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German Pages 509 [512] Year 1996
mimesis Untersuchungen zu den romanischen Literaturen der Neuzeit Recherches sur les littératures romanes depuis la Renaissance
Herausgegeben von / Dirigées par Reinhold R. Grimm, Joseph Jurt, Friedrich Wolfzettel
23
Renate Kroll
Femme poète Madeleine de Scudéry und die
Max Niemeyer Verlag Tübingen
1996
Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Kroll, Renate: Femme poète : Madeleine de Scudéry und die / Renate Kroll. Tübingen : Niemeyer, 1996 (Mimesis; 23) NE: GT ISBN 3-484-55023-6
ISSN 0178-7489
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1996 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Druck: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten. Einband: Heinr. Koch, Tübingen.
Inhalt
Zu Forschungsstand und Problemstellung 1.
1.1.
1.2. 1.3. 1.4. 1.4.1. 1.4.2. 1.4.3. 1.5.
1.5.1.
1.5.2.
2.
2.1.
2.1.1.
Ungleichheit, Gleichheit und Differenz - Selbstbestimmungsversuche der intellektuellen Frau im absolutistischen Kulturprozeß
1
25
Die Begründung des Mensch-Seins aus dem Denken. Marie de Gournays Egalitätsmodell als erster Versuch einer Überwindung der Geschlechtsspezifik Zum Anteil der Frauen an Bildung, Wissenschaft und (Salon-)Kultur Abgrenzung, Selbstbestimmung und Kollektivbewußtsein: Die Preziösen auf der Suche nach Identität Aspekte der soziokulturellen Situation von Autorinnen . . Männliche Mehrfachbündnisse versus weibliche Salonfixiertheit Materielle, moralische und soziale Abhängigkeitsverhältnisse Die niederen Gattungen als Einstieg in das literarische Leben Zwischen Anpassung und Außenseitertum: Zum Selbstverständnis und Rollenbild der «femme poète», «femme de lettres», «femme auteur» Die Verleugnung schriftstellerischer Ambitionen durch Identifikation mit der «femme forte» oder «femme d'esprit» Die (Nicht-)Bewältigung der Außenseiterinnen-Position als «femme auteur» Schlußbemerkung
72 84
Madeleine de Scudéry im Aufbruch (1650-1660) Identitätssuche und Ansätze zu einer existentiellen und künstlerischen Befreiung
86
Die Konzipierung eines eigenen Universums Mythenbildung als Mittel der Selbstverständigung und Befreiung Die Selbstporträtierung der Madeleine de Scudéry als «Selbstsetzung»
27 35 42 51 53 59 65
68
68
86 90 V
2.1.2.
2.1.2.1. 2.1.2.2. 2.1.2.3. 2.1.3.
2.1.3.1.
2.1.3.2.
Histoire de Sapho: Die im Schreibvorgang sich manifestierende, in der literarischen Form ästhetisierte Sinnsuche: Eine Dichterin im Spannungsfeld zwischen Lebensrealität und literarischer Utopie Überwindung und Verarbeitung biographisch bedingter Restriktionen Abgrenzung von soziokultureller Kontingenz und normativ-typologischen Weiblichkeitsmustern Das Selbst als Faszinosum und das Schreiben als integraler Teil der Existenz Autonomiebestrebungen über den Weg der kommunikativen Poesie. Die «Samstags»-Konversation als Initiationsritus Egozentrik und Interaktion: Selbstfindung, Identitätssuche, Narzißmus, Gruppensolidarität, Machtgewinn und Lustmaximierung als zentrale Aspekte der Konversation Gruppensprache, und die Artikulation von Distinktionen. Die poetisierte Interaktion: die «Carte de Tendre» in Aktion - Abgrenzung und Mißtrauen als «jeu d'esprit» - Die Bedeutung des Unbedeutenden für den Selbstwerdungsprozeß Zusammenfassung und Ausblick
Die Durchkreuzung von Denkmustern: Der Entwurf einer lyrischen Vorstellung von Liebe im Bild der «Carte de Tendre» und von Krieg im Bild des «Mars Jardinier» 2.1.4.1. Zur «Carte de Tendre»: Die Komprimierung einer Wunschvorstellung in der Symbiose antinomischer Werte 2.1.4.2. Spontaneität und Meditation im Stegreifgedicht. Eine Vorstellung vom Kriegsgott: Der Prince de Conde als «Mars Jardinier» Schlußbemerkung
93 93 96 98
107
109
112 124
2.1.4.
2.2.
2.2.1. 2.2.2.
VI
Urania - ein Amalgam aus Muse und Prinzessin. Zur intellektuellen, sozialen und geschlechtsspezifischen Lokalisierung der Positionen von Madame de Longueville und Madeleine de Scudéry im Meinungsstreit um das Sonnet d'Uranie und Sonnet de Job Die Inkompatibilität des Vergleichbaren Madeleine de Scudéry zwischen Sympathisanten- und Proselytentum
125 125
129 135
136 136 143
2.2.3. 2.2.4. 2.2.5.
3.
3.1. 3.1.1. 3.1.2. 3.1.3. 3.1.3.1. 3.1.3.2. 3.1.3.3. 3.1.3.4. 3.1.4.
Die Kongruenz des ästhetischen Urteils Ein Klassenbündnis im literarischen Meinungsstreit . . . . Frauen als Leserinnen: Geschlecht und Rezeption. Die Sonett-Struktur - Repräsentanz und Nicht-Repräsentanz - Imaginierte und reale Existenzformen - Die Proliferation eines Diskurses Schlußbemerkungen
154 170
Madeleine de Scudéry als Hofsängerin im absolutistischen Frankreich: «Lyrisme officiel» - Heldentum und Panegyrik
172
Die Ästhetisierung der Friedensmoral («Quand on peut lancer le tonnerre / Il est beau de le retenir») Loyalität und Royalismus einer Panegyrikerin Die Außenpolitik Ludwigs XIV. und ihre poetische Kommentierung Die Einführung einer Technik des naiven Blicks Die Reduktion des Faktischen Die Distanzierung vom martialischen Idol Die Unterwanderung der Kriegsrealität Huldigungen an Frieden und Friedfertigkeit Ästhetik als Konsequenz moralischer Haltungen, oder: das Unheldische als panegyrisches Kapital. Perspektivenwechsel - Verzicht auf explizites Moralisieren - Moral als ästhetische Erfahrung - «style égal et naturel»
Die Äquivalenz konträrer Wertbegriffe in der Panegyrik zu Friedensabschlüssen («LOUIS Maître absolu de la Paix, de la Guerre») 3.2.1. Bilder und Vorstellungen von Ludwig XIV. - Die Simultaneität von «Mars» und «Auguste», «bras» und «cœur» 3.2.2. «Art panégyrique» als Balanceakt 3.2.2.1. Die Rolle von Kriegshandwerk und Kriegsschauplatz in Gedichten auf den Frieden 3.2.2.2. Die Äquivalenz von Krieg und Frieden 3.2.2.3. Das Faszinosum der militärischen Schlagkraft 3.2.3. Varianten panegyrischer Friedenskonzepte. Mlle de Vandeuvre - Mlle Lhéritier - Mme la Présidente de Brettonvilliers - Mlle Deshoulières - Mlle Bernard . . . 3.2.4. Zum und Begriff von Frieden
146 150
172 172 175 180 180 182 184 187
192
3.2.
196
197 200 200 204 207
210 220
VII
4.
4.1.
Panegyrische, elegische und lyrische Konzepte von «gloire» (Ruhm, Heldentum, Karriere) und «amour» («galanterie», «tendresse», «passion»)
225
Madeleine de Scudéry zwischen den Entwürfen einer staatsbejahenden Kultur, eines bürgerlichen Universums und weiblicher Fluchträume («N'ayant pas l'aisle assés forte / Pour ce rapide guerrier, Je reviens sur mon meurier»)
225
4.1.1.
Die poetische Würdigung der Königsfamilie als panegyrischer Entwurf einer «éthique de la gloire» . . . . 4.1.1.1. Zur Apologie eines göttlichen Heroismus durch poetische Stilisierung und Übersteigerung 4.1.1.2. Moral und Galanterie als Vehikel der Durchkreuzung des panegyrischen «gloire»-Begriffs 4.1.2. Entheroisierung des Heldischen und Demontage des bürgerlichen Karrieredenkens in Elegie, Vers-Epistel und Salongedicht 4.1.3. Die Relativierung des Heldentums durch weibliche Wertvorstellungen: Madeleine de Scudéry zwischen royalistischer Loyalität und (anti-)bürgerlicher Attitüde 4.1.4. Die Chance einer ganzheitlichen «raison de vivre» - Zur Verbindung einer «éthique de la gloire» mit «amour», «galanterie», «tendresse», «passion» 4.1.5. Varianten der Publizität subjektiver Perspektiven in der Panegyrik von Mme de Saliez («Je vous ai consacré sur la Mer sur la Terre, Ce que j'ai de plus précieux») - Exkurs 4.2.
4.2.1. 4.2.2.
4.2.3.
VIII
Madeleine de Scudérys Konzept einer Welt der Innerlichkeit: Ausbalancierung von «esprit» und «amour» sowie Gefühlsinszenierung als Strukturprinzipien der preziösen Lyrik «Poésie galante et enjouée»: Aspekte der Liebeslyrik der Madeleine de Scudéry Madeleine de Scudéry und Paul Pellisson als Exponenten eines neuen Stils. Zu «esthétique galante» und «style égal et naturel» «Code galant» und «code tendre» als symbiotische Einheit - die Distanzierung von der «Poesie Burlesque», dem Code der «coquets», «flateurs» und «vulgaires amans»
225 226 232
238
246
249
255
266
266
275
279
4.2.4.
Die Inszenierung des Gefühls in Elegie und Chanson: Überwindung des Petrarkismus und Distanzierung von der «poésie flatterie» 4.2.4.1. «Amour» als existentielles Bedürfnis und reziprokes Verhältnis 4.2.4.2. «Sincérité»: Authentizität des Gefühls und seine Verbalisierung (die Kongruenz von Gefühl und Ausdruck) 5.
«Vision du monde» und poetologisches Programm einer Lyrikerin im absolutistischen Frankreich - Versuch einer Neubestimmung des Begriffs der «poésie précieuse» . . .
Einordnungen und Abgrenzungen des Scudéryschen Lyrik-Begriffs - Zur «poésie précieuse» als «poésie galante», «poésie sérieuse», «poésie du sentiment» («renouveau de la sensibilité tendre») 5.2. Die Legitimierung der eigenen Poesie im Rekurs auf Jean Bertaut (1552-1611) 5.3. «Poésie des précieuses» als «poésie déprécieuse»: Zur Alterität einer (weiblichen) Lyrikkonzeption 5.3.1. Die Permanenz des erotischen Moments 5.3.2. Von den Differenzen zur Differenz 5.3.2.1. «Le babil» - von der Schamhaftigkeit zur Schalkhaftigkeit («Non-Sens» in der symbolischen Ordnung) 5.3.2.2. «Saphonisme» und «amitié amoureuse» - als Absagen an die «femme écrite» 5.3.2.3. Zur Ethik und Ästhetik des «débrutaliser»
284 285
290
295
5.1.
