schuldners ist jedoch die Fortführung des Unternehmens zu Grunde zu legen, wenn diese nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich ist.“9)

Wie sich aus der Schlussempfehlung des Rechtsausschusses des Bundestages ergibt, bedeutete dies eine ausdrückliche Abkehr vom bisherigen Verständnis. Darin hieß es:

7) 8) 9)

BGH, Urt. v. 13.7.1992 – II ZR 269/91, BGHZ 119, 201, 214 = ZIP 1992, 1382. K. Schmidt, Konkursgründe und präventiver Gläubigerschutz – Ein Beitrag zur Diskussion um den Konkursgrund der Überschuldung, AG 1978, 334, 337 f. § 19 Abs. 2 Satz 2 InsO i. d. F. v. 5.10.1994.

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„Wenn eine positive Prognose stets zu einer Vermeidung der Überschuldung führen würde, könnte eine Gesellschaft trotz fehlender persönlicher Haftung weiter wirtschaften, ohne dass ein die Schulden deckendes Kapital zur Verfügung steht. Dies würde sich erheblich zum Nachteil der Gläubiger auswirken, wenn sich die Prognose (…) als falsch erweist.“10)

Hieraus geht sehr klar die Absicht des Gesetzgebers hervor, Gläubigerschutzgesichtspunkte stärker in den Überschuldungsbegriff einfließen zu lassen. Auf Grund der massiven wirtschaftlichen Auswirkungen der Finanzmarktkrise 2007/2008 sah sich der Gesetzgeber jedoch gezwungen, den Überschuldungsbegriff i. R. des Gesetzes zur Umsetzung eines Maßnahmenpaketes zur Stabilisierung des Finanzmarkts zu modifizieren. Es wurde daher der modifizierte zweistufige Überschuldungsbegriff, der schon zu Zeiten der KO vom Bundesgerichtshof anerkannt worden war, in § 19 InsO gesetzlich verankert. Zwar zielte die Gesetzesänderung in erster Linie auf Unternehmen, die infolge der Wirtschaftskrise Wertverluste insbesondere in ihrem Aktien- und Immobilienvermögen, mithin also reine „Buchverluste“ hinnehmen mussten. Zugleich wies das Bundesjustizministerium aber darauf hin, dass auch dem überschuldeten Handwerksbetrieb geholfen werde, der den Zuschlag zu einem Großauftrag erhalten hat, dem überschuldeten Unternehmen, das ein Produkt zur Marktreife entwickelt hat, bei dem sich schon bei der ersten Präsentation eine lebhafte Nachfrage zeigt, sowie dem Exporteur, dem es gelungen ist, einen neuen Absatzmarkt zu erschließen.11) Wie diese Beispiele zeigen, ging es dem Bundesjustizministerium also um mehr als die Auswirkungen der Finanzmarktkrise; Insolvenzauslöser sollten nicht in Abhängigkeit von konjunkturellen Situationen ausgestaltet sein. Letztlich ist der Gesetzgeber dem zentralen Argument gegen den herkömmlichen zweistufigen Überschuldungsbegriff gefolgt, wonach es ökonomisch nicht gerechtfertigt ist, überlebensfähige Unternehmen in ein Insolvenzverfahren zu treiben, nur weil sie überschuldet sind.12)

10) 11)

12)

Beschlussempfehlung und Bericht des RA z. § 23 Abs. 2 RegE InsO, BT-Drucks. 12/7302, S. 157; siehe auch schon Begr. RegE InsO z. § 23, BT-Drucks. 12/2443, S. 115. So die seinerzeitige Presseerklärung v. 13.10.2008; siehe dazu Böcker/Poertzgen, Finanzmarkt-Rettungspaket ändert Überschuldungsbegriff (§ 19 InsO), GmbHR 2008, 1289, 1294, Fn. 48. Siehe dazu auch Haas, Gutachten E, in: Verhandlungen des 66. Dutschen Juristentages, 2006, S. 20; Hirte, Ökonomische Überlegungen zur Zwingenden Insolvenzantragspflicht des Deutschen Rechts, in: FS Schäfer, 2008, S. 605, 609.

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Diese Neufassung des § 19 InsO sollte ursprünglich nur für zwei Jahre gelten, musste jedoch wegen des damit letztlich verbundenen Bugwelleneffekts bereits im Jahre 2009 bis Ende 2013 verlängert werden. Schließlich wurde auch diese Befristung vollständig aufgehoben, so dass damit der Wechsel zur alten Rechtslage vor Einführung der InsO endgültig vollzogen war. III. Der Überschuldungsbegriff im Rechtsvergleich In der Diskussion über die Zukunft des Überschuldungsbegriffs wird immer wieder behauptet, Deutschland stehe mit seiner Regelung im internationalen Vergleich weitgehend allein.13) In der Tat kennen z. B. die USA, Frankreich, Italien, Spanien, die Niederlande und Norwegen den Tatbestand der Überschuldung nicht als Insolvenzauslöser bzw. haben ihn als solchen abgeschafft. Gleichwohl steht Deutschland nicht allein und ist dies auch schon mehrfach dargelegt worden, worauf an dieser Stelle verwiesen werden kann.14) Kurz zusammengefasst gilt: In unseren deutschsprachigen Nachbarländern Österreich und Schweiz ist die Überschuldung nicht nur Anknüpfungspunkt für die Insolvenzeröffnung und die Haftung der Organe sondern auch für die Insolvenzanfechtung.15) Aber auch in den osteuropäischen Staaten Serbien, Kroatien, Montenegro, Tschechien, Slowakei und Bulgarien sowie den nordeuropäischen Staaten Estland und Finnland ist die Überschuldung Insolvenzeröffnungsgrund.16) In Slowenien, Italien und Portugal stellt das Ungleichgewicht zwischen Aktiva und Passiva zumindest eine Vermutung für die Insolvenz dar.17) Schließlich gilt in allen Teilrechtsordnungen des Vereinigten Königreichs, dass eine Gesellschaft dann nicht mehr in der Lage ist, ihre Schulden zu bezahlen und daher abzuwi-

13)

14)

15)

16) 17)

Häufig wird dabei der von Schlosser, Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens, in: Leipold, Insolvenzrecht im Umbruch, 1991, verwendete Begriff des „deutsch-alpenländischen Unikums“ zitiert. Ausführliche Darstellungen finden sich bei Piekenbrock, KTS 2017, 333, 340 ff., und Steffek, Insolvenzgründe in Europa – Rechtsvergleich, Regelungsstrukturen und Perspektiven der Rechtsangleichung, KTS 2009, 317, 334 f. Ausführlich zu diesen beiden Jurisdiktionen Haas/Hoffmann, Ein rechtsvergleichender Blick auf Überschuldung und Fortbestehensprognose, in: FS Beck, 2016, S. 223 ff. m. w. N. Nachweise finden sich bei Piekenbrock, KTS 2017, 333, 355 ff. Nachweise erneut bei Piekenbrock, KTS 2017, 333, 356, 360.

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ckeln ist, wenn sie überschuldet ist.18) Allerdings ist – jedenfalls dem Verf. – kein empirisches Datenmaterial bekannt, das die Frage beantworten würde, ob die Überschuldung in der Praxis dieser Länder eine bedeutende Rolle spielt. Zweifel sind indes geboten. IV. Kritik am Überschuldungsbegriff Wie bereits erwähnt wurde in jeder der zuvor angesprochenen Phasen intensiv über den Überschuldungsbegriff diskutiert. Dabei ging es indes nicht nur um die Ausgestaltung des Tatbestandes sondern auch darum, ob es überhaupt eines bilanziellen Insolvenzauslösers bedarf oder nicht etwa die Zahlungsunfähigkeit für den Gläubigerschutz ausreichend ist. Als grundlegend kann insoweit ein Beitrag von Egner und Wolff aus dem Jahre 1978 bezeichnet werden, in dem aus betriebswirtschaftlicher Sicht gegen den Überschuldungsbegriff argumentiert wurde.19) In der Sache von einem zweistufigen Überschuldungstatbestand ausgehend differenzierten sie zwischen einer Prüfung der „Lebensfähigkeit“ des Unternehmens auf der ersten Stufe und, im positiven Fall, Prüfung der „Betriebsbestehenswerte“ auf der zweiten. Da nach ihrer Auffassung die Prüfung der Lebensfähigkeit dadurch zu erfolgen habe, dass der Unternehmensgesamtwert den bestehenden Verbindlichkeiten gegenübergestellt wird, sahen sie in der Vermögensbewertung zu Betriebsbestehenswerten allenfalls eine Bestätigungsrechnung und damit einen logischen Zirkel.20) Hinzu komme, dass die Ermittlung des Unternehmensgesamtwertes so stark von subjektiven Erwartungen, Einflüssen und Eigeninteressen durchsetzt sei, dass sie für die Implementierung eines zum Schutze Dritter konzipierten Instrumentariums ungeeignet sei.21) Ähnlich argumentierte – ungefähr zwanzig Jahre später – Fenske.22) Auch diese Kritik basierte im Wesentlichen auf dem herkömmlichen zweistufigen Überschuldungstatbestand. Nach seiner Auffassung könne ökonomisch nicht belegt werden, dass trotz einer positiven Fortbestehensprognose eine Vermögensbewertung zu einer Unterdeckung gegenüber den Verbindlichkeiten gelangen könne. 18) 19) 20) 21) 22)

Für England, Wales und Schottland sec. 123(2) Insolvency Act 1986. Egner/Wolff, Zur Unbrauchbarkeit des Überschuldungstatbestands als gläubigerschützendes Instrument, AG 1978, 99 ff. Egner/Wolff, AG 1978, 99, 104. So die Interpretation des Ansatzes von Egner/Wolff in: MünchKomm-InsO, 4. Aufl. 2019, § 19 Rz. 108 f. Fenske, Zur Unbrauchbarkeit des Überschuldungstatbestandes, AG 1997, 554, 558 f.

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Nachdem der Gesetzgeber den Überschuldungsbegriff wie dargestellt im Jahre 2008 – zunächst vorübergehend – modifiziert hatte, nahm die Diskussion wieder an Intensität zu und mehrten sich die Stimmen, die sich für eine Abschaffung des Überschuldungstatbestandes oder zumindest dessen Umwandlung in ein Antragsrecht aussprachen23) bzw. mit dieser Forderung sympathisierten.24) Dabei wurden vor allem die fehlende praktische Relevanz, die eingeschränkte Justiziabilität sowie die Überschneidung der Überschuldung mit der drohenden Zahlungsunfähigkeit hervorgehoben.25) Diese Kritik hat, wie sogleich gezeigt werden soll, bis heute nicht an Überzeugungskraft eingebüßt. Jetzt kommt jedoch noch hinzu, dass der Überschuldungstatbestand einer zielgerichteten Abstimmung des Insolvenzverfahrens nach der InsO einerseits sowie dem vorinsolvenzlichen Sanierungsversuch auf Grundlage der europäischen Restrukturierungsrichtlinie26) andererseits im Wege stehen könnte. Im Folgenden sollen daher die nach Auffassung des Verf. wesentlichen Argumente gegen die geltende Rechtslage erläutert werden. Hierzu zählen die geringe praktische Relevanz des Überschuldungstatbestandes (dazu unter IV. 1.), dessen zumindest eingeschränkte Justiziabilität (dazu unter IV. 2.), unangemessene Sanktionen für den Fall, dass im Nachhinein eine Insolvenzverschleppung wegen Überschuldung festgestellt wird (dazu unter IV. 3.) sowie schließlich Abgrenzungsschwierigkeiten im Verhältnis zur drohenden Zahlungsunfähigkeit gemäß § 18 InsO sowie im Zusammenhang mit der europäischen Richtlinie über präventive Restrukturierungsrahmen (dazu unter IV. 4.).

23)

24) 25) 26)

Beck/Brucklacher, Plädoyer für eine Reform des Überschuldungstatbestandes und damit verbundener Rechtspflichten, in: FS Wellensiek, 2011, S. 5 ff.; Hunkemüller/ Tymann, Stolperfalle Überschuldung: Warum § 19 InsO den Sanierungsgedanken konterkariert, ZInsO 2011, 712 ff., 718; Jensen, Die Verfahrensauslösungstatbestände vom alten Konkursrecht zur neuen Insolvenzordnung, 2009, S. 387; Möhlmann-Mahlau/ Schmitt, Der „vorübergehende“ Begriff der Überschuldung, NZI 2009, 19 ff., 24. Böcker/Poertzgen, GmbHR 2008, 1289, 1296; Vallender, Weiterer Reformbedarf aus Sicht eines Insolvenzrichters, WPg Sonderheft 1/2011, S. 31, 32 f. Siehe die Nachweise in den Fn. 23 und 24. Richtlinie (EU) des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.6.2019 über präventive Restrukturierungsrahmen, über Entschuldung und über Tätigkeitsverbote sowie über Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz von Restrukturierungs-, Insolvenz- und Entschuldungsverfahren und zur Änderung der Richtlinie (EU) 2017/1132 (Richtlinie über Restrukturierung und Insolvenz) – Restrukturierungsrichtlinie, ABl. (EU) L 172/18 v. 26.6.2019.

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1. Geringe praktische Relevanz Es war eine der wesentlichen Erkenntnisse der im Jahre 2012 durchgeführten Befragung zur Zukunft des Überschuldungsbegriffs, dass die Überschuldung nach Einschätzung der befragten Experten insolvenzrechtlich eine wesentlich geringere Bedeutung hat, als ihr zugeschrieben wird.27) So äußerte die ganz überwiegende Zahl der Befragten, dass Insolvenzanträge in aller Regel nicht auf Überschuldung gestützt werden.28) Aber auch bei den Sanktionen, mit denen die Geschäftsführer zu frühzeitiger Antragsstellung angehalten werden sollen, hat die Überschuldung nach dem Ergebnis der Befragung offenbar nur eine geringe Bedeutung.29) Das gilt sowohl in straf- als auch in zivilrechtlicher Hinsicht. So soll in Strafverfahren eine Verurteilung nur selten auf eine Insolvenzverschleppung wegen Überschuldung gestützt werden und hat auch bei der zivilrechtlichen Haftung der Geschäftsleitung wegen Insolvenzverschleppung die Überschuldung nur eine sehr geringe Bedeutung.30) Beides dürfte auch der schwierigen Handhabbarkeit des Überschuldungsbegriffes geschuldet sein.31) Im Rahmen der Befragung wurde auch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der bei Betrachtung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes zur Insolvenzverschleppungshaftung möglicherweise entstehende Eindruck, wonach die Überschuldung in diesem Rahmen eine große Bedeutung habe, unzutreffend sei.32) In der Befragung wurde ebenfalls die Vermutung geäußert, dass nur „(…) bei großen, anwaltlich gut beratenen Unternehmen überhaupt eine detaillierte und laufende Überschuldungsprüfung stattfindet und daraus resultierend möglicher-

27)

28)

29) 30) 31) 32)

Bitter/Hommerich, Die Zukunft des Überschuldungsbegriffs, 2012, S. 4, 38 ff.; ebenso allerdings bereits zuvor Greil/Herden, Die Überschuldung als Grund für die Eröffnung des Insolvenzverfahrens, ZInsO 2010, 833, 840; Groß, Editorial: Zur Reformierung des Insolvenzgrundes der Überschuldung, KSI 2011, 49; Möhlmann-Mahlau/Schmitt, NZI 2009, 19, 24; Penzlin, Kritische Anmerkungen zu den Insolvenzeröffnungsgründen der drohenden Zahlungsunfähigkeit und der Überschuldung (§§ 18 und 19 InsO), NZG 2000, 464, 470; Poertzgen, Fünf Thesen zum neuen (alten) Überschuldungsbegriff (§ 19 InsO n. F.), ZInsO 2009, 401, 402. Bitter/Hommerich, Die Zukunft des Überschuldungsbegriffs, 2012, S. 4 f., 39. So auch bereits zuvor Vallender, WPg 2011, 31, 32: „In den vergangenen 16 Jahren hatte ich keinen Fall zu bearbeiten, bei dem es ausschließlich um die Frage ging, ob der Schuldner auch überschuldet sei.“ Bitter/Hommerich, Die Zukunft des Überschuldungsbegriffs, 2012, S. 5, 40. Bitter/Hommerich, Die Zukunft des Überschuldungsbegriffs, 2012, S. 5, 40. Bitter/Hommerich, Die Zukunft des Überschuldungsbegriffs, 2012, S. 42. Bitter/Hommerich, Die Zukunft des Überschuldungsbegriffs, 2012, S. 42.

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Lars Westpfahl weise auch nur große Unternehmen Insolvenzanträge wegen Überschuldung stellen“.33)

Dem kann der Verf. aus eigener Erfahrung insoweit zustimmen, als bei größeren Unternehmen in der Krise die Beratung zur Frage, ob eine Überschuldung im insolvenzrechtlichen Sinne vorliegt, üblicherweise einen erheblichen Raum einnimmt. Dabei geht es jedoch in aller Regel nur um die Beurteilung der Fortbestehensprognose, mithin im Ergebnis eine Einschätzung darüber, ob das Sanierungsvorhaben letztlich gelingen wird oder nicht (dazu sogleich unter IV. 3. b)). Eine Frühwarnfunktion kommt dieser Prüfung indes nicht zu. Auch ohne sie besteht bei den Geschäftsleitern in diesen Fällen eine klare Wahrnehmung der Situation. 2. Fehlende Justiziabilität Das Unbehagen mit dem Überschuldungstatbestand – gleich ob in der herkömmlichen oder modifizierten Version der zweistufigen Prüfung – hat vor allem mit den erheblichen Unsicherheiten und damit dessen eingeschränkter Justiziabilität zu tun. Diese betrifft beide Stufen der Prüfung, mithin sowohl den Überschuldungsstatus (dazu unter IV. 2. a)) als auch die Fortbestehensprognose (dazu unter IV. 2. b)). a) Überschuldungsstatus Ist die Fortbestehensprognose negativ, sind das Vermögen und die Schulden in einem stichtagsbezogenen Status gegenüberzustellen (sog. Überschuldungsstatus). Praktischer Ausgangspunkt für die Erstellung des Überschuldungsstatus ist regelmäßig ein zeitnaher handelsrechtlicher Jahresoder Zwischenabschluss. Allerdings sollen handelsrechtliche Grundsätze wie z. B. Anschaffungskosten-, Paritäts-, Realisation- und Vorsichtsprinzip nicht maßgeblich sein. Die Ansatz- und Bewertungsgrundsätze im Überschuldungsstatus sind mangels spezieller gesetzlicher Vorschriften vielmehr am Zweck der Überschuldungsprüfung auszurichten. Damit ist das Problem benannt. Während sich der Ersteller einer Handelsbilanz an konkreten Normen mit konkreten Vorgaben orientieren kann, gilt für den Ersteller einer Überschuldungsbilanz im Wesentlichen der Grundsatz, dass das vorhandene Vermögen realistisch zu bewerten ist.34) Das wirft 33) 34)

Bitter/Hommerich, Die Zukunft des Überschuldungsbegriffs, 2012, S. 40. Statt aller Drukarczyk/Schüler in: MünchKomm-InsO, 4. Aufl. 2019, § 19 Rz. 115.

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eine Vielzahl von spezifischen Ansatz- und Bewertungsproblemen auf, von denen viele als nicht gelöst gelten dürfen bzw. bei denen vielfältige Beurteilungsspielräume bestehen. Das zeigt bereits der schiere Umfang der Kommentierungen zum Überschuldungsstatus.35) Eine detaillierte Auseinandersetzung mit den diesbezüglichen Einzelfragen würde daher auch den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Hinzuweisen sei lediglich auf die besonders umstrittenen Positionen, zu denen auf der Aktivseite der Firmen- oder Geschäftswert, eigene Anteile und handelsrechtlich aktive Rechnungsabgrenzungsposten zählen. Auf der Passivseite sind vor allem die Abwicklungskosten, mithin die durch die Liquidation bedingten zusätzlichen Verbindlichkeiten zu nennen. Sind sie zu passivieren, dürfte der Überschuldungsstatus praktisch immer eine Unterdeckung aufweisen.36) Aber auch der Ansatz und die Bewertung von Rückstellungen führt i. R. eines Überschuldungsstatus regelmäßig zu schwierigen Beurteilungsfragen. Während sich also für die Erstellung eines Überschuldungsstatus auf Basis von Liquidationswerten eine Vielzahl ungelöster Fragen stellen, führt die Überschuldungsbilanzierung zu Fortführungswerten zu einem methodischen Problem. Tatsächlich handelt es sich sogar um ein Fehlkonstrukt.37) Denn in theoretischer Hinsicht bedeutet Schuldendeckung unter Fortführungsannahme eine Deckung durch zukünftig aus dem Vermögen zu fließende Erträge. Somit geht es letztlich um eine Unternehmensbewertung, die indes mit der vom Gesetzgeber intendierten bilanziellen Messung von Schuldendeckung nichts zu tun hat. Stellt man stattdessen auf die Einzelwerte ab, steht der Substanzwert im Vordergrund und mündet die Bewertung unter der Prämisse der Schuldendeckung in eine Liquidationsbetrachtung.38) Mit anderen Worten: Die Gläubigerbefriedigung durch Unternehmensfortführung ist ein Prozess, der keinen Platz in einem Überschuldungsstatus hat.39) Weitere Ausführungen zur Erstellung eines Über35)

36) 37) 38) 39)

Vgl. zu Ermittlung einer rechnerischen Überschuldung im Wege einer Überschuldungsbilanz Drukarczyk/Schüler in: MünchKomm-InsO, 4. Aufl. 2019, § 19 Rz. 112 – 137; Hess in: KölnKomm-InsO, 2016, § 19 Rz. 61 – 112; Nickert/Lamberti, Überschuldungs- und Zahlungsunfähigkeitsprüfung im Insolvenzrecht, 3. Aufl. 2016, Rz. 362 – 1032; Mock in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 19 Rz. 58 – 215, jeweils m. w. N., sowie Möhlmann-Mahlau/Schmitt, Der „vorübergehende” Begriff der Überschuldung, NZI 2009, 19, 22 ff. Frystatzki, Der Tatbestand der Überschuldung gem. § 19 II InsO nach dem 31.12.2013 – Die Handlungsoptionen des Gesetzgebers, NZI 2011, 521, 525. So zu Recht Frystatzki, NZI 2011, 521, 523. Vgl. dazu nur Frystatzki, NZI 2011, 521, 523. K. Schmidt, AG 1978, 334, 337.