295 311 322 322 324 330 335 339
«Ecriture féminine» des 17. Jahrhunderts im geistesgeschichtlichen Kontext
345
Bibliographie
355
Anhang: Textsammlung
385
Vorbemerkungen Titelverzeichnis Abkürzungsverzeichnis Textkorpus
387 407 412 415
Index
493
IX
Die vorliegende Arbeit, die an der Universität Gießen begonnen wurde, hat wichtige Impulse von einem Forschungsaufenthalt an der State University of New York in Stony Brook bekommen, verdankt ihre endgültige Form und Ausrichtung aber dem scharfsinnigen und einfühlsamen Rat und Zuspruch von Professor Friedrich Wolfzettel (Universität Frankfurt), der sie in der Schlußphase engagiert und stimulierend betreute, wofür ich ihm an dieser Stelle ganz besonders danken möchte. Mit wohltuender Vorurteilslosigkeit, souveränem Überblick und inspirierender Neugier hat er das Unternehmen bis zum guten Ende begleitet. Daß die Professoren Grimm, Jurt und Wolfzettel die Arbeit für würdig befanden, in die MIMESIS-Reihe des Max Niemeyer-Verlages aufgenommen zu werden, ist Anlaß zu ausdrücklichem Dank, ebenso wie die überaus großzügige finanzielle Förderung der Drucklegung durch die VERWERTUNGSGESELLSCHAFT WORT. Frankfurt, im November 1995
X
Renate Kroll
Zu Forschungsstand und Problemstellung
Die französische Lyrik des frühen 17. Jahrhunderts galt lange Zeit als eine Dichtung des unpoetischen Schwulstes oder - in Lansons berühmter Formulierung - als das Produkt der «attardés et égarés».1 Die Kritik widmete sich allenfalls Malherbe, aber selbst in ihm sah sie weniger den Dichter als das historische Idol, den Reformer. 2 Erst im 20. Jahrhundert, besonders im Gefolge der Neudefinition des literarischen Barock- bzw. Manierismus-Begriffs, 3 entwickelte sich in der Literaturwissenschaft ein ästhetisch und historisch fundiertes Verständnis für die französische Lyrik bis 16504 - eine sich von der «poésie épique» und «poésie dramatique» vor allem auch durch ihr musikalisches Element unterscheidende «poésie lyrique». 5 Was die Lyrik der zweiten Jahrhunderthälfte angeht, so herrschte bis in die 70er Jahre dieses Jahrhunderts genereller Konsens in ihrer pauschalen Verurteilung, 6 die sich an Etikettierungen wie «crise» oder «médiocrité»
'Gustave Lanson: Histoire de la littérature française, Paris [10] 1908, p. 366. S. exemplarisch R e n é e Winegarten: French Lyric Poetry in the Age of Malherbe, Manchester 1954; Claude K. Abraham: Enfin Malherbe. The Influence of Malherbe on French Lyric Prosody 1605-1674, Lexington 1971; Robert Sabatier: «Malherbe et ses ». In: R. S., La poésie du dix-septième siècle, Paris 1975. 3 S. zusammenfassend zum Barockbegriff Jean Rousset: L'intérieur et l'extérieur. Essais sur la poésie et sur le théâtre au XVIIe siècle, Paris 1968, [3] 1988; Bernard Chédozeau: Le baroque, Paris 1989. 4 Grundlegende Arbeiten waren hier vor allem Odette de Mourgues: Metaphysical, Baroque and Précieux Poetry, Oxford 1953; Jean Rousset: La littérature de l'âge baroque en France, Paris 1954; Claude-Gilbert Dubois: Le baroque. Profondeurs de l'apparence, Paris 1973, Bordeaux 1992; Arnold Rothe: Französische Lyrik im Zeitalter des Barock, Berlin 1974; Critique et création littéraires en France au XVIIe siècle, Editions du CNRS, No. 557, Paris 1977; Wilfried Floeck: Die Literarästhetik des französischen Barock. Entstehung - Entwicklung - Auflösung, Berlin 1979. S. dazu auch David Lee Rubin: The Knot of Artifice. A Poetic of the French Lyric in the Early 17th Century, Columbus 1981; Gisèle Mathieu-Castellani: Mythes de l'éros baroque, Paris 1981; David Lee Rubin (ed.): La poésie française du premier 17e siècle. Textes et contextes, Tübingen 1986; Marlies Kronegger: The Life Significance of French Baroque Poetry, N e w York 1988. 5 Vgl. das Dictionnaire von Furetière (1690) zu «Lyre» und «Lirique» bzw. das Dictionnaire de l'Académie (1694) zu «Lyrique». 6 Ausführlich belegt bei Bernard Magné: Crise de la littérature française sous Louis XIV. Humanisme et Nationalisme, 2 vol., Lille/Paris 1976. 2
I
ablesen läßt. 7 Wie in einer Antiklimax zu den vorausgehenden Jahrzehnten durchlaufe die Lyrik seit den 50er Jahren zunächst eine «crise qualitative» 8 - nach dem Abklingen der produktiven Phase in den 70er Jahren auch eine «crise quantitative» - bis hin zum absoluten Tiefpunkt in den Jahren 1680-1690. Paul Hazard spricht angesichts der Massenproduktion einer ausschließlich im Dienste des Absolutismus stehenden Panegyrik («lyrisme officiel»), d.h. staatlich gelenkter und geförderter Propaganda in Versform, sogar von einer «époque sans poésie». 9 Durch die Personalunion von «poètes religieux», «poètes réalistes ou galants» verflachen die Lyriker zu «bien-disants», mündet ihr «lyrisme» in «exercice, jeu ou un travail sur la matière verbale [...] On touche à la poésie de l'intelligence pure, qui est presque un antilyrisme[.. .]».10 Die Analyse der (Salon-)Konversation fördert Einsichten zutage, wie die von der Nähe der Lyrik zu Kommunikation, 1 1 aber auch ihrer Reduzierung auf Eloquenz und Artikulationskunst; 12 Odette de Mourges sieht die «création poétique» bereits vor den Türen der Salons in einer Sackgasse angelangt: Il semble que toute l'évolution de la poésie française depuis le début du XVI e siècle ne se déroule que pour aboutir à une impasse de la création poétique [...] toutes ces musiques et bien d'autres encore sont venues mourir aux portes des salons. 13
Es ist sicher kein Zufall, daß gerade in dieser Zeit eine Fülle von poetologischen Texten entsteht, z. B. Desmarets' Discours de la poésie,14 L'art de la poésie15 und La defense de la poésie & de la langue française,16 Colletets
7
Bernard Magné, Crise de la littérature, t. 1, Kap. «La poésie perdue», p. 2 2 1 295. 8 Wobei Bernard Magné einen Zusammenhang zwischen der um diese Zeit einsetzenden literarischen Produktivität und der Mediokrität der Vielschreiber sieht. 9 P. Hazard: La crise de la conscience européenne (1680-1715), Paris 1933/35, [2] 1963, p. 315 sqq. Vgl. Jean Tortel: «Le lyrisme au XVII e siècle». In: Histoire des Littératures, Paris (Encyclopédie de la Pléiade) 1958, t. 3 (Littératures françaises, connexes et marginales), p. 339-403, hier p. 377, 378. 10 Vgl. Jean Tortel, p. 377, 378. 11 Vgl. Christoph Strosetzki: Konversation. Ein Kapitel gesellschaftlicher und literarischer Pragmatik im Frankreich des 17. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1978. 12 Vgl. Marc Fumaroli: L'âge de l'éloquence. Rhétorique et de la Renaissance au seuil de l'époque classique, Genève 1980. 13 O. de Mourges: O muse, fuyante proie ... Essai sur la poésie de La Fontaine, Paris 1962, [2] 1987, p. 10. 14 Jean Desmarets de Saint-Sorlin: Œuvres poétiques, zur Aufklärung» - für die Autorinnen de Scudéry, de Montpensier und d'Aulnoy konstatiert. 77 Darunter Diderot, Rousseau, Voltaire, Montesquieu und La Mettrie. 78 S. dazu R. Kroll: «Egalité?». 79 Enth. u.a. in La Pandore II, p. 229-244. 80 Ibid., p. 234. 81 Warum Nicole Aronson: Mademoiselle de Scudéry, p. 120 - in Anlehnung an
252
(Daß sie sich zum Schluß auf Gott beruft, erklärt sich aus der Themenstellung; in dieser Abhandlung sollte nicht «la gloire du monde», sondern «la gloire de Dieu» im Mittelpunkt stehen. 82 Überdies mußte sie bei ihrer Geringschätzung des hereditären Ruhms - und damit implizit des Königshauses - eine übergeordnete, höchste Instanz zitieren. Ein Tugendkonzept, wie sie es dem Urteil der höchsten weltlichen Instanz, der Académie, vorlegt, hätte sie wohl kaum auf ihre eigene Autorität gründen können. Bei der Konzeption ihres auf den Salon und den Freundeskreis gemünzten Tugendkonzepts, in dem sie ebenfalls den guten Charakter als höchsten Wert einstuft, kann sie auf die religiöse Komponente verzichten.) Das der preziösen Autorin aber ebenso wichtige Anliegen, «gloire» (d.h. auch einer männlichen Wertwelt) einen gleichrangigen Wert wie «amour» (eine weibliche Wertwelt) an die Seite zu stellen, läßt sich an den in der Prosa (Clélie, Conversation de la Gloire) aufgezeichneten Diskussionen über Verhältnis und Wertigkeit dieser beiden Kategorien zeigen; 83 ebenfalls an den späteren Entretiens de morale, wo das «gloire»Thema noch einmal in Form eines Gesprächs über eine «question d'amour» aufgenommen und die Frage diskutiert wird «Quelles sont les plus grandes, les douceurs de la gloire ou celles de l'amour?» 84 Madeleine de Scudéry, so läßt sich zusammenfassen, löst sich von einem für das weibliche Geschlecht (aus männlicher Perspektive) entworfenen «gloire»-Begriff, nach dem die «gloire» der Frauen in der «conquête amoureuse» liegt, wie es Paul Bénichou ausdrückt: «Chez les femmes, la gloire réside dans la conquête d'un époux puissant, époux royal.» 85 Sie denkt stattdessen universalistisch, d.h. sie versucht, die Verbindung einer «éthique de la gloire» mit «amour» - für beide Geschlechter - herzustellen. Daß Madeleine de Scudéry mit ihrem «gloire»-Begriff (entgegen den bisherigen Behauptungen in der Scudéry-Forschung) eine völlig eigenständige, unabhängige Auffassung vertrat bzw. daß sie der « eine für das Preziösentum bezeichnende Wendung ins Galante gegeben hat», hat Margot Kruse überzeugend herausgearbeitet. 86 Demnach kulminieren die Intentionen der Dichterin in dem Versuch zu zeigen, «que 1' Honneur, la Gloire, & l'Amour meslez ensemble, avoient inspiré de beaux sentimens au Héros & à l'Héroïne [.. .]»,87 d. h. nicht nur von der F. E. Sutcliffe - schreibt, daß in diesem Discours eher Balzacs als Scudérys Thesen vertreten sind, wonach sich «gloire» über äußeren Ruhm und öffentliche Anerkennung definiert, steht dahin. 82 Vgl. Margot Kruse: «La gloire du monde», p. 106sqq. 83 S. dazu ausführlich ibid. 84 Entretiens de morale, Paris 1692, t. 1, p. 170-215. 85 P. Bénichou: Morales du grand siècle, p. 27. 86 M. Kruse: «La gloire du monde», p. 107. 87 Histoire du Comte d'Albe. Zit. nach ibid., p. 110. 253