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schuldungsstatus auf Basis von Fortführungswerten können hier unterbleiben, da sie nach aktueller Gesetzeslage nicht vorgesehen ist. b) Fortbestehensprognose Noch ungleich größere Unsicherheiten wirft die Fortbestehensprognose auf.40) Das hatte auch der Gesetzgeber der InsO so gesehen und sich u. a. aus diesem Grund für den herkömmlichen zweistufigen Überschuldungsbegriff entschieden. Insbesondere werde die Fortbestehensprognose vorschnell getroffen und dürfe daher nicht allein maßgeblich für das Nichtvorliegen einer insolvenzrechtlichen Überschuldung sein.41) Andere Stimmen hatten seinerzeit noch drastischere Worte gefunden: So sei der Überschuldungstatbestand wegen der erheblichen Rechtsunsicherheit im Zusammenhang mit der Fortbestehensprognose manipulationsanfällig und der Insolvenzverschleppung Tür und Tor geöffnet.42) Warum steht die Fortbestehensprognose derart in der Kritik? Ob die Fortführung des Unternehmens unterstellt werden darf, ist vor dem Hintergrund der Funktion des § 19 InsO zu beurteilen, mithin unter dem Gesichtspunkt des Gläubigerschutzes. Wenn die Gläubigeransprüche erfüllt werden können, d. h. vereinbarte Zins- und Tilgungszahlungen geleistet werden können, ist eine Fortführung zulässig. Die Fortbestehensprogno-

40)

41)

42)

Eine ausführliche Darstellung der Anforderungen an Prognosen im Insolvenzrecht und vor allem die Fortbestehensprognose findet sich bei Nickert/Nickert/Kühne, Prognosen im Insolvenzrecht, KTS 2019, 29 ff. Begr. RegE InsO in: Balz/Landfermann, Die neuen Insolvenzgesetze, 2. Aufl. 1999, S. 225. Zwar ist auch i. R. des herkömmlichen zweistufigen Überschuldungsbegriffs zu prüfen, ob die Fortbestehensprognose positiv ist oder nicht. Allerdings ging der Gesetzgeber wohl davon aus, dass dem Prognoseelement durch diese veränderte systematische Stellung geringeres Gewicht zukomme und die verbleibende Unsicherheit daher unter dem Gesichtspunkt des Gläubigerschutzes eher hinnehmbar sei (so auch Schüppen, Aktuelle Fragen der Konkursverschleppung durch den GmbH-Geschäftsführer, DB 1994, 197, 199). So etwa Uhlenbruck, Grundzüge eines künftigen Insolvenzrechts nach den Vorstellungen der Reformkommission, BB 1984, 1949, 1951; ähnlich Bähner, Die Fortbestehensprognose im Rahmen der zweistufigen Überschuldungsrechnung, KTS 1988, 443, 445; Meyer-Cording, Mehr Klarheit für die Insolvenztatbestände, BB 1985, 1925, 1926; Stürner, Möglichkeiten der Sanierung von Unternehmen durch Maßnahmen im Unternehmens- und Insolvenzrecht. Eine Auseinandersetzung mit dem Gutachten vom Karsten Schmidt zu 54. Deutschen Juristentag, ZIP 1982, 761, 766.

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se ist deshalb Zahlungsfähigkeitsprognose.43) Um diese beurteilen zu können, bedarf es eines Unternehmenskonzepts unter Darstellung von Strategie, Gestaltungsrahmen und beabsichtigten Handlungsabläufen44) sowie eines hieraus abgeleiteten Finanz- und Ertragsplans.45) Finanzpläne aber weisen in die Zukunft und werden, je länger der Betrachtungszeitraum ist, desto fehleranfälliger. Aus diesem Grund beschränkt die h. M. den Prognosezeitraum in zeitlicher Hinsicht. Danach soll er sich maximal auf das laufende und das folgende Geschäftsjahr erstrecken.46) Diese Beschränkung löst aber die zuvor erwähnte Rechtsunsicherheit nicht.47) Das Hauptproblem besteht in der Einschätzung der überwiegenden Wahrscheinlichkeit des Eintritts von Zuständen, die in der Zukunft liegen und von denen die Zahlungsfähigkeit maßgeblich anhängt. § 19 Abs. 2 InsO erlaubt die Annahme der Fortführung dann, wenn diese nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich ist. Es muss also mehr für einen zumindest ausgeglichenen Finanzplan im Betrachtungszeitraum sprechen als dagegen.48) Sanierungssituationen sind typischerweise dadurch gekennzeichnet, dass der rein auf die Zahlen abstellende Finanzplan zunächst keine Zahlungsfähigkeit im Betrachtungszeitraum ausweist. Sie kann vielmehr erst

43)

44) 45) 46)

47)

48)

BGH, Urt. v. 13.7.1992 – II ZR 269/91, BGHZ 119, 201 = ZIP 1992, 1382; IDW, Beurteilung des Vorliegens von Insolvenzeröffnungsgründen (IDW S 11), Rz. 60, Stand: 22.8.2016, IDW Life 3/2017, 332 ff.; Groß/Amen, Going-Concern-Prognosen im Insolvenz- und im Bilanzrecht, DB 2005, 1861, 1962; Drukarczyk/Schüler in: MünchKommInsO, 4. Aufl. 2019, § 19 Rz. 56. Hirte/Knof/Mock, Überschuldung und Finanzmarktstabilisierungsgesetz, ZInsO 2008, 1217, 1222. Groß/Amen, DB 2005, 1861, 1864; Otto, Änderung des insolvenzrechtlichen Überschuldungsbegriffs durch das Finanzmarktstabilisierungsgesetz, MDR 2008, 1369, 1370 ff. Vgl. nur IDW, Beurteilung des Vorliegens von Insolvenzeröffnungsgründen (IDW S 11), Rz. 61, Stand: 22.8.2016, IDW Life 3/2017, 332 ff.; Drukarczyk/Schüler in: MünchKomm-InsO, 4. Aufl. 2019, § 19 Rz. 59 m. w. N. Wenig hilfreich für den Ersteller einer Fortbestehensprognose ist auch die Diskussion darüber, ob – neben der reinen Liquiditätsbetrachtung – auch die Wiederherstellung der nachhaltigen Ertragskraft des Unternehmens zu berücksichtigen ist. Vgl. hierzu Drukarczyk/Schüler in: MünchKomm-InsO, 4. Aufl. 2019, § 19 Rz. 69 ff. m. w. N. Drukarczyk/Schüler in: MünchKomm-InsO, 4. Aufl. 2019, § 19 Rz. 74; Groß/Amen, Das Beweismaß der „überwiegenden Wahrscheinlichkeit“ im Rahmen der Glaubhaftmachung einer Fortbestehensprognose. Zugleich Replik auf Drukarczyk/Schüler, WPg 2003, 56, WPg 2003, 67 ff.; K. Schmidt in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 19 Rz. 48; Nonnenmacher, Sanierung, Insolvenz und Bilanz, in: FS Moxter, 1994, 1326, 1327; Mock in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 19 Rz. 228; a. A. Bitter in: Scholz, GmbHG, 11. Aufl. 2015, Vor § 64 Rz. 39.

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durch Maßnahmen der Innen- und/oder Außenfinanzierung geschaffen werden: Maßnahmen der Innenfinanzierung umfassen etwa die Reduzierung von Investitionen, den Abbau von Vorräten, den intensivierten Einzug von Forderungen durch entsprechendes Management oder den Verkauf von nicht betriebsnotwendigen Vermögensgegenständen.49) Die Wahrscheinlichkeit der Realisierbarkeit derartiger Maßnahmen kann üblicherweise zuverlässig eingeschätzt werden. Das gilt nicht in gleichem Maße für Maßnahmen der Außenfinanzierung. Diese können von Gesellschaftern kommen und umfassen etwa neue Gesellschafterdarlehen oder Verzichte auf bestehende Rückzahlungsforderungen, Patronatserklärungen, Rangrücktritte sowie Kapitalerhöhungen oder -herabsetzungen.50) Wenn Gesellschafter nicht zu eigenen Leistungen in der Lage oder bereit sind, bedarf es der Unterstützung durch Dritte. Insoweit kommen in Betracht das Stillhalten, die Stundung, der Rangrücktritt oder die Umwandlung (in Hybrid- oder Eigenkapital) von bestehenden Krediten,51) aber auch neue Kredite in der Form von Überbrückungs- oder Sanierungskrediten. Denkbar sind aber auch Staatshilfen zur finanziellen Restrukturierung.52) Während der Phase der Verhandlungen über die in Aussicht genommene Restrukturierung stellt sich für die Geschäftsleitung in der Praxis regelmäßig die Frage, ob und in welchem Umfang die benötigten Maßnahmen i. R. der Fortbestehensprognose berücksichtigt werden können. Bei dieser Beurteilung hilft insbesondere auch der IDW-Standard zur Beurteilung des Vorliegens von Insolvenzgründen (IDW S 11) nicht. Die Unsicherheit beginnt mit der Frage, wie verbindlich Zusagen der entsprechenden Partei sein müssen. Zuweilen werden in Rechtsprechung und Literatur sehr hohe Anforderungen an die Berücksichtigungsfähigkeit von Sanierungsbeiträgen gestellt, bis hin zu einer rechtsverbindlichen Finanzierungs-

49) 50) 51) 52)

Siehe dazu auch Aleth/Harlfinger, Die Fortführungsprognose i. S. von § 19 Abs. 2 InsO – eine Handlungsanweisung für Geschäftsführer, NZI 2011, 166, 169. Siehe für einen Überblick Arnold/Spahlinger/Maske-Reiche in: Theiselmann, Praxishdb. des Restrukturierungsrechts, 3. Aufl. 2017, Kap. 1 Rz. 7 ff. m. w. N. Siehe für einen Überblick Diem/Grell/Schornmair in: Theiselmann, Praxishdb. des Restrukturierungsrechts, 3. Aufl. 2017, Kap. 11. Siehe für einen Überblick Theiselmann-Arhold/Struckmann, Praxishdb. des Restrukturierungsrechts, 3. Aufl. 2017, Kap. 12.

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zusage bei unmittelbar drohender Zahlungsunfähigkeit.53) Diese Sichtweise ist indes problematisch, da Restrukturierungsverhandlungen typischerweise über einen längeren Zeitraum geführt werden und der Ausgang erst am Ende dieser Verhandlungen feststeht. Es liegt daher in der Natur der Sache, dass der überwiegende Teil der benötigten Zusagen, häufig gar alle, über einen längeren Zeitraum nicht in verbindlicher Form vorliegen.54) Dies gilt schon deshalb, weil eine verbindliche Einigung auf die erforderlichen Sanierungsbeiträge aus rechtlichen Gründen nur auf der Grundlage eines tragfähigen, in der Regel von einem unabhängigen Experten erstellten Sanierungskonzepts erfolgen kann,55) das üblicherweise erst während der Restrukturierungsbemühungen erstellt wird. Hinzu kommt, dass die Beteiligten die eigene Zusage von der Zusage anderer Beteiligter abhängig machen werden, so dass Verlässlichkeit erst in einer späten Phase erzielt werden kann. Es kann daher häufig zunächst nur schwer vorhergesagt werden, ob alle für die Finanzierung des Sanierungsprozesses notwendigen Parteien die Sanierung unterstützen werden. Richtigerweise ist daher erforderlich, aber auch ausreichend, dass die verantwortlichen Organe davon ausgehen dürfen (und vor allem nachträglich darlegen können), dass die Gewährung der benötigten Sanierungshilfen überwiegend wahrscheinlich ist.56) Es ist mithin durchgängig derselbe Maßstab anzulegen. Dies ergibt sich nicht nur aus Wortlaut und Entstehungsgeschichte der Vorschrift des § 19 Abs. 2 Satz 1 InsO und der Entwicklung des Rechtsbegriffs der Fortbestehensprognose durch die höchst-

53)

54) 55) 56)

Siehe für einen Überblick Aleth/Harlfinger, NZI 2011, 166, 170 f., und G. Fischer, Fortbestehensprognose und Sanierung (Gerhard Vill zum 65. Geburtstag gewidmet), NZI 2016, 665, 671 ff., jeweils m. w. N. Besonders hohe Anforderungen werden von den Frankfurter Gerichten gestellt: LG Frankfurt/M., Urt. v. 21.4.2015 – 2-19 O 37/14, ZIP 2015, 2035 = NZI 2015, 1022, m. Anm. Riewe, bestätigt durch OLG Frankfurt/M., Urt. v. 19.10.2016 – 19 U 102/15, ZIP 2017, 187 = NZI 2017, 265. Beide Urteile sind in Prozessen über die Anfechtung von Beraterhonoraren im Zusammenhang mit der Insolvenz des Solarunternehmens Q-Cells ergangen. Demgegenüber werden die beiden Entscheidungen des OLG Köln (OLG Köln, Urt. v. 5.2.2009 – 18 U 171/07, ZIP 2009, 808, 809 f. = ZInsO 2009, 1402) und OLG Schleswig (OLG Schleswig, Urt. v. 11.2.2010 – 5 U 60/09, NZI 2010, 492, 493, m. Anm. Krüger) häufig zu Unrecht für eine zu restriktive Sicht herangezogen. Siehe dazu auch G. Fischer, NZI 2016, 665, 672. Zu den höchstrichterlichen Anforderungen an Sanierungskonzepte vgl. BGH, Urt. v. 12.5.2016 – IX ZR 65/14, ZIP 2016, 1235 = NZI 2016, 636, m. Anm. Lenger, m. w. N. So auch Aleth/Harlfinger, NZI 2011, 166, 170 f., und G. Fischer, NZI 2016, 665, 672 f.

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richterliche Rechtsprechung unter der Geltung der KO sondern auch aus der Rechtsnatur der geforderten Prognoseentscheidung.57) Der Nachweis der überwiegenden Wahrscheinlichkeit kann vor allem durch entsprechende Äußerungen der Beteiligten erbracht werden; er kann sich aber auch aus den Umständen des jeweiligen Falles ergeben. Hierzu zählt insbesondere die Darlegung, dass die Sanierung für die Beteiligten vorteilhaft war. Dafür wiederum bedarf es einer Analyse der Handlungsoptionen der Beteiligten.58) Dabei sind vor allem die außergerichtliche Sanierung auf der einen Seite und ein Insolvenzverfahren auf der anderen Seite miteinander zu vergleichen, ggf. aber auch noch weitere Optionen (z. B. ein Unternehmensverkauf oder eine solvente Liquidation).59) Wie schwierig diese Beurteilung in der Praxis sein kann, zeigt der Fall des Solarunternehmens Q-Cells, dessen Vorstände im Jahre 2012 Insolvenz beantragten, sehr anschaulich. So stellten sich die insoweit zuständigen Frankfurter Gerichte i. R. von Prozessen über die Anfechtung von Beraterhonoraren durchgehend auf den Standpunkt, dass das Sanierungskonzept bereits erkennbar früher gescheitert war und gaben daher den jeweiligen Klagen des Insolvenzverwalters statt.60) Demgegenüber hat das LG Dessau in dem Prozess über eine mögliche Insolvenzverschleppungshaftung der Vorstände des Unternehmens die Klage des Insolvenzverwalters abgewiesen, weil es nach Überzeugung der Kammer feststehe, dass für die

57) 58)

59)

60)

So auch G. Fischer, NZI 2016, 665, 672. Siehe dazu insbesondere Andersch/Philipp, Damoklesschwert Insolvenzverschleppung – Nachweis der positiven Fortbestehensprognose noch vor Finalisierung des Sanierungskonzepts, NZI 2017, 782 ff. Siehe zu den Anforderungen an derartige Optionsanalysen Andersch/Philipp, NZI 2017, 782 783 ff. Dabei sind insbesondere die Grundsätze der Vergleichbarkeit, der richtigen Perspektive, der Beschränkung auf Wesentlichkeit und der nachvollziehbaren Dokumentation zu berücksichtigen. In diesem Zusammenhang spielen insbesondere bestellte Sicherheiten, insolvenzspezifische Sondereffekte, Anfechtungsrechte bzw. -risiken und der Abfindungsfaktor eine Rolle. Vgl. LG Frankfurt/M., Urt. v. 21.4.2015 – 2-19 O 37/14, ZIP 2015, 2035 = NZI 2015, 1022, m. Anm. Riewe; OLG Frankfurt/M., Urt. v. 19.10.2016 – 19 U 102/15, ZIP 2017, 187 = NZI 2017, 265. Die Begründung der Frankfurter Gerichte wiesen allerdings durchgehend erhebliche Schwächen auf. Diese Schwächen gipfeln in der irrigen Annahme, die Aktionäre hätten einer Verwässerung ihrer Anteile auf 5 % schon deshalb nicht zugestimmt, weil die voraussichtliche Insolvenzquote 20 % betragen habe. Das OLG Frankfurt erkennt mithin nicht, dass die Insolvenzquote lediglich für Gesellschaftsgläubiger, nicht aber für Aktionäre gilt. Andersch/Philipp, NZI 2017, 782, 784, Fn. 4, zeigen sich zu Recht erstaunt über dieses fehlende Verständnis insolvenzrechtlicher Grundlagen.

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Gesellschaft bis zur Insolvenzantragsstellung eine positive Fortbestehensprognose bestanden habe und die Vorstände den Insolvenzantrag nicht verspätet gestellt hätten.61) Dabei hat sich das Gericht in seinem Urteil nach eingehender Beweisaufnahme ausführlich mit den Handlungsoptionen jener Parteien auseinander gesetzt, von denen Sanierungsbeiträge notwendig waren. Die Entscheidung wurde sodann vom OLG Naumburg bestätigt.62) Diese Rechtsprechung illustriert die große Unsicherheit bis hin zur fehlenden Justiziabilität einer Prüfung der Fortbestehensprognose. In der Praxis versuchen Organberater zwar, ihren Mandanten mit praktischen Empfehlungen ein größtmögliches Maß an Sicherheit zu geben. Dazu gehört etwa die Empfehlung, Unternehmenskonzept, Finanzplan und Fortbestehensprognose von fachkundigen Externen prüfen und bestätigen zu lassen sowie insbesondere ein Gutachten zur Liquiditätsplanung einzuholen.63) Auch wird empfohlen, den Verlauf und insbesondere den Fortschritt der Restrukturierungsverhandlungen geordnet zu dokumentieren.64) Dabei empfiehlt es sich, zu gegebener Zeit einen Fahrplan für den Verlauf der Restrukturierungsverhandlungen festzulegen und dabei Etappenziele (sog. Milestones) zu formulieren, die sukzessive erreicht werden sollten.65) Allerdings sollte bei Nichterreichen eines Etappenziels stets überprüft werden, woran die Nichterreichung gelegen hat und ob die Sanierung immer noch gelingen kann. All diese Bemühungen bieten indes keine Gewähr dafür, dass nicht Insolvenzverwalter im Nachhinein versuchen, mit der Geltendmachung von Insolvenzverschleppungshaftungsansprüchen die Masse zulasten der Organe bzw. – hierauf wird noch zurückzukommen sein – des D&O-Versicherers zu mehren. Neben der Prognose(un)sicherheit gibt es noch weitere Problemfelder im Zusammenhang mit der Fortbestehensprognose,66) von denen hier nur noch der Horizont und das Objekt der Prognose herausgegriffen werden sollen: Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass sich die Prognose nach

61) 62) 63) 64) 65) 66)

LG Dessau-Roßlau, Urt. v. 15.12.2017 – 4 O 287/15. OLG Naumburg, Urt. v. 30.5.2018 – 5 U 8/18. Aleth/Harlfinger, NZI 2011, 166, 172. Aleth/Harlfinger, NZI 2011, 166, 172; Otto, MDR 2008, 1369, 1371. G. Fischer, NZI 2016, 665, 673. So sehen Möhlmann-Mahlau/Schmitt, NZI 2009, 19, 21, darin ein Problem, dass ein eindeutiger Zeitpunkt, zu dem eine Überschuldungsprüfung durchzuführen ist, nicht existiert.

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h. M. maximal auf das laufende und das folgende Geschäftsjahr erstrecken soll. In bestimmten Konstellationen wird dieser Horizont indes der Zielsetzung der Fortbestehensprognose nicht gerecht. So kann es etwa bei Unternehmen mit sehr hohen Pensionslasten der Fall sein, dass während des Betrachtungszeitraumes eine Durchfinanzierung gegeben ist, die Pensionslasten jedoch in den nachfolgenden Jahren erkennbar nicht mehr aus den Unternehmenserträgen finanziert werden können. Entsprechende Prognoseunsicherheiten (bzw. Sicherheit der negativen langfristigen Prognose) können bei Unternehmen mit langen Produktionszyklen oder Infrastrukturunternehmen bestehen. Auch in Branchen, die von disruptiven Entwicklungen betroffen sein werden, wird es eine Vielzahl von derartigen Konstellationen geben. In diesem Zusammenhang sei nur auf Unternehmen aus der Automobilzuliefererbranche verwiesen, deren Produkte wegen des Wegfalls des Verbrennungsmotors nicht mehr benötigt werden. Ein anderes Problemfeld bezieht sich auf das Prognoseobjekt. Während anerkanntermaßen das Objekt der Prüfung von Insolvenzgründen und damit der Fortbestehensprognose der jeweilige Rechtsträger ist, erfordert die Einbindung des Rechtsträgers in einen Konzern eine modifizierte Betrachtungsweise. Letztlich kann die Fortbestehensprognose der Einzelgesellschaft nur unter Beurteilung des Gesamtkonzerns ermittelt werden. In diesem Zusammenhang stellen sich Fragen wie die Fähigkeit und Bereitschaft zum Liquiditätstransfer zwischen den einzelnen Konzerngesellschaften sowie – davon abhängig – die Durchfinanzierung des Konzerns insgesamt. 3. Unangemessene Sanktionen Die zumindest eingeschränkte Justiziabilität des Überschuldungsbegriffes wiegt umso schwerer, als mit einer Insolvenzverschleppung bekanntermaßen gravierende Konsequenzen für die betroffenen Organe einhergehen können. Es drohen sowohl straf- als auch zivilrechtliche Sanktionen. a) Strafbare Insolvenzverschleppung Gemäß § 15a Abs. 1 InsO sind die Organe von juristischen Personen und Gesellschaften ohne Rechtspersönlichkeit verpflichtet, ohne schuldhaftes Zögern, spätestens aber drei Wochen nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung Insolvenzantrag zu stellen. Wer den Antrag nicht,

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nicht richtig oder nicht rechtzeitig stellt, obwohl er oder sie hierzu verpflichtet ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Ungeachtet des Umstandes, dass diese Tatbestandsbeschreibung nicht vollends gelungen ist, droht hier eine schwerwiegende Sanktion. b) Zivilrechtliche Haftung wegen Insolvenzverschleppung Den vom Vorwurf einer Insolvenzverschleppung betroffenen Organen drohen indes nicht nur strafrechtliche Sanktionen. Mindestens ebenso empfindlich kann eine zivilrechtliche Haftung sein. Sie ist auch als der „Schrecken“ von Vorständen und Geschäftsführern potentiell insolventer Gesellschaften bezeichnet worden.67) Schon seit geraumer Zeit ist ein klarer Trend dahingehend zu verzeichnen, dass diese Haftung in der Praxis erheblich an Bedeutung gewinnt. Beispielhaft sei an dieser Stelle erneut die Insolvenz des Solarunternehmens Q-Cells genannt, das im Jahre 2012 für verschiedene Gesellschaften des Konzerns Insolvenzantrag stellte und deren Vorstände später vom Insolvenzverwalter wegen Insolvenzverschleppung i. H. von etwas weniger als 200 Mio. € in Anspruch genommen wurden. Zwar ist die Klage des Insolvenzverwalters wie erwähnt in erster und zweiter Instanz68) abgewiesen worden. Die Aktivitäten des Insolvenzverwalters in diesem Fall, zu dem auch diverse – demgegenüber erfolgreiche – Anfechtungsklagen gegenüber Beratern und sonstigen Vertragspartnern gehören,69) haben indes für erhebliche Unruhe und auch Verunsicherung gesorgt. Daneben gibt es diverse weitere Insolvenzen, in denen teilweise noch erheblich darüber hinausgehende Haftungsansprüche in den Raum gestellt oder geltend gemacht sind.70) Man kann sich des Eindruckes nicht erwehren, dass sich die Insolvenzverwalter in einer Aufwärtsspirale dahingehend befinden, dass mit jedem neuen Fall, der bekannt wird, der Druck auf die Geltendmachung derartiger Ansprüche immer höher wird. Aller-

67) 68) 69)

70)

K. Schmidt, Ersatzpflicht bei „verbotenen Zahlungen“ aus insolventen Gesellschaften: Ist der haftungsrechtliche Kampfhund zähmbar?, NZG 2015, 129, 130. LG Dessau/Roslau, Urt. v. 15.12.2017 – 4 O 287/15; OLG Naumburg, Urt. v. 30.5.2018 – 5 U 8/2018. LG Frankfurt/M., Urt. v. 21.4.2015 – 2-19 O 37/14, ZIP 2015, 2035 = NZI 2015, 1022, m. Anm. Riewe; bestätigt durch OLG Frankfurt/M., Urt. v. 19.10.2016 – 19 U 102/15, ZIP 2017, 187 = NZI 2017, 265. Beispielhaft sei an dieser Stelle auf die Insolvenz des Küchenherstellers ALNO sowie des Containervertriebs P&R verwiesen, wo es dem Vernehmen nach um Haftungsansprüche von über 1 Mrd. € geht.

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dings geben sich einige Insolvenzverwalter diesem Druck nur allzu gerne hin, um Haftungsmasse für die eigene Vergütung zu generieren.71) Zuweilen sind es aber auch aktivistische Gläubigerausschüsse, die auf die Geltendmachung von Insolvenzverschleppungsansprüchen drängen. Zwar spielt die Überschuldung bei der Insolvenzverschleppung entsprechend dem bereits erwähnten empirischen Befund nur eine untergeordnete Rolle; vielmehr steht die Zahlungsunfähigkeit als Auslöser für den Vorwurf der Insolvenzverschleppung im Vordergrund. Allerdings zeigt gerade der bereits erwähnte Fall Q-Cells, dass ausnahmsweise auch eine Überschuldung relevant sein und erhebliche Konsequenzen haben kann. Nun werden die in Anspruch genommenen Organe in aller Regel nicht einmal ansatzweise in der Lage sein, die vom Insolvenzverwalter aufgerufenen Summen bezahlen zu können. Tatsächlich zielen die diesbezüglichen Aktivitäten denn auch primär auf die Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung (sog. D&O-Versicherung). Diese Versicherung soll die Organe bei fahrlässigen – nicht wissentlich oder grob fahrlässigen – Pflichtverletzungen schützen, die zu einem Vermögensschaden führen. Versicherungsnehmerin ist die jeweilige Gesellschaft, versicherte Person das Organ. Zuletzt haben aber zwei Obergerichte entschieden, dass die Haftung wegen Insolvenzverschleppung durch eine D&O-Versicherung nicht gedeckt sein soll.72) Als Grund hierfür wird angegeben, dass die typischerweise vom Insolvenzverwalter geltend gemachte Haftung keine solche wegen Schadensersatz sei. Das ist erklärungsbedürftig: Gemäß § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 15a InsO müssen insolvenzverschleppende Organe den Gläubigern den ihnen durch die verspätete Antragsstellung entstandenen Schaden ersetzen. Zu erstatten ist die Differenz zwischen jener Insolvenzquote, die die Gläubiger bei rechtzeitiger Antragsstellung erhalten hätten, und jener, die sie letztlich erhalten haben.73) Allerdings bringt dieser Anspruch für Insolvenzverwalter zwei Probleme mit sich und spielt daher in der gegenwärtigen Insolvenzpraxis kaum eine Rolle. Zum einen kann der Schaden nur nach § 287 ZPO geschätzt wer-

71)

72) 73)

Der Vorwurf, dass damit zugleich eine lukrative Beschäftigung der kanzleieigenen Prozessanwälte einhergeht, läuft indes zumeist ins Leere, da Insolvenzverwalter für derartige Prozesse üblicherweise externe Anwälte beauftragen. OLG Celle, Beschl. v. 1.4.2016 – 8 W 20/16, BeckRs 2016, 125428; OLG Düsseldorf, Urt. v. 26.9.2018 – VIII ZR 187/17, ZIP, 2018, 1542 = NZG 2018, 1310. Eingehend K. Schmidt in: Scholz, GmbHG, 12. Aufl. 2018, § 64 Rz. 191 ff. m. w. N.

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den.74) Zum anderen hat der Bundesgerichtshof im Jahre 1998 entschieden, dass ein Insolvenzverwalter den akkumulierten Quotenschaden nur für die sog. Altgläubiger, mithin jene Gläubiger, die bereits vor Eintritt des Insolvenzgrundes begründete Forderungen hatten, nach § 92 InsO einklagen kann.75) Unter diesen Bedingungen sind Geltendmachung und Schadensabwicklung für den Insolvenzverwalter derart unattraktiv, dass sie derzeit kaum praktiziert werden. Tatsächlich ist – wie an anderer Stelle formuliert wurde – § 92 InsO in seinem wichtigsten Anwendungsbereich „totes Recht“.76) Dazu ist es allerdings nur deshalb gekommen, weil mit der Haftung auf Erstattung verbotener Zahlungen gemäß § 92 Abs. 2 AktG, § 64 Satz 1 GmbHG, § 130a Abs. 1 Satz 1 HGB, § 99 Satz 1 GenG ein Haftungskonzept zur Verfügung steht, welches wesentlich einfacher zu handhaben ist und daher die Haftung wegen Insolvenzverschleppung in der Praxis abgelöst hat. Warum ist die Haftung auf Erstattung verbotener Zahlungen derart attraktiv für Insolvenzverwalter? Entscheidend ist, dass diese Haftung vom Nachweis eines den Gläubigern bzw. der Masse entstandenen Schadens unabhängig ist; es reicht vielmehr der Nachweis eines dem Vorstand oder Geschäftsführer als von ihm veranlasst zuzurechnenden Masseabflusses.77) Zwar besteht stets die Möglichkeit der Exkulpation für Zahlungen, die „auch nach diesem Zeitpunkt mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes vereinbar sind“ (§ 92 Abs. 2 Satz 2 AktG, § 64 Satz 2 GmbHG, § 130a Abs. 1 Satz 2 HGB, § 99 Satz 2 GenG). Allerdings dürfte dieser Nachweis selbst bei großzügiger Auslegung für den Großteil der Zahlungen nicht zu führen sein. In der Praxis hat diese Konstellation zu den bereits erwähnten Insolvenzverwalterklagen mit in jeglicher Hinsicht unverhältnismäßigen Streitwerten geführt. Diese Handhabung der Haftung auf Erstattung verbotener Zahlungen nach den bereits mehrfach erwähnten Vorschriften ist sowohl dogmatisch als auch rechtspolitisch abzulehnen. Der Kardinalfehler liegt – worauf bereits an anderer Stelle hingewiesen worden ist78) – darin, dass der durch die Insolvenzverschleppung entstehende Schaden ausgeblendet und stattdessen auf einzelne 74) 75) 76) 77) 78)

Siehe dazu nur K. Schmidt in: Scholz, GmbHG, 12. Aufl. 2018, § 64 Rz. 199. BGH, Urt. v. 30.3.1998 – II ZR 146-96, BGHZ 138, 211 = NZG 1998, 424, m. Anm. Prinz zu Hohenlohe-Oehringen. K. Schmidt, NZG 2015, 129, 130. BGH, Urt. v. 8.1.2001 – II ZR 88/99, BGHZ 146, 246 = NZG 2001, 361. K. Schmidt, Insolvenzverschleppungsrisiken: kein Fall für die D&O-Versicherung?, ZHR 183 (2019), 2, 5 f. m. w. N.; insbesondere K. Schmidt, NZG 2015, 129.

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Zahlungen geblickt wird. Diese Sichtweise passt, wenn überhaupt, zu den gegen Leistungsempfängern gerichteten Anfechtungsregeln, nicht jedoch zur Haftung von Vorständen und Geschäftsführern für kollektive Gläubigerschädigung.79) Insoweit liegt eine offensichtlich fehlgeleitete Nutzung insbesondere der § 92 Abs. 2 AktG und § 64 Satz 1 GmbHG vor, die dringend korrigiert werden muss. Die Diskussion um den D&O-versicherungsrechtlichen Schutz mag insoweit hilfreich sein, weil, wenn der Bundesgerichtshof die erwähnte obergerichtliche Rechtsprechung bestätigt, es für Insolvenzverwalter erkennbar keinen Sinn mehr macht, unverhältnismäßige Summen einzuklagen.80) 4. Abgrenzungsschwierigkeiten Des Weiteren gibt es systematische Bedenken. Schon nach geltendem Recht existiert die Problematik, dass es eine große bzw. nahezu vollkommende Überschneidung von drohender Zahlungsunfähigkeit gemäß § 18 InsO einerseits und negativer Fortbestehensprognose gemäß § 19 Abs. 2 InsO andererseits gibt (dazu unter IV. 4. a)). Mit der (europäischen) Restrukturierungsrichtlinie käme außerdem noch die Abgrenzung zwischen dem Begriff der „wahrscheinlichen Insolvenz“ gemäß Art. 4 Abs. 1 der Restrukturierungsrichtlinie einerseits und der Überschuldung andererseits hinzu (dazu unter IV. 4. b)). a) Abgrenzung zur drohenden Zahlungsunfähigkeit Der Tatbestand der drohenden Zahlungsunfähigkeit als fakultativer Eröffnungsgrund ist mit Inkrafttreten der InsO neu eingeführt worden. Mit der Möglichkeit einer frühzeitigeren Antragsstellung sollten einerseits die Sanierungschancen für Unternehmen erhöht, andererseits die Insolvenzmasse gemehrt und die Befriedigungsaussichten der Gläubiger verbessert

79) 80)

K. Schmidt, ZHR 183 (2019), 2, 5 f. Die Diskussion wird denn auch in der Literatur entsprechend der jeweiligen Interessen geführt: Insbesondere Insolvenzverwalter und ihre Berater lehnen die Rechtsprechung des OLG Celle und OLG Düsseldorf ab (z. B. Bauer/Malitz, Ansprüche wegen verbotener Zahlungen in der D&O-Versicherung, ZIP 2018, 2149; Mielke/Urlaub, Salto Mortale Geschäftsführerhaftung: jetzt auch noch ohne Sicherungsnetz durch eine D&O-Versicherung?, BB 2018, 2634); zustimmend demgegenüber etwa Cyrus, Neue Entwicklungen in der D&O-Versicherung, NZG 2018, 7, 9; und Finkel/Seitz in: Finkel/ Seitz/Klimke, D&O-Versicherung, 2016, Ziff. 1 AVB-AVG Rz. 161.

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werden. Allerdings ist die praktische Bedeutung der drohenden Zahlungsunfähigkeit als Eröffnungsgrund bis heute gering geblieben. Nur äußerst selten wird von der Möglichkeit einer freiwilligen Antragstellung Gebrauch gemacht; geschieht es doch, dann oftmals nur, um eine bereits eingetretene Zahlungsunfähigkeit zu kaschieren.81) Die rechtspolitische Zielsetzung wurde daher bisher im Wesentlichen verfehlt; der Wandel hin zu einer stärkeren Sanierungskultur ist jedenfalls insoweit nicht gelungen. Der maßgebliche Grund für das Leerlaufen von § 18 InsO dürfte die fehlende Attraktivität des Insolvenzverfahrens für die Gesellschafter sein. Zum Einen verlieren sie trotz Eigenverwaltung gemäß § 276a InsO den Einfluss auf die Geschäftsführung der Schuldnerin, zum anderen droht wegen § 225a InsO der Verlust der Beteiligung.82) Es kommt aber wie bereits erwähnt noch hinzu – und dieser Aspekt ist für den vorliegenden Zusammenhang relevant –, dass nach ganz h. A. bei Vorliegen einer drohenden Zahlungsunfähigkeit auch die Fortbestehensprognose aus § 19 Abs. 2 InsO negativ ist und daher praktisch immer auch eine insolvenzrechtliche Überschuldung vorliegt. Es soll mithin auf der Tatbestandsseite eine nahezu vollkommene Überschneidung von drohender Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung vorliegen.83) Denn die i. R. der Überschuldungsprüfung anzustellende Fortbestehensprognose umfasse jedenfalls auch eine Liquiditätsprognose, die nach grundsätzlich denselben Maßstäben zu erfolgen habe wie die Prüfung der drohenden Zahlungsunfähigkeit.84) Es kämen daher jeweils die gleichen Instrumentarien zum Einsatz.85) Auch die erforderlichen Prognose- und Kalkülanforderungen seien grundsätzlich die gleichen.86)

81) 82) 83)

84)

85) 86)

K. Schmidt in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 18 Rz. 6. Vgl. dazu auch K. Schmidt, Schöne neue Sanierungswelt: Die Gläubiger okkupieren die Burg! Recht und Realität der ESUG-Reform, ZIP 2012, 2085, 2087. Drukarczyk in: MünchKomm-InsO, 4. Aufl. 2019, § 18 Rz. 89 m. w. N., sowie Drukarczyk/Schüler in: MünchKomm-InsO, 4. Aufl. 2019, § 19 Rz. 99 ff., 106 m. w. N.; ähnlich in dem Sinne, dass eine Abgrenzung kaum möglich ist: Beck/Brucklacher in: FS Wellensiek, 2011, S. 5, 9; Mock in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 19 Rz. 28; Vallender, WPg 2011, S. 31, 33. Eidenmüller, Finanzkrise, Wirtschaftskrise und das deutsche Insolvenzrecht, 2009, S. 15; Jacoby, Vorinsolvenzliches Sanierungsverfahren, ZGR 2010, 359, 367; H.-F. Müller, Sanierung nach der geplanten EU-Restrukturierungs-Richtlinie. Eine Analyse aus gesellschaftsrechtlicher Perspektive, ZGR 2018, 56, 62. Drukarczyk in: MünchKomm-InsO, 4. Aufl. 2019, § 18 Rz. 81. Drukarczyk in: MünchKomm-InsO, 4. Aufl. 2019, § 18 Rz. 81.

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In technischer Hinsicht besteht zwar insoweit ein Unterschied, als für die Prüfung i. R. von § 18 InsO auf der Passivseite nur auf die bestehenden Verbindlichkeiten abzustellen ist, also nur solche, die zum Stichtag jedenfalls dem Grunde nach schon bestehen. Demgegenüber sind bei der Prüfung i. R. von § 19 InsO von vornherein auch künftige Verbindlichkeiten zu berücksichtigen. Allerdings müssen i. R. von § 18 InsO bei der Prüfung, ob jene schon begründeten Verbindlichkeiten in der Zukunft erfüllt werden können, selbstverständlich auch die weiteren in der Zukunft zu begründenden Verbindlichkeiten berücksichtigt werden, weil auch für ihre Bedienung Liquidität benötigt wird. Im Ergebnis besteht also auch insoweit kein Unterschied zwischen den beiden Tatbeständen. Die beiden Antragsgründe gehen nach ganz h. A. nur dann nicht Hand in Hand, wenn entweder für die drohende Zahlungsunfähigkeit ausnahmsweise ein längerer Prognosezeitraum zugrunde zu legen ist oder wenn das Unternehmen trotz Ansatz von Zerschlagungswerten rechnerisch nicht überschuldet ist.87) Beide Fälle sind denkbar, bilden praktisch aber absolute Ausnahmefälle. Wenn bisher von der h. M. die Rede war, so ist das jedenfalls insoweit untertrieben, als das Meinungsbild in der Literatur betroffen ist. Dort wird vielmehr einhellig die weitgehende Überschneidung von negativer Fortbestehensprognose und drohender Zahlungsunfähigkeit gesehen und häufig nicht einmal problematisiert.88) Allerdings wird in Diskussionen über die Zukunft des Überschuldungsbegriffs von Praktikerseite – wenn auch vereinzelt – behauptet, die Überlappung sei weniger stark als zuvor dargestellt. In diesem Zusammenhang wird vor allem die Zielsetzung der beiden Prognosen bemüht. Denn während die Überschuldungsprüfung und damit auch die Fortbestehensprognose i. R. von § 19 InsO die Frage beantworten soll, ab welchem Zeitpunkt die Organe einer Schuldnerin ein Insolvenzverfahren beginnen müssen, um die bestmögliche und gemein87) 88)

Drukarczyk in: MünchKomm-InsO, 4. Aufl. 2019, § 18 Rz. 89. Problembewusste Kommentierungen finden sich insbesondere bei Drukarczyk/Schüler in: MünchKomm-InsO, 4. Aufl. 2019, § 19 Rz. 99 ff., und Mock in: Uhlenbruck, InsO, 15. Aufl. 2019, § 18 Rz. 13, § 19 Rz. 28; bei Schmerbach in: FK-InsO, 9. Aufl. 2018, § 18 Rz. 7, wird die Überschneidung zwar thematisiert, aber für „akzeptabel und sinnvoll“ gehalten; bei Bußhardt in: Braun, InsO, 7. Aufl. 2017, § 19 Rz. 23, wird das Verhältnis ebenfalls kurz thematisiert, aber nicht als problematisch angesehen; schließlich enthalten beispielsweise die Kommentierungen der §§ 18 und 19 bei Rüntz/Laroche in: HK-InsO, 9. Aufl. 2018, und Kuleisa in: Schmidt, Sanierungsrecht, 2016, keinen Hinweis auf das Verhältnis der beiden Prognosen.

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schaftliche Befriedigung der Gläubiger zu ermöglichen, geht es bei § 18 InsO um den Anreiz zur frühzeitigen Stellung eines Insolvenzantrags, mithin um die Frage, ab welchen Zeitpunkt die Organe einer Schuldnerin ein Insolvenzverfahren beginnen können. Wenn es also darum geht, die Insolvenz zu vermeiden, kann man ein überwiegend wahrscheinliches Restrukturierungsvorhaben berücksichtigen und so zu einer positiven Fortbestehensprognose gelangen. Soll demgegenüber freiwillig ein Insolvenzverfahren eingeleitet und daher der außergerichtliche Restrukturierungsversuch unterlassen werden, so die Argumentation, müsse man das nicht beabsichtigte außergerichtliche Restrukturierungsvorhaben von vorneherein nicht berücksichtigen und könne daher aufgrund der Faktenlage eine drohende Zahlungsunfähigkeit annehmen.89) Dies kann an einem einfachen Beispiel erläutert werden: Eine Gesellschaft hat sich u. a. durch eine Anleihe finanziert, die in einem Jahr fällig wird, wobei ausweislich der Liquiditätsplanung der Gesellschaft eine Erfüllung der Anleiheverpflichtung ebenso ausscheidet wie eine Refinanzierung. Besteht nun eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, dass eine außergerichtliche Restrukturierung der Anleihe gelingen kann, dürften die Organe der Emittentin von einer positiven Fortbestehensprognose ausgehen. Halten die Organe hingegen eine Sanierung in der Insolvenz für vorzugswürdig und wollen die Anleiherestrukturierung daher gar nicht in Angriff nehmen, bestünde aus ihrer Sicht eine drohende Zahlungsunfähigkeit. An diesem Punkt stellt sich die Frage, ob es zumindest in rechtspolitischer Hinsicht gerechtfertigt sein könnte, insoweit von einem unterschiedlichen Prognosemaßstab auszugehen, als zukünftige, außergewöhnliche Maßnahmen, die sich auf die Liquiditätslage auswirken könnten bzw. würden (z. B. Verhandlungen über die Verschiebung einer Fälligkeit oder die Reduzierung von Verbindlichkeiten) zwar nicht i. R. der Prüfung von § 18 InsO berücksichtigt werden müssen, indes i. R. der Prüfung von § 19 InsO berücksichtigt werden können. Die Antwort auf diese Frage hat auch mit der praktischen Nutzung des Insolvenzverfahrens als Sanierungsinstrument zu tun. So weist Karsten Schmidt zu Recht darauf hin, dass es einen Unterschied macht, ob es vordringlich darum gehen muss, 89)

In dieselbe Richtung geht der Hinweis von Drukarczyk/Schüler (in: MünchKommInsO, 4. Aufl. 2019, § 19 Rz. 102), wonach die Liquidität erhöhende, aber das Vermögen reduzierende Maßnahmen zwar in einer Prognoserechnung i. R. von § 18 InsO nicht zu erwarten seien, in der derjenigen nach § 19 InsO hingegen schon.