Äquivalenz dieser beiden Kategorien, sondern von ihrer Fusion zu einer idealen humanen Tugend überzeugt zu sein: «Que la gloire & l'amour quand on les joint ensemble, Sont un bien sans égal à qui rien ne ressemble.»88 Abschließend sei die eingangs gestellte Frage noch einmal aufgegriffen, nämlich wie Madeleine de Scudérys zunächst widersprüchlich erscheinende Position, ihre Rolle als Preziöse, Moralistin und Panegyrikerin, plausibel zu erklären ist. Über rein positivistische, soziohistorische Aspekte hinaus läßt sich dieser Widerspruch insofern über die einzelnen Texte auflösen, als Ruhm in Madeleine de Scudérys eigener Vorstellung wesentlich komplexer ist als es die Verwendung dieses Begriffs in der übrigen zeitgenössischen Panegyrik, Elegie oder Salonlyrik erwarten ließe. Die Begriffe Ruhm, Ehre, Größe und Heldentum sind nicht eindeutig gattungsspezifisch konnotiert, sie sind weniger nach Gattungen getrennt zu lesen als vielmehr sowohl in der panegyrischen wie auch in der elegischen Variante als vielgestaltig zu sehen. Madeleine de Scudéry bewegt sich in ihrer Lyrik zwischen Extremen: einem Außen- und einem Innenraum, einem monarchistischen, aristokratischen und bürgerlichen, männlichen und weiblichen Raum. Ihre Harmonisierungstendenzen lassen sich aber nicht nur als ästhetisches Signum der Barocklyrik schlechthin verstehen. Die Autorin, die über das Verseschmieden, d.h. auch die stereotype Verwendung begrifflicher Vorgaben hinausgeht, kommt zu poetischen Aussagen, die Umrisse einer überzeitlichen und übergeschlechtlichen Wertwelt erkennen lassen. In der französischen Ideengeschichte nimmt Madeleine de Scudéry einen Platz ein an der Schwelle zwischen der Affirmation normierter Gesellschaftlichkeit («gloire») und dem Beginn einer neuen Ich-Erfahrung («sincérité»). 89 Ihre Vorstellungen von «gloire» halten sich an die Oberfläche der sozialen Kontingenz. Angesichts der Bedeutungszunahme von «sincérité» im 17. Jahrhundert (von Pascals Pensées bis zu Madame de Lafayettes Princesse de Clèves) wird Madeleine de Scudéry die Unzulänglichkeit der «civilité mensongère» 90 deutlich: «Cependant à parler sincèrement tous les complimens sont des mensonges». 91 Den Zustand ohne «sincérité» bezeichnet sie als «universelle tromperie». 92 Im Zeichen der «sincérité» wird sie sich immer neuer Differenzierungen bewußt und bekennt sich zu dieser Erfahrung, indem sie die Spannung zwischen Glorifi-
88
Entretiens de morale. Zit. nach ibid., p. 114. Vgl. dazu auch Roland Galle: «Honnêteté und sincérité». In: F. Nies, K. Stierle (ed.), Französische Klassik, p. 33-58. ^Dieser Begriff stammt aus Madeleine de Scudérys Conversations nouvelles sur divers sujets, Paris 1684, p. 422-426. 91 Ibid., p. 426. 92 S. Mathilde d'Aguilar, p. 154. 89
254
zierung und Authentizität im lyrischen-panegyrischen Kontext zwar nicht löst, aber zumindest artikuliert. 4.1.5. Varianten der Publizität subjektiver Perspektiven in der Panegyrik von Mme de Saliez («Je vous ai consacré sur la Mer sur la Terre, Ce que j'ai de plus précieux») - Exkurs Gemessen an Madeleine de Scudérys Texten wirkt die Panegyrik anderer Autorinnen in La (Nouvelle) Pandore eher epigonal; das gilt ohne Ausnahme für die Beiträge von Mlle Bernard, Mme la Présidente de Brettonvilliers, Mlle de Chance, Mme de Chevry, Mme Dourlens, Mlle Heuvrard de Tonnerre, Mlle Itier, Mlle Lhéritier de Villandon, Mlle de Louvencourt, Mme le Camus de Melson, Mme de Platbuisson, Mme de Saliez, Mlle de Vandeuvre und Mlle de Villiers. Diese Autorinnen beschränkten sich auf wenige 93 und kleine panegyrische Stücke wie Madrigale, Sonette, «lettres en vers», «épîtres en vers», «prières», «bouquets», «portraits», «dixains», «quatrains»; es findet sich nur eine einzige Ode (Mlle Lhéritier de Villandon). Alle, auch die, die sich noch in anderen Gattungen betätigten, 94 waren Gelegenheitsdichterinnen und nicht genuine Lyrikerinnen. Dennoch, und vielleicht gerade weil die Vorgenannten (nur) waren, ist es lohnend zu untersuchen, ob und wo sie Konvention und Stereotypie durchbrechen. Antoinette de Salvan, Dame de Saliez, deren Panegyrik lediglich ephemere Bedeutung zukommt, bietet für diese Perspektive einige interessante Ansatzpunkte. Sie wurde 1638 in Albi geboren, wo sie am 14.6.1730 auch starb. Im Jahre 1660, im Alter von 22 Jahren, heiratete sie Antoine de Fontvielle, Seigneur de Saliez, wurde aber bereits mit 34 Jahren Witwe. Sie heiratete nicht wieder, sondern widmete sich fortan dem geistigen Leben, ohne ihre Heimatstadt zu verlassen. 1689 wurde sie zum Mitglied der Academia dei Ricovrati (Padua) ernannt und gründete selber im Jahre 1704 eine kleine Akademie, der sie den Namen Société de Chevaliers et de Chevalières de la bonne foi gab. Mme de Saliez hat zwei historische Romane verfaßt; der eine handelt von der Hohenzollern-Prinzessin La Comtesse d'Isembourgf5 er wurde in mehrere Sprachen, darunter auch ins Italienische 96 und Deutsche, übersetzt; der andere trägt den Titel 93
Zwischen einem (Mlle Heuvrard de Tonnerre, Mme de Chevry, Mlle de Vandeuvre, Mlle de Villiers) und 17 (Mme de Saliez) Beiträgen. 94 In Romanen, Novellen und Theaterstücken wie Mlle Bernard; in Novellen, Erzählungen, «historiettes», moralphilosophischen Schriften und Poemen wie Mlle Lhéritier de Villandon; in Erzählungen, einer «comédie en proverbes» und «poésies sérieuses et galantes» wie Mme la Présidente de Brettonvilliers, in Romanen und moralphilosophischen Schriften wie Mme de Saliez. 95 Paris 1678. 96 Von der Prinzessin Capisati. 255
Les Princesses de Baviere, Isabelle & Marguerite?1 Außerdem stellte Mme de Saliez einen Band mit Réflexions chrétiennes zusammen und verfaßte Paraphrases sur les Psaumes de la Pénitence sowie mehrere kleine Arbeiten in Prosa und in Versen, die sämtlich im Mercure Galant zwischen 1679 und 1704 erschienen sind. Die Lyrik-Sammlungen aus der Zeit zwischen 1662 und 1700 enthalten insgesamt 17 Stücke aus ihrer Feder, «sonnets», «bouquets», «épitres (en vers)», «prières» und Madrigale. Ihre Briefe 98 an M. de Vertron enthalten Anmerkungen zu Befindlichkeit, Stimmungen, Erfahrungen und Haltungen (auch zur Panegyrik), aber auch ästhetische Kommentare, Lebensweisheiten, Aphorismen und immer wieder Huldigungen an Vertron und das Königshaus. Vorlieben für Helden Ende der 80er Jahre, im unmittelbaren Zusammenhang mit der «Querelle des Anciens et des Modernes», entwickelt sich ein Wettstreit dieser beiden Fraktionen um den jeweils überzeugenderen literarischen Aufweis von Ludwigs überragender Größe. Die Anhänger der Anciens erheben den König in den Rang der größten Helden der Antike; die Anhänger der Modernes stellen die Helden der Antike in den Schatten Ludwigs und begreifen ihn als Klimax und Endpunkt einer historischen Entwicklung. Im Dienst dieser «Parallèle poétique» publiziert Claude-Charles Guyonnet de Vertron seinen Le Nouveau Panthéon, eine umfangreiche Sammlung panegyrischer Texte, an der auch Mme de Saliez beteiligt ist. Mme de Saliez, die sich hier als Moderne präsentiert, operiert ausschließlich mit den bekannten Formeln, Wendungen und Bildern, zum Beispiel in dem Sonett «Rome crut devenir Maîtresse de la Terre». 99 Ludwig XIV. ist der «Maître absolu de la Paix, de la Guerre»; er ist «Plus Grand que les Césars, plus craint que le Tonnerre», «Tout (gemeint sind «ses Exploits, ses Vertus & sa Félicité») [...] Brillera pour jamais dans sa Postérité.» In dem Sonett «Le Temple & le Héros tous deux dignes de gloire» benutzt sie das Klischee vom Tempel, den die Musen dem großen Helden errichten, um ihn der Nachwelt zu erhalten. Das Motiv, daß auf diese Weise sowohl die Kunst als auch die Helden überleben, ist aus der Renaissance-Lyrik vertraut (nicht zuletzt in der Variante einer Allianz zwischen Dichter und Held). Auch bei Mme de Saliez gehen Helden - gemeint ist jeweils Ludwig XIV. - mit ihren Sängern - hier den «Filles 97
Lediglich der Abbé Joseph de La Porte: Histoire littéraire des femmes françoises, erwähnt ihn (p. 121), allerdings ohne nähere bibliographische Angaben. 98 Enth. in Lettres de Mesdames de Scudéry, de Salvan de Saliez et de Mademoiselle Descartes, Paris 1806 und La Pandore II. "La Pandore II, p. 282-283.