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eine missbräuchliche Flucht des Schuldners in die (strategische) Insolvenz zu verhindern oder einen Anreiz zur Ingangsetzung eines Verwertungsoder Sanierungsverfahrens vor dem endgültigen Eintritt der Zahlungsunfähigkeit zu setzen.90) Das ist jedoch eine primär rechtspolitische Frage. Für die Zwecke der Diskussion über die Zukunft des Überschuldungsbegriffes kann es einstweilen aber bei der Feststellung verbleiben, dass nach ganz h. M. die negative Fortbestehensprognose i. S. von § 19 Abs. 2 InsO und die drohende Zahlungsunfähigkeit i. S. von § 18 InsO so weitgehend kongruent sind, dass es eines gesetzgeberischen Eingriffes bedarf. b) Abgrenzung zur „Wahrscheinlichkeit einer Insolvenz“ i. R. der Restrukturierungsrichtlinie Eine weitere Dimension erhält die Diskussion über die Zukunft des Überschuldungsbegriffs durch die Restrukturierungsrichtlinie. Nach dessen Art. 4 Abs. 1 sollen die Mitgliedsstaaten dafür Sorge tragen, dass der Restrukturierungsrahmen Schuldnern zur Verfügung steht, wenn die „Wahrscheinlichkeit einer Insolvenz“ (likelihood of insolvency) vorliegt. In ErwG 17 der Restrukturierungsrichtlinie heißt es ergänzend, dass der Restrukturierungsrahmen zur Verfügung stehen soll „bevor ein Schuldner nach nationalem Recht insolvent wird“. Das noch im ursprünglichen Richtlinienentwurf enthaltene Kriterium, wonach sich der Schuldner in „finanziellen Schwierigkeiten“ befinden müsse, wurde gestrichen. Da der Begriff der „Wahrscheinlichkeit einer Insolvenz“ in der Restrukturierungsrichtlinie nicht definiert ist, muss er von den Mitgliedstaaten i. R. der Umsetzung der Richtlinie ausgelegt und spezifiziert werden. In Deutschland ist bereits seit Vorliegen des ersten Richtlinienentwurfs intensiv über die Eintrittsschwelle – zunächst noch über den Begriff der „drohenden Insolvenz“ – diskutiert worden,91) denn sie hat für die Umsetzung der Restrukturierungsrichtlinie im nationalen Recht durchaus grundlegende Bedeutung. Das gilt zunächst für die Positionierung des Verfahrens insgesamt. Bekanntlich lässt auch der nunmehr vorliegende finale Text der Restrukturierungsrichtlinie dem nationalen Gesetzgeber eine große Bandbreite an Ausgestaltungen: So könnte das Verfahren einerseits als ein der materiel90) 91)

K. Schmidt in: K. Schmidt, InsO, 19. Aufl. 2016, § 18 Rz. 7. Vgl. für einen Überblick Goetker in: Flöther, Sanierungsrecht, 2019, Kap. E Rz. 53 ff. m. w. N.

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len Insolvenz weit vorgelagertes und strikt von ihr getrenntes Maßnahmenbündel konzipiert werden. Ein solches Instrumentarium würde auf die Einsetzung einer Aufsichtsperson verzichten und i. R. eines Moratoriums nur sehr eingeschränkt die Suspendierung von Rechten auf nur bestimmte, vor allem plangebundener Gläubiger erlauben. Außerdem würden sich die Wirkungen des Restrukturierungsplans nur auf bestimmte Gläubiger(-Gruppen) erstrecken und die Anteilseigner ausgenommen sein. Schließlich würden die Regelungen auf eine finanzielle Restrukturierung beschränkt sein. Dieser Ansatz ist auch als Vertragshilfe bezeichnet worden.92) Andererseits könnte die Richtlinie so umgesetzt werden, dass ein Verfahren im eigentlichen Sinne geschaffen wird, das zwingend die Einsetzung einer Aufsichtsperson vorsieht und ein sowohl in zeitlicher und sachlicher als auch persönlicher Hinsicht sehr weitreichendes Moratorium erlaubt. Auch die Wirkungen des Restrukturierungsplans wären umfassender, indem nicht nur alle Gläubiger erfasst wären, sondern auch die Anteilseigner, und außerdem Eingriffsrechte für die Zwecke einer leistungswirtschaftlichen Sanierung vorgesehen wären. Insoweit könnte man auch von einem Insolvenzverfahren ohne Insolvenz reden. Sofern jedoch gleichzeitig Insolvenzantragspflichten suspendiert würden, müsste man eher von einem Vergleichsverfahren trotz Insolvenz reden.93) Je weiter die vom deutschen Gesetzgeber gewählte Definition der „Wahrscheinlichkeit einer Insolvenz“ von der materiellen Insolvenz entfernt ist, desto näher liegt das Vertragshilfemodell. Des Weiteren wird darüber diskutiert, ob es für die Bindung einer Minderheit an Entscheidungen der Mehrheit, mithin dem Eingriff in Gläubiger- und ggf. Anteilseignerrechte, einer Rechtfertigung bedarf und, wenn ja, worin diese bestehen könnte. Auch insoweit hat der Begriff der „Wahrscheinlichkeit einer Insolvenz“ zentrale Bedeutung. Die Bandbreite der Auffassungen zur Frage der Notwendigkeit einer Rechtfertigung reicht von der Messung am Maßstab der Art. 14 und Art. 2 Abs. 1 GG auf der einen Seite des Spektrums bis hin zur Ableitung einer Zwangsbindung aus

92)

93)

So mehrfach Madaus, zuletzt in „Die Vorgaben der EU-Richtlinie über präventive Restrukturierungsrahmen an den deutschen Gesetzgeber – Handlungsspielräume und -grenzen“, DB 2019, 592, 594 ff.; ebenso Westpfahl, Editorial M4, Neue EU-Richtlinie über präventive Restrukturierungsrahmen – Umsetzungsperspektiven. Gestaltungsmöglichkeiten des deutschen Gesetzgebers für die vorinsolvenzliche Sanierung, DB Beilage DB-aktuell 2019. Erneut Madaus, DB 2019, 592 ff.; Westpfahl, Editorial M4, DB Beilage DB-aktuell 2019.

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allgemeinen vertragsrechtlichen Wertungen auf der anderen.94) Mit dem Begriff der „Wahrscheinlichkeit einer Insolvenz“ eröffnet sich auch insoweit eine gewisse Bandbreite an Ausgestaltungen im nationalen Recht und es mangelt nicht an Vorschlägen.95) Diese reichen von dem Verzicht auf jegliche Eingriffsschwelle96) über das Vorliegen einer Strategiekrise97), einer Erfolgskrise98), einer Bestandsgefährdung i. S. des Bilanzrechts,99) über den Krisenbegriff i. S. des vormaligen Eigenkapitalrechts,100) den Krisenbegriff i. S. der Sanierungskreditrechtsprechung,101) den beihilferechtlichen Begriff des „Unternehmens in Schwierigkeiten“102) bis hin zur drohenden Zahlungsunfähigkeit gemäß § 18 InsO.103) In materieller Hinsicht sollte eine Orientierung an der grundlegenden Zielsetzung für die Retsrukturierungsrichtlinie erfolgen. Philipp, Andersch und Henn haben in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen,104) es müsse einerseits ein möglichst frühzeitiger Beginn der Sanierung ermöglicht,105)

94) Vgl. zur Diskussion Jacoby, ZGR 2010, 359, 379; Madaus, Leaving the Shadows of US Bankruptcy Law: A Proposal to Divide the Realms of Insolvency and Restructuring Law, Eur Bus Org Law Rev (2018) 19:615–647, dort unter 4. 2.; Thole, Der Richtlinienvorschlag zum präventiven Restrukturierungsrahmen, ZIP 2017, 101, 109 m. w. N. 95) Siehe einen Überblick der vertretenen Auffassungen bei Goetker in: Flöther, Sanierungsrecht, 2019, Kap. E Rz. 68 ff. 96) Sax/Ponseck/Swierczock, Ein vorinsolvenzliches Restrukturierungsverfahren für europäische Unternehmen, BB 2017, 323, 325. 97) Jacobi, Das präventive Restrukturierungsverfahren. Richtlinienvorschlag der EUKommission v. 22.11.2016 COM (2016) 723 final, ZInsO 2017, 1, 6. 98) Siehe dazu Frind/Pollmächer, Anmerkungen zu den „Thesen des Gravenbrucher Kreises zum vorinsolvenzlichen Sanierungsverfahren in Deutschland“. Think twice, before it’s all right, ZInsO 2016, 1790, 1292. 99) Müller, Sanierung nach der geplanten EU-Restrukturierungs-Richtlinie. Eine Analyse aus gesellschaftsrechtlicher Perspektive, ZGR 2018, 56, 63; Zipperer, Der präventive Restrukturierungsrahmen: ein flankierendes Projekt der Kommission zur Effektivierung der EuInsVO, ZInsO 2016, 831, 834 f. 100) Rauscher/Leichtle/Mucha/Schäffler/Wagner, Das vorinsolvenzliche Sanierungsverfahren. Eckpunkte für eine gesetzliche Regelung, ZInsO 2016, 2420, 2421. 101) Stohrer, Der Gläubigerschutz im präventiven Restrukturierungsrahmen, ZInsO 2018, 660, 662. 102) Hölzle, Präventiver Restrukturierungsrahmen. Beitrag zu einer Verbesserung der Restrukturierungskultur in Europa und ergänzende Sanierungsoption oder „Schlachtbank“ für die Motive des ESUG?, ZIP 2017, 1307, 1310. 103) Blankenburg, Umsetzungsbedarf aufgrund des Entwurfs zur Restrukturierungsrichtlinie, ZInsO 2017, 241, 242; Brömmekamp, Vorinsolvenzliches Sanierungsverfahren „ante portas“, ZInsO 2016, 500, 502 f.; Thole, ZIP 2017, 101, 103. 104) Phillipp/Andersch/Hemm, Geeignete Einstiegsvoraussetzungen aus Beratersicht, INDat Report 3/2019, S. 30 f. 105) ErwG 2 Restrukturierungsrichtlinie.

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1137

andererseits eine missbräuchliche Inanspruchnahme vermieden werden.106) Dem ist zuzustimmen. Die Erfolgsaussichten einer durchgreifenden Sanierung sind umso größer, desto früher mit der Einleitung der Sanierungsmaßnahmen begonnen wird. Gleichzeitig kann Missbrauch dann am besten vorgebeugt werden, wenn eine Krise vorliegt, die zwar noch nicht das Stadium der materiellen Insolvenz erreicht hat, aber zumindest schon am Horizont erkennbar ist. Außerdem sollte der Zeitpunkt durch verlässlich messbare Kriterien bestimmbar sein. Vor diesem Hintergrund müssen Anknüpfungspunkte wie eine Strategieoder Erfolgskrise von vornherein ausscheiden. Sie setzen zwar früh an, allerdings wohl zu früh und sind darüber hinaus nicht zuverlässig bestimmbar. Ersteres gilt erst Recht für den Verzicht auf jegliche Eingriffsschwelle. Auch wenn Schuldner grundsätzlich dazu angehalten werden sollten, den Sanierungsversuch so frühzeitig wie möglich zu beginnen, würden hier wenn schon nicht verfassungsrechtliche, dann doch zumindest rechtspolitische, -ökonomische und -ethische Bedenken entgegenstehen. Inhaltlich naheliegender sind da schon der Krisenbegriff i. S. des vormaligen Eigenkapitalersatzrechts bzw. der Sanierungskreditrechtsprechung oder der beihilferechtliche Begriff des „Unternehmens in Schwierigkeiten“. Allerdings fehlt ihnen jeweils die für eine derart grundlegende Weichenstellung notwendige Konturierung. Oft wird daher zu Recht auf den Begriff der drohenden Zahlungsunfähigkeit i. S. von § 18 InsO abgestellt.107) In diesem Zustand besteht eine hinreichende Nähe zur materiellen Insolvenz und außerdem liegen hierfür zuverlässig messbare Kriterien vor. Dem widerspricht auch nicht die an anderer Stelle geäußerte Kritik an der Fortbestehensprognose i. R. von § 19 InsO, da die Feststellung der drohenden Zahlungsunfähigkeit nur den Zweck verfolgen würde, die freiwillige Inanspruchnahme gesetzlicher Maßnahmen zu rechtfertigen (siehe dazu soeben unter IV. 4. a) am Ende). Wollte der Gesetzgeber aber am bisherigen Überschuldungstatbestand festhalten, entstünde ein ähnliches Spannungsfeld wie das zuvor beschriebene. Würden nämlich gesetzliche Eingriffe in Gläubiger- oder Anteilseignerpositionen vom Vorliegen einer drohenden Zahlungsfähigkeit abhängig gemacht, bestünde gleichzeitig (fast) immer auch eine Antragspflicht wegen Überschuldung. Dem präventiven Restrukturierungsrahmen 106) ErwG 17 Restrukturierungsrichtlinie. 107) Blankenburg, ZInsO 2017, 241, 242; Brömmekamp, ZInsO 2016, 500, 502 f.; Thole, ZIP 2017, 101, 103.

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drohte mithin das gleiche Schicksal wie dem freiwilligen Antragsrecht aus § 18 InsO. V. Argumente für Beibehaltung des Überschuldungsbegriffes Das Hauptargument für die Beibehaltung des Überschuldungstatbestandes hängt mit seiner Funktion zusammen. Diese besteht darin, im Interesse des präventiven Gläubigerschutzes die Insolvenzauslösung gegenüber dem Tatbestand der Zahlungsunfähigkeit bei Gesellschaften vorzuverlegen, bei denen keine natürliche Person unbeschränkt haftet und mithin das Gesellschaftsvermögen für die Gläubiger den ausschließlichen Haftungsfond bildet.108) Sobald die für die Gläubigerbefriedigung zur Verfügung stehende Masse die „Idealnote von 100 %“109) unterschreitet, werden weitere Verluste nicht mehr von den Eigentümern des Unternehmens getragen, sondern von dessen Gläubigern. Das unternehmerische Risiko wird mithin auf die Gläubiger verlagert.110) Ist es vor diesem Hintergrund rechtspolitisch hinnehmbar, auf den Überschuldungstatbestand – zumindest als obligatorischen Insolvenzauslöser – zu verzichten? Das ist in der Tat zu bejahen. Allemal gilt dies, solange es, was vorstehend ausführlich erläutert worden ist, weder dem Gesetzgeber noch der Rechtsprechung oder der Wissenschaft gelungen ist, den Tatbestand so zu formulieren, dass er handhabbar und damit für die Praxis auch relevant ist. Das wiederum wird auch von den meisten derer konzediert, die gegen die Abschaffung argumentieren, weshalb – so die Argumentation – eben ein handhabbarer Überschuldungsbegriff entwickelt werden müsse. Wie dieser aber aussehen könnte, ist bisher nicht einmal im Ansatz erkennbar. Es sei an dieser Stelle auch der Hinweis erlaubt, dass die vielen Jurisdiktionen, die die Überschuldung nicht als Insolvenzauslöser kennen, die rechtspolitische Notwendigkeit nicht sehen. Insbesondere sehen sie nicht das Bedürfnis, ein Unternehmen in ein potentiell wertvernichtendes Insolvenzverfahren zu drängen, sobald das Vermögen die Schulden nicht mehr deckt. Der Verfasser würde es aber als äußerst hilfreich erachten, wenn mit der Abschaffung der Überschuldung als zwingendem Insolvenzauslöser gleichzeitig der Pflichtenkreis der handelnden Organe näher bestimmt würde. Zu denken ist vor allem an eine Sanierungspflicht im Falle 108) Frystatzki, NZI 2011, 521. 109) K. Schmidt, AG 1978, 334, 337. 110) Egner/Wolff, AG 1978, 99, 100.

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einer Krise. Genau hier setzt jetzt Art. 19 der Restrukturierungsrichtlinie an. In dieser Vorschrift ist vor allem von der Notwendigkeit, Schritte einzuleiten, um eine Insolvenz abzuwenden (lit. b) die Rede, aber auch davon, die Interessen insbesondere der Gläubiger zu berücksichtigen (lit. a). Eine ausführliche Auseinandersetzung mit Art. 19 würde den Rahmen dieser Darstellung sprengen, sollte aber an anderer Stelle erfolgen. Gibt es darüber hinausgehend noch weitere Argumente, die für die Beibehaltung des Überschuldungsbegriffes angeführt werden könnten? In der Diskussion wird immer wieder darauf hingewiesen, dass der Überschuldungsbegriff eine Warnfunktion für Organe erfülle, die nicht ohne weiteres aufgegeben werden solle. Dagegen spricht indes schon die geringe praktische Relevanz sowie der Umstand, dass die Prüfung einer Überschuldung, wenn sie denn überhaupt ernst genommen wird, eher zu Verunsicherung führt als dass mit ihr ein klares Warnsignal verbunden ist. Im Übrigen gibt es andere gesetzliche Regelungen, die durchaus eine Warnfunktion erfüllen. Denn zu den wesentlichen Bausteinen des gesellschaftsrechtlichen Kapitalschutzsystems gehören auf der ersten Stufe die Ausschüttungssperren von § 58 AktG, § 30 GmbHG verbunden mit den Regeln über die Kapitalaufbringung und -erhaltung sowie auf der zweiten Stufe die Pflicht zur Einberufung der Haupt- bzw. Gesellschafterversammlung, wenn die Hälfte des Grund- bzw. Stammkapitals verloren ist (§ 92 Abs. 1 AktG, § 49 Abs. 3 GmbHG). Zwar wäre die Insolvenzantragspflicht bei Eintritt einer Überschuldung die logische dritte Stufe des Schutzsystems.111) Allerdings liegt bereits insoweit ein Systembruch vor, als es auf der dritten Stufe anders als auf der ersten und zweiten Stufe eben nicht auf die Handelsbilanz ankommt, sondern den davon zu unterscheidenden Überschuldungsstatus.112) VI. Handlungsoptionen für den Gesetzgeber Dem Gesetzgeber stehen nunmehr grundsätzlich drei Handlungsoptionen zur Verfügung: –

Erstens kann er den Überschuldungstatbestand in seiner heutigen Fassung beibehalten.113)

111) Vgl. dazu nur Drukarczyk, Bilanzielle Überschuldungsmessung – Zur Interpretation der Vorschriften von § 92 Abs. 2 AktG und § 64 Abs. 1 GmbHG, ZGR 1979, 553, 565 f. 112) Siehe dazu Frystatzki, NZI 2011, 521, 526 m. w. N. 113) Dabei wird unterstellt, dass es nicht gelingen kann, den Überschuldungsbegriff für die Zwecke einer obligatorischen Antragsstellung besser zu fassen.

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Zweitens kann die Antragspflicht bei Überschuldung in ein Antragsrecht umgewandelt werden.



Drittens kann der Überschuldungstatbestand vollständig abgeschafft werden.

In Anbetracht der vorstehenden Ausführungen ist es nur folgerichtig, den Überschuldungstatbestand in der heutigen Fassung nicht beizubehalten. Die Argumente, die gegen diese Handlungsoption sprechen, sind vorstehend ausführlich dargelegt worden und sollen an dieser Stelle nicht noch einmal wiederholt werden. Die Umwandlung in ein Antragsrecht erscheint demgegenüber zwar zunächst naheliegend. Denn wenn keine Pflicht zur Antragsstellung besteht, bestehen die zuvor dargelegten Probleme bei der Ermittlung einer Überschuldung zwar fort, belasten die Organe indes nicht in gleicher Weise, da keine Haftungsgefahren drohen. Insbesondere würde damit auch das Problem der unangemessenen Haftungskonsequenzen entfallen. Schließlich würden zwar die Abgrenzungsprobleme zur drohenden Zahlungsunfähigkeit fortbestehen, aber erneut nicht zu unangemessenen Haftungskonsequenzen für die Organe führen. Des Weiteren wird selbst von denen, die gegen eine Beibehaltung des Status Quo sind, vorgebracht, dass einer vollständigen Abschaffung des Überschuldungsbegriffes der „(…) in der Insolvenzordnung fest verankerte Gedanke des präventiven Gläubigerschutzes sowie die Obliegenheitspflichten eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters entgegen[stünden]“.114)

Auch sorge der Fortbestand des Überschuldungsbegriffes verbunden mit einem Antragsrecht für eine gewisse Disziplinierung der Finanzierer und auch der zuständigen Organe.115) Schließlich sei eine generelle Abschaffung auch aus Gesellschaftsrechtsgründen kaum möglich.116) Beck/Brucklacher sprechen sich zudem dafür aus, dass Fortführungswerte als Regelfall im Überschuldungsstatus angesetzt und nur ausnahmsweise, wenn die Fortführung des Unternehmens mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht gegeben ist, Liquidationswerte angesetzt werden.117) Dem kann nicht gefolgt werden. Zunächst ist dargelegt worden, dass der dem Überschuldungstatbestand zugrunde liegender Gedanke des präven114) 115) 116) 117)

Beck/Brucklacher in: FS Wellensiek, 2011, S. 5, 10 f. Beck/Brucklacher in: FS Wellensiek, 2011, S. 5, 11. Beck/Brucklacher in: FS Wellensiek, 2011, S. 5, 11. Beck/Brucklacher in: FS Wellensiek, 2011, S. 5, 12.

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tiven Gläubigerschutzes seine Funktion bisher nicht erfüllt hat. Es ist deshalb auch nicht zu erwarten, dass ein gesetzlich vorgesehenes Antragsrecht bei Überschuldung zu einer Disziplinierung der Finanzierer oder der Organe führen würde. Sodann leuchtet es nicht ein, dass die generelle Abschaffung des Überschuldungstatbestandes aus gesellschaftsrechtlichen Gründen nicht möglich sein solle. Zwar ist es richtig, dass insbesondere in den gesellschaftsrechtlichen Gesetzen und der Rechtsprechung etwa zur Kapitalaufbringung und -erhaltung eine bilanzielle Betrachtung vorgenommen werden muss. Außer beim Überschuldungstatbestand ist insoweit aber stets die Handelsbilanz maßgeblich und eben nicht der Überschuldungsstatus. Zwar ist es richtig, dass die ersatzlose Streichung des Überschuldungstatbestandes eine Vielzahl von Änderungen in den unterschiedlichsten Gesetzen nach sich ziehen würde (z. B. AktG, GmbHG, GenG, HGB, StGB etc.);118) eine grundlegende Revision der gesellschaftsrechtlichen Haftungsverfassung wäre damit indes nicht verbunden. Schließlich wäre mit einem Antragsrecht wegen Überschuldung nach herkömmlicher Betrachtungsweise nichts gewonnen, da sie eine negative Fortbestehensprognose voraussetzen und damit zugleich eine drohende Zahlungsunfähigkeit vorliegen würde und eine Antragsrecht zur Verfügung stünde. Wollte man demgegenüber die Zugrundelegung von Fortführungswerten zum Regelfall machen, ohne die Fortbestehensprognose zu prüfen, wäre hiermit ein Systembruch verbunden. Wollte man demgegenüber ein Antragsrecht bei Vorliegen einer positiven Fortbestehensprognose aber rechnerischer Überschuldung auf Basis von Fortführungswerten bejahen, wäre dies aus Gläubigerschutzgesichtspunkten durchaus fragwürdig. Denn die Gläubiger in einem Zeitpunkt in ein Insolvenzverfahren zwingen zu können, in dem eine positive Liquiditätsprognose besteht, erscheint missbrauchsanfällig. Sollte ein Unternehmen, etwa wegen entsprechender Pensionsverbindlichkeiten, zwar nicht drohend zahlungsunfähig sein, allerdings die außerhalb des Betrachtungszeitraumes fällig werdenden Verbindlichkeiten nachweislich nicht befriedigen können, könnte dieses Problem mit einer Modifizierung der des Prognosezeitraumes i. R. der Prüfung einer drohenden Zahlungsunfähigkeit gelöst werden. Nach alledem sprechen die besseren Erwägungen für eine ersatzlose Streichung des insolvenzrechtlichen Überschuldungstatbestandes.