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de Mémoire» - diese Symbiose ein, um sich gegenseitig Nachruhm zu sichern. 100 Mme de Saliez variiert allerdings das traditionelle Modell insofern, als sie sich bei den Qualitäten des «Héros», des Königs, auf die Globalisierungen «Conquérant fameux» und «rares vertus» beschränkt, 101 um die Leistung zweier «Tempelbauer» herauszustellen: die Gedichtsammlung Vertrons 102 und das Monument des (auch als Duc de la Feuillade bekannten) Vicomte d'Aubusson 103 (es ist das erste, das zu Ehren Ludwigs in der französischen Hauptstadt errichtet worden ist). Mme de Saliez, die auf der Seite der Helden steht und die provokante Frage stellt «Mais les autres Héros n'ont-ils pas des statues?», plädiert in ihrem Gedicht dafür, daß auch ihnen ein Altar errichtet wird 104 und daß ihnen Unsterblichkeit gebührt: «Qui fait l'homme Immortel, mérite l'Immortelle.» 105 Mme de Saliez bekräftigt immer wieder die Meriten Vertrons um den «Homme Immortel». 106 D e n Heldentaten Ludwigs dagegen begegnet sie reserviert, mit Ironie, Skepsis und kritischen Untertönen. Auch ihr Staunen und ihre Naivität («Eût-on crû que dans des Revers, Il se pût rencontrer tant de choses heureuses?») erweisen sich in diesem Kontext als gespielt, möglicherweise auch als rhetorisches Mittel der Infragestellung von Pseudo-Fakten und Superlativen. 107 Zur Inauguration des Nouveau Pantheon108 möchte Mme de Saliez ein Madrigal beisteuern, das die Größe Ludwigs zum Thema hat. Ludwig soll 100
Ibid., p. 303 (vv. 1 - 4 : «Le Temple & le Héros deux dignes de gloire, Seront toûjours vivans à la Postérité; Qui doute que des Temps l'un ne soit respecté, et l'autre ne le soit des Filles de Mémoire.»). 101 Ibid. (vv. 5-6: «D'un Conquérant fameux tu nous touches l'histoire, De ses rares vertus ce Temple est cimenté»). 102 Ibid. (vv. 7-8: «Ta plume le conduit à l'Immortalité/ Et tu suis le dessein qu'a tracé la Victoire.»). 103 Ibid. (vv. 9-10: «Du brave d'Aubusson l'Illustre Monument/ A l'honneur de Louis est un grand ornement.»). 104 Ibid., p. 304 (vv. 12-14: «Le tien mérité bien, qu'on lui dresse un Autel, C'est à quoy noblement, Vertron, tu t'évertues, En consacrant un Temple à cet HOMME IMMORTEL.»). 105 Aus «De la froide saison» (Bouquet). In: La Pandore II, p. 316-318. Auch hier ist Vertron gemeint. 106 Z. B. in dem Brief, den sie ihren Versen beifügt und in dem sie ihrer Bewunderung freien Lauf läßt: «Que tes Médaillés, cher Vertron, Te vont acquérir de renom, en peignant de Louis les actions fameuses/ Et tant de prodiges divers! Eût-on crû que dans des Revers, Il se pût rencontrer tant de choses heureuses?» Ibid., p. 301. 107 Verstärkt werden die Zwischentöne noch durch den darauffolgenden Topos der Wahrheitsbeteuerung, der innerhalb des panegyrischen Diskurses beinahe eine conditio sine qua non ist: «Travaille, Vertron, pour pour (sic) le Roy, Les Muses ne sont pas ingrates; L'on ne dira jamais de toy, Qu'en son Histoire tu le flattes.» Ibid., p. 302. 108 S. ihren Brief «Je vous félicite de votre Nouveau Pantheon [...]». In: La Pandore II, p. 290. 257
darin, das ist ihr Vorsatz, erscheinen als «Plus Grand que tous les Rois; plus Grand que tous les Dieux»; zu erwarten wäre ein Gedankengang, der (im Geiste der Modernes) einen Vergleich zwischen Ludwig und seinen heroischen Vorgängern anstellt und den schlüssigen Beweis seiner Überlegenheit antritt. Das Resultat entspricht allerdings nicht der poetischen Intention. Wenn auch die Verse in dem genannten Motto gipfeln, so hält sich Mme de Saliez doch dabei zurück, die Größe Ludwigs am Beispiel seiner eigenen Verdienste darzustellen. Stattdessen wird sie von der Beflissenheit, vom Eifer und Talent eines Vertron abhängig gemacht: Tout écrit aujourd'hui, tout parle de mon Roi, Des meilleurs Auteurs jusqu'à moi: Mais tout cede, Vertron, au succès de ton zélé, Ton Panthéon, ton Parallelle. Montrent à l'Univers ce Monarque pieux, Plus Grand que tous les Rois, plus Grand que tous les Dieux. 109
Der «Tempelbauer» ist der wahre Held. Mme de Saliez skizziert, wie das panegyrische System im Dienste der absolutistischen Propaganda funktioniert. Indem sie auf den faktischen Beweis (bzw. auf den obligaten Vergleich mit anderen großen Heroen) verzichtet und die panegyrische Produktion als Dokumentation der heldischen Größe anführt, löst sie den Konflikt zwischen königlichem Sein und Scheinen zugunsten der wahren Leistung des Tempelbauers Vertron auf. Mme de Saliez hat Vertron immerhin so weit geschätzt, daß sie ihn in die von ihr gegründete «Nouvelle Secte de Filosofes en faveur des Dames» aufnahm. 110 Vertron, der immer wieder die Damen um panegyrische Beiträge bat (und sich zu diesem Zweck sogar auf eine pseudo-egalitäre, höfisch-galante Kasuistik einließ), 111 galt in seiner Umgebung als «Protecteur du beau Sexe» - auch bei Mme de Saliez: «Mais ce qui touché plus mon cœur, Malgré vostre Interest, sans que rien vous arrête, De mon Sexe opprimé vous estes Protecteur.» 112 In der panegyrischen «Querelle des Anciens et des Modernes» hat sich Mme de Saliez eindeutig für Vertron entschieden. Sie benutzt die «Paralelle poétique» im Rahmen des Nouveau Panthéon dazu, ihn - und nicht den König - ins Zentrum zu rücken. Ihr gespaltenes Verhältnis zur Größe des Königs läßt sich auch in anderen Beiträgen nachweisen. 109
Ibid., p. 291. S. ihren Brief in ibid., p. 313. 111 S. die einleitende, über fünf Abhandlungen («Discours») geführte Diskussion im zweiten Band von La Pandore, angefangen von der «Defense du sexe masculin, contre l'excélence prétendu du Sexe Féminin» bis zum «Discours de l'égalité des Sexes», p. 1-122. 112 La Pandore II, p. 315; der Anfang des Widmungsgedichts lautet: «Je scay, Vertron, que vous estes Poète, Historiographe, Orateur, Galant, poly, sçavant, honnête, Et que ces qualités vous ont comblé d'honneur, Sans que leur éclat vous entête». U0
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Der Pakt mit dem Herrn In dem Psalm «Que le Seigneur, Grand Roy, prenne votre défence» 113 und in den beiden Gebeten «Je redouble, Grand Dieu, l'ardeur de ma priere» 114 bzw. «Seigneur, en te priant pour mon Roi magnanime» 115 paktiert sie mit dem Seigneur, der allerhöchsten Instanz, und relativiert damit die Position des Königs. Der Respekt vor dem Willen Ludwigs («Mais puisqu'il veut la Paix, Seigneur, je la désire») stellt sich, nach vielen rhetorischen Fragen und Zweifeln, nur in dem Maße ein, wie beide Interessen in dem Wunsch nach Frieden verschmelzen. Mme de Saliez' anfängliches Zögern, sich zum Frieden zu bekennen («Je ne puis m'y resoudre»), erweist sich dabei als rhetorische Strategie, um den Frieden als das Werk Gottes herauszustellen. Und auch erst in der Retroperspektive versteht man, daß Mme de Saliez Kritik an einem König geübt hat, für den das Glück allein im Kriegführen zu bestehen scheint: «La Guerre a pour luy seul des bonheurs sans revers». Auffällig an «psaume» und «prière» ist auch, daß sich Mme de Saliez mit dem angerufenen «Seigneur», «Grand Dieu» bzw. «le vrai Dieu» erstaunlich einig ist (auch duzt sie ihn zuweilen; den König siezt sie, entgegen der allgemeinen panegyrischen Praxis in La Pandore) und eine durchaus aktive Rolle übernimmt («Que puis-je demander?» «Que demander?»). Sie setzt sich für die Belange des Königs ein («Que le Seigneur prenne votre défence»), fällt Urteile («Il ne manque plus rien à sa félicité»), stellt seinen Ruhm und seine Größe in Frage («De la gloire? en est-il de si pure à tes yeux? Des Grandeurs?») und delegiert den Beweis seiner Größe an jene höhere Instanz («Faites voir que malgré les efforts [•••]») n 6 Unterschwellig entsteht auf der Seite der Panegyrikerin so etwas wie ein Quasi-Zuwachs an Macht, der sich auch im geheimen Triumph über den nun selbst zum Untergebenen gestempelten König manifestiert: «Qu'il est beau de le voir à tes ordres soûmis».117 Die aktive Rolle der Mme de Saliez und ihr Paktieren mit der Omnipotenz - Haltungen, die «psaume» und «prière» durchkreuzen - erlauben ihr eine andere Perspektive und plazieren sie in eine ungewohnte Rangordnung: da sie nicht, wie dies in anderen Gebeten üblich ist, in der ihr zustehenden Unterwürfigkeit unter beide Instanzen verharrt, schafft sie eine Konstellation, in der der König fragil und die Panegyrikerin als intellektuelle Kraft erscheint.