118) Vgl. dazu etwa Beck/Brucklacher in: FS Wellensiek, 2011, S. 5, 14 ff.

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VII. Summa Deckt das Vermögen des Schuldners seine Verbindlichkeiten nicht mehr, werden ab diesem Augenblick weitere Verluste nicht mehr von den Eigentümern des Unternehmens getragen, sondern von dessen Gläubigern. Das unternehmerische Risiko verlagert sich somit auf die Gläubiger und es soll im Interesse der Gläubigergesamtheit ein kollektives Verfahren einzuleiten sein. Etwas anderes soll aber dann gelten, wenn das Unternehmen trotzdem überlebensfähig ist. In diesem Fall ist es ökonomisch nicht gerechtfertigt, es in ein Insolvenzverfahren zu zwingen. Auf diesen Erwägungen basiert auch der modifizierte zweistufige Überschuldungsbegriff in § 19 InsO. So überzeugend sie klingen, ist es Gesetzgeber, Rechtsprechung und Wissenschaft trotzdem bis heute nicht gelungen, ein überzeugendes Konzept für den Überschuldungstatbestand zu entwickeln: –

Erstens ist der Überschuldungstatbestand – unstreitig – sowohl in insolvenz- als auch strafrechtlicher Hinsicht praktisch weitgehend bedeutungslos.



Zweitens ist der Überschuldungstatbestand bestenfalls eingeschränkt justiziabel. Das gilt zunächst für den gesetzlich nicht geregelten Überschuldungsstatus, der eine Vielzahl von spezifischen Ansatz- und Bewertungsproblemen aufwirft, von denen viele als nicht gelöst gelten dürften bzw. bei denen vielfältige Beurteilungsspielräume bestehen. Noch größere Unsicherheiten wirft der Begriff der Fortbestehensprognose auf, was insbesondere mit der Einschätzung der überwiegenden Wahrscheinlichkeit des Eintritts von Zuständen zusammenhängt, die in der Zukunft liegen und von denen die Zahlungsfähigkeit maßgeblich abhängt.



Diese Unsicherheiten wiegen drittens umso schwerer, als die Insolvenzverschleppung wegen Überschuldung gravierende Konsequenzen für die betroffenen Organe mit sich bringen kann. Diese ergeben sich sowohl aus dem Straf- als auch dem Zivilrecht. Die Abkehr von der schadensbasierten Haftung wegen Insolvenzverschleppung hin zur Haftung für verbotene Zahlungen erleichtert zwar den Insolvenzverwaltern die Geltendmachung von Ansprüchen gegen ehemalige Geschäftsleiter erheblich, hat aber nur wenig mit dem Gerechtigkeitsanliegen einer Organhaftung zu tun.

Der Überschuldungstatbestand aus der Sicht eines Praktikers



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Schließlich löst der Überschuldungstatbestand viertens systemrelevante Abgrenzungsschwierigkeiten aus. Schon nach aktueller Rechtslage besteht nach fast einhelliger Auffassung kein Unterschied zwischen der negativen Fortbestehensprognose i. S. von § 19 Abs. 2 InsO einerseits und der drohenden Zahlungsunfähigkeit i. S. von § 18 InsO andererseits. Das sich aus dieser Vorschrift ergebende Antragsrecht ist daher praktisch bedeutungslos. Ähnlich gelagert ist das Problem der Abgrenzung mit dem Begriff der „wahrscheinlichen Insolvenz“ i. S. der europäischen Restrukturierungsrichtlinie. Dieser wäre im deutschen Recht am sinnvollsten mit dem Begriff der drohenden Zahlungsunfähigkeit auszufüllen, was aber das gleiche Problem mit sich bringen würde.

Der Überschuldungstatbestand kann mithin nicht in seiner derzeitigen Form beibehalten werden. Da es offensichtlich nicht möglich ist, ein Überschuldungskonzept zu entwickeln, das die vorstehenden Probleme vermeidet, muss er entweder ersatzlos gestrichen oder in ein Antragsrecht umgewandelt werden. Jene Gründe, die für ein Antragsrecht vorgebracht werden, überzeugen indes nicht. Insbesondere würde ein so ausgestalteter Überschuldungstatbestand die ihm zugedachte Warnfunktion nicht erfüllen und würde die Überschuldung als freiwilliger Antragsgrund neben der drohenden Zahlungsunfähigkeit praktisch bedeutungslos sein.

Drittschutzwille und Vertrauen bei Beratungsverträgen THOMAS WINTER1) Inhaltsübersicht I. II.

Einleitung Der Rückgriff des Bundesgerichtshofes auf vier Kriterien III. Die Relativierung der vier Kriterien 1. Leistungsnähe 2. Gläubigernähe oder Eigeninteresse des Auftraggebers an der Einbeziehung des Dritten 3. Erkennbarkeit 4. Schutzbedürftigkeit IV. Der objektiv erkennbare Drittschutzwille 1)

1. Anknüpfungspunkt 2. Hauptanwendungsfälle a) Interesse des Auftraggebers b) Erkennbarkeit für den Berater c) Schutzbedürftigkeit des Schuldners d) (Vertraglicher) Ausschluss des Drittschutzes V. Das Vertrauen des Schutzwürdigen (§ 311 Abs. 3 BGB) VI. Ergebnis

I. Einleitung Wer den Rat eines Rechtsanwalts, Steuerberaters oder Wirtschaftsprüfers einholt, verspricht sich hiervon sachkundige Auskunft. Die Unterrichtung dient regelmäßig der Vorbereitung bedeutender Entscheidungen, die einer entsprechenden Informationsgrundlage bedürfen. Der erteilte Rat erreicht dabei regelmäßig nicht nur seinen unmittelbaren Adressaten (den Auftraggeber), sondern ist auch Dritten zugänglich. Dieser Zugang kann dem Dritten planmäßig verschafft werden oder ihn zufällig erreichen. Der Dritte kann nun seinerseits die Auskunft in seine wirtschaftliche Disposition einbeziehen. Erweist sich die Information im Nachhinein als falsch, liegt es nahe, dass auch der Dritte hierfür Kompensation erwartet.2) Nicht zuletzt aufgrund dieser Erwartungshaltung ist die Dritthaftung von (Berufs-)Beratern ein Dauerbrenner des Haftpflichtrechts. Das Gesetz enttäuscht diese Erwartung des Dritten jedoch. Die vertragliche Bindung entfaltet sich grundsätzlich nur zwischen den vertragsschließenden Parteien, 1) 2)

Ich danke Herrn ref. iur. Wenzel Kiehne für seine Mitarbeit an der Erstellung des Manuskripts. Vgl. Kayser, Beraterhaftung für falsche oder unterlassene Auskünfte zur Insolvenzreife, ZIP 2014, 597.

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das Deliktsrecht bietet einen nur unvollkommenen Vermögensschutz und ermöglicht außerdem die weitreichende Entlastung für das Verschulden von Gehilfen (§ 831 BGB). Vor diesem Hintergrund erklärt sich der viel bemühte Rückgriff auf die bereits in der Rechtsprechung des Reichsgerichts entwickelte Figur des Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter. Die Ausweitung der vertraglichen Haftung mittels des Rückgriffs auf das richterrechtlich entwickelte „Ausnahmeinstitut“3) auf Dritte darf indessen schon deshalb nur mit der gebotenen Zurückhaltung erfolgen, weil der Berater für seine Leistung nur gegenüber seinem Auftraggeber vergütet wird und überdies vor nicht erkennbaren – insbesondere nicht versicherten – Haftungsansprüchen bewahrt werden muss. II. Der Rückgriff des Bundesgerichtshofes auf vier Kriterien Der Bundesgerichtshof gewinnt eine Schutzwirkung für Dritte aus der – ggf. ergänzenden – Auslegung des Vertrags zwischen dem Auftraggeber und dem Berater nach §§ 133, 157 BGB.4) Das eröffnet zunächst die Möglichkeit einer ausdrücklichen Vereinbarung, dass Drittschutz gewährt oder – von Ausnahmen abgesehen – ausgeschlossen werden soll.5) Allerdings lässt sich eine solche ausdrückliche Regelung, abgesehen von der nicht unproblematischen und nachfolgend noch zu behandelnden Ausschließung in Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB), regelmäßig nicht finden. Die Auslegung findet deshalb anhand objektiver Kriterien statt. Der Bundesgerichtshof greift in ständiger Rechtsprechung hierfür auf vier Kriterien zurück:6) 1.

Der Dritte muss mit der Hauptleistung des Schuldners (Beraters) bestimmungsgemäß in Berührung kommen (Leistungsnähe, Näheverhältnis),

2.

der Gläubiger (Auftraggeber/Mandant) muss ein schutzwürdiges Interesse an der Einbeziehung des Dritten in den Schutzbereich des Vertrags haben (Einbeziehungsinteresse, Gläubigernähe),

3)

Vgl. so explizit Zugehör, Uneinheitliche Rechtsprechung des BGH zum (Rechtsberater-)Vertrag mit Schutzwirkung zu Gunsten Dritter, NJW 2008, 1105, 1110. BGH, Urt. v. 28.1.2015 – XII ZR 201/13, BGHZ 204, 54, 58 = NJW 2015, 1098, 1099 f. m. w. N.; mitunter stützte sich der BGH auch allein auf § 242 BGB, vgl. etwa BGH, Urt. v. 28.2.1977 – II ZR 52/75, BGHZ 69, 82, 86 = NJW 1977, 1916. BGH, Urt. v. 14.6.2012 – IX ZR 145/11, BGHZ 193, 297 – 302 = ZIP 2012, 1353, 1355. Jüngst etwa BGH, Urt. v. 7.12.2017 – IX ZR 45/16, ZIP 2018, 692 f. = MDR 2018, 303; BGH, Urt. v. 7.12.2017 – VII ZR 204/14, MDR 2018, 275 = NJW 2018, 1537 f.

4)

5) 6)

Drittschutzwille und Vertrauen bei Beratungsverträgen

1147

3.

die Einbeziehung Dritter muss dem Schuldner (Berater) bekannt oder für ihn zumindest erkennbar sein (Erkennbarkeit),

4.

der Dritte muss ein schutzwürdiges Interesse an der Einbeziehung in den Vertrag haben, woran es regelmäßig fehlt, wenn er wegen des Sachverhalts über einen eigenen inhaltsgleichen vertraglichen Anspruch verfügt (Schutzbedürftigkeit).

Die Voraussetzungen des Näheverhältnisses und des Eigeninteresses des Auftraggebers hat der Bundesgerichtshof in seiner Entscheidung vom 21. Juli 20167) weiter systematisiert. Ein Näheverhältnis liegt regelmäßig in zwei Fallgruppen nahe: Zum einen dann, wenn die Beratungsleistung Grundlage für die Disposition eines Dritten über sein eigenes Vermögen ist oder wenn dem Dritten ein Vermögensvorteil zugewendet werden soll.8) Zum anderen ist ein Näheverhältnis regelmäßig anzunehmen, wenn die Einhaltung von gesetzlichen Handlungsgeboten in Rede steht, die den Dritten neben dem Auftraggeber persönlich treffen.9) Letzteres hat der Bundesgerichtshof von dem Fall abgegrenzt, dass allein eine Vermögensdisposition des Mandanten in Rede steht und der Dritte – namentlich ein für den Mandanten handelndes Organmitglied – sich lediglich dem Risiko einer Binnenhaftung aussetzt, wenn er eine sich nachträglich als schadensträchtig herausstellende Vermögensdisposition pflichtwidrig getroffen hat.10) Der Bundesgerichtshof hat in dieser Entscheidung darüber hinaus ein Einbeziehungsinteresse des Auftraggebers zugunsten des Dritten verneint, wenn und weil dem Auftraggeber aufgrund einer möglichen Binnenhaftung der Zugriff auf zwei Haftungsschuldner offen steht.11) In diesem Fall sind die Interessen von Mandant und Drittem, insbesondere dem gesetzlichen Vertreter der Auftrag gebenden juristischen Person, gegenläufig.12) Soll das Organ gleichwohl in den Schutzbereich einbezogen sein, ist eine ausdrückliche Regelung zu treffen.13)

7) 8) 9) 10) 11) 12) 13)

BGH, Urt. v. 21.7.2016 – IX ZR 252/15, BGHZ 211, 251 = ZIP 2016, 1586. BGH, Urt. v. 21.7.2016 – IX ZR 252/15, BGHZ 211, 251, 257 = ZIP 2016, 1586, 1588. BGH, Urt. v. 21.7.2016 – IX ZR 252/15, BGHZ 211, 251, 258 = ZIP 2016, 1586, 1588. BGH, Urt. v. 21.7.2016 – IX ZR 252/15, BGHZ 211, 251, 259 ff. = ZIP 2016, 1586, 1588 f. BGH, Urt. v. 21.7.2016 – IX ZR 252/15, BGHZ 211, 251, 262 f. = ZIP 2016, 1586, 1589 f. BGH, Urt. v. 21.7.2016 – IX ZR 252/15, BGHZ 211, 251, 263 = ZIP 2016, 1586, 1590. BGH, Urt. v. 21.7.2016 – IX ZR 252/15, BGHZ 211, 251, 264 f. = ZIP 2016, 1586, 1590.

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III. Die Relativierung der vier Kriterien So begrüßenswert diese weitere Systematisierung insbesondere durch Fallgruppenbildung ist, so sehr ist der Rückgriff auf die überkommenen vier Kriterien zur Feststellung eines Vertrags mit Schutzwirkung für Dritte dogmatisch zweifelhaft. Denn der Bundesgerichtshof weicht von sämtlichen der vier Kriterien ab, wenn ihm dies im Einzelfall opportun erscheint. Hierbei zeigt sich überdies eine unterschiedliche Spruchpraxis der verschiedenen Senate.14) 1. Leistungsnähe Unglücklich formuliert und im Ausgangspunkt relativiert wird das Merkmal der Leistungsnähe. Der Bundesgerichtshof meint hiermit eine Vertragsnähe oder Einwirkungsnähe: Das Merkmal ist indessen nicht auf Fälle beschränkt, in denen der Dritte i. R. von Leistungspflichten beeinträchtigt werden kann, sondern erfasst auch Schutz- oder Obhutspflichten i. S. des § 241 Abs. 2 BGB.15) 2. Gläubigernähe oder Eigeninteresse des Auftraggebers an der Einbeziehung des Dritten Das Erfordernis einer Gläubigernähe oder eines Eigeninteresses des Auftraggebers an der Einbeziehung des Dritten i. S. eines Interessengleichklangs von Auftraggeber und Drittem hat der Bundesgerichtshof ebenfalls aufgegeben.16) Anschaulich wird dies in den Fällen, in denen der eingeholte Rechtsrat etwa in Form eines Gutachtens dem Dritten als (zukünftigem) Vertragsgegenüber des Auftraggebers übermittelt wird. Hier haben der Auftraggeber des Beraters und der Dritte als (zukünftige) Kontrahenten gegenläufige Interessen. Gleichwohl hindert dies die Einbeziehung des Dritten in den Schutzbereich des Vertrags nicht.17)

14) 15)

16) 17)

Vgl. dazu ausführlich Zugehör, NJW 2008, 1105. Vgl. BGH, Urt. v. 7.12.2017 – VII ZR 204/14, NJW 2018, 1537 f. = MDR 2018, 275; dazu auch Schwab, Grundfälle zur culpa in contrahendo, Sachwalterhaftung und Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte nach dem neuen Schuldrecht, JuS 2002, 872. So auch Mäsch in: BeckOGK-BGB, 1.1.2019, § 328 Rz. 177; Becker in: Dauner-Lieb/ Langen, NK-BGB, 3. Aufl. 2016, § 311 Rz. 144. BGH, Urt. v. 24.4.2014 – III ZR 156/13, ZIP 2014, 972, 973 = NJW 2014, 2345 m. w. N.

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In die Irre führt das Merkmal der Gläubigernähe auch in Fällen, in denen der Dritte gesetzlichen Handlungspflichten ausgesetzt ist.18) Diese Pflichten hat der Dritte im eigenen Interesse zu wahren, dem Auftraggeber des Beraters obliegt dies nicht. Ein Einbeziehungsinteresse ließe sich also allenfalls unter Rückgriff auf einen Fürsorgegedanken des Auftraggebers gegenüber dem Dritten begründen; dass dieser Gedanke nicht trägt, belegt indessen die Ausklammerung der Vorsorge vor einer Binnenhaftung aus dem vertraglichen Drittschutz. Es ist nicht erkennbar, dass eine juristische Person ein höheres Interesse daran haben soll, ihr Organ keiner Außenhaftung auszusetzen, als ihm das Risiko einer Binnenhaftung zu nehmen. In einer das private Baurecht betreffenden Entscheidung verzichtete der Bundesgerichtshof sogar gänzlich auf ein Einbeziehungsinteresse des Auftraggebers.19) 3. Erkennbarkeit Auch das Merkmal der Erkennbarkeit wird in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes stark relativiert. Der Berater muss weder den Namen noch die Anzahl der potentiell geschützten Dritten kennen. Es reicht bereits die objektive Abgrenzbarkeit der geschützten Personengruppe, etwa ein Kreis von Anlegern einer bestimmten Kapitalanlage.20) Überdies setzt sich die Rechtsprechung über insbesondere formularmäßig vereinbarte Haftungsbeschränkungen hinweg.21) Die Regelung, dass der Berater gegenüber Dritten nicht haften wolle und etwa die Weitergabe eines Gutachtens an Dritte nicht gestattet sei, tritt hinter dem sich aus dem Vertragsinhalt ergebenden Zweck, die Vermögensdisposition gerade des Dritten zu ermöglichen, zurück. Dem Berater ist also nicht nur der Einwand versagt, die geschützten Dritten nicht zu kennen, sondern ihm ist auch verwehrt, eine mangelnde Erkennbarkeit des Drittschutzes unter Hinweis auf seine eigene Vertragserklärung zu leugnen.

18) 19) 20) 21)

Vgl. BGH, Urt. v. 13.10.2011 – IX ZR 193/10, ZIP 2011, 2475, 2476 = MDR 2011, 1471 f. BGH, Urt. v. 25.9.2008 – VII ZR 35/07, NJW 2009, 217 f. = MDR 2009, 23. BGH, Urt. v. 20.4.2004 – X ZR 250/02, BGHZ 159, 1 = ZIP 2004, 1814. BGH, Urt. v. 15.6.1989 – VII ZR 205/88, BGHZ 108, 52, 57 f. = NJW 1989, 2750 f.

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4. Schutzbedürftigkeit Schließlich hat der Bundesgerichtshof das Schutzbedürfnis des Dritten, das regelmäßig bei einem eigenen vertraglichen Anspruch entfällt, stark relativiert. So soll im Falle einer Gutachterhaftung im Zusammenhang mit der Erstellung oder Prüfung eines Anlageprospekts der Anspruch wegen fehlender Gleichwertigkeit, die sich aus anderen Zielsetzungen und unterschiedlichen Verjährungsfristen ergebe, nicht hinter etwaige Prospekthaftungsansprüche zurücktreten.22) Zudem ist zwar unbeachtlich, ob der Anspruch des Dritten gegen den eigenen Vertragspartner wegen dessen Insolvenz wirtschaftlich praktisch wertlos ist, denn die Grundsätze des Vertrags mit Schutzwirkung für Dritte sollen dem Dritten nicht das Insolvenzrisiko seines Vertragspartners abnehmen.23) Gleichwohl soll nach der bereits erwähnten, das private Baurecht betreffenden Entscheidung, die Schutzbedürftigkeit des Dritten doch nicht entfallen, wenn der Hauptvertrag den Schutz des Dritten vor der Insolvenz seines Schuldners bezweckt.24) IV. Der objektiv erkennbare Drittschutzwille Die vorstehende Analyse belegt, dass die Rechtsprechung mit der Intention, den Drittschutz vorhersehbar und tendenziell restriktiv zu handhaben, die überkommenen Kriterien eines Vertrags mit Schutzwirkung für Dritte zwar formuliert, sich je nach Fallkonstellation aber über diese Kriterien hinwegsetzt. Es stellt sich daher die Frage, ob der Rückgriff auf die in ganz anderem Zusammenhang entwickelten Kriterien im Kontext der Beraterhaftung nicht aufgegeben werden sollte. Das würde zwar im Einzelfall nur ausnahmsweise zu anderen Ergebnissen führen, wäre aber dogmatisch überzeugender und für die Praxis weniger verwirrend. Nicht selten finden sich auch i. R. der Beraterhaftung instanzgerichtliche Urteile und Schriftsätze, die sich noch immer an „Wohl-und Wehe“-Überlegungen abarbeiten.

22) 23) 24)

BGH, Urt. v. 24.4.2014 – III ZR 156/13, ZIP 2014, 972, 975 f. = NJW 2014, 2345, 2347 m. w. N. BGH, Urt. v. 6.11.2012 – VI ZR 174/11, ZIP 2013, 77 f. = NJW 2013, 1002 m. w. N. BGH, Urt. v. 25.9.2008 – VII ZR 35/07, NJW 2009, 217 f. = MDR 2009, 23.

Drittschutzwille und Vertrauen bei Beratungsverträgen

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1. Anknüpfungspunkt Die Herleitung und Begründung einer Schutzwirkung für Dritte könnte und sollte konsequent an einem objektiven Drittschutzwillen – also am Willen des Auftraggebers und der Erkennbarkeit dieses Willens für den Berater als Erklärungsempfänger – und damit am Inhalt des Vertrags zwischen Gläubiger und Schuldner anknüpfen. Weist dieser Inhalt einen drittbezogenen Zweck auf, ist der Drittschutz regelmäßig zu bejahen.25) Diese Lesart harmoniert mit dem anerkannten Auslegungsgrundsatz einer beiderseits interessengerechten Auslegung nach §§ 133, 157 BGB. 2. Hauptanwendungsfälle Hierbei ließe sich für Anwalts-, Steuerberatungs- und Wirtschaftsprüferverträge – als Hauptfälle von Verträgen mit Schutzwirkung zugunsten Dritter26) – unter Heranziehung der anerkannten Fallgruppen wie folgt differenzieren: a) Interesse des Auftraggebers Auf der einen Seite ist zunächst das Interesse des Auftraggebers in den Blick zu nehmen. Zu fragen ist, ob er altruistisch, also zugunsten eines Dritten, disponieren möchte. Hierfür ist eine (persönliche) Gläubigernähe zwischen dem Auftraggeber und dem Dritten ein taugliches Indiz, aber keine zwingende Voraussetzung; selbstständige Bedeutung hat dieses Merkmal nicht. Fehlt es an einem altruistischen Handeln, stellt sich die weitere Frage, ob der eingeholte Rat auf die Willensbildung des Dritten einwirken soll, namentlich ob der Auftraggeber die eingeholte Information dergestalt benutzen möchte, dass der Dritte seinen Willen dahin bildet, mit dem Auftraggeber ein Vertragsverhältnis einzugehen. Der eingeholte Rat ist in diesem Fall ein Mittel, den Dritten vom Vertragsschluss mit dem Auftraggeber zu überzeugen. Diese Motivation wird sich um so eher einstellen, als der Dritte auf die Richtigkeit des eingeholten Rats vertrauen kann. Erweist sich der Rat oder die Auskunft nämlich im Nachhinein als falsch, bietet die Haftung des Beraters 25) 26)

Ähnlich Gottwald in: MünchKomm-BGB, 8. Aufl. 2019, § 328 Rz. 186 f., der aber dem Grunde nach an den vier Kriterien festhält. Kayser, ZIP 2014, 597, 599.

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den Ausgleich für die fehlerhafte zum Vertragsschluss führende Willensbildung. Mit anderen Worten: Ex ante erhöht sich die Bereitschaft des Dritten zum Vertragsschluss mit dem Auftraggeber des Beraters, wenn und weil sich das damit verbundene Risiko des Dritten aufgrund der potentiellen Vertragshaftung des Beraters bei falscher Information verringert. Beispiele für diese Fallgruppe sind eine Beteiligung des Dritten an der auftraggebenden Gesellschaft, die Gewährung von Krediten an den Auftraggeber oder der Kauf von Grundstücken oder Beteiligungen.27) In all diesen Fällen liegt die Dritthaftung des Beraters zugleich im Interesse des – den Vertragsschluss mit dem Dritten anstrebenden – Auftraggebers. Ein solches Interesse ist demgegenüber regelmäßig zu verneinen, wenn der Auftraggeber lediglich eine ihm seitens des Gesetzes auferlegte Pflicht durch Einholung des Rats erfüllen möchte. In diesem Fall ist die Motivation des Auftraggebers zur Einholung des Rats nicht drittgerichtet. Aus diesem Grund ist etwa die Pflichtprüfung des Jahresabschlusses als solche nicht drittschützend,28) anders liegt es nur, wenn eine vergleichbare Prüfung just zu dem Zweck eingeholt wird, um beispielsweise einen Kreditgeber zur Darlehensvergabe zu motivieren.29) b) Erkennbarkeit für den Berater Dem Willen des Auftraggebers steht die Erkennbarkeit für den Berater gegenüber. Auch dies entspricht hergebrachten Auslegungsgrundsätzen: Es kommt auf den Verständnishorizont eines objektiven Erklärungsempfängers an. Die Erkennbarkeit ergibt sich spiegelbildlich zum Interesse des Auftraggebers, das im Vertragszweck seinen Niederschlag finden muss. Ist der Inhalt des Beratervertrags erkennbar drittbezogen, ist es dem Berater verwehrt, einen korrespondierenden Drittschutz zu verweigern. c) Schutzbedürftigkeit des Schuldners Die Schutzbedürftigkeit des Schuldners wird bislang als objektiv-normative Korrektur angewandt, um den Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Drit27) 28) 29)

Emmerich in: MünchKomm-BGB, 8. Aufl. 2019, § 311 Rz. 197. So grundsätzlich auch BGH, Beschl. v. 11.11.2008 – III ZR 313/07, juris Rz. 10 m. w. N. A. A. BGH, Urt. v. 6.4.2006 – III ZR 256/04, ZIP 2006, 954, 957 = NJW 2006, 1975, 1978, wonach deutlich werden müsse, „(…) dass vom Abschlussprüfer im Drittinteresse eine besondere Leistung erwartet wird, die über die Erbringung der gesetzlich vorgeschriebenen Pflichtprüfung hinausgeht (…)“.

Drittschutzwille und Vertrauen bei Beratungsverträgen

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ter als richterliche Rechtsfortbildung zu rechtfertigen.30) Richtigerweise kann auch sie bei einer konsequenten Einordnung des Vertrags mit Schutzwirkung für Dritte in die §§ 133, 157 BGB an den objektiv erkennbaren Drittschutzwillen angeknüpft werden. Wenn der Dritte einen vertraglichen Anspruch hat, fehlt es aus Sicht des Beraters an einem Einbeziehungsinteresse des Auftraggebers. Die Vertragsparteien wollen dem Dritten regelmäßig nur einen notwendigen, nicht aber einen zusätzlichen Schutz gewähren.31) Andernfalls würde der Berater dies einpreisen und der Auftraggeber den Drittschutz bezahlen müssen. In den objektiven Empfängerhorizont des Beraters können auch gesetzliche Wertungen einbezogen werden. Namentlich kann eine Dritthaftung im Falle des § 323 Abs. 1 Satz 3 HGB aus der Sicht des Wirtschaftsprüfers grundsätzlich vom Auftraggeber nicht gewollt sein;32) jedenfalls ohne explizit anderen Hinweis darf der Prüfer davon ausgehen, dass der Auftraggeber nur seiner eigenen gesetzlichen Pflicht nachkommt. Gleiches gilt für einen echten Anwaltsvertrag mit einer Rechtsbeistandspflicht im Lichte des § 43a Abs. 4 BRAO.33) Anders verhält es sich bei Normen wie § 21 Abs. 5 Satz 2 VermAnlG oder § 25 Abs. 2 WpPG, die eine bürgerlichrechtliche Vertragshaftung unberührt lassen.34) Hier kommt es aus Sicht des Beraters darauf an, ob der Auftraggeber einen Dritten schützen will. Es bedarf damit (nur) eines konkreten Anhaltspunktes, dass der Auftraggeber zielgerichtet die Willensbildung eines Dritten beeinflussen will. Wiederum anders verhält es sich bei § 18 Abs. 1 Satz 1 KWG, wonach eine Bank ihrer Kreditentscheidung Jahresabschlüsse zugrunde zu legen hat; dies dient allein ordnungspolitisch dem Interesse der Bank, begründet aber nicht per se ein den Drittschutz begründendes Interesse des Auftraggebers der Wirtschaftsprüferleistung.35) Zuletzt muss für den Handelsmakler ein objektivierter Drittschutzwillen nach der Wertung des § 98 HGB grundsätzlich ersichtlich sein.36)

30) 31) 32) 33) 34) 35) 36)

Vgl. BGH, Urt. v. 2.7.1996 – X ZR 104/94, BGHZ 133, 168, 172 ff. = ZIP 1996, 1664, 1666. Gottwald in: MünchKomm-BGB, 8. Aufl. 2019, § 328 Rz. 191. BGH, Urt. v. 15.12.2005 – III ZR 424/04, ZIP 2006, 854, 856 = NJW-RR 2006, 611, 612 f. BGH, Urt. v. 23.4.2009 – IX ZR 167/07, ZIP 2009, 1767, 1771 = NJW 3297, 3301; vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des RA z. RegE SMG, BT-Drucks. 14/7052, S. 190. Vgl. BGH, Urt. v. 21.2.2013 – III ZR 94/12, juris Rz. 17. Gräfe in: Steuerberaterhaftung, 6. Aufl. 2017, Rz. 445 m. w. N. Zum Verständnis dieser Norm vgl. etwa Reiner in: Ebenroth/Boujong/Joost/Strohn, HGB, 3. Aufl. 2014, § 98 Rz. 1.

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Überzeugender als durch Anknüpfung an den vermeintlichen tatsächlichen Willen der Vertragsparteien lässt sich durch Rückgriff auf gesetzliche Wertungen auch die Differenzierung des Drittschutzes bei einer drohenden Haftung eines Organmitglieds des Auftraggebers im Außen- und Innenverhältnis begründen. Gibt es eine gesetzliche Haftungsnorm, die auch das Organ (neben der auftraggebenden juristischen Person) adressiert, ist der damit als Bedürfnis erkennbare Drittschutz zu bejahen,37) fehlt eine solche Norm, ist er regelmäßig zu verneinen.38) d) (Vertraglicher) Ausschluss des Drittschutzes Ebenfalls nahtlos fügt sich in diese Systematik ein vereinbarter Ausschluss von Drittschutz ein. Bei einem – vom Bundesgerichtshof anerkannten39) – individualvertraglichen Ausschluss fehlt es an einem grundsätzlich zu respektierenden Schutzwillen des Auftraggebers.40) Bei einem Ausschluss in AGB des Beraters stellt sich bei einer Abweichung der Klausel vom Ergebnis der (ergänzenden) Vertragsauslegung zunächst die Frage des Vorrangs der Individualabrede und sodann ggf. die weitere Frage, ob die Klausel überraschend i. S. des § 305c Abs. 1 BGB ist. Jedenfalls ist die Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB eröffnet41) und eine unangemessene Benachteiligung des Auftraggebers als Vertragspartner – und mittelbar des Dritten – nach § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB zu prüfen. Eine solche Benachteiligung wird regelmäßig vorliegen, wenn der Auftraggeber ausweislich des Vertragsinhalts für den Dritten rechtlich oder kraft persönlicher Verbundenheit (mit-)verantwortlich ist.42) V. Das Vertrauen des Schutzwürdigen (§ 311 Abs. 3 BGB) Der Bundesgerichtshof lehnt es ab, den mit der Schuldrechtsreform geschaffenen § 311 Abs. 3 BGB als Rechtsgrundlage für den Vertrag mit 37) 38) 39) 40) 41)

42)

Vgl. dazu auch Pape, Hinweis- und Warnpflichten des Steuerberaters bei Insolvenzreife des Mandanten, NZI 2019, 260, 264 f. Vgl. nochmals BGH, Urt. v. 21.7.2016 – IX ZR 252/15, BGHZ 211, 251, 258 = ZIP 2016, 1586, 1588. BGH, Urt. v. 23.1.1985 – IVa ZR 66/83, ZIP 1985, 398, 400 = MDR 1985, 1001. Klumpp in: Staudinger, BGB, Neubearb. 2015, 11.12.2018, § 328 Rz. 146, freilich dort bezogen auf das Einbeziehungsinteresse. BGH, Urt. v. 6.2.1985 – VIII ZR 61/84, BGHZ 93, 358, 361 = ZIP 1985, 478 f. zu § 8 AGBG; zustimmend Pfeiffer in: Wolf/Lindacher/Pfeiffer, AGB-Recht, 6. Aufl. 2013, § 307 BGB Rz. 282; a. A. Schinkels in: jurisPK-BGB, 8. Aufl. 2017, § 328 Rz. 84. Mäsch in: BeckOGK-BGB, 1.1.2019, § 328 Rz. 199.

Drittschutzwille und Vertrauen bei Beratungsverträgen

1155

Schutzwirkung zugunsten Dritter heranzuziehen;43) seine Rechtsprechung habe durch diese Normierung bloß Bestätigung gefunden.44) Dieser Auffassung ist im Grundsatz zuzustimmen; § 311 Abs. 3 BGB kann indessen ergänzende Bedeutung gewinnen, wenn die Parteien des Vertrags den sich nach dessen Inhalt aufdrängenden Drittschutz – im Extremfall durch kollusives Zusammenwirken – ausschließen. In diesem Fall versagt der Rückgriff auf die Grundsätze der ergänzenden Vertragsauslegung, weil sie sich über den expliziten Willen der Vertragsparteien nicht hinwegsetzen darf. Im Ausgangspunkt steht bei § 311 Abs. 3 BGB der Schutzbedürftige im Fokus.45) Die Norm stellt im Kern allein darauf ab, ob ein Schutzbedürfnis für einen vertraglichen Anspruch besteht und kann angesichts ihres Wortlauts in Satz 2 und in Anlehnung an die culpa in contrahendo des Absatzes 2 als Vertrauenstatbestand verstanden werden.46) Sie stellt auf ein normatives Vertrauendürfen ab.47) Nach dem gesetzgeberischen Willen soll § 311 Abs. 3 Satz 2 BGB vornehmlich die Fälle der sog. Sachwalterhaftung einschließlich der Haftung von Sachverständigen und anderer Auskunftspersonen erfassen.48) Zuvor hatte der Bundesgerichtshof etwa die Haftung eines Unternehmensberaters wegen einer Inanspruchnahme persönlichen Vertrauens aus culpa in contrahendo bejaht.49) Die Vertrauenshaftung des § 311 Abs. 3 BGB erfasst nach allgemeiner Meinung zwei Hauptfälle: –

Die Inanspruchnahme von Vertrauen in besonderem Maße in Satz 2 und

43)

Vgl. statt vieler BGH, Urt. v. 20.4.2004 – X ZR 250/02, BGHZ 159, 1, 4 = ZIP 2004, 1814 f.; Grüneberg in: Palandt, BGB, 78. Aufl. 2019, § 328 Rz. 34, sieht wegen Ergebnisgleichheit schlicht „(…) kaum Anlass (…)“, die Expertenhaftung auf § 311 Abs. 3 BGB zu stützen(!). BGH, Beschl. v. 20.6.2013 – IX ZR 61/10, BeckRS 2013, 11381 = IBRRS 2013, 2709. Zum Ganzen etwa D. Fischer in: Hdb. Anwaltshaftung, 4. Aufl. 2015, § 10 Rz. 2. Semantisch gilt zu beachten, dass der Dritte i. S. des Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter und der Dritte i. S. des § 311 Abs. 3 BGB nicht identisch sind. Gemein haben sie, die jeweiligen Vertragsfremden zu sein. Insoweit auch Klumpp in: Staudinger, BGB, Neubearb. 2015, 11.12.2018, § 328 Rz. 99 a. E.; a. A. Mäsch in: BeckOGK-BGB, 1.1.2019, § 328 Rz. 160.2. Koch, § 311 Abs. 3 BGB als Grundlage einer vertrauensrechtlichen Auskunftshaftung, AcP 204 (2004), 59, 75. Begr. RegE SMG z. § 311, BT-Drucks. 14/6040, S. 163. BGH, Urt. v. 3.4.1990 – XI ZR 206/88, ZIP 1990, 659 = NJW 1990, 1907.

44) 45)

46) 47) 48) 49)

1156



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ein unmittelbares wirtschaftliches Eigeninteresse des Haftenden unter Satz 1 („procurator in rem suam“).50)

Das wirtschaftliche Eigeninteresse des Haftenden bezieht sich ebenso auf die Person des zu Schützenden. Hier stellt die Norm sicher, dass die wirtschaftliche Gewinnaussicht mit einer entsprechenden Risikoübernahme und Haftung parallel läuft; es wird insbesondere verhindert, dass der Vertragsfremde den Vertragschließenden zur Eingehung von Risiken veranlasst, für die er seinerseits keinerlei Verantwortung übernehmen will.51) Anders gewendet bezieht sich deshalb der Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte auf den rechtsgeschäftlichen Willen zum Schutz des Dritten, § 311 Abs. 3 BGB hingegen auf dessen Vertrauen. Aus diesem Gegensatz ergibt sich eine gesetzmäßige Trennlinie zwischen den beiden Instituten, ohne dass auf den noch weniger rechtssicheren § 242 BGB ausgewichen werden müsste.52) In Fällen eines zwingenden Schutzbedürfnisses des Dritten muss ein – ggf. sogar ausdrücklich ausgeschlossener – Einbeziehungswille des Auftraggebers nicht fingiert werden. Vielmehr kann ein Vertrag mit Schutzwirkung abgelehnt werden und eine Schadloshaltung über § 311 Abs. 3 BGB erreicht werden.53) Dies macht der Sache nach auch der Bundesgerichtshof, wenn er etwa aufgrund eines schutzwürdigen Vertrauens auf das Kriterium des Einbeziehungsinteresses ausdrücklich verzichtet – allerdings unter dem Deckmantel des Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter.54) Die Haftung des Beraters gegenüber dem Dritten sollte daher insbesondere beim Zusammentreffen der folgenden Kriterien nicht länger auf den 50) 51) 52)

53)

54)

Kindl in: Erman, BGB, 15. Aufl. 2017, § 311 Rz. 89 ff. Grundmann/Renner, Vertrag und Dritter – zwischen Privatrecht und Regulierung, JZ 2013, 379, 384. So aber Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, Bd. I, 14. Aufl. 1987, S. 227; Mäsch in: BeckOGK-BGB, 1.1.2019, § 328 Rz. 161; Klumpp in: Staudinger, BGB, Neubearb. 2015, 11.12.2018, § 328 Rz. 103. Abweichend Schinkels in: jurisPK-BGB, 8. Aufl. 2017, § 328 Rz. 78, Fn. 215, wonach es einerseits einer teleologischen Extension bedürfe, da es sich um die Fiktion einer Leistungspflicht ggü. dem Dritten handele. Dies verkennt, dass § 311 Abs. 3 Satz 1 BGB im alleinigen Verweis auf § 241 Abs. 2 BGB nur meint, dass in Abgrenzung zu § 328 Abs. 1 BGB kein vertraglicher Primäranspruch gewährt werden soll, im Ergebnis so auch Mennemeyer in: Fahrendorf/Mennemeyer, Die Haftung des Rechtsanwalts, 9. Aufl. 2017, Rz. 353. Andererseits sei auf § 311 Abs. 2 Nr. 3 BGB abzustellen. Das wiederum verkennt, dass § 311 Abs. 3 BGB gerade die Drittfälle zusammenfasst, insoweit auch Canaris, Sondertagung Schuldrechtsmodernisierung, JZ 2001, 499, 520. Vgl. BGH, Urt. v. 25.9.2008 – VII ZR 35/07, NJW 2009, 217, 218 = MDR 2009, 23.

Drittschutzwille und Vertrauen bei Beratungsverträgen

1157

Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter, sondern unter die Voraussetzungen des § 311 Abs. 3 BGB subsumiert werden: –

der Vertragsinhalt ist erkennbar drittbezogen,



der Auftraggeber und der Dritte haben widerstreitende Interessen,55)



Auftraggeber und Berater vereinbaren individualvertraglich oder in AGB wirksam einen Ausschluss des Drittschutzes.56)

Außerdem kommt eine Haftung nach § 311 Abs. 3 BGB in Betracht, wenn der Vertrag zwischen Auftraggeber und Berater unwirksam oder nichtig ist.57) VI. Ergebnis Die vier Kriterien des Bundesgerichtshofes zur Bestimmung eines Vertrags mit Schutzwirkung zugunsten Dritter sollten bei der Reichweitenbestimmung der Beraterhaftung aufgegeben werden. Stattdessen ist auf den im Vertrag zum Ausdruck kommenden Drittschutzwillen des Auftraggebers und den objektiven Empfängerhorizont des Beraters abzustellen. Bei Berufsberaterverträgen ist darauf abzustellen, ob der Auftraggeber altruistisch, also zugunsten eines Dritten, disponieren möchte. Anderenfalls stellt sich die weitere Frage, ob der eingeholte Rat auf die Willensbildung des Dritten einwirken soll. Ein Drittschutzwille des Auftraggebers ist demgegenüber regelmäßig zu verneinen, wenn er lediglich eine ihm durch Gesetz auferlegte Pflicht durch Einholung des Rechtsrats erfüllen möchte. Wenn kein objektiver Drittschutzwille feststellbar ist, sollte er nicht aufgrund eines überbordenden Schutzbedürfnisses des Dritten fingiert werden. Stattdessen sollte in diesem Fall § 311 Abs. 3 BGB herangezogen werden.

55)

56) 57)

Grundlegend vor allem Canaris, Schutzwirkungen zugunsten Dritter bei „Gegenläufigkeit“ der Interessen, JZ 1995, 441, 442 f.; so auch Westermann in: Erman, BGB, 15. Aufl. 2017, § 328 Rz. 11; Stürner in: Prütting/Wegen/Weinreich, BGB, 13. Aufl. 2018, Vor §§ 328 Rz. 8; Mennemeyer in: Fahrendorf/Mennemeyer, Die Haftung des Rechtsanwalts, 9. Aufl. 2017, Rz. 359. Für einen AGB-mäßigen Ausschluss insoweit auch Mäsch in: BeckOGK-BGB, 1.1.2019, § 328 Rz. 199.1. Hingegen insoweit für eine Herleitung des Drittschutzes allein aus § 242 BGB Hadding in: Soergel, BGB, 13. Aufl. 2014, Anh. § 328 Rz. 7.

Auf Erkundung zu gemeinsamen europäischen Rechtsüberzeugungen HELMUT ZIPPERER Inhaltsübersicht I. Grundlagen in Entstehung und Wandel II. Perpetuatio fori III. Zeit und Raum der EuInsVO 1. Zeitpunkt der Anwendbarkeit 2. Allgemeiner Gerichtsstand des Anfechtungsgegners in einem Nichtmitgliedstaat

IV. Vorbehaltlich des Vorbehalts V. Mit Zurückhaltung nach Europa VI. Getrennte Gemeinsamkeiten VII. Aus- und Fortklang

Seit geraumer Zeit hat es Europa in die Schlagzeilen geschafft, nicht immer mit erfreulichen Nachrichten. Aber zum Trost, es wird wieder mehr an die Entstehungsgründe des vereinigten Europas erinnert und seine darin eingewebte Friedensbotschaft ist aktueller denn je. Doch soll davon im Folgenden nur am Rande die Rede sein, indem Etappen auf dem Weg zur Schaffung eines Raums des Rechts gemäß dem 1. ErwG zur VO (EG) 1346/2000 vom 29. Mai 2000 erneut beschritten werden. Dazu geben die Verdienste des Geehrten hinreichend Anlass, hat er seit seiner Zugehörigkeit zum IX. Senat prägende Entwicklungslinien zum europäischen Insolvenzrecht gezogen. I. Grundlagen in Entstehung und Wandel Was aber bedeutet das europäische Recht in seiner inländischen Anwendung? Ein Beispiel mag dies erhellen. Nach § 108 ZPO ist die Sicherheitsleistung durch „(…) Bürgschaft eines im Inland zum Geschäftsbetrieb befugten Kreditinstituts (…) zu bewirken.“ Das forderte die Freizügigkeit der Finanzdienstleistungen der Art. 58 Abs. 2, 63 AEUV heraus;1) eine Aufgabe, der sich die Gerichte ab Mitte der 90er Jahre des letzten

1)

Mansel in: Staudinger, Neubearb. 2012, Vorb. §§ 765 – 768 Rz. 114.