113
La Pandore II, p. 3 3 1 - 3 3 3 . Ibid., p. 334. 115 Ibid., p. 3 3 5 - 3 3 6 . 116 Ibid., p. 333. 117 Ibid., p. 335. 114
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In «Mortels, qui m'admirés» praktiziert Mme de Saliez noch eine andere Variante des Perspektivenwechsels. Sie maßt sich an, in Ludwigs Rolle zu schlüpfen - womit aus der Huldigung eine fingierte Selbstdarstellung wird: Mortels, qui m'admirés, vous ne sçauriés connoître Par mes soins sans relâche, & ma brillante ardeur, Ni par tous mes bien-faits qui font vôtre bonheur, Combien je suis plus Grand que je ne parois être! Et le Ciel seulement sçait toute ma Grandeur. 118
Die besondere Ironie liegt in der Se/ösierhöhung (die die Selbsterniedrigung zur logischen Folge hat). Auf einer Metaebene königlicher Selbsteinschätzung werden denn auch Eitelkeit, Vermessenheit und Naivität zugleich manifest. So redet der König die Sterblichen als seine Bewunderer an, brüstet sich mit seinen Qualitäten und erklärt über die Köpfe seiner Untertanen hinweg, daß er noch größer sei als es scheine. Eine solche hohe Meinung von sich selbst zu haben (und auszusprechen), dazu die Suggestion der noch größeren Größe, wirkt rührend und infantil, letztlich auch hilflos, da sich der König, um seine ganze Größe zu dokumentieren, auf eine Instanz berufen muß, die sich jeder Nachprüfung entzieht. Die Ansprache des Königs steht im Spannungsfeld von (hoher) SelbstEinschätzung und (geringer) Fremd-Einschätzung, von Selbstvertrauen, Anvertrauen und Gottvertrauen, d.h. auch im Spannungsfeld mehrerer «Größen», der weltlichen und himmlischen Einschätzung des Königs, aber auch der der Panegyrikerin und der des einfachen Volkes. O b sich Mme de Saliez der Ironie, die aus der Position des Palimpsests resultiert, bewußt war oder ob sie lediglich eine ungeschickte Panegyrikerin war, die das Huldigungsobjekt sich selbst relativieren läßt, bleibt offen. Eine gute Panegyrikerin war sie jedenfalls nicht: die panegyrische Perspektive, d. h. die Betrachtung des Königs in der dritten Person Singular, wäre schmeichelhaft gewesen. Die gleichen Worte hätten dann im Dienst der Darstellung eines Gottesgnadentums gestanden und deshalb ihren vollen Ernst behalten. Panegyrisches Lob, in den Mund eines Herrschers gelegt, gerät hier an die Grenze des Lächerlichen und Grotesken. Für die Beschreibung von Ludwigs Heldentum im Krieg rekurriert Mme de Saliez fast ausschließlich auf den bekannten Bildervorrat. Kriegstaten sind mit christlich verklärten Herkulestaten gleichgesetzt. Doch häuft die Autorin Bilder- und Gedanken-Klischees nicht einfach mechanisch an; ähnlich wie z. B. in den Louis XIV nach der Devise «Le Corps est le Soleil» gewidmeten Versen «Più Grande là Sù» 119 bedient sie sich der Sonettstruktur, um die Bedeutung der Heldentaten (die sie zum Klimax hin ansteigen 118 119
Ibid„ p. 293. Mit dem Incipit « G R A N D ROI, qu'on est heureux de vivre sous vos Lois!» In: La Pandore II, p. 154-156.
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läßt) zu Beginn des zweiten Terzetts in eine Moral münden zu lassen, die die Größe des Königs erneut relativiert, nämlich wieder in Bezug auf Gott, den höchsten Richter. Vor ihm muß jede andere Größe zu einem Nichts schrumpfen: «La Grandeur devant Dieu, n'est qu'un Point, qu'un Néant» (v. 12). Die Volte am Schluß, daß nämlich Ludwig selbst vor Gott groß erscheine, wirkt dabei reichlich artifiziell. Angesichts der hinter der Maske des Königs artikulierten Überzeugung, daß Gott allein in der Lage ist, Ludwigs ganze Größe zu beurteilen, spräche blanke Vermessenheit aus Mme de Saliez, wenn sie sich nicht, wie in den «prières» und «psaumes», im Interesse des Königs für eine Alliierte Gottes hielte, die sein Verdikt kennt. Andererseits mag die Orientierung der weltlichen Größe Ludwigs am Christentum nur ein frommer Wunsch der Mme de Saliez sein, besonders auch im Hinblick auf ihr persönliches Schicksal, das in den folgenden Stücken zur Sprache kommt. Muttergefühle
und
Heldentum
Mme de Saliez nimmt die panegyrische Anrede auch zum Anlaß, ihre eigene private Sphäre zu beleuchten - ein für diese Gattung in jener Zeit ganz und gar exzeptionelles, meines Wissens auch nur in diesem Fall praktiziertes Vorgehen. So schickt sie z.B. dem Madrigal «Astre charmant plus craint que le Tonnerre» 120 ein Motto voraus, in dem sie die Sonnenmetapher dazu benutzt, auf sich selbst und die eigene Familie anzuspielen; sie kombiniert den Sonnenglanz mit der Erde und dem Meer, wo ihre beiden Söhne als Soldaten für Ludwig kämpfen («Le CORPS est un Soleil qui éclaire également la Mer & la Terre, & une Femme qui dans un grand éloignement regarde [...]»). In die folgenden Verse des Madrigals läßt Mme de Saliez Reflexionen über ihr eigenes Schicksal einfließen («Je vous ai consacré sur la Mer sur la Terre, Ce que j'ai de plus précieux»), so daß sich im Verlauf des Gedichts herausstellt, daß hier weniger eine Panegyrikerin als eine um ihre Söhne klagende Mutter spricht. In ihrem Begleitbrief an Vertron stellt Mme de Saliez den biographischen Kontext her: «Je me suis peinte ici moi-même: Avoües, Monsieur [...] que cette Devise a du raport à mes Noms, & à l'état de mes deux Fils [.. .]».121 Hier wird insofern mit Gattungskonventionen gebrochen, als in einem Widmungsgedicht bewußt Persönliches angesprochen wird. War Mme de Saliez so egozentrisch, oder wollte sie an das Mitgefühl des Königs appellieren? Oder wollte sie gar an ein mütterliches Schicksal erinnern? Diese Fragen lassen sich nicht eindeutig beantworten, denn wir kennen nur 17 Gedichte von ihr. Soweit diese für unsere Fragen Aufschlüsse geben kön120 121
Ibid., p. 156. Ibid., p. 157. 261
nen, sind sie, zusammen mit entsprechenden Briefstellen, untersucht worden. Dabei ergibt sich folgendes Bild: Zum einen geht ihre Person möglicherweise als Identifikationsangebot in andere weibliche Figuren ein: die Grenzen zwischen dem Ich der Autorin, dem lyrischem Ich und dem der besungenen Figur verschwimmen. In dem der Schwiegertochter des Königs (Madame la Dauphine) gewidmeten Madrigal mit dem Motto «Amat Victoria Palmam» und der Devise «Le Corps est une Palme. Le mot Faccio e premio gli Eroi» 122 könnte zum Beispiel das lyrische Ich ein Amalgam aus Palme, Mme la Dauphine und Mme de Saliez sein. Alle drei werden - jeweils auf ihre Weise - von den Größten am stärksten herausgefordert, erfüllen dem Helden seine Wünsche und bringen dem SIEG ihre Früchte dar. Daß sich die Autorin mit einbezieht, ist umso wahrscheinlicher, als sie in ihrem Begleitschreiben an Vertron wiederum auf den biographischen Hintergrund anspielt: «Vous voyés, Monsieur, où se raportent les Fruits d'une Illustre VICTOIRE». 123 In einem anderen, ebenfalls an die Prinzessin gerichteten Madrigal 124 wird diese Identitätstrinität durch eine auf alle Beteiligten zutreffende Feststellung bekräftigt («Et je suis la Mère féconde/ Des plus Fameux Héros»). Zum anderen widersetzt sich Mme de Saliez ausdrücklich einer Trennung zwischen ihrem Privatleben und der Tätigkeit des Dichtens, d.h. eines mechanischen Funktionierens. Sie weiß, daß Emotionen die Reflexion behindern und lehnt aus diesem Grund auch weitere panegyrische Beiträge ab («J'ai toujours les meilleures intentions du monde: Mais il vous faut dire pour ma justification, que mon Esprit n'est bon à rien, lorsque mon Cœur est affligé.»). 125 Sie stellt dabei die rhetorische Frage, wie eine Tochter, die den Tod des Vaters beklagt und eine Mutter, die um ihre Söhne bangt, dichten und reimen, d. h. hier: den König lobpreisen soll. Den panegyrischen Auftrag empfindet sie als Anstrengung und Zumutung; 126 sie begründet ihren Widerstand mit Melancholie, Wehmut und Mattigkeit, aber auch mit der provinziellen Umgebung, die wenig Anregungen bietet; sie bezeichnet sich als «pauvre Muse Albigeoise». 127 Aber auch in einer Epistel in Versen an Madame de Maintenon, 128 die spätere Gefährtin (bzw. Gemahlin) des Königs, flicht Mme de Saliez ihr 122
Mit dem Incipit: «J'ai pour les plus grands Cœurs les plus puissans attraits». In: La Pandore II, p. 158. 123 Ibid., p. 159. 124 Mit dem Motto: «Heroum foecunda Parens» und dem Incipit: «Des plus fameux Héros que vit jamais le Mondt (sic)». In: La Pandore II, p. 159-160. 125 Ibid„ p. 151. 126 Ibid., p. 148. 127 Ibid„ p. 152-153. 128 «Illustre Maintenon, de chacun estimée, De Louis, de sa Cour, de ses Peuples aimée [...]». In: La Nouvelle Pandore, p. 370-375.
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Privatleben ein. Nach 64 Versen im Stil konventioneller Heldenverehrung spricht sie plötzlich von Frau zu Frau und präsentiert im Zusammenhang mit den Kriegstaten des großen Helden Ludwig auch ihren eigenen Beitrag, nämlich die Entsendung ihrer beiden jungen Söhne in den Krieg. Dabei behauptet sie nicht ohne Stolz, für den König mehr getan zu haben als nur zu schreiben. Hier artikuliert sich die Betroffenheit einer Mutter, die sich nicht scheut, in Versen (und in Briefen an den Historiographen) auf ihr Schicksal zu verweisen - die Hergabe ihrer Söhne erscheint aus der Perspektive der Witwe als besonderes Opfer. Intensiv empfindet sie das Ausmaß ihres Unglücks («la plus grande violence de mes maux»), 129 ihren «triste etat», den Zustand, «ein wenig tot zu sein» («aussi bien suisje un peu morte, car j'ai plus d'une absence fâcheuse à supporter»), 130 den Wunsch, sich zu verkriechen («ce nüage qui me va obscurcir me cachera aussi; on ne m'appercevra point, & c'est justement ce qu'il me faut»), ihre Einsamkeit («solitude») und Verlassenheit («chagrin causé par l'absence de mes amis»). Mme de Saliez bekennt sich zu ihren Gefühlen, auch zu ihrer Freude. Als ihr Sohn, der in der Marine gedient hat, nach Marseille zurückkehrt, schreibt sie Vertron von ihrem Glück. Sie bietet ihm wieder an zu dichten, denn sie fühlt sich geheilt. 131
Vorläufiges Resümee Die 15 Gedichte der Mme de Saliez132 zu Ehren Ludwigs sind klischeeüberladen und weder formal noch inhaltlich bemerkenswert. Erst bei genauerem Hinsehen fällt auf, daß Ludwig, zu dessen Ruhm und Ehre diese Panegyrik verfaßt wird, kaum je Protagonist bzw. ist. In sechs Fällen ist es sein Vertron, in drei Fällen der «Seigneur». Es ist bezeichnend, daß Mme de Saliez gerade mit diesen beiden paktiert. In dem einzigen Gedicht, in dem Ludwig die Hauptperson ist (nur er allein spricht), wird er zum beflissenen Selbst-Darsteller; das poetische Eigen-Lob nimmt hier Züge des Lächerlichen an. In den restlichen fünf Gedichten tritt Mme de Saliez selbst auf. Am unbestimmtesten dort, wo sich (nur) die Identifizierung mit einer anderen weiblichen Figur (hier der Dauphine) anbietet; ausdrücklich und als Soli129
La Pandore II, p. 148. Ibid., p. 292. 131 Ibid., p. 149. 132 Alle 15 sind bis hier berücksichtigt worden. Auf das «Portrait de la Dauphine» («C'est là qu'en admirant sans cesse») wird im folgenden noch eingegangen; der Quatrain «Craignez, Mortels audacieux, Les effets d'un double Tonnerre; LOUIS le G R A N D est sur la Terre/ Ce que Jupiter est aux Cieux.» In: La Nouvelle Pandore, p. 148, ist bereits in Kap. 3.2.2.3. behandelt worden.
130
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stin in «Astre charmant, plus craint que le Tonnerre», wo die Größe des Königs lediglich für die Anrede benutzt wird. - In der Epistel an Mme de Maintenon, in der sie noch am ausführlichsten in den Heldentaten Ludwigs schwelgt, zählt sie eine Reihe anderer Beteiligter an Ludwigs Heldentum auf, nämlich Mme de Maintenon, die Mädchen von SaintCyr, den Seigneur und, als Krönung des Gedichts, sich selbst, d.h. ihr Familienschicksal. Aus alldem läßt sich entnehmen, daß Mme de Saliez eher an den Satellitenfiguren als am König selbst interessiert ist; sie bedient sich der Ludwigs XIV. als eines panegyrischen Topos, um auf die zu verweisen, die an dieser arbeiten: den göttlichen im Himmel, den am Hofe, und nicht zuletzt sich selbst in der Doppelfunktion von opfernder Mutter und Panegyrikerin. Andererseits fällt auf, daß Mme de Saliez in ihrem Porträt von Mme la Dauphine («C'est là qu'en admirant sans cesse») 133 durchaus deren Qualitäten («les beautés de son âme et celles de son corps») zentralperspektivisch darzustellen weiß. Indem sie hier Zeugnis ablegt von ihrem panegyrischen Talent, wird die Weigerung, Louis XIV in den Mittelpunkt zu rücken, offenkundig. Ihre auffällige Reserviertheit in der Heldenglorifizierung begründet sie mit ihrer Geringfügigkeit, ja ihrer Hilflosigkeit (gegenüber dem panegyrischen Objekt): Quand je veux, par des vers, publier quelque marque De mon respect pour ce monarque, Et que, m'applaudissant d'un si noble dessein, Je commence à louer son auguste personne, L'éclat de ses vertus m'éblouit et m'étonne, Et la plume d'abord me tombe de la main. 134
Angesichts dieses spezifischen panegyrischen Stils, der das Heldentum implizit relativiert, erhält der Bescheidenheitstopos eine realistische (oder authentische) Begründung: Der offizielle Heldengesang scheint dieser Panegyrikerin wirklich nicht zu liegen. Ihren Heldengesang charakterisiert ein dezentralisierender Gestus. Über die Huldigung der königlichen Helfeshelfer sowie über die Artikulation subjektiver Perspektiven (auch des persönlichen Gefühls), entschärft Mme de Saliez das Heldentum des absolutistischen Herrschers. Die «éthique de la gloire» wird in einen privaten Bezugsrahmen gerückt und das Heldentum von seinen determinierenden Kräften abhängig gemacht, d. h. an den Parametern Panegyriker, Tempelbauer, Gott, Muttergefühl und Familienschicksal gemessen. In dieser Panegyrik multiplizieren sich unterschwellige Zweifel am Monarchen, Zweifel an der selbstverordneten . 133 134
In: Lettres de Mesdames de Scudéry, de Salvan de Saliez, p. 233-239. Ibid., p. 268.
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Auf das dichterische Selbstverständnis der Mme de Saliez ist bereits in Kap. 1.5.2. eingegangen worden. Hier seien erste, vorläufige Bemerkungen zur literarischen Technik angefügt. Wenn Mme de Saliez trotz reichlicher Verwendung der kanonisierten panegyrischen Modelle meint, nichts Fremdes zu entlehnen («mais je n'emprunte rien de personne»), 135 so trifft das, aus ihrer Perspektive gesehen, sicherlich zu. Obwohl die mit Schablonen operierende Panegyrik wenig Spielraum zuließ, geht doch die Autorin relativ individuell mit ihrem Stoff um und artikuliert indirekt ihre Skepsis gegenüber dem Alleinherrscher. Nicht umsonst sagt Vertron von ihrer Schreibweise, daß sie sich von der anderer Panegyriker unterscheide, und nicht umsonst enthält seine Begutachtung ihrer Beiträge einen Hinweis, der über das übliche Lob (wie «feu admirable», «manière [...] spirituelle, galante») hinausgeht, den Hinweis nämlich auf ihren unabhängigen, freien Stil: «une manière libre [...] qui vous distingue toûj ours». 136 Günstig für die Kultivierung idiosynkratischer Elemente in der Panegyrik mag die geographische Entfernung zum Hof gewesen sein. Mme de Saliez erlebt die Monarchie in der Provinz aus der Distanz; sie bedauert diese Tatsache sowohl in ihren Versen («Vertus d'un Héros que j'admire de loin») 137 als auch in ihren Briefen («je vis dans un lieu où rien n'excite & n'encourage»). 138 In ihrem poetischen Ausdrucksrepertoire ist sie allerdings an die Formen gebunden, da die Provinz sich auch darin am Hof orientierte; so können ihre Ungezwungenheit, Offenheit, Selbstbezogenheit und die nur unter der Oberfläche wahrnehmbare Heldendemontage noch nicht den festen Rahmen dieser Gattung aufbrechen. Ihre «manière libre» ist allenfalls Ausdruck eines beginnenden Ich-Bewußtseins, das den dringenden Wunsch nach «sincérité» empfindet: «Si je pouvois espérer que mon génie secondât mon zèle, il me seroit infiniment plus agréable d'écrire les vérités de son illustre vie que les fables [...] l'on m'a imposé de travailler sur un sujet si épuisé [.. ,]».139 Dennoch - und hier besteht ein wesentlicher Unterschied zu vergleichbaren Panegyrikern - verfolgt Mme de Saliez kein Konzept, weder konkrete ästhetische Intentionen noch ein Stil- oder Formprinzip, als daß sich aus der persönlichen Erfahrung resultierende Impulse einfach einschrieben. Ihr «art d'écrire» ist nicht nur poetisches Spiel,140 sondern auch existentiell motiviert. Nicht zuletzt bedauert Mme de Saliez ausdrücklich ihre, wie sie meint, Schwächen («J'avoue de bonne foy, Monsieur, que je ne suis 135
La Pandore //, p. 160. Ibid., p. 162. 137 Ibid., p. 375. 138 Ibid., p. 152. 139 Lettres de Mesdames de Scudéry, de Salvan de Saliez, p. 268-269. 140 Mit Ausnahme vielleicht des Madrigals vom panegyrischen Lob im Gewände des königlichen Eigenlobs. 136
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point versée dans le bel Art des Devises»), 141 die sicherlich auch darauf zurückzuführen sind, daß die individuelle Perspektive (bzw. die Einstellung) sich immer wieder dazwischen drängt. Der Status der in der Provinz abseits vom Hof lebenden, finanziell relativ unabhängigen Feudalherrin sowie die persönliche Erfahrung einer schicksalsgeprüften Mutter und Witwe, die sich und ihr Los weder unterschätzt noch verleugnet, führen zur Modifikation des Genres: zur diskursiven Entfaltung eines Rechtsgefühls und Ich-Bewußtseins, das die eigene kleine Welt, so unbedeutend sie auch sein mag, neben die Welt des großen Königs zu stellen wagt. Ohne auf die «Ästhetik der sincérité» fixiert zu sein, bleiben bei Mme de Saliez die gattungsprägenden Vorgaben, die konventionellen panegyrischen Ausdrucksmodelle nicht lebloses Dekor, sondern werden von innen her vitalisiert. Formelhaftigkeit und Unabhängigkeitssymptome, die sich Mme de Saliez selbst als Schwäche auslegt, aktivieren und durchdringen sich gegenseitig. Darüber hinaus müssen die ständig bekundeten Versagens-Ängste, die Bescheidenheitstopoi, die panegyrische «retenue», die Scheu oder «résistance», im Kontext eines poetischen Konzepts gesehen werden, das autoritäres Heldentum («gloire») mit den Mitteln der «gloire humaine» relativiert. 4.2. Madeleine de Scudérys Konzept einer Welt der Innerlichkeit: Ausbalancierung von «esprit» und «amour» sowie Gefühlsinszenierung als Strukturprinzipien der preziösen Lyrik Neben den in den zeitgenössischen Recueils enthaltenen mehr als 30 Texten panegyrischen Inhalts, neben der im Kontext des Salons entstandenen Kommunikationspoesie hat Madeleine de Scudéry auch Liebeslyrik in Form von Quatrains, Chansons, Madrigalen und Elegien verfaßt. Diese Gedichte, die sie von den Protagonisten und Protagonistinnen ihrer Romane Artamène ou le Grand Cyrus (1649-1653), Clélie (1654-1660) und seit den 60er Jahren ihrer «nouvelles» Célinte (1661), Mathilde d'Aguilar (1667), La Promenade de Versailles ou Celanire (1669) vortragen und diskutieren läßt, lassen sich, im Unterschied zu der bereits erörterten Kommunikation in Versen, vom Kontext abstrahieren und als separate Einheiten betrachten. Allesamt, so läßt sich vorwegnehmen, dienen sie der Definition und Demarkation einer eigenen Liebeskonzeption. 4.2.1. «Poésie galante et enjouée»: Aspekte der Liebeslyrik der Madeleine de Scudéry Bei der Diskussion über Madeleine de Scudérys Begriff von «galanterie», «tendresse», «amitié», «amour», «passion» sind in der Forschung, zuletzt 141
An Vertron, in: La Pandore II, p. 160.