1160

Helmut Zipperer

Jahrhunderts stellten.2) Fragen dieser Art sind heute längst Alltag, aber bis dahin brauchte es immer der Initiative Einzelner. Als der Jubilar im Jahre 2001 zum IX. Senats stieß, war das Feld des internationalen Insolvenzrechts noch weitgehend unbestellt. Der Gesetzgeber hatte zum Inkrafttreten der InsO detaillierte Vorschriften in einem Entwurf vorgesehen (§§ 379 – 399 RegE InsO),3) doch den strich der Rechtsausschuss in Erwartung der sicher geglaubten Unterzeichnung des Europäischen Insolvenzübereinkommens vom 23. November 19954) und ersetzte ihn durch den fragmentarischen Art. 102 EGInsO a. F.5) Der ließ wesentliche Fragen ungeregelt, etwa die Zulässigkeit selbständiger oder unselbständiger Partikularinsolvenzen, ebenso die jeweilige Antragsbefugnis.6) Verbleibende Lücken sollte behelfsweise der Rückgriff auf die §§ 379 ff. RegE InsO schließen, aber das europäische Dach blieb vorerst ungedeckt. Erst am 31. Mai 2002 trat gemäß Art. 47 EuInsVO a. F.7) die Verordnung (EG) Nr. 1346/2000 des Rates vom 29. Mai 2000 über Insolvenzverfahren in Kraft.8) Der Gesetzgeber folgte dem mit der Neuregelung des Internationalen Insolvenzrechts durch Überführung der §§ 379 ff. RegE InsO in die §§ 335 ff. InsO.9) Das autonome Internationale Insolvenzrecht sollte zumindest in gewissen Bereichen „weniger kooperationsfreundlich“ sein als die EuInsVO a. F.10) 2)

3) 4)

5) 6) 7)

8) 9) 10)

OLG Koblenz, Beschl. v. 29.3.1995 – 2 W 105/95, RIW 1995, 775; OLG Hamburg, Beschl. v. 4.5.1995 – 5 U 118/93, NJW 1995, 2859, taugliche Bürgen also nur Banken mit Hauptsitz in einem anderen Vertragsstaat des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) mit einer inländischen Zweigniederlassung; vgl. Begr. RegE ZPO-RG, BT-Drucks. 14/4722, S. 75. Und ausländische Banken ohne Zweigniederlassung, vgl. Schulz in: MünchKomm-ZPO, 5. Aufl. 2016, § 108 Rz. 41. Begr. RegE InsO, BT-Drucks. 12/2443, S. 68 f. und 239 f. Sie scheiterte an der Zustimmung Großbritanniens im Gefolge der BSE-Krise; vgl. Kolmann/Keller in: Gottwald, Insolvenzrechts-Handbuch, 5. Aufl. 2015, § 131 Rz. 1 und 2. Dieser wiederum griff § 22 GesO auf. Stephan in: HK-InsO, 8. Aufl. 2016, Vor §§ 335 ff. Rz. 14. Artikelangaben ohne Zusatz sind solche der Verordnung (EU) 2015/818 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 20.5.2015 über Insolvenzverfahren, ABl. (EU) L 141/19 v. 5.6.2015. Artikelangaben der Verordnung (EU) Nr. 1346/2000 sind mit dem Zusatz a. F. versehen. Verordnung (EU) Nr. 1346/2000 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 29.5.2000 über Insolvenzverfahren, ABl. (EU) L 160/1 v. 30.6.2000. Gesetz zur Neuregelung des Internationalen Insolvenzrechts v. 14.3.2003, BGBl. I 2003, 345. Begr. RegE Gesetz zur Neuregelung des Internationalen Insolvenzrechts, BT-Drucks. 15/ 16 S. 13, 14.

Auf Erkundung zu gemeinsamen europäischen Rechtsüberzeugungen

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Dem Rechtsanwender boten sich danach im Rückblick alles andere als klare, praxiserprobte gesetzliche Handlungsanweisungen. Erst die folgenden Jahre formten daraus eine tragfähige und berechenbare europäische Insolvenzrechtsordnung. II. Perpetuatio fori Mit Beschluss vom 27. November 200311) legte der IX. Senat dem Europäischen Gerichtshof die Frage vor, ob das Gericht des Mitgliedstaats, in dem der Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens gestellt wurde, für die Eröffnungsentscheidung zuständig bleibt, wenn der Schuldner nach Antragstellung, aber vor der Eröffnung den Mittelpunkt seiner hauptsächlichen Interessen in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats verlegt hat. Unter Zugrundelegung des von den Digesten geprägten12) § 261 Abs. 3 Nr. 2 ZPO kommt die Vorlage überraschend. Hätte nicht der römischrechtliche Ursprung eine gemeinsame Rechtsüberzeugung vermuten lassen? Ob die perpetuatio fori auf die internationale Zuständigkeit Anwendung findet, darum geht es bei Art. 3 Abs. 1 EuInsVO, ist umstritten.13) Stellte man auf den Wohnsitz bzw. den Ort der Tätigkeit des Schuldners zum Zeitpunkt der Eröffnung ab, wäre der neue Sitz international Zuständigkeitsbestimmend.14) Art. 4 EuInsVO a. F. (= Art. 7 EuInsVO) verlange nicht den Fortbestand der Zuständigkeit bei Antragstellung, vielmehr führe die Verlegung des Center of Main Interest (COMI) zu einem Wechsel des anwendbaren Rechts.15) Allerdings begünstige diese Auffassung das Forum Shopping (ErwG 4 a. F. = ErwG 5) und die auf die Zuständigkeit gestützte universelle Wirkung des Verfahrens ignoriere den Ort des zu verwaltenden Vermögens (ErwG 12 a. F. = ErwG 23).16) Die Antworten des Europäischen Gerichtshofs17) sind hinreichend bekannt, er rückt unvermittelt das Ziel, Forum Shopping zu verhindern in den Vor11) 12)

13) 14) 15) 16) 17)

BGH, Beschl. v. 27.11.2003 – IX ZB 418/02, ZIP 2004, 94. Dig. 5.1.30: „Ubi acceptum est semel iudicium, ibi et finem accipere debet“ = Dorthin, wo der Streit seinen ordnungsgemäßen Anfang genommen hatte und muss er auch zurückkehren. Becker-Eberhard in: MünchKomm-ZPO, 5. Aufl. 2016, § 261 Rz. 86. BGH, Beschl. v. 27.11.2003 – IX ZB 418/02, III. 3., ZIP 2004, 94, 95/96. BGH, Beschl. v. 27.11.2003 – IX ZB 418/02, III. 3. b), ZIP 2004, 94, 96, und auch zur Befugnis zum Erlass von Sicherungsmaßnahmen. BGH, Beschl. v. 27.11.2003 – IX ZB 418/02, III. 3. a) und c), ZIP 2004, 94, 96. EuGH, Urt. v. 17.1.2006 – Rs. C-1/04 (Susanne Staubitz-Schreiber), ZIP 2006, 188.

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dergrund (ErwG 4 a. F. = ErwG 5). Dieses würde verfehlt, könnte der Schuldner durch Verlegung seines COMI das anwendbare Recht bestimmen.18) Die Gläubiger müssten andernfalls um den Preis der Effizienz und Wirksamkeit des Verfahrens dem Schuldner in ein ihnen unbekanntes Rechtssystem nachfolgen (ErwG 2 und 8 a. F. = ErwG 3 und 8).19) Schwierigkeiten bei der Verfahrensabwicklung aufgrund der („rigiden“) universellen Ausdehnung der Verfahrenswirkungen fangen Sekundärverfahren oder vom zuerst beauftragten Verwalter initiierte Sicherungsmaßnahmen auf.20) Für den Zivilprozess gilt, national wie europäisch, Zuständigkeitsvorschriften sind i. S. der Vorhersehbarkeit des Orts der potentiellen Gerichtspflichtigkeit des Beklagten auszulegen.21) Trägt das im Insolvenzrecht, wo Multipolarität herrscht?22) Die Entscheidung über die Vorlage muss alle Beteiligten in den Blick nehmen: Den Schuldner, der nicht die Hoheit über die Zuständigkeitsbestimmung erlangen dürfe, die Gläubiger, denen Rechtssicherheit bei der einmal begründeten Zuständigkeit zu gewähren sei. Der Europäische Gerichtshof tarierte in seiner Entscheidung den Konflikt zwischen Niederlassungsfreiheit und Vorhersehbarkeit aus. Dem folgend, sind heute nicht nur die périodes suspectes des Art. 3 Unterabs. 2 – 4 EuInsVO, jeweils Satz 2, einzuhalten, darüber hinaus sollte der Schuldner seine Adressänderung offenlegen (ErwG 28 Satz 2), will er nicht in den 18) 19) 20) 21)

22)

EuGH, Urt. v. 17.1.2006 – Rs. C-1/04 (Susanne Staubitz-Schreiber), Rz. 24, ZIP 2006, 188. EuGH, Urt. v. 17.1.2006 – Rs. C-1/04 (Susanne Staubitz-Schreiber), Rz. 26 f., ZIP 2006, 188, 189. EuGH, Urt. v. 17.1.2006 – Rs. C-1/04 (Susanne Staubitz-Schreiber), Rz. 28, ZIP 2006, 188, 189. Vollkommer in: Zöller, ZPO, 32. Aufl. 2018, Einl. Rz. 93. ErwG 15 und 16 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des europäischen Parlamentes und des Rates v. 12.12.2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. (EU) L 351/1 v. 20.12.2012: „(15) Die Zuständigkeitsvorschriften sollten in hohem Maße vorhersehbar sein und sich grundsätzlich nach dem Wohnsitz des Beklagten richten. (…) Der Sitz juristischer Personen muss in der Verordnung selbst definiert sein, um die Transparenz der gemeinsamen Vorschriften zu stärken und Kompetenzkonflikte zu vermeiden. (16) Der Gerichtsstand des Wohnsitzes des Beklagten sollte durch alternative Gerichtsstände ergänzt werden, die entweder aufgrund der engen Verbindung zwischen Gericht und Rechtsstreit oder im Interesse einer geordneten Rechtspflege zuzulassen sind. Das Erfordernis der engen Verbindung soll Rechtssicherheit schaffen und verhindern, dass die Gegenpartei vor einem Gericht eines Mitgliedstaats verklagt werden kann, mit dem sie vernünftigerweise nicht rechnen konnte. (…)“. BVerfG, Beschl. v. 23.5.2006 – 1 BvR 2530/04, Rz. 40, ZIP 2006, 1355 = NZI 2006, 453, 455.

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Verdacht geraten, sein Umzug wolle nur die Gläubiger benachteiligen (ErwG 30 Satz 3). Diese Sicht ist ebenso europäisch wie deutsch,23) eine Rechtsüberzeugung, die sich gemeinsam tragen lässt. III. Zeit und Raum der EuInsVO 1. Zeitpunkt der Anwendbarkeit Das erwähnte Verfahren hatte sich darüber hinaus mit dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der EuInsVO 1346/2000 zu befassen. Nach Art. 47 EuInsVO a. F. war das am 31. Mai 2002 der Fall, doch ging im Entscheidungsfall der Antrag des Eröffnungsverfahrens bereits am 6. Dezember 2001 bei Gericht ein.24) Nach dem Bundesgerichtshof25) bedeute das Abstellen des Wortlauts des Art. 43 Satz 1 EuInsVO a. F. auf den Zeitpunkt der Eröffnung nicht, sämtliche Bestimmungen der EuInsVO seien nur auf nach dem 31. Mai 2002 bereits eröffnete Insolvenzverfahren anwendbar. Art. 43 Satz 1 EuInsVO a. F. schließe den (zeitlichen) Geltungsbereich der EuInsVO nur für solche Insolvenzverfahren aus, die schon vor dem 30. Mai 2002 eröffnet worden seien (vgl. auch Art. 44 Abs. 2 EuInsVO a. F.). Vor der Eröffnung brauche es Art. 3 EuInsVO, um die Zuständigkeit zu klären. Das In-Kraft-Treten i. S. der EuInsVO meint deshalb mit Art. 16 Abs. 1 EuInsVO a. F. (= Art. 19 Abs. 1 EuInsVO) den Eintritt der Eröffnungswirkungen des Insolvenzverfahrens. Der Europäische Gerichtshof hielt sich mit dieser Frage nicht lange auf, Art. 43 Satz 1 EuInsVO a. F. sei dahin zu verstehen, dass die Verordnung Anwendung finde, wenn bis zu ihrem In-Kraft-Treten am 31. Mai 2002 noch keine Entscheidung zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens ergangen sei, auch wenn der Eröffnungsantrag vor diesem Zeitpunkt gestellt wurde.26) In späterer Zeit erstreckte der Gerichtshof die Rechtsprechung auch auf den Fall, in dem das Verfahren eröffnet wurde, bevor der Staat Mitglied der EU war, die Mitgliedschaft aber zum Zeitpunkt der späterhin erhobenen 23) 24) 25) 26)

EuGH, Urt. v. 17.1.2006 – Rs. C-1/04 (Susanne Staubitz-Schreiber), Rz. 28, ZIP 2006, 188, 189. Er wurde am 10.2.2002 mangels Masse abgewiesen. BGH, Beschl. v. 27.11.2003 – IX ZB 418/02, III. 2., ZIP 2004, 94, 95. EuGH, Urt. v. 17.1.2006 – Rs. C-1/04 (Susanne Staubitz-Schreiber), Rz. 21, ZIP 2006, 188: „So verhält es sich in der vorliegenden Rechtssache, da die Beschwerdeführerin ihren Antrag am 6. Dezember 2001 gestellt hatte und bis zum 31. Mai 2002 noch keine Entscheidung zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens ergangen war.“

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(Annex-)Klage bestand.27) Die Prioritätsregel und das gegenseitige Vertrauen schaffen die Grundlage der automatischen Anerkennung, unverzichtbar auch dann, wenn das Verfahren nach dem 31. Mai 2002 eröffnet und wirksam wurde.28) Zusätzlich dehnt die Entscheidung, Rechtssicherheit gewährend, bei Sonderanknüpfungen für dingliche Rechte den Vertrauensschutz aus.29) Erkennbar nehmen der Europäische Gerichtshof wie auch der Bundesgerichtshof eine „Vorwirkung“ bestimmter Teile der EuInsVO an, was nicht ohne Weiteres mit dem Rückwirkungsverbot des Art. 297 Abs. 1 Unterabs. 3 AEUV in Einklang zu bringen ist.30) Gerechtfertigt ist das entweder nur, um Nachteile von der Gemeinschaft abzuwenden,31) oder, wenn das berechtigte Vertrauen in die Fortgeltung der bereits eingetretenen Wirkungen überwiegt.32) Die von beiden Gerichten gebrauchten Formulierungen sind Anlehnungen an die auch für das internationale Privatrecht leitenden Grundsätze, die in der Vergangenheit verwirklichten Tatbestände und ihre Rechtsfolgen nach dem bisherigen Recht zu beurteilen.33) Das gebietet bereits das Vertrauensprinzip,34) ausgenommen, das neue Recht gibt ohnedies nur das wieder, was bereits zuvor gemeinsamer Rechtsüberzeugung entsprach. Darauf lassen sich die referierten Entscheidungen zurückführen. Art. 3 EuInsVO und die auf ihn gestützte Anerkennung des Art. 19 EuInsVO beruhen auf der Prioritätsregel (§ 3 Abs. 2 InsO),35) die ihrerseits bereits vor Inkrafttreten der EuInsVO und auch außerhalb ihres Anwendungsbe-

27) 28) 29)

30) 31) 32) 33)

34) 35)

EuGH, Urt. v. 5.7.2012 – Rs. C-527/10 (Legfelsőbb Bíróság), Rz. 27, ZIP 2012, 1815, 1816. EuGH, Urt. v. 5.7.2012 – Rs. C-527/10 (Legfelsőbb Bíróság), Rz. 32 – 37, ZIP 2012, 1815, 1816 f. EuGH, Urt. v. 5.7.2012 – Rs. C-527/10 (Legfelsőbb Bíróság), Rz. 39 – 41, ZIP 2012, 1815, 1816 f. Das wirft die hier nicht zu klärende Frage der Fortdauer der EuInsVO zu dinglichen Rechten, die vor dem Brexit begründet, aber danach geltend gemacht werden, auf. Ruffert in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 297 AEUV Rz. 8. EuGH, Urt. v. 13.12.1967 – Rs. 17/67 (Neumann), Slg. 1967, 591, 611. EuGH, Urt. v. 31.3.1977 – Rs. 88/76 (Exportation des sucres/Kommission), Rz. 16, 19, Slg. 1977, 727. F. Sturm/G. Sturm in: Staudinger, BGB, 2012, Einl. IPR Rz. 823; Virgós/Schmit in: Stoll, Vorschläge und Gutachten zur Umsetzung des EU-Übereinkommens über Insolvenzverfahren im deutschen Recht, Erläuternder Bericht, S. 130 Nr. 303 a. E. F. Sturm/G. Sturm in: Staudinger, BGB, 2012, Einl. IPR Rz. 827. Dazu differenzierend Thole in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2014, § 343 Rz. 34 f.

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reichs allgemein anerkannt war und ist.36) Dem folgt der Vertrauensgrundsatz (ErwG 22 Satz 4, 23 Satz 3). Die Anwendung des Art. 8 EuInsVO auf Nichtmitgliedstaaten gibt den Rechtszustand wieder, der bereits vor ihrem Beitritt maßgeblich war; er ist unter Vertrauensgesichtspunkten unverdächtig. 2. Allgemeiner Gerichtsstand des Anfechtungsgegners in einem Nichtmitgliedstaat Ungeklärt war schließlich, das Eingreifen des Art. 3 Abs. 1 EuInsVO, wenn das Insolvenzverfahren in einem Mitgliedstaat eröffnet wurde, der Anfechtungsgegner aber seinen allgemeinen Gerichtsstand37) in einem Nichtmitgliedstaat (Schweiz) unterhält. Die Anfechtungsklage falle als Annexverfahren unter den Anwendungsbereich des Art. 3 Abs. 1 EuInsVO, aber nach dem Wortlaut sei offen, ob ein „einfacher“ oder „qualifizierter Auslandsbezug,“ also zumindest zu einem weiteren Mitgliedstaat vonnöten sei. Dafür sprächen ErwG 2 a. F. (= ErwG 3) und ErwG 8 a. F. (= ErwG 8), nicht aber das Ziel der Funktionssicherung des Binnenmarktes (ErwG 4 a. F. = ErwG 5), ganz zu Schweigen von der Anerkennung eines ergehenden Urteils.38) In seiner Antwort weist der Europäische Gerichtshof39) darauf hin, dass nicht sämtliche Vorschriften der EuInsVO einen grenzüberschreitenden Bezug voraussetzten, er sei weder zu verallgemeinern noch zu verabsolutieren.40) Die Ziele der VO, das „ordnungsgemäße Funktionieren des Binnenmarkts“ sicherzustellen (ErwG 2 – 4 a. F. = ErwG 3 – 5), aber auch eigennütziges „Forum Shopping“ zu verhindern (ErwG 4 a. F. = ErwG 5), seien nicht losgelöst von der Vorhersehbarkeit der Zuständigkeit umzusetzen.41) Dies wiederum sei verquickt mit dem Bestreben nach „Effizienzsteigerung und Wirkungsverbesserung grenzüberschreitender Verfahren“ (ErwG 8 a. F. = ErwG 8) und der damit zusammenhängenden „universel36) 37) 38) 39) 40) 41)

Das gilt für § 335 InsO, Reinhart in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2014, § 335 Rz. 9; aber auch § 343 InsO, Thole in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2014, § 343 Rz. 1. Oder seinen Wohnsitz oder satzungsmäßigen Sitz. BGH, Beschl. v. 21.6.2012 – IX ZR 2/12, Rz. 4 ff., ZIP 2012, 1467 = ZVI 2012, 346, 347. EuGH, Urt. v. 16.1.2014 – Rs. C-328/12 (Schmid), ZIP 2014, 181. EuGH, Urt. v. 16.1.2014 – Rs. C-328/12 (Schmid), Rz. 22 f., ZIP 2014, 181, 182. Beispielhaft werden die Art. 9 und 17 genannt. EuGH, Urt. v. 16.1.2014 – Rs. C-328/12 (Schmid), Rz. 35, ZIP 2014, 181, 183.

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len Geltung“ der Hauptinsolvenzverfahren (ErwG 12 a. F. = ErwG 23). Vor allem die Wirkungserstreckung lasse sich naturgemäß und ihrem Wortlaut nach nicht auf grenzüberschreitende Bezüge zwischen den Mitgliedstaaten verengen.42) Art. 3 Abs. 1 EuInsVO bestimme die internationale Zuständigkeit auch für Annexklagen und entspreche damit dem Grundsatz der Vorhersehbarkeit der gerichtlichen Zuständigkeit zur Förderung der Rechtssicherheit.43) Diese unionsinternen Harmonisierungsbemühungen sind unabhängig vom Wohnsitz des Anfechtungsgegners.44) Er sei gegenüber den Zielen der EuInsVO nachrangig, auch wenn sich das Urteil am Sitz des Anfechtungsgegners nicht vollstrecken lasse.45) Wiederum bemüht der Europäische Gerichtshof die allgemeinen Grundsätze von Vertrauen und Rechtssicherheit, eingebettet in ein System effizienter Verfahrensgestaltung. Diese Konsequenz überschreitet in der Tat die Grenzen der Europäischen Union, wenngleich der ErwG 25 eine hoheitliche Begrenzung des Wirkbereichs nahelegt. Das kommt nicht überraschend, ordnet doch § 339 InsO zum Schutz des Rechtsverkehrs46) die prinzipielle Maßgeblichkeit des Rechts des Staates der Verfahrenseröffnung an, die wie Art. 16 EuInsVO von der lex causae durchbrochen wird, falls sie die Unangreifbarkeit anordnet (dazu sogleich). Gleichwohl ist besonders Hervorhebenswert, der Europäische Gerichtshof vernachlässigt das Ergebnis einer solchen Annexklage. Verfahrenserfolg und Verfahrenseffizienz gehen im Zweifelsfall unterschiedliche Wege. Eine, so könnte man formulieren, besondere Art der Unbestechlichkeit der europäischen Richter. IV. Vorbehaltlich des Vorbehalts Der unverändert gebliebene Art. 13 EuInsVO a. F. (= Art. 16 EuInsVO) birgt, das zeigt ein weiteres Vorlageverfahren, ein Bündel von Auslegungs42)

43) 44) 45) 46)

EuGH, Urt. v. 16.1.2014 – Rs. C-328/12 (Schmid), Rz. 25, ZIP 2014, 181, 182. Dafür spreche bereits Art. 44 Abs. 3 lit. a. EuInsVO a. F. (= Art. 85 Abs. 3 lit. a EuInsVO), der überflüssig wäre, schlösse er nicht auch Drittstaaten ein. EuGH, Urt. v. 16.1.2014 – Rs. C-328/12 (Schmid), Rz. 27, ZIP 2014, 181, 182, und ErwG 8 a. F. = ErwG 8. EuGH, Urt. v. 16.1.2014 – Rs. C-328/12 (Schmid), Rz. 33, ZIP 2014, 181, 183. EuGH, Urt. v. 16.1.2014 – Rs. C-328/12 (Schmid), Rz. 37, ZIP 2014, 181, 183. Begr. RegE Gesetz zur Neuregelung des Internationalen Insolvenzrechts, BT-Drucks. 15/ 16, S. 19; Reinhart in: MünchKomm-InsO, 3. Aufl. 2014, § 339 Rz. 2.