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in der großangelegten Studie von Jean-Michel Pelous, 142 bereits Zuordnungen und Abgrenzungen vorgenommen worden, die sich bei einer Untersuchung des lyrischen und poetologischen Beitrags der Autorin zu dieser Thematik als nicht haltbar und zu undifferenziert erweisen. Im Zusammenhang der bisher üblichen Fixierung von Madeleine de Scudéry auf Preziosität (vielfach noch im abwertenden Sinne), auf Tendre (im Sinne einer mittelalterlich-petrarkistisch-neoplatonischen Tradition, 143 einer präromantischen Sentimentalität 144 bzw. eines voraufklärerischen Bewußtseins) 145 bzw. auf Moralität und Ernsthaftigkeit (im Sinne einer preziösen Prüderie oder eines «idéalisme moralisant») 146 ist die Dichterin bisher noch kaum als Repräsentantin von Galanterie bzw. einer «esthétique galante» gesehen worden. 147 So mußte die (vor allem von Jean-Michel Pelous geleistete) Konfrontation der Komplexe «tendre» und «galant» mit den jeweiligen Zuweisungen von «soumission», «amour parfait», «mélancolie» gegenüber «frivolité», «amour à la mode», «amour enjoué», «inconstance joyeuse» zwangsweise dazu führen, daß Madeleine de Scudéry zur Gegnerin der «conception galante» erklärt wurde, einer Konzeption, die ihr besonders nach dem eigenen Entwurf des (Royaume de)Tendre wie ein Konkurrenzprogramm erschienen sein soll.148 Auch die bisher für die Poesie des 17. Jahrhunderts vorgenommenen Einteilungen z.B. in «poésie galante» und «poésie sérieuse» (Renée Winegarten), 149 «poésie de l'ostentation» 150 und «poésie de l'introspection» 151 (Jean Rousset) 152 erweisen sich als zu wenig flexibel, 153 weil sie keine andere Möglichkeit zulassen, als Madeleine de Scudérys Lyrik (wegen der in ihr vollzogenen Sublimierung eines «sentiment sérieux» und «mouvement intérieur») der «poésie du sentiment» zuzuschlagen. Diese 142
Amour précieux, amour galant (1654-1675). Essai sur la représentation de l'amour dans la littérature et la société mondaines, Paris 1980. 143 So Jean-Michel Pelous in Amour précieux. 144 Etwa Yoshio Fukui: Raffinement précieux, p. 335. 145 So vor allem Renate Baader: Dames de lettres. 146 U.a. auch Jean-Michel Pelous: Amour précieux, p. 115sqq. 147 Ein Hinweis findet sich allerdings in Roger Zuber, Micheline Cuénin (ed.): Littérature française, p. 132-133, wo der «sens scudériste» auf das Galante im Sinne einer «esthétique du naturel et de la simplicité» (bzw. «sincérité») bezogen wird. 148 Jean-Michel Pelous: Amour précieux, p. 145. 149 French Lyric Poetry in the Age of Malherbe, Manchester 1954. R. W. siedelt die «poésie galante» zeitlich vor der «poésie sérieuse» an. 150 Gekennzeichnet durch den Ausdruck von Frivolität, «flatterie» und Prahlerei. 151 Gekennzeichnet durch die Thematisierung des echten Liebesgefühls. 152 L'intérieur et l'extérieur nimmt diese Unterscheidung aufgrund seiner Überlegungen zu Du Beilay, Peletier, Ronsard, Spondé, Claude Hopil, Malherbe, Nicole und den französischen und italienischen Marinisten vor. 153 Daneben besteht natürlich die sinnvolle Abgrenzung zum «lyrisme officiel» ein Begriff, den Raymond Picard in seiner Anthologie: La poésie française de 1640 à 1680 benutzt.
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Einteilungen entsprechen einer dualistischen Liebeskonzeption von «amour tendre» und «amour galant». Auch neuere Studien, wie z. B. die von Klaus Meyer-Minnemann, 154 können der lyrischen Produktion der Madeleine de Scudéry nicht gerecht werden, wenn sie die Lyrik lediglich auf ihre soziale Funktion reduzieren, also auf die «Lyrik von der Repräsentation von Herrschaft» (Ode, Stanzen, Sonett) und des «divertissement» (Chanson, Ballade, Rondeau, Virelai, Madrigal, Epigramm, Elegie, Epistel, Satire). 155 Minnemanns Periodeneinteilung, 156 in der die Jahre 1635-1665 der «Herausbildung der » dienen, bleibt nichts weiter übrig, als unter «poésie galante» alle Register, von derbster Frivolität bis zum sublimsten «tendre», zu subsumieren und alle in dieser Zeit produzierten Texte als reine Unterhaltungsliteratur aufzufassen. - So sehr Madeleine de Scudéry als Repräsentantin des Galanten angesehen werden kann, so dringend muß aber auch die unterschiedliche Verwendung des Begriffs «galant» geklärt und in seiner Anwendung auf Madeleine de Scudérys Liebes- und Lyrik-Konzeption differenziert werden. Yoshio Fukui sieht bereits 1964 Madeleine de Scudéry nicht als exemplarisch für die galante Lyrik (vertreten vor allem durch Voiture), sondern plaziert sie in der Lyrik des seriösen, zärtlichen Gefühls. 157 Dieser Position, die sich danach in der Sekundärliteratur konsolidiert, schließt sich auch Renate Baader an, wenn sie mit der (im Zusammenhang mit der Portraitierpraxis entwickelten) These von der «Abwehr des ». In: Romanistisches Jahrbuch 11 (1960) p. 204-225. 168 Enth. in E. J. B. Rathery, Boutron: Mademoiselle de Scudery, p. 251.
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Verbindung eingehen, in der sich mehr «tendresse» als «estime» ausdrückt. Der «galant agréable» wird ihr zum «amant-modèle»: Que si je voulois un amant, Il auroit, comme vous, l'esprit doux et charmant, Il seroit, comme vous, un galant agréable, Et mon cœur, comme à vous, lui seroit favorable. 169
Madeleine de Scudéry betont den Wert der Galanterie immer wieder, nicht zuletzt in ihrem Portrait von Paul Pellisson (der in Clélie unter dem Namen «Herminius» figuriert). 170 Selbst Pellisson, der als Prototyp von «multiples alliances» alle Register beherrscht, wird in seinem Persönlichkeitsbild maßgeblich von Galanterie bestimmt: En effet, il n'est rien qu'Herminius ne fasse admirablement; il écrit en prose, et en vers, également bien; il fait des ouvrages savants et sérieux [...] il en fait d' autres de raillerie et d'enjouement, qui ont toute la galanterie, toute la justesse, et toute la naïveté imaginable [...] d'écrire avec une certaine politesse qui [...] a pourtant un caractère naturel, galant, et facile, qui met un charme secret à tous ses ouvrages [...] car tout sage, tout savant, et tout sérieux qu'il paraît [...] il est enjoué, et dit cent choses divertissantes.171
Madeleine de Scudéry versieht das Galante bis in die (Ende der 60er Jahre verfaßten) «nouvelles» und bis in die (seit Ende der 70er Jahre entstandenen) Conversations und Entretiens mit Epitheta wie «noble», «naturel», «aisé», «agréable», «facile», «spirituel», «charmant». Da Teile ihrer Conversations auf die in Artamène ou le Grand Cyrus und Clélie geführten Unterhaltungen und Gespräche zurückgehen (bzw. fast wörtlich übernommen werden), 172 bleibt auch der Galanteriebegriff der 50er Jahre unverändert. Diese Kontinuität ist umso bemerkenswerter, als sich der (von Pelous so genannte) «esprit galant» in den 60er und 70er Jahren im Sinne eines Panerotismus entwickelt, der auf reiner (männlicher) Lustmaximierung basiert. Dieser «nouvel art d'aimer» definiert sich primär durch die Genüsse des Libertin und den Zynismus des (Trophäen sammelnden) «roué», wobei die Frau zum Objekt der Begierde reduziert wird. Daß auch Autorinnen solche Denkmuster übernehmen konnten, zeigt sich an Mlle Desjardins/Mme de Villedieu - eine «poétesse galante», die als «spécialiste de belles capitulations» operiert. 173 Unbeeinflußt von der Amoralitätstendenz des «esprit galant» unterzieht Madeleine de Scudéry ihr Galanterie-Konzept keiner Korrektur oder Differenzierung, sondern insistiert auf seiner Geltung für die menschlichen Umgangsformen, das Liebes-Leben sowie für sprachlich169
Ibid„ p. 251-252. In der Histoire d'Herminius et de Valérie (1658). 171 Clélie, t. 5, Teil 3, Buch 1, p. 604. 172 Vgl. Phillip J. Wolfe (éd.): Choix de conversations de Mlle de Scudéry, Ravenna 1977 (Introduction). 173 Jean-Michel Pelous: Amour précieux, p. 241. 170
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literarische Ausdruckskonventionen. Die in Clélie enthaltenen Äußerungen zur «Poesie galante et enjouée» verlieren bis zu den 1680 veröffentlichten Conversations sur divers sujets nichts an Gültigkeit: [...] l'aimable Plotine parle comme il faut qu'une Femme raisonnable parle, pour parler agréablement. Car toutes ses expressions sont nobles & naturelles tout ensemble; elle ne cherche point ce qu'elle dit; il n'y a nulle contrainte en ses paroles; son discours est clair & facile; il y a un tour galant à ses maniérés de parler; nulle affectation au son de sa voix; beaucoup de liberté en ses actions; & un merveilleux rapport entre ses yeux & ses paroles [...] 174
Als die fast Achtzigjährige 1686 La Morale du Monde schreibt, erkennt sie in ihrer Freundin und Korrespondentin Catherine Descartes (16371706), der Nichte des Philosophen, Eigenschaften, zu denen auch die galante Ausdrucksweise zählt: [...] & ce qui me piaist infiniment en cette illustre fille, c'est qu'encore qu'elle sçache tout ce qu'une personne de son sexe peut sçavoir, & qu'elle écrive d'un tour galant et poly & en Prose & en Vers, & que sa générosité égale son esprit, elle conserve une modestie [...] 175
Bis zum Jahre 1688, in dem eines ihrer letzten Werke entsteht, die Nouvelles Conversations de Morale, behält «galant» bei Madeleine de Scudéry sämtliche moralischen Implikationen: Elles ont toutes de l'esprit & de la vertu, mais une vertu sociable, aimant tout ce qui est spirituel et galant, sans vouloir jamais faire galanterie. 176
Diese positive Haltung zur Galanterie verbindet sich mit Madeleine de Scudérys Lebens- und Schreibintentionen; sie zielen auf eine Ethik und Ästhetik des Intersubjektiven: Gewandtheit im Ausdruck, Wendigkeit des Geistes, Natürlichkeit im Verhalten, Moral im Umgang mit anderen Verhaltensweisen, die Kommunikation und gesellschaftlichen Umgang erleichtern und fördern. Poetischer Umgang und poetische Praxis Guez de Balzac hat Madeleine de Scudérys Talent schon 1639 erkannt: «[...] cette sœur qui écrit si élégamment et de si bon sens».177 Tatsächlich entsprechen die diversen Kommentare der Autorin auch der eigenen Praxis; und nicht zuletzt bezeugen ihre Verse die vollkommene Beherrschung des galanten Registers. Es dominieren Leichtigkeit und Natürlichkeit im Ausdruck, ein anregender, tändelnder, aber auch Ernsthaftigkeit und Moral implizierender Ton; hinein spielen «esprit», Erfindungsgabe und Poin-
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Choix de conversations, ed. Phillip J. Wolfe, p. 35. Ibid., p. 94-95. 176 Ibid., p. 146 («De l'Hipocrisie»). 177 In seinem Brief vom 15.4.1639 an Chapelain; zit. nach E. J. B. Rathery, Boutron: Mademoiselle de Scudéry, p. 144. 175
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tiertheit. Charakteristisch für diese Schreibweise sind überdies die «duplicité de l'esprit galant» 178 (die kalkulierte Ambiguität), Anspielungen und ein Geheimcode, der keiner mehr ist - Madeleine de Scudéry bedient sich mehrfach der Syllepsis, der «figure-reine de toute rhétorique galante». 179 Die Gedichte, in denen Madeleine de Scudéry den galanten Stil kultiviert, seien im folgenden auf ihre «message» reduziert. So läßt sie z. B. in einem (an den König gerichteten) Gedicht 180 den «invincible Conquérant» zu einem von der Liebe besiegten «amant» werden. In einem Brief an Mlle Descartes spielt sie mit «rimer» und «aimer» als Koinzidenzen und logischen Konsequenzen: En m'apprenant, Iris, que vous savez rimer, Vous m'apprenez aussi que vous savez aimer [...]. 181
Den Liebestod suggeriert sie als Lebensglück; 182 flüchtige Liebesfreuden relativiert sie an der Treuherzigkeit des Liebenden: Sans nul sujet d'inquietude, le préféré la solitude Au bal, au carrousel, aux plaisirs les plus doux, On dit par tout que je vous aime, Belle Iris, jugez-en vous mesme, le suis nay pour aimer, & je ne voy que vous. 183
Die Eifersucht entdramatisiert sie als «assez bizarre bonheur», 184 verrät «le secret de charmer» und damit ihren «bon sens»,185 beobachtet das Liebeserwachen aus der Perspektive einer in der Liebe Erfahrenen: On n'y pense pas, Silvie, Quand on commence d'aimer, Et sans en avoir envie, En un moment on se laisse enflamer; On n'y pense pas, Silvie, Quand on commence d'aimer. 186
entschärft das Bild der «dame sans merci» durch die Möglichkeit der Kommunikation - wie sie sich durch das Madrigal bereits realisiert: 178
Jean-Michel Pelous: Amour précieux, p. 178. Ibid. 180 Mit dem Incipit «Comme une fontaine fidèle». In: La Promenade de Versailles, Genève 1979, p. 579. 181 In: E. J. B. Rathery, Boutron: Mademoiselle de Scudéry, p. 393. Vgl. auch «Quoi! Malgré vostre indifférence». In: Histoire de Celanire, Genève 1979, p. 174. 182 «Nul ne sçait comme Amour sçait blesser & guérir». In: Mathilde d'Aguilar, Genève 1979, p. 58. 183 In: Mathilde d'Aguilar, p. 62. 184 In den drei Quatrains beginnend mit «Je me mets dans la fantaisie» In: Mathilde d'Aguilar, p. 214-215. 185 «Cherchez-vous, jeune Iris». In: Mathilde d'Aguilar, p. 278. 186 In: Recueil des plus beaux vers, p. 10. 179
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Charmante Iris, ie crains vostre courroux, Si ie vous dis que ie brûle pour vous Et que ie veux mourir sous vostre empire; Mais vos beaux yeux sçauent si bien charmer, Que l'on ne peut vivre sans vous aimer; Ny vous aimer sans vous le dire.187 Das Martyrium des Liebenden beschreibt sie als einen von Mißtrauen und Eifersucht befreiten, gelösten und glücklichen Zustand 188 oder jongliert zwischen «un peu d'amour» und «un peu trop d'amour», zwischen «plaisir» und «cruel supplice», 189 zwischen Liebesqualen und gemeinsam erfahrenem Liebesglück: Je tâche en vain de faire résistance A la douleur d'une si longue absence, De mille ennuis mon cœur est consumé. Qui le croiroit, Amour, qu'on piit sous ton empire Souffrir tant de martyre, Quand on a le bonheur d'aimer, & d'estre aimé? Je pense voir en ma langueur extrême Mille dangers attaquer ce que j'aime, Dont mon esprit est sans cesse alarmé. Qui le croiroit, Amour, qu'on piit sous ton empire Souffrir tant de martyre, Quand on a le bonheur d'aimer, & d'estre aimé? Je crains souvent, ô crainte criminelle, Et trop injuste à son amour fidelle! Qu'un autre objet ait son cœur enflamé. Qui le croiroit, Amour, qu'on piit sous ton empire Souffrir tant de martyre, Quand on a le bonheur d'aimer, & d'estre aimé?190 Auf Leichtigkeit und Flüchtigkeit der Liebe spielt sie an in der Metapher vom «Zéphir», eines zirkulierenden und die Liebeswelt als Landschaft erkundenden «amant». 191 Die Beispiele, in denen Madeleine de Scudéry den galanten Stil praktiziert und auch ins Extrem treibt, 192 ließen sich leicht vermehren. 193 Ele187
Ibid., p. 88. «Je pensois que sous vostre empire». In: Clélie, t. 8, p. 1048 und Recueil des plus beaux vers, p. 184. 189 «Je vous quitte aimable Clarice». In: Clélie, t. 5, p. 254 und «Je vous quitte, belle Artenice». In: Recueil des plus beaux vers, p. 188. 190 In: Recueil des plus beaux vers, p. 189 bzw. in Clélie, t. 6, p. 1027-1028. 191 «Autrefois en Zéphir». In: Recueil de pièces galantes, p. 241-242 (zur Autorschaft dieses Textes s. die einführenden Erläuterungen zur Textsammlung). 192 Z. B. «Les Mouches galantes, aux Mouches volantes». In: Célinte. Nouvelle Première (1661), ed. Alain Niderst, Paris 1979, p. 67. 193 S. vor allem das Textmaterial aus Celinte, Clélie, Mathilde d'Aguilar, La Promenade de Versailles ou Histoire de Celanire, Recueil des plus beaux vers, Recueil de pièces galantes. 188
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mentares Strukturprinzip ist die harmonische Einheit von «esprit» und «amour» («il est simple & naturel, il n'y a point trop d'esprit: car on en voit où il y en a tant, que l'amour n'y paroist pas.»).194 Wenn allerdings ihre galante Konversationslyrik dem vergnüglichen gesellschaftlichen Umgang diente, so zielt ihre «Liebes-Lyrik» darauf ab, den oft noch der mittelalterlich-petrarkistischen bzw. neoplatonischen Pathologie verpflichteten Spielarten des Liebens und Leidens etwas von ihrer Tragik zu nehmen und sie zu natürlichen, plausiblen und praktikablen Lebensmustern zu verwandeln. Madeleine de Scudéry verbindet ein heterogenes, disparates Vokabular (wie «courroux», «ingrate», «mourir sous vostre empire», «cruel martyre», «cruel supplice», «amoureuses peines», «conquête» mit «charmant», «doux», «plaire», «plaisir», «bonheur», «amour fidèle», «bal», «carrousel», «bontéz», «tendre», «rimer-aimer», «adoucir») - Bezeichnungen, die den ins Unglaubwürdige gesteigerten (Liebes-)Heroismus durch Konnotationen mit dem Natürlichen mildern und die Künstlichkeit oder «invraisemblance», gegen die die Dichterin immer wieder Position bezogen hat, relativieren. 4.2.2. Madeleine de Scudéry und Paul Pellisson als Exponenten eines neuen Stils. Zu «esthétique galante» und «style égal et naturel» Mit ihren theoretischen Äußerungen über die «Poesie galante et enjouée», aber auch in ihrer poetischen Praxis trifft sich Madeleine de Scudéry mit dem wichtigsten Repräsentanten der «esthétique galante», ihrem Freund Paul Pellisson, der in einem Vorwort zu dem Werk Sarasins, dem Discours sur les œuvres de M. Sarasin195 (1656), seine Konzeption von Galanterie als poetischer Strategie darlegt. 196 Pellissons These vom «mittleren Stil»197 («ce style égal et naturel») 198 in der galanten Schreibweise akzentuiert die schon von Madeleine de Scudéry propagierten Merkmale wie «le naturel», «l'aisance», «la modération», «l'ironie (sans malice)», «tendresse», «gaieté». Paul Pellissons Stilideal negiert weder das gehobene noch das niedere Register, sondern umfaßt die gesamte lexikalischsemantische Ausdrucksskala. Es erhebt den Anspruch, divergierende Erwartungshorizonte zu integrieren. Modell dieses Idealstils ist der Autor, 194
So beurteilt «toute la compagnie» das Madrigal «Sans nul sujet d'inquiétude». In: Mathilde d'Aguilar, p. 62-63. 195 Er verfaßte ihn kurz nach der Veröffentlichung seiner Histoire de l'Académie Françoise (1654). 196 Wiederentdeckt und herausgegeben von Alain Viala (ed.): L'esthétique galante. Paul Pellisson. Discours sur les œuvres de Monsieur Sarasin et autres textes, Toulouse 1989. 197 Den Begriff («style moyen») übernehme ich von Alain Viala (ed.): L'esthétique galante, p. 31sqq. 198 So bezeichnet von Paul Pellisson, zit. nach ibid., p. 61.
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der sich unterschiedlicher Gattungen und Register (Poesie, Briefe, Geschichte, Übersetzung, Pamphlete) in ein und derselben Diktion zu bedienen versteht, ohne dabei seinen Individualstil aufzugeben. Dieser Stil kann dem Niederen, Alltäglichen ebenso Ausdruck geben wie dem Großen, Sublimen - Voraussetzung ist allein «mesure» - die Vermeidung jeder Übertreibung. Die Essenz des «mittleren Stils» ist der galante und liebenswürdige Tonfall, der mit einem an das Episch-Erhabene grenzenden Ernst verbunden ist. Zur Kennzeichnung von