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fragen. Sein Wortlaut lässt offen, ob er auch dann noch anzuwenden ist, wenn die vom Insolvenzverwalter angegriffene Auszahlung nach der Verfahrenseröffnung erfolgt. Daran könne gezweifelt werden, weil zu diesem Zeitpunkt das Vertrauen der Gläubiger nicht mehr geschützt sei.47) Ist das auch dann ausnahmslos richtig, wenn die Auszahlung aufgrund eines Absonderungsrechtes erfolge, was jenseits des Zuschnitts der Vorschrift liege?48) Beziehe die Vorschrift die Verjährungs-, Anfechtungs- und Ausschlussfristen nach der lex causae ein, obschon das Vertrauen nur dem Grunde nach und nicht gegenüber Einreden geschützt sei?49) Wie ist mit Formvorschriften zu verfahren; ist die Klageerhebung materiellrechtlich zu qualifizieren und von der lex causae bestimmt, oder ist sie reine Formvorschrift und folge der lex fori concursus?50) Die Antworten des Europäischen Gerichtshofes51) sind kurz und knapp. Art. 16 EuInsVO gelte grundsätzlich nicht für Handlungen, die nach der Eröffnung vorgenommen würden. Ab diesem Zeitpunkt könnten die Gläubiger keinen besonderen Schutz mehr beanspruchen.52) Soweit allerdings dem Gläubiger ein Absonderungsrecht zustehe, dürfe er den besonderen Schutz entsprechend ErwG 25 a. F. (= ErwG 68) reklamieren, der über die Eröffnung hinausreicht, um die praktische Wirksamkeit des Art. 8 Abs. 1 EuInsVO sicherzustellen.53) Art. 16 EuInsVO differenziere nicht zwischen Verjährungs-, Anfechtungsund Ausschlussfristen, auch nicht, ob eine Vorschrift verfahrensrechtlicher 47) 48) 49)

50) 51)

52)

53)

BGH, Beschl. v. 10.10.2013 – IX ZR 265/12, Rz. 16, ZIP 2013, 2167, 2169. BGH, Beschl. v. 10.10.2013 – IX ZR 265/12, Rz. 18, ZIP 2013, 2167, 2169. BGH, Beschl. v. 10.10.2013 – IX ZR 265/12, Rz. 21, ZIP 2013, 2167, 2169, und zur Gegenauffassung ZIP 2013, 2167, 2170 Rz. 23. Seitdem Art. 12 Abs. 1 lit. d Rom I-VO die Verjährung dem materiellen Recht zuordnet, handele es sich um eine in keiner Weise i. S. des Art. 16 lit. b angreifbare Handlung, ZIP 2013, 2167, 2170 Rz. 25. BGH, Beschl. v. 10.10.2013 – IX ZR 265/12, Rz. 27, 29, ZIP 2013, 2167, 2170 f. EuGH, Urt. v. 16.4.2015 – Rs C-557/13 (Lutz), ZIP 2015, 1030. Einleitend verweist der Gerichtshof, dass das vorlegende Gericht, was nicht geschehen ist, zunächst zu prüfen habe, ob das Pfändungspfandrecht ein dingliches Recht i. S. des Art. 5 EuInsVO a. F. (= Art. 8 EuInsVO) sei, worüber gemäß dem ErwG 25 a. F. (= ErwG 68) die lex rei sitae entscheidet (EuGH, Urt. v. 16.4.2015 – Rs C-557/13 (Lutz), Rz. 27 f., ZIP 2015, 1030, 1032). Dem dinglichen Recht stehen gemäß Art. 5 Abs. 4 EuInsVO a. F. (= Art. 8 Abs. 4 EuInsVO) die Nichtigkeit, Anfechtbarkeit oder relative Unwirksamkeit einer Rechtshandlung entgegen, die aber nicht durch „Klagen“ festgestellt werden müssten (ZIP 2015, 1030, 1032 Rz. 30). EuGH, Urt. v. 16.4.2015 – Rs C-557/13 (Lutz), Rz. 35 f., ZIP 2015, 1030, 1032. Der Vertrauensschutz des ErwG 24 Satz 2 a. F. (= ErwG 67 Satz 2) sei auf das erforderliche Maß zu beschränken. EuGH, Urt. v. 16.4.2015 – Rs C-557/13 (Lutz), Rz. 38, 42, ZIP 2015, 1030, 1033.

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oder materiell-rechtlicher Natur sei.54) Zwar sei Art. 16 EuInsVO der lex causae überantwortet,55) aber um eine einheitliche, von Diskriminierung freie Anwendung dieser Bestimmung zu garantieren, unterfallen auch verfahrensrechtliche Vorschriften ihrem Anwendungsbereich,56) gleichermaßen dürften aus demselben Grund von der lex causae zu Formvorschriften ausgestaltete Bestimmungen nicht von Art. 16 EuInsVO ausgeschlossen werden.57) Da Anfechtungsklagen aufgrund ihrer Publizität auch das Vertrauen Dritter schützen, erfasse die Ausnahmevorschrift des Art. 13 EuInsVO a. F. (= Art. 16 EuInsVO) aus Gründen des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit auch diese, wie immer sie der nationale Gesetzgeber ausformte (ErwG 24 a. F. = ErwG 67).58) Der Standpunkt des Europäischen Gerichtshofes ist verständlich. Sein Bestreben nach einheitlicher Anwendung des Art. 16 EuInsVO schützt in erster Linie vor willkürlichen Rechtsgestaltungen der Mitgliedstaaten hinsichtlich des Erfordernisses der Klageerhebung bei Anfechtungen. Eine dem nationalstaatlichen Recht entlehnter Anwendungsbereich der Ausnahmevorschrift, machte die Mitgliedstaaten zu den Herren der Auslegung. Das widerspricht nicht nur der Rechtssicherheit, sondern enttäuscht das Vertrauen derjenigen Gläubiger, nach Ablauf der Anfechtungsfrist keine weitere Masseschmälerung hinnehmen zu müssen. Diese haben in der Regel keine Vorstellung von reinen Formvorschriften, denn sie sind am Ergebnis orientiert, worauf europaweit dieselbe Antwort zu geben ist.59) V. Mit Zurückhaltung nach Europa Europarechtliche Akzente setzen nicht immer ein Vorlageverfahren gemäß Art. 267 Abs. 1 lit. b Unterabs. 2 und 3 AEUV voraus, wofür der IX. Senat60) anschaulich Beweis ablegte. Anlass bot ein deutscher Staats54) 55) 56) 57) 58)

59)

60)

EuGH, Urt. v. 16.4.2015 – Rs C-557/13 (Lutz), Rz. 47, ZIP 2015, 1030, 1033. EuGH, Urt. v. 16.4.2015 – Rs C-557/13 (Lutz), Rz. 46, ZIP 2015, 1030, 1033 – Art. 4 und 13 seien lex specialis gegenüber der Rom I-VO. EuGH, Urt. v. 16.4.2015 – Rs C-557/13 (Lutz), Rz. 48, ZIP 2015, 1030, 1033. EuGH, Urt. v. 16.4.2015 – Rs C-557/13 (Lutz), Rz. 55, ZIP 2015, 1030, 1034. EuGH, Urt. v. 16.4.2015 – Rs C-557/13 (Lutz), Rz. 54, ZIP 2015, 1030, 1034. Formvorschriften könnten sowohl materielle als auch verfahrensrechtliche Voraussetzungen darstellen, (, ZIP 2015, 1030 Rz. 52 mit Hinweis auf den Generalanwalt). Der EuGH unterlässt es bewusst, die Mitgliedstaaten auf ihre eingeschränkte Kompetenz bzgl. des autonomen Rechts zu verweisen. Es genügt ihm die unionsweite einheitliche Anwendung der EuInsVO, Kompetenzhierarchien sind nicht seine Sache. BGH, Beschl. v. 10.9.2015 – IX ZR 304/13, ZIP 2015, 2331.

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angehöriger, der nach England übersiedelte, dort Restschuldbefreiung erlangte und hier aufgrund einer Bürgschaft in Anspruch genommen wurde. Das Berufungsgericht hatte, um der erteilten Restschuldbefreiung etwas entgegenzusetzen, den ordre-public-Vorbehalt herangezogen und ihn u. a. darauf gestützt, es habe sich nicht von der ordnungsgemäßen Prüfung der internationalen Zuständigkeit durch das englische Gericht überzeugen können.61) Diesen Standpunkt beanstandete der Bundesgerichtshof in mehrfacher Hinsicht. Die Verlegung des COMI „allein zur Erlangung der Restschuldbefreiung“ sei nicht per se rechtsmissbräuchlich,62) ebenso wenig die nicht erwiesene Überzeugung von der ordnungsgemäßen Prüfung der Zuständigkeit durch den englischen Richter.63) Gegenteiliges folge nicht aus dem Wortlaut des Art. 26 EuInsVO a. F. (= Art. 33 EuInsVO),64) denn der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens (ErwG 22 Satz 3 a. F. = ErwG 65 Satz 3) verlange die überprüfungslose Anerkennung der Erstentscheidung hinsichtlich ihrer Beurteilung der Zuständigkeit.65) Ungeachtet der Erschwernisse im Einzelfall, die wegen der Effizienz und Wirksamkeit grenzüberschreitender Wirkungen hinzunehmen seien (ErwG 2 a. F. = ErwG 3), müsse der Betroffene die Gerichte im Eröffnungsstaat anrufen, um die mögliche Zuständigkeitserschleichung zu rügen.66) Diese Rechtslage bestätigt Art. 5 Abs. 1 EuInsVO für die Zukunft,67) womit der Verordnungsgeber nur das niederschreibt, was gemeinsamer Überzeugung entsprach. Das begrenze gleichermaßen den Anwendungsbereich des Art. 26 EuInsVO a. F. (= Art. 33 EuInsVO) auf Ausnahmefälle.68) Die Verlagerung des COMI liege nicht mehr im Interesse des ordnungsgemäßen Funktionierens des Binnenmarktes, wenn sie dem Schuldner eine günstigere Rechtsstellung zum Nachteil der Gläubigergesamtheit verschaffe (ErwG 5). Das Forum Shopping ist eine Ausnahme von der grundsätzlich anerkannten Niederlassungsfreiheit (Art. 15 Abs. 2 GR-Charta) und erfordert die Attribute „frauduleuse ou abusive.“ Nur wenn die Verlegung des COMI zu einer ungerechtfertigten Ungleichheit zwischen den Parteien eines Rechtsstreits in der Verteidigung ihrer jeweiligen Interessen führt, 61) 62) 63) 64) 65) 66) 67) 68)

BGH, Beschl. v. 10.9.2015 – IX ZR 304/13, Rz. 13, ZIP 2015, 2331, 2332. BGH, Beschl. v. 10.9.2015 – IX ZR 304/13, Rz. 12, ZIP 2015, 2331, 2332. BGH, Beschl. v. 10.9.2015 – IX ZR 304/13, Rz. 13, ZIP 2015, 2331, 2332. „(…) durch ein nach Art. 3 zuständiges Gericht (…)“. BGH, Beschl. v. 10.9.2015 – IX ZR 304/13, Rz. 8, ZIP 2015, 2331, 2331. BGH, Beschl. v. 10.9.2015 – IX ZR 304/13, Rz. 21, ZIP 2015, 2331, 2333. BGH, Beschl. v. 10.9.2015 – IX ZR 304/13, Rz. 22, ZIP 2015, 2331, 2333. BGH, Beschl. v. 10.9.2015 – IX ZR 304/13, Rz. 10, ZIP 2015, 2331, 2332.

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schlägt sie ins Verwerfliche um, folglich ist ihre Verhinderung ein legitimes gesetzgeberisches Ziel.69) Die dazu erforderlichen Feststellungen kann nur das gemäß Art. 3 Abs. 1 EuInsVO zuständige Gericht treffen. Darin liegt nicht nur die Vorwegnahme des Art. 5 Abs. 1 EuInsVO, sondern der Zugriff auf das sachnähere Gericht fördert die Effizienz der amtswegig festzustellenden Tatsachen i. S. des Art. 4 Abs. 1 Satz 1 EuInsVO, was wiederum der grenzüberschreitenden Wirkungserstreckung des Hauptinsolvenzverfahrens zugutekommt (ErwG 3). Der Beispielsfall zeigt Zweierlei, einmal wie tief das europäische Recht in die innerstaatlichen Verfahren hineinwirkt, zum anderen wie sehr die EuInsVO von allgemeinen Grundsätzen und damit von gemeinsamen Rechtsüberzeugungen geprägt ist. Wiederholt war vom „Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens“ die Rede, er fordert von jedem Mitgliedstaat, „abgesehen von außergewöhnlichen Umständen,“ davon auszugehen, dass alle anderen Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten.70) Der außerordentliche Ablehnungsgrund des Art. 33 EuInsVO ist „in Wirklichkeit“ nur bei der Unvereinbarkeit der anzuwendenden Entscheidung mit Unionsgrundrechten gegeben,71) also in Ausnahmefällen. So allein bleibt die automatische Anerkennung (Art. 19 EuInsVO) fundamental, schafft den Raum des Rechts (Art. 67 Abs. 1 und 4 AEUV) und seinen Zugang. VI. Getrennte Gemeinsamkeiten Die geschilderten Verfahren beschränken sich auf Entscheidungen im Einzelfall. Bleiben ihre rechtlichen Bewertungen singulär, oder gestatten sie, Verbindungslinien zu ziehen? Dafür spricht bereits der Begriff der gemeinsamen Rechtsüberzeugung, doch wie bestimmen sie den Entscheidungsfall? Das Verfahren des Art. 267 AEUV versteht sich als Instrument der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den innerstaatlichen Ge-

69) 70) 71)

EuGH, Schlussanträge (GA Colomer) v. 6.9.2005 – Rs C-1/04 (Susanne StaubitzSchreiber), Rz. 73, ZIP 2005, 1641, 1645. EuGH, Urt. v. 5.4.2016 – verb. Rs. C-404/15 und C-659/15, Rz. 78, NJW 2016, 1709, 1711. EuGH, Urt. v. 26.2.2013 – Rs. C-399/11 (Melloni), Rz. 45, EuZW 2013, 305, 308.

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richten.72) Der Europäische Gerichtshof entscheidet über die Auslegung der EuInsVO, wenn dies Einheit und Kohärenz des Unionsrechts erfordern (Art. 256 Abs. 3 Unterabs. 2). Dabei verdeutlicht er in erster Linie den systematischen Zusammenhang zwischen den einzelnen Bestimmungen der Verordnung. Aus dem Zweck, die einheitliche Anwendung des Unionsrechts zu sichern, folgt die Bindung des vorlegenden Gerichts „an die vom Gerichtshof vorgenommene Auslegung.73) So gelangt die europäische Rechtserkenntnis ins innerstaatliche Recht. Aber der Begriff der Kohärenz i. S. des Art. 256 Abs. 3 Unterabs. 3 erschöpft sich nicht in der Aufdeckung der Systematik eines Normgeflechts, er fordert nicht nur bloße Widerspruchsfreiheit und Konsistenz, sondern maßgeblich die Deutung der Normsätze aus einer Anzahl von Grundsätzen.74) Die Sicherung der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts ist damit immer auch die Selbstvergewisserung von den Grundlagen, auf denen die Union ruht. Auf Kohärenz bedachtes Argumentieren verlangt vom Europäischen Gerichtshof, seine Entscheidungen aus dem Grundsätzlichen zu entwickeln. Zwar trägt ihm das verschiedentlich den Vorwurf des „inflationären Gebrauchs“ ein,75) seine Entscheidungen sind allerdings vor dem Hintergrund zu sehen, dass sich der Gerichtshof aus Richtern zusammensetzt, die mehrere Rechtskulturen und -traditionen repräsentieren. Das Kollegium zieht sich zwangsläufig auf gemeinsame europäische Rechtsüberzeugungen zurück, die alle mittragen können, ganz i. S. des Auftrags gemäß Art. 256 Abs. 3 AEUV. Belege liefern die geschilderten Verfahren. Das Forum Shopping ist der „Keim des Bösen,“ der das gegenseitige Vertrauen in der Gemeinschaft aushöhlt. Deshalb gilt die perpetuatio fori, um die internationale Zuständigkeit der Disposition des Einzelnen zu entziehen. Vergleichbare Überlegungen, aber dieses Mal adressiert an die Mitgliedstaaten, bestimmen die

72)

73)

74) 75)

EuGH, Urt. v. 16.7.1992 – Rs. C-343/90 (Lourenço Dias), Rz. 14, Slg. 1992, I-4673; EuGH, Urt. v. 18.3.2004 – Rs. C-314/01 (Siemens und ARGE Telekom), Rz. 33, Slg. 2004, I-2549. EuGH, Urt. v. 24.6.1969 – Rs. 29/68 (Milch-, Fett- u. Eierkontor), Rz. 3, Slg. 1969, 165; EuGH, Urt. v. 3.2.1977 – Rs. 52/76 (Benedetti), Rz. 26 f., Slg. 1977, 163; EuGH, Urt. v. 14.12.2000 – Rs. C-446/98 (Fazenda Pública), Rz. 49 f., DVBl. 2001, 445, 448; BVerfG, Beschl. v. 8.4.1987 – 2 BvR 687/85, BVerfGE 75, 223, 244; BGH, Urt. v. 21.4.1994 – I ZR 31/92, II. 4. a), ZIP 1994, 1384, 1386. Philosophisches Wörterbuch, begr. von Schmidt, neu herausgegeben von Gessmann, 23. Aufl. 2009, Stichwort: Kohärenz. Mankowski, EWiR 2003, 767, 768 (Urteilsanm.).

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Auslegung des Art. 13 EuInsVO; das innerstaatliche Recht soll nicht über ihren Anwendungsbereich befinden. Der ordre public-Vorbehalt hat sich zum Funktionieren des Binnenmarktes strengen Restriktionen zu unterwerfen. Die automatische Anerkennung (Art. 19 EuInsVO) ist derart elementar für den Binnenmarkt, dass ihre Wirkungen schon vor dem Beitritt eines künftigen Mitgliedstaates eintreten und über die Staatsgrenzen der Gemeinschaft hinausgreifen müssen. Die Wirkkraft der gemeinsamen Rechtsüberzeugungen lässt sich bildhaft veranschaulichen. Die Bestimmungen der EuInsVO sind wie die Pilze im Wald, sie sind die sichtbaren Gewächse des Waldbodens. Unter der Oberfläche liegt das sie verbindende, unsichtbare Wurzelgeflecht, ohne das es Pilze nicht gäbe, die allgemeinen Rechtsgrundsätze. Ihre Anwendung im Einzelfall bedeutet, aus der Kraft des Gemeinsamen, die ihnen sprießenden Früchte gedeihen zu lassen. So werden die Grundsätze zum integrierenden Faktor der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes, die in der nationalen Rechtsprechung fortwirkt. Dieser Prozess vollzieht sich vor dem Hintergrund der großen Unterschiede der mitgliedstaatlichen Insolvenzrechte, das die universelle Wirkung eines einzelnen Verfahrens an Grenzen stoßen lässt (ErwG 22 Satz 1 ff.). Die universelle Wirkungserstreckung will der Verordnungsgeber nicht „gewaltsam“ anordnen, stattdessen durch Sonderanknüpfungen und Partikularverfahren „abfedern.“ Diese Einheit durch Vielheit funktioniert nur, wenn über das Trennende hinaus eine gemeinsame Rechtsüberzeugung herrscht, die immer zum Verbindenden strebt. Letzteres meint die Aufgabe der Schaffung des Raums der Freiheit und des Rechts (Art. 67 Abs. 1 EuInsVO). Diese Zielbestimmung soll bei Achtung der verschiedenen Rechtsordnungen und -traditionen u. a. grenzüberschreitende privatrechtliche Rechtssicherheit durch gegenseitige Anerkennung (Art. 67 Abs. 4 EuInsVO) schaffen.76) Hier nimmt Art. 19 Abs. 1 EuInsVO eine „Vorreiterstellung“ ein, die nationalstaatliche Korrekturen nur unter den engen Voraussetzungen des Art. 33 EuInsVO zulässt. Dies und die europarechtskonforme Rechtsprechung leisten den unverzichtbaren Beitrag, die Grundmauern Europas stets aufs Neue zu befestigen.

76)

Röben in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union: EUV/AEUV, 65. EL 8/2018, Art. 67 AEUV Rz. 11.

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VII. Aus- und Fortklang Der Jubilar hat an den geschilderten Verfahren mitgewirkt, er hat im Verein mit seinen Senatskollegen das innerstaatliche Recht europäisiert und damit die für Europa so notwendigen Initiativen entfaltet. Die Zusammenarbeit mit dem Europäischen Gerichtshof schildert er als „voll zufriedenstellend“ und „hilfreich,“77) die Vorlagen, so war das gewollt, dienten der Einheit und Einhaltung des Unionsrechts.78) Angesichts der Parallelität von Unions- und mitgliedstaatlichem Recht förderte das Zwischenverfahren des Art. 267 AEUV die Kontrolle der Anwendung des Unionsrechts in Deutschland.79) Aber auch dann, wenn der IX. Senat europäisch „autonom“ zu entscheiden hatte, verlies er nicht die vom Europäischen Gerichtshof vorgezeichneten gemeinsamen Rechtsüberzeugungen. Sie greifbar gemacht zu haben, ist das dauerhafte Verdienst des zu Ehrenden und die Verpflichtung seiner Nachfolge.

77) 78)

79)

Kayser, Die Rechtsprechung des IX. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs zum europäischen Insolvenzrecht, WM 2017, 505, 511. EuGH, Urt. v. 16.1.1974 – Rs. 166/73 (Rheinmühlen II), Rz. 2, Slg. 1974, 33; EuGH, Urt. v. 6.12.2005 – Rs. C-461/03 (Gaston Schul), Rz. 21, Slg. 2005, I-10513 = EuGRZ 2006, 253. Karpenstein in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union: EUV/ AEUV, 65. EL 8/2018, Art. 267 AEUV Rz. 4